Die geheimnisvollen Rächer Piddl ist nicht nur korrekter Musterschüler. Er begeht Streiche wie jedes andere Kind, schni...
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Die geheimnisvollen Rächer Piddl ist nicht nur korrekter Musterschüler. Er begeht Streiche wie jedes andere Kind, schnipst Wurfgeschosse von Bank zu Bank, reißt sich Dreiecke in den Hosenboden beim Äpfelstibitzen auf der Obstallee und schneidet gern Grimassen. Er liebt es, sich zu verstellen. Das Geheimnis zieht den Jungen an. Es beginnt mit einem Buch, das Piddl erwischte und das von Robin Hood handelt, dem Hauptmann der vogelfreien grünen Waldgesellen. Die naive Gerechtigkeit der Selbstjustiz erregt Piddl, denn edel sein heißt noch lange nicht, daß man sich alles gefallen läßt. Auch nicht von der dicken Gastwirtin Purmeier. So entwickelt sich nach langen Diskussionen mit den Freunden der „Bund der Rächer der Armen".* Viele Abenteuer erwarten die Mädchen und Jungen, die im Inflationsjahr 1922 aufwachsen. Es beginnt für die „Rächer" mit der Weißen-Mäuse-Geschichte und führt schließlich zu der berühmten Schlacht am Valdberg.
Glück auf, Piddl eine spannende Erzählung von JAN KOPLOWITZ 2. Auflage Illustriert 368 Seiten Halbleinen 5,60 M VERLAG NEUES LEBEN BERLIN
Gottfried Kolditz
Havarie
Verlag Neues Leben Berlin
«.
Alle Rechte beim Verlag Neues Leben, Berlin 1972 Lizenz Nr. 303 (305/76/72) ES 9 A Umschlag und Illustrationen: Roland Spörl Typografie: Walter Leipold Schrift: 8 p Excelsior Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin
VIERZEHN UHR FÜNFZIG begann der Funkschreiber zu rasseln. Svea Bram stand schon vor dem Spiegel. Sie zögerte einen Augenblick, dann kämmte sie sich weiter. Wer konnte schon zehn Minuten vor Feierabend annehmen, daß das Sekretariat noch besetzt war! Plötzfich wurde sie aber aufmerksam, rhythmisch wiederkehrende Schaltimpulse verrieten ihr, daß Namen und Personaldaten durchgegeben wurden. Neugierig trat sie an den Computer, in den die ankommenden Informationen gleich zur Verarbeitung eingespeist wurden. Sie mußte noch zwanzig Sekunden warten, bis der Schreiber auszudrucken begann. Svea war die Sekretärin des Kommandanten der Kosmonautenschule „Dornbusch 2", 24 Jahre alt, ein langbeiniges blondes Mädchen mit vielen Vorzügen. Sie war außerordentlich tüchtig und erledigte vieles, was eigentlich Aufgabe ihres Chefs gewesen wäre. Ein aufmerksamer Beobachter hätte bei ihr sicherlich nur eines bedauert, eine zu große Zurückhaltung. Das hing mit einer alten Geschichte zusammen, an die sie die eben eingelaufenen Daten schmerzhaft erinnerten. Zum Lehrpersonal der Schule gehörten eine ganze Reihe junger Männer, die sich, man möchte fast sagen der Reihe nach, in Svea verliebt hatten. Aber keiner hatte bei ihr Glück gehabt. Darüber gab
es immer mal wieder Kopf schütteln. Die vernünftigste Deutung war: Der Richtige wird schon noch kommen. Aber das w a r falsch, der Richtige war schon dagewesen. Und jetzt würde er wiederkommen. Der Computerschreiber hatte seinen Namen als ersten ausgedruckt, THOMAS BILLA, die anderen Namen verschwammen vor Sveas Augen. Am nächsten Morgen sprangen sie, vier Männer und zwei Frauen, aus dem Hubschrauber, der sie auf die Insel gebracht hatte, die Teilnehmer des Lehrgangs 209/94. Der Kommandant der Schule, der eisengraue Egül, nahm ihre Meldung am Landeplatz entgegen, der in einer Art Innenhof lag, den die verschiedenen zur Schule gehörenden Gebäude bildeten. Der Schulbau stammte aus dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Er war der Landschaft und ihrer Bautradition sehr glücklich angepaßt. Der mehrstöckige Bau war gegliedert in einen Wohntrakt, einen Trakt für die Unterrichtsräume u n d - d i e Schulleitung und einen umfangreichen technischen Trakt. Jeder, der zum erstenmal hierher kam, freute sich über die gelungene Synthese zwischen der herben Landschaft und d e r . zweckmäßigen Schönheit der Architektur. Svea beobachtete die knappe Begrüßungszeremonie hinter der 3
Sonnenjalousie des Sekretariats. Sie lächelte, als sie jetzt sah, wie Thomas Billa dem Kommandanten die Hand schüttelte, ihm, der damals alles über sie beide gewußt oder zumindest geahnt hatte. Denn vor fünf Jahren hatte Thomas hier sein Kosmonautendiplom dank Svea weder mit „ausgezeichnet" noch mit „sehr gut" erworben. Inzwischen war er ein Chefpilot mit Sonderpatent geworden, eine Berühmtheit sozusagen. Im Klubraum waren die Gläser für den Willkommenstrunk schon eingeschenkt. Egill hielt an diesem Brauch, alle Lehrgangsteilnehmer so zu empfangen, fest, obwohl er häufig belächelt oder kritisiert worden war. Es gab keine langen Begrüßungsreden oder Anweisungen für die Neuankömmlinge. Alle saßen immer ein bißchen hilflos mit den Gläsern in den Händen herum und warteten auf das, was kommen sollte. Egill beobachtete sie mit harmloser Freundlichkeit. Er brauchte diese etwas steifen fünf Minuten, um sich einen Eindruck zu verschaffen, was jeder einzelne mit von draußen hereinschleppte an Wünschen, Problemen, Sorgen, Nervosität. Dann sagte er wie gewöhnlich unvermittelt ein paar belanglose Worte, trank sein Glas aus und verschwand. Bleibt noch nachzutragen, daß Svea wie immer die Zimmerschlüssel verteüte. Als sie vor Billa stand, erhob sich dieser überrascht, aber Egill überspielte das mit der Bemerkung: „Ach ja, das ist Svea", worauf die anderen drei Männer auch aufstanden und alles wie eine allgemeine Vorstellung aussah. Eine Stunde später hatte der Lehrgangsleiter, Bert Likovsky, die sechs Neuen vor. dem Flugsimulator im Kontrollraum versammelt und erläuterte die Möglichkeiten des Gerätes und die 4
Zielstellung ihres Kurzlehrgangs. Der Simulator nahm fast die Hälfte einer großen Halle ein, die Bezeichn u n g „Kontrollraum" stammte noch aus der Zeit, als an der Schule mit wesentlich bescheideneren technischen Mitteln gearbeitet wurde. Die gewaltigen Abmessungen waren deshalb notwendig, weil die Innenräume des Simulators genau der Größe des Pilotrons, der technischen Nebenräüme, des Arztraumes und der Schlafkabinen der in dieser Zeit verwendeten Standardraumschiffe entsprachen. Ein imponierendes Ausbüdungsgerät also. Der Rest der Halle war in mehrere Kontrollsektionen aufgeteilt, von denen aus die Testaufgaben in den Simulator eingespeist werden konnten und die Arbeit der Kandidaten überwacht wurde. Die Verbindung zwischen der ,Kontrollmannschaft und den Testpersonen erfolgte über eine Serie von Monitoren und mehrere Sprechleitungen. Der Simulator würde zum Kontrollraum durch einen sehr dicken Mantel eines äußerst festen Kunststoffmaterials abgeschirmt, denn in ihm konnten mit modernsten Mitteln auch Druckänderungen erzeugt werden, die absolut den wechselnden Bedingungen eines Raumfluges entsprachen. Über eine Luke mit Spezialschleuse erfolgte der Einund Ausstieg. Während Bert Likovsky seine Erläuterungen gab und einige der technischen Möglichkeiten demonstrierte, funkelten seine Augen, und mit den Händen machte er verzückte Bewegungen. Er war mächtig stolz, die Anschaffung dieses modernsten Gerätes durchgesetzt zu haben. Warum betonte er das eigentlich so? Die Lehrgangsteilnehmer schwammen in seinem Redefluß. Die beiden Frauen hatten ihn rasch taxiert und verständigten sich dann mit wenigen Blicken: Schade, ein sehr gut aussehender Mann, aber offenbar sehr eitel.
Die ältere von den beiden, Raumfahrtmedizinerin mit Jupiter-Patent, ließ ihre Blicke von Bert zu Thomas Billa wandern und blickte dann fragend zu Nicole, so hieß die kleine Pilotin, die neben ihr stand. Sie war dem Blick gefolgt, jetzt zuckte sie fast unmerklich mit der rechten Schulter. Thomas stand völlig geistesabwesend da und starrte auf den Boden. Auf dem Herflug war er sehr lustig gewesen und hatte sie immerzu zum Lachen gebracht, stets war ihm etwas Neues eingefallen. Nicole hatte ihrer Freundin amüsiert zugeflüstert: „Du, Anna, wenn ich an die nächsten vierzehn Tage denke, wird mir ganz heiß." Nun stand er da und starrte auf den Boden. Am Nachmittag begannen die medizinischen Tests. Anna führte sie im Arztraum des Simulators unter wechselnden .Bedingungen durch, während das Ärzteteam der Schule die Kontrollapparaturen überwachte, neue Bedingungen in den Computer des Simulators einspeiste und noch ein paar winzige Fehler „ausputzte", wenn die Anzeigen der Bordapparaturen nicht hundertprozentig mit den Anzeigen im Kontrollraum übereinstimmten. Immerhin' war es der erste „heiße" Test des Gerätes. Die Werte der Lehrgangsteünehmer brachten keine Überraschungen, alle waren topfit, und außerdem hatten sie ja zwischen fünf und zwanzig AE Flugkilometer hinter sich. Nur als Anna die Sinuswerte von Billas EEG auf dem Bandschreiber nachmaß, entdeckte sie kleine Abweichungen, die sie nicht kannte. Sie wollte schon dem Chefarzt eine Frage stellen, ließ es aber, weil sie sich plötzlich erinnerte, daß jede ihrer Bewegungen von mindestens zwanzig Augenpaaren auf den Kontrollschirmen beobachtet wurde. Im übrigen klappten die ersten simulierten Flugmanöver ganz hervorragend, so, als wären die sechs
eine seit Jahren eingespielte Mannschaft. Nach der Auswertung behielt der Chefarzt Anna noch einen Moment da und sagte, als sie allein waren: „Sie hatten mich vorhin etwas fragen wollen?" Anna war so überrascht, daß sie errötete. Professor Muntz blätterte im Versüchsprotokoll, dann fuhr er fort: „Sehen Sie, der Computer hat es auch gemerkt, mit genauer Uhrzeit — ,zögert am EEG-Bandschreiber'." Anna hatte sich inzwischen gefangen, eine Ausrede gesucht und verworfen. „Ich glaubte bei Thomas Billa in den Sinuswerten eine mir unbekannte Abweichung zu sehen, war aber nicht sicher. Hielt sie auch für bedeutungslos." Sie stockte, denn Professor Müntz blickte sie überrascht an. „Wie meinen Sie, bedeutungslos?" Anna fühlte, daß sie schon wieder errötete und wie sie anfing, sich über sich selbst zu ärgern. Professor Muntz fischte sich die Papierrolle des Bandschreibers aus dem Protokollmaterial und drückte eine Zahlenkombination der Hausrufanlage. Auf dem kleinen Bildschirm erschien ein Kopf, und der Chefarzt sägte: „Simon, bitte einen Augenblick!" Der Kopf verschwand, und Professor Muntz fuhr fort: „Ich möchte unseren Chefpsychologen hinzuziehen." Anna fürchtete einen Augenblick, ihre Fehlleistung solle untersucht werden, aber die beiden Männer schoben die Papierrolle in ein Projektionsgerät und begannen sofort über Billas Kurvenabweichung zu diskutieren. Der Psychologe projizierte mit einem zweiten Gerät verschiedene Vergleichskurven dekkungsgleich auf. Professor Muntz machte sich ein paarmal Notizen. Anna staunte, wie schnell der Psychologe die Möglichkeiten einkreiste und sein Ergebnis bekanntgab: „Starke Konzentrationsfähigkeit überdeckt fast völlig eine darunter liegende geteilte Aufmerksamkeit!" 5
Professor Muntz dachte einen Moment nach, dann sagte er: „Im Ernstfall könnten daraus erhebliche Schwierigkeiten entstehen und eine Gefahr für die Besatzung des Raumfahrzeugs." Da seine Stimme am Ende ein wenig nach oben schwang, hielt der Psychologe diese Feststellung für eine Frage und antwortete: „Nicht in diesem Fall. Billa hat eine so ungewöhnliche Konzentrationsfähigkeit..., sehen Sie hier, sogar bei 6g ist sie noch voll da, während die anderen hier schon dreißig Prozent Abweichungen haben und mehr."
Professor Muntz blickte von seinen Notizen auf und sagte freundlich: „Liebe Kollegin, Sie hatten also recht, m a n soll Billas kleine Unaufmerksamkeit hier nicht überbewerten." Zusammen mit dem Psychologen verließ er den Kontrollraum. Am Abend hatte der Lehrgangsleiter die sechs Kosmonauten in den Klubraum eingeladen. Auf dem Wege dahin winkte Egill, der die Tür zu seinem Arbeitszimmer offengelassen hatte, Billa zu sich herein. Billa setzte sich in einen der bequemen Sessel und blickte Egill ruhig an; er hatte gleich nach
der Ankunft gemerkt, daß der Kommandant irgend etwas mit sich herumschleppte. Ohne lange erklärende Vorreden begann Egill auch sofort: „Ich bin doch ein großartiger Kommandant . . . ? " Er wartete nicht auf Billas Reaktion auf diesen seltsamen Anfang, sondern fuhr in einem Ton fort, der nicht erkennen ließ, ob er fragen wollte oder Behauptungen aufstellte: „Unsere Schule ist doch erste Klasse, die Ausbildung hervorragend, das Lehrpersonal noch besser..." Diesmal schwieg er, bis Billa dreimal genickt hatte, ehe er betont langsam weitersprach: „Und doch hatten wir zwei Havarien im Raum, neun Tote, alle bei uns ausgebildet, getestet und wieder getestet. Ist es ein Zufall, daß ausgerechnet beide Mannschaften an unserer Schule ausgebildet worden sind? Diese Frage m u ß ich mir doch als Kommandant vorlegen. Und gleich danach kommt noch eine Frage: Waren die beiden Havarien vermeidbar?" Billa kannte Egill viel zu gut, um zu wissen, daß er in diesem Augenblick keine schnelle Antwort von ihm haben wollte, er schwieg also und wartete. Egill war ans Fenster getreten und blickte über die Insel hinweg aufs Meer hinaus. Nach einer Weile sagte er: „Weißt du, es gibt zwar Statistiker, die dir beweisen, daß zu jeder Größe, die eine Verkehrsdichte ausdrückt, ganz gleich, ob auf der Erde, auf dem Wasser oder im Weltraum, eine bestimmte Unfallhäufigkeit und ein gewisser Havariefaktor gehören. Das klingt ungeheuer wissenschaftlich. Aber worauf baut so eine Statistik letzten Endes auf? Auf das sogenannte menschliche Versagen. Der Mensch ist eben kein Roboter, heißt es da, er unterliegt Stimmungen, Ermüdungserscheinungen. Nehmen wir mal an, diese Art von Statistik hat recht. Wo müßten wir als Schule,
und besonders ich als ihr Leiter, dann ansetzen? Bert Likovsky schwört auf den neuen Simulator. Bin ich schon zu alt, weil ich seine Begeisterung nicht teilen kann?" Wieder wartete er nicht auf Antwort, wanderte im Zimmer hin und her und setzte sich schließlich in einen Sessel Billa gegenüber. „Ich habe die beiden Raumhavarien genau analysiert, einmal, zweimal, ich weiß nicht, wie oft. Eigentlich ist alles klar. Mehrere objektive Faktoren trafen unglücklich zusammen, die Mannschaften reagierten schnell und genau nach den vorprogrammierten Notplänen. Es gab auch keine Panik an Bord, jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, bis zu dem wir noch in Funkverbindung waren und über alles exakt informiert sind, was in den beiden Raumschiffen geschah. Dann plötzlich Stille, übergangslos... Von da ab sind wir auf Vermutungen, oder wenn du willst, auf unsere Phantasie angewiesen." Er machte im Ansatz die Bewegung aufzustehen, sank aber wieder in den Sessel zurück, „Die Analysen liegen alle unter meinem Kopfkissen. Professor Muntz fragt mich immer, ob ich gut schlafe. Wie kann ich gut schlafen, wenn ich denke, d a ß . . . " Egill stockte, dann versuchte er, sich den Anschein zu geben, als habe er plötzlich den Faden verloren. Billa wußte sehr genau, wie Egills Gedanken weitergingen, und er sagte es: „Du denkst, das drittemal werden wir es sein. Havarie, Beseitigung nach Notplan B 12, keine Panik an Bord, dann plötzlich Funkstüle!" Egill starrte ihn an. Als Billa aus dem Hubschrauber gesprungen war, hatte er sich plötzlich gefragt, wieviel er, Egill, vom Leben noch vor sich habe, von dem herrlichen Leben mit seinen unfaßbaren Freuden und schrecklichen Niederlagen. Nun saß Billa, der die seltene Begabung hatte, zuhören zu können,
hier vor ihm, Egill fühlte sich erleichtert, obwohl er mit seinen Überlegungen zu keinem Ergebnis gekommen war. Seine Gedanken wanderten zurück. Damals, als Billa zum erstenmal hier in der Schule w a r . . . Egill lachte leise, so eine richtige große Liebe, das war wie ein Wolkenbruch in der Wüste. Mancher erlebte das nie und mancher nur als Zuschauer. Svea und Billa. Er hatte als Leiter manches zudecken müssen, und es war richtig gewesen, obwohl nichts geblieben war, wie es schien. Oder vielleicht doch? Nun, er würde die Augen ein bißchen offenhalten. Er blinzelte Billa zu, der natürlich gemerkt hatte, daß' die Gedanken des Kommandanten eine ganz andere Richtung eingeschlagen hatten: „Als wir das letztemal hier saßen, du in dem Sessel da und ich hier in dem, habe ich dir ganz schön den Kopf gewaschen, wegen Svea." Als Billa in den Klubraum kam, saßen alle schon gemütlich beieinander. Der Lehrgangsleiter legte größten Wert auf solche privaten Kontaktveranstaltüngen. Er vermied es fast ängstlich zu fachsimpeln. Das roch natürlich nach dem, was Nicole als „psychologischen Ausgleichssport" bezeichnete, aber das natürliche Selbstbewußtsein der Kandidaten war so gut entwickelt, daß die Stimmung davon nicht getrübt wurde. Es gab einen leichten Weißwein und pausenlos Musik. Anna und Nicole wurden „reihum betanzt", wie der Funkingenieur ihre Absprache, nicht zu kneifen und keine der beiden Frauen zu benachteiligen, nannte. Nicole versuchte dieses etwas sterile Verfahren dadurch zum Platzen zu bringen, daß sie mit verschiedener Distanz tanzte. Es machte ihr Spaß zu beobachten, wie prüfende Blicke zwischen den Männern hin und her gingen. Billa hielt sich genau an die Absprache und tanzte zweimal mit 8
Anna. Er war wieder so wie auf dem Herflug, locker, witzig und sehr männlich. Anna glaubte jedoch, während sie lachte und sich in Billas Augen verhakte, die Worte des Chefpsychologen zu hören: „Eine starke Konzentrationsfähigkeit überdeckt fast völlig eine darunter liegende geteilte Aufmerksamkeit!" Fünf Minuten vor Mitternacht schickte sie Bert Likovsky alle ins Bett. Offenbar war für ihn der Abend richtig gelaufen. Anna hatte richtig vermutet, Billas Aufmerksamkeit war wirklich geteilt gewesen, während er mit ihr tanzte. Vieles hatte ihn nach seiner Ankunft in der Dornbusch-Schule überrascht. Da war wieder Svea. Er spürte sofort, daß die Sache von damals nicht zu Ende war, jedenfalls nicht für ihn. Und dann der Kommandant. Er hatte Egill immer geschätzt in dessen Doppelfunktion als erfahrenen Raumpiloten und als Pädagogen. Nur wer oberflächlich urteilte, konnte denken, daß ihn in seinem fortgeschrittenen Alter vielleicht die rasante wissenschaftliche und technische Entwicklung überholt hätte. Die Technik war für ihn immer etwas Selbstverständliches gewesen. Warum erschütterten die beiden Havarien seine innere Sicherheit, seine Selbstsicherheit? Egill suchte nach neuen Ausbildungsmethoden, das war offensichtlich. In welcher Richtung aber? Entgegen Likovskys Anweisung ging Billa nicht ins Bett, sondern in das Archiv der Schule. Um zu dieser Zeit dort Zutritt zu bekommen, mußte allerdings Svea ein bißchen helfen, und sie tat es gern. Dank ihrer Unterstützung fand Billa sehr rasch alle Unterlagen der beiden Raumhavarien, und da sie oft durchgespielt und nach allen möglichen Gesichtspunkten untersucht worden waren, war das
gesamte Material programmiert und im Computer gespeichert. Billa bekam also schon nach wenigen Minuten eine umfassende Problemanalyse ausgedruckt. Es war alles so, wie Egill es erzählt hatte. Die eine Mannschaft meldete einen plötzlich starken Druckabfall in ihrem Raumschiff. Dann schnelle, ruhige Maßnahmen nach dem Havarieplan, keine Panik. Die zweite Mannschaft entdeckte bei einer Routineüberprüfung eine starke Positionsdifferenz. Eine rückläufige Berechnung ergab, daß sie eine Kursabweichung nicht bemerkt hatten. Der automatische
Kursrechner war defekt und hatte seine Berechnungen auf einen falschen Stern gleicher Helligkeit bezogen. Auch in diesem Fall hatte die Mannschaft ohne Panik reagiert, es waren keine spontanen Entscheidungen gefallen, sondern man hatte nach dem vorprogrammierten Notplan gehandelt. Unbegreiflich war in beiden Fällen die Erfolglosigkeit aller Gegenmaßnahmen. Auch das hatten beide Mannschaften erkannt und zur Erde gemeldet. Doch dann brachen die Verbindungen ab, und es fehlten weitere Informationen.
Billa blickte sich suchend im Archiv um, aber Svea hatte mitgedacht, sie stand schon am Eingabetisch und spielte die Notprogramme, nach denen die beiden Mannschaften vorgegangen waren, in den Arbeitsspeicher des Computers ein. Billa überlegte, dann ließ er die erste Havarie nach dem benutzten Programm weiterlaufen. Nach einer Weile stoppte er den Programmablauf und startete ihn noch einmal vom Anfang, dazu gleichzeitig das Notprogramm der zweiten Havarie. Svea blickte ihn fragend _ an. Billa sagte: „Mich wundert, ' warum sie sich mit dem vorgegebenen Notprogramm begnügt haben. Du siehst, die Speicher- und auch die Arbeitskapazität ihres Computers hätten ohne weiteres zur Variantensuche ausgereicht!" Svea nickte, sie hatte, als Billa anfing, die Imitierung der Vorgänge an Bord der Havaristen durchzuspielen, die Kapazität des Schulcomputers, die natürlich viel größer war als die der Bordcomputer, auf deren Umfang begrenzt. Sie fragte: „Warum sollten sie aber? Das Notprogramm war doch das richtige!" Billa überlegte, dann schüttelte er den Kopf: „Nein, es war das falsche. Sie sind tot! Sie nutzten offenbar ihre Chance, sich zu retten, nur in den vorgegebenen Begrenzungen. Das ist natürlich eine Behauptung, die ich nicht beweisen kann. Der Abbruch der Verbindung zur Erde läßt sich nur mit einer schnellen Zuspitzung der Havarie an Bord der beiden Fahrzeuge erklären. Sie vertrauten ausschließlich auf die technische Perfektion, das brachte sie plötzlich in Zeitnot!" Billa stoppte den Computer und löschte die Programme. Beim nächsten Gespräch mit dem Kommandanten würde er einige Fragen beantworten können. Svea räumte noch ein bißchen auf, damit am nächsten Morgen nicht gleich jemand über die Nacht10
arbeit stolperte, dann löschte sie die Lichter und schloß das Archiv wieder ab. Svea bewohnte einen sehr hübschen Mehrzweckraum im Trakt der Schulleitung. Sie kochte grünen Tee, für den Billa zu jeder Tag- und Nachtzeit eine besondere Vorliebe hatte. Es war vieles zu sagen, aber beide schwiegen, nicht aus Verlegenheit oder weil ein neuer Anfang schwer war. Jeder hatte inzwischen viel erlebt, jeder für sich. Aber als sie sich jetzt wiedergesehen hatten, zählte das alles nicht mehr. Svea wärmte die Kanne vor, und während dann der Tee ziehen mußte, beobachtete sie Thomas. Er hatte ein paar neue Schallfolien in ihrem Regal gefunden und hörte sich die Musik an. Die erste schien ihm nicht zu gefallen, er stoppte den kleinen Phonocord und schob die zweite ein. Dann saß er ganz entspannt in einem großen bequemen Sessel. Svea wußte, damals war ihre Entscheidung, sich zu trennen, richtig gewesen. Sie hatte sich gescheut, die Frau eines Mannes zu sein, dessen Beruf regelmäßige Trennungen von Monaten, ja manchmal Jahren mit sich brachte. Sie hatte gefürchtet, daß ihre Liebe daran zerbrechen würde. Sie wollte sich und auch Thomas das lange bittere Warten ersparen. Damals. Diese Furcht, diese Gedanken hatten nicht standgehalten. Jetzt war er da, es war gut, daß er da war, und sie fragte nicht, wie lange er bleiben, wann er wegfahren und wann er wiederkommen würde. Als Billa dann Svea im Arm hielt und sie auf seiner Schulter mit schöner Selbstverständlichkeit eingeschlafen war, lag er noch lange wach. Er dachte an Egill und an dessen große Verantwortung. Verantwortung tragen hieß aber Entscheidungen treffen, dort bei den Havaristen und hier in der Kosmonautenschule. Würde Egill die
Kraft haben, die richtigen zu finden? Svea streckte sich im Schlaf. Billa betrachtete sie im Dämmerlicht des heraufziehenden Morgens. Die nächsten Tage würden auch von ihnen Entscheidungen verlangen. Würden auch sie die richtigen treffen? Billa schlief ein, fest und traumlos. Am nächsten Morgen sollte der Haupttest beginnen. Die Lehrgangsleitung hatte nach einer längeren Beratung die Dauer auf fünf Tage festgelegt und als Zielstellung die Beseitigung mehrerer komplizierter Havarien unter Weltraumbedingungen beschlossen. Der neue Raumflugsimulator war speziell für solche Aufgabenstellungen von der Raumüberwachungsbehörde angefordert worden. Die zwei Raumschiffkatastrophen im letzten Jahr hatten den entscheidenden Anstoß gegeben. Die Hauptrichtlinien für die Vorprogrammierung waren fixiert worden, und Bert Likovsky legte sie dem Kommandanten zur Bestätigung vor. Es hatte in der letzten Zeit bei der Ausarbeitung von konkreten Lehrgangsprogrammen einige zum Teil heftige Auseinandersetzungen zwischen den beiden Männern gegeben. Obwohl beide das gleiche wollten, eine größere Wirklichkeitsnähe der Schulausbildung, konnten sie sich nicht einigen, auf welchem Wege das zu erreichen sei. Bert Likovsky hatte immer wieder die teilweise überholte technische Ausrüstung der Schule kritisiert. Er hatte dabei den Kommandanten im Verdacht, daß er mit der neuesten technischen Entwicklung nicht mehr ganz Schritt hielt und deshalb immer wieder auf seine Praxis pochte. Egill dagegen ärgerte sich über vieles, was er als technische Spielerei empfand, Bert Likovsky war für ihn das Musterbeispiel eines Anbeters der Technik.
Ihren Auseinandersetzungen fehlte also nicht nur Sachlichkeit, sondern vor allem das Bemühen um die Klärung ihrer Zielvorstellungen. Nun, nach der Anschaffung des modernsten Gerätes, glaubte Bert Likovsky fest daran, daß sich das Ausbildungsniveau ganz wesentlich erhöhen würde. Trotzdem blickte er unruhig zu Egill hin, während dieser in seiner langsamen Art das Testprogramm durchlas. Doch der Kommandant unterschrieb und gab das Dokument diesmal ohne Einwände zurück. Professor Muntz hatte schon zwei Stunden geschlafen, als er plötzlich durch ein Geräusch wach wurde. Er versuchte sich zu orientieren und blickte dann auf die Leuchtziffern seiner Uhr. Es war fast ein Uhr nachts. Er lauschte und überlegte, dann griff er nach der Hausrufanlage, zögerte aber erst noch, ehe er eine Zahlenkombination drückte. Nach einigen Sekunden erschien der Psychologe Simon auf dem kleinen Bildschirm. Professor Muntz setzte zu einer Entschuldigung' an, stutzte aber und sagte überrascht: „Sie waren ja noch gar nicht im Bett?" Simon lachte. „Ich bin eben in diesem Moment von einer Nachtwanderung zurückgekommen. Ich wollte schon bei Ihnen anklopfen, weil ich von unten Licht sah, aber dann merkte ich, daß es Egills Fenster waren." „Deshalb rufe ich an", warf Professor Muntz rasch ein. „Der Kommandant macht auch eine Nachtwanderung, aber in seinem Zimmer. Schon die dritte Nacht. Mich stört es nicht, aber ich überlege, was mit ihm los ist. Ob ihn der neue Test belastet kurz vor dem Start? Likovsky erzählte doch, Egill habe ohne Kommentar unterschrieben!" Simon überlegte, dann antwortete er: „Ich bin noch sehr munter, vielleicht werde ich mit ihm eine 11
Partie Schach spielen. Wenn es poltert, hat er mich rausgeworfen. Gute Nacht, Professor!" Egill war kein Freund von Formalitäten. Als Simon bei ihm auftauchte und etwas von „auch nicht schlafen können" und „wie wär's mit einer Partie Schach" murmelte, baute der Kommandant'sofort sein altes Schachspiel auf, das er vor vielen Jahren von einem Freund in Lappland bekommen hatte. Die Figuren waren aus Hirschhorn geschnitzt. Ganz schlichte Formen, aber mit starker Ausdruckskraft, richtige alte Volkskunst. Damit spielte Egill eigentlich nur seine „großen Partien". Simon wußte das. Um so erstaunter war er, daß es Egill jetzt benutzte und daß er ganz gegen seine sonstige Gewohnheit während des Spiels sprach. Nicht nur ein paar hingeworfene Bemerkungen, nein, ein richtiges zusammenhängendes Gespräch, das Simon nach einer Weile als „Schachphilosophie" qualifizierte. Einerseits war Simon sehr froh über die unerwartete Redseligkeit des Kommandanten, hoffte er doch, auf diese Weise hinter dessen geheimnisvolle Unruhe zu kommen, andererseits hatte er aber Mühe, dem Gespräch die Richtung zu geben, die er wollte, und außerdem durfte er bei dem Spiel natürlich nicht allzu schwach abschneiden. Diese Mehrgleisigkeit strengte Simon sehr an, und bald merkte er, daß es erfolglos war. Nichts glückte ihm, nach dem 34. Zug gab er auf. In der letzten Stunde war ihm klargeworden, daß er viel zuwenig über den Kommandanten wußte. Er hatte immer geglaubt, daß seine Aufgabe als Chefpsychologe erfüllt war, wenn er für einen Ausgleich zwischen Egills väterlicher Art der Leitung und Bert Likovskys unaufhörlichem Drängen nach technischer Perfektion sorgte. Nun merkte er, daß er versäumt hatte, die Reibungen zwischen den beiden 12
fruchtbar zu machen für die notwendige Vorwärtsentwicklung. Als er sich verabschiedete und für das Spiel bedankte, standen sich die beiden ein paar Augenblicke schweigend gegenüber. Jeder suchte in dem anderen nach einer Antwort, aber beide hatten das Gefühl, nicht einmal die Frage des anderen verstanden zu haben. Und so blieb das Wichtigste unausgesprochen. Die sechs Kandidaten benutzten den Vormittag vor dem Testbeginn zu einer mehrstündigen Inselwanderung. Egill hatte diese Wanderung angeregt, und er schickte auch seine Sekretärin mit, „als Bärenführer", wie er sagte. Es war ein sonniger Tag, aber mit starkem Wind. Sie ließen sich tüchtig durchblasen und versuchten dann unten an der Steilküste ein Feuer zu machen, um ein. paar Fische zu braten. Svea hantierte sehr geschickt mit kleinen Spießen über dem Feuer. Nicole schlug vor, schnell noch zu baden. Alle stimmten zu, ließen ihre Sachen fallen und rannten mit viel Geschrei ins Wasser. Billa hatte ein paar Klötze trockenes Treibholz gebracht und versuchte erst noch, das Feuer besser in Gang zu bringen. Anna sah vom Wasser aus, wie er ein paar Worte mit Svea wechselte, dann stürzte auch er sich in die Brandung. Später saßen sie alle um das Feuer herum, aßen die ein bißchen angekohlten, aber herrlich schmekkenden Fische und ließen sich von der Luft trocknen. Zur Ehre der Köchin begann der kleine Funkingenieur eine „Ballade des Lobes", und jeder mußte eine Strophe beisteuern. Es wurde sehr lustig, und alle nutzten die Gelegenheit, mit witzigen Reimen zu glänzen. Nur Billas Strophen gingen in den „sentimentalen Ofen" — wie der Funkingenieur literatur kritisch feststellte, denn da waren Sachen wie „doch der Rauch verweht..."
Die belobigte Fischbraterin Svea hakte sich auf dem Rückweg bei den beiden Kosmonautinnen ein. Der*Haupttest war für die Kontrollmannschaft fast genauso anstrengend wie für die sechs Kosmonauten im Simulator. Um größte Wirklichkeitsnähe zu erreichen, wurden die vorgespeicherten Katastrophenprogramme laufend durch Varianten verändert. Der Lehrgangsleiter feuerte seine Mannschaft immer wieder an, noch verstecktere Fehler in den Simulator einzuspeisen. Aber Billa, der kleine Funkingenieur, der Navigator, Nicole, der Bordingenieur und Anna lösten alle Aufgaben mit größter Präzision und so schnell, daß Bert Likovsky einmal vor Wut rief: „Ich glaube, die hören, was wir vorher absprechen!" Und er wollte allen Ernstes die nächste Zusatzprogrammierung außerhalb des
Kontrollraumes durchführen. Aber es war eigentlich gar nicht verwunderlich, daß die Billa-Mannschaft so zügig arbeitete. Der Bordcomputer erfaßte die jeweils veränderten Daten, verarbeitete sie blitzschnell und bot in den meisten Fällen mindestens zwei Lösungsvarianten an. Billa mußte nur entscheiden, welche die zweckmäßigste war. Er ließ aber den Bordcomputer noch nach anderen Varianten suchen, indem er Zusatzfragen stellte und Fehlinformationen prüfen ließ. Professor Muntz und der Chefpsychologe staunten immer wieder über Billas Reaktionszeiten. In einer Pause sagte der Chefarzt: „Sie haben noch gar nichts erzählt. Wer hat denn gestern nacht gewonnen?" Simon lächelte. „Wer schon, Egill natürlich." „Er war also nicht nervös? Nicht abgelenkt?" „Schwer zu sagen." 13
„Was denn, zwei Niederlagen? Im Schach verloren und in der Psychologie?" Simon ging auf den Scherz nicht ein, sondern fuhr nachdenklich fort: „Er philosophierte über das Schachspiel. Mit keinem Trick konnte ich ihn auf den Test bringen. Ihn schien etwas ganz anderes zu belasten." Professor Muntz blickte Simon erwartungsvoll an, der Psychologe zuckte etwas ärgerlich die Schultern: „Ich weiß wirklich nicht was." Er machte eine Pause und sagte dann langsam: „Beim Häüfigkeitsgebrauch besonderer Wörter fiel mir auf, daß er zwölfmal das Wort ,remis' verwendete. Immer im ablehnenden Sinne: fehlende Risikofreudigkeit, Ausweichen vor der Entscheidung usw.,.. Ich kann das nicht so formulieren, er hatte sich darin festgebissen. Sie war ein bißchen ermüdend, seine Schachphilosophie!" Professor Muntz stubste Simon freundschaftlich in die Rippen: „Es war nicht ermüdend, Sie waren müde nach Ihrem Nachtmarsch!" Er blinzelte Simon vergnügt zu und ging zu Bert Likovsky hinüber, der ihn gerufen hatte. Der Lehrgangsleiter schwankte zwischen Stolz auf seinen modernen Simulator und Ärger, daß er die Büla-Mannschaft nicht überlisten konnte. Jetzt war er auf die Idee gekommen, Billa auszuschalten. Professor Muntz überlegte, während Likovsky ihn wortreich zu überzeugen suchte, dann sagte er mit seiner leisen, prägnanten Stimme: „Ich bin einverstanden, aber Ihr Beweggrund gefällt mir gar nicht, denken Sie mal darüber nach." Es war sofort so still im Kontrollraum, daß der Eindruck entstehen konnte, auch die Kontrollgeräte hielten den Atem an. Bert Likovsky übersah die Situation im Moment nicht, spürte nur, daß er reagieren mußte. Um Zeit zu gewinnen, fragte er etwas überdehnt: „Würden Sie Ihre Meinung etwas präzisieren?" 14
Aber der Chefarztv nickte nur Simon auffordernd zu. Der Psychologe kam langsam näher, blickte den Lehrgangsleiter freundlich lächelnd an und sagte: „Professor Muntz meint, daß Ihre Ansichten über das Verhältnis Mensch—Maschine folgerichtig dazu führen müßten, als Lehrgangsleiter einen Computer zu berufen, der dann nicht nur die Versuche, sondern auch die Versuchspersonen simulieren könnte." Simon hatte absichtlich diese überspitzte Formulierung gewählt, er hoffte, Bert Likovsky würde heftig reagieren und damit eine Möglichkeit schaffen, einige seiner Positionen und Meinungen in Frage zu stellen, denn der bisherige Testverlaui gab in vielem Egills Vorbehalten gegenüber zuviel technischer Perfektion recht. Aber während der Lehrgangsleiter zögerte und Simon wartete, meldete plötzlich einer der Programmierer: „Variante 12/17 wird eingespeist." Alle liefen schnell zu den Kontrollschirmen, auf denen das Pilotron zu sehen war. Auch Bert Likovsky tat das, wenn auch langsam und mit Falten auf der Stirn. Billa saß auf seinem Konturensessel und hatte gerade eine Schlafpause eingelegt. Er hatte die beneidenswerte Fähigkeit, innerhalb einer Minute einschlafen zu können und sich vorzunehmen, zu einer bestimmten Zeit wieder wach zu werden. Diesmal weckte ihn aber nicht sein Phantasiewecker, sondern ein leises Warnsignal. Er blickte um sich, prüfte die Uhrzeit — er hatte 38 Minuten geschlafen. Das Warnsignal kam von seiner Pulsfrequenzanlage. Dann merkte er, daß Nicole sich über ihn beugte und sagte: „Bei mir ist alles in Ordnung!" In diesem Augenblick erschien Anna auf einem Bildschirm auf der Führungskonsole und sagte: „Versuchsprogramm 12/17 — Komman-
dant fällt mit Kreislaufkollaps aus. Er ist in den Arztraum zu transportieren. Nicole übernimmt ab sofort die Funktion des Kommandanten!" Während Nicole Billas Sitzgurte löste, schwoll das Warnsignal so laut an, daß es über den Computer einen allgemeinen Bordalarm auslöste. Nicole schob Billa, der den Fall natürlich genau mitspielen mußte, langsam vor sich her. Der neue Simulator erzeugte tatsächlich eine hundertprozentige Schwerelosigkeit, so daß Billa langsam durch den Zentralzylinder schwebte. Der Bordingenieur tauchte etwas verstört aus der Schlafkabine auf und fragte: „Was ist denn los?" Billa öffnete ein Auge, blinzelte ihn an,und flüsterte: „Billa ist tot!" Der Bordingenieur war immer noch nicht ganz da, etwas blöd fragte er: „Der Kommandant ist tot?" Nicole zog sich an einem Haltegriff an ihm vorbei und sagte: „Ich bin der Kommandant! Wachen Sie endlich auf und schalten Sie die Alarmanlage zurück!" Im Kontollraum lachten alle, denn auf einem der Bildschirme war das Gesicht des Bordingenieurs in Großaufnahme mit einem unsagbar verblüfften Gesichtsausdruck zu sehen. Dann kapierte er und murmelte: „Verflucht, immer wenn ich mal schlafe, fällt denen was Neues ein." Die Variante 12/17 lief nun schon fast dreißig Stunden. Die medizinischen Kontrollwerte aller hatten sich durch die erhöhten Belastungen zwar etwas verschlechtert, besonders bei Nicole, aber alle eingespeisten Aufgaben wurden mit der gleichen Präzision und Schnelligkeit erledigt wie zuvor. Nur Billa kam sich etwas albern vor, er lag im Arztraum, fühlte sich körperlich völlig gesund, aber, die medizinischen Werte zeigten, daß ihn der Simulator noch längere Zeit in dieser Lage festhalten wollte.
Er stöhnte: „Wann kapieren die endlich, daß ihre Variante 12/17 von uns längst gelöst ist?" Egill erschien am letzten Tag des Versuchs im Kontrollraum und ließ sich berichten. Er gab sich außerordentlich zustimmend, denn er wollte nicht den Verdacht aufkommen lassen, daß er nach wie vor gegen die Anschaffung des neuen Simulators sei. Aber weil alle das wußten, bestätigte er mit seinem Verhalten natürlich diese Vermutung. Dadurch entstand eine etwas peinliche Situation, und alle atmeten auf, als er sich ziemlich bald wieder verzog. Sobald Egill verschwunden war, blickten sich der Psychologe und Professor Muntz an, schrieben dann gleichzeitig etwas auf verdeckte Zettel, falteten sie, tauschten sie aus und lasen sie gleichzeitig. Der Lehrgangsleiter drehte sich überrascht um, als aus der medizinischen Kontrollsektion ein zweistimmiges Lachen erscholl. Er wußte natürlich nicht, daß auf beiden Zetteln stand: „Der Alte führt etwas im Schilde!" Egill hatte inzwischen die Haussprechanlage betätigt und sagte zu Svea, die ihn auf dem Bildschirm anlächelte: „Wenn mich jemand in den nächsten fünf Stunden sucht, ich bin am Strand Möweneier suchen!" Svea sagte: „Aha, und wo finde ich Sie wirklich, wenn was Wichtiges ist?" Egül antwortete: „Vielleicht wirst du großen Ärger bekommen, weil du mich nicht findest, sehr großen!" Ein paar Augenblicke war es still zwischen den beiden, dann sagte das Mädchen: „So einen Chef wünscht sich jede Sekretärin!" und schaltete die Verbindung ab. Zehn Minuten später tauchte Egill in den technischen Nebenräumen des Simulators auf. Die gesamten Anlagen füllten drei 15
Stockwerke. Allein um Schwerelosigkeit und Andruck bis 8g zu simulieren, war ein beträchtlicher Aufwand nötig. In der Schaltzentrale setzte er sich zu einem älteren Elektriker, der schon zwanzig J a h r e mit Egill zusammen auf der Insel war. Wenn sie sich lange nicht gesehen hatten und allein waren, begrüßten sie sich immer mit drei Schlägen auf die Schulter, den ersten mit halber Kraft, den zweiten mit ganzer Kraft, den dritten mit Volldampf. Dann lachten sie, und der Elektriker sagte jedesmal: „Das Gerippe rasselt schon ganz schön!" Und Egill sagte: „'s wird Zeit, daß wir abtreten!" Und dann lachten sie noch mal ganz unmäßig fröhlich. 16
Egill füllte zwei Gläser aus einer Taschenflasche und prostete dem Elektriker stumm zu. Sie kippten und schnauften gemeinsam, und während Egill nachgoß, sagte er: „Das ist eigentlich der Repräsentationsschnaps! Verrat's nicht!" Und der Elektriker antwortete ganz ernsthaft: „Ich bin im Dienst, da darf ich sowieso nicht!" Sie tranken und stöhnten wieder gleichzeitig. Egill ^blickte sich dann ruhig um und fragte: „Was hältst du von der neuen Kiste?" „Schaltelektrisch erste Klasse, wenn m a n bedenkt, sechs Millionen Schaltungen mit einem Quadratzentimeterdurchschnitt von zehn Schaltungen, alles gut zugänglich und übersichtlich. Noch vor fünf Jahren
hätten zu jeder Schicht mindestens zwei Ingenieure gehört, heute fahre ich sie allein!" Egill steckte die Flasche wieder ein. „Du findest also jeden Fehler, jeden, auch den verstecktesten, in zwanzig Sekunden?" „In zwanzig Sekunden nicht gerade, aber ich finde ihn!" Der Elektriker rückte dichter an Egill heran und fuhr vergnügt fort: „Weißt du noch, Egill, als der Kurzschluß war in unserem alten Simulator, ich meine den ganz alten, als wir herkamen. Zwei Ingenieure suchten schon eine ganze Woche, und ich habe ihn in fünf Stunden gefunden." Egill fragte ruhig: „Heute gibt es solehe versteckten Ecken nicht mehr, wo nur du einen Kurzschluß findest?" Die Antwort des Elektrikers kam schnell: „Na klar gibt es so eine. Ecke!" Aber dann machte er eine lange überraschte Pause. Die Testkosmoriauten blieben ganz ruhig, als plötzlich die gesamte Stromversorgung ausfiel. Vermutlich der Anfang der Variante 12/18 oder 13/1. Die Notstromversorgung schaltete "sich automatisch ein, aber sonst geschah nichts. Der Bordingenieur meldete sich auf Nicoles Bildschirm und fügte mit einer Grimasse hinzu: „In einer Stunde!" Nicole freute sich auch, daß in einer Stunde der Test beendet sein würde. Irgendwie war es anstrengend gewesen, diese Häufung dauernd wechselnder Situationen. Ganz anders sah es im Kontrollraum aus, eine Minute nach dem Stromausfall. Auch hier hatte sich zwar eine Notstromanlage einschalten lassen, allerdings nur per Hand. Aber die gesamten Kontrollgeräte, der Computer, a^les lag tot. Nur eine Serie von Bildschirmen arbeitete,
die an das Bordsystem des Simulators angeschlossen waren. Dort sah man die Mannschaft arbeiten wie immer und hörte sie miteinander sprechen. Der Lehrgangsleiter wurde allmählich ein bißchen ungeduldig, er fauchte die Schaltelektriker, die alarmiert worden waren, an: „Unsere sechs Kandidaten kriegen ja einen Lachkrampf, wenn wir den Fehler nicht in fünf Minuten finden. Sie haben alle simulierten Fehler in maximal drei Komma dreißig beseitigt!" Zwei Ingenieure tauchten auf und beteiligten sich wortlos an der Suche. Der Lehrgangsleiter ging wieder in den Kontrollraum zurück und fragte: „Haben die schon was gemerkt?" Professor Muntz antwortete: „Noch nicht, aber spätestens in zweiundfünfzig Minuten, wenn der Test beendet sein müßte." Bert Likovsky schaute ihn einen Moment verdutzt an, dann sagte er beleidigt: „Sie glauben doch wohl nicht, daß wir zweiundfünfzig Minuten brauchen, um so einen lumpigen Fehler zu beseitigen?" Professor Muntz blickte ihm lächelnd nach, wie er mit Riesenschritten aus dem Raum stapfte, dann winkte er seinen Mitarbeiterstab heran und sagte: „Wir brauchen sofort alle Filmkameras, die sich in der Schule noch auftreiben lassen, und zwar mit allem Zubehör für Batterieantrieb, in fünfzig Minuten muß vor jedem Kontrollmonitor eine Kamera betriebsbereit aufgestellt sein!" Auf den Gesichtern seiner Mitarbeiter spiegelte sich Unverständnis. Aber als der Chefarzt ostentativ seine Uhr vom Handgelenk streifte und mitten auf seinen Arbeitsplatz legte, stürzten sie davon. Bert Likovsky hatte inzwischen alle Mitarbeiter der Schule zusam17
menholen lassen, die einen Schaltplan lesen konnten. Da nach fünfzehn Minuten der Fehler immer noch nicht gefunden war, ließ er die Suche unterbrechen und versammelte alle vor den riesigen Schaltplänen des Simulators. Er teilte die Suchmannschaften in sechs Gruppen ein und ordnete ihnen sich überlappende Sektionen zu, so daß jeder Schaltpunkt mehrmals überprüft werden mußte. Dann jagte er sie los: „Sie haben dreißig Minuten Zeit, maximal dreißig Minuten!" Der. Lehrgangsleiter blieb allein zurück und überlegte noch einmal, ob sein Suchplan lückenlos war. Noch war er ruhig und seiner Sache sicher, aber ein bißchen ärgerlich. Nur gut, daß das nicht im Beisein von Egill passiert war, dachte er. Ein Glück, daß der Alte vorhin so schnell wieder verschwunden war. Nach dreißig Minuten standen die Suchgruppen wieder vor ihm, und die Ingenieure schüttelten ratlos die Köpfe. Der Lehrgangsleiter lief rot an, verteilte die Sektionen neu und jagte sie wieder los. Als er in den Kontrollraum zurückkam, beendete gerade die Mannschaft des Chefarztes den Aufbau der Kameras. Vier hatten sie gefunden. Professor Muntz winkte ihn heran und fragte: „Können Sie mir noch zwei Kameras beschaffen? Und vor allen Dingen noch fünf- bis sechstausend Meter Magnetfilm?" Bert Likovsky fühlte eine kalte Wut in sich aufsteigen, er zwang sich aber zu einem winzigen Lächeln und antwortete: „Wollen Sie die sechs Kandidaten filmen, wenn ich sie sang- und klanglos herauslasse und sie sich über unsere Panne totlachen? Vergessen Sie nicht, eine Großaufnahme von mir zu drehen, wie ich vor Wut platze." Professor Muntz schüttelte langsam den Kopf und sagte leise: „Ich 18
verstehe von elektrischen Schaltungen soviel wie Sie vermutlich von einer Herztransplantation, aber ich habe einen Ihrer Ingenieure gefragt, er sagte, der Simulator lasse sich im Augenblick nicht öffnen, auch Gewalt, herkömmliche Schneidbrenner und so etwas seien aussichtslos. Wenn ich richtig verstanden habe, meinte er, es werde zuviel Zeit beanspruchen, und vor allem sei es für die Insassen zu gefährlich, eine Explosion sei nicht auszuschließen." Der Lehrgangsleiter hatte plötzlich ein so starkes Ohrensausen, und sein Sehfeld dunkelte sich so schnell ringförmig ein, daß er fürchtete, lang hinzuschlagen. Er nahm sich zusammen, und wie aus weiter Ferne vernahm er die Stimme des Chefarztes: „Vielleicht sollten Sie den Kommandanten der Schule verständigen!" Ehe er nachdenken konnte, hörte er sich schon antworten: „Würden Sie das bitte für mich tun, Professor, ich möchte im Augenblick hier nicht weg!" Svea Bram meldete sich auf dem gleichen Bildschirm, von dem aus sie vor zwei Stunden Egill angerufen hatte: „Was kann ich für Sie tun, Professor Muntz?" „Hallo, Mädchen, ich muß einen Augenblick Egill haben, stell mal durch!" Svea errötete ein bißchen und sagte schnell: „Tut mir leid, der Kommandant ist nicht in seinem Zimmer!" Der Chefarzt lächelte. „Und wo ist er?" Mit ruhiger Stimme sagte Svea: „Er ist am Strand, Möweneier suchen!" Professor Muntz machte eine kleine Pause, dann murmelte er: „Danke, das dachte ich mir." Er schaltete das Videophon ab, und als er sich umdrehte, stand der Chefpsychologe hinter ihm. Muntz sagte: „Wir hatten recht, er macht Ernst, also an die Arbeit!"
Als die Testzeit zehn Minuten überschritten war, tauchten die ersten Fragen im Simulator auf, aber die Kosmonauten waren natürlich noch ganz ruhig. Professor Muntz ließ kurz einige Aufnahmen machen, dann aber gleich wieder die Kameras abschalten. Der Lehrgangsleiter hatte inzwischen eine Beratung mit allen Ingenieuren. Punkt 1: Wie kann man die sechs Eingeschlossenen über die entstandene Situation informieren? Punkt 2: Was für Komplikationen können im Simulator auftauchen und ab wann?
Zu Punkt 1 übernahmen zwei Ingenieure die Aufgabe, über eine der Monitorleitungen eine Ja-NeinAntwort einzuspeisen, wenn die sechs Kosmonauten selbst ihre Situation erkannt haben würden. Mehr war im Augenblick nicht realisierbar. Zu Punkt 2 begann Bert Likovsky mit einem Ingenieur die Vorräte im Simulator — Atemluft, Druck, Verpflegung — durchzurechnen. Die Fehlersuche ging selbstverständlich weiter, jetzt nach einem Dreistundenplan und Checkliste. Nach einer Stunde stand Billa plötzlich von seinem Bett im Arztraum auf, legte alle Kontakte der medizinischen Kontrollanlage ab 19
und sagte laut und deutlich: „Jetzt möchte ich wissen, was gespielt wird! Wenn das ein Nerventest sein sollte, bitte, von mir aus zwei Monate. Aber ich fürchte, wir haben eine echte Havarie. Ich übernehme wieder ab sofort das Kommando. Die gesamte Mannschaft versammelt sich im Pilotron!" Professor Muntz hatte sofort die Kameras einschalten lassen, als Billa aufstand. Als sich alle im Pilotron versammelt hatten, begann Billa: „Was fällt euch auf?" Nicole sagte: „Es wird keine Schwerelosigkeit mehr simuliert!" „Seit wann?" „Seit dem Stromausfall!" „Warum?" „Der Notstrom ist zu schwach!" Der Bordingenieur schaltete sich ein: „Unsinn! Der Notstrom kommt von einem Bordaggregat, die Schwerelosigkeit wird von außen eingespeist!" „Also?" „Also ist der Strom draußen ausgefallen!" „Daher ist nicht nur die Schwerelosigkeit weg, sondern überhaupt jede Einspeisung!" Der kleine Funkingenieur richtete sich mit strahlender Miene auf- und lachte. „Die können uns also weder hören noch sehen? Herrlich! Ich kann wieder in der Nase bohren, ohne daß mir zwanzig Leute zügukken und meine dazugehörigen Bioströme registrieren!" Er hopste plötzlich wie ein Verrückter im Pilotron herum und wurde von einem Lachkrampf geschüttelt. Billa ließ ihn eine Weile toben, dann sagte er: „Vielleicht sollten wir alle ein bißchen mitlachen, denn bald wird es nichts mehr zu lachen geben!" Der kleine Funkingenieur blieb abrupt stehen, die Beobachter im Kontrollraum hielten den Atem an. 20
Billa schwieg, aber der Bordingenieur fing langsam an: „Das gesamte Lukensystem wird von außen gesteuert. Es gibt keinen Per-HandAusstieg. Wir sitzen also fest, bis die draußen den Fehler gefunden haben." Der kleine Funkingenieur ließ sich in einen Konturensessel fallen und sagte: „Fröhliche Weihnachten! Wie lange kann denn das dauern? Eine Woche oder ein J a h r ? " Billa sagte ruhig: „Maximal noch drei Stunden!" Der kleine Funkingenieur rief: „Na, phantastisch!" Dann stockte er: „Woher weißt du das so genau?" „Weil wir noch für drei Stunden Atemluft haben!" Im Kontrollraum wurde die Beratung der sechs Testkosmonauten mit atemloser Spannung verfolgt. Zunächst von niemandem bemerkt, war Svea aufgetaucht. Sie starrte auf den Kontrollschirm, auf dem Billa zu sehen war, der jetzt sagte: „In der nächsten Stunde keine Bewegung an Bord, Atemluft sparen. Ich hoffe, die da draußen können uns hören und setzen alle Hebel in Bewegung, um die Havarie zu beseitigen!" Schnell wurde seine Anordnung von allen befolgt, und Professor Muntz ließ die Kameras ausschalten, als auf den Monitoren zu sehen war, daß sich die sechs Kandidaten auf ihre Ruhebetten gelegt hatten. Man konnte fast glauben, Bülas Anweisung, Atemluft zu sparen, hätte auch für die Mannschaft des Kontrollraumes gegolten, denn niemand bewegte sich. Endlich sagte einer der Diplomingenieure: „Es gibt die Möglichkeit, die Sektion, die den Lukenmechanismus versorgt, herauszulösen und getrennt zu schalten. Ein Puzzlespiel, das allerdings mehr als eine Stunde verlangt..." Der Lehrgangsleiter fragte etwas heiser: „Wieviel Mann brauchen Sie dazu?" „Höchstens drei, mehr nützen
nichts und stören sich nur gegenseitig." Bert Likovsky machte eine Handbewegung, die wohl bedeuten sollte, daß er zustimme, und der Diplomingenieur machte sich mit drei seiner Leute an die Arbeit. Svea starrte noch immer auf den Kontrollschirm, auf dem Billa zu sehen war. Professor Muntz trat dicht hinter sie und sagte leise: „Sie müssen Egill finden, die sechs da drin haben nur noch drei Stunden Atemluft..." Svea lief rasch aus dem Raum. Der Chefpsychologe blickte ihr zusammen mit Professor Muntz nach und fragte: „War sie eigentlich schon hier an der Schule, als Billa seinen ersten Lehrgang machte?" Professor Muntz antwortete: „Egill wird deine Frage genau beantworten können." Der Kommandant saß in seinem Zimmer über ein Schachbrett gebeugt, als Svea Bram hereinstürzte. Ihr Gesicht glühte, und sie preßte atemlos heraus: „Brechen Sie den Test ab, aus welchem Grund auch immer Sie ihn begonnen haben!" Ohne aufzublicken, fragte Egill: „Welchen Grund könnte ich denn für den Test haben?" Abrupt setzte sich Svea zu ihm, stieß dabei mit einem Knie an das Schachbrett, so daß die Figuren durcheinanderpurzelten. Sie schien das nicht zu bemerken, starrte ins Leere und murmelte: „Ich weiß nicht. Sicherlich nicht, weil Sie etwas gegen den neuen Simulator haben!" Egill lächelte. „Bert Likovsky wird ganz anderer Meinung sein!" Ebenso abrupt, wie sie sich gesetzt hatte, stand Svea wieder auf und lief quer durch den Raum, sie brauchte Bewegung, um sich besser konzentrieren zu können.-Dann sagte sie heftig: „Die sechs im Simulator werden doch offenbar nicht getestet! Wer also? Die Kontrollmannschaft? Die ganze Schule? Sie gehören doch auch dazu!"
Egill stand auf, das Schachbrett polterte zu Boden. „Zwei Raumschiffkatastrophen in einem Jahr, die Mannschaften hier in unserer Schule ausgebildet, getestet mit modernsten Mitteln. Du kanntest sie alle. Sehr gute Leute, jeder auf seine Weise ein kleiner Billa. Und d o c h . . . Warum? Ein Zusammenwirken von unglücklichen Zufällen? Oder hat unsere Ausbildung eine Lücke? Unsere Schulhavarien werden von Computern chiffriert und dechiffriert. Männer wie Billa brauchen zu ihrer Behebung Minuten. Also lauwarmes Zeug. Jetzt der erste heiße Test..."". Egill brach ab. Svea war ganz ruhig geworden. Ihre Gedanken quirlten nicht mehr wild durcheinander. Sie verstand plötzlich den ganzen Umfang der Verantwortung, die Egill trug. Sie wußte nicht, ob sie lange gebraucht hatte, bis sie zu der Frage fand: „Und wenn der Test schon jetzt kein Test mehr ist? Vier Mann lösen immerhin den Lukenmechanismus aus der Gesamtschaltung heraus!" Egill schwieg und begann die verstreuten Schachfiguren aufzuheben. Svea fühlte, wie sie blaß wurde. Nach fünfzig Minuten hatten die vier Ingenieure erst die Hälfte der Schaltverbindungen für den Lukenmechanismus aus dem Gesamtschaltsystem herausgelöst. Schneller zu arbeiten war nicht möglich und sinnlos. Jetzt eine falsche Schaltung, und die ganze Arbeit war gescheitert, denn für Fehlersuche war erst recht keine Zeit. Der alte Schaltelektriker hielt sich in ihrer Nähe, wortlos half er ab und zu mit ein paar Handgriffen. Der Diplomingenieur rief vom Schaltplan her Zahlen und Symbole, die von den anderen laut wiederholt wurden, sobald sie die damit bezeichneten Schaltstellen gefunden hatten. Dann winkte er sich den 21
Schaltelektriker heran und sagte leise: „Sagen Sie Bescheid, daß wir es nicht in einer Stunde schaffen, wir haben erst die Hälfte." Im Verbindungsgang, der von der Schaltzentrale zum Leitungstrakt führte, stieß der alte Schaltelektriker auf Egill. Der Kommandant rief ihm schon von weitem zu: „Weißt du, daß der Lehrgangsleiter den Lukenmechanismus aus der Gesamtschaltung herauslösen läßt?" Der Schaltelektriker war stehengeblieben, Egill trat dicht zu ihm: „Du hast doch unseren kleinen geheimen Havariepunkt unter Kontrolle?" Mit undurchdringlicher Miene fragte der Schaltelektriker zurück: „Wird ein Schuldiger gesucht?" Egill reagierte mit einer nervösen Kopfbewegung. „Jetzt zählt jede Minute. Bitte, laß uns hinterher über meine Schuld sprechen. Ich muß wissen — ist das Risiko noch kalkulierbar?" Erregt hatte Egill ihn fest an den Schultern gepackt. Der Schaltelektriker löste sich langsam aus dem Griff und trat an eines der Gangfenster. Egill wiederholte beherrscht: „Ist das Risiko noch kalkulierbar?" Der Schaltelektriker blickte sich nicht um. „An dir hat mir immer gefallen, daß du nicht für halbe Sachen bist. Auch von mir hast du eine ganze Sache verlangt. Wenn wir jetzt abbrechen würden, hätten wir besser gar nicht angefangen!" Mit eindringlicher Betonung fragte Egill: „Abbrechen können oder würden?" „Du wolltest die Havarie. Du hast sie. Oder wolltest du doch nur ein bißchen Zauberei?" „Mir ging es nicht um die technische Seite, sondern um die menschliche!" „Umso mehr bist du selber betroffen. Schieb jetzt nicht das Problem einem Techniker zu!" 22
Die Unerbittlichkeit des Schaltelektrikers empfand Egill plötzlich als Hilfe auf dem Weg zu einer richtigen Entscheidung. Er sagte leise: „Mach deine Arbeit weiter. Ich brauche jetzt fünf Minuten für mich." Die beiden alten Freunde blickten sich an, plötzlich drückten sie sich fest die Hand, ganz spontan. Dann lief der Schaltelektriker den Verbindungsgang zurück. Egill war am Fenster stehengeblieben. Er überlegte. Bert Likovsky blickte von seinen Notizen auf, als der Schaltelektriker zögernd den Kontrollraum betrat. Böses ahnend, rief er ihm zu: „Was ist passiert?" Der Schaltelektriker antwortete: „Ich soll sagen, daß erst die Hälfte der Schaltungen herausgelöst sind. Es wird also eine Verzögerung geben." Bert Likovsky blickte auf seine Uhr, dabei rutschte er langsam in seinem Sessel zusammen. Der Schaltelektriker kam näher und sagte, als er dicht neben dem Lehrgangsleiter stand, leise: „Vielleicht sollten Sie den Kommandanten zu Rate ziehen!" Bert Likovsky starrte vor sich hin, vielleicht hatte er den Vorschlag des Schaltelektrikers gar nicht gehört. In diesem Augenblick stürzte Svea in den Kontrollraum herein. Nach wenigen Schritten blieb sie atemlos stehen und sagte: „Der Kommandant kennt den Fehler, er hat ihn absichtlich machen lassen!" Alle blickten zum Lehrgangsleiter, der von seinem Sessel hochgeschnellt war. Bert Likovsky ging auf Svea zu und sagte: „Unsinn, Egill war gegen den neuen Simulator, er ist es vielleicht heute noch, aber er würde nie so etwas tun, um mir zu schaden." Noch immer atemlos preßte Svea heraus: „Nicht, um Ihnen zu schaden!" Professor Muntz war unbemerkt
näher gekommen und legte Svea, die plötzlich zu schluchzen anfing, einen Arm um die Schultern: „Svea, Sie müssen uns sagen, wo der Kommandant jetzt ist!" Von der Tür her kam Egills klare Stimme: „Hier bin ich!" Mit ruhigen Schritten ging er auf Likovsky zu. „Svea hat recht, ich habe die Havarie mit voller Absicht herbeigeführt!" Um Egül und Bert Likovsky bildete sich ein Kreis, alle warteten gespannt auf eine Erklärung. Nur Professor Muntz ging zu seiner Mannschaft zurück, die auf ihrem Posten geblieben war. Er ließ seine Augen über die Monitoren wandern, denn die von Billa geforderte Ruhestunde war um, und die Kosmonauten versammelten sich wortlos im Pilotron. Professor Muntz stellte eine merkwürdige Doppelung der Situation fest, drinnen und draußen ein Kreis nachdenklich-erwartungsvoller Menschen vor einer schweren Entscheidung. Er tippte einen seiner Mitarbeiter an und ließ eine der Kameras auf den Kreis im Kontrollraum schwenken, wo Egill gerade sagte: „Es ist jetzt keine Zeit für lange Erklärungen. Über die Verantwortung, die mich trifft, sprechen wir später. Wir haben eine echte Havarie, keine simulierte, und wir müssen sie in einer begrenzten Zeit beseitigen." Einer der Ingenieure warf ein: „Wenn Sie den Havariepunkt kennen, dürfte das doch kein Problem sein?" Egill nickte. „Das war auch ursprünglich mein Plan." Da auch Thomas Billa inzwischen angefangen hatte zu sprechen und er beiden nicht folgen konnte, winkte Professor Muntz Simon zu, er solle das Gespräch im Kontrollraum verfolgen, und wandte sich dem Monitor zu, auf dem Billas konzentriertes Gesicht zu sehen war. Er hatte offensichtlich die Ruhestunde dazu benutzt, gründlich
nachzudenken, nicht nur darüber, wie sie sich aus ihrer gefährlichen Situation befreien könnten, sondern auch, was draußen die Kontrollmannschaft unternehmen würde. „Die draußen haben zwei Möglichkeiten, sie versuchen mit allen Mitteln entweder den Lukenmechanismus oder die Luftregenerierung in Gang zu bringen. Was, glaubt ihr, werden sie versuchen?" Der Bordingenieur überlegte einen Augenblick: „Der Lukenmechanismus gehört zu einer sehr großen Schaltgruppe, aus der er zieml'.ch mühsam herausgelöst werden muß." Er zögerte, und für ihn fuhr Anna fort: „Die Luftregenerierung ist eine relativ kleine, in sich geschlossene Schaltgruppe. Ich habe sie mir vor dem Test zufällig angesehen." Billa lächelte. „Also hoffen wir, daß unsere Freunde da draußen nicht zuerst am Lukenmechanismus basteln, sonst fehlt uns womöglich am Ende eine halbe Stunde Atemluft." Er orientierte sich einen Augenblick, wo das ihm nächste Fernsehauge befestigt war, blickte dann direkt in die Kamera: „Ich hoffe, ihr habt uns verstehen können!" Professor Muntz unterbrach mit einer für ihn ungewöhnlich lauten Stimme die Diskussion im Kontrollraum: „Hört mal einen Moment zu!" Er ließ eine der Magnetspulen ein Stück zurücklaufen und schaltete dann wieder auf Vorwärtsgarig. Sofort war Billas Stimme zu hören: „Also hoffen wir, daß unsere Freunde da draußen nicht zuerst am Lukenmechanismus basteln, sonst fehlt uns womöglich am Ende eine halbe Stunde Atemluft!" Professor Muntz schaltete noch einmal und sagte: „Moment, ich bin nicht weit genug nach vorn gefahren." Nach einer kurzen konzentrierten Beratung fanden nun Billas Überle23
gungen ihre Entsprechung in gemeinsamen und entschlossenen Maßnahmen Egills und Likovskys. Die Arbeit am Lukenmechanismus ging weiter, aber ein zweites Team, zwei Ingenieure und der alte Schaltelektriker, löste die Schaltgruppe der Luftregenerierung heraus. Egill, Likovsky und zwei weitere Ingenieure richteten die Ja-NeinVerständigung über eine Monitorleitung mit Billa ein, die man am Anfang angeregt, aber später fallengelassen hatte. Billa erkannte sehr rasch die Möglichkeit, sieh auf diese Art zu verständigen. Er stellte Fragen und ließ sich durch NeinAntworten zu neuen Fragen hinführen, bis die Ja-Antwort bewies, daß man sich verstanden hatte. 24
Auf diese Weise war sogar die sehr schwierige Abstimmung möglich, was die sechs Eingeschlossenen tun sollten, falls außen doch noch Verzögerungen auftreten würden. Billa regte an, mit seiner Mannschaft eine Schaltung vorzubereiten, die eine Teilfunktion der Luftregenerierung mit der Gesamtkapazität der Bordnotstromversorgung ermöglichte. Egill zögerte mit seiner Zustimmung, denn er fürchtete, daß Fehlerquellen entstehen könnten, aber Professor Muntz und Simon mischten sich ein. Sie hielten eine konzentrierte Beschäftigung der Büla-Mannschaft in der Zeit, wo alles auf einen Krisenpunkt zulief, psychologisch für außerordentlich wünschenswert und die Möglichkeit
einer Fehlschaltung für unwahrscheinlich. Svea führte ein Minutendiagramm. Mit einer dicken roten Linie war der Zeitpunkt markiert, bis zu dem die Atemluft im Simulator reichte. Sie hatte auch eine Stoppuhr in Gang gesetzt, deren Ticken den unerbittlichen Ablauf der kostbaren Minuten anzeigte. Svea hatte den Eindruck, daß die Uhr von Sekunde zu Sekunde schneller lief. Professor Muntz und Simon beobachteten aufmerksam die Arbeit im Simulator. Nach einer Weile sagte Simon: „Es ist kaum zu glauben, wie ruhig die sechs arbeiten. Dabei haben sie nur noch für einige Minuten Sauerstoff." Professor Muntz war offenbar mit seinen Gedanken schon weit vorausgeeilt, denn er sagte: „Mir ist noch nicht klar, wie Egill diese gefährliche Havarie verantworten will, aber sie ist von großer Bedeutung für die Einschätzung, was diese Mannschaft wirklich zu leisten imstande ist. Hoffentlich gelingt es uns, diese Erfahrungen für die zukünftige Arbeit der Schule auszuwerten." Svea starrte auf das Diagramm, die Linie war inzwischen erschreckend weit gewandert. Der Sekundenzeiger tickte unerbittlich. Sie hatte nur einen Gedanken: Wird es reichen? Plötzlich riß sie Egüls Stimme hoch: „Svea, Uhrzeit!" Im Simulator spürte m a n schon sehr deutlich den beginnenden Sauerstoffmangel. Der Atem der Testkosmonauten ging beschleunigt. Schweißtropfen bildeten sich überall im Gesicht. Aber sie realisierten Schaltung um Schaltung. Anna beobachtete sehr aufmerksam die Gesichter der anderen, aber auch sie litt schon erheblich an Atemnot. Der kleine Funkingenieur begann plötzlich zu lachen. Büla blickte kurz zu ihm hin und sagte dann ruhig: „Wenn der Witz gut ist, dann erzähl ihn!"
Der kleine Funkingenieur versuchte, sein Lachen zu unterdrükken. „Ich dachte gerade an unseren Spaziergang an der Steilküste..., war verdammt viel Luft überall..., hätte eine Mütze voll mitbringen sollen..." Noch ein gurgelnder Laut, und er rutschte in sich zusammen. Anna faßte sofort zu und gab ihm eine Injektion. Nicole half ihr dabei und blickte dann schweratmend zu Büla. Büla arbeitete mit ruhigen Bewegungen weiter. Der Bordingenieur und der Navigator hatten schon Mühe, den Schaltplan zu lesen. Bülas Stimme erreichte sie nur noch wie aus weiter Ferne, eine ungeheure Müdigkeit griff nach ihnen. Plötzlich wehte deutlich ein frischer Lufthauch herein. Nach genau 45 Minuten begann die Luftregenerierung zu arbeiten, voü zu arbeiten, also von außen gespeist. Egül hatte die letzten Minuten neben dem alten Schaltelektriker gestanden. Dessen Ruhe und Sicherheit hatten ihn teils beruhigt und teüs irritiert. Hatte er sich wirklich noch einen Rest von Handlungsfreiheit bewahrt? Nun war also die Büla-Mannschaft gerettet, wenn auch der Lukenmechanismus erst nach noch mal zwei Stunden in Gang kam. Während dieser Wartezeit saß Egill auf einem Stuhl in der medizinischen Kontrollsektion. Er versuchte, die Ereignisse der letzten Stunden zu überdenken, aber es gelang ihm nicht, sich zu konzentrieren. Simon und Professor Muntz beobachteten ihn unauffäüig, sprachen ihn aber nicht an. Sie ahnten nicht, daß Egül der Gedanke quälte, die beiden Raumhavarien wären doch zu vermeiden gewesen. Endlich öffnete sich langsam die 25
Luke, und die Kosmonauten kletterten nacheinander aus dem Simulator heraus, als letzter Büla. Nicht nur die Kontrollmannschaft, sondern sämtliche Angehörige der Schule hatten sich versammelt. Alle standen regungslos und blickten schweigend zur Luke. Im Gegensatz dazu bewegten sich die sechs Kandidaten und sprachen mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie nach Beendigung eines normal verlaufenen Tests. Billa blieb einen Moment vor dem bleichen Lehrgangsleiter stehen und fragte: „Wollen wir gleich mit der Auswertung beginnen?" Egill antwortete für Likovsky: „In zwei Stunden im Klubraum." Nur Svea benahm sich unprogrammäßig, sie küßte und umarmte Anna und die kleine Nicole und heulte dabei laut und ziemlich ungehemmt. Während sich der Kontrollraum rasch leerte, kletterte Professor Muntz in den Simulator und setzte sich nachdenklich im Pilotron in den Sessel, von dem aus Billa seine Entscheidungen getroffen hatte. Er betätigte den Schnellrücklauf des Bordspeichers, stoppte irgendwann und ließ dann mit normaler Geschwindigkeit die Aufzeichnungen aller Bordgespräche und Kommandos ablaufen. Nach einer Weile merkte er, daß es ihm gelang, die Position des Beobachters allmählich mit der eines unmittelbar Beteüigten zu vertauschen. -Als er in den Simulatur geklettert war, hatte er sich sein Motiv nicht voll bewußt gemacht. Jetzt wurde es ihm klar. Die Position des Außenstehenden, der mit wissenschaftlicher Genauigkeit die Reaktionen von Menschen in höchster Gefahr lediglich beobachtet und registriert, war ihm in den letzten Stunden des Testes immer fragwürdiger geworden. Jetzt überwältigte ihn die Unmittelbarkeit des Geschehens. Ein paarmal zuckte seine Hand 26
nach der Sprechtaste, aber es war immer schon zu spät. Es ärgerte ihn, daß er eine so lange Reaktionszeit hatte. Seine Vorschläge wären in der Wirklichkeit immer zu spät gekommen. Professor Muntz wußte sehr genau, daß die richtige Entscheidung immer an den richtigen Zeitpunkt gebunden ist. Aber die Zeit lief ihm weg. Er fühlte einen wachsenden Druck in der Magengrube, hatte den Eindruck, selbst mitten in der Havarie zu stecken. Waren das Angstgefühle, oder arbeitete der Simulator wirklich? So mußte der Körper bei 3g reagieren, oder war der Andruck schon stärker? Eine unbezwingbare Gleichgültigkeit überkam ihn plötzlich. Mit letzter Willensanstrengung versuchte er, die Stopptaste des Bordspeichers zu erreichen. Dann schlief er ein. So fand man ihn, als man zwei Stunden später nach ihm suchte, weil er bei der Auswertung vermißt wurde. Im Klubraum war die Anordnung der Sessel und Tische nicht verändert worden, die Auswertung sollte nicht wie eine Gerichtsverhandlung aussehen. Deshalb leitete auch, wie immer bei diesen Anlässen, der Lehrgangsleiter die Diskussion. Es begann zunächst sehr ruhig und geradezu übersachlich. Die Leistung der Mannschaft als Kollektiv wurde bewertet und die jedes einzelnen Kandidaten. Da die Ergebnisse bei allen Programmpunkten hervorragend gewesen waren, einigte man sich rasch bei der Bewertung. Dann kam der ominöse Stromausfall. Billa schlug vor, das als zum Testprogramm gehörend zu bewerten und nicht getrennt zu behandeln. Er stieß mit seinem Vorschlag auf starken Widerspruch, und sehr rasch steigerte sich das bis dahin sachliche Gespräch zu einer erregten Auseinandersetzung. Warum hatte der Kommandant erst dem
Testprogramm ohne Einwand zugestimmt und dann hinter dem Rükken des Lehrgangsleiters und des gesamten Testpersonals die Havarie auslösen lassen? Der alte Schaltelektriker fühlte sich angesprochen und antwortete für Egill. „Der bis zu diesem Zeitpunkt zu glatte Testverlauf ließ den Kommandanten im Rückblick auf die beiden Raumhavarien an den Lehrgangsergebnissen der letzten Jahre zweifeln. Er hielt eine härtere Wirklichkeitsnähe für notwendig, die nicht als bloßes Sandkastenspiel geplant werden konnte. Zu diesem Zeitpunkt schienen mir die Überlegungen des Kommandanten richtig zu sein." Er wurde unterbrochen, und es hagelte Einwände und Zwischenrufe. Er wurde nach seiner Eigenverantwortung gefragt, nach der Schuldisziplin. Andere nahmen sofort für ihn Partei, maßen an seiner Risikobereitschaft ihr eigenes Abwarten. Das waren alles.spontane, temperamentgeladene Äußerungen, und Bert Likovsky hatte Mühe, die Auseinandersetzung wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Und dann spitzten sich die Widersprüche sehr rasch auf den Kommandanten zu. Billa versuchte noch einmal, die Diskussion auf die Auswertung ihres Lehrganges zu begrenzen. „Wie m a n auch immer die ungewöhnliche Maßnahme des Kömmandanten beurteüen wird, fest steht, daß meine Mannschaft für die nächste Aufgabe im Weltraum viel besser vorbereitet ist, als das bei einem programmierten Normalverlauf des Lehrgangs möglich gewesen w ä r e . . . " Er wurde von einigen Ingenieuren unterbrochen, die diese Einschätzung als zu subjektiv ablehnten, als zuwenig meßbar, das könne nicht als Grundlage für die gegenwärtige und zukünftige Arbeit der Schule akzeptiert werden.
Egill hatte still und sehr aufmerksam die ganze Zeit zugehört. Er hatte sich immer für einen guten, wenn auch nicht für den bestmöglichen Kommandanten gehalten, mit einem Blick für die großen Zusammenhänge, mit einer gewissen Toleranzbreite für die kleinen menschlichen Schwächen und mit selbstverständlichem Mut zur Selbstkritik. Nun merkte er plötzlich, daß er den entscheidenden Fehler gemacht hatte, seinen Mitarbeitern keine klaren Zielvorstellungen zu vermitteln. Deshalb waren auch die an sich natürlichen und notwendigen Widersprüche zwischen ihm und Bert Likovsky, oder auch zwischen anderen Angehörigen der Schule, nicht produktiv geworden für ihre Aufgaben. Jetzt fragte er sich, warum er sich gescheut hatte, als Schwerpunkt des Haupttests Aufgaben zu verlangen, die nur durch die Willenskraft, die Entschlußfreudigkeit und die Eigenverantwortung der Kandidaten gelöst werden konnten. War ihm das vorher nicht so klar gewesen? Er wurde plötzlich aus seinen Gedanken gerissen, denn im Klubraum war es mit einem Schlag ganz still geworden. Der Chefpsychologe hatte nämlich gesagt: „Unsere Diskussion dreht sich im Kreise und führt zu keinen echten Schlußfolgerungen. Ich schlage deshalb vor, sie als eine Testverhandlung weiterzuführen unter der Annahme, die sechs Kandidaten wären im Simulator erstickt!" Die Stille dauerte sehr lange, und alle blickten fragend zu Simon, ob sein Vorschlag wirklich ernst gemeint sei. Dann sagte Egill langsam: „Der Vorschlag ist gut, denn er führt uns zu richtigen Fragestellungen. Wir sollten ihm zustimmen!" Die Verhandlung wurde nach kurzer Diskussion für den nächsten Tag angesetzt. Der Chefpsychologe wurde als Vorsitzender, Anna und 27
ein Ingenieur als Beisitzer gewählt. Nach dieser überraschenden Wendung gingen alle an ihre Arbeitsplätze zurück, um die Kontrollunterlagen weiter auszuwerten. Professor Muntz sagte noch zu Egill: „Obwohl es riskant war, was du gemacht hast, war es richtig!" Egill blieb einen Augenblick stehen und schüttelte den Kopf. „Richtig war es nicht, aber für mich der letzte Ausweg. Ein Leiter sollte sich nicht selbst in die Lage bringen, die Notbremse ziehen zu 28
Professor Muntz blickte ihm nachdenklich hinterher. Am Abend machte Thomas Billa mit Svea einen langen Spaziergang am Strand. Sie sprachen nur über Egill. Es gab keinen Zweifel, daß er als Kommandant der Schule abgelöst werden würde, er hatte selbst schon den Antrag gestellt. Svea sagte: „Ist das nicht schwer zu begreifen, daß ein Mensch Fehler macht, für die er bestraft werden muß, die aber uns allen weiterhelfen?"
„Uns helfen nicht dje Fehler weiter, sondern die Konsequenzen, die wir daraus ziehen. Und das Wort ,bestrafen' halte ich für übertrieben. Ein Kandidat versagt bei einem Test. Wird er ,bestraft'? Nein, natürlich nicht. Aber er muß zurückgeschickt werden. Dann kommt das Entscheidende, resigniert er oder nimmt er einen neuen Anlauf? Wie, glaubst du, wird Egill reagieren?" Svea atmete tief die frische Meeresluft ein. Dieser Gedanke befreite sie von dem Druck, der auf ihr seit der Diskussion im Klubraum lastete. „Wenn Egill in den Jahren, seitdem ich ihn kenne, manchmal eine Schachpartie verlor, spielte er die nächste so stark, daß sogar Großmeister vor ihm Angst hatten!" Sie lachten beide und sprangen über ein p a a r Steinblöcke, die hier
am Strand verstreut lagen. Plötzlich blieb Billa stehen und hielt Svea fest. „Ich wollte dir noch etwas sagen..." „Jetzt nicht, später." Die beiden standen sehr dicht beieinander und blickten sich an, dann löste sich das Mädchen sanft aus Billas Griff und ging weiter. Als sie einen schmalen Trittpfad an der Steilküste emporkletterten, saß am höchsten Punkt plötzlich Egill vor ihnen. Er lachte und sagte: „Ich dachte gerade darüber nach, wen ich als Nachfolger vorschlagen soll. Wie wäre es, Thomas?" Billa setzte sich neben ihn. „Deine Scherze waren schon immer gefürchtet, Egill!" Svea Bram war stehengeblieben und blickte die beiden Männer prüfend an, dann setzte sie sich und sah wie sie auf das Meer hinaus.
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