Frank Slaughter
Göttliche Geliebte Inhaltsangabe Das Motto zu dem hier vorliegenden Roman ›Göttliche Geliebte‹ stammt ...
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Frank Slaughter
Göttliche Geliebte Inhaltsangabe Das Motto zu dem hier vorliegenden Roman ›Göttliche Geliebte‹ stammt von dem großen Arzt Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus (1493 – 1541): »… wir wissen, welch weiten Weg ein Liebhaber gehen muß, um eine Frau zu finden, die er liebt. Um wieviel weiter wird dann der Liebhaber der Weisheit zu gehen verlockt sein, auf der Suche nach seiner göttlichen Geliebten.« Im Vorwort zu dem Buch, das als eines seiner Meisterwerke gilt, sagt Franz G. Slaughter: »… in der folgenden Erzählung sind Wahrheit und Fantasie miteinander verwoben, und wem nützt es da, zu wissen, wo das eine endet und das andere beginnt.« Die Handlung führt uns ins 16. Jahrhundert. Der berühmte Arzt und Padua'er Universitätsprofessor Antonio Servetus muß entdecken, daß sein Bruder Michael in Genf auf Veranlassung des religiösen Eiferers Calvin wegen Erkenntnissen hingerichtet wurde, die sich jetzt bei seinen wissenschaftlichen Versuchen als richtig erwiesen haben. Da er jedoch keinen Konflikt mit der römischen Kirche will, geht er mit Bellarmi und dessen Nichte Lucia nach Spanien an den Hof König Philipps. Antonio verliebt sich in Lucia, die eine Nachfahrin jener Simonetta ist, die Boticellis Modell für dessen göttliche Venus war. Nur mit Mühe entgeht das Paar durch eine abenteuerliche Flucht der Inquisition. Eine ergreifende Liebesgeschichte und zugleich der Roman vom bewegten Leben eines großen Forschers und Arztes.
Copyright © 1984 by Autor und Verlag Gesamtherstellung: Engel Verlag GmbH, München Printed in W.-Germany Die Personen und Handlungen dieses Buches sind vom Autor frei erfunden und stehen in keinem Zusammenhang mit irgendwelchen tatsächlichen Ereignissen. Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
VORWORT Wenige Perioden der Weltgeschichte beweisen so offenkundig wie das 16. Jahrhundert, in dem unsere Erzählung spielt, daß Wirklichkeit oftmals befremdender ist als Erdichtetes. Daß Andreas Vesalius, der erste große Anatom, lebte und um die Mitte jenes Jahrhunderts seine bedeutendsten Schriften verfaßte, ist wahr – man sagt sogar, die Geschichte der modernen Medizin habe mit ihm begonnen – und ein Teil seiner Lebensgeschichte stimmt mit der in diesem Buch beschriebenen überein. Gleichfalls wahr ist, daß Michael Servetus, der große Märtyrer der Medizin, schon lange vor Harvey den Lungenkreislauf entdeckt hatte. Wie sehr Servetus damals durch die religiösen Ansichten, die ja auch Anlaß dazu gaben, daß Johannes Calvin ihn hinrichten ließ, eingeschüchtert war, ist daran zu erkennen, daß der einzige Bericht über eine seiner großen Entdeckungen auf medizinischem Gebiet als Interpolation in einem seiner theologischen Werke gefunden wurde. Von Botticellis unsterblichem Gemälde ›Die Geburt der Venus‹ ist bekannt, daß es im 16. Jahrhundert verlorenging, und die Geschichte seines Modells, die hier geschildert wird, ist ebenfalls wahr. Leute, die spöttelnd meinen, Hypnose gäbe es – vom unvergleichlichen Paracelsus als Magnetismus bezeichnet – erst seit Mesmer, sei gesagt, daß sich eine ägyptische Sekte vierzig Jahrhunderte hindurch dieser seltsamen Kraft bediente und man dabei sogar eine Kristallkugel verwendete. Wahr ist schließlich auch, was hier über das Vorgehen der Inquisition, insbesondere des Großinquisitors Frey Tomas de Torquemada, niedergeschrieben ist. Aber wie dem auch sei; in der folgenden Erzählung sind Wahrheit und Fantasie miteinander verwoben, und wem nützt es da, zu wissen, wo das eine endet und das andere beginnt. Frank G. Slaughter Jacksonville, Florida, 10. Mai 1949
Ich habe mich beim Erforschen meiner Kunst oft in Lebensgefahr begeben. Ich schämte mich nicht, selbst von Vagabunden, Barbieren und Henkern zu lernen. Denn wir wissen, welch weiten Weg ein Liebhaber gehen muß, um die Frau zu finden, die er liebt. Um wieviel weiter wird dann der Liebhaber der Weisheit zu gehen verlockt sein auf der Suche nach seiner göttlichen Geliebten! PARACELSUS
ERSTES BUCH Die Serenissima
I
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ntonio Servetus führte heute die Obduktion nicht selbst aus. Eine leichte Entzündung des rechten Zeigefingers, den er sich vor einigen Tagen mit dem Sezierskalpell geritzt hatte, zwang ihn, von dem Studienobjekt, dem vom Körper eines hingerichteten Verbrechers gelösten Fleisch, die Hände zu lassen. Die heiße Jahreszeit begünstigte den raschen Zerfall der Leichen; den Hörsaal erfüllte verstärkter Verwesungsgeruch und für den Sezierenden und seine Assistenten bestand die Gefahr der Infektion. Unterhalb des etwas erhöhten Katheders, an dem der junge Arzt saß, hatten sich die Studenten um den alten Prosektor Guinterius versammelt. Da sie an Antonios kunstfertige Handgriffe gewohnt waren, folgten sie unruhig den langsamen Bewegungen des Skalpells in Guinterius' Fingern. Durch ein Deckenfenster drang die helle Frühlingssonne ein und brach sich an dem glänzenden Stahl des Instrumentes in den ungeschickten Händen des alten Wundarztes. Vom offenen Fenster hinter dem Sessel Antonios kam ein warmer Windhauch, berührte seinen Nacken unter dem Kragen des Professorengewandes, fuhr in die Seiten des vor ihm liegenden Buches und blätterte sie um, so daß der prägnante lateinische Text und die darin eingestreuten hervorragenden Zeichnungen Calcars, die in mühevoller Holzschnittarbeit auf das Pergament gedruckt waren, sichtbar wurden. In den sechs Jahren, seit er im Herbst 1557 nach Padua gekommen war, um kanonisches Recht und Medizin zu studieren, hatte Antonio den Text auswendig gelernt. Während er jetzt die wohlgesetzten Phrasen zitierte, ohne sich die Mühe zu nehmen, die Stelle im Buch wiederzufinden, führten seine Finger spielerisch einen Griffel, mit dem er in breiten Strichen die Sezierarbeit, die Guinterius unten auf dem 2
Tisch ausführte, auf weißes Pergament zeichnete. Die Muskeln waren auf der Skizze leicht schattiert, die Sehnen etwas stärker, und die Nerven und Blutgefäße nahmen sich aus wie ein kühnes Relief. Stirnrunzelnd betrachtete Antonio die Zeichnung und für eine Weile hielt seine Stimme im mechanischen Memorieren des Textes inne. Stille breitete sich über den winzigen, überfüllten Studiersaal, den man in Wahrheit gar nicht als solchen bezeichnen konnte; denn er bot nur Platz für das Katheder und für den Seziertisch mit den Eimern für Abfälle und dem Faß mit Weingeist, in dem ungewöhnliche Funde, wert für künftige Studien, aufbewahrt wurden. Erstaunt über die Stille hoben die Studenten, deren bleiche Gesichter vom Dunkel ihrer Schülerroben abstachen, die Köpfe und blickten zu Antonio auf. An jenem Frühlingsmorgen in der ruhmreichen zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde in dem Anatomiehörsaal dort, in dem zwei Männer mit dem Sezieren beschäftigt waren, Geschichte der Medizin gemacht. Antonio war 25 Jahre alt, groß und kräftig und trug die lange, von Professoren, Ärzten und Magistern gleichermaßen geliebte Robe. Sein Kopf war gut geformt, das Haar dunkel und gewellt und in seiner Haut verriet sich sowohl der dunkle Teint seines spanischen Vaters wie der leicht olivenfarbige seiner italienischen Mutter. Auf seinen Wangen blühte das Rot, das man so oft bei den Einwohnern der gebirgigen Gegenden des östlichen Spaniens findet. Seine dunklen Augen aber nahmen einen vollends gefangen; denn in ihnen glühte das Feuer und der Eifer des wahren Gelehrten. Bewegliche, leicht lächelnde Lippen verliehen seinem Antlitz den Ausdruck der Menschlichkeit und des rechten Verstehens, das man von einem Arzt erwartet. Die Finger, die den Griffel hielten, waren kräftig und wohlgeformt und die markanten Hände charakteristisch für einen Künstler und Chirurgen. Guinterius gehörte zur alten Garde der Barbier-Chirurgen. Er gehorchte blind den Vorschriften Galens und anderer alter Lehrmeister der Medizin, war unfähig, das neue Aufblühen der Wissenschaft, der Kunst und des Schrifttums zu erkennen, und konnte auch nicht die 3
Notwendigkeit einsehen, daß die Medizin zu einem neuen und wichtigen Faktor im Wissen des Menschen aufsteigen mußte. Antonio Servetus aber trat für den Bruch mit den alten Überlieferungen ein, für den Bruch, der von Paracelsus, Cardan und vielen anderen eingeleitet worden war. Den feurigsten Verfechter fand er in Andreas Vesalius, dessen Schrift auf Antonios Pult lag. Vesalius hatte es gewagt, den menschlichen Körper zu sezieren, und seine Entdeckungen drohten die alten, unsicheren Grundlagen, auf denen die Apotheker und Barbier-Chirurgen ihre Kunst aufgebaut hatten, völlig umzustoßen. Sie ermöglichten es der Medizin aber auch, als neue Wissenschaft hervorzugehen. Antonios Blick glitt über die Seiten vor ihm. Der Wind hatte sie ganz durcheinander gebracht, und er konnte nur das Titelblatt sehen, aber sein Gedächtnis ließ ihn nicht im Stich. Ohne einen Satz auszulassen, setzte er die Vorlesung fort, und so wie im verzauberten Schloß des Märchens begann es sich im Hörsaal wieder zu regen. Des alten Guinterius Hand führte das Skalpell weiter, die Studenten beugten sich wieder über den Seziertisch. Die Titelseiten des dicken Buches waren schwarz, der Aufdruck auf den Pergamentblättern dagegen weiß ausgespart. »Andreae Vesalii Bruxellensis, Scholae Medicorum Patauinae Professoris, de Humani corporis fabrica, Libri septem.« »De Humani corporis fabrica.« Die Worte waren ihm wohl vertraut. »Der Bau des menschlichen Körpers«, der erste authentische Bericht über die menschliche Anatomie. Galen, der Gewährsmann seit mehr als tausend Jahren, hatte Schweine, manchmal auch einen Affen aus Cathay und nur ganz selten einen menschlichen Körper seziert. Da konnte es nicht verwundern, wenn das forschende Skalpell des Vesalius zeigte, in welchen Irrtümern Galen befangen gewesen war. Und doch waren diese Lehren so fest in die Gehirne der Ärzte und des Klerus eingekerbt, daß noch heute die Gegensätze aufeinander prallten – siebzehn Jahre, nachdem Vesalius die ›Fabrica‹ veröffentlicht und damit von Padua aus eine neue Ära für das Studium der Anatomie eingeleitet hatte. Die von Rom beherrschten Schulen hielten noch an den veralteten Lehren Galens fest. Zwischen ihnen und den Zentren scho4
lastischer Freiheit, wie Padua eines war, gab es ständig Fehde. Manchmal kam es zu solch heftigen Zusammenstößen, daß die Studenten der Universität Padua mit denen der nahegelegenen Jesuitenuniversität in den engen Gassen der Stadt offene Kämpfe ausfochten. Antonio wußte sehr wohl um jenes Gewitter, das sich über dem Haupt des Vesalius entladen hatte, als die ›Fabrica‹ veröffentlicht wurde. Der Vorkämpfer der modernen Anatomie hatte einst in dem gleichen Sessel gesessen, in dem er jetzt saß, oder besser gesagt, er hatte jenen Platz am Seziertisch inne, an dem jetzt der alte Guinterius stand; denn auch Vesalius zog es vor, selbst zu sezieren. Der Kampf, den er gegen das tief verankerte Dogma der Kirche zu führen hatte, war so erbittert gewesen, daß Vesalius, durch die ungerechte Kritik erzürnt, schließlich die meisten seiner Schriften verbrannte und aus Padua floh, um bei Kaiser Karl V. und später bei dessen Sohn, Philipp II. von Spanien, Leibarzt zu werden. »Dr. Servetus.« Guinterius blickte von dem Arm, den er gerade sezierte, auf. »Hier scheint eine anormale Beschaffenheit vorzuliegen.« Antonio stieg vom Podium herab, und die Studenten machten ihm am Tisch Platz. Der dunstige Geruch des verwesenden Fleisches war hier viel stärker wahrnehmbar als am Katheder. Aber Antonio achtete nicht darauf; der Geruch der Verwesung war dem Anatom so vertraut wie sein Skalpell. »Diese Ader hier«, Guinterius wies darauf, »sollte in die vena brachialis einmünden, nicht wahr?« Antonio versuchte, das dunkle, breiige Muskelgewebe zurückzustoßen, zog jedoch die Hand wieder zurück, da er sich des entzündeten Fingers erinnerte. »Professor Fallopius beschreibt eine derartige Anomalie«, erklärte er. »Sie mündet manchmal in die vena capitalis anstatt in die vena brachialis.« Wie immer, so glaubte er auch jetzt eine Gotteslästerung zu begehen, wenn er im menschlichen Körper etwas entdeckte, das von Vesalius nicht beschrieben war. Antonio kehrte zu seinem Katheder zurück, nahm den Griffel und begann die anormale Lage der Ader zu skizzieren. Als die Zeichnung fertig war, betrachtete er sie eine Weile, schüttelte dann den Kopf und 5
nagte verdrießlich an seiner Lippe. Die anatomischen Grundlinien waren in ihrer richtigen Lage mit Geschick festgehalten, aber es fehlte der Skizze an Natürlichkeit, an jener gewissen Echtheit, die er ihr gerne verliehen hätte. Guinterius beendete die Sezierung und Antonio entließ die Studenten. Er war mit seinen Vorlesungen für heute fertig und konnte nun in das im Schatten der Sankt-Markus-Kathedrale gelegene Dominikanerkloster zurückkehren. Dort hatten sie ihn in Logis genommen, was er damit vergalt, daß er die Bibliothek des Klosters in Ordnung hielt. So lebte er nun dort seit fünf Jahren inmitten von muffigen Wälzern und Schriften das ruhige und friedvolle Leben eines Gelehrten. In dem sicheren Refugium des Klosters, umgeben von seinen Büchern, war ihm ein Dasein in mönchischer Zurückgezogenheit, für das er sich entschlossen hatte, unendlich reizvoll erschienen. Er trug sich mit der Absicht, im Herbst in den heiligen Orden einzutreten; daß er dadurch in seiner Laufbahn als Lehrer rasch vorwärts kommen würde, konnte er nicht hoffen, denn viele Professoren waren ebenfalls Kleriker. Hier stand eben über allem das Forschen nach Erkenntnis, eine Tätigkeit, die von der Schutzherrin Paduas, der Serenissima, wie sie Venedig, die Königin der Adria nannten, unterstützt und gefördert wurde. Seit kurzem allerdings hatten die Ruhe der Bibliothek und das zarte, vergilbte Pergament etwas von ihrem Reiz verloren. Wieso, wußte er nicht. Seine Erfahrung als Arzt sagte ihm, daß dies auf verschiedene schädliche Stauungen in seinem Körper während des langen Winters zurückzuführen sein müsse. Hippokrates und Aristoteles zufolge könnte eine gute Arznei dem abhelfen; aber er war überzeugt, diesmal eher an einer geistigen Verstimmung denn an einer körperlichen zu leiden.
6
II
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ntonio schritt durch das niedrige Haupttor des Universitätsgebäudes, ein wenig gebeugt durch die Schwere seines dunklen Habitus, das ihm beim Gehen um die Beine schlug. Eine flache Samtkappe bedeckte das gewellte Haar des Pädagogen; unter den Arm geklemmt hielt er das kostbare Exemplar der ›Fabrica‹. Eingraviert in den Marmor des Schlußsteins über seinem Haupt verkündete der venezianische Löwe, daß die Universität einer der reichsten Städte der Welt zur Treue verpflichtet war, und zwar Venedig, jener Insel ziviler und akademischer Freiheit inmitten des vom Klerus beherrschten Italiens. Im Laufe der Jahrhunderte, in denen das Leben in der Universität blühte, waren viele berühmte Männer durch dieses Tor geschritten. Vesalius, vielleicht auch Leonardo, der Florentiner, der einige Zeit in dem nur fünfundzwanzig Meilen entfernten Venedig verbracht hatte, dann Michael Servetus – höchste Hoffnung der Ärzte –, der von John Calvin auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden war, und John Caius, der Engländer, der zusammen mit Vesalius im Casa de' Valli, nahe dem Ponte della Poglia, gelebt hatte. Wie Antonio so in Gedanken an jene Unsterblichen, die hier vor ihm geweilt, den Schritt verhielt, trat ein anderer, ebenfalls eine Größe auf medizinischem Gebiet, aus dem Gebäude. Es war Professor Gabriel Fallopio, von den Studenten in Verehrung mit dem latinisierten Namen ›Fallopius‹ betitelt. Als Professor der Anatomie war er Antonios Vorgesetzter, doch hatte er, seit sein Gesundheitszustand infolge seines vorgeschrittenen Alters zu wünschen übrig ließ, sehr viel von den Vorlesungen den breiten und willigen Schultern seines Assistenten aufgebürdet. »Buon giorno, Antonio«, grüßte Fallopius mit warmem Lächeln. »Dove va?« 7
»Zum Kloster, Exzellenz«, antwortete Antonio. »Ich habe einen wunden Finger. Guinterius führte heute für mich die Sezierung durch.« »Ein geschickter Barbier, dieser Guinterius«, bemerkte Fallopius und nickte bekräftigend mit dem Kopf. Antonio paßte sich dem Gang des älteren Mannes an und verkürzte seinen Schritt. Über ihren Häuptern stand die Sonne jetzt fast im Zenit und verhieß mit ihrer Wärme den nahenden Sommer. Als sie in die enge Gasse neben der Universität einbogen, stieg beißender Geruch in ihre Nasen – Gestank aus den Schmelzöfen der Alchimisten und aus dem Anatomiehörsaal. Einen Mathematiker hätte die Gleichung, wie der Gestank in der Luft aufging und sich allmählich auflöste, vielleicht ganz in Anspruch genommen. Antonios Gedanken aber weilten, wie so oft in letzter Zeit, anderswo … Fallopius blickte den jungen Freund scharf an. »Macht Euch der Finger zu schaffen?« »Nein, Exzellenz.« Antonio sammelte sich. »In einigen Tagen werde ich wieder bei den Sezierungen sein.« »Ich habe das Gefühl, als wäret Ihr seit kurzem nicht mehr Ihr selbst.« Antonio lächelte. »Ihr seid besorgt um meine Gesundheit. Aber mir fehlt nichts; ich bin vielleicht nur etwas indisponiert.« »Vielleicht ein leichtes Milzleiden«, meinte Fallopius. »Mag sein. Die sind im Frühling nicht selten.« »Sicher ist es die Milz.« Befriedigt über seine Diagnose nickte der Professor, daß sein Bart wackelte. »Nehmt für alle Fälle Pfingstrosensamen und Honig.« »Werde ich tun«, versprach Antonio. »Auch Aderlaß hilft gegen jede Krankheit.« »Ich habe mir vergangene Nacht etwas Blut abgenommen.« »Hoffentlich von derselben Körperhälfte, auf der Ihr die Entzündung habt.« »Certamente«, versicherte Antonio. »Ihr ratet es ja immer so.« »Es ist nur zu gut bekannt«, fuhr Fallopius in bestimmtem Tone fort, 8
»daß die Ärzte den Prinzen von Piémont vor einigen Jahren durch das Stechen in die Ellenbogenvene auf der der Entzündung entgegengesetzten Seite getötet haben.« »In meinem Fall hatte ich keine andere Wahl, weil ich die Wundnadel nur mit der linken Hand führen konnte.« »Nichtsdestoweniger habt Ihr recht getan«, erwiderte Fallopius. »Vesalius gab bei der Kontroverse über Venensektion die gleiche Anweisung.« Die Vorliebe Antonios für die Lehren des Meisters waren Fallopius nicht unbekannt. Antonio unterdrückte ein Lächeln. Er erinnerte sich gut an die Worte Vesalius' über diesen Gegenstand. Mit seiner Behauptung: scheint es nicht, als führten sie einen edlen Wettstreit, während sie sich dabei wie Hunde anbellen, hatte er die bissigen Diskussionen der Ärzte trefflich beschrieben. Antonio dachte an Vesalius und fragte: »Ist es in Spanien noch immer verboten, auf der Körperseite der Erkrankung zur Ader zu lassen, Exzellenz?« Man sagte den spanischen Ärzten nach, daß sie in diesem Punkt hart seien wie Diamant. Fallopius zuckte die Achseln. »Ja, soviel ich weiß. Sie lernen eben langsam. Pierre Brisson wurde ja auch aus der Pariser Fakultät ausgeschlossen, weil er an der neuen These festhielt.« »Eine Sache, die so vielen Einwänden trotzt, muß richtig sein«, erwiderte Antonio schlau. Fallopius lächelte. »Vielleicht habt Ihr da jetzt einen neuen Grundsatz aufgestellt. Ihr solltet ein Buch schreiben.« »Ich habe keine Hand zum Schreiben.« »Dann zeichnet eben.« Antonio errötete. »Ein Anatom sollte auch gewisse künstlerische Fähigkeiten haben, meint Ihr nicht?« entschuldigte er sich. »Gewiß. Ich wollte nur, ich hätte die Euren. Nichtsdestoweniger ist es an der Zeit, daß Ihr an die Öffentlichkeit tretet. Es wird Euch später einmal, wenn es so weit ist, meinen Nachfolger zu bestimmen, nur förderlich sein.« 9
»Ich bete, daß dies nicht so bald sein möge. Die Universität braucht Euch.« »Nein, mein Sohn.« Fallopius schüttelte den Kopf. »Medizin ist ein Fach für junge Leute. Es gibt so viel zu lernen, und dazu bedarf es junger, eifriger Geister. Geht jetzt an die Arbeit und schreibt ein Buch oder verfaßt eine Monographie; ich selbst könnte das Vorwort schreiben. Lo faro«, schloß er mit Nachdruck, »und sein Thema soll die Jugend sein.« Während der alte Professor weitersprach, wanderten Antonios Gedanken zurück in seine Klosterzelle, wo es etwas gab, das dazu angetan war, das Herz eines Künstlers zu erfreuen, noch dazu, wenn er jung war. »Glaubt Ihr nicht, daß dies ein dankbarer Gegenstand wäre?« fragte Fallopius. »Senza dubbio«, stammelte Antonio. »Ich bin überzeugt, daß Ihr recht habt.« »Ihr habt mir gar nicht zugehört«, entgegnete Fallopius. Verlegen gab Antonio zu, daß er mit den Gedanken ganz wo anders gewesen war. »Una giovane signorina?« fragte Fallopius verschmitzt. »Nein«, wehrte Antonio ab, »ich habe doch die Absicht, in den heiligen …« »Aber Ihr seid noch nicht eingetreten«, unterbrach ihn Fallopius, während sie um eine Ecke bogen und das Universitätsgebäude hinter sich ließen. »Ich will Euch nicht dazu überreden, aber ich glaube, ein Arzt sollte von den Versuchungen des Fleisches etwas wissen, wenn er die Krankheiten, die sie verursachen, richtig behandeln will.« »Ich habe die Versuchungen der Heiligen studiert, Professor.« »Das ist es nicht, was ich meinte«, versetzte Fallopius trocken. »Ist das eine neue Auffassung?« »Ja. Und zwar eine, die geeignet ist, mich mit der Kirche in Konflikt zu bringen, und dies sogar in einer Republik, in der man geistig so aufgeschlossen ist, wie in Venedig«, gestand Fallopius mit halbem Lächeln. »Aber achtet nicht auf das Geschwätz eines alten Mannes, Antonio, und geht den Weg, den ihr gewählt habt.« 10
Sie überquerten jetzt den alten Holzsteg, der das enge Bett des Bacchiglioni überspannte, eines kleinen Flusses, der sich durch die Stadt wand. In der Mitte der Brücke blieb Fallopius stehen und blickte auf das träge dahinfließende Wasser. Es war dunkel und ölig und führte an der Oberfläche Schaum und Abfallstücke mit sich, denn der Fluß nahm auch die Abwässer der Stadt auf. Etwas abseits der Brücke mündete ein kleiner Nebenfluß, der hinter einem der etwas höher am Ufer gelegenen Häuser entsprang, in den Bacchiglioni. Das Wasser des winzigen Bächleins war sonnengefleckt und klar, wo es über den Sand floß. »Da, seht!« rief Fallopius aus und wies nach unten. »Seht, wie der kleine Fluß in den größeren übergeht.« Das klare Wasser drang halbkreisförmig in den Lauf der schmutzigen Flut des Bacchiglioni ein, gerade so, als wollte der frische, junge Strom den breiteren, übelriechenden beiseite schieben und das Flußbecken für sich selbst in Anspruch nehmen. Aber vergeblich; der Streifen, an dem man den Zusammenfluß der beiden erkennen konnte, war kaum einen Meter breit, und dann hatte der Schmutz des Bacchiglioni das reine Quellwasser aufgeschluckt. Drei Meter unterhalb der Einmündung war von dem fröhlichen Ankömmling nichts mehr zu sehen. »So ist es auch mit dem menschlichen Wissen, mein Sohn«, sagte Fallopius ernst. »Der große Strom ist die Summe unserer Erkenntnis, verdunkelt und vergiftet durch Unklarheit, Zweifel, Irrtum und manchmal auch dadurch, daß der Mensch die Wahrheit nicht sehen will, selbst wenn sie ihm ins Gesicht springt.« »Und der kleine Strom ist die Summe neuer Entdeckungen«, fiel ihm Antonio ins Wort, »Entdeckungen, wie die des Columbus.« »Ich dachte nicht an die Entdeckung der Neuen Welt«, versetzte Fallopius trocken, »sondern vielmehr an Dinge, mit denen Ihr und viele andere tüchtige Männer die Wissenschaft bereichern werdet. – Es gibt viele, die den klaren Strom, der der Quelle des menschlichen Genius entspringt, mit Dämmen Einhalt gebieten wollen, damit seine Wucht gebrochen wird. Wenn er dann schließlich doch in den Hauptstrom der menschlichen Erkenntnis einmündet, ist seine Wirkung beinahe 11
verraucht.« Er wies auf den schmutzigbraunen Bacchiglioni unter der Brücke. »Laßt es nicht zu, daß es Euch so ergeht, mein Sohn; merkt es wohl, laßt es nicht zu.« Er schickte sich an, Antonio zu verlassen. »Va bene.« »Va bene, Exzellenz«, wiederholte Antonio mechanisch und beobachtete den alten Mann, der vorsichtig über die Stufen der Brücke stieg. Seine Gedanken kreisten um Fallopius' Worte. Wollte er mir abraten, in den Orden einzutreten, fragte er sich, als er die Brücke verließ und die Richtung zum Kloster einschlug. Seit vielen Jahren war es der Wunsch seiner Eltern gewesen, daß er Priester werde. Sie hatten schwere Opfer gebracht, um ihm das Jus-Studium in Padua zu ermöglichen; sie wandten auch nichts dagegen ein, als er später auf Medizin umsattelte, denn viele der erfolgreichsten Ärzte der Zeit waren Kleriker, waren in weiten Kreisen verehrte Männer, wie Girolamo Cardano und Theophrastus Bombastus von Hohenheim, der sich selbst ›Paracelsus‹ nannte, weil er sich keinem Geringeren als dem großen Celsus ebenbürtig fühlte. Hier in Padua legte der Klerus den Studierenden keine Hindernisse in den Weg. Zwar hatte sich Vesalius mit seiner beharrlichen Behauptung, der Mensch besäße nur zwölf Rippenpaare und nicht dreizehn, wie Galen und die Kirche meinten, die Mißbilligung Roms zugezogen, aber Antonio wußte, daß es in anderen Teilen Italiens und Europas wenig von der für Venedig sprichwörtlich gewordenen Freiheit gab. Das Wort, Verdammung durch die Kirche, galt überall als machtvolle Waffe gegen jeden, der mit den Edikten Roms nicht einverstanden war. Sogar Padua hatte eine Zeit erlebt, in der die glaubensfeurigen Jesuiten versucht hatten, die akademische Freiheit der Universität mit ihrer eigenen Schule zu bekämpfen; aber dank dem Mut der Fakultät und der Unterstützung durch die Riformatori, die die Angelegenheit der Universität vor den allmächtigen Rat der Zehn in Venedig brachten, mußte dieser Versuch scheitern. Antonio hatte als Student an mehr als einer Auseinandersetzung mit den Hörern der Jesuitenuniversität teilgenommen, und nur zu gut erinnerte er sich an die Freude, die ihm der Kampf bereitet hatte, an 12
den festen Schlag seiner Faust gegen nachgebendes Fleisch, an den Schmerz einer blutenden Nase und an die Furcht, die ihnen die Stadtwachen einjagten, wenn sie hinter ihnen her waren. Heute ziemte sich dies natürlich nicht mehr für ihn. Seit er sich entschlossen hatte, dem Orden beizutreten, verlief sein Leben zwischen Kloster und Hörsaal. Gelegentlich machte er wohl auch Krankenbesuche bei den Mitgliedern der Fakultät, wenn sie ärztlicher Betreuung bedurften. Außerhalb Padua und Venedig mußten sich sogar die ärztlichen Visiten einem strengen, nach päpstlichem Dogma aufgestellten Kodex anpassen, wollte der Arzt nicht als Ketzer bezeichnet werden. Der Aufstieg der Inquisition in Spanien und ihre wachsende Stärke verschärften die Situation derart, daß es höchst gefährlich war, von den Vorschriften abzuweichen. Wollte man nicht gar Vesalius noch vor seiner plötzlichen Abreise vor ein Gericht zerren, und hatte Calvin nicht Michael Servetus, den vielleicht hoffnungsvollsten jungen Arzt des Jahrhunderts, verbrennen lassen, weil er die theologische Gottesauffassung einer Kritik unterzogen und weil er sich anmaßte, entgegen Galen zu behaupten, daß die Herzkammern durch keine Öffnung in der Zwischenwand verbunden wären und daß das Blut nur durch die Lungen wieder zum Herzen zurückkehren konnte?
III
A
ntonio wies die Gedanken zurück, die Fallopius mit seinen Andeutungen heraufbeschworen hatte, überquerte noch einmal den Bacchiglioni und bog in eine breitere Straße ein. Gleich dem Liebhaber, der zu seiner Geliebten eilt, beschleunigte er den Schritt. Er erreichte einen großen offenen Platz, den ein riesiges Reiterstandbild beherrschte, und befand sich jetzt im Herzen Paduas. Geschäftiger Lärm brauste um ihn, würziger Geruch frischen Gemüses stieg von den 13
Ständen des nahen Marktes, die Luft war erfüllt von dem Geschrei der Hausierer und Weinhändler, deren Esel, beladen mit gefüllten Weinschläuchen, wie mythische Bestien aus der Apokalypse anmuteten. Im gleißenden Sonnenlicht, das dem Auge weh tat, lag vor ihm der weiße Palazzo Municipale, der Sitz der Regierung. Nahe daran befand sich der Gerichtshof, wo jeden Morgen eine feierliche Versammlung einberufen wurde, um Gegensätze zu bereinigen und jene zu bestrafen, die es gewagt hatten, die Gesetze der Serenissima zu mißachten. Antonio eilte über den offenen Platz. Im Schatten des hohen Campanile der Sankt-Markus-Kathedrale verhielt er kurz, bekreuzigte sich und ging dann um eine Ecke dem Kloster zu. Hier waren die Schatten tief und kühl. Obwohl ihm vom raschen Gehen heiß geworden war, verweilte er nicht. Er stieß die massive Eichentüre der Priorei auf und betrat eine andere Welt; einen kühlen, dämmrigen Ort der Ruhe und Einkehr, weit weg vom Lärm der Stadt. In diesem Haus, das dem Frieden und dem Ruhme Gottes geweiht war, schien es keine Hast zu geben. Auch Antonio zügelte jetzt seine Schritte und ging etwas langsamer über den Korridor. Gewohnheitsmäßig trat sein Fuß in die leichten Vertiefungen, die Abertausende von Füßen im Laufe der Jahre im Steinflur ausgetreten hatten. Ein junger Priester kam ihm lächelnd entgegen. »Pax vobiscum, Frater Antonio«, grüßte er. »Et tecum pax«, antwortete Antonio und trat rasch durch die offene Tür der Bibliothek, weil der andere Anstalten machte, stehen zu bleiben, um ein Gespräch anzuknüpfen. Aus dem großen Raum mit den breiten, dunklen Deckenbalken schlug ihm der Geruch von Büchern entgegen. Es war ein Gemisch von Duft alten Leders, weicher, wohlriechender Kalbshaut und frischer Tinte, denn hier schrieben abends die Mönche ihre Manuskripte. Gegenüber lag die Tür zu Antonios eigener kleiner Zelle. Auf sie schritt er zu, blickte kurz über die Schulter, um sich zu überzeugen, daß niemand in der Nähe war, der beobachten könnte, daß er seine Tür versperrt hatte, dann griff er nach dem Schlüssel, öffnete, betrat eilig den Raum und schloß die Tür hinter sich wieder ab. 14
Wie immer mußte er den Atem anhalten beim Anblick des Gemäldes, das auf einem einfachen Gestell eine ganze Wand seiner Zelle einnahm, so überwältigte ihn die Lieblichkeit der darauf dargestellten Figur. Ein Sonnenstrahl fiel durch das hochgelegene Fenster des Raumes und beleuchtete das herrliche Weib auf dem Bild, das eben einer großen, durch ihre Last ein wenig geneigten Seemuschel entstieg. Es hatte einen Fuß leicht gehoben, als versuche es, den dunklen Boden des Strandes zu erreichen, auf dem die Muschel lag. Das Bild atmete Leben und Bewegung. Die Wangen des Windgottes, der das Muschelboot an Land getrieben hatte, waren noch aufgeblasen. Neben der Herrin stand eine Maid, die ihr einen rotgeblumten Mantel entgegenhielt, damit sie ihren Körper einhülle und ihre keusche Schönheit vor entweihenden Blicken bewahre. Hatte je ein irdisches Weib solch überirdischen Reiz besessen, fragte sich Antonio. Konnte lebendige Haut je in solcher Harmonie mit den zarten Farben des Morgens leuchten? Hatten Feenhände aus irgendeinem verzauberten Schatz diese blendend goldene Kaskade von Haaren gesponnen? Seine Kenntnis des menschlichen Körpers und sein künstlerisches Empfinden sagten ihm, daß dies alles höchste Vollendung sei. Die schlanke Säule des Halses, der den kleinen, anmutigen Kopf trug, der Bogen, den Schulter und Arm bildeten, die züchtige Haltung der zarten Finger ihrer Hand, mit denen sie die Brust vor neugierigen Blicken verdeckte, die fein modellierten Muskeln, die sanfte Rundung der Figur und die schlanken Hüften, die in die herrlich gerundete Fülle der Schenkel übergingen, das in der Bewegung festgehaltene Ebenmaß des Knies und der Wade, die Wölbung des zierlichen Fußes, alles an ihr war in seiner Schönheit vollkommen, wie es nur ein wahrhaft großer Künstler oder Gott selbst schaffen konnte. Hastig riß er die Lade aus dem kleinen Tisch neben seiner Bettstelle und kramte darin herum. Mehrere Bogen Papier fielen zur Erde, alle mit unfertigen Skizzen von Schenkel, Wade, Arm oder Schulter bedeckt. Einige waren zerrissen, andere mit dicken Linien durchgestrichen, wie er sie in ärgerlicher Zerstörungswut und Verzweiflung über 15
seine Unfähigkeit entstellte, weil es ihm nicht gelingen wollte, die so nahe und doch so unerreichbare Schönheit darzustellen. Er nahm einen Zeichenstift und ein leeres Blatt. Abermals wanderte sein Blick zum Gemälde. Die Umrisse waren so tief in sein Gehirn eingegraben, daß er sie aus dem Gedächtnis hätte wiedergeben können. Unwillig fühlte er, noch ehe er anfing, daß es auch diesmal mißlingen würde. Seit er das Bildnis in einer Rolle anderer Gemälde, die ein Unbekannter zurückgelassen hatte, aufgefunden hatte, versuchte er, diese ihm nicht erfaßbare Schönheit auf ein Zeichenblatt zu bannen, und jedesmal mußte er in höhnender Verzweiflung aufgeben. Sein Blick konzentrierte sich jetzt auf die entblößte linke Brust. Sollte er es wagen, die sanfte vollendete Kontur, die süße Fülle, die geschwellte Brustwarze mit ihrem dunkler schattierten Hof zu zeichnen? Er hielt den Stift fest in den starken Fingern. Ein mächtiges Gefühl in seinem Inneren ließ ihn erbeben und er wußte, daß dieses Gefühl stärker war als der gewöhnliche künstlerische Drang, eine schöne Frau zu porträtieren, wo immer man sie finden mochte. Während er sich bemühte, die Linien, Schatten und Bogen auf sein Blatt zu bannen, stieg ein anderer Wunsch in ihm auf; ein fremdes, wildes Verlangen trieb ihn, das gemalte Fleisch zu berühren, als könnte er es dadurch zum Leben entfachen. Antonio bezwang sein drängendes Begehren und begann zu zeichnen. Mit breiten, geübten Strichen brachte er die Umrisse der Brust zu Papier. Doch als er daran ging, die Details wiederzugeben und mit dem dunklen Stift die vortrefflichen Schattierungen kopieren wollte, verlangsamten sich seine Bewegungen, er fühlte die Finger hölzern und schwerfällig werden. Grimmig zwang er sich, fortzufahren, radierte, skizzierte neuerlich und radierte abermals, bis er schließlich mit einem Ausruf der Verzweiflung und Verwirrung das Blatt zerriß und den Stift in plötzlicher Wut und aus Ärger über seine Unfähigkeit gegen die Wand schleuderte, wo er zerbrach, einen dunklen Schmutzfleck hinterließ und dann in Stücken zu Boden fiel.
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IV
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ntonio nahm das Abendessen im großen Speisesaal des Klosters ein. Auf einer niedrigen Estrade stand der Tisch für den Prior und die höheren Ordensmitglieder. Antonio selber teilte ganz am Ende des Saales einen Tisch mit den Laienbrüdern. Nur wenn er in den Orden einträte, könnte er weiter aufrücken. Bei der Aussicht, die er hatte, dereinst den Lehrstuhl für Anatomie an der Universität Padua zu erhalten, würde er eines Tages seinen Sitz auf der Estrade haben, wie es sich für einen Universitätsprofessor geziemte. Der Sessel des Priors war nun schon seit einer Woche leer und aller Voraussicht nach würde Fra Mario Bellarmi, das Oberhaupt des Ordens, der nun Antonios Patient war, diesen Platz nie mehr einnehmen können; Wassersucht und eine merkliche Erlahmung des Herzens, das jahrelang durch die Anforderungen eines riesigen, sich nichts versägenden Körpers beansprucht worden war, schienen dem Leben des Priors ein Ende zu bereiten, obwohl sein Arzt alles, was in seiner Macht stand, dagegen aufbot. Antonio blickte mit glanzlosen Augen auf die dicke Bohnensuppe in seiner Schüssel. Er war sonst ein tüchtiger Esser, aber seit einiger Zeit hatte er keinen Appetit. Er tauchte den Löffel in die Suppe, kostete und schob dann die Schüssel von sich. Indessen löffelten die anderen Brüder eifrig den dicken, nahrhaften Brei und tunkten den Rest in ihren Schüsseln mit einem Stück dunklen Brotes auf. Hernach wurde gebratenes Lammfleisch ausgeteilt, das auf hölzernen Schneidebrettern lag. Man mußte das Fleisch mit den Fingern zerreißen, denn Messer und Gabeln wurden nur in sehr vornehmen Haushalten gebraucht. Zum Schluß gab es dünnen, sauren Wein, der in schweren Krügen herumgereicht wurde. Auf der Estrade gab es gewiß feinen Madeira oder 17
schweren Portwein, da die höheren Geistlichen sich in bezug auf Tafelfreuden keinen Zwang auflegten. Nach dem Mahle gingen die Mönche und Laienbrüder, unter denen sich auch Antonio befand, hinaus zum Abendgebet. Als er bei der Estrade vorbeikam, erhob sich Fra Felipe Santos, der administrative Vorstand des Klosters und des Priors rechte Hand, gerade von seinem Platz und wischte sich die dünnen Lippen mit einer kostbaren Linnenserviette ab. »Buona sera, padre«, grüßte Antonio pflichtschuldig. »Benedicamus, Frater Antonio«, antwortete der Priester, »wie steht es mit Eurem Finger?« »Er ist beinahe wieder gut, Gott sei Dank.« »Dann könnt Ihr heute abend Seiner Hochwürden Eure Aufwartung machen?« »Ja. Es war meine Absicht, dies nach dem Abendgebet zu tun.« »Ihr seid von den Gebeten befreit«, sagte Fra Felipe. »Fra Mario kämpft schwer mit dem Atem.« Der Klang seiner Stimme war sehr teilnahmsvoll, jedoch in den frostig-blauen Augen des Subpriors sah Antonio kein Mitleid. Es war allgemein bekannt, daß Fra Felipe Santos bloß auf den letzten Atemzug seines Vorgesetzten wartete, um dann selbst die Leitung des Klosters zu übernehmen. »Die Plethora dürfte sich wieder verschlimmern«, äußerte Antonio. Trotz häufiger Aderlässe litt der Prior schon seit Monaten an starkem Blutandrang, der seine Atmung derart hemmte, daß er das Bett nicht mehr verlassen konnte. »Dasselbe glaube ich auch«, stimmte Fra Felipe bei. »Ich will die Wundnadel holen und folge Euch dann in das Gemach Seiner Ehrwürden.« Fra Mario Bellarmi begnügte sich nicht mit einer so ärmlichen Unterkunft, wie sie die geringeren Mitglieder des Ordens besaßen. Antonio folgte dem düster dreinblickenden Diener über einen mit kostbaren Teppichen belegten Gang in das verschwenderisch ausgestattete Audienzzimmer, in dem der Prior die Angelegenheiten des Hauses zu regeln pflegte, und von hier in das etwas weniger geräumige 18
Schlafzimmer. Am Fußende des Bettes stand Fra Felipe Santos, hager und aufrecht im makellosen Ordenskleid der Dominikaner. Schon das Lager des Priors war in seinem riesigen Ausmaß so groß wie Antonios Zelle. Die kostbaren Vorhänge in Gold und Azur waren mit Szenen aus einem religiösen Weihespiel bestickt. Den niedrigen Raum des mit Kissen und Polstern reich belegten Bettes verbarg eine gestickte Draperie. Auf einem aus wertvollem Holz geschnitzten Taburett standen mehrere Flaschen und Krüge, die bewiesen, daß Seine Hochwürden, ähnlich den meisten seiner Zeitgenossen, sich nicht bedingungslos den Händen des Arztes anvertraute, sondern sich mit allen möglichen Heilmittelchen behalf, die er für gut befand oder die ihm von anderen empfohlen wurden. Fra Mario Bellarmi war ein riesiger Mann, dem ein volles Gesicht und eine massive Stirn irgendwie das Aussehen eines gutgenährten, aber gutmütigen Bullen gaben. Seine Backen waren von einem Netz scharlachroter Äderchen durchzogen, die sich von der ungesunden bläulichen Farbe seiner Haut deutlich abhoben. Die Lippen waren wulstig und schiefergrau. Die Adern auf seiner Stirn, wie auch die an den Händen und den behaarten Unterarmen, die unter der Handkrause des Nachtgewandes aus feinem Linnen sichtbar wurden, traten stark hervor. Sein Atem ging laut, hart und sehr gequält. Aus den weit aufgerissenen Augen blickte die Angst, aber nichts von einer demütigen Hingabe an den Willen Gottes, von der er immer so streng gepredigt hatte. Auf Polster gestützt, saß er beinahe aufrecht in seinem Bett; aus seiner Kehle kam ein seltsames, keuchendes Gerassel. Antonio kniete am Bette nieder und empfing des Priors Segen. Dann erhob er sich rasch und nahm die Untersuchung vor. Der angeschwollene Leib und die gespannte fahle Haut der Beine, die das Doppelte ihrer normalen Größe hatten, wiesen eindeutig auf Wassersucht. Als Antonio auf die Fußgelenke des Priors drückte, hinterließen seine Fingerspitzen eine tiefe Einbuchtung, die noch lange blieb, nachdem der Druck sich gelöst hatte. Der Atem Seiner Hochwürden ging mit jedem Tag schwerer, die Anschwellungen wurden immer stärker. »Was meint Ihr, Dr. Servetus?« keuchte Fra Mario. 19
Taktvoll erwiderte Antonio: »Die Plethora ist offenkundig, aber ich glaube, ein kleiner Aderlaß wird Eurer Hochwürden Linderung bringen.« »Aderlaß«, sagte Fra Mario verdrießlich, »wißt Ihr nichts Besseres als immer nur Aderlaß?« Antonio kannte die Abneigung des hochwürdigen Vaters gegen die Wundnadel. »Es hat Euch schon öfters geholfen«, gab Antonio zu bedenken. »Dann fangt schon an«, keuchte der Prior, »aber sachte, mein Sohn, sachte.« »Ich habe die Wundnadel eigens für Eure Hochwürden geschärft.« Antonio öffnete seine Schachtel. »Es wird nicht sehr schmerzen.« In den Augen des Priors leuchtete es auf. »Benissimo!« rasselte es aus ihm. »Vediamo!« Antonio breitete ein großes Handtuch unter dem Arm seines Patienten aus, dann zog er den linken Ärmel des Nachtgewandes hinauf, um den Arm frei zu haben, und stellte eine kleine Achatschüssel auf das Handtuch neben den Ellbogen. Aus der Instrumentenschachtel wählte er eine kleine, gekrümmte und haarscharf geschliffene Klinge aus bestem Damaskusstahl. Die Spitze war etwas hakenförmig und ganz schmal, kaum größer als eine Nähnadel. Er war überzeugt, daß sie weniger Schmerzen bereiten würde als die stumpfen, geraden Klingen, die die meisten Ärzte gebrauchten. Antonio hielt die Nadel in der rechten Hand, während seine Linke den Arm des Priors umschloß und ihn preßte, bis die schon ziemlich hervorgetretenen Venen durch die Haut zu platzen schienen. Der Prior lag jetzt da, jeden Muskel angespannt, die Zähne zusammengebissen und im Gesicht den Ausdruck des vorausgeahnten Schmerzes. Mit einem einzigen, schnellen Stich durchstieß Antonio Haut und Ader. Dunkel gefärbtes Blut sprang in einem gekrümmten Strom aufwärts und fiel in die Achatschüssel. Der Prior stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus und entspannte sich; er beobachtete, wie der Spiegel in der Schüssel langsam stieg, während der rote Strom hineinsprudelte. 20
»Was bin ich denn?« brummte er, »eine Blutfabrik?« »Das bringt die Plethora mit sich«, erklärte Antonio. »Es ist zu viel Blut vorhanden, so daß Eure Blutbahnen überlastet sind. Die Entfernung eines gewissen Quantums verringert die Last auf dem Herzen.« »Ella ha ragione«, stimmte der Prior zu, »ich fühle mich bereits besser.« Normalerweise hätte Antonio nur eine halbe Schüssel Blut abgelassen, aber er sah, wie sehr der Prior litt, und so ließ er den Strom weiterfließen, bis die Schüssel gefüllt war. Die Besserung stellte sich sofort ein: der Atem Fra Marios ging ruhiger, der Blutandrang in den Adern des Gesichtes und der Arme ließ nach, das Gerassel in der Lunge hatte fast ganz aufgehört. »Der Herr scheint durch die Hände unseres jungen Arztes ein Wunder bewirkt zu haben«, sagte Fra Felipe Santos salbungsvoll. Er hatte sich vom Bett entfernt, als Antonio mit seiner Arbeit begann, wahrscheinlich aus Angst, sein Ordenskleid könnte von dem Blut befleckt werden. »Capisco!« Der Prior bekreuzigte sich. Antonio aber wußte besser, wie das Wunder zustandegekommen war. Er wußte auch, wie lange die Wirkung andauern würde. Er beugte das Haupt, um nochmals den Segen des Priors zu empfangen, dann sammelte er seine Instrumente und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen. »Ich glaube, nach dem Aderlaß werdet Ihr gut schlafen können«, meinte er. »Damit Ihr aber sicher die Ruhe habt, die Ihr benötigt, würde ich zu einer Tasse Glühwein raten!« Fra Marios Augen glänzten. Er liebte Wein in jeder Form, aber man hatte ihm nahegelegt, sich bei seinem gegenwärtigen Zustand dieses Genusses zu enthalten. Dieser junge Arzt hat eben Verständnis, dachte er und befahl seinem Diener, ihm einen Trunk zu bereiten. Fra Felipe folgte Antonio aus dem Gemach. »Eine gut verrichtete Arbeit verdient Anerkennung«, sagte er vertraulich. Antonio versuchte, die Anerkennung abzuwehren, da er schnell in seine Zelle zu dem Gemälde zurückkehren wollte. »Keine Bescheidenheit jetzt.« Der Priester lachte. »Ich kenne Eure 21
Vorliebe für Madeirawein. Außerdem habe ich einige Fragen an Euch zu richten.« Ergeben folgte ihm Antonio auf sein Zimmer, das etwas weniger prächtig ausgestattet war als das des Priors. In aufgeräumter Stimmung füllte Fra Felipe zwei Gläser mit ausgezeichnetem Wein, den er zu seinem eigenen Gebrauch bereit hielt, und brachte ein silbernes Tablett mit süßem Backwerk. Antonio glaubte nicht fehl zu gehen, wenn er annahm, daß Fra Felipe nur deshalb so fröhlich war, weil ihm des Priors Ende nahe schien und er hoffen konnte, zum Oberhaupt des Klosters erhoben zu werden. »Sehr bedauerlich, diese Krankheit Seiner Hochwürden«, bemerkte Fra Felipe und ließ sich in einem gepolsterten Stuhl nieder. »Ich schrieb seinen Verwandten in Florenz vor einem Monat, daß er krank sei. Wie lange, glaubt Ihr, wird es noch dauern?« »Das ist unmöglich zu sagen. Nicht sehr lange jedenfalls, wenn ich mich äußern darf.« »Erwartet Ihr von dem Aderlaß irgendeine dauernde Wirkung?« Antonio schüttelte den Kopf. »Ich habe noch nicht erlebt, daß jemand von einer Plethora in diesem Ausmaß genesen wäre.« »Auch ich nicht.« Fra Felipe nippte gedankenvoll an seinem Glas. »Ich habe gemerkt, daß Ihr heute abend das Blut von der linken Seite abließet. Darf ich fragen, warum?« »Das Herz befindet sich auf der linken Seite«, versetzte Antonio. »Zugegeben. Aber die Beschwerden scheinen doch vor allem in den Lungen zu sitzen.« »Das ist eine heikle Frage«, gab Antonio zu. Er war von der Tatsache, daß der Aderlaß vom Arm die Atmung zu erleichtern schien, berührt worden, und er hatte sich darüber gewundert. Jetzt, da die Wärme des Weines seine Gedanken anfeuerte, sagte er bedachtsam: »Vielleicht gibt es irgendeine Verbindung zwischen dem Kreislauf und den Lungen.« »Habt Ihr bei Euren Sezierungen etwas gefunden?« »Nein«, gestand Antonio. »Aber ich habe festgestellt, daß das Herz in solchen Fällen gewöhnlich sehr groß ist; besonders der linke Ventrikel.« 22
»Eine interessante Beobachtung«, pflichtete Fra Felipe bei. »Ihr vermutet also einen Zusammenhang?« Antonio hatte sich immer wieder mit dieser Frage beschäftigt und plötzlich kam ihm die Erleuchtung, als hätte sich eine Wolke über seinen Gedanken gelüftet. Die Antwort war so einfach, so verblüffend und kam mit derartiger Wucht, daß er unwillkürlich ausrief: »Michael muß doch recht gehabt haben.« Im Schauer seiner Entdeckung hatte er vergessen, daß er nicht allein war. »Michael?« fragte Fra Felipe scharf. Antonio war sofort auf der Hut. Die Worte waren ihm im plötzlichen Erkennen der Wahrheit entschlüpft. Vorsichtig erklärte er: »Ich sprach von Michael Servetus. Er war früher Anatom hier zu Padua. Und«, fügte er wie einen Nachsatz hinzu, »ein entfernter Verwandter von mir.« »Warum sagt Ihr, daß er recht gehabt haben muß?« Antonio war bestürzt über diese direkte Fragestellung. Er erkannte, daß er etwas Unbedachtes gesagt hatte, denn wenn Fra Felipe einmal einen Gedanken aufgriff, dann verfuhr er damit wie die Katze mit der Maus. »Ich erinnerte mich der Theorie des Servetus, die besagt, daß der Lebensgeist den Körper durchdringt«, erklärte er. »Ah! Der Lebensgeist.« Fra Felipes Nasenflügel bebten wie die eines Jagdhundes auf der Fährte. Hier war ein Thema, das mit Theologie, seiner großen Leidenschaft, zu tun hatte. »Erzählt mir mehr davon«, befahl er. Antonio suchte nach Worten, fand aber keine passenden, um wieder gutzumachen, was er in seiner Gedankenlosigkeit angerichtet hatte. »Vielleicht entsinne ich mich, was Servetus darüber schrieb«, sagte er verzweifelt. »Ich glaube, es war folgendes: ›Der Lebensgeist wird in den Lungen durch die Vermischung der eingeatmeten Luft und dem fein verteilten Blut, das die rechte Herzkammer zur linken schickt, erzeugt.‹« Der Priester runzelte die Stirne und rieb sein ausgeprägtes Kinn. 23
»Laßt mich überlegen«, sagte er nachdenklich. »Nach Galen, dessen Schriften von der Mutter Kirche anerkannt werden, sind die Kammern des Herzens muskulöse Gebilde, die sich zusammenziehen und wieder lösen und dadurch eine dauernde Zirkulation in den Blutgefäßen gewährleisten. Galen stellte auch fest, daß das in den großen Venen zum Herzen gebrachte Blut durch die durchlöcherte Herzzwischenwand oder das Septum wieder in die Arterien gelangt.« Er war ganz offensichtlich erfreut über seine medizinischen Kenntnisse. »Es stimmt doch, was ich sagte, nicht wahr?« »Das ist Galens Doktrin«, gab Antonio zu. »Aber Servetus fand, daß es diese Durchlöcherung in der Wand zwischen der linken und rechten Herzkammer nicht gibt.« »Versuchte er somit Galen zu widersprechen?« Fra Felipes Stimme war ob der eben gehörten Gotteslästerung eisig geworden. »Was Servetus über den Lungenkreislauf sagte, erklärt, glaube ich, die Plethora, die wir im Falle Fra Marios feststellten«, fuhr Antonio fort und zitierte die vertrauten Sätze, ehe Fra Felipe eine Einwendung machen konnte: »›Die Verbindung zwischen den Herzkammern wird nicht durch die Herzzwischenwand hergestellt, sondern der Blutstrom gelangt auf wunderbare Weise aus der rechten Herzkammer in die Lungen, wo er seine rote Farbe erhält. Von der Arteria venosa wird er in die Vena arteriosa geleitet, aus der er schließlich durch die Diastole in die linke Herzkammer gezogen wird.‹« »Ihr scheint mit dieser Theorie sehr gut vertraut zu sein«, bemerkte Fra Felipe scharf, »obwohl sie mit der unseres Meisters Galen nicht übereinstimmt.« »Ich bin Anatom«, erwiderte Antonio, »ich studiere alles, was auf den menschlichen Körper Bezug haben kann.« »Nichtsdestoweniger kann die Kirche keine Theorie anerkennen, die zu Galen im Gegensatz steht.« »Aber Ihr habt doch gesehen, daß die Rumpfvenen und Lungen infolge der Plethora mit Blut überfüllt waren«, warf Antonio ein, »dies konnte nur bedeuten, daß das Blut nicht ordentlich heraufgepumpt war.« 24
»Vielleicht«, unterbrach Fra Felipe widerspenstig, »gibt es dafür eine andere Erklärung.« »Es hat sich erwiesen«, fuhr Antonio unbeirrbar fort, »und daher kann es zwischen den Herzkammern keine Verbindung geben, sonst würde das überschüssige Blut in die Vena arteriosa eindringen. Wie die Sache aber steht, wird das überschüssige Blut aus dem Rumpf ebenfalls in die Lungen gepumpt und verursacht dort auch eine Plethora. Es erklärt sich alles auf logische Weise.« »Galen ist anderer Meinung«, entgegnete Fra Felipe störrisch. »Fluch über Galen«, rief Antonio erbittert über diese Einfalt aus. »Vesalius bewies, daß Galen in vielen Dingen unrecht hatte.« Zornesröte schoß in die bleichen Wangen Fra Felipes. »Ihr würdet gut daran tun, Eure Worte zu bedenken, Doktor«, fuhr er ihn an. »Die Mutter Kirche steht auf seiten Galens. Das sollte für Euch genügen.« »Aber Servetus …« »Servetus sei verd …« Der Priester sprach den Fluch nicht aus; in seinen kalten blauen Augen leuchtete es plötzlich listig auf. »Meint Ihr jenen Miguel oder Michael Servetus?« »Ja.« »Sagtet Ihr nicht, er sei ein Verwandter von Euch?« »Entfernt verwandt«, stammelte Antonio. »Ein Vetter oder so …« »Ist das derselbe Michael Servetus, der wegen Häresie verbrannt wurde?« »Ja. Aber auf Betreiben Calvins.« »Er wurde von der Mutter Kirche wegen Häresie verdammt, soviel ich mich entsinne.« »Durch die Inquisition«, sagte Antonio bitter. Fra Felipe zuckte mit den Schultern. »Das ist so gut wie gleich. Ihr wußtet von all dem?« Antonio zögerte; er war bereits in die Falle gegangen. »Ja«, gab er zu. »Aber was haben seine medizinischen Entdeckungen mit Häresie zu tun?« »Was sagt Ihr da?« Fra Felipes Augen brannten in fanatischer Glut 25
und drohend erhob er seinen knöchernen Finger vor dem Antlitz Antonios. »Es ist verboten, die Worte eines Häretikers zu wiederholen oder seine Schriften zu lesen!« Nur mühsam beherrschte er sich. Dann nahm er einen Schluck Wein und sagte nach kurzer Pause: »Ich bin überzeugt, daß Ihr nicht bedacht habt, welche Sünde Ihr begeht. Das ergeht manchem so in der Jugend. Aber Ihr dürft nie mehr von den Lehren dieses Ketzers sprechen oder auch nur daran denken.« Antonio wollte widersprechen, aber Fra Felipe erhob gebietend die Hand. »Geht zur Kapelle und bittet den Herrn um Vergebung; bittet, er möge die verderblichen Worte aus Eurem Geist und Eurer Seele auslöschen. Denkt stets daran, daß die Schriften der Häretiker in unserer Wissenschaft keinen Platz haben.« »Aber Vater …«, wollte Antonio einwenden. »Nehmt meine Geduld nicht zu sehr in Anspruch, Antonio. Ich bin sehr milde, denn es erlitten Menschen für geringere Sünden als die Euren den Tod. Geht und tuet Buße.«
V
I
n der matterleuchteten Kapelle war es ruhig und friedvoll. In Antonios Seele aber war kein Friede, als er vor dem Altar niederkniete. Die Heilige Mutter mit dem Kind auf dem Arm, umgeben von Heiligen, lächelte mitleidsvoll auf ihn herab. Von Fra Felipe aber wußte er, daß dieser kein Erbarmen kennen würde und er fragte sich, ob jene damals Mitleid gekannt hatten, die Michael Servetus auf den Scheiterhaufen brachten. Zum ersten Male in seinem Leben fand sich Antonio an seinem Glauben irre werdend; der Zweifel nagte in seinem tiefsten Innersten. Mechanisch flossen von seinen Lippen die Gebetsformeln, während 26
seine Gedanken wild durcheinander wirbelten: »Ave Maria, gratia plena; Dominus tecum; benedicta tu in mulieribus …« Wieso hatte er gesündigt? Weil er an der Wahrheit festhielt? Dann war Vesalius ein Ketzer und Fallopius ebenfalls und die glänzende Schar von Männern, deren Wagemut und deren Ideen der Wissenschaft das Tor zu einer neuen Welt geöffnet hatten. Wenn er Fra Felipes Diktat folgte und Äußerungen gegen Aristoteles und Galen als Häresie betrachtete, wie konnte er dann jemals die tausend Dinge, die ein Verstand zu verstehen wünschte, kennenlernen? »Sancta Maria, Mater Dei, ora pro nobis peccatoribus …«, fuhr er im Gebet fort, aber sein Geist beschäftigte sich jetzt mit der Entdeckung, die er heute abend gemacht hatte: die Zirkulation des Blutes durch die Lungen. Der Beweis in Fra Marios Körper war offensichtlich gewesen. Wie konnte eine solche Erkenntnis, die von einem dem Dienste Gottes geweihten Körper abgeleitet wurde, Ketzerei sein? Konnten die Edikte der Kirche die Organe und Blutgefäße und das Blut, das durch sie zirkulierte, wie es sich bei seinen Sezierungen ergeben hatte, ändern? Konnten sie dann nicht ebenso gut die Phasen des Mondes, den Lauf der Gestirne, die unverrückbare Wahrheit in den Sätzen Euklids oder den Regen, der vom Himmel fiel, verleugnen? Sein nüchterner Verstand sagte ihm, daß Wahrheit Wahrheit sei, wer immer sie verkünde. Das Dogma jedoch stellte kategorisch fest, daß dem nicht so sei. Und die Kirche bekräftigte ihre Doktrin, indem sie – wenn notwendig – jeden, der die Wahrheit über etwas verkündete, das sie nicht anerkannte, auf dem Scheiterhaufen verbrennen ließ. Verbrennen, wie sie Michael Servetus verbrannt hatten, an jenem Oktobertag vor ungefähr zehn Jahren … Michael Servetus, seinen älteren Bruder. »… nunc et in hora mortis –« Seine Stimme hielt inne, doch seine Gedanken schritten weiter. »Die Stunde des Todes!« … Noch einmal sah er sich mit seinem Vater an jenem kühlen Oktobertag auf mühevollen Gebirgspfaden der Schweiz zuwandern. Müde von den Beschwernissen des Weges und verzehrt von einer inneren Qual, die alle körperliche übertraf, hatte sich der Vater, Halt suchend, auf Antonios Schulter gestützt. Er war damals ein Junge gewesen, ein großer, kräf27
tiger Bursche von 15 Jahren, ernst und gedankenvoll, aber noch unfähig, die große Tragödie zu verstehen, von der sie in ihrem Heimatdorf in den nördlichen Bergen Italiens Kunde erhalten hatten. Bis gestern war sein Vater überaus stolz gewesen, den berühmten Gelehrten und beliebten Arzt aller Großen in den Städten, Michael Servetus, zum Sohn zu haben. Er war bekannt dafür, daß er Samstagabends, bei seinem Wein in der Taverne, gerne mit den Heldentaten seines ältesten Sohnes prahlte, den Antonio selbst nur einige Male gesehen hatte und an welchen er sich kaum erinnerte. Könige hatten gelauscht, wenn Michael Servetus sprach, und die Hörsäle waren überfüllt, wenn er über Medizin, Anatomie, Mathematik oder auch über Theologie vortrug. Vor wenigen Monaten war die Nachricht ins Gebirgsdorf gekommen, daß Michael es gewagt hatte, die Dreieinigkeit Gottes, die Unsterblichkeit seines Sohnes und das Wiedertäufertum zu bezweifeln. Antonio hatte damals noch nicht begriffen, was diese Dinge bedeuteten, aber er ahnte, daß sie eine Bedrohung für die Grundsätze der katholischen wie auch der protestantischen Religion, daß sie Ketzerei waren und als solche nicht unbestraft bleiben würden. Dann war aus Genf die fürchterliche Kunde von der Verhaftung und dem Prozeß gegen Michael Servetus eingetroffen. Die Neuigkeit war aber schon fast zwei Monate alt. Michael selbst hatte nicht geschrieben. An jenem Nachmittag nun, an dem er mit dem Vater über das Gebirge nordwärts in die Schweiz wanderte, hatte sich der gesunde, kräftige Mann in einen gebrochenen Greis verwandelt. Sie kamen zu spät, um Michael Servetus Hilfe zu bringen. In Wahrheit hätte ihm ja niemand helfen können, denn er war von seinen Grundsätzen nicht abgewichen, selbst dann nicht, als er erkannt haben mußte, daß sein Schicksal besiegelt war. Als Antonio mit dem müden Vater den steilen Pfad bergab schritt, zog durch die engen Gassen des Dorfes Champel schon die Prozession. Die weißen, goldgestickten Gewänder des hageren Mannes, der den Zug anführte, blendeten Antonio fast, so gleißten sie im hellen Oktobersonnenschein. 28
»Calvin«, hörte er die Leute murmeln, während er und der Vater sich den Weg durch das Gedränge bahnten. Da war Scheu und Ehrfurcht und nicht wenig Angst in den Stimmen, denn Johannes Calvin war ein rächender Engel, der alle vernichtete, die es wagten, die Wahrheit seiner Lehren oder die Autorität Gottes, als dessen irdische Verkörperung er sich betrachtete, zu bezweifeln. Hinter Calvin schritten andere hohe, dunkel gekleidete, protestantische Würdenträger. An ihnen war nichts von der Farbenpracht und der Fülle des reichen Prunkes, die man von den Zeremonien der Katholiken her kannte. Die Protestanten, und besonders diese starrköpfige Schweizer Sekte, hielten sich an Sparsamkeit und Einfachheit – in der Kleidung wie im Glauben. Antonio hörte den Vater an seiner Seite qualvoll aufschreien und er dachte, der Vater sei von der drängenden und stoßenden Menge verletzt worden. Doch dann erkannte er den Grund. Hinter den Priestern und den weltlichen Würdenträgern, die die zweite Gruppe der Prozession bildeten, ging ein Mann allein. Sein Körper war mager und sein Haar weiß. Doch er schritt stolz einher, erhobenen Hauptes, die brennenden Augen in die Ferne gerichtet, vielleicht auf den Hügel, wo bereits das trockene Reisig aufgestapelt wurde, dessen Flammen seinen Körper verzehren sollten. Antonio hätte den Bruder nicht erkannt, hätte er nicht seine Augen gesehen. Der glutvolle Blick ließ keine Täuschung zu. »Miguel! Miguel!« stieß der Vater gepreßt hervor. So wurde Michael als Kind gerufen, als sie noch im östlichen Spanien gelebt hatten. Michael wandte den Kopf nicht, aber Antonio spürte seinen brennenden Blick für Sekunden auf sich ruhen. Er gab kein Zeichen des Erkennens und doch bemächtigte sich Antonios plötzlich ein Gefühl der verwandtschaftlichen Zusammengehörigkeit mit dem Bruder, den er kaum kannte. Aus Angst um ihre Sicherheit glaubte er alles vermeiden zu müssen, was die Menge hätte darauf schließen lassen können, sie seien Verwandte des Verdammten. Die Formalitäten waren kurz gewesen. Von einem Wagen, von dem aus man alles gut übersehen konnte, beobachtete Antonio, wie der 29
Bruder das Haupt schüttelte und damit die letzte Gelegenheit, zu widerrufen, zurückwies und seine Schuld eingestand. Ein Raunen ging durch die Menge, denn Michael hatte sich jetzt selbst der Möglichkeit beraubt, dem gräßlichen Flammentod zu entgehen. Überlaut und mit erregter Stimme donnerte Johannes Calvin das Todesurteil. Erregt vielleicht deshalb, weil er gewußt haben mußte, daß das Schweizer Gesetz die Vollstreckung eines Urteils auf dem Scheiterhaufen religiöser Vergehen wegen überhaupt verbot. Erst später, als er zu Padua Kanonisches Recht studierte, erfuhr Antonio, mit welcher Beharrlichkeit Calvin darauf bestanden hatte, den schon erloschenen Codex Justinianus, der die Todesstrafe in solch einem Falle zuließ, wieder zu beleben. Sogar die römische Kirche, von der Michael Servetus ebenfalls verurteilt und verdammt wurde – obzwar in Abwesenheit –, hatte nicht nach einer endgültigen Bestrafung verlangt, wie Johannes Calvin es getan. Als Antonio sah, daß sein Bruder trotz der schrecklichen Qual, die ihm bevorstand, fest und aufrecht blieb, stieg in ihm eine Woge des Stolzes auf, weil er mit einem Manne verwandt war, der an seiner Überzeugung festhielt bis zum bitteren Ende. Ein Laut des Entsetzens kam aus der Menge, als die Fackel an die aufgestapelten Reisigbündel gelegt wurde. In der Stille, die nun folgte, klang nur das verhaltene Schluchzen der Frauen. Der Vater wandte sich ab und vergrub den Kopf auf Antonios Schulter. Er selbst aber vermochte den Blick nicht von den züngelnden Flammen zu lösen, die das trockene Holz aufzehrten und nach dem ausgemergelten, am Pfahl festgebundenen Körper griffen. Er sah, wie die Rauchschwaden emporstiegen und das zerlumpte Gewand des Verdammten Feuer fing. Antonios Kehle war zugeschnürt, aber es war ihm, als müsse er laut aufschreien und dem unversöhnlichen Calvin auf der Estrade dort seine eigene Herausforderung entgegenschleudern. Die Hand des Vaters zog ihn weg. »Komm, Antonio«, drängte der alte Mann mit gebrochener Stimme, »wir müssen jetzt gehen.« Während sie den Hügel hinabschritten, konnte sich Antonio, der 30
den Vater mit seinen starken Armen stützte, nicht enthalten, noch einen Blick zurückzuwerfen. Die Flammen schossen jetzt über die große Gestalt, die Kleider waren schon halb verbrannt, aber der Bruder stand an dem Pfahl, herausfordernd bis zum letzten. Stolz wurde sich Antonio in seinem tiefsten Innern bewußt, daß Michael Servetus selbst im Tod über seine Peiniger triumphierte. Einige Stunden später, sie waren schon weit von der Stadt entfernt, hielten sie an einem Fluß, um zu rasten. Und während sie etwas hartes Brot und Käse zu sich nahmen, sagte Antonio: »Ich war stolz auf ihn, Vater, Ihr nicht auch?« Der Vater schüttelte langsam den Kopf. »Tonio mio, ich habe dich aufgezogen, damit du ein guter Katholik würdest. Vergiß nie, daß dein Bruder der Ketzerei schuldig befunden wurde.« »Er könnte im Recht gewesen sein«, argumentierte Antonio hartnäckig. »Habt Ihr seine Augen gesehen?« Des Vaters Stimme war ernst geworden. »Ketzer haben niemals recht, Tonio. Kein Mensch darf an den Edikten der Mutter Kirche zweifeln. Von diesem Tag an wirst du vergessen, daß du jemals einen Bruder namens Michael Servetus gehabt hast.« »Aber Vater' …« »Leg die Hand auf dein Herz und schwöre …« Langsam hatte Antonio dem Vater nachgesprochen: »Ich schwöre bei der heiligen Jungfrau, niemals den Namen Michael Servetus auszusprechen oder die Verwandtschaft mit ihm anzuerkennen.« »Du bist ein guter Sohn, Antonio.« Der Vater schloß ihn in die Arme. »Ich hoffe, daß du dein Leben der Kirche weihen wirst.« Antonio begriff, daß er mit seinem eigenen Leben für die Sünde des Bruders büßen sollte. Wie er so in jener Nacht neben dem Bach wach lag, war es nicht die Kirche und nicht das Vergehen des Bruders, an die er dachte; seine Gedanken weilten bei den brennenden Augen und dem stolzen Leib, der aufrecht geblieben war auch dann, als schon die Flammen um ihn züngelten … War es möglich, daß sein Bruder recht gehabt hatte und die anderen nicht, fragte sich Antonio, als er dort lag. Er fand damals keine Ant31
wort. Sollte er sie heute abend hier in Padua gefunden haben, in dem erkrankten Körper des Priors? Antonio erhob sich vom Boden der Kapelle und verließ den stillen Raum. Er fand den Frieden nicht, den zu suchen Fra Felipe ihn hierher geschickt hatte. Vielmehr waren seine Bedenken jetzt stärker als zuvor; beinahe stark genug, um sich aus ihnen eine Überzeugung zu formen. Michael hatte mit der Blutzirkulation recht gehabt, das war ihm jetzt gewiß. Konnte derselbe Verstand, der eine so wichtige medizinische Entdeckung gemacht hatte, nicht auch in anderen Fragen recht gehabt haben? Aufgewühlt durch seine Gedanken, durchquerte Antonio die Bibliothek und öffnete die Tür zu seiner Zelle. Der Schachtel neben der Tür entnahm er Zunder, entzündete ihn mit einem Feuerstein und beobachtete, wie die kleine Glut sich vergrößerte und zu einer Flamme wurde. Genauso, dachte er, mochte aus einem kleinen Funken Wahrheit eine große Flamme der Erkenntnis entstehen. Antonio zündete die Kerzen im Wandleuchter an und Licht erfüllte den Raum. Das Gemälde auf der Staffelei bekam Leben im Schein der Kerzen. Bei der Betrachtung jener bleichen, ruhigen Schönheit beruhigten sich Antonios stürmische Gedanken. Er erinnerte sich, daß er einmal als Kind wegen eines schrecklichen Traumes aufgewacht war. Mit verschlafenen Augen hatte er die Mutter nur in nebelhaften Umrissen an seiner Bettstelle wahrgenommen, aber die Gewißheit ihrer Gegenwart gab ihm ein Gefühl der Sicherheit und des Geborgenseins, was er brauchte. Jetzt war ihm die Gegenwart des Gemäldes Trost und Beruhigung. Er kniete neben seinem Lager nieder und betete, daß sich seine durcheinandergebrachten Gedanken ordnen mögen.
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VI
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er Bacco!« rief Gian Savarino von der Tür her. »Bist du ein Fleischer geworden, Tonio?« Antonio blickte von dem noch zuckenden Schwein auf, das auf einem kleinen Tisch im Anatomie-Hörsaal ausgestreckt lag. »Gian!« kam es erstaunt von Antonios Lippen und sein Gesicht hellte sich auf, »komm herein.« Er war bis zum Gürtel entblößt, Schweiß glänzte auf seinem muskulösen Oberkörper und seinen breiten Schultern. »Schließ die Tür hinter dir zu«, bat Antonio, »wir vergaßen, es zu tun.« Neben Antonio arbeitete der alte, vor sich hinmurmelnde Guinterius an einem seltsamen Gerät. Es war ein großes, hohles Schilfrohr, an das er mit Wachs eine geschärfte Spitze anbrachte, um es dann mit einer dunkelblauen Flüssigkeit zu füllen, indem er das spitze Ende mit seinem knorrigen Zeigefinger aufschloß. Kritischen Blicks kam Gian Savarino näher. Er mußte einigen Pfützen ausweichen, die durch das vom Tisch herabtropfende Blut am Fußboden entstanden waren, um seine mit klingenden, kleinen Silberglöckchen geschmückten Schnabelschuhe aus weichem spanischem Leder nicht zu beschmutzen. Gian war von mittlerer Größe, etwas stämmig und hatte blondes, bis zu den Schultern gelocktes Haar. Die hellblauen Augen in seinem runden, freundlichen Gesicht funkelten, als er sich über den Tisch beugte, um zu sehen, was Antonio trieb. Gian, der Sohn eines reichen venezianischen Händlers, hatte vor einigen Jahren in Verbindung mit seinem Beruf als Maler zu Padua Anatomie studiert und während dieser Zeit mit Antonio Freundschaft geschlossen. »Was zum Teufel machst du hier?« rief Gian aus und kletterte auf einen Stuhl, um besser sehen zu können und wohl auch, um außer 33
Reichweite der Tropfen zu bleiben, die aus den von Antonio mit schnellen, sicheren Schnitten durchtrennten Blutgefäßen spritzten. Ängstlich raffte er dabei den Saum seines kostbaren, kurzen Samtrockes zusammen. Antonio wischte sich mit dem entblößten Oberarm den Schweiß vom Gesicht. Auf seiner Brust glänzten rote Blutstropfen und seine Hände waren blutbeschmiert. »Ich bin dabei, dem Schwein die Brust zu öffnen, um ans Herz zu gelangen«, erklärte er. »Sangue di Dio! Wartest du denn nicht ab, bis deine Opfer tot sind, bevor du sie sezierst?« »Das Schwein ist tot, aber ich muß rasch handeln, ehe das Blut in den Adern geronnen ist.« Antonio wandte sich wieder dem Tier zu, schnitt den weichen Knorpel durch, der die Rippen zusammenhält, und hob die Brustdecke wie eine Falltüre hoch. Darunter lagen die Lungen in glänzender bläulichgrauer Farbe. Das Herz zuckte noch ein wenig im Todeskrampf. »Wir versuchen, Michael Servetus' Theorie über den Lungenkreislauf zu beweisen«, fuhr Antonio fort, nahm eine der geschärften Hohlnadeln, die auf dem Tisch lagen und stieß sie durch die Muskelwand der linken Herzkammer, die das Blut in die Aorta pumpt. Der Herzmuskel zuckte und zog sich krampfhaft mehrere Male zusammen. Blut tropfte rot von dem rückwärtigen Ende der Nadel und floß über das blanke Holz des Tisches. »Die Hohlnadel steckt im linken Ventrikel«, erklärte Antonio weiter. »Und nun will ich eine in die linke Vorkammer stecken, wo die Venen von den Lungen in das Herz münden. Dieser dünner gewandete Muskel läßt sich ohne Schwierigkeiten durchstoßen.« »Und was ist mit dem Gerät dort?« fragte Gian. »Das werde ich jetzt benützen. Guinterius, bitte, halte es hoch!« Während der Prosektor brummend gehorchte, nahm Antonio die geschärfte Spitze, die am Schilfrohr befestigt war und führte sie vorsichtig in die rechte Seite des Herzens ein. Durch die dünne Wand des Schilfrohrs konnte man den blauen Flüssigkeitsspiegel fallen sehen. »Wir lassen die gefärbte Flüssigkeit direkt in die rechte Herzkammer 34
rinnen«, erläuterte Antonio. »Wenn ich jetzt den Herzmuskel zusammendrücke, ahme ich die natürliche Zusammenziehung des Herzens nach. Du wirst verstehen, warum dies alles getan werden muß, solange das Blut noch nicht geronnen ist.« »Ausgezeichnet!« rief Gian bewundernd aus. »Aber was willst du damit beweisen?« »Wenn aus dem linken Ventrikel nicht sogleich etwas von der gefärbten Flüssigkeit herauskommt, werden wir wissen, daß Galen unrecht hatte und daß es im Septum keine Durchlöcherung gibt.« »Dio mio! Eine gefährliche Sache. Erinnere dich, wie sehr sie dem Vesalius zusetzten.« »Genau das, was ich sagte, Magnifizenz«, murrte Guinterius. »Aber er wollte nicht auf mich hören.« »Er hört auf niemanden, wenn er von seinen Ideen besessen ist«, bestätigte Gian. »Er ist störrisch wie ein Maulesel!« Antonio beachtete die Bemerkungen der beiden nicht. Er drückte am zwiebelförmigen, muskulösen Herzen des Tieres, in dem noch die Nadeln steckten, und ahmte dabei die natürliche Herzbewegung nach. Die dünnwandigen Arterien, die zu den Lungen führten, schwollen an, sobald das Blut in sie gepreßt wurde. Ihre normale, bläuliche Farbe vertiefte sich merklich, als sich die gefärbte Flüssigkeit mit dem Blut vermischte. »Bitte, überzeuge dich!« rief Antonio, »nichts kommt aus dem linken Ventrikel, obwohl ich den rechten mit der Flüssigkeit gefüllt habe.« Tatsächlich zeigte sich dort keine blaue Farbe, wie es sein müßte, wenn die kleinen Durchlöcherungen zwischen den zwei Herzkammern vorhanden wären, an die jeder Anatom seit tausend Jahren geglaubt hatte. »Corpo di Cristo! Vesalius hatte recht«, staunte Gian. »Und Servetus vor ihm«, sagte Antonio triumphierend. Guinterius, der Michael Servetus und dessen Schicksal kannte, bekreuzigte sich, als wäre der Leibhaftige unter ihnen. »Teufelswerk!« murmelte er, kaum hörbar. Antonio löste den Griff von dem Herzen, welches sich sofort zu sei35
ner normalen Größe ausdehnte. Die Venen, die zum Herzen führen, entleerten sich, sobald das Blut heraufgepumpt war. Wieder drückte Antonio das Herz und dehnte die Arterien, die zur Lunge führten, aus. Damit bewirkte er einen Blutstoß in die Atmungsorgane. »Wenn das Blut wirklich durch die Lungen geht«, meinte er, »müßte bald die gefärbte Flüssigkeit aus der Hohlnadel in der linken Seite herauskommen.« Mit angehaltenem Atem beugten sich die drei über den Tisch und beobachteten das Tröpfeln des Blutes aus der Nadel im linken Ventrikel, wo das Blut aus den Lungen zuerst erscheinen sollte. Zunächst sahen sie nur das gewöhnliche Rot. Aber dann schien sich die Farbe des Blutes zu verdunkeln. Antonio ergriff ein Stück weißes Pergament vom Tisch und hielt es unter die Hohlnadel, um den Tropfen aufzufangen. Es gab keinen Zweifel: das Blut, das vom offenen Ende der Nadel auf das Papier rann, war blau gefärbt! Antonios Finger zitterten vor Aufregung. »Eccolo! Die Farbe!« schrie er auf. »Sie ist durch die Lungen von der rechten Seite gekommen.« Gian fluchte leise und sogar Guinterius ließ ein überraschtes Brummen hören; er kam näher, um das Wunder zu bestaunen. Wahrhaftig, das Blut, das aus der Hohlnadel in der linken Herzkammer floß, war von der blauen Farbe getönt. Die Flüssigkeit konnte nur auf dem Weg durch die Lungen dorthin gelangt sein. »Michael hatte recht«, sagte Antonio mit leuchtenden Augen, »und Fra Felipe nicht.« »Fra Felipe?« fragte Gian, »wer ist das?« Antonio schien ihn nicht gehört zu haben. »Ihr beide seid Augenzeugen!« sagte er aufgeregt. »Ihr werdet, wenn nötig, beschwören, was ihr gesehen.« »Con piacere!« gab Gian Savarino zurück. Guinterius aber schüttelte das Haupt. »Ich weiß nicht«, murmelte er. »Es ist Teufelswerk, Galen zu widerlegen.« »Wir werden noch andere widerlegen, ehe wir zu Ende sind«, entgegnete ihm Antonio ungeduldig. »Wenn Galen hier unrecht hatte, dann 36
mag das auch bei vielen anderen Dingen der Fall sein. Und das gleiche gilt für Aristoteles, Ptolemäus und manchen anderen!« Gian Savarinos fröhliches Gesicht wurde bei diesen Worten ernst. Obwohl man in Venedig der Wissenschaft fast unbeschränkte Freiheit einräumte, wußte jedermann, daß die Macht der Päpste auch hierher reichte und daß es Mittel und Wege gab, jene zu bestrafen, die es wagten, einem päpstlichen Edikt zu trotzen. Die Kirche hatte die Lehren Galens anerkannt, die damit innerhalb der Medizin ungefähr die gleiche Stellung einnahmen, wie die Bibel in der Theologie. »Was gedenkst du zu tun, Tonio?« »Meine Entdeckung sofort der Fakultät zu melden«, antwortete Antonio. »Damit beweise ich, daß Michael Servetus mit seiner Theorie der Lungenzirkulation recht hatte.« Er ging zum Waschbecken in der Ecke, um sich das Blut von Brust und Händen zu waschen. »Ihr könnt aufräumen, Guinterius, für heute sind wir fertig.« »Si, subito«, sagte der alte Mann mit plötzlicher Munterkeit. »Je früher ich von diesem Teufelswerk nichts mehr zu sehen brauche, desto lieber ist es mir.« Antonio lachte nur und rieb sich die Brust mit einem rauhen Handtuch. Er hatte das Gefühl, als müßte er ein Lied anstimmen. Die Mitglieder der Fakultät würden nicht wenig staunen, wenn er ihnen seine Entdeckung demonstrierte. Wenn es ihm einmal gelungen war, mußte es ihm wieder gelingen, und dann würde es wohl keinen Zweifel mehr geben, daß er die Fähigkeit besaß, den Lehrstuhl des Fallopius zu übernehmen. Darüber hinaus aber würde die ganze wissenschaftliche Welt aufhorchen, denn hier war fraglos der Beweis erbracht, daß Michael die Wahrheit gesagt hatte und daß seine Verfolger im Unrecht waren.
37
VII
I
n dem kleinen Studierzimmer der Universität, in dem Antonio sich aufhielt, wenn er nicht sezierte, kauerte Gian Savarino in einem Sessel, während Antonio rastlos auf und ab ging, unfähig, seine rasenden Gedanken zu beruhigen. »Beginne von vorne«, forderte Gian ihn auf, »wie kamst du auf diese Idee?« Antonio erzählte von Fra Mario Bellarmis Krankheit und dem Gespräch mit Fra Felipe Santos. Gians Miene verdüsterte sich dabei mehr und mehr. »E semplicissimo«, sagte er dann. »Jetzt weiß ich, wer dieser Santos ist; ein Dominikaner, und ich bin ziemlich sicher, daß er einmal mit der Inquisition zu tun hatte.« »Aber die Inquisition hat doch mit mir nichts zu tun.« »Wenn Santos hört, daß du ihm nicht gehorchst, wird er dir Schwierigkeiten machen.« »Aber ich muß es ihm erzählen«, wandte Antonio ein. »Er wird zugeben müssen, daß ich recht habe, wenn ich ihm meinen Versuch vorführe.« »Sei kein Narr, Tonio! Er wird sofort Ketzerei wittern und nichts zugeben.« »Du kannst nicht von mir verlangen, daß ich meine Entdeckung als Geheimnis bewahren soll!« rief Antonio erbittert. »Das wäre jedenfalls vernünftig. Wer war denn übrigens dieser Michael Servetus? Du trägst zwar denselben Namen, aber das ist doch noch kein Grund, ihn so zu verteidigen.« Antonio wandte sich ihm voll zu. »Michael Servetus war mein älterer Bruder«, sagte er stolz. 38
Gian war zunächst sprachlos vor Verblüffung. Dann sprang er auf. »Sangue di Dio! Ich bin ein Narr, daß ich nie daran dachte!« »Bist du noch immer der Meinung, daß ich diese Entdeckung als Geheimnis behalten soll?« fragte Antonio. Gian schüttelte den Kopf. »Nein, jetzt nicht mehr.« Dann hellte sich seine Miene auf. »Es ist doch gar kein Grund für dich, deinen Bruder überhaupt zu erwähnen.« »Ich verstehe nicht …« »Hör zu, Tonio«, unterbrach ihn Gian. »Veröffentliche dies als deine eigene Entdeckung, und deine Zukunft ist gesichert. Deine Erklärung wird bedeutend genug sein, um dir den Lehrstuhl für Anatomie zu sichern.« »Aber es ist doch nicht meine Entdeckung.« Gian beschwor ihn mit erhobenen Händen. »Willst du auch wegen Ketzerei verbrannt werden? Alle Schriften eines Häretikers sind verboten. Wenn du darauf beharrst, deine Entdeckung zur Rechtfertigung deines Bruders zu veröffentlichen, dann legst du deinen Hals in eine Schlinge. Man wird deine Schriften verbieten, damit sind sie für die Wissenschaft verloren.« Antonio sah die Logik in Gians Worten ein; aber sie zu befolgen, schien ihm treulos gehandelt an dem bleichen, hageren Mann, der an jenem Nachmittag in Champel so stolz und aufrecht auf dem Scheiterhaufen gestanden war. »Ich muß heute nachmittag nach Venedig zurück«, sagte Gian. »Versprich mir, daß du in dieser Sache nichts unternehmen wirst, ohne dich mit mir zu besprechen.« »Was kannst du schon tun?« »Ich habe einige Freunde in der Umgebung des Papstes, die etwas freier denken. Laß mich ihnen diese Angelegenheit als Hypothese vorlegen, ohne deinen Namen zu erwähnen, und warte ab, was sie sagen.« Widerstrebend gab Antonio das Versprechen, aber er war dessen nicht froh. Die Entdeckung hatte ihn die vergangene Nacht und heute morgen mit einem Gefühl des Triumphes und mit Stolz auf den Bru39
der erfüllt. Und selbst jetzt, angesichts der Warnung Gians, sagte ihm eine innere Stimme, daß Michael unter denselben Umständen überhaupt nicht gezögert hätte, zu handeln. Dann erinnerte er sich des Gemäldes; er hatte den Wunsch gehegt, mit jemandem darüber zu sprechen und Gian, der Künstler und Freund, schien ihm der geeignete Mann dafür zu sein. »Ehe du gehst«, sagte er zu Gian, »möchte ich dein Urteil über meine Zeichnungen hören.« »Ich dachte, du hättest es aufgegeben? Was hat dich wieder zur Kunst hingezogen?« »Wenn du ins Kloster mitkommen willst, zeige ich es dir.« »Benissimo«, erwiderte Gian, der fühlte, daß ihn etwas Besonderes erwartete. »Aber vorher kehren wir in einer Trattoria ein und essen etwas Käse und Brot. Ich könnte den Fraß, mit dem sie die Mönche in eurem Kloster füttern, nicht einmal anrühren.« Nachdem sie in einem kleinen Gasthaus auf dem Wege der Universität zum Kloster gespeist hatten, gingen die beiden zu Antonios Quartier. »Was bedeutet das?« fragte Gian erstaunt, als er sah, daß Antonio den schweren Schlüssel aus seiner Tasche nahm. »Versperrte Türen in einem Kloster?« »Psst!« Antonio errötete. »E perché?« »Da drinnen ist etwas Wertvolles aufbewahrt.« »Man könnte fast meinen, daß du hier eine besondere Mission zu erfüllen hast«, sagte Gian. Sie betraten die Zelle und Antonio verschloß die Tür wieder sorgfältig. Dann ging er zum Fenster und zog den Vorhang beiseite, den er davor angebracht hatte, um spähende Augen abzuhalten. Sonnenlicht flutete herein und traf das Gemälde auf der Staffelei. Es umspielte die liebliche Gestalt, die strahlend aus der Muschel stieg. »Per Bacco!« rief Gian ehrfürchtig. »Die Venus von Botticelli.« Überrascht fragte Antonio: »Bist du sicher?« Gian trat näher heran und betrachtete das Bildnis genau. »Da ist 40
überhaupt keine Frage«, bemerkte er, als er seine Untersuchung beendet hatte. »Nur ein Meister wie Botticelli kann das gemalt haben.« »Ich dachte gleich, daß es das Werk eines großen Künstlers sein müßte«, sagte Antonio. »Hast du es schon jemals gesehen?« »Einmal, in Florenz. Aber zum Henker, wie kam es hierher?« »Irgend jemand ließ hier vor einigen Monaten eine Rolle mit Gemälden zurück. Sie war in einen Lagerraum gestellt worden und dort fand ich sie, als ich nach Büchern suchte.« »Ich hörte, daß das Bild aus Florenz gestohlen wurde. Weiß der Prior davon?« Antonio schüttelte den Kopf. »Er ist zu krank, um damit belästigt zu werden.« Er nahm mehrere der halbfertigen Zeichnungen vom Tisch. »Ich habe versucht, sie zu kopieren. Wie du siehst, bin ich nicht weit damit gekommen.« Gian besah die Blätter, insbesondere die letzte unvollendete Brustskizze. Verschmitzt betrachtete er die ungeschickten Striche, die das Ebenmaß und die Fülle der Brust nicht wiederzugeben vermochten. »Was habe ich schlecht gemacht?« fragte Antonio. »Abbastanza!« schnaufte Gian unwillig. »Wie glaubst du, die Brust einer Frau zeichnen zu können, wenn du niemals eine gesehen hast, du Mönch.« Antonio errötete. »Ich habe Frauen seziert.« »Ebenso gut könntest du eine Wildbretkeule mit einem dahinjagenden Reh vergleichen. Du wirst niemals wissen, was man malen muß, Tonio mio, solange du nicht aus der Erfahrung kennst, was du auf die Leinwand bringen willst.« »Fallopius sagte so ziemlich dasselbe über die Medizin«, gab Antonio zu. »Ein weiser Geselle, dieser Fallopius. Soviel ich weiß, war er einmal ein rechter Draufgänger.« »Aber keinesfalls«, entgegnete Antonio, »ist von dem, was du sagst, in einem Bild gleich diesem etwas zu finden.« Für ihn war die Venus viel zu rein, viel zu eindringlich in ihrer Schönheit und zu keusch in ihrer Nacktheit, um jemals von menschlicher Leidenschaft besudelt zu 41
werden, von der man ihm immer gesagt hatte, daß sie nur niedrige Versuchung des Satans wäre. »Hier spricht der Mönch«, lachte Gian unvermittelt. »Worüber lachst du?« verlangte Antonio, durch Gians Spott gereizt, zu wissen. Der Venezianer wischte sich die Augen mit einem spitzenverzierten Batisttüchlein und steckte es wieder in die schillernde Krause seines Rockärmels zurück. »Eccolo! Du hast dich in unsere schaumgeborene Schönheit dort verliebt. Das erkennt man daran, wie du sie ansiehst.« »Sei nicht albern«, fuhr Antonio ihn an, »es ist nichts weiter als ein Bild.« »Das ist es ja gerade, Tonio mio. Wie du veranlagt bist, du mit deinem reinen mönchischen Gewissen, wählst du natürlich lieber ein Bild, auf das du deine Leidenschaft konzentrieren kannst, als eine Frau aus Fleisch und Blut.« »Von Leidenschaft kann hier nicht die Rede sein«, sagte Antonio ärgerlich. »Nein?« fragte Gian gedehnt. »Worüber ärgerst du dich dann? Du befindest dich in einem Irrtum, Antonio; nicht, daß ich von dir glaube, du, der du hier in einem Kloster lebst, hättest irgendwelche Leidenschaften. Aber glaube mir, es ist nichts Niedriges daran, wenn ein Mann eine Frau liebt.« »Du weißt, die Sünden des Fleisches sind verdammenswert.« »Es ist nichts Verdammenswertes, wenn sich ein Mann nach einer Frau sehnt, Tonio.« Gian schüttelte den Kopf. »Du kommst dem Himmel nie so nahe, als mit einer Frau in den Armen.« »Könnte eine Frau so aussehen, wenn sie eine Wollüstige wäre?« begehrte Antonio mit einem Blick auf das Gemälde zu wissen. Gian lächelte verstehend. »Du hast nicht viele Frauen gekannt, mein Junge. Die schlechteste von ihnen kann sich einen Heiligen gefügig machen, wenn sie will.« »Das glaube ich nicht«, erwiderte Antonio schlicht. Gian zuckte die Achseln. Dann blickte er von der mild beleuchteten Gestalt auf dem Gemälde zurück in Antonios Antlitz. Einen Au42
genblick lang vermeinte er, etwas von dem zu spüren, was Antonio für die Frau auf dem Bildnis fühlte, und seine Stimme klang heiser, als er sprach. »Bewahre dir dieses Gefühl, Antonio mio«, sagte er warm. »Du wirst unter den Lebenden keine finden, die dir das geben kann.« Er erhob sich. »Ich muß aufbrechen, um nach Venedig zurückzukommen. Du versprichst mir doch, über dein Experiment zu schweigen, bis du von mir hörst?« »Ja«, stimmte Antonio zu, »ich verspreche es.« »Was geschieht mit dem Gemälde?« »Ich will noch einige Zeichnungen versuchen.« »Das wird zu nichts führen«, lächelte Gian. »Aber immerhin, vielleicht findest du, daß meine Auffassung die vernünftigere ist.« »In einigen Tagen werde ich Fra Felipe erzählen, daß sich das Bild hier befindet«, sagte Antonio. »Florenz wird froh sein, es zurückzubekommen.« »Wenn es Venedig aufgibt. Ich vermute, dein guter Fra Santos wird alles daran setzen, es hier im Kloster zu behalten.« »Das wäre aber nicht ehrenhaft.« Gian zog die Schultern hoch. »Du mußt von der Welt noch viel lernen, Antonio. Vielleicht ist es an der Zeit, daß ich deine Erziehung in die Hand nehme.«
VIII
E
s war Nachmittag. Antonio saß in dem kleinen Zimmer in der Universität und arbeitete Einzelheiten seiner Entdeckung vom Lungenkreislauf aus, die er der Fakultät berichten wollte, sobald ihm Gian sein Wort zurückgab. Es klopfte, und als er öffnete, sah er einen der Laienbrüder aus dem Kloster. 43
»Der Zustand Seiner Hochwürden hat sich verschlechtert, Frater Antonio«, berichtete der Bote. »Fra Felipe Santos bittet Euch, ihn sofort aufzusuchen.« »Si, subito.« Antonio langte nach seinem Barett und schloß die Tür hinter sich. »Wir müssen uns beeilen.« Um den Prior stand es tatsächlich schlecht. Antonio erkannte dies sofort, als er das Schlafzimmer betreten hatte. Fra Mario lag in jener unmißverständlichen Agonie, die dem Tod vorausgeht. Sein Gesicht war purpurrot, der Atem ging keuchend und schwer. An der einen Seite des Bettes stand Fra Felipe Santos, an der anderen kniete ein Mann mit kurzgeschnittenem, eisgrauem Haar und den markanten Zügen eines italienischen Aristokraten; er betete, während durch seine Finger die Kügelchen eines Rosenkranzes glitten. Neben dem Knienden stand ein Mädchen, bei dessen Anblick Antonio ein Gefühl der Überraschung übermannte. Alles an ihr schien ihm wie etwas längst Vertrautes, als wäre sie eine nahe Verwandte, die er erst gestern zum letztenmal gesehen – die graublauen Augen, das goldene Haar, das von einer blauen, bestickten und mit Perlen übersäten Samtkappe zusammengehalten wurde, die sanften roten Lippen, sogar die Kummerfalte auf ihrer Stirne und die schlanke, liebliche Gestalt in dem einfachen, dunklen Reisekleid. Antonio, der sie tatsächlich zum erstenmal erblickte, vermeinte, sie schon sein ganzes Leben gekannt zu haben. Nun erhob sich der Mann von der Seite des Lagers und Fra Felipe stelle Antonio vor: »Dr. Antonio Servetus, Arzt, Signore Girolamo Bellarmi aus Florenz, der Bruder Seiner Hochwürden.« Signore Girolamo nahm die Vorstellung wohlwollend auf. Er wies eine unleugbare Ähnlichkeit mit Fra Mario auf, nur zeichneten ihn feingeschnittene Züge aus, während der Prior auch als Gesunder ein aufgedunsenes Gesicht gehabt hatte. Sein einfaches Gewand war mit Pelz verbrämt und um seinen Hals hing eine goldene Kette. Er trug die übliche Standeskleidung eines achtbaren Kaufmanns oder eines Kleinadeligen. Antonio wußte, wie unschicklich es war, das Mädchen so unentwegt 44
anzustarren, aber er war nicht fähig, seinen Blick von ihrem Antlitz zu lösen. Der Gedanke, daß er sie schon irgendwo gesehen haben mußte, verwirrte ihn. »Madonna Lucia Bellarmi, meine Nichte und Mündel, Doktor«, sagte Signore Girolamo. Das Mädchen nickte kurz, seine Wangen erröteten und es kniff die Lippen zusammen, denn offensichtlich war es über Antonios Taktlosigkeit verärgert. Antonio wandte sich Fra Mario zu. Er fühlte den Puls und merkte, daß er schwach war, schwach wie der Kranke selbst. Mit einer Serviette wischte er den Blutschaum von den bläulichen Lippen. Die mit Blut überfüllten Adern an dem dicken Hals Fra Marios waren dem Bersten nahe. »Der Zustand Seiner Hochwürden ist in den letzten Stunden immer schlimmer geworden«, sagte Fra Felipe salbungsvoll. »Ich wollte Euch nicht bei den Vorlesungen stören, Dr. Servetus, aber ich hatte das Gefühl, Ihr müßtet nach ihm sehen.« Antonio sagte mit leiser Stimme: »Er ist im Sterben.« »Kann man da gar nichts dagegen tun?« fragte das Mädchen. »Ich kann ihn zur Ader lassen«, erwiderte Antonio. »Es wird ihm eine Erleichterung bringen, aber das Ende nicht abwenden.« Madonna Lucia meinte zu Fra Felipe gewendet: »Vielleicht wäre ein älterer und erfahrener Arzt fähig, zu helfen.« Antonio errötete und Signore Girolamo sagte entschuldigend: »Verzeiht meiner Nichte das unbedachte Wort, Signore. Sie ist sehr jung.« »Ich bin alt genug«, entgegnete Madonna Lucia aufgebracht, »um zu sehen, daß er im Sterben liegt und daß nichts für ihn getan wird.« »Silenzio!« befahl der Florentiner. »Haben wir Doktor Servetus schon eine Gelegenheit gegeben, etwas zu tun?« »Dr. Servetus ist an der Universität hoch angesehen«, lenkte Fra Felipe besänftigend ein. »Professor Fallopius selbst bürgt für seine Fähigkeit als Arzt.« Antonio öffnete seine Besteckschachtel auf dem Bett. »In Florenz nehmen die Barbiere das Blut ab«, ließ Madonna Lucia 45
sich vernehmen. »Ist der Arzt denn auch ein Barbier, daß er mit seinen eigenen Händen zur Ader läßt?« Fra Felipe preßte verärgert über diese vorlaute Rede die Lippen aufeinander. »Dr. Servetus ist ein erfahrener Chirurg. Seine Hochwürden haben es immer gewünscht, daß er persönlich das Blut abnimmt.« Geschickt öffnete Antonio eine Ader im Arm des Priors und ließ den Blutstrom in eine Schüssel rinnen. Er blickte dabei zu Madonna Lucia auf und sah, daß ihr Gesicht marmorbleich und ihre Lippen blutleer waren. Mit einem faszinierten Blick, mit dem man eine Giftschlange anstarrt, hafteten ihre Augen auf der karminroten Flüssigkeit. Er bemerkte, daß sie leicht schwankte und, Halt suchend, nach dem großen Bettpfosten griff. »Ich glaube, die Madonna bedarf einer Erfrischung«, meinte er, »sie sieht aus, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen.« Die beiden anderen Männer kehrten sich sofort ihr zu, aber Lucia hatte sich auf Antonios Worte hin schon wieder gefaßt. Ihre Wangen nahmen wieder Farbe an und verärgert biß sie ihre Lippen. Mit einem Gefühl der Befriedigung wandte sich Antonio wieder seiner Arbeit zu. Er hatte gerade eine Schale Blut aus des Priors Arm abgelassen, da machte sich eine kleine Besserung bemerkbar. Antonio legte die Wundnadel in die Schachtel zurück. Die Zeichen des bevorstehenden Todes waren viel zu offenkundig, als daß man diese letzte Zuflucht des Aderlasses hätte als Rettung ansehen können. Die Anwesenden verließen den Raum und Antonio schloß sich ihnen in der Vorhalle an. Fra Felipe und Signore Bellarmi gingen voran, Madonna Lucia und Antonio folgten ihnen. Er wunderte sich noch immer über das seltsame Gefühl der Vertrautheit, das dieses Mädchen in seinem Innern auslöste. Der Ansatz ihrer Schultern, die schlanke Säule ihres Halses, den die goldenen Wellen für einen Augenblick freigegeben hatten, das alles vermeinte er schon einmal gesehen zu haben. Er mußte einen Wunsch, sie zu berühren, um sich zu überzeugen, daß sie kein Traumgebilde sei, gewaltsam unterdrücken. »Wollt Ihr und Madonna Lucia heute hier bleiben, Signore Bellarmi?« erkundigte sich Fra Felipe. 46
Bellarmi antwortete: »Conte Volti, ein entfernter Verwandter, hat uns in Venedig, im Palazzo Pesaro Quartier und einen Wagen zu unserer ständigen Verfügung angeboten.« »Immerhin sind es von hier fünfundzwanzig Meilen nach Venedig«, gab Fra Felipe zu bedenken. Signore Bellarmi wandte sich an Antonio. »Wird mein Bruder die Nacht überleben?« »Ich glaube nicht, Exzellenz. Ich werde bei ihm bleiben.« »Dann würdet Ihr und Eure Nichte besser nicht abreisen«, meinte Fra Felipe. »Es fügt sich gut, daß Ihr uns gerade jetzt besucht habt.« Antonio wollte eben in das Gemach des Priors zurückgehen, hielt aber erstarrt an der Tür inne, als er Girolamo Bellarmi sagen hörte: »Ja, als ich Euren Brief bekam, nahm ich die Gelegenheit wahr, nach Venedig zu kommen. Meine Nichte und ich suchen ein wertvolles Gemälde, das unserer Familie gehört, die Venus von Botticelli. Gerüchten zufolge soll es in Venedig sein.« »Ihr werdet doch nicht erwarten, es hier zu finden«, scherzte Fra Felipe. Antonio kehrte sich Signore Bellarmi zu, um ihm mitzuteilen, daß das Gemälde tatsächlich im Kloster sei, da kreuzte sich sein Blick mit dem Lucias, die stehen geblieben war und ihm nachstarrte. Die Verachtung, die in ihren Augen lag, ließ in ihm eine Welle des Ärgers aufsteigen. Er erinnerte sich, wie sie ihn in des Priors Gemach behandelt hatte und damit zugleich erwachte in ihm der eigensinnige Entschluß, seine Kenntnis über das Botticelli-Gemälde nicht preiszugeben. Zumindest vorläufig nicht. Er drehte sich um, öffnete die Tür, konnte sich jedoch nicht enthalten, Lucia noch einen langen Blick zuzuwerfen. Sie stand noch immer auf demselben Platz und hatte einen rätselhaften Ausdruck in ihrem Gesicht. Als sie ihn auf sich blicken sah, schüttelte sie den Kopf und schritt stolz über den Korridor zu ihrem Onkel und Fra Felipe.
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IX
A
m frühen Abend verfiel Fra Mario in einen todesähnlichen Schlaf. Antonio ließ einen Mönch als Wache bei ihm zurück und ging in den an das Hauptgebäude des Klosters anschließenden Garten. Antonio liebte diesen Garten, in dem Ruhe und Frieden herrschte. Unzählige Blumen, von den liebevollen Händen des alten, halb erblindeten Bruders Franziskus betreut, erfüllten mit ihrem Duft den Spätfrühlingsabend. In der Mitte eines kleinen Teiches, der von einem murmelnden Springbrunnen gespeist wurde, stand eine Bronzestatue des Heilands. Gütig blickte er auf das regsame Haus, das ihm geweiht war. Alle Wege mündeten in diesen zentral gelegenen Platz und auch Antonio lenkte jetzt seine Schritte dorthin. Seine Gedanken weilten bei seinem Experiment und er fragte sich immer wieder, was er tun sollte. Gehorchte er seiner inneren Stimme und den Anordnungen seiner Umwelt, dann durfte er nichts gegen die Kirche unternehmen, die, wie er belehrt worden war, über allen menschlichen Wünschen und Gesetzen stand. So deutlich wie an jenem Tag bei Champel hörte er jetzt die Worte des Vaters und den Eid, den er geleistet. Aber auch das Bild des hageren, stolzen Mannes am Scheiterhaufen stieg wieder vor ihm auf und es war ihm, als würden aus Michaels brennenden Augen Enttäuschung und Verachtung sprechen. Antonio überkam ein überwältigendes Gefühl der Schuld und Scham. Einer plötzlichen Eingebung folgend, warf er sich auf dem rauhen Kiesweg am Rande des Teiches zur Boden und flehte um Beistand, um ein Zeichen Gottes in seiner Verwirrung. Aber er fand keine Erhörung und enttäuscht, daß ihm die Gottheit, symbolisiert durch die Christusstatue, keine Hilfe gewährte, erhob er sich von seinen Knien. 48
Irgend etwas bewegte sich im Schatten und Antonio glaubte, die Umrisse einer weiblichen Gestalt zu erkennen. Im ersten Augenblick dachte er, die heilige Mutter selbst sei gekommen, um die Hilfe, derer er bedurfte, zu bringen; aber dann erkannte er Lucia Bellarmi, die im Dunkeln stand, eingehüllt in einen langen Mantel, der nur das blasse Oval ihres Gesichtes freiließ. »Madonna«, stammelte er, »ich wußte nicht, daß Ihr hier seid.« Sie kam um den Teich herum. »Es tut mir leid, Euch erschreckt zu haben, Herr Doktor«, sagte sie weich. »Habt Ihr für meinen Onkel gebetet?« »N-ein«, bekannte Antonio, »ich bat um Hilfe in einer persönlichen Angelegenheit.« Sie wartete keine nähere Erklärung ab, sondern setzte sich auf eine Bank vor dem Springbrunnen. Antonio schritt zum anderen Ende der Bank. Seltsam, dachte er, wie war sie doch jetzt so anders als am Nachmittag. »Warum habt Ihr mich so angestarrt in des Onkels Gemach?« fragte sie. »Verzeiht mir diese Taktlosigkeit«, entschuldigte er sich. »Das ist keine Antwort auf meine Frage.« »Es ist schwer zu erklären«, meinte er unbeholfen. »Ich hatte das Gefühl, ich müßte Euch schon gesehen haben oder Euch seit längerer Zeit kennen!« Sie schwieg eine Weile, dann sagte sie lauernd: »Und Ihr habt keine Erklärung dafür?« »Keine«, gestand er, »ich glaube nicht, daß ich Euch je zuvor gesehen habe.« »Also nicht«, entgegnete sie und wechselte dann plötzlich das Thema. »Fra Felipe sagt, Ihr würdet in den Orden eintreten. Wie kann ein junger Mensch wie Ihr den Wunsch haben, ein Mönch zu werden?« Die Frage verwirrte Antonio und er fand keine Antwort. »Wenn ich ein Mann wäre«, fuhr sie fort, »würde ich es in der Welt schon zu etwas gebracht haben!« »Vielleicht gibt es Dinge, die wichtiger sind als persönlicher Erfolg.« 49
»Aber nicht so wichtig, daß man deshalb die Welt aufgibt und sich in ein Kloster vergräbt.« »Seid Ihr nicht zu jung, um von solchen Dingen etwas zu verstehen?« fragte er freundlich. Sie stampfte auf. »Ich bin zwanzig«, sagte sie und fuhr dann fort: »In Eurem Alter hat mein Großvater die Neue Welt erschlossen.« »Euer Großvater?« wiederholte Antonio. »Seid Ihr mit Columbus verwandt?« »Mein Großvater war Amerigo Vespucci«, erklärte sie stolz. »Er verbarg sich nicht hinter Mauern. Er reiste über unbekannte Meere und setzte sein Leben aufs Spiel, um neue Länder zu erforschen.« »Aber Euer Name ist doch Bellarmi.« »Ich bin eine Vespucci von meiner Mutter Seite her. Wir waren Bankleute der Medicis.« »Euer Onkel aber wählte das Kloster.« »Onkel Mario war immer das schwarze Schaf der Familie. Er zog das Kloster dem Gefängnis vor. Außerdem war es für das Haus Bellarmi ein guter Schachzug, einen der Ihren in die höheren kirchlichen Kreise zu bringen.« Aus dem Munde eines so jungen Mädchens war dies ein ziemlich offenherziges Bekenntnis, stellte Antonio fest. Ihr Verstand war ebenso scharf wie ihre Zunge. »Ihr seid sehr stolz auf Eure Familie, Madonna.« »Warum sollte ich nicht? Das Haus Bellarmi ist eines der größten in ganz Italien.« »Hochmut kommt vor dem Fall«, mahnte Antonio; sie aber brach ärgerlich aus: »Hier spricht der Mönch! Seid Ihr ein Mann, Herr Doktor, der sich vor der Welt verbergen muß und der lieber den ungefährlichen und leichten Weg wählt?« Sie erhob sich und stieß mit der Fußspitze zornig in den Kies, daß er gegen Antonio stob. »Wenn ich ein Mann wäre, würdet Ihr mich nicht versteckt finden. Geht zurück in Eure Zelle, Herr Mönch, ich wünsche Euch eine geruhsame Nacht.« Antonio blickte der zur Pforte Enteilenden nach. Kurz darauf hör50
te er eine Tür krachend ins Schloß fallen. Ihm war, als wäre damit der endgültige Schlußpunkt unter die vorangegangene Unterredung gesetzt worden. Er blieb noch auf der Bank sitzen und sann über ihre Worte nach, mit denen sie das ausgedrückt hatte, was ihn schon so lange beunruhigte. Hier, so dachte er, war ein Moment des Entschlusses, ein Punkt, an dem es sich entscheiden mußte, in welche Richtung der Strom seines Lebens fließen sollte. Auf der einen Seite lag der sichere Weg, das friedliche, vergeistigte Dasein, wie er es während der letzten fünf Jahre in Padua geführt hatte. Hier lag auch die Achtung seiner Kollegen, die hohe Stelle eines Professors an der Universität zu Padua und vielleicht ein Amt innerhalb der Kirche, am Ende gar die Bischofsmütze oder der rote Kardinalshut. Auf dem anderen Weg erwarteten ihn Schwierigkeiten, Schmähungen, vielleicht sogar Folter und Tod, denn alle, die eine ketzerische Lehre unterstützten, indem sie sich dazu bekannten, wurden vom weltlichen wie kirchlichen Gesetz verdammt. Ein anderer, erinnerte er sich nun, war solch einer Wahl auf einem Berge, genannt Golgatha, gegenübergestanden. Er hatte unter der Last der Wahrheit nicht gewankt, wenngleich sein Weg deutlich zum qualvollen Tod am Kreuze führte. Ein großer Friede zog in Antonios Seele und in einem Gefühl des Stolzes richtete er sich auf. Er wußte jetzt, wie er in seinem tiefsten Inneren schon immer gefühlt hatte, daß es für ihn keinen Kompromiß geben konnte. Es war etwas, für das ein Mann einstehen mußte, wenn er auch im Kampf fallen und von den anderen zermalmt werden sollte.
51
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ra Mario Bellarmi verschied in der Nacht. Antonio war bis zum Ende bei ihm geblieben. Dabei hatte er keine Gelegenheit gehabt, mit Signore Bellarmi oder dessen Nichte zu sprechen, denn Fra Felipe führte sie, sobald Antonio den Tod des Priors meldete, aus dem Zimmer. Antonio aber mußte sich infolge der warmen Jahreszeit beeilen, den Leichnam für das Begräbnis vorzubereiten. Während der Trauerfeierlichkeiten, die am nächsten Tag in der Kathedrale stattfanden, saß Antonio mit einigen Laienbrüdern im Seitenschiff der Kirche. Von seinem Sitz aus konnte er beobachten, wie Madonna Lucia und ihr Onkel nach Abschluß der Zeremonien im Gefolge der prunkvoll gekleideten Geistlichen langsam dem Ausgang zustrebten. Da waren der Kardinal, zu diesem Anlaß eigens aus Venedig gekommen, Fra Felipe im blendend weißen Ornat und eine Schar Prälaten. Lucia hatte den dunklen, bis zum Boden reichenden Mantel angelegt, den sie abends im Garten getragen hatte. Die hochgezogene Kapuze umschloß eng das Oval ihres Gesichtes, verbarg das goldene Haar und verlieh ihr ein Aussehen, von dem Antonio wußte, daß es nicht ihrem Temperament entsprach. Als sie vorbeiging, traf ihn ihr Blick; er verneigte sich höflich, aber sie tat, als sähe sie ihn nicht oder als wäre er ein Fremder, der die Frechheit besessen hatte, sie zu grüßen. Antonios Züge verhärteten sich vor Ärger und er bemerkte, wie in ihren Augen darüber Spott aufleuchtete. Signore Girolamo dagegen, der an der Seite seiner Nichte schritt, neigte würdevoll das Haupt, als er Antonio erkannte. Antonio war Tags zuvor zu einem an Wundrose erkrankten Professor der Universität gerufen wurden. Erst spät kehrte er von dieser Visite heim. Die duftende Frühlingsnacht hatte viele Menschen auf die 52
Straße gelockt; manche von ihnen, offensichtlich Liebesleute, gingen Hand in Hand, andere wieder hörte er im Dunkeln flüstern. In einer finsteren Nische küßten sich zwei und Antonio vernahm das Kichern einer jungen Frau. Zwei dunkle Schatten lösten sich voneinander, aber nur, um sich wieder zu finden, sobald er vorbei war. Abermals fühlte Antonio in sich jene seltsame Unruhe, die ihn schon vor Wochen gequält, und er fragte nach ihrer Ursache. Vielleicht würde ihm ein Wechsel der Umgebung guttun, dachte er. Das Schuljahr hatte schon vor zwei Tagen offiziell geendet und er könnte Gian in Venedig besuchen. Da Fra Mario tot und der erkrankte Professor außer Gefahr war, hätte er jetzt Zeit, mit Gian über die Veröffentlichung seiner Schrift zu sprechen. Durch das kleine, offene Fenster in Antonios Zelle strömte abendliche Kühle. Mondlicht erfüllte den Raum und beleuchtete das Gemälde mit mattem Schein. Er würde es nur schweren Herzens aufgeben können, dachte der auf seinem Bett noch wach liegende Antonio; er wußte aber auch, daß es närrisch wäre, zu versuchen, das Bild zu behalten oder es von hier wegzubringen. Er könnte es niemals unbeobachtet aus dem Kloster schaffen, außer er würde es des Nachts stehlen; dies zu tun, verbot ihm aber sein Gewissen. Er wollte morgen Signore Bellarmi aufsuchen und ihm vom Verbleib des Gemäldes berichten. Selbst wenn es nicht das Eigentum der Familie Bellarmi war, hatte er nicht das Recht, es hier vor aller Welt zu verbergen und es den Künstlern und Kulturfreunden, die an seiner Schönheit dauernde Freude und Anregung finden würden, vorzuenthalten. Und dennoch, der Verlust des Bildes würde ihn schmerzen, das wußte er. So sehr hatte er die Dargestellte immer als eine Lebende, Atmende empfunden, daß sie mit seinem Dasein aufs engste verbunden war. Er hatte niemals daran gedacht, sich je zu vermählen, aber wie er jetzt so in der Dunkelheit lag, im Dämmerzustand zwischen Träumen und Wachen, da fragte er sich, ob die Freuden einer Ehe jener Zufriedenheit ähneln könnten, die ihm aus der Gemeinschaft mit dem Bild erwachsen war, aus seiner ruhigen und sicheren Schönheit, die immer 53
bereit gewesen, sein stürmisches Herz zu beruhigen. Und es schien ihm plötzlich, als müßte er die Möglichkeit einer Ehe wirklich erwägen. Doch sogleich stieß er die Idee gewaltsam von sich. Wie er nun so dalag, war es ihm, als verschwimme der Raum und er sah sich auf einem sandigen Strand im Schatten eines grünen Baumes liegen, so wie er es als Junge an den Gestaden des Ligurischen Meeres viele Male getan hatte. Sein Haar war noch feucht vom Bade im kristallklaren Wasser und Geist und Körper befanden sich in seliger Gelöstheit. Plötzlich war sie da. Graziös stieg sie von der Muschel an den Strand. Ihre rosigen Zehen hinterließen kaum einen Eindruck im Sand, so leicht und zierlich setzte sie den schlanken, gewölbten Fuß. Das Haar floß in goldenen Kaskaden von ihrem Haupt und sie schritt in der Richtung des Baumes, unter dem er lag. Sie reichte ihm die Hand, und mit einem Gefühl, als würde er schweben, erhob er sich. Er schämte sich seiner Nacktheit so wenig, wie sie sich der ihren zu schämen schien. »Tonio! Mio caro.« Ihre Stimme war wie Musik einer entfernt angeschlagenen Leier, die fast verklungen war, ehe man sie vernommen hatte. »Madonna«, stammelte er. »Nicht Madonna«, flüsterte sie, »sondern cara mia, Liebste.« »Mein ein und alles«, beteuerte er. »Meine Göttin aus dem Meer.« Die Wärme ihres Körpers, der so nahe war, daß ihre Brust die seine berührte, ließ ihn entbrennen und er zitterte in dem Verlangen, seinen Arm um ihre zerbrechliche Schlankheit zu legen. »Küß mich, Tonio«, begehrte sie und legte ihre Arme um seinen Hals. Da er sich noch immer zurückhielt und sich gegen das mächtige Gefühl in seinem Inneren zur Wehr setzte, zog sie seinen Kopf zu sich herunter, und dann fanden sich ihre Lippen zum glutvollen Kuß. Plötzlich entlud sich über seinem Haupt ein fürchterlicher Donner und ein Blitz zersplitterte den Baum, unter dem sie standen. Für einen Augenblick erstarrt, war Antonio nicht fähig, sich der rauhen Hände zu erwehren, die sie roh auseinanderrissen. »Tonio! Tonio!« schrie sie qualvoll auf, aber der Klang ihrer Stimme entfernte sich mehr und 54
mehr. Antonio war von der brutalen Hand, die sie auseinandergerissen hatte, in die Knie geworfen worden und versuchte nun, sich aufzurichten. Sie war weit von ihm entfernt und kämpfte in den Armen eines fremden Wesens, eines Satyrs, der die Züge Fra Felipe Santos trug. Er schien den Tiefen der Hölle entstiegen zu sein und lachte in dämonischer Lust, während er mit der Göttin in seinen Armen enteilte. Antonio hatte seine Kräfte wieder gesammelt und stürzte dem Satyr nach. Keuchend rang er nach Luft. Schweiß, der in seine Augen rann, blendete ihn und das Herz drohte zu zerspringen. Völlig erschöpft fiel er zu Boden, erhob sich mühsam auf die Knie, kroch einige Schritte weiter und stürzte wieder. Als es ihm dann gelang, den Kopf aus dem Sand zu erheben, konnte er den Satyr noch verschwommen in der Ferne wahrnehmen. Das Bild wurde jedoch immer blasser, bis schließlich nichts mehr zu sehen war. Jetzt vernahm sein Ohr einen anderen Klang. »Schamloser Nackter! Schamloser Nackter!« rief es. Die Stimme schien ihm vertraut. Scharf und vergiftet mit Verachtung und Spott schlug sie an sein Ohr. Es war die Stimme Lucia Bellarmis, die er unter einem Baum stehen sah. Sie trug den gleichen dunklen Mantel, den sie im Garten getragen hatte. Mit ausgestrecktem Zeigefinger wies sie auf ihn, während ihre Lippen die Worte wiederholten und ihre Augen ihn verächtlich anglühten. Voll Scham versuchte Antonio seine Nacktheit zu verhüllen. Indessen stieg der Tonfall ihrer Stimme zu einer Schrillheit an, daß ihm das Trommelfell zu zerreißen drohte. Allmählich kam Antonio zu sich. Kalter Schweiß war aus seinen Poren gebrochen und das Herz klopfte heftig. Froh, daß dies alles nur ein Traum gewesen, setzte er sich auf die Bettkante und stützte den Kopf in seine Arme, bis sich der Pulsschlag beruhigt hatte, sein Atem leichter ging und die Hand nicht mehr zitterte. Als er sich wieder in der Gewalt hatte, zog er einen Mantel über seinen fröstelnden Körper. Dann entnahm er der Schachtel neben dem Kerzenhalter etwas Zunder, schlug einen Funken und blies die kleine Glut zu Flammen, um die Kerze damit anzuzünden. Er betrachtete das Gemälde. Die Gestalt war in ihrer gottvollen Lieblichkeit unverändert. 55
Der Gedanke, daß er sie im Traum in seinen Armen gehalten, ließ ihn erschauern. Gewaltsam zwang er seine Gedanken in eine andere Richtung. Er blies die Kerze aus, legte sich wieder auf das Bett und zog die Decke über sich. Er konnte nicht einschlafen. Der Traum in allen seinen Einzelheiten kam ihm wieder in den Sinn und er fragte sich, ob er eine besondere Bedeutung haben könnte. Sollte er eine Mahnung sein, daß er das Gemälde dem rechtmäßigen Besitzer zurückgeben müsse? Dies schien ihm eine logische Deutung. Auch die Ähnlichkeit des Satyrs mit Fra Felipe war keine zufällige und mußte bedeuten, daß er das Gemälde nicht Santos, sondern Signore Girolamo auszuhändigen habe. Es fiel ihm ein, daß Gian die Vermutung ausgesprochen hatte, Santos werde die Rückgabe des Bildes an Florenz wahrscheinlich verhindern. Antonio faßte nun erneut den Entschluß, am Morgen Signore Bellarmi aufzusuchen und ihn über den Verbleib des Bildes aufzuklären. Gian Savarino, vertraut mit den Leidenschaften, die Mann und Frau zueinander zogen, hätte den Traum wohl anders gedeutet. Er hätte aus jener Szene am Strand nur den natürlichen Wunsch eines Mannes, eine schöne Frau zu besitzen, herausgelesen, und in dem Satyr mit den Zügen des Subpriors hätte er die Verkörperung von Antonios Gewissen gesehen. Die Erscheinung der spöttischen Lucia zu deuten, wäre aber selbst für Gian Savarino schwierig gewesen, und so war es nicht zu verwundern, daß Antonio es nicht vermochte.
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ra Felipe Santos saß im Sessel des Priors auf einer kleinen Estrade im Empfangsraum, als Antonio bei ihm um eine Audienz ansuchte. Der Kardinal von Venedig hatte Santos versichert, daß er das Amt 56
des Priors erhalten würde, sobald sein Brief Rom erreicht habe und wieder zurückkommen könne. Santos aber hatte keine Zeit versäumt, sich selbst die Würde als Oberhaupt des Klosters zu verleihen, dessen einziger Vorgesetzter er zur Zeit war. »Was ist Euer Begehr, Signore Servetus?« fragte er, nachdem Antonio ehrfurchtsvoll den Saum seines kostbaren, reich bestickten Talars geküßt hatte. »Ich würde gerne Signore Bellarmi meine Aufwartung machen.« »Ihr seid zu spät, mein Sohn. Signore Bellarmi und seine Nichte begaben sich heute morgen nach Venedig«, sagte er huldvoll lächelnd. »Er sprach sehr wohlwollend von Euch. Was jedoch seine Nichte betrifft – so ist sie zwar sehr hübsch, aber eine zänkische Person.« Antonio stimmte diesem Nachsatz voll zu. Aber die frühe Abreise Bellarmis hatte seinen Plan zunichte gemacht. Weil er mit der Deutung seines Traumes recht zu haben glaubte, durfte er Fra Felipe in sein Geheimnis nicht einweihen. Er erinnerte sich, daß Signore Bellarmi erwähnt hatte, er wolle in Venedig im Palazzo Pesaro Wohnung nehmen. Da er Gian auf jeden Fall besuchen würde, könnte er mit einer Fahrt nach Venedig beide Vorhaben auf einmal erledigen. »Ich nehme an, daß Ihr für Eure frevelhaften Gedanken über die Lungenzirkulation Abbitte geleistet habt, Doktor«, hörte er Fra Felipe auf sich eindringen. Antonio neigte das Haupt. »Ich habe um Vergebung gebetet, wie Ihr befohlen.« »Benissimo. Ihr habt eine vielversprechende Zukunft vor Euch. Es täte mir leid, sie durch irgend etwas gefährdet zu sehen.« Antonio hob das Haupt, froh, so leicht der Falle entronnen zu sein. »Ich würde gerne mit Eurer gnädigen Erlaubnis einige Wochen in Venedig verbringen«, sagte er. Wenn Gian ihm half, dann konnte er innerhalb dieser Zeit seine Entdeckung in Druck bringen. »Nach Venedig? Ihr habt doch Vorlesungen an der Universität?« »Meine Klasse hat das Sommersemester beendet.« »Hm. Aber was wollt Ihr in Venedig?« Antonio zögerte. Die Wahrheit zu sagen, wäre gefährlich; lügen woll57
te er aber auch nicht. Er entsann sich Gians Vorschlag, daß er sich am lebenden Modell im Zeichnen üben müsse, um sein Gefühl für Proportion zu verbessern. Das wäre doch ein Grund, um einige Zeit in Venedig zu verbringen, vor allem ein Grund, den Fra Felipe wahrscheinlich anerkennen würde, denn er hatte sich mit ihm des öfteren über Kunst und Antonios Fortschritte im Zeichnen unterhalten. »Ich beabsichtige, in Venedig Kunststudien zu betreiben, Hochwürden«, beeilte er sich zu sagen. Geschmeichelt durch die Anrede Antonios, der rein zufällig den Titel ›Hochwürden‹ gebraucht hatte, löste sich Fra Felipes Zurückhaltung. Er lächelte warm und sagte: »Nun denn, so verbringt doch den ganzen Sommer in Venedig. Ich beneide Euch um die kühlen Brisen des Lidos. Vielleicht seid Ihr nächstes Jahr imstande, die Fresken in unserer neuen Kapelle zu malen.« »Dio lo volesse«, erwiderte Antonio ergeben, indem er sich rückwärtsgehend entfernte.
XII
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n der Grenze Venedigs verließen die Reisenden aus den verschiedenen Landschaften ihre Gefährte und bestiegen große Kähne, genannt barca oder batello, die bis zu acht Personen faßten. Antonio schloß sich einer Gruppe an, die gleich ihm aus Padua gekommen war. Schwerfällig bewegte sich das Boot den Canal Grande hinab. Der dunkle Mann am Ruder schwitzte in der warmen Juniluft. Die marmornen Fassaden der Paläste, die den Wasserweg zu beiden Seiten säumten, schimmerten im Abendsonnenschein. Gegenüber dem säulengeschmückten prunkvollen Dogenpalast setzte die Barke ihre Insassen ab. Hier mußte man in kleinere Gondeln umsteigen. Es waren glatte Kähne mit schwanenförmigen Vordersteven, die wie 58
graziöse Wasservögel durch das Labyrinth der Kanäle und Lagunen glitten. Antonio wählte eine Gondel mit einem blauen Baldachin, der von einem leicht gebogenen Rahmenholz getragen wurde und offenstand, um die kühlen Brisen vom nahegelegenen Lido hindurchstreichen zu lassen. Die mit Schnüren gehaltenen Seitenvorhänge konnten aber auch herabgelassen werden, wenn es regnete oder die Insassen nicht gesehen werden wollten, was in dieser romantischen Stadt nicht wenige wünschten. Sein Gondoliere war ein kleiner, dunkelhäutiger Mann. »Dove va, Padre?« fragte er. Er hielt den dunkel gekleideten Antonio für einen Geistlichen. »Il Palazzo Pesaro. E distante di qui?« Antonio wollte unverzüglich Signore Bellarmi aufsuchen. »No. Non è distante«, antwortete der Gondoliere. »Vado al Palazzo.« Antonio stieg ein und ließ sich auf dem gepolsterten Sitz unter dem Baldachin nieder. »Kennt Ihr die Via della Galleazze e Vasca?« fragte er. »Certamente.« Der Gondoliere zog erstaunt die Brauen hoch. »Das ist ja die Straße der Künstler.« Er hatte nicht erwartet, daß sich ein Geistlicher dorthin führen ließ. »Wenn wir den Palazzo Pesaro verlassen«, unterrichtete ihn Antonio, »werdet Ihr mich in die Via delle Galleazze e Vasca Nr. 14 bringen.« Die Augen des Gondoliere weiteten sich. »Es ist das Haus von Il Magnifico Signore Gian Savarino. Ich führe ihn sehr oft in meiner Gondel – mit herabgelassenen Vorhängen …«, fügte er bedeutsam hinzu. »Eccolo! was für ein Mann!« Antonio wunderte sich nicht über diese Eröffnung, und auch nicht darüber, daß der Gondoliere Gian kannte. War Gians Vater doch einer der reichsten Kaufleute Venedigs. »Signore Savarino ist mein Freund«, erklärte Antonio, nicht ohne Stolz. »A-oel!« stieß der Gondoliere den Warnungsruf der Bootsmänner aus 59
und führte mit dem Ruder einen kräftigen Schlag gegen das Heck der Gondel, die in das grünliche, ölige Wasser der Lagune hinausschoß. Im Mittelpunkt der Stadt herrschte reger Verkehr, so daß Antonios Gondoliere Mühe hatte, das kleine Fahrzeug an den vielen Gondeln vorbeizusteuern. Aber Antonio hatte ja keine Eile. Es war für ihn seit Monaten der erste arbeitsfreie Tag. Schwer wog in seinem Gürtel der mit dem Jahresgehalt gefüllte Beutel. Seine Kleidung – das sah er jetzt – war schäbig im Vergleich zu den pelzverbrämten Gewändern, Goldketten und Samthüten jener Männer, die in den Gondeln saßen. In Padua hätte ihm das nichts bedeutet, aber hier … Er beschloß, Gian nach einem Schneider zu fragen. Während der langsamen Fahrt durch die große Lagune hatte Antonio Muße, um sich zu blicken. Er sah die herrlichen Säulengänge in den Palästen, sah die Anlegeplätze davor, wo prächtige Gondeln der Besitzer harrten, sah den kostbaren Marmor und gelegentlich konnte er auch einen Blick auf die reichgekleideten Frauen erhaschen, die in den Sonnengärten auf den flachen Dächern in der von der nahen Adria herüberstreichenden Luft Kühlung suchten. Aus keinem geringen Grund, so dachte Antonio, nannte man Venedig auch die ›Heiterste‹, denn sie war die reichste und schönste Stadt der Welt und die Handelswege aus den entferntesten Winkeln der Erde liefen in ihr zusammen. Von der Piazza vor El Giacommete und dem Rialto, einem der bedeutendsten Handelsplätze der Welt, drang das Gesumme vieler Stimmen, und von den Geldwechslern war der tiefe Klang der schweren Dukaten, die auf die Tische geworfen wurden, zu hören. Es war wie eine Begleitmusik zu dem rhythmischen Hämmern der Goldschmiede. Dahinter reihten sich Geschäfte und Lagerhäuser, in denen die wertvollen Güter aus dem Osten aufgestapelt lagen. Hinter dem Ponte Rialto konnte Antonio das Fondaco dei Tedeschi, das Kaufhaus und die Herberge der Deutschen sehen, vor dem die Schiffe, die regelmäßig die heimischen Gewässer befuhren, Seite an Seite vertäut lagen. Hier war der Umschlagplatz für die kostbaren Waren, die Venedig erreichten oder verließen. Etwas weiter unten lagen die Schiffe, die Lebensmittel, Öle und Weine für die Tische der Unter60
tanen der ›Serenissima‹ herbeibrachten. Zwischen ihnen und den Lagerhäusern liefen die Arbeiter wie geschäftige Ameisen hin und her. »Sia stali!« rief der Gondoliere einem näherkommenden Boot zu und deutete ihm damit an, daß er wenden wolle und sich der andere rechts halten müsse, um seinen Weg nicht zu kreuzen. Mit einer weitausholenden Ruderbewegung drehte er die Gondel in ihrer halben Länge und sie glitten in einen der Nebenkanäle. Der Wasserweg war hier enger, denn den Häusern entlang zog sich eine schmale gepflasterte Uferstraße. Trotz der hellen Nachmittagssonne lagen hier über den weniger zierlichen Palästen und Häusern tiefe Schatten, die durch die hohen und breiten Balkone noch vertieft wurden. »Di lungo il Palazzo Pesaro«, sagte der Gondoliere. Auf dem Kai waren fast keine Menschen zu sehen. Aber Antonio erblickte eine schlanke, graziöse Gestalt, die er zu erkennen glaubte. Etwas näher gekommen, konnte es für ihn keinen Zweifel geben: die anmutig Schreitende mit der goldenen Haarkrone war Lucia Bellarmi. Antonios Gondel war fast in gleicher Höhe mit ihr, da sah er aus der dunklen Nische eines Hauses einen Mann auf Lucia zustürzen. In der rechten Hand hielt er einen Dolch, in der linken einen kurzen schweren Stock. Ehe Antonio noch eine Warnung ausstoßen konnte, hatte der Fremde den kleinen Beutel an Lucias Gürtel erfaßt. Mit dem Dolch schnitt er die Kordel auf, offensichtlich in der Absicht, sich Lucias Geldbörse zu bemächtigen und sich davonzumachen. »Taschendieb!« schrie Antonio und sprang so heftig auf, daß die Gondel schwankte und der Steuermann beinahe ins Wasser fiel. Antonio riß dem Verdutzten das Ruder aus der Hand und trieb das Boot gegen den Kai. Sowie die Gondel die Steinmauer berührte, sprang er ans Ufer. Antonio hatte in der Aufregung nicht bemerkt, daß Lucia Bellarmi, durch seinen Zuruf gewarnt, den Dieb schon bei seinem ersten Angriff abgewehrt hatte. Es war ihr gelungen, dem völlig Überraschten den Knüppel zu entreißen, den sie nun mit beiden Händen schwang und auf den Kopf des Angreifers herniedersausen ließ, daß er in die Knie brach. »Dieb! Taschendieb!« schrie sie mit schriller Stimme. Der 61
Mann war von dem ersten Hieb einen Augenblick lang leicht betäubt und versuchte sich aufzurichten, aber unablässig prasselten ihre Schläge auf ihn herab. »Ich komme, Madonna!« rief Antonio. Vielleicht hatte sie ihn nicht gehört oder ihn für einen anderen Dieb gehalten, jedenfalls kam er gerade zurecht, um einen Hieb auf seinen eigenen Kopf zu bekommen. Er stürzte und rollte in das Rinnsal, durch das die Abwässer in den Kanal flossen. Wie betäubt blieb er liegen, während der Tumult über ihm noch einige Sekunden andauerte, dann aber plötzlich abbrach. Dem Taschendieb war die Einmischung Antonios eine willkommene Ablenkung gewesen, die er sich zunutze gemacht hatte, um den Ort, an dem er leichte Beute zu machen gehofft, schleunigst zu verlassen und wieder in dem Dunkel unterzutauchen, aus dem er gekommen war. Antonio blickte auf die wütende Bellarmi. »Esel!« fuhr sie ihn an, denn dem Dieb war es dank Antonios Dazwischentreten gelungen, doch mit dem Beutel zu entweichen. Dann betrachtete sie ihren verhinderten Retter. »Oh, Ihr seid es, Herr Doktor!« sagte sie in vernichtendem Ton. »Ich hätte es mir denken können.« »Ich versuchte bloß zu helfen«, wendete er ein. Sie stieß mit dem Fuß auf. »Ich brauche keine Hilfe. Die Enkelin eines Amerigo Vespucci wird wohl noch mit einem kleinen Taschendieb fertig werden.« Antonio schwankte ein wenig und legte die Hand auf den dröhnenden Kopf. »Laßt mich sehen«, befahl sie mit etwas sanfterer Stimme. Er beugte sich vor und ihre Finger fuhren durch sein dichtes, dunkles Haar. Als sie die Stelle berührte, an der sie ihn mit dem Prügel getroffen hatte, zuckte er, aber sie sagte: »Es ist nichts. Die Haut ist nicht einmal verletzt.« Man konnte jetzt rasch näherkommende Schritte hören; die Schreie Madonna Lucias schienen nicht unbeachtet geblieben zu sein. »Dio mio!« rief der Gondoliere, »die Stadtwachen! Sie werden uns alle festnehmen und vor ein Gericht zerren.« Madonna Lucia zeigte erneut ihre Geistesgegenwart, mit der sie auch 62
den Dieb überrascht hatte. »Wo wollt Ihr ihn hinbringen?« verlangte sie von dem Bootsmann zu wissen. »Via délie Galleazze e Vasca.« »Nehmt ihn in Eure Gondel und dann weg von hier. Subito!« Sie gab Antonio einen Wink in der Richtung des bereitstehenden Bootes. Antonio war noch viel zu betäubt, um zu widersprechen oder sich an den eigentlichen Zweck seines Hierseins zu erinnern. Er stolperte in das Boot, das der ängstliche Gondoliere mit kräftigen Ruderstößen auf den Kanal hinaustrieb. Ein letzter Blick auf den Schauplatz seines Abenteuers zeigte ihm Lucia Bellarmi, die eilig in das Tor des Palazzo Pesaro schritt.
XIII
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ntonios Schädel brummte zwar noch, aber er selbst hatte sich wieder erholt, als ihn der Gondoliere vor Gians Haus in der Via delle Galleazze e Vasca absetzte. Madonna Lucias Feststellung, daß er nicht ernstlich verletzt sei, hatte ihn beruhigt, aber er bemerkte über seiner Schläfe eine leichte Schwellung. »Corpo di Cristo«, sagte der Gondoliere, während Antonio sich über seinen Geldbeutel beugte und nach Münzen suchte, um die Fahrt zu bezahlen. »Euer Hochwürden haben eine ordentliche Beule an der Schläfe.« »Ich bin froh, daß es nicht schlimmer ausgefallen ist.« »Die kleine Dame war sehr kräftig«, meinte der Gondoliere. »Per Bacco! Welch eine Schönheit!« »Ich würde mich glücklich schätzen, sie nie mehr sehen zu müssen«, sagte Antonio aus tiefster Überzeugung und reichte dem Gondoliere das Geld. »Va bene.« »Arrivederci, Hochwürden.« Antonio warf seinen Reisesack über die Schulter und stieg langsam 63
die Stufen zu Gians Atelier hinan, das sich im zweiten Stockwerk des Gebäudes befand. Er war schon früher hier gewesen; aber die Ausgelassenheit des Künstlervölkchens, das die Häuser dieser Straße bewohnte, hatte seiner ruhigen Art nicht entsprochen und so war er niemals lange geblieben. Gians Diener, Dimas, öffnete und ließ ihn in den Vorraum ein. Um Dimas' Mundwinkel lag immer ein Zug der Verachtung, als wollte er damit ausdrücken, daß er mit den Gepflogenheiten seines Herrn nicht einverstanden wäre. »Wer ist da, Dimas?« fragte Gian aus dem Arbeitszimmer. »Dr. Servetus«, antwortete Dimas. »Tonio!« rief Gian, »komm herein!« Antonio übergab Dimas seine Sachen, die dieser mit geringschätzigem Nasenrümpfen in Empfang nahm, dann ging er durch das Schlafzimmer in den daran angrenzenden Arbeitsraum. Gian hatte dieses am Ende der Wohnung liegende Zimmer für seine Arbeiten ausgesucht, weil es von einem riesigen Oberlicht, das über eine ganze Breitseite lief, das für seine Bilder sehr günstige Tageslicht empfing. »Tonio mio!« Gian kam ihm in einem farbverschmierten Kittel, die Palette in der Hand, entgegen. Sie umarmten einander, wobei der überschwengliche Maler Antonios Gewand mit Farbe bekleckste. »Was bringt dich nach Venedig?« wollte Gian wissen. »Ich will mit dir sprechen, Gian. Über mein …« Antonio blieb erstarrt an der Schwelle stehen und beendete seinen Satz nicht. Ihm gegenüber im Atelier stand auf dem Modellpodest eine liebliche junge Frau, die eine Hand zu ihrem dunkelroten Haar emporgehoben hatte, als wollte sie es ordnen. Es war aber nicht ihre Gegenwart, die ihn verwirrte, sondern die Tatsache, daß sie völlig nackt war. Antonio fühlte, wie ihm das Blut in die Wangen schoß. Er blickte nochmals auf den herrlichen Körper, der dort in Pose stand. Natürlich hatte er gewußt, daß Gian mit Modellen arbeitete, aber es war das erstemal, daß er ein solches Modell in Gians Atelier antraf. Sie schien von seinem Erscheinen überhaupt nicht betroffen. Sie hatte eine große, aber sehr ebenmäßige Gestalt, und in ihrem flüchtigen Blick, der ihn traf, lag etwas, als wollte sie ihn wegen seiner Verlegenheit auslachen. 64
Gian bemerkte, daß Antonio errötet war und meinte: »Lieblich, nicht wahr, Antonio?« Dann lachte er laut auf, weil Antonio in seiner Befangenheit nicht ein Wort herausbrachte. »Das ist Clarissa Strozzi, mein Modell«, stellte er das Mädchen vor, und zu ihr gewendet: »Dr. Antonio Servetus, der Künstler und Arzt, von dem ich schon gesprochen habe.« Das Mädchen lächelte und Antonio verstand nun, warum sie seine Anwesenheit nicht störte. Für sie war er eben nur ein anderer Künstler. »Signore Gian hat viel von Euch erzählt, Herr Doktor«, sagte sie mit leiser Stimme. Antonio verneigte sich, und seine Verlegenheit verschwand. Bei der Natürlichkeit des Mädchens und dem selbstverständlichen Gehaben Gians schien es ihm töricht, so verstört zu sein. Und außerdem sagte ihm irgendein Kobold in seinem Innern, daß das Mädchen ungewöhnlich lieblich anzusehen war. »Signorina Strozzi, Ihr würdet für jeden Künstler eine Inspiration sein«, hörte sich Antonio aufrichtig beteuern. Gian schlug ihn auf die Schulter. »Wie ein Kavalier gesprochen, Tonio!« rief er aus. »Ich sage dir, in dir steckt das Zeug zu einem Galan.« Zu Clarissa gewendet meinte er: »Ihr könnt Euch eine Weile ausruhen, Clarissa. Es ist etwas Wein und Brot dort, gießt uns ein.« Das Mädchen stieg vom Podest, warf ein Tuch über und brachte dann Gläser und die Flasche Wein herbei. Antonio und Gian hatten inzwischen auf einem Ruhebett Platz genommen. Clarissa füllte die drei Gläser und nahm sich selbst eines davon. Sie räkelte sich müde, bevor sie Platz nahm und sagte: »Modellstehen für eine Größe wie Signore Gian ist eine harte Arbeit, Dr. Servetus. Ihr als Arzt werdet das ermessen können.« »Das stimmt nicht ganz«, entgegnete Antonio. »Ich bin in erster Linie Anatom.« Gian lachte. »Nun hast du Gelegenheit, diesen Gegenstand vom Standpunkt des Künstlers aus zu studieren, Tonio. Findest du nicht, daß Clarissa eine herrliche Gestalt hat?« »Ich kenne nur eine, die herrlicher ist.« 65
»Dio mio!« stieß Gian hervor. »Du bist sehr ungalant. Einer Frau darfst du nie sagen, daß sie nicht die Schönste auf der Welt ist.« Clarissa, die Antonio beobachtet hatte, während er sprach, meinte nun: »Deshalb ist er nicht weniger ehrenhaft. Aber erzählt uns doch mehr über diese lieblichste aller Frauen, Herr Doktor!« »Es handelt sich nicht um eine Frau, sondern um ein Gemälde.« »Ah, das Bild Botticellis!« rief Gian. »Ja.« »Tonio hat sich in die Venus des Botticelli verliebt«, erklärte Gian. Clarissa lächelte warm. »Ich kenne das Gemälde und deshalb tadle ich Euch nicht. Aber sagt, wurde es denn nicht aus Florenz gestohlen?« »Irgend jemand hat es in dem Kloster zu Padua, in dem ich lebe, zurückgelassen.« »Wo er es in seinem Zimmer anhimmelt wie ein Liebeskranker«, stichelte Gian. »Soviel ich mich entsinnen kann, ist sie wirklich die herrlichste Frau der Welt«, sagte Clarissa. »Womit ich nicht übereinstimme«, erwiderte Gian. »Diese Art von Frauen eignet sich sehr gut zum Aufstellen und Anbeten. Mir aber ist eine aus Fleisch und Blut lieber.« Antonio beugte sich vor, um sein Glas auf den Tisch zu stellen, da rief Clarissa aus: »Ihr seid ja verletzt, Doktor. Ihr habt eine Beule am Kopf.« »Vediamo!« Gian legte seine Finger auf die geschwollene Stelle über Antonios linker Schläfe, aber Antonio zuckte vor Schmerz zurück. »Welchem Raufbold bist du in die Hände gefallen, Tonio?« »Es war ein Mädchen«, gestand Antonio. »Ein Kampf mit einem Mädchen! Che' succède?« Antonio gab einen Bericht über den Zwischenfall. Als er geendet hatte, sagte Clarissa: »Was für eine herzlose Person. Wie konnte sie wissen, daß Ihr nicht ernstlich verletzt ward?« »Ich war fähig zu gehen«, sagte Antonio und es kam ihm zum Bewußtsein, daß er damit Lucia Bellarmi verteidigte, »und die Stadtwachen kamen auch gerade.« 66
»Aber sie hätte Euch doch zumindest in den Palazzo bringen können«, warf Clarissa ein. »Übrigens, der Palazzo Pesaro lag doch gar nicht auf deinem Weg hierher, Tonio«, sagte Gian. »Was hast du in dieser Gegend gemacht?« Antonio erzählte nun über sein Zusammentreffen mit Girolamo Bellarmi und dessen Nichte in Padua und seinen Plan, Bellarmi im Palazzo Pesaro in Venedig aufzusuchen. »Aber du hättest ihn doch auch in Padua sprechen können«, gab Gian zu bedenken. »Ich glaube, ich tat es nicht, weil ich durch Madonna Bellarmi verärgert war«, gestand Antonio. »Ich hätte diese Person in eine dunkle Ecke gelockt und sie ordentlich geküßt«, meinte Gian. »Es gibt nichts Besseres als einen guten Kuß, um ein Frauenherz zum Schmelzen zu bringen. In der ersten Minute wehrt sie sich und in der zweiten frißt sie dir aus der Hand.« »Ihr müßt mich für einen Tölpel halten, Madonna Strozzi«, sagte Antonio, »aber mein Leben ist ganz anders als das Gians.« »Es gibt vielerlei Menschen auf dieser Welt, Herr Doktor«, entgegnete sie sanft. »Und auch genügend Platz für alle. Ich halte Euch für eine bedeutende Persönlichkeit und ich glaube, daß Signore Gian und ich eines Tages im Vergleich zu Euch sehr klein und unbedeutend sein werden.« »Was soll das?« mengte Gian sich ein. »Führen wir eine philosophische Diskussion oder eine zwanglose Unterhaltung? Trinken wir Antonio zu!« Sie tranken und plauderten eine Weile. Dann setzte Clarissa ihr Glas auf den Tisch und stand auf. »Ich bin jetzt ausgeruht«, sagte sie zu Gian. »Es wird nicht mehr lange hell sein; wenn Ihr den Arm noch heute fertig machen wollt …« »Ella ha ragione.« Gian nahm seine Palette und ging zur Staffelei. »Wir wollen weitermachen.« Antonio sah, daß er an einer halbfertig ausgezeichneten Studie von Clarissa Strozzis herrlichem Körper arbeitete. Er erhob sich. Der Wein und der bohrende Schmerz in seinem Kopf machten ihn schwindlig. »Ich glaube, es ist am besten, ich lege mich eine Weile hin.« 67
»Sag Dimas, er soll dir das Zimmer zeigen«, rief Gian von der Staffelei her. »Ich bin bald fertig für heute.« Antonio verbeugte sich vor dem lächelnden Mädchen auf dem Podest: »Wenn Signora mich entschuldigen wollen.« »Buon riposo, Signore Antonio«, sagte sie. »Ich hoffe, daß es Euch morgen besser geht.«
XIV
D
er Traum begann genauso wie der erste. Da war wieder derselbe sandige Strand, der grüne, dicht belaubte Baum, unter dem er lag, und das Wasser, das plätschernd an das Ufer schlug. Als die in ihrer Schönheit einzigartige Göttin aus dem Muschelboot ans Land stieg, lächelten ihre Lippen ein zärtliches Willkommen. Ihre Finger waren feucht und kühl, als sie ihm die Hand reichte. Seinen angespannten Körper durchfuhr ein Gefühl der reinen Verzückung. Wie damals rissen sie auch jetzt wieder rauhe Hände auseinander und wieder versuchte er, der satyrähnlichen Gestalt, die das schmale, verschlagene, hohnlächelnde Gesicht Fra Felipe Santos' trug, nachzueilen und sie einzuholen. Stolpernd fiel er in den Sand, verkrampfte sich in den Boden, erschöpft und unfähig, sich zu erheben. Auch Lucia Bellarmi war in jeder Einzelheit die gleiche, als sie mit dem spottenden Ton in ihrer Stimme schrie: »Schamloser Nackter!« Während er wie im ersten Traum versuchte, seine Nacktheit zu bedecken, verschwamm die Gestalt der Lucia und an ihrer Stelle erschien eine andere, größere Frau. Einen Augenblick lang vermeinte er aufgeregt, die Göttin aus der See sei dem Satyr entkommen, doch als die Umrisse schärfer wurden, erkannte er Clarissa Strozzi, die ihm zuwinkte. Mit letzter Kraftanstrengung bemühte er sich, emporzukommen, aber sein Körper war wie gelähmt. Obwohl er nur wenige Schrit68
te von Clarissa entfernt war, fühlte er sich außerstande, sich von der Stelle zu bewegen. Panische Angst erfüllte ihn, als er bemerkte, daß ihre Umrisse zu verschwimmen begannen, und er kämpfte noch angestrengter, seinen trägen, zu einem schweren Lehmklumpen gewordenen Körper vorwärtszuschleppen. »Tonio! Tonio!« Das war keine sanfte Frauenstimme, sondern die rauhe, herbe des Gian Savarino. Eine Sekunde lang schwebte Antonio zwischen Wachen und Träumen. Widerstrebend ließ er von dem verheißungsvollen Traumgebilde ab, dann aber rief ihn Gians beharrliche Stimme und dessen rauhe Hand auf seiner Schulter zu sich. Wie rasend hämmerte das Herz gegen die Brust, seine Kehle war wie zugeschnürt und sein Atem ging schwer. Sein Körper war schweißgebadet, in seiner Schläfe bohrte der Schmerz wie eine scharfe Metallspitze. »Che fa lei?« brummte er, als er Gians Gesicht undeutlich vor sich sah. »Was treibst du hier?« »Wach auf. Du mußt einen schrecklichen Traum gehabt haben.« Antonio setzte sich auf und rieb die Augen. »Ja.« »Und was für ein Traum. Mit wem hast du gekämpft?« »Ich versuchte, jemanden einzuholen.« »Das dachte ich mir; du riefst immer ihren Namen.« Antonio errötete und Gian lachte über seine Verlegenheit. »Ich habe mich oft gefragt, wovon Mönche träumen. War sie eine Dirne oder ein Engel?« Antonio zog es vor, das Thema zu wechseln. »Ich bin hungrig.« »Du hast das Abendessen verschlafen, aber Dimas hat sicherlich etwas in der Speisekammer aufbewahrt.« Gian führte ihn durch das verlassene Atelier in die kleine Speisekammer, wo sie kalten Braten, etwas Wein und Brot fanden. »Du hast mir nicht den Namen der Frau aus deinem Traum gesagt«, kam Gian auf das Gespräch von vorhin zurück, während er den Wein eingoß. »Es hörte sich an wie Lukretia, Lucia oder so ähnlich.« »Die Nichte des Girolamo Bellarmi heißt Lucia.« »Dieselbe, die dich auf den Kopf geschlagen hat?« 69
»Ja.« »Molto interessante. Erzähl mir mehr über deinen Traum.« Und als Antonio geendet, sagte Gian: »Wie deutest du dir das?« »Ich nahm den Traum als Warnung, daß Fra Felipe das Gemälde behalten will, wie du selbst vermutest.« »Das könnte zum Teil richtig sein«, gab Gian zu. »Aber was ist mit dieser Lucia?« »Die kann ich mir nicht erklären«, gestand Antonio. »Und Clarissa?« »Auch die kann ich nicht deuten. Kannst du es?« Gian grinste. »Ich bin kein Traumdeuter, aber die Antwort scheint mir sehr einfach.« »Ich nehme an, jetzt folgst du wieder dem Flug deiner wilden Fantasie …« »Nein. Ich bin gewiß, daß dies die einzige logische Erklärung ist.« »Nun, so sprich.« »Es geht alles auf das zurück, was ich dir schon so oft gesagt habe. Du bist ein Mann, Tonio, und es hat keinen Sinn, wenn du aus dir einen Mönch machen willst. Würdest du von einer lieblichen Frau in deinen Armen träumen, wenn du wirklich in deinem tiefsten Innern wünschtest, unverheiratet zu bleiben?« »Auch die Heiligen wurden von Dämonen versucht«, widersprach Antonio. »Es sind dieselben Dämonen, die uns alle versuchen, nur sind manche klug genug, der Versuchung nicht zu widerstehen.« »Das sind Lehren des Teufels«, versetzte Antonio beharrlich. »Jedenfalls ist dein Traum ganz einfach. Du hast dich in die Venus des Botticelli verliebt; das hast du selbst zugegeben.« »Was ich für das Bild empfinde, ist nur die natürliche Bewunderung des Künstlers.« »Jetzt weichst du aus«, fuhr ihn Gian an. »Würde ein Maler je ein Gemälde so anhimmeln, wie du die Venus?« »Aber warum dann der Traum?« »Warte ein wenig«, sagte Gian plötzlich. »Du schätzest doch die 70
Schriften des Paracelsus. Ich glaube, er hat über diese Sache etwas geschrieben.« Er ging zum Bücherregal, das eine Wand des Ateliers einnahm. »Vediamo; eccolo qui.« Er nahm einen schweren, in Kalbsleder gebundenen Folianten aus dem oberen Fach und brachte ihn zum Tisch. »Ich weiß, wo die Stelle ist«, sagte er, als er die Seiten durchblätterte. »Ja, hier ist sie. Hör zu, was Paracelsus über den Menschen sagt: ›Der Geiste der Menschen sind zwei, die in ihm angeboren liegen. Denn das ist wahr, daß der Mensch das Bildnis Gottes ist, deswegen hat er auch einen göttlichen Geist in sich. Sonst aber ist er ein Tier und als Tier hat er einen tierischen Geist. Das sind nun zwei sich-widerwärtige, aber einer muß doch dem andern weichen.‹« Gian schlug das Buch zu. »Hier hast du es. Die Antwort in einer Nußschale.« »Aber wie ist das auf mich anzuwenden?« fragte Antonio. »Ganz einfach. Ein Teil von dir, der Künstler oder Idealist, liebt das Gemälde an sich, der andere begehrt das Weib.« »Ich bleibe dabei, daß der Traum eine Versuchung des Fleisches ist, vom Satan gesandt, um meine Seele zu prüfen.« »Und ich sage dir, daß der Mann in dir nach einer Frau begehrt; vielleicht nach dieser Lucia Bellarmi.« »Da sei Gott vor«, beteuerte Antonio. »Es könnte trotzdem so sein. Ist sie hübsch?« Lucia Bellarmis Bild stand klar vor ihm. Sogar eindringlicher als im Traum. Ihr kleiner Kopf, ihr goldenes Haar, die stolze Haltung … Und doch war er sich niemals besonders ihrer Schönheit bewußt gewesen. Sie zu sehen, war für ihn wie die Begegnung mit jemandem, dessen Gesichtszüge einem schon längst vertraut und ins Gedächtnis eingegraben sind. Das Gefühl, das ihn damals überkommen, als er sie zum erstenmal an Fra Marios Bett erblickt hatte, war das Markanteste, dessen er sich entsann, wenn er an sie dachte. »Ich weiß gar nicht, ob sie schön ist«, gestand er. »Das weißt du nicht?« rief Gian ungläubig. »Warst du denn blind?« Antonio versuchte, seine Gefühle für Lucia zu erklären. »Sie schien 71
mir mehr wie eine Schwester oder Base«, faßte er zusammen, »und doch weiß ich, daß ich sie niemals zuvor gesehen habe.« »Wahrscheinlich ähnelt sie jemandem, den du gut kennst.« »Aber wem? Ich wüßte niemanden.« »Das mußt du schon selber herausfinden. Jedenfalls glaube ich, trifft meine Traumdeutung zu.« »Aber du hast Fra Felipe nicht gedeutet«, warf Antonio ein. »Er ist ein Symbol deines mönchischen Gewissens. Erinnere dich, daß er es war, der deine Göttin wegnahm, als du sie in den Armen hieltest.« »Und was ist mit Clarissa?« »Jetzt habe ich dich in der Schlinge, Tonio«, sagte Gian mit großer Befriedigung. »Dein Verlangen hat sich eben jetzt ihr zugewendet.« »Das ist unsinnig«, gab Antonio ärgerlich zurück. Er erhob sich und ging ans Fenster. In seinem Inneren nagte der Zweifel. Er erinnerte sich des Gefühls, das ihn am Nachmittag erfüllte, als er das Atelier betrat und sie auf dem Modellpodest stehen sah. Es war ein Gefühl der Vorausahnung, der Erregung, die seinen ganzen Körper durchströmte. Es konnte also nichts anderes gewesen sein, als der Impuls der fleischlichen Begierde. Der Gedanke ließ in ihm eine Welle der Scham und des Schuldbewußtseins aufkommen; denn er glaubte, wenn er der Versuchung schon beim erstenmal widerstanden hätte, würde sie ihn nicht noch ein zweites Mal bedrängt haben. »Du hast recht.« Er wandte sich Gian zu. »Wer ist dein Beichtvater? Ich will morgen zu ihm gehen.« »Mein Beichtvater würde sich bei so kleinen Sünden wie die deinen sind, nur langweilen. Warte, bis du etwas zu bekennen hast. Clarissa kann dich Dinge lehren, die in deinen mönchischen Versuchungen noch nicht vorgekommen sind.« »Aber sie ist doch deine – –« Er unterbrach sich. Gian schüttelte den Kopf. »Clarissa ist ein wunderbares Modell, aber ein Mann kann eine Frau, mit der er schläft, nicht gut malen. Ein Künstler sollte über alles, was zu seiner Arbeit gehört, erhaben sein. Das ist es auch, warum du eine wirkliche Frau statt eines Gemäldes 72
brauchst.« Er nahm die Überreste des Mahles und warf sie in den Abfallkübel. »Du hast mir noch gar nicht gesagt, warum du nach Venedig gekommen bist.« »Ich will, daß du mir bei der Veröffentlichung meiner Monographie über die Lungenzirkulation hilfst.« Gian starrte ihn an. »Als dein eigenes Werk?« »Nein, als Rechtfertigung für meinen Bruder.« »Maria Sanctissima! Was brachte dich zu diesem Entschluß?« »Ich habe alles gründlich überlegt«, entgegnete Antonio schlicht. Gian sah den Freund an, als sähe er ihn zum erstenmal. Schließlich meinte er ein wenig traurig: »Ich hätte es wissen müssen, daß es so weit kommen wird. Ermißt du überhaupt, was du damit tust?« »Ich habe alles überlegt und will die Gelegenheit wahrnehmen.« Gian ließ resigniert die Schultern sinken. »Dann wollen wir in der Frühe Guidobaldo Aldini aufsuchen. Er ist der beste Drucker in ganz Italien.« »Laß mich allein gehen«, sagte Antonio. »Es ist nicht nötig, daß du in diese Sache hineingezogen wirst.« »Du wirst mehr Hilfe brauchen, als meine geringe Unterstützung«, entgegnete Gian ungehalten. »Aber ich stehe zu dir bis zum bitteren Ende.«
XV
G
ian bestand darauf, am nächsten Morgen vor allem andere Kleider für Antonio zu beschaffen, in denen er besser aussehen würde, als in seiner alten, vom Schmutz aus der Gosse vor dem Palazzo Pesaro besudelten Kutte. »Aber ich muß Signore Bellarmi besuchen und ihm über das Gemälde berichten«, meinte Antonio. 73
»Und Madonna Lucia in diesem Aufzug antreffen?« Gian hob die Augenbrauen. »Damit würdest du das Empfinden jeder vornehmen jungen Dame verletzen.« »Gut«, stimmte Antonio zu, denn er wollte vor Signore Bellarmi in einem guten Licht erscheinen. Er hatte den Florentiner Kaufmann schätzen gelernt, wenn seine Nichte auch eine zänkische Person war. »Das gefällt mir schon besser. Ich bat Clarissa, uns zu begleiten. Du wirst dich an die Gesellschaft von Damen gewöhnen müssen, wenn du länger in Venedig bleibst.« »Aber ich …«, protestierte Antonio. »Ich habe alles vorbereitet. Um den Unannehmlichkeiten, die dir beim Erscheinen deines Buches erwachsen könnten, aus dem Weg zu gehen, schaffst du dir am besten hochgestellte Freunde. Tu, was ich dir sage und du wirst mit heiler Haut davonkommen … zumindest in Venedig.« Antonio zuckte die Schultern. Wie gewöhnlich hatte Gian in diesen Sachen recht. Antonio war angezogen, als Clarissa erschien. Sie trug ein einfaches Kleid und hatte über das dunkelrote Haar ein hellgelbes Seidentuch gebunden. Die drei nahmen eine vor dem Haus bereitstehende Gondel, die Antonios Gondoliere von gestern führte. »Buon giorno, Mattei«, grüßte Gian und half Clarissa in die Gondel. »Zum Geschäft des Schneiders Arnolfo in der Via delle Garmoni.« Der Gondoliere verbeugte sich. »Es ist mir ein Vergnügen, Eurer Magnifizenz … und Euer Hochwürden zu dienen.« Antonio kam an die Seite Clarissas zu sitzen, Gian kauerte sich auf die Polster zu ihren Füßen. Der kleine Kahn bewegte sich in den Kanal hinaus und in kurzer Zeit hatte Antonio in dem Irrgarten der vom Morgenverkehr belebten Wasserwege die Orientierung verloren. Sie legten vor dem Laden des Schneiders an. Niemals noch hatte Antonio so eine herrliche Schneiderwerkstätte gesehen. Sie war voll mit Rollen von kostbarem und vielfarbigem Tuch, mit halbfertigen Kleidungsstücken, an denen geschäftige Lehrlinge arbeiteten. Meister Arnolfo, von Kopf bis Fuß in vornehmes Schwarz gekleidet, näherte sich lächelnd, um Gian, der ein bevorzugter Kunde zu sein schien, zu begrüßen. 74
»Zu Euren Diensten«, flötete er und verbeugte sich. »Habt Ihr von meinen neuen Tüchern aus den französischen Webstühlen gehört?« »Nicht ich«, wehrte Gian ab, »mein Freund, Dr. Servetus, braucht etwas. Vielleicht habt Ihr etwas bereits Zurechtgeschneidertes, das ihm paßt.« Geringschätzig musterte der Schneider Antonios schmutziges Gewand. Dann schnippte er mit den Fingern. »Ich habe einen kurzen Waffenrock aus blauem Samt, dazu passende Beinkleider und ein Wams. Es war für einen spanischen Söldner bestimmt, der unglücklicherweise bei einem Duell erschlagen wurde.« »Aber ich bin für einen langen Rock«, protestierte Antonio. Ärzte und Apotheker trugen gewöhnlich das lange Standeskleid, das ursprünglich ihren Beruf kennzeichnen sollte, nun aber schon von fast allen Amtspersonen und Lehrern getragen wurde. Viele Ärzte aber waren seit neuem zu den kürzeren Röcken, wie sie von Kaufleuten und Bankiers getragen wurden, übergegangen: sie fanden dies bei der wachsenden Anerkennung, die man ihrem Beruf zollte, als schicklicher. Meister Arnolfo zuckte die Achseln. »Tut mir außerordentlich leid, Doktor, ich habe so etwas nicht auf Lager.« Sein Ton ließ deutlich erkennen, daß Träger langer Röcke für gewöhnlich nicht zu seinen Kunden zählten. »Du wirst dich für des Söldners Kleid entscheiden müssen, Antonio«, sagte Gian. »Du kannst mit dem, was du anhast, nicht länger herumgehen.« »Vielleicht hat Meister Arnolfo einen anderen Rock, der passen würde«, meinte Clarissa. »Dort auf dem Tisch liegen doch einige.« »Mit Beinen, wie den seinen, ist es eine Schande, keinen kurzen Rock zu tragen«, bemerkte Gian. »Nun gut. Habt Ihr vielleicht ein Kaufmannsgewand, Arnolfo?« Der Schneider schnalzte wieder mit den Fingern. »Jetzt fällt es mir ein. Wir arbeiten gerade etwas für einen Silberschmied. Er hat ungefähr Eure Figur, Doktor. Darf ich bitten?« Gian und Clarissa nahmen sich nun trotz Antonios Protest seiner Einkleidung an. Was sie auswählten, wurde zurechtgemacht, und als 75
Antonio schließlich aus dem Ankleideraum kam, klatschte Clarissa begeistert in die Hände. »Bravo! Er sieht prächtig aus, Signore Gian.« Der Rock, den sie gewählt hatten, reichte Antonio bis zu den Knien und war aus kostbarem dunklem Samt, pelzverbrämt und um die Taille mit einer quastengeschmückten Kordel zusammengehalten. Die dunklen Beinkleider schmiegten sich um die muskulösen Beine und waren um die Hüfte geschnürt. Gian hatte darauf bestanden, um Antonios Hals eine goldene Kette zu legen. Auf dem blauen Samtbarett saß anmutig eine blaue Feder. »Quanto importa il tutto?« fragte Antonio. Gian hatte ihm bis jetzt keine Gelegenheit gegeben, nach dem Preis zu fragen, aber er war überzeugt, daß in diesem Laden nichts billig verkauft würde. »Es geht auf meine Rechnung«, beeilte sich Gian zu sagen, noch ehe Meister Arnolfo die Summe nennen konnte. »Du kannst es mir später bezahlen, Tonio. Wir müssen nun gehen.« »Jetzt siehst du wie ein Weltmann aus, und nicht wie ein ärmlicher Mönch«, bemerkte Gian, während sie den Laden verließen. Clarissa nahm Antonios Arm. »Ein sehr hübscher Mann, möchte ich sagen. Jede Frau würde stolz sein, mit ihm gesehen zu werden.« Eine Turmuhr schlug Mittag. Mit Schrecken stellte Antonio fest, daß sie sich fast zwei Stunden bei dem Schneider aufgehalten hatten. »Ich muß bei Signore Bellarmi vorsprechen«, sagte er. »Nicht jetzt!« rief Gian. »Es ist Mittag und wir müssen essen.« Er griff nach der Seidenbörse, die an seinem Gürtel hing. »Aber vorerst muß ich dem Bankhaus meiner werten Eltern einen Besuch abstatten.« Er winkte den wartenden Gondoliere heran und warf ihm eine Münze zu. »Mattei, du kennst die Trattoria an der Lagune gegenüber meines Vaters Bank?« »Certamente, Magnifico. Ich habe Euch oft dorthin gebracht.« »Führe die Dame und den Herrn dorthin und warte dann auf mich vor dem Bankhaus.« »Si subito.« Mattei sicherte die Gondel, damit sie einsteigen konnten. »Bestellt eine Erfrischung, Clarissa. Ich werde bald bei euch sein.« 76
»Das ist einmal ein wenig anders, als auf der Universität, nicht wahr, Signore Antonio?« fragte Clarissa. »Wie anders aber erst im Vergleich zu dem Kloster, in dem ich lebe.« »Warum lebt Ihr in einem Kloster? Wohnen alle Professoren dort?« »Ich beabsichtige, in den heiligen Orden einzutreten. Sie geben mir Kost und Logis für die Instandhaltung der Bibliothek.« »Seid Ihr denn so arm?« »Ich glaube schon. Aber ich habe mir über Geld nie den Kopf zerbrochen«, antwortete er und dabei kam es ihm zum Bewußtsein, daß er seine Einstellung gegenüber materiellen Dingen seit gestern geändert hatte. Ein natürlicher Vorgang vielleicht, dachte er, verursacht durch die Atmosphäre in Venedig, das sich mit seinem Reichtum, Geschäftsleben und seinem Glanz mit dem ruhigen Padua nicht vergleichen ließ. »Was wollt Ihr beginnen, nun, da Ihr die Universität verlassen habt?« »Ich habe sie doch nicht verlassen. Ich werde zurückgehen, am Ende der Sommerferien.« »Unterdessen erfreut Ihr Euch eines wohlverdienten Urlaubs.« »Ich genieße ihn; aber es ist kein richtiger Urlaub. Ich bin dabei, eine Abhandlung zu schreiben und Gian soll mir helfen, sie zu veröffentlichen.« Er erzählte ihr von seiner Entdeckung. Als er geendet, sagte sie: »So seid Ihr dazu bestimmt, den Namen Eures Bruders reinzuwaschen?« »Hättet Ihr von mir etwas anderes erwartet?« Sie blickte ihm voll aufrichtiger Bewunderung in die Augen, dann lächelte sie. »Nein, Ihr würdet nicht Antonio Servetus sein, wenn Ihr anders wäret. Aber ich glaube nicht, daß Ihr in das Kloster zurückgeht.« Verdutzt fragte er: »Wieso?« »Ich habe manchmal ein bestimmtes Gefühl für Dinge. Vielleicht Intuition. Ich bin gewiß, Ihr seid zu anderem auserwählt, als Rosenkranz zu beten und Messen zu lesen.« 77
Vor einem Monat wäre Antonio über die Zumutung, es könne in der Welt etwas geben, das ihm mehr bedeutete als der Dienst an Gott, entsetzt gewesen. Heute dünkte ihn der Gedanke nicht abwegig und er wußte, daß Clarissa es nur gut mit ihm meinte. »Gian sagt dasselbe«, gestand er. »Aber ich bin zu keinem Entschluß gekommen.« »Das Schicksal trifft die Entscheidungen für uns«, sagte sie und legte ihre Hand auf die seine, »es ändert unsere Ansichten. Wie Ihr mich gestern gesehen habt, dachtet Ihr gewiß, ich sei eine nackte Dirne.« »Das könntet Ihr nie sein«, warf er rasch ein. »Manche werden es aber sagen«, beharrte sie lächelnd. »Die würden aber unrecht haben. Ein Körper, so schön wie der Eure, ist bestimmt dazu …«, er unterbrach sich und wurde vor Verlegenheit blutrot. Ihre Hand drückte die seine und sie sagte weich: »Ich weiß, was Ihr meint, Signore Antonio«, und dann lachte sie. »Seht nur, wie weit Ihr Euch schon vom Kloster entfernt habt.« Sanft stieß die Gondel gegen die Anlegestelle vor einem belebten Restaurant. An den Tischen, die bis zum Wasser heranreichten, nahmen vornehm gekleidete Leute Erfrischungen ein. Als sie eintraten, verneigte sich der Major-Domus und begrüßte Clarissa mit Namen. Antonio würdigte er nur eines kurzen Blickes, der sich auf das kostbare Material seines Rockes, das weiche Cordova-Leder seiner Schuhe und die kurze, aber schwere Goldkette richtete. »Einen Tisch für drei, nahe am Wasser, Signore Benedetto«, verlangte Clarissa. »Signore Gian Savarino wird bald nachkommen.« Sie wurden zu einem Tisch im Schatten eines in einen Topf eingepflanzten Olivenbaums geführt. Clarissa gab Anordnungen, um Antonio die Verlegenheit zu ersparen, zu zeigen, daß er keine Ahnung hatte, wie man ein vornehmes Menü zusammenstellt. Sie wählte milden Käse mit Waffeln serviert, einen Salat von frischen Früchten, für dessen Zubereitung Signore Benedetto berühmt war, winzige süße Zwiebeln, in Salzwasser und Essig eingelegt, eine Torte und gekühlten weißen Wein. »Gian ißt das gerne«, erklärte Clarissa. »Ich hoffe, Ihr auch.« 78
»Es ist ein wenig anders, als ich es vom Kloster her gewöhnt bin«, gestand Antonio. »Erzählt mir noch etwas über die Botticelli-Venus«, forderte sie ihn auf. Antonio suchte vorerst nach Worten, dann beschrieb er das Gemälde. Aber kaum hatte er begonnen, konnte er vor überschwenglicher Begeisterung nicht mehr weitersprechen. »Ihr müßt sie sehr lieben«, sagte Clarissa. »Wen?« »Die Venus. Ihr sprecht von ihr, als wäre sie ein lebendiges Wesen.« »Sie ist es. Zumindest für mich, obwohl ich nicht erklären kann, auf welche Weise.« »Ich glaube Euch zu verstehen, und eines Tages, so denke ich, werdet Ihr sie auch im Leben treffen.« »Aber das ist doch unmöglich, das Bild wurde vor mindestens sechzig Jahren gemalt.« »Das bedeutet nicht, daß Ihr nicht eine andere, ihr ähnliche, finden werdet. Wenn wir um uns blicken, treffen wir immer Leute, die irgend jemandem, den wir kennen, so ähnlich sind, daß sie identisch scheinen.« Sie lachte fröhlich. »Wer weiß es? Eines Tages könnt Ihr auf Euren Reisen eine Frau sehen und es wird Euch der Gedanke kommen, dort geht Clarissa Strozzi! Ihr werdet ihr nacheilen, aber dann werdet Ihr finden, daß es bloß irgend etwas an ihr war, das Euch an mich erinnerte.« »Auf jeden Fall wird diese Frau hübsch sein müssen, das weiß ich jetzt schon.« »Sieh da, Antonio«, rief sie entzückt, »welch reizendes Kompliment!« Antonio blickte um sich, ob ihn jemand gehört hätte. Mehrere Tische entfernt sah er einen Mann, der sie mit starrem und wie er glaubte feindlichem Blick ansah. Sein Gesicht war dunkel. Er hatte scharfe Züge, sehr buschige Augenbrauen und stechende schwarze Augen. Trotz seiner einfachen dunklen Kleidung unterschied er sich merklich von den anderen Männern in der Trattoria. Es lag irgend etwas Fremdartiges um ihn. 79
Antonio wandte den Blick von dem Fremden. Auch Clarissa mußte ihn gesehen haben, denn die Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen und es schien, als wäre plötzlich ein Vorhang über ihre Fröhlichkeit gezogen worden. Ihre Zähne preßten sich in die Unterlippe, bis sie weiß war von dem Druck, dann neigte sie lächelnd das Haupt. »Kennt Ihr jenen Mann?« fragte Antonio. »Es ist Lodovici Agnolo, ein … ein Magier. Wenn ich nicht Modell stehe, arbeite ich als seine Assistentin.« Antonio wollte den Kopf noch einmal nach Agnolo drehen, fand ihn aber zu seiner größten Überraschung neben sich stehen. Er wollte sich vom Tisch erheben, aber der große Mann legte die Hand auf seine Schulter und drückte ihn in den Sessel zurück. »Behaltet Platz, Dr. Servetus.« Die Stimme des Magiers hatte einen seltsamen Klang. »Ihr kennt mich?« fragte Antonio erstaunt. Agnolo lächelte und zeigte dabei starke große Zähne, die Antonio an die Hauer des Ebers erinnerten, den er seziert hatte, um die Lungenzirkulation nachzuweisen. »Natürlich«, sagte er, »ich habe einige Eurer anatomischen Vorlesungen in Padua gehört. Wir müßten uns einmal ausführlicher miteinander unterhalten, Doktor. Ich interessiere mich sehr für Medizin.« »Und seid nicht Arzt?« Agnolo kicherte wie über einen Scherz, den bloß er verstand. »Nicht direkt Arzt, obwohl ich mich sehr für Leben … und Tod interessiere. Ich beschäftige mich mit dem Studium der Sterne. Sie können uns über Krankheit sehr viel sagen, müßt Ihr wissen.« »Davon bin ich überzeugt«, stimmte Antonio höflich zu, »aber ich bin Anatom und nicht jemand, der die Heilkunde nach Gutdünken anwendet. Von Astrologie verstehe ich sehr wenig.« »Vielleicht können wir einander gelegentlich behilflich sein«, meinte Agnolo und wendete sich dann Clarissa zu. Antonio bemerkte, daß sie den Magier mit jenem seltsamen, starren Blick ansah, der ihn schon vor einigen Minuten in ihren Augen überrascht hatte. »Wir haben heu80
te abend zu arbeiten, Madonna«, sagte Agnolo mit leiser Stimme. »Ihr versteht?« Sie nickte mechanisch, fast puppenhaft. »Ja, ich verstehe«, antwortete sie kaum hörbar. »Arrivederci, Doktor«, verabschiedete sich Agnolo. »Es war mir eine Ehre, mit Euch bekannt zu werden.« Antonio verbeugte sich, aber sein Blick war auf Clarissa Strozzi gerichtet, gefesselt durch den eigenartigen Ausdruck ihrer Augen, mit denen sie Agnolos großer Gestalt folgte. Dann schien sie plötzlich in die Gegenwart zurückzukehren, blinzelte ein- oder zweimal und lächelte. »Was habt Ihr gesagt?« »Nichts. Was meinte Agnolo mit heute abend?« »Ich sagte Euch ja, daß ich manchmal als seine Gehilfin arbeite. Er gibt heute eine magische Vorführung und dazu wird er mich brauchen.« »Was sind das für Vorführungen?« Antonios wissenschaftliche Neugierde war durch die ungewöhnlichen Vorgänge geweckt. »Ich weiß es kaum. Aber es ist nichts, was Euch interessieren könnte.« Sie rückte näher und ihre Stimme klang gepreßt: »Glaubt mir, nichts, was Euch interessieren könnte.« Aus einer eben ankommenden Gondel rief ihnen eine vertraute Stimme zu, und dann nahm Gian bei ihnen Platz. Der Beutel an seinem Gürtel war merklich dicker geworden. »Eccolo! Meine Lieblingsspeise. Aber ihr habt ja noch nichts gegessen.« »Wir haben geplaudert und merkten gar nicht, daß das Essen gebracht wurde.« Gian strahlte. »Schon ganz Kavalier, nicht wahr, Tonio?« »Übrigens«, sagte Antonio, »Signore Agnolo hielt für einen Plausch an.« »Lodovici? Corpo di Cristo!« Gian fluchte und blickte auf Clarissa. »Was sagte er?« »Wir sprachen über Astrologie«, erklärte Antonio. »Er interessiert sich auch für Anatomie.« 81
»Per Bacco!« Gian wechselte sofort das Thema, als er sah, daß Clarissa den Kopf schüttelte. »Ich füllte meinen Beutel in der Familien-Schatzkammer. Wir leisten uns heute ein gutes Nachtmahl, Tonio.« In Clarissa schien etwas vorgegangen zu sein. Es war keine offensichtliche Wandlung, aber auf ihr Gemüt schien sich eine Last gelegt zu haben. Sie war nicht mehr die freie, offene und reizende Gesellschafterin, die sie gewesen. Gian schwatzte indessen wie eine hungrige Elster und machte sich über die Speisen her. Als sein Teller leer war, lehnte er sich in den Sessel zurück und beobachtete das farbenfrohe Bild auf der Lagune, die bunt-fröhlichen Gondeln, die sich hier und dort auf dem dunkelgrünen Wasser bewegten. Plötzlich richteten sich Antonios Augen auf ein Boot. Es war ein großer Kahn mit Gütern und hoch aufgestapeltem Gepäck. Auf den gepolsterten Sitzen saßen zwei Leute – ein Mann und eine Frau, in denen er sofort Lucia Bellarmi und deren Onkel erkannte. In diesem Augenblick erblickte sie auch Gian. »Dio mio, welch eine kleine Schönheit!« rief er aus. »Wo?« fragte Clarissa. »Dort in der Gondel mit dem älteren Mann.« Gians aufgeregte Stimme mußte bis zu dem dahingleitenden Kahn gedrungen sein, denn Antonio sah, daß Lucia den Kopf wandte. Er bemerkte in ihren Augen ein Aufleuchten des plötzlichen Erkennens, als sie kaum ein halbes Dutzend Schritte an ihm vorbeifuhr. Auch Signore Girolamo erkannte Antonio und lächelte. Des Mädchens Lippen zogen sich zusammen, ihre Wangen röteten sich und mit einem heftigen Ruck drehte sie den Kopf zur Seite. »Sie erkannte irgend jemanden hier«, sagte Gian, um sich blickend. »Ich möchte gerne wissen, wer sie ist.« Dann kehrten seine Augen zu Antonio zurück und überrascht rief er aus: »Du? Du kennst sie, Antonio?« »Ja, ich kenne sie.« »Wer ist sie? Ich sah noch nie solch wunderbares Haar.« »Es war Lucia Bellarmi mit ihrem Onkel.« 82
Gian schnappte nach Luft. »A – aber du sagtest doch, sie wäre nicht schön, Tonio.« »Ich meinte, ich könne es nicht beurteilen, ob sie schön sei oder nicht.« »So dumm kannst du nicht sein.« Gian wandte sich an Clarissa. »Ihr habt sie gesehen; ist sie nicht das hübscheste Ding?« »Sie ist sehr hübsch«, gab Clarissa mit einem Lächeln zu, »aber Antonio scheint sich mit ihr nicht gut zu verstehen.« Gian warf die Hände in die Höhe. »Du Dummkopf, du!« In seinen Augen blitzte es plötzlich auf. »Sagtest du nicht, du wolltest ihren Onkel heute besuchen?« »Ja, und ihm vom Gemälde berichten, bevor er abreist. Aber war das nicht ein Batello, in dem sie saßen?« »Ja!« rief Gian. »Und sie müssen auf dem Weg zur Postkutsche sein, mit der sie Weiterreisen werden.« Antonio erhob sich. »Wir müssen sie einholen.« Gian öffnete den Geldbeutel und legte mehrere Münzen auf den Tisch. »Gehen wir, Clarissa«, sagte er. Sie schüttelte den Kopf. »Lodovici braucht mich heute abend. Ich will jetzt nach Hause gehen und eine Weile ausruhen. Geht ohne mich.« Es dauerte einige Minuten, bis sie eine leere Gondel anrufen konnten. Sie sprangen hinein, und Gian rief dem Gondoliere: »Palazzo Pesaro!« zu. »Sie werden Venedig wahrscheinlich jetzt verlassen. Sollten wir nicht zur Postkutsche fahren?« meinte Antonio. »Es gibt hier ein Dutzend Stellen, zu denen sie fahren können, um zur Kutsche zu gelangen. Wir können nur hoffen, daß sie am Palazzo Pesaro haltgemacht haben.« Aber die Fahrt war vergeblich. Im Palazzo erfuhren sie, daß Signore Bellarmi und seine Nichte heute mit dem Batello zur Postkutsche nach Florenz aufgebrochen seien. »Ich kann ihm nach Florenz schreiben und ihm mitteilen, daß das Gemälde in Padua ist«, sagte Antonio, als sie in Gians Atelier zurückfuhren. 83
»Aber ich wurde um die Begegnung mit einem hübschen Mädchen gebracht«, klagte Gian. »Und vielleicht um einen eingeschlagenen Kopf dazu.« »Du hast keine Ahnung von den Frauen, Tonio«, prahlte Gian. »In meinen Händen würde sie sich wie Ton formen lassen.« Nach einer Weile erkundigte sich Antonio: »Was verbindet eigentlich Clarissa Strozzi mit Lodovici?« »Sie ist seine Gehilfin, das sagte sie dir ja.« »Und sonst?« Gian zuckte die Schulter. »Ich vermute, auch seine Geliebte.« Seltsamerweise empfand Antonio keine Enttäuschung bei diesen Worten und auch nichts Tadelnswertes. Er hatte beobachtet, mit welch ruckartiger Bewegung sie Agnolo wahrgenommen hatte und sofort erkannt, daß zwischen ihr und dem Magier irgendeine tiefe Verbindung bestehen müsse. Aber irgendwie fühlte er, daß es nicht das allein war. »Es verbindet sie doch mehr als das, nicht wahr?« Gian starrte ihn an. »Manchmal verblüffst du mich, Tonio. Empfandest du es also auch?« »Ja. Aber was ist es?« »Das habe ich mich oft gefragt. Aber ich weiß es nicht. Er scheint eine Macht über sie zu haben. Wenn ich sie frage, sagt sie mir nichts, außer, daß sie zugibt, einige Jahre seine Geliebte gewesen zu sein.« Gian blickte Antonio scharf an. »Du wirst dich doch nicht in sie verlieben? Oder?« »Nein, ich habe sie recht gerne, aber ich bin nicht in sie verliebt. Das weiß ich ganz genau.«
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XVI
G
emütlich bewegte sich die Kutsche die Straße entlang und führte Signore Bellarmi und seine Nichte den weiten Weg nach Florenz. »Ich bin froh, daß wir nach Hause fahren«, sagte er und machte es sich in den Polstern bequem. »Übrigens, war das nicht Dr. Servetus, den ich mit einer jungen hübschen Dame in der Trattoria speisen sah?« »Sie war alt.« Lucia rümpfte die Nase, aber ihre Wangen röteten sich leicht. »Höchstens fünfundzwanzig, schätze ich«, erwiderte Signore Bellarmi trocken. »Ich war von dem jungen Mann sehr beeindruckt, Lucia. Wenn mehr Zeit gewesen wäre, hätte ich ihn konsultiert.« »Du hast die besten Ärzte in Florenz«, erinnerte sie ihn. »Ja, aber dieser Mann scheint zu wissen, was er will.« »Er ist ein Esel«, stellte Lucia schlicht fest. Signore Bellarmi zuckte die Achseln. Er kannte seine Nichte und hatte sie sehr gern. Manchmal aber konnte sie in ihren Ansichten aufreizend eigensinnig sein. »Ich fürchte, wir werden die Venus des Botticelli niemals finden«, meinte er dann. Lucia lächelte geheimnisvoll. »Ich glaube, wir werden sie finden.« Der Onkel starrte sie an. »Wie kommst du darauf?« »Weil ich gewiß bin, daß das Bild in Padua ist.« »In Padua? Wieso?« »Dr. Servetus hat es gesehen.« »Hat er es dir gesagt?« »Nicht mit Worten«, gestand Lucia, noch immer mit einem wissenden Lächeln. »Genug mit der Geheimniskrämerei«, befahl der Onkel. »Soll das wieder ein Beispiel für das sein, was du Intuition nennst?« 85
Sie schüttelte den Kopf. »Erinnerst du dich, wie er mich anstarrte, als er mich zum erstenmal an Onkel Marios Bett sah?« »Ja«, gestand Signore Girolamo. »Du bist aber auch ein ungewöhnlich hübsches Mädchen, Lucia.« »Es war nicht das. Er erklärte mir später, daß er mich so angestarrt hatte, weil ihm an mir alles so vertraut schien, als hätte er mich sein ganzes Leben lang gekannt.« »Dann wird er irgend jemanden gut kennen, der dir sehr ähnlich sieht.« Er hielt inne, und in seinen Augen leuchtete es verstehend auf. »Simonetta?« fragte er. »Natürlich«, sagte Lucia selbstgefällig. »In derselben Minute, da er mir sagte, wie vertraut ich ihm scheine, wußte ich, daß er das Bild gründlich studiert haben mußte.« »Aber wie konnte er die Zusammenhänge wissen?« »Die weiß er nicht. Er will Mönch werden und kommt nicht viel in der Welt herum. Er mag gehört haben, daß die Botticelli-Venus nach der Simonetta Vespucci, der Schwester meines Großvaters, gemalt wurde, aber den Zusammenhang kennt er nicht.« Der Onkel schüttelte den Kopf, als könnte er nicht glauben, was er vernahm. »Ganz Florenz weiß, Lucia, daß du das lebende Ebenbild der Simonetta bist, so wie das Gemälde ihr Ebenbild ist. Es ist wie ein Lehrsatz des Euklid.« »Oder wie die Geschichte eines fahrenden Sängers.« »Und nun läßt uns diese Geschichte in Venedig und Padua auf das verlorene Gemälde stoßen.« Er richtete sich jäh auf. »Kutscher!« rief er dem Fuhrmann zu. »Dreht um, wir fahren zurück!« »Was tust du, Onkel?« »Wir müssen nach Venedig zurück und den Arzt und das Bild finden.« Der Wagen hatte angehalten. Lucia beugte sich aus dem Fenster und rief dem Kutscher zu: »Wartet ein wenig. Kehrt noch nicht um!« »Was soll das, Lucia?« fragte der Onkel unwillig. »Ich will nicht nach Venedig zurück.« »Aber das Bild …« 86
»Es gehört doch mir? Nicht wahr?« »Natürlich«, beschwichtigte er sie. »Dein Vater vermachte es dir, weil du Simonetta Vespucci so verblüffend ähnlich siehst.« »Dann sage ich, laß es in Padua … für eine Weile zumindest.« Signore Girolamo hob die Hände. »Um Gottes willen, sollen wir wegen einer Mädchenlaune ein so kostbares Gemälde verlieren? Lucia, ich verweigere dir …« »Warte, Onkel«, drang sie auf ihn ein. »Laß mich erklären. Dr. Servetus weiß, daß das Bild uns gehört; er hörte, wie du es dem schrecklichen Fra Felipe erzähltest.« »Über den Santos sind wir uns wenigstens einig«, bemerkte der Onkel. »Außerdem«, fuhr Lucia fort, »macht sich der Arzt Gewissensbisse. Er will doch Mönch werden.« »Will er das?« »Ich glaube … jetzt nicht mehr.« In des Kaufmanns Gehirn dämmerte es. »Ich glaube, jetzt habe ich es begriffen. Du meinst, Servetus würde das Gemälde für sich behalten, wenn er es wirklich wollte.« »Ja. Er muß sehr vertraut damit gewesen sein, daß er von der Ähnlichkeit so berührt war.« »Aber ohne zu erfassen, daß du und die Venus beinahe identisch sind.« »Er wird es, zur rechten Zeit. Männer sind sehr dumm in solchen Dingen.« »Ja, ich weiß. Du sagtest, er wäre dumm. Nichtsdestoweniger glaubst du, weil er ein Gewissen hat, werde er einfach mit dem Gemälde in Florenz erscheinen.« »Nicht allein deshalb«, sagte Lucia ernst. »Das dachte ich.« Signore Bellarmi blickte seine Nichte in höchster Bewunderung an. Er neigte sich zu ihr hinüber und küßte sie auf die Wange. »Lucia, ich beuge mich vor deiner Intelligenz.« »Jede andere Frau würde ebenso handeln«, sagte sie bescheiden. »Die ganze Angelegenheit ist also eine Art Prüfung? Verstehe ich richtig?« 87
»Du kannst es so nennen.« Signore Girolamo beugte sich aus dem Fenster und rief dem Kutscher zu: »Wir haben es uns überlegt. Bitte, fahrt weiter. Wir wollen nicht mehr zurück.« Er lehnte sich wieder in seinen Sitz zurück und kicherte. Bald konnte er sich nicht mehr beherrschen, lachte laut heraus, schlug sich auf die Schenkel, und Tränen liefen ihm über die Wangen. Lucia, die erst ruhig dasaß und vor sich hinstarrte, stimmte jetzt in das befreiende Lachen des Onkels sein. Der Kutscher auf dem hohen Sitz des Wagens trieb die Pferde an und schüttelte den Kopf. Er hatte gehört, daß die Florentiner verrückt wären; nun war er davon überzeugt. Zuerst konnten sie sich nicht entschließen, wohin sie wollten, und nun lachten sie wie verrückt über nichts, über rein gar nichts.
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ZWEITES BUCH Die Schwarze Messe
I
A
ntonios Hand mit dem Zeichenstift in den verschmierten Fingern fuhr über das weiße Blatt Pergament, welches vor ihm lag. Ab und zu hielt er inne und blickte auf die bewegungslose Gestalt der Clarissa Strozzi auf dem Podest. Wieviel leichter fiel es ihm jetzt, die Formen dieses Körpers in der Zeichnung festzuhalten, als in den Tagen, da er im Kloster vergeblich versucht hatte, die Venus des Botticelli zu kopieren. In den vielen Übungsstunden war seine Hand sicherer und geschickter geworden. Er legte den Zeichenstift nieder und Clarissa lächelte ihm von ihrem Platz aus zu. Ihm gegenüber arbeitete Gian, ganz vertieft in die Aufgabe, die feinen Schatten der Achselhöhle wiederzugeben. Was immer Gian für ein Mensch sein mochte, in seinen künstlerischen Arbeiten war er ein Könner. Er konnte sich stundenlang damit beschäftigen, Einzelheiten des menschlichen Körpers wiederzugeben und vergaß darüber ganz sein Modell, bis ihn dessen Müdigkeit aufmerken ließ. Wenn Antonio an den vergangenen Monat zurückdachte, schien ihm, als läge ein weiter Weg zwischen ihm und dem Kloster in Padua. Das Manuskript seiner Studie über die Lungenzirkulation war fertig und lag seit zwei Wochen in der Druckerei. Heute sollten die ersten Blätter aus der berühmten Presse Guidobaldo Aldinis kommen. Meister Aldini hatte zuerst gezögert, dieses ketzerische Werk zu drucken, aber Gians klingender Beutel und Antonios Versicherung, er würde für den Inhalt des Werkes nicht verantwortlich gemacht werden, ließen seine Bedenken schwinden. Befriedigt von seiner Arbeit legte Gian den Pinsel beiseite. »Ihr könnt Euch ausruhen, Clarissa«, sagte er. »Das wäre geschafft.« Er wischte sich die Hände mit einem farbverschmierten Tuch ab, kam zu Antonio 90
herüber und blickte ihm über die Schulter. »Benissimo!« meinte er anerkennend. »Es wird mit jedem Tag besser, Tonio.« »Und doch werde ich niemals ein Künstler sein«, erwiderte Tonio. »Das weiß ich, seit ich dich arbeiten sehe.« »Aber du hast Talent.« »Zum Zeichnen. Es reicht vielleicht gerade zu einer anatomischen Skizze, aber zu mehr nicht.« Clarissa legte einen Mantel um und kam zur Staffelei. »Was wollt Ihr noch mehr?« fragte sie. »Schließlich seid Ihr ein bedeutender Anatom und Arzt, Tonio. Wenn Eure Abhandlung gedruckt ist, werdet Ihr sehr berühmt sein.« »Dimas!« rief Gian. »Bring Wein und etwas zu essen! Wir haben genug gearbeitet.« Antonio erhob sich und stellte sich zum Kamin. »Ich werde bald nach Padua zurückkehren.« »Willst du dich noch immer vor der Welt verstecken?« fragte Gian grob. »Das hab' ich mich selbst gefragt«, gab er zu, »fand aber keine Antwort. Es ist so, wie ich mir schon immer gedacht habe; es scheint für mich nichts anderes zu geben.« »Sei nicht verrückt. Wie kommst du darauf? Du hast doch noch gar nichts anderes richtig versucht.« »Ich glaube ihn zu verstehen«, sagte Clarissa. »Antonio lebt mehr dem Geistigen, während Ihr dem Körperlichen lebt.« »Was ist daran Schlechtes? Schämt Ihr Euch Eures Körpers?« »Nein. Aber wir sind eben anders als Antonio.« »Es ist nicht richtig, wenn der Mensch so einseitig ist«, argumentierte Gian. »Ich las dir doch einmal jene Stelle aus der Schrift des Paracelsus vor, Tonio. Betrachte Avicenna, Vesalius, Cárdenas, sie waren Männer der Welt und zugleich vortreffliche Gelehrte. Du wirst niemals ein großer Arzt sein, wenn du nicht die Menschen so kennst, wie sie wirklich sind.« »Ich will kein Arzt sein, der nur Krankheiten kuriert«, erwiderte Antonio. »Ich will erforschen, was wir vom menschlichen Körper noch nicht wissen.« 91
»Das kannst du auch, während du die Kranken behandelst«, versetzte Gian. »Vesalius hat schließlich das gleiche getan und ist sogar Hofarzt in Madrid geworden.« »Ich wüßte gerne, ob ihn diese Arbeit befriedigte.« »Natürlich. Er ist reich, berühmt und geachtet, wie wir wissen.« »Aber er nahm die Stellung erst an, als die Veröffentlichung seiner Fabrica einen Sturm entfesselt hatte.« »Stimmt.« Gian lächelte. »Und ich glaube, daß es dir nicht viel anders ergehen wird, wenn deine Theorie über die Lungenzirkulation einmal erschienen ist.« »In Padua wird mir niemand Schwierigkeiten bereiten.« »Den Vesalius haben sie doch davongejagt, nicht wahr?« verwies Gian. »Und er war Professor der Anatomie. Glaubst du, sie würden mit dir, dem kleinen Lehrer, besser verfahren?« »Was würdest du mir raten?« fragte Antonio. »Du mußt dich in Venedig zeigen und trachten, mit einflußreichen Leuten bekannt zu werden; mit Leuten, die dir bei deiner Verbreitung deiner Doktrin helfen und die dich beschützen, wenn du angegriffen wirst.« Antonio zweifelte. Der Vorschlag verlangte von ihm gerade das Gegenteil dessen, was er bisher in Venedig getan hatte. Er wandte sich an Clarissa Strozzi. In den wenigen Wochen, seit er das große, stille Mädchen kannte, war in ihm ein Gefühl der Kameradschaft für sie aufgekommen, ein Gefühl des Vertrauens und der Achtung gegenüber ihren Ansichten. Er hatte aber auch eine echte Zuneigung zu ihr gefaßt. »Was meint Ihr?« fragte er sie. »Dieses Mal dürfte Gian recht haben«, antwortete sie. »Nur so wird es gelingen, die Entdeckung Eures Bruders bekanntzumachen, woran Euch ja am meisten gelegen ist.« »Siehst du«, triumphierte Gian. »Wir sind zwei gegen einen.« Antonio lächelte. »Dann beuge ich mich Eurem Richtspruch.« Dimas kam mit dem Essen herein, das sie mit gesundem Appetit verzehrten. Als sie fertig waren, meldete Dimas, daß ein Lehrling aus der Druckerei mit einer Botschaft gekommen sei. 92
»Führe ihn herein«, befahl Gian. »Vielleicht ist dein ›Consilium‹ schon fertig, Antonio.« Der kleine Lehrling äugte aufmerksam im Atelier umher, in dem er die zwei Männer und Clarissa Strozzi in ihrer seltsamen Aufmachung wahrnahm. Später würde er dann in der Druckerei die Geschichte dieses Abenteuers mit entsprechenden Ausschmückungen haargenau erzählen. »Was willst du, Bürschlein?« fragte Gian. »Ich habe eine Botschaft für Dr. Antonio Servetus«, zirpte der Kleine. »Welcher von Euch ist das?« »Ich bin Dr. Servetus«, sagte Antonio. »Meister Guidobaldo Aldini läßt Euch bitten, ihn aufzusuchen, wenn es Euch beliebt, Doktor. Die ersten Seiten Eures Werkes sind soweit fertig, daß sie aus der Presse genommen werden können.« »Benissimo.« Gian warf dem Burschen eine Münze zu. Mit blitzartiger Bewegung fing er sie geschickt auf, biß hinein, und schon war sie in seiner mit Druckerschwärze verschmierten Faust verschwunden, während sich über sein Gesicht ein zufriedenes Grinsen zog. »Sag Meister Guidobaldo, daß wir ihm sofort unsere Aufwartung machen werden«, befahl Gian dem Lehrling. Als der Bursche sie verlassen hatte, ergriff Gian die Weinflasche und füllte die drei Gläser. »Auf die Wahrheit«, sagte er. »Möge sie immer gegen ihre Feinde siegreich sein.«
II
D
er durchdringende Geruch der Druckerschwärze schlug ihnen entgegen, als Antonio und Gian die Türe zur berühmten Druckerei des Guidobaldo Aldini öffneten. Der Besitzer kam ihnen zufrieden lächelnd entgegen, um sie zu begrüßen. Obwohl die Druckerei erst seit fünfundsechzig Jahren bestand, war sie in ganz Europa für ihre Er93
zeugnisse bekannt. Angefangen mit der Erotemata war aus dem kleinen Gebäude in der Nähe des Stadtzentrums eine beträchtliche Anzahl wichtiger Werke hinausgegangen. ›De Aetna‹, das medizinische Werk von Pietro Bembo, der später Kardinal wurde, ›De Epidemia‹, das berühmte mittelalterliche Traktat, ›Hypnerotomachia Poliphilli‹ und viele andere Bücher legten Zeugnis ab von der Geschicklichkeit Aldinis, die neuen beweglichen Lettern zu handhaben. »Ah, Doktor!« rief Aldini aus. »Eure Schrift wird das gelungenste Werk in der Geschichte meiner Druckerei.« »Habt Ihr es schon gesehen?« fragte Gian. »Die Lettern habe ich gesehen. Bei solch einem Satz muß es ein schönes Buch werden.« Er klatschte in die Hände. »Kommt. Wir wollen es aus der Presse nehmen.« Gefolgt von Antonio, Gian, einigen Druckern und Lehrlingen schritt Meister Aldini zur großen Presse. Sie war übermannshoch und zwischen den vier Stützbalken konnte man die hölzerne Spindel mit dem spiralförmigen Gewinde sehen. Am Ende der Spindel drückte der Tiegel die dort befindlichen Lettern fest auf das schwere Pergament. Da die Streitschrift an sich sehr kurz war, hatte Antonio 25 große Folioseiten dafür ausgewählt, so wie sie Vesalius für seine kurzen Abhandlungen gebrauchte, in denen er in Form eines ›Consiliums‹ oder offenen Briefes über seine Entdeckungen berichtete. Meister Aldini befahl einem Gehilfen, die Spindel mit einem hölzernen Hebel aufzuschrauben, worauf sich der Druck der geschwärzten Lettern auf dem Pergament löste. Sobald die Seiten freigelegt waren, trat der Meister heran und hob sie aus dem Rahmen, ängstlich bedacht, die frisch geschwärzte Oberfläche nicht zu verwischen. Antonios Herz pochte, als er die ersten Seiten des Werkes erblickte, das der Welt nun seine dramatische Entdeckung verkünden würde. »Bravo!« rief Meister Aldini in überschwenglicher Freude ob der gelungenen Arbeit. »Es ist vollkommen, wie ich es vorausgesagt habe.« Die dunkle, lateinische Aufschrift hob sich scharf vom Pergament ab. ›De Motu Sanguinem Pulmonale‹ hatte Antonio als Titel seiner Streitschrift gewählt. 94
›Die Bewegung des Blutes in der Lunge‹ oder ›Die Lungenzirkulation‹ – sein erstes gedrucktes Werk! Stolz erfüllte Antonio, während seine Augen das Titelblatt überflogen: ›Anatomia veni et arteriae pulmonale cum descriptio motu sanguinem pulmonale.‹ (Anatomie der Lungenvenen und -arterien mit einer Beschreibung des Blutkreislaufes in den Lungen.) Alles stand hier auf der Titelseite, genau wie er es geschrieben hatte: »Ein Beitrag zur Anatomie der Lungen und ihres Blutkreislaufes, von Michael Servetus zuerst entdeckt und jetzt von seinem Bruder, Antonio Servetus, Lehrer der Anatomie an der medizinischen Fakultät der Universität zu Padua, durch Experimente erwiesen.« Außerdem konnte man auf der ersten Seite das Datum und die Bestätigung, daß das Werk im Hause Aldini und mit der Genehmigung des Dogen und des venetianischen Senates gedruckt worden war, lesen. »Ich finde noch immer, du hättest die Bemerkung über deinen Bruder ruhig weglassen können«, sagte Gian. »Es ist eine Rechtfertigung für ihn.« »Aber auf der Titelseite kommt es einer Herausforderung gleich.« Meister Aldini blickte beunruhigt auf. »Vergeßt nicht, daß Ihr versprochen habt, mir durch diese Drucklegung keine Unannehmlichkeiten zu bereiten, Doktor!« »Ich werde die Verantwortung übernehmen«, sagte Antonio ruhig. »Ihr habt wirklich gute Arbeit geleistet, Meister. Bis wann werdet Ihr damit fertig sein?« »In einigen Tagen«, versicherte Meister Aldini. »Dann werden die Schwierigkeiten beginnen«, sagte Gian mürrisch. »Ich weiß nicht, warum ich mich eigentlich in diese Sache eingelassen habe.« »Das hast du nicht. Dein Name erscheint nirgends.« »Aber wir vereinbarten doch, zueinander zu stehen, nicht wahr?« »Ich nehme auch weiterhin jedwelche Verantwortung auf mich«, entgegnete Antonio verbissen. »Ich werde eines der ersten Exemplare an Fra Felipe Santos schicken.« »Willst du deinen Kopf riskieren? Santos wird noch früh genug davon erfahren.« 95
»Fra Felipe ist ein Diener Gottes, Gian. Wenn er die Schrift liest, muß er die Wahrheit anerkennen.« Gian zuckte die Schultern. »Ich sollte dich deinen Weg gehen lassen und dich nicht hindern, Priester zu werden.« Schon eine Woche vor dem Erscheinen der ›De Motu Sanguinem Pulmonale‹ lenkte die Schrift die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Die Kunde von der Art des Werkes, das eben im Druck war, wurde von den Lehrlingen und Gehilfen Aldinis hinausgetragen. Und Meister Aldini hatte außerdem, wie es Brauch war, an mehrere Drucker Probeabzüge geschickt, die von der Wichtigkeit und Qualität seiner Arbeiten zeugen sollten. So trafen also zur gleichen Zeit, zu der die Schrift fertiggestellt wurde, aus ganz Venedig und Padua Bestellungen ein. Die meisten kamen von Ärzten und Wissenschaftlern, die sich für das revoltierende Werk interessierten. Widersprach es doch den Grundsätzen Galens und somit auch der Kirche. Und jeder wissenschaftliche Fortschritt war doch unterbunden, solange nicht mit den veralteten Vorschriften gebrochen wurde. Andere Anfragen kamen von Geistlichen, die die Wichtigkeit einer derartigen medizinischen Entdeckung zu würdigen wußten, oder von solchen, die dahinter nur einen Beweis für die rasch überhandnehmende Spaltung zwischen Kirche und Wissenschaftlern erblickten. Als Antonio das erste Exemplar in Händen hielt, erfüllte ihn großer Stolz über die geleistete Arbeit. Nun war er eine vielbegehrte Persönlichkeit geworden. Gelehrte von Rang und Förderer der wissenschaftlichen Forschungstätigkeit hatten ihn eingeladen, sie zu besuchen. Wohlweislich hatte er etliche Exemplare an die ihm von Gian als besonders einflußreich bezeichneten Leute geschickt; an den Dogen natürlich und an die höheren Adeligen der venezianischen Republik. Das Exemplar für Fra Felipe Santos hatte er mit einer Empfehlung durch einen eigenen Boten abgehen lassen. Eine Woche später reiste Antonio selbst nach Padua, um Professor Fallopius persönlich einen Abdruck auszuhändigen. Während er auf den Wagen nach Padua wartete, stürzte ein kleiner beleibter Mann in der Kleidung eines Apothekers oder Arztes herbei und sprang knapp 96
vor Antonio in die vorfahrende Kutsche. Er machte neben sich Platz und sagte zu Antonio: »Eccolo! Wir sind gerade zurecht gekommen, Doktor.« »Ihr kennt mich?« »Capisco. Mein Name ist Battista Porzia. Ich habe Euch oft in Padua gesehen. Einmal habt Ihr einen Freund von mir behandelt.« Er nannte den Namen eines Professors, den Antonio betreut hatte, als er an einer Wundrose erkrankt war. Antonio fühlte sich geschmeichelt; die Art des kleinen Mannes gefiel ihm. »Ihr kehrt jetzt an die Universität zurück, Doktor?« »Nur für einen Tag. Ich verbringe den Sommer in Venedig.« »Ah, Venedig!« Ein seliges Lächeln huschte über sein dickes Gesicht. »Was für eine reizende Stadt. Eine Stadt für junge Menschen.« »Ich betreibe dort Studien«, erwiderte Antonio steif, weil es ihn ärgerte, daß der andere meinte, in Venedig könne man nur leichtsinnig sein. »Das habe ich gehört. Ganz Venedig spricht von der großen medizinischen Entdeckung, die Ihr der Welt verkündet habt.« Antonio lächelte. Er wunderte sich darüber, wie schnell seine Schrift in der Stadt bekannt geworden war. Wenn sogar dieser Apotheker davon wußte, dann mußte sie schon in der ganzen Welt bekannt sein. »Es ist nur eine Entdeckung, die eigentlich mein Bruder, Michael Servetus, schon vor mir gemacht hat.« Signore Porzia wiegte sein Haupt: »Ich hatte das große Glück, einige Schriften Eures Bruders zu lesen, Signore. Er war ein bedeutender Mensch.« Antonio wußte nicht warum, aber der kleine dicke Mann, der so viel Interesse für ihn bekundete, und seine ungezwungene Haltung ihm gegenüber gefielen ihm. »Es ist sehr liebenswürdig von Euch, so zu sprechen.« »Seine Arbeit über die Lungenzirkulation habe ich zwar nicht gelesen, aber seine theologischen Schriften sind beachtlich.« Verstohlen blickte er im Wagen umher und fuhr dann flüsternd fort: »In der Tat, 97
ich wünschte, Ihr würdet einige davon veröffentlichen. Habt Ihr nie daran gedacht?« Antonio runzelte die Stirne. Er hatte die theologischen Schriften, die Michael in Schwierigkeiten gebracht hatten, nie gelesen, wie er es dem Vater nach der Hinrichtung versprochen. Rein zufällig war er einmal während seiner medizinischen Studien auf die Stelle gestoßen, in der von der Lungenzirkulation berichtet wird. Aber seit er gefunden hatte, daß sein Bruder in einer Sache recht gehabt, meinte er, er könnte auch in anderen Dingen recht gehabt haben. Der kleine Mann wußte überraschend gut gerade von dem zu sprechen, was Antonio gerne hören wollte. »Von dieser Seite her kenne ich das Leben meines Bruders überhaupt nicht. Er war fast nie zu Hause.« »Che peccato!« seufzte Signore Porzia. »Ich kannte ihn nicht persönlich, aber einer seiner Vertrauten, Fra Jacques Charmier, war mein Freund.« »Ich weiß von Vater Charmier. Ich habe ihn zwar nie gesehen, doch kann ich es verstehen, daß er und mein Bruder so vertraut miteinander waren.« »Wie Meister und Schüler. Er war es, der mich aufmerksam machte, daß das Gesetz, nach welchem Euer Bruder hingerichtet wurde, nicht rechtskräftig gewesen sei.« Antonio starrte auf den kleinen Mann. Wieso wußte er dies alles? Es hatte den Anschein, als müßte an Michaels theologischen Schriften manches wahr sein, vielleicht gerade so viel, wie Antonio an seinen medizinischen schon nachweisen konnte. »Könnt Ihr mir mehr darüber erzählen?« »Die Schweizer Regierung hatte den Codex Justinianus viele Jahre vorher außer Kraft gesetzt. Rom anerkennt ihn natürlich noch und hat ihn bei der Verurteilung Michaels durch ein päpstliches Gericht zugrunde gelegt.« Inzwischen hatte sich der Wagen gefüllt und setzte sich in Bewegung. Antonio bemerkte, daß sie mehrere Reisende, die zweifellos ihrem Gespräch gelauscht hatten, neugierig betrachteten. »Vielleicht 98
können wir unsere Unterhaltung zu einem anderen Zeitpunkt fortsetzen«, schlug Antonio vor. »Certamente. Ich könnte Euch einmal besuchen, denn ich komme sehr oft nach Venedig, um Drogen für meine Apotheke zu kaufen.« »Ich wohne im Hause des Signore Gian Savarino in der Via delle Galleazze e Vasca.« »Ich kenne das Viertel. Ich werde Euch dort aufsuchen, wenn ich Gelegenheit gehabt habe, Eure berühmte Schrift zu lesen.« Sie sprachen jetzt über verschiedene Heilmittel, von denen Signore Porzia erstaunlich wenig wußte. In theologischen Fragen war er bedeutend besser beschlagen.
III
F
allopius las die Titelseite und strich nachdenklich über seinen Bart. Dann wandte er die Blätter und las die Schrift zu Ende, ohne abzusetzen. Ab und zu gluckste er anerkennend. Als er mit dem Lesen fertig war, fragte ihn Antonio: »Was haltet Ihr davon?« »Ich wünschte, ich hätte den Mut, etwas ähnliches zu tun, mein Sohn.« »Dann pflichtet Ihr mir also bei?« »Jeder muß beipflichten. Eure Darlegung ist so klar, Eure Logik und Beweisführung ist so bezwingend, daß keine andere Schlußfolgerung möglich ist. Ihr habt zweifellos die Wahrheit über die Lungenzirkulation gefunden.« Antonio schüttelte den Kopf. »Ich wiederhole nur, was mein Bruder schon gesagt hat. Die Entdeckung ist die seine.« Fallopius nickte gedankenvoll. »Ich kannte Euren Bruder Michael. Er war Euch sehr ähnlich, mein Sohn. Leidenschaftlich, der Wahrheit ergeben und kompromißlos wie Ihr.« 99
»Kann man denn anders sein?« »Vielleicht Ihr und Euresgleichen nicht. Aber hätte sich Euer Bruder nur mit Medizin und Anatomie beschäftigt, dann wäre seine Entdeckung schon viele Jahre früher veröffentlicht worden. Hier liegt die Gefahr, mein Sohn. Man kann in der Wissenschaft kompromißlos sein, denn schließlich ist eine wissenschaftliche Entdeckung nichts anderes als das Herausfinden unwandelbarer Naturgesetze. Aber bleibt auf Eurem Weg, begeht nicht den Fehler Eures Bruders und richtet das Licht Eures Geistes nicht auf Dinge, die zu erkennen wir nicht bestimmt sind.« »Wie zum Beispiel das Dogma der Kirche.« »Ja. Ich würde es sehr bedauern, müßte ich Euch über das gleiche Hindernis straucheln sehen, das Euren Bruder zu Fall brachte.« »Ich habe mit der Kirche keine Differenzen.« »Mir macht nur eines Bedenken, daß die Kirche mit Euch Differenzen haben wird.« »Weil ich in den Schriften eines Häretikers die Wahrheit gefunden habe?« »Ja.« »Aber sie sind im Unrecht, es ist die Wahrheit.« »Ich weiß«, stimmte Fallopius zu. »Ein Wissenschaftler kann seinen Irrtum bekennen, wenn er einen Fehler gemacht hat und von neuem beginnen. Die Theologie aber hat diese Elastizität nicht. Überall, außer in Venedig, werden die Leute umgebracht, deren einziges Vergehen es ist, den Verstand gebraucht zu haben, den ihnen Gott gegeben hat.« »Seht Ihr meine Stellung hier an der Universität gefährdet?« Fallopius rieb sein Kinn. »Man wird bestimmt versuchen, Euch zu entfernen. Aber es wird ihnen kaum gelingen, da Ihr mit meiner Hilfe rechnen könnt.« Er streckte ihm die Hand hin. »Dio lo volesse. Addio.« Als Antonio die Universität verließ, sah er beim Eingang einen Laienbruder aus dem Kloster warten. »Buon giorno, Frater Antonio«, grüßte der Bruder. »Seine Hochwürden, Fra Felipe Santos bittet Euch, ihn aufzusuchen, ehe Ihr wieder nach Venedig zurückkehrt.« 100
Überrascht fragte Antonio: »Wieso weiß seine Hochwürden, daß ich in der Stadt bin?« Der Bote zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht. Ich bin nur mit diesem Auftrag zu Euch geschickt worden.« »Gut«, sagte Antonio. Er wollte Santos ohnedies aufsuchen und war froh, den Besuch hinter sich zu bringen. »Ich werde seiner Hochwürden in einer Stunde meine Aufwartung machen.« Sein Weg führte ihn über dieselbe Brücke, auf der er mit Professor Fallopius vor nicht allzu langer Zeit gestanden. Er hielt einen Augenblick inne und blickte auf den dunklen, schmutzigen Strom, der sich zwischen den grasbewachsenen Ufern dahinwand. Dort war noch immer das kleine Bächlein, von dem Fallopius gesprochen. Wie damals bildete es einen kleinen Kreis klaren Wassers an der Stelle, wo es in den Bacchiglioni einmündete, und wieder wurde es von dem großen Strom verschluckt, ohne daß eine Spur hinterblieb. Seine eigene Entdeckung, so dachte Antonio, war auch ein solcher frischer neuer Strom, der dem trüben alten der menschlichen Erkenntnis zufloß. Wird er im Buch der Wissenschaft seinen Eindruck hinterlassen, oder wird auch er von den dunklen Strömen der Intrigen, Unwissenheit und Dummheit aufgesogen werden? Eine Wolke schob sich vor die Sonne und hielt für eine Weile die wärmenden Sonnenstrahlen ab. Antonio fröstelte, aber nicht nur, weil es kühler geworden war, sondern vielmehr, weil er in seinem tiefsten Innern fühlte, daß ihm etwas Besonderes bevorstand.
IV
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ra Felipe Santos war auffallend freundlich. Antonio küßte den Saum seines Kleides und Fra Felipe forderte ihn auf, neben ihm im Audienzsaal Platz zu nehmen. 101
»Ich habe Euch aus einem bestimmten Grunde zu mir gebeten, Doktor«, sagte er. Antonio wartete auf eine genauere Erklärung. »Ich habe Euer ›Consilium‹ mit sehr großem Interesse gelesen. Es folgt so ziemlich dem, was wir damals über den armen Fra Mario sagten.« »Die Idee ist mir in jener Nacht gekommen«, gestand Antonio. »Das habe ich mir gedacht. In gewisser Beziehung fühle ich mich deshalb für diese Schrift mitverantwortlich.« »Dann anerkennt Ihr sie also?« »Anerkennen?« Er zog die Augenbrauen hoch. »Natürlich nicht. Die kirchlichen Gesetze gegen Häresie sind ziemlich eindeutig.« »Aber das ist Wahrheit.« »Ich sagte, die Gesetze sind eindeutig, so eindeutig wie die vorgeschriebenen Strafen für diejenigen, die sie überschreiten. Denkt daran, mein Sohn. Denkt gut daran.« Antonios Mut sank. Aber warum dann diese auffallende Freundlichkeit Fra Felipes, wenn er jetzt feststellte, daß die Veröffentlichung seines ›Consiliums‹ Häresie bedeute? »Nichtsdestoweniger sind wir geneigt, bei jenen, die zum Ruhm der Kirche beitragen, derartige Überschreitungen zu übersehen.« »Aber ich habe nichts beigetragen, außer Ihr meint das, was ich in Anatomie leiste – –« »Die Kirche fördert nicht gerade das Sezieren menschlicher Körper«, versetzte Fra Felipe trocken. »Was dann?« fragte Antonio und hielt inne. Das Gemälde! Fra Felipe mußte es entdeckt haben. Nun war ihm alles klar. Die Leutseligkeit des Priors, daß man ihn hierher zitiert hatte … wie Gian vorausgesagt, beabsichtigte Fra Felipe, das Gemälde nicht zurückzugeben. Ahnte Santos vielleicht, daß Antonio Signore Girolamo Bellarmi und dessen Nichte als die rechtmäßigen Besitzer des Bildes kannte? »Ich fand im Kloster eine Türe versperrt«, unterbrach Fra Felipe Antonios Gedanken, »und befahl, sie zu öffnen. Meine Überraschung war nicht gering, als ich sah, daß Ihr dort etwas verborgen gehalten habt. Wo habt Ihr das Gemälde gefunden?« 102
»In einer Rolle, die irgend jemand vor einigen Monaten zurückgelassen hatte. Sie war im Lagerraum.« Fra Felipe blickte weg und sagte wie von ungefähr: »Nun, es dürfte nicht sehr wertvoll sein. Vielleicht eine Kopie von irgendeinem alten Meister.« »Es ist das Original der Botticelli-Venus«, stieß Antonio hervor, »und als solches unschätzbar.« »Seid Ihr dessen gewiß?« Der Prior beugte sich gespannt nach vorne. »Ich zeigte es Signore Gian Savarino«, sagte Antonio. »Er kennt es von früher und bürgt dafür, daß es das Original ist.« Fra Felipe rieb sich die dünnen Hände, offensichtlich erfreut, daß er hier den Wert des Gemäldes bestätigt fand. »Ihr habt uns einen großen Dienst erwiesen, Dr. Servetus, da Ihr ein so wertvolles Kunstwerk gefunden habt. Es trägt zum Ruhme Gottes bei, daß unser Haus dieses Gemälde besitzt.« »Aber …« Antonio unterbrach sich, denn eine innere Stimme warnte ihn, seine Kenntnis des rechtmäßigen Besitzers des Bildes preiszugeben. »Ihr wolltet doch etwas sagen.« »Ich fragte mich, ob Ihr wohl den rechtmäßigen Besitzer kennt.« »Bedauerlicherweise nein.« Des Priors Stimme hatte noch nie einer Unwahrheit wegen gezaudert. »Wir haben somit keine andere Wahl, als das Gemälde hier an einem sicheren Ort aufzubewahren.« Fra Felipe wußte also nicht, daß er das Gespräch Signore Bellarmis über die Venus mitangehört hatte. Wie und wann ihm seine Kenntnis noch nützen sollte, war ihm ungewiß, aber instinktiv fühlte er, daß er sich dem Prior nicht anvertrauen durfte. »Ich versuchte bloß, einige Skizzen nach dem Gemälde zu machen«, sagte er beiläufig. »Das dachten wir, da wir die Zeichnungen fanden. Ich habe das Gemälde vorläufig in mein Gemach bringen lassen. Später werden wir dafür einen geeigneten Platz aussuchen.« Ärger erfüllte ihn. Seine Geliebte war nun in Fra Felipes Gemach den Blicken dieser kalten Augen ausgesetzt und er stand ohnmächtig hier, unfähig, irgend etwas zu unternehmen. 103
Der Traum ist Wirklichkeit geworden, dachte er mit Schrecken. Er war gewarnt worden, daß dies geschehen würde und er hatte nichts getan, obwohl er selbst den Traum richtig gedeutet hatte. Es war seine eigene Schuld; er hätte wissen müssen, daß man die versperrte Tür eines Tages öffnen würde. Die Schuld wog noch schwerer, weil er sich durch seinen Groll gegen Lucia Bellarmi hatte verleiten lassen, ihrem Onkel nichts vom Aufenthaltsort des Bildes zu sagen. Bitter klagte er sich nun an. Er war ein Narr gewesen und hatte das Bild, genau wie Gian es vorausgesagt, in die Hände Fra Felipe Santos' gespielt. Aber er hatte jetzt wenigstens den wahren Charakter des Mannes kennengelernt, der ihm da gegenüber saß und ihn mit höhnischem Lächeln betrachtete. »Wie ich schon sagte, ist die Kirche geneigt, Vergehen ihrer Gläubigen zu übersehen, wenn sie ihr einen Dienst erweisen. Diesen habt Ihr mit der Auffindung des großartigen Kunstwerkes geleistet und Ihr könnt uns noch auf andere Weise dienstbar sein, wenn Ihr wollt.« »Was meint Ihr damit?« »Wäre es bekannt, daß sich das Gemälde zur Zeit hier befindet, könnten uns durch – durch falsche Ansprüche der Eigentümer Schwierigkeiten erwachsen. Ich glaube, für den Augenblick ist es am besten, wenn wir Stillschweigen bewahren.« Das ist Bestechung, dachte Antonio. Santos wollte also die Anklage auf Häresie fallen lassen und damit sein Stillschweigen erkaufen. Aber aus der ungewöhnlichen Freundlichkeit, mit der ihm der Prior den Vorschlag machte, schloß er, daß dahinter noch etwas stecken müsse. »Gesetzt, ich würde nicht zustimmen?« »Ich nehme nicht an, daß Ihr so unklug sein werdet«, sagte Fra Felipe liebenswürdig. »Aber gewisse Vorsichtsmaßnahmen sind ergriffen worden.« Er schlug einen kleinen Silbergong auf dem Tisch an. Fast gleichzeitig trat aus dem Alkoven ein Mann, der dort hinter dem Vorhang während der ganzen Unterhaltung verborgen gewesen war. Nicht so sehr das Erscheinen des Mannes war es, das Antonio so verblüffte, sondern der Mann selbst. Es war Signore Battista Porzia, sein netter Reisebegleiter von heute morgen. 104
»Ich glaube, Ihr kennt Signore Porzia bereits«, sagte Fra Felipe aufgeräumt. Der Dicke lächelte und verbeugte sich. »So treffen wir uns also wieder, Doktor Servetus. Sehr erfreut.« Antonio murmelte einen Gruß. Er fühlte ein plötzliches Unbehagen in sich, eine Ahnung, daß es um seine Sache alles andere denn gut stünde. »Signore Porzia hat mit mir über eine bestimmte Unterhaltung gesprochen, die Ihr mit ihm heute morgen führtet. Vielleicht wird er die Güte haben, sie jetzt vor Euch noch einmal zu wiederholen.« »Gewiß«, antwortete Porzia. »Dr. Servetus und ich hatten heute morgen eine sehr interessante Diskussion über gewisse theologische Doktrinen, die von seinem Bruder, dem verdammten Häretiker, Michael Servetus und einem seiner Freunde, Fra Jacques Charmier, vertreten wurden.« »Und wie verlief diese Konversation?« fragte der Prior. »Dr. Servetus vertrat die Meinung, die Verdammung seines Bruders durch die römische Kirche sei gesetzwidrig, außerdem schloß er sich den ketzerischen Lehren seines Bruders voll an.« »Das ist eine Lüge!« rief Antonio und sprang auf. »Das habe ich nicht gesagt.« »Vorsicht!« warnte ihn Fra Felipe. »Signore Porzias Wort ist nicht anzuzweifeln.« »Wieso ist sein Wort besser als meines?« »Signore Porzia ist Mitglied der Inquisition.« »Die Inquisition …« Antonio sank in den Sitz zurück, wie gelähmt von der Wucht dieser Worte. »Die Inquisition«, flüsterte er und eine Flut von Erinnerungen aus der Kinderzeit in Spanien drängte sich ihm auf. Niemand vermochte den machtvollen Armen der Inquisition zu entrinnen. Niemand wagte, dem Zeugnis eines ihrer Mitglieder zu widersprechen. Und nun hatte dieses Instrument des Schreckens auch Padua erreicht und unterminiert, diese einzige Hochburg der Freiheit, die der Welt noch verblieben war. Wie er sich nun erinnerte, hatte Gian einmal gesagt, Fra Felipe habe mit der Inquisition zu tun. Das 105
also dürfte der Grund gewesen sein, warum man ihn zum Prior des Klosters ernannt hatte, damit er von hier das gottergebene Recht der Menschen, die Wahrheit zu suchen, untergrabe und zerstöre. »Auch ich bin ein Diener der Inquisition«, fuhr Fra Felipe fort. »Ich merke, daß Ihr den Ernst der Situation begreift. Verpflichtet Ihr Euch also, zu schweigen über – na, sagen wir, über verschiedene Dinge, die wir schon besprachen?« Antonio erhob sich. »Ich verpflichte mich«, sagte er. »Gut, ich verpflichte mich.« »Das dachte ich mir«, entgegnete Fra Felipe. »Pax vobiscum, frater.« »Et tecum, pax«, stammelte Antonio und verließ das Audienzzimmer. Aber es war kein Friede in seinem Innern. Mitten auf dem Weg vom Kloster zu seiner Postkutsche begann Antonio unvermittelt zu lachen. Fra Felipe hatte ihn unter Androhung der Inquisition beschworen, über das Gemälde zu schweigen. Was Fra Felipe aber nicht wissen konnte, war die Tatsache, daß Antonio schon vor Wochen an Signore Girolamo Bellarmi in Florenz einen Brief geschickt hatte, in dem er ihm eröffnete, daß die Botticelli-Venus sich im Dominikanerkloster zu Padua befinde. Und der Brief mußte schon längst in Florenz eingetroffen sein.
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ignore Girolamo Bellarmi, Nachkomme des Vespucci, saß in einem bequemen Sessel in der Florentiner Niederlage des Hauses Bellarmi und betrachtete wohlgefällig seine Nichte. Sie bot ein liebliches Bild, wie sie so vor ihm saß, in einem Brief las und ab und zu dabei das Naschen rümpfte. Als sie geendet hatte, meinte er: »Du hattest also recht gehabt, Lucia. Der Arzt gibt zu, daß sich das Bild im Kloster befindet.« 106
»Dessen war ich sicher.« »Aber er schreibt nichts davon, wie wir es bekommen sollen, oder ob er selbst uns hier aufsuchen will.« »Er wird kommen«, sagte sie überzeugt. Signore Bellarmi lächelte. »Hat dir jemand ein Horoskop gestellt, daß du über die Zukunft so sicher Bescheid weißt?« Sie schüttelte den Kopf. »Intuition.« »Aber auf die Intuition soll man sich nicht immer verlassen«, warf er ein. »Auf meine schon.« Der Onkel hob die Augenbrauen hoch. »Wir werden sehen, mein Kind. Geh jetzt, ich habe noch zu arbeiten.« Als sie gegangen war, wandte er sich nicht sofort den großen, auf seinem Schreibtisch aufgestapelten Geschäftsbüchern zu. Bedachtsam kaute er eine Weile am Federkiel, nahm dann einen Bogen Pergament aus der Lade, tauchte die Feder in das gediegene Bronzetintenfaß und begann zu schreiben: An Signore Antonio Servetus, Arzt, Venedig, Via délie Galleazzi e Vasca Geehrter Herr! Eure Mitteilung über das Gemälde des Botticelli, bekannt als ›Die Geburt der Venus‹, hat mich eben erreicht. Es freut sowohl mich wie meine Nichte, der das Bild ja gehört, zu wissen, daß sich das Gemälde wohlbehalten im Dominikanerkloster in Padua befindet. So sehr wir Euch für Eure Güte, uns vom Verbleib des Gemäldes zu berichten, danken müssen, kann ich nicht umhin, zu erwähnen, daß Ihr uns dies während unseres Aufenthaltes in Venedig oder Padua hättet mitteilen können, damit ich über den Transport nach Florenz hätte Anordnung geben können. Unglücklicherweise haben wir dazu, seit wir die Stadt verlassen, keine Erlaubnis mehr. Ich glaube nicht, daß ich Euch beson107
ders damit belaste, wenn ich Euch bitte, persönlich alles zu unternehmen, um das Gemälde sicher hier ankommen zu lassen … Er hielt eine Weile inne und fuhr dann lächelnd fort: … selbst wenn die Maßnahmen, die Ihr ergreifen müßt, es notwendig machen, daß Ihr die Reise nach Florenz unternehmt. Seid versichert, ich werde alles tun, um Euch Eure Auslagen an Zeit und Geld zu vergüten. Empfanget bitte meine und meiner Nichte besten Wünsche für Eure Gesundheit. Geehrter Herr, ich verbleibe Euer Girolamo Bellarmi Fiorenza Anno Domini 1563. Als der Brief fertig war, las ihn Bellarmi durch, faltete ihn, ließ an der brennenden Wachskerze etwas Siegellack weich werden und preßte ihn mit dem schweren Ring an seiner linken Hand, der das Wappen der Bellarmis trug, auf das gefaltete Pergament. Dann lehnte er sich zurück und lächelte. Die Intuitionen einer Frau, besonders die Lucias, waren eine wunderbare Sache; aber als Geschäftsmann fand er es ratsam, entsprechende Vorkehrungen zu treffen, damit sich die Ereignisse nach seinen Wünschen gestalteten.
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ntonios Leben war nun ein sehr geschäftiges geworden. Tagsüber zeichnete er unter Gians Anweisung und konnte mit Befriedigung feststellen, daß seine Hand sicherer und geschickter wurde. Gian führte ihn in die Gesellschaft der Künstler und Kunststudenten ein. Während er früher zufolge seiner klösterlichen Erziehung vieles als Sünde betrachtet hatte, erkannte er nun, daß die Künstler sehr ernste 108
Menschen waren und über Geschichte und die neuen humanistischen Wissenschaften, die sich von Italien aus auf der ganzen Welt verbreiteten, mehr gelesen hatten als er. Einmütig führten sie ein Leben, das Jahrhunderte vor ihnen schon die alten Griechen zu leben verstanden hatten. Antonio fühlte sich angeregt, seine Kenntnisse in Griechisch aufzufrischen mit der vagen Absicht, eines Tages die Kulturstätten Griechenlands zu besuchen und vielleicht selbst die großen Klassiker in der Muttersprache der Wissenschaft und Kunst zu lesen. In der großen Bibliothek von San Marco und in den Sammlungen des Grafen Quirina-Stampolia, im Palazzo zu Santa Maria Formosa, die zum Gebrauch der Gelehrten freigegeben wurden, erneuerte Antonio seine Bekanntschaft mit den Aphorismen des Hippokrates, den erleuchteten Schriften von Celsus, Avicenna, Galen, dem jüdischen Arzt Maimonides, dem Araber Rhazes und vieler anderer bedeutender Männer, die alle bestrebt waren, die menschlichen Leiden zu erleichtern. Ende Juni wurde er eingeladen, in der Scuola di San Marco vor der Ärzteschaft zu sprechen. Beglückt nahm er die Einladung an, denn die Anerkennung seiner Entdeckung durch die Ärzteschaft würde ihn auf dem Wege, die ganze Welt dafür zu gewinnen, ein gutes Stück weiter bringen. Antonio hemmte den Schritt vor der hübschen Fassade der Scuola und schritt langsam durch die große, mit einer herrlich geschnitzten und fast hundert Jahre alten Decke geschmückten Halle. Aufs neue empfand er Achtung für den ehrenvollsten aller Berufe. Während er dann, das aufgeschlagene ›Consilium‹ vor sich, auf der Estrade stand, fühlte er etwas von einer Erhebung, von der er wußte, daß sie auch Michael erfüllt haben mußte. Es war nicht nur Stolz über sein eigenes Werk, sondern ein Gefühl der Verwandtschaft mit dem Göttlichen, welches kleine menschliche Gesetze, das wütende Rasen des bigotten Calvin oder die verderbliche und gleichfalls verhängnisvolle Verurteilung durch die römische Kirche überstrahlte. Vor ihm in der ersten Reihe saßen die venezianischen Ärzte, meist alte Männer, denn noch immer hatten die Meister ihre Lehrlinge, de109
nen sie Medizin ebenso gut beibrachten, wie dies auf der Universität geschah. Die Lehrlinge, ernste junge Männer in abgetragenen Kleidern, offensichtlich beeindruckt von der Hochachtung, die man dem jungen Arzt aus Padua entgegenbrachte, füllten die hinteren Reihen. Neben Antonio saßen auf der Estrade der Vorstand der Ärzteschaft und Professor Fallopius. Daß ihn sein alter Lehrer unterstützen würde, ermutigte ihn, und so begann er, anfangs etwas gehemmt, dann aber immer sicherer, mit seinem Vortrag zu beweisen, daß Michael schon vor Jahren diese Entdeckung gemacht hatte und daß ihm und nicht dem jüngeren Antonio die Anerkennung gebühre. Als er geendet hatte, brachen die Anwesenden in stürmischen Applaus aus und umringten ihn, um ihm ihre Begeisterung kundzutun. Antonio wartete ab, bis sich der Tumult gelegt hatte und verließ dann mit Fallopius die Halle. »Antonio, Ihr habt eine große Zukunft vor Euch«, sagte der alte Arzt. »Ich werde gegen Ende des nächsten Schuljahres meinen Rücktritt bekanntgeben. Ihr seid für den Lehrstuhl nominiert.« Antonio wollte sprechen, aber die Kehle war ihm zugeschnürt. Er wußte, daß Fallopius diesen Schritt nur seinetwegen früher als geplant unternehmen wollte, weil er ihm damit zu helfen glaubte, sollte es seiner Entdeckung wegen zu Kontroversen kommen. »Dankt mir nicht, mein Sohn«, wehrte Fallopius ab. »Ich erweise der Universität einen großen Dienst, denn ich bin gewiß, daß die Welt Euch noch einmal zu großem Dank verpflichtet sein wird.« »Dio lo volesse«, sagte Antonio inbrünstig. »Hat es schon irgendwelche Schwierigkeiten mit der Kirche gegeben?« fragte Fallopius. Antonio verneinte. »Die Wahrheit liegt so klar auf der Hand, daß sie niemand zurückweisen kann.« »Ich würde mich nicht so in Sicherheit wiegen«, warnte Fallopius. »Vergangene Woche besuchte mich ein Mann, von dem ich mit Bestimmtheit annehme, daß er ein Mitglied der Inquisition ist.« Diese Eröffnung erschreckte Antonio. »Was wollte er denn?« »Nichts Bestimmtes. Er behauptete, ein Bekannter von Euch zu sein. Zumindest wußte er alles über Euren Bruder und seine Schriften.« 110
»Porzia!« entfuhr es Antonio. »So war sein Name.« »Er ist ein Mitglied der Inquisition«, versicherte Antonio. »Und ein höchst skrupelloses dazu.« »Aber wer steht denn hinter ihm?« »Fra Felipe Santos«, sagte Antonio erbittert. »Der Dominikanerprior? Perché?« Antonio erzählte Fallopius kurz seine Debatte mit dem Prior, ohne jedoch die Angelegenheit von dem Gemälde zu erwähnen. »Das ist schlimm«, stimmte Fallopius zu. »Sie können Euch in Venedig wegen einer wissenschaftlichen Schrift nicht angreifen, aber seid vorsichtig, daß ihnen Euer Privatleben keinen Grund dazu gibt, mein Sohn.« »Da werden sie keinen finden. Ich bin immer ein braver Katholik gewesen.« Sie traten aus dem Gebäude und Fallopius reichte Antonio die Hand. »Komme was mag. Ich erwarte von Euch, daß Ihr mir bis zum Herbst das Manuskript Eurer Anatomievorlesung unterbreitet. Eure praktischen Übungen werden bestimmt beliebter sein denn je zuvor.« Antonio rief eine Gondel vor die Scuola, stieg ein und lehnte sich in die Polster des Sitzes zurück. Was ihm Fallopius über Porzia erzählt hatte, beunruhigte ihn. Warum verlangte Fra Felipe, daß sich der dicke, vertrauenerweckende Porzia noch weiter mit seinen Angelegenheiten beschäftige, wo er doch sein Wort gegeben hatte? Dachte der Prior vielleicht selbst nicht daran, sein Wort zu halten, und suchte er nach weiteren Beweisen, die eine Anklage auf Häresie rechtfertigten und die man auch in Venedig nicht übersehen würde? Deprimiert, wie er schon war, ahnte er nichts Gutes. Die Freude über den Erfolg in der Scuola war geschwunden. Seit er das Gemälde gefunden, hatte er nichts als Schwierigkeiten gehabt, dachte er, und doch vermochte er die Göttin nicht anzuklagen. Der Gedanke, daß sie durch die lüsternen Augen Fra Felipes entheiligt würde, entflammte seinen Ärger aufs neue. »Sia stali!« rief der Gondoliere und nahm Kurs auf den engen Ka111
nal zwischen dem herrlichen Dogenpalast und dem Staatsgefängnis. Hoch über ihm wölbte sich die vor kurzem vollendete Brücke, welche die beiden Gebäude verband und über die schon so mancher Verurteilte dem Tode entgegengeschritten war. Obwohl erst wenige Jahre alt, hatte sie im Volksmund schon einen Namen: ›Die Seufzerbrücke‹. »Besser darunter als darüber«, bemerkte der Gondoliere, wies dabei auf die Brücke und bekreuzigte sich. Obwohl es mitten im Sommer war, fröstelte Antonio im Gedanken an das Kommende …
VII
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nde Juli erhielt Antonio einen Brief, der ihn etwas aufrichtete. Er trug einen Poststempel aus London und wurde ihm von einem Lehrling der Druckerei Guidobaldo Aldini gebracht. Sehr geehrter Herr! Signore Guidobaldo Aldini hat freundlicherweise die losen Seiten Eures ›Consiliums‹, betitelt ›De motu sanguinem pulmonale‹, meiner Druckerei in London übersandt. Nehmet, geehrter Herr, meine Glückwünsche entgegen für diese so bedeutende anatomische Entdeckung. Ich habe mir die Freiheit genommen, Euer ›Consilium‹ Dr. John Caius zu zeigen, dem Vorstand des Conville- und Caiuscollege und ehemaligen Medizinstudenten an der Universität zu Padua. Dr. Caius läßt Euch durch mich ebenfalls seine Glückwünsche übermitteln und hofft, dies bald auch persönlich tun zu können. Er ist mit mir einig, Euch um den Gefallen zu bitten, Euer ›Consilium‹ von meiner Druckerei in London veröffentlichen zu dürfen, damit die Ärzte Englands mit dieser wichtigen Entdeckung bekannt gemacht wer112
den. Solltet Ihr der Bitte willfahren, dann benachrichtigt Signore Guidobaldo Aldini davon. Ich verbleibe, geehrter Herr, Ihr ergebenster Diener Valentine Sims, Drucker in London. Antonio schrieb sofort zurück und gab die Erlaubnis für den Druck. Sein Gemüt bekam aber noch weiteren Auftrieb durch die freundliche Aufnahme, die sein Werk in Venedig und den nahegelegenen italienischen Städten fand. Die Mitglieder der venezianischen Ärzteschaft achteten und ehrten ihn, und man bot ihm sogar den Lehrstuhl für Anatomie an der Universität von Bologna an. Das Schreiben Signore Girolamo Bellarmis dagegen brachte neuen Aufruhr in Antonios ohnedies schon so bewegt gewordenes Leben. Gian legte den Pinsel beiseite, als ihm Antonio den Brief überreichte, und las ihn durch. »Dieser Bellarmi ist sehr schlau«, meinte er. »Er hat sich da einen feinen Plan ausgedacht, um sich selbst beim Herausholen des Bildes die Finger nicht zu verbrennen. Er macht dich einfach glauben, du müßtest es ihm bringen.« »Das sollte ich ja auch«, entgegnete Antonio. »Wann wirst du endlich aufhören, dir solch dumme Gewissensbisse zu machen, Tonio?« Gian nahm den Pinsel wieder auf. »Du hast überhaupt keine Verpflichtung, es zu holen.« »Ich habe es schließlich gefunden.« »E vero. Damit hast du doch genug getan.« »Aber hätte ich Signore Bellarmi gleich davon erzählt, hätte er es mit sich nehmen können.« »Sei kein Esel. Ich sagte dir schon, bevor du noch ihn und seine Nichte kennenlerntest, daß das Gemälde nie aus Padua herauskommen würde. Was geschehen ist, beweist nur, daß ich recht hatte.« Er wandte sich wieder seiner Staffelei zu. »Mußt du denn immer die Sorgen der ganzen Menschheit auf deine Schultern laden, Tonio? Was du brauchst, ist Entspannung.« Seine Züge hellten sich auf. »Eccolo! Am Freitag ist das Fest des Redentore. Wir werden den Feierlichkeiten beiwohnen.« 113
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as Erlöserfest, das Fest des Redentore, war bei den Venezianern eine der beliebtesten religiösen Feierlichkeiten. Unter dem Vorwand religiöser Motive bot es Möglichkeit zu großartigen Umzügen, zu Tanz, zu Theatervorführungen, und natürlich auch zu Liebesgetändel. Schon bei Morgengrauen begann es. Gian und Antonio schlossen sich der Prozession bunter mit Lampions behangener Gondeln an, die sich zum Lido hin bewegten, um den Sonnenaufgang zu begrüßen. Farbenfroh und vom Gesang, in den alle eingestimmt hatten, begleitet, glitt der Zug dahin. Viele der Teilnehmer waren maskiert, ein Brauch, dessen sich die Venezianer besonders oft bedienten. Auf manchen Gondeln sah man ganze Musikkapellen, die den Damen und Herren aufspielten. Antonio hatte seine Freude an dem bunten, lärmenden und fröhlichen Treiben. Nach der Rückkehr vom Lido verblieb ihm nur Zeit für ein hastiges Frühstück in einer Trattoria, und dann begann der zweite Teil des Festes. Ein langer Zug von Gondeln und prächtig ausgestatteten Barken bewegte sich durch die Lagunen und Kanäle. Sie waren blumenüberladen und wetteiferten in ihren Farben mit den verschwenderischen Kleidern der Frauen und den nicht weniger bunten Gewändern der Männer. Eine Gruppe geschmückter Barken, in denen die Kavaliere mit ihren Freunden saßen, führte den Zug an. Dahinter folgte eine größere Gruppe von reich geschnitzten, mit Reproduktionen einiger der farbenprächtigen Schöpfungen des Leonardo da Vinci geschmückten Gondeln. Über den Barken schwebten Figuren, welche Schutzgeister oder die verschiedenen Eigenschaften darstellten, die den Menschen über die Tiere stellen, wie Demut, Frömmigkeit, Weisheit, Liebe und ähnliche. Einige andere Boote trugen König Neptun und seinen Hof, Nym114
phen und Seejungfern, in anderen Barken wieder gingen ganze Mysterienspiele vor sich. Sie alle glitten durch die Lagunen rund um den Dogenpalast und in ihrem Kielwasser folgten Hunderte von Booten und Privatgondeln – eine schillernde bunte Schlange, die sich stundenlang durch die Stadt wand. Gian, Antonio und einige der Künstler beobachteten das Schauspiel von Matteis Gondel aus, die Gian für den ganzen Tag aufgenommen hatte. Erst spät am Nachmittag kehrten sie in das Heim des Künstlers zurück. »Hast du dich gut unterhalten?« fragte Gian, während sie auf Dimas warteten, der die Speisen zubereitete. »Sehr gut.« »Der nächste Teil wird noch interessanter sein.« »Der nächste Teil?« »Heute abend wirst du etwas wirklich Ungewöhnliches sehen. Lodovici Agnolo zeigt seine magischen Experimente.« Antonios Augen glänzten. »Das wollte ich schon lange sehen. Wo findet die Vorführung statt?« »Ich werde dich schon führen. Der Ort wird geheimgehalten.« »Perché?« Gian zuckte die Achseln. »Die Behörden sind auf die Schwarze Magie nicht gut zu sprechen.« »Schwarze Magie! Dürfen wir denn dann überhaupt hingehen?« »Die Tatsache, daß es verboten ist, macht es nur noch interessanter.« Antonio wiegte bedenklich den Kopf. »Ich weiß nicht recht …« »Als Wissenschaftler sollst du dich auch dafür interessieren«, verwies Gian. »Aber ich glaube ja gar nicht daran.« »Komm mit heute abend«, sagte Gian mit einem geheimnisvollen Klang in der Stimme. »Nachher kannst du dich entscheiden, ob du daran glaubst oder nicht.«
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IX
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bwohl Antonio während seines Aufenthalts in Venedig die Stadt schon gut kennengelernt hatte, fand er sich bei der abendlichen Fahrt bald nicht mehr zurecht. Mattei arbeitete mit dem langen Ruder und wendete das leichte Boot einmal nach rechts, einmal nach links, durch immer enger werdende Kanäle, bis sie schließlich bei dem hinteren Eingang eines baufälligen Gebäudes anlegten. Nur ein schmaler Vorsprung trennte die feuchten, moosbewachsenen Mauern vom Kanal. Gian gebot Mattei zu warten und führte Antonio über einen Weg neben dem Gebäude zum Eingang. Er stieß eine Tür auf, die nurmehr in einer Angel hing, und sie betraten einen kleinen Hof. Antonio erkannte ihn als den Vorhof zu einer Kapelle. In der Mitte sah man Überreste eines Springbrunnens und von einem mit Steinfliesen gepflasterten Gehsteig erhoben sich verfallene Wände eines alten Gebäudes. Zur Kapelle selbst führte ein schweres hölzernes Tor. Gian klopfte an und ein nicht gerade vertrauenerweckendes, höckriges Individuum öffnete einen Spalt breit. Er musterte die beiden und seine Augen blitzten auf, als er in Gians Hand eine Goldmünze gewahrte. Sobald sie in seinem Besitz war, öffnete sich das Tor weit und gab den Blick auf die halb gefüllte Kapelle frei. Gian und Antonio nahmen ziemlich weit vorne Platz. In den Wandarmen an jeder Seite des Kirchenschiffes brannten zwei große Kerzen, sonst wurde der Raum nur vom Mondlicht beleuchtet, das durch die vielen schadhaften Stellen im Dache drang. Die Bänke waren fast alle zerbrochen, wie überhaupt der ganze Ort Auflösung und Verfall zeigte. Die Steinfliesen waren geborsten und das starre, morsche Gebälk des Daches mutete in dem geisterhaften Mondlicht wie ein gesplittertes Skelett an. 116
»Warum macht er das bloß an einem solchen Ort?« fragte Antonio. Die einstmals geweihte Kapelle wirkte abstoßend und entheiligt. Gian lachte. »Lodovici sollte Priester werden. Vielleicht fühlt er sich hier zu Hause.« Hinter einem Vorhang, der über das Seitenschiff der Kapelle gezogen war, schimmerte Licht. Irgend jemand bewegte sich dort und entzündete zwei Kerzen, deren Flammen durch den Stoff leuchteten. Der neugierig wartenden Menge war dies ein Zeichen für den baldigen Beginn der Vorführung. Gian stieß Antonio heimlich. »Paß gut auf. Du wirst nie mehr etwas Ähnliches sehen.« Die Vorhänge teilten sich nun. Sie wurden von zwei Chorknaben zurückgezogen, aus deren erstaunlich schönen Gesichtern die reine Unschuld sprach. Die gestärkten runden Halskragen ihrer makellos weißen Gewänder waren von den Falten des Vorhanges noch teilweise verdeckt. Durch die geöffneten Vorhänge sah man in das von brennenden Kerzen erhellte Schiff der Kapelle, deren Wände man mit weißen Tüchern ausgelegt hatte, um die schadhaften Stellen zu verdecken. Am hinteren Ende des Schiffes befand sich eine kleine, mit dunklen Vorhängen abgeschlossene Tür. Der Raum selbst aber nahm einen großer Altar fast zur Gänze ein. Er war so lang wie die seltsame, mit weißen Tüchern drapierte Bahre, die dort stand. Sobald sich Antonios Augen an das Kerzenlicht gewöhnt hatten, konnte er oben auf dem Altar eine hingestreckte menschliche Gestalt unter einem Tuch wahrnehmen. »Gian«, wisperte er, »dort liegt jemand auf dem Altar.« »Certamente, das ist die Jungfrau.« »Die Jungfrau? Die heilige Mutter?« Gian lachte. »Nein. Die Jungfrau, die in der Schwarzen Messe geopfert wird.« »Die Schwarze Messe!« In Antonio erstarrte jedes Gefühl bei diesen Worten. Natürlich hatte er schon von der Schwarzen Messe gehört, dieser Entheiligung der katholischen Zeremonie, in der der Teufel verehrt und die Hostie mit unbeschreiblichen Unanständigkeiten geschändet wurde. Das Schrecklichste daran aber, so erzählte man sich, 117
waren die Orgien, die mit der Opferung einer Jungfrau endeten. Antonio wollte sich erheben, aber Gian hielt ihn zurück. »Es ist nicht wirklich die Messe«, erklärte er. »Agnolo benützt dies nur als Rahmen zu seinen magischen Vorführungen.« Antonio atmete ein wenig auf. Wenn es schließlich keine richtige Opferung war, dann würde es für ihn sehr aufschlußreich sein, einem Zauberer bei der Arbeit zuzusehen. Das ganze Schiff war nun geöffnet und die Chorknaben traten vor den Vorhang, um ihre Plätze einzunehmen. Mit Schreck erkannte Antonio nun, daß es überhaupt keine Knaben waren, sondern Mädchen von vielleicht sechzehn Jahren; er sah, daß sie unter den dünnen, durchsichtigen Gewändern völlig nackt waren. Gian stieß Antonio an und murmelte: »Sagte ich dir nicht, es würde interessant werden?« Irgendwo hinten im Kirchenschiff ertönte der tiefe, melodische Klang eines Gongs. Der Vorhang über der kleinen Tür teilte sich und zwei Chorknaben erschienen. Der eine trug den Kelch, der andere die silberne Patène. Wie die Mädchen, waren auch die Burschen unter ihren durchsichtigen Gewändern nackt. Langsam bewegten sie sich zu den beiden Enden des Altars, setzten dort ihre Last ab, und schritten dann zurück, um sich neben die Mädchen zu stellen. Antonio nahm plötzlich einen furchtbaren Gestank wahr, der sich rasch im Raume verbreitete. Es war der Geruch brennenden Teers, dem Bilsenkraut und getrocknete Blätter des tödlichen Nachtschattens zugesetzt waren. Antonio suchte nach der Ursache und entdeckte schließlich, daß sich aus den Schalen der Wandleuchter auf jeder Seite des Schiffes Wolken beißenden Dampfes auf die Menge ergossen. Aufs neue erklang der melodische Gong und nun erschien zwischen den Vorhängen eine seltsame Gestalt: der Magier. Neben den kleinen Mädchen und Knaben wirkte er ungewöhnlich groß. Mit vor sich hingestreckten Armen schritt er vorwärts, während das Licht der Kerzen hinter ihm gespenstische Schatten auf den Altar warf. Noch verwirrender als seine Größe aber war das Gewand, das er trug. Es hatte die Form des gewöhnlichen Meßgewandes der Priester und reichte ihm vom Hals bis zu den 118
Spitzen seiner orientalischen Pantoffeln. Kabalistische Ornamente, die Zeichen des Tierkreises – Symbol der Astrologen – und unheimliche orientalische Figuren schmückten den Stoff. Der Kopf des Magiers war mit einer roten, tief ins Gesicht gezogenen Kapuze bedeckt, aus der vorne zwei Hörner ragten. Langsam ging er auf den Altar zu. Dann ergriff er das Tuch an einem Ende und fegte es in die Luft, daß es so plötzlich verschwand, als wäre es nie hier gewesen. Antonio hielt den Atem an und umklammerte den Rand der Bank. Agnolo hatte die Gestalt auf dem Altar entblößt. Ausgestreckt wie eine marmorne Statue, starr und blaß wie kalter, weißer Stein, lag dort der nackte, steife Körper einer wunderschönen Frau. Obwohl er nur mit den Schultern und Kniekehlen auf zwei Stützen lag, war der Körper steif wie ein Stock. Das Gesicht war dem Publikum abgewendet, aber es gab keinen Zweifel – Antonio hatte diesen schönen Körper während der letzten Monate zu oft gesehen, um nicht Clarissa Strozzi zu erkennen. Die befremdende Steifheit von Clarissas Körper nahm Antonio sofort gefangen. Kein Mensch, das wußte er, konnte in einer solchen Lage länger als höchstens fünf Minuten verharren. Selbst in der Totenstarre wäre dies nicht möglich. Und sie war nicht tot, denn seine scharfen Augen bemerkten, wie sich ihre atmende Brust hob und senkte. Welche fremden Kräfte waren hier am Werk? Welche unwandelbaren Naturgesetze wurden hier durchbrochen? Oder war das alles nur ein Trugbild? Als wollte er Antonios Fragen beantworten, winkte Lodovici einen der Chorknaben herbei, hieß ihn sich niederbeugen und auf Händen und Knien zwischen den beiden Stützen unter Clarissas Körper durchkriechen, um so zu beweisen, daß keine anderen Stützen vorhanden seien. Lodovici schritt um den Altar herum und stieg die Stufen zum Altargitter herab. Den Blick auf das Mädchen gerichtet, kniete er nieder. Mit spöttischer Stimme äffte er den Messegesang nach, während ihm die vier jugendlichen Stimmen die Antworten gaben. Der erste Teil des Rituals war damit beendet, und er erhob sich wieder. Einer der Knaben nahm die Silberpatene und hielt sie hoch empor. 119
»Wie hält er ihren Körper in dieser Stellung?« flüsterte Antonio Gian zu. Seine Ekel vor der Entheiligung einer religiösen Handlung war durch seine wissenschaftliche Neugierde ganz verdrängt. Gian zuckte die Achseln. »Es ist eben ein Trick von ihm.« Antonio war mit der Erklärung nicht zufrieden. War es Verhexung? Bisher hatte er nur wenig Vertrauen zu jenen gehabt, die an übernatürliche Kräfte im Menschen glaubten. Das meiste, so sagte ihm sein Verstand, ließ eine logische Erklärung zu. Aber das hier war überhaupt mit nichts vergleichbar, das er kannte. »Vater des Üblen!« Die Stimme Lodovicis unterbrach seinen Gedankengang. Der Magier stand mit emporgestreckten Armen vor Clarissas Körper. »Schutzgott des Lasters! Satan, Gott der Freude!« Ein scharfer Schwefelgeruch lag mit einem Male in der Luft. Antonio sah die schwarzen Wachskerzen plötzlich in grünlich-blauer Farbe brennen und er schloß daraus, daß man sehr geschickt in die Mitte der Kerze etwas Schwefel getan haben mußte, und daß die Flamme diese Stelle nun erreicht hatte. Aber die Zaubersprüche des Magiers waren so eindringlich, daß er beinahe glaubte, mit dem Schwefelgestank hätte sich der bis jetzt noch unsichtbare Teufel angekündigt. Des Zauberers Stimme wurde schriller und Antonio war es, als müßte jeden Augenblick der Satan erscheinen. »Schutzherr der Mörder und Verführer! Gott der Diebe und Hexen, wir beugen uns vor Dir!« Eine Rauchwolke strich über das Publikum. Der Geruch des Schwefels war beinahe unerträglich geworden und Antonio fühlte, wie seine Sinne durcheinander gerieten. Irgendwo hinten in der Kapelle kreischte eine Frau durchdringend auf und eine Bank wurde umgestoßen. Wie durch einen Nebelschleier sah Antonio, daß Agnolo auf die Knie gefallen war und seine vier jugendlichen Helfer flach ausgestreckt auf dem Boden lagen, als ob sie von einer unsichtbaren Hand niedergestoßen worden wären. Antonio merkte, daß ihm übel wurde, aber er war nicht fähig, sich von seinem Platz zu erheben oder die Augen von dem Bild zu wenden. Durch die Stille, die jetzt folgte, vernahm er auf einmal leise, wehkla120
gende Musik, die klang, als käme sie von einem orientalischen Instrument; es war eine bezwingende Melodie. »Erhebt auch, Diener des Antichrist!« forderte Agnolo. »Erhebt auch und tanzt zur Huldigung unseres Meisters!« Die vier jungen Wesen standen auf und begannen in rhythmischen Bewegungen mit unanständigen Gesten zu tanzen, während die Musik zu immer höher werdenden Tönen anschwoll. In den ersten Reihen des Publikums wurde ein Gesang angestimmt. Erst klang er dünn, aber bald erfüllte er den ganzen Raum, und dann erhob sich Stimme auf Stimme und schrie zu dem Spruch des Magiers: »Das Opfer! Das Opfer!« Mit ausholender Gebärde riß der Magier einen langen Dolch aus den Falten seines Gewandes. Den Stab hoch vor sich hinhaltend, näherte er sich dem Altar und setzte ihn an Clarissas Brust. »Nein! Nein!« schrie es in Antonio auf, aber kein Ton kam von seinen Lippen, der den Worten, die in rhythmischen Wellen durch die Kapelle wogten, hätte Einhalt gebieten können. Ein Teil in ihm bäumte sich auf gegen die Schändung, aber ein anderer, stärkerer Teil stimmte in den Ruf ein: »Das Opfer! Das Opfer!« Der Dolch in Agnolos Hand senkte sich langsam und Antonio erstarrte, als er sah, wie er bis zum Heft in Clarissas Brust verschwand. Ein Strahl roten Blutes schoß empor und befleckte das Gewand des Magiers. Mit einer flinken Bewegung ergriff Agnolo den Kelch, fing etwas Blut auf, setzte dann mit einem Schrei des Triumphes den Becher an seine Lippen und trank. Trotz der unerträglichen Spannung des Augenblicks konnte sich Antonio noch darüber wundern, daß Clarissas Körper kein Zeichen des Schmerzes oder der Agonie zeigte, die auf diese tödliche Wunde hätte eintreten müssen. Konnte die Wirkung der Zauberkunststücke dieses Magiers noch über den Tod hinaus bestehen? Plötzlich erscholl über des Magiers Stimme das Aufkreischen von Frauen und das Murren von Männern. Ein donnerndes Hämmern drang vom Tor her. »Aufmachen!« rief eine gebietende Stimme. »Aufmachen im Namen des Dogen!« 121
»Dio mio!« rief Gian. »Man hat uns betrogen!« Ein Höllenlärm erhob sich nun in der baufälligen Kapelle. Antonio sah Lodovici, der in solchen Situationen anscheinend nicht unerfahren war, die Kerzen vom Altar entfernen, sie auf den Boden werfen und die Flammen austreten. Der ganze Raum war jetzt in Dunkelheit gehüllt. Nur das Mondlicht schimmerte matt durch das Dach und die Leuchter, von denen noch Schwefelrauch aufstieg, glosten schwach. »Folge mir!« rief Gian durch das Getöse. »Ich glaube, wir können uns durch den hinteren Ausgang retten.« »Was ist mit Clarissa?« fragte Antonio. Gian stürmte schon der kleinen Tür in der Seite des Gebäudes zu. Er sprang über Bänke, ohne Rücksicht auf die darin Sitzenden. Das Hämmern am Haupttor der Kapelle war inzwischen lauter geworden und man vernahm den Klang splitternden Holzes. Antonio zögerte. Sein Verstand befahl ihm, Gian zu folgen, sein Gefühl aber weilte bei Clarissa, die anscheinend bewußtlos auf dem Altar lag. Vielleicht war ihre Wunde doch nicht so schlimm; irgendwie glaubte er noch immer, Agnolo hätte dies alles nur vorgegaukelt. Wenn dem so war, dann konnte Clarissa noch leben und bedurfte seiner Hilfe. Er kehrte um und stieß durch die schwefligen Schwaden in der Kapelle vor. Er schwang sich über das Altargitter, da rutschte sein Fuß aus und mit einem dumpfen Schlag warf es ihn hin. Er zog sich an den Stützen unter Clarissas Körper hoch und berührte mit den Fingern ihre Haut. Rasch legte er seine Hand auf ihre Brust und fühlte den Herzschlag; er ging langsam, aber stark. Das war nicht der Herzschlag eines Menschen, der mit einer tödlichen Wunde im Sterben lag. Es war also ein Trick gewesen! Und Lodovici Agnolo, wie die übrigen darauf bedacht, sich zu retten, hatte sie dort gelassen, hilflos in ihrer seltsamen Starre und preisgegeben den Händen der Wache. Antonio schrie in ihre Ohren; ihre Lippen bewegten sich schwach, aber er konnte keine Worte vernehmen. Hinten in der verdunkelten Kapelle aber war das Geschrei der Leute und der Klang von Äxten und splitterndem Holz lauter als zuvor. Sein Blick fiel auf den Dolch, der quer über Clarissas Körper lag. Er ergriff ihn und steckte ihn in seinen 122
Rock. Dann nahm er rasch ein Tuch von der Wand und warf es um sie. Etwas ängstlich wegen der Steifheit ihres Körpers, nahm er sie in die Arme und stolperte auf die verhangene Tür am Ende des Schiffes zu. Während er hindurchschritt, hörte er das Krachen des aufgeschlagenen Tores an der Hauptseite der Kapelle und die Rufe der hereinlaufenden Wachen: »Ergebt euch im Namen des Dogen!« Betend, daß der rückwärtige Ausgang der Kapelle unbewacht geblieben sein möge, rannte er über eine Flucht von Treppen hinunter. Durch ein offenes Tor am Ende der Stufen schlug ihm die kühle, feuchte Luft des Kanals entgegen. Ein Hoffnungsstrahl durchzuckte ihn und vorsichtig trat er vor das Haus. Er mußte sich eng gegen die Mauer pressen, denn nur ein schmaler Vorsprung trennte ihn von dem dunklen Wasser des Kanals, das bis zu seinen Füßen reichte. Er wußte, daß es nur Sekunden dauern konnte, bis die Wachen den rückwärtigen Ausgang gefunden hatten. Wäre er allein gewesen, so wäre er ohne Zögern in den Kanal gesprungen, da er ein guter Schwimmer war. Mit Clarissa aber war ihm das unmöglich. Plötzlich tauchte von der einen Seite des Kanals der dunkle Schatten einer Gondel auf, die sich bisher im Dunkel verborgen hatte. Antonio erkannte die stämmige Gestalt mit dem langen Ruder. »Mattei!« rief er, »Mattei!« Das Boot stieß aus der Dunkelheit hervor und arbeitete sich bis nahe an ihn heran. Antonio zog sich an Deck, wobei er durch sein eigenes Gewicht und das des Mädchens das Gleichgewicht des Fahrzeuges bedenklich erschütterte. »Bring uns von hier weg«, keuchte Antonio. »Die Wachen.« »Si subito!« Die Gondel schoß in die Dunkelheit hinaus. Hurtig wendete Mattei das Boot von einem Kanal in den anderen. Schließlich sagte er mit Befriedigung: »Ihr seid gerettet, Hochwürden. Der Teufel selbst hätte uns nicht folgen können.« »Gott sei gedankt, daß du dort warst, Mattei.« Der Gondoliere kicherte. »Signore Gian sei gedankt. Er befahl mir, zu warten und zu sehen, ob Ihr herauskommt.« Antonio gab ihm ein Goldstück. Dann war also auch Gian in Sicher123
heit. Aber sie waren der Gefangennahme nur ganz knapp entronnen; vor allem Clarissa, die noch immer unverändert auf den Polstern lag.
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larissa war halb erwacht, während sie Antonio über die Stiegen trug und auf ein Sofa im Atelier legte. Er schenkte ein Glas Wein ein und reichte es ihr. »Wie kam ich hierher?« fragte sie. »Erinnert Ihr Euch an nichts?« »Lodovici versetzte mich in einen Trancezustand in der Kapelle. Ich glaube mich an Schreie zu erinnern – –« »Eine Trance! Das also war es.« »Was ist vor sich gegangen?« Er erzählte ihr von der Vorführung. Als er geendet, sagte sie warm: »Und Ihr habt Euer Leben eingesetzt, um mich zu retten.« Antonio errötete. »Als Arzt ist es meine Pflicht, Verwundeten zu helfen.« Sie zog die Falten des Tuches über ihrer Brust auseinander. Nichts war auf der weißen Haut zu sehen. »Ihr seht, da war nie eine Wunde.« »Aber das Blut und alles andere, wie konnte er das vorgaukeln?« »Lodovici ist klug, und roter Beerensaft sieht aus wie Blut.« Antonio suchte in seinem Gewand und fingerte den Dolch heraus. Es war ein langes, böse aussehendes Instrument, mit einer eigenartig biegsamen Klinge. Clarissa nahm es und stieß es gegen ihre Brust. Es schien bis ans Heft einzudringen und eine kleine rote Fontäne spritzte über ihre Finger. »Seht Ihr also, daß es ein Trick war?« Die Klinge der Waffe hatte sich auf ihrer Haut zusammengeschoben, als wäre sie aus Papier. »Aber wieso?« 124
Sie hob den Dolch ganz ruhig auf und sofort nahm er wieder seine natürliche Form an. »Der Dolch kommt aus der Neuen Welt und besteht aus einer Substanz, die die Indianer aus der Rinde eines Baumes gewinnen. Auch die Bälle der Gaukler werden daraus gemacht.« »Und das Blut?« »Der Griff ist hohl. Sobald er mit einer roten Flüssigkeit gefüllt wird, kann man die Öffnung mit einem Finger verdecken, und wenn der Griff gedrückt wird, spritzt die Flüssigkeit heraus.« Sorgfältig prüfte Antonio den Dolch. »Ausgezeichnet«, sagte er bewundernd. »Für diese Substanz sollte man mehr Verwendung haben.« Als er aber Clarissa nun über ihre Starrheit befragte, hatte sie keine Erklärung. »Ich weiß nur, daß es nicht schwierig sein kann. Ich habe gesehen, wie er es bei anderen gemacht hat.« »Aber wo hat er das gelernt?« »Im Orient, glaube ich. Ich hörte ihn erzählen, daß viele orientalische Magiere diesen Zustand herbeiführen können. Manche nennen es Magnetismus.« »Natürlich!« rief Antonio aus. »Paracelsus spricht von Magnetismus.« Clarissa gähnte. »Meint Ihr nicht, daß ich jetzt nach Hause gehen sollte?« »Die Wachen sind bestimmt von der Vorführung heute abend verständigt. Sie könnten nach Euch suchen, und wie Ihr jetzt ausseht, würden sie sofort wissen, daß Ihr dort gewesen seid.« »Nun, wenn ich hier bleiben soll, dann müßt Ihr so freundlich sein und mir etwas zu essen geben.« Sie aßen beide fröhlich in der Küche. Der Schrecken hatte sich bereits gelegt. Clarissa hatte das Tuch, in das Antonio sie gewickelt, mit dem Kleid vertauscht, das sie für gewöhnlich im Atelier anhatte. »Ich nehme das Ruhebett im Studio«, sagte sie gähnend, als sie mit dem Essen fertig waren. »Gian ist wahrscheinlich bei einem seiner Freunde.« »Es gibt einen Schlüssel zur Ateliertür«, meinte Antonio. »Gian schließt sich manchmal ein, wenn er malt.« 125
Clarissa kam zu ihm und legte die Arme um seine Schultern. »Tonio, glaubt Ihr, ich vertraue Euch nicht? Schließlich habt Ihr mir heute abend das Leben gerettet. Hätten sie uns zusammen gefunden, wäre ich als Hexe verbrannt worden und Ihr mit mir.« »Daran habe ich gar nicht gedacht«, antwortete Antonio. »Ich weiß – und deshalb –«, sie stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihre Lippen auf die seinen. »Gute Nacht, Tonio mio«, flüsterte sie. »Ihr seid sehr lieb.« Der süße Duft ihres Mundes und der weiche, nachgebende Druck ihres Körpers trieb einen Strom der Erregung durch Antonios Adern. Instinktiv legte er seine Arme um sie und preßte sie an sich. Dann löste sie sich sanft von ihm. »Gute Nacht, caro mio.« Ihre Augen glänzten warm. »Schlaft gut.« Antonio, der sich im nächsten Raum zum Schlafengehen vorbereitete, vermochte sich die zitternden Gefühle in seinem Innern nicht zu deuten. Nach kritischer Überlegung gelangte er zu dem Schluß, es könne nur das Gefühl der Erleichterung darüber sein, daß ihm die Flucht und die Rettung Clarissas gelungen waren. Er hörte sie drüben im Atelier auf und ab gehen und vernahm schließlich das Knarren des Ruhebettes, als er sich niederlegte; der Gedanke an ihren Kuß wühlte ihn von neuem auf. Mit einem ungemeinen Wohlbehagen streckte er sich aus und war beinahe unmittelbar darauf eingeschlafen. Es war wieder derselbe Traum: die Verheißung der Göttin, die er in seinen Armen hielt, das spottende Gesicht des Satyrs, die anklagende Stimme der Lucia Bellarmi und schließlich die Vision von Clarissa und seine Ohnmacht, sie zu erreichen. Wie zuerst kämpfte er, ihr näher zu kommen und sah ihre Umrisse verschwimmen. In wahnsinniger Angst, sie könne ihm entschwinden, schrie er ihren Namen. Ihre Umrisse wurden deutlicher, aber sie hatten sich geändert, denn nun trug sie das Kleid, das sie heue abend getragen hatte, als sie ihn küßte. Und nicht länger mehr war sie ein Schatten, sondern eine freundliche Göttin, deren Arme sich um ihn legten und ihn stärkten und seine Furcht besänftigten. 126
»Tonio«, hörte er ihre Stimme. »Es ist alles gut, Tonio.« Aus den Tiefen des Schlafes kämpfte er sich in den Wachzustand und merkte, daß ihre Gegenwart kein Traum, sondern Wirklichkeit war. »Du gingst weg.« Er klammerte sich an sie, um sich von der Wärme ihres Körpers zu überzeugen, so wie sich ein von einem bösen Traum erwachtes Kind an seine Mutter klammert. Ihre Hand strich über seine Stirn und sogleich entspannte sich sein Körper. »Es ist alles gut, Tonio mio.« Sie legte sich an seine Seite und schlang ihre Arme um ihn. Ihre weichen Lippen und ihre zarte Umarmung gaben ihm die Stärke, die er benötigte … und eine Verheißung der Freuden und Erfüllung, die er niemals gekannt … Sonnenlicht strömte durch das Fenster, als Antonio erwachte. Eine Weile lag er zwischen Wachen und Träumen und schwelgte in einem Gefühl der tiefen Zufriedenheit. Unklar erinnerte er sich der Ereignisse der Nacht. Er drehte sich um und sah in dem Polster neben sich noch den Eindruck von Clarissas Kopf. Irgendwie schien ihm alles, was geschehen war, ganz in Ordnung. Es war eine natürliche Folgerung der warmen Zuneigung, die er für sie empfand und von der er wußte, daß sie von ihr erwidert wurde. Dann aber, als sich sein Gehirn vom Schlaf gesäubert hatte, begann ihn das dösende Gewissen aufzuwühlen. Das Gewissen erinnerte ihn daran, daß der Besitz einer Frau nur im Stand der heiligen Ehe erlaubt, sonst aber eine Todsünde war. Antonio saß aufrecht. Er hörte Clarissa nebenan eine fröhliche Weise summen. Er kleidete sich an und öffnete die Tür. Sie stand über den Tisch gebeugt und ordnete die Teller. Bei seinem Eintreten hob sie den Kopf und lächelte ihn an. »Buon giorno, Tonio. Bist du fertig zum Frühstück, du Faulenzer?« Antonio schritt auf sie zu und faßte sie an den Schultern. Noch immer lächelnd, blickte sie zu ihm auf. »Ich will, daß du meine Frau wirst, Clarissa.« Tränen stiegen ihr plötzlich in die Augen, und sie küßte ihn. »Du bist lieb, Tonio, aber ich kann dich nicht heiraten.« »Aber wir …«, begann er und hielt inne. »Dein Gewissen sagt dir, daß wir heiraten sollten.« Sie reichte ihm einen Teller und setzte sich auf das Ruhebett. »Überlege es dir bitte 127
und sage mir, ob irgend etwas Schlechtes an dem war, was wir getan haben?« »Aber die Kirche – –« »Vergiß die Kirche für eine Minute, Tonio, und denk an dich selbst. Du hast mich gebraucht und ich war froh, sogar stolz, dir geben zu können, was du brauchtest.« Sie hob ihre glänzenden Augen zu ihm empor. »Ich glaube nicht, daß der Schöpfer zwei Menschen, die einander so gerne haben wie wir, ein wirkliches Glück verbieten kann. Glaubst du das?« Tonio empfand, daß Clarissa recht hatte und daß das Glück und die Lösung der Spannung, die er in ihren Armen gefunden hatte, nicht wirklich Sünde sein konnte. Lorenzo Valla, der erste große Humanist, erinnerte er sich, hatte diese Frage einmal beantwortet, indem er sagte: »Sogar Ehebruch, der eine natürliche Manifestation der Menschheit ist, ist nur ein Teil des Naturgesetzes.« Nun verstand er, was Valla gemeint hatte, und daß es noch andere Dinge geben mochte, die für ihn eine andere Bedeutung erhalten würden. »Du bist der erste Mensch, cara mia, der aus mir ein richtiges menschliches Wesen gemacht hat«, sagte er ergeben. »Und ich werde immer in deiner Schuld stehen.« Clarissa lachte. »Du kannst deine Schuld abtragen, wenn du dir ausdenkst, wie ich zu meinen Kleidern komme.« Dieses Problem wurde durch Dimas gelöst, der triefäugig von den Feiern der Nacht nach Hause kam, aber sich gerade noch auf den Beinen halten konnte. Ihn schickten sie in Clarissas Wohnung, damit er Kleider bringe. Während sie das Frühstück beendeten, sagte Antonio: »Ich würde zu gerne mehr darüber wissen, wie Agnolo dich in Trance versetzt.« »Warum willst du ihn nicht fragen?« »Aber Magier geben ihre Geheimnisse nicht preis, oder doch?« »Anderen Zauberern oder Wissenschaftlern vielleicht. Lodovici ist ein eitler Tropf; er mag geschmeichelt sein, wenn du ihn fragst.« »Dann will ich es tun.« »Erzähl ihm – –«, Clarissa zögerte, dann fuhr sie fort: »Erzähl ihm nichts über die letzte Nacht.« 128
»Natürlich nicht.« Gian hatte gesagt, Clarissa wäre Lodovicis Geliebte, aber irgendwie tat diese Kenntnis seinem Gefühl zu ihr keinen Abbruch. In seinem Inneren war eine Wandlung vor sich gegangen, die er sich nicht ganz erklären konnte, aber er glaubte, daß sie für den weiteren Verlauf seines Lebens bestimmend sein würde.
XI
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ine junge Frau in seidenen Beinkleidern und kurzer Jacke führte Antonio in das Gemach Lodovici Agnolos. Er erkannte sie als eines der Mädchen, welches an der Schwarzen Messe teilgenommen hatten. Dem Raum, den er betrat, gaben dunkle Vorhänge und niedere Sofas ein orientalisches Gepräge. Die Draperien waren mit unheimlichen Zeichen und astrologischen Symbolen glanzvoll verziert und am Boden lagen schwere Teppiche, die jeden Schritt dämpften. Antonio setzte sich und blickte unruhig im Raum umher. Er war unschlüssig gewesen, hierher zu kommen, aber schließlich hatte seine Neugierde, Lodovicis seltsame Macht, den Trancezustand herbeizuführen, kennenzulernen, sein Zögern besiegt. Auf einem kleinen Tisch lag auf einem winzigen Piédestal ein runder Kristall, der so eingestellt war, daß die durch die Fenster einfallenden Sonnenstrahlen innerhalb des Steines gefangen wurden und die Mitte mit einem tiefen glühenden Feuer beleuchteten. Antonios Augen wurden unwiderstehlich davon angezogen und schon war er nicht mehr imstande, den Blick davon zu lösen. Er fühlte seine Sinne schwinden, als ob irgendeine Gewalt seinen Verstand vom Körper trennte und davon Besitz ergriffe. »Buon giorno, Doktor«, erklang neben ihm eine tiefe Stimme. Aufgeregt sprang Antonio empor. Der Magier stand ganz nahe bei ihm, so daß die Falten seines orientalischen Gewandes Antonios Hand 129
streiften. Sein dunkles Gesicht war unerforschlich wie immer, und der Blick von einer anziehenden Gewalt. »Buon giorno, Signore«, stammelte Antonio. »Vergebt mir.« Agnolo setzte sich Antonio gegenüber. »Ich habe Euch erschreckt, nicht wahr?« Antonio rieb sich die Augen. Es war ihm, als würden seine Glieder von schweren Gewichten niedergezogen. »Ich blickte auf diesen Kristall hier und muß davon ganz verwirrt worden sein.« Der Magier kicherte. »Der Kristall von Samarkand hat Macht über die Menschen.« Er nahm vom Tisch ein dunkles Tuch und warf es über den Glasball, um seine zwingende Glut zu verdecken. Sofort fühlte Antonio seinen Verstand wieder klar werden und die Starrheit aus seinen Gliedern weichen. »Ihr wart im Publikum, letzte Nacht, Doktor«, sagte Agnolo. »Was sagt Ihr zu der Vorführung?« »Ein Teil meines Ichs war wie gelähmt, der andere fasziniert.« Der Magier lachte. »Wie mein Meister Paracelsus sagt: in uns allen wohnen zwei Seelen.« Antonio überhörte die Einwendung. »Aber es war auch eine Entweihung.« »Eine Entweihung war nicht beabsichtigt, Doktor. Es war ein Kunststück der Magie, eine Unterhaltung, sonst nichts. Bei der Gelegenheit muß ich Euch für die Rettung der Madonna Strozzi danken. Sie ist ein sehr wichtiges Mitglied meiner Truppe.« Antonio unterdrückte eine erschreckte Überraschung. So wußte Agnolo, was vergangene Nacht vor sich gegangen war? Aber wie konnte er es wissen? »Ich bin sehr an der Trance interessiert, in die Ihr Madonna Strozzi versetztet. Ich habe so etwas nie zuvor gesehen.« »Es gibt viele Dinge, die ihr Ärzte nicht versteht, Signore Servetus, Dinge, die aber den Sehern des Orients offenbar sind.« »Dann ist es ein orientalischer Trick?« »Ein Trick? Nein. Eher eine eigenartige Kraft, die manche besitzen.« »Aber die Muskelstarre, wie erklärt Ihr mir das?« »Manche meinen, eine magnetische Kraft fließe von einem Körper in den anderen.« 130
»Ähnlich dem Magnetismus von Paracelsus?« Ein bewundernder Blick traf Antonio. »Ihr seid ein gelehrter Mann, Doktor. Aber ich bin nicht sicher, daß diese Kraft dieselbe ist.« »Was immer es sein mag, ich glaube, daß es sich beim Heilen von Krankheiten als wertvoll erweisen könnte.« »Ich habe viele solcher Heilungen im Orient gesehen. Wollt Ihr das lernen?« »Kann man so etwas überhaupt lehren?« Dieses Angebot überstieg seine kühnsten Erwartungen. »Etwas kann gelehrt werden. Das heißt, wenn die Mentalität entsprechend stark ist. Und Eure ist es, nehme ich an.« »Kann man denn jeden in Trance versetzen, ob er will oder nicht?« fragte Antonio. »Die Person muß willens sein«, erklärte Lodovici, »aber es gibt Dinge, die dem Vorgang förderlich zu sein scheinen. Zum Beispiel ist ein Mensch, der unter starken seelischen Eindrücken leidet, wie Furcht, leicht zu magnetisieren. Und es ist auch wahr, daß viele Menschen, sogar wenn sie es nicht wünschen, vor einem Publikum magnetisiert werden können, allein aber nicht darauf ansprechen.« »Was ist das Wesen dieser Kraft? Ich verstehe sie nicht.« »Auch ich nicht«, sagte Agnolo mit unergründlichem Lächeln. »Aber ich respektiere sie und frage nicht zu viel nach den Ursachen.« »Könnte es Verhexung sein?« Das war die Frage, die Antonio schon die ganze Zeit beschäftigte. Agnolo schüttelte den Kopf. »Nein, Doktor. Ich bin überzeugt, daß es eine natürliche Erscheinung ist, was immer die tatsächliche Kraft sein mag, durch die sie hervorgerufen wird.« Er schlug einen kleinen Gong auf dem Tisch. »Vediamo. Wir wollen einen Versuch machen.« Das Mädchen, das Antonio empfangen hatte, kam durch die mit dunklen Vorhängen verdeckte Tür. »Komm hierher, Anya. Setz dich an den Tisch«, sagte Lodovici. Er wandte sich zu Antonio. »Nun setzt Euch ihr gegenüber, Doktor.« Dann nahm er das Tuch vom Kristall weg und wieder flammten 131
die eingefangenen Sonnenstrahlen auf. »Jetzt hört aufmerksam zu, Dr. Servetus. Aus gewissen Gründen kann der Zustand des Magnetismus ziemlich schnell erreicht werden, wenn die betreffende Person auf einen Punkt starrt, in dem sich Licht konzentriert.« »Was dann, wenn solch ein Licht nicht zur Verfügung steht?« fragte Antonio. »Dann ist es notwendig, daß die Person in die Augen des Meisters starrt, aber das erfordert weit mehr Geschick. Für unseren Versuch wollen wir diesen Kristall nehmen, der mich besser dünkt als alles andere.« »Nun, Doktor, blickt in ihre Augen. Ihr werdet bemerken, daß sie bereits auf den Kristall fixiert sind. Er scheint beinahe selbst eine magnetische Kraft zu haben.« Anya starrte in den glühenden Ball. Antonio, der an sich selbst diese Faszination festgestellt hatte, als er zuvor den Raum betreten, verstand, daß dieser Kristall den Zustand der Trance herbeiführen konnte, sogar bei einem, der nicht geneigt war, sich beeinflussen zu lassen. »Sprecht mir die folgenden Sätze nach«, sagte Lodovici mit leiser Stimme: »Denk Anya, denk nur an das Licht. Fühle, wie seine Wärme deinen Körper durchfließt.« Antonio kam sich etwas dumm dabei vor, wiederholte aber die Worte und versuchte die tiefe, eindringliche Stimme seines Lehrers nachzuahmen. »Dann sagt«, fuhr Lodovici fort, »dein Geist fliegt fort, nur dein Körper bleibt zurück, meinen Wünschen ergeben.« Antonio wiederholte die Worte und betrachtete aufmerksam das Mädchen. Er sah ihren Kopf herabsinken und die Lider langsam über ihre Augen fallen. Tiefer und tiefer sank der Kopf, als ob sie eingeschlafen wäre und saß dabei aufrecht in ihrem Sessel. »Sprecht zu ihr«, befahl Lodovici. »Ihr werdet sehen, daß sie Euch antwortet.« »Schläfst du, Anya?« fragte Antonio. »Nein, Herr«, antwortete das Mädchen klar. »Mein Körper gehorcht Euren Wünschen.« »Meinen Glückwunsch, Doktor«, sagte der Magier. »Ihr habt rasch gelernt.« 132
Noch ein wenig verdutzt von seinem Erfolg, fragte Antonio: »Aber die Starre?« »Hebt ihren Arm und sagt ihr, sie soll ihn in dieser Stellung halten.« Antonio tat, wie ihm geheißen. Als er versuchte, den Arm herunterzustoßen, war er wie ein Brett, das allen Anstrengungen widerstand. »Ihr könnt das mit dem ganzen Körper machen«, erklärte Lodovici. »Ihr braucht sie nur anzuweisen, in dieser starren Haltung zu bleiben. Aber mehr noch, Ihr könnt ihre Empfindungen ausschalten. Sagt ihr, daß alles Empfinden ihren linken Arm verlassen hat.« Antonio gehorchte. Überrascht blickte er auf die lange Nadel, die Lodovici aus seinem Turban zog. Von dem Magier gedrängt, stach er in die Haut des Mädchens. Kein Laut kam von ihren Lippen, nicht einmal ein unwillkürliches Zucken nahm er wahr, das sie nicht hätte verhindern können, wenn sie tatsächlich einen Schmerz verspürt hätte. Der Arm hatte offensichtlich jedes Empfindungsvermögen verloren. »Aber das könnte man doch der Chirurgie nutzbar machen!« rief Antonio. »Es ist verblüffend.« Lodovici verbeugte sich. »Verwendet die Kunst für Eure Zwecke, Doktor. Nun müßt Ihr lernen, den Trancezustand zeitlich zu begrenzen. Sagt ihr, sie soll erwachen, wenn Ihr ihren Namen nennt.« Bei dem Wort ›Anya‹ öffnete das Mädchen die Augen, hob den Kopf und lächelte. »Ihr müßt mich dafür bezahlen lassen«, meinte Antonio. Der Magier schüttelte den Kopf. »Es soll Euch nichts kosten, Doktor. Nennen wir es einen Gefallen, einen Gefallen, auf den ich mich eines Tages berufen werde, auf daß Ihr ihn mir vergeltet.«
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nter der Führung Lodovici Agnolos machte Antonio im Gebrauch der fremdartigen, magnetischen Kraft rasch Fortschritte. Sein Lehrer war höflich und hilfsbereit, und doch konnte sich Antonio des Gefühls nicht erwehren, daß sich hinter dem dunklen Gesicht mit der Habichtnase und den tiefliegenden Augen etwas verbarg, daß Lodovici ein Spiel trieb und mit ihm verfuhr wie mit einer Marionette, vielleicht insgeheim über manchen grausamen Scherz, den nur er verstand, lachend. Agnolo gestattete Antonio, sich aus seiner umfangreichen Bibliothek Bücher über Magie und Zauberei auszuborgen. Antonio kam dahinter, daß der größte Teil von Agnolos Treiben reiner Hokuspokus war, wie zum Beispiel das Aufblitzen von brennendem Schießpulver oder die mit Schwefel gefüllten Kerzen, die er bei der Schwarzen Messe verwendete, um bei den Zuschauern den Eindruck satanischer Heimsuchung zu erwecken. Der Erfolg des Magiers bestand in der Hauptsache darin, daß er es verstand, bei seinem Publikum eine Reihe von Gedanken einzuleiten, sie zu Vorstellungen zu ermutigen und ihrer Fantasie dann freien Lauf zu lassen. Clarissa Strozzi, die mit Agnolo schon viel zusammengearbeitet hatte, ließ sich von Antonio leicht magnetisieren. Aber den krönenden Beweis für seine neu entdeckte Kraft fand Antonio darin, daß es ihm gelang, Gian Savarino in Trance zu versetzen. Der Künstler erwachte auf Antonios Zeichen hin aus dem Zustand und starrte ihn an. Er rieb sich die Augen. »Che ha?« fragte er verdutzt. »Was ist geschehen?« »Ihr wurdet magnetisiert«, sagte Clarissa. Gian schnaufte. »Doch nicht von Antonio?« 134
»Natürlich von mir. Sollen wir es nochmals versuchen?« Gian erhob sich hastig. »Nein. Ich glaube es dir aufs Wort.« Er goß sich ein Glas Wein ein und leerte es auf einen Zug. »Wenn ich gewußt hätte, daß du mit dem Magnetismus so ernst zu nehmen bist, hätte ich das verhindert.« »Aber warum denn? Ich werde es als Arzt gut gebrauchen können.« »Ich traue Agnolo nicht. Ihr, Clarissa?« Die Augen des Mädchens bewölkten sich und zeigten einen Augenblick lang den gleichen Ausdruck, den Antonio gesehen, als er Lodovici zum erstenmal getroffen. »Er ist unergründlich, aber er achtet Antonio«, sagte sie. »Hat er dich noch nicht in einen dieser Trancezustände versetzt, Tonio?« fragte Gian. »Nein. Aber was hat das schon zu sagen?« »Was weiß ich«, sagte Gian gereizt. »Er könnte eine gewisse Macht über dich bekommen.« »Lodovici und ich haben bloß von Magnetismus und Medizin gesprochen«, entgegnete Antonio, aber er vermutete, daß irgend etwas anderes Gian noch Kopfzerbrechen bereitete. »Worüber grübelst du, Gian?« »Ich kann mich auch irren«, antwortete der Künstler. »Aber ich glaube, Agnolo mit Porzia gesehen zu haben.« »Porzia!« entfuhr es Antonio. »Bist du dessen gewiß?« »Beschreibe ihn mir noch einmal«, verlangte Gian, und als Antonio mit der Schilderung zu Ende war, nickte er. »Ich habe mich nicht geirrt, es war Porzia.« »Aber was sollten sie miteinander zu tun haben?« Gian zuckte die Achseln. »Wer kann das wissen. Einer von ihnen könnte ein doppeltes Spiel treiben, oder vielleicht ist Santos noch immer bemüht, mehrere Beweise gegen dich zu sammeln.« Antonio war jetzt wirklich erschrocken, denn über des Priors Bosheit war er nicht im Zweifel. Die Unterredung im Kloster hatte das klar erwiesen. »Was sollen wir tun?« »Nichts«, antwortete Gian. »Nichts als abwarten.« 135
Es dauerte nicht lange und weitere Zeichen gaben zu fühlen, daß sich über Antonios Haupt ein Gewitter zusammenballte. Clarissa stürzte eines Nachmittags in das Atelier. »Lodovici schickt mich, dich zu warnen, Tonio. Santos weiß, daß du mich in jener Nacht gerettet hast und daß du mit Magnetismus herumexperimentierst.« »Corpo di Cristo!« rief Gian aus. »Wie hat er das erfahren?« »Ich weiß es nicht, aber Porzia dürfte in ganz Venedig herumgefragt haben.« »Aber sie können mich doch wegen so etwas nicht anklagen«, protestierte Antonio. »Es war ein wissenschaftliches Experiment.« »Die Anklage lautet auf Hexerei«, sagte Clarissa, »und das Beschwören von Dämonen.« »Aber ich bin unschuldig«, beteuerte Antonio. »Das bedeutet für die Inquisition nichts«, warf Gian ein. »Außerdem ist da die Sache mit Clarissa.« »Glaubst du, sie würden mich foltern?« Eine Übelkeit befiel Antonio. »Das wäre das erste, woran Santos denken wird. Wenn es ihnen gelingt, Clarissa zu einem Geständnis zu bringen, daß sie so etwas wäre, was sie Hexe nennen, würden sie auch dich damit fangen.« »Aber wie kann denn jemand so sein?« fragte Antonio wie betäubt. »Dafür ist es die Inquisition.« Sie sprachen nichts mehr. Es gab auch nichts mehr zu sagen über diese furchtbare Organisation, die in ganz Italien verbreitet war. Schließlich meinte Antonio: »Dann gibt es nur eines: ich muß Venedig verlassen. Santos ist hinter mir her. Er wird Clarissa kaum belästigen, wenn ich weg bin.« »Aber deine Arbeit in Padua, Tonio«, gab Clarissa zu bedenken. »Du willst sie aufgeben?« »Dort wird es für mich nichts mehr zu tun geben, wenn ich festgenommen werde. Aber trotzdem, mir ist die Idee des Davonlaufens nicht angenehm. Es ist feige.« »Es ist nicht feige, leben zu wollen«, argumentierte Gian. »Nebenbei, wenn du jetzt festgenommen und verurteilt wirst, werden sie jedes Ex136
emplar deines ›Consiliums‹ verbrennen. Das ist es auch wahrscheinlich, was Santos wirklich will.« Er rieb sich das Kinn. »Nein. Du mußt Venedig verlassen. Aber wie?« »Es muß bald sein«, drängte Clarissa. »Lodovici sagt, daß Santos eine Vollmacht verlangt, um dich von den Zivilbehörden am Morgen verhaften zu lassen.« »Dann haben wir keine Zeit zu verlieren.« Plötzlich hellte sich Gians Gesicht auf. »Ich habe es. Mein Vater schickt morgen eine Karawane mit Handelsgütern nach Rom. Niemand würde dich in einer Savarino-Karawane suchen.« Antonio war dagegen. »Du darfst in die Sache nicht hineingezogen werden, Gian.« »Ich brachte dich doch hinein, nicht wahr?« erwiderte Gian erregt, und dann grinste er rücksichtslos. »Außerdem wünschte ich schon seit langer Zeit, etwas Aufregendes zu erleben. Wir werden uns morgen der Rom-Karawane anschließen und hinter die Grenze verschwinden, bevor jemand weiß, daß du Venedig verlassen hast.« Ein Gedanke durchzuckte Antonio. »Kommt sie an Florenz vorbei?« »Florenz?« Gian starrte ihn an. »Natürlich. Du denkst doch nicht etwa an – –« »An das Gemälde. Ja. Ich könnte es zu Signore Bellarmi nach Florenz mitnehmen.« »Aber es ist doch im Kloster. Du würdest den Kopf riskieren.« »Nichtsdestoweniger bin ich es Bellarmi schuldig, daß ich ihm das Bild bringe.« Mit einer Gebärde der Verzweiflung warf Gian die Hände empor. »Bei allen Dummköpfen, Tonio!« Er wandte sich an das Mädchen. »Clarissa, habt Ihr jemals Ähnliches gehört?« »Ich verstehe ihn«, sagte sie. »Ihr zwei seid euch immer einig gegen mich.« Gian schüttelte mißmutig den Kopf. »Nun gut. Ich werde gehen, um die Vorbereitungen zu treffen, deine kostbare Haut zu retten, Tonio. Strenge dein Köpfchen an und denke dir aus, wie man das Gemälde aus dem Kloster holen könnte.« 137
Als er gegangen war, sagte Clarissa: »Tonio, du schuldest es der Welt, dich nicht fangen zu lassen.« »Aber ich kann mich damit nicht befreunden. Flucht ist ein Eingeständnis der Schuld.« »Nicht, wenn du zu Unrecht angeklagt bist. Außerdem hast du eine Mission zu erfüllen. Deshalb willst du doch das Gemälde nach Florenz bringen, oder nicht?« »Ja. Aber was nachher?« »Ich bin sicher, daß es eine gewisse Art von Vorsehung gibt, die über dem Menschen wacht, der für die Welt wichtig ist, Tonio. Und dies alles muß ein Teil dieser Vorsehung sein.« »Vielleicht ist es so, aber ich möchte mehr darüber wissen.« Er ergriff ihre Hände. »Das Schlimmste ist, daß ich dich, Madonna mia, verlassen muß. Ich habe dich sehr lieb gewonnen.« »Und ich dich.« In ihren Augen standen Tränen. »Vielleicht will es die Vorsehung, daß wir uns wieder treffen.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn. »Arrivederci, caro mio«, flüsterte sie, und weg war sie. »Dio lo volesse.« Furcht stieg plötzlich in ihm auf und er fühlte sich allein und verlassen in einer Welt, die gegen ihn stand.
XIII
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n einem Vorort von Padua warteten Antonio und Gian in der sommerlichen Dämmerung auf die kommende Nacht. Ihren leichten Wagen hatten sie hinter einer Hecke verborgen. Seit Clarissa mit der Nachricht gekommen war, daß Antonios Verhaftung bevorstünde, hatten sich die Ereignisse überstürzt. Die Savarino-Karawane wartete jetzt südlich von Venedig, nahe der Grenze der Republik. Wenn ihre Mission von Erfolg begleitet war, sollten sie um Mitternacht zur Kara138
wane stoßen. Gian war an Stelle seines Vaters getreten, der von dem plötzlichen Interesse seines Sohnes an geschäftlichen Dingen nicht wenig überrascht war. Nach ihrem Plan sollte Antonio die Karawane als Priester verkleidet begleiten – eine Rolle, in der er kaum von der Polizei aufgehalten würde, die einen geflüchteten Häretiker suchte. Angesichts des gefährlichen Unternehmens, das er nun ausführen sollte, war Antonio kühl und durchdrungen von einem gewissen Fatalismus, Gian jedoch aufgeregt. »Geh es noch einmal durch, Tonio«, drang er in ihn. »Es darf nichts passieren.« »Du hast mit dem Wagen auf der Straße verkehrt zum Kloster zu stehen«, wiederholte er geduldig. »Ich werde hineingehen und das Gemälde holen. Vom Garten aus gibt es eine Tür, die sich nach der Straße öffnet, nahe von dort, wo du wartest. Es wird die Stunde des Abendgebetes sein und jedermann wird sich in der Kapelle befinden. Du siehst«, fügte er versichernd hinzu, »Nichts kann schiefgehen.« »Wenn ich nur mitgehen könnte!« »Das haben wir ja überlegt«, verwies Antonio. »Zwei würden auffallen, wo einer sicher durchkommt. Außerdem würdest du keinen guten Priester abgeben.« Die Glocke vom Campanile des Sankt-Markus-Domes schlug die erste Stunde nach Sonnenuntergang. Gian nahm die Zügel auf und trieb die Pferde an. »Vediamo«, sagte er kläglich. Es war Zeit, das Unternehmen zu beginnen. Die Straße vor dem Kloster war leer, das Tor von einer danebenhängenden Lampe beleuchtet. Antonio stieg vom Wagen und drückte sich gegen die Wand in den Schatten, bis Gian und der Wagen um die Ecke verschwunden waren. Dann trat er in den Lichtkreis der Klosterpforte, zog nur die Kapuze etwas tiefer ins Gesicht, sonst ließ er jetzt keine Vorsicht walten. Er griff an die Türklinke und fand sie, wie erwartet, unversperrt, öffnete sie, schritt hinein und schloß sie hinter sich. Vor ihm lag der vertraute, lange Gang mit den ausgetretenen Steinfliesen. Er sammelte sich und zwang sich, langsam zu gehen, denn Hast wäre an diesem Ort der Ruhe auffällig gewesen. 139
Plötzlich hörte er entlang des Ganges Schritte kommen. Erschrocken und verzweifelt blickte er um sich und suchte einen Ort, um sich zu verstecken. Das hat mir noch gefehlt, sagte er sich, daß sich einer der Mönche oder Laienbrüder zum Abendgebet verspätet hat. Die Schritte näherten sich. Jetzt mußte jemand um die Ecke kommen und ihn von Angesicht zu Angesicht sehen. Einer plötzlichen Eingebung folgend, machte Antonio kehrt und schlürfte hinkend in Richtung der Kapelle, in der Hoffnung, daß, wer immer kam, ihn für einen der älteren Mönche hielt, die, wie er wußte, von Gicht geplagt waren. Die Schritte kamen noch näher, Antonio hinkte weiter, ohne sich umzusehen und machte dem anderen Platz zum Vorbeigehen. Der Saum eines weißen Gewandes aus kostbarem Material und die Füße in Sandalen aus weichem Cordova-Leder kamen in sein Blickfeld und Antonio erstarrte. Niemand sonst im Kloster trug ein solches Gewand oder solches Schuhwerk, außer dem Prior. Es war Fra Felipe selbst. »Eilt Euch nicht, mein Bruder«, hörte er eine tiefe Stimme, als der andere vorbeiging. »Wir sind beide etwas spät dran mit dem Abendgebet.« Sekunden später verschwand er im Seitengang, der zur Kapelle führte. Antonio lehnte sich an die Mauer und preßte die zitternde Hand auf den Stein. Er konnte es noch nicht fassen, daß ihm der Prior begegnet war und ihn nicht erkannt hatte. Einen Augenblick lang focht er gegen einen beinahe überwältigenden Drang, diesen Ort zu verlassen, wo er dem Verderben so nahe gekommen war, und die gefährliche Mission aufzugeben. Dann richtete er sich auf; er hatte sich wieder in der Gewalt. Sein Verstand sagte ihm, daß er nun zwanzig Minuten Zeit hatte, in denen wenig Möglichkeit bestand, daß man ihn entdeckte, da jeder im Kloster mit dem Gottesdienst beschäftigt war. Während dieser Zeit mußte es ihm gelingen, seinen Auftrag auszuführen. Glücklicherweise hatte ihm Fra Felipe an dem Tag ihrer Unterredung mitgeteilt, daß das Gemälde sich in seinen Gemächern befinde. Rasch eilte er den Gang entlang in die Räume des Priors. Das Gemälde hing in dem an das Audienzzimmer angrenzenden 140
Schlafraum des Priors. Es war noch in seinem Rahmen. Antonios Herz schlug höher, als seine Augen die der lächelnden Frau trafen. Beinahe, er hätte es beschwören können, drückte sich auf ihrem Gesicht so etwas wie ein zarter Willkomm und Freude darüber aus, daß er gekommen war, um sie mit sich zu nehmen. Aber es blieb keine Zeit zum Bewundern, nicht einmal eine solch bezaubernde Schönheit. Und schnell machte er sich an die Arbeit, das Bildnis aus dem Rahmen zu nehmen. Es war viel zu groß, um aufgespannt getragen zu werden. Er legte es auf das Bett, rollte es zusammen und verschnürte es mit einer Kordel, die er zu diesem Zwecke mitgebracht hatte. Er war gerade dabei, das schwere Gemälde auf seine Schultern zu legen, als er eine vertraute Stimme von der Tür her vernahm: »So ward Ihr das?« Antonio wirbelte herum und ließ seine Last auf das Bett fallen. Fra Felipe Santos stand in der Tür. Er mußte eingetreten sein, während er an dem Bild hantiert hatte. »W – – wie wußtet Ihr, daß ich hier bin?« stammelte er. »Eure starken Schultern haben Euch verraten, vorhin im Korridor. Wenig gichtbrüchige Mönche haben solche Schultern.« Der Prior lächelte dünn. »Zu Eurem Unglück, Dr. Servetus, erinnerte ich mich dessen während des Gebetes und verließ die Kapelle. Warum stehlt Ihr mein Gemälde?« Antonios Wut stieg bei dem Gebrauch des besitzanzeigenden Wortes. »Eures?« fragte er. »Ihr wißt sehr gut, daß es Signore Bellarmi in Florenz gehört.« »So wußtet Ihr das die ganze Zeit?« entgegnete Fra Felipe. »Ihr seid gescheiter als ich dachte, geehrter Doktor. Ich habe recht daran getan, mich zu versichern, daß Ihr meine Pläne nicht durchkreuzt.« »Indem Ihr mich wegen einer nichtigen Sache festnehmen lassen wolltet.« Kalt und bösartig glühte es in Fra Felipes Augen auf. »Ich warnte Euch einmal, und Ihr gehorchtet nicht«, sagte er. »Nun werdet Ihr für Euren Ungehorsam auf dem Scheiterhaufen büßen.« Er wandte sich plötzlich der Estrade zu, wo, wie Antonio wußte, ein Signal war, um 141
seine Diener zusammenzurufen. Er wußte, es hing sein Leben davon ab, wenn er Fra Felipe jetzt nicht daran hinderte, den Gong zu schlagen, und automatisch, ohne Bedenken, handelte er. Er stieß mit der Schulter gegen den mageren Körper in der weißen Robe, gerade als der Priester nach der Glocke langte, die auf dem Tisch stand. Verblüfft durch den Schlag griff Fra Felipe haltsuchend nach der Tischkante. Aus seinen Wangen war alle Farbe gewichen. »Ihr wagt es, meine Person anzugreifen?« keuchte er. »Ihr ketzerischer Narr!« Antonio sah die Hand des Priors auf dem Tisch herumtappen und eine Sekunde später schlossen sich seine dünnen Finger um das haarscharfe Stilett, das dort zum Öffnen versiegelter Papiere lag. Es war eine fürchterliche Waffe, und Antonio hatte nichts, um sich zu wehren, denn trotz Gians Drängen hatte er sich geweigert, einen Dolch zu tragen. Der kalte Glanz in Fra Felipes Augen war einer mörderischen Wut gewichen. Mit dem Stilett in der Hand bewegte er sich auf Antonio zu. Antonio wich langsam zurück und suchte im Raum umher, ob er nicht etwas fände, um sich zu verteidigen. Es war ganz offensichtlich, daß Fra Felipe ihn nicht bloß fangen wollte; nur Antonios Tod durch seine eigene Hand würde ihm Genugtuung verschaffen. Antonio, der sich entlang der Wand bewegte, stieß mit dem Kopf gegen einen silbernen Kerzenleuchter in einem Halter an der Wand. Es war eine ärmliche Waffe, verglichen mit einem Dolch, aber er hatte keine Wahl. Er wandte sich um, ergriff den Leuchterarm und zog ihn mit aller Gewalt herab. Es gab einen eigenartigen Klang, als die Stütze nachgab, dann hatte er den schweren Armleuchter in den Händen. Antonio hatte sich, als er nach dem Leuchter griff, für einen Augenblick dem Angriff preisgegeben, und Fra Felipe stürzte mit erhobenem Stilett auf ihn zu. Verzweifelt wich er aus und versuchte, seinen Körper zur Seite zu werfen. Er fühlte durch sein Gewand einen Schlag und dann einen Stich. Er empfand einen beinahe unerträglichen Schmerz, als die Spitze die Haut und Muskeln durchstieß und dann an einer Rippe steckenblieb. Aber gerade diese Rippe war es, die ihn rettete. Das Messer, das ihm Fra Felipe mit voller Wucht in die Brust gerannt hat142
te, glitt an der Rippe ab, schnitt noch einmal Muskel und Haut durch und schlitzte sein Gewand oberhalb der Hüfte auf. Antonios Bewegung hatte den Angreifer aus dem Gleichgewicht gebracht. Den Schmerz nicht achtend, schwang Antonio den Armleuchter, wie der Ritter das Schwert im Kampfe schwingt, und schlug wieder und wieder auf des Priors Schädel ein, bis dessen zähe Gestalt erlahmte und das Messer sich aus seinem Griff löste. Bewußtlos krachte er zu Boden. Keuchend und wankend vor Anstrengung und Schmerz lehnte sich Antonio gegen die Wand, nach Atem ringend. Der warme Strom, der aus seiner Seite floß und die steigende Schwäche sagten ihm, daß er rasch Blut verlor. In seiner Verzweiflung riß er sein zerfetztes Gewand von sich und machte daraus Streifen. Nun sah er die Wunde; es war ein tiefer Schnitt, der die Haut und Muskeln und die darunter liegende Rippe bloßlegte. Der Schmerz, als er den verletzten Muskel bewegte, war so stechend, daß er unwillkürlich aufschrie. Aber rasch band er die Streifen des Stoffes um seinen Brustkorb. Nur entsprechender Druck, das wußte er, konnte das Bluten stillen und die Wunde geschlossen halten, bis er geflohen war. Mit zitternden Fingern knüpfte er die Enden des improvisierten Verbandes und wischte mit den Resten des zerrissenen Gewandes das Blut von seinem Körper. So wie er jetzt aussah, halb nackt, konnte er unmöglich fliehen. Seine Augen fielen auf Fra Felipe, der auf dem Boden lag. Die plötzliche Idee, er würde den Puls des Priors nicht mehr verspüren, zwang ihn, ihn zu fühlen. Er stellte schwache Schläge fest. Also war er kein Mörder, zumindest bis jetzt noch nicht, sagte er sich mit einem Seufzer der Erleichterung. Wenn sie ihn einfingen, würde er deshalb aber auch nicht billiger davonkommen, denn die Strafe für einen Angriff auf einen hohen Geistlichen war die gleiche wie für Mord. Antonio beugte sich über den Prior und nahm ihm das weiße Ordenskleid ab. Es war eng, aber er konnte hineinschlüpfen. Daß er Fra Felipe einem ungewissen Schicksal überließ, bereitete ihm keine Gewissensbisse. Es war ein fairer Kampf gewesen; in der Tat, mehr denn fair, denn Antonio war gezwungen gewesen, sich unbewaffnet gegen einen mörderischen Dolch zu verteidigen. 143
Angetan mit dem weißen Gewand eines Dominikaners von hohem Rang, schritt Antonio durch eine Seitentür aus den Gemächern des Priors in den Garten. Aus der Kapelle des Klosters hörte er die Stimmen der Mönche und Laienbrüder, die in die Hymnen des abendlichen Gebetsdienstes vertieft waren. Es war nicht zu früh mit seiner Flucht, dachte er, als er durch den Garten stolperte und die Pforte in der Mauer öffnete; der Kampf, der Blutverlust und jetzt die schwere Last des Gemäldes hatten ihn völlig erschöpft. »Dio mio!« murmelte Gian im Schatten nahe der Pforte, als er eine weißgekleidete Gestalt mit der schweren Last heraustreten sah. Wollten sie ihn vielleicht hinters Licht führen? Hatten sie Antonio schon gefaßt? Dann ließ der Mann mit der weißen Robe seine Last fallen und schwankte. »Gian! Gian!« rief eine vertraute Stimme. Sofort sprang der Maler aus dem Schatten. »Tonio mio!« rief er. »Du bist verletzt.« »Eine Fleischwunde«, stieß Antonio hervor. »Schaff das Gemälde in den Wagen. Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Gian bedurfte keines Drängens. Während sich der Wagen der südwärts führenden Straße entlang bewegte, gab Antonio einen kurzen Bericht ab über das, was geschehen war. »Ich hoffe, du hast ihn getötet«, knurrte Gian. »Das muß ein feiner Kampf gewesen sein.« Am frühen Morgen stießen sie mit der Savarino-Karawane zusammen, die jenseits der Grenze der venezianischen Republik wartete. Die Sonne erhob sich gerade über den Hügeln, aber es blieb keine Zeit zur Rast, denn es galt so rasch als möglich Abstand von Padua zu gewinnen, ehe noch ein Aufruf erlassen werden und die Verfolgung beginnen konnte. Antonios Kopf tat weh und in seiner Wunde fühlte er einen bohrenden Schmerz: Vorboten einer ernsten Komplikation, sagte ihm sein medizinisches Wissen. Er lag halb aufgerichtet auf den Kissen im Wagen und jeder Stoß des Gefährts bedeutete ihm neue Qual. Mehr als einmal fühlte er seine Sinne schwinden. Aber die Wunde mußte bald gepflegt werden und wenn er in seine Fieberträume verfiel, konnte dies nicht ordentlich geschehen, ging ihm durch den Kopf. Er mußte Gian unterweisen, bevor ihn das Delirium ganz hinwegriß. 144
Während einer Rast, bei der die Pferde getränkt wurden, stöhnte er: »Gian, wenn wir zu Mittag anhalten, mußt du meine Wunde ausbrennen.« Der Künstler erbleichte. »Ich kann das nicht, Tonio, ich bin doch kein Arzt.« »Du mußt es tun«, beharrte Antonio. »Ich werde dazu nicht fähig sein. Hör mir jetzt aufmerksam zu.« Er biß die Zähne vor Schmerz zusammen und es dauerte eine Weile, bis er weitersprechen konnte. »Nimm Öl und erhitze es, oder auch Pech, wenn du welches findest. Lasse es sieden und gieße es in die Wunde. Dann verbinde sie.« »Lo faro, ich werde es tun«, sagte Gian, und Schweiß stand auf seiner Stirn. »Nimm kein heißes Reizmittel, wenn ich bewußtlos werde«, fuhr Antonio schwach fort. »Kein Fleisch und keinen roten Wein … Laß vom linken Arm etwas Blut ab. Vergiß nicht … vom linken …« Seine Augen schlossen sich, und als er eine Stunde später wieder sprach, war es nur schwerfälliges Geplapper des Deliriums.
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DRITTES BUCH Der Leibarzt der Königin
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wischen den immer wiederkehrenden Wellen des Schmerzes, die sich verbreiteten wie Kreise, die in einem Teich entstehen, wenn ein Stein hineingeworfen wird, sah er ihr Gesicht. Zuerst nur verschwommen und wie das Antlitz der Venus von Botticelli, dann wieder wie das Gesicht Lucia Bellarmis, und doch wußte er in den wenigen lichten Momenten, daß es keine von beiden sein konnte, denn das Gemälde lag noch am Boden des Wagens und Lucia war in Florenz. Wieder sah er sich auf dem Hügel vor Champel, sah eine aufrechte Gestalt an den Pfahl gebunden und sah die Flammen züngeln. Dann griffen Hände nach ihm und rissen an ihm. Sie versuchten, ihn zu einem anderen bereitstehenden Pfahl zu zerren. Obwohl er sich wehrte, brachten sie ihn nahe genug heran, daß er den Anschlag auf dem Pfahl lesen konnte: »Antonio Servetus, Ketzer und Ausüber der Hexenkunst. Tod dem, der es wagt, einen Diener Gottes anzugreifen. Tod dem Ketzer Antonio Servetus!« Mit aller Anstrengung gelang es ihm, sich aus den Händen zu befreien, die immer wieder nach ihm langten, um ihn an den Pfahl zu ziehen. Aber er wußte, daß dies noch nicht der letzte Kampf war und daß jemand ihn verlieren mußte. »Dr. Servetus.« Eine sanfte, ihm irgendwie vertraute Stimme klang nahe an seinem Ohr. Er wandte den Kopf und seine Augen trafen die Lucia Bellarmis. »Madonna Bellarmi! Das Gemälde!« Die Schmerzen machten ihn keuchen. 147
»Es ist in Sicherheit.« Sie wechselte das Tuch auf seiner Stirne, der säuerliche Geschmack von Essig stieg in seine Nase. Kühl und feucht fühlten sich ihre Finger auf seiner Haut an. Er sah im Raum umher. Das Zimmer war klein, aber prächtig ausgestattet. Es war mit seidenen Draperien geschmückt und an der Wand hing ein wunderbares Gemälde, das er als einen frühen Botticelli erkannte. In der Ecke stand ein Toilettentisch. Vom Spiegel darüber starrte ihm ein bärtiges Gesicht mit tiefliegenden Augen und einem vor Schmerz zusammengepreßten Mund entgegen. »Wo bin ich?« flüsterte er. »In Florenz. Im Palazzo Bellarmi.« »Aber wir verließen Padua doch erst gestern.« »Ihr verließet Padua vor einer Woche. Ihr seid sehr krank.« Jetzt erinnerte er sich an den Kampf im Kloster, an das Dröhnen des Armleuchters auf den Schädel Fra Felipe Santos', an den nagenden Schmerz seiner Wunde, an die Agonie während der nächtlichen Wagenfahrt, an das Fieber von der entzündeten Wunde und den Schrecken, der ihn bewußtlos machte. »Gian erzählte uns von Eurem Kampf um das Gemälde«, sagte Lucia Bellarmi. »Ihr wart sehr tapfer.« Er lächelte hilflos. »Beinahe wäre es nicht gelungen.« »Ich weiß. Dr. Duval sagt, noch einen Zoll, und Eure Wunde wäre tödlich gewesen.« »Dr. Duval?« »Ein französischer Arzt. Er war mit der französischen Armee in Italien und blieb hier, um an der Universität zu lehren.« Antonio versuchte seine Schulter zu bewegen, aber ein krampfartiger Schmerz hielt ihn davon ab. Madonna Lucia legte ihre Hand unter seine Schulter und bewegte sie sachte. Die Berührung war fest und doch zart. »So«, sagte sie, »jetzt wird es besser sein.« »Ja. Ich danke Euch. Ihr seid eine sehr gute Pflegerin.« »Ihr gebt mir ja seit einer Woche Gelegenheit, mich darin zu üben«, erinnerte sie ihn lächelnd. Stimmen erklangen draußen auf dem Korridor. »Das muß Dr. Duval sein.« 148
Ein kleiner Mann mit Spitzbart trat ein. Sein Gesicht war heiter, als er es über Lucias Hand beugte, bevor er sich dem Bett zuwandte. »Voilà!« rief er aus und strahlte. »Ihr seid der Welt wiedergeschenkt, nicht wahr?« Antonio gelang es zu lächeln. »Madonna erzählte mir, daß ich schon nahe der anderen Welt war.« »Sehr nahe. Sehr nahe in der Tat.« Der Arzt richtete auf dem Tisch neben dem Bett sein Verbandzeug her. »Aber ohne den Genius von Dr. Ambroise Paré wäret Ihr uns sicherlich nicht zurückgekehrt, Monsieur.« »Paré?« wiederholte Antonio. »Habt Ihr noch nichts von Dr. Paré gehört?« »Ist das der Barbier-Chirurg, der eine neue Methode der Wundbehandlung gefunden hat?« »Er war Barbier-Chirurg«, verbesserte der Franzose. »Ambroise Paré ist jetzt Mitglied der Universität von Paris. Aber ich ermüde Euch. Laßt die Wunde sehen.« Obwohl der Franzose den Verband sehr behutsam entfernte, wurde Antonio bleich und schwitzte vor Schmerz, ehe die Wunde noch freilag. »Ah! Ausgezeichnet!« rief Duval aus. »Ihr solltet sie selber sehen, Dr. Servetus.« »Er kann meinen Handspiegel nehmen.« Lucia ging zum Toilettentisch und brachte einen Spiegel, dessen schwerer Rücken ein Meisterwerk der Silberschmiedekunst war. Da lagen aber auch noch andere frauliche Dinge auf dem Tisch, und Antonio schloß daraus, daß sie ihm ihr eigenes Gemach zur Verfügung gestellt hatte. Sie hielt den Spiegel so, daß Antonio die Wunde ganz deutlich sehen konnte. Sie war etwa vier Zoll lang, und die Haut an den Rändern war von der Entzündung noch geschwollen. Die Tiefen aber sahen sauber aus und waren mit frischem, rosigem Gewebe überwachsen. »Ist sie nicht schön verheilt?« fragte Dr. Duval. »Gian hat mich nicht gebrannt!« rief Antonio aus. »Zu Eurem Glück, Monsieur.« »Aber die Infektion – –« 149
»Dr. Paré hat diese Methode als völlig veraltet verworfen. Als Signore Savarino feststellte, daß er unfähig sei, Euch die Wunde auszubrennen, gab er ihr unwissentlich die beste Behandlung. Seht nur, wieviel besser sie aussieht, als wenn wir nach der alten Methode vorgegangen wären.« Darüber gab es keinen Zweifel. Wäre die Wunde mit siedendem Öl, glühendem Eisen oder flüssigem Pech ausgebrannt worden, wie es üblich war, hätte es Monate gedauert, bis sich das verkohlte Fleisch von der Haut gelöst hätte. Jetzt aber war die Wunde rein und gesund, obwohl sie schwer entzündet gewesen und erst eine Woche alt war. Das gab zu denken, denn wenn diese neue Behandlungsmethode immer so gut wirkte, dann waren alle früheren Verfahren nicht nur falsch, sondern auch gefährlich. Dr. Duval bereitete einen Verband vor und befeuchtete das Linnen mit einer gelblichen Flüssigkeit, die er einer Flasche entnahm. »Eine ausgezeichnete Heilmixtur, Dr. Servetus«, schnatterte er weiter. »Ebenfalls eine Entdeckung des so hervorragenden Paré. Eidotter und Rosenöl, gelöst in Terpentin.« Der Verband brannte auf der rauhen Oberfläche der Wunde und brachte Antonio zum Stöhnen. Aber sobald der französische Arzt ihn geschickt bandagiert hatte, fühlte Antonio statt des Brennens eine erfrischende Kühle. »Voilà!« Er ging zum Waschbecken in der Ecke. »Ihr werdet sehr rasch gesund werden, Dr. Servetus. Eure Jugend kommt Euch zugute … und Eure hübsche Pflegerin.« Lucia errötete. Sanft verteilte sich das Rot auf ihren Wangen. Wieder hatte Antonio das seltsame Gefühl, daß er sie irgendwie sehr gut kennen müßte, so gut, daß ihm jeder Zug an ihr vertraut war. Er fühlte das jetzt noch stärker als bei ihrer ersten Begegnung. »Habt Ihr irgendwelche Schriften von Paré?« fragte er Dr. Duval. »Aber gewiß. Ein kleines Handbuch über die Behandlung von Schußwunden. Aber gemach – es ist französisch geschrieben.« »Ich spreche Französisch.« »Magnifique! Ihr müßt mich aber dann dieses bedeutende Werk von Euch über ›la circulation pulmonaire‹ lesen lassen, von dem mir Signore Savarino und Signore Bellarmi erzählt haben.« 150
»Es soll mir eine Ehre sein«, entgegnete Antonio erfreut. Dr. Duval war gegangen, Lucia kramte im Zimmer herum, brachte die Dinge in Ordnung und summte eine fröhliche Weise. Überall gibt es etwas zu lernen, dachte Antonio. Er sah jetzt ein, daß vieles von dem, was die Welt zu bieten hatte, nicht in Büchern geschrieben stand, sondern daß es ganz einfach dadurch entdeckt wurde, daß es jemand nach sorgfältiger Beobachtung dem Gebrauch zugänglich machte. Vage erkannte Antonio, daß der Wechsel, der in ihm vorging, ihn zu einer neuen Betrachtungsweise führte, ihm einen neuen Weg zeigte, der – nicht allein in der Medizin und Wissenschaft – von den Wahrheiten einen tatsächlichen Beweis forderte und nicht wie bisher alles als gegeben hinnahm, weil es von irgendeiner Autorität behauptet wurde. Wie er so dalag, fühlte er in seinem tiefsten Inneren Stolz aufkeimen, weil er selbst einer von denen gewesen war und mit seinem Experiment den Weg gewiesen hatte, den er, wie er hoffte, mit weiteren Studien und anderen Experimenten fortsetzen würde. Sein Beitrag lag nicht so sehr in der Entdeckung des Lungenkreislaufes, so wichtig sie zweifellos war, als vielmehr in der Methode, die er benutzt hatte, die Tatsache zu beweisen: in der Methode des Untersuchens und Experimentierens, die seit der Zeit der alten griechischen Weisen in Vergessenheit geraten war. Über diesen Gedanken war er eingeschlafen, und als er wieder erwachte, saß Gian Savarino an dem Platz Lucia Bellarmis. Gian hatte gebadet und war von rosiger Frische. »Hast du dich also doch entschlossen, weiterzuleben?« sagte er mit einem Lächeln. »Ich will nicht hoffen, daß darüber bis heute morgen Zweifel bestanden«, antwortete Antonio. »Eine Zeitlang glaubte ich kaum, dich lebend hierher bringen zu können; aber ich vermochte deine Wunde nicht auszubrennen, wie du es von mir verlangt hast.« »Dr. Duval meint, du hättest gut daran getan.« »Und du?« »Seit ich die Wunde gesehen habe, bin ich geneigt, ihm beizupflichten.« 151
Gian atmete auf. »Ich habe schon Befürchtungen gehegt«, gestand er. »Während wir durch den Kirchenstaat fuhren, konnte ich nicht halten, weil ich Angst hatte, die Kunde sei uns schon vorausgeeilt. Mein einziger Gedanke war, dich so schnell wie möglich nach Florenz zu bringen.« Er grinste. »Meine verehrten Eltern werden ein schreckliches Gejammer anstimmen, wenn sie hören, wieviel von ihrem Gold ich für Pferdewechsel verbraucht habe.« »Ich weiß, ich verdanke dir mein Leben«, sagte Antonio. »Schon gut. Außerdem hast du mir mit deiner Krankheit einen Gefallen erwiesen. Ich mußte natürlich bei dir bleiben, falls ich gebraucht würde, und da habe ich indessen bei der lieblichen Madonna Lucia Fortschritte gemacht.« Antonio fühlte sich durch diese Worte gereizt und er fragte sich, warum. Gott wußte, redete er sich selber ein, daß er nicht eifersüchtig war. Lucia Bellarmi konnte sehr nett sein, wie es sich bei seiner Pflege gezeigt hatte, aber er erinnerte sich nur zu gut, daß sie auch recht zänkisch war. »Signore Girolamo und seine Nichte waren überglücklich, das Gemälde zurückzubekommen. Es soll in der Hauptgalerie des Palastes aufgehängt werden, sobald du gesund bist.« »Wozu warten sie auf mich?« »Signore Bellarmi plant dir zu Ehren eine Feier. Schließlich steht es ihm zu, dich auszuzeichnen, da du ja seinetwegen ein Messer zwischen die Rippen bekamst.« »Ich wünsche keine Belohnung.« »Sei kein Esel, Tonio. Letzten Endes hast du wegen des Gemäldes eine wichtige Position verloren. Was willst du jetzt tun?« »Ein guter Arzt kann immer leben.« »Die Arme Roms sind in Florenz ziemlich stark. Sie können dich vielleicht hier noch erreichen.« »Fra Felipe kann tot sein, und niemand wird mich dann verdächtigen.« »Da ist doch noch dieser Geselle, der Porzia.« »Ohne Santos wird er kaum etwas unternehmen. Aber ich hoffe doch, daß Fra Felipe nicht gestorben ist.« 152
»Dio mio! Versuchte er nicht, dich zu töten«, entfuhr es Gian. »Ich will keines Menschen Tod auf meinem Gewissen haben.« »Ich würde mein Gewissen wegen dieses Schurken nicht belasten. Aber gewöhnlich bleiben ja gerade die Schlechten am Leben. Glaubst du, daß Santos eine Ahnung hat, daß du in Florenz bist?« »Ja, ich sagte ihm, daß ich den Eigentümer des Gemäldes kenne.« »Wenn die Sache so ist, wirst du nach Spanien gehen müssen.« »Nach Spanien? Warum?« fragte Antonio verdutzt. »Signore Bellarmi geht demnächst nach Madrid. Du weißt ja, daß die Bellarmis mit den Medicis in enger Verbindung stehen und sie schon immer große geschäftliche Interessen in Spanien hatten.« »Aber was geht mich das an?« »Seine Gesundheit ist nicht die beste und er sagte mir, er möchte einen Arzt mit sich nehmen, dem er Vertrauen schenken kann.« »Aber was soll ich in Spanien tun?« »Kannst du Spanisch?« »Natürlich. Ich wurde doch in Spanien geboren und meine Mutter war Spanierin.« »Vesalius ist der Leibarzt des Königs in Madrid«, erinnerte ihn Gian. »Er wäre gewiß froh, einen Anatomen von deinem Ruf in Madrid zu haben.« Antonio lächelte verlegen. »Mein Ruf als Anatom ist mir jetzt mehr Hindernis als Hilfe.« »Das will ich nicht sagen. Dein Streit mit Santos ist eine rein persönliche Angelegenheit. In Spanien wärst du sicher, und wenn nicht, kannst du noch immer in die Neue Welt ziehen. Ich habe diese Möglichkeit selbst schon erwogen.« »Wann will Signore Bellarmi abreisen?« »In einigen Wochen.« »Aber bis dahin bin ich noch nicht soweit, mitzufahren.« »Laß dir mit dem Gesundwerden nur Zeit«, beschwichtigte ihn Gian lächelnd. »Ich möchte der Nichte des Hauses gerne noch länger den Hof machen.« 153
II
S
obald Antonio soweit genesen war, um aufstehen zu können, sandte Signore Girolamo Bellarmi Einladungen zu einer Feier aus. Antonios Wiederherstellung war durch die heilenden Verbände Dr. Duvals und Parés und nicht zuletzt dank der Pflege Madonna Lucias rasch vorwärts geschritten. Er lernte sie in den Tagen, in denen sie jetzt beisammen waren, erst so richtig kennen, und schätzte sie aufrichtig ob ihrer Intelligenz wie auch um ihrer Schönheit willen. Für eine Frau, so stellte er fest, war sie erstaunlich gebildet. Bis zu Anfang des 16. Jahrhunderts und vor dem Beginn der neuen humanistischen Bewegung der Renaissance hatten die Frauen wenig Möglichkeit, Unterricht zu genießen und die meisten konnten kaum lesen und schreiben. Aber die neuen Ideen schlossen auch die Frauen mit ein, und viele von ihnen aus den großen reichen Häusern Italiens waren ebenso gebildet wie die Männer. Dies traf auch auf Lucia zu. Bei ihr gab es aber noch einen anderen Grund für ihre Vielseitigkeit. Nach dem Tod ihrer Eltern, in ihrer Kindheit, wurde sie von ihrem Onkel aufgezogen, als wäre sie ein Knabe. Der Erfolg davon war, daß sie auch vom Geschäft etwas verstand und in vielen anderen weltlichen Angelegenheiten weit umfassendere Kenntnisse besaß als Antonio, der bis jetzt abgeschlossen von der Welt im Kloster und in den Hörsälen gelebt hatte. Ihre Gespräche entwickelten sich oft zu sehr geistreichen Unterhaltungen. Er gab ihr sein ›Consilium‹ zu lesen und war erstaunt, wie rasch sie dessen Bedeutung, und zwar die Vorführung eines Experimentes zum Beweis einer wissenschaftlichen Wahrheit, begriff. In solchen Stunden war sie ernst. Aber es gab auch Stunden, da er sie mit Gian oder den anderen jungen Kavalieren, die einander die Türklinke reichten, fröhlich lachen hörte. Sie schalt Antonio wegen sei154
nes Ernstes, aber er fühlte sich in dieser Gesellschaft nie richtig wohl und hielt sich davon ferne, um entweder die Schriften von Ambroise Paré und seine faszinierende, neuartige Betrachtung der Krankheiten zu studieren, oder sich mit einem der vielen Bände aus Signore Bellarmis reichhaltiger Bibliothek zu beschäftigen. Die Feier, bei der das Gemälde seinen Platz erhielt, war kurz, aber eindrucksvoll. Eine große Zahl der bedeutendsten Bürger von Florenz nahm daran teil; Künstler, Architekten, Geistliche, Ärzte und Geschäftsleute. Signore Girolamo war des Lobes voll über Antonio, der das Gemälde gefunden und nach Florenz zurückgebracht hatte, aber nähere Einzelheiten, wie es entdeckt und die Rückkehr bewerkstelligt wurde, erzählte er nicht. Er wies auf Antonios Arbeit in Padua und sein ›Consilium‹ hin, so daß am Schluß der Feier eine große Gruppe von Ärzten und Wissenschaftlern darauf wartete, Antonio ihre Anerkennung auszusprechen. Ehe sie weggingen, mußte Antonio versprechen, vor den Ärzten von Florenz und auch vor der Fakultät der nahegelegenen Universität von Pisa, einem der ältesten und geachtetsten Bildungsinstitute Italiens zu jener Zeit, einen Vortrag über die Lungenzirkulation zu halten. Madonna Lucia nahm unverständlicherweise nicht an der Feier teil, was Antonio überraschte, da er wußte, daß das Gemälde ihr Eigentum war. Als die Besucher weg waren, fragte er Signore Bellarmi nach ihr. In den Augen des Kaufherrn schimmerte es vergnügt auf. »Irgendeine unbedeutende Indisposition hielt sie ab, nehme ich an. Es ist gewiß nichts Ernstes.« »Vielleicht haben sie die vielen Krankenbesuche bei mir überanstrengt.« »Das glaube ich nicht.« Signore Bellarmi spielte mit der goldenen Kette um seinen Hals. »Gian dürfte Euch doch gesagt haben, daß ich nach Spanien reise.« »Ja. Er erzählte davon.« Es war Antonio nicht entgangen, daß Bellarmi Gian beim Vornamen nannte. Der Künstler mußte bei seinen Bemühungen um Madonna Lucia tatsächlich Fortschritte gemacht haben. 155
»Es wäre für mich sehr bequem, wenn Ihr mich als mein Leibarzt begleiten wolltet«, sagte Bellarmi. »Seid Ihr gewiß, Signore, daß es nicht Dankbarkeit ist, die Euch dieses Angebot machen läßt?« »Auf gar keinen Fall«, protestierte Bellarmi. »Ich verspüre seit neuem hier einen Druck.« Er legte die Hand über das Herz. »Und manchmal durchzuckt ein Schmerz meinen Arm. Dr. Duval und ich meinen, daß dies von einem fähigen Arzt aufmerksam beobachtet werden sollte, und offen gesagt, ich habe zu den Spaniern kein Vertrauen.« »Sie haben etliche gute Ärzte«, sagte Antonio, »aber nicht viele, nachdem, was man hört.« Nach Spanien zu gehen bedeutete, alle Brücken abzubrechen, die ihn noch mit der Universität zu Padua verbanden, wenngleich sie jetzt auch nurmehr lose Verbindungen waren. War Fra Felipe wirklich tot, dann wäre es möglich, daß niemand ihn mit dessen Tod in irgendeinen Zusammenhang bringen würde, denn der Verdacht fiele wahrscheinlich auf Diebe, die eben ein wertvolles Gemälde stehlen wollten. Und ohne die persönliche Feindschaft des Mönches, die die Flammen gegen ihn geschürt hatte, würde man ihn kaum beschuldigen. Dann mochte es möglich sein, daß er nach einiger Zeit wieder nach Padua zurückkehren und seine Arbeit dort wieder aufnehmen konnte. Aber er wußte weder, was in Padua nach seiner Flucht geschehen war, noch wie weit der Prior Battista Porzia ins Vertrauen gezogen hatte. Um diese Dinge zu erfahren, konnte er sich abermals in eine ernste Gefahr bringen. Ein Grund mehr, so folgerte er, daß es das beste war, sich so weit als möglich von Padua zu entfernen. Und was wäre da günstiger, als nach Spanien zu gehen? »Ihr braucht Euch nicht sofort zu entschließen«, unterbrach Signore Girolamos Stimme seine Gedanken. »Vergebt mir, Signore, ich überlegte nur, was ein solcher Schritt bedeuten könnte. Schließlich wurde mir der Lehrstuhl für Anatomie in Padua angeboten.« »Und Ihr habt ihn unseretwegen aufs Spiel gesetzt.« Des Kaufherrn Gesicht war ernst. »Wir stehen in Eurer Schuld, Doktor.« 156
Antonio lächelte. »Vielleicht ist es gut so. Ich habe bis jetzt schon Dinge gelernt, von denen ich in Padua nichts wußte, und ich bin sicher, daß ich in Spanien noch etwas dazulernen werde.« »So seid Ihr mit meinem Vorschlag einverstanden.« »Gerne. Aber ich kann meiner Wunde wegen jetzt nicht reisen.« »Das habe ich in Erwägung gezogen«, erwiderte Bellarmi lebhaft. »Meine Nichte und ich müssen in einer Woche fahren, da die Königin von Spanien, mit der wir durch das Haus der Medici entfernt verwandt sind, Lucia das ehrenvolle Angebot gemacht hat, sie als ihre Hofdame aufzunehmen.« »Könnte ich nachkommen?« »Ja. So habe ich es mir gedacht. Wir haben an der Küste eine Villa, wo Ihr Euch schneller erholen könnt. In einem Monat segelt ein anderes unserer Schiffe nach Barcelona. Auf ihm könnt Ihr die Überfahrt machen und uns in Madrid treffen.« Nachdem Bellarmi gegangen war, verweilte Antonio noch und blickte zu dem großen Gemälde an der Wand auf. Alles ist verändert, dachte er. Die hehre Göttin war in Sicherheit. In der leisen Dämmerung des Raumes, der sich allmählich mit den Schatten des späten Nachmittages füllte, schien es, als rundeten sich ihre Lippen zu einem zustimmenden Lächeln, so, als wollte sie ihm für die Rückkehr in ihr Heim danken. Wie immer durchströmte ihn ein Gefühl der Wärme und Geistesverwandtschaft mit ihr, und dieses Gefühl zerstreute seine Zweifel und gab ihm Stärke. Alles, was man für sie tat, mußte richtig und sogar vorausbestimmt sein, erkannte er nun. Sie hatte ihn von Padua nach Florenz geführt, und nun, noch immer ihretwegen, würde er sich bald zu einem neuen Abenteuer nach Spanien begeben. Irgendwie war es ihm Gewißheit, daß sich alles von selbst lösen würde … alles, was an jenem Morgen begonnen, als er im Kloster auf das staubige Gemälde gestoßen war, es entrollt und zum erstenmal die atemberaubende Schönheit der göttlichen Venus gesehen hatte. Was ihm das Geschick noch bringen würde, wußte er nicht, daß es aber Sinn und Zweck haben mußte, darüber bestand kein Zweifel. 157
»Noch immer in das Bild verliebt, Tonio?« scheuchte ihn Gians Stimme auf. Antonio wandte sich dem Freund zu. »Wo ist Fleisch und Blut, um sie zu ersetzen?« verlangte er zu wissen. Gian lachte. »Es wird schon irgendwo eine geben. Aber ich würde mich mit etwas weniger Vollendung und etwas mehr Willfährigkeit begnügen. Ich traf Signore Bellarmi. Er sagte mir, daß du mit uns nach Spanien gehst.« »Du gehst auch?« fragte Antonio überrascht. »Natürlich.« »Aber das kann ich nicht zulassen, Gian. Du hast meinetwegen schon genug geopfert.« »Es ist nicht deinetwegen«, versicherte Gian. »Mein Vater war sehr glücklich, als ich ihm schrieb und vorschlug, er möge mich zu seinem Vertreter in Madrid machen.« »Ich hoffe, daß nicht Madonna Lucias Reise nach Madrid etwas mit deinem Entschluß zu tun hat, plötzlich ein Geschäftsmann zu werden.« »Absolut nicht«, beteuerte Gian sanft. »Außerdem bin ich noch nie in Spanien gewesen.« »Warum fährst du dann nicht gleich mit ihnen?« »Ich – – ich kam, um mit dir darüber zu sprechen.« Antonio lächelte. »Das merkte ich. Auf alle Fälle fahre nur. Es wird dir guttun, mich loszuwerden.« Als Gian gegangen war, suchte Antonio, der nicht sofort wieder ins Bett zurückkehren wollte, den Garten an der Rückseite des Palazzo Bellarmi auf. Die drückende Herbsthitze war hier durch eine kühle Quelle, die über ein Alpinum murmelte, etwas gemildert. Er blickte in das klare Wasser des Teiches und seine Gedanken gingen zurück zum Bacchiglione und zu Professor Fallopius. Sein eigener Beitrag zum Strom der menschlichen Erkenntnis, so dachte er mit einiger Bitternis, war bereits von menschlichem Haß und menschlicher Gier hinweggespült, seine Zukunft zerstört, weil Fra Felipe die Schönheit der Venus und das wertvolle Kunstwerk begehrt hatte. Und plötzlich, wie 158
im Traum, nahm ihr Gesicht vor seinen Augen Form an und spiegelte sich in der klaren Oberfläche des Wassers. Überrascht hielt Antonio den Atem an und beugte sich über den Rand des Teiches, um sie noch deutlicher zu sehen. Da hörte er hinter sich eine Stimme: »Warum so vertieft, Doktor?« Er drehte sich rasch um. Kaum eine Elle weit von der Steinmauer, die die Quelle umgab, stand Lucia und lächelte. In seine Gedanken versunken, hatte er sie nicht kommen gehört. Ungläubig starrte er zuerst sie an, blickte dann wieder auf das Spiegelbild im Wasser – es war noch das gleiche. »Es ist unmöglich«, sagte er fassungslos, »aber Ihr seid die Venus des Botticelli!« »Natürlich«, sagte sie. »Jedermann in Florenz weiß das.« »Dann schient Ihr mir deshalb so vertraut, als ich Euch zum erstenmal sah. Aber ich verstehe das alles nicht.« Sie schritt auf eine Bank neben dem Teich zu und setzte sich. »Für diese Ähnlichkeit gibt es eine Erklärung. Meine Großtante, Simonetta Vespucci, stand Botticelli Modell zur Venus.« »Und Ihr seid Ihr Ebenbild … Es ist wie ein Mirakel, aber durchaus möglich.« »Ich bin erstaunt, daß weder Ihr noch Gian von der Geschichte gehört habt«, sagte Lucia, und dann wechselten sie das Thema. »Geht Ihr mit uns nach Spanien?« Antonio hörte sie gar nicht. Er dachte über das Wunder der Venus nach, das in Lucia personifiziert vor ihm saß. Nun, da er den Zusammenhang kannte, war er erstaunt, daß er nicht in Padua schon darauf gekommen war. Aber ohne Kenntnis der Verwandtschaft zwischen Lucia und Simonetta Vespucci war das Ganze zu fantastisch, um überhaupt daran zu denken. Das war es wahrscheinlich auch, was ihn davon abgehalten hatte, hier einen Zusammenhang zu vermuten, dachte er sich. »Geht Ihr mit uns nach Spanien?« wiederholte Lucia. »Verzeiht, ich dachte noch immer an diese verblüffende Ähnlichkeit.« »So habt Ihr Euch nicht dazu entschlossen?« 159
»O doch. Ich fahre mit.« Antonio lächelte scheu. »Schließlich ist auf meinen Kopf noch ein Preis ausgesetzt, wie Ihr wißt.« Sie legte die Hand auf die seine. Ihre Finger waren warm und sanft und ein Strom des Verstehens und warmer Zuneigung schien auf ihn überzufließen. »Ihr habt Euer Leben aufs Spiel gesetzt, um mir die Venus zurückzubringen«, sagte sie weich. »Und ich weiß es zu schätzen, Tonio.« Mit einem Gefühl der Schuld kam es Antonio plötzlich zum Bewußtsein, daß er an der Göttin einen Verrat begangen hatte. Wie konnte er auch nur für einen winzigen Augenblick Lucia die Stelle einnehmen lassen, die sie in seinem Denken und Fühlen innehatte? Ohne zu wissen, was er tat, zog er seine Hand weg und legte sie auf die Bank. In Lucias Wangen stieg Röte auf und ihre Augen flammten. »Warum nehmt Ihr Eure Hand weg?« fragte sie. »Ich – – ich weiß nicht«, stammelte Antonio, überrascht durch die Veränderung ihrer Stimme und ihres Wesens. »War es, weil ich die Venus erwähnte?« »Was würde das daran ändern?« »Im Delirium habt Ihr dauernd von ihr gesprochen. Was bedeutet sie Euch, Tonio?« »Gian behauptet, ich wäre in sie verliebt.« »Seid Ihr das?« »Ich weiß nicht. Ich fühle mich … mächtig zu ihr hingezogen.« »Aber sie ist doch kein Mensch.« »Für mich ist sie einer«, sagte Antonio schlicht. »Mir scheint sie so lebendig wie … wie Ihr.« Lucia sprang auf. »Dann habt Eure Venus. Wenn es das ist, was Ihr wünscht, Ihr Mondsüchtiger!« stieß sie heftig hervor. Er hätte darauf schwören können, daß in ihrer Stimme ein Schluchzen war, wie sie in Wut ihre Röcke aufraffte und aus dem Garten rannte. Antonio blieb zurück und starrte in den Teich. Warum war Lucia so verstört gewesen, fragte er sich. Er sah keinen Grund dafür, denn gerade vor ihrer Auseinandersetzung waren sie einander für einen Augenblick näher gewesen als je zuvor. Er erinnerte sich des Stromes der 160
Zuneigung und des Verstehens, der zwischen ihnen geflossen war, und er nahm sich vor, sie morgen aufzusuchen, um sie zu fragen, was sie erbost hatte. Er hatte sie wirklich gern und nun vermeinte er auch zu wissen, warum. Es war, als ob sie eine Schwester der göttlichen Venus wäre, eine jüngere Schwester vielleicht, oder auch eine Zwillingsschwester. Es war alles sehr verwirrend, und er spürte, daß ihn der Nachmittag sehr ermüdet hatte.
III
G
ian Savarino, der Lucia suchte, schritt durch die Hauptgalerie und war erstaunt, ihre Stimme einer unsichtbaren Person wutentbrannte Anschuldigungen zurufen zu hören. »Ich hasse dich, ich hasse dich!« schrie sie. Man hörte das Aufstampfen eines Lederabsatzes auf dem eingelegten Boden. Gian kam um eine der Säulen herum und sah sie vor dem großen Gemälde stehen, das an diesem Morgen hier angebracht worden war. Zu seiner Überraschung war sie allein. »Madonna!« rief er. »Was ist denn los?« Lucia wirbelte herum. Ihre Augen glühten und ihr Atem ging rasch. »Was wollt Ihr?« »Ich suche Euch. Ich möchte Euch bitten, eine Patience mit mir zu legen.« »Eine Patience!« lachte sie schrill. »Wie verrückt!« »Über wen ärgert Ihr Euch?« fragte Gian. »Oder übt Ihr Euch für ein Spiel?« »Über sie ärgere ich mich!« schrie Lucia und wies auf die Göttin an der Wand. Gian blickte auf das Gemälde, dann auf Lucia, und vor Überraschung blieb ihm der Mund offen stehen. Noch einmal verglich er sie, um sicher zu gehen, daß ihn seine Augen nicht trügten, aber nun, da er 161
sie nebeneinander sah, das schlanke temperamentvolle Mädchen und die hehre Göttin auf dem Gemälde, gab es keinen Zweifel: Zug um Zug waren sie einander gleich. »Aber das seid doch Ihr! Und Ihr seid sie!« stieß er hervor. »Das Gesicht ist dasselbe, und nackt könnt Ihr – –« Lucia versetzte ihm einen Schlag auf die Wange. »Wie könnt Ihr es wagen, so etwas zu sagen.« Gian rieb sich die Wange und grinste. »Vergebt mir, Madonna, ich bin Künstler. Natürlich denke ich in der ganzen Figur – –« »Ihr werdet keine Gelegenheit haben, Eure Vermutung bestätigen zu können«, sagte sie eisig. »Wenn es das ist, was Ihr denkt.« »Glaubt mir, Madonna, ich dachte nicht daran.« Wie sie so stolz und aufrecht in ihrem Ärger vor ihm stand, stellte er fest, daß nichts an Lucia war, das nicht vollendet wäre. Ihre Brust, ihre zarte Taille, die zierlichen Fußgelenke und Füße, ja ihre ganze Figur wie auch ihr Gesicht waren der Venus auf dem großen Gemälde unglaublich ähnlich. »Aber wie – –«, begann er und hielt inne. »Eccolo! Simonetta Vespucci, natürlich. Vediamo. Amerigo Vespucci war Euer Großvater.« »Und Simonetta meine Großtante«, ergänzte Lucia. »Durch eine Laune der Natur seid Ihr beinahe ihr Ebenbild. Es ist wie in einem Feenmärchen.« »Aber von einer bösen Fee.« »Wenn Ihr auf Eure Verwandtschaft mit den Vespuccis so stolz seid, warum haßt Ihr sie dann?« »Weil er sie liebt.« »Wer – Tonio?« »Ja. Er hat es mir eben gestanden.« »Aber Ihr könnt doch nicht einen Tölpel wie Antonio lieben?« »Er ist kein Tölpel!« rief sie wutentbrannt. »Er ist ein großartiger Mensch.« Gians Gesicht wurde ernst. »Ihr habt recht, Madonna. Er ist mehr als das. Aber wann hat er – –« »Gar nicht. Das heißt, er liebt mich nicht als das, was ich bin.« Gian schüttelte den Kopf. »Das ist alles sehr verwirrend. Ihr liebt To162
nio und Tonio liebt die Venus auf dem Gemälde. Ihr aber seid mit der Venus identisch, also wäre Tonio – um mit Euklid zu sprechen, der sagt, daß Dinge, die das gleiche darstellen, das gleiche sind – in Euch verliebt.« »Aber es ist kein Problem des Euklid und er liebt mich auch nicht.« »Warum es nicht in solch einem Fall mit einem andern versuchen? Hier lege ich Euch mein Herz zu Füßen, Madonna.« »Armer Gian«, sie lächelte in freundlichem Spott. »Wie oft habt Ihr Euer Herz schon jemandem zu Füßen gelegt.« »Niemals noch so gänzlich«, verteidigte er sich. »Wollt Ihr noch immer nach Madrid fahren?« »Ja. Es sei denn, Ihr wünscht es nicht.« »Aber natürlich wünsche ich es!« rief sie. »Haben wir nicht sehr viel Spaß miteinander gehabt während der letzten Wochen?« Er verbeugte sich, die Hand auf seinem Herzen. »Ihr habt mir ein neues Leben gegeben, Madonna. Außerdem könnte sich Antonio plötzlich entschließen, wieder Mönch zu werden.« »Das ist es, was ich befürchte. Er hat die Welt außerhalb des Klosters als eine nicht sehr glückliche kennengelernt. Er braucht uns beide, Gian.« »Um ihm vielleicht ein Problem des Euklid lösen zu helfen«, warf Gian zynisch ein. »Nein, das wird von selbst in die richtige Bahn kommen.« »Ihr seid sehr selbstsicher.« »Die Dinge geschehen, wie ich sie wünsche«, sagte sie von oben herab. »Vielleicht werdet Ihr es nicht glauben, daß ich längst wußte, daß das Botticelli-Gemälde in Padua war.« Ungläubig starrte er sie an. »Aber Ihr habt es doch sicherlich nicht dort gelassen, damit Antonio nach Florenz kommt und es mitbringt.« »Er kam doch, oder?« »Maria Sanctissima! Ihr Frauen seid um der Liebe willen zu allem fähig. Aber Ihr habt ihn doch nur zufällig getroffen. Ihr konntet doch nicht beabsichtigt haben, daß – –« »Ich beabsichtigte es an dem Tag, an dem ich ihn zum erstenmal 163
sah«, sagte sie. »Nun werdet Ihr auch verstehen, warum ich so gewiß bin, daß alles kommt, wie ich es haben möchte, und warum Ihr ihm von meiner Liebe nichts erzählen dürft.« »Unterdessen tanzt Ihr und Tonio wie Puppen auf einer Schnur.« »So ähnlich.« »Ich werde Euer Geheimnis bewahren«, versprach er und grinste. »Außerdem liebe ich Puppenspiele.«
IV
N
achdem Signore Bellarmi, seine Nichte und Gian Savarino nach Barcelona und Madrid, wo Philipp II. regierte, abgereist waren, begab sich Antonio in die Villa Bellarmi am dunklen Strand der warmen Gewässer der Ligurischen See. Er hatte nichts zu tun, als müßig in der Sonne zu liegen, im warmen Wasser zu schwimmen, seine Haut bräunen zu lassen und zu essen, damit seine eingefallenen Wangen wieder voll würden. Dr. Duval hatte ihm einen kleinen Band von den Schriften Ambroise Parés und, in einer Anwandlung von Generosität, eine Kiste mit chirurgischen Instrumenten, die der große französische Chirurg gebrauchte, gegeben. Antonio verbrachte angenehme Stunden mit den Studien der Einzelheiten von Parés großen Entdeckungen auf dem Gebiete der Chirurgie und nahm so vorweg, was er erst in Madrid bei Vesalius gelernt hätte. Da Vesalius Leibarzt des Königs von Spanien war und ihn auf allen seinen Reisen begleitete, würde es genügend Gelegenheiten geben, die neuen Methoden Parés bei der Behandlung von Wunden zu erproben. Je mehr Antonio darüber nachdachte, um so mehr verlangte es ihn, sich in diese neuen Abenteuer seines ohnedies aufregend gewordenen Lebens zu stürzen. Der Monat der Einsamkeit gab ihm auch Gelegenheit, über die Erfahrungen nachzudenken, die er bis jetzt außerhalb der Universität 164
und des Klosters gemacht hatte. Seit ihn die Entdeckung des Botticelli-Gemäldes jäh mitten ins Leben geworfen, hatte er in der Welt schon viel Leid, aber wenig Befriedigung gefunden. Aber so wenig erfreulich diese Welt auch war, so bedeutete sie doch für einen Mann, der seinen Verstand gebrauchen konnte, einen interessanten und anregenden Tummelplatz. Es galt in dieser Welt zwar viel zu lernen, aber es war ihm klar, daß er auf dieser Welt der Menschheit besser dienen konnte, als hinter den Klostermauern. Fallopius dürfte etwas Ähnliches gemeint haben, als er sagte, ein Arzt könne eine Krankheit nur dann behandeln, wenn er das Leid der Welt kennengelernt habe. Erst wenn er die Gründe menschlichen Leidens gesehen und miterlebt hatte, konnte in ihm das Mitgefühl für die davon Heimgesuchten erwachsen, das den wahren Arzt auszeichnet. Antonio erkannte jetzt, daß seine ursprüngliche Ansicht über den praktischen Arzt, die er von der Universität mitbekommen hatte, dahinschmolz. Den Schmerz zu lindern, dem Wüten einer Krankheit Einhalt zu gebieten oder einem Kind in die Welt zu helfen, war ebenso wichtig wie die Entdeckung eines neuen Knochens in der Hand oder eines neuen Blutgefäßes in der Leber. Antonio stellte auch fest, daß ihm die Gesellschaft Lucias sehr fehlte. Wie sehr er auch über das Gespräch jenes Nachmittags im Garten grübelte, er konnte sich den Grund ihres Ärgers nicht erklären. In der Woche, bevor sie mit ihrem Onkel und Gian abgereist war, hatte sie sich ihm gegenüber sehr kühl gezeigt. Tatsächlich hatte er sie kaum zu Gesicht bekommen, so beschäftigt war sie damit gewesen – oder hatte vorgegeben, es zu sein – sich auf ihre neue Rolle als Hofdame der Königin von Spanien vorzubereiten. Als das Schiff bereit war, abzusegeln, sammelte Antonio seine Habseligkeiten, einschließlich des kleinen Bandes von Ambroise Paré und der Schachtel mit den von dem französischen Chirurgen erfundenen Instrumenten, die ihm Dr. Duval als Abschiedsgeschenk überreicht hatte, und reiste nach Pisa, um sich einzuschiffen. Wie es dem Leibarzt Signore Girolamos zukam, begrüßte ihn der Kapitän des Schiffes auf der Laufplanke und ein Kajütenjunge brachte seine Sachen zur be165
sten Kabine des Schiffes. Antonio blieb an Deck und beobachtete die Vorbereitungen zur Abfahrt. Wie er sich so gegen die Reling lehnte, sah er vor sich die Gebäude am Quai in der Sonnenglut flimmern, sah das verwirrende Takelwerk der Fischerboote mit ihren bunten Segeln und ihrer fröhlichen Besatzung; sah das Gedränge und die Geschäftigkeit auf dem Anlegeplatz, wo die letzten Vorbereitungen zur Abfahrt getroffen wurden. Unermüdlich wie die Ameisen eilten die Hafenarbeiter von den großen, dunklen Lagerräumen zum Quai und wieder zurück in die Magazine, um die für Barcelona und andere spanische Häfen bestimmten Güter herbeizubringen und zu verladen. Über den mit Ziegeln bedeckten Dächern der Stadt ragte der schiefe Turm empor, über den die Leute noch immer lachten, weil die Erbauer so närrisch gewesen waren und kein festes Fundament gebaut hatten. Es mochte nun schon an die fünfzig Jahre her sein, daß ein Professor aus Pisa, namens Gallileio, den viele für verrückt hielten, von der Spitze dieses Turmes Kanonenkugeln herabfallen ließ, dabei eines der großen Gesetze des Universums fand und so sich und den Turm unsterblich machte. Nun kamen Matrosen über das Deck gelaufen, der letzte Träger verließ den Laufsteg, und dann wurden die Segel gehißt und die Vertäuung am Quai gelöst. Unten hatten sich einige Zuschauer eingefunden, wie dies immer der Fall war, wenn ein Schiff den Hafen verließ. Einige winkten den Abreisenden zu, andere waren nur müßige Neugierige. Interessiert blickte Antonio auf das bewegte Bild. Und wie er so auf dem hohen Deck des Schiffes stand und hinuntersah, wurde sein Blick plötzlich auf einen Punkt gelenkt, auf ein Gesicht in der Menge unter ihm. Sein Körper straffte sich und ein Gefühl von Übelkeit stieg in ihm auf. Stolpernd trat er von der Reling zurück und schwankte über das Deck gegen die Türe der Kajüte zu. Der Kapitän, der gerade vorbei eilte, blieb stehen und stützte ihn. »Per Bacco, Doktor!« rief er aus. »Ihr seid weiß wie eines meiner Segel.« Antonio schüttelte abwehrend den Kopf. »Es ist alles in Ordnung.« 166
Der Kapitän rief nach einem Schiffsjungen. »Hier Junge, führe Dr. Servetus in seine Kabine.« Von dem Jungen geleitet, fand Antonio zu seiner Kabine und legte sich nieder. »Dio!« plapperte der Kleine, »Eure Magnifizenz muß einen Geist gesehen haben.« Antonio warf ihm eine Münze zu und der Bursche verschwand. In einer Weise hatte er recht gehabt. Antonio hatte zwar keinen Geist gesehen, aber etwas, das diesem vielleicht sehr nahe kam: den runden kurzgeschorenen Kopf mit den geistreichen Zügen des Battista Porzia, des Mitgliedes der Inquisition und persönlichen Dämons Fra Felipe Santos'.
V
D
ie Lichter von Madrid blinkten durch den frühen Abend, als die Kutsche von Guadalajara hügelwärts und dann über eine Brücke des Rio Manzanares rumpelte, um in die Stadt zu gelangen. Auf den Höhen war die Kühle des nahenden Herbstes schon deutlich spürbar gewesen. Die Kutsche bog nun in die Puerta del Sol, das Osttor der Stadt ein und klapperte weiter über das Kopfsteinpflaster der breiten Calle de Alcalá. Dunkel und gebieterisch erhoben sich die massiven Gebäude des Palacio Real, des königlichen Palastes, über den kleinen Häusern der Stadt, die an den Hügeln am Flußufer zu sehen waren. Noch nicht so mächtig wie etwa Toledo, Barcelona oder auch nur Cadiz, war Madrid, nachdem Philipp II. es zu seinem neuen Regierungssitz erwählt hatte, dazu bestimmt, mehr und mehr an Bedeutung zu gewinnen. Antonios Körper war müde und wund von den Tagen, die er seit seiner Ankunft in Barcelona vor einer Woche dauernd in rüttelnden und schüttelnden Kutschen zugebracht hatte, auf seinem Weg über die wilden Gebirgsstraßen des Landes. Er neigte sich nach vorne 167
und fragte den Kutscher: »Kennt ihr das Gasthaus zu den Drei Brüdern?« »Naturalmente. Es ist nahe am Palacio Real.« »Ich möchte gerne dort absteigen.« »Sí Señor.« Die Kutsche blieb in einem beleuchteten Hof stehen. Antonio nahm über der Einfahrt das goldbemalte Schild wahr, das im Abendwind leise hin und her schwang. Los Tres Hermanos. Während der Kutscher seine wenigen Sachen auslud, blickte Antonio neugierig um sich. Die Straße vor dem Gasthaus war breit und neu mit Steinen gepflastert. Die gegenüberliegende Seite flankierte beinahe bis zum Randstein eine hohe Mauer, die den königlichen Palast umgab. An der Ecke konnte er neben einem Schilderhaus den Posten stehen sehen, der das Tor bewachte. Vor der Thronbesteigung Philipps II. war Madrid ein winziges Dörfchen gewesen, das man im Sommer ganz gerne aufsuchte, weil es hoch gelegen war und kühle Nächte hatte. Der Vater des Königs, Kaiser Karl V, hatte die wenigen Tage, die er in Spanien weilte, immer in Valladolid verbracht, aber der Spanier Philipp errichtete seinen Regierungssitz im geographischen Mittelpunkt seines Reiches und hielt so in Madrid seinen einzigen Hof, nos única corte. Antonio folgte dem Bediensteten, der sein Gepäck in das Gasthaus trug. Freudig sog er den angenehmen Duft von Schweinsbraten und Glühwein ein, und an sein Ohr drang der Klang aneinanderstoßender Krüge und das Gesumme vieler Stimmen. Die Drei Brüder schienen ein Treffpunkt vornehmer Kavaliere zu sein, stellte er fest, während er sich seinen Weg durch die überfüllte Stube zu der langen Theke bahnte. Die Mitte des Schankraums nahm eine große Feuerstelle ein, über deren Rost ein Schwein aufgespießt war. Ein Zwerg mit rußverschmiertem Gesicht, durch einen großen Höcker ganz entstellt, stand dabei und drehte den Spieß. Dem Besitzer konnte man die Freude über seine vielen und gutzahlenden Gäste vom strahlenden Gesicht ablesen. »Servidor de usted?« fragte er. 168
»Buenas noches.« Der spanische Gruß kam etwas zögernd über Antonios Lippen. »Ich bin Dr. Antonio Servetus, Arzt aus Florenz.« »Ja, natürlich, Señor médico. Señor Savarino hat Euch erwartet.« »Ist er hier?« »Leider nein. Gerade heute ist Señor Savarino mit einigen Herren vom Hof zur Jagd weg.« »Dann will ich bis zu seiner Rückkehr sein Quartier benutzen.« »Aber Doktor – –« Der Wirt blickte verlegen drein. »Das ist augenblicklich unmöglich.« »Unmöglich? Warum?« versetzte Antonio ungeduldig. »Ihr sagtet doch, daß er mich erwartet.« »Señor Savarino hat für diesen Abend einem anderen Herrn das Vorrecht für sein Zimmer abgetreten.« Das sah Gian ähnlich, sein Zimmer einem Freund für ein romantisches Abenteuer zur Verfügung zu stellen. »Könnt Ihr mir dann ein anderes geben?« fragte er. Der Wirt hob die Arme und ließ sie resigniert fallen. »Heute abend ist jede Kammer besetzt. Aber morgen ist es gewiß besser.« »Wo soll ich dann heute nacht schlafen? Auf der Straße?« Die Augen des Wirtes hellten sich auf. »Vielleicht benötigt der Herr das Zimmer Señor Savarinos nicht die ganze Nacht. Er trifft, soviel ich weiß, eine Dame, aber – –«, er rollte die Augen vielsagend, »– – der Herr ist schon sehr betagt …« Antonio konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Unter diesen Umständen blieb ihm nichts anderes übrig, als aus der üblen Lage das Beste zu machen und zu hoffen, daß die Vermutung des Wirtes zuträfe. »Könnt Ihr mir dann etwas zu essen geben?« erkundigte er sich. »Aber gewiß, Doktor, wir haben heute abend einen ausgezeichneten Braten.« An einem kleinen Tisch in der Ecke genoß Antonio ein wunderbares Mahl und lehnte sich dann bequem zurück, um sich an seinem Weine gütlich zu tun. Er fühlte sich gestärkt und nahm die Gelegenheit wahr, die anderen Gäste zu mustern. Die meisten schienen vornehme Herren zu sein; ohne Zweifel infolge der Nähe des königlichen Hofes, vermu169
tete er. Zwei freundlich aussehende Priester aßen nahe beim Feuer und an einem Tisch saß ein Mann allein, wie Antonio. Er war ganz hübsch, etwas älter als Antonio, hatte leicht angegraute Schläfen und tiefliegende Augen unter buschigen Brauen. Seine Kleidung war aus kostbarem schwarzem Samt, aber so streng geschnitten, daß sie ihm beinahe das Aussehen eines Geistlichen gab. Zu Antonios Überraschung erhob sich der Mann, wischte sich die Lippen mit einer Serviette ab und kam durch den überfüllten Raum ganz offensichtlich auf Antonios Tisch zu. Er blieb stehen und verneigte sich. »Permítame, Doktor«, sagte er würdevoll. »Ich konnte nicht verhindern, Euer Gespräch mit dem Wirt anzuhören. Ich bin Armand de Quadra und habe die Ehre, mit Señor Savarino bekannt zu sein.« Antonio verneigte sich und fragte: »Wollt Ihr Platz nehmen, Señor?« De Quadra nahm einen Sessel. »Wenn Ihr zur Nacht nicht unterkommen solltet, würde es mir eine Ehre sein, Euch mein Haus anzubieten. Es ist ganz nahe von hier.« »Eigentlich hätte ich ja eine Unterkunft. Ich bin Signore Girolamo Bellarmis Leibarzt, aber ich will ihn nicht stören.« »Bueno! Dann werden wir Nachbarn sein. Señor Bellarmi hat ein Haus nahe dem meinen genommen.« »Vielleicht brauche ich keinen von Ihnen beiden zu belästigen«, entgegnete Antonio. »Es ist möglich, daß der Herr, der meines Freundes Zimmer benützt, nicht lange bleibt.« De Quadra zuckte die Achseln. »Der französische Botschafter ist ein Mann mit vielen Liebschaften.« »Der französische Botschafter?« »Comte de Quervain. Ich sah ihn vor einer Weile kommen und nach dem Zimmer Señor Savarinos fragen.« »Kennt Ihr Dr. Vesalius?« fragte Antonio. »Jeder kennt ihn. Ist er ein Freund von Euch?« »Ich bin ein Bewunderer seiner Lehren, bin ihm aber niemals begegnet.« »Er begleitet Seine Majestät auf einer Militärmission«, sagte de Quadra. »Darf ich Euch nach seiner Rückkehr mit ihm bekannt machen?« 170
»Das wäre sehr freundlich von Euch«, erwiderte Antonio. De Quadras lange Finger spielten müßig mit der Goldkette um seinen Hals. »Ihr seid eben aus Italien gekommen, Doktor, nehme ich an?« Antonio war sofort auf der Hut. Die Frage konnte zwar ganz harmlos sein, aber er hatte sich entschlossen, so wenig als möglich über seine Erlebnisse in Italien zu erzählen. »Ich komme aus Florenz«, erklärte er. »Das dachte ich«, erwiderte de Quadra ein wenig trocken. Antonios instinktive Abwehr bei der Erwähnung Italiens war nicht unbemerkt geblieben. »Señor Bellarmi, Euer neuer Herr, ist vor kurzem von dort gekommen.« Beim Eingang war ein kleiner Aufruhr entstanden, bemerkenswert genug, daß sich die Blicke aller dorthin richteten. Eine Frau trat ein und eilte durch die Wirtsstube den Stiegen zu, die zu den oben gelegenen Zimmern führten. Sie trug einen langen schwarzen Mantel mit einer tief hereingezogenen Kapuze, die nur ihre Augen sehen ließ. Bei ihrem Anblick erhob sich Antonio halb von seinem Sitz und unterdrückte einen Ausruf der Überraschung. Auch ohne den zusätzlichen Hinweis, den ihm das vorne aus der Kapuze herauslugende goldene Haar gab, würde er diese schlanke Gestalt, diesen vornehmen Gang erkannt haben. Außerdem war es derselbe schwarze Mantel, den sie in Padua getragen hatte. Aber war es möglich, daß Lucia Bellarmi hier mit dem französischen Botschafter, einem Mann, der wegen seiner Amouren bekannt war, ein Stelldichein hatte? Der Gedanke schien unfaßbar, aber es war nicht zu leugnen, was er hier mit eigenen Augen sah. Was war ihr eingefallen, diesen alten Sünder in einem gewöhnlichen Gasthaus zu treffen? »Kennt Ihr die Dame?« erkundigte sich de Quadra in einem Ton spöttischen Vergnügens. »Wieso, ich – –« Antonio hielt inne. Um Girolamo Bellarmis willen mußte er über seiner Nichte beschämendes Benehmen schweigen. »Ich glaubte zuerst … aber ohne Zweifel habe ich mich geirrt.« »Eine reizende junge Dame. Dem Äußeren nach zumindest«, sagte 171
de Quadra und erhob sich von seinem Stuhl. »Lo siento. Ich muß nun gehen.« Er verneigte sich höflich. »Wir werden gewiß noch Gelegenheit zu weiteren Unterhaltungen haben, wenn Ihr in Madrid bleibt.« Bedächtig trank Antonio den Rest seines Weines. Je mehr er darüber nachdachte, um so ärgerlicher wurde er auf Lucia, weil sie den guten Namen ihres Onkels und ihrer Familie, auf den sie so stolz zu sein behauptete, gefährdete. Und da Signore Bellarmi nicht hier war, um sie vor den Folgen ihrer Torheit zu schützen – wahrscheinlich wußte er nicht einmal, daß sie so verrückt sein konnte – war es da nicht seine Pflicht, selbst dazwischenzutreten? Antonio stand auf und ging zu den Stiegen. Der Wirt wollte ihn anrufen, als er aber den brennenden Ärger in seinem Blick sah, besann er sich eines besseren. Oben auf den Stufen hielt Antonio inne. Einige Dutzend Zimmer lagen in dem Stockwerk und in jedem davon konnte sich Lucia aufhalten. Dann sah er ein Mädchen, das in einem der Zimmer, Feuer machte und rief nach ihr. »Kennst du das Zimmer von Señor Savarino?« Als es Gians Namen hörte, leuchteten die Augen des Mädchens warm auf. Der Künstler dürfte also von seiner Fähigkeit, Frauen zu bezaubern, nichts eingebüßt haben, dachte Antonio, und mit diesem drallen Mädchen hier mußte er schon beträchtliche Fortschritte gemacht haben. »Ich bin ein Freund von Señor Savarino«, erklärte er. »Es ist die zweite Tür da hinunter, Señor.« Mit einem kühnen Blick streifte sie Antonios hohe Gestalt und sein dunkles Haar. Er wandte sich schnell zu der Tür, die sie ihm gewiesen, damit sie sein Erröten, das er noch nicht unterdrücken konnte, nicht sähe. Er klopfte hart an die Tür zu Gians Zimmer. Nichts rührte sich. Dann hörte er drinnen sich etwas bewegen und klopfte nochmals lauter. Jetzt vernahm er, daß im Zimmer ein Fenster geöffnet wurde. In Sorge, Lucia könnte in ihrer Angst versuchen zu entkommen und sich dabei verletzen, faßte er die Türklinke und warf sein Gewicht gegen die Tür. Zu seiner Überraschung war sie unversperrt und er wurde fast bis in die Mitte des Zimmers hineingeschleudert. Mit einem Krach 172
rammte er das Bett und fiel in die Knie. Trotz seiner Verwirrung wegen des ungalanten Entrés fand er Zeit zu bemerken, daß das Bett unberührt war. Durch das offene Fenster erspähte er ein Paar mit kostbarem Samt gekleidete Beine, die sich in den Zweigen eines Baumes verkrochen, der nahe dem Fenster stand. Dann vernahm er das Geräusch von brechenden Zweigen und ein Aufschlagen im Hof, dem einige saftige französische Flüche folgten. Antonio richtete sich auf und blickte in Lucias weit aufgerissene, furchterfüllte Augen. Aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen. Sie hatte noch nicht abgelegt, sondern nur die Kapuze zurückgeworfen. Einen Augenblick lang starrte sie ihn ungläubig an, aber dann begann ein drohendes Feuer in ihren Augen zu glühen. »Schande über Euch, Madonna!« rief er, indem er es mit der Taktik versuchte, die Führung an sich zu reißen. »Schande?« witzelte sie in ihrer Wut. »Schaut, wo ich Euch finde! Was treibt Ihr mit dem guten Namen Eures Onkels?« Ehe ihm bewußt wurde, was sie tun wollte, versetzte sie ihm mit der ganzen Kraft ihres geschmeidigen Körpers einen so harten Schlag, daß er taumelte. Aber als sie nochmals zuschlagen wollte, erfaßte er ihr Handgelenk und hielt es fest, trotz ihres Sträubens. »Ihr seid erzürnt, weil ich Euer Rendezvous gestört habe?« Sie erlahmte plötzlich. Aller Widerstand war weg und ihre Augen füllten sich mit Schrecken. »Ihr dachtet, daß ich – –« »Was sonst konnte ich denken? Ich komme heute abend in Madrid an und sehe, wie Ihr Euch mit einem stadtbekannten Abenteurer in einem Gasthof trefft, allein und in der Nacht, in dessen Schlafzimmer.« Er entsann sich jetzt des Franzosen und ging zum Fenster. Einige Fetzen Tuch hingen auf einem gebrochenen Ast des Baumes, aber im Hof war nichts zu sehen. »Euer Liebhaber scheint geflohen zu sein«, stellte Antonio säuerlich fest. »Aber einen Teil seiner Hosen und vielleicht auch seiner Haut mußte er zurücklassen.« »Liebhaber?« schrie sie entrüstet und die Farbe kehrte wieder in ihr 173
Gesicht zurück. »O Ihr – –« Sie hob ihre Hand, als wollte sie ihn nochmals schlagen. »Tut das noch einmal und ich lege Euch über mein Knie«, drohte er. Ihre Augen weiteten sich und sie ließ ihre Hand fallen. Dann langte sie rasch nach der Kordel, die ihren Mantel am Hals zusammenhielt. Die Falten fielen auseinander, sie schwenkte ihre Arme heraus und warf den Mantel zurück. »Sehe ich so aus, als ob ich einen Liebhaber treffen wollte? Ich müßte zumindest halb nackt sein. Nicht wahr?« »Erspart mir Einzelheiten, bitte«, sagte er. Aber er mußte zugeben, daß ihre Art und Weise überzeugend gewesen war. Ob er sich nicht doch geirrt hatte? Sie zog die Kordel an ihrem Hals zusammen, knüpfte sie rasch und zog die Kapuze wieder über den Kopf. »Wo geht Ihr hin?« fragte er. »Zurück zum Palast. Ich wohne dort … wenn ich nicht einen Liebhaber treffe«, fügte sie höhnisch hinzu. »Aber Ihr könnt doch nicht allein gehen.« »Ich bin auch allein gekommen«, verwies sie ihn stolz. »Wartet. Ich begleite Euch.« Aber ehe er noch ausgesprochen hatte, klapperten ihre Absätze bereits über die Stiegen. Er folgte ihr, warf dem Wirt ein Geldstück für das Mahl hin und rief ihm über die Schulter zu, er möge seine Sachen auf Gians Zimmer schaffen. Als er den erleuchteten Hof betrat, glaubte er für einen Augenblick, sie aus den Augen verloren zu haben, dann sah er aber ihre schlanke Gestalt auf der gegenüberliegenden Seite im Schatten der hohen Mauer, die den königlichen Palast umschloß, dahineilen. Er beschleunigte den Schritt, um sie einzuholen. Auf dem halben Weg zur Ecke hielt Lucia inne. Das kleine Tor, das dort in die massiven Steine der Mauer eingelassen war, konnte Antonio in der Dunkelheit kaum wahrnehmen. Sie klopfte rasch zweimal, machte eine Pause und klopfte dann wieder zweimal. Beinahe gleichzeitig öffnete sich die Pforte und er hörte eine Frauenstimme rufen: »Lucia, Gott sei Dank, daß Ihr da seid.« Lucia trat in das Tor, das hinter ihr geschlossen wurde. Stirnrunzelnd starrte Antonio auf die kleine Pforte. Konnte er die 174
Ereignisse im Gasthof falsch beurteilt haben? Lucia hatte sich jedenfalls nicht wie eine in flagranti Überraschte benommen; der feine Herr allerdings war mit entsprechender Eile verschwunden. Achselzuckend wandte er sich dem Gasthof zu.
VI
A
ntonio hatte sich erst wenige Schritte von der kleinen Pforte entfernt, als er Lucia flehend nach ihm rufen hörte. Die Pforte war offen und Lucia stand daneben auf der Straße. Als er näher kam, sah er, daß ihr Gesicht blutleer war. Sie schwankte und er ergriff ihren Arm, um sie zu stützen. »Was ist Euch, Madonna?« fragte er. »Kommt rasch mit hinein. Etwas Furchtbares ist geschehen.« Er eilte durch die Tür und sie sperrte hinter ihm fest zu. Eine andere Frau, kleiner und älter als Lucia, stand auf dem Kiesweg, der vom Tor wegführte, und rang die Hände. Sie weinte und war offensichtlich so verstört, daß sie nicht sprechen konnte. »Donna Maria de Paredes«, sagte Lucia schnell. »Dies ist Dr. Antonio Servetus.« Antonio verneigte sich. Die ältliche Frau nickte, hielt aber mit dem Schluchzen nicht inne. »Wo ist er?« verlangte Lucia zu wissen. »Im Pavillon.« Sie wies in die Dunkelheit, wo die Gebäude der königlichen Residenz wie winkelige Schatten unscharf zu sehen waren. »Hier, Tonio!« Lucia faßte seine Hand und führte ihn eilig über den Kiesweg, der sich zwischen den Bäumen dahinwand. Señora Paredes trottete hintendrein. »Er wartete auf Eure Rückkehr, Lucia«, stammelte sie. »Sie klopften an und er dachte, Ihr wäret es und öffnete die Tür. Dann fielen sie mit dem Dolch über ihn her.« Sie brach erneut in Schluchzen aus. Weit mehr als der Beweis, daß der Mann, der da im Gartenhaus be175
wußtlos in seinem Blute lag, einen ungleichen Kampf geführt hatte, erschütterte Antonio das seltsam pfeifende und sprudelnde Geräusch, das aus der Brust des Verletzten kam. Es hörte sich an, als würde Luft durch einen Strohhalm in eine mit Flüssigkeit gefüllte Flasche geblasen. Antonio hatte dies schon einmal gehört, als man ihm in Padua einen Kavalier brachte, dem im Duell die Brust durchstoßen worden war und der wenige Minuten später starb. Eine saugende Wunde in der Brust! diagnostizierte er als geübter Mediziner, denn nichts anderes konnte dieses schreckliche Gegluckse verursachen. In Padua hatte es den Tod bedeutet, wie es ihn auf tausend Schlachtfeldern bedeutet hatte, und wahrscheinlich würde es hier auf den königlichen Palastgründen auch das gleiche sein. Antonio kniete rasch neben dem verletzten Mann nieder und riß das seidene Gewebe seines Wamses und seiner Wäsche auf. »Haltet das Licht näher«, befahl er dem Lakaien, der es mit zitternden Fingern hielt und dem die Angst groß in seinem bleichen Gesicht geschrieben stand. »Sí Señor«, flüsterte der Mann, aber er schreckte vor der Blutlache zurück. Lucia ergriff nun selbst die Laterne und hielt sie direkt über des Verletzten Brust. Antonio knüllte einen Fetzen des aufgerissenen Hemdes zusammen, tupfte das Blut auf und suchte nach der Wunde. Sie war nicht schwer zu finden, sobald er die Haut vom Blut gereinigt hatte. Obwohl klein – unmißverständlich rührte sie von einem Dolch oder einem leichten Degen her – so verriet sie sich selbst durch das Glucksen und das seltsame, im Takt des Atems gehende Geräusch. Antonio wischte nun das Blut weg, das aus der Wunde spritzte. Für einen Moment verstummte der Ton, aber nur um sofort wieder einzusetzen, sobald er die Hand von der Wunde entfernt hatte. Er wischte nochmals das Blut weg; jeder Muskel an ihm war plötzlich angespannt, denn er begriff plötzlich, was geschah. Der Stoffknäuel hatte das Ansaugen der Luft durch die Wunde ebenso eingedämmt, wie den Verlust des Blutes. Und er erinnerte sich eines Falles aus dem Buch von Ambroise Paré, eines ganz gleichen Falles wie dieser hier, von dem der 176
französische Chirurg berichtete, er hätte einen Edelmann, der mit einem Degen in der Brust verwundet worden war, nur dadurch gerettet, indem er Verbandstoff auf die Wunde gedrückt hatte. »Bringt schnell einen langen Streifen Tuches zum Verbinden«, sagte er zu Lucia. »Wir dürfen keine Zeit verlieren.« Indessen hatte er schon Teile aus des verletzten Mannes Hemd gerissen und daraus eine Kompresse gemacht, die er auf die Wunde auflegte. Sofort hörte das Geräusch wieder auf, kehrte aber diesmal nicht zurück, weil er die Kompresse fest auf die Wunde preßte. Wenn die innerliche Blutung nicht zu stark war, raste es durch sein Gehirn, konnte er den Mann retten. Er war offensichtlich jemand von nicht geringer Bedeutung. Antonio sah, daß Lucia die Laterne dem Lakaien überreichte und in das Halbdunkel neben der Gartenhaustür trat. Dann rauschte Seide und blitzte weiße Haut auf, bevor sie aus ihrem Unterrock stieg, den sie nun in Streifen zerriß. »Wird das genügen?« fragte sie und reichte ihm einen etliche Ellen langen Streifen von der Breite seiner Hand. »Ja, aber es könnte sein, daß wir mehr brauchen.« Er wandte sich wieder der Wunde zu und faltete aus dem Stoff des Hemdes eine weitere Kompresse, mit der er die erste verstärkte. »Ihr werdet mir helfen müssen«, sagte er zu Lucia. »Wir müssen ihn umdrehen, um zu sehen, ob er noch andere Wunden hat.« Sie selbst hatte mit dem Aufheben des Körpers am meisten zu tun, aber der Verletzte war schlank und nicht sehr schwer. Antonio hielt indessen die Kompresse fest an die Wunde. Sie rollten ihn etwas um und Lucia prüfte den Rücken. »Hier ist keine Wunde«, berichtete sie. »Dann muß es ein Stilett oder ein Dolch gewesen sein. Ein Degen hätte ihn durchbohrt.« »Es war ein Stilett«, meldete sich Donna Maria. »Soviel konnte ich sehen.« »Haltet einmal diese Kompresse, Lucia. Ich will den Verband anlegen.« Sie legte die Hand auf die seine, er glitt mit den Fingern darunter weg und ließ ihre auf dem Tuch zurück. Ihre Schultern waren eng an die seinen gepreßt und er fühlte, wie sie zitterte, als sie das warme 177
Blut, von dem die Kompresse durchtränkt war, in ihrer Hand spürte. Die andere Frau hatte inzwischen auch ihren Unterrock zerrissen und nun lag neben Antonio ein ausreichender Stapel von Stoffstreifen für den Verband. Der Lakai hatte mittlerweile seine Furcht verloren und hob die Schultern des verwundeten Mannes. Antonio arbeitete schnell. Er umwand die Brust mit den Stoffstreifen und preßte so die Kompresse eng auf die Wunde. Er überlappte jede Windung, um den Verband so anliegend zu machen, daß sich die für das Leben des Verletzten so wichtige Kompresse nicht verschieben konnte und sich die Wunde nicht wieder öffnete. Nachdem die Bandage fertig war, sicherte er sie mit kostbaren Nadeln, die ihm seine Helferinnen zur Verfügung stellten. Antonio legte seinen Patienten nun wieder auf den Marmorboden zurück und bedeckte ihn mit Lucias Mantel. Er fühlte den Puls; kaum spürbar war er, er hatte sich also nicht verstärkt, aber er war auch nicht schwächer geworden und das bedeutete schon sehr viel. »Das ist alles, was wir im Augenblick für ihn tun können«, sagte er. »Aber er sollte hineingeschafft werden, wo es wärmer ist.« »Nimm den Lakai mit dir und schau nach der Königin, Maria«, befahl Lucia der älteren Frau. »Erzähl ihr, daß Don Pedro überfallen wurde und wir Hilfe brauchen, um ihn hineinzuschaffen.« »Ihr wart großartig, Madonna«, sagte Antonio, während sie auf die Hilfe warteten. »Ohne Euch hätte ich ihn nicht retten können.« »Dann muß er nicht sterben?« »Es ist noch Hoffnung. Wer ist er?« »Don Pedro y Ruiz, Marquis von Grijalva«, antwortete sie. Der Name besagte Antonio nichts, das sah sie an seinem verständnislosen Ausdruck, darum fügte sie hinzu: »Sein Name ist einer der ältesten in Spanien und er ist ein großer Soldat.« »Warum wurde er angegriffen?« »Viele Leute hassen ihn, weil – –«, sie zögerte, »weil ihn die Königin sehr gerne hat.« »Ist er ihr Geliebter?« 178
»Was soll er sein?« fragte sie spitz. »Er ist gut und freundlich und ehrenhaft und liebt seine Heimat mehr, als die es tun, die ihm nahetreten wollen.« »Ich wollte ihn nicht kritisieren«, wehrte sich Antonio. »Aber wenn er ein so fabelhafter Mensch ist, warum hat er dann Feinde?« »Das ist eine lange Geschichte. Ihr werdet sie beizeiten erfahren.« Sie warteten eine Weile still, nur das Atmen des Marquis war zu hören, dann fragte Antonio: »Habe ich die Situation heute abend verkannt, Madonna?« Farbe stieg ihr in die Wangen. »Glaubt Ihr? Ihr schient Eurer Sache sehr sicher.« »Ihr müßt zugeben – –« »Daß Ihr eine sehr schlechte Meinung von mir habt«, unterbrach sie ihn zornig. »Das will ich ganz frei bekennen, Herr Doktor.« »Aber wie konnte ich denn wissen?« »Ihr kanntet mich. Wir brauchen nicht mehr darüber zu sprechen. Eure Ansicht interessiert mich wenig, Ihr verpatzter Mönch.« Vom Palast näherten sich Lichter und Donna Maria erschien mit vier Dienern, die eine Bahre trugen. Unter Antonios Anweisung legten sie den verletzten Mann darauf und Antonio schritt neben ihnen her, ängstlich darauf bedacht, daß die Bahre nicht durch einen unachtsamen Tritt der Diener erschüttert würde und der Verband sich nicht lockere. Der kleine Zug betrat den Palast durch ein Hintertor, schritt durch einen langen Korridor und erreichte schließlich ein kleines, aber prächtig ausgestattetes Apartment von zwei Räumen. Antonio half den Dienern, Don Pedro zu Bett zu bringen, da betrat eine junge, dunkelhaarige Frau das Zimmer. Sie war kostbar gekleidet, und obwohl sie nicht älter schien als Lucia, machten die beiden Frauen vor ihr einen tiefen Knicks. Antonio, der in ihr die Königin vermutete, ließ sich auf ein Knie nieder. »Das ist Dr. Antonio Servetus, meines Onkels Leibarzt, Eure Majestät«, erklärte Lucia. »Er traf erst heute aus Barcelona ein und war glücklicherweise gerade in der Nähe.« Die junge Königin nahm die Vorstellung huldvoll entgegen, dann 179
ging sie zu dem Bett und blickte auf den verwundeten Mann nieder. Er war mindestens um zehn Jahre älter als sie, stellte Antonio fest, da er jetzt Gelegenheit hatte, nicht nur die Wunde, sondern den Mann selbst zu betrachten. Er hatte einen gut geformten Kopf, der Intelligenz verriet. Die Königin hielt den Atem an und schluchzend hob sie ihre dunklen flehenden Augen zu Antonio auf. »Wird er – –« Sie würgte an den Worten und konnte nicht weitersprechen. »Er ist schwer verwundet, Majestät«, sagte Antonio. »Aber ich habe die unmittelbare Gefahr gebannt.« »Wo ist die Wunde?« »In der Brust, durch die Lunge.« »Dann ist es sehr ernst.« »Sehr ernst. Wunden dieser Art heilen kaum unter der üblichen Behandlung. Ich habe eine neue Methode angewandt, die von einem Arzt aus Frankreich stammt, von Dr. Paré – –« »Ich kenne Dr. Paré«, sagte die Königin eifrig. »Er ist ein hervorragender Arzt.« »Er hat etliche Fälle nach dieser Methode geheilt.« Ein wenig von der Angst schwand aus der jungen Königin Gesicht und sie streckte Antonio ihre Hand entgegen. »Gott sei gedankt, daß Ihr hier wart, Dr. Servetus. Ich glaube, kein Arzt in Spanien hätte diese Methode gekannt. Wollt Ihr bei ihm bleiben?« Antonio berührte ihre Finger mit seinen Lippen. »Wenn Ihr es wünscht, Majestät. Aber wolltet Ihr nicht einen der ordentlichen Hofärzte zur Konsultation mit heranziehen?« »Dr. Vesalius ist unser bester«, sagte die Königin nachdenklich. »Er rettete dem Prinzen vor einigen Jahren das Leben, aber er ist mit dem König weg.« »Dann vielleicht einen anderen?« Die Vernunft sagte ihm, er sollte einen anderen Arzt zur Seite haben, mit dem er die Verantwortung für das Leben einer so bedeutenden Persönlichkeit, wie die des Marquis von Grijalva, teilen könnte. Lucia sagte: »Dr. Servetus ist an der Universität von Padua sehr geachtet, Eure Majestät. Er war dort Professor.« 180
Die Züge der Königin hellten sich auf. »In diesem Fall ist es nicht notwendig, einen anderen zu rufen.« Sie verließ das Gemach, von Donna Maria und den Dienern gefolgt. Lucia und Antonio blieben bei dem verwundeten Marquis allein zurück. »Ich danke Euch für Eure Empfehlung«, sagte Antonio. »Jedermann weiß, daß Ihr in Eurem Beruf sehr geschickt seid, Dr. Servetus«, entgegnete sie schroff. »Während ich gerade dabei bin, mir meiner Unwissenheit bewußt zu werden.« Antonio lächelte scheu. »Aber hätte ich nicht Gelegenheit gehabt, von Dr. Duval behandelt zu werden, hätte ich die Schriften von Ambroise Paré nie gelesen.« »Und Don Pedro würde nicht mehr am Leben sein?« »Ich fürchte nein.« »Als Ihr meinen Onkel Mario in Padua behandeltet«, sagte sie süß, »bekam ich den Eindruck, daß Ihr alles wißt, was über Medizin zu wissen ist.« »Seitdem bin ich einen weiten Weg gegangen, Madonna. Und auch Ihr: Hofdame und Vertraute der Königin von Spanien – das ist eine Ehre und gefährlich dazu.« »Gefährlich, warum?« »Habt Ihr nicht bedacht, daß, wer immer Don Pedro angefallen hat, auf Euch hätte ebenso gut warten können?« Langsam wich die Farbe aus ihren Wangen und ihre Augen wurden weit und dunkel. »Ich – – ich dachte nie an so etwas.« »Dann haben sie also doch auf Euch gewartet.« »Ich glaube nicht«, flüsterte sie. »Aber es könnte sein.« Sie sah sehr kindlich, zerbrechlich und schutzbedürftig aus. Antonio erkannte nun, daß sie sich, eifrig und unerfahren wie sie war, hätte unschuldigerweise in eine gefährliche Intrige verwickeln können, und es war ihm jetzt klar, daß ihr Auftreten im Gasthof ein Teil des Komplotts gewesen war und nicht ein romantisches Rendezvous. Diese Erkenntnis erfüllte ihn mit großer Befriedigung, deren Ursache er sich nicht recht zu deuten wußte. 181
»Die Königin ist sehr jung«, warf Antonio ein. »Sie ist fast noch ein Mädchen.« Lucias Augen leuchteten auf. »Sie ist wundervoll. Ich würde alles dafür geben, sie glücklich zu sehen.« Sie legte die Hand auf seinen Arm. »Deshalb müßt Ihr Don Pedro retten; sie bedeuten einander so viel.« »Wenn dem so ist, dann solltet Ihr Euch lieber dort auf das Ruhebett legen und ein wenig ausruhen. Einer von uns wird dauernd bei ihm sein müssen und wir können einander ablösen.« »Ich bin sehr müde«, gestand sie. »Es war zu viel für mich, glaube ich.« Sie legte sich auf das Ruhebett. Aus einem Kasten, der im Schlafzimmer offen stand, brachte er eine Decke und breitete sie über sie aus. Die Decke war mit dem königlichen Wappen von Frankreich bestickt und er schloß daraus, daß dies ein privates Gemach der Königin sein mußte und die Decke ein Teil ihrer Heiratsausstattung war. Lucia schlief schon halb, als er sie zudeckte, aber sie öffnete nochmals die Augen. »Antonio«, sagte sie schläfrig. »Ja. Lucia.« »Wegen heute abend. Es war nicht, was Ihr dachtet.« »Ich bin bereits dahintergekommen. Könnt Ihr mir meinen Irrtum vergeben?« Sie seufzte wie ein Kind, dessen Wunsch erfüllt worden ist und einige Minuten später sagte ihm ihr regelmäßiger Atem, daß sie eingeschlafen war.
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he?«
er Morgen graute bereits, als sich Lucia streckte und ihre Augen öffnete. Dann setzte sie sich rasch auf. »Bin ich jetzt an der Rei182
»Blickt hinaus«, sagte er. »Es ist Morgen.« »Und Ihr ließt mich die ganze Nacht schlafen?« rief sie unwillig. »Ihr habt zu tief geschlafen. Ich wollte Euch nicht stören. Außerdem habe ich hier in meinem Sessel auch geschlafen.« Lucia rieb sich die Augen und warf die Haare aus der Stirne. »Ich muß furchtbar aussehen«, meinte sie auf echt weibliche Art. Tatsächlich sah sie aus wie ein verschlafenes Kind. »Wie geht es dem Marquis?« »Ein wenig besser. Die Königin war während der Nacht einige Male hier.« »Und fand mich schlafend! Was muß sie gedacht haben?« Ein Stöhnen von dem Krankenlager brachte sie von ihren Betrachtungen ab und beide eilten zum Bett. Don Pedros Augen waren geöffnet. Er erkannte Lucia und seine Lippen bewegten sich. »Donna Lucia, was ist geschehen?« hauchte er. »Ihr wurdet angegriffen und verwundet, Euer Gnaden.« Ein Anfall krampfartigen Schmerzes ließ ihn die Zähne in die Unterlippe beißen. »Ihr gabt mir das Zeichen und ich öffnete die Tür.« »Irgend jemand hat das Zeichen entdeckt«, erklärte Lucia, »und benützte es, um einzutreten und zu versuchen, Euch zu töten.« »Habt Ihr unseren Plan ausgeführt?« »Nicht ganz«, Lucia zögerte. »Wir wurden unterbrochen.« Antonio erkannte, daß dies ihm und seinem Dazwischentreten im Gasthaus letzte Nacht galt. Don Pedro richtete den Blick auf Antonio. »Das ist Dr. Servetus, meines Onkels Leibarzt«, erklärte Lucia. »Er war glücklicherweise in der Nähe und nahm sich Eurer an.« Dann fügte sie hinzu. »Ihr könnt Dr. Servetus vollkommen vertrauen. Ihre Majestät tut es auch.« Bei der Erwähnung der Königin veränderte sich Don Pedros Ausdruck. Der Blick der Verehrung, der in seinen Augen aufleuchtete, war wie Sonnenlicht, das durch die Wolken bricht. Und Antonio ahnte, es mußte dasselbe Gefühl sein, das er empfunden, als er zum erstenmal die Venus gesehen. Es wurde ihm jetzt auch klar, warum er die Königin und Don Pedro nicht tadeln durfte, obwohl ihre Leidenschaft – 183
nach kirchlichen Gesichtspunkten zumindest – eine unerlaubte war. Unwissend, wie er über die Beziehung zwischen Mann und Frau war, fühlte er, daß es Umstände gab, in denen die Liebe zweier Menschen die menschlichen Gesetze durchbrach und eine Gewalt wirksam wurde, die aus dem Göttlichen kam. »Ihre Majestät werden wünschen, daß man ihr mitteilt, daß Ihr bei Bewußtsein seid«, sagte Lucia. »Ich will sie aufsuchen.« Als sie gegangen war, fragte Don Pedro: »Muß ich sterben, Doktor?« »Eure Wunde ist gefährlich. Wenn keine Komplikationen eintreten – –« »Dann seid Ihr bis jetzt noch nicht sicher?« »Nein. Das kann ich nicht sein.« Es gab nichts zu verheimlichen, denn der Zustand war noch immer sehr ernst. Wenn es zu einer Empyema kam oder frischer Blutausfluß aus der verwundeten Lunge Blutandrang und Fieber verursachte – Dutzende solcher Komplikationen konnten dem Marquis gefährlich werden. Lucia erschien mit der Königin und zog sich dann mit Antonio in den angrenzenden, kleineren Raum zurück. Sie schloß die Tür und nun waren sie beide allein. Sehnsüchtig sagte Lucia: »Es muß wundervoll sein, so geliebt zu werden wie sie.« »Seid Ihr nicht noch zu jung, um Euch über solche Dinge den Kopf zu zerbrechen?« Sie stieß ungeduldig mit dem Fuß auf. »Ich bin zwanzig. Meine Großmutter hatte in diesem Alter schon Kinder.« »Ich glaube kaum, daß Ihr Schwierigkeiten hättet, einen Mann zu finden«, neckte er sie. Ihr Ausdruck milderte sich. »Und warum glaubt Ihr das?« »Nun, Eure Familie ist sehr reich. Ihr werdet gewiß eine bedeutende Mitgift bekommen.« Und da er den Sturm sah, der sich in ihren Augen sammelte, fügte er hinzu: »Natürlich seid Ihr auch wunderschön.« Sie erkannte, daß er sie nur necken wollte, aber sie schien darüber nicht ungehalten. »Pfui über Euch, Herr Mönch. Was wißt Ihr schon von Frauen.« 184
»Ich bin nicht nur Arzt, sondern auch so etwas wie ein Künstler.« »So«, meinte sie spöttisch. »Ich erinnere mich nun, Euer Ideal ist ja die Venus des Botticelli.« Wie immer drängte es ihn, die Göttin aus dem Meer zu verteidigen. »Gibt es eine lieblichere?« Sie warf ihm einen Blick zu, in dem mehr lag als nur eine Andeutung von Mißfallen. »Das wäre schwer zu sagen, nicht wahr? Schließlich sind gewöhnlich sterbliche Frauen bei solchen Vergleichen im Nachteil; wir können nicht unbekleidet umhergehen.« Antonio spürte, wie er errötete, und war für einen Moment um ein passendes Wort verlegen. »Das ist es, was ihr Männer doch von einer Geliebten verlangt, oder nicht?« »Was fragt Ihr mich?« sagte Antonio rauh. Aber dann erinnerte er sich der Nacht in Venedig, jener Nacht, in der er von der unter keinem guten Stern stehenden Zeremonie der Schwarzen Messe zurückgekommen war. »Seid Ihr kein Mann?« fragte Lucia süß; zu süß fürwahr. »Kann man nicht Mann sein, Madonna, ohne notwendigerweise ein Wüstling zu sein?« sagte er steif. »Und was mich betrifft, so habe ich eine Geliebte.« Nun war die Reihe an ihr, erstaunt zu sein. »Habt Ihr die Schriften des Paracelsus gelesen?« setzte er fort. Sie schüttelte den Kopf, aber ihr Blick blieb an dem seinen haften. »Es gibt eine Stelle bei Paracelsus, die lautet ungefähr so: ›Wir wissen, welch weiten Weg ein Liebhaber zu gehen hat, um die Frau zu finden, die er liebt. Um wieviel mehr wird dann ein Liebhaber der Weisheit versucht sein, nach seiner göttlichen Geliebten zu forschen.‹« »Göttliche Geliebte«, wiederholte Lucia leise und ihre Augen nahmen einen schwärmerischen Ausdruck an. »Welch liebliches Wort, Tonio. Ihr seid ein Poet.« »Ich zitierte bloß Paracelsus«, sagte er, ein wenig verwirrt durch ihr Gehaben. »Aber es könnte auch Eure Göttin auf dem Gemälde gemeint sein«, 185
sagte sie eifrig. »Und mögt Ihr in Eurem Drang nach Weisheit jemanden finden, der Euch so liebt, wie Ihr sie.« Wie sie nun so nahe vor ihm stand und in Erregung ein wenig gegen ihn hinschwankte, entzündete das Licht in ihren Augen auch in ihm einen Funken. »Lucia«, sagte er, einem plötzlichen Impuls nachgebend. »Glaubt Ihr nicht, daß Ihr und ich, daß wir einander von irgendwo oder irgendwann schon gekannt haben? Vielleicht in einem anderen Leben?« »Was meint Ihr damit?« flüsterte sie. »Ich habe das Gefühl – ich kann es nicht genau ausdrücken – daß wir einander irgendeinmal, vielleicht vor Hunderten von Jahren, sehr viel bedeutet haben müssen …« Das Geräusch vom Öffnen der Schlafzimmertür brachte sie plötzlich auseinander. Die Königin trat ins Zimmer, die Hände auseinandergebreitet und glücklich lächelnd. »Was hätte ich ohne Euch beiden treuen Helfer getan?« fragte sie und erfaßte Antonios Hand mit ihrer Rechten und die Lucias mit ihrer Linken. »Es geht ihm doch gut, Dr. Servetus?« »Sehr gut, Eure Majestät. Natürlich können sich Komplikationen einstellen.« »Ihr Ärzte seid alle gleich«, neckte sie. »Ihr wagt es nicht, euch selbst zu vertrauen. Ich bin sicher, daß es keine Komplikationen mehr geben wird.« »Laßt uns beten, daß Eure Majestät recht behalten.« Das Gesicht der Königin wurde ernst. »Es gibt Dinge, die ich mehr fürchte wie Komplikationen. Die den Marquis zu töten versuchten, sind noch auf freiem Fuß.« »Könnte nicht die polizia – –« Antonio suchte nach den ungewohnten spanischen Worten. »– el policía versuchen, sie zu finden?« Die Königin schüttelte das Haupt. »Zur Zeit können wir sie nicht in Anspruch nehmen.« »Aber sie würden doch nicht hier herein kommen«, warf Lucia ein. »Dessen bin ich nicht gewiß«, entgegnete die Königin. »Sie könnten sich sogar in Eure Behandlung einmischen, Doktor.« 186
»Wie Eure Majestät wissen, bin ich Italiener und von Ihren Ärzten hier in Madrid nicht anerkannt. Das war der Grund, warum ich eine Konsultation vorschlug.« Antonio äußerte damit einen Gedanken, der ihm Kopfzerbrechen bereitete. »Aber Dr. Vesalius ist der einzige Arzt, dem ich außer Euch vertrauen kann«, versetzte die Königin, »und er ist viel zu weit weg.« »Vielleicht könnte Dr. Servetus irgendeinen wirksamen Beweis des Vertrauens Eurer Majestät bekommen«, schlug Lucia vor. Das Gesicht der Königin erhellte sich. »Natürlich. Ich kann ihn zu meinem Leibarzt berufen. Warum dachte ich nur nicht schon früher daran. Ich werde morgen eine königliche Kommission bestellen und Euch als Leibarzt der Königin bekannt machen.« »Eure Majestät tun mir zu viel der Ehre an«, stammelte Antonio. »Es ist nicht ganz eine Ehre, Dr. Servetus«, die Stimme der Königin war wieder ernst geworden. »Ihr werdet diesen Schutz eher benötigen, als Ihr denkt.« »Ich werde mich bemühen, dessen würdig zu sein.« »Dessen bin ich gewiß. Kommt bitte mit mir, Lucia.« Antonio ging zurück zum Bett und blickte auf den schlafenden Marquis. Vieles war ihm hier unverständlich. Man redete von Gefahr, ohne deren Ursache zu erwähnen, von Verschwörung, ohne die Verschwörer zu nennen, aber doch hatte er den Beweis, daß diese Gefahr wirklich bestand, denn Don Pedro wäre ihr beinahe zum Opfer gefallen.
VIII
E
s dauerte nicht lange, und schon bedurfte Antonio des Schutzes, den ihm die Königin gewährt hatte. Don Pedro schlief, und er selbst war im Sessel eingenickt, als er an der Außentür ein energisches Klopfen vernahm. 187
Er öffnete und sah einen großen, dunkelhäutigen Mann, elegant angezogen, auf der Schwelle stehen, der ihn mit hellen Augen betrachtete. Hinter ihm stand ein stämmiger Geselle, schurkisch im Aussehen. Er trug eine Schachtel, wie sie die Ärzte damals für ihre Instrumente und Drogen gebrauchten. Der elegante Besucher entpuppte sich im weiteren als Arzt. Antonio erkannte dies an der großen Kugel an seinem Stock, die, wie er wußte, zum Aufbewahren von Kampfer und anderen flüchtigen Stoffen diente, von denen man sagte, sie beugen dem Schwarzen Tod und dem neuerlich grassierenden morbus gallicus vor. »Dr. Servetus?« Der Ankömmling betonte den Titel übermäßig stark, als ob er seine Rechtmäßigkeit bezweifle. »Das bin ich.« Der Besucher stelzte in das Zimmer und sein Diener folgte ihm. »Ich bin Dr. Juan Alvarez, Mitglied der Ärzteschaft von Madrid und Paris und Arzt seiner höchsten katholischen Majestät, König Philipp II. Dies ist mein Diener Valdez.« Antonio verneigte sich, aber die Anzahl der Titel beeindruckte ihn nicht. Er wußte gut, daß sich oft die schändlichsten Quacksalber das Wohlwollen eines Prinzen erschlichen und dann alle Arten von Titeln und Ehren erhielten, die sie dazu benützten, andere Ärzte einzuschüchtern und die unwissende Öffentlichkeit zu beeinflussen. Ohne aufgefordert zu sein, begab sich der dunkelhäutige Arzt in das Zimmer, in dem Don Pedro lag. »Habt Ihr Euer Diplom von einer Universität?« fragte er. Dies war eine vorsätzliche Beleidigung, dachte Antonio, mit Bedacht gewählt, um ihn zu ärgern und zu demütigen. »Vielleicht haben Eure Magnifizenz schon von der Universität zu Padua gehört. Dort habe ich mein Diplom erhalten und bis vor kurzem lehrte ich dort Anatomie und Chirurgie«, versetzte er etwas spöttisch. Alvarez blickte erstaunt auf und verlor für einen Augenblick die Sicherheit. »De veras?« fragte er und wandte sich dem Bett zu. »Seine Majestät Minister, der Bischof von Toledo, hat mich gesandt, die Wunden des Marquis von Grijalva zu untersuchen.« »Wie hat der Bischof erfahren, daß der Marquis verwundet wurde?« 188
Der Hofarzt zog es vor, diese Frage zu ignorieren. Statt dessen näherte er sich dem verletzten Mann und blickte auf ihn hernieder. »Voto a tal!« rief er aus. »Das Atmen ist behindert. Ohne Zweifel haben wir es hier mit einer Blutung zu tun.« »Kann sein«, versetzte Antonio und trat selbst an das Bett heran. Der Diener Valdez stand nahe bei ihm. Als behandelnder Arzt hatte Antonio das Recht, Alvarez und seinen Diener hinauszuweisen, aber dies allein zu tun, wäre nicht klug gehandelt und er wußte, daß keine Hilfe in Reichweite war. »Es ist natürlich zu früh, jetzt schon über die Wirkung der Blutung zu sprechen«, sagte er. »Naturalmente. Aber Ihr laßt zur Ader, um eine solche zu vermeiden?« »Der Marquis hat schon genug Blut verloren«, meinte Antonio kurz. Ehe er dazwischenfahren konnte, hatte Alvarez den Kragen von Don Pedros Nachthemd aufgerissen. »Ein Verband!« schrie Alvarez aufgebracht. »Madre de Dios! Wißt Ihr denn nicht, daß man bei derartigen Wunden die Blutung nicht eindämmen darf?!« »Ich erinnere mich nicht. Euch von der Art der Wunde erzählt zu haben, Dr. Alvarez«, sagte Antonio spitz. »Und der Verband bedeckt sie völlig. Woher habt Ihr Eure Kenntnis?« Alvarez dunkle Wangen röteten sich und sein Blick wurde schuldbewußt. »Hat Euch vielleicht sein Angreifer von der Art seiner Wunde erzählt?« spielte Antonio an. Der Hieb saß. Unfähig seine Schuld zu verbergen, fing er zu toben an. »Ihr versteht mich nicht. Ich bin von Seiner Majestät erstem Minister mit der Pflege des Marquis betraut.« Nun wurde Antonio das ganze Komplott klar. Die Angreifer hatten erfahren, daß ihr Anschlag auf Don Pedros Leben mißlungen war und suchten nun einen neuen Weg. Es würde nicht schwer sein, den Tod des verletzten Marquis herbeizuführen, ohne daß es nach Mord aussah, wenn er einmal nicht mehr unter Antonios Obhut war. Ein einfacher Aderlaß, ein Verfahren, über das viel gestritten wurde, ein loser Verband, der den gestauten Blutungen freien Lauf ließ, alles das konn189
te den Tod zur Folge haben. Auf keinen Fall, das stand für ihn fest, durfte er sich in eine Situation drängen lassen, in der er die Kontrolle über den Kranken verlor. »Nun, Doktor?« Alvarez' Unverschämtheit war wieder zurückgekehrt, nachdem er seinen Trumpf ausgespielt hatte. »Der Marquis von Grijalva bleibt mein Patient, bis ich ihn entlassen werde«, sagte Antonio bestimmt. »Al contrario«, entgegnete Alvarez hochmütig. »Da der Marquis unfähig ist, einen diesbezüglichen Entschluß zu fassen, muß es der Vertraute Seiner Majestät für ihn tun.« »Und wenn ich Eurem Befehl nicht gehorche?« Antonio versuchte Zeit zu gewinnen. Er hoffte, daß Lucia zurückkäme, damit er sie zur Königin schicken konnte. »Lo siento! Valdez wird Euch hinausschaffen und Euch auf Befehl des Bischofs von Toledo verhaften.« Der stämmige Diener kam schon auf Antonio zu, da sagte eine klare befehlende Stimme: »Halt, im Namen der Königin!« Es war Lucia. In der Hitze des Gefechtes hatte niemand sie das Zimmer betreten gehört, aber niemals war Antonio glücklicher gewesen, sie zu sehen. »Holt die Königin, Lucia, dieser Doktor will den Fall übernehmen.« »Auf Befehl des Bischofs von Toledo«, warf Alvarez gewichtig ein. »Dr. Servetus hat einen höheren Befehl als den eines Ministers. Er dürfte Euch vielleicht interessieren, Dr. Alvarez.« Sie langte aus ihrem Kleidausschnitt ein gefaltetes Papier und überreichte es ihm. Alvarez hob die silbergefaßten Augengläser, die von seinem Hals an einer zarten Silberkette herunterhingen. Mit einer hochmütigen Geste hielt er sie vor die Augen und skandierte den Text. Dann fielen die Augengläser herab und so, als würde eine mit Sägespäne gefüllte Puppe aufgerissen, verließ ihn die steife Arroganz und der Hochmut. Schließlich hatte er sich wieder in der Gewalt und verbeugte sich. »Mit Eurer Genehmigung, Señorita, wollen wir uns zurückziehen.« »Die Genehmigung habt Ihr«, sagte Lucia herablassend. Zu Antonio gewandt, sagte der spanische Arzt ölig: »Vergebt meinen 190
bedauerlichen Irrtum. Vielleicht werde ich persönlich die Ehre haben, Euren Namen der Ärzteschaft noch bekanntzumachen.« Antonio verstand nichts von dem, was da vorging. Er wußte nur, daß Don Pedro gerettet war. Sobald sich die Tür hinter Alvarez und seinem Diener geschlossen hatte, fing Lucia zu lachen an. »Ihr hättet Euer Gesicht sehen müssen. Überhaupt wart Ihr wie zwei Kampfhähne, die jeden Augenblick aufeinander losspringen wollten.« »Vielleicht wollt Ihr mir den Grund Eurer guten Laune verraten«, sagte er steif. Sie wischte sich die Augen und überreichte ihm das kleine Blatt, das Alvarez so mächtig beeindruckt hatte. Das Papier trug das Siegel der Königin. Die Botschaft war kurz und sachlich: An alle treuen Untertanen! Mit diesem Schreiben bestimmen wir Dr. Antonio Servetus zu unserem Leibarzt und beauftragen alle unsere Untertanen, seine Wünsche und seine Person zu respektieren, wie sie es mit uns selber tun würden. Königin von Spanien Elisabeth »Wo habt Ihr das her?« fragte Antonio. »Ich habe es gefälscht«, sagte sie selbstzufrieden. »Aber wie?« »Ich kam vor einigen Minuten zurück, wahrscheinlich gerade nach Dr. Alvarez' Ankunft, aber ich wartete im anderen Zimmer. Wie es dann aussah, als würden sie mit Euch kurzen Prozeß machen, nahm ich ein königliches Briefpapier – Ihr wißt ja, daß dies hier ihr Privatgemach ist – und fälschte die Order. Schließlich hat sie Euch ja zu ihrem Arzt bestellt und mehr habe ich ja nicht geschrieben.«
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IX
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ucia übernahm die Wache am frühen Abend, damit Antonio ein wenig ruhen konnte. Drei Stunden vor Mitternacht weckte sie ihn und überreichte ihm ein Blatt Papier. Die Mitteilung war kurz. Antonio, ich bin eben von der Jagd zurückgekehrt und brauche Dich dringend. Bitte komm sofort in das Gasthaus zu den Drei Brüdern. Laß mich nicht warten. Gian. »Wer hat das gebracht?« fragte Antonio. »Ein Stallknecht aus dem Gasthof, hat der Lakai gesagt. Glaubt Ihr, daß Gian bei der Jagd etwas zugestoßen ist?« »Aber er weiß doch gar nicht, daß ich schon in Madrid bin.« »Wahrscheinlich hat er es erfahren; jedermann scheint es schon zu wissen.« »Das ist aber auch gar nicht Gians Schrift.« Sie studierte die Botschaft noch einmal. »Sie wurde offenbar in Eile geschrieben; vielleicht von einem seiner Gefährten. Aber Ihr müßt gehen, Tonio, wenn Euch Gian braucht.« »Ja. Das glaube ich auch.« Aber er war noch mißtrauisch. Irgendwie war das Ganze nicht Gians Art. »Ich will bei Don Pedro bleiben«, sagte sie, »wenn Euch das Gedanken macht. Nehmt den Schlüssel zu der kleinen Tür bei dem Gasthaus. Es ist der kürzeste Weg.« Im Gasthaus zu den Drei Brüdern tranken wohl einige Herren, aber 192
von Gian war nichts zu sehen. Antonio ging durch die Stube zum Ausschank, wo der Wirt die Krüge füllte. »Ist Señor Savarino auf seinem Zimmer?« fragte er. »Aber nein, Señor«, der Mann blickte auf und erkannte Antonio. »Er ist von der Jagd noch nicht zurückgekehrt.« »Seid Ihr dessen gewiß?« »Ganz gewiß. Ich erwarte ihn seit Sonnenuntergang. Ist Señor Savarino etwas zugestoßen?« »Ich weiß nicht. Irgend jemand brachte mir eine Botschaft. Einer von Euren Stallknechten soll sie im Palast abgegeben haben.« »Plegué a Dios«, protestierte der Wirt. »Ich habe keinen Burschen in den Palast geschickt.« »Bestimmt nicht?« »Naturalmente, Señor. Das müßte ich doch wissen. Ist etwas geschehen?« Das war die Frage, die sich Antonio selbst stellte und er konnte zu keinem Schluß gelangen. Irgend etwas mußte geschehen sein, etwas sehr Schlimmes, und langsam dämmerte es ihm. Nichts hätte ihn vom Palast rascher wegbringen können, als eine Botschaft von Gian, in der vorgegeben war, er sei verletzt worden. Irgend jemand hatte dieses Wissen für seinen Zweck ausgenützt, um ihn aus dem Palast zu locken, damit Don Pedro unbewacht zurückbleibe. Dann war ja Lucia in Gefahr, fiel ihm plötzlich ein. Er verfluchte seine Dummheit, durch die er sich mit einem so offensichtlichen Schwindel hatte weglocken lassen und machte kehrt. Eine Gruppe von staubigen Berittenen sprengte in den Hof und verwehrte ihm für einen Augenblick den Weg. Dann hörte er eine wohlvertraute Stimme rufen: »Tonio! Tonio! Bist, du es?« Es war Gian, staubbedeckt von dem Ritt, aber mit freudig aufgeregter Miene, weil er Antonio gefunden. Er sprang vom Pferd und die beiden umarmten einander. »Hast du nach mir geschickt, Gian?« »Wieso? Nein, ich bin eben ange – –« 193
»Schau dir das an.« Antonio gab ihm den Brief und Gian überflog ihn. »Dio mio! Das habe ich nicht geschrieben.« Antonio klärte ihn über das Geschehene auf. Ehe er noch geendet hatte, sagte Gian: »Wir müssen sofort zum Marquis, wenn es nicht schon zu spät ist.« Er langte auf seinen Sattel hinauf und ergriff seinen Degen, der dort festgebunden war. »Bist du bewaffnet, Antonio?« »Nein, ich trage nie Waffen.« »Du wirst jetzt aber eine brauchen.« Gians Stimme war grimmig. Er griff in die Satteltasche und zog eine kurze Waffe hervor. »Kannst du eine Pistole abfeuern?« »Ich habe einmal mit einer Radschloßmuskete geschossen«, entgegnete Antonio. »Aber ist denn das notwendig?« »Vielleicht wird noch mehr notwendig sein.« Gian zog den Deckel der Zündpfanne zurück und sah nach dem Pulver. Dann drehte er einen Schlüssel in die Seite des Schaftes der kleinen Waffe und zog den Federmechanismus, der das Radschloß bewegte, auf. Soviel wußte Antonio, daß sich das Radschloß so bewegte, wie in den alten Feuerwaffen. Sobald der Hahn einschnappte, drehte sich das Rad durch den Druck der Feder gegen ein Stück Eisenpyrit, sandte einen Funkenschauer auf die Zündpfanne und entzündete das Pulver. Gian übergab Antonio die geladene Pistole und schwang das Gehänge seines Degens um die Schulter. »Gehen wir«, sagte er. »Hoffentlich ist es noch nicht zu spät.« Sie betraten den Schloßpark durch die kleine Pforte. »Mach keinen Lärm«, flüsterte Gian warnend. »Es könnten irgendwo Aufpasser sein.« Plötzlich hörte man in der Dunkelheit ein Geräusch, als würde ein Degen gezogen. Gian fuhr herum in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Er kam gerade zurecht, als ein Mann, der im Schatten gestanden hatte, zum Angriff hervorsprang. Antonio sah nur den schwachen Umriß einer in Schwarz gekleideten Gestalt mit einer schwarzen Maske. »Kümmere dich um den Marquis, Tonio!« schrie Gian, und als sich 194
der Angreifer auf Antonio stürzen wollte, wehrte ihn Gian geschickt ab und trieb ihn zurück. Antonio stürzte in die Dunkelheit gegen das Tor des Palastes zu. Sobald er es gefunden hatte, raste er durch den Korridor zu dem Gemach, in dem er Lucia und den Marquis zurückgelassen hatte. Er riß die Tür auf und eilte durch das erste Zimmer zur Schlafzimmertür, an deren Schwelle er innehielt. Über das Bett gebeugt, stand ein großer, stämmiger Mann, dessen Gesicht ebenfalls eine schwarze Maske bedeckte. Das Licht der Kerzen, die an der Wand brannten, spiegelte sich in der Klinge eines Dolches in seiner Hand. Er blickte auf, um zu sehen, wer ihn störe. Antonio überblickte rasch den Raum und sah Lucia gefesselt und geknebelt auf dem Ruhebett liegen. Aber sie lebte, denn sie wehrte sich ganz energisch gegen ihre Fesseln. Er konnte ihr nur einen flüchtigen Blick zuwerfen, da der Fremde jetzt auf ihn zukam, den Dolch in der erhobenen riesigen Faust. Einen Augenblick lang vergaß er die Waffe in seiner Hand und zog sich zurück, denn der Angreifer schien in dem kleinen Raum wie ein gigantischer Riese. Angst erfüllte ihn plötzlich, da er sich der Schmerzen erinnerte, die ihm in Padua genau dieselbe Waffe in der Hand Fra Felipe Santos' zugefügt hatte. Die Wunde war damals beinahe tödlich gewesen und der Mann, der sich jetzt auf ihn zu bewegte, war viel größer und stärker als der Prior. Dann entsann er sich der Pistole. Sie schien lächerlich klein, um einen solchen Riesen abzuhalten, aber Antonio erhob sie, sein Finger zog an dem Abzughahn und er fand sogar noch Zeit, daran zu denken, daß, wenn die Pistole ihr Ziel verfehlte – wie es bei diesen Waffen oft geschah – ihn und Lucia nichts retten konnte. Es dünkte ihn Äonen lang, bis der Hahn seinem Druck widerstand. Dann fühlte er, wie er nachgab, als sich der Mechanismus des Radschlosses mit einem Einschnappen löste und die Feder ihre Gewalt auf das gezahnte Rad übertrug. Das Knirschen des Rades gegen das Pyrit klang laut im Zimmer, Funken sprangen auf die Pfanne, dann leuchtete eine Flamme von der Zündung auf und in Antonios Nase stieg der Geruch brennenden Pulvers. Die kleine Waffe zuckte plötz195
lich gegen seine Handfläche. Ein donnerähnlicher Lärm traf sein Trommelfell und schwang im Raume nach. Die maskierte Gestalt schwankte, als hätte sich ein Gigant gegen sie geworfen. Der Mann warf die Arme empor und stand eine Sekunde lang, als wäre er an ein unsichtbares Kreuz genagelt. Dann durchdrang ein Schmerzensschrei den Raum und aus seiner linken Brust schoß eine Fontäne von Rot. Sie spritzte ihm unter die schwarze Kapuze, die seinen Kopf bedeckte, und ergoß sich gurgelnd von dort wieder herab. Einen Augenblick lang hing er in der Luft, jede Bewegung durch die Gewalt des Geschosses, das die Ladung Pulver herausgetrieben hatte, gelähmt, dann krachte er zu Antonios Füßen auf den Boden. Antonio rannte zu Lucia und nahm ihr den Knebel aus dem Mund. Die Knoten der Schnur um ihre Gelenke ließen sich nicht lösen, so nahm Antonio den Dolch des Angreifers, den er am Boden erblickte, und schnitt sie auf. Er half ihr, sich zu erheben und sie hängte sich schluchzend an ihn. »Wie konnte ich nur eine solche Närrin sein«, jammerte Lucia. »Ihr hättet ihn nicht aufhalten können«, versicherte ihr Antonio. »Ich habe jedenfalls gekratzt und gebissen, bevor er mich gefesselt hat«, sagte sie zufrieden. »Damit habt Ihr wahrscheinlich das Leben des Marquis gerettet. Wenn er nicht so viel Zeit gebraucht hätte, Euch zu bändigen, hätte der mörderische Schurke, noch ehe ich kam, ausführen können, was er beabsichtigt hatte.« Gian erschien in der Tür und hinter ihm wurden erregte Gesichter sichtbar. »Was ist geschehen?« rief er. Dann sah er die ausgestreckte Gestalt auf dem Boden und kniete an ihrer Seite nieder. »Per Bacco! Tonio, du bist ein ausgezeichneter Schütze. Genau ins Herz.« »Er griff mich an, noch ehe ich mich meiner Pistole erinnerte. Was ist mit dem anderen?« »Der focht wie der Teufel selbst, aber glücklicherweise habe ich mich in Venedig im Fechten geübt. Als deine Kanone hier herinnen los ging, rannte er wie ein Feigling davon und ich verlor ihn in der Dunkelheit.« 196
Lucia ging zur Tür, hieß die quatschenden Diener stille sein und schickte einen Boten nach der Königin. Gian zog mit der Spitze seines Degens die Maske vom Gesicht des Toten. »Dio mio!« rief er aus. »Dem Aussehen nach ein richtiger Schurke.« »Es ist der Diener des Doktors, Tonio!« rief Lucia. Antonio blickte auf den toten Mann. In der Tat, es war Valdez. »Was meint Ihr für einen Doktor?« fragte Gian. »Dr. Alvarez, er war heute morgen hier.« Da Valdez keiner ärztlichen Hilfe mehr bedurfte, ging Antonio zum Bett Don Pedros, um seinen Patienten sorgfältig zu untersuchen. Es war zwar ein Zeichen von Fieber und Blutandrang zu bemerken, wie er schon am Nachmittag festgestellt hatte, aber er entdeckte nichts, was Valdez ihm getan haben könnte. Er war gerade mit der Untersuchung fertig, da eilte die Königin herein. »Doktor, was ist?« rief sie. »Ist er – –« »Mit Don Pedro ist alles in Ordnung, Majestät.« »O Gott sei Dank.« Sie lehnte sich gegen das Bett, weiß wie das Band an ihrem Hals. »Was ist geschehen?« »Dieser Mann versuchte ihn zu töten. Glücklicherweise kamen Señor Savarino und ich gerade zurecht, ihn davon zurückzuhalten.« Die Königin blickte auf den ausgestreckten Körper auf dem Boden und schauderte. »Wer ist es?« »Ein Mann namens Valdez. Er war heute früh mit Dr. Alvarez hier.« »Dr. Alvarez«, flüsterte sie. »Er ist einer meiner erbittertsten Feinde.« »Ich werde ihn fordern, Majestät«, bot sich Gian galant an. Die Königin schüttelte den Kopf. »Ich lasse es nicht zu, daß jemand von euch sein Leben meinetwegen noch weiter gefährdet.« »Dann gestattet mir, daß ich hierbleibe und Don Pedro bewachen helfe.« »Das wäre eine Hilfe«, pflichtete sie bei und zu Antonio gewandt, fragte sie: »Seid Ihr gewiß, daß alles in Ordnung ist?« »Er hat etwas Fieber und Blutandrang, aber das habe ich erwartet.« 197
Sobald die Diener den Leichnam des Valdez hinausgetragen hatten und die drei mit dem schlafenden Marquis allein waren, sagte Antonio: »Wollt Ihr mit mir in das andere Zimmer kommen, ich habe mit Euch etwas zu besprechen.« Lucia blickte ihn erstaunt an, denn sein Ton war kurz. »Was habt Ihr denn, Antonio?« fragte sie. Er wartete, bis sie in dem kleinen Zimmer waren und schloß die Tür. »Zwei Angriffe wurden auf Don Pedros Leben gemacht und heute abend hätten sie uns alle drei töten können«, sagte Antonio. »Ich glaube, es wäre an der Zeit, zu wissen, was hier gespielt wird.« »Traut Ihr der Königin nicht?« fragte Lucia etwas verstimmt. »Warum sollte ich? Ich habe sie nie zuvor gesehen.« »Dann könntet Ihr mir vertrauen.« »Weiß Euer Onkel, in was Ihr da verwickelt seid?« »Nun … nein.« »Wäre er damit einverstanden, wenn er wüßte, daß Ihr Euer Leben aufs Spiel setzt?« »Er wäre es gewesen«, verharrte sie. »Und du, Gian, was spielst du hier für eine Rolle?« »Wenn Ihr Angst habt«, unterbrach ihn Lucia höhnisch, »warum geht Ihr dann nicht in den Gasthof zurück?« »Nur ein Narr würde in einer Situation wie dieser keine Angst haben«, erwiderte Antonio ärgerlich. »Schließlich hätten wir alle getötet werden können.« Gian legte seine Hand auf Lucias Gelenk. »Tonio hat recht, Lucia. Er muß wissen, was hier vorgeht.« »Niemand hat ihn aufgefordert, sich einzumischen«, argumentierte Lucia erzürnt. »Nun seid einmal beide ruhig«, befahl Gian. »Ich will versuchen, dir zu erklären, in was du hineingezogen wurdest. Du kannst dann wählen, ob du gehen oder bleiben willst.« Antonio nahm gegenüber Gian und Lucia Platz. Lucia starrte steif auf die Türe, verärgert, daß Antonio ihr einreden wollte, sie sei in et198
was hineingeraten, ohne nachzudenken und ohne die genauen Umstände zu kennen. »Tonio, du weißt doch, daß Lucias Familie mit den Medicis in geschäftlicher Verbindung steht?« »Das weiß ich wohl«, antwortete Antonio schroff. »Sie hat es mir oft genug erzählt.« »Dessen brauche ich mich ja nicht zu schämen«, begehrte Lucia auf. Gian überging das Geplänkel der beiden. »Katharina de Medici, die Königin von Frankreich, ist die Mutter Elisabeths, der Königin von Spanien, und Lucia ist mit beiden entfernt verwandt.« »Was hat Frankreich mit all dem zu tun?« fragte Antonio. »Frankreich ist politisch und religiös in zwei Lager geteilt: in die katholische Partei der Geusen auf der einen und die der Hugenotten auf der anderen Seite.« »Aber das ist doch eine rein religiöse Kontroverse.« »Religiös und politisch. Tatsächlich ist sie mehr politisch als religiös. Beide, die hugenottischen Bourbonen und die katholischen Geusen, erheben Ansprüche auf den französischen Thron und die Königinmutter muß das Gleichgewicht zwischen ihnen bewahren, wenn sie den Thron für ihre Kinder halten will, und zwar für die Brüder der Königin Elisabeth hier.« »Aber Katharina von Frankreich ist eine ergebene Katholikin. Sie würde Ketzerei nie unterstützen.« »Sie glaubt an religiöse Freiheit oder bekennt sich zur Zeit dazu«, erklärte Gian. »Unglücklicherweise hat sich Philipp zum Führer der Katholiken nicht nur in Spanien, sondern auch in ganz Europa gemacht, und die katholischen Bischöfe hier wünschen, daß er in Frankreich interveniert und das Gewicht seines Einflusses auf die katholische Partei wirft.« »Während Königin Elisabeth versucht, ihn neutral zu halten«, warf Lucia ein. Die Sache begann Antonio nun klar zu werden. »Aber warum wurde dann Don Pedro für den Angriff ausgewählt?« »Erstens, weil er mit der Königin eng befreundet, und zweitens, weil 199
er der Führer der Partei der Königin hier in Madrid ist, die darauf besteht, daß Spanien sich aus den Affären in Frankreich heraushält. Aber der Bischof von Toledo, Philipps Minister, ist ängstlich darauf bedacht, daß in Frankreich eingegriffen wird und die Hugenotten vernichtet werden, was bedeuten würde, daß ein Geuse auf den Thron käme.« »Würde sich der Bischof zu einem Mord herbeilassen?« fragte Antonio. »Er persönlich vielleicht nicht«, antwortete Gian. »Aber hat nicht Fra Felipe versucht, dich zu töten?« »Das war etwas anderes. Außerdem ist er von der Inquisition.« »Warte, bis du Frey Ignacio Molina, den Inquisitor von Madrid kennenlernst. Schließlich hat die Inquisition in Spanien ihren Ursprung und ist hier mächtiger, als sonst irgendwo in der Welt.« Ein fröstelndes Gefühl stieg in Antonio hoch. Konnte er dem Schatten, der sein ganzes Leben zu verdunkeln schien, niemals entkommen? Er war aus Italien geflohen wegen Fra Felipe Santos und der gefürchteten Organisation der Kirche, die ihm seit frühester Kindheit als die einzig wahre dargestellt wurde. Und nun war er durch eine schicksalhafte Verkettung, über die er keine Macht hatte, wieder in einen Konflikt hineingezogen worden, der mit der Inquisition und den unversöhnlichen Männern, die ihr dienten, zu tun hatte. »Was werdet Ihr jetzt tun, Antonio?« fragte Lucia. »Jetzt, da Ihr die Tatsachen kennt?« Antonio blickte nach der Tür, hinter der Don Pedro lag. »Ich werde meinen Patienten behandeln, Madonna. Schließlich ist dies die erste Pflicht des Arztes.«
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ntonio hatte nicht erwartet, daß Don Pedro genesen würde, ohne daß sich Komplikationen einstellten. Bei einer Wunde von diesem Ausmaße konnten immer Blutstauungen auftreten, die Fieber verursachten. Als es mit dem Marquis aber seit einigen Tagen immer schlechter wurde, wußte er, daß hier mehr als eine natürliche Reaktion vor sich ging. Mit Lucias Hilfe untersuchte er die Wunde sorgfältig. Sie war beinahe verheilt, aber auf der rechten unteren Seite des Brustkastens war eine starke Schwellung zu sehen, die die Rippen herauspreßte und die normalen Zwischenräume zwischen den Rippen ausfüllte. Behutsam entfernte er den Verband und Besorgnis malte sich auf seinen Zügen. »Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte Lucia. »Ja. Ich werde es Euch skizzieren, Ihr werdet es so leichter verstehen.« Er nahm ein Stück verkohltes Holz aus dem Kamin, zeichnete auf ein Blatt Papier einen Brustkasten und umriß die Rippen und Lungen. »Ich wußte gar nicht, daß Ihr so zeichnen könnt«, sagte Lucia. »Ich dachte einmal daran, Maler zu werden, Madonna. Nun seht her.« Er markierte die Stelle der tatsächlichen Wunde. »Die Klinge drang hier durch die Brust und erreichte die Höhle, die vom Brustfell um die Lungen gebildet wird. Die Lunge selbst muß hier in dem unteren Teil durchbohrt worden sein und jetzt treten hier Blut und verschiedene Säfte aus und sammeln sich in der Höhle um die Lungenenden an.« »Deswegen habt Ihr eine innere Blutung befürchtet, nicht wahr?« Hätte er nicht gewußt, wie scharf ihr Verstand war, wäre er verblüfft gewesen, wie rasch sie ihn begriff. »Ja, aber sie war nicht so stark, wie ich erwartet habe, und doch scheinen sich das Blut und die Säfte, die 201
sich hier ansammelten, zu zersetzen und verursachen Fieber und Delirien. Dieser Zustand wird Empyema genannt.« »Aber wie kann man diese schädlichen Säfte entfernen?« »Ich mußte die Wunde verheilen lassen, um einen Lufteintritt zu vermeiden. Nun sind die Muskeln darunter zusammengeheilt und es ist keine Öffnung mehr da.« Sie blickte von der Zeichnung auf. »Habt Ihr schon früher solche Fälle gehabt?« »Einige. Dr. Vesalius hat mehrere beschrieben.« »Was könnt Ihr nun tun?« Das war die Frage, mit der sich Antonio schon seit einigen Tagen beschäftigte, seit er zum ersten Male die Empyema vermutete. »Es gibt zwei Möglichkeiten. Die eine ist, zu warten und hoffen, daß seine Natur die Wirkungen dieser Blutanstauung überwindet.« »Aber er wird doch immer schwächer, das sehe doch selbst ich.« Antonio nickte zustimmend. »Die andere Möglichkeit ist, die Brust wieder zu öffnen und die Säfte abrinnen zu lassen. Das bedeutet einen chirurgischen Eingriff.« Ihre Augen weiteten sich. »Aber kann ein Patient jemals nach einer derartigen Operation weiterleben?« »Einige schon.« »Würde es Don Pedro überstehen?« »Ich glaube ja. Ohne Operation wird er sterben müssen, dessen bin ich gewiß.« Lucia zitterte. »Es ist schrecklich, Tonio. All dies, weil die Menschen nach Macht verlangen, die sie nicht haben sollen. Warum können nicht alle gut und freundlich sein … Wie Ihr?« »Ich verdiene Euer Kompliment nicht, Madonna. Vor zwei Tagen habe ich einen Menschen getötet.« »Einen, der es verdient hat. Er war ein Mörder.« »Haben wir ein Recht, zu richten? Wenn Eure und Gians Erklärungen stimmen, wurde der Mörder von einem Priester, einem Diener Gottes gesandt.« Er sah sie schwermütig an. »Seit meiner Kindheit predigt man mir, ich müsse die Gesetze Gottes befolgen. Ich hatte sogar 202
das Gefühl, daß meines Bruders Tod gerechtfertigt war, weil er sich gegen dieses Gesetz gewandt hatte. Und jetzt habe ich innerhalb eines Monats einen Menschen getötet und einen andern beinahe … und das Schlimmste daran ist … ich wollte beide töten.« »Ich wünschte, Ihr hättet jenen schrecklichen Fra Felipe Santos getötet.« »Jetzt bin ich soweit, noch eines anderen Mannes Leben auf mich zu nehmen.« »Aber Ihr würdet Euch bemühen, es zu retten.« »Hat überhaupt irgend jemand das Recht, einen anderen zu töten? Ich weiß nicht, Madonna.« Dann wies er die bedrückenden Gedanken von sich und straffte sich. »Ich glaube, wir müssen das Schicksal entscheiden lassen. Wollt Ihr Ihre Majestät bitten, mich zu konsultieren?« Aber die Königin konnte ihm in diesem schwerwiegenden Entschluß wenig helfen und schließlich fragte er: »Wer ist sein nächster Verwandter?« »Sein Neffe und Erbe, Don Raffaele Grijalva«, sagte die Königin. »Aber Eure Majestät«, protestierte Lucia. »Don Raffaele ist –« Die Königin lächelte und legte ihren Arm um Lucias Schulter. »Don Raffaele gehört zu denen, die mir nichts Gutes wünschen, Dr. Servetus, aber Ihr müßt ihn aufsuchen in einer so ernsten Angelegenheit wie dieser. Ich werde ihm eine Meldung schicken.« Als die Königin sie verlassen hatte, meinte Lucia: »Don Raffaele würde nichts lieber sehen, als daß sein Onkel stürbe. Es würde ihm ähnlich sehen, daß er die Erlaubnis verweigerte, wenn er sicher wüßte, daß sein Onkel ohne Operation sterben muß.« »Die meisten spanischen Ärzte werden ihm von der Operation abraten, denn nur wenige Chirurgen haben sie mit Erfolg durchgeführt.« »Er wird seinen Onkel sterben lassen, das könnt Ihr mir glauben.« »Vielleicht ist er gar nicht so schlecht, wie er gemacht wird«, warf Antonio ein. »Er ist sogar noch schlechter. Und ich weiß, er wird Euch herumkriegen. Ihr seid so – –«, sie hielt inne und biß sich auf die Lippen. 203
»Ihr wollt sagen, daß ich dem Leben gegenüber naiv bin, Madonna?« »Nun ja. Ihr seid naiv, Antonio.« Er verbeugte sich. »Ihr zollt mir ein Kompliment«, sagte er bitter. Sie stieß mit dem Fuß auf und Farbe stieg in ihre Wangen. »Wir beginnen schon wieder zu streiten. Warum müssen wir das tun?« »Die Ungeduld Eurer Jugend streitet mit der bedächtigen Art des Alters«, neckte er, unfähig, der Versuchung zu widerstehen, sie aufzustacheln. »Ihr seid nicht viel älter als ich, Herr Doktor«, erwiderte sie schroff. Antonio ergriff ihr Kinn und blickte auf ihr liebes, gerötetes Gesicht und die weichen Lippen, die den seinen so nahe waren. Er verspürte ein jähes Verlangen, sie zu küssen und beugte seinen Kopf, aber sie entwand sich schnell und ging von ihm weg. »Ihr seid dabei, Euch selbst bloßzustellen«, sagte sie spöttisch. »Denkt an Eure göttliche Geliebte.« »Lucia, müßt Ihr immer so zänkisch sein?« Sie antwortete nicht, aber auf ihrem Gesicht spiegelte sich ein selbstzufriedenes Lächeln, als sie sich beim Kamin niedersetzte und ihre Strickerei aufnahm. Don Raffaele Grijalva erschien mit erstaunlicher Promptheit. Geziert trat er ins Krankenzimmer, auf Stöckelschuhen, wie sie in Frankreich Mode waren. Er war klein von Gestalt, hatte eine gelbliche Haut und trug sich nach der neuesten Mode. Sein schwarzes Samtbarett krönte ein fröhlicher weißer Federbusch und sein Anzug war eine Symphonie in Weiß und Gold. Darüber trug er einen kostbaren Mantel und einen Kragen aus Marderpelz. Wie die meisten spanischen Kavaliere dieser Zeit hatte er Degen und Dolch bei sich. Zu Antonios Überraschung begleiteten ihn zwei ältere Herren. Den einen erkannte er als Dr. Juan Alvarez, der andere war ein kleiner, dicklicher Mann mit sorgenvollem Blick, der die Tracht der spanischen Ärzte trug. »Dr. Servetus?« fragte Don Raffaele. »Das bin ich.« Antonio verbeugte sich. »Ich bin Don Raffaele Grijalva. Ich glaube, Ihr kennt meinen Arzt, Dr. Alvarez, und dieser Herr ist Dr. Ortega.« 204
Antonio verneigte sich höflich vor den Ärzten. »Buenas dias, señores«, sagte er. Er wunderte sich, daß Don Raffaele die Ärzte mitgebracht hatte und daß der eine außerdem noch Alvarez war. Er würde gut daran tun, mit dieser ganzen Sache so rasch als möglich fertig zu werden. »Ich hoffe, Ihr könnt mir über meinen Onkel, den Marquis von Grijalva, verschiedenes Neues berichten«, sagte Don Raffaele. »Euer Onkel ist sehr krank«, erklärte Antonio. »Ich bin der Ansicht, daß es notwendig ist, ihn zu operieren.« Don Raffaele blickte überrascht auf. »Cáspita!« Chirurgische Eingriffe waren für Spanien eine Neuigkeit und wurden fast nicht vorgenommen. »Welche Art von Operation?« erkundigte sich Alvarez. »Eine Operation zur Beseitigung der Empyema«, erklärte Antonio. »Aber ich bitte die Herren, näher zu treten und den Marquis zu untersuchen.« Die Untersuchung der spanischen Ärzte war sehr oberflächlich. Nachher nahm Antonio die Zeichnung, die er für Lucia entworfen hatte, zur Hand und erklärte, wie er zu seiner Diagnose gekommen war. Dr. Alvarez sagte: »Eine höchst bewundernswerte Vorführung, Doktor.« Und Ortega nickte beifällig. »Ist die Operation sehr gefährlich?« fragte Don Raffaele. Er war während der Untersuchung in ziemlicher Entfernung gestanden und es schien, als langweile ihn das Ganze. »Sehr gefährlich«, sagte Antonio. »Und wenn ich es nicht erlaube, sie durchzuführen?« »Dann muß Euer Onkel sterben.« »Da bleibt wenig Wahl«, stellte der Neffe fest, als wollte er die Diskussion ein für allemal beenden. »Ohne Operation wird er bestimmt sterben, aber er hat eine Möglichkeit zu leben, wenn sie durchgeführt wird.« »Das ist nur Eure Meinung«, entgegnete Don Raffaele hochmütig. Antonio wandte sich den beiden anderen Ärzten zu. »Was sagen die beiden Herren dazu?« 205
Alvarez blickte auf Don Raffaele und Antonio sah, daß der Gecke warnend mit dem Kopf schüttelte. Mit öliger und beifallheischender Stimme meinte Alvarez: »Wie Ihr wißt, Dr. Servetus, wird die Chirurgie bei uns in Spanien noch nicht so angewendet wie in Italien. Ich fürchte, wir werden die Frage noch genau überlegen müssen.« »Gehen wir, meine Herren«, sagte Raffaele ungeduldig. »Wir werden Euch unseren Beschluß bekanntgeben, Dr. Servetus.« Die drei verließen das Gemach und ließen Antonio sprachlos vor Ärger und Zorn über diese Unhöflichkeit zurück. Er war noch verärgert, als Lucia ins Zimmer kam. Auf ihr Drängen berichtete er über die Unterredung. »Ich wußte, daß er das tun würde«, meinte sie. »Er wünscht den Tod Don Pedros herbei und deshalb erlaubt er es nicht, daß Ihr versucht, ihn zu retten.« »Ihr dürftet recht haben.« »Aber das darf nicht sein.« »Gibt es etwas auf dieser Welt, das sein darf?« fragte er mürrisch. »Ich bin versucht, zu sagen, nein.« Aber Antonio und Lucia irrten sich in der Einschätzung Don Raffaele Grijalvas. Er sandte eine Botschaft, die ermächtigte, die Operation auszuführen. Dr. Alvarez und Dr. Ortega baten um die Erlaubnis, bei dieser gefährlichen Handlung anwesend zu sein. Antonio las die Botschaft und gab sie dann Lucia und Gian, der gerade an Don Pedros Krankenlager Wache hielt. »Das ist eine Überraschung«, sagte Antonio. »Was schließt ihr beide daraus?« Gian runzelte die Stirne. »Wie ich den Schurken kenne, steckt gewiß etwas dahinter.« »Nicht wahr, Tonio, wir waren gewiß, daß er die Operation nicht gestatten würde«, sagte Lucia. »Don Raffaele wird glauben, daß die Operation nur die sichere Gewähr für den Tod seines Onkels bietet. Chirurgie wird in Spanien so wenig ausgeübt, daß er damit nur zu einer logischen Folgerung gekommen ist.« »Aber ein Verbot würde doch das gleiche bewirken.« »Daran dachte ich auch.« Antonio zuckte die Achseln. »Nun, wir 206
werden es noch erfahren. Ich will morgen früh die Operation vornehmen, sobald ich meine Instrumente vorbereitet habe.« Die Instrumentenschachtel war noch bei Antonios Gepäck im Gasthof zu den Drei Brüdern und er schickte Gian hinüber, sie zu holen. Als der Künstler zurückkehrte, sagte er wütend: »Ich weiß jetzt, warum Don Raffaele dir die Erlaubnis gegeben hat, Tonio.« »Wie habt Ihr das herausgefunden?« fragte Lucia. »Er saß im Gasthaus und trank mit einigen Freunden. Ich hörte ihn prahlen, daß er dich wegen Mordes verhaften lassen würde, falls sein Onkel unter der Operation stürbe.« »Aber das kann er doch gar nicht tun!« rief Lucia. »Ich glaube schon, daß er das kann«, sagte Antonio. »Wenn Alvarez und Ortega bezeugen, daß ich ihnen den Ernst des Falles nicht in seiner ganzen Schwere dargelegt habe.« »Und sie werden es bezeugen«, bestätigte Gian grimmig. »Die drei haben das Ganze ausgeheckt, nachdem sie hier nachmittags weggingen.« »Aber warum wollen sie mir schaden?« fragte Antonio. »Ich tue doch nur meine Pflicht als Arzt.« Gian zog einen Dolch aus dem Gürtel und prüfte die Spitze mit dem Daumen. »Du hast ihnen zwei Angriffe auf das Leben Don Pedros vereitelt. Das allein würde genügen. Außerdem glaube ich, wollen die Ärzte von Madrid auf die Dauer keinen Arzt mit deinen Fähigkeiten hier haben. Deine Verhaftung wegen Mordes würde alles mit einem Schlag lösen.« »Dann dürft Ihr die Operation nicht durchführen, Tonio«, drang Lucia auf ihn ein. Aus ihren Augen sprachen Furcht und Bangen. »Ihr dürft Euer Leben nicht auf diese Weise riskieren.« Er lächelte ihr zu und legte ihr die Hände freundschaftlich auf die Schultern. »Ihr habt einmal Euer Leben für eine Sache riskiert, an die Ihr glaubt, Madonna. Ich glaube daran, dieses Leben retten zu können.« Sie brach in Tränen aus und rannte aus dem Zimmer. »Mit Wonne würde ich den hier Don Raffaele in den Leib rennen«, sagte Gian und 207
schob seinen Dolch wieder in die Scheide. »Aber er ist ja bloß einer von vielen. Weißt du noch, Tonio, wie das alles begann?« »Natürlich. Im Kloster, als ich das Gemälde fand.« »Und wann wird es enden?« Gian zuckte die Achseln. »Wer kann das sagen.« Dann fügte er hinzu: »Da ist etwas, das ich dich wissen lassen möchte … es betrifft Lucia und mich.« Antonio wartete, bis der Freund fortfuhr. »Wir – –«, Gian stotterte, »– – wir sind übereingekommen, jedes seinen eigenen Weg zu gehen.« Verdutzt fragte Antonio: »Warum?« Gian zuckte die Achseln. »Es paßt uns gerade so … du hast sie doch gern, nicht wahr, Antonio?« »Ja – ich habe sie sehr gern.« »Warum machst du ihr dann nicht den Hof?« »Mach dich nicht lächerlich, Gian.« »Sie hat dich doch auch gern und ich sehe keinen Grund, warum – –« »Aber ich habe doch nichts und Lucia ist eine reiche Erbin und Angehörige einer bedeutenden Familie.« »Das hat nichts zu sagen.« »Und außerdem«, fuhr Antonio fort, »werde ich nie heiraten. Ich kam zu diesem Entschluß schon vor einiger Zeit.« »Wegen des Gemäldes? Sei nicht verrückt, Tonio.« Steif erwiderte Antonio: »Ich habe nicht erwartet, daß du mich verstehst, Gian.« »Bei den Göttern – –« »Jetzt ist es genug«, unterbrach ihn Antonio. »Wir wollen nicht mehr darüber sprechen.« Gians Gesicht war rot vor Ärger, aber er beherrschte sich. »Du wirst vielleicht schon morgen wegen Mordes verhaftet, Tonio. Deshalb dürfen wir nicht streiten.« Er wandte sich zur Tür. »Aber ich verstehe nicht, wie man so verdammt blind sein kann.«
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XI
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achlich und methodisch bereitete Antonio die Operation vor, aber innerlich war er alles andere denn ruhig. Der Zustand Don Pedros verschlimmerte sich rasch. Das dauernde Fieber, Delirien und Schüttelfrost erschöpften ihn mehr und mehr. Die Ausscheidung der durch ihre Zersetzung giftigen Säfte konnte ihn das Leben kosten. Diese Säfte waren wie ein langsam wirkendes Gift, das in den Folterkammern erfunden wurde, und solange sie nicht entfernt werden konnten, war der baldige Tod Don Pedros sicher. Wenn die Operation aber mißlang, so waren die Folgen, selbst abgesehen von der beunruhigenden Nachricht, die Gian über Don Raffaeles Absichten gebracht hatte, sehr ernst. In Spanien war man auf medizinischem Gebiet noch nicht so weit fortgeschritten wie in Italien und sogar dort wäre ein Eingriff wie dieser etwas Ungewöhnliches. In Spanien konnten die, die es wünschten, die Operation sehr leicht als eine unverantwortliche Handlung gegen den Willen Gottes bezeichnen, denn Krankheit war für den Spanier eine Art Sündenstrafe, und nur die Angst vor dem Tod brachte ihn zum Arzt als eine letzte Zuflucht. Die Inquisition, das wußte er, würde gegen einen, den sie als ihren Feind betrachtete, gewiß die Beschuldigung erheben, er hätte gegen den Willen Gottes gehandelt. Bloß zusehen und abwarten, wäre eine viel sicherere Sache. Er konnte immer noch sagen, eine Änderung im Zustand Don Pedros ließe eine Operation unratsam erscheinen und niemand – dessen war er gewiß – würde ihm widersprechen. Dr. Alvarez selbst würde gewiß eine derartige Operation nicht wagen, wenn er wußte, daß sein Herr dafür war, man solle abwarten, ob der Patient aufkommt. Aber für Antonio war es eine selbstverständliche Pflicht. Geschickt, 209
wie er mit dem Skalpell war, lag in seinen Händen die Rettung Don Pedros. Und Don Pedro war sein Patient und konnte daher seine ganzen Fähigkeiten beanspruchen. Außerdem war da ja auch noch der Blick in den Augen der jungen Königin gewesen, als er ihr sagte, Don Pedro würde am Leben bleiben können. Zeitig am Morgen machte sich Antonio auf den Weg zur kleinen Kapelle im Palast. Er kniete vor dem Altar nieder und betete zur Mutter Gottes, sie möge ihn für die kommende Prüfung stärken. Und während er so betete, spürte er ein Gefühl des Friedens und der Bestärkung und seine Zweifel schwanden dahin. Erst beim Weggehen bemerkte er, daß im Schatten neben dem Altar eine große Gestalt stand. Es war ein Mann in dem dunklen Habit der Dominikaner. Er trat nun hervor und Antonio sah, daß der Körper unter dem faltigen Gewand, das ihm lose von den schmalen Schultern hing, etwas schwächlich war. Sein Hals war lang und dünn, und seine Backenknochen stachen von den eingefallenen Wangen ab, so daß die ungewöhnlich tiefliegenden Augen noch tiefer zu liegen schienen. Aber das Auffallendste an diesem Priester war nicht seine große asketische Gestalt, sondern das Feuer in seinen blaßblauen Augen, ein Feuer, das Antonio unwillkürlich erschauern ließ. »Warum betet Ihr so früh am Morgen, mein Sohn?« Die Stimme war tief für einen so zerbrechlichen Körper, weiterschwingend erfüllte sie die ganze Kapelle. »Um Stärke und Führung, Padre. Ich habe heute eine wichtige und schwierige Aufgabe vor mir.« Des Priesters Augen bohrten sich in die Antonios, als wollte er dessen Seele sezieren. »Seid Ihr von der Richtigkeit dessen, was Ihr unternehmen wollt, nicht überzeugt?« »Jetzt bin ich es«, sagte Antonio fest. »Hat Gott Euch diese Überzeugung gegeben?« »Ja, ich bin gewiß, daß sie von ihm kam.« »Achtet darauf, daß Ihr nicht Eure eigenen Wünsche für den Willen Gottes auslegt.« Seine Stimme pochte an Antonios Ohr. »Unser Vater stimmt denen nicht zu, die seinem Willen entgegen handeln«, klang es 210
unheilvoll aus des Priesters Mund. Was konnte er von ihm wissen und was wollte er von ihm? »Leben – – und Tod – – sind Gottes. Er gibt sie und er nimmt sie«, fuhr die tiefe Stimme fort. »Kein Mensch hat das Recht, in seine Absichten einzugreifen. Seid versichert, die es dennoch tun, werden für ihre Vermessenheit bestraft, Dr. Servetus.« Er drehte sich um und verschwand im Schatten, noch ehe sich Antonio von dem Schreck erholen konnte, seinen Namen ausgesprochen zu hören. Wie konnte der seltsame Mann wissen, wer er war oder worum er hier gebetet hatte? Zweifellos hatte ihm der Priester mit Bestrafung wegen des Eingriffs in den natürlichen Ablauf einer Krankheit gedroht, aber Antonio war auch überzeugt, daß es eine spezielle Warnung in bezug auf Don Pedro war. Die seltsame Unterhaltung hatte ihn mit einem Gefühl unheilvoller Vorahnungen erfüllt. Er verließ die Kapelle und ging zu dem Gemach zurück, wo er Lucia bei Don Pedro zurückgelassen hatte. Ein Priester spendete dem Kranken gerade die Letzte Ölung; dann kam er, gefolgt von seinem Ministranten, heraus. »Buenas dias, Doktor«, grüßte der dicke, freundliche Mann. »Euer Patient ist sehr krank.« »Sehr schwer«, bestätigte Antonio. »Glaubt Ihr, daß er noch lange leben wird?« »Das wissen wir nicht, Vater. Ich bin froh, daß Madonna Lucia daran dachte, nach Euch zu schicken. Ich hätte das beinahe übersehen.« Die Augen des Priesters weiteten sich. »Aber es war doch Frey Ignacio Molina, der mich sandte, Doktor. Guten Tag, meine Kinder.« Sobald der Priester gegangen war, fragte Antonio: »Ist Frey Ignacio ein schlanker, großer Mann mit eingefallenen Wangen und tiefer Stimme?« Sie schauerte. »Und Augen, die Euch das Blut gerinnen lassen. Aber warum fragt Ihr?« Er erzählte von seiner Begegnung in der Kapelle. »Dann war das, was Gian gehört hat, richtig«, flüsterte sie. »Sie planen, Euch zu verhaften und Euch vor der Inquisition den Prozeß zu machen.« Sie schwankte und als er seinen Arm ausstreckte, um sie zu halten, warf sie sich plötz211
lich in seine Arme und schluchzte. »Ihr könnt es nicht tun. Ihr dürft Euch nicht von Ihnen töten lassen.« Er glättete ihr goldenes Haar. So weich und duftig fühlte er es an seinem Hals. »Ich habe keine Wahl, Lucia. Don Pedro ist mein Patient.« »Aber es ist alles meine Schuld«, jammerte sie. »Wäre ich nur nicht so töricht gewesen.« »Ihr wart nur der Königin treu. Genauso, wie ich meinem Eid als Arzt treu bin.« Sie blickte mit den feuchten Augen zu ihm auf. »Ich darf doch während der Operation hier bleiben?« bettelte sie. Er lächelte. »Es ist kein gerade erfreulicher Anblick.« »Aber irgend jemand muß Dr. Alvarez und Dr. Ortega doch beobachten. Ich traue ihnen nicht.« »Ich auch nicht«, gestand er. »Aber ich bin ja mit dem Skalpell bewaffnet und glaube kaum, daß sie sich einmischen werden.« »Das ist egal. Ich will dabei sein.« »Dann bleibt, wenn Ihr es so wünscht. Jetzt wollen wir uns aber nach einem Frühstück umsehen, damit ich zur Arbeit ordentlich gestärkt bin.« Sie erhob sich plötzlich auf ihre Zehenspitzen und küßte ihn. Ihre Lippen waren weich und duftend. Ihm war, als hätte sie etwas geflüstert, ehe sie wegging, aber er konnte sie nicht recht verstanden haben, denn was er zu hören geglaubt, klang so wie ›Gott erhalte dich, Liebster‹. Das war natürlich unmöglich … es sei denn, daß es wahr war, was Gian ihm über Lucias Wohlwollen ihm gegenüber gesagt hatte. Aber dann wurden die Gedanken an Lucias tränenfeuchte Augen und ihre weichen Lippen zurückgedrängt und vor ihm erhob sich das hehre Bild der Göttin. In ihrem Blick lag Trauer und ein Vorwurf, daß er, wenn auch nur für einen Augenblick, eine andere hatte betrachten und sein Gelübde der ewigen Ergebenheit zu ihrer göttlichen Lieblichkeit brechen können.
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XII
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n Beinkleidern und Weste, die Ärmel bis über die Ellbogen aufgerollt, traf Antonio die letzten Vorbereitungen für die Operation. Ein schmaler Tisch aus der Palastküche war in das Zimmer gebracht worden. Nach seinen Anweisungen legten Gian und ein paar starke Lakaien den kranken Mann darauf. Don Pedro hatte einen Opiumtrunk bekommen und schlief. Sie legten ihn auf seine linke Seite. Sein Hemd war aufgeschnitten, um die untere Partie der Brust zu entblößen. Hände und Füße hatten sie ihm an die Tischbeine angebunden, so daß er sich kaum bewegen konnte, zumindest nicht so viel, daß er Antonio hätte bei der Arbeit stören können. Auf einem Tisch neben dem Bett lag genau geordnet der kleine Instrumentensatz, den Antonio von Dr. Duval erhalten hatte. Bei Vesalius' klassischer Empyemaoperation wurde kaum etwas anderes als das Skalpell benutzt. Aber Antonio hatte herausgefunden, daß es sehr von Vorteil war, wenn er auf unvorhergesehene Möglichkeiten während der Operation vorbereitet war und alle Instrumente zur Hand hatte. Auf der einen Seite des kleinen Tisches lagen die Schädelbohrer, die zur Öffnung der Schädeldecke benutzt wurden. Obwohl schon in den Zeiten des frühesten Altertums gebräuchlich, waren Schädeloperationen direkt modern geworden, seit Vesalius die Schädeldecke Don Carlos' mit solchem Erfolg geöffnet hatte. Der Erstgeborene und Erbe Philipps II. von Spanien hatte sich bekanntlich bei einem Sturz über die Treppen eine Kopfverletzung zugezogen. Und doch war man in Spanien in medizinischen Fragen so rückständig, daß sogar der König den Erfolg nicht dem Wagemut und der Geschicklichkeit des Vesalius zuschrieb, sondern einer etwas befremdenden Behandlungsmetho213
de, nach der man eine Mönchsleiche zu dem kranken Prinzen ins Bett gesteckt hatte. Neben den Schädelbohrern lagen Instrumente zum Entfernen von Zähnen, kleine Hebel, genannt Zieher, und Pinzetten zum Eingreifen und Entfernen gebrochener Wurzeln. Da lagen dann noch die Skalpelle für Amputationen, die Säge zum Durchschneiden der Knochen und schließlich die zarte Pinzette, die Paré erfunden hatte, um bei einer durchtrennten Ader durch die Ligatur die Blutung einzudämmen, anstatt sie, wie früher, mit dem glühenden Eisen oder heißem Pech zu versengen. Ganz nahe seiner Hand hatte Antonio die haarscharf abgezogenen Skalpelle liegen. Dr. Alvarez stand knapp hinter Antonios Ellbogen, aber doch weit genug, um vor den wegspritzenden Blutstropfen geschützt zu sein. Neben ihm stand Lucia mit bleichen Wangen, die Lippen fest aufeinandergepreßt, die Hände in den Falten ihres Kleides verborgen. An beiden Enden des Tisches standen starke Lakaien, bereit, auf Gians Anweisungen zu warten, dem bereits der Schweiß auf der Stirne stand. Antonio wies auf die unteren Rippen. »Hier haben sich die Säfte angesammelt«, sagte er zu Dr. Alvarez. »Seht, wie er zwischen den Rippen aufgequollen ist, als wäre ein starker Druck darunter.« »Ay Maria! Es stimmt, was Ihr sagt.« »Wenn ich direkt in das Empyem hineinkomme, werden unsere Bemühungen erfolgreich sein.« »Was ist mit dem Brustfell?« »Das ist von den angesammelten Säften getrennt. Die Lunge ist in solchen Fällen eingeschrumpft und verhältnismäßig luftleer.« Dr. Alvarez atmete schwer. »De veras«, meinte er salbungsvoll. »Ihr seid ein Anatom, wie es keinen zweiten gibt.« »Es gibt nur einen Anatomen«, verbesserte Antonio, »Andreas Vesalius.« Er begann die Rippen des Marquis nach abwärts zu zählen. Bei der zehnten hielt er inne, legte seinen Finger entlang des oberen Randes der Rippe und langte nach dem Skalpell. »Beim Einschnitt in den Brustka214
sten entlang des oberen Randes der Rippe«, erklärte er, »vermeiden wir die Gefahr einer Blutung, weil die Blutgefäße hier verlaufen.« Antonio spannte die Haut mit den Fingern und führte das Skalpell entlang der oberen Rippe. Die Haut teilte sich und Don Pedro stöhnte vor Schmerzen auf. Aber die Schnüre und die Kraft der Lakaien hielten ihn ruhig. Blut spritzte aus den kleinen Gefäßen, die das Skalpell durchtrennte und Antonio hörte Lucia schwer atmen. Er fragte sich, ob er recht getan hatte, sie bleiben zu lassen, aber er erinnerte sich einer ähnlichen Situation, damals am Krankenbett ihres Onkels, wo sie zuerst auch erschrocken war, sich aber dann rasch erholt hatte. Die Operationswunde war jetzt etwa drei Zoll lang; sie ging durch die Haut und das darunter liegende Gewebe. Er legte die rötlich-braunen Muskelfasern frei, die hier von Rippe zu Rippe verliefen. Dr. Alvarez hing beinahe an Antonios Schulter, so begierig war er, alles zu sehen. Als Antonio das Skalpell wieder aufnahm, stieß ihn Alvarez zufällig am Ellbogen und fast wäre er mit der Klinge tief in die Wunde gefahren. »Vorsichtig, Doktor!« fuhr ihn Antonio an. »Ihr behindert mich.« »Bitte vielmals um Vergebung. Es ist nur, weil mich das alles so interessiert.« Antonio reinigte den Schnitt mit einer Leinenkompresse, die für diese Zwecke vorbereitet war, und nahm wieder das Skalpell zur Hand. Er hielt die Haut mit den Fingern auseinander und legte mit einem tiefen Schnitt weitere Muskeln frei, deren Ränder weich und rosig hervorstanden. Wieder stieß ihn Alvarez in seinem Eifer. »Ist das die membrana pleura?« fragte er. »Noch nicht.« Antonio bewegte die Schulter, um den lästigen Druck loszuwerden. »Es sind mehrere Muskellagen vor der Brusthöhle selbst.« Don Pedro war nun ganz ruhig. Wie immer war der Schmerz beim Durchtrennen der Haut weit größer, als der im weiteren Verlauf der Operation. Antonio reinigte die Wunde abermals und prüfte sie sorgfältig. »Die Richtung der Muskelfaser hat sich geändert. Wir müssen 215
nun die äußere Lage durchschneiden, um in den musculus intersostalis interna zu gelangen.« »Caramba!« schrie Alvarez. »Die Faser verläuft tatsächlich in einer anderen Richtung.« »Genau wie Dr. Vesalius es in seiner ›Fabrica‹ beschreibt.« Antonio untersuchte die Tiefen der Wunde erneut mit dem Skalpell. Behutsam trennte er die Muskelfasern und schnitt nur ganz wenig Gewebe auf einmal durch. Es wäre unvernünftig gewesen, hier kühne Schnitte zu machen, denn er brauchte nur einen halben Zoll auszugleiten und schon konnte er eine Arterie durchtrennt haben, die entlang des unteren Randes der Rippe verlief. Es hätte dann eine Blutung gegeben, der er vielleicht nicht Herr geworden wäre. Dr. Alvarez lehnte sich wieder an Antonio und plötzlich spürte er einen festen Druck auf seinem rechten Ellbogen. Hätte er den Arm nicht unwillkürlich gestrafft, wäre er mit der Klinge abgeglitten und in die Bauchhöhle gefahren. »Bitte, Doktor«, pfauchte er. »Wollt Ihr Euch etwas weniger nahe stellen.« »O entschuldigt viel – –« Alvarez' Stimme veränderte sich plötzlich. »Por Dios!« sagte er rauh. Antonio war viel zu sehr beschäftigt, um Alvarez Aufmerksamkeit zu schenken, solange der ihn nicht behinderte. Erleichtert sah er, daß der spanische Arzt seiner Forderung nachgekommen war. Er konnte jetzt ungestört weiterarbeiten. Plötzlich fühlte er eine Veränderung in der Spannung der Gewebe gegen die Klinge des Skalpells. Rasch zog er das Messer zurück und wischte die Wunde sorgfältig aus. Wo zuvor das rosige Muskelgewebe zu sehen war, erblickte er jetzt ein bräunlich aussehendes Ding. Es war hart und zeigte weißliche Flecke. Stolz rief er aus: »Hier ist die membrana pleura! Und sie ist entzündet.« Dr. Alvarez sprach nichts. Nur Lucia fragte: »Heißt das, daß Ihr an die richtige Stelle gekommen seid?« »Beinahe. Die Entzündung des Brustfells weist auf den Druck der darunter befindlichen zersetzten Säfte hin.« 216
Antonio blickte auf die Instrumente an dem Tisch und suchte, was er davon brauchen konnte. Es war ein flacher Metallhebel, wie man ihn zum Zähneziehen verwendete, aber er konnte hier ebenfalls gute Dienste leisten. Er führte das Metall an den noch nicht zerschnittenen Muskeln entlang. Er mußte sehr vorsichtig sein, denn je tiefer er ging, um so leichter konnte er die Muskeln oder andere Gewebe verletzen. Nachdem er die Muskeln zur ganzen Länge der Wunde auseinandergelegt hatte, sah er mehr von dem entzündeten Brustfell. Was er sah, steigerte sein Gefühl der Befriedigung. Die weißen Flecken waren Entzündungsherde und die Lederartigkeit des normalerweise papierdünnen Brustfells wies eindeutig auf ein Empyem, eine Ansammlung von zersetztem Blut und Säften, wie sie Hypokrates vor mehr als tausend Jahren beschrieben hatte. Viele Chirurgen hatten im Lauf der Jahrhunderte schon versucht, derartigen Stauungen Herr zu werden, aber nur wenige hatten auch Erfolg gehabt. Antonio nahm eine neue Leinenkompresse, legte sie in die Wunde und drückte mit einer größeren Kompresse darauf, um die Blutung zu stillen, die die Wunde rasch füllte. Er mußte ganz klar sehen, bevor er den nächsten, wichtigsten Schritt tat, bevor er das Brustfell selbst aufschnitt. Dabei würde es sich entscheiden, ob er tatsächlich an den Herd der Entzündung herangekommen war oder ob er weiter suchen und damit Don Pedros ohnehin schon stark geschwächte Konstitution noch weiter schwächen mußte. Während er die Kompresse in die Wunde drückte, blickte er auf. Auf Gians Gesicht lag ein breites Grinsen. Dr. Alvarez, bleich und schwitzend, stand gut zwei Schritt von ihm entfernt neben der grimmig dreinblickenden Lucia. »Habt Ihr es gut gesehen?« fragte Antonio höflich. Alvarez brachte ein ziemlich verzweifeltes Lächeln fertig. »Muy bien, Doktor. Es usted muy amable.« Antonio wandte sich wieder der Arbeit zu, ein Lächeln über des Doktors Verwirrung verbergend. Er hatte erwartet, daß es vielleicht Lucia oder Gian während der Operation übel werden würde, indessen war es aber Dr. Alvarez, der krank aussah. Die Wunde war nun ver217
hältnismäßig trocken. Die geringe Blutung war durch den Druck für einige Zeit gestillt. Er nahm das Skalpell zur Hand und konzentrierte seine ganze Aufmerksamkeit auf seine Arbeit. Jetzt mußte es sich entscheiden, ob ihm Erfolg oder Mißerfolg beschieden war. Genau mit der Spitze des Instruments begann er das Brustfell einzuschneiden. Im Geiste dankte er Dr. Duval für diese Instrumente, die viel vollkommener waren als die primitiven, allgemein gebräuchlichen Skalpelle. Sie hatten dünnere Klingen und schärfere Spitzen. Sachte schnitt er in die dicke Lage und stieß die entzündete Stelle zur Seite, hielt dabei immer den Finger tief in der Wunde, um so die Blutgefäße entlang der unteren Seite der Rippe zu schützen. Er fühlte, wie der Puls in der Arterie gegen seinen Finger pochte. Das Brustfell war wie Leder und einen Augenblick lang zweifelte Antonio, ob er nicht in seiner Diagnose fehlgegangen sei. War es möglich, daß er vielleicht die Muskelwand des Zwerchfells durchschnitt? Aber Vesalius hatte doch in einem eigenen ›Consilium‹ ganz eindeutig festgestellt, daß es keine Gefahr gab, das Zwerchfell zu treffen, wenn man die Brust bei der zehnten Rippe öffnete. Und Antonio hatte bei seinen Sezierungen feststellen können, daß dies stimmte. Er spürte an der Spitze des Skalpells ein plötzliches Nachgeben, das ihm eine Veränderung des Gewebes, in dem er operierte, anzeigte. Sofort zog er die Klinge zurück und wischte die Wunde aus. Was er sah, erfüllte ihn mit stolzer Befriedigung: die Spitze war mit rötlichbrauner Flüssigkeit benetzt. Und wie er die Wunde mit einem Bausch abtupfte, quoll daraus ein kleiner Strom von gelber Farbe. »Corpo di Cristo!« rief Gian aus. »Was ist das für ein Gestank?« Ein fauler Geruch erfüllte den Raum, der Antonio von derartigen Empyemafällen bei andern Patienten vertraut war. Für die anderen aber war es ein unbeschreiblich anekelnder Gestank, der es unglaublich scheinen ließ, daß ein Mensch mit einer solchen Masse im Körper leben konnte. Antonio hörte Dr. Alvarez mit gurgelnder Stimme hervorstoßen: »Madre de Dios!« »Es ist das Empyem!« schrie Antonio. »Ich habe die Höhle erreicht.« »Dio mio«, murmelte Gian. »Dem Geruch nach scheinst du ein Grab geöffnet zu haben.« 218
»Seht hier in die Wunde«, sagte Antonio erregt. »Seht, wie es herausquillt mit jedem Herzschlag.« Er faßte das Skalpell. »Warte, ich will es noch weiter öffnen.« Er erweiterte den Schnitt, legte den Finger hinein und dehnte das Brustfell, um es besser schneiden zu können. Im glückhaften Rausch der Entdeckung war er versucht, sich zu beeilen, aber er zwang sich, langsam zu arbeiten. Die Höhle, in der seine Finger staken, war warm von der Hitze des Fiebers und erfüllt von einer übelriechenden, ekligen, eitrigen Flüssigkeit. Der Geruch war so durchdringend, daß er einem den Atem nahm. »Beeile dich, Tonio«, bat Gian. »Es ist fast unerträglich.« Aber Antonio konnte sich nicht um Gians empfindliche Nase kümmern. Der Erfolg war auf seiner Seite und er durfte nichts übersehen, um nicht einen nie mehr gutzumachenden Schaden anzurichten. Tatsächlich war hier Bedachtsamkeit wie nirgendwo anders am Platze, denn das Skalpell und seine Finger tief in der Brusthöhle Don Pedros, war dessen Schicksal einzig von seiner Geschicklichkeit abhängig. Eine winzige eigene Verletzung bedeutete für ihn selbst aber auf jeden Fall eine Entzündung, wenn nicht den Tod. Mehr als ein hoffnungsvoller Anatom, das wußte Antonio, hatte mit dem Leben büßen müssen, daß ihm ein böser Zufall den Finger geritzt hatte. Die Empyemahöhle war groß und enthielt zwei Becher voll giftigen Inhalts; mehr als genug, um den gefährlichen Zustand herbeizuführen, in dem Don Pedro sich befand. Sobald Antonio sah, daß die Höhle rein und völlig entleert war, faltete er mehrere Streifen aus Leinen zu einem großen Docht, den er in die Öffnung einführte. Auf diesem Weg sollten weitere Säfte, die sich etwa noch ansammelten, abfließen. Dann nahm er eine größere Kompresse vom Tisch und legte sie lose über die Wunde, darüber noch eine und dann legte er einen dicken Verband an. »Der Stoffstreifen wird die Wundränder offen halten und den Abfluß weiterer giftiger Säfte ermöglichen«, erklärte er Dr. Alvarez. Der spanische Arzt war merklich unruhig, was Antonio sich nicht deuten konnte. Vielleicht sah er ein, daß seine Pläne, die Operation zu 219
vereiteln, gescheitert waren. »Permítame, Doktor«, sagte er. »Ich muß Euch gelegentlich zu verschiedenen Fragen heranziehen.« »Einverstanden«, erwiderte Antonio. »Wollt Ihr nun Don Raffaele Grijalva davon verständigen, daß ich davon überzeugt bin, sein Onkel würde am Leben bleiben.« »Das werde ich sofort tun«, versprach Alvarez und war zur Tür hinaus, noch ehe er ausgesprochen hatte. Antonio legte den Verband eng um die Operationsstelle und blickte auf. Gian grinste noch immer und Lucias Ausdruck hatte sich etwas entspannt. Während Antonio aufräumte und die Instrumente reinigte, legten Gian und die Diener Don Pedro in sein Bett. Hierauf verließen die Diener mit dem Tisch und den beschmutzten Leintüchern das Zimmer. Als Antonio, der sich inzwischen zurecht gemacht hatte, zurückkam, standen Lucia und Gian neben dem Bett. »Tonio!« rief Lucia und ihre Augen glänzten. »Seht, es geht ihm schon viel besser.« Überwältigt rannte sie zu ihm hin, warf ihre Arme um seinen Hals und küßte ihn. »Wenn das der Lohn für eine erfolgreiche Operation ist, werde ich auch Chirurg«, ließ sich Gian vernehmen. Lucia errötete. »Ihr wißt, daß ich mich von der Aufregung habe hinreißen lassen«, protestierte sie. Antonio blickte auf den schlafenden Marquis und ein Gefühl der Zufriedenheit erfüllte ihn. Er legte die Hand auf Don Pedros Stirne. Sie war bereits kühler geworden. Die Haut war naß vom Schweiß, der das rasende Feuer des Fiebers beenden würde. »Jetzt kannst du aufatmen«, meinte Gian, »da du weißt, daß du nicht des Mordes angeklagt werden kannst.« »Glaubt mir, ich habe das über der Arbeit ganz vergessen.« »Ich hatte solche Angst«, gestand Lucia, »daß ich die ganze Zeit zitterte.« »Übrigens, was war mit Dr. Alvarez?« fragte Antonio. »Ich dachte schon, er würde mir krank.« »Er war krank«, lachte Gian. »Aber nicht wegen der Operation. Erzählt ihm, Lucia, warum.« 220
Sie zog aus den Falten ihres Kleides einen kleinen schlanken Dolch, der in einem Futteral steckte. Es war ein kostbares Ding mit einem juwelenbesetzten Griff, von jener Art, wie sie von Kaufleuten zum Öffnen von Briefen verwendet wurde. Aber man konnte damit ebenso gut jemandem eine tödliche Wunde versetzen. »Das war die Ursache, warum ihm übel wurde.« Sie lächelte. »Jetzt hört auf, in Rätseln zu sprechen«, befahl Antonio. »Was war los?« »Ihr werdet Euch erinnern, daß Euch Dr. Alvarez am Ellbogen stieß.« »Ja, ich mußte ihn einige Male zur Seite drängen.« »Ich sagte Euch, daß er versuchen würde, Euch zu behindern. So kam ich, ausgerüstet mit diesem Stilett.« Antonio verstand nun, warum Dr. Alvarez so plötzlich von ihm abgerückt war und verstand auch den Grund seines seltsamen Benehmens nachher. Er war in wirklicher Angst um sein Leben gewesen. »Aber Ihr hättet ihm doch nichts angetan«, meinte er zu Lucia. »Das hätte ich ganz bestimmt«, antwortete sie grimmig. Antonio nahm Lucia und Gian bei der Hand. »Ich wäre wie ein verlassenes Kind, hätte ich euch beide nicht. Womit habe ich diese Treue verdient?« »Wir haben doch nichts für dich getan«, protestierte Gian. »Du hast dein Leben im Kampf mit dem Aufpasser vor dem Palast riskiert, während ich weiterging.« »Und Ihr habt das Eure im Kampf mit Valdez riskiert«, erinnerte ihn Lucia. »Aber Ihr habt Euch die Feindschaft des Dr. Alvarez zugezogen, Lucia.« »Er ist ein aufgeblasener Esel«, sagte sie zornig. »Aber er hat mächtige Freunde.« »Ich glaube nicht, daß sie uns so bald wieder belästigen werden«, meinte sie überzeugt. Als er sich jedoch der kaltblickenden Augen des Priesters in der Kapelle erinnerte, war er dessen nicht ganz sicher. Frey Ignacio Molina 221
war nicht der Mann, der nach einem verlorenen Scharmützel schon aufgab. Das war nur ein Anfang gewesen und andere Konflikte würden noch folgen.
XIII
D
a der giftige Stoff in seinem Körper durch die Operation entfernt worden war, erholte sich Don Pedro merklich. Am folgenden Morgen war er bei Sinnen, wenngleich auch noch sehr schwach. Die Königin besuchte ihn und als sie aus dem Zimmer kam, strahlte sie. »Ihr habt ein Wunder bewirkt, Dr. Servetus!« rief sie aus. »Ein wahres Wunder!« »Ich folgte nur den Weisungen anderer, Majestät.« »Ihr seid viel zu bescheiden. Aber ich werde Euch belohnen. Mein Kämmerer wird Euch fünftausend Dukaten auf eine Bank, die Ihr uns nennen wollt, anweisen.« »A – – aber Eure Majestät, das verdiene ich doch gar nicht.« Fünftausend Dukaten würden ihn zu einem reichen Mann machen! Nie hatte er an so viel Geld gedacht. »Ihr werdet es erhalten«, beharrte die Königin. »Und ich bin überzeugt, daß Euch Don Pedro noch großzügiger belohnt.« »Das ist zu viel«, sagte Antonio zu Lucia, nachdem die Königin gegangen war. »Viel zuviel.« »Für die Rettung eines der größten Soldaten Spaniens, und dafür, daß Ihr Euer Leben aufs Spiel gesetzt habt? Ich glaube nicht.« »Aber was soll ich mit dem vielen Gelde anfangen?« »Hinterlegt es beim Haus Bellarmi. Es ist nicht gut, solche Summen in Spanien zurückzulassen. Frankreich ist dafür der richtige Ort.« »Ich kenne niemanden in Frankreich.« »Das macht nichts. Mein Onkel tätigt mit dem Bankhaus Media in 222
Paris Geschäfte. Ich kann veranlassen, daß Euer Geld dort angelegt wird.« Antonio lächelte. »Wie wäre es, wenn ich Euch zu meinem Finanzberater machte?« »So habe ich es mir auch gedacht«, erwiderte sie gelassen. »Schließlich seid Ihr in derartigen Angelegenheiten wie ein kleines Kind und ich bin eine Bellarmi.« Wie die Königin vorausgesagt hatte, bestand Don Pedro darauf, Antonio mit einer ähnlichen Summe Geldes zu belohnen. Jetzt fühlte er sich tatsächlich reich. Lucia nahm sich seiner Finanzen an und deponierte einen ansehnlichen Betrag bei der Madrider Zweigniederlassung ihres Onkels. Den Rest ließ sie nach Paris überweisen, weil sie glaubte, daß das Geld dort sicherer sei. Da man den König von seinem Feldzug gegen die rebellischen Flamen in den Niederlanden zurückerwartete und es für Don Pedro nicht vorteilhaft war, bei des Königs Ankunft im Palast anwesend zu sein, beschloß man, den Marquis in sein Heim zurückzutragen. Antonio begleitete ihn und traf dort eines Abends Don Raffaele Grijalva. Der Geck war überraschend freundlich. »Dr. Alvarez sagte mir, daß Ihr an meinem Onkel eine sehr beachtenswerte Operation vorgenommen habt. Es ist mir ein Bedürfnis, Euch dazu zu beglückwünschen.« »Ich bin mit den Ergebnissen sehr zufrieden«, erwiderte Antonio. »Voto a tal! Das könnt Ihr sein.« Don Raffaele nahm eine Karaffe vom Tisch und schenkte zwei Gläser Wein ein. »Auf meines Onkels Gesundheit und Sicherheit!« Antonio konnte ein Lächeln nicht verbergen über des Neffen ziemlich durchsichtigen Versuch, sich nicht anmerken zu lassen, daß ihm die Genesung Don Pedros nicht gerade erwünscht war. Er konnte nicht umhin, das Feuer zu schüren. »Ich finde, Don Pedro schuldet Euch ebenso viel wie mir.« Der Neffe blickte erstaunt auf. »Cáspita. Wie kommt Ihr darauf?« »Es muß für Euch ein sehr schwerer Entschluß gewesen sein, mir die Erlaubnis zur Operation zu erteilen.« 223
»Das war es«, sagte Don Raffaele erregt. »Ay Maria! Das war es.« »Aber Ihr habt es gewagt, und so verdankt es Euer Onkel auch Euch, daß er am Leben ist. Für Euch muß es ein großes Opfer gewesen sein.« »Ein Opfer, wieso?« »Schließlich seid Ihr Eures Onkels Erbe. Wäret Ihr von selbstsüchtigen Motiven geleitet gewesen, hättet Ihr ihn gewiß ohne Operation sterben lassen.« Auf dem farblosen Gesicht des Gecken war ein Widerstreit verschiedener Gefühle zu bemerken. Es gelang ihm, schwach zu lächeln. »Aber wie Ihr seht, haben mich keine selbstsüchtigen Gefühle geleitet.« »Stimmt«, versetzte Antonio. »Ihr habt tatsächlich sehr edel gehandelt.« Einige Abende später, Antonio spielte gerade mit Don Pedro eine Partie Schach, wurde Besuch angemeldet. Zu seiner Überraschung führte Don Raffaele zwei Geistliche in das Zimmer. Den einen erkannte er sofort, denn es gab keinen Zweifel: der große Mann mit den frostigen Augen war der Inquisitor von Madrid. Den anderen, einen starken Mann mit Hängebacken und einem roten, von Gallenleiden gezeichneten Gesicht, stellte Don Pedro als Don Diego de Espinosa, Bischof von Toledo und königlichen Minister vor. Antonio war erstaunt, auf diese Weise den Feind im Hause zu sehen, aber als er darauf bestand, seinen Patienten zu beschützen, forderte ihn der Marquis auf, unten zu warten. »Ich hätte gerne das Vergnügen, mit Euch zu sprechen, ehe ich gehe«, sagte Don Diego zu dem hinausgehenden Antonio. Überrascht stammelte Antonio: »Aber gewiß, Exzellenz. Ich werde in der Bibliothek sein.« Don Diego weilte nicht sehr lange bei dem Marquis und kam in die Bibliothek. Antonio ließ sich auf die Knie nieder und küßte den schweren Siegelring des Bischofs. »Ich wollte mit Euch sprechen, Doktor. Don Pedro erzählte mir, daß Ihr sein Leben gerettet habt.« »Ich behandelte ihn bloß so, wie es die einzige Autorität für solche Fälle vorschreibt.« 224
»Ihr meint natürlich Galen.« Antonio schüttelte den Kopf. »Dr. Ambroise Paré, ein französischer Chirurg.« »Paré?« Der Bischof runzelte die Stirn. »Ich hörte von ihm. Ist er ein Hugenotte?« »Ich bin über seine religiösen Ansichten nicht informiert, Eure Hochwürden.« »Ich bin gewiß, er ist ein Anhänger Calvins. Das ist ein seltsames Zusammentreffen. Hat nicht Calvin einen Mann mit Eurem Namen wegen Häresie vor einigen Jahren hinrichten lassen?« Antonio erschrak bis ins Innerste. Da war er wieder, der Schatten von seines Bruders Ketzerei, von der er gar nicht genau wußte, ob es überhaupt Ketzerei gewesen war. Sollte er die Verwandtschaft leugnen? Es war nicht anzunehmen, daß jemand seine Geschichte prüfen würde, denn von Madrid nach Champel und Padua war ein langer Weg, und zwischen Spanien und der protestantischen Welt bestand kaum eine Verbindung. Aber er erinnerte sich des Tages im Klostergarten in Padua, da er sich entschlossen hatte, sich zu Michael zu bekennen. Damals war der Würfel gefallen und er konnte nicht mehr zurück. »Das war Michael Servetus, mein ältester Bruder!« sagte er mit fester Stimme. »Ahh!« Don Diegos dicke Finger spielten mit dem winzigen Goldkruzifix an der Kette um seinen Hals. »Das ist höchst interessant.« Er richtete die kleinen, boshaften Augen auf Antonio. »Ist das auch eine zufällige Fügung, daß ihr beide Medizin studiertet?« »Meine Eltern wünschten, daß ich Priester würde«, erklärte Antonio. »Ich studierte zuerst in Padua Kanonisches Recht und wandte mich dann der Medizin zu, weil mich Anatomie sehr interessierte.« »Dr. Vesalius hat ein Buch über Anatomie geschrieben.« »Die ›Fabrica‹. Ja. Ich studierte und lehrte daraus in Padua.« »Warum habt Ihr die Universität verlassen?« fragte Don Diego. Antonio zögerte. Die Wahrheit zu erzählen, wäre fürchterlich, und doch mußte er so nahe als möglich dabei bleiben. »Signore Girolamo Bellarmi bat mich, als sein Leibarzt nach Spanien zu kommen. Er ist 225
ein sehr großzügiger Herr und ich dachte, ich müßte die Gelegenheit wahrnehmen, zu sehen, wie hierzulande Medizin und Chirurgie ausgeübt werden.« »Ein lobenswerter Entschluß«, pflichtete der Bischof bei. »Und ein sehr lobenswerter Ehrgeiz. Aber ich hoffe, daß Ihr den Gedanken, Priester zu werden, noch nicht aufgegeben habt.« Er wandte sich zum Gehen. »Pax vobiscum, mein Sohn.« »Et tecum pax«, murmelte Antonio automatisch. In des Bischofs Augen glomm verstohlen ein argwöhnisches Leuchten. Hätte Antonio es gesehen, wäre er ängstlich geworden. Mit seiner Antwort auf den Friedensgruß des Bischofs hatte er angedeutet, daß er dem Klosterleben einmal sehr nahe gestanden war und gerade das wollte er seinen Fragesteller nicht merken lassen. Don Pedro saß aufrecht in seinem Bett. Sein Diener traf die Vorbereitungen für die Nacht. Antonio erschrak über das Aussehen seines Patienten, denn alles Leben schien aus seinen Zügen gewichen zu sein. »Ist es unverschämt, zu fragen, was Don Diego von Euch wünschte, Doktor?« fragte er. »Ganz und gar nicht«, versicherte Antonio. »Unsere Unterhaltung war unbedeutend. Er fragte mich, was ich getrieben habe, ehe ich nach Madrid kam.« Don Pedro richtete sich in seinen Polstern zurecht. »Doktor, ich habe mit Euch etwas Ernstes zu besprechen. Und vielleicht ist das jetzt der richtige Augenblick. Ich glaube, Ihr wißt, warum man mich angegriffen hat.« »Zum Teil. Ich hatte nicht das Recht, darüber Fragen zu stellen.« »Al contrario. Ihr habt jedes Recht, da Ihr von uns unschuldigerweise in eine Sache hineingezogen wurdet, die Euch das Leben hätte kosten können.« »Aber bloß in meiner Eigenschaft als Arzt.« »Das ändert nichts daran; zumindest nicht in den Augen jener, die uns schaden wollen. Seht, so wie mich, gibt es hier mehrere, die meinen, Spanien sei für die Spanier da. Wir sehen es als unsere Pflicht an, 226
unseren eigenen Leuten zu helfen und unser Vaterland zu schützen. Je mehr wir uns aber in die Affären anderer Staaten verwickeln, um so weniger können wir uns unseren eigenen widmen.« »Ich verstehe«, pflichtete Antonio bei. »Unglücklicherweise müssen wir, um Spanien in Frieden zu halten, in den angrenzenden Ländern den Frieden bewahren. Und manchmal heißt dies, Leute unterstützen, deren religiöse Ansichten sich von den unseren unterscheiden.« Er seufzte. »Die spanischen Kleriker können sich mit dieser Politik jedoch nicht abfinden. Sie sähen es zu gerne, daß der König überall dort, wo andere religiöse Ansichten Oberhand gewinnen, interveniere.« Antonio blickte verständnisvoll. Es war ein Grundsatz der Kirche, jede Möglichkeit zu ergreifen, um Häresie zu unterdrücken. »Der König ist für den Frieden«, fuhr Don Pedro fort. »Sogar auf die Gefahr hin, Andersgläubige in andern Ländern Stärke gewinnen zu lassen. Aber es wird von verschiedenen Richtungen Druck auf ihn ausgeübt.« »Ich kann das verstehen, nach dem, was ich bereits gesehen habe«, warf Anton ein. »Ich bat Don Diego, heute hierherzukommen, weil die Zeit reif zu sein scheint, eine Kontroverse beizulegen, und ich glaube, er weiß, daß de Quadra diesmal zu weit gegangen ist.« »De Quadra?« entfuhr es Antonio. »Kennt Ihr ihn?« »Ich traf einen Armand de Quadra im Gasthaus in jener Nacht, da Ihr überfallen wurdet.« »Als Lucia dort unsere Pläne de Quervain mitteilte.« »Ja.« So war es also gewesen. Deshalb hatte sie einen Skandal riskiert und er hatte an ihr zu zweifeln gewagt. »Das ist derselbe. Wie habt Ihr ihn kennengelernt?« »Er hörte mich nach Gian Savarino fragen und bot mir ein Bett in seinem Haus an.« »War er dort, als Señorita Bellarmi hineinkam?« »Ja, aber er ging sofort darauf weg.« 227
»Weil er zum Tor kam«, sagte Don Pedro grimmig. »Und Ihr glaubt, daß er Euch überfiel?« »Er oder einer seiner Begleiter, zweifellos. Sie müssen Señorita Bellarmi beobachtet haben, wie sie in das Gasthaus trat und gewußt haben, daß ich auf ihre Rückkehr wartete.« »Dann hatten sie es nicht auf Lucia abgesehen?« »Nein, dessen bin ich gewiß; weder jetzt noch damals. Aber als sie den zweiten Versuch machten, hätte es uns alle viere das Leben kosten können. Darum habe ich bestimmt, alle unsere Bemühungen einzustellen.« Antonio wußte nun, warum ihm der Mann, der Gian angegriffen hatte, in der Dunkelheit so vertraut erschienen war. Es war unfraglich de Quadra gewesen. Der Gedanke machte ihn wütend. »Bitte, nehmt auf uns keine Rücksicht«, bat Antonio. »Ich bin gewiß, daß sowohl Lucia, wie auch Gian Euch in jeder Beziehung helfen wollen.« Don Pedro schüttelte den Kopf. »Spanien ist mein Vaterland und ich wäre glücklich, mein Leben in seinem Dienst hingeben zu können. Aber es ist nicht Euer Vaterland, noch das Madonna Lucias oder Gian Savarinos. Wir dürfen euch nicht gefährden und euch in unsere Angelegenheiten hineinziehen. Ich bat Don Diego und Frey Ignacio heute abend hierher, um zu sehen, ob wir nicht eine Art Waffenstillstand schließen könnten.« »Haben sie angenommen?« »Nach außen hin ja. Aber wir müssen abwarten und sehen, ob man ihnen vertrauen kann.« Er lächelte verzagt. »Ihr habt wahrscheinlich noch nicht viel mit der Inquisition zu tun gehabt, Doktor. Sie betrachten Lügen und alle anderen Formen von Schikanen als gerechtfertigt, wenn sie damit ihr Ziel erreichen. Ich wäre gar nicht überrascht, wenn sie mich innerhalb einer Woche irgendeiner frei erfundenen Schuld wegen verhafteten.« Antonio fühlte einen Schauer von Furcht. Kannte er sie nicht, die Mitglieder der Inquisition? Einen Beweis für diese Kenntnis trug er auf seinem Körper, quer über die unteren Rippen. 228
»Ich entlasse Euch morgen«, fuhr Don Pedro fort. »Je weniger Ihr mit der Sache zu tun habt, um so besser ist es für Euch.« »Aber niemand kann mir als Arzt verwehren, einen Kranken zu behandeln.« »Ihr kennt die Inquisition nicht.« Don Pedro lächelte müde. »Und ich bete, Ihr möget sie niemals kennenlernen.« Am nächsten Morgen trug Antonio seine wenigen Habseligkeiten in das Haus von Signore Bellarmi. Der Kaufherr war wohlauf und Antonios Aufgabe leicht, so daß er genug Zeit hatte, über das, was er von Don Pedro erfahren hatte, nachzudenken. Je eingehender er alles betrachtete, desto mehr bedrückte es ihn. Gab es keine Ehre, keine Menschlichkeit in dieser Welt? Antonios Mut sank noch tiefer, als er hörte, daß Don Pedro Grijalva von der Inquisition verhaftet wurde. Er erinnerte sich der Warnung Frey Ignacios in der Kapelle und seiner Unterredung mit dem Bischof von Toledo, und er fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis ihn dasselbe Schicksal ereilte.
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VIERTES BUCH Der Inquisitor von Madrid
I
M
it der Rückkehr König Philipps nach Madrid, der zur Zeit über die rebellischen Niederlande triumphierte, kam neues Leben in die Stadt. Turniere und Festlichkeiten wurden angekündigt, um so den Erfolg des Herrschers und Vorkämpfers für den katholischen Glauben gebührend zu feiern. Allem voran aber stand ein großes Autodafé, bei dem der König die Gelegenheit haben sollte, der Inquisition in ihrem unerbittlichen Kampf gegen Ketzerei seine Unterstützung zuzusichern. Antonio hatte an Dr. Andreas Vesalius sofort nach dessen Rückkehr mit dem König eine Botschaft gesandt und um eine Unterredung gebeten. Er war überrascht, daß sie ihm an dem Tage der großen Feierlichkeit gewährt wurde. Aber der Zeitpunkt kam ihm gelegen, denn er hatte kein besonderes Verlangen, dem Fest beizuwohnen, das nur die Macht der gefürchteten Inquisition zeigte und eine Drohung war gegen alle, die es wagten, frei zu denken und sich den Glaubensgrundsätzen der Inquisition zu widersetzen. Die Straßen waren gedrängt voll und er hatte Mühe, sich zu Vesalius' Behausung in der Nähe der Plaza Mayor, wo das Autodafe stattfand, durchzukämpfen. Obwohl sich auf dem Platz schon eine Menschenmenge staute, drängten die Neugierigen noch immer nach, um die farbenprächtige Prozession zu sehen und der Verbrennung der verdammten Häretiker, die man für diesen Tag ausgewählt hatte, beiwohnen zu können. Antonio klopfte an die Türe und das Stimmengewirr der erregten Menge schien ihm wie das Brüllen des Ozeans, wenn man es von ferne hörte, ansteigend und fallend, in nicht endenwollendem Rhythmus. Ein Diener ließ ihn ein und führte ihn in das Zimmer, in dem der Arzt sonst Patienten und andere Besuche empfing. 231
Als Antonio den Raum betrat, stand Vesalius an einem Fenster und blickte auf den bevölkerten Platz hinab. Er war mittelgroß, hatte schwarzes, gekräuseltes Haar, ein in vielen Feldzügen sonnengebräuntes Gesicht und einen sorgfältig gepflegten Bart, wie es sich für den bedeutendsten Arzt des Königreichs Spanien geziemte. Er trug nicht die übliche dunkle Kleidung der Ärzte, sondern einen Anzug aus kostbarem Samt mit hohem spanischem Kragen. Die Krause an seinem Hals war geöffnet und die Schnüre hingen frei herab. Die stämmigen Beine hatte er in dunkle Beinkleider eingeschnürt, aus dem hübschen Beutel, der an seinem Gürtel hing, lugte die Spitze eines Batisttaschentuches. Er wandte sich um und Antonio schrak vor der kalten Feindseligkeit in seinen Augen zurück. Antonio verbeugte sich tief. »Es ist mir eine große Ehre, Dr. Vesalius. Nach Eurem Portrait in der ›Fabrica‹ hätte ich Euch überall sofort erkannt.« Vesalius nickte kurz. Bei der Erwähnung seines geliebten Buches schwand etwas von der Feindseligkeit in seiner Haltung. »Ihr wolltet mich sprechen«, sagte er mit einem starken flämischen Akzent in der Stimme. Seit Monaten hatte Antonio darauf gewartet, den Meister von Angesicht zu sehen, zu dem er so lange verehrungsvoll aufgeblickt hatte. Dies hier aber war nicht der warme Willkomm, den er von einem Berufskollegen erwartet hatte. »Darf ich italienisch sprechen?« fragte er. »Ich bin im Spanischen noch immer etwas ungeschickt.« Vesalius lächelte, als kämen ihm bei dem Worte Italien freundliche Erinnerungen. »Ihr seid erst vor kurzem aus Italien gekommen?« »Ja, natürlich«, erwiderte Antonio überrascht. »Aber ich dachte, Ihr wißt davon.« »Alles, was ich weiß, ist, daß ein Arzt, von dem ich niemals hörte, in Madrid auftaucht, sofort zum Leibarzt der Königin ernannt wird und die Ärzte des Königs verdrängt, die damit betraut sind, sich während meiner Abwesenheit um die Mitglieder der königlichen Familie zu kümmern«, sagte Vesalius spitz. Jetzt war Antonio alles klar. »Dürfte ich fragen, aus welcher Quelle Eure Informationen stammen?« 232
»Aus dem Munde vom Minister Seiner Majestät, dem Bischof von Toledo.« »Das dachte ich mir«, antwortete Antonio. »Hat er sich bemüht, Euch auch mitzuteilen, daß ich mein Ärztediplom an Eurer Universität, an der zu Padua, erworben habe, und daß ich Dr. Fallopius im Anatomieunterricht und in Chirurgie assistierte?« Nun war es an Vesalius, überrascht zu sein. »Ist das wahr?« »Natürlich ist es wahr«, sagte Antonio ein wenig gereizt. »Ich habe mich nicht unter falschen Vorwänden hier eingeschlichen. Ich bin Leibarzt Girolamo Bellarmis, eines Bankiers aus Florenz, der sich zur Zeit in Madrid aufhält. Zufällig wurde ich gerufen, um eine ernste Wunde des Marquis von Grijalva zu behandeln und wandte dabei erfolgreich eine von Dr. Ambroise Paré empfohlene Methode an.« »Paré!« rief Vesalius. »Kennt Ihr Paré?« »Nur aus seinen Schriften. Aber ich wurde von einem seiner Anhänger, einem gewissen Dr. Duval aus Florenz, behandelt.« »Sonderbar«, meinte Vesalius. »Dr. Paré und ich hatten die Ehre, gemeinsam eine Wunde des Königs von Frankreich zu behandeln.« Er wies auf einen Stuhl. »Setzt Euch, Doktor. Es scheint mir, man hat mich über Euch falsch unterrichtet.« »Davon bin ich überzeugt, wenn der Bischof von Toledo Euer Berichterstatter war.« »Erzählt mir über die Wunde des Don Pedro«, bat Vesalius. Antonio schilderte ihm den Fall und berichtete von seinem Entschluß, zu operieren. Als er aber zur Operation selbst kam, konnte sich Vesalius nicht länger zurückhalten. »Weiter!« rief er. »Ihr drangt in die Brusthöhle ein, und fandet Ihr die Empyema?« »Genau, wie Ihr es beschrieben habt.« »Und er genas rasch, sobald die Empyema entfernt war?« »Sehr rasch. Aber er wurde von der Inquisition verhaftet.« »Ja, die Inquisition«, Vesalius fröstelte. »Sie ist hier sehr mächtig.« Wie zur Bestätigung seiner Worte drang von der Plaza Mayor das tiefe Gebrüll der versammelten Menge herauf. »Irgend etwas an Euch kommt mir bekannt vor«, sagte Vesalius. 233
»Vielleicht ist es die Ähnlichkeit mit meinem Bruder.« »Euer Bruder? … Per Bacco! Euer Name ist Servetus, nicht wahr?« »Ich bin ein jüngerer Bruder von Michael Servetus.« »Maria Sanctissima! Der Bruder meines liebsten Freundes vor langer Zeit. Und ich war kalt zu Euch, weil andere mich belogen haben. Vergebt mir, vergebt mir, mein Freund.« »Ich habe Euch nichts zu vergeben«, erwiderte Antonio lächelnd. Nun kam es doch, wie er es erwartet hatte, und es freute ihn, daß er sich in dem Manne nicht getäuscht hatte, zu dem er gekommen war und den er verehrte wie einen Gott. »Nein, es ist erstaunlich«, fuhr Vesalius glücklich fort. »Das müssen wir feiern. Zumindest mit einem Glas Wein.« Der Diener brachte Wein und sie setzten sich einander gegenüber. »Nun erzählt mir von Euch selbst, Antonio«, forderte Vesalius ihn auf. »Ihr erlaubt mir doch, Euch beim Vornamen zu nennen?« »Natürlich. Wo soll ich beginnen?« »Fangt mit Padua an.« Der Anatom seufzte. »Dort war meine glücklichste Zeit, während ich die ›Fabrica‹ vorbereitete. Warum habt Ihr Padua verlassen? Es ist der wunderbarste Platz der Erde.« Antonio zögerte. Es war eine Frage, die er befürchtet hatte. Der ältere Arzt, der seine Bedenken sah, meinte: »Aber ich will nicht in Euch dringen. Vergeßt, was ich fragte.« »Nein«, erwiderte Antonio in plötzlichem Entschluß. »Ich will es Euch gerne erzählen …« Als er geendet hatte, war Vesalius ernst geworden. »Es ist schon das Schicksal der Denker, solche Hornissenneste aufzuwühlen«, stimmte er zu. »Mir ist es auch so ergangen.« »Aber nun bin ich hier in Madrid und ich zähle auf Euch, daß Ihr mit mir die Studien weiter betreibt.« Der Anatom runzelte die Stirne. »Ich habe wenig seziert, seit ich in Madrid bin. Aber ich will Eure neue Entdeckung bezüglich der Lungenzirkulation studieren.« »Ich wäre glücklich, sie Euch vorführen zu können. Könnt Ihr eine Leiche beschaffen?« »Sezieren ist in Spanien verboten. Aber Seine Majestät läßt es sich 234
angelegen sein, die Heilkunde hier zu verbessern und vielleicht erhalten wir eine Erlaubnis. Wir wollen beide darüber nachdenken, vielleicht finden wir einen Weg. Aber seid Ihr hier in Madrid auch sicher, Antonio?« »Seit Don Pedros Verhaftung hat sich nichts ereignet.« »Vielleicht lassen sie Euch doch ungeschoren. Warten wir zunächst einmal ab.« Vesalius zuckte die Achseln. »In Spanien lernt man es, philosophisch zu sein. Einen Tag lang seid Ihr glücklich und froh und führt ein gutes Leben, am nächsten seid Ihr von der Inquisition verhaftet und alles ist zu Ende.« Antonio schauderte. »Ich wünschte, ich besäße so viel Lebensweisheit.« »Ihr werdet sie noch bekommen«, versicherte Vesalius, »uns allen ging es so.« »Ich habe in Venedig noch etwas anderes kennengelernt«, sagte Antonio. »Ich glaube, es wird Euch auch interessieren. Zumindest bin ich überzeugt, daß es für die Medizin von Bedeutung ist.« »Dio mi!« rief Vesalius aus. »Genügt es Euch nicht, Anatom zu sein? Aber berichtet.« Antonio erzählte von seinen Erfahrungen mit dem Magnetismus und den Studien bei Lodovici Agnolo. Sobald er geendet hatte, sagte Vesalius stirnrunzelnd: »Aber was ist denn dieser Magnetismus? Ich verstehe das nicht.« »Ich selbst auch nicht«, gestand Antonio. »Man sagt, es fließe vom Körper des einen etwas in den des anderen über. Aber ich weiß nicht, wodurch diese Übertragung zustande kommt, denn es ist nicht notwendig, die zu magnetisierende Person zu berühren.« »Wir müssen eine Vorführung zustande bringen«, schlug Vesalius vor. »Ich bin begierig, so etwas zu sehen.« Das Geschrei der Menge draußen auf dem Platz war lauter geworden und Vesalius trat zum Fenster. »Der König kommt«, sagte er. »Wenn Ihr eine derartige Zeremonie nie gesehen habt, wird sie Euch interessieren.« Er wies auf ein anderes Fenster. »Von dort aus werdet Ihr gut sehen.« 235
Marschschritte drangen von der Straße herauf; die Menge fiel zurück wie Erde vor dem Pflug und ließ in dem festen Wall von miteinander kämpfenden Leibern und sich reckenden Hälsen eine Furche frei. Jeder wollte einen Blick erhaschen von dieser eindrucksvollsten aller Demonstrationen des wahren Glaubens: der Verdammung und Hinrichtung der Ketzer. Auf die Plaza marschierte jetzt eine Gruppe von Mitgliedern der Konfraternität von Sankt Peter, dem Märtyrer. Sie waren die Soldaten des Glaubens und trugen schwarze Gewänder. An der Spitze der Kolonne schritten Fahnenträger, die das in dunkle Crepeschleier gewickelte große Banner mit dem grünen Kreuz der Inquisition hochhielten. Mit gesetzten Schritten und finsteren Gesichtern bewegten sie sich zwischen der Tribüne, die auf der einen Seite für die Mitglieder des königlichen Hauses aufgestellt war, und dem großen Blutgerüst, auf dem die zitternden Menschen für ihre Sünden beim heutigen Schaugericht zahlen mußten. Etwas abseits stand noch eine Tribüne. Gleich hoch wie die anderen, war sie noch schöner dekoriert, als die für die königliche Familie. Sie war von einem glänzenden Baldachin aus Gold und Scharlach überdacht und mit Vorhängen und Quasten aus leuchtendem Gelb geschmückt, die an den Ecken von großen aufrechten Stützen aus gleißendem Stahl gehalten wurden. Es war der Platz der Inquisitoren, der höchsten Richter über den menschlichen Glauben an Gott. Erneut erhob sich ein Gemurmel des Interesses aus der Menge, die von einer Woge plötzlicher Bewegung ergriffen wurde, ähnlich der Welle, die gegen die Küste brandet. Alle Augen richteten sich auf die königliche Tribüne und ein Flüstern kam aus jeder Kehle: »Der König! Der König!« Antonio beugte sich vor, um den Mann besser zu sehen, der über das Schicksal so vieler Menschen bestimmte und doch selbst so wenig bekannt war. Da erschien er, eine einzelne Gestalt in der Mitte der Tribüne. Antonio sah einen schlanken Mann von mittlerer Größe, dunkel gekleidet. Er schien gar nicht wie ein Herrscher, sondern eher wie ein einfacher Mann zu sein, gebeugt von der Last seiner Pflichten, die 236
Brauen sorgenvoll zusammengezogen. Wie er so dastand und über die Menge blickte, hielt er in den Händen ein Schwert, eine große, reichverzierte Waffe, deren juwelenbesetzter Knauf das Sonnenlicht in hundert Funken reflektierte. Langsam wandte er sich und legte das Schwert auf einen kleinen Tisch vor seinem eigenen hohen Sessel. »Die Inquisition hat sich neuerdings darauf verlegt, den König öffentlich schwören zu lassen, daß er sie unterstützt«, sagte Vesalius trocken. »Das beeindruckt die Leute und steigert die Furcht, die die Inquisition in jenen erweckt, die sie verurteilen.« »Das kann ich verstehen«, stimmte Antonio zu. Das Vorspiel der Zeremonie erfüllte ihn mit einem grausigen Gefühl der Vorahnung. Sobald der König seinen Platz eingenommen hatte, füllte sich die Tribüne. Zuerst kam die Königin, hinter ihr eine seltsame, unförmige Gestalt in einem glänzenden Kostüm aus Weiß und Gold. Die dünnen Füße schienen kaum fähig, den mächtigen Leib zu tragen und ein übergroßer Kopf ließ die ganze Erscheinung an einen Frosch in Menschenkleidern gemahnen. »Wer ist das?« fragte Antonio. »Don Carlos, der Kronprinz, der Sohn des Königs«, sagte Vesalius. Beim Anblick der Person, die nun die königliche Tribüne betrat, ergriff Antonio mit beiden Händen das Fensterbrett und stieß einen Laut der Überraschung aus. Es gab keinen Zweifel über die Identität des schlanken, stolzen Mädchens mit der goldenen Haarkrone. Es war Lucia Bellarmi. »Wer ist sie?« fragte Vesalius, der bemerkt hatte, worauf sich Antonios Aufmerksamkeit gerichtet hatte. »Madonna Lucia Bellarmi«, antwortete Antonio. »Die Nichte meines Herrn.« Vesalius blickte ihn spöttisch an. »Wie ich sehe, seid Ihr an ihr interessiert.« »Bloß als guter Freund.« »Wenn ich eine solche gute Freundin hätte«, versetzte Vesalius trocken, »würde ich ihr raten, das Interesse des Kronprinzen nicht so auf sich zu lenken.« 237
Antonio entsann sich nun verschiedener Dinge, die er über den Erben des spanischen Thrones gehört hatte. Prinz Don Carlos, der Sohn Philipps aus erster Ehe, war nun etwa achtzehn Jahre alt. Vor einigen Jahren wäre er fast an den Folgen eines Sturzes gestorben, wurde aber durch die Geschicklichkeit Vesalius', der an ihm eine Schädeloperation vorgenommen hatte, gerettet. Diese Rettung des Kronprinzen war einer der Gründe, warum Philipp von seinem Arzt so große Stücke hielt. Trotz des immer eindeutiger werdenden Beweises, daß er ein Monstrum gezeugt, liebte der König, wie man sagte, den Prinzen und hoffte noch immer, ihn einmal in seine Rechte einsetzen zu können. Aber ganz Madrid tuschelte von der Liederlichkeit des Prinzen, von seinem seltsamen Gebaren beim Essen und Trinken. Man erzählte, daß er die unmöglichsten Dinge verschluckte und die Anwesenden zwang, das gleiche zu tun, sogar dann, wenn sie sich vor seinen Augen zu Tode würgten; man munkelte schließlich von den Wutanfällen, die er bekam, wenn seine Wünsche nicht ausgeführt werden konnten. Das Schlimmste aber waren die Geschichten über die Verführungen, Ausschweifungen und die Zahl der Frauen, die gezwungen worden waren, sich ihm hinzugeben, um dann für das ganze Leben mit den französischen Pocken, dem morbus Gallicus, behaftet zu sein, von denen der Körper des Prinzen zerfressen sein sollte. Lucias bestrickende Schönheit konnte diesen Mann nur anziehen, dachte Antonio. Er mußte sie vor Don Carlos warnen, wenn er sie wiedersah. Die Soldaten des Glaubens hatten nun die Plaza Mayor betreten und hinter ihnen erschien im Schatten eines scharlachroten Baldachins der Priester, der die Messe zelebrierte. Es war Don Diego Espinosa in einem kaminroten Meßgewand. Sein Haupt bedeckte die Bischofsmütze und während er gemessenen Schrittes dahinging, hielt er in den erhobenen Händen die Hostie vor sich. Wo er hinkam, fielen die Menschen auf die Knie und schlugen sich im Rhythmus der von den Ministranten geläuteten Glöckchen wehklagend an die Brust. Unmittelbar hinter dem Traghimmel schritt noch eine Gruppe dunkelgekleideter Inquisitionsmitglieder und ihnen folgten die zerlumpten Gefangenen. Es wa238
ren Skelette, denen bei der Folterung und den hochnotpeinlichen Verhören die Glieder verdreht und verzerrt worden waren. Viele, die unfähig waren zu gehen, wurden von Dominikaner-Brüdern, die schwarze Roben und darüber reinweiße Priesterröcke trugen, gestützt. »Sind diese Menschen nicht schon genug gestraft?« rief Antonio unwillig aus. »Seht, dieser Mann dort hat beide Hüftknochen ausgerenkt.« »Vorsicht!« warnte Vesalius. »In Madrid fragt man nicht, was die Inquisition treibt. Sogar Palastwände haben Ohren.« Antonio riß den Blick von dem furchtbaren Schauspiel los. Das scheußliche Gelb der Tuniken der Verdammten, sanbenito genannt, die kegelförmigen Hüte mit den hochroten Dämonen und entstellten Tieren auf den rasierten Köpfen, das wirre Gelächter der bereits verrückt gewordenen – alles das schien ihm wie ein Alptraum. »Seht Ihr Don Pedro unter den Gefangenen?« fragte Antonio. »Wußtet Ihr es nicht?« entgegnete Vesalius. »Der König hat seine Freilassung angeordnet.« »Ich glaubte, den Befehlen der Inquisition könne niemand entgegentreten.« »Der König kann es und tut es auch, wenn er glaubt, daß sie sich geirrt haben«, erklärte Vesalius. »Don Pedro Grijalva stammt aus einer der edelsten spanischen Familien und ist ein großer Feldherr. Seit den Aufständen in den Niederlanden kann die Krone weder auf ihre Einkünfte noch auf die Dienste ihres bedeutendsten Soldaten verzichten.« »Dann ist er also in Sicherheit?« Vesalius zuckte die Achseln. »Es gibt mehrere Wege, einen Menschen hinzurichten.« In den Lärm der Prozession, die sich über den Platz wand, mengte sich nun das Gerassel von Waffen. Eine Gruppe der Stadtwachen kam im Gleichschritt heranmarschiert und die Sonne glitzerte auf ihren großen Hellebarden, die sie aufrecht hielten. Metall klirrte gegen Metall, während sich die Soldaten im genauen Schritt bewegten und sich so aufstellten, daß sie die königliche Tribüne flankierten. Durch die 239
Bewegung, die sie dabei ausführten, entstand auf dem offenen Dreieck zwischen den drei Tribünen eine plötzliche Leere und dort hinein tanzten nun – das schrecklichste Schauspiel bis jetzt – einige Männer, die auf hohen Stangen Zerrbilder von jenen trugen, die in Abwesenheit verdammt worden waren. Jede der schwankenden Strohpuppen war in Fetzen gehüllt und auf ihre Stoffgesichter hatte man karikaturistisch die Züge der Qual und des Wahnsinns gemalt. Jedes Strohopfer trug das vorgeschriebene Armesünderkleid und den Hut, genannt coreza. Unter den Leuten war es still geworden und Furcht schien sie alle ergriffen zu haben. Es war, als wäre plötzlich über die große Menge eine Decke geworfen worden. Antonio fühlte es durch seinen Körper rieseln, als wäre die winterlich eisige Brise der See in seine Knochen gefahren. Ein starker Mann auf schwarzem Pferd, beide eingeschlossen in Rüstungen, so schwarz wie die mondlose Mitternacht, trug nun das Banner der Inquisition hoch auf einer schimmernden Lanze vor. Das Wappen darauf zeigte in einem Oval auf düsterem Hintergrund ein grünes Kreuz. Die eine Seite des Kreuzes war als Ölzweig dargestellt und symbolisierte die Bereitschaft des Inquisitors, jenen gnädig zu sein, die ihre Sünden bekannten und sich wieder dem wahren Glauben zuwandten. Auf der anderen Seite des Kreuzes stand das Schwert, eine Drohung für alle, die es wagten, der Kirche zu widersprechen. Hinter dem Banner ritt Frey Ignacio Molina, der Inquisitor von Madrid, auf einem Esel, und ihm folgten die geringeren Richter des Tribunals. Sogar von seinem niedrigen Sitz aus gelang es dem Inquisitor, gebietend und streng zu blicken und Antonio konnte von dem Fenster des zweiten Stockwerks, von dem aus er zusah, bemerken, wie die tiefliegenden feurigen Augen über die Menge glitten, als wollte er selbst während dieses Strafaktes noch Ausschau halten nach einem, den er verhaften lassen sollte. Die Gruppe der Kavaliere, die hinter den Inquisitoren ritt, erschien angesichts der pomphaften Prozession wie ein bloßes Anhängsel. »Unter der letzten Gruppe werdet Ihr viele Herren vom Hof bemer240
ken«, sagte Vesalius. »Das ist eine ausgezeichnete Vorsichtsmaßregel, eine Art Selbstschutz.« »Haben die Inquisitoren absolute Macht?« fragte Antonio. »Nahezu. Aber der König ist peinlichst darauf bedacht, daß auch beim Verfahren der Inquisition unbedingt Gerechtigkeit walte. Wo es einen Zweifel der Schuld gibt, hat der Angeklagte das Recht, an den Thron zu appellieren.« Das Ende des Zuges hatte nun den Platz erreicht und vor dem Altar unter dem Traghimmel des Bischofs wurde das große Banner in seiner schwarzen Umhüllung aufgestellt. Auf dem Altar brannten zwei Kerzen und aus einem Weihrauchfaß stieg eine Wolke in die kühle Nachmittagsluft. Die Augen der Menge richteten sich auf den Altar, vor dem sich jetzt der Bischof in seinem Ornat erhob und die Messe zu lesen begann. Nach Beendigung der Messe erhob der Bischof eine vernichtende Anklage, verlas alle Sünden, deretwegen die armen Wichte auf dem Gerüst verdammt wurden, und ermahnte sie, Frieden mit der heiligen Mutter Kirche zu schließen. Nun traten, einer nach dem anderen, die Anwälte der Inquisition vor und zählten im Anschluß an die Predigt die Sünden jedes einzelnen auf. Einige waren zu lebenslänglicher Haft in den Verliesen verurteilt, ein Schicksal, das vielleicht noch schlimmer war als der Strang. Die meisten waren der sofortigen Bestrafung auf dem Scheiterhaufen überwiesen. Sie wurden von ihren Stühlen weggetrieben und allesamt den weltlichen Behörden übergeben. »Maria Sanctissima!« sagte Vesalius mißmutig. »Sie wollen sie auf der Plaza verbrennen.« »Ist das nicht üblich so?« fragte Antonio. »Für gewöhnlich sind sie so milde, sie auf einen anderen Platz zu bringen. Aber die Inquisition muß glauben, der König sei gegen die flämischen Ketzer zu weich gewesen. Dies könnte eine Warnung sein.« »Für den König?« Vesalius zuckte die Achseln. »Für jedermann.« Keiner der Verdammten hatte es heute auf die letzte Folter durch die 241
Flammen ankommen lassen; alle hatten sie ihre Sünden bekannt und die Kirche hatte ihnen die Absolution erteilt. Das befreite sie aber nicht davon, ihre Ketzerei mit dem Leben zu bezahlen. Sie waren nun an die Pfähle gebunden, um die herum das Reisig angehäuft war. Kurz bevor das Holz angezündet wurde, trat ein stämmiger Henker zu jedem hin und ließ ihm geschickt eine Schlinge über den geschorenen Kopf fallen. Nur für einen winzigen Augenblick verbarg er das Opfer vor den Blicken der Menge, aber alle konnten sehen, wie die Muskeln an seinen starken Armen hervortraten, während er die Kordel ruckartig anzog. Dann wurde die Fackel an das Reisig angelegt und die Flammen sprangen an den Körpern empor. Antonios Blick war von den mitleiderregenden Gestalten an den Pfählen gebannt gewesen, aber jetzt wanderte er zurück zur königlichen Tribüne. Alle, die dort ihre Plätze innegehabt hatten, waren weggegangen, bis auf den König, der allein in der Mitte des Podiums stand, die Hand auf dem juwelenbesetzten Schwert. Dröhnend wie eine Orgel erhob sich nun des Inquisitors Stimme und Schweigen breitete sich über die Menge: »Da die apostolischen Erlässe und die geheiligten Ordensregeln es verlangen, daß der Souverän auf den heiligen katholischen Glauben und die christliche Religion schwöre, sind Eure Majestät gewillt, dies beim Heiligen Kreuz der Inquisition zu tun? Gewillt, der Inquisition und ihren Vertretern jede nötige Unterstützung angedeihen zu lassen, in ihrem Kampf gegen Häretiker und Abtrünnige, sowie gegen alle, die den Häretikern helfen, mit ihnen sympathisieren oder direkt oder indirekt die Tätigkeit der Inquisition behindern wollen? Gewillt, allen Untertanen Eurer Majestät und die Bewohner Eurer Majestät Königreich zu zwingen, den Einrichtungen und Erlässen zu gehorchen, die zur Verteidigung des heiligen katholischen Glaubens gegen Ketzer und alle, die an die Ketzer glauben, sie anerkennen oder sie unterstützen, veröffentlicht werden?« Ohne Zögern antwortete Philipp. Seine Stimme klang ein wenig hoch, aber klar verständlich. »Ich schwöre vor Gott und auf meinem Schwert als dem Zeichen meines Amtes.« Er hob das juwelenbesetzte 242
Schwert auf, berührte es mit den Lippen und legte es wieder auf den Tisch. »So sei es denn«, donnerte Frey Ignacios Stimme über den Platz. Das Autodafé war nun beendet und bald sah man nurmehr wenige Schaulustige. Der Geruch des verbrannten Fleisches aber lag noch in der Luft. Vesalius wandte sich Antonio zu. »Per Bacco!« rief er. »Danach müssen wir noch etwas Wein trinken.« Im Hintergrund des Raumes bewegte sich eine schlanke, schwarz gekleidete Gestalt. »De Onis!« rief Vesalius. »Ich habe Euch nicht hereinkommen gehört.« Der Mann, der im Schatten stand, trat vor. Er war klein und mager, hatte eine dunkle Haut, blaßblaue Augen und sein Gesicht war so bar jeden Ausdrucks, als wäre es eine Maske. »Ihr wart von den Vorgängen so gefangengenommen«, sagte er und verneigte sich. »Ich wollte nicht stören.« »Nun, dann kommt und trinkt ein Glas mit uns«, forderte Vesalius ihn auf und zu Antonio gewendet: »Das ist Señor Benito de Onis, der bei mir Medizin studiert. Das ist Dr. Antonio Servetus, zuletzt an der Universität zu Padua.« De Onis verneigte sich abermals. »Ich bin geehrt. Eines Tages hoffe ich auch an dieser berühmten Universität studieren zu können.« Sie tranken Wein und nach einer Weile entschuldigte sich Antonio mit dem Vorwand, er müsse die Zubereitung von Signore Bellarmis Abendessen beaufsichtigen. Der Bankier litt seit kurzem an erneuten Schmerzen in der Brust und im linken Arm, dieselben Beschwerden, die ihn veranlaßt hatten, Antonio zu bitten, ihn nach Madrid zu begleiten. Aber es war nicht die Sorge um ihn, die Antonio fröstelnd den Mantel enger um sich ziehen ließ, während er dem Haus Bellarmi zueilte, sondern die Erinnerung an all das Schreckliche, das er an diesem Nachmittag mitangesehen hatte.
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II
A
ntonio und Andreas Vesalius waren von Anfang an Freunde. Vesalius erhielt vom König die Erlaubnis, den Körper eines Hingerichteten zu studieren, und in Antonios Leben begann eine neue Phase. Die beiden Ärzte waren geistesverwandt, beide begierig, die Wahrheit zu erforschen, wo sie sie sahen, und nach reiflicher Überlegung aus ihren Studien Folgerungen zu ziehen. In einer gewissen Art ergänzten sie einander und Antonio war glücklich, wie schon lange nicht. De Onis, der Lehrling des Vesalius, war bei ihren Sezierungen ein aufmerksamer Beobachter, aber er nahm an nichts selber teil. Seine Abneigung gegen die leiseste Berührung eines toten Körpers hatte er mit den meisten Spaniern gemeinsam, die die Lehren der Kirche über derartige Entweihungen tief in sich aufgenommen hatten. Antonio konnte sich einer instinktiven Abneigung gegen den schlanken Burschen nicht erwehren, obwohl er dafür keinen richtigen Grund hatte. Als er Vesalius von diesen Gefühlen erzählte, lachte dieser. »Ihr verwechselt Stumpfheit mit Gift, mein lieber Antonio«, sagte der Anatom. »De Onis ist keineswegs übermäßig mit Intelligenz ausgestattet. Ich bezweifle, ob er jemals einen guten Arzt abgeben wird.« »Warum behaltet Ihr ihn dann?« Vesalius zuckte die Achseln. »Sein Vater ist ein Vertrauter des Königs und Seine Majestät selbst ersuchte mich, ihn als Arzt auszubilden. Natürlich kann ich nicht mehr tun, als es zu versuchen.« Die morgendliche Sezierung war beendet, Vesalius wusch die Hände und rollte die Ärmel herab. »Ich muß heute morgen Doña Catharina Sagredo besuchen. Wollt Ihr mich begleiten?« Es war das erstemal, daß Vesalius ihn aufforderte, einen seiner Privatpatienten zu untersuchen. »Ich würde mich glücklich schätzen«, entgegnete Antonio begierig. 244
»Es handelt sich um eine Lähmung bei einer jungen Frau«, erklärte Vesalius, während sie das Haus verließen. Antonios Interesse war sofort entfacht. Lähmungen bei Jugendlichen waren ungewöhnlich, außer als Folge von Verletzungen der Wirbelsäule. »Was ist die Ursache?« fragte er. »Deshalb brauche ich Euch eben«, erwiderte Vesalius. »Ich habe keine Ursache gefunden.« Während sie in Vesalius' Kutsche zu dem Haus der Patientin fuhren, gab der Anatom einen Bericht über den Krankheitsverlauf. Doña Catharina Sagredo, die bildschöne Tochter eines spanischen Edelmannes, hatte das Mißgeschick erlitten, die Aufmerksamkeit des Kronprinzen Don Carlos auf sich zu lenken. Das Werben war sehr heftig gewesen und nach der Schilderung des Vesalius hatte Doña Catharina den ungestümen Angriffen ihres königlichen Verehrers offensichtlich nachgegeben. Die Gerüchte besagten – es wurde jedoch allgemein als wahr angenommen –, daß sie zumindest eine Zeitlang die Geliebte des Prinzen gewesen sei, aber wie es vielen andern ergangen war, die seiner Huld teilhaftig geworden, fand er sie bald nicht mehr anziehend und ließ sie fallen. Die Lähmung, unter der sie jetzt litt, hatte sich unmittelbar, nachdem der königliche Erbe Doña Catharina seine Gunst entzogen hatte, eingestellt. Vesalius hatte sie in diesem Zustand, der nun schon ein Jahr andauerte, behandelt, aber es war ihm unmöglich, die Ursache der Erkrankung festzustellen. Sie wurden in einen Raum geführt, in dem eine bezaubernd schöne, junge Dame apathisch in einem Bett lag; den traumverlorenen Blick hatte sie auf die Decke geheftet. Vor der kleinen Statue der Mutter Gottes neben dem Bett brannte eine Kerze und an einer zarten Goldkette um den Hals des Mädchens hing ein Kruzifix. Ein weiterer Beweis für ihre religiöse Einstellung war der Rosenkranz, dessen Perlen beständig durch ihre Finger glitten, während sich ihre Lippen in tonlosem Gebet bewegten. Ihre Hände waren bleich und durch die weiße Haut konnte man das Blut in den Adern sehen. »Ich habe einen zweiten Arzt zur Untersuchung mitgebracht, Doña Catharina«, sagte Vesalius. 245
Das Mädchen gab kein Zeichen, daß es ihn gehört hatte. Doña Maria, die Mutter, rang die Hände. »Es geht ihr heute viel schlechter, Herr Doktor«, stöhnte sie. »Manchmal erkennt sie mich nicht, mich, ihre eigene, liebe Mutter.« Ihre Worte erstarben in einem Schluchzen und ihr mächtiger Busen hob und senkte sich durch die Erschütterung. Vesalius und Antonio nahmen die Untersuchung vor. Der Zustand war so, wie der Anatom ihn geschildert hatte. Vom Nabel abwärts war der Körper gelähmt und jeder Empfindung beraubt. Selbst wenn man die Haut in dieser Region mit einer Nadel berührte, reagierte das Mädchen nicht darauf, nichts deutete darauf hin, daß es Schmerzen empfand. Der Verlust der Empfindung war so vollkommen, wie ihn Lodovici Agnolo bei dem Mädchen Anya mit dem Magnetismus zustande gebracht hatte, dachte Antonio. Plötzlich kam ihm eine Idee. »Das ist seltsam«, meinte er zu Vesalius. »Es ist beinahe, als ob sie magnetisiert worden wäre.« »Wie kommt Ihr darauf?« Antonio erklärte, wie es Lodovici Agnolo – er nannte ihn nicht beim Namen – gelungen war, durch den Magnetismus die Empfindungen auszuschalten und daß er gesagt habe, orientalische Arzte würden unter diesem seltsamen Zustand manchmal Operationen ausführen. »Aber wie könnte sie magnetisiert worden sein?« fragte Vesalius. »Vielleicht ist es möglich, einen solchen Zustand selbst herbeizuführen«, mutmaßte Antonio. Die Augen des Anatomen glühten. »Dann könntet Ihr, da Ihr doch den Magnetismus zu übertragen versteht, vielleicht auch fähig sein, ihn auszuschalten.« »Genau daran dachte ich«, versicherte Antonio. »Sante Maria! Das würde einem Wunder gleichkommen.« »Erlaubt Ihr mir, daß ich es versuche?« »Versucht alles«, drängte Vesalius. »Alles, um diese Lähmung zu beseitigen.« »Dann sollten wir aber die Mutter aufmerksam machen«, meinte Antonio. »Ich möchte nicht, daß sie glaube, ich praktiziere Hexenkunst.« 246
Sie kehrten in das Zimmer, in dem das Mädchen lag, zurück, und Vesalius sprach einige Minuten mit Doña Maria. Sie war so verzweifelt, daß sie gegen nichts einen Einwand erhob, das ihrer Tochter helfen könnte. Antonio trat dann an das Bett und blickte auf das Mädchen herab. Eine Sekunde lang blickte es ihn an, senkte aber die Augen sofort wieder auf den Rosenkranz. »Wollt Ihr, daß ich Euch helfe, Doña Catharina?« Sie gab keine Antwort und er wiederholte die Frage. Wieder erhob sie die Augen und er erschrak über die Angst, die daraus sprach, als fürchtete sie, er wäre tatsächlich fähig, gegen ihre seltsame Lähmung etwas zu tun. »Wenn Ihr mir vertrauen wollt, glaube ich, Euch helfen zu können. Ihr sollt vor nichts Angst haben.« Ein Ton löste sich von ihren Lippen und er beugte sich tiefer zu ihr, um besser zu hören. Es war kaum ein Flüstern. »Ich habe gesündigt, mir kann nichts helfen.« »Ich glaube, ich kann es, wenn Ihr es erlaubt«, beharrte er. »Ihr mögt es versuchen, aber es hat keinen Zweck.« Antonio wandte sich an Vesalius. »Ich brauche eine Lichtquelle. Vielleicht genügt eine Kerze.« Er ging durch das Zimmer und blies die Kerzen aus, bis auf die eine in dem kleinen Kerzenhalter. Diese nahm er zur Hand und hielt sie ganz nahe über den Kopf des Mädchens, so daß es sie sehen konnte, wenn es die Augen hob. »Ihr müßt die Kerze fest ansehen, Doña Catharina«, sprach er zu ihr. »Und genau befolgen, was ich Euch sage. Nichts wird Euch verletzen oder stören.« Sie nickte schwach, um zu zeigen, daß sie verstanden hatte. »Ich will es versuchen«, hauchte sie. »Blickt beständig auf die Kerze«, befahl er. Der Blick des Mädchens flackerte zuerst und dann, als er es in leisem Ton ermutigte, konzentrierte es sich auf die Flamme. Wenn es stimmte, daß die Lichtquelle die magnetischen Kräfte in Gang brachte, mußte er nun fähig sein, das Mädchen zu beherrschen. »Versucht jetzt, Eure Füße zu bewegen.« 247
Nichts geschah. Keine Bewegung war an der Decke zu bemerken. »Versucht es«, drang er in sie. »Versucht es noch einmal.« Wieder gab es keine Reaktion und er drang erneut in sie, aber mit dem gleichen Ergebnis. »Ay Maria!« murmelte Vesalius. »Es klappt nicht.« Plötzlich wußte Antonio, was daran falsch war. Wenn Doña Catharinas Zustand, wie er vermutete, magnetischen Ursprungs war, mußte es sein, daß der Magnetismus irgendwie in ihrem Körper lag. Wenn es ihm jedoch gelang, sie von sich aus zu magnetisieren, mochte er die Kontrolle über den ganzen Zustand gewinnen. »Ich glaube zu wissen, was falsch war«, sagte er zu Vesalius. Er beugte sich tiefer zu dem liegenden Mädchen. »Blickt weiterhin auf die Kerze, Doña Catharina.« Ihr unsteter Blick konzentrierte sich wieder auf das Licht. »Löst die Augen nicht davon.« Er stellte sich nun so, daß er ihr in die Augen sehen konnte. »Ihr müßt mich anhören«, sagte er ruhig. »Ihr seid sehr krank gewesen, aber ich bin dabei, Euch gesund zu machen. Eine böse Macht hat Euren Geist ergriffen. Ich schaffe einen Weg, auf dem sie wieder heraus kann.« Zu seiner Überraschung bewegten sich ihre Lippen und er hörte sie flüstern: »Ich weiß. Ich weiß.« »Ihr fühlt Euch schläfrig«, fuhr er in demselben verhaltenen Ton fort. »Euer Geist ist dabei, von Eurem Körper befreit zu werden und die üblen Einflüsse werden hinausgetrieben.« Sogar Doña Maria hielt mit ihrem asthmatischen Keuchen inne und folgte gespannt dem Schauspiel, das mit dem schönen Mädchen auf dem Bett vor sich ging, dem kleinen Licht und der monotonen Stimme Antonios, der in sie drang, sich zu entspannen. »Fühlt Ihr, daß Euer Geist sich vom Körper befreit?« fragte er. Der Kopf des Mädchens bewegte sich langsam in einem bejahenden Nicken und seine Augenlider senkten sich, als wollte es in Schlaf verfallen. Der Atem wurde regelmäßig und ruhig. »Hört Ihr mich, Doña Catharina?« fragte Antonio. 248
»Ja, ich höre Euch.« Sie sprach mit normaler Stimme und flüsterte nicht mehr, wie vorhin. Der Wechsel war so merkbar, daß Antonio Vesalius aufspringen sah. »Madre de Dios!« stieß die Mutter hervor. Aufregung ergriff Antonio. Er hatte ihre Stimme gelöst, würde die weitere Behandlung auch erfolgreich sein? Er achtete sorgfältig auf den Klang seiner eigenen Stimme und sagte: »Ihr fühlt, wie das Leben in Eure Glieder zurückkehrt, Doña Catharina. Ihr braucht dem nur freien Lauf zu lassen und Ihr werdet genesen.« Nun ging in dem Mädchen etwas Seltsames vor. Ihre Augen blieben geschlossen, aber ein Lächeln umspielte ihre Lippen und in tiefer Leidenschaft flüsterte sie: »Liebster, mein liebster Carlos.« Sie breitete die Arme aus, als umhalste sie einen Schattenliebhaber und zöge ihn mit lebhafter Gebärde an die Brust. Über die Bedeutung dieser Szene, die sie hier mit sich selbst im Gedanken an den Prinzen vorführte, gab es keinen Zweifel. Was immer er hier ausgelöst hatte, fiel es Antonio ein, es war nicht für die Augen und Ohren der Mutter bestimmt. Er mußte es irgendwie bewerkstelligen, sie aus dem Raum zu schaffen. »Sie könnte verfallen«, wandte er sich an Doña Maria. »Bitte holt rasch etwas Wein.« Doña Maria keuchte und einen Augenblick lang glaubte Antonio, sie würde in Ohnmacht fallen. »Rasch!« sagte Antonio und als sie den Raum verlassen hatte, machte er Vesalius ein Zeichen, näher zu kommen, denn nun bewegte sie nicht nur ihre Arme, sondern den ganzen Körper, auch den Teil, der gelähmt gewesen. Sie krümmte sich in einer hingebungsvollen Bewegung, die nur eine Bedeutung haben konnte: sie erlebte aufs neue eine Szene, bei der sie eine wichtige Rolle gespielt hatte und allem Anschein nach eine willige Partnerin gewesen. Schreie von tierischer Lust kamen von ihren Lippen und die leidenschaftlichen Bewegungen ihrer Glieder wurden so wild, daß sie in Gedanken an die durchlebte Leidenschaft in ihrem Bett ekstatisch herumschlug und vor Anstrengung keuchte. Überrascht betrachtete Antonio diesen Gefühlsausbruch, den er heraufbeschworen hatte. Was war das für eine Macht, die er unwissentlich angewandt hatte? Worin lag diese seltsame Zauberkraft, die be249
wirkte, daß ein anscheinend so unschuldiges und religiöses Mädchen seine Hingabe so dramatisch und offen bekannte? Diese Verwicklungen erschreckten ihn. Aber von der Lähmung war nichts mehr zu bemerken, zumindest nicht während des Krampfes. Ob sie zurückkehren würde, sobald das Spiel zu Ende war, konnte er noch nicht sagen. Es schien ihm nicht gerade taktvoll, die Zurschaustellung solch tierischer Gefühle mitanzusehen, aber er wagte es nicht, wegzugehen, denn das Mädchen konnte sich vom Bett werfen und sich verletzen. Keiner hatte die Mutter eintreten gehört. Sie trug eine Flasche Wein und schrie auf beim Anblick ihres Kindes, das sich gerade in den letzten krampfartigen Anstrengungen krümmte. Dann war Doña Catharina plötzlich still. Ausgestreckt, den Mund schlaff und einen Ausdruck tiefster und äußerster Zufriedenheit auf dem Gesicht, lag sie da. Antonio beugte sich über das Mädchen. Es war ihm klar, er durfte den seltsamen Zustand nicht vorbeigehen lassen, ohne ihr zu zeigen, daß die Lähmung verschwunden war. »Ihr könnt nun gehen, Doña Catharina. Ihr seid geheilt.« »Ich bin schläfrig«, murmelte das Mädchen. »Bitte laßt mich schlafen.« »Ihr müßt gehen«, drängte Antonio. »Dann könnt Ihr schlafen.« Er faßte ihre schmale, bleiche Hand und zog sanft. Gehorsam setzte sie sich im Bett auf. »Ich … ich kann gehen«, wiederholte sie mechanisch und schwang unter seinem Zwang langsam die Beine aus dem Bett. Als ihre Füße den Boden berührten, erhob sie sich mit seiner Hilfe langsam, bis sie, nur von seiner Hand unterstützt, stand. »Versucht zu gehen«, drang er sanft in sie. Sie machte einen zögernden Schritt und dann einen zweiten. Antonio zog seine Hand zurück und sie schwankte gegen die Mitte des Zimmers, fiel aber nicht hin. Nun, so dachte er, war es an der Zeit, den magnetischen Zustand zu beenden, solange sie noch auf den Füßen war und der Beweis ihrer Heilung nicht widerlegt werden konnte. »Ihr werdet erwachen, wenn ich Euren Namen nenne. Und Ihr werdet durch das Zimmer gehen, versteht Ihr mich?« 250
»Ja«, sagte sie langsam. »Ich verstehe.« Er trat zurück. »Doña Catharina, wacht auf!« rief er scharf. Das Mädchen riß die Augen auf und starrte auf Vesalius, auf Antonio und auf die Mutter, die noch immer mit der Weinflasche in der Hand dastand. Dann machte sie einen unsicheren Schritt, noch einen und mit einem frohen Aufschrei rannte sie zu ihrer Mutter. Die Weinflasche fiel aus Doña Marias Hand, zerbrach, und über den Boden ergoß sich die rote Flüssigkeit, aber die beiden Frauen beachteten es nicht, sie schluchzten heftig und lagen sich in den Armen. »Kommt«, sagte Antonio zu Vesalius. Er fühlte sich mit einemmal völlig entkräftet, als wäre jede Spur von Kraft aus ihm herausgesogen worden. »Wir wollen sie nun allein lassen.« Aber als sie das Haus verlassen wollten, kam ihnen Doña Maria tränenüberströmt nachgelaufen. Sie ergriff Antonios Gewand und warf sich auf die Knie. »Die gebenedeite Jungfrau hat durch Euch ein Wunder bewirkt, Doktor«, schluchzte sie. »Meine Tochter ist gesund geworden, weil Ihr für sie eingetreten seid.« »Es ist kein Wunder, Señora«, erwiderte Antonio freundlich. »Ich behandelte Eure Tochter nur nach einer neuen Methode.« »Vor Gott schwöre ich, daß ich die Jungfrau neben ihrem Bett lächeln und nicken sah!« rief Doña Maria aus. »Ihr seid ein Heiliger, Doktor. In Euren Händen liegt die Macht des Heilens.« Antonio gelang es, sich von der schwatzenden Frau zu befreien. Es wäre nicht gut, jetzt mit ihr zu streiten. Sie war zu aufgebracht, um sich irgendwie davon überzeugen zu lassen, daß ihre Tochter nicht ausersehen gewesen war, durch ein Wunder gerettet zu werden. In Vesalius' Wagen lehnte sich Antonio in die Polster und trocknete sich die Stirne. Der Erfolg hatte ihn wirklich überwältigt. Nicht so sehr, weil er die Lähmung gelöst, sondern weil er in dem jungen Mädchen einen solch emotionellen Sturm entfesselt hatte. »Was ist das für eine seltsame Macht, die ich da angewendet habe?« fragte er Vesalius. »War es wirklich ein Wunder?« Vesalius strich sich mit den Fingern durch den dunklen Bart. »Das 251
glaube ich kaum. Ihr habt doch das Ausmaß der Lähmung und den Verlust der Empfindung vor Eurer Behandlung bemerkt?« »Nun ja. Es betraf die untere Hälfte des Körpers.« »Es war mehr als das«, sagte der Anatom. »Ich untersuchte sie einmal sorgfältig und stellte als Grenze genau die Symphysis pubis fest.« »Genau die – –« Antonio unterbrach sich. »Wißt Ihr, was Ihr damit sagt?« Vesalius zuckte die Achseln. »Ihr habt doch auch die Bedeutung des Ausbruchs erkannt, nicht wahr?« »Es war offensichtlich die Nachahmung einer sexuellen Umarmung.« »Genau das. Und zwar eine, die die liebliche Doña Catharina ganz gewiß mit dem Prinzen erlebt hat.« »Dann war die Lähmung – –, aber das ist unmöglich.« »Es ist anatomisch unmöglich«, pflichtete Vesalius bei. »Ich kann Euch bestätigen, daß kein Nervenstrang von denen, die Ihr oder ich seziert haben, eine derartige Lähmung und Empfindungslosigkeit bewirkt.« »Aber wie konnte es dann geschehen?« »Was flüsterte Doña Catharina, ehe Ihr anfingt und ihr sagtet, daß Ihr helfen könnt?« »Sie sagte: ›Ich habe gesündigt, nichts kann mir helfen.‹« »Das dachte ich mir«, fuhr Vesalius fort. »Und auf welche Art hat sie gesündigt, nach dem Beweis ihres eigenen Benehmens?« Antonio vergegenwärtigte sich das Bild, das ihm der gelähmte und empfindungslose Körper Doña Catharinas geboten hatte. Vesalius Gedanke schien logisch. Es war richtig, aber es war auch etwas daran, was sein wissenschaftlicher Verstand nicht akzeptieren konnte. »Aber die Nervenstränge berühren das von der Lähmung betroffene Gebiet nicht«, warf er ein. Vesalius zuckte die Achseln. »Es gibt Dinge im menschlichen Körper, die wir nicht verstehen, Antonio. Und Ihr könnt sie nur kennenlernen, wenn Ihr viele Leute behandelt. Wie ich vermute, hat ihr Geist beschlossen, ihren Körper nicht mehr der Sünde hinzugeben.« 252
Antonio richtete sich auf. »Aber das ist wichtig!« rief er aus. »Das dürfte wichtiger sein, als die Entdeckung der Lungenzirkulation.« »Mag sein.« »Mit dieser Erkenntnis wäre ich fähig, viele andere Beschwerden der Menschen zu ergründen.« »Aber sollt Ihr das auch?« fragte Vesalius. Antonio blickte ihn überrascht an. »Warum nicht, bitte?« »Die Leute werden es nicht wünschen, daß ihre innersten Geheimnisse offenbar werden«, sagte der Anatom gedankenvoll. »Denkt eine Minute darüber nach. Hättet Ihr nicht daran gedacht, Doña Maria wegzuschicken, würde sie die Bedeutung dessen, was wir gesehen, und auch den Grund zur Krankheit ihrer Tochter erkannt haben.« Antonio sprach eine Weile nichts, dann sagte er langsam: »Ihr habt recht. Die Gefahren einer derartigen Behandlung könnten größer sein als die Wohltat.« Vesalius lächelte. »Ihr dürftet da auf eine große Wahrheit gestoßen sein, mein Sohn. Was mich betrifft, bleibe ich beim Sezieren. Ihr seid für mich bereits zu weit gegangen.« »Ich glaube, ich werde in Zukunft den Magnetismus nicht viel anwenden«, pflichtete Antonio bei. »Er ist, wie Ihr sagt, zu gewaltig.«
III
W
enn Antonio von der Kraft des seltsamen Magnetismus überzeugt war, so wurde er am folgenden Morgen noch mehr überzeugt von der Gewalt des gesprochenen Wortes. Er überwachte gerade die Zubereitung von Signore Bellarmis Morgengericht, da vernahm er an der Tür ein Pochen. Ein Diener ging nachsehen, kam aber zurückgelaufen. »Doktor!« schrie er. »Eine große Menschenmenge ist draußen.« 253
»Eine Menschenmenge?« Antonio runzelte die Stirne. »Was will sie?« »Sie rufen nach Euch.« Antonio ging zur Tür. Er konnte sich nicht denken, was zu dieser oder irgendeiner anderen Stunde eine Menschenmenge von ihm wollte. Daß sie aber da war, darüber bestand kein Zweifel, das Gemurmel draußen ließ nicht nach. Ein Buckliger, in Lumpen gehüllt, fiel ihm beinahe entgegen, als er die Tür öffnete. Hinter ihm auf den Stufen und draußen in der Straße drängten und stießen sich die Leute, um näher an das Haus heranzukommen. Einige schrien, einige weinten und andere fluchten. Antonio mußte die vordersten zurückdrängen, um auf die niedere Terrasse des Hauses hinauszugelangen. Von hier aus konnte er die Menge besser übersehen. Es waren an die hundert, meist Krüppel oder offensichtlich Kranke und nach ihren Kleidern zu schließen zum großen Teil Bettler. Die einen humpelten an Krücken heran, andere, offenbar Blinde, ließen sich führen und die, die überhaupt unfähig waren zu gehen, lagerten im Gras und fuchtelten mit Stöcken gegen die Herumgehenden, damit sie nicht zertrampelt würden. Beim Erscheinen Antonios erhob sich ein Gemurmel, das er aber nicht deuten konnte. Tatsächlich vermochte er ja kaum zu stehen, denn der Bucklige zog an seinen Beinen. Freundlich hob er den Mann empor. »Was wollt Ihr?« fragte er. »Was wollen diese Leute?« »Heilt mich«, flehte ihn der Mann mit ausgebreiteten Armen an und fiel aufs neue auf die Knie, sobald Antonio ihn losgelassen hatte. »Heilt mich, Eure Heiligkeit. Entfernt diesen Höcker von meinem Rücken und macht mich gesund.« »Ich kann Euch nicht heilen«, entgegnete Antonio. »Wer schickt Euch hierher?« »Seid Ihr nicht der Arzt, den sie Servetus nennen?« »Ja. Mein Name ist Servetus.« »Dann seid Ihr der, der alle Krankheiten heilt.« »Ich bin Arzt«, sagte Antonio ein wenig brüsk, »aber ich kann nicht alle Krankheiten heilen.« 254
Eine feindliche Stimme erhob sich aus der Menge. »Habt Ihr nicht Doña Catharina Sagredo geheilt, die länger als ein Jahr nicht gehen konnte?« »Ja. Das stimmt«, gab Antonio zu. Plötzlich wurde ihm klar, was geschehen sein mußte. Als er mit Vesalius gestern das Haus der Sagredo verließ, hatte Doña Maria von einem Wunder geschwatzt. Aber es war beinahe unglaublich, daß sich diese Neuigkeit so schnell verbreiten konnte. »Wer sagt, daß ich Krankheiten durch Wunder heile?« fragte er den Buckligen. »Die gute Doña Maria Sagredo«, antwortete ihm der Mann. »Ich habe es von ihrem Kutscher erfahren, daß Ihr die Tochter durch Fürbitte bei der Heiligen Jungfrau geheilt habt.« Neuerlich erhob sich in der Menge ein erregtes Gemurmel. Antonio war in die Enge getrieben. Die hysterische Frau hatte einen großen Fehler begangen. Wenn Doña Catharina von dem wirklichen Grund ihrer Lähmung eine Ahnung hatte – was er fest glaubte – war es sicherlich verbindlicher, die Heilung einem Wunder zuzuschreiben. Aber was sollte er jetzt mit dieser Meute von Bettlern und Krüppeln tun, die von ihm Hilfe verlangten? »Heilt mich, Heiliger, Einziger!« Eine mitleiderregende Gestalt, die an den untersten Stufen auf einem Sack lag, hielt ihm zwei dürre Arme entgegen. Das Äußere des Mannes war buchstäblich ein formloser Haufen von Gebeinen, umgeben von blasser, dünner Haut. Beim bloßen Hinsehen erkannte Antonio den fortgeschrittenen Fall von Schwindsucht, bei dem jede Behandlung hoffnungslos sein würde. »Hört mich alle an«, sagte Antonio freundlich. »Ich bin kein Wunderwirker und besitze keinen Einfluß bei der Heiligen Madonna – –« »Aber Ihr habt doch Doña Catharina Sagredo geheilt!« rief dieselbe feindliche Stimme aus der Menge. »Verleugnet es nicht.« »Ich verleugne es nicht«, erwiderte Antonio. »Aber ich behandle nach medizinischen Methoden. Ich werde glücklich sein, jeden von euch zu untersuchen, und wenn ich feststelle, daß ich euch helfen kann, sind die Arzneien frei.« 255
»Ohhhh!« schrie der Schwindsüchtige. »Wir wollen keine Arzneien. Bittet die Heilige Jungfrau, daß sie uns gesund macht!« Gellende Schreie enttäuschter Hoffnung ertönten. Die vordersten drängten sich näher an ihn heran und einige schwangen drohend ihre Stöcke und Krücken. »Hört mich bitte an«, bat Antonio. »Ich bin Arzt und kein Priester. Ich will Eure Gebrechen behandeln, aber wenn ihr jemanden sucht, der bei der Heiligen Jungfrau fürbitten soll, müßt ihr zu einem Priester gehen.« »Ohhhh!« schrie der Schwindsüchtige wieder. »Er will nur die Reichen heilen, die ihn bezahlen. Er ist wie alle Ärzte, er arbeitet nur für die Reichen.« Antonio wurde wütend. »Ich habe mich angeboten, euch zu behandeln!« schrie er. »Was wollt ihr denn noch mehr?« »Ein Wunder! Ein Wunder!« rief der Schwindsüchtige und die Menge nahm das Wort auf, bis es wie ein wilder, rhythmischer Gesang klang. »Ein Wunder! Ein Wunder!« heulten sie und die von hinten drängten nach vorne und preßten die in den ersten Reihen gegen das Haus. Einige rauften miteinander, von hinten kam ein Stein geflogen und fiel auf der Terrasse zu Boden. Ein anderer krachte durch das Fenster. »Hier ist Eure Bezahlung, Doktor!« schrie jemand. Antonio erhob ruhegebietend die Hand. »Ich sage euch zum letztenmal, ich weiß nichts von Wundern. Warum wollt ihr mir das nicht glauben?« Ein stierähnliches Wutgeheul kam aus der Menge, die sich selbst in eine Raserei hineinsteigerte. Sie rissen kleine Steine aus der Straße und überschüttete damit das Portal und die Fenster. Der Bucklige und die auf den Stufen stolperten wieder hinunter und ließen Antonio allein. Einer war auf den Schwindsüchtigen gestiegen, der vor Schmerz aufbrüllte und fluchte. Ein Höllenlärm erhob sich und die Enttäuschten suchten ein Ziel für ihre Wut. Sie wählten Antonio, der jetzt allein auf der Terrasse stand. Aus der schreienden und fluchenden Menge, die vor ihm wogte, begann es Kieselsteine auf ihn zu regnen. Ein Stein, größer als alle übrigen, traf Antonio an der Stirn und er brach in die Knie. Blut rann über sein Gesicht. Da kamen die von den 256
untersten Stufen wieder herauf und schlugen mit ihren Stöcken auf ihn ein. Von allen Seiten angegriffen kniete er da und versuchte sich mit den über den Kopf gehaltenen Händen zu schützen. Ein neuer Hagel von Steinen prasselte gegen das Haus, zerbrach die Fenster und beulte die Verschalung ein. Plötzlich krachte das hölzerne Geländer an den vorderen Stufen unter dem Druck der Nachdrängenden zusammen. Der Bucklige zog einen schweren Eichenpfahl aus den Trümmern und kroch über die Stufen auf die kniende Gestalt auf der Terrasse zu. Seine mörderische Absicht stand ihm deutlich im verzerrten Gesicht geschrieben, als er sich mit katzenartigen Bewegungen heranschlich. Betäubt von den Schlägen, war ihm Antonio wehrlos preisgegeben. Der Bucklige hatte Antonio fast erreicht, da tauchte ein großer Mann, den Degen in der Hand und gefolgt von einem halben Dutzend kräftiger, mit Keulen bewaffneter Lakaien auf. »Zurück, Pöbelhaufen!« schrie er und stürzte sich mitten in die Menge. Er schlug mit der flachen Klinge seines Degens um sich und sobald die Lakaien seinem Beispiel folgten, wurde das Wutgeheul von Schmerzensschreien der Auseinanderstiebenden abgelöst. Innerhalb weniger Sekunden waren alle verschwunden. Nur der Schwindsüchtige lag noch da auf seinem Strohsack. Er hatte die Knie angezogen und duckte den Kopf unter den schützend darübergebreiteten Armen, als warte er auf die Schläge, die auf ihn niederregnen würden. »Schafft dieses Ungeziefer in sein Loch«, befahl der Mann seinen Dienern. Er sprang die Stufen empor, als Antonio gerade seinen Kopf hob. Er war noch ganz benommen und konnte es kaum glauben, daß er vor den schrecklichen Schlägen und wahrscheinlich auch vor dem Tod durch die wütende Menge gerettet sei. »Seid Ihr verletzt, Doktor?« Antonio erkannte Armand de Quadra. Er erhob sich. Blut tröpfelte von seinen Wunden über seine Augen und seine Kleider waren zerrissen. »Señor de Quadra«, keuchte er und lehnte sich haltsuchend gegen das Geländer. »Ihr seid gerade zurecht gekommen.« »Diese Hunde hätten Euch getötet«, meinte de Quadra. »Glücklicherweise wohne ich ganz in der Nähe und hörte den Tumult.« 257
»Ihr habt mir zweifellos das Leben gerettet«, sagte Antonio. »Cáspita! Die Menge war schlechter Laune. Was hat diese Bettler so aufgebracht?« »Sie wollten ein Wunder«, gestand Antonio scheu. »Weil ich es nicht vollbringen konnte, wurden sie wütend.« »Ein Wunder?« De Quadra blickte ihn scharf an. »Seid Ihr gewiß, daß Ihr nicht schwer verletzt seid?« Der Druck von Antonios Kopf begann zu weichen. »Gestern besuchte ich mit Dr. Vesalius Doña Sagredo und hatte das Glück, sie heilen zu können.« »Von ihrer Lähmung?« fragte de Quadra überrascht. »Ja.« »Caramba! Es increíble! Das Mädchen konnte seit einem Jahr nicht gehen.« »Sie konnte es gestern, nach meiner Behandlung. Unter den Umständen ist es naheliegend, daß die Mutter dies für ein Wunder hielt. Sie hat ihren Dienern erzählt, daß ich ihre Tochter durch Anrufung der Heiligen Jungfrau geheilt hätte. Diese wieder erzählten es den Bettlern und – – und Ihr saht es ja selbst.« »Ihr glaubt somit nicht, daß die Heilung auf Anrufung der Mutter Gottes erfolgte?« fragte de Quadra mit lauerndem Tonfall. Antonio schüttelte den Kopf. »Sie litt an einer gewissen Art von seelischer Störung, die die Lähmung verursachte. Das habe ich bloß wieder in Ordnung gebracht.« »Womit?« »Mit Magnetismus«, erklärte Antonio. »Aber ich weiß nicht genau, wodurch er bewirkt wird.« »Magnetismus? Das verstehe ich nicht.« »Wenige verstehen es. Es ist eine neue Behandlungsmethode, die ich in … in Italien kennengelernt habe.« Die Fragerei begann ihn zu ermüden und sein Kopf fing wieder zu schmerzen an. »Dann wart eigentlich Ihr es und nicht die Heilige Jungfrau, die Doña Catharina geheilt hat?« fragte de Quadra neuerlich. »Was wissen wir, wer heilt und wer nicht heilt?« entgegnete Antonio 258
müde. »Ich wandte eine neue Methode an und das Mädchen wurde gesund. Zuvor war sie es nicht. Scheint es nicht logisch, daß meine Methode sie geheilt hat?« Plötzlich waren im Hause Geräusche zu hören, als würden dort Leute herumlaufen. »Entschuldigt mich bitte, Señor de Quadra. Signore Bellarmi scheint mich zu brauchen.« »Aber selbstverständlich.« De Quadra verneigte sich tief. »Ich bin glücklich, Euch zu Diensten gestanden zu haben.« »Und ich verdanke Euch mein Leben«, sagte Antonio ergeben. »Vielleicht kann ich diese Schuld eines Tages zurückzahlen.« De Quadra hob die Augenbrauen. »Vielleicht. Wer kann es wissen.« Das Tor wurde nun geöffnet und ein Diener streckte den Kopf heraus. »Doktor!« rief er. »Der Herr ist in Ohnmacht gefallen.« Girolamo Bellarmi lag mit geschlossenen Augen auf dem Boden der Halle. Sein Atem ging pfeifend. Schnell griff Antonio nach dem Puls. Er schlug so voll, als wollte das Blut die Gefäße sprengen. »Was ist geschehen?« fragte Antonio den Diener, während er Bellarmis Kleider öffnete, um ihm das Atmen zu erleichtern. »Als sie anfingen, Euch zu steinigen, wollte er Euch zu Hilfe kommen.« Das erklärt alles, dachte Antonio. Girolamo Bellarmi war keineswegs gesund; er neigte zu Plethora, die auch seinen Bruder getötet. Der Tumult hatte ihn erregt und bei seinem Versuch, zu Hilfe zu kommen, hatte er seine Kräfte überschätzt und war zusammengebrochen. Ob es ein Schlaganfall war oder nicht, konnte Antonio jetzt noch nicht sagen, aber es war nicht unwahrscheinlich. Er brachte Bellarmi auf ein Ruhebett und sandte einen Diener in den Palast mit einer Botschaft für Lucia. Dann holte er seine Instrumente. Aderlaß war bei diesem Zustand angezeigt und je schneller er ihn durchführte, desto besser. Er hatte die Vene gerade mit einer Lanzette durchstochen und ließ das Blut in die Schüssel fließen, da kam Lucia. Sie trug einen langen Mantel über ihrem Nachtkleid, denn sie hatte noch im Bett gelegen, als der Bote angekommen war, und sie hatte sich nicht Zeit genommen, sich anzukleiden. »Was ist es?« flüsterte sie und kniete neben dem Ruhebett nieder. 259
»Er brach in der Halle zusammen«, erklärte Antonio. »Wird er – –«, sie hielt inne, aber er verstand ihre Frage. Onkel Mario war unter ähnlichen Bedingungen gestorben. Girolamo Bellarmi hatte seit einiger Zeit befürchtet, ihn werde ein ähnliches Schicksal ereilen. »Wir wollen abwarten.« Er beendete den Aderlaß und stellte die Schüssel mit Blut beiseite. »Es ist noch zu früh, um zu beurteilen, wie krank er ist.« Lucia erhob sich, sie schwankte ein wenig und legte die Hand auf die Stirne. Antonio sah, daß sie kalkweiß geworden war. Er konnte sie gerade noch auffangen, ehe sie fiel, und führte sie zu einem Sessel. »Ich werde Euch ein Glas Wein bringen.« Als er zurückkam, hatte sie sich wieder gefaßt, aber sie trank dankbar den Wein. »Wenn ich hier bei ihm geblieben wäre, statt im Palast«, sagte sie zerknirscht, »wäre das vielleicht nicht geschehen.« »Es hätte jederzeit geschehen können«, versicherte er ihr. »Jede Aufregung hätte den Anfall auslösen können.« »Aber worüber hat er sich heute morgen aufgeregt?« Antonio erzählte ihr von dem Angriff der Bettler. »Dann wollte er also Euch helfen«, sagte sie vorwurfsvoll. »Ja, das wollte er.« »Ihr seid an allem schuld«, klagte sie. Aufgelöst wie sie war durch die Angst um ihren Onkel, konnte er verstehen, daß sie das, was geschehen war, so deutete. Aber es kam der Wahrheit nahe genug und sein eigenes Schuldgefühl steigerte sich. »Wenn Ihr es auf diese Weise auslegen wollt«, entgegnete er und dachte, es wäre besser nachzugeben, als zu streiten. Aber er sah sofort, daß er sich unglücklich ausgedrückt hatte, denn ihre Wangen entflammten sich und hitzig rief sie: »Gibt es eine andere Art, es auszulegen?« Ein Stöhnen des Onkels lenkte sie von ihrem Streit ab. Girolamo Bellarmi öffnete langsam die Augen und versuchte sogar schwach zu lächeln. »Es tut mir leid, Antonio«, flüsterte er. »Ich wollte Euch helfen.« »Es ist alles in Ordnung«, versicherte Antonio. »Ihr solltet am besten 260
gar nicht sprechen.« Ein Schmerzkrampf verzerrte Bellarmis Gesicht und er drückte die Hand auf die Brust, als wollte er den Schmerz wegpressen. »Ihr müßt ganz ruhig bleiben, Signore«, warnte Antonio. »Ihr hattet einen schweren Anfall.« »Der Schmerz«, stöhnte er. »Könnt Ihr irgend etwas dagegen tun?« »Ich will einen Trank bereiten, um es Euch leichter zu machen.« Antonio ging zu einem Bord, wo er seine Arzneien aufbewahrte. Er nahm eine Flasche Opium, maß eine reichliche Dosis und vermischte sie mit rotem Wein. Während Bellarmi trank, stützte ihn Antonio, dann sagte er: »Jetzt werdet Ihr schlafen können.« Wieder schüttelte ein Schmerzkrampf den kranken Mann, der Schweiß brach ihm aus den Poren und er wurde aschfahl. »Ihr müßt versuchen, ruhig zu liegen«, drängte Antonio. »Dann wird es besser werden.« Signore Bellarmi schien sich aber etwas von der Seele sprechen zu wollen, denn er deutete ihnen an, näher zu kommen. »Wenn mir irgend etwas zustößt, Antonio, versprecht mir, daß Ihr Euch Lucias annehmt, bis sie in Florenz wieder in Sicherheit ist.« »Aber Onkel – –« Lucia wollte etwas einwenden. Er hob seine Hand. »Versprecht Ihr das, Doktor?« »Ich verspreche es«, erwiderte Antonio. »Und du, Lucia, wirst du tun, was er sagt?« Sie zögerte, dann sagte sie mit leiser Stimme: »Ich werde tun, was er sagt, Onkel, bis ich in Florenz bin.« Sie brach in Schluchzen aus und warf sich neben dem Ruhebett in die Knie. »Aber es wird dir nichts zustoßen, liebster Onkel, ich werde beständig darum beten.« Bellarmi lehnte sich zurück und schloß die Augen. Bald sagte ihnen sein regelmäßiger Atem, daß die Arznei ihre Wirkung getan hatte. »Habt Ihr schon gefrühstückt?« fragte Antonio Lucia. Sie schüttelte den Kopf. »Gestern abend war ein Empfang und ich blieb sehr lange auf.« »Dann kommt mit mir. Er wird jetzt dank des Opiums wahrscheinlich einige Stunden schlafen.« Der Diener hatte das Frühstück aufgetragen und Lucia griff herz261
haft zu. Antonio aber berührte kaum seine Speise. Sie blickte von ihrem leeren Teller auf und bemerkte, daß er nichts gegessen hatte. »Was ist denn, seid Ihr krank?« Antonio lächelte. »Nur seelisch.« »Wie bitte?« »Es ist wegen meiner ›Anhänger‹ von vorhin.« Er rieb sich den Kopf. Dort, wo ihn die Steine getroffen hatten, waren Beulen und die Haut spannte sich über der Stirne. Der kleine Schnitt über dem Auge war mit verkrustetem Blut verklebt. »Ihr seid verletzt«, rief Lucia teilnehmend. »Habt Ihr mit den Bettlern einen Kampf gehabt?« »Nur einen halben«, bekannte Antonio traurig. »Der erste Stein hat mich schon gefällt.« »Aber sie hätten Euch töten können.« »Beinahe hätten sie es, wäre nicht Señor de Quadra zu Hilfe gekommen.« Er erzählte ihr vom Eingreifen de Quadras und seiner Lakaien. »Wir hörten von der Heilung Doña Catharinas gestern im Palast«, sagte Lucia. »Erzählt mir darüber.« »Ein Arzt soll die Geheimnisse seiner Patienten nicht ausplaudern.« »Jedermann weiß, daß sie die Geliebte des Prinzen war und daß er sie fallen ließ. Unmittelbar danach war sie gelähmt; wenn sie überhaupt gelähmt war. Am Hof glaubten manche, sie hätte nur Komödie gespielt, um nicht den Leuten gegenübertreten zu müssen und ihre Schande einzugestehen.« Antonio war überrascht über diese Auslegung, die der des Vesalius so nahe kam. »Doch irren sie sich«, sagte er zu Lucia. »Sie war tatsächlich gelähmt und vollkommen empfindungslos unterhalb des Gürtels.« »Wie erklärt Ihr dann die Heilung?« »Das kann ich nicht«, gab er zu. »Aber ich bin gewiß, daß Magnetismus mit Wundern nichts zu tun hat. Wir können nur nicht begreifen, wie solche Zustände entstehen.« Lucia legte die Serviette beiseite. »Wo habt Ihr das Magnetisieren gelernt?« 262
»Von einem Magier in Venedig.« Er hielt es nicht für notwendig, ihr nähere Einzelheiten über Lodovici Agnolo zu erzählen. »Kann jeder magnetisiert werden?« »Das weiß ich nicht. Aber mir ist es noch nie mißlungen.« Sie warf den Kopf zurück. »Ich würde Euch nie erlauben, es an mir zu versuchen.« »Soll das eine Herausforderung sein?« neckte er. »Ja«, erwiderte sie fest. »Ich fordere Euch heraus.« »Ich werde Euch beim Wort nehmen, Madonna«, versprach er. »Wenn die Zeit gekommen ist. Und was soll der Einsatz sein?« »Ist einer erforderlich?« fragte sie vorsichtig. »Ist es bei jungen Damen nicht üblich, daß sie wenigstens einen Kuß zahlen, wenn sie eine Wette verlieren?« Sie lächelte. »Ich werde nicht verlieren, mein Herr. Also kann ich getrost setzen.«
IV
S
ignore Bellarmi erholte sich dank Antonios Behandlung rasch von seinem Anfall. Am Abend des nächsten Tages bat Antonio Vesalius, er möge ihm bei der Konsultation assistieren. Als sie nachher aus dem Zimmer kamen, stellte Antonio den flämischen Arzt Lucia vor. »Wie findet Ihr meinen Onkel, Doktor?« fragte sie. »Er hat sich dank der unverzüglichen Behandlung Dr. Servetus' gut erholt, Madonna«, erwiderte Vesalius. »Dann glaubt Ihr, daß er am Leben bleibt?« »Soweit es diesen Anfall betrifft, ohne Zweifel. Aber Ihr müßt natürlich bedenken, daß er sehr anfällig ist.« »Ich verstehe; wir müssen sehr vorsichtig sein.« 263
»Glücklicherweise wird ja Dr. Servetus die meiste Zeit hier sein. Ich würde Euch nicht empfehlen, den Onkel viel allein zu lassen.« »Glaubt Ihr, ich sollte lieber hier bleiben?« »Das wäre gewiß das beste. Ihr würdet dem Onkel einen Teil seiner Arbeit abnehmen können. Dr. Servetus sagte mir, daß Ihr sehr viel von Geschäften versteht.« Lucia blickte Antonio an. »Das habt Ihr gesagt, Tonio?« »Ihr selbst habt den Vorschlag gemacht, zu bleiben, Lucia«, erinnerte er sie. »Ich glaube, er wird mich brauchen«, sagte sie langsam. »Er wünschte zwar, daß ich mich am Hof etwas einlebe. Aber ich werde sofort meine Sachen hierher bringen lassen. Die Königin wird es verstehen.« »Ich will ihr gegenüber den Zustand Eures Onkels erwähnen«, versprach Vesalius und zu Antonio sagte er: »Eure Heilung der Doña Catharina hat in Madrid beträchtlichen Aufruhr hervorgerufen.« »Dafür habe ich einen Beweis.« Antonio erzählte von seinem Erlebnis mit den Bettlern. Als er geendet hatte, war Vesalius' Gesicht ernst. »Das hört sich anders an«, sagte er. »Ich wollte zuerst nicht mit Euch darüber sprechen, aber nun glaube ich, sollte ich es doch tun.« »Habt Ihr sonst noch etwas über Doña Catharina gehört?« fragte Antonio. »Nein, aber ich hatte heute morgen Besuch. Es war ein Vertrauter Frey Ignacio Molinas.« »Was wollte er?« Antonio war es plötzlich, als hätte die feuchte, kalte Hand des Todes seine Stirne berührt. »Er fragte nach Einzelheiten bei Eurer Behandlung und schien besonders daran interessiert, ob Ihr die Hilfe der Heiligen Jungfrau angerufen hättet.« »Aber das war doch eine rein medizinische Angelegenheit«, protestierte Antonio. »Es war kein Wunder.« »Das sagte ich ihm auch«, entgegnete Vesalius. »Er wollte vor allem zwei Dinge wissen: ob Ihr die Heilige Mutter nicht angerufen habt und dann seltsamerweise, ob ein Geruch von Schwefel zu bemerken war.« »Schwefel!« rief Lucia. »Warum wollte er das wissen?« 264
Antonio sagte bedächtig: »Man sagt, daß der Geruch von Schwefel in Gegenwart von Dämonen zu bemerken sei.« »Dämonen!« Ihre Augen weiteten sich. »Aber sie werden doch nicht glauben, daß Ihr die Mächte des Satans beschworen habt, Tonio.« Vesalius erwiderte ernst: »Die Inquisition glaubt, was sie für gut befindet, Madonna.« »Aber Antonio ist doch kein Zauberer. Es war eine medizinische Behandlungsmethode. Er sagte es mir so.« »Ihr und ich und Dr. Vesalius wissen das, Lucia. Aber Frey Ignacio möchte mich gerne aus Madrid vertreiben. Bedenkt nur, ich habe seine Warnung außer acht gelassen und Don Pedro operiert.« Lucia fröstelte. »Ich wollte, wir wären nie nach Spanien gekommen.« »Glaubt Ihr, daß sie mich verhaften werden?« fragte Antonio Vesalius. »Es muß nicht sein. Sie könnten Euch aber auch schon morgen holen. Alles hängt davon ab, was Frey Ignacio an Beweisen gegen Euch sammelt und wie rasch er das tut.« »Was soll Antonio denn tun?« fragte Lucia. Vesalius zuckte die Achseln. »Es gibt keine Möglichkeit, gegen die Inquisition zu kämpfen … es sei denn, der König –« Sein Gesicht erhellte sich. »Aber warum auch nicht?« »Was meint Ihr?« fragte Antonio. »Wir könnten an den König appellieren, falls man Euch festnimmt. Die Königin ist auf Eurer Seite und Ihr habt einflußreiche Patienten. Außerdem seid Ihr kein Spanier und habt daher jedes Recht, an Seine Majestät zu appellieren.« »Würde ich dabei besser wegkommen, als vor dem Inquisitionstribunal?« »Ihr würdet besser daran tun. Sie nennen den König Philipp den Vorsichtigen, aber auch Philipp den Gerechten. Und er hat sich noch nie geweigert, eine Appellation anzuhören.« »Würde er gegen die Inquisition einschreiten?« fragte Lucia. »Schließlich hat er bei dem Autodafé« – sie schauderte in Gedanken daran – 265
»geschworen, die Inquisition in allen ihren Handlungen zu unterstützen.« »Er wird sich natürlich nicht gegen die Inquisition stellen, aber das Verhör wird zumindest anders sein. Bei den gewöhnlichen Prozessen der Inquisition ist es dem Angeklagten nicht gestattet, dem Ankläger gegenübergestellt zu werden oder überhaupt den genauen Grund der gegen ihn erhobenen Anklage zu erfahren. Vor dem König – dessen bin ich gewiß – wird Antonio auf seinem Recht bestehen können und man wird es ihm auch gewähren.« »Wenn sie mir eine Möglichkeit zur Verteidigung geben«, beharrte Antonio dickköpfig, »dann kann ich meine Unschuld beweisen.« »Gott gebe, daß Ihr das könnt, mein Sohn«, sagte Vesalius im Weggehen. »Aber vielleicht kann Frey Ignacio gar nichts gegen Euch vorbringen. Seid jedenfalls versichert, daß ich alles tun werde, um Euch zu helfen. Ich selbst mag den Inquisitor auch nicht leiden und ich weiß, daß er nur darauf wartet, um auch gegen mich etwas vorbringen zu können.« Als Vesalius gegangen war, sagte Lucia freundlich: »Armer Tonio, Ihr erleidet durch mich dauernd Schwierigkeiten.« »Aber Ihr seid doch dafür nicht verantwortlich.« »Wenn ich niemals nach Padua gekommen wäre, hättet Ihr weiter glücklich und zufrieden im Kloster gelebt.« Er lächelte. »Ich bin nicht überzeugt, daß ich dort wirklich glücklich war.« »Aber ich dachte, Ihr wolltet in den Orden eintreten.« »Das war einmal. Aber sogar damals habe ich mir Gedanken gemacht über meine Arbeit und viele andere Dinge. Heute weiß ich, daß mich diese Gedanken unweigerlich in Konflikt mit Leuten wie Fra Felipe Santos und Frey Ignacio gebracht hätten.« Dann fügte er hinzu: »Und natürlich hätte ich Euch nie kennengelernt.« Sie errötete und wandte den Blick ab. »Bedeutet es so viel, mich zu kennen, Tonio?« »Natürlich bedeutet es viel. Wir sind doch Freunde, nicht wahr?« Sie wechselte das Thema. »Wenn Ihr in Padua geblieben wäret, hättet Ihr noch das Gemälde und Eure göttliche Geliebte.« 266
»Die göttliche Geliebte, die Paracelsus meint, ist die Weisheit«, erinnerte er sie. »Aber Ihr habt doch die Venus als zu Euch gehörend betrachtet.« »Ja. Das stimmt. Aber irgendwie scheint sie mir nun weit entfernt.« Schmerzlich kam es ihm zum Bewußtsein, daß er an das Gemälde seit Wochen, ja seit Monaten nicht mehr gedacht hatte. Die Tage vergingen und der Zustand Signore Girolamos besserte sich zusehends. Lucia blieb im Haus, um ihm bei seinen Geschäften zu helfen, wozu sie eine natürliche Begabung hatte, und auch Antonio war sehr beschäftigt. Viele hochgestellte Persönlichkeiten suchten ihn auf und sein Ruhm und sein Reichtum wuchsen beständig. Da nun schon Wochen verstrichen waren und sich keine Anzeichen zeigten, daß ihm die Inquisition Schwierigkeiten bereiten wolle, fragte er sich, ob er sich nicht grundlos geängstigt habe. Auch Gian beschäftigte sich mit den Angelegenheiten seines Vaters; zwar nur teilweise, denn die meiste Zeit widmete er der Malerei. Er hatte sich in einem Haus im anderen Teil der Stadt eine Wohnung genommen und ein Zimmer als Studio eingerichtet. Hier wurde er von Damen belagert, die sich von dem hübschen Maler porträtieren lassen wollten. Und wenn in dem Studio auch nicht immer nur gemalt wurde, so kümmerte sich niemand darum. Eines Winterabends kam Gian zu Antonio, Kummerfalten im sonst so fröhlichen Gesicht. »Ich habe schlechte Nachricht für dich, Antonio.« Antonio war während der letzten Wochen der dauernden Gefahr gegenüber, die über ihm schwebte, ziemlich gleichgültig geworden, aber er konnte sich bei Gians ernsten Worten eines Gefühls der Furcht nicht erwehren. »Was ist los?« fragte er. »Mein Vater hat aus Venedig geschrieben und unter anderem erwähnt, daß sich der Dominikaner-Prior, der vor einigen Monaten im Kloster angegriffen wurde, nunmehr völlig erholt hat.« Antonio fühlte, wie sich seine Kehle verengte. Da war es wieder, das vertraute Gefühl banger Vorahnungen. Fra Felipe Santos am Leben! Dann mußte ihm Battista Porzia von seiner Abreise aus Pisa berich267
tet haben. »Hat dein Vater erwähnt, ob die Angreifer des Priors bekannt sind?« »Nein.« Gian blickte ihn schlau an. »Lehr mich Fra Felipe kennen. Glaubst du, der wird es überall herumerzählen?« »Du hast recht«, pflichtete Antonio bei. »Er wird persönlich Rache nehmen wollen, wenn es ihm nur irgendwie möglich ist.« »Genau das, was ich auch dachte.« Gian zögerte, als überlege er, ob er noch etwas sagen sollte, das ihm am Herzen lag. Dann fuhr er fort: »Ich habe Doña Elena Mandoza gemalt.« Der Name sagte Antonio gar nichts. »Sie ist eine gute Freundin von Doña Catharina Sagredo, deiner ehemaligen Patientin«, erklärte Gian. »Wo willst du hinaus?« »Frey Ignacio Molina hat Doña Catharina mehrere Male besucht. Sie erzählte Doña Elena, daß sich der Inquisitor sehr für deine Heilmethode interessiert.« Antonio griff es eiskalt ans Herz. Wenn der Inquisitor selbst die Untersuchung führte, dann bedeutete das, daß die Gefahr einer Verhaftung drohte. »Was hat sie ihm gesagt?« fragte er. »Hat die Dame das gewußt?« »Doña Catharina hat deine Methode sehr genau beschrieben. Sie stellte dazu noch fest, es sei ihr gewesen, als hätte man irgendein übles Ding aus ihr entfernt. Frey Ignacio vermutete, daß du einen bösen Geist ausgetrieben hättest.« Antonio runzelte die Stirne. »Aber ich habe doch keinen bösen Geist ausgetrieben. Sagte sie ihm das nicht?« Gian lächelte. »Man sagt, daß Doña Catharina mit dem Prinzen – nun, wollen wir sagen – eng befreundet gewesen ist. Wenn sie die Schuld auf einen bösen Geist wälzt, zieht sie sich damit selbst aus der Affäre.« »Und spielt damit Frey Ignacio genau das zu, wonach er sucht«, sagte Antonio erbittert. »Sie wäscht sich rein und mich bringt sie in Zusammenhang mit einer Teufelsaustreibung, was nach den Gesetzen der Inquisition ein Verbrechen ist für alle, die nicht Priester sind. Sag, Gian, gibt es nicht so etwas wie Dankbarkeit auf dieser Welt?« 268
Der Künstler zuckte die Achseln. »Möglich. Ich habe noch keine gefunden.« Er zögerte, dann sagte er: »Es geht sogar das Gerücht, daß deine Verhaftung befohlen ist. Was willst du unternehmen?« »Was kann ich unternehmen?« »Du könntest Spanien so rasch wie nur möglich verlassen.« »Weiß ich denn, ob sie mich gehen lassen?« »Ich bezweifle, daß jemand versuchen würde, dich zu halten. Es sei denn, Frey Ignacio ist der Ansicht, daß die Beweise deiner Schuld zu schwer wiegen.« »Aber Flucht ist ein Einbekenntnis der Schuld«, protestierte Antonio. »Nicht, wenn du unschuldig bist. Zumindest vor deinem eigenen Gewissen nicht. Und wenn sie dich verhaften, foltern sie dich so lange, bis du gestehst, ob du nun schuldig bist oder nicht.« Antonio wußte, daß Gian die Wahrheit sprach. Es gab keinen Weg, der Inquisition zu entkommen, wenn sie einen einmal in der Gewalt hatte, obgleich er an den Dingen, mit denen sie ihn zweifellos belasten würden, unschuldig war. Aber da war ja auch noch seine Verpflichtung gegenüber Signore Bellarmi. »Ich kann Signore Bellarmi nicht verlassen, solange er nicht außer Gefahr ist. Und ich habe ihm versprochen, mich um Lucia zu kümmern, wenn ihm irgend etwas zustößt.« »Nimm sie mit dir.« »Und die Inquisition brandmarkt sie als meine Komplizin.« »Was macht das schon aus, wenn du in Sicherheit bist? In Frankreich wärst du sicher. Catharina von Medici wird die Bellarmis schützen und dich auch.« Antonio erwog die verlockende Aussicht. Er hatte in Frankreich genug Geld, um lange Zeit davon leben zu können. Außerdem war dort Ambroise Paré und Vesalius würde ihm gewiß eine Empfehlung mitgeben, die ihm den Zutritt zu den höchsten medizinischen Kreisen ermöglichte. Dann erinnerte er sich an das Autodafé und die tanzenden Strohpuppen und Karikaturen von denen, die in absentia verurteilt worden 269
waren. Würde bei der nächsten Prozession der Inquisition vielleicht auch sein Bild dabei sein? Er hatte Padua verlassen, um einer Verhaftung wegen des Angriffes auf Fra Felipe zu entgehen und er war mehr und mehr in Konflikte geraten. War es nun für einen Unschuldigen überhaupt angezeigt, sich der Bedrohung durch Flucht zu entziehen? Er richtete sich entschlossen auf. Wenn er je einen Kampf auszutragen hatte, warum sollte es nicht gleich dieser sein? Irgendwo mußte es noch Recht, Wahrheit und Ehre geben; wenn er aber jedem Kampf auswich, würde er diesen Ort niemals finden. »Ich werde ihnen nicht die Befriedigung bereiten, mich vertreiben zu lassen«, sprach er zu Gian. »Laß Frey Ignacio tun, was er will.« »Tonio, du bist ein Narr«, sagte Gian freundlich. »Aber ich habe es nicht anders erwartet. Was willst du zu deiner Verteidigung vorbringen?« »Daß ich nichts Unrechtes getan habe und daß die Methode, die ich bei Doña Catharina anwandte, bloß eine neue medizinische Entdeckung ist.« »Gott gebe, daß du das beweisen kannst«, erwiderte Gian inbrünstig. »Ich werde jedenfalls für dich tun, was ich vermag.« Antonio stand lange Zeit am Kamin und starrte in die Flammen. Im Geist überflog er die Zeit, welche verflossen war, seit er Padua verlassen hatte. Er erkannte, daß er in nichts hätte anders handeln können als er es tatsächlich getan. Die Erfahrung sagte ihm, solange er im Recht sei, würde ihn die Heilige Jungfrau schützen und es müsse ihm Gerechtigkeit widerfahren. Dieser Glaube war eins mit seinem Glauben an Gott und an die Kirche, von der er getauft worden und in der er aufgewachsen war. Er blies die Kerzen aus, nahm ein Buch vom Brett an der Wand, ging in die Halle und wollte eben die Stufen zu seinem Zimmer hinaufgehen. Lucia war an diesem Abend im Palast und Signore Bellarmi schlief. Den Fuß auf der ersten Treppe, hielt er inne. Von der Straße herauf klangen Schritte, wie wenn Soldaten vorbeimarschierten. Was wollten marschierende Männer hier zu dieser nächtlichen Stunde, fragte er sich. Die Palastwache passierte diesen Weg nie bei ihrer 270
regelmäßigen Ablösung. Das Geräusch war lauter geworden und wurde nun zu einem pochenden Rhythmus, der auf das Haus zuzukommen schien. Antonio durchfuhr es kalt. Mit angehaltenem Atem wartete er, ob sie stehen bleiben würden. Jetzt wurde das Geräusch etwas schwächer, als wären sie vorbeigegangen. Dann vernahm er ein scharfes Kommando und den Klang der auf der Straße aufgesetzten Hellebarden. Sekunden später pochte es ans Tor. Einen Augenblick lang war Antonio unfähig, sich zu bewegen. Seine Muskeln waren wie gelähmt unter der Wucht der Erkenntnis, daß das alles ihm galt. Dann überwand er sich und öffnete das Tor. Ein Offizier im dunklen Gewand der Inquisitionswachen, das Wappen mit dem grünen Kreuz auf seiner Tunika, stand vor der Tür. In der Hand hielt er ein zusammengerolltes Blatt. Hinter ihm vor dem Haus stand ein halbes Dutzend Männer, gestützt auf ihren Waffen, die im kalten, winterlichen Mondlicht glänzten. Der Offizier entrollte das Pergament. »Ich habe hier einen Befehl«, verkündete er, »zur Verhaftung von Dr. Servetus. Está al doctor en casa?« Nun, da er den ersten Schock überwunden hatte, war Antonio ganz ruhig geworden. »Das bin ich«, sagte er. »Wollt Ihr mit mir kommen«, entgegnete der Offizier sachlich. »Warum werde ich verhaftet?« fragte Antonio. Der Offizier blickte überrascht auf, daß es jemand wagen konnte, einen Befehl der Inquisition anzuzweifeln. Er blickte kurz in das Schreiben, dann zuckte er die Achseln. »Es ist von Frey Ignacio Molina, dem Inquisitor von Madrid, unterfertigt. Kommt.« »Darf ich mich von meinem Herrn verabschieden?« »Ihr seid verhaftet. Ihr dürft mit niemandem sprechen.« »Darf ich dann eine Zeile hinterlassen?« Die Stimme des Offiziers wurde ärgerlich. »Nichts ist erlaubt. Ihr seid verhaftet.« Es hatte keinen Sinn, sich zu widersetzen. Antonio ließ sich von den Wachen abführen wie ein gewöhnlicher Verbrecher. Er konnte nur hoffen, daß Lucia, wenn sie am Morgen vom Palast kam, merkte, was geschehen war. Außerdem mußten ja die Nachbarn die Wachen gesehen 271
haben, denn der Aufmarsch konnte nicht unbemerkt geblieben sein. Lucia würde dann wahrscheinlich Gian und Vesalius benachrichtigen, so daß der Anatom die Appellation an den König richten konnte. Sie gingen nicht lange und schon sah Antonio die Mauern der Casa Santa, des Sitzes der Inquisition, gebieterisch vor sich aufragen. Er wurde durch eine Reihe von Gängen tief in das Gebäude hineingeführt. Ein Gefangenenwärter schloß eine Zelle auf, stieß ihn hinein und versperrte das Tor. Dann ging er mit seiner Laterne weg und ließ Antonio allein in der Dunkelheit des Verlieses, jenem Grab, aus dem die Lebenden meist nur herauskamen, um zum Scheiterhaufen gebracht zu werden.
V
I
n dem Verlies der Casa Santa war Antonio vollkommen von der Welt abgeschlossen, als wäre er lebendigen Leibes in eine Gruft versenkt. Zweimal am Tag schob ihm der Wärter, ein rauher Geselle, dessen leerer Blick den Schwachsinnigen verriet, eine Schüssel mit dünner Suppe und einen Krug Wasser durch die kleine Öffnung in der Zellentür. Auf jegliche Frage Antonios schüttelte er den Kopf. In der Zelle war Abfall und Schmutz von Jahrzehnten angehäuft und eine feuchte Kälte durchdrang einen, ob man saß, lag oder stand. An der einen Seite des Gelasses stand eine schmale Pritsche, tatsächlich nicht mehr als ein Gestell aus rohen Brettern, bedeckt mit zerfetzten Decken, in denen das Ungeziefer nistete. In einer Ecke der Zelle befand sich knapp über dem Boden eine Öffnung in der Mauer, zu der vom Steinboden eine Rinne führte. Für gewöhnlich wurde von der Tür her ein Eimer schmutziges Wasser aufgeschüttet, um den Unrat wegzuspülen. Durch die Rinne und die Öffnung in der Mauer, die mit einem steinernen Abzugskanal in Verbindung stand, rann das Wasser ab. Nach dem Ge272
stank zu schließen, mußten die Kanäle seit langem schmutzige Tümpel sein. Michael, sein Bruder, hatte all dies gekannt, dachte Antonio während der langen Stunden, in denen er in der Casa Santa wartete auf das, was mit ihm geschehen würde. Und Michael war daraus hervorgeschritten, noch immer bereit, sein Leben für seine Idee hinzugeben. Still betete Antonio um die gleiche Stärke, aber tief in seinem Herzen wußte er, daß er sie nie besitzen würde. Michael war von der Überzeugung angefeuert worden, für die er willens war, zu sterben. Aber Antonio hatte nichts getan, womit er dieses Schicksal verdient hätte; er hatte bloß die Prinzipien des Arztes befolgt: seinen Mitmenschen zu dienen, Schmerz und Krankheit zu erleichtern, wo immer es möglich war. Antonio fragte sich, was nun aus seinen Plänen werden würde, der Welt seine Entdeckung zu enthüllen, die Wahrheit über die Lungenzirkulation und die noch größere Erkenntnis, daß die Medizin nicht durch das Studium der Schriften Galens, Aristoteles und Ptolemäus – so fruchtbar solche Studien zugegebenermaßen auch sein mögen – Fortschritte machen wird, sondern nur durch Forschen in den von Krankheit zerstörten Körpern, in den Anatomiehörsälen, bei den postmortem-Untersuchungen und bei Versuchen an Tierkörpern. Vesalius hatte es einmal gewagt, diesen Gedanken auszusprechen, aber der Madrider Anatom war nicht mehr derselbe, der die ›Fabrica‹ veröffentlicht hatte. Der Kampfgeist war in Vesalius erloschen, aus Furcht vor dem, was Antonio jetzt erlebte. Und wenn Vesalius den Kampf hatte aufgeben müssen, um nicht Gefängnis und Folter kennenzulernen, wie konnte dann er, Antonio Servetus hoffen, seine Arbeit weiterführen zu können? Am zweiten Morgen kamen Wachen und holten ihn aus der Zelle. Die Hände gebunden und die Füße in Ketten, mußte er mit ihnen Schritt halten, während sie ihn durch mehrere Gänge in einen großen Raum führten, der vom morgendlichen Sonnenlicht so hell erleuchtet war, daß er geblendet von dem Glanz über die Schwelle stolperte. Einer der Wachen stieß ihn in den Raum und strauchelnd fiel er in die 273
Knie. Er fühlte einen stechenden Schmerz, als er im Fallen die Haut an dem blanken Boden aufscheuerte. Nun erfaßte ihn der Mann bei den Handfesseln und zog ihn empor, daß die Fesseln ihm schmerzhaft ins Fleisch schnitten. Er hatte sich jetzt etwas an die Helligkeit gewöhnt und während er zu der Estrade am anderen Ende des Saales stapfte, blickte er ein wenig um sich. Er befand sich in einer großen Halle mit kahlen Wänden. Die Ausstattung war einfach. In einer Ecke standen die furchtbaren Folterwerkzeuge der Inquisition, mit deren Hilfe das heilige Tribunal Bekenntnisse und Geständnisse aus seinen Opfern herauszuholen wußte. Das andere Ende nahm eine breite Estrade ein, auf der ein langer Tisch und drei Sessel, der mittlere etwas höher als die andern, standen. Vor dem mittleren Sessel war auf dem Tisch ein Kruzifix zwischen zwei brennenden Kerzen aufgestellt. Davor lag aufgeschlagen das Evangelium. Auf dem mittleren Sessel saß Frey Ignacio Molina, die gefalteten Hände auf dem Tisch, zu seiner Rechten ein Diözesanpriester, der den Bischof vertrat, und zu seiner Linken in weltlicher Kleidung der Notar. Am Ende des Tisches saß ein Anwalt und schrieb in einem Buch. Vor sich hatte er eine kleine Glaskugel mit einer Öffnung in der Mitte, in die er seine Federn steckte. Antonio sah, daß die Kugel glühte, als das Sonnenlicht darauf fiel, genau wie der Kristall von Lodovici Agnolo geglüht hatte. Antonio fröstelte. Sollte dies ein Omen sein, fragte er sich. Denn schließlich war es ja Magnetismus, der die Gegensätze mit der Inquisition heraufbeschworen und der Frey Ignacio eine Handhabe gegeben hatte, ihn verhaften zu lassen. Und er selbst war durch einen solch glühenden Ball zum erstenmal mit dem Magnetismus in Berührung gekommen. Während er wartete, daß sie mit dem Verhör beginnen mögen, sah Antonio, wie sich Frey Ignacios Augen auf die Glaskugel richteten und dort verweilten. Er schien von dem glühenden Ball ebenso angezogen zu werden, wie Antonio damals in Lodovicis Wohnung. Das ›Kristall von Samarkand‹ hatte Lodovici es genannt, aber Anto274
nio erkannte nun, daß jede Glaskugel denselben Zweck erfüllen würde, wenn sie die Sonnenstrahlen auffing und sie in sich selbst zum Glühen brachte. Er mußte sich eine beschaffen, dachte er, um besser ausgerüstet zu sein, wenn er wieder jemanden zu magnetisieren hatte, aber gleich darauf erinnerte er sich, daß er dazu wohl kaum jemals wieder Gelegenheit haben würde, denn nur wenige waren den Gefängnissen der Casa Santa entronnen. Frey Ignacio schien den Blick gewaltsam von dem Kristall loszureißen und sagte zu dem Notar: »Nehmt den Eid ab.« Nichts an ihm ließ erkennen, daß er Antonio bemerkt hätte. »Sprecht mir folgende Worte nach«, befahl der Notar und begann mechanisch: »Ich schwöre bei dem lebendigen Gott und bei der Heiligen Jungfrau, der Mutter Gottes, daß ich alle Fragen wahr beantworten werde. Daß ich nichts verbergen will, das mit der Angelegenheit, über die ich befragt werde, in Zusammenhang steht, und daß ich die Namen aller mir Verbündeten, sowie alles, was zur Aufklärung dessen dient, dessen ich angeklagt bin, nennen werde.« Antonio wiederholte die Formel. Dann hielt man ihm formlos das Evangelium unters Kinn und er neigte den Kopf, um die Seiten zu küssen. Der Notar schritt zu seinem Sessel zurück und nahm die Feder. »Euer Name«, bellte er. »Antonio Servetus, Doktor der Medizin und des Kanonischen Rechts.« Der Advokat riß die Augen auf, Frey Ignacio aber tat, als hätte er nichts gehört. Antonio sah, daß sich sein Blick wieder auf den glühenden Kristall richtete. »Euer Geburtsort?« »Ich wurde in Todela in Navarra geboren, verbrachte aber den größten Teil meines Lebens in Italien.« Jetzt erhob Frey Ignacio seine Stimme, die laut durch den großen Raum schallte. »Dann seid Ihr also Spanier?« »Nein«, antwortete Antonio sofort. »Ich lehrte an der Universität zu Padua, wo ich um das Bürgerrecht in der Republik Venedig angesucht hatte, was man mir auch gewährte.« 275
Der Advokat spielte mit seinem Ring. Antonio konnte sehen, daß er beeindruckt war. Kein Bürgerrecht der Welt stand höher im Kurs als das Venedigs. Frey Ignacios lange Finger trommelten auf den Tisch, aber er fragte nicht weiter und nach einer Weile ließ sich wieder der Notar vernehmen: »Wer von Eurer Familie ist noch am Leben?« »Niemand«, antwortete Antonio. »Meine Eltern starben vor einigen Jahren an der Pest.« »Habt Ihr einen Bruder?« fragte Frey Ignacio. »Mein älterer Bruder, Michael Servetus, ist tot.« »Wurde er nicht hingerichtet?« »Ja. Durch Johannes Calvin in Champel, in der Schweiz.« »Aus welchem Grund?« »Wegen Häresie«, gab Antonio zu. Er wußte, daß dieses Eingeständnis sich für seinen eigenen Fall furchtbar auswirken würde, aber offensichtlich wußte Frey Ignacio schon davon und somit konnte er durch Leugnen nichts erreichen. »Was ist Euer Beruf?« fragte der Notar. »Ich bin Arzt«, sagte Antonio stolz. »Zuletzt lehrte ich Anatomie und Chirurgie an der Universität zu Padua.« »Warum habt Ihr Padua verlassen?« unterbrach Frey Ignacio. Antonio hatte diese Frage erwartet und ohne Zögern antwortete er: »Um Leibarzt bei Signore Girolamo Bellarmi zu werden, einem Kaufmann aus Florenz, der zur Zeit in Madrid weilt.« »Seid Ihr katholisch?« »Das bin ich«, sagte Antonio fest. »Euer Beichtvater?« »Padre August Contarini aus dieser Stadt.« Signore Bellarmi und Lucia hatten den italienischen Priester gewählt, der jetzt in Madrid lebte und Antonio war ihnen in ihrer Wahl gefolgt. »Wann habt Ihr zum letztenmal gebeichtet?« »Vor einer Woche«, entgegnete Antonio, der seinen Glauben so ausübte, wie er es von Kindheit an gewohnt war. Frey Ignacio blätterte in einigen Papieren, die er vor sich liegen hatte. »Wie stellt Ihr Euch zu dem Verbrechen, dessen Ihr angeklagt seid?« 276
Durch sein Studium des Kanonischen Rechts war Antonio mit den Methoden der Inquisition vertraut. So ging der Inquisitor vor, das wußte er, um den Gefangenen dazu zu bringen, sich selbst zu überführen durch das Eingeständnis, er hätte ein Verbrechen begangen. »Was ist die Natur der Beschuldigung gegen mich?« fragte er ruhig. »Antwortet mir. Seid Ihr schuldig oder nicht?« Frey Ignacio heftete seine Augen auf Antonio, als wollte er ihn durch die Gewalt seines Blickes gefügig machen. Aber Antonio begegnete dem Blick und gab ihn zurück. Einen Augenblick lang lag eine Spannung in der Luft; die Willenskräfte der beiden kämpften gegeneinander. Aber zu Antonios Überraschung senkte sich der Blick Frey Ignacios auf seine klauenähnlichen Finger, die auf dem Tisch ruhten. Antonio triumphierte; sein Wille war ebenso stark wie der des Inquisitors, vielleicht sogar noch stärker. Trotz des kalten Blickes, trotz der grabesähnlichen Stimme und seiner anmaßenden Art hatte Frey Ignacio eine menschliche Schwäche. Vielleicht zweifelte er an sich selbst und an der überaus gewichtigen Gerechtigkeit der Macht hinter sich? Es war nicht klug, sich dem Inquisitor weiterhin entgegenzustellen, dachte Antonio, aber er bewahrte diese Erkenntnis in seinem Inneren, denn er fühlte, sie würde ihm noch von Nutzen sein. »Verlest die Anklage«, befahl Frey Ignacio. Der Notar las aus seinem Buch. »Antonio Servetus, Doktor der Medizin, wird beschuldigt der Ausübung der Hexerei, der Ausübung unnatürlicher Magie und der Beschwörung der Mächte von Dämonen zur Behandlung von Krankheiten, die nicht aus dem Bereich des Teufels stammen …« Antonio wurde sich mit einem Male der Spitzfindigkeit, die hier vorlag, bewußt. Manche Gerichtshöfe, an denen das Kanonische Recht gepflogen wurde, bezeichneten die Beschwörung des Teufels selbst nicht als Ketzerei, solange die Beschwörung nur dazu diente, Teufelswerk auszutreiben, wie etwa der Hang der Frauen zur Sünde des Luxus. Aber bei der Anrufung der Dämonen zur Heilung einer Krankheit wurde der feine Unterschied gemacht, daß eine Krankheit nach den Gesetzen der Kirche eine Sündenstrafe sei, von Gott gesandt, und 277
daher war jeder Versuch, diese Bestrafung mit Hilfe der Dämonen abzuwenden, Ketzerei. »Diese Vergehen sind ein Teil verbrecherischer Ketzerei«, fuhr der Notar fort. »Antonio Servetus ist dieser Verbrechen angeklagt nach der Practica Heretice Pravitatis.« »Ich bin nicht schuldig«, erwiderte Antonio fest. »Ich habe keine Dämonen beschworen, keine Ketzerei begangen, noch habe ich etwas getan, das mit den Gesetzen der heiligen katholischen Kirche im Gegensatz steht.« Frey Ignacio hob die Brauen. Die Bosheit in seinem Blick war jetzt so unverhüllt, daß Antonio bis ins Innerste erschrak. Dieser Mann in der groben Klosterkutte haßte ihn, haßte ihn mit der ganzen Glut seines zerbrechlichen Körpers. Aber warum, so fragte er sich. War es deshalb, weil er an jenem Morgen in der Kapelle gegen des Inquisitors Warnung gehandelt hatte und Don Pedro operierte, oder war es deshalb, weil er ihm bei der Willensprobe überlegen war? »Wie könnt Ihr sagen, daß Ihr nicht schuldig seid«, donnerte der Inquisitor, »wenn die beeidigte Aussage Eurer Ankläger Eure Schuld offenkundig beweist?« »Wer sind diese Ankläger?« fragte Antonio. Der Priester neben Frey Ignacio blickte erschrocken auf, weil Antonio es gewagt hatte, der Inquisition eine solche Frage zu stellen. In Frey Ignacios Augen glühte es boshaft auf und seine Giftigkeit sprach aus jeder seiner Gesten. »Das hat nichts zu sagen«, erwiderte er. »Es genügt, daß Ihr angeklagt seid.« »Nach dem Gesetz der Kirche steht es mir zu, meinem Ankläger gegenübergestellt zu werden«, beharrte Antonio. Die Augen des Diözesan-Richters weiteten sich und der Notar beugte sich nach vorn, gespannt, was nun folgen würde. Nach ihrem Verhalten zu schließen, mußte es ihnen tatsächlich seltsam vorkommen, daß ein Gefangener bei der Verhandlung Fragen stellte. Aber Antonio war entschlossen, sich von dem hageren Mönch nicht einschüchtern zu lassen. Solange er auf dem Recht bestand, daß sein Verlangen nach 278
einem Kreuzverhör in das Protokoll des Notars aufgenommen wurde, so lange konnten sie ihm nichts anhaben. Aber viele waren in den Verliesen der Inquisition verschwunden, um Jahre dort zu schmachten, ohne daß man sie vor ein Gericht stellte, bis Kälte, Hunger und die seelische Qual des Wartens ihre Wirkung getan hatten. »Gut, gut.« Frey Ignacio sprach nachsichtig, wie mit einem Kind. »Der Notar wird Euch eine Zusammenfassung der Anklage geben.« Der Notar nahm ein Blatt auf und las: »Doña Catharina Sagredo sagt unter Eid aus, daß Dr. Antonio Servetus sie wegen eines bösen Geistes, der sie seit vielen Monaten am Gehen hinderte, mittels Hexerei behandelt hat. Im Verlauf dieser Hexerei versetzte er sie in einen tiefen Schlaf, währenddessen er dann die Hilfe der Dämonen anrief, auf daß der böse Geist sie verlasse. Weiter sagt sie aus, daß, als sie aus ihrem Schlaf erwachte, der Geruch von Schwefel im Zimmer bemerkbar war und daß ihr nachher einer der Dämonen, ein furchterregendes Monstrum, erschienen sei.« Der Notar legte das Blatt nieder und Frey Ignacio sagte scheinheilig: »Was habt Ihr darauf zu entgegnen?« »Das ist nicht wahr. Ich heilte Doña Catharina von ihrer Lähmung durch Anwendung von Magnetismus.« Frey Ignacio beugte sich nach vorn. »Was ist das, Magnetismus?« »Sein eigentliches Wesen ist nicht bekannt. Aber er wird seit vielen Jahren von Ärzten und Sehern des Orients zur Behandlung von Krankheiten angewendet.« »Bei Anrufung von Dämonen?« »Von Dämonen ist mir nichts bekannt«, entgegnete Antonio ruhig. »Es ist eine Art medizinischer Behandlung und nichts anderes.« »Warum verharrt Ihr im Leugnen, wenn wir wissen, daß die Angaben gegen Euch wahr sind?« fragte Frey Ignacio freundlich. »Die Zeugen haben die Wahrheit über Euch ausgesagt. Und Ihr könnt es nicht leugnen, wenn einer der Dämonen, die ihr beschworen habt, zurückgeblieben ist und die unglückliche Frau bedrohte, als die Hexerei zu Ende war.« »Doña Catharina ist ein Opfer ihrer eigenen Fantasie«, sagte Antonio. »Es waren keine Dämonen.« 279
Frey Ignacios Geduld schien am Ende. »Genug der Unverschämtheiten. Wir haben andere Mittel, die Wahrheit aus Ketzern herauszubringen, ohne diese Gotteslästerungen anhören zu müssen.« Was er damit meinte, war eindeutig: es konnte nur die Folter sein. Antonios Pulse flogen, aber er beherrschte seine Stimme. »Als Bürger von Venedig kann ich von dem mir zustehenden Recht Gebrauch machen, an den König zu appellieren. Meine Freunde haben bereits an Seine Majestät eine Bittschrift gerichtet und ich bezweifle, ob der König eine Folterung an mir gutheißen würde, ehe es mir möglich war, mich vor ihm zu verteidigen.« Frey Ignacio erhob sich halb in seinem Sessel. Sein Körper war starr wie der einer gereizten Schlange und die Nasenflügel bebten. Er war die Wut in Person. Nur mühsam beherrschte er sich und sank in den Sessel zurück, aber Antonio sah, daß er am ganzen Leibe zitterte. »Schafft ihn in das Verlies zurück!« befahl er mit vor Wut schriller Stimme. Der Wärter brachte Antonio das Abendessen; eine dünne Suppe aus verfaultem Kohl, in der Stücke faulen Fleisches schwammen und einen Brocken Schwarzbrot. Sogar das Wasser im Krug schmeckte faul, als wäre es aus dem Teich des Gefängnishofes geschöpft worden. Stunden später – so schien es ihm – sah er einen matten Lichtschein, der sich über den Gang auf seine Zelle zu bewegte. Sein Puls schlug höher. Würden sie ihn in die Folterkammer bringen? Er wußte, daß dieses Geschäft immer nachts ausgeübt wurde, weil es da wahrscheinlicher war, daß von draußen niemand die Schreie der Opfer hörte. Der Wärter stellte die Laterne vor Antonios Zelle ab. Überrascht erkannte Antonio hinter ihm Lucia Bellarmi. Sie hatte ihr Kleid zusammengerafft, damit es den Boden nicht berührte. Die Tür ging auf und der Wächter stellte sich zur Seite, um sie eintreten zu lassen. Eine zweite Laterne, die er mit sich trug, stellte er auf den Boden. – Lucia nahm ein Goldstück aus ihrem Beutel und reichte es ihm. »Gracias, Señorita«, murmelte der Mann. »Ich bin in einer halben Stunde wieder zurück.« Er ging hinaus und schloß die Tür ab. 280
»Lucia!« Antonio erfaßte ihre Hand. »Ich bin glücklich, Euch zu sehen, und doch hättet Ihr nicht kommen sollen.« Er führte sie zu der harten Pritsche, die ihm als Bett diente. »Ich mußte kommen, Tonio«, sagte sie und hielt noch seine Hände. »Als ich vom Palast nach Hause kam und Euch nicht vorfand, war ich sehr besorgt. Ihr hättet mir wenigstens einige Zeilen zurücklassen können.« »Sie wollten es mir nicht erlauben«, entgegnete er. »Aber wie fandet Ihr heraus, was geschehen war?« »Ein Nachbar hat die Wachen gehört. Er sagte mir, daß sie jemanden fortgeschafft hatten, und so wußte ich, daß die Inquisition – –« »Pst!« warnte Antonio. »Seid vorsichtig mit dem, was Ihr sagt.« Und mit gedämpfter Stimme fuhr er fort: »Wie gelang es Euch, hierher zu kommen?« »Die Königin half mir und Geld ebnet alle Wege. Aber was beabsichtigt Ihr zu tun, Tonio?« »Ist dem König die Bittschrift überreicht worden?« »Ja. Die Königin hat mit ihm gesprochen und auch Dr. Vesalius.« »Ist schon eine Antwort da?« »Noch nicht. Aber die Königin glaubt, daß er Euch Gehör schenken wird.« »Dann besteht Hoffnung. Ich hatte heute morgen mein erstes Verhör.« »Haben sie – –«, sie sprach den Satz nicht zu Ende, aber er wußte, was sie meinte. »Nein«, antwortete er. »Frey Ignacio hätte befohlen, mich zu foltern, aber ich hielt ihm entgegen, daß dem König eine Appellation überreicht worden sei, was mir auf Grund meines venezianischen Bürgerrechts zustehe.« »Dieser abscheuliche Frey Ignacio!« »Vorsicht!« ermahnte er sie. Die Inquisition pflegte die Gefangenen manchmal frei sprechen zu lassen, stellte aber im verborgenen Lauscher auf, die jedes Wort, das ihnen schaden könnte, abhören. Auch in seiner Zelle konnte dies der Fall sein. 281
»Er ist abscheulich«, beharrte Lucia. »Warum will er Euch für die Rettung Don Pedros bestrafen?« »Es ist mehr als das«, erwiderte Antonio grimmig. »Er wird es mir nie verzeihen, daß ich an den König appellierte.« »Was für eine Törin ich war, Tonio«, sie schwankte auf ihn zu. »Ich habe Euch in alles das hineingebracht.« Er faßte sie freundschaftlich an den Schultern. »Es ist müßig, jetzt darüber zu sprechen. Aber da ist noch etwas anderes. Ich möchte, daß Ihr für mich etwas tut.« »Ich werde alles tun, Tonio. Glaubt mir, alles.« »Ich weiß.« Schließlich hatte es Mut gebraucht, ihn hier aufzusuchen. »Ich möchte, daß Ihr zu Dr. Vesalius geht. Sagt ihm, daß Doña Catharina und ihre Mutter unter Eid ausgesagt haben, ich hätte zur Heilung des Mädchens Dämonen beschworen.« »Aber wie konnten sie das tun!« rief sie entsetzt. »Nachdem Ihr sie gesund gemacht habt.« »Sie haben es«, sagte Antonio bitter. »Und solange sie ihre Aussage nicht widerrufen, wird mir wahrscheinlich hart zugesetzt werden. Aber ich glaube, wir werden beim König Gehör finden, wenn sie wirklich die Wahrheit sagen.« »Wie bringen wir sie dazu?« »Das ist eine Aufgabe für Vesalius. Sagt Ihm, er soll ihnen drohen, sie bestechen, oder was immer er tun kann. Nur soll er sie veranlassen, ihre Aussagen zu widerrufen und zu schwören, daß mit der Behandlung Doña Catharinas weder Hexerei noch Magie in Zusammenhang stand.« »Ich werde es tun«, versprach Lucia. »Ist sonst noch etwas?« »Nein.« »Onkel Girolamo appellierte ebenfalls an den König. Die Medicis und Bellarmis haben dem spanischen Königshaus zu verschiedenen Zeiten bedeutende Anleihen gewährt.« »Das wird alles helfen.« Er hörte den Wärter zurückkommen. »Und Gott segne Euch für Euer Kommen, aber Ihr dürft es nicht noch einmal wagen. Es genügt, wenn einer von uns hier herinnen ist.« 282
Der Wärter stand an der Tür. »Die Zeit ist um, Señorita«, sagte er. »Ihr müßt gehen.« Lucia schmiegte sich einen Augenblick lang an Antonio. »Gott erhalte dich, Tonio«, flüsterte sie. Plötzlich erhob sie sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn. »Ich bete für dich.« Dann wurde der Schlüssel hinter ihr umgedreht und das matte Licht von des Wärters Laterne verschwand. Antonio war wieder in der Dunkelheit. Er hüllte sich in die schmutzige Decke und legte sich auf die Pritsche.
VI
D
ie Zelle füllte sich allmählich mit weichen Strahlen, die Mauern wichen zurück und der Steinboden wurde zu einer sandigen Küste, an die die Ligurische See schlug. Antonio lag wieder auf dem Sand, den Körper warm und feucht vom Bade, und wartete begierig auf ihr Kommen. Sein Herz schlug höher, als die Gestalt der himmlischen Göttin in all ihrer Schönheit Form annahm, graziös aus dem Muschelboot stieg und über den Sand schritt. Nun kam sie auf ihn zu, ein zartes Lächeln des Willkomms auf ihren Zügen. Ihre Finger berührten die seinen und Wonneschauer gingen durch seine Glieder; schwerelos erhob er sich. »Tonio, Tonio, caro mio«, hauchte sie, während sie ihn umarmte und sich an ihn preßte. Dann rissen sie rauhe Hände auseinander und warfen ihn zu Boden. Aber der Satyr mit den spöttischen Zügen war nicht Fra Felipe Santos, es war Frey Ignacio Molina und auch die höhnende Stimme war die seine. Mit der Göttin in den Armen raste er davon. Mühselig versuchte Antonio sich zu erheben und sie zu verfolgen, aber eine Lähmung fesselte wieder seine Muskeln. Plötzlich stand Lucia Bellarmi neben ihm, aber ihre Stimme war nicht mehr spöttisch, 283
sondern freundlich. Sie kniete neben ihm nieder, nahm seinen Kopf in ihre Arme, besänftigte ihn und löschte seinen Schmerz. »Tonio«, flüsterte sie. »Tonio, mein – –« Antonio fühlte einen stechenden Schmerz in seiner Wange und winzige Klauen rissen an seiner Schulter und seinem Hals. Mit einem Schmerzensschrei erwachte er und schlug um sich. Irgend etwas klammerte sich an ihn. Seine Hand schlug auf ein befelltes Ding, das auf quietschte. Er schlug es zu Boden, wo es sich aufkrabbelte und blitzschnell durch die Öffnung in der Tür verschwand. Plötzlich wurde es in der ganzen Zelle lebendig und eine nach der anderen der großen grauen Ratten, die die Verliese bewohnten, jagte davon. Antonio sank auf das harte Lager und schüttelte sich vor Grauen. Er befühlte sein Gesicht und spürte die klebrige Feuchtigkeit von Blut an seinen Fingern. Die Ratte hatte ihn mehrere Male gebissen und mit den scharfen Krallen gekratzt. Der Biß einer Ratte konnte Tod durch hohes Fieber bedeuten. Mehr als einen armen Teufel aus den Gefängnissen von Venedig und Padua hatte er schon auf seinem Seziertisch gehabt. Die verräterische Narbe auf der Haut zeigte an, daß die Bißwunde verheilt war, aber im Körper hatte er dann die unmißverständlichen Anzeichen der fürchterlichen Krankheit gefunden, die der Rattenbiß verursacht hatte. Die Drüsen in der Leistengegend und in den Achselhöhlen waren stark angeschwollen, der Körper verfallen, die Haut bleich, und Brand war schließlich die Ursache des Todes gewesen. Lange saß Antonio schaudernd da. Das Blut auf seinen Fingern gerann und die kleinen Wunden schlossen sich mit einer Blutkruste. Er tappte in der Dunkelheit nach dem Wasserkrug und goß Wasser auf seine Hand, um damit Gesicht und Hals vom Blut zu reinigen. Er konnte die Wunden nicht sehen, aber er wußte, daß sie klein sein mußten. Die Größe war jedoch nicht ausschlaggebend, sondern das Fieber, das meistens folgte. Er hatte Angst, sich niederzulegen. Er war so müde, daß er wieder einschlafen würde, um dann vielleicht neuerlich von den scharfen Zähnen und schmutzigen Krallen und dem stinkenden grauen Fell, das sich über sein Gesicht bewegte, geweckt zu werden. Er verstand 284
nun, warum so wenige die Kraft aufbrachten, der Inquisition zu widerstehen und warum sie lieber Verbrechen bekannten, derer sie gar nicht schuldig waren, als das fürchterliche Warten im Grauen der Verliese auszuhalten. Um sich von dem Grauen vor den Ratten abzulenken, vergegenwärtigte sich Antonio das veränderte Bild seines Traumes. Es war verständlich, daß Frey Ignacio anstelle Fra Felipe Santos' getreten war, denn der Inquisitor von Madrid war tief in sein Gedächtnis eingegraben. Aber warum hatte sich Lucia von der spöttischen und höhnenden Erscheinung seiner früheren Träume in ein tröstendes Mädchen verwandelt, das seinen Kopf in ihren Armen gehalten hatte? Er überdachte nun die Monate, seit er Lucia kannte, und er sah ein, daß sie sich geändert hatte. Sie war nicht mehr so schroff zu ihm, wie sie es zu Anfang gewesen, obwohl sie immer ein temperamentvolles Mädchen bleiben würde. Allmählich hatte sich zwischen ihnen ein starkes Gefühl der Verbundenheit entwickelt und er gestand sich ein, daß er sie sehr bewunderte: ihre Selbständigkeit, ihre Intelligenz und ihre Schönheit. Sollte er sich tatsächlich in sie verliebt haben, wie Gian behauptete? Es war richtig, daß es ihn in seinem Traum sehr beglückt hatte, in ihren Armen zu ruhen und daß es ihn nicht verlangt hatte, der entführten Göttin zu folgen. Aber das alles war gewiß nur eine Folge der großen Ähnlichkeit zwischen Lucia und der Göttin, daß er sie beide wie eine untrennbare Einheit empfand. Am Morgen brachte ihm der Wärter wieder eine Schüssel mit dem ekligen Gebräu, das in der Casa Santa als Nahrung galt, und schob sie durch die Öffnung in der Tür. Bevor Antonio noch die Tür erreichen konnte, um sich bemerkbar zu machen, war der Wärter schon gegangen. Antonio rüttelte an den Balken. »Was wollt Ihr?« rief der Wärter. »Ich wurde heute nacht von einer Ratte gebissen«, sagte Antonio. »Wer ist der Arzt für dieses Höllenloch?« »Dr. Andreas Vesalius«, grunzte der Wärter, dann grinste er und zeigte zahnlose Kiefer. »Sorgt Euch nicht, Señor, wenn Euch eine Ratte gebissen hat, werdet Ihr entweder sterben oder nicht.« 285
»Ich will Dr. Vesalius sprechen.« Gierig glomm es in den Augen des Wärters auf. »Das könnte gemacht werden, Señor, für einen Preis.« »Ich werde dich bezahlen. Dr. Vesalius wird mir Geld geben.« Der Mann zuckte die Achseln. »Mas vale pájaro en mano que ciento volando.« »Ich habe kein Geld hier. Eure diebischen Wachen haben mir den letzten Dukaten abgenommen.« »Die Goldkette um Euren Hals, Señor, sie könnte mir als Pfand dienen, bis Ihr mich bezahlt.« Antonio wußte, daß er die Kette nie wieder bekommen würde, wenn sie einmal in den großen Taschen des Wärters verschwunden war. Aber er mußte Vesalius sprechen. Er konnte nicht noch eine Nacht in dieser stinkenden Hölle zubringen, ohne zu wissen, was seiner harrte. »Bueno«, sagte er und öffnete die flache Goldkette, die er gewöhnlich als einziges Schmuckstück trug. »Aber sieh zu, daß du ihn erreichst. Oder ich melde dich der Inquisition.« Es war spät am Nachmittag, als Vesalius ankam. »Mein lieber Freund«, rief der Anatom und umarmte ihn. »Welch Mißgeschick ist über Euch gekommen.« Er erblickte den Biß auf Antonios Wangen. »Ihr seid verletzt?« »Der Biß einer Ratte«, sagte Antonio. »Ich habe den Fehler begangen, letzte Nacht zu schlafen.« Vesalius runzelte die Stirne. Er kannte die Gefahr einer solchen Verletzung so gut wie Antonio. »Ich habe Euch nicht wegen des Bisses gerufen, er diente mir nur als Vorwand. Man kann nichts tun, als abwarten und sehen, ob sich Fieber entwickelt.« »Das stimmt«, pflichtete Vesalius bei. »Ich könnte in diesem Fall auch nichts anderes tun.« »Wie steht es mit meiner Appellation an den König?« »Der König hat mir versichert, Euch ein ordentliches Gerichtsverfahren zuzubilligen.« Antonio sank auf die Bank. Erleichtert atmete er auf. Nun würde er 286
wenigstens eine Gelegenheit haben, sich zu verteidigen. Vor der Inquisition allein würde es für ihn keine Hoffnung geben, dazu war der persönliche Haß des Frey Ignacio zu groß. »Hat Euch Lucia über Doña Catharina und ihre Mutter berichtet?« Vesalius nickte, aber sein Gesicht war ernst. »Ich besuchte sie gestern und heute morgen wieder.« »Haben sie zugestimmt, ihre Aussagen zu widerrufen?« »Ja und nein.« »Was soll das heißen?« »Doña Catharina ist Euch für die Heilung sehr dankbar, aber es spielen da noch andere Gründe mit.« »Gibt es wichtigere als Gerechtigkeit?« fragte Antonio ungeduldig. »Für manche Leute ja. Solange es eine Frage der Gerechtigkeit für andere und nicht für sich selbst ist. Auf Doña Catharina wurde ein starker Druck ausgeübt, damit sie bezeuge, daß Ihr bei ihrer Heilung Dämonen beschworen habt.« Antonios Mut sank. »Durch die Inquisition?« »Durch Frey Ignacio selbst, und der Bischof von Toledo unterstützte ihn dabei. Ich glaube, sie planen, mit Euch ein Exempel zu statuieren.« »Aber warum?« Vesalius zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich als Warnung für alle, die gegen die Katholiken intrigieren.« »Aber das ist doch unsinnig«, protestierte Antonio. »Ich will mit Intrigen nichts zu tun haben.« »Natürlich«, pflichtete Vesalius bei. »Aber Ihr dürft nicht vergessen, daß Eure Gegner Euch mit den gleichen Beweggründen belasten, von denen sie selber erfüllt sind.« Antonio ballte die Fäuste in bitterer Ohnmacht. »Wie konnte Doña Catharina etwas anderes als die Wahrheit sagen – daß ich sie nach medizinischen Grundsätzen behandelt habe?« »Unglücklicherweise war die fragliche Dame unvorsichtig gewesen«, erinnerte ihn Vesalius. »Sie war zweifelsohne die Geliebte des Prinzen, aber in Anbetracht der hohen Position der Beteiligten gab es keine Be287
strafung. Nun hat Frey Ignacio ihr aber zu verstehen gegeben, daß sie, falls sie nicht gegen Euch aussagt, wegen Ehebruchs verhaftet würde. Natürlich will auch die Mutter alles tun, um ihre Tochter zu schützen, und scheut dabei vor einem falschen Schwur nicht zurück.« »Dann weigert sie sich, mir zu helfen?« »Nicht ganz«, entgegnete Vesalius. »Ich habe einen Kompromiß zustande gebracht. Auf meine Forderung haben sich Doña Catharina und ihre Mutter bereit erklärt, beim König um eine Privataudienz zu bitten. Da sein Sohn genauso schuldig ist wie das Mädchen, ist es möglich, daß er es nicht zuläßt, daß die Aussagen der beiden Frauen gegen Euch ausgewertet werden.« »Aber es sollte zu meinen Gunsten sein«, wandte Antonio ein. »Das würde schwerer wiegen.« »Das konnte ich nicht erreichen«, sagte Vesalius. »Aber sie sind übereingekommen, einen Diener, der bezeugte, nach der Behandlung den Geruch von Schwefel im Zimmer bemerkt zu haben, wegzuschicken.« »Schwefel?« fragte Antonio. »Da war doch kein Geruch von Schwefel.« »Der Diener erklärte Frey Ignacio, es sei einer gewesen. Die Inquisition übersieht eben nichts.« Antonio neigte den Kopf. Diese neue Kette von falschen Beweisen gegen ihn machte ihn immer mutloser. »Wann wird das Verhör stattfinden?« »Übermorgen.« »Gott sei's gedankt. Ich könnte dieses Warten nicht länger aushalten.« Vesalius erhob sich. »Seid versichert, daß Eure Freunde alles für Euch tun, Antonio, wozu sie imstande sind. Und der König wird Euch ein ordentliches Verfahren gewährleisten.« Antonio bekam sich mit Mühe wieder in die Gewalt. Es gab für ihn nichts, so dachte er, als aufzugeben, denn die Beweise gegen ihn waren zweifellos zu stark. »Danke Euch für alles, was Ihr getan habt, Andreas. Ich werde immer in Eurer Schuld stehen.« »Gott behüte Euch, mein Freund«, sagte Vesalius im Scheiden, »und schütze Euch vor dem Fieber des Rattenbisses.« 288
Aber es war nicht das Fieber, über das er sich Sorgen zu machen hatte. Sein Schicksal würde sich entscheiden, noch ehe diese furchtbare Krankheit sich entwickelt haben konnte. Und vielleicht würde es dann besser sein, wenn er stürbe. Mit einer Willensanstrengung beruhigte er seine rasenden Gedanken, weil er sich sagte, daß er noch vor Einbruch der Nacht zu schlafen versuchen mußte, denn die Dunkelheit brachte ihm die behaarten Bewohner des Verlieses auf ihren nächtlichen Besuchen. Bald versetzte ihn die große Müdigkeit des Geistes und Körpers nach der letzten schlaflosen Nacht in eine wohltuende Betäubung. Er erwachte erst, als der Wärter das Abendessen unter der Tür hereinschob. Während der langen Stunden der Nacht, in denen ihn die über die Steine huschenden kleinen Füße daran erinnerten, daß er nicht einschlafen dürfe, zwang Antonio sich, zu vergegenwärtigen, was er jetzt von seinen Kenntnissen im Kanonischen Recht gebrauchen könnte. Er mußte auf jedes Recht, das ihm dem Gesetz nach zustand, pochen. Vor allem auf das Privileg der Gegenüberstellung mit den Zeugen, wobei er sein eigener Anwalt sein würde, denn er wußte nicht, wen der Inquisitor sonst noch bedroht haben mochte, gegen ihn falsches Zeugnis abzulegen. Sein gutes Gedächtnis kam ihm dabei zugute. Ganze Seiten aus den ausführlichen Schriften über die geistliche Amtsgewalt, die er mehrere Jahre hindurch in Padua studiert hatte, fielen ihm wieder ein. Als schließlich der Morgen kam, war er ganz erschöpft, bleich und abgehärmt von der schlaflosen Nacht. Er bezwang seine Übelkeit vor der miserablen Suppe, von der er wußte, daß er sie essen mußte, wenn er bei Kräften bleiben wollte. Nachdem er das erste Mahl verzehrt hatte, streckte er sich auf der Pritsche aus und schlief beinahe sofort ein. Am späten Nachmittag wurde Antonio durch den Wärter aufgeweckt, der ihm das Abendessen hineinschob. Es war nicht die gewöhnliche Essenszeit, aber der Mann verschwand, ehe ihn Antonio fragen konnte, warum er sein Essen so früh bekäme. Dann stieg Wohlgeruch aus der Holzschüssel in seine Nase. Einen Augenblick lang wollte er weder seiner Nase noch seinen Augen trauen, denn vor ihm stand ein 289
ganzes, gebratenes Huhn, ein halber Laib Brot und dampfender Glühwein. Argwöhnisch betrachtete Antonio das appetitliche Mahl. Sollte es ihm Frey Ignacio geschickt haben, um ihn zu vergiften? Da sah er ein gefaltetes Stück Papier, vom Brot beinahe verdeckt. Er zog es hervor und öffnete es. Kein Zweifel, es war Gians Gekritzel. »Tonio! Der kämpft am besten, der vor der Schlacht gut ißt. Gott sei mit Dir am morgigen Tag. Wir haben getan, was wir konnten.« Die Botschaft war nicht unterzeichnet, aber Antonio zweifelte nun weder an dem Schreiber noch an der Ungefährlichkeit der Speisen, und mit einem Heißhunger fiel er darüber her. Am anderen Morgen bekam er wieder ein ausgezeichnetes Mahl, aber die Stunden vergingen und man rief ihn nicht zum Verhör vor den König. Seine Angst begann wieder aufzuleben. Konnte der Inquisitor vielleicht unter irgendeinem Vorwand Lucia, Gian und Vesalius festgenommen haben? Hatte der König das Verhör abgesagt, aus Angst vor der Enthüllung der Ausschweifungen seines Sohnes durch Doña Catharinas Aussage? Tausend Zweifel stürmten auf ihn ein. Dann vernahm er im Gang entfernt den Klang gestiefelter Füße, die im Gleichschritt marschierten. Bald konnte er das metallische Gerassel militärischer Rüstungen hören und den knarrenden, rhythmischen Schritt auf dem Steinboden fühlen. Es waren sechs der schwarz gekleideten Inquisitionswachen mit einem Anführer. Hinter ihnen schlurfte der Wärter. Mit dem großen Schlüssel an seinem Gürtel hantierte der Wärter am Schloß der Zelle herum, dann öffnete er das Tor und Antonio stand dem Offizier gegenüber. »Antonio Servetus, Gefangener des heiligen Tribunals«, begann der Offizier. »Durch die Großzügigkeit Seiner höchsten katholischen Majestät, Philipp II., Seiner Hochwürden, dem Bischof von Toledo und Frey Ignacio Molina, Inquisitor von Madrid, wurde Euch die Gunst zuteil, in Eurer Sache öffentlich verhört zu werden.« Er wandte sich an den Wärter: »Löst die Ketten von seinen Füßen.« 290
Der Wärter schritt vor, schloß die Ketten auf und Antonio stieg aus den schweren Metallbändern, die seine Fußgelenke umgeben hatten. Als sie keine Anstalten machten, auch die Handgelenke zu lösen, hielt er sie dem Offizier entgegen. »Was ist damit?« fragte er. »Silencio!« Der Offizier schlug mit seinem Panzerhandschuh auf Antonios Hände und trieb dadurch das Metall der Fesseln so tief in die Hand, daß er vor Schmerz aufschrie. Er taumelte von dem Schlag und griff haltsuchend nach einem Balken. Wut flammte in ihm auf, aber er zwang sich, ruhig zu sein. Dies war wahrscheinlich alles ein Teil eines Planes von Frey Ignacio, dazu bestimmt, seinen Verstand zu trüben, bevor er vor den König trat. Eine der Wachen stieß ihn mit der Hellebarde in die Mitte der aufgestellten Männer und dann begann der Marsch durch die Gänge der Casa Santa. Das Verhör selbst wurde nicht im Gefängnis abgehalten, denn der kleine Zug marschierte aus dem Tor und, entlang der Straße, dem Palast zu. Beim Verlassen der Casa Santa hatte sich Antonios Lebensmut etwas gehoben, aber er wußte, daß die nächsten Stunden über sein Leben entscheiden würden.
VII
D
ie Türen zum Audienzzimmer wurden auf das Klopfen des Offiziers der Wache von einem Herold aufgerissen. Von den schwach erleuchteten Gängen kommend, war Antonio in diesem großen, hellen Raum, durch dessen große Fenster das winterliche Sonnenlicht flutete, fast geblendet. Er blinzelte ein wenig, um sich an das Licht zu gewöhnen, da hörte er den Offizier, der ihn begleitet hatte, verkünden: »Antonio Servetus, Gefangener der Inquisition, bittet um die Vergünstigung, von Seiner höchsten katholischen Majestät angehört zu werden, in bezug auf die Verbrechen, deren er beschuldigt wird.« 291
Eine ruhige Stimme sagte: »Laßt ihn vortreten.« Auf einen Stoß von der Wache schritt Antonio zu dem Thron auf der freien Estrade, von wo die Stimme gekommen war, während sich die Wachen zu beiden Seiten der Tür aufstellten. Vor der Estrade fiel Antonio auf die Knie. »Erhebt Euch, Doktor«, sagte dieselbe ruhige Stimme. Antonio stand aufrecht vor dem langen Tisch auf der Estrade. Dahinter standen die üblichen drei Sessel, nach den Vorschriften der Inquisition. Im Mittelpunkt thronte der König, in dunklen Samt und violette Seide gehüllt. Der hohe spanische Kragen unter seinem Kinn stand offen und ließ das makellose Weiß seiner Krause erkennen. Als einzigen Schmuck trug er eine schwere Goldkette, an der ein großes Medaillon mit dem Wappen Spaniens hing. Über der weißen Krause sah man ein dunkles, ernstes Gesicht und Antonio glaubte darauf eine Spur von Mitleid zu erkennen. Zur Rechten des Königs saß Don Diego Espinosa, der Bischof von Toledo. Die Bischofsmütze überragte sein von der Plethora – die wahrscheinlich bald ihre Wirkung tun würde – gezeichnetes Gesicht. Er keuchte unter seinem Ornat und dem gesäumten Chorhemd, das seinen Oberkörper bedeckte. Seine kleinen, tiefliegenden Augen glänzten interessiert auf, als er die gefesselte Gestalt vor sich sah. Im Gegensatz zu den beiden war Frey Ignacio Molina in seiner einfachen groben Kutte eine düstere Erscheinung. Seine natürliche Blässe, die durch das helle Sonnenlicht im Audienzzimmer nur noch verstärkt wurde, ließ seine Haut fast durchsichtig erscheinen. Die Augen ruhten auf den bleichen, klauenähnlichen Fingern, die er auf dem Tisch aufgestützt hatte. Am Ende des Tisches saß der Notar, vor sich den geschlitzten kleinen Glasball für seine Federn, der durch die eingefangenen Sonnenstrahlen glühte, und eine kleine brennende Kerze für das Wachs seiner Siegel. »Wessen ist dieser Gefangene angeklagt?« fragte der König. Der Notar las die Liste der Verbrechen vor, die Antonio begangen haben sollte. Es war dieselbe Anklage wie vor dem Tribunal und Anto292
nio nahm die Gelegenheit wahr, sich während der Verlesung etwas im Raum umzusehen. Auf der einen Seite saß die Königin, die bleiche und ängstliche Lucia neben sich. Die Königin lächelte ihm ermutigend zu. Gegen die Mitte zu saßen Vesalius und Gian Savarino und auf der anderen Seite des Raumes befand sich Don Carlos, der Prinz. In den ersten Reihen des vollgepfropften Auditoriums gewahrte Antonio viele spanische Granden. Sie alle waren begierig, dieses höchst seltene Ereignis zu sehen, daß ein Gefangener, der von der Inquisition öffentlich angeklagt wurde, vor einem Tribunal stand, dem der König angehörte. Der Notar hatte die Verlesung beendet und nahm wieder seinen Platz ein. Der König beugte sich vor: »Was habt Ihr auf diese Beschuldigungen zu erwidern?« fragte er nicht unfreundlich. Antonio erhob seine gefesselten Hände. »Ich schwöre beim höchsten Gott, beim lebendigen Christus, seinem Sohn und der Heiligen Jungfrau, die ihn geboren, daß ich mich der Zauberei, Hexerei oder unnatürlichen Magie und der Ketzerei nicht schuldig gemacht habe und daß diese Anklagen falsch sind und erdichtet, zu Zwecken, die nur jenen bekannt sind, die sie gegen mich erhoben haben.« Bei diesen überzeugten Worten ging ein Raunen durch den Raum. Man hatte es also nicht mit einem gleichgültigen Wicht zu tun, der von der Macht der Inquisition schon gebrochen war. Don Diegos Wangen färbten sich purpurrot und er schien an etwas zu würgen. Frey Ignacio hob seine Augen nicht vom Tisch, aber Antonio sah, wie er die Finger auf das polierte Holz preßte. Der König sagte ernst: »Ihr werdet Euch auf eine direkte Beantwortung der einzelnen Fragen beschränken müssen, Doktor.« Antonio neigte das Haupt. »Was ich sage, ist wahr, in jeder Einzelheit, Sire. Ich würde nicht wahrheitsgemäß antworten, wenn ich weniger sagte.« Antonio sah Vesalius die Stirne runzeln. Lucia, weiß wie die Krause an ihrem Hals, biß sich auf die blutleeren Lippen. Der König flüsterte etwas zu Frey Ignacio, der seine Augen vom Tisch hob, aber Antonio nicht anblickte. Antonio fragte sich mit wachsender 293
Erregung, ob der Inquisitor dabei verharren würde. Bei dem Zusammenprall ihrer Willenskräfte während des früheren Verhörs war es Antonio gewiß geworden, daß er den Inquisitor übertrumpfen konnte. Fürchtete dieser sich vielleicht, seinem Blick zu begegnen? Wenn Frey Ignacio seiner selbst nicht ganz sicher war, dann mußte es irgendwo eine Schwäche geben. Eine Bresche oder ein Bruch mußte in dem Gefüge falscher Zeugenaussagen bestehen, das er aufgebaut hatte, um ihn zu Fall zu bringen. Irgendwie, das fühlte Antonio, mußte er diesen Punkt finden. »Wollt Ihr zu Eurer Verteidigung einen Anwalt?« fragte Frey Ignacio. »Es steht Euch nach dem Gesetze zu.« »Ich bin mein eigener Anwalt.« »Seid Ihr sicher, daß Ihr keiner Rechtsunterstützung bedürft?« fügte der König hinzu. »Sie steht Euch zu.« »Ich habe an der Universität zu Padua Kanonisches Recht studiert, Eure Majestät«, sagte Antonio stolz. Wieder erhob sich ein Geflüster im Raum und der König klopfte ruhegebietend auf den Tisch. Er nickte Frey Ignacio zu und dieser fragte: »Ist irgendein Mitglied Eurer Familie wegen Häresie verurteilt worden?« Antonio wußte, welche Wirkung seine Antwort beim König und bei der Menge auslösen würde, aber er hatte keine andere Wahl als zu antworten: »Mein Bruder Michael Servetus wurde von Johannes Calvin wegen Ketzerei hingerichtet.« »Und war die Anklage gegen ihn nicht auch von der heiligen Mutter, der Kirche, bestätigt worden?« »Er wurde von einem in Rom tagenden Gericht verurteilt«, gestand Antonio. Der Inquisitor machte eine Pause, um diese belastende Tatsache auf die Gemüter des Publikums und die Mitglieder des Tribunals wirken zu lassen. Als er wieder seine vor Selbstsicherheit geschwellte, tiefe Stimme erhob, erfüllte sie den ganzen Raum. »Ihr werdet beschuldigt, daß Ihr zur Behandlung von Krankheit Dämonen beschworen habt.« 294
»Ich habe keine Dämonen beschworen«, antwortete Antonio fest. »Die Beschuldigungen sind falsch.« Die Lippen des Inquisitors zogen sich mißmutig zusammen. »Was ist es für eine Behandlungsmethode, die ihr anwendet?« »Sie wird Magnetismus genannt«, erklärte Antonio. »Sein wahres Wesen ist nicht bekannt. Weise Männer von Ägypten und aus dem Orient wenden sie seit vielen Jahren an.« »Ha!« rief der Bischof von Toledo heftig. »Aber die Orientalen sind Ketzer. Ihr habt Euch mit Euren eigenen Worten der Ketzerei überführt.« Antonio wandte sich ihm rasch zu. »Anerkennen Eure Hochwürden die Schriften des Aristoteles?« »Naturalmente.« »Aristoteles war ein Heide. Daher haben sich Eure Hochwürden mit eigener Feststellung der Ketzerei schuldig gesprochen, wenn hier dieselbe Schlußfolgerung gelten soll.« Seine Worte wirkten wie ein Donnerschlag. Der Bischof verfärbte sich und es schien, als müsse er explodieren von der Gewalt seines Zornes. Frey Ignacio erhob sich halb in seinem Sessel. Nur der König blieb unbeweglich, aber Antonio glaubte den Anflug eines Lächelns auf seinen Lippen zu bemerken. Durch das Zimmer ging ein vergnügtes Kichern. »Als mein eigener Anwalt darf ich wohl verlangen, daß beide Anschuldigungen auf Ketzerei, die des Bischofs und meine eigene, aus dem Protokoll gestrichen werden. Ich wollte bloß die Gefahren einer solchen post-hoc-, ergo propter-hoc-Folgerung zeigen.« »Es wird ausgeschieden«, ordnete der König an. »Ihr könnt fortfahren, Frey Ignacio.« »Der Notar wird das vereidigte Zeugnis der Doña Catharina Sagredo verlesen«, sagte der Inquisitor ruhig. »Ich, Catharina Sagredo, schwöre auf die vier Evangelien, daß ich über die Behandlung des Dr. Servetus ein wahres Zeugnis geben will. Nachdem ich mehr als ein Jahr an einem qualvollen Leiden litt, bei dem alles Gefühl und jede Bewegung aus der unteren Hälfte meines Körpers gewichen war, und nachdem ich von vielen Ärzten erfolglos 295
behandelt worden bin, hieß ich die Dienste eines Arztes, der mir von Dr. Andreas Vesalius empfohlen wurde, willkommen. Am 10. Tage des Dezembers versetzte mich Dr. Antonio Servetus in meinem Hause in einen Zustand der Trance oder Verhexung, in welchem – auf welche Weise ist mir unbekannt – es ihm gelang, mich von der Lähmung zu befreien. Weiter sage ich aus, daß ich während des Trancezustandes seltsame Stimmen hörte, von denen ich glaube, daß es die Stimmen von Dämonen gewesen sind, die von Dr. Servetus beschworen wurden. Ferner stelle ich fest, daß ich, als ich von der Verhexung oder dem Schlaf wieder zu mir kam, mich in der Mitte des Zimmers stehend fand, ohne zu wissen, wie oder durch wen ich dorthin getragen wurde. Einige Zeit nachher waren Geräusche von Flügeln zu hören und ein Geruch von Schwefel zu verspüren. Kurz nach der Beendigung des Trancezustandes wurde ich durch eine Erscheinung erschreckt, von der ich glaube, daß es einer der von Dr. Servetus mit Hexerei und Zauberei heraufbeschworenen Dämonen war. Gezeichnet und bestätigt von mir vor Zeugen, Catharina Sagredo.« Als der Notar geendet, fragte Frey Ignacio: »Habt Ihr Beweise, diese Behauptungen zu widerlegen, Doktor?« Antonio hatte im Raum umhergesehen und nach Doña Catharina gesucht. Sie müßte doch jetzt hervortreten und ihren Irrtum eingestehen, wenn Vesalius' Ansuchen Erfolg gehabt hatte. Oder sie und ihre Mutter hatten an den König appelliert, er möge gegen die Anklage einschreiten. Aber nichts dergleichen geschah. Er sah nur Doña Maria, gespannt und bleich in einer der hinteren Reihen sitzen. Das Mädchen hatte ihn somit betrogen. Ihre Angst vor der Inquisition war also größer als der Wunsch, der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen, und stärker als irgendeine Wertschätzung dessen, was er mit ihrer Heilung vollbracht hatte. Wenn es ihm nicht gelang, auf irgendeine Weise die vernichtende Aussage zu entkräften, dann war er verloren. »Was habt Ihr zu sagen, Doktor?« stachelte ihn Frey Ignacio auf. »Wo ist Doña Catharina Sagredo?« fragte Antonio. »Ich möchte, daß sie die Richtigkeit dieser Aussage öffentlich beschwört.« 296
»Doña Catharina ist infolge Krankheit verhindert, anwesend zu sein«, sagte Frey Ignacio. »Dann verlange ich, daß das Verhör vertagt wird, bis sie erscheinen kann.« Frey Ignacios Stimme donnerte durch das Zimmer: »Als Doktor des Kanonischen Rechtes werdet Ihr sicherlich wissen, daß die Anwesenheit von Zeugen zur Bestätigung einer beeideten Aussage nach den Statuten der Inquisition nicht erforderlich ist.« Der Einwand war richtig, das wußte Antonio. Und zweifellos hatte Frey Ignacio entsprechende Vorkehrungen getroffen, daß sein Kronzeuge nicht zu einem Kreuzverhör herangezogen werden konnte. Es war ein vernichtender Schachzug. »Was dann, wenn diese Aussage erpreßt wurde?« fragte Antonio. »Wie erpreßt?« fragte der König. »Durch die Beamten der Inquisition. Ich bin davon unterrichtet, daß man Doña Catharina mit schweren Folgen bedrohte, wenn sie nicht die Aussagen machte, die verlesen wurden.« »Das ist eine ernste Beschuldigung«, sagte der König. »Könnt Ihr sie beweisen?« Verzweifelt erwiderte Antonio: »Ich sehe, daß Doña Maria Sagredo, die Mutter der Doña Catharina anwesend ist und ich bitte, daß sie vortritt.« Aus den hinteren Reihen war ein verhülltes Schluchzen zu vernehmen und eine Frau versuchte sich zu entfernen, wurde aber von der Wache aufgehalten. »Wer ist das?« wollte der König wissen. Doña Maria wandte sich um und stolperte nach vorne, vor den Thron. Der Notar nahm sie beim Arm und half ihr in einen Sessel. Sie schien einer Ohnmacht nahe. »Ich will Euch nur einige Fragen stellen«, sagte Antonio freundlich. »Ihr braucht keine Angst zu haben, wenn Ihr die Wahrheit sagt.« Doña Maria brach erneut in Schluchzen aus und rang die Hände. »Ist das nötig, Doktor?« fragte der König. »Doña Maria scheint außer sich.« 297
»Mein Leben steht auf dem Spiel«, erinnerte ihn Antonio ruhig. »Ist mir alles verwehrt, was mir helfen könnte?« »Fahrt fort denn.« Der Notar nahm den Eid der Frau ab und als sie sich wieder gesetzt hatte, fragte Antonio: »Señora Sagredo, Ihr habt die vereidigte Aussage Eurer Tochter gehört und Ihr wart anwesend, als ich sie behandelte. Habt Ihr dabei irgendein Anzeichen gesehen, daß ich die Hilfe der Dämonen beschworen oder unnatürliche Magie in irgendeiner Weise angewendet habe?« Frey Ignacio unterbrach ihn. »Ich bin informiert worden, daß Señora Sagredo nicht während der ganzen Behandlung im Zimmer war. Stimmt das, Señora?« Die Frau klammerte sich verzweifelt an diese Frage. »J – ja«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ich war eine Zeitlang weg.« »Und wer forderte Euch auf, hinauszugehen?« Sie blickte auf Antonio. »Dr. Servetus, glaube ich. Ja, ich bin dessen sicher.« Frey Ignacios Ausdruck war sanft; er freute sich offensichtlich, daß ihre Aussage so gut in sein Konzept paßte. »Wie lange wart Ihr draußen?« fragte er. »Fünf oder zehn Minuten. Ich erinnere mich nicht mehr genau.« »Ihr könnt fortfahren, Doktor«, sagte Frey Ignacio mit voller Zufriedenheit. Antonio erkannte, daß der Inquisitor sehr klug jede Wirkung zunichte gemacht hatte, die Doña Marias Aussage hätte haben können. Er mußte seine schnell sich auflösende Verteidigung irgendwie retten. »Es ist richtig, wie Ihr sagt, Señora. Ich bat Euch, etwas Wein für Eure Tochter zu holen. Saht Ihr nicht, bevor Ihr hinausgingt, daß sich die gelähmten Glieder Eurer Tochter bewegten?« »Nun ich – –«, Doña Maria zögerte. »Ich weiß nicht.« »Denkt nach«, drang er in sie. Sie rang die plumpen Hände in ihrem Schoß, blickte verzweifelt um sich und richtete schließlich ihren Blick auf den Inquisitor. Er machte ihr kein Zeichen, aber Antonio sah den kalten Glanz seiner Au298
gen. Alle Farbe wich aus dem Gesicht der erschreckten Frau und es schien, als wollte sie in Ohnmacht fallen. Beinahe unhörbar flüsterte sie: »Nein. Sie war noch gelähmt, als ich hinausging.« Antonio fühlte, wie ihn kalte Furcht ergriff. Die Angst vor der Inquisition und die Furcht, daß ihre Tochter öffentlich wegen Ehebruch mit Don Carlos gebrandmarkt werden könnte, waren der Grund ihrer falschen Aussage. Außerdem bedeutete für sie eine falsche Aussage unter diesen Umständen nichts, denn Frey Ignacio würde sie ohne Zweifel nachher von jeder Schuld lossprechen. Auch das gehörte zu den Inquisitionsmethoden. »Doña Maria«, sagte er freundlich. »Als ich meine Behandlung beendet hatte, folgtet Ihr mir aus dem Haus und habt geschrien, daß die gebenedeite Jungfrau durch meine Hände ein Wunder vollbracht hätte. Glaubt Ihr noch immer daran?« Die Augen der Frau waren wie die eines gehetzten Tieres. »Ich – ich – –«, stammelte sie. »Ich weiß nicht.« »Was bewog Euch, Eure Meinung zu ändern?« »Ich – – weiß nicht.« »Doña Maria, ich bitte Euch, erinnert Euch, daß Ihr unter Eid steht, wenn Ihr diese Fragen beantwortet. Welche Drohungen wurden von den Vertretern der Inquisition gegen Euch und Eure Tochter erhoben, daß Ihr gegen mich ausgesagt habt?« Doña Maria schwankte in ihrem Sessel. Sie versuchte zu sprechen, aber kein Ton kam über ihre Lippen. Dann glitt sie ohnmächtig von ihrem Sessel. Ein Gesumme von erregten Stimmen erhob sich und Antonio kniete neben sie hin und fühlte ihren Puls. Er war schwach aber voll. »Es ist nur ein Ohnmachtsanfall«, sagte er. »Dr. Vesalius«, fuhr der König auf. »Nehmt Euch dieser Dame an.« Ruhegebietend klopfte er auf den Tisch. Vesalius nahm ebenfalls eine schnelle Untersuchung vor. »Eine Ohnmacht. Sie wird sich sofort erholen.« Er nahm eine Phiole Riechsalz aus seiner Tasche und hielt sie Doña Maria unter die Nase. Sie hustete und öffnete die Augen. 299
»Bringt sie in einen anderen Raum«, befahl der König. »Aber Sire«, wandte Antonio ein, »sie hat meine Frage nicht beantwortet.« Der König zögerte, aber Frey Ignacio rief aus: »Ist es nötig, diese arme Frau zu foltern? Die Zumutung ist an sich schändlich genug.« Die Stimme des hageren Mönchs war so gewaltig, daß Antonio sah, wie des Königs Zweifel dahinschwanden. »Das ist richtig«, stimmte er zu. »Solch eine Zumutung ist schändlich.« »Wenn sie aber gerechtfertigt ist, Sire?« kämpfte Antonio noch, aber er wußte, daß er die Schlacht verloren hatte. Des Königs Gesicht rötete sich vor Ärger. »Das ist genug. Ich bin ermüdet von dieser Schauspielerei. Habt Ihr andere Zeugen, Doktor?« Da war noch Andreas Vesalius. Eine Aussage von des Königs Leibarzt mußte einige Wirkung haben. Aber Frey Ignacio kam ihm zuvor. »Ich glaube, die Schuld dieses Mannes ist eindeutig erwiesen durch die Beweise, die eben vorgebracht wurden. Alle weiteren Zeugen werden gewarnt, daß man sie wegen Ketzerei verfolgen wird, wenn sie sich verleiten lassen, einen falschen Schwur zu tun.« Dieser Schachzug war eindeutig. Frey Ignacio wußte um die Wirkung, die eine Aussage von Vesalius noch immer auf den König ausüben konnte. Wurde Antonio für schuldig befunden – alles wies nun darauf hin –, würde man auch Vesalius anklagen, wenn er für ihn aussagte. Und der Anatom hatte ihm mehr als einmal gesagt, daß der Inquisitor nichts lieber hätte, als einen Vorwand, ihn verhaften zu können. Antonio blickte auf Vesalius. Der Freund war bleich, aber sein Blick war ruhig. Er würde Zeugnis ablegen, trotz der Warnung, das wußte Antonio. Aber er wollte ihn nicht nutzlos hineinziehen, ihn, den Mann, zu dem er wie zu einem Vater aufblickte. »Ich habe keine anderen Zeugen, Messire«, sagte Antonio ruhig. Dann traf sein Blick den Frey Ignacios. Bei dem Triumph und Haß in den tiefliegenden Augen des Priors fühlte Antonio eine aufsteigende Wut in sich. Blick gegen Blick, bohrten sich ihre Augen ineinander. Der Folterer und der Mann, der so gut wie verdammt war. Und als das 300
Feuer der Wut und Verachtung in Antonio wuchs, sah er Frey Ignacios Blick flackern und der Triumph, der darin gelegen hatte, wich einem Ausdruck der Angst und Unentschlossenheit, als sei der Mann von der Gerechtigkeit, die er repräsentierte, nicht ganz überzeugt. Dann senkte er die Augen vor Antonios wütendem Blick und sie fixierten sich auf den Glasball, der die Federn des Notars enthielt und der in der Mittagssonne hell glänzte. Plötzlich hatte Antonio eine Eingebung. Hier war ein Weg, eine wilde, unwahrscheinliche und höchst gefährliche Möglichkeit, dank der er sich vielleicht retten konnte. Vielleicht half sie gerade deshalb, weil sie so unwahrscheinlich war. Solange die Chance bestand, mußte er sie ergreifen. Schnell wandte er sich dem König zu. »Sire, ich bin mir der Schwere der Beweise gegen mich bewußt. Nichtsdestoweniger muß ich meine Unschuld verteidigen, und ich bin bereit, sie vor Euch zu beweisen.« Philipp runzelte die Stirne. »Was soll das? Ihr behauptet, keine weiteren Zeugen mehr zu haben.« »Aber wenn ich Euch, ohne jemanden zu fragen, zeige, daß die Macht des Magnetismus, die ich als natürliche Kraft kennengelernt habe, nichts mit Zauberei zu tun hat, werden damit nicht alle Anschuldigungen gegen mich entkräftet?« »Das stimmt«, gab der König zu. »Im Gegenteil, Sire«, unterbrach Frey Ignacio. »Es würde nichts beweisen. Dämonen haben Macht über alle gewöhnlichen Menschen.« »Aber nicht über Menschen von ungewöhnlicher Heiligkeit«, sagte Antonio. »Denkt an die Versuchung der Heiligen.« »Aber wo ist ein solcher Mann?« fragte der König. »Dort ist er. Seine Hochwürden, der Inquisitor, Frey Ignacio Molina«, sagte Antonio ergeben. »Wer kann seine Heiligkeit bezweifeln?« Mit lautem Krach fiel der Kerzenleuchter neben Frey Ignacio zu Boden. Er hatte sich halb in seinem Sessel erhoben. »Welch ungeheure Ketzerei!« schrie er und seine Stimme bebte vor Wut. Mit großer Befriedigung erkannte Antonio in des Inquisitors Stimme ein Zittern der Angst. »Sind Seine Hochwürden in seinem Glauben so unsicher?« fragte er. »Obwohl er über alle anderen zu Gericht sitzt?« 301
Einen Augenblick lang wurde Frey Ignacios Körper steif vor Wut, in der er auch den Kerzenleuchter vom Tisch geschlagen hatte. War er gewöhnlich bleich, so erschien er jetzt völlig farblos. Langsam sank er wieder zurück, aber als er sprach, war seine Stimme heiser. »Was schlagt Ihr also vor?« erkundigte er sich. »Eine einfache Vorführung, bei der ich beweise, daß Magnetismus nichts mit Hexerei und Dämonen zu tun hat. Wenn es mir gelingt, Seine Hochwürden in magnetische Trance zu versetzen, dann soll dies als Beweis dafür gelten, daß ich nur natürliche Kräfte anwende.« »Und wenn nicht?« Antonio zuckte die Achseln. Sein Fall war ohnehin schon verloren. Mehr konnte er nicht verlieren. Der König wandte sich an Frey Ignacio. »Was meint Ihr dazu?« fragte er. Der Inquisitor schien ihn zuerst nicht zu hören. Dann sagte er mit einer Stimme, die kaum über die Estrade zu vernehmen war: »Gut. Laßt ihn sich selbst der Ketzerei überführen – durch seine eigene Handlungsweise.« »Wann wollt Ihr dieses Experiment durchführen, Doktor?« fragte der König. »Hier und jetzt«, antwortete Antonio. Wenn seine Ansicht stimmte – und alle seine Erfahrungen mit Magnetismus schienen diesen Schluß zu rechtfertigen – wurde der Trancezustand am leichtesten herbeigeführt, wenn das Medium unter einer starken emotionellen Bewegung stand. Und Lodovici hatte ihm auch versichert, daß der schlafähnliche Zustand vor einem Publikum immer leichter herbeizuführen sei, als allein. Sicherlich ergab sich niemals mehr eine passendere Gelegenheit, bei der die Umstände so günstig zusammenwirkten, soweit sie Frey Ignacio betrafen, und dies vor allem, wenn er mit seiner Annahme recht hatte, daß der Mönch mit sich selbst uneins war. Aber Antonio verließ sich noch auf etwas anderes. Auf etwas, von dem er mit Sicherheit glaubte, daß es ihm bei seinem kühnen Unternehmen, den Inquisitor öffentlich zu magnetisieren, zum Erfolg ver302
helfen würde. Er erinnerte sich, wie Frey Ignacios Augen während des ersten Verhörs auf dem glühenden Glasball des Notars gehaftet hatten und heute war dasselbe wieder geschehen. Lodovici hatte ihn aufmerksam gemacht, daß es sehr schwierig sei, jemanden zu magnetisieren, der Widerstand entgegensetzte, aber wenn er Frey Ignacio überlisten, ihn in den magnetischen Zustand bringen konnte, ohne daß er selbst merkte, was vor sich ging, würde er diese Hindernisse umgehen. Und er glaubte, einen Weg gefunden zu haben, wie er sein Vorhaben ausführen könnte. Frey Ignacio hatte, genau wie fast jedermann, von der Technik des Magnetismus keine Ahnung, und Antonio wollte diese Unkenntnis zu seinem Vorteil ausnutzen. »Wenn Ihr befehlen wollt, daß mir diese Ketten abgenommen werden, Sire«, sagte er, »kann ich sofort beginnen.« »Entfernt sie«, befahl der König. Während der Offizier die Fesseln löste, blickte Antonio um sich. Auf allen Gesichtern sah er gespannte Erwartung. Einige warteten begierig auf den Untergang eines Mannes, der es gewagt hatte, die Inquisition herauszufordern, andere wieder gaben ihrem Mißfallen an solcher Ketzerei Ausdruck. Lucia war bleich, ihre Augen groß und weit vor Angst und Sorge. Gian versuchte ermutigend zu lächeln, es wurde aber nur eine Grimasse daraus. Die Ketten fielen von Antonios Handgelenken und er wandte sich an den Notar. »Ich möchte mir Euren Federstand ausborgen«, sagte er. Der Notar entfernte die Federn und überreichte ihm den Ball. Er war auf einer Seite abgeflacht, damit man ihn aufstellen konnte und fühlte sich warm an von der Sonnenwärme. Antonio erinnerte sich, wie er sich in Lodovicis. Wohnung beinahe selbst magnetisiert hatte, als er den Kristall zum erstenmal gesehen. In einem der Bücher über Magnetismus hatte er gelesen, daß eine ägyptische Sekte einen solchen Kristall schon vor 4.000 Jahren verwendete, um den Trancezustand herbeizuführen. Mit dem Glas in der Hand trat Antonio vor Frey Ignacio und stellte es auf das dunkle Holz des Tisches. Sofort fingen sich die Sonnenstrahlen darin und glühten in lebendigem Feuer. Ein Gemurmel des Interesses erhob sich im Publikum. 303
Antonio war noch nicht zufrieden. Es war zu hell im Raum und er befahl der Wache: »Zieht die Vorhänge vor, dieses Fenster aber laßt frei«, und wies dabei auf das Fenster, durch das die Sonnenstrahlen auf den Kristall fielen. Frey Ignacios Augen hatten auf seinen Händen auf dem Tisch geruht, aber nun sah Antonio, wie sie sich auf den glühenden Glasball richteten, als würden sie von einem Magnet angezogen. »Es ist einige Zeit erforderlich, um in den magnetischen Zustand zu kommen«, sagte er. »Ich werde Euch darauf aufmerksam machen, wenn ich soweit bin. Unterdessen entspannt Euren Geist.« Er wartete einen Augenblick und als des Mönchs Blick auf der glühenden Kugel haften blieb, fuhr er fort: »In dem Glas auf dem Tisch konzentrieren sich wohltätige Kräfte der Sonne, von der alle Energie kommt und alle Kraft. Hier ist Licht und es glüht, weil es im Kristall gesammelt wird. Hier ist Wärme, die Annehmlichkeit ist offenbar, tief im Zentrum der Kugel. Ebenso ist Wärme im Zentrum der Erde, von wo die Feuer der Vulkane kommen. Wie die Sonne Wärme und Licht in das Kristall bringt, so bringt sie auch Wärme und Licht in des Menschen Geist.« Er hatte mit leiser, eindringlicher Stimme gesprochen und dabei unverwandt auf Frey Ignacio geblickt. Seine ganze Willenskraft war darauf gerichtet, dessen Widerstand zu brechen, ehe dieser erkannte, was geschah. »Wenn ich anfange, den Magnetismus anzuwenden«, setzte er im gleichen monotonen Tonfall fort, »braucht Ihr keine Angst zu haben oder zu widerstehen. Ihr werdet dann Euren Geist befreien von allen Gedanken des Seins und ihn von den magnetischen Kräften der Sonne beherrschen lassen.« Des Inquisitors Blick war starr auf den Ball gerichtet und Antonio glaubte, den Glanz des magnetischen Zustands darin zu sehen, welcher seine Wirkung auszuüben begann. Eine geringe Änderung im Tonfall seiner Stimme konnte Frey Ignacio warnen, daß er überlistet werde; eine plötzliche Wolke, die die Sonne bedeckte, konnte das Licht im Kristall zum Erlöschen bringen und viele andere Dinge konnten eintreten und alles zerstören. 304
»Einen Augenblick noch, dann werde ich den magnetischen Zustand herbeiführen und Ihr werdet Euch entspannt fühlen und werdet schlafen … schlafen … schlafen …« Während er sprach, sah er, wie sich des Inquisitors lange Finger auf dem Tisch entspannten und schließlich herabfielen, die Handfläche nach unten. Wie eine Welle wanderte nun eine seltsame Macht durch den hageren Körper, von den Fingern angefangen die Arme hoch, über die Schultern. Wie eine Bogensehne, wenn der Bogen selbst gebeugt ist, entspannte sich vor Antonios Augen die hagere, starre Gestalt und ein heißes Feuer des Triumphes erfüllte Antonio. Wie er gehofft hatte, magnetisierte sich Frey Ignacio selbst unter dem Einfluß des glühenden Kristalls, während er wartete, daß Antonio beginne. Offenbar hatte er geglaubt, er würde eine Probe der Willenskraft bestehen müssen, aber die List war bereits geglückt, wenn nichts eintrat, was die Stimmung zerstörte. Antonio fühlte, wie aufgeregt die Menge hinter ihm war. In dem ganzen großen Raum war kaum ein Atemzug zu hören, selbst das Keuchen des Bischofs von Toledo hatte sich unter der beinahe unerträglichen Spannung gelegt. Langsam, wie eine Wachsfigur in der sommerlichen Sonne weich wird, wich die Starre aus Frey Ignacios Genick. Die straffen Linien seines Mundes lockerten sich und seine Augenlider fielen herab. Einmal, zweimal hob er sie, als führe er einen letzten Kampf gegen die heimtückische Kraft, die über ihn Herrschaft gewann. Dann schlossen sich die bleichen Lider, um so zu bleiben. Der schmale Kopf senkte sich langsam auf die knochige Schulter und Antonio erlaubte sich zunächst einmal einen tiefen Atemzug; es war der erste, den er seit Beginn des Experiments getan hatte. Wie das Rascheln von trockenem Laub im Wind ging auch durch die Menge ein Aufatmen; es war ein Raunen der Überraschung und der Furcht zugleich. Jeder erkannte die Bedeutung der Kraft, die über den eisernen Willen des Inquisitors triumphierte. Was sie aber nicht wußten, war, daß Frey Ignacios Widerstand durch eine List gebrochen worden war und daß sich der Inquisitor eigentlich selbst magnetisiert hatte. 305
»Könnt Ihr mich hören, Frey Ignacio?« fragte Antonio und beugte sich nahe zu ihm. »Ja, ich höre Euch.« Die Stimme des Mönchs war laut genug, um im ganzen Raum gehört zu werden. Antonio sah, wie sich der König überrascht vorbeugte und die Finger an sein Kinn preßte. »Schlaft Ihr?« fragte Antonio. »Nein, ich schlafe nicht.« »Ist Hexerei, Zauberei oder die Anrufung von Dämonen bei Euch angewandt worden?« Antonio war des Erfolges nun ganz gewiß, aber er wartete selbst gespannt auf die Antwort. »Nein«, sagte Frey Ignacio deutlich. »Seid Ihr dessen gewiß?« fragte der König, aber keine Antwort kam. Antonio wandte sich zum König. »Während des magnetischen Zustandes, Sire, ist er nicht fähig, Euch zu hören. Nur die Person, die den Zustand herbeigeführt hat, kann sich mit ihm verständigen.« »Fragt ihn, ob da irgend etwas Unnatürliches an dem Zustand ist, in dem er sich befindet«, verlangte der König. Antonio beugte sich zu Frey Ignacio. »Ist irgend etwas Unnatürliches an Eurem gegenwärtigen Zustand?« »Nein«, antwortete der Inquisitor. »Es ist nichts Unnatürliches daran.« »Cáspita!« rief der König ehrfürchtig aus. »Es increible!« »Nicht unglaublich, Eure Majestät«, berichtigte ihn Antonio ruhig, »bloß die Anwendung natürlicher Kräfte. Ich will ein anderes Experiment vorführen, wenn mir der Notar seine Kerze leihen will.« Er nahm die kleine Kerze, die dazu bestimmt war, den Siegellack weich zu machen und sagte zu Frey Ignacio: »Ihr habt alles Gefühl in Eurer rechten Hand verloren, Ihr könnt keinen Schmerz fühlen und wenn ich diese Flamme nahe daran halte, werdet Ihr die Hitze nicht verspüren.« Langsam brachte er die brennende Kerze zu des Inquisitors aufgestützter Hand. Der Bischof, der König und die Personen in den ersten Reihen konnten den roten Fleck sehen, der sich an der Stelle bildete, wo die Flamme beinahe die Haut berührte. 306
»Spürt Ihr die Hitze?« fragte Antonio. »Nein«, antwortete Frey Ignacio ruhig, »ich spüre keine Hitze.« Ein staunendes Gemurmel ging durch das Auditorium und Antonio gab dem Notar die Kerze zurück. Er war beinahe sicher, daß ihn der König, wenn er nun den Trancezustand beendete, entlassen würde, aber er wollte noch etwas ausführen. Lodovici hatte ihm gesagt, daß im magnetischen Zustand eine Person unter allen Umständen die Wahrheit sprechen würde. Er hatte noch keine Gelegenheit gehabt, sich von der Wichtigkeit dieser Behauptung zu überzeugen, aber er war gewillt, dies jetzt zu tun. »Sagt mir, Frey Ignacio, wurden irgendwelche Drohungen gegen Doña Catharina Sagredo angewendet, daß sie aussage, ich hätte bei ihrer Behandlung Hexerei ausgeübt?« Der Mönch antwortete ohne Zögern. »Hätte sie nicht darauf geschworen, wäre sie angeklagt worden wegen …« »Válgame Dios!« Ein heiserer Schrei aus dem Munde des Prinzen Don Carlos übertönte das Wort Frey Ignacios, aber Antonio hatte es gehört und er war gewiß, daß es auch der König und der Bischof von Toledo gehört hatten. Mit hervorquellenden Augen und angelaufenem Gesicht sprang der Prinz auf, warf mit einem Krach seinen Sessel um und torkelte aus dem Raum. »Sind Eure Majestät von meiner Unschuld überzeugt?« fragte Antonio ruhig. Der König nickte. »Ja, Doktor. Ich war dabei, einen großen Irrtum an Euch begehen zu lassen.« »Und Eure Hochwürden?« fragte Antonio den Bischof. Don Diego schien mit dem Sprechen Schwierigkeiten zu haben, aber schließlich gelang es ihm, herauszustoßen: »Ich schließe mich an.« »Dann will ich Frey Ignacio aus dem magnetischen Zustand erwecken.« Er wandte sich dem Mönch zu. »Ich werde langsam zählen, Frey Ignacio. Bei der Zahl drei werdet Ihr erwachen. Versteht Ihr mich?« »Ich verstehe«, sagte der Mönch deutlich. »Eins …«, begann Antonio langsam zu zählen, »zwei … drei!« Sofort erhob der Inquisitor seinen Kopf und öffnete die Augen. Er 307
blickte benommen um sich, dann klärte sich sein Blick und er richtete sich auf. »Es ist Euch nicht gelungen«, fuhr er Antonio an, da er von nichts wußte. »Eure Schuld ist daher erwiesen.« »Im Gegenteil«, sagte der König einfach. »Dr. Servetus hat uns davon überzeugt, daß er unschuldig ist.« »Ich verweigere anzuerkennen …« Frey Ignacio sprang auf, die Fäuste geballt. Als er so seine rechte Hand gegen die schwere Schnitzerei auf der Armlehne seines Sessels stieß, sahen alle Anwesenden den hellen roten Fleck, der sich von der bleichen Haut seiner Hand abhob, aber niemand, nicht einmal Antonio war vorbereitet auf das, was nun kam. Steif starrte der Mönch auf seine Hand, während sich seine Augen vor Schreck weiteten. »Meine Hand!« kreischte er heiser. »Sie ist abgestorben und gefühllos!« Der König erhob sich. »Hier ist der Beweis für alle zu sehen. Ihr seid frei, Dr. Servetus.« »Danke, Sire!« Antonio fiel auf die Knie und beugte das Haupt. Aber er dankte auch seinem Geschick, das ihn hatte vergessen lassen, das Tastgefühl in Frey Ignacios Hand zurückzurufen, bevor er ihn aus dem Trancezustand erweckte.
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FÜNFTES BUCH Die Casa Santa
I
D
ie Ärmel bis zu den Ellbogen aufgerollt, das Skalpell in der Hand, beugte sich Antonio über den Körper des Kindes auf dem Tisch. Der in einen Anatomie-Hörsaal umgewandelte Raum zur ebenen Erde im Hause des Vesalius war klein. Vesalius zuliebe und nicht zuletzt beeindruckt von dem Ruf, den sich Antonio seit dem dramatischen Verhör vor der Inquisition errungen, hatte König Philipp die Erlaubnis gegeben, jährlich einige Leichen zu sezieren, um das medizinische Wissen zu bereichern. Von den zehn oder zwölf Männern, die Antonio heute morgen zusahen, waren einige Ärzte, einige Philosophen und einige Studenten, unter denen sich Vesalius' Lehrling de Onis befand. Aus der Aufmerksamkeit, mit der sie seinen Worten lauschten und aus der Achtung, die sie ihm zollten, ging deutlich hervor, daß sich seine Lage seit dem Tag, an dem er in Ketten des Königs Audienzzimmer betreten, bedeutend geändert hatte. Antonio führte mit dem Skalpell längs der Bauchdecke des toten Kinderkörpers einen raschen Schnitt aus. Durch die Fenster strömte ein kühler Frühlingshauch herein, denn der Lenz kam in diesem hochgelegenen Gebiet viel später als an der Küste oder in den südlichen Landstrichen Spaniens. »Ihr werdet hier«, bemerkte er, »eine Schwellung feststellen können, die keine Anschwellung der Bauchwand darstellt, sondern aus der Bauchhöhle kommt.« »Ein Geschwür vielleicht?« meinte einer der Ärzte. »Ein Geschwür besonderer Art«, gab Antonio zu, »wenn die Diagnose von Dr. Vesalius und mir stimmt. Bevor es die Verletzung erlitt, die den Tod verursachte, lebte dieses Kind jahrelang in den sumpfigen Gebieten der Meeresküste, wo das Wechselfieber viel häufiger vorkommt als bei uns hier.« 310
»Sowohl Dr. Vesalius als auch ich«, fuhr er fort, »konnten in Italien und Spanien feststellen, daß überall dort, wo das Fieber auftritt, Unterleibsschwellungen anzutreffen sind, insbesondere in der Milzgegend.« Während er so sprach, arbeitete er rasch weiter und war so in die Arbeit vertieft, daß er nicht merkte, wie Vesalius mit einem Mann das Zimmer betrat. Der andere war groß und stark, hatte angegrautes Haar und weise blickende Augen. Er trug den einfachen langen Rock der Akademiker und auf dem Kopf ein Samtbarett. »Betrachtet die Muskeln der Bauchdecke«, erklärte Antonio, »wie sie in verschiedenen Richtungen verlaufen, ähnlich den Stäben des Bratrostes. Dr. Vesalius hat sie in seiner ›Fabrica‹ genau beschrieben.« Er durchschnitt die Muskeln und nun erschien tief in der Wunde das Bauchfell. »Ist die Geschwulst durch das Wechselfieber hervorgerufen worden?« fragte einer der zusehenden Ärzte. »In einer gewissen Beziehung ja«, antwortete Antonio lächelnd, »aber die Geschwulst selbst hat nicht unmittelbar den Tod verursacht.« »Dann also das Fieber?« »Auch das nicht ganz. Das Kind erhielt beim Spielen von einem anderen Kind einen Schlag versetzt, einen Schlag, der normalerweise nie tödlich wirken kann. Und doch starb es innerhalb weniger Stunden.« Er legte das Skalpell beiseite und betrachtete seine Hörer. »Will jemand die Todesursache zu erraten versuchen?« »Eine Ansammlung von Körpersäften vielleicht?« mutmaßte einer der Ärzte. »Ein plötzlicher Anfall von Wechselfieber.« Antonio amüsierte sich über die Unsicherheit der Ärzte. Wenn er und Vesalius mit ihrer Diagnose recht hatten, dann lag hier ein Fall vor, der sogar die blasiertesten unter ihnen verblüffen würde. Er wollte ihnen jetzt etwas beweisen, von dem er durch seine medizinischen Studien immer mehr überzeugt wurde, je weiter die Zeit vorwärts schritt; er wollte beweisen, daß bei allen Krankheiten eine direkte Beziehung zwischen Ursache und Wirkung besteht. »Dieses Kind«, sagte er, »starb an Blutfluß.« 311
»Madre de Dios«, murmelte einer der Zuseher. »Man sieht keine Wunde, kein Blut.« »Sowohl die Wunde als auch die Blutungen sind innerlich«, erklärte Antonio. »Genauso wie ein Mensch durch eine Stichwunde in der Lunge an einem unsichtbaren Blutfluß sterben kann, so glauben wir, ist dieses Kind infolge eines Risses in der Milz an Blutfluß gestorben. Die Milz ist dabei durch die häufigen Wechselfieberanfälle vergrößert worden.« »Aber die Milz ist doch kaum zu verletzen«, warf ein Arzt ein. »Schon allein deshalb nicht, weil sie durch die Rippen geschützt ist. So steht es doch in der ›Fabrica‹.« »Stimmt«, gab Antonio zu. »Aber die vergrößerte Milz ragte über die unterste Rippe hervor, hatte somit keinen besonderen Schutz und war der Verletzung ausgesetzt.« Ein Gemurmel der Anerkennung über seine logische Argumentation wurde laut. Er langte wieder nach dem Skalpell. Fast war es ihm, als wäre er noch im Anatomiehörsaal zu Padua, wo sich um seinen Tisch wissensdurstige Studenten versammelten. War es möglich, daß noch nicht einmal ein Jahr vergangen, seit er Padua verlassen, und kaum fünf Monate seit seinem Triumph über Frey Ignacio Molina? Es schien unfaßlich, denn während der letzten fünf Monate erlebte er einen meteorähnlichen Aufstieg. Sein Ruf war dem des Vesalius beinahe gleich und überall verlangte man nach dem Leibarzt der Königin. Wann immer er sich bei Signore Bellarmi, der nun schwer an seiner fortschreitenden Herzschwäche litt, freimachen konnte, kam er diesen Wünschen nach. Golddukaten und Maravedís flossen in seinen Beutel und er wurde mit kostbaren Geschenken überschüttet, aber all dies vermochte seinen schlichten Sinn nicht zu ändern. Er wußte so gut wie Vesalius, daß die Gunst der Prinzen und Adeligen unbeständig war. Jeden Dukaten, jedes Geschenk – ausgenommen das wenige, das er für seinen persönlichen Bedarf benötigte – übergab er Lucia, die es in die Goldkammern des Bankhauses Medici nach Paris schickte. Ja, er war ein reicher Mann geworden, dachte er bei sich, und nicht zuletzt verdankte er dies dem Umstand, daß ihm das Schicksal bei Frey Ignacio 312
hold gewesen, dann aber auch der Freundschaft und Hilfe des Vesalius. Aber trotz allem war Antonio nicht zufrieden. Seit ihnen der König gestattete, zu sezieren, hatte sich sein Interesse wieder etwas gehoben, besonders wenn sich wie heute aus heiklen Fragen selbst der Beweis der Richtigkeit seiner Theorien ergab. Aber die übrige Zeit fühlte er sich hier gehemmt und dieser Gedanke war nicht angenehm. »Wir wollen nun die Bauchhöhle öffnen.« Mit diesen Worten brachte er sich wieder in die Gegenwart. Die Anwesenden rückten näher, als er das Bauchfell mit dem Skalpell durchstieß und einen Finger hineinschob. Vesalius und dessen Begleiter kamen ebenfalls näher, um besser sehen zu können. »Hier in der Bauchhöhle ist Blut«, gab er mit stiller Befriedigung bekannt, während er den Einschnitt erweiterte. Eine dunkle Flüssigkeit, teilweise schon geronnen, ergoß sich aus der geöffneten Bauchhöhle. Er erweiterte den Einschnitt nochmals und entfernte das Blut, so daß die Organe zu sehen waren. Dann stieß er die Eingeweide mit der einen Hand zur Seite, mit der anderen legte er die Milz frei. »Aqui está!« rief er triumphierend. »Ein Riß in der krankhaft vergrößerten Milz.« »Diantre!« entfuhr es einem der Zusehenden. »Es ist so, wie er vermutet hat.« Die linke Seite der Bauchhöhle des Kindes halb ausfüllend, lag die Milz da, rötlichblau in der Farbe und mit einem sternförmigen Riß an der Oberfläche, durch den das breiige Fleisch hervorquoll. Antonio hob die Milz heraus und legte sie zu eingehendem Studium auf den Tisch. »Beinahe in allen Fällen, Señores«, sagte er, »ist es möglich, die Ursache und Wirkung der Krankheit zu finden. Kennen wir die Ursache nicht, dann sehen wir doch die Wirkung und können von ihr auf die Ursache schließen. Das wahre Medizinstudium wird immer auf dem Seziertisch vor sich gehen.« Er legte sein Skalpell hin und ging zu einem Becken in der Ecke des Zimmers, um sich die Hände zu reinigen. Die Zuseher umdrängten ihn, stellten Fragen und lobten seinen Scharfsinn. Es dauerte vielleicht eine Viertelstunde, bis sich der Raum geleert hatte. Vesalius und sein Begleiter aber waren zurückgeblieben. 313
»Dr. Vesalius!« rief Antonio. »Ich wußte nicht, daß Ihr hier seid, sonst hättet Ihr die Sektion leiten müssen; schließlich war es ja Eure Diagnose.« Vesalius schüttelte den Kopf. »Ohne Euren Ansporn wäre ich nie darauf gekommen. Dies hier ist Dr. John Caius aus London. Dr. Antonio Servetus.« Antonio verneigte sich. »Ich fühle mich geehrt, Sir. Die Welt weiß von den Leistungen Dr. John Caius.« »Und bald wird sie, es sei denn, meine Vermutung geht fehl, über die Arbeiten Dr. Antonio Servetus' informiert sein. Gestattet mir, den Verfasser der ›De Motu Sanguinem Pulmonale‹ zu beglückwünschen«, sagte der Engländer in fließendem Italienisch. Antonio errötete aus Freude über das Kompliment. Er erinnerte sich an den Brief, den er im vergangenen Sommer von Valentin Sims, dem Londoner Drucker, erhalten hatte und fragte: »Ist es schon in London gedruckt worden?« »Vor vier Monaten. Und es wurde sehr gut aufgenommen.« »Gehen wir auf mein Zimmer«, schlug Vesalius vor. »Wir haben manches zu besprechen.« Die Ankunft Dr. John Caius' war für Antonio ein besonderes Ereignis. Caius und Vesalius hatten als Studenten in Padua im gleichen Haus gewohnt. Caius war nun der erste Arzt Englands und Vorsteher von Gonville und dem Caius College in Cambridge. Er war in Fachkreisen Englands das, was Vesalius einst für Italien bedeutet hatte. »Was hältst du von der Vorführung von heute morgen, John?« fragte Vesalius, während er dem Freund mit Kuchen und Wein aufwartete. Caius lächelte. »Ich glaube, Dr. Servetus ist genauso, wie du in seinem Alter gewesen bist.« Vesalius drehte das Glas zwischen den Fingern und starrte in den rubinroten Wein. »Es ist gut so, daß du nach Madrid gekommen bist und mich daran erinnerst, wie ich einmal war«, sagte er langsam. »Hätte ich den Mut besessen, denen zu widerstehen, die meine Arbeit hemmten, dann hätte ich vielleicht noch andere Entdeckungen gemacht.« »Bedenke, Andreas«, erwiderte Dr. Caius, »vielleicht war die Zeit 314
noch nicht reif. Ich habe zum Beispiel erst heuer nach langem von Ihrer Majestät, der Königin Elisabeth, die Erlaubnis bekommen, in Gonville und am Caius College zu sezieren.« Er wandte sich zu Antonio. »Wie wurde Euer ›Consilium‹ hier aufgenommen?« Antonio lächelte schwach. »Ich bin so ziemlich in der gleichen Lage, in der Dr. Vesalius damals war.« »Wie das? Gegen die Lungenzirkulation kann doch niemand etwas einwenden.« »Aber ich bin der Bruder des Michael Servetus!« »Ich weiß … und ich kannte Euren Bruder sehr gut. Aber ich sehe trotzdem nicht den Zusammenhang …« Antonio erzählte ihm kurz, was geschehen war, ohne den Angriff Fra Felipe Santos' zu erwähnen. Als er geendet, sagte Dr. Caius: »In England hat Ihre Majestät in großzügiger Weise Gedankenfreiheit und den Forschern freies Schaffen gewährt.« Freiheit in Denken und Handeln! Antonio überdachte diese Worte. Wie kostbar diese Freiheit sein mußte! Und welch wunderbares Land, in dem man denken, reden, ja sogar schreiben konnte, was man wollte. »Was sagt Ihr dazu, Antonio?« fragte Vesalius. »Hättet Ihr nicht Lust, an solch einem Ort zu studieren und zu lehren?« »Es wäre herrlich!« Antonios Augen glänzten. »Es gäbe so viele Experimente, die ich gerne ausführen, Studien, denen ich nachgehen möchte und zu denen ich hier keine Möglichkeit habe.« Dr. Caius lächelte. »Der Lehrstuhl für Chirurgie und Anatomie in Gonville und am Caius College ist frei. Ihr braucht nur ja zu sagen.« Antonio hielt den Atem an. Er wollte seinen Ohren nicht trauen. Ohne Angst und Einschränkung sezieren und lehren zu dürfen, ohne überlegen zu müssen, wie jedes Wort mißverstanden werden könnte – mit einem Schlag würden sich dort all seine Träume verwirklichen. Aber er erinnerte sich Girolamo Bellarmis. Sein Zustand verschlechterte sich mehr und mehr und er konnte ihn jetzt nicht verlassen. »Ihr ehrt mich mit Eurem Angebot, Dr. Caius, aber ich kann Signore Bellarmi jetzt nicht im Stich lassen.« 315
»Aber jedermann würde Euch verstehen«, erwiderte Caius. »Sein Zustand ist sehr ernst«, erklärte Antonio. »Ich habe ihm schon einmal einen schweren Anfall verursacht; ein zweiter würde schlimm enden. Außerdem haben er und seine Nichte mein Wort, daß ich ihn nicht verlasse.« »Daran hatte ich nicht gedacht«, warf Vesalius ein. »Ich wollte, daß Ihr Eure Arbeit in Sicherheit fortführen könnt und deshalb schrieb ich vor einigen Monaten an Dr. Caius und schilderte ihm Eure Lage.« »Dr. Caius, ich stehe unter ständiger Überwachung durch die Inquisition«, gab Antonio zu bedenken. »Das wird Eure Meinung vielleicht ändern.« »Das wäre kein Grund, Euch nicht nach Cambridge zu berufen«, sagte Caius. »Aber warum werdet Ihr denn überwacht?« Antonio gab einen kurzen Bericht von seinem Zusammenstoß mit Frey Ignacio. »Ich habe in den Schriften des Paracelsus über Magnetismus gelesen«, meinte der englische Arzt. »Ich hatte keine Ahnung, daß er so wirksam ist.« »Er ist sogar zu wirksam«, entgegnete Antonio schlicht. »Ich glaube nicht, daß ich ihn noch jemals anwenden werde.« »Aber wenn Ihr mit der Inquisition Schwierigkeiten habt, ist dies doch ein Grund mehr, nach England zu kommen, wo Ihr ohne Angst vor Verfolgung arbeiten könnt.« Antonio schüttelte betrübt den Kopf. »Signore Bellarmi sprach davon, nach Paris zu reisen. Vielleicht kann Dr. Paré helfen. Nur ist es ein weiter Weg.« »Zumindest würdet Ihr dort sicherer sein.« »Gewiß, und ich könnte auch meine Studien fortsetzen.« »Er denkt nur an seine Studien«, warf Vesalius lächelnd ein. »Obwohl er ein Wissen hat, das sich andere Ärzte in ihrem ganzen Leben nicht aneignen können.« Sein Gesicht wurde ernst. »Dr. Caius hat jedenfalls recht, Antonio. Ich bin darüber schon hinaus. Ich bin ein Modearzt der Adeligen, aber Ihr habt das Leben noch vor Euch. Warum wollt Ihr nicht mit Signore Bellarmi darüber sprechen?« »Er hat mir schon viel Gutes getan und mir geholfen, als mein Leben 316
gefährdet war. Ich kann nichts anderes tun als bei ihm bleiben, solange er so krank ist.« »Ich achte Eure Einstellung, Antonio«, sagte Dr. Caius. »Ich kann noch sechs Monate mit der Besetzung des Lehrstuhls warten. In dieser Zeit kann viel geschehen. Bis dahin will ich Euch die Gelegenheit offenlassen.«
II
S
ignore Bellarmi saß, von Polstern gestützt, aufrecht in seinem Bett, als Antonio seine Abendvisite bei ihm machte. Die Lippen des Kaufherrn zeigten die bei der Plethora übliche bläuliche Farbe und sein Atem ging mühsam, wie es eben in derartigen Fällen nicht anders möglich war. Seit dem schweren Anfall an jenem Morgen, an dem Antonio das Handgemenge mit den Bettlern hatte, war sein Befinden immer schlechter geworden. Antonio nahm eine sorgfältige Untersuchung vor. Der Puls ging schwerfällig und die Fußgelenke waren geschwollen. Antonio ließ gewöhnlich zweimal die Woche zur Ader, wodurch sich seiner Meinung nach die Beschwerden der Plethora für einige Tage milderten. Er hatte seine Instrumente bereitgelegt, da betrat Lucia das Zimmer. »Ihr kommt gerade recht, um mir zu helfen«, sagte er lächelnd. »Wenn ich mich recht entsinne«, meinte Signore Bellarmi, »haben wir einander in genau solch einer Situation zum erstenmal gesehen.« »Aderlaß ist nicht nach meinem Geschmack«, sagte Lucia. »Es steckt mehr dahinter als wir für gewöhnlich annehmen.« »Ist der König tatsächlich wieder in die Niederlande gereist?« fragte Antonio, während er weitere Vorbereitungen traf. »Er soll bald reisen, sagt man. Und die Königin bekam von ihrer Mutter einen Brief, in welchem diese sie bittet, auf Seine Majestät ein317
zuwirken, gegen die Ketzer in den Niederlanden nicht allzu streng zu verfahren.« Antonio stieß die Lanzette durch Haut und Ader und hielt die Schüssel darunter, damit das Blut hineinfließen könne. Er wußte, daß Catharina von Medici, die Königin-Mutter von Frankreich, ihre Position gefestigt hatte, indem sie aus den Lagern der Hugenotten und Katholiken eine Armee aufgestellt und diese gegen Le Havre gesandt hatte, damit sie es von den Engländern befreie. Der englisch-französische Vertrag war erst vor einem Monat unterzeichnet worden; er hatte Frankreich von der englischen Besetzung in den Kanalhäfen befreit und ließ Catharina bei internationalen Angelegenheiten freie Hand. Aber wenn die Niederlande mit Spanien im Streit standen, bestand immer die Gefahr, daß Catharina hineingezogen werden konnte; sowohl von der einen wie auch von der anderen Seite. Und da sie nichts mehr wünschte, als jeden Konflikt zu vermeiden, oder sich auch nur zwischen Katholiken und Hugenotten entscheiden zu müssen, gereichte ihr alles, was den Hader in den Niederlanden beilegte, zum Vorteil. Aus diesem Grund und auch deshalb, weil manche einen persönlichen Nutzen daraus ziehen wollten, begann am spanischen Hof erneut das Ränkespiel. Und wo immer derartige Intrigen gesponnen wurden, war der böse Genius des Bischofs von Toledo und seines düsteren Helfers, des Inquisitors von Madrid zu fühlen. Antonio wußte, daß er jetzt vorsichtiger denn je vorgehen mußte, aber da Lucia eine Vertraute der Königin war, konnte er sich nur schwer dem Ganzen fernhalten. Antonio beendete den Aderlaß und räumte seine Instrumente zusammen. »Ich habe heute wieder darüber nachgedacht«, sagte Signore Bellarmi, »ob wir nicht doch versuchen sollten, nach Paris zu kommen.« »Aber bist du denn imstande, eine solche Reise zu unternehmen, Onkel?« fragte Lucia. »Ich bin so fähig, wie ich es immer sein werde, glaube ich. Aber ich möchte nicht in diese Intrigen hineingezogen werden, Lucia.« »Auch ich bin dessen müde«, gestand sie. »Aber die Königin braucht 318
jemanden, dem sie vertrauen kann.« Sie seufzte. »In Florenz lebten wir viel glücklicher.« Der Onkel nickte. »Hätte ich die Gabe, in die Zukunft zu sehen, wie viel besser stünde es da um uns alle. Wahrscheinlich wäre ich nie nach Spanien gegangen.« »Mich hat Spanien zumindest zu einem reichen Mann gemacht, dank Lucias Tüchtigkeit«, sagte Antonio lächelnd. »Auch meine Geschäfte sind hier wunderbar gediehen«, meinte der Kaufherr, »und dennoch glaube ich, es wäre das beste, nach Paris zu gehen.« Antonios Herz schlug rascher. War dies die Antwort auf seine Gebete? Aber wie sehr er auch wünschte, Madrid zu verlassen, so wußte er doch, daß die Reise sehr beschwerlich sein würde und er dabei nichts anderes im Sinne haben durfte, als die Sorge um seinen Patienten. »Wir könnten langsam reisen und immer rasten, wenn Ihr müde werdet.« »Was ist mit Euch?« fragte Bellarmi. »Ich bin glücklich, nach Paris zu reisen, wann immer es Euch zuträglich ist.« »Benissimo. Ich werde anordnen, daß meine Geschäfte innerhalb des nächsten Monats abgeschlossen werden. Sobald dies erledigt ist, wollen wir fahren.« Lucia und Antonio gingen hinunter zum Abendessen. Trotz der Aussicht, Spanien zu verlassen und nach Paris, der heitersten Hauptstadt Europas zu reisen, erhellte sich ihr bedrücktes Gesicht nicht. Sie begann still ihr Mahl und als sie schon fast fertig war, fragte sie plötzlich: »Er setzt sein eigenes Leben aufs Spiel, nicht wahr? Nur um mich sicher aus Spanien zu bringen.« »Ich glaube, das hat er im Sinn.« »Wie könnt Ihr dann Euer Einverständnis dazu geben?« »Glaubt Ihr, ein solcher Entschluß ist leicht gefaßt? Ich erwäge dieses Problem seit heute früh.« »Wieso seit heute früh?« Er erzählte ihr von Dr. Caius und dessen Angebot auf den Lehrstuhl 319
für Anatomie und Chirurgie in Cambridge. »Das ist es doch, was Ihr Euch wünscht, Tonio.« »Mehr als irgend etwas anderes.« »Mit Euren Kenntnissen und Fähigkeiten würdet Ihr aber in Madrid oder Paris mehr Geld verdienen.« »Es gibt andere Dinge als Reichtum«, erwiderte er ernst. »Tatsächlich bin ich überzeugt, daß Gold den geringsten aller Werte in der Welt hat.« Sie schwieg eine Weile, dann sah er sie beben, als ängstige sie sich über ihre eigenen Gedanken. »Ich kann es nicht zulassen, daß er dieses Opfer bringt, um mich aus Spanien zu führen«, sagte sie schließlich. »Ihr dürft nicht vergessen«, entgegnete Antonio freundlich, »daß er genau weiß, wie kurz die Zeit bemessen ist, die er noch zu leben hat.« »Warum helft Ihr ihm nicht?« brach es aus ihr. »Ihr seid doch Arzt.« »Es gibt eine Menge Dinge, die wir von den Krankheiten nicht wissen, Lucia. Deshalb würde ich ja so gerne in England arbeiten, wo ich mich frei dem Studium widmen kann.« »Es tut mir leid, Tonio.« Sie legte ihre Hand auf die seine. »Ich fühlte mich so einsam in den letzten Monaten, da der Onkel so krank war und Ihr – –« »Und ich habe Euch vernachlässigt, ich weiß. Aber ich bin so beschäftigt gewesen.« »Mit dem Behandeln der Damen des Hofes, nehme ich an.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich habe gehört, daß einige von ihnen sagen, Ihr wäret so aufmerksam.« »Niemals mehr, als zur Behandlung ihrer Krankheit nötig ist.« »Seid Ihr dessen sicher?« neckte sie. »Ich kenne zumindest zwei, die in Euch verliebt sind.« Antonio errötete. »Unsinn, sie verlieben sich in jeden Mann, der auftaucht.« »Seid Ihr Eurer göttlichen Geliebten noch immer so ergeben?« fragte sie sanft. »Jetzt mehr denn je«, gestand er. Es war seltsam, wie leicht sich mit Lucia über die Göttin sprechen ließ. Vielleicht deshalb, weil sie zur göttlichen Venus in so naher Beziehung stand. 320
»Wieso mehr denn je?« Er erzählte ihr von seinem Erlebnis im Verlies und seinem Traum. »Ihr habt mir niemals gesagt, daß ich Euch in einem Traum erschienen bin, Tonio.« »Vielleicht deshalb, weil Ihr anfangs eine so streitsüchtige kleine Dame wart«, scherzte er. »Und jetzt bin ich es nicht mehr?« »Zumindest nicht im Traum«, neckte er sie neuerlich. Aber als er sah, daß sie errötete, drückte er ihre Hand und fügte hinzu: »Ihr wißt, daß ich Euch sehr gerne habe, Lucia. Ihr seid mir wie eine Schwester. Ich kann zu Euch über Dinge sprechen, die ich anderen nicht sagen würde, auch nicht Gian.« »Zum Beispiel?« fragte sie und wich seinem Blick aus. »Über das Gemälde, meine Zukunftshoffnung und viele andere Dinge. Und ich habe nicht vergessen, daß Ihr alles aufs Spiel gesetzt habt, um mich in der Casa Santa aufzusuchen.« »Es war selbstverständlich, daß ich kam. Ihr habt mich gebraucht.« »Gott gebe, daß Ihr niemals meiner bedürft, aber wenn dem so wäre, würde ich auch vom letzten Ende der Welt herbeikommen.« »Tonio«, sagte sie und ihre Lippen zitterten in einem Lächeln. »Das ist das Schönste, das mir jemals irgend jemand gesagt hat.« Sie stand auf, beugte sich vor, küßte ihn auf die Lippen und verschwand. Antonio blieb stirnrunzelnd beim Tisch. Lucia hatte ihn zuvor schon geküßt, aber niemals so wie jetzt. Das Gefühl war angenehm und irgendwie vertraut, wie – die Erinnerung ließ sein Herz erbeben – die Küsse Clarissa Strozzis in Gians Atelier nach der mißglückten Zeremonie der Schwarzen Messe.
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III
S
eñor Savarino erwartet Euch, Doktor.« Gians Diener nahm Antonios Mantel. »Bitte bemüht Euch in das Studio.« Antonio wunderte sich, daß Gian ihn hatte rufen lassen. Der Künstler war fast nie krank. An der Tür des Studios blieb er stehen. Gian sprach gerade mit einer Frau, deren Rücken ihm zugewandt war, aber irgend etwas glaubte er an diesen Schultern, diesem Nacken und Kopf gut zu kennen. Dann drehte sie sich um und lächelte. »Clarissa!« rief er. »Ist das ein Traum?« »Mehr als das; es ist Wirklichkeit, Tonio«, sagte sie. Er hielt sie an den Händen und blickte in die vertrauten, dunklen Augen, die in ihren Tiefen die Weisheit des Alters zu spiegeln schienen. Er konnte es kaum fassen, daß es Clarissa war und doch stand sie lebendig vor ihm. »Wir wollten dich überraschen, Tonio«, sagte Gian und dem Diener rief er zu: »Bring Wein, das ist ein Grund, um zu feiern.« »Aber wie bist du nach Madrid gekommen, Clarissa?« fragte Antonio. »Lodovici und die Truppe besuchen alle großen Städte Europas. Wir sind in Barcelona und Toledo gewesen und kamen vor einigen Tagen nach Madrid.« »Wußtest du nicht, daß wir hier sind?« »Nein. Wir haben viele Orte besucht, Mailand, Florenz, Genua, Marseille und jetzt Spanien, aber ich habe dir einmal gesagt, daß wir uns wieder treffen werden, Tonio.« »Dann wollen wir dem Geschick dankbar sein«, sagte er, aber er fragte sich, was Lodovici Agnolo veranlaßt haben mochte, hier zu erscheinen. Sie hatten in Florenz haltgemacht, erzählte Clarissa, und der Magier konnte dort erfahren haben, daß Antonio und Gian nach Ma322
drid gefahren waren. Es bestand natürlich immer noch die Möglichkeit, daß Battista Porzia ihm das erzählt hatte. Noch sah er den Grund nicht, warum ihm Lodovici gefolgt sein sollte. Seine Beziehungen zu dem Magier waren immer freundlich gewesen. »Noch einen Monat und du hättest mich verfehlt, Clarissa«, sagte Antonio. »Ich werde nach Paris reisen.« »Dio mio!« rief Gian. »Was soll das?« Antonio berichtete von seiner Unterhaltung mit Dr. Caius und von Signore Girolamos Absicht, abzureisen. »Ich sehe ein, daß es für dich in Paris sicherer wäre«, stimmte Gian zu. »Aber hier kannst du reich werden.« »Honra y provecho no caben en un lecho« (Ehre und Reichtum sind selten zu vereinen), zitierte Antonio ein beliebtes Sprichwort der Spanier. »Ich mache mir meinen Spruch selbst zurecht«, grinste Gian. »Besser eine heile Haut, als ein gefüllter Geldbeutel. Außerdem willst du in England lehren, und in dieser Beziehung hast du hier in Madrid keine Aussichten.« »Was gibt es hier für Schwierigkeiten?« erkundigte sich Clarissa. »Die Inquisition.« »Wissen sie denn von deinen Erlebnissen in Italien?« »Soviel mir bekannt ist, nicht.« Sein Gesicht wurde ernst. »Will mich Lodovici verraten?« »O nein«, protestierte sie. »Er sandte dir doch in Venedig Nachricht, daß ein Befehl vorlag, dich zu verhaften.« Konnte sich Clarissa möglicherweise in dem Magier täuschen, fragte sich Antonio. Gian war sicher gewesen, ihn mit Battista Porzia in Venedig gesehen zu haben und er glaubte nicht, daß Lodovici etwas ohne Beweggrund unternahm, selbst wenn es noch so obskur sein mochte. »Erzähl uns von Venedig, Clarissa.« Antonio wechselte das Thema. »Wir verließen Venedig vor vielen Monaten«, sagte sie. Dann lächelte sie. »Vielleicht wißt Ihr, daß der Prior des Dominikaner-Klosters in Padua von Dieben angegriffen wurde, welche ein wertvolles Gemälde raubten.« 323
»Wie bedauernswert«, sagte Gian und grinste. »Kennt man die Diebe?« »Das weiß ich nicht, aber der Prior wurde schwer verletzt und eine Zeitlang zweifelte man an seinem Aufkommen.« »Du hättest ihn doch töten sollen, Tonio«, sagte Gian. Antonio schüttelte den Kopf. »Ich will kein Menschenleben auf dem Gewissen haben. Hast du noch mehr über Fra Felipe gehört, Clarissa?« »Nur daß er wieder genesen ist, aber er kann dich doch hier nicht finden, Tonio.« Antonio zuckte die Achseln. »Er war einmal bei der Inquisition, glaube ich. Ihnen ist alles möglich. Aber in einigen Wochen bin ich ja in Frankreich in Sicherheit.« »Bin ich«, wiederholte Gian voll Groll. »Du solltest sagen, wir.« »Aber du fühlst dich doch sehr wohl hier.« Gian zuckte die Achseln. »Ich bringe das Geld meines Vaters an und das kann ich in Paris ebensogut. Außerdem bin ich müde, Frauen mit dunkler Hautfarbe zu malen. Das ist ein Grund, warum ich so froh war, Clarissa zu sehen.« »Wie habt Ihr einander getroffen?« fragte Antonio. Clarissa erklärte: »Wenn wir wo einige Wochen bleiben, suche ich gewöhnlich die Künstler der Stadt auf, um zu sehen, ob sie ein Modell brauchen. Der erste, den ich in Madrid erfragte, war Gian.« »Und wie glücklich ich war, sie zu sehen. Ich habe es satt, angezogene Frauen zu malen.« »Soviel ich weiß«, versetzte Antonio trocken, »sind unsere spanischen Schönheiten in diesem Punkt nicht gerade heikel.« »Aber Tonio!« rief Clarissa aus. »Vor einem Jahr hättest du so etwas nicht gesagt.« »In diesem Jahr ist sehr viel geschehen, Madonna«, sagte er ernst. »Vielleicht hätte ich doch in Padua bleiben und Mönch werden sollen.« »Denk doch daran, was die Welt dann verloren hätte.« »Ich habe für die Welt nicht viel getan, zumindest nicht während des letzten Jahres.« »Aber in Paris und England wirst du Gelegenheit haben, alles nach324
zuholen«, entgegnete sie. »Dies hier ist nur die Pause zwischen den Hauptakten des Spieles, Tonio.« Gian sagte: »Lodovici gibt morgen abend im Palast eine magische Vorführung, gehst du hin?« »Doch nicht die Schwarze – –« Antonio unterbrach sich. Man tat gut daran, solche Dinge in Madrid nicht auszusprechen. »O nein«, entgegnete Clarissa. »Es handelt sich in der Hauptsache um eine Vorführung von Zauberkunststücken. Wir haben sie schon an vielen Orten gezeigt.« »Dann werde ich dort sein«, versprach Antonio. »Als Junge habe ich mir immer gewünscht, Zauberer zu werden.« Die Anziehungskraft des berühmten Astrologen, Zauberers und Meisters der orientalischen Magie, Lodovici Agnolo, war beträchtlich. Das merkte Antonio, als er den Palast betrat. Viele vornehm gekleidete Herren schritten mit ihren Damen auf das große Gesellschaftszimmer zu, in dem die Vorführung stattfinden sollte. Antonio gesellte sich zu ihnen, ab und zu hielt er inne, um sich vor einer Dame zu verneigen oder die Grüße eines Herrn zu erwidern. Er war sehr bekannt bei den Großen des Hofes, denn viele von ihnen waren seine Patienten und alle waren sie darauf bedacht, einem Mann, der von der Königin so bevorzugt wurde, ihre Reverenz zu erweisen. Das Zimmer war bereits für die Vorstellung abgedunkelt, aber er sah Lucia ganz vorne sitzen und begab sich zu ihr. Sie lachte und schwatzte mit dem jungen Marquis von Portalerta, einem jungen, hübschen Mann, dessen mahagonifarbene Haut verriet, daß er erst vor kurzem aus der Neuen Welt gekommen war. »Tonio«, begrüßte ihn Lucia lächelnd. »Macht mir nicht weis, daß Euch das von Eurem Mörser und Stößel weggelockt hat.« Er führte ihre Hand an die Lippen. »Gibt es eine größere Verlockung, als Eure Schönheit, Madonna?« sagte er und begrüßte dann den Marquis. »Ich suche eine Gelegenheit, mit Euch zu sprechen, Doktor«, sagte der junge Edelmann. »Ich glaube, Ihr werdet Euch für die verschiedenen medizinischen Praktiken der Indianer interessieren.« 325
Antonios Augen leuchteten auf. »Nennt mir eine Gelegenheit. Ich habe schon immer gehofft, jemanden zu finden, der mit ihren Heilmitteln vertraut ist.« »Ich kann Euch versprechen, daß es bald sein wird.« Der Marquis entschuldigte sich und ging andere Freunde begrüßen. »Darf ich neben Euch Platz nehmen, Lucia?« fragte Antonio. »Ich schäme mich, es zu sagen«, flüsterte sie, »aber ich belegte diesen Stuhl in der Hoffnung, Ihr würdet kommen.« An einem Ende des Raumes war eine etwas erhöhte, mit einer in Falten gelegten Draperie abgeschlossene Bühne errichtet worden. Während Antonio den Sitz neben Lucia einnahm, teilten sich die Vorhänge ein wenig und öffneten dem Blick einen kleinen Ausschnitt der leeren Bühne. Es war dies das Zeichen zum Beginn und sofort herrschte Stille im Raum. »Habt Ihr so etwas schon einmal gesehen?« fragte Lucia. »Nicht genau das. Aber der Astrologe Lodovici Agnolo lehrte mich die Anwendung des Magnetismus.« Sie blickte überrascht auf. »Warum habt Ihr mir das nie erzählt?« »Ich erfuhr erst gestern, daß er mit seiner Truppe hier ist.« Ein lauter Knall ertönte, als wäre eine Feuerrakete explodiert, und eine Rauchwolke schoß in die Höhe, aus der ein großer Mann im orientalischen Kostüm hervorstieg. Lodovicis Erscheinung war sehr eindrucksvoll, sowohl jetzt in seinem eigenartigen pompösen, mit astrologischen Zeichen bestickten Mantel und dem Spitzhut, den die Astrologen und Magier trugen, wie auch damals in dem Meßgewand des Priesters bei der schrecklichen Travestie der Schwarzen Messe. Wie er so dort stand, das dunkle Gesicht mit dem falkenähnlichen Profil durch die weiße Robe besonders hervorgehoben, den zwingenden Blick auf das Publikum gerichtet, erhob sich in der Menge ein Gemurmel des Interesses und Erstaunens. »Eure Majestäten«, er verbeugte sich tief gegen den kleinen Thron, auf dem der König und die Königin saßen, »Granden von Spanien, Señores und Señoras.« Seine tiefe Stimme drang bis in den letzten Winkel des Raumes. »Es ist mir eine Ehre, zu eurem Wissen, eurer Irrefüh326
rung und Unterhaltung einige Kunststücke der Zauberei, manchesmal auch natürliche Magie genannt, mit meinen Assistenten vorzuführen. So seltsam und unglaubwürdig diese Kunststücke auch scheinen mögen, sind sie doch auf natürliche Weise vollkommen erklärlich.« Er lächelte wissend. »Wenn ihr ein rasches Auge besitzt, zu sehen, was nicht bestimmt ist, von Euch gesehen zu werden, dann werdet ihr sofort erkennen, mit welchen Mitteln ich die Kunststücke bewerkstellige.« Die Zuschauer lachten. Die meisten schenkten ihm keinen Glauben und die andern wollten gar nicht sehen, was dahinter stecke, sondern sich durch die Tricks irreführen lassen. »Genug des Redens!« rief Lodovici. »Laßt uns beginnen!« Er langte hinter den Vorhang und brachte einen kleinen, leeren, hölzernen Tisch hervor, den er mit einem schwarzen Tuch verdeckte. »Aufgepaßt!« Er hob das Tuch und hielt es einige Handbreit über den Tisch, dann schleuderte er es weg. »Die Becher!« schrie er triumphierend. Lucia stockte der Atem und auch Antonio lehnte sich für einen Moment lang ungläubig nach vorne. Auf dem kleinen Tisch standen nun drei große Holzzylinder, ähnlich den Bechern, die man zusammen mit Bällen früher für solche Kunststücke verwendete. »Und nicht allein die Becher haben wir«, fuhr Lodovici fort, »sondern auch die Bälle.« Er hob jeden einzelnen der hölzernen Zylinder und ließ die glänzenden Bälle darunter sehen. Das Publikum spendete begeisterten Beifall. »Es gibt ein altes spanisches Sprichwort«, sagte Lodovici jetzt. »Quien mucho abarco poco aprieta. O wie wahr, wie wahr!« Rasch hob er jeden der drei Zylinder nochmals auf, aber die Kugeln waren verschwunden. »›Alle gepackt, alle verlorene wie es so schön heißt.« »Wie hat er das gemacht?« flüsterte Lucia. Antonio erinnerte sich, was er in Lodovicis Bibliothek über die Magie gelesen hatte. »Die Bälle sind in großen Taschen seines Gewandes verborgen«, erklärte er. »Früher trugen die Zauberer zu diesem Zweck gewöhnlich eine Schürze mit großen Taschen und deshalb werden sie von den Deutschen auch Taschenspieler genannt.« 327
Lodovici führte nun einen orientalischen Seiltrick vor, ein von den Zauberern besonders gerne gezeigtes Kunststück, bei dem ein Seil auseinandergeschnitten wird und dann die beiden Enden wieder zusammenkommen, als wären sie nie getrennt gewesen. Dann ging er zu schwierigeren Dingen über. Er ließ kleine Tiere erscheinen und verschwinden, zog verschiedene Sorten von Flüssigkeiten von ein und demselben Faß ab, schnitt scheinbar den Kopf eines seiner Helfer ab und setzte ihn ihm vor den verdutzten Augen der Menge wieder auf. Wo war Clarissa, fragte sich Antonio? Bis jetzt hatte sie an der Vorstellung nicht teilgenommen. Sollte sie bloß als Lodovicis Geliebte mitreisen? In Gians Atelier hatte er den Eindruck gehabt, als würde sie sich an den Vorführungen der Truppe beteiligen. »Señores y Señoras.« Lodovicis Stimme nahm einen gewichtigen Ton an. »Meine nächste Nummer ist so erstaunlich, daß ich Euch bitte, besonders gut aufzupassen. Nirgends in der Welt wird dieses Kunststück heute vorgeführt und nicht mehr als ein Dutzend aller lebenden Menschen kennt das Geheimnis der seltsamen Kraft, die ich anwende, um eine lebende Statue zu schaffen.« Interessiertes Gemurmel folgte seinen Worten. Lodovici trat indessen hinter den schwarzen Vorhang, vor dem er bis jetzt gearbeitet hatte, und der sich nun ebenfalls teilte, so einen dreieckigen Raum bildend, in dem eine wunderschöne Frau stand. »Madonna Clarissa!« rief Lodovici. »Die fleischgewordene Schönheit.« Anerkennendes Geflüster wurde besonders von den Herren des Publikums laut. Ein griechischer Überwurf schmiegte sich in weichen Falten an die schönen Linien von Clarissas Körper. Eine Hand hatte sie erhoben, so daß der geschlitzte Ärmel zurückgefallen war und einen ebenmäßigen Arm und die Schulter freigab. Sie ergriff Lodovicis ausgestreckte Hand und schritt graziös an die Rampe vor. »Tonio«, flüsterte Lucia. »Ich habe dieses Mädchen schon irgendwo gesehen.« »Pst! Hört zu, was er sagt!« »Wie ihr seht«, verkündete der Magier, »Madonna Clarissa atmet und lebt.« 328
»Ich habe sie schon einmal gesehen«, wiederholte Lucia und runzelte die Stirne. »Gebt nun gut acht«, forderte Lodovici auf. »Mit Hilfe der seltsamsten aller Kräfte werde ich sie hier vor Euren Augen zu Marmor verwandeln.« Er strich mit den Händen über Clarissas Gesicht und raunte etwas, das vom Publikum nicht verstanden werden konnte. Als würde sie tatsächlich zu Marmor, erstarrten Clarissas Züge. Nicht das geringste Zeichen ließ erkennen, daß sie lebte. Langsam bewegte sich seine Hand über ihren Körper und schien so jeden ihrer Muskeln zu versteinern. »Aquí está!« rief Lodovici. »Eine griechische Statue.« Der Beifall war sehr gering und Lodovici blickte mißmutig umher. Antonio wußte sofort, warum das Publikum von dem Kunststück, daß eine Frau offenbar in Stein verwandelt wurde, nicht überrascht war. Lodovici hatte eingangs erwähnt, daß er Magnetismus anwenden würde und das war für Madrid keine Neuheit seit seiner eigenen Vorführung mit Frey Ignacio Molina, die so dramatisch gewesen, wie sie kein Zauberer je erträumen würde. Lodovici, der vollendete Schauspieler, gewann rasch wieder Haltung. »Beachtet, sie ist wirklich Marmor.« Assistenten brachten zwei Sessel nach vorne und knieten auf die Sitze. Agnolo erhob nun Clarissas steifen Körper und legte ihn, nur mit dem Genick und den Kniekehlen aufgestützt, über die beiden Sessellehnen. Dann stieg er selbst auf einen anderen Sessel und von hier auf den steifen, unbeweglichen Körper des Mädchens. Jedermann war es klar, daß kein menschlicher Körper normalerweise solch einen Zustand der Starrheit beibehalten konnte und Lodovici hatte noch einmal die ungeteilte Aufmerksamkeit seines Publikums errungen. »Tonio«, flüsterte Lucia, während die Menge applaudierte. »Ich bin gewiß, dieses Mädchen in Venedig gesehen zu haben. Aber wo war es?« Ehe, Antonio antworten konnte, erklang Lodovicis Stimme. »Menschen, die zu Stein verwandelt werden, bleiben dennoch am Leben. Das Blut fließt weiter durch ihre Adern und ihr Herz. Seht!« Er zog ei329
nen langen Dolch aus seinem Gewand und hielt ihn empor. »Ich werde den Beweis dafür erbringen.« Schauder ergriff das Publikum und alle atmeten sie vor Schrecken tief und laut, während er den Dolch nach abwärts gegen das ungeschützte Mädchen stieß. Eine Frau schrie auf. Lodovicis Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse und er trieb die Klinge augenscheinlich tief in Clarissas Brust. Blut spritzte empor und in der Menge erhob sich ein Höllenlärm, während die Vorhänge herabfielen und die schauerliche Szene verbargen. Lucia war vor Schreck blaß geworden. Antonio sagte schnell: »Es ist nur ein Trick. Gebt acht.« Noch ehe sich die Vorhänge ganz geschlossen hatten, erschien Lodovici wieder. »Keine Angst, ich habe sie nicht getötet«, sagte er, da schritt nun auch Clarissa lächelnd hervor und stellte sich neben ihn. Sie war ganz offensichtlich unverletzt. Applaus donnerte durch den Raum und sie mußten sich wieder und wieder verneigen. »Dank euch, Señores und Señoras. Die Vorstellung ist beendet.« »Tonio«, sagte Lucia scharf. »Ich weiß jetzt, woher ich sie kenne. Sie war mit Euch in der Trattoria an der Lagune in Venedig, an dem Tag, da ich und der Onkel Venedig verließen.« »Ja, das stimmt.« »Warum habt Ihr mir dann nicht erzählt, daß Ihr sie kennt?« Er vergewisserte sich, ob sie niemand belausche. »Ich wußte bis gestern nicht, daß sie in Madrid ist. Sie hat Gian Modell gestanden.« »Ah!« Lucias Augen weiteten sich. »Sie ist ein Modell?« »Ja.« »Habt Ihr sie jemals nackt gemalt?« Antonio errötete; aus gutem Grund, aber es ärgerte ihn, daß er sich in diesem Punkt nicht in der Gewalt haben konnte. Schließlich sagte er sich, brauchte er sich ja nicht zu schämen, Kunststudien betrieben zu haben, und Aktmalerei gehörte zu den Vorbereitungen eines Künstlers. Nur war er nicht sicher, ob Lucia das verstehen würde. »Nun, habt Ihr?« drang sie in ihn. »Schön, ja«, gab er zu. »Ich habe sie nackt gemalt.« 330
Lucias Augen weiteten sich erneut, aber es schien fast, als läge in ihrem Blick so etwas wie Achtung. »Ist sie sehr schön?« Antonio lächelte. »Ihr habt sie gesehen. Wie findet Ihr sie?« »Sie ist schön. Ich möchte mit ihr bekannt werden.« »Aber sie ist eine Schauspielerin«, gab er zu bedenken. »Die Königin wäre damit nicht einverstanden.« Lucia erhob sich. »Signore Agnolo ist zu einem Empfang eingeladen worden. Ich sehe also keinen Grund, warum ich Euer Modell nicht kennenlernen sollte. Es sei denn«, fügte sie lauernd hinzu, »Ihr wollt es nicht.« »Warum nicht?« stammelte er. »Ich habe nichts dagegen.« »Dann können wir ja gehen.« Hinter dem Vorhang war die Truppe gerade dabei, ihre Geräte einzupacken. Antonio erkannte das Mädchen Anya, an dem er zum erstenmal die Kraft des Magnetismus geübt hatte. Der Magier war nicht zu sehen, aber während sie so dastanden und die Geschäftigkeit um sich herum beobachteten, kam Clarissa aus einem Ankleideraum, der sich neben der Bühne befand. Sie war umgezogen und als sie Lucia und Antonio sah, schritt sie ihnen lächelnd entgegen. »Madonna Lucia Bellarmi, Madonna Clarissa Strozzi«, sagte Antonio ein wenig verlegen. Clarissa warf ihm einen Blick des Mißfallens zu, nahm die Vorstellung aber wohlwollend auf. »Ich wollte Euch kennenlernen, Madonna Strozzi, um Euch zu sagen, daß ich Euch für sehr lieblich halte.« »Und Ihr, Madonna, seid lieblicher als ich dachte.« »Als Ihr dachtet?« »Nun ja. Ich habe Dr. Servetus und Signore Gian von Euch sprechen hören.« Es war ein versteckter Kampf zweier geschickter Rivalinnen, die beide die Fähigkeiten der anderen achteten, aber nur darauf warteten, daß sich die andere eine Blöße gebe, um ihr einen Schlag versetzen zu können. Antonio war es dabei nicht wohl zumute, aber er konnte nichts ändern. »Ich muß Gian bitten, mir einige Bilder von Euch zu zeigen«, fuhr Lucia mit trügerischer Süße fort. 331
In Clarissas Augen flammte es auf. »Ich fürchte, Ihr werdet sie nicht gutheißen, Madonna. Bedenkt, es sind alles Akte.« »Ich stelle es mir schön vor, ein so gefragtes Modell zu sein.« Sie wandte sich Antonio zu. »Ihr habt doch solche Bilder sehr gerne, nicht wahr, Antonio? … Er hat sogar einem solchen Abbild Treue geschworen«, erklärte sie Clarissa. »Ich weiß. Der Botticelli-Venus, und keine ist lieblicher.« Farbe stieg in Lucias Wangen. Antonio sah, daß sie sehr erzürnt war, aber er wußte nicht warum. »Ich glaube, Madonna Clarissa wird müde sein, Lucia«, sagte er. »Natürlich«, meinte Lucia. »Modellstehen ist eine harte Arbeit, sagt man. Ich bin überzeugt, Ihr werdet hier in Madrid sehr beliebt werden. Dürfen wir Euch gute Nacht wünschen?« »Gute Nacht, Madonna Bellarmi«, sagte Clarissa ruhig. »Und Euch auch gute Nacht, Doktor.« »Ich hasse sie«, stieß Lucia zwischen den Zähnen hervor, sobald sie außer Hörweite waren. »Die Hure.« »Aber Lucia«, wandte er ein. »Clarissa ist keine …« »Und Ihr, Ihr Wurm. Wer gab Euch das Recht, mit ihr über die Botticelli-Venus zu sprechen. Das Gemälde gehört mir, vergeßt das nicht.« »Aber selbstverständlich gehört es Euch. Ich habe nur – –« »Ist Euch nichts heilig, Ihr dummer Tropf?« Ihre Stimme brach, sie wandte sich plötzlich ab und lief aus dem Zimmer. Mit verstörtem Blick, unfähig zu verstehen, was eigentlich geschehen war, sah er sie gehen. »Hat dich die liebliche Madonna schon verlassen, Tonio?« Er hatte Clarissa nicht kommen gehört. »Sie hat mich angefahren und ist davongerannt«, gestand Antonio reuevoll. »Und ich habe nicht die leiseste Ahnung, weshalb.« Clarissa lächelte. »Weil sie in dich verliebt ist.« »In mich verliebt?« Er begann zu lachen. »Du scherzest.« »Sie ist ein hübsches Mädchen und hat viel Geist. Du und sie, Ihr würdet ein gutes Paar abgeben.« »Ich denke nicht ans Heiraten, Clarissa. Ich habe zu viel zu tun.« 332
»Mit der richtigen Frau an seiner Seite beginnt ein Mann seine Fähigkeiten erst richtig zu erkennen«, sagte Clarissa. »Oder lege ich zu viel Nachdruck auf die Rolle, die eine Frau im Leben des Mannes spielt?« »Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, Clarissa. Du weißt, ich werde dir ewig dankbar sein – –« »Ich danke dir, mein Lieber«, entgegnete sie ein wenig heiser. »Ich werde diesen Gedanken immer bewahren. Gute Nacht, Tonio.« »Aber du kommst doch zum Empfang?« fragte er. »Nein, ich würde die Dinge nur komplizierter machen. Finde deine Lucia, Tonio, und versöhne dich mit ihr.« »Versöhnen, weshalb?« Sie lächelte. »Mach dir niemals Gedanken, warum du dich mit einer Frau versöhnen sollst. Versöhne dich einfach, sie wird es verstehen.« Sie verschwand hinter den Vorhängen. Als Antonio das Zimmer durchschritt, um zu den Tischen mit den Erfrischungen zu gehen, hörte er seinen Namen rufen. Der Marquis von Portalerta, der mit Lodovici Agnolo sprach, winkte ihm zu. Antonio schloß sich den beiden Männern an. »Señor Agnolo hat mir gerade erzählt, daß er Euch von Venedig her kennt, Doktor«, sagte der Marquis. »Es ist mir eine Freude, Euch wieder zu sehen«, sagte Agnolo. »Der Marquis berichtete mir von Eurem Erfolg hier mit dem Magnetismus.« »Es muß sehr aufregend gewesen sein«, warf der Marquis ein. »Schade, daß ich nicht hier gewesen bin.« »Jetzt verstehe ich, daß der Magnetismus für Madrid nichts Neues ist«, meinte Lodovici freundlich. »Da konnte natürlich meine Vorführung nicht die Wirkung haben, die ich, wie ich bekenne, erwartete.« »Ich bin bloß ein Lehrling, Ihr seid der Meister, Señor Agnolo«, sagte Antonio. »Jemand, der einem Frey Ignacio Molina den Rang abläuft, ist mehr als ein Lehrling«, entgegnete der Edelmann. »Bei dieser Gelegenheit, Doktor, ich gebe morgen abend für Señor Agnolo und seine Truppe ein kleines Souper. Würdet Ihr mit dabei sein?« 333
Antonio wollte nicht unhöflich sein, aber er hatte wenig Lust, dem Souper beizuwohnen. Bedeutete dies doch einen Abend in der Nähe Lodovicis, der so stark dazu neigte, Unheil zu stiften. Dann erinnerte er sich einer Verpflichtung. »Es tut mir außerordentlich leid, aber Dr. Vesalius und ich haben morgen abend einen Vortrag über Anatomie vor der Ärzteschaft.« »Lo siento.« Der Marquis zwinkerte und hob bedeutungsvoll die Augenbrauen. »Señor Agnolo hat versprochen, einige Kunststücke zu zeigen, die er gewöhnlich nicht öffentlich vorführt.« Er erspähte einen seiner Freunde und winkte ihm zu. »Die Herren entschuldigen mich wohl. Bis morgen abend, Señor Agnolo.« Lodovici sagte nun freundlich: »Ich habe auf eine Gelegenheit gewartet, um mit Euch zu sprechen, seit Clarissa mir erzählte, daß Ihr in Madrid seid.« Niemand war in der Nähe, aber Agnolo wußte, daß es viele Lauscher gab, die nur darauf warteten, jeden Brocken, den sie über ihn aufschnappen konnten, Frey Ignacio zuzutragen. »Wollen wir dort hinübergehen«, schlug er vor und zeigte auf einen kleinen Alkoven. »Dort sind wir ungestört.« Agnolo lächelte. »Ganz Madrid spricht von Eurer Auseinandersetzung mit Frey Ignacio. Nachdem Ihr nun mit der Inquisition einige Erfahrung habt, kann ich Eure Vorsicht verstehen.« Im Alkoven ging er direkt zum Thema über. »Da die Dinge jetzt so liegen, daß keiner von uns beiden es wünschen würde, wenn sie öffentlich bekannt würden, Doktor, wollen wir nicht einen Pakt des Stillschweigens schließen, soweit es unsere früheren Angelegenheiten betrifft?« Antonio haßte den Gedanken, mit dem Magier einen Handel einzugehen, aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als anzunehmen. »Ihr werdet Euch vielleicht wundern, daß ich bei Euren Schwierigkeiten in Venedig eine Rolle gespielt habe«, unterbrach des Magiers Stimme seine Gedanken. »Ich kann Euch versichern, Doktor, daß Euer Verdacht ungerechtfertigt ist, obwohl ich zwar einige Gründe haben könnte, über Euch ungehalten zu sein«, fügte er mit hämischem Nachdruck hinzu. »Daran habe ich nicht gedacht«, stammelte Antonio. »Das kann ich 334
Euch versichern.« Aber in Agnolos letztem Satz hatte eine Drohung gelegen, dessen war er gewiß. »Dann seid Ihr dafür, daß wir beide schweigen wollen?« »Ja. Ich bin einverstanden.« »Bueno. Nun müßt Ihr mir etwas über Eure Erfahrungen mit dem Magnetismus erzählen.« Antonio berichtete ihm und Lodovici war besonders an der Heilung Doña Catharina Sagredos interessiert. Und obwohl Antonio keine Einzelheiten erzählen wollte, lockte sie ihm der Magier doch mit geschickten Fragen heraus. »Ein außerordentlich interessanter Fall«, sagte Lodovici. »Ich werde dieses Phänomen noch sorgfältiger untersuchen. Aber es wird spät und ich ermüde Euch.« Er verbeugte sich höflich und ging durch das Zimmer auf die Menge zu. Antonio zog seinen Mantel an, da kam Gian auf ihn zu. »Warte, Tonio«, sagte er. »ich will mit dir nach Hause gehen.« »Was hast du mit Lodovici gesprochen?« fragte Gian, während sie den Palast verließen. Antonio erzählte ihm von ihrer Abmachung. »Traust du ihm nicht, oder doch?« fragte Gian. »Ich weiß nicht«, gestand Antonio. »Aber es würde uns beiden zum Vorteil gereichen, nicht darüber zu sprechen.« Gian schüttelte den Kopf. »Es wäre so, als wenn der Teufel dich mit einem solchen Versprechen täuschte, während er plant, dich zu seinem eigenen Vorteil an die Inquisition zu verraten.« »Aber er könnte nichts gegen mich vorbringen, ohne seine eigene Schuld einzugestehen.« »Verlaß dich darauf, daß er einen Weg findet«, sagte Gian. »Gehst du morgen abend zu dem Souper des Marquis von Portalerta?« »Nein. Vesalius und ich haben einen Vortrag bei der Ärzteschaft.« »Ich glaube, ich werde gehen«, sagte Gian. »Die Dinge interessieren mich und ich möchte gerne mehr darüber wissen, was in diesen Tagen hinter den Kulissen vor sich geht. Und außerdem«, fügte er hinzu, »muß jemand diesen geschniegelten Lodovici im Auge behalten.« 335
IV
A
ntonio rieb gerade einen Schlaftrunk für seinen Patienten in einem kleinen Mörser, als Lucia sein Arbeitszimmer betrat. Sie war nach der Mode gekleidet, die Elisabeth von Valois eingeführt hatte und eine willkommene Abwechslung in der traditionellen dunklen spanischen Kleidung bot. Ihr Kleid war ganz in Weiß und Gold gehalten. Die makellosen Krausen waren sehr eng. Die Ärmel waren mit Reihen winziger Perlen bestickt und formten sich zu gewaltigen, gezogenen Keulenärmeln, wie sie von den Frauen Madrids jetzt getragen wurden. Auf dem goldenen Haar trug Lucia ein durchsichtiges, mit roten Punkten verziertes Käppchen und das Gesicht hatte sie, abgesehen vom Rouge auf Wangen und Lippen, nach französischer Mode in tödlichem Weiß gepudert. Auf einer Seite war die Fülle des Rockes zusammengerafft und ließ die zarten Rüschen des Unterkleides sehen. Antonio legte den Stößel beiseite und blickte sie bewundernd an. »Wie schön Ihr seid, Lucia!« rief er aus. »Ihr seid nicht der einzige, der das findet«, sagte sie spitz, aber er wußte, daß sie sich darüber freute. »Dessen bin ich gewiß«, stimmte er zu. »Ist das ein neues Kleid?« »Eben von Paris eingetroffen«, erklärte sie stolz und drehte sich, daß der Rock wie die Blätter einer riesigen, prächtigen Blüte um sie wirbelte. »Die Königin-Mutter von Frankreich schickte es mir.« Antonio nahm seine Arbeit wieder auf. Sie schien die Auseinandersetzung von gestern abend vergessen zu haben, wofür er ihr dankbar war. »Gibt es heute wieder einen Empfang?« fragte er. Bevor der König zu seiner neuen Expedition in die Niederlande aufbrach, wurden viele Veranstaltungen abgehalten. »Ein Souper«, sagte sie. »Im Hause des Marquis von Portalerta. Man 336
munkelt, daß Euer Freund, der Astrologe, einige sehr kühne magische Kunststücke zeigen werde.« Antonio runzelte die Stirne. War es möglich, daß Lodovici die Frechheit besaß und die Schwarze Messe hier vorführte? Er mußte doch wissen, daß die Inquisition hier anders vorging als in dem freudehungrigen Venedig. Aber vielleicht wußte er es nicht und der Marquis von Portalerta, der eben von den Indianern kam, konnte ganz gut in solchen Dingen anderer Ansicht sein. Man erzählte, daß bei den Eingeborenen in der Neuen Welt heidnische Zeremonien und Orgien üblich seien. »Wer bringt Euch hin?« fragte er. »Der Marquis schickt seinen Wagen. Außerdem ist es sehr nahe.« Antonio ließ den Stößel in den Mörser fallen. »Ich möchte nicht, daß Ihr hingeht, Lucia«, bat er. »Nicht hingehen?« Sie betrachtete ihn erstaunt. »Und warum nicht, wenn ich fragen darf?« Er rang nach Worten. »Es ist wegen des Astrologen. Ich weiß nicht recht, ob Ihr diese Kunststücke sehen sollt.« »Habt Ihr sie gesehen?« »Ja, in Venedig.« »Warum soll ich sie dann nicht sehen? Schließlich wird Eure Clarissa dort sein«, fügte sie spöttisch hinzu. »Eine solch feine Dame würde nicht zugegen sein, wenn daran irgend etwas Schlechtes wäre.« Antonio mußte sich geschlagen geben. Er konnte das Gespräch kaum weiterführen, ohne nicht eingestehen zu müssen, daß er bei der Schwarzen Messe anwesend gewesen, und das wollte er nicht zugeben. »Versprecht mir das eine«, drang er in sie. »Wenn Lodovici irgend etwas vorführt, das Ihr nicht sehen sollt, dann kehrt sofort hierher zurück.« »Ich will solche Versprechungen nicht machen«, erwiderte sie unwillig. »Ich bin schließlich kein Kind.« »Dann kommt hierher zurück, wenn es vorbei ist. Ich will Euch an der Stiege erwarten.« Sie blickte ihn verdrießlich an. »Ich kann Euch nicht verstehen, Tonio. Aber ich wäre ohnedies heute abend hierher zurückgekommen.« 337
»Ich werde auf Euch warten«, versprach er. Das Treffen der Ärzte war ziemlich früh zu Ende gewesen und während Antonio nun im Empfangszimmer des Bellarmischen Hauses auf Lucia wartete, nickte er ein wenig ein. Die Fenster standen offen, denn es war warm. Jäh fuhr er empor. Von der Straße her waren schnelle Schritte zu vernehmen. Er öffnete die Tür, rannte die äußeren Stufen hinab, da stolperte Lucia schon über die unterste und fiel ihm gerade in die Arme. Er sah, daß sie vom Laufen völlig erschöpft war und das Kleid beschmutzt und zerrissen hatte; offenbar war sie gestürzt. Er trug sie die Stufen hinauf in das Haus. Sie schluchzte unbeherrscht und klammerte sich an ihn wie ein verstörtes Kind. »Es ist alles gut, Lucia«, besänftigte er sie. »Ihr seid bei mir und in Sicherheit.« Mit einemmal hielt sie in ihrem Schluchzen inne und sagte: »Tonio, Gott sei gedankt, daß Ihr mir gesagt habt, ich solle nach Hause kommen. Ich hatte fürchterliche Angst.« »Wovor? Hat Euch jemand belästigt?« »N – – nein. Ich glaube, sie haben mich nicht einmal weggehen sehen.« Sie richtete sich auf. »Sie waren alle zu sehr gebannt von – – Tonio, es war fürchterlich. Warum habt Ihr mir das nicht gesagt?« So hatte also Lodovici seine abscheuliche Zeremonie vorgeführt. »Ich habe Euch gewarnt«, erinnerte er sie sanft. »Aber Ihr sagtet nicht, daß es so schlimm sein würde.« »Was ist denn nun wirklich geschehen?« »Er hatte eine Bühne vorbereitet, ähnlich einem Altar in der Kirche, und er trug ein Meßgewand … Zuerst glaubte ich, es sei ein Scherz«, flüsterte sie, »bis diese schrecklichen Mädchen und Burschen – –« »Sprecht nicht mehr darüber«, bat er. »Was mich so verstört, ist ja, daß ich dort bleiben wollte, Tonio. Ich wollte diese Dinge sehen.« Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. »Bin ich auch so schlecht wie sie?« fragte sie flüsternd, »weil ich dort bleiben wollte?« »Aber nein, natürlich nicht. Schreckliche Dinge haben eine Art, die Aufmerksamkeit zu fesseln, wie eine Schlange.« 338
»Irgendwie habe ich das Gefühl, ich sei nicht mehr rein.« »Ihr seid gut und sehr lieb. Ihr wußtet nicht, was vor sich gehen würde und das ist alles.« »Ich dachte dauernd an mein Versprechen«, sagte sie, »und dann wußte ich, daß ich weggehen mußte. Ich wäre sonst bis zum Schluß geblieben.« »Ich bin froh, daß Ihr gekommen seid. Hier seid Ihr in Sicherheit und ich glaube, es ist das beste, Ihr geht jetzt zu Bett.« Er hob plötzlich den Kopf, denn durch das offene Fenster drang jetzt, getragen von der sommerlichen Brise, ein anderes Geräusch. Man hörte entferntes Schreien und Laufen, das aus der Richtung des Hauses Portalertas zu kommen schien. »Tonio«, wisperte Lucia. »Was war das?« »Ich weiß nicht. Kommt zu dem Ruhebett am Fenster und seid ganz still.« Sie kauerten sich vor das offene Fenster, so nahe beieinander, daß sich ihre Körper berührten. Lucias Hand kroch in die seine und er drückte sie ermutigend. Die Geräusche wurden nun lauter. Gelegentlich konnte man unter den Bäumen entlang der Straße einen Schatten vorbeihuschen sehen und einmal hörte man das Krachen einer Feuerwaffe. »Tonio, das könnten die Inquisitionswachen sein.« »Ja, ich glaube, sie sind es auch.« »Dann haben sie entdeckt, was geschehen ist.« »Gott sei Dank, daß Ihr Euch beeilt habt«, sagte er erregt. »Wenige Minuten noch und es wäre zu spät gewesen.« Sie schmiegte sich enger an ihn. »Ich – – ich habe Angst.« Antonio hatte selber Angst. Angenommen, es wurde bekannt, daß Lucia bei dem Souper gewesen? Würde sie von der Inquisition verhaftet werden? Auch Gian war dort gewesen. »Hört mich an«, sagte er. »Wenn Euch jemand fragt, wo Ihr heute abend gewesen seid, dann sagt, Ihr wäret zum Souper gegangen, aber sofort nachher nach Hause gekommen. Hier seid Ihr mit mir mehrere Stunden beisammen gewesen.« 339
Sie lachte nervös auf. »In einem Haus allein mit einem jungen, hübschen Mann. Damit wäre ich kompromittiert.« »Besser kompromittiert zu sein, als gefoltert zu werden«, gab er zu bedenken. »Überlegt Euch das.« Sie schmiegten sich in der Dunkelheit eng aneinander und instinktiv suchte sich eines beim anderen zu beruhigen. Lucias Kopf lag auf Antonios Schulter und erst als er ihre tiefen, regelmäßigen Atemzüge vernahm, merkte er, daß sie eingeschlafen war. Er hob sie sachte empor und legte seinen Arm um sie. Ohne aufzuwachen, seufzte sie auf, sich bequem gegen seine Schulter lehnend. Und ehe er sich versah, war auch er eingeschlafen. Es waren einige Stunden vergangen, da wachte Antonio auf mit dem bestimmten Gefühl, daß er seinen Namen rufen gehört hatte. Lucia lag noch in seinem Arm und schlief friedlich. Sanft weckte er sie auf. »Tonio! Tonio!« Das zischende Geflüster ließ sich erneut vernehmen, doch jetzt erkannte er Gians Stimme, die von der Stiege her zu ihm drang. »Gian!« rief Antonio, »komm her!« Sie hörten Schritte auf der Stiege, dann wurden im Viereck der Türe Gians Umrisse sichtbar. Beim Anblick von Lucias weißer Kleidung hielt er inne und kicherte: »Störe ich?« Lucia richtete sich auf. »Nein. Dummkopf. Ich – ich glaube, ich bin eingeschlafen. Bringt mir eine Zunderschachtel und macht Licht.« »Dio mio! Kein Licht, bitte!« warnte Gian. »Die Inquisitionswachen sind überall.« »Dann haben sie das Haus des Marquis von Portalerta überfallen?« fragte Antonio. »Ja«, erwiderte Gian. »Wie gelang es aber Lucia, wegzukommen? Ich bin zwei Stunden lang durch die Hinterhöfe Madrids gelaufen.« »Ich bin früh weggegangen«, erklärte Lucia. »Noch bevor die Wachen kamen.« Gian kicherte. »Glücklicherweise hatte Portalerta die gute Idee, die Lichter auszulöschen und vorzugeben, er sei der Meinung, es hand340
le sich um Diebe. Ich selbst habe einen oder zwei Schädel eingeschlagen.« »Was ist mit Lodovici und der Truppe?« fragte Antonio. »Ihm kannst du zutrauen, daß er sie herausbringt. Ich nehme an, daß sie alle entkommen sind.« »Lucia war heute abend hier mit mir, Gian«, sagte Antonio. »Sie kam sehr zeitig nach Hause. Vergiß das nicht.« »Ich werde mich sehr gut daran erinnern«, erwiderte er, »ich war nämlich auch hier und werde außerdem bleiben, denn auf den Straßen ist es heute abend nicht sicher.« Es dauerte lange, bis Antonio einschlafen konnte. Lucia war mit Mühe einem Unglück entgangen, von dessen Tragweite sie keine Ahnung hatte. Derjenige, der den Marquis von Portalerta der Inquisition verraten hatte, konnte sich ganz gut unter den bei der Zeremonie Anwesenden befunden haben – das wäre kein ungewöhnliches Vorgehen der Inquisition – und eine Liste der Gäste besitzen. Der Gedanke, den schlanken Körper, den er heute abend in seinen Armen gehalten hatte, auf der Folterbank oder der teuflischen Leiter bei der Wasserprobe aufgezogen zu sehen, machte ihn schauern. Er erinnerte sich nur zu gut des watschelnden Ganges jener Opfer bei dem Autodafé, deren Glieder aus den Gelenken gerissen worden waren, oder des schnatternden Gelächters der Geistesgestörten und der gleichgültigen Dumpfheit jener, denen die Folter keine Qual mehr verursachen konnte, weil sie jenseits allen Empfindens standen.
V
D
er Morgen war hell, die Vögel sangen und die Furcht der Nacht schien bedeutungslos angesichts der Schönheit des Tages. Antonio war bis spät nachmittags mit dem Besuch seiner Patienten be341
schäftigt gewesen. Es war schon fast Zeit für das Abendessen, als er in das Haus Bellarmi zurückkehrte. Gian und Lucia kamen ihm an der Tür entgegen und er las aus ihren Gesichtern, daß etwas vorgefallen war. »Clarissa wurde gestern abend von der Inquisition festgenommen«, sagte Gian. Einen Augenblick lang war Antonio sprachlos. »Aber du sagtest doch, daß die Truppe entkam«, sagte er schließlich. »Sie entkam auch, aber Clarissa war in magnetischer Trance.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Lucia. »Wieso konnte sie das von der Flucht abhalten?« »Sie weiß nichts von dem, was vorgeht, wenn sie magnetisiert ist«, erklärte Antonio. »Wenn Lodovici sie nicht aufweckt, bleibt sie stundenlang so, ohne zu erwachen.« »Der Marquis sandte mir heute nachmittag Nachricht, daß sie gefangengenommen wurde«, sagte Gian. »Er hat sie in meinem Atelier gesehen und nahm an, daß ich das zu wissen begehrte.« »Wo ist sie jetzt?« Gian zuckte die Achseln. »In der Casa Santa. Wo sonst?« Antonio konnte sich vorstellen, mit welcher Lust Frey Ignacio und seine Helfer diesen lieblichen Körper foltern würden. Und da der Inquisitor nun wissen mußte, daß ihn Clarissa schon vor ihrer Ankunft in Madrid gekannt hatte, würde er nicht ruhen, bis er aus ihr genügend über das Leben des Mannes, den er haßte, herausgepreßt hatte. »Wir müssen ihr helfen, Gian«, sagte er. »Aber wie?« »Warum müßt Ihr Euer Leben aufs Spiel setzen, um ihr zu helfen?« verlangte Lucia zu wissen. »Der Magier ist Ihr Arbeitgeber. Laßt ihn es tun.« »Sie ist eine gute Freundin von uns.« »Vielleicht ist sie mehr als das«, Lucias Wangen röteten sich. »Und wenn es auch so wäre!« versetzte Antonio schroff. »Das hat damit nichts zu tun.« Alle Farbe wich aus Lucias Wangen. »So war sie Eure Geliebte«, sagte sie langsam. 342
»Seid nicht kindisch, Lucia. Ich würde jedem helfen, der unschuldigerweise von der Inquisition ergriffen wird.« »Sie könnte Euch verraten, um sich selbst zu retten«, protestierte sie. »Das würde sie nie tun, dessen bin ich gewiß.« »Nein, Clarissa würde nie jemanden verraten«, pflichtete Gian bei. »Was wollt Ihr dann aber unternehmen?« fragte Lucia und plötzlich legte sie ihren Kopf in die Hände. Sie war außer Fassung und Antonio fand, daß sie auch Grund dazu hatte. Es war nicht recht gewesen von ihm, sie wegen Clarissa anzufahren. »Weint nicht«, beruhigte er sie und legte seine Hand auf ihre Schulter. »Es tut mir leid, daß ich so kurz angebunden war mit Euch.« Sie fuhr vor seiner Hand zurück. »Rührt mich nicht an. Ihr – – ihr Ehebrecher!« schrie sie auf. »O! Wie ich Euch hasse!« Sie sprang auf und rannte die Stiege hinauf. Antonio starrte ihr verdattert nach. »Wie kam es dazu? Ich habe mich doch bloß entschuldigt.« »Du bist ein guter Arzt, Tonio. Aber von den Frauen verstehst du nichts.« »Sprich nicht in Rätseln. Hast du eine Ahnung, wo Lodovici sich versteckt halten könnte?« »Nein, warum?« »Er könnte Clarissa retten, wenn er vor der Inquisition einen Eid ablegt, daß sie nichts von dem wußte, was sie während des magnetischen Zustandes tat.« »Würden sie eine solche Erklärung anerkennen?« zweifelte Gian. »Das ist im Kanonischen Recht so festgelegt«, erläuterte Antonio. »Jeder, der eine ketzerische Tat vollbringt, dabei aber unter einem Zwang durch eine andere Person steht, ist des Verbrechens nicht schuldig.« »Wenn es dir gelingt, daß er das tut – was ich aber nicht glaube – könnte er dich mit hineinziehen.« »Ich würde die Gefahr auf mich nehmen, wenn ich ihr damit helfen könnte. Aber wie finden wir ihn?« Diese Frage beantwortete sich früher, als Antonio dachte. Des Nachts hatte jemand eine Botschaft unter das Tor des Bellarmi-Hauses gescho343
ben. Ein Diener brachte sie Antonio, als er gerade zum Frühstück ging. Lucia saß bereits bei Tisch. Sie erwiderte seinen Gruß kühl, während er Platz nahm und die Botschaft las. Dr. Servetus, wenn Ihr jemandem helfen wollt, der in der Casa Santa liegt, trefft den Schreiber heute Mitternacht an der Nordecke des Prado. Bringt einen gefüllten Goldbeutel mit, er wird vonnöten sein. Taschenspieler. »Was ist das?« fragte Lucia, bei der die Neugierde über den Zorn gesiegt hatte. Er reichte ihr den Zettel und sie las. »Wer ist dieser Taschenspieler? Der Magier?« »Davon bin ich überzeugt.« »Ihr werdet doch nicht hingehen, Tonio«, sagte sie schnell. »Ja, ich gehe.« »Aber es könnte auch eine List sein. Er kann Euch töten.« »Warum sollte er mich töten wollen?« fragte er. »Warum nicht?« begehrte sie auf. »Ihr werdet ihm Geld bringen, das er benötigt, um sich zu retten. Und er könnte Angst haben, Ihr würdet ihn an die Inquisition verraten, um sie – um sie zu retten.« Das wäre ein Gedankengang, den sich ein so durchtriebener Schurke wie Lodovici aushecken konnte. Aber es gab keinen andern Weg, um sie zu retten. Und wenn er versäumte, Lodovici zu treffen, dann würde ihr Blut auf seinem Gewissen lasten, sollte sie verurteilt werden. Außerdem war da noch eine andere Alternative. Wenn Lodovici irgendwelche Drohungen machen sollte, konnte er den Magier fangen und mit Frey Ignacio um den größeren Preis verhandeln. »Versprecht mir, nicht zu gehen, Tonio«, bat Lucia. »Es ist eine Falle. Er weiß, wie vertrauensselig Ihr seid und will daraus sicher seinen Vorteil ziehen.« »Aber ich muß ihn aufsuchen, Lucia. Vielleicht kann er wirklich Hilfe bringen.« 344
»Dann geht und laßt Euch umbringen!« rief sie ärgerlich und sprang so heftig auf, daß sie ihren Sessel umwarf. »Mehr verdient Ihr nicht für Eure Verbohrtheit.« Antonio beendete das Frühstück und verließ das Haus. Wenn es darauf ankam, zu versuchen, Lodovici festzunehmen, mußte er eine Waffe bei sich haben. Aber er besaß keine und außerdem war er nicht fähig, sie zu bedienen. Er entsann sich Gians kleiner Pistole, mit der er Valdez getötet hatte. Sie hatte ihm schon einmal gute Dienste geleistet und könnte es nun wieder tun. Der Künstler war nicht zu Hause, aber der Diener ließ Antonio ohne Frage ein und gab ihm die Pistole. Antonio lud die kleine Waffe mit Pulver und Blei, wie er es von Gian gesehen hatte, nahm noch einen zweiten Satz Munition in seine Tasche und verließ das Haus. Es fehlte noch eine halbe Stunde auf Mitternacht, als er den Prado erreichte. Es war dies eine bewaldete Schlucht am Rande der Stadt, ein beliebter Rendezvousplatz für Liebespärchen, aber auch für die heißblütigen Adeligen, die sich hier in den frühen Morgenstunden duellierten. Gegen Mitternacht jedoch wurde der Prado zu einem Ort bedrohlicher Schatten, flüsternder Stimmen und dunkler Winkel, in denen ein Mörder liegen mochte und auf sein Opfer wartete, um es mit dem Dolch zu töten und ungesehen wieder zu verschwinden. Antonio schauerte, obwohl die Nacht nicht kühl war, und er fragte sich, ob er nicht doch, wie Lucia sagte, ein Narr sei, hierher zu kommen. In der Botschaft hatte es geheißen, er solle sich in der nördlichen Ecke des Prado einfinden, und da er noch zeitig dran war, schritt er, anstatt durch den Wald zu streifen, auf einem Pfade entlang des Waldrandes weiter und blieb in den Lichtungen, die das bleiche Gesicht des Mondes ein wenig aufhellte. Während er so dahinging, lockerte er die Waffe in seinem Gürtel und überprüfte den Hahn der Feder mit seinem Daumen. Gespannt spähte er in die Dunkelheit, während er sich langsam der angewiesenen Stelle näherte. Der Wald lag nun zwischen ihm und der Stadt und wie er so am Rande der Lichtung weiterging, fühlte er sich einsam und besorgt. 345
»Buenas noches, Doktor. Ich sehe, daß Ihr meine Botschaft erhalten habt«, sagte plötzlich eine vertraute Stimme nahe seinem Ohr. Antonio fuhr zusammen. Er hatte den Magier weder gesehen noch gehört und nun streifte Lodovici beinahe seinen Ellbogen. Wäre es in seiner Absicht gelegen, dann hätte ihm Lodovici jetzt einen Dolch zwischen die Schulterblätter stoßen können. »N – – nun ja«, stammelte Antonio und wich vor der großen Gestalt zurück. »Was wollt Ihr mit mir besprechen?« »Habt Ihr das Geld gebracht, das ich erwähnte?« »Ja.« Antonio wollte verstohlen nach der Pistole greifen. Es war ihm zuwider, daß Lodovici so unverblümt nach dem Geld fragte. Er hielt inne und sein Körper wurde plötzlich starr vor Schreck. »Sucht nicht nach der kleinen Pistole«, sagte Lodovici sarkastisch, »um die habe ich Euch eben erleichtert. Es kam mir der Gedanke, Ihr könntet vielleicht die Absicht haben, mich vor die Inquisition zu schleppen.« »N – – nein«, protestierte Antonio schwach. »Daran dachte ich nicht.« Lucia hatte recht gehabt, Lodovici hielt ihn zum Narren und er durfte froh sein, wenn er mit dem Leben davonkam. »Ich bin überzeugt, daß Ihr es nicht beabsichtigt habt«, erwiderte der Magier kurz. »Und nun zum Geschäft. Wir beide haben Madonna Clarissa ziemlich gern. Um nicht mißverstanden zu werden, Ihr seid bei Gelegenheit mit ihr, wollen wir sagen, sehr intim gewesen?« Antonio fragte sich, ob Lodovici wohl sehen konnte, wie er jetzt in seinem Schuldgefühl errötete. »Madonna Clarissa ist viele Jahre meine Geliebte gewesen«, fuhr Lodovici fort. »Und so werdet Ihr verstehen, daß ich jeden Grund hätte, Euch zu töten, besonders da ich Euch hier bewaffnet antraf. In der Tat«, setzte er mit kalter Unverschämtheit hinzu, »schuldet Ihr mir Euer Leben, Dr. Servetus.« »Was ist mit Clarissa?« fragte Antonio heiser. »Ihr hättet verhindern können, daß sie gefangen wurde, wenn Ihr sie rechtzeitig aus der Trance erweckt hättet.« »Es war keine Zeit dazu und unglücklicherweise war niemand dort, der ihr beigestanden wäre, wie bei früheren Gelegenheiten.« 346
»Ihr könntet zumindest einen Eid ablegen, daß Ihr sie gezwungen habt, an der Zeremonie der Schwarzen Messe teilzunehmen, während sie im Zustand des Magnetismus gewesen. Das wäre die Wahrheit.« »Um mich selber auf die garucha zu bringen? Ich bin überzeugt, Ihr werdet meine Abneigung, so etwas zu tun, verstehen.« Die garucha war ein verrufenes Folterinstrument der Inquisition, ein Wippgalgen, auf dem die Verurteilten, den Hals in der Schlinge, langsam hochgezogen wurden. »Aber es gibt einen anderen Weg, der jedoch ein Opfer Eurerseits erfordern würde.« »Ich bin bereit, alles zu tun«, versprach Antonio. »Ihr seid ein reicher Mann, wie ich weiß, Doktor. Es ist oft möglich, eine Flucht zu bewerkstelligen, wenn das Geld in die richtigen Hände kommt.« »Aber die Agenten der Inquisition sind überall.« »Gewiß, aber für einen Meister der Täuschung, wie mich, müßte es möglich sein, den Weg nach Frankreich, wo die Inquisition keine Macht hat, zu ebnen. Dazu wäre aber einiges Gold vonnöten.« »Der Großteil meines Geldes liegt in Frankreich«, sagte Antonio. »Ich habe bloß dreihundert Dukaten bei mir.« »So?« Lodovicis Stimme klang sichtlich enttäuscht. »Das ist sehr wenig. Aber ich will es nehmen und sehen, was ich tun kann.« Antonio langte nach dem Beutel an seinem Gürtel und knüpfte die Schnüre auf. Dabei kam ihm ein neuer Gedanke. »Welche Garantie habe ich, daß Ihr dieses Geld nicht dazu verwendet, selbst außer Landes zu kommen, ohne Clarissa?« Das Lachen des Magiers war nicht freundlich. »Nicht mehr Garantie als Ihr hattet, daß ich Euch nicht hierher gelockt habe, um Euch die Gurgel durchzuschneiden.« Antonio knüpfte den Beutel auf und gab ihn Lodovici. »Wollt Ihr mich über die Fortschritte, die Ihr macht, auf dem laufenden halten?« »Selbstverständlich.« Lodovici sicherte den Beutel an seinem eigenen Gürtel. »Sind wir denn nicht schließlich Landsleute?« Sein Ton war spöttisch: »Buenas noches, Doktor.« Die große Gestalt des Magiers verschwand im Gebüsch wie eine seiner eigenen Illusionen. 347
Antonio wandte sich einem Pfade zu, der um den bewaldeten Prado herum gegen die schlafende Stadt zu führte. Es war, wie Lodovici ihm gesagt hatte: er mußte ihm vertrauen. Je mehr er aber über des Magiers Gebaren nachdachte, desto mehr schwand sein Vertrauen. Entweder war es das Rascheln des Stoffes, als der Arm mit dem Dolch erhoben wurde, oder der seltsame sechste Sinn, der einen manchmal vor einer Gefahr warnt; irgend etwas veranlaßte Antonio, sich umzudrehen, noch ehe er sich drei Schritte von dem Platz entfernt hatte, wo Lodovici verschwunden war. Und diese Bewegung rettete ihm das Leben. Der Magier stand beinahe über ihm und das Mondlicht glänzte auf einer blanken Klinge in seiner Hand. In seiner Jugend hatte sich Antonio im Ringen, wie es von den Gebirgsbewohnern Norditaliens gerne betrieben wurde, wohl geübt. Er hatte es lange schon vergessen, aber jetzt sollte ihm die Erinnerung an diese Lehre von Nutzen sein. Als die schwarz gekleidete Gestalt mit dem Dolch bösartig zuhieb, warf er sich selbst zur Seite und langte nach dem Arm mit dem Dolch. Seine Finger schlossen sich um ein Handgelenk, das aus Stahl zu bestehen schien, aber die Bewegung war notwendig, um den Schlag abzufangen. Dann stieß Antonio seine rechte Hüfte gegen den Magier, um seinen Körper in einem sich drehenden Ring zu fangen. Durch die plötzliche Bewegung aus dem Gleichgewicht gebracht, wurde Lodovici Agnolo, der leichte Beute zu machen gehofft hatte, der Länge nach hingeworfen und krachte gegen einen Baum. Antonio sah den Dolch aus seiner Hand fliegen und sich bis zum Heft in der weichen Erde vergraben. Automatisch bückte er sich, um ihn herauszuziehen, aber Lodovici stieß ihm mit den Füßen in den Unterleib. Er war dem Erbrechen nahe, und von dem Schmerz des Schlages beinahe lahm sackte Antonio zur Erde, rollte sich aber instinktiv zusammen, um sich außer Reichweite dieser mächtigen Beine zu bringen. Sein Arm stieß an den Dolch; rasch schloß er die Finger um den Griff, gerade als Lodovici wieder auf die Beine gekommen war und auf ihn zusprang mit der eindeutigen Absicht, ihm den Garaus zu machen. Antonio stemmte den Rücken gegen die Erde, zog den Dolch aus dem Boden und stieß zugleich mit den Beinen aufwärts, um den Magier 348
abzuwehren. Lodovici strauchelte und fiel schwer auf den Dolch, den Antonio gerade aus dem Boden gezogen hatte. Ein gurgelnder Schrei, die Klinge wurde aus Antonios Hand gerissen. Klebrig warm ergoß es sich über sein Gesicht und seinen Hals. Der schwere, schlaff gewordene Körper sackte auf ihn. Mit einem triumphierenden Gefühl, aber auch mit Schrecken, wurde sich Antonio bewußt, was geschehen war. Lodovici hatte sich selbst auf den Dolch geworfen und es war Blut, das über sein Gesicht und seinen Hals rann. Langsam, zitternd und schwach stieß Antonio den leblosen Körper des Zauberers beiseite und erhob sich. Er keuchte von der Anstrengung des Kampfes und konnte sich nur mühsam aufrecht halten; er blickte auf die dunkle Gestalt nieder, an deren Stelle beinahe er selbst gelegen wäre. Dann überwand er seine Abneigung, den toten Körper zu berühren, bückte sich und knüpfte den Geldbeutel von dem Gürtel des Toten. Als er sich aufrichtete, hörte er, wie jemand seinen Namen rief. »Tonio! Tonio!« Es war Gians Stimme. »Hierher!« rief Antonio. »In die nördliche Ecke.« Das Geräusch brechenden Geästs aus der Mitte des Prado zeigte ihm Gians Näherkommen. Kurz darauf stand der Künstler schwer keuchend mit dem blanken Degen in der Hand vor ihm. »Hast du Lodovici schon gesehen?« schnaufte er. Antonio wies auf die dunkle Gestalt am Boden. »Sangre di Cristo!« fuhr Gian erschrocken auf. Dann sah er, daß Antonio voll Blut war. »Du siehst aus wie ein Fleischer. Erzähl mir, was ist geschehen?« Als Antonio bei Lodovicis feigem Angriff angelangt war, fluchte Gian wild. »Du hast die Welt von einem Verbrecher befreit. Hast du dein Geld zurück?« »Ja.« Antonio hielt den kleinen Beutel empor. »Dann müssen wir gehen. Es könnte mich jemand rufen gehört haben.« »Was machen wir mit ihm?« fragte Antonio. »Überlassen wir ihn den Geiern«, sagte Gian ungerührt. »Er war selbst einer.« 349
Auf dem Weg durch den Prado fragte Antonio: »Wie hast du mich gefunden?« »Durch deine Hilfe nicht. Lucia sorgte sich um dich und erzählte mir von der Botschaft. Als mir mein Diener berichtete, daß du die Pistole genommen hättest, wußte ich, daß du verrückt genug gewesen seist, Lodovici in die Falle zu gehen.« Dann kicherte er. »Nicht daß du meiner bedurftest. Du weißt dich deiner Haut zu wehren, was damit bewiesen ist, daß du innerhalb eines halben Jahres zwei Schurken getötet hast.«
IV
A
ntonio war gewöhnt, kurz nach dem Frühstück Vesalius aufzusuchen. Als er am zweiten Morgen nach seinem Kampf mit Lodovici Agnolo zu Vesalius kam, hielt er an der Tür kurz inne. In einem bequemen Lederstuhl gegenüber dem Anatomen saß ein großer, hagerer Mann im Habit der Dominikaner-Brüder. Es war Frey Ignacio Molina. Vesalius erhob sich, um den jungen Freund zu begrüßen. »Wir haben gerade auf Euch gewartet, Antonio.« »Buenas dias, mein Sohn«, sagte Frey Ignacio milde. »Gott sei mit Euch an diesem herrlichen Tag.« »Es ist tatsächlich ein schöner Tag.« Antonio hatte sich wieder gefaßt. »Für die Gerechten ja«, erwiderte Frey Ignacio. »Nicht aber für einen armen ketzerischen Zauberer wie Lodovici Agnolo, fürchte ich.« Antonio zwang sich, ruhig zu bleiben. Er mußte vorsichtig sein und durfte nicht zu viel Interesse zeigen. »Die Stadtwachen fanden ihn gestern im Prado«, fuhr der Inquisitor fort. »Meuchlings ermordet. Da von der Inquisition ein Befehl ergan350
gen war, ihn zu verhaften, brachten sie ihn zu uns.« Er gluckste traurig. »Erdolcht. Das Schicksal ereilte ihn ohne Beichte. Er ist für immer verdammt. Wäre es uns gelungen, ihn früher zu fassen, hätten wir ihn von seinem Irrtum überzeugt und auf diese Weise seine Seele gerettet.« »Was ist mit dem Mörder?« Vesalius ersparte Antonio die peinliche Frage. »Zur Zeit ist er noch frei, aber wir haben einen Verdacht und ohne Zweifel werden wir ihn fassen.« Des Inquisitors Augen waren auf Antonio gerichtet und beobachteten jede Regung in seinem Gesicht. »Glücklicherweise gelang es uns, eine Gehilfin des Zauberers zu retten.« »Retten?« fragte Antonio. »Ich verstehe Euch nicht.« »Die arme Frau war so irregeführt, Hexerei zu praktizieren«, erklärte Frey Ignacio. »Ich habe noch Hoffnung, ihre Seele vor der ewigen Verdammnis zu retten.« Um den Preis der Henkerschlinge, dachte Antonio bei sich. »Frey Ignacio hat mir gerade von dieser Frau erzählt«, warf Vesalius ein. »Anscheinend befand sie sich in einem magnetischen Trancezustand und die Betäubung dauerte einige Stunden an.« »Der Zustand würde sich im natürlichen Schlaf selbst gelöst haben, es sei denn, er wird früher beendet.« »Ich bin an dieser seltsamen Kraft des Magnetismus sehr interessiert«, sagte der Inquisitor. »Vielleicht können wir bei Gelegenheit darüber diskutieren.« Antonio verneigte sich. »Es würde mir eine Ehre sein, Hochwürden.« Frey Ignacio steuerte auf irgend etwas zu, aber er wußte noch nicht, auf was. »Die Inquisition«, fuhr der Mönch fort, »hat nicht oft die unerfreuliche Aufgabe, eine Frau zu verhören und es gibt Leute, die wenig schöne Dinge über uns zu sagen haben. Darum möchte ich im Falle dieses armen Opfers einen Arzt dem Verhör zuziehen.« Antonio erstarrte. Was könnte sich diese magere Gestalt vor ihm noch Teuflischeres ausgedacht haben, als dies? Er nahm an, daß Anto351
nio Clarissa von früher her kannte und wollte ihm nun den Schrecken ihres Verhörs vor Augen führen. Dabei erwartete er entweder von ihr oder von ihm einen Beweis, aufgrund dessen er Antonio wieder in seine Gewalt bringen würde. »Dr. Vesalius stimmt mit mir überein, daß es das beste wäre, wenn Ihr uns in dieser Sache beistündet.« »Aber Dr. Vesalius hat als Arzt weit mehr Erfahrung als ich«, wandte Antonio heiser ein. »Nicht in Fällen, die mit Magnetismus zu tun haben«, entgegnete Vesalius. »Und da diese Frau in einen Trancezustand versetzt wurde, glaube ich, Ihr könntet ihren Zustand besser verstehen als ich.« Antonio fühlte es eiskalt an sein Herz greifen. Wie diabolisch dieser hagere Mönch sein konnte. Er hatte Vesalius überlistet, so daß dieser selbst vorschlug, Antonio solle bei dem Verhör anwesend sein, um es ihm so unmöglich zu machen, der Forderung nicht Folge zu leisten. Frey Ignacio erhob sich. »Können wir mit Euch rechnen, Dr. Servetus? Ich möchte das nächste Verhör gerne für heute abend ansetzen.« »Ich werde mich bemühen, dort zu sein«, antwortete Antonio. In Wahrheit hatte er keine Wahl. Wenn er nicht kam, würde der schlaue Inquisitor einen anderen Grund haben, ihn der ketzerischen Betätigung zu beschuldigen und ihn verhaften lassen. Aber eines schien gewiß: Frey Ignacio wollte ihn nicht früher verhaften, als bis der Beweis schwer genug wog, ihn zum Tod auf dem Scheiterhaufen zu verurteilen. Als Frey Ignacio gegangen war, sagte Vesalius: »Es ist sonderbar, aber ich erinnere mich nicht, daß jemals ein Arzt aufgefordert wurde, einem Verhör beizuwohnen.« »Das wird nur mir zuteil«, erwiderte Antonio und erzählte ihm, daß er Clarissa und Lodovici Agnolo von früher her kannte. Vesalius strich sich mit den Fingern über den Bart. »Langsam kommt alles zusammen«, meinte er gedankenvoll. »Eure Gunst bei der Königin, die Rettung Don Pedros, Euer erstes Erlebnis mit der Inquisition, und nun versuchen sie abermals, Euch hineinzuziehen.« »Wie meint Ihr das?« fragte Antonio. 352
»Ich meine die Sache mit den niederländischen Ketzern«, erklärte Vesalius. »Es scheint ganz offenbar, daß der König seine Politik gegenüber den Niederländern geändert hat. Wußtet Ihr, daß er Herzog Alba durch Don Pedro Grijalva ersetzen will?« »Das bedeutet ja, daß er die Politik, die Ketzer zu verfolgen, aufgeben würde!« rief Antonio erstaunt. »Und einen Sieg der Partei der Königin und Catharina Medicis«, fügte Vesalius hinzu. »Es ist eine Frage der Zeit. Albas Vorgehen war eine Schande für unsere Zivilisation.« »Aber der Bischof von Toledo würde einen solchen Beschluß nicht kampflos hinnehmen. Oder doch?« fragte Antonio. Vesalius zuckte die Achseln. »Vielleicht fügt er sich dem Unvermeidlichen. Er gibt heute abend einen Empfang und ich habe gehört, daß Don Pedro Grijalva eingeladen wurde.« Frey Ignacio Molina hob den Blick, als Antonio das Empfangszimmer betrat. »Es war sehr freundlich von Euch, zu kommen, Doktor. Bitte setzt Euch an das Ende des Tisches.« Antonio kniete einen Augenblick lang vor dem Kruzifix nieder, dann begab er sich an den ihm zugewiesenen Platz. Die Aufmachung des Tribunals war so, wie er es schon kannte. »Die arme Sünderin, die wir verhören werden, hat bereits ein Verhör hinter sich«, erklärte Frey Ignacio. »Unglückseligerweise weigert sie sich noch immer, die Namen Ihrer Verbündeten zu nennen.« »Aber wenn sie in einem magnetischen Trancezustand war, kann sie doch von dem, was sie tat, keine Kenntnis haben«, gab Antonio zu bedenken. »Stimmt«, gab der Inquisitor zu. »Aber zweifellos hat sie an derartigen Zeremonien schon vorher teilgenommen. Sie muß gewußt haben, zu welchen Zwecken die Trance herbeigeführt wurde.« Er wandte sich an die Wachen. »Bringt die angeklagte Ketzerin herein«, befahl er. Beim Anblick Antonios stockte Clarissa eine Sekunde, aber ohne ein Zeichen des Erkennens schritt sie aufrecht und lieblich anzusehen vor den Tisch ihrer Richter. Ihre Wangen waren marmorbleich. Antonio erkannte an ihrer Halsschlagader, wie schnell Ihr Herz schlug. 353
»Clarissa Strozzi«, verlas der Notar. »Gefangene der Inquisition, angeklagt der ketzerischen Hexerei und Zauberei und der Teilnahme an der Ausübung mit dem Nekromanten Lodovici Agnolo.« »Gestern, meine Tochter«, begann Frey Ignacio, »habt Ihr die Sünde eingestanden, an der ketzerischen Anrufung des Satans in der Zeremonie, bekannt als Schwarze Messe, teilgenommen zu haben. Seid versichert, daß durch das Eingeständnis dieser schweren Sünde eine große Last von Euch genommen ist. Aber das Vergehen wird nicht durch das Bekennen gesühnt. Ihr müßt jene nennen, die mit Euch verbündet waren, so daß auch sie vor der ewigen Verdammnis gerettet werden können.« Clarissa hob den Kopf. »Ich nehme die Last der Sünde auf mich, Heiliger Bruder.« Frey Ignacios Stimme wurde milde und weich, daß Antonio ihn überrascht ansah. »Nun, meine Tochter, es ist sehr töricht von Euch, in diesem Leugnen zu verharren, da mir die Einzelheiten dieser Angelegenheit sehr gut bekannt sind. Andere haben nämlich bereits gestanden.« Log er, fragte sich Antonio. Hatte er andere Mitglieder der Truppe gefangennehmen lassen? Es war eine Methode der Inquisition, derartige unwahre Behauptungen aufzustellen, mit der Entschuldigung, daß jede Heuchelei gerechtfertigt sei, sofern damit beabsichtigt war, Seelen der Häretiker vor der ewigen Verdammnis zu retten. »Meine Tochter«, beharrte Frey Ignacio, »weigert Ihr Euch noch immer, jene zu nennen, die sich mit Euch der Häresie schuldig gemacht haben?« »Ich habe nichts zu sagen«, murmelte Clarissa. »Dann blickt zum Ende des Zimmers«, herrschte er sie an. »Dort sind die Instrumente, die angewendet werden müssen nach dem heiligen Gesetz, jene zu belehren, die sich in ihrer Torheit starrköpfig weigern, ihre Sünden einzugestehen. Es ist nicht mein Wunsch, daß Ihr die Qualen der Folterung erleiden sollt, aber wenn Ihr weiterhin darauf besteht, uns zu trotzen, haben wir keine Wahl, als damit zu beginnen. Seht hin und sagt mir, ob Ihr Euren eigensinnigen Widerstand aufrecht halten wollt.« 354
Genau betrachtet, waren die Geräte der Inquisition teuflisch einfach, doch hatten sie die Gewalt, den menschlichen Willen zu brechen. Am einfachsten von allen war der Wippgalgen. Er bestand aus einem Seil, das über eine Rolle lief. Daneben stand die Folterbank, das teuflisch igeniöse Procrustes-Bett, dazu bestimmt, Glied für Glied aus den Gelenken zu zerren. Dann war hier ein Folterwerkzeug, das die spanischen Inquisitoren seit der Zeit des Torquemada mit besonderer Vorliebe verwendeten: das Gerät für die Wasserprobe. Nichts, was der böse Genius der Inquisition jemals ersonnen, kam dem Schrecken dieser Methode gleich, bei der der Gefolterte gleichzeitig ausgedehnt und stranguliert wurde. Daß man den Opfern die Fußsohlen mit Fett einrieb und sie dann über der offenen Flamme rösten ließ, ihnen die Fingernägel ausriß oder sie an der Decke aufhängte, um sie erst im letzten Augenblick abzuschneiden, dies alles gehörte zu den weniger beachtlichen, aber sehr wirksamen Methoden der Inquisitoren. »Ich habe nichts zu bekennen«, sagte Clarissa. »Ich habe Euch alles gesagt.« Frey Ignacios Finger verkrampften sich und in seinen Augen blitzte es auf. »Foltern«, sagte er leise. Ein stämmiger Mann, der neben den Geräten gewartet hatte, kam auf sie zu. »Hebt Eure Arme«, befahl er. Clarissa versuchte zu gehorchen, aber sie vermochte sich kaum zu bewegen. Der Mann langte nach ihren Armen und riß sie in die Höhe. Sie schrie auf vor Qual und Antonio ergriff den Rand seines Sessels. Was er sah, besagte ihm, daß sie nicht zum erstenmal gefoltert wurde. Sie mußte bereits den Wippgalgen hinter sich haben, denn nichts sonst verkrüppelte die Schultergelenke so, wie diese einfache Maschine. Den Opfern wurden die Handgelenke am Rücken zusammengebunden und an ein Seil geknüpft, das über eine Rolle in die Höhe lief und mit dem sie durch das Anziehen am anderen Ende des Seiles emporgehoben wurden. Wenn der Zug allmählich stärker wurde, hoben sich die Fersen des Opfers vom Grund und die ausgerenkten Arme und Schultergelenke mußten das ganze Gewicht des Körpers tragen. 355
Genügten diese Qualen nicht, das gewünschte Bekenntnis zu erhalten, wurde der Körper dann emporgezogen, wieder fallen gelassen und mit plötzlichem Ruck wieder aufgezogen. »Ist diese Frau schon gefoltert worden?« fragte Antonio. »Das Verhör wurde gestern begonnen«, sagte Frey Ignacio sanft, »und wird heute fortgesetzt.« Die Inquisitoren umgingen das strenge Gesetz, daß der Angeklagte nicht öfter als einmal verhört werden durfte, häufig dadurch, das Verhör abzubrechen und am nächsten Tag wieder aufzunehmen. Nicht die einmalige Qual, sondern die dauernde Wiederholung, die Furcht vor weiteren Foltern und dem schrecklichen Verhör selbst ließ die Opfer zusammenbrechen. Mit einer einzigen Bewegung riß der Folterknecht das grobe Kleid, das von den Angeklagten während des Verhörs getragen wurde, von Clarissas Körper, so daß sie nackt vor ihnen stand. In ohnmächtigem Zorn mußte Antonio diese mutwillige Zurschaustellung ihres lieblichen Körpers vor den wollüstigen Blicken der Wachen und Mitglieder des Tribunals mit ansehen. Der Notar am Ende des Tisches kaute nervös an seiner Unterlippe: offensichtlich hatten die Mitglieder des heiligen Tribunals selten einen Anblick wie diesen. Antonio sah nun, daß Clarissas Schultern verschwollen und verfärbt waren. Auf einen Wink des Foltermeisters rollten zwei Gehilfen ein eigenartiges Gestell in das Zimmer, das wie eine kurze Leiter auf Rädern aussah. Es war das Gerät für die Wasserprobe, dieser von den spanischen Inquisitoren so gerne angewandten Foltermethode. Mit rauhen Händen legten sie Clarissa mit dem Gesicht nach oben auf die Leiter und banden ihre Arme und Beine an den hölzernen Rahmen. Dann wurde die Leiter geneigt, so daß der Kopf, den man noch mit einem Lederband an der obersten Sprosse der Leiter befestigt hatte, tiefer zu liegen kam. Es war ihr so unmöglich, sich zu bewegen. »Clarissa Strozzi«, erscholl Frey Ignacios Stimme. »Seid Ihr bereit, Eure Verbündeten zu nennen?« »Ich habe alles gestanden.« Ihre Stimme klang leise, aber klar. »Dann fangt an!« Der Befehl war wie ein Peitschenhieb. »Vielleicht 356
wollt Ihr Euch das aus der Nähe ansehen, Doktor«, fügte er großzügig hinzu. »Für einen Mediziner ist es sicher nicht uninteressant.« Es blieb Antonio nichts anderes übrig, als heranzutreten. Clarissas Blick war zur Decke gerichtet. Ihr Gesicht hatte die Farbe weißen Marmors, ihre Lippen waren blutleer. Der Foltermeister nahm ein besonders geformtes Stück Metall zur Hand, das er in Clarissas Mund steckte. Antonio hatte schon von diesem Instrument gehört; es war der bostezo, der Knebel. Nun wurden Clarissas Nasenlöcher verstopft, so daß sie nur durch den Mund atmen konnte. Aus einer kleinen Kiste, die sein Werkzeug enthielt, entnahm der Foltermeister einen langen Stoffstreifen und band ihn lose um den bostezo. Es war dies die sogenannte toca, durch die das teuflische Instrument wirkte. Auf einen Wink Frey Ignacios nahm der Foltermeister einen Krug mit Wasser und schüttete den Inhalt langsam auf die toca. Und wie sich der lose Stoff mit dem Wasser vollsog, sank er durch sein eigenes Gewicht immer tiefer in Clarissas Kehle. Vergebens versuchte sie, das Wasser, das durch den Stoff drang, zu schlucken, um die Kehle zum Atmen frei zu bekommen. »Zieht die Schlingen an«, ordnete der Foltermeister an, und seine Gehilfen drehten die Stöcke, die die Schnüre um ihre Glieder anzogen. In der Pein der Strangulierung und ihrem Unvermögen zu schlucken, wand sich Clarissa in den Fesseln. Langsam wurde ihr Widerstand schwächer. Sie war dem Ersticken nahe. »Wie Ihr seht, Doktor«, sagte Frey Ignacio, »ist der potro ein besonders wirksames Instrument.« »Es ist unmenschlich«, kam es heiser aus dem Munde Antonios. »Um die Seelen vor der ewigen Verdammnis zu retten, müssen drastische Maßnahmen ergriffen werden.« Antonio blickte den Inquisitor an, aus dessen Augen solch tierische Freude glühte, daß er davor zurückschrak. Gerade als Clarissa zu ersticken drohte, entfernte der Foltermeister die toca. Kaum bei Bewußtsein, gelang es ihr, das Wasser, das sich in ihrer Kehle angesammelt hatte, zu schlucken. Frey Ignacio beugte sich 357
über sie. »Bekennt, meine Tochter, nennt Eure Verbündeten und die Qual bleibt Euch erspart.« Mit einer Willensanstrengung, die ihr Antonio nicht zugetraut hätte, stieß Clarissa hervor: »Es gibt nichts zu gestehen.« »Legt die toca an«, befahl Frey Ignacio. Antonio fragte sich, ob er das noch länger aushalten könne, aber er wußte nicht, wie er Clarissa von ihren Qualen hätte befreien sollen. Noch einmal begann der schreckliche Prozeß, und als er ihre vergeblichen Kämpfe sah, fiel ihm ein, wie nahe Lucia dem gleichen Geschick gewesen wäre, hätte sie an jenem Abend nicht vor der Ankunft der Inquisitionswachen das Haus des Marquis von Portalerta verlassen. Noch einmal drangen die Schlingen in Clarissas Glieder; diese Qual allein mußte schon unerträglich sein. Plötzlich wurde ihr ganzer Körper schlaff und ungehindert rann das Wasser ihre Kehle hinab. »Sie ist ohnmächtig geworden!« schrie Antonio. »Hört auf oder sie erstickt.« Aber der Foltermeister war auf derartige Zwischenfälle vorbereitet. Rasch riß er die toca aus ihrem Mund. Hustend begann sie wieder zu atmen. »Das ist genug!« rief Antonio. »Wollt ihr sie töten?« »Wir wollen das Verhör unterbrechen«, entgegnete der Inquisitor milde, »und morgen fortsetzen.« »Morgen!« wiederholte Antonio erschrocken. »Ihr werdet das doch nicht noch einmal tun?« »Wir haben keine andere Wahl, mein Sohn. Ihre unsterbliche Seele steht auf dem Spiel.« »Aber das Kanonische Recht verbietet es, mehr als einmal zu verhören.« Frey Ignacio sagte scharf: »Wir haben bloß unterbrochen, nicht beendet. Das Verhör ist nicht abgeschlossen, solange der Gefangene nicht das Verbrechen bekannt und die Namen der Mitschuldigen angegeben hat. Bindet sie ab und bringt sie ins Verlies zurück«, befahl er den Gehilfen. Dann wandte er sich wieder zu Antonio. »Wollt Ihr sie begleiten, Doktor, und trachten, daß sie sich von ihrer Ohnmacht erholt?« 358
Antonio nickte. Er konnte vor Empörung nichts sagen. Wären Worte über seine Lippen gekommen, dann wäre es ein Fluch über die Unmenschlichkeit des großen Mannes in der schwarzen Robe gewesen. Und das hätte ihn Frey Ignacio direkt in die Hände gespielt. Die Wachen schafften Clarissa auf die schmale Bank in ihrer Zelle und gingen wieder weg. Nur der Wärter blieb und Antonio sagte: »Ich werde mich ihrer annehmen. Ihr könnt in kurzer Zeit wieder kommen.« Da der Mann zögerte, nahm Antonio eine Goldmünze aus seinem Beutel. »Verlaßt uns und kommt in einer halben Stunde wieder. Könnt Ihr das?« Die Augen des Wärters glänzten beim Anblick der Münze. »Ich verstehe, Señor«, sagte er und steckte das Geldstück ein. Daran war zu erkennen, daß schon andere gelegentlich für die Möglichkeit, mit einem weiblichen Gefangenen allein zu sein, bezahlt hatten. Clarissa atmete nun ruhiger und die natürliche Farbe kehrte wieder in ihre Glieder zurück. Nur die greulichen Zeichen der Schlingen hoben sich dunkelrot von ihrer weißen Haut ab. Antonio nahm eine kleine Flasche mit Hirschhorngeist aus seiner Tasche und hielt sie ihr unter die Nase. Der beißende Geruch reizte sie zu husten und sie öffnete ihre Augen. »Tonio.« Sie richtete sich von ihrem Lager auf und faßte ihn an den Schultern. »Tonio. Ist es vorbei?« »Ja. Du bist ohnmächtig geworden.« »Geh auf den Gang hinaus«, sagte sie eindringlich. »Sieh nach, ob niemand lauscht.« Durch die Spalten zwischen den Balken an der Tür konnte er sehen, daß der Gang leer war. »Niemand ist da.« Er begann ihre Glieder zu reiben, damit sie sich wieder belebten. »Dich will er haben, Tonio«, sagte Clarissa. »Er vermutet, daß ich von Italien her etwas weiß, das er gegen dich verwenden kann. Er will mich veranlassen zu schwören, daß du schon vorher in Zusammenhang mit dem Magnetismus ketzerische Dinge ausgeübt hast.« So hatte er recht gehabt, dachte Antonio, und auch Vesalius. Das war 359
der Teil eines Planes, durch den er so tief hineingezogen werden sollte, daß nicht einmal der König es wagen würde, gegen die Inquisition einzuschreiten. »Tonio.« Ihre Augen weiteten sich plötzlich vor Furcht. »Du sagst, ich bin ohnmächtig geworden. Das bedeutet, daß sie mich wieder auf die Folter spannen können.« Er schüttelte den Kopf. »Ich werde es nicht zulassen. Du darfst für meine Sünden nicht länger leiden, Clarissa.« »Nein, Tonio, mich kann nichts mehr retten. Er hat mir bereits gesagt, daß mein Urteil der Tod ist; durch die Schlinge, wenn ich die Lügen beschwöre, die er über dich aufgeschrieben hat, durch Feuer, wenn ich es nicht tue.« »Ich kann dir zumindest das Feuer ersparen, wenn ich ihm sage, was er zu wissen wünscht.« »Nein, Tonio«, flehte sie. »Ich habe gesündigt und ich muß dafür bezahlen. Aber du hast der Welt noch etwas zu geben.« Sie legte die Hand auf die seine. »Versprich mir, daß du das tun wirst, um was ich dich bitten will.« »Was ist es?« »Du mußt es versprechen, Tonio. Mir zuliebe.« Er wußte, was sie von ihm wollte. Aber wie konnte er das Leben eines anderen auf sein Gewissen nehmen? Und doch war es menschlich, war es eine Gnade, ihr zu willfahren. Er hatte sich selbst geschworen, Lucia das Leben zu nehmen, bevor er sie die Qualen erleiden ließ, die Clarissa jetzt auszustehen hatte. Sollte er für Clarissa weniger tun? »Ich verspreche es«, sagte er schließlich. »Du willst, daß ich dir helfe, dein Leben zu nehmen, nicht wahr?« »Gib mir bloß etwas, was besser ist als die Schlinge«, antwortete sie. Antonio suchte in seiner Tasche herum. Er trug keine Gifte bei sich. Somit mußte es eine ordentliche Droge sein, von der eine große Dosis genommen wurde. Das einzige, was ihm hierfür geeignet erschien, war der kräftige Extrakt des Opiummohns, den man jetzt mehr und mehr zur Linderung von Schmerzen anwendete. Er nahm eine große Flasche aus der Tasche; ihr Inhalt reichte aus, einen Schlaf herbeizu360
führen, aus dem man nicht mehr erwachte. Gewiß war dies eine mildere Art zu sterben, als durch die Schlinge, aber er zögerte noch, während er die Flasche in der Hand hielt. Es war Mord, was immer der Grund zu solchem Handeln sein mochte. Und war das zu rechtfertigen, fragte ihn sein Gewissen. Draußen hörte man Schritte. Der Wärter kam zurück. Und mit einer raschen Bewegung wand ihm Clarissa die Flasche aus der Hand und verbarg sie unter ihrer Decke. »Gott segne dich, Tonio mio«, hauchte sie. »Die Zeit ist um, Señor«, sagte der Wärter an der Tür. Antonio schloß seine Tasche. »Leb wohl, Clarissa, du bist sehr tapfer.« Draußen blickte er noch einmal auf die gebietenden, grauen, vom kalten Mondlicht umspielten Mauern zurück, dann schritt er durch die schlafende Stadt auf das Haus Bellarmi zu.
VII
Z
u seiner Überraschung sah Antonio, während er näher kam, daß im ganzen Haus Girolamo Bellarmis Lichter brannten, obschon es nahe an Mitternacht war. Sollte der Kaufherr wieder einen Herzanfall erlitten haben, während er in der Casa Santa gewesen, fragte er sich, eilte über die Stufen und suchte nach dem Schlüssel. Aber die Tür wurde indessen schon von innen geöffnet und er sah Lucia unnatürlich bleich vor sich stehen. »Tonio!« rief sie. »Gott sei Dank, daß Ihr hier seid.« »Was ist geschehen?« fragte er angstvoll. »Euer Onkel?« »Der Marquis von Grijalva ist erkrankt.« »Aber doch nicht hier«, entgegnete er entsetzt. »Ja. Er kam vor etwa einer Stunde und suchte Euch. O Tonio, ich 361
bin überzeugt, er ist sehr krank. Und als ich Euch nicht finden konnte – –« »Ich war in der Casa Santa.« Sie schluckte. »Seid Ihr verhaftet worden?« »Nein. Frey Ignacio hat Clarissa Strozzi verhört und bestand darauf, daß ich anwesend sei.« Sie begriff sofort das Gefährliche dieser Situation. »Hat sie über – – über – – die Schwarze Messe ausgesagt?« »Nein. Wo ist Don Pedro?« »In Eurem Schlafzimmer. Er ist auf den Stufen zusammengebrochen.« Don Pedro Grijalva lag zusammengekrümmt im Bett, das Gesicht aschfahl, die Hände auf den Bauch gepreßt; er mußte arge Schmerzen haben. »Ich bin vergiftet worden, Doktor«, keuchte er. Antonio fühlte den Puls. Er war schnell und sehr schwach. Die übrige Untersuchung ergab eine schwere Reizung des Magens, wie sie von Gift verursacht wurde. »Macht Wasser heiß«, befahl er Lucia. »Gebt Senf hinein und laßt es die Diener in mehreren Schüsseln hereinbringen.« »Was wollt Ihr machen?« fragte der Marquis schwach. »Euren Magen entleeren«, antwortete Antonio. »Wann habt Ihr das Gift zu Euch genommen?« »Vor mehreren Stunden. Bei dem Dîner, das der Bischof von Toledo gab. Außer etwas Eiercrème am Ende des Dîners aß ich fast nichts.« Antonio erinnerte sich, daß Vesalius ihm erzählt hatte, der Bischof von Toledo würde einen Empfang geben, zu dem Don Pedro eingeladen war. Aber konnte es Don Diego Espinosa wagen, den Mann zu vergiften oder vergiften zu lassen, welchen der König auserwählt hatte, den berüchtigten Herzog von Alba in den Niederlanden zu ersetzen? »Es war gewiß ein Unfall. Vielleicht habt Ihr etwas gegessen, das Euch nicht bekommen ist.« »Es war kein Unfall«, sagte Don Pedro grimmig. »Ich aß nur die Eiercrème.« Er krümmte sich in einem Anfall von Schmerzen und erst 362
nach einer Weile konnte er weitersprechen. »Gab es eine bessere Gelegenheit, mich loszuwerden? Niemand würde es wagen, den Verdacht auszusprechen, ich sei bei einem Dîner mit dem Minister vergiftet worden.« »Ihr solltet nicht reden«, mahnte Antonio. »Versprecht mir das eine, Doktor. Wenn ich sterbe, müßt Ihr eine post-mortem-Untersuchung durchführen, um festzustellen, ob ich vergiftet wurde.« »Ich bin überzeugt, daß nichts geschehen ist«, beschwichtigte ihn Antonio, aber im Innern wußte er, daß die Anzeichen bereits sehr ernst waren. Don Pedro schloß die Augen und Antonio glaubte, er sei bewußtlos geworden, aber er öffnete sie wieder und seine Lippen bewegten sich. »Ich bin Soldat, Doktor«, flüsterte er. »Ich will sterben, wenn meine Zeit gekommen ist, doch verlange ich, daß mein Mörder bestraft wird. Wenn Ihr Gift findet, meldet es sofort dem König.« Das Brechmittel kam, aber Antonio konnte es nicht anwenden, denn Don Pedro war bewußtlos geworden. Er schrieb ein paar Zeilen an Vesalius und schickte sie mit einem Diener. Bei einem Patienten von der Bedeutung eines Marquis von Grijalva, der unter solch seltsamen Umständen im Sterben lag, wünschte er die Erfahrung und Autorität des älteren Arztes hinter sich. Vesalius erschien innerhalb einer knappen halben Stunde, von seinem Lehrling de Onis begleitet. Er untersuchte Don Pedro und als er fertig war, sagte er mit ernster Miene: »Zweifellos eine Vergiftung.« »Wißt Ihr nichts, was wir dagegen tun könnten?« Vesalius strich sich über den Bart. »Ein Absud von Chinawurzeln könnte helfen. Das ist unsere einzige Hoffnung.« »Aber wir haben keine Zeit, einen Absud zu machen«, warf Antonio ein. »Wartet«, sagte Vesalius. »Ich habe heute morgen einen Kaufmann mit französischen Pocken behandelt. Ich habe noch eine reichliche Menge von Sud in meinem Zimmer stehen.« Er wandte sich an de Onis. »Ihr erinnert Euch, wo ich ihn hinstellte, ja?« 363
»Auf das Brett mit den getrockneten Wurzeln, glaube ich«, antwortete der Lehrling. »Geht rasch nach Hause und bringt die Flasche. Aber versäumt keine Zeit.« Sobald der Lehrling gegangen war, sagte Antonio: »Don Pedro ist überzeugt, daß er bei dem Dîner vergiftet wurde, das der Bischof von Toledo heute abend gab.« »Madre de Dios!« rief Vesalius aus. »Sie wagen viel. Aber das ist ein Plan, der ihnen gelingen kann.« »Das ist es, was Don Pedro sagte.« »Das würde ohne Zweifel des Königs Absichten, Alba zu ersetzen und gegen die Niederlande milder zu verfahren, ändern.« »Ich glaube, der nächste auf der Liste bin ich«, sagte Antonio gedankenvoll. »Wo bleibt de Onis so lange?« rief Vesalius nach einigen Minuten ärgerlich. »Er sollte längst zurück sein.« Er beugte sich über den kranken Mann. »Ich glaube, wir werden die Chinawurzeln nicht mehr brauchen, sein Herzschlag läßt nach.« Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis der Lehrling keuchend, die Flasche in seiner Hand, zurückkam. »Wo wart Ihr so lang?« fuhr Vesalius ihn an und griff nach der Flasche. »Ich – – ich fand sie nicht gleich«, keuchte de Onis. Vesalius langte nach einem Becher auf dem Tisch bei dem Bett und goß den Inhalt der Flasche hinein. Sie mußten jetzt versuchen, die Flüssigkeit dem kranken Mann einzuflößen, und konnten nur hoffen, daß er sie, ohnmächtig wie er war, automatisch hinunterschlucken würde. »Wartet!« rief Vesalius und hielt den Becher an seine Nase. »Das ist nicht Chinarinde.« »Es ist die Flasche, die Ihr verlangt habt«, protestierte de Onis, aber seine dunklen Wangen wurden blaß. »Die Flasche ja, aber nicht der Inhalt.« Wütend wandte er sich an den Lehrling. »Was ist das für eine Dummheit? Ihr brachtet Mandragora.« Er reichte Antonio die Flasche. »Riecht.« 364
Der scharfe Geruch von Mandragora stieg in Antonios Nase. Der Inhalt der Flasche reichte aus, sechs Menschen zu töten und sie waren nahe daran gewesen, ihn diesem sterbenden Mann einzuflößen. »Ich nahm die Flasche, die Ihr mir angewiesen habt«, stotterte de Onis. »Es ist nicht mein Fehler.« »Nicht Euer Fehler? Du Wurm!« Vesalius hob die Faust gegen den kriecherischen Lehrling. »Ich glaube, du hast es dir reiflich überlegt, den Marquis vorsätzlich zu vergiften.« Plötzlich nahmen sie wahr, daß irgend etwas im Zimmer geschehen sein mußte, aber für den Augenblick wußte keiner, was. Dann rief Antonio: »Don Pedro hat aufgehört zu atmen.« Rasch ergriff er seinen Puls. Er verspürte zwischen den Fingern ein paar schwache Schläge, wie das letzte Aufflattern eines sterbenden Vogels, dann war es aus. »Er ist tot«, sagte er langsam. »Wir kamen zu spät.« Vesalius fühlte nun auch den Puls und bestätigte Antonios Feststellung. »Wir werden es niemals wissen, ob er vergiftet wurde«, sagte er bitter. »Doch, wir werden es!« rief Antonio aufgeregt. »Ich mußte ihm versprechen, eine post-mortem-Untersuchung zu machen, wenn er sterben sollte, um zu beweisen, daß er vom Bischof von Toledo vergiftet wurde.« Der Lehrling murmelte irgend etwas, aber Vesalius achtete nicht auf ihn. Er sah Antonio an und in seinen Augen leuchtete es auf. »Benissimo!« rief er, ins Italienische fallend. »Wir werden eine post-mortemUntersuchung durchführen und sie wird uns die Beweise liefern, die wir für den König brauchen.« »Aber die Bewilligung«, stammelte de Onis. »Es ist verboten, ohne besondere Bewilligung einen Körper zu sezieren.« »Bastante!« befahl Vesalius. »Der Marquis selbst hat Dr. Servetus die Erlaubnis gegeben, bevor er starb. Holt Eure Instrumente, Antonio. Rasch.« Als Antonio mit den Instrumenten aus seinem Zimmer kam, trat Lucia aus ihrer Tür. »Don Pedro ist tot«, sagte er nüchtern. »O –« Sie schluckte. »Dann wurde er also vergiftet.« 365
»Zweifellos.« »Aber wenn er schon tot ist, was wollt Ihr dann damit?« Sie wies auf die Instrumente. »Er bat mich, eine Autopsie vorzunehmen, wenn er sterben sollte.« »Wozu soll das gut sein?« »Wir erhalten so den Beweis, daß er von Don Diego Espinosa oder dessen Helfershelfern vergiftet wurde.« Ihre Augen weiteten sich in Angst und sie zitterte. »Es ist gefährlich, Tonio«, flüsterte sie. »Bitte, tut es nicht.« »Es kann nichts passieren, Lucia«, versicherte er ihr. »Es ist nichts weiter als eine Sezierung; sie wird uns aber die Möglichkeit geben, Don Pedros Mörder zu finden.« »Seid vorsichtig«, bat sie. »Ich – – ich habe solche Angst, Tonio.« »Fürchtet Euch nicht. Bald sind wir in Paris in Sicherheit.« Vesalius hatte eine Reihe von Leuchtern um das Bett gestellt, in dem der Leichnam Don Pedros lag. »Laßt mich sezieren«, sagte er, als Antonio die Instrumente brachte. »Gerne. Ihr seid geübter als ich.« Sie hatten beide nicht bemerkt, daß de Onis nicht mehr im Zimmer war. Vesalius schob die Ärmel hoch, öffnete den Instrumentenkasten und nahm ein scharfes Skalpell zur Hand. Antonio hielt einen Leuchter über den Kopf des Toten, damit der Anatom bei seiner Arbeit besser sehen konnte. Vesalius begann. Der Bauch, in dem sie den Beweis suchten, welchen sie brauchten, war rasch geöffnet. Eine schwärzlich-rote Flüssigkeit quoll aus dem Leib. »Sind die Eingeweide zerstört?« fragte Antonio und beugte sich über das Bett. »Ich glaube ja. Zumindest stark angegriffen«, antwortete Vesalius. »Ich werde den Magen untersuchen.« Er legte das Organ frei. »Cáspita. Seht her.« Hier hatten sie den Beweis. Der stark angegriffene Magen wies dort, wo sich das Gift in die Magenwände eingefressen hatte, schwarze Flecken auf. »Der Magen ist fast leer«, stellte Vesalius fest. »Er erzählte mir, daß er nichts gegessen hatte als eine Eiercreme«, berichtete Antonio. 366
»Deshalb hat es so rasch gewirkt«, erklärte Vesalius. »Wer immer den Plan ausgedacht hat, rechnete damit, daß durch die Wirkung des übrigen Mageninhalts das Gift nicht sofort reagieren und man auf diese Weise nicht so leicht erkennen würde, wodurch die Beschwerden hervorgerufen wurden. Da Don Pedro aber sonst wenig aß, schlug der Plan fehl.« »Ich will mir einmal das Herz ansehen«, fuhr er fort. »Dann können wir den Magen als Beweis für den König entfernen.« Unter den Instrumenten befand sich eine scharfe Pinzette, die dazu bestimmt war, Zähne herauszuoperieren. In den Händen des Anatomen schnitt sie leicht durch die Rippen. Vesalius wollte eine genügend große Öffnung im Brustkasten schaffen, um die Organe sehen zu können. Von irgendwo her im Haus klang es plötzlich, als bewegten sich viele Füße über den Boden. Antonio hob den Kopf und lauschte. Und wieder hörte er das Geräusch. Er stellte den Leuchter beiseite und schritt zur Tür. »Was ist los?« fragte Vesalius und zerrte an den Rippen, als er die dazwischenliegenden Muskeln durchtrennte. »Ich weiß es nicht. Eine Tür schlug zu.« Jetzt erst bemerkte Antonio, daß der Lehrling nicht im Zimmer war. »Habt Ihr de Onis fortgeschickt?« »Ich? Nein. Er war noch hier, als wir die Untersuchung begannen.« Vesalius zuckte die Achseln. »Er ist ein Feigling. Wahrscheinlich konnte er den Anblick nicht ertragen.« Wieder vernahm Antonio das Geräusch und jetzt war es ihm Gewißheit, daß es schwere Tritte seien. Mit einem befriedigten Brummen legte Vesalius nun die Öffnung frei, die er in des toten Mannes Brust geschnitten hatte. »Antonio, seht her. Das Herz in situ und völlig normal. Der Tod kann also nur durch das Gift eingetreten sein.« Plötzlich wurde die Tür des Zimmers aufgestoßen und Antonio dadurch an die Wand gedrückt. Verdutzt sah er bewaffnete Männer in das Zimmer stürzen, auf deren glänzenden Rüstungen und Hellebarden sich das Licht der Kerzen spiegelte. Der große Offizier, der sie anführte, hieß sie neben dem Bett Aufstellung nehmen. Vesalius blickte 367
erstaunt auf. Plötzlich fuhr eine kleine Gestalt nach vorne und Antonio hörte de Onis rufen: »Da seht! Das Herz schlägt noch.« Eine Sekunde lang herrschte lautlose Stille im Raum, dann brüllte Vesalius wie ein gereizter Stier: »Lügner! Dieser Mann ist seit beinahe einer Stunde tot.« De Onis redete aufgeregt auf den großen Offizier ein und zeigte auf den Körper Grijalvas. Der Offizier zögerte, aber auf das Drängen des Lehrlings rief er dann: »Madre de Dios, es ist wahr, Ihr habt einen lebendigen Menschen aufgeschnitten.« Vesalius ließ das Skalpell fallen und mit den noch bluttriefenden Händen faßte er den Lehrling an der Kehle. »Du Lügner! Du elender Hund! Dieser Mann war tot, bevor du weggingst, und du weißt es sehr gut.« Der Offizier ergriff Vesalius und zog ihn von dem zitternden de Onis weg. »Silenzio!« fuhr er ihn an. »Ihr seid verhaftet.« Antonio hatte sich nun wieder gefaßt und kam hinter der Türe hervor. »Es ist, wie Dr. Vesalius sagt, Señor«, versicherte er dem Offizier. »Der Marquis von Grijalva starb schon vor einer Stunde. Das können wir beide beschwören.« »Bastante!« entgegnete der Offizier barsch. »Ich sah mit eigenen Augen, daß das Herz noch schlug.« »Und ich auch!« kreischte de Onis. »Judas!« Vesalius spie ihn an. »So bist du die ganze Zeit im Solde der Inquisition gestanden und hast mich ausspioniert.« Stolz richtete de Onis seinen schlanken Körper empor. »Ich bin ein Mitglied der Inquisition und werde Euch als Ketzer brennen sehen.« »Entfernt das Blut von Euren Händen und kommt mit uns«, sagte der Offizier kurz zu Vesalius. »Und Ihr auch«, fügte er zu Antonio gewandt hinzu. »Aber Dr. Servetus hat doch bloß zugesehen«, protestierte Vesalius. Der Offizier versetzte Vesalius daraufhin mit dem Rücken der gepanzerten Faust einen Schlag, daß er in die Knie brach. »Cállese usted!« bellte er. Vesalius erhob sich mühsam; wo ihn die gepanzerte Faust auf der Wange getroffen hatte, blutete er. Jetzt, da Vesalius von den Wa368
chen gehalten wurde, kam de Onis näher und spie ihm ins Gesicht. Von glühendem Zorn übermannt, schritt Antonio vor, ehe ihn noch die Wachen zurückhalten konnten. Er empfand ein wildes Gefühl des Triumphes, als er seine Faust in das dunkle Gesicht des Lehrlings stieß und er dessen Augen plötzlich glasig werden und den Körper zu Boden fallen sah. Zwei der Bewaffneten stießen Antonio durch die Tür. Er stolperte zwischen den beiden die Stiege hinunter, da sah er, wie Lucia ihn von der Schwelle ihres Zimmers her anstarrte. »Tonio«, formte es sich auf ihren Lippen, aber er schüttelte den Kopf, um ihr zu bedeuten, sie möge nicht sprechen und nicht die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Es war ihm tröstlich, zu wissen, daß man Lucia nicht in die erdichtete Anklage mit einbezog, die den Zweck hatte, ihn und Vesalius davon abzuhalten, dem König ihren unwiderleglichen Beweis für die Vergiftung Don Pedros vorzulegen. Hätte der Verräter de Onis Vesalius heute nicht hierher begleitet, dann hätten sie ihr Vorhaben sicher mit Erfolg ausführen können. Wenige Minuten später schlossen sich hinter ihnen die Pforten der Casa Santa. Dieses Mal, das wußte Antonio, würden sie sich nurmehr für den Gang zum Scheiterhaufen wieder auf tun.
VIII
A
m Morgen nach der Verhaftung wurde Antonio gefesselt in das große Verhörzimmer gebracht. Es wunderte ihn, daß sie ihn so rasch vor ein Gericht stellten, denn für gewöhnlich ließen die Inquisitoren ihre Opfer eine Zeitlang in der Einsamkeit und rechneten damit, daß die Furcht vor Bestrafung, der Ekel vor den Ratten und ungezieferverseuchten Verliesen und die physischen Wirkungen des Hungers und Durstes ihren Willen schwächte. Wie er sich im Raum umblickte, 369
sah er Clarissa ausgestreckt auf der Folterbank liegen. Hatte sie das Opium, das er ihr gegeben hatte, schon eingenommen oder hatte es der Wärter entdeckt und zerstört? Dann fiel ihm ein, sie könnte das Mittel erst dann genommen haben, als sie wußte, daß ihr wirklich noch eine Folterung bevorstand. Da er ja selbst schon Gefangener gewesen war, konnte er ihr nachempfinden, wie sie während der langen Stunden der Nacht gewartet haben mußte und sich an die Hoffnung geklammert hatte, daß irgend etwas sie noch retten könne. Aber war es ihr dann möglich gewesen, das Mittel noch rechtzeitig einzunehmen? »Die Gefangene Clarissa Strozzi ist in einer Art Betäubungszustand«, teilte ihm Frey Ignacio kurz mit. »Ich vermute, daß es irgendwie mit dem Magnetismus, mit dem Ihr so vertraut seid, in Zusammenhang steht. Erweckt sie aus dieser Betäubung.« Antonio schritt zu dem Gestell, auf dem Clarissas Körper angebunden war. Die mit Sperrklinken befestigten Lederriemen um ihre Arme und Beine waren bereits angezogen, daß das Leder in das Fleisch einschnitt, aber Clarissa zeigte kein Zeichen von Bewußtsein. »Sie spricht nicht«, grollte der Foltermeister. »Doch atmet sie und auch ihr Herz schlägt.« »Wie lange ist sie schon so?« fragte Antonio. »Wir fanden sie in diesem Zustand im Verlies auf.« An ihrem langsamen Atmen und den winzigen Pupillen erkannte Antonio, daß sie vom Opium betäubt war. Sie befand sich bereits jenseits jeder Fähigkeit, körperlichen Schmerz zu verspüren. Glücklicherweise kannte wahrscheinlich keiner der Inquisitoren die Symptome der Opiumvergiftung und er wußte, daß er sehr vorsichtig sein mußte, um ihren Verdacht nicht zu erregen, sonst würde man ihn des zweifachen Mordes anklagen. »Erweckt sie aus dieser Betäubung«, befahl Frey Ignacio. »Das kann ich nicht«, antwortete Antonio. »Ihr lügt. Ihr müßt sie in diesen Zustand versetzt haben, während Ihr sie gestern in die Zelle brachtet. Der Wärter sagt aus, Ihr wäret eine halbe Stunde bei ihr gewesen.« 370
»Aber ich kann dennoch nichts für sie tun.« »Weigert Ihr Euch, mir zu gehorchen?« »Ich weigere mich nicht«, erklärte Antonio. »Ich kann nicht.« »An den Wippgalgen mit ihm!« schrie Frey Ignacio. »Wir wollen sehen, ob wir ihn überzeugen können.« Ein kalter Schreck durchfuhr Antonio. Es gab nichts, das er für Clarissa tun konnte. Nichts, so sehr sie ihn auch folterten. »Es ist gegen das Heilige Gesetz, jemanden zu foltern, der nicht eines Verbrechens angeklagt ist«, protestierte er. Frey Ignacio zuckte bloß die Achseln. »Wippgalgen.« Der Foltermeister grinste freudlos, erfaßte Antonios Handgelenke und schleifte ihn durch das Zimmer vor den Wippgalgen, dessen Strick von der Rolle herabhing. Mit einer rohen Bewegung öffnete er die Handfesseln, zog Antonios Hände hinten am Rücken zusammen und band sie mit einem kurzen Strick aneinander. Daran knüpfte er das eine Ende des langen Strickes vom Wippgalgen und zog am anderen Ende, bis sich das Seil straffte und Antonios Arme nach rückwärts aufzog. Es bereitete ihm wahnsinnigen Schmerz, wie die überspannten Muskeln gegen diesen Zug nicht nachgeben wollten. Er fühlte den Schweiß der Qual und Angst auf seinem Gesicht ausbrechen. »Nun, Doktor«, sagte Frey Ignacio. »Seid Ihr noch immer starrköpfig?« »Ich kann sie nicht erwecken«, erklärte er. Der Foltermeister hing sein Gewicht an den Strick. Langsam wurde Antonio von seinen nach hinten ausgestreckten Armen in die Höhe gehoben, bis die Fußspitzen kaum mehr den Boden streiften. Sein Körper schwang, drehte sich, und qualvoller Schmerz riß an seinen Schultern und Armen, so daß er aufschrie. Eine Minute schwang er vielleicht so, während ihm vor Schmerz übel wurde. Er versuchte die gefolterten Schultergelenke zu entlasten, indem er seinen Körper hob, aber das brachte ihm nur für den Augenblick Erleichterung, denn bald ermüdeten seine Muskeln und wieder hing er mit dem ganzen Gewicht an den gestreckten Armen. »Nun, Doktor?« Derselbe Blick teuflischen Vergnügens traf ihn aus 371
des Inquisitors Augen, den er schon während Clarissas Folterung gesehen hatte. »Ich – – ich kann nicht«, stöhnte Antonio. »Ich schwöre, daß ich die Wahrheit spreche.« Der Notar, der nahe bei Clarissa gestanden hatte, um sich an ihrer Schönheit zu weiden, schrie plötzlich: »Eure Hochwürden, die Frau ist tot!« »Tot!« echote Frey Ignacio mit gehobener Stimme. »Sie kann nicht tot sein!« Der Foltermeister ließ den Strick des Wippgalgens fallen, rannte zu dem Gestell und löste in wilder Hast die Sperrklinken, durch die der Druck auf Clarissas Körper ausgeübt wurde. Antonio blieb mit angebundenen Handgelenken taumelnd vor Schmerz und Übelkeit unter dem Galgen stehen. Aber trotz seiner Betäubung kam es ihm zum Bewußtsein, warum sie Clarissa so rasch von der Folterbank bringen wollten. Das Gesetz der Inquisition war im Falle des Todes während der Tortur sehr streng. Es würde jeden einzelnen der am Verhör Beteiligten des Verbrechens beschuldigen, wobei die Hauptschuld vor allem den jeweiligen Inquisitor traf. Nur durch eine entsprechende Buße, auf die das Gesetz streng achtete, konnte ein derartiges Verbrechen gesühnt werden. Die Inquisitoren hüteten sich daher sorgsam, den Tod unter solchen Umständen herbeizuführen. Frey Ignacio aber hatte diesmal einen schweren Fehler begangen. Er hatte geglaubt, Clarissas Betäubung sei nur eine Folge des Magnetismus gewesen und wollte sie wieder foltern lassen, während sie durch die Opiumvergiftung schon im Sterben lag. Wenn es nun dem Foltermeister gelang, Clarissas Körper vom Gestell abzunehmen, noch ehe sie für tot erklärt worden war, konnten sie noch immer behaupten, Clarissa sei nicht unter der Folter gestorben und Frey Ignacio würde so entlastet sein. Das letzte, das Antonio jetzt für Clarissa tun konnte, war, daß er den Inquisitor für ihren Tod bezahlen ließ. In der Aufregung, die durch den Ausruf des Notars entstanden war, wurde Antonio von niemandem beachtet. Den langen Strick an sei372
nen Handgelenken hinter sich herziehend, schritt er schnell auf die Folterbank zu, beugte sich über Clarissa und legte das Ohr auf ihre Brust. Wenn sie noch atmete oder ihr Herz noch schlug, dann mußte er das Heben ihrer Brust verspüren oder den Herzschlag hören. Den Puls konnte er nicht fühlen, weil ja seine Hände im Rücken zusammengebunden waren. Frey Ignacio durchschaute als erster seine Absicht. »Haltet ihn zurück!« schrie er. Bevor ihn die Wachen noch zurückreißen konnten, hatte er schon seinen Kopf gehoben. Keine Bewegung, kein Herzschlag war auf Clarissas Brust zu spüren gewesen. Sie war friedlich gestorben, bewußtlos durch das Opium, das sie am Morgen genommen hatte. »Bei meinem Eid als Arzt«, Antonios ernste Verkündigung ließ sie alle, auch den Inquisitor, vor Erstaunen erstarren, »erkläre ich, daß diese Frau tot ist und daß sie auf der Folterbank während des Verhörs gestorben ist.« Die Stille war nahezu hörbar. Dann kreischte Frey Ignacio wie ein Fischweib: »Ketzerischer Mörder! Ihr lügt!« »Ich bin Arzt«, erklärte Antonio ruhig. »Ein Mitglied der Ärzteschaft Madrids und ich schwöre hier vor diesem Notar, daß diese Frau während der Tortur auf der Folterbank gestorben ist.« Frey Ignacio war fahl vor Wut. Seine hagere Gestalt bebte und die Augen brannten in einem Feuer glühenden Hasses. Antonio hatte das Gefühl, er wollte auf ihn springen und bereitete sich schon auf den Schmerz "vor, unter dem ihm diese klauenähnlichen Finger das Gesicht zerreißen würden. Aber dann schlug die Wut des Inquisitors um und mit listigem Blick meinte er: »Ihr wart gestern abend bei ihr, Doktor. Was habt Ihr ihr gegeben, damit sie sich das Leben nehmen konnte?« »Ihr könnt Eure eigene Schuld nicht verringern, Frey Ignacio«, sagte Antonio kalt. »Ich rufe hier jeden auf, zu bezeugen, daß Ihr schuld seid an dem Tod dieser Frau und dies nach dem Heiligen Gesetz sühnen müßt.« Antonio wußte, daß das einzige, das einem Inquisitor als Buße zu tun übrig blieb, sein Rücktritt war. Wenn er nichts erreichte, als daß Frey Ignacio eine Zeitlang aus Madrid entfernt wurde, dann hatte er manch armem Teufel, auch sich selbst geholfen. 373
»Wir werden sofort in ihrer Zelle nachsehen«, sagte Frey Ignacio. »Dort werden wir den Beweis finden, welches Mittel er ihr gegeben hat. Und Ihr werdet uns begleiten, Doktor.« In dem Verlies, in dem Clarissa gefangengehalten wurde, fragte Frey Ignacio: »Ist aus der Zelle der Clarissa Strozzi irgend etwas entfernt worden?« »Nein, Euer Hochwürden«, antwortete der Wärter. »Seit der Doktor gestern abend hier wegging, habe ich die Zelle nicht mehr betreten.« »Öffnet sie.« In der Zelle stand nichts als die schmale Bank, die als Bett gedient hatte. Darauf lag die zerfetzte Decke, unter der Clarissa gestern die Opiumflasche vor den Augen des Wärters verborgen hatte. Antonios Herz schlug schneller, als Frey Ignacio jetzt die Decke von der Bank riß. Aber es gab kein Klirren brechenden Glases. Irgendwie mußte es Clarissa gelungen sein, die Flasche loszuwerden. Aber wie? Seine Augen blieben an der Öffnung in der Ecke der Zelle haften, durch die das Wasser und die Abfälle abflossen, wenn die Zelle gelegentlich gereinigt wurde. Das Morgenlicht, das durch das kleine vergitterte Fenster direkt in diese Ecke fiel, ließ dort irgend etwas aufglitzern. Antonio erkannte nun, daß Clarissa, nachdem sie das Mittel eingenommen, die Flasche in die Rinne geworfen hatte. Aber Frey Ignacio konnte jeden Augenblick in die Rinne schauen. Während die Wachen die am Boden liegenden Fetzen umdrehten, drückte sich Antonio unauffällig entlang der Mauer auf die Rinne zu. Sein Fuß berührte die Flasche und er fühlte die glatte Oberfläche durch das weiche Leder. Mit einer blitzartigen Bewegung stieß er die Flasche in die Öffnung und gleich darauf konnte er hören, wie sie in den Kanal fiel, der unter dem Haus verlief und in dem die Abfälle weggeschwemmt wurden. Frey Ignacio fuhr herum. »Was war das?« Niemand wußte es und Antonio ließ sich nichts anmerken. So mußten sie die Suche bald zwecklos aufgeben. Aber der Inquisitor war davon überzeugt, daß Antonio Clarissa etwas gegeben hatte, mit dem sie sich das Leben hatte nehmen können. Da er jedoch keinen 374
Beweis erbringen konnte, mußte er die Schuld an ihrem Tod auf sich nehmen. »Bringt ihn in seine Zelle zurück«, sagte er schließlich und stelzte hinaus. Für Antonio, der nun wieder in seiner Zelle saß, bedeutete es eine kleine Genugtuung, Frey Ignacio neuerlich übertrumpft zu haben. Aber was half es ihm? Clarissa war tot, Andreas Vesalius gefangen, und wer konnte wissen, ob nicht auch Lucia und Gian auf irgendeine erdichtete Anschuldigung hin verhaftet würden? Niemals noch war seine Lage so hoffnungslos gewesen und niemals hatte er weniger Aussicht, mit dem Leben davonzukommen, als jetzt, so unmittelbar vor der Flucht. Wenige Wochen noch, und er, Lucia, ihr Onkel und Gian wären außer Reichweite der Inquisition gewesen. Hätte nicht Don Grijalva, gequält von dem Gift, das in seinen Eingeweiden brannte, gestern Hilfe gesucht bei dem Mann, der ihm schon einmal das Leben gerettet hatte, wäre alles gut gegangen. Eines aber beruhigte Antonio sehr: der Gedanke, daß Signore Bellarmi Lucia nun gewiß so rasch als möglich nach Frankreich in Sicherheit bringen würde.
IX
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acht folgte auf Tag und Woche folgte auf Woche. Außer, daß Licht von Dunkelheit und Dunkelheit von Licht abgelöst wurde, geschah nichts und ein Tag glich dem andern. Irgendwie – er vermutete den Einfluß der Königin – war Antonios Aufenthalt in der Casa Santa angenehmer, als während seiner ersten Haft. Seine Zelle lag nicht so tief und war daher den großen, grauen Ratten, die sein erstes Gefängnis zur Nachtzeit bevölkert hatten, weniger zugänglich. Auch die Kost war bedeutend besser, wenngleich auch nur gerade genug, um das Leben zu erhalten. 375
Antonio hatte seinen bescheidenen Vorrat an Geld dem Wärter gegeben, der ihn dafür laufend mit Nachrichten über die Vorgänge in der Casa Santa versorgte. So hörte er vom Prozeß Andreas Vesalius' vor dem neuen Inquisitor, der anstelle Frey Ignacios eingesetzt wurde, während dieser zur Buße für sein Verschulden an Clarissas Tod hatte zurücktreten müssen. Vesalius war der Ketzerei und des Mordes angeklagt, weil er den Leichnam Don Pedros geöffnet hatte, während nach Zeugenaussagen das Herz noch schlug. Der Beweis, daß Don Grijalva tatsächlich an den Folgen einer Vergiftung gestorben war, verschwand unglücklicherweise, da Don Raffaele Grijalva als nächster Verwandter den Körper seines Onkels verlangt und ihn mit übertriebener Hast begraben hatte. Der neue Inquisitor, sagte man, war nicht annähernd so hart mit Vesalius verfahren, wie es Frey Ignacio getan hätte, und sein schließliches Urteil lautete: Verbannung und nicht Tod. Es hieß auch, daß sich der König für seinen einstigen Leibarzt eingesetzt und keinen geringen Einfluß auf das Urteil ausgeübt hätte. Diese Nachrichten stärkten Antonios Mut. Ohne das Gift des Frey Ignacio und angesichts der Tatsache, daß der neue Inquisitor im Rufe stand, milder zu sein, mochte er vielleicht eine Möglichkeit haben, seine Unschuld zu beweisen, oder zumindest mit einem weniger harten Urteil davonzukommen. Das waren auch so seine Vorahnungen, mit denen er den Verhandlungssaal der Casa Santa betrat, als er eines Morgens vorgeführt wurde. Der Raum war wie immer kahl und gebietend; in der Ecke standen die gräßlichen Foltergeräte, grimmige Zeugen von der Macht der Inquisition. Hinter dem großen Tisch saß nur ein Mann. Es war eine große Gestalt in der Robe eines hohen Dominikaners, die den Kopf wie im Gebet geneigt hielt. Irgend etwas an diesen Schultern und dem hageren, aber mächtigen Äußeren schien Antonio bekannt zu sein. Dann hob der Inquisitor den Kopf und Antonios Herzschlag setzte einen Augenblick lang aus. Das Zimmer begann sich um ihn zu drehen und die Sinne drohten ihm zu schwinden; er war unfähig, zu glauben, was er hier mit eigenen Augen sah. Es war Fra Felipe Santos, der hinter dem Tisch saß. Und dann brach 376
eine spöttische Stimme das Schweigen. »Buenas dias, Doktor Servetus«, sagte sie. »Ihr seid ohne Zweifel überrascht, einen anderen Eurer Freunde aus Italien hier in Madrid zu finden.« »Wie kommt Ihr hierher?« ächzte Antonio. Fra Felipe stützte die Ellbogen auf dem Tisch auf und legte die Fingerspitzen aufeinander. »Der Inquisitor von Madrid, Frey Ignacio Molina und ich sind sehr alte, liebe Freunde. Ich schrieb ihm natürlich von Euch, als ich durch Signore Porzia die Mitteilung erhielt, daß Ihr Italien verlassen und Euch nach Madrid begeben hättet. Vor einigen Monaten benachrichtigte er mich, daß Ihr hier wäret und Euch auf verschiedene ketzerische Schliche eingelassen hättet. Sobald es meine Gesundheit erlaubte, kam ich nach Madrid, und da Frey Ignacio abwesend war, wurde ich als Inquisitor eingesetzt, um sein Amt bis zu seiner Rückkehr zu verwalten.« »Dann werdet Ihr wissen«, fragte Antonio, »daß ich von der Schuld ketzerischen Treibens durch die Inquisition freigesprochen wurde?« »Weil Ihr eine List angewendet habt.« Fra Felipe zuckte die Achseln. »Aber diesmal wird Euch das nichts nützen. Ich bin nicht ohne Erfahrung in diesem Amt, Dr. Servetus.« Antonio erinnerte sich, daß man sagte, Santos sei Inquisitor gewesen, infolge seines Eifers aber, durch den so mancher beim Verhör gestorben war, seines Amtes enthoben worden. »Unglückseligerweise«, fuhr der Mönch fort, »ist das Gemälde, das Ihr gestohlen – –« »Es gehört Lucía Bellarmi«, unterbrach ihn Antonio. »So?« Des Bruders Augenbrauen hoben sich. »Wie poetisch! Ihr seid doch unter der Pflege dieser Dame genesen? Das macht meine Aufgabe leichter.« »Eure Aufgabe?« »Die, von Euch ein Geständnis über die Verbrechen, die Ihr begangen habt, zu erhalten und Euch der gerechten Strafe zuzuführen.« »Ich habe kein Verbrechen begangen«, entgegnete Antonio. »Ihr habt mich angegriffen und ich habe mich davor geschützt.« »Wenn ich mich recht erinnere«, verbesserte ihn Santos, »habt Ihr 377
mich in Padua zuerst angegriffen, um mich daran zu hindern, um Hilfe zu rufen. Das sollte genügen, Euch denselben Weg gehen zu lassen, den Euer ketzerischer Bruder gegangen ist. Die Gesetze der heiligen Kirche sind besonders streng, was Verbrechen betrifft, die gegen einen ihrer Diener gerichtet sind.« Antonio wußte, daß das stimmte. Aber bei dem Kampf waren nur sie beide anwesend gewesen und es stand nur das Wort des Priesters gegen das seine. »Das Gesetz verlangt mehr als einen Zeugen«, verwies er. »Nicht aber, wenn der Angeklagte das Verbrechen bekennt. Laßt mich Euer Geständnis vorlesen, Doktor. Ich habe mir die Freiheit genommen, es vorzubereiten.« »Ich werde es nicht unterzeichnen!« rief Antonio. »Ihr habt keinen Beweis.« »Sachte, sachte. Laßt mich das Geständnis wenigstens vorlesen. Es ist sehr kurz.« Er nahm ein Blatt Papier zur Hand, das auf dem Tisch vor ihm gelegen hatte. »Ich, Antonio Servetus, Arzt von Padua und Madrid, bekenne, am 15. August anno domini 1563 im Kloster des Dominikanerordens zu Padua die Person des heiligen Priors dieses Ordens, Fra Felipe Santos, ohne herausgefordert worden zu sein, angegriffen zu haben in der Absicht, seinen Tod herbeizuführen. Hätte sich der hochwürdige Prior nicht verteidigt, wäre mir dies gelungen. Ich flüchtete aus dem Kloster, da mein Plan fehlschlug, und ließ ihn schwer verwundet, ohne Arzt und ohne mich um ihn zu kümmern, zurück. Dies gestehe ich aus freiem Willen ein, ohne daß gegen meine Person Gewalt angewendet wurde, und ich fordere diejenige Bestrafung für meine Sünde, die nach den Gesetzen unserer heiligen Kirche vorgeschrieben ist.« Santos legte das Papier nieder. »Ihr kennt die Bestrafung, die nach kanonischem Recht auf diesem Verbrechen steht, nehme ich an.« »Ja«, bekannte Antonio. Es war der Tod am Pfahl ohne die Gnade der Schlinge. »Seid Ihr bereit, das Geständnis zu unterschreiben?« »Nein«, sagte Antonio fest. »Es ist eine gemeine Lüge.« 378
Santos lächelte. »Ich habe von Euch so ziemlich erwartet, daß Ihr starrköpfig sein würdet«, sagte er. Dann wandte er sich an den Foltermeister, der neben seinen Geräten wartete, und gab ihm ein Zeichen. Die Tür am anderen Ende des Zimmers wurde geöffnet und eine Frau in den Saal gezerrt. Sie trug das grobe Kleid der Gefangenen der Casa Santa, und plötzlich wußte Antonio, warum Fra Felipe so sicher gewesen war, daß er sich durchsetzen würde. Denn es war Lucia, die dort stand. Ihr Gesicht war bleich, aber den Kopf hatte sie stolz erhoben und selbst in dem groben Gefangenenkleid sah sie unsagbar lieblich aus. »Wollt Ihr das Geständnis nicht doch lieber unterschreiben?« fragte Santos. »Oder wollt Ihr dieses liebliche Kind auf der Folterbank gebrochen sehen?« Unfähig, zu glauben, daß solche Grausamkeit, solche Mißachtung all dessen, wofür Gott und sein Sohn eingestanden, möglich war, starrte Antonio Fra Felipe an. Aber er sah kein Mitleid in seinen Augen, sondern eher dasselbe unheilige Feuer der Freude an menschlichem Schrecken und Leid, das er in den Augen Frey Ignacios gesehen hatte. Weder für sich, noch für Lucia konnte er von diesen Teufeln Gnade erwarten. »Sie ist unschuldig«, sagte Antonio heiser. »Sie hat nichts getan.« »Möglich«, erwiderte Fra Felipe. »Das wird sich aber erst zeigen, wenn wir sie verhört haben.« Seine Stimme war wie ein Peitschenhieb. »Bindet sie und an den Wippgalgen mit ihr.« Noch ehe Antonio etwas einwenden konnte, hatte der Foltermeister das grobe Kleid erfaßt und es ihr vom Leib gerissen. Eine Sekunde lang stand sie wie eine Marmorstatue, erstarrt vor Schreck und Scham. Dann hob sie instinktiv die eine Hand, um ihre Brust zu verdecken. Antonio hörte den Notar am Ende des Tisches tief aufseufzen und dann den Atem anhalten. Was seine eigenen überraschten Blicke jedoch bannte, war nicht die Enthüllung von Lucias schlanker, nackter Lieblichkeit. So wie sie hier stand, ihre Brust und Scham vor den entweihenden Blicken der Männer im Saale verbergend, genauso war die Stellung der Venus auf Botticellis Gemälde. Zug um Zug, in jeder Li379
nie, sogar in der Ebenmäßigkeit und Vollendung ihres Gesichtes und dem krönenden Gold ihres Haares, war sie die göttliche Venus des Gemäldes. Wie er sie so in ihrer Lieblichkeit vor sich sah, erkannte er blitzartig, welch ein Narr er gewesen. Es war nicht die Venus des Gemäldes, die er die ganze Zeit geliebt hatte, sondern Lucia, die jene Nacht in seinem Arm geschlafen hatte, als Clarissa Strozzi von der Inquisition gefangengenommen wurde, Lucia die es gewagt hatte, die Casa Santa zu betreten, um ihm zu helfen, Lucia, die in all den Widerwärtigkeiten, die ihm in Spanien zugestoßen waren, unerschütterlich an seiner Seite gestanden hatte. Er erkannte nun, daß sich der Künstler in ihm in das Gemälde verliebt hatte, bevor er Lucia noch getroffen. Eine Zeitlang war er auch unfähig gewesen, den Künstler vom Mann zu trennen. Aber es war der Mann, der Lucia seit der ersten Begegnung im Kloster geliebt hatte, und es war der Mann, der jetzt in der Ekstase seiner Entdeckung ausrief: »Lucia! Es war nicht die Venus, du warst es die ganze Zeit!« Bei seinen Worten schwand das Schamrot aus ihren Wangen und sie erhob stolz den Kopf. Ihre Augen leuchteten, wie sie die seinen trafen, aus denen in diesem tragischen Moment des Bewußtwerdens dieselbe Liebe sprach. Fra Felipe Santos beugte sich nach vorn. »Santa Maria!« keuchte er. »Sie ist wirklich die Venus des Botticelli.« Dann begann er unvermittelt zu lachen. Antonio beugte sich über den Tisch, um über das silberne Kruzifix hinweg nach des Inquisitors Kehle zu langen. Aber die Fesseln an seinen Handgelenken und die Fußeisen hinderten ihn daran. Die Wachen, die nahe neben ihm standen, zogen ihn kurz vor Erreichung seines Zieles zurück. »Habt Ihr kein Schamgefühl, keine Menschlichkeit?« wütete er und kämpfte noch, den Priester zu erreichen. Santos trocknete sich die Augen. »Vergebt, Doktor«, sagte er, »aber das ist fast wie ein Heldenmärchen, oder wollen wir vielleicht sagen, wie eine griechische Tragödie. Madonna Lucia ist die Venus des Botticelli-Gemäldes. Ich entsinne mich nun ihres Onkels, der mir erzähl380
te, daß Simonetta Vespucci, die Schwester des Amerigo, zu dem Bildnis Modell gestanden und daß seine Nichte in Florenz dieser so ähnlich sei.« »Es ist wirklich eine vollkommene Tragödie«, fuhr er fort. »Ihr bringt mich wegen des Gemäldes beinahe um. Dann am Ende der Geschichte entdeckt Ihr, daß Ihr die Frau liebt, die das Bild darstellt … bloß, um sie zum Schluß zu verlieren.« Die Worte drangen an Antonios Ohr wie die Verkündigungen beim Jüngsten Gericht. Er hatte Lucia gefunden, nur um sie zu verlieren. Wenn er sie schon verlieren sollte, dann mußte er wenigstens die Gewähr haben, daß sie gerettet würde. Fra Felipe mußte sich klar sein, daß er Antonio nicht aufgrund derselben fadenscheinigen Beschuldigungen, die er auch gegen Vesalius erhoben hatte, verurteilen konnte; gewiß konnte er nicht die Todesstrafe fordern, da er Vesalius nur verbannt hatte. So verfaßte er dieses Geständnis, um zu veranlassen, daß über Antonio die Todesstrafe durch das Feuer verhängt würde. Da er so begierig war, das Geständnis unterzeichnet zu haben, war es möglich, daß er zu handeln bereit war. »Ich will es unterschreiben«, sagte Antonio, »wenn Ihr mir schwört, daß man Madonna Lucia gestattet, das Land frei und unbehelligt zu verlassen.« »Das ist eine ritterliche Geste, die ich von Euch erwartet habe, aber Ihr seid nicht in der Lage, Bedingungen zu stellen.« »Ich glaube schon, daß ich das bin«, entgegnete Antonio in der Hoffnung, seine Stimme klinge kühl und sicher. »Ihr wißt, daß Ihr über mich nicht die Todesstrafe verhängen könnt für ein Vergehen, für das Vesalius nur verbannt wurde. Aber wenn ich das Geständnis unterschreibe, könnt Ihr mich an den Pfahl bringen. Mein Preis ist Madonna Lucias Sicherheit.« »Nun gut«, sagte Fra Felipe, »ich bin einverstanden.« Er langte nach des Notars Federstand – es war derselbe, den Antonio verwendet hatte, um Frey Ignacio zu überlisten – und nahm einen Kiel heraus. Er tauchte ihn in die Tinte, überreichte ihn Antonio und schob ihm das Blatt mit dem Geständnis über den Tisch zur Unterschrift hin. 381
»Nein, Tonio, nicht!« hörte Antonio Lucia schreien, während er sich herabbeugte, um das Geständnis zu unterzeichnen, das zugleich sein Todesurteil war. Als er den Kiel niederlegte, war sie bereits aus dem Saal gebracht worden.
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s war erstaunlich, dachte Antonio, wie ruhig man angesichts des sicheren Todes sein konnte, wenn einmal alle Hoffnung geschwunden war. Seine Ruhe resultierte zum Teil aus der Erleichterung, die er empfand, weil ihm in dem gräßlichen Verhandlungssaal, wo das erlauchte Tribunal tagte, kein Auftritt mehr bevorstand, und zum Teil weil er wußte, daß Lucia in Sicherheit war. Sie mußte jetzt schon mit dem Onkel Spanien verlassen haben und befand sich wahrscheinlich schon in Paris. Sein Geständnis hatte ihre Rettung ermöglicht und wenn sein Leben als Preis für Lucia galt, dann war dies ein Preis, den zu zahlen er gewillt war. Aber es gab auch dunkle Stunden, in denen er daran dachte, wie ihr gemeinsames Leben in England hätte sein können, nun da er wußte, wie sehr er sie liebte und daß auch sie ihn liebte; Lucia an seiner Seite, die ihm mit ihrem Mut geholfen und ihn mit ihrem Geist angefeuert hätte, neue Entdeckungen zu machen, um die Menschen vor Krankheit zu bewahren! Aber nun war alles zu Ende und er fragte sich manchmal, warum seine Hinrichtung so lange hinausgeschoben wurde. Der einzige Grund, den er sich denken konnte, war, daß man ihn wahrscheinlich für ein neues Autodafé anläßlich der Rückkehr Frey Ignacios zurückstellte. Zehn Tage, nachdem er das Geständnis unterzeichnet hatte, erhielt Antonio Besuch. Es war Nacht und die Zelle in Dunkelheit gehüllt, als er Schritte auf dem Steinflur vernahm. Bald konnte er das mat382
te Leuchten einer Laterne und einen Mann im Gewand eines Dominikanerbruders, mit tief in das Gesicht gezogener Kapuze, nahen sehen. Erst als er sich ihm zuwandte und an Antonios Tür herankam, erkannte er ihn. »Gian!« rief Antonio aus. »Vorsicht!« warnte der Künstler. »Wir dürfen nur flüstern.« »Aber wie kommst du hierher?« »Die Wachen bestochen«, sagte Gian. Er beugte sich näher und senkte die Stimme zu solch einem leisen Flüstern, daß Antonio ihn nur hören könnte, indem er sein Ohr an die Barren der Tür preßte. »Ich habe alles vorbereitet, deine Flucht zu ermöglichen.« »Es hat keinen Sinn, Gian«, sagte Antonio hoffnungslos. »Es würde dich nur selbst in Schwierigkeiten bringen.« »Aber sie werden dich auf dem Scheiterhaufen verbrennen, Antonio. Man sagt, daß du bei dem Autodafé hingerichtet wirst, wenn Frey Ignacio nächste Woche zurückkehrt.« »Ich habe mich damit abgefunden, Gian. Nun, da Lucia gerettet ist.« »Du weißt nicht, daß sie noch in der Casa Santa ist?« Antonio ergriff die Balken. »Das kann nicht stimmen, Gian. Fra Felipe schwor, daß sie sofort das Land verlassen dürfe, wenn ich das Geständnis unterzeichne.« »Das war eine List«, erwiderte Gian. »Ich habe erst vor wenigen Minuten mit ihr hier gesprochen.« »Aber Santos versprach – –« »Du weißt, daß man niemandem von der Inquisition trauen kann«, sagte Gian. »Girolamo Bellarmi starb einen Tag, nachdem Lucia verhaftet wurde …« »Er ruhe in Frieden«, murmelte Antonio. Bellarmi war ein guter Mann gewesen. Bei seinem geschwächten Herzen hatte ihm der Schreck über Lucias Verhaftung den Tod gebracht. »Lucia ist die Erbin«, fuhr Gian fort. »Die Bellarmis haben noch immer große Summen hier in Madrid. Du wirst dir doch nicht vorstellen, daß sich die Inquisition einen Preis wie diesen entgehen läßt.« Die Besitztümer der wegen Ketzerei Verurteilten wurden von der Inquisi383
tion beschlagnahmt und Antonio wußte, daß mehr als ein Gefangener nicht wegen seines Vergehens, sondern nur wegen seines Reichtums hingerichtet wurde. »Auch gegen mich liegt ein Haftbefehl vor«, sagte Gian. »Aber die Königin hält mich verborgen.« Antonio empfand eine kalte Wut gegen Fra Felipe Santos und all die Ruhe und Resignation, zu der er während der vergangenen Wochen gelangt war, schien hinweggefegt. Er hätte den hageren Bruder erdrosseln mögen, wenn er ihn hätte erreichen können. In einer Welt, in der solchen Kreaturen Macht gegeben war, gab es keinen Platz für Friede und Einsicht. Er hatte versucht, dem Recht und der Wahrheit zum Sieg zu verhelfen und erwartete den Tod. Aber jetzt galt seine Verantwortung Lucia; irgendwie mußte er ihr helfen, aus der Casa Santa zu entkommen. »Du sprachst von Flucht«, sagte er zu Gian. »Hast du einen Plan?« »Die Königin hat mir zur Bestechung der Wachen Geld gegeben. Wenn wir aus der Casa Santa und Madrid herauskommen, wird sie uns mit Pferden und einem Geleitbrief versorgen, damit wir über die Grenze nach Frankreich gelangen.« »Dann ist es unsere Aufgabe, hier herauszukommen. Aber wie sie lösen?« »Es wird nicht leicht sein. Aber einige Umstände werden uns günstig sein. In die Casa Santa kamen vor kurzem eine Anzahl neuer Dominikanerbrüder und ich weiß, daß die Wachen draußen sie nicht alle kennen. Der Wärter und mehrere von den inneren Wachen stehen in meinem Sold. Ich bin gewiß, daß ich dich als verkleideten Mönch aus dem Gefängnis herausbringen könnte, aber mit Lucia geht das nicht. Sie ist zu klein.« »Dann müssen wir uns etwas anderes ausdenken«, sagte Antonio. »Es ist leichter, hier tot als lebendig herauszukommen«, meinte Gian verdrossen. »Zweimal habe ich gesehen, wie sie Särge hinaustrugen, als ich hereinkam.« »Gian!« Antonios Stimme hob sich vor Aufregung. »Wir werden Lucia in einem Sarg hinaustragen.« 384
»Aber wie?« »Kannst du einen leeren Sarg in die Casa Santa bringen?« Gian nickte. »Ja. Das wird nicht schwer sein. Sie haben sie beim hinteren Eingang hinaufgetragen. So komme ich auch herein.« »Dann kannst du es machen. Du mußt es tun, Gian.« »Aber angenommen, die Wachen öffnen den Sarg, um sich zu vergewissern, daß wir einen Toten drinnen haben?« »Lucia wird wie eine Tote aussehen. Ich werde sie magnetisieren.« »Auf die Art, wie Lodovici Clarissa zu Stein verwandelt hat«, sagte Gian, auf den sich Antonios Aufregung übertragen hatte. »Ich glaube, das dürfte klappen, Tonio.« »Es muß gelingen«, entgegnete Antonio ernst. »Wenn nicht …« Dann sagte er kurz: »Du solltest besser hingehen und die Vorkehrungen treffen. Wann glaubst du, daß wir es versuchen sollen?« »Morgen abend. Frey Ignacio könnte früher zurückkommen, als uns lieb ist. Ich kann den Sarg bis morgen machen lassen.«
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ls der Tag sich neigte und die Nacht der Flucht hereinbrach, wuchsen Antonios Aufregung und Besorgnis. So viel konnte bei ihrem gewagten Unternehmen schiefgehen, daß er es sich nicht erlauben durfte, darüber nachzudenken, um nicht zu verzweifeln. Auch nicht über den Lohn, wenn es gelang: fort zu sein aus diesen verwünschten Mauern, in einem freien Land mit einem neuen Leben vor sich und Lucia an seiner Seite. Zwei Stunden vor Mitternacht vernahm er Schritte und sah das matte Schimmern einer Laterne, die sich im Gange näherte. Er wartete an der Tür, die Gian öffnete; den Schlüssel hatte er ebenfalls durch Bestechung erhalten. Während sich Antonio aus der von Ungeziefer star385
renden Gefängnistracht schälte und das von Gian mitgebrachte dunkle Gewand über den Kopf zog, gab ihm der Künstler einen kurzen Bericht über seine Fortschritte. »Alles ging wie am Schnürchen. Der Sarg ist in Lucias Zelle und mein Diener wartet dort bei ihr.« »Können wir ihm trauen?« »Wir müssen es«, antwortete Gian grimmig. »Sein Bruder wurde von der Inquisition getötet, und er weiß, daß er ein reicher Mann sein wird, wenn wir bis Frankreich durchkommen.« »Hattest du Schwierigkeiten, den Sarg hereinzubringen?« fragte Antonio und zog die Kapuze des Habits über seine Stirne, so daß sie sein Gesicht völlig beschattete. »Die Wache am Tor ließ mich ein, ohne zu fragen. Sie werden mich in einer Weile wieder zurückerwarten.« Wie ein Dominikanerbruder und dessen schwarz gekleideter Vertrauter, wie sie hier oft genug gesehen wurden, schritten sie beide durch die dunklen Gänge des Gefängnisses. Es kostete sie Mühe, ihre Schritte zu mäßigen, wie es sich für Priester geziemte, aber sie durften sich durch ihre Hast nicht selbst verraten. Lucia saß auf der Bank in ihrer Zelle und blickte auf den leeren Sarg am Boden. Gians Diener, ein großer und brauchbar aussehender Bursche, war wie Antonio gekleidet, nur ragte über der Kordel, die seine Hüfte umgab, der Griff eines Dolches heraus. Antonio schlug die Kapuze seines Gewandes zurück und Lucia warf sich in seine Arme. »Ich glaubte dich schon tot, Tonio«, schluchzte sie. »Alles ist gut, mein Lieb.« Ganz selbstverständlich kam das Wort über seine Lippen. Er hielt sie an sich und besänftigte ihre Furcht. »Nimm dich zusammen, wir haben nur wenig Zeit.« Sie hob den Kopf und trocknete ihre Tränen. »Ich – – ich bin bereit«, sagte sie. »Du weißt, was wir machen wollen?« »J – – ja.« Sie blickte auf den Sarg und schauderte. »Ich – ich habe keine Angst«, hauchte sie, »wenn wir zusammen sind.« 386
»Wir werden immer zusammen sein«, versprach er. »Nun leg dich auf die Bank und mach genau, was ich dir sage. Auf keinen Fall darfst du dich sträuben.« »Ich verstehe.« Sie rang sich ein Lächeln ab. Antonio befahl dem Diener, die Laterne etwas über Lucias Körper zu halten, so daß sie ihre Augen leicht auf die kleine Flamme richten konnte. Es war keine Zeit, eine andere Lichtquelle herbeizuschaffen; die Laterne mußte genügen. »Schau in die Flamme, Lucia. Blicke hinein und denke an nichts, als an das, was ich dir sage.« Gehorsam richtete sie die Augen auf den brennenden Docht und die pflaumenförmige Flamme. Niemals, nicht einmal in den dramatischen Augenblicken, in denen er Frey Ignacio überlistet hatte, sich selbst zu magnetisieren, hatte Antonio sich so hart auf seine Aufgabe konzentriert. Seinen Blick auf sie gerichtet, begann er die monotonen Sprüche und plötzlich schlossen sich Lucias Augen, ihr Kopf fiel zur Seite, bis die Wange auf die schmutzige Decke, die die Bank bedeckte, gesunken war. »Kannst du mich hören, Lucia?« »Ja, Tonio«, antwortete sie schläfrig. »Du mußt tun, was ich dir sage, Liebste. Dein Körper wird steif in jedem Muskel. Sträube dich nicht. Bald wirst du alle Fähigkeit, dich zu bewegen, verlieren und du wirst steif bleiben, bis ich dich davon wieder befreie.« »Ja, Tonio«, murmelte sie und als er ihren Arm berührte, merkte er, daß er sich auf seinen Befehl schon versteifte. Langsam, wie er es bei Lodovici gesehen hatte, strich er mit den Händen über ihren Körper und er fühlte, daß sich die Muskeln unter seinen Fingern verhärteten, bis sich ihr Körper wie Stein anfühlte und alle Farbe aus ihrem Gesicht gewichen war. Wie sie so dalag, schwach atmend, daß man es kaum wahrnahm, sah sie tatsächlich wie eine Tote aus. Antonio unterdrückte einen unwillkürlichen Schauer der Angst. Sollte das ein Omen sein? Dann schüttelte er seine Unentschlossenheit ab und sprach zu Gian und dem Diener: »Wir können sie in den Sarg heben.« 387
Lucias Körper ließ sich nicht biegen, während er in den rohen Sarg gelegt wurde. Sie legten den Deckel darauf und Gian befestigte ihn so, daß ein größerer Spalt frei blieb, damit sie genug Luft bekommen konnte. Antonio und der Diener hatten ungefähr die gleiche Größe und sie hoben den Sarg auf ihre Schultern, während Gian mit der Laterne voranging. »Wir werden bei den Wachen gut durchkommen«, meinte Gian, »denn sie alle wissen, wie ängstlich die Inquisitoren darauf bedacht sind, daß nicht zu viele Leute in der Casa Santa sterben oder daß es zumindest nicht bekannt werde.« Langsam bewegten sie sich durch das Gefängnis, ohne jemandem zu begegnen. Gians Bestechungsgelder waren ausreichend und außerdem an den richtigen Mann gebracht worden. Die ganze Sache war wirklich lächerlich einfach gewesen, dachte Antonio. Beinahe zu einfach. Gian hielt an und wartete, daß ihm die beiden nachkamen. Der Gang war hier von Lampen, die in den Mauernischen brannten, erleuchtet. »Wir nähern uns dem hinteren Eingang«, flüsterte Gian. »Haltet Eure Kapuzen ordentlich übers Gesicht und überlaßt mir das Reden mit den Wachen.« Sie schritten weiter und sahen nun das Tor wenige Schritte vor sich. Antonio fühlte die Pulse vor Aufregung höher schlagen, denn nicht mehr lange und sie waren jenseits der Mauern in Sicherheit. Plötzlich hob Gian die Hand empor und sie hielten im Schatten zwischen zwei brennenden Lampen an. Das äußere Tor wurde geöffnet und ein Stimmengemurmel drang herein. Dann betraten zwei Männer das Gewölbe und schlossen die Tür hinter sich. Der eine trug das lange Gewand eines Dominikaners, der andere einen Anzug aus dunklem Samt. Schlagartig erkannte Antonio Fra Felipe Santos und Armand de Quadra – ein Paar, das sie gewiß zuallerletzt zu treffen wünschten. Die Ankömmlinge waren schon fast an den kleinen Zug herangekommen, da erblickte sie Fra Felipe. »Was ist das?« fragte er scharf. Gian blieb im Schatten. »Wir tragen die Leiche eines armen Sünders«, sagte er und hielt die Laterne niedrig, damit das Licht nicht auf sein Gesicht scheinen konnte. 388
»Wer seid Ihr?« fragte Fra Felipe. »Ich kann mich nicht an Euch erinnern.« »Frey Luis Sánchez, Hochwürden, erst vor kurzem aus Barcelona angekommen.« Santos schien mit dieser Erklärung zufrieden und bestätigte damit Gians Feststellung, daß viele der Brüder in der Casa Santa neu waren. Aber Santos kam näher an den Sarg heran. Antonio hatte das Brett vor sich gegen sein Gesicht gepreßt, so daß sein Gesicht unter der Kapuze nunmehr völlig verborgen war. »Laßt den Sarg herunter«, befahl Fra Felipe. »Ich möchte die Leiche sehen.« Auf einen Wink Gians ließen sie den Sarg herunter und stellten ihn zu Boden. »Öffnet ihn«, ordnete er an. »Ich sehe, daß der Deckel lose ist.« Antonio stand noch gut im Schatten, während sich Gian über den Sarg beugte, seinen Finger in den Spalt schob und so tat, als wäre er ganz zugenagelt. Langsam hob er den Deckel, bis der von dem groben Kleid bedeckte Körper Lucias sichtbar wurde. Aber er hatte bei den Füßen aufgemacht und so wurde ihr Gesicht noch teilweise verdeckt und in dem schwachen Licht konnte ihre Identität nicht erkannt werden. Gian langte in den Sarg und hob Lucias Fuß bei der Ferse. Der Körper war noch so steif, wie sie ihn in den Sarg gelegt hatten. »Seht«, sagte Gian, »die Todesstarre ist bereits eingetreten.« Aber als er ihren Fuß wieder zurücklegte, verschob sich das Gewand und ließ die ebenmäßige Linie ihrer Wade und ihres Schenkels sehen. »Ay Maria!« rief Fra Felipe aus. »Es ist eine Frau.« Er langte hinunter, riß den oberen Teil des Sargdeckels los und legte so Lucias marmorbleiches Gesicht frei. »Das Bellarmi-Mädchen! Was soll das?« Antonio hatte den Blick auf den Sarg gerichtet und dabei nicht bemerkt, daß Armand de Quadra in seine Nähe gekommen war. Plötzlich wurde ihm die Kapuze vom Kopf gerissen und sein Gesicht entblößt. »Caspitá!« schrie de Quadra. »Es ist Dr. Servetus.« Er sprang zurück und riß einen Dolch heraus. »Socorro!« formte sich auf seinen Lippen, denn Antonio war plötzlich auf ihn gesprungen, hatte seine Kehle erfaßt und ihm den Schrei abgeschnitten. Zur gleichen Zeit sah 389
er Gian auf Fra Felipe losstürzen, aber er war mit de Quadra zu sehr beschäftigt, um irgend etwas anderem Aufmerksamkeit zu schenken. Unter der Wucht von Antonios Angriff krachten beide Männer zu Boden, aber auf Antonios Seite war der Vorteil des Augenblicks und er landete auf seinem Gegner. Sie kämpften eine Weile; de Quadra in der Absicht, den Dolch zu ziehen und Antonio zu dem zwiefachen Zweck, jedweden Schrei seines Gegners zu unterdrücken und ihn vom Gebrauch seiner Waffe abzuhalten. Antonio gelang es, sein Knie auf de Quadras rechten Arm zu setzen; jetzt konnte er des Mannes dunklen Kopf heben und schlug ihn wieder und wieder auf den Steinboden. Erst als der Körper unter ihm schlaff wurde, ließ er von den mörderischen Schlägen ab. Von der anderen Seite des Sarges, wo Gian über Fra Felipe Santos kniete, kam ein gurgelnder Laut. »Mach Schluß mit de Quadra, Tonio. Ich habe diesen Sohn der Hölle in meiner Hand.« Mit de Quadra war zur Zeit nichts zu machen. Er war bewußtlos und ob er ihn schwer verletzt hatte oder nicht, wußte Antonio nicht. Er zog den Dolch, den de Quadra für ihn bestimmt hatte und war einen Augenblick lang versucht, ihn in de Quadras Brust zu stoßen. Dann erinnerte er sich, daß de Quadra ihm bei dem Angriff der Bettler das Leben gerettet hatte und er riß rasch das Wams des bewußtlosen Mannes auf, um daraus Streifen zu reißen. Mit dem festen Gewebe band er de Quadras Hände und Füße. Er formte gerade einen Knebel, als sich Gian erhob und fragte: »Was zum Teufel treibst du denn, Tonio?« »Er hat mir das Leben gerettet, als mich die Bettler angriffen«, erwiderte Antonio. »Ich zahle es ihm jetzt zurück.« »Das ist mehr als verdient«, grollte Gian. »Aber beeile dich.« »Was ist mit Fra Felipe?« Gian lachte kurz auf. »Ich gab ihm die Gnade, die er so manchem unschuldigen Mann erteilt hat – – die Schlinge, mit der Kordel seines eigenen Gewandes.« Lucia hatte indessen in ihrem Sarg in magnetischer Trance geschlafen. Schnell legten sie wieder den Deckel darauf und Antonio und der Diener hoben ihn auf ihre Schultern, während Gian die zwei Körper in eine lee390
re Nische schleifte. Die Wache draußen am Tor fand nichts Unrechtmäßiges daran, daß ein Bruder und seine Gehilfen einen toten Sünder aus der Casa Santa trugen; es kam zu häufig vor, als daß der Vorfall verdächtig erschienen wäre. Außerdem hatte der Inquisitor selbst gerade das Gefängnis betreten und mußte ihnen im Gang begegnet sein. In der dunklen Allee, die hinter den drohenden Steinmauern der Casa Santa verlief, hatte Gian einen Wagen und ein Pferd zurückgelassen. Sie hoben den Sarg in den Wagen. Der Diener trieb das Pferd an und Antonio und Gian gingen zu beiden Seiten des Gefährts. So bewegten sie sich durch die verlassenen Straßen dem Stadttor zu. »Gott gebe, daß du de Quadra gut geknebelt hast«, sagte Gian im Weitergehen. »Wenn er bis morgen nicht gefunden wird, haben wir einen guten Vorsprung. Und wenn wir wie die Teufel reiten, müssen wir jeden Verfolger los werden.« »Hast du den Geleitbrief?« fragte Antonio. »Er ist bei den Pferden, die vor der Stadt warten.« Gian hatte eines der kleineren Tore gewählt und als sie sich näherten, hob der Posten die Laterne empor und er blickte sie an. »Warum verlaßt Ihr zu dieser Stunde die Stadt, frommer Bruder?« »Wir tragen die Leiche einer armen Frau, die an der Pest gestorben ist und in ihrem Heimatort begraben sein will«, antwortete Gian. »Die Pest!« Der Posten trat zurück und bekreuzigte sich. »Válgame Dios! Geht! Geht schnell!« Das Gefährt kam durch und Antonio seufzte erleichtert auf. Eine halbe Meile jenseits der Stadt zweigte Gian von der Straße ab und sie fuhren einer kleinen bewaldeten Schlucht zu. Dort warteten fünf Pferde, die von einem Mann in der Livree der Dienstleute der Königin gehalten wurden. Gian warf die Kapuze zurück. »Habt Ihr die Kleider gebracht?« »Si Señor. Dort bei dem Baum. Vollständige Ausstattung für drei Mann und einen Knaben.« »Und den Geleitbrief?« »Der ist hier.« Er überreichte Gian ein gefaltetes, mit dem königlichen Wappen versiegeltes Papier. 391
»Schön.« Gian gab ihm einen kleinen Beutel mit Münzen. »Ihr könnt nun gehen und sagt Ihrer Majestät, daß alles gut gegangen ist.« Der Mann bestieg eines der Pferde. »Qué vaya bien, señores«, sagte er und verschwand gegen die Straße zu. »Rasch, Tonio«, drängte Gian, während er sich seines Gewandes entledigte. »Erwecke Lucia, Juan und ich nehmen inzwischen die anderen Kleider. Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Antonio hob den Deckel vom Sarg. Völlig unbeweglich und scheinbar so leblos lag Lucia da, daß er erschrak, sie könnte wirklich tot sein. Dann fanden seine Finger ihren Puls; er war stark und regelmäßig. »Lucia«, sagte er nahe an ihrem Ohr. »Lucia, kannst du mich hören?« »Ja, Tonio«, sagte sie vernehmlich. »Wenn ich jetzt noch einmal deinen Namen nenne, wirst du erwachen. Verstehst du mich?« »Ja, ich verstehe.« »Lucia!« rief er scharf. »Wache auf!« Sie öffnete die Augen, richtete sich im Sarg auf und blickte verwundert umher. Dann sah sie Antonio und warf die Arme um seinen Hals. »Sind wir in Sicherheit, Liebster? Wo sind wir hier?« »Wir befinden uns außerhalb der Stadttore«, sagte er und hob sie aus dem Sarg. »Erinnerst du dich an etwas?« »An nichts, seit ich in der Zelle einschlief.« »Du sagtest einmal, du würdest dich nicht magnetisieren lassen, erinnerst du dich?« »Ja. Ich erinnere mich.« »Nun habe ich dich aber magnetisiert. So ist das Pfand fällig.« »Ich will den Preis gerne bezahlen«, erwiderte sie und zog seinen Kopf herab, bis sich ihre Lippen fanden. Seine Arme schlossen sich um sie und für einen Augenblick waren sie im Taumel ihres ersten wirklichen Kusses verloren. Dann bewegten sich Lucias Lippen unter den seinen. »Ich wollte ihn schon lange bezahlen«, sagte sie. »Per Bacco!« rief Gian und unterbrach ihr Idyll. »Dazu ist noch Zeit genug. Rasch. Wechselt Eure Kleider, wir müssen sofort aufbrechen.« 392
XII
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er Wagen fuhr langsam den Hügel hinauf, hielt oben eine Weile an, damit die Pferde vor dem Abstieg verschnaufen konnten, und der Kutscher zog die Bremsen an. Antonio hatte, ermüdet von der langen Reise über den Kanal, in den Polstern geschlafen. Jetzt setzte er sich auf und blickte aus dem Fenster. »Lucia!« Er stieß sie mit dem Ellbogen an. »Schau, da unter uns.« Verschlafen sah sie zum Fenster hinaus und rieb sich die Augen, als könnte sie nicht glauben, was sie sah. Das silberne Band eines kleinen Flusses und die anmutigen Häuser auf dem weiter entfernten Ufer blinkten im Nachmittagssonnenlicht – ein Bild ruhiger Schönheit. »Kutscher!« rief Antonio. »Was ist das für eine Stadt?« »Die dort?« Der Kutscher spuckte in den Staub. »Das ist Cambridge, Herr.« »Und der Fluß?« »Sie nennen ihn Cam.« Die Cambridge-Universität in England, die Heimstätte von Gonsville und dem Caius College. Es war so, wie Antonio es sich im Geist ausgemalt hatte, ein Ort der Schönheit, des Friedens und der Freiheit. »Sieh dort den Fluß, Lucia«, sagte Antonio in plötzlicher Erregung. »Sieh doch, wie klar er ist. Das ist ein gutes Omen.« »Ein Omen, Tonio?« fragte sie stirnrunzelnd. »Wieso denn?« »Er ist nicht wie der Bacchiglione. Erinnerst du dich, wie dunkel und schmutzig der war?« »Der Bacchiglione in Padua.« Sie schauderte. »Ich erinnere mich daran, es war ein schrecklicher Fluß.« Der Wagen fuhr wieder an und sie lehnten sich in die Polster zurück. Antonio legte den Arm um Lucias Schulter und sie schmiegte sich an 393
ihn. »Vielleicht war es gar nicht so schlimm«, sagte Antonio lächelnd. »Der Bacchiglione gehörte zu Padua und dort habe ich das Gemälde gefunden … und dich … Madonna mia.« Sein Arm schloß sich fester um sie und sie seufzte leise und glücklich. »Ich habe mich beim Erforschen meiner Kunst oft in Lebensgefahr begeben« … die Worte des Paracelsus gingen im Rhythmus der rumpelnden Wagenräder durch seinen Kopf. »Ich schämte mich nicht, selbst von Vagabunden, Barbieren und Henkern zu lernen …« Auch Antonio hatte von Vagabunden, Barbieren und Henkern gelernt und er wußte, daß er durch dieses Lernen ein besserer Mensch und Arzt geworden war. »Denn wir wissen, welch weiten Weg ein Liebhaber gehen muß, um die Frau zu finden, die er liebt …« Welch langen Weg war er gegangen! Durch halb Europa hatte er ihn geführt, aber nun hielt er die Frau, die er liebte, in seinen Armen. Konnte er noch mehr verlangen? »Um wieviel weiter wird dann der Liebhaber der Weisheit zu gehen verlockt sein, auf der Suche nach seiner göttlichen Geliebten!« Vor ihm lag Cambridge und das neue Leben, das ihm von Dr. John Caius angeboten worden war; ein neuer Meilenstein auf seiner Suche nach Weisheit. Aber mit einem wachsenden Gefühl der Erregung kam ihm zum Bewußtsein, daß diese Suche niemals enden würde und daß der Mensch, so sehr er auch immer danach streben mag, die Weisheit … die göttliche Geliebte … nie ganz wird sein eigen nennen.
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