Scan by Schlaflos
Buch Ein neues Mittelalter, eine neue Epoche voller Magie und Fabelwesen, ist über das Land gekommen...
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Scan by Schlaflos
Buch Ein neues Mittelalter, eine neue Epoche voller Magie und Fabelwesen, ist über das Land gekommen, und es bricht eine verheerende Epidemie aus, vor der es keine Rettung zu geben scheint. Da erhält die Ärztin Caitlin Shepherd einen mysteriösen Auftrag: Um ein Heilmittel für die grausame Krankheit zu finden, soll sie in die mythische Anderswelt vordringen. Doch auf ihrer Reise in das Land der Träume und Nachtmahre muss sie nicht nur gegen äußere Gefahren bestehen, sondern auch gegen sich selbst. Denn Caitlin, die letzte Hoffnung der Menschheit, vereinigt in sich fünf sehr widersprüchliche Persönlichkeiten, und eine davon scheint ein fremdartiges, besonders gefährliches Wesen zu sein ... Autor Mark Chadbourn wurde 1960 im britischen South Derbyshire geboren. Er arbeitete als Polizeireporter für Zeitungen und die BBC, bevor er mit seiner ersten veröffentlichten Kurzgeschichte den Preis als bester neuer Autor des Horrormagazins Fear gewann. Danach verlegte er sich ganz auf das Schreiben und erzielte gleich mit seiner »Weltendämmerung«-Saga einen großen internationalen Erfolg. Mark Chadbourn lebt in London und den Midlands. Weitere Informationen auch unter www.markchadbourn. com. Bereits erschienen: DIE RÜCKKEHR DER TEMPELRITTER: 1. Klingen der Macht. Roman (24352), 2. Haus der Pein. Roman (24353) WELTENDÄMMERUNG: 1. Im Anbruch der Finsternis. Roman (24191), 2. Der Zyklop. Roman (24192), 3. Im Angesicht der Götter. Roman (24193) Demnächst erscheint: DIE RÜCKKEHR DER TEMPELRITTER: 3. Die Jäger von Avalon. Roman (24354) Weitere Bände sind in Vorbereitung.
Mark Chadbourn
Haus der Pein Die Rückkehr der Tempelritter 2 Ins Deutsche übertragen von Joannis Stefanidis blanvalet Die englische Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel »The Queen of Sinister. The Dark Age« bei Victor Gollancz/Orion Publishing Group, London. Um weithin weis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. 1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2006 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München. Copyright © 2004 by Mark Chadbourn Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Agt. Luserke/Sam und Hanka Steidle (Collage) Redaktion: Alexander Groß V. B. • Herstellung: Heidrun Nawrot Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN-10: 3-442-24353-X ISBN-13: 978-3-442-24353-2 www.blanvalet-verlag. De
Chronik einer untergegangenen Welt Eines Nachts schied die uns bekannte Welt lautlos dahin. Als die Menschheit erwachte, fand sie sich an einem
Ort wieder, der sich auf geheimnisvolle Weise verwandelt hatte. Über den Städten kreisten Fabelwesen, deren feuriger Atem die Wolken rötete. Übernatürliche Geschöpfe suchten das Land heim - Kobolde und Gestaltwandler, Blut saugende Geister und Menschen, die sich in Wölfe verwandeln konnten, absonderliche Tiere, deren Schreie die Nacht erkalten ließen, und noch viele mehr, zu verschieden und mannigfaltig in ihrer Art, um jedes Einzelne zu begreifen. Die Magie war wieder lebendig, und sie war allerorten. Niemand wusste, warum es geschehen war — auf Befehl irgendeiner höheren Macht oder als willkürliches Ereignis im Gezeitenstrom des Seins -, der Schock für die menschliche Gesellschaft saß jedenfalls tief. Aller Glaube an das, worauf die Leute sich als Garanten für ihre Sicherheit verlassen hatten - Politiker, Gesetze, die traditionellen Religionen -, war erloschen. Nichts davon zählte mehr in einer Welt, in der Geschöpfe jenseits aller Vorstellungskraft aus dem Dunkel der Nacht springen und mit einem Wimpernschlag Leben vernichten konnten. Und über allem standen die Götter - wundersame Wesen, die der verschwommenen kollektiven Erinnerung der Menschheit und den Tiefen uralter Mythologien entsprangen, Wesen, die uns so überlegen sind, dass wir auf das Niveau von erschrockenen, hilflosen Tieren redu5 ziert wurden. Vor langer, langer Zeit waren sie schon einmal hier gewesen und schufen damit den Ursprung unserer wildesten Träume und dunkelsten Ängste, aber nun, da sie uns ein zweites Mal besuchten, waren sie fest entschlossen, für immer zu bleiben. In den Tagen nach ihrem Erscheinen, als die Welt wieder ein Ort der Mythen wurde, kämpften diese Götter untereinander um die Vorherrschaft, und in dieser schrecklichen Auseinandersetzung wurde unsere gesamte Zivilisation vernichtet. Überall gab es Tod und Zerstörung. Angst schlotternd traten die Überlebenden aus dem Chaos dieser Verwandlung hinaus in eine von Grund auf veränderte Welt, aus der die vertrauten Muster des Lebens verschwunden waren: Es gab keine modernen Kommunikationsmittel mehr, im Land herrschte Anarchie, und die Gesellschaft war zurückgeworfen in ein neues Mittelalter, in dem der Aberglaube regierte. Das Sein selbst hatte sich gewandelt: Magie und Technik standen fortan gleichberechtigt nebeneinander. Es galten neue Regeln, die zu befolgen waren, neue Grenzen, die man nicht überschreiten durfte, und die Menschheit stand nun nicht mehr am Ende der Nahrungskette. Es war ein Zeitalter der Wunder und Schrecken, der Mythen und Angst, ein Zeitalter, in dem das Überleben des Menschen nicht mehr selbstverständlich war. 1 Krähenleben »Bis auf den Tod ist das Leben die traurigste aller Angelegenheiten.« EDITH WHARTON Zwei Stürme. Draußen eines der nächtlichen Unwetter, die den Übergang vom Winter in den Frühling kennzeichneten. Drinnen ein Sturm aus Tod und Verderben. Leichen stapelten sich im dörflichen Gemeindesaal, im abscheulichen Wirrwarr eines mittelalterlichen Beinhauses, auf einem Parkettfußboden, der einst Hochzeiten, Geburtstage und Jubiläumsfeiern erlebt hatte, und im Anbau versperrten die Toten den Blick auf die Esstische, an denen abertausende Mahlzeiten eingenommen worden waren. Selbst auf den früher keimfreien Arbeitsplatten in der Küche stapelten sich die Leichen. Anfangs hatte man sie noch respektvoll nebeneinander aufgebahrt, um Ordnung zu halten in dem unbegreiflichen Chaos. Doch als sich mit der Zeit das volle Ausmaß der Katastrophe offenbarte, war man dazu übergegangen, die Leichen einfach in irgendeiner Ecke aufzustapeln. Bevor das Massensterben so richtig begann, hatte man die Toten noch einzeln bestattet, doch das ließ sich schon bald nicht mehr bewerkstelligen. Inzwischen bestand keine Hoffnung mehr, den Rückstand aufzuholen. Ab und an erwogen die Dorfbewohner praktische Lösungen - Massengräber oder Feuer, Feuer oder Massengräber -, doch das Entsetzen war zu groß, um rational 7 über die weitere Vorgehensweise nachzudenken. Die Leute wussten natürlich, dass die Leichen rasch entsorgt werden mussten, um das Ausbrechen von Infektionskrankheiten zu verhindern - der Gestank raubte Besuchern jetzt schon den Atem und ließ sie würgen -, doch dies würde bedeuten, die Katastrophe anzuerkennen und als unabwendbar zu akzeptieren. Es war nicht allein der Verwesungsgeruch, der den Gemeindesaal in eine Hölle verwandelte. Gelblicher Eiterschleim floss aus den aufgeplatzten, schwarz angelaufenen Beulen, die die Leichen von Kopf bis Fuß verunstalteten. Die eklige Flüssigkeit sammelte sich auf dem Fußboden, klebte unter den Schuhsohlen, verströmte den Gestank verfaulten Obstes. Die Pfleger banden sich, bevor sie den Saal betraten, parfümgetränkte Taschentücher vor die Gesichter, doch dies half nur wenig. Schlimmer noch war, dass es ihnen vorkam, als würden sie sich allmählich an den Gestank gewöhnen, als würde er sich mit jedem neuerlichen Besuch im Gemeindesaal immer mehr in ein leicht zu ignorierendes Ärgernis wie Autoabgase an einem diesigen Morgen verwandeln. Die grauenvolle Szenerie, die sich den Pflegern bot, war fast zu viel für ihre angegriffenen Seelen. Nur das Stöhnen der Sterbenden auf den an der Wand aufgereihten Feldbetten erinnerte sie daran, dass sie noch auf der Erde waren und nicht in der Hölle.
Sie waren zu fünft. Caitlin Shepherd war die Leiterin der Gruppe. Sie war achtundzwanzig, fühlte sich im Moment aber wie siebzig; ihr Körper war zerbrechlich geworden vor Erschöpfung, ihr Geist war ausgelaugt von zu vielen durchgearbeiteten, kummervollen Nächten. Die anderen Pfleger - der ehemalige Vorsitzende des Gemeinderates, ein Jugendlicher und zwei ältere Schwestern, die früher das Postamt geleitet hatten - waren die 8 Einzigen, die willens waren zu helfen. Die übrigen Dorfbewohner hatten sich mit ihren Familien in ihren Häusern verbarrikadiert und drohten jedem mit Gewalt, der töricht genug war, sie besuchen zu wollen. Caitlin zog sich das Gummiband aus dem Haar, nur um es im nächsten Moment wieder überzustreifen. Es war eine nervöse Angewohnheit geworden, die sie im Unterbewusstsein ein wenig von der Vergeblichkeit ihres Tuns ablenkte. Die Frau auf dem Tisch vor ihr hatte soeben mit einem rasselnden letzten Atemzug ihr Leben ausgehaucht. Caitlin hatte sie im Sommer jeden Morgen bei der Gartenarbeit gesehen, konnte sich aber nicht an ihren Namen erinnern. »Wie viele sind es heute Abend?«, fragte sie. Es machte es leichter für sie, in Zahlen zu denken statt an Menschen. Eileen, eine der Schwestern, legte Caitlin eine Hand auf den Unterarm. »Denk jetzt nicht darüber nach. Du solltest dir eine Pause gönnen.« »Wie kann ich mir eine Pause gönnen?« Caitlin wurde schummrig vor Augen, und sie musste sich am Tisch abstützen. »Du hilfst niemandem damit, wenn du dich zugrunde richtest«, sagte Gideon. Der Vorsitzende des Gemeinderates - dessen Mitglieder inzwischen alle gestorben waren - hatte einen scheußlichen dunklen Schleimfleck auf dem Hemd; es sah aus, als hätte man auf ihn eingestochen. »Und ohne unsere Ärztin sind wir aufgeschmissen.« In der grauenhaften Umgebung klang Caitlins Lachen resignierter als beabsichtigt. »Eine Ärztin, die nicht weiß, womit sie es zu tun hat, kann sowieso nichts ausrichten. Ich habe so was noch nie gesehen. In den Lehrbüchern steht nichts darüber. Soweit ich sagen kann, ist 9 dies eine ganz neue Krankheit. Ich habe keine Ahnung, wie man sie behandelt ... Antibiotika wirken nicht. Ich kann es den Betroffenen nur etwas leichter machen, bevor sie sterben.« Und sie starben alle. Ausnahmslos. Das erste Auftauchen der schwarzen Flecken kam einer Todesstrafe gleich. Sie blickte zu den wenigen Medikamentenpackungen auf, die noch im Regal lagen. Bald würde alles aufgebraucht sein, und da es in dem Chaos, das seit dem Untergang im Land herrschte, niemanden gab, der neue Medikamente herstellte, würden sie sich demnächst mit Kräutern und guten Wünschen behelfen müssen. »Trotzdem ist es wichtig, es den Menschen in ihren letzten Stunden so angenehm wie möglich zu machen«, sagte Eileen sanft. »Das genügt aber nicht.« Caitlin nahm das nutzlose Taschentuch vom Mund und massierte ihre müden Augen. »Wir müssen diese Frau ... Mrs ...« »Mrs Waid«, half ihr Eileen. »Mrs Waid ... Wir müssen sie rübertragen.« »Das übernehme ich«, sagte Gideon. »Komm, Timothy, hilf mir.« Der Jugendliche stand wie paralysiert da, starrte in die regengepeitschte Nacht hinaus. »Der Fluss wird über die Ufer treten«, sagte er, als ob dies wichtig wäre. Während Gideon und Timothy die dunkel angelaufene, schleimtriefende Tote zum neuesten Leichenberg im Hauptsaal trugen, umarmte Eileen Caitlin rasch. Es überraschte Caitlin, wie trostvoll sie die Geste fand. »Du solltest wirklich mal eine Pause einlegen ... geh nach Hause zu deinem Mann und deinem Sohn. In Zeiten wie diesen ist die Familie noch wichtiger als sonst. Ruh dich aus, und wenn du zurückkommst, legen wir einen neuen Arbeitsplan fest.« 10 Caitlin schaute die ältere Frau an, als sähe sie sie zum ersten Mal. »Wie schaffst du das bloß?« »Was meinst du?« »Immer weiterzumachen ... nicht zu verzweifeln.« Eileen schien die Frage nicht zu verstehen. »Wir tun einfach, was getan werden muss, oder? Es ist sinnlos, sich zu viele Gedanken zu machen ... damit ist niemandem geholfen.« Caitlin atmete tief durch. »Na schön, ich gehe nach Hause. Aber nur für ein, zwei Stunden.« »Tu das, meine Liebe.« Eileen umarmte sie erneut, und diesmal hätte Caitlin sie am liebsten nicht mehr losgelassen. Der Moment wurde unterbrochen von Daphnes leisem Aufschrei. Eileens ältere Schwester starrte bestürzt auf ihre Hände. Caitlin wusste sofort, was los war. »Oh Gott ...« Sie eilten zu Daphne hinüber, auf deren faltigen Handrücken die ersten schwarzen Seuchenflecken zu erkennen waren. Daphne blickte aus tränengefüllten Augen zu den beiden Frauen auf. »Oh, mein Gott...« Eileen wischte ihre eigenen Tränen fort, doch davon abgesehen blieben die Schwestern gefasst. Schließlich war
ein solcher Fall absehbar gewesen - jeder wusste um das Risiko, sich anzustecken. Die Krankheit befiel nicht jeden; manchmal nur eine Person in einer Familie, manchmal alle Familienmitglieder. Caitlin wusste nicht, welche medizinischen Ursachen dies hatte, vermutete aber, dass regelmäßiger Kontakt mit Erkrankten die Ansteckungsgefahr erhöhte. Caitlin starrte hilflos auf die dürftige Medikamentensammlung. Eileen erriet ihre Gedanken. »Mach dir keine Sorgen — geh nach Hause.« 11 »Ich kann doch jetzt nicht gehen!« »Du weißt genau, dass du mir nicht helfen kannst, Caitlin.« Daphne lächelte schwach; eine einzelne Träne lief ihr über die Wange. Noch lebte, atmete, fühlte und redete Daphne, doch sie war bereits so gut wie tot. In wenigen Stunden würde das Fieber ausbrechen. Sie würde ins Delirium fallen und allen Kontakt mit der Wirklichkeit verlieren, während sich die Krankheit unaufhaltsam durch ihren Körper fraß. Die Flecken bildeten sonderbar gleichmäßige Linien auf der Haut, und wenn sie die Drüsen erreichten, schwollen diese zu dicken schwarzen Eiterbeulen an. Drei bis vier Tage später trat der Tod ein, ohne dass der Patient noch einmal zu sich kam. Caitlins Hilflosigkeit zerriss sie im Innern. All die Jahre an der medizinischen Fakultät und in der Arztpraxis waren wertlos; sie konnte nichts gegen die Seuche tun. »Ich möchte dich nicht allein in diesem Elend zurücklassen«, sagte Daphne zu Eileen; ihre brüchige Stimme verriet die Emotionsfülle, die sich hinter der simplen Äußerung verbarg. Sie hatten ihr ganzes Leben zusammen verbracht, hatten nie geheiratet, hatten sich in schweren Zeiten gegenseitig geholfen und die guten Zeiten miteinander genossen, waren seit Jahrzehnten nicht einen Tag getrennt gewesen. Und nun hatte all das ein Ende. Caitlin tätschelte Daphnes Arm und fluchte innerlich, weil die schlichte Geste nicht einmal im Ansatz ihre Gefühle ausdrückte, doch sie wusste nicht, was sie sonst hätte tun sollen. »Ich glaube, wir brauchen ein bisschen Zeit für uns, Caitlin«, sagte Eileen mit Tränen in den Augen. Sie führte Daphne in eine stille Ecke, wo sie einander in die Arme nahmen. Caitlin beobachtete die beiden Schwestern mit derart 12 intensiven Gefühlen, dass es ihr die Kehle zuschnürte. Das Bild der beiden Frauen fasste alles zusammen, was sie im Laufe des letzten Jahres empfunden hatte: Leid und Kraft, Kummer und Hoffnungslosigkeit. Menschliche Anteilnahme. Zu erschöpft, um zu weinen, zog Caitlin ihren zerschlissenen Allwetter-Parka an und trat in den Sturm hinaus. Der heftig niederprasselnde Regen war kalt, der tosende Wind zerrte an ihr. Und doch fühlte sie sich wie in Watte gepackt, und die harte, unnachgiebige Welt war bloß ein böser Traum. Das Gefühl von Unwirklichkeit war seit dem Untergang immer stärker geworden. Es hatte mit einer vagen Regierungserklärung begonnen, derzufolge es im Land eine ernste Bedrohung gäbe, und anschließend hatte man das Kriegsrecht verhängt, und die Medien hatten die Arbeit eingestellt. Reisen waren nur noch begrenzt möglich, und da das Telefonnetz zusammengebrochen war, beinhalteten alle verfügbaren Informationen eine ungesunde Dosis an Gerüchten, Halbwahrheiten und glatten Lügen. Newcastle sei ausgelöscht. Die Königliche Familie sei im Exil. Eine nukleare Katastrophe, ein Militärputsch, ein Angriff eines - nicht identifizierten - Schurkenstaates, ein aus dem Labor gelangter künstlicher Virus, der eine landesweite Epidemie ausgelöst habe. Letzteres hatte sie immer ausgeschlossen, doch nach den Ereignissen der letzten Wochen war sie zu dem Schluss gelangt, dass dies vermutlich die Wahrheit sei oder zumindest ein Teil der Wahrheit. Vielleicht hatte auch ein Zusammenspiel all dieser Dinge den Untergang verursacht. Wie die Antwort auch lauten mochte, das Leben in den darauf folgenden Monaten war zu schwer gewesen, um sich allzu viele Gedanken über die Gründe für den 13 Untergang zu machen - die ersten Wochen des Fast-Verhungerns, als die Geschäfte und Supermärkte keine Lieferungen mehr bekamen, die langwierigen Bemühungen, ein Verteilungssystem für lokal produzierte Lebensmittel einzurichten, und weitere Monate auf Subsistenzniveau, während neue Produktionsstätten aufgebaut wurden. Aber langsam, ganz langsam waren die Menschen wieder auf die Beine gekommen ... bis die Seuche ausgebrochen war. Caitlin wusste nicht, ob es sich um ein landesweites oder um ein örtlich begrenztes Phänomen handelte. Die Seuche war zu schnell und heftig über sie gekommen, um sich weitergehende Gedanken zu machen. Sie senkte den Kopf in den Sturm und versuchte, den Pfützen auszuweichen, aber ohne Straßenbeleuchtung sah man kaum etwas. Dank einiger Sonnenkollektoren auf einer nahe gelegenen Gesundheitsfarm und einer Windturbine, die ein ortsansässiger Ingenieur aufgestellt hatte, hatten sie tagsüber etwas Strom, doch abends schaltete man ihn ab. Die nationale Stromversorgung war nach wie vor unterbrochen; die Nächte blieben dunkel, bedrohlich und einschüchternd, erfüllt von den Schauergeschichten, die die Abergläubigen unter den Dorfbewohnern erzählten. Es war nur ein kurzes Stück die High Street hinunter, dann musste sie auf den unbefestigten Weg abbiegen, der zu ihrer umgebauten Scheune führte; sie wünschte, sie und Grant hätten damals ein Haus im Dorfzentrum gekauft. Als sie den Weg erreichte, war es dort noch finsterer als im bebauten Gebiet, wo in den Fenstern
wenigstens ein paar Kerzen brannten. Auf beiden Seiten des Weges bildeten die knospenden Bäume und wild wuchernden Büsche eine Mauer aus dichter Vegetation. Bevor sie die High Street verließ, gab sie dem mensch14 liehen Urinstinkt nach und schaute zurück. Und bemerkte etwas Eigenartiges. Seit sie den Gemeindesaal als Kranken- und Sterbehaus nutzten, ließen sie dort auch abends das Licht brennen, und von ihrer erhöhten Position aus konnte Caitlin die hell erleuchteten Fenster über den Hausdächern am hinteren Dorfrand erkennen. Aber als sie sich umgedreht hatte, waren die Fenster einen Moment lang verdeckt gewesen, obwohl ihr nichts die Sicht versperrte. Etwas war am Gemeindesaal vorbeigehuscht, und aufgrund ihrer Perspektive wusste sie, dass es deutlich größer als ein Mensch gewesen war. Das war natürlich unmöglich, sagte sie sich, doch unerklärlicherweise traf die kurze Beobachtung einen Nerv und weckte eine seltsame Furcht in ihr. Sie eilte weiter, über ihr die tief hängenden Äste, die nach ihrer Kapuze zu greifen schienen. Der aufgeweichte Weg war fast eine halbe Meile lang und wand sich um zahlreiche scharfe Biegungen, bevor er die Anhöhe hinaufführte, auf der die umgebaute Scheune stand. Am Hang war der Weg weniger geschützt vor den Elementen, und sie musste sich mit aller Kraft gegen den heulenden Wind stemmen, der ihr dort entgegenschlug. Es war ohrenbetäubend laut, und doch hatte sie den Eindruck, hinter dem Lärm Schritte oder Hufgetrappel zu vernehmen. Der Gedanke war völlig irrational, ja sogar kindisch, löste aber trotzdem ein unangenehmes Bauchkribbeln in ihr aus. Sie schaute erneut zurück, sah aber nichts als Dunkelheit und die schemenhaften Bewegungen der sich hin und her wiegenden Bäume. Versteck dich!, rief eine Stimme in ihrem Kopf. Die Aufforderung klang so drängend und kam so unerwartet, dass Caitlin erschrocken stehen blieb. Sie hatte keinen Grund, sich zu fürchten, aber dann überkam sie aus dem 15 Nichts das Gefühl einer überwältigenden Präsenz; die Empfindung war so furcht einflößend, dass sie sich zwingen musste, nicht Hals über Kopf loszurennen. Dahinten ist jemand. Sie blickte erneut zurück und konnte nichts Verdächtiges erkennen. Siehst du. Langsam wurde sie genauso abergläubisch wie die Dorfbewohner, die davon überzeugt waren, draußen auf dem Land wimmele es von Geistern, Teufeln und mythischen Fabelwesen. Als sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den vor ihr liegenden Weg richtete, erblickte sie erschrocken einen großen schwarzen Vogel, der wenige Meter vor ihr im Schlamm hockte. Es war eine Nebelkrähe, größer als jede, die sie bisher gesehen hatte. Dass in einer so unwirtlichen Nacht ein Vogel vor ihr landete, war schon schaurig genug, aber wie er sie aus wachen Augen anstarrte, jagte ihr einen Angstschauer über den Rücken. Caitlin ging zwei Schritte auf ihn zu, um ihn zu verscheuchen, doch er rührte sich nicht. Sie hatte noch nie etwas so Unnatürliches erlebt. Alles an dem Vogel machte ihr Angst. Sie hatte das beklemmende Gefühl, dass er sie nicht passieren lassen würde. Zögernd gab sie ihrer Irrationalität nach, kletterte über einen Zaun zum angrenzenden Acker und lief zwischen den Bäumen weiter, die den Weg säumten. Sie spähte durchs Gebüsch, aber die Krähe schien verschwunden zu sein. Siehst du, dachte sie, während das feuchte Unterholz ihre Jeans durchnässte. Das hast du jetzt davon, dass du so kindisch warst. Trotzdem wurde das Gefühl, dass jemand sie verfolgte, immer stärker. Was hatte das zu bedeuten? Im stürmenden Wind bewegten sich die Bäume, Büsche und Gräser wie lebendige Wesen. Sie ging weiter und stapfte mühevoll durch die tropfnasse Vegetation, 16 als der Sturm unvermittelt abflaute und nur noch der stakkatoartig von den Ästen tropfende Regen an das Unwetter erinnerte. Caitlin merkte, dass sie den Atem anhielt; ihr Instinkt reagierte auf etwas jenseits ihres Wahrnehmungsvermögens, aber was immer dort draußen war, kam unaufhaltsam näher. Zuerst dachte sie, der Wind würde wieder stärker, aber dann wurde ihr bewusst, dass es Stimmen waren. Das ist Geflüster, erkannte sie schaudernd. Von Leuten, die mit gesenkten Stimmen sprachen, aber keine Anstalten machten, ungehört zu bleiben. Die Wortfetzen schwebten zwischen den Bäumen umher, verschmolzen mit dem Tropf-Tropf-Tropf des Regens und wurden zunehmend lauter. Es klang absonderlich. Caitlin fragte sich, wer um diese Zeit bei so scheußlichem Wetter aus dem Haus ging. Der Weg führte nur zu den vier umgebauten Scheunen, und Caitlin konnte sich nicht vorstellen, dass einer ihrer Nachbarn so seltsam vor sich hin murmelte. Doch während das Geflüster intensiver wurde, wurde Caitlin gewahr, dass sie trotzdem kein Wort verstand. Es hörte sich für sie wie eine fremde Sprache an. Mal klang es wie Russisch oder wie etwas Nordisches, Kehliges, dann plötzlich wie ein schnalzender afrikanischer Stammesdialekt. Ihr sträubten sich die Nackenhaare. Sie hockte sich rasch hin und hielt den Atem an. Zwischen den Büschen war der Weg kaum zu erkennen. Das Geflüster tastete nach ihr wie eisige, ihr Rückgrat hinaufwandernde Finger. Obwohl sie die Worte nicht verstand, klangen sie bedrohlich und unheilvoll und auf merkwürdige Weise zutiefst verzweifelt. Es schien unmöglich, dass diese komplexen Laute von Menschen stammten. 17 Hinter dem Flüstern war Hufgetrappel zu vernehmen; anfangs meinte sie, es wären Pferde, aber als der Boden zu
vibrieren begann, stand fest, dass sich etwas viel Größeres näherte. Wumm-wumm-wumm. Sie musste an eine gewaltige Maschine denken, als die Erschütterungen ihr tief in die Magengrube fuhren. Gleich ist es hier, dachte sie. Das Geflüster drang in ihren Geist ein, ließ sie bibbern vor Angst, beschwor in ihr eine tiefe Niedergeschlagenheit herauf. Es überraschte sie, wie intensiv das Gefühl war. Ihr Instinkt riet ihr, nichts zu tun, was die Aufmerksamkeit ihrer Verfolger wecken würde, aber sie musste einen Blick riskieren. Sie stützte sich mit einer Hand auf dem durchweichten Boden ab und spähte durch die Lücken zwischen den Büschen, als eine Bewegung in ihr Blickfeld rückte. Sie sah nur verschwommene Teile des Ganzen, ein Puzzle aus beunruhigenden Fragmenten, die ihr Verstand trotz der Warnungen ihres Unterbewusstseins zu einem Bild zusammenfügte. Es waren tatsächlich zwei Reiter, deren Rösser allerdings erheblich größer waren als gewöhnliche Pferde: Sie waren riesig, extrem muskulös und schienen ein schuppiges Fell und gespaltene Hufe zu haben. Caitlin versuchte, eine rationale Erklärung zu finden für das, was sie sah, doch ihr fiel nichts Vernünftiges ein. Sie erkannte kaum etwas von den Reitern, doch das bedrohliche Gefühl wurde immer intensiver. Die Beine der Männer waren spindeldürr, als lägen unter den flatternden schwarzen Lumpen, die sie umhüllten, nur die blanken Knochen. Was sie vom Rest der Kleidung erkannte, verstärkte ihre Furcht noch: ein aufgerissenes Kettenhemd, rostige Panzerhandschuhe, zerschlissenes, 18 verschimmeltes Leder. Ein schwerer Lehmgeruch hing in der Luft, als wären die Reiter mitsamt ihren Rössern dem Erdboden entstiegen. Das zischelnde Flüstern war überall. Caitlin rührte sich nicht, schluckte nicht, atmete kaum und betete, dass sie schnell weiterreiten würden. Doch als die beiden sie fast passiert hatten, hielten sie plötzlich an. Das Flüstern erstarb, und irgendwie war die gespenstische Stille noch beängstigender. Sie spüren mich. Aus einem instinktiven, ihr unerklärlichen Gefühl heraus war sie fest davon überzeugt. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Erneut erklang das schwere Hufgetrappel, das nun auf das Gebüsch zukam, hinter dem sie sich versteckte. Konnten sie sie sehen? In der Dunkelheit war dies eigentlich unmöglich. Die Pferde, die keine Pferde waren, kamen näher. Gleich würde der vordere Reiter hinter dem Gebüsch nachsehen. Und welches grauenvolle Wesen würde sie erblicken, wenn sie in das Gesicht aufschaute? Sie sah sich verzweifelt um. Sie konnte versuchen, zwischen den Bäumen davonzurennen; dies würde den Rössern das Vorankommen erschweren, aber früher oder später musste sie hinaus ins offene Gelände. Gerade als sie im Begriff war loszurennen, brach ein Stück den Weg hinunter heftige Aktivität aus. Caitlin konnte kaum nachvollziehen, was geschah: Ein Schrei peitschte durch die Nacht, durch die Büsche waren schemenhafte, flatternde Bewegungen zu erkennen. Die Reiter hielten an. Es war die Krähe, vermutete Caitlin. Einen schmerzvollen Moment lang verharrte sie regungslos. Dann, als sie glaubte, es nicht länger aushalten zu können, rissen die Reiter ihre grotesken Rösser herum und ritten auf die Stelle des Tumults zu. 19 Caitlin kauerte noch fünfzehn Minuten reglos am Boden, bis sie es wagte, sich wieder zu bewegen. Geduckt schlich sie an den Büschen entlang, bis sie das dunkle Feld erreichte und zum Haus rannte. 'Von den Reitern und der merkwürdigen Krähe war nirgends etwas zu sehen. Caitlin stürmte hinein, als hätte sie den Teufel im Nacken, und schloss und verriegelte die Tür in einer einzigen fließenden Bewegung, bevor sie eilig zwischen den Vorhängen in die Dunkelheit hinausspähte. Ein ferner Blitz erhellte einen Moment lang eine Gestalt, die gleich hinter der Auffahrt zwischen den Bäumen stand. Sie hatte den Eindruck, dass es ein Mensch war, obwohl die Gestalt gleichzeitig etwas zutiefst Animalisches ausstrahlte; in dem kurzen Augenblick hatte sie etwas gesehen, das sie an einen Wildschweinkopf erinnerte. Doch als sich nach dem Blitz ihre Augen wieder an das Dunkel gewöhnt hatten, sah sie an der Stelle nur eine knorrige Eibe. Ein Trugbild? »Was ist los?« Grant kam aus der Küche, ein Geschirrtuch und einen Teller in den Händen. Er sah müde aus; das entbehrungsreiche Leben ließ ihn deutlich älter wirken, als er es mit seinen dreißig Jahren war. Aufgeregt und ohne dabei den Blick von der finsteren Landschaft abzuwenden, schilderte sie ihm, was sich auf dem Heimweg ereignet hatte. »Es gibt jede Menge Spinner da draußen«, sagte Grant gleichgültig, bevor er in die Küche zurückging. Verängstigt wie sie war, ärgerte sie seine Reaktion, doch sie verstand ihn: Seine Kräfte waren nun mal nicht unerschöpflich. Es war überaus anstrengend für ihn, aufs Tischlerhandwerk umzusatteln, um die Haushaltskasse aufzubessern, im Dorf Verteidigungsanlagen zu bauen, um der 20 zunehmenden Gesetzlosigkeit auf dem Land entgegenzuwirken, und sich bei alledem auch noch um Liam zu kümmern. Caitlin wartete noch einige Minuten, bis sie überzeugt war, dass die sonderbaren Reiter weitergezogen waren. Dann ging sie Grant nach; sie fühlte sich ausgelaugt nach dem Abflauen des Adrenalinstoßes. Das flackernde Kerzenlicht verlieh der Küche eine traumartige Atmosphäre. »Wie läuft's?« Grant stellte das Geschirr in den Schrank, ohne ihre Antwort abzuwarten. »Auf dem Herd steht
noch etwas Eintopf. Ich habe ihn aufgehoben, für den Fall, dass du mal wieder nach Hause kommst.« Sein vorwurfsvoller Tonfall machte sie wütend. Glaubte er etwa, dass sie nicht lieber bei ihrer Familie sein wollte? Dass es ihr Spaß machte, unter immensem Stress ihr Leben zu riskieren und sich tagelang nicht auszuruhen? Sie biss sich auf die Unterlippe, denn sie wusste, dass eine flapsige Erwiderung nichts Gutes bewirken würde. »Das ist lieb«, sagte sie und tauchte einen Löffel in den Kochtopf, um von der Suppe zu kosten. »Danke, dass du mir was aufgehoben hast. Ich esse, sobald ich bei Liam war. Er ist noch wach, oder?« »Er ist in seinem Zimmer.« Grant fuhr fort, das Geschirr wegzuräumen, dann fügte er an: »Er vermisst seine Mutter im Haus.« Oberflächlich betrachtet schien es bloß eine achtlos geäußerte Bemerkung zu sein, doch ihr kamen die Tränen, und sie spürte ein schmerzhaftes Brennen in der Kehle. »Ich geh rauf.« Sie eilte los, bevor der Gefühlsausbruch sie überwältigen konnte. Liam lag in seinem SK8board-Py)ama im Bett und blätterte in einem alten Digimon-Jahrbuch. Da es im Mo21 ment praktisch keine Popkultur gab, fanden alte Favoriten neuen Anklang. Sie hatten sich bemüht, sein Zimmer so normal aussehen zu lassen wie vor dem Untergang: An den Wänden hingen Poster, und auf dem Nachttisch stand eine Playstation2 und schlummerte vor sich hin wie ein antikes Röhrenradio. Liam setzte sich mit einer Energie auf, mit der verglichen sie sich alt und müde fühlte. »Mommy!« Mit dem leidenschaftlichen Überschwang der Jugend schlang er die Arme um sie, und sie drückte ihn ihrerseits fest an sich, spürte sein Haar an der Wange und seine Wärme und die Zartheit seines kindlichen Körpers; sie merkte, wie sehr sie ihn vermisst hatte, und blinzelte die Tränen aus den Augen. »Du arbeitest zu viel!«, sagte er. »Daddy meint, du würdest dich zu sehr verausgaben.« Er rutschte ein Stück zur Seite, damit sie zu ihm ins Bett steigen konnte. »Komm unter die Decke, Mommy, hier ist es gemütlicher.« Er kuschelte sich an sie. »Es gibt viele Menschen, die meine Hilfe benötigen«, sagte sie. »Es ist Mommys Arbeit, und die Leute wären sehr traurig, wenn ich mich nicht um sie kümmern würde.« Die Hohlheit ihrer Worte hallte ihr in den Ohren wider. »Aber Daddy und ich brauchen dich auch, Mommy.« »Ich weiß. Und jetzt bin ich ja hier, siehst du, ich bin hier.« Sie drückte ihn spielerisch an sich und ließ ihn sich aus der Umarmung herauswinden. »Soll ich dir etwas vorlesen?« Sie nahm die eselsohrige Ausgabe von Der kleine Hobbit, durch die sie sich seit einer Weile langsam durcharbeiteten. Caitlin glaubte, das Vorlesen mehr zu genießen als Liam; angesichts der Welt jenseits ihres Hauses war der Eskapismus, den das Buch bot, für sie vermutlich noch wichtiger als für ihren Sohn. 22 »Nein, heute nicht«, sagte er zu ihrer Enttäuschung. »Erzähl mir eine Geschichte.« Der Regen hatte wieder eingesetzt und trommelte beharrlich ans Fenster. Das Geräusch vermittelte ihr ein trügerisches Gefühl von Sicherheit, während sie sich unter der Decke an Liam kuschelte und seine erwartungsvolle Unschuld genoss. Sie schloss die Augen und überlegte. »Okay«, sagte sie nach einer Weile, »vor langer Zeit gab es ein großes, mächtiges Königreich, dessen Bewohner hart arbeiteten, und wenn sie nicht arbeiteten, genossen sie ihre Freizeit und glaubten, die Herren der Schöpfung zu sein. Sie hatten hervorragende Wissenschaftler, die tief ins Universum schauen und die kleinsten Teile der Materie, die Atome, betrachten konnten. Und es gab unter ihnen Geschäftsleute, die für die Schatzkammern des Königreichs Millionen Pfund verdienten, und Soldaten mit schrecklichen Waffen, die jeden Feind vernichten konnten. Zumindest dachten sie das. Und die Menschen glaubten, die Dinge würden immer nur besser werden.« »Aber so war es nicht, stimmt's?« »Nein. Eines Tages erwachten sie und entdeckten, dass sich alles verändert hatte. Sie waren nicht mehr die Herren der Schöpfung. In der Nacht waren mächtigere Wesen erschienen und hatten alle Regeln auf den Kopf gestellt. Die Wissenschaftler waren nicht mehr wichtig, denn plötzlich gab es Dinge, die sie nicht erklären konnten. Und die Soldaten fanden heraus, dass ihre Waffen längst nicht so wirkungsvoll waren, wie sie gedacht hatten.« »Wer waren diese Wesen? Außerirdische?« Liams Stimme klang schläfrig. »Ich nehme an, man könnte sie so nennen. Niemand 23 wusste, wer oder was sie in Wirklichkeit waren, aber es hatte sie schon seit langer Zeit gegeben. Sie hatten dieses Königreich schon vor hunderten, vor lausenden von Jahren besucht, und damals hatte man sie für Götter gehalten. Du weißt schon, so wie bei Herkules.« »Hmm.« »Und sie brachten all die magischen Wesen mit, die Kinder aus Märchen kennen. Alle hatten gedacht, diese Wesen seien bloß Ausgeburten der Fantasie, aber das waren sie nicht, sie waren echt... und sie waren ganz anders als in den Märchen. Vor all den Jahren hatten die einfachen Leute im Königreich Geschichten niedergeschrieben und Legenden weitererzählt, um diese Wesen irgendwie zu erklären, aber im Laufe der Zeit wurden die Geschichten immer stärker verändert, und Ausgedachtes hat sich mit wahren Begebenheiten
vermischt.« Liams Atmung war gleichmäßig, doch Caitlin spürte die leichten Bewegungen seiner Gesichtsmuskeln am Arm, wenn seine Lider als Antwort auf ihre Worte zuckten. »Es sah aus, als würde das Königreich untergehen. Die Regierung fiel auseinander, und die Soldaten verloren eine Schlacht nach der anderen, und keiner wusste, was zu tun war und wie die Dinge fortan funktionierten, denn plötzlich gab es überall Magie, die niemand begriff. Aber in Zeiten wie diesen - du weißt schon, Katastrophen, Krisen ...« Sie sprach nun zu sich selbst, verloren in den Bildern, die wie gleißende Blitze in ihrem Geist aufflammten. »... sind es nicht die großen, wichtigen Leute, die uns retten - die Könige und Königinnen und Politiker und Generäle -, sondern ganz normale Menschen. Menschen, die an sich glauben, die so sehr an das Gute glauben, dass sie allen Gefahren zum Trotz dafür kämpfen. Und so erschienen eines Tages fünf Männer 24 und Frauen, um die ... die Götter anzugreifen. Ihre Namen waren ...« Sie versuchte sich an die Einzelheiten der abstrusen Geschichte zu erinnern, die ihr die abergläubischen Dorfbewohner erzählt hatten und die sie so gerne damit aufzog. »... Church, Ruth, Laura, Ryan und Shavi. Und einige behaupten, die fünf hätten gewonnen. Zumindest wurde das Königreich nicht vollständig zerstört, und die Götter zogen sich in ihre Verstecke zurück, doch was aus den fünf Helden geworden ist, weiß niemand ... Aber die Dinge konnten nicht mehr so sein wie früher. Die Menschen kannten die neuen Regeln nicht, und alles, woran sie glaubten, hatte sich in nichts aufgelöst. Sie mussten wieder ganz von vorne anfangen und versuchen, sich ein neues ... ein besseres Königreich zu erschaffen. Aber es war sehr, sehr schwer, und viele hofften - und beteten dafür -, dass diese fünf Helden - falls es sie denn wirklich gab - zurückkehren und ihnen abermals helfen würden.« Ein Windstoß am Fenster riss sie aus der Träumerei. »So geht jedenfalls die Geschichte. Einiges davon mag stimmen, anderes haben sich die Menschen ausgedacht, aber so ist das eben mit Märchen.« Sie blickte auf Liam hinab und sah, dass er eingeschlafen war. Märchen, um die Welt lebenswerter zu machen, dachte sie. Um uns die hinter den Ereignissen stehende Wahrheit zu erklären. Plötzlich kehrte sie in Gedanken zu dem Moment von Liams Geburt im St. James' Hospital in Leeds zurück; Grant war dabei, und das Sonnenlicht strömte durch die Fenster. Es war das letzte Mal gewesen, dass sie so sehr im Jetzt gelebt hatte, dass das, was mit ihr geschah, alle bewussten Gedanken auslöschte. Die konzentrierte Hoffnung dieser wenigen Stunden und der unerschütterliche Glaube, dass alles nur besser werden konnte, 25 waren auch rückblickend noch so berührend, dass sie ihre aufsteigenden Tränen spüren konnte. Liam war in einer schwierigen Zeit gekommen. Sie hatte mit ihrem Medizin-Studium gerade erst angefangen, und der lange Weg der späten Nächte, der drögen Fachbücher und schweren Examen lag noch vor ihr. Die große, alles entscheidende Frage hatte sich von dem Moment an gestellt, als der Schwangerschaftstest für den Hausgebrauch im Mülleimer gelandet war: Sollte Grants Architektur-Studium Vorrang bekommen oder ihr eigenes großes Ziel? Wer sollte seinen Berufswunsch aufgeben und sich um Liam kümmern? Eine Abtreibung kam nicht in Frage. Die Länge der beiden Studiengänge bedeutete, dass es nach der Entscheidung kein Zurück mehr gab; es war eine einmalige, ihr weiteres Leben bestimmende Wahl, ein Opfer und eine Verpflichtung, die für die Ewigkeit galten oder in späteren Jahren zu einer tiefen Verbitterung führen könnten. Caitlin hatte sich bereits entschlossen, ihr Studium aufzugeben, als Grant sie auf dem Handy angerufen und sie gebeten hatte, sich mit ihm im Roundhay Park zu treffen, wo ihre erste Verabredung stattgefunden hatte, fernab von Leeds' lärmendem Stadtzentrum und dem inzestuösen Klatsch auf dem Universitäts-Campus. Als sie im Park erschien, hatte sie Grant in der sommerlichen Morgensonne auf derselben Decke sitzen sehen, die er zum ersten gemeinsamen Picknick mitgebracht hatte, mitsamt einem Korb voller kulinarischer Köstlichkeiten. Der Moment besaß etwas - die Art des Lichts, der Duft des sattgrünen Rasens, Grants rätselhaftes Lächeln und die Offenheit in seinen Augen -, das ihre Gefühle greifbar machte, und in diesem Augenblick wurde ihr einmal mehr bewusst, wie sehr sie ihn liebte und dass sie sich niemals nach einem anderen Mann sehnen würde. Es 26 würde bloß sie beide geben, sie beide und ihr gemeinsames Kind, und daran war überhaupt nichts Erschreckendes; es fühlte sich richtig an. »Ich werde mich um das Baby kümmern«, hatte er gesagt, noch bevor sie sich zu ihm gesetzt hatte. »Nein.« Sie hatte versucht, ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen zu bringen. »Ich habe schon beschlossen ...« »Ich wusste, dass du versuchen würdest, es mir auszureden, und deshalb habe ich bereits alle meine Bücher und meine Utensilien zum Zeichnen verkauft und mich offiziell exmatrikuliert. Es gibt kein Zurück mehr.« »Grant!«, hatte sie entsetzt ausgerufen. »Seien wir doch ehrlich, Caitlin, ich würde bestenfalls ein mittelmäßiger Architekt sein. Du dagegen bist brillant. Also gebe ich mein Studium auf, nicht du.« Sie starrte ihn verblüfft an. »Du wolltest es mehr als ich, das weißt du ganz genau.« »Dann stehst eben du bis zum Hals in meiner Schuld.« Er hatte gelächelt und eine Wasserflasche geöffnet; sie hatte ein paar Tränen vergossen, die sie vor ihm verbarg, um nicht seinen gnadenlosen Spott auf sich zu ziehen, aber zum ersten Mal im Leben war sie davon überzeugt gewesen, dass alles perfekt werden würde.
Als Caitlin aus Liams Zimmer kam, saß Grant mit einem Glas selbst gebrautem Bier am Küchentisch und wirkte todmüde. Auch sie fühlte sich ausgelaugt, doch nach der kurzen Unterbrechung mit Liam beherrschte sofort wieder die harsche Realität der Seuche ihre Gedanken. Seit dem Untergang verließ sich die Dorfgemeinschaft mehr auf sie, als sie es sich als einfache praktische Ärztin jemals hatte träumen lassen. In einer plötzlich aus den Fugen geratenen Welt war sie ein Symbol für Stabilität, 27 eine Art Dorfweise, die für jeden einen Rat hatte und jedermanns Krankheiten heilte. Sie forderten mehr von ihr, als sie zu geben imstande war - als einzige Ärztin in der Gegend stand sie sieben Tage die Woche, vierundzwanzig Stunden am Tag auf Abruf bereit —, doch ihr Pflichtbewusstsein war stärker als der Wunsch, ihrer anstrengenden Arbeit zu entfliehen. Im Wohnzimmer nahm sie einen Stapel medizinischer Bücher aus dem Regal und setzte sich an den Tisch, auf dem eine Kerze brannte. In den letzten Monaten hatte sie eine umfangreiche Fachliteratursammlung zusammengetragen, um ihre Wissenslücken zu schließen, doch in keinem der Bücher hatte sie einen Hinweis auf eine Krankheit finden können, deren Symptome sich mit denen der Seuche deckten. Einige Aspekte erinnerten sie an das, was sie über die Beulenpest gelesen hatte, doch die Geschwindigkeit und die schwarzen Hautverfärbungen wiesen eher auf die septikämische Pest hin, die im Mittelalter viel seltener gewesen war, aber vom gleichen yersinia-pesfjs-Bakterium übertragen wurde. Wie der gegenwärtige Ausbruch hatte auch sie eine Todesrate von annähernd hundert Prozent gehabt, und beunruhigenderweise hatte man nie ein Mittel dagegen gefunden. Doch die mit der septikämischen Pest einhergehenden Hautflecken, von denen der Name Schwarzer Tod herrührte, wurden durch die Streuung intravaskulärer Gerinnungsherde verursacht, die auf großen Hautbereichen sichtbar waren und nicht als die scharf abgegrenzten, fleckigen Linien, die bei dieser Krankheit entstanden. Caitlin hatte bei keiner ihrer Autopsien eine Ursache für dieses Symptom finden können. Sie fragte sich, ob es sich vielleicht um eine unbekannte Tropenkrankheit handelte — die Heftigkeit des Angriffs auf den menschlichen Körper glich jedenfalls 28 der des Ebola-Virus —, aber selbst wenn sie einen Virus identifizieren könnte, würde sie ohne die Hilfe eines hochmodernen medizinischen Labors nichts gegen die Krankheit tun können. Die Seuche war im Dorf wie aus dem Nichts ausgebrochen. Eines frühen Morgens hatte man sie gerufen, um einen Bauern zu behandeln, der seltsame schwarze Hautflecken und hohes Fieber hatte. Der Mann war auf dem Markt in Fordingbridge gewesen, um einen weiteren Zweig im Lebensmittelverteilungssystem zu organisieren, doch bei seiner Rückkehr hatte er gegenüber seiner Familie mit keinem Wort von irgendeiner Erkrankung gesprochen. Innerhalb eines Tages waren überall im Dorf zahllose neue Krankheitsfälle aufgetreten. Caitlin hatte versucht, die Ausbreitung zurückzuverfolgen, doch schnell wurde offenkundig, dass auch Leute erkrankten, die keinen Kontakt miteinander gehabt hatten. Die einzige Erklärung war, dass es aus der Luft kam - ein niederschmetterndes Szenario mit katastrophalen Folgen. Ohne landesweites Kommunikationssystem gab es kaum Informationen aus anderen Regionen, aber zu diesem Zeitpunkt war sie schon von aberdutzenden Toten und Sterbenden umgeben gewesen und hatte ohnehin für nichts mehr Zeit außer für die Entsorgung der Leichen. »Was machst du?« Sie erschrak. Grant stand in der Tür, das Bierglas in der Hand. Sie konnte sein im Schatten liegendes Gesicht nicht erkennen. »Ich recherchiere. Wenn ich den Genotyp der Seuche bestimmen kann, würde dies einen Hinweis liefern auf ...« »Wir haben dich seit Tagen nicht gesehen. Kannst du deine Arbeit nicht wenigstens heute Abend mal sein lassen?« 29 Sie kannte den Tonfall und wusste, was als Nächstes kommen würde. »Grant ...« »Nein. Komm mir jetzt nicht wieder mit deinen Entschuldigungen. Du bist kaum noch Teil dieser Familie ...« »Ich habe Pflichten!« Ihre Stimme überschlug sich, und Tränen der Frustration schössen ihr in die Augen. Sie hatte sich vorgenommen, ruhig zu bleiben, und es kaum eine halbe Minute durchgehalten; der unerträgliche Stress, unter dem sie stand, drückte förmlich von innen gegen ihre Haut, versuchte aus ihr herauszubrechen. »Uns gegenüber hast du auch Pflichten.« Grant war kühl und distanziert, aber unter der Oberfläche schwelte sein Zorn. Caitlin senkte den Blick und starrte auf die Buch-Illustration eines Virus. Sie hatte diesen Streit in letzter Zeit in so vielen unterschiedlichen Tonarten erlebt, von verzweifelt bis fuchsteufelswild, dass sie nicht mehr die Kraft besaß für eine weitere Neuauflage. »Ja, die Menschen brauchen ihren Arzt«, fuhr Grant fort. »Aber wir brauchen dich auch. Du bist überhaupt nicht mehr hier. Du denkst nicht mal an uns, wenn du dort draußen bist...« »Woher weißt du, woran ich denke?« Sie zuckte zusammen; ihre Erwiderung war zu aggressiv gewesen - damit würde sie den Streit nur verschärfen und ihn auf die nächste Ebene heben. »Ich weiß es eben. Ich kann es in jedem Aspekt deines Verhaltens erkennen ... in allem, was du tust. Wir stehen dir bloß im Weg. Du verbringst keine Zeit mit uns, verschwendest keinen Gedanken an uns. Wir sind unwichtig.
Warum kannst du deinen Beruf nicht mal für eine Weile vergessen?« »Weil dort draußen Menschen sterben!« 30 »Hier sterben auch Menschen ... sie werden älter ... die Zeit verrinnt unaufhaltsam ...« »Du weißt genau, was ich meine«, entgegnete sie mürrisch. »Wir schlafen nicht mal mehr miteinander ...« »Oh Gott, wenn ich mir das noch einmal anhören muss ...« »Es geht nicht bloß um Sex! Es ist symptomatisch für alles andere. Es geht um Intimität, jemandem nahe zu sein, den man liebt ...« Er knallte das Glas so heftig auf den Tisch, dass das Bier überschwappte. »Ich bin zu müde für Sex!« Ihre Emotionen brachen einer Sturmflut gleich aus ihr heraus. »Ich bin völlig fertig ... verängstigt und viel zu ... ach, ist doch egal!« Die nachfolgende Stille war erfüllt von ihren Schuldgefühlen und dem Ärger darüber, ihren Emotionen nachgegeben zu haben. »Was ist aus uns geworden, Caitlin?« Grants Stimme war wie Glas. »Wir genießen nicht mehr, was wir haben ... wir existieren bloß noch. Früher haben wir ununterbrochen genossen ...« »Früher, früher, früher, das ist alles, worüber du sprichst!« »Hör zu«, sagte er. »Wir müssen irgendetwas tun, um unsere Beziehung wieder hinzubekommen, sonst...« »Sonst was?« Sie sprang vom Stuhl auf und stürmte durchs Zimmer. »Sonst was? Willst du mich verlassen? Dann geh doch!« Sie schob sich an ihm vorbei, nahm ihre Jacke und marschierte hinaus in die Nacht. In der Ferne flammten in regelmäßigen Abständen Blitze am Himmel auf. Es regnete nicht mehr, aber die Bäume ringsum schwankten im Wind noch immer hin und 31 her wie lebendige Wesen. Caitlin stemmte sich gegen den Sturm, verloren in ihren aufgewühlten Emotionen. Sie dachte weder an das, was sich auf dem Heimweg ereignet hatte, noch an die Seuche oder an all das Leid, das der Untergang über die Menschen gebracht hatte. Nach zehn Minuten merkte sie, wo ihr Unterbewusstsein sie hinführte. Die Fenster von Mary Holdens Haus leuchteten im rötlichen Lichtschein eines Kaminfeuers. Das weiße Landhaus stand am Dorfrand, getarnt durch jahrelangen Rebenbewuchs und umgeben von einem wilden Garten, der auf allen Seiten so ungezügelt wucherte, dass es schien, er würde in die behagliche Wärme des Hauses durchzubrechen versuchen. Es war Caitlin unangenehm, zu so später Stunde vorbeizuschauen, doch Mary war in den schweren Monaten nach dem Untergang eine gute Freundin geworden und würde sie bestimmt nicht abweisen. Mary antwortete sofort auf Caitlins Klopfen und bat sie herein. »Warum bist du bei so einem Mistwetter draußen?«, fragte sie. Mary war Anfang sechzig, sah aber viel jünger aus: Ihr langes graues Haar besaß einen strahlenden Glanz und war mit einem schwarzen Band zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden; sie trug ausgewaschene Jeans und ein übergroßes weißes T-Shirt, das aussah, als wäre es des Öfteren in die Buntwäsche gelangt. »Sind dir die Kräuter ausgegangen?«, fuhr sie fort. »Ich habe einen neuen Stoß fertig. Sind aber noch nicht getrocknet. « »Nein, es ist ...« Plötzlich konnte Caitlin die Tränen nicht mehr zurückhalten. »Was ist los?« Mary legte Caitlin einen Arm um die Schultern und führte sie zu der behaglichen Wärme des Kaminfeuers. Das Haus besaß einen exotisch würzigen Geruch von den Kräutern und Wildpflanzen, die Mary 32 sammelte und zu medizinischen Kräutermischungen oder Weihrauch verarbeitete; das Esszimmer war voll gestopft mit Einmachgläsern, in denen die getrockneten Produkte lagerten. Mary wusste alles, was es über die verschiedenen Anwendungsgebiete zu wissen gab, und versorgte Caitlin regelmäßig mit geheimnisvollen Pflanzen- und Kräutermischungen, um den schwindenden Medikamentenvorrat im Gemeindesaal aufzufüllen. Die bemerkenswerten Heilerfolge der Mittel, die Mary ihr zusammenstellte, hatten Caitlin veranlasst, sich voll und ganz auf das Wissen der älteren Frau zu verlassen. Anfangs bekam Caitlin kein Wort heraus - die Tränen wollten nicht versiegen, ihre Kehle war wie zugeschnürt -, deshalb setzte sie sich auf das gemütliche alte Sofa vor dem Kamin, während Mary in die Küche ging und ihr einen Kräutertee zubereitete. »Hier, nimm.« Mary reichte ihr eine angeschlagene Tasse. »Schmeckt wahrscheinlich eklig, aber heutzutage gibt's anderswo auch nichts Besseres.« »Manchmal frage ich mich, warum ich überhaupt weitermache«, sagte Caitlin. »Alles ist so sinnlos.« »Du weißt, dass das nicht stimmt.« Mary setzte sich zu ihr und streckte die Beine aus. »Alles hat einen Sinn, selbst wenn man ihn nicht erkennt. Aber das möchtest du bestimmt nicht hören, stimmt's? Was ist los?« Mary strahlte etwas Friedfertiges aus, das Caitlin äußerst beruhigend fand. In den Augen der Dorfgemeinde nahm Mary eine ähnliche Position ein wie sie. Die meisten der Dorfbewohner hatten irgendwann vor Marys Tür gestanden und ersuchten sie in zunehmendem Maße um medizinischen Rat oder um Heilkräuter, die sie bei Caitlin nicht bekamen. Nun war Caitlin die Ratsuchende und sprach über die Seuche und über ihre Befürchtungen, dass das ganze Dorf ausgelöscht werden könnte, 33
und über ihre Schuldgefühle, weil sie nichts dagegen tun könne. Und wider besseres Wissen erzählte sie von Grant und der wachsenden Kluft zwischen ihnen und wie ihre Beziehung ihnen zu entgleiten schien, obwohl sie es beide nicht wollten. Mary hörte aufmerksam zu und nickte an den richtigen Stellen. Als Caitlin fertig war, lächelte Mary traurig und sagte: »Die Sache liegt doch auf der Hand, findest du nicht? Selbst stärkere Frauen als du würden unter einem derartigen Druck ins Wanken geraten. Du musst dich nicht grämen, wenn du nicht alles perfekt unter einen Hut bekommst.« »Tu ich aber. Die Menschen verlassen sich auf mich.« »Du bist nicht Supergirl, verstehst du?« Marys schwarzer Kater erschreckte sie, als er aus dem Schatten neben dem Sofa auf Marys Schoß sprang. Mary hatte ihn Arthur Lee genannt, nach einem Sechzigerjahre-Sänger, den sie seit ihrer Hippie-Jugend bewunderte. »Was soll ich denn tun?«, fragte Caitlin. »Ich sage es ja ungern, aber ich finde, Grant hat Recht.« Caitlin musterte sie argwöhnisch. »Im Leben geht es darum, im Gleichgewicht zu bleiben. Du bist im Moment völlig aus der Balance geraten. Zu viel Yin, nicht genug Yang. Du hilfst niemandem damit, wenn du dich zugrunde richtest.« »Ich fühl mich aber zu fertig, um ...« »Dann tu etwas dagegen. Dies sind harte Zeiten, Caitlin, aber es ist schon schlimmer gewesen ... nicht für uns, aber früher. Es ist leicht, sich in all dem Elend zu verlieren, obwohl wir das Leben doch eigentlich genießen sollten. Denn noch können wir es genießen.« Einen Moment lang nagte Mary nachdenklich an der Unterlippe, bevor sie hinzufügte: »Und wenn du nichts dagegen 34 hast, dass ich meine Nase in deine Intimsphäre stecke, dann solltest du endlich wieder mit Grant schlafen.« Caitlin blickte ruckartig auf; diesen Aspekt hatte sie mit keinem Wort erwähnt. »Komm schon. Man merkt es doch ganz deutlich.« Sie ließ ihre Fingerknöchel knacken wie ein Hafenarbeiter. »Manchmal fällt es einem schwer, die nötige Kraft aufzubringen, aber man wird belohnt, wenn es einem gelingt. Sex ist der Klebstoff einer Beziehung, Caitlin, und genau darum dreht sich alles im Leben. Es ist das Gegenteil von Tod, von Aufgeben, davon, sich überwältigen zu lassen von ...« - sie machte eine Handbewegung in Richtung Fenster - »... von dem dort draußen. Betrachte es symbolisch.« »So einen Satz bekommt man von Männern nie zu hören.« Sie lachten, umhüllt vom Feuerschein und der Wärme, während draußen der Wind an den Fensterrahmen rüttelte. »Ich weiß es zu schätzen, dass ich so spät noch zu dir kommen kann.« »Du weißt doch, du bist die Tochter, die ich nie gehabt habe«, sagte Mary sardonisch. »Nein, im Ernst.« »Ich bin eben ein Magnet für Obdachlose und streunende Tiere.« Arthur Lee drehte sich auf ihrem Schoß um, damit sie ihn hinter den Ohren kraulen konnte. »Wir müssen uns zusammenreißen, und zwar so sehr wie noch nie.« Mary war ernst und nachdenklich, und allein in ihrer Nähe zu sein hatte schon eine beruhigende Wirkung auf Caitlin. Mary gehörte zu den Menschen, die viel größer wirkten, als sie tatsächlich waren. »Meinst du wirklich, dass es das wert ist?« 35 »Die Uhr wurde zurückgestellt, Caitlin. Wir haben die einmalige Gelegenheit, diesmal alles richtig zu machen. « »Du findest, all die Toten und das viele Leid sind das wert?« »Es so zu betrachten ist falsch, denn wir sehen nicht das große Gesamtbild - wir stehen zu dicht davor. Aber eins weiß ich: Die Welt, wie wir sie vorher hatten, war nicht so, wie sie hätte sein sollen. Die Menschen haben einfach bloß ... existiert. Sie waren nicht wirklich glücklich. Sie haben gearbeitet und mehr besessen als ihre Eltern und ein paar Jahre länger gelebt, aber glücklich waren sie nicht. Alles in der Gesellschaft war dazu ausgerichtet, das System, den Status quo zu erhalten, denn davon haben viele Leute profitiert. Alle anderen schwammen einfach mit. Ist das ein lebenswertes Dasein?« »Sag das mal den Leichen im Gemeindesaal. Ich wette, sie hätten ihr altes Leben liebend gerne zurück, egal wie eintönig es war.« Mary lächelte, aber es war nicht zustimmend gemeint. Sie schob Arthur Lee vom Schoß und ging zu einem Wandregal, in dem eine Reihe eselsohriger Vinylschall-platten standen. »Die sind jetzt nutzlos«, sagte sie, »aber ich behalte sie aus Sentimentalitätsgründen.« Lachend ging sie die Schallplatten durch, zog eine heraus und reichte sie Caitlin. Die Platte war von einer Band namens Love und hieß Forever Changes, und die Hülle zeigte eine Reihe psychedelisch eingefärbter Köpfe vor einem weißen Hintergrund. »Ich kenne die Gruppe nicht«, sagte Caitlin und wusste nicht so recht, worauf Mary hinauswollte. »Ich weiß gar nicht mehr, wann ich zum letzten Mal Musik gehört habe.« »Love ist eine Band aus den Sechzigerjahren«, sagte 36 Mary. »Sie hatten im Untergrund eine große Anhängerschar, haben aber nie den Durchbruch geschafft, weil sie
sich weigerten, sich mit der rein auf Kommerz ausgerichteten Musikindustrie einzulassen. Sie waren brillant. Na ja, jedenfalls wurde mal etwas über sie geschrieben, das mir nicht mehr aus dem Kopf ging, und zwar Folgendes: >Love waren die perfekte Mischung aus der Schönheit und Angst, die die Sechzigerjahre kennzeichneten^ Und genau das haben wir heute wieder, Schönheit und Angst.« »Schönheit wohl weniger.« »Sie ist da, wenn es einem gelingt, am Schmutz und am Elend und an den Toten vorbeizuschauen. In gewisser Weise gleicht die heutige Zeit den Sechzigern.« Caitlins ungläubiger Gesichtsausdruck ließ Mary auflachen. »Es war eine richtungweisende Ära, in der sich vieles verändert hat. Dieses eine Mal waren junge Menschen kurz davor, die Gesellschaft umzuformen. Es waren keine alten Säcke wie ich. Es waren junge Menschen - jünger als du. Man brach aus den repressiven Zwängen aus und bewegte sich auf die Freiheit zu ... auf Hoffnung und Optimismus. Spiritualität - Magie, wenn man möchte - war wieder angesagt, und es herrschte eine aufrichtige, wirklich ernst gemeinte Nächstenliebe unter den Menschen. Eine Weile schien es, als würde sich das Leben tatsächlich in diese Richtung entwickeln ... auf ein goldenes Zeitalter zu.« »Und dann kam die Natur des Menschen ins Spiel.« »Du bist eine Zynikerin«, schalt Mary sie. »Nein, das war es nicht. Die menschliche Natur besteht im Wesentlichen aus dem, was ich gerade aufgezählt habe - aus Hoffnung ... Sehnsucht ... Freiheitsliebe ... dem Wunsch nach Spiritualität. Aber es gibt eine winzige Gruppe, der es immer gelingt, an die Spitze der Gesell37 schaft zu gelangen. Auf der Straße würde man keinen zweiten Blick an sie verschwenden - sie sind langweilig, verschmelzen mit der Umgebung. Aber ihr Fluch ist es, keine Vorstellungskraft zu besitzen, und das ist etwas Furchtbares. Wenn man Vorstellungskraft besitzt, sorgt man sich um die Gefühle seiner Mitmenschen, weil man sich in ihre Lage versetzen kann, man sorgt sich um seinen Platz in der Welt und in der Geschichte. Diesen Menschen ist bewusst, dass es ihnen an Vorstellungskraft mangelt, und diesen Mangel versuchen sie durch Macht zu ersetzen, und sie tun alles, um an die Spitze zu gelangen - ohne Skrupel.« »Ist das deine Verschwörungstheorie?«, fragte Caitlin mit einem schiefen Lächeln. »Es ist keine Verschwörung. Man hat diese Leute ständig um sich, denkt aber nie schlecht über sie, weil sie so langweilig sind. Sie waren diejenigen, die Kennedy umgebracht haben - beide Kennedys -, Martin Luther King, John Lennon; sie haben Charles Manson fehlgeleitet, die Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg gesprengt und die Hippiebewegung zerstört. Sie sind diejenigen, die die Sechzigerjahre kaputtgemacht haben.« Caitlin winkte kichernd ab. »Lach ruhig, Mädchen, aber es stimmt. Diese Leute finden keinen Gefallen an positiven Dingen, am Licht und an Freiheit und Hoffnung, denn in so einer Atmosphäre können sie nicht existieren. Jetzt, wo das Land auf den Kopf gestellt ist ... wo es offenbar keine Regierung mehr gibt... sind wir an einem Punkt, wo wir wieder in die richtige Richtung gehen können, wenn ein paar anständige Menschen dem Rest den Weg weisen. Aber die Verhinderer halten sich im Moment bloß verborgen, und ich wette, dass sie bald wieder ihre hässlichen, langweiligen Häupter erheben und versuchen 38 werden zu verhindern, dass aus all dem Leid vielleicht etwas Gutes erwächst.« Caitlin blickte lächelnd ins Kaminfeuer. Je mehr sie über Mary erfuhr, desto mehr mochte sie sie. Mary war eine eigenartige Mischung aus Härte, die sie sich während ihrer Zeit als Krankenschwester in der Psychiatrie angeeignet hatte, und Optimismus, den sie meistens verbarg, um ihr hartes Image aufrechtzuerhalten. Caitlin konnte ihr den ganzen Tag zuhören. Doch als sie aufschaute und Marys besorgten Blick sah, wusste sie, dass Mary ihren leidenschaftlichen Diskurs nur vorgetragen hatte, um Caitlin von ihren Problemen abzulenken. »Ich habe vorhin etwas gesehen.« Caitlin suchte die richtigen Worte, um das Erlebnis zu schildern, das sie auf dem Heimweg gehabt hatte. »Es waren zwei Männer auf Pferden. Es sah aus, als wären sie auf der Jagd.« Sie sah Mary vorsichtig an. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob es Menschen waren. Und die Pferde sahen auch höchst sonderbar aus. Ich weiß, es klingt blöd ...« »Die Welt hat sich in vielerlei Weise verändert, Caitlin.« Mary ging zum Fenster und blickte in die dunkle Nacht hinaus. »Einige der Dinge dort draußen ...« »Du glaubst an das Zeug - an den Unsinn, den die Leute im Dorf verbreiten?« Mary wandte sich zu ihr um; zum ersten Mal wirkte ihre Miene unergründlich. »Du nicht?« »Nein.« Caitlin wich ihrem Blick aus und schaute wieder ins prasselnde Feuer; sie konnte nicht akzeptieren, was sie in Marys Augen sah. »Das ist bloß eine menschliche Reaktion auf die plötzlichen Umwälzungen. Wenn man in einem unverständlichen Chaos gefangen ist, verfällt man leicht wieder kindischen Sichtweisen und glaubt, das alles sei das Wirken einer übernatürlichen Macht ... Götter, Engel, Geister ...« 39 »Was hast du vorhin gesehen?«, fragte Mary unvermittelt. »Ich weiß es nicht.« »Das weißt du sehr wohl, Caitlin. Es ist nicht rational, das, was deine Augen gesehen haben, als Unsinn abzutun.« »Wirklich, ich weiß nicht, was ich gesehen habe. Es war dunkel, stürmisch ... Ich hatte einfach ein komisches Gefühl ...«
Mary nahm eine Flasche Jack Daniel's von der Anrichte. »Den hat mir Gary Smedley als Gegenleistung für ein Kräuterschlafmittel angeboten. Da sagt man natürlich nicht nein.« Sie schenkte zwei Gläser ein, reichte Caitlin eines und setzte sich wieder zu ihr aufs Sofa. »Schau«, sagte sie, »ich weiß, dass du ein nüchtern denkender Mensch bist, aber du kannst nicht abstreiten, dass viele Menschen seltsame Dinge gesehen haben ...« »Ich streite nicht ab, dass viele Menschen glauben, seltsame Dinge gesehen zu haben.« »Du bist ziemlich stur, was?« Mary stürzte ihren Whiskey herunter. »Selbst auf das Risiko hin, unsere Freundschaft zu gefährden, muss ich dir berichten, dass die Mitglieder meiner Familie immer geglaubt haben, sie besäßen das zweite Gesicht.« »Oh, also konnten sie in die Zukunft schauen.« Caitlin lächelte. »Haben sie im Lotto gewonnen?« »Nicht nur in die Zukunft. Oh, du brauchst wohl wirklich ein paar hinter die Löffel, was?« Sie schenkte sich Whiskey nach. »Sie haben auch ... geglaubt ... aus der Ferne Ereignisse beobachten und in die Vergangenheit schauen zu können. Jedenfalls ...« »Und du besitzt diese Fähigkeit auch.« Caitlin lachte. »Möchtest du mir vielleicht aus der Hand lesen?« Einige Sekunden lang herrschte Stille, und als Caitlin 40 aufblickte, sah Mary sie todernst an. »Ich kann vieles tun, was dich überraschen würde.« »Nur zu.« Caitlin zuckte mit den Schultern. »Ich könnte ein bisschen Unterhaltung gebrauchen.« Mary schüttelte den Kopf, dann überlegte sie einen Moment lang und gab sich schließlich einen Ruck. Sie ging in die Küche und kam mit einer großen, mit Wasser gefüllten Glasschale zurück. Trotz ihrer Skepsis wurde Caitlin neugierig. »Hast du jemals vom so genannten Kristallschauen gehört?«, fragte Mary. »Was soll das sein? Eine neue Sportart?« Caitlin schenkte sich Whiskey nach und genoss das verschwommene Gefühl von Leichtigkeit, das der Jack Daniel's in ihr auslöste. »Es ist eine Technik, um mit dem Unbewussten in Kontakt zu treten. Man starrt auf eine helle, spiegelartige Oberfläche — in diesem Fall auf Wasser - und versetzt sich in Trance. Und dann faselt man merkwürdiges Zeug.« »Woran erkenne ich, wenn du in diesem Zustand bist?«, scherzte Caitlin. Mary winkte bloß ab und stellte die Schale auf einen Beistelltisch vor dem Kamin. »Ich mache es manchmal, um zu begreifen, was mit unserer Welt los ist.« Erstaunt sah Caitlin, wie ein Schatten über Marys Gesicht huschte. »Vielleicht finden wir etwas, das dir ein wenig Trost spendet.« Sie hielt inne. »Das ist wahrscheinlich nicht der richtige Ausdruck ... eher etwas, das dir eine neue Sichtweise ermöglicht.« »Meinst du das ernst?« »Sag jetzt nichts mehr.« Mary lächelte, doch dahinter lag ein solcher Ernst, dass Caitlin augenblicklich gehorchte. 41 Stille breitete sich im Zimmer aus; nur das Prasseln des Feuers war zu hören. Draußen schien sogar der Wind abzuflauen. Mary beugte sich über die Schüssel und starrte ins Wasser. Caitlin beobachtete sie eine Weile, bis sie ihre Aufmerksamkeit erst aufs Feuer und dann auf das Schlierenmuster richtete, das die vereinzelten Regentropfen an der Fensterscheibe erschufen. Sie dachte an Liam, der eingekuschelt im Bett lag, und dann an Grant. Die Klarheit ihrer Gedanken überraschte sie; sie vergegenwärtigte sich den Anfang ihrer Beziehung und war überwältigt vom Strom der schönen Erinnerungen; sie sah die Gründe, weshalb sie sich in Grant verliebt hatte, seine Sanftheit, seinen Humor, das Gefühl der Sicherheit, das er ihr gab. Plötzlich tat es ihr Leid, einfach aus dem Haus gestürmt zu sein. Sie würde es nachher wieder gutmachen; vielleicht würden sie sogar miteinander schlafen. Falls er schon schlief, würde sie ihn wecken und ... »Ich sehe etwas.« Marys Stimme klang verträumt. »Ich sehe ...« Ihre Worte hingen träge in der Luft. Caitlin beugte sich zu ihr vor; sie war neugierig, was Mary erzählen würde. »Ich sehe ...« Zuerst fragte sich Caitlin, ob Mary ihr einen Streich spielte, um sie auf andere Gedanken zu bringen; das wäre typisch für sie. Aber ihr Gesicht hatte einen sonderbar entrückten Ausdruck, der darauf schließen ließ, dass ihre Trance echt war. »Ich sehe einen Drachen«, sagte Mary träumerisch. »Er liegt unter der Erde. Er regt sich ... und da sind blaue Linien ... so blau ...« Die Worte verursachten ein Kribbeln auf Caitlins Haut. Obwohl sie nicht wusste, warum, verspürte sie ein Gefühl tiefer Behaglichkeit. »Er steigt in die Luft ... auf mächtigen Schwingen ... 42 ist jetzt weit oben am Himmel... verwandelt sich ... verwandelt sich in ... Caitlin ...« Caitlin schauderte. Sie war sich instinktiv sicher, dass dies etwas zu bedeuten hatte. »Und jetzt verwandelt auch sie sich ... Caitlin wird wieder zu dem Drachen ... und fliegt ... fliegt übers Land ...« Plötzlich zuckte Marys Gesicht, und ihre Stimme wurde ein kaum hörbares Flüstern. »Etwas beobachtet uns ... am Nachthimmel ... es ist wie ein Loch in der Welt... es ist so tief... unendlich tief... es schickt... Wesen ... um den Drachen zu jagen ... um Caitlin zu jagen ... um sie zu vernichten ...«
Marys Kopf flog zurück, als hätte sie jemand bei den Schultern gepackt und aufs Sofa geschleudert. Ihre Kinnlade klappte herunter, die starrenden Augen waren weit aufgerissen und fixierten einen Punkt an der Decke. Sie sah überhaupt nicht mehr wie Mary aus. Caitlin fuhr schockiert zusammen. »Mary ...?« Bevor sie etwas tun konnte, begann Mary zu sprechen. Zuerst war es bloß ein kaum vernehmbares Murmeln. Aber als Caitlin sich zu ihr hinabbeugte, wurden die Worte lauter und verständlicher. Es war nicht Marys Stimme. Ein tiefes, männliches Brummen schwang darin mit; es klang seltsam verzerrt, als würde es aus einem tiefen Brunnen kommen. Caitlin gefror das Blut in den Adern. Das war kein Trick. »Man hat dich bemerkt.« Es folgte eine Pause, während der Mary heiser hustete. »Es verfolgt dich.« Caitlin schauderte angesichts der alten Männerstimme, die aus dem Mund ihrer Freundin kam. Wer hat mich bemerkt? Bei der zweiten Frage regte sich ein kalter Schatten in ihrem Herzen. Und warum verfolgt es mich? Mary legte den Kopf in den Nacken, sodass ihr starren43 der, gleichzeitig nicht sehender und sehender Blick auf Caitlin gerichtet war. »Die Flüsterer sind unterwegs. Sie haben deine Seele gewittert.« Wieder ein heiseres Husten. »Sie werden dich holen, Schwester der Drachen. Es gibt kein Entkommen.« Speichel tropfte aus Marys Mundwinkeln, während winzige Zuckungen durch ihre Gesichtsmuskeln fuhren. Caitlin packte Mary bei den Schultern, hatte Angst, dass ihre Freundin einen epileptischen Anfall bekam. Dann versteifte sich Marys Körper abrupt, doch im nächsten Moment entspannte sie sich, und ein umwölktes, erschrockenes Bewusstsein kehrte in ihre glasigen Augen zurück. Sie versuchte zu sprechen, doch es kam nur ein Röcheln heraus. »Ganz ruhig«, sagte Caitlin, die nicht begriff, was geschehen war. Mary schob sie zur Seite und griff nach der Jack-Daniel's-Flasche. Sie schenkte sich zwei Fingerbreit ein und stürzte den Whiskey mit zitternder Hand in einem Zug herunter. »Was war das gerade?«, fragte Caitlin, als Mary sich einigermaßen beruhigt hatte. »Es ist noch nie so stark gewesen«, sagte Mary erschöpft. »Seit dem Untergang ist es viel fokussierter, aber das ...« Sie nahm Caitlins Hand in ihre. »Ich glaube, etwas Schlimmes wird passieren.« »Du hast meinen Namen erwähnt.« Caitlin war völlig durcheinander, bestürzt über das, was sich gerade ereignet hatte. Sie sank aufs Sofa zurück. »Ich kann nicht mehr. Wirklich.« Das Mitleid, das sie in Marys Gesicht sah, verstärkte ihre Empfindung bloß. »Trink noch einen.« Caitlin schüttelte den Kopf. »Was ist gerade geschehen?« 44 »Nichts. Blanker Unsinn.« Ihr Gesichtsausdruck strafte ihre Worte Lügen. »Nichts ergibt mehr einen Sinn.« Caitlin trocknete sich mit dem Handrücken die Augen und stand auf. »Ich gehe jetzt besser. Ich muss mich im ... Gemeindesaal melden.« Fast hätte sie Leichenhalle gesagt. »Sie brauchen meine Hilfe.« »Ich muss nachdenken, Caitlin ... darüber, was gerade geschehen ist«, sagte Mary ernst. »Ich komme rüber, sobald mir klar ist, was es zu bedeuten hat.« Caitlin lächelte gezwungen. »Das hat doch bis morgen früh Zeit, oder? Ich bleibe nicht lange im Saal. Ich möchte nach Hause.« Mary brachte sie zur Tür, doch als Caitlin in den Sturm hinausgehen wollte, nahm Mary sie fest in die Arme. »Gib auf dich Acht«, sagte sie. Dann: »Sei vorsichtig.« Es klang wie eine Warnung. Als Caitlin in den übel riechenden Gemeindesaal trat, begrüßte Gideon sie mit trauriger Miene und nickte in Richtung eines der Nebenzimmer. Durch den Türspalt sah Caitlin Eileen zusammengesunken neben ihrer Schwester sitzen und deren Hand halten. Daphne lag auf einem Tisch, schon komatös und schweißgebadet. Die Flecken auf ihrem Gesicht und den Unterarmen erinnerten an eine Maori-Tätowierung. Caitlin konnte nicht fassen, mit welcher Geschwindigkeit sich die Seuche im Körper ausbreitete. War dies das Ende der Welt?, fragte sie sich. Die Menschheit ausgelöscht binnen weniger Wochen; schuf die Natur sich Platz für die nächste Phase? Es schien so ungerecht nach allem, was sie in den letzten Monaten ausgehalten hatten: Sie waren dem großen Knall ent45 kommen, nur um vom Nachbeben dahingerafft zu werden. Es gab nichts, was sie Eileen hätte sagen können, deshalb überließ sie sie ihrer Trauer. Da keine neuen Patienten eingeliefert worden waren, ging sie ins Büro; sie war dankbar, ein paar Momente allein sein zu können. Auf ihrem Schreibtisch stapelten sich bergeweise Unterlagen und Notizen, während an der Wand Tabellen und Grafiken und daneben eine vergilbte Ankündigung für einen Das-gepflegteste-Dorf-Wettbewerb hingen. Caitlin hegte noch immer die verzweifelte Hoffnung, dass sie, wenn sie immer wieder ihre Unterlagen studierte, früher oder später zu einer Erkenntnis über das wahre Wesen der Seuche gelangen würde. Doch die Art und Weise der Übertragung war ihr schleierhaft; die ganze epidemiologische Struktur der Krankheit war ein völliges Rätsel. Waren bestimmte Menschen genetisch veranlagt, sich anzustecken? Vielleicht war es selbst für Leute wie
sie, die scheinbar immun waren, nur eine Frage der Zeit. Sie versuchte sich auf das Positive zu besinnen, aber alles wies auf das Undenkbare hin: Bestenfalls würde eine Hand voll Überlebender das Erbe der Menschheit weitertragen. Schlimmstenfalls: das Ende. Sie starrte auf ihre Unterlagen und spürte, wie Wellen der Verzweiflung über ihr zusammenschlugen. Es war ein einziges Chaos. Es war zu viel, und ihr fehlte die Zeit, um es zu begreifen. Liam lag im Bett. Grant schlief ebenfalls tief und fest. Erleichtert ging sie in die Küche und goss sich ein Glas Bier ein. Sie hasste den Geschmack, aber wenigstens betäubte es sie ein wenig. Nach einer Weile hatte sie sich so weit beruhigt, dass sie zu Bett gehen konnte. Sie wür46 de Grant wecken, überlegte sie, und sie würden miteinander schlafen und die Welt und all ihre heimtückischen Bedrohungen vergessen. Ihre verzweifelte Sehnsucht nach etwas Lebensbejahendem machte Caitlin genauso betrunken wie der Alkohol. Sie schlüpfte ins dunkle Schlafzimmer und zog sich aus; ihre Ungeschicklichkeit verflüchtigte sich in der Hitze ihrer Erregung. Grant schlief wie ein Toter, doch sie wusste, wie sie ihn wecken würde. Sie tastete nach seiner Brust und schob die Hand zu seinen Lenden hinunter. Es dauerte einige Sekunden, bis sie merkte, dass etwas nicht stimmte. Grants Haut fühlte sich wächsern und fiebrig an, und sein Bauch war schweißnass. Zum ersten Mal achtete sie auf seine Atmung: Sie war flach und angestrengt. »Grant?« Ihr Geist verwandelte sich in eine Sturzflut rasender Gedanken: Szenarien schlimmstmöglicher Fälle schössen ihr durch den Kopf, Stoßgebete, Erinnerungen an die Zeit, als alles perfekt gewesen war. Tief im Herzen kannte sie die Wahrheit, und sie glaubte, der Ansturm brutaler Emotionen würde ihr den Verstand rauben. Sie sprang aus dem Bett, fluchte darüber, dass es keinen Strom gab, und holte rasch die Kerze aus dem Flur. Sie schirmte sie mit der Hand ab und schloss für einen Moment die Augen, bevor sie hinzuschauen wagte. Der Schmerz war so scharf wie bei einem körperlichen Schlag. Im Kerzenschein sah Grants Haut frostweiß aus, was die schwarzen Flecken auf seinem Körper umso stärker hervorhob. Sie tat so, als täte sie etwas Nützliches, prüfte seinen Puls und hob seine Augenlider. Er würde nicht mehr das Bewusstsein erlangen. Sie hatte seinen Abschiedskuss schon bekommen und die 47 letzten Worte mit ihm gewechselt - und was waren sie gewesen? Die Bitterkeit und der Zorn ihres Abschieds beschworen einen neuerlichen Schwall herzzerreißender Emotionen herauf. Inmitten der kalten Tiefen ihrer Verzweiflung verspürte sie einen alles verzehrenden Selbsthass, der jedoch Sekunden später von einem weiteren entsetzlichen Gedanken verdrängt wurde. Sie stürmte mit der Kerze in den Flur, blieb vor Liams Tür stehen und flüsterte: »Bitte, lieber Gott, bitte, bitte, bitte.« Sie wagte es nicht, hineinzugehen, glaubte, tatsächlich auf der Stelle verrückt zu werden von dem Anblick, der sich ihr wahrscheinlich bieten würde. Doch die Realität war noch viel, viel schlimmer. Liam lag im Bett, die Bettdecke ans Kinn gezogen, so wie sie ihn nach dem Gute-Nacht-Kuss verlassen hatte. Seine Haut war weiß. Und schwarz. Draußen war der Sturm abgeflaut - der in ihr dagegen würde ewig andauern. 2 Wieder allein, oder? »Abschiednehmen ist alles, was wir vom Himmel wissen, und alles, was wir über die Hölle wissen müssen.« EMILY DICKINSON Die Nacht endete nie. Alle Gedanken und Ängste, die Trauer und die Verzweiflung traten in den Hintergrund, während Caitlin sich in den nächsten Tagen unablässig in ganz gewöhnlichen Tätigkeiten verlor: Sie wechselte die Bettlaken, wusch die Wäsche, sortierte die wenigen Schmerztabletten, die sie noch vorrätig hatte und - sie redete. Stundenlang saß sie an Liams und Grants Betten, während die Worte aus den Tiefen ihrer Seele und ihres Herzens heraussprudelten, bis sie in ihrem tranceartigen Zustand nicht mehr wusste, was sie überhaupt erzählte. Sie redete so, als wären Grant und Liam auf den Beinen, als wären sie irgendwo im Haus zugange und würden ihr antworten, sobald sie mit dem, was sie gerade taten, fertig waren. Sie redete ohne Unterlass, ohne Punkt und Komma, damit die beiden keine Gelegenheit hatten zu antworten; solange ihr Wortschwall Grant und Liam am Sprechen hinderte, bestand nicht die Möglichkeit, dass einer der beiden etwas erwidern könnte. Und ständig erzählte sie ihnen, wie sehr sie sie liebte; dabei tauchte sie in den Brunnen ihrer Emotionen ein, den sie so lange nicht 49 mehr besucht hatte, und war überrascht von der Intensität der Gefühle, die sie dort vorfand. Am vierten Tag starben die beiden. In der ersten Stunde verspürte sie nur tiefen Frieden, war gehüllt in einen Kokon aus apathischer Betäubtheit. Caitlin existierte nicht mehr; ihr Leben war vorüber. Später saß sie an Grants Bett und dachte an das, was nun unwiederbringlich verloren war; und dann setzte sie sich zu Liam und überlegte, was hätte sein können, nun aber
nie eintreten würde. Dann ging sie in die Küche und kochte sich eine Kanne von dem Gebräu, das sie scherzhaft als Tee bezeichnet hatten, während das trübe Licht des Morgengrauens allmählich durch die Fenster hereinströmte. Über den Becher gebeugt, sah sie Grants und Liams Schuhe vor der Hintertür stehen, verdreckt von ihrem letzten gemeinsamen Spaziergang als Familie. Der Anblick traf sie mit schmerzhafter Wucht, und dann wurde sie hinfort gerissen von der Sturzflut ihrer alles ertränkenden Trauer. Kurz nach Mittag ging Caitlin im strömenden Regen mit einem Spaten in den Garten, um den sie sich vor dem Untergang alle gemeinsam gekümmert hatten. Sie wählte die Stelle unter der knorrigen Eiche, auf der Liam so gerne herumgeklettert war und auf der Grant ihm ein Baumhaus gebaut hatte. Der Mutterboden war einen halben Meter tief, dann stieß sie auf eine pampige, gelb-graue Lehmschicht. Ihre Muskeln brannten und ihre Gelenke ächzten, doch sie zwang sich weiterzuschaufeln und genoss den Schmerz. Der Regen klebte ihr das Haar an den Kopf und durchnässte ihre Kleidung so sehr, dass sie meinte, nur Wasser am Leib zu tragen. Sie dachte an Grant: Als direkt nach der Geburt das 50 winzige, warme Bündel des Lebens auf ihrer Brust lag, hatte er ihre Hand gehalten und gesagt: »Ich liebe dich so sehr. Du wirst nie wieder allein sein, weißt du das?« ... Wie er sie an Silvester in den Arm genommen und mit ihr das Feuerwerk am Himmel betrachtet hatte. Und als sie die erste Grube ausgehoben hatte, fing sie mit der zweiten an, einer kleineren. Liam, drei Jahre alt, zu Weihnachten, wie er dem Weihnachtsmann einen Obstkuchen vor die Tür stellte... Wie er sie an ihrem Geburtstag mit einem selbst eingepackten Geschenk und einer selbst gebastelten Karte weckte ... Wie er ihr immer einen Kuss auf die Wange gab, wenn er sie weinen sah ... Drei Stunden später war sie fertig. Sie ging ins Haus zurück, wie in einem Traum, in dem ihr nichts etwas anhaben konnte, und war zufrieden mit ihrem Befinden. Aber in dem Moment, als sie Grant aus dem Bett zu heben versuchte, merkte sie, dass die entrückte Apathie nur ein vorübergehender Zustand gewesen war. Seine Haut war kalt und er antwortete nicht, als sie seinen Namen sagte; er würde nie wieder antworten. Er sah aus wie Grant, fühlte sich aber nicht so an, war nicht warm, nicht liebevoll, lachte nicht mehr; es ergab keinen Sinn, und das machte alles nur noch schlimmer. Erneut kamen ihr die Tränen; sie liefen ihr in die Mundwinkel, und vom Salzgeschmack wurde ihr übel. Grant war viel zu schwer für sie. Sie fiel zweimal hin und schlug seinen Kopf gegen den Schlafzimmerschrank. Seine Arme und Beine hingen nicht so, wie sie es haben wollte. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung gelang es ihr, ihn sich halb auf den Rücken zu wuchten, und dann schleppte sie ihn aus dem Zimmer und stöhnte jedes Mal auf, wenn ein Körperteil von ihm gegen die 51 Tür oder gegen ein Möbelstück schlug - so als würde er es noch spüren. Draußen rutschte sie aus und ließ Grant auf den nassen Rasen fallen. Sie hockte sich neben ihn und weinte, als wäre das Ende der Welt gekommen. Aber nachdem auch diese Tränen versiegt waren, machte sie weiter, schleifte ihn durchs Gras, stürzte erneut, verdrehte sich den Fußknöchel. Einmal lag seine Wange an ihrer, und wegen des Regens auf seinem Gesicht fühlte es sich an, als würde auch er weinen. Ihr Geist zerbröselte in unzusammenhängende Gedankenfragmente, sodass es schien, als würde die Zeit in abrupten Sprüngen verstreichen. Sie lag mit Grant im Gras und starrte zu den Wolken empor. Sie torkelte über den Rasen, Grant hing an ihrem Rücken. Sie erreichte die Grube. Sie schaute auf Grants verrenkten Körper unten im Grab und dachte: Warum steht er nicht auf? Den Schmutz bekomme ich nie wieder aus dem Hemd raus. Und dann holte sie Liam, und er war viel leichter zu tragen. Aber sie brachte es nicht fertig, ihn ins Grab zu legen. Sie hielt ihn an sich gedrückt und gab ihm einen Kuss nach dem anderen, und sie hätte ewig dort gekauert, wenn das Universum ihr nicht gesagt hätte, was zu tun war. Der Rand des Grabes bröckelte, und sie fielen gemeinsam hinein und landeten in der Regenpfütze auf dem Grund. Caitlin lief Wasser in den Mund, und sie war von Kopf bis Fuß mit Schlamm bedeckt, sodass sie aussah wie eine wilde, prähistorische Kriegerin. Und noch immer hielt sie Liam in den Armen. Sein Körper war so klein, seine Kleider waren klitschnass, und sie betete, dass sie etwas Wärme spüren würde, dass sich die Welt zurückdrehen und mit einem Mal alles wieder gut sein würde. 52 Sie blieb dort sitzen, während sich um sie herum das Wasser sammelte und an ihren Beinen anstieg und das trübe Tageslicht schwand und von Osten die Dunkelheit heranrückte. Ihre Gedanken waren noch immer ein einziges Chaos. Nichts war schlimmer als das, was sie ertragen musste. Sollte die Menschheit doch aussterben, dahingerafft von der Seuche; es war ihr egal. Nichts war mehr wichtig. Wenn es nach ihr ginge, konnte die Welt heute enden. Fragmente ... Als irgendwann Blitze die Nacht zerrissen, kletterte sie aus dem Grab und nahm den Spaten. Jedes Mal, wenn sie glaubte, das Schlimmste überstanden zu haben, geschah etwas noch Schlimmeres. Die erste Schaufelladung auf Liam landen zu sehen zerriss ihr Herz in noch kleinere Stücke. Es waren ihr Mann und ihr Sohn, und sie war dabei, die beiden im Boden zu verscharren. Die Erde landete mit einem dumpfen Knall auf einem reglosen Brustkasten. Sie wartete auf eine Beschwerde -»Mommy, was tust du da?« -, aber es kam keine.
Sie lag auf dem aufgeweichten Rasen, der Regen prasselte auf sie nieder und spülte alles hinfort. Wieder riss ein greller Blitz sie aus dem Nichts. Sie spürte etwas Sonderbares: ein Gewicht auf der Brust. Sie schlug die Augen auf und sah eine große, merkwürdig vertraute Nebelkrähe auf ihrem Brustbein sitzen; die glänzenden schwarzen Augen waren nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt. Die Krallen bohrten sich in ihre Haut. Der schwarzblaue Schnabel war lang und spitz. Hielt der Vogel sie für tot? Suchte er nach Aas? 53 Er brauchte sich nur vorzubeugen, um ihr die Augen auszuhacken. Aber statt anzugreifen, starrte die Krähe sie bloß an. Träumte sie? Die Krähe ging ein Stück zurück und begann auf ihrer Brust herumzupicken, allerdings nicht so wild, dass es wehgetan hätte. Vielleicht war sie aber auch zu betäubt, um den Schmerz zu spüren. Und die Krähe hörte nicht mehr auf; das rhythmische Picken ging immer weiter, als versuchte sie, sich in Caitlins Körper hineinzuwühlen. Außerdem war der Vogel so schwer, dass sie kaum noch Luft bekam. Sie sollte ihn einfach verjagen, aber warum eigentlich? Sie schloss die Augen und ließ sich wieder vom Regen hinfort tragen. Mary hatte ein ungutes Gefühl. Seit drei Tagen deuteten die Karten auf etwas Dunkles hin: ein Ende oder ein Anfang - was beides ein und dasselbe war, soweit es das Universum betraf. Sie wünschte, sie könnte die Kräfte, in die sie eintauchte, dazu bringen, ihr die Dinge wenigstens einmal aus menschlicher Perspektive zu veranschaulichen; vermutlich würden sie genauso aussehen, aber bestimmt würden sie sich anders anfühlen. Sie hatte es mit Kristallschauen versucht, aber nicht den tranceartigen Zustand erlangen können, weil sie aus irgendeinem Grund ständig an Caitlin gedacht hatte. Beunruhigt und aufgewühlt trank sie einen Whiskey nach dem anderen, ungeachtet der Tatsache, wie selten er in dieser neuen Welt war. Doch sie wusste, dass sie erst zur Ruhe kommen würde, wenn sie ihre Freundin besuchte. Sie legte noch ein Holzscheit ins Feuer, damit es bis zu ihrer Rückkehr weiterbrannte, und zog dann ihren Anorak an. Sie hatte das miese Wetter satt; 54 es kam ihr vor, als würde es seit Monaten ununterbrochen regnen. Das Wetter schlug ihr aufs Gemüt. Sie war schon immer anfällig für Depressionen gewesen, und in dieser düsteren, verregneten Zeit machten sie ihr mehr denn je zu schaffen. Unweigerlich dachte sie an die Vergangenheit und wie sie an den Punkt ihres Lebens gelangt war, an dem sie heute stand. Wären die Dinge anders gelaufen, wenn sie sich mit jemandem zusammengetan hätte? Oder hätte sie sich trotzdem so wenig gemocht, dass sie dadurch auch ihrem Partner nur Kummer bereitet hätte? Sie hatte immer gedacht, alleine ginge es ihr am besten - ohne einem anderen das Leben zu vermiesen -, aber sie vermisste Berührungen, morgendliche Begrüßungen, die Wärme eines anderen Menschen, die kleinen Dinge genauso wie die großen. Sie wunderte sich noch immer darüber, wie ein Leben manchmal durch ein einziges, simples Ereignis eine bestimmte Richtung nehmen konnte. Wie sich in einem einzigen Wimpernschlag Arroganz in Schuldgefühl und jugendlicher Optimismus in Selbstmitleid verwandeln konnten. Manchmal gab sie der Religion ihrer Kindheit die Schuld dafür, dass sie ihre Selbstvorwürfe noch heute mit sich herumtrug. Doch ihre Unfähigkeit, über ihr früheres Verhalten hinwegzukommen, hatte nicht bloß einen Ursprung; sie rührte aus einer Anhäufung vieler kleiner Niederlagen her. Ein ganz und gar verpfuschtes Leben. Der Katholizismus hatte ihr beigebracht, dass es für jeden Menschen einen Grund gab zu existieren. Sie war das perfekte Gegenbeispiel für diese dumme kleine Kinderfantasie. Als sie nach der alten Bergarbeiter-Lampe suchte, die ihrem Vater gehört hatte, hörte sie draußen ein Geräusch. Es hätte der an der Tür des Schuppens rüttelnde 55 Wind sein können oder ein hinter dem Haus umkippender Besen, aber sie spürte ein eigenartiges Kribbeln im Bauch. Besucher - und sie hatte viele Besucher, die sie zu jeder Tageszeit um Rat und Hilfe baten - würden direkt zur Eingangstür kommen. Das Geräusch war neben dem Haus gewesen. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Seit dem Zusammenbruch aller Ordnung gab es dort draußen Heerscharen von Plünderern, die ohne zu zögern eine allein stehende Frau überfielen. Das Dorf hatte seinen eigenen Nachbarschaftswachdienst aufgestellt, der nachts patrouillierte, doch wegen der Seuche gab es kaum noch Mitglieder; vermutlich existierte der Wachdienst überhaupt nicht mehr. Sie nahm den neben der Tür stehenden Besenstiel, an dessen Ende statt einer Bürste ein Schnitzmesser befestigt war. Mit einem einzigen Eindringling würde sie wohl fertig werden; falls es mehrere waren, würde sie fliehen müssen. Vorsichtig trat sie an eines der Fenster. Es war zu dunkel, um etwas zu erkennen; die Bäume und Hecken bogen sich im Sturm, und vom dahinter liegenden Feld war nichts zu sehen. Sie wartete geduldig auf eine Bewegung, doch es kam keine. Gerade als sie sich eingeredet hatte, sich getäuscht zu haben, tauchte ein Blitz die Umgebung in grelles weißes Licht. Jemand stand unter dem Weißdornbaum; die Gestalt hatte sie beim Hinausspähen beobachtet. Sie fluchte erschrocken, wich zurück und wäre beinahe über den Sessel hinter ihr gestürzt. Die Dunkelheit verschluckte die Gestalt wieder. Mary ging in die Mitte des Wohnzimmers und drehte sich im Kreis, da sie nicht wusste, ob der Eindringling vorne oder hinten ins Haus kommen würde. Plötzlich klopfte es an der Tür.
56 »Wer ist da?«, rief sie ängstlich. »Man hat mich zu Ihnen geschickt.« Die Stimme war kräftig, klang selbstbewusst, gebildet und ein wenig arrogant. »Warum schleichen Sie draußen rum?« »Ich wollte mir sicher sein, dass es das richtige Haus ist.« Mary entspannte sich ein wenig. Der Mann klang nicht wie ein Plünderer oder Mörder; andererseits, wer tat das schon? »Lassen Sie mich nun rein oder nicht? Ich bin völlig durchnässt; mir ist kalt.« Den selbst gebastelten Speer erhoben, beugte sie sich vor, drehte den Hausschlüssel und zog die Tür auf. Auf der Schwelle stand ein groß gewachsener, kräftiger Mann in einem klitschnassen langen Mantel; auf dem Kopf trug er einen breitkrempigen Filzhut, der im Regen fast vollständig die Form verloren hatte; er hielt einen Rucksack und einen knorrigen Stab in den Händen. Der Mann war Ende fünfzig, hatte schulterlanges graues Haar und einen struppigen Vollbart. Sein von unzähligen geplatzten Äderchen durchzogenes Gesicht sah aus wie das eines Menschen, der gerne trank, doch in seinen hellen Augen lag ein wacher, überheblicher Glanz. Mary hielt ihm den Speer vor die Brust. Der Mann blickte verächtlich auf die Waffe hinab. »Sind Sie die Hexe?«, fragte er barsch. »Was ...?« Mary war völlig perplex. Er stieß den Speer zur Seite und schob sich an ihr vorbei. »Ein Baum hat's mir erzählt«, fügte er schroff hinzu. Mary bereitete sich innerlich darauf vor, den Besucher hinauszuscheuchen, doch er hatte schon den Mantel ausgezogen und tropfte ihr Wohnzimmer voll. Dann warf er den Mantel in eine Ecke und marschierte zum Kamin, um sich die Hände zu wärmen. Mary trat mit dem Speer vor. 57 »Jetzt nehmen Sie doch endlich den Zahnstocher runter« , sagte er, während er sie aus dem Augenwinkel beobachtete. »Den nehme ich höchstens runter, um Ihnen den Arsch aufzureißen.« Sie erwog, ihm einen kleinen Stoß zu verpassen, um ihn kurz aufjaulen zu hören. »Wer sind Sie?« Er straffte den Rücken und schüttelte müde den Kopf, während er den Hut auf den Mantel warf. »Mein Name ist Crowther. Frank, wenn Sie freundlich sein möchten.« Seine Augen verengten sich. »Was vermutlich nicht der Fall ist.« »Und, weiter ...«, drängte sie ihn und fuchtelte mit dem Speer herum. »Ich bin hergekommen, um Sie zu treffen«, sagte er. »Nehme ich jedenfalls an.« Mary biss sich kurz auf die Lippe, dann deutete sie mit dem Speer auf einen Stuhl. »Aber machen Sie nicht alles nass, während Sie mir Ihre Geschichte erzählen.« Er ließ sich auf den Stuhl fallen, und die Erschöpfung grub ihm tiefe Falten ins Gesicht, als er den Kopf auf die Rückenlehne zurücklegte. Mit geschlossenen Augen begann er: »Ich hoffe, wir müssen nicht bei Adam und Eva anfangen. Wir können doch voraussetzen, dass es in der Welt ein Element gibt, das wir als übernatürlich zu bezeichnen pflegten, oder?« »Weiter.« »Nun, von Zeit zu Zeit kommuniziere ich mit diesen anderen Mächten. Neuerdings verhalten sie sich allerdings reichlich sonderbar. Offenbar ist irgendwas im Gange. Etwas ziemlich Großes und extrem Beunruhigendes, aber wie immer erhält man von diesen Mächten keine konkreten Informationen; es ist, als würde man versuchen, Wasser in einem Sieb zu tragen. Anscheinend hängt die Sache aber mit dieser verdammten Seuche zu58 sammen.« Er wedelte mit der Hand. »Wie auch immer, das ist jetzt nebensächlich. Wichtig ist, dass man offenbar etwas gegen die Seuche tun kann. Und wie es scheint, spiele ich dabei irgendeine Rolle, und Sie auch, denn man hat mich hierher geleitet. Offen gestanden kann ich mir einen schöneren Zeitvertreib vorstellen, aber ich nehme an, das Überleben der Menschheit ist eine drängende Angelegenheit.« »Wer hat Ihnen das alles erzählt?« »Der Holzgeborene.« Er musterte sie erwartungsvoll. Sie nickte. »Die Baumgeister.« »Sie reden so, als wäre das irgendwelches Zeug aus einem Kindermärchen. Wenn man diesen Wesen dumm kommt, machen sie kurzen Prozess mit einem. Ich habe mal einen Mann gesehen, dem wuchs ein knorriger Ast aus dem Bauch. Er hatte irgendwie ein Stück Holz verschluckt, und das Zeug ist in ihm gewachsen und durch die Bauchdecke herausgeplatzt.« »Wahrscheinlich hat er es verdient.« »Wie mitfühlend von Ihnen.« Trotz seines Äußeren fühlte sich Mary von Crowther nicht bedroht. Für gewöhnlich hatte sie eine gute Menschenkenntnis, was aber nicht bedeutete, dass sie den Mann mochte. Er trug seine Arroganz wie einen Schild vor sich her und erinnerte sie an Intellektuelle, die nicht anders konnten, als mit kalter Verachtung auf gewöhnliche Menschen herabzublicken. »Warum sollte ich Ihnen vertrauen?«, fragte Mary. Crowther überlegte einen Moment lang, dann stieß er ein lang gezogenes Seufzen aus. »Die schlichte Antwort
ist, dass Sie mir wahrscheinlich nicht vertrauen sollten. An Ihrer Stelle würde ich es wohl auch nicht tun.« »Sie sehen aus, als hätten Sie einen langen Weg hinter sich«, stellte Mary fest. 59 Er nickte. »Ich komme aus West Country. Es gibt dort ein College, das nach dem Untergang gegründet wurde. Sein Ziel ist es, die alten Traditionen des Naturstudiums und die Zusammenhänge zwischen Himmel und Erde weiterzugeben. Es sind die überlieferten Weisheiten einer uralten Vereinigung, die sich die Kultur nannte, obwohl jeder sie unter einem anderen Namen kennt. Es ist sozusagen ein mythisches College. Haben Sie schon mal davon gehört?« Mary schüttelte den Kopf. »Ich war mein ganzes Leben lang Akademiker, deshalb war es wohl zwangsläufig, dass es mich an das College verschlug. Etwas anderes, etwas Produktiveres kam für mich nicht in Frage. Ich bin Professor, was früher mal etwas bedeutet hat. Ich war in verschiedenen Fachrichtungen tätig, hier ein bisschen Psychologie, dort ein bisschen Archäologie und Anthropologie. Eine Weile war ich in Oxford ...« »Verheiratet?« »Meine Frau ist tot.« Seine Züge blieben ausdruckslos. Mary hatte keine Ahnung, wie viel sie von dem, was er sagte, glauben konnte. »Wo meine Kinder stecken, weiß ich nicht. Sie sind erwachsen und führen ihr eigenes Leben. Wie Sie sehen, habe ich keine familiären Bindungen. Das College klang interessant... und das war es auch. Außer dass es von einem der elendsten, jähzornigsten alten Mistkerle geleitet wird, die man sich vorstellen kann.« Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Und von einem der fünf Helden.« Mary war verblüfft. »Dann gibt es sie also wirklich?« Er nickte. »Ja. Sie sind kein Mythos, obwohl sie sich zunehmend zu einem entwickeln. Fünf Menschen, die die Welt gerettet haben, als alles auf der Kippe stand. Der in Glastonbury ist der Schamane. Der Krieger hat sich als 60 Verräter erwiesen und wurde bei der Schlacht um London getötet. Dann gibt es eine Art Mischwesen aus Mensch und Pflanze ... keine Ahnung, ich weiß nichts Genaues darüber. Der Anführer ist verschollen; er gilt als tot. Und es gibt eine Frau aus Ihrer Branche.« Mary setzte sich auf die Armlehne eines Stuhls und starrte ins Leere. »Ich kenne die Geschichte. Jeder kennt sie, aber so richtig glauben konnte ich sie nie. Werden diese Helden zurückkehren?« »Um uns zu retten?« Er lachte bitter. »Sie haben ihren Teil getan. Jetzt sind wir am Zug.« »Dann ist dieses College wohl etwas ganz Besonderes.« Sein Blick schweifte in die Ferne. »Die Dinge, die ich dort gelernt habe ... unglaubliche Dinge ... Welten jenseits der unseren ... die Existenz von Wesenheiten, die wir als Götter bezeichnet haben ... Magie ... eine neue, tief greifende Philosophie darüber, wie alles miteinander zusammenhängt...« Er hielt kurz inne. »Aber das ist unwichtig. Was zählt, ist, dass ich hier bin.« »Sie sind den ganzen Weg hierher gekommen, weil der Holzgeborene es Ihnen gesagt hat.« Insgeheim freute sich Mary, als sie sah, wie Crowther unter ihrem bohrenden Blick zusammenzuckte. »Weil Sie so ein gütiges Herz haben und der Menschheit helfen wollen. Sie wirken gar nicht wie ein Samariter.« »Ich habe auch nie behauptet, einer zu sein. Ich bin Teil der Menschheit, was immer andere sagen mögen, und ich habe ein berechtigtes Interesse an ihrem Überleben.« »Und die Baumgeister haben Ihnen von mir erzählt?« Je länger sie über seine Erklärung nachdachte, desto argwöhnischer wurde Mary. »Nicht bloß die Baumgeister. Nachdem feststand, dass etwas im Gange ist, wurden am College gewisse Rituale abgehalten, die bestimmte Arten der Kommunikation er61 möglichen. Und ja, ich wurde aus einem ganz bestimmten Grund hergeschickt, wegen etwas, das den Mächten, von denen ich gesprochen habe, wie ein Leuchtfeuer entgegenstrahlt.« »Und worum handelt es sich dabei?« »Das werde ich Ihnen gerne in allen Einzelheiten erzählen. Aber wäre es möglich, zuerst einen Tee zu bekommen, bevor wir ans Eingemachte gehen?« Ohne auf seine Bitte mit einer freundlichen Erwiderung zu antworten, wandte sie sich um und ging in die Küche. Doch als sie an ihm vorbeilief und er sich im Lichtschein des Feuers vorbeugte, um sich am Kamin die Hände zu wärmen, bemerkte sie etwas Eigenartiges: In seinen Schläfen und unter den Ohren schienen Löcher zu sein, als hätte sich ihm etwas in den Schädel gebohrt. Als Mary mit zwei Bechern Kräutertee zurückkehrte, hatte Crowther Stiefel und Socken ausgezogen und wackelte vor dem Feuer mit den Zehen. »Sie sind ein ungehobelter Bauer«, sagte sie und reichte ihm einen der Becher. »Vielen Dank. Ich halte die Fähigkeit, andere Menschen brüskieren zu können, für ein Merkmal von Einzigartigkeit.« Er schlürfte am Tee, bevor er anerkennend nickte. »Also«, sagte Mary nach einigen Momenten, »haben Sie noch andere Informationen, oder muss ich mir den Rest aus den wenigen Versatzstücken zusammenreimen, die Sie mir gerade erzählt haben?« »Ja, etwas gibt es noch: Der Schlüssel zu allem ist eine Frau ...« Mary zuckte zusammen.
Crowther sah ihre Reaktion. »Wissen Sie, von wem ich spreche?« 62 »Stellen Sie den Tee weg«, sagte Mary. »Wir müssen los.« Als Marys Ruf durch Caitlins Haus schallte, fürchtete sie schon das Schlimmste. Sie hatten zuerst im Gemeindesaal nach ihr gesucht, aber selbst wenn Caitlin einen Hausbesuch machte, müssten Grant und Liam zu dieser späten Stunde eigentlich im Bett liegen. Crowther überprüfte die Schlafzimmer und kehrte kopfschüttelnd zurück. Laute Knarrgeräusche lockten sie in die Küche, wo die offene Hintertür im Wind hin und her schwang. Draußen sah Mary eine Bewegung am Ende des Gartens. Sie rannte sofort hinaus und fand eine derart schlammbesudelte Gestalt, dass sie Caitlin zuerst gar nicht erkannte. Die Ärztin kauerte knietief in einer Grube und schaufelte fieberhaft Erde heraus. Caitlin schaute aus großen, starrenden Augen zu Mary auf und brüllte: »Ich muss sie rausholen!« Sie schien Mary überhaupt nicht zu erkennen. Caitlin grub wie eine Wahnsinnige, schleuderte die Erde in alle Richtungen, dann warf sie den Spaten fort und sank auf die Knie, um mit bloßen Händen weiterzubuddeln. Mary starrte auf die tiefer werdende Grube und auf den Erdhaufen daneben und wusste, was geschehen war. »Oh, du Arme.« Ihre Stimme bebte vor Mitleid. »Ich muss sie rausholen!« Caitlin wühlte wie ein Tier in der Erde und versuchte sich loszureißen, als Mary sie aus dem Grab herausziehen wollte. Mit vereinten Kräften gelang es Crowther und Mary schließlich, Caitlin so weit zu beruhigen, dass sie sie aus der Grube herauslocken konnten, und nachdem diese aus ihrem Blickfeld verschwunden war, schien Caitlin das Grab völlig vergessen zu haben. Ihre Miene wurde 63 ausdruckslos, ihr Blick war leer. Hand in Hand mit Mary trottete sie wie eine Schlafwandlerin zurück zur Küche. Sie setzten sie an den Küchentisch, doch Caitlin antwortete auf keine von Marys Fragen, schien nicht einmal zu bemerken, dass jemand bei ihr war. Das Kinn fiel ihr auf die Brust, und sie starrte teilnahmslos auf die Tischplatte. Crowther musterte Caitlin geringschätzig. »Wenn das die Frau ist, die ich finden sollte, sehe ich keine Möglichkeit, dass unser Unterfangen Erfolg hat.« »Halten Sie den Mund«, blaffte Mary. Sie rutschte dicht zu Caitlin heran und sagte sanft: »Du musst dich um Grant und Liam nicht mehr sorgen, meine Liebe. Sie sind jetzt im Land des ewigen Sommers und warten glücklich und zufrieden darauf, dich eines Tages wieder zu sehen.« Die Worte hingen in der Luft, und dann flackerte in Caitlins Augen ein schwaches Licht auf, bevor sie den Blick auf Mary richtete. Mary begriff nicht, was sie in den Augen ihrer Freundin sah. »Ich kenne dich.« Caitlins Stimme war deutlich höher als normalerweise, klang fast wie die eines Kindes. »Natürlich kennst du mich, meine Liebe. Ich bin's, Mary.« Sie nahm Caitlins Hand. Caitlin sah Mary fragend an. »Ich bin Amy.« Mary zuckte zusammen. »Nein, du bist Caitlin.« »Caitlin ist auch hier, aber ich bin Amy.« Crowther beugte sich vor und fragte ein wenig schroff: »Wie alt bist du, Amy?« »Sechs.« »Und wie viele seid ihr?« Caitlin lehnte sich zurück und zählte lautlos an ihren Fingern ab. »Fünf«, sagte sie. »Amy. Caitlin. Brigid. Briony. Und ... und die, über die wir nicht sprechen.« Ein Schatten zog über ihr Gesicht. 64 Crowther schien auf ungehörige Weise fast begeistert von dem zu sein, was er da hörte. »Multiple Persönlichkeit«, sinnierte er, »oder dissoziative Persönlichkeitsstörung, um einen anderen Fachausdruck zu verwenden. In Psychologenkreisen wurde immer debattiert, ob es so etwas wirklich gibt.« »Das arme Ding«, sagte Mary. »Können wir irgendetwas für sie tun?« »Ein paar Jahrzehnte Therapie und jede Menge Medikamente.« »Mir gefällt es hier nicht. Es ist furchteinflößend. Im Garten ist etwas, das mir Angst einjagt«, sagte Caitlin/Amy und blickte wie ein kleines Mädchen ängstlich zur Hintertür. »Ich will gehen. Ich möchte nie wieder hierher zurückkommen.« »Hab keine Angst.« Mary setzte ein tapferes Gesicht auf. Sie half Caitlin vom Stuhl und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Wir bringen dich an einen Ort, wo es warm und sicher ist.« Während er den beiden Frauen nachging, brummte Crowther: »Lügnerin.« Der Marsch über den aufgeweichten, windgepeitschten Weg war wie eine Totenprozession; Mary führte die kleine Gruppe an, dann folgten Crowther und Caitlin, die den beiden mit dem Gang eines kleinen Mädchens hinterher trottete. Auf halber Strecke riss die Wolkendecke auf, und der helle Mond erstrahlte wie ein Scheinwerfer und tauchte die Landschaft in unwirkliches weißes Licht. Sofort war Mary nervös. Sie wusste, dass sie aus dem Augenwinkel etwas gesehen hatte, das nur ihr Unterbewusstsein registrierte. Sie wandte sich langsam zur Seite und sah rechts von sich, etwa eine Meile entfernt, schwarze Gestalten über das Feld ziehen; das Mondlicht
65 schien auf sie herab, als wollte die Natur ihr etwas Wichtiges mitteilen. Beunruhigt blieb Mary stehen. »Was ist das?«, fragte sie. Caitlin schaute nicht hin, doch Crowther trat zu Mary heran und hob die triefende Hutkrempe, um einen besseren Blick zu haben. Zwei Gestalten ritten langsam über das Feld. Zuerst sah es aus, als wären ihre Tiere gewöhnliche Pferde, aber dann sah man, dass die Rösser seltsam unförmig waren, viel zu groß, länglich und gedrungen, als wären sie das Ergebnis einer Kreuzung zwischen einem Pferd und einer Riesenechse. Bei dem Anblick wurde Mary bang ums Herz, und an seiner Haltung sah sie Crowther an, dass auch er beunruhigt war. »Kommen die Ihnen bekannt vor?«, fragte sie. Crowther schüttelte den Kopf. »Das sind die Flüsterer«, murmelte Caitlin/Amy, ohne zu den Reitern zu schauen. Mary und Crowther starrten sie einen Moment lang an, dann eilten sie rasch weiter. In ihrem Landhaus verbarrikadierte Mary die Tür, bevor sie ein weiteres Holzscheit ins Feuer warf. Crowther war etwas aufmerksamer geworden, gab sich höflich wie noch nie während ihrer kurzen Bekanntschaft. Im Flur hängte er sorgfältig Hut und Mantel auf, während Mary Caitlin in der Küche auszog, ihr Gesicht und Hände wusch und sie dann in einen alten Bademantel hüllte. Sobald sie sich vor dem Kamin in den Sessel gesetzt hatte, sank Caitlin zurück und schlief ein, als hätte man einen Schalter umgelegt. »Ich glaube nicht, dass sie uns weiterhelfen kann«, sagte Crowther. »Geben Sie ihr Zeit«, erwiderte Mary. »Sie muss einen 66 schweren Schlag verarbeiten, aber sie ist ein zäher Mensch.« Sie ging zum Fenster und blickte hinaus; nichts regte sich, nachdem der Sturm nun weitergezogen war. »Statt besser zu werden, wird es immer schlimmer, nicht wahr?«, sagte sie fast so, als redete sie mit sich selbst. »Die Seuche ist natürlich eine böse Geschichte«, pflichtete Crowther ihr bei. »Aber davon abgesehen bin ich mir nicht sicher, wie ich über unsere Lage denke. Wir scheinen viel Ballast abgeworfen zu haben, der uns behindert hat. Ich glaube, wir haben die Uhr zurückgestellt und können es diesmal besser machen. Das ist natürlich ziemlich darwinistisch, ich weiß, aber so ist es nun mal.« »Und was tun wir jetzt?« »Ich weiß nicht. Ich sollte Sie aufsuchen, und irgendwie müssen wir drei ein Mittel gegen die Seuche finden. Irgendwie ... ich weiß nicht... ich habe diese vagen Andeutungen gründlich satt.« Er seufzte. »Ich muss mit der anderen Seite in Kontakt treten.« Mary wusste, warum er so angespannt klang. Derartige Kontaktaufnahmen hatten ihren Preis: Meistens kosteten sie einfach nur immens viel Kraft, manchmal aber war der Preis noch viel, viel höher. Eine weitere Frage kam ihr in den Sinn, und diese war so rätselhaft, dass ihr nicht einmal im Ansatz eine Antwort darauf einfiel. »Warum gerade wir?« Crowther zuckte missmutig mit den Schultern. »Wahrscheinlich haben wir im Lotto gewonnen.« Die glühenden Kohlen verströmten eine dumpfe Hitze, die die Kälte nur in unmittelbarer Nähe der Feuerschale vertrieb. Dahinter lag das endlose Eisfeld unter einem Sternenlosen Nachthimmel. Sie hatten in einer kleinen Felsformation Schutz gefunden, dem einzigen Land67 Schaftsmerkmal weit und breit. Die Felsen waren sichelförmig angeordnet und kaum drei Meter hoch, was aber ausreichte, um den scharfen Wind abzuhalten. Caitlin saß auf einem Felsbrocken neben der Feuerschale. Sie hatte die Arme um den Leib geschlungen und dachte und fühlte nichts. Neben ihr stand Amy und zupfte an ihrem Ärmel. Die Kleine starrte mit großen, furchtsam blickenden Augen in die Nacht hinaus. »Es kommt näher«, sagte sie. Bald wird es hier sein. Dann werden wir alle büßen.« »Halt den Mund!« Die schrille Stimme kam von einer neurotisch aussehenden, etwa vierzigjährigen Frau; sie war dünn und knochig, und ihr verhärmtes Gesicht wirkte wie das eines Menschen, der meinte, zu viel unnötiges Leid erlebt zu haben. Briony zündete sich eine Zigarette an und sog den Rauch ein; ihre Augen waren wässrig. »Spar dir dein Gejammer, du verzogenes Balg.« »Lass sie in Ruhe. Du weißt, dass sie Recht hat.« Brigid war so alt, dass sie aussah wie ein knorriger, windschiefer Baum; es war ein Wunder, dass ihr das Fleisch nicht von den Knochen fiel. Ihr Haar war weiß und zerzaust. »Wir sollten sie fortschaffen.« Sie nickte Caitlin zu. »Das ist unsere einzige Hoffnung.« »Ihr könntet mich rauslassen.« Die Frauen zuckten zusammen, als die heisere Stimme erklang. Sie wandten sich zum hinteren Teil ihres Unterschlupfes um, wo ihnen aus der Dunkelheit zwei rot glühende Augen entgegenblickten. Auf dem Eisfeld heulte der Wind, und die Nacht wurde noch eine Spur dunkler. Mary fuhr erschrocken zusammen, als der Schrei durchs Haus schallte. Er kündete von körperlicher Qual, aber auch von einem einschneidenden psychischen Schmerz. 68 Crowther hatte sich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen, um das Ritual durchzuführen, das ihn in Kontakt mit den Mächten brachte, die ihn mit Informationen versorgten. Er hatte darauf bestanden, es allein zu tun, obwohl sie ihm Hilfe angeboten hatte.
Nach zehn Minuten kehrte er zurück. Er zitterte und war leichenblass. Mary reichte ihm einen Whiskey, den er ohne Dank entgegennahm und in einem Zug hinunterkippte. »Hat es funktioniert?«, fragte sie. »Einigermaßen. Wie immer.« Er lehnte sich an die Wand. Sie sah es seiner Miene an, dass er schlechte Nachrichten hatte. »Was ist los?« »In dieser Welt gibt es kein Mittel gegen die Seuche.« Ihr Herz sank. »Was?« »In dieser Welt.« Die Art, wie er die Worte betonte, verursachte ein merkwürdiges Kribbeln in ihrer Magengrube. »Worauf wollen Sie hinaus?« »Es gibt eine Welt, die neben unserer existiert ... die Kelten nannten sie Tir n'a n'Og ...« »Anderswelt«, hauchte Mary. »Der Ort, zu dem die Toten gehen. Für die Kelten die Heimat ihrer Götter. Der Ursprungsort aller übernatürlichen Einflüsse, Träume und Fantasien ...« Sein Gesicht war gerötet, seine Atmung flach. »Diese Welt existiert wirklich. Dort gibt es das Gegenmittel.« »Sie glauben, was man Ihnen erzählt hat? Sie wissen doch, dass diese Mächte nicht immer das sagen, was man zu hören glaubt.« »Ich weiß«, entgegnete er. »Aber diesmal war die Information eindeutig.« Mary setzte sich aufs Sofa und schlug die Hände vors 69 Gesicht. Die Schwärze der Depression, gegen die sie ihr ganzes Leben lang kämpfte, umfing sie wie ein alter Feind. »Was sollen wir jetzt tun?« »Es gibt Orte, wo man auf die andere Seite überwechseln kann.« Sie sah ihn aufmerksam an, als ihr dämmerte, worauf dies hinauslaufen würde. »Historisch betrachtet waren diese Orte als dünne Stellen bekannt, wo man bestimmte Tore öffnen kann, wenn man weiß, wie es geht. Unsere Urahnen haben es gewusst. Uns ist dieses Wissen abhanden gekommen, wie so vieles andere auch.« Crowther trat einen Schritt vor. »Wir können nicht hier bleiben. Diese Reiter wollen uns aufhalten.« »Warum? Wer sind sie?« Er zuckte mit den Schultern, schüttelte kurz den Mantel aus und zog ihn über. »Mir wurde bloß mitgeteilt, dass sie uns verfolgen.« Es war schwierig für Mary zu akzeptieren, dass sich ihr Leben von einem Moment auf den anderen derart auf den Kopf stellen würde. Doch sie wusste um ihre Pflichten, und wie sehr sie sich auch ängstigte, sie mussten eine lebenswichtige Aufgabe erledigen. »Ich packe schnell ein paar Sachen.« »Sie kommen nicht mit.« Mary blieb stehen und starrte Crowther verwirrt an. »Nur das Mädchen und ich«, erklärte er. »Ich dachte, Sie hätten gesagt, man hätte Sie hergeschickt, weil ich in dieser Geschichte eine Rolle spiele.« »Das tun Sie auch. Sie sorgen dafür, dass die Frau einigermaßen klar im Kopf ist ... zumindest so weit, dass ich sie mitnehmen kann.« Er schüttelte seinen Hut aus, dann verzog er das Gesicht und setzte sich das durchweichte Stück auf. 70 Mary hatte keine Erklärung für ihre plötzliche Beklommenheit, und es geschah so vieles zugleich, dass sie keine Zeit hatte, darüber nachzudenken. Sie hockte sich vor dem Kamin auf die Knie und nahm Caitlins Hand. Sie war so kalt, dass Mary einen Moment lang glaubte, Caitlin wäre gestorben. Dann regte sich die schlafende Frau und erwachte langsam. »Komm, meine Liebe, steh auf.« In ihrem traumartigen Zustand bewegte Caitlin die Lippen. Mary konnte die Worte nicht verstehen, meinte aber verschiedene Stimmen flüstern zu hören, als würde Caitlin einen inneren Dialog führen. Es war so unheimlich, dass es Mary fröstelte. »Caitlin«, sagte sie. »Wir brauchen dich hier.« »Sie geht nicht mit.« Die Stimme war scharf, gehörte nicht Caitlin. Mary wich erschrocken zurück, dann riss sie sich zusammen. »Caitlin«, sagte sie bestimmt. »Ich bin's, Mary. Du musst zurückkommen, und zwar sofort.« Es folgte ein kurzer Moment der Stille, und dann schlug Caitlin die Augen auf. In ihnen erkannte Mary die wirkliche Caitlin. Die junge Ärztin beugte sich vor und fasste sich an die Stirn. »Was ist geschehen?«, fragte sie schwach. Dann: »Grant ... Liam ...« Sie fing an, leise zu weinen. »Ich weiß, ich weiß.« Mary fühlte sich, als würde ihr selbst das Herz brechen, während sie Caitlin an sich drückte. In den letzten Monaten hatte Caitlins Familie fast jene entsetzliche Leere in Marys Leben ausgefüllt, die sie seit ihrer schrecklichen Tat empfand - seit sie damals, vor vielen, vielen Jahren, bewiesen hatte, was für ein furchtbarer Mensch sie war. Es hatte Mary mit einer solchen Freude erfüllt zu sehen, wie viel Schönheit in Caitlins Wesen steckte und dass ihre Freundin allem Un71
gemach zum Trotz ein so glückliches Leben führte. Es war ungerecht, dass Caitlin einen solchen Verlust erleiden musste, denn sie war jemand, der immer sein Bestes für andere Menschen gegeben hatte. Im Gegensatz zu ihr selbst, dachte Mary; sie hatte ihre Selbstsucht zu einer hohen Kunst erhoben. »Es ist meine Schuld«, murmelte Caitlin. »Wäre ich für sie da gewesen ... Dies ist meine Strafe.« »Sag so etwas nicht.« Mary hatte einen Kloß im Hals. »Du darfst dir keine Vorwürfe machen. Du bist ein guter Mensch ... Solche Dinge geschehen eben.« Als Caitlin zu ihr aufblickte, tat sie dies aus Augen, die Mary nicht erkannte. »Ich bin Ärztin. Ich soll Menschen helfen. Und den wichtigsten Menschen in meinem Leben habe ich nicht geholfen.« Sie biss sich so heftig auf die Unterlippe, dass diese zu bluten begann. »Als ich das letzte Mal mit Grant sprach, haben wir uns gestritten. Das war das Letzte, woran er sich erinnert hat... das Allerletzte.« »Schhhh. Ruhig, Liebes.« Mary strich Caitlin übers Haar. Alles, was sie sagte, klang so profan. Wie konnten bei einer solchen Tragödie Worte auch nur im Geringsten helfen? »Ich habe mich nicht einmal von ihnen verabschiedet. Jetzt werden sie nie erfahren ... sie werden nie erfahren ... wie ich mich gefühlt habe ...« »Sie wissen es, ich bin mir ganz sicher. Wo immer sie sind, sie kennen deine Gefühle.« Crowther schaute ihnen gleichgültig zu. Mary fragte sich, wie er so kalt sein konnte. Doch obwohl sie kaum etwas über ihn wusste, spürte sie, dass er ihr die Wahrheit gesagt hatte über die Warnung aus Anderswelt und dass es dort ein Mittel gegen die Seuche gab. Vielleicht war der Gedanke ja naiv, aber wenn Caitlin dazu auser72 koren war, ein Heilmittel zurückzubringen, würde ihr dieses Unterfangen vielleicht ein gewisses Maß an Erlösung aus dem Albtraum verschaffen, den sie gerade durchlebte. In der nächsten Stunde saßen Mary und Caitlin eng umschlungen vor dem Kamin, während die jüngere Frau leise vor sich hin weinte. Caitlin war nicht sie selbst - manchmal änderte sich unvermittelt ihre Stimme oder ihre Worte wurden unverständlich -, doch die Tiefe ihrer Trauer war unverkennbar. Dann verfiel Caitlin in schmerzerfülltes Schweigen. Mary wartete eine Weile, war sich nicht sicher, ob sie genug für ihre Freundin getan hatte, und dann überließ sie Caitlin ihrem Schmerz. Crowther stand ungeduldig an der Tür. »Gehen Sie behutsam mit ihr um«, warnte ihn Mary. »Vergessen Sie nicht, was sie durchgemacht hat. Wagen Sie ja nicht, ihr wehzutun.« »Ich habe nicht vor, ihr wehzutun«, sagte Crowther. »Sie ist die entscheidende Figur bei dem, was wir vorhaben. Ohne sie besteht keine Hoffnung.« Es war nicht ganz die Beschwichtigung, die Mary sich erhofft hatte, aber es musste ausreichen. Sie wandte sich um und half Caitlin auf die Beine. »Hör zu, Liebes, du musst Professor Crowther begleiten. Er wird dich an einen sicheren Ort bringen.« Mary zuckte wegen der Lüge zusammen. »Stell keine Fragen. Tu einfach, was er sagt, bis ihr in Sicherheit seid. Verstehst du?« Caitlin nickte, verloren in ihrem Schmerz, aber wenigstens war sie wieder die Caitlin, die Mary kannte. Mary zog ihr einen alten Anorak über und führte sie zur Tür. Als Caitlin in die Nacht hinausgetreten war, packte Mary Crowthers Arm. »Ich mag Sie nicht besonders und vertraue Ihnen nicht«, sagte sie, »aber ich setze auf meinen Instinkt. Wenn Sie mit Caitlin irgendetwas Schlim73 mes anstellen, bringe ich Sie zur Strecke, schneide Ihnen die Eier ab und stopfe sie Ihnen ins Maul.« »Oh, Sie sind wirklich charmant«, entgegnete Crowther. »Keine Sorge. Ich selbst gehe auch ein großes Risiko ein.« Mary lachte schnaubend, um zu demonstrieren, wie sehr sie dieser Umstand kümmerte. Crowther trat hinter Caitlin nach draußen, dann wandte er sich halb um. »Noch eine Sache. Wenn ich Sie wäre, würde ich nicht hier bleiben. Diese Reiter könnten beschließen, dass Sie zu nahe am Geschehen sind, um weiterleben zu dürfen.« »Wo soll ich denn hin?« Er machte eine Ist-mir-doch-egal-Geste. »Das ist nicht mein Problem.« Und dann legte er Caitlin eine Hand auf die Schulter und führte sie den Weg hinunter zur Straße. 3 Die Flüsterer »Ein menschliches Herz ist wie Kautschuk: Ein bisschen Gefühl lässt es anschwellen, doch große Gefühle lassen es noch lange nicht platzen.« ANNE BRONTE In den anderthalb Jahren seit dem Untergang hatten sich die Forstgebiete Englands in unberührte Naturwälder zurückverwandelt, die so dicht waren, dass man an einigen Stellen kaum durchkam. Da es praktisch kein Benzin mehr gab, fuhren auf den Straßen keine Autos mehr, und so hatte sich überall struppiges Unkraut durch den aufgerissenen Asphalt gefressen. In den Wäldern selbst waren die Veränderungen noch dramatischer. Die uralten, breitblättrigen Bäume regierten in einer stillen Welt, die gegen jeden rebellierte, der dort einen Fuß hineinsetzte. Wäre es nicht unbedingt nötig gewesen, hätte sich Crowther niemals in den düsteren, wild wuchernden Wald hineingewagt.
Während sie dahintrotteten, versank Caitlin immer wieder in eine eigenartige Benommenheit, doch es gab erste Anzeichen, dass sie sich allmählich von dem Schock erholte. Trotzdem überraschte es ihn, als er sie weinen hörte. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte; jede Form von Gefühlsduselei war ihm zuwider. Zögerlich fragte er: »Geht es Ihnen gut?« Als sie zu ihm aufblickte und er den Schmerz in ihrem tränenüberströmten Gesicht sah, fuhr er zusammen. »Es 75 ist so ungerecht«, stammelte sie. »Ich habe die beiden doch so geliebt.« Ihr Schluchzen verriet einen alles verzehrenden Seelenschmerz. Crowther lehnte sich an einen Baum, überrascht darüber, wie leid sie ihm plötzlich tat. Er hatte gedacht, derartige Emotionen nicht mehr aufbringen zu können. Vielleicht bestand ja doch noch Hoffnung für ihn. Als sie weitergingen, war Caitlin hauptsächlich mit ihren chaotischen Gedanken beschäftigt. Hin und wieder redete sie mit sich selbst oder stellte Crowther eine Frage. Es beunruhigte ihn, denn ständig wechselten ihre Stimmen. Er hatte viel über multiple Persönlichkeiten gelesen, aber es selbst zu erleben war etwas ganz anderes. Er wusste, dass die verschiedenen Identitäten, von Experten Alter Egos genannt, unterschiedliche Sprechweisen, Philosophien, Manierismen und manchmal sogar ein anderes Geschlecht besitzen konnten. Ebenso konnte ihr körperlicher Zustand variieren: Eine Identität hatte Allergien, eine andere war Links-, die nächste Rechtshänder, einige waren kurzsichtig, während die Haupt-Persönlichkeit eine dicke Lesebrille benötigte. Es gab Psychologen, die die Existenz von multiplen Persönlichkeiten abstritten und behaupteten, dies seien bloß Fantasien des Patienten, aber falls er jemals irgendwelche Zweifel gehabt hatte, stand neben ihm der lebende Gegenbeweis. »Brigid sagt, Sie hätten Angst.« Caitlins Stimme überraschte ihn. Er schaute zur Seite. »Woher will sie das wissen?« »Brigid weiß solche Dinge eben. Sie ist sehr klug. Wovor haben Sie Angst?« Er lachte hohl. »Wovor ich Angst habe? Vor allem, so 76 wie jeder kluge Mensch. Ich habe Angst, weil wir es gewohnt waren, in einer Welt der Vernunft zu leben, und plötzlich ist alle Vernunft abhanden gekommen. Uns fehlen die Werkzeuge, um es in dieser neuen Welt weit zu bringen. Und ich habe Angst, weil wir in der Nahrungskette so weit unten stehen, nur noch ein kleines Stück über dem Mastvieh.« »Brigid sagt, Sie würden in ihrem Mantel etwas verstecken. « Er zuckte zusammen. »Brigid soll sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.« »Da vorne ist ein Dorf«, wechselte Caitlin von einem Moment zum nächsten das Thema. »Woher wissen Sie das?« »Ich rieche es.« Er schnüffelte, konnte aber nichts anderes als die Düfte des Waldes riechen, doch er wusste, dass Menschen mit Geistesstörungen manchmal schärfere Sinne besaßen. Einige Meter weiter wurde der widerliche Verwesungsgestank unverkennbar. Im Freien liegen gelassene Leichen waren ein eindeutiger Warnhinweis, und Crowther setzte schon an, das Dorf zu umgehen, als Caitlin ihn am Arm packte. Sie hatte etwas registriert, das er nicht wahrnahm. Entgegen seinem Instinkt ließ Crowther sich von ihr führen. Sie schlich geduckt durchs Unterholz, bis sie nicht weit entfernt einen Sechzigerjahre-Bungalow erblickten. Hinter einem der Fenster leuchtete der rötliche Lichtschein eines Feuers, während aus allen Öffnungen und Ritzen dicker schwarzer Rauch hervorquoll. Die Eingangstür flog auf, und zwei Männer kamen mit einem Lebensmittelkarton, einem Gewehr und einigen anderen Gegenständen, die Crowther nicht erkennen konnte, he77 rausgerannt. Beide trugen eine Art Uniform, schwarze T-Shirts mit einem blutroten V, das sich von den Schultern bis zum Bauchnabel erstreckte. Als die Plünderer davoneilten, schlich Crowther näher heran, um bessere Sicht zu haben. Ein Stück die Straße hinunter sah er weitere gleichartig gekleidete Männer - eine Bande, nahm er an - mit ihrer Beute aus anderen Häusern herauskommen. Sie arbeiteten schnell und effizient, nahmen nur das, was sie brauchten, und verließen das Dorf in Pferdekarren, die am anderen Ende der Hauptstraße standen. »Den Kerlen laufen wir besser nicht über den Weg«, sagte Crowther. Neben ihm ertönte ein Rascheln, und bevor er reagieren konnte, war Caitlin aus ihrem Versteck gekrochen und rutschte die Böschung zu der wild wuchernden Wiese hinunter, die an die Hauptstraße grenzte. »Warten Sie«, zischte er, doch sie beachtete ihn nicht. Sie eilte durch das kniehohe Gras und kletterte über einen Zaun, bevor sie prüfend die Straße hinunterblickte. Crowther wartete ab, ob sie angegriffen wurde, und folgte ihr dann widerwillig. Er überlegte, ob er sie für den Rest ihrer Reise fesseln sollte, als sie ihn zu einem großen, etwas abseits stehenden Haus heranwinkte. Der Vorgarten war wild zugewachsen, und das Haus selbst sah aus, als hätte man an ihm seit dem Untergang keine Reparaturen mehr ausgeführt. »Gehen Sie nicht rein«, sagte er und deutete auf das rote X, das auf die Haustür gepinselt war. »Ich habe drinnen etwas gehört.« »Es ist ein Seuchenhaus.« »Professor, wir sind doch nicht im Mittelalter«, sagte sie.
»Sollte man meinen, oder?« Er wandte sich zur unkrautüberwucherten Auffahrt um und seufzte verdros78 sen, als er hörte, wie Caitlin die Tür öffnete. Diesmal würde er ihr nicht folgen. Alles hatte seine Grenzen. Der Gestank im Haus war überwältigend. Caitlin schlug die Hand vor den Mund und kämpfte gegen den aufsteigenden Brechreiz an; sie war sich nicht sicher, warum sie hineingegangen war, aber sie vermutete, dass es mit den merkwürdigen Stimmen zusammenhing, die sie ab und an im Kopf hörte. Sie ging durch den Flur, in dem die feuchte Tapete von den Wänden abblätterte, und schob die Tür zu dem Zimmer auf, in dem sie glaubte das Geräusch gehört zu haben. Ihr bot sich ein grauenvoller Anblick, doch sie empfand nur überwältigendes Mitleid. Überall lagen Leichen mit den unverkennbaren Seuchenflecken. Anfangs hatte man sie noch sorgfältig aufgestapelt, die letzten Toten dagegen waren achtlos auf den Haufen geworfen worden. Der Anblick beschwor bei Caitlin eine Folge verstörender Erinnerungen herauf: Der erste Fall, den man in ihre Praxis gebracht hatte, die plötzliche Erkenntnis, was los war, das wachsende Entsetzen, als sich im Gemeindesaal die Leichen stapelten. Die Gesichter ... ihre Freunde ... Bekannte ... gute Menschen, Menschen, die es nicht verdienten ... und dann Grant ... und Liam ... Sie stieß sich die Fäuste in die Augenhöhlen, um die furchtbaren Bilder zu vertreiben, den modrigen Schlammgeruch und das klamme Gefühl von feuchter Kleidung auf der Haut. Das Geräusch war kaum zu hören, riss sie aber aus ihren Gedanken. Etwas Lebendiges war im Zimmer. Ratten? Plötzlich verrutschte der Arm einer Leiche, und dahinter sah sie eine Bewegung - das konnte kein Nagetier gewesen sein. 79 »Komm raus.« Sie konnte es nicht fassen, dass sich jemand unter dem stinkenden Leichenberg versteckte. Das plötzliche Hinundherrucken der Toten deutete darauf hin, dass ein kurzer Kraftakt im Gange war, und dann rutschten die Leichen zur Seite, und ein etwa neun- oder zehnjähriger Junge kam heraus gekrochen. Er war dunkelhäutig und leicht übergewichtig, hatte kurzes Haar und große, ausdrucksvolle Augen, die ihn viel jünger wirken ließen. Er blinzelte ein paar Mal und sah sie hoffnungsvoll an. »Keine Angst«, sagte Caitlin schockiert. »Ich tu dir nichts.« Plötzlich rutschten weitere Leichen zur Seite und eine zweite Gestalt kam heraus gekrochen: ein etwa sechzehnjähriges Mädchen, ebenfalls dunkelhäutig; ihre Züge waren hart und ihre Augen funkelten drohend. »Kommen Sie nicht näher«, sagte sie. Sie hielt ein Schnappmesser in der Hand. Caitlin hob die Hände. »Ist ja gut.« Der kalte Blick des Mädchens wanderte durchs Zimmer und hinaus in den Flur. »Sie gehören nicht zu denen?«, fragte sie, ohne das Messer zu senken. »Zu der Bande mit den komischen T-Shirts? Nein. Ich kam rein, nachdem sie verschwunden waren.« Das Mädchen musterte Caitlin abschätzend. »Machen Sie keinen Scheiß«, sagte sie. Trotz der Härte in ihrer Stimme verriet ihre Artikulation eine gute Schulbildung, aber ihr Gebaren war unverkennbar gefährlich. »Mein Name ist Caitlin. Ich bin Ärztin.« Die Information beruhigte das Mädchen so weit, dass es das Messer senkte, doch der eisige Blick blieb. »Sie kommen ein bisschen spät, finden Sie nicht?« »Kommt, lasst uns verschwinden«, sagte Caitlin sanft. »Es ist gefährlich.« 80 »Es ist überall gefährlich.« Die Stimme des Mädchens klang stahlhart, doch sie bedeutete dem Jungen trotzdem, Caitlin nach draußen zu folgen. Crowther wartete im Schatten einer hohen Esche und beobachtete die verlassene Straße. Als Caitlin mit den beiden Kindern auf ihn zukam, zog er eine ärgerliche Miene. »Das ist Professor Crowther.« Das Mädchen machte keine Anstalten, seinen Namen zu nennen, bis der Junge es anstupste. »Mahalia«, sagte sie. »Jackson.« Crowther hob eine Augenbraue. »Wie die Sängerin.« »Wie ich«, entgegnete Mahalia. Caitlin hockte sich vor dem kleinen Jungen hin; seine offenen, ehrlichen Züge gefielen ihr. »Und wie ist dein Name?«, fragte sie ihn. »Er ist stumm.« Mahalias Körpersprache verriet, dass sie sich für den Jungen verantwortlich fühlte. »Ich glaube aber, dass er in Wahrheit sprechen kann - er will es bloß nicht. Fragen Sie mich nicht, warum.« Caitlin schaute dem Kleinen ins Gesicht, suchte nach einer Bestätigung für Mahalias Vermutung, doch er lächelte sie bloß breit und warmherzig an. »Sein Name ist Carlton Breen. Er hat ihn mir aufgeschrieben.« »Wo sind eure Eltern?« Mahalia schnaubte nur und wandte den Blick ab. »Stammt ihr von hier?« »Nein, aus Winchester. Ich zumindest. Ich weiß nicht, wo Carlton herkommt. Haben Sie etwas zu essen dabei?« »Nein, aber wir werden schon was finden ...«
»Ja, und schicke Kleidung besorgen wir uns auch, wenn wir schon auf Einkaufstour gehen«, meckerte Crowther. 81 »Wir können die beiden nicht hier zurücklassen«, sagte Caitlin. »Wir nehmen sie nicht mit. Haben Sie irgendeine Vorstellung davon, was uns bevorsteht? Glauben Sie mir, die beiden sind hier viel besser aufgehoben.« Plötzlich verspürte Caitlin einen scharfen Kopfschmerz; es kam ihr vor, als stürze sie in einen tiefen, dunklen Brunnen. »Wenn ihr die beiden nicht mitnehmt, komme ich auch nicht mit!« Mahalia und Carlton rissen die Augen auf, als die bockige Kinderstimme aus Caitlins Mund kam. Crowther fluchte leise. »Na schön. Eine Weile wird's schon gehen.« Er marschierte die Auffahrt hinunter. »Obwohl Ihnen hoffentlich klar ist, dass es wahrscheinlich unseren Tod bedeuten wird, wenn wir einen Kindergarten mit uns herumschleppen.« Sie fanden etwas Gemüse, das die Plünderer übersehen hatten, und kochten eine dünne Suppe, bevor sie weiterzogen. Crowther marschierte voraus und bekundete damit, dass er keine Lust auf die Gesellschaft der anderen hatte. Genau genommen überlegte er bereits, wie er Mahalia und Carlton bei der ersten Gelegenheit wieder loswerden konnte. Sobald feststand, dass die beiden Kinder mitkommen würden, ließ Amy Caitlin wieder zum Vorschein kommen. »Was war das vorhin?«, fragte Mahalia, während sie zwischen den Bäumen dahintrotteten. »Ich meine, die unheimliche Kleine-Mädchen-Stimme?« Furcht regte sich in Caitlin. »Darüber möchte ich nicht sprechen.« »Dann eben nicht«, sagte Mahalia mit einem gleichgültigen Schulterzucken. »Das kann ja lustig werden. 82 Unterwegs mit einem mürrischen alten Sack und einer Verrückten.« »Seid ihr schon lange auf euch allein gestellt?«, fragte Caitlin. Es war Mahalia anzumerken, dass sie an oberflächliches Plaudern nicht gewöhnt war. »Seit dem Untergang. Ich bin von der Südküste raufgewandert und versuche am Leben zu bleiben, wie alle anderen auch.« »Und es gibt niemanden, der sich um euch kümmert? Keine Familie?« »Ich kann mich um mich selbst kümmern.« »Ihr solltet nicht gezwungen sein, euch allein durchzuschlagen. Jeder braucht einen anderen Menschen.« Aus irgendeinem Grund verärgerte die Bemerkung das Mädchen. »Ich habe Carlton und er hat mich, und bisher kommen wir ganz gut zurecht. Wir brauchen euch nicht. Wir kommen nur mit, weil es ein bisschen Abwechslung bedeutet. Wir können jederzeit verschwinden. Vergessen Sie das nicht.« Sie ging ein Stück voraus, um nicht weiter mit Caitlin reden zu müssen. Die nächsten fünf Meilen führten durch dichten Wald. Zuweilen kamen sie nur mühsam voran, doch am frühen Nachmittag klarte der trübe Himmel auf, und der helle, freundliche Frühlingssonnenschein machte den anstrengenden Marsch etwas erträglicher. »Aber Sie müssen doch wissen, wo Sie hinwollen!«, sagte Mahalia ungläubig, nachdem sie Caitlin nach ihrem Ziel gefragt hatte. Die Frage beunruhigte Caitlin. Einfach nur zu laufen erfüllte sie mit einem existenziellen Frieden; in die Zukunft zu denken bedeutete gleichzeitig auch, an die Vergangenheit zu denken. »Ich folge einfach dem Profes83 sor.« Sie wusste, wie dämlich das klang, aber so war es nun mal. Mahalia richtete ihre Aufmerksamkeit auf Crowther, der darauf bedacht war, zwischen sich und den anderen einige Schritte Abstand zu halten. »Sie wissen, wo es hingeht. Ich habe gesehen, wie Sie zur Sonne aufgeschaut haben, um die Marschrichtung zu überprüfen.« »Du bist aber ein schlaues Mädchen.« »Wenn Sie es mir nicht verraten, frage ich so lange, bis ich Ihnen auf die Nerven falle.« »Du fällst mir jetzt schon auf die Nerven.« »Wohin gehen wir?« Crowther brummte verärgert, sagte aber einige Sekunden später: »Wir besorgen ein Mittel gegen die Seuche.« Caitlin blickte angespannt zu Boden. Mahalia dachte einen Moment lang über Crowthers Antwort nach. »Dann kennen Sie also einen Ort, wo es einen Impfstoff gibt?« »Nicht ganz.« »Wohin gehen Sie dann?« »Es ist sinnlos, es dir zu erklären; du würdest es nicht verstehen«, sagte Crowther, so herablassend er konnte. Mahalia bohrte weiter. »Versuchen Sie es doch.« Crowther drehte sich zu ihr um. »Na schön, du Nervensäge. In dieser Welt gibt es kein Mittel gegen die Seuche es gibt keine Hoffnung. Deshalb werden wir die Dimensionsgrenze zu einer anderen Welt überqueren und hoffentlich dort die Antworten finden, nach denen wir suchen.« Mahalias Miene verriet ihre Gedanken: Zuerst glaubte sie, er nähme sie auf den Arm, dann dass er genauso wahnsinnig sei wie Caitlin. Aber dann geschah etwas Eigenartiges, das Crowther zu denken gab: Carlton zupfte an Mahalias Ärmel, um ihre Aufmerksamkeit zu erlan-
84 gen, und nickte beipflichtend. Sofort akzeptierte das Mädchen die Erklärung des Professors. »Okay«, sagte sie. »Erzählen Sie mir von dieser anderen Welt und wie wir dort hingelangen.« »Eine andere Welt?«, rief Caitlin ungläubig. »Nicht irgendeine andere Welt. Anderswelt«, sagte Crowther, während er über einen umgestürzten Baumstamm stieg. »Sie ist seit Jahrtausenden Teil der allgemein bekannten Legenden ... den Kelten zufolge ist es die Heimat der Götter. Und diese Welt, Anderswelt, gibt es wirklich, und mit den Legenden haben unsere Vorfahren das Wissen für die Nachwelt konserviert - halb als Information, halb als Warnung. Es gibt Menschen, die dort gewesen sind, und mit einem von ihnen habe ich gesprochen.« »Soso.« Mahalia zwinkerte Carlton auf eine Weise zu, die Crowther immens verärgerte. »Ehrlich gesagt, gewöhne ich mich langsam an den Gedanken, euch nach Anderswelt mitzunehmen«, erklärte Crowther. »Sie ist der Ursprungsort jeder albtraumhaften Erscheinung, die seit dem Untergang hier herübergelangt ist, und glaubt mir, dort drüben warten noch viel schlimmere Wesen. Ich glaube, es wird dir einen Heidenspaß machen, ihnen zu begegnen.« »Nun, wir kommen mit, ob's Ihnen gefällt oder nicht«, erwiderte Mahalia unbekümmert. »Was meinst du, Kumpel?« Carlton nickte eifrig. »Ich dachte, ich hätte die Dummheit der Jugend verstanden, aber jetzt habe ich dich kennen gelernt«, sagte Crowther. »Wirklich ... vielen Dank für die erhellende Erfahrung.« »Wir werden unsere Welt verlassen?« In Caitlins Gesicht erstrahlte ein Licht. »Ist das wirklich möglich?« 85 Auch Mahalia schien der Gedanke zu faszinieren. »Wie stellen wir das an?« »Warte einfach ab«, sagte Crowther schroff. Auf den nächsten fünf Meilen ignorierte er alle weiteren Fragen, und dann hob er die Hand und signalisierte damit den anderen, stehen zu bleiben. Sie blickten zwischen den Bäumen auf ein hübsches georgianisches Dorf, das von einem einzelnen großen Gebäude dominiert wurde. »Das ist unser Ziel?«, fragte Caitlin. »Ja. Das National Motor Museum«, sagte Crowther. »Wir besorgen uns ein Auto.« Als der Professor sie weiterführen wollte, blieb Carlton reglos stehen. »Was ist los mit ihm?«, fragte Caitlin. »Er hat Angst.« Mahalia ließ sich vor dem Jungen auf die Knie sinken. Er starrte unruhig auf die Bäume, die das Dorf umgaben. »Was hast du, Carlton?« »Warum stellst du ihm Fragen, die er sowieso nicht beantworten kann?«, wollte Crowther verärgert wissen. »Carlton hat Recht. Spüren Sie es nicht?« Caitlin hatte den Kopf zur Seite geneigt und lauschte nicht bloß, sondern ließ die Atmosphäre auf sich wirken. Eine langsam steigende Spannung lag in der Luft. »Die Vögel haben aufgehört zu zwitschern«, bemerkte Mahalia. Crowther wirkte beunruhigt. »Ich fürchte, sie haben uns eingeholt. Kommt.« »Wer ist hinter euch her?«, fragte Mahalia. »Wesen, die nicht von dieser Welt stammen«, sagte der Professor. »Ein weiterer Grund, ein Auto zu besorgen und so schnell wie möglich zu verschwinden.« Das Museum befand sich auf dem Gelände einer Zisterzienser-Abtei aus dem vierzehnten Jahrhundert; der 86 zwischen den Gebäuden stehende Trennzaun war mit Kletterpflanzen überwuchert, und der einstmals gepflegte Rasen glich einem wilden Garten. Sie fanden den Eingang und kletterten über das Tor, Crowther unter lautem Schnaufen und Fluchen. »Warum brauchen wir unbedingt ein Auto?«, fragte Caitlin. »Weil der Zeitfaktor von entscheidender Bedeutung ist und ein weiter Weg vor uns liegt«, antwortete Crowther. »Und um ehrlich zu sein, ist mir jede Möglichkeit willkommen, die Zeit, die ich mit Ihnen - und jetzt auch mit den beiden Kindern - verbringen muss, zu verkürzen.« »Meinen Sie nicht, dass die Fahrzeuge längst gestohlen wurden?« »Nur wenn es in der Gegend einen Sammler klassischer Autos gibt. Ansonsten ist niemand an den Museumsstücken interessiert. Ich setze darauf, dass bisher niemand darauf gekommen ist, dass es hier ein Benzindepot geben muss. Wir werden den Wagen voll tanken und losbrausen, und wer immer uns verfolgt, kann an unseren Abgasen ersticken.« Die Explosion ließ sie zusammenschrecken. Direkt neben ihnen zersplitterte ein Ast und fiel herunter. »Jemand schießt auf uns«, rief Crowther ungläubig, bevor Caitlin ihn zu Boden riss. »Verschwindet, ihr Schweine! Ich knall euch ab!« Vom Museum her kam ein wild starrender Mann auf sie zugestürmt. Er hatte einen grauen Haarkranz und trug einen zerschlissenen Mantel und eine dreckstarrende braune Hose, und die Muskete in seinen Händen war so alt und verrostet, dass es aussah, als würde sie beim nächsten Schuss auseinander fallen. »Das ist mein Platz!«, brüllte er. »Ihr habt hier nichts zu suchen!« Eine weitere Kartätsche zischte über ihre Köpfe hin87
weg. Das Gewehr war so ungenau, dass sie eher ein Querschläger töten würde als ein tatsächlicher Treffer. »Zu den Bäumen!«, rief Caitlin und schaute zu den anderen zurück. Carlton war da, doch Mahalia war verschwunden. Der Angreifer machte sich an die umständliche Aufgabe, die Muskete nachzuladen - Hohlgeschoss, Schießpulver, alles feststopfen. Caitlin nutzte die Gelegenheit, um Carlton zu sich zu ziehen, während Crowther auf allen vieren zu ihnen heran kroch. Sobald sie sich versteckt hatten, hielt Caitlin Ausschau nach Mahalia. War sie zum Zaun gerannt? Die Antwort folgte Sekunden später. Wie ein sich aus dem Boden erhebender Schatten tauchte Mahalia hinter dem Angreifer auf. Sie bewegte sich völlig lautlos, sodass er sie nicht bemerkte, bis sie ihm die Muskete aus den Händen schlug, die Arme um ihn schlang und ihm die Messerklinge an die Kehle drückte. Die anderen drei eilten zu ihr, als der Mann schließlich aufhörte, sich zu wehren. Mahalia hatte ihm etwas ins Ohr geflüstert. An seinem Hals lief ein feiner Blutfaden herunter. »Tu mir nichts«, wimmerte er. Tränen der Angst quollen ihm aus den Augen, in denen ein Hauch von IsolationsWahnsinn schimmerte. »Was sollte das?«, schimpfte Crowther. »Sie hätten uns fast umgebracht!« »Dies ist mein Platz«, wiederholte der Mann. »Ihr könnt hier nicht rein.« »Soll ich ihn töten?« Mahalias kalte Stimme erschreckte Caitlin. »Ihn töten?«, fragte Crowther ungläubig. »Du bist genauso verrückt wie er. Wir ziehen nicht herum und bringen Menschen um!« 88 »Wenn wir ihn gehen lassen, könnten wir es bereuen«, entgegnete Mahalia. »Ach, halt den Mund.« Crowther zog ihre Messerhand grob vom Hals des Mannes weg. Der Gefangene sank schluchzend zu Boden. »Der Kerl hat einen Dachschaden«, sagte Crowther. »Wahrscheinlich lebt er seit dem Untergang hier und ballert wie ein Hinterwäldler auf jeden, der sich dem Gebäude nähert. Was ist bloß los mit den Menschen? Sobald es kritisch wird, werden sie verrückt.« Er warf Caitlin einen Seitenblick zu. Hinter ihnen fing Carlton an zu weinen. Als Caitlin sich umwandte, um ihn zu trösten, deutete er furchtsam auf das Tor. Hinter dem Trennzaun tauchten zwischen den Bäumen fünf Gestalten auf. Als Caitlin sie erblickte, kam es ihr vor, als würde alle Lebenskraft in ihr versiegen. Es waren die Flüsterer, wie sie nun ohne jeden Zweifel wusste. Sie hatten Fratzen, die Caitlin für den Rest ihres Lebens Albträume bereiten würden: Es waren forensische Studien eines gehäuteten Menschenkopfes; die Muskulatur war schneeweiß, trocken und pergamentartig, die Zähne waren lang und spitz, und ihre Augen verströmten ein rauchiges, purpurnes Licht, das sie wie eine giftige Nebelwolke umhüllte. Sie waren groß und dürr und sahen aus, als besäßen sie kaum die Kraft, sich aufrecht zu halten. Ihre Körper wirkten verloren in den zusammengewürfelten Rüstungen aus geflügelten Pickelhauben, verrosteten Brustpanzern, Panzerhandschuhen und flatternden schwarzen Lumpen. Auf dem Rücken und an ihren Gürteln hingen die verschiedensten Waffen - Schwerter, Speere, Äxte und Gebilde, die aussahen wie Spitzhacken. Ihre Rösser waren eine verstörende Kreuzung aus Riesenechse und Pferd, mit grau89 en Hautschuppen und extrem ausgeprägten Muskelsträngen. Mahalia, Crowther, Caitlin und Carlton standen wie angewurzelt da. Hinter dem sanften Rauschen des Windes im knospenden Laub erhob sich ein Flüstern, das Ahnungen von grauenvollen, deprimierenden Dingen weckte, obwohl man keine einzelnen Worte verstand. Die Flüsterer stiegen ab und schwebten wie Geister zum Zaun, vor dem sie regungslos verharrten. »Warum kommen sie nicht rein?«, fragte Caitlin. »Sie können nicht«, sagte der Eremit. »Dies ist ein geweihtes Klostergelände.« Crowther ging auf die Knie und legte die rechte Handfläche auf den Erdboden. »Wovon spricht der Mann?«, fragte Caitlin. »Vom Blauen Feuer«, sagte Crowther. »Ich wünschte, ich könnte es spüren.« »Sie bluten.« Sie deutete auf seine blutende Nase, und dann merkte sie, dass auch ihr etwas Feuchtes über die Lippen lief. Sie berührte die Stelle und sah den Blutfleck an der Fingerkuppe. »Was machen die mit uns?« »Kommt schon«, drängte Mahalia. »Ihr steht rum, als würdet ihr träumen.« Sie hob einen Stein auf und schlug damit dem Gefangenen auf den Hinterkopf. Der Eremit sackte bewusstlos zusammen. »Damit er uns nicht im Weg ist.« Caitlin war zu abwesend, um sich über die Tat des Mädchens zu entrüsten. Gedanken, die nicht ihre eigenen waren, schössen ihr durch den Kopf, und sie spürte ein fremdes Bewusstsein, das mit ihr Kontakt aufnahm - vor ihr erschien das Gesicht eines der Flüsterer, und obwohl der Mund keine hörbaren Silben formte, waren die Worte klar zu verstehen: Gebt auf. Es gibt keine Hoff90 nung für euch ...zu fliehen ist sinnlos. Ihr werdet alle sterben. Genauso gut könntet ihr euch das Leben nehmen. Die Seuche wird euch dahinraffen ... Die Botschaft enthielt einen Virus, der ihren Geist infizierte wie ein Gift das Blut: Er bestand aus reiner Verzweiflung. Das Gefühl bereitete ihr fast körperliche Schmerzen.
Plötzlich war Caitlin wieder auf dem Eisfeld, und Briony schüttelte sie grob. »Brigid sagt, sie seien in euren Köpfen. Ihr müsst verschwinden.« Caitlin erwachte aus ihrer Trance und merkte, dass sie, Mahalia, Carlton und Crowther wie Schlafwandler auf den Zaun zugingen. Sie reagierte blitzschnell und verpasste Crowther eine so heftige Ohrfeige, dass seine Lippen aufplatzten und ihm Blut in den Mund lief. Der Schmerz riss ihn aus dem geistigen Sog. »Sie dumme Kuh!«, brüllte er. Aber es hatte funktioniert. Caitlin packte Carlton, Crowther schlang die Arme um Mahalia und legte sie sich über die Schulter, und dann rannten sie auf die Museumsgebäude zu. Sie merkten, dass sie dem Einflussbereich der Flüsterer entronnen waren, als Mahalia plötzlich brüllte: »Lassen Sie mich runter, Sie Mistkerl!« und wild um sich schlug. Crowther ließ sie unsanft zu Boden fallen, etwas zu genüsslich, wie Caitlin fand. Caitlin warf noch einen letzten Blick auf den purpurnen Lichtnebel am Zaun, dann eilte sie weiter. »Was sind das für Wesen?«, fragte sie, »und warum jagen sie uns?« »Die offensichtlichen Antworten wären, weil sie hungrig sind oder weil sie es als Sport betrachten«, murmelte Crowther, doch seine Miene verriet, dass die Fragen ihn beunruhigten. Es dauerte eine Weile, bis sie sich Zugang zu den Aus91 Stellungsräumen verschafft hatten; der bisherige Bewohner hatte alle Eingänge sorgfältig verbarrikadiert. Schließlich gelang es ihnen, eine der Türen einzutreten, und als sie drinnen waren, fühlte es sich sonderbar an, zwischen den glänzenden, archaischen Fahrzeugen herumzulaufen, die sie an die Welt vor dem Untergang erinnerten. Eine große Halle führte in die nächste, und in allen roch es nach Schmieröl, Gummi und Lederpolsterung. Die Autos - alle nur erdenklichen Modelle, bekannte und unbekannte - standen Seite an Seite, die makellosen Lackierungen schimmerten im Halbdunkel. »In kommenden Jahrhunderten, wenn die Pflanzenwelt diesen Ort verschlungen hat und er lange vergessen ist, wird dies für die dann lebenden Archäologen wie Tutenchamuns Gruft sein«, sagte Crowther mit gedämpfter Stimme. »Das heißt, falls es die Menschheit dann noch gibt.« Crowther ging an den ältesten Fahrzeugen vorbei, die aussahen, als wären sie kaum schneller als ein Pferd, und blieb vor einer Sportwagensammlung aus den Siebziger Jahren stehen. Schließlich wählte er einen Wagen aus, einen Ferrari Dino 246 GT aus dem Jahre 1974. Mahalia lachte. »Ich wette, so einen wollten Sie schon immer haben.« »Leider hatte ich nie das nötige Geld«, sagte Crowther. »Ein Vorteil des Untergangs ist, dass man sich alles nehmen kann, was man möchte.« »Wenn man nicht tot ist«, fügte Caitlin hinzu. Crowther studierte die Informationstafel. »Genau genommen nehme ich diesen Wagen, weil er ein Zweisitzer ist und wir die Kinder in den Stauraum hinter den Sitzen zwängen können, wo ich sie nicht die ganze Zeit sehen muss. Wird bestimmt ziemlich unbequem.« Dann las er laut vor: »2418 cc V-6 Motor, zwölf Druckluftven92 tile, 195 PS bei 7600 Umdrehungen pro Minute, Höchstgeschwindigkeit 240 Stundenkilometer. Das sollte reichen. Jetzt müssen wir ihn nur noch voll tanken.« Er öffnete den Wagenschlag, dann hielt er betreten inne. »Ich nehme an, keiner von uns weiß, wie man ein Auto kurzschließt, oder?« Mahalia schob sich rüde an ihm vorbei und beugte sich unter das Lenkrad. Wenige Sekunden später schallte das raue Motorbrüllen durch die Ausstellungshalle. »Oh, das hätte ich wissen müssen.« Crowther setzte sich mit sichtlicher Freude hinters Steuer. »Wie es aussieht, ist der Tank voll genug, um uns zum Benzindepot zu bringen, wo immer es sein mag.« »Ein kurzes Dankeschön wäre nett gewesen«, sagte Mahalia säuerlich. Das Benzindepot befand sich hinter den Ausstellungshallen. Der Wind hatte es mit Plastikplanen, abgebrochenen Ästen, Laub und anderer Vegetation getarnt. Crowther entdeckte mehrere Benzinfässer und füllte lächelnd den Tank des Ferrari. »Es ist komisch«, sinnierte er, »ich hatte völlig vergessen, wie Benzin riecht.« Carlton stand etwas abseits und blickte unsicher zu den Baumkronen auf. »Ich glaube, der Junge weiß mehr, als er uns zeigt«, sagte Caitlin. »Es ist, als könnte er die Flüsterer spüren.« »Mir sind die Kerle da draußen egal«, sagte Crowther, während er den Tankverschluss zuschraubte, »denn mit diesem Rennwagen halten sie nie im Leben mit.« Als alle drin saßen, startete Crowther den Motor und fuhr quer über das Gelände zum Tor. Zwischen den Bäumen waberte der purpurne Lichtschein, der die Anwesenheit der Flüsterer kennzeichnete, doch Crowther beachtete ihn nicht. Das Auto raste auf das Tor zu. Der Aufprall schüttelte 93 sie durch, doch der Holzrahmen brach aus den Angeln, und dann waren sie draußen auf der kurvigen Zufahrtsstraße. »Wir haben es geschafft!«, sagte Caitlin ungläubig. Carlton beugte sich über die Rückenlehne und schlang von hinten die Arme um den Professor. »Lass mich los, Bengel!«, brüllte Crowther.
»Sie können mir danken, wenn Sie so weit sind«, sagte Mahalia und setzte sich so hin, dass Crowther sie jedes Mal ansehen würde, wenn er in den Rückspiegel schaute. Der Professor grummelte: »Anscheinend bist du doch nicht völlig nutzlos.« Er lenkte den Ferrari auf die Hauptstraße und trat so hart aufs Gaspedal, dass es sie in die Sitze presste. »Ich wünschte, wir hätten Musik«, sagte er. Euphorie über ihre gelungene Flucht erfüllte sie. Nur Carlton blickte zurück und beobachtete, wie der purpurne Nebel ihnen träge hinterher wallte. Seit Caitlin gegangen war, hatte Mary mit einem Gefühl des Unbehagens gerungen, vor allem aus Sorge um ihre Freundin. Als sie sich vor drei Jahren kennen gelernt hatten, hatten sie sich nicht gemocht. Mary, die Kräuterfrau und Naturheilerin, und Caitlin, die rationale Medizinerin, konnten keine Gemeinsamkeiten finden. Doch als sie im Laufe der Wochen und Monate immer wieder Kontakt miteinander hatten, durchschauten sie ihre oberflächliche Sichtweise. Mary hatte angefangen, vieles an Caitlin zu bewundern. Die Charakterstärke der jungen Ärztin und die Fähigkeit, ihre persönlichen Wünsche dem Wohle anderer unterzuordnen, waren ein starker Gegensatz zu dem, wie Mary sich selbst sah. Wären ihr in der Vergangenheit nicht so große Fehler unter94 laufen, hätte sie vermutlich einen Partner gefunden, und vielleicht hätten sie eine Tochter gehabt. Sie wäre stolz gewesen, wenn das Mädchen so wie Caitlin geworden wäre. Aber Marys Unbehagen rührte auch von dem Wissen her, dass die Bedrohung nicht mit Caitlin und Crowther weitergezogen war. Etwas lag in der Luft; sie spürte es. Als sich in ihrem Whiskeyglas das Licht des Kaminfeuers fing, bekam sie ein schlechtes Gewissen, denn sie hatte erst vor einer halben Stunde gefrühstückt. Andererseits, das Leben war schmerzvoller, als man es sich je hätte träumen lassen, und was war so schlimm an etwas, das der harschen Realität ein wenig die Schärfe nahm? Zumindest würde es nicht so weit kommen, dass sie eines Tages auf dem Dorfplatz herumlungern und jedem ein Tänzchen vorführen würde, der ihr einen Drink ausgab. Es gab keine Spirituosengeschäfte, wo sie ihren schwindenden Alkoholvorrat hätte auffüllen können. Die herrschenden Mächte würden für eine Periode absoluter Nüchternheit sorgen. Der Gemeinde war es gelungen, einen weiteren dunklen, harten Winter zu überstehen. Aber dann war mit dem Frühling diese Seuche gekommen, vermutlich die Pest. Das Sein hatte wirklich einen Sinn für Ironie. Wo sollte das alles bloß enden? Arthur Lee kam aus der Küche gestürmt, mit einer Dringlichkeit, die sie aus ihren trüben Gedanken riss. Mit gesträubtem Fell versuchte er sich zwischen ihren Waden zu verstecken, obwohl er für gewöhnlich kein ängstlicher Kater war; genau genommen fürchtete er sich normalerweise vor nichts und niemandem. Mary fröstelte. Das ist eine Warnung, dachte sie. Nach einem Mut machenden Schluck Whiskey ging 95 sie von Fenster zu Fenster und schaute in die Landschaft hinaus, die ins Licht der frühen Morgensonne getaucht war. Die Bäume und Büsche hatten neue Knospen; sie konnte den Jahreszeitenwechsel riechen. Nichts störte die friedvolle Szenerie - keine im Schatten stehenden Gestalten, keine sich entgegengesetzt zum Wind biegenden Zweige. Sie öffnete all ihre Sinne, nahm aber lediglich das Unbehagen am Rande ihres Bewusstseins wahr. »Wovor fürchtest du dich?« Sie ließ sich auf die Knie nieder, um dem Kater in die glänzenden Augen zu schauen, doch er war zu aufgeregt und blieb nicht still stehen. Ein Tropfen fiel ihr auf die Wange. Verwundert blickte sie zur Zimmerdecke auf und wischte die Flüssigkeit weg, aber dann erstarrte sie, als sie ihre Fingerkuppen sah: Der Fleck war dunkel. Im Spiegel sah sie, dass ihr ein dünner Blutfaden aus den Ohren lief. Gedanken an die Pest und an den Tod schössen ihr durch den Kopf, doch sie hatte keine Zeit, darüber nachzugrübeln, denn in dem Moment klingelte das Telefon - obwohl seit dem Untergang die Telefone nicht mehr funktionierten. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Alles veränderte sich gleichzeitig: Die Schatten im Zimmer verrutschten ein Stück, das Licht wurde sonderbar grell, das kaum hörbare Geräusch ihrer Füße auf dem Teppich brummte ihr laut in den Ohren; ihre geschärften Sinne stellten sich auf etwas ein, das einen Schritt von der Realität entfernt war. Mit einem flauen Gefühl von Unwirklichkeit ging Mary zum Telefon. Sie zögerte, steif vor Furcht, und dann nahm sie den Hörer ab. »Hallo?« Es folgte ein Moment zischender Statik und dann eine hohle Leere, die sie an den Weltraum erinnerte. Danach kam eine fragende Stimme, die irgendwie mechanisch 96 klang. »... Schhh ... hsss ... Bist du dran? Hörst mich? ... hsss ... vorbei ... Hörst du mich? ... schhh ... nicht vorbei. Es ist nicht vorbei. Du musst ...« Mary schleuderte das Telefon durchs Zimmer. Nachdem sie einen Moment lang mit einer irrationalen Furcht gerungen hatte, marschierte sie durch den Raum und nahm den Hörer auf: Das Telefon war wieder tot. Sie starrte es entgeistert an, während Arthur Lee sich unterm Beistelltisch flach auf den Boden presste. Dann riss sie ein heftiges Klopfen an der Tür aus der Benommenheit.
Mach nicht auf, sagte eine schrille Stimme in ihrem Kopf. Und sie hatte die feste Absicht, den Rat zu befolgen, aber dann lag ihre Hand unerklärlicherweise auf der Klinke, drückte sie herunter und öffnete die Tür. Ihr stockte der Atem. Auf der Schwelle stand eine groß gewachsene, dunkle Gestalt. Merkwürdigerweise konnte sie nichts von dem Gesicht erkennen, das sie so erschreckte; es war von Schatten erfüllt, die wie Rauchschwaden umherwirbelten. Die Gestalt kam herein, und sie, Mary, schien vor ihr zurückzuschweben. Schließlich erkannte sie, dass es ein Mann war, aber dies war wenig tröstlich. Sein Gesicht besaß eine eigenartige Plastizität, die auf eine Maske hindeutete, und den Eindruck verstärkten noch die brennenden, furchteinflößenden Augen, die durch die Maskerade hindurchstarrten. Und doch war alles andere an ihm ganz gewöhnlich: Sein Äußeres glich dem einer Person, die lange unterwegs gewesen war; schlammbespritzte Jeans, verwaschenes T-Shirt, abgewetzte Jacke, langes, fettiges, zu einem Zopf zurückgebundenes Haar. »Mary Holden.« Die Stimme schien aus einem ande97 ren Teil des Zimmers zu kommen; der Mann, offenbar ein Bauchredner, zog einen gemeinen Party-Trick mit ihr ab. »Wer sind Sie?« »Ich komme von einem Ort, an dem es Blitze und Donner gibt.« Er stand reglos da, die Arme hingen an den Seiten herunter, und das Licht, das ihn umgab, schien ein wenig dunkler zu sein als im restlichen Zimmer. Mary meinte vor lauter Angst gleich tot umfallen zu müssen. »Was wollen Sie von mir?« »Es ist nicht vorbei.« Aus irgendeinem Grund entsetzten sie die Worte. »Du musst fortgehen.« Die durch die Maske starrenden Augen brannten sich in ihren Kopf. »Das Mädchen wird deine Hilfe brauchen.« »Caitlin?« »Etwas am Rande des Seins ist auf dich aufmerksam geworden. Es hat dich bemerkt und weiß, was du bist und was du sein wirst, und es ist auf dem Weg hierher, um dein Erwachen zu verhindern.« Marys Gedanken überschlugen sich, wirbelten durcheinander wie in einem tosenden Sturm, bis in ihrem Bewusstsein allmählich eine Art Verstehen einsetzte. »Wir sind in Gefahr?« »Eine Zeit von Eis und Feuer naht heran.« »Und was geht Sie das Ganze an?« Sie zuckte zusammen, denn ihre Worte hatten viel patziger geklungen, als sie es gemeint hatte. Als er nicht antwortete, fragte sie: »Was erwarten Sie von mir, was soll ich tun?«, obwohl sie Angst vor der Antwort hatte. »Nichts ist, wie es scheint. Du brauchst neue Augen.« Er streckte ihr den Arm entgegen, der sich wie schmelzender Gummi auszudehnen schien. Finger, die keine Finger waren, kratzten ihr über die Stirn, und Marys 98 Blickfeld zerbarst in Myriaden winziger Sternenexplosionen. Als sie Sekunden später wieder sehen konnte, deutete der Fremde auf die Tür. »Geh. Sieh es dir an.« Sie fand sich vor dem Gemeindesaal wieder, ohne zu wissen, wie sie dort hingelangt war. Sie hatte noch ihre Hausschuhe an, trug aber keinen Mantel und bibberte in der Kälte des frühen Morgens. Träumerisch trat sie in den Saal. Ihre Hand flog zum Mund, als ihr der stickige Gestank entgegenschlug. Gideon, der Vorsitzende des Gemeinderates, und ein Jugendlicher, an dessen Namen sie sich nicht erinnerte, saßen dösend auf Stühlen, erschöpft von ihren vergeblichen Anstrengungen. Sie versuchte, nicht auf die beiden achtlos abgelegten Leichen zu schauen, die, von der Seuche geschwärzt, in der Saalmitte lagen, sondern ging in den Nebenraum, wo die lagen, die sich noch an ihr verkümmerndes Leben klammerten. Doch als sie über die Schwelle trat, erstarrte sie entsetzt. Winzige Figuren, substanzlos wie Rauch, schwebten tänzelnd über den Köpfen einer Frau und eines kleinen Jungen, die auf einem der Tische lagen. Mit der schwarzen Haut und der Mischung aus menschlichen und echsenartigen Erscheinungsmerkmalen erinnerten die Wesen Mary an mittelalterliche Teufelsillustrationen. Ein hämisches Vergnügen erfüllte jede ihrer tänzelnden Bewegungen, während sie um ihre unglücklichen Opfer herumsausten und sie kniffen und stachen. Und an den Stellen, wo sie die Frau und den Jungen berührten, floss eine schwarze Flüssigkeit in die Todgeweihten hinein und ließ entlang der Körpermeridiane neue Seuchenflecken entstehen. Als Mary desorientiert nach dem Türknauf griff, schienen die Teufelchen schockiert darüber zu sein, 99 dass sie sie sehen konnte. Ihre Boshaftigkeit kehrte jedoch flugs wieder zurück, und sie verspotteten und verhöhnten sie lautlos mit beleidigenden Gesten, in dem Wissen, dass Mary nichts dagegen tun konnte. Sie nahm einen Handbesen von der Wand und stieß nach den Kreaturen, um sie zu verscheuchen, doch das Holz fuhr durch sie hindurch; die Wesen waren nicht wirklich da, nicht in dem Sinne, wie sie es verstand. Taumelnd kehrte Mary in den Saal zurück, von Begreifen durchströmt. Sie wusste jetzt, warum es kein Gegenmittel gab, warum die Seuche anders war als jede andere: Sie stammte nicht von dieser Welt. Und danach
stürzten weitere Gedanken auf sie ein, doch der wichtigste war folgender: Caitlin hatte sich auf die Suche nach einem Heilmittel begeben, ohne das wahre Wesen der Seuche zu kennen. Ebenso gut hätte man sie in den Tod schicken können. 4 Am Rande der Ewigkeit »Erinnert euch meiner, wenn ich gegangen bin, hinfort ins ferne Land der Stille.« CRISTINA GEORGINA ROSSETTI Oxfordshires Landschaft war aus dem Winterschlaf erwacht. An den Ästen und Büschen sprossen die Frühlingsknospen, und überall, wo Caitlin hinschaute, sah sie dichte Vegetation. Die Straße, auf der sie fuhren, war mit Disteln und gelben Grasbüscheln überwuchert. Caitlin kämpfte gegen eine Welle von Trauer an, als ihr bewusst wurde, dass sie diese Erfahrung nun nicht mehr mit Grant und Liam würde teilen können. Manchmal kam die Verzweiflung aus dem Nichts über sie, wie ein Sturm auf hoher See, und dann musste sie darum ringen, nicht die Beherrschung zu verlieren. Bei anderen Gelegenheiten war sie einfach bloß betäubt. Um sich abzulenken, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Mahalia und Carlton, während Crowther fuhr. »Was hattet ihr eigentlich vor, als wir euch begegnet sind?«, fragte sie. Mahalia überlegte einen Moment, dann sagte sie: »Wir hätten uns auf die Suche nach Ihnen gemacht.« Caitlin hatte in der Antwort keinen Sarkasmus gehört, doch sie war sich nicht ganz sicher. Sie wusste noch nicht, ob sie Mahalia mochte und ob die widerspenstige Art des Mädchens bloß ein Schutzmechanismus war. Mahalia sah, was Caitlin durch den Kopf ging, und 101 winkte ärgerlich ab. »Carlton hat Sie in seinen Träumen gesehen. Ja, wirklich. Er wollte Sie unbedingt finden.« Der Junge blickte mit großen, unschuldigen Augen zu Caitlin auf. Sie erkannte etwas von Liam in ihnen und hätte ihn plötzlich am liebsten an sich gedrückt. »Er hat von mir geträumt?« Mahalia sah Caitlins sehnsüchtigen Blick, und in einer besitzergreifenden Geste legte sie Carlton einen Arm um die Schultern. »Er ist etwas Besonderes. Das bist du doch, stimmt's?« Er kicherte lautlos, als sie ihn kitzelte. »Zuerst habe ich es nicht geglaubt, aber dann hat er es mir demonstriert. Er kann Dinge sehen.« »Sprichst du von Visionen?« »Vermutlich. Er weiß alle möglichen Dinge, von denen er eigentlich nichts wissen dürfte. Manchmal fällt es ihm schwer, mir begreiflich zu machen, was er sagen will, aber das meiste verstehe ich. Er hat uns schon einige Male geholfen. Einmal in Southampton, da ...« Sie schüttelte den Kopf, um die unangenehme Erinnerung zu verdrängen. »Ohne ihn säße ich jetzt nicht hier.« »Aber warum hat er gerade von mir geträumt?«, fragte Caitlin. Mahalias säuerliche Miene besagte, dass sie keine Ahnung habe. »Warum ich, Carlton, verrate es mir«, sagte Caitlin sanft. Aber der Junge lächelte sie bloß an. »Das tut er oft«, sagte Mahalia. »Er wird es Ihnen erzählen, wenn er so weit ist.« »Und wann hattest du vor, mir davon zu erzählen, Mahalia?« »Oh, bald«, antwortete das Mädchen leichthin. Caitlin fiel nicht darauf herein. Sie fragte sich, was sich sonst noch alles hinter Mahalias diamantharter Schale verbarg, das die Jugendliche für sich behielt. 102 Sie fuhren durch malerische Dörfer, in denen das Leben ganz normal weiterzugehen schien: Aus den Schornsteinen stiegen Rauchfahnen auf, und in den Hintergärten hing Wäsche an der Leine. Dorfbewohner, die ihre Besorgungen erledigten, blieben stehen und starrten fassungslos, wenn der Ferrari an ihnen vorbeidonnerte. Auf einigen Straßen fuhren Pferdekarren, auf denen Produkte von einem Dorf ins andere transportiert wurden, und wenn das unvertraute Ungetüm heranrauschte, rissen die Kutscher die Zügel an sich, damit ihnen nicht die Pferde durchgingen. Als sie schließlich die Landstraße auf einem windgepeitschten Hügelkamm am Rande der Cotswolds Hills erreichten, hielt Crowther neben einem wilden Pflanzengestrüpp an, das einst ein unbefestigter Seitenstreifen gewesen war. »Sind wir da?«, fragte Caitlin und hielt nach etwas Ungewöhnlichem Ausschau. Sie sah nur unbearbeitete Felder, die sich in Wildnis verwandelten, und Büsche und Gestrüpp und niedrige Wäldchen. Crowther brummte eine unverständliche Antwort und marschierte auf der Straße los, ohne auf die anderen zu warten; er stieß seinen Stab im Rhythmus seiner Schritte auf den Asphalt. Mahalia und Carlton krochen hinter den Sitzen heraus und streckten ihre schmerzenden Gliedmaßen. Es war ruhig und friedvoll; über den hohen Gräsern schwirrten Insekten durch die Luft, und auf den Bäumen zwitscherten Vögel. Als Caitlin, Mahalia und Carlton zum Professor aufschlössen, begannen auf einmal die Stimmen in Caitlins Kopf durcheinander zu reden; irgendetwas beunruhigte die verschiedenen Persönlichkeiten in ihr. Auch Mahalia schien etwas zu spüren, denn die Überheblichkeit war aus ihrem Blick gewichen und hatte ei103 ner für sie ungewöhnlichen Unsicherheit Platz gemacht. »Wo gehen wir hin?«, fragte sie. Carlton drückte aufmunternd ihre Hand; von allen wirkte er am gelassensten.
Crowther deutete auf einen verwitterten Felsen, der sich auf einem Feld zu ihrer Linken erhob. Ein rostiges Eisengeländer umschloss ihn. »Dorthin«, sagte er mürrisch. Er ging durch ein pflanzenüberwuchertes Tor und führte sie an einem verlassenen Pförtnerhäuschen vorbei, vor dem Vitrinen mit vergilbten Schautafeln standen. Und dann waren sie da. Vor ihnen lag ein auf drei Seiten von Bäumen und Büschen umgebener Steinkreis, dessen Durchmesser etwa vierzig Schritte betrug. Nur einige wenige der löchrigen, erodierten Kalksteinsäulen standen noch in voller Größe da. Die Mehrzahl waren abgebrochene Stümpfe. Auf der vierten Seite öffneten sich zwei Torsteine zu sonnenbeschienenen Feldern, die sanft geschwungen ins Tal hinunterführten. »Die Rollrights«, sagte Crowther. »Ein neolithischer Steinkreis.« »Hier sollen wir in diese andere Welt hinübergelangen?«, fragte Caitlin. »Wir werden es zumindest versuchen.« Crowther führte die kleine Gruppe an; sein Blick schoss zwischen den Bäumen hin und her. Sie blieben am Rande des Steinkreises stehen. »Diese Blöcke heißen >Die Mannen des Königs<.« Crowther wandte sich um und deutete auf einen Standstein, der inzwischen hinter einem dichten Gebüsch verborgen war. »Das ist der Königsstein.« Dann machte er sie im Osten auf vier aufrecht stehende Blöcke und einen umgestürzten Stein aufmerksam. »Die Überreste eines länglichen Hügelgrabes, das man heute >Die Flüsternden Rit104 ter< nennt. Der Legende nach sind es ein König und seine Ritter, die von einer Hexe in Stein verwandelt wurden. Einige der Einheimischen behaupten, die Steinblöcke würden um Mitternacht lebendig werden und seltsame rituelle Tänze aufführen .... Geschichten wie diese sind eine der Informationsquellen, von denen ich gesprochen habe. Die Andeutungen von Verwandlungen und Magie verraten, dass unsere Vorfahren glaubten, dieser Ort besäße spezielle Kräfte - und genau diese müssen wir anzapfen, deswegen sind wir hier.« Caitlin erwartete einen höhnischen Kommentar von Mahalia, aber das Mädchen sagte kein Wort. »Ich bin mir nicht sicher, ob es mir hier gefällt«, sagte Caitlin. »Sie reagieren auf die Umgebung. Dies ist ein besonderer Ort«, entgegnete Crowther. »Wie meinen Sie das?« »Er besitzt eine einzigartige Atmosphäre, die durch das Zusammenwirken subtiler Veränderungen des Lichts, der Pflanzendüfte und der Temperatur entsteht ... und auf unmerklicher Ebene durch Veränderungen der Hintergrundstrahlung im Ultraschallbereich. Was Sie spüren, ist Ihre Reaktion auf eine gänzlich neue Erfahrung. Es ist ziemlich ... destabilisierend. Aber man gewöhnt sich daran.« Mahalia wirkte nicht überzeugt. Sie legte wieder den Arm um Carlton und führte ihn zur Seite, wo sie ihm eindringlich etwas zuflüsterte und dabei immer wieder kurz zu Caitlin hinüberschaute. Crowther ging zum am nächsten gelegenen Steinblock und streckte die Hand aus, als wollte er ihn berühren. Aber dann hielt er inne, als wäre er im Begriff, die Hand in kochendes Wasser zu tauchen. Schließlich gab er sich einen Ruck, legte die Hand auf den Stein und lächelte. 105 »Sehen Sie, die Kräfte wohnen jedem einzelnen Molekül inne.« »Von welcher Art Kräften sprechen Sie?«, wollte Caitlin wissen. »Ah, gute Frage. Die Wissenschaft hat es nie endgültig geklärt. Dieser Ort ist wie eine Batterie ... nein, wie ein Knotenpunkt eines landesweiten Energie-Versorgungsnetzes.« Er nahm den Hut ab und beugte sich vor, bis seine Stirn den kühlen Fels berührte. »Ende der Siebziger-, Anfang der Achtziger Jahre hat eine Forschungsgruppe namens >Drachenprojekt< hier gearbeitet, um herauszufinden, ob es tatsächlich so etwas wie tellurische Energien gibt - also gewissermaßen Erdkräfte. Kinderkram, mag man meinen.« Er lachte. »New-AgeUnsinn. Aber dann registrierte ein Geigerzähler einen plötzlichen Strahlungsanstieg, etwas, das nur an megalithischen Orten zu geschehen schien. Und plötzlich haben sie starke Ultraschallimpulse entdeckt, sonderbare kurze Funksignale, wie ein Zielflugfunkfeuer. Die Ursache dafür haben sie nie entdeckt.« Caitlin merkte, dass Crowther Recht hatte: Sie fühlte sich wieder besser; offenbar stellte sich ihr Körper auf die subtilen Kräfte des Ortes ein. Die Stimmen in ihrem Kopf waren verstummt, und in ihrem Herzen breitete sich ein Gefühl andauernden Friedens aus. Aber ihr rationales Wesen meldete sich trotzdem zu Wort. »Wie viel Zeit haben wir wohl?« Crowther blickte zum Himmel auf, wie ein alter Schamane, der die Windrichtung und Wolkenformationen prüft. »Nicht so viel, wie ich gerne hätte.« »Sie glauben nicht, dass wir die Flüsterer endgültig abgeschüttelt haben?« »Nein. Glauben Sie das etwa?« Er musterte sie missmutig, bevor er beschloss, sich nicht die Laune verder106 ben zu lassen. »Es ist ein wunderschöner Tag. Machen wir das Beste draus.« Der Morgen verstrich langsam. Hinter dem Pförtnerhäuschen entzündeten sie ein Lagerfeuer und bereiteten eine Mahlzeit aus Eiern und Kräutern zu, die Mahalia auf einem Bauernhof gestohlen hatte, an dem sie in der Nacht vorbeigekommen waren. Der Tag war wärmer, als man es zu dieser Jahreszeit hätte erwarten können. Caitlin und Mahalia hielten abwechselnd Wache, während Crowther sich mit Dingen beschäftigte, die er vor dem für den Abend angesetzten
Ritual meinte erledigen zu müssen; Caitlin hingegen glaubte, dass er sich bloß vor der richtigen Arbeit drückte. Während ihrer dritten Wache am frühen Nachmittag ließ Caitlin sich von funkelnden Lichtern zwischen den Baumkronen verzaubern. Zunächst hielt sie es für das Spiel des Sonnenlichts in den Ästen, bis sie sah, dass sich das Glitzern aus eigener Kraft zu bewegen schien. Sie beobachtete die Leuchtspuren mit matter Neugier, verloren im traumartigen Frieden, der sie erfüllte, seit sie sich an die eigenartige Atmosphäre des Steinkreises gewöhnt hatte. Selbst das schmerzhafte Stechen, das ihre Trauer in der Magengrube auslöste, war abgeklungen, und obwohl sie noch immer alle paar Sekunden an Grant und Liam dachte, tat sie dies nun mit der warmherzigen Erinnerung an glücklichere Zeiten, nicht mit dem körperlich schmerzenden Verlustgefühl. Vielleicht waren die Lichter eine weitere Manifestation dessen, was die merkwürdigen Klang- und Strahlungseffekte verursachte, von denen Crowther gesprochen hatte, überlegte sie. Doch nach einigen Minuten wurde ihr mit zunehmender Verblüffung bewusst, dass sie inmitten der Lichter 107 winzige Gestalten sah - kleine Menschen mit Flügeln. Die Entdeckung erfüllte sie mit purer, unschuldiger Verwunderung, ein Gefühl, das sie zuletzt als Kind empfunden hatte. Sie beobachtete die Gestalten eine Weile, bis einer der Winzlinge sie bemerkte und heruntergeflogen kam. Er schwebte auf hauchzarten Flügeln, war kaum zehn Zentimeter groß; seine androgynen Züge waren wunderschön. Sie streckte die Hand nach ihm aus, doch er hielt sich immer ein Stück von ihren Fingerspitzen entfernt und musterte sie mit tiefer Neugier, als würde er in ihren Geist schauen. Schließlich verwandelte sich seine fragende Miene in ein sympathisches Lächeln, und er sauste heran und strich ihr mit den Fingern über die Stirn, bevor er wieder davonschoss, aber Caitlin durchströmte eine wohlige Wärme, und die letzten Spuren ihrer Trauer waren von einem Augenblick zum anderen verschwunden. Das Wesen lächelte sie strahlend an. Es winkte ihr noch einmal zu, dann schwebte es wieder nach oben zu seinen Gefährten in den Bäumen. Caitlin konnte kaum glauben, was geschehen war. Aufgeregt rannte sie zu den anderen zurück, um ihnen zu erzählen, was sich zugetragen hatte. Crowther war nirgends zu sehen, aber Mahalia und Carlton kehrten gerade von einer Erkundungstour zurück. Begeistert schilderte sie ihnen ihr Erlebnis und endete mit dem leidenschaftlichen Bekenntnis: »Es hat mich geheilt! Von meiner Trauer, meine ich! Es wird bestimmt zurückkehren ... das weiß ich ... aber im Moment ... es ist unglaublich!« Mahalia nickte bloß und sagte: »Schön für Sie.« »Bist du nicht überrascht? Ich meine, ich rede hier von Elfen oder so was und du ...« Das Mädchen zuckte unbekümmert mit den Schul108 tern. »Ich habe auch komische Sachen gesehen. Jeder, der draußen auf dem Land unterwegs ist, tut das.« Plötzlich wurde Caitlin bewusst, dass Mahalia sich viel abgeklärter und erwachsener verhielt, als ihr Alter es vermuten lassen würde. »Was ist mit deiner Familie geschehen, Mahalia?« »Das geht Sie nichts an.« Caitlin musste sie nicht groß ausfragen, um die Geschichte in groben Zügen zu kennen. Sie wusste, wie schlimm es in den Städten zugegangen war - der Zusammenbruch der Kommunikationsnetze und Lebensmittellieferungen, die Aufstände und Plünderungen. In einigen Gegenden hatte es angeblich Unmengen von Toten gegeben. Alle hatten die Gesellschaft für so stark gehalten, doch letztendlich war sie genauso zerbrechlich wie das menschliche Leben selbst. Während sie zum Lagerfeuer zurückgingen, fragte Caitlin: »Warum begleitest du uns? Du weißt, dass es gefährlich werden könnte.« Mahalias Lachen war so bitter, dass Caitlin erschrak. Das Mädchen streifte die Jacke ein Stück von der Schulter und offenbarte eine Art Harnisch aus selbst zusammengebundenen Gürteln. An ihm hingen unzählige Stichwaffen - Messer, Rasierklingen, Schraubenzieher und andere Dinge, die selbst gefertigt, aber nichtsdestoweniger tödlich aussahen. »Sie haben nicht erlebt, was dort draußen los ist.« »Nein, das habe ich nicht, aber ich kann es mir vorstellen ...« »Nein, das können Sie nicht. Niemand kann das, denn alle waren dem Irrglauben erlegen, wir wären so liebe, mitfühlende Menschen. Aber ohne die zivilisatorischen Annehmlichkeiten kommt die Wahrheit zum Vorschein.« 109 »Ich kenne einige Leute -«, wollte Caitlin widersprechen. Mahalia lachte erneut. »Hören Sie zu. Ich hatte mich auf dem Land versteckt, fand aber nirgendwo etwas zu essen in jenem ersten Winter, also bin ich nach Southampton gegangen. Böser Fehler. Das reiche Gesocks hatte sich eine nette kleine Festung gebaut, wo sie ihre Lebensmittel horteten und mit Waffengewalt jeden Neuankömmling verjagten. Die Armen im Stadtzentrum mussten sich irgendwie selbst durchschlagen. Und das haben sie auch getan. Es gab Banden - junge, alte, schwarze, weiße -, die sich für einen Laib Brot die Köpfe wegschössen. Es war ihnen gleich, was im Rest der Welt abging, sie kannten keine Rücksicht, wollten bloß den Tag überstehen. So läuft es, wenn es ums blanke Überleben geht. Man tut alles, um nicht zu krepieren.« »Nein ...« »Doch! Als ich zum ersten Mal durch die Straßen lief und um Essen bettelte, hat mich ein ekliger alter Kerl
überfallen. Er zog mir eine Holzlatte über den Kopf, schleppte mich in sein Haus und sperrte mich zusammen mit einigen anderen auf dem Dachboden ein. Er hatte ein nettes kleines Geschäft am Laufen, hat Menschen gegen Lebensmittel eingetauscht ... Mädchen, Jungen, Frauen ...« »Für sexuelle Zwecke?« »Für alles Mögliche ... für Sex, Sklavenarbeit, zum Klauen. Ich habe vier Nächte dort verbracht - zehn Leute in einem winzigen Raum. Keine Toilette, kein Licht, ab und zu mal ein paar Krümel zu essen und ein bisschen Wasser, das geschmeckt hat, als hätte er reingepisst. Eine Frau war da, die hatte ein Baby. Sie war schon länger dort. Das Kind hat die ganze Zeit gewimmert, die Frau hatte kaum noch Milch in den Brüsten. Es war 110 schrecklich. Dann plötzlich gab es kein Wimmern mehr.« Caitlin hatte ein lebendiges Bild von Liam im Kinderwagen vor Augen. »Sie hat es getötet. Erstickt, weil sie ihre Kraft für sich selbst brauchte, um am Leben zu bleiben.« »Oh, nein ...« Mahalia schnaubte abfällig. »So ist das. Ich wurde kurz darauf verkauft. Aber ich habe dem Käufer nicht lange gehört. Ich habe ihm mit einem Löffel ein Auge rausgerissen und es unter meinem Stiefel zerquetscht, während er mit seinem gesunden Auge zusah. Und wissen Sie was? Ich habe ihn zu leicht davonkommen lassen - ich hätte ihm beide Augen rausreißen sollen. Einem anderen Kerl habe ich einen Schraubenzieher in die Rippen gerammt und ihm die Lunge zerfetzt. Aber ich wurde nie vergewaltigt, und darauf bin ich verdammt stolz! Von den kranken Schweinen da draußen hat mich kein einziger gekriegt.« Carlton tätschelte sie am Arm; der Junge hatte Tränen in den Augen. »Tut mir leid, Kleiner.« Mahalia drückte ihn liebevoll, dann sagte sie zu Caitlin: »Dieses Land ist die Hölle. Dort, wo Sie hingehen, kann es nicht schlimmer sein.« Mit einem Zweig zeichnete Caitlin Muster in den Sand, während sie über Mahalias Ausführungen nachdachte. Schließlich sagte sie: »Ich habe furchtbare Dinge gesehen - nicht das, was du erlebt hast, keine Sachen, die Menschen einander antun, sondern ... entsetzliches Leid. Und man darf nicht in den Glauben verfallen, alle Menschen wären schlecht. Ja, viele sind es, aber das Beste der Menschheit ist auch dort draußen. Leute, die sich gegenseitig helfen ... die zum Wohle der Allgemeinheit unfassbare Opfer bringen. Ich glaube aufrichtig, dass die meisten Menschen gut sind.« 111 »Da werden wir wohl unterschiedlicher Meinung bleiben.« Plötzlich sprang Mahalia auf und zog unter ihrer Jacke ein Messer hervor. Caitlin fuhr herum und sah in den gleißenden Sonnenstrahlen eine Gestalt näher kommen. Es war ein Mann, aber nicht Crowther. »Keinen Schritt weiter«, sagte Mahalia. Er hob die Hände und trat einen Schritt zur Seite, sodass der Sonnenstrahl hinter einem Baum verschwand und sie ihn erkennen konnten. Er war Anfang dreißig, gut aussehend, hatte blondes Haar und blaue Augen, die Caitlin ein wenig an Leonardo DiCaprio erinnerten; mit seinen sensiblen Zügen fand sie ihn auf Anhieb sympathisch. »Ich wollte euch keine Angst einjagen ...«, sagte er. »Das tun Sie auch nicht«, erwiderte Mahalia. »Wir mögen Sie einfach nicht.« »Ihr wollt rübergehen, stimmt's?« Er richtete den Blick auf Caitlin. Mahalia trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und schaute sich Hilfe suchend um. »Ihr müsst nicht antworten - ich sehe es in euren Gesichtern.« Er nahm langsam die Hände herunter. »Ich möchte mitkommen.« »Wer sind Sie?«, fragte Caitlin. »Und woher wissen Sie, was wir vorhaben?« »Matthew Jensen. Matt. Architekt von Beruf. Ich weiß, was Sie jetzt denken: >Oh, super, den Typ nehmen wir mit, einen Brückenbauer können wir wirklich gut gebrauchen^ Aber es könnte schlimmer sein, zum Beispiel wenn ich Makler wäre. Woher ich weiß, was Sie vorhaben? Woher ich überhaupt weiß, dass man zu einem anderen Ort überwechseln kann? Nun, das ist eine lange Geschichte.« 112 Carlton betrachtete ihn neugierig, dann bedeutete er dem Mann, näher zu treten. »Carlton möchte noch ein bisschen mehr hören«, übersetzte Mahalia. »Ich persönlich frage mich, warum wir uns einen wie Sie aufhalsen sollten. Aber ich bin lernfähig ... Ich biete Ihnen die Gelegenheit, uns zu überzeugen. Sie haben fünf Minuten.« »Fünf Minuten? Ich kann euch in der Hälfte der Zeit meine ganze Lebensgeschichte erzählen.« Er kam ans Feuer und setzte sich. Obwohl Caitlin seine Art gefiel, sah sie keinen Vorteil darin, ihn in ihre Gruppe aufzunehmen. Wäre sie damals emotional nicht so angeschlagen gewesen, hätte sie auch Mahalia und Carlton nicht dazu ermutigt, sie und Crowther zu begleiten. »Also, woher wissen Sie, was wir vorhaben?«, fragte sie und setzte sich neben ihn. Die Frage, die aus ihrem Mund gekommen war, hatte Brigid gestellt, die sich für Matt zu interessieren schien. »Ganz einfach. Es gibt keinen anderen Grund, warum ihr hier sein solltet«, entgegnete Matt. »Es ist viel zu gefährlich, sich draußen rumzutreiben. Hättet ihr ein bisschen Grips im Kopf, würdet ihr euch bei euren Leuten
verschanzen. Und dieser Ort hier ... all diese Orte ... die Schauergeschichten, die darüber kursieren, halten Besucher normalerweise fern. Dies ist alles andere als ein Urlaubsziel.« Er deutete auf den Steinkreis. »Während des Untergangs bin ich jemandem begegnet, der hat erzählt, all diese altertümlichen Stätten seien Übergänge zu der Welt, aus der die Götter stammen. Ihr habt davon gehört, stimmt's? Ihr kennt die Geschichten ... was in London geschehen ist? Na ja, ich habe das Gefasel jedenfalls als Spinnerei abgetan und bin weitergezogen. Aber dann habe ich während der Sonnenwenden seltsame Lichter über den Steinen gesehen und Gestalten, die 113 plötzlich aus dem Nichts erschienen - und es waren keine Menschen. Und dann Musik - Gott, was für herrliche Klänge!« Er lächelte verlegen. »Entschuldigung. Ihr müsstet sie selbst hören, um zu verstehen, was ich meine.« »Und warum möchten Sie rüber in die andere Welt?«, fragte Mahalia. Caitlin sah, dass sich das Mädchen nicht für Matt erwärmen konnte. »Und was führt Sie zu der Annahme, dass wir wüssten, wie man das anstellt?« »Keine Ahnung, ob ihr es wisst, aber ich kenne viele Leute, die aus vielerlei Gründen liebend gerne rübergehen würden. Mein Grund? Ganz einfach.« Er blickte offen in ihre Gesichter. »Ich glaube, meine Tochter ist dort.« Ein leiser, trauriger Vogelschrei ließ Caitlin zusammenschrecken; sie merkte, dass sie förmlich an seinen Lippen gehangen hatte. »Sie glauben, Ihre Tochter sei hinübergegangen?« »Ich glaube, sie wurde entführt.« Er atmete tief durch, versuchte sich zu beruhigen. »Ich glaube, jene Welt und die Wesen, die dort leben, sind verantwortlich für all unsere Mythen und Legenden. Wir haben ihr Erscheinen jahrtausendelang falsch gedeutet - als Engel und Teufel, Feen, Ufos und so weiter. Und wisst ihr, wie viele Menschen jährlich spurlos verschwinden? Zehntausende allein in Großbritannien. Jahr für Jahr. Ich nehme an, viele von ihnen werden in die andere Welt entführt... warum auch immer.« Er schaute zu den Bäumen, konnte seine Unruhe nicht verbergen. »Wie alt ist Ihre Tochter?«, fragte Caitlin. »Acht. Zumindest wäre sie das jetzt. Sie ist seit neun Monaten verschwunden. Jemand aus dem Dorf hat sie kurz vor ihrem Verschwinden hier oben gesehen, obwohl ich ihr verboten hatte herzukommen. Ich habe 114 überall nach ihr gesucht - in jedem Graben, in jedem Wald, an den Seen ...« Er schüttelte den Kopf. »Dies ist meine letzte Chance.« »Das tut mir so leid«, sagte Caitlin. »Ich weiß, wie sich so etwas anfühlt ...« Sie hielt inne. »Wie kommt Ihre Frau damit zurecht?« »Sie hat uns verlassen, als Rosetta zwei war. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.« Er breitete die Arme aus. »Also, wenn ihr wisst, wie man rübergelangt, dann nehmt mich mit. Bitte. Ich bin in Topform und kann gut auf mich aufpassen.« »Das können wir auch«, sagte Mahalia. »Das glaube ich gern, aber eine zusätzliche Person, die Nachts Wache hält, kann nicht schaden.« Caitlin musste nicht lange überlegen; wie sollte sie ihm den Wunsch abschlagen? »Natürlich können Sie mitkommen«, sagte sie, »falls es uns gelingt. Ich bin mir noch nicht sicher.« Er lächelte. »Danke für Ihr Vertrauen.« Da Mahalia mit den Erwachsenen eindeutig nicht länger als nötig zusammen sein wollte, gingen Caitlin und Matt zur nahen Wiese und spazierten durch das hüfthohe Gras. Dort fühlten sie sich sicherer als zwischen den dicht beieinander stehenden Bäumen, wo immer irgendetwas herumzuschleichen schien. Obwohl sie nur wenig über ihn wusste, fühlte sich Caitlin zu Matt hingezogen. Er war ein geistreicher Mensch, der unter der Oberfläche jedoch auch etwas Beunruhigendes zu haben schien. Sie wollte mehr über ihn erfahren, aber während sie spazieren gingen, war er derjenige, der die ersten Fragen stellte. »Geht es Ihnen gut?«, fragte er. »Denn Sie haben .... ich weiß nicht ... Sie haben etwas Trauriges an sich. 115 Oder liegt der Amateurpsychologe in mir mal wieder völlig daneben?« Das vertraute Anschwellen der Trauer traf sie so heftig, dass sie beinahe aufstöhnte. Wie gewöhnlich drängte sie die Empfindung an den Ort zurück, wo Brigid, Briony und Amy den Schmerz in Watte hüllten, bis es ihr vorkam, als wäre es bloß ein böser Traum und alles, was ihn auslöste, wäre niemals geschehen. Aber diesmal war es anders. Nach kurzem Zögern erzählte sie Matt in stockenden Worten von Grant und Liam. Sie konnte die Tränen nicht zurückhalten, und Matt schien es nichts auszumachen, daher ließ sie ihnen einfach freien Lauf. Matt wartete, bis ihre Tränen versiegt waren, dann sagte er: »Das tut mir leid. Ich komme mir wie ein Narr vor, dass ich Ihnen mit meinen Sorgen in den Ohren gelegen habe, obwohl das, was Sie erlebt haben, noch viel schlimmer ist ...« »Nein!«, entfuhr es Caitlin. »Sagen Sie das nicht! Mein Leben liegt in der Vergangenheit, es ist vorbei. Sie dagegen haben immer noch die Möglichkeit, Rosetta zu finden; das ist das Einzige, was zählt.« »Ich möchte ja nicht wie ein Fernsehmoderator in einer billigen Ratgebersendung klingen, aber Sie sollten nicht sagen, dass Ihr Leben vorbei sei ...« »Das ist es aber.« Sie erreichten die Felsblöcke, die Crowther die Flüsternden Ritter nannte. Eisengeländer schützten sie vor tatschenden Touristenhänden, doch Caitlin hätte gern die kühle Oberfläche berührt. »Auf dem Weg hierher war ich in einem fürchterlichen Zustand ... Ich habe nicht gewusst, was ich tue. Als ich schließlich wieder halbwegs bei Sinnen war und der Professor mir erzählt hat, was er zu tun beabsichtigt ... Nun, wäre ich
eine geistig gesunde, vernünftige Frau mit einer intakten Familie, ich hätte auf der Stelle kehrtge116 macht. Ich glaube noch immer nicht richtig an diese Anderswelt, aber der Professor ist von ihrer Existenz überzeugt. Wenn es sie nicht gibt, dann haben wir nichts zu verlieren. Falls doch, gehen wir an einen Ort voller Träume und Albträume ... an einen Ort, wo es eigentlich keine Menschen geben darf. Wie lange können wir dort wohl überleben?« »Nun, wir müssen es einfach herausfinden.« Caitlin beugte sich über das Geländer und berührte einen der Steinblöcke; ihre Finger kribbelten. »Ja, Sie müssen es für Ihre Tochter herausfinden, und falls es dort tatsächlich, wie Professor Crowther glaubt, ein Mittel gegen die Seuche gibt, dann muss auch ich es herausfinden. Besser, ich sterbe, als ...« »Ich wünschte, Sie wären nicht so fatalistisch. Es könnte ansteckend sein.« Er starrte zu den Bäumen zurück, in deren Schutz sich der Steinkreis verbarg. »Ich bin neugierig auf den Professor. Er scheint eine Menge zu wissen. Wie ist er denn so, ein typischer, verkopfter alter Zausel?« Caitlin lachte. »Warten Sie einfach ab, bis Sie ihn kennen lernen.« »Vertrauen Sie ihm?« »Er scheint in Ordnung zu sein. Allerdings glaube ich nicht, dass er die ganze Wahrheit erzählt. Man kann nicht sagen, dass er lügt, aber er rückt nicht mit allen Einzelheiten heraus.« Caitlin bemerkte, dass Matt aufmerksam zu den Megalithen zurückstarrte. »Was ist los?« »Ich weiß nicht. Wahrscheinlich nichts. Ich dachte, ich hätte etwas gesehen ...« Er lächelte sie verkniffen an. »Warten Sie hier. Ich schaue kurz nach.« Bevor Caitlin widersprechen konnte, eilte er davon. Sie wartete einen Moment lang, doch alleine war ihr plötzlich so unheimlich zumute, dass sie Matt nachging. 117 Sie war erst wenige Schritte gegangen, als ein ohrenbetäubender Donnerschlag ertönte, obwohl der Himmel strahlend blau war. Um sie herum stieg der Geruch von geschmolzenem Eisen auf, und sie meinte hinter sich ein pulsierendes Licht zu spüren. Sie fuhr herum und sah, dass die Luft über den Flüsternden Rittern flirrte wie unter einer Hitzeglocke. Und dann trat dahinter eine Gestalt hervor und kam mit schnellen Schritten auf sie zu. Ihr erster, schockierender Eindruck war der eines schwarzhäutigen Ungetüms mit einem Schweinekopf. Dann erkannte sie, dass es ein Ritter in einer schwarzen Rüstung war, der am Gürtel ein Schwert trug und auf dem Kopf einen Helm in der Form eines Wildschweinkopfes. »Verschwinde!«, brüllte Briony aus Caitlins Mund, während der Ritter weiter auf sie zumarschierte. Sie wirbelte herum und rannte davon, versuchte auf dem unebenen Untergrund nicht hinzufallen. Sie wusste, dass dies der Mann war, den sie an dem Abend gesehen hatte, als Grant und Liam krank geworden waren. Er war ihr bis hierher gefolgt, und selbst auf dem Eisfeld hatte der Gedanke an ihn sie mit kalter Furcht erfüllt. »Was ist los?« Matt kam auf sie zugerannt und packte sie bei den Schultern; sie fiel ihm in die Arme. »Er verfolgt mich!«, brüllte Briony. Matt schaute über ihre Schulter, dann drehte er Caitlin/Briony langsam um. Die Wiese war verlassen, abgesehen von den Flüsternden Rittern, die einsam Wache hielten. Zurück am Lagerfeuer erklärte Mahalia Matt, in welcher psychischen Verfassung Caitlin war, wobei die Jugendliche wenig mitfühlende Formulierungen wählte. Als Briony sich beruhigt und zurückgezogen hatte, kam 118 Caitlin wieder zum Vorschein. Sie war froh, dass Matt genauso freundlich zu ihr war wie zuvor. »Ich habe wirklich jemanden gesehen«, sagte Caitlin. Mahalia tippte sich an die Stirn und zwinkerte Carlton zu. Doch der Junge ging nicht darauf ein; seine dunklen Augen kündeten nur von tiefem Mitgefühl. Caitlin lächelte ihm dankbar zu. »Wer zum Teufel ist das!« Sie schraken zusammen, als Crowther heranmarschiert kam und vorwurfsvoll auf Matt zeigte. »Allmächtiger, ist euch noch immer nicht klar, was wir vorhaben? Warum ruft ihr nicht gleich alle Mörder und Banditen herbei, die in der Gegend ihr Unwesen ...« »Ich bin kein Bandit«, sagte Matt, erhob sich und reichte Crowther die Hand. »Ich bevorzuge den Ausdruck Desperado. Ich hatte schon immer ein Faible für Cowboys.« »Ahhhh!«, brüllte Crowther und warf die Arme in die Luft, als wollte er sich auf Matt stürzen. »Hauen Sie ab, Mann, sofort!« Caitlin sprang auf und stellte sich zwischen die beiden Männer. »Moment, Professor, ich habe ihn gebeten zubleiben.« »Soll mich das etwa beruhigen? Nur weil eine Frau mit einem äußerst fragwürdigen Geisteszustand einen Seelenverwandten gefunden hat? Ich sollte Sie beide auf der Stelle mit meinem Stab erschlagen!« Caitlin brauchte gut zwanzig Minuten, um Crowther zu besänftigen. Er schimpfte über Vagabunden und Diebe und andere zwielichtige Gestalten, die für ihr Unternehmen ein Sicherheitsrisiko darstellten, und am Ende musste Caitlin sich der Unterstützung einer neurotisch herumkreischenden Briony bedienen. Erst dann gab Crowther sich geschlagen, unfähig, mit ihren Psychosen zurechtzukommen. 119
Als ihm klar wurde, dass er an der Situation nichts ändern konnte, zog Crowther sich beleidigt auf die andere Seite des Steinkreises zurück, während Mahalia aufs Dach des Pförtnerhäuschens kletterte und Steine nach den Waldtieren warf. Carlton saß mit Caitlin und Matt am Feuer und lauschte lächelnd ihrer Unterhaltung. Matt zeigte sich überrascht, als Caitlin ihm schilderte, wie heftig die Seuche in ihrer Gegend wütete - er hatte einige Gerüchte gehört, aber nie einen Erkrankten gesehen. Dies weckte in Caitlin die Hoffnung, dass sich die Seuche doch nicht so schnell wie befürchtet ausbreitete. Vom Dach aus bemerkte Mahalia, dass der Professor davonschlich. Sie sprang herunter und forderte die anderen auf, mitzukommen und ihm zu folgen, doch irgendwie entwischte er ihnen. Eine halbe Stunde später schallte sein gequälter Ruf aus dem Wald. Das Blut gefror ihnen in den Adern; sie befürchteten das Schlimmste. Matt und Caitlin rannten über die Wiese, aber dann kam ihnen der Professor auch schon mit wirrem Blick entgegengetaumelt. Blut lief ihm über beide Gesichtshälften. »Was ist geschehen?«, fragte Caitlin. Sie wollte seine Kopfverletzung untersuchen, doch Crowther stieß ihre Hand fort. Bei der ungestümen Bewegung flogen seine Haare empor, und sie sah, oder glaubte zu sehen, dass er ein Loch in der Schläfe hatte. »Wer hat das getan?«, fragte sie besorgt. »Niemand hat irgendetwas getan«, schimpfte Crowther. »Ich habe die Informationen erlangt, die wir benötigen jemand muss es ja tun.« Er stapfte an ihnen vorbei, doch sie sahen, dass seine Hände heftig zitterten. Zurück im Lager setzte er sich ans Feuer, um sich aufzuwärmen, obwohl es alles andere als kalt war. »Ich 120 weiß jetzt, wie man hinübergelangt«, sagte er mit leiser Stimme. »Ich hatte vorher schon eine Ahnung, aber jetzt weiß ich es genau.« Er zeigte mit dem Finger auf Caitlin. »Sie sind der Schlüssel.« »Ich? Warum ich?« »Ich habe es mir gedacht«, fuhr Crowther fort, als hätte sie nichts gesagt. »Und ich weiß jetzt, wo wir das Heilmittel finden, wenn wir drüben sind. An einem Ort namens Haus der Schmerzen.« Matt lachte und handelte sich dafür einen vorwurfsvollen Blick von Crowther ein. »Na ja, Freudenhaus wäre ja auch etwas unpassend gewesen, was? Ich glaube, Sie ...« »Ich werde Sie ab jetzt ignorieren«, sagte Crowther, »und nur noch mit ihr sprechen.« Er deutete auf Caitlin. »Mir wurde gesagt...« »Wer hat Ihnen etwas gesagt?«, unterbrach ihn Caitlin. »Das spielt keine Rolle.« Er klang erschöpft. »Aber vor uns liegt ein langer, gefährlicher Weg.« Die Schatten wurden länger, als der Tag sich dem Ende zuneigte und Crowther mit seinen Vorbereitungen begann. Er führte die anderen in die Mitte des Steinkreises, wo sie den exakten Moment des Sonnenuntergangs abwarteten. Keiner von ihnen machte einen Rückzieher, trotz Crowthers wenig erhellender Informationen; selbst Mahalia zeigte sich gespannt. »Sie wissen also wirklich, was Sie tun?«, fragte Matt in einem Tonfall, der verriet, dass er nicht glaubte, dass der Professor überhaupt irgendetwas wusste. Crowther ignorierte ihn, doch Matt blieb hartnäckig. »Die Leute haben diese Steinkreise immer geheimnisvoll gefunden«, fuhr er fort. »Aber letztlich haben es alle für reinen Aberglauben gehalten, für Humbug.« 121 Diesmal konnte Crowther nicht an sich halten. »Da haben Sie es. Die Hinweise liegen seit Jahrhunderten offen da, aber in unserer arroganten Annahme, dass unsere frühen Vorfahren ignorante, ungebildete, abergläubische Barbaren gewesen seien, haben wir den wahren Kern, der sich in den Legenden verbirgt, übersehen. Dinge, die auf den ersten Blick absurd erscheinen, sind in Wahrheit Metaphern und Symbole. Dass Steinblöcke plötzlich lebendig werden und sich bewegen, bedeutet zum Beispiel ...« »Ich bin mir nicht sicher, dass es bloß eine Metapher ist«, flüsterte Caitlin. Alle folgten ihrem Blick zu den Steinblöcken, an deren Kanten nun im Sonnenuntergang ein schwaches blaues Licht zu schimmern schien. Die Steine selbst hatten angefangen, gespenstisch hin und her zu ruckeln, was natürlich an den Lichtverhältnissen liegen konnte, aber es sah so aus, als neigten sie sich mal nach links, dann nach rechts, mal vor und dann wieder zurück. »Die Steine tanzen«, sagte Caitlin mit Amys Stimme. »Was geht hier vor?«, fragte Matt. »Das ist eine Realitätskrümmung«, sagte Crowther mit gedämpfter Stimme. »So entstand die Legende, dass man die Steine niemals richtig zählen konnte ... ihre Zahl variierte an verschiedenen Tagen. Die Realität hier ist hauchdünn und krümmt sich unter dem Einfluss der Kräfte, die sich an diesem Ort konzentrieren.« »Was für Kräfte?«, fragte Matt. »Strahlung?« »Nein, die Erdkraft - man nennt sie das Blaue Feuer, und sie ist in allem. Wenn ich sie sehen könnte, wäre es viel einfacher, die Muster zu finden, die einem den Übergang ermöglichen«, erklärte Crowther. »Man kann dieses Blaue Feuer sehen?«, fragte Matt. »Einige können es. Entweder man hat es gelernt, oder 122 man besitzt spezielle Fähigkeiten. Man muss das Blaue Feuer manipulieren, um hinüberzugelangen, aber die meisten Menschen besitzen nicht die dafür nötige Wahrnehmung.« Er kramte in seinem Rucksack und holte einen kleinen Plastikbeutel mit einer dunklen Substanz heraus.
»Was ist das?«, fragte Mahalia argwöhnisch. »Amanita muscaria. Der Fliegenschwammpilz. Er stammt aus Mexiko. Ihr glaubt ja nicht, wie schwer es ist, an so was ranzukommen.« »Magic Mushrooms?«, fragte Matt. »So was esse ich nicht«, flüsterte Caitlin/Amy. »Das ist Gift!« »Alles kann giftig sein«, sagte Crowther schroff. »Sibirische Schamanen haben diesen Pilz für außerkörperliche Erfahrungen und mystische Prophezeiungen verwendet. In Mexiko gab es einen Kult des heiligen Pilzes. Die Indianer in Kolumbien nannte ihn das Fleisch Gottes. Akademiker sind zu dem Schluss gelangt, dass der Amanita muscaria entscheidend zur Gründung des Christentums beigetragen hat. Alle unsere Religionen ... die Zivilisation an sich ... ohne diesen winzigen Pilz wären sie nicht entstanden.« »Ich kennen ein Mädchen in Southampton, das ausgeflippt ist, als es das Zeug genommen hat«, sagte Mahalia. »Der Amanita muscaria ist nicht für jedermann gedacht.« Crowther öffnete den Beutel und schüttete sich die schrumpeligen Pilze auf die Hand. »Er ist etwas Besonderes, weil er den >göttlichen Bereich< in unserem Hirn aktiviert und es uns erlaubt, das Göttliche zu kontaktieren, den Ort, wo die höheren Mächte existieren, die Heimat der Träume, Visionen und Fantasie ... Anderswelt. Wir werden die Tore unserer Wahrnehmung öffnen.« 123 Mahalia schüttelte den Kopf. »Ich mag Drogen nicht. Sie versperren einem den Blick auf die Realität. Sie sind ein Luxus für Schwache und Faulpelze.« »Wir reden nicht über Hedonismus, Kleine«, sagte Crowther. »Wir reden über die einzige Möglichkeit, von hier auf die andere Seite zu gelangen. Nun, zumindest gilt das für dich und mich - sie braucht es nicht.« Er nickte Caitlin zu, die wie ein kleines Mädchen zurückschreckte. »Keine Sorge, Sie müssen sie nicht nehmen«, sagte er mit lauter Stimme. Gedankenvoll fingerte er an den Pilzen herum. »Noch ein kurzer Nachtrag: Aldous Huxley sagte: >Sind die Tore der Wahrnehmung einmal geöffnet, ist der Weg in die Hölle genauso geebnet wie der in den Himmel.<« »Ach, geben Sie schon her, wenn Sie dann endlich die Klappe halten.« Mahalia nahm einige der Pilze und stopfte sie sich in den Mund. Carlton schaute ihr zu, wie sie die Pilze zerkaute und herunterschluckte, und folgte dann ihrem Beispiel. Als Nächster war Matt an der Reihe, dann verzehrte Crowther seine Portion. »Und was jetzt?«, fragte Matt. »Jetzt?« Crowther packte Caitlin und stellte sie genau in die Mitte des Steinkreises. »Sie warten hier«, sagte er zu ihr, »und folgen augenblicklich meinen Anweisungen.« An Matt gewandt sagte er: »In der Zwischenzeit warten wir, dass die halluzinogene Wirkung eintritt ... und wir hoffen.« Eine ehrfürchtige, spannungsgeladene Stimmung breitete sich im Steinkreis aus. Die Vögel hörten auf zu zwitschern; nichts regte sich mehr in den Bäumen. Die Sonne senkte sich zum Horizont, und die Megalithen, die in der Abendröte golden schimmerten, warfen lange Schatten ins Herz des Kreises. »Das ist ja wie im Märchen«, flüsterte Mahalia. Am 124 Klang ihrer Stimme offenbarten sich die ersten Anzeichen der Drogenwirkung. »Genau«, sagte Crowther. »Lauter Metaphern und Symbole, in denen sich eine tiefere Wahrheit verbirgt.« Einige Momente lauschten sie der Stille, dann fügte der Professor hinzu: »Wir sind Psychonauten und begeben uns auf eine Reise jenseits der Realität. Nur wenige vor uns sind dort hingegangen, wo wir nun hingehen.« »Hoffentlich kommen wir heil zurück«, sagte Matt. »Schaut.« Caitlin/Amy deutete an den ätherisch schimmernden Steinen vorbei auf einen diesigen Bereich über der Wiese. Geisterhafte, aber nicht bedrohlich wirkende Gestalten erschienen und verblassten dann wieder, ohne Crowther und die anderen zu bemerken. »Die Traumzone«, sagte Crowther. »Die Realität beginnt sich aufzulösen.« Caitlin erhaschte kurze Blicke auf Leute in altertümlichen Gewändern, sah Bilder, die ihr aus Märchenbüchern bekannt waren, erblickte Wesen, die nur entfernt an Menschen erinnerten. Und einen Moment lang sah sie eine Gruppe von fünf Personen, die sie eindringlich anstarrten - einen Mann mit dunklem Haar, einen anderen, dessen Oberkörper stark tätowiert war, einen schlanken Asiaten, eine Frau mit braunem und eine andere mit blond gefärbtem Haar. Sie schienen mit ihr reden zu wollen, waren aber plötzlich wieder verschwunden. Caitlin blickte sich um; Mahalia hatte sie auch gesehen. »Magie«, sagte Matt verträumt. »Überall.« »Den Berichten der Einheimischen zufolge soll diese Stätte der Lieblingsplatz der Feen aus Oxfordshire und der Hexen aus Warwickshire gewesen sein«, sagte Crowther. »Im achtzehnten Jahrhundert hat man gesehen, wie die letzten Feen in ein Loch unter den Steinen 125 verschwanden. Es gibt niedergeschriebene Augenzeugenberichte davon. Erstaunlich.« Die Luft hatte sich spürbar erwärmt, und ein angenehmes, heimeliges Gefühl breitete sich in ihnen aus. Sie fühlten sich locker und gelöst und waren gleichzeitig gespannt, was als Nächstes geschehen würde. In der Ferne vernahmen sie leise ätherische Klänge, die sich mit dem Rauschen des Windes vermischten. Aber als sie die behagliche, freudvolle Atmosphäre richtig zu genießen begannen, fing Carlton an zu weinen. Caitlin musste ihn nicht fragen, was los sei; sie spürte das Gleiche wie der Junge: eine dumpfe psychische
Warnung vor aufziehender Gefahr. »Was ist los?«, fragte Matt unsicher. »Bleibt ganz ruhig«, sagte Crowther. »Die Droge verstärkt eure Gefühle. Man gerät leicht in Panik, wenn man nicht aufpasst.« »Wir sollen ruhig bleiben?« Amy war verschwunden, und jetzt dominierte Brionys neurotische Präsenz. »Ihr wisst doch, was los ist.« »Was denn?«, fragte Matt eindringlich. »Da draußen sind Wesen, die uns verfolgen«, sagte Caitlin/Briony. »Die mich verfolgen. Sie lassen sich nicht abschütteln.« »Bleiben Sie ruhig, Caitlin.« Crowther legte ihr eine schwere Hand auf die Schulter. »Was für Wesen?« Matt blickte suchend um sich. Die Sonne war nur noch ein schmaler roter Streifen am Horizont, und zwischen den Bäumen lagen inzwischen dunkle Schatten. »Die Flüsterer.« Caitlin/Briony schlang sich die Arme um den Leib. »Spürt ihr das?« Matt sprang auf und wollte zum Rand des Steinkreises rennen, um nach den Flüsterern Aus126 schau zu halten, doch Crowther packte ihn an der Jacke und zog ihn wieder zu Boden. Und dann spürten es alle ganz deutlich: Eine Welle tiefer Verzweiflung spülte über die Landschaft hinweg und brandete unaufhaltsam auf den Steinkreis zu. Die Flüsterer kamen. »Was sind das bloß für Wesen?«, fragte Caitlin/Briony ängstlich. »Wie stellen sie es an, dass wir uns so eigenartig fühlen?« Mahalia packte Crowther am Arm und fragte aufgebracht: »Wie lange dauert es noch, bis dieser Scheiß endlich funktioniert?« »Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal, ob es überhaupt funktioniert.« Mahalia wirbelte herum. »Wir sind hier zu ungeschützt. Wir brauchen einen Unterschlupf... irgendwas, wo wir uns verteidigen können.« »Die Flüsterer können den Kreis nicht betreten«, sagte Crowther. »Das Blaue Feuer hält sie davon ab.« »Aber falls wir nicht nach Anderswelt gelangen, müssen diese Wesen nur abwarten, bis wir verhungert sind«, erwiderte Mahalia. Weit unten im Tal erkannte man ein schwaches purpurnes Licht, das rasch näher kam. »Sie kommen! Sie kommen!«, brüllte Caitlin. Es war, als würden die ihr innewohnenden Persönlichkeiten um die Vormachtstellung ringen. Die verbliebene Sonne war nur noch ein schmaler Schlitz, als wäre der Himmel aufgeschnitten und würde bluten. Doch sonderbarerweise wurde das blaue Glühen an den Steinen intensiver; es verlief jetzt kreuz und quer über die Oberfläche, schien in die Steine einzudringen und sie mit Leben zu erfüllen. Die Luft war aufgeladen mit Magie. 127 Über die Stille erhob sich ein rasselndes Atmen. Mahalia zog eines ihrer Messer unter der Jacke hervor und wandte sich in die Richtung um, aus der das Geräusch kam. Ein purpurner Dunst trieb durch die Bäume heran, und kurz darauf kam ein Mann herausgestolpert. Aber es war keiner der Flüsterer. Er sah aus wie ein normaler Mensch, obwohl der purpurne Nebel aus ihm heraussickerte, als wäre er ein beschädigtes Entlüftungsrohr. Carlton weinte; Mahalia duckte sich, war bereit, jedweden Angriff abzuwehren. Der Mann erreichte den Rand des Steinkreises, und sie sahen, dass es der Eremit aus dem Automuseum war. Aber er war nicht mehr derselbe. »Mein Gott, was haben sie ihm angetan?«, entfuhr es Crowther. Der Mann war kaum noch als Mensch zu bezeichnen. Aus seiner Haut ragten Knochen und Teile des Skeletts heraus, obwohl man nirgendwo Blut sah, nur das purpurne Licht. Sein haarloser Schädel schimmerte violett, die riesigen Augen blickten in unterschiedliche Richtungen. Irgendwie gelang es ihm, sich weiterzuschleppen, obwohl sein rechter, in der Mitte gebrochener Oberschenkelknochen weiß aus dem Fleisch herausragte. Alles in allem sah er eher wie ein Zombie aus einem billigen Hollywood-Film aus denn wie ein Angehöriger der Spezies Homo sapiens. Während er herangewankt kam, wimmerte er leise vor sich hin und presste Worte heraus, die nicht von ihm stammen konnten. »Es besteht keine Hoffnung«, sagte er. »Es endet hier. Ihr endet hier.« Aus seinen Händen glitten rostige Schwertklingen heraus. Hinter ihm erschienen die Flüsterer auf ihren riesigen Rössern, schwarz wie die Nacht, doch mit violett leuchtenden Augen. Allein die Farbe bereitete Caitlin Übel128 keit. Sie kamen von allen Seiten auf den Steinkreis zu, zogen den Ring des Schreckens immer enger. Sie mochten den Kreis zwar nicht betreten können, doch ihr Herold kannte derlei Einschränkungen nicht. Er kam zwischen den Steinen auf sie zugestürmt, fuchtelte wie von Sinnen mit den Schwertklingen herum. Mahalia sprang im letzten Moment zur Seite, entging nur um Haaresbreite einem tödlichen Hieb. Carlton krabbelte auf allen vieren zur anderen Seite des Kreises, wo er nur ein kleines Stück von den Flüsterern entfernt war. Der Mann wandte sich zu Crowther um; seine wahnwitzigen Attacken waren unvorhersehbar.
»LASS MICH RAUS!« Die furchtbare Stimme erschallte in Caitlins Kopf: Es war die Fünfte, vor der alle anderen Angst hatten. »LASS MICH RAUS! LASS MICH MEINEN ZORN GEBÄREN!« »Nein!«, sagte Caitlin zu sich selbst. »Nie, nie nie!« Matt hechtete nach vorn, schubste Crowther aus der Stoßrichtung eines tödlichen Schwerthiebs. Die Klinge versank im weichen Erdboden. »Das Leben führt zum Zerfall und dann zum Tod«, fuhr der Herold fort. »Alles hat ein Ende.« Die Wirkung der Droge wurde mit jedem Augenblick stärker, die Halluzinationen intensiver und realer. Die Welt innerhalb des Steinkreises war wie ein Traum aus sprießenden Blumen und überschäumendem Leben, während draußen die Dunkelheit an den Steinen rüttelte. »Jetzt!«, rief Crowther Caitlin zu. »Legen Sie die Hand auf den Boden! Dort! Dort!« Fieberhaft deutete er auf eine Stelle vor ihren Füßen. Caitlin tat wie geheißen, und augenblicklich kamen aus den Megalithen blaue Feuerzungen herausgeschos129 sen, die genau in der Mitte des Kreises zusammentrafen. Die Energie stieg knisternd und funkelnd in die Höhe und erschuf seltsame geometrische Gebilde, bis über ihren Köpfen eine massive, saphirartig schimmernde Lichtkathedrale entstanden war. Der Herold fuhr zu Caitlin herum. Er holte mit einer seiner Schwertklingen aus und zielte auf ihren Hals. Sie erstarrte. In dem Moment, als Caitlin die Augen schloss und akzeptierte, dass alles vorüber war, stieß Matt die Klinge fort. Das rostige Metall schnitt ihm in den Unterarm, doch er fuhr trotzdem herum und rammte dem Herold die Faust ins Gesicht. Der Angreifer taumelte hin und her, rang um sein Gleichgewicht. Bevor er es zurückerlangte, tauchte Mahalia zwischen seinen Beinen auf und rammte ihm einen Schraubenzieher in den Schritt. Dann kam sie wie eine Ratte unter ihm hervorgeschossen, sprang auf und schlitzte dem Herold mit einer fließenden Seitwärtsbewegung die Kehle auf. Überall war purpurnes Licht, das sich mit dem Schein des Blauen Feuers vermischte. Als der Herold auf die Knie sank, brüllte Crowther aus heiserer Kehle: »In die Mitte! Dort ist das Blaue Feuer am stärksten!« Sie eilten zu der angewiesenen Stelle, wo plötzlich ein Energieschwall aus dem Boden schoss und ihnen in die Köpfe fuhr. Crowther machte mit den Händen einige seltsame Gesten, flüsterte ein Wort, das sie nicht verstanden, und dann ertönte ein Donnern, und die Wände der Welt kräuselten sich und kippten jäh nach hinten. 5 Auf den Spuren der Unendlichkeit »Es gibt märchenhafte Wissen im Boden unseres Gartens.« ROSE FYLEMAN Die neue Welt schoss ihnen in einem weißen Blitz entgegen, und sie fielen auf die Knie und japsten nach Luft, als wären sie aus großer Höhe in die Tiefe gestürzt. Die flüchtige Erinnerung an einen wundervollen, blau schimmernden Ort entschlüpfte ihren Gedanken, sobald sie sich ihrer bewusst wurden. Doch die Empfindungen stürzten zu schnell und intensiv auf sie ein, um lange über den Übergang nachzudenken. Die Umgebung war komplett eingeschneit, und ein Blizzard wütete mit solcher Heftigkeit, dass sie sich wie alte Männer dagegen stemmen mussten. Nach wenigen Sekunden bibberten sie in der eisigen Kälte. Trotz der unwirtlichen Umgebung funkelten Caitlins Augen vor Verwunderung. »Das kann ich nicht glauben! Wir sind .. wir sind ...« »Im Märchenland«, sagte Crowther trocken. Er strahlte vor Freude. »Für diejenigen, die die Kabbala studiert haben, ist dies Yesod, das Land der Träume, die erste Zwischenstation für die Toten. Im Schlaf gehen wir alle manchmal an diesen Ort.« Er blickte sich um, konnte es selbst kaum fassen. »Das ist... das ist... unglaublich.« Obwohl der Sturm an ihm zerrte, breitete Matt die Arme aus und saugte die 131 eisige Luft tief in die Lunge. »Der Übergang war so ... wild.« Er suchte nach den richtigen Worten, um das Erlebnis zu beschreiben. »Es kam mir vor, als wäre ich bis in die Haarspitzen mit Energie gefüllt ... als wären meine Gedanken elektrisch ... als würde ich quer durchs Universum geschleudert. Und hier ... hier ist es einfach nur magisch.« Sie wussten, was er meinte. Die Essenz der sie umgebenden Realität war sonderbar intensiv, als seien sie durch eine Leinwand in einen Spielfilm hineingesprungen. Die Farben waren kräftiger, die Oberflächen plastischer, die Düfte betörender, die Klänge so lebendig, dass sie innehalten mussten, um der Musik des Windes zu lauschen. Plötzlich gab es keine Eintönigkeit und Langeweile mehr. Alles war von Magie durchdrungen und alles war möglich. Ihnen wurde fast schwindlig vor Verwunderung. »Es ist wie eine Droge«, sagte Caitlin. »Man könnte sich darin verlieren.« Sie überlegte einen Moment und fügte dann hinzu: »Wer würde denn nach so einem Erlebnis freiwillig zurückgehen?« »Gute Frage«, pflichtete Crowther ihr bei. Es war allerdings zu kalt, um den Aufenthalt wirklich zu genießen. »Wir müssen einen Unterschlupf finden, sonst erfrieren wir«, rief Matt. Er blickte sich um, versuchte sich zu orientieren. Hinter ihnen lagen die höchsten
Berge, die sie je gesehen hatten, und darüber hing ein drohender, schiefergrauer Wolkenhimmel. Die Augen gegen das stechende Schneetreiben halb zugekniffen, deutete Matt den Abhang hinunter. Der Schnee war knietief, und sie kamen nur schwer voran, doch wenigstens hatten sie den Sturm nun im Rücken. Wenig später entdeckte Matt eine enge Schlucht voller Felsbrocken, die so groß und missgestaltet waren 132 wie mythologische Fabelwesen. Er führte die Gruppe hinein und freute sich über den Schutz, den sie dort vor dem Wind und dem Schneetreiben fanden. In der Schlucht entspannten sie sich ein wenig, doch nach dem ersten Hochgefühl traten nun wieder ihre Sorgen in den Vordergrund. Mahalia schaute den Hang hinauf, noch immer die verstörenden Bilder der Flüsterer im Kopf. »Können sie uns folgen?«, fragte sie. »Ich weiß es nicht«, sagte Crowther, »aber ich werde hier nicht tatenlos rumstehen, um es herauszufinden.« Caitlin war noch benommen vom Übergang. Mehr noch als die anderen spürte sie den Zauber der blauen Welt, durch die sie so blitzartig hindurchgesaust waren. »Was haben die Flüsterer dem armen Mann bloß angetan?«, fragte sie. »Es sah aus, als hätten sie versucht, ihn in einen der ihren zu verwandeln.« »Er sah aus wie eine Art Zombie«, sagte Mahalia. »Vielleicht tun sie genau das - Menschen in Monster verwandeln.« Verwundert blickte Matt auf seinen Arm. »Was ist los?«, fragte Crowther. »Der Kerl mit den Schwerthänden hatte mich übel verletzt.« Matt hielt den Arm hoch. »Aber die Wunde ist verheilt.« »Das ist eine der Eigenschaften des Blauen Feuers«, sagte Crowther. »Es besitzt heilende Kräfte.« »Diese blaue Welt ...«, sagte Caitlin verträumt. Plötzlich erschrak Carlton und riss die Augen auf. »Was ist denn, Kleiner?« Mahalia eilte zu ihm und folgte seinem Blick, aber sie sah nur die dicke Schneedecke und den grauen Himmel. Der Junge schüttelte unsicher den Kopf. »Wahrscheinlich hat er die Orientierung verloren«, sagte Crowther. »Verständlich. Wir haben etwas ganz Bemerkenswertes getan - wir haben die Erde verlassen und 133 sind in eine Welt gereist, die seit Jahrtausenden unsere Träume bestimmt...« »Erzählen Sie nicht so dramatisches Zeug«, sagte Mahalia. »Carlton kommt mit der Situation wahrscheinlich besser zurecht als Sie. Vergessen Sie nicht, er ist ...« »Ich weiß, ich weiß«, sagte Crowther und fügte mit nachgeäffter Kinderstimme hinzu: »Er ist etwas Besonderes. « Mahalia schüttelte den Kopf über den Professor und führte Carlton ein Stück zur Seite. »Keine Sorge, Kleiner«, sagte sie sanft, »wir passen schon auf uns auf.« Zähneklappernd setzten sie ihren Weg durch die Schlucht fort. Wegen der zahllosen Felsen konnten sie ihren genauen Standort nicht erkennen, doch sie wussten, dass sie sich an einer der unteren Flanken der monolithischen Bergkette befanden. Als sie um einen Felsen herumgingen, der so groß wie ein Haus war, deutete Matt auf eine Schneeverwehung am Rand der Schlucht. Zwei rote Punkte leuchteten wie glühende Kohlen. Sie verschwanden und kehrten wieder zurück, dann folgte ein kurzes Schneegestöber, und die Punkte waren endgültig verschwunden. »Augen«, sagte Crowther. »Etwas verfolgt uns.« Scheinbar gelassen zog Mahalia eines ihrer Messer unter der Jacke hervor. Carlton drückte sich an sie. »Keine Angst, Kleiner, ich pass ja auf dich auf«, flüsterte sie ihm zu. Sie warf Caitlin einen kühlen Blick zu, als sie sah, dass die Ärztin Carlton selber gern getröstet hätte. »Kommen Sie schon, Professor«, sagte Matt leise, »Sie sind hier der Experte. Welche Art von Raubtieren können wir hier erwarten?« Crowthers Lachen klang wenig beruhigend. »Denken Sie an Ihren grässlichsten Albtraum, und rechnen Sie 134 mit etwas zehnmal Schlimmerem. Dies ist das Land, in dem alles möglich ist, im Guten wie im Schlechten. Wenn wir schon in unserer Welt nicht mehr am Ende der Nahrungskette stehen, kann man davon ausgehen, dass wir hier ...« »Schon verstanden, Professor. Danke für die ermutigenden Worte.« Matt führte die kleine Gruppe weiter, ließ die Umgebung aber keine Sekunde aus den Augen. Schließlich öffnete sich die Schlucht zu einem kleinen, ungeschützten Plateau, auf dem eine dicke Schneedecke lag. Dahinter fiel das Land weiter ab, und der Schnee wich immer mehr den gewaltigen Felsbrocken, die überall herumlagen. »Sieht aus, als wären wir bald unten«, sagte Matt. »Wenn wir das Plateau hinter uns gebracht haben, sollten wir leichter vorankommen.« Er musste nicht betonen, dass dies eine geeignete Stelle für einen Hinterhalt war; es gab keinen Unterschlupf, nichts, wohin man würde flüchten können. Wenigstens würden sie den Angreifer kommen sehen. Der Schnee knirschte wie Kies unter ihren Stiefeln. Sie waren noch nicht weit gegangen, als zwei Meter vor Matt plötzlich die beiden roten Augen im Boden aufleuchteten. Er fuhr halb herum und wollte mit den anderen in die Schlucht zurück rennen.
Etwas erhob sich aus dem Boden, so weiß wie der Schnee, in dem es sich versteckt hatte. Auf den ersten Blick sah es aus wie eine riesige Qualle mit einem Krebskopf, in dem die beiden roten Augen glühten. Aber dann sahen sie, dass es unterhalb des seltsam geformten Kopfes eine menschliche Gestalt hatte und dass die quallenartige Umhüllung in Wirklichkeit glitzernde weiße Kleider waren, die ihm in Fetzen am Leib hingen. »Ich suche die Cailleach Bheur«, sagte der Quallenmann mit einer Stimme, die wie zerspringendes Glas 135 klang. »Nur sie kann den Fimbulwinter beginnen lassen. « Alle in der Gruppe starrten fassungslos auf das sonderbare Geschöpf vor ihnen. Es schwankte auf eine Art und Weise hin und her, die sein Unbehagen verriet, und dann wurde ihnen klar, dass es nicht begriff, wie sein Äußeres auf die Neuankömmlinge wirkte. »Wir ... wir können dir nicht helfen«, entgegnete Crowther. »Tut mir leid.« »Was bist du?«, fragte Caitlin mit Amys furchterfüllter Kinder stimme. Der Quallenmann kam, wie vom Wind geblasen, herangeschwebt, bis er direkt vor Caitlin stand und sich der Blick seiner erschreckend roten Augen in ihr Gesicht bohrte. »Sehe ich Eis in dir?«, fragte er verwirrt. Dann trat er einen Schritt zurück, als wäre ihm seine Unhöflichkeit bewusst geworden, und breitete die in weiße Stofffetzen gehüllten Arme aus. »Ich bin Moyaanisqi, auch als der Weiße Läufer bekannt. Ich durchstreife alle Welten. Mein Zuhause sind die kalten Regionen, die gefrorenen Gletscher und eisigen Gipfel. Aber was«, fügte er neugierig hinzu, »was seid ihr?« »Wir sind ... Menschen«, antwortete Crowther. Der Weiße Läufer überlegte einen Moment lang und rief dann aus: »Zerbrechliche Geschöpfe! Ich habe Angehörige eurer Art aus der Ferne gesehen, als ich in Festlande die Cailleach Bheur gesucht habe. Aber so nahe war ich euch Menschen noch nie. Zerbrechliche Geschöpfe!« Verwunderung lag in seiner Stimme, als wären sie die mythischen Wesen. »Du hast unsere Welt besucht?«, fragte Caitlin. »Viele Male, doch meine lange Suche hat mich einsam gemacht; ich meide Kontakt zu anderen Wesen. Ich war oben in euren Bergen und habe im Schnee meine Spuren 136 hinterlassen, aber gefunden habe ich nichts. Und deshalb bin ich hierher gekommen, nach Fernlande. Vielleicht wird mich meine Suche erneut in weite Fernen führen.« »Dann hast du bestimmt schon viel gesehen.« Ein Funkeln lag in Crowthers Augen. »Das kann man wohl behaupten.« »Wir suchen einen Ort namens Haus der Schmerzen, aber vermutlich hat er noch einen anderen Namen. Kannst du uns sagen, wo das ist?« Der Weiße Läufer dachte eine Weile nach, dann schüttelte er den sonderbaren Krebskopf. »Soweit ich weiß, soll es in den heißen Regionen liegen, die für mich unzugänglich sind. Und falls dem so sein sollte, könntet ihr dort die Djazeem fragen, die in der großen Weinenden Wüste leben. Ich kenne ein Wort der Macht, das sie dazu verpflichtet, euch zu helfen. Flüstert es ihnen zu, dann werden sie euch gehorchen.« Er sah jeden prüfend an, dann wanderte sein Blick zu Caitlin zurück. »Du. In dir ist nicht bloß Eis, sondern auch das Feuer, das nicht brennt. Du sollst das Wort der Macht in dir tragen.« Caitlin/Amy wich zurück, aber der Weiße Läufer beugte sich rasch herab und flüsterte ihr das Wort ins Ohr. Was immer es war, es berührte Caitlin zutiefst, denn sie sank benommen auf die Knie. »Du wirst dich nicht daran erinnern, bis du es brauchst, aber es ist in dir. Das ist mein Geschenk an euch.« Er starrte sie an und schüttelte fassungslos den Kopf. »Zerbrechliche Geschöpfe!« Dann richtete er sich auf und schickte sich an zu gehen. »Ich muss meine Suche fortsetzen, denn die Cailleach Bheur ruht nie und es gibt eine Vielzahl von Welten.« Crowther stellte ihm noch eine letzte Frage. »An wen sollen wir uns als Nächstes wenden?« 137 Der Weiße Läufer deutete ins Tiefland. »Folgt diesem Weg zur nächsten Schlucht und dann weiter hinunter in die Ebene. Dort soll es ganz in der Nähe eine Stadt geben, wo ehemalige Angehörige des Goldenen Volkes leben. Vielleicht wissen sie weiter. Lebt wohl.« Bevor sie sich ihrerseits von ihm verabschieden konnten, war er bereits verschwunden, verschmolzen mit dem Schnee. »Was war das denn?«, sagte Matt mit unüberhörbarer Ehrfurcht. »Im Dyak-Dialekt auf Borneo gibt es ein Wort«, sinnierte Crowther, »'ngarong. Es umschreibt einen geheimen Helfer, der einem im Traum erscheint. Und Sie werden bald begreifen, mein Freund, dass dies auch ein Traum ist.« Unterhalb der Schneegrenze erreichten sie die nächste Schlucht. Der Untergrund war trügerisch, und sie mussten bei jedem Schritt aufpassen, nicht auf die scharfkantigen Felsen zu fallen, die überall herumlagen. Blattlose, skelettartige Bäume wiesen ihnen den Weg, der ihnen plötzlich seltsam vertraut und gleichzeitig gespenstisch fremd vorkam. Schließlich ging der Steilhang in ein sanfteres Gefälle über. Sie sahen die ersten Gräser und Wildblumen, und die Bäume wurden kräftiger und trugen Laub. Die Temperatur stieg um einige Grad, doch sie konnten sich noch
immer nicht orientieren oder die Tageszeit bestimmen, denn ein dichter Nebel umfing sie, und die Luft war so feucht, dass sie nach wenigen Minuten klitschnass waren. Caitlin hatte das merkwürdige Gefühl, dass sich hinter ihrer Wahrnehmungsgrenze die Szenerie selbst erschuf, sodass sie den Erwartungen der Besucher entsprach. 138 Und als sie diesen Gedanken weiterverfolgte, hatte sie mit einem Mal den Eindruck, von einem Verstand umgeben zu sein, der in allem steckte - im Gras, im Nebel, in den Steinen unter ihren Stiefeln. Sie lief auf dem Antlitz eines unendlichen Gottes, der den Mund aufreißen und sie von einem Augenblick zum anderen verschlingen konnte. Bei der Vorstellung kreischten die Stimmen in ihrem Kopf wie Affen im Dschungel. Sie legten eine Pause ein und schliefen, vermutlich ein paar Stunden, doch es war schwer zu sagen, denn als sie aufwachten, war noch Tageslicht. Als sie sich wieder auf den Weg machten, lief Crowther ein Stück voraus und benutzte seinen Stab wie ein Ruder, mit dem er ihnen den Weg wies. Hinter ihm liefen Caitlin und Matt, dann folgten Carlton und Mahalia. Nach ihrer anfänglichen Euphorie hatte die Jugendliche sich wieder auf ihr Herumbrüten verstiegen und beobachtete argwöhnisch die Umgebung, was Caitlin allerdings gar nicht schlecht fand. Carlton hingegen war guter Dinge, lief mal hierhin, mal dorthin und studierte jede kleine Entdeckung, als wäre er auf einer Urlaubswanderung. »Ich wusste gar nicht, dass Sie so gut kämpfen können«, sagte Caitlin zu Matt, als sie durch hüfthohes, wie ein Ozean hin und her wogendes Gras liefen. »Sie haben sich am Steinkreis wie ein Profi verhalten.« Matt zuckte verlegen mit den Schultern. »Ist schon erstaunlich, welche Kräfte man im Ernstfall entwickelt.« »Nun, ich bin jedenfalls froh, Sie dabeizuhaben.« »Ich möchte meinen Wert beweisen. Ich komme mir noch immer wie eine Klette vor. Professor Crowther ...« »Ignorieren Sie ihn. Er ist immer mürrisch. Egal was er sagt, ich wette, insgeheim ist er froh, dass Sie bei uns sind.« Matt schwieg einen Moment lang, dann sagte er: »Ich 139 weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, aber ... geht es Ihnen wieder besser?« »Sie meinen die fremden Stimmen, die aus meinem Mund kommen? Ich möchte nicht darüber -« Plötzlich war es, als stieße ihr jemand Glasscherben ins Hirn. Sie schlug die Hände vors Gesicht. »Tut mir leid ...« Doch seine Frage hatte ihr etwas von dem Druck genommen, und die Worte sprudelten ungewollt aus ihr heraus. »Außer mir sind es noch vier Personen. Wir sitzen auf einem Eisfeld und schauen in die Nacht hinaus.« »Sind Sie sich dieser Personen bewusst?« »Die ganze Zeit.« »Wie fühlt sich das an?« Seine Fragerei schien ihm nicht zu behagen, doch die Neugier war offensichtlich stärker. »So als ob sie alle ich wären, aber irgendwie auch nicht. Ich weiß, das ergibt keinen Sinn, aber ich kann es nicht anders beschreiben. Ich habe ein Druckgefühl im Kopf, als wären diese Personen in ihm eingesperrt, und jede versucht sich ständig in den Vordergrund zu drängen. Ich... Caitlin... ich bin etwas stärker als die anderen, deswegen behalte ich die meiste Zeit die Oberhand. Aber sollte eine der anderen irgendwann stärker werden ...« Sie wollte den Gedanken nicht zu Ende führen. »Auf eine merkwürdige Art und Weise helfen sie mir aber auch.« »Wie denn?« »Sie halten mich davon ab, zu oft an Grant und Liam zu denken.« Zwei Gräber; eine stürmische Nacht. Sie hatte alles ganz deutlich vor Augen. »Allein ihre Namen zu erwähnen ist schon zu viel für mich. Ich würde verrückt werden, wenn ich zu viel darüber nachdächte.« Sie lachte bitter. »Verrückt! Verrückter, am verrücktesten ... Meine geistige Gesundheit hängt an einem seide140 nen Faden, den der leiseste Windhauch zerreißen kann. Diese Personen in meinem Kopf... es kommt mir vor, als würden sie meine Gedanken und Gefühle verschnüren und mich so in der Spur halten. Ohne sie wäre ich nicht hier.« Sie biss sich auf die Lippe, bis es schmerzte. »Wahrscheinlich wäre ich längst tot.« »Sagen Sie so etwas nicht.« Es überraschte sie, wie besorgt er klang. »Ich kann nicht anders. Manchmal frage ich mich, was das Ganze überhaupt noch soll. Überall ist nur Elend, hier und heute und auch in Zukunft. Manchmal versuche ich, optimistisch zu sein, aber die Wahrheit ist unumstößlich und wirft ihren Schatten über alles. Ich wünschte, ich könnte mich von alledem reinwaschen. Ich wünschte, ich könnte glücklich sein.« Sie hatte den Eindruck, dass Matt sie in den Arm nehmen wollte, um sie zu trösten, doch er hielt sich zurück, und während ein Teil von ihr froh darüber war, sehnte sich ein anderer Teil nach menschlicher Berührung. »Und wie kommen Sie mit allem zurecht?« »Man arrangiert sich irgendwie, nicht wahr?«, sagte er. »Was anderes bleibt einem auch nicht übrig. Alle versuchen, die Dinge einigermaßen zusammenzuhalten seit dem Untergang. Er hat uns über Nacht in ein DritteWelt-Land verwandelt. Ja, wir sind dabei, uns halbwegs zurückzukämpfen - die Übergangsregierung in Oxford leistet gute Arbeit...« »Regierung? Davon weiß ich ja gar nichts.«
»Die Kunde hat sich noch nicht verbreitet. Sie wissen ja, wie es um die überregionale Kommunikation bestellt ist. Als Rosetta verschwand, dachte ich, das war's. Nachdem Jan mich verlassen hatte, habe ich nur wegen meiner Tochter weitergemacht - uns Tag für Tag über die Runden gebracht, sichergestellt, dass abends etwas zu 141 essen auf dem Tisch steht und so weiter. Aber als ich sah, wie sich alle zusammenrissen, wurde mir klar, wie selbstsüchtig es von mir war, ans Aufgeben gedacht zu haben. Heutzutage brauchen wir einander mehr denn je. Ich muss meinen Teil beitragen, ganz gleich, wie tragisch meine persönliche Situation ist.« Ob beabsichtigt oder nicht, trafen seine Worte einen Nerv bei Caitlin. Ihr Gespräch klang aus, als sie sich tief in ihr Inneres zurückzog, dorthin, wo der kalte Wind über das Eisfeld pfiff. Als sie den Nebel hinter sich gelassen hatten, lag tiefe Dunkelheit über dem Land, und ein prasselnder Regen dämpfte ihre Stimmung. Mahalia beschleunigte ihre Schritte, bis sie zu Crowther aufgeschlossen hatte, und dann packte sie ihn am Arm. »Ich friere, ich bin durchnässt, ich bin müde und habe Hunger«, sagte sie. »Wo ist diese verdammte Stadt?« »Leider gibt es keine Landkarten von dieser Region«, erwiderte Crowther. »Halt einfach den Mund - du klingst wie ein verwöhntes Kind.« »Sind Sie sich sicher, dass wir den Wesen, die uns dort erwarten, gewachsen sind?«, fragte Matt. »Der Weiße Läufer war das Bizarrste, was ich mir vorstellen kann, aber wenigstens war er freundlich. Das nächste Mal haben wir vielleicht nicht so viel Glück.« »Wir haben sowieso keine andere Wahl, oder?«, entgegnete Crowther knapp. Carlton zupfte am Ärmel des Professors. Crowther wollte den Jungen schon anfahren, aber als er Mahalias und Caitlins funkelnde Blicke sah, hielt er sich zurück. »Was ist denn jetzt schon wieder?«, fragte er. Aufgeregt deutete Carlton in die Ferne. Nach einigen 142 Augenblicken erkannten die anderen, dass das, was sie bisher für Sterne gehalten hatten, in Wahrheit flackernde Lichter waren. »Ich will da nicht hingehen.« Amys leise, furchterfüllte Stimme jagte ihnen einen Schrecken ein. Die Festungsstadt erhob sich an der Flanke eines der Bergausläufer; sie war riesig, obwohl sie nur den Teil sahen, den die Fackeln auf der Brustwehr beleuchteten. Das Gewirr aus Spitztürmen, Kuppeldächern und unzähligen anderen Behausungen erinnerte an einen chaotischen Dritte-Welt-Moloch, der sich jenseits des Fackelscheins endlos fortzusetzen schien. Die Stadtmauer war mindestens fünfzig Meter hoch und bestand aus gewaltigen Felsblöcken, als wäre die Stadt auf natürliche Weise aus dem Boden herausgewachsen. Ein sechs Stockwerke hohes Ebenholztor erhob sich am Ende einer holprigen Straße, die sich über die Ebene schlängelte. Auf beiden Seiten des Tores standen brennende Feuerschalen. Hätten sie es nicht besser gewusst, sie hätten die Stadt selbst für ein lebendiges Wesen gehalten, denn sie verströmte eine bedrückende, brütende Präsenz, und als sie vor dem massiven Holztor standen, konnten sie sich des Gefühls nicht erwehren, dass die Stadt sie mit forensischen Blicken musterte, um herauszufinden, ob die Besucher eintreten durften oder nicht. Zum ersten Mal wirkte Crowther so beunruhigt, dass sie schon dachten, er würde kehrtmachen, doch nach kurzem Zögern trat er vor, hob die Faust und hämmerte ans Tor. Entgegen aller Logik schwoll das Klopfen zu einem so lauten Donnern an, dass sie sich die Ohren zuhalten mussten. Hinter dem Tor hallte der Ton durch die verwinkelten Gassen bis ins Herz der Stadt wider. 143 »Gehört haben sie uns jedenfalls«, sagte Crowther. Der kleine Scherz verpuffte. Caitlin/Amy klammerte sich wimmernd an Matts Arm. Carlton hingegen trat hoch erhobenen Hauptes an Crowthers Seite. Der Junge schien vor allem neugierig zu sein. Sie warteten nervös, während die Echos verklangen, und warfen sich beklommene Blicke zu. Nach einer Weile vernahmen sie das Klicken eines Schließmechanismus, und dann öffnete sich das Tor ächzend. Auf der anderen Seite stand niemand. Es dauerte eine Weile, bis sie die Einzelheiten dessen erkannten, was jenseits des Torbogens lag; nicht weil es dunkel war, denn überall brannten Fackeln, sondern weil ihr Verstand ungewöhnlich lange brauchte, um die Informationen zu verarbeiten, die ihre Augen empfingen. Schließlich kamen sie überein, dass eine gepflasterte, verwinkelte Straße zwischen den Häusern den Hügel hinaufführte. Die meisten Bauten sahen mittelalterlich oder spätgotisch aus und drängten sich so dicht an den Gehweg, dass sie ihn buchstäblich zu verschlingen schienen. Die fünf Gefährten zögerten, wussten nicht, ob sie hineingehen sollten, bis Gestalten aus dem Schatten heraustraten. Es waren kleinwüchsige Männer, kaum anderthalb Meter groß, gewandet in Leder-und-StahlMonturen, die keine wirklichen Rüstungen waren, aber auch keine normale Kleidung. Sie hatten lange Haare und Barte, doch wirklich beunruhigend waren ihre Augen. Ihnen fehlte alles Menschliche, sie blickten matt und kalt. Crowther stieß einen kehligen Laut aus und sagte: »Wir sind Besucher aus Festlande.« Er hatte die Begrüßung, so wie er sie auf dem College gelernt hatte, viele Male geübt, aber sie klang noch immer merkwürdig. 144
»Nehmt ihr uns freiwillig und ohne jede Verpflichtung unsererseits als eure Gäste auf?« Die Wachen starrten sie reglos an, doch nach einigen Sekunden trat ein etwas größerer Mann aus der Gruppe heraus. Crowther war froh, in dessen Augen etwas mehr Leben zu sehen. »Ist das eine Schwester der Drachen, die meine Augen erblicken?«, fragte der Wachmann. Er sah Caitlin an. Crowther folgte dem Blick; er wusste nicht, was er antworten sollte. »Wenn du das sagst.« Der Wachmann nickte gedankenvoll und bedeutete ihnen hereinzukommen. Matt wollte schon losgehen, doch Crowther versperrte ihm den Weg. »Nehmt ihr uns freiwillig und ohne jede Verpflichtung unsererseits als eure Gäste auf?«, fragte er erneut. Der Wachmann musterte ihn listig. »Ja, das tun wir. Und nun folgt mir.« Caitlin/Amy vergrub das Gesicht an Matts Schulter, als sie in die Stadt hineingingen und hinter ihnen das Tor ins Schloss fiel. Man führte sie fast eine halbe Stunde lang durch die steilen, verwinkelten Gassen. Auf beiden Straßenseiten ragten die Häuser, Gasthöfe und Läden so weit über ihre Köpfe hinaus, dass man nur einen schmalen Himmelsstreifen erkannte. Gelegentlich erhaschten sie Blicke auf seltsam verzerrte Gesichter hinter den Flaschenglasfenstern, und manchmal vernahmen sie geflüsterte Bemerkungen, die sie nicht verstanden, dafür aber umso stärker beunruhigten. Schließlich bogen sie um eine Ecke und erreichten einen gepflasterten Platz mit einem Springbrunnen, der außer Betrieb war. Eine grüne Schleimschicht schwamm auf dem stehenden Wasser. Auf der anderen Seite über145 ragte ein bedrohlich wirkendes Gebäude die umliegenden Häuser. Es ähnelte der Stadt selbst, hatte monolithische, in die Dunkelheit aufragende Gemäuer ohne jede Verzierung, wie ein Granitbrocken. Der Anführer der Wachen wandte sich mit einem rätselhaften Lächeln zu ihnen um. »Willkommen am Hof der Einträchtigen Seelen.« Die Steinwände im Innern des gewaltigen Baus - sie hatten befunden, dass es ein Palast oder ein Rathaus sein musste, obwohl es auch drinnen keine für solche Orte typischen Ornamentierungen gab - verströmten eine eisige Kälte, die ihnen tief in die Knochen fuhr. Überall waren undurchdringliche Schatten, und selbst die flackernden Fackeln, die ihnen den Weg beleuchteten, konnten diese Dunkelheit nicht durchdringen. Die vorherrschende Atmosphäre war die des Wartens - des Wartens auf ein furchtbares Ereignis, das sich nicht mehr abwenden ließ. Man führte die Besucher durch endlose Gänge, und gelegentlich kamen die fünf an halb offenen Türen vorbei, hinter denen sie riesige überwölbte Säle sahen, in denen nur die Echos ihrer Schritte lebten. Doch als sie tiefer ins Innere des Gebäudes vordrangen, sahen sie viele weitere der kleinwüchsigen Gestalten, die mit geheimnisvollen Bündeln an ihnen vorbeieilten oder, in Alkoven verborgen, miteinander tuschelten. Sie betrachteten die vorbeiziehende Prozession mit angespanntem Interesse; Caitlin konnte nicht sagen, ob sie sich fürchteten oder ob sie die Besucher bloß verachteten. »Haben wir überhaupt schon mal Luft geholt, seit wir hier drin sind?«, flüsterte Matt, vermutlich zu sich selbst. 146 Caitlin kam aus dem kalten Versteck heraus, an dem sie, entrückt und geschützt, die Ereignisse durch Amys Augen verfolgt hatte. »So etwas hätte ich mir nie im Leben träumen lassen«, sagte sie. »Oder vielleicht habe ich davon geträumt, es aber nicht ernst genommen.« »Ich frage mich, ob unser Leben anders gewesen wäre, wenn wir von der Existenz dieser Welt gewusst hätten«, sagte Matt. Ihm fiel auf, dass Mahalia so dicht hinter ihm lief, dass sie ihn immer wieder mit der Schulter am Arm streifte. »Hab keine Angst«, sagte er. »Ich habe keine Angst.« Sie funkelte ihn an und ließ sich demonstrativ zwei Schritte zurückfallen, doch Caitlin sah, wie sie verstohlen die rechte Hand in die Jacke schob, kampfbereit. »Was sind das wohl für Leute?«, fragte Caitlin beklommen. Crowther blickte zu ihnen zurück; sein Gesicht war vollständig im Dunkel unter der Hutkrempe verborgen. »Diese Leute sind der Ursprung unserer Mythen und Legenden - sie sind unsere Götter.« Er lachte bitter. »Feen. Elfen. All die alten Geschichten und Märchen, vom Lagerfeuer bis in die Bibliothek transportiert. Alles, was dem Brunnen der Imagination entspringt. Sie kamen in unsere Welt und verschwanden wieder, bevor wir uns sicher sein konnten, wirklich etwas gesehen zu haben. Manchmal bleiben sie eine Weile, um uns zu quälen. Jung hatte Recht, obwohl ich bezweifle, dass er es sich in dieser Art und Weise vorgestellt hat.« »Es ist schwer, die kleinen Kerle als Götter zu betrachten«, sagte Matt. »Sie haben nicht immer so ausgesehen. Man hat sie ... herabgesetzt«, entgegnete Crowther. Sein Augenmerk kehrte zu den Wachen zurück, als diese scharf nach links in ein riesiges Zimmer abbogen, 147 dessen einzige Lichtquelle ein Feuer in einem gewaltigen Steinkamin war. Als sich ihre Augen an das rötliche Glühen gewöhnten, erkannten sie Gestalten, die auf hochlehnigen Stühlen saßen und mit gedämpften Stimmen sprachen. Sie beugten sich über eine Landkarte, die auf einem großen Eichentisch lag. Der Wachmann trat vor. »Herr«, sagte er ins Halbdunkel, »hier sind vier Zerbrechliche Geschöpfe, die heute Nacht plötzlich vor dem Tor standen. Und eine Schwester der Drachen.« Die Gestalten im Zimmer blickten auf. Caitlin bekam eine Gänsehaut. Was bedeutete das, Schwester der Drachen? Hatte es etwas mit Marys Vision zu tun, als die Welt plötzlich ein ganz anderer Ort geworden war?
Und warum beschäftigte es sie so sehr? »Tritt näher.« Die Stimme kam von einem der Stühle nahe am Feuer, wo ein kleinwüchsiger bärtiger Mann mit langem schwarzem Haar und spitzen Ohren von den Flammen aufschaute. Seine Augen glänzten rötlich im Feuerschein, rötlich und nachdenklich. Die anderen wollten herantreten, doch die Wachen versperrten ihnen den Weg und ließen nur Caitlin weitergehen. »Ich bin Caitlin«, sagte sie. Der Mann betrachtete sie von oben bis unten. »Eine Schwester der Drachen.« »Ich weiß nicht, was das bedeutet.« »Nein. Das wisst ihr nie.« Er sah sie eindringlich an und sagte mit seltsam klingender Stimme: »Du bist die Gebrochene Frau.« Caitlin wusste nicht, was sie darauf entgegnen sollte, und nach einem Moment des Schweigens richtete der Gott den Blick wieder ins Feuer. Es mochte daran gelegen haben, wie das Licht den Schatten auf sein Gesicht fallen ließ, doch den Gott schien 148 eine tiefe Trauer zu erfüllen. »In den Tagen der Stämme hättet ihr Zerbrechliche Geschöpfe mich Lugh genannt, obwohl kaum einer aus jener Zeit mich heute wieder erkennen würde. Manchmal fürchte ich, dass alles von neuem beginnt und ich kleiner und kleiner werde, bis ...« Er schaute scharf auf, mit einem Anflug von Zorn im Blick, als hätte Caitlin ihn verärgert. »Was willst du?« Caitlins Mund war völlig ausgetrocknet, aber sie brachte die Worte heraus. »Die Menschen sterben an einer Seuche. Man hat uns gesagt, dass es hier ein Heilmittel gebe, irgendwo in dieser Welt...« »Und ihr sucht danach?« Er zuckte mit den Schultern. »Kleine Kämpfe, ausgefochten von kleinen Wesen. Wie immer seid ihr euch nicht des großen Ganzen bewusst.« »Könnt... könnt Ihr uns helfen?« »Vielleicht.« »Bitte, wir haben es eilig«, sagte Caitlin. »Wenn wir nicht schnell das Heilmittel finden ...« »Zeit ist hier nicht von Bedeutung«, unterbrach Lugh sie. »Du hast Glück, dass man dich überhaupt an den Hof der Einträchtigen Seelen vorgelassen hat. Einige Höfe hätten dich nicht so gastfreundlich empfangen.« »Andere schon«, sagte eine verbittert klingende Stimme im hinteren Teil des Zimmers. »An einigen Orten hätte man sie auf einer Sänfte hereingetragen.« Kaltes Gelächter raschelte durchs Halbdunkel. Caitlin bekam Angst. »Wir bleiben neutral«, sagte Lugh. »Vorerst.« »Wartet Ihr auf etwas?«, wechselte Caitlin das Thema, besorgt, dass das Gespräch einen gefährlichen Verlauf nahm. Lugh sah sie an. »Ja, wir warten. Wir warten auf den Krieg.« Er winkte sie mürrisch fort. »Man wird euch zu 149 euren Quartieren bringen. Ihr könnt euch frei bewegen, aber meidet die Unter-Stadt. Einige unerwünschte ... Kreaturen strapazieren dort unsere Gastfreundschaft. Wir reden später weiter.« Bevor Caitlin mit Nachdruck auf Antworten beharren konnte, hatten die Wachen sie und die anderen schon auf den Gang hinausgeschoben. Man wies ihnen fensterlose Zimmer zu, die nur wenig Komfort boten. In jedem gab es lediglich ein Holzbett mit einer harten Matratze und einer rauen Zudecke, einen Schilfrohrteppich und einen Nachttisch, auf dem ein Kerzenstummel stand. Sie hatten inzwischen einen Bärenhunger, und der Wachmann schlug vor, dass sie doch eine Taverne besuchen sollten, in der sie sich die Bäuche voll schlagen könnten. »Aber«, warnte er sie, »durchquert die Straßen schnell, denn in seiner Großzügigkeit hat der Hof seine Tore allen Bewohnern von Fernlande geöffnet, und viele von ihnen sind den Zerbrechlichen Geschöpfen nicht eben freundlich gesonnen. Sie wohnen nicht bloß in der UnterStadt.« Sie folgten seiner Wegbeschreibung und marschierten im Regen durch die verwinkelten Gassen, immer auf der Hut vor den herumhuschenden Schatten, die sie allerorten bemerkten. »Geht es nur mir so«, sagte Mahalia, »oder hatten Sie auch das Gefühl, dass die Kerle uns ebenso gut die Kehlen hätten aufschlitzen können?« »Sie sind vorsichtig«, sagte Crowther. »Sie wollen sich nicht versehentlich mit der falschen Seite verbünden.« »Sie wissen mehr, als Sie uns erzählen.« In Matts Stimme schwang ein herausfordernder Unterton mit. 150 »Das hat er alles auf seinem kleinen Zauber-College in Glastonbury gelernt«, sagte Mahalia sarkastisch. »Sie sollten Ihr Wissen mit uns teilen«, sagte Matt. »Wir sitzen alle im selben Boot. Jede Information, die uns herauszufinden hilft, was im Gange ist...« »Ist ja gut«, murmelte Crowther. »Sie müssen mir keine Predigt halten.« Matts Vorstößen hatte er offenkundig weniger entgegenzusetzen, als wenn Caitlin oder Mahalia ihn bedrängten. »Ich wurde auf dem College, das Mahalia erwähnt hat, von jemandem unterrichtet, der schon mal hier gewesen ist. Die Informationen, die er zurückgebracht hat, und das während des Untergangs gesammelte Wissen haben einen signifikanten Teil seiner Lehren gebildet.«
Aus einer der Gassen kam ein Mann herausgeeilt - zumindest hielten sie ihn für einen Mann - und schaute sich so erschrocken über die Schulter um, dass er beinahe in die Gruppe hineingerannt wäre. Er war unnatürlich groß und dünn und trug einen riesigen Schlapphut, der sein Gesicht verdeckte. »Habt ihr es schon gehört?«, sagte er, verwirrt über ihre Gegenwart. »In den Sümpfen von Gisbourg wurde der Gott der Vergeltung gesichtet, gleich hinterm Wunsch-See im Osten. Das ist die Wahrheit. So hat man es mir berichtet.« Er machte mit den Fingern eine Schnippschnapp-Bewegung. »Es ist ein Omen. Alles wird enden.« Er drehte den Kopf zur Seite, und das Fackellicht schien ihm ins Gesicht. Sie wichen erschrocken zurück, als sie sahen, dass seine Augen zugenäht waren. Er eilte auf seinen dürren Beinen weiter und verschwand in der nächsten dunklen Gasse. »Der Kerl sah ja grauenvoll aus«, sagte Crowther. »Lasst uns von der Straße verschwinden.« Er deutete die Gasse hinunter, wo sie die Taverne sahen. Im Gegensatz 151 zu den anderen Gebäuden in der Umgebung strömte freundliches Licht aus den Fenstern. Ein Schild mit einer stilisierten Sonne und einem lächelnden Gesicht schwang im Wind hin und her. Als sie all dies registriert hatten, war Crowther schon beinahe an der Tür. Die Taverne war erfüllt von einem leisen Stimmengewirr, und es roch nach Bier, Sägemehl, Rauch und gewürztem Fleisch. Aber dann sahen sie die Gäste, und erneut verschlug es ihnen die Sprache. Es waren viele der kleinwüchsigen Männer da und auch einige Frauen, aber die anderen Anwesenden sahen unvorstellbar bizarr aus. Einige waren riesig und hatten insektenartige Facettenaugen, andere trugen flatternde Lumpen, die wirkten wie lebendige Wesen. Einige hatten Flügel, andere Hörner. Es war, als hätte es die fünf in eine Märchenszene verschlagen. »Unfassbar«, sagte Crowther. Die Gäste hielten inne und musterten die Besucher neugierig, doch nach wenigen Augenblicken erlosch ihr Interesse wieder und sie fuhren fort, über gebrochene Verträge und Armeen zu sprechen, die zusammengezogen wurden. Am Tresen bot ihnen der Wirt, ein untersetzter, bierbäuchiger Mann mit buschigen Augenbrauen, Speisen und Trank an, ohne dafür eine Gegenleistung zu verlangen. Er beobachtete sie argwöhnisch, während er den Männern und Carlton dunkles Starkbier und den Frauen Rotwein einschenkte. »Du bist zu jung für Alkohol«, sagte Matt zu Mahalia, als sie ihr Weinglas nahm. »Ich habe Menschen umgebracht«, erwiderte sie, und das war Antwort genug. Doch sie verbot Carlton, das Bier zu trinken, und bestellte ihm stattdessen ein Glas Wasser. 152 Sie wählten einen Tisch am Fenster, wo sie auf die verlassene Straße hinausschauen konnten, während sie die behagliche Wärme der Taverne umfing. »Es ist Zeit für ein paar Erklärungen«, sagte Matt zu Crowther. Es war offenkundig, dass Matt dem Professor misstraute und endlich wissen wollte, was los war. »Wer ist dieser Lugh?«, fragte Caitlin. Sie wusste, dass Brigid die Frage gestellt hatte; die alte Frau schien mehr zu wissen als sie selbst. »Lugh war einer der keltischen Götter.« Crowther nippte an seinem Bier. »Als diese Wesen, Angehörige des Goldenen Volkes, vor tausend Jahren in unsere Welt kamen, haben die Kelten ihn Lugh genannt und ihn als Sonnengott definiert. Die Götter kämpften in unserer Welt gegen andere Wesen, die Fomorii, die die Grundlagen für unsere Teufelsmythen bildeten. Die Götter unterlagen und zogen sich nach Fernlande zurück - also hierher, nach Anderswelt -, und die Niederlage hat sie in unserer Wahrnehmung extrem geschwächt. Sie wurden kleiner und verloren an Kraft - obwohl sie noch immer beeindruckend waren - und hielten als Märchengestalten Einzug in unsere Legenden und Sagen.« »Wieso hat die Niederlage sie so geschwächt?«, fragte Matt. »Sie werden bemerken«, sagte Crowther herablassend, »dass an diesem Ort nichts ist, wie es scheint. Diese Welt ist fließend, und bis zu einem gewissen Grad formen Wahrnehmung und Glaube das Sein.« »Weil wir vor ihnen also weniger Angst hatten, verloren sie an Stärke«, warf Mahalia ein. »Hinter deiner rauen Art bist du ein richtiges kluges Mädchen.« Crowther bedachte sie mit einem Lächeln, das Mahalia jedoch nicht erwiderte. »Erzählen Sie von dem Krieg, auf den Lugh zufolge 153 alle warten - das ist der entscheidende Punkt«, sagte Matt ungeduldig. »Natürlich ist es der entscheidende Punkt«, entgegnete Crowther herablassend. »Etwas Wichtigeres gibt es nicht. Die gesamte Menschheit steht am Scheideweg, und es könnte so oder so ausgehen.« Carlton überraschte sie, als er sich über den Tisch beugte und Crowther eine Hand auf den Arm legte. Die meiste Zeit war der Junge praktisch unsichtbar, und bis auf Mahalia vergaßen alle seine Anwesenheit, doch ab und zu ertappte Caitlin ihn dabei, wie er die anderen eindringlich beobachtete, und bei diesen Gelegenheiten sah sie, wie viel in seinem Kopf vorging. Diesmal war sein Gesichtsausdruck ernst. Er wechselte einen langen, intensiven Blick mit Crowther, und was immer in dem Moment zwischen den beiden geschah, stimmte den Professor nachdenklich.
»Der Untergang war eine Prüfung für die Menschheit, obwohl dies damals niemand erkannte. Ein neues Zeitalter ist angebrochen, so hat man es mir erklärt. Die Menschheit hat nun die Gelegenheit, sich weiterzuentwickeln und den Platz zu verlassen, den wir eingenommen haben, seit wir von den Bäumen herabgestiegen sind. Wenn wir unsere Chance nutzen, können wir die nächste Evolutionsstufe erreichen. Aus uns können ...«, er machte eine dramatische Pause, »... aus uns können Götter werden.« Matt sah ihn ungläubig an, doch in seinen Augen schimmerte ein Anflug von Ehrfurcht. »Götter?« »Wir haben das Potenzial in uns - wir wurden dazu erschaffen. Unsere Zeit ist gekommen. Aber ...« »Aber einige der anderen Götter möchten uns nicht in ihren Club aufnehmen«, warf Mahalia ein. »Stimmt.« Crowther trank einen Schluck Bier. »Eini154 ge sind entschieden dagegen. Andere akzeptieren, dass dies der Lauf des Seins ist - immer höher zu steigen und zu versuchen, das Nirwana zu erreichen. Und deshalb stehen sie kurz vor einem Bürgerkrieg.« »Und das ist alles wahr?«, fragte Matt ungläubig. »Was müssen wir tun?« »Wer weiß?« Crowther machte eine herablassende Geste, doch Caitlin sah, dass sein Blick kurz auf Carlton fiel. »Es hat etwas mit dem Blauen Feuer zu tun, der Erdkraft. Nachdem sie so lange geschlummert hat, ist sie im Land nun wieder zum Leben erwacht. Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet und wie es sich auf uns auswirkt. Unser Aufstieg könnte jetzt geschehen oder in tausenden von Jahren. Die Zyklen des Seins laufen in Intervallen ab, die sich nicht mit unserem Zeitmaßstab messen lassen.« »Aber wenn wir dem Sein ein bisschen Dampf machen könnten ...«, sagte Matt. »Wenn, wenn wenn.« Crowther winkte ab. »Strategisch gesehen ist die gegenwärtige Lage ein Vorteil für uns. Normalerweise wären unsere Chancen, Fernlande zu durchqueren, gleich null. Aber da das Goldene Volk gespalten ist - einige unterstützen die Menschheit, andere sind gegen uns -, habt ihr zumindest die Chance, euer Ziel zu erreichen.« »Ihr?«, fragte Caitlin. »Und was ist mit Ihnen?« »Ich komme nicht mit. Ich habe meinen Teil getan. Ich habe euch herübergebracht.« Sie sahen ihn überrascht an. »Aber ich dachte ...«, begann Caitlin. »Nein«, sagte Crowther mit fester Stimme. »Sie werden mich nicht überreden.« »Wir brauchen Sie aber!«, protestierte Caitlin. »Das stimmt nicht.« 155 »Warum sind Sie dann überhaupt mitgekommen?«, fragte Matt. »Ich habe meine Gründe.« »Ist doch egal«, sagte Mahalia. »Brauchen wir ihn wirklich? Ich denke nicht.« »Aber Sie wissen so vieles«, sagte Caitlin zu Crowther. »Ich weiß überhaupt nichts.« Voller Unbehagen starrte Crowther auf sein Bier. »Aber Ihre Anwesenheit könnte für uns den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten«, beharrte Caitlin. Er schaute Caitlin kurz an, konnte aber nicht ertragen, was er in ihren Augen sah. Er starrte in seinen Bierkrug und sagte dann: »Ich gebe Ihnen eine Information mit auf den Weg, Schwester der Drachen.« Er sah sie unter seinen buschigen Augenbrauen an. »Nur zu.« »Drachen sind das Symbol des Blauen Feuers - der Erdkraft, die allem innewohnt. Trotzdem sind diese Fabelwesen mehr als bloß ein Symbol - sie sind Realität. Und Sie, Caitlin, sind der Schlüssel. Die Kraft des Geistes ist der Schlüssel.« Er trank einen Schluck Bier. »Die Unterschiede zwischen den Glaubenssystemen des modernen Menschen sind ein einziger Humbug. Die Drachenkraft ist die Grundlage jeder Religion, die wir kennen, von der altertümlichen chinesischen Spiritualität bis zum Christentum. Die mittelalterliche christliche Kunst hat dies mit den Gemälden von Christus dem Drachen verdeutlicht. Da erscheinen die alten Bibelgeschichten plötzlich in einem ganz anderen Licht, was? Die Schlange im Garten Eden. Dekodiert man dieses Bild, kommt die Wahrheit zum Vorschein.« »Welche Wahrheit?«, fragte Caitlin. »Sie klingen schon wieder völlig vage, wie immer.« 156 »Nun, dann lassen Sie mich ein bisschen konkreter werden. Die Drachenkraft entströmt dem Göttlichen, und bestimmte Menschen werden von ihr durchdrungen, um als ... als Kämpfer für das Gute zu agieren. Es sind quasi edle Ritter, die ungeachtet ihres Glaubens, ihrer Kultur oder ihrer politischen Überzeugung für das Gute im Universum streiten.« »Und ich soll ein solcher Ritter sein?«, fragte Caitlin ungläubig, doch Marys Prophezeiung nahm plötzlich scharfe Konturen an. »In Ihnen steckt der Pendragon-Geist. Deshalb hatte man mich zu Ihrer Freundin geschickt.« »Ich bin aber kein Kämpfer, kein edler Ritter.« »Ja, ich weiß. Es ist schwer zu glauben, was?« »Was ist, Carlton?« Mahalia hatte bemerkt, dass der Junge unruhig wurde. Er blickte durch den Schankraum, als erwartete er, dass sie jemand angreifen würde, aber die Gäste waren alle in ihre leisen, intensiven Gespräche vertieft und beachteten die fünf Gefährten überhaupt nicht. Einige Sekunden später flog die Tür auf, und ein
fettleibiger Mann mit einem halb zerdrückten Hut auf dem Kopf stürmte herein. Er war völlig außer sich. »Die Flüsterer!«, rief er. In der Taverne wurde es still. »Sie sind hier, an der Stadtmauer!« Plötzlich brachen lautes Gerede und hektische Aktivität aus. Einige der Gäste eilten aus der Taverne, andere setzten sich dichter ans Kaminfeuer und pressten ihre Getränke fest an die Brust. »Sie sind uns hierher gefolgt?«, sagte Caitlin. In ihrem Kopf schluchzte Amy. »Ich glaube, wir sollten uns das mal ansehen.« Matt stand auf. Hinterm Fenster sahen sie Leute über die Straße rennen. »Ich glaube, ich bleibe lieber hier«, sagte Crowther 157 und blickte zum Tresen, um ein neues Bier zu ordern. »Halten Sie mich auf dem Laufenden, falls etwas Besorgniserregendes geschieht.« Matt und Caitlin gingen zur Tür, dann wandte sich Caitlin um und bedeutete Mahalia und Carlton, sie zu begleiten. »Ich dachte schon, Sie wollten uns mit dem alten Sack sitzen lassen«, sagte Mahalia, doch ihre Miene zeigte keine Dankbarkeit. Flatternde Gestalten huschten die steil abfallenden Straßen zur Stadtmauer hinunter, um dort nach einem guten Aussichtspunkt zu suchen. Sie wirkten wie Wesen, die zum ersten Mal vom Kelch der Angst kosteten. »Hier rein.« Matt packte Caitlin am Arm und zog sie in den Eingang eines hohen Turms. Die Tür war offen, und sie stürmten eilig die abgewetzten Stufen der Wendeltreppe empor. Oben angekommen, führte die Treppe auf einen Balkon hinaus, der rings um den Turm verlief. Der Regen hatte nachgelassen, und man hatte freie Sicht auf die Landschaft hinter der Stadtmauer. Sie sahen sofort, was los war. »Oh, nein«, sagte Caitlin düster. Mahalia trat zu ihr heran, und als Caitlin ihr ins Gesicht schaute, war alle Härte daraus verschwunden, und zum ersten Mal erkannte Caitlin das verzweifelte, unschuldige Mädchen, das Mahalia in Wirklichkeit war. »Die werden uns nie in Ruhe lassen, nicht wahr?« Ihre leise Stimme verlor sich im Wind, der die Worte zur Stadtmauer trug, hinter der ein purpurner, Verzweiflung verströmender Nebel waberte. Mary pochte der Schädel, und ihre Kehle fühlte sich so trocken an wie die staubige Straße, auf der sie lief. In ihrem Alkoholdelirium kam sie sich vor wie eine Invalide 158 oder als ob sie fünfzehn Jahre älter wäre, als sie tatsächlich war, und obwohl sie sich in einem Bach gründlich gewaschen hatte, stieg ihr immer wieder der Geruch von Erbrochenem in die Nase. Sie hatte den ganzen Whiskey weg gesoffen und allen anderen Alkohol im Haus - Apfel- und Pflaumenwein und einige Flaschen Bier, das einer der Dorfbewohner gebraut hatte -, und trotzdem gierte sie nach mehr, während sie sich gleichzeitig für ihre Gier verachtete. Halb so schlimm, dachte sie mit der derangierten Überzeugung des Alkoholikers, während ihr wahres Ich nur mit ohnmächtiger Verzweiflung zusah. Sie hatte ihr gemütliches Landhaus und ihr sorgsam strukturiertes Leben eigentlich nicht verlassen und sich in die chaotische Welt hinauswagen wollen - in der es viel zu gefährlich war, voller nächtlicher Schrecken schon mitten am Tag —, und eine Zeit lang hatte sie sich zu überzeugen versucht, dass es nicht in ihrer Verantwortung läge, Caitlin zu Hilfe zu eilen, weil sie ja sowieso nichts bewirken könne; warum also die Mühe? So lebte sie schon seit vielen Jahren, mit einer ihrem Selbstmitleid entsprungenen Angst; was sie Ende der Sechzigerjahre getan hatte, hatte den Rest ihres Lebens vergiftet. Für viele mochte ihr Vergehen unerheblich gewesen sein. Für sie war es eine erschütternde Offenbarung dessen, wer sie wirklich war, und diese fürchterliche Enttäuschung war etwas, worüber sie niemals hinwegzukommen glaubte. Selbst jetzt konnte sie nicht an diesen entscheidenden Moment in ihrem Leben denken; er blieb unberührt, unverarbeitet, wie giftiger Müll, der ihr Unterbewusstsein verseuchte. Und so hatte sie ihre Gedanken ganz selbstverständlich Caitlin zugewandt, die sich nicht von ihrem Mann und ihrem geliebten Sohn hatte verabschieden können, 159 und Mary hatte gespürt, wie Hitze in ihr aufstieg: Caitlin sollte nie so leiden, wie sie, Mary, gelitten hatte. Caitlin sollte nicht mit ansehen, wie ihr das Leben durch die Finger glitt und im Sumpf-der-verpassten-Möglichkeiten versickerte. Mary war fest entschlossen, ihrer Freundin dieses Schicksal zu ersparen. Sie könnte nicht mit sich leben, falls Caitlin etwas zustoße, das sie, Mary, hätte verhindern können. Und so hatte sie sich Mut angetrunken, und als sie zu beschwipst war, um noch Angst zu haben, hatte sie ihren bereits gepackten Rucksack genommen, an dessen Seite Arthur Lees Kopf herauslugte, und war aufgebrochen. Es würde eine lange Reise werden, zumindest der erste Teil, und sie nahm an, dass ihm noch einige folgen würden - diese Dinge fanden nie ein schnelles Ende -, und deshalb trug sie einige versteckte Waffen am Leib. Essen würde ein Problem werden; zwar wusste sie genug über Pflanzen und Kräuter, um ihre Vitaminversorgung zu gewährleisten, aber sie benötigte auch Protein, und ihre Chancen, einen Hasen oder Vogel zu fangen, waren eher gering. Sie blieb auf einer Hügelkuppe stehen und blickte zu den Feldern hinüber, die im hellen, morgendlichen
Sonnenschein dalagen. Sie hatte lange gebraucht, um sich zu entscheiden, wohin sie gehen sollte, und hatte diesbezüglich sogar mit den unsichtbaren Mächten kommuniziert, doch die hatten ihr nicht weitergeholfen. Inzwischen war offenkundig, dass sie sich nach potenterer Führung umsehen musste. Und die gab es nur an den alten mythischen Stätten, die über ganz England verteilt waren. Sie erwog Stonehenge und Avebury oder noch abgelegenere Orte, entschied aber, dass sie in ihrer Situation etwas ganz Spezielles benötigte. Sie musste mit einem Gott sprechen. 160 Nicht mit einem der Götter, die Gerüchten zufolge mit dem Untergang zurückgekehrt waren, sondern mit einem höheren Wesen. Einem alten, uralten Archetypus; mit einer Macht, die es seit dem Anbeginn der Zeit gab. Ein Stück die Straße hinunter war eine Kreuzung. Aus der Ferne hatte sie genauso verlassen gewirkt wie die ganze Umgebung, aber als Mary näher kam, erkannte sie eine wie aus dem Nichts aufgetauchte Gestalt, die kurz vor der Kreuzung neben einem hölzernen Straßenschild stand. Sie kniff blinzelnd die Augen zusammen; es war, als betrachtete sie die Szenerie durch einen flirrenden Hitzeschleier. Doch nach einigen Schritten klarte ihr Blickfeld auf, und sie erkannte einen Mann in zerschlissener Kleidung, der sich auf einen seltsam gekrümmten Stab stützte. Sein graues Haar hing ihm wirr um den Kopf, und als sie näher heranging, sah sie, dass sein Gesicht schmutzig war. Sie schob die Hand in die Tasche und packte das bereits geöffnete Taschenmesser. Im selben Moment spürte sie einen dumpfen Kopfschmerz, der sie an das sonderbare Gefühl erinnerte, das sie empfunden hatte, als der Fremde an ihrer Tür erschienen war. Sie war sich noch immer nicht klar darüber, wer er war, oder vielmehr, was er war, doch sie wusste ohne jeden Zweifel, dass er sie in fundamentaler Weise erschreckt hatte. Als sie auf die Kreuzung zuging, schrien ihr alle Sinne zu, sie solle fortlaufen. Was immer es war, was der Mann bei ihr auslöste, es drehte ihr den Magen um und wirbelte ihre Gedanken durcheinander; es war, als würde man zwei gleichpolige Magneten zusammenpressen. Sie konnte sehen, dass er sie erwartete. Als sie ihn erreichte, sagte sie keinen Ton; sie wollte einfach weitergehen, doch sein warnender, aus weit aufgerissenen Augen kommender Blick ließ sie stocken. 161 »Sind Sie hier, um mir zu helfen?«, fragte sie beklommen. Die schmutzigen Lippen bewegten sich, doch es gab eine entnervende, sekundenlange Verzögerung, bis die Laute tatsächlich herauskamen. »Du musst aufpassen. Man hat dich bemerkt.« »Wer hat mich bemerkt?« Mary glaubte, sich wieder übergeben zu müssen; verzweifelt würgte sie die aufsteigende Gallensäure herunter. »Das ... Wesenlose.« Mary hatte den Eindruck, dass der Fremde es nicht gewohnt war, in einer ihr verständlichen Sprache zu sprechen. »Das Wesenlose? Was soll das sein?« Wieder weiteten sich seine Augen, und sie wich einen Schritt zurück, war nicht imstande, ihn länger anzusehen. Furcht ergriff sie, und sie glaubte, jeden Moment ohnmächtig zu werden. Doch als er wieder sprach, klangen seine Worte gemessen. »Dein Leben ist bisher in einem gleichförmigen Rhythmus verlaufen. Ein Tag reihte sich an den anderen, dat-dat-dat, ohne Wechsel, ohne Bedeutung. Und dann, mit einem Mal, geschieht eine Veränderung in deinem Leben ... plötzlich ist es erfüllt von Achtsamkeit... Zielstrebigkeit... Wichtigkeit.« »Man hat mich bemerkt ... weil ich etwas Wichtiges tue. Und jemand wird versuchen, mich aufzuhalten.« Ihre Furcht veränderte sich, wurde tiefgreifender, kälter. Was deutete der Fremde da an? Wer hatte sie bemerkt? Wer war hinter ihr her? Plötzlich fühlte sie sich winzig, manipuliert von Kräften jenseits ihres Begriffsvermögens, und dann stellte sie die Frage, vor deren Antwort sie riesige Angst hatte. »Woher kommen Sie?« Es folgte eine lange, einschneidende Pause, und dann sagte der Mann: »Ich komme von oben ...« 162 »Von oben?« »... von hinten, von unten, von den Seiten ...« Seine Worte ließen sie schaudern und erinnerten sie an einige Leitsätze aus ihrem Studium der Magie: Wir sind fortwährend von fremdartigen Wesen umgeben. Wir können sie nicht sehen, sie aber uns. Sie wissen, was wir getan haben. Und was wir tun werden. »Geh!« Als das Wort erschallte, wäre Mary vor Schreck beinahe hingefallen. Entsetzliche Wut lag im Gesicht des Fremden. »Geh ... und gib Acht!« Sie wandte sich um und rannte die Straße hinunter, brennende Tränen in den Augen. Sie hatte das bestürzende Gefühl, dass ihr Tod bereits beschlossene Sache war. Als sie endlich den Mut fand zurückzuschauen, war die Kreuzung verlassen. Die Flüsterer waren direkt vor der Stadtmauer; der unheimliche Anblick ließ Caitlin, Matt, Mahalia und Carlton erstarren. Nach einer Weile verließ Mahalia die beiden Erwachsenen. Sie war irritiert darüber, dass zwischen den beiden offensichtlich etwas im Gange war. Wie man auf jemanden stehen konnte, der so verrückt war wie diese Zimtzicke, überstieg ihren Horizont. Unten angekommen, wandte sie sich Carlton zu und fühlte sich augenblicklich entspannter, als sie sein liebes, beseeltes Lächeln sah. »Was sollen wir tun, Kleiner?«, fragte sie sanft. Er nickte in Richtung des düsteren Palasts. »Okay, wir gehen zurück«, sagte sie. »Wir können beide etwas
Schlaf gebrauchen.« Sie spürte eine überwältigende Welle der Zuneigung und drückte Carlton fest an sich. »Ich bin wirklich froh, dich bei mir zu haben, Kleiner. « Er erwiderte die Geste, und dann löste er sich aus der Umarmung, nahm ihre Hand und stiefelte los. 163 »Ich wünschte, du könntest sprechen«, sagte Mahalia und verfiel allmählich wieder in ihre Angewohnheit, Carlton als Reflexionsfläche für ihre Gedanken und Unsicherheiten zu benutzen. »Versteh mich nicht falsch. Ich zweifle nicht an dir - das ginge gar nicht, nach allem, was du mir demonstriert hast. Aber ich würde gerne in allen Einzelheiten hören, was du über diese Geschichte weißt... es ist schwer, eine Sache voranzutreiben, wenn man nicht weiß, was man tun oder wohin man gehen soll.« Er wandte sich ihr zu und sah sie ernst an. In seinen großen dunklen Augen glaubte sie das ganze Universum zu erblicken. »Ich vertraue dir, Carlton«, betonte sie noch einmal. Sie gingen schweigend weiter, doch Mahalia grübelte ununterbrochen über die Frage nach, die sie am meisten beschäftigte: Woher hatte Carlton seine Informationen? Im Palast befürchtete sie schon, in den vielen Gängen nicht zu ihren Zimmern zurückzufinden, doch Carlton war ganz Herr der Lage. Als sie nicht mehr weit von ihren Unterkünften entfernt waren, blieb er jedoch unvermittelt stehen, schob Mahalia in einen dunklen Alkoven und bedeutete ihr, still zu sein. Sie konnte nur vermuten, dass er etwas gehört hatte, das jenseits ihrer Wahrnehmung lag. Sekunden später vernahm sie ein metallisches Rasseln, und kurz darauf erschienen zwei bärtige Wachmänner, die einen groß gewachsenen Jugendlichen durch den Gang trieben. Mahalia erkannte an der schlaksigen Statur, dass er ziemlich jung sein musste, aber davon abgesehen ließ sich nicht mehr über ihn sagen - sein Kopf steckte unter einer dicken schwarzen Kapuze, die lediglich zwei Augenschlitze hatte, damit er sah, wo er hintrat. Sein Oberkörper war mit so vielen 164 Eisenketten umwickelt, dass Mahalia sich fragte, wie er sich überhaupt bewegen konnte. Er schritt unerträglich langsam voran, rang mit dem Gewicht an seinem Körper, hielt sich aber aufrecht. Als er an dem Alkoven vorbeikam, geschah etwas Sonderbares. Obwohl man Mahalia und Carlton im Dunkeln nicht sehen konnte, schaute er zu ihnen herüber, als stünden sie für alle erkennbar da. Seine Augen waren von einem verblüffenden Graublau und erfüllt von einer flehenden Verzweiflung, die Mahalia schaudern ließ. Mahalia und Carlton warteten, bis der Gefangene und die Wachen lange verschwunden waren, bevor sie sich aus dem Alkoven herauswagten. Es war bloß ein weiteres merkwürdiges Ereignis in einer eigenartigen Welt, doch als sie im Bett lag, bekam sie den Blick des Gefangenen nicht mehr aus dem Kopf und fand erst Stunden später in den Schlaf. 6 Zwischen den Viadukten der Träume »Oh, für die Zeit, in der ich schlafe Ohne Identität.« EMILY BRONTE »Geh nicht zur Mauer - die Flüsterer kriegen dich!« Brionys wimmernde Stimme erhob sich über den heulenden Wind, der wie ein Messer über das Eisfeld schnitt. »Sie sind hinter dir her, das weißt du«, sagte Brigid. »Die anderen sind ihnen egal.« »Warum sollten sie bloß hinter mir her sein?«, entgegnete Caitlin. »Wen interessiere ich schon groß? Ich bin für niemanden von Nutzen. Ich kann die Menschen nicht heilen. Ich konnte nicht einmal meinen ... meinen ... selbst sie konnte ich nicht retten.« »Sprich nicht von ihnen!«, rief Amy mit furchtsam aufgerissenen Augen. »Sie wissen, dass du etwas Besonderes bist«, fuhr Brigid fort. »Sie wissen, dass du eine Schwester der Drachen bist.« Caitlin wandte sich um. »Was bedeutet das? Ich weiß es nicht! Es sind bloß Worte ...« Die alte Frau klopfte sich mit der schrumpeligen Hand auf die Brust. »Man trägt es im Herzen ... und im Blut.« »Das spielt keine Rolle«, warf Briony ein. »Du kommst sowieso nicht an den Flüsterern vorbei. Sie warten vor der Stadtmauer. Sie können nicht reinkommen, aber sobald ihr versucht hinauszugelangen ...« 166 Brigid brach in hysterisches Gelächter aus, das immer schriller wurde, bis Caitlin sie am liebsten niedergebrüllt hätte. »Lasst mich raus!« Die raue, krächzende Stimme drang aus der Dunkelheit im hinteren Teil des kleinen Unterschlupfes. Caitlin gefror das Blut in den Adern. »LASST MICH RAUS!« Amy fing an zu weinen, und Briony fiel auf die Knie und schlug die Hände vors Gesicht, doch Brigid lachte und lachte und lachte ... »Caitlin?« Sie erwachte und sah, dass Matt sich über sie beugte und ihr prüfend ins Gesicht schaute. Als er erkannte, dass sie es war und keine der anderen Persönlichkeiten, lächelte er. »Sie haben einen tiefen Schlaf.« »Was Sie nicht sagen.« Sie setzte sich auf und fuhr sich durch die Haare, die sich wie trockenes Stroh anfühlten. »Die Flüsterer sind noch da. Ich war gerade noch mal auf dem Turm und habe mich davon überzeugt ... Es sind jetzt schon drei Tage. Und die ganze Zeit wabert dieses neblige purpurne Licht vor der Stadtmauer herum.«
»Die werden nicht verschwinden. Sie sind hinter mir her.« »Was haben Sie getan, um so viel Aufmerksamkeit zu erregen?« Er war ihr unerträglich nahe gekommen, daher schwang sie sich aus dem Bett und ging auf die andere Seite des Zimmers. »Ich weiß nur, dass wir das Mittel gegen die Seuche finden müssen. Und daran wird uns niemand hindern.« »Ich wünschte, ich hätte Ihren Optimismus.« 167 »Konnten Sie den Professor überzeugen, uns doch zu begleiten?« »Ich konnte ihn nirgends finden. Ich glaube, er weicht mir aus ... oder er hängt einfach in irgendeiner Kaschemme rum und säuft die Biervorräte leer.« »Ich begreife es nicht. Er wollte doch unbedingt herkommen.« Aus einer Zinnschüssel, die neben dem Bett stand, spritzte sie sich eiskaltes Wasser ins Gesicht. »Jetzt ist er hier und will seine Zeit an diesem gottverlassenen Ort vertrödeln?« »Mahalia und Carlton bekomme ich auch kaum zu Gesicht. Sie sind ständig unterwegs, Tag und Nacht. Sie verschwinden stundenlang in den Gängen, als würden sie etwas suchen.« »Das ist kein großer Verlust. Zumindest was Mahalia anbelangt. Mit Carlton ist es etwas anderes.« »Wie meinen Sie das?« »Ich weiß nicht genau. Etwas an ihm ... Ich kann es nicht erklären, aber ich habe das Gefühl, dass er der Schlüssel zu allem ist.« »Könnten Sie sich vielleicht etwas genauer ausdrücken?« Sie setzte sich wieder aufs Bett, aber in einigem Abstand zu ihm. »Ich weiß nicht ... ich spüre es einfach. Hier.« Sie klopfte sich aufs Herz und an den Kopf. »Instinkt. Ich glaube, irgendetwas ist in ihm verborgen, etwas Wichtiges, an das wir irgendwie herankommen müssen. Er weiß Dinge ...« Matts Miene nach zu urteilen, wusste er genau, wovon sie sprach. »Wir können es uns nicht leisten, noch länger tatenlos rumzusitzen, auch wenn dieser Lugh sagt, die Zeit hätte hier keine Bedeutung.« Sie stand auf und wartete, dass Matt ihr folgte. »Wir werden uns alle nötigen Informatio168 nen besorgen und uns wieder auf den Weg machen. Und«, fügte sie entschlossen hinzu, »Crowther kommt mit. Wir brauchen ihn.« Caitlin und Matt beschlossen, getrennt nach dem Professor zu suchen, und wenig später fand Caitlin sich in einem unheimlichen Gewirr düsterer Gassen wieder. Außer ihr war niemand unterwegs, doch ab und zu erhaschte sie einen Blick auf Gestalten in dunklen Torwegen. Sie winkten sie heran und flüsterten ihr Versprechen zu, die sie nicht begriff, die jedoch bedrohlich oder pervers klangen; jedes Mal eilte sie erschrocken weiter. Die Gassen wurden immer enger und düsterer, je tiefer sie in das Stadtviertel vordrang, bis sie schließlich auf beiden Seiten die Hausmauern berühren konnte, wenn sie die Arme ausstreckte. Über den vorstehenden oberen Stockwerken war der Himmel fast völlig verschwunden. An diesem Punkt wurde die beklemmende Atmosphäre unerträglich. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass jemand oder etwas hinter den Türen wartete und sie jeden Moment packen und verschleppen würde. In dem Moment, als sie beschloss zurückzugehen, hörte sie, wie jemand ihren Namen flüsterte. Es klang wie das Surren eines Insekts und ging fast unter im Echo ihrer Schritte. Sie blieb stehen. »Wer ist da?« Als sie keine Antwort erhielt, eilte sie rasch weiter. Doch nach einigen Schritten vernahm sie erneut ihren Namen und schaute zurück. Am Ende der Gasse stand der Ritter mit dem Wildschweinkopf-Helm, der Mann, der ihr unweit des Steinkreises erschienen war; seine schwarze Rüstung war in der Dunkelheit kaum auszumachen. 169 Caitlin wartete nicht ab, um weitere Einzelheiten zu erkennen. Sie rannte so schnell sie konnte durch die labyrinthartigen Straßen und blieb nicht einmal stehen, um zu sehen, ob der Ritter sie verfolgte. Doch in ihrer Aufregung verlor sie die Orientierung und fand sich in einer Gegend wieder, die sie nicht kannte, und wenig später erreichte sie das Ende einer Sackgasse. Ihre Hoffnung, dem Verfolger entkommen zu sein, wurde erschüttert, als sie die scheppernden Schritte des Ritters vernahm. Er kam um die Ecke und blieb in der Straßenmitte stehen, die Arme in die Seiten gestemmt. »Was willst du?«, fragte Caitlin beklommen. »Caitlin Shepherd.« Dieselbe surrende Stimme, verzerrt, wie das Knistern an einer Hochspannungsleitung. »Nichts von alldem ist real, Caitlin Shepherd.« Sein Tonfall klang steif und unbeholfen, als wäre er es nicht gewohnt zu sprechen. »Was willst du?«, wiederholte Caitlin. »Dich.« Das Wort erschreckte sie. »Ich will dich.« Ganz in der Nähe öffnete sich eine Tür, und ein kleinwüchsiger Mann kam mit einem Kasten leerer Flaschen heraus. Caitlin erkannte die Gelegenheit, stürmte in den offenen Hauseingang und hätte den Mann fast umgerannt. Er fluchte ihr hinterher, während sie in einen dunklen Flur rannte und sich plötzlich im Verkaufsraum einer Apotheke wieder fand. Flaschen und Einweggläser mit Kräutern und farbigen Flüssigkeiten
füllten die Wandregale. Sie entdeckte eine weitere Tür, stürmte in eine dunkle Gasse hinaus und rannte mehrere Minuten; erst als sie sich sicher war, den Ritter abgeschüttelt zu haben, blieb sie atemlos stehen. Die Begegnung beunruhigte sie über alle Maßen. Es waren also nicht bloß die Flüsterer, die sie verfolgten. Wer war dieser schwarze Ritter? Was 170 wollte er? Und warum machte ihr seine Gegenwart solche Angst? Caitlin fand Crowther schließlich in der Sonnen-Taverne. Der Schankraum war verlassen, was den Professor jedoch nicht zu stören schien. Sie hatte den ganzen Morgen über die regennassen Straßen durchkämmt, die seltsamen Blicke der Anwohner ignoriert, in Bäckereien nachgeschaut, wo der Duft nach frischem Brot ihr fast die Sinne geraubt hätte, und in sonderbaren Geschäften mit kuriosen und magischen Artikeln, die den Seiten eines Märchenbuches entsprungen zu sein schienen. »Hallo, meine Liebe«, begrüßte Crowther sie. »Sie sind ja bester Laune.« Caitlin setzte sich ihm gegenüber auf einen wackeligen Hocker. »Warum auch nicht? Man muss nur mit dem Finger schnippen und bekommt gutes Essen und gutes Bier — und alles ist umsonst. Was will man mehr?« »Wie wär's mit ein bisschen Anteilnahme am Schicksal Ihrer Mitmenschen?« Er machte eine wegwerfende Geste. »Bitte, kommen Sie mir jetzt nicht mit irgendwelchen Moralpredigten. Ich habe meinen Teil getan. Ich habe Sie hergebracht.« »Wir brauchen Sie, Professor. Ganz gleich, was vor uns liegt, es wird nicht leicht werden, und je mehr Hilfe wir bekommen, desto besser.« »Das mag ja wahr sein, aber ich bin nicht der richtige Mann dafür.« »Warum nicht? Haben Sie Angst?« »Natürlich habe ich Angst. In meinem Alter hat man vor allem Angst ... davor, an einer heimtückischen Krankheit zu sterben, vor Verarmung, vor Einsamkeit.« Er starrte einen Moment lang in den Bierkrug, dann hob er den Blick und sah Caitlin an. 171 »Sie brauchen keine Angst zu haben ...« »Ach wirklich? Warum sollte ich auf jemanden hören, der kaum dreißig ist? Warum?« »Es ist nicht das Alter, das einem Weisheit schenkt. Man erlangt sie durch Erfahrung und durch Tragödien ...« »Davon habe ich jede Menge erlebt, glauben Sie mir.« Er stellte den Krug ab und verschüttete dabei etwas Bier. »Hören Sie, im Leben bewegen wir uns von Unschuld, Hoffnung und Freude zu Kompromissen, Desillusionierung und Elend«, sagte Crowther. »Warum will denn keiner erwachsen werden?« »Ich glaube Ihnen nicht.« »Natürlich nicht. Weil Sie noch nicht erwachsen sind. Aber es kommt, täuschen Sie sich da mal nicht.« Caitlin schwieg eine Weile, dann fragte sie Crowther: »Welche Tragödien haben Sie denn erlebt, Professor?« Seine Augen wurden trüb; der Alkohol setzte die verdrängten Gefühle frei. »Das Übliche. Meine Frau ist während des Untergangs gestorben. Die Kinder und Enkel sind spurlos verschwunden ...« Seine Schultern sackten herunter, sodass er plötzlich viel kleiner wirkte. »Man ist nie zufrieden mit dem, was man hat, bis es einem genommen wird. Ich hatte nie Zeit für meine Familie, war immer nur mit mir selbst beschäftigt. Und dann wurden alle dahingerafft, und ich konnte nichts dagegen tun. Ich bin wertlos. Mein ganzes Leben als Akademiker ... reine Zeitverschwendung. Es hat mir kein bisschen geholfen. Meine ganze Lebensplanung war ein einziger Irrtum.« »Das stimmt nicht.« »Doch, es stimmt.« Caitlin beugte sich über den Tisch und umfasste sein Handgelenk. Er zuckte zusammen, als hätte er sich ver172 brannt. »Sie müssen nicht so empfinden. Ich habe auch einen großen Verlust erlitten und ich ...« »Ja, aber Sie sind stärker als ich.« Er zog die Hand zurück und griff nach dem Bierkrug. »Sie waren aber tapfer genug, um herzukommen.« »Tapfer genug?«, lachte er verbittert. »Dies ist meine Zuflucht vor der Welt der Tränen. Hier muss ich mich keinen grausamen Tatsachen stellen. Ich kann hier ohne Angst leben, einfach ... sein.« Er blickte ihr tief in die Augen und rang sich ein Lächeln ab. »Ich brauchte Ihre Hilfe, um hier herüberzugelangen. Die meisten Leute können den Übergang nicht bewerkstelligen, ohne dass die ungehemmte Kraft des Blauen Feuers in ihnen brennt. Und Sie sind eine der wenigen Personen, bei denen dies der Fall ist. Ich habe das College in Glastonbury mit dem erklärten Ziel besucht, mir die Fähigkeiten anzueignen, jemanden wie Sie ausfindig zu machen. Als es so weit war, habe ich das College verlassen und Sie gesucht.« Caitlin lehnte sich zurück, als ihr dämmerte, was seine Worte bedeuteten. »Dann haben Sie mich angelogen. Ich bin keine Auserwählte, der vorherbestimmt ist, ein Mittel gegen die Seuche zu finden. Sie haben mich einfach nur gebraucht, um hierher zu gelangen.« »Sehen Sie, was für ein schrecklicher Mensch ich bin? Sie sollten sich nicht länger mit einem Kerl wie mir abgeben.« Er atmete tief durch. »Aber eines stimmt: Sie sind tatsächlich eine Auserwählte. Ich hatte einfach eine Übereinstimmung entdeckt zwischen dem, was ich wollte, und dem, was Ihnen vorbestimmt ist.«
Caitlin stand auf, doch plötzlich meldete sich Amy zu Wort. »Ich bin sehr enttäuscht von Ihnen, Professor Crowther.« Er hatte geglaubt, gegen ihre Worte immun zu sein, aber die Kleine-Mädchen-Stimme aus Caitlins Mund traf 173 ihn mitten ins Herz. Caitlin/Amy sah es seiner Miene an, doch sie machte keine Anstalten, ihn zu trösten. Mit schnellen Schritten verließ sie die Taverne. Mahalia und Carlton schlichen seit Stunden durch die düsteren Palastgänge. Sie hatten viele geheime Orte entdeckt und geflüsterte Gespräche belauscht, aber den Jüngling hatten sie nirgendwo finden können. »Vielleicht haben sie ihn hingerichtet«, sagte Mahalia. »Das könnte der Grund sein, warum man ihm eine Kapuze übergestülpt hat.« Carlton ging kopfschüttelnd weiter. »Sind wir nicht schon mal hier gewesen?«, fragte Mahalia. Doch plötzlich fiel ihr ein Wandteppich auf, der zwischen zwei brennenden Fackeln hing. Er zeigte fünf Menschen, die durch ein schlangenartiges Wesen miteinander verbunden zu sein schienen. Andere Illustrationen rings um das Hauptmotiv schienen eine Geschichte zu erzählen, die auf den ersten Blick in einer großen Katastrophe endete, doch bevor Mahalia sie näher betrachten konnte, erklang eine Stimme: »Wer ist da?« Mahalia legte schützend die Arme um Carlton, doch er riss sich los und eilte, dicht gefolgt von ihr, den Gang hinunter, bis er eine schwere Eichentür erreichte, in die ein vergittertes Fenster eingelassen war. »Ich weiß, dass ihr da seid. Ihr könnt ruhig etwas sagen.« Mahalia trat vorsichtig ans Fenster heran und schaute in eine kleine, feuchte Zelle. Auf den Steinplatten war Stroh ausgelegt, und der gefangene Jüngling war an die gegenüberliegende Wand gekettet. Er muss ziemlich gefährlich sein, dachte Mahalia, sonst würde man ihn nicht so behandeln. Sie wich zurück, als durch die Augenschlitze der Kapuze sein durchdringender Blick auf sie fiel. 174 »Geh nicht weg.« Seine Stimme klang so traurig, dass sie nicht anders konnte, als wieder ans Fenster heranzutreten. »Du bist keiner von denen«, sagte sie. »Nein. Ich bin einer von euch.« Er rasselte mit den Ketten. »Kannst du mich hier rausholen?« Obwohl er eindeutig ein Mensch war, klangen seine Worte seltsam unbeholfen, als wäre er es nicht gewohnt zu sprechen. »Klar doch. Ich soll den Wahnsinnigen aus seiner Zelle rauslassen. Als ob ich nichts Besseres zu tun hätte.« »Ich bin nicht wahnsinnig. Die haben bloß ... bloß Angst vor mir.« Sie lachte. »Warum sollten die Angst vor dir haben? Du siehst aus, als könnte dich der geringste Lufthauch umpusten.« Er antwortete einige Sekunden lang nicht, als müsse er erst seine Gedanken ordnen, und dann sagte er: »So ist es aber.« »Ich vergeude meine Zeit nicht mit Leuten, die mich anlügen ...« Sie tat so, als wolle sie gehen, und er rief sie mit verzweifelt klingender Stimme zurück. »Tut mir leid. Aber ich lüge nicht! Es ist nur so schwierig, vernünftig zu reden, solange du dort draußen bist und ich hier hänge ...« Mahalia packte die Gitterstäbe. »Wenn du glaubst, dass ich zu dir reinkomme, bist du schief gewickelt.« Sie schaute auf das große Vorhängeschloss unter der Türklinke. »Außerdem kriegt man das Ding hier sowieso nicht auf.« »Irgendwie würde es schon gehen«, sagte er hoffnungsvoll. »Wie bist du überhaupt hergelangt?« »Sie haben mich entführt.« »Was?« 175 »Ja, als ich ein Baby war, haben sie mich meiner Mutter gestohlen. So machen sie es immer ... schon seit Ewigkeiten - sie stehlen Kinder, um an ihnen herumzuexperimentieren.« »Ich glaube dir nicht.« Mitleid wallte in Mahalia auf. »Du warst dein ganzes Leben lang ihr Gefangener?« »Ja. Vor kurzem ist mir die Flucht gelungen, aber wie du siehst, haben sie mich wieder gefangen. Sie werden mich an den Ort zurückbringen, wo sie ihre Experimente durchführen - an den Hof der Letzten Worte.« Mahalia wusste nicht, ob sie ihm glauben sollte. Sie hoffte, dass Carlton ihr einen Hinweis geben würde, aber die Miene des Jungen war unergründlich. »Wie heißt du?« »Jack.« »Und wie alt bist du?« Eine Pause. »Ich weiß es nicht.« Er spürte, dass er Fortschritte bei ihr machte, daher redete er weiter und hoffte, sie für sich zu gewinnen. »Es gibt zwei Gruppierungen bei diesen Leuten ...« »Weiß ich.« »Nun, diese hier sind neutral. Sie wollen keine der beiden Seiten brüskieren, bis sie entschieden haben, wen sie unterstützen. Deshalb wollen sie mich nicht hier behalten, denn gewisse Fraktionen könnten sich daran stören. Sie werden mich in Kürze zurückbringen. Ich brauche deine Hilfe. Ich könnte es nicht ertragen, wieder am Hof der Letzten Worte zu sein. Was sie dort mit mir anstellen ...« Er schluckte schwer. »Wenn ich dorthin
zurückmuss, hat mein Leben keinen Sinn mehr.« »Sag so etwas nicht.« »Wärst du an meiner Stelle, würdest du genauso empfinden.« Mahalia biss sich in den Fingerknöchel. Sie empfand 176 tiefes Mitgefühl für ihn, aber einiges von dem, was er sagte, passte nicht zusammen. Sie war es gewohnt, Risiken zu erkennen, und sie wollte auf keinen Fall ihre und die Situation ihrer Gefährten verschlimmern. »Ich muss darüber nachdenken.« Sie packte Carlton und zog ihn von der Tür fort. »Geh nicht!«, flehte Jack. »Ich komme wieder.« »Geh nicht!« Diesmal war es ein verzweifelter Ruf, und noch Minuten später, als sie längst in einem anderen Teil des Palastes war, klang ihr seine schmerzerfüllte Stimme in den Ohren. Matt irrte durch das Gewirr enger Gassen, als der Wind mit einem Mal aufgeregte Schreie zu ihm herantrug. Er folgte dem Krach, bis er einen Trupp schwer bewaffneter Soldaten erblickte, die zur Stadtmauer hinuntereilten. Ihre silbern glänzenden Helme und Brustpanzer verwandelten die Männer in einen Fluss aus Licht, der wie ein lebendiges Wesen durch die verwinkelten, regennassen Straßen strömte. Der Umstand, dass die Soldaten sich so beeilten, beunruhigte Matt, und er packte eine Frau, die die Straße herauf gerannt kam. »Was ist los?«, fragte er sie. »Die Flüsterer sind in der Stadt«, sagte sie atemlos. »Sie haben unsere Verteidigung durchbrochen.« Sie riss sich von Matt los und eilte weiter, dann wandte sie sich plötzlich um und zeigte vorwurfsvoll mit dem Finger auf ihn. »Es ist eure Schuld«, zischte sie verbittert, bevor sie im Gewimmel verschwand. Matt drängte sich zwischen den Leuten hindurch, die von der Stadtmauer fortrannten, bis er einen ungehinderten Blick auf das Geschehen hatte. Das widerwärtige purpurne Licht war überall, trieb umher wie Rauchschwa177 den auf einem Schlachtfeld, und man sah darin grauenvoll entstellte Gestalten herumtorkeln, die, wie der Eremit im Automuseum, von den Flüsterern in neue Rekruten verwandelt worden waren. Knochen ragten aus den Gliedmaßen heraus, blanke Schädeldecken waren zu erkennen, und in ihren Leibern steckten Waffen Schwerter, Speere und Äxte -, als wären es Körperteile. Sie schlurften mit der Unnachgiebigkeit von Zombies herum und verströmten alle das deprimierende purpurne Licht. Selbst aus der Ferne konnte Matt die lähmende Verzweiflung spüren, die die Eindringlinge verbreiteten. Die Soldaten stürmten auf sie zu, blieben aber abrupt stehen und ließen die Waffen fallen. Sie sanken aufs Straßenpflaster und boten sich teilnahmslos den Waffen der Angreifer dar. Matt nahm an, dass die Flüsterer eine Gruppe armer Reisender abgefangen hatten, die auf dem Weg zur Stadt gewesen waren, und sie nun als lebendige Rammböcke gegen den - wie auch immer gearteten - magischen Schutzwall benutzten, der den Hof umgab. Irgendwie war es ihnen gelungen, die hohe Mauer zu erklimmen und in die Stadt zu gelangen. Und nun kämpften sie sich zu den Toren vor, um sie für die draußen wartenden Flüsterer zu öffnen. Insgesamt waren es nur ein Dutzend Eindringlinge, doch die Soldaten schienen sie nicht aufhalten zu können. Etwa dreißig der kleinwüchsigen Männer lagen bereits niedergemetzelt auf dem Straßenpflaster, und die anderen wichen verängstigt zurück, als ihnen klar wurde, dass sie gegen die Angreifer nichts ausrichten konnten. Ohne weiter nachzudenken, fuhr Matt herum und rannte die steilen Gassen hinauf zu dem Waffengeschäft, das er zuvor entdeckt hatte. Im Verkaufsraum hingen 178 mehr Bögen in jeder Größe, als er je im Leben gesehen hatte. Der Besitzer musterte ihn argwöhnisch, hielt Matt aber nicht auf, als dieser einen Bogen und einen Köcher voller Pfeile nahm und wieder zur Stadtmauer hinuntereilte. Er kletterte auf eine Regentonne und legte einen Pfeil an die Sehne. Seine Erfahrung half ihm, gelassen zu bleiben. Er zielte auf einen der Flüsterer und traf ihn mitten in den Kopf. Der Mann schwankte einige Sekunden lang, als müsse er sich erst damit abfinden, dass sein Leben vorüber war, dann stürzte er der Länge nach zu Boden und blieb reglos liegen. Die Soldaten wandten die Köpfe zu Matt um, und dann eilten auch sie zum Waffengeschäft, um sich Bögen zu besorgen. Matt erledigte einen weiteren der Angreifer, aber inzwischen hatten die Eindringlinge fast die Tore erreicht, und die vielen Gebäude entlang der Stadtmauer versperrten ihm die Sicht. Er sprang von der Tonne und eilte zu den Soldaten, die ihn mit mürrischem Respekt in ihre Mitte nahmen, und dann eilten sie los und schlugen zurück. Einer der Flüsterer ging mit fünfzehn Pfeilen im Leib zu Boden. Weitere folgten ihm, aber die Soldaten hatten Mühe, über ihre gefallenen Kameraden hinwegzusteigen, die den Preis dafür bezahlt hatten, den toxischen Emotionen, die die Flüsterer verströmten, zu nahe gekommen zu sein. Frustriert bahnte sich Matt einen Weg durch die Menge und rannte die Straße hinauf, stürmte nach rechts in eine Gasse und entdeckte dort einen anderen Weg hinunter zu den Toren. Einen Moment später erblickte er sie und legte im Laufen einen Pfeil an die Sehne. Er stürmte um eine Hausecke, bereit, den Pfeil abzuschießen, und stand plötzlich direkt vor einem Flüsterer.
179 Der Schock lähmte Matt für eine Sekunde. Aus den Schultern des Flüsterers ragten Speere heraus, die er einsetzte, indem er sich um die eigene Achse drehte und Matt dadurch den Bogen aus den Händen schlug. Eine der tödlichen Speerspitzen verfehlte sein rechtes Auge nur um Haaresbreite, weil er sich rückwärts zu Boden warf. Als der Flüsterer mit purpurn glühenden Augen über ihm stand, spürte Matt eine lähmende Verzweiflung in sich aufsteigen. Seine Muskeln schmerzten, Müdigkeit kroch ihm in die Knochen. Er hatte nicht mehr die Kraft, etwas anderes zu tun, als liegen zu bleiben und aufzugeben. Die Soldaten waren zu weit entfernt, um ihm zu helfen. Doch obwohl ihn die körperlichen Kräfte verließen, blieb sein Instinkt eine machtvolle Waffe. Seine Finger schlössen sich um den heruntergefallenen Pfeil, und er sah erstaunt, wie seine Hand nach oben schnellte und die Pfeilspitze plötzlich im Auge des vorgebeugten Flüsterers verschwand. Matt rammte ihm den Pfeil tief ins Hirn und sank dann erschöpft zurück, aber er hatte genug getan. Die Verzweiflung verebbte rasch, und seine Kraft und sein Lebenswille kehrten zurück. Der letzte verbliebene Flüsterer hatte fast die Tore erreicht und würde sie in wenigen Augenblicken aufreißen. Matt sprang auf, stellte einen Fuß zwischen die Schulterblätter seines jüngsten Opfers und riss ihm einen der Speere aus der Schulter. In einer fließenden Bewegung wirbelte er herum und schleuderte die Waffe mit voller Wucht in den purpurnen Lichtschein. Das Geschoss durchbohrte die Hand des letzten Flüsterers und nagelte sie ans Holztor. Als das Adrenalin in ihm verebbt war, sank Matt an ei180 ner Hauswand herunter. Jenseits der Stadtmauer hörte er das Hufgetrappel der Flüsterer-Rösser. Der Hauptmann der Soldaten kam zu Matt heranmarschiert, den abgeschlagenen Kopf eines der Eindringlinge in der Hand. Er hielt Matt die grausige Trophäe vors Gesicht und sagte: »Das ist noch längst nicht das Ende.« Dann kehrte er zu seiner Truppe zurück und ließ Matt mit der Vorahnung künftiger Schrecken allein an der Hauswand sitzen. Als sie die Taverne verließ, hatte Caitlin bereits einen Plan, doch ihr fehlte die Zeit, ihn umzusetzen, denn aus einer der vielen Gassen kamen vier Wachen auf sie zugeeilt. »Unser Herr wünscht dich zu sehen«, sagte der Anführer in einem Tonfall, der verriet, dass es keine Bitte war. Caitlin wurde zum Palast geführt und dann durch die vielen Gänge in dasselbe düstere Zimmer, in dem Lugh auf demselben Stuhl saß und ins Feuer starrte, als hätte er sich seit ihrer letzten Begegnung nicht bewegt. Als sich die Wachen zurückzogen, begrüßte Lugh sie mit einem mürrischen Blick und starrte dann wieder ins Feuer. »Es hat an der Stadtmauer Unruhen gegeben«, sagte er. »Die, die draußen ausharren, haben das Übereinkommen gebrochen.« »Oh.« »Sie sind wegen dir hier, Schwester der Drachen. Deine Anwesenheit gefährdet die Sicherheit am Hof der Einträchtigen Seelen. Das Ausmaß der Bedrohung ist größer, als wir tolerieren können.« »Ihr fürchtet euch vor ihnen. Das verstehe ich.« Der Blick, mit dem er sie bedachte, war so mörderisch, dass sie einen Schritt zurückwich. Aber dann gab er sich wieder versöhnlich und bedeutete ihr, sich ihm gegen181 über auf den freien Stuhl zu setzen. »Mein Volk steht über allen anderen, so ist es immer gewesen und so wird es immer sein. Aber trotzdem darf man nicht unterschätzen, was diese Wesen repräsentieren.« Trotz seiner Worte glaubte Caitlin, aus seiner Stimme eine tief sitzende Angst herauszuhören. Caitlin setzte sich. »Was repräsentieren sie denn?« »Das weißt du nicht?« »Nein.« »Du weißt nicht, warum sie dich verfolgen?« Sie schüttelte den Kopf. Er hielt die Hände zum Feuer. Trotz der drückenden Hitze, die es verströmte, schien ihm kalt zu sein. »Dann ist es nicht meine Angelegenheit, es dir zu verraten.« »Aber Ihr könntet mir helfen ...« Lugh lachte verbittert. »Die Schneiden der Verheerung sind das Einzige, was das Kommende abwehren könnte, aber niemand weiß, wo sie sind.« Er blickte sie eindringlich an. »Was ist?«, fragte sie. »Es ist faszinierend, dir zu begegnen, Schwester der Drachen. Wir kennen dich aus den alten Überlieferungen. Die Gebrochene Frau, eine aus der letzten Generation der Brüder und Schwestern der Drachen, bevor die Menschen ...« »Bevor die Menschen was?« »Bevor sie etwas Größeres werden. Es gibt ein Zerbrechliches Geschöpf, das alles miteinander vereinen kann Fernlande und Festlande, Zerbrechliche Geschöpfe und Götter ... Sein Schicksal ist ihm nicht bekannt. Und es ist die Aufgabe der Brüder und Schwestern der Drachen, ihn zu dem Punkt zu bringen, wo das Sein sich wendet.«
Caitlin fiel ein, was Crowther ihr über den möglichen 182 Aufstieg der Menschheit erzählt hatte und über den Krieg, den die Götter darüber ausfechten würden. »Es gibt jemanden, der uns Menschen helfen kann, unser Potenzial voll auszuschöpfen?« »Ja. Seine Hilfe ist essenziell.« »Also kann es uns ohne ihn nicht gelingen.« Ihre Gedanken überschlugen sich; sie hatte so vieles erlebt, seit sie ihr Zuhause verlassen hatte; es kam ihr wie ein Traum vor - absonderliche Wesen, unbekannte Welten und nun Pläne von so weit reichenden Folgen, dass man kaum begreifen konnte, was auf dem Spiel stand. »Wer ist diese Person?«, fragte sie. »Wenn Ihr es wisst, verratet es mir bitte.« Er lächelte sie grausam an. »Auch das darf ich dir nicht offenbaren. Aber das Sein wird ihn zu den Brüdern und Schwestern der Drachen führen.« »Also ist es ein Er?«, fragte Caitlin. Sie erschrak, als sich an Lughs Gürtel etwas bewegte, das sie für eine Gürtelschnalle gehalten hatte. Spinnenartige Beine fuhren heraus, und dann krabbelte das Wesen in die Dunkelheit unter seinem Stuhl. »Was ist das?« »Der Caraprix?« Er überlegte eine Weile, als wäre er sich selbst nicht ganz sicher. »Sie sind immer bei uns. Manchmal trösten sie uns sogar.« Eine Art Haustier, dachte Caitlin. Sie richtete ihr Augenmerk wieder auf Lugh. Fragen über ihren geheimnisvollen Erlöser würde er nicht beantworten, aber es gab noch eine andere wichtige Information, die sie dringend benötigte. »Bitte, beantwortet mir wenigstens eine Frage.« Er gestikulierte großmütig. »Wo ist das Haus der Schmerzen?« Die Frage überraschte ihn, denn plötzlich beugte er sich zu ihr vor und starrte sie an. »Du suchst diesen 183 Ort?« In seiner Stimme schwang ein seltsamer Unterton mit, der für Caitlin klang wie ... Angst. »Wo ist er?« »Weit, weit entfernt vom Hof der Einträchtigen Seelen«, sagte er. »Im Norden. Hinter dem Wald der Nacht, am Ende des großen Flusses, hinter der Ebene der Hügelgräber. Er liegt am Rande von Fernlande, wo alle Welten aufeinander stoßen - wo man, wenn man genau hinsieht, in die Ewigkeit schauen kann.« Caitlin nickte nachdenklich. »Es tut mir leid, dass wir die Flüsterer hergelockt haben. Wir werden Eure Gastfreundschaft nicht mehr lange strapazieren.« »Ihr könnt nicht bleiben.« »Gut, dann gehen wir, falls es uns irgendwie gelingt, an den Flüsterern vorbeizukommen.« Lugh schüttelte den Kopf. »Wir dürfen nicht riskieren, dass sie uns bestrafen. Wir werden dich an sie ausliefern. « Caitlin verschlug es die Sprache; sie wusste nicht, was sie sagen sollte. »Verabschiede dich von deinen Gefährten, Schwester der Drachen. Man wird dich in Kürze den Flüsterern übergeben.« In ihrem Zimmer erzählte Caitlin Matt, Mahalia und Carlton alles, was sie von Lugh erfahren hatte. »Diese Dreckskerle«, sagte Matt. »Erst lassen sie uns rein und machen auf gastfreundlich, und dann werfen sie uns den Wölfen zum Fraß vor.« »Man kann diesen Gottheiten nicht vertrauen«, entgegnete Caitlin. »Das war eine der wichtigen Lektionen in den alten Mythen und Legenden, an die ich mich erinnere.« »Vorne kommen wir definitiv nicht aus der Stadt heraus«, sagte Matt. »Die Flüsterer haben Verstärkung 184 bekommen. Sie haben einige Reisende verwandelt und die Stadtmauer erstürmt. Wahrscheinlich verwandeln sie jeden, der auf der Straße ans Haupttor kommt.« »Die Flüsterer sind nicht das einzige Problem«, sagte Caitlin. Sie erzählte ihnen von dem schwarzen Ritter mit dem Wildschweinkopf-Helm. »Ich weiß nicht, ob er zu ihnen gehört, aber er ist auf jeden Fall hinter mir her, und er ist schon hier, innerhalb der Stadtmauern.« Sie massierte sich die Stirn; ihr Kopf pochte furchtbar. »Wieso sind alle hinter mir her? Was ist los?« Matt knuffte sie aufmunternd in die Schulter. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?« Sie nickte verdrossen, froh über seine Besorgnis. »Wir müssen hier irgendwie heil rauskommen.« Mahalia säuberte mit einem Messer ihre Fingernägel. »Ich glaube, ich kenne jemanden, der uns helfen könnte.« »Ja! Ja! Du bist zurück!« Jacks aufgeregte Rufe beunruhigten Mahalia, denn sie waren ganz leise gewesen, und trotzdem hatte er sie schon gehört, als sie noch ein gutes Stück von seiner Zelle entfernt waren. Als Mahalia durch die Gitterstäbe blickte, zerrte er erwartungsvoll an den Ketten. »Wer ist bei dir?« »Freunde.« Mahalia merkte, dass Jacks Freude sie ansteckte, und das verwirrte sie. »Holst du mich raus?« »Kommt drauf an. Kennst du einen Fluchtweg, auf dem man ungeschoren aus der Stadt gelangt?« Gedanken flackerten durch seine kristallenen Augen. »Die Tore gehen nicht«, sagte er. »Aber ja, es gibt einen Weg. Einen Tunnel unter der Bergflanke.« »Du denkst dir das nicht bloß aus, damit wir dich befreien, oder?«, fragte Mahalia.
185 »Nein, ich schwöre. Ich wusste von dem Tunnel, aber sie haben mich erwischt, bevor ich ihn erreichte. Du kannst mir ruhig glauben.« Mahalia wandte sich zu Caitlin und Matt um. »Was meint ihr?« »Viele andere Möglichkeiten haben wir ja nicht«, erwiderte Matt. Er betrachtete das Vorhängeschloss. Es war alt und verrostet; die Zelle schien in letzter Zeit nicht oft benutzt worden zu sein. Er riet den anderen, ein Stück zurückzuweichen, und trat dann einige Male dagegen, bis der Schnappriegel schließlich aufbrach. Matt führte die anderen hinein. »Wir dürfen keine Zeit verlieren«, sagte er. Er zog Jack die Kapuze vom Kopf, und zum Vorschein kam das ausdrucksstarke, aufrichtige Gesicht eines etwa siebzehnjährigen Jungen. Sein blondes Haar unterstrich die Intensität seiner Augen. »Danke«, sagte er. »Du bist noch nicht frei.« Matt betrachtete die vielen Ketten um seinen Oberkörper und fluchte leise. »Um die kümmern wir uns später. Aber von der Wand sollten wir dich freibekommen - die Halterungen sehen genauso schwach aus wie das Schloss.« Matt begann, sie aus der Wand herauszuziehen, wobei Jack mit seinem Körpergewicht mithalf. Nach viel Schweiß und Herum gezerre hatten sie es geschafft. »Sie haben dich wirklich aus unserer Welt entführt?«, fragte Caitlin. »Ich weiß nicht, wer mein Vater war, aber meine Mutter ist mit ein paar Freunden in alten Autos im Land herumgereist. Sie ist inzwischen tot.« »Das tut mir leid«, sagte Caitlin. Mahalia warf ein: »Wenn man dich als Baby entführt hat, woher weißt du dann diese Dinge über deine Mutter?« 186 »Als ich auf der Flucht war, fand ich mich in einem Wachturm wieder, der zwischen den Welten hängt. Eine Zeit lang war es ein sicheres Versteck. Aber es ist ein sonderbarer Ort, wo man alles sehen kann, was geschehen ist, und wahrscheinlich auch, was geschehen wird, und dort habe ich meine Mutter gesehen. Nach eurer Zeit ist meine Entführung noch nicht lange her - drei oder vier Jahre -, aber dieser Ort stellt seltsame Dinge mit einem an.« »Du siehst wie ein Teenager aus«, sagte Mahalia. »Ich fühl mich aber viel älter.« Sie traten vorsichtig in den Gang hinaus. »Wo lang?«, fragte Matt. »Ich glaube, wir sollten als Erstes ein paar Waffen für euch besorgen, wenn ihr nichts dagegen habt«, sagte Jack. »Nicht weit von hier ist ein Lager, und dort kann ich auch die Ketten loswerden.« Sie willigten ein, und Jack führte sie tiefer ins Gebäude. Als sie das Waffenlager erreichten - einen riesigen, überwölbten Saal -, hörten sie laute Rufe im Palast. »Sie suchen nach uns«, sagte Caitlin. »Man hätte meinen sollen«, sagte Matt, »dass man Sie auf der Stelle festgenommen hätte, nachdem Lugh Ihnen eröffnet hat, Sie an die Flüsterer ausliefern zu wollen.« »Darüber habe ich auch schon nachgedacht, aber ich glaube, seine Arroganz trübt seinen Verstand«, erwiderte Caitlin. »Die Götter sind so überzeugt von ihrer Überlegenheit, dass sie sich erst im allerletzten Moment zum Handeln aufraffen.« »Seht euch das an.« Mahalia war verblüfft über die Vielzahl der Waffen - es waren nicht bloß Schwerter, Bögen und Speere, sondern es gab auch exzentrische Kuriositäten wie eine tragbare Messingkanone und einen Fächer aus Messern. 187 »Ihr solltet nur simple Sachen nehmen, die man leicht tragen kann«, sagte Jack. »Einige dieser Waffen sind zu gefährlich für uns.« »Du scheinst dich ja gut auszukennen«, sagte Matt. »Ja, das tue ich.« Er wandte sich ihm freundlich zu. »Ich habe immer Augen und Ohren offen gehalten. Ich wollte so viel wie möglich lernen - alles was mir helfen könnte, hier rauszukommen.« »Du könntest uns eine große Hilfe sein, Jack«, sagte Caitlin. »Eigentlich möchte ich einfach bloß nach Hause«, entgegnete er wehmütig. Sie schüttelte den Kopf, und ihre Traurigkeit war aufrichtig gemeint. »Tut mir leid, aber das geht nicht. Nicht bis wir das Mittel gegen die Seuche gefunden haben, die in unserer Welt wütet. Du weißt, dass du uns helfen musst, oder?« »Sieht ganz so aus.« Er warf Mahalia einen Blick zu, die ihn einen Moment lang erwiderte und dann wegschaute. »Soso.« Matt grinste, die Arme verschränkt. »Was?«, fragte Caitlin. »Ich sehe Führungspotenzial. Sie werden eindeutig besser, Caitlin. Was kommt als Nächstes - werden Sie uns in die Schlacht führen?« »Seien Sie nicht sarkastisch.« »Das bin ich nicht. Wir brauchen jemanden, der das Sagen hat, und ich steh nun mal auf das Domina-Ding.« Er zwinkerte ihr zu und wandte sich ab, bevor sie etwas erwidern konnte. Er ging zu den Waffen, prüfte das Gewicht der Äxte und die Tragbarkeit der Armbrüste, bevor er sich für Pfeil und Bogen entschied; des Weiteren nahm er sich einen Krummsäbel in einer Scheide und zwei Dolche, die er am Körper verbarg. Caitlin wählte ei188
nen Langbogen und einen Doppelköcher mit Pfeilen und schlang sich beides um die Schulter. »Wissen Sie, wie man damit umgeht?«, fragte Matt. »Ich war ein sehr guter Bogenschütze an der Uni«, erwiderte sie. »Nicht gerade Robin-Hood-Standard, aber ich treffe mein Ziel.« Matt zeigte sich beeindruckt. »Sieh mal einer an. Wenn da nicht jemand sein Licht unter den Scheffel gestellt hat.« »Und was ist mit Ihnen?« Matt zuckte die Achseln. »Ich habe an der Uni bei einigen Schlachten-Nachstellungen mitgewirkt. Wie man sieht, hat die akademische Ausbildung tatsächlich auch einen praktischen Nutzen.« Mahalia entdeckte eine Kiste mit verrosteten, blutbesudelten Waffen und wählte ein grausam aussehendes Kurzschwert, dessen Klinge auf einer Seite rasiermesserscharf war und auf der anderen gezackt; dazu ragten aus der Spitze zwei gekrümmte Haken. Sie vollführte einige Kampfbewegungen und war zufrieden, wie das Schwert in der Hand lag. »Das ist ein Fomorii Glakshi«, warnte Jack. »Es ist so konstruiert, dass es dem Gegner tödliche Wunden zufügt, ihn aber nicht auf der Stelle umbringt.« »Das ist gut«, sagte Mahalia, ohne zu begreifen, wie er es gemeint hatte. Das Schwert hatte eine schlichte Lederscheide, die sie sich an den Gürtel schnallte, den sie um ihre schlanke Taille trug. Carlton weigerte sich standhaft, eine Waffe zu nehmen, so sehr Mahalia ihn auch dazu drängte. Als sie Jack vorschlug, dass er sich doch auch selbst bewaffnen solle, zuckte er mit den Schultern und sagte geheimnisvoll: »Ich brauche keine Waffe.« Als Caitlin sah, dass Carlton es ablehnte, eine Waffe zu 189 tragen, merkte sie, wie lieb sie den kleinen Jungen gewonnen hatte, seit sie ihm das erste Mal begegnet war. Er repräsentierte alles, was sie verloren hatte, und gab ihr allein durch seine Anwesenheit neue Hoffnung. Sie kniete vor ihm nieder und legte ihm die Hände auf die Schultern, sodass sie ihm in die geheimnisvollen Augen schauen konnte. »Du bist ein ganz besonderes Kind, Carlton«, sagte sie liebevoll. Er lächelte. Mahalia, die einige Schritte entfernt stand, beobachtete die Szene mit kalter Intensität. In dem Moment kam Caitlin eine Erkenntnis. Mahalia sah Caitlins schockierte Miene. »Was ist denn?« Caitlin starrte weiter in Carltons Augen. »Lugh hat mir gesagt, es gebe eine sehr wichtige Person, jemanden, der alle verschiedenen Seiten zusammenbringe, um ... ich weiß nicht ... um uns zu retten, uns zu besseren Menschen zu machen.« Sie richtete sich auf und wandte sich Matt und Mahalia zu. »Ich glaube, es ist Carlton. Lugh hat mir nicht viel verraten - er hat mir nur ein paar Informationshappen gegeben -, aber er hat gesagt, das Schicksal würde diese Person zu den Brüdern und Schwestern der Drachen führen.« »Also, in anderen Worten, zu Ihnen«, erwiderte Matt. »Oder zu jemand anderem, der so ist wie Sie«, warf Mahalia ein. »Der Professor hat nur gesagt, dass Sie einer dieser Kämpfer, dieser edlen Ritter seien ... aber eben nicht der Einzige.« »Ich weiß«, sagte Caitlin, »aber er ist...« »... etwas Besonderes«, sagte Mahalia grinsend. »Dann passen wir besser gut auf ihn auf.« Matt zerwuschelte Carltons Haare. »Stimmt's, Kleiner?« Carltons geheimnisvolles Lächeln bestärkte sie nur in ihrer Auffassung. 190 »Das tue ich bereits«, sagte Mahalia. Ihre Stimme klang hart, doch ihr Blick war unsicher. »Und wir werden dir alle dabei helfen«, erwiderte Caitlin. Sie schlichen so schnell es ging aus dem Palast und waren erleichtert, niemandem zu begegnen. Doch draußen wandte sich Caitlin zu den anderen um und sagte: »Ich möchte noch schnell in die Taverne.« »Um Crowther zu holen?«, fragte Matt. »Das ist verrückt. Sie wissen doch, dass er fest entschlossen ist, hier zu bleiben.« Er blickte zum Palast zurück, wo der Lärm der Wachen immer lauter wurde. Auch an der Stadtmauer war wieder etwas im Gange, und er nahm an, dass die Flüsterer einen weiteren Angriff gestartet hatten. Es war an der Zeit, endlich zu verschwinden. »Ich muss ihm nur eine Frage stellen. Keine Sorge - es dauert nicht lange.« Matt sah, dass sie sich nicht umstimmen lassen würde. Mit gesenkten Köpfen eilten sie im Regen an den Hausfassaden entlang. Crowther saß noch am selben Platz. Er war leicht beschwipst, aber nicht betrunken, trotz des vielen Biers, das er in der Zwischenzeit getrunken haben musste. Caitlin bedeutete den anderen, an der Tür zu warten, während sie zu ihm an den Tisch ging. »Sie werden jetzt nicht wieder versuchen, mich zum Mitkommen zu überreden, oder?«, fragte er verdrossen. »Nein. Ich weiß ja, dass es nichts bringt.« Erleichterung lag in seinem Lächeln. »Ich möchte nur noch einen letzten Rat von Ihnen einholen«, erklärte sie. Er bedeutete ihr fortzufahren. »Sie haben gesagt, diese Welt sei die erste Zwischenstation für die Toten ... Haben Sie das ernst gemeint?« 191
»Absolut. Für die Kelten war dies Anderswelt, das Land des Ewigen Sommers ... der Himmel.« »Und, ist es so?« Die Frage war zu monumental, zu erdrückend, und seine Schultern sackten ein Stück herunter. »Schauen Sie sich um ... sieht es hier aus wie im Himmel?« Er sah einen traurigen Schatten über ihr Gesicht huschen und legte etwas Sanftmut in seine Stimme. »Es gibt einige Belege dafür, dass das, was nach dem Tod von uns übrig bleibt, hier durchkommt, auf dem Weg zu ... einem anderen Ort.« »Reden Sie weiter.« »Der Ort heißt Graulande ... das Land des Nebels. Und von dort geht es weiter zum nächsten Ort, wo immer der sein mag. Und an jedem neuen Ort lernen die Toten etwas über das Leben und ziehen anschließend weiter, bis sie am Ende wiedergeboren werden, um den Kreis zu schließen, hoffentlich etwas klüger und einige Schritte näher am Nirwana. Woher kommt Ihr plötzliches Interesse an Metaphysik, Caitlin?« »Sie sagen, die Toten würden hier durchreisen«, fuhr sie fort. »Wie lange bleiben sie hier, bevor sie weiterziehen?« »Das weiß ich nicht.« »Aber es wäre möglich, dass Grant und Liam noch hier sind. Dass ich sie finde, bevor sie weiterziehen.« Er wurde blass. »Das halte ich für keine gute Idee, Caitlin.« »Ich könnte sie zurückholen.« »Lassen Sie die Finger von diesen Dingen.« »Antworten Sie mir!« Ihre Stimme war leise, doch ihre Augen funkelten. »Ja, es ist möglich.« »Und wo könnten die beiden sein?«, wollte sie wissen. 192 Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Weit entfernt von hier, wahrscheinlich am Rand dieser Welt, dort wo sich die Realitäten oder Dimensionen -ganz gleich, wie man es nennt - auflösen und in etwas anderes übergehen.« »Und die Toten ...« »Sind wahrscheinlich im Grenzbereich zwischen dieser und der nächsten Welt, dort, wo alle Realitäten aufeinander stoßen. « Das triumphierende Lächeln, das ihre Lippen umspielte, beunruhigte ihn. »Glauben Sie an Zufälle, Professor?« »Wieso fragen Sie das?« »Weil diesem Lugh zufolge genau dort auch das Haus der Schmerzen sein soll. Und dort gibt es das Heilmittel. Vielleicht geschieht das alles aus einem bestimmten Grund, Professor. Vielleicht führt man mich dorthin, um meine wahre Aufgabe zu erfüllen ... nämlich Liam und Grant zurückzuholen.« »Oh, Caitlin, tun Sie sich das bitte nicht an.« Tiefes Mitgefühl spülte die Trunkenheit aus seinem Hirn. »Wir brauchen Sie, Professor. Wir brauchen Ihr Wissen. Ohne Sie bekommen wir es nicht hin.« Plötzlich sah Crowther einen sonderbaren Glanz in ihren Augen; das war nicht die Caitlin, die er kannte. Er spürte, wie ihm ein Schauder über den Rücken kroch. »Was haben Sie vor?« Der Krug kam aus dem Nichts; er traf Crowther seitlich am Kopf, mit einer Wucht, die Caitlins Körperkraft Lügen strafte. In dem kurzen Moment, bevor er das Bewusstsein verlor, dachte er noch: Wie unschuldig sie doch aussieht, und welche finsteren Seiten sich in ihr verbergen ... »Ich finde, das war ganz schön gemein«, sagte Jack, während er sie durch die dunklen Gassen führte. Sie waren 193 inzwischen weit oben am Berghang, und der Palast unter ihnen war nur noch ein ferner, wolkenumhüllter Punkt. »Sie hat getan, was sie tun musste«, brummte Matt, der sich Crowthers schlaffen Körper über die Schulter geworfen hatte. »Mann o Mann«, kicherte Mahalia. »Sie ist ein eiskaltes Weibsbild. Der arme alte Sack wollte sich doch nur vollaufen lassen und ansonsten seine Ruhe haben. Und jetzt verschleppen wir ihn ans Ende der Welt.« Jack blieb vor einer Eichentür stehen, die in die Felswand eingelassen war. »Ist das der Tunneleingang?«, fragte Matt. »Wieso ist er unbewacht?« »Ich glaube, die haben nie damit gerechnet, dass ihn mal jemand benutzen würde«, erwiderte Jack. An der Tür hing ein rostiges Vorhängeschloss, das Matt mit einem einzigen gezielten Tritt aufbrach. »Sieht so aus, als hätten wir es geschafft«, sagte er. Caitlin trat mit unbewegter Miene zu ihm heran. »Hoffentlich kommen wir nicht vom Regen in die Traufe.« 7 Verzaubert »So viele Götter, so viele Glaubensrichtungen, So viele verschlungene Pfade.« ELLA WHEELER WILCOX In den nächsten drei Stunden trotteten sie durch den Felstunnel und bekamen wegen des Rauchs der Wandfackeln nur schwer Luft. Die Stimmung war gedrückt, und die meiste Zeit sagte niemand etwas. Crowther kam kurz nach Beginn des Marsches zu sich. Als ihm klar wurde, was geschehen war, schimpfte er wie ein Rohrspatz und versuchte umzukehren, doch Matt versperrte ihm den Weg, und Caitlins unnachgiebige
Miene zwang ihn, seine ausweglose Situation zu akzeptieren. »Also bin ich jetzt ein Gefangener«, sagte er bitter und marschierte gezwungenermaßen mit, ohne die anderen eines Blickes zu würdigen. Der Tunnel endete in einer riesigen Höhle am Rande der Bergausläufer. Sie kämpften sich durch einen Wildrosenbusch, der den Höhlenausgang verdeckte, und bahnten sich danach in einer kleinen Schlucht einen Weg durch dichtes Brennnessel- und Dornengestrüpp. Der helle Sonnenschein verblüffte sie nach dem fortwährenden Grau am Hof der Einträchtigen Seelen. Sie vernahmen sommerliches Vogelgezwitscher und sahen Wolken winziger Insekten, die auf der Suche nach schattigen Plätzen durch die Luft schwirrten. 195 Vor ihnen lag sanft geschwungenes grünes Grasland, das Caitlin an die South Downs und an glücklichere Zeiten erinnerte. Hinter ihnen blickten die schneebedeckten Gipfel drohend auf sie herab. Caitlin nahm die ganze Szenerie in sich auf und sagte dann: »Es ist so wie in dem Buch, aus dem ich ... vorgelesen habe.« Der Name blieb ihr im Hals stecken. »Das ist keine Überraschung«, sagte Crowther trocken. »Hier ist nichts, wie es scheint.« »So wie im richtigen Leben«, erwiderte Matt. »Alles ist Fassade, und niemand ist so, wie er wirklich ist.« »Wir sind abgestumpfte, dumme Wesen, gefangen in den Grenzen unserer Sinne«, fuhr der Professor fort, ohne Matt zu beachten. »Das menschliche Gehirn formt fortwährend die Signale um, die es empfängt, und macht für unsere armen kleinen Seelen alles ein bisschen akzeptabler. Es ist wie bei einem Kurzsichtigen, der glaubt, die Welt sei wirklich so verschwommen und unscharf.« »Wie ist sie denn wirklich?«, fragte Caitlin. »Die östlichen Religionen hatten Recht.« Crowther stützte sich auf seinen Stab, deprimiert von der Erkenntnis, dass es für ihn tatsächlich keine Fluchtmöglichkeit mehr gab. »Die Realität wird, zumindest auf dieser Ebene, vom Willen geformt. Der stärkste Wille erschafft, was wir um uns haben. Und das ist nicht alles. Wir erschaffen diese Welt, so wie wir auch unsere eigene Welt erschaffen. « »Wie bitte?« Matt lachte. »Nun, ich erwarte nicht, dass Sie das begreifen. Oberflächliche Denker nehmen die Dinge immer so hin, wie sie zu sein scheinen. Alles ist eine Metapher! Alles ist ein Symbol! Sich das begreiflich zu machen ist Teil unseres Aufstiegs auf die nächste Evolutionsstufe.« 196 Crowther stapfte weiter und ließ Caitlin und Matt über seine Worte nachgrübeln. In der nächsten Stunde marschierten sie so schnell sie konnten, da es möglich war, dass Lugh ihnen Verfolger nachgeschickt hatte. Als die Bergausläufer hinter ihnen lagen, kamen sie im hüfthohen Gras der weiten Wiesen gut voran. Knallbunte, handtellergroße Schmetterlinge flatterten ihnen anmutig um die Köpfe. Dann kamen die ersten kleinen Wälder in Sicht, und das Gras wurde kürzer und grüner. Als sie eine Anhöhe erklommen hatten, erblickten sie einen riesigen dunklen Wald, der sich erstreckte, so weit das Auge reichte. Er hatte etwas Bedrohliches, und sie blieben stehen und schauten lange auf ihn hinab. In der Mitte des Waldes reflektierte das stählerne Glitzern eines Flusses den Sonnenschein. An einem kleinen Eschenhain schlug Caitlin vor, eine kurze Rast einzulegen; der Wald war noch gute drei Meilen entfernt. »Lugh hat mir beschrieben, wo das Haus der Schmerzen liegt.« Sie zeigte nach Norden. »Aber ich möchte mich vergewissern, dass uns unterwegs keine unüberwindbaren Hindernisse erwarten.« »Was haben Sie vor? Möchten Sie bei Google nachfragen?«, schnaubte Crowther. Er nahm den Hut ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Nein«, erwiderte Caitlin, »Sie werden es für uns herausfinden - und alles andere, was uns von Nutzen sein kann.« »Ach ja? Und wie soll ich das bewerkstelligen?« Crowther setzte sich an einen Baumstamm. Die anderen warteten auf Caitlins Antwort, doch stattdessen rollten ihre Augäpfel zurück, bis man nur noch das Weiße sah. »Machen Sie uns nichts vor.« Es war Brigids Stimme, begleitet von einem heiseren Lachen. 197 »Ich wünschte, sie würde mit dem Scheiß aufhören«, zischte Mahalia. »Sie steckt in Ihrer Tasche ...«, sagte Caitlin/Brigid. Crowther wurde kreidebleich. »Wovon sprechen Sie?« »In Ihrer Tasche.« Noch ein Lachen. »Das Geheimfach im Futter Ihres Mantels.« Crowther schüttelte den Kopf. »Die Maske. Wir brauchen die Maske«, fauchte Caitlin/Brigid. »Hören Sie auf damit.« Crowther war sichtlich erschrocken. Matt zog den Professor auf die Beine. »Was verstecken Sie vor uns?« »Lassen Sie mich in Ruhe!«, rief Crowther und hob drohend den Stab. »Wir brauchen Ihre Hilfe«, sagte Caitlin/Brigid. Crowther blieb einen Moment lang in der drohenden Haltung stehen, dann gab er sich geschlagen. Aus den Tiefen seines riesigen Mantels holte er einen im Sonnenschein glitzernden Gegenstand heraus. Es war tatsächlich eine Maske, eine Maske aus reinem Silber. Das männliche Gesicht war so perfekt geformt - die großen leeren Augen im richtigen Abstand zueinander, die Nase gerade und klein, die Lippen voll, die Wangenknochen schön -
, dass sich die Gefährten auf Anhieb zu ihr hingezogen fühlten. Und die Wirkung ging sogar noch darüber hinaus: Der bloße Anblick war so machtvoll, dass er die Betrachter zu Tränen rührte und Emotionen von Orten aufsteigen ließ, deren Existenz ihnen bisher nicht bewusst gewesen war. »Was ist das?«, flüsterte Mahalia ehrfürchtig. Jack gab einen merkwürdigen kehligen Laut von sich. »Der Immaterius. Die Maske des Map onus.« 198 »Du weißt von ihr?«, fragte Crowther überrascht. »Ich habe von ihr gehört ... am Hof des Letzten Wortes.« Jack konnte den Blick nicht von der Maske abwenden. »Es heißt, man könne damit in die Tiefen des Seins schauen und Antworten auf alle Fragen finden. Aber sie sei mit dem Geist eines der Götter verbunden gewesen ... Und als er verrückt wurde, sei auch etwas mit der Maske geschehen.« »Wenn man auf die rechte Weise durchschaut, kann man Gott sehen«, sagte Crowther tonlos. »Schaut man auf die falsche Weise durch, erblickt man die Hölle -und wird verrückt, so wie Maponus.« »So haben Sie mich also gefunden«, sagte Caitlin. »Sie haben die Maske aufgesetzt und mich gesehen.« Crowther nickte. Ihm zitterten die Hände, während er die Maske hielt. »Sie begreifen nicht ...« Er schien die Maske einstecken zu wollen, war aber aus irgendeinem Grund nicht dazu in der Lage. »Jedes Mal, wenn ich sie aufsetze, nimmt sie einen Teil von mir, einen Teil meiner Seele. Jedes Mal tötet sie mich ein bisschen mehr. Das ist der Preis, den ich für das Wissen zahle, das sie mir verschafft.« »Glauben Sie, das kümmert mich?«, sagte Caitlin kühl. »Es geht hier um mehr als um Sie, um mich oder um uns. Es geht um das Überleben der Menschheit - all die armen Leute, die für etwas sterben müssen, mit dem sie nichts zu tun haben -, und wenn es erfordert, Opfer zu bringen, dann müssen wir das tun.« »Ich habe mich nicht freiwillig dafür gemeldet«, entgegnete Crowther leise. »Nein, Sie dachten, Sie hätten einen Freifahrtschein für ein sorgenfreies Leben. Falsch gedacht. Sie haben sich getäuscht.« Crowther starrte sie erstaunt an, sah sie in ganz neuem 199 Licht. »Sie können mich nicht zwingen, die Maske zu benutzen.« Caitlins eisiges Lächeln jagte ihm einen Schreck ein. »Das werden wir ja sehen.« Die Sonne ging in einer Flamme aus tiefstem Rot unter, als Crowther sich schließlich doch bereit erklärte, die Maske zu benutzen. Am Rand des riesigen Waldes huschten seltsame, beunruhigende Schatten herum, und aus seinem Innern drangen hungrig und bedrohlich klingende Vogelschreie. Das rötliche Licht verlieh der Maske einen höllenartigen Glanz, während Crowther herumlief und einen passenden Ort für das Ritual suchte. Schließlich entschied er sich für eine Stelle vor einem Wildblumengebüsch, dessen Blüten einen unangenehmen süßlichen Geruch verströmten. Während Caitlin und Matt Crowther halfen, das Ritual vorzubereiten, saßen die Jüngeren ein paar Meter abseits und schauten zu. »Du weißt über die Maske Bescheid«, sagte Mahalia zu Jack. »Wer ist dieser Maponus?« »Er ist einer vom Goldenen Volk«, antwortete Jack. »Sie nannten ihn den Guten Sohn, und er nahm einen besonderen Platz unter den Göttern ein. Er war sehr mächtig und sehr beliebt. Und dann wurden ihm die Fallstricke deiner ... ich meine, unserer Welt zum Verhängnis, und das trieb ihn in den Wahnsinn. Jetzt haben die Goldenen ihn irgendwo am Hof des Letzten Wortes eingesperrt und versuchen, ihn zu heilen. Selbst sie wagen es nicht, ihn freizulassen. Er könnte alles zerstören -und würde es vermutlich auch tun, falls er die Gelegenheit dazu bekäme.« »Und diese Maske ist wirklich so mächtig?« Ihre Augen glänzten. 200 »Ja.« Er sah sie von der Seite an. »Zu mächtig für dich oder mich. Am besten lässt man die Finger von solchen Dingen.« Als Crowther sich im Schneidersitz hinsetzte, ging Matt zu der gut zehn Meter entfernten Stelle, von wo aus er und Caitlin das Ritual beobachten wollten. Caitlin wollte ihm gerade nachgehen, als Crowther sagte: »Bloß nicht zu nah dran sein, was? Verstehe. Das Risiko lastet allein auf meinen Schultern.« »Sie haben es so gewollt«, erwiderte Caitlin. »Wissen Sie, was Sie tun?« »Nein. Ich weiß, was ich zu tun versuche, aber diese Dinge laufen nie glatt ab. Besonders hiermit.« Mit ängstlichem Widerwillen blickte er auf die Maske. »Brigid hat mir erzählt, Sie könnten ohne die Maske nicht mehr leben«, sagte Caitlin. »Es ist wie eine Droge«, entgegnete Crowther. »Ich wünschte, ich hätte sie nie in die Hände bekommen.« »Wo haben Sie sie denn her?« Er rutschte unruhig herum. »Ich habe sie gestohlen ... aus dem College in Glastonbury. Das wird mir eine Lehre sein, was? Sie lag in einer Schatztruhe voller magischer Objekte, die der elende alte Narr von einem CollegeDekan wer weiß wie lange gehütet hatte. Ich glaube, die wussten gar nicht, wie wertvoll die Maske ist.« »Aber Sie schon.« »Ich hatte da so eine Ahnung. Diese Artefakte der Macht drängen sich einem manchmal auf, wenn die richtige Person erscheint.« Er lachte bitter. »Oder die falsche. « »Sie reden so, als wären diese Artefakte lebendig«, sagte Caitlin.
»Sie wissen gar nicht, wie Recht Sie haben.« Crowther 201 wog die Maske in den Händen. »Ich hätte wissen müssen, dass es kein Entkommen gibt. Nach allem, was ich in meinem Leben getan habe, lässt man mich nicht mehr so einfach von der Angel. Sie gehen jetzt besser zu Ihrem Freund. Und egal was geschieht, kommen Sie erst zu mir, wenn ich die Maske abgenommen habe.« Als Caitlin zu Matt hinüberging, meldeten sich in ihrem Kopf die kreischenden Stimmen ihrer anderen Persönlichkeiten. Sie hatten Angst - bis auf die eine, die ganz hinten saß, im Dunkel. Und allmählich heraus gekrochen kam. Sie beobachteten ihn und warteten fast eine halbe Stunde, bis die Sonne nur noch ein blutroter Einschnitt im Horizont und die Kakophonie der Vogelgesänge verklungen und einer unheimlichen Stille gewichen war. Erst dann hob Crowther die silberne Maske ans Gesicht. Er hielt inne, als sie nur noch wenige Zentimeter von seiner Nasenspitze entfernt war, als hätten ihn plötzlich Zweifel beschlichen, und dann begann ein sonderbarer Kampf; für die Zuschauer sah es aus, als würden die Maske und Crowther miteinander ringen, oder vielleicht war es auch sein Unterbewusstsein, das mit sich selbst rang. Dann, als das Silber kaum einen Zentimeter von seiner Haut entfernt war, schössen schraubenartige Bolzen aus den Rändern der Maske heraus und bohrten sich seitlich in Crowthers Kopf. Er schrie auf. Ein surrendes Geräusch erklang, als sich die Bolzen in seinen Schädelknochen bohrten, und dann rutschte die Maske in die endgültige Position und presste sich auf sein Gesicht. Crowther erstarrte. »Spüren Sie das?«, flüsterte Matt. Caitlin spürte es; die Luft war schwer und von einem stählernen Glanz durchdrungen, wie vor einem elekt202 rischen Sturm. Es war totenstill, als hätte man alle Geräusche aus der näheren Umgebung herausgesaugt. »Etwas Schlimmes wird geschehen«, wimmerte Cait-lin/Amy. Fasziniert von Crowthers Gebaren, bemerkte Mahalia erst, dass Carlton davongeschlichen war, als er sich dem Professor bis auf wenige Meter genähert hatte. Sie wollte zu ihm rennen, doch Jack packte sie am Handgelenk und zog sie zurück. »Nicht«, sagte er. »Es ist zu gefährlich.« »Ist mir egal!« Sie riss sich los. »Carlton!« Aber da war es schon zu spät. Carlton stand neben dem Professor, streckte die Hand aus und strich mit den Fingerspitzen über die Maske. Es ertönte ein Geräusch wie hin und her schwappendes Wasser oder wie Herzschläge in einem Hallraum; es kam von irgendwo hinterm Horizont, näherte sich aber rasend schnell, bis es sie von allen Seiten umgab. Sch-schh, sch-schh, sch-schh. Licht brach aus dem Boden heraus, als würde sich das Trugbild der Realität auflösen und offenbaren, was dahinter lag. Sekunden später gab es keinen Wald, keine Landschaft und keinen Himmel mehr, sondern nur noch ein fahles Licht ohne oben und unten. Die sechs hingen im Nichts, Crowther noch immer im Schneidersitz. Ein Schwindelanfall verursachte ihnen Übelkeit, bis sie sich plötzlich an ihre neue Umgebung gewöhnt hatten, als wäre diese das Normalste der Welt. »Was zum Henker ist hier los?«, fragte Matt. »Die Sache sollte uns doch gar nicht betreffen.« Und dann sprach Carlton, jedoch ohne die Lippen zu bewegen; ein breites Lächeln ließ sein Gesicht erstrahlen. »Später ist noch genug Zeit, um uns auszuruhen. Wir müssen eine Aufgabe erledigen.« 203 Er deutete auf etwas, und als sie sich neugierig umblickten, sahen sie ganz Anderswelt ausgebreitet unter ihnen liegen. »Oh, Gott«, seufzte Mahalia. »Wir stehen in der Luft!« »Wir glauben, in der Luft zu stehen«, sagte Carlton. »Wir bilden uns vieles ein, was nicht wahr ist. Aber jetzt kommt das Entscheidende. Schaut hin.« Vor ihnen lag der finstere urzeitliche Wald, durch den sich in der Mitte ein silbriges Band durchschlängelte: der Fluss. Er strömte an einem Sumpf vorbei, in dem ein blau schimmerndes Etwas verborgen lag. Dahinter führte er an grünen und goldenen Wiesen und neuen Wäldern vorbei, bis er am Rande einer kleinen Wüste eine Biegung beschrieb. Auf dem hügeligen Sand erkannten sie sonderbare Felshaufen - Hügelgräber -, so als stünden sie direkt davor. Und jenseits der trockenen Einöde schien das Land in die Tiefe zu kippen. Bunte Dunstschwaden hingen in der tintenblauen Leere des Raums, in dem abermillionen Sterne funkelten. Und genau am Übergang zwischen dem Hier und Jetzt und der Ewigkeit stand ein undeutliches schwarzes Gebilde: das Haus der Schmerzen. »Dort findet ihr das Mittel gegen die Seuche«, sagte Carlton. »Es ist ein gefährliches Unterfangen. Unsere Reise wird uns an einen Ort führen, wo alles, was wir zu wissen glauben, null und nichtig ist. Dort, am Rand, werden wir wahrer Dunkelheit begegnen. Wir werden dem Tod begegnen.« Er nahm Caitlins Arm. »Wenn du deinen Sohn finden möchtest, er ist dort. Es ist die Zwischenstation für die Toten, die unterwegs nach Graulande sind.« »Und mein Mann?« »Er ist bereits weitergezogen. Tut mir leid.« Caitlins Herz verkrampfte sich, aber dann dachte sie 204
an Liam und die Gelegenheit, ihn möglicherweise zurückzuholen. »Warum kannst du plötzlich sprechen?«, fragte Mahalia Carlton mit Tränen in den Augen, aber dann sagte Matt: »Seht mal, dahinten!« Der aufgeregte Tonfall seiner Stimme ließ sie herumfahren. Der purpurne Nebel jagte ihnen einen Riesenschreck ein. Größer als sie erwartet hätten, schwebte er noch in der Nähe des Hofes der Einträchtigen Seelen, war aber unverkennbar auf dem Weg in ihre Richtung. Durch einige Risse im Nebel erkannten sie die deutlich größer gewordene Schar der Flüsterer auf ihren reptilienartigen Rössern. »Wenn wir hier noch länger rumstehen, haben sie uns bald eingeholt«, sagte Matt. »Wir werden keine Zeit vergeuden«, pflichtete Caitlin ihm bei. »Seid tapfer«, sagte Carlton. »Seid aufrichtig. Das Gute in uns kann das Böse besiegen.« »Wartet«, sagte Caitlin, plötzlich sehr angespannt. »Da ist etwas ...« Sie richteten ihr Augenmerk wieder auf das Haus der Schmerzen, und nun nahmen sie darin eine Präsenz wahr, die hin und her huschte wie ein Insekt, das vor dem Licht floh. Das Wesen hatte keine Angst; vielmehr hatte es die Besucher gesehen und taxierte sie, nahm sie aus jedem erdenklichen Blickwinkel in Augenschein. Mit einem Mal veränderte sich die wohlwollende Atmosphäre. Eine wogende Bewegung rollte über die Landschaft, anfangs ganz sanft, doch sie schwoll zu einer Sturmflut der Zerstörung an, die alles überspülte, was sie sahen. Schließlich brandete die Welle über die Gefährten hinweg und riss sie von den Beinen; sie trudelten durch eine Welt aus scharfkantigen Scherben und 205 flackernden Farben, überschlugen sich einmal, zweimal, dreimal, bis ... Der Regen prasselte auf Caitlin nieder. Sie kauerte in einer schlammigen Grube, und als sie nach oben blickte, sah sie einen länglichen Streifen des fernen, trostlos wirkenden Nachthimmels. Sie wusste, wo sie war, noch bevor links und rechts von ihr Hände aus der Erde hervorgeschossen und sie packten. »Du hast mich sterben lassen«, flüsterte ihr die heisere Stimme durch den Schlamm zu. »Hättest du dich um mich gekümmert und mich geliebt, hätte ich nicht so leiden müssen. Die Krankheit hätte sich nicht durch mich hindurch gefressen, und meine letzten Stunden wären nicht so schmerzhaft gewesen ... und dein Sohn wäre nicht gestorben. Aber du hast uns nicht geliebt. Du hast nur dich selbst geliebt. Es ist alles deine Schuld ...« Und dann zogen die Hände Caitlin in die Erde hinein. Sie wehrte sich nicht, denn die Stimme hatte Recht. Mahalia fand sich auf einem engen, düsteren Dachboden wieder, in dem es brütend heiß war. Sie kauerte auf einem alten Lumpensack, die Knie an die Brust gezogen, und starrte in das blau angelaufene Gesicht eines toten Babys. Seine Stimme klang rau wie Schmirgelpapier. »Dich wird niemals jemand lieben. Dies ist eine Welt, in der Mütter ihre Kinder aufgeben, um ihr eigenes armseliges Leben zu retten, eine Welt, in der sich jeder selbst der Nächste ist. Erwarte keinen Trost, keine Sicherheit, keine Zärtlichkeit, keine Freundschaft. Die einzige Regel lautet, um jeden Preis zu überleben. Du bist allein. Du wirst immer allein sein.« Und obwohl Mahalia weinte und sich die Ohren zuhielt, hörte die raue Babystimme nicht auf zu sprechen. 206 Matt stand ganz alleine da. Ein kalter Wind fegte über eine karge Landschaft, in der es keine Spur von Menschen gab. Jede Faser von Jacks Wesen surrte vor Schmerz, während die nicht-menschlichen Chirurgen am Hof des Letzten Wortes ihn aufschnitten, häuteten und bis auf das kleinste Atom zerlegten, um ihn anschließend wieder zusammenzufügen. Sie wollten herausfinden, wie sein Körper funktionierte. Wie er funktionieren könnte. Und abgesehen von den kurzen Blicken, die er im Wachturm auf sie erhascht hatte, besaß er keine tröstenden Erinnerungen an seine Mutter. Er war allein, das einsamste Wesen im ganzen Universum. Und er wusste, was sie mit ihm vorhatten, was sie ihm in die Struktur seiner Gene eingebrannt hatten. In der beängstigenden Dunkelheit hinter der Maske sah Crowther alles mit an, was seinen Gefährten widerfuhr; er fühlte, was sie fühlten, war denselben Schrecken ausgesetzt und empfand dazu noch seinen persönlichen Schmerz, der von seinem Selbstmitleid, dem Verlust seiner Familie und seiner Einsamkeit herrührte. Die Empfindungen waren so heftig und schmerzvoll, dass es ihm vorkam, als würde es ihm die Seele zerreißen. Und hinter jedem von ihnen hallte das chaotische Wimmern des verrückt gewordenen Gottes Maponus wider. Durch das Medium der Maske strömte sein mächtiges Bewusstsein vom Hof des Letzten Wortes in sie ein und befleckte sie, zeigte ihnen die Verzweiflung, Angst und Verwirrtheit seines eigenen zerrissenen Daseins. Es gab kein Entkommen für sie. Es herrschten nur Wahnsinn und Leid. 207 Und dann geschah etwas höchst Sonderbares, gerade als Caitlin der Schlamm in den Mund zu sickern begann und Mahalia sich fast die Ohren abgerissen hätte, um die Babystimme nicht mehr hören zu müssen. Carlton war da, bei jedem gleichzeitig, in derselben Weise wie zuvor Maponus. Er sagte: »Das ist es, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.« Als seine Worte in ihr Bewusstsein eindrangen, offenbarte sich in ihnen eine verborgene Botschaft universeller Hoffnung: Sie waren nicht allein. Und sobald sie diese allumfassende Erkenntnis akzeptierten, fielen Schmerz und Leid von ihnen ab. Caitlin lag im weichen Gras und sog die frische Nachtluft in die Lunge. Die anderen saßen in der Nähe, benommen und zitternd, zurückgeschleudert in die Realität, die Erinnerung an ihr persönliches Leid noch in den Köpfen.
Die Maske des Maponus lag in Crowthers Händen. Er starrte sie mit leerem Blick an und schluchzte lautlos. Aus den Löchern seitlich an seinem Kopf floss Blut; er sah aus wie ein uralter Mann. Caitlin hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn gezwungen hatte, die Maske aufzusetzen, doch sie konnte ihm nichts Tröstendes sagen, denn sie wusste, dass sie ihn vielleicht noch einmal dazu würde zwingen müssen. Carlton stand ein Stück abseits und lächelte selig; Caitlin ging mit wackligen Beinen zu ihm und nahm ihn in die Arme. »Danke«, flüsterte sie ihm zu. Sie ließ sich auf die Knie sinken, damit sie auf Augenhöhe mit ihm war. »Du bist ein ganz besonderer Junge.« Carlton lächelte sie bloß an. Mahalia schob Caitlin rüde zur Seite. »Bist du jetzt wieder stumm, Kleiner?« Carlton nickte. Sie legte ihm einen Arm um die Schultern und führte ihn fort. »Er ist ein merkwürdiges Kind«, sagte Matt. »Die Din208 ge, die er gesagt hat, wie er sich benommen hat ... er schien ...« »Mehr zu sein als wir?«, sprach Caitlin den Satz zu Ende. »Ich glaube, Carlton wird uns bei dieser Geschichte mehr von Nutzen sein, als wir bisher angenommen haben.« Sie wurde traurig. »Er ist ein wunderbarer Junge.« »Er erinnert Sie an Ihren Sohn.« Matts Einfühlungsvermögen überraschte Caitlin, und der Umstand, dass er etwas registriert hatte, dessen sie sich selbst nur verschwommen bewusst war, machte ihn ihr noch sympathischer. »Er ist ganz anders als Liam, aber seine ruhige, gelassene Art ... doch, er erinnert mich wirklich an meinen Sohn, Sie haben Recht. Wir müssen auf ihn aufpassen, Matt. Das Leben kann so grausam sein ...« »Keine Sorge, ich behalte ihn im Auge. Außerdem scheint er ja einen persönlichen Aufpasser zu haben.« Er deutete auf Mahalia, die mit Carlton im Gras saß und leise mit ihm über das gerade Erlebte sprach. »Vertrauen Sie ihr?«, fragte Caitlin. »Um Himmels willen, nein«, antwortete er prompt. Während Mary durch die South Downs nach Osten zog, spürte sie, wie sie allmählich wieder in Form kam. Der simple Umstand, dass es nirgendwo Alkohol gab, trieb ihr die Gier danach aus, obwohl der Gedanke an etwas Hochprozentiges niemals vollständig verschwand. Sie marschierte am Tag und hielt sich von allen Ansiedlungen fern. Sie wollte jeden Kontakt mit Seuchenkranken vermeiden, aber ebenso war ihr bewusst, dass eine allein umherziehende Frau ein verführerisches Ziel für die Gesetzlosen darstellte, die seit dem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung im ganzen Land ihr Unwesen trieben. 209 In den ersten Tagen war sie fortwährend hungrig, denn die Kräuter und essbaren Pflanzen, die sie allerorten zur Genüge fand, halfen kaum, ihren nagenden Hunger nach etwas Handfestem zu stillen. Während Arthur Lee Mäuse und Vögel jagte, experimentierte Mary mit einem am Wegesrand gefundenen Fischernetz und einigen Stöcken herum, und eines Abends gelang es ihr tatsächlich, einen Hasen zu fangen, von dessen Fleisch sie zwei Tage lang zehrte. Im Laufe der Zeit perfektionierte sie ihre Technik und fing mit dem Netz sogar einige Raubvögel, deren Population entlang der Südküste seit dem Untergang stetig wuchs. Am erstaunlichsten war, dass sie sich jeden Morgen beim Aufwachen — in einer verlassenen Ruine oder hinter Büschen versteckt - ein paar Jahre jünger fühlte. Sie hatte angenommen, dass die Anstrengungen des Marsches sie völlig auslaugen würden, doch das Gegenteil war der Fall: Ihre Muskeln waren kräftig wie schon lange nicht mehr, und ihr Geist war klar. Die atemberaubende Aussicht von den South Downs hinunter aufs Meer verlieh ihr zusätzliche Kraft. Jeder Aspekt ihrer Umgebung begeisterte sie, von den saftigen grünen Wiesen bis zu den knospenden Bäumen, vom Morgendunst und dem herrlichen Frühlingssonnenschein bis zu dem nachmittäglichen Nieselregen, den Vögeln, Hasen und Eichhörnchen. Ein Teil ihres Hochgefühls rührte von der Erkenntnis her, dass sie auf einem historischen Weg wandelte. Sie folgte der South-Downs-Route, einem uralten Wanderweg, der von Winchester nach Eastbourne führte und in noch früheren Zeiten mit anderen Routen verbunden gewesen war, die allesamt nach Stonehenge führten. Sie fühlte sich als Teil von etwas Großem und Wundervollem. 210 Und in der zweiten Woche bemerkte sie, dass ihr jemand folgte. Anfangs erhaschte sie nur flüchtige Blicke aus dem Augenwinkel und fragte sich, ob es bloß Einbildung war. Aber je öfter sie ihn bemerkte, desto realer wurde er, als würde allein die Tatsache, dass sie es wahrnahm, den Verfolger mit Leben erfüllen. Zu diesem frühen Zeitpunkt hielt er noch einen großen Abstand; zuweilen war er bis zu zwei Meilen hinter ihr, unsichtbar im üppigen Frühlingsgrün. Allmählich jedoch kam er näher, war aber immer noch zu weit entfernt, als dass sie sein Aussehen hätte erkennen können. Trotzdem machte es ihr Angst, als spürte sie etwas auf einer anderen Bewusstseinsebene, etwas, das von seinem dunklen Wesen kündete, und so erhöhte sie ihr Tempo und wagte es nicht mehr zu rasten; selbst zu schlafen fiel ihr schwer. Das hohe Tempo forderte allerdings seinen Tribut; entweder sie schüttelte den Verfolger bald ab, oder sie würde sich ihm stellen müssen. Am dritten Tag, nachdem sie den Verfolger entdeckt hatte, erreichte sie völlig erschöpft ein großes Dorf. Die Seuche war dort gerade erst ausgebrochen. In der Abenddämmerung beobachtete sie die schluchzenden Angehörigen, die sich im flackernden Kerzenschein versammelten, sah die Dorfältesten, die zu verstehen
versuchten, was geschah, aber noch nicht das wahre Ausmaß der Katastrophe begriffen. Warum nicht hier?, fragte sie sich. Sie beschloss, endlich etwas zu unternehmen. Ihre Magie-Kenntnisse waren zwar nicht besonders ausgeprägt, sollten aber ausreichen, um den Verfolger in die Irre zu führen. Erschöpft trottete sie über die Hauptstraße und legte sich einen Plan zurecht. Die Leichenhalle im Dorf war 211 ein umfunktioniertes altes Herrenhaus. Sie ging hinein. Die neuen Bewohner waren im riesigen Wohnzimmer aufgebahrt, zugedeckt mit alten Bettlaken; es war erschreckender, sich die darunter liegenden Körper vorzustellen, als wenn man die Toten wirklich gesehen hätte, fand Mary. Sie ging ins obere Stockwerk und wählte eins der kleineren Schlafzimmer; blanker Dielenboden, bunte Kindertapete. Es roch verlassen, aber noch nicht nach dem Schrecken, der sich unten im Wohnzimmer bot. Mondschatten fielen auf die Dielen; es war still im Haus. Arthur Lee in ihrem Rucksack lag regungslos da; der Kater war bemerkenswert ruhig. Nach einer halben Stunde fragte sie sich, ob der Verfolger wirklich kommen würde, aber dann hörte sie, wie jemand leise die Haustür öffnete, und wusste, dass ihr Instinkt sie nicht getrogen hatte. Während draußen der Wind ums Haus strich, schloss sie die Augen und versank in dem vertrauten Trancezustand. Sie stellte sich das erforderliche magische Symbol vor und murmelte die nötigen Worte. Als sie aufstand, wusste sie, dass sie ein Geist war, unsichtbar für neugierige Blicke. Wer immer im Haus war, würde das Hauchen ihres Atems hören und einen leichten Luftzug spüren, wenn sie an ihm vorbeistrich, aber das war alles. Sie hatte die Schlafzimmertür angelehnt gelassen, um lautlos hinausschlüpfen zu können. Wenn sie es richtig abgepasst hatte, würde ihr Verfolger noch im Erdgeschoss herumschleichen. Sie ging zum oberen Treppenabsatz und wartete. Unten war nichts zu hören. Er war gut, dachte sie; ein Geist, wie sie. Arthur Lees warnendes Fauchen erklang, als Mary im Augenwinkel eine Bewegung bemerkte. Der Verfolger kam aus dem Elternschlafzimmer herausgestürmt; er be212 wegte sich schneller, als sie es je für möglich gehalten hätte. Ein blitzschnelles, verschwommenes Huschen, dann einige Sekunden Zeitlupentempo, dann wieder eine blitzartige Bewegung. Der Verfolger hatte die Gestalt eines Menschen, sah aber aus, als bestünde er aus wahllos zusammengenähten Körperteilen. Das Becken saß schief, sodass eine Seite nach vorne zeigte, während die Beine nicht nebeneinander, sondern hintereinander angeordnet waren, was ihr seine unglaubliche Schnelligkeit noch unbegreiflicher machte. Die Arme waren unterschiedlich lang, die Ellbogen bizarr deformiert. Er war nackt, sein dicker Penis voll erigiert. Doch am verstörendsten war der Kopf, der verkehrt herum auf dem Hals saß. Der Anblick hatte etwas, das sie zutiefst entsetzte: Er war ein aus Versatzstücken verschiedener Menschen bestehender Puzzle-Mann. Mary stand eine Sekunde zu lange wie erstarrt da. Obwohl die Augen des Verfolgers in eine andere Richtung blickten, wusste er genau, wo sie war, und stürzte sich blitzschnell auf sie. Ihr Täuschungszauber reichte gerade aus, um zu verhindern, dass der Kerl sie auf der Stelle umbrachte. Seine knochigen Hände packten mit abnormer Kraft ihre Arme; abgebrochene, schmutzige Fingernägel bohrten sich in ihre Haut. Mary schrie auf und versuchte, mit dem Messer zuzustoßen, doch der Klammergriff des Verfolgers war so stark, dass es ihr nicht gelang. »Lass mich los, du elende Vogelscheuche!« Sie riss das Knie nach oben, um es ihm in den Unterleib zu rammen, vergaß aber seinen ungewöhnlichen Körperbau. Ihr Knie krachte an den Beckenknochen, und sie schrie auf vor Schmerz. Der Puzzle-Mann drückte sie mit solcher Kraft nach unten, dass sie meinte, ihr würden gleich sämtliche Kno213 chen brechen. Sie war zu schwach, zu verängstigt. Seine Hände wanderten unaufhaltsam zu ihrem Hals hinauf. Schließlich ging sie am Treppenabsatz zu Boden; auf ihr lastete das volle Gewicht des Mannes. Sie spürte, wie sich der erigierte Penis zwischen ihre Beine schob, und dies gab ihr den entscheidenden Impuls, sich noch heftiger zu wehren. Als der Puzzle-Mann das Gewicht verlagerte, riss Mary abermals das Knie nach oben. Der Griff des Angreifers lockerte sich. Dann zog sie ihn mit einem kräftigen Ruck zu sich heran und schleuderte ihn rückwärts über ihren Kopf. Das judoartige Manöver reichte aus, um seinen Klammergriff zu durchbrechen, wenngleich der Mann ihr dabei einige Hautfetzen von den Schultern riss. Mit rudernden Armen flog er in hohem Bogen die Treppe hinunter und schlug mit einem dumpfen Knall unten auf. Mit Tränen in den Augen zog sich Mary am Geländer auf die Beine. Ihr ganzer Körper war eine einzige Schmerzlandschaft; ihre Muskeln und Sehnen waren einen solchen Kraftakt nicht gewohnt. »Du Mistkerl!«, rief sie mit einem erstickten Schluchzen, das all ihre Wut und Angst enthielt. Unten regte sich der Verfolger, und als er sich auf seinen verdrehten Armen aufstützte, sah Mary, dass sein Genick gebrochen war. Der hin und her schlenkernde Kopf jagte ihr noch größere Angst ein, und zum ersten Mal fragte sie sich, ob man den Puzzle-Mann überhaupt töten konnte. Sie humpelte die Stufen hinunter, so schnell es ihre schmerzenden Muskeln erlaubten, und als der Puzzle-Mann sich langsam auf den Knien aufzurichten begann, trat sie ihm mit voller Wucht auf die Schädeldecke. Der
Knochen zerbarst. 214 Mary schob sich an ihm vorbei und eilte aus dem Haus. Sie murmelte einige magische Worte und malte mit den Händen die entsprechenden Symbole in die Luft, als hinter ihr der Puzzle-Mann herangestürmt kam und sich auf sie stürzte. Der magische Schutzwall stieg gerade rechtzeitig in die Höhe. Der Mann prallte von ihr ab und stürzte zu Boden. Mary erlaubte sich einen Moment der Zufriedenheit. Sie hatte es besser als erwartet hinbekommen; vielleicht war sie ja gar nicht so schwach und nutzlos, wie sie glaubte. »Siehst du, du Dreckskerl, du kriegst mich nicht. Mein Schutzwall wird dich hier festhalten, für mindestens ...« Ihre Hochstimmung verflog ein wenig. »... fünf Minuten.« Es war nicht lange, aber das war noch nicht das Ende ihres Plans. Sie trat zurück und schloss die Augen; wieder Gemurmel, weitere magische Gesten. Als sie die Augen wieder öffnete, hatte sie plötzlich Angst, dass es nicht funktionieren würde. Schließlich leckten die ersten Flammen über den Flurboden, und Sekunden später verzehrte eine lodernde Feuersbrunst das Haus. Ein Geräusch wie zerberstendes Metall ertönte, und dann sah Mary, dass es die Schreie des Puzzle-Manns waren, der sich auf der lichterloh brennenden Veranda hin und her warf, eine lebendige Fackel, die nicht aufgeben und sterben wollte, wie Mary gehofft hatte. Mit einem flauen Gefühl im Magen wurde Mary klar, dass sie nicht länger warten konnte. Sie wandte sich um und rannte die Hauptstraße hinauf, blickte nur einmal kurz zurück in der Hoffnung, dass ihr Plan funktioniert hatte. 8 Im wilden Walde »Warum habe ich immer nur gelitten, wurde immer nur eingeschüchtert, beschuldigt, für alle Zeiten verdammt?« CHARLOTTE BRONTE Der riesige Wald ragte finster vor ihnen auf; er schien wie ein Raubtier langsam und gemessen zu atmen. Unter dem dichten Blätterbaldachin lagen nur Schatten, die sich zuweilen aus eigener Kraft zu bewegen schienen. Am Waldrand wucherten Brennnessel- und Dornensträucher und goldenes Farnkraut, in dem ein schmaler Pfad ins Herz der Finsternis hineinführte. Mücken schwirrten unter der ungewöhnlich heißen Morgensonne herum; sie sahen sogar einige Vögel, die allerdings niemals in den Wald hineinzufliegen schienen. Caitlin wischte sich den Schweiß von der Stirn und dachte an das Buch, aus dem sie Liam vorgelesen hatte. Noch immer gingen ihr einige Passagen daraus durch den Kopf, und sie überlegte, was sie von Crowthers Behauptung halten sollte, dass das Abbild dieser Welt von den Personen erschaffen wurde, die sie betrachteten. Hatte sie, Caitlin, diesen Wald aus ihren Erinnerungen erschaffen? Modelte sie sich diesen Ort als etwas Dunkles und Unheilvolles zurecht, weil dies dem Zustand ihres Unterbewusstseins entsprach? Falls es so war, hatten sie da überhaupt eine Chance, ihr Ziel zu erreichen? 216 »Dieser Ort beschäftigt uns, seit wir aus den Höhlen heraus gekrochen sind.« Crowther stand neben ihr, abgespannt und müde, aber wenigstens redete er wieder mit ihr. Beunruhigenderweise schien er ihre Gedanken zu lesen, oder aber er sah es an der verstörten Miene, mit der sie auf den tiefen, finsteren Wald blickte. »Das ist der wilde Wald«, fuhr er fort, »der Urwald unserer tiefsten, dunkelsten Erinnerungen, in dem alle realen Schrecken existieren. Anderswelt ist ein Land der Archetypen, und dieser Wald ist eines der stärksten Urbilder, die es gibt. Spüren Sie es?« Sie nickte und dachte eigenartigerweise an Robin Hood und seine Getreuen und an Laurence Talbot, wie er zwischen den Bäumen hin und her sprang. »Haben Sie mir vergeben?« Es folgte eine lange Pause, bevor er antwortete. »Nein. Ich habe einfach gelernt, mich dem Unvermeidlichen zu fügen.« Matt trat zu ihnen heran und wedelte die Fliegen fort, die ihn umschwirrten. »Wir sollten aufbrechen«, sagte er munter. »Wir dürfen hier nicht lange rumsitzen, sonst kriegen wir ein Problem mit den Flüsterern.« »Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Ihre forsche, beschwingte Art ganz schön enervierend sein kann?«, erwiderte Crowther und stiefelte davon. »Mich wundert, dass er bei dieser Hitze Hut und Mantel trägt«, sagte Caitlin. »Er glaubt, er sieht damit aus wie Gandalf«, entgegnete Matt sarkastisch, »obwohl er in Wirklichkeit aussieht wie ein alter Furz mit Hut und Mantel.« Sie lachte. »Sie können ganz schön gemein sein.« Caitlin war sich bewusst, dass Matt so dicht neben ihr stand, dass sich ihre Schultern fast berührten. Sie verspürte einen Anflug von Erregung und bekam ein 217 schlechtes Gewissen; wie konnte sie so kurz nach Grants Tod an so etwas denken? »Tut mir leid, dass wir noch keine Zeit hatten, nach Ihrer Tochter zu suchen«, wechselte sie das Thema. »Das kommt schon noch. Ich habe es bisher nicht angesprochen, weil ich nicht wollte, dass Sie mir eins über die Rübe geben und mich verschleppen.« »Mit dem Professor war es etwas anderes«, widersprach sie, sah dann aber, dass er scherzte. Sein Grinsen ließ in
ihr erneut etwas erwachen. »Ich denke ständig an Rosetta«, sagte er, »aber ich weiß auch um die Verantwortung, die wir für die Leute zu Hause tragen. Wenn wir kein Mittel gegen die Seuche finden, wird es keine Menschheit mehr geben, zu der ich Rosetta zurückbringen kann.« »Ich verspreche Ihnen, wenn wir das Mittel rübergebracht haben, kehre ich mit Ihnen hierher zurück und helfe Ihnen bei der Suche ... egal wie lange es dauert.« »Das weiß ich zu schätzen.« Ein Moment zärtlicher Verbundenheit machte die beiden ein wenig verlegen. Matt sah ihr die Verwirrung an und wechselte das Thema. »Der Wald sieht gefährlich aus. Wir brauchen jemanden an der Spitze und einen als Nachhut, und wir sollten ständig unsere Waffen griffbereit haben.« Am Waldrand stellte Caitlin die anderen zu einer Gruppe auf, obwohl Mahalia sie ständig unterbrach. Das Mädchen hatte sich offenbar auf die Fahnen geschrieben, bei jeder Kleinigkeit Caitlins Autorität in Frage zu stellen. »Carlton bleibt in der Mitte«, sagte Caitlin. »Wir müssen ihn um jeden Preis beschützen.« Obwohl sie Caitlin zweifellos zustimmte, schien die Bemerkung Mahalia immens zu ärgern, denn sie umfass218 te den Griff des Fomorii-Schwerts so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß wurden. Nach der drückenden Hitze im offenen Gelände war die Luft unter dem dichten Blätterdach angenehm kühl. Alles war in ein smaragdfarbenes Grün getaucht. Der Pfad, auf dem sie liefen, war so schmal, dass sie hintereinander gehen mussten, und wegen der ständigen Bewegungen im Unterholz waren sie fortwährend auf der Hut. Nach einigen Stunden rasteten sie. Matt hatte etwas von dem Essen mitgenommen, das man ihnen in ihren Unterkünften am Hof der Einträchtigen Seelen regelmäßig ins Zimmer gestellt hatte - Obst, trockenes Brot und Pökelfleisch. Sie erfrischten sich mit Regenwasser, das sich in den riesigen exotischen Blüten sammelte, die es überall gab; es schmeckte süßer als jedes andere Wasser, das sie bisher getrunken hatten, und seine Wirkung war ganz erstaunlich: Mit jedem Schluck verringerte sich ihre Erschöpfung. »Seht euch das an«, sagte Matt. Er hielt eine der exotischen Blumen in der Hand. Aus den welken, schwarz verfärbten Blüten tropfte Fäulnis-Flüssigkeit heraus. Angewidert verzog Mahalia das Gesicht. »Sie kriegen das ganze Zeug ab. Werfen Sie die Blume weg!« Lächelnd folgte er ihrer Aufforderung, als plötzlich irgendwo tief im Wald ein schriller Schrei ertönte. Er stammte eindeutig von einem großen Tier, obwohl sich unmöglich sagen ließ, ob es auf der Jagd oder verwundet war. Sie sprangen auf. »Was zum Teufel war das?«, fragte Matt. Crowther blieb gelassen. »Was könnte es in diesem Wald alles geben?«, sinnierte er. »Die Wilde Jagd war es nicht. Welche anderen dunklen Mythen, welche ande219 ren Archetypen ...?« Seine Worte verwandelten sich in ein Gemurmel, das die anderen nicht verstanden. »Wir gehen weiter«, sagte Caitlin. Sie brachen rasch auf, den Schrei des Tieres noch in den Ohren. »Kann irgendwer abschätzen, wie groß dieser Wald ist?«, fragte Matt die anderen. »Ich meine, anhand des Bildes, das wir im Bann der Maske gesehen haben.« »Er ist riesig«, schnaufte Crowther, während er den Stab im Rhythmus seiner Schritte auf den Boden stieß. »Aber das spielt keine Rolle an einem Ort, wo Zeit und Raum bedeutungslos sind. Wir könnten ihn am Nachmittag durchquert haben oder erst in hundert Jahren.« »Danke für die erbauenden Worte«, erwiderte Matt. »Uns wird nichts geschehen, solange wir nicht den Pfad verlassen.« Mahalia sah Crowther prüfend an, registrierte seinen unruhigen Blick und lächelte ihm aufmunternd zu. Er war überrascht, wie gut ihm die kleine Geste tat, und erwiderte das Lächeln. Selbst die Felsen konnten den brutalen Wind nicht abhalten, der über das Eisfeld fegte. Caitlin kauerte in einer Ecke und beobachtete die anderen Frauen. Brigid saß im Schneidersitz da und gackerte vor sich hin wie die Karikatur einer Hexe aus einem Märchenbuch, während Briony kettenrauchend auf und ab lief und leise vor sich hin schimpfte. Amy hatte sich — ängstlich wie immer - die Arme um den Leib geschlungen. Manchmal kam sie zu Caitlin herübergetrottet, um sich zu vergewissern, dass mit ihrem anderen Selbst alles in Ordnung war. Die Gestalt im hinteren Teil des Unterschlupfes, diejenige, vor der sie alle Angst hatten, war ein Stück heraus gekrochen, sodass Caitlin vage ihre Umrisse erkennen 220 konnte. Die Frau war sehnig und raubtierhaft, hatte eine wilde schwarze Haarmähne, und zuweilen ähnelte sie mehr einem riesigen Vogel als einem Menschen. Sie wurde immer aktiver. Manchmal rief sie mit einer lockenden, schmeichelnden Stimme zu Caitlin hinüber, dann wieder brüllte sie wütend herum, und wenn dies geschah, wichen die anderen Frauen zum äußeren Rand des Unterschlupfes zurück, wo ihnen der eisige Wind um die Ohren pfiff. Obwohl sie nicht wusste, warum, fürchtete Caitlin den Augenblick, wenn die Unbekannte sich schließlich vollends zeigen würde. Amy setzte sich zu Caitlin und legte einen Arm um sie. »Schlimme Dinge werden geschehen. Aber was auch
kommt, du darfst dich niemals deiner Verzweiflung ergeben. Das geschieht ganz leicht ... und wenn man es einmal getan hat, geht alles schief.« Ihre kindliche Stimme hatte einen dunklen Klang angenommen. »Verzweiflung kommt nicht nur von innen«, sagte Brigid. Sie hatte aufgehört herumzugackern; ihre Miene war ernst. »Ereignisse verketten sich, Leute schmieden Intrigen. Du musst dich in Acht nehmen vor ... vor allem, was dich in die Verzweiflung treiben könnte. Denn das ist es, was sie wollen.« »Was wer will?« Caitlins Nerven kribbelten. Dies war keine normale Unterhaltung; Brigid teilte ihr etwas Wichtiges mit. »Die Mächte, die dem Leben entgegenstehen. Die Wesen, die alles zerstören wollen, was gut ist. Und hinter ihnen steht eine gewaltige einzelne Kraft.« Caitlin schob Amys Arm herunter. Ihr war kalt, kälter als je zuvor im Leben. »Was weißt du, Brigid?« »Die Mächte sind erwacht. Du musst aufpassen.« Brigid seufzte. »Aber es liegt nicht alles in deiner Hand. Manchmal ist Verzweiflung wie ein Stachel, den einem 221 andere ins Herz rammen. Sie haben sich noch nicht entschieden ... sie überlegen noch. Es könnte so oder so kommen ...« »Ich verstehe kein Wort!«, rief Caitlin aus. »Letztlich liegt es immer an den Menschen«, sagte Amy traurig. »Es gibt gute und es gibt schlechte - und manchmal muss man einfach ein Wagnis eingehen. Falls es schief geht, ist es nicht deine Schuld, Caitlin. Vergiss das nicht. Versuche einfach ... versuche zu verhindern, dass die Verzweiflung dein Herz vergiftet.« »Es hängt aber davon ab, wie groß der Stachel ist, den man ins Herz gerammt bekommt«, sagte Brigid. »Vielleicht kann sie es nicht verhindern.« »Es ist so traurig«, sagte Amy, »so traurig.« Plötzlich hatte Caitlin das bestürzende Gefühl, dass die Dinge ihr aus den Händen glitten. »Hört auf, in Rätseln zu sprechen! Falls etwas Schlimmes geschehen wird, dann verratet es mir, damit ich es verhindern kann!« Brigid schüttelte den Kopf. »Ich kann es dir nicht verraten. Man hat es mir verboten.« »Wer hat es dir verboten?«, wollte Caitlin wissen. Es folgte eine lange Pause, während Brigid über Caitlins Frage nachdachte. Schließlich sagte sie bloß: »Ich darf es nicht verraten.« Sie fing wieder mit ihrem entrückten Gegacker an, und Amy stand auf und ging davon. Caitlin starrte zum trostlosen Horizont, wo sich der schwarze Himmel mit dem weißen Eisfeld vermischte; sie hatte entsetzliche Angst vor dem, was kommen würde. Eine Stunde verging, dann noch eine, und schließlich fingen sie an, ihr Zeitgefühl zu verlieren. Es gab nur noch den undurchdringlichen, niemals endenden Wald, 222 wie grüne Statik, die am Rande ihres Bewusstseins vor sich hin zischelte. Eichen, Eschen, Holunder, Weißdorn, Kletterpflanzen, Farne, Brennnesseln, Stechginster, schulterhohe Gräser. Zuweilen mussten sie sich mit Mahalias rostigem Schwert den Weg freischlagen, nur um mitanzusehen, wie er sich hinter ihnen auf geheimnisvolle Weise wieder schloss. Doch das ewige Grün hatte auch etwas Hypnotisches, das sie in einen schlafwandlerischen Zustand versetzte. Vielleicht schliefen sie sogar im Laufen - keiner von ihnen war sich da ganz sicher -, jedenfalls dauerte es eine Weile, bis Caitlins bewusster Geist die Bewegungen unter den Bäumen registrierte. »Habt ihr das gesehen?«, fragte sie träge. Keiner antwortete; das einzige Geräusch war das rhythmische Stapfen ihrer Füße. Sie blickte sich um und bemerkte nichts Ungewöhnliches, aber als sie wieder nach vorne sah, nahm sie am Rande ihres Blickfelds erneut ein Flackern wahr. »Was ist das?«, murmelte sie irritiert und fuhr sich über die Wimpern, um herauszufinden, ob ein Staubkorn ihre Sicht beeinträchtigte. Ein Lufthauch; sie bekam eine Gänsehaut. Der sanfte Wind verebbte, dann war er wieder da; es fühlte sich an wie Atemzüge. Als sie weiterging, nahm sie die Bewegungen rechts und links von ihr immer deutlicher wahr. Zuerst sah es aus wie das Wechselspiel von Licht und Schatten, das man an einem Sommertag aus einem schnell fahrenden Auto heraus wahrnahm, aber je mehr sie sich darauf konzentrierte, desto schärfer wurden die Konturen. Es waren Gestalten, Figuren! Substanzlos wie Nebelschwaden. Sie huschten wieselflink zwischen den Bäumen umher; einige waren ganz nahe, andere weit entfernt. 223 Es war ein faszinierendes Schauspiel. Sie befand sich in einem Traum, saß an einem lauen Sommerabend auf einer Wiese, als von überall neugierige Nachtfalter herangeflogen kamen, um sie in Augenschein zu nehmen. In diesem halb losgelösten Zustand brauchte sie eine Weile, bis sie registrierte, dass eine der Gestalten stehen geblieben war und sich ihr offen zeigte. Caitlin schaute die Gestalt direkt an und stellte überrascht fest, dass es ein Mann mit langem weißem Haar und einem angenehmen Gesicht war; er winkte sie zu sich. Er war zwar noch immer substanzlos, trug aber einen eleganten altmodischen Gehrock im Regencestil und eine gut geschnittene Herrenhose; er strahlte eine überschwängliche Freude aus, als hätte er soeben einen lange gesuchten Freund erblickt. Hinter ihm flatterten die anderen Gestalten weiter zwischen den Bäumen herum; es waren Dutzende, Hunderte.
Caitlin lächelte, und der Geist lächelte zurück. Erneut winkte er sie zu sich heran. Er wollte ihr etwas zeigen, oder er war einfach nur überaus freundlich. Sie fragte sich kurz, was ein Mann in einer solchen Kostümierung in einem überirdischen Wald zu suchen hatte, doch der Gedanke war gleich wieder verschwunden. Sie war fasziniert: von ihm, von der Art, wie das Licht zwischen den Ästen hindurchfiel, und von den flatternden Bewegungen überall, doch den Umstand, dass keine Geräusche mehr zu hören waren, bemerkte sie kaum. »Komm«, schien er zu ihr zu sagen, »wir werden eine Menge Spaß miteinander haben.« Tiefer im Wald krachte etwas Großes durchs Unterholz; eine gewaltige Eiche stürzte ächzend um und erschütterte den Boden so sehr, dass Caitlin beinahe hingefallen wäre. Was immer durch den Wald pflügte, setz224 te seinen Weg fort, und die Störung zerbrach den Zauber des Augenblicks. Der Geist blickte schockiert über die Schulter, und sofort veränderte sich sein Äußeres. Caitlin hatte den flüchtigen Eindruck von etwas Altem, Gekrümmtem, das keinerlei Ähnlichkeit mit einem Menschen hatte, und dann war der Geist unter lautlosem Geschrei zwischen den Bäumen verschwunden. Caitlin schüttelte den Kopf, als wäre sie soeben aus einem tiefen Schwimmbecken aufgetaucht. Es gab einen leisen Knall, und dann waren die Geräusche des Waldes wieder da: das Blätterrascheln und das Ächzen der Äste, das Vogelzwitschern und irgendwo in der Ferne menschliche Stimmen, die ihren Namen riefen. Sie schaute sich um. Die anderen waren nirgends zu sehen. Der Pfad war verschwunden. Und überall schwirrten die Geister herum wie wütende Bienen, die jeden Augenblick über sie herfallen würden. Ihr Herz pochte schmerzhaft. Wie konnte sie nur so dumm gewesen sein, sich verzaubern zu lassen? Warum hatten die anderen nichts bemerkt? Sie hatte keine Ahnung, wie sie zum Pfad zurückfinden sollte, und die Bäume verzerrten die Rufe ihrer Gefährten, sodass sich nicht feststellen ließ, aus welcher Richtung sie kamen. Ihr erster Impuls war, einen Pfeil an den Bogen zu legen, doch sie wusste instinktiv, dass es ihr nichts nützen würde. Da ihr Kopf nun wieder klar war, spürte sie das raubtierartige Wesen der Geister; sie hatte den Eindruck, dass sie sie hassten, dass sie sie nicht nur umbringen, sondern dabei auch noch quälen wollten. Sie erhaschte einen Blick auf ein weiteres Gesicht mit viel zu großen dunklen Augen und einem weit aufgerissenen Mund. Es war kein Mensch. Sie stürmte los und hoffte, die richtige Richtung ein225 geschlagen zu haben. Äste schlugen ihr ins Gesicht. Und dann rannte sie mitten in ein längliches, niedriges Objekt und wäre fast darüber gestürzt. Schockiert sah sie, dass es ein Sarg war, der ohne ersichtlichen Grund mitten an diesem einsamen, unwirtlichen Ort stand. Er bestand aus Gold und Elfenbein, der Deckel aus schwerem Milchglas. An einer Seite hing ein kleines Schild: Hier ruht Jack Churchill, ein Bruder der Drachen seine letzte Schlacht ist geschlagen. Bevor Caitlin überlegen konnte, was dies bedeuten mochte, kamen die raubtierartigen Geister herangeflattert und umzingelten sie. Noch war eine Lücke da, doch bevor sie davonrennen konnte, wurde sie zu Boden gestoßen. Sie schlug wild um sich, versuchte aufzuspringen, aber dann drückten kräftige Hände sie nach unten, und eine sanfte Stimme sagte: »Wehre dich nicht, Zerbrechliches Geschöpf. Ich bin ein Freund von dir und den Deinen.« Sie blickte in ein unglaublich schönes Gesicht auf: goldene Haut, hohe Wangenknochen, langes Haar - alles an ihm verströmte einen schimmernden Glanz. Mehr als das, er strahlte eine gewaltige Kraft aus, die sie berauschte und erregte. Doch als er ihr ins Gesicht sah, schaute er überrascht. »Eine Schwester der Drachen? Kann das sein?« »Mein ... mein Name ist Caitlin.« Er richtete sich auf, reichte ihr die feingliedrige Hand und half ihr auf die Beine. Während er sie überraschend ehrfürchtig von oben bis unten betrachtete, nickte er und sagte: »Tatsächlich. Eine Schwester der Drachen. Mitten im Wald der Schimmernden Hoffnung.« Er verneigte sich förmlich. »Mein Name ist Triathus. Ich gehöre zum Goldenen Volk, den Wesen, die eure Stämme einst Tuatha De Danann genannt haben.« 226 Sie war verwirrt - er sah ganz anders aus als die kleinwüchsigen Männer am Hof der Einträchtigen Seelen. Doch bevor Caitlin ihn danach fragen konnte, nahm er sie bei der Hand. »Komm. Wir müssen den Pfad erreichen, bevor die Gehennis beschließen anzugreifen.« Die Geister waren bei Triathus' Erscheinen zurückgewichen, doch nun hatten sie genug Mut gefasst, um wieder näher zu rücken. »Was sind das für Wesen?«, fragte Caitlin. Etwas an seiner Art brachte sie dazu, ihm zu vertrauen. Sie ließ sich von ihm zwischen den Bäumen entlangführen; ihre Hand lag in seiner. Die Geister brummten mit zunehmendem Unmut, wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten. »Sie sind die Träume gestorbener Zerbrechlicher Geschöpfe«, antwortete Triathus. »Sie sind verzehrt von Verbitterung und Hass auf das, was sie verloren haben, denn sie wissen, dass man sie nie wieder träumen kann. Sie jagen jeden, der vom Pfad abweicht, aber das Fleisch Zerbrechlicher Geschöpfe ist ihnen am liebsten.« »Sie fressen uns?« Er sah sie verwirrt an, als spräche sie in einer fremden Sprache zu ihm. »Nicht so, wie du denkst. An eurer körperlichen Hülle sind sie nicht interessiert. Aber an dem, wer ihr seid, was ihr denkt, was ihr träumt... davon
ernähren sie sich.« »Von unseren Seelen?« Er nickte. »Ja. Die Gehennis sind Seelenfresser.« Inzwischen hörte man Matts und Crowthers Rufe, und zwischen den Bäumen konnte Caitlin sie aufgeregt hin und her laufen sehen. »Das sind meine Freunde«, sagte sie. »Die Gehennis haben dich ausgewählt, weil deine Essenz, deine Seele, die stärkste und sättigendste ist. Ansonsten wären deine Freunde längst tot.« 227 Die Gehennis unternahmen einen letzten Versuch, an Caitlin heranzukommen. Als der Pfad ins Blickfeld rückte, rasten sie aus allen Richtungen heran, und mit jeder verstrichenen Sekunde wurde ihr wahres Erscheinungsbild grauenvoller. Triathus trat ihnen entgegen und machte eine sonderbare Handbewegung, worauf ein goldenes Licht aufblitzte. Als Caitlin wieder etwas erkennen konnte, waren die Gehennis verschwunden. »Wir müssen uns beeilen. Sie werden zurückkommen«, sagte Triathus. Sie erreichten den Pfad, wo Matts und Crowthers Erstaunen rasch in Argwohn umschlug. »Schon gut«, sagte Caitlin. »Er hat mir geholfen.« Jack hielt sich im Hintergrund, seine Züge waren dunkel vor Furcht und Hass. Triathus bemerkte ihn und streckte die Hände aus, die Handflächen nach oben. »Ich erkenne in dir das Mal vom Hof des Letzten Wortes«, sagte er. »Ich kann mich nur für die Grausamkeiten meines Volkes entschuldigen. Ich stehe auf der Seite der Zerbrechlichen Geschöpfe, wie alle Mitglieder meines Hofes.« »Welcher Hof ist das?«, fragte Jack düster. »Der Hof der Friedvollen Tage.« Dies schien Jack zu beruhigen, doch er hielt weiterhin gebührenden Abstand zu Triathus. »Was tust du hier draußen?«, fragte Caitlin. Triathus wurde ernst. »Mein Volk steht kurz vor einem Krieg —« »Das hat Lugh uns auch erzählt.« »Die ersten Gefechte haben bereits stattgefunden. Die Hörner des Krieges sind erschallt, und das Goldene Volk ist gespalten, vielleicht für alle Zeiten.« Eine verzweifelte Traurigkeit lag in seiner Stimme. »Meine Kameraden und ich sind den Endlosen Fluss hinuntergefahren, um 228 dann zum Hof der Einträchtigen Seelen weiterzureisen. Wir wollten Lugh überzeugen, sich unserer Sache anzuschließen, denn dann würden es ihm andere Höfe rasch nachtun. Aber als wir am Ufer festmachten, hat uns eine Gesandtschaft vom Hof des Sehnsüchtigen Herzens hinterrücks angegriffen - ohne Warnung, allen Bräuchen meines Volkes zum Trotz. Meine Kameraden wurden an Ort und Stelle niedergemetzelt. Tuatha De Danann, zeitlose Wesen, die Teil des Seins sind ... und nun sind sie auf ewig verloren! Wie konnte das geschehen? Wie konnten wir uns das nur antun, Angehörige desselben Volkes?« »Das fragen wir Menschen uns schon seit langem«, sagte Matt. »Ich weiß noch nicht, ob dies schon der erste Schlag in einer großen Auseinandersetzung war oder bloß ein Vorbote dessen, was da kommen wird«, fuhr Triathus fort. »Mein Volk ist geduldig - uns steht die Ewigkeit zur Verfügung -, aber wenn dies der Anfang des Krieges war, sind diejenigen, die für die Zukunft kämpfen, schlecht vorbereitet. Man wird uns abschlachten.« Kühl und ungläubig fügte er hinzu: »Vielleicht ist es das, was unsere Widersacher möchten.« »Eine Auseinandersetzung zwischen denen, die an der Vergangenheit festhalten wollen, und denen, die für Veränderungen stehen«, sagte Matt nachdenklich. »Genau«, erwiderte Triathus. »Von allen Völkern sollte gerade meines wissen, dass der Wandel das Herzblut des Seins ist. Aber wir stagnieren seit langem und sind in unserer Überlegenheit arrogant geworden. Wir wollen nicht verdrängt werden.« »Aber warum kämpft ihr dann für uns?«, fragte Caitlin. »Weil meine Seite nicht glaubt, dass man uns ver229 drängt. Es gibt keinen Grund, warum das Goldene Volk und die Zerbrechlichen Geschöpfe - die dann nicht mehr zerbrechlich sind! - nicht als Gleichberechtigte Seite an Seite in die Zukunft schreiten könnten.« Triathus' Traurigkeit war herzergreifend. Von hinten trat Carlton heran und nahm seine Hand. Er schaute zu dem Gott mit einem strahlenden, unschuldigen Lächeln auf, und plötzlich glänzten Triathus' Augen. »Faszinierend«, sagte der Tuatha De Danann, während er Carlton ansah, allerdings ohne eine weitere Erklärung abzugeben. Crowther, der konzentriert zugehört hatte, schob sich rüde an Caitlin vorbei und fragte: »Du hast ein Boot?« Triathus deutete den Pfad hinunter. »Es ist am Endlosen Fluss vertäut.« »Ist es beschädigt?« »Nein.« »Dürfen wir es haben? Wir sind auf der Suche nach einem Heilmittel, welches das Überleben der Zerbrechlichen Geschöpfe sichert.« »Natürlich«, erwiderte Triathus, ohne lange zu überlegen. »Aber ich werde euch begleiten. Ich muss zum Hof
der Friedvollen Tage zurückkehren und berichten, was geschehen ist.« »Na, dann los«, sagte Matt. »Mir gefällt das Herumgehusche zwischen den Bäumen nicht ... und das Raubtier, das wir gehört haben, auch nicht...« Sie marschierten los, mit Triathus an der Spitze. Der Pfad führte gut zehn Meilen geradeaus, über Lichtungen, auf denen sie nach der Kühle unter den Bäumen den Sonnenschein auf den Gesichtern genossen, durch dorniges Gestrüpp, durch das sie sich einen Weg freischlagen mussten, und durch kristallklare Bäche und 230 brackige Teiche, in denen sonderbare Blasen zur Oberfläche des öligen Wassers aufstiegen. Dann rochen sie den frischen, berauschenden Duft des Flusses, der nach Triathus' Schätzung noch eine halbe Meile entfernt war. Besonders Mahalia war fasziniert vom goldenen Gott. Während des Marsches sahen die anderen immer wieder, wie ihr Blick zu ihm wanderte und eine Mischung aus Ehrfurcht und Verwunderung ihre meist mürrische Miene erhellte. In diesen Momenten war sie nicht mehr die harte, rücksichtslose junge Frau, die sie kannten, sondern vermittelte den anderen eine Ahnung von dem Mädchen, das sie in weniger schmerzvollen Zeiten gewesen sein mochte. Schließlich erblickten sie zwischen den Bäumen den Fluss, der im Licht der untergehenden Sonne rot-golden schimmerte. Nach der Finsternis des Waldes war es ein erbauender Anblick, und trotz ihrer Erschöpfung beschleunigten sie noch einmal ihre Schritte. Jack wollte zum Wasser rennen, doch Matt hielt ihn zurück. »Warte. Ich höre etwas.« Jetzt hörten es die anderen auch; Äste und Zweige knackten, als ganz in der Nähe das riesige Wesen auftauchte, das den Großteil ihrer Reise um sie herumgeschlichen war. Sein donnerndes Brüllen schallte durch den Wald, bis sich ihnen der Magen umdrehte. Sie blieben stehen und zückten die Waffen. »Wo ist es?«, fragte Caitlin. »Ich glaube, dort drüben.« Mahalia deutete an einer Mauer aus Kletterpflanzen vorbei. Ganz in der Nähe stürzte ein Baum um, und sie erhaschten einen kurzen Blick auf etwas, das so groß wie ein Bus war und durchs Halbdunkel huschte. »Mein Gott!«, sagte Crowther. 231 Caitlin schoss einen Pfeil ab, aber das Ungetüm war bereits verschwunden, während das Geschoss noch zwischen den Bäumen entlang zischte. »Machen Sie es doch nicht auf uns aufmerksam!«, schimpfte Mahalia. »Ich glaube, wir stehen sowieso schon auf seinem Speisezettel.« Matt blickte den Pfad hinunter und sah, dass die Vegetation mit zunehmender Flussnähe spärlicher wurde. »Wenn wir das Boot erreichen könnten —« Ein riesiger Schatten fiel auf sie. Caitlin wandte sich zu dem Ungetüm um. Es war ein übernatürlich großes Wildschwein mit fremdartigen Zügen und riesigen, blutverschmierten Stoßzähnen. Crowther erbleichte. »Das Twrch Trwyth.« Triathus kannte es unter einem anderen Namen. »Das Waustig.« Doch es griff nicht an. Es warf einen kurzen Blick in ihre Richtung und verschwand dann wieder zwischen den Bäumen; sein tiefes, donnerndes Gebrüll klang wie eine Industriemaschine. Etwas stimmte nicht mit dem Riesenwildschwein. Caitlin fiel auf, dass es unsicher auf den Beinen war und gelegentlich sogar gegen einen Baum krachte, während sich die funkelnden Augen verdrehten, als wäre es betrunken. Eine schwarze, nach Fäulnis riechende Flüssigkeit lief ihm aus dem Maul und tropfte auf die dunkelbraunen Borsten. »Sie wissen, was das für ein Wesen ist?«, fragte Caitlin Crowther. »Das Wildschwein war ein Totem-Tier der Kelten«, sagte Crowther. »Den Mythen zufolge war das Twrch Trwyth ein böser König, den Gott in diese Gestalt verwandelt hat. Man kann es nicht töten.« Als das Ungetüm zwischen den Bäumen verschwunden war, eilten sie erleichtert weiter. Aus dem Wald he232 rauszukommen war eine Erlösung. Als sie den Fluss erblickten, blieben sie erstaunt stehen. Er war viel größer, als sie erwartet hatten, an dieser Stelle fast eine Viertelmeile breit. Er floss träge dahin, majestätisch schimmernd im Licht der untergehenden Sonne. Der Pfad endete an einer grob gezimmerten Anlegestelle, an der ein atemberaubend schönes Boot vertäut war. Den Rumpf zierten kunstvolle Schnitzereien von Fischen, Wellen und Vögeln, und der Bug hatte die Form eines anmutigen Schwanenhalses. Es war so groß wie ein kleiner Ausflugsdampfer und würde ihnen ausreichend Platz bieten. »Ist das elegant«, sagte Matt bewundernd. »Hauptsache, es schwimmt«, sagte Crowther. »Können wir an Bord?« Er blickte nervös in den Wald zurück. »Natürlich«, erwiderte Triathus. »Sagt ihm einfach, was es tun soll. Sein Name ist Sonnenjäger.« Mahalia strich sachte über den Rumpf und zog dann überrascht die Hand zurück. »Es fühlt sich an wie ... Haut es ist warm.« Triathus führte sie an Bord. Unter Deck gab es einige Kojen und eine Kombüse mit Wasser, Brot und Pökelfleisch.
»Hast du deine Kameraden begraben?«, fragte Caitlin. Triathus starrte über das Wasser in die untergehende Sonne. »Bei uns gibt es keine Leichname. Wenn wir sterben, kehren wir ins Sein zurück.« »Es tut mir leid für dich, was geschehen ist«, sagte Caitlin. »Wir sollten endlich ablegen«, unterbrach sie Jack. Er beobachtete die Bäume am Ufer. »Es wird langsam dunkel.« Die Aufforderung genügte. Triathus sprach ein Wort, das keiner von ihnen kannte; der Laut war schmerzhaft in den Ohren, obwohl der Gott ganz leise gesprochen hatte. Als Antwort setzte sich die Sonnenjäger langsam in Bewegung, schwang herum, bis sie flussaufwärts ausgerichtet war, und fuhr los. »Es war sehr mutig von Ihnen, auf das Riesenwildschwein zu schießen.« Matt stellte sich zu Caitlin an die Reling. »Ich muss eine sehr wichtige Aufgabe erfüllen. Nichts wird mich davon abhalten.« Caitlin klang fest entschlossen, aber Matt spürte, dass sie beunruhigt war. »Was ist los?«, fragte er. »Ich weiß nicht ... etwas mit dem Ungetüm. Ich habe einfach ein schlechtes Gefühl. Was wohl als Nächstes geschehen wird?« 9 Flussaufwärts »Ich möchte nicht, dass sie Macht über Menschen haben, sondern Macht übersieh selbst.« MARY WOLLSTONECRAFT Caitlin wusch sich im Mondschein die Haare, mit dem eisigen Wasser, das sie mit einem silbernen Eimer aus dem Fluss schöpfte. Danach fühlte sie sich etwas besser, doch die Freude über die neue Welt und das Gefühl, in einem faszinierenden Traum zu wandeln, waren endgültig verschwunden. Es hatte so fantastisch geklungen: eine Reise in ein mythisches Reich, um ein magisches Mittel gegen eine Seuche zu finden, die die Menschen dahinraffte. Inzwischen hatten sich aber jede Menge Fragen angesammelt. Warum waren die Flüsterer hinter ihr her, warum wollten sie um nichts auf der Welt aufgeben? Warum hatte sie das Gefühl, eine wichtige Rolle in einem weit reichenden, ihr unbekannten Plan zu spielen? Sie hoffte, dass es nur an ihrer angegriffenen Psyche lag und dass in Wirklichkeit alles so einfach und unkompliziert war, wie sie ursprünglich gedacht hatte. Aber die Dinge waren nie unkompliziert, oder? Es half auch nicht, dass in ihrem Kopf Brigid unablässig brabbelte. Caitlin hörte ihr schon seit einer Weile nicht mehr zu, doch die alte Frau schien wegen irgendetwas besorgt zu sein. Als sie nach der Decke tastete, die sie als Handtuch benutzte, schob sie ihr jemand in die Hand. Es war Carlton. 235 »Hallo«, sagte Caitlin, während sie sich die Haare abrubbelte. »Hältst du nicht mit Mahalia Wache?« Er deutete lächelnd zum Bug, wo Mahalia und Jack saßen. »Ah, sie hat einen neuen Freund«, stellte Caitlin fest. Carlton lachte lautlos. »Nun, dann setz dich zu mir.« Sie machten es sich an der Reling auf einer Bank bequem, wo die warme Brise ihre Haare trocknen würde. Es überraschte Caitlin, als Carlton den Kopf an ihre Schulter lehnte; sie legte einen Arm um ihn. »Ich wünschte, ich wüsste, was in deinem Kopf vorgeht, Carlton«, sagte sie. »Bist du immer stumm gewesen, oder ist dir etwas zugestoßen?« Er blickte nicht auf, gab nicht zu erkennen, ob er die Frage verstanden hatte. Die Wärme seines Körpers neben ihrem weckte in ihr einen Schwall tiefer Emotionen, was eine Überraschung war, weil sie sich so lange wie betäubt gefühlt hatte. Sie rang mit den Tränen und schaffte es irgendwie, ihre Stimme neutral klingen zu lassen. »Ich hatte einmal einen kleinen Sohn - sein Name war Liam. Er mochte Bücher und Computerspiele und Musik und sein Skateboard. Ich weiß nicht, ob du diese Dinge auch magst, aber ... du bist ihm in vielerlei Weise ähnlich. Ruhig, nachdenklich ... Ich glaube, er war ein guter Mensch, und das bist du auch, Carlton. Es gibt nicht genügend gute Menschen auf der Welt.« Sie drückte ihn sanft, versuchte, nicht zu rührselig zu klingen oder ihn mit den Emotionen einer Erwachsenen zu überschwemmen. »Ich werde mich um dich kümmern«, fügte sie leise hinzu. In der nachfolgenden Stille hörte man nur die Geräusche des Flusses, bis irgendwo in der Ferne eine Eule heulte. 236 Nach einer Weile ging Caitlin zu Triathus, der am Heck stand und nachdenklich aufs mondbeschienene Wasser blickte. »Wir wissen deine Hilfe zu schätzen«, sagte sie. »Dies sind schwere Zeiten«, entgegnete er. »Wir sollten als Verbündete - mehr noch, als Kinder des Seins -Seite an Seite stehen.« »Wenn dein Volk es doch nur genauso sähe.« »Ich fürchte, es wird noch viel Leid geben, bevor das Goldene Volk sich einig geworden ist«, sagte er traurig. »Dass es überhaupt so weit gekommen ist, erfüllt mich mit tiefer Traurigkeit.« »Ist es möglich, dass eure Widersacher uns hier auf dem Boot angreifen?« »Das kann passieren. Ich halte nach verräterischen Hinweisen Ausschau.« Ein Schatten zog über sein Gesicht, während er das weiß schäumende, sich V-förmig ausbreitende Kielwasser beobachtete.
»Siehst du etwas?« »Nein, aber trotzdem ... Irgendetwas beunruhigt mich, doch ich weiß nicht, was.« Caitlin folgte seinem Blick, sah aber nichts Ungewöhnliches. »Ich spüre eine ... Präsenz. Aber ich sehe nichts.« Er wandte sich ihr zu und lächelte sanft. »Und meine Augen sind besser als deine.« »Als ich erfahren habe, dass die alten Götter zurückgekehrt sind, hätte ich sie mir nie so vorgestellt wie dich, Triathus. Du bist gutmütiger, als ich erwartet habe. Wo sind all die blitzenden Insignien der Macht, die die Kelten so erschreckt haben?« »Obwohl wir uns gerne als unveränderlich betrachten, sahen in der Zeit, von der du sprichst, einige von uns ganz anders aus als heute, Schwester der Drachen.« 237 Er legte ihr die Hände seitlich an den Kopf. Zuerst zuckte sie zurück, aber sein sanftes Wesen beruhigte sie. Seine Finger waren kühl, aber tief in ihnen schien so etwas wie Elektrizität zu knistern. »Du hast großes Leid erfahren«, sagte er. »Eine große Tragödie. Trotzdem setzt du dich weiter für das Wohl anderer ein.« Caitlin spürte eine zarte Bewegung im Hinterkopf, als tasteten seine Finger darin herum. »Die Gebrochene Frau«, sagte er. »Aber dein Mut hat dich nicht verlassen.« Seine Miene veränderte sich. »Da ist noch etwas anderes ... es versteckt sich.« Er zog die Hände zurück; Caitlin spürte ein saugendes Gefühl im Kopf. »Was versteckt sich?« »Ich weiß es nicht. Ich habe gespürt ...« Er überlegte kurz, dann zuckte er mit den Schultern. »Vielleicht ist es nichts.« »Ich beneide dich nicht darum, in meinem Geist zu forschen. Ich weiß ... ich weiß, dass es mir nicht gut geht.« »Du unterliegst einem bei euch Menschen weit verbreiteten Fehlurteil«, erklärte Triathus. »Es gibt keine einzig gültige Form des Seins, keinen einzig richtigen Weg, die Welt zu betrachten. Dein Geist hat dein Bewusstsein so verändert, wie es im Moment sein muss, damit du überlebst, damit du gewinnst.« »Es ist nett, dass du das sagst, aber es ist trotzdem unangenehm.« »Bei den alten Stämmen, den Zerbrechlichen Geschöpfen, die uns als Erste in eurer Welt willkommen hießen, hatten die Weisen und die Magier oft eine andere Wahrnehmung des Seins.« »Die waren ja auch alle verrückt.« »Das sind nur bedeutungslose Worte. Alles um dich herum und alles in dir ist ein Mysterium. Welten über 238 Welten über Welten - keine Sichtweise gleicht der nächsten.« Caitlin schaute eindringlich in Triathus' schimmerndes Gesicht. Er schien ihr etwas Wichtiges mitteilen zu wollen, doch sie verstand es nicht richtig. »Na ja, jedenfalls versuche ich, mit meiner Situation zurechtzukommen. Carlton ist meine Rettung. Ich fühle mich ihm verbunden. Wäre er nicht mit dabei, ich weiß nicht, wie ich ...« Sie bemerkte Mahalia, die ein Stück entfernt im Schatten stand und lauschte. Caitlin drehte sich um und wollte etwas sagen, aber da war Mahalia bereits zum Bug zurückgegangen. Jedes Mal, wenn das Boot dem Ufer näher kam, sah man sonderbare Gesichter zwischen den Bäumen. Es waren keine Gehennis, sondern andere, noch seltsamere Waldbewohner, die aus ihren fremdartigen Träumen herbeigeeilt waren, um zu schauen, welche merkwürdigen Besucher ihnen vor die Haustür gespült worden waren. Sie zeigten sich immer nur kurz, bevor man sie richtig erkannte, und gaben nicht preis, was sie im Schilde führten. Mitten in der Nacht schreckte Caitlin aus einem oberflächlichen Schlaf. Ein Impuls, eine vage Ahnung führte sie an die Reling; am Ufer war etwas im Gange, das sie sich ansehen musste. Zum ersten Mal war der Wald ganz still, und sie fragte sich schon, ob sie traumwandelte. Aber dann flammte plötzlich ein blauer Blitz zwischen den Bäumen auf, und sie roch etwas, das sie an den Geruch von Stromgeneratoren erinnerte. Funken sprühten, und als sie verloschen, sah Caitlin an der Stelle eine bläulich schimmernde Gestalt stehen. Es war der Ritter mit dem Wild239 schweinkopf-Helm, der beobachtete, wie sie vorbeischipperten. Ihr Herz verkrampfte sich. Sie hätten ihn doch längst abgehängt haben müssen. Wie konnte er hier sein? Das Bild schimmerte so lange, bis das Boot vorbeigefahren war, dann verblasste es. Der Ritter war entweder verschwunden oder mit der Dunkelheit verschmolzen. Caitlin hatte den Eindruck, dass die Aufmerksamkeit des Ritters allein ihr galt; die anderen schienen ihn nicht zu interessieren. Der Gedanke führte sie zu einem weiteren beunruhigenden Punkt: Sie hatte geglaubt, sich auf einer ehrenvollen Mission zur Rettung der Menschheit zu befinden, aber vielleicht war sie ja auf dem Weg in die Hölle und der Ritter begleitete sie, um sicherzustellen, dass sie ihr Ziel erreichte. Nach solch morbiden Gedanken fand sie nur schwer in den Schlaf zurück. Zwischen den Ästen und Blättern fiel gleißender Sonnenschein aufs Deck. Stolz und erhaben stand Triathus am Heck, als hätte er sich die ganze Nacht nicht gerührt. Caitlin streckte sich gähnend und vertrieb die beunruhigenden Gedanken der Nacht. Matt lag ganz in der Nähe und schlummerte friedlich. Caitlin konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal durchgeschlafen hatte. Auch Mahalia lag friedlich da, den Kopf an Jacks Schulter geschmiegt. Die Arme hatte sie fest um Carlton
gelegt, als hätte sie Angst, jemand könnte ihn in der Nacht rauben. Crowther war nirgendwo zu sehen. Caitlin stand auf und ging zu Triathus, der sie mit einem höflichen Nicken begrüßte. »Wo ist der Professor?«, fragte sie. »Er bereitet in der Kombüse das Frühstück zu. Er hat schlecht geschlafen. Ihm lastet viel auf der Seele.« 240 »Kein Wunder. Er hat gedacht, er könnte seinen und den Problemen der Welt entkommen. Nun hat er herausgefunden, dass das nicht geht.« »Er sollte zufrieden sein. Er hat einen weiteren Schritt auf dem Weg zur Weisheit vollbracht.« Caitlin blickte auf den Fluss hinaus. Er war über Nacht schmaler geworden, und die Ufer lagen nur noch einen Pfeilschuss auseinander. Die Bäume ragten über zehn Meter in die Höhe und bildeten mit ihren verschlungenen Ästen und dem dicken Wurzelwerk eine undurchdringliche Mauer. Hin und wieder gab es eine Lücke, durch die Caitlin kurze Blicke auf grüne Hügel und, in der Ferne, auf nebelverhangene purpurne Berge erhaschte. Es war eine epische Landschaft der Mythen und Wunder, die an ihnen vorbeizog. In einer dieser Lücken erregte eine eingestürzte Steinruine auf einem fernen Hügel ihre Aufmerksamkeit. »Was ist das für ein Bau?«, fragte sie Triathus. »Es ist eine Erinnerung an Völker, die vor uns hier gelebt haben. Dies ist ein uraltes Land, älter als Festlande, fast so alt wie das Sein selbst. Mein Volk bildet sich gerne ein, die Ersten und Letzten und Einzigen zu sein. Doch in Wahrheit wissen wir, dass es vor uns andere gegeben hat. Wir sind einfach die neueste Generation der Götter. Vor uns gab es die Erbauer der großen Steinstädte, die so angelegt waren, dass sie wie mächtige Klippen aussahen, wie ein Teil der Natur - in Baumkronen, unter Wasser, in der Erde. Vor uns gab es die Kämpfer großer Schlachten, die Fernlande unfruchtbar machten, sodass nichts Grünes mehr wuchs und ganze Zeitalter lang dichte Rauchschwaden über das verbrannte Land trieben. Vor uns gab es die großen Ungeheuer, die Teufel, die Avatare der Leere. Die Echos all dieser Völker hallen in Fernlande bis heute nach, in Geschichten, geheimnis241 vollen Ruinen, Artefakten großer Macht und Weisheit -und wir Danann geben diese Dinge gerne als unsere Errungenschaften aus, doch in Wahrheit sind sie viel älter als mein Volk. Nur eines ist über all die Zeitalter unverändert geblieben: die Fabelwesen, die Boten des Göttlichen.« »Und was ist aus diesen alten Völkern geworden?« Triathus sah nachdenklich aus. »Sie sind weitergezogen.« Seine Geste deutete an, dass sie noch irgendwo existierten. »Und deshalb sind wir hergekommen, aus unseren vier wundersamen Städten in den Nordlanden — Falias, Gorias, Finias und Murias. Gezwungen umherzuziehen, immer auf der Suche, nie am Ziel. Doch wir tragen die Erinnerung an unser geliebtes Zuhause in uns. Und wir haben die zwanzig großen Höfe errichtet und unsere Herrschaft begonnen - und Fernlande nach unseren Vorstellungen geformt, und alles wurde so, wie du es jetzt siehst.« Caitlin lehnte an der Reling und genoss den frischen kühlen Duft des Flusses und den Sonnenschein auf ihrem Gesicht. »Es ist wunderschön hier - aber auch sehr gefährlich.« »So wie mein Volk.« Plötzlich fasste er sich an die Stirn, als hätte er Kopfschmerzen, aber dann war alles wie zuvor. »Aus unseren Beobachtungen des Seins wissen wir, dass alles seine Jahreszeit hat. Der Winter bringt den Tod, der Frühling neues Leben. Der Zyklus setzt sich bis in alle Ewigkeit fort, aber nichts existiert für immer. Man wird das Goldene Volk verdrängen ... und die Zerbrechlichen Geschöpfe werden unseren Platz einnehmen. Das steht fest, doch unsere Widersacher weigern sich, dies zu akzeptieren, als könnte der Klang ihrer Stimmen den Lauf des Seins stoppen. Mein Volk ist mit einer gewissen Arroganz behaftet, einer Arroganz, die 242 alle befällt, die zu lange an der Macht sind. Doch zum gegebenen Zeitpunkt wird das Richtige obsiegen, und der Zyklus wird sich fortsetzen.« Die Traurigkeit in seiner Stimme berührte Caitlin zutiefst. Er wusste, dass schwere Zeiten vor ihnen lagen, und doch akzeptierte er es mit Gleichmut. Mahalia kroch vorsichtig aus der Koje, um Jack und Carlton nicht zu wecken, und ging zu Matt, der an der Reling lehnte und den friedvollen Morgen genoss. »Kann ich Sie etwas fragen?« »Klar. Was denn?« »Sie und Caitlin verstehen sich ziemlich gut. Ich meine, das sieht man ja. Ich weiß, dass sie Ihnen gefällt, und ich denke, Sie gefallen ihr auch.« »Du weißt nicht, wovon du sprichst.« Sie gestikulierte ungeduldig. »Wie auch immer. Aber ich muss wissen, was sie vorhat.« Matt sah, wie sie verstohlen zu Carlton zurückschaute. »Wie meinst du das?« »Ich will wissen, was sie von Carlton will. Sie scharwenzelt ständig um ihn herum. Warum? Was hat sie vor?« Matt wählte seine Worte mit Bedacht. »Caitlin hat eine schlimme Tragödie erlebt. Sie hat ihren einzigen Sohn verloren.« »Und jetzt soll ihn Carlton ersetzen?« Der harte Klang ihrer Stimme verriet, dass Matt einen Nerv getroffen hatte.
»In gewisser Weise ja. Er ist ihr Ersatzkind ... er füllt die Lücke in ihrem Herzen aus.« Mahalia verzog das Gesicht. »Sie wird ihn mir nicht wegnehmen.« »So solltest du es nicht betrachten.« »Sie begreifen nicht. Carlton ist alles, was ich habe. 243 Alle anderen haben mich verlassen, nur er hat immer zu mir gehalten. Er ist meine Familie. Sie wird ihn nicht bekommen. « »Mahalia, sei doch vernünftig. Carlton gehört dir nicht ...« Mahalia funkelte ihn an. »Das habe ich auch nie behauptet. Also, was glauben Sie, was hat sie vor? Möchte sie seine Mutter sein oder so was?« »Vielleicht. Es wäre gut für ihn. Daran solltest du auch mal denken, Mahalia.« »Sie wird ihn mir nicht wegnehmen«, wiederholte sie. »Dafür werde ich schon sorgen.« Sie drehte sich um und ging davon. Matt sah ihr nach. Zum ersten Mal wurde ihm richtig bewusst, dass Mahalia tatsächlich zu allem imstande war. Crowther machte sich in aller Seelenruhe mit der Kombüse vertraut. Es war eine willkommene Erleichterung nach einer langen, schlaflosen Nacht. Die Ereignisse lasteten ihm schwer auf der Seele, und etwas zu essen war schon immer eine seiner bevorzugten Ablenkungsmethoden gewesen. Er fand einen reichhaltigen Vorrat an gewürztem Pökelfleisch und jede Menge Brot, das niemals seine Frische zu verlieren schien, dazu eine riesige Auswahl an Obst, das keinerlei Makel aufwies, obwohl es schon seit einer Weile auf dem Boot sein musste. Er naschte ausgiebig von allem, während er für die anderen das Frühstück zubereitete, und schließlich half ihm das taktile und olfaktorische Ritual, seine düsteren Gedanken ein wenig zu verdrängen. Zufrieden biss er in einen reifen Pfirsich, dessen Saft ihm ins Gesicht spritzte, als ihn plötzlich eine metallisch klingende Stimme aufschreckte. 244 »Setz mich auf.« Er fuhr herum, ohne zu wissen, was er erwarten sollte, doch außer ihm war niemand in der Kombüse. Ein sonderbares, heiß-kaltes Gefühl durchströmte ihn. Die Stimme schien eine eigenartige, überirdische Kraft zu besitzen. »Setz mich auf!« Die Heftigkeit des Befehls schleuderte ihn gegen die Wand. Er wusste jetzt, woher die Stimme kam, und die Erkenntnis erfüllte ihn mit kalter Furcht. Mit zitternden Fingern zog er die Maske des Maponus aus dem Mantel. Sie war heiß, und das Silber funkelte wie Blitze bei einem Sommergewitter. »Setz mich auf.« Crowther warf die Maske zu Boden; sie fiel ihm scheppernd vor die Füße, und die leeren Augen starrten drohend zu ihm auf; als sie gesprochen hatte, hatten sich die Lippen bewegt, als wäre sie lebendig. Crowther packte mit schweißnassen, kribbelnden Händen die Arbeitsplatte. »Ich setze dich nicht auf«, sagte er mit leiser, bebender Stimme. »Das musst du aber. Du hast dich dem unendlichen Blick des Guten Sohnes bereits geöffnet. Eure Verbindung wurde geschmiedet; man kann sie nicht mehr lösen. Du hast von meinen Wundern profitiert, und nun musst du den Preis dafür bezahlen.« »Nein. Ich weiß, was geschieht, wenn ich dich aufsetze.« » Welche Dinge du sehen wirst! Das Wissen, das du dabei erlangst, die Weisheit! Welten werden offen vor dir liegen und du musst nie wieder Angst haben ... vor nichts ...« »Nein!« Crowther versetzte der Maske einen Tritt, sodass sie quer über den Kombüsenboden schlitterte - und 245 gleichzeitig merkte er, dass er sich bereits bückte und die Hände nach ihr ausstreckte. »Ich weiß, was geschehen wird!«, brüllte er. »Am Ende wird von mir nichts mehr übrig sein. Du wirst mich aufsaugen, mich in deinen Wahnsinn hineinziehen ...« »Was tun Sie da?« Matt stand am oberen Treppenabsatz und schaute neugierig zu Crowther hinunter. Der Professor blinzelte benommen, noch das Echo von Maponus' Stimme im Kopf. »Sie haben mit sich selbst geredet«, sagte Matt. »Jetzt sagen Sie mir nicht, dass Sie sich auch ein paar zusätzliche Persönlichkeiten zugelegt haben.« »Hören Sie auf mit dem dummen Zeug«, erwiderte Crowther. Er hob die Maske auf und schob sie mühelos in die verborgene Manteltasche, obwohl das Stück noch immer an seinen Fingern zerrte. »Sie sagen, ich führe Selbstgespräche?« Er versuchte, Matts Bemerkung zu deuten und befand, dass die Maske offenbar nicht laut gesprochen hatte; vielleicht hatte sie nur zu ihm gesprochen, im Kopf. Vielleicht hatte sie überhaupt nicht gesprochen. Vielleicht wurde er verrückt. Vielleicht war das der Preis, den jeder Mensch zahlen musste, der nach Anderswelt reiste. »Hören Sie, wir haben keine Zeit für dumme Spielchen«, sagte Matt. »Caitlin hat wieder einen ihrer Anfälle.« »Und was habe ich damit zu tun?« »Kommen Sie einfach und hören Sie es sich an.« Matt wandte sich um und trat aufs Deck hinaus.
Missmutig folgte ihm der Professor. »Sie sind hier, ich sag's euch!« Crowther sah Caitlin an der Heckreling auf und ab marschieren und mit leerem Blick ins schäumende Kiel246 wasser starren. Ihre Stimme war die der neurotischen Briony. »Ich habe ihr erklärt, dass wir wüssten, dass die Flüsterer uns verfolgen«, sagte Matt, »aber sie können nicht in der Nähe sein, weil sie niemals so schnell den Wald hätten durchqueren können. Und wenn sie doch hier wären, hätten wir es längst bemerkt.« »Diese Persönlichkeit ist ein Konstrukt, mit dem sie ihrer inhärenten Paranoia eine Stimme verleiht«, entgegnete Crowther leise. »Nach allem, was ihr widerfahren ist, glaubt sie, die ganze Welt hätte sich gegen sie verschworen und bald werde etwas ganz Furchtbares geschehen.« »Also meinen Sie, wir sollten sie einfach ignorieren?«, fragte Matt. »Das habe ich nicht gesagt.« »Siehst du, du Trottel.« Caitlin/Briony zeigte Matt einen Vogel. »Diese Konstrukte entstammen den ältesten Hirnregionen«, sagte Crowther. »Wenn Jungs Theorie über das kollektive Unbewusste korrekt ist, haben diese Konstrukte womöglich Zugang zu Informationen, die uns verborgen bleiben.« Matt verdrehte nur die Augen. Crowther ließ sich nicht beirren. »Und in der Quantentheorie sind wir alle miteinander verbunden. Einige behaupten, das Bewusstsein sei nicht an das Hirn gefesselt. Auf der Quantenebene kann es physische Beschränkungen transzendieren, was alle telepathischen Phänomene erklären würde ... und magische auch.« »Sie erzählen dieses Zeug bloß, damit ich mir wie ein Idiot vorkomme, stimmt's?«, sagte Matt. »Ja. Funktioniert es?« »Würdet ihr bitte mit dem albernen Gezänk aufhö247 ren«, sagte Caitlin/Briony. »Ihr solltet lieber auf mich hören, denn sonst ist alles vorbei.« Crowther trat an die Reling und blickte zu den Bäumen. »Ich kann nichts erkennen, keine Bewegungen, nichts«, erklärte er. Er lauschte. »Und hören kann ich auch nichts.« »Sag ich doch.« Matt schüttelte verdrossen den Kopf. Trotzdem spürten Crowther und Matt etwas. Eine bedrohliche Atmosphäre lag über der Gegend. »Ich glaube, wir sollten abwechselnd Wache halten«, schlug Crowther vor. An einem lauen Frühlingsabend erklomm Mary die letzte Anhöhe und erblickte endlich das Ziel ihrer Reise, das nun in all seiner Pracht vor ihr lag. Der Lange Mann von Wilmington mit seinen beiden Stäben war beinahe sechzig Meter hoch in den Kreidefelsen eingemeißelt. Für diese Aussicht hatte sie eigens den South-Downs-Weg verlassen und war zum Dragon Hill gewandert. Es schien nur angemessen, sich ihrem Ziel auf diesem Weg zu nähern, als Teil des bevorstehenden Rituals. Die Größe des Langen Mannes überraschte sie - auf den Postkarten wirkte er viel kleiner -, und ebenso überraschte sie, dass man die Konturen noch gestochen scharf erkannte. Sie nahm an, dass die Einheimischen das Relief in Schuss gehalten hatten, so wie es ihre Vorfahren hunderte von Jahren getan hatten. War es für sie mehr gewesen als bloß ein Hügelbild? Etwa ein Zeichen an die Götter? Oder ein Hinweis auf die Anwesenheit der Götter auf Erden? Sie eilte den Hang hinunter zum Windover Hill, das melodische Vogelzwitschern in den Ohren, den englischen Landduft in der Nase. So hatte sie sich England immer vorgestellt - als liebliche Frühlingslandschaft, 248 die jedes Jahr kurz vor dem Sommer von einer mystischen Kraft erfüllt zu sein schien. Nur eines trübte ihre Freude: ihre Sorge um Caitlin. In den vielen Tagen, seit Mary aufgebrochen war, könnte der jungen Ärztin alles Mögliche zugestoßen sein. Vielleicht war der lange, mühselige Marsch vergebens, vielleicht hatten die dunklen Kräfte, die die Seuche über das Land gebracht hatten, Caitlin längst umgebracht. Mary blieb nichts anderes übrig, als inständig das Beste zu hoffen und darauf zu vertrauen, dass das Universum die Dinge schon richten würde. Schließlich fand sie eine Stelle, die die richtigen Schwingungen für ihr Vorhaben hatte. Sie hatte freie Sicht auf das Bildnis im Kreidefelsen und meinte gar, bereits die Rufe des Langen Mannes zu vernehmen. Man hatte ihn mit größter Kunstfertigkeit in den Fels gemeißelt. Von ganz unten betrachtet, waren die Proportionen so angelegt, dass es schien, als würde die Figur aufrecht stehen. Von ihrem Aussichtspunkt hingegen erkannte sie noch etwas anderes. Der Lange Mann stützte sich nicht auf zwei Stäbe, sondern hielt ein Tor offen. Wo führte es hin? Sie glaubte die Antwort zu kennen. Sie nahm alles aus der Tasche, was sie für diesen Moment mitgebracht hatte - das kleine Paket mit Kräutern, die Reibschale und den Stößel und die Fettcreme, die als Grundlage für die Kräutersalbe dienen würde. Den Besen hatte sie nicht mitgenommen - er war einfach zu unhandlich für den langen Marsch -, doch sie hatte sich einen anderen rituellen Applikator aus Seifenstein zurechtgemeißelt. Sie zog sich aus und genoss kurz die Sonne auf der nackten Haut. Der Wind ließ ihre Brustwarzen erigieren, und im Bauch spürte sie das vertraute sexuelle Kribbeln, das dem Ritual stets vorausging.
249 Während sie die Kräutersalbe zusammenrührte, murmelte sie magische Worte und vollführte die entsprechenden Gesten, und als die Sonne schließlich zum Horizont herabsank, war sie fertig. Sie trug die Salbe auf den Applikator auf und legte sich in Blickrichtung des Langen Mannes mit gespreizten Beinen hin. Durch die sexuelle Erregung bereits feucht geworden, konnte sie sich den Applikator mühelos einführen. Ein elektrisches Kribbeln durchströmte ihren Bauch. Vor langer, langer Zeit, als die Alte Religion noch die einzige Religion war, hatten ihre Schwestern es genauso gemacht. Dies war der wirkliche Nachtflug, der wahre Ritt auf dem Besenstiel, denn Sexualität und Spiritualität waren als Teil der Anbetung des Lebens immer untrennbar miteinander verbunden gewesen. Die psychoaktiven Elemente der Salbe gelangten durch die Schleimhaut ihrer Vagina in die Blutbahn, ließen ihre Klitoris anschwellen und strömten zum Hirn hinauf, wo sie die richtigen Schalter umlegten und Türen zu geheimen Räumen aufstießen. Und dann stürzte sie ins Dunkel hinab, tiefer und tiefer, bis sie ihren Körper verließ und sich plötzlich weit oben am Himmel wieder fand und ihr vor ehrfürchtigem Staunen fast schwindlig wurde. Weit unten sah sie ihren entblößten Körper liegen, der erschreckend zerbrechlich wirkte. Sie stieg weiter in die Höhe, bis die Landschaft eine einzige grüne Masse war, aus der allein der Lange Mann im grellen Weiß des Kreidefelsens heraus stach. Und dann sah sie, dass sie nicht allein war. Überall am Dragon Hill wimmelte es von geisterhaften Gestalten, die wie Nebelschleier schimmerten und neugierig zu ihr aufblickten. Mary flog herunter - sie fragte sich, ob sie sich in Gefahr begab - und fühlte sich spürbar hingezo250 gen zu einer ganz bestimmten Gestalt: einem groß gewachsenen, imposanten Mann mit langem Haar, markantem Gesicht und hohen Wangenknochen. »Wir grüßen dich, Schwester!« Sie hörte ihn reden, obwohl seine Lippen sich nicht bewegten. »Wer seid ihr?«, fragte Mary. Seit dem Untergang hatte sie viele merkwürdige Dinge erlebt, aber so etwas wie diese Wesen war ihr noch nicht untergekommen. »Wir sind alte Seelen. Hüter und Führer. Wir bewegen uns entlang der Kraftlinien des Blauen Feuers, helfen Sterblichen, die unsere Unterstützung benötigen, und bieten denjenigen, die Antworten auf spirituelle Fragen suchen, unsere Weisheit an. Das Netzwerk der Kraftlinien hat jahrhundertelang brachgelegen, weil die Menschen ihren Glauben verloren haben, und deshalb war unser Wirken sehr eingeschränkt. Nun aber ist das Netzwerk wieder aktiv, und wir können endlich unserer Bestimmung nachkommen. Und in Zeiten wie diesen ist unsere Hilfe wichtiger denn je, denn große Ereignisse bahnen sich an, und die Sterblichen stehen vor dem großen Schritt ins Unbekannte. Wir sind die Elysium, und ich bin Sharish.« Mary fragte sich, ob diese Wesen der Ursprung des Engelsmythos waren, denn sie hatten in der Tat etwas Engelhaftes, allerdings mehr in ihrem Gebaren denn in ihrem Aussehen. Sie schienen einen schwachen blauen Lichtschein zu verströmen, doch ihre Züge waren alles andere als gütig; vielmehr haftete ihnen etwas an, das Mary eine Heidenangst einjagte. »Mein Name ist Mary«, sagte sie. »Seid ihr hier, um mir zu helfen oder um mich aufzuhalten?« »Wir sind Führer, Helfer. Wir greifen nicht ein, ganz gleich, welchen Weg du einschlägst.« »Ich möchte eine Bitte an die Höheren Mächte rich251 ten«, sagte Mary. »Ich bin in großer Sorge um eine Freundin, die sich in eine sehr gefährliche Situation begeben hat.« Sharishs durchdringender Blick schien sie zu durchbohren. »Dein Wunsch, ihr zu helfen, ehrt dich, aber manchmal reicht ein Wunsch nicht aus, und die Dinge müssen so geschehen, wie das Sein es erfordert. Bist du vorbereitet auf das, was du tun musst?« »Ja. Ich werde alles tun, was nötig ist. Könnt ihr mir helfen?« Sharish deutete auf den Langen Mann, und als Mary hinschaute, sah sie, dass den Kreidefelsen und die umliegenden Hügel ein Gitternetz aus blau leuchtenden Kraftlinien durchzog. »Es steht mehr auf dem Spiel, als du ahnst«, sagte Sharish. »Wie meinst du das?« »Die kleinen Dinge sind immer Teil von etwas Größerem. Was wie ein willkürliches, bedeutungsloses Ereignis erscheint, kann in Wahrheit Teil einer komplexen Struktur sein, die man erst erkennt, wenn man aus größerer Entfernung darauf schaut.« »Sagst du mir, dass ich aufpassen soll? Bist du jetzt mein Schutzengel?« Er lächelte, und sofort wurden seine Züge weicher. »Wenn man einen dunklen Raum betritt, ist es gut, jemanden zu haben, der einen ins Licht zurückführt. Deshalb sind wir hier.« Mary blickte zum Langen Mann, dessen Hände an dem symbolischen Tor lagen. »Ich möchte das Tor öffnen«, sagte sie. »Dann wisse, dass du mit etwas sehr Altem und Hohem in Kontakt treten wirst. Er ist größer als alles, was man in Festlande und in Fernlande vorfindet - er ist so252 gar größer als die, die über allem zu stehen glauben. Es gab ihn schon, als dieser Ort erschaffen wurde, und wenn
diese Welt endet, wird er sie überdauern.« »Sprichst du von Gott?«, fragte Mary. »Dem Höchsten, dem Einen?« »Es gibt immer einen Höheren.« Sharish trat an ihre Seite, und Mary spürte, wie eine merkwürdige Vorfreude jede Faser ihres Wesens kribbeln ließ. »Frag ihn, was du wissen möchtest, ersuche ihn um Hilfe, aber sei dir bewusst, dass du selbst handeln musst, und dabei könnten dir Fehler unterlaufen.« »Das würde mich nicht überraschen.« »Möchtest du erfahren, was wirklich auf dem Spiel steht?« Sein Blick verriet, dass sie sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen sollte. Sie nickte, und er deutete zum Hindover Hill, der direkt hinter dem Windover Hill mit dem Langen Mann aufragte. »Einst hat in dem Hügel seine Gefährtin - die Göttin - gewohnt. Die beiden Tore bildeten den Zugang zu den Kräften, die das gesamte Sein erfüllen. Sie war die Nacht seines Tages, der Mond seiner Sonne. Unter der fehlgeleiteten Herrschaft der Sterblichen ist vieles zerstört worden. Einiges wurde in letzter Zeit repariert, aber das Tor nicht. Die Göttin ist für ihn verloren, und er trauert um sie.« »Möchtest du, dass ich sie finde?« »Sie wird zurückkehren, wenn man sie ruft. Aber der Ruf muss laut und deutlich sein.« Seine geisterhafte Hand berührte sie, und sie zuckte zusammen. »Vier Millionen Frauen sind in deiner Welt gestorben, auf dem Scheiterhaufen verbrannt oder gehängt von ängstlichen Menschen, die fürchteten, in den Frauen könnte sich die Macht der Göttin manifestieren.« Es war erschreckend, seinen kalten Zorn zu spüren. Mary wusste, wovon er sprach - von der Hexenjagd, die 253 religiöse Fanatiker während der Gegenreformation veranstaltet hatten. »Und ich wäre eine dieser Frauen gewesen, wenn ich damals gelebt hätte«, sagte sie. »Und deshalb bist du hier, ganz gleich, was du denken magst. Einige Menschen wollen die Rückkehr der Göttin verhindern - sie genießen ihre Herrschaft und ihre Kriege, ihr Geld, ihre Wissenschaften und ihre Logik. Angsterfüllte Menschen haben die Göttin vertrieben, aber in der Welt muss ein Gleichgewicht herrschen, wenn die Sterblichen die nächste Stufe erklimmen sollen.« »Mir ist noch nicht klar, was ich eigentlich tun soll.« »Man wird dich anleiten. Die Zeiten sind im Wandel. Du kennst diese Worte: >Aus der Stadt im Walde von Canute wird eine junge Maid erscheinen, um ein Heilmittel zu finden. Sobald ihr dieses Kunststück gelungen ist, wird sie die vergifteten Brunnen mit dem Hauch ihres Atems trockenlegen. Danach wird sie, nachdem sie sich mit dem heilsamen Trunk gestärkt hat, in der rechten Hand den Stab des Caledon halten und mit der linken auf die Festung London deuten.<« Mary erinnerte sich. »Ja, die Passage stammt aus Merlins Prophezeiungen. Ich habe sie gelesen.« Sie hielt nachdenklich inne. »Sagst du, dass sich bei dieser Sache alles nur um Frauen dreht?« »Englands Tore sind geschlossen. Sie müssen geöffnet werden. Behalte das im Kopf, wenn du deine Aufgabe angehst.« Er trat zurück, und Mary wurde klar, dass es so weit war. Sie hatte ein kleines Ritual vorbereitet, um das Tor zu öffnen, aber nun sah sie, dass es nicht nötig sein würde. Einige Angehörige der Elysium hatten sich am Dragon Hill an einer der blauen Kraftlinien versammelt, die nun pulsierte und hell aufleuchtete und mit einem Mal auf den Langen Mann zuschoss. Zuerst hielt Mary es für 254 eine optische Täuschung, aber die Darstellung im Fels wurde lebendig; der Lange Mann schob das Tor auf, und ein saphirfarbenes Licht strömte heraus. »Das Tor ist offen«, sagte Sharish. »Ich mag sie nicht.« Mahalia saß neben Jack, der den Arm um sie gelegt hatte, und beobachtete Caitlin missmutig. Carlton blickte mit großen Hundeaugen zu der Ärztin auf. »Warum?« Jack war überrascht von Mahalias abfälligem Tonfall. »Sie ist manipulativ. Sie ist verrückt, und man kann ihr nicht vertrauen.« Jack blickte zu Caitlin hinüber, als versuchte er, eine Bestätigung für Mahalias Bemerkung zu finden. »Ich verstehe nicht, was du meinst.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn du dein ganzes Leben hier verbracht und nie einen anderen Menschen gesehen hättest, würdest du nicht so leichtfertig über andere urteilen.« Mahalia setzte eine versöhnliche Miene auf. »Tut mir leid. Denke bitte nicht schlecht von mir. Ich kann manchmal eine ziemlich blöde Zicke sein.« Er verstärkte seine Umarmung. »Ich könnte gar nicht schlecht von dir denken.« In seinen Muskeln war eine Spannung, die sie überraschte. Im nächsten Moment manifestierte es sich in seiner Erklärung: »Ich mag dich.« Sie schaute ihm in die glänzenden Augen. »Ich mag dich auch.« »Du verstehst nicht. Während der ganzen Zeit am Hof des Letzten Wortes hätte ich nie gedacht, jemals einem anderen Menschen nahe zu kommen, jemals ...«Er hob die Hand und strich ihr mit den Fingerspitzen zärtlich übers Gesicht, als beginge er eine schreckliche Indiskretion. Dann zog er die Hand zurück, als hätte er sich verbrannt. »Und ich hätte mir nie träumen lassen, dass der 255 erste Mensch, dem ich nahe komme, jemand wie du wäre. Du trägst so viel Gutes in deinem Herzen. Du machst dir viele Gedanken ... und ... du hast Angst davor, dass die Menschen dir wehtun ... emotional ... deshalb tust du so, als wärst du jemand anders.«
Mahalia war verblüfft. »Siehst du mich wirklich so?« »Man hat mir am Hof des Letzten Wortes vieles beigebracht. Ich kann dir direkt ins Herz schauen. Du bist ein guter Mensch, Mahalia.« Seine Worte überwältigten sie. Sie wandte ihm das Gesicht zu, lud ihn zu einem Kuss ein. Er war genauso unschuldig wie sie, wusste nicht, was er tun sollte, doch ihre Absicht und ihr Begehren waren eindeutig. Irgendwie fanden sich ihre Lippen, zögerlich und verlegen, aber die Reinheit ihrer Empfindungen verdrängte alles andere. Mahalia, die noch nie geküsst worden war, spürte, dass mit ihr etwas Tiefgreifendes geschah, wenngleich sie noch nicht so recht begriff, was genau es war. Als sie sich voneinander lösten, hielten sie sich mit klopfenden Herzen in den Armen und versuchten zu begreifen, was gerade geschehen war. Nur einmal erkalteten Mahalias Gedanken, und ihr Blick wanderte zu Caitlin, deren Hand auf Carltons Schulter lag. Die Flussfahrt ging weiter; die Ufer rückten mit jeder zurückgelegten Meile näher heran. Es war ein heißer Tag gewesen, und die Insektenschwärme über dem Wasser waren so lästig gewesen, dass die Gefährten die meiste Zeit unter Deck verbracht hatten. Sie hatten einen immer stärker werdenden Fäulnisgeruch bemerkt, der wegen der Hitze besonders unangenehm und zuweilen so intensiv war, dass sie sich Mund und Nase zuhalten mussten. Kurz vor Sonnenuntergang trafen sie auf ein flussab256 wärts fahrendes Boot. Mit seinem überirdischen Sehvermögen sah Triathus es, lange bevor die anderen überhaupt ahnten, dass es da war. »Gefahr ist im Verzug«, erklärte er. »Ein Boot kommt uns entgegen. Es trägt das Siegel des Hofes der Schimmernden Hoffnung.« Matt stand am Bug und starrte in die Ferne. »Wie zum Henker kannst du das nur erkennen?« »Sind sie der Feind?«, fragte Caitlin. »Fünf Höfe lehnen den Aufstieg der Zerbrechlichen Geschöpfe strikt ab. Fünf andere sind dafür. Die zehn übrigen sind unentschlossen. Bisher wurde das Gleichgewicht unter großen Spannungen gehalten, aber unsere Seite glaubt, dass Angriffe der anderen Seite ... des Feindes ... ihnen neue Verbündete zutreiben könnten.« »Also, dann läuft ja wohl alles schief, was?« Crowther kam mit einem Wasserkanister an Deck. »Ein Bürgerkrieg unter Göttern.« »Sollen sie doch machen, was sie wollen«, sagte Jack. »Wir brauchen sie nicht. Wir sollten einfach das Heilmittel finden und in unsere Welt zurückkehren.« »So ignorant dürfen wir nicht sein.« Caitlin versuchte das Boot zu erkennen, aber auf dem Wasser spiegelte sich zu sehr das Sonnenlicht. »Früher oder später werden wir uns mit den Folgen dieser Auseinandersetzung befassen müssen ... sie werden uns nicht in Ruhe lassen, egal wer gewinnt.« »Werden sie uns angreifen?« Matt nahm seinen Bogen, der an der Reling gelehnt hatte. »Wenn sie mich sehen, dann ja«, antwortete Triathus. »Dann verstecken wir dich unter Deck«, sagte Caitlin. »Und hoffen, dass sie uns in Ruhe lassen.« »Glauben Sie etwa, die haben Angst vor uns?«, höhnte Crowther. 257 »Dazu hätten sie allen Grund.« Mahalia stand an der Reling, umfasste diese mit einer Hand und hielt in der anderen das grausam aussehende Fomorii-Schwert. »Mahalia hat Recht«, sagte Caitlin. »Wir können jetzt nicht einfach aufgeben. Wir haben etwas, wofür wir kämpfen - die Kerle auf dem Boot nicht.« »Was für eine wundervolle Rede«, erwiderte Crowther. »Denen schlottern vor Angst bestimmt die Knie.« »Niemand nimmt mich jemals wieder gefangen«, sagte Jack, obwohl die Furcht in seiner Stimme unüberhörbar war. »Vergesst nicht«, sagte Triathus, »sie sehen zwar anders aus, aber es sind trotzdem Angehörige des Goldenen Volkes. Man kann sie nicht töten.« »Das werden wir ja sehen«, sagte Caitlin. »Und jetzt geh unter Deck.« Triathus zögerte erst, doch dann folgte er ihrer Aufforderung. »Sie können auch runtergehen«, sagte sie zu Crowther. »Ich kann genauso gut hier oben sterben wie unten.« Seine schweißnassen Hände glitten in den Mantel, dann zog er sie plötzlich wieder hervor. »Ich besorge mir eine Waffe. Ich erfülle meinen Teil, keine Sorge.« »Danke«, sagte Caitlin. Crowther räusperte sich, dann ging er auf die Suche nach etwas, das er als Waffe benutzen konnte. Sie versammelten sich mit ihren Waffen auf der Backbordseite an der Reling; sie wussten, dass sie nicht fliehen konnten. Schließlich kam das Boot aus der tief stehenden Sonne herausgefahren; das Segel trug ein stilisiertes Stern-Emblem. Sechs Männer standen an Deck; sie waren noch kleiner als die kleinwüchsigen Danann 258 am Hof der Einträchtigen Seelen. Sie hatten dunkle Gesichter und dickes schwarzes Haar, trugen Leder- und Stahl-Monturen und waren mit grausam aussehenden Kurzsäbeln bewaffnet. Als das Boot näher kam, konnten die Gefährten ihre kalt blitzenden Augen erkennen.
Einer der Männer trug ein rotes Kopftuch, das ihn als den Anführer auswies. Als das Boot noch zehn Meter entfernt war, lief er zum Bug und schaute listig zu ihnen herüber. »Hallo, Zerbrechliche Geschöpfe!«, rief er. »Wer hat bei euch das Sagen?« Caitlin trat vor, den Bogen in der Hand. »Ich.« Auf seinem Gesicht zeigte sich Verblüffung, dann Beklommenheit, während er sie musterte. »Eine Schwester der Drachen? Hier in Fernlande? Was habt ihr auf dem Endlosen Fluss zu suchen?« »Wir suchen ein Mittel gegen eine Seuche, die in unserer Welt wütet. Wir hoffen, sie flussaufwärts zu finden. « »Flussaufwärts? Wisst ihr nicht, was euch dort erwartet?« Der Anführer lachte, dann blickte er zu seinen Männern zurück, die in das Lachen einstimmten. »Wir haben keine Angst«, sagte Caitlin trotzig. Da lachten die Männer noch mehr. Aber als das Lachen verklang, bemerkte Caitlin, dass die Danann plötzlich bedrohlicher wirkten; sie erkannte es an ihren Mienen und an der Art, wie sie die Säbelgriffe umfassten und an die Reling herantraten. Das Boot schipperte ungebeten auf die Sonnenjäger zu. »Es war nett, euch kennen gelernt zu haben«, sagte Caitlin. Sie schaute zu Matt, der das Geschehen aufmerksam verfolgte. Ohne viel Aufhebens legte er einen Pfeil an die Sehne. »Aber wir müssen jetzt weiterfahren. « »Bleib doch noch eine Weile, Schwester der Drachen. 259 Lass uns ein bisschen plaudern.« Das Boot kam immer näher. »Wir haben so selten Gelegenheit, mit Zerbrechlichen Geschöpfen zu reden. Erzähl uns von Festlande. Wir vermissen unsere alte Heimat.« Einer der Männer im hinteren Teil des Bootes hob verstohlen ein Messer, schien es jeden Moment werfen zu wollen. Aber da zischte auch schon Matts Pfeil durch die Luft und bohrte sich in die Stirn des kleinwüchsigen Danann. Seine Kameraden blickten schockiert. »Auf sie!«, brüllte der Anführer. Ein Messer bohrte sich neben Caitlins Kopf in den Mast. Das Boot nahm Fahrt auf. Caitlin jagte dem Anführer einen Pfeil in die Kehle. Aus der Wunde floss kein Blut. Mit einer für sie überraschenden Schnelligkeit legte sie den nächsten Pfeil an und schoss erneut. Matt tat es ihr gleich, während Mahalia Obszönitäten rief und drohend das Schwert hob. Caitlin begriff nicht, was geschah. Ihr Körper schien wie von selbst zu agieren; ihre Hände griffen rasend schnell nach den Pfeilen und schössen einen nach dem anderen ab, als wäre sie ein erfahrener Bogenschütze; ein Teil von ihr registrierte dies mit distanzierter Verblüffung. Die Pfeile durchsiebten die kleinwüchsigen Männer, doch diese blieben stehen wie lebendige Nadelkissen. »Triathus hat Recht - wir können sie nicht töten!«, rief Matt. Mit wutverzerrter Miene brach der Anführer die aus ihm herausragenden Pfeile ab. Die aus seinem Mund kommenden Worte waren unverständlich, klangen aber alles andere als freundlich. Als das Boot nur noch zwei Meter von der Sonnenjäger entfernt war, sprangen die Danann herüber. Caitlin wich zurück und wünschte, sie hätte ein Schwert. Doch Mahalia sprang vor sie und schlug mit ihrer Fomorii-Klinge wie von Sinnen um 260 sich. Einem der Danann riss sie das Gesicht auf, einen anderen stieß sie über die Reling. Sogar Crowther wirbelte voller Elan mit seinem Stab herum. Er rammte ihn dem Anführer in den Bauch und versuchte ihn über Bord zu stoßen. Aber es wurde rasch deutlich, dass die Angreifer die Gefährten überwältigen würden. Obwohl von zahlreichen blutlosen Verletzungen gezeichnet, konnte ihnen niemand etwas anhaben. Sie waren eine unaufhaltsame Welle ungestümer Gewalt. Einer ihrer Säbel schlitzte Matt den Unterarm auf. Crowther ging zu Boden, und der Angreifer stürzte sich auf ihn und zielte mit der Säbelspitze auf die Kehle des Professors. Caitlin rannte auf die Steuerbordseite; ihre Gedanken überschlugen sich. Ihre einzige Chance war, dass Triathus die Sonnenjäger mit voller Wucht ans Ufer fuhr und der Aufprall die Angreifer ablenken würde, sodass sie — Caitlin und die anderen - in dem Durcheinander in den Wald fliehen konnten. Aber bevor sie zu Triathus unter Deck eilen konnte, ~och sie geschmolzenes Metall und nahm am Rand ihres Blickfelds ein intensives, weiß glühendes Licht wahr. Sie fuhr herum und sah Jack völlig aufgelöst an der Reling stehen; er raufte sich die Haare, und Tränen liefen ihm übers Gesicht. Das glühende Licht, das sie bemerkt hatte, war in seinem Bauch. Es sah aus, als schaute man in einen offenen Glutofen, in dem ein pulsierendes Feuer loderte. Er heulte vor körperlichen oder psychischen Schmerzen auf, als das Licht explosionsartig aus ihm herausschoss. Es traf nacheinander jeden der kleinwüchsigen Angreifer und schleuderte sie in hohem Bogen über die Reling. Dann verlangsamte es, ballte sich zu einem glühenden Klumpen zusammen und schwebte einen Moment lang in der Luft, bevor es zum zweiten Angriff an261 setzte. Der Lichtball krachte in das Boot der Danann und verwandelte es in Brennholz. Und genauso schnell, wie das Licht herausgeschossen war, sauste es zurück in Jacks Bauch und erlosch. Jack sank schluchzend auf die Knie. Mahalia eilte erschrocken zu ihm, doch er stieß sie fort. Er war völlig erschöpft. Triathus kam von unten heraufgeeilt, während die anderen benommen aufstanden und zu verstehen versuchten, was geschehen war. Die Überreste des Danann-Bootes versanken in der Strömung.
Crowther, der seltsam aufgekratzt wirkte, taumelte, nach Luft japsend, zur Reling. »Wenn sie nicht sterben können, müssten sie jeden Moment auftauchen. Wir sollten schleunigst verschwinden.« Triathus nahm seinen Posten am Bug ein, und die Sonnenjäger folgte seinem stummen Befehl und setzte sich in Bewegung. Das Wasser hinter ihnen blieb ruhig. »Sie kommen nicht«, sagte Crowther. Er wandte sich zu Jack um. »Was hast du mit ihnen angestellt?« Als sie sich sicher waren, dass die Danann nicht mehr auftauchen würden, versammelten sich Caitlin, Matt und Crowther um Jack, der, den Kopf zwischen die Knie gepresst, auf den Decksplanken kauerte. »Lasst ihn in Ruhe«, sagte Mahalia. »Seht ihr nicht, dass es ihm schlecht geht?« Ihr selbst ging es nicht viel besser, doch sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. »Was ist geschehen, Jack?«, fragte Caitlin sanft. Jack blickte aus verquollenen Augen zu ihr auf. »Das haben die mir angetan ... am Hof des Letzten Wortes.« »Was haben sie dir angetan?«, fragte Matt. »Sie haben mich zerlegt und wieder zusammenge262 setzt, um herauszufinden, wie mein Körper funktioniert. Das machen sie mit allen Menschen.« Jack schluchzte die Worte heraus. »Aber dabei haben sie es nicht belassen. Sie haben mich in eine Waffe verwandelt. Sie haben mir etwas eingepflanzt. Nicht im körperlichen Sinne ... nein, so nicht ... sie haben meinen Geist an etwas angeschlossen.« »Weißt du, was es ist?«, fragte Crowther ernst. »Der Bannfluch.« Jack senkte wieder den Kopf. »Was soll das sein?«, fragte Mahalia beklommen. »Der Bannfluch ist die ultimative Waffe«, erklärte Crowther. Er legte Jack eine Hand auf die Schulter, und dieser Akt eines normalerweise so reservierten Menschen unterstrich den Ernst seiner Worte. »Was die Atombombe für uns ist, ist der Bannfluch für die Götter. Er kann die ganze Realität vernichten.« »Und wieso haben sie diesen ... Jungen damit verbunden?«, fragte Matt. »Ich bin eine Geheimwaffe«, erwiderte Jack tonlos. »Weil dich niemand verdächtigen würde, kannst du dich tief hinter die feindlichen Linien begeben«, sagte Matt. »Und dann lassen sie dich ... detonieren.« »Das reicht.« Mahalia sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. »Wir müssen jetzt nicht weiter darauf herumreiten.« »Gegen wen wollen sie diesen Bannfluch einsetzen?«, fragte Caitlin. »Etwa gegen ihre eigenen Leute?« »Das glaube ich nicht«, erwiderte Jack. »Er ist für einen künftigen Einsatz gedacht, gegen eine besondere Bedrohung, als letztes Mittel ...« »Es ist eine Weltuntergangsbombe«, sagte Crowther, »die das gesamte Sein auslöscht, denn falls man die Tuatha De Danann jemals besiegen sollte, sollen auch alle anderen Lebewesen nicht weiterexistieren.« 263 Matt schaute zu den Wrackresten zurück. »Das war gar nicht so schlecht.« »Ich habe nur ein kleines bisschen von der Kraft eingesetzt«, sagte Jack. »Nur ein ganz, ganz kleines bisschen. Eigentlich hätte es sie nicht umbringen dürfen. Ich verstehe das nicht. Wo sind die Kerle?« Sie traten achtern an die Reling. Von den Angreifern war nichts zu sehen. Die Sonne war fast hinter den Bäumen versunken, und die Fledermäuse hoben von den Ästen ab und glitten übers Wasser, um die Insekten aus der Luft zu schöpfen. »Irgendetwas stimmt hier nicht«, sagte Crowther. 10 Kleiner Tod »Weil ich den Tod nicht stoppen konnte Stoppte er gnädigerweise für mich. In der Kutsche saßen nur ich Und die Unsterblichkeit.« EMILY DICKINSON Das Mondlicht schimmerte auf dem spiegelglatten Wasser. Die Sonnenjäger lag in der Flussmitte vor Anker und schaukelte sanft hin und her. Ein Stück flussaufwärts begann eine schmale Schlucht mit reißenden Stromschnellen, die so gefährlich waren, dass Triathus die kleine Reisegesellschaft nur am Tage hindurchmanövrieren wollte. Für die erste Wache hatte Caitlin achtern auf einem geschnitzten Holzstuhl Position bezogen. Die nächtliche Ruhe berührte sie nicht, denn sie hatte das eigenartige Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie beobachtete die Umgebung wie ein Falke, blickte von einem Ufer zum anderen, achtete auf jedes Spritzen und Gurgeln im Fluss, auf jede Bewegung in den Bäumen. Unterdessen fragte sie sich, wie in aller Welt ein so guter Bogenschütze aus ihr geworden war. Sie hatte es an der Uni eine Zeit lang praktiziert, ja, aber ihre Reaktion während des Überfalls war die eines Könners gewesen. Sie war sich sicher, dass es etwas mit ihrem Erbe als Schwester der Drachen zu tun hatte, was immer das bedeuten
mochte. Und dann fiel ihr der Sarg ein, den sie 265 im Wald entdeckt hatte. Der Inschrift zufolge ruhte dort ein Bruder der Drachen. Zufall? Oder sollte es eine Warnung an sie sein, was mit den geheimnisvollen Verfechtern des Guten geschah? Ihre Gefährtinnen im Kopf waren keine Hilfe gegen ihre wachsende Furcht. Amy, Briony und Brigid verfielen jedes Mal in ängstliches Schweigen, wenn sie sahen, dass die Frau im Dunkel ein weiteres Stück heraus gekrochen kam. Und was würde erst geschehen, wenn sie sich vollends zeigte? Bevor Caitlin weiter darüber nachdenken konnte, schnellte von hinten ein Arm um ihre Brust, und ein weiterer legte sich um ihre Schultern. Ein Messer befand sich an ihrer Kehle. Sie versuchte, den Angreifer fortzustoßen, aber der verstärkte Druck der Klinge stoppte ihre Gegenwehr. »Ich hasse Sie, Sie Miststück. Ich steche Sie ab.« Es war Mahalia. »Ich bin nicht dein Feind«, sagte Caitlin. »Ich weiß gar nicht, warum du ...« Der Schmerz an der Kehle wurde stärker, und Blut floss ihr aufs Schlüsselbein. »Ich habe gesehen, was Sie tun, wie Sie alle manipulieren und versuchen, Carlton auf Ihre Seite zu ziehen. Keiner tut mir so was an. Keiner!« Caitlin spürte das feine Spiel von Mahalias Armmuskeln und wusste in dem Moment, dass das Mädchen tatsächlich beabsichtigte, seine mörderische Drohung wahrzumachen. Die Erkenntnis traf sie wie ein heftiger Schlag. Trotz allem, was sie bisher von ihr gesehen hatte, hätte Caitlin nie gedacht, dass die Jugendliche einem ihrer Gefährten wirklich etwas antun würde. Als Mahalia zustechen wollte, stieß Caitlin ihr den Hinterkopf ins Gesicht. Mahalia schrie auf und ließ das Messer fallen. 266 Der Kopfstoß hatte Caitlin aus dem Gleichgewicht gebracht; sie konnte die schwungvolle Bewegung nicht mehr stoppen, kippte über die Reling und fiel ins Wasser. Die Strömung war an dieser Stelle besonders stark, und Caitlin wurde augenblicklich in die Tiefe gezogen, bevor sie Atem holen oder um Hilfe rufen konnte. Das Adrenalin und der Schock über das eisige Wasser verpassten ihr einen gewaltigen Energieschub. Sie kämpfte sich an die Wasseroberfläche und füllte schnell ihre Lunge, bevor sie erneut hinabgezogen wurde. Diesmal jedoch sah sie etwas, das alles andere bedeutungslos werden ließ: Farben, unzählige farbige Flächen, deutlich sichtbar im hellen Mondlicht, das auf den schilfigen Flussgrund hinabschien. Die Strömung trug sie ein gutes Stück von der Sonnenjäger fort, und ihr ging erneut die Luft aus. Mit viel Mühe schwamm sie zur Oberfläche, nahm ein paar hastige Atemzüge und tauchte dann wieder unter. Sie war sich nicht ganz sicher; sie musste sich die Farben noch einmal ansehen. Nach einigen Schwimmzügen durch die geisterhafte Unterwasserwelt entdeckte sie die farbigen Flächen wieder: Sie trieben träge durch die hin und her wogenden Flussgräser, wie ins Wasser gegossene Ölfarbkleckse. Sie schwamm ihnen ein Stück entgegen. Die Farben unterschieden sich nicht, es war nur eine: Purpur. Ihr Herz begann wild zu klopfen. In ihrem Kopf erwachte Amy zum Leben, und ihre quengelnde Fragerei -»Was ist das? Was ist das?« - schlug allmählich in furchtvolles Gewimmer um. Verzweifelt versuchte Caitlin, das kleine Mädchen stillzuhalten. Sie durfte nicht zulassen, dass sie sich in Amy verwandelte. Nicht jetzt, nicht hier. Das Kind würde in Panik geraten, und sie würden ertrinken. Selbst wenn sie den Fluss überlebte, 267 durfte bei dem, was bevorstand, Amy nicht am Ruder sein. Sie hätte keine Chance. Caitlin traute ihren Augen noch immer nicht ganz und schwamm weiter, hoffte, sich zu täuschen. Allmählich schälten sich verschwommene graue Gestalten wie Gespenster aus der finsteren Flussströmung heraus. Die Flüsterer kamen unter Wasser auf dem Flussbett heranmarschiert; ihre Zahl war deutlich gewachsen durch die unzähligen Opfer, die unterwegs ihrem verderblichen Einfluss anheim gefallen waren. Sie rückten auf der Breite eines Fußballfelds heran, und dahinter folgten unzählige weitere Angreifer. Alle waren verstümmelt und entstellt, und aus ihren Augen strömte das purpurne Licht. Zuvorderst marschierten die kleinwüchsigen Danann, die die Sonnenjäger geentert hatten, und in der Mitte erkannte Caitlin die Anführer auf ihren echsenhaften Rössern. Die Lautlosigkeit, mit der die Flüsterer-Armee heranrückte, war gespenstisch, aber dann vernahm Caitlin doch das unablässige Geflüster, das durchs Wasser heranschwebte und die Botschaft von Verzweiflung, Schmerz und Tod verbreitete. Sie sahen Caitlin, reagierten aber nicht darauf. Sie ließen sich nicht beirren; sie wussten, dass sie ihre Beute früher oder später stellen würden. Amy drängte sich in Caitlins Bewusstseinsvordergrund, und das kindliche Entsetzen löste eine kurze Verkrampfung aus, bevor Caitlin das Mädchen zurückdrängte. Nicht jetzt, betete sie, bevor sie im Wasser umdrehte und aufs Ufer zuhielt. Ihre Angst verwandelte sich langsam in Panik; ihre Lunge brannte. Am Ufer trat sie Wasser und brüllte los. Zuerst konnte sie das Boot nicht entdecken, aber dann erkannte sie ein Stück flussaufwärts seine Silhouette; ihren Gefährten 268 blieben noch einige Minuten, bis die Flüsterer-Armee sie erreichen würde. »Wacht auf!«, schrie sie. »Um Himmels willen, wacht auf! Ihr seid in Gefahr!« Amy rüttelte wieder an den
Mauern ihres Gefängnisses, schob und drückte, versuchte in den Vordergrund zu gelangen. An Deck der Sonnenjäger tat sich etwas. Triathus kam nach oben, gefolgt von Matt und Crowther. »Caitlin?«, rief Matt. »Ich bin hier, am Ufer. Fahrt flussaufwärts, schnell! Die Flüsterer sind im Wasser ... sie kommen auf euch zumarschiert!« »Wo steckst du?« »Macht schon!« Erleichtert sah sie, dass das Boot sich in Bewegung setzte. Das purpurne Licht stieg jetzt wie Morgendunst vom Wasser auf. Sie würde sich in den Wald schlagen und dem Boot zwischen den Bäumen hinterherrennen müssen, falls Amy es zuließ. Aber als sie auf die schlammige Uferböschung kletterte, schaute sie kurz zurück und sah, dass die Sonnenjäger auf sie zukam. »Nein!«, schrie sie. »Vergesst mich! Ihr habt keine Zeit!« »Keine Sorge«, rief Matt. »Wir sind sofort bei Ihnen.« Die ersten Flüsterer-Köpfe durchbrachen die Wasseroberfläche, als ein Wesen nach dem anderen nach oben gestiegen kam. Das purpurne Licht war jetzt überall, als hätte jemand hunderte violette Teelichter entzündet und aufs Wasser gesetzt. Das Geflüster erfüllte die Nacht, und sobald Caitlin es vernahm, verkrampfte sich ihr Herz. Das Boot kam auf sie zugefahren. Sahen sie nicht, in welch gefährlicher Lage sie sich befanden? Sie konnte jetzt jeden an Deck deutlich erkennen; alle waren da, außer Mahalia. Wo war sie? 269 Caitlin schwamm dem Boot entgegen, doch die Flüsterer waren bereits zwischen ihr und der Sonnenjäger. Sie kehrte um und watete ans Ufer zurück. Bald musste sie fliehen, sonst würden sie sie schnappen. Ein schrammendes Geräusch zerriss die Dunkelheit, und das Boot geriet schwer ins Trudeln. Die Flüsterer waren unterm Rumpf und versuchten, die Sonnenjäger mit ihren Leibern zum Kentern zu bringen. Andere tauchten auf und schleuderten Speere und Schwerter in den Rumpf, versuchten ihn unterhalb der Wasserlinie zu durchlöchern. »Hört auf damit!«, rief Caitlin/Amy. Die Flüsterer hoben das Boot ein Stück weit aus dem Wasser. An Deck gerieten alle ins Straucheln, und nach einem weiteren Ruck fielen sie ins Wasser; nur Triathus klammerte sich an sein Gefährt. Ein Stück flussaufwärts herrschte plötzlich rege Betriebsamkeit zwischen den Bäumen. Caitlin wusste nicht, was los war, aber es sah so aus, als hätten ihre Gefährten es ans Ufer geschafft. Die Sonnenjäger setzte zurück und riss sich von den Angreifern los. Sie fiel mit einem lauten Platschen ins Wasser zurück und hielt auf die Flussmitte zu; Triathus stand nun wieder am Bug und kontrollierte das Gefährt kraft seines Willens. »Ganz in der Nähe ist der Hof der Singenden Träume.« Seine Stimme schallte kristallklar übers Wasser. »Folgt dem weißen Pfad. Ich treffe euch am anderen Ende der Schlucht, am Gethil Mark, dem Hafen der Tausend Pfade. Fragt am Hof, man wird euch den Weg beschreiben.« Die Sonnenjäger setzte sich in Bewegung und fuhr in die Schlucht. Die Flüsterer machten keine Anstalten, dem Boot zu folgen. »Sie wollen mich!«, schluchzte Caitlin/Amy. Sie 270 stürmte in den Wald, kämpfte sich durchs dichte Unterholz, stolperte im Dunkeln über Büsche und Wurzeln, stieß mit dem Kopf an Baumstämme, prellte sich die Rippen und weinte und weinte und wusste nicht mehr, was sie tat. Das Geflüster war überall, und als sie sich umschaute, schwebten die purpurnen Lichter zwischen den Bäumen, wie Nachtfalter, immer in Bewegung; es waren Hunderte - Hunderte oder mehr. Der Wald wurde immer dichter, und es wurde zunehmend schwerer, sich einen Weg zu bahnen. Das Rauschen des Flusses verklang und wurde vom Knarren der Äste und vom Rascheln des Laubes ersetzt. Tränen brannten ihr in den Augen, während Amys chaotische Panik ihre Gedanken durcheinander wirbelte. Sie erreichte eine Senke, ohne diese im Dunkeln zu sehen. Ihr Fuß blieb an einer Wurzel hängen, und sie stürzte kopfüber den steilen Hang hinunter und riss sich an den Dornenbüschen die Haut auf. Sie landete halb betäubt und atemlos vor Angst in einem Farngestrüpp. Während sie sich mühevoll herauskämpfte, bemerkte sie in der Mitte der Senke eine kleine, kauernde Gestalt. Es war Carlton. Dies war der Augenblick, als Amy sich zurückzog und Caitlin den Vortritt ließ. »Carlton? Ich bin's, Caitlin«, flüsterte sie, während sie zwischen den Büschen auf ihn zuging. Der Junge hatte die Arme um die Knie geschlungen und wirkte zutiefst verängstigt. Caitlin nahm ihn in den Arm. »Hab keine Angst«, sagte sie. »Ich bin bei dir. Ich passe auf dich auf.« Sie hörte nichts von den Flüsterern, wusste aber, dass sie nicht weit entfernt waren. »Wir müssen weiter, Carlton«, wisperte sie. »Triathus sagte, ganz in der Nähe gäbe 271 es einen Hof. Wenn wir ihn erreichen, sind wir in Sicherheit.« Caitlin stand auf, doch Carlton blieb sitzen. »Komm, Kleiner«, drängte sie ihn. »Du bist hier die Hauptperson. Wir müssen auf dich aufpassen.« Carlton ist der Schlüssel, dachte sie. Falls ich sterben muss, um ihn zu retten,
dann ist es eben so. Sie zog ihn auf die Beine, und er ließ es geschehen und blickte ihr dabei so vertrauensvoll ins Gesicht, dass sie innerlich dahinschmolz. Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Keine Sorge — alles wird gut.« Sie rannten und versteckten sich Stunde um Stunde, bis die Schatten grau wurden und das erste Tageslicht durch den dichten Blätterbaldachin fiel. Gelegentlich liefen sie aus Versehen im Kreis und erblickten in der Ferne die flackernden purpurnen Lichter zwischen den Bäumen. Doch meistens liefen sie in die richtige Richtung. Von den anderen sahen sie nichts, doch ab und zu nahmen sie in der Dunkelheit verschwommene Bewegungen wahr. Sie wagten es jedoch nicht, laut zu rufen, da sie keine unerwünschte Aufmerksamkeit erregen wollten. Caitlins Erinnerung an die Gehennis war noch zu frisch. Irgendwann im Morgengrauen erreichten sie mitten im permanenten Halbdunkel des Waldes den mit weißen Steinen gepflasterten Pfad, von dem Triathus gesprochen hatte. Und es war kein gewöhnlicher Pfad, denn sobald Caitlin einen Fuß darauf setzte, hob sich ihre Stimmung und ihre Erschöpfung verflog, als hätte man ihr eine aufputschende Droge injiziert. Zum ersten Mal in dieser Nacht lächelte Carlton und schlang die Arme um sie, was ihre Stimmung noch mehr hob. In der nächsten Stunde kamen sie gut voran, bis Caitlin zu ihrer Linken eine Bewegung bemerkte. Sie fasste 272 Carlton an die Schulter, damit er stehen blieb. »Ich glaube, ich habe gerade Jack gesehen.« Sie spähte zwischen den Stämmen hindurch. Da war jemand, definitiv. Sie ging das Risiko ein und rief Jacks Namen. Es folgte eine kurze Pause, bevor Jacks Stimme erklang. »Caitlin? Wo sind Sie?« Anhand der Richtung, aus der die Stimme kam, schätzte sie seine Position ab und antwortete: »Bleib, wo du bist. Ich komme dich holen.« Sie wandte sich um und kniete vor Carlton nieder, damit sie dem Jungen direkt in die Augen sehen konnte. »Du bleibst hier. Ich bin gleich wieder da. Auf diesem Pfad solltest du in Sicherheit sein. Du darfst ihn auf keinen Fall verlassen. Selbst wenn ich dich rufe. Es könnte jemand anders sein, der meine Stimme nachmacht. Also bleib hier, dann passiert dir nichts«, sagte sie. »Hast du das verstanden, Carlton?« Er nickte. »Okay. Ich gehe jetzt Jack holen.« Sie nahm all ihren Mut zusammen und verschwand zwischen den Bäumen. In der heißen Sommersonne leuchtete das Haus in warmen Braun- und Orangetönen unter einem strahlend blauen Himmel. Der Garten war saftig grün, die Rosen blühten rot und gelb, und der Schatten unterm Apfelbaum wirkte einladend. Alles verströmte das Gefühl behaglicher Trägheit, das nur Kindheitserinnerungen in einem weckten. In der Realität war alles viel grauer gewesen, hier jedoch lag ein Weichzeichner über den Dingen. Mary blieb zögernd vor der blauen Hintertür stehen und rang darum, ihre Position in Raum und Zeit zu finden. Es waren die Sechzigerjahre, sie war Mitte zwanzig und dies ... dies war ihr Zuhause. Als sie über die Schwelle trat, schlugen ihr die vertrauten Gerüche entgegen: gebratener Speck, der leicht 273 angebrannte Geruch der alten Bratpfanne, der frische Duft von Putzmitteln - ihre Mutter leistete wie immer ganze Arbeit. Sie verspürte eine schmerzhafte Wehmut: Wenn sie doch nur zurückkehren könnte! Warum sehnten die Menschen immer die Vergangenheit herbei? Was sagte das über das Leben aus und darüber, was man auf dem Weg vom Kind zum Erwachsenen verlor? Ihrer Mutter, deren Haare schwarz gefärbt waren und dauergewellt im damaligen Hausfrauenstil, blickte auf, den Putzlappen in der Hand, mit dem sie den Küchentresen abwischte. Kip, die Promenadenmischung, die ihr Vater eines Tages aus dem Pub mitgebracht hatte, lag dösend vor dem Herd und wedelte mit dem Schwanz, versunken in einem Hunde-Tagtraum. Im Wohnzimmer hörte Mary das Rascheln der Zeitung, mit deren Lektüre ihr Vater sich nach dem Essen entspannte. Sie wollte ihn so gerne wieder sehen, ein letztes Mal, und sie wusste, dass sie weinen würde, falls es tatsächlich dazu kommen sollte. Ihre Mutter lächelte sie an. »Das ist aber eine Überraschung. « Tausend Gedanken und Emotionen stiegen in ihr auf, so schnell, dass Mary schon glaubte, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen; sie verdrängte alles, weigerte sich, zur Kenntnis zu nehmen, was auf sie einstürzte. Mary erwartete vorwurfsvolle Fragen, stille Enttäuschung; das Leben, für das sie sich entschieden hatte, war nicht das, was man von ihr erwartet hatte. Es war zu wild, zu hedonistisch, ein Bruch mit der Tradition der Arbeiterklasse, bei der es einzig um Fleiß und Arbeit ging. Eltern opferten sich für ihre Kinder auf, die sich wiederum für ihre eigenen Kinder aufopferten, doch Mary hatte das Opfer angenommen und es für ihr persönliches Vergnügen missbraucht, statt sich einen Platz 274 im Leben zu erkämpfen. Aber ihre Mutter begrüßte sie, als wäre sie bloß kurz einkaufen gewesen, statt sich wochenlang herumgetrieben zu haben, ohne auch nur ein einziges Mal Bescheid zu geben. Mary wollte zu ihr hinübereilen, sie in die Arme schließen und ihr sagen, wie leid ihr alles tat, doch sie hatte etwas Dringenderes zu erledigen. »Er ist oben.« Das Lächeln ihrer Mutter wurde traurig. »Ich bin froh, dass du gekommen bist, um ihn noch einmal zu sehen, bevor ... bevor er von uns geht.« Sie verspürte einen Stich. Sie war nicht zurückgekehrt, oder? Sie hatte sogar die Beisetzung verpasst — sie war zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich zu amüsieren, hatte einen Trip eingeworfen, hatte mit irgendeinem Typen Musik gehört und mit ihm die ganze Nacht drogengeschwängerten Unsinn gefaselt. Wie oft war sie so
gedanken- und gefühllos gewesen? Mary nickte traurig, ging zur Treppe und stieg hinauf. Sie erinnerte sich an jedes Knarren, an jede Stufe, über die sie hinwegsteigen musste, wenn sie sich nachts aus dem Haus schlich. Wir versuchen gute Kinder zu sein, strengen uns aber niemals genug an; sind Eltern immer enttäuscht von ihren Sprösslingen? Ihr Großvater saß am Fenster in der Sonne und schaute auf die verlassene Straße hinaus. Er wandte sich um und lächelte ihr zu, genau wie ihre Mutter ohne jede Enttäuschung, ohne jeden Vorwurf; die in Mary aufwallenden Emotionen drohten sie zu überwältigen. Sein schlohweißes Haar schimmerte im Sonnenlicht, seine Augen erstrahlten, als er seine Lieblingsenkelin erblickte. Er hatte nur ein einziges Mal in der Öffentlichkeit geweint, und zwar bei ihrer Geburt. Trotz seiner Gebrechlichkeit sah man ihm nicht an, dass er nur noch eine Woche zu leben hatte. 275 »Hallo, Opa.« Sie wusste nicht, was sie sonst noch sagen sollte, und fürchtete in Tränen auszubrechen. »Hallo, Mary.« Er winkte sie zu sich. Sie setzte sich auf die Bettkante. »Du siehst genauso aus wie er.« »Ich bin dein Großvater ... und gleichzeitig bin ich es nicht.« Er lächelte geheimnisvoll. »Nachdem Oma starb, bist du nie mehr glücklich gewesen. Ich hatte immer das Gefühl, du würdest den Tod herbeisehnen, um wieder mit ihr vereint zu sein.« Sie räusperte sich. »Verzeih, das alles ... es ist so verwirrend.« »Keine Sorge. Das ist doch verständlich, Mädchen. Aber es gibt einen Grund, weshalb du hier bist, so wie es für alles einen Grund gibt.« »Ich bin hier, weil ich Hilfe brauche.« »Ich weiß. Ich werde tun, was ich kann. Dies sind schwere Zeiten.« Er blickte aus dem Fenster. Ein Auto kam auf den Verkehrskreisel zugefahren. »Die Engel ... die Elysium ... sie haben gesagt, man müsse die Göttin zurückrufen.« »Ja, das stimmt. Sonst ist alles verloren.« »Ist es meine Aufgabe? Ist das der Preis für deine Hilfe?« »Nein. Meine Hilfe kostet nichts.« »Ich habe immer gedacht, alles hätte seinen Preis«, sagte Mary verwundert. »Hier nicht. Hier ist alles umsonst.« Sein träges Lächeln erinnerte sie an ihre Kindheit, als das Leben noch unkompliziert war und sie sich wahrscheinlich gemocht hatte. In seiner Gegenwart verspürte sie eine noch größere Sehnsucht nach ihrem echten Großvater, der sich sein ganzes Leben lang für andere abgerackert hatte und immer für sie da gewesen war. 276 »Du gibst mir ein gutes Gefühl«, sagte sie. »Darum geht es hier, Mary. Ihr Menschen seid Gefangene eures Körpers. Ihr habt keine Ahnung, wie die Dinge jenseits eurer fünf Sinne wirklich sind und welche Kräfte sich in euch verbergen. Mit Willenskraft kann man alles bewerkstelligen, was man möchte, Mädchen. Man muss es nur wirklich wollen. Du kennst die wahren Regeln noch nicht. Die, die dir bekannt sind, sind nur dazu da, deine Sicherheit zu gewährleisten, wie die Gitterstäbe an dem Kinderbett, das ich dir gebaut habe, als du ein Baby warst und deine Mutter noch im Krankenhaus lag. Aber du bist extrem wichtig, und eines Tages, der vielleicht früher kommt, als du glaubst, wirst du ausbrechen und erkennen, wie das Universum wirklich ist. Und dann hast du die beste Zeit deines Lebens, das verspreche ich dir.« »Das klingt ja wie ... Magie.« »Richtig. Magie. Genau das ist es. Und wenn es nach mir ginge, stünde sie an oberster Stelle von allem. Eine Weile liefen die Dinge ganz gut für die Menschen, aber dann kamen die falschen Leute ans Ruder. Diejenigen, die nur an Geld und Macht dachten, die alles dafür taten, ohne sich um das große Ganze zu sorgen. Diejenigen, die den Planeten verwüstet haben mit ihren Bohrungen und Rodungen und den ganzen Umweltgiften. Alles nur wegen des schnöden Mammons. Sie sind diejenigen, die die Göttin vertrieben haben.« Mary hörte, wie ihre Mutter unten das Radio einschaltete und ein Lied von Johnny Ray mitsummte. »Aber wird diese Göttin denn jemals zurückkehren? Kann sie das überhaupt?« Er zog eine Bonbontüte aus der Tasche und bot ihr eines an, und als sie das Zellophan auffaltete und sich das Bonbon in den Mund schob, verspürte sie ein so über277 wältigendes Gefühl des Wohlbehagens, dass sie funkelnde Sterne vor Augen sah. »Was ist das für ein Geschmack?«, fragte sie. »Ein Vorgeschmack auf das, was dort draußen liegt -falls du dorthin gelangst.« Er wickelte ein Bonbon aus und lutschte nachdenklich daran. »Ob die Göttin zurückkehren kann? Es liegt an dir, diesen Wandel herbeizuführen ... diesen gewaltigen Wandel. Letztlich werden es wohl ihre Töchter sein, vermute ich. Sie kommen seit einigen Jahren wieder auf die Beine und kehren Seite an Seite mit den Männern an die alten Stätten zurück.« Er beugte sich vor und tätschelte Mary am Knie. »Begreife, Mädchen, du kannst den Wandel herbeiführen.« Mary schauderte. Es war fast so, als hätte er in sie hineingeschaut und die Angst vor ihrer Schwäche und die vielen, vielen Niederlagen gesehen, die sie in ihrem verpfuschten Leben erlitten hatte; war es zu spät, es zu korrigieren? Der Kloß in ihrem Hals war steinhart. »Ich werde es versuchen.«
»Ich weiß.« »Aber ich frage mich, ob ich nicht lieber zu Hause geblieben wäre. Ich weiß nicht, ob ich der Sache gewachsen bin.« »Keiner weiß es. Und die wenigen, die es zu wissen glauben, liegen in der Regel falsch.« »Ich habe eine Freundin, Caitlin Shepherd. Sie ist ein guter Mensch, macht sich aber zu viele Gedanken und vergisst, das Leben zu genießen ...« Sie lächelte verkniffen. »Na ja, wir haben wohl alle unsere Fehler. Jedenfalls möchte ich ihr helfen.« Ihr Großvater nickte wissend und wartete, dass sie weitersprach, doch Mary spürte, dass er bereits vieles von dem wusste, was sie zu sagen hatte. »Sie ist auf der Suche nach einem Mittel gegen eine 278 Seuche, die sich in unserer Welt ausbreitet. Aber es ist keine gewöhnliche Seuche - es ist etwas Magisches. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, man will Caitlin reinlegen ... Ich glaube, es ging von Anfang an nur darum, sie nach Anderswelt zu locken, um sie dort umzubringen. Und ich hatte diese Vision, dass Caitlin sehr, sehr wichtig ist - vielleicht hat sie sogar mit der Rückkehr der Göttin zu tun.« »Sie ist eine Schwester der Drachen«, sagte der alte Mann und hatte mit einem Mal etwas weniger Ähnlichkeit mit ihrem Großvater, wenngleich sie nicht genau benennen konnte, was sich an ihm verändert hatte. »Richtig, Drachen! Das hat mir die Vision gesagt. Und Drachen sind das Symbol für die Erdkraft...« »Welche dieselbe Kraft ist, die auch die Menschen durchströmt - der Geist, der allem innewohnt.« »Drachen, Schlangen, es ist alles symbolisch. Bedenkt man dies, liest sich die Bibel ganz anders - der Garten Eden, St. Michaels Kampf gegen den Drachen, St. Brendans Vertreibung der Schlangen aus Irland ... und Caitlin hat irgendwie mit dieser großen, großen Sache zu tun ...« Die Vorstellung raubte ihr den Atem. »Ich muss sie zurückholen. Ich würde alles für sie tun, um sie wieder in unsere Welt zu holen. Meinst du, das wäre klug?« Sie blickte fragend auf ihren Großvater, doch er schüttelte langsam den Kopf. »In diesem Punkt kann ich dir nicht helfen. Das ist eine der Entscheidungen, die du ganz allein treffen musst.« Mary fuhr sich durch das drahtige graue Haar. »Ich weiß es nicht. Woher sollte ich es denn wissen? Ich vertraue einfach meinem Bauchgefühl ... und ich möchte sie zurückholen.« »Bist du dir sicher?« Blaues Licht schimmerte in seinen Augen. 279 Mary nahm allen Mut zusammen. »Ja. Ich möchte sie zurückholen. Bekommst du das hin?« »Ja. Schon erledigt.« Mary seufzte erleichtert und stand auf. Unten lief »Alone Again Or« von Love im Radio. Ihr Lied - was für ein Zufall, obwohl sie wusste, dass es kein Zufall war. Sie beugte sich herab und küsste ihren Großvater auf die Stirn, todtraurig, weil sie ihn nun verlassen und nie wieder sehen würde; weil sie das Zuhause verlassen würde, in dem sie so lange - vielleicht das einzige Mal in ihrem Leben — wirklich glücklich gewesen war. »Ich danke dir«, flüsterte sie. Aber dann sah sie die Besorgnis in seinen Zügen, und in dem Moment wusste sie, dass sie einen Fehler begangen hatte. »Nein«, flüsterte sie. »Ich nehme den Wunsch zurück.« Aber sie schwebte bereits durchs Haus, mitten durch die elastischen Wände und vernahm aus der Ferne seine Worte: »Wir stehen und fallen mit unseren Entschlüssen, Mary. Das ist das Entscheidende.« Die Bäume in diesem Bereich standen sogar noch dichter beieinander: mächtige Eichen, verdrehte uralte Eiben, dazu überall struppiger Weißdorn. Caitlin zwängte sich zwischen den Stämmen hindurch und stieg vorsichtig über das knorrige Wurzelwerk, das allerorten den Boden bedeckte. Es war so finster, es hätte Nacht sein können. »Jack?« Es war mehr ein Wispern als ein Rufen. Die Flüsterer waren nicht in unmittelbarer Nähe, aber in der Dunkelheit lauerten noch andere Gefahren, und sie wollte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Bewegungen waren keine mehr auszumachen, aber es war möglich, dass Jack, falls er es denn gewesen war, in dem Gewirr aus Bäumen und Ästen an ihr vorbeige280 schlüpft war. Sie blieb stehen und lauschte; das Knacken von zertretenen trockenen Zweigen hallte durch den Wald, doch die Masse der Bäume verzerrte das Geräusch, und deshalb ließ sich nicht sagen, aus welcher Richtung das Geräusch gekommen war. Als sie sich an einem Baum vorbeizwängte, vernahm sie eine kaum hörbare Stimme, die aus den Tiefen des Waldes heran drang; für ihre Ohren klang es wie eine Warnung, doch sie tat es als Einbildung ihres überstrapazierten, reizüberfluteten Geistes ab. Der Wald war wie ein Labyrinth, und allmählich fragte sich Caitlin, ob sie zum weißen Pfad und zu Carlton zurückfinden würde. Vielleicht sollte sie einfach dort warten. Falls die anderen Triathus gehört hatten, würden auch sie versuchen, den Pfad zu finden. Vorsichtig ging sie denselben Weg zurück. Als sie den Pfad schließlich erblickte, war er immer noch ein gutes Stück entfernt. Sie konnte Carlton erkennen, eine winzige, einsame Gestalt, die unruhig auf sie wartete. Sie widerstand dem Impuls, ihm etwas Aufmunterndes zuzurufen. Ganz in der Nähe nahm sie eine verschwommene Bewegung wahr. Ihre Nervenenden kribbelten. Vielleicht war es gar nicht Jack. Vielleicht hatte irgendein anderes Wesen versucht, sie vom sicheren Pfad fortzulocken. Sie
nahm den Bogen vom Rücken. Wieder ein knackender Zweig. Nah oder fern? Verfolgte sie jemand? Wartete er nur auf eine günstige Gelegenheit, sie anzugreifen? Sie duckte sich und eilte geschmeidig zwischen den Bäumen hindurch in Richtung Pfad. Dann spürte sie plötzlich ein sonderbares Kribbeln in den Fingern, das mit einem Gefühl tiefer Wärme in ihre Arme aufstieg. Ihr wurde schwindlig, als hätte sie sich minutenlang im Kreis gedreht. Ein Blitz schoss durch ihr Blickfeld. 281 Sie kämpfte gegen die Orientierungslosigkeit an und versuchte den Angreifer zu lokalisieren, der sich irgendwo in der Nähe verstecken musste. Carlton erschien in der Lücke zwischen zwei Bäumen. Er wirkte erschrocken. Sie musste zu ihm, musste ihn beschützen. Ein weiterer Blitz zuckte durch ihr Blickfeld, und sie fühlte sich, als würde sie zerfasern, als würden die Schnüre, die sie von Kopf bis Fuß zusammenhielten, sich lösen und aufwickeln. Ein unbehagliches Gefühl des Losgelöstseins breitete sich in ihr aus. Es kam ihr vor, als blicke sie durch eine gläserne Blase auf ihre Umgebung. Wo war der andere? Wo steckte er nur? Dann sah sie die Gestalt, die in einiger Entfernung mit tödlicher Absicht zwischen den Bäumen auf den Pfad zuhuschte. Der Angreifer hatte es gar nicht auf sie abgesehen. Caitlin warf sich mit ungestümer Energie nach vorn, rang mit dem Bogen, versuchte einen Pfeil anzulegen. Aber sie agierte viel zu langsam und umständlich, war wie betrunken. Sie spürte, wie ihr die Selbstkontrolle entglitt, und die Gestalt hatte Carlton inzwischen fast erreicht. Der Junge blickte lächelnd in ein Gesicht auf. Caitlin dachte: »Wenn ich nicht diesen komischen Anfall hätte, wäre ich jetzt bei ihm und würde ihn retten. « Sie sprang über einen umgestürzten Baumstamm und versuchte, mit dem Pfeil zu zielen, doch ihre Hände sahen aus, als wären sie aus Wasser, und fühlten sich an wie Licht. Dann fiel sie hin, stand auf und betrachtete die Welt wie durch einen Flaschenboden. Die Gestalt konnte sie nicht erkennen, aber sie sah Carlton, sein Lächeln, seinen plötzlich veränderten Gesichtsausdruck. Und sie dachte: »Nein! Er ist so wichtig! Von ihm hängt alles ab! Er darf nicht...« 282 Dann sah sie das Blitzen der Klinge und das Blut und wie Carlton zusammensackte. »Oh, Gott«, dachte sie. »Ich hätte ihn retten können. Ich hätte ihn retten müssen. Wie Liam ...« Die Gestalt sprang über den zuckenden Leib des Jungen hinweg und war verschwunden; man sah nicht, ob es ein Mann oder eine Frau war, ob alt oder jung, doch im Herzen wusste Caitlin, wer der Täter war, und konnte es nicht begreifen. »Ich hätte ihn retten können.« Ihre letzte Chance auf Erlösung war gestorben. Und dann schienen die Mauern der Welt nach hinten zu kippen, und von allen Seiten umfing sie nur schreckliche Finsternis. 11 Birmingham »Existiert der so genannte >tödliche Bruch<, dieser auffällige dunkle Riss, der sich in der Mitte des Lebens auftut, auch außerhalb der Literatur? Ich dachte immer, nein. Heute denke ich, ja.« DONNA TARTT Vor ihr lagen acht Fahrbahnen aus schmutzigem, aufgebrochenem Teer, überwuchert von Unkraut, Brennnesseln, Disteln und heran gewehtem Müll. Caitlin stand auf dem Mittelstreifen und betrachtete die zwischen hohen Begrenzungsmauern abfallende Schnellstraße und die anderen, über ihrem Kopf hinwegführenden Fahrwege, sodass es ihr vorkam, als blicke sie in einen Tunnel. Und dahinter standen die Wohnhäuser und Bürotürme vor dem Hintergrund des schiefergrauen Himmels, der allmählich dunkel wurde. Vor nicht allzu langer Zeit wäre dichter Verkehr über den Aston Expressway gedonnert, und die Luft wäre erfüllt gewesen vom kakophonischen Lärm der Stadt, vom Dröhnen der Autos, von Musik, lauten Stimmen und dergleichen mehr. Nun aber hörte man nur Vogelgezwitscher und den rauschenden Wind. Ein Fuchs flitzte auf der Suche nach Beute über den Asphalt. Hasen rannten zurück in ihre Erdlöcher unter dem Autobahnknotenpunkt. Auch in Birmingham war das neue Zeitalter angebrochen. Caitlin hätte die Stadt erkannt, aber Caitlin kauerte 284 bibbernd mitten auf dem Eisfeld, des Unterschlupfes und ihrer Gefährtinnen beraubt, ganz allein und bar jeden Mutes. Caitlins körperliche Hülle kannte Birmingham nicht. Sie schlug willkürlich eine Richtung ein und trottete mit leerem Blick über die Schnellstraße ins Stadtzentrum. Die Dunkelheit krallte sich an die hohen Gebäude entlang der New Street, doch ein Stück weiter brannte auf dem Bürgersteig ein Feuer. Der Lichtschein zog Caitlin an wie eine Motte; der dichte, beißende Rauch überdeckte den widerlichen Gestank, der in der Luft hing. Auf dem Weg durch Colmore Circus hatte Caitlin keine Menschenseele gesehen, nun aber huschten zahllose Gestalten mit Tüchern vor den Gesichtern aus den dunklen Hauseingängen. Es waren junge Männer, die ganz offen ihre Messer trugen und sich mit spitzen Schreien und kehligem Geknurre verständigten; irgendwie erinnerten sie Caitlin an die Ratten, die sie in unfassbarer Zahl im Geschäftsbezirk hatte umherhuschen sehen. Sie blieb stehen und starrte ins Feuer, hypnotisiert von den züngelnden Flammen, welche die herausgerissene Einrichtung eines Bekleidungsgeschäfts verzehrten. Ein junges, höchstens neunjähriges Mädchen, ebenfalls mit
einem Tuch vor dem Gesicht, kam herangeeilt und wärmte sich kurz die Hände, bevor es Caitlin einen mörderischen Blick zuwarf und in der Dunkelheit verschwand. »Hey.« Caitlin hörte die Stimme nicht, obwohl das Wort an sie gerichtet war. »Hey!« Diesmal klang es drängender. Ein Mann Ende zwanzig mit kurzem schwarzem Haar und ebenso dunklen Augen trat aus einer Seitenstraße heraus und blickte 285 sich nervös um. Er hatte sich ein rotes Seidentuch vor den Mund gebunden. »Du da. Du solltest nicht hier sein.« »Thackeray, du Idiot! Lass sie in Ruhe. Sie werden jeden Augenblick kommen.« Die andere Stimme kam ebenfalls aus der Seitenstraße. Thackeray zögerte einen Moment, dann trat er fluchend auf Caitlin zu. Er packte sie am Arm, und sie sah ihn verständnislos an. »Was ist los mit dir? Weißt du nicht, dass -« Ihr leerer Blick ließ ihn verstummen. Er wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum, schnippte mit den Fingern. »Thackeray!« »Sie ist weich in der Birne.« »Dann lass sie stehen! Herrgott noch mal, in Zeiten wie diesen hast du nur Weiber im Kopf!« Thackeray musterte Caitlin abschätzend, registrierte die Schönheit ihrer Augen, ihre vollen Lippen, die wohlgeformte Nase und die hohen Wangenknochen, doch es war etwas Tiefgründigeres und Unbestimmbares, das ihn ansprach. Er zog sie an ihrem Arm. »Komm.« Ohne sich zu rühren, starrte Caitlin zurück, blinzelte einmal, zweimal, dreimal. Von dem Platz am Ende der New Street, unweit des Rathauses, drang das leise Brummen von Motorrädern heran. Thackeray fluchte erneut. »Jetzt komm schon!« Er zerrte Caitlin in die Seitenstraße, und nach einigen Schritten lief sie aus eigenem Willen mit. Sobald sie außer Sicht waren, rollten hinter ihnen zehn Motorräder in den orangefarbenen Lichtkreis, den das Feuer warf. Die Fahrer trugen Ledermonturen mit einem aufgesprühten weißen Kreuz, das ein roter Kreis umgab; sie waren bis an die Zähne bewaffnet: Schnell286 feuergewehre, Pistolen, Messer, ja sogar Armbrüste. Sie fuhren im Schritttempo und blickten sich suchend um wie Raubtiere. Gelegentlich leuchteten sie mit Taschenlampen in einen Hauseingang, aber als sie sich dem Feuer näherten, hielten sie vor einem ehemaligen Geschäft an, das heute offenbar ein besetztes Haus war. Schmutzige Vorhänge hingen in den Schaufenstern, um etwas Privatsphäre zu gewährleisten, aber der Stoff war so dünn, dass man dahinter die flackernden Kerzen erkannte. Der Anführer stieg vom Motorrad und marschierte zur Tür. Er hatte langes, fettiges Haar, einen struppigen Vollbart und einen dicken Bierbauch, über den sich ein verwaschenes »Altamont-Heaven«-T-Shirt spannte. Er hämmerte mit einer fleischigen Faust an die Tür. »Seuchenwache. Aufmachen.« Drinnen wurden die Kerzen ausgepustet, aber niemand antwortete auf das Klopfen. »Wenn ihr nicht aufmacht«, brüllte er, »brennen wir den Laden nieder. Ihr wisst, dass das keine leere Drohung ist.« Drinnen waren eilige Schritte zu hören. Dann öffnete ein zierlicher, etwa fünfzigjähriger Mann die Tür. »Was ist denn?«, fragte er mit zitternder Stimme. »Uns wurde berichtet, dass einer in deiner Familie die schwarzen Flecken hat«, sagte der Seuchenwächter. Der Mann erbleichte. »Nein, das stimmt nicht.« »Dann hol alle raus.« »Was?« »Hol sie raus!«, brüllte der Biker und schaute in ein kleines, schmutziges Notizbuch. »Ihr seid zu fünft. Du, deine Alte, ihre Schwester, deine Mutter, deine Tochter.« Der Mann begann herumzustammeln, verstummte aber, als der Seuchenwächter ihm einen Gewehrlauf vor die Nase hielt. Der Mann ging mit hängenden Schultern 287 in die Ladenwohnung und kehrte Sekunden später mit drei Leuten zurück. »Wo ist die alte Lady?«, blaffte der Seuchenwächter. »Willst du mich verarschen?« »Nein, nein!« Der Mann hob die Hände ans Gesicht, um sich vor dem Gewehrlauf zu schützen. »Hol sie!« Kurz darauf führte der Mann seine Mutter heraus, eine etwa siebzigjährige Frau mit zerzaustem weißem Haar. Sie hatte die schwarzen Seuchenflecken im Gesicht. »Du Idiot«, sagte der Seuchenwächter. »Du kennst doch die Vorschriften. Beim ersten Anzeichen - beim ersten beschissenen Anzeichen - müssen die Leute übergeben werden, damit wir uns drum kümmern können.« »Wir wollten sie zu Hause pflegen«, sagte der Mann leise. »Sie ist meine Mutter ...« Der Seuchenwächter hob das Gewehr und schoss der alten Frau ins Gesicht. Blut und Gehirnmasse spritzten auf den Mann, der wie erstarrt dastand. »Siehst du«, sagte der Seuchenwächter. »Jetzt bist du kontaminiert.« Er nickte seinen Männern zu, die ihre Gewehre hoben und die ganze Familie mit einer einzigen Salve niedermähten. Einer der Fahrer trat von hinten heran; er trug dicke Lederhandschuhe und eine Schutzmaske. »Um die Ecke ist eine Sammelstelle«, sagte er mit gedämpfter Stimme.
»Nein, bring sie ins Haus«, entgegnete der Seuchenwächter. »Es wird den anderen eine Lehre sein.« Der Mann mit der Maske schleifte die Leichen in den Laden zurück und schloss die Tür, dann holte er zwei Sprühdosen und markierte den Hauseingang mit dem kreisumfassten Kreuz. »Scheiße«, flüsterte Thackeray. Er sah Caitlin an. »Du weißt gar nicht, wie sehr du mir danken musst.« 288 Er zog sie die steil ansteigende Straße hinauf, wo ein anderer Mann in Thackerays Alter auf ihn wartete und unruhig von einem Fuß auf den anderen trat. Er hatte ein schmales, pockennarbiges Gesicht und langes Haar und trug einen alten Militärmantel und Motorradstiefel. »Du Blödmann«, zischte er Thackeray an. »Wegen der Braut hätten sie uns fast erwischt...« »Hätte ich sie etwa einfach dort stehen lassen sollen, oder was?«, sagte Thackeray. Er wandte sich Caitlin zu. »Das ist Harvey. Er nervt zwar manchmal, ist aber ein guter Kerl.« Die Biker kamen ans Ende der Nebenstraße herangefahren. Eine Taschenlampe leuchtete auf, und Harvey stellte sich schnell in einen Hauseingang. Thackeray presste Caitlin an die Mauer und drückte sich an sie. Seine Nasenspitze war nur einen Zentimeter von ihrer entfernt. Er starrte ihr in die Augen, und was immer er dort sah, zauberte ein Lächeln auf seine Lippen. Eines der Motorräder rollte in die Gasse und kam langsam herauf gefahren. Thackeray zog Caitlin in den Hauseingang, in dem Harvey kauerte. Sie wechselten einen nervösen Blick, und dann nickte Thackeray in Richtung Haustür. Harvey drückte die Klinke herunter, doch als die Tür ein Stück weit geöffnet war, erkannten sie im darauf fallenden Licht des Motorradscheinwerfers das aufgesprühte weiße Kreuz mit dem roten Kreis. »Mist. Ein Leichenhaus«, flüsterte Harvey. »Uns bleibt nichts anderes übrig.« Thackeray schob ihn hinein, dann zog er Caitlin ins Haus und schloss die Tür. »Ich kann nichts erkennen!«, jammerte Harvey. »Und es stinkt erbärmlich.« Er hustete. »Ich kriege keine Luft! Ich werde hier drin ersticken!« Thackeray würgte und zog sich das Tuch fester um 289 den Kopf. »Sie jammert auch nicht herum, also halt die Klappe, du Weichei. Wir haben keine andere Wahl. Geh weiter. Wir müssen von der Tür verschwinden, für den Fall, dass der Kerl einen Blick reinwirft.« »Ist ja gut.« Der Klang von Harveys durch die Dunkelheit schlurfenden Schritten ertönte, dann folgte ihm Thackeray, der Caitlins Hand hielt. »Hör zu, ich benutze mein Feuerzeug«, sagte Harvey. »Von draußen kann man das Licht nicht erkennen.« Ein klickendes Geräusch ertönte, dann flammte ein Licht auf. Die Schatten wichen zurück und offenbarten einen so grauenvollen Anblick, dass Thackeray und Harvey vor Schreck zusammenzuckten. An den Wänden stapelten sich unzählige Leichen mit den unverkennbaren Seuchenflecken, Männer, Frauen und Kinder in unterschiedlichen Verwesungsstadien. Den Fußboden bedeckten dickflüssige Pfützen. Aber das war nicht das Schlimmste. Mehrere Augenpaare folgten der Feuerzeugflamme, und dann setzte das Gestöhne ein. Es klang nicht mehr menschlich, war ein Jaulen am Rande des Todes, am Rande des Wahnsinns, der die Leute in ihrer grauenvollen Lage befallen hatte. Andere wimmerten. Und einige wenige riefen mit schwachen, traurigen Stimmen: »Helft uns. Bitte, helft uns.« »So eine Sauerei!«, sagte Thackeray entsetzt. »Die Dreckskerle haben hier Leute abgeladen, die noch am Leben sind.« »Daran können wir nichts ändern.« Harvey versuchte, hart zu klingen, doch man hörte ihm die Betroffenheit an. »Was sind das nur für Menschen, die so etwas tun?« Thackeray führte Caitlin vor sich her, bis sie in einen Bereich gelangten, wo nur Tote lagen. 290 »Ich weiß nicht, wie oft ich so was schon gesehen habe, aber bei dem Anblick wird mir immer noch schlecht.« Harvey bahnte sich einen Weg in den hinteren Teil des Raums, wo das flackernde Licht eine Tür offenbarte. »Hoffentlich hast du Recht und wir sind immun.« »Sonst wären wir längst tot«, erwiderte Thackeray. »Los, komm jetzt, wir suchen einen Ausgang.« Sie öffneten die Tür und gingen in den hinteren Teil des Gebäudes, in dem noch mehr Leichen lagen. Nach einigem Suchen entdeckten sie ein Fenster, das aufs flache Dach führte, und von dort stiegen sie über eine Feuerleiter zur Straße hinunter. Das Rattern der Motorräder war inzwischen nach Digbeth weitergezogen. Sie schlichen durch die stille Stadt, der Verwesungsgeruch nie weit entfernt von ihren Nasen. Gelegentlich sahen sie Gestalten zwischen den höhlenartigen Gebäuden umherhuschen. Sie waren mit Tüchern maskiert, um sich vor dem allgegenwärtigen Gestank zu schützen, aber auch um die Ausbreitung der Infektion einzudämmen, was vermutlich ein vergebliches Unterfangen war. Eine mittelalterliche Atmosphäre lag über Birmingham, das noch vor wenigen Monaten eine pulsierende moderne Großstadt gewesen war. Thackeray und Harvey hatten ihren Unterschlupf im Mailbox, einem einstmals eleganten Einkaufszentrum, das Plünderer längst in ein Labyrinth aus leeren Geschäften verwandelt hatten. Sie hausten in den verbarrikadierten hinteren Büroräumen eines ehemaligen Schuhgeschäfts, und ihr Lebensmittellager - Mineralwasser in Flaschen, kistenweise Dosen, säckeweise Nudeln und Reis - hatten sie in einem Nebenraum angelegt, den eine schwere Stahltür sicherte; sie ließ sich nur mit einem Schlüssel öffnen, den Thackeray einem Wach-
291 mann abgenommen hatte, der während der ersten Unruhen getötet worden war. Inzwischen war nur noch ein Zehntel der Vorräte vorhanden. Sie wussten nicht, was sie tun würden, wenn alles aufgebraucht war. Sobald sie in Sicherheit waren, entspannten sie sich. Sie besaßen ein paar Sessel und Schlafsäcke unter wackligen Zelten aus Designer-Bettlaken, und damit es ein bisschen gemütlicher war, lag auf dem Boden ein 1500-Pfund-Perserteppich, auf dem unzählige Kissen verstreut waren, und an der Wand hing ein Poster mit Mädchen der FHM-Titelseiten. »Es sieht vielleicht ein bisschen wie eine Junkie-Bude aus, aber es ist unser Zuhause«, sagte Thackeray und setzte Caitlin auf eines der Kissen. »Was haben die Pfeile und der Bogen zu bedeuten?«, fragte Harvey und deutete auf die Waffe, die noch immer um ihren Rücken geschnallt war. »Ich weiß nicht. Vielleicht jagt sie damit Tiere. Es geht nichts über ein geröstetes Eichhörnchen.« Er ging zu ihr hinüber und wollte ihr den Bogen abnehmen, doch Caitlins abweisend gehobene Hand verbot ihm näher zu kommen. »Okay. Sie möchte ihn behalten. Ist beim Schlafen vielleicht ein bisschen unbequem, aber das ist ja ihre Sache.« Harvey warf Thackeray eine Dose Sardinen zu, öffnete sich selbst eine und aß mit den Fingern. Thackeray holte ein Sardinenstück heraus, von dem dicke Tomatensoße tropfte, und bot es Caitlin an. Sie starrte nur ins Leere und reagierte nicht, deshalb hielt er es ihr an den Mund und rieb den Fisch behutsam an ihrer Unterlippe hin und her. Nach einem Augenblick kam ihre Zunge heraus und leckte an dem Stück, dann biss sie vorsichtig davon ab und nahm schließlich den ganzen Bissen in den Mund und schlang ihn hungrig herunter. 292 »Ich weiß nicht, woher du kommst«, sagte Thackeray leise, »aber lange kannst du in diesem Zustand nicht in der Stadt herumgewandert sein.« Er fütterte sie mit einem weiteren Sardinenstück. »Und es sieht aus, als hättest du seit geraumer Zeit nichts mehr gegessen. Wie bist du bloß hergelangt? Von draußen reinmarschiert bist du bestimmt nicht. Vorbei an all den Kontrollpunkten ... Es war ja schon vor der Seuche drastisch. Im Westen lässt Muzzy keinen durch sein Territorium. Im Osten hat Siegler alles abgeriegelt, und die Mistkerle im Süden ... du würdest nicht so gut aussehen, wenn du dort durchgekommen wärst.« »Du glaubst doch nicht etwa, dass sie dich versteht, oder?« Harvey starrte in Caitlins leere Augen, dann widmete er sich wieder seinen Sardinen. »Sie ist traumatisiert - keine Überraschung an einem Ort wie diesem. Wahrscheinlich hat sie sich in ihrem Innern verbarrikadiert und versteht alles, was ich sage. Ein Fugue-Zustand ...« »Du hast zu viel Bildung abbekommen, Alter«, sagte Harvey, als spräche er von radioaktiver Strahlung. Er leerte seine Dose und warf sie in einen silbernen Mülleimer in der Ecke. »Ich muss dir eine Frage stellen, Kumpel meinst du nicht, dass diese Zombie-Braut uns behindern wird? Es war auch so schon einige Male scheißknapp da draußen.« »Wir konnten sie doch nicht einfach auf der Straße stehen lassen, Harvey. Wie human wäre das gewesen?« »Quatsch, du stehst auf sie.« Thackeray entgegnete nichts. In der folgenden Woche kümmerten sich Thackeray und Harvey um Caitlin. Nach dem ersten Tag konnte sie alleine essen und ihren anderen körperlichen Bedürfnissen 293 nachkommen, nachdem sie ihr einmal die Toilette gezeigt hatten. Als sie am dritten Tag ihre Periode bekam, ging Harvey nach draußen und besorgte aus dem Lager des Queen-Elizabeth-Krankenhauses einen Karton Sanitär-Tücher. Thackeray schlief auf den Kissen und überließ Caitlin seinen Schlafsack, und tagsüber gingen sie mit ihr auf dem Dach des Einkaufszentrums spazieren, damit sie ein wenig Bewegung bekam. Obwohl Caitlin es nicht bemerkte, konnte man von dort oben den wahren Zustand der Stadt erkennen. Teile von Baisall Heath standen in Flammen; dichte Rauchwolken hingen über dem Viertel. In anderen Stadtteilen sah man riesige Schneisen der Verwüstung, wo ähnliche Großbrände ihr zerstörerisches Werk vollendet hatten. Überall verlassene Autos und Busse. Als Folge kleinerer, örtlich begrenzter Brände waren zahllose Dächer eingestürzt, und es gab kaum Fensterscheiben, die nicht eingeschlagen waren. Auf vielen Straßen hatte man Barrikaden errichtet, und überall brannten Feuer in offenen Tonnen. Es waren kaum Menschen unterwegs, aber gelegentlich sah man in den klaffenden Fenstern ein blasses Gesicht vorbeihuschen. Aber überall waren Schwärme von Vögeln, Stare, die mit bösem Blick und spitzem Schnabel herab geschossen kamen, Krähen, die auf den Dächern der Bürogebäude hockten oder in eingeschlagenen dunklen Fenstern nisteten. Und überall wucherten Unkraut und wild wachsende Pflanzen, auf den aufgebrochenen Straßen, an Hausfassaden, auf Dächern, ja sogar in Autowracks. Die Natur holte sich zurück, was man ihr genommen hatte. »Ein ganz schönes Durcheinander, was?«, sagte Thackeray. Er nahm Caitlin bei der Hand, wenn sie zu nahe an den Dachrand herantrat. »Früher habe ich diese Stadt 294 geliebt. Man hat sie aus ihrer industriellen Vergangenheit herausgeholt und in ein richtiges Schmuckstück mit jeder Menge Kultur verwandelt, Galerien, Clubs, Restaurants, Orte, die zu besuchen man sich freute. Ich bin
hergekommen, um auf die Uni zu gehen, und beschloss, hier zu bleiben.« Er lachte bitter. »Gute Wahl.« Harvey trat von hinten heran. »Geh nicht zu nah an den Rand. Wir wollen doch nicht, dass uns Bucklands Schläger bemerken.« »Ach ja, der gute alte Buckland. Der König von Zentral-Birmingham«, sagte Thackeray sarkastisch zu Caitlin. »Er kam nach dem Untergang an die Macht. Ein lokaler Gangster mit vielen Schlägern, die seinen Willen durchsetzen. Es herrschte zu großes Chaos, um Widerstand zu organisieren, und nachdem er sich erst einmal etabliert hatte, war es eben so.« »Das ist noch nicht alles«, sagte Harvey. »Er hat während des Untergangs dieses Wesen gefangen genommen ... es ist böse ...« »Reiner Aberglaube«, schnaubte Thackeray. »Du glaubst auch jedem dahergelaufenen Penner. Das ist genau die Art Zeug, die verbreitet wird, um Leute wie dich davon abzuhalten, aktiv zu werden.« »Es ist wahr! Smacker hat's gesehen.« »Hat er, tatsächlich?« »Na ja, nicht richtig, aber ...« »Buckland ist einfach ein unglaublich brutaler Kerl, der alles dafür tut, um an der Macht zu bleiben. Und von uns ist niemand unmenschlich genug, um es mit ihm aufzunehmen. Deshalb verstecken wir uns und leben im Verborgenen.« Er klang niedergeschlagen, aber dann wandte er sich Caitlin zu und lächelte. »Wie heißt es doch so schön, entweder man ist Teil der Lösung oder man ist Teil des Problems. So viel dazu.« 295 »Ich wünschte, wir könnten von hier verschwinden«, sagte Harvey. »Vielleicht nach Worcester. Dort hat es mir gefallen. Ist ein gutmütiger Menschenschlag dort unten.« »Vergiss es. Wir kommen hier nie raus«, erwiderte Thackeray. »Schau es dir an - alles ist abgeriegelt zu kleinen Fürstentümern, zu Bananenrepubliken, die von den Überresten der Gesellschaft leben und jeden abmurksen, der aufmuckt.« Er blickte nachdenklich auf die hohen Bürohäuser und fügte verdrossen hinzu: »Die Stadt ist eine Metapher. Jeder hat sein eigenes Birmingham - es ist ein Seelenzustand, dem man nicht entrinnen kann.« »Blöder Exstudent«, murmelte Harvey. Mit einem Mal fand Mary sich am Abendhimmel über Wilmington wieder, erfüllt von dem überwältigenden Gefühl, versagt zu haben, ohne dass sie genau gewusst hätte, wobei. Unter ihr, auf dem Windover Hill, schloss der Lange Mann unter einem Zischeln des Blauen Feuers das Tor. Zu ihrer Verwirrung kam plötzlich eine unbestimmte Besorgnis hinzu. In der Geist-Form, wo jeder Gedanke und jede Empfindung verstärkt wurden, hatte sie vollstes Vertrauen in ihren Instinkt und hielt nach dem Grund für ihre Sorge Ausschau. Nach einigen Augenblicken sah sie es: Ihr Körper lag nicht dort, wo sie ihn zurückgelassen hatte. Jemand hatte ihn gut zwanzig Meter über den Dragon Hill geschleift. Der Übeltäter stand ganz in der Nähe: Es war der Puzzle-Mann, der eigentlich im Feuer hätte umgekommen sein müssen, doch er sah völlig unberührt aus von den Flammen, die ihn verzehrt haben sollten. Die Elysium attackierten ihn, doch in ihrem substanz296 losen Zustand konnten sie ihm nichts anhaben. Sie kamen herab geschossen und umschwirrten ihn; ihre Gesichter waren zu furchteinflößenden Fratzen verzerrt. Einen Moment lang erstarrte Mary in ihrer Panik. Wie konnte sie nur so dumm gewesen sein, ihren Körper so ungeschützt zurückzulassen? Sie wusste doch um die Risiken: Falls ihr Körper starb, während ihr Geist draußen herumflog, würde sie wie ein Gespenst umherdriften und sich schließlich in nichts auflösen. Der Puzzle-Mann schlug nach den Elysium; offenbar konnte er sie erkennen. Sharish löste sich aus dem Geschehen und stieg wie ein Lichtstrahl zu ihr in die Höhe. »Du musst dich beeilen«, sagte er. »Wir können ihn nicht mehr lange in Schach halten.« Doch Mary war schon auf dem Weg nach unten, bevor Sharish zu Ende gesprochen hatte. Sie sauste in ihren Körper hinein und versuchte die Anpassungsphase, in der die Gliedmaßen sich schwer wie Blei anfühlten, zu ignorieren. Sie wollte aufspringen, doch ihre Beine knickten ein; es war, als läge ein Felsen auf ihr. Der Puzzle-Mann bemerkte ihre plötzlichen Bewegungen und wandte sich augenblicklich von den Elysium ab. Er bewegte sich genauso schnell wie in dem verlassenen Herrenhaus und stand mit einem Mal über ihr. Seine Hände legten sich um Marys Hals. »Wehr dich!«, rief ihr Sharish zu. »Wir können nichts tun.« Die Finger schlössen sich immer fester. Mary bekam keine Luft mehr; der Druck in ihrem Kopf wurde unerträglich. »Benutze das Blaue Feuer!«, rief Sharish. »Menschen wie du konnten es immer manipulieren.« Als ihr Sauerstoff aufgebraucht war, überkam Mary eine sonderbare Klarheit, und sie verstand genau, was 297 Sharish meinte. Sie erinnerte sich an die Kraftlinien, die aus dem Dragon Hill auf den Langen Mann zugeschossen waren, und krallte die Hände ins Gras. Sie hatte fast schon das Bewusstsein verloren, und der Puzzle-Mann würgte sie wie von Sinnen. Sie stellte sich das Blaue Feuer vor, wusste aber nicht, wie sie es aktivieren sollte. Und dann war Sharish neben ihr und flüsterte ihr ein Wort zu, das sie noch nie gehört hatte. Ohne lange zu überlegen, wiederholte sie es.
Plötzlich erstrahlte alles um sie herum in blauem Licht. Saphirfarbene Flammen strömten in ihre Finger, schössen ihren Körper hinauf und sprangen auf den Puzzle-Mann über. Er ließ von ihr ab. Als ihre Sicht wieder klar wurde, lag der Angreifer mehrere Meter entfernt spastisch zuckend im Gras; Rauchwölkchen stiegen von seinem Körper auf. »Du musst dich beeilen«, sagte Sharish. »Er wird nicht lange liegen bleiben.« »Was ist das für ein Kerl?«, keuchte Mary, während sie ihre Kleidung zusammensuchte. »Seine Kraft kommt von dir.« Sharish schwebte neben ihr, während sie sich rasch anzog und mit Arthur Lee, der aus seinem Versteck gekommen war, den Hügel hinuntereilte. »Verzweiflung, Selbsthass, Versagensängste. Er wird so lange versuchen, dich zu zerstören, bis diese Dinge aus dir verschwunden sind.« »Dann wird es nie aufhören«, sagte Mary bitter. »Niemals.« Als sie am Fuß des Hügels ankam, konnte sie wieder klar denken. Das Blaue Feuer, das sie durchströmt hatte, hatte eine merkwürdige Wirkung auf ihr Gemüt: Zum ersten Mal seit Jahren fühlte sie sich im Reinen mit sich selbst. »Ich muss die Dinge doch noch irgendwie zurechtbiegen können«, murmelte sie. Sie wandte sich 298 Sharish zu. »Okay, wenn mir bei dem Gott, der wie mein Opa aussah, ein Fehler unterlaufen ist, möchte ich wenigstens die Göttin finden.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Das ist ...« »Erzähl mir nicht, wie gefährlich es ist und dass ich es nicht schaffen kann. Verrate mir einfach, wo ich sie finde. Ich muss wenigstens eine gute Tat vollbringen, bevor ich sterbe ... bevor mich dieser Kerl umbringt.« Er starrte sie an. »Du bist stärker, als du glaubst.« »Hör auf mit dem Schmus. Ich will einfach Caitlin helfen. Ich habe, wie immer, Mist gebaut, aber ich darf jetzt nicht aufgeben - sie braucht meine Hilfe.« »Dann musst du dich auf eine lange Reise begeben«, sagte er. »Und eine schwere Prüfung bestehen, die du vielleicht nicht überlebst.« Die Zeit verstrich für Caitlin in einem Nebel aus Essen und Nichtstun. Sie bekam nichts mit, am wenigsten von sich selbst, doch ein Teil von ihr wusste, dass man sich um sie kümmerte, und es fühlte sich gut an, selbst unter der abstumpfenden Glocke, die über ihr Bewusstsein gestülpt war. Im Kopf irrte sie noch immer über das verlassene Eisfeld, aber mittlerweile war es eher eine Zen-Meditation als die verzweifelte Suche nach einem Ausweg. Mit der Zeit würde sie sich vielleicht sogar an den Zustand gewöhnen. Aus Sorge, dass sie sich versehentlich etwas antun könnte, wich Thackeray ihr nie von der Seite. Wenn sie auf der Suche nach Örtlichkeiten, die man ausräumen konnte, durch die dunklen Straßen schlichen, hielt er ihre Hand, führte sie an allen Gefahrenherden vorbei und hatte immer ein wachsames Auge auf sie. Manchmal nahm er sie zu einem - wie er es scherzhaft nannte -»Ausflug« mit, und dann saßen sie am Kanal und warfen 299 Steine ins Wasser, während Harvey zu angeln versuchte, oder sie brachen in die Ratskammer ein, legten sich dort auf den Boden und betrachteten die majestätische Architektur des Deckengewölbes. »Selbst im schlimmsten Schlamassel sollte man versuchen, sich seinen Humor und seine Kultiviertheit zu bewahren«, sagte er an einem warmen Tag kurz vor Sommeranfang. »Sonst wäre doch alles sinnlos, oder?« An diesem Abend präsentierte Thackeray das Essen auf einer weißen Tischdecke, die er auf dem Boden ausbreitete, dazu gab es Silberbesteck und Kristallgläser für einen ihrer extrem raren Weine. Während sie im gemütlichen Kerzenschein dasaßen, fand er Caitlin schöner denn je und erzählte es Harvey auch. »Weißt du, Kumpel, eins muss ich dir sagen, ich find das alles ein bisschen ... ein bisschen krank«, entgegnete Harvey. »Sie ist, na ja, irgendwie durchgeknallt, oder nenn es meinetwegen geistig behindert oder so.« Er tippte sich an die Schläfe. »Ich habe nicht vor, das auszunutzen«, sagte Thackeray. »Aber ich erkenne noch den Menschen, der sie einmal war - und vielleicht wieder sein wird. Man sieht es in ihrem Gesicht, unter der Oberfläche. Sie ist ein guter Mensch ...« »Du meinst, sie wird wieder gesund?« Thackeray zuckte die Achseln. »Das hoffe ich jedenfalls.« »Ich finde, du solltest sie dir aus dem Kopf schlagen, zu deinem eigenen Wohl.« Thackeray prostete den beiden zu und nahm einen Schluck von dem Zinfandel. »Ich will dir mal was sagen, Harvey. Du wirst mich vielleicht für einen Volltrottel halten, aber das ist mir egal. Zu lieben und jemanden zu haben, der einen auch liebt, macht süchtig. Das ganze 300 Wesen wird lebendig, und plötzlich kommt es einem so vor, als wäre das Leben, das man bis dahin hatte, ein einziger Dämmerzustand gewesen. Und die ganzen Klischees, sie sind alle wahr, als hätte sich das Leben plötzlich in einen Artikel aus einem Frauenmagazin verwandelt. Man kann nicht essen, kann nicht schlafen, bekommt das Gesicht des anderen nicht aus dem Kopf, kann es kaum erwarten, die Frau wieder zu sehen und so weiter. So ist das, wenn man verliebt ist.« Harvey lächelte, aber auf freundliche Weise, und trank seinerseits einen Schluck Wein. »Ja, und am Ende heult man sich die Augen aus dem Kopf.« »Ja, so ist es meistens. Aber nicht immer. Es gibt Ausnahmen, die große wahre Liebe, glaub mir, es gibt sie.« Sie machten sich in aller Ruhe über die verschiedenen Speisen her, fest entschlossen, den Abend in vollen Zügen
zu genießen. Thackeray schob Caitlin von jedem Gericht zunächst eine Kostprobe in den Mund, und wenn es ihr schmeckte, ließ er sie allein weiteressen. Als sie fertig waren, spielte Harvey ihnen auf seiner akustischen Gitarre romantische Liebeslieder vor, anfangs mit einem spöttischen Grinsen, aber nach einer Weile waren sie alle ganz versunken in den herzzerreißenden Melodien. Schließlich saßen sie nachdenklich schweigend da und genossen den leichten Alkoholrausch. Und dann hörten sie ein gewaltiges Krachen. Thackeray und Harvey eilten sofort zum Eingang des Geschäfts, um in die Halle hinabzuspähen. Im Erdgeschoss waren Bewegungen im Halbdunkel auszumachen. Dann wurden Fackeln entzündet, und aus dem Dunkel kamen die in Leder gewandeten Gestalten der Seuchenwächter zum Vorschein. Thackeray blickte Harvey an, der den Kopf schüttelte 301 und aussah, als müsste er sich gleich übergeben. »Wir können die Rollläden nicht runterlassen - es macht zu viel Krach«, sagte Thackeray. »Wir müssen uns hinten verstecken und hoffen, dass sie nur zufällig hier sind und nicht nach uns suchen.« Harvey starrte wie gebannt auf die herumlaufenden Gestalten, bis Thackeray ihm auf die Schulter tippte. Sie eilten zurück in den Wohnbereich. »Oh Gott, sie wissen, dass wir hier sind!«, jammerte Harvey und fuhr sich durch sein fettiges Haar. »Jemand muss uns auf dem Dach gesehen haben. Wir hätten nicht so nah an den Rand gehen sollen!« »Es ist sinnlos, jetzt darüber zu lamentieren - es ist geschehen.« Thackeray nahm Caitlin an die Hand und zog sie auf die Beine. »Hast du keine Angst?«, fragte Harvey. »Klar hab ich Angst.« »Du weißt, was Buckland mit uns anstellt, wenn er uns findet.« »Vielleicht begnügt er sich mit unseren Vorräten.« »Bestimmt. Aber erst, nachdem er uns zum Trocknen aufgehängt hat.« Harvey schlang sich die Arme um den Leib; Tränen standen in seinen Augen. Thackeray stieß ihn grob an und ließ der Geste ein Lächeln folgen. »Na los - ab in die Verstecke. Viel Glück.« Harvey lächelte gezwungen. »Du kannst ein ziemlicher Idiot sein, Thackeray, aber wir hatten eine gute Zeit miteinander.« Er schickte sich an, zu einer der großen Umzugskisten zu gehen, doch Thackeray packte ihn am Arm und sagte: »Nein, nimm das gute. Und nimm die Frau mit.« Harvey musterte seinen Freund einen Moment lang und sah, dass jede Widerrede zwecklos war. Widerwillig ging er zu einer der Wandvertäfelungen und schob die 302 Taschenmesserklinge in die Ritze, um das Paneel herauszuhebeln. Dahinter befand sich ein staubiger, enger Zwischenraum vor der Wand. Thackeray nahm Caitlin kurz in die Arme, roch ihr Haar und wünschte sich, die Dinge wären anders. Dann schob er sie eilig als Erste in das Versteck und bedeutete ihr mit an die Lippen gelegtem Finger, sich ruhig zu verhalten. Danach ließ er Harvey hineinschlüpfen und schloss die Vertäfelung. Der Lärm, den die Seuchenwächter unten veranstalteten, kam immer näher. Thackeray eilte hinter eine der Umzugskisten und versteckte sich unter einem Haufen schmutziger Wäsche, die so auf ihn fiel, dass sein Blick in den Laden eingeschränkt war. Sekunden später erschienen die Seuchenwächter und brüllten durcheinander, als sie die Reste des Abendessens erblickten. »Hier ist es! Die Penner haben eine Party veranstaltet!«, rief einer der Männer. »Durchsucht den Schuppen - sie sind hier irgendwo«, sagte eine mürrische, befehlsgewohnte Stimme. Thackeray kauerte wie erstarrt am Boden, sein Atem ein Bleiklumpen im Hals. Er beobachtete, wie die Tischdecke hochgerissen und die Kristallgläser umgestoßen wurden; dann verwüsteten die Männer den Schlafbereich. Er wusste, dass sie ihn früher oder später finden würden; Harvey hatte es auch gewusst, aber falls einer von ihnen erwischt würde, würde der andere vielleicht unentdeckt bleiben, und sie waren darin übereingekommen, dass Thackeray unter Druck nicht so schnell zusammenbrechen würde. Zumindest bis die Folter begann. Sekunden später kamen die Männer auf die Umzugskiste zu. Thackeray wappnete sich für das, was als Nächstes geschehen würde. Die Wäsche wurde fortgerissen, und dann ertönte lautes Gejohle. Schwielige Hände 303 zogen ihn auf die Beine, dann flog ihm eine Faust ins Gesicht. Blut sickerte aus seiner aufgeplatzten Lippe, und einen Moment lang sah er Sterne vor Augen. »Wo sind die anderen?« Die befehlsgewohnte Stimme gehörte dem Seuchenwächter, der der Frau ins Gesicht geschossen hatte. »Fick dich.« Erneut traf ihn eine Faust, und diesmal verlor er für eine Weile das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kam, hielten ihn zwei der Männer aufrecht, und der Anführer stand direkt vor ihm, wenige Zentimeter vor seinem Gesicht. »Ich frag dich noch einmal«, sagte er. »Und diesmal schneiden wir dir ein Ohr ab, wenn du uns blöd kommst.«
»In Ordnung«, sagte Thackeray mit gespielter Schwäche. »Sie sind abgehauen ... übers Dach und hinten runter. Wir hatten uns den Fluchtweg vorher zurechtgelegt. Ich sollte noch schnell den Laden zusperren, aber es war nicht genug Zeit...« Er ließ den Kopf heruntersacken. Der Anführer packte ihn an den Haaren und riss den Kopf nach oben. »Wie viele?« »Zwei.« Der Anführer nickte zufrieden. Thackeray wusste, dass er die Teller auf der Tischdecke gesehen hatte. »So, dann habt ihr also Mr. Bucklands Vorschriften missachtet und euren Fraß gehortet, während die Gemeinschaft am Verhungern ist. Ihr egoistischen Schweine.« Thackeray wollte laut auflachen über die Vorstellung, dass Buckland ein Beschützer der Armen und Entrechteten sei, doch er beherrschte sich und tat stattdessen so, als würde er gleich wieder ohnmächtig werden. Der Anführer trat zurück und machte eine ausholende 304 Armbewegung. »Räumt den Schuppen aus. Seht zu, dass ihr alle Vorräte findet. Der Großteil ist wahrscheinlich woanders versteckt. Und führt diesen Penner hier ab.« Thackeray wusste, was ihm bevorstand, doch zu seiner Überraschung galt sein erster Gedanke nicht seinem persönlichen Schicksal, sondern einer Frau, die er kein einziges Mal hatte sprechen hören, einer Frau, die ihm keinen Hinweis darauf gegeben hatte, wer sie war. Als nach einer Stunde feststand, dass die Seuchenwächter wirklich verschwunden waren und alle Vorräte mitgenommen hatten, kamen Harvey und Caitlin aus ihrem Versteck. Er schluchzte leise und wischte sich die Tränen vom Gesicht. »Tut mir leid«, sagte er, ohne wirklich zu Caitlin zu sprechen. »Ich bin ein Jammerlappen.« Mit einiger Mühe riss er sich zusammen. »Schau, die werden nicht zurückkommen, also kannst du ruhig hier warten ... Ich muss uns einen neuen Unterschlupf suchen.« Er biss sich beklommen in den Fingerknöchel und lächelte ihr dann so aufmunternd zu, wie er nur konnte, bevor er sie an der Wand herunterschob und auf den Boden setzte. Er zündete ihr eine Kerze an. »Hab keine Angst«, flüsterte er. »Ich komme zurück.« Und dann wandte er sich um und eilte los; seine Schritte hallten wie Pistolenschüsse durch das dunkle Einkaufszentrum. Caitlin saß da und beobachtete die flackernden Schatten an der Wand. Irgendwo in den Tiefen ihres schlummernden Bewusstseins regte sich etwas. »Wo bin ich? Wo bin ich?« Ihre Stimme kreischte gegen den heulenden Wind an, bis ihre Kehle brannte. Der 305 Sturm zerrte an ihr und wehte ihr Schneeflocken ins Gesicht, sodass sie nicht mehr sah, wohin sie ging. Selbst die um den Leib geschlungenen Arme konnten nicht verhindern, dass die grauenvolle Kälte ihr bis ins Knochenmark kroch. Um sie herum gab es nur endloses gefrorenes Weiß, während sie blindlings über das Eisfeld taumelte. Keine Wärme, keine Hoffnung. Am besten wäre, wenn sie sich einfach hinlegte und stürbe, sich vom Schnee bedecken ließe und Teil des ewigen Eises würde. Knisternde Funken erfüllten den Raum, Donner hallte von den Wänden wider, Ozon schwängerte die Luft. In einer Ecke stand der schwarze Ritter mit dem Wildschweinkopf-Helm, die Hände auf dem Breitschwert, das zwischen seinen leicht gespreizten Beinen auf der Klingenspitze ruhte. »Caitlin Shepherd!« Seine Stimme klang wie Bienen, die aus einem Bienenstock ausschwärmten. Caitlin zuckte zusammen; Licht flackerte in ihren Augen. Auf dem Eisfeld flaute der Schneesturm etwas ab, und aus dem allgegenwärtigen Weiß schälte sich das Grau des Fels-Unterschlupfes heraus. »Caitlin Shepherd«, sagte der Ritter erneut mit seiner körperlosen, fremdartigen Stimme. Caitlin blinzelte; das Weiß wich den sich verlagernden Schatten des Raumes. Um sie herum zuckte erneut knisternde Elektrizität. »Bist du mein Schutzengel?«, flüsterte sie benommen. »Oder bloß ein weiterer Teufel, der mich in die Verdammnis führen soll?« »Nichts von allem hier ist real - das habe ich dir doch gesagt«, entgegnete der Ritter. Seine Stimme war jetzt klarer als zuvor. »Wir erschaffen unsere eigene Realität. 306 Sie ist fließend. Die Wahrheit verbirgt sich hinter dem, was deine Sinne dir mitteilen. Wenn genügend Menschen an eine bestimmte Realität glauben, dann stellt sie sich auch so dar. Aber einige wenige Menschen besitzen die Fähigkeit, die Realität zu verändern. Die Welt muss nicht so sein, wie sie ist, Caitlin. Im Moment befindet sie sich im Prozess des Wiederaufbaus. Die Menschheit schreitet voran, sie steigt auf. Die Zeiten sind im Wandel.« Allmählich setzte ihr Bewusstsein zusammen, wo sie war und was geschehen war. Sie erinnerte sich an Thackeray und Harvey und die Seuchenwächter; und sie erinnerte sich an Carlton und seinen grauenvollen, unnötigen Tod, und der Schmerz darüber traf sie mit solcher Wucht, dass sie aufschrie: »Wer hat ihn umgebracht?« »Entscheidungen wurden getroffen. Die Geschehnisse liegen nicht mehr in deiner Hand«, antwortete der Ritter. »Nur Blut kann die Dinge noch wenden - Blut und Vergeltung.« Er hielt inne, während ein greller Blitz durch den Raum fuhr, und als der Ritter weitersprach, waren seine Worte über dem lauten Donner kaum zu verstehen.
»Die Zeit ist gekommen, die Frau herauszulassen, Caitlin. « aitlin taumelte vom Eisfeld in den Unterschlupf. Briony starrte sie hasserfüllt an, während Brigid kichernd hin und her schaukelte und verstohlene Blicke in den hinteren Teil der Höhle warf. »Wir dachten schon, du würdest nie zurückkommen«, sagte Amy vorwurfsvoll. Ohne die anderen eines Blickes zu würdigen, ging Caitlin an ihnen vorbei. Würde sie es fertig bringen? »Sei nicht blöd, du dummes Ding«, sagte Briony mit einer Mischung aus Wut und Angst. 307 Caitlin stand vor der im Dunkeln sitzenden Gestalt und sagte beklommen: »Komm heraus. Ich brauche dich.« Brigids Kichern wurde ein angsterfülltes Wimmern, und Amy brach in Tränen aus. Die Gestalt erhob sich und trat langsam, aber voller Stolz vor, und die Dunkelheit fiel von ihr ab wie ein seidener Umhang. Caitlin glaubte, das pure Entsetzen würde sie erblinden lassen. Obwohl ihre Augen die Gestalt sahen, bekam ihr Verstand die schlüpfrige Essenz des heraustretenden Geschöpfes nicht zu fassen, und jede Faser von Caitlins Wesen rebellierte gegen das, was sie wahrnahm. Zuerst schien es, als blicke sie auf ungestüm umherfliegende Krähen, dann aufflatternde schwarze Lumpen, unter denen ein totenbleiches Gesicht hervorschaute. Schließlich stand eine wunderschöne Frau vor ihr, mit wallendem schwarzem Haar, blitzenden grünen Augen und vollen, rubinroten Lippen. Sie trug ein schwarzes Samtkleid, das wie Öl an ihr herabzufließen schien, dazu einen blutroten Gürtel; in den Händen hielt sie zwei silberne Messer mit gekrümmten Klingen. Krähen umschwirrten sie und schienen zuweilen ein Teil ihres Körpers zu sein. »Du hast mich herausgelassen!« Obwohl die Frau kaum die Lippen bewegte, erschallten ihre Worte so laut, dass Caitlin sich die Ohren zuhalten musste. »Was bist du?«, fragte Caitlin leise. »Ich bin der Anfang und das Ende«, entgegnete die Frau. »Fruchtbarkeit und Zerstörung. Liebe und Krieg. Ich bin die Botin des Todes. Ich bin die wahre Macht aller Frauen.« »Die Morrigan!«, rief Brigid und raufte sich die Haare. »Oh, Kriegsgöttin der Kelten, sei gut zu deiner Tochter! Oh, du furchteinflößende Badhbh Chatha, Krähe der Schlacht.« 308 Caitlin fiel die unheimliche Nebelkrähe ein, die sie an dem Abend gesehen hatte, als sie zum ersten Mal den Flüsterern begegnet war, und ein zweites Mal, als sie am Rande des Wahnsinns neben Liams und Grants Gräbern gelegen hatte. Aus irgendeinem Grund hatte dieses erschreckende Wesen sich mit ihr verbunden gefühlt, war in sie, Caitlin, eingedrungen und hatte sich mit ihrer Seele vereint. Es hatte nur Caitlins Aufforderung bedurft, um sie aus dem Dunkel heraustreten zu lassen. Aber Caitlin hatte Angst, was nun geschehen würde; sie fürchtete, dass das Heilmittel etwas viel, viel Schlimmeres sein könnte als die Krankheit, die es auszumerzen galt. »Weine um die, die gegen uns sind«, sagte die Morrigan mit blitzenden Augen. »Für dich wird es fortan kein Leid mehr geben, Schwester der Drachen. Wir stehen Seite an Seite!« Die Kriegsgöttin breitete die Arme aus, und Caitlin wurde in die unendliche Finsternis flatternder Krähenflügel hineingesaugt. Angsterfüllt schlich Harvey durchs Einkaufszentrum. Er war sicher, dass sie sich in einem der labyrinthartigen Bürohäuser an der Colmore Row einnisten konnten, aber nur für kurze Zeit. Wie es danach weitergehen sollte, wusste er nicht. Er war kein Denker wie Thackeray und hatte keine Ahnung, wie er allein überleben sollte, besonders jetzt, da er auch noch für die Frau verantwortlich war. Aber im Stich lassen konnte er sie nicht. Wie sollte er das tun? Er schlüpfte in ihr früheres Zuhause und erwartete, Caitlin dort sitzen zu sehen, wo er sie zurückgelassen hatte. Stattdessen stand sie in der Mitte des Raumes. Er sah sofort, dass sich etwas an ihr verändert hatte. Ihr Rü309 cken war straff, in ihren Augen lag ein lebendiger Glanz, und ihre Miene kündete von Entschlossenheit. »Oh, du bist aufgestanden«, sagte er erstaunt. »Dann komm. Ich bringe dich zu ...« »Du bringst mich zu Thackeray.« Erschrocken wich er zurück, als er ihre Stimme vernahm. »Geht es ... geht es dir wieder gut?« Caitlin strich über die kunstvollen Verzierungen an ihrem Bogen und blickte an Harvey vorbei ins düstere Einkaufszentrum. »Wir werden Thackeray befreien.« Harvey hob die Hände. »Okay, es freut mich, dass es dir wieder gut geht; und Thackeray hatte Recht, du hast alles mitbekommen, was um dich herum geschah, während du ... du weißt schon ... während du weggetreten warst. Aber glaub mir, du hast keine Ahnung, worum du mich bittest. Wir können nicht ...« Caitlin trat zu ihm heran und packte ihn an den Schultern. »Wir werden ihn befreien ...« »Er ist wahrscheinlich längst tot!« »... und du wirst mir zeigen, wo sie ihn gefangen halten.« Sie drehte ihn um und schob ihn zum Ausgang des ehemaligen Schuhgeschäfts. 12 Auf anderen Pfaden »Ich weiß, ich habe den Körper einer schwachen Frau, aber ich besitze das Herz und den Magen eines Königs.« ELISABETH I. Nach einer scheinbaren Ewigkeit kam Crowther zwischen den Bäumen heraus und fand sich auf dem weißen
Pfad wieder. Erleichterung durchströmte ihn. Er hatte schon geglaubt, für alle Zeiten in diesem irrwitzigen Zauberwald umherirren zu müssen. Einmal hatte er, wie er glaubte, das Bewusstsein verloren und hatte schon befürchtet, wieder die Maske zu Hilfe nehmen zu müssen. War er schon so abhängig von ihrer Kraft? Zwischen den Bäumen huschten viele unbekannte Wesen herum, doch sie machten ihm keine Angst, und er merkte, dass er sich nicht mehr vor dem Tod fürchtete; vielmehr erschien er ihm zunehmend als ein durchaus erstrebenswerter Ausweg. Von den Gehennis war nirgends etwas zu sehen, aber einmal hatte er Hufgetrappel und bellende Hunde gehört, eine Jagdgesellschaft, die ihrer Beute nachstellte. Das purpurne Licht hingegen, das die Ankunft der Flüsterer kennzeichnete, bemerkte er immer wieder, und dies war etwas, wovor er sich wahrlich fürchtete: Teil einer grausigen Zombie-Armee zu werden und unter dem Einfluss einer fremden Intelligenz zu stehen. Auf seinen Stab gestützt, um Atem zu schöpfen, merk311 te er überrascht, dass seine Müdigkeit verebbte, je länger er auf dem Pfad stand. Als er über dessen Oberfläche strich, kribbelten seine Fingerspitzen, und ein überwältigendes Gefühl des Wohlbefindens stieg in ihm auf. Das Blaue Feuer war tatsächlich der Treibstoff, der alles in Gang hielt, so wie man es ihnen am College in Glastonbury beigebracht hatte. Hätte er vielleicht seinen inneren Frieden gefunden, wenn er dort geblieben wäre und sich seinen Studien verschrieben hätte? Die Suche nach Erkenntnis war immer das Einzige gewesen, was ihn wirklich interessiert hatte. Ohne eine Antwort gefunden zu haben, marschierte er los. Wenig später sah er mitten auf dem Pfad eine Gestalt sitzen. Es war Mahalia, die reglos und mit gesenktem Kopf auf den weißen Fliesen kauerte, sodass ihr schwarzes Haar wie ein Fächer ihr Gesicht verdeckte. Sie rührte sich nicht, selbst als er bis auf einen Meter zu ihr herangetreten war. »Du bist also entkommen«, sagte er. »Sieht so aus, oder?« Sie schaute nicht zu ihm auf. »Weißt du, wo die anderen sind?« Sie schüttelte den Kopf, hielt dann inne. »Was ist?« Nun blickte sie auf, und Crowther war schockiert, als er ihr verquollenes, von Traurigkeit gezeichnetes Gesicht sah. »Carlton ist tot«, sagte sie tonlos. »Tot? Der kleine Junge?« »Ich ... ich habe seine Leiche gesehen.« Sie deutete hinter sich. »Man hat ihm die Kehle durchgeschnitten. Er liegt da vorne, mitten auf dem Pfad.« Crowther versuchte zu begreifen, was er da hörte. »Auf dem Pfad? Das kann nicht sein. Die Geschöpfe, die 312 diesen Wald bewohnen, können uns nichts anhaben, solange wir auf diesem Weg laufen.« »Nun, Carlton ist tot«, erwiderte sie scharf. »Daran besteht kein Zweifel.« »Zeig mir die Stelle«, verlangte Crowther ungläubig. Im nächsten Moment wurde ihm klar, worum er sie bat. »Tut mir leid«, sagte er sanft, »das war gedankenlos von mir. Ich weiß, wie gern du ihn gehabt hast.« Er legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter, doch sie fühlte sich hart wie Stein an, und er zog die Hand wieder fort. »Ich gehe nachschauen.« Hinter der nächsten Biegung fand er die Leiche des kleinen Jungen. Der Schnitt war fachmännisch ausgeführt. Dies war kein Angriff eines Raubtiers oder eines gespenstischen Waldungeheuers gewesen. Einen Moment lang drohten ihn seine Emotionen zu überwältigen. Er hatte in letzter Zeit viele Grausamkeiten mitangesehen, doch er konnte nicht begreifen, wie jemand einen kleinen Jungen umbringen konnte. Er vergoss einige bittere Tränen, bevor ihm ein anderer Gedanke kam. Caitlin war überzeugt gewesen, dass der Junge eine entscheidende Rolle bei den Geschehnissen spielte, die um sie herum im Gange waren. Was bedeutete Carltons Tod in dieser Hinsicht? Er sammelte sich einen Moment lang, dann hob er den Leichnam vom Boden auf und trug ihn einige Schritte in den Wald. Der Untergrund war locker, und so gelang es ihm, mit bloßen Händen ein flaches Grab auszuheben, in das er den Leichnam hineinlegte. Er bedeckte ihn mit ein paar Hand voll Erde und legte danach Zweige und heruntergefallene Äste darauf, sodass das Grab am Ende einer hölzernen Gruft glich. Am Kopfende stieß er als Markierung einen Ast in den Boden. Dann kehrte er zu Mahalia zurück und bat sie, ihn zu 313 Carltons letzter Ruhestätte zu begleiten. Dort angekommen, meinte er: »Ich glaube, wir sollten ein paar Worte sagen.« »Wozu? Er ist tot.« Crowther verzog das Gesicht. »Selbst wenn dir jeglicher Glaube fremd ist, würde das Ritual dir helfen, seinen Tod zu verarbeiten.« »Ich muss nichts verarbeiten. Ich weiß doch, dass er tot ist. Kommen Sie, lassen Sie uns aus diesem verdammten Wald verschwinden.« Sie wandte sich um und stapfte davon, bevor er etwas entgegnen konnte.
Ihr Verhalten verwirrte Crowther. Er hatte erlebt, wie wütend sie wurde, wenn jemand versuchte, sich zwischen sie und Carlton zu stellen. Der Junge schien ihr eine Menge bedeutet zu haben, schien das Wichtigste in ihrem Leben gewesen zu sein. Und nun verhielt sie sich, als ließe sein Tod sie völlig kalt. »Schauen Sie mal, Matt.« Jack deutete auf eine Stelle rechts vom weißen Pfad. Aus den Bäumen, die dort standen, sickerte eine ölige, nach Fäulnis stinkende schwarze Flüssigkeit, und das Laub war verschrumpelt und voller schwarzer Flecken. Mindestens zwanzig Bäume waren davon betroffen, und es sah aus, als griffe es auch auf die Bodenvegetation über. Matt ging einige Schritte heran. »Es ist das gleiche Zeug wie auf der Blume, die du gefunden hast.« »Ich würde nicht zu nah rangehen. Kommen Sie.« »Warte.« Etwas auf dem Boden zwischen den kranken Bäumen hatte Matts Aufmerksamkeit geweckt. Er winkte Jack zu sich. Jack musste einige Male blinzeln, bevor er glaubte, was er da sah. Im Waldboden war etwas, das man nur als einen Riss beschreiben konnte. In seinem Zentrum war 314 eine tiefe schwarze Leere, die aussah wie der endlose Weltraum. Jack wurde schwindlig, als er hinschaute; er hatte das Gefühl, dass er in die Unendlichkeit stürzen würde, falls er in das Loch hineinfiele. »Was ist das?«, fragte er leise. »Keine Ahnung.« Matt starrte noch einen Moment lang auf den Riss im Boden und ging dann mit Jack zum Pfad zurück. »Wissen Sie, wie es aussah?«, sagte Jack, während sie weiterliefen. »Als ob die Krankheit, die die Bäume befallen hat, auch das Loch in den Boden gefressen hätte ... ein Loch, das alles durchdringt und immer größer wird.« Er dachte einen Moment darüber nach und fragte dann beklommen: »Was könnte es nur sein?« »Keine Ahnung. Du weißt mehr über diese Welt als ich. Ich habe den Eindruck, dass hier alles geschehen kann. Es ist wie in einem Traum... oder wie in einem Albtraum. Es ist sinnlos, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.« Er legte Jack eine Hand auf die Schulter. »Es gibt Wichtigeres, worüber wir uns Sorgen machen sollten.« »Ich hoffe, die anderen sind den Flüsterern auch entkommen.« »Dabei denkst du vor allem an Mahalia.« Jack errötete. »Ich habe gesehen, wie du dich ihr gegenüber verhalten hast.« »Sie ist nett. Ich mag sie.« Matt zuckte die Achseln. »Ich persönlich denke, du hast dir da ein ganz schönes zickiges Biest aufgehalst. Sei vorsichtig mit ihr.« Er schüttelte den Kopf. »Was erzähle ich da? Ich klinge ja wie dein Vater.« Jack lachte. »Ich habe meinen Vater nie kennen gelernt. Aber für den Moment machen Sie sich gar nicht so schlecht.« 315 »Komm mir jetzt nicht mit irgendwelchen Vaterpflichten. Ich habe genug um die Ohren, auch ohne mich um einen Adoptivsohn kümmern zu müssen.« Er streckte seine schmerzenden Schultermuskeln und schob Bogen und Köcher zurecht. »Ich fühle mich, als würden wir seit Wochen durch die Gegend marschieren.« »Sind wir vielleicht auch. Man weiß hier nie so genau. Ich finde immer noch, wir hätten warten sollen ...« »Darüber haben wir doch gesprochen.« Matt stellte sich vor den Jungen und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Wir wurden bei dem Angriff in alle Winde zerstreut. Es war reiner Zufall, dass du mir über den Weg gelaufen bist. Falls die anderen entkommen sind, könnten sie weit vor uns sein. Das Beste, was wir tun können, ist, diesen Hof zu finden, von dem Triathus sprach, und dort auf die anderen zu warten.« Sie gingen weiter, doch es dauerte nicht lange, bis Jack sagte: »Wissen Sie, mir gefällt es.« »Was? Ohne Proviant im Wald umherzuirren und nicht zu wissen, ob man hinter der nächsten Biegung abgeschlachtet wird?« »Nein. Bei Ihnen zu sein ... unter Leuten zu sein. Ich hatte mein ganzes Leben lang nie Kontakt zu Menschen. Nur zu dem Goldenen Volk.« Wut wallte in ihm auf, doch er verdrängte sie gleich wieder. »Können Sie sich das vorstellen? Ohne andere Menschen zu leben, sie nur aus Geschichten zu kennen, sie höchstens mal an der Grenze zwischen den Welten aus der Ferne zu sehen? Aber nie mit ihnen zusammen zu sein?« »Ja, und jetzt sieh dir die ersten Leute an, denen du begegnet bist - eine Gruppe von durchgeknallten Lügnern und Versagern.« »Nein, das ist nicht wahr!«, sagte Jack. »Ich sehe viel mehr, als Sie glauben - gerade weil ich von den Men316 sehen getrennt war.« Matt sah ihn erstaunt an. »Ich erkenne, wie jemand wirklich ist«, fuhr Jack fort. »Jeder versteckt sich hinter seiner Fassade, und bei manchen sind die Mauern dicker als bei anderen. Nehmen Sie Professor Crowther. Er kann sehr unfreundlich sein, aber er hat vor allem Angst. Er tut so, als wäre er der Situation gewachsen, dabei ist er ihr überhaupt nicht gewachsen.« »Du bist also auch Teilzeit-Psychoanalytiker.« Matt lachte. »Und Mahalia fürchtet sich auch, versucht aber, stark zu wirken. Genau genommen habt ihr alle Angst, aber keiner möchte es zeigen.« »Was ist mit Caitlin? Was gibt es über sie zu sagen?«
»Man sieht, dass Sie sie mögen.« Matt schaute weg. »Gut. Lassen wir das.« »Und Sie ...« »Warte!« Mit einer Handbewegung bedeutete Matt ihm zu schweigen. »Hörst du das?« Aus der Ferne war ein dumpfes Rauschen zu vernehmen. »Das müssen die Stromschnellen sein«, sagte Jack. Sie eilten über den Pfad, bis das üppige Grün der Bäume abrupt dem strahlend blauen Himmel wich. Ihnen wurde unversehens schwindlig, denn sie standen am Rand einer blanken Granitwand, die jäh zu den reißenden Stromschnellen des Flusses abfiel. Die Schlucht war kaum breiter als die Länge eines Fußballfelds, und der dichte Wald reichte bis an die Felskante heran, sodass die Äste der uralten Eichen und Eiben weit über den Abgrund hinaushingen. Wenn man nicht auf dem Pfad lief, würde man unvermittelt zwischen den Bäumen hervorkommen und in die Tiefe stürzen. Matt langte nach einem Ast. »Mann, ist das tief.« Der Pfad führte auf grob in den Granit gehauenen Stufen zu einem zehn Meter unter ihnen liegenden Felsvor317 sprung und verschwand dann hinter einer Biegung. Es gab kein Geländer, nichts was einen Absturz verhindern würde, falls man auf den kaum unterarmbreiten Stufen ausrutschte. »Wir könnten hier oben auf die anderen warten«, sagte Jack. »Ich finde, wir sollten wenigstens rausfinden, was hinter der Biegung liegt«, erwiderte Matt und zwinkerte Jack zu. »Vergiss nicht - es ist nicht der Sturz, der einen umbringt.« »Sondern?«, fragte Jack, doch Matt ging bereits auf die Stufen zu. Im Innern der Schlucht verursachten die Stromschnellen ohrenbetäubenden Lärm. Matt und Jack stiegen vorsichtig Stufe um Stufe hinunter, hielten sich an Rissen und Spalten im Granit fest, um in einem unachtsamen Moment nicht von einer Windbö in die Tiefe gerissen zu werden. Manchmal hatte Jack so große Angst, dass er stehen blieb und Matt ihm aufmunternd zureden musste. Und dann kamen sie schließlich um die Biegung, und was sie von dort aus erblickten, ließ sie alle Furcht vor dem Abgrund vergessen. Eine Stadt war in die Granitwand gebaut. Monolithische Steinblöcke bildeten die Basis des Aufbaus, aus dem Balkone und Terrassen, Strebepfeiler und Wasserspeier hervorragten, sodass man nicht einmal im Ansatz erkennen konnte, wie es gelungen war, an einer so gefährlichen Stelle eine so prachtvolle Stadt zu erbauen. Darüber hinaus gab es einen zweiten Architekturstil, der wesentlich anmutiger und graziler war, mit Glas, Silber und Bronze, in weit geschwungenen Bögen angelegt, mit riesigen Fenstern, die das Licht tief in die Stadt einließen, die, wie es schien, weit in den Fels hineinreichte. 318 Merkwürdigerweise ergänzten sich die beiden Stile perfekt, sodass der Gesamteindruck äußerst beeindruckend war; es sah gleichzeitig einladend und ein bisschen erschreckend aus. »Ist das der Hof der Singenden Träume?«, fragte Matt ehrfürchtig. »Ja«, sagte Jack. »Das ist er.« Als Thackeray die erstarrten Rolltreppenstufen in die New Street Station hinabging, schälte sich das Licht Hunderter Fackeln aus dem Halbdunkel. Sie hingen überall an den Wänden der weitläufigen Bahnhofshalle und ließen öligen Rauch zur Decke steigen. Dahinter lag der vertraute Geruch von Motoröl, der in der Luft hing wie der Geist besserer Zeiten. Thackeray kam es so vor, als beträte er das Dschungel-Lager eines Steinzeitstammes, bei dem einzig das Gesetz des Stärkeren galt, und in gewisser Weise hatte er damit Recht. Die Seuchenwächter flankierten ihn, ihre schweren Motorradstiefel knallten auf die Metallstufen. Er war sich bewusst, dass sie Gewehre, Messer und Äxte trugen, doch die Schmerzen in seinen Armen, an den Rippen und am Kiefer stammten von den zahllosen Fausthieben, die auf ihn eingeprasselt waren. Er konnte fast spüren, wie sich auf seiner Haut blaue Flecken ausbreiteten. Als sie auf die Fahrschein-Schranken zugingen, sah er, dass man diese mit einer Mauer aus Stacheldraht versperrt hatte. In der Mitte befand sich ein schwer befestigtes Tor. Der Anführer des Trupps hämmerte dreimal dagegen und trat dann zurück, damit das Tor aufschwingen konnte. Zwei kahl rasierte Schlägertypen mit Schrotflinten traten heraus. Einer trug die St.-George-Fahne auf seinem T-Shirt, der andere eine billige Lederjacke, die sich über seinen Bierbauch spannte. Thackerays Herz 319 verkrampfte sich, als ihm bewusst wurde, dass die Leute, derentwegen er früher einen Pub verlassen hätte, heute die Welt regierten. Sie schoben ihn vorwärts, vorbei an weiteren Fackeln und einer brennenden Tonne, die auf dem kalten UBahnhof etwas Wärme verbreitete. In einer Art Empfangsraum, der mit teurem Mobiliar, Antiquitäten und Kunstwerken voll gestopft war, kündigte man sein Erscheinen an. Dann brachte der Anführer des Seuchenwächter-Trupps ihn in ein Büro, das einst einem gesichtslosen Angestellten der Birminghamer Verkehrsbetriebe gehört hatte und heute ein beeindruckendes Zeugnis von schlechtem Geschmack, krimineller Energie und rücksichtsloser Raffgier war. Der erste Punkt war für Thackeray wahrscheinlich der schlimmste. Buckland saß in einem Ledersessel, die Beine auf dem Tisch, und trank Whiskey aus einem Kristallglas. Er sah ein bisschen aus wie Boris Karloff, mit tief liegenden Augen, einer eisigen Blässe und zurückgekämmtem silbernem Haar, obwohl er vermutlich erst Mitte vierzig war. Mit kalter Verachtung blickte er zu Thackeray
hinüber und widmete sich dann wieder seinem Pornomagazin. Der Seuchenwächter flüsterte ihm ein paar Worte ins Ohr, bevor Buckland das Heft zur Seite warf und herüberkam. »Was ist los mit euch Leuten?«, sagte Buckland, verärgert darüber, dass man ihn bei seiner Lektüre gestört hatte. Er war gebildet, aber nicht besonders intelligent; Thackeray sah es an seinen Augen. Er überlebte durch seine Heimtücke und durch die Fähigkeit, härter und brutaler zu sein als seine Konkurrenten. »Du kennst doch die Regeln«, fuhr Buckland fort. »Jeder in meinem Gebiet kennt sie. Sie dienen dem Wohl der Menschen, die hier leben. Bist du asozial, oder was?« 320 Thackeray hätte beinahe laut aufgelacht, aber eine sehr grundlegende Angst half ihm, nicht das Gesicht zu verziehen. »Regel Nummer eins: Private Vorräte sind verboten. Zum Wohle der Menschen werden alle Lebensmittel zentral gelagert. Kennst du diese Regel?« Thackeray nickte; es war sinnlos zu lügen. »Regel Nummer zwei: Der leiseste Hinweis auf die Seuche muss gemeldet werden, damit wir die entsprechenden Maßnahmen ergreifen können.« »Ich kenne niemanden, der sich angesteckt hat.« Buckland schob sein Gesicht dicht an Thackerays; er roch nach Fleisch. »Nein, aber du hast Lebensmittel gehortet.« »Das war ein Irrtum ...« »O ja, das war es. Weißt du eigentlich, wie schwer es ist, in dieser Scheißwelt für Recht und Ordnung zu sorgen? Weißt du das, du kleiner Hosenscheißer? Jeder ist ich selbst der Nächste ... keiner denkt an das Allgemeinwohl. Nur meine Wenigkeit. Und welchen Dank bekomme ich dafür? Keinen. Keinen Respekt, nichts.« Buckland stürzte seinen Whiskey hinunter und schenkte sich aus einer Karaffe einen neuen ein. Thackeray vermochte nicht zu sagen, ob Buckland seien Schwachsinn so oft heruntergebetet hatte, dass er inzwischen selbst daran glaubte. Aber er kannte die Geschichte, wie Buckland an die Macht gekommen war. Wie er in Sparkhill mit seiner Bande das Drogen- und Prostitutionsgeschäft kontrolliert und mit seinem doppelklingigen Stanley-Messer seinen Gegnern die Gesichter zerfetzt hatte, weil man in der Notaufnahme die parallelen Schnitte nicht nähen konnte. In Sparkhill liefen so viele Leute mit entstellten Gesichtern herum, dass das Viertel den Spitznamen Stanley-Town trug. Und als 321 dann der Untergang begann, die öffentliche Ordnung zusammenbrach und sonderbare Gerüchte aufkamen, was außerhalb der Stadt geschah, war Buckland der Erste, der Plünderungen und Aufstände anzettelte und die Macht an sich riss. Dann war ihm in einem Moment geistiger Klarheit bewusst geworden, dass Sparkhill zu klein für ihn war, und so hatte er seinen Einflussbereich aufs Stadtzentrum ausgeweitet und dabei zahllose neue Mitglieder für seine Mörderbande rekrutiert. Die Zeit der Stanley-Messer war vorbei; nun kamen richtige Waffen zum Einsatz. Es hieß, am ersten Tag seiner Herrschaft hätte er persönlich dreihundert Menschen umgebracht. Wer konnte sich gegen so ein Monstrum wehren? Wer hatte die Zeit und Kraft dafür, wo es doch vor allem ums persönliche Überleben ging? Das Problem sollten andere lösen. Und so war er unangreifbar geworden, Buckland, der Schlächter von Birmingham. Und Thackeray war im Begriff, ein Exempel zu werden für die vielen anderen armen Kerle, die in diesem Königreich der Verdammten ihr furchterfülltes Dasein fristeten. Buckland kam mit seinem Whiskey zurück. »Ist dir klar, dass ich an dir ein Exempel statuieren muss?« »Sie könnten mich auch einfach gehen lassen. Ich würde nichts sagen.« »So funktioniert das nicht. Die Leute sagen immer, sie würden die Klappe halten. Dann ziehen sie los, genehmigen sich einen Drink und versuchen jemanden zu beeindrucken ... eine Frau ... und plötzlich heißt es: >Buckland konnte mir nichts anhaben. Ich bin besser als er. Ich bin gerissener. Ich bin härter.< Und die meisten Menschen sind dumm - sie glauben, das Gefasel könnte wahr sein. Und dann haben wir den Salat. Ein Problem zieht das nächste nach sich. Deshalb lasse ich es gar 322 nicht erst so weit kommen und begnüge mich nicht mit halben Sachen.« Er nippte am Whiskey, während er Thackeray in die Augen starrte. Ein leises Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Du hast Angst.« »Wer hätte das nicht an meiner Stelle?« »Stimmt.« Buckland trank einen Schluck und warf dem Seuchenwächter einen Blick zu; der Mann ging zu der Tür im hinteren Teil des Zimmers. »Du bist ein schlauer Kerl«, fuhr Buckland fort. »Das sehe ich. Ich besitze eine gute Menschenkenntnis. Du weißt, dass sich die Dinge verändert haben.« Er saugte an seiner Unterlippe, während er nach der richtigen Formulierung suchte. »Dir ist bekannt, dass es dort draußen Wesen gibt, von deren Existenz du vor einiger Zeit nicht mal geträumt hättest.« »Ich habe Geschichten gehört.« »Das sind keine Geschichten. Es ist die Wahrheit. Diese Wesen sind ... übernatürlich.« Er nickte voller Stolz über seine Wortwahl. »Und weißt du, wie hart ich bin? So hart, dass ich eins von ihnen gefangen genommen habe. Ich bin so hart, dass es inzwischen alles tut, was ich von ihm verlange, wie ein dressierter Hund, weil es eine Scheißangst vor mir hat. Kannst du dir das vorstellen?« Thackeray wurde schlecht. Harvey hatte Recht gehabt. Er hatte erwartet, dass man ihn erschießen oder totschlagen würde. Nun aber fragte er sich beklommen, welches Schicksal ihn ereilen würde. Wenn Buckland
sich diesen besonderen Schrecken aufgehoben hatte, um jemandem eine Lektion zu erteilen, dann musste es grauenvoller sein als alles, was er sich vorstellen konnte. »Ich glaube, du musst es kennen lernen.« Buckland deutete auf die Tür, vor der der Seuchenwächter stand. Thackeray dachte an Caitlin. 323 Nachts waren auf den Straßen nur zwielichtige Gestalten unterwegs, die durch die Dunkelheit huschten und die Stellen mieden, wo Fackeln die Finsternis erhellten. Überall roch es nach Fäkalien und Verwesung. In einer Gegend boten Frauen im Tausch gegen Nahrung ihre Körper feil; sie wähnten sich in Sicherheit, weil sie so viele waren. Kinder warfen mit Steinen nach Ratten, die zu tausenden die müllübersäten Straßen bevölkerten und selbst vor Angriffen auf Menschen nicht Halt machten. Und ständig fuhren Seuchenwächter auf ihren Motorrädern vorbei und hielten Ausschau nach Kranken, erschossen einige, trieben andere zu den Todeshäusern. Caitlin streifte wie ein Geist durch die nächtliche Stadt. Harvey ging voran, schaute gelegentlich unsicher zu ihr zurück. Er fürchtete sich ein wenig vor der Frau, die noch wenige Stunden zuvor so schwach und ungefährlich gewirkt hatte. In Caitlins Kopf ertönte das Geflüster der Kriegsgöttin, die ihr schreckliche Geheimnisse anvertraute, von grausamen Schlachten berichtete und künftige Ereignisse andeutete. Caitlins eigene innere Stimme wirkte dagegen unbedeutend, aber sie waren beide da, Seite an Seite, Schwestern des Blutes. »Die New Street Station ist da vorne«, sagte Harvey und zuckte zusammen, als er sah, dass Caitlin bereits einen Pfeil an die Bogensehne gelegt hatte. »Glaub mir, es ist sinnlos. Du kommst nicht an den Wachen vorbei. Es sind Tausende! Außerdem ...« Seine Stimme nahm einen traurigen Klang an. »Außerdem ist Thackeray längst tot.« »Du magst ihn doch, oder?« Caitlin schaute zum Eingang des U-Bahnhofs. Nichts regte sich. »Er ist ein feiner Kerl, der beste, den ich kenne. Es gibt 324 nicht viele, die bei mir geblieben wären.« Er wandte sich von ihr ab. »Ich tauge zu nichts. Ich bin bloß eine Belastung für andere. Ohne mich wäre Thackeray besser zurechtgekommen. Er weiß, wie man überlebt. Aber er blieb bei mir. Das werde ich ihm nie vergessen.« »Wenn ich runtergehe, hältst du dich im Hintergrund, dann gerätst du nicht in die Schusslinie.« »Keine Sorge - ich werde ein Punkt am Horizont sein. Du bist verrückt, weißt du das?« Er trat einen Schritt zurück, für den Fall, dass sie ihm eine Ohrfeige verpassen wollte. »Du bist nicht der Erste, der das sagt.« Eine Hand tastete nach dem Köcher, prüfte den Vorrat an Pfeilen. »Ich muss sie mir unterwegs zurückholen ... es sind nicht mehr viele.« »Bist du dir sicher, dass du dir keine richtige Waffe besorgen willst? Es wäre ...« »Na los.« Sie schob sich an ihm vorbei und ging auf nen U-Bahnhof zu. Eine kräftige Hand stieß Thackeray in den angrenzenden Raum, und die Tür schloss sich hinter ihm. Anfangs war er sich nur seines pochenden Herzens und seiner kurzen Atemzüge bewusst. Dann bemerkte er den grässlichen Gestank von verfaultem Fleisch. Es war stockfinster, bis seine Augen sich daran gewöhnten und er ein schwaches Licht wahrnahm, das durch kleine Löcher in den Wänden strömte. Es reichte gerade aus, um zu erkennen, wo der Bewohner des Raumes lag. Zuerst sah er aus wie ein Schatten, der dunkler war als das vorherrschende Halbdunkel. Aber dann regte er sich, richtete sich in der Ecke auf, wo er an irgendetwas geknabbert hatte, und seine Haut glänzte wie Öl. Man erkannte drohend starrende Augen, ein Maul mit 325 einem gewaltigen, vorstehenden Unterkiefer, dazu eine Art Brustpanzer und dicke Knorpelwülste an der Stirn; aber jedes Mal, wenn Thackeray sich auf ein Detail konzentrierte, veränderte es sich, sodass er insgesamt nur etwas Monströses und Tödliches wahrnahm. »Sie nennen sich Fomorii«, hatte Buckland gesagt, bevor er ihn in den Raum gestoßen hatte. »Der Untergang geschah während eines Kriegs zwischen ihnen und irgendwelchen ... Göttern. Die Fomorii haben verloren und waren mit einem Mal verschwunden, einfach so. Außer dem da drin. Er konnte nicht weg, weil ich ihn einkassiert hatte.« Thackeray hatte keine Ahnung, woher Buckland das alles wusste oder ob er es sich nur ausgedacht hatte. Ihm war schleierhaft, wie der Verbrecher ein solches Wesen gefangen halten und seinem Willen beugen konnte, doch das spielte nun keine Rolle mehr. Der Fomor richtete sich zu voller Größe auf; er maß fast drei Meter. Seine Gestalt war fließend und wurde mit jeder neuen Inkarnation grauenvoller, bis Thackeray glaubte, schon der bloße Anblick würde ihn in den Wahnsinn treiben. Caitlin schlich lautlos die Rolltreppe hinunter. Der Kontrast zwischen dem Fackellicht und der tiefen Dunkelheit drum herum hätte die meisten Menschen verwirrt, doch Caitlins Sehvermögen funktionierte nun auf einer anderen Ebene. Es war, als schaute sie durch einen Rot-Filter. Sie sah alles, was sich im Schatten verbarg, und auch die Entfernung spielte keine Rolle; sie nahm jedes kleine Detail im U-Bahnhof wahr. Sie sah die Stacheldrahtmauer an den Fahrscheinschranken und in der Mitte die Tür, die auf Augenhöhe einen verschlossenen Sehschlitz hatte.
326 Caitlin hustete laut. Der Sehschlitz wurde geöffnet, und zwei runde Schweinsäuglein spähten hinaus. In einer fließenden Bewegung hob Caitlin den Bogen, zog den Pfeil zurück und ließ ihn los. Er zischte durch die Halle, flog durch den Schlitz und schlug mitten zwischen den Augen ein. Der Kollege ihres Opfers schrie entsetzt auf. Sie erwartete nur Dummheit und wurde nicht enttäuscht. Ein zweites Augenpaar erschien im Sehschlitz, doch diesmal schoss sie nicht darauf. Sie stand schon vor der Tür und lächelte unschuldig; sie hielt den Bogen so, dass ihr Gegenüber ihn nicht sah. »Schnell«, sagte sie atemlos, »lass mich rein ... bevor er mich erwischt.« Der Wachmann handelte instinktiv und öffnete die Tür ein Stück. Caitlin huschte hinein. Ihre Schnelligkeit erstaunte den Wachmann, doch er konnte nicht lange darüber nachdenken, denn ihre Hand schoss an seine Kehle und bohrte sich zur Luftröhre durch. Sie krümmte die Finger und wühlte in der Wunde herum, bis sie ihm die Halsschlagader aufgerissen hatte. Blut schoss heraus, spritzte auf den Boden und an die Wand. Der Wachmann stürzte, fasste sich an den Hals und begriff noch immer nicht so recht, was geschehen war. Es war doch nur eine Frau; eine Frau, verdammt noch mal. Nachdem sie sich den Pfeil zurückgeholt hatte, eilte Caitlin den Gang hinunter, aber dann hörte sie Harvey rufen und blieb im Lichtkreis einer Fackel stehen, um auf ihn zu warten. Harvey sah, dass sie von Kopf bis Fuß mit Blut bespritzt war. »Allmächtiger!«, rief er. »Du siehst ja aus wie ... Carrie\« Aus den umliegenden Räumen stürmten Seuchenwächter und andere Wachen heraus. Caitlin wandte sich 327 zu ihnen um, die emotionslosen Augen weit aufgerissen. In ihrem Kopf schwoll das drohende Flüstern der Kriegsgöttin zu einem hasserfüllten Schlachtruf an. Caitlin hob den Bogen. Die Pfeile surrten durch den Gang. Vier Männer gingen tödlich getroffen zu Boden, bevor den anderen überhaupt klar wurde, dass Caitlin bewaffnet war. Obwohl sie bloß eine Frau war, ging einer von ihnen kein Risiko ein. Er hob sein Gewehr und schoss auf sie. Die Explosion schallte durch den Gang, und die Kugel schlug dort ein, wo Caitlin eben noch gestanden hatte. Aber da hatte sie ihm schon das Gewehr entrissen und mit dem Kolben den Unterkiefer zertrümmert. Als er zu Boden sank, hob sie das Gewehr über den Kopf und ließ es dreimal herabsausen; sie schlug ihm den Schädel ein, bis Hirnmasse auf den Fußboden quoll. Die restlichen Männer waren wie erstarrt. Es waren kräftige Kerle, an Brutalität gewöhnt, doch sie wussten nicht, wie sie auf die Frau reagieren sollten, die wie ein tosender Wirbelwind zwischen ihnen herumsprang. Einen schlug sie mit dem Gewehrkolben nieder, und noch bevor er zu Boden gegangen war, hatte sie ihm die Machete entwunden und einem anderen damit den Bauch aufgeschlitzt. Drei weitere Männer fielen, bevor man ihr die Machete aus der Hand stieß; sie ging dem Mann an die Gurgel und biss sich darin fest. Als sie von ihm abließ, spuckte sie Blut und Haut aus und merkte, dass sie allein war. Der Fomor spielte mit ihm wie ein Löwe im afrikanischen Busch mit seiner Beute. Thackeray war zweimal unter den Prankenhieben hinweggetaucht und in die andere Ecke gerannt, doch er wusste, dass er das Unausweichliche nur hinauszögerte. Und er hatte entdeckt, 328 was das Unausweichliche war: In einer Ecke lag ein Haufen sauber abgenagter Knochen, die eindeutig von Menschen stammten. Trotz seiner Größe und Kraft bewegte sich das Ungetüm geschmeidig durch den Raum, während es weiterhin ständig sein Äußeres veränderte: Aus Brustpanzern wurden grausam aussehende Stachel, die sich wiederum in mächtige Fledermausschwingen verwandelten ... Thackeray duckte sich unter einer heranfliegenden Pranke, doch die messerscharfen Krallen trafen ihn am Rücken und rissen ihm die Haut auf. Als er sich fluchend abrollte, schoss der Kreatur ein Stachel aus dem Oberschenkel, der ihn um wenige Zentimeter verfehlte und ein Loch in die Wand rammte. Eigentlich kannst du aufgeben, dachte Thackeray. Doch er brachte es nicht fertig. Ein heftiger Schlag hätte ihm beinahe den Kopf von den Schultern gerissen. Er schmeckte Blut im Mund und spürte, wie es ihm über den Rücken und in die Augen lief. Allmählich wurde der Fomor seines Spielkameraden überdrüssig, deswegen schlug er immer schneller und härter zu. Thackeray rollte sich zur Seite, als eine Faust auf ihn herabfuhr und am Boden eine Wolke aus Betonstaub aufwirbelte. Doch durch das schwungvolle Ausweichmanöver stieß er mit dem Kopf an die Wand und blieb halb ohnmächtig liegen. Seine Zeit war abgelaufen. Licht fiel in den Raum. In seiner Benommenheit dauerte es einen Moment, bis er begriff, dass die Tür aufgeflogen war. Jemand stand dort; die Umrisse hoben sich vom Fackellicht dahinter ab, und als die Gestalt hereinkam, erblickte Thackeray eine grauenvolle Erscheinung, die von Kopf bis Fuß mit Blut beschmiert war und aus 329 hellen Augen ins Dunkel starrte. Sie hielt eine Machete in der Hand, doch Thackeray blieb nur ein kurzer Moment, dies zu registrieren, denn dann trat die Gestalt in Aktion. Sie stürzte sich auf den Fomor und ließ die Klinge wie einen metallenen Blitz durch die Luft schnellen; goldene Funken sprühten, als die Machete von der Panzerung abprallte. Das Ungetüm stieß ein nicht-menschliches
Heulen aus, und dann durchlief es eine rasend schnelle Folge von Mutationen. Es war unmöglich für Thackeray, das Geschehen zu verfolgen, denn alles passierte in unglaublicher Geschwindigkeit. Er erhaschte nur kurze Schnappschüsse eines in seiner Intensität apokalyptischen Titanenkampfes. Irgendwie gelang es der schlanken Gestalt, den Klauen, Stacheln und Fängen stets im letzten Moment auszuweichen und gleichzeitig mit der Machete nach einer Schwachstelle am Körper des Ungetüms zu suchen. Thackeray glaubte nicht, dass es eine solche gab - der Fomor war zu sehr eine Tötungsmaschine -, aber dann spritzte neben ihm plötzlich eine schwarze Flüssigkeit auf den Boden und brannte sich zischend in den Beton. Das Gebrüll des Ungetüms schraubte sich in derartige Höhen, dass Thackeray sich fast übergeben hätte. Die schwarze Flüssigkeit spritzte dem Fomor aus mehreren Wunden. Er taumelte, doch die Gestalt ließ nicht von ihm ab, sondern hackte wie im Blutrausch weiter auf ihn ein und nutzte es aus, dass das Ungetüm sich immer weniger panzern konnte. Schwarze Fleischbrocken fielen auf den Boden, gefolgt von zuckenden Fingern und dann ganzen Gliedmaßen. Selbst als der Fomor zuckend am Boden lag, ließ die Gestalt immer wieder die Machete auf ihn herabsausen, bis nur noch unkenntliche Fleischklumpen von ihm übrig waren. Thackeray musste den Blick abwenden. 330 Im nächsten Moment stand die Gestalt über ihm, und er fragte sich, ob er jetzt an der Reihe war. Überrascht sah er, dass es eine Frau war. Allmählich dämmerte es ihm. Der einsetzende Schock war so heftig, dass er nur verständnislos zu ihr aufstarren konnte. Schließlich reichte sie ihm eine blutverschmierte Hand und half ihm auf die Beine. »Mein Name ist Caitlin«, sagte sie. Trotz allem, was er erlebt hatte, schauderte er, als er ihre Stimme hörte. »Was bist du?«, fragte er. Sie warf die Machete zu Boden, und einen Moment lang glaubte er, Tränen in ihren Augen zu sehen. Dann warf sie sich ihm mit der gleichen Vehemenz, mit der sie den Fomor attackiert hatte, in die Arme und küsste ihn so heftig, dass er Sterne vor den Augen sah. Die Heftigkeit des Kusses und die knisternde Energie, die dahinterlag, ließen Thackeray wieder zu Boden sinken. Er war zu geschwächt, um sich zu widersetzen, und wollte es auch gar nicht. Sie küsste ihn weiter, dann biss sie ihm ins Gesicht, in den Hals und den Nacken, in die Hände und überall auf seinem Körper, bevor sie von ihm abließ und erst ihm und dann sich selbst die Kleidung vom Leib riss. Ihre Brüste und ihr Bauch schimmerten weiß im Kontrast zum blutigen Rot der Hände und des Gesichts. Ihr Haar flog durch die Luft, während sie das Becken an seines presste und ihm Blut aufs Gesicht und die Brust tropfte. Ihre Fingernägel schnitten ihm schmerzhafte Furchen in die Haut, doch vor sexueller Ekstase merkte sie gar nicht, dass sie ihm wehtat. Thackeray ließ sich von ihrer Wildheit mitreißen und gab sich ihr ganz hin. Caitlin war wie eine Droge; sein Blut pochte, in seinem Kopf drehte sich alles. Es war ein halluzinogenes Begehren, etwas Transformierendes, etwas Heiliges, das zwischen ihnen geschah, knisternde 331 blaue Energie, die jenseits des Körperlichen lag. Caitlin war alles, was er sich immer gewünscht hatte. Als sie ihm die Hose von den Beinen gezerrt hatte, stellte sie mit Mund und Händen sicher, dass er voll erigiert war, und dann setzte sie sich auf ihn und ließ ihn in sich hineingleiten. Sie ritt auf ihm wie von Sinnen, beugte sie zu ihm herab und küsste und biss ihn, und überall war Blut, auf ihm, in seinem Blickfeld, in ihrem Haar. Als er in einer Explosion reinster Euphorie ejakulierte, ließ sie nicht von ihm ab, sondern machte weiter, bis Sekunden später auch sie einen Orgasmus hatte. Erst dann sank sie mit pochendem Herzen auf seine Brust. Es fühlte sich an, als hätte sie ihm alles gegeben, was in ihr war. »Ich glaube, ich liebe dich«, sagte er und strich über ihr klebriges Haar. Sie zogen sich an und gingen in Bucklands Büro. Der Gangsterkönig lag in der Ecke und stöhnte leise vor sich hin. Seine Kniescheiben waren zertrümmert. Er fluchte laut, als Caitlin und Thackeray hereinkamen. Harvey stand an der Tür, ängstlich und zugleich außer sich vor Freude. »Ich dachte, du wärst tot«, sagte er mit schiefem Blick. »War ich auch fast ... eine Minute später wäre es so weit gewesen.« »Ich bin froh, dass du durchgehalten hast.« »Ja. Sieht so aus, als müsstest du es noch eine Weile mit mir aushalten.« Sie standen etwas verlegen da, waren unfähig, ihre Emotionen auszudrücken, und dann deutete Thackeray auf Caitlin. »Sie ist unglaublich, was?« »Ja. Wer hätte das gedacht?« Harvey schaute unsicher zu ihr hinüber. »Wie jemand aus Matrix.« »Eher wie Red Sonja. Erinnerst du dich an Conan, der 332 Barbar? Das Teufelsweib mit dem Schwert? Nun, bei uns hat sie eine Machete.« »Sie sind alle tot.« Harvey deutete mit dem Daumen auf den Gang hinaus, der in die Bahnhofshalle führte. »Jeder Mann, den der Drecksack hatte.« Thackeray schaute Caitlin in die Augen. Er wusste nicht so recht, was er dort erblickte, aber es war gewiss nicht die Leere, die er bei der Frau gesehen hatte, in die er sich ursprünglich verliebt hatte. »Kann ich dich überhaupt meiner Mutter vorstellen?«, fragte er scherzhaft. »Warum hast du ihn nicht kaltgemacht?« Harvey nickte in Bucklands Richtung, der vor Schmerzen allmählich das Bewusstsein verlor.
»Er muss sich seinem persönlichen Fegefeuer stellen.« Caitlins neue Klarsicht, die sie besaß, seit die Morrigan aus dem Dunkel herausgetreten war, erwies sich als Offenbarung. Als Caitlin auf Buckland schaute, sah sie kleine Teufel über ihm tanzen und ihm entlang seiner Körpermeridiane, durch die das Chi - seine Lebenskraft floss, die Seuche einspritzen. Sie wusste jetzt, was es mit der Krankheit auf sich hatte: Sie griff die elementare Kraft an, die alles zusammenhielt; sie zerstörte die lebensspendende Essenz, auf der die Realität des Seins beruhte. Und man hatte die Seuche nicht erschaffen, um bloß den Menschen auszurotten; sie sollte alles auslöschen, erst das Blaue Feuer, dann die physische Materie. Die Seuche sollte das gesamte Sein vernichten. Diese schauerliche Heimsuchung konnte durchaus natürlichen Ursprungs sein, doch Caitlin vermutete, dass eine Intelligenz dahintersteckte. Etwas hatte diese Seuche über die Welt gebracht; etwas wollte das Sein zerstören. Und dies brachte sie auf den Gedanken, dass womöglich alles miteinander zusammenhing - die Seuche, die Flüsterer, der Versuch, sie - Caitlin - umzubrin333 gen. Aber wer oder was wollte das gesamte Sein auslöschen? Wer konnte so etwas wollen? »Also, verschwinden wir jetzt?«, fragte Thackeray. »Buckland stellt keine Bedrohung mehr dar. Was du ihm angetan hast, kommt in einer Welt ohne medizinische Versorgung einem Todesurteil gleich.« »Er hat es verdient«, sagte Caitlin tonlos. »Wir könnten ja seine Nachfolger werden«, sagte Harvey. »Mit einem Oberboss wie ihr würde sich niemand gegen uns stellen.« »Nein«, sagte Thackeray. »Das ist mir zu viel Verantwortung. Ich würde lieber in den Urlaub fahren.« Er sah Caitlin hoffnungsvoll an, doch ihre Miene verriet ihm alles, was er wissen musste. Sie standen auf einem der Bahnsteige; die brennende Fackel, die Harvey hielt, sorgte für etwas Licht in der beklemmenden Dunkelheit. Thackeray hatte die Arme um Caitlin gelegt und zog sie an sich, um ihre Weichheit zu spüren. »Musst du wirklich gehen?« »Ja. Die Menschen zählen auf mich.« Sein Seufzen sollte dramatisch klingen, doch es klang nur traurig. »Na ja, irgendwie ist es verständlich, dass du aus Birmingham verschwindest. Wer würde das nicht gerne?« »Du könntest auch fortgehen.« »Sollte man meinen, was?« Er schaute ihr in die Augen und versuchte gleichmütig zu wirken. »Ich könnte dich ja begleiten.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass ich zurückkehren werde, Thackeray. Was ich tun muss ... nun, mein Instinkt sagt mir, dass es mich das Leben kosten wird. Diese Geschichten enden immer tragisch.« 334 »Ja. Weißt du, diese Sache mit der Verantwortung ... Ich kenne das Wort eigentlich gar nicht.« Sie beugte sich vor und küsste ihn zärtlich auf die Lippen. Es war eine ganz sanfte Berührung, aber dennoch so potent wie die Leidenschaft, die er zuvor erlebt hatte. Ein Kribbeln fuhr ihm über die Haut. Tief im Herzen wusste er, dass er nie wieder eine Frau finden würde, die ihm so viel bedeutete. Man konnte ihre gemeinsame Zeit in Tagen zählen, doch die Verbundenheit, die er ihr gegenüber empfand, war so tief und andauernd wie der Ozean. Er wollte ihr sagen, wie sehr er sie brauchte und dass er wusste, dass auch sie ihn liebte, selbst wenn ihr das noch nicht klar war. Aber er wusste, dass es sinnlos war. Sie konnte nicht bleiben; die Verantwortung lastete wie ein Mühlstein auf ihren Schultern. »In der Welt, mit der wir es zu tun haben«, sagte er, »geschehen einfach zu viele traurige Dinge.« Sie lächelte, und erneut sprang ein Funke der Leidenschaft zwischen ihnen über, doch die Intensität des Gefühls tat ihm fürchterlich weh. Sie löste sich von ihm, und seine Hände glitten an ihren Seiten herunter. »Mach's gut, Harvey«, sagte sie winkend. Ein Anflug von Erleichterung lag in seinem Lächeln. »Wasch dir demnächst mal die Haare, Red Sonja.« Sie lachte und sprang vom Bahnsteig auf die Gleise. Sie sahen ihr nach, während sie langsam auf den Tunnel zuschritt und sich noch einmal umdrehte, bevor die Dunkelheit sie verschluckte. In dem Moment glaubte Thackeray, er müsse sterben. Harvey klopfte ihm auf die Schulter. »Tut mir leid für dich, Kumpel. Aber sieh's mal von der Seite ... du hättest dich nie mit ihr anlegen können.« Thackeray versuchte, mit seinem Blick die Dunkelheit zu durchdringen, und stellte sich vor, wie Caitlin in die 335 Nacht hineinschritt, entschlossen, schön und wild, wie die Natur. »Ich wäre für sie durchs Feuer gegangen, Harvey. Ich würde ihr bis ans Ende der Welt folgen. Und darüber hinaus.« »Du bist ein unverbesserlicher Romantiker, Thackeray. Es ist ein Wunder, dass du überhaupt Freunde hast.« Harvey wandte sich um und wedelte mit der Fackel in Richtung Ausgang. »Komm ... wir holen uns Bucklands Whiskey-Vorrat.« 13 Am Hof der Singenden Träume »O Freiheit! Welche Verbrechen begehet man in deinem Namen!«
MADAME ROLAND Crowther schwitzte aus allen Poren; er war gereizt, denn der Pfad nahm einfach kein Ende. Es war drückend schwül unter dem dichten Blätterbaldachin, und selbst die ausgiebigen Trinkpausen an den vielen kleinen Waldbächen halfen ihm nicht gegen sein Unwohlsein. Mahalia sagte kaum etwas, doch was ihn beunruhigte, war der Umstand, dass sie, wenn sie doch einmal sprach, höflich, nachdenklich, ja fast gutmütig freundlich klang. Er befürchtete, dass die Belastung, die Carltons Tod für sie darstellte, sie irgendwann zerstören könnte. »Vielleicht hilft es dir, wenn du über ihn sprichst«, sagte Crowther. »Ich meine, über den Jungen ... Carlton ...« »Da gibt's nichts zu erzählen.« »Wie hast du ihn denn kennen gelernt?« Sie überlegte einen Moment lang, dann sagte sie: »Es war irgendwann nach meiner Flucht vom ... Dachboden. Es war ein hartes Leben, ich habe überall nach etwas Essbarem herumgestöbert ...« Sie verzog das Gesicht. »Ich habe die widerlichsten Sachen gegessen, um nicht zu verhungern. Daraus habe ich gelernt, dass man alles tut, 337 um zu überleben - alles.« Sie lief neben ihm her, sah ihn aber nicht an. »Ich glaube, Sie können sich vorstellen, wie es war - ein junges Mädchen auf der Straße ist ein leichtes Opfer. Eines Morgens haben vier Männer, vier Dreckschweine, versucht, mich zu vergewaltigen ...« Sie spie die Worte aus. »Im hellen Tageslicht, auf dem Bürgersteig in einem der großen Einkaufsviertel. Überall waren Leute. Niemand hat mir geholfen, obwohl ich geschrien habe wie am Spieß. Sie haben einfach weggesehen.« Crowther warf ihr einen Seitenblick zu und verstand die unausgesprochenen Emotionen hinter ihren Worten. »Und dann war auf einmal Carlton da«, fuhr sie fort. »Irgendwie gelang es ihm, ein paar Passanten zusammenzutrommeln - ich weiß nicht, wie er es gemacht hat, er konnte ja nicht sprechen -, aber er hatte eben eine ganz besondere Art - die Menschen haben ihn gemocht, sind ihm gefolgt ...« Sie unterdrückte ein Schluchzen und wischte sich über die feuchten Augen. »Die Passanten haben die Männer verjagt... und mich gerettet. Carlton hat mich gerettet. Und als er zu mir kam und mir lächelnd die Hand reichte, um mir aufzuhelfen, da wusste ich, dass ich einen Freund gefunden hatte - jemanden, der mir helfen würde und dem ich helfen konnte.« Crowther sah, dass sich ihre Schultern verkrampften und sie den Kopf hängen ließ. Etwas unbeholfen klopfte er ihr auf den Rücken. Es kam ihm merkwürdig vor, sie zu berühren, doch die Geste erfüllte ihren Zweck, denn Mahalia warf ihm ein kurzes, trauriges Lächeln zu. Es ließ sie wie einen ganz anderen Menschen aussehen. »Jetzt werden wir wohl nie erfahren, was es mit Carlton auf sich hatte ... und wozu er imstande war«, sagte sie. »Vielleicht war er einfach nur ein guter Mensch«, er338 widerte Crowther. »Nicht mehr und nicht weniger. Wer weiß, vielleicht hatte er die für ihn vorgesehene Aufgabe erledigt, und es gab nichts mehr zu tun für ihn.« Mahalia sah ihn merkwürdig an. »Glauben Sie an Gott, Professor?« »Früher ja, dann nicht mehr und jetzt... nun, ich lasse mit mir reden.« Die Frage bereitete ihm Unbehagen, und er wechselte rasch das Thema. »Woher kommst du eigentlich, Mahalia? Von uns allen wissen wir über dich am wenigsten. Du hast eindeutig eine gute Schulbildung genossen und stammst offenbar aus den so genannten besseren Kreisen.« Innerlich schalt er sich dafür, so gekünstelt zu klingen, aber nett zu sein fiel ihm nun mal nicht leicht. Es kam ihm vor, als wären sie zwei Blinde, die im Dunkeln nach einander tasten, um herauszufinden, ob der andere ein Tier, ein Stein oder eine Pflanze ist. Sie seufzte, und einen Moment lang glaubte er, sie würde nicht auf die Frage eingehen. Aber die Offenheit, die sie beide an den Tag gelegt hatten, machte sie mitteilIsamer als sonst. »Ich rede nicht gern über die Vergangenheit«, sagte sie. »Die ist vorbei und vergessen. Aber ... okay ... ich bin aufs Cheltenham Ladies' College gegangen. Das war ein Internat. Meine Eltern haben in Hampshire gewohnt. Mein Vater war Finanzberater. Meine Mutter hat für verschiedene Wohltätigkeitsorganisationen gearbeitet. Als Farbige hatten sie es nicht leicht in diesen Kreisen, aber sie kamen ganz gut zurecht. Als dann der Untergang begann und alles den Bach runterging, wollte ich zurück zu ihnen. Ich habe mit ein paar Freunden ein Auto geklaut, und als das Benzin alle war, bin ich den Rest gelaufen. Eine Woche später stand ich vor unserem Haus. Meine Eltern waren verschwunden.« »Hast du irgendeine Ahnung, was aus ihnen geworden ist?« 339 Sie schüttelte den Kopf, hatte aber einen abwesenden Blick, als riefe sie sich lange verdrängte Bilder ins Gedächtnis. »Auf dem Tisch standen noch zwei halb volle Teller, aber von meinen Eltern fehlte jede Spur - als hätte man sie entführt oder so. Wer weiß? Na ja, jedenfalls ... in den Berufen, die sie hatten, haben sie nichts gelernt, was ihnen beim Überleben in unserer neuen Welt hilfreich gewesen wäre. In ihrer Welt waren sie angesehene Leute, aber jetzt ... welchen Nutzen haben Menschen, die nur wissen, wie man Geld macht?« Er hob die Stimme, als ein kräftiger Luftzug durchs raschelnde Unterholz fuhr. »Du hast es mit diesem Überlebensding, was?« Sie zuckte die Achseln. »Wenn's drauf ankommt, hat man nur sich selbst. Kein anderer kümmert sich um einen.« Dem konnte er nicht widersprechen. Als er sich über die schweißnasse Stirn wischte, fiel ihm etwas auf: Wieso spürte er keine kühlende Brise auf der Haut, obwohl es im Unterholz fortwährend raschelte? Die Antwort sprang
ihn an wie ein Wolf, und er wandte sich angsterfüllt um. So weit das Auge reichte, schwebten purpurne Lichter zwischen den Bäumen. Die Flüsterer hatten sie fast eingeholt, ohne dass er es bemerkt hatte. Er verfluchte sich für seine Unaufmerksamkeit. Sein Schock vertiefte sich, als er sah, dass die Flüsterer-Armee mindestens doppelt so groß war wie in der Nacht, als sie dem Fluss entstiegen war. Hatten sie etwa die Gehennis rekrutiert oder andere der geheimnisvollen Waldbewohner? Gab es eine Art Virus, der sich rasend schnell ausbreitete und die Waldbewohner in Flüsterer verwandelte? Crowther gab Mahalia das Zeichen loszurennen. Das Mädchen war viel schneller als er und lag nach wenigen 340 Augenblicken ein gutes Stück vor ihm, während der Professor mit rotem Gesicht und brennender Lunge hinterher hechelte. Hinter ihm ließ das Hufgetrappel der Flüsterer-Rösser den Boden erbeben. Als Mahalia merkte, dass der Professor nicht mehr hinter ihr war, verlangsamte sie ihre Schritte. »Warte nicht auf mich!«, rief er ihr zu. Sie zögerte. »Ich sagte, warte nicht auf mich!« Sie rannte weiter, und er versuchte, so gut es ging mitzuhalten, während das Geflüster hinter ihm immer intensiver wurde und in seinen Kopf einsickerte. Schwarze Gedanken stiegen in ihm auf. Seine Beine wurden bleischwer. Gib auf. Leg dich hin. Stirb. Mit einer schnellen Handbewegung schlug er sich den Stab an die Stirn und dann, noch härter, an die Nase. Er fluchte laut, als ihm Blut auf die Lippen tropfte, aber so war er wenigstens wieder wach. Vor sich sah er Mahalia zwischen den Bäumen verschwinden. Sie hatte etwas entdeckt - wahrscheinlich eine Abkürzung, denn der Pfad beschrieb eine zu ihm zurückführende Kurve. Wider besseres Wissen folgte Crowther ihr. Zwischen den Bäumen erblickte er den blau schimmernden Himmel; an dieser Stelle endete der Wald. Mahalia bremste abrupt ab und versuchte, mit rudernden Armen das Gleichgewicht zu halten. »Bleiben Sie stehen!«, rief sie. Crowther konnte nicht mehr abbremsen. Er rannte ihr in den Rücken und stieß sie über eine Felskante. Erschrocken schrie er auf und packte einen Ast, um ihr nicht hinterher zustürzen; mit der freien Hand griff er nach ihr. Er kam zu spät. Mit einem gellenden Schrei fiel Mahalia in die Tiefe. 341 Crowther hörte Wasserrauschen und sah rechts von sich, wo er einen freien Blick über die Felskante hatte, weit unten die reißenden Stromschnellen. Panik explodierte in ihm. Er hatte Mahalia in den Tod gestoßen! Er ignorierte die näher kommenden Flüsterer, ließ sich auf die Knie sinken und spähte in die Tiefe. Drei Meter unter ihm lag ein schmaler Felsvorsprung. Keine Spur von Mahalia. Ein Ruf weckte seine Aufmerksamkeit, und dann sah er rechts von sich Matt und Jack, die auf in den Granit geschlagenen Stufen heraufgeeilt kamen. Benommen ließ Crowther sich an der Kante herunter. Er blickte noch einmal zu den purpurnen Lichtern zwischen den Bäumen, ließ los und landete zwei Sekunden später auf dem Felsvorsprung. Jack rief ihm etwas zu. Er las dem Jungen die Worte von den Lippen ab, bevor der Schall ihn erreichte. »Sie lebt!« Verblüfft beugte er sich über den Felsvorsprung und sah, dass Mahalia sich an einer Felsspalte festhielt; aus einer Stirnwunde floss ihr Blut übers Gesicht. Überglücklich versuchte Crowther sie zu packen, aber dann waren Matt und Jack da und schoben ihn zur Seite. Sie gingen auf die Knie, beugten sich herunter und streckten sich nach Mahalias Händen, konnten sie aber nicht erreichen. Mahalias Arme zitterten vor Anstrengung, und in ihrem verzweifelten Blick lag die Angst eines Menschen, der wusste, dass er nur noch wenige Augenblicke zu leben hatte. Crowther schaute nach oben und sah einen der Gehennis, dessen substanzlosem Leib purpurnes Licht entströmte. Sich der heraufziehenden Gefahr bewusst, versuchten 342 Matt und Jack fieberhaft, Mahalia zu erreichen, aber sie kamen nicht an sie heran. Crowther erhob sich, lehnte sich mit dem Rücken an die Felswand und packte von hinten die Gürtel der beiden Männer. Es folgte ein kurzer Moment der Unentschlossenheit, dann setzten Matt und Jack ihr ganzes Vertrauen in Crowther und beugten sich so weit herunter, bis der Professor ihr gesamtes Gewicht hielt. Falls er losließ, würden sie in die Tiefe stürzen. Das war auch Crowther bewusst, doch er war fest entschlossen, das in ihn gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen. Matt und Jack bekamen Mahalias Handgelenke zu fassen. Hinter den Gehennis folgten die Flüsterer. Ihr Wispern übertönte sogar das Donnern der Stromschnellen. »Ich höre nicht hin!«, brüllte Crowther. Matt und Jack hievten Mahalia herauf. Einen Moment lang fürchteten sie, hinunterzufallen, doch Crowther hielt die beiden fest, bis Mahalia auf dem Felsvorsprung lag. »Schnell!«, sagte der Professor. »Wir müssen fliehen!« Jack nahm Mahalia bei der Hand und rannte los, gefolgt von Matt und Crowther. Die Flüsterer waren ihnen dicht auf den Fersen, während die Gefährten über die schmalen Stufen hinuntereilten. Schließlich kam der Hof der
Singenden Träume in Sicht. Sie erklommen eine Steintreppe zu einem gepflasterten Vorplatz, der weit in die Schlucht hinausragte. Ein fünf Meter hohes, hölzernes Bogenportal versperrte den Zugang zu der dahinter liegenden Stadt. Als sie darauf zurannten, blieb Matt plötzlich stehen und sagte: »Halt. Hier ist eine geeignete Stelle. Wir müssen die Stufen im Fels zerstören, sonst kommen die Flüsterer hier rein.« »Und wie sollen wir das anstellen?«, fragte Crowther. 343 Nervös blickte er zu den purpurnen Lichtern zurück, die höchstens zwei Minuten von ihnen entfernt waren. »Los«, sagte der Professor, »wir gehen jetzt da rein.« »Nein.« Matt packte Jack bei den Schultern. »Du musst dieses Ding einsetzen, das in dir steckt, so wie auf dem Boot.« Jack verzog das Gesicht. »Das kann ich nicht!« Matt schüttelte ihn. »Du musst.« »Lassen Sie ihn in Ruhe.« Mahalia versuchte Matts Hände fortzuziehen, doch es gelang ihr nicht. »Ich kann es nicht kontrollieren«, flehte Jack. »Ich befürchte, dass ich ... dass ich den ganzen Bannfluch explodieren lasse! Ich könnte alles zerstören!« »Tu es einfach«, sagte Matt. »Auf dem Boot hast du die Kraft doch auch kontrolliert.« »Das war Zufall.« »Ach was. Du kannst es. Das weiß ich.« Jack war unschlüssig, blickte Hilfe suchend zu Mahalia, und dann rannte er mit hängenden Schultern zu dem Steingeländer, das den Vorplatz umgab. Darunter rauschten die Stromschnellen durch die Schlucht. »Was, wenn wir alle umkommen?«, rief Crowther über das Tosen des Wassers hinweg. »Das wird nicht geschehen. Die Danann hätten ihm keine Bombe eingepflanzt, wenn diese willkürlich hochgehen könnte. Sie sind nicht dumm - sie müssen einen militärisch geschulten Verstand haben, um sich so etwas auszudenken. Es muss eine Sicherung geben.« »Das hätten Sie ihm sagen sollen!«, rief Mahalia. »Ich möchte, dass er voll unter Strom steht und wütend ist, damit er die Felswand komplett in Schutt und Asche legt.« Vor dem massiven Steingeländer wirkte Jack klein und verloren. Er senkte den Kopf, drehte sich um die ei344 gene Achse und ging in die Hocke. Als er sich wieder erhob, schoss ein silberner Lichtball aus ihm heraus. In der näheren Umgebung wurden alle Geräusche aufgesaugt, bis der Lichtball plötzlich explodierte. Matt, Crowther und Mahalia wurden von einer Druckwelle umgeworfen. Ein Überschallknall zerriss ihnen beinahe die Trommelfelle, und als sie aufschauten, sahen sie, dass Jack erschöpft am Geländer lehnte. Hinter ihm stieg eine Staubwolke auf, wo gerade noch die Granitwand gewesen war, und unter den feinen Trümmerstaub gemischt verloschen die letzten purpurnen Lichtfetzen. Matt nickte zufrieden. »Hat doch prima geklappt.« »Man kann es auch anders betrachten«, sagte Crowther. »Hoffentlich sind wir hier willkommen, denn zurück können wir nicht mehr.« »Da haben zwei Leute aber mächtig Spaß.« Matt stieß Crowther an, während dieser das große, beeindruckende Bogenportal betrachtete. Jack und Mahalia saßen auf dem Steingeländer, von dem aus man auf den reißenden Fluss blickte. Sie lagen sich in den Armen. Ihr Kuss war eher von Verzweiflung erfüllt denn von Leidenschaft, vom Erkennen einer gleichgearteten Einsamkeit und dem Wunsch, diese Leere zu füllen. »Schön für sie«, erwiderte Crowther. »Wenigstens für die beiden hat sich dieser Horrortrip gelohnt.« »Ich weiß nicht, was ich wegen Caitlin tun soll«, sagte Matt. »Daran hätten Sie denken sollen, bevor Sie die Felswand wegsprengen ließen.« »Anders ging es nicht.« »Dann muss Caitlin eine andere Route finden ... oder eben nicht. Wir können ihr nicht helfen.« 345 Crowther sah, dass Matt versuchte, seine Sorge um Caitlin zu verdrängen, indem er sich auf die anstehende Aufgabe konzentrierte, doch man merkte ihm an, wie sehr ihm die junge Ärztin am Herzen lag. Matt suchte nach einer Möglichkeit, das Portal zu öffnen. »Ich verstehe nicht, warum noch keiner gekommen ist. Sie müssen doch wissen, dass wir hier sind.« »Triathus meinte jedenfalls, dass man uns hier helfen würde«, erklärte Crowther. »Es scheint hier zwei Architekturstile zu geben«, sagte Matt unvermittelt und deutete auf die monolithischen Steinblöcke und die fein geschwungenen surrealistischen Details, die sie überlagerten. »Das liegt daran, dass die Stadt das Werk zweier Völker ist.« Jack stand hinter ihnen, den Arm um Mahalias Schultern gelegt. »Die Danann tun gerne so, als wären sie die Einzigen, die hier geherrscht haben, aber es gab auch andere.« Er ging zur Mauer und klopfte auf einen der gewaltigen Steinblöcke. »Der stammt aus dem Zeitalter der Krieger. Die Drakusa waren ein starkes, gewalttätiges Volk - wenigstens habe ich es so gehört. Es ist nur wenig über sie bekannt, aber ich glaube, sie sollen noch irgendwo existieren. Das Goldene Volk hat kein Interesse daran, mehr über sie herauszufinden.« »Hatten diese Drakusa einen Einfluss auf die Menschheit?«, fragte Crowther. »Ich weiß nicht... wahrscheinlich schon. Es heißt, sie hätten die Macht besessen, gewaltige Erdbrocken aus dem
Boden zu heben und sie kraft des Geistes in die gewünschte Form zu bringen. Als ich am Hof des Letzten Wortes war, habe ich mich mit Math, dem Hüter der schriftlichen Überlieferungen, angefreundet - obwohl angefreundet eigentlich nicht das richtige Wort ist. Ich glaube, er sollte mich vor allem im Auge behalten, nach346 dem sie ihre Arbeit an mir verrichtet hatten. Aber so erhielt ich die Möglichkeit, in ihrer Bibliothek herumzustöbern. Sie verbergen dort unzählige Geheimnisse.« »Klingt, als könntest du für uns noch wertvoller werden, als du ohnehin schon bist«, sagte Matt mit einem merkwürdigen Klang in der Stimme. »Wertvoller als bloß eine Waffe?« Jacks Tonfall verriet, wie sehr es ihn verletzt hatte, von Matt zum Gebrauch des Bannfluchs gezwungen worden zu sein. »Können wir nicht einfach reingehen?«, sagte Mahalia. »Nachdem ich fast abgestürzt wäre, könnte ich eine kleine Erholungspause gut gebrauchen. Und glauben Sie ja nicht«, fuhr sie an Crowther gewandt fort, »ich hätte vergessen, wer mich beinahe in den Tod gestoßen hätte.« »An den meisten großen Höfen lassen sich die Eingangsportale ganz einfach öffnen, wenn man weiß, wie man es anstellen muss«, sagte Jack. »Die Danann fürchten sich vor niemandem und gehen deshalb davon aus, dass niemand so dumm ist, sie anzugreifen.« Matt musterte den Professor listig. »Was hecken Sie nun schon wieder aus?«, fragte Crowther nervös. »Sie könnten die Maske aufsetzen ...« »Nein! Das kommt nicht in Frage!« »Sie könnten ...« »Sie haben doch gesehen, was beim letzten Mal passiert ist! Sind Sie ein Idiot?«, sagte Crowther mit entschlossen klingender Stimme, obwohl er in sich das Kribbeln einer fiebrigen Vorfreude spürte. Die Maske, die er nach wie vor in einer Geheimtasche seines Mantels trug, zupfte sanft an seinen Emotionen. »Sie sind doch ein kluger Mensch. Sie können die Kraft kontrollieren ... oder es lernen, sie zu kontrollieren.« 347 »Und dabei riskiere ich, alles zu zerstören.« »Sie machen mit ihm das Gleiche wie mit mir!«, sagte Jack vorwurfsvoll. »Es ist nicht meine Absicht, meine Mitmenschen leiden zu lassen oder sie unnötigen Risiken auszusetzen.« Matt seufzte. »Aber wir befinden uns in einer schwierigen Situation, in der eine Menge auf dem Spiel steht. Jeder muss das seine dazu beitragen, um unsere Mission weiterzubringen, selbst wenn es ein persönliches Opfer verlangt.« »Ich sehe aber nicht, dass Sie irgendwelche Opfer bringen.« Crowther ging an Matt vorbei und setzte sich im Schneidersitz vor das Portal. Mit schweißnassen Händen zog er die Maske aus dem Mantel. »Sie haben eine sehr unangenehme Art, die Leute zu manipulieren. Gefällt es Ihnen nicht doch, andere leiden zu sehen?« Matt tat die Bemerkung kopfschüttelnd ab und ging zum Geländer, um die Geschehnisse von dort aus zu verfolgen. Crowther hielt die Maske in den Händen und zögerte, doch er zitterte vor Aufregung und konnte es trotz seiner Angst nicht mehr abwarten. Er hob sie an, und sobald die Maske vor seinem Gesicht war, glitten aus den Seiten die Bolzen heraus und bohrten sich in die Löcher in seinem Kopf. »Diesmal wird es sehr, sehr angenehm für dich werden.« Maponus' schmeichelnde Stimme erklang in Crowthers Kopf. »Du musst dich nicht ängstigen ... dich erwarten keine bösen Überraschungen. Es wird so sein, als würdest du auf dem Rücken liegen und einen Bach hinuntertreiben und über dir die Wolken vorbeiziehen sehen; du wirst den Sonnenschein im Gesicht spüren und wissen, dass du einschlafen könntest, falls du es wolltest. Du wirst einen nie gekannten inneren Frieden verspü348 ren. Und dieses Gefühl wirst du immer wieder haben wollen, immer wieder, für den Rest deines Lebens. Nach diesem Mal wirst du die Maske ständig tragen wollen ... um mit der Größe und den wilden Wundern meines Geistes verbunden zu sein ... für immer.« Und genauso war es. Losgelöst von allem, was ihn umgab, versank Crowther in einen Zustand purer Freude und Behaglichkeit und bemerkte die blau leuchtenden Kraftlinien, die kreuz und quer auf dem Portal lagen und sich auf der rechten Seite in Hüfthöhe in einem zentralen Knotenpunkt trafen. Die Stelle begann hell zu glühen und sich um sich selbst zu drehen. Es war ein Drache, der seinem Schwanz hinterherjagte. Träge erhob sich der Professor, trat auf das Portal zu und legte eine Hand auf den kreisenden Drachen. Blaue Funken schössen aus seinen Fingerspitzen, und das Portal schwang auf. »Sehen Sie, war doch gar nicht so schwer.« Matt klopfte Crowther auf die Schulter. Der Professor starrte auf die Maske in seinen Händen; sie hatte sich aus eigener Kraft von seinem Gesicht gelöst, obwohl er sie am liebsten aufbehalten hätte. Im Geiste hörte er Maponus' fernes, helles Lachen. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Matt. »Natürlich.« Crowther wandte sich um und trat durch das Portal, damit Matt die Tränen in seinen Augen nicht sehen konnte. Vor ihnen erhob sich ein riesiger Prunksaal unter einem in Dunkelheit liegenden Deckengewölbe. Die Wände bestanden aus den monolithischen Steinblöcken der Drakusa, doch alles andere - die Skulpturen, Säulen,
Balustraden, Strebepfeiler und Geländer - war so kunstvoll gemeißelt, dass es fast eine halluzinogene Wirkung auf 349 den Betrachter ausübte. Man konnte alle Details gar nicht wahrnehmen, denn je länger man hinsah, desto mehr Einzelheiten präsentierten sich dem Auge. Der überbordende Symbolismus sagte ihnen zwar nichts, doch tief in ihrem Unterbewusstsein zeigte er seine Wirkung. Ihnen kamen sonderbare, beunruhigende Gedanken, als würde ihnen jemand geheime Informationen ins Ohr flüstern. Mahalia ergriff Jacks Arm. »Siehst du das? Ich dachte, es wäre eine optische Täuschung - wie das Licht die Schatten flackern lässt.« »Es sind die Skulpturen ... sie bewegen sich«, sagte Jack beklommen. »Sie schauen uns nach.« Und das taten sie tatsächlich, kaum wahrnehmbar zwar, aber es reichte, um den Gefährten einen Riesenschreck einzujagen. Die sonderbaren Skulpturen und Bildnisse rutschten ständig leicht herum, als wären sie lebendig; es sah aus, als würden sie ihre Position verändern, um einen besseren Blick auf die vier Neuankömmlinge in ihrer Mitte zu haben. »Das gefällt mir nicht«, flüsterte Mahalia und hasste sich dafür, so ängstlich zu klingen. Sie wusste, dass sie mit realen Bedrohungen problemlos zurechtkam, denn sie hatte ja das Fomorii-Schwert und die Messer, aber was in diesem merkwürdigen Saal geschah, entzog sich ihrer Kontrolle. »Warum ist es so dunkel?«, fragte Matt. »Wenn es an diesem Hof so viele von Triathus' goldenen Danann gibt, müssten sie doch für eine anständige Beleuchtung gesorgt haben.« Mahalia stellte sich so zu Jack, dass er ihr den Arm um die Schultern legen konnte. Die vier Gefährten standen in dem riesigen Saal dicht beieinander und ließen beklommen die furchteinflößende Atmosphäre auf sich wirken. 350 »Es kommt mir vor«, sagte Jack, »als ob hier etwas Schlimmes geschehen wäre. Ich weiß nicht, was, aber...« Crowther hatte sich wieder so weit unter Kontrolle, dass er die Maske im Mantel verstaute. »Nun, zurück können wir ja nicht«, sagte er mit einem vorwurfsvollen Unterton. »Hoffentlich gibt es an diesem Hof noch einen anderen Ausgang.« Matt ging zu einer der Wände; die Blicke der steinernen Skulpturen folgten ihm. Er nahm eine Fackel aus der metallenen Halterung, schlug seinen Feuerstein dagegen und entzündete die Fackel. Dann wandte er sich um und schritt langsam auf den rückwärtigen, in tiefer Finsternis liegenden Teil des Saals zu. Die anderen warfen sich beklommene Blicke zu, dann folgten sie ihm. Der Saal führte in ein Labyrinth aus Gängen und Kammern, die allesamt mit den beunruhigenden Skulpturen dekoriert waren. Einmal schauten die Gefährten nach oben und sahen, wie ihnen über einem Rundbogen eine gehörnte Figur nachblickte, und ein anderes Mal sahen sie etwas über den Boden kriechen und hinter einer Ecke verschwinden. Dann meinten sie, die Skulpturen reden zu hören, und es dauerte eine Weile, bis sie bemerkten, dass die vermeintlichen Worte aus fußballgroßen, mit Löchern versehenen Kugeln kamen, die weit oben an den Wänden angebracht waren. Die Bewegungen der vier Gefährten lösten Luftströmungen aus, die durch die Löcher wehten und die dadurch merkwürdige Laute verursachten. Als sie begriffen, wie die Laute zustande kamen, wurde ihnen bewusst, dass es keine Worte waren; es gab verschiedene Klangfarben, Rhythmen und Kadenzen; es war Musik, aber von einer ihnen völlig unbekannten Art. Crowther erklärte, dass die Musik umso lauter würde, 351 je mehr Personen in den Räumlichkeiten wandelten, und so eine beruhigende Hintergrundmusik zustande käme. Aber da sie nur zu viert waren, wirkte es eher unheimlich und beängstigend. In einem anderen riesigen Saal hingen verblichene Gemälde an den Wänden, Darstellungen von Bergen und Feuer, von epischen Wäldern und reißenden Flüssen. Ein Teil der Gemälde wurde von Skulpturen verdeckt, woraus sich schlussfolgern ließ, dass die Gemälde vermutlich aus der Zeit der Drakusa stammten. Auf einem fielen ihnen sonderbare silberne Objekte auf, die aussahen wie Eier mit Beinen. »Das sind Caraprixe«, erklärte Crowther. »Es sind Symbionten. Alle Danann tragen einen bei sich.« »Caitlin sagte, Lugh hätte auch so einen gehabt«, meinte Matt. »Aber auf dem Gemälde sind sie riesig und dominieren das Bild«, sagte Crowther verblüfft. »Das bedeutet, dass auch die Drakusa Caraprixe besaßen. Aber wie sie hier dargestellt werden ... es sieht fast so aus, als hätte man sie als Gottheiten verehrt.« Der Professor hätte das Gemälde gerne eine Weile studiert, denn er war davon überzeugt, dass die Caraprixe in irgendeiner Form bedeutsam waren, aber die anderen wollten weiter, um endlich der beklemmenden Dunkelheit zu entfliehen. Der Hof schien meilenweit in den Berg hineinzuführen. Im flackernden Fackellicht sah man riesige Säulenhallen mit Ornamentierungen aus Messing und Glas, dunkelroten Samtvorhängen, glänzenden Marmorböden und geschwungenen Flügeltreppen, auf denen fünfzig Personen nebeneinander hätten hinauflaufen können. Es gab ein Zimmer, dessen Wände komplett verspiegelt waren; die vier Gefährten kamen sich darin vor, als wür352
den sie - oder ihre Ebenbilder - in dutzenden Dimensionen durch die Ewigkeit wandeln. Die prachtvollen Räumlichkeiten schrien förmlich nach Bewohnern, die einen Blick für die Schönheit der feinen Künste hatten, aber es gab nirgendwo einen Hinweis auf Leben. Die leise Musik, die ihnen überallhin folgte, unterstrich nur das Gefühl von Verlassenheit. Als ihnen nach einer Weile vor Erschöpfung die Beine schwer wurden, beschlossen sie, sich in einem der kleineren Räume, in dem sie sich nicht so ungeschützt fühlten, auszuruhen. Matt hängte die Fackel in einen Wandhalter, doch ihr spärliches Licht reichte bei weitem nicht aus, die beklemmende, von allen Seiten heranrückende Dunkelheit zu verdrängen. »Kennt ihr das Gefühl, den falschen Weg eingeschlagen zu haben?«, fragte Matt, als er sich an einer Wand niederließ. Die bedrückende Atmosphäre hatte ihm den Humor geraubt. »Ich begreife das nicht«, murmelte Crowther. »Alles lässt darauf schließen, dass der Hof noch vor kurzem bewohnt war. Triathus hat mit keinem Wort erwähnt, dass niemand hier sei. Wohin könnten die Bewohner also verschwunden sein?« Es war eine rhetorische Frage, und keiner setzte zu einer Antwort an, obwohl sie sich seit geraumer Zeit das Gleiche fragten. Matt und Mahalia schliefen schnell ein. Crowther, der die ganze Zeit mit seiner Gier rang, die Maske aufzusetzen, ließ sich neben Jack nieder. Selbst im Klammergriff seiner Sucht gab es noch andere Dinge, die ihn beschäftigten. Er betrachtete den Jungen, der im Begriff war, sich hinzulegen, und sagte: »Also, du und Mahalia ... offenbar geht ihr miteinander, wie man in meiner Jugend zu sagen pflegte.« 353 Jack runzelte die Stirn. »Wir gehen miteinander?« »Ja. Ihr seid ein Paar. Habt Gefühle füreinander. So etwas hast du wahrscheinlich noch nie erlebt, oder?« »Ich ... ich liebe sie.« Jacks Augen funkelten im Halbdunkel. »Meinst du? Tut mir leid, dass ich deine Seifenblase zerplatzen lasse, aber was du fühlst, ist nur Schwärmerei. Deine Hormone sind in Aufruhr. Es ist ein genetisch veranlagter Prozess, der zum Erhalt der Spezies das Paarungsverhalten beschleunigen soll.« Jack sah ihn kühl an. »Ich weiß, was ich empfinde.« »Nein, du glaubst zu wissen, was du empfindest. Das ist ja der Grund für dieses chaotische Schlamassel - alles ist Einbildung, und die Wahrheit verbirgt sich irgendwo dahinter. Von Liebe lässt sich sprechen, wenn man jahrelang mit jemandem zusammen war, wenn man sich um ihn gekümmert hat, wenn der andere krank war, wenn man seine Launen ertragen hat und man trotz alledem immer noch zu ihm hält.« Er blickte in die Dunkelheit und fügte leise hinzu: »Liebe ist, wenn man sich ganz entsetzlich verhalten hat und der andere einen trotzdem akzeptiert.« »Warum machen Sie sich so viele Gedanken über Mahalia und mich?« Crowther schnaubte. »Das tue ich doch gar nicht.« Jack blickte zu Mahalia und beobachtete das sanfte Auf und Ab ihres Brustkorbs. Gelegentlich zuckte sie zusammen und nuschelte ein unverständliches Wort. Dann erregte Crowther seine Aufmerksamkeit, als dieser in seinem Mantel herumsuchte; Jack dachte schon, der Professor würde die Maske herausholen, aber es war ein eselsohriges Bild. »Was ist das?«, fragte Jack und rutschte näher heran, um sich den Schnappschuss anzusehen. »Ein Gemälde?« 354 »Nein. Ein Foto.« Crowthers Stimme klang belegt. Das Bild zeigte zwei Mädchen im Teenageralter mit langen blonden Haaren und großen, lachenden Augen. Jeder außer Jack hätte die Mode der frühen Neunzigerjahre erkannt. »Wer sind die beiden?« »Sophie und Stacia.« »Und wo sind sie jetzt?« »Du stellst viele Fragen«, sagte Crowther mürrisch. Er strich mit dem Finger sanft über das Foto. »Ich weiß nicht, wo sie sind. Sie waren vor dem Untergang schon lange aus dem Haus. Ich hatte kaum noch Kontakt zu ihnen. « »Das ist nicht schön.« »Es ist nicht ihre Schuld«, erklärte Crowther. »Ich war kein besonders guter Vater. Ich war nur mit meinem eigenen Leben beschäftigt. Kinder haben da bloß gestört.« Er verstummte einen Moment lang, dann fügte er leise hinzu: »Das Sprichwort scheint zu stimmen - man weiß erst, was man besaß, nachdem man es verloren hat.« Er steckte das Foto ein. »Nun, ich weiß, was ich an Mahalia habe«, sagte Jack kühl. Crowther zog sich den Hut ins Gesicht und kuschelte sich in seinen Mantel; er war hundemüde. Seine gemurmelten Worte sprach er ins Dunkel. »Pass auf, wie du sie behandelst, Junge.« »Ich würde ihr niemals wehtun.« Jack versuchte, im Schatten unter der Hutkrempe etwas zu erkennen, doch Crowthers Gesicht blieb ihm verborgen. »Sie ist Ihnen wichtig, stimmt's?« Doch als Antwort bekam er nur ein lang gezogenes leises Schnarchen. 355
Sie wachten alle gleichzeitig auf und waren der Meinung, dass sie ein Geräusch aus dem Schlaf gerissen haben musste. Sofort übernahm Matt das Kommando und brachte sie mit einer schneidenden Handbewegung zum Schweigen, während sie angestrengt lauschten. In der Ferne war ein Scharren zu vernehmen, doch in der gruftartigen Stille klang es fast wie eine Alarmsirene. Matt nahm die Fackel von der Wand, und sie schlichen aus dem Raum. Das Geräusch ertönte in längeren Abständen, und oft mussten sie lange warten, bis sie es wieder vernahmen und es sie in die richtige Richtung wies. Sie gingen durch einen breiten Korridor und erreichten schließlich einen großen Saal, der eine Art Wallfahrtsort hätte sein können, denn er verströmte eine sonderbare Aura von Heiligkeit. Exquisite Gemälde mit fantastischen Szenen hingen an den Wänden, und in der Mitte des Saals stand etwas, das einem Altar ähnelte - ein großer Steintisch, auf dem Objekte der Ehrerbietung aufgestellt waren. In dem Saal hatte die durch Bewegungen ausgelöste Musik, die sie allerorten begleitete, eine andere Klangfarbe, war ernster, pathetischer und unterstrich die kirchenartige Atmosphäre. Das Scharren kam vom Fuß des Altars. Als sie näher herangingen, ließ das Fackellicht die Schatten durch den Saal tanzen. Das Dunkel wich und offenbarte eine auf dem Boden kauernde Gestalt und darüber merkwürdige Flatterbewegungen. »Gehen Sie nicht näher«, sagte Mahalia und zupfte an Matts Ärmel. Er schüttelte sie ab; er war neugierig und gleichzeitig beunruhigt. Er musste sich die Gestalt ansehen. Nun konnte man sie erkennen. Es war ein Angehöriger des Goldenen Volkes, ein Mann mit ebenso schönen Zü356 gen wie Triathus, golden schimmernder Haut und langem schwarzem Haar. Er lag gekrümmt auf der Seite und versuchte vergeblich, sich am Altar hochzuziehen. Mahalia seufzte erschrocken und teilnahmsvoll auf, denn man sah, dass der Danann im Sterben lag. Sie eilten zu ihm: Man hatte ihm die Kehle aufgeschlitzt und ihm zahlreiche andere Wunden zugefügt, aus denen jedoch kein Blut floss. Stattdessen brach sein Körper in unzählige winzige Teile auf, die sich in goldene, zum Deckengewölbe emporflatternde Motten verwandelten. Er schien im Innern einzig aus Licht zu bestehen. Crowther schob Matt zur Seite und hockte sich neben den sterbenden Gott. Als Erstes versuchte der Professor, den Auflösungsprozess irgendwie zu stoppen, doch als offenkundig wurde, dass dieser unaufhaltsam war, beugte er sich hinab und fragte: »Wer hat das getan?« Die Lider des Gottes hoben sich und offenbarten glänzende Augen, die einige Male hin und her wanderten, bevor sie Crowthers Gesicht fixierten. Mit letzter Kraft hob der Gott den Arm und zog Crowther zu sich herunter. »Sie kommen«, hauchte er. »Sie kommen.« Sobald die Worte über seine Lippen gedrungen waren, sank er zurück und schloss die Augen. Der Zerfall seiner körperlichen Hülle beschleunigte sich plötzlich; eine Wolke flatternder goldener Motten stieg zum Deckengewölbe auf und blendete die Gefährten, und als sie wieder sehen konnten, war nichts mehr von dem Gott übrig. »Darum ist keiner mehr hier«, sagte Crowther entsetzt, während er auf die Stelle starrte, wo eben noch der Danann gelegen hatte. »Man hat sie umgebracht. Alle umgebracht ... den ganzen Hof.« »Hier drüben!« Jacks Stimme kam aus dem Halbschatten. Sie eilten zu ihm und sahen ihn vor einer Standarte stehen, die man mit so unnatürlicher Kraft in den Fuß357 boden gerammt hatte, dass zahlreiche dicke Risse den Marmor durchzogen. Die Flagge bestand aus einem glänzenden, aber ultraleichten Metall, auf dem die stilisierte Zeichnung einer Meeresmuschel prangte. Im Fackellicht sah Jacks Gesicht so aus, als wäre alle Farbe daraus gewichen. »Das ist die Standarte des Hofs des Sehnsüchtigen Herzens«, sagte er fassungslos. Matt packte ihn an den Schultern. »Was heißt das?« Jack fasste sich an die plötzlich triefende Nase. »Das ist einer der schlimmsten Höfe. Menschen sind denen gleich. Denen ist alles gleich.« Er blickte sich blinzelnd um. »Sie haben alle getötet! Ihre eigenen Leute!« »Wir müssen verschwinden«, sagte Crowther. »Der arme Kerl sollte uns eine Warnung sein.« Irgendwo am Hof ertönte ein dröhnendes Glockenläuten, das die dicken Steinmauern durchdrang und seine Warnung verbreitete, bis jeder Saal, jeder Korridor und jedes einzelne Zimmer von dem voluminösen Klang erfüllt waren. »Sie wissen, dass wir hier sind«, sagte Mahalia mit aufgerissenen Augen. »Aber woher?« Matt fluchte. »Der Danann wurde gerade erst getötet ... es war eine Aufräumarbeit. Sie wollten wahrscheinlich gerade verschwinden, als wir aufgetaucht sind.« Er blickte sich um. »Man kann nicht sagen, ob das Läuten von vorn oder von hinten kommt.« Der Moment der Unentschlossenheit endete, als sie plötzlich etwas vernahmen, das wie ein Hornissenbrummen klang. Es dauerte einen Augenblick, bis ihnen klar wurde, dass es Hunderte von Füßen waren, die eilig über den Marmorboden schritten. »Eine Armee!«, sagte Crowther entsetzt. »Verdammt noch mal, da kommt eine ganze Armee angestürmt!« Matt führte sie zu einem Rundbogen, hinter dem ein 358 Anbau mit einem flachen, rechteckigen Wasserbecken lag. Sie rannten daran vorbei und fanden sich plötzlich in
einem breiten, mit prachtvollen Wandteppichen geschmückten Korridor wieder. Das Stampfen der heranmarschierenden Schritte wurde lauter, kam von allen Seiten. »Es klingt wie Kinder«, keuchte Mahalia. Sie hatte das Fomorii-Schwert gezückt und war jederzeit bereit, es einzusetzen. Nach einer Weile endete der Korridor, und sie traten durch ein offen stehendes goldenes Tor in eine riesige überdachte Gartenhalle mit Bäumen und gepflegten Hecken, schmiedeeisernen Zäunen und kleinen Lauben, an denen grüne Kletterpflanzen herabhingen, mit Beeten, in denen fremdartige rote, blaue und purpurne Blumen einen berauschenden Duft verströmten, mit bizarr geformten Felsen und Kiesarealen, in denen hohe Gräser wuchsen. Die Wege im Garten waren labyrinthartig angelegt, sodass sie dem Besucher erst im letzten Moment einen neuen Bereich offenbarten. Am beeindruckendsten aber war, was sich genau in der Mitte der Grünanlage befand: eine gewaltige Säule aus Sonnenlicht, das sich durch ein Loch in der Decke ergoss und einen scharfen Kontrast zum umliegenden Halbdunkel bildete. Dazu gab es ein System von Spiegeln, die man so ausrichten konnte, dass sie den ganzen Garten beleuchteten. Erst als sie tief in den Irrgarten hineingewandert waren, wurde ihnen bewusst, dass sie einen Fehler begangen hatten. Wegen des labyrinthartigen Aufbaus würden sie die Verfolger erst erblicken, wenn diese sie fast erreicht hatten. »Lasst uns zum Licht gehen. Dort können wir uns besser verteidigen«, sagte Matt. Es dauerte nicht lange, bis sie merkten, dass man sie umstellte. Überall huschten Gestalten durch die Dunkel359 heit. Ihre Schritte knirschten auf dem Kies, und das Geräusch wurde so laut wie Regen, der in einer stürmischen Herbstnacht ans Fenster trommelt. Von den Gestalten selbst konnten sie kaum etwas erkennen, nur dass es keine Menschen waren und dass sie sogar noch kleiner waren als die Danann am Hof der Einträchtigen Seelen. Die Verfolger schienen nur darauf zu warten, dass sie die Besucher vollständig umzingelt hatten. Es war so weit, als die Gefährten schließlich die Säule aus Sonnenlicht erreichten, das auf eine erhobene Plattform aus weißem Marmor herabfiel. Die vier stürmten ins Licht hinein und genossen die Wärme auf den Gesichtern, aber weil sie in der Helligkeit nicht erkennen konnten, was in der dahinter liegenden Dunkelheit geschah, traten sie widerwillig aus der Lichtsäule heraus. Von ihrem Aussichtspunkt aus hatten sie freie Sicht auf den Garten. Überall huschten kleine Gestalten umher: Es waren bleiche Danann-Krieger mit langen Gliedmaßen, gedrungenen Körpern und kleinen Knopfaugen. Crowther konnte nicht fassen, dass diese Wesen einst elegante, anmutige Angehörige des Goldenen Volkes gewesen waren. Sie schienen auf eine Evolutionsstufe zurückgefallen zu sein, in der sie in dunklen Höhlen hausten und nur des Nachts herauskamen und mit animalischem Hass Jagd auf andere Lebewesen machten. Und während der Professor sie beobachtete, glaubte er zu verstehen, warum sie sich so verhielten. Er nahm sie so wahr, wie sie wirklich waren, nicht mehr als die distanzierten, gottgleichen Tuatha De Danann, sondern als umherhuschende Kreaturen aus den dunkelsten Albträumen der Menschheit; sie waren an ihrer Niederlage und Verbitterung zerbrochen und wollten verzweifelt verhindern, dass der Mensch die nächste Stufe seiner spirituellen Entwicklung erreichte. Je mehr sie sich ih360 rem Hass und ihrer Mordlust hingaben, desto weiter sanken sie in ihrer Entwicklung zurück. Es waren Heerscharen von ihnen, und alle trugen winzige, im Licht schimmernde Messer. Das war's, dachte Crowther. Mahalia, Matt und Jack zückten ihre Waffen, und Crowther hob halbherzig seinen Stab. Plötzlich teilte sich die wogende Menge, und eine Gestalt tauchte von hinten aus der Dunkelheit auf. Als er näher kam, sahen sie, dass er sich aufrechter hielt als die anderen, aber genauso klein war. Er hatte einen langen grauen Bart, und in seinen Augen loderte unverhohlener Hass. Als er aus der Menge heraustrat, musterte er die Gefährten mit kalter Verachtung. »Zerbrechliche Geschöpfe«, sagte er geringschätzig. »Was habt ihr in Fernlande zu suchen?« Matt trat vor. »Uns kümmert der Krieg nicht, den ihr gegeneinander führt. Wir werden uns nicht einmischen. Wir möchten bloß weiterziehen und unsere Angelegenheiten erledigen.« »Einmischen?« Der kleinwüchsige Mann lachte heiser. »Mein Name ist Melliflor. Ich bin der Oberleutnant der Königin am Hof des Sehnsüchtigen Herzens«, fügte er hinzu. »Uns gefällt es nicht, wenn Zerbrechliche Geschöpfe nach Fernlande kommen. Ihr habt euer eigenes Zuhause, Sohn von Adam, und hier befindet ihr euch in einer Welt, in der ihr nicht willkommen seid.« Die Streitmacht kleinwüchsiger Krieger hinter ihm war wie eine Sturmflut, die darauf wartete, über die im Licht stehenden Gefährten hinwegzuspülen. Sie drängten vehement nach vorn, doch Melliflor hielt sie kraft seiner Ausstrahlung im Zaum. Er zog ein kleines Messer aus dem Gürtel und säuberte seine langen, schmutzigen Fingernägel. Einer der Krieger aus seiner Armee konnte sich nicht 361 mehr zurückhalten, stürmte nach vorn und packte Mahalias Fuß. Sie ließ das Fomorii-Schwert herabsausen und schlug ihm den Unterarm ab. Der Krieger schrie schmerzerfüllt auf und stürzte rückwärts zu Boden. Ein hasserfülltes Raunen ging durch die Menge. Die Gefährten rechneten jeden Moment mit einem Angriff. »Für euch gibt es keinen Sonnenschein mehr«, sagte Melliflor mit aufgesetzter Trauer. Er hob den Arm; seine Krieger waren bereit loszuschlagen.
In dem Moment wurde das Kribbeln in Crowthers Rücken zu einer Sturzflut aus geschmolzenem Eisen, das seine Adern durchströmte. Selbst wenn er es gewollt hätte, er hätte nicht mehr verhindern können, dass seine Hände in die Geheimtasche griffen und die Maske herauszogen. Wenn er schon sterben musste, dann doch zumindest in der berauschenden Welt der Maske, dem einzigen Ort, an dem er sich jemals richtig gut und willkommen gefühlt hatte. Doch als er die Maske herauszog und das Sonnenlicht auf die silberne Oberfläche fiel, wichen die kleinwüchsigen Krieger zurück und rissen erschrocken die kleinen Knopfaugen auf. Matt sah ihre Reaktion und packte Crowther am Arm. »Setzen Sie sie nicht auf«, sagte er. »Halten Sie sie einfach in der Hand.« Am ganzen Leib zitternd, folgte Crowther Matts Anweisung, doch die Maske hob sich aus eigener Kraft langsam zu seinem Gesicht. Melliflor erholte sich als Erster von dem Schock; in seinen Augen lag ein gieriger Glanz, den Crowther nur zu gut kannte. »Gib mir die Maske. Sie ist zu gefährlich für Zerbrechliche Geschöpfe. Gib sie mir, dann dürft ihr gehen.« »Wie sollen wir dir vertrauen?«, fragte Matt. »Ich gebe euch mein Wort.« 362 »Versprochen?« »Versprochen. Ich gebe mein Wort nicht leichtfertig, Zerbrechliche Geschöpfe.« Der Anblick der Maske schien Melliflor zu hypnotisieren. »Geben Sie sie ihm«, flüsterte Matt Crowther zu. »Wir haben keine andere Wahl. Selbst wenn er sein Wort bricht, dürfte die Maske für genug Ablenkung sorgen, dass wir verschwinden können; werfen Sie sie einfach in die Menge.« »Nein«, sagte Crowther entschlossen. »Seien Sie nicht dumm!« Matt krallte die Finger in Crowthers Arm. »Was ist los mit Ihnen?« »Haben Sie irgendeine Vorstellung davon, was die mit der Maske anstellen könnten?« Matt sah Crowther eindringlich an. »Das ist nicht der wahre Grund, warum Sie sich nicht von der Maske trennen wollen. Was ist es?« Matt wartete nicht auf die Antwort, sondern versuchte, dem Professor die Maske aus der Hand zu reißen. Crowther wich einige Schritte zurück und setzte sich hastig die Maske auf. Die Armee kleinwüchsiger Krieger schrie entsetzt auf. Weiter hinten kam es zu heftigen Tumulten, als sich Heerscharen von ihnen umdrehten und flohen; andere gingen irgendwo in Deckung, während die vorne stehenden Krieger vor Angst erstarrten. Im Sonnenlicht, das die Maske reflektierte, sah Melliflor gespenstisch blass aus. »Guter Sohn, vergib uns«, sagte er mit erstickter Stimme. In dem Moment, als sich die Maske an Crowthers Gesicht presste, bemerkten Matt, Mahalia und Jack, wie sich schlagartig die Atmosphäre veränderte. Plötzlich klang alles ganz dumpf und seltsam verzerrt. Hinter der Maske schrie Crowther auf. Er wollte sie herunterreißen, aber die Arme fielen ihm schlaff an den 363 Seiten herunter, und er wandte sich zu den kleinwüchsigen Kriegern um. Melliflor wich bereits in die Menge zurück, während seine Männer panisch die Flucht ergriffen und übereinander stürzten. Die Maske richtete ihre kalten, blinden Augen auf Melliflor. Unter der Last ihres Blickes sank er auf die Knie, schlug die Hände vors Gesicht und grub sich die Fingernägel in die Haut. Dann nickte Crowther leicht, und von einem Moment zum anderen löste sich Melliflors Körper auf und brach auseinander, bis nur noch eine flatternde Wolke aus winzigen Motten übrig war; diese waren jedoch tiefschwarz, nicht goldfarben. Die entsetzten kleinen Krieger stoben in alle Richtungen davon und suchten in der Dunkelheit nach einem Versteck, wo sie vor dem zerstörerischen Einfluss der Maske sicher waren. Plötzlich war der Weg auf die andere Seite des Gartens frei. »Sie können die Maske abnehmen!«, rief Matt, doch Crowther schien ihn nicht zu verstehen. Die ihn umgebende Luft flirrte und schien sich in gläserne Geschosse zu verwandeln, die durch den Garten rasten und ganze Heerscharen der fliehenden kleinen Krieger niedermetzelten, bis die gesamte Umgebung voller schwarzer Motten war, die flatternd zur Decke aufstiegen. »Er kommt nicht gegen die Maske an!«, sagte Mahalia. »Wir müssen ihn hier rausschaffen!«, befahl Matt. Er packte Crowther am Arm und zog den Professor mit sich. Während sie aus dem Garten rannten, setzte die Maske ihr zerstörerisches Werk ungemindert fort; umherirrende Krieger wurden in Stücke gerissen, Köpfe explodierten, und selbst die, die sich bereits in einem sicheren Versteck wähnten, wurden von der Kraft der Maske tödlich getroffen. Doch als die drei Crowther in den angrenzenden Saal 364 führten, verlor die Kraft an Aggressivität, obwohl sie noch immer hochgradig potent war. An den Wänden erstrahlten psychedelische Farben. Mahalias rechte Hand wurde für kurze Zeit durchsichtig. Die BewegungsMusik erschallte mit der Wucht von hundert Orchestern und wurde so laut, dass die Gefährten kaum einen klaren Gedanken fassen konnten. Und wohin sie auch eilten, überall taten sich fremdartige Landschaften vor ihnen auf, dann der Weltraum mit
seinem kalt funkelnden Sternenmeer, andere Welten, andere Dimensionen. Sie sahen Menschen vorbeihuschen, sonderbar vertraute Gesichter, alte Freunde und Fremde, doch hinter allem lag das beunruhigende Gefühl von Bedeutsamkeit, als sähen sie zum ersten Mal das strukturelle Gefüge, auf dem die Realität basierte. Jack sah am Himmel über London ein Fabelwesen kreisen, das einen Feuerball auf einen dunklen Turm spie. Mahalia bekam einen Mann zu sehen, der sich vor lauter Verzweiflung eine Kugel in den Kopf jagte, und dann stürmte sie plötzlich mit einem Sehwert durch eine Kathedrale. Und Matt sah Generäle, Spione und Politiker am Tisch sitzen und eine gewaltige Lüge aushecken, mit der sie die Bevölkerung täuschen wollten, nur dass die Lüge dann Realität wurde. Und jeder von ihnen sah jemanden, der ein Buch las und aus den Worten Bilder malte und mit jedem Gedanken neue Realitäten erschuf, die sich binnen eines Wimpernschlags in fester Materie manifestierten. Das Sein war fließend, alles war in ständigem Wandel. Sie eilten weiter, zerrten Crowther mit, überall umgeben vom chaotischen Wahnsinn der halluzinogenen Bilder, die ununterbrochen auf sie einprasselten, bis sie nach einer Weile nicht mehr wussten, wo sie waren und was sie taten. 365 Der Hof war ein riesiges Labyrinth, und in der beklemmenden Dunkelheit ließ sich nicht erkennen, wohin sie eigentlich gingen oder ob sie womöglich im Kreis liefen. Sie fühlten sich, als würden sie bis in alle Ewigkeit dort umherirren müssen, gefangen in einem grauenvollen Fegefeuer. Aber dann merkten sie, dass Crowther allmählich die Führung übernahm. Zuerst geschah es ganz unmerklich, indem er mit einer Verlagerung des Körpergewichts eine bestimmte Richtung vorschlug, dann aber wurde es immer offensichtlicher, bis er sie entschlossenen Schrittes mit sich zog. Sie eilten durch extravagant dekorierte Korridore und durch riesige Säle, bis sie einen Rundbogen erreichten, durch den drei Busse nebeneinander hätten hindurchfahren können. Oben war ein geflügeltes Drachenwesen mit saphirfarbenen Augen in den Stein gemeißelt, und hinter dem Rundbogen lag eine steile Treppe, die sich in die Dunkelheit hinunterwand. »Das könnte der Ausgang sein«, sagte Jack atemlos. Er ließ Crowther los; der Professor, der noch immer die Maske trug, stand reglos da. »Warum ist er plötzlich so ruhig?« »Ich habe keine Lust, hier ewig rumzufaseln«, sagte Mahalia. »Ich will einfach nur aus diesem Geisterschloss verschwinden.« Sie trat durch den Rundbogen, und die anderen folgten ihr wortlos. Nachdem sie scheinbar ewig die Treppe hinabgestiegen waren, erreichten sie eine riesige Höhle mit einem kleinen Strand, an den der Fluss heranschwappte. Durch den Höhlenausgang sahen sie die Nachmittagssonne, die auf das träge dahinplätschernde Wasser schien, und dahinter den dichten Wald am anderen Ufer. »Sieht so aus, als hätten wir die Schlucht und die Stromschnellen umgangen«, sagte Matt erleichtert. »Ich 366 möchte unser Glück nicht herausfordern, aber vielleicht treffen wir ja Triathus.« »Schön wär's«, erwiderte Mahalia. »Wird langsam Zeit, dass uns mal etwas gelingt.« Sie halfen Crowther, über die rutschigen Felsen am Höhlenausgang zu steigen, wateten durch das flache Wasser ans Ufer und legten sich zwischen den Bäumen hin. »Ich dachte da drin, wir würden sterben«, sagte Mahalia, die sich einen Arm über die Augen gelegt hatte und allmählich wieder zu Atem kam. Jack setzte sich neben sie und strich ihr zärtlich übers Haar. »Professor Crowther hat uns gerettet. Hätte er nicht die Maske dabei ...« »Ich glaube, so einfach ist es nicht«, warf Matt ein. Mahalia blickte zu ihm auf. Matt starrte argwöhnisch auf den Professor, der reglos an einem Baumstamm saß; sein Gesicht war noch immer hinter der Maske verborgen. »Warum nimmt er sie nicht ab?«, fragte Mahalia. Matt verzog das Gesicht. »Ich glaube, er kann es nicht.« Caitlin marschierte durch die Nacht. Birmingham lag weit hinter ihr. Blitze schössen ihr durch die Adern, ihr Bewusstsein glühte; sie fühlte sich wie aufgeladen, berstend vor Energie, fast so, als würde sie schweben. Zuweilen trat ihr eigener Geist in den Vordergrund, aber ohne die Zweifel, die sie früher innerlich zerrissen hatten. Die Klarheit und Zuversicht verstärkten noch das Gefühl ultimativen Wohlbefindens, das sie empfand. Dann wieder erschien der dunkle Geist der Kriegsgöttin in ihrem Bewusstsein, wie ein umherwirbelnder Krähenschwarm, und in diesen Momenten gab es nur 367 Chaos und bruchstückhafte Gedanken, wie kurze Blicke auf ein blutdurchtränktes Schlachtfeld, über dem der Rauch der Zerstörung hing. In ihrem kraftstrotzenden Zustand war Caitlin meilenweit gelaufen; sie hatte keine Ahnung, wohin sie ging, aber die Morrigan wusste es bestimmt. Die Landschaft der Midlands flog unter ihren Füßen nur so dahin. Sie wurde nicht müde und legte keine einzige Pause ein, während sie einen Tag und eine Nacht lang lief und sich nur von wild wachsendem Obst ernährte, das sie unterwegs fand. Im saftig grünen Leicestershire erreichte sie ein Dorf namens Griffydam, das der Legende nach seinen Namen deshalb trug, weil angeblich einst ein Greif, das mythologische Hybridgeschöpf, das halb Adler, halb Löwe war, den Dorfbrunnen bewacht hatte. Crowther hätte ihr sagen können, dass diese uralten Legenden ein Kode waren, der Orte benannte, an denen die Grenze nach Anderswelt durchlässig war und an denen oft merkwürdige Wesen
von einer Welt in die andere überwechselten. Doch Caitlin wusste dies instinktiv. Als sie in der Dunkelheit kurz vor Sonnenaufgang auf einen alten, runden Steinbrunnen am Straßenrand zuging, durchzogen feine blaue Linien den Boden unter ihren Füßen und wurden heller und breiter, während sie auf den Brunnen zuströmten und ein saphirfarbenes Licht auf die umliegenden Hausfassaden warfen. Vom Grund des Brunnens stiegen blaue Flammen auf und schössen zum Himmel empor, wo sie ein kathedralenartiges Gebäude aus knisternder Energie bildeten, das wie ein Leuchtturm über die nächtliche Landschaft hinwegstrahlte. Ein Donnergrollen erschütterte den Boden, als in der ionisierten Luft blaue Funken aufblitzten. Caitlin blieb 368 stehen und blickte ehrfürchtig zum Himmel empor, aber dann ertönte in ihrem Kopf wieder das vertraute, drängende Krächzen der Morrigan. Obwohl er gerade noch nicht da gewesen war, stand ganz in der Nähe der Ritter mit dem WildschweinkopfHelm. In ihrem entrückten Zustand sprach Caitlin ihn an, noch immer unsicher, ob er ihr helfen oder sie quälen wollte. Doch er deutete mit seinem Schwert nur auf die gewaltige, knisternde Lichtsäule hinter ihr. Sie warf ihm einen letzten, wachsamen Blick zu, und dann schleuderte die Morrigan sie ins blaue Licht. 14 Uralte Erinnerungen »Man muss die Frauen vom Podest runterholen. Die Männer haben uns dort raufgestellt, damit wir ihnen nicht im Weg sind.« VlSCOUNTESS RHONDDA Am Himmel kreisten so viele Rabenkrähen, dass mitten am Tag ein abendliches Halbdunkel über den Feldern lag. Und überall flitzten Ratten herum, fetter und furchtloser, als Mary es je erlebt hatte. Sie versuchte, nicht allzu biblisch zu denken, aber die Vorzeichen und Omen waren für den, der sie sehen wollte, ziemlich eindeutig. Auf ihrer verschlungenen Reise durchs englische Herzland war Mary, fernab der Bevölkerungszentren, uralten Pfaden gefolgt, aber die Seuche hatte inzwischen selbst die entlegensten Dörfer erreicht. Rauchfahnen stiegen auf wie Marksteine der Verzweiflung, und manchmal standen ganze Ortschaften in Flammen. Der Verwesungsgeruch verpestete die Luft, war immer präsent hinter den lieblichen Düften der sommerlichen Landschaft. Mary kannte sich in Geschichte aus. Im Mittelalter hatte der Schwarze Tod in ganz Europa zwanzig Millionen Menschen dahingerafft und damit in kürzester Zeit ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausgelöscht. Bestürzende Fragen prasselten auf sie ein. Wie viele Menschen starben diesmal? Tausende? Millionen? Wie viele Leute brauchte man, um eine überlebensfähige Population zu bilden? Denn war diese Grenze einmal unterschritten, 370 würde die Menschheit unweigerlich aussterben, eine weitere Spezies in einer langen, langen Liste. Viele Nächte saß sie am Lagerfeuer und dachte über die bösartigen Kreaturen nach, die die Seuche mit ihrer Berührung verbreiteten und die Infizierten verhöhnten. In ihren Überlegungen hatte Mary die verschiedenen Puzzleteile zu einem Gesamtbild zusammengefügt, und als sie sich dieses vergegenwärtigte, wurde ihr bewusst, dass eines der Teile nicht passte. Etwas ergab keinen Sinn. Und so reiste sie nach Stonehenge. Als sie den Steinkreis betrat, war die Energie im Boden so potent, dass ihr ganzer Körper kribbelte. Sie merkte, dass sie den Energiestrom spüren und auf diese Weise den Kernpunkt finden konnte. Sie musste keinen Geist-Flug mehr unternehmen, um die Verbindung herzustellen. Sie saß mit geschlossenen Augen im Schneidersitz da und stellte sich das Blaue Feuer vor. Augenblicklich spürte sie, wie die Kraft in ihren Chakras, der Kundalini-Schlange der östlichen Mythologien, aufstieg. Stonehenge war eine einzige gewaltige Batterie! Die Flammen schössen ihr Rückgrat hinauf bis in den Kopf und strömte dort ins metaphorische dritte Auge. Als es sich öffnete, war es, als faltete sich ihr Schädel auf, um das gesamte Universum einzulassen. Und als sie ihre richtigen Augen öffnete, offenbarte sich ihr die Wahrheit. Über Stonehenge erhob sich eine Kathedrale aus flammender blauer Energie, und alles darin war von einer so potenten Spiritualität erfüllt, dass Mary schauderte. Um sie herum standen die Elysium. »Sharish?« Ihr Schutzengel trat vor. Er lächelte wissend, und sie kam sofort zur Sache. »Du warst nicht zufällig am Dragon Hill. Du hast auf mich gewartet.« Umgeben vom blauen Lichtschein, wirkte Sharish zum ersten Mal wirklich engelhaft. 371 »Warum sagst du das?«, fragte er. »Ich habe über Verbindungen und Zufälle nachgedacht und warum einige Dinge immer ein gutes Ende zu finden scheinen ... als wäre es so geplant.« Sein Lächeln veränderte sich ein wenig und kündete von unendlicher Weisheit. »Es gibt keine Zufälle.« »Also gibt es eine Art... Plan. Und ich dachte immer, ich handle aus freiem Willen.« »Alle lebenden Geschöpfe nehmen sich automatisch als Mittelpunkt der Welt wahr. Es liegt nicht in der menschlichen Natur, sich als Teil von etwas viel, viel Größerem zu betrachten ...« »Als Rädchen im Getriebe ...« »... als existenzieller Teil des großen Weltenplans.« Mary verkrampfte sich. »Der Puzzle-Mann - er wurde mir nicht von demjenigen, der die Seuche verursacht hat,
nachgeschickt. Das wart ihr.« »Nicht wir ...« »Dann eben derjenige, für den ihr arbeitet. Es ist doch ganz offensichtlich, wenn man darüber nachdenkt. Das Wesen, das diese kleinen Seuchenkobolde erschaffen hat, hätte mich mühelos umbringen können. Es musste mir nicht diesen zusammengeflickten Kerl auf den Hals hetzen. Was ist da im Gange?« Sharish nickte gütig. Mary hatte schon das Schlimmste befürchtet - dass die Elysium mit demjenigen unter einer Decke steckten, der für die Seuche verantwortlich war -, aber ihr Instinkt sagte ihr, dass dies nicht der Fall war. »Hätte man dich nicht dieser Gefahrensituation ausgesetzt, wäre deine Suche vergebens geblieben.« »Dann war es also gut für mich, dass dieser Wahnsinnige mir nachstellte?«, fragte sie scharf. Sharish presste die Fingerspitzen beider Hände aneinander und überlegte einen Moment lang, als versuche 372 er sich darüber klar zu werden, wie viel er ihr verraten sollte. »Man wächst und entwickelt sich nur durch ... Prüfungen. Das gilt nicht nur für einzelne Individuen, sondern für ganze Spezies. Prüfungen bewirken ein inneres Wachstum. Diejenigen, die die nächste Stufe erklimmen möchten, müssen sich auf eine spirituelle Suche begeben. Sie müssen Hindernisse überwinden und ihre Fähigkeiten weiterentwickeln.« »Dann kann mich der Puzzle-Mann also gar nicht umbringen.« »Oh doch, das kann er sehr wohl. Er würde es tun. Wenn er keine wirkliche Bedrohung darstellte, hätte die Prüfung keinen Sinn.« »Und diese Seuche - ist die auch eine solche Prüfung? Eine Prüfung für die Menschheit? Nach dem Motto: Es werden zwar viele sterben, aber die Überlebenden stehen dafür umso besser da?« »Sie ist eine Prüfung, aber nicht wir haben sie über die Menschen gebracht. Das ganze Leben ist eine Prüfung auf dem Weg nach ...« Er hielt inne. »... nach anderswo. Es ist eine Schule, wenn man es so ausdrücken möchte. Eine Schule für den Geist.« »Und den Abschluss erhalten wir erst, wenn wir alle Prüfungen bestanden haben.« Sie lachte humorlos. »Verzeih mir, wenn ich nicht in Freudenschreie ausbreche. Ich denke wohl zu viel an all das Leid, das über die Menschen gekommen ist.« »Ich verstehe deine Reaktion. Aus deiner Perspektive ...« »Ach, hör auf damit!« Sie winkte geringschätzig ab. »Wahrscheinlich wäre es zu viel verlangt, dich zu bitten, mich einfach in Ruhe zu lassen, damit ich mit dem fortfahren kann, was ich tun muss, oder?« »Es gibt einen großen Weltenplan und gewaltige 373 Mächte jenseits deines VorstellungsVermögens. Aus deiner Perspektive kannst du unmöglich erkennen, welche Rolle du dabei einnimmst. Oder was auf dem Spiel steht.« »Du kannst es mir ja erzählen.« Einen Moment lang ängstigte sie seine von Ehrfurcht erfüllte Miene; sie glaubte zu erkennen, dass sich ganze Universen darin spiegelten. »Du darfst nicht erfahren, welche Rolle du darin spielst, denn sonst würde deine Entwicklung Schaden nehmen. Aber was auf dem Spiel steht? Alles. Die gesamte Existenz der Menschheit hat auf diesen Punkt zugeführt. Wir stehen an der Schwelle zu Allem und zum Nichts. Zum Leben und zur Leere. Die Menschheit muss die nächste Stufe erklimmen, wenn sich der Zyklus des Seins fortsetzen soll.« Sharish sah ihre Verwirrung und berührte sie daraufhin in der Mitte der Stirn. In ihrem Geist flammte ein Bild auf: ein Mann in zerschlissener Kleidung; es war derselbe, dem Mary an der Straßenkreuzung begegnet war. »Die Götter, die mit dem Untergang gekommen sind, sind nicht die einzigen. Über ihnen stehen noch größere, ältere Gottheiten«, sagte Sharish. »Sie sind diejenigen, die dich geleitet haben. In deiner Welt nimmt man sie jetzt als ortsgebundene Geister wahr, als genii loci. Man begegnet ihnen an Kreuzungen und Seen, an Flüssen und Bergen, doch ihr Äußeres täuscht über ihre wahre Natur hinweg.« »Gehören dazu auch der Lange Mann von Wilmington und die verschwundene Göttin?« »Sie existieren außerhalb eures Bezugsrahmens«, fuhr Sharish ausweichend fort. »Das Sein ist viel zu gewaltig und komplex, als dass lebende Geschöpfe auch nur einen geringfügigen Teil davon begreifen könnten.« 374 »Du dienst den älteren Gottheiten«, sagte Mary. »Ich bin einer ihrer Beauftragten.« Sharish führte sie in die lockende Wärme des Blauen Feuers zurück. »Nun habe ich deine Fragen beantwortet. Nimm dir noch diesen einen Ratschlag zu Herzen: Du bist wichtig. Alles ist wichtig. Jeder spielt eine Rolle. Niemand stirbt ohne Grund. Niemand leidet unnötig. Hinter allem, was geschieht, liegt eine übergeordnete Bedeutung.« Seine Worte waren für Mary überaus tröstlich. Denn so konnte sie sich als Teil von etwas Wichtigem fühlen, neben dem ihre persönlichen Schwierigkeiten bedeutungslos waren. »Du könntest aber auch aufgeben«, sagte Sharish. »In diesem Fall würde derjenige, der dich verfolgt, die Jagd sofort beenden.« Mary lachte über seine Durchschaubarkeit. »Du testest mich. Nein, ich gebe nicht auf. Ich tue dies nicht um meinetwillen. Ich tue es für Caitlin, die mir sehr, sehr wichtig ist, und für die Göttin. Als ich jünger war, habe ich alle, die mir nahe standen, betrogen. Nicht in dem Sinne, dass ich sie an die Polizei verraten oder ihnen etwas gestohlen hätte. Nein, so nicht, sondern auf eine Weise, als hätte ich mir dabei selbst ein Loch ins Herz gestoßen.
Und so etwas werde ich nie wieder tun. Vielleicht ist dies meine Chance, frühere Fehler wieder gutzumachen. « Sharishs Lächeln war erstaunlich warmherzig. Er hob den Arm und fasste ihr erneut an die Stirn. Kurz darauf fand Mary sich allein im Schatten eines der Megalithen wieder. Sharish war verschwunden, ebenso die Kathedrale aus Blauem Feuer. Ihr erster Gedanke war ganz klar: Warum hatte man von allen Menschen auf der Welt gerade sie ausgewählt? Sie verdiente es nicht. Oder 375 führte dies in Wirklichkeit zu der Bestrafung, die sie seit fünfunddreißig Jahren erwartete? War es vielleicht ein aufwendiger Plan, um es ihr heimzuzahlen, weil sie ihr Leben verpfuscht hatte? Die Sonnenjäger war einige hundert Meter flussaufwärts in einem verlassenen Hafen festgemacht, dessen bemerkenswerte Gebäude in den Tiefen des Waldes verschwanden. Im verblassenden Licht der untergehenden Sonne schwirrten Mückenschwärme über dem Wasser, und es war tropisch schwül. Mahalia, Matt und Jack hatten eine Weile gebraucht, bis sie sich mit Crowther einen Weg durch den Wald gebahnt hatten; sie mussten den Professor wie einen Schlafwandler durchs Unterholz führen. Er antwortete auf keine ihrer Fragen, schaute nicht nach links und rechts, schaffte es aber trotzdem irgendwie, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Als sie sich dem Boot näherten, rief Matt eine freudige Begrüßung. Obwohl Triathus nicht an Deck kam, war seine Reaktion eindeutig: Die Sonnenjäger setzte sich in Bewegung und trieb langsam auf sie zu. Als das Boot nahe genug war, liefen die Gefährten ins flache Wasser und kletterten die am Rumpf herabhängende Strickleiter hinauf. »Wo ist Triathus?«, fragte Mahalia argwöhnisch. Das Boot fuhr vom Ufer in die Flussmitte; es war bereit, die Reise fortzusetzen. Nach dem Erlebnis am Hof der Singenden Träume blieben die Gefährten sicherheitshalber an der Reling stehen. Dann vernahmen sie im Unterdeck Triathus' beruhigende Stimme. »Ich bin hier unten.« Sie eilten zur Luke, erpicht darauf, mal wieder ein freundliches Gesicht zu sehen, aber als sie in die Kombüse hinabschauten, verschlug es ihnen die Sprache. 376 Triathus kauerte auf dem Boden, an eine der Vorratskisten gelehnt. Seine goldene Haut war voller schwarzer Linien, als hätte man ihn tätowiert. Seine Atmung war flach, und er hatte kaum die Kraft, zu ihnen aufzublicken. »Oh Gott«, sagte Mahalia. »Er hat die Seuche.« Die Gefährten ließen Crowther an Deck stehen und eilten nach unten. »Kurz nachdem ihr geflohen seid, habe ich die ersten Anzeichen bemerkt.« Trotz seines schlechten Zustands war Triathus' Stimme deutlich zu verstehen. Matt fasste dem Gott an die Stirn, um dessen Körpertemperatur zu prüfen, gab aber gleich wieder auf. »Ich wüsste gar nicht, womit ich anfangen soll ...« »Macht euch keine Gedanken.« Triathus lächelte schwach. »Ihr könnt nichts dagegen tun.« »Irgendwas muss es doch geben!«, rief Mahalia aufgebracht. Traurig schüttelte Triathus den Kopf. »Ich werde aus dem Sein entfernt.« »Du stirbst«, sagte Jack mit leiser Ehrfurcht. Obwohl Triathus dem Volk angehörte, das ihn so lange gequält hatte, hatte der Jüngling Mitleid mit dem Gott. »Ich dachte, die Tuatha De Danann können sich nicht anstecken«, sagte Matt. Triathus' Blick wanderte über seine Gliedmaßen; der Gott sah Dinge, die für die anderen unsichtbar waren. »Die Seuche ist nicht das, was ihr Menschen als normale Krankheit bezeichnen würdet. Sie greift die Kraft an, die alles zusammenhält ... den lebenspendenden Geist des Seins.« »Uns sind ein paar seltsame Dinge aufgefallen«, erklärte Matt. »Blumen und Pflanzen werden von etwas befallen, was wie die Symptome der Seuche aussieht. 377 Und da war noch etwas anderes.« Er beschrieb das merkwürdige, offenbar ins Nichts führende Loch im Waldboden, das er und Jack kurz vor ihrer Ankunft am Hof der Singenden Träume gesehen hatten. »Ganz Fernlande läuft Gefahr, von der Seuche zerstört zu werden«, entgegnete Triathus. Seine Stimme war schwächer geworden. »Wir haben sie hier eingeschleppt, stimmt's?«, sagte Mahalia. »Grämt euch nicht.« Seine Lider flatterten und er rutschte auf die Seite. »Verzeiht. Mich verlassen die Kräfte.« »Kommt, wir legen ihn in eine Koje«, sagte Matt. »Da hat er es bequemer.« »Nein. Bringt mich an Deck. Ich möchte ein letztes Mal den Sonnenuntergang sehen.« Jack und Matt trugen den Gott die Stufen hinauf und fanden einen geeigneten Platz für ihn. Der Danann war federleicht, als bestünde er aus kaum mehr als Luft. Mahalia stand an der Reling und beobachtete, wie sich zwischen den Bäumen die Dunkelheit ausbreitete. Sie blickte nicht auf, als Matt zu ihr herantrat. »Wissen Sie, allmählich stelle ich mir die Frage: Wozu das Ganze?«, sagte sie. »Eigentlich solltest du das wissen«, entgegnete Matt. »Bei uns zu Hause sterben die Menschen wie die Fliegen.« »Das weiß ich. Aber glauben Sie wirklich, dass wir etwas dagegen tun können? Carlton ist tot.« Sie stockte kurz, doch ihre Miene blieb unverändert. »Caitlin ist vielleicht auch tot. Triathus liegt im Sterben. Der Professor ist ein Zombie. Nur noch Sie, Jack und ich sind übrig. Wir wissen nicht, wohin wir uns wenden sollen. Wir wissen nicht, was das Heilmittel überhaupt ist und was
378 wir tun sollen, wenn wir es herausfinden. Alles fällt auseinander.« Matt starrte in die Dunkelheit zwischen den Bäumen. »Ich habe mich gefragt, ob wir umkehren und Caitlin suchen sollen.« »Super Idee. Sie steuern diese Nussschale durch die Stromschnellen, und hinterher machen wir die Flüsterer platt und ...« »Ist ja gut.« Er klang zum ersten Mal wütend, und das erschreckte sie. »Schauen Sie, ich weiß, was Sie für Caitlin empfinden, aber sie ist die Art Person, die überlebt, wenn es irgendwie möglich ist. Wir können immer noch auf dem Rückweg nach ihr suchen ...« Sie verstummte; selbst für sie klangen ihre Worte hohl. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf Crowther, der schwankend an Deck stand; das rötliche Licht der untergehenden Sonne schimmerte auf der glänzenden Maske. Mahalia stieß sich von der Reling ab und ging zu ihm hinüber. Sie zog ihn an seinem Mantel zu Boden, zwang den Professor, sich hinzusetzen, dann holte sie ein Messer heraus. Matt zuckte erschrocken zusammen und eilte herbei. Als sie die Klinge seitlich an Crowthers Gesicht hob, stieß Matt ihre Hand weg, und das Messer fiel klappernd auf die Deckplanken. »Hast du sie noch alle?« »Wieso? Die Maske ist ein lebendiges Wesen. Erinnern Sie sich nicht, was er gesagt hat ...« »Hast du sie noch alle?«, wiederholte er. Ihn beunruhigte die Kälte in ihren Augen, und normalerweise brachte ihn nichts so schnell aus der Fassung. Sie hob das Messer auf, hielt es locker in der Hand. »Ich schiebe ihm die Spitze seitlich in den Kopf und versuche, den Bolzen herauszubiegen. Und falls die Maske 379 irgendwie anders angebracht ist, schneide ich sie ihm vom Gesicht.« Matt wusste nicht, ob sie ihn einfach nur ärgern wollte. »Du würdest ihm das Gesicht zerschneiden?« »Nun, betrachten Sie es mal von der Seite: Wofür würde er sich wohl entscheiden - für ein Leben mit ein paar Narben im Gesicht oder mit einer Maske rumzurennen, die ihn langsam aber sicher umbringt?« »Du weißt nicht, was los ist. Vielleicht dauert es diesmal einfach länger, und irgendwann fällt die Maske von alleine ab.« »Vielleicht. Das Wort gefällt Ihnen, was?« Sie musterte Matt eindringlich und sah, dass es sinnlos war, mit ihm zu streiten. »Sie haben keine Ahnung, wie Crowther drauf ist.« »Und du weißt es? »Ja, allerdings. Er mag es nicht, wenn etwas Macht über ihn hat...« »Keiner mag das.« »Er mag es wirklich nicht. Er glaubt, er sei zu nichts nutze, und zieht sich deshalb innerlich zurück, aber in Wahrheit versteckt er sich vor den Dingen, die seiner Meinung nach Macht über ihn haben. Er ist ein freier Geist.« Sie schob das Messer in die Scheide. »Du hältst dich wohl für oberschlau, was? Und für knallhart. Aber du bist ein Kind, nichts weiter. Vergiss das nicht.« Matt wandte sich um und ging. Mahalia sah ihm nach; ihre eisige Miene zerschmolz unter einer dumpfen, tief in ihr aufsteigenden Hitze. Kurz darauf trat die Maske wieder in Aktion. Der erste Hinweis darauf waren wunderschöne psychedelische Farbmuster auf dem Fluss, die Matt, Mahalia und Jack eine Weile wie verzaubert betrachteten. Dann folgten 380 Geräusche, ein tiefes Grollen und hohes Gekreische, unsichtbare Feuerwerke und überirdisch klingende Musik, die mal lauter, mal leiser wurde. Allmählich wurden die von der Maske ausgelösten Effekte immer intensiver und verstörender. An der Achterreling kroch Mahalia zu Jack unter die Decke, wo sie sich küssten und streichelten, doch als absolut unerfahrener Jüngling, der er war, ejakulierte er, sobald sie ihn zwischen den Beinen berührte. Sie wusste nicht, ob sie sich über das klebrige Zeug ärgern oder freuen sollte. Sie hätte mit ihm geschlafen; es wäre ihr erstes Mal gewesen, doch sie hätte es nicht aus Liebe getan, sondern wegen ihres verzweifelten Wunsches nach Nähe und Trost und etwas Stabilität in einer wahnsinnig gewordenen Welt. Irgendwann in den frühen Morgenstunden rissen Matts Rufe Mahalia und Jack aus dem Schlaf. Ein gewaltiger goldener Lichtball sauste über das Boot hinweg und explodierte in einem grellen Blitz irgendwo am anderen Ufer. Zuerst hielt Mahalia es für das Werk der Maske, aber als eine zweite Explosion folgte, wurde ihr klar, dass es etwas anderes sein musste. Sie trat an die Reling und sah, dass an beiden Ufern zwischen den Bäumen eine Schlacht tobte. Verschwommene Gestalten, einige golden, andere dunkel und gedrungen, stürmten zwischen den Bäumen umher und griffen sich gegenseitig an. Ab und zu erklangen seltsame Schreie, bevor einer der Krieger fiel und entweder eine goldene oder eine schwarze Mottenwolke gen Himmel stob; immer wieder zuckten grelle Blitze auf, manche weiß, andere farbig. Sie schrak zusammen, als sich hinter ihr eine wehklagende Stimme erhob. Es war Triathus. Obwohl er im Delirium lag, bekam er auf einer bestimmten Ebene die Er381
eignisse am Ufer mit und weinte oder sang leise vor sich hin; genau konnte sie es nicht sagen, aber die fremdartigen Laute ließen einen Schwall anrührender Emotionen in ihr aufsteigen. Etwas schlug gegen den Rumpf, und sie schaute hastig nach, ob nun auch das Boot angegriffen wurde. Im dunklen Wasser trieben zahllose Holzstücke - zuerst dachte sie, es wären Überreste explodierter Bäume, doch die Teile schienen sich aus eigener Kraft zu bewegen. Eine grelle Explosion direkt über ihnen offenbarte die Wahrheit, und Mahalia wich erschrocken zurück. Die Objekte bewegten sich tatsächlich. Es waren keine Überreste von Bäumen, sondern kleine, halb tote Danann, ihre Körper so geschunden und zerrissen, dass die einstmals menschliche Gestalt kaum noch zu erahnen war. Immer wieder erlosch bei einem der Krieger der letzte Lebensfunke, und die Leiche explodierte in einer flatternden Mottenwolke, die sofort zum Himmel aufstieg. Mahalia war angewidert, schaute aber wie gebannt zu. Der Strom der Leichen nahm kein Ende; im steten Rhythmus von Kriegstrommeln schlugen sie gegen den Rumpf. Triathus' Wehklagen wurde immer eindringlicher. »Das ist Wahnsinn.« Matt hatte sich neben Mahalia gestellt und starrte düster aufs Wasser. »Sie schlachten sich gegenseitig ab. Was zum Henker soll das bringen?« Die halluzinogenen Masken-Effekte verstärkten nur ihr Gefühl von Desorientierung, doch in den gelegentlichen Lichtblitzen sahen sie, dass am fernen Horizont ähnlich bizarre Phänomene abliefen. »Was ist da los?«, fragte Mahalia beklommen. Jacks Hände schoben sich in ihre. »Das ist der Rand der Welt.« »Wo die Realität aufbricht und im großen Nichts versinkt« , sagte Matt, dem eingefallen war, was sie am Hof 382 der Einträchtigen Seelen erfahren hatten. Er atmete tief durch. »Wir sind fast da.« Eine Stunde später, während die verheerende Schlacht noch immer tobte, sahen sie, dass Triathus' Zeit so gut wie abgelaufen war. Seine Atmung war flach, sein Blick starr. Das golden schimmernde Licht auf seiner Haut war zu einem matten, verwaschenen Gelb verblasst, und die schwarz gefleckten Linien überzogen nun seinen ganzen Körper. Matt, Mahalia und Jack wussten, dass sie nur schweigend zuschauen konnten. Von den dreien beobachtete Mahalia den goldenen Gott am eindringlichsten. Sie bemerkte jedes kleine Zucken in seinem Gesicht und registrierte sogar den flüchtigen Moment, in dem ihn der letzte Rest seiner Lebenskraft verließ. Es war kaum wahrnehmbar, als würde seinem Körper ein zarter Lufthauch entströmen. Es überraschte sie, dass sie eine einzelne Träne verdrückte, doch sie wischte sie schnell ab, bevor die anderen es sahen. Sein Körper löste sich in golden schimmernde Motten auf, die in einem faszinierenden Tanz der Trauer und Hoffnung umherflatterten und schließlich zum düsteren Himmel aufstiegen, wo sie wie erlöschende Sterne verblassten. Sie standen mit gesenkten Häuptern da und traten schließlich an die Reling. Am Ufer wies die Flora nun unverkennbar die Symptome der Seuche auf: Das Laub war welk, die Blüten waren geschwärzt, und breite schwarze Linien durchzogen die Baumstämme. Und immer wieder bemerkten sie Risse in der Luft. Noch waren diese recht klein, doch sie wurden stetig größer, als wäre die gesamte Umgebung eine riesige Bildtapete, die sich unaufhaltsam auflöste. 383 »Fällt es euch auch auf? Je weiter wir flussaufwärts kommen, desto schlimmer wird es«, sagte Mahalia. »Und hier ist es schon schlimm genug«, erwiderte Matt. Nach dem leuchtenden Blau gab es nur noch die endlose goldene Sandwüste und einen von der Hitze ausgebleichten Himmel. Hinter Caitlin knisterte die Energie in einem jahrtausendealten Kreis aus zu Glas geschmolzenen Steinen. Sie blickte nicht zurück. Sie trat in die Einöde hinaus und spürte, wie ihre Stiefel im Sand versanken. In ihrem Kopf wirbelte ein Strudel aus schwarzen Krähenfedern ihre Gedanken durcheinander. Irgendwo wimmerte Amy, doch Caitlin beachtete es nicht. Ihr Herz pochte im Rhythmus einer Kriegstrommel; ihr Blickfeld war blutgetränkt. In der Welt, die sich vor ihr ausbreitete, gab es nichts, wovor sie sich gefürchtet hätte. Der vor ihr liegende Weg würde sie geradewegs zu ihrer Bestimmung führen. Sie ging los. Im Morgengrauen zog Nebel auf. Die Schlacht war vorüber, und unter dem grauen Himmel lag alles still und reglos da. Nur das leise Schwappen des Flusses war zu hören. Wie als Reaktion darauf hatte die Maske eine ihrer Ruhephasen eingelegt. Matt schlief in der Kombüse, während Mahalia und Jack sich an Deck hingelegt hatten. Im Laufe der Nacht waren sie so oft aufgewacht und wieder eingeschlafen, dass sie nach einer Weile nicht mehr wussten, was Traum und was Realität war. Mahalia erwachte als Erste, verwirrt von der beklemmenden Stille. Der Nebel war so dicht, dass man das Ufer nicht mehr sah; sie hätten ebenso gut auf hoher See 384 treiben können. Sie trat an die Reling und lauschte. Nichts war zu hören, nur leises Wasserplätschern. Sie schlang die Arme um den Leib und betrachtete Jack, der noch tief und fest schlief. Sie musste an Carlton denken und vergoss einige Tränen, und dann bekam sie ein schlechtes Gewissen, weil sie wegen Jack gar nicht
mehr so oft an den kleinen Jungen dachte. Aber sie liebte Jack, und diese Liebe wurde mit jedem Tag stärker. Ihn auch noch zu verlieren, würde sie nicht ertragen, so viel war ihr klar. Es würde sie umbringen. Sie hatten befürchtet, dass die Sonnenjäger nach Triathus' Tod nicht mehr funktionieren würde, doch die Instruktionen, die er dem Boot gegeben hatte, waren nach wie vor wirksam. Es reagierte auf jeden ihrer Wünsche, fuhr schneller, wenn sie es für nötig hielten, oder korrigierte seine Position auf dem Fluss. Nun sah Mahalia, dass es aufs Ufer zutrieb, denn im Nebel kamen plötzlich geisterhaft die Bäume zum Vorschein. Sie weckte Matt und Jack, und als sie an die Reling traten, hatte die Sonnenjäger am Ufer angehalten. Überrascht sahen sie, dass sie den Wald hinter sich gelassen hatten. Die Bäume, die Mahalia gesehen hatte, standen vereinzelt in einer flachen Sumpflandschaft, die den Geruch von verfaulender Vegetation verströmte; wie weit die Landschaft sich erstreckte, konnte man allerdings nicht erkennen, denn im Nebel betrug die Sichtweite höchstens zwanzig Meter. »Warum halten wir hier an?« Jacks Stimme war ein nervöses Flüstern. »Ich glaube nicht, dass uns die Sonnenjäger absichtlich in eine gefährliche Situation bringt«, sagte Matt. »Vielleicht sollen wir hier unseren Wasservorrat aufstocken oder so.« »Ich glaube nicht, dass ich dieses Wasser trinken wür385 de.« Mahalia deutete auf die brackigen Teiche inmitten der Sümpfe und gelben Marschgräser. Dann lichtete sich der Nebel ein wenig, und Mahalia zuckte erschrocken zusammen, denn was sie anfangs für eine kleine Baumgruppe gehalten hatte, waren in Wahrheit acht bis zehn Männer, die reglos dastanden und das Boot beobachteten. Matt holte seinen Bogen, Mahalia ihr Schwert, doch die Männer machten keine Anstalten anzugreifen. Sie hatten Barte und langes Haar, waren Ende vierzig oder älter - zwei waren bestimmt Mitte siebzig - und trugen lange graue Kutten und auf dem Kopf Reife aus Efeu. Einer, der einen kunstvoll geschnitzten Stab hielt, trat vor. Er war um die sechzig, hatte aber eine imposante Statur und stechende graue Augen. »Willkommen in der letzten Heimstatt der Kultur«, sagte er mit sonorer Stimme. Der Name des Anführers war Matthias. Es dauerte eine Weile, bis er Matt, Jack und besonders Mahalia davon überzeugt hatte, dass er und seine Männer keine Bedrohung darstellten, aber schließlich gingen die drei zusammen mit Crowther von Bord. Matthias erstarrte, als er den Professor sah. »Die Maske des Maponus!«, rief er. »Keine Sorge - er ist ungefährlich«, sagte Mahalia hoffnungsvoll. »Bitte ... er läuft einfach mit uns mit, okay?« Matthias entspannte sich ein wenig, doch die anderen Männer beäugten Crowther weiterhin argwöhnisch. »Wir versuchen die Zeit noch immer auf unsere Weise zu messen, obwohl es an diesem Ort nahezu unmöglich ist«, sagte Matthias, »aber es ist auf jeden Fall viele lange Jahre her, dass wir anderen Menschen begegnet sind.« 386 »Ihr seid Menschen?«, fragte Matt. »Ja, es gibt einige von uns hier in Fernlande, aber nicht viele. Den meisten fällt es sehr schwer, sich an die Gegebenheiten dieser Welt anzupassen. Es kann einen Menschen in den Wahnsinn treiben und ihn alles vergessen lassen, woran er einmal geglaubt hat.« »Aber ihr habt überlebt.« »Wir haben ein sehr ausgeprägtes Verständnis für andere Realitäten. Kommt in unser Lager. Wir würden gerne Neuigkeiten aus unserer alten Heimat hören und bieten euch im Gegenzug Speisen und Trank an. Und ihr bekommt alles umsonst und ohne jede Verpflichtung.« Mahalia und Matt merkten, wie hungrig sie waren, während Jack kaum noch zu essen schien. »Haben wir denn genug Zeit?«, fragte Mahalia leise. »Vielleicht wissen sie etwas, das uns weiterhilft«, entgegnete Matt. »Kommt, wir gehen mit.« Sie marschierten los; Matthias übernahm die Führung, während die anderen Männer aus seiner Gruppe die Nachhut bildeten. »Passt auf, wo ihr hintretet«, sagte Matthias. »Diese Sümpfe sind sehr trügerisch. Sie ziehen einen blitzschnell in die Tiefe, und die säureartigen Eigenschaften der Flüssigkeiten im Boden ätzen einem das Fleisch von den Knochen.« Irgendwo im Nebel stieß ein Vogel einen so düsteren Schrei aus, dass ihre Stimmung augenblicklich in den Keller rutschte. Die Landschaft wirkte gespenstisch. »Was tut ihr hier?«, fragte Matt. »Wir haben hier unsere Zufluchtsstätte gefunden«, antwortete Matthias, »und genau darin liegt die besondere Ironie. Sterbliche, die Zuflucht in Fernlande suchen! Dass wir uns hier sicherer fühlen als zu Hause, zeigt nur, wie schlecht es um die Menschheit bestellt ist. 387 Wir Menschen sind unser schlimmster Feind - wir brauchen keine anderen Widersacher. Gier, Verlogenheit, Arroganz, Brutalität - diese Dinge und nicht die Götter verhindern, dass wir unser wahres Potenzial ausschöpfen.« Nach einer Weile erreichten sie eine Insel inmitten der Sümpfe. Sie war dicht bewaldet, doch zwischen den
Bäumen gab es zahlreiche große Lichtungen. In der Mitte der Insel befand sich ein Lager aus im keltischen Stil gebauten Rundhäusern. Die meisten waren Wohnunterkünfte, doch es gab einen größeren Bau, der als eine Art Gemeinschafts- und Speisesaal diente. In einer Einfriedung grasten Schafe, und ein anderes Areal diente dem Ackerbau. »Wir leben fast so, wie wir es zu Hause bis zu unserer Flucht getan haben«, sagte Matthias und führte sie in den Saal, der groß genug war, um bis zu fünfzig Leute aufzunehmen. In der Mitte brannte ein Feuer, und der Rauch zog durch ein Loch in der Decke ab. Ein großer Holztisch in Form eines Hufeisens lud zum Verweilen ein. Matthias setzte sich auf einen hochlehnigen Holzstuhl, dessen Rückseite kunstvoll eingeschnitzte Drachenmotive zierten. Er bedeutete Matt, Mahalia und Jack, Platz zu nehmen. Crowther blieb hinter ihnen stehen. Nach einigen Minuten servierten die anderen Mitglieder der Kultur kaltes Lammfleisch, Gemüse, Obst und Karaffen mit frischem Wasser. »Greift zu«, sagte Matthias warmherzig. »Es ist schön, nach all der Zeit wieder Gäste zu haben.« Er lächelte die Gefährten freundlich an, worauf diese sich sichtlich entspannten. »Es gab eine Zeit, als die Kultur eine äußerst wichtige Rolle in den Angelegenheiten der Menschheit gespielt hat«, fuhr er fort. »Aber ich glaube, unser Name sagt den Menschen nichts mehr, oder?« 388 Matt zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid ...« Matthias senkte einen Moment lang den Blick und sammelte sich. »Das war zu erwarten. Dann werde ich euch unsere Geschichte erzählen. Unsere Gruppierung existiert seit dem Anbeginn der Menschheit. Unsere Aufgabe war, uns um die spirituellen Bedürfnisse unserer Mitmenschen zu kümmern, und in dieser Funktion haben wir großes Wissen angesammelt, es gehütet und weitergegeben, und wir haben die unsichtbaren Welten, die unsere umgeben, beobachtet. Wir standen als Wachposten und Hüter zwischen unserer Welt und den anderen.« Die übrigen Mitglieder der Kultur hatten ihre Plätze am Tisch eingenommen, und sie nickten verständig, aber traurig, während Matthias ihre Geschichte vortrug. »Wir waren Priester des Waldes. Unser Werkzeug war die heilige Sichel, unsere Sprache die Sprache der Bäume. Die Kultur wurde in Britannien gegründet, lange bevor die ersten Steinkreise errichtet wurden, und Weisheitssuchende kamen über alle Ozeane, um von uns zu lernen. Wir wussten um das Blaue Feuer und seine Bedeutung als Lebensblut aller Dinge. Und wir lernten, es zu formen und zu kanalisieren. Wir wussten von den unbehauenen, vorgeschichtlichen Steinsäulen und den heiligen Hügeln, den Brunnen und den Seen, wo das Feuer am stärksten ist. Im Laufe der Zeit erkannten wir, dass all dies die Basis für ein Zeitalter des Friedens und Wohlstands sein könnte und dass die Menschen dadurch den nächsten Schritt auf ihrer Reise zu den Sternen tun könnten. Wir nahmen die Rolle als Schäfer der Menschheit an und als Hüter gegen die vielen Mächte, die unsere Existenz im Universum hätten beenden können. Wir riefen die Brüder und Schwestern der Drachen ins Leben. Wir ver389 steckten unsere machtvollen Waffen und kennzeichneten die Landschaft mit unseren Prophezeiungen und Warnungen, damit künftige Generationen die Wahrheit erfahren konnten, falls sie den dafür nötigen Scharfblick besäßen. Und mit der Zeit haben wir die zerstrittenen keltischen Stämme zu einer wundervollen Nation vereint, die unsere Vision eines Tages wahrmachen sollte.« Matthias hielt inne und trank einen Schluck Wasser. Dann sah er die Gefährten ernst an. »Diejenigen, die das Spirituelle über den kalten Materialismus stellen, sind immer leichte Ziele für Machthungrige, und so war es auch bei uns. Gerade als wir glaubten, unsere Träume könnten wahr werden, kamen die Invasoren. Auf Caesars Befehl segelten sie mit ihren Schiffen nach Britannien, waren begierig auf Eroberungen und voller Verachtung für andere Glaubensrichtungen. Sie bauten ihre geraden Straßen und schickten ihre Legionen aus, töteten Abertausende von Menschen und vertrieben die Stämme aus ihren angestammten Gebieten. Und sie wussten von unserer Macht, denn sie hatten in ihrer Heimat viel über uns gehört, und deshalb stellten sie uns gnadenlos nach, um uns zu schwächen und den Menschen das Gefühl zu geben, wir hätten sie im Stich gelassen. Nach der Entscheidungsschlacht bei Mon, wo dieser Bastard Suetonius eine riesige keltische Streitmacht erbarmungslos abgeschlachtet hat, zogen wir uns in die Wälder und Berge zurück. Während der nachfolgenden vierhundertjährigen römischen Besatzung wurden wir gejagt und dezimiert, bis nur noch eine Hand voll von uns übrig war. Wir hatten eine letzte Gelegenheit, an unseren Träumen festzuhalten. Acht von uns ... wir hier am Tisch ... wurden zum ultimativen Versteck geschickt: nach Tir 390 n'a n'Og, dem Land der Götter. Hier haben wir unser Wissen gehütet und mit Hilfe des großen Kriegers Jack Churchill, den alle nur Church nannten, diese Enklave aufgebaut. Und seither warten wir. Wir warten und warten und werden nicht älter, hier, im Land des Ewigen Sommers, aber unser Anliegen, der Sinn unseres Seins, ist verwässert, denn wenn man alle Zeit der Welt hat, warum soll man dann etwas tun? Und so ist es bis heute geblieben.« Er lehnte sich zurück und schloss traurig die Augen. Eine Weile war nur das knisternde Feuer zu hören. Matt schien die Geschichte gelangweilt zu haben, denn er interessierte sich nur für das Essen auf seinem Teller. Mahalia hingegen hatte aufmerksam zugehört, und als die Brüder und Schwestern der Drachen erwähnt wurden,
war ihr fast schlecht geworden. Ihr fiel ein, wie sie Caitlin das Messer an die Gurgel gehalten hatte, wie Caitlin ins Wasser gefallen war, wie die Flüsterer dem Fluss entstiegen waren ... Matthias musste ihre schuldbewusste Miene gesehen haben, denn er fragte sie sanft: »Was ist los?« »Eine Frau ist mit uns gereist ... jeder hat ihr gesagt, sie sei eine Schwester der Drachen ...« Die Mitglieder der Gruppe wurden unruhig; aufgeregtes Geflüster erhob sich am Tisch. »Eine Schwester der Drachen in Fernlande?«, rief einer aus. »Ja, so hieß es ständig«, sagte Mahalia und versuchte, nicht zu viel zu verraten. »Aber wir sind uns ziemlich sicher, dass sie tot ist.« Betretenes Schweigen. Dann sagte Matthias nur ein Wort: »Nein.« Als über Caitlin gesprochen wurde, wurde Matt hellhörig und blickte auf. »Was hat es denn mit ihr auf sich?« 391 »Es gibt Prophezeiungen. Dies sind besondere Zeiten - Zeiten, die uns in eine goldene Epoche führen werden. Aber die Brüder und Schwestern der Drachen müssen alle am Leben sein, um uns durch die dunklen Tage zu führen, denn sonst wird alles ins große Nichts hinabstürzen.« Mahalia lehnte sich zurück, damit Matts Körper sie vor Matthias' bohrendem Blick schützte. Aber Matthias hatte sie vergessen. Er erhob sich und sagte: »Wir müssen wichtige Dinge besprechen, wenn ihr wirklich die Gefährten einer Schwester der Drachen seid. Aber dies ist weder der rechte Ort noch der rechte Zeitpunkt dafür. Wir reden später. Ich bereite mich jetzt auf das Ritual vor.« Mit neuer Entschlossenheit schritt er aus dem Saal. Einer der anderen Männer kam herüber; er war jünger, legte aber einen Respekt an den Tag, der den Gefährten seit ihrer Ankunft auf der Insel in diesem Maße noch nicht zuteil geworden war. »Bitte - lasst euch Zeit, ruht euch aus, erkundet unsere Insel. Wir stehen euch zu Diensten. « Matt machte es sich in einem der kleinen Rundhäuser bequem und beschloss, ein Nickerchen zu machen, während draußen die Männer von Gebäude zu Gebäude eilten und sich mit gedämpften Stimmen unterhielten; ihre Gesichter waren gerötet, ihre Augen glänzten. Es war, als wären sie aus einem langen Schlaf erwacht. Jack ging zu Mahalia, die auf einem Steinhaufen saß, den Überresten eines uralten Gebäudes, das schon vor der Ankunft der Kultur auf der Insel gestanden hatte. Wortlos setzte er sich neben sie, und sie beobachteten eine Weile die umhertreibenden Nebelschwaden. Ihr Aussichtspunkt lag über der Wolkendecke, und es sah 392 aus, als würde ein See aus sonnenbeschienenem Gold auf das Blätterdach des fernen Waldes zuwogen. »Es ist wunderschön«, sagte Jack leise, und sie musste zugeben, dass er Recht hatte. Und dann fügte er hinzu: »Du bist wunderschön«, worauf sie in Tränen ausbrach. Überrascht und besorgt, legte er den Arm um sie, damit sie sich anlehnen konnte, während sie weinte und weinte und weinte. In der Abenddämmerung wurde die Insel ein magischer Ort. Zwischen den Bäumen wurden Laternen angezündet, die Heerscharen von umherschwirrenden Insekten anzogen. Im Gemeinschaftssaal warfen die Männer Kräuter ins Feuer, sodass sich ein berauschender Duft über die gesamte Insel ausbreitete. Und dann begannen sie in einer Sprache zu singen, die Matt, Mahalia und Jack nicht kannten. Während die feinen Harmonien ihren Zauber woben, tauchten zwischen den höheren Ästen winzige Gestalten mit hauchzarten Flügeln auf und kamen herabgeflogen, um mit Stimmen, die wie Flöten und Oboen klangen, den Gesang zu begleiten. Mahalia, Jack, Matt und Crowther folgten den Männern auf einer Prozession, die sie tief in den Wald hineinführte, und als sie über die Grenzen der Insel hinausschauten, sahen sie dort blaue, an Nordlichter erinnernde Lichtstreifen in der Luft. Die Prozession endete auf einer Lichtung. Sie stellten sich in einen Kreis aus uralten Steinblöcken und wuchtigen Eichen. Der Vollmond schien auf sie herab, und sein Licht war so hell und weiß, dass die Steinblöcke scharf geschnittene Schatten aufs Gras warfen. »Magie liegt in der Luft«, sagte Matthias, »so wie früher, als wir uns unter einem sternengesprenkelten Him393 mel in heiligen Wäldern trafen und die Winde erfüllt waren von sommerlicher Wärme und den Echos anderer Welten.« Er lächelte warmherzig. »Ich habe mit unserem Bruder an der großen Grenze gesprochen, und es scheint, als wäre dies tatsächlich die seit Jahrtausenden vorhergesagte Zeit des Wandels. Es ist eine Zeit des Leids und Kummers, aber vor allem des Aufstiegs in nie gekannte Höhen, denn etwas Großes lässt sich nicht erreichen, ohne große Opfer zu bringen. Im Universum herrscht das Gesetz des Gleichgewichts. Nun lasst uns demütig die Häupter senken, denn das Goldene Zeitalter ist nahe.« Zum ersten Mal seit vielen Stunden bewegte Crowther sich aus eigenem Antrieb; er setzte sich in der Mitte des Kreises auf den Boden und ließ den maskierten Kopf herabsinken. Mahalia fragte sich, ob er Matthias' Ausführungen verstanden hatte. Matthias wandte sich in die vier Himmelsrichtungen und schwang dabei langsam eine Weihrauchschale. Der Rauch beschwor so lebendige Bilder in Mahalias Geist herauf, dass sie meinte, die Szenen würden tatsächlich im Steinkreis ablaufen; und vielleicht taten sie es auch. Sie sah England, so wie sie es kannte, die überfüllten Städte, die Eisenbahnen, die verstopften Straßen, die Leute mit ihrem High-Tech-Spielzeug. Und dann änderte sich das Bild plötzlich, und mit einem Mal schwärmten
magische goldene Wesen über das Land aus, einige auf Pferden, andere zu Fuß. »Zu Zeiten der Stämme waren diese Wesen als die Tuatha De Danann bekannt«, sagte Matthias. »Sie sind das Goldene Volk, das hier in Tir n'a n'Og seine Heimat gefunden, sich aber immer nach unserer Welt gesehnt hat. Deshalb kamen sie zurück. Sie verachteten Sterbliche, aber gleichzeitig haben sie sie geliebt. Sie wollten so sein 394 wie wir, doch mit ihren gewaltigen Kräften und ihrer Arroganz waren sie ein Quell der Zerstörung. Und mit ihnen kehrten auch ihre Feinde zurück, die monströsen Fomorii, die unter dem Befehl ihres Herrn, Balor, des einäugigen Todesgottes, standen.« Mahalia sah, wie sich ein schwarzer Schatten über das Land herabsenkte, als die goldenen Tuatha De Danann gegen die Fomorii kämpften. Städte wurden in Schutt und Asche gelegt, Hunderttausende starben, das Gemeinwesen löste sich auf. Das Land versank im Chaos. So also war der Untergang vonstatten gegangen. Warum kannte niemand den wahren Grund dafür? Hatten die Behörden es bis zum bitteren Ende geheim halten wollen? »Die Rückkehr der Götter und die damit einhergehenden Zerstörungen wurden in den Zeiten der Stämme nach der zweiten Schlacht von Magh Tuireadh vorausgesagt, als Balor getötet und gleich darauf wiedergeboren wurde.« Mahalia sah, wie in einer altertümlichen Landschaft eine grausame Schlacht tobte. »In diesen lange zurückliegenden Zeiten wurde der Orden der Brüder und Schwestern der Drachen gegründet, um auf die Rückkehr der Götter und auf das, was folgen würde, vorbereitet zu sein. Und tatsächlich haben diese Helden entscheidend dazu beigetragen, die Tuatha De Danann und die Fomorii aus unserer Welt zurückzudrängen. Zumindest fürs Erste.« Jetzt sah Mahalia fünf Menschen: einen Mann mit langem, dunklem Haar und ernstem Gesicht; eine groß gewachsene Frau mit stolzem Blick, eine weitere Frau mit einem blonden Wuschelkopf; einen zierlichen Asiaten und einen gut aussehenden Mann, dessen Oberkörper voller Tätowierungen war. Sie hatte das Gefühl, die fünf zu kennen, und dann fiel ihr ein, dass sie sie im flackern395 den blauen Licht in den Rollrights gesehen hatte, kurz bevor sie nach Anderswelt herübergekommen waren. »Wer sind diese Leute?«, fragte sie ehrfürchtig. »Der Anführer war Jack Churchill, der durch die Zeit zurückgereist ist, um auf den Tag zu warten, da man ihn wieder brauchen würde«, sagte Matthias. »Der schlafende König! Erhebt eure Stimmen! Ruft ihn zurück! Denn der Tag ist gekommen!« Matthias hob die Arme über den Kopf, und zwischen seinen Händen sprühten blaue Funken. Der Boden erbebte unter Mahalias Füßen, und irgendwo in den Sümpfen war ein tosendes Wasserrauschen zu vernehmen. Die Mitglieder der Kultur wechselten ehrfürchtige Blicke. »Was war das?«, fragte Mahalia beklommen. Matthias sah sie an. »In Englands dunkelster Stunde wird sich ein Held erheben ... Die Rückkehr der Götter und der Krieg zwischen ihnen war nur der erste Teil der Prophezeiung. Die Auseinandersetzung führte einen Wandel im Sein herbei... und die Menschheit wurde bemerkt. « Mahalia schauderte wegen der eigenartigen Wortwahl. »Am Rande des Universums ist etwas erwacht. Und es ist auf dem Weg hierher ... das Wesenlose!« »Was soll das sein?«, fragte Mahalia. »Es heißt, in der Heimat der Toten - in den Graulanden - gebe es einen Tempel. Und was beten die Toten an?« Matthias nickte ernst. »Das Wesenlose. Es existiert hinter dem Licht des fernsten Sterns. Dort hat es in einem traumlosen Schlaf die Zeit überdauert. Aber jetzt ist es erwacht und hat uns bemerkt. Es ist unbegreiflich, unermesslich. Es ist nichts ... und es ist alles. Das Größte und das Kleinste. Macht und die Abwesenheit von 396 Macht. Es ist das Gegenteil vom Leben. Die Abwesenheit von allem, was existiert und jemals existieren wird.« Mahalia hatte den Eindruck, etwas, das so groß wie eine ganze Galaxie war, würde inmitten der Weihrauchschwaden auf sie zufliegen, doch ihr Verstand konnte das Bild nicht verarbeiten. Sie verspürte völlige Leere und hatte mit einem Mal das dumpfe Gefühl, nie gelebt zu haben. »Das Anti-Leben«, murmelte Matt. »Ist das Wesenlose für die bei uns grassierende Seuche verantwortlich?« »Es gibt winzige unsichtbare Geschöpfe, die die Ankunft des Wesenlosen vorbereiten ... man könnte sie als Seuchendämonen oder teuflische Kobolde bezeichnen«, sagte Matthias. »Sie infizieren das Blaue Feuer - und alles, was es durchdringt — mit ihrer Verderbtheit.« Hinter den Bäumen regte sich etwas. In den Lücken zwischen der Vegetation erhaschte Mahalia kurze Blicke auf etwas Riesiges, das die Insel umkreiste. In ihrem traumartigen Zustand sah sie in den Rauchschwaden über dem Steinkreis eine schwarze, unförmige Monstrosität, die vor einer gotischen Kathedrale versuchte, mit einem Schwert einen Mann niederzumetzeln. Und dann erschienen die Flüsterer in ihrem purpurnen Nebel und sahen so real aus, dass Mahalia unwillkürlich zurückwich. »Die Flüsterer sind die lebendig gewordene Verzweiflung«, fuhr Matthias fort. » Sie sind das Leben ohne Hoffnung. Falls das Wesenlose die Welt auffrisst, wird sich die Prophezeiung niemals erfüllen: Die Menschheit wird nicht ihren Platz an der Seite der Götter einnehmen, und es wird kein Goldenes Zeitalter geben.«
»Wie soll man so etwas denn aufhalten?«, fragte Mahalia, erschüttert von dem, was sie gesehen hatte. Matthias kam so entschlossen zu ihr herübergelaufen, dass Mahalia schon glaubte, er wüsste, dass sie versucht 397 hatte, Caitlin umzubringen, aber dann wurden seine Züge weicher. »Hinter der Struktur des Seins verbergen sich bestimmte geheime Regeln. In unseren Herzen kennen wir sie, doch wir vertrauen uns nicht. Eine dieser universellen Regeln lautet, dass im Wesen der Realität eine grundsätzliche Moralität eingebettet ist. Und genauso verhält es sich mit der Liebe. Und in diesen beiden Dingen finden wir Hoffnung. Wir müssen unseren Glauben in die Brüder und Schwestern der Drachen setzen, so wie wir es früher schon einmal getan haben, denn sie repräsentieren die wundervollste und mächtigste Kraft von allen. Seht!« Er hob den Arm und deutete über das Eiland hinweg. Das Wesen, das die Insel umkreiste, war über die Baumkronen aufgestiegen, und Mahalia konnte es erstmals in voller Pracht erkennen. Es hatte riesige, ledrige Flügelschwingen, einen schlangenartigen Körper mit einem durch die Luft peitschenden Schwanz und juwelenartig glitzernden Schuppen. Es war wie ein über den Nachthimmel schießender Komet mit einem Schweif aus blauem Feuer. Für Mahalia sah es so aus, als bestünde es vollständig aus der geistigen Energie, denn sie glaubte, durch die Haut bis auf die Knochen und Organe und sogar durch sie hindurchschauen zu können; es war gar kein lebendiges Wesen, sondern das Gestalt gewordene Blaue Feuer. »Das ist das erste aller Fabelwesen«, sagte Matthias. »Es ähnelt seinem Ursprung - dem Blauen Feuer - am stärksten. Es kam her, um sich hier bei uns zu verstecken, denn falls alle anderen Fabelwesen umgebracht würden, falls das Blaue Feuer kurz vor dem Verlöschen stünde, gäbe es immer noch Hoffnung.« »Aber falls Caitlin wirklich tot sein sollte ...«, sagte Mahalia verzweifelt. 398 Matthias legte ihr behutsam eine Hand auf die Stirn. »Wir werden verlieren, wenn wir der Verzweiflung Ein-lass in unsere Herzen gewähren, wenn die Menschheit ein weiteres Mal gegen sich selbst kämpft. Wie gesagt, wir sind unser schlimmster Feind. Schon in der Vergangenheit haben wir mehrfach unseren Aufstieg verhindert. Soll uns das wieder passieren?« Mahalia wurde schlecht. Eine Prophezeiung, die so alt wie die Zeit war. Puzzleteile, die sich über die Jahrtausende hinweg ineinander fügten, um die Menschheit auf die nächste Evolutionsstufe zu führen; die höchste Stufe überhaupt. Und wegen ihrer dummen Eifersucht hatte sie in einem einzigen Moment alles zerstört. Sie verdiente es nicht, am Leben zu sein. Mit beseeltem Blick schaute Matthias zu dem Fabelwesen auf. »Unser nächtliches Ritual hat es aufgeweckt. Es fliegt zum ersten Mal seit über einem Jahrtausend. Wir müssen es in unsere Welt hinüberschicken, um auf das Kommende vorbereitet zu sein.« »Das dürfen Sie nicht tun!«, flehte Mahalia. »Was, wenn alles schief läuft? Dann ist ein so wundervolles Geschöpf für alle Zeiten verloren!« Sie blinzelte sich die Tränen aus den Augen; der blaue Schweif des Fabelwesens verwandelte sich in einen Regenbogen aus glitzernden Saphiren. »Falls alles schief läuft«, sagte Matthias, »spielt es keine Rolle, wo das Fabelwesen ist, denn dann hat das gesamte Sein aufgehört zu existieren.« 15 Die Ebene der Hügelgräber »Wie alles andere, ist auch das Sterben eine Kunst. Ich beherrsche sie außerordentlich gut.« SYLVIA PLATH Nach zwei Stunden in der sengenden Hitze erhob sich eine grüne Palmenoase aus den sanft geschwungenen Sanddünen. Caitlin war wie ein Olympialäufer durch die Wüste gehetzt, aber nun beschloss sie, ihren Marsch zu unterbrechen und etwas zu trinken, obwohl sie das Gefühl hatte, ewig weiterlaufen zu können. Im Schatten der Palmen schöpfte sie mehrere Hand voll Wasser und trank, dann tauchte sie den Kopf hinein und wusch sich den Sand und das trockene Blut aus den Haaren. Sie hatte die Oase erst kurze Zeit verlassen und lief in die Richtung, die ihr die Morrigan vorgab, als sie merkte, dass sie nicht allein war. Ein Windstoß wirbelte den Sand auf, und darunter kamen links und rechts von ihr zwei kleine Hügel zum Vorschein; wie sich herausstellte, waren es zwei Gestalten, die direkt unter der Oberfläche gelegen hatten. Sie schüttelten den Sand ab und erhoben sich. Sie trugen Rüstungen, die an japanische Samurai erinnerten: schwarze, mit feinen Goldlinien durchwirkte Emaillepanzer; Helme mit kurzen, aufwärts geschwungenen Seitenflügeln und Langschwerter mit handbreiten, messerscharfen Klingen. Doch die Gesichter unter den Helmen schienen aus nichts als Sand zu bestehen. 400 Caitlin wartete, dass der Sand herunterrieselte, doch das tat er nicht; stattdessen strömte er so lange herum, bis sich so etwas wie Münder, Augen und lange Hakennasen erahnen ließen. »Wer seid ihr?«, fragte Caitlin mit fester Stimme. »Wir gehören zu den Djazeem«, sagten sie unisono; ihre Stimmen klangen wie herabrieselnder Sand in einer Eieruhr. »Du hast von unserem Wasser getrunken. Man hat es dir nicht umsonst und ohne Verpflichtung angeboten.«
»Ich tue, was ich möchte«, erwiderte Caitlin, »und niemand schreibt mir etwas vor.« »Es gibt Regeln ...« »Ich mache meine eigenen Regeln.« Caitlin legte einen Pfeil an, fragte sich aber, ob sie die Oasen-Wächter überhaupt verletzen konnte, wenn sie tatsächlich nur aus Sand bestanden. »Aus dem Weg - ich habe keine Zeit.« Die Wächter kamen mit mechanisch wirkenden Bewegungen auf sie zugestapft und zückten die Schwerter. »Wir fordern eine Gabe als Gegenleistung für den Diebstahl dieser kostbarsten aller Ressourcen. Du musst bezahlen ...« Caitlin schoss den Pfeil ab. Er traf den rechten Wächter mitten ins Gesicht und durchschlug die Rückseite des Helms. Wie erwartet, beeindruckte es den Wächter nicht im Geringsten. Er kam weiter auf sie zugestapft, zog sich dabei den Pfeil heraus und warf ihn achtlos zur Seite. »Wie nennt ihr euch noch mal? Djazeem?«, fragte Caitlin. Sie versuchte Zeit zu gewinnen, während sie ihre Möglichkeiten abwog. Doch ihr war der Name längst eingefallen, den der Weiße Läufer erwähnt hatte, als sie mit den anderen nach Fernlande gekommen war. »Ja. Wir sind die Herren der Weinenden Wüste«, sag401 ten die Wächter und traten weiter auf sie zu. »Du bist Gast auf unserem Territorium. Du musst unseren Regeln gehorchen.« »Dazu habe ich mich bereits geäußert.« Caitlin bückte sich rasch, um den Pfeil aufzuheben. Die Wächter sprangen blitzartig heran und schlugen so schnell zu, dass ihre Klingen nur verschwommene Schatten waren. Doch als sie angriffen, veränderte sich Caitlins zeitliche Wahrnehmung: Alles schien in extremer Zeitlupe abzulaufen, ihre Angreifer glichen Statuen. Sie berechnete den Einfallswinkel ihrer Schwerter, zog verschiedene Taktiken in Erwägung und sprang dann geschmeidig aus dem Weg. Die Klingen schnitten durch die Stelle, wo sie gerade noch gestanden hatte, und die Wächter fuhren überrascht herum, weil Caitlin der Attacke so mühelos ausgewichen war. Der Tanz dauerte volle fünf Minuten. Caitlin wich ihren Schwerthieben aus, während die Wächter immer entschlossener und ihre Manöver zunehmend komplexer wurden. Caitlin wusste, dass sie fortrennen und ihnen wahrscheinlich entkommen könnte, doch die krächzende Stimme der Kriegsgöttin in ihr wies einen anderen Weg. Sie blieb abrupt stehen, wusste nicht mehr, was sie tat; die Morrigan hatte die Kontrolle übernommen. Es war, als hätte sich in ihrer Magengrube ein bleiernes Gewicht gebildet. Die Wächter hielten in ihrem Angriff nicht inne. Ihre Klingen kamen aus zwei Richtungen herangeflogen und würden Caitlin in wenigen Augenblicken in Stücke schneiden. Dem letzten Rest ihres eigenen Bewusstseins war klar, dass sie der Attacke nicht mehr ausweichen konnte. Das Gewicht in ihrer Magengrube drehte sich und sprang auf und ab, als nistete dort eine Rattenfamilie. 402 Elektrizität strömte in ihre Extremitäten, dann wurde sie zurückgeschleudert, und eine schwarze Wolke schoss aus ihrem Bauch heraus. Krähen. Es waren so viele, dass sie den Himmel, die Sanddünen und die angreifenden Djazeem verdeckten. Und in einem steten Strom aus schwarzen Federn, flatternden Flügeln, scharfen Klauen und spitzen Schnäbeln kamen immer neue Krähen aus ihrem Leib herausgeschossen. Ihr ohrenbetäubendes Kreischen klang wie ein Sommergewitter. Die Krähenwolke sauste mit der Wucht eines Hurrikans auf die Wächter zu. Caitlin konnte nicht erkennen, was als Nächstes geschah, aber nach wenigen Sekunden zogen sich die Krähen wieder in ihren Bauch zurück. Caitlin fühlte sich, als würde man sie mit Felsbrocken bewerfen. Sie verlor kurzzeitig das Bewusstsein, und als sie wieder zu sich kam, waren die Krähen verschwunden. Sie lag rücklings auf einem Dünenhang. Sie griff sich an den Bauch; er grummelte ein wenig, als hätte sie eine Kiste fauler Äpfel gegessen, aber davon abgesehen war sie unverletzt. Sie setzte sich auf und sah die im Sand verstreuten Rüstungen der Djazeem; ihre Sandkörper waren offenbar mit der Düne verschmolzen. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie eine Bewegung. Ein Wesen, das aussah wie ein haarloser, etwa handgroßer Affe, kam unter einem der Brustpanzer hervorgekrochen. Caitlin schnellte vor und packte ihn. Er schrie auf, doch sie hielt ihn fest und hob ihn ans Gesicht. »Tu mir nichts!«, wimmerte der Djazeem mit hoher Stimme. »Und jetzt hörst du dir meine Regeln an«, sagte Caitlin. »Als Gegenleistung für dein Überleben beantwortest du mir ein paar Fragen. Verstanden?« 403 »Ich diene den Herren der Weinenden Wüste ...« »Keine Sorge. Ich will dir nichts entlocken, was deine Chefs geheim halten wollen. Ich brauche nur eine Wegbeschreibung.« Das kleine Wesen starrte aus seinen johannisbeerfarbenen Augen zu ihr auf. Caitlin spürte seinen schnellen Herzschlag in der Hand. »Also, wie weit bin ich vom Endlosen Fluss entfernt?« »Er liegt südöstlich von hier«, sagte der Wächter beflissen. »Folge dem Weg, auf dem du warst, und wenn du die Weinende Wüste durchquert hast, wende dich nach Süden. Du musst die Ebene der Hügelgräber durchqueren ...« Ein seltsames Flackern huschte dem Winzling übers Gesicht. Caitlin gewann den Eindruck, dass die Ebene kein Ort war, den sie zu durchqueren versuchen sollte. »Nach zwei Sonnenaufgängen solltest du dort sein.«
»Gut. Also, auf dem Fluss soll ich zu einem Ort fahren, der Haus der Schmerzen heißt. Kennst du diesen Ort?« Der Djazeem in ihrer Hand riss erschrocken die Augen auf. »Das Haus der Schmerzen ist nicht in Fernlande.« »Mir wurde aber gesagt...« »Es befindet sich im Grenzland, aber nicht in Fernlande selbst. Es wechselt hin und her ... einige behaupten sogar, es existiere hier und dort. Es gehört zum Großen Dunkel.« »Und wenn ich auf direktem Weg dort hingelangen möchte ...« »Du würdest nicht zurückkehren.« »... welchen Weg muss ich dann nehmen?« Der Djazeem schauderte und verdrehte die Augen, fand aber keinen Grund dafür, es ihr auszureden. Kühl sagte er: »Wenn du den Rand der Wüste erreichst, wird sich dir der Weg offenbaren. Wenn er nach dir verlangt, kannst du dich nicht mehr abwenden.« 404 Caitlin schaute zum Horizont; ihr Entschluss stand ohnehin fest. Es wäre Zeitverschwendung, erst ihre Gefährten zu suchen. Außerdem hatte sie von Anfang an gewusst, dass letzten Endes sie diejenige war, auf die es ankam. »Noch eines: Ich möchte nicht, dass ihr oder andere von euch mir Schwierigkeiten machen. Ich werde einfach die Wüste durchqueren, und ihr kümmert euch um eure Angelegenheiten. Ist das klar?« Der Wächter nickte eifrig. »Und falls dir andere Reisende folgen, sollen wir ihnen auch freies Geleit gewähren?« »Sicher. Warum nicht? Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, wer mir freiwillig folgen würde.« Sie sah den Gefährten des Wächters unter dem zweiten Brustpanzer hervorlugen und warf den Djazeem in ihrer Hand in dessen Richtung. Er landete mit einem leisen Aufschrei im Sand. »So«, sagte sie, »vor nicht allzu langer Zeit habe ich ein Wort der Macht gelernt, das ich euch jetzt zuflüstern werde.« Matt, Jack und Mahalia verabschiedeten sich am nebelverhangenen Flussufer von den Mitgliedern der Kultur. Die Männer waren begeistert darüber, eine aktive Rolle in den so lange herbeigesehnten Ereignissen zu spielen, und konnten es kaum erwarten, in ihr Lager zurückzukehren und dort das nächste Ritual durchzuführen. Mahalia sagte kaum etwas. Das schlechte Gewissen, das sie wegen des Mordversuchs an Caitlin hatte, lastete ihr nach wie vor schwer auf der Seele, doch sie glaubte, einen Ausweg gefunden zu haben. Während die Männer durch den Sumpf zurückmarschierten, um das Ritual zu initiieren, welches das Fabelwesen in die Welt der Menschen zurückkehren lassen würde, fuhr die Sonnenjäger auf den Fluss hinaus. 405 Der Nebel verzog sich so schnell, dass den Gefährten klar wurde, dass er zu den Schutzvorkehrungen gehörte, mit denen die Mitglieder der Kultur sich ungebetene Besucher vom Leib hielten. Wenig später brannte die Sonne auf eine Savanne nieder, die im Osten zu einer schneebedeckten Bergkette führte und im Westen hinterm Horizont verschwand. Plötzlich wogten die hohen gelben Gräser an den Ufern ruckartig hin und her, als würden riesige Tiere dem Boot folgen, doch man sah nichts. Es war, als wären die Gräser selbst lebendig. »Es geht wieder los«, sagte Matt zu Jack und Mahalia. Verkrampft packte Crowther die Reling, als die Maske in Aktion trat. »Es deutete sich an, sobald wir aus dem Nebel raus waren«, erklärte Matt. »Vielleicht hätten wir ihn auf der Insel zurücklassen sollen«, sagte Jack. »Nein«, erwiderte Mahalia. »Er gehört zu uns.« »Das sagst du jetzt.« Matt wischte sich über die schweißnasse Stirn; es wurde allmählich heiß. »Du hast doch gesehen, wie heftig es werden kann. Falls er außer Kontrolle gerät, haben wir ein Problem.« »Wir überlegen uns etwas«, entgegnete Mahalia. Matt zögerte kurz, dann sagte er: »Im Zweifelsfall müssen wir den Professor töten. Wir dürfen die Mission nicht gefährden.« Mahalia warf Matt einen eisigen Blick zu, unter dem er sich augenblicklich unwohl fühlte. »Dass Sie hier den Anführer markieren können, steigt Ihnen wohl zu Kopf. Sie klingen wie ein billiger Rambo-Abklatsch. Oder«, fügte sie an, während sie auf den Professor zuging, »wie ich.« Sie setzte sich zu Crowther und sagte sanft: »Professor, verstehen Sie mich?« Es kam keine Antwort, doch sie 406 glaubte, die Maske wäre ihr ein Stück entgegengerückt. »Ich habe Sie letzte Nacht im Steinkreis beobachtet. Etwas war anders an Ihrem Verhalten. Ich glaube, Sie sind wach unter der Maske und bekommen alles mit. Verstehen Sie mich?« Erst schien es, als würde sie keine Antwort erhalten, aber dann erklang seine gedämpfte Stimme. »Ja.« Sie empfand tiefe Erleichterung. »Wenn Sie wieder Sie selbst sind, warum nehmen Sie die Maske nicht ab?« »Ich kann nicht.« »Lässt sie Sie nicht?« »Nein. Ich lasse es nicht zu.« Er wandte den Kopf zur Seite. »Professor, Sie wissen doch, was die Maske anrichten kann. Sie haben es uns selbst erklärt. Hier draußen gerät es außer Kontrolle.« Sie schaute zu Matt zurück, der sie mit verschränkten Armen beobachtete. »Der Kerl wird nicht zulassen, dass Sie uns auf der Suche nach dem Heilmittel im Weg stehen.« »Ich weiß, was du andeutest.« »Dann nehmen Sie doch um Himmels willen die Maske ab!«
»Lass mich in Ruhe«, sagte er tonlos. »Und versuche nicht noch mal, mich zu überreden ... um deinetwillen.« Sie wartete einen Moment lang, um zu sehen, ob er vielleicht doch noch einlenken würde, aber er hielt den Kopf weiter abgewandt, und das Leuchten der Maske wurde intensiver, als reagiere sie auf Crowthers Empfindungen. »Und, wie sieht's aus? Müssen wir rabiat werden?«, fragte Matt, als Mahalia zurückkam. Sie ging an ihm vorbei zum Bug. »Wahrscheinlich werden wir lange tot sein, bevor eine solche Entscheidung anstünde.« 407 Die Stimmung an Bord war gedrückt, und jeder suchte sich in der brütenden Hitze einen eigenen Platz. Mahalia sagte Jack, sie brauchte etwas Zeit zum Nachdenken. Er war zwar gekränkt, fügte sich aber ihrem Wunsch. Die Savanne wich allmählich einer buschigen Einöde und dann einer kargen, felsübersäten Landschaft, die der Mars-Oberfläche ähnelte. Der Fluss war inzwischen deutlich schmaler geworden, und ihnen wurde bewusst, dass es schwierig werden würde, seinem gewundenen Lauf zu folgen. Doch bevor sie sich darüber den Kopf zerbrechen konnten, fuhr die Sonnenjäger eine leichte Kurve und hielt auf einen hölzernen Anlegesteg zu. Der Aufbau, bei dem viele Planken fehlten oder zerbrochen waren, wirkte nicht sehr vertrauenerweckend; der Steg schien nur selten benutzt zu werden. »Endstation«, sagte Matt. Sie klaubten ihre Habseligkeiten zusammen und gingen von Bord, traurig darüber, die relative Sicherheit der Sonnenjäger zu verlassen. »Wo lang?«, fragte Jack. Matt zeigte zum nördlichen Horizont, wo am Himmel wie in einem Kaleidoskop explodierende Farben aufleuchteten. Davor lag ein dunkler Bereich, der auf eine Art Gebäude hindeutete, doch sie spürten ein schmerzhaftes Stechen in den Augen, wenn sie zu lange hinsahen. »Das Haus der Schmerzen«, sagte Matt unnötigerweise. »So, jetzt müssen wir nur noch diese öde Felslandschaft durchqueren«, sagte Jack, der mit der Hand die Augen vor der Sonne abschirmte. »Das sind keine Felsen«, erwiderte Mahalia. »Es sind Hügelgräber.« 408 Über Berge und Wiesen lief sie, schlich durch dunkle Straßen, durchquerte finstere Wälder und windgepeitschte Ebenen, auf denen sie die Echos uralter Stimmen vernahm. Sie stieg über kristallklare Bäche und überquerte sonnendurchflutete Lichtungen, und manchmal dachte Mary, ihre Odyssee würde niemals enden. Es war eine Reise, die von den gewohnten Pfaden abwich und sie in ihr tiefstes Inneres führte, wo dunkle Höhlen wie Kathedralen aufragten, Orte, die zeit ihres Lebens unerforscht geblieben waren, Orte, deren Schrecken im Lichtschein ihrer prüfenden Blicke zusammenschrumpften. Als sie an einem strahlend klaren Morgen aus Bradford-on-Avon herausspazierte, fühlte sie sich wie wiedergeboren, obwohl ihr dieser Umstand noch nicht ganz bewusst war. Der Puzzle-Mann war nach wie vor hinter ihr her, und er war näher gekommen; einige Male hatte sie in der Ferne seinen verrenkten Körper ausgemacht und gezwungenermaßen einen Schritt zugelegt. Aber sie fürchtete sich nicht mehr vor ihm; er war einfach da, und falls es zu einer Konfrontation käme, dann war es eben so. Und nun hatte sie endlich ihr Ziel erreicht. Bath lag ausgebreitet vor ihr, seit zehntausenden von Jahren die Heimat ihrer spirituellen Vorfahren - seit die ersten neolithischen Sammler und Jäger an den warm sprudelnden Heilquellen ihre simplen Opfergaben dargeboten hatten. Mary kannte die historischen Hintergründe und wusste ihr magisches Talent zu gebrauchen, und alles hatte auf diesen Ort als die Stätte hingewiesen, wo sie Antworten auf ihre brennenden Fragen erhalten würde. Doch dies war nicht das Bath ihrer Erinnerung. Die wild wuchernde Pflanzenwelt verdeckte beinahe den Blick auf die herrschaftlichen georgianischen Gebäude, den viktorianischen Königspalast und die Pulteney-Brü409 cke mit ihren Anspielungen auf den Ponte Vecchio. Ein gut fünf Meter hoher Schwarzdorn-Wall, den hier und da Geißblatt und Waldreben auflockerten, umschloss die gesamte Stadt. Auf den Hauptstraßen waren Bäume durch den Asphalt heraus gesprossen. Efeu hing an den Schornsteinen herab, und überall sah man Stechginsterbüsche und farbenprächtige Wildrosen. Obwohl sich die Pflanzenwelt seit dem Untergang ungehemmt ausbreiten konnte, waren die Dichte und der Wachstumsstand der Flora viel zu weit fortgeschritten. Magie lag in der Luft, und zwar in mehrfacher Hinsicht: Das Werk der Menschen und der Natur im harmonischen Zusammenspiel zu sehen war zweifellos erbauend. Doch die Stadt selbst war gespenstisch still. Nicht eine Rauchfahne stieg aus den vielen Schornsteinen, nichts regte sich in den alten, verwinkelten Straßen, weder Mensch noch Tier. Und doch war dort etwas; Mary konnte es spüren, wie einen gewaltigen, nach außen strebenden Druck. In der verzweifelten Hoffnung, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, stieg sie den Abhang hinunter und ging auf die Stadt zu. Sie lief fast eine Meile um den Schwarzdorn-Wall herum, bis sie darin eine Lücke fand. Sie war gerade breit genug für einen Menschen, und die vielen Dornen waren so spitz, dass ein falscher Schritt üble Schnittwunden verursacht hätte. Während sie sich vorsichtig vorantastete, wurde ihr bewusst, dass der Durchgang so angelegt war, dass jeweils nur eine Person hindurchlaufen konnte; dies war entweder eine Schutzvorkehrung, oder es
handelte sich um einen Prozessionsweg zu einem Heiligtum in der Stadt - oder es war beides. Der Schwarzdorn-Wall war gut fünfzehn Meter tief, 410 und als sie schließlich auf der anderen Seite herauskam und ins helle Sonnenlicht trat, fühlte sie sich wie in einer anderen Welt. Die Stadt verströmte nicht mehr die Atmosphäre einer menschlichen Ansiedlung; sie hatte etwas Überirdisches, Geheimnisvolles, ja Heiliges. Während Mary durch die pflanzenüberwucherten Straßen ging, fühlte sie sich, als stünde ihr in Kürze eine unglaubliche, transzendierende Offenbarung bevor. Alles um sie herum kündete von einer tiefen Bedeutsamkeit, selbst die Luft, die sie atmete. In Bath hatte man immer das Gefühl gehabt, als wäre die Zeit stehen geblieben, und dieser Eindruck war nun noch intensiver. Und während Mary den Ort durchquerte, bemerkte sie, dass die Lichter, die sie ab und zu im Augenwinkel sah, keine aufblitzenden Sonnenstrahlen zwischen den Ästen waren. Da waren Bewegungen, doch es gab kein Leben. Geisterhafte Männer und Frauen wanderten träge im Unterholz herum. Mary sah seltsam gekleidete Gestalten, die sie für die Kelten hielt, die 700 vor Christus an den Stadtquellen den ersten Schrein errichtet hatten; des Weiteren waren da Römer, die danach gekommen waren, und andere Personen in den Gewändern späterer Zeitalter, und alle wanderten seelenruhig umher; man sah sie kaum, spürte aber ihre Gegenwart. Sie waren nicht furchteinflößend; vielmehr erweckten sie in Mary ein sonderbar tröstliches Gefühl. Schließlich erreichte sie ihr Ziel. In zwei mannshohen Messingschalen links und rechts des Weges brannten Feuer; wer sie entzündet hatte, war ihr schleierhaft. Die dahinter liegende Eingangshalle zum römischen Stadtbad war fast vollständig hinter wuchernden Pflanzen verborgen. Aber die Türen standen offen, und dahinter lag undurchdringliche Dunkelheit. 411 Der Augenblick der Wahrheit war gekommen. Mary ging hinein. »Wir haben fast kein Wasser mehr.« Mahalia befeuchtete die Lippen am Hals des Kanisters, den sie von der Sonnenjäger mitgenommen hatten. Matt schirmte die Augen gegen die Sonne ab und blickte über die staubige Ebene, auf der nur einige struppige Grasbüschel und scharfkantige Felsen die Monotonie der Hügelgräber durchbrachen. »Ich weiß. Aber es sollte nicht mehr lange dauern, bis wir die andere Seite erreichen.« »Was, wenn es dort auch kein Wasser gibt?«, fragte Jack. »Nicht dass ich es unbedingt brauchte, aber ...« Er blickte besorgt zu Mahalia. »Ich glaube, das ist das kleinste unserer Probleme«, entgegnete Matt. Obwohl die Sonne tief am Horizont stand, war der Himmel ein einziges buntes Farbenmeer; purpurne Bereiche gingen in leuchtendes Gold über, explodierende rote Lichtsprenkel hinterließen grün schimmernde Schweife. Den Umstand, dass das Grenzland nahe war, erkannte man auch daran, dass im Wind gelegentlich merkwürdig anschwellende Geräusche zu vernehmen waren, die klangen wie die psychedelischen Sound-Effekte einer Garagenband. Auf den Zungen nahmen sie die verschiedensten Geschmäcker wahr - darunter Erdbeeren, verbranntes Holz, Kardamom und Zitronen. Der Duft von Rosenblüten und Weihrauch erfüllte die Luft. Crowther trottete in einigem Abstand hinter ihnen her; er war ganz in die halluzinogene Welt hinter seiner Maske versunken, auf deren silberner Oberfläche sich die bunten Himmelsfarben spiegelten. Sie waren den ganzen Tag durch die trostlose Einöde 412 marschiert; der Fluss hinter ihnen war schon lange verschwunden. Ihre Kleidung und ihr Haar waren weiß vom allgegenwärtigen Staub, der in jede Ritze eindrang und ihnen in den Augen und im Rachen brannte. Jack beäugte eines der Hügelgräber, an denen sie ständig vorbeikamen. »Was hat es damit auf sich?« »Ist doch ganz einfach«, erwiderte Mahalia. »Da wurden Leute begraben.« »Mann, dann ist das Ganze hier ja ein einziger riesiger Friedhof«, sagte Matt. An Jacks Miene erkannte Mahalia, dass ihm ein Gedanke gekommen war. »Was überlegst du?«, fragte sie ihn sanft. »Ich habe am Hof des Letzten Wortes etwas gehört«, sagte er. »Über einen Ort der Toten ... eine Art Anhängsel der Graulande, wie es hieß. Es hatte einen bestimmten Namen ...« »Wir brauchen jetzt keine Geschichtsstunde«, sagte Matt, gereizt vom ewigen Herumlaufen. »Geh einfach weiter, sonst kommen wir nie ans Ziel.« Jack tat wie geheißen, suchte aber weiter nach dem Namen, der ihm auf der Zunge lag. »Habt ihr das gesehen?«, fragte Mahalia unvermittelt. »Von dem Hügelgrab dort drüben ist ein Stein runtergerollt. « »Das war wahrscheinlich ein Effekt der Maske«, sagte Matt. »Unsinn«, entgegnete Mahalia. »Die Maske verändert das Licht und die Geräusche, aber sie ruft keine Vibrationen hervor.« Links von ihnen rollte ein weiterer Stein von einem Hügelgrab, dann, direkt vor ihnen, noch einer. Diesmal hatte es auch Matt gesehen. Die Steine schienen sich aus eigener Kraft bewegt zu haben. 413 »Sehen Sie?«, sagte Mahalia triumphierend.
Matt blieb stehen, drehte sich langsam im Kreis und blickte suchend in die Ferne. Überall rollten Steine und kleine Felsbrocken von den Grabhügeln. Er schaute zum Horizont, wo inmitten der psychedelischen Himmelslichter ein karamellfarbener Vollmond aufging. Jack zuckte zusammen. »Jetzt weiß ich es! Das Land der Schlafenden Toten!« Weitere Steine rollten herunter. Die Grabhügel erwachten zum Leben. In den freigelegten Öffnungen waren Bewegungen auszumachen. »Da kommen irgendwelche Wesen raus!«, rief Mahalia erschrocken. Eine geisterhafte weiße Hand erhob sich aus einem der Gräber. »Oh Gott!«, murmelte Matt. Er packte Mahalia und Jack und zog sie weiter. »Der Professor!«, rief Mahalia. »Vergiss ihn.« Matt wollte losrennen, aber als er in der Ferne die unzähligen Hügelgräber sah, wurde ihm bewusst, dass sie nicht fliehen konnten. »Die Baobhan Sith!«, sagte Jack; sein Gesicht war kreidebleich. »Was sind das für Wesen?«, fragte Mahalia. Sie wollte weitereilen, sah eine Gestalt aus dem Hügelgrab steigen und fuhr herum, aber auch hinter ihnen erwachten die Gräber zum Leben. »Sie liegen hier und warten darauf, Reisenden das Blut auszusaugen ... man kann ihnen nicht entkommen ...«, sagte Jack atemlos. Matt sah, dass sich auf den Hügelgräbern noch nichts regte. »Die Kerle erwachen, wenn das Mondlicht auf die Gräber fällt!«, sagte er. »Wenn wir rennen, könnten wir ihnen zuvorkommen.« Er sprintete los. 414 »Man kann ihnen nicht entkommen!«, rief Jack ihm nach. Nichtsdestotrotz packte er Mahalias Hand und rannte ebenfalls los. Weiße Staubwolken stoben unter ihren dahinfliegenden Schritten auf. Um sie herum stiegen überall seltsam schimmernde Gestalten aus den Hügelgräbern heraus. Es waren Tausende, vielleicht Zehntausende; und Matt, Jack und Mahalia waren mittendrin in der verwunschenen Heimat der vampirartigen Geschöpfe. Aufgrund seiner Schnelligkeit lag Matt ein gutes Stück vor den anderen, doch er ließ sich zurückfallen, als er sah, dass Jack und Mahalia ins Stolpern gerieten. Die Baobhan Sith stiegen träge aus ihren düsteren Schlafstätten; sie hatten langes Haar, die ausdruckslosen Gesichter von Puppen und trugen zerfetzte Lumpen. Die Schattengrenze wich in bemerkenswertem Tempo vor den Mondstrahlen zurück; die drei konnten sie unmöglich rechtzeitig erreichen. Die Baobhan Sith schwebten von allen Seiten auf sie zu, und in der Ferne reckten sich immer neue Arme aus den Hügelgräbern. Und dann schnitt ein furchtbares Kreischen durch das staubige Zwielicht. Mahalia fühlte sich, als ob man ihr ins Herz gestochen hätte. Es war ein Alarm. Matt schaute zurück, als immer mehr Blutsauger in das Kreischen einstimmten, und sein Gesichtsausdruck verriet das Entsetzen, das sie alle empfanden. Dann war das Kreischen überall. Die vor ihnen liegenden Hügelgräber explodierten regelrecht, als immer neue Heerscharen der Baobhan Sith dem Ruf folgten. Und dann konnten sie sich in keine Richtung mehr wenden. Mahalia warf sich zu Boden und rollte sich zu einem Ball zusammen. Jack warf sich schützend über sie. Matt konnten sie nirgends entdecken. Und dann, als sie jeden Moment mit dem Ansturm der 415 Blutsauger rechneten, geschah etwas Sonderbares. Ein schwerer Rosenduft senkte sich über sie herab, gefolgt von der intensivsten Stille, die Mahalia jemals erlebt hatte; im Bruchteil einer Sekunde gab es kein Kreischen mehr, keinen Wind, nichts. Sie schlug die Augen auf und sah, dass sich um sie herum eine glänzende Blase gebildet hatte; Matt lag neben ihnen im Staub; Blut floss aus einer üblen, von messerscharfen Klauen hervorgerufenen Kratzwunde an seiner Stirn. Außerhalb der Blase sah Mahalia die Baobhan Sith, die wie Kakerlaken umherhuschten, aber die Blase und die Personen darin nicht wahrnehmen konnten. »Was ist geschehen?«, fragte Jack benommen. Matt deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Crowther stand ganz in der Nähe, die schimmernde Maske auf dem Gesicht. Die Baobhan Sith hielten einen respektvollen Abstand zu ihm, denn sie hatten Angst vor der Macht, die der Professor verkörperte. Mahalia sprang auf. »Ich wusste es! Er lässt uns nicht im Stich!« Die Blase flackerte und begann sich aufzulösen, dann wurde sie wieder fest. »Ich glaube, er kann sie nicht mehr lange aufrechterhalten«, sagte Matt. Er schaute sich fieberhaft nach einer Lösung um, bis eine Idee seine Züge erstrahlen ließ. Er stand auf, stieg auf eines der leeren Hügelgräber innerhalb der Blase und ließ sich langsam durch die enge Öffnung hinunter. »Kommt!«, rief er den anderen beiden zu. »Das ist verrückt!«, sagte Mahalia. »Was passiert, wenn sie zurückkommen? Dann sitzen wir in der Falle.« »Hast du eine bessere Idee?«, schimpfte Matt. »Ich wette, sie kommen erst kurz vor Sonnenaufgang zurück. Falls sie so sind, wie Jack sagt, ertragen sie wahrschein416 lieh kein Sonnenlicht. Wenn der, der hier wohnt, zurückkehrt, springen wir raus und hauen ab. Im Tageslicht
können er und seine Kumpane uns nicht verfolgen.« Mahalia war nicht überzeugt von der Idee, wusste aber keinen anderen Ausweg. Zuerst schob sie Jack hinunter und zwängte sich dann selbst durch die Öffnung. Es war extrem eng im Innern des Hügelgrabs. Die scharfkantigen Felsbrocken, die sich ihnen in den Rücken und in die Gliedmaßen bohrten, ließen keine bequeme Sitzposition zu. Mit Matts Hilfe schloss Mahalia die Öffnung, und kaum dass der letzte Stein an die richtige Stelle gelegt war, löste sich draußen die Blase mit einem leisen Plop auf. Mahalia schlug das Herz bis zum Hals. Durch die Ritzen zwischen den Steinen sah sie, wie die Baobhan Sith wie Raubtiere auf die Stelle zuschnellten, wo gerade noch Matt, Jack und sie selbst gekauert hatten. Ihr stockte der Atem. Würden die Blutsauger sie in dem Versteck sehen, den Hügel aufwühlen, sie herauszerren und ihnen mit ihren spitzen Zähnen die Kehlen aufreißen? Einen Moment lang schien genau das zu geschehen. Die Baobhan Sith glitten auf den Hügel zu, umkreisten ihn mehrere Male und kamen schließlich heraufgestiegen. Doch keiner bemerkte die eilig verschlossene Öffnung, die vermutlich bei der geringsten Berührung in sich zusammenfallen würde. Offenbar besaßen die raubtierartigen Wesen nur minimale Intelligenz. Die Erkenntnis schmälerte die Furcht der drei Gefährten allerdings nicht im Geringsten. In den langen Nachtstunden saßen sie reglos da, denn sie befürchteten, dass schon die kleinste Bewegung ein verräterisches Geräusch machen könnte. Sie wagten 417 kaum zu atmen, und als die dunkelsten Stunden verstrichen waren, schmerzten ihnen vor Anstrengung die Lungen. Und die ganze Zeit über stand Crowther stocksteif in der Nähe ihres Verstecks; die Maske warf bunte Lichtblitze in die nächtliche Landschaft. Die Baobhan Sith hielten sich von ihm fern wie geprügelte Hunde. Schließlich wurde es hell am Himmel. Das chaotische Gewimmel der Baobhan Sith kam von einem Moment zum anderen zum Stillstand, das Kreischen verklang, und sie wandten sich alle gemeinsam zu dem Punkt um, wo in Kürze die Sonne aufgehen würde. Nach einem furchterfüllten oder vielleicht sogar respektvollen Moment fuhren sie herum und eilten zu ihren Hügelgräbern zurück. Mahalia spürte, dass Matt leicht nervös wurde. Alles hing von den nächsten Augenblicken ab. Nach einigen Sekunden kam ein Baobhan Sith auf den Hügel zugeschwebt und stieg herauf. Am Eingang hielt er kurz inne, verwundert über die verschlossene Öffnung, dann zog er mit seinen unfassbar langen, dünnen Fingern die Steine heraus. Matt tippte Mahalia auf die Schulter und flüsterte: »Jetzt.« Ohne lange zu überlegen, stieß Mahalia durch die Öffnung in die Höhe und kletterte, gefolgt von Matt und Jack, blitzschnell ins Freie. Der Blutsauger wich zurück und fauchte wie eine Katze, griff aber nicht an. Stattdessen bedachte er sie mit unheilvollen Blicken, während er in das Hügelgrab hinabglitt und über sich die Öffnung verschloss. In allen Richtungen strömten die Baobhan Sith zu ihren Gräbern zurück; einige blieben stehen und fauchten die Gefährten an oder stießen drohend die klauenbe418 wehrten Hände in die Luft, aber keiner trat ihnen entgegen. Umgeben von dem übernatürlichen Schauspiel, standen die drei wie zu Salzsäulen erstarrt da, bis sie schließlich begriffen, dass man sie nicht angreifen würde. Die Baobhan Sith wurden von einer Urangst getrieben: ihrer Angst vor der aufgehenden Sonne. Matt bedeutete den beiden anderen, ihm zu folgen, und so setzten sie ihren Marsch zum Haus der Schmerzen fort. Mahalia war schweißgebadet. Sie konnte nicht fassen, dass sie noch einmal davongekommen waren. Sie hatte schon mit dem Leben abgeschlossen und auf einen schnellen Tod gehofft. Als sie sich kurz umdrehte, sah sie zu ihrer überschwänglichen Freude, dass Crowther ihnen unermüdlich hinterher trottete. Sie verspürte eine tiefe und überraschende Verbundenheit mit dem Professor; das Gefühl hatte sich ganz allmählich in ihr entwickelt, und am überraschendsten war, dass es sich gut anfühlte. Sobald sie eine Möglichkeit gefunden hatten, ihm die Maske abzunehmen, würde sie ihn wissen lassen, dass sie ihn für einen guten Menschen hielt und dass sie ihm vertraute. Eine höhere Lobpreisung gab es in ihren Augen nicht. Als die Sonne vollends über den Horizont gestiegen war, hatte sich auch der letzte der Blutsauger in sein Hügelgrab verkrochen. Erst jetzt erlaubten sich die drei einen Moment offener Freude. Mahalia und Jack schlössen sich und dann auch Matt in die Arme. »Ich dachte, mit uns wäre es vorbei!«, sagte Matt. »Der gute alte Crowther. Wer hätte gedacht, dass der alte Narr uns eines Tages derart aus der Patsche helfen würde?« Mahalia lief zum Professor, um sich bei ihm zu bedanken, doch er reagierte nicht. Sie ließ sich davon nicht beeindrucken und ging einfach zu den anderen zurück. 419 Dass sie diese grauenvolle Nacht überlebt hatten, erfüllte sie mit neuer Kraft und Zuversicht. »Wisst ihr was?«, sagte Mahalia. »Wenn wir so was überstehen, dann überstehen wir alles.« »Sei nicht vorschnell«, warnte Matt, aber seine Miene verriet, dass er genauso empfand. Die Ebene endete unvermittelt an einem üppigen, sattgrünen Vegetationsgürtel. Sobald sie diesen erblickten,
stürmten sie jauchzend los. Gleich hinter den ersten Bäumen lag ein kleiner See. Sie rannten voll bekleidet hinein, spülten sich den Staub aus den Haaren und Kehlen und tollten eine Weile ausgelassen herum. Danach legten sie sich ans Ufer, ruhten sich aus und unterhielten sich leise, doch sie wussten, dass dies nur die Ruhe vor dem Sturm war. Am Himmel erstrahlten bizarre Farbmuster, und aus der Ferne wehten die absonderlichsten Klänge zu ihnen heran. »Wir sind fast da«, sagte Matt, während er zu dem Himmelsschauspiel aufblickte. Er deutete auf eine steile, grasbewachsene Anhöhe hinter dem See. »Dort drüben ist es, würde ich sagen.« Sie nahmen ihren ganzen Mut zusammen, gingen los und erklommen die Anhöhe; sie ließen sich Zeit dabei, um das Bevorstehende noch ein wenig hinauszuschieben. Noch vom Hang aus sahen sie in der Ferne das Haus der Schmerzen aufragen. Es schien hoch wie der Himmel selbst zu sein, doch ihr Verstand konnte keines der zahllosen Details verarbeiten. Sie nahmen es lediglich als schwarzen Fleck wahr, und je angestrengter sie hinschauten, desto stärker wurden die Kopfschmerzen und die Übelkeit, die sie währenddessen empfanden. Als sie schließlich oben ankamen und über eine weitere felsübersäte Ebene hinwegblickten, sahen sie, dass 420 die Baobhan Sith bei weitem nicht die schlimmste Bedrohung gewesen waren. So weit das Auge reichte, hingen purpurne Nebelschwaden in der Luft, wie Rauch über einem Schlachtfeld. Und inmitten des Nebels stand die Armee der Flüsterer, deren Truppenstärke apokalyptische Dimensionen angenommen hatte. Sie hatten das Haus der Schmerzen komplett umstellt und starrten auf die Anhöhe, während sich ihre Reihen in der nebligen Ferne verloren. »Allmächtiger«, flüsterte Matt. »Sieht so aus, als hätten sie sich alle Bewohner von Fernlande einverleibt«, sagte Jack. »Es müssen Hunderttausende sein.« »Und wir sind zu viert.« Mahalia wandte sich von dem grauenvollen Anblick ab und sah ihre Gefährten mit glänzenden Augen an. In ihr war eine nie gekannte Leidenschaft erwacht. Das war es: Ihr großer Augenblick war gekommen. Es gab kein Zurück mehr, keine Überlebenschance. Es ging nur noch darum, würdevoll zu sterben; der Tod selbst kümmerte sie nicht. Sie lächelte verkniffen und sagte: »Die letzte Runde beginnt.« 16 Das Haus der Schmerzen »Ich habe nie gesagt: >Lasst mich allein.< Ich habe gesagt: Ach möchte in Ruhe gelassen werden.< Das ist ein gewaltiger Unterschied.« GRETA GARBO Eine Welle der Verzweiflung schlug ihnen von den hunderttausenden von Flüsterern entgegen. Mahalia, Jack und Matt versuchten, sich der negativen Wirkung so gut es ging zu entziehen - indem sie summten, schnell redeten und sich tief in die Augen schauten -, doch gänzlich verhindern ließen sich die emotionalen Reaktionen nicht. »Die lassen uns nicht mehr weg, stimmt's?«, sagte Jack beklommen. Er blickte zu den Flüsterern zurück, als hoffte er, sie wären fortgezaubert worden, während er sich abgewandt hatte. »Wir hätten wissen müssen, dass es so endet. Wir hatten nie eine Chance.« Matts Miene verriet seinen Kummer über ihre nahende Niederlage. Er schaute zur Ebene der Hügelgräber zurück, dann wieder zu den Flüsterern. »Er hat Recht. Es ist vorbei. Zurück können wir nicht mehr, und wenn wir runtergehen, sind wir in wenigen Sekunden tot ...« Er senkte den Kopf und versuchte zu verarbeiten, dass er in wenigen Augenblicken sterben würde. Er atmete tief durch, schaute auf und lächelte gezwungen. »Es ist sinnlos, rumzujammern. Das war's.« »Dann sollten wir wenigstens würdevoll sterben«, 422 sagte Mahalia. »Ich will nicht, dass man mich vergisst, ich will kein namenloser Verlierer sein, und wenn man sich an mich erinnert, möchte ich nicht, dass es heißt, ich wäre ein verzogenes, egoistisches Miststück gewesen. Ich möchte, dass man so über mich spricht, wie Matthias über die fünf Brüder und Schwestern der Drachen gesprochen hat. Aus ihnen ist ein Mythos geworden ... wie König Artus und seine Ritter oder so. Das möchte ich auch.« Sie biss sich auf die Lippe und versuchte ihre Emotionen im Zaum zu halten. Matt zuckte die Achseln. »Ich glaube nicht, dass irgendjemand über diese Auseinandersetzung berichten wird ...« »Das kann man nie wissen! Vielleicht sieht das Wesenlose, oder wie auch immer man es nennen will, wie heldenhaft wir uns wehren, und denkt: Wenn die ganze Menschheit so ist, habe ich keine Chance gegen sie. Ich ziehe mich lieber wieder zurück ...« Matt grinste und schüttelte den Kopf. »Lachen Sie nicht! Manchmal können bestimmte Handlungen eine Eigendynamik entwickeln. Taten besitzen Energie.« Sie winkte ihn abfällig fort und ging auf den Abhang zu. Matt hielt sie am Arm fest. »Du hast Recht - wir ziehen das gemeinsam durch und werden den Zombies da unten eine heldenhafte Schlacht liefern.« Er schaute von Mahalia zu Jack. »Ihr sagt euch jetzt besser Lebewohl.«
Seine Worte machten ihnen eindringlich bewusst, was in Kürze geschehen würde. Jack und Mahalia fielen sich in die Arme, und Tränen schössen ihnen in die Augen. Sie küssten sich innig, und bevor sie voneinander abließen, flüsterten sie sich etwas ins Ohr. Sobald Mahalia sich von Jack löste, wurde sie emotionslos. »Okay«, sagte sie, »los geht's.« 423 Bevor sie den Hügel hinabstiegen, eilte Mahalia zu Crowther zurück. »Professor, Sie haben uns gegen die Baobhan Sith geholfen, und dafür werden wir Ihnen ewig dankbar sein - Sie haben uns das Leben gerettet. Aber wir benötigen noch mal Ihre Hilfe, denn diesmal ist die Bedrohung noch viel schlimmer. Wenn Sie irgendetwas tun könnten ... irgendetwas ...« Sie erhielt keine Antwort, doch Mahalia war überzeugt, dass er sie verstanden hatte. Entgegen ihrer üblichen Zurückhaltung schlang sie ihm die Arme um den Hals und drückte den Professor kurz an sich, bevor sie zu den anderen zurückging»Alles klar?«, fragte Matt, als würden sie sich auf einen Spaziergang begeben. Als sie den Hang hinunter schritten, wurde das Flüstern immer intensiver, und der Drang, sich einfach hinzulegen und aufzugeben, war fast überwältigend. »Kämpft so lange ihr könnt dagegen an«, sagte Matt. Er blickte zu Jack. »Wirst du den Bannfluch einsetzen?« »Sicher. Bis ich ausbrenne - oder das Universum in Stücke gesprengt habe.« Die Flüsterer standen wie Statuen da; nur ihr fortwährendes Gebrabbel verriet, dass sie lebendig waren. Als Mahalia auf die grauenvoll entstellten Geschöpfe hinabblickte, fragte sie sich, wie lange sie gegen diese Übermacht bestehen würden - drei Minuten? Eine? Dreißig Sekunden? Sie erwartete, dass Matt das Angriffssignal geben würde, doch er zückte bloß das Krummschwert, das er sich am Hof der Einträchtigen Seelen genommen hatte, und stürmte los. Sie folgte ihm, das rostige, blutverkrustete Fomorii-Schwert in der Hand, fest entschlossen, so viele Flüsterer wie möglich mit in den Tod zu reißen. Jack rannte neben ihr her, breitete die Arme aus und 424 ließ aus seinem Körper einen kleinen weißen Lichtball herausschießen. Dieser besaß nicht die gleiche zerstörerische Wucht, wie Mahalia es am Eingang zum Hof der Singenden Träume erlebt hatte, aber es reichte aus, um fünf der Flüsterer zu zerfetzen. Jack musste sich seine Kräfte einteilen, denn der Einsatz des Bannfluchs war extrem anstrengend, und er wollte nicht gleich am Anfang kampfunfähig zu Boden sinken. Und dann hatten sie den Fuß des Abhangs erreicht und stürmten in die erste Reihe der Flüsterer hinein. Matt schlug einem den Kopf von den Schultern, dann spaltete er einem anderen den Schädel. Doch die Flüsterer sahen dem Angriff nicht tatenlos zu. Sie stürmten ihrerseits los, hatten aber das Problem, dass sie so dicht beieinander standen, dass sie kaum ihre Schwerter, Speere und Äxte heben konnten. Matt parierte mehrere Schwerthiebe, duckte sich und ging zum Gegenangriff über, doch die Flüsterer stürmten von allen Seiten auf ihn zu. Obwohl sie selbst fieberhaft um sich schlug, sah Mahalia, was für ein guter, ja geradezu professionell wirkender Kämpfer Matt war. Fast wie ein Elitesoldat. Doch der Gedanke war sofort verflogen, als um sie herum das ekelerregende Geflüster anschwoll und der purpurne Nebel ihr in Mund und Nase strömte. Sie sah nur noch eine Wand aus gegen sie drängenden Leibern. Sie legte ihr ganzes Gewicht hinter das Schwert, stieß die grausam gezackte Klinge in einen Bauch und schnitt mühelos durch die Eingeweide. Als sie es wieder herauszog, spritzte ihr ein kalter Blutschwall entgegen, dann wirbelte sie herum und stieß die Klinge in eine ungeschützte Kehle. Zwei Flüsterer hatte sie erledigt, doch von der Wucht ihrer Schwerthiebe taten ihr bereits die Arme weh. Sie 425 war nicht stark genug, um diesen grausigen Tanz lange durchzuhalten. Sie wünschte, sie hätte mehr trainiert und wäre nicht so überheblich gewesen, doch sie hatte immer gedacht, dass sie sich im Falle einer ernsthaften Auseinandersetzung davonstehlen und den anderen das Kämpfen überlassen würde. Ihre Konzentration ließ nach, und einer der Flüsterer durchbrach ihre Deckung und war im Begriff, ihr seinen Speer in die Brust zu rammen. Jack kam aus dem Nichts und stieß die Waffe zur Seite, bevor er einen Lichtball abschoss, der den Angreifer atomisierte. Verschwommen sah Mahalia, dass Jacks Augen qualmten, als würde in ihm ein gewaltiges Feuer lodern. Die Zeit zog sich endlos dahin; die Gefährten kämpften mit dem Mut der Verzweiflung, stießen zu, parierten, duckten sich und spürten ihre immer stärker schmerzenden Muskeln, während sie einen Flüsterer nach dem anderen niederstreckten. Doch sie hatten nicht einmal den Ansatz einer Schneise in die massierten Reihen der feindlichen Armee geschlagen. Und dann ertönte hinter ihnen ein ohrenbetäubendes Dröhnen, wie von einem startenden Düsenflugzeug. Mahalia sah etwas Rotes und Goldenes über ihre Schulter hinwegsausen, und dann explodierte vor ihnen eine fünfzig Quadratmeter große Fläche voller Flüsterer; es regnete kaltes Blut und abgerissene Körperteile und roch wie auf einer brennenden Mülldeponie. Die Druckwelle warf sie zu Boden. Als das Dröhnen in ihren Ohren verklungen war und sie aufblickte, sah sie Crowther den Abhang herunterschreiten. Von ihrem Standort aus wirkte er viel größer als sonst; er schien mit jedem Schritt zu wachsen und von einer furchtbaren Kraft erfüllt zu sein. Aus der silbernen Maske strömten Wände aus rotem, blauem, grünem und gelbem Licht. 426
Um ihn herum formten sich alle möglichen Gebilde, scheinbar aus dem Nichts. Mahalia sah eine Rose, die in sich zusammenfiel und sich in ein schmerzverzerrtes Geistergesicht verwandelte, aus dem wiederum ein Falke wurde; dann sah sie eine Echse, weitere Angst einflößende Fratzen, Blitze, Wolkengebilde, Feuer. Die emotionalen Ausbrüche der Maske ließen den Professor noch furchterregender wirken, und bei jedem seiner Schritte schien die Erde zu beben. Ein Flüsterer, der dem Professor zu nahe kam, wurde wie von Geisterhand in Stücke gerissen. Und Crowther hatte den Angreifer nicht eine Sekunde lang beachtet. Mahalia krabbelte rasch zur Seite, um dem Professor den Weg frei zu machen. Er schritt an ihr vorbei, und ein weiterer Energiestoß löschte eine andere Sektion der riesigen Streitmacht aus. Die Flüsterer blieben wie erstarrt stehen, begriffen nicht, womit sie es plötzlich zu tun bekommen hatten. Einen Moment lang bildete Mahalia sich ein, dass sie womöglich doch gewinnen würden; dass Crowther einfach zum Haus der Schmerzen marschieren und alles, was ihm im Weg stand, vernichten würde, sodass Mahalia, Matt und Jack ihm bloß über die blutgetränkte Erde nachlaufen mussten. Doch zwei Dinge machten ihr bewusst, dass es nicht so kommen würde. Während Crowther übers Schlachtfeld marschierte, schoss ihm ein roter Blitz aus dem Kopf und flog auf Matt zu. Diesem gelang es, im letzten Moment aus der Flugbahn zu hechten, doch die Druckwelle schleuderte ihn trotzdem durch die Luft, und die Explosionshitze ließ seine Stiefelsohlen qualmen. Crowther konnte die Maske nicht mehr kontrollieren. Die zweite Sache geschah im selben Moment. Die Flüsterer gruppierten sich neu und kamen heranmarschiert. Da sich vor ihr eine große Lücke aufgetan hatte, 427 hatte Mahalia nun einen besseren Blick über die Ebene, und sie war schier überwältigt von der unfassbaren Zahl ihrer Gegner: Es waren wirklich Hunderttausende, und selbst das schien noch untertrieben. Trotzdem kämpften sie unverdrossen weiter; Crowther metzelte ganze Truppenteile nieder, doch sofort waren neue Flüsterer zur Stelle, um den Platz ihrer gefallenen Mitstreiter einzunehmen. Mahalia, Matt und Jack bildeten die Nachhut, um dem Professor den Rücken freizuhalten, doch selbst hinter ihm entgingen die Untoten nicht seinen fürchterlichen Attacken. Einige der aus der Maske schießenden Energiestöße kamen den Gefährten allerdings gefährlich nahe, und bald schon hatte jeder von ihnen verbrannte Stellen an den Armen und im Gesicht. Das fortwährende Geflüster um sie herum erfüllte sie mit zunehmender Verzweiflung. Matt bemerkte als Erster die Gestalt auf der Anhöhe. Er schaute immer wieder kurz hinauf, aber da er sich der unablässigen Angriffe der Flüsterer erwehren musste, war er sich nicht sicher, ob er wirklich sah, was er zu sehen glaubte. Nach einigen Augenblicken aber brüllte er atemlos: »Ich glaube, wir bekommen Hilfe!« Caitlin erreichte den Scheitelpunkt der Anhöhe als Erste. Mit Augen, die in einer Meile Entfernung ein einzelnes Sandkorn erkennen konnten, machte sie Mahalia, Matt und Jack sofort im Getümmel aus. Crowther war ohnehin nicht zu übersehen. Für Caitlin schien es, als wäre der Professor in eine rote Nebelwolke gehüllt. Der Anblick der riesigen Flüsterer-Armee ließ sie nur einen kurzen Moment innehalten - sie hatte erwartet, dass ein dichter Verteidigungsring um das Haus der Schmerzen gezogen sein würde, und deshalb hatte sie Verstärkung mitgebracht. 428 Hinter ihr erklommen die Djazeem-Krieger die Anhöhe. Es waren nicht mehr als fünfhundert, doch Caitlin wusste, dass es den Flüsterern immense Probleme bereiten würde, gegen die Sand-Wesen zu kämpfen. Eigenartigerweise musste sie in dem Moment an Matt denken. Ihr wurde bewusst, wie nahe sie sich ihm gefühlt hatte, bevor es sie nach Birmingham verschlagen hatte, und wie sehr sie ihn vermisst hatte. Hinzu kam eine dumpfe Wut, denn nun würde sie herausfinden, wer Carlton umgebracht hatte. Sie glaubte zu wissen, wer der Täter war, und er würde einen furchtbaren Preis für den Mord zahlen. Wenn sie an Carlton dachte, hatte sie immer Liam vor Augen und spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Bevor sie den Abhang halb hinuntergestürmt war, hatte sie bereits all ihre Pfeile verschossen. Jeder hatte sein Ziel getroffen, sodass sich inmitten der Flüsterer eine schmale Schneise vor ihr auftat. Sie wandten ihr den Rücken zu, denn ihre Aufmerksamkeit galt Crowther und den anderen. Als sie an ihren ersten Opfern vorbeistürmte, hob sie einen Speer vom Boden auf und stemmte sich mit ihm über die Köpfe ihrer Feinde hinweg. Sobald sie gelandet war, wirbelte sie mit dem Speer herum, stach Augen aus, rammte ihn in Gesichter und stieß auf alles ein, was in ihrer Reichweite lag. Aberdutzende Flüsterer starben unter Caitlins ungestümen Attacken. Sie war ein Wirbelsturm aus blanker Gewalt. Als es angebracht schien, warf sie den Speer weg und schnappte sich ein Schwert, mit dem sie die Reihen der Flüsterer weiter lichtete. Und als die Djazeem von der Anhöhe stürmten, stürzte Caitlin sich tiefer ins hin und her wogende Getümmel; nichts konnte sie aufhalten. Sie war zu schnell, zu rück429 sichtslos, zu erfindungsreich, sprang den Flüsterern auf die Schultern und benutzte diese als Sprungbrett, um sich zu ihren Gefährten vorzuarbeiten. Die Krieger der Djazeem bildeten eine Phalanx und stürmten ihr hinterher. So heftig die Flüsterer auch auf sie einschlugen, sie konnten die Streitmacht nicht aufhalten. Ihre Schwerter und Speere trafen nichts als Sand. Gelegentlich landete einer einen Glückstreffer auf das winzige, affenähnliche Geschöpf, das sich in der Rüstung
verbarg und sich sofort an eine sicherere Stelle zurückzog. Zahlenmäßig waren die Gefährten nach wie vor weit unterlegen, doch die Flüsterer waren derart verunsichert, dass Caitlin dies kaltblütig auszunutzen vermochte. Ihre Wildheit schraubte sich in neue Höhen. Die Kriegsgöttin in ihr - die Morrigan - pflügte mit blitzenden Augen und wehender Mähne durch die feindlichen Linien, riss ihren Gegnern die Gliedmaßen ab und schleuderte sie in hohem Bogen durch die Luft. Dann kamen aus dem Nichts die Krähen und hackten den noch zuckenden Leibern die Augen aus. Sie war so grausam, dass die Flüsterer vor ihr zurückwichen; nicht weil sie Angst hatten, denn zu bewussten Gedankengängen waren die Untoten nicht fähig, sondern weil sie nicht begriffen, was da auf sie zukam. Es sah aus wie ein Zerbrechliches Geschöpf, aber es war die menschgewordene Zerstörungswut; nichts konnte dem standhalten. Mahalia war verblüfft, als sie Caitlin näher kommen sah. Zuerst konnte sie es nicht glauben, und dann erwachten ihre Schuldgefühle, doch ihre Lage war zu verzweifelt, um jetzt darüber nachzudenken. Doch als sie sah, mit welch grausamer Wildheit Caitlin kämpfte, bekam sie 430 Angst; sie konnte nicht begreifen, wie die zarte Frau, die sie gekannt hatte, nun mit so monströser Brutalität agieren konnte. Und was würde sie erst tun, wenn sie Mahalia erreichte? Auch Matt war schockiert, aber als er sah, wie rasend schnell Caitlin durch die Flüsterer pflügte, kämpfte er mit neuer Entschlossenheit weiter. Was immer ihr widerfahren war, mit ihr hatten sie eine Chance. Als die Morrigan Crowther erreichte, trat Caitlins Bewusstsein in den Vordergrund. »Professor! Wenn Sie mich hören können: Greifen Sie nicht wahllos an!«, brüllte sie über den kakophonischen Schlachtenlärm hinweg. »Die Maske soll eine schmale Schneise durch die Ebene schlagen!« Crowther schien sie nicht zu verstehen. Die Maske warf sprühende Funken, Lärm und Zorn verdichteten sich zu einem Sturm, der die ganze Welt in Stücke zu reißen drohte. Aber dann endete das Schauspiel abrupt und hinterließ eine gespenstische Stille. Selbst die Flüsterer hielten inne und versuchten zu verstehen, was im Gange war. Purpurne Nebelschwaden hingen in der Luft. Die Welt stand still. Und dann zuckte Crowther zusammen, und ein weißer Lichtstrahl kam aus der Maske herausgeschossen. Er schnitt durch die Leiber der Flüsterer und ließ alles, was ihm im Weg war, zu Asche zerfallen. Er reichte bis zum Felssockel, auf dem das Haus der Schmerzen stand. »Rennt!«, rief Caitlin. Matt stürmte als Erster in die verkohlte Schneise, dicht gefolgt von Mahalia, Jack und Caitlin. Als Letzter kam Crowther, und hätte jemand zurückgeschaut, hätte er gesehen, dass der Professor einige Zentimeter über dem Boden schwebte. 431 Die Schneise war gesäumt von zwei Wällen aus verbrannten Flüsterern, deren verrenkte Leiber in der glühenden Hitze miteinander verschmolzen waren. Der Gestank nach verbranntem Fleisch war ekelerregend. Hinter den Toten starrten die Flüsterer - noch immer viele Zehntausende - zu ihnen herüber. Sie versuchten zu begreifen, was geschehen war, kamen aber nicht auf die Idee, einfach über ihre toten Kameraden hinwegzusteigen und den Gefährten nachzueilen. Pures Adrenalin trieb Matt und die anderen an. Während sie rannten, rückte das Haus der Schmerzen immer deutlicher ins Blickfeld. Es war schwarz wie Vulkanstein, hatte aber keinerlei Ähnlichkeit mit den Gebäuden, die sie aus ihrer Welt kannten. Es erhob sich wie eine riesige Spinne aus der Ebene und hatte beinartige, seltsam verdrehte Auswüchse, die in die Umgebung hinausragten. Dazu hatte es Rundungen und Stachel und eine Art Panzer, aber keine geraden Linien. Man hatte den Eindruck, dass es von seinem Ursprungsort hergekrochen war, sich niedergelassen hatte und alles aufsaugte, was in seine Nähe kam. Und vielleicht war es auch so. Es war gewaltig. Als Matt in den kühlen Schatten des Spinnengebäudes hineinrannte, schätzte er dessen Höhe auf gut fünf Meilen. Es verströmte eine furchteinflößende, Übelkeit erregende Atmosphäre. Und als sie weiter darauf zurannten, blitzten bei ihnen im Geiste grauenvolle Bilder auf: Folterszenen, die schlimmsten Akte von Unmenschlichkeit, Felder voller Toter, Schmerzen und nie endendes Leid. Mahalia schössen Tränen in die Augen. Matt glaubte sich übergeben zu müssen. Jack rannte ungerührt weiter; solche Dinge hatte er sein Leben lang gekannt. Schließlich erreichten sie die schwarzen Granitfelsen, 432 auf denen die Fundamente ruhten. Atemlos stiegen sie hinauf, aber bevor sie weit gekommen waren, überholte Caitlin die anderen mit einer erstaunlichen Beweglichkeit. Matt und Mahalia verstanden nicht, warum die junge Ärztin unbedingt die Erste sein wollte, bis sie einen donnernden, von den ringsum liegenden Felsen widerhallenden Schrei vernahmen. Den Laut verursachte das Echsenross des Flüsterer-Anführers, der von der Seite auf sie zugeritten kam. Er war der Einzige unter den seinen, in dessen Augen das Feuer der Intelligenz brannte. In einer Hand hielt er ein Schwert, in der anderen einen Speer. Als Caitlin auf ihn zustürmte, warf er den Speer nach ihr. Caitlin wich ihm mühelos aus, doch er hätte Mahalias Brust durchbohrt, wenn Jack sich nicht auf sie geworfen und sie umgestoßen hätte. Das Schwert mit beiden
Händen umschlossen, stürmte Caitlin auf den Angreifer zu. Das Ross fletschte die messerscharfen Zähne und bäumte sich auf, versuchte, sie mit den Hufen niederzutrampeln, doch sie wich ihm mühelos aus und rammte ihm das Schwert in den Hals. Heißes, schwarzes Blut spritzte heraus, und der hohe, schmerzerfüllte Schrei des Rosses nahm einen fast menschlichen Klang an. Es schwankte hin und her, die Klinge steckte noch im Hals. Der Reiter rang einige Sekunden um Kontrolle, dann sprang er geschmeidig ab, als das Ross zusammenbrach und sich am Boden in seinen letzten Zuckungen wand. Der Flüsterer landete in perfekter Körperhaltung auf dem Felsen; mit erhobenem Schwert trat er heran. Caitlin hatte keine Waffe. Ohne lange zu überlegen, warf Mahalia ihr das Fomorii-Schwert zu. Caitlin fing es, ohne hinzuschauen, und griff sofort an. Sie parierte, schlug zu, parierte erneut. Alles ging so schnell, dass die 433 anderen nur verschwommene Bewegungen sahen und das Klirren der aufeinanderprallenden Klingen hörten. Sie kämpften minutenlang, doch Caitlins Miene blieb unbewegt, als wäre sie in Trance und würde einen künstlerischen Tanz aufführen, statt einen Kampf auf Leben und Tod auszutragen. Und als die Krähen in einem schwarzen Wirbel um sie herumflogen, war es für die anderen offenkundig, dass man Caitlin nicht besiegen konnte. Die Schlacht war ihr Leben, Töten ihre Berufung. Schließlich wich sie einem Hieb des Flüsterers aus, schwang mit beiden Händen das Schwert herum und schlug ihm den Kopf ab. Er fiel zu Boden, und die Leiche kippte um. Purpurner Nebel entströmte ihr und umfing die Gefährten, bevor eine Windbrise ihn aufs Schlachtfeld hinauswehte. Caitlin wandte sich zu den anderen um; sie war von Kopf bis Fuß mit Blut besudelt und sah aus wie die personifizierte Hölle. Sie bedeutete ihnen, ihr zu folgen, und eilte die Felsen hinauf zu einem abgeflachten Bereich mit einem Eingang, der aussah wie ein aufgerissenes Maul. Mahalias Aufschrei ließ Caitlin herumfahren. Crowther war auf die Knie gesunken; der Speer des FlüstererAnführers hatte seine Brust durchbohrt. Sein Mantel war bereits blutdurchtränkt. Der bestürzende Anblick drängte die Morrigan in den Hintergrund, sodass Caitlin halbwegs Herrin ihrer Sinne war. Sie eilte zu den anderen hinunter. Der Kopf des Professors war auf die Brust gesunken, und die Maske hatte ihren silbrigen Glanz verloren. Jack wollte den Speer herausziehen, doch Matt hielt ihn zurück. »Damit würdest du noch größeren Schaden anrichten«, sagte er. 434 Die Djazeem-Krieger waren den Gefährten durch die Leichenschneise gefolgt und hatten sich um den Felsberg verteilt, auf dem das Haus der Schmerzen stand. »Wir bringen ihn nach oben«, sagte Caitlin. Sie trugen den Professor über die Felsen zum flachen Bereich hinauf und legten ihn dort behutsam hin. Matt zog Caitlin zur Seite und sah ihr prüfend ins Gesicht, um herauszufinden, ob noch etwas von der Frau übrig war, die er gekannt hatte. Zufrieden, dass dem so war, sagte er: »Er stirbt. Wir können nichts für ihn tun.« Caitlin blickte zu den purpurnen Nebelschwaden hinunter und entgegnete: »Wir können nicht riskieren, abzuwarten, bis er tot ist.« »Ich weiß.« »Ich möchte aber nicht, dass er alleine sterben muss.« »Wahrscheinlich bekommt er hinter der Maske sowieso nichts mit. Sie hat ihn völlig unter Kontrolle.« Mahalia spürte, worüber die beiden sprachen, und kam herüber. »Ich bleibe bei ihm.« Caitlin musterte sie kühl; sie spürte, wie sich die Morrigan in ihr regte, registrierte das fiebrige Flattern schwarzer Flügel. Mahalia sah, was in Caitlin vorging, und sagte: »Ich weiß, ich habe etwas Schlimmes getan, aber dies ist nicht der richtige Zeitpunkt, um mich zu bestrafen. Das können Sie später tun, nachdem er gestorben ist.« Ohne auf Mahalia einzugehen, nickte Caitlin Matt zu und eilte zum Eingang des Hauses der Schmerzen. »Was geht da zwischen euch beiden ab?«, fragte Matt das Mädchen. Mahalia schüttelte bloß den Kopf und wandte sich zu Crowther um. »Ich bleibe auch hier«, sagte Jack. »Nein. Wir brauchen dich.« Matts Tonfall verriet, dass er keine Widerrede duldete. 435 »Geh nur«, sagte Mahalia zu Jack. »Ich warte hier auf dich.« Sie wussten beide, dass es eine Lüge war. Sie fielen sich in die Arme und küssten sich innig, dann eilten Jack und Matt hinter Caitlin her. Als Caitlin auf das Haus der Schmerzen zuschritt, schlug ihr der vertraute Geruch von verbranntem Eisen entgegen, und in der Luft flammten grelle Lichtblitze auf. Neben dem Eingang stand der Ritter mit dem Wildschweinkopf-Helm und bedeutete ihr mit einer knappen Geste, ins Haus der Schmerzen einzutreten. Nun erkannte Caitlin, was es mit dem Mann auf sich hatte: Auf irgendeine Weise war er Teil der schrecklichen Wesenheit, die hier lebte, und alles, was er getan hatte, hatte nur dazu gedient, sie herzubringen. Sie erwog kurz, ihm den Kopf abzuschlagen, aber das war sinnlos; sie würde sich ihren Zorn für das aufbewahren, was sie drinnen erwartete. »Geh hinein, Caitlin Shepherd. Dein Schicksal erwartet dich«, sagte er mit donnernder Stimme.
Als sie an ihm vorbeiging, hielt sie ihm die Klingenspitze an die Kehle; er zuckte nicht zurück. »Was sollte das?«, fragte Matt, als sie durch den Eingang schritten. Caitlin blickte von Matt zu dem Ritter. »Sie können ihn nicht sehen?« Matt starrte sie verwirrt an. Offenbar war der Ritter ihr persönlicher Dämon. Ohne noch einmal zurückzuschauen, betrat sie das Haus der Schmerzen. Marys Schritte hallten hohl durch den großen, gefliesten Eingangsbereich des römischen Bades. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie wusste, etwas war hier, aber sie hat436 te keine Ahnung, was es war. Auch Arthur Lee spürte es; der Kater hatte das Fell aufgestellt und presste sich an ihre Wade. Vorsichtig ging sie durch die nächste Tür und trat in den hellen Sonnenschein hinaus. Ein Gang führte um einen quadratischen, zum Himmel offenen Bereich herum. Mary beugte sich übers Geländer und sah das grüne Wasser in dem altertümlichen Badebecken. Die weihevolle Atmosphäre, die Mary spürte, seit sie die Stadt betreten hatte, war hier noch stärker. Fast schien es, als wäre sie lebendig, würde atmen. Mary lief den Gang hinunter und erreichte eine Treppe, über die sie zu den Wasserbecken gelangte, in denen vor fast zweitausend Jahren die Römer gebadet hatten. Die Echos, die hier unten noch lauter waren, hallten vom steinernen Gemäuer wider, das man bei Ausgrabungsarbeiten zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts freigelegt hatte. Der Großteil des Bades war im Originalzustand erhalten geblieben, und es war nicht schwer, sich vorzustellen, wie das Leben hier vor all der Zeit abgelaufen war. Doch die Römer waren bloß eines von vielen Völkern gewesen, die das natürlich warme, stark mineralienhaltige Wasser genossen hatten. Schon viel früher war die Heilquelle ein wichtiger Wallfahrtsort gewesen, so als käme das Wasser aus der Nachbarwelt in diese herübergeflossen, um in Bath einen überirdischen Zauber zu verbreiten. Die allgegenwärtige Ruhe lud zum Verweilen ein. Mary hockte sich an den Beckenrand und tauchte die Finger ins Wasser. Es war angenehm warm und seltsam entspannend, doch als kleine Wellen die Oberfläche kräuselten, wurde es mit einem Mal sonderbar dickflüssig. Anfangs hatte Mary noch die Steinfliesen auf dem 437 Grund erkennen können, nun aber sah es aus, als wäre das Wasser unendlich tief. Die Veränderung hatte eine hypnotische Wirkung, und Mary merkte, dass sie benommen hinabstarrte und darauf wartete, dass sich im Wasser etwas tat. Etwas bewegte sich. Jemand war dort unten, in unermesslicher Tiefe. Die Gestalt kam herauf geschwommen, rollte herum wie ein Delfin; die Haut schimmerte weiß, das Haar war lang und grau. Schließlich stoppte das Wesen wenige Zentimeter unter der Wasseroberfläche und drehte sich auf den Rücken, um zu ihr aufblicken zu können. Mary sah, dass sie in ihr eigenes Gesicht hinabschaute. Sie wich erschrocken zurück, doch die Frau im Wasser blieb ganz ruhig und blickte aus großen Augen zu ihr auf. »Wer bist du?«, fragte Mary. Die Lippen des schwimmenden Wesens bewegten sich, und irgendwie drang die Stimme durchs Wasser zur Oberfläche. »Ich bin du.« Mary beruhigte sich; zwar war es merkwürdig, in sein eigenes Gesicht zu schauen, aber ihr schien keine Gefahr zu drohen. Sie hatte das eigenartige Gefühl, dass das Wasser gar kein Wasser war, sondern ein Fenster in eine andere Welt. »Wir sind ein und dieselbe«, fuhr die schwimmende Mary fort. »Alles ist eins.« »Ist die Göttin hier?« Es folgte eine lange Pause, bevor ihre Doppelgängerin antwortete. »Wenn du ihr zu begegnen wünschst, musst du dich zuerst als würdig erweisen.« »Wie stelle ich das an?« »Folge dem Weg. Dir wird sich alles offenbaren.« Ihr anderes Selbst schwamm nicht davon, sondern ließ sich einfach hinabsinken, bis es in den dunklen Tie438 fen verschwunden war. Mary erhob sich, und als sie noch einmal ins Becken schaute, sah sie wieder die schimmernden Steinfliesen auf dem Grund. Das Gefühl von Verbundenheit mit dem Überirdischen hielt an, während sie nach irgendeiner Art Weg Ausschau hielt. Als sie sich umblickte, bemerkte sie auf dem Boden eine leuchtende blaue Linie. Der Hinweis war eindeutig; sie folgte ihm. Die blaue Linie führte ins angrenzende Bad, das weit weniger gut erhalten war als das erste. Der Raum war überdacht und deutlich kühler. Es dauerte eine Weile, bis Marys Augen sich an das trübe Licht gewöhnt hatten, und dann sah sie, dass in einer Ecke jemand im Halbdunkel stand, reglos wie eine Statue. »Hallo?«, fragte sie unsicher. Nach einigen Augenblicken trat er oder sie einen Schritt vor, doch nicht weit genug, als dass Mary Genaueres hätte erkennen können. Mary erstarrte. Im trüben Licht sah es so aus, als würde sich das lange Haar der Gestalt aus eigener Kraft bewegen. Und als die Gestalt einen weiteren Schritt vortrat, sah Mary, dass es sich tatsächlich bewegte - und
dass es genau genommen gar keine Haare waren, denn dafür waren die Strähnen viel zu dick und zu sehr ineinander verschlungen. Ein eisiger Schauer kroch ihr über den Rücken, als ihr die Kindheitsgeschichten über Götter und Halbgötter, über Ritterzüge und Monster einfielen. Sie wusste, dass sie augenblicklich die Flucht ergreifen sollte, aber dann würde sie niemals der Göttin begegnen, und ihre ganze Odyssee wäre vergebens gewesen. Ganz langsam trat die Gestalt einen weiteren Schritt vor, als wollte sie prüfen, ob die Besucherin sie schon erkennen konnte. Mary kehrte ihr rasch den Rücken zu, 439 hob Arthur Lee vom Boden auf und hielt ihm die Augen zu, damit auch er die Gestalt nicht zu sehen bekam. »Also kennst du mich.« Ein leichtes Zischeln schwang in der Stimme mit; sie klang androgyn, und es ließ sich unmöglich sagen, ob sie einem Mann oder einer Frau gehörte. »Ich glaube ...« Marys Stimme bebte so stark, dass sie verstummte, um ihre Furcht nicht zu offenbaren. Der oder die Unbekannte trat heran. Ein Schauder durchfuhr Mary. Die Gestalt stand nun direkt hinter ihr. Wenn sie sich jetzt zu ihr umdrehte ... »Du weißt, was geschieht, wenn du mein Gesicht siehst?« »Ja.« »Die Griechen haben mich gekannt, obwohl ich keine der ihren war. Perseus hat nur einen Aspekt gesehen. Auch die Kelten haben mich gekannt und für einen Menschen gehalten, doch ihnen ging es nur um meine Rolle als Diener des Sulis. Aber auch zu ihnen habe ich nicht gehört. Ich bin Teil von etwas Größerem ... der Macht, die diesem Orte innewohnt. Ich bin die Dienerin. Begreifst du das?« Mary nickte beklommen. »Wenn du wissen möchtest, wie ich aussehe, werde ich es dir beschreiben: Mein Haar gleicht den wogenden Wellen des Meeres, aber ebenso strahlt es wie Sonnenschein in die Ferne. Am Kopf habe ich steinerne Flügel. Ich bin Wasser, Feuer, Luft und Erde. Ich bin ein Teil von allem. Und dem diene ich. Begreifst du das?« Diesmal klang die Stimme härter, und Mary erbebte, als sie sie vernahm. »Du wirst meine Hand nehmen, und ich werde dich führen. Du musst die Augen geschlossen halten, denn du weißt, was geschieht, wenn du mein Gesicht er440 blickst. Ich könnte deinen Tod herbeiführen; du würdest in einen Abgrund stürzen und dir dabei alle Knochen brechen. Bedenke, dies ist eine Prüfung, kein Trick. Alles, was auf dem Spiel zu stehen scheint, steht wirklich auf dem Spiel. Falls du versagst, wirst du mit dem Leben bezahlen.« »Ich verstehe.« »Gut. Dann nimm meine Hand. Dein Leben wird mir gehören. Ob du lebst oder stirbst, ist meine Entscheidung. Und du musst mir völlig vertrauen. Solltest du dich losreißen ... solltest du nur ein klein wenig die Augen öffnen ...« »Ich weiß, ich weiß!« Mary kniff die Augen zu und hielt die Hand nach hinten. »Na los, mach schon!« Kühle, harte Finger schlössen sich um ihre; die Haut fühlte sich fast schuppig an. Mary murmelte ein kurzes Stoßgebet, dann ließ sie sich von der Dienerin fortführen. Mary hatte keine Ahnung, wo es hinging. Sie hielt die Augen so fest geschlossen, dass die Muskeln drum herum schmerzten. Die kühle Hand zog sie immer weiter und weiter. Plötzlich spürte sie Sonnenschein im Gesicht und nahm an, dass die Dienerin sie nach draußen geführt hatte, doch die Luft roch anders, und sie hatte das eigenartige Gefühl, nicht mehr auf dem Gelände des römisches Bades zu sein. Es ging immer weiter, und hin und wieder stöhnte sie erschrocken auf, wenn ihr Fuß gegen ein Hindernis stieß und sie befürchtete, instinktiv die Augen aufzureißen. Dann folgten einige Schreckmomente, als sie das Gefühl hatte, am Rande eines jähen Abgrunds entlangzulaufen; von den Seiten und von unten kommende Windböen zerrten an ihr, und in einem plötzlichen Anfall von Höhenangst wurde ihr schwindlig. Sie hatte keine Ahnung, wie es ihr gelang, nicht auszurutschen; ihre Führerin 441 nahm keine Rücksicht auf sie, gab ihr keinerlei Hilfestellung. Mary konnte nur tun, was man ihr gesagt hatte: der Dienerin voll und ganz vertrauen. Die furchterregende Prüfung schien Stunden zu dauern, obwohl es wahrscheinlich nur zehn Minuten waren, und dann konnte Mary plötzlich nicht mehr die Hand der Dienerin in ihrer spüren. Sie tastete in der Luft, war sich nicht sicher, ob sie versehentlich losgelassen hatte, konnte die Hand aber nirgendwo finden. Ihr erster Gedanke war, dass es sich dabei um einen Teil der Prüfung handelte: Wenn sie die Augen öffnete, würde die Dienerin vor ihr stehen und ihr ins Gesicht starren. Sie wartete volle fünf Minuten, tastete immer wieder um sich und gelangte schließlich zu dem Schluss, dass die Dienerin verschwunden war. Sie öffnete vorsichtig die Augen, schaute zuerst nur auf den Boden und stellte zu ihrer tiefen Erleichterung fest, dass sie vor einer der Touristen-Schautafeln im Untergeschoss des Stadtbades stand. Ganz in der Nähe hörte sie Wasserrauschen, und in der Luft hingen Dampfschwaden: Das musste die eigentliche Heilquelle sein, nahm sie an. Sie ging in die Richtung, aus der das Rauschen kam, fand sich aber nach wenigen Schritten vor einer Mauer aus herabfließendem Wasser wieder. Als Mary versuchte hindurchzulaufen, war es, als wäre sie gegen eine
Felswand geprallt. Erst als sie einige Schritte zurücktrat, sah sie die beiden Masken, die ganz in der Nähe an der Wand hingen. Eine war konturlos, hatte aber eine weibliche Form. Die andere war eine erschreckend genaue Nachbildung ihrer eigenen Gesichtszüge. Es war zutiefst beunruhigend, sie dort hängen zu sehen, denn es schien, als hätten die Höheren Mächte schon immer gewusst, dass Mary eines Tages nach Bath kommen würde. 442 Nachdem sie eine Weile gegrübelt hatte, was das alles bedeuten mochte, schlussfolgerte sie, dass es ein weiterer Teil der Prüfung sein musste. Man erwartete von ihr, eine der beiden Masken auszuwählen, und damit wäre die Prüfung vielleicht abgeschlossen. Es schien so eindeutig; das musste es sein. Sie nahm die Maske, die ihr Gesicht darstellte - das Material fühlte sich an, als bestünde es aus echter Haut. Sie wollte die Maske aufsetzen, aber dann zögerte sie. Es war zu einfach, viel zu einfach. Dies sollte eine Prüfung sein, also musste noch etwas anderes dahinterstecken. Nur was? Sie setzte sich an die Wand, legte die Maske neben sich auf den Boden und streichelte Arthur Lee, während sie angestrengt nachdachte. Was hatte der erste Test bedeutet?, fragte sie sich. Sie betrachtete es aus allen Blickwinkeln und befand, dass Glaube die Antwort war. Sie hatte ihr Vertrauen, ihren Glauben vollständig in die Hand der Höheren Mächte gelegt. Und den Test hatte sie offensichtlich bestanden. Aber dieser hier? Sie schaute zu der gesichtslosen Maske, stand auf und nahm sie von der Wand. Diese fühlte sich kalt und leblos an. Sie blickte zwischen den beiden Masken hin und her und dachte an die Warnung der Dienerin, dass sie mit dem Leben bezahlen würde, falls sie versagte. Schließlich glaubte sie, die Lösung zu kennen. Sie nahm allen Mut zusammen und setzte die konturlose Maske auf. Sie passte perfekt und war angenehm kühl. Dann geschahen zwei Dinge gleichzeitig: Sie hörte, dass das Prasseln der Wassermauer verklang, und zu ihren Füßen ertönte ein metallisches Klicken. Sie nahm die Maske ab und sah mit Entsetzen, dass zwei metallische Eisenspitzen aus der Innenseite der Gesichtsmaske herausragten, genau an der Stelle, wo 443 ihre Augen gewesen wären, wenn sie die Maske aufgesetzt hätte. Benommen lehnte sie sich an die Wand zurück und konnte kaum glauben, wie knapp sie dem Tod entronnen war. Sie beschloss, dass die Wahl der konturlosen Maske symbolisch dafür war, dass sie in Gegenwart der Göttin eine demütige Identitätslosigkeit akzeptieren würde. Glaube und Demut - diese beiden Dinge würde sie in dem verborgenen Heiligtum benötigen. Sie hängte die konturlose Maske wieder an die Wand und ging weiter. Als sie um eine Ecke kam, blieb ihr fast das Herz stehen, denn wie aus dem Nichts stand jemand vor ihr. Zuerst dachte sie, es wäre die Dienerin, doch die Gestalt war viel kleiner und gedrungener und trug eine grobe graue Kutte; die tief ins Gesicht gezogene Kapuze ließ nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war. Genau genommen war Mary sich nicht einmal sicher, ob sich unter der Kapuze wirklich ein Gesicht oder vielleicht nur gähnende Leere verbarg. »Zwei Prüfungen hast du bestanden«, sagte die Gestalt, der Stimme nach eine alte Frau. »Der dritte und letzte Test ist der wichtigste. Er besteht nur aus einer einzigen Frage. Beantworte sie weise, dann hast du bestanden. Die falsche Antwort verurteilt dich zum Tode, schlimmer noch, zur ewigen Verdammung. Dein Geist würde niemals nach Graulande gelangen, sondern für alle Zeiten im Nirgendwo gefangen sein.« Mary holte tief Luft; sie wusste, dass es nun kein Zurück mehr gab. Eine einzige Frage klang nicht weiter bemerkenswert, doch Mary wusste, dass dies die schwerste aller Prüfungen werden würde: die letzte Hürde. »Frag«, sagte sie aufgeregt. »Wie du wünschst. Welches ist das dunkelste Geheimnis in deinem Herzen?« 444 Mary zuckte zusammen, wusste nicht, woran sie als Erstes denken sollte. Woher sollte sie auf die Schnelle wissen, welches ihrer vielen Geheimnisse wirklich das dunkelste war? Die alte Frau schien ihre Gedanken zu lesen. Sie hob warnend den Finger. »Irgendein kleines Geheimnis reicht nicht aus. Und das zweitdunkelste auch nicht. Aber tief in deinem Herzen weißt du, welches das allerschlimmste ist - eines, von dem du niemals sprichst, weil du befürchtest, dass deine Mitmenschen dich dafür hassen würden. Eines, das du dir niemals selbst eingestanden hast.« Mary schloss die Augen und überlegte. Doch sie merkte, dass sie hinter ihrer Panik ganz genau wusste, welches ihr dunkelstes Geheimnis war; es war diese eine Sache, der sie sich nie gestellt hatte, die sie immer verdrängt hatte. »Sprich.« »Ich kann nicht.« »Dann stirb.« Mary stieß ein bebendes Seufzen aus, während sie um Fassung rang, und dann ließ sie es mit heiserer Stimme zum ersten Mal heraus. »Meine Mutter lag im Sterben. Wir kamen schon seit einer ganzen Weile nicht mehr besonders gut miteinander aus. Ich war ein kleiner Rebell, habe immer absichtlich Sachen gesagt und getan, die sie auf die Palme brachten. Wenn ich mit jemandem geschlafen hatte - selbst wenn es nur eine beiläufige Nummer auf einer Party gewesen war -, habe ich es ihr brühwarm erzählt, um sie zu schocken. Oder wenn ich Drogen genommen habe. Es waren die Sechzigerjahre. Damals haben alle solche Sachen gemacht... zumindest
ist das immer meine Rechtfertigung vor mir selbst gewesen. Aber es ist bloß eine billige Ausrede. Jeder ist selbst für 445 seine Taten verantwortlich. Man kann anderen nicht die Schuld zuschieben.« Sie sprach zu sich selbst, aber es klang, als würde jemand anders über eine Person sprechen, die sie nicht kannte. »Ich hasse mich dafür, wie ich damals gewesen bin. Ich fand mich so modern und klug ... klüger als meine Eltern. Sie hatten keinen Schimmer von der neuen Welt, die wir uns damals zurechtbastelten. Wie naiv ich doch war. Wie naiv und arrogant! Ich fand mich so superschlau, dabei war ich der größte Trottel von allen!« Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. Tränen standen in ihren Augen, doch sie sah die Alte nicht an. Ihr Blick war in die Vergangenheit gerichtet, auf den sonnendurchfluteten Sommer der Liebe. »Ich hatte meiner Mutter erzählt, dass ich sie nicht mehr brauche, dass sie mich nicht mehr an die Leine legen könne. Der Frau, die mich großgezogen und alles für mich geopfert hat. Ich brauchte sie nicht mehr! Und dann hat sie eines Tages angerufen und mir erzählt, sie liege im Sterben.« Die Worte blieben ihr im Hals stecken; sie konnte nicht weitersprechen. »Du musst alles erzählen«, forderte die Alte sie auf. Mary beruhigte sich ein wenig, doch ihre Brust war noch immer wie zugeschnürt. »Ich sagte ihr, ich würde mit diesem Typen losziehen. Sie sagte, es sei dringend. Ich sagte, sie solle nicht so dramatisch sein ... sie war immer die Drama-Königin. Ich meinte also, ich würde wegfahren und sie anrufen, wenn ich wieder zurück wäre. Wir fuhren zu irgendeinem Festival, nahmen jede Menge Drogen, hatten wilden Sex, und dann bin ich wieder zurückgefahren und habe sie immer noch nicht angerufen. Das dunkle Geheimnis? Ich hatte meine Mutter nicht vergessen. Ich hatte einfach keine Lust, mich mit dem Thema Sterben auseinanderzusetzen. Das zieht 446 einen doch bloß runter. Ich hatte zu viel Spaß, um mich von so etwas stören zu lassen. Ich würde sie sowieso nicht vermissen - ich meine, wir haben uns ja überhaupt nicht verstanden!« Sie starrte ins Leere und sah im Geist die furchtbare Szene ablaufen. »Ich weiß noch, wo ich war, als ich einen Anruf erhielt und von ihrem Tod erfuhr. Ich war in meiner Wohnung, voll auf LSD, mit irgendeinem jungen Typen und habe Love gehört, >Alone Again Or<. Ich habe gelacht. Gelacht und gelacht, und dann habe ich aufgelegt und dem Typen erzählt, dass ich nun endlich frei wäre.« Sie schlug die Hände vors Gesicht und stand wie erstarrt da. »Was ich damals getan habe, hat mich zerbrochen. Es hat mich zu einem anderen Menschen gemacht. Das war der Preis, den ich für meinen Hedonismus bezahlt habe. Ich habe meine Mutter vermisst, mit jedem verstrichenen Jahr mehr, und wenn ich könnte, würde ich zurückgehen und alles wieder gutmachen, selbst wenn es mich das Leben kosten würde. Aber ich kann nicht zurückgehen und muss deshalb mit dem Wissen leben, was für ein fürchterlicher Mensch ich bin, was ich durch meine Dummheit und Selbstsucht verloren habe ... wie grausam und wertlos ich bin. Ich habe die entscheidenden Stunden mit einer Frau verpasst, die mich auf eine Weise geliebt hat, wie man mich nie wieder lieben würde, die alles aufgegeben hat, um ihre kleine Tochter großzuziehen. Das ist das Wertvollste, was es auf der Welt gibt ... sozusagen der heilige Gral ... und ich habe ihn fortgeworfen. Ich habe jedes Unglück verdient, das mir seither widerfahren ist. Ich habe es verdient, im Alter einsam und ungeliebt zu sein.« Sie hob den Blick und schaute in die Dunkelheit unter der Kapuze der alten 447 Frau. »Das ist mein schlimmstes Geheimnis. Und jetzt, wo ich es verraten habe, ist es mir gleich, ob ich lebe oder sterbe. Mir ist egal, ob du mich in die ewige Verdammung schickst. Könnte das denn schlimmer sein als mein jetziges Leben? Wohl kaum.« Die Kapuzenfrau schwieg eine volle Minute und schwankte leicht hin und her. Dann sagte sie mit erschreckend sanfter Stimme: »Willkommen, Schwester. Du hast bewiesen, ein ehrlicher, guter Mensch zu sein, voller Glaube und Demut, und du warst imstande, das Licht der Wahrheit auf den dunkelsten Fleck in deinem Herzen zu richten. Du wirst ohne Geheimnisse in die Begegnung gehen, die dich als Nächstes erwartet. Und die Göttin liebt dich genauso, wie es deine Mutter getan hat. Sie wird sich um dich kümmern.« Tränen schössen Mary in die Augen. Sie fühlte sich wie ein Kind, konnte sich nicht beherrschen, wusste nicht, was sie denken sollte. »Komm, Schwester«, sagte die Kapuzenfrau und glitt ohne sichtbaren Kontakt zum Fußboden den Gang hinunter. »In dir brennt ein schlimmer Schmerz. Deine Reise war lang, und dein Geist ist müde. Nun sollst du ausruhen. Alles steht dir frei.« Sie deutete den Gang hinunter. Das Rauschen der Heilquelle schwoll an, und Mary spürte die drückende Wärme des heißen Wassers, das aus den Tiefen der Erde empor sprudelte. Als sie nach vorn schaute, sah sie in der Ferne ein schwaches blaues Licht. Der Gang verblasste, und ein behaglicherer, einladenderer Ort kam zum Vorschein. Mary blinzelte die Tränen weg und ging darauf zu. 17 Die Königin der Verdammten » Und so zertrampeln sie die Ernte der Früchte des Zorns.« JULIA WARD HOWE
Wahnsinn und Verzweiflung entströmten den schwarzen Wänden, während Caitlin, Matt und Jack durch den Gang eilten, der vom Eingang in das Haus der Schmerzen hineinführte. Das Gebäude war erfüllt von einem beklemmenden Halbdunkel und einer drückenden tropischen Hitze, ohne dass der leiseste Windhauch für etwas Abkühlung gesorgt hätte. Trotz des äußeren Erscheinungsbildes hatten sie das Gefühl, sich im Innern eines riesigen, lebendigen Wesens zu befinden. Seltsame Vibrationen, die an ein arbeitendes Gefäßsystem erinnerten, fuhren durch den Boden und die Wände, und irgendwo in der Ferne vernahmen sie ein leises Pochen. »Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht verlaufen«, sagte Matt. Caitlins Stimme drang zu ihm zurück. »Darüber würde ich mir keine Sorgen machen. Die Chance, dass wir hier lebend rauskommen, ist ziemlich gering.« »Ja. Man soll die Dinge immer positiv sehen«, murmelte Matt. Jack eilte an Matt vorbei, sodass er zwischen den beiden lief. »Dieser Ort«, sagte er beklommen, »ist noch schlimmer als der Hof des Letzten Wortes.« 449 »Haben Sie eine Ahnung, wo wir hingehen?«, fragte Matt. »Das Gebäude ist riesig. Wir könnten hier den ganzen Tag rumlaufen ... nur dass ich das Gefühl habe, dass man uns nicht allzu lange rumstöbern lassen wird.« »Vielleicht gibt es hier ja keine Wachen«, sagte Jack hoffnungsvoll. »Vermutlich hat niemand erwartet, dass wir an den Flüsterern vorbeigelangen würden, und deshalb gibt es womöglich keine weiteren Schutzvorkehrungen.« »Sehen Sie? Sie sollten sich den Jungen als Vorbild nehmen«, rief Matt Caitlin nach. »Er versucht wenigstens, die Dinge positiv zu sehen.« In Caitlins Kopf schwollen die Stimmen zu einem chaotischen Gebrabbel an. Bevor sie aufs Neue die Kontrolle über sich verlor, brachte sie noch einen letzten Satz heraus: »Etwas kommt uns entgegen.« Dann färbte sich ihr Blickfeld blutrot, das Halbdunkel wich zurück, und ihre Umgebung nahm scharfe Konturen an. Matt packte Jack an der Schulter, damit der Junge nicht weiterging. »Was ist?«, fragte Jack ängstlich. »Was sieht sie?« »Sieh nur!«, sagte Matt. Caitlins Umrisse verschwammen, als wäre sie in Nebel gehüllt. Schatten bildeten sich auf ihrer Haut, lösten sich von ihrem Körper ab und flogen ungestüm um sie herum. »Das sind wieder die Krähen!«, sagte Matt fassungslos. »Sie kommen aus ihr heraus.« Unter den wilden Flügelschlägen war Caitlin kaum noch zu erkennen. »Das ist die Morrigan!«, rief Jack entsetzt. »Wir müssen verschwinden! Die Morrigan hat sie in ihrer Gewalt!« Matt wirbelte Jack zu sich herum. »Was redest du da? Erzähl´s mir!« 450 »Die Morrigan ist eine der Göttinnen!«, sagte Jack. »Aber sie ist schlimmer als alle anderen ... viel schlimmer. Sie verursacht Kriege und Blutvergießen und ... und andere Dinge. Es heißt, nichts könne sie aufhalten ...« Matt blickte auf den umherwirbelnden Krähenschwarm, der sich mit Caitlin in der Mitte entschlossen den Gang hinunterbewegte. »Dann ist es doch nur gut, dass sie auf unserer Seite steht.« Er hielt kurz inne. »Sie steht doch auf unserer Seite, oder?« Was Matt und Jack nicht sehen konnten, aber für Caitlin deutlich zu erkennen war, war das Wesen, das vor ihr im Gang Gestalt annahm. Für Caitlin sah es aus, als löste es sich aus der Wand, wie in einer höhnischen Nachstellung einer Geburt, aber als sie näher heranging, sah sie, dass die Wand selbst das Wesen bildete und langsam absonderte. Und dann wurde Caitlin klar, dass das Haus der Schmerzen in Wahrheit ein lebendes Geschöpf war und dass sie in dessen Bauch hineinliefen. Das schleimtriefende Wesen bebte und wurde immer größer. Schließlich richtete es sich auf und kam auf Caitlin zugestapft. Als es sie anschaute, bildete das Weiß seiner Augen einen scharfen Kontrast zu seiner dunklen Albtraum-Fratze. Caitlin spürte, wie sich ein Schatten über ihren Geist legte, als das Wesen in ihr Bewusstsein eindrang. Ihr wurde übel, doch die Morrigan ließ sich nicht davon beeindrucken. Sie spannte die Muskeln an, war kampfbereit. »Duuu.....Drachennn ...« Obwohl sich der Mund des Wesens nicht bewegte, hörte Caitlin die gezischten Worte ganz deutlich; es fühlte sich an, als würden in ihrem Gehirn Myriaden von Käfern herumkrabbeln. Dann setzte die Kriegsgöttin zum Angriff an. 451 »Sooooohn ....« Caitlin blieb abrupt stehen. Es war nur ein einziges Wort, doch Caitlin wusste, wer damit gemeint war. Und in dem Augenblick war die Morrigan verschwunden; Caitlins Liebe zu Liam hatte die Kriegsgöttin an den trostlosen Ort in den finsteren Winkeln von Caitlins Bewusstsein zurückgedrängt. »Ist er hier?«, fragte Caitlin mit brüchiger Stimme. »Lassen Sie sich nicht täuschen!« Matt rannte herbei und packte sie, doch sie stieß ihn weg. »Ist er hier?«, wiederholte Caitlin beklommen. Ungelenk deutete das Wesen den Gang hinunter. Im Halbdunkel stand eine kleine Gestalt mit blassem Gesicht. Caitlin konnte sie nicht genau erkennen, war sich aber sicher, dass es Liam war. Alle aufgestauten Emotionen
brachen mit solcher Vehemenz aus ihr heraus, dass sie glaubte, verrückt zu werden. »Liam?«, fragte sie leise. Die schleimige schwarze Kreatur reichte ihr die Hand. Caitlin wusste, was man von ihr erwartete, und obwohl jede Faser ihres Wesens mit abgrundtiefem Abscheu erfüllt war, konnte sie nicht widerstehen. Auch Matt wusste es und versuchte, sie fortzuzerren. Caitlin riss sich von ihm los und ergriff die monströse Hand, die sich unter ihren Fingern wie ein warmes Steak anfühlte. Im nächsten Moment rannte sie den Gang hinunter, obwohl ihre Füße den Boden nicht zu berühren schienen. »Tun Sie doch etwas!«, rief Jack, während Caitlin davoneilte und schließlich mit der Dunkelheit verschmolz. Sie konnten nicht mehr eingreifen. Caitlin kam sich vor wie in einem Labyrinth und hatte den Eindruck, nicht nur durch das Haus der Schmerzen 452 zu eilen, sondern auch drum herum und darüber hinweg; und sie spürte, dass es seinen Namen zu Recht trug. Das gewaltige Wesen war von den dunkelsten Emotionen menschlichen Leids erfüllt. Aus leeren Räumen drangen grauenvolle Schmerzensschreie. Eine andere Kammer war von einer alles verzehrenden Trauer erfüllt, wieder andere kündeten von Einsamkeit, Verlust, von Missbrauch und Hoffnungslosigkeit. Und schließlich nahm sie den widerwärtigen Geruch abgrundtiefer Verzweiflung wahr, und sie wusste sofort, dass dies der Ort war, von dem die Flüsterer stammten. Und dann wurde ihr alles zu viel, und sie verlor das Bewusstsein. Sie erwachte in einem Zimmer, in dem es nach verfaultem Fleisch roch. Der Fußboden bestand aus kalten Obsidian-Fliesen, und die pechschwarzen Wände gingen in ein hohes Deckengewölbe über, das sie an eine Kathedrale erinnerte, doch dem Zimmer fehlte jede Wärme und Behaglichkeit. Im Nebenraum vernahm sie die trippelnden Schritte kleiner Kinderfüße. Caitlin stockte der Atem; ihre Aufregung war beinahe schmerzhaft. Und dann kam er herein, und sie wusste sofort, so wie es jede Mutter wissen würde, dass er es wirklich war und nicht ein Konstrukt, das sie in Versuchung führen sollte; es war wirklich Liam, lebhaft und lustig wie an ihrem letzten gemeinsamen Abend. Er torkelte auf Caitlin zu, als wäre er soeben aus einem langen Schlaf erwacht. Dann erkannte er sie, und ein überschwängliches, liebevolles Lächeln ließ seine Züge erstrahlen. Ihr Herz klopfte wie wild, und Tränen schössen ihr in die Augen. »Mommy!« Seine helle Stimme erfüllte den grässlichen Ort mit Leben. Er rannte mit ausgebreiteten Armen 453 auf sie zu, und sie hob ihn hoch und drückte ihn so fest an sich, als wollte sie ihn wieder in den Mutterleib zurückschieben, wo er für alle Zeiten in Sicherheit wäre. Sein Körper fühlte sich so weich und warm an; sie konnte es nicht glauben nach all der Trauer und dem Schmerz. Ihre Hoffnung, ihn am Ende ihrer Suche wieder zu sehen, war tatsächlich wahr geworden. Sie fühlte sich wie im Himmel. Ein heftiger Weinkrampf schüttelte sie und wurde noch stärker, als Liam fragte: »Mommy, warum weinst du?« »Ich habe dich so lieb, Liam.« Sie küsste sein Gesicht. »Ich habe dich so lieb. Du bist das Einzige, was mir wichtig ist.« Sobald ihr die Worte über die Lippen kamen, wurde sein Körper starr. Sie wich zurück, schockiert von dem grausamen Streich, den das Haus der Schmerzen ihr spielte. Liam stand da wie eine Statue, starrte blind ins Leere; es war noch immer er, er war real, aber im Strom der Zeit erstarrt. Ihre Panik brach so heftig aus ihr heraus, dass sie wie ein Raubtier an seiner Kleidung zerrte. Das Wesen, das die Stimme des Hauses der Schmerzen verkörperte, war unbemerkt herangekrochen. Es deutete mit einem krummen Finger auf Liam und sagte: »Entscheideee ...« Wieder nur ein Wort, doch wie beim ersten Mal wusste sie genau, was es bedeutete. Das Schleimwesen vollführte eine sonderbare, spastische Bewegung, und die Wand vor Caitlin wurde durchsichtig. Im angrenzenden Zimmer sah sie ein riesiges Ei aus einer braunen, fleischartigen Masse, offenbar die Substanz, aus der das Gebäude bestand. Aus dem hinteren Teil des Eis schlüpften unter grotesken Schmatzgeräuschen winzige Gestalten heraus und flitzten in die Dunkelheit davon. Es waren 454 die kleinen Dämonen, die sich auf den Weg in die Welt der Menschen begaben, um dort die alles durchdringende spirituelle Erdkraft mit ihrer Verderbtheit zu infizieren. Dies war ihre Brutstätte, dies war die Keimzelle der Seuche. »Anti-Leben«, murmelte Caitlin. Das war die Kraft, die der Ankunft des Wesenlosen den Weg ebnete. Und sie, Caitlin, konnte dem Einhalt gebieten und damit die Menschheit retten. Doch dazu musste sie Liam aufgeben. Wie gerissen die dem Leben entgegenstehenden Mächte doch waren, dachte sie; woher wusste das Wesenlose so genau, wie der menschliche Geist tickte? Wenn sie sich für Liam entschied, würde das Wesenlose gewinnen. Wenn sie Liam aufgab und das Heilmittel wählte, würde der Akt sie zerstören, und sie könnte in der bevorstehenden Schlacht nicht als Verfechter des Blauen Feuers agieren ... und das Wesenlose würde gewinnen. Vor nicht allzu langer Zeit hätte sie in sich vielleicht die Kraft gefunden, zum Wohle der Welt ihren Sohn ein zweites Mal zu verlieren. Aber Carltons Tod hatte ihrer psychischen Zerstörung den Rest gegeben. Davor hatte sie sich durch ihre Trauer gekämpft und einen Hoffnungsschimmer gefunden; nun aber gab es keine Hoffnung
mehr, und es würde nie wieder welche geben, wenn sie die Chance mit Liam nicht wahrnahm. Nichts anderes zählte. Nicht das Heilmittel, nicht die Welt, nichts. »Nein«, sagte sie. »Ich werde Liam nicht aufgeben. Er wird leben. Er wird leben!« Sie verschwendete keinen Gedanken daran, was sie damit anrichtete. Sie spürte, wie sein Körper wieder warm und lebendig wurde, drückte ihn an sich und vergrub das Gesicht in seinem Haar. Sie hatte sich entschieden. 455 Draußen in der brütenden Hitze spürte Mahalia eine Veränderung. Sie blickte vom Professor auf und sah, dass die Djazeem-Krieger ihre Positionen verließen und durch die verkohlte Schneise zum Rand der Ebene zurückwichen. Mahalia beobachtete die Szene verständnislos, dann mit wachsendem Entsetzen. Bald würde die Flüsterer nichts mehr aufhalten. Als sie über die Spitze der Djazeem-Kolonne hinausblickte, glaubte sie zwei Gestalten auszumachen, die in der flirrenden Luft die Anhöhe herunterkamen. Bevor sie überlegen konnte, ob es eine optische Täuschung war oder nicht, spuckte der Professor Blut. Mahalia legte ihm einen Arm um die Schultern. Man sah, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Sie hatte versucht, die Blutung in seiner Brust zu stillen, aber es war so, als hätte sie versucht, den Regen zu stoppen. Der Kopf fiel ihm auf die Brust, und sie dachte schon, er wäre tot, aber dann fasste er sich ans Gesicht, und die Maske fiel ihm in die Hände. Er warf sie zur Seite und sah Mahalia aus rot geränderten Augen an. Seine Wangen waren eingefallen, die schneeweiße Haut spannte sich straff über die Gesichtsknochen; alles Leben war aus ihm herausgesaugt. »Sie kann mich nicht mehr gebrauchen.« Die Verbitterung in seiner Stimme erstaunte Mahalia. »Sie hat mich ausgesaugt und wartet jetzt auf ihr nächstes Opfer.« »Wie fühlen Sie sich?« »Wie der Tod. Wie sollte ich mich sonst fühlen?« Er verstummte und lächelte schwach. »Tut mir leid, Mahalia. Danke, dass du bei mir geblieben bist. Das hätte ich nicht erwartet. Ich habe mich scheußlich benommen.« »Das stimmt nicht! Sie haben uns zweimal das Leben gerettet.« 456 »Trotzdem, ich hätte noch viel mehr tun können. Wenn ich nicht so schwach gewesen wäre. Nun, es taugt eben nicht jeder zum Helden.« Tränen standen in ihren Augen. »Professor, ich möchte nicht, dass Sie sterben.« »Ich weiß, und es tut mir leid, dass ich dir das antue. Ich weiß, dass du immer nur verlassen wurdest ... von deinen Eltern ... von Carlton ... Du hast so viel mehr verdient.« Er tastete nach ihrer Hand. »Du musst deine Denkweise ändern, Mädchen. Du bist nicht so, wie du denkst - du bist ein guter, ein sehr guter Mensch. Ich weiß, dass du eine quengelige Soziopathin sein kannst, aber das ist nur ein Nebenaspekt. Der Einzige, der dich zurückhält, bist du selbst. Ich wünschte nur, ich hätte dich retten können, denn ich weiß, was in dir steckt.« Hinter den Tränen verschwamm ihre Sicht. »Sie übertreiben, Professor.« »Nein, ich übertreibe nicht.« Er hustete und spuckte Blut. »Es ist fast vorbei.« Er zog sie zu sich heran. »Hör zu.« Seine Stimme war kaum zu verstehen. »Das Einzige, was ich noch tun kann, ist, dir einen Rat mitzugeben. Es ist vielleicht das einzig Gute, was ich in meinem Leben getan habe, sozusagen meine Wiedergutmachung, aber was du damit anfängst, ist deine Sache. Beherzige meinen Rat oder lass es bleiben. Ich möchte dich nicht unter Druck setzen.« Sie drückte das Gesicht an sein fettiges Haar, roch den Schweiß und seinen - nicht unangenehmen moschusartigen Körpergeruch. »Ich höre zu. Ich ... ich werde Ihren Rat beherzigen.« »Warte lieber erst ab, bis du weißt, was es ist.« Selbst kurz vor dem Tod hatte seine Stimme noch einen schnippischen Unterton. »Ich habe meine Fehler vor langer Zeit begangen. Ich habe mich verirrt, bin vom 457 Weg abgekommen, auf dem ich hätte durchs Leben wandeln sollen, weil ich mich meinen Schwächen hingegeben habe. In A Christmas Carol gibt es eine Zeile, in der Marys Geist zu Scrooge sagt, welchen entscheidenden Fehler er begangen hat ... Er sagt: Die Menschen sollen dich kümmern! Und das ist wahr ... so wahr. Die Menschen sollen dich kümmern, Mahalia, nicht deine kleinen, selbstsüchtigen Belange. Hilf den Menschen, die dich brauchen, hilf, wo immer du kannst. Das habe ich nie getan. Ich habe meine Familie verlassen ... die Menschen, die ich geliebt habe und die mich geliebt haben. Ich habe es getan, weil ich mich für schwach hielt, und wenn man sich für schwach hält, dann ist man es auch. Ich finde mich noch immer schwach, und jetzt sieh mich an!« Er stieß ein kurzes, keuchendes Lachen aus. »Nein ...« »Doch, hör mir zu ... wenigstens ein einziges Mal! Deine Zukunft liegt allein in deinen Händen. Du kannst etwas aus dir machen ... oder du machst weiter wie bisher. Falls du das tust, wirst du nach einer Weile feststellen, dass es kein Zurück mehr gibt und dass deine Zukunft fest vorprogrammiert ist. Dein Leben wird sein, als würdest du auf einen Bus warten, der niemals kommt.« »Ich tue, was Sie sagen! Ganz bestimmt!« Sie weinte jetzt ganz offen. »Nein! Sag das nicht, denn es bedeutet nichts. Du musst erst eine Weile darüber nachdenken und versuchen, dich an diesen Moment zu erinnern, dir zu vergegenwärtigen, was für ein Jammerlappen ich war und was ich hätte
sein können, wenn ich es nur versucht hätte. Denke an ein ... verpfuschtes Leben ... von mir selbst verpfuscht. Keiner hat Schuld daran, nur ich allein. Hät458 te ich mich nicht so gehen lassen, hätte die Maske mich niemals unter ihre Kontrolle gebracht ... und dann ...« Sein Kinn sank herab und er starrte ins Leere. »... und dann hätte sich vielleicht alles zum Guten gewendet.« Aus dem Augenwinkel bemerkte Mahalia eine Bewegung. Sie blickte auf und sah, dass die letzten der DjazeemKrieger über die Anhöhe verschwunden waren und die Flüsterer in ihrem ungelenken Zombie-Gang auf den Felssockel zumarschiert kamen. Crowther sah ihre panische Miene. »Was ist los?« »Die Flüsterer kommen. Hören Sie sie?« Er lachte leise. »Noch nicht, aber ich glaube, das würde mir den Rest geben.« Dann: »Hilf mir auf.« Sie gehorchte ihm sofort. Sie hätte nicht gedacht, dass er sich auf den Beinen halten könnte, aber er konnte sogar schleppend laufen. »Gib mir dein Schwert«, sagte er. »Ja, ich weiß, ich sehe aus, als könnte ich nicht mal eine Feder heben, aber vertraue mir, ich habe noch ein paar letzte Kraftreserven. Ich möchte, dass du in das Gebäude hineingehst, die anderen findest und sie rettest.« »Aber die Flüsterer werden Sie sich einverleiben ...« »Nein, das werden sie nicht. Ich werde tot sein, bevor dieses purpurne Licht aus mir heraus quillt. Aber zumindest kann ich die Kerle eine Weile beschäftigen und dir dadurch einen Vorsprung verschaffen.« Sie erreichten den Eingang zum Haus der Schmerzen. Erschöpft lehnte sich Crowther an einen Felsen. Er hustete und spuckte wieder Blut. »Professor ...« »Geh jetzt, du dummes Ding! Ich mache das hier nicht zum Spaß!« Einen Moment lang schien er zu halluzinieren. »Dahinten steht ein Kerl mit einem Schweinekopf. Was hat das zu bedeuten? Überall sprühen blaue Funken. 459 Was will der Kerl nur? Nun, er wird es nicht bekommen!« Er stieß sich vom Felsen ab. »Renn endlich los! Oder soll meine letzte heldenhafte Geste vergeblich sein?« Mahalia beugte sich vor und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Ein Lächeln huschte über Crowthers Gesicht, und dann wandte er sich zu der heranrückenden Flüsterer-Horde um. Mahalia rannte ins Haus der Schmerzen; sie wusste, dass sie den Professor zum letzten Mal gesehen hatte. Matt und Jack rannten durch die endlosen Gänge und riefen immer wieder Caitlins Namen, doch sie erhielten keine Antwort. »Wahrscheinlich laufen wir im Kreis herum!«, sagte Jack. »Nein, das tun wir nicht«, entgegnete Matt. »Ich habe einen untrüglichen Orientierungssinn, das lernt man in dem Gewerbe, in dem ich tätig bin. Wir gelangen immer tiefer in das Gebäude.« »Aber was ist, wenn dieses Wesen sie schon umgebracht hat?« »Hätte es das tun wollen, hätte es Caitlin angegriffen, als wir reinkamen. Nein, es will etwas anderes ... Ich weiß nicht, was, aber wahrscheinlich hat es etwas damit zu tun, dass sie eine Schwester der Drachen ist. Ich glaube, das Wesen weiß, was es mit Caitlin auf sich hat...« »Sie meinen das blaue Feuer?« »Ja. Es ist die einzige Waffe, mit der man diesen Krieg gewinnen kann. Und irgendwie ist Caitlin Teil davon, und das Wesen will durch sie an das Blaue Feuer herankommen. « Sie bogen um eine Ecke und blieben abrupt stehen. Ein schleimtriefendes Etwas löste sich aus der Wand und nahm eine gedrungene, menschenähnlich ausse460 hende Gestalt an. Sie trat auf die beiden Gefährten zu und starrte sie aus großen weißen Augen an. »Was ist das?«, keuchte Jack. »Das ist die Intelligenz, die in diesem Gebäude steckt. Sie nimmt diese Gestalt an, um mit uns zu kommunizieren.« »Verrr-schwindettt ...« Die Stimme klang so fremdartig, dass man sie kaum verstand. »Nun, das ist ein gutes Zeichen«, sagte Matt. »Wenn es uns auffordert zu verschwinden, müssen wir ganz nahe an einem wichtigen Ort sein.« Jack packte Matts Arm. »Haben Sie denn gar keine Angst?« Matts trotziges Lächeln gab Jack neuen Mut. »Mal sehen, ob man dem Schleimklumpen wehtun kann.« Er umschloss den Schwertgriff mit beiden Händen und versetzte dem Ungetüm einen wuchtigen Hieb. Mit einem lauten Knirschgeräusch schnitt die Klinge tief in den breiten Schädel, doch das Wesen zeigte keine Reaktion. Es stand einfach da und starrte die beiden kalt an, während Matt das Schwert herauszog und abermals zuschlug. Zehn Minuten hackte er auf das Wesen ein, bis nur noch Fleischklumpen übrig waren. Und noch immer starrten die Augen zu ihm auf, als würden sie sagen: Du kannst mich nicht töten. Das Haus der Schmerzen ist unbesiegbar. Umgeben von den grausigen Überresten, stützte sich Matt auf das Schwert und wischte sich den Schweiß von
der Stirn. »Nun«, sagte er zwischen zwei tiefen Atemzügen, »die Antwort lautet offenbar nein.« Niedergeschlagen trat Jack zu ihm heran. »Was sollen wir jetzt tun?« »Aufgeben kommt nicht in Frage, also denk nicht mal dran.« 461 Hinter ihnen drang ein leises Flüstern durch den Gang. Matt fuhr herum und erblickte einen schwachen purpurnen Lichtschein. »Sieht so aus, als wären die Flüsterer durchgebrochen«, sagte er leise. Es gab für sie keinen Fluchtweg mehr. »Mahalia«, sagte Jack verzweifelt. Er wollte auf das Licht zurennen, doch Matt hielt ihn fest. »Bleib hier. Du kannst sowieso nichts tun. Außerdem ist Mahalia klüger und härter als du. Wahrscheinlich ist sie den Flüsterern ein Stück voraus und in einen Nebengang gerannt.« Jack blickte zu dem Mann auf, dem er inzwischen mehr vertraute als jedem anderen Erwachsenen, und wollte ihm glauben. Sie rannten weiter, und je tiefer sie in das Gebäude gelangten, desto heißer wurde es; nach einer Weile hatten sie das Gefühl, sich einem riesigen Hochofen zu nähern. Hinter den Wänden waren pochende Schläge zu vernehmen, deren Vibrationen ihnen durch die Beine in den Bauch fuhren, und hinter sich hörten sie in der Ferne die donnernden Schritte einer großen Armee, die durch die endlosen, finsteren Gänge marschierte. »Matt?« »Spar dir deine Worte!« Der Schweiß brannte Matt in den Augen, und so oft er sich auch über die Stirn wischte, sie blieb immer nass. »Nein, es ist wichtig. Ganz gleich, was geschieht, lassen Sie nicht zu, dass man mich wieder gefangen nimmt. Das halte ich nicht mehr aus ... nicht nachdem ich so lange am Hof des Letzten Wortes war.« »Was soll ich denn tun?« »Was immer nötig ist. Versprechen Sie mir das, Matt?« Die nachfolgende Pause dauerte so lange, dass Jack schon glaubte, Matt würde nicht antworten, aber dann 462 sagte er: »Ja, sicher. Du kannst dich auf mich verlassen. So ... und jetzt kein fatalistisches Gerede mehr, in Ordnung? Wir müssen etwas erledigen.« Vor ihnen kam in der Dunkelheit eine Gestalt zum Vorschein. Matt stoppte abrupt und packte Jack, damit dieser nicht in sie hineinlief. »Verrrschwindettt ...« Dieses Wesen sah aus wie eine Riesenspinne, hatte aber dort, wo die acht Beine zusammenliefen, entfernt menschliche Züge. »Verdammt noch mal, wie viele von diesen Viechern muss ich denn noch zerhacken, bis wir ans Ziel gelangen?«, murmelte Matt. Mit erhobenem Schwert trat er auf das Ungetüm zu, aber dann hielt er inne. Am Boden bewegte sich etwas und brandete ihm wie eine Welle entgegen, doch in der Dunkelheit konnte er keine Einzelheiten erkennen. »Was ist das?«, fragte er schaudernd. Das Spinnenwesen deutete mit einem menschlichen Arm auf ihn. »Seucheee ...« »Die Seuche«, wiederholte Matt fassungslos. Heerscharen von kleinen Seuchendämonen kamen unter dem Spinnenwesen hervorgekrabbelt. »Zurück!«, flüsterte Matt, bestürzt über die schiere Zahl der winzigen Kobolde. »Was ist das?«, fragte Jack. »Zurück!« Matt stieß den Jungen in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Sie dürfen dich nicht berühren. Sie haben etwas mit der Seuche zu tun.« »Die Flüsterer ...« »Ich weiß!«, sagte Matt. »Aber ich habe etwas entdeckt ... glaube ich.« Sie rannten, so schnell sie konnten, bis Matt an einem Spalt in der Fleischwand stehen blieb. 463 »Was ist das denn?«, fragte Jack. Matt schob die Hände in den Spalt, klappte einige Fleischlappen auf und legte eine Öffnung frei. Dann nickte er Jack auffordernd zu. Jack zögerte, aber als er in einiger Entfernung die Seuchendämonen heranflitzen hörte, zwängte er sich in die Öffnung, bis das Fleisch sich hinter ihm schloss. Matt folgte ihm. Sie gelangten in einen Raum, in dem ein trübes graues Licht schien, ohne dass es eine erkennbare Lichtquelle gegeben hätte. Die Atmosphäre, die dort herrschte, traf sie wie ein Hammerschlag. Eine so allumfassende Traurigkeit erfasste sie, dass sie meinten, es würde ihnen das Herz zerreißen. Tränen schössen ihnen in die Augen und liefen ihnen brennend über die Gesichter. Plötzlich kam es Jack so vor, als wäre er gedanklich mit seiner Mutter vereint, obwohl dies gar nicht möglich war - er war ihr nie begegnet. Er spürte ihre Freude bei seiner Geburt und die brutale, alles verzehrende Verzweiflung, nachdem die Götter ihn entführt hatten. Orientierungslos und aller Lebensfreude beraubt, starb sie kurz darauf einen gewalttätigen, unbarmherzigen Tod. Jede negative Empfindung traf ihn wie ein Messerstich. Er sah alles durch ihre Augen, fühlte, was sie gefühlt hatte, und war in gewisser Weise davon überzeugt, für alles verantwortlich zu sein. Die Wucht der Emotionen kam wie ein Sturm über ihn; er wollte sich umbringen.
Matt packte ihn so brutal am Arm, dass er aufjaulte. »Konzentrier dich auf mich. Lass keine Gefühle zu. Deshalb heißt es das Haus der Schmerzen.« Matt zog ihn durch den Raum. Als sie die andere Seite erreichten, sahen sie, dass sich die Seuchendämonen durch die Fleischlappen hereinzwängten. Sie würden niemals aufgeben, niemals. »Wir haben keine Chance gegen sie«, jammerte Jack. 464 »Halt den Mund«, sagte Matt, »sonst muss ich dir leider die Lichter ausknipsen.« »Bringen Sie mich nie wieder in so einen Raum.« In der Nähe war ein weiterer Wandspalt, den Matt jedoch ignorierte, da er auf halber Höhe eine andere Öffnung in der Wand entdeckt hatte. Der dahinter liegende Kapillartunnel, der extrem schmal war, führte nach oben. »Kriech dort rein«, sagte Matt. Bevor Jack widersprechen konnte, schob Matt ihn auch schon in die Öffnung und kroch dann selbst hinein. Es war unerträglich eng und heiß und stockfinster, und nachdem sie sich einige Minuten lang durch den Tunnel gezwängt hatten, verloren sie jeglichen Orientierungssinn. Zuweilen krümmte er sich, zog sich zusammen oder verdrehte sich so abrupt, dass sie sich selbst verrenken mussten, um um eine Biegung zu gelangen. Und die ganze Zeit über hörte Matt hinter sich das fieberhafte Krabbeln der Seuchendämonen. Nur ihre Furcht vor ihren Verfolgern verhinderte, dass sie in der albtraumhaften Enge den Verstand verloren. Jedes Zeitgefühl war verschwunden - es gab nur die brütende Hitze und die Angst, dass sie jeden Moment ersticken könnten. Es mochten zwei Stunden oder nur fünfzehn Minuten vergangen sein, als die Geräusche der Seuchendämonen verklangen. Sie krochen noch eine Weile weiter, und dann ließ die Hitze etwas nach. Kurz darauf zwängte sich Jack durch einen letzten Fleischlappen und erblickte unter sich einen großen Raum. Es war ein Drei-MeterSprung bis auf den Boden, doch der Junge war so erleichtert, dass er ohne lange zu überlegen hinuntersprang; Sekunden später landete Matt neben ihm. Erschöpft setzten sie sich an die Wand; sie konnten nicht fassen, dass die Tortur endlich vorbei war. 465 »Nie wieder«, sagte Matt. »Das nächste Mal sollen mich diese Kobolde ruhig mit der Seuche infizieren.« Als sie sich halbwegs erholt hatten, nahmen sie den Raum in Augenschein. Genau genommen war es eher ein Saal von der Größe einer Kathedrale, dessen Decke sich über ihren Köpfen in der Dunkelheit verlor. Ein schwaches, grünliches Leuchten erhellte den unteren Bereich. Dann sahen sie in einiger Entfernung zwei Gestalten im Halbdunkel. Es waren Caitlin und ein kleiner Junge. Als sie zu den beiden hinübergingen, schaute der Junge aus großen, verstört blickenden Augen zu ihnen auf. »Ich weiß nicht, was mit meiner Mommy los ist«, sagte er. »Sie redet nicht mehr mit mir.« Caitlin saß im Schneidersitz am Boden; der Kopf war ihr auf die Brust gefallen. »Unglaublich, sie hat es wirklich geschafft«, sagte Matt. Er hockte sich neben Caitlin und fühlte ihren Puls. »Der Puls ist in Ordnung. Sieht so aus, als hätte sie einen ihrer Aussetzer.« Jack zog Liam zur Seite. »Keine Sorge - deiner Mommy geht's bald wieder gut. Sie ist eine großartige Frau ... sie ist eine Heldin.« »Meine Mommy?« Hätte Caitlin die überschwängliche Begeisterung in seinem Gesicht gesehen, hätte sie vor Freude geweint. Matt hob ihren Kopf, um ihr in die Augen zu schauen; die Pupillen waren so geweitet, dass sie fast das ganze Auge ausfüllten. »Ich frage mich, was hinter ihnen vorgeht« , sagte er. Der Wind peitschte mit solcher Kraft über das Eisfeld, dass für Caitlin außer Frage stand, dass ein heftiger Sturm aufzog. Sie saß zitternd im Felsunterschlupf und 466 blickte auf die weiße Einöde hinaus. Sie war völlig verwirrt. Gerade noch hatte sie mit Liam gesprochen, ihn an sich gedrückt und abgeküsst, und plötzlich war es, als hätten sich Haken in ihren Körper gebohrt und sie an diesen grauenvollen Ort zurückgezogen. »Jetzt hast du es geschafft«, sagte Amy, die hinter ihr stand. »Du wirst es bereuen.« »Ich habe gewonnen«, erwiderte Caitlin. »Ich habe Liam zurückgeholt.« Brigid kicherte verächtlich. »Gewonnen? Du hast alles verloren! Spürst du das nicht?« Sie spürte es tatsächlich; die wallende Hitze entströmte ihrem Körper, die Kälte wurde immer beißender. »Was ist los?« »Du bist eine bescheuerte Ziege«, sagte Briony. Sie saß rauchend auf einem Felsen und starrte mit dem leeren Blick des Besiegten nach draußen. »Wir haben auf dich gezählt... alle haben auf dich gezählt... und du hast uns enttäuscht. Weil du egoistisch bist. So verdammt egoistisch. « »Aber ...« »Spar dir deine Erklärungen! Wir haben dich davor gewarnt, deiner Verzweiflung nachzugeben. Du solltest darüberstehen«, fuhr Briony fort. »Aber wer soll so etwas können?«, fragte Caitlin, die noch immer nicht verstand, was eigentlich los war. »Na du! Deshalb hat man dich auserwählt. Du sollst besser sein als alle anderen Menschen - jemand, der für das Leben streitet. Das Blaue Feuer war in dir ... und jetzt schwindet es.«
»Es schwindet?« Caitlin blickte auf ihre Hände. »Du hast es betrogen. Du ...« »Seid nicht so streng mit ihr.« Die Stimme war wie ein eisiger Luftzug im nächtlichen Wald. Briony rutschte 467 vom Felsen herunter und hockte sich dahinter. Brigid hörte auf zu kichern, und Amy stellte sich rasch hinter sie und klammerte sich an das lange Haar der Alten. Die Morrigan trat aus der Dunkelheit im hinteren Teil des Unterschlupfes heraus. Sie war wunderschön, ihr Haar tiefschwarz, ihre Haut alabasterfarben, und ihre Lippen schimmerten leuchtend rot. »Jede Mutter hätte sich so entschieden«, verteidigte sich Caitlin. »Mir ist egal, was ihr sagt.« Die Morrigan reichte ihr die schlanke Hand, und obwohl Caitlin sich fürchtete, ergriff sie sie. Die Haut der Kriegsgöttin war heiß und erfüllt von knisternder Energie. Caitlin ließ sich von ihr in die Mitte des Unterschlupfes führen; dort stellte sich die Morrigan so hin, dass Caitlin ihr in die unergründlichen schwarzen Augen schauen konnte. »Frauen wissen besser als Männer, was es heißt, sich aufzuopfern.« Ihre Stimme klang zwar furchteinflößend, aber irgendwie auch sanft und beruhigend. »Opfer ... das brennende Herz ... zum Wohle der Schwestern und Brüder, wie sehr es auch schmerzt. Und du, Caitlin Shepherd, wärst dazu in der Lage gewesen, denn du warst eine Schwester der Drachen, du warst eins mit dem Strom des Seins. Aber man hat dich vom Weg abgebracht ... dich in die Wildnis vertrieben ...« »Ich verstehe nicht«, sagte Caitlin. »Wer hat das getan?« »Ein Mann. Es ist immer ein Mann, denn seit es euch Menschen gibt, sind nur sie dazu imstande, im uralten Kampf der Geschlechter Frauen auf herzloseste Weise zu manipulieren. Aber die Zeiten sind im Wandel, und die Schwesternschaft gelangt wieder an die Macht. Doch einige Männer haben etwas dagegen. Mächtige Frauen machen ihnen Angst. Sie können sie nicht als gleichberech468 tigte Partner akzeptieren. Und deshalb tragen sie ihre männlichen Machtspiele aus, manipulieren, lügen, zetteln Kriege an. Um uns am Boden zu halten, Schwester. Um uns klein zu halten.« »Man hat mich manipuliert ...?« »Bis zum Tod des Jungen hättest du das Opfer gewählt, um die Zerbrechlichen Geschöpfe zu retten, trotz der Schmerzen, die es dir bereitet hätte. Sein Tod hat alles verändert. Und man hat ihn in dem Wissen herbeigeführt, dass es dir die Kraft des Blauen Feuers rauben würde.« »Ich verstehe das nicht. Carlton musste sterben, um ...« »Um zu verhindern, dass du dein volles Potenzial ausschöpfst, Schwester. So einfach ist das.« Caitlin sank auf den kalten, festgefrorenen Boden und schlang die Arme um die Knie. »Aber ich habe Liam wiederbekommen.« »Ja, aber zu welchem Preis.« Briony hatte den Mut gefunden, etwas zu sagen. »Die Menschen werden einen qualvollen Tod sterben, damit du ein kleines persönliches Glück erleben kannst... ein Glück, das es nie hätte geben sollen! Dein Sohn hätte weiterziehen sollen. Aber das Monstrum, das hinter alldem steckt, hat ihn dabehalten, damit du diese törichte Wahl treffen konntest. Eine gebrochene Schwester der Drachen ist besser als eine tote. Es verursacht Verzweiflung ... sie steckt andere an ...« »Man darf einen Menschen nicht vor so eine fürchterliche Entscheidung stellen!«, sagte Caitlin. »Das stimmt«, erklärte die Morrigan. »Ich gebe dir absolut Recht.« »Ich kann es nicht mehr korrigieren«, sagte Caitlin. »Ich kann Liam nicht aufgeben, nachdem ich ihn jetzt wieder bei mir habe.« 469 »Es spielt keine Rolle — es ist zu spät, du bescheuerte Ziege.« Briony schaukelte in ihrem Versteck vor und zurück. »Wir kommen alle in die Hölle. Du hast deine Wahl getroffen. Das Blaue Feuer verlässt dich. Du hast es verbockt.« Caitlin sah die Morrigan an und glaubte, in den kalten Zügen einen Anflug von Mitgefühl zu sehen. »Es ist wahr«, sagte die Göttin. »Du bist keine Schwester der Drachen mehr.« Amy kam herbeigerannt - ganz das aufgeregte kleine Mädchen. »Kannst du uns nicht helfen?«, fragte sie die Kriegsgöttin. »Man hat mich für eine bestimmte Aufgabe hergeschickt, und diese Aufgabe ist nun undurchführbar«, entgegnete die Morrigan. »Ich werde euch jetzt verlassen.« Sie wandte sich an Caitlin, und ihre Stimme wurde weicher. »Caitlin Shepherd, du bist eine gute Schwester, was immer dieser Ausgang für euch Zerbrechliche Geschöpfe bedeuten mag.« Dann wandte sie sich um und verschwand in der Dunkelheit. Rings um den Unterschlupf schwoll das Heulen des Windes zu einem lauten Tosen an; es wurde kälter. »Das war's«, sagte Briony. »Es ist vorbei.« 18 Da Capo »Zwei Seelen mit nur einem Gedanken, Zwei Herzen, die wie eines schlagen.« MARIA LOVELL
Caitlin zuckte zusammen, und aus ihrem Brustkorb schoss eine große Nebelkrähe heraus. Jack sprang erschrocken zurück; Matt sah zu, wie der Vogel einmal um die vorgebeugte Gestalt herumflog und dann in die Dunkelheit davon flatterte. Als die Krähe verschwunden war, zuckten Caitlins Lider, und sie setzte sich auf. Matt hockte sich neben sie und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Ist schon gut«, sagte sie benommen. »Aus Ihnen ist gerade eine Krähe herausgeplatzt. Was in aller Welt war das denn?« »Das spielt jetzt keine Rolle.« Noch immer benommen, versuchte Caitlin die letzten Worte der Morrigan zu verdauen. Sie blickte sich um, und plötzlich verdrängte die in ihr aufsteigende Panik jeden anderen Gedanken. »Wo ist Liam?« »Er ist dort rüber gegangen.« Jack deutete in die Dunkelheit. »Ich glaube, er sagte, er hätte einen weiteren Raum gefunden.« Caitlin sprang auf und rannte los, Matt und Jack eilten ihr nach. Der nächste Raum war kleiner und heller, und dahinter lag ein Gang, der zu einem noch helleren Ort führte. 471 Caitlin rannte und rannte, und dann stoppte sie abrupt. Liam stand reglos in der Mitte einer gewaltigen Kammer und starrte auf etwas. Sie ging von der Seite auf ihn zu. Dann sah sie es. Die Rückseite des Hauses der Schmerzen bestand aus einem riesigen Panoramafenster, durch das man in den endlosen Weltraum mit seinen Myriaden von bunt leuchtenden Galaxien hinausblickte. »Ich hätte nie gedacht, dass es so groß ist!«, sagte Jack, als er atemlos zu Caitlin herantrat. Noch während er sprach, bemerkte Caitlin in weiter, weiter Ferne am Rande des Universums eine Bewegung. Ein seltsam verzerrter, tiefschwarzer Schatten schwebte in ihre Richtung; er war so riesig, dass er ganze Galaxien verdeckte, und die Art und Weise, wie er langsam, aber unaufhaltsam auf sie zutrudelte, schien allen Naturgesetzen zu widersprechen. »Das Wesenlose«, murmelte sie. Obwohl es eigentlich unmöglich war, schien das Wesenlose sie gehört zu haben, denn mit einem Mal spürte sie, wie es seinen Intellekt auf sie richtete. Es war, als würde das Wesenlose sie über Milliarden von Lichtjahren hinweg anstarren und mitten in ihr Herz blicken. Sie taumelte zurück, erschrocken über das tiefe Entsetzen, das sie plötzlich erfüllte. »Es kommt«, sagte sie. In dem Moment löste sich die Verbindung wieder, doch Caitlin wusste nun, welches Grauen die Menschheit entweder in einigen Tagen oder Wochen oder in Millionen von Jahren erwartete. Sie legte den Arm um Liam und führte ihn von dem furchterregenden Anblick fort, aber als sie sich umwandte, stockte ihr der Atem. Ein purpurner Lichtschein erfüllte die flirrende Hitze. Die Armee der Flüste472 rer hatte die Kammer erreicht und alle angrenzenden Räume besetzt. Mary aalte sich in einem Gefühl tiefer Glückseligkeit. Die Luft war warm und das Plätschern des Wassers beruhigend. Der Ort besaß eine so behagliche, weihevolle Atmosphäre, dass sie am liebsten für immer dort geblieben wäre. Noch stärker war das Gefühl einer Präsenz, einer Intelligenz, die von irgendwoher auf sie zukam. Sie kommt, dachte Mary, und im nächsten Moment erschien eine Frau in den Dampfschwaden rings um die Heilquelle. Mary wusste nicht, was sie erwartet hatte — sie nahm an, eine mit Lichtern und Sternen erfüllte Gestalt -, doch was nun tatsächlich auf sie zutrat, war eine Frau, die aussah wie die Jungfrau Maria. Mary wusste, dass sie die Göttin in einer Weise sah, die ihr Verstand verarbeiten konnte, und deshalb zeigte er ihr sie als eine der vertrauten Ikonen, die Mary aus ihrer katholischen Kindheit kannte. »Sei gegrüßt, Schwester«, sagte die Göttin warmherzig. »Du bist weit gereist, um hierher zu gelangen. Ich erkenne deine Stärke; du bist ein leuchtendes Beispiel für das, was ich mir für die Schwesternschaft erhofft habe.« Mary fehlten die Worte. Die Göttin spürte ihre Ehrfurcht, denn sie sagte: »Komm, sei nicht eingeschüchtert. Ich diene dir, so wie du mir dienst. Ich bin ein Teil von dir, und du bist ein Teil von mir. Das ist die Botschaft, die das Sein für uns bereithält.« Mary schluckte. »Mir ist nicht klar, was ich tun soll ...« »Nichts hat eine Grenze - eine Welt folgt der nächsten, es gibt unzählige Götter, das Herz der Zerbrechlichen Geschöpfe ist unermesslich groß, alles lässt sich erreichen. Zeit und Raum sind keine absoluten Größen. Alles 473 ist fließend. Das musst du begreifen, wenn du verstehen möchtest, was geschehen ist und was noch geschehen wird.« »Warum hast du den Gott, den Langen Mann verlassen? Warum hast du dich vor uns verborgen?« Die Göttin sah sie traurig an. »Einst waren wir stark. Wir fanden uns wieder in euren Herzen, waren eins mit dem Mond und dem Wechsel der Gezeiten. Aber dann haben die Dinge sich geändert. Das weißt du, Schwester, das weißt du. Die Feinde des Seins haben die Macht an sich gerissen, und wir wurden welk und müde. Die großen Wälder wurden niedergebrannt, die Ozeane vergiftet, die Steppen kultiviert, die Luft mit Schwefel
verseucht, und die Stimme der Schwesternschaft wurde leiser und leiser; die meisten haben ihr Los akzeptiert. Es waren zu viele.« »Deshalb bist du gegangen«, sagte Mary. »Wir haben dich enttäuscht.« »Im Geiste war ich immer bei euch. Ich habe euch beobachtet und gehofft, habe auf ein Zeichen gewartet, dass man mich wieder brauchen würde. Aber nichts geschah.« Sie lächelte. »Bis jetzt.« Mary senkte den Kopf. Die Göttin trat einen Schritt auf sie zu. »Du hast mir gedient, Schwester, und nun diene ich dir. Du bist mit einer Bitte zu mir gekommen. Sprich.« »Meine Freundin ... Caitlin ... sie braucht Hilfe.« »Ich kenne sie - auch sie ist eine wahre Schwester. Auch sie hat mich erweckt.« »Dann wirst du ihr helfen?« »Das werde ich, und ich habe es bereits getan. Denn wie gesagt, die Zeit ist keine absolute Größe. Was ich in deinem Hier und Jetzt tue, wirkt sich auf das aus, was du bereits erlebt hast...« 474 Mary versuchte zu verstehen, was die Göttin sagte. »Du kannst die Vergangenheit verändern?«, fragte sie. »Es gibt keine Vergangenheit und keine Zukunft. Nur die unendliche Gegenwart. Deine Wahrnehmung trübt deinen Blick, kleine Schwester.« Die Göttin ging zur Quelle zurück. Im nächsten Moment kam eine Nebelkrähe aus den Dampfschwaden geflogen, kreiste einmal über ihren Köpfen und ließ sich dann neben der Göttin auf dem Boden nieder. Als Mary den Vogel betrachtete, hatte sie das eigenartige Gefühl, eine wunderschöne Frau mit langen schwarzen Haaren und kalten, durchdringend blickenden Augen anzuschauen. »Bei den Kelten war sie als die Morrigan bekannt«, erklärte die Göttin. Mary kannte den Namen aus verschiedenen Mythologie-Büchern, die sie während ihrer magischen Studien gelesen hatte. »Sie dient dir?« Die Göttin lächelte. »Sie ist ein Teil von mir, genau wie du. Alle Gottheiten sind Teil von etwas Größerem, obwohl sie sich gerne für eigenständige Individuen halten. Namen. Was sind schon Namen? Hier hieß ich einst Sulis und Minerva. Ja, und Morrigan. Und ich bin Brigid, die Göttin mit den drei Gesichtern. Drei Gesichter, Schwester - Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, und alles ist eins und blickt hinaus auf das Sein.« Die Krähe stieg in die Luft und verschwand wieder in den Dampfschwaden. »Sie begibt sich an eine einsame Straße in einer stürmischen Nacht«, sagte die Göttin. »Zu einem Zeitpunkt, da eine Schwester grauenvollen Kummer empfindet.« »Ich danke dir«, erwiderte Mary, zutiefst erleichtert, dass ihre Reise nun endlich vorüber war. Doch etwas am Gesichtsausdruck der Göttin stimmte sie nachdenklich. 475 »Die Morrigan wird Caitlin doch helfen, oder? Oder ist es aus? Ist es vorbei?« Traurigkeit huschte über die Züge der Göttin, und Mary kannte die Antwort, noch bevor die Göttin sprach. »Caitlins Suche ist am Ende, und selbst die Morrigan kann sie nicht mehr vor den Mächten schützen, die ihr entgegenstehen.« Es gab kein Verzweiflung auslösendes Wispern, doch die Stille war noch unheimlicher. Die Flüsterer standen reglos da, als warteten sie auf einen Befehl. »Was ist los mit den Kerlen?«, sagte Jack. »Warum greifen sie nicht an?« Matt schob Jack und Caitlin auf das Panoramafenster zu. »Jetzt sitzen wir wirklich in der Scheiße, was?«, sagte er. »Sie haben nicht zufällig noch ein Ass im Ärmel?« Sie schauten zu den Flüsterern hinüber; ihre Gedanken rasten. »Wollen Sie nicht die Superkriegerin heraufbeschwören, die uns hier reingebracht hat?« »Warum sollte ich?« Ihr Blick wanderte über die in purpurnes Licht gehüllten Flüsterer. Matt legte Caitlin die Hände auf die Schultern und drehte sie zu sich um. »Um der alten Zeiten willen?« Er lächelte sie gewinnend an. »Wir sind uns am Anfang ziemlich nahe gekommen. Ich habe gesehen, was Sie für mich empfinden, und glauben Sie mir, ich empfinde das Gleiche. Ich möchte, dass Sie die Kriegerin anknipsen, Caitlin ... Jack, Liam und ich brauchen ihre Hilfe. Finden Sie nicht, dass wir es verdient haben herauszufinden, wie es mit uns beiden weitergeht, nachdem wir aus diesem Schlamassel mit heiler Haut herausgekommen sind? Nach allem, was wir durchgemacht haben, können wir uns ruhig eine nette kleine Liebesaffäre gönnen ...« 476 Ihr kaltes Lachen ließ ihn verstummen. »Eine Liebesaffäre?« Ihre Augen funkelten kalt. »Sie waren so geschickt mit Ihren Manipulationen, Matt.« »Wovon sprechen Sie?« »Es gibt gar keine verschwundene Tochter, stimmt's? Denn sonst hätten Sie sie nicht einfach vergessen. Hätten Sie ein Kind, würden Sie ständig von ihm sprechen. Aber Sie haben Ihre vermeintliche Tochter nur einmal ganz am Anfang erwähnt, um mich für sich zu gewinnen ... weil Sie mich brauchten, um nach Anderswelt zu gelangen.« »Das ist doch lächerlich! Natürlich habe ich eine Tochter, und nachdem wir hier raus sind, werde ich ...« »Sie sind doch gar nicht in mich verliebt, Matt. Das weiß ich, weil mir jemand vor kurzem wahre Liebe
entgegengebracht hat, jemand, der sich mehr um mich sorgte als um sich selbst. Mit Grant hatte ich vergessen, wie sich so etwas anfühlt, deshalb konnten Sie mich eine Zeit lang täuschen, aber rückblickend betrachtet waren Sie eigentlich leicht zu durchschauen. Wer sind Sie, Matt? Wer sind Sie wirklich?« Zuerst schien Matt seine Fassade aufrechthalten zu wollen, aber dann lief er schulterzuckend auf das Panoramafenster zu und starrte einen Moment lang auf den schwarzen Schatten, der durch die endlosen Weiten des Alls auf sie zutrieb. Als er sich wieder zu Caitlin umwandte, offenbarten seine bisher so angenehmen Züge eine kalte Arroganz. »Vor dem Untergang war ich Mitglied einer Spezialeinheit der britischen Armee. Woher habe ich wohl meine speziellen Kampftechniken? Aus dem Pub an der Ecke? Wie auch immer, ich arbeite für die Regierung. Für die neue Regierung in Oxford. Sie halten sich noch bedeckt, aber bald werden alle von ihrer Existenz erfahren, 477 und dann bekommen diese so genannten Götter mächtig einen vor den Latz. Wir werden sie in Stücke bomben.« Jack starrte Matt mit wachsender Abneigung an. Matt ignorierte ihn. »Die Regierung weiß mehr, als Sie glauben. Es sind kluge Leute, Caitlin. Sie wissen, dass sie erst alle Fakten kennen müssen, bevor sie zurückschlagen können. Und deshalb haben sie in mühseliger Kleinarbeit die Gründe für den Untergang herausgefunden und dabei erfahren, was es mit den Brüdern und Schwestern der Drachen und den Göttern auf sich hat ... und wie wir sie angreifen können. Sie wissen vielleicht nicht alles, aber schon eine ganze Menge. Nehmen Sie Anderswelt. Die Regierung weiß davon und auch, wie man dort hingelangt. Und an dem Punkt kommen Sie ins Spiel.« »Woher haben Sie gewusst, dass ich am Rollrights-Steinkreis sein würde?« »Das wusste ich nicht. Es war ein Glückstreffer.« Er blickte zu den Flüsterern hinüber. »Oder auch nicht. Jedenfalls hat die Regierung an allen Steinkreisen und an anderen Stätten, die wir für Übergangspunkte halten, Männer postiert. Unser Auftrag lautete, ein Mittel gegen die Seuche zu finden - ja, auch die Regierung nahm an, dass die Seuche von hier stammt. Und natürlich sollten wir so viele Informationen wie möglich sammeln. Aber um hinüberzugelangen, brauchten wir einen Bruder oder eine Schwester der Drachen. Wir gingen davon aus, dass einer von euch früher oder später auftauchen würde. Tut mir leid, dass ich gelogen habe, Caitlin, aber das Entscheidende ist, dass wir auf derselben Seite stehen.« »Das glauben Sie wirklich?«, fragte sie ungläubig. »Nach all der Zeit, die wir zusammen verbracht haben, kennen Sie mich so schlecht?« Er seufzte. »Genau deswegen habe ich Ihnen nicht ge478 sagt, wer ich bin, Caitlin. Ihr Problem ist, dass Sie zu naiv sind. Dies ist ein Krieg, und im Krieg muss man Dinge tun, die in Friedenszeiten nicht akzeptabel sind.« »Zum Beispiel Carlton umbringen?« Ein vernehmliches Keuchen entfuhr Jacks Kehle. Matt schaute zum Panoramafenster zurück. »Wie konnten Sie das nur tun? Ein kleiner Junge ... ein unschuldiger kleiner Junge ...« Er zuckte mit den Schultern, wollte nicht weiter darauf eingehen, doch diesen Luxus würde sie ihm nicht erlauben. »Los, reden Sie. Ich warte.« »Er war zu klug. Er hätte meine Gedanken lesen und Ihnen verraten können, was ich tue.« »Das war nicht der einzige Grund.« Ihre Stimme zitterte. »Sie haben gesehen, wie nahe ich dem Kleinen allmählich kam ... und Sie wussten, dass Sie mich mit seinem Tod destabilisieren würden und dadurch besser kontrollieren konnten. Ich wurde Ihnen auf dem Boot wohl zu unabhängig, was? Aber nachdem die Flüsterer die Sonnenjäger angegriffen hatten, habe ich es nicht zu Ihnen zurückgeschafft, und deshalb war alles umsonst. Sie haben für nichts einen kleinen Jungen umgebracht. Wie passt das zu Ihren hochtrabenden Zielen?« Jack standen Tränen in den Augen. »Wie konnten Sie das nur tun, Matt?« »Trotzdem begreife ich es nicht... strategisch betrachtet«, sagte Caitlin. »Er war doch etwas Besonderes, der Schlüssel, mit dem sich dieses Unglück hätte stoppen lassen können, oder?« Matt schüttelte den Kopf. »Nein, er war es nicht - das ist ein anderer Junge unten in Salisbury, und wir haben schon ein Auge auf ihn geworfen. Gegen die Dinge, die er vollbringen kann, hat Carlton wie ein dummer Pausenclown gewirkt.« 479 Caitlin zuckte zusammen. »Sie denken nur an das militärische Potenzial. Ein Kind zu verlieren ist so schmerzvoll, weil dadurch auch so vieles andere verloren geht. Wer weiß, was aus Carlton geworden wäre? Vielleicht ein großartiger Mensch, ein Held, oder aber jemand wie Sie. Sie haben nicht nur den Jungen getötet... sondern seine Zukunft ... das, was aus ihm hätte werden können.« »Ich hatte einen Auftrag, Caitlin ...« »Halten Sie den Mund.« Ihre Stimme klang mehr nach der Morrigan, als sie erwartet hatte. Und plötzlich hatte sie das eigenartige Gefühl, dass Carlton von seinem baldigen Tod gewusst hatte und es ihm gleich gewesen war, weil er sich als Teil eines größeren Plans betrachtet hatte. Und vielleicht hatte er damit Recht gehabt. Wäre Carlton nicht gestorben, hätte Caitlin der Morrigan niemals die Kontrolle überlassen, und vielleicht hätte Matt dann all seine Ziele erreicht. Es war sogar möglich, dass Carlton es genau so beabsichtigt hatte. Mahalia hatte Recht gehabt - Carlton war wirklich ein ganz besonderer Mensch gewesen. »Hier in Anderswelt habe ich vor
allem eines gelernt: Man kann nichts für bare Münze nehmen - nichts ist, wie es scheint. Verstehen Sie, Matt, Sie glauben, die Feinde seien Monster oder übernatürliche Bedrohungen, aber das sind sie nicht. Die wahre Bedrohung ist seit Entstehung der Menschheit mitten unter uns - es sind die hartherzigen, abgestumpften Leute, die immer glauben, alles besser zu wissen, die entscheiden, wer lebt und wer stirbt. Glauben Sie etwa, die Welt wäre mit Ihnen und Ihrer geheimen Regierung besser als mit den Gegebenheiten, die wir jetzt haben?« »Natürlich. Oder finden Sie dieses von Leid und Kummer erfüllte Chaos, das gegenwärtig herrscht, etwa wünschenswerter?« 480 »Und im Angesicht dessen zählt der Tod eines kleinen Jungen nicht, wollen Sie mir das sagen?« »Ganz genau. Das ist doch offenkundig.« »Ich habe immer geglaubt, alles Leben sei gleich wertvoll, aber Sie haben mich eines Besseren belehrt.« Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. »Wir würden Sie nicht vermissen, Matt, Sie und Ihresgleichen.« Seine Züge erstarrten. Dann sprang er unvermittelt zur Seite, legte Jack von hinten einen Arm um den Hals und hielt ihm ein kleines Messer an die Kehle. Caitlin wollte sich auf ihn stürzen, hatte aber keinerlei Zweifel, dass Matt Jack augenblicklich umbringen würde. »Tun Sie ihm nichts. Er ist doch bloß ein Junge. Lassen Sie ihn los.« »Er ist kein Junge«, sagte Matt kalt, »er ist eine Waffe. Die ultimative Waffe. Wenn ich ihn und das, was in ihm steckt, in unsere Welt rüberbringe, haben wir die Oberhand gewonnen. Dann muss die andere Seite sich nach uns richten.« »Und wenn sie das nicht tut? Was nützt eine Waffe, die das gesamte Sein, das ganze Universum auslöscht?« »Wenn man die Welt nicht so haben kann, wie man sie möchte, dann braucht man sie ohnehin nicht.« »Sie würden wirklich alles zerstören? Nur weil Sie nicht das Sagen haben?« Matt zog Jack zu den Flüsterern hinüber. »Es geht um Freiheit - aber das begreifen Sie nicht ...« »Ich weiß. Ich bin zu naiv.« Hatte die Menschheit überhaupt eine Chance, sich weiterzuentwickeln, solange es Leute wie Matt gab, solange gerade sie an den Hebeln der Macht saßen? Was hatte das alles dann für einen Sinn? »Entfessle die Kraft, Jack«, befahl Matt. Als Jack nicht reagierte, drückte Matt ihm die Klinge so fest an die Keh481 le, dass der Junge schmerzerfüllt aufheulte. »Mach schon!« Das schwache Licht des Bannfluchs leuchtete in Jacks Bauch auf. Matt schob den Jungen auf die Flüsterer zu, benutzte ihn als Schutzschild und behielt gleichzeitig Caitlin im Auge. »Die Kerle werden uns durchlassen. Sie wissen, wozu der Junge imstande ist. Aber vor allem brauchen sie uns nicht. Sie sind für die Flüsterer die einzige Bedrohung, Caitlin. Solange die Kerle Sie bekommen, sind sie zufrieden.« Seine Worte bewahrheiteten sich, als die Flüsterer zur Seite traten, sodass der Weg zur Tür frei war. Matt lächelte triumphierend. Er hatte weder das Mittel gegen die Seuche, noch konnte er alleine in die andere Welt überwechseln, aber Caitlin war sich sicher, dass ein Mensch wie Matt eine Möglichkeit finden würde. Leute wie er schafften es immer irgendwie. Als er die Tür erreichte, bemerkte Caitlin einen an der Wand entlang huschenden Schatten. Sie konnte nicht erkennen, wer es war, aber er schien aus einer der Öffnungen herausgekommen zu sein, die in das Netzwerk der Kapillartunnel führten. Matt blieb an der Tür stehen. Caitlin wusste nicht, ob er noch eine letzte arrogante Bemerkung loswerden, seine Flucht feiern oder ihr einfach seine Verachtung zeigen wollte, aber es kam nichts. Es folgte nur ein kurzer Moment, in dem sein Gesicht erstarrte, und dann schoss eine Blutfontäne aus seinem Hals. Das Messer fiel ihm aus der Hand, und er kippte röchelnd nach hinten und verschwand im purpurnen Licht der Flüsterer. Mahalia trat hinter der Tür hervor. Das Zittern der Hand, in der sie das Messer hielt, mit dem sie Matt die Kehle aufgeschlitzt hatte, war quer durch den Raum zu erkennen. Ihr Gesichtsausdruck war der eines Men482 sehen, den man soeben gezwungen hatte, seine letzte Chance auf Erlösung zu opfern. Aber dann fing sie sich und nahm Jacks Hand. »Kommen Sie«, rief sie Caitlin zu. »Wir können hier noch immer rauskommen.« Caitlin zog Liam zu sich und wollte mit ihm zu Mahalia und Jack rennen, blieb aber wie angewurzelt stehen, als vor ihr das Haus der Schmerzen einen weiteren schleimtriefenden Repräsentanten aus dem Boden wachsen ließ. Das Wesen war fast drei Meter groß, hatte skelettartige Beine und einen Kopf, der wie ein schwarzes Ei aussah. Es beugte sich zu Caitlin und Liam vor und sagte: »Junge bleibt hiiieeer ... Draußen stirbt er ...« Das war es also, worauf sie die ganze Zeit gewartet hatte: der Haken im Vertrag mit dem Teufel. Liam war nicht ins Leben zurückgekehrt - er war in einem Schwebezustand gefangen. Falls sie mit ihm das Haus der Schmerzen verließ, wäre sein Tod wieder Realität. »Bleib hiiieeer. Sei unsere Königin ...« Caitlin war wie betäubt. Amy, Briony und Brigid schrien wild durcheinander. Es gab keinen anderen Ausweg. »Ja«, sagte sie. »Ich bleibe hier.« Sie ging mit Liam zum Panoramafenster zurück. Das Haus der Schmerzen hatte dort in der Zwischenzeit einen
Sitz aus glänzendem schwarzem Stein erschaffen, der perfekte Thron für die Königin der Verdammten. Caitlin schluckte, damit ihre Stimme gefasst klang, und dann rief sie Mahalia zu: »Geht ruhig. Ich bleibe hier.« Mahalia starrte einen Moment lang ungläubig zu ihr hinüber, dann eilte sie mit Jack nach draußen. Caitlin war froh, dass wenigstens Mahalia und Jack entkamen. Der kleine Erfolg war ein Silberstreif der Hoffnung in dem finsteren Dasein, das ihr bevorstand. Sie stieg auf den Thron und nahm darauf Platz. Er war eiskalt, aber bald würde das keine Rolle mehr spielen. 483 Sie blickte auf die Armee der Flüsterer hinab - auf ihre Armee - und wusste nun, worauf sie gewartet hatten: auf ihre Königin. Ihr Schicksal war besiegelt. Eine eisige Kälte kroch in ihre Gliedmaßen; es war das Vermächtnis des Hauses der Schmerzen, das sie in ein Wesen verwandelte, das an diesem Ort leben und in den dunklen Emotionen schwelgen konnte, die dort erschaffen wurden. Sie würde für alle Zeiten auf dem kalten schwarzen Thron sitzen und ihre Armee der Toten befehligen, mit Liam an ihrer Seite, bis eines Tages die Sterne erloschen und nur noch Finsternis übrig blieb. Mahalia und Jack rannten an den Flüsterern vorbei, stürmten durch den angrenzenden Raum und eilten durch das Labyrinth der zahllosen Gänge, die das Haus der Schmerzen durchzogen. »Wir müssen Caitlin da rausholen«, sagte Jack. »Wir können sie doch nicht einfach hier zurücklassen.« »Sie hat sich entschieden, hier zu bleiben - sie ist eine erwachsene Frau.« Mahalia versuchte hart zu klingen, doch im Innern war sie zutiefst getroffen. Vor kurzem noch hatte sie versucht, Caitlin umzubringen, und nun tat ihr die Frau unendlich leid. Was war nur los mit ihr? Jack schien zu spüren, was ihr durch den Kopf ging, denn er nahm im Laufen ihre Hand und drückte sie. »Ich bin froh, dass du hier bist«, sagte er leise. Seine aufrichtige Gefühlsbekundung ließ Mahalia beklommen schlucken. »Wenn du Lust auf eine Beziehung mit einem durchgeknallten Mädchen hast, dann bin ich genau die Richtige.« Sie erreichten den breiten Korridor, der zum Ausgang des Gebäudes führte. Draußen sah man den gleißenden Sonnenschein. 484 »Was tun wir jetzt?«, fragte Jack. »Zuerst muss ich noch rasch etwas erledigen, dann verschwinden wir.« Kurz vor dem Ausgang blieb Mahalia stehen und schaute prüfend auf die Wand. Nach einigen Augenblicken fand sie, wonach sie suchte, und schob die Hände in eine der fast verborgenen Wandspalten, die in die Kapillartunnel führten. »Komm, hilf mir«, sagte sie zu Jack. Ohne zu wissen, was er tat, schob er die Hände in den Spalt und spürte darin etwas Lebendiges. Bevor er zurückschrecken oder langwierige Fragen stellen konnte, zerrte Mahalia das, was in der Wand steckte, hinaus in den Gang, und er half ihr dabei. Mit einem lauten Schmatzgeräusch gaben die Fleischlappen Crowther frei. Er war blass wie der Tod und von Kopf bis Fuß mit Blut beschmiert; der Speer steckte noch in seiner Brust, war aber an beiden Enden abgebrochen. Der Professor war noch am Leben. Seine Augenlider zuckten, und ein schwacher Atemhauch strömte ihm über die Lippen. »Er wollte etwas ganz Heldenhaftes tun, aber das konnte ich nicht zulassen«, sagte Mahalia. »Deshalb habe ich ihn hergeschleppt und dort reingestopft.« »Warum?« Jack sah, dass der Professor nur noch einen Wimpernschlag vom Tod entfernt war. »Weil ich eine Idee hatte.« Mahalia legte Jack die Hände auf die Schultern und sah ihn eindringlich an. »Vielleicht bin ich ja bescheuert, aber mich hat etwas überkommen, das man Hoffnung nennen könnte. Bisher habe ich solche Gedanken immer weit von mir gewiesen, aber wenn man völlig am Ende ist, klammert man sich eben an den letzten Strohhalm.« Er sah ein hoffnungsvolles Schimmern in ihren Augen. »Wie lautet denn deine Idee?« 485 »Diese Kraft in dir ... der Bannfluch. Jeder redet darüber, als wäre es die schlimmste Waffe aller Zeiten, aber ich habe gesehen, wie du sie eingesetzt hast, und da kam mir der Gedanke, dass dieser Bannfluch vielleicht nicht bloß zerstörerisch wirken kann. Es handelt sich dabei doch um eine Art Energie, wie das Blaue Feuer, von dem alle ständig reden. Vielleicht ist es ein und dasselbe. »Und ... und ...« Sie beugte sich vor und küsste ihn rasch. »Ich möchte, dass du versuchst, damit den Professor zu retten.« Bekümmert blickte Jack auf Crowther. »Ich glaube nicht, dass ich das kann.« »Versuche es, Jack, bitte.« Zögernd hockte er sich neben Crowther und nahm dessen Kopf in die Hände. Er schloss die Augen und konzentrierte sich, und nach einigen Augenblicken strömte das Licht aus seinem Bauch und floss ihm in die Arme und Hände. Eine gute Viertelstunde lang beobachtete Mahalia, wie Jack mit dem Energiestrom rang. Schweiß tropfte ihm von der Stirn, lief ihm über die Unterarme und den Rücken. Seine Anstrengungen schienen vergebens zu sein, denn der Professor lag weiterhin reglos am Boden; aber dann röteten sich allmählich seine Wangen, und seine Lider begannen zu zucken.
Mahalia beugte sich herunter und zog dem Professor den Speerschaft aus der Brust. Statt des erwarteten Blutschwalls sah sie nur weißes Licht in der Wunde. Als dieses verblasste, schloss sich das Loch in Crowthers Brustkorb. Fünf Minuten später war alles vorbei. Jack stand auf; er war erschöpft, strahlte aber vor Freude über das Wunder, das er vollbracht hatte. Der Professor stöhnte und öffnete die Augen. Er blickte zu Mahalia auf. 486 »Oh«, sagte er, »ich muss in der Hölle sein.« »Sieht so aus, als wärst du doch zu etwas nütze«, sagte Mahalia zu Jack, der noch immer nicht recht fassen konnte, was er gerade getan hatte. Aber er wusste nun, dass er nicht bloß eine Waffe war und dass sein lebenslanges Leid womöglich doch noch ein gutes Ende finden würde. Doch als Mahalia und Jack dem Professor auf die Beine halfen, fiel ein Schatten auf sie. Mahalia blickte unvermittelt auf. »Wer bist du?«, fragte sie verblüfft. In den heißen Dampfschwaden der Heilquelle rang Mary die Hände und flehte: »Ich bin bereit, alles zu tun. Bitte, wenn du Caitlin irgendwie helfen kannst...« »Du würdest alles dafür tun?« Die Göttin war ernst und nachdenklich. »Was bedeutet dir diese Schwester?« »Was sie mir bedeutet?« Die Frage war eigenartig und beunruhigend; es gab so vieles zu erklären, dass es sich kaum in wenige Worte fassen ließ. »Sie ist meine Hoffnung für die ... Zukunft.« Sobald Mary das Wort ausgesprochen hatte, sprudelte der Rest nur so aus ihr heraus. »Ich habe mein Leben verpfuscht, und ich kann nichts wieder gutmachen. Ich habe keine Kinder. Hätte ich welche, bestünde vielleicht noch Hoffnung für mich. Hätte ich sie zu guten Menschen erzogen, hätte ich etwas Wertvolles getan. Aber ich habe nichts vollbracht, was irgendwie bedeutsam wäre. Würde man mich auf der Stelle vom Antlitz der Erde tilgen, hinterließe ich nichts, woran man sich erinnern könnte. Aber Caitlin ... sie ist meine Tochter im Geiste. Falls es mir gelänge, sie zu retten, hätte ich doch noch etwas Gutes vollbracht.« »Ich kann ihr helfen, aber meine Fähigkeiten allein reichen dazu nicht aus«, sagte die Göttin. »Es bedarf eines Opfers. Bist du bereit, dieses Opfer zu bringen?« 487 »Ja.« Marys Kehle war trocken. Sie glaubte zu wissen, was von ihr verlangt wurde. »Es ist das größte Opfer von allen ... dein Leben. Ein Leben gegen ein anderes.« Obwohl Mary gewusst hatte, was die Göttin sagen würde, trafen sie die Worte wie ein Keulenschlag. Sie war tief erschrocken, wusste aber ohne jeden Zweifel, was sie tun musste. Es gab keine Alternative: Caitlin war ein guter, anständiger Mensch und hatte es verdient, ein glückliches Leben zu führen. Sie zu retten war etwas, für das es sich lohnte zu sterben. »Ich verstehe«, sagte sie. »Ein Leben für ein Leben. Ich bin bereit.« »Du bist sehr tapfer, kleine Schwester.« Die Göttin lächelte gütig. »Vor dir liegt das größte Mysterium von allen. Aber lass dir gesagt sein: Der Tod ist nicht das Ende. Hab keine Angst, denn das Sein kümmert sich um die Seinen.« Plötzlich hatte Mary das Gefühl, auf einem Hügel zu stehen, irgendwo in einer entlegenen Landschaft. »Du sollst auch wissen, Schwester, dass du mein Herz berührt hast. Deine beschwerliche Reise hierher, die drei Prüfungen, die du bestanden hast, und jetzt dein selbstloses Opfer ... du besitzt alles, was ich mir für euch Menschen erhofft habe. Du, kleine Schwester - du allein -, hast mich umgestimmt.« »Du kehrst zu uns zurück?« »Ein neues Zeitalter bricht an, und ich möchte dort sein, um dein Volk zu führen. Ich werde in den Wäldern sein und bei den Flüssen, auf den Berggipfeln und den kalten Seen. Große Schlachten stehen bevor, aber wenn es mehr Schwestern wie dich gibt, ist mir davor nicht bange.« »Ich freue mich so sehr.« Marys Worte drückten nicht 488 einmal ansatzweise aus, wie dankbar sie war, doch bevor sie noch etwas sagen konnte, spürte sie eine Bewegung hinter sich. In den Dampfschwaden stand der Puzzle-Mann, ihre Nemesis. »Er ist tot, und wenn er dich berührt, stirbst auch du.« Die Göttin lächelte. »Es tut nicht weh. Du wirst in die kühle Nacht gleiten ... und dann wird der Mond aufgehen. « Mary atmete tief durch und nahm all ihren Mut zusammen, doch voller Überraschung merkte sie, dass sie keine Angst mehr hatte. Vielmehr war sie aufgeregt und neugierig. Sie kniete nieder, denn es schien ihr angemessen, und dann sagte sie: »Und Caitlin wird es gut gehen?« »Ein Leben für ein Leben, kleine Schwester«, erwiderte die Göttin. Ein aus dem Nichts kommender Windstoß wirbelte die Dampfschwaden durcheinander. Ringsum flammten grelle Blitze auf, und als ein Donnerschlag ertönte, trat vor der sprudelnden Quelle ein Ritter in schwarzer Rüstung aus den Dampfschwaden. Er trug einen Wildschweinkopf-Helm. »Wer ist das?«, fragte Mary. Die Göttin lächelte geheimnisvoll. Die Dampfschwaden teilten sich, und dahinter sah Mary den sturmgepeitschten Weg zu Caitlins Haus; Caitlin selbst versteckte sich hinter den Büschen und wartete. »Wann ist das?«, fragte Mary, obwohl sie es zu wissen glaubte. »Der Anfang«, sagte die Göttin. »Aber diesmal geht es anders weiter ...«
Mary spürte eine kühle Berührung im Nacken; die Augen fielen ihr zu, ihr Lächeln aber blieb. Aus dem Panoramafenster hinter ihr schössen knisternde blaue Energieblitze heraus und bildeten eine flam489 mende Mauer in der inzwischen verlassenen Kammer; die Flüsterer waren längst zu ihrem Unterschlupf verschwunden, wo auch immer dieser war. Liam sprang erschrocken zurück, aber Caitlin war bereits abgestumpft von der graduellen Verwandlung, die das Haus der Schmerzen in ihr auslöste, und sah nur teilnahmslos zu. Der schwarze Ritter mit dem Wildschweinkopf-Helm trat aus dem Blauen Feuer heraus und marschierte auf den Thron zu. »Caitlin.« Seine Stimme klang hohl unter dem furchteinflößenden Helm. »Die Zeit ist gekommen.« Caitlin blinzelte und erfasste das, was sie sah, mit der trägen Entrücktheit eines Erfrierenden. Doch der Anblick des Ritters entzündete in ihr einen geisterwärmenden Funken. »Du darfst nicht nachgeben, Caitlin.« Seine Stimme war jetzt deutlicher zu verstehen, so als würde er mit jedem gesprochenen Wort mehr zu dem Menschen werden, der er einst gewesen war. »Du bist von Anfang an immer wieder aufgetaucht«, sagte Caitlin. »Warum tust du das?« Ihre Neugier erwärmte sie weiter. Sie schüttelte den Kopf und versuchte, die watteartige Dumpfheit aus ihrem Geist zu vertreiben. »Auf diese Antwort musst du noch ein bisschen warten. Akzeptiere einfach, dass jemand es wirklich gut mit dir meint. Nun komm mit.« Er reichte ihr die gepanzerte Hand. Caitlin zögerte, dann ergriff sie sie. Blaue Funken knisterten unter ihren Fingerspitzen und erinnerten sie an das berauschende Hochgefühl, das sie als Schwester der Drachen empfunden hatte. Plötzlich vermisste sie es, fühlte sich beraubt, und eine weitere Schicht ihrer innerlichen Vereisung schmolz dahin. »Warum lässt du 490 mich nicht einfach in Ruhe?«, fragte sie unvermittelt. »Ich habe genug von alledem. Ich bin so müde, ich möchte bloß noch ...« »Was? Sterben? Alles aufgeben ... dein ganzes Leben? Das klingt nicht nach dir, Caitlin. Wie ich gehört habe, bist du früher Ärztin gewesen und hast dich um Kranke und Sterbende gekümmert. Dein Beruf war dir wichtiger als alles andere.« In ihr stiegen Erinnerungen an ihr früheres Leben auf; sie waren so verschwommen und fern, dass sie zu einer anderen Person zu gehören schienen. »Ja, das stimmt. Und?« »Du musst noch immer eine Aufgabe erfüllen. Man hat mich geschickt, um dich zu retten, Caitlin - oder vielmehr, um dir den Weg zu weisen, damit du dich selbst retten kannst... und alle anderen Menschen auch. Komm.« Er schritt durch die Kammer, dann blieb er stehen und wartete, dass sie ihm folgte. Als Caitlin zu ihm ging, fiel ihr ein, was Crowther ihr über den Wildschwein-König erzählt hatte, und plötzlich begriff sie den Symbolismus des seltsamen Helms. Das Wildschwein war ein Totem-Tier der Kelten - ein zwischen der Menschheit und den Göttern stehender Bote. »Wer ist das, Mommy?« Liams Stimme war nur noch ein schwaches Hauchen; das Haus der Schmerzen zog auch ihn in seinen dunklen Bann. »Das erkläre ich dir später, Liebling. Du brauchst keine Angst zu haben.« Sie nahm Liams Hand und war verblüfft, wie kalt seine Finger waren. Der Ritter führte sie durch die verlassenen Gänge, bis sie nach einer Weile vor einem ekligen Fleischvorhang stehen blieben. »Sei gewappnet«, sagte der Ritter und zog den Vorhang zur Seite. 491 Dahinter kam das Seuchenei zum Vorschein, das Caitlin bereits gesehen hatte. Am Boden wimmelte es von den teuflischen Seuchendämonen, und ständig wurden neue geboren. Als der Ritter hineinging, kletterten die Kobolde auf seine Stiefel und krabbelten an ihm hinauf, doch die Rüstung schützte ihn. Er zückte sein blau schimmerndes Schwert. Kreischend sprangen die Kobolde von ihm herunter und wichen in eine Ecke des Raumes zurück. Der Ritter ging zu dem Ei und wartete. Ein weiterer kleiner Dämon erblickte das Licht der Welt und flitzte eilig davon. »Hier«, sagte der Ritter und reichte Caitlin das Schwert. »Zerstöre das Ei.« »Mach du es - du bist doch der Ritter«, entgegnete sie. »Oder ist das bloß wieder ein Trick, um mich zu verdammen?« »Bist du nicht schon verdammt?« Sein Argument war stichhaltig. Sie nahm das Schwert und schwankte unter dessen Gewicht. Noch vor kurzem hätte sie es durch die Luft geschwungen, als wäre es federleicht. Jetzt brauchte sie alle Kraft, um es überhaupt zu heben. »Wenn ich das Ei zerstöre, werden zwar keine neuen Seuchendämonen mehr geboren«, sagte sie, »aber die, die bereits in meiner Welt sind, wird es nicht aufhalten.« »Das Ei gebärt und ernährt sie«, sagte der Ritter. »Ohne seine Hilfe können sie nicht überleben.« Das letzte Eis in ihr zerschmolz, und Caitlin spürte einen Adrenalinstoß. Dies war ihre Chance, endlich etwas Gutes zu bewirken. Sie wuchtete das Schwert in die Höhe und ließ es herabsausen.
Die Klinge schnitt durch das Ei wie durch einen riesigen Pilz. Die Seuchendämonen im Raum schrien so laut auf, dass Caitlin das Schwert fallen ließ und sich die Oh492 ren zuhielt. Liam rannte weinend aus dem Raum. Während die Dämonen sich in ihren letzten Zuckungen am Boden wanden, hob der Ritter das Schwert auf und schob Caitlin aus dem Raum. Sie rannten, bis weit hinter ihnen das grauenvolle Kreischen der sterbenden Kobolde verklungen war. »Ist es vorbei?«, fragte Caitlin atemlos, als sie endlich stehen blieben. Der Ritter stand aufrecht da, eine Hand auf das Schwert gelegt. »Die Seuche ist vorüber.« »Gott sei Dank.« Caitlin wischte sich eine entfleuchte Träne vom Gesicht. »Dann bin ich ja doch kein kompletter Versager.« Sie zog Liam an sich und strich ihm übers Haar, während sie spürte, wie die dumpfe Müdigkeit sie wieder überkam. »Du kannst diesen Ort noch immer verlassen«, sagte der Ritter. »Das kann ich nicht. Liam stirbt, wenn wir gehen.« »Nicht Liam soll gehen, sondern du.« Sie funkelte den Ritter an. »Wie kannst du so etwas sagen? Er ist mein Sohn.« »Denk nach, Caitlin. Du hast verhindert, dass er weiterzieht. Glaubst du, dieser Ort ist gut für ihn? Glaubst du, es ist richtig, ihm das, was als Nächstes kommt, zu verwehren ... entweder ewige Ruhe oder ewiges Leben? In der Zeit erstarrte Momente sind bedeutungslos. Nur fortwährender Wandel gibt uns eine Perspektive ... gibt uns Leben. Wenn Liam nicht wächst und sich weiterentwickelt, ist es nicht Liam. Es ist ein Schnappschuss. Nichts weiter.« »Halte mir keine Vorträge!«, schimpfte sie. »Du hast kein Recht dazu!« »Das habe ich sehr wohl.« Er schien um sein Gleichgewicht zu ringen, doch die Rüstung verbarg, was in ihm 493 vorging. »Du hast mich gefragt, warum ich immer wieder zu dir gekommen bin, Caitlin. Deshalb.« Er nahm den Helm ab. »Weil ich dich liebe und immer lieben werde.« Der Schock war so gewaltig, dass Caitlin schwankte und glaubte, ohnmächtig zu werden. Es war Grant. Er sah aus wie das blühende Leben; nichts erinnerte daran, welche Verwüstungen die Seuche seinem Körper zugefügt hatte, und einen Moment lang fragte sie sich, ob die grauenvolle Erinnerung an sein Begräbnis nur ein Albtraum gewesen sei. Der Kloß in ihrem Hals versperrte den Worten, die aus ihr herauswollten, den Weg. Liam rief: »Daddy!«, kam herbeigerannt und schlang seinem Vater die Arme um die Hüften. Caitlin glaubte, der Anblick würde ihr das Herz zerreißen. Sie vergrub das Gesicht an Grants Hals und verlor sich in seinem Duft. Es war etwas, das sie lange Zeit für selbstverständlich gehalten hatte, und nun war es für sie das Kostbarste, was es auf der Welt gab. Der Duft löste in ihr einen Strom von Erinnerungen aus, von dem sie sich bereitwillig forttragen ließ: Grant und sie im Roundhay Park, wo er ihretwegen seine beruflichen Ziele aufgegeben hatte; ihre Hochzeit, wo Grant am Ende des Mittelgangs gestanden und so unverschämt gut ausgesehen hatte; Liams Geburt, das Baby auf ihrer Brust; wie Grant ihre Hand hielt und vor lauter Rührung keinen Ton herausbrachte; und viele weitere kostbare Momente, die ihr gemeinsames Leben ausgemacht hatten. Und am Ende waren das Leid und die grauenvollen Erlebnisse der letzten Wochen vergessen, und sie war wieder die Frau, die sie früher gewesen war, Caitlin Shepherd, praktische Ärztin. Keine Schwester der Drachen, keine Retterin der Welt. Bloß ein gewöhnlicher Mensch - und das reichte. 494 »Ich begreife es nicht ... wie kannst du hier sein?«, fragte sie. »Komm«, sagte er. »Wir haben vieles zu bereden.« Er führte sie zum Ausgang, wo sie sich hinsetzten und den Sonnenuntergang betrachteten, während am dunkler werdenden Himmel der Vollmond und das funkelnde Sternenmeer erstrahlten. Sie sprachen über alles, über jede einzelne Frage, die Caitlin hatte, und vor allem über die Dinge, die sie sonst für den Rest ihres Lebens belastet hätten. Und sie spielten mit Liam, küssten ihn und nahmen ihn immer wieder in die Arme. Und als die Sonne aufging, waren sie wieder eine Familie. Aber dann wurde Grants Blick ernst, und er nahm Caitlins Hand. »Du weißt, dass es nicht so bleiben kann.« »Warum nicht?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort kannte. »Hier im Schatten dieses Albtraum-Ortes zu sitzen, ist nur ein Trugbild, Caitlin, und wir können nicht so tun, als wüssten wir das nicht. Hier gibt es kein Glück - keine gemeinsamen Momente, keine freudvollen Erlebnisse, kein Wachstum. Uns wurde eine zweite Chance gegeben, Fragen zu klären, die nach einem Todesfall normalerweise unbeantwortet bleiben und ein Leben vergiften können. Das war ein wunderbares Geschenk. Es ist mehr, als andere Leute bekommen.« »Das reicht mir nicht!« »Das muss es aber, Caitlin. Wirklich. Es ist schwer für dich, allein auf der Welt zu sein, aber der Umstand, dass ich hier bin, sollte dich etwas lehren. Hier zu bleiben bedeutet, dass das Haus der Schmerzen und das, was dahinter steht, gewinnt, denn es ist die Materie gewordene Verhöhnung all dessen, was das Leben so wundervoll macht. Es ist kein Leben, es ist Anti-Leben - das, wofür das Wesenlose steht.« 495 »Geh nicht«, sagte sie. »Lass mich nicht allein.«
»Du wirst nicht allein sein. Du wirst jemanden finden ...« Sie wollte widersprechen, doch er legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Du sollst jetzt nicht darüber nachdenken, solange du hier bei uns bist, aber du sollst wissen, dass ich mich für dich freuen würde. Finde jemanden, der dich liebt, denn geliebt zu werden ist das Wertvollste, was es gibt - nur darum geht es im Leben. Es mag blöd und kitschig klingen, und du weißt ja, dass ich kein großer Poet bin, aber es ist die Wahrheit. Die einzige Wahrheit.« Sein Tonfall beruhigte sie genug, um seine Hand zu nehmen. »Ich weiß, dass du Recht hast ... ich will es zwar nicht, aber es ist eben so. Ich werde es schaffen ... für dich und Liam. Ich werde euch vermissen ... euch beide.« »Du hast einen kurzen Blick auf die Regeln geworfen, denen alles zugrunde liegt. Du weißt jetzt, dass es keinen Anfang und kein Ende gibt, dass alles miteinander verbunden ist, dass Gefühle stärker sind als materielle Dinge und dass die Realität das ist, was wir daraus machen. All das weißt du jetzt, und es wird dir die Kraft zum Weitermachen geben ... bis wir uns von neuem begegnen.« Er nahm sie in die Arme, und am liebsten hätte sie ihn nicht mehr losgelassen, aber dann tat sie es doch. »Da ist noch etwas ... Du hast gesagt, ich könnte von hier fortgehen, aber ich kann es nicht. Das Haus der Schmerzen hat mich verändert, damit ich hier überleben kann. In mir steigt eine eisige Kälte auf - genau jetzt spüre ich, wie sie sich wieder in mir ausbreitet. Ich kann nicht aus eigenem Willen fortgehen. Das Haus der Schmerzen stellt sicher, dass ich für alle Zeiten als Königin der Verdammten hier bleibe.« Grant lächelte und fuhr ihr mit den Fingern durchs 496 Haar. »Warte einfach ab. Vielleicht lockt dich ja etwas fort von hier.« »Wie meinst du das?« »Warte ab.« »Ich möchte nicht mit ansehen, wie ihr beiden geht.« »Dann schließe die Augen. Präge dir das Bild ein, wie wir hier sitzen, dann wirst du es für immer im Gedächtnis behalten.« Er berührte sie an der Stirn. »Da drin.« Sie schloss die Augen. Und als sie sie wieder öffnete, waren die beiden verschwunden. 19 Von der Liebe und anderen Dingen »So wie man den Gesundheitszustand eines Waldes oder einer Wiese an der Zahl der verschiedenen Insekten, Pflanzen und Tiere ablesen kann, die dort leben, so können Menschen nur durch eine außergewöhnliche Vielfalt spiritueller und philosophischer Erkundungen einen Weg durch die Dunkelheit und die tosenden Stürme finden, die unsere Ära kennzeichnen.« MARGOT ADLER Als ihr die Hitze des anbrechenden Tages zu viel wurde, ging Caitlin ins Haus der Schmerzen zurück und machte sich auf den Weg zur Thronkammer, ihrem neuen Zuhause. Die Kälte stieg bereits in ihren Beinen auf. Sie war noch nicht weit gegangen, als sie Schritte von zwei Personen hörte, die auf sie zugerannt kamen. »Da ist sie! Siehst du, da ist sie!« Caitlin war so überrascht, an diesem Ort anderen Menschen zu begegnen, dass sie einen Augenblick brauchte, bis sie erkannte, wer die beiden waren. »Ich glaub's ja nicht! Ich dachte schon, ich würde mir in diesem Albtraum-Gebäude die Hacken ablaufen«, sagte Harvey mit seinem breiten Birmingham-Akzent. Mit überschwänglicher Freude warf er ihr die Arme um den Hals und wich dann unvermittelt zurück. »Du gehst mir jetzt aber nicht an die Gurgel, oder?« 498 Der zweite Mann trat langsamer aus dem Dunkel, aber er grinste breit. Es war Thackeray. »Siehst du, ich habe doch gesagt, dass wir sie finden würden.« Harvey deutete mit dem Daumen in Thackerays Richtung und erklärte verschwörerisch: »Blinder Optimismus ... man könnte auch sagen, wahre Liebe.« Thackeray trat mit verschränkten Armen auf Caitlin zu und grinste sie schief an. »Wie geht's dir?« »Was macht ihr denn hier?«, fragte sie fassungslos. »Ach, wir hatten nichts Besseres vor«, erwiderte Thackeray. »Und wir dachten, es wäre bestimmt besser als Birmingham.« Harvey verdrehte die Augen. »Ich hab im Leben noch nie so viel Schiss gehabt. Der Mistkerl ist mir echt was schuldig dafür, dass ich mitgekommen bin.« »Aber wie habt ihr es geschafft zu überleben?«, fragte Caitlin. »Ich meine, da draußen wimmelt es doch von Ungeheuern.« »Fang gar nicht erst damit an«, sagte Harvey beklommen. »Ich will nicht dran denken.« »Auf dem Weg hierher sind wir dieser furchterregenden Frau begegnet - sie hatte eine schwarze Mähne und einen kriegerischen Blick«, erklärte Thackeray, »und sie sagte zu uns: Die Götter beschützen Narren und Liebende. Das fasst alle grundlegenden Ereignisse zusammen.« »Wir sind dir aus der New Street Station gefolgt«, sagte Harvey, »sobald ich Thackeray klar gemacht hatte, was für ein Trottel er sei, dich einfach gehen zu lassen ...« »Er musste mich aber nicht lange überzeugen«, erklärte Thackeray verlegen. »... aber du bist gelaufen wie eine Irre, und wir konnten dich nicht mehr einholen«, fuhr Harvey fort. »Fast hätten
wir es geschafft, aber ... dann haben wir gesehen, wie du in dieses blaue Licht gelaufen bist und ... ich wollte 499 schon abhauen, aber er hat mich einfach mitgerissen.« Er warf Thackeray einen Seitenblick zu. »Mistkerl.« »Diese Wesen, die wir gesehen haben.« Thackeray starrte ins Leere, als die Erinnerungen zurückkamen. »Ein paar Mal habe ich gedacht, wir würden es nicht schaffen ...« Harvey wurde blass und blickte zu Boden. »Kurz bevor wir hier eintrafen, waren wir in einer Gegend voller Hügelgräber. Scheiße, ich dachte, unsere letzte Stunde hätte geschlagen. Und dann kamen diese komischen, wie Samurai gekleideten Sandwesen und meinten, wir hätten freies Geleit... und ...« »Und jetzt sind wir hier.« Caitlin lächelte. Sie war froh, die beiden wieder zu sehen. »Werdet ihr mich jetzt hier rausholen?« »Logisch«, sagte Harvey. »Ich hoffe bloß, dass der Rückweg nicht so schlimm wird. Ich glaube, das würden meine Nerven nicht mehr aushalten.« Auf dem Weg zum Ausgang unterhielten sie sich, und Thackeray berichtete Caitlin, dass sie Mahalia, Jack und Crowther begegnet waren, als sie das Haus der Schmerzen erreicht hatten. »Sie meinten, sie wollten sich irgendwo in Anderswelt ein nettes Plätzchen suchen«, sagte Thackeray. »Für eine Weile verschwinden ... und ein bisschen Magie finden ... Der alte Mann sah richtig glücklich aus.« »Alle drei sahen glücklich aus«, sagte Harvey. Caitlin erzählte ihnen die ganze Geschichte über die Seuche und die Suche nach dem Gegenmittel, und am Ende wurde ihr bewusst, welch schwere Niederlage die Menschen erlitten hatten. »Ich weiß nicht, wie es jetzt weitergehen soll«, sagte sie. »Die Brüder und Schwestern der Drachen sind die letzte Verteidigungslinie gegen das Wesenlose. Und ich habe versagt... ich gehöre nicht 500 mehr dazu. Aber solange es nicht fünf Personen sind, funktioniert es nicht!« »Ach, irgendwas wird sich schon ergeben«, sagte Thackeray. »Wie kannst du dir da so sicher sein?« »Nun, du weißt doch, wie es ist, Dinge ergeben sich halt. Das ist das Leben. Dieser üble Finsterling ... das Wesenlose. Es könnte morgen kommen oder erst in ein paar Millionen Jahren. Warum soll man sich darüber Gedanken machen? Wenn ich nur verängstigt rumsäße, hätte ich keinen Spaß mehr am Leben. Stell dir das Wesenlose nicht als Bedrohung vor. Betrachte es als eine ... Metapher. « »Thackeray«, sagte Harvey bekümmert, »wie oft soll ich dir noch sagen, dass Klugscheißer unbeliebt sind?« Sie erreichten den Ausgang und Caitlin zögerte; die Kälte in ihren Gliedern ließ sie förmlich erstarren. Thackeray nahm sie bei der Hand und führte sie über die Schwelle. Als sie ins Freie hinaustraten, strömte ein Hauch von Wärme in ihr Herz und ließ nach und nach das Eis in ihr schmelzen. Vor ihnen ausgebreitet lag das Land des ewigen Sommers, erfüllt von Wundern und Magie, und irgendwo gab es einen Ort, an dem sie in ihre Welt zurückkehren konnten. »Kommt«, sagte Thackeray. »Wir verschwinden aus Birmingham.«