Colin Higgins
Harold und Maude
Neu übersetzt und mit einem Nachwort von Marcel Keller
PENDRAGON
Die amerikanische...
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Colin Higgins
Harold und Maude
Neu übersetzt und mit einem Nachwort von Marcel Keller
PENDRAGON
Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel
Harold and Maude bei J. B. Lippincott Company 1971.
Unsere Bücher im Internet: www.pendragon.de
Veröffentlicht im Pendragon Verlag
Günther Butkus, Bielefeld 2007
© Colin Higgins
Published by arrangement with
The Colin Higgins 1988 Trust
© für die deutsche Ausgabe
by Pendragon Verlag Bielefeld 2007
© für die deutsche Übersetzung
by Pendragon Verlag Bielefeld 2007
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Judith Kriener, Michaela Wecke
Umschlagillustration: Marcel Keller
Satz: Pendragon Verlag auf Macintosh
ISBN: 978-3-86532-074-2
Printed in Germany
Zuerst schrieb Higgins (als Abschlussarbeit eines Seminars) das Drehbuch, aus dem Hal Ashby 1971 den unvergesslichen Filmklassiker machte. Dann erst folgte die Romanfassung, die 1973 auch hierzulande – unter dem Titel „Ich liebe dich, ich liebe dich“ – erschien. Jetzt liegt diese bittersüße Komödie, in neuer Übersetzung, gleich 2-fach vor, im vorliegenden Buch und auf 3 CDs. Man liest bzw. hört von dem 20-jährigen Harold, aus reichem Haus und mit einem Hang zum Makabren (Spezialität: Inszenierungen von Selbstmorden), der sich mit Maude, 79, zusammentut, in die er sich nach allerhand skurrilen Aktionen verliebt und die ihm am Schluss, als sie an ihrem 80. Geburtstag eine Überdosis Schlaftabletten nimmt – „fortgeht“ –, den Weg ins Leben weist. Auch gedruckt eine zeitlose, vom morbiden Beginn bis zum anrührenden Schluss ebenso witzige wie optimistische Geschichte, die überall stehen sollte.
„Es ist äußerst schmerzlich“, sagte Humpty Dumpty nach einer langen Pause, in welcher er Alice nicht eines Blickes würdigte, „ein Ei genannt zu werden, äußerst schmerzlich!“ („Alice hinter den Spiegeln“, Lewis Carroll)
Harold Chasen stieg auf den Stuhl und legte sich die Schlinge um den Hals. Er zog sie zu und prüfte den Knoten. Er würde halten. Er sah sich im Zimmer um. Leise spielte die Musik von Chopin. Der Briefumschlag war auf dem Schreibtisch platziert. Alles war bereit. Er wartete. Draußen fuhr ein Wagen in die Einfahrt und hielt. Harold hörte, wie seine Mutter ausstieg. Mit der Andeutung eines Lächelns stieß er den Stuhl um und fiel mit einem Ruck ins Leere. Wenige Augenblicke später hatten seine Füße aufgehört zu zucken, und sein Körper pendelte schlaff am Seil. Mrs. Chasen legte ihre Schlüssel auf den Tisch am Eingang und rief dem Hausmädchen zu, es solle die Pakete aus dem Wagen holen. Der Lunch war entsetzlich langweilig gewesen, und sie war müde. Sie blickte in den Spiegel und zupfte geistesabwesend an ihrem Haar. Zum Dinner heute Abend würde sie die Perücke mit den hellen Strähnen tragen. Sie würde ihren Termin bei Rene absagen und den Rest des Nachmittags auf ein Nickerchen verwenden. Ab und zu musste sie schließlich auch ein wenig sich selbst verwöhnen. Sie ging ins Wohnzimmer und setzte sich an den Schreibtisch. Während sie in ihrem Adressbuch nach der Nummer des Friseurs blätterte, vernahm sie die leise spielende Chopin-Musik. Wie angenehm beruhigend, dachte sie und begann zu wählen. Rene würde empört sein, aber das war nun mal nicht zu ändern. Während das Freizeichen ertönte, lehnte sie sich zurück und trommelte mit den Fingern auf die Armlehne des Stuhls. Ihr Blick fiel auf den Briefumschlag. Sie blickte nach oben und sah den Körper ihres Sohnes an einem Seil von der Decke baumeln. Sie hielt inne. Der Körper schwang leicht hin und her, sodass das um den Eichenbalken geschlungene Seil zum Rhythmus der Musik knarrende Geräusche machte. Mrs. Chasen starrte auf die hervorquellenden Augen, die
heraushängende Zunge, auf die Schlinge, die fest um den grotesk verdrehten Hals lag. „Die gewählte Nummer ist ungültig“, erklang eine dünne Stimme. „Bitte überprüfen Sie die Nummer und wählen Sie noch einmal, dies ist…“ Mrs. Chasen unterbrach die Verbindung. „Also wirklich, Harold“, sagte sie, während sie erneut wählte. „Ich nehme an, du hältst das für wahnsinnig witzig. Es scheint dir völlig egal zu sein, dass die Crawfords heute zum Dinner kommen.“
„Oh, Harold war immer ein wohlerzogener Junge“, sagte Mrs. Chasen beim Abendessen zu Mrs. Crawford der Älteren. „Doch, wirklich. Schon mit drei Jahren ließ ich ihn mit Messer und Gabel essen. Als Baby gab es nie Ärger mit ihm, außer dass er vielleicht etwas anfälliger für Krankheiten war als andere Kinder. Wahrscheinlich hat er das von seinem Vater, denn ich bin nicht einen Tag meines Lebens krank gewesen. Und natürlich hat er von seinem Vater auch dessen seltsame Wertbegriffe und diesen Hang zum Absurden. Ich erinnere mich noch, als wir in Paris waren, ging Charlie kurz Zigaretten holen, und das Nächste, was ich hörte, war, dass man ihn festgenommen hatte, weil er nackt, nur mit ein paar gelben Schwimmflügeln ausgerüstet, die Seine hinuntergeschwommen war – um die Strömung zu testen. Es hat eine ziemliche Menge ,enfluence’ und ,d argent’ gekostet, diese Eskapade zu vertuschen.“ Mrs. Crawford die Jüngere lachte beifällig, ebenso Mr. Crawford, Mr. Fisher und Mr. und Mrs. Truscott-Jones. Mrs. Crawford die Ältere schlürfte ihren Champagner und lächelte. „Sind Sie bereit für den Nachtisch?“, wurde sie von Mrs. Chasen gefragt.
„Haben sie alle Lust auf einen köstlichen Pfirsich Melba? Harold, mein Lieber, du bist noch nicht mit deinen Rübchen fertig.“ Harold, am Ende der Tafel, blickte auf. „Hast du gehört, Schatz? Iss deine Rübchen auf. Sie sind sehr nahrhaft. Sind gut für den Organismus.“ Harold sah seine Mutter an und legte dann schweigend seine Gabel hin. „Was um alles in der Welt ist los?“, fragte Mrs. Chasen. „Fühlst du dich nicht gut?“ „Ich habe Halsschmerzen“, sagte er sanft. „Oje. Dann ist es wohl am besten, wenn du gleich zu Bett gehst. Entschuldige dich und sage allen gute Nacht.“ „Entschuldigen Sie bitte“, sagte Harold. „Und allen eine gute Nacht.“ Er stand vom Tisch auf und verließ den Raum. „Gute Nacht“, entgegneten alle. „Nimm ein Aspirin“, rief Mrs. Chasen hinter ihm her. „Und viel Wasser.“ Sie wandte sich wieder ihren Gästen zu. „Gute Güte“, sagte sie. „Ich weiß nicht, was ich mit diesem Jungen machen soll. In der letzten Zeit ist er ziemlich schwierig geworden. Ich schicke ihn zu Dr. Harley, meinem Psychiater, und natürlich sagt mein Bruder Victor – der Brigade-General – mir immer wieder, dass die Armee für Harold das Beste wäre. Aber ich möchte nicht, dass er in irgendeinem Dschungel gegen Wilde kämpft. Auf diese Weise habe ich Charlie verloren. Natürlich kämpfte Charlie nicht. Er fotografierte Papageien in Polynesien, als plötzlich dieser – “ „Mehr Champagner!“, brüllte Mrs. Crawford die Altere und rülpste. „Mutter!“, sagte Mrs. Crawford die Jüngere. „Mutter, bitte“, sagte Mr. Crawford. „Tut mir leid“, entgegnete Mrs. Crawford die Ältere. „Ich dachte, ich hätte eine Fledermaus gesehen.“
Ein verlegenes Schweigen lag über der Tafel, bis Mrs. Truscott-Jones sagte, sie habe noch niemals einen so wundervollen Pfirsich Melba gegessen, und Mrs. Chasen erzählte die Geschichte, wie sie das Originalrezept von einem Tenor in Tokio bekommen hatte, der behauptete, Dame Nellies unehelicher Sohn zu sein.
,Warum sie die alte Frau immer noch zu Partys mitbringen’, dachte Mrs. Chasen, als sie sich an ihren Toilettentisch setzte und ihre Perücke abnahm, ,kann wirklich kein Mensch begreifen, schließlich ist sie praktisch total senil. Es ist immer absolut peinlich, insbesondere für ihre Familie, und nicht zuletzt ziemlich anstrengend für die Gastgeberin. Warum stecken sie sie nicht in ein Heim?’, fragte sie sich, während sie ihren Morgenmantel vom Bett nahm. ,Sie wäre gut versorgt und könnte dort unter ihresgleichen bis zu ihrem Ableben weilen.’ Mrs. Chasen blieb vor ihrer Badezimmertür stehen und betrachtete sich eingehend in dem hohen Spiegel. Sie warf die Schultern zurück und tätschelte ihren Bauch. ,Nicht schlecht’, dachte sie. Jung zu bleiben ist eben einzig eine Frage der schlanken Linie.’ Sie öffnete die Tür und machte im Bad das Licht an. Harold lag mit weit aufgerissenen Augen in der Badewanne, mit aufgeschlitzter Kehle, während Blut von seinem Hals und seinen Handgelenken tropfte. „Mein Gott! Mein Gott!“, kreischte Mrs. Chasen. „Ohh! Ohh! Das ist zu viel! Zu viel!“ Sie drehte sich um und rannte hinunter in die Halle. Harold wandte den Kopf und lauschte. In der Ferne konnte er das hysterische Geschrei seiner Mutter hören. Er sah sich in
dem blutverschmierten Spiegel an und lächelte schwach, aber zufrieden.
„Wir haben nun bereits einige Sitzungen hinter uns, Harold“, sagte Dr. Harley, „aber ich denke nicht, dass wir ernsthaft von irgendwelchen Fortschritten sprechen können. Würden Sie mir darin zustimmen?“ Harold lag auf der Couch und starrte an die Decke. Er nickte zustimmend. „Und können Sie mir sagen, warum das so ist?“ Harold dachte einen Augenblick nach. „Ich weiß nicht“, sagte er. Dr. Harley ging hinüber zum Fenster. „Ich denke, es liegt vielleicht an Ihrer mangelnden Bereitschaft, sich zu äußern oder mitzuarbeiten. Wir müssen kommunizieren, Harold, sonst werde ich Sie niemals verstehen. Nun, lassen Sie uns noch einmal Ihre vorgetäuschten Selbstmorde betrachten. Seit unserer letzten Sitzung hat mir Ihre Mutter von drei weiteren berichtet. Wenn ich richtig zähle, macht das insgesamt fünfzehn. Ist das richtig?“ Harold betrachtete konzentriert die Zimmerdecke. „Ja“, sagte er nachdenklich, „wenn Sie den ersten und die Bombenexplosion nachts im Gewächshaus nicht mitzählen.“ Dr. Harley fuhr sich mit der Hand über sein schütteres Haar. „Fünfzehn“, sagte er. „Und alle Ihrer Mutter zuliebe?“ Harold überdachte diese Aussage einen Augenblick. „,Zuliebe’ würde ich nicht sagen“, stellte er fest. „Nein“, stimmte Dr. Harley zu, „da haben Sie wohl Recht.“ Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch. „Aber diese Versuche waren von Ihnen inszeniert, um eine bestimmte Reaktion Ihrer Mutter hervorzurufen, oder nicht? Nehmen wir zum Beispiel den Fall des zerquetschten Schädels, über den wir letztes Mal
sprachen. Sie haben den Dummy mit der Melone so hinter das Hinterrad des Wagens Ihrer Mutter platziert, dass sie, als sie zurücksetzte, glauben musste, sie wäre über Ihren Kopf gefahren. Nun, der hysterische Anfall, den sie bekam, dürfte wohl der Art von Reaktion entsprechen, die Sie bei Ihren letzten drei Versuchen gerne erreicht hätten. Habe ich Recht?“ „Tja“, sagte Harold. „Das war einer der ersten. Da war es noch einfacher.“ „Ah, ja“, sagte Dr. Harley. Er lehnte sich zurück. „Erzählen Sie mir von dem Badezimmervorfall gestern Abend.“ „Was wollen Sie wissen?“ „Würden Sie ihn als Erfolg bezeichnen?“ Harold dachte kurz nach. „Es war der größte Erfolg, den ich in den letzten Wochen hatte.“ „Hinterließen Sie einen Abschiedsbrief?“ „Nein, aber ich schrieb mit Blut ,Farewell’ auf den Spiegel. Ich glaube aber nicht, dass sie es gesehen hat.“ „Beim Erhängen im Wohnzimmer, hinterließen Sie da einen Abschiedsbrief?“ „Ja, mitten auf ihrem Schreibtisch. Sie hat ihn nicht einmal in die Hand genommen.“ „Dann war das Erhängen also ein Reinfall?“ „Vielleicht war es die Aufhängung“, sinnierte Harold. „Vielleicht hätte ich ein anderes Fluggeschirr verwenden sollen.“ „Sie scheinen sehr ausgeklügelte Requisiten für diese – äh – Performances zu benutzen. Der Swimmingpool zum Beispiel. Das muss doch eine Menge Arbeit gemacht haben.“ Harold atmete tief ein. „Ja“, sagte er mit einem leicht zufriedenen Lächeln, „das hat es. Ich musste Luftkissen für die Schuhe und den Anzug herstellen. Ich musste sogar ein kleines Sauerstoffgerät bauen, um unter Wasser atmen zu können. Das hat Spaß gemacht.“
„Aber es war kein Erfolg. Zumindest wenn ich berücksichtige, was Ihre Mutter mir erzählt hat.“ Harold wandte sich Dr. Harley zu. „Was hat sie gesagt?“ „Sie sah Sie mit dem Gesicht nach unten in voller Kleidung im Swimmingpool treiben, mit einem Zettel auf dem Rücken, auf welchem ,Goodbye World’ stand. Sie beauftragte das Hausmädchen, Ihnen eine heiße Schokolade zum Mittagessen zu machen, da sie nicht wollte, dass Sie sich erkälten.“ Harold blickte erneut zur Decke auf. Es dauerte lange, bis er wieder sprach. „Es hat mich drei Tage gekostet, das alles vorzubereiten“, sagte er schließlich. Dr. Harley beugte sich vor. „Sagen Sie mir, Harold“, fragte er, um das Thema zu wechseln, „womit verbringen Sie Ihre Freizeit?“ „Sie meinen, wenn ich gerade nicht plane…“ „Ja, was tun Sie so den lieben langen Tag? Sie gehen doch nicht zur Schule.“ „Nein.“ „Und Sie gehen nicht arbeiten.“ „Nein.“ „Also, womit verbringen Sie Ihre Tage?“ Harold überlegte. „Ich gehe auf Mülldeponien.“ „Und warum gehen Sie dorthin?“ Harold dachte wieder nach. „Müll“, sagte er. „Ich sehe mir gerne den Müll an.“ „Aha. Was tun Sie noch so?“ „Ich sehe sehr gerne der Autopresse auf dem Schrottplatz zu.“ „Und was noch?“ „Ich mag Abrissunternehmen.“ „Sie meinen, alte Häuser abreißen und Ähnliches?“ „Ja, vor allem mit der großen Abrissbirne.“
„Das ist sehr aufschlussreich, Harold, und eröffnet uns verschiedene neue Möglichkeiten, unsere Untersuchungen bei der nächsten Sitzung fortzusetzen. Für dieses Mal ist die Zeit um. Grüßen Sie Ihre Mutter von mir. Ich glaube, sie kommt Anfang nächster Woche zu mir.“ Harold stand von der Couch auf und verabschiedete sich. „Gehen Sie jetzt zur Mülldeponie?“, fragte Dr. Harley freundlich. „Nein“, antwortete Harold. „Auf den Friedhof.“ „Oh, das tut mir leid“, sagte der Doktor betroffen. „Jemand aus der Familie?“ „Nein“, entgegnete Harold, als er die Tür öffnete. „Ich gehe einfach gern zu Beerdigungen.“ Harold stand ein wenig abseits der Trauergemeinde und hörte dem Pfarrer zu, der eben die Sterbegebete sprach. Er stellte fest, dass er die kleineren Begräbnisse bevorzugte. Mit nur wenigen Trauernden um das Grab, so schien es ihm, war das Gefühl intensiver. Und bei kleineren Beerdigungen war es natürlich auch möglich, näher an den Sarg zu kommen und zu sehen, wie er in die Grube versenkt wurde. Der Pfarrer leierte weiter seine Gebete. ,Der Verstorbene musste jemand Wichtiges gewesen sein’, dachte er, ,was für eine Menge Leute.’ Er blickte sich um und sah ganz in der Nähe eine kleine alte Dame unter einem Baum sitzen. Sie sah aus, als gehöre sie zur Trauergemeinde, und Harold hätte sie nicht weiter beachtet, wenn sie nicht ein Stück Wassermelone gegessen und die Kerne in eine Papiertüte gespuckt hätte. Nicht schlecht verblüfft, starrte er sie an. Sie schien sich absolut wohl zu fühlen, alles um sich herum zu betrachten und zu genießen, so als würde sie in einem benachbarten Park ein Picknick machen. Die Gebete des Pfarrers näherten sich dem Ende. Harold warf einen letzten Blick auf die alte Dame und
beschloss, dass sie wirklich seltsam war. ,Sehr seltsam’, dachte er bei sich, stieg in seinen Leichenwagen und fuhr davon. „Es ist mir ein völliges Rätsel“, sagte Mrs. Chasen beim Mittagessen, „warum du dieses monströse schwarze Ding da gekauft hast. Du könntest jeden Wagen haben, den du nur wolltest – einen Porsche, einen Jaguar, einen netten kleinen MC Roadster. Aber nein. In unserer Einfahrt parkt dieses Ungetüm, eine Zumutung für mich und ein Schock für alle anderen. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, was die Frauen vom Wohltätigkeitsverein gedacht haben mögen, als sie dich – den Sohn ihrer Vorsitzenden – in einem Leichenwagen nach Hause fahren sahen. Wirklich, Harold, ich weiß nicht, was ich machen soll. Trink deine Milch aus, Schatz.“ Harold trank seine Milch. „Es ist ja schließlich nicht so, als ob du einfach dumm wärst“, fuhr Mrs. Chasen fort. „Im Gegenteil, du hast einen sehr hohen IQ. Daher verstehe ich deinen ungebremsten Hang zum Morbiden beim besten Willen nicht. Woher kommt das? Von mir jedenfalls nicht. Für derartige Spinnereien habe ich keine Zeit. Von der Minute an, in der ich aufstehe, bis zu der Minute, in der ich zu Bett gehe, bin ich ständig unterwegs, bin beschäftigt, Komitees, Empfänge, das Ballett – ohne irgendeine Pause. Aber du, Harold, du triffst dich nie mit Leuten, beteiligst dich an keiner Diskussion, du denkst nie an morgen. Du verschleuderst lieber deine Talente an diese blutigen Theaterstunts, deine kleinen Zerstreuungen. Das hat keine Zukunft, Harold. Egal, wie heilsam sie psychologisch betrachtet auch sein mögen. Dein Onkel Victor hat vorgeschlagen, dass du zur Armee gehst. Nun, vielleicht solltest du ihn mal besuchen. Ich habe bestimmt nichts für die Armee übrig, aber vielleicht wird er ja aus dir schlau. Immerhin war er General MacArthurs rechte Hand.“
Brigade-General Victor E. Ball war 1945 tatsächlich für eine kurze Zeit General MacArthurs Adjutant gewesen. Aber aus Fairness MacArthur gegenüber sollte man Victor wirklich nicht als rechte Hand des Generals bezeichnen, teils, weil er nie auch nur die geringste Rolle bei irgendeiner militärischen Entscheidung gespielt hatte, vor allem aber, weil er keine rechte Hand besaß. Genau genommen hatte er nicht einmal einen rechten Arm, denn dieser war ihm während eines Manövers in Fort Jackson abgeschossen worden. Normalerweise hätte man erwartet, dass ein Offizier unter solchen Umständen in den Ruhestand ging, aber General Ball war nicht der Typ, der sich kampflos geschlagen gab. Seiner Ansicht nach war das größte Handicap eines fehlenden rechten Armes in der Armee, dass man nicht in der vorgeschriebenen Art und Weise militärisch grüßen konnte. Nach diversen Experimenten gelang es ihm, eine mechanische Vorrichtung zu entwickeln, die zusammengeklappt in seinem leeren Ärmel untergebracht war. Wenn er mit der linken Hand am Auslöser zog, sauste der Ärmel zu einem zackigen Westpoint-Gruß an seine Stirn. Mit dieser Ausrüstung und dem Einfluss einiger Freunde beim Pentagon war es General Ball gelungen, in der Army Karriere zu machen. So sagte er zu seinem Neffen: „Die Army ist nicht nur mein Zuhause, Harold, sie ist mein Leben. Und sie könnte auch dein Leben sein. Ich weiß, wie deine Mutter fühlt. Sie besteht darauf, dass ich deinen Einberufungsbefehl zurückhalte, aber wenn es nach mir ginge, würde ich deine Akte weitergeben und dich schon morgen zu einem unserer Stützpunkte schicken. Glaub’ mir, du würdest eine Menge Spaß haben.“ Der General erhob sich hinter seinem Schreibtisch und verwies mit großer Geste auf die Militär-Plakate, welche die Wände seines Büros schmückten. „Schau dich um, Harold“, sagte er. „Da verhaut die Army die Spicks in San Juan, da
schlägt sie die Chinks zusammen, da peitscht sie die Rothäute und da kämpft sie sich den Weg über die Brücke von Remagen frei. Ah, ein großartiges Leben! Es bietet dir historische Momente, Ausbildung, Action, Abenteuer! Du erlebst den Krieg aus erster Hand! Und jede Menge schlitzäugiger Mädchen! Da wird endlich ein Mann aus dir, Harold. Du ziehst die Uniform an und schreitest aufrecht dahin – ein Glitzern im Auge, ein federnder Schritt und die Gewissheit im Herzen, dass du für den Frieden kämpfst. Und deinem Vaterland dienst.“ Er blieb vor einem Bild stehen, das Nathan Hale mit einer Schlinge um den Hals zeigte. „Genau wie Nathan Hale“, sagte er. Er zog an seiner Kordel und sein Ärmel schoss hoch zum Salut. „Das ist es, was dieses Land braucht, mehr Nathan Hales.“ Er stand einen Augenblick vor dem Bild stramm, bevor er seinen Ärmel in die Ausgangsstellung zurückschnellen ließ. „Und weißt du was?“, sagte der General, wobei er sich zu Harold umdrehte, der am Fenster saß. „Was?“, fragte Harold. Der General stand vor ihm und beugte sich vertraulich zu ihm hinunter. „Ich glaube“, flüsterte er langsam, „ich glaube, du hast das Zeug zu einem Nathan Hale.“ Harold starrte seinen Onkel ausdruckslos an. Der General lächelte und schlug ihm auf die Schulter. „Denk drüber nach“, sagte er und ging zurück zu seinem Schreibtisch.
Harolds abgeschlagener Kopf lag auf der silbernen Servierplatte, während Harold in dem Blut rund um den Hals Petersiliensträußchen arrangierte. Als er seine Mutter die Treppe herunterkommen hörte, stülpte er schnell die silberne
Cloche über die Platte und stellte sie unter den Tisch. Er verließ das Esszimmer und traf seine Mutter in der Halle. „Harold, Schatz, ich habe nur ein paar Minuten Zeit, aber ich will dir meinen Entschluss mitteilen. Bitte setz dich.“ Harold setzte sich, und Mrs. Chasen begann, ihre langen weißen Handschuhe anzuziehen. „Harold“, begann sie ruhig, „es ist an der Zeit, über deine Zukunft nachzudenken. Du bist neunzehn, schon fast zwanzig. Bis heute hast du ein müßiges, glückliches, sorgenfreies Leben geführt – das Leben eines Kindes. Aber nun ist es Zeit, die Kindersachen wegzupacken und sich den Verantwortlichkeiten eines Erwachsenen zu stellen. Wir alle würden am liebsten sorglos durchs Leben segeln, ohne irgendwelche Gedanken an ein Morgen. Aber das geht nicht. Wir haben Pflichten. Wir haben Aufgaben. Wir haben Prinzipien.“ „Kurz“, sagte Mrs. Chasen, als sie mit ihren Handschuhen fertig war, „ich denke, es ist Zeit für dich zu heiraten.“ „Zu was?“, sagte Harold. „Zu heiraten“, entgegnete Mrs. Chasen, nahm ihre Handtasche und ging zur Tür. „Wir werden ein Mädchen zum Heiraten für dich finden.“ Harold kniete in der Kirche und lauschte der leisen Orgelmusik. Er sah zu dem großen Glasfenster über dem Altar hinauf, welches Thomas von Aquin darstellte, der mit der Feder in ein Buch schrieb. ,Thomas von Aquin war nie verheiratet’, dachte Harold und blickte hinüber zu dem Mann im offenen Sarg. ,Ich frage mich, ob er verheiratet war. Ich frage mich überhaupt, wer er war.’ Der weißhaarige Pater Finnegan stieg zur Kanzel hinauf und musterte die wenigen, verstreut sitzenden Trauernden. Er öffnete sein Buch und las, was er schon unzählige Male gelesen hatte.
„Und so, liebe Brüder, lasset uns beten zum Herrn, König des Ruhmes, auf dass er die Seelen aller im Glauben Dahingegangenen segne und vor den Qualen Satans und dem Höllenschlund bewahre, sie bewahre vor dem Rachen des Löwen und der Dunkelheit darin, und sie stattdessen führe in die Glückseligkeit des Himmels, zum heiligen Licht und zur ewigen Ruhe.“ Während Pater Finnegan weiter sein müdes Gebet herunterleierte, erhob sich Harold, der im hinteren Teil der Kirche kniete, leise und setzte sich. Er sah hinüber zu einem Bildnis der trauernden Muttergottes. „Psst!“ Harold horchte auf. „Psssst!“ Er drehte sich um. Jenseits des Mittelgangs, drei Reihen hinter ihm, lächelte eine weißhaarige alte Dame und winkte ihm fröhlich zu. Harold drehte sich wieder nach vorn. ,Das ist doch die Frau vom Friedhof’, sagte er zu sich selbst, die die Wassermelone gegessen hat. ,Was will sie von mir?’ „PSSSSST!“ Harold schrak zusammen. Die alte Dame hatte den Platz gewechselt. Sie kniete jetzt genau hinter ihm. Sie grinste. „Etwas Lakritze?“, fragte sie freundlich und bot ihm eine kleine Tüte an. Sie sprach mit leicht englisch-europäischem Akzent. „Äh, nein, vielen Dank“, flüsterte Harold und kniete sich wieder hin. „Bitte schön“, flüsterte sie zurück. Die Augen fest auf den Altar gerichtet, lauschte Harold aufmerksam nach hinten. Nach ein paar Minuten hörte er, wie die alte Dame geräuschvoll von ihrer Kirchenbank aufstand, in seine Bank trat und sich neben ihn kniete. Sie gab ihm einen freundschaftlichen Knuff.
„Kanntest du ihn?“, fragte sie mit einer Geste Richtung Sarg. „Äh, nein“, wisperte Harold, bemüht, an der Messe interessiert zu scheinen. „Ich auch nicht“, sagte die alte Dame munter. „Ich hörte, dass er achtzig Jahre alt geworden ist. Ich werde nächste Woche achtzig. Ein gutes Alter, um hinüberzumachen, findest du nicht auch?“ „Ich weiß nicht“, sagte Harold und stand gleichzeitig mit der Trauergemeinde auf. Pater Finnegan segnete den Sarg, und die Sargträger folgten ihm. „Fünfundsiebzig fände ich zu früh“, fuhr die alte Dame neben Harold fort. „Aber mit fünfundachtzig, nun, da tritt man nur noch auf der Stelle und kann ebenso gut auf die andere Seite wechseln.“ Die wenigen Trauernden gingen nacheinander hinaus. Harold spürte ein Zupfen an seinem Ärmel. „Sieh dir die an“, flüsterte sie deutlich hörbar. „Diese Manie mit der schwarzen Kleidung habe ich nie verstanden. Ich meine, es schickt doch auch niemand schwarze Blumen, oder? Schwarze Blumen sind tote Blumen, und wer würde schon tote Blumen zu einer Beerdigung schicken?“ Sie lachte. „Wie absurd.“ Harold trat aus der Kirchenbank, und die alte Dame folgte ihm. „Was hältst du vom alten, fetten Tom?“ fragte sie. „Von wem?“, fragte Harold. „Thomas Aquinus da oben. Ich hab’ gesehen, wie du ihn betrachtet hast.“ „Ich denke, er war ein, äh… großer Denker.“ „Oh ja. Aber ein bisschen altmodisch, findest du nicht? Wie Schwanenbraten. Ach je, schau dir die an!“ Sie blieben vor einem düsteren Bild der Madonna stehen. „Darf ich?“, fragte sie und zog den Filzschreiber aus Harolds Manteltasche. Mit ein paar geschickten Strichen zeichnete sie
ein fröhliches Lächeln auf den Mund der heiligen Jungfrau. Harold schaute sich in der leeren Kirche um, ob sie wohl jemand beobachtete. „Na bitte, schon besser“, sagte die alte Dame. „Sie geben dem armen Ding nie die geringste Chance, mal zu lächeln. Dabei kann sie weiß Gott über eine Menge Dinge glücklich sein. Eigentlich“, fügte sie hinzu, während sie einige Statuen im Kirchenraum betrachtete, „haben sie alle Grund, glücklich zu sein. Entschuldige mich kurz.“ Harold machte den schüchternen Versuch, nach seinem Filzstift zu greifen, aber vergeblich. Die alte Dame war bereits damit beschäftigt, den heiligen Joseph, den heiligen Antonius und die heilige Theresa mit einem Lächeln zu verzieren. „Ein unglücklicher Heiliger ist ein Widerspruch in sich“, erklärte sie. „Äh, ja“, sagte Harold nervös. „Und wieso werden sie dann immer so dargestellt?“, fragte sie. Harold schaute zu einem Kruzifix hinüber. „Man könnte meinen“, sagte sie, während sie ins Freie trat, „dass niemand jemals das Ende der Geschichte gelesen hat.“ Harold folgte ihr auf die Straße hinaus. „Ah, könnte ich jetzt bitte meinen Filzstift zurückhaben?“, fragte er. „Oh, aber sicher“, sagte sie und gab ihn zurück. „Wie heißt du eigentlich?“ „Harold Chasen.“ „Sehr erfreut.“ Sie lächelte. „Ich bin die Gräfin Mathilda Chardin, aber du darfst Maude zu mir sagen.“ Wenn sie lächelte, ließen die Fältchen um ihre Augen sie noch strahlender und blauer erscheinen. Harold streckte höflich die Hand hin. „Sehr angenehm“, sagte er.
Sie schüttelte seine Hand. „Ich glaube, wir werden gute Freunde werden, meinst du nicht auch?“ Sie entnahm ihrer Handtasche einen großen Schlüsselbund und öffnete die Tür eines Wagens, der am Straßenrand stand. „Kann ich dich irgendwo absetzen, Harold?“, fragte sie. „Nein, vielen Dank“, antwortete Harold schnell. „Ich habe meinen eigenen Wagen.“ „Na gut, ich muss los. Wir werden uns sicher Wiedersehen.“ In der Kirche stand Pater Finnegan wie vor den Kopf geschlagen vor den lächelnden Statuen. Maude ließ den Motor aufheulen und löste die Bremse. „Harold!“, rief sie. „Tanzt du?“ „Was?“ „Kannst du singen und tanzen?“ „Äh, nein.“ „Nein.“ Sie lächelte traurig. „Das dachte ich mir.“ Sie trat aufs Gas. Mit lautem Quietschen und dem Geruch von verbrennendem Gummi schoss der Wagen los, röhrte die Straße entlang und schleuderte am Ende um eine Kurve. Noch immer konnte man in der Ferne das Getriebe protestieren hören. Harold starrte ihr verwundert nach. Pater Finnegan, der in der Kirchentür stand, hatte sie ebenfalls abfahren sehen. „Diese Frau“, sagte er wie zu sich selbst, „hat meinen Wagen genommen.“
Mrs. Chasen saß an ihrem Schreibtisch im Wohnzimmer und sprach zu ihrem Sohn, der ihr gegenüber stand. „Das hier sind die Formulare, die mir von der Nationalen ComputerdatingAgentur gesendet worden sind“, sagte sie. „Da du mit keiner der Töchter meiner Freundinnen etwas anzufangen weißt,
scheint mir dies die beste Methode zu sein, deine zukünftige Frau zu finden.“ Harold machte den Mund auf, aber seine Mutter wischte jeden möglichen Einwand mit einer Handbewegung zur Seite. „Bitte, Harold“, sagte sie, „setz dich. Wir haben eine Menge zu tun, und ich muss um drei Uhr bei der Schneiderin sein.“ Sie schaute sich die Papiere an. „Die Computerdating-Agentur vermittelt nach Einzahlung der Antrittsgebühr mindestens drei Dates. Sie schreiben, dass sie die Fetten und Hässlichen aussortieren, es scheint sich demnach um eine Firma mit hohen Standards zu handeln. Ich gehe davon aus, dass sie mindestens ein passendes Mädchen finden werden.“ Harold zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. „Hier sind erst einmal die Fragen zur Person, die beantwortet und zurückgeschickt werden müssen. Es gibt fünfzig Fragen mit je fünf Antwortmöglichkeiten: A = absolut sicher; B = ja; C = nicht sicher; D = nein und E = auf keinen Fall. Bist du bereit, Harold?“ Harold sah seine Mutter mit traurigen, braunen Augen an. „Die erste Frage: Fühlen Sie sich unwohl, wenn Sie neue Leute treffen? Nun, ich glaube, das ist ein ,ja’, meinst du nicht, Harold? Sogar ein ,absolut sicher’. Wir setzen ein ,A’ ein. Frage zwei: Sollte außerhalb der Familie sexuelle Aufklärung stattfinden? Ich würde sagen ,nein’, oder Harold? Wir setzen ein ,D’ ein. Frage drei: Lieben Sie es, allein zu sein? Na, das ist leicht, oder? Absolut sicher’, ein ‚A’. Sollten Frauen für die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten kandidieren? Nun, warum nicht. Absolut sicher.’ Laden Sie oft Freunde zu sich nach Hause ein? Nein, das machst du nie, Harold. Auf keinen Fall’. Haben Sie öfter das Gefühl, dass das Leben nicht lebenswert ist?“ Mrs. Chasen blickte auf. „Was würdest du sagen, Harold? Hm?“ Harold starrte seine Mutter ausdruckslos an.
„Meinst du A’ oder ,B’?“ Harold blinzelte. „Nun, tragen wir ein ,C ein, ,nicht sicher’. Sieben: Wird das Thema Sex von unseren Medien überbetont? Das sollte wohl mit ,ja’ beantwortet werden, oder? Bevorzugen Richter bestimmte Anwälte? Ja, ich denke schon. Dürfen Lehrer in der Öffentlichkeit rauchen oder trinken…?“ Während Mrs. Chasen weiter die Liste herunterratterte, öffnete Harold langsam seinen Mantel und nahm eine kleine Pistole heraus. Aus seiner Seitentasche holte er sechs Patronen und begann, während seine Mutter den Fragebogen ausfüllte, das Magazin zu laden. „Haben Sie manchmal Kopf- oder Rückenschmerzen nach einem schwierigen Tag? Ja, die habe ich allerdings. Können Sie leicht einschlafen? Ich würde sagen, ,ja’. Befürworten Sie die Todesstrafe für Kapitalverbrechen? Oh ja. Glauben Sie, dass die Kirchen einen starken Einfluss auf die Hebung der allgemeinen Moral haben? Noch mal ,ja’. Ist soziales Engagement Ihrer Meinung nach Zeitverschwendung? Herrgott, nein! Kann Gott unser Leben beeinflussen? Ja, ,absolut sicher.’ Haben Sie schon einmal die Straßenseite gewechselt, um jemandem nicht zu begegnen? Nun, ich bin sicher, das hast du schon getan, nicht wahr, Liebes?“ Harold lud die letzte Patrone und ließ das Magazin zuschnappen. Er blickte seine Mutter an. Sie war viel zu vertieft, um irgendetwas zu hören. Er spannte den Hahn. Sie las immer noch weiter. „Hatten Sie eine schöne Kindheit? Oh ja.“ Sie seufzte, drehte die Seite und fuhr fort: „Du warst ein süßes Baby, Harold.“ Er hob langsam die Waffe, bis sie genau auf den Kopf seiner Mutter zielte. „Schließt Ihre persönliche Religion oder Philosophie die Möglichkeit des Lebens nach dem Tode ein? Oh, ja. Absolut.
Unterliegen Sie Stimmungsschwankungen, ohne einen greifbaren Grund dafür zu haben? Ja, das tust du, Schatz. Ziffer ‚A’.“ Harold schaute und hörte ihr zu. Langsam drehte er die Pistole um, bis er direkt in den Lauf schaute. „Behalten Sie Witze und macht es Ihnen Spaß, sie anderen zu erzählen? Tust du nicht, Liebes, oder? Also ‚E’.“ Ganz langsam drückte er den Abzug. „Finden Sie, dass die sexuelle Revolution übers Ziel hinausgeschossen ist? Das ist sie allerdings. Sollte die Evolution…“ Mit lautem Knall ging die Pistole los. Harold flog aus dem Stuhl auf den Boden. Leblos lag er dort, Blut lief in einem Rinnsal aus dem kleinen runden Loch in seiner Stirn. Mrs. Chasen blickte auf. „Harold“, sagte sie ungeduldig, „Harold, bitte! Hast du gehört? Sollte die Evolution auf dem Lehrplan unserer Schulen stehen?“ „Ich glaube nicht, dass ich Mutter noch so erreiche, wie es mir früher gelungen ist“, gestand Harold Dr. Harley später am selben Tag. „Oh“, machte der Doktor. Harold überlegte kurz. „Ich denke, ich habe den rechten Biss verloren.“
Dunkelgraue Wolken zogen von der Küste her auf, und der Wind schüttelte die Bäume auf dem Friedhof. Pater Finnegan blickte von seiner Grabrede auf und stellte fest, dass es bald regnen würde. Er sprengte das Weihwasser übers offene Grab und beeilte sich mit dem Schlussgebet. Harold betrachtete das winzige Häuflein von Trauergästen. Einige begannen, ihre Regenschirme aufzuspannen, um sich
darunter in Sicherheit zu bringen. Andere standen ruhig da, ihre Hüte in der Hand. „Pssst!“ Harold drehte sich um. Jenseits des Grabes stand Maude im gelben Regenmantel mit passendem Südwester und winkte, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Verwirrt blickte er schnell hinunter auf den Sarg, als ob er sie nicht gesehen hätte. „Pssst!“ Er bewegte sich nicht. „PSSSSST!“ Er sah hoch. Mit einem strahlenden Lächeln winkte sie ihm zu. Er nickte andeutungsweise. Pater Finnegan schloss sein Buch, und indem er den letzten Segen murmelte, bemerkte er Maude. Einen Augenblick lang glaubte er, sie schon einmal gesehen zu haben, aber bevor er sich ganz sicher sein konnte, schien die Trauer sie zu überwältigen, und sie verschwand hinter einigen Leuten. Er blickte hinüber zu Harold. Harold schaute auf den Sarg hinunter. Pater Finnegan beendete das Gebet. Die Trauergäste antworteten „Amen“, bekreuzigten sich und eilten zu ihren Wagen. „Einen Moment, bitte“, sagte Pater Finnegan, als er Harold einholte. „Sie sind der junge Chasen, nicht wahr?“ „Äh, ja“, antwortete Harold. „Sagen Sie, wer war die alte Dame, der Sie eben gewinkt haben?“ „Ich habe ihr nicht gewinkt. Sie hat mir gewinkt.“ Genau in diesem Augenblick hielt Maude in Harolds Leichenwagen neben ihnen und lehnte sich aus dem Fenster. „Kann ich dich mitnehmen, Harold?“, fragte sie.
Harold war völlig perplex. Pater Finnegan trat an das Wagenfenster. „Entschuldigen Sie, Madam“, sagte er, „aber sind Sie nicht die Lady, die gestern mit meinem Wagen weggefahren ist?“ „War das der mit der Christophorus-Plakette am Armaturenbrett?“ „Ja.“ „Dann bin ich das wohl gewesen. Steig ein, Harold.“ Harold beschloss, nicht nach Erklärungen zu verlangen. Er öffnete die Beifahrertür und stieg ein. „Aber wo ist er?“, fragte Pater Finnegan leicht verstört. „Wo ist wer?“, fragte Maude. „Mein Wagen. Wo haben Sie ihn gelassen?“ „Ach den. Ich glaube, vor dem Waisenhaus. Nein, doch nicht, denn ich hatte ihn noch vor dem Zentrum für Afrikanische Kunst. Waren Sie mal dort, Pater? Oh, Sie wären begeistert. Sie haben wundervolle bunte Schnitzereien dort. Primitiv natürlich, aber einige sind ziemlich erotisch.“ Die Erkenntnis traf Pater Finnegan wie ein Blitz. „Sie haben die Heiligenstatuen angemalt“, sagte er. „Ja genau“, gab Maude strahlend zu. „Wie haben sie Ihnen gefallen?“ „Genau das ist der Punkt: überhaupt nicht!“ „Lassen Sie sich nicht entmutigen“, sagte sie und löste die Bremse. „Ästhetisches Empfinden entwickelt sich erst mit der Zeit. Bye, bye.“ „Warten Sie!“, sagte Pater Finnegan, aber seine Stimme verlor sich im Quietschen der Reifen und Dröhnen des Motors, als Maude das Gaspedal durchtrat und um die Kurve verschwand. Harold rappelte sich vom Boden auf und schaute aus dem Wagenfenster. Die Grabsteine verschwammen zu einer undeutlichen grauen Wolke.
Maude erreichte den Eingang des Friedhofs und schoss auf die Hauptstraße hinaus. Bei einer Geschwindigkeit von etwa sechzig Meilen pro Stunde lehnte sie sich entspannt zurück. „Was für eine Freude, dich zufällig hier wiederzutreffen, Harold“, sagte sie. „Ich wusste, dass wir gute Freunde würden, als ich dich das erste Mal gesehen habe. Du gehst oft auf Beerdigungen, nicht wahr?“ Harold klammerte sich mit einer Hand ans Armaturenbrett, mit der anderen an die Rückenlehne. „Ja“, antwortete er, ohne die Augen von der Straße abzuwenden. „Das tue ich auch. Beerdigungen sind so ein Spaß, nicht wahr? Alles ist im Wandel. Begräbnisse und Geburten. Vom Ende zum Anfang, vom Anfang zum Ende. Der große Kreislauf des Lebens.“ Sie bog plötzlich nach links ein, was einen Volkswagen zu einem halsbrecherischen Fahrspurwechsel zwang. „Die alte Kiste fährt sich hervorragend. Schon mal einen Leichenwagen gefahren, Harold?“ Harold schluckte. „Ja“, sagte er mit heiserer Stimme. „Eine völlig neue Erfahrung für mich.“ Sie raste über einen kleinen Hügel, wodurch Harolds Kopf mehrfach gegen das Wagendach stieß, dann riss sie den Wagen erneut in eine plötzliche Linkskurve, welche die Heckräder zum schlingern brachte. „Keine gute Bodenhaftung in Kurven“, erklärte Maude und trat das Gaspedal durch. „Soll ich dich zuhause absetzen, Harold?“ Harold, halb zwischen Sitz und Wagenboden, bemerkte zaghaft: „Aber dies ist mein Wagen.“ „Dein Leichenwagen?“ „Jaaaah!“ Maude trat auf die Bremse und brachte den Wagen in einer Staubwolke im Kies neben der Straße zum Stehen. Sie schaute
zu ihm hinunter. „Na, das ist ja vielleicht was“, gurrte sie. „Dann kannst du mich ja nach Hause fahren.“
Harold fuhr langsam und vorsichtig, während Maude ihm ihr System der Autobeschaffung erklärte. „Nach seiner Entlassung aus der Haft fing Big Sweeny an, in einer Druckerei zu arbeiten, wo ich ihm begegnete und wir uns anfreundeten. Als ihn ,der Ruf ereilte und er in ein Kloster nach Tibet ging, gab er mir seinen Schlüsselbund als Abschiedsgeschenk. War das nicht nett von ihm? Natürlich musste ich die Schlüsselsammlung noch um einige Exemplare der neueren Modelle ergänzen, aber es waren weniger, als man vermuten möchte. Wenn man einmal über die Grundausstattung verfügt, ist alles nur eine Frage der Variationsmöglichkeiten.“ „Wollen Sie damit sagen, Sie können mit diesem Schlüsselbund jeden Wagen aufschließen und losfahren?“ „Nicht jeden Wagen. Ich liebe die Abwechslung. Ich suche immer neue Erfahrungen, wie mit diesem Wagen hier. Es hat mir großen Spaß gemacht.“ „Vielen Dank.“ „Bitte, keine Ursache. Oh, das ist mein Haus da drüben.“ Harold wendete den Leichenwagen und hielt vor einem holzverschalten Häuschen, in dessen Vorgarten ein Walnussbaum stand. In der Nachbarschaft standen noch einige andere alte Häuser auf großen Grundstücken, einige mit Ställen oder Scheunen dahinter, aber auf der anderen Straßenseite und hügelabwärts war das Land stärker unterteilt. Die Häuser dort sahen alle ziemlich gleich aus, wie Schachteln, und standen nahe beieinander.
„Sieht aus, als würde es aufklaren“, sagte Maude, als sie aus dem Leichenwagen stieg. Harold schloss ihre Tür. Er machte sich immer noch Gedanken. „Aber wenn Sie diese Wagen, äh, nehmen“, sagte er, „denken Sie nicht, dass Sie den Eigentümern ein Unrecht zufügen?“ „Welchen Eigentümern, Harold? Nichts ist unser Eigentum. Wir sind hier auf der Durchreise. Wir kommen auf die Welt mit nichts, und wir verlassen sie ebenfalls mit nichts. Ist Eigentum da nicht ein etwas absurder Begriff? Ich frage mich, ob Post gekommen ist.“ Sie öffnete eine Holzkiste an der Veranda und nahm die Post heraus. „Oh, sieh doch. Schon wieder Bücher. Ich unterschreibe bloß die Karten und bekomme ständig Bücher geschickt. Letzte Woche bekam ich eine holländische Enzyklopädie. Würdest du die bitte für mich tragen, Harold?“ Harold nahm die Bücher, während Maude ihre Briefe durchsah. „Ziemlich blöd ist das“, sagte sie, „denn ich spreche kein Holländisch. Deutsch, ja, Französisch, Englisch, etwas Spanisch, etwas Italienisch und ein wenig Japanisch. Aber kein Holländisch. Womit ich nichts gegen die Holländer gesagt haben will. Königin Wilhelmina war sicherlich eine wunderbare Frau. Komm herein, Harold. Diese Briefe werde ich später lesen.“ Harold betrat das Haus und legte die Bücher auf einen Tisch. „Was diese Schlüssel angeht“, begann er wieder, während Maude Hut und Mantel aufhängte, „ich denke, dass Sie den Leuten, deren Autos Sie nehmen, ziemlichen Ärger bereiten, und ich bin mir nicht sicher, ob das gut ist.“ „Nun“, antwortete sie, „wenn sich manche Leute aufregen, weil sie denken, sie würden etwas besitzen, so frische ich auf meine Weise ihr Gedächtnis ein wenig auf. Ich teile ihnen
schonend mit: heute hier, morgen fort, also hängt euer Herz nicht an Dinge. Was mich nicht davon abhält, Sachen zu sammeln. Schau dich nur um. Ich habe im Laufe meines Lebens eine Menge Sachen gesammelt.“ Harold blickte sich in dem großen Wohnzimmer um und war verblüfft über die merkwürdige Zusammenstellung der Einrichtung. Kein Stuhl glich dem anderen. Das Sofa war mit einem Perserteppich bedeckt. An den Wänden hingen farbenprächtige Ölgemälde, ein kleiner Flügel stand in einer Ecke neben einer riesigen polierten Holzschnitzerei, und am Kamin stand ein Samowar mit vertrockneten Blumen auf einer Bastmatte neben einem japanischen Paravent. „Es ist sehr… interessant“, sagte Harold, unfähig, die passenden Worte zu finden. „Sehr vielfältig.“ „Oh, das sind alles verrückte Erinnerungsstücke“, sagte Maude und trat ans Fenster. „Zufällig, aber nicht wesentlich, wenn du weißt, was ich meine. Oh, komm, sieh dir die Vögel an.“ Sie öffnete das Fenster und füllte eine kleine Blechdose mit Körnern. Dann löste sie eine Feder aus, welche die Büchse an einem Draht entlangschießen ließ, an dessen Ende die Körner auf einen kleinen Tisch fielen. Harold war von der mechanischen Raffinesse der Vorrichtung fasziniert. „Ist das nicht zauberhaft?“, sagte Maude. „Das ist mein tägliches Ritual. Ich hab sie so gern. Die einzigen Tiere in freier Wildbahn, die ich noch zu sehen bekomme. Schau sie dir an. Frei wie die Vögel.“ Sie brachte die leere Körnerbüchse in die Küche. „Eine Zeitlang bin ich in Tierhandlungen eingebrochen, um die Kanarienvögel zu befreien, aber dann ließ ich es wieder, weil die Zeit für solche Ideen noch nicht reif ist. Die Tiergärten sind voll und die Gefängnisse quellen über. Meine Güte, warum nur alle Welt Käfige so liebt!“
Sie schaute aus dem Fenster über dem Spülbecken. „Siehst du, Harold. Da ist Madame Arouet bei der Gartenarbeit. Juuhuu!“ Sie winkte der schwarz gekleideten alten Frau, welche fleißig in ihrem großen Gemüsebeet herumharkte, aber die alte Frau nahm keine Notiz von ihr. Maude seufzte. „Sie ist wirklich sehr süß. Aber so altmodisch. Nimm doch bitte Platz, Harold. Ich setze Wasser auf, und wir trinken eine schöne, heiße Tasse Tee.“ „Vielen Dank“, sagte Harold, „aber ich muss jetzt wirklich gehen.“ „Es ist Haferstroh-Tee. Du hast noch nie Haferstroh-Tee getrunken, oder?“ „Nein.“ „Na bitte.“ Sie lächelte und nahm den Wasserkessel in die Hand. „Nein, wirklich, vielen Dank, aber ich habe eine wichtige Verabredung.“ „Oh, mit dem Zahnarzt?“ „So ähnlich.“ „Nun gut, dann musst du mich ein anderes Mal besuchen.“ „In Ordnung“, sagte Harold und ging zur Tür. „Meine Tür ist immer offen.“ „In Ordnung.“ „Bis bald.“ „Okay.“ „Versprochen?“ Harold drehte sich um. „Versprochen“, sagte er und lächelte.
Die Decke von Dr. Harleys Sprechzimmer war verputzt und weiß gestrichen. ,Für einen oberflächlichen Betrachter sieht sie wohl glatt und uninteressant aus’, dachte Harold.
„Harold.“ Aber mit aufmerksamem Blick und nach einiger Zeit konnte man die handwerkliche Qualität des Malers und Stuckateurs erkennen, wodurch das, was vorher langweilig und uninteressant ausgesehen hatte, mit einem Mal faszinierend und beeindruckend erschien. „Harold!“ Aus einer Lage Gips wurde eine zerklüftete Wüste aus Licht und Schatten, und ein Pinselstrich erinnerte an die Dünung eines Polarmeers. „Sie scheinen gar nicht zuzuhören, Harold. Ich habe Sie gefragt, ob Sie Freunde haben?“ Harold unterbrach seine Tagträume und konzentrierte sich auf die Frage. „Nein“, antwortete er. „Überhaupt keine?“ Harold überlegte. „Nun, vielleicht einen.“ „Möchten Sie über diesen Freund sprechen?“ „Nein.“ „Kennt Ihre Mutter diesen Freund?“ „Nein.“ „Ist es ein Freund aus dem Internat?“ „Nein.“ „Verstehe.“ Dr. Harley fuhr sich mit der Hand über den Hinterkopf. Er beschloss, das Thema zu wechseln. „Hat Ihnen die Schule gefallen?“ „Ja.“ „Mochten Sie Ihre Lehrer?“ „Ja.“ „Und Ihre Klassenkameraden?“ „Ja.“ „Und den Unterricht?“ „Ja.“ „Warum haben Sie dann die Schule verlassen?“
„Ich habe den Chemie-Flügel niedergebrannt.“ Dr. Harley stand langsam auf und ging zum Fenster. Er richtete die Jalousie. „Wir kommen heute nicht zusammen, Harold“, sagte er. „Ich habe das Gefühl, dass Sie nicht mitmachen wollen. Wir kommunizieren nicht miteinander. Nun, ich halte Sie für einen sehr interessanten Fall, Harold, einen, welchen ich gerne weiterbehandeln würde, aber Ihre Weigerung sich einzubringen wirkt sich gegen den psychoanalytischen Prozess aus und kann die Möglichkeit einer wirkungsvollen Behandlung behindern. Verstehen Sie mich?“ „Ja“, sagte Harold. „Sehr gut“, sagte Dr. Harley. Er setzte sich. „Sagen Sie, Harold“, begann er nach einer Pause, „erinnern Sie sich überhaupt an Ihren Vater?“ „Nein“, sagte Harold und fügte hinzu: „Ich würde mich gern an ihn erinnern.“ „Wirklich? Warum?“ „Ich hätte gern mit ihm gesprochen.“ „Worüber würden Sie mit ihm sprechen?“ „Ich weiß nicht. Ich würde ihm meinen Leichenwagen zeigen und mein ganzes Zeug.“ „Welches Zeug?“ „Das ganze Zeug in meinem Zimmer – meine Werkbank, meinen Chemiebaukasten, meine Vorrichtung zum Aufhängen, mein Sauerstoffgerät fürs Ertrinken, mein Plakat vom ,Phantom der Oper’ – ich habe eine Menge Dinge.“ „Klingt faszinierend.“ „Nun“, sagte Harold nachdenklich, „die Dinge sind zufällig, aber nicht wesentlich, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
Harold brachte die silberne Servierplatte in sein Zimmer und stellte sie auf die Werkbank. Er nahm die Cloche ab und schaute seinen abgetrennten Kopf an, der in einem See von getrocknetem Blut lag, mit Petersilienstängeln garniert. Er stellte fest, dass die Ähnlichkeit wirklich verblüffend war, und es hätte noch vor ein oder zwei Monaten gut funktioniert, aber inzwischen war die ganze Sache wohl doch etwas zu durchschaubar. Er nahm den Kopf und begann, das GummiBlut davon zu entfernen. Er hatte geplant, den Kopf als Teil des kalten Buffets zu servieren, wenn seine Mutter und ihre Gäste von der ,Salome’ Wohltätigkeitsgala zurückkämen. Aber, wie alle Militärstrategen wissen’, dachte er bei sich, ,kann der beste Plan scheitern, wenn der Feind die Taktik durchschaut.’ Er nahm den Kopf und setzte ihn auf den Hals der Schaufensterpuppe, die in voller Bekleidung auf dem Bettrand saß. Der Kopf passte nicht perfekt, da der Zapfen im Hals der Puppe zu locker war. Harold suchte in seinem Schrank nach seinem Werkzeugkasten. Er fand ein Metzgerbeil, aber nirgends war ein Stemmeisen oder ein Schraubenzieher zu sehen. Mrs. Chasen klopfte an die Tür und betrat sein Zimmer. Sie trug ein Abendkleid, hatte eine Pelzstola über dem Arm und einige IBM-Karten in der Hand. „Hör zu, Harold“, sagte sie, indem sie sich an die Puppe auf Harolds Bett wandte. „Ich habe hier die Karten von den drei Mädchen, die von der Computerdating-Agentur für dich ausgewählt worden sind.“ Harold brach seine Suche ab. Er stand mit dem Metzgerbeil in der Hand hinter der Schranktür und hörte verblüfft zu. „Ich habe die Mädchen angerufen und jede von ihnen zu uns zum Essen eingeladen, bevor du mit ihnen ausgehst. Die Erste kommt morgen um halb zwei. Wir werden in der Bibliothek
ein wenig plaudern und um zwei zu Mittag essen. Hast du verstanden?“ Harold beobachtete seine Mutter durch einen Spalt in der Schranktür. Sie fuhr fort, mit der Puppe tu sprechen. „Vor allem erwarte ich von dir, dass du dich wie ein Gentleman benimmst, Harold. Denk an deine gute Erziehung und gib diesem Mädchen die Gelegenheit, sich hier wohl zu fühlen. Gut, ich gehe jetzt mit den Fergusons in die Oper“, sagte sie und legte die Stola um. „Ich hoffe nur, es gelingt ihnen, an dem großen, schwarzen Monster in der Einfahrt unbeschadet vorbeizumanövrieren. Dir ist doch wohl klar, dass du den Wagen problemlos in die Garage stellen könntest, wenn sie nicht mit Autoteilen und anderem Müll vollgestopft wäre.“ Sie ging zur Tür. „Schau, Harold, ich lege die Karten der Agentur hierher.“ Sie legte sie auf den Tisch neben einen Kanister ,Max-Factor-Blut’. „Gütiger Himmel“, seufzte sie mit einem Blick auf den Kanister. „Also, ich weiß nicht. Was um alles in der Welt ist aus den guten alten Modellflugzeugen geworden?“ Unten klingelte es an der Haustür. „Das sind sie“, sagte sie und wandte sich zum Gehen. „Ich werde…“ Sie hielt inne und musterte die Puppe. „Du siehst ein wenig blass aus, Schatz“, sagte sie. „Geh zeitig zu Bett. Schließlich möchtest du doch morgen gut aussehen, oder?“ Sie ging und zog die Tür hinter sich zu. Harold kam hinter der Schranktür hervor und ging zu der Puppe. Er betrachtete sie eingehend. Er schüttelte den Kopf und ging zum Schrank zurück, um die Suche nach dem Werkzeugkasten fortzusetzen. Am nächsten Tag um fünf nach halb zwei ging Mrs. Chasen zur Eingangstür, um das erste Computer-Date zu empfangen,
eine hübsche, kleine, blonde, stupsnasige Studentin namens Candy Gulf. „Hallo“, sagte sie. „Ich bin Candy Gulf.“ „Herzlich willkommen!“, sagte Mrs. Chasen. „Wollen Sie nicht hereinkommen?“ „Oh, vielen Dank.“ „Harold ist draußen im Garten. Er wird jeden Augenblick hier sein. Wollen wir in die Bibliothek gehen?“ „Oh, sehr gern.“ „Sie besuchen die Universität, Candy?“, fragte Mrs. Chasen, während sie die Halle durchquerten. „Ja, so ist es.“ „Und was studieren sie?“ „PoliWi. Im Nebenfach Hauswirtschaftslehre.“ „Poli Wie?“ „Politikwissenschaft. Über das, was so los ist in der Welt.“ „Oh, ich verstehe“, sagte Mrs. Chasen und schob Candy in die Bibliothek. „Sehen Sie, da draußen ist Harold.“ Sie winkte ihm zu, als er über den Rasen auf das Haus zukam. Auch Candy winkte. Harold sah die beiden und winkte zurück. Dann verschwand er hinter dem Geräteschuppen. „Er scheint sehr nett zu sein“, sagte Candy. „Er ist sehr nett“, sagte Mrs. Chasen freundlich. „Bitte nehmen Sie doch Platz.“ Candy setzte sich Mrs. Chasen gegenüber, die sich mit dem Rücken zur Terrassentür niedergelassen hatte. „Interessiert sich Harold für das, was los ist in der Welt?“, fragte Candy. „Ich meine, es ist super, dieses Fach zu studieren. Und außerdem habe ich ja immer noch Hauswirtschaftslehre in Reserve.“ „Ja“, sagte Mrs. Chasen ein wenig vage. „Das klingt nach guter Planung.“ „Nun, es ist mein Leben.“
„Sagen Sie, Candy, sind Sie regelmäßig in diesem ComputerClub?“ „Du liebe Güte, nein!“, antwortete Candy kichernd. Mit einem Blick aus dem Fenster nahm sie Harold wahr, der mit einem großen Kanister mit der Aufschrift ,Kerosin’ hinter dem Geräteschuppen hervorkam. „Ich habe keinen Mangel an Verehrern“, fuhr sie fort. „Wissen Sie, die anderen Mädchen aus meiner Studentenverbindung, nun, wir hatten vereinbart, dass eine von uns es versuchen sollte. Wir haben gelost, und ich habe verloren!“ Sie kicherte wieder, fügte aber schnell hinzu: „Aber ich freue mich darauf, Harold kennen zu lernen.“ Mrs. Chasen lächelte. Hinter ihr auf dem Rasen leerte Harold gerade den gesamten Inhalt des Kanisters über sich. Candy schaute ihm leicht irritiert zu. „Ich sollte vielleicht erwähnen, dass Harold manchmal etwas exzentrisch ist“, bemerkte Mrs. Chasen. „Oh, ja!“, sagte Candy, die endlich begriffen hatte. „Das ist schon in Ordnung. Mein Bruder zum Beispiel ist auch ein ziemlicher Spaßvogel.“ Und sie kicherte, um ihren Kameradschaftsgeist zu zeigen. „Wissen Sie, ich werde nie vergessen, wie wir diesen alten Fernseher hatten, nur das leere Gehäuse. Nun, Tommy steckte seinen Kopf hinein und gab eine Nachrichtensendung für die ganze Familie zum Besten. Wir haben uns totgelacht. Und dann Klein-Tommy, der so tat, als wäre er Walter Cronkite.“ Sie blickte aus dem Fenster, und ihre Kinnlade fiel herunter. Harold stand draußen als lebende Fackel. „Ja“, sagte Mrs. Chasen. „Ich bin sicher, dass das sehr lustig gewesen ist.“ Candy sprang auf und deutete Richtung Fenster. „Har… Har… Harold!“, kreischte sie.
Mrs. Chasen sah sie ein wenig befremdet an. „Ja, meine Liebe. Hier ist Harold ja.“ Harold trat ein und nickte grüßend. Candys Augen quollen aus den Höhlen. Ihr Körper wurde schlaff. „Harold, Schatz, ich möchte dir Candy Gulf vorstellen.“ Harold streckte ihr seine Hand entgegen. Plötzlich wurde Candy von krampfhaftem Schluchzen geschüttelt. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und weinte noch, als Mrs. Chasen ihr ein Taxi bestellt hatte. „Das verstehe ich nicht“, sagte Mrs. Chasen zu Harold, als sie das Taxi davonfahren sahen. „Es hatte irgendwas mit einer Geschichte über Walter Cronkite zu tun.“
Am nächsten Morgen klopfte Harold an Maudes Tür. Der Riegel fehlte, und die Tür gab nach. „Jemand zuhause?“, fragte er laut und betrat das Wohnzimmer. Keine Antwort. „Maude?“, rief er. Stille. Er schaute sich im Zimmer um und betrachtete einige der Gegenstände, auf die sein Blick fiel, genauer. Über dem Kamin hing ein zusammengerollter, beiger Regenschirm wie eine alte Trophäe. Sein Elfenbeingriff hatte die Form eines Gänsekopfes, aber eines der eingelegten Augen fehlte, was die Gans aussehen ließ, als ob sie einem zublinzelte. Er ging zu dem japanischen Paravent. Dahinter befand sich ein Esszimmer im japanischen Stil – eine erhöhte Plattform, die mit Tatamimatten ausgelegt war. Ketten aus Eicheln und kleinen Muscheln hingen im Eingang zum Schlafzimmer. Er schob sie beiseite und warf einen Blick auf
das mit Schnitzereien verzierte Himmelbett. ,Es sieht aus wie aus ‚Lohengrin’, dachte er lächelnd bei sich und ging zu den Fenstern hinüber. Ein altes Victrola-Grammophon mit einem Stapel SchellackPlatten stand an der Wand. Daneben verstaubte ein altes Fernsehgehäuse ohne Bildröhre, welches jetzt ein Mikroskop beherbergte, und obenauf stand ein Teleskop, das nach oben durch das offene Fenster gerichtet war. Neben dem Sofa in der Mitte des Zimmers stand auf einem Tisch eine seltsame, kastenförmige Maschine. Harold betrachtete sie eingehend, konnte aber nicht herausfinden, wozu sie wohl dienen mochte. Die Lampen, Schalter und die vielen bunten Metallzylinder gaben ihm Rätsel auf, und das Wort ‚Odorific’, welches in verschnörkelter Schrift auf der Seite prangte, half ihm auch nicht weiter. Er ging zum Flügel und begutachtete die kuriose Sammlung silberner Rahmen, die darauf stand. Ein weiteres Rätsel. Alle Rahmen waren leer. Sie enthielten weder Bilder noch Fotografien. Harold zuckte die Achseln und stand eine Weile vor der großen, hölzernen Skulptur. Der Lack glänzte im Licht der Morgensonne, sodass die Farbe fast flüssig erschien, als flösse sie durch die Rundungen und Vertiefungen. Instinktiv streckte er die Hand aus, um sie über die glatte Oberfläche gleiten zu lassen, aber er zog sie schnell wieder zurück, da er fand, dass er das nicht durfte. Er drehte sich um und betrat die Küche. Durch das Fenster sah er Madame Arouet im Garten arbeiten und ging hinaus, um mit ihr zu sprechen. „Entschuldigen Sie bitte“, sagte er. „Haben Sie Maude gesehen?“ Sie hörte auf zu hacken und schaute unter ihrem großen Strohhut hervor. Ihr faltiges Gesicht drückte müde Resignation aus, aber ihre dunklen, wässrigen Augen musterten ihn aufmerksam. „Maude“, sagte Harold. „Wissen Sie, wo sie ist?“
„Maude?“, murmelte Madame Arouet mit starkem französischem Akzent. Sie verstand ihn nicht. „Ja“, sagte Harold. „Maude.“ „Ah! Maude!“ Sie deutete auf ein scheunenartiges Gebäude, ein wenig hügelaufwärts. „Danke“, sagte Harold und begann zu laufen. „Danke. Merci.“ Madame Arouet hob den Kopf und sah ihm nach. Eine seltsame Traurigkeit erfüllte auf einmal ihre Züge. Sie wandte sich wieder ihren Steckrüben zu. Harold erreichte das Gebäude und klopfte an die Tür. Sie war zu dick, um irgendetwas hindurch zu hören, also öffnete er sie und trat hinein. Das Erste, was er sah, war ein riesiger Eisblock in der Mitte des Raumes, der von einem drahthaarigen kleinen Mann auf einem Podest emsig bearbeitet wurde. Der Raum war angefüllt mit den Insignien eines Bildhauerateliers – drapierten Stoffen, alten Möbeln, Gipsabgüssen und Gießformen. Aber am meisten beeindruckten Harold die Unmengen von Werkzeugen, nicht nur Hammer und Stemmeisen, sondern auch Winden und Schraubenschlüssel sowie Motorsägen. „Entschuldigen Sie“, sagte er, und dann erkannte er, dass der alte Mann versuchte, aus dem Eis eine weibliche Figur zu formen, und dass er immer wieder zu seinem Modell hinüberschaute, das als Venus posierte. Harold konnte ihre Umrisse durch das Eis sehen. Sie war nackt. Hastig wandte er sich zum Gehen. „Was wünschen Sie?“, fragte der Bildhauer, indem er seine Arbeit unterbrach. „Ich suche nur nach Maude“, sagte Harold. Das nackte Modell streckte den Kopf hinter dem Eisblock hervor.
„Harold?“, sagte sie glücklich. „Maude???!“
Zurück in der Küche füllte Maude den Kessel und stellt ihn auf den Herd. Harold saß im Wohnzimmer und brütete vor sich hin. „Der Tee braucht nicht lange“, sagte Maude. „Übrigens, wie geht es deinem Leichenwagen?“ „Oh, ausgezeichnet.“ „Gut zu fahren, schien mir.“ Maude brachte Teegeschirr herein und begann, den Tisch zu decken. „Entschuldige bitte, die Untertassen passen nicht zu den Tassen“, sagte sie. Harold lehnte sich im Sofa zurück. „Stehst du oft für Glaucus Modell?“, fragte er scheinbar gleichgültig. „Um Himmels Willen, nein!“, sagte Maude. „Ich habe gar nicht die Zeit dazu. Aber ich bleibe gern in Übung, und der arme Glaucus braucht bisweilen eine kleine Auffrischung seiner Erinnerung an die Konturen des weiblichen Körpers.“ Sie hatte den Tisch fertig gedeckt und sah Harold fest an. „Hast du etwas dagegen?“, fragte sie. „Ich? Nein!“, versicherte Harold und schlug die Beine übereinander. „Natürlich nicht.“ Maude lächelte. „Wirklich? Findest du es falsch?“ Harold schaute zu ihr auf. Sie wollte die Wahrheit wissen. Er überlegte. ,Ist es falsch?’, fragte er sich. „Nein“, antwortete er und lächelte. Maude erwiderte sein Lächeln. „Oh, ich bin so glücklich, dass du das gesagt hast, Harold, denn ich möchte dir meine Bilder zeigen. Komm hier herüber. Dies nenne ich ,Der Raub der Sabinerinnen’. Wie findest du es?“
Harold betrachtete das große Ölgemälde. Ein wenig im Stil von Rubens, voller Feuer und Bewegung, zeigte es einen Haufen fülliger, rosaroter Damen, die mit ihren Kleidern, ihren Entführern und ein paar sich aufbäumenden Rossen kämpften. „Es gefällt mir“, sagte er. „Und das hier ist natürlich die Darstellung von Leda mit dem Schwan.“ Harold schaute auf die Signatur am unteren Bildrand. „Aber das…“ „Ja“, sagte Maude schüchtern. „Ich dachte, es sei wie geschaffen für ein Selbstportrait. Und hier drüben ist mein Lieblingsbild. Es heißt ,Regenbogen mit Ei darunter und ein Elefant’. Was sagst du dazu?“ „Es ist sehr farbenfroh. Sehr… voll.“ „Danke. Es war mein letztes. Dann habe ich mich in die hier vernarrt – meine ,Odorifics’.“ Sie ging zu dem kastenförmigen Apparat hinüber und befestigte einen kleinen Schlauch mit etwas wie einer Sauerstoffmaske daran. „Schon mal davon gehört, Harold? Diese habe ich natürlich selbst gebaut. Ein junger Sioux hat mir den Grundkonstruktionsplan gegeben. Hier, halt das mal.“ Harold hielt die Maske, während Maude an den Skalen und Pumpen herumfuhrwerkte. „Ist dir aufgefallen, dass die Kunst den Geruchssinn ignoriert?“, sagte sie. „Wirklich! Also, sagte ich mir, lass uns der guten alten Schnauze eine Behandlung verpassen. Eine Art Geruchsorgie. Ich fing mit dem Einfachsten an – Roastbeef, alte Bücher, frisch gemähtes Gras – dann ging ich zu diesen über.“ Sie nahm die Metallzylinder und las die Etiketten vor: „,Ein Abend im Maxim’, Mexikanischer Bauernhof. Dieser hier wird dir gefallen ,Schneefall in der Zweiundvierzigsten Straße’.“ Sie nahm den Zylinder und schraubte ihn an den
Kasten. Dann half sie Harold, die Maske richtig über der Nase zu platzieren. „Fertig?“, fragte sie und warf den Apparat an. Die Lampen leuchteten auf und die Kolben begannen zu pumpen. „Okay“, sagte sie. „Was riechst du?“ Harold schloss die Augen und atmete langsam ein. „UBahnen“, sagte er überrascht. Maude grinste. „Weiter.“ „Parfüm… Zigaretten… Kölnisch Wasser…“ Er wurde immer aufgeregter. „Teppich… heiße Maronen… Schnee!“ „Oh ja!“ Maude lachte und schaltete den Apparat aus. „Du kannst jede Menge davon kombinieren.“ „Das ist wirklich großartig“, sagte Harold. Er legte die Maske auf den Tisch. „Ich möchte wissen, ob ich auch einen bauen kann. Mit Maschinen kenne ich mich ziemlich gut aus.“ „Oh, das könntest du sicher. Ich gebe sie dir und du kannst studieren, wie sie funktioniert. Es ist sehr einfach. Vielleicht könntest du sie sogar verbessern. Ich selbst wollte sie eigentlich noch verfeinern – die Apparatur zum abstrakten und freien Riechen ausbauen – aber dann bin ich zum Tastsinn übergewechselt.“ Sie deutete auf die hölzerne Skulptur. „Das ist mein Meisterwerk.“ „Ja, es sieht großartig aus.“ „Nein“, sagte Maude. „Du musst es berühren.“ Sie machte es vor. „Du musst die Hände darüber gleiten lassen, komm näher heran, streck die Hände richtig aus und fühle. Nur zu, versuch es.“ Harold berührte scheu das Holz und ließ seine Hand über eine sinnliche Wölbung gleiten. „So ist es richtig. Was ist das für ein Gefühl?“ Der Teekessel begann in der Küche zu pfeifen. „Oh, entschuldige mich“, sagte Maude. „Ich hole den Tee. Mach weiter, Harold. Streichle, wiege, liebkose, ergründe.“
Harold sah sie hinter der Küchentür verschwinden. Er wandte sich wieder der Skulptur zu und legte beide Hände fest auf die glatte Oberfläche. Er trat näher heran, und während er seine Hände bewegte, bemerkte er, wie angenehm sich das polierte Holz anfasste. Seine Hände wurden mutiger. Sie glitten um ein großes Loch herum, und einen Moment lang verspürte er den merkwürdigen Drang, seinen Kopf hineinzustecken. Er unterdrückte den Impuls, aber dieser weigerte sich zu verschwinden. Er blickte über die Schulter zurück Richtung Küche. Maude summte hinter der Tür eine Melodie. Seine Hände fuhren fort, die Öffnung zu streicheln, und plötzlich steckte er seinen Kopf hinein, zog ihn hastig wieder heraus und trat zwei Schritte von der Skulptur zurück. Er schaute sich um. Maude summte immer noch in der Küche. Niemand hatte ihn gesehen. Erleichtert legte er seine Hände ineinander und lächelte. Maude brachte den Tee herein. „So, da wären wir“, sagte sie. „Haferstroh-Tee und Ingwerkuchen. Setz dich, Harold.“ „Das ist wirklich eine neue Erfahrung für mich“, sagte er, während er Maudes Stuhl zurechtrückte, bevor er sich hinsetzte. „Oh, danke Harold. Nun, mein Motto ist: Probier jeden Tag was Neues. Schließlich leben wir, um das Leben zu entdecken. Man lebt ja nicht ewig.“ „Du siehst aus, als könntest du’s.“ „Ich? Ha! Habe ich dir erzählt, dass ich nächsten Samstag achtzig werde?“ „Du siehst nicht wie achtzig aus.“ „Das ist der richtigen Ernährung, der richtigen Gymnastik und der richtigen Atemtechnik zu verdanken. Das Morgengrauen mit dem ,Atem des Feuers’ begrüßen.“
Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und zeigte ihm den Atem des Feuers’, gefolgt vom ,Blasebalg’. Danach war sie etwas außer Atem. „Natürlich“, sagte sie lachend und nach Luft schnappend, „nutzt sich der Körper ab, zweifellos. Ich bin schon tief im Herbst des Lebens. Nächsten Samstag werde ichs wohl ganz aufgeben müssen.“ Sie schenkte Tee aus und stellte die Kanne hin. „Das ist eine alte Kanne“, bemerkte Harold. „Sterling-Silber“, sagte Maude wehmütig. „Sie gehörte meiner lieben Schwiegermutter, Teil eines fünfzigteiligen Services. Ich bekam sie zugeschickt, eines der wenigen Dinge, die überlebt haben.“ Ihre Stimme erstarb, und sie nippte geistesabwesend ihren Tee. Harold schaute sie verdutzt an. Mit einem Mal schien sie weit weg zu sein. „Der Ingwerkuchen ist köstlich“, sagte er, um das Schweigen zu brechen. Maude blickte auf. „Wie? Oh, danke Harold. Freut mich, dass er dir schmeckt. Ist mein eigenes Rezept. Wenn du magst, gebe ich es dir.“ „Oh, ich koche nicht.“ „Warum nicht?“ „Weil ich… nun, Männer… ich meine…“ Er hielt inne. „Ich weiß nicht, warum“, sagte er. „Oh, aber es macht Spaß. Versuch es mal mit einem Kuchen. Es ist so, als ob man eine Collage aus alten Zeitungsfotos macht. Du hast die Zutaten, du mischst sie, und presto! Schon hast du etwas Neues geschaffen, etwas Spezielles. Plötzlich bist du jemand. Du hast einen Kuchen gebacken.“ „Und du musst ihn essen“, sagte Harold. „Aber natürlich“, sagte Maude. „Du musst ihn essen. Du musst ihn mit jemandem teilen. Ich bin dafür, dass jedermann
Kuchen bäckt. Aber genug von mir. Erzähl was von dir. Was machst du, wenn du nicht auf Beerdigungen gehst, Harold?“ „Oh, eine Menge Sachen“, sagte Harold und lächelte. „Was zum Beispiel?“ „Nun, ich werde es dir zeigen.“
Harold und Maude saßen auf der Motorhaube von Harolds Leichenwagen und schauten zu, wie eine Baufirma auf der anderen Straßenseite ein altes Gebäude niederriss. Ein riesiger Kran ließ eine enorme Bleikugel durch Ziegelsteine und Mörtel krachen, und ein gigantischer Bulldozer schaufelte die Trümmer auf und lud sie auf einen Lastwagen. „Faszinierend“, sagte Maude über den Lärm hinweg. „Faszinierend.“ Und sie starrte weiter verzückt auf das Schauspiel. „Danke“, sagte Harold. „Ich habe noch einen anderen Stammplatz.“ Von einem Hügel in der Nähe des Schrottplatzes aus sahen sie zu, wie ein Auto nach dem anderen von einer riesigen Klaue gepackt und in eine Presse geworfen wurde, die sie als kleine Schrottkugeln wieder ausspuckte. „Das hat wirklich einen gewissen Reiz“, resümierte Maude nach einer Weile. „Kein Zweifel. Das ist alles sehr aufregend.“ Sie biss nachdenklich ein Stück von einer rohen Karotte ab. „Aber ich frage dich, Harold: Ist das genug?“ „Wie meinst du das?“ Maude lächelte. „Komm. Ich werde es dir zeigen.“
Sie fuhren zu einem großen Gemüsefeld in der Nähe des Meeres und knieten sich zwischen die Reihen junger Kohlköpfe.
„Ich sehe gerne die Dinge wachsen“, sagte Maude. „Betrachte diese kleinen Schlingel, Harold. Als ich das letzte Mal hier war, kamen sie gerade zum Vorschein und streckten ihre winzigen grünen Köpfchen aus der Erde. Und jetzt sieh sie dir an. Schau die neuen jungen Blättchen an.“ „Ja, ich sehe sie“, sagte Harold eifrig. „Sie sind noch ganz zusammengerollt und zart – wie Babyhände.“ „Wir müssen uns auch ein paar Babys anschauen.“ „Was?“ „Wir sollten eine Entbindungsstation besuchen. Bist du jemals auf einer gewesen?“ „Nein, ich glaube nicht.“ „Oh, das macht viel Spaß. Vielleicht können wir heute Nachmittag hinfahren.“ „Einverstanden.“ „Gut. Wir fahren das Tal wieder hinauf und halten bei einer Blumenfarm. Bist du schon mal auf einer Blumenfarm spazieren gegangen?“ „Nein.“ „Oh, das ist ein Erlebnis. Blumen sind so freundlich.“ „Wirklich?“ „Oh ja“, sagte Maude, „sie sind so einfühlsam.“ Später, beim Spaziergang durch die Blumen, hielt Maude einen kleinen Vortrag. „Sie wachsen und blühen und verwelken und sterben, und verwandeln sich in etwas anderes. Sieh dir diese Sonnenblumen an! Sind sie nicht wunderschön? Ich würde mich am liebsten in eine Sonnenblume verwandeln.“ „Warum das?“, fragte Harold. „Weil sie so einfach sind.“ Sie lächelte scheu. „Und weil sie groß sind.“ „Und was liegt dir daran?“
„Nun, ich wusste schon in jungen Jahren, dass ich immer klein bleiben würde. Es war eine Enttäuschung, aber ich konnte nichts dagegen tun, außer zu beschließen, dass mich das nicht an meiner Lebensfreude hindern sollte. Und das hat es auch nicht getan. Dennoch glaube ich immer noch, dass es Spaß machen würde, groß zu sein.“ Sie lachte. „Aber was ist mit dir, Harold? Welche Blume wärst du gerne?“ Harold rieb sich die Nase. „Ich weiß nicht“, sagte er. „Ich bin bloß ein ganz gewöhnlicher Mensch.“ Er deutete auf ein Feld mit Gänseblümchen, das bis zu den Hügeln reichte. „Vielleicht eins von denen.“ „Warum meinst du das?“, fragte Maude ein wenig erstaunt. „Ich glaube“, antwortete er leise, „weil sie alle gleich sind.“ „Oh, das sind sie ganz und gar nicht! Schau her!“ Sie führte ihn zu einem Büschel Gänseblümchen. „Siehst du? Einige sind kleiner, einige sind dicker, einige wachsen nach links, einige nach rechts, einigen fehlen sogar Blütenblätter – alles schon äußerlich sichtbare Unterschiede, und wir haben die Biochemie noch ganz außer Acht gelassen. Siehst du, Harold, sie sind wie die Japaner. Zuerst denkt man, dass sie alle gleich aussehen, aber wenn man sie kennen lernt, merkt man, dass keiner dem anderen gleicht. Wie hier bei diesem Gänseblümchen. Jeder Mensch ist anders, hat nie vorher existiert und wird nicht noch einmal existieren.“ Sie pflückte es. „Ein Individuum.“ Sie lächelte, und beide standen auf. „Nun“, sagte Harold leicht melancholisch, „wir mögen ja vielleicht Individuen sein. Aber“, fügte er hinzu und blickte über das Feld, „wir müssen alle miteinander aufwachsen.“ Maude schaute Harold an. „Das ist sehr wahr“, murmelte sie. „Dennoch glaube ich, dass ein Großteil der Sorgen auf der Welt daher rührt, dass Leute wissen, sie sind das hier“ – sie streckte die Hand mit dem
Gänseblümchen aus – „und sich aber als etwas anderes behandeln lassen.“ Sie blinzelte die Tränen zurück, die sich in ihren Augen zu bilden begannen, und blickte über die Tausende und Abertausende von Gänseblümchen hin, die in der Nachmittagssonne leicht hin und her schwankten.
Ein rotes Cabrio holperte über den Straßenrand und vollführte eine schnelle Rechtsdrehung. Zwei entsetzte Radfahrer machten eine Vollbremsung, als der Wagen vorbeischoss und im Zickzack die Straße hinunterraste. „Ha!“, rief Maude und spielte mit dem Lenkrad. „Servolenkung!“ „Kannst du nicht etwas langsamer fahren?“, bat Harold. „Wir haben es nicht eilig.“ „Du hast Recht“, sagte Maude und nahm sofort den Fuß vom Gas. „Es geht gern mit mir durch. Ich halte eigentlich gar nichts von dieser Raserei, ich danke dir, dass du mich daran erinnert hast.“ Sie lächelte ihm zu. „Es gibt ein chinesisches Sprichwort: Kein Mensch kann sich selbst richtig sehen, wenn er sich nicht durch die Augen eines Freundes sieht. Ich bin dir sehr dankbar, Harold.“ Harold erwiderte ihr Lächeln. „Keine Ursache“, sagte er und schaute aus dem Fenster. Als sie in die Stadt kamen, stieg Maude vor einem Stoppschild auf die Bremse. Die Reifen quietschten. Sie quietschten auch, als sie wieder losfuhr. „Meine Güte, Maude“, seufzte Harold. „Wie du mit den Autos umgehst. Ich bin froh, dass wir nicht meinen Wagen genommen haben. Ich könnte ihn nie so behandeln.“ „Oh, es ist bloß eine Maschine, Harold. Sie ist doch nicht lebendig wie ein Pferd oder ein Kamel. Wir mögen zwar im
Maschinenzeitalter leben, aber ich kann sie deswegen nicht als gleichwertig behandeln. Natürlich“, fügte sie hinzu, während sie das Radio einschaltete, „hat dieses Zeitalter seine Vorteile.“ Laute Rockmusik erklang. Maude klopfte im Takt auf das Lenkrad. „Welche Musik magst du, Harold?“ „Nun…“ Plötzlich wurde Harold gegen die Tür geschleudert, als Maude scharf wendete, quer über die Straße auf den Bürgersteig fuhr und einen Briefkasten umriss, bevor sie plötzlich zum Stehen kam. „Hast du das gesehen?“, fragte sie. „Was?“, fragte ein ziemlich desorientierter Harold. „Was ist passiert?“ „Sieh doch!“ „Wo?“ „Drüben, auf dem Rasen vor dem Verwaltungsgebäude.“ „Was ist denn da?“ „Der kleine Baum. Er hat Probleme. Komm mit.“ Sie stieg aus dem Wagen, gefolgt von einem völlig verdutzten Harold, und ging energischen Schrittes auf einen kleinen Baum zu. „Sieh ihn dir an, Harold. Er erstickt. Das ist der Smog. Menschen können damit leben, aber Bäume bekommen Asthma. Siehst du, wie die Blätter braun werden? Der Arme. Harold, wir müssen sein Leben retten.“ „Aber wie?“ „Wir werden ihn verpflanzen. In den Wald.“ „Aber wir können ihn nicht einfach ausgraben!“ „Warum nicht?“ „Aber dies hier ist öffentliches Eigentum!“ „Genau. Komm.“
„Warte. Sollten wir uns nicht geeignetes Werkzeug besorgen? Und vielleicht einen Sack oder so was?“ „Ja, du hast Recht. Wir fahren zu Glaucus. Komm.“ Sie wollte zum Wagen zurückgehen, aber Harold hielt sie am Arm fest. „Schau!“, sagte er. Zwei Polizisten waren aus dem Verwaltungsgebäude gekommen und bei dem Wagen stehen geblieben. Sie gingen bereits um ihn herum und machten sich Notizen. „Das ist die Polizei“, sagte Maude unbekümmert. „Komm schon, das sind alte Freunde.“ Sie ging auf die Männer zu, während Harold sich vorsichtig hinter ihr hielt. „Schönen guten Tag, Officer, gibt es ein Problem?“ „Ja, Madam“, antwortete der Polizist und tippte zum Gruß an den Rand seiner Mütze. „Hier hatte jemand Schwierigkeiten beim Parken.“ „Nun, das Wenden ist nicht so einfach.“ „Äh, ja, Madam“, sagte er etwas verständnislos. „Sagen Sie“, bat Maude indem sie auf einen Wagen weiter vorn deutete, „ist das Auto richtig geparkt?“ „Oh, ja. Völlig in Ordnung.“ „Sehr gut. Danke schön.“ Sie wollte gehen, kehrte aber noch einmal um. „Äh, Officer, Sie sollten vielleicht das Radio ausmachen. Das schont die Batterie.“ Sie lächelte ihm zu und ging. Der Polizist stellte das Radio ab. Er sah, wie die kleine alte Dame einen Schlüsselbund aus der Tasche nahm und die Wagentür aufschloss. Sie stieg ein und öffnete dem ziemlich nervös aussehenden Jungen die Beifahrertür. „Nettes altes Mädchen“, sagte der zweite Polizist, der gerade seine Notiz über den umgefahrenen Briefkasten vollendet hatte. „Sie erinnert mich an meine Groß…“
Der Rest seines Satzes wurde vom Kreischen der Reifen und dem Röhren des Motors abgeschnitten. Sie blickten auf und sahen Maude vom Bordstein wegsausen, schwungvoll in den zweiten Gang schalten und um die Kurve verschwinden. „Vergiss es“, sagte der zweite Polizist nach einem Moment. „Meine Großmutter hat nie Schalten gelernt.“ Sie kamen erst nach Anbruch der Dunkelheit in Glaucus’ Atelier an. Eine Gaslampe an der Wand war das einzige Licht, aber ein großer Heizofen arbeitete auf Hochtouren. Der Eisblock in der Mitte des Raumes war nur noch anderthalb Meter hoch und schmolz in der Hitze schnell dahin. Auf dem Podest in der Ecke, das mit Teppichen und Fellen bedeckt war, lag laut schnarchend Glaucus, eingemummt in einen Parka und eine New England Jagdmütze, deren Seitenklappen über seine Ohren gezogen waren. Schlafend sah er viel kleiner und schmächtiger aus. Mit seinen behandschuhten Händen hielt er immer noch einen Holzhammer und einen Eispickel umklammert. „Oh je“, sagte Maude. „Wir sind zu spät gekommen.“ „Geht es ihm nicht gut?“, fragte Harold. „Er ist eingeschlafen, wie üblich.“ Sie nahm ihm die Werkzeuge aus den Händen und fing an, ihm die Stiefel auszuziehen. „Macht nichts. Wir kommen morgen wieder.“ Harold ging zu dem Eisblock hinüber. „Woran arbeitet er da?“, fragte er. „Eine Eis-Skulptur. Venus – die Göttin der Liebe. Sie zu vollenden ist sein unerfüllter Traum.“ „Sie ist noch sehr grob“, sagte Harold, der versuchte, die Umrisse der Figur zu erkennen. „Er hat noch nie eine zu Ende gebracht. Sieh dich um. Er besitzt jedes den Menschen bekannte Werkzeug, aber es fällt dem Armen einfach schwer, wach zu bleiben.“ Sie wickelte
eine dicke Decke um den schlafenden Glaucus und kam hinüber zu Harold. „Schau“, sagte Harold. „Das Eis schmilzt.“ „Ich weiß“, sagte Maude. Sie betrachtete es einen Moment lang. „Das ist einer der Nachteile dieses Materials.“ Harold saß vor dem Feuer in Maudes Wohnzimmer und schaute in die Flammen, die um die Holzscheite tanzten. „Ein kleiner Verdauungslikör?“, fragte Maude und brachte eine Karaffe von der Anrichte. „Nun, ich trinke wirklich nicht.“ „Oh, das hier ist gesund. Es ist biologisch-dynamisch.“ Sie goss ihm einen Drink ein und reichte ihm das Glas. Sie schenkte sich selbst ein und setzte sich in den Sessel ihm gegenüber. „Einen Toast, Harold“, sagte sie. „Auf dich. Wie die Iren zu sagen pflegen: Möge der Pfad gerade sein, weil deine Füße ihn gegangen sind.“ „Danke schön“, sagte Harold und nippte an seinem Drink. „Das schmeckt fein.“ „Ich freue mich, dass du ihn magst.“ Er lächelte ihr zu. Sie erwiderte sein Lächeln. Er setzte sich in seinem Stuhl zurecht und wies auf den Platz über dem Kamin. „Was macht der da oben?“ „Mein Regenschirm?“ „Ja.“ „Oh, das ist nur ein altes Erinnerungsstück. Ich fand ihn, als ich meine Sachen packte, um nach Amerika zu kommen. Er war meine Verteidigungswaffe bei Streikposten, bei Kundgebungen und Demonstrationen – wenn ich von der Polizei davongezerrt oder von den Schlägern der Opposition angegriffen wurde.“ Sie lachte. „Das ist so lange her.“
„Wofür hast du gekämpft?“, fragte Harold. „Oh, große Ziele. Freiheit. Rechte. Gerechtigkeit. Könige starben und Königreiche gingen unter. Weißt du, um die Königreiche tut es mir nicht leid – ich sehe keinen Sinn in Grenzen, Nationen und Patriotismus – aber ich vermisse die Könige. Als ich noch ein kleines Mädchen in Wien war, wurde ich einmal zu einer Gartenparty mit ins Schloss genommen. Ich sehe immer noch das Sonnenlicht auf den Springbrunnen, die Sonnenschirme, die strahlenden Uniformen der jungen Offiziere. Damals träumte ich davon, einmal einen Soldaten zu heiraten.“ Sie kicherte. „Meine Güte. Wie Frederic mich deswegen gerügt hat. Er war derart ernst, groß und formvollendet. Als Doktor an der Universität und als Regierungsbeamter glaubte er, Würde sei eine Frage der Art, wie man seinen Hut trug. So lernten wir uns kennen. Ich schoss ihm den Hut herunter. Mit einem Schneeball im Volksgarten.“ Sie lächelte in Erinnerung. „Aber das war alles…“, sie starrte in die Flammen, „… vorher.“ Als Harold sie ansah, wirkte sie auf einmal sehr klein und zerbrechlich. Er fühlte sich unsicher und unfähig, etwas Gescheites zu sagen. „Also benutzt du den Regenschirm nicht mehr?“, fragte er, um die Stille zu durchbrechen. Sie sah ihn an. „Nein“, sagte sie leise. „Nicht mehr.“ „Keine Revolten mehr?“ „Oh, allerdings!“, sagte Maude, die wieder lebhaft: wurde. „Jeden Tag. Aber ich brauche keine Verteidigungswaffe mehr. Jetzt umarme ich! Ich kämpfe immer noch für die großen Ziele, aber jetzt auf meine kleine, eigene Art.“ Sie lächelte. „Wie wärs mit einem Lied, Harold?“ „Nun, ich, äh…“ „Oh, komm schon“, sagte Maude und ging zum Flügel hinüber. „Sag nicht, dass du nicht singen kannst. Jeder kann
singen.“ Sie setzte sich und sang ein kleines Lied, das folgendermaßen begann: „Das Rotkehlchen singt uns ein Lied am Morgen, Die Nachtigall singt uns ein Lied zur Nacht, Der Schrei des Pfaus ist totgeboren, Aber der Kuck-kuck-kuckuck SINGT DEN LIEBEN LANGEN TAG!“ Als sie ihr Liedchen beendet hatte, lachte Harold und klatschte Beifall. „Wie heißt das Lied?“, wollte er wissen. „Es hat keinen Namen. Ich habe es selbst geschrieben.“ „Es gefällt mir.“ „Schön! Spielen wir es gemeinsam.“ „Aber ich spiele kein Instrument.“ Maude richtete sich auf. „Kein Instrument! Du liebe Güte, wer ist denn für deine Erziehung verantwortlich? Jeder sollte Musik machen können. Sie ist die alles verbindende Sprache der Menschheit. Sie ist Rhythmus, Harmonie, der Tanz des Kosmos. Komm mit.“ Sie ging ins Schlafzimmer und öffnete einen großen Schrank voller Musikinstrumente – Trompeten, Saiteninstrumente, Trommeln, Tamburine. Sie wühlte eine Weile darin herum, bis sie ein Banjo herauszog. „Na bitte“, sagte sie. „Genau das Richtige. Also, du hältst es so und benutzt deine Finger so.“ Sie zeigte ihm ein paar Akkorde und ging dann ins Wohnzimmer zurück. „Und merk dir“, sagte Maude und setzte sich an den Flügel, „zupfe nicht zaghaft daran herum. Sei impulsiv. Sei fantasievoll. Lass die Musik so frei aus dir herausströmen, als würdest du erzählen. Okay?“
„In Ordnung.“ „Okay. Von Anfang an. Spielen wir!“ Mit einem verschnörkelten Vorspiel begann sie das Lied und sang den Text, während Harold sie zaghaft begleitete. Es gelang ihm, ihr Tempo mitzuhalten, und sie endeten gemeinsam. „Aber der Kuck-kuck-kuckuck Trotz seiner langweiligen Melodie. Der Kuck-kuck-kuckuck SINGT DEN LIEBEN LANGEN TAG!“ Harold schaute sie strahlend vor Freude an. „Okay?“, fragte er. Maude stieß einen Pfiff aus. „Superb“, sagte sie.
Nach dem Frühstück saß Harold am Pool und übte auf seinem Banjo. Er spielte Maudes Lied immer und immer wieder, aber er war unzufrieden mit sich. Seine ungeübten Finger verpatzten die Akkorde, und die Melodie war praktisch nicht zu erkennen. „Harold“, rief seine Mutter von der Terrasse her. „Harold!“ Er versteckte das Banjo hinter einem Busch. „Ah, da bist du“, sagte Mrs. Chasen, die durch den Rosengarten auf ihn zukam. „Ich habe eine wundervolle Überraschung für dich. Ein kleines Geschenk, über das du dich sicher sehr freuen wirst. Komm mit.“ Harold folgte seiner Mutter, die zu den Garagen ging. „Hier“, sagte Mrs. Chasen mit einer dramatischen Geste. „Ist er nicht entzückend?“ Sie deutete auf einen brandneuen grünen Jaguar E-Type.
„Der ist für dich, Liebling. Ich habe dieses schwarze Monstergefährt wegschaffen und dir diesen dafür hinstellen lassen. Er ist doch viel hübscher, findest du nicht? Und er passt so viel besser zu dir.“ Harold wollte etwas sagen. „Oh, noch eins“, unterbrach ihn seine Mutter. „Ich habe mit deinem zweiten Computer-Date telefoniert: Sie scheint eine sehr nette, ruhige junge Dame zu sein – auf keinen Fall so hysterisch wie die erste. Sie kommt morgen Nachmittag hierher, und ich dachte, wir könnten Sandwiches und Kaffee in der Bibliothek zu uns nehmen. Also bitte, Harold, lass uns unser Bestes tun, damit sie sich bei uns wohl fühlt. Wiedersehen, Schatz. Ich bin beim Friseur.“ Sie warf einen Abschiedsblick auf den Jaguar E-Type. „Ein hübsches kleines Ding, nicht wahr? Ich mag ihn sehr.“ Harold stand einen Moment lang da und starrte sein neues Auto an. Dann fasste er einen Entschluss und ging in die Garage. Er zog seine Jacke aus und rollte einen großen Schweißbrenner in Richtung Jaguar. Er musterte den Wagen und stellte ein paar grobe Überlegungen an. Dann entzündete er den Schweißbrenner und setzte die große Schutzbrille auf.
Maude betrat Glaucus’ Atelier. „Guten Morgen“, sagte sie. Glaucus, im schicken Herbstoutfit, bearbeitete glücklich einen neuen, zwei Meter hohen Eisblock. „Herein! Herein!“, rief er, ohne sich umzudrehen. Mit einem Metalllöffel machte er einen großzügigen Kratzer in das Eis und trat dann zurück, um ihn zu begutachten. „Haben Sie Harold gesehen?“, fragte Maude. „Einen Augenblick“, sagte Glaucus und machte einen neuen Kratzer ins Eis. Diesmal war er zufrieden und sprang von seinem Podest herunter.
„Ah, Madame M! Willkommen!“, rief er und küsste ihr die Hand. „Wie Odysseus schon zu Penelope sagte…“ „Entschuldige die Verspätung“, sagte Harold und stürzte zur Tür herein. Glaucus schaute auf. „Eine ziemlich freie Übersetzung, aber nichtsdestoweniger korrekt. Ich grüße auch Sie, mein schlaksiger junger Freund.“ „Guten Morgen“, sagte Harold. „Hallo, Maude.“ „Hallo, Harold. Bereit für die heutige Operation?“ „Nun, ich bin bereit, wenn du es bist.“ „Aha!“, sagte Glaucus und klopfte ihm auf den Rücken. „Der Geist eines Agamemnon und der Mut eines Achilles! Kommen Sie her, mein Junge. Nun sagen Sie mir“, bat er mit einer Geste Richtung Eisblock, „was sehen Sie?“ Harold schaute. „Einen Eisblock“, sagte er. „Genau! Nun fragen Sie mich, was ich sehe.“ „Was sehen Sie?“ „Ich sehe die unsterbliche Göttin der Schönheit und Liebe. Ich sehe Aphrodite, die vollkommene Frau, voller Wärme und Feuer – eingefroren.“ Er nahm einen kleinen Pressluftbohrer und rief: „Und ich bin es, der dich befreien wird!“ Er griff den Eisblock erneut an, machte einen großen Einschnitt und trat zurück, um ihn zu begutachten. Er wischte sich die Stirn. „Jeden Morgen wird mir ein neuer Eisblock geliefert. Jeden Abend werden meine Augen müde, meine Hände schwer, und ich sinke in Morpheus’ Arme – während meine Göttin, halb geboren, dahinschmilzt – ungesehen, unbesungen und unbekannt.“ Er hielt, von Gefühlen überwältigt, inne. „Dürfen wir eine Schaufel von Ihnen borgen?“, fragte Maude freundlich.
„Warten Sie!“, rief Glaucus. „Lassen Sie mich nachdenken. Brauche ich heute eine Schaufel? Nein! Ich brauche eine Lötlampe.“ Er nahm eine Lötlampe in die Hand und sagte: „Nehmen Sie, welche Schaufel auch immer Ihnen beliebt. Es ist mir eine Ehre.“ „Vielen Dank, Glaucus“, sagte Maude und nahm eine Schaufel. „Bis später. Komm, Harold.“ „Auf Wiedersehen, Glaucus“, sagte Harold, und die beiden gingen. „Lebt wohl!“, rief Glaucus geistesabwesend. „Lebt wohl, meine Freunde!“ Er entzündete die Lötlampe und näherte sich dem Eisblock. „Wo auch immer er sich hinwandte, die Göttin leuchtete ihm voran“, zitierte er und fügte mit einem ehrfürchtigen Flüstern hinzu: „Homer.“
Maude lenkte den Kleinlaster mit gleichbleibender Geschwindigkeit über den Highway. Sie schaute zu Harold hinüber. Harold lächelte. „So weit, so gut“, sagte er und blickte durch das Rückfenster auf den kleinen Baum, der aufrecht auf der Ladefläche stand. „Wie geht es dem Patienten?“, fragte Maude. „Dem Baum geht es gut“, sagte Harold. „Aber der Polizist sieht ziemlich sauer aus.“ „Welcher Polizist?“ „Der, der uns folgt“, antwortete Harold trübsinnig. Der Polizist brachte sein Motorrad auf gleiche Höhe mit Maude und signalisierte ihr, an den Straßenrand zu fahren. Er parkte sein Motorrad und kam zu Maudes Fenster. „Lady“, sagte er kühl, „Sie sind auf einer Strecke mit Tempolimit fünfundvierzig Meilen eine Geschwindigkeit von siebzig Meilen gefahren. Kann ich bitte Ihre Lizenz sehen?“
„Sicherlich“, sagte Maude. „An der vorderen Stoßstange.“ „Nein“, sagte der Polizist geduldig. „Ich möchte Ihre Lizenz sehen.“ „Sie meinen diese kleinen Papierfetzen mit dem Bildchen drin?“ „Ja.“ „Oh, so etwas habe ich nicht.“ „Wie bitte?“ „Ich habe keinen Führerschein. Ich halte nichts davon.“ Der Polizist schaute auf seine Stiefel und dann die Straße hinunter. Er rückte seine Sonnenbrille zurecht. „Wie lange sind Sie schon gefahren?“, fragte er. „Ungefähr fünfundvierzig Minuten, oder was meinst du, Harold? Wir hatten gehofft, früher losfahren zu können, aber, sehen Sie, es ist ziemlich schwierig, einen Lastwagen zu finden.“ „Kann ich den Fahrzeugschein sehen?“ „Ich glaube nicht, dass wir einen haben. Außer er befindet sich im Handschuhfach. Würdest du bitte mal nachsehen, Harold?“ „Ist dies nicht Ihr Wagen?“ „Aber nein. Ich habe ihn gerade erst genommen.“ „Genommen?“ „Ja. Sehen Sie, ich muss meinen Baum einpflanzen.“ „Ihren Baum?“ „Nun, es ist nicht wirklich mein Baum. Ich habe ihn vor dem Verwaltungsgebäude ausgegraben. Wir müssen ihn doch umpflanzen. Um ihn atmen zu lassen, wissen Sie. Wir wollen ihn jetzt natürlich so schnell wie möglich wieder in die Erde bringen.“ Der Polizist rückte seinen Pistolengürtel zurecht und kratzte sich an der Nase. Er blickte wieder seine Stiefel an.
„Lady“, sagte er betont langsam. „Lassen Sie mich etwas klären.“ „In Ordnung“, sagte Maude und ließ den Motor an. „Und wir werden Ihre Zeit auch nicht weiter in Anspruch nehmen.“ Sie schaltete in den ersten Gang. „Nett, mit Ihnen zu plaudern!“, rief sie und schoss davon. Der Polizist fuhr herum, als der Kleinlaster an ihm vorbeiraste. Einen Augenblick lang schaute er ihnen sprachlos nach. Dann rannte er zu seinem Motorrad, sprang auf und gab Gas. „Ich glaube, er verfolgt uns“, sagte Harold und schüttelte beunruhigt den Kopf. „Tut er das?“, fragte Maude fröhlich. „Ist das seine Sirene? Meine Güte, immer wollen sie spielen. Na, dann mal los.“ Maude wechselte den Gang und trat das Gaspedal durch. Auf ihrer rasenden Fahrt über den Highway überholte sie ständig und wechselte immer wieder die Fahrspur. Der Polizist blieb ihr mit seinem Motorrad dicht auf den Fersen, seine Sirene heulte wie eine Seele in der Hölle. Plötzlich bog Maude scharf nach links ein, der Lastwagen beschrieb kreischend einen Halbkreis. Sie raste den Weg auf dem Highway zurück, und sie begegneten dem Polizisten, der auf der Gegenseite noch in der ursprünglichen Richtung fuhr. Andere Wagen wichen ihr hastig aus, während der Polizist ebenfalls wendete und hinter ihr herraste. Sofort wendete Maude ein zweites Mal, um in der ursprünglichen Richtung weiterzufahren. Der Polizist, von diesem Manöver überrascht, versuchte ihr zu folgen, aber der Verkehr um ihn herum war inzwischen ein einziges Chaos. Er wollte einem nahenden Ford ausweichen, holperte über die Böschung und kam schließlich schlitternd und schlingernd im schlammigen Straßengraben zum Halten.
Harold drehte sich wieder nach vorn und räusperte sich. „Er hat angehalten“, berichtete er. Maude lachte und verringerte die Geschwindigkeit. „Ach ja“, sagte sie. „Die gute alte Doppelwende. Klappt doch jedes Mal.“ Sie fuhr weiter den Highway entlang und bog in die Straße zum National Forest ein.
Sie hatten den kleinen Baum auf einer freundlichen Lichtung eingepflanzt, und Maude klopfte die Erde rund um den Stamm fest. „Das wars“, sagte Maude und richtete sich auf. „Ich glaube, hier wird er glücklich sein.“ „Es ist wirklich eine hübsche Stelle“, sagte Harold, an die Schaufel gelehnt. „Guter Boden.“ „Ja, richtig. Ich fasse gerne Erde an. Du nicht? Und der Geruch. Die Erde ist mein Körper. Mein Kopf ist bei den Sternen.“ Sie lachte. „Von wem ist das?“ „Ich weiß nicht.“ „Ich nehme an, von mir“, sagte Maude und lachte wieder. „Nun, dann Lebewohl, kleiner Baum. Wachse hoch, wandle dich und falle, um wieder zu Erde zu werden. Ist das nicht wundervoll, Harold? Überall um uns ist Leben! Komm. Ich möchte dir etwas zeigen.“ Sie führte ihn einen Pfad entlang, bis sie zu einer großen Kiefer kamen. „Na, ist das ein Baum?“, sagte sie. „Das ist ein ganz großer.“ „Warte, bis du erst die Aussicht von da oben genießen kannst.“ „Du willst da doch nicht hinaufklettern, oder?“
„Aber sicher. Das tue ich jedes Mal, wenn ich herkomme. Na los, Harold. Der Baum ist ganz leicht zu besteigen.“ „Aber wenn du herunterfällst?“ Maude hatte bereits hinaufzuklettern begonnen. „Daran denke ich nicht“, antwortete sie. „Das wäre nur eine Überlegung, die nichts einbringt, und es lohnt nicht, sich darüber Sorgen zu machen.“ Sie schaute zu Harold hinunter. „Kommst du selbst hinauf, oder willst du nur Berichte aus zweiter Hand?“ Harold schüttelte den Kopf. „Okay“, sagte er und begann, ihr zu folgen. Sie kletterten bis in eine Höhe von etwa vierundzwanzig Metern. Es war nicht schwierig, aber als er Maude immer höher hinauf folgte, spürte er, wie der Baum im Wind hin und her schwang. Er schluckte. „Da sind wir, Harold“, sagte Maude. „Wie ein natürlicher Hochsitz, nur für uns allein.“ Sie setzte sich auf einen Ast und machte Platz für Harold. Er kletterte zu ihr hinauf und setzte sich, wobei er sich krampfhaft am Stamm festhielt. „Ist das nicht erhebend?“, fragte Maude und ließ ihren Blick über den Wald schweifen, der sich meilenweit bis zu den fernen Bergen erstreckte. „Ja“, schluckte Harold. „Es ist ziemlich hoch.“ „Stell dir vor! Hier sind wir, geborgen in den Armen eines lebendigen Riesen, wir schauen über Millionen anderer Riesen – und sind ein Teil davon.“ „Es verschlägt einem glatt den Atem“, sagte Harold. „Und windig ist es auch.“ „Ja. Wir sollten die Segel setzen und zum Horizont aufbrechen. Wäre das nicht lustig? Ich habe das Segeln geliebt. Vor allem, wenn kein Land mehr zu sehen war und wir ganz allein waren, nur umgeben von der weiten See. Dann brachten
wir die Segel dicht an den Wind und durchschnitten die Wellen wie Galeonen auf Entdeckungsreise.“ „Wann war das?“ „Oh, in den zwanziger Jahren, um Südfrankreich herum und vor der Normandie. Ich erinnere mich, dass das Missfallen erregte, damals. Es galt als leichtsinnig oder gefährlich oder unschicklich – irgendeiner dieser Ausdrücke, die die Feiglinge verwenden, um die Abenteurer an die Leine zu nehmen. Aber wir werden sie mit uns mitziehen, oder Harold? Wir werden sie an unseren Ballon binden.“ „Du könntest das“, sagte Harold. „Was mich angeht, bin ich mir nicht so sicher.“ „Was meinst du damit?“ Der Wind ließ nach. Harold lockerte seinen Griff um den Baumstamm. „Nun“, sagte er, „die meisten Menschen sind aber nicht wie du. Sie sind in sich selbst eingesperrt. Sie leben in ihren Schlössern – allein. Sie sind wie ich.“ „Nun, jeder lebt in seinem eigenen Schloss“, sagte Maude, „aber das ist noch kein Grund, die Zugbrücke nicht mal herunterzulassen und auszugehen.“ Harold lächelte. „Aber du stimmst mir darin zu, dass wir allein leben. Und wir sterben allein. Jeder in seiner eigenen Zelle.“ Maude blickte über den Wald hinweg in die Ferne. „Wahrscheinlich. In gewissem Sinne. Deswegen müssen wir unsere Zellen so angenehm wie möglich einrichten – voll guter Bücher, warmer Kaminfeuer und Erinnerungen. Andererseits kannst du auch jederzeit über die Mauer springen und draußen unter den Sternen schlafen.“ „Vielleicht“, sagte Harold. „Aber das verlangt Mut.“ „Warum?“ „Nun, hast du etwa keine Angst?“
„Wovor? Das Bekannte kenne ich, und das Unbekannte möchte ich gerne kennen lernen. Außerdem habe ich Freunde.“ „Wen denn?“ „Die Menschheit.“ Harold lächelte. „Das sind aber wirklich eine Menge Freunde. Woher weißt du, dass sie alle freundlich sind?“ „Nun, so wie ich mir denke, sind wir alle mehr oder weniger gleich, die Frage ist nur, wie man uns zusammenbringen kann. Einmal, im Orient, hörte ich die Geschichte von zwei Architekten, die sich gemeinsam auf die Reise zu Buddha machten. Ihnen war bei ihren Projekten das Geld ausgegangen und sie hofften, dass Buddha etwas für sie tun könnte. ,Nun, ich werde sehen, was sich machen lässt’, sagte Buddha und machte sich auf, ihre Werke zu begutachten. Der erste Architekt baute eine Brücke, und Buddha war sehr beeindruckt. ,Das ist eine sehr gute Brücke’, sagte er und begann zu beten. Plötzlich erschien ein großer weißer Stier, der auf seinem Rücken genügend Gold trug, um die Brücke zu vollenden. ,Nimm es’, sagte Buddha, ,und baue noch mehr Brücken.’ Und so ging der erste Architekt sehr glücklich von dannen. Der zweite Architekt baute eine Mauer und als Buddha sie sah, war er genauso beeindruckt wie von der Brücke. ,Das ist eine sehr gute Mauer’, sagte er feierlich und begann, erneut zu beten. Plötzlich erschien der heilige Stier, trabte zu dem zweiten Architekten und setzte sich auf ihn.“ Harold brach in so schallendes Gelächter aus, dass er fast vom Baum gefallen wäre. „Ohhh, Maude!“, rief er. „Das hast du dir ausgedacht.“ „Nun“, sagte Maude, die ebenfalls lachte, „es ist die Wahrheit. Die Welt braucht keine Mauern. Wir müssen alle viel mehr Brücken bauen!“ Am späten Nachmittag fuhren sie nach Hause und nahmen den gleichen Weg wie auf der Hinfahrt. Maude fuhr mit ihrer
üblichen Geschwindigkeit und erzählte Harold vergnügt von Kinderspielen und wie sie Frederic beigebracht hatte, mit Murmeln zu spielen, als sie sich nach dem ‚Anschluss’ versteckt halten mussten. Weder sie noch Harold bemerkten den Polizisten mit Motorrad, der einem Wagen, der am Straßenrand geparkt war, einen Strafzettel verpasste. „Was ist mit deinem Mann passiert?“, fragte Harold. „Er wurde gefangen genommen“, sagte sie. „Und erschossen. Auf der Flucht. Zumindest hat man es mir später so erzählt. Die wahre Geschichte werde ich vermutlich nie erfahren.“ „War das in Frankreich oder in Österreich?“ Maude hatte keine Gelegenheit mehr, zu antworten. Der Polizist mit rotierendem Blaulicht und heulender Sirene bedeutete ihr wild gestikulierend, am Straßenrand zu halten. Sie hielt, und er parkte hinter dem Laster. Er stieg vom Motorrad und kam mit großen Schritten auf den Lastwagen zu. „Okay, Lady. Aussteigen!“, sagte er. „Hallo“, sagte Maude, die ihn nicht gleich wiedererkannte. „Sind wir uns schon mal begegnet?“ „Lassen Sie das. Aussteigen, Lady.“ Er öffnete die Tür. „Oh, dann muss es ihr Bruder gewesen sein.“ „Raus!“ Maude stieg aus. „Aber es besteht eine gewisse Familienähnlichkeit“, beharrte sie. „Du auch, Freundchen“, sagte der Polizist zu Harold. „Komm hier rüber.“ Harold ging um den Lastwagen herum und stellte sich neben Maude. Der Polizist zog seinen Pistolengurt hoch und zückte sein Notizbuch. „Lady“, sagte er. „Sie stecken ganz schön in der Patsche. Sie haben sich einer Reihe von Vergehen schuldig gemacht: Fahren mit überhöhter Geschwindigkeit, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Fahren ohne Führerschein, Fahren eines
gestohlenen Wagens, Besitz eines gestohlenen Baumes – wo ist der Baum?“ „Wir haben ihn eingepflanzt“, sagte Maude. Der Polizist starrte sie durch seine Sonnenbrille an. Er schaute auf die Ladefläche des Lastwagens. „Ist das Ihre Schaufel?“ „Nein“, sagte Maude. Der Polizist warf die Schaufel hin. ,Besitz einer gestohlenen Schaufel’, notierte er. „Officer“, sagte Maude. „Ich kann Ihnen das alles erklären. Sehen sie…“ „Lady, Sie scheinen sich über Ihre Lage nicht im Klaren zu sein. Widerstand gegen eine Festnahme ist ein ernstes kriminelles Vergehen. Laut Strafgesetzbuch, Abschnitt 48, Paragraph 10…“ „Oh, werden Sie bloß nicht übereifrig“, unterbrach ihn Maude. „Sie sind nicht Sie selbst, wenn sie so dienstlich werden. Aber das ist wohl der Fluch einer staatlichen Anstellung.“ Der Polizist starrte sie einen Moment lang an. Er versuchte es auf eine andere Art. „Lady“, sagte er geduldig, „stimmt es, dass Sie ohne Führerschein fahren?“ „Genau“, antwortete Maude ebenso geduldig. „Und dieser Laster. Ist er auf Ihren Namen eingetragen?“ „Oh nein. Nicht auf meinen Namen.“ „Auf wessen Namen ist er denn registriert?“ „Nun, ich weiß es nicht. Weißt du es, Harold?“ Harold wusste es nicht. „Wo sind die Papiere?“, fragte der Polizist. „Ich nehme an, sie sind im Wagen. Äh, werden Sie hierfür noch längere Zeit brauchen?“
„Warten Sie hier“, sagte der Polizist und kletterte in den Wagen. „Wenn Sie nämlich noch länger…“ „Lady! Halten Sie – Herrgott noch mal! – endlich den Mund!“ Der Polizist öffnete das Handschuhfach und begann, die Papiere durchzusehen. Plötzlich hörte er, wie ein Motor angelassen wurde. Er blickte auf. Maude saß auf dem Motorrad, ließ die Maschine aufheulen und machte Harold Zeichen, hinter ihr aufzuspringen. „Hol die Schaufel!“, rief sie. Harold zögerte kurz. Der Polizist rutschte aus dem Wagen. Harold schnappte die Schaufel, stieg auf das Motorrad, und Maude raste in einer Staubwolke über die Straße davon. Der Polizist zog die Pistole. „Halt! Halt! Oder ich schieße!“, brüllte er. Er feuerte einige Schüsse hinter ihnen her. Maude fuhr ausweichende Zickzack-Manöver. „Das ist wie beim Widerstand!“, rief sie Harold zu. Der Polizist sah sie hinter dem Hügel verschwinden. Er rannte zum Lastwagen zurück und stieg ein, um loszufahren. Wütend schlug er mit der Faust auf das Armaturenbrett. Maude hatte die Schlüssel mitgenommen.
Es war früher Abend, als Maude vor Glaucus’ Atelier hielt. Harold half ihr vom Motorrad herunter. „Meine Güte, auf diesen Motorrädern ist es ganz schön kühl“, sagte sie lachend. „Aber es macht Spaß!“ „Was wirst du damit machen?“, fragte Harold. „Ich weiß nicht. Morgen gehe ich zum Hafen, um ein paar Freunde zu verabschieden. Magst du mitkommen?“
„Danke schön, aber ich kann nicht. Ich muss an meinem Wagen arbeiten. Vielleicht können wir uns übermorgen treffen.“ „Großartig“, sagte Maude. „Wir werden ein Picknick machen.“ Sie öffneten die Tür zum Atelier und traten ein. Der alte Glaucus kämpfte, eingemummt in seine Winterkleidung, tapfer gegen den Schlaf. Er taumelte auf den schmelzenden Eisblock zu, hob den schweren Hammer und den Meißel und tat einen Schlag. Er drehte sich um und schlurfte zurück, um die Wirkung zu beurteilen. Die ganze Zeit murmelte er zu seiner Ermutigung kleine Homer-Zitate vor sich hin. „,Den bitt’ren Kelch Fortunas bis zur Neige leeren’… Illias… Fast fertig… Muss es schaffen… Werde es schaffen… Befreie die Liebe… Lass sie frei.“ „Guten Abend, Glaucus“, sagte Maude. „Wir haben Ihre Schaufel zurückgebracht“, sagte Harold. Glaucus schaute sie zerstreut an. „Schaufel? ,Schichtet die Feuer, bis einer fällt, eingehüllt in die kalte Umarmung des Grabes! ’ Entschuldigung. Ich muss die Heizung höher stellen.“ Er wankte hinüber zum Temperaturregler und drehte ihn voll auf. Er ging zurück zum Eisblock. „Schaffe!“ Er seufzte. „,Wahrlich, diese Werke liegen im Schoße der Götter!’“ Er brach in einem Sessel zusammen. „Nur kurz eine Minute ausruhen“, murmelte er. „Werde nicht mal die Augen schließen.“ Harold schaute sich den Eisblock genauer an. „Ich glaube, ich sehe es“, sagte er zu Maude. „Ja“, stimmte sie zu. „Es ist fast fertig.“ Glaucus stand auf, die Augen nur noch Schlitze.
Er schlurfte an seinen Platz und schwang seine Werkzeuge ein paarmal durch die Luft. „Ja“, murmelte er, „nicht aufgeben… Fast fertig… Fast vollendet.“ Er wanderte zu seiner großen Couch hinüber und setzte sich. „Nur eine kleine Pause… Nicht lange… Dann, noch einmal den Hügel hinauf…“ Seine Stimme erstarb und sein Kopf fiel ihm auf die Brust. Er begann zu schnarchen. „Ich glaube, er schläft“, flüsterte Harold. „Aha! Morpheus!“, rief Glaucus, mit wildem Blick auffahrend. „Ich werde ihn schlagen… Ich werde niemals…“ Seine Augen schlossen sich. „Werde es schaffen… Werde es schaffen… schaffen…“ Er fiel auf die Couch zurück und sank in die Kissen. Es war vorüber. Er war eingeschlafen. Harold nahm ihm die Werkzeuge aus den Händen, und Maude richtete ihn bequem auf der Couch ein, machte seine Stiefel auf und deckte ihn mit einem Teppich zu. Als sie gingen warf Harold einen letzten Blick auf die EisSkulptur. „Sie schmilzt“, sagte er. „Ja“, sagte Maude. „Meinst du nicht, wir sollten die Heizung herunterdrehen?“ „Warum?“, fragte Maude. „Morgen früh wird ein neuer Eisblock geliefert.“ An diesem Abend beschloss Maude, japanisch zu dinieren. Sie gab Harold einen Kimono und zog selbst auch einen an. Es war ein wunderschönes Kleidungsstück aus blauer und weißer Seide, was farblich zu ihren Augen und ihren Haaren passte. Ein freundlicher Drache war auf den Rücken gestickt. „Ein Geschenk von einem Verehrer“, sagte sie. Sie aßen beim Licht einer Laterne in der japanischen Ecke, und nachher erzählte sie Harold, wie sie sich während der vielen Reisen mit Frederic nach dem ersten Weltkrieg in den Orient verliebt hatte. Sie gestand, dass die Begegnung mit dem
Osten einen großen Einfluss auf ihr Leben gehabt hatte. Sie zündete ihre Wasserpfeife an. Harold lehnte sich in die Kissen zurück und ließ den vergangenen Tag in Gedanken Revue passieren. „Ich mag Glaucus“, sagte er. „Ja“, sagte Maude und paffte vor sich hin, „ich auch. Aber ich glaube, er ist ein wenig… altmodisch.“ Sie deutete auf die Wasserpfeife. „Möchtest du ziehen, Harold?“ „Äh, ich rauche überhaupt nicht.“ „Oh, das ist kein Tabak. Es ist eine Mischung aus Gras und Mohnsamen.“ „Aber ich habe noch nie diese Art…“ „Ist schon in Ordnung“, sagte Maude und gab ihm den Schlauch. „Ist ja biologisch-dynamisch.“ Harold nahm den Schlauch und inhalierte. Er lächelte. „Langsam verfalle ich dem Laster“, sagte er. „Laster? Tugend? Am besten ist man nicht zu moralisch. Man bringt sich damit nur um die schönen Seiten des Lebens. Ein Ziel, das über der Moral liegt. Wie Konfuzius sagte: Sei nicht einfach nur gut. Sorge dafür, dass Gutes geschieht.“ „Das hat Konfuzius gesagt?“ „Nun…“ Maude lächelte. „Es heißt, er war sehr weise, daher bin ich sicher, dass er es gesagt hat.“ Harold schaute sie an. „Du bist der weiseste Mensch, den ich kenne“, sagte er. „Ich!“ Maude lachte. „Ha! Wenn ich mich umsehe, weiß ich, dass ich nichts weiß. Aber ich erinnere mich, dass wir einmal vor langer Zeit in Persien in einem Bazar einen weisen Mann gesehen haben. Er war Geschäftsmann und verkaufte sein Wissen an jeden, der bereit war, dafür zu bezahlen. Seine Spezialität für Touristen war ein Leitsatz, der auf einem Stecknadelkopf eingraviert war – die weisesten, wahrsten und lehrreichsten Worte für alle Menschen aller Zeiten. Frederic
kaufte mir eine Nadel, und im Hotel betrachtete ich sie durch ein Vergrößerungsglas, um dann zu lesen: ,Und auch dieses wird vergehen.’“ Maude lachte. „Und der weise Mann hatte Recht. Wende diesen Satz an, und du musst dein Leben in vollen Zügen genießen.“ Harold saugte nachdenklich an der Pfeife. „Ja“, sagte er traurig. „Ich habe bisher nicht gelebt.“ Er atmete tief ein. Plötzlich kicherte er. „Aber ich bin schon ein paarmal gestorben“, erklärte er. „Wer war das?“, fragte Maude. „Gestorben“, sagte Harold fröhlich. „Siebzehn Mal – die Verstümmelungen nicht mitgerechnet.“ Er lachte wild, die Wasserpfeife schien ihre Wirkung zu tun. „Habe mir mit einer Spielzeugpistole eine mit Blut gefüllte Kugel in den Kopf geschossen.“ „Wie genial!“, rief Maude begeistert. „Erzähl mir mehr davon.“ „Nun, es ist eine Frage von Timing und der richtigen Ausrüstung… Willst du wirklich, dass ich dir davon erzähle?“ „Natürlich.“ Harold grinste. „Okay“, sagte er und beugte sich eifrig vor. „Das erste Mal war nicht einmal geplant. Ich war im Internat, und alle waren mit den Vorbereitungen zur Hundertjahrfeier beschäftigt. Die Feuerwerkskörper und das ganze Zeug wurden im Westflügel unter dem Chemielabor gelagert. Nun, ich war damit beschäftigt, den Chemiesaal zu putzen, und beschloss, ein wenig zu experimentieren. Ich suchte die Ingredienzien zusammen und fing an, sie in der vorgeschriebenen Zusammensetzung zu mischen. Ich machte alles streng wissenschaftlich. Dann, plötzlich, gab es ein lautes Zischgeräusch, und eine Substanz, die wie Porridge aussah,
quoll aus dem Becherglas und lief den Tisch herunter, auf den Fußboden. Also nahm ich den Wasserschlauch.“ Harold stand auf, um die Sache vorzuspielen. „Ich drehte ihn auf, um das Zeug damit ins Waschbecken zu spülen, und WUMM! gab es eine gewaltige Explosion. Sie zerstörte den Tisch und hinterließ ein Loch im Fußboden. Ich wurde gegen die Wand geschleudert. Rauch und Gestank überall. Ich stand auf. Ich war wie betäubt. Dann gingen auf einmal die Feuerwerkskörper los. Durch den Fußboden schossen Flammen empor und KRA-WUMM! Raketen und Feuerräder flogen durch den Raum. Feuerbälle hüpften herum. Versengten meine Haare. Ich konnte die Tür nicht erreichen. Aber hinter mir war die alte Wäscherutsche, also rutschte ich in den Keller hinunter. Als ich endlich ins Freie gelangte – WOW! Das ganze Dach des Gebäudes stand hell in Flammen. Es war verrückt. Alarmsirenen, Leute, die durcheinander liefen. Du liebe Güte! Also beschloss ich, nach Hause zu gehen.“ Er setzte sich neben Maude und strich sich die Haare aus der Stirn. „Als ich zuhause ankam, gab meine Mutter gerade eine Party, also schlich ich mich über die Hintertreppe auf mein Zimmer. Dann klingelte es an der Haustür. Es war die Polizei. Ich beugte mich über das Treppengeländer und hörte, wie sie meiner Mutter mitteilten, ich sei bei einem Unfall in der Schule ums Leben gekommen. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber sie schaute die Leute um sich herum an und begann zu schwanken.“ Leise und langsam fuhr Harold fort, zu erzählen, Tränen stiegen ihm in die Augen. „Sie legte eine Hand an die Stirn. Die andere streckte sie aus, als wenn sie Halt suchen würde. Zwei Männer eilten an ihre
Seite und dann – mit einem langen, tiefen Seufzer – brach sie in ihren Armen zusammen.“ Er schwieg eine lange Weile. „In diesem Augenblick beschloss ich“, sagte er feierlich, „dass es mir Freude macht, tot zu sein.“ Maude sagte eine Zeitlang nichts. Dann sagte sie ruhig: „Ja, ich verstehe. Eine Menge Leute sind gerne tot. Aber sie sind nicht wirklich tot. Sie weichen nur dem Leben aus. Sie sind Spieler, aber sie denken, das Leben sei nur ein Trainingsspiel und sie müssten sich für später schonen. So sitzen sie auf der Reservebank, und die einzige Meisterschaft, die sie jemals sehen, findet vor ihren Augen statt. Die Uhr tickt die Viertelstunden weg. Sie könnten jeden Moment teilnehmen.“ Maude sprang mit einem Anfeuerungsruf auf: „Los, Jungs! Vorwärts! Nutzt die Chance! Vielleicht werdet ihr verletzt. Aber spielt, so gut ihr nur könnt!“ Und wie ein Cheerleader vor einem überfüllten Stadion rief sie: „Los, Team, los! Gebt mir ein L! Gebt mir ein E! Gebt mir ein B! Gebt mir ein T! L-E-B T! L-E-B-T!“ Sie setzte sich neben Harold, sehr ladylike und gefasst. „Sonst“, informierte sie ihn, „gibt es im Umkleideraum nichts zu erzählen.“ Harold lächelte. „Ich mag dich, Maude“, sagte er. Maude erwiderte sein Lächeln. „Ich mag dich auch, Harold. Komm, ich bringe dir bei, wie man Walzer tanzt.“ Sie reichte ihm ihre Hand, und sie gingen gemeinsam zum Grammophon. Sie warf es an, und die schwungvollen Melodien von Strauß füllten den Raum. Den Saum ihres Kimonos in der Hand, streckte sie ihre Arme aus. Er legte einen Arm um ihre Taille und nahm ihre Hand in seine. Er schaute zu ihr hinunter und grinste. Ihr Kopf reichte ihm kaum bis zur Schulter. Sie zählte im Rhythmus mit und begann dann,
lächelnd zu tanzen. Er nahm ihren Rhythmus auf, und nach kurzer Zeit tanzten sie richtig miteinander – immer im Kreis herum im kerzenerleuchteten Raum, unermüdlich wirbelnd und kreisend wie ein junges Liebespaar in einem Wiener Café.
Mrs. Chasen begrüßte Harolds zweites Computer-Date auf der vorderen Veranda. „Sie müssen Edith Phern sein“, sagte sie zu dem bebrillten Mädchen mit kurz geschnittenem rotem Haar. „Ja, das bin ich.“ „Ich bin Mrs. Chasen, Harolds Mutter. Harold ist draußen bei der Garage. Sollen wir hingehen?“ „Prima“, sagte Edith und ließ ihre Handtasche fallen, deren gesamter Inhalt nun auf dem Boden verstreut lag. Mrs. Chasen wartete, bis sie alles wieder eingesammelt hatte, und dann gingen sie zusammen zur Rückseite des Hauses. „Harold hat einen neuen Wagen“, erklärte Mrs. Chasen. „Und er hat ihn frisiert. Er ist technisch sehr begabt.“ „Oh“, sagte Edith. „Was für ein Wagen ist es denn?“ „Es ist ein kleiner Jaguar Roadster“, sagte Mrs. Chasen, als sie um die Hausecke bogen, während Harold seinem neuen Wagen gerade den letzten Schliff gab. Der Jaguar hatte sich ein wenig verändert. Sein Heck war jetzt eckig wie bei einem Kombi, das Rückfenster bestand aus Milchglas, in welches ein Kranz aus Farn eingeschliffen war, und der ganze Wagen war in Schwarz umgespritzt worden, abgesehen von einigen geschmackvollen Chromleisten vorne und an den Seiten und den Samtvorhängen in Begräbnis-Violett. „Er ist sehr hübsch“, sagte Edith freundlich. „Sieht aus wie ein Leichenwagen.“ Mrs. Chasen biss die Zähne zusammen und lächelte. Harold schenkte ihr seinen harmlosesten Blick. „Sehr originell“, fügte Edith hinzu. „Kompakt“
Trotz des Schlages, den ihr der Anblick dieses MiniLeichenwagens versetzt hatte, gelang es Mrs. Chasen, Fassung zu bewahren. „Edith“, sagte sie heiter. „Ich möchte Ihnen meinen Sohn Harold vorstellen. Harold, dies ist Edith… äh?“ „Phern“, sagte Edith. „Ich freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen.“ Harold nickte zum Gruß. „Harold, Liebling“, sagte Mrs. Chasen, „ich denke, du solltest dich waschen und uns dann in der Bibliothek treffen. Und vergiss bitte nicht, was ich dir gesagt habe. Wir möchten, dass Edith sich bei uns wohl fühlt.“ Mrs. Chasen hatte sich diesmal für ein kleines kaltes Buffet in der Bibliothek entschieden. Während sie auf Harold warteten, bot sie Edith Sandwiches an und schenkte ihr Kaffee ein. Edith legte eine Serviette über ihre Knie und balancierte den Teller darauf. Sie war ein wenig nervös, aber sie überspielte dies, indem sie zu allem sehr freundlich lächelte. Mrs. Chasen gab ihr eine Tasse Kaffee. „Und was tun Sie so, meine Liebe?“ „Ich arbeite in der Registratur. Bei ,Harrison Futter und Saatgut’.“ „Oh, wie interessant.“ „Ja, es ist eine große Herausforderung.“ Sie nippten an ihrem Kaffee. Edith lächelte. „Nun, was tun sie da genau?“, machte Mrs. Chasen einen neuen Versuch. „Ich bin verantwortlich für alle Rechnungen im Südwesten. Wir versorgen zum Beispiel die meisten Hühnerfarmer in Petaluma. Da können Sie sich vorstellen, was das bedeutet!“ Sie kicherte verschwörerisch und nippte wieder an ihrem Kaffee. „Mmm, ja“, machte Mrs. Chasen.
Sie lächelte Edith an. Edith lächelte zurück. „Oh, da ist ja Harold“, sagte Mrs. Chasen, als Harold eintrat. Edith versuchte aufzustehen, um ihn zu begrüßen. „Bitte, Edith“, sagte Mrs. Chasen. „Bleiben Sie doch sitzen.“ Edith setzte sich. Harold setzte sich zwischen die beiden und lehnte sich mit einem Arm auf einen kleinen Tisch. Edith lächelte ihn, an und er lächelte zurück. „Edith hat mir gerade von ihrer Arbeit erzählt“, erklärte Mrs. Chasen und goss Harold Kaffee ein. „Ich arbeite in der Registratur.“ „Ja, ,Henderson Futter und Saatgut’.“ „Nein, ,Harrison’“, korrigierte Edith gutmütig. „,Harrison Futter und Saatgut’. Ecke Hamilton und Vierte. Ich bin verantwortlich für die Rechnungen…“ Sie lächelte. Mrs. Chasen reichte Harold die Kaffeetasse, er stellte sie auf das Tischchen neben sich. „Und ich schreibe die Fahrpläne für die LKW-Flotte.“ „Sie versorgt den ganzen Südwesten mit Hühnerfutter“, ergänzte Mrs. Chasen leicht sarkastisch. „Nun, nicht den ganzen Südwesten“, sagte Edith mit einem bescheidenen Kichern. „Obwohl unsere Firma sehr groß ist. Gerste ging letzte Woche total gut. Fünfzehnhundert Scheffel…“ Harold zog ein großes Metzgerbeil aus seinem Jackett, holte weit aus und schlug sich die linke Hand am Gelenk ab. Das Beil bohrte sich in die Tischplatte, und als er den Stumpf hob, tropfte Blut von der Plastikhand. Mrs. Chasen war erstaunt. Sie starrte Harold an und schüttelte langsam den Kopf. Edith, die um Fassung rang, stellte Kaffeetasse und Untertasse ab. Sie stand auf. Sie lächelte. „Ich denke, ich sollte
besser…“, war alles, was sie noch sagen konnte, bevor sie ohnmächtig unter dem Kaffeetisch zusammenbrach. Harold warf seiner Mutter einen Blick zu. Sie schaute sprachlos von der am Boden liegenden Edith zu ihm auf. Alles, woran sie denken konnte, waren die Worte ihres Bruders Victor: „Ich würde ihn in die Armee stecken, Helen.“
Harold saß am Steuer seines Jaguar-Leichenwagens und erklärte Maude, wie er die Umwandlung des Wagens im Detail vorgenommen hatte. „Das Heck eines Datsun-Kombis passte genau, und nach den Schweißarbeiten setzte ich das schwarze Naugahyde-Dach auf. Dann ging es nur noch um Kleinigkeiten – Chromkappen von einem Ford Thunderbird, Fenster, Vorhänge und natürlich die Lackierung und Politur.“ „Scheint ja alles wunderbar geklappt zu haben“, sagte Maude. „Ja, ich glaube, er gefällt mir noch besser als mein alter.“ „Oh, warum das?“ „Wahrscheinlich, weil ich eine Menge von mir selbst in die Arbeit gesteckt habe. Der Umbau und das Tuning. Er läuft wunderbar. Ich arbeite gern an Autos.“ „Ich kannte mal einen Mann, der auch gerne an Autos herumbastelte. Ein Deutscher, ein wunderbarer Mensch, aber er verbrachte seine ganze Zeit damit, den Wagen herzurichten und den Motor zu frisieren. Dann kam der Krieg, und er verlor seinen Wagen. Er musste auf einmal überall zu Fuß hingehen, und so verbrachte er nun seine Zeit damit, seinen Körper zu trimmen. Er brachte sich auf Vordermann, und es lief wunderbar. Nach dem Krieg beschloss er, nicht wieder zu den
Autos zurückzukehren. Er sagte: Autos kommen und gehen, aber dein Körper ist dein Transportmittel fürs ganze Leben.“ Harold warf Maude einen Blick zu. „Versuchst du mir gerade etwas Bestimmtes zu sagen?“, fragte er. Maude lächelte. „Genau das“, sagte sie.
Sie fuhren an sanften Hügeln vorbei, auf denen Kühe träge in der Sonne grasten, und ließen sich schließlich zum Picknick bei einer einzelnen Eiche auf einer großen Weide nieder. Nach einer Mahlzeit mit Brot und Käse, Wein, Karotten, Früchten und Nüssen machten sie es sich im Gras gemütlich. „Etwas Lakritze, Harold?“, fragte Maude. „Sie hat zwar keinen Nährwert, aber Konsequenz ist ja auch keine hervorstechende menschliche Eigenschaft.“ Harold nahm ein Stück und legte sich mit hinter dem Kopf verschränkten Händen auf den Rücken. Maude lehnte sich an den Baumstamm und öffnete ihre Tasche. Sie nahm ihr Handarbeitszeug heraus und begann eifrig, Spitzen zu klöppeln. „Schau dir den Himmel an“, sagte Harold, nachdenklich kauend. „Er ist so groß.“ „Und so blau.“ „Hinter dem Blau liegt die unendliche Schwärze des Alls.“ „Ja, aber gesprenkelt mit unzähligen Sternen. Sie leuchten auch jetzt. Wir können sie nur nicht sehen. Ein weiteres Beispiel für all das, was außerhalb des menschlichen Begreifens liegt.“ „Maude“, sagte Harold nach einer Weile. „Bist du religiös?“ „Was meinst du damit?“ „Glaubst du an Gott?“ „Oh ja. Das tut doch jeder.“ „Jeder?“
„Absolut. Tief im Innern. Es ist ein Teil des Menschseins.“ „Nun gut. Wer, denkst du, ist Gott?“ „Oh, er hat eine Menge Namen, Brahma, Tao, Jupiter. Für die Metaphysiker ist er ,Der Anfang’, ,Die eine Wirklichkeit’ oder ,Die ewige Wurzel des Lebens’. Mir gefällt, was im Koran steht: ,Gott ist die Liebe’.“ Harold verzog das Gesicht. „Das steht in der Bibel“, korrigierte er, „aber es ist sowieso nur ein Klischee.“ „Nun, heute ein Klischee, morgen eine Tiefgründigkeit – und umgekehrt.“ Sie hielt ihre Handarbeit hoch. „Ist das nicht hübsch? Ich habe erst letztes Jahr gelernt, wie man das macht.“ „Maude, betest du?“ „Nun, wir sind in Verbindung.“ „Wie?“ „Auf viele Arten. Durch das Leben. Durch die Liebe. Verschiedene Bewusstseinsebenen erfordern verschiedene Kommunikationsarten. Sprache ist nicht die einzige Verständigungsmöglichkeit.“ Harold lächelte. „Ja“, sagte er. „Es gibt auch noch den Walzer.“ „Richtig“, sagte Maude. „Man tanzt um der Anmut willen – im theologischen Sinne.“ „Aber wo ist Er? Ist Er in uns oder außerhalb von uns?“ „Beides, stelle ich mir vor. Es gibt einen kleinen Gott in uns, der uns zeigt, wo wir gewesen sind, und einen kleinen Gott außerhalb von uns, der uns zeigt, wohin wir gehen.“ „Das ist ziemlich mystisch.“ „Du hast Recht, Harold. Es ist ein Mysterium. Ehrlich gesagt, bin ich nicht sicher, ob Er ,Unser Vater’ oder ,Unsere Mutter’ ist. Ich weiß nur“, sagte sie und tätschelte den Baumstamm, „Er ist ausgesprochen schöpferisch.“ Harold lachte und streckte sich im Gras. „Es ist wirklich hübsch hier“, sagte er. „Ich fühle mich hier wie ein Kind.“
Maude lachte. „Komm, wir machen ein Wettrennen, auf den Hügel dort hinauf“, schlug er vor und sprang auf. „In Ordnung“, sagte Maude. „Lass mich das hier nur erst noch wegpacken.“ „Weißt du, was ich gern machen würde?“ „Was?“ „Radschlagen.“ „Nun, warum tust du es dann nicht?“ „Nee, ich würde mir blöd vorkommen.“ „Na komm schon, Harold. Jeder hat das Recht, ein Blödmann zu sein. Du kannst dir doch nicht ständig von aller Welt Vorschriften machen lassen.“ „Also gut“, sagte Harold und schlug ein ziemlich wackliges Rad. Er versuchte ein zweites und lachte. „Machst du bei ein paar Purzelbäumen mit?“, fragte er. „Nein, danke“, sagte Maude. „Ich schlage dich bei unserem Wettlauf den Hügel rauf.“ Sie rannten los, den Abhang hinunter, an den Kühen auf der nächsten Weide vorbei und dann den Hügel hinauf. Sie kamen gleichzeitig oben an und brachen beide lachend und atemlos zusammen. „Meine Güte“, sagte Maude, auf dem Rücken im Gras liegend. „Ich könnte jetzt glatt verdunsten.“ Harold ließ sich neben sie fallen. „Du würdest dich in eine dieser Wolken verwandeln“, sagte er. „Ich glaube, du wärst eine hübsche Wolke. Du könntest den ganzen Tag lang am Himmel herumsegeln.“ „Nein, ich bestimmt nicht“, sagte Maude. „Ich wäre eine sehr schlechte Wolke. Ich würde mich immer in Regen auflösen wollen.“
Den Nachmittag verbrachten sie am Strand, rannten durch den Sand, spielten mit den Wellen, kletterten über Felsen und Klippen und betrachteten die abgeschliffenen Steine in den Tidebecken. Später zeigte Maude Harold ihre Thai-Chi-Übungen. Sie nannte es: „Poetische Namen für poetische Bewegungen.“ „Um mein Transportmittel zu trainieren“, sagte Harold mit einem Grinsen. „Zum Teil, ja“, lächelte Maude. „Aber es wird auch deinen Geist erheben und Frieden in dein Gemüt bringen.“ Und begleitet von den Klängen des Meeres lehrte sie ihn unter anderem ,Das Wildpferd schüttelt seine Mähne’, ,Wehre den Affen ab’, ‚Jade-Ladies auf der Fähre’ und ,Packe den Spatzen beim Schwanz’. Auf einem alten Baumstumpf sitzend, betrachteten sie das Schauspiel des Sonnenuntergangs. Es war eine sehenswerte Vorstellung mit ständig wechselnden Farbschattierungen von Rot, Orange und Purpur zwischen den Wolkenbänken. „Cumulus und Alto Stratus“, sagte Maude geistesabwesend. „Erinnert mich an Shanghai in den Dreißigern.“ „Warum das?“ „Oh, damals flogen wir von Hung-Jao aus in einem Zweisitzer. Im Gleitflug und in Loopings. Wie beim Perlentauchen. Oder wie beim Galopp durch die Wüste, um die untergehende Sonne einzuholen. Das ist ein Erlebnis, Harold! Die Wüste! Wir sollten hinfahren. Obwohl ich furchte, dass vor Samstag nichts daraus wird. Was machst du morgen?“ „Oh, ich habe eine Verabredung zum Mittagessen, mit einem Mädchen.“ „Wirklich?“ „Das hat keine Bedeutung. Meine Mutter hat das vereinbart.“ „Dann hat es vielleicht eine Bedeutung für sie.“ „Für meine Mutter?“
„Und für das Mädchen. Sei nett, Harold. Weißt du, ich lebe schon ziemlich lange, ich habe alles gesehen, was ich wollte, alles getan, was ich konnte, und doch habe ich die Erfahrung gemacht, dass Freundlichkeit das Wichtigste ist. Freundlichkeit ist das, was der Welt schmerzlich fehlt.“ Der Wind spielte sanft mit ihren Haaren. Harold griff nach ihrer Hand. Er schaute hinunter auf ihre Falten und Altersflecken und bedeckte sie mit seiner Hand. „Du bist schön“, sagte er. „Oh, Harold“, sagte Maude. „Ich werde noch rot. Ich komme mir vor wie ein Schulmädchen.“ Er lächelte und küsste ihre Hand. „Ich danke dir für einen wunderschönen Tag.“ „War es nicht großartig?“, fragte sie. „Und jetzt sehen wir, wie er zu Ende geht.“ Sie drehte sich um und schaute der sinkenden Sonne zu. „Da geht sie hin“, sagte sie wehmütig, „sinkt hinter den Horizont, wo wir alle einmal verschwinden werden. Die Farben verändern sich, und bald werden sie verschwunden sein, uns bleibt die Dunkelheit – und die Sterne.“ Harold hielt ihre Hand in der seinen. Als er nach unten blickte, sah er zum ersten Mal die Tätowierung an der Innenseite ihres Arms. Es war eine Zahl: D-726350. Erschrocken blickte er in ihr Gesicht. Sie hatte es nicht bemerkt. Sie deutete aufs Meer hinaus und rief: „Harold, sieh!“ Eine einsame Möwe segelte über die Wellen. Beide sahen ihr eine Weile zu, wie sie im geröteten Himmel frei ihre Kreise zog. „Dreyfus schrieb einmal“, sagte Maude leise, „dass er auf der Teufelsinsel die allerherrlichsten Vögel gesehen habe. Jahre später in der Bretagne stellte er fest, dass es nur Möwen gewesen waren.“
Sie schaute Harold an und lächelte. „Für mich“, sagte sie, „werden sie immer herrliche Vögel sein.“ „Harold“, sagte Mrs. Chasen, „ich kann dir die Wichtigkeit dieses Treffens nicht eindringlich genug ans Herz legen. Sie ist das letzte Mädchen. Die Computerdating-Agentur hat sich, nach allem was sie gehört haben, geweigert, noch irgendjemand Neues zu schicken. Und man kann es ihnen nicht verdenken. Die arme kleine Edith war unter Schock, als sie uns verließ. Glücklicherweise konnte ich die Agentur dazu bewegen, zu ihren einmal gemachten Zusagen zu stehen. Aber denke bitte freundlicherweise daran, dass dies deine dritte und letzte Chance ist.“ Es läutete an der Haustür. „Da ist sie schon. Nun sieh mal, wie du aussiehst. Kämm dich und leg die Krawatte richtig an. Bitte, Harold, versuche, die Sache ernst zu nehmen, wenn schon nicht deinetwegen, dann wenigstens mir zuliebe.“ Mrs. Chasen ging hinaus, und Harold trat vor den Spiegel, um seine Krawatte zurechtzurücken. Er strich sich die Haare aus der Stirn und beschloss, während er sich im Spiegel betrachtete, es diesmal wenigstens zu versuchen. Mrs. Chasen kam mit einem schlanken, langhaarigen Mädchen in Stiefeln, Lederrock und rotem Schlapphut zurück. „Harold“, sagte sie. „Ich möchte dir Sunshine Dore vorstellen.“ Harold ging auf sie zu. „Wie geht es Ihnen?“, fragte er. „Kann nicht klagen“, sagte Sunshine. Sie hatte einen großen Mund und große Zähne. „Sunshine ist Schauspielerin“, sagte Mrs. Chasen. „Ich glaube es wenigstens“, sagte Sunshine und ließ die Glasperlenketten um ihren Hals lässig hin und her schwingen. „Ich arbeite dran.“
„Nun, warum lasse ich euch beide nicht mal kurz allein“, sagte Mrs. Chasen. „Harold, ihr könntet euch im Salon unterhalten, und ich bringe euch was zu trinken. Ist Limonade recht?“ „Groovy“, sagte Sunshine. „Gut“, sagte Mrs. Chasen und ging Richtung Küche. An der Tür drehte sie sich noch mal um und versuchte, ihrem Sohn auf die Sprünge zu helfen: „Harold, vielleicht möchte Starlight eine Zigarette.“ „Ich heiße Sunshine“, sagte Sunshine. „Ja, natürlich“, sagte Mrs. Chasen und verschwand. „Möchten Sie eine Zigarette?“, fragte Harold auf dem Weg in den Salon. „Nein, danke. Davon bekomme ich fleckige Finger.“ Er deutete auf das Sofa. Sie setzte sich, und er setzte sich neben sie. „Ist Sunshine Ihr richtiger Name?“, fragte Harold nach einer Pause. „Nun, eigentlich war es der Name meines Schauspiellehrers – Louis Sunshine. Vielleicht haben Sie schon von ihm gehört?“ Harold schüttelte den Kopf. „Er ist eine bekannte Theaterpersönlichkeit. Er hatte solchen Einfluss auf die Entwicklung meines Instruments – das bedeutet in der Theatersprache: meines Körpers – dass ich, als ich nach Hollywood ging und dort das Gefühl hatte, meinem neu erstandenen Ich einen passenden Ausdruck verleihen zu müssen, ,Sunshine’ gewählt habe. Als ein Zeichen meiner Verehrung. Dore ist mein richtiger Name. Nun, eigentlich Dore, ohne Akzent.“ Sie blickte sich um. „Hey, was für eine nette Hütte habt ihr hier.“ Sie stand auf und wanderte im Salon herum. „Ich meine, das ist wirklich gut dekoriert. Hübsche Möbel. Erinnern mich an eine Versteigerung bei MGM.“
Harold schluckte. „Spielen Sie?“, fragte sie und ließ ihre Hand über das Klavier gleiten. „Nein“, sagte Harold. „Ich lerne Banjo spielen. Können sie das?“ „Oh, ich habe Gitarre spielen gelernt. Ich war in einer Volkslieder-Klasse. Aber ich musste es aufgeben. Ich bekam Schwielen an den Fingern. Als Schauspielerin kann ich es mir nicht leisten, mein Instrument zu beschädigen.“ „Nein“, sagte Harold. „Wahrscheinlich nicht.“ Dies hier war keine leichte Aufgabe, stellte er fest. Er unternahm einen neuen Versuch: „Schauspielern Sie öfter?“ „Oh, sicher. Ich übe jeden Tag. Das ist die SunshineMethode: Dein Instrument muss immer gut gestimmt sein. Ist das Ihr Vater?“, fragte sie und nahm ein Foto von General Ball in die Hand. „Nein. Mein Onkel.“ „Er ist bei der Armee! Ich liebe die Militärs, Sie nicht auch? In diesen Uniformen sehen Männer so männlich aus.“ Harold verzog das Gesicht. „Ich spielte in ,What Price Glory?’ im Sommerprogramm“, sagte sie und stellte die Fotografie wieder hin. „Eine tolle Produktion. Ich spielte Charmaine – mit französischem Akzent.“ Sie ging zum Kaminsims. Harold saß auf dem Sofa und klopfte auf seine Oberschenkel. „Hey, was für eine entzückende Sammlung von Messern. Jagdmesser, Armeemesser, antike Messer. Wir hatten eine ähnliche Deko als wir Ibsens ,Möwe’ gespielt haben. Darf ich sie mal anschauen?“ Harold holte tief Luft. „Das wars“, sagte er. „Das ist was?“, fragte Sunshine.
Harold kam zu ihr herüber. „Das ist wirklich eine gute Messersammlung“, sagte er. „Sie gestatten.“ Er nahm eines von der Wand. „Dieses Messer hier ist besonders interessant. Es ist ein Harakiri-Messer.“ „Ohhhh“, girrte Sunshine. „Was ist Harakiri?“ „Eine alte japanische Zeremonie.“ „Wie eine Tee-Zeremonie?“ „Nein. Eher so.“ Mit einem orientalischen Schrei rammte er sich das Messer in den Bauch und fiel auf die Knie. Heftig blutend, vollführte er den Schnitt nach oben, den seitlichen Schnitt und das Ausstechen, bevor er mit den letzten Zuckungen vornüber stürzte. Sunshine fiel mit weit aufgerissenen Augen auf die Knie. „Oh, Harold“, rief sie, „das war großartig! Es sah total echt aus. Harold. Bitte, bei wem haben Sie studiert?“ Sie zog sich ein wenig zurück. „Entschuldigen Sie, Harold“, flüsterte sie mit einem Selbstvorwurf. „Ich wollte diesen starken Moment nicht stören. Ich weiß, wie kräftezehrend echte Gefühle sein können. Ich habe die Julia im SunshineTheater gespielt. Louis sagte, es sei meine beste Darstellung gewesen.“ Harold hörte, wie sie ihren Hut abnahm und ihre Haare richtete. In wenigen Sekunden hatte sie sich in Julia verwandelt und, ihr Romeo konnte es nicht fassen, begann die letzte Szene des Dramas zu spielen. „Was ist das hier?“, rief sie. „Ein Becher! Festgeklemmt in meines Trauten Hand? Gift, seh ich, war sein Ende vor der Zeit. Oh, Böser!“ Sie schlug auf Harold ein. „Alles zu trinken, keinen güt’gen Tropfen mir zu gönnen, der mich zu dir brächt? Ich will dir deine Lippen küssen.“ Harold öffnete entsetzt die Augen. „Ach, vielleicht hängt noch ein wenig Gift daran und lässt mich an einer Labung sterben.“
Sie küsste Harold, der sofort aufsprang. „Deine Lippen sind warm“, flüsterte Sunshine zur Galerie hinauf. Harold bewegte sich rückwärts, wobei er das Telefontischchen umriss. „Wie? Lärm?“ rief Sunshine. „Dann schnell nur.“ Sie ergriff das Messer. „Oh, willkommener Dolch!“, schrie sie. Sie unterbrach sich einen Moment lang, um das Messer zu testen, indem sie die Klinge in die Scheide schob und sah, wie das Blut hervorquoll. Befriedigt fuhr sie fort. „Oh, willkommener Dolch!“, schrie sie erneut. „Dies werde deine Scheide!“ Sie schlug sich gegen die Brust. Dann, mit einem gewaltigen Stoß und begleitet von einem Röcheln, stieß sie sich das Messer tief in die Brust. Sie hielt inne, um Atem zu holen. „Da“, flüsterte sie, umklammerte das Messer und taumelte zum Sofa. „Roste da…“ Sie brach über dem Sofa zusammen und drapierte mit einer matten Geste ihr Haar über die Lehne. „Und… lass… mich… STERBEN!“ Mit einem letzten Ruck ihres Kopfes hauchte sie ihr Leben aus, das blutige Messer in ihrer blutigen Brust mit ihrer blutigen Faust umklammert. Harold hatte noch nie etwas Derartiges gesehen. Völlig verwirrt ging er um das Sofa herum. Mrs. Chasen kam mit einem Tablett mit Drinks herein, warf einen Blick auf das Sofa und ließ alles fallen. Sie sah ihren Sohn an und streckte anklagend einen Arm nach ihm aus. „Harold!“, rief sie in verzweifelter Wut. „Das war deine letzte Verabredung.“
General Balls Adjutant öffnete den Aktenschrank mit der Aufschrift ,Streng Geheim’ und entnahm ihm den
Einberufungsbefehl für Harold Chasen. Er verschloss den Schrank und brachte die Akte in das Büro des Generals. Der General stand vor einem Spiegel. Er hatte die Uniformjacke abgelegt und rückte seinen mechanischen Arm zurecht. „Hier ist die Akte, Sir“, sagte der Adjutant und legte sie auf den Schreibtisch. „Oh, gut gemacht, Rodgers. Kommen Sie doch bitte für einen Moment her. Ich glaube, hier ist eine Schraube locker.“
Mrs. Chasen bat Harold vor dem Abendessen in den Salon. In königlicher Haltung vor ihm stehend, verkündete sie ihr Urteil. „Harold, ich habe heute mit Dr. Harley gesprochen, und es scheint, als hättest du die beiden letzten Sitzungen bei ihm versäumt. Diese Information, zusammen mit deinem Benehmen in der letzten Zeit, insbesondere deiner Vorstellung hier heute Nachmittag, lässt mir keinen anderen Ausweg, als die Lösung, welche dein Onkel vorgeschlagen hat. Folglich habe ich ihn gebeten, die notwendigen Schritte zu veranlassen, um dich zum Militärdienst einzuberufen und dich, so bald wie möglich, zum aktiven Dienst in der Army der Vereinigten Staaten einzuteilen.“ Harold stand, wie vom Donner gerührt, auf. „Diese Entscheidung ist mir nicht leichtgefallen“, fügte seine Mutter hinzu, „aber es ist zu deinem Besten. Ich hoffe nur, dass sie dort mehr Glück mit dir haben als ich.“
Am nächsten Tag traf Harold Maude im Garten, wo sie Madame Arouet half. Madame Arouet stellte Bohnenstangen auf und befestigte Stoff- und Blechstücke zwischen ihnen.
Maude war in einer anderen Ecke damit beschäftigt, Unkraut zu jäten. „Maude“, sagte Harold, „ich muss dich sprechen.“ „Was ist los, Harold?“, fragte sie. „Sie ziehen mich ein. In die Army. Ich soll für die Regierung in den Krieg geschickt werden.“ „Das können sie nicht machen“, stellte Maude völlig unbeeindruckt fest. „Du hast nicht gewählt.“ „Aber sie haben es schon getan“, sagte Harold. „Oh, na dann geh nicht hin“, sagte sie. „Vielleicht gehört der Krieg heute zum Wesen der Menschheit. Aber das sollte nicht auch noch unterstützt werden. Bring doch mal bitte die Schubkarre rüber, Harold.“ Harold schluckte. Er ging und holte die Schubkarre. „Wenn ich nicht hingehe“, sagte er, „werden sie mich ins Gefängnis stecken.“ „Wirklich?“, sagte Maude und lud das Unkraut mit einer Heugabel in die Schubkarre. „Nun, historisch betrachtet, würdest du dich in ausgezeichneter Gesellschaft befinden.“ Sie lachte und unterbrach ihre Arbeit, um sich über die Stirn zu wischen. „Möchtest du ein bisschen Unkraut jäten, Harold?“, fragte sie. „Ich habe gehört, dass Arbeit, die man ohne egoistische Motive verrichtet, den Geist reinigt. Anscheinend gibt man dabei sein separates Ich auf und wird eins mit dem universalen Wesen. Wohingegen sinnlose Arbeit eine Beleidigung und etwas Langweiliges ist, das unbedingt vermieden werden sollte.“ „Maude, bitte!“, sagte Harold. „Kannst du mir vielleicht helfen?“ Maude stützte sich auf ihre Heugabel. „Harold“, sagte sie, „mit deinen Fähigkeiten und meiner Erfahrung – nun, ich denke, da wird uns etwas einfallen.“
Harold saß neben seinem Onkel in dessen Limousine. Während sie durch die Stadt fuhren, lauschte er aufmerksam den Worten seines Onkels, der vom Ruhm einer Karriere bei der Army erzählte. „Harold“, sagte Onkel Victor, „in dieser Angelegenheit will ich wie ein Vater für dich sein. Wir werden diesen Tag miteinander verbringen, um uns besser kennen zu lernen. Nun, ich weiß, dass du nicht gerade Sehnsucht danach hast, in die Army einzutreten. Aber, Teufel noch eins, als ich damals anfing, fühlte ich mich doch genauso. Mein Vater blieb damals hart, und sieh mich heute an – ein General! Mit Chauffeur. Respektiert. Geld auf der Bank.“ Er klopfte gegen seinen leeren Ärmel und zog eine Zigarre aus der Tasche. „Oh, natürlich hat die Army auch ihre Schattenseiten. Wie jede Sache, oder? Aber die Army sorgt für dich. Glaub mir. Wenn du den Laden erst mal richtig kennst, wirst du es lieben. Übrigens, wo sollen wir hingehen, was meinst du?“ „Ich dachte, vielleicht rauf zum McKinley-Park“, sagte Harold. „Da könnten wir spazieren gehen und alles besprechen.“ „Du meinst beim McKinley-Damm? Gute Idee. Hübsches Fleckchen. Haben Sie gehört, Sergeant? Zum McKinley-Park.“ Der General zündete seine Zigarre an. „Wirklich, Harold. Wenn du in der Army bist, hast du einen Kumpel fürs Leben.“ Sie kamen am McKinley-Park an und ließen Wagen und Chauffeur stehen. Während sie den Weg entlang spazierten, schaute General Ball zu den Müttern mit ihren kleinen Kindern hinüber und zu den Rentnern, die in der Sonne saßen. „Das ist es, was wir verteidigen, Harold“, sagte er. „Sieh dich um – alles, was gut und schön ist am ,American Way of Life’. Menschen, die ihre Freiheit genießen.“ „Ja, Onkel.“
„Sprich mich mit ,Sir’ an, Harold. Das Erste, was du bei der Army lernst – ein Offizier verdient deinen Respekt.“ „Jawohl, Sir.“ „So ists recht, mein Junge. Ah, schau’ dir die alte Aussichtsplattform an. Ich erinnere mich, früher spielte hier immer eine Militärkapelle Märsche und andere patriotische Lieder. Warte mal. Ist das da drüben einer von diesen Anti Kriegs-Spinnern? Mein Gott, tatsächlich. Wir gehen lieber dort entlang, Harold. Diese verrückten Kommunistenschweine. Ich weiß nicht, warum wir die eigentlich überhaupt dulden.“ Harold schaute zu den Friedensaktivisten. „Parasiten“, grollte Onkel Victor. „Jawohl, Sir“, sagte Harold und folgte ihm. Sie marschierten in Richtung des künstlichen Sees. Der General erging sich lang und breit über die Vorteile des Soldatenberufs, und Harolds Aufmerksamkeit und Interesse schienen immer lebhafter zu werden. „Nun, lass uns mal die Tatsachen betrachten“, sagte Onkel Victor. „Ich bin der Ansicht, dass dieses Land in seiner totalen Verdammung des Krieges zu rücksichtslos vorgeht. Eine Krisen- und Konflikt-Politik hat doch enorme wirtschaftliche Vorteile. Zum Teufel, der Zweite Weltkrieg zum Beispiel: Hat uns den Kugelschreiber beschert. Das ist allgemein bekannt.“ „In Kriegszeiten sinkt die nationale Selbstmordrate“, ergänzte Harold. „Ist das wahr? Nun, das passt genau zu allem, was ich gesagt habe. Der Krieg hat auch seine guten Seiten.“ „Jawohl, Sir“, sagte Harold. „Er regt zum Denken an.“ „Ja, das tut er, verdammt noch mal. Der Krieg ist Teil unseres Erbes. Und es ist eine verdammte Schande, wie schlecht der Krieg in den vergangenen Jahrzehnten behandelt worden ist. Ich meine, lass uns die Sache mal bei Tageslicht betrachten. Hören wir auf, wie die Katze um den heißen Brei zu
schleichen. Kannst du mir mal erklären, warum wir bei den Deutschen aufgehört haben? Diese verdammten Politiker in Washington haben sie zu unseren Verbündeten gemacht, und seitdem sind alle Kriege eine nationale Schande gewesen. Sieh dir doch verdammt noch mal die Geschichte an. Die beiden besten Kriege, die dieses Land je geführt hat, waren gegen die Krauts. Ich sage, schickt die Deutschen dahin, wo sie hingehören, und wir hätten endlich wieder einen Feind, den sichs zu töten lohnt, und endlich die Art von Krieg, den das ganze Land auch unterstützen kann.“ „Wow, Sir“, sagte Harold. „Das ist aber ziemlich harter Stoff.“ „Nun, Harold“, sagte Onkel Victor, holte tief Luft und tätschelte versonnen seinen leeren Ärmel. „Ich war schon immer ein Mann, der sagte, was er dachte. Das hat mir geschadet. Ich bin in Washington nicht beliebt. Das weiß ich. Aber eines solltest du nicht vergessen – ich habe einflussreiche Freunde.“ Sie gingen am Stausee entlang und setzten sich schließlich auf einen kleinen Hügel neben einen Baum. Weit und breit war niemand zu sehen, und der General begann, Harold einige seiner Kriegserlebnisse zu schildern. „Sie kamen von allen Seiten auf mich zu. Es waren Hunderte. Wir feuerten weiter. Zat-tat-tat-tat! ,Werft die Granaten!’, rief ich. ,Mac, wirf die Granaten!’ – ,Er ist tot’, sagte Joe und versorgte mich weiter mit Munition. Zat-tat-tat-tat! Sie fielen, aber es kamen immer Neue. Um mich herum pfiffen die Kugeln. Zot! Joe kippte um, mit einem hübschen roten Loch im Kopf. Ich dachte, ich wäre erledigt. Aber ich feuerte weiter. Zat-tat-tat-tat! Nur ein Gedanke hielt mich aufrecht: Töten! Töten! Für Joe und Mac und die restlichen Jungs. Töten! – dann ein greller Blitz. Auf einer Bahre kam ich wieder zu mir.
,Haben wir die Stellung gehalten?’, fragte ich den Arzt. Jawohl, Sir’, sagte er, und ich verlor das Bewusstsein.“ „Wahnsinn. Das ist eine tolle Geschichte, Sir.“ „Nun, du wirst bald selbst solche Geschichten erzählen können.“ „Glauben Sie, Sir?“ „Sicher. Kannst du dann deinen Kindern erzählen. Etwas, wozu sie aufblicken können. Worauf sie stolz sein können.“ „Das hoffe ich, Sir. Mensch, ich hätte nie gedacht, dass das so aufregend sein könnte.“ „Das Aufregendste von der Welt.“ Harold richtete sich auf und ging alles noch einmal durch. „Man setzt sein eigenes Leben gegen das eines anderen“, sagte er nachdenklich. „Richtig.“ „Um zu töten.“ „Ja, genau.“ „Der Geschmack von Blut im Mund.“ „Der Augenblick der Wahrheit.“ Harold ergriff ein imaginäres Gewehr und zielte damit auf einen imaginären Feind. „Ich hab ein anderes Leben im Visier.“ „Ja.“ Er drückte ab. „Zap!“ Onkel Victor lachte. „Werden sie mir wirklich beibringen, wie man schießt?“, wollte Harold wissen. „Aber sicher“, sagte Onkel Victor. „Mit den verschiedensten Waffen.“ „Auch wie man mit dem Bajonett umgeht? AHHHHH!“ „Sicherlich.“ „Wie ist es mit dem Kampf Mann gegen Mann?“ „Kannst du alles haben.“
Harold rang mit einem „Opfer“ und begann, es zu töten. „Jemanden erwürgen. Ersticken. Ihm ganz langsam mit bloßen Händen das Leben aus dem Körper herauspressen.“ Onkel Victor sah Harold ein wenig befremdet an. „Wie?“, sagte er. „Ihm die Kehle durchzuschneiden?“ „Nun, ich weiß nicht…“ „Das würde mir Spaß machen. Man könnte das Blut so richtig schön rausspritzen sehen.“ „Harold, ich denke, du schießt ein bisschen übers Ziel hinaus.“ „Sir, wie sieht’s mit Souvenirs aus?“ „Souvenirs?“ Harold kniete sich hin. „Vom Feind, wissen Sie, Ohren, Nase, Skalps, Genitalien!“ „Harold!“ „Wie stehen die Chancen, so was zu kriegen?“, fragte er und zog einen Schrumpfkopf hervor. „Wow! Zu denken, dass ich so einen selber machen könnte.“ „Harold!“, rief Onkel Victor. „Das ist geschmacklos.“ „Das ist es allerdings!“, sagte Maude. Harold und der General unterbrachen ihre Unterhaltung und schauten auf. Maude hatte sich hinter ihnen aufgebaut, ihren Gänsekopf-Regenschirm in der einen, ein großes Friedensplakat in der anderen Hand. „Wer sind Sie?“, fragte Onkel Victor und erhob sich. „Ich demonstriere für den Frieden, und ich kam hier gerade vorbei…“ „Parasit!“, schrie Harold, sprang auf und schlug Maude seine Faust ins Gesicht. „Parasit!“ „Harold, beherrsch dich!“, sagte Onkel Victor. „Kommunistenschwein!“, brüllte Harold. „Hau ab!“
„Sprich nicht in diesem Ton mit mir, du kleiner gemeiner, degenerierter Mistkerl“, sagte Maude. „Wirklich, General, ich hätte geglaubt, dass Sie zumindest…“ „Verräterin!“, schnauzte Harold. „Benedict Arnold! Erinnern Sie sich an Nathan Hale, Sir?“ „Kommen Sie nicht näher!“, rief Maude. „Wir kriegen euch alle! Ihr werdet alle enden wie der hier!“ Und er hielt den Schrumpfkopf in die Höhe. „Dreck! Dreck!“, schrie Maude. „Bitte, meine Dame“, sagte Onkel Victor. „Harold…“ „Genau wie der hier“, rief Harold und fuchtelte mit dem Schrumpf kopf vor Maudes Gesicht herum. „Gib das her!“, rief sie und riss ihm den Schrumpfkopf aus der Hand. „Ich schmeiße das Ding in den Abwasserkanal, wo es hingehört!“ Sie drehte sich um und rannte in Richtung See. „Sie hat meinen Kopp“, sagte Harold völlig perplex. „Du bleibst hier“, befahl der General. „Sie hat meinen Kopf geklaut!“, kreischte Harold. Er ergriff Maudes Friedensplakat, das sie fallen gelassen hatte, und rannte hinter ihr her. „Ich bringe sie um!“, schrie er. „Harold, komm zurück! Harold, das ist ein Befehl!“ Der General folgte ihm in wilder Hast. Maude rannte an dem Schild „Durchgang verboten – Lebensgefahr“ vorbei und schlüpfte unter dem Zaun durch, der zum Staudamm führte. Harold folgte ihr und schwang das Friedensplakat wie eine Keule. Der General, mit den Nerven am Ende, versuchte ihnen zu folgen. Maude flitzte am Rand des Staudamms entlang, hielt in der Mitte an und hielt den Schrumpfkopf mit ausgestrecktem Arm über das unter ihr schäumende Wasser. „Wagen Sie es ja nicht!“, schrie Harold, erreichte sie und packte ihren Arm. Maude schlug mit ihrem Regenschirm auf ihn ein, und als der General sie einholte, schlug sie auch ihn.
„Bitte, meine Dame!“, rief Onkel Victor und versuchte, Harold mit seinem einen Arm zurückzuziehen. „Geben Sie ihm den Kopf zurück.“ „Ich bring sie um!“, brüllte Harold. „Ich bring sie um!“ „Bleib bloß weg von mir, du kleiner dreckiger Perverser!“, schrie Maude. Dem General gelang es, Harold das Friedensplakat zu entreißen, und er warf es über die Staumauer. Alle drei hielten einen Augenblick inne, um zu sehen, wie es in dem reißenden Wasser unter ihnen verschwand. Maude stand rechts vom General und hielt immer noch den Schrumpfkopf fest. Mit einer schnellen Bewegung zog Harold am Auslöser für den mechanischen Gruß. Der Ärmel schoss in die Höhe und traf Maude unter dem Kinn; sie flog über die Staumauer und in die brodelnden Gewässer. Entsetzt sah der General, wie sie unterging. Bange wartete er, aber sie tauchte nicht wieder auf. Den Arm immer noch zum Gruß erhoben, blickte er auf. Er wollte nicht glauben, was er gerade gesehen hatte. Er wandte sich an Harold, um einen Grund für dieses Unglück zu erfahren – irgendein Motiv, irgendeine Erklärung. „Ich hab’ den Kopf verloren“, sagte Harold traurig und schaute auf das Wasser, das mit großer Geschwindigkeit stromabwärts floss.
Zurück im Hauptquartier setzte sich General Ball an seinen Schreibtisch. „Die Akte Chasen hat sich erledigt“, sagte er zu seinem Adjutanten. „Mein Neffe wird nicht zur Army gehen.“ „Soll ich den Ordner zurück zu den Geheimakten legen, Sir?“ „Nicht notwendig, Rodgers. Schicken Sie ihn über die offiziellen Kanäle zurück, und lassen sie ihn mit dem Vermerk ,Untauglich’ versehen.“ „Einen speziellen Befund, Sir?“
„Denken Sie sich was aus, Lieutenant. Aber im Vertrauen – der Junge ist ein Irrer. Besessen von der Idee zu morden. Er gehört in eine geschlossene Anstalt.“ „Jawohl, Sir. Hier ist übrigens die aktuelle Gefallenenstatistik.“ „Mir wird schlecht bei dem Gedanken, Rodgers, wie es der Army erginge, wenn sie zum Zufluchtsort für Mörder würde.“ Zwei Skelette, an zwei Türen aufgehängt, klapperten mit ihren Knochen und stießen ein brüllendes Gelächter aus. Die Türen wurden aufgestoßen, und Harold und Maude schossen in einem kleinen Wagen heraus, der vor dem Schild ,Exit’ zum Halten kam. Ein Angestellter half ihnen aus dem Wagen, und sie gingen die Stufen zur Promenade hinunter. „Nun, soviel zur Geisterbahn“, sagte Harold. „War ja nicht gerade sehr unheimlich.“ „Nein“, sagte Maude. „Kein Vergleich zu heute Nachmittag.“ „Oh, da hattest du doch gar keine Angst.“ „Angst? Unter Wasser schwimmend mit deinem Sauerstoffgerät? Ich wäre fast gestorben vor Angst.“ „Ach komm, es hat dir doch gefallen.“ „Nun, es war natürlich eine neue Erfahrung.“ Sie lachten beide. Harold kaufte Karten für das Riesenrad, man half ihnen auf ihre Sitze und sicherte sie. „Und los geht’s!“, rief Maude, als sie über die Jahrmarktslichter hinweg in den Nachthimmel segelten. „Macht das nicht Spaß? Mit dem Riesenrad im Prater bin ich ständig gefahren.“ „Schade, dass du deinen Regenschirm im Kanal verloren hast“, sagte Harold. „Nun, er hat seine Aufgabe erfüllt“, sagte Maude. „Das ist alles, was man von irgendetwas erwarten kann – oder von irgendjemandem.“
„Dein Plan hat jedenfalls sicher seinen Zweck erfüllt. Du hättest das Gesicht meines Onkels sehen müssen“, sagte Harold schmunzelnd. „Die Army wird mich nicht mehr wollen.“ Auch Maude lachte. „Nun, zu ihrer Zeit war die Army ganz in Ordnung“, sagte sie. „Wie die Kirche. Gemeinsam haben sie uns vor den bösen Buben auf der einen und vor dem Teufel auf der anderen Seite beschützt. Aber – wie alles – hat sich auch der Feind geändert. Wir sind dem Feind begegnet, und der sind wir selbst. Also müssen wir uns hinsetzen und uns ein paar bessere Lösungen ausdenken als Waffen und Dogmen.“ „Meinst du, das wird uns gelingen?“ „Aber sicher. Nur nicht den Mut verlieren! So wie ich die Sache sehe, befinden wir uns gerade im Kokon. Die Zeit der Raupe ist vorüber. Die Zeit des Schmetterlings ist nah.“ „Oh, wir haben angehalten“, sagte Harold. „Genau jetzt, wo wir oben sind. Wie schön!“ „Schau die Leute unten am Pier an. Sie sehen winzig aus. Maude! Warte! Was machst du?“ „Ich schaukle ein bisschen“, rief Maude und ließ den Sitz heftig schwingen. Harold war sehr erleichtert, als sie das Riesenrad verließen und zu den Spielautomaten gingen. Sie spielten am Flipperautomaten und testeten ihre Geschicklichkeit. Aber am meisten Spaß hatten sie am Kicker. Maude wurde sofort vom Fußball-Fieber gepackt. Sie feuerte lauthals ihre Mannschaft an und schoss mit ihren Spielern ein Tor nach dem anderen. Nach fünfzehn Minuten hatte sich eine Menschenmenge um Maude versammelt. Zusammen mit einem kleinen Italiener spielte sie gegen ein Pärchen in Hawaii-Hemden. Die Menge jubelte bei jedem Spiel, und bei jedem Tor schlugen sich die Leute vor Begeisterung auf die Schultern.
Harold machte sich davon und steckte einen Penny in eine Maschine, die Buchstaben auf ein Metallplättchen druckte. Während er die Buchstaben wählte und den Hebel betätigte, hörte er die Begeisterungsrufe und lächelte. „Du kannst einfach gut mit Menschen umgehen“, sagte er, als sie den Jahrmarkt verließen und am Pier entlanggingen. „Nun“, sagte Maude, „es sind meine Artgenossen.“ Harold kaufte zwei kandierte Äpfel, und sie setzten sich ans Ende des Piers, um sie zu essen. „Sieh nur!“, rief Harold. „Eine Sternschnuppe!“ „Ich hab sie gesehen“, sagte Maude. „Tja, es gibt immer einen Spinner, sogar am Firmament.“ Harold blickte zu den Sternen auf. „Sie sind schön, nicht?“ „Ja, sie sind alte Freunde. In Bayern habe ich sie auch immer angeschaut. Sie können sehr… tröstlich sein.“ „Wie meinst du das?“ „Nun, ich habe zum Beispiel hochgeschaut und gedacht, dass das Licht von einem fernen Stern über eine Million Jahre brauchen würde, bis es uns erreicht. In einer Million Jahren brachte die Natur den Vogelflügel hervor. So wird die Menschheit vielleicht zu der Zeit, wenn das Licht uns erreicht, gelernt haben, mit dem Bösen fertig zu werden. Vielleicht hat der Mensch es auch nach und nach aufgelöst, und wir fliegen alle herum… wie Engel.“ Harold lächelte. „Du hättest Dichterin werden sollen.“ „Oh nein!“, rief Maude. „Aber ich wäre gerne Astronaut geworden. Ein privater Astronaut, der einfach losfliegen und das Unbekannte erforschen kann. Wie die Männer, die mit Magellan gesegelt sind. Ich möchte sehen, ob wir wirklich über den Rand der Welt fallen könnten.“ Sie lachte. „Das wär vielleicht ein Witz“, sagte sie und machte einen großen Kreis mit ihrem Apfel in der Hand,
„wenn ich, wie sie damals, dort wieder ankäme, wo ich losgefahren bin.“ „Maude“, sagte Harold. „Ja.“ „Ich habe ein Geschenk für dich.“ Und er gab ihr das Metallplättchen. „Oh, Harold! Wie nett von dir!“ Sie las die Inschrift laut vor: „Harold liebt Maude.“ Harold wandte sich, irgendwie verlegen, dem Meer zu und schaute hinaus. Maude berührte seinen Arm, und er drehte sich zu ihr um. „Und Maude liebt Harold“, sagte sie leise. Er lächelte, und Maude gab ein glückliches Lachen von sich. „Meine Güte!“, sagte sie. „Das ist das hübscheste Geschenk, das ich seit Jahren bekommen habe.“ Sie küsste es und warf es ins Meer. Harold sah ungläubig zu, wie es versank. „Aber…“, sagte er. „Jetzt“, erklärte Maude, „werde ich immer wissen, wo es ist.“ Harold schluckte. „Okay“, sagte er, und lächelte. „Komm“, sagte Maude. „Lass uns Achterbahn fahren.“ Und Hand in Hand gingen sie den Pier entlang zurück, hinein in das blendende Glitzern des Jahrmarkts.
Wieder bei ihr zuhause, machte Harold Feuer im Kamin, während Maude in der Küche ihren Chrysanthemen-Likör zubereitete (ein Pfund Chrysanthemen, Wasser, Zucker, Zitronenschale, Muskat und ein halber Liter bester Brandy). „Er schmeckt köstlich“, sagte Harold. „Oh, ich liebe es, mit Blumen zu kochen“, sagte Maude. „Es hat so etwas Shakespearesches.“
Sie schaltete das Radio auf dem Bücherregal ein. „Ich glaube, heute Abend gibt es ein Chopin-Konzert. Ja, da ist es.“ Die zarten Klänge einer Nocturne schwebten durch den Raum. „Magst du Chopin, Harold?“ „Sehr.“ Maude setzte sich auf den Klavierhocker und kostete von ihrem Likör. „Ich auch“, sagte sie. „Ich auch.“ Harold ging zu ihr hinüber und lehnte sich an den Flügel. Er schaute die leeren Rahmen an. „Warum sind keine Fotos in diesen Rahmen?“, fragte er. „Ich habe sie herausgenommen.“ „Warum?“ „Sie haben sich über mich lustig gemacht. Sie stellten Menschen dar, die ich sehr geliebt habe, aber sie wussten, dass diese Menschen nach und nach in meiner Erinnerung verblassten und dass mir schließlich nur noch sehr undeutliche Gefühle übrig bleiben würden – aber deutliche Fotografien. Also habe ich sie ausgerahmt. Ich weiß, dass mein Gedächtnis nachlässt. Aber ich ziehe die Bilder, die ich mit meinen Gefühlen selbst gemalt habe, solchen vor, die Kodak mit Silbernitrat herstellt.“ Harold lächelte. „Ich werde dich nie vergessen, Maude“, sagte er. „Aber ich hätte gerne eine Fotografie von dir.“ Maude lachte. „Nun, lass mich kurz nachschauen.“ Sie stellte ihr Glas hin und ging ins Schlafzimmer. Neben dem Schrank mit den Instrumenten stand eine alte Seemannskiste. „Bring doch mal den Kerzenleuchter her“, sagte Maude und kniete sich hin. „Dann können wir etwas Licht in die Sache bringen. Wie geht’s dir mit dem Banjo?“
„Ganz gut“, sagte Harold, nahm den mehrarmigen Leuchter vom Nachttisch und brachte ihn zu Maude. „Morgen Abend habe ich eine Überraschung für dich.“ „Meine Güte“, kicherte Maude und öffnete die Kiste. „Das wird vielleicht ein Geburtstagsfest werden. Ich freue mich schon darauf.“ Sie wühlte zwischen alten Papieren, Bündeln von Briefen und abgegriffenen, braunen Umschlägen. „Es muss hier irgendwo sein.“ „Die Kerzen riechen gut“, sagte Harold, der hinter ihr stand. „Was ist das für ein Duft? Sandelholz?“ „Moschusochse“, sagte Maude. „Aber ich glaube nicht, dass sie es unter diesem Namen verkaufen. Es heißt ,Duft vom Himalaja’ oder so ähnlich. ,Freude des Dalai Lama’ ist vielleicht noch hübscher.“ „Es ist romantischer.“ „Volltreffer!“ rief Maude, hielt einen großen Umschlag in die Höhe und schloss die Kiste. „Hier drin sollte es sein.“ Sie setzte sich auf den Rand des Himmelbetts. Harold stellte den Kerzenleuchter hin und setzte sich neben sie. Sie öffnete den Umschlag. „Ja, hier ist es“, sagte sie. „Mein AmerikaVisum.“ Sie löste die Fotografie von dem Dokument und gab sie Harold. „Im Moment kann ich dir nur das geben.“ „Danke“, er hielt es ans Licht. „Sehr hübsch. Sieht genauso aus wie du.“ Maude lächelte. „Harold, das Bild ist fast fünfundzwanzig Jahre alt.“ „Du hast dich nicht ein bisschen verändert. Ich werde es in meiner Brieftasche aufbewahren.“ Er öffnete seine Brieftasche, und das Bild einer Sonnenblume, aus einem Katalog ausgeschnitten, fiel heraus. Hastig rettete er es und drehte Maude den Rücken zu.
„Das darfst du nicht sehen“, sagte er und steckte die Abbildung zurück. „Das ist ein Teil der Überraschung für morgen.“ Er schloss die Brieftasche und wandte sich wieder Maude zu. „Maude“, sagte er. „Du weinst ja.“ Maude hielt das Visum noch in der Hand. „Ich habe mich daran erinnert, wie viel es mir bedeutet hat“, sagte sie langsam. „Es war nach dem Krieg – ich hatte nichts – außer meinem Leben. Wie anders ich damals war. Und doch so sehr die Gleiche.“ Harold war verwirrt. „Aber… du hast noch nie geweint. Ich hätte nie gedacht, dass du weinen würdest. Ich dachte, du wärst immer glücklich.“ „Oh Harold“, seufzte sie und strich ihm übers Haar. „Du bist so jung. Was haben sie dir beigebracht?“ Sie wischte die Tränen von ihren Wangen. „Ja, ich weine. Ich weine um dich. Ich weine deswegen hier. Ich weine über die Schönheit – eines Sonnenuntergangs oder einer Möwe. Ich weine, wenn ein Mann seinen Bruder quält… wenn er bereut und um Vergebung bittet… wenn Vergebung versagt wird… und wenn sie gewährt wird. Man lacht. Man weint. Zwei einzigartige menschliche Fähigkeiten. Und das Wichtigste im Leben, mein lieber Harold, ist, keine Angst davor zu haben, ein Mensch zu sein.“ Harold blinzelte die Tränen in seinen Augen weg. Er hatte einen Kloß im Hals. Er schluckte. Er streckte den Arm aus und nahm ihre Hand in die seine. Dann wischte er sanft ihre Tränen von ihrem Gesicht. Sie lächelte ein wenig, und er beugte sich vor und küsste ihre Lippen. Sie lösten sich voneinander und schauten einander im Kerzenschein an. Sie hörten den sanften Klang der ChopinMusik aus dem Nebenzimmer. Harold beugte sich vor, nahm
ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie wieder. Sie umarmte ihn zärtlich. So leicht, wie zwei Regentropfen ineinander fließen, sanken sie auf das Himmelbett zurück. Am nächsten Morgen wurde Harold vom Krähen eines Hahns geweckt: „Kikerikiiii!“ Er rieb sich die Augen und gähnte. Wieder war das Krähen zu hören. Vorsichtig, um Maude nicht zu wecken, setzte er sich im Bett auf und schaute aus dem Fenster. Madame Arouet fütterte ihre Hühner, und ihr Hahn, hoch aufgerichtet auf einem Zaunpfahl, begrüßte den neuen Tag. Als Harold ihm zuschaute, fiel ihm die Zeile eines Liedes ein: „Der Hahn kräht zum Bravissimo, Aber der Kuck-kuck-kuckuck.“ Er lächelte und kratzte sich die Brust. Er fühlte sich großartig. Er hätte jetzt eine Zigarette vertragen können. Er blickte zurück auf Maude. Die Morgensonne fiel auf ihr weißes Haar und warf einen goldenen Schimmer auf ihr Gesicht. ,Sie schläft wie ein Kind’, dachte er, sorglos und sicher. Er hatte niemals etwas Schöneres gesehen. Er kuschelte sich neben sie und zog die Bettdecke hoch. Er legte sich mit dem Gesicht genau vor ihres und wartete darauf, dass sie aufwachte. Sie öffnete die Augen. Sie waren klar und glitzernd wie ein Bergbach. Sie lächelte. „Guten Morgen“, sagte sie. „Happy Birthday“, sagte er und küsste sie auf die Nase. Mrs. Chasen saß in ihrem Schlafzimmer, frühstückte und telefonierte dabei.
„Und deshalb dachte ich, Pater, dass sie als Geistlicher mit ihm sprechen könnten. Ehrlich gesagt, ich bin mit meinem Latein am Ende.“ Harold klopfte an die Tür und kam herein. „Mutter.“ Mrs. Chasen wimmelte ihn mit einer Handbewegung ab. „Nein, Pater. Er wird derzeit nicht zur Army gehen. Sein Onkel scheint es augenblicklich nicht für sinnvoll zu halten.“ „Mutter.“ Mrs. Chasen hielt die Sprechmuschel zu. „Nicht jetzt, Harold, ich spreche mit Pater Finnegan.“ Harold verschränkte die Arme. „Mutter“, sagte er. „Ich werde heiraten.“ „Pater, ich rufe sie später wieder an“, sagte Mrs. Chasen und legte auf. „Was hast du gesagt?“, fragte sie. „Ich werde heiraten.“ Mrs. Chasen sah ihn besorgt an. „Wen?“, wollte sie wissen. „Ein Mädchen“, sagte Harold und nahm seine Brieftasche heraus. Er klappte sie auf und reichte sie seiner Mutter. Mrs. Chasen warf einen Blick auf die Fotografie und schloss die Augen. „Ich nehme an, du hältst das für wahnsinnig lustig“, sagte sie. „Wieso?“ Mrs. Chasen gab ihm die Brieftasche zurück. „Das Bild einer Sonnenblume.“ „Oh, entschuldige“, sagte Harold und klappte das Foto von Maude auf. „Das ist sie“, sagte er und gab seiner Mutter die Brieftasche zurück. Diesmal schaute sich Mrs. Chasen das Bild sehr genau an. Sie schaute zu Harold auf, dann zurück zu der Fotografie. „Das ist wohl nicht dein Ernst?“, sagte sie fast ohnmächtig. Harold lächelte.
„Es ist ihm ernst“, sagte sie zu Dr. Harley, als sie auf seiner Couch lag und zur Decke hinaufschaute. „Diesmal meint er es wirklich ernst.“ „Ich werde mit ihm sprechen“, sagte der Doktor. „Vielleicht kann ich ja etwas erreichen.“ „Oh, das hoffe ich. Das hoffe ich sehr. Ich schicke ihn zu Ihnen, zu seinem Onkel und zu Pater Finnegan. Einer muss ihn doch zur Vernunft bringen.“
Onkel Victor gab auf jeden Fall sein Bestes. „Harold“, sagte er zu seinem Neffen, der ihm gegenüber in seinem Büro saß, „deine Mutter hat mir von deiner Heiratsidee berichtet, und obwohl ich normalerweise nichts gegen das Heiraten habe, halte ich die Idee in diesem Fall für nicht ganz normal. Helen sagte, deine Verlobte sei achtzig Jahre alt. Nun, auch für einen unvoreingenommenen Geist ist dies wohl kein gewöhnlicher Altersunterschied. Er ist, verdammt noch mal, sogar höchst ungewöhnlich. Ich möchte dich jetzt nicht an den unerfreulichen Zwischenfall von gestern Nachmittag erinnern. Ich halte es für das Beste, wenn wir die Sache einfach vergessen. Nichtsdestoweniger würde ich es, da ich deine speziellen Neigungen kenne, für angeraten halten, dass du das Haus nicht verlässt und dich nicht in Aktivitäten stürzt, die Aufsehen erregen könnten. Diese Heirat würde aber mit Sicherheit Aufsehen erregen, und meiner Meinung nach brauchst du keine Ehefrau, Harold. Du brauchst eine Krankenschwester.“
Das Treffen mit Dr. Harley fand in kühlerer Atmosphäre statt. „Es besteht kein Zweifel, Harold“, sagte der Doktor und lehnte sich in seinem Sessel zurück, „dass diese bevorstehende
Heirat ein weiteres Kapitel eines schon sehr faszinierenden Falles darstellt. Aber lassen Sie uns die Sache untersuchen, und ich glaube, Sie werden erkennen, dass es eine einfache Freudsche Erklärung für Ihre romantische Bindung an diese ältere Frau gibt. Sie ist bekannt als ,Ödipus-Komplex’, ein sehr geläufiges Syndrom, vor allem in unserer Gesellschaft, bei welchem das männliche Kind unterbewusst den Wunsch hat, mit seiner Mutter zu schlafen. Was mich allerdings wundert, Harold, ist, dass sie mit ihrer Großmutter schlafen wollen.“
Pater Finnegans Predigt kam nicht so richtig in die Gänge. Der kleine Priester schien offensichtlich von der Dimension des Problems überfordert. „Nun, Harold“, sagte er geduldig. „Die Kirche hat gegen die Verbindung von Alt und Jung nichts einzuwenden. Jedes Alter hat seine eigene Schönheit. Aber eine eheliche Verbindung schließt die ehelichen Rechte mit ein. Und die Zeugung von Kindern. Ich würde meine Pflichten sträflich vernachlässigen, wenn ich Ihnen nicht sagen würde, dass die Idee eines…“ Er schluckte. „… Verkehrs – der Gedanke, dass Ihr junger, fester…“ Er schlug die Augen nieder. „… Körper…“ Er wischte sich die Stirn. „… sich mit dem Fleisch, den hängenden Brüsten und dem schlaffen Hintern einer reifen weiblichen Person…“ Er wischte sich verzweifelt mit der Hand über den Mund. „… offen und ehrlich, das erzeugt in mir das Bedürfnis, mich zu übergeben.“
„Aber“, sagte Harold zu jedem der drei, nachdem sie ihren Standpunkt dargelegt hatten, „Sie fragen gar nicht danach, ob ich sie liebe.“ Und weder General Ball, noch Dr. Harley oder Pater Finnegan konnten darauf eine Antwort geben.
„Liebe!“, rief Mrs. Chasen und warf die Arme in die Höhe. „Was meinst du mit ,Liebe’? Wirklich, Harold, wie kannst du von Liebe reden, wenn du davon überhaupt nichts weißt.“ „Ich weiß, was ich fühle.“ „Und das hältst du für Liebe? Das ist keine Liebe. Das ist eine geriatrische Obsession! Wie kannst du mir das antun? Ich verstehe das nicht. Ich verstehe es einfach nicht.“ Mrs. Chasen ging an die Bar und goss sich einen Drink ein. In all den Jahren hatte er sie noch nie derart verstört erlebt. Es kam ihm wie Ironie vor, denn all das spielte für ihn keine Rolle mehr. „Harold“, sagte sie und setzte sich neben ihn. „Hör mir zu. Warum willst du dein Leben wegwerfen?“ „Ich will sie doch nur heiraten.“ „Aber was weißt du denn überhaupt von ihr? Wo kommt sie her? Wo hast du sie kennen gelernt?“ „Auf einer Beerdigung.“ „Oh, das ist ja ganz toll.“ Mrs. Chasen kippte ihren Drink. „Ich bekomme nicht nur eine achtzigjährige Schwiegertochter. Ich bekomme auch noch eine Sargträgerin! Harold! Bitte. Sei vernünftig. Was werden die Leute sagen?“ „Es interessiert mich nicht, was die Leute sagen.“ Mrs. Chasen stand auf. „Es interessiert dich nicht! ,Greisin heiratet jungen Brandstifter in Friedhofskapelle!’ – Und das interessiert dich nicht!“ Sie ging wieder an die Bar. Harold hatte genug. Er stand auf, um zu gehen.
„Alles was ich will, ist, dass du ein nettes Mädchen heiratest, eine hübsche Hochzeit – was machst du?“ „Ich gehe“, sagte Harold. „Du gehst hinaus?“ „Ja“, sagte er. „Aber wohin denn?“ Er drehte sich noch einmal in der Tür um. „Ich gehe und heirate die Frau, die ich liebe.“ Mrs. Chasen hielt inne. „Harold“, sagte sie sehr ruhig. „Das ist krank.“ Harold lächelte. „Vielleicht ist es das“, sagte er und zog die Tür hinter sich zu. An diesem Abend öffnete Harold die Tür zu Maudes Häuschen und führte sie mit verbundenen Augen hinein. „Halte meine Hand“, sagte er und führte sie in die Mitte des Zimmers. „Oh, ich liebe Überraschungen“, gestand sie ihm voller Freude. „Ich fühle mich dann so… schwerelos!“ „Okay“, sagte Harold. „Bleib hier stehen.“ Er nahm ihr die Maske ab. „Tah-Dah!“ Maude blinzelte und schaute sich um. „Oh, Harold!“, sagte sie und klatschte vor Freude in die Hände. „Sie sind wunderschön!“ Hunderte Sonnenblumen füllten den Raum, auf den Tischen, den Stühlen, dem Kaminsims, und über dem Kamin hing ein Transparent mit der Aufschrift „Happy Birthday Maude“. Maude ging im Zimmer herum, verblüfft und vergnügt. Sie lachte. „Sie sind herrlich. Wo hast du die alle her? Das musst du seit Tagen geplant haben.“ „Habe ich“, sagte Harold und warf das Grammophon an. Die Klänge eines Strauß-Walzers füllten den Raum. „Darf ich Sie um diesen Tanz bitten, süße Lady?“, fragte Harold und machte eine höfische Verbeugung vor ihr.
Maude knickste. „Von ganzem Herzen gern, mein Herr“, antwortete sie. Er nahm sie in die Arme, und sie tanzten glücklich bis die Platte abgelaufen war. „Und jetzt“, sagte Harold und zog den japanischen Wandschirm beiseite, „ein Essen zu zweit.“ „Meine Güte!“, rief Maude, völlig überwältigt. „Tafelsilber! Wo hast du das alles herbekommen? Und sieh dir das an.“ Harold nahm die kleine silberne Vase mit einem einzigen Gänseblümchen darin und gab sie ihr. „Von mir für dich“, sagte er. „Ein Individuum. Erinnerst du dich?“ Maude nahm das Gänseblümchen und hielt es behutsam in der Hand. „Danke dir“, sagte sie. „Ich erinnere mich.“ „Und jetzt“, sagte Harold und riss mit einer dramatischen Geste die Abdeckung vom Eiskübel. „Champagner!“, rief Maude hingerissen. „Oh, du hast wirklich an alles gedacht.“ Harold nahm die Flasche und machte sich daran, sie zu öffnen. „Das ist schon in Ordnung“, sagte er und imitierte ihren Akzent. „Es ist biologisch-dynamisch.“ Maude lachte. „Oh, warte mal“, sagte sie und verschwand im Schlafzimmer. „Ich habe auch eine Überraschung für dich.“ Sie kam mit einer Schachtel zurück. „Sind Geburtstage nicht wundervoll?“, sagte sie. „Für mich bedeuten sie immer einen neuen Anfang, ein neues Abenteuer!“ „Aufgepasst!“, rief Harold. Der Korken schoss aus der Flasche, und der Champagner sprudelte über den Rand des Flaschenhalses. Schnell füllte er Maudes Glas und goss sich dann selbst ein. „Das kannst du nach dem Essen aufmachen“, sagte Maude und legte die Schachtel auf den Kaminsims. „Nach dem Konzert“, sagte Harold und reichte ihr das Glas.
„In Ordnung“, sagte sie. „Du bringst den Toast aus.“ Harold hielt sein Glas hoch. „Auf uns“, sagte er. „Auf uns.“ Sie tranken Champagner und lächelten. „Und dann habe ich noch eine Überraschung“, sagte Harold. Er zog ein kleines Ring-Etui aus der Tasche, mit einem roten Bändchen verschnürt. „Du kannst es nach meinem Solo aufmachen“, sagte er und legte es neben Maudes Geschenk auf den Kaminsims. „Ich hoffe“, fügte er hinzu und sah sie zärtlich an, „dass es dich besonders glücklich macht.“ „Oh, ich bin glücklich“, sagte Maude. „Wahnsinnig glücklich. Ich könnte mir keinen schöneren Abschied vorstellen.“ „Abschied?“ „Aber ja. Es ist mein achtzigster Geburtstag.“ „Aber du gehst doch nicht weg, oder?“ „Oh ja, mein Lieber. Ich habe die Tabletten vor einer Stunde genommen. Um Mitternacht sollte ich schon fort sein.“ „Aber…“ Harold starrte sie an. Maude lächelte und nippte an ihrem Champagner. Plötzlich wurde ihm klar, was sie getan hatte. Er stürzte zum Telefon.
Der Krankenwagen raste durch die Straßen, mit flackernden Lichtern und einer Sirene, die wie die Stimme einer Geisterfrau klang. Im Wagen lag Maude auf einer Bahre, nur mit einem Laken bedeckt, das Gänseblümchen glücklich in ihrer Hand. Ihre einzige Sorge galt Harold, der neben ihr kniete und mitleiderregend weinte. „Komm schon, Harold“, sagte sie. „Lächle doch mal. Warum so einen Wirbel machen. Ist doch völlig unnötig.“
„Maude. Bitte. Stirb nicht. Ich könnte es nicht ertragen. Bitte, stirb nicht.“ „Aber Harold, wir fangen an zu sterben, sobald wir geboren sind. Was ist denn so Merkwürdiges am Tod? Er kommt nicht als Überraschung. Er ist ein Teil des Lebens. Ist Veränderung.“ „Aber warum jetzt?“ „Ich habe mich schon vor langer Zeit entschlossen, dieses Datum zu wählen. Ich hielt achtzig für eine gute Zahl.“ Sie kicherte plötzlich. „Mir ist schwindelig“, sagte sie. „Aber Maude, du verstehst mich nicht. Ich liebe dich. Hörst du mich? Ich habe das noch nie in meinem Leben zu jemandem gesagt. Du bist die Erste. Maude. Bitte. Verlass mich nicht.“ „Oh, Harold, reg dich doch nicht so auf.“ „Es ist wahr. Ich kann ohne dich nicht leben.“ Maude tätschelte seine Hand. „Auch das wird vergehen.“ „Niemals! Niemals! Ich werde dich nie vergessen. Ich wollte dich heiraten. Ich wollte dich heute Abend fragen. Verstehst du nicht? Ich liebe dich! Ich liebe dich!“ „Oh, das ist wundervoll, Harold. Geh – und liebe weiter.“ Der Krankenwagen hielt vor der Notaufnahme des Krankenhauses, und die Sanitäter liefen um den Wagen und öffneten die Hecktür. „So unnötig“, kicherte Maude, als sie auf einer fahrbaren Bahre hineingerollt wurde. Harold lief neben ihr. „Halte durch“, sagte er. „Du musst durchhalten.“ „Durchhalten? Durchhalten?“ Maude kicherte wieder. „Oh, Harold. Wie absurd!“ Die Sanitäter rollten sie zum Empfangstresen und gingen, um ihre Formulare auszufüllen. Eine rothaarige Oberschwester stand hinter dem Schalter und erklärte einer Lernschwester die Aufnahmeformalitäten. Harold trommelte verzweifelt auf den
Tresen, und ein Assistenzarzt mit Hornbrille schaute von seinem Buch auf. „Bitte“, sagte Harold. „Ein Unfall, eine Überdosis Tabletten. Wir brauchen einen Arzt. Es ist ein Notfall.“ „Sehr gut“, sagte die Oberschwester. „Julie, machen sie weiter und nehmen sie die persönlichen Daten auf.“ Die Lernschwester nahm ihr Schreibbrett mit dem Anmeldungsformular und einen Stift dazu. „Äh, wie ist Ihr Name?“, fragte sie freundlich und langsam mit Südstaatenakzent. „Es handelt sich nicht um mich“, sagte Harold. „Es geht um sie.“ Maude hörte auf zu summen und lächelte. Sie winkte ,Hallo’ mit ihrem Gänseblümchen. „Es ist besser“, sagte die Oberschwester, „mit dem Nachnamen anzufangen, dann den Vornamen und dann den Anfangsbuchstaben des zweiten Vornamens einzutragen, falls es einen gibt. Das hilft, Zeit zu sparen.“ „Oh, in Ordnung“, sagte die Lernschwester. Sie lächelte Maude an. „Wie ist ihr Nachname?“ „Chardin. Gräfin Mathilda. Aber Sie können Maude zu mir sagen.“ „Oh, vielen Dank.“ „Bitte!“ rief Harold. „Sie muss sofort zu einem Arzt.“ „Junger Mann“, sagte die Oberschwester, „vielleicht sollten Sie besser etwas in den Warteraum gehen.“ Die Lernschwester hatte Maudes Namen aufgeschrieben. „Wie alt sind Sie?“, fragte sie. „Achtzig. Heute ist mein Geburtstag.“ „Oh! Noch viele schöne Geburtstage.“ „Nein. Ich denke eher nicht.“
„Sie verstehen nicht“, rief Harold. „Sie hat vor zwei Stunden eine Überdosis Schlaftabletten genommen. Sie hat nicht mehr viel Zeit.“ Der Assistenzarzt kam hinter dem Schalter mit einem Formular hervor und bat Maude um ihre Unterschrift. „Nur eine Formalität“, erklärte er. „Mit Vergnügen“, sagte Maude und unterschrieb mit einem schwungvollen Schnörkel. „Mir gefällt ihr Haar“, fügte sie hinzu. „Wirklich?“, sagte der Assistenzarzt. „Ich lasse es wachsen. Nun, dieses Formular ist nur für den Fall einer Schadenersatzklage, verstehen sie. Damit das Krankenhaus nicht verantwortlich gemacht werden kann, falls… was auch immer.“ „Ich denke, Julie“, sagte die Oberschwester, „es wäre besser, einen Kugelschreiber zu benutzen. Die sind effizienter.“ „Oh, in Ordnung.“ „Es ist nur eine rechtliche Absicherung“, fuhr der Assistenzarzt fort und prüfte die Unterschrift. „Nichts Persönliches, Sie verstehen.“ „Versteht mich denn hier niemand“, schrie Harold. „Sie stirbt!“ „Nun, eigentlich sterbe ich nicht“, erklärte Maude. „Ich verändere mich. Wissen Sie, wie aus Winter Frühling wird. Natürlich ist es ein großer Schritt.“ „Dann sollten Sie vielleicht die ersten Schritte überspringen und gleich zum wichtigen Teil übergehen.“ „Oh, in Ordnung“, sagte die Lernschwester und blätterte gewissenhaft um. „Wie lautet ihre Sozialversicherungsnummer?“ „Nein“, sagte die Oberschwester. „Fragen Sie nach der Krankenversicherung.“
„Oh, richtig. Haben Sie eine Versicherung? Blue Cross? Blue Shield?“ „Eine Versicherung wogegen?“ „Keine Versicherung“, sagte die Lernschwester. Sie wandte sich mit bekümmertem Gesicht an ihre Vorgesetzte. „Nun, schreiben Sie es auf.“ „Das ist Wahnsinn!“, schrie Harold. „Es tut mir leid“, sagte die Oberschwester und schenkte Harold einen eisigen Blick. „Der Psychiater wird erst morgen früh da sein.“ „Was ist denn hier das Problem?“, fragte ein Arzt, der durch die Schwingtüren hereinkam. „Eine Überdosis Schlaftabletten, Doktor“, sagte die Oberschwester. Harold wandte sich an den Arzt, während die Lernschwester sich zu Maude herunterbeugte und besorgt fragte: „Haben Sie dort, wo sie arbeiten, ein Wohlfahrtsprogramm?“ „Ich bin pensioniert“, sagte Maude. „Doktor, bitte“, sagte Harold. „Sie hat diese Tabletten genommen. Sie müssen etwas tun.“ „Na schön, bringen Sie sie da hinein.“ Der Assistenzarzt rollte sie davon. „Nichts Persönliches“, sagte er. „Wer ist der nächste Verwandte?“, rief die Lernschwester, den Kugelschreiber im Anschlag. „Die Menschheit“, rief Maude fröhlich, als sie durch die Schwingtüren verschwand. „Lebewohl, Harold“, rief sie und winkte mit dem Gänseblümchen. „Bin auf dem Weg in eine neue Erfahrung.“ Die Türen schwangen hinter ihr zu. Harold stand da und schaute zu, bis die Türflügel aufgehört hatten, sich zu bewegen.
Auf der Uhr im Warteraum war es elf. Harold bemerkte, dass der Sekundenzeiger abgebrochen war. Er saß in der Ecke. Ihm gegenüber saß eine schwarze Frau und starrte ausdruckslos durch das Fenster in die Dunkelheit. Ihr kleiner Sohn schlief neben ihr auf der Couch. Um halb zwölf kam ihr älterer Sohn durch die Schwingtüren, sein Kopf und sein Arm waren bandagiert. Sie sagte nichts zu ihm. Sie weckte den kleinen Jungen und nahm ihn an der Hand. Ohne ein Wort verließen die drei den Raum. Harold saß allein im Wartezimmer. Er warf einen Blick auf die zerfetzten Illustrierten auf dem Tisch. Er rieb sich das Gesicht. Er beugte sich vor und starrte auf die Schwingtüren. Um Mitternacht fand der Schichtwechsel der Schwestern statt. Um eins klappte der Assistenzarzt sein Buch zu und ging. Gegen drei kamen ein werdender Vater und seine schwangere Frau irrtümlich in die Notaufnahme. Man erklärte ihnen den Weg zur Entbindungsstation. Der Vater hörte nicht auf, sich zu entschuldigen. Die Frau lächelte nur. Sie gingen. Harold stand auf und lief in der Eingangshalle auf und ab. Gegen vier kam der Hausmeister und leerte die Aschenbecher. Um fünf kehrte Harold in den Warteraum zurück. Er setzte sich auf die Couch und starrte die zerfetzten Illustrierten auf dem Tisch an. Um sechs fing es an, draußen hell zu werden. Harold konnte die Umrisse der Wagen auf dem Parkplatz erkennen. Um zwölf nach sieben kam der Arzt, um ihm mitzuteilen, dass Maude gestorben war. Er nahm die Nachricht sehr ruhig auf. Sein Gesicht ließ keine Regung erkennen. Er dankte dem Arzt mechanisch und ging durch den Krankenhausflur davon.
In der Morgensonne, deren Strahlen durch das Fenster hereindrangen, sah Maudes Wohnzimmer verändert aus. Überall waren noch die Reste der Geburtstagsfeier – die Sonnenblumen, einige ließen schon die Köpfe hängen; die Champagnerflasche, halbleer in einem Eimer voll Wasser. Harold ging zum Fenster. Draußen sangen die Vögel und pickten an der Futterplattform. Lässig löste er den Futtermechanismus aus und erinnerte sich daran, wie er ihn zum ersten Mal in Aktion gesehen hatte. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Er blinzelte sie weg und ging zum Kamin. Als sein Blick auf das ,Happy Birthday’-Plakat fiel, riss er es mit einer heftigen Bewegung von der Wand. Die Sonnenblumentöpfe und alles andere auf dem Kaminsims krachten zu Boden – auch das kleine Ring-Etui mit dem roten Bändchen. Sofort schämte er sich, hob das Etui auf und sah daneben Maudes Geschenkpäckchen vom Vorabend. Er legte es auf den Tisch und machte es auf. Es enthielt den Schlüsselbund, den ihr Sweeney geschenkt hatte. Er schaute ihn an, ohne dass sein Gesicht eine Empfindung erkennen ließ, und las die Nachricht in verschnörkelter Schrift, die daran befestigt war: „Liebster Harold“, lautete sie. „Gib ihn weiter. – In Liebe, Maude.“ Er nahm den Zettel in die Hand und setzte sich. Er las ihn noch einmal. Tränen stiegen ihm in die Augen. Diesmal konnte er sie nicht länger zurückhalten. Er versuchte es nicht einmal. Sie war gegangen. Es war vorbei. Der Zettel fiel ihm aus der Hand. Kraftlos fiel er aufs Sofa und begann zu weinen. Sie war fort. Es war vorbei. Er war allein. Die Tränen liefen ihm über die Wangen. Sein Schluchzen wurde lauter und heftiger. Verzweifelt heulend wie ein verlassenes Kind, begrub er sein Gesicht in den Kissen.
Der Mini-Leichenwagen raste die Uferstraße entlang, schoss in rücksichtslosem Tempo um die Kurven und schlingerte gefährlich nahe am Abgrund. Harold saß am Steuer und fuhr wie ein Besessener. Die Tränen auf seinem Gesicht waren noch nicht getrocknet. Seine Hände waren um das Lenkrad gekrampft. Er bog in eine unbefestigte Straße ein, die zu einem Kliff führte, und raste sie entlang bis zum höchsten Punkt. Von weit her konnte man den Wagen stürzen sehen. Er flog über die Klippe, machte eine elegante Drehung in der Luft, krachte auf die Felsen und ging sofort in Flammen auf. Das Feuer verlosch; und Rauch und Dampf verschwanden allmählich. Die Wellen, von der steigenden Flut mitgebracht, umspülten das Wrack. Harold blickte vom Rand der Klippe darauf hinunter. Die Sonne spiegelte sich in dem zerbrochenen Glas. Ein Stück verbrannter Vorhang schaukelte auf der Dünung hin und her; hoch oben segelten Möwen sorglos im Wind. Harold rieb sich die Nase und steckte Sweeneys Schlüsselbund in die Tasche. Er streckte sich, atmete tief ein und wischte sein verheultes Gesicht mit beiden Händen ab. Er nahm sein Banjo von der Schulter und schlug ein paar Akkorde an. Er warf einen letzten Blick auf die Überreste seines Wagens und ging. Während er den Hügel hinunterging, begann er, Maudes Lied anzuspielen. Er spielte es einmal ganz durch und erinnerte sich bruchstückweise, wie sie es gesungen hatte: Aber der Kuck-kuck-kuckuck, Trotz seiner langweiligen Melodie, Der Kuck-kuck-kuckuck…
Er lächelte und begann von vorn. ,Es geht immer besser’, dachte er, und er wusste, er würde es richtig spielen, bevor er am Ende der Straße angelangt war.
Nachwort
Ende der siebziger Jahre sah ich zum ersten Mal Hal Ashbys Verfilmung von „Harold und Maude“. Erst danach las ich das Buch von Colin Higgins, auf Englisch. Auffällig war die scheinbare Einfachheit und Klarheit der Sprache. Die Geschichte erzählt sich fast ausschließlich über die Dialoge. Beschreibungen von Situationen und Orten, die es zur Orientierung des Lesers benötigt, sind mit ein paar Sätzen umrissen und ähneln den Großaufnahmen oder Totalen im Film zu Beginn einer Szene, bevor die Kamera sich den handelnden Figuren zuwendet. Das Buch hat durch die dialogische Struktur große Ähnlichkeit mit einem Filmskript, die Sehweise ist durchweg eine filmische. Higgins gibt die Zustände und Gefühle seiner Figuren nicht aus deren Innerem wieder, der Blick bleibt der von außen, wie der Blick einer Kamera. Einer Kamera, der die kleinen, wichtigen Details nicht entgehen. Auch die Dialoge selbst enthalten nur selten wertende, interpretierende Attribute, die Absurdität, die Komik und die Liebe entstehen aus den verbalen Reaktionen oder auch Nicht-Reaktionen der Figuren. Higgins lässt der Interpretation des Lesers scheinbar großen Raum, indem er keine Wertungen und Urteile vorwegnimmt. Indessen lenkt der Autor die Fantasie des Lesers mit den subtilen Mitteln eines sprachlichen Minimalismus, bei welchem Nuancen entscheidend die Richtung bestimmen. Es gelingt ihm, über einen scheinbar einfachen Dialog, eine Atmosphäre von großer Dichte zu erzeugen. Das eigentliche, so scheint es, findet zwischen den Zeilen statt, die Aussparungen sind fast beredter als der Text.
Gerade weil sich Higgins auf so wenige Worte beschränkt, ist die Übersetzung eine besondere Herausforderung, da man im Deutschen für die Nuance einer englischen Formulierung oft ungleich mehr Worte benötigt. Es war mir ein Anliegen, der Knappheit der Vorlage gerecht zu werden, ohne die kleinen, aber genauen Details zu unterschlagen. Gerade darin lag auch das Vergnügen, das mir diese Arbeit bereitet hat. Marcel Keller