KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
KARLHEINZ DOBSKY
Hans Christian A...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
KARLHEINZ DOBSKY
Hans Christian Andersen Das Märchen seines Lebens
VERLAG
SEBASTIAN
MURNAU- MÜNCHEN
LUX
-INNSBRUCK -ÖLTEN
Die Mutter
E
s war einmal — ein kleiner Schustergeselle, der hatte nichts, was er sein Eigen nennen konnte. Er mußte seinem Weibe eine Bettstatt aus erbettelten Sargbrettern zimmern, und die Not lief ihm nach wie ein getreuer Schatten, sein Leben lang. Es tut uns leid, daß unsere Geschichte so traurig beginnt, doch wir versprechen, daß sie fröhlich endet. . .
Unser Schustergeselle hieß Hans Andersen und lebte sein kümmerliches Leben in Odense, der Residenzstadt der dänischen Insel Fünen zwischen Großem und Kleinem Belt. Das Bild dieser kleinen und reichen Stadt wurde bestimmt von den bunten Uniformen einiger Regimenter, die dort in Garnison lagen, von den Herrensitzen der Adelsfamilien, vom Schloß des Gouverneurs Prinz Christian — und von einem Theater, von dem noch die Rede sein wird. Schuhmacher war auch Hans Andersens Vater, ein stadtbekanntes Original und leider „nicht ganz richtig im Kopfe", was nicht verschwiegen werden soll. Der wanderte zum Gaudium der Jugend in einem phantastischen Aufputz aus Lumpen und Flitterkram durch Stadt und Land, mit selbstgeschnitzten, bunt bemalten und vergoldeten Figuren hausierend, an denen sein verdunkelter Geist mehr Freude fand, als an den Schuhen der Bürger von Odense. Oft wird sein Wanderstab auch ein Bettelstab gewesen sein — sehr zum Kummer seines Weibes. Sie hat später dem Enkel gegenüber den Großvater in einen wohlhabenden Landwirt ,,umgedichtet", der von Feuersbrunst und Viehseuche geschlagen worden sei und über soviel Schicksalsnot den Verstand verloren habe; auch sie selbst stamme aus wohlhabendem, adeligem Hause, von bestem Rufe und Ansehen. So erzählte sie ihrem Enkelsohn, — und der hörte es gern . . . Hans Andersen aber, der Schuster und Schusterssohn, heiratete trotz seiner Armut eine Dienstmagd, die auch nichts mitbrachte als zwei kräftige Arbeitshände. Sie war über fünfzehn Jahre älter und zwei Köpfe größer als ihr Mann. Am 2. April des Jahres 1805
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Einer der reizvollen Falt-Scherenschnitte dea Dichters
gebar sie ihm einen Sohn und gab ihm die Vornamen des Vaters und Prinz Christians, des Gouverneurs der Insel, und so wurde das Kind als Hans Christian Andersen in die Kirchenbücher der Stadt Odense eingetragen. Die Eltern hatten bei der Geburt ihres Sohnes noch kein gemeinsames Heim. In dem Hause an der Ecke der Hans-JensenStraede und der Bangs-Boder in Odense, dem jetzigen AndersenMuseum, das eine Gedenktafel als Andersens Geburtshaus bezeichnet, haben sie nie gewohnt. Erst als Hans Christian Andersen 63 Jahre alt war, machte eine wohlwollende und freundlich gesinnte Schreiberhand dieses Haus zur Stätte seiner Geburt durch eine fälschliche Eintragung ins Kirchenbuch der Stadt; niemand hatte Interesse an einer Berichtigung, und der Wandel der Zeiten machte die freundliche Erfindung allmählich wirklicher als die Wirklichkeit. Ein Märchen steht am Beginn dieses wundersamen Lebens, bei dessen Erzählung uns noch viel Märchenhaftes begegnen wird. 3
Die Armut und Not dieser Kindheit aber sind bittere Wahrheit. Hans Christians Mutter wusch zwar fleißig und unverdrossen für die Bürger der Stadt, und es spricht manches dafür, daß der Ertrag ihrer Arbeit für den ärmlichen Haushalt wichtiger war als die kargen und unregelmäßigen Einkünfte des Vaters. Erst im Jahre 1806, als Hans Christian ein Jahr alt war, konnte die Familie eine eigene dürftige kleine Wohnung beziehen. Sein „Elternhaus", wenn man's so nennen will, hat er uns sehr anschaulich und ganz ohne märchenhafte Ausschmückung in seinen Erinnerungen beschrieben: die kleine Stube in dem Armeleutehaus an der Munkemoelle-Stfaede, in der sich die Schusterwerkstatt, das elterliche Ehebett und die Schlafbank des Kindes drängten, zusammen mit Herd und Truhe, einem Bücherbord an der Wand und einem Holzkasten mit Schnittlauch und Petersilie in der Dachrinne vor dem Fenster. „Das war der ganze Garten meiner Mutter", schreibt Hans Christian später, „in meinem Märchen ,Die Schneekönigin' blüht er heute noch!" Den närrischen Großvater fürchtete er. Die Kinder auf den Gassen schrien dem kleinen Andersen nach: „Der ist ja verrückt wie sein Großvater!" Dann flüchtete er zurück in die Arme der Mutter oder zu der geliebten Großmutter „aus adligem Hause", deren phantastische Erzählungen ihm die erhebende Vorstellung einer „besseren Herkunft" jenseits von Hunger, Not und Entbehrung vorgaukelten. Die Jahre dieser Kindheit standen im Zeichen eines Mannes, dessen Bild auf einem billigen, handkolorierten Kupferstich die Schusterstube schmückte: Napoleon. Im Jahre 1807 schloß die Dänische Monarchie, bestehend aus den Königreichen Dänemark und Norwegen sowie aus den Herzogtümern Schleswig und Holstein, ein Bündnis mit dem Kaiser der Franzosen, der zeitweise spanische Regimenter als Schutztruppe in den Norden verlegte. Auch Odense wimmelte von fremdem Militär; verwundert lauschte der junge Hans Christian auf die seltsamen Sprachen und Melodien. Den armen Vater Schuster aber trieb die Not der Zeit zu einem Schritt, den der Sohn in seinen Erinnerungen als „wahren Schritt der Verzweiflung" bezeichnet: Er wurde Soldat, wurde Soldat für einen anderen, der sich damit vom Militärdienst loskaufte. Im
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Der Marktplatz von Odense mit der St.-Knuds-Kirche
Sommer ;des Jahres 1812 trat der Vater als Bekrut in das 3. Bataillon des Grenadier-Begiments Seiner Majestät des Königs in Odense ein, und im Herbst 1813 marschierte er mit seinem Bataillon ins Holsteinische. Aber weit kam er nicht. Schon im Frühjahr 1814 kehrte der kleine Mann, krank und erschöpft, wieder heim nach Odense. Nicht einmal beim Militär konnte man ihn brauchen! Unzufrieden mit sich selbst, mit der Umwelt zerfallen, nörgelnd und untätig, ließ er sich und sein Kind von den unermüdlichen Wäscherinhänden seiner Frau ernähren und starb im Jahre 1816, als Hans Christian elf Jahre alt war. Die Mutter heiratete zwei Jahre später zum zweitenmal; aber der Stiefvater — wieder ein Schuster und diesmal sogar zwanzig Jahre jünger als die rüstige Wäscherin — nimmt weder im Erleben noch im Erinnern des Knaben einen besonderen Platz ein. Der hing an der Mutter und an der Großmutter. Die alte Frau nahm ihn oft in den Garte.n des Spitals und Irrenhauses mit, wo sie als Aufwärterin arbeitete. Dieser Garten und dieses Haus mit seinen Insassen, den gutmütigen Irren und den Tobenden, den alten Spittelweiblein und den geduldigen Wärtern gehören zu den stärksten 5
Kindheits-Eindrücken Andersens. Da wurden am Spinnrad Geschichten erzählt und Lieder gesungen, die keiner je aufschrieb, die aufblühten aus tiefstem Volksgrund, dort, wo die großen Wahrheiten ruhen und die großen Märchen. Hans Christian besuchte die Armenschule von Odense. Oft, wenn er an der „Lateinschule" vorüberging und die vornehm gekleideten Knaben dieser Schule auf ihrem Spielplatz herumtollen sah, wünschte er sich, zu ihnen zu gehören, „teils wegen der vielen schönen Bücher, die sie hatten, und vor allem, weil sie es in der Welt zu etwas bringen konnten". Die Lesewut war väterliches Erbgut, den Hang zum „Vornehmen" und „Feinen", der ihn durchs ganze Leben begleitete, vermachte ihm die phantasievolle Großmutter. Man sah ihn selten mit anderen Kindern, er hielt sich gern für sich und litt unter den Hänseleien der Altersgenossen, die den hochaufgeschossenen Jungen mit den langen Affenarmen und dem verträumten Wesen sehr komisch fanden und das auch sagten. Er lernte leicht. Mutter und Großmutter sahen voll Bewunderung auf den Knaben, der vielstrophige Gedichte mit viel Gefühlserregung und wilden Gesten auswendig deklamierte oder mit seinem Puppentheater, zu dem er die Kostüme selber nähte, Shakespearesche Trauerspiele aufführte. Eine freundliche alte Pastorenwitwe, die als Stiftsdame in der Nähe der elterlichen Wohnung ihre Tage verbrachte, wurde seine erste Gönnerin, aus deren Munde er zum ersten Male das Wort „Dichter" vernahm. Hier fand er in Fülle die geliebten Bücher, hier fand er Verständnis für seine Gesänge und Vortragskünste. Was machte es, daß er nebenbei als Laufjunge bei einem Färbermeister einige zu Hause dringend benötigte Groschen verdienen mußte! In sein „Poesiebuch" schrieb er damals: „Jetzt lernte ich lesen, und welch ein Himmel Tat sich mir auf und welch ein Blütengewimmel! Ich zog mit König Lear auf die öde Heide hinaus, Bestand mit Macbeth mit bösen Hexen den Strauß. Ich fuhr mit Niels Klim in der Erde Schoß hinab Und weinte wehmutsvoll an Walborgs G r a b . " 6
Hier verlebte der Dichter die Jahre seiner Kindheit
Bald genügte ihm sein Puppentheater nicht mehr. Er freundete sich mit dem Manne an, der die Programme und Theaterzettel in der Stadt austrug, und half ihm dabei, nicht ohne regelmäßig ein
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Exemplar des Programms für sich zu behalten. Mit solch kleinen Hilfeleistungen und „Beziehungen" verschaffte er sich auch die ersten Eintrittskarten zu der Stätte, um die schon lange seine Hoffnungen und Sehnsüchte kreisten, zum „richtigen" Theater. In ein altes Soldbuch aus des Vaters Soldatenzeit schrieb er eine lange Titelreihe von Theaterstücken hinein, die er einmal selbst zu verfassen gedachte. Mit viel List gelang es ihm auch, am Theater von Odense in kleinen Nebenrollen mitzuwirken, als Page etwa oder als Schäfer, und das erschien ihm wenigstens als die u n terste Stufe des mühevollen Weges zum Ruhme, den er heiß erstrebte. Denn berühmt sollte Hans Christian Andersen werden. Eine närrische Alte im Spital, die mit Hilfe von Spielkarten und Kaffeesatz die Zukunft zu ergründen suchte, sagte zu seiner Mutter: „ I h r Sohn wird einmal ein großer Mann! Ihm zu Ehren wird die Stadt Odense eines fernen Tages festlich illuminiert werden!" Die Mutter erzählte es dem Sohn, der nicht widersprach und die Weisheit der Alten mit feurigen Worten zu loben wußte. Der Weg zum Ruhm führte den Jungen aber zunächst als Lehrling in eine Tuchfabrik, wo er unter dem Gespött der Gesellen so zu leiden hatte, daß ihn die gute Mutter bald wieder fortholte. Sie gab es frühzeitig auf, den Puppenspieler, Stückeschreiber und angehenden Schauspieler zu einer soliden Handwerkslehre zu bewegen, und auch Prinz Christian, der Gouverneur und unfreiwillige Pate, der sich den Knaben einmal vorstellen ließ, vermochte trotz der Zusage wohlwollender Förderung nicht, ihn zum gründlichen Erlernen eines bürgerlichen Berufes zu bestimmen. Der Pfarrer der St. Knuds-Kirche von Odense, der ihn Ostern 1819 konfirmierte, schrieb ins Kirchenbuch als Zeugnis für Hans Christian Andersen: „ H a t sehr gute Fähigkeiten und Kenntnisse in der Religion; ist auch sein Fleiß nicht zu loben, so ist sein Verhalten doch nicht zu rügen." Auf alle Fragen, was Hans Christian Andersen denn nun eigentlich zu werden gedenke, erhielt der Pfarrer immer die gleiche Antwort: „Ich will berühmt werden!" Immer mehr fühlte sich Andersen in der Kulissenwelt des kleinen Residenztheaters zu Hause. Iffland, Schiller und Kotzebue wurden aufgeführt, dazu eine Reihe längst verschollener Ritter-, Räuber- und Soldatenstücke, wie „Abällino, der große Bandit" 8
von Zschokke oder „Die Räuberhöhle in Calabrien" von Schmieder, ein mit großem Beifall aufgenommenes „Schauspiel mit Gefecht, Marsch und Chören". Die musikliebende Gesellschaft von Odense ergötzte sich an der Zauberoper „Das Donauweibchen", von Hensler und Kauer aus Wien. \ Im Sommer 1818 gaben die Schauspieler des Königlichen Theaters in Kopenhagen einige Gastspiele in Odense. Auch hier konnte Hans Christian in einer Pagenrolle mitspielen, und der festliche Glanz der Aufführungen, der Prunk der Kostüme erregten ihn sehr. Jetzt wurde ihm bestürzend klar, daß die Heimat nie seinem brennenden Ehrgeiz genügen konnte. Die Mutter erschrak, als er ihr gestand: „Ich will nach Kopenhagen!" Die arme Frau wird ihre zerschundenen Hände betrachtet haben, mit denen sie wohl das Brot für die Jhren verdienen konnte, aber nicht das Geld für Reisen zur Hauptstadt. Doch das Wunder geschah: Sie legten alle zusammen, was sie erübrigen konnten, der Pastor, die alte Stiftsdame, einige Gönner, die sein Puppentheater mit Vergnügen erlebt hatten, und so kamen doch am Ende ganze dreizehn Reichstaler zusammen. Auch an Empfehlungsschreiben wohlhabender Bürger an einflußreiche Freunde in der Hauptstadt mangelte es nicht. An einem Sommertag des Jahres 1819 begleiteten Mutter und Großmutter den Vierzehnjährigen bis vor die Tore der Stadt. Erst weit draußen, außer Sichtweite des Posthalters von Odense, kletterte Hans Christian zum Postillon auf den Bock; denn der nahm ihn als „blinden Passagier" aus Gefälligkeit und gegen ein Trinkgeld mit bis nach Nyborg am Großen Belt, wo das Postboot wartete. ' „Die Sonne schien in mein leichtes, kindliches Gemüt", so erzählt der Dichter später von der überfahrt. „Sobald ich in Korsör an Land gegangen war, fiel ich hinter einem Schuppen am Strand auf die Knie und betete zu Gott, daß er mir helfen und mich ge^ leiten möge . . . "
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Das häßliche junge Entlein
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adama Schall, die „Primaballerina", die Erste Tänzerin des Königlichen Hoftheaters zu Kopenhagen, sprach noch lange belustigt und verwundert über den seltsamen Besucher, der sich in den ersten Septembertagen des Jahres 1819 mit einem etwas unverbindlichen Empfehlungsschreiben seiner Odenser Freunde bei ihr Zutritt verschafft hatte.
Ein ellenlanger, hagerer Junge stellte sich vor. Die Ärmel des abgeschabten grauen Rocks reichten nicht bis an die mageren Handgelenke. Die Augen waren klein und schräg und schienen einer chirurgischen Operation zu bedürfen, um hinter der übergroßen, vorspringenden Nase freie Aussicht zu bekommen. Um den Hals trug der Knabe ein buntes Kattuntuch so fest geknüpft, daß der lange Hals sich gleichsam anstrengte, frei zu werden. Mit tiefen Verbeugungen nahte er sich der Tänzerin und entledigte 6ich, während sie das überreiche Schreiben überflog, rasch seiner Schuhe. Er war es nicht gewohnt, Schuhe zu tragen, sie drückten ihn sehr — aber nun, auf Strümpfen, konnte ihn keine Macht der Welt daran hindern, der Primaballerina eine seiner tänzerischen und schauspielerischen Sondervorstellungen zu bieten, mit der er sie in helles Entzücken zu versetzen hoffte. Dann trug er ihr ohne Stocken die vollständige Rolle des „Aschenbrödels" vor, aus einem Tanz^ und Singspiel, mit dem das Kopenhagener Theater in Odense aufgewartet hatte, und äußerte in ebenso dringlichen wie wohlgesetzten Worten den Wunsch, mit gütiger Vermittlung von Madame Schall diese Rolle am Königlichen Theater der Hauptstadt zur Freude eines anspruchsvollen und verwöhnten Publikums spielen zu dürfen. Die Tänzerin angelte unauffällig nach dem Klingelzug, der die Zofe herbeirief. Sie heuchelte ihre tiefe Ergriffenheit über den ihr soeben zuteil gewordenen Kunstgenuß, komplimentierte deii tollen Jungen, der sich inzwischen wieder die Schuhe angezogen hatte, ebenso höflich wie bestimmt hinaus und befahl dem Gesinde, die-
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sein „Geisteskranken" unter keinen Umständen jemals wieder Zutritt zu gewähren. Erstaunlich, mit welcher an Dreistigkeit grenzenden Unbekümmertheit — einer Unbekümmertheit, die ihn sein Leben lang nicht verließ — der junge Andersen in seinen ersten Kopenhagener Tagen die gute Gesellschaft heimsuchte, in der heiligen Überzeugung, überall mit heller Begeisterung aufgenommen und als langersehnte Bereicherung empfunden zu werden! Bei dem einflußreichen Schriftsteller I. M. Thiele trat er — nach dessen eigener Schilderung — unvorbereitet und unangemeldet ein, warf seine Mütze hin und fragte, nach der üblichen tiefen Verbeugung, in feierlichem Ton: „Darf ich die Ehre haben, meine Gefühle für die Bühne in einem selbstverfaßten Gedicht auszusprechen?" Worauf er, ohne sich unterbrechen zu lassen, zuerst dieses „Gedicht", dann eine Szene aus einem Lustspiel und zum guten Ende wieder einige selbstgedichtete Strophen vortrug, um dann, wieder nach allerlei theatralischen Verbeugungen, mit langen Armen seine Mütze vom Boden zu ergreifen und zu verschwinden. Treppauf, treppab ging es so durch die Hauptstadt, keine Abweisung konnte ihn erschüttern, kein Spott ihn entmutigen; ja, es gelang ihm das Unwahrscheinliche, mit seiner Unbekümmertheit bis zur Kronprinzessin Caroline Amalie vorzudringen. Und wohin er kam, sprach er von dem, was ihn ausschließlich beschäftigte, nämlich von sich selbst, von seinem Gefühlsreichtum, seiner Begabung, von dem eisernen Willen, berühmt zu werden. Oft war er, wenn er eigene Gedichte vortrug, von deren Schönheit selbst so überwältigt, daß er in Tränen ausbrach und auch die unfreiwilligen Zuhörer ihre Rührung nicht verbergen konnten, sei es über den Kunstgenuß oder über so viel Unbefangenheit. Außerdem brauchte er Geld. „Da ich auf Ihre Güte vertraue", schrieb Andersen an den Dichter Ingemann, „erkühne ich mich, Ihnen zu schreiben und Sie zu ersuchen, das beigefügte Papier zu lesen. Es ist mir sehr peinlich, daß ich mich an Fremde wenden muß, aber ich sehe, daß ich auf keine andere Weise das Ziel erreichen kann, das ich als mein größtes Glück ansehe. Wenn es Ihnen Vergnügen macht, würde ich Ihnen gern einige meiner Sze11
nen und Gedichte vortragen . . ." Die meisten kauften sich von diesem Vergnügen los, indem sie schleunigst eine kleine Spende schickten, worauf umgehend wieder ein überschwengliches Dankschreiben eintraf. Nur der Gesangsmeister des Theaters, der Italiener Siboni, beschäftigte sich ernsthaft mit ihm und gab ihm nicht nur Unterricht, sondern auch die tägliche Kost. Die Leitung des Theaters allerdings äußerte, „ d a ß sie es für ihre Pflicht halte, von einer Anstellung Herrn Andersens in irgendeinem Fach am Theater dringend abzuraten." Sie rechnete jedoch nicht mit der Zähigkeit des jungen Mannes, der es schließlich doch erreichte, in dem Ballett „Armida" den siebenten Kobold zu spielen und so mit unbeschreiblichem Entzücken seinen Namen zum erstenmal auf dem Programm des Königlichen Theaters gedruckt zu sehen. Aber der Kobold tanzte nicht nur, er dichtete auch und schickte mit schöner Regelmäßigkeit seine Tragödien, Singspiele und Huldigungsgedichte „ehrerbietigst" an die Theaterdirektion, die sie ihm ebenso regelmäßig wieder zurücksandte. Hans Christian Andersen jedoch handelte wie der ins Milchfaß gefallene Frosch, der solange in der Milch herumstrampelt, bis er auf der Butter sitzt. Eines Tages bestellte man ihn in die Theaterdirektion, um ihm zu eröffnen, daß man seine T r a gödien zwar nicht aufführen könne, aber seine Begabung und vor allem seine Zähigkeit doch zu würdigen wisse. Seine Majestät, der König, habe deshalb allergnädigst geruht, ihm für seinen Unterhalt eine kleine regelmäßige Zuwendung zu bewilligen — und eine Freistelle an der Lateinschule. Im Dezember 1822 sitzt der siebzehnjährige Andersen, seine Lehrer um mehr als Haupteslänge überragend, unter Zwölfjährigen in der zweiten Klasse der Lateinschule von Slagelse auf Seeland. „Ach, wenn doch mein Vater und die gute Großmutter noch lebten und erführen, daß ich jetzt doch in der Lateinschule b i n ! " schreibt er glückselig an seine Mutter nach Odense, und die Mutter, die selbst weder schreiben noch lesen kann, läßt ihm durch! 6einen alten Lehrer von der Armenschule antworten: „Du bist jetzt also ein Anfänger; daß Du fleißig sein und versuchen wirst, das Wohlwollen Deiner Vorgesetzten zu verdienen, daran zweifle 12
Der Dichter erzählt einem kranken Kind seine neuen Märchen (Zeitgenössische Zeichnung)
ich nicht. Aber um das eine will ich Dich bitten: Verirre .Dich nicht in dem großen Irrgarten der Gelehrsamkeit, sondern brauche die Zeit vernünftig, denke reiflich über jede Sache nach und galoppiere nicht, ehe Du gehen kannst. Das ist mein mütterlicher und wohlgemeinter Rat. Und wenn Du etwas Richtiges gelernt hast, dann ist es Zeit genug, davon zu reden, der Literatur Ehre zu machen und den Geschmack zu veredeln. Lieber Christian! Lerne die Menschen kennen und sei nicht zu stolz auf Dein eigenes kleines Ich . . ." Das Tagebuch der Lateinschulzeit Andersens blieb leider nur in Bruchstücken erhalten, während sein „Poesiebuch" aus diesen Jahren noch ungekürzt vorhanden ist. Es legt von einer erstaunlichen Schaffensfreude Zeugnis ab, obwohl alle seine Freunde ihn instän-
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dig gebeten hatten, während der Schulzeit „die Harfe an die Wand zu hängen" und nur zu lernen. Nur weniges aus dem Poesiebuch hat er später in seinen „Gedichtband" übernommen. Die noch vorhandenen Tagebuchblätter enthalten manche überraschend scharfsinnige Selbstbeobachtung des Heranwachsenden, der trotz seines Selbstbewußtseins seine Schwächen und Mängel nicht übersah. So notierte er nach dem Lesen der Lebensbeschreibung des Dichters Lord Byron: „Er ähnelte mir sogar in der Schwatzhaftigkeit, ehrgeizig ist meine Seele wie die seine, nur wenn sie von allen bewundert wird, kann sie sich auch glücklich fühlen. Ehre ist der Sporn, der meinen Dichtergeist antreibt, aber ich empfinde doch selbst das Unrichtige und Schwache darin!" Der Rektor der Lateinschule, Dr. Meisling, hatte den sonderbaren Schüler in seinem Hause aufgenommen, und es scheint durch Andersens Dberempfindlichkeit und Unausgeglichenheit oft zu Auseinandersetzungen gekommen zu sein. Auch aus solchen Erfahrungen zog Andersen Nutzanwendungen für sich selber: „Der Rektor sagte mir heute so freundlich gute Nacht. O, wüßte er, wie seine Freundlichkeit mich ermuntert, er würde immer so bleibenI" schrieb er ins Tagebuch, und: „Der Mann meint es gut mit mir, und wenn ich daran schuld bin, daß er ungeduldig wird, so tut mir das sehr leid. Ich bin wohl auch etwas kindisch und habe gleich Tränen in den Augen, wenn der Wind ein wenig scharf weht, obwohl ich doch wissen sollte, daß das Leben kein ewiger Maientag ist . . . " Aus dem „Poesiebuch" ergibt sich, was Andersen in seinen Schuljahren gelesen hat und welche Dichter ihm in dieser Zeit am meisten zu sagen hatten. Am häufigsten ist Goethe vertreten, nach ihm Jean Paul, Schiller, E. T. A. Hoffmann, Voltaire, Lichtenberg, Rousseau und viele andere. Dem damals sehr bewunderten englischen Dichter Walter Scott zollte er eine besondere Verehrung: Er nahm Scotts Vornamen Walter zusammen mit dem von Shakespeare in den Decknamen auf, unter dem er sein erstes Buch — als Siebzehnjähriger! — mit dem Titel „Jugendversuche von William Christian W a l t e r " erscheinen ließ. Ein gutmütiger Drucker, der nie sein Geld erhielt, machte Andersen die Freude, sein Erstlingswerk in den Buchhandlungen zu sehen. 14
Während der Lateinschulzeit zeigte es*sich, daß auch die vielen Besuche seiner ersten Kopenhagener Tage nicht ganz vergebens gewesen waren. Die Kronprinzessin Caroline Amalie ließ ihm vor den ersten Schulferien 10 Reichstaler übersenden, damit er seine Mutter in Odense besuchen konnte. „Ich vermute, daß dieses Geld Ihnen eine Beihilfe für Ihre Reise nach Fünen sein wird, aber verwenden Sie es nun auch für diesen Zweck und verbrauchen Sie es nicht für Überflüssigkeiten." In seinen Erinnerungen erzählt uns der Dichter, wie er mit dem Bündel seiner Habseligkeiten zu F u ß den langen Weg von Nyborg nach Odense wanderte und wie ihm weich ums Herz wurde, als er den Kirchturm von St. Knuds erblickte. „In den Straßen von Odense sah ich die Leute die Fenster öffnen, um mir nachzublikken, denn alle wußten, wie merkwürdig wohl es mir ergangen war und daß ich jetzt für des Königs Geld studierte!" Die Mutter weinte vor Glück über das Wiedersehen, ihr zweiter Mann und die Großmutter waren inzwischen gestorben. Der närrische Großvater aber verbrachte seine letzten Tage in demselben Spital, mit dessen Garten sich so viele unvergeßliche Kindheitserinnerungen verbanden. Auch nach Kopenhagen kam er oft in den Ferien, und die Gnadensonne der Königlichen Huld sicherte ihm nun überall eine freundlichere Aufnahme als beim ersten Besuch. Er hatte es sich längst abgewöhnt, in fremden Salons die Schuhe auszuziehen, sein Benehmen war besser geworden, sein Auftreten bescheidener, und er beherzigte die deutliche Mahnung einer hohen Gönnerin: „Um Gottes Willen, lieber Andersen, — sprechen Sie nicht so viel von sich selber!" Im Hause der Familie Collin in Kopenhagen kam der junge Feriengast nun auch in persönliche Berührung mit den literarischen Größen seiner Zeit. Hier lernte er den Dichter und Kritiker Heiberg kennen, dessen Urteil als unantastbar galt und der auch für die ersten Veröffentlichungen von Gedichten und Erzählungen Andersens in verschiedenen Zeitschriften sorgte. Er hatte eine gute Meinung über Andersens Erzählung „Eine Fußwanderung vom Holmenskanal nach der Ostspitze von Amack" und bezeichnete sie als „Ausdruck einer dichterischen Phantasie, die sich oft zwischen 15
6chöpferischen und überraschenden Ideen bewegt und diese in sinnreicher Weise verbindet." Die Öffentlichkeit nahm die kleine Erzählung, eigentlich eine Studie nach E. T. A. Hoffmann, so begeistert auf, daß in kurzer Zeit die zweite und dritte Auflage erforderlich wurden. Natürlich blieben auch die abfälligen Urteile nicht aus; der damals sehr einflußreiche Schriftsteller Hauch traf Andersen besonders hart: ,,Er ist durch die Bestellungen auf seine Bücher so übermütig geworden, daß es unglaublich ist. Ich finde, es ist ein wirkliches Unglück für eine Literatur, wenn derartig genielose Nachahmungen ein so großes Interesse erwecken. Herr Andersen wirft sich vor jedem in den Staub und läßt sich von jedem treten, dem es einfällt. Er drängt sich in alle Familien ein,v leckt jedes Menschen Speichel und ist in seiner Person ebenso knochenlos und ohne Haltung, -wie in seinen Gedichten." Solche gallenbitteren Tropfen in den Freudenbecher des ersten Erfolgs machten Andersen um so mißmutiger, als er — nun endlich — kurz vor dem Abitur stand. Die Zeit vor dem Examen war angefüllt mit Verzweiflungsausbrüchen und tränenreichen Selbstanklagen. Doch er bestand die Prüfung, nicht zuletzt mit Meislings großzügiger und nachsichtiger Hilfe, und viele Jahre später faßt er das Glücksgefühl darüber in die Worte: „Nicht das Glück der Liebe, nicht Kunst und Wissenschaft elektrisieren so alle Nerven wie dieses Bewußtsein: Jetzt bin ich Student!" Aus dem „häßlichen Entlein" war nun ein stolzer Schwan geworden, der die Kraft seiner Schwingen zu prüfen begann. Die Bürger von Odense behandelten mit Achtung und Wohlwollen den jungen Studenten, der kam, seine Mutter zu besuchen, und wenn die alte Waschfrau sich schämte, mit dem „feinen, jungen Mann", der ihr Sohn war, durch die Straßen zu gehen, dann legte Hans Christian Andersen den Arm um sie und führte sie lächelnd über den Marktplatz seiner Vaterstadt
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Bildnis des jungen Andersen (Zeitgenössische Lithographie)
Der fliegende Koffer Im September 1829 hatte Andersen sein „Examen philolocicum et philosophicum" mit einer guten Note bestanden. Regelmäßig erschienen nun seine Gedichte und Erzählungen in den von Heiberg herausgegebenen Zeitschriften, und die eingehenden Honorare wurden sorgfältig in einer eisernen Truhe verwahrt. Denn unser junger Dichter sparte, sparte für seine erste Auslandsreise! Im Mai 1831 war es endlich so weit. Mit dem Dampfschoner „Prinzessin Wilhelmine" fuhr er von Kopenhagen nach Lübeck. Weiter ging die Reise über Hamburg nach Dresden, wo ihn der verehrte Dichter Ludwig Tieck sehr herzlich aufnahm. Der große Romantiker hatte Cervantes, den Dichter des Don Quichotte, und zusammen mit Schlegel Shakespeare übersetzt und damit diese beiden großen Meister für die deutsche Öffentlichkeit erst erschlossen. Er drückte den jungen Dänen fest an sein Herz und prophezeite ihm eine glückliche Zukunft als Dichter. Er „dachte sicher", so schreibt Andersen, „ d a ß ich ein viel besserer Mensch sei, als ich wirklich bin. Sein Kuß glühte auf meiner Stirn . . . Ach, dürfte ich doch einst als Dichter der Welt etwas schenken, womit ich dem großen Tieck zeigen könnte, daß er sich in dem fremden Jüngling nicht getäuscht h a t ! " Bedeutsamer wurde jedoch die Reise nach Berlin und die Begegnung mit Adalbert von Chamisso. Dieser deutsch-französische Dichter, Naturforscher und Weltreisende hatte Andersens erste Veröffentlichungen in dessen Muttersprache gelesen und sie voll „Witz, Laune, Humor und volkstümlicher Naivität" gefunden. Eines der ergreifendsten Gedichte Andersens griff er heraus, um es in Deutschland bekannt zu machen. Es war das Gedicht „Der Soldat", das in der Übersetzung mit den Worten anhebt: „Es geht bei gedämpfter Trommel Klang . . ." Es wurde zum deutsehen Volkslied. Der sechsundzwanzigjährige Andersen und der fünfzigjährige Chamisso verstanden sich gut, sie feierten jene Berliner Tage zusammen mit den Dichterfreunden Simrock, Alexis und Holtei beim 18
Wein. Man begeisterte sich an dem technischen Fortschritt, an Dampfschiff und Eisenbahn. Andersen freute sich besonders „über die herzliche Liebe, mit der sie von ihrem König sprachen". Er wußte und ahnte nicht, daß Simrock wegen eines revolutionären Gedichtes „Drei Tage und drei Farben" mit Schimpf und Schande aus dem preußischen Staatsdienst davongejagt worden war und daß er vielen politischen Erscheinungen sehr kritisch gegenüberstand. In dem Erinnerungsblatt, das Chamisso am 14. Juni 1831 in Andersens Stammbuch schrieb, wetterleuchtet die Unruhe, die, von Andersen unbemerkt, seine Berliner Freunde erfaßt hatte: ,,In dieser düstern, bangen Zeit, wo hochanschwellend donnernd der Geschichte Strom die starre, langgehegte Eisesdecke sprengt, bricht das neue Leben unter Trümmern hervor . . ." Andersens politisch-unpolitisches Interesse erschöpfte sich in der lebenslangen treuen Verehrung Napoleons, des Helden seiner Kindheit, zu dessen Gedächtnis er auch die Schlachtfelder von Leipzig aufsuchte. Die großen politischen und sozialen Bewegungen jener Tage glitten spurlos an ihm vorüber; dabei war Andersen keineswegs auf Rosen gebettet. Daß Hunger weh tat, dessen konnte sich der Dichter aus seiner Jugend und aus manchen zurückliegenden Jahren noch sehr genau erinnern — seine einzige Folgerung aber war nicht Aufbegehren gegen die gesellschaftlichen Zustände, sondern der feste Entschluß, nie mehr zu hungern, nie wieder Not zu leiden. Schon mit den literarischen Ergebnissen dieser ersten Auslandsreise, einem schmalen Gedichtband und dem Büchlein „Schattenbilder von einer Reise nach dem Harz und der Sächsischen Schweiz", versuchte er, sich eine ergiebige Geldquelle zu erschließen. Mit Nachdruck vertrat er seine geldlichen Ansprüche gegenüber dem Verleger, obwohl die Bücher keinerlei geschäftlichen Erfolg hatten und von der Kritik sehr zurückhaltend aufgenommen wurden. Der Ertrag war gering. Die Familie Collin, die ihm in ihrem schönen Hause in Kopenhagen eine Art zweite Heimat bot, mußte nun tränenreiche Verzweiflungsszenen miterleben und befürwortete — wahrscheinlich auch im wohlerwogenen eigenen Interesse — wärmstens das neue Bittgesuch ihres Schützlings, in dem er den König um allergnädigste Gewährung einer Unterstützung für mindestens ein volles Jahr anging. Sie wurde überraschend schnell be19
willigt, und Hans Christian nutzte sie für seine zweite Auslandsreise aus. Er begab sich, begleitet von den aufrichtigen Segenswünschen seiner Freunde und wohlversehen mit der hübschen Reisekasse von Königs Gnaden, erneut auf die Wanderschaft. In den letzten Apriltagen des Jahres 1833 traf er in Frankreichs Hauptstadt ein. Er begegnete dem großen Erzähler Victor Hugo und dem Komponisten Cherubini, deren berühmte Namen er in sein „Stammbuch" einfing, in dem bereits Tieck, Chamisso und Holtei mit schmeichelhaften Beiträgen vertreten waren. In Paris traf er auch Heinrich Heine, der ihm ins Album schrieb: „Ich möchte Ihnen gern, verehrter Kollege, einige Verse hier aufs Papier kritzeln, aber ich kann heute kaum leidlich in Prosa schreiben . . ." Der verehrte Kollege Andersen aber reiste bald weiter, in die Schweiz, deren Schönheit er außer mit Worten auch noch mit über hundertfünfzig reizenden Zeichnungen festhielt. „Die Landstraße schwebte gleichsam in der Luft, und es ergötzte mich, in die schwindelnde Tiefe zu starren, wo die Dörfer lagen, wie Blumenbeete in einem Garten. Was ich für Rauch aus '3en Hütten tief unter mir hielt, waren Wolken, die auf den Bergen lagen. Nun kamen wir zu einem Paß, und ich sah den Genfer See und die Alpen vor mir. O, lieber Freund, hätten Sie doch dabei sein können! Ich war dem Weinen nahe; es war so groß und schön. Wie violettes Glas, wie hoch oben an den Horizont gemalte Wogen mit Schaumkämmen standen die Berge, sie schwammen alle miteinander auf einem bläulichen Dunst, und das Tal weit unten war so fruchtbar, so frisch grün wie daheim in der schönsten Zeit. . .!" In der Schweiz vollendete Andersen das dramatische Gedicht „Agnete und der Meermann"; viele Jahre später nahmen dann seine schweizerischen Eindrücke und Erinnerungen in einem kleinen Kunstwerk Gestalt: in dem zauberhaften Märchen von der „Eisjungfrau", das die Bergwelt mit echter Poesie verklärt und das mit den Worten endet: „Rosenglanz liegt auf dem Schnee des Berges, Rosenglanz liegt über jedem Herzen, in dem der Gedanke wohnt: Gott läßt für uns das Beste geschehen!" — Aus der Schweiz wandte sich Andersen nach Italien, nach Rom.
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Zeichnung zu der Geschichte „Der Hausschlüssel" (Aus der Erstausgabe von Andersens letzten Märchen)
Am 18. Oktober 1833 bewegte sich eine feierliche Prozession durch die Straßen Roms. Im Phantheon, dem altrömischen Ruhmestempel der Ewigen Stadt, fand mit königlichem Prunk die neue Beisetzung des vergötterten Malers Raff ael statt, dessen Steinsarg man kurze Zeit vorher geöffnet hatte, um die Echtheit des Grabes festzustellen. Unter der Menge, die in ehrfurchtsvollem Schweigen dem endlosen Zuge höchster geistlicher und weltlicher W ü r denträger mit bewundernden Blicken folgte, stand auch der Schusterssohn Hans Christian Andersen aus Odense. Eine hohe Greisengestalt an der Spitze des Zuges hatte es ihm besonders angetan: Da schritt, das silbermähnige Löwenhaupt stolz 21
erhoben, sein berühmtester Landsmann zur Ehrung des großen Raffael: Bertel Thorwaldsen. Der Dreiundsechzigjährige stand auf der Höhe seines Ruhms und wurde, wie ein zeitgenössischer Kunsthistoriker schrieb, „eigentlich mehr als ein Gott denn als Mensch betrachtet". Schon am nächsten Tage ließ Andersen sich bei ihm melden — natürlich mit dem unvermeidlichen Stammbuch — und wurde freundlich empfangen. „Die ruhige Sicherheit", so erzählt uns der Dichter in seinen Lebenserinnerungen, „das Milde und Herzliche des großen Künstlers, der wunderlich weich war, ergriff mich so, daß ich ihn fast in Tränen verließ, obwohl wir, wie ,er mir sagte, uns nun jeden Tag sehen und sprechen würden." Zunächst mußte der berühmte Bildhauer sich „Agnete und den Meermann" anhören. Er brachte es in seiner Milde nicht übers Herz, dem Dichter zu gestehen, d a ß er in seinem ganzen Leben noch niemals ein Buch gelesen hatte, daß er Homers Heldendichtung „Ilias", zu der er eine Reihe von Bildwerken schuf, nur aus stückweisen Erzählungen wohlmeinender Freunde kannte und daß er für Literatur weder Interesse noch Verständnis aufbringen konnte. Aber er hörte sich „Agnete und den Meermann" geduldig auch noch ein zweites Mal an. Als jedoch der junge Dichter ihm zumutete, „Agnete und den Meermann" wenige Tage später auch noch ein drittes Mal über sich ergehen zu lassen, da weigerte er sich entschieden, und auch die reichlich fließenden Tränen des Landsmanns konnten ihn nicht umstimmen. Viel mehr interessierten Thorwaldsen die Neuigkeiten aus Paris und aus seiner Vaterstadt Kopenhagen und die vielen kleinen Klatschgeschichten von gemeinsamen Freunden und Bekannten. Als aus Kopenhagen die traurige Kunde kam, daß dort Andersens „Agnete" mitsamt ihrem Meermann jämmerlich durchgefallen wäre, da nahm er all seine Milde und Herzlichkeit zusammen und tröstete den unglücklichen Dichter, so gut er konnte. Der große Bertel Thorwaldsen erzählte ihm von der Armut und Kümmernis 6einer Jugend. Auch ihm hätten erst milde Gaben und königliche Stipendien das Studium ermöglicht, auch ihm wären im Ausland schon Ruhm und Anerkennung zuteil geworden, als die Heimat noch kaum Notiz von ihm genommen hätte; aber auch er hätte aus den bitteren Hungerjahren der Kindheit einen nüchternen, 22
stets wachen Geschäftssinn entwickelt und die Fähigkeit, das Seine mit ruhigem Bedacht zu mehren und zusammenzuhalten. Nachdem der Schmerz über Agnete verwunden war, gab sich der Dichter mit um so größerer Leidenschaft der überwältigenden Fülle neuer Eindrücke, neuer künstlerischer Offenbarungen und neuer starker Persönlichkeiten hin, die ihm Thorwaldsens freundlich führende Hand und Fürsprache vermittelten. „Jeder Tag hier fügt meinem Leben einen Monat hinzu, jeder Tag schärft das geistige Auge, raffaelische Engel und steinerne Götter sprechen zu mir, und ich sehe und fühle nur, daß ich nichts tun kann. Hier ist einfach zuviel Stoff!" Aber er begann doch zu arbeitne, er sehrieb die ersten Kapitel des Romans „Der Improvisator", dessen Hauptfigur, der junge italienische Dichter Antonio, ein teils geschmeicheltes, teils kritisches Selbstbildnis wurde. Auch die übrigen Gestalten des Romans erwiesen sich als Gestalten seines eigenen Lebens in italienischer Tracht und Kulisse; da erkannte man seine Mutter, den Rektor Dr. Meisling und dessen Frau. Auch Fräulein Louise Collin, die er einst zu lieben begonnen, kehrte als kleine Äbtissin wieder. Sogar der Titel „Der Improvisator" stammte aus eigenstem Erleben; denn Improvisator, Stegreifdichter, hatte ihn Heiberg in einer seiner im Grunde wohlwollenden Kritiken einmal genannt. Viele Briefe gingen aus dem Süden nach Dänemark. Am 17. Dezember 1833 schrieb er an eine alte Gönnerin: „Gestern abend bekam ich einen Brief von Vater Collin, er teilte mir den Tod meiner alten Mutter mit. Ihre Lage war hart, und ich konnte fast nichts für sie tun; das hat mich daheim oft betrübt, aber darüber sprechen konnte ich nie! Jetzt hat dsr liebe Gott sich ihrer angenommen, ich bin auch dafür kindlich dankbar, aber es hat mich dennoch tief ergriffen. Nun bin ich wirklich ganz a l l e i n 1 . . . " Im Mai 1834 war Andersen wieder unterwegs in die Heimat. Am letzten dieses Monats traf er, aus Italien kommend, in München ein und mietete bei einem schlichten Kammacher am Karlsplatz eine kleine Stube. Die braven Handwerkerseheleute betrachteten verwundert das seltsame Gepäck des jungen Mannes: Da lag
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neben einigen Reisetaschen, Koffern und Köfferchen, denen man die lange Wanderschaft wohl ansah, ein langes, starkes Seil, über dessen Verwendungszweck der Fremde seine neuen Wirtsleute in ziemlich mangelhaftem Deutsch aufzuklären versuchte, was ihm jedoch nicht reqht gelang. Sie konnten ja nicht wissen, daß Andersen von Jugend auf von der Angstvorstellung verfolgt wurde, einmal in einem brennenden Hause eingeschlossen zu werden und bei lebendigem Leibe elendiglich zu verbrennen, eine Lebensangst, die wohl nur noch von seiner krankhaften Furcht vor Hunden jeder Art und Größe übertroffen wurde. Das Seil, das ihn schon nach Dresden und Berlin, nach Rom und Paris begleitet hatte, gab ihm die einigermaßen beruhigende Gewißheit, daß er sich im Notfalle jederzeit durch das Fenster auf die Straße herablassen könnte. Es fehlte während seines ganzen Lebens niemals im Reisegepäck und liegt heute noch im Andersen-Museum zu Odense auf denselben Koffern, die damals der ehrenwerte Kammacher auf die Stube seines dänischen Gastes trug. Er sah sich immer wieder das Seiil an, dann seinen neuen Mieter und ging schließlich in die Küche, zu seiner Frau, tippte sich auf die Stirn und sagte leise, aber beistimmt: „Der Däne spinnt." Der Däne spann nicht nur, er schrieb auch. Er schrieb den „ I m provisator" zu Ende, der ein knappes Jahr darauf, nach Andersens Heimkehr, in Kopenhagen erschien, von Publikum und Presse in schöner Einmütigkeit begeistert beurteilt. Es war der Durchbruch, die Lebenswende, der Ruhm. Bald folgte die deutsche Übertragung, Tieck und Chamisso sorgten für weiteste Verbreitung, und der Widerhall in den deutschsprechenden Ländern übertraf noch weit den Erfolg in der Heimat. Der deutsche Übersetzer hatte mit Recht in der Einleitung die Überzeugung ausgesprochen, daß „ein schätzbarer Teil der Lesewelt sich angezogen fühlen würde von der Lebensfrische, Einfachheit und Anspruchslosigkeit dieses Buches, welch letztere Eigenschaft immer seltener vorkommt, sowie durch die reine Gemütlichkeit, die durch jede Zeile haucht." Nun drängten sich die Verehrer und Verehrerinnen vor der Tür des nach Dänemark Heimgekehrten, die Verleger witterten fette Beute, und die Zeitungsleute baten bescheiden um einen gnädigen Beitrag. Geld strömte herbei, und Andersen kaufte sich zunächst 24
einmal feine neue Kleider, viel feiner, als sie je die Lateinschüler in Odense getragen hatten. „ E r ist unvergleichlich geckenhaft geworden mit all seiner Häßlichkeit, der größte Modejunker der Saison", berichteten Freunde ein wenig spöttisch. „ E r trägt einen Frack zu 60 Reichstalern mit Sammetfutter, einen Hut so groß wie ein Regenschirm und eine Figur d a z u . . ., also er wird mit jedem Tage ,schöner'." Der Dichter selbst aber blieb sehr selbstbewußt. „Jetzt wissen sie, daß ich sehr groß bin!" meinte er. „Der ,Improvisator' hat mir bei den Edelsten und Besten Achtung verschafft, die große Menge selbst hat mehr Ehrerbietung bekommen. Nahrungssorgen kenne ich Gott sei Dank nicht mehr, und ich habe mir das Leben in der letzten Zeit wirklich angenehm machen können. Die Zeitungsverleger schicken mir ihre Hefte, die Verleger Bücher und Stiche: dann sitze ich in bunten Pantoffeln und Schlafrock, die Beine auf dem Tisch. Der Kachelofen siedet, die Kaffeemaschine singt auf dem Tisch und die Räucherkerzchen duften!" Die Bitte eines bekannten Porträtmalers der Hauptstadt Kopenhagen, den erfolgreichen Schriftsteller malen zu dürfen, wurde mit freundlicher Herablassung erfüllt. Wie weit lagen die Tage zurück, da er mit dem „Stammbuch" vor den Berühmtheiten seiner Zeit um eine freundliche Eintragung bat! Nun kamen junge Menschen zu dem bekannten Dichter Andersen und baten i h n um einige Zeilen für ihr Poesiealbum, um seinen Namenszug unter sein Bildnis oder auf der Titelseite eines seiner Bücher. . . . Und alle wurden liebenswürdig aufgenommen, in den beiden kleinen Zimmern mit der Aussicht auf den schönen Botanischen Garten, aus dem die Anregungen zu dem Märchen „Die Blumen der kleinen I d a " stammen. Die Verleger wünschten neue Manuskripte, auch kleinere Arbeiten waren willkommen. Am 10. Februar 1835 schrieb Andersen an Ingemann, den alten Freund und wohlwollenden Gönner, daß er an seinem „Märchen" arbeite: „Ich habe jetzt einige M ä r c h e n begonnen, für Kinder erzählt, und ich glaube, es gelingt mir. Ich habe ein paar von den Märchen wiedergegeben, die mich selber als Kind so beglückten und die, wie ich glaube, nicht bekannt sind. Ich habe sie ganz so niedergeschrieben, wie ich sie einem Kinde erzählen würde . . ." Im März 1835 erschienen die ersten Hefte die25
ser „Märchensammlung", sie enthielten neben den nacherzählten Volksmärchen auch die Geschichte von den „Blumen der kleinen I d a " und die Erzählung von der „Prinzessin auf der Erbse". „Keines meiner Werke ist so verschieden gewürdigt worden wie die ,Märchen'", liest man in der Vorrede zur dritten Ausgabe. „Während einzelne Männer, auf deren Urteil ich den größten Wert lege, sie für das Wertvollste halten, was ich geschrieben habe, meinten andere, daß diese Märchen höchst unbedeutend seien und rieten mir, nicht weitere zu schreiben. Ein so verschiedenes Urteil und das Schweigen, mit dem die öffentliche Kritik an ihnen vorüberging, nahmen mir fast die Lust, noch mehr von dieser Dichtungsart zu geben . . ." Wie gut, daß Andersen dennoch nicht die Lust daran verlort Er begann erst an den Erfolg zu glauben, als er erfahren mußte, daß man seine Märchen weit über seine dramatischen Versuche stellte, die er selber doch so hoch eingeschätzt hatte. Auch der geschäftliche Erfolg überflügelte bald den Ertrag seiner übrigen Arbeiten, vor allem, nachdem die deutsche Ausgabe mit den hübschen Kupferstichen von Osterwald erschienen war. „Überall, wohin ich kommen mag", so frohlockte der Dichter, „sind meine Märchen bekannt, und jetzt bin ich endlich ins reine gekommen mit »dem Märchendichten. Die ersten, die ich gab, waren ja meist ältere, die ich nach meiner Art und Weise gern erzählte und umdichtete; diejenigen, die ich selber schuf, finden aber den meisten Beifall, und das hat mir Schwung gegeben. Jetzt erzähle ich aus meinen eigenen Brust, ergreife eine Idee für die Erwachsenen und erzähle sie dann für die Kleinen. Ich habe eine Menge Stoff, mehr als für jede andere Dichtungsart. Es ist mir oft, als ob jeder Zaun, jede kleine Blume sagte: Sieh mich an, dann wird meine Geschichte in dich eindringen!" Andersen erkannte nun auch, daß er mit seinen Märchen unversehens in eine Goldgrube gestolpert war, aus der es noch viele Schätze zu heben gab. 1837 brachte er die dritte Sammlung heraus, die unter anderem die unsterbliche Geschichte von „Des Kaisers neuen Kleidern" enthielt und dem Dichter nicht nur den unvergänglichen literarischen Rang sicherte, sondern ihm auch alle Lebenssorgen nahm: Der König bewilligte ihm eine jährliche Rente
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von vierhundert Reichstalern, ein Ehrensold, der später auf über tausend Reichstaler erhöht wurde und Andersen zu der reizenden Briefnotiz veranlaßte: „Jetzt habe ich sogar einen kleinen Brotbaum in meinem Dichtergarten I" Die Gnade des Königs war eine erstaunliche Anerkennung für kaum ein Jahrzehnt literarischen Schaffens. Andersens Ruhm wuchs über die Grenzen. Schon im Jahre 1838 durfte ihn der alte Chamisso den „Lieblingsschriftsteller Deutschlands" nennen. Ein im gleichen Jahre erscheinendes, bedeutendes Nachschlagewerk bezeichnete den Dreiunddreißigjährigen als „einen der talentvollsten jüngeren Dichter Dänemarks, dessen Ruf in Deutschland noch anerkannter ist als in seinem Vaterlande." — Als Bertel Thorwaldsen im September 1838 auf einer eigens für ihn entsandten königlichen Fregatte in einem Triumphzug ohnegleichen nach Kopenhagen heimkehrte, durfte Hans Christian Andersen im Hafen der Residenz neben dem König stehen, um den alten Freund willkommen zu heißen. Er empfing Thorwaldsen mit einem Huldigungsgedicht, das der hochberühmte Bildhauer sehr in Ehren hielt 'und das er später noch oft im Freundeskreise vorlas, obwohl er doch, wie wir uns erinnern, durchaus keine Leseratte war. Andersen hatte die Ruhmeshöhe erstiegen, auf der Thorwaldsen bisher der einzige Herrscher gewesen war.
Des Kaisers neue Kleider Die Tochter des Münchner Malers Wilhelm von Kaulbach, der um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als Gestalter von historischen Gemälden großes Ansehen genoß, erzählt in ihren Jugenderinnerungen von dem geselligen Leben ihres Elternhauses, das sich täglich erlesenen Gästen öffnete. Manchmal, im Sommer vor allem, schlug die große, messinggetriebene Türsehelle besonders zaghaft an. Wenn geöffnet wurde, dann streckten sich zwei ungeheuer lange Arme mit ängstlich wedelnden Händen durch den Türspalt und eine zage Stimme fragte: „Es ist doch kein Hund in der N ä h e . . . ? " 27
Dann wußte man Bescheid. Der liebe Herr Andersen war wieder einmal unterwegs und nach München gekommen, mit dem Seil und den vielen Koffern, und wurde stürmisch willkommen geheißen. Er wohnte nun nicht mehr bei dem einfachen Kammacher am Karlsplatz. Die ersten Familien der Stadt, die Kaulbachs, die Stielers, die Schwanthalers und die Schellings empfanden es als besondere Ehre, wenn der berühmte dänische Dichter bei ihnen abstieg. König Ludwig I. lud ihn zu sich ein und freute sich über die Schmeichelnden Worte, die der Däne für sein geliebtes München fand; denn Andersen nannte München einen Rosenstock, der immer neue Zweige, Blätter und Blüten treibe; jeder neue Zweig, jedes neue Blatt, jede neue Blüte sei ein wunderschönes neues Bauwerk. — Das war dem alten König Ludwig aus dem Herzen gesprochen; endlich hatte sich einer .gefunden, der seine stolze Ludwigstraße, seine Propyläen und die vielen anderen königlichen Bauten zu würdigen wußte! Auch König Max II. lud Herrn Andersen ein und bat ihn, nach Starnberg herüberzukommen. Mit dem vergoldeten Königsschiff ging er auf die -Roseninsel im Starnberger See, der damals noch Würmsee hieß. Hier zog der Dichter einige eng beschriebene Blätter aus seiner Rocktasche und las dem König von Bayern ein Märchen vor, das noch nicht gedruckt worden war, das „Märchen vom häßlichen jungen Entlein", die Geschichte seiner eigenen armen Kinderzeit. Auch dem schönen jungen Kronprinzen, der später als der Märchenkönig Ludwig II. im Herzen seines Volkes weiterlebte, erzählte der Dichter viele seiner Geschichten; das „Märchen vom standhaften Zinnsoldaten" rührte den Kronprinzen zu Tränen. Wilhelm von Kaulbachs Tochter hat uns berichtet, wie es bei solch einer Märchenstunde zuging: ,;Wir saßen atemlos lauschend. Manche von uns verbargen heimlich ihre Tränen, denn wir erlebten auch Trauriges mit unserem Dichter, der da vor uns saß und mit seinen rastlosen Händen die Schere dirigierte, um Ballettmädchen auszuschneiden. Als er mit seinen Erzählungen zu Ende war, breitete er vor uns einen ganzen Zug ausgeschnittener Tänzerinnen aus, die einander an den Händen hielten, und Andersen war selbst beglückt von seinem gelungenen kleinen Kunstwerk." Viele Hunderte dieser kleinen Scherenschnitte des Dichters sind 28
Der alte Andersen in seiner Wohnung in Kopenhagen
uns erhalten geblieben (s. Abb. Seite 3). Oft sind es Faltschnitte, die auseinandergebreitet ein reiches Schmuckbild ergeben.
* Andersen liebte München. Selten versäumte er es, auf den vielen und weiten Reisen, welche die Jahre seines Ruhms und reifen Schaffens ausfüllten, diese Stadt zu besuchen. Die Münchener aber nannten ihren lieben dänischen Gast „den häßlichsten Mann mit der schönsten Seele". Alle freuten sich, wenn er kam, mit Ausnahme des Dackels Waldi im Hause Kaulbach, der solange eingesperrt wurde. Kaulbach malte zu Andersens Märchen „Der Engel" ein Bild, das als „Photogravüre" in einem damals eben entwickelten neuen Bilddruckverfahren eine Millionenauflage erlebte und eines der beliebtesten „Gutestubenbilder" des neunzehnten J a h r hunderts wurde. 29
Freilich, daß Andersen in München, wie überall, zuerst und vor allem als der Märchendichter gefeiert wurde, war ihm eigentlich gar nicht recht, wollte er doch so gerne als großer Dramatiker und Romanschriftsteller gelten. Immer wieder versuchte er seine Bühnenwerke „Der Mulatte", „Die neue Wochenstube", „Das Maurenmädchen" und wie sie alle heißen, bei den führenden Theatermännern anzubringen; aber bei aller Freundschaft und aller Achtung vor dem berühmten Namen konnten sie sich nur selten zum Versuch einer Aufführung entschließen. Dem Dramatiker Andersen waren wirklich große Erfolge nicht beschieden gewesen: er mußte es erleben, daß seine ernstgemeinten Dramen scherzhaft umgedichtet wurden und dann ebenso ungewollte wie stürmische Heiterkeitserfolge ernteten. Den schärfsten Angriff erfuhr er jedoch in dem Roman „Das Schloß am Rhein" eines dänischen Schriftstellerkollegen, der Andersen in der Gestalt des Dichters Eginhard in all seiner Eitelkeit, seiner Ruhmsucht bösartig, und doch leider nicht ganz unwahrhaftig karikierte. Der Dichter, der früher bei der leisesten Kritik in Tränen ausbrach, der anfangs nur Lob hören wollte und nochmals Lob, nahm die Verspottung mit würdiger Gelassenheit hin. An seinen Freund Ingemann schrieb er darübs-r: „Das ist Andersenl Hier sind alle meine Schwächen zusammengefaßt! Ich will glauben und hoffen, daß ich diese Periode durchgemacht, das heißt überstanden habe; aber alles, was dieser Eginhard tut und sagt, hätte ich auch tun oder sagen können. Allerdings glaube ich, daß, um mich ganz echt zu machen, noch eine Ergänzung dazugehört, die, wie ich mich tröste, eine Reihe besserer Elemente einschließt, wodurch ich im Leben erträglicher werde . . .Das Bitterste ist, daß ich, der ich etwas klüger bin als dieses grelle Bild von mir, von jetzt ab versuchen muß, mich etwas weniger offen zu geben." Ja, er wurde vorsichtiger, wurde so vorsichtig, daß er es bei einem Aufenthalt in London ablehnte, Ferdinand Freiligrath aufzusuchen, in dessen schönem Haus am Rhein er früher oft zu Gast geweilt hatte. Freiligrath lebte in London als politischer Emigrant, und Hans Christian Andersen wollte unter keinen Umständen mit Menschen und Kreisen in Verbindung gebracht werden, die als „politisch unzuverlässig" galten und den herrschenden Mächten 30
nicht genehm waren. Auch das gehörte zu Andersens Schwächen. Er ließ sich in den Salons des britischen Hochadels als harmloser und gefeierter Märchendichter herumreichen und tat, als hätte er den Namen Freiligrath noch nie gehört. . . Vom Jahre 1852 an bis zu seinem Tode gab er nun in schöner Regelmäßigkeit zu jedem Weihnachtsfest ein neues Bändchen „Märchen und Geschichten" heraus. Die Bücher gehörten so untrennbar zum Weihnachtsfest wie Christbaum und Zuckerzeug, und wurden mit immer neuer Begeisterung und Anerkennung begrüßt, während seine Romane kaum über Achtungserfolge hinauskamen. Neben den Märchen fand nur seine Lebensgeschichte, die am 2. April 1855, seinem fünfzigsten Geburtstag, in dänischer Sprache erschien, begeisterte Aufnahme. Sie trug den Titel „Das Märchen meines Lebens" und enthielt eigentlich mehr Dichtung als Leben. Schön und wahr blieb jedoch, was er in der Einleitung der Göttin Dana, der Schutzgöttin seiner dänischen Heimat, anvertraute: „Kindlich rief ich: Ich will steigen, Leuchten wie ein freundlich lieber Stern!"
* Der Stern Andersen war freundlich über der Welt aufgestiegen, die Kritik war vor seinem Werk verstummt. Andersen hatte sich in vielem gewandelt; aber in einem war er der Gleiche geblieben: in seiner fast kindlichen Gier nach Orden, Titeln und anderen äußeren Ehrungen, die er bis zuletzt mit Eifer sammelte. Er brachte es fertig, dem Großherzog von Sachsen-Weimar zu schreiben: „Darf ich bald einen neuen Brief von Eurer Hoheit erhoffen? Der 2. April ist mein Geburtstag, vielleicht kommt da ein Brief von Ihnen . . ." Alexander von Humboldt führte ihn bei König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen ein. Andersen las Märchen vor und empfing den Roten Adlerorden mit gut gespielter Überraschung und hinreißenden Dankesworten, ohne zu verraten, daß ihm der Schwarze Adlerorden eigentlich lieber gewesen wäre, denn dann hätte er sich Hans Christian von Andersen nennen können. Das Ritterkreuz der Dänischen Krone, der Professor- und Staatsratstitel, Ehrenbürgerbriefe und Huldigungsgedichte wurden freudig, 31
dankbar und mit rührendem Stolz entgegengenommen. Der Dichter, der von München aus mit gutem Recht nach Hause schrieb: „Man hat in Dänemark keine Vorstellung, welchen Rang ich im Ausland habe. Ich habe es wirklich erreicht, der berühmteste Däne zu sein", — der Dichter, der nach dem schönen Wort seines Freundes aus einem Vogelfreien zu einem Geweihten geworden war, erlebte am Ende seines reichen, glücklichen und auch einsamen Lebens sogar die Erfüllung jener doch ganz unwahrscheinlichen Prophezeiung seiner Kindheit: Die Stadt Odense wurde anläßlich der Verleihung des Ehrenbürgerrechts festlich illuminiert! Im Wagen seines Königs fuhr er zur Einweihung seines eigenen Denkmals, vorbei am Spalier der Regimenter von Odense, die vor dem Sohne der Wäscherin ihren Degen neigten. Und er dachte: Wenn das die Mutter gewußt hätte, daß die Alte aus dem Spital von Odense doch noch recht behalten würde mit ihrer Voraussage .. .1
* So endet unsere Geschichte fröhlich, wie wir es versprochen haben, fröhlich und still. Das Glück und die Freude, die Hans Christian Andersen mit seinen Märchen in die Welt gebracht hatte, kehrten in den letzten Jahren seines Lebens in überwältigender Fülle zu ihm zurück. Die Kinder trugen ihm Blumen zu, seine Märchengestalten zogen in vielerlei Bildern aus allen Ländern der Erde, aus China und Indien wieder in ihres Dichters Haus. Und auch der Tod kam zu ihm wie eine Märchengestalt — am 4. August des Jahres 1875.
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Bild auf Umschlagseite 2: Andersens Schreibtisch (Im Andersen-Museum In Odense); darauf sein Zylinderhut, davor seine Koffer und Reisetaschen
L u x - L e s e b o g e n Nr. 196 ( D i c h t u n g ) H e f t p r e i s 25 Pfg. Natur- und kulturkundliche Hefte - Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Verlag Sebastian Lux, Murnau, München, Innsbruck, Ölten — Druck: Buchdruckerei Auer, Donauwörth