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Hans Lebek DIE GIER NACH REICHTUM - Helastrilogie I Science Fiction © 2009 AAVAA e-Book Verlag UG (haftungsbeschränkt) Quickborner Str. 78 – 80, 13439 Berlin Telefon: +49 (0)30 565 849 410
[email protected] Cover: Grundlage ist das Bild „Kurz vor Weltuntergang“ des Künstlers Karlheinz SMOLA 1. Auflage 2009, Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Sabine Lebek, Berlin ISBN 978-3-941839-32-8
Alle Personen und Namen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Prolog Der Geröllhang begann tatsächlich zu rutschen. Es war unglaublich. Weit und breit war kein Anlass für diese Katastrophe zu erkennen. Aber gegen den strahlend blauen Julihimmel zeichnete sich eine deutliche Staubwolke ab, wie sie nur ein beginnender Bergrutsch größeren Ausmaßes verursachen konnte. Ein Teil, knapp unter dem Berggipfel des 3000 Meter hohen Ritterkopfes, hatte sich zu lösen begonnen. In Peter Lander, und offensichtlich auch bei allen anderen Teilnehmern der Bergwanderung, stieg Panik auf. Eine blonde, etwas beleibtere MitteFünfzigerin schrie hysterisch auf und ruderte wild mit den Armen in Richtung Staubwolke herum. Auch Sepp Hintermayer, der alte, erfahrene Bergführer stand diesem Phänomen ratlos gegenüber. Peter war der Letzte der Gruppe und noch ziemlich weit unten. Er sah sich verzweifelt nach einem Schutz um. Links von ihm waren noch die gewaltigen Eisreste des alten, bereits stark abgetauten Ausläufers des Diesbachgletschers schmutzig grau im Sonnenlicht glitzernd zu erkennen. Oberhalb und rechts von ihm nur Steine und Geröll. In seiner Angst entschied er sich kurzerhand für einen Sprint in Richtung Gletscherrest, so schnell es der 3
schräge Hang überhaupt zuließ. Aus den Augenwinkeln heraus nahm er noch wahr, wie Sepp seiner Gruppe zubrüllte, nach rechts unten wegzulaufen und irgendwo Deckung zu suchen. Er sah auch noch, wie gerade diese zehnköpfige Gruppe schreiend unter den herab tosenden Geröll-und Gesteinsmassen lebendig begraben oder zerschmettert wurde. Hinter ihm schlugen inzwischen ebenfalls mit lautem Getöse die ersten kleineren und mittleren Felsbrocken ein. Mit riesigen Sprüngen erreichte er die ersten Eisschichten, rutschte aus und fiel prompt hin. Dabei schlitterte er mehrere Meter talabwärts und schürfte sich die Hände auf. Sich wieder aufrappelnd, gelang es ihm, halb rutschend, halb springend noch mehrere Meter Boden gut zu machen, bevor auch ihn das Gros der Steinlawine einholte. Mit einem letzten, verzweifelten Sprung in eine kleine Eissenke erhoffte er sich die Rettung. Kaum schlug er mit seinem Körper flach auf dem Eis auf, gab diese Stelle auch schon nach und er rutsche schräg nach unten.
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‘Es muss sich hier um eine verdeckte Gletscherspalte handeln’, ging es ihm in seiner Todesangst durch den Kopf. Während des Abrutschens, es war schon fast ein Fallen, fragte er sich, wieso er diese blöde Gebirgswanderung überhaupt mitgemacht hatte, wo er doch für diese Art von Ausflügen gar nichts übrig hatte. .
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Es hatte Ende Juli begonnen und es war wieder einmal so weit gewesen. Der Sommerurlaub stand für die Familie Lander vor der Türe. Es war der erste seit drei Jahren und wurde besonders von den beiden Kindern sehnlich erwartet. Diesmal sollte es nach Österreich in die Tauernregion gehen. Eine schöne Hotelanlage in der Nähe von Rauris mit Reithalle, Tennis-und Golfplatz war das Ziel. Am Tag der Abreise, einem Freitag, war totale Hektik angesagt. Peter Lander, Sohn einer Amerikanerin und eines Franzosen, hatte gerade seinen 38. Geburtstag hinter sich und fühlte sich diesem Stress kaum mehr gewachsen. Da ging es seiner Frau, Ellen, schon besser. Mit ihren 37 Jahren fühlte sie sich, trotz einer 17 jähriger Ehe mit Peter, durchaus wohl. Beruflich hatte sie alles erreicht, was sie wollte. Als Architektin war sie sehr erfolgreich gewesen, und konnte während der Jahre, als ihre beiden Kinder klein waren, es sich sogar leisten, nur halbtags zu arbeiten, um so ausreichend Zeit für die Familie zu haben. Überhaupt ging es den Landers nicht schlecht. Peter, der in einem Transportunternehmen, welches seinem engsten Freund Georg gehörte, leitend tätig war, arbeitete sehr viel und verdiente auch zufriedenstellend. Seine langen Arbeitszeiten gaben so manchen Anlass für kleinere Ehestreitigkeiten, die bisher jedoch stets ganz 6
glimpflich abgelaufen waren. Ihre gemeinsamen Hobbys, Tanzen, Golfspielen und die beiden Kinder verbanden sie bestens. Diese Kinder, Alexander, 16 Jahre alt, und Sabine, 15, waren ihr ganzer Stolz und Freude, auch wenn die beiden Racker sich so manches Mal zofften, dass das Haus wackelte. Aber heute war einer der Tage, an denen Peter alles verfluchte. Der Wagen, ein Audi A 6 Allroad Diesel, schien für das Reisegepäck doch viel zu klein zu sein. Die frotzelnde Bemerkung Sabines, dass drei komplette Golfsätze nebst Taschen und Trolleys, schon mehr als die Hälfte des zur Verfügung stehenden Platzes einnehmen, war auch nicht gerade aufmunternd, wenn auch richtig. Der unverschämte Seitenhieb Alexanders, dass Papa seine Golfschläger eigentlich ruhig zu Hause lassen könnte, weil er ohnehin nur äußerst bescheiden spielen würde, brachte das Fass für Peter zum Überlaufen. Er tobte. Ellen und die Kinder konnten sich vor Lachen kaum noch zurückhalten. Letztendlich beruhigte er sich wieder und schaffte es auch, alles unterzubringen. Endlich unterwegs, begann auch für Peter der Urlaub. Neben ihm saß seine Ellen und las trotz des Geschaukels einer ihrer schmalzigen Beziehungskisten-Romane. Er war auch nach so vielen Jahren noch in seine Frau verliebt, selbst wenn man glaubte, alles an ihr zu 7
kennen. Im Gegensatz zu ihm selbst hatte sie sich mit den Jahren kaum verändert. Sie war immer noch so schlank wie vor 15 Jahren, hatte eine kleine Nase, grüngraue Augen, dunkelblonde, lange Haare, und mit 175 Zentimeter Länge eine ideale Kleidungsgröße. Da hatte sich Peter schon deutlicher verändert. Er war zwar nicht übergewichtig, hatte aber inzwischen doch schon ein kleines Bäuchlein, und das, obwohl er kein Bier trank oder übermäßig viel aß, sondern ziemlich viel Sport trieb. Dunkle Haare umrandeten sein schmales, markantes Gesicht. Grübchen tauchten beim Lächeln auf und schienen auf ein ausgesprochen freundliches Wesen hinzudeuten, wenn da nicht die fast stechenden, blauen Augen gewesen wären. Sie hatten schon so manchen gewarnt sich mit ihm anzulegen. Vom Intellekt her empfand er sich selbst als Durchschnittskost. Obwohl er ein Studium erfolgreich abgeschlossen hatte, hatte er es nie zu einer besonderen beruflichen Stellung gebracht und auch keine sonderlichen Vermögen anhäufen können und wollen. Er war nicht sehr ehrgeizig und galt als freundlicher, zurückhaltender Vorgesetzter, der nicht nach oben buckelte, und nicht nach unten trat. Sein größtes Kapital lag in seiner persönlichen, inneren Zufriedenheit. Und diese Zufriedenheit erfüllte ihn gerade in diesem 8
Augenblick wieder übermächtig – trotz eines elenden Staus auf der A 9. Unterwegs übernachteten sie in einem kleinen bayrischen Ort, in dem es zwar nur maximal zwanzig Geschäfte gab, aber eines davon war, zur großen Freude seiner Kinder, ein Fastfoodlokal der bekanntesten Marke. Am kommenden Vormittag hatten sie ihr Ferienziel endlich erreicht. Der schöne Anblick der umliegenden Bergwelt und auch der Hotelanlage entschädigte alle für die lange Anreise. Nach dem Anmelden an der Hotelrezeption und dem Besichtigen ihrer Zimmer, konnte Peter das gesamte Gepäck allein hoch schleppen, denn die so hilfreichen Kinder waren blitzschnell verschwunden. Ellen räumte die Sachen genüsslich ein. Immerhin wollten sie hier drei wunderschöne Wochen verleben und sie freute sich schon auf die Golfrunden mit Peter. Der Vorteil dieser Hotelanlage war, dass die Kinder hier den ganzen Tag sich selbst überlassen bleiben konnten und trotzdem gut und sicher aufgehoben waren. Genau genommen empfand Ellen diese Ferien als Ferien von den Kindern. Nicht einmal Essen musste sie machen. Sie hatten Vollverpflegung gebucht. 9
Endlich Urlaub. Peter sah das immer ganz anders. Nach dem Urlaub war häufig seine Devise gewesen – endlich wieder arbeiten. Den Nachmittag verbrachten sie mit der Besichtigung aller Einrichtungen und Geschäfte in der Anlage. Sie waren begeistert. Für ihr Golfgepäck mieteten sie zwei Schränke. Peter wäre am liebsten noch am Nachmittag auf die Runde gegangen, aber Ellen hielt ihn geschickt davon ab. Im Golfshop war gleich seine erste Frage, ob man als Hotelgast Abschlagzeiten vorbestellen muss. Dies wurde so freundlich und kategorisch verneint, dass sich bei Peter die Ansicht breit machte, dass in den nächsten drei Wochen Golfrunden ohne den Druck durch zu viele Spieler möglich sein werden. Alexander und Sabine kamen aus dem Reitstall zurück und teilten ihren Eltern mit, dass tolle Pferde zur Verfügung stehen und sie bereits für die nächsten Tage alles klar gemacht hätten. Die Vorfreude auf die kommenden Tage wuchs ins Unendliche. So war es nicht verwunderlich, dass der Tag bei einem guten Abendessen mit anschließendem Gutenacht-Drink harmonisch endete. Die Sonne schien durchs Fenster und weckte Peter und Ellen auf. Er sah blinzelnd auf das herrliche Alpenpanorama sowie die direkt vor dem Hotel 10
liegende Golfanlage und ein warmes Gefühl durchströmte ihn. Die Kinder schliefen noch und Ellen wirbelte bereits im Bad herum. Wenn für ihn das Frühstück nicht so eine geliebte Mahlzeit gewesen wäre, hätten ihn keine zehn Pferde mehr halten können und er wäre auf die Golfanlage gestürmt. Sie sah so verlockend aus. So aber wartete er, bis er ins Bad konnte und fand sich damit ab, erst nach einem geruhsamen Frühstück auf den Platz zu kommen. Endlich war es so weit. Das Frühstück hatten sie hinter sich, die Kinder waren unterwegs in den Reitstall und die Golfrunde war im Golfshop angemeldet. Schnell marschierten sie zum ersten Abschlag. Als Peter gerade seinen ersten Ball schlagen wollte, hörte er hinter sich eine aufgeregte, tiefe Stimme: „Warten´s noch etwas! Bitte warten´s noch!“ Peter drehte sich erstaunt um. Er sah einen mittelgroßen, braungebrannten, stämmigen Mann mit einer roten Golftragetasche auf sich zukommen. Als er näher heran war, konnte er auch noch ausmachen, dass dieser Golfer so gar nicht golfmäßig 11
gekleidet war. Er trug eine halblange Lederhose mit Hosenträger über einem rot karierten Hemd, graue, lange Wollstrümpfe, und eine gamsbartverzierte Mütze. Nur die Schuhe waren auf das Golfspiel abgestimmt. Die Schläger in seinem Bag waren ebenfalls sehr ungewöhnlich. In Peters und Ellens Bag gab es nur modernste Schläger. In der Tasche des Mannes steckten jedoch ausgesprochen abgespielte Eisen und Hölzer. „Entschuldigen bitte die Störung. Darf ich mit Ihnen mitgehen? Allein ist´s halt doch nicht so schön.“ Weder Peter noch Ellen hatten grundsätzlich etwas gegen andere Mitspieler einzuwenden. Im Gegenteil. Sie fanden, dass gerade dies eine der wesentlichen, positiven Seiten des Golfens darstellte, denn fremde Menschen vermitteln neue, andere Eindrücke. Und bei welchem Sport kann man sich besser unterhalten, als bei diesem Spiel. Speziell heute freuten sie sich sogar ganz besonders auf den Mitspieler. Zum einen sah er zu originell aus, zum anderen machte er sofort einen ausgesprochen sympathischen Eindruck. „Aber gerne“, rief Ellen ihm entgegen, „zu dritt macht’s wirklich mehr Spaß.“ 12
„Darf ich mich vorstellen. Ich bin der Hintermayer Sepp.“ Er streckte dabei seine knorrige Hand Richtung Ellen aus. Sie gab ihm ihre und antwortete: „Und ich bin Ellen Landers.“ Zum größten Staunen von Ellen und Peter, gab ihr Sepp einen formvollendeten Handkuss. Das hatte sie noch nicht erlebt. Ellen errötete doch tatsächlich etwas, obwohl Sepp beim besten Willen nicht mehr der Jüngste war, stellte Peter, innerlich schmunzelnd fest. Er schätzte ihn auf gute 60 Jahre. Anschließend wandte sich Sepp ihm zu und hielt diesem seine braungebrannte, kräftige Hand hin. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als diese ebenfalls zu schütteln und ein „Peter“ zu murmeln. Peter konnte sich einfach nicht von diesem Anblick losreißen und den Mund nicht mehr schließen. Bei einem einheimischen Schrammelabend hätte er sich diesen Sepp sehr gut vorstellen können. Aber hier beim Golf? Nein, beim besten Willen nicht. Endlich bekam er sich wieder in den Griff. Der Mund klappte zu und er zwinkerte Sepp zu: 13
„Sie sind hier bestimmt zu Hause? Darf ich Ihnen dann die Ehre des ersten Abschlags überlassen.“ „Ja, das ist hier mein Heimatplatz. Haben Sie hier schon einmal gespielt?“ „Nein“, lachte Peter freundlich auf, „wir sind erst gestern hier in der Hotelanlage angekommen.“ „Na, dann woll´n wir a´mal“, meinte Sepp und bückte sich auf dem ersten Abschlag um seinen Ball passend hinzulegen. Der knorrige Alte nahm seinen Driver, einen alten Holzschläger, aus dem Bag und machte einen lässigen Probeschwung. Bereits hier waren sich Ellen und Peter nicht mehr so sicher, dass sie hier einen Nichtgolfer vor sich hatten. Was dann folgte, war für die beiden dann doch ein gelinder Schock. Das Unikum schwang ganz locker den Schläger und schlug den Ball so mir nichts dir nichts kerzengerade über 200 Meter weit. Spätestens jetzt wussten beide, dass sie hier einen Könner als Mitspieler hatten. Peter malte sich bereits aus, dass er eine Menge dazulernen konnte, wenn er Sepp nur ganz genau beobachten würde. „Welches Handicap haben Sie, Sepp, wenn ich fragen darf?“, näherte sich Peter dem alten Mann. 14
„8, leider nur noch 8. Es war schon mal auf 0 unten. Aber man wird halt älter“, schmunzelte dieser. Er genoss die Verblüffung der Beiden offensichtlich. „Dann können wir ja noch eine Menge dazulernen, speziell ich mit meinem 24er Handicap“, entgegnete Peter, „sind Sie etwa Golf-Lehrer oder so etwas Ähnliches?“ „Nö, war ich auch nie. Ich bin hier Bergführer. Aber Golf hier in den Bergen, und das werden Sie auf dieser Runde noch deutlich genug merken, ist wie Bergsteigen in Verbindung mit Ball spielen.“ Peter war nach dieser mehr als vierstündigen Golfrunde körperlich so matt wie schon lange nicht mehr. Immer bergauf und bergab. Das musste einen Flachlandspieler einfach fertig machen. Nach dem Spiel lud Sepp Ellen und Peter noch zu einem Drink an der Golfbar „Loch 19“ ein. Sie setzten sich auf die Terrasse und genossen den traumhaften Panoramablick auf den schneebedeckten Groß Glockner und das Tauerngebirge. „Na, wie hat euch unser Platz gefallen?“, fragte Sepp, und sah dabei ganz gezielt Ellen an. 15
„Toll. Aber speziell wegen der großen Höhenunterschiede ist er auch ganz schön schwierig. Ich bin total kaputt. Meine Füße tun dermaßen weh, dass ich morgen wohl kaum auf die Runde werde gehen können“, resümierte Ellen. Peter sah sie ganz entgeistert an und meinte etwas eingeschnappt: „Allein hab ich aber keine Lust auf die Runde zu gehen. Vielleicht bist du morgen wieder fit?!“ „Ich glaube, da kann ich Ihnen einen ganz interessanten Vorschlag machen“, wandte Sepp ein, offensichtlich von der Absicht beseelt, die leichte Missstimmung gleich im Ansatz zu unterbinden. „Ja – welchen?“, ging Peter sofort auf diese Offerte ein, in der Hoffnung, dass er ihm eine erneute Golfrunde vorschlug. „Seht Ihr dort hinten das riesige Bergmassiv?“ Sepp zeigte dabei mit seinem knorrigen Zeigefinger auf das Tauerngebirge. „Dort oben liegt ein Gebiet, von dem man sagen kann, dass es größtenteils wohl noch nie von einem Menschen betreten wurde.“
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„So ein Unsinn“, konterte Ellen mit den Wimpern zuckend, „es dürfte in Westeuropa mit ziemlicher Sicherheit kein noch so kleines Gebiet geben, welches nicht schon zigmal von irgendwelchen Menschen betreten und belatscht wurde.“ „Nö, Nö. Hier liegt der Fall anders. Seht ihr dort oben links, ein gutes Stück unter den Gipfeln die hell schimmernde Lücke? Es handelt sich dabei um einen bereits kräftig abgetauten Gletscher. Es ist ein Nebenarm des Diesbachgletschers. Bis vor fünfundzwanzig Jahren war er noch etwa 50 Meter höher und bedeckte den gesamten riesigen Hochsattel. Man konnte diesen Gletscher wegen der unzähligen gefährlichen Spalten und Risse nicht betreten, davon mal abgesehen, dass das sowieso nicht interessant war. Jetzt, wo er fast verschwunden ist, gibt er wieder den Boden frei, so dass er auch begangen werden kann. Nur dort oben kommt man eben nicht so ohne weiteres hin.“ An dieser Stelle stoppte Sepp seine Rede, offensichtlich um etwas Spannung aufzubauen. „Wieso konnte der Gletscher in so kurzer Zeit so stark abtauen?“, interessierte sich Peter.
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„Vermutlich wegen der zunehmenden Erderwärmung allgemein, obwohl das auch nicht bewiesen ist. Aber Fakt ist es jedenfalls, dass er nun fast weg ist und man jetzt sehen kann, was er so alles hergibt“, antwortete Sepp feurig. „Ah, Sie denken dabei an einen solchen Fund wie damals vor etlichen Jahren. Dieser „Ötzi“ in den Ötztaler Bergen war doch eine Sensation? Oder was sonst?“, hinterfragte Peter sofort. Er dachte dabei an den noch gänzlich erhaltenen, circa 5000 Jahre alten Mann, der auf dem 3000 Meter hohen Similaungletscher auf italienischer Seite entdeckt wurde und jetzt in einem eigens dafür gebauten Museum ausgestellt wurde. Die Österreicher waren seinerzeit sehr neidisch auf die Italiener und suchten seitdem in allen ihren Gletschern nach weiteren fossilen und mumifizierten ehemaligen Lebewesen. „Ja, genau. Man kann dorthin allerdings nur mit ortskundigen, erfahrenen Führern gelangen. Sonst ist es zu gefährlich. Morgen nun, habe ich eine Führung genau in dieses Gebiet. Neun Geologen aus Frankreich wollen dort rauf – und ich soll sie rauf schaffen. Deshalb lade ich Sie ein, mitzukommen. Na, ist das ein guter Vorschlag?“, wandte sich Sepp an Peter. Der schaute abschätzend in 18
die Richtung, die da bezwungen werden sollte. Ganz schön weit weg und weit oben. Er schaukelte seinen Kopf hin und her. Diese Skepsis bemerkte Sepp sehr wohl und konnte sie auch genau einordnen: „Es sieht anstrengender aus, als es ist. Ich kann Sie um 8.00 Uhr hier abholen. Dann fahren wir in das Massiv hinein, bis zur Staiger Alm. Das ist bereits mehr als die Hälfte des Weges und ungefähr auf halber Höhe, zwischen dem Schafkarkogel und dem Edlenkopf. Dort warten auch die Geo´s. Von da ab geht’s dann nur noch zu Fuß weiter. Der Weg allerdings ist weniger steil als man gemeinhin annehmen könnte, denn es handelt sich ja immerhin um eine uralte Auswaschungsschräge des Gletschers. Das Ziel liegt an der obersten Sattelkuppe, direkt über dem Gletscherrest. Dort oben, gleich unter dem großen Gipfel, dem Ritterkopf. Also, eine Bergsteigerausrüstung ist nicht erforderlich, nur gutes Schuhwerk und warme Kleidung – und ´ne Brotzeit“ „Hhmm…, geeignete Schuhe“, grübelte Peter, bereits halb überzeugt, den Ausflug mitzumachen. Grundsätzlich hielt er nicht sehr viel vom Bergkraxeln. Aber so wie Sepp ihm das beschrieben hatte, ging es hier um keine Kletterei, sondern um 19
eine Wanderung in Schräglage mit interessanten Leuten in ein jungfräuliches Gebiet. „Könnten meine Golfschuhe mit Softstollen geeignetes Schuhwerk darstellen?“ „Aber ja, die sind nahezu ideal. Sie sind nicht zu hart beim Laufen, geben aber trotzdem besten Halt wegen der Stollen. Ich verwette meinen Hut, dass bei der Gruppe morgen mindestens die Hälfte der Teilnehmer normale Sporttreter anhaben – oder sogar mit Straßenschuhen gelaufen kommen, obwohl sie das bei ihrer Ausbildung anders gelernt haben müssten. Das geht zur Not auch, aber nach der Tour, sind die Füße dieser Kandidaten wund gelaufen. Wichtig wäre noch, einen dicken Parka oder Ähnliches anzuziehen. Dort oben wird es trotz Sonne unter Umständen empfindlich kalt sein. Und ein gutes Jausenbrot und eine volle Getränkeflasche müssen auch dabei sein. Aber das brauche ich einem Golfspieler ja wohl nicht zu sagen. Also, woll´n wir?“, dabei schaute er Peter fragend und hoffend an. Peter überlegte, warum Sepp ihm dieses doch wirklich sehr freundliche Angebot machte. Bestimmt war ihm die Geologen-Gruppe zu langweilig. Mit einem Menschen, der das gleiche Hobby hat, lässt es sich besser unterhalten, sinnierte Pe20
ter. Innerlich war er bereits Feuer und Flamme für diesen Ausflug. Trotzdem fragte er noch: „Wann könnten wir wieder zurück sein?“ „Na – abends wird’s schon werden. Die Geologen wollen dort oben irgendwelche Messungen machen. Das kann ein paar Stunden dauern. In dieser Zeit muss ich in der Nähe der Gruppe bleiben. Das gehört zu meiner Verantwortung. Aber wir können dann eine schöne Pause machen und uns genüsslich unterhalten.“ „Was meinst du, kann ich mit rauf, oder bist du sauer, wenn ich dich allein hier lasse“, fragte Peter sicherheitshalber noch Ellen. „Keine Spur. Ich bin eh fix und fertig und freue mich darauf, morgen einmal richtig auszuspannen und nichts zu tun. Klettere du ruhig da oben herum. Ich werde an dich denken und dabei einen schönen Cocktail schlürfen“, erwiderte Ellen und lächelte dabei Peter an. Es war ganz offensichtlich, dass sie sich aufrichtig freute, dass sie am nächsten Tag ausspannen konnte und ihr Schatz sich trotzdem aktiv betätigen konnte. Wäre er im Hotel geblieben, hätte es ihn doch spätestens mittags 21
wieder gejuckt und er hätte versucht, sie zu überzeugen, doch eine Golfrunde zu drehen. So wurde also diese Verabredung festgemacht. Alle Beteiligten waren danach sehr zufrieden, stießen vergnügt mit einem kleinen Willi an und sprachen sich ab diesen Zeitpunkt mit dem Vornamen an und Sepp verabschiedete sich hocherfreut. Der Rest des Tages wurde mit faulenzen verbracht. Abends kamen die Kinder von ihren Abenteuern zurück und schnatterten ununterbrochen. Auch sie waren auf ihre Kosten gekommen. Nach dem Abendessen fielen alle gesättigt, glücklich und erwartungsfroh in ihre Betten. Sogar die gewohnten Reibereien zwischen den Kindern blieben aus. Der nächste Morgen zeigte auch um sieben Uhr bereits seinen strahlend blauen Himmel. Ellen und die Kinder schliefen noch, als Peter sich leise aus dem Bett schwang. Schnell wusch und kämmte er sich, zog sich an und flitzte in den Frühstücksraum zum Essen und Proviant fassen. Kurz vor acht Uhr schlich er sich nochmals nach oben ins Schlafzimmer, um sich von seinen Kindern und seiner Ellen zu verabschieden. Die Kinder schliefen immer noch. Nur Ellen gähnte mit verschlafenen 22
Augen und schaute ihn vorwurfsvoll an. Er hatte sie offensichtlich aus dem Schlaf gerissen. „Pass´ gut auf dich auf und schone dich, sonst bist du morgen untauglich zum Golfspielen“, frotzelte Ellen trotzdem scherzhaft hinter ihm her. Er drehte sich noch mal um, winkte kurz und lief vergnügt nach unten ins Foyer. Sepp stand bereits im Eingang und rief ihm entgegen: „Guten Morgen. Ausgeschlafen? Hast genug zum Futtern und Trinken mit? Alles klar? Dann komm, es wird Zeit!“ „Morg´n, Sepp. So viele Fragen auf einmal. Aber es ist alles klar. Wir können sofort los“. Peter musste lachen. Sie stiegen in Sepps Landrover und brausten davon. Zuerst fuhren sie die schmale Straße ins Tal hinab, um dann auf der anderen Seite des lang gestreckten Tales wieder auf einer serpentinenreichen Strecke stetig bergauf in Richtung Tauerngebirge zu fahren. Die Straße, welche zu Anfang noch gut ausgebaut und asphaltiert war, änderte mit jedem 23
Kilometer zunehmend ihre Beschaffenheit. Sie wurde enger, ging langsam in einen Schotterweg über und war zuletzt nur noch ein steiler Bergweg. Peter wagte nicht nach links zu sehen, so steil fiel neben der Straße der Berghang ab. Er atmete tief durch, als sie endlich am Ende des Weges bei einer alten Almhütte ankamen. „So, das ist die Staiger Alm. Weiter können wir nicht mehr fahren. Da sitzen ja schon unsere Geologen“, schmunzelte Sepp. Und richtig. Eine Gruppe von sieben Männern und zwei Frauen saß auf einer Bank vor der Hütte. Sie schwatzten munter und gestenreich miteinander. Peter sah auf den ersten Blick, dass Sepp seine Klientel recht gut kannte. Die beiden Frauen und ein Mann hatten tatsächlich ganz normale Sportschuhe an. Peter fragte sich, was Geologen bei ihrer Ausbildung an der Universität wohl lernen würden. Er schüttelte missbilligend den Kopf und flüsterte Sepp zu: „Du hattest gestern Recht. Das Schuhwerk ist teilweise ein Witz.“ Sepp zuckte mit den Schultern und meinte lachend: 24
„Meine Füße sind’s ja nicht. Und so schwierig ist der Aufstieg ja Gott sei Dank auch nicht.“ Er wandte sich der Gruppe zu, begrüßte sie und stellte Peter kurz als Begleiter vor. Inzwischen war es bereits neun Uhr. Sepp drängte die Geologen zum Aufbruch. Jeder von ihnen hatte einen vollgepackten Rucksack, den sie jetzt aufnahmen. Nur zu gut waren in den Rucksäcken die diversen geologischen Werkzeuge zu erkennen. Einer der Männer hatte neben einem Klappspaten noch eine Hacke bei sich. Gekleidet waren sie alle nur geringfügig dicker als Sommerfrischler. Hier an der Almhütte im strahlenden Sonnenschein war es ja auch noch ganz erträglich. Die Sonne wärmte sogar um diese frühe Tageszeit bereits beachtlich. Aber als Peter nach oben sah, dorthin, wohin die Bergwanderung gehen sollte, war er überzeugt davon, dass einige der Teilnehmer dieser Tour noch ganz erbärmlich zu frieren beginnen würden. Es ging immerhin auf 2900 Meter hoch. Vielleicht befand sich in den Rucksäcken doch noch so manch ein Kleidungsstück. Es ging los. Sepp marschierte laut anweisend vorne weg, dahinter die beiden Damen, dann die Männer und am Schluss Peter. Sepp hatte Peter noch im Wagen gebeten, aus Sicherheitsgründen die Nachhut zu bilden. 25
Allzu großes Vertrauen schien Sepp zu den Geologen nicht zu haben. Zu Peter scheinbar schon. Was so eine Runde Golf doch alles ausmachen konnte. Nach einer halben Stunde wurde die Landschaft immer karger. Sepp erklärte, dass diese besondere Kargheit eine Folge des Abtauens eines bis vor ein paar Jahren hier noch befindlichen Gletschers war. Dieser hatte im Laufe der Jahrtausende alle Vegetation auf ein Minimum reduziert und es wird wohl wieder mehrere Jahre dauern, bis sich Pflanzen dauerhaft werden durchsetzen können. Inzwischen erreichte die Gruppe bereits das Gebiet, wo zur linken der Rest des Gletschers auftauchte. Der Aufstieg war doch offensichtlich für alle ziemlich beschwerlich und die Reihenfolgen und Abstände in der Gruppe hatten sich kontinuierlich verändert. Waren sie zu Beginn noch, schwatzend und scherzend, flott losgelaufen, so schwiegen jetzt alle und schnauften und stöhnten. Auch Peter fühlte die Anstrengung ganz deutlich. Lediglich der traumhafte Panoramablick zu den verschiedenen Alpenspitzen und in die Täler entschädigte ihn für die Mühe. Die Häuser dort tief unten liegend waren bereits ganz klein, wie Spielzeug. Bei diesem Anblick kam ihm ein Lied von Reinhard Mey in den Sinn: ‘über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein ......’ 26
Er war glücklich. Der kleine Zeiger der Uhr näherte sich bereits der elf. Sie waren jetzt sogar schon auf der Höhe des Gletscherrests. Peter sah nach oben und bekam große Augen. Es staubte dort, als wenn es sich um ein Schneegestöber handeln würde. Nur es gab dort oben in diesem Bereich weit und breit keinen Schnee. Auch Sepp schien das Phänomen gesehen zu haben. Er blieb stehen, hob die Hand und schüttelte den Kopf. Das konnte doch nicht sein, das gab es doch gar nicht. Der Geröllhang über ihnen begann tatsächlich zu rutschen......... Die Bergwacht wurde um 11.04 Uhr von Alois Schwaiger, dem Besitzer der Schwaiger Alm von dem ungewöhnlichen Bergrutsch ganz oben auf dem Ritterkopf verständigt. Erst nach dem Hinweis, dass gegen neun Uhr eine Geologengruppe mit Sepp Hintermayer genau in dieses Gebiet losmarschiert war, wurde der Leiter der Bergwacht hellhörig. Nach einigem Hin und Her, ahnte er, dass sich hier eine menschliche Tragödie abgespielt haben könnte oder immer noch abspielte. Er 27
rief die höchste Alarmstufe aus und schickte Polizei, Sanitäter und alle freien Kräfte der Bergwacht los, um die Gruppe zu suchen und, wenn erforderlich, Hilfe zu leisten. Auch verfluchte er zum x-ten Male, dass es immer noch kein Gesetz gab, welches Bergführer verpflichtete, ein Funkgerät oder Funktelefon bei gewerblichen Führungen mitzuführen. Selbst wenn diesmal alles gut ausging und sich dieser Einsatz als unnötig herausstellen sollte, würde er so viel Aufhebens darum machen, dass endlich diese Vorschrift durchgesetzt werden würde. Ellen kuschelte sich wohlig auf einer Sonnenliege und genoss die Ruhe. Sie hatte sich gut gegen die intensive Sonnenbestrahlung eingecremt. Die Kinder waren schon über eine Stunde beim Reiten. Es war kurz nach elf Uhr. Sie überlegte gerade, ob sie mal kurz in die Fluten des Swimmingpools springen sollte, als sie von Ferne die Sirenen von Polizei und Feuerwehr ganz leise, aber in dieser Stille trotzdem äußerst intensiv hörte. Ganz gemächlich stand sie auf und warf einen Blick in die Richtung des störenden Geräusches, konnte aber nichts entdecken. Die Schultern zuckend, sprang sie in die Fluten des Pools. Das Wasser war herrlich erfrischend. Als sie sich gerade mit beiden Armen über 28
den Beckenrand stemmte, hörte sie schon wieder von weit her schrilles Sirenengeheul. Und zu allem Übel knatterten jetzt auch noch in der Ferne die Rotorblätter eines Hubschraubers. ‘Da muss irgendwo irgendetwas Gewaltiges passiert sein’, dachte sie und blickte dabei in die Richtung, wo der Hubschrauber soeben über den Berggipfeln auftauchte. „Hhmm.., das ist ja ungefähr die Ecke, wo Peter heute herum kraxelt“, murmelte sie im Selbstgespräch, „na – vielleicht weiß er heute Abend, was da los war.“ Sie warf sich wieder auf die Liege, schnappte ihr Buch und las, ohne weiter darüber nachzudenken, weiter. Peter fiel, oder genauer gesagt glitt immer noch schräg nach unten, immer tiefer in die Gletscherspalte hinein. Zu seinem Glück, war diese Spalte so schräg, dass das Rutschen so langsam vor sich ging, dass er schlimmstenfalls lediglich Schürfwunden davontragen würde. Anhalten konnte er nicht, egal wie er es auch anstellte, denn die Wände waren kalt, feucht und vor allem glatt. Seine panikartige Angst senkte sich etwas, als er merkte, 29
oder vielmehr spürte, dass augenblicklich keine akute Lebensgefahr bestand. Über sich hörte er wiederholtes Poltern und Knallen. ‘Das müssen verschiedene Felsbrocken sein, die auf den Gletscherrest auftreffen’, dachte er bei sich. „Scheinbar hab ich einen Mordsdusel gehabt, gerade in diese Spalte zu fallen“, überlegte er laut weiter. Er griff immer wieder mit beiden Händen in die Wände der Spalte, um sich irgendwie festzuhalten. Beide Arme waren nach oben gestreckt. Er versuchte sie nach unten zu bekommen, aber es klappte nicht, da kaum Platz zum Bewegen war. Nur zum weiteren Abwärtsrutschen reichte es. Plötzlich hörte er hoch über sich wieder einen dumpfen Knall. Das Geräusch war ungefähr so, als wenn ein größerer Felsbrocken auf dickes Eis fällt. Und im Anschluss hörte er, ein immer lauter werdendes polterndes Rauschen. „Mist!“, brüllte er, und da war der Stein auch schon wie ein Geschoss ganz knapp an ihm vorbei gerauscht. Angstschweiß trat ihm auf die Stirne. Hatte er sich eben noch für sicher gehalten, was den verheeren30
den Steinschlag über ihm anging, so war diese trügerisch Sicherheit jetzt wie weggewischt. Die Hände versuchte er nun nicht mehr nach unten zu bekommen, stellten sie doch eine Art Schutzschild dar, falls noch einige Brocken angesaust kamen. Kaum dass sich sein Puls wieder beruhigte, kam für ihn der nächste Schock. Das Gleiten wurde immer langsamer und die Spalte immer enger. Er hatte allmählich Bedenken, dass er eingeklemmt und bewegungsunfähig stecken bleiben könnte. Das hätte dann einen qualvollen Tod durch Erfrieren zur Folge, sofern er nicht schnell genug gefunden wurde. Und ob ihn hier jemand suchen und gar finden würde, war mehr als ungewiss. Er war, schätzte er, mindestens 20 bis 30 Meter tief in die Spalte gerutscht und es war bitter kalt und sehr dunkel geworden. Gott sei Dank, dass er den Rat von Sepp befolgt und warme, dicke Kleidung angezogen hatte. Jetzt steckte er, an den Oberschenkeln eingeklemmt, fest. Das ferne Poltern oberhalb hatte inzwischen aufgehört. So sehr er auch versuchte, die Arme nach unten zu ziehen, es gelang ihm nicht. Seine Versuche, mit den Füßen an der Wand Vorsprünge zu finden, damit er aus eigener Kraft seine 31
Position ändern konnte, schlugen fehl. Er konnte mit seinen Beinen keine Wand erspüren. Als er das bemerkte, durchzuckte ihn wiederum ein höllischer Schreck. Waren seine Beine taub oder gelähmt, oder war unter ihm ein Abgrund? Sehen konnte er nichts - nur über ihm schimmerte es etwas hellgrau. Er verhielt sich erst einmal ganz ruhig und versuchte zu überlegen. Wenn er die Füße gegeneinander schlagen würde, und zwar kräftig, müsste er den Schmerz spüren, und konnte dann auch nicht gelähmt oder irgendetwas Ähnliches sein. Gedacht, getan. Er spreizte weit die Beine und schlug sie, wie bei einem militärischen Gruß, heftig gegeneinander. „Au ! Verdammt!“, brüllte er. Es hatte eindeutig Schmerzen bereitet – und zugleich sackte er um mindestens 30 Zentimeter weiter nach unten. Jetzt hing er mit seinem Hinterteil fest. ‘Nach unten? – Was befand sich unter ihm? Oder besser gefragt, wie viel befand sich nicht unter ihm? Drei bis vier Meter freien Fall konnte man 32
unverletzt überstehen – aber mehr?’ ging es ihm entsetzt durch den Kopf. Er überlegte weiter: ‘Wenn ich mich zu stark bewege, falle ich in einen dunklen, unbekannten und eventuell tiefen Raum – auf der anderen Seite, wenn ich mich nicht bewege und keiner findet mich, was ja wahrscheinlich ist, erfriere ich hier erbärmlich. Außerdem muss ich davon ausgehen, dass durch meine Körperwärme und meinen Gewichtsverlust ich ohnehin demnächst aus der Spalte herausfallen werde. Also ist es besser, wenn ich das jetzt sofort bewusst forciere. Jetzt hab ich noch Kraft und bin warm’. Zu diesem Entschluss gekommen, setzte er ihn auch sofort in die Tat um. Er wackelte mit allem, was ihm zur Verfügung stand, holte tief Luft und atmete noch tiefer aus, und plötzlich rutsche er wieder ein paar Zentimeter tiefer. Dies wiederholte er mehrmals, bis es schlagartig einen Ruck gab, und er den Halt verlor. Jetzt war er nicht mehr festgeklemmt. Dafür fiel er aber senkrecht nach unten, wenn auch nur kurze Zeit, und schlug so heftig auf dem Boden auf, dass ihm die Sinne schwanden und er bewusstlos liegen blieb. Die ersten Rettungsmannschaften und einige Bewohner des Dorfes Bucheben kamen gegen 13.35 33
Uhr am Rande des Geröllhanges an. Der Hubschrauber hatte bereits mehrere Runden über dem ausgedehnten Bergrutschgebiet gedreht, aber nirgends Lebenszeichen entdecken können. Er fand die vermisste Geologengruppe auch nicht, obwohl er wiederholt lautstark über Außenlautsprecher die Gruppe um Sepp aufforderte, sich zu zeigen. Schnell verdichtete sich der Verdacht zur Gewissheit, dass eine Katastrophe passiert sein musste. Es war allen ein Rätsel, was diesen gigantischen Bergrutsch in dieser Höhe ausgelöst haben könnte. Auch erschien es den Meisten als ein reines Wunder, dass die Gesteinsmaßen nicht bis ins Tal gestürzt waren, sondern auf dem Hochsattel gebremst worden und dort liegen geblieben waren. Die Suche begann. Zuerst suchten nur Menschen mit Schaufeln, Hacken und Stangen, später kamen dann noch Suchhunde hinzu. Kurz vor 15.00 Uhr wurde der erste Schuh gefunden. Es war ein Damensportschuh. Bereits eine halbe Stunde danach wurde die Besitzerin entdeckt. Die Rettungsmannschaften waren sich schnell einig, dass es sich um einen schrecklichen Tod gehandelt haben musste. Nach und nach bis 18.00 Uhr wurden dann auch die restlichen Teilnehmer der Bergtour gefunden. Eine Frau mit 34
blonden Haaren und ein Mann, mit einer langen Lederhose und einer dicken, sehr festen Bergjacke bekleidet, lebten noch, wenn auch schwer verletzt. Die Frau verstarb noch im Hubschrauber auf dem Weg ins Krankenhaus. Bei dem Mann handelte es sich um Sepp Hintermayer, wie ein einheimisches Mitglied der Bergwacht sofort erkannte. Er kam umgehend auf die Intensivstation des Kreiskrankenhauses. Die Suche wurde abgebrochen, da nach der Meldeliste alle Teilnehmer und Sepp, wenn auch tot oder schwerverletzt, gefunden worden waren. An Peter dachte keiner, da niemand wusste, dass er kurzfristig und inoffiziell an der Wanderung teilgenommen hatte. Ellen hatte nur eine Kleinigkeit zu Mittag gegessen und danach einen ausgiebigen Gesundheitsschlaf gemacht. Am Nachmittag trank sie etwas Kaffee und naschte ein Stück leckeren Himbeerkuchen. Die Sirenen und den Hubschrauber hatte sie längst vergessen, obwohl er an diesem Tag immer wieder über dem Tauerngebirge zu sehen war. Nachmittags ging sie mit den Kindern baden und spielte anschließend mit ihnen eine Runde Skat. 35
Auf die Frage der Kinder, wann Papa denn wieder zurückkäme, antwortete sie nur: „Ihr kennt doch Papa. Wenn der Mal so ein Abenteuer mitmacht, dann bis zum Schluss. Also schätze ich, dass er frühestens zum Abendbrot, so gegen 19.00 Uhr zurückkommt.“ Damit gaben sich die Kinder zufrieden – und keiner dachte mehr daran. Als Peter allerdings nach dem Abendbrot immer noch nicht erschien, fing Ellen an, sich doch Sorgen zu machen. Sie ging zur Rezeption und fragte die Empfangsdame, ob ihr Mann eine Nachricht hinterlassen oder sich gemeldet hätte. „Wo soll denn Ihr Mann sein, gnä´ Frau?“, fragte die junge Dame hinter dem Tresen zerstreut. „Na – er ist mit dem Sepp Hintermayer und irgend so einer Geologengruppe zu irgendeinem alten, fast abgetauten Gletscher gewandert. Eigentlich wollte er spätestens um 19.00 Uhr wieder hier sein. Und jetzt ist es schon nach 20.00 Uhr. Ich mach mir Sorgen“, stellte Ellen unruhig fest. Sie sah erstaunt die Empfangsdame an, weil diese plötzlich ganz blass wurde und zu stottern anfing: 36
„Wie, was hab´n Sie gesagt? Was...? Wo ist Ihr Mann, Frau Lander?“ Sie wartete Ellens Antwort gar nicht ab, sondern redete gleich weiter: „Haben Sie gesagt, dass er mit dem Hintermayer Seppl heute unterwegs war? Das kann doch nicht sein?“ „Was ist los“, brüllte Ellen die Frau an. Sie bekam es jetzt plötzlich mit der Angst zu tun. „Was ist los?“, wiederholte sie nochmals. „Chefin, Chefin. Kommen´s mal ganz schnell!“, rief die völlig verstörte Empfangsdame in Richtung Büroraum, der gleich hinter dem Tresen lag. Die Chefin und Eigentümerin der Hotelanlage, Frau Obermoser, kam flugs herbei und spürte augenblicklich, dass etwas ganz Besonderes vorgefallen sein musste. So aufgelöst hatte sie Marie, ihre Empfangsdame noch nie erlebt. „Chefin, der Herr Lander, der Herr Peter Lander war heute mit dem Seppl drüben auf’m Gletscher“, flüsterte sie ihrer Chefin zu und nickte mit dem Kopf in Richtung Ellen. Ellen hielt es fast nicht mehr auf den Beinen. Es musste mit Peter 37
und scheinbar auch mit Sepp etwas passiert sein. Ihr wurde schlecht. Sie hörte in ihrem Kopf plötzlich wieder die Sirenen und das penetrante Geräusch der Rotorblätter vom Tag. „Was ist passiert. Ich will jetzt sofort wissen, was los ist?“, schrie sie schon fast hysterisch. „Ja haben Sie denn heute noch nicht gehört, dass drüben im Massiv ein riesiger Erdrutsch stattgefunden hat“, beantwortete die Chefin des Hotels ihre Frage. Ellen schüttelte nur stumm den Kopf. Tränen traten in ihre Augen. „Sie haben alle gefunden. Auch den Sepp“, flüsterte Marie. „Und wie geht es ihnen. Ist was passiert. Ist jemand verletzt, Peter.....?“ Ellen konnte die Fragen nicht mehr beenden. Sie schluchzte nur noch. „Alle wurden gefunden. Sie sind, bis auf den Sepp, alle tot“, würgte die Chefin hervor. Sie hatte das Gefühl, einen Kloß im Hals zu haben. Ellen brach bewusstlos zusammen. 38
Fast schlagartig erwachte Peter aus seiner Ohnmacht. Der Grund dafür war das eiskalte Wasser, in welchem er lag. Es handelte sich offensichtlich um das Schmelzwasser des Gletschers. Warum es hier in der Tiefe, auf dem Grund des Gletschers nicht gefroren war sondern plätschernd, gluckernd und rauschend floss, interessierte ihn momentan nicht. Er fror jämmerlich. Seine Kleidung war auf der rechten Seite total durchnässt. Und gerade diese Seite schmerzte ihn besonders. Offensichtlich war er mit voller Wucht bei seinem freien Fall mit dieser Körperseite auf den Boden geknallt. Der Kopf musste dann auch aufgeschlagen sein, denn der tat ihm ebenfalls weh. Es war stockdunkel. Er sah nicht einmal die Hand vor Augen und hatte auch keine Ahnung, wie lange er so gelegen hatte. Extrem lange konnte es nicht gewesen sein, sonst wäre er wohl erfroren. Da fiel ihm ein, dass er bloß auf seine Armbanduhr sehen musste, um sich selbst diese Frage präzise zu beantworten. 11.20 Uhr zeigten die Leuchtzeiger. Das bedeutete, dass er erst seit etwas mehr als zwanzig Minuten im Gletscher steckte. Es kam ihm vor, als wäre der Sturz schon vor vielen Stunden gewesen. Langsam aber sicher fand er sich mit der Finsternis ab. Er tastete stehend seine nächste Umgebung 39
ab. Der Boden war uneben, glatt und fast eine Handbreit hoch mit kaltem, fließendem Wasser bedeckt. Es floss von seiner jetzigen Stellung aus gesehen nach links, leicht bergab. Hinter ihm war eine ziemlich schräge, unregelmäßige, in ihrer Höhe nicht erfühlbare Wand. Sie war glitschig, kalt und nass. Das musste das Eis des Gletschers sein. Einen Schritt weiter ertastete er eine runde Säule. Sie war ungefähr so dick, dass er sie mit beiden Händen umfassen konnte. Es war eine Eissäule, welche nach etwa einem Meter Höhe spitz zulief und aufhörte. Wäre er auf diesen umgedrehten Eiszapfen gefallen, wäre er aufgespießt worden. ‘Ich bin schon ein Glückspilz’, dachte er, ‘wenn man bei diesem Albtraum überhaupt von Glück reden kann’. Ihm fielen die Geologen und Sepp wieder ein, wie er sie hatte unter der Steinlawine verschwinden sehen. Es durchlief ihn eiskalt schaudernd. Gebückt untersuchte er den Boden rechts. Und richtig, in dieser Richtung ging es eindeutig minimal bergauf und aus dieser Richtung kam langsam ein dünne Schicht Wasser geflossen. Sich dorthin zu wenden, dürfte ziemlich sinnlos sein, entschied 40
er. Wenn es eine Möglichkeit hier herauszukommen gab, dann nur bergab, denn so floss das Wasser und es musste ja irgendwo aus dem Berg heraustreten. Vielleicht konnte er diesen Ausgang aus der Eishöhle dann ebenfalls benutzen. Also machte er sich daran, diesem leichten Gefälle, zentimeterweise tastend, zu folgen. Es war ein mühsames Unterfangen. Nach einer ewigen Zeit, wie er meinte, in Wirklichkeit nur einer halben Stunde, wie er auf seiner Uhr erkennen konnte, spürte er, wie sich die Fließgeschwindigkeit des Wassers etwas erhöhte und ein intensiveres Rauschen entstand. Er musste kurz vor der Austrittsöffnung sein. Der Wasserstand stieg ebenfalls permanent. Er ging ihm bereits bis zu den Knöcheln. ‘Nun ganz vorsichtig’, dachte er bei sich, ‘damit ich nicht unkontrolliert ins eiskalte Wasser gezogen werde, um dann irgendwo zu erfrieren’. Plötzlich hörte er ein lautes, das Rauschen übertönendes, dröhnendes Knirschen. Gebannt vor Angst blieb er stehen. Bewegte sich der Berg oder brach der Gletscher entzwei oder entstanden neue Risse? Ruhig blieb er stehen. Sein Herz schlug bis zum Hals. Das unheimliche Geräusch hörte genau so schnell wieder auf, wie es gekommen war und nichts hatte sich verändert. Beruhigt suchte er Mi41
nuten später weiter den Boden ab. Jetzt stieß er wieder an eine Wand. Aufmerksam erfühlte er mit den Händen nochmals die Richtung, in der das Wasser weiter floss. Es schlug hier gegen eine Felsenwand um dann weiter nach rechts zu fließen. In dieser Richtung tastete sich Peter nun langsam vor. Das Getöse der Wassermaßen wurde allmählich immer lauter und der Pegel stieg stetig weiter an. Peter hatte teilweise bereits Schwierigkeiten, sich in diesem Wassersog zu halten. Er fror so stark, dass ihm bereits schwindlig wurde. Eine bleierne Mattigkeit begann sich auf seine Glieder zu legen und eine ‘esistmirallesbaldegal-Stimmung’ stieg in ihm auf. Plötzlich riss ihm die Flut die Beine weg und er fiel seitwärts ins eisige Wasser. Sich schnell aufrappelnd, versuchte er an der Wand Halt zu finden. Mit viel Mühe und Not gelang es ihm, wieder festen Fuß zu fassen und sich kontrolliert fortzubewegen. Dieser Sturz ließ das Angstgefühl noch stärker werden. Er gehörte ohnehin nicht zu den Menschen, aus denen Helden gemacht werden. Er war eher der zurückhaltende, vorsichtige, und was körperliche Schmerzen anging, ängstliche Typ. 42
Mit der rechten Hand erfühlte er nach einer Weile, wie die Wand rechtwinklig nach links abbog und das Wasser mit starkem Sog dieser Richtung folgte. War er jetzt an der Stelle, wo er sich mit dem Wasser aus dem Berg spülen lassen konnte? Das Loch, denn um ein solches musste es sich handeln, hatte eine Höhe von ungefähr einem Meter und nahm das gesamte abfließende Wasser auf. Peter überlegte, ob er es wagen konnte, sich in dieses Loch zusammen mit den Wassermaßen zusammen zu stürzen, um so aus der Eishöhle herauszukommen. Die kalte Reise im Wasser konnte sehr lange in einem Tunnel dauern, so dass er vielleicht keine Luft mehr bekam und ertrinken musste. Oder es trat in beachtlicher Höhe als Wasserfall aus dem Berg heraus und er brach sich dann bei einem Sturz alle Knochen. Was tun, fragte er sich zum wiederholten Male. Er hatte Angst. Aber wenn er hier verweilen würde, waren seine Überlebenschancen ebenfalls gleich Null, denn dass ihn hier jemand in absehbarer Zeit finden und retten würde, hielt er für absolut unwahrscheinlich. Außerdem würde er in Kürze erfroren sein. Also nahm er allen Mut zusammen, atmete zweimal tief durch, hielt die Luft an und tauchte in Richtung Loch ab. Seine Gedanken waren in diesen Sekunden bei Ellen und seinen Kindern. Er hatte eine 43
schreckliche Angst sie nie wieder zu sehen. Es raubte ihm fast den Verstand. Was war das? Er glaubte nicht richtig zu spüren. Das Loch war durch eine Art Gitter versperrt. Wie er auch rüttelte, das Gitter, oder was es sonst war, bewegte sich nicht. Schnell tauchte er, wild strampelnd, zur rechten Seite der Sperre auf und bewegte sich mehrere Meter an der Wand entlang weg von diesem Loch. Dass er sich aus diesem starken Wassersog hatte wieder befreien können, erschien ihm jetzt wie ein Wunder. Verzweiflung machte sich in ihm breit. An dieser Stelle ein Art Abflussgitter? Wozu das? Er war verblüfft und wusste sich zuerst einmal keinen Rat. Bedeutete das nicht, überlegte er fieberhaft, dass es hier irgendwo einen anderen Ausgang geben muss? Wie denn sonst soll dieses Gitter oder was immer es gewesen war angebracht worden sein? Die Erbauer, wenn es wirklich solche gegeben haben sollte, mussten doch auch irgendwie hier herein gekommen sein. Wieder fragte er sich: ‘Wozu dieses Gitter oder was das war – das macht doch keinen Sinn?’. Er schüttelte zähneklappernd den Kopf und tastete sich dabei immer weiter rechts an der Wand entlang. Sein gesamter Körper 44
zitterte vor Kälte. Irgendwo musste es hier einen Ausgang geben. Je weiter er sich voran tastete, umso mehr fiel der Wasserstand wieder, bis er endlich gar nicht mehr durch Wasser waten musste. Wenn er doch nur Licht hätte – oder wenigstens ein Feuerzeug. Jetzt verwünschte er sich zum ersten mal, dass er kein Raucher war, denn Raucher hatten fast immer Feuer bei sich. „Immer weiter gehen“, stimulierte er sich selbst, „nicht stehen bleiben, sonst erfrierst du.“ Wie lange er so, die Wand abtastend, vorwärts gegangen war, wusste er nicht mehr zu sagen. Er fror erbärmlich. Sein Gehirn fing allmählich an, nicht mehr richtig zu arbeiten. So kam es auch, dass er zuerst gar nicht bemerkte, wie sich die Beschaffenheit der Wand veränderte. War sie bisher schroff, uneben, feucht und kalt, so wurde sie plötzlich ganz glatt und fühlte sich nahezu angenehm warm an, ohne dass sie Wärme abstrahlte. Endlich bemerkte auch Peter, dass sich etwas Gravierendes verändert hatte. Er hielt in seinen Bewegungen inne und befühlte mit beiden Handflächen die Wand. So etwas Glattes hatte er noch nie befühlt. Da muteten ihn Glasscheiben oder Spiegel wie Schotter an. Oder setzte sein Tastgefühl be45
reits aus? Aber schön lauwarm war die Wand. Er lehnte sich mit dem Körper ganz dicht an die Wand und genoss das wohlige Gefühl der Wärme. Jetzt musste er bereits spinnen – anders konnte es wohl nicht sein. Ob das bereits der beginnende Todesreigen war? An diesem Ort war es ihm momentan egal. Er blieb ganz ruhig, schräg gegen die Wand gelehnt, stehen und Bilder aus der Vergangenheit zogen durch sein Gehirn. Knack – Plötzlich war die Wand war verschwunden – und Peter kippte haltlos, ein paar Schritte nach vorne taumelnd auf den Boden. Knack – Ebenso überraschend war die Wand hinter ihm wieder da, und er lag immer noch auf dem Boden, einem ebenen, glatten Belag, der sich wie die gesamte Raumtemperatur um ihn herum wohlig warm anfühlte. Er konnte die Wand zwar nicht sehen, denn es war immer noch dunkel, aber irgendwie spürte er ihre erneute Gegenwart. Warum, wusste er nicht. Als er aufzustehen versuchte, stellte er fest, dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Eine unsichtbare Kraft hielt ihn am Boden fest. In diesem Augenblick begann ein kaum sichtbares dunkelgrünes, irisierendes Licht streifenförmig blitzend, langsam 46
über Peter hinwegzuziehen. Er spürte keine Schmerzen oder irgendetwas Ähnliches. Diese Prozedur wiederholte sich noch dreimal. Dann wurde es wieder stockdunkel. Nun konnte er sich wieder bewegen, wie er schnell merkte. „Was ist denn das schon wieder?“, schrie Peter wütend und verwirrt auf. „Freigabe nach Eingangsscan“, hallte es dumpf in seinem Kopf nach. Träumte er – lag er schon im Koma? Die Temperatur in dem Raum war sehr angenehm. Es war immer noch stockdunkel. Er schlug sich mit der Hand vor den Kopf, um zu sehen, ob er sich selbst spüren konnte. Er spürte sowohl den Schlag, wie auch einen verstärkten Schmerz im Kopf. Diese Kopfschmerzen mussten noch von dem Sturz aus der Gletscherspalte herrühren. ‘Hab ich da wirklich in meinem Kopf gehört, dass da irgendetwas freigegeben wurde?’, dachte er konkret nach. „Ja“, meldete sich laut und deutlich eine Art Stimme in seinem Gehirn oder Bewusstsein. „Hallo – ist da jemand?“, rief Peter ins Dunkle und lauschte, ob er etwas hören konnte. 47
„PUL. Stützpunkt Helas. Willkommen“, echote es in seinem Kopf. Peter war verwirrt. Wo war er hier hingeraten. Er rappelte sich auf und war froh, wieder sicher auf den Beinen zu stehen. Was er da empfangen hatte, und ein anderer Begriff fiel ihm dafür nicht ein, war nicht wie eine Stimme akustisch zu ihm gedrungen, sondern irgendwie in Bildform, in Bildfetzen in seinem Bewusstsein entstanden. Wenn er über ein Problem nachdachte, dann dachte er in seiner Muttersprache – in ganzen Sätzen oder auch nur in einzelnen Worten. In dieser Form waren die Nachrichten eben nicht in seinen Kopf gelangt. Er kannte auch noch die Form des Traumes. Hier konnten reale Bilder und Szenen in seiner Einbildung ablaufen, ohne dass er Worte dafür bilden musste. Und so ähnlich waren die Informationen, die in ihm jetzt aufgetaucht waren. Er überlegte weiter, und es fiel ihm ein, dass es sich beim Lesen um eine Mischform handeln musste. Hier las er Worte und stellte sich dadurch etwas vor und konnte sie verstandesmäßig zuordnen. Zugleich konnte aber parallel dazu ein Film in seinem Inneren, in seinem Gehirn ablaufen, welcher durch den Sinn der Worte ausgelöst wurde. Ja, an diese Form erinnerte ihn die gerade empfangene Nachrichten48
übermittlung. Griff hier jemand in sein Unterbewusstsein ein oder war es nur ein Traum? Lief so das Sterben ab? „Nein, nicht Tod. Informationen“, tauchte eine Antwort auf seine Gedankengänge in seinem Kopf auf. Obwohl seine Kleidung immer noch tropfnass war, war ihm jetzt wohlig warm, die Haut prickelte sogar ein wenig und plötzlich verspürte er trotz seiner Verwirrung Hunger. Verwirrt, mechanisch nahm er aus seiner Jackentasche ein zerquetschtes Päckchen. Er entfernte das Papier und hatte ein nasses, belegtes Brötchen in der Hand, in das er umgehend herzhaft biss. Es schmeckte köstlich. Erst jetzt merkte er, wie sehr hungrig er doch war. Durst hatte er nicht, denn er hatte unterwegs unfreiwillig reichlich Eiswasser geschluckt. Während er so kaute, überlegte er: ‘Was soll PUL sein? Was für ein Stützpunkt?. Was bedeutet Helas?’ Monoton tauchten in seinem Gehirn die Erklärungen auf: “PUL = meine Bezeichnung – mein Name. Forschungsstützpunkt, erbaut - Wissenschaftler Volk Helas.“ 49
‘Wieso höre ich keine Stimme und verstehe dich trotzdem?’, wollte Peter wissen und dachte daher diesen Satz ganz intensiv, ohne ihn zu sprechen. „Boden – gescannt = biologischen, chemischen, genetischen, physischen, psychischen Daten aufgenommen, gespeichert, analysiert. Gehirnmuster - Gehirnströme eindeutig klassifiziert = Gedanken messbar, Sinngehalt Aussagen zuzuordnen - umgekehrt Informationen sendbar. Lautsprachen different aber im gesamten Universum Gedankeninhalte denkender Wesen annähernd gleiche Struktur. Station - Sensoren, Gehirnströme, Gedanken messbar - PUL Empfänger Gedanken. Vorgang umkehrbar – PUL sendet – mit anderen intelligenten Lebewesen kommunizieren“, erläuterte ihm PUL sehr ausführlich in einer fürchterlich abgehackten Bilderfolge. Trotzdem hatte Peter das Gefühl, alles einwandfrei verstanden zu haben. Jetzt hatte Peter einiges zu verdauen. Er zweifelte keine Sekunde an der Richtigkeit der Erklärungen. Hatte er es hier mit einem neuen, top-geheimen Forschungsprojekt irgendwelcher militärischer Wissenschaftler zu tun? Er dachte dabei an solche Projekte, wie die Delphindressur im zweiten Weltkrieg. Oder sollte er hier an dieser Stelle, mitten in einem Bergmassiv, einen Kontakt mit Außerirdi50
schen haben? Wenn ja, um welche handelte es sich dann? Er hatte das kaum gedacht, erschien auch schon die Antwort in seinem Kopf: „Volk Helas. Sternenhaufen Pygorna.“ ‘Wo ist das? Wie weit ist das weg von hier?’, hakte Peter sofort gedanklich nach. „Sternenhaufen in dieser Galaxis, 18.324,465 Lichtjahre entfernt.“ Das waren Antworten, bei denen es Peter erst einmal den Atem verschlug. Es handelte sich eindeutig um Außerirdische. Oder träumte er nur, irgendwo in der Eishöhle im kalten Wasser liegend, kurz vor dem endgültigen Hinüber gleiten in den Tod? Peter mutete diese Szene im Augenblick irgendwie unwirklich an. Es erinnerte ihn an alte Sciencefiction Romane, welche er irgendwann einmal gelesen hatte. Dabei entdeckte eine Apollobesatzung ein kleines Raumschiff Außerirdischer auf der Mondschattenseite und baute dadurch in Jahresfrist eine interstellare Großmacht, bestehend aus Menschen, auf. Oder ein anderer Roman beschrieb eine Raumschiffbesatzung auf einem zigtausend Lichtjahre weit entfernten Planeten, welche dort eine fremde, technisch ungeheuer 51
weit entwickelte Rasse fand und in kürzester Zeit alle Kenntnisse dieses Volkes innehatte. Und immer gab es sofort unzählige Kontakte zu allen möglichen Formen außerirdischer Intelligenzen und Lebewesen und immer waren die Menschen die Besten und konnten sich sehr schnell in die Denkweisen und Techniken der fremden Intelligenzen hineindenken. Träumte er gerade solch einen irrealen Traum? Er entschloss sich, durch Fragen an diesen PUL, hierüber Gewissheit zu bekommen. „Warum habt ihr mich hier hereingelassen?“, wollte Peter nun laut sprechend wissen. „Programm befiehlt. Scan = Qualifikation bestätigt“, war die prompte Antwort. „Spreche ich mit einem Lebewesen oder mit einer Maschine?“ „Maschine - Zentralrechner“, kam als Antwort in Peters Gehirn an. „Sind Lebewesen hier anwesend“, folgte gleich die nächste Frage. „Ja. Du.“ 52
Peter schüttelte den Kopf und musste jetzt sogar kurz auflachen. Das war ein echtes Eigentor. Gut dass PUL diese Frage gleich mit einer Erklärung beantwortet hatte, sonst hätte er gefolgert, dass sich andere Lebewesen hier in dieser Station befinden mussten. „Sind andere Lebewesen, außer mir, hier in dieser Station?“, war daher folgerichtig die nächste, gedachte Frage Peters. „Nein.“ Das war eindeutig. „Wo sind die Erbauer dieser Station?“ „Zurück Heimatplaneten, Forschungsergebnisse großer Rat berichten.“ „Warum blieb keine Besatzung hier?“ „Unbekannt.“ „Seit wann ist die lebende Besatzung weg und wann wird sie zurück erwartet?“ „131089 Erdumläufe. Rückkehr unbekannt. Fortbleiben außergewöhnlich, Ersatzprogramm läuft.“ 53
„Erkläre kurz das Ersatzprogramm“, wollte Peter wissen. „Ersatzprogramm: Eintausend Erdumläufe, alle Energien Minimum, Außenkontakte einstellen. Zwei Ausgänge betriebsbereit halten. Neue Aktivierung Station - neuer Kommandant.“ Das war stark. Über 130.000 Jahre lag diese Station bereits in diesem Bergmassiv eingeschlossen. Selbst wenn er nur träumte, war dies ein schöner Traum. Aber irgendwie glaubte er jetzt nicht mehr an einen Traum und wurde mörderisch neugierig. Da es immer noch ganz dunkel war, fiel Peter ein, dass er die Unterhaltung auf andere Themen lenken könnte: „Kannst du hier Licht machen?“ „Frage unverständlich - überall Licht.“ „Gemeint ist Licht, wie es die Sonne auf die Erdoberfläche sendet“, stellte Peter richtig. Kaum hatte er die Frage ausgesprochen, wurde es in dem Raum so hell, dass Peter heftig geblendet wurde und deshalb schnell die Hände vor die Augen riss.
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„Um Himmels Willen nicht ganz so hell!“, schrie Peter auf, und prompt wurde es etwas dunkler. Er blinzelte vorsichtig durch die gespreizten Finger und nach kurzer Zeit hatten sich die Augen an die, jetzt angenehme, Helligkeit gewöhnt. Er sah sich um. Was er sah, war nicht so beeindruckend, wie er erwartet hatte. Es war ein ungefähr zehn Meter hoher, dreißig Meter breiter und zwanzig Meter tiefer Raum. Wände und Decke bestanden aus Felsgestein und der Boden einem bräunlich schimmernden, glatt polierten Metall. Sie hatten diesen Raum offensichtlich in den Berg hinein geschnitten. Peter bückte sich um das Material auf dem Boden zu ertasten. Es fühlte sich sehr glatt und angenehm warm an. Ansonsten war der Raum leer. Woher das Licht kam, war nicht genau zu sagen. Irgendwie von oben, oder von der Seite oder von unten aber eine oder mehrere direkte Lichtquellen waren nicht zu erkennen. Es war alles diffus hell. Hinter ihm war der Eingang, durch den er hereingekommen sein musste. Er nahm die gesamte Wandfläche ein und schimmerte blassbläulich. Er 55
ging hin und berührte die Energiesperre. Sie fühlte sich so warm und glatt an, wie er sie in Erinnerung hatte. Als er ganz nahe an der fast unsichtbaren Wand stand, konnte er die andere Seite erkennen. Was er hinter der Barriere zu sehen bekam, verschlug ihm fast den Atem. Durch die Beleuchtung in diesem Raum, wurde auch das, was hinter der Energiesperre lag, ausreichend beleuchtet. Der Raum außerhalb war im Hintergrund milchig weiß glänzend. Es handelte sich um die Unterseite des abtauenden Gletschers. Unzählige Eiszapfen hingen oder standen herum. Sie sahen aus wie Stalagmiten und Stalaktiten in den Tropfsteinhöhlen auf Mallorca, nur dass sämtliche weißlich gefärbt waren. Davor und dazwischen floss das Schmelzwasser nach rechts zu dem vergitterten Loch. Jetzt wusste er, wer dieses Loch mit Gitter angelegt hatte und warum hier unten der Gletscher abtaute. Peter drehte sich wieder um. Es war also alles Wirklichkeit. Das war ungeheuerlich. „PUL, wer bist du und wo befindest du dich?“, fragte er vor Aufregung zitternd. „Zentralrechner Station“, kam prompt als Antwort. Da kam Peter eine Idee: 56
„Darf ich die Station wieder verlassen, wenn ich will?“ „Ja. Deine Bioverfassung festigen - vorgeschriebene Schutzkleidung anlegen.“ „Wieso muss ich eine Schutzkleidung anlegen? Ich bin doch ein Bewohner dieses Planeten“, wollte Peter verblüfft wissen. „Anlage betreten - genetische, biologische, geistige Tauglichkeit geprüft. Peter = Kommandant Stützpunkt = verpflichtet Kleidung zu tragen - biologisch konditionieren zu lassen“, erfuhr er und war erstaunt, dass er mit seinem Vornamen angesprochen worden war. Er war völlig verwundert und skeptisch: „Und wenn die ursprünglichen Erbauer dieser Station, die Helas, wiederkommen?“ „Bis 1000 Erdumläufe nur durch Erbauern oder mit deren Erlaubnis betretbar. Danach = Programm, nach Sperrfrist = neuer Kommandant nach positivem Eignungsscan“, wurde als Erklärung übermittelt.
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„Also hätte es auch jeder andere Erdbewohner sein können, wenn er statt meiner diesen Eingang gefunden hätte?" „Ja, wenn Scan positiv. Station künftig nur mit deiner Erlaubnis betretbar oder Bekanntgabe autorisierter Personen.“ „Bin ich dir gegenüber weisungsbefugt?“ Das war eine interessante Frage. „Ja.“ „Könnte ich deine Selbstzerstörung anordnen?“ „Nein.“ „Schau, schau“, dachte Peter, „es gibt also auch Schutzfunktionen. Nichts mit absoluter Macht und so.“ „Wie komme ich aus der Station wieder hinaus?“, wollte nun wissen. „Felsstollen - energetisch gesicherter, getarnter Felsverschluss Nordseite Station - über dem Tal.“ Peter sah auf die Uhr und stellte fest, dass es bereits kurz vor 15.00 Uhr war. Obwohl ihn in die58
sem Moment seine Entdeckung über alle Maßen interessierte, wollte er zugleich auch unbedingt wieder zu Ellen und den Kindern in die Hotelanlage zurück, denn er ahnte, dass sie sich bald riesige Sorgen machen würden. „Was meintest du mit biologischer Konditionierung?“, erkundigte sich Peter neugierig. „Eingangsscan: Energetische Werte: normal, 100 %. Biologischer Zustand: Hochgradig verbraucht, Scanwert unter 12 %, unausgeglichen, Bewegungsfähigkeit: Extrem hoch, 190 %. Geistige Komponenten: Logikqualität: niedrig, 12 %, Spontaneität: Sehr hoch, über Durchschnitt, 160 %, Intelligenz: mittel, 52 %, Kenntnisstand: unbekannt. Physischer Zustand: Hochgradig verbraucht, 15 %, unausgeglichen. Chemische Werte: Vollwertig, 100 %. Energetischer, biologischer, physischer und chemischer Zustand - unsere Technik positiv beeinflussen. Geistige Komponenten = Selbstentwicklung.“ Wenn Peter das eben Mitgeteilte richtig interpretierte, dann war er sehr spontan und chemisch in bester Verfassung, geistig, biologisch und physisch aber regelrecht verkrüppelt. 59
„Bedeutet diese Aussage, dass ihr den körperlichen Verfall von Lebewesen weitgehend aufhalten könnt?“ Diese Frage war für Peter sehr interessant, obwohl er bisher in seinem jungen Leben an den Tod kaum je einen Gedanken verschwendet hatte, sah man einmal von der Todesangst vor wenigen Stunden ab. Gespannt wartete er auf die Antwort. „Ja“, kam sofort lakonisch die Antwort. „Wie soll das vor sich gehen?“ „Aufnahme Verbrauchsdaten, Regenerierungsduschen - Körperzellen, Ausgleich fehlerhafter symbiotischer Verhältnisse, Reinigung Kleidung Körper, Erstellung Komponenten, Implementierung Komponenten.“ ‘Oh – wie war das gemeint? Wurden hier organische Körperteile gegen Maschinenteile getauscht oder chemische Veränderungen vorgenommen oder...’, dachte Peter gerade, als PUL auch schon mit der Beantwortung der ersten Frage beginnen wollte. „Biomechanische Komponenten erneuern defekte organische Körperteile. Komponenten keine me60
chanischen Teile. Nachbau Gen-und Zellstrukturen ....“ An dieser Stelle unterbrach Peter die Gedankenübertragung von PUL. „Stop!“, rief er laut: „folgende Anweisung bezüglich Kommunikation zwischen dir und mir und anderen Personen, welche künftig diese Station betreten: Ab sofort nur noch auf Fragen antworten, wenn das Wort „Frage“ vorne angesetzt wird. Mit allen weiteren Personen, die diese Station betreten werden, nur dann kommunizieren, wenn diese von mir ausdrücklich freigegeben wurden und dann gelten für diese Personen die gleichen Voraussetzungen wie bei mir. Bei Gefahr im Verzuge kann mit autorisierten Personen immer der Kontakt aufgenommen werden. Frage: Ist diese Anweisung erlaubt und damit gültig?“ „Ja“, kam wieder die kurze Antwort. So. Jetzt konnte er endlich über alles nachdenken und überlegen was er wollte, ohne in die Gefahr zu laufen, dass ihn PUL permanent durch Antworten unterbrach. Dass seine Gedanken für PUL immerzu offen lagen, störte ihn im Augenblick nicht sonderlich. 61
Einen kurzen Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es inzwischen bereits nach 15.00 Uhr war und er eigentlich schnellstens zu seiner Familie musste, damit sich diese keine unnötigen Sorgen machte. Aber seine Neugierde ließ nicht zu, dass er diese Station verließ, ohne noch mehr, oder besser gesagt, etwas Interessanteres, als diesen öden Raum, zu sehen. Außerdem war da noch die von PUL angedeutete Kleiderfrage. „Frage: Was muss jetzt getan werden, bevor ich die Station verlassen kann?“ „Herstellung Helaskombination mit Sicherheitsausstattung - Anpassung. Installation technische Relaiseinheit installiert für Kontakt außerhalb Station. Reaktivierung Minimumstand biogenetischer Körperfunktionen - vorzeitige totale Deaktivierung ausgeschlossen.“ „Frage: Funktioniert denn die Gedankenkommunikation außerhalb der Station nicht?“ „Nein. Zusätzliche Technik erforderlich. Maximale Reichweite Messsensoren für Mentalströme 3 Meter.“
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„Frage: Gibt es hier Roboter?“, wollte Peter noch wissen. „Definiere Roboter?“, kam die Gegenfrage von PUL. „Mechanisches Gerät, zur Erfüllung von einer oder mehreren speziellen Aufgaben, meist mit viel Elektronik ausgestattet und kann sich selbständig bewegen.“ Genauer wusste Peter im Augenblick den Begriff „Roboter“ nicht zu erklären. Hoffentlich genügt das, dachte er so bei sich. Er fühlte sich inzwischen absolut sicher und jede Angst war von ihm gewichen. Die Kleidung war auch trocken, nur sah sie leider sehr ramponiert aus. „Ja.“ ‘Was „Ja?“‘, fragte sich Peter. ‘Ach so, es gibt Roboter’. Mit der präzisen Einsilbigkeit des Elektronengehirns PUL konnte er sich nur schwer anfreunden. „Frage: Wie viel Zeit nimmt meine biologische Konditionierung und Einkleidung in Anspruch?“ Peter dachte dabei an seine Rückkehr zum Hotel. 63
„Abtasten und biogenetische Kurzkonditionierung 15 Minuten, Herstellung der Helaskombination mit Sicherheits-und Verteidigungsausstattung zwanzig Minuten, Anbringung und Tests zwanzig Minuten.“ Wieso konnte dieser Superrechner Zeiträume plötzlich in Minuten ausdrücken, stutzte Peter. Na ja, wohl wegen des Gedankenlesens, vermutete er. „Frage: Kann ich die ganze Station während der zwanzigminütigen Herstellungsphase betreten?“ „Ja.“ Das war wieder eindeutig. Dann mal los, ermunterte sich Peter. „Bitte bringe mich zur Ausstattung und so weiter!“, ordnete er an. Kaum hatte er diesen Befehl gegeben, öffnete sich vor ihm ein quadratisches Loch in der Wand, indem scheinbar zwei Wandplatten auseinander geschoben wurden und eine ungefähr einen Quadratmeter große, höchstens zehn Zentimeter hohe Platte mit einem flachem Pult und einem massiv wirkenden, rechteckigen Sitz glitt knapp über dem Boden herein. Die Farbe dieses Geräts war nahezu undefinierbar. Sie schimmerte eher bläulich. Räder konnte er nicht 64
erspähen, aber ob sie schwebte, war aus seiner Sicht ebenfalls nicht zu erkennen. Also kniete er sich hin und legte seinen Kopf auf den Boden, um unter das Fahrzeug zu sehen. Die Platte schwebte etwa zehn Millimeter über dem Boden frei in der Luft, ohne irgendwelche Druckwellen, Geräusche oder Ähnliches zu erzeugen. Die Helas schienen die Antischwerkraft zu beherrschen. Bis zu diesem Augenblick hatte er ja nur einen gedanklich verbalen Kontakt gehabt, jetzt jedoch sah er zum ersten Mal ein wirklich körperliches Produkt, sah man einmal von der kaum fassbaren Energiewand hinter ihm ab. Er hielt kurz den kleinen Finger direkt unter das Fahrzeug. Schlagartig wurde er mit unglaublicher Kraft auf den Boden gedrückt. Er zog ihn ganz schnell wieder zurück, denn es hatte ausgesprochen wehgetan. Aber verletzt war der Finger nicht. ‘Also existiert unter dem Fahrzeug doch irgendeine Kraft. Aber welche? Ich werde es schon noch in Erfahrung bringen’, dachte er grummelnd bei sich. Der kleine Finger schmerzte immer noch. Künftig würde er vorsichtiger sein müssen. Er stand wieder auf und ging zu dem Fahrzeug. Es stand ganz ruhig. Seinen ganzen Mut zusammennehmend, be65
stieg er es. Als er sich in den Sitz setzen wollte, musste er feststellen, dass die Sitzschale etwas eng, sogar sehr eng war. Aber irgendwie gelang es ihm, sich hinein zu quetschen. Ohne dass er etwas tun musste, setzte sich das Gefährt in Bewegung und fuhr auf die Wand zu. Kurz bevor die Wand erreicht wurde, öffnete sie sich geräuschlos und schon waren sie durch. Sie durchfuhren einen kurzen ausgefrästen, rechteckigen Felsengang und hielten am Ende an. Alles war angenehm ausgeleuchtet. Plötzlich senkte sich der Boden ab, und mit ihm versank das Fahrzeug samt Peter lautlos nach unten. Es war schon unheimlich. Keine Geräusche. Peter fröstelte es. Er sah schnell auf die Uhr, und stellte fest, dass die Fahrt abwärts fast zwei Minuten anhielt. Wie tief es nach unten gegangen war, war für ihn nicht nachvollziehbar. Deswegen beschloss er, PUL zu fragen: „Frage: Wie tief sind wir in den Berg eingefahren?“ „422 Meter, 78 Zentimeter, 34 Millimeter“ Puh, das war aber genau. Um künftig zu verhindern, dass er zu viele, unnötig überpräzisierte In66
formationen von diesem Zentralrechner erhielt, beschloss er, eine neue Anweisung zu geben: „PUL, bitte künftig alle zahlenmäßig unterlegten Informationen nur in der größeren Einheit angeben. Frage: Wie tief sind wir in den Berg eingefahren?“ „423 Meter.“ Aha – es hatte funktioniert. Jetzt wusste er absolut sicher, dass er in dieser Station das Sagen hatte. Es war für Peter ein ungeheures Gefühl. Er spürte, dass er wohl eine längere Zeit benötigen würde, das alles zu durchdenken und welche Folgen das künftig haben würde. Er war absolut kein Machtmensch und misstraute den Mächtigen der Erde abgrundtief, aber hier verspürte er so etwas wie eine unermessliche Kraft und Macht. Unten angekommen, glitt das Fahrzeug einen kurzen Gang, um dann in einen anderen einzubiegen. So ging das mehrere Gänge kreuz und quer. Sämtliche Gänge und Räume waren rechteckig, Decken, Wände und Böden absolut glatt und eben, gleichmäßig beleuchtet, schimmerten wie weich gezeichnet bräunlich und hatten die gleiche, angenehme Temperatur. Endlich gelangten sie in einen 67
Raum, der mit verschieden großen und hohen rechteckigen Kästen und Maschinen voll gestellt war. Nicht eines dieser Gebilde konnte Peter mit irgendetwas, was er kannte, vergleichen oder identifizieren. Es sah nur alles extrem schlicht und zweckmäßig, schnörkellos aus. Das Fahrzeug hielt an, Peter stieg ab und sofort verschwand es, wie es zuvor gekommen war. Völlig lautlos. Ein annähernd drei Meter hoher Kasten löste sich von der Wand, bewegte sich auf Peter zu, hielt vor ihm an, klappte eine zwei Meter lange und einen Meter breite Leiste aus. Danach schienen aus dem Kasten Metallarme zu wachsen. Diese schoben ihn sachte auf die Liege. Peter ließ alles willenlos mit sich geschehen. Er hatte aus irgendeinem unerfindlichen Grunde Vertrauen zu dieser Technologie. Oder wurde ihm das Vertrauen nur von PUL suggeriert? Als er auf der Liege lag, entfernten die Metallarme seine Kleider und legten diese in ein größeres, quadratisches Loch in dem Kasten. Darin verschwanden sie. Dann verlosch das Licht und wieder bestrich ihn ein dezentes, irisierendes, grünliches Licht. Es dauerte geraume Zeit und es erinnerte ihn an den Eingangsscan. Anschließend begann es an und in seinem Körper zu kribbeln. Plötzlich spürte er ganz deutlich, wie er entleert wurde, ohne eine Toilette aufgesucht zu haben. Er 68
hatte schon seit längerer Zeit vorgehabt, PUL zu fragen, wie dieses Entsorgungsproblem gelöst sei, aber es in seiner Aufregung völlig vergessen. Es wurde seinem Körper über die Liege, auf der er lag, irgendwie entzogen. Er musste in diesem Moment daran denken, dass es sich auf einer Toilette sitzend ganz anders anfühlte. ‘Aber es würde bestimmt auch noch anders funktionieren’, dachte er bei sich, ‘die Helas werden sich doch nicht jedes Mal auf eine Liege legen, wenn sie müssen?’ Einer der tentakelartigen Arme senkte sich auf seine Stirn, und ein anderer umfasste seinen Hals. Jetzt hatte er das Gefühl, als würde ihm jemand einen kräftigen Energiedrink verabreichen. Ein tolles Sättigungsgefühl setzte ein. Schlagartig waren alle Prozeduren beendet und die „Versorgungsarme“ zogen sich in ihre Ausgangsstellung zurück. Danach flammte das diffuse Licht wieder auf und die Kleidung kam wieder aus dem Kasten. Die Arme des Kastens schoben ihn ganz vorsichtig wieder von der Liege runter. Ein Arm hielt ihm seine Kleidung hin. Sie war immer noch teilweise zerfetzt, aber eindeutig absolut sauber. Er kleidete sich wieder an. Schnell roch er daran. Sie roch nach gar nichts. Extrem steril. Ihn schau69
derte. Der Kasten zog sich wieder an die Wand zurück. „Scan und biophysikalische Stabilisierung abgeschlossen. Biowert 32 %, physikalischer Zustand 40 %. Weitere Regenerierungsmaßnahmen unbedingt erforderlich“, dröhnte es in seinem Kopf. Peter stand wie verloren im Raum. Er fühlte sich körperlich so gut wie schon lange nicht mehr, aber was sollte er jetzt tun? Da er es nicht wusste und es auch nicht wagte, irgendwelche Geräte, die er nicht kannte, anzufassen, entschloss er sich, PUL anzusprechen: „Frage: Läuft jetzt die zwanzigminütige Herstellungszeit für die angeblich notwendige Schutzkleidung und, wenn ja, kann ich in dieser Zeit eine Rundfahrt durch die Station machen und dann zum Anziehen und den Tests gebracht werden?“ „Ja“, kam wieder die penetrant kurze, aber sachlich richtige Antwort. Und schon kam das gleiche Fahrzeug wie zuvor angeschwebt. Er setzte sich in den gleichen Sitz und fuhr erschrocken wieder hoch. 70
Was war das. Zuvor war der Sitz eindeutig zu eng gewesen – jetzt passte er wie angegossen. Also musste PUL die Information aufgenommen haben, dass der Sitz zu eng ist, und diesen kurzerhand gegen eine passende Bestuhlung ausgetauscht haben. ‘Alle Achtung’, dachte Peter, ‘dass nenne ich eine Superdienstleistung. Wenn es jetzt auch noch höhere Rückenlehnen und passende Armablagen geben würde, könnte es sich auch um ein menschliches Erzeugnis handeln, lässt man mal den besonderen Antrieb und die spartanische Ausstattung außer Acht’. Er setzte sich und harrte gespannt der Dinge, welche er nun zu sehen bekommen würde. Die Platte schwebte mit so hoher Geschwindigkeit mehrere lange, leere Gänge entlang, dass ihm angst und bange wurde. Er hatte das beklemmende Gefühl, weder einen Seiten-noch Rückenhalt zu haben. Plötzlich sank das Fahrzeug einen Schacht hinunter und hielt kurz vor einem Tor. Hier hörte Peter zum ersten Mal ganz leise eine echte Tonfolge, übertragen durch richtige Schallwellen. Es hörte sich wie ein leises Trillern eines kleinen Vogels an. Ein blaues Licht blinkte kurz in der Mitte des Tores auf, dann bewegte es sich geräuschlos, uto71
pisch schnell zur Seite. Das Fahrzeug fuhr in den Raum dahinter ein. Der Raum, oder sollte man sagen Riesenhalle oder Riesendom, war nur matt beleuchtet. Nach oben war zwar ein Ende zu sehen, aber wie hoch es war, konnte Peter nicht schätzen. Nach vorn und zur Seite sah er gar kein Ende, weil verschiedene rechteckige Türme oder Quader die Sicht teilweise versperrten. Das Fahrzeug hielt an. Eigentlich hatte Peter vor, an PUL Fragen zu stellen, aber er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Was er sah, ging über seine Vorstellungskraft hinaus. Eine riesige Wand baute sich wie Wolkenkratzer seitlich vor ihm auf. Sie war spielend über 500 Meter hoch, und ebenso breit. Davor viele, mehr oder weniger große Bauwerke, Quader oder Kästen. Direkt vor ihm im Sichtfeld stand ein Riesenwürfel, etwa in der Mitte des Raumes. Er konnte zwar nur die Seitenkanten erkennen, aber die Form schien unverkennbar. Oder war es ein Gebäude ohne Fenster? Gespenstische Ruhe herrschte überall. Nichts bewegte sich. Nirgends Fenster oder Löcher. Weder in der Riesenwand, noch in dem Würfel oder den kleineren Kästen. Nur glatte, 72
hellbraun schimmernde Wände. Es war unheimlich und zugleich erhebend. Jetzt verstand Peter auch, warum das Fahrzeug genau an dieser Stelle angehalten hatte. Von hier aus musste man den besten Überblick über die gesamte Anlage haben. Als er sich endlich erholt hatte, entschloss er sich, doch wenigstens einige Fragen zu stellen: „Wie groß ist dieser Raum?“ Keine Antwort kam. Peter erschrak. Was war das jetzt. War der Kontakt zu PUL hier unterbrochen? Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: „Frage: Wie groß ist dieser Raum?“ „620 Meter breit, 1280 Meter tief, 620 Meter hoch“, kam die prompte Antwort. ‘Verdammt! Ich muss künftig mehr auf meine eigenen Anweisungen achten’, dachte Peter kopfschüttelnd. Aber er erkannte dabei auch, wie dünn doch sein Nervenkostüm im Augenblick war. Das alles hier war für ihn doch nicht so leicht zu verdauen. Die Helden in irgendwelchen Romanen kapierten und konnten immer alles gleich und sofort, er jedoch tat sich mit der neuen Realität sehr schwer, so sehr sie ihn auch faszinierte. 73
Irgendetwas war falsch – oder besser gesagt nicht richtig, das spürte Peter in diesem Moment – aber was? Gründlich sah er sich um. Die Gegenstände und Gebäude waren sämtliche rechteckig – es gab keinerlei runden oder gebogenen Gegenstände. Aber das war es nicht, was ihn irritierte. Die extrem guten Sichtverhältnisse. Er war eindeutig in der Lage, selbst ganz steil nach oben blickend, das Ende des Monsterwürfels zu sehen und in diesem Komplex einen Würfel zu erkennen. Das Licht, welches von überallher, leicht und diffus zu leuchten schien, ermöglichte dies. Aber auch das war es nicht, was in der Anlage nicht stimmte. Er betrachtete den Würfelbau vor sich und hatte den Verdacht, dass das etwas ganz Besonderes war. War es das wirklich, was er dachte und erhoffte? Er musste Gewissheit haben: „Frage: Um was handelt es sich bei dem Riesenwürfel in der Mitte des Raumes?“ „Expeditionsraumschiff - Helas.“ Wieso hatte er das erkennen können? „Frage: Ist es flugfähig?“ „Ja.“ 74
„Frage: Womit ist dann die Besatzung nach Hause geflogen?“ „Transmission.“ Ganz genau verstand Peter das nicht. Noch nicht, nahm er sich vor. Aber er ahnte worum es sich hier handeln könnte. Und trotzdem musste das hier noch anders sein. Das Gedankenbild war nicht ganz eindeutig. Er hatte noch viel zu erforschen. Aber lieber erst später. Jetzt wollte er erst einmal zu seiner Familie. Er sah wieder auf die Uhr und stellte fest, dass es bereits nach 16.00 Uhr war. Er würde schon noch dahinter kommen, was nicht stimmte. ‘Bringe mich zur Anpassung’, dachte er in Richtung PUL, sprang wieder auf das Fahrzeug und setzte sich. Augenblicklich setzte es sich, dicht über dem Boden gleitend in Bewegung und hielt erst wieder in dem Raum an, in dem er zuvor biologisch konditioniert worden war. Er war kaum abgestiegen, verschwand das Fahrzeug auch schon wieder. In dem Raum war jetzt ein anderer, kleinerer, flacher, bräunlicher Kasten in der Mitte platziert. Bräunlich schien ohnehin die Hauptfarbe der Helas zu 75
sein, dachte Peter verwundert. Auf dem Kasten lag eine Art Kombi, wie ihn Bauarbeiter oder Monteure trugen, nur mit Socken an den Enden der Beine. Genau genommen sah sie wie ein übergroßer Strampelanzug für Babys aus, nur etwas kantiger geschnitten. Die Farbe war ein dezentes hellgrau. Woraus der Stoff bestand, war für Peter nicht erkennbar. Er befühlte den Stoff. Er fühlte sich weich und warm an und war etwa 1 Zentimeter dick. Er nahm ihn in beide Hände. So sehr er auch riss und zerrte, er gab nicht im Geringsten nach. „Anziehen“, teilte ihm eine Stimme im Kopf mit. ‘Ah!’, dachte er, ‘das sind also die wichtigen Punkte, wo PUL sich auch ohne Aufforderung meldet’. Er zog seine desolate Überkleidung bis auf die Unterwäsche aus und die Kombi darüber an. Sie schmiegte sich nahtlos an, und trug sich ausgesprochen angenehm. Geschlossen, oder sollte man besser sagen, nahtlos an den Stoßkanten miteinander verbunden, wurde die Kombination mit einer Art Klettverschluss.
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„Frage: Aus welchem Material besteht dieses Kleidungsstück?“, wollte Peter, wieder laut sprechend, nun wissen. „Feuerfeste, atmungsaktive Mastelfasern. Durchsetzung mit Energie = Material absolut dicht = durch materielle Stoffe undurchdringbar.“ So, jetzt wusste er es genau. Aber was Mastel wirklich war, würde er noch früh genug erfahren. „Ich benötige einen 2 Meter hohen Spiegel“, verlangte Peter von PUL. Er wollte sich unbedingt einmal selbst begutachten. „Spiegel nein - 3 – D – Projektion ja“, antwortete dieser ihm. Und da erschien sie auch schon, die Projektion. Es musste sich um etwas Ähnliches wie eine Holographie handeln. Zwei Meter vor Peter entstand sie aus dem Nichts und er war über die Brillanz der Darstellung entzückt. Er sah sich selbst in voller Größe direkt vor sich. Gut sah er aus in der Kombination. Auf dem rechten Unterarm sah er ein Abzeichen. Es waren 6 Punkte in einem Kreis mit je zwei senkrechten Strichen links und rechts des Kreises und etwa 5 Zentimeter groß. 77
‘Also gibt es doch runde Formen bei den Helas’, grinste er in sich hinein. Im Gürtelbereich, sowie an den Sohlen, befanden sich mehrere, ungefähr zehn Zentimeter lange und 5 Zentimeter breite, blanke, wieder hellbraune Stellen, deren Zweck ihm im Augenblick verborgen blieb. Die Ärmel hatten an ihren Enden jeweils eine Verdickung. Den Kragen umlief eine gut 5 Zentimeter hohe, 1 Zentimeter starke Wulst. Ansonsten war der Anzug schmucklos. Aber er saß perfekt. ‘Gute Schneider haben sie hier’, dachte er grinsend. Er drehte sich zu dem Kasten um und entdeckte, dass dort noch ein etwa zehn Zentimeter breiter Gürtel lag. Dieser Gürtel war schwarz, fühlte sich wie weiches Metall an und hatte links und rechts an den Endungen je einen ungefähr zehnmal zehn Zentimeter großen, flachen Kasten angebracht. Aus jedem dieser Kästen traten je zwei Kabel heraus, die zu je zwei zigarrenähnlichen Gebilden führten, welche ebenfalls neben den Kästen am Gürtel angeklipst waren. Eine Gürtelschnalle war nicht zu erkennen. Hinter dem Gürtel standen ein Paar Schuhe. Jetzt war er verblüfft. Schnell sah er 78
zu seinen alten Kleidungsstücken auf dem Boden, ob seine Golfschuhe noch dort lagen, wo er sie gerade erst hingelegt hatte. Ja, sie waren eindeutig noch an ihrem Platz. Aber was stand dann dort vor ihm? Ein annäherndes Duplikat seiner Golfschuhe, nur mit dem kleinen Unterschied, dass die Sohlen ungefähr 3 Zentimeter dick waren und eine fast glatte Sohle hatten. Sie fühlten sich herrlich weich an. „Gürtel umlegen, Schuhe anziehen“, kam die nächste Anweisung von PUL. Peter kam dieser Aufforderung sofort nach. Der Gürtel verband sich eindeutig und augenblicklich mit den hellbraunen Stellen auf der Kombination, saß ausgesprochen fest und passte perfekt. Das Gleiche stellte er bei den Schuhen fest. „Funktionsweise Kombination, Gürtel, Schuhe“, dröhnte es in Peters Kopf, kaum das er den Gürtel umgeschnallt und die Schuhe angezogen hatte. „Kombination - Kragen Kapuze, Notfälle oder Anweisung - automatisch Kopf - komplett verschlossen. Durchsichtig. Geschlossen = Helm = atembare Luft. Wülste – Ärmel - umschließen Hände. Abgedichteter, feuerfester, stabiler Raum Zustand durch Zuführung von elektrokonstanter 79
Energie. Geschlossen, aktiviert = Anzug - freien Weltraum, Eintauchen flüssige Medien bis 80.000 Grad Celsius geeignet. Ohne geschlossene Kapuze - begrenzte Schutzfunktion. Gürtel - zwei Kästchen, vier zylinderförmige, 15 Zentimeter lange, 2 Zentimeter durchmessende Stäbe. Linkes Kästchen Energieversorgung, rechtes Kästchen Luftversorgung. Luftversorgung 2 Jahre 3 Monate Dauerbetrieb. Energieversorgung = Schutzschirm, Kraftfeld, Sender, Empfänger zu dieser Station und Expeditionsraumschiff, Betäubungsstrahler, Zersetzer organischer Verbindungen, Zersetzer von anorganischen Verbindungen, Thermoschneider. Geräte nur von dir zu betätigen, eingestellt auf deine chemische und biogenetische Struktur. Betätigung nur per Gedankensteuerung. Halsrand Kombination = Gehirnstromsensoren, kurze Abtast-und Reichweite nur für deinen Körper. Wellenstruktur ausschließlich auf dich eingestellt. Für andere Lebewesen - Kombination nicht benutzbar. Schuhe – Maxtron, verbunden mit Energiestation Gürtel - Kontaktleisten. Ausrüstung nur abzulegen per Gedankenbefehl wenn Energieverbindung Energiestation - Gürtel und Schutzanzug und Schuhe unterbrochen. Anweisung „Gürtelkontakt lösen.“. ---Einsteigen. Testfeld.“ 80
Das ließ sich Peter nicht zweimal sagen, obwohl er beim besten Willen nicht alles verstanden und im Kopf behalten hatte, was ihm soeben in Bildfetzen mitgeteilt worden war. Er drehte sich um und sah sein Fahrzeug wieder angeschwebt kommen. Wieder stutzte er. Der Sitz waren inzwischen nach seinen vorherigen Gedanken umgebaut worden. ‘Das ist ja wie in dem Märchen Tischlein deck dich’, dachte er vergnügt und sprang förmlich in den neuen Sitz. Unwahrscheinlich! Er war jetzt ausgesprochen begierig, Genaueres über die Funktionsweise der neuen Ausrüstung zu erfahren. Dass er auch unbedingt ins Hotel wollte, hatte er in diesem Moment schon wieder vergessen. Die Fahrt ging wieder durch eine endlose Anzahl von Gängen und ein paar, mit unbekannten, aber völlig unspektakulär aussehenden Kästen voll gestellten Räumen. Unvermittelt hielt der Schweber, so sollte man diese schwebenden Fahrzeuge sinnvoller Weise nennen, entschied Peter für sich, vor einer Wand an. Wieder ertönte eine Art Gezwitscher und ein Tor öffnete sich. Der Schweber fuhr in eine große, nicht ausgekleidete, natürliche Höhle ein und hielt. Dass er dort etwas sehen konnte, 81
lag daran, dass sich bei seinem Fahrzeug bei der Einfahrt aus mehreren für ihn unsichtbaren Lücken starke Lichtquellen aufgetan hatten. Auf dem Boden lagen viele, unterschiedlich große Felsbrocken herum und von der Höhlendecke tropfte stellenweise Wasser. Dieser Raum gehörte offensichtlich nicht mehr zur Station. Die Raumtemperatur lag erheblich unter der in der Station. Er erfasste diesen Temperaturunterschied nur durch die Luft, die an seine Hände und sein Gesicht drangen. „Unterweisung“, erschallte es in Peters Hirn. Er hatte diesmal schon damit gerechnet. „Technologie - Mentalsteuerung. Körperliche Steuerungsvorgänge ausgeschlossen, keine Hebel, Schalter. Mentalstromwellen = kürzester Bereich, maximale Sendeweite knapp unter 3 Meter. Störungen anderer Mentalwellenbereiche unmöglich. Jedes Lebewesen einen teilweise nur leicht differenten, ihm eigenen Wellenbereich - seine spezifische Frequenz. Überziehen - Kapuze - Kopf = Gedankenbefehlaktivierung = Handstulpenschluss. Kapuze – Kombination = Energie, augenblicklich Helm, beziehungsweise Schutzanzug. Anweisung, Kapuze aktivieren = Helm - Schutzfeld 1. Ausprobieren“ 82
Das war eine eindeutige Anweisung. Befohlen – getan. Er dachte: ‘Helm auf!’ Kaum gedacht, spürte er, wie sich an seinem Kragen von hinten nach vorne, sogar über sein Gesicht, eine Art Mütze stülpte, die sich in Bruchteilen von Sekunden mit dem vorderen Teil des Kragens verband und aufblies. Das Material des Helmes war eindeutig vollständig durchsichtig. Die Luft, welche er jetzt zu atmen bekam, war etwas wärmer als die Luft, welche er zuvor geatmet hatte. Die Stulpen an den Ärmeln hatten sich butterweich eng um die Handflächen und Finger gelegt. Die Kombination trug sich auch in diesem Zustand ausgesprochen angenehm. ‘Helm weg!’, und auch jetzt, gedacht, erfolgt. Der Anzug wurde wieder weich, der Helm wie von Zauberhand nach hinten in den Kragen eingezogen und die Atemluft sofort einige Grad kühler, die Hände von dem Überzug befreit. Er versuchte diesen Vorgang nun noch mehrmals, teils mit anders lautenden Befehlen wie: „Mütze auf, Kapuze weg, Deckel rauf ....“. Und so ging es munter weiter. Es funktionierte immer. Auch wenn er dabei die Anordnungen verbal laut aussprach, wurden sie prompt befolgt. 83
„Frage: Was soll ich jetzt machen?“, wollte Peter nach diesen Versuchen wissen. „Kombination = 4 Schutzfeldbereiche: Bereich 0 = deaktiviert. Bereich 1 = leichtes Schutzfeld. Anzug kann auch offen getragen werden. Schutzfeld erstreckt sich Fußsohlen - oberes Ende Kopf - Feldlinien = 1 Millimeter Abstand außerhalb Anzug, Kopf. Schutzbereich = feste, flüssig aggregierte Medien mit Druckabsorbierung. Gase und Strahlen nicht absorbiert = erhöhter Schutz in diesem Bereich. Bereich 2 = Arbeitsschutzfeld. Anzug schließt sich. Schutzfeld = Abstand zehn Zentimeter - gesamter Körper. Gegenstände - Nahbereich = weggestoßen. Bewegungsfreiheit - beeinträchtigt. Schutzbereich = total, auch hochenergetische Strahlung, Luftversorgung durch Kombination autark. Tauglich zum Tauchen - Weltraum. Bereich 3 = Katastrophenschutz. Anzug muss geschlossen sein. Schutzfeld = Abstand von zehn Meter um gesamten Körper. Aktivierung - Schutzschildes - Raum weniger zwanzig Meter Durchmesser = Raum gesprengt. Schutzbereich = Gegen höchste Energie-und Strahlenwerte. Bereich 3 darf 84
in der Station und im Raumschiff nur in äußersten Notfällen aktiviert werden. Bereiche 0, 1 und 2 ausprobieren.“ Inzwischen hatte sich Peter bereits so an diese Dialogart gewöhnt, dass er nahezu automatisch an die Tests ging. ‘Aktiviere Bereich 1!’, dachte er laut sprechend. Er spürte kurz ein leichtes Kribbeln, konnte aber nichts erkennen. „Frage: Ist alles in Ordnung. Ich bemerke nichts?“ Diese laut gesprochene Frage war an PUL gerichtet. „Schutzfeld 1 errichtet. Halte Hände unter die von der Decke fallenden Wassertropfen“ Das war eine gute Idee. Er ging ein paar Meter nach vorn und tat wie es ihm gesagt worden war. Der Tropfen fiel fast auf seine Handfläche und perlte sofort ab, ohne ihm das Gefühl der Nässe zu geben. Daraufhin hielt er sein Gesicht in den fallenden Tropfen. Hier das Gleiche. Der Tropfen traf kurz vor seiner Stirn auf und sprang perlend von ihm ab. Er empfand auch hier keine Nässe. Hier lag ein milder Schutz vor, stellte er fest. 85
„Schutzfeld 1 aus!“, befahl er. Wieder hielt er die Hand unter einen fallenden Wassertropfen. Diesmal spürte er ganz deutlich, wie seine Hand nass wurde. Das war eindeutig. „Schutzfeld 2 an!“ Ein leiser Knall ließ ihn zusammenfahren. Die Kapuze legte sich schlagartig als Helm um seinen Kopf, die Handschuhe stülpten sich über seine Hände, der Anzug blies sich etwas auf und wurde etwas steifer und warme Luft umströmte sein Gesicht. Dann war Ruhe. Er versuchte einige Schritte zu gehen. Er hatte das Gefühl, als hätte er ein Dutzend aufgeblasener Luftballons zwischen den Beinen. Er konnte gehen, aber nicht so flüssig wie gewohnt. Auch bei diesem Versuch hielt er die rechte Hand unter den fallenden Tropfen. Jetzt prallte der Tropfen, in viele kleinere Tröpfchen zerspringend, in etwa zehn Zentimeter Abstand von der Handfläche, zu Boden. ‘Alles klar’, sagte sich Peter. ‘Schutzfeld 2 aus’, und schon zogen sich die Handschuhe und der Helm zurück und die leichte Gehbehinderung entfiel. 86
„Weitere Informationen, bitte“, gab Peter höflich seine Anweisung an PUL. „Information - Schuhe“, meldete sich PUL wieder in seinem Gehirn, „Kontaktleisten - Anzugsohlen = Kraftwerk am Gürtel direkt verbunden. Befehl: Gravitation ein = Gravitationsfeld = lokales, künstliches Schwerkraftfeld. Feld = Bereich des Schutzfeldes. Wenn bei Abgabe dieses Befehls kein Schutzfeld aktiviert ist, wird automatisch Schutzfeld 1 aktiviert. War bereits ein Schutzfeld vorhanden, bleibt dieses aktiviert. Schwerkraftfeld - Grundeinstellung = Stärke 10. Befehle: Gravitation höher oder niedriger = Wert wird immer um 1 erhöht beziehungsweise verringert. Gravitationswert kann direkt benannt werden. Innenbereich des Schutzfeldes = konstant 10, außerhalb, unter Schuhsohlen = veränderbar - Tiefe von 1 Zentimeter bis zu 200 Meter. Unter diesem Feldbereich = energetisches Druckfeld = je nach Gegengewicht, also Gewicht nebst Ausrüstung und Gravitationsstärke wirkt senkrecht nach unten. Gegenstände in diesem Kraftfeld = beschädigt, zerquetscht. Kein Test.“ Jetzt schwieg PUL. Deshalb schlug also mein kleiner Finger so brachial auf den Boden auf, als 87
ich ihn unter den Schweber schieben wollte, dachte Peter, mit dem Kopf nickend, bei sich. „Weiter“, drängte Peter, denn jetzt mussten die Stifte an seinem Gürtel drankommen. „Sende-und Empfangsanlage zu dieser Station Raumschiff = Befehle: „Sender an“ - „Sender Aus.“ Hinweis: Dauerhaft angeschalteter Sender = permanente Gefahr der Anpeilung. Nur bei Bedarf aktivieren. Bei Gefahr im Verzug = wird Empfang in Kombination von mir von hier aus aktiviert. Station - Raumschiff sind ab sofort immer auf Empfang. Nicht anzupeilen - ortungsgeschützt. Weitere Personen - Kombinationen, können diese direkt, oder durch die Zentrale verbunden, miteinander kommunizieren. Im Augenblick = Sender Empfänger aktiviert. Funktionsweise Strahler: Nur Strahler in einer der beiden Hände kann aktiviert werden. Kabel muss zum Körper zeigen, entgegengesetztes Ende zum Ziel. Alle Strahler müssen in mindestens drei Modi zugleich benutzt werden: Intensität, zwischen 1 und 100, Entfernung und Fächerbreite. Ausführungsart - Dauer benennen. Danach - Abstrahlbefehl oder Zeitpunkt des Strahles. Der Betäubungsstrahler = gegen biogenetische Lebewesen wirksam, der Zersetzungsstrahler organischer Stoffe zersetzt alle Lebewesen - Pflan88
zen, der Zersetzer anorganischer Stoffe nur anorganische Verbindungen. Der Thermostrahler sendet hochenergetische Thermostrahlen. Strahler = Werkzeuge - höchste Vorsicht. Links = Betäubungsstrahler, daneben = Zersetzungsstrahler anorganischer Materie, rechts = Thermostrahler, daneben Zersetzungsstrahler organischer Materie. – Zersetzungsstrahler anorganische Materie - Thermostrahler testen!“ Die Helas schienen ein friedliebendes Volk zu sein, dachte Peter, wenn er so deutlich auf den Werkzeugcharakter der Strahler hingewiesen wurde. Er nahm den Zersetzungsstrahler anorganischer Materie von der Halterung am Gürtel und richtete ihn auf einen kleinen, ungefähr 50 mal 80 Zentimeter großen Felsbrocken, welcher circa zehn Meter vor ihm auf dem Boden lag. Der Strahler lag gut in der Hand und war höchstens 1 Kilogramm schwer. „Intensität 50, Entfernung zehn Meter, Breite zehn Zentimeter“, wies Peter laut sprechend an. Nichts 89
tat sich. Irgendetwas schien zu fehlen. Richtig: Ausführungsart und Dauer fehlten noch: „Drei Intervalle mit je 2 Sekunden, Jetzt!.“ Der Stab in seiner Hand vibrierte drei Mal ganz leicht und kurz. Genau entsprechend dieser Vibration, zischten aus dem Stab drei hellgraue, kaum sichtbare Lichtbahnen und trafen den Stein an verschiedenen Stellen. Zuerst sah er nichts. Er ging zu dem Stein und staunte nicht schlecht. Es waren drei zehn Zentimeter große Löcher durch den Felsbrocken geschossen worden. Er sah aus wie ein Schweizer Käse. Und was war das? Peter fand in und hinter den Löchern ganz feinen Staub. Er war so fein, dass er ihn nicht einmal aufnehmen konnte. Er floss sofort wieder aus der Hand und fiel zu Boden. Das war, fand Peter, eine ungeheuer gefährliche Waffe. Er steckte sie schnell wieder an seinen Gürtel. Als nächstes nahm er den Thermostrahler in die Hand. Dieser hatte in etwa das gleiche Format und Gewicht wie der Strahler zuvor. Jetzt gab Peter die Anweisung: „Intensität zehn, Entfernung 50 Meter, Breite 5 Zentimeter, 1 Intervall, zehn Sekunden“ . Wie er 90
erwartet hatte, tat sich noch nichts. Er richtete den Strahler auf eine ungefähr 30 Meter entfernte Höhlenwand gegenüber seinem jetzigen Standort: „Jetzt“, rief er und sofort trat ein gleißend heller Energiestrahl aus dem Stab und traf die anvisierte Wand. Er zeichnete mit dem Strahl, so wie man es mit einem Laserpointer machen konnte, ein kleines Rechteck auf die Felswand, und dann war der Strahl auch schon zu Ende. Er ging schnell zu der Einschussstelle und bemerkte, dass die Felswand noch eine ganz beachtliche Wärme ausstrahlte. Hier mussten gewaltige Hitzeenergien freigesetzt worden sein. Nach etwa fünf Minuten konnte er ganz dicht an die Stelle gehen, an der die Strahlen aufgetroffen waren. So wie er die Spur als Rechteck gezeichnet hatte, so zeigte sie sich auch auf der Felswand. Es war deutlich eine ungeheuer tiefe Brandrille in der entsprechenden geometrischen Form zu erkennen. Auch dieses „Werkzeug“ überzeugte Peter. Er befestigte den Strahler wieder an seinem Gürtel und kehrte zum Schweber zurück. Sich hinsetzend, dachte er bei sich: ‘Was sind wir Menschen doch für ein kriegerisches Volk. Selbst ich, der nun wirklich nichts für 91
Gewalt, Konflikte oder Verbrechen übrig hat, denke bei den Strahlern in erster Linie an Waffen. Und ich war sogar fasziniert, wenn ich mich nicht selbst belügen will’. „Bitte zurück zu meinen alten Kleidungsstücken und danach muss ich schnellstens raus aus dieser Station!“, gab er als Anweisung. Ihm waren plötzlich wieder Ellen und die Kinder eingefallen. Während der kurzen Rückfahrt warf er einen schnellen Blick auf seine Uhr und erschrak. Es war bereits nach 18.30 Uhr. Die Zeit war wie im Flug vergangen. In dem, ihm inzwischen schon fast vertrauten Raum angekommen, stieg er von dem Schweber und zog sich zuerst seinen dunkelblauen RollkragenPullover über die Kombi. Er spannte ausgesprochen stark, aber es ging gerade noch so. Dann kam die Hose dran. Die Knöpfe waren nicht mehr zu schließen und sie hing im Bund unterhalb des Kombigürtels. Er war froh, dass er grundsätzlich immer Gürtel trug. So konnte er mit seinem alten Ledergürtel die zu enge Hose notdürftig am Körper halten. Die Schuhe und Strümpfe fasste er erst gar nicht mehr an. Der weite, etwas zerfetzte Parka war das Einzige, was noch einigermaßen passte. Er fühlte sich wie eine Presswurst. Aber es ging 92
nicht anders, er musste sich so kleiden, wenn er nicht überall auffallen wollte. Geld, Ausweise und Schlüssel befanden sich noch ordnungsgemäß im Parka. Also stand jetzt seinem Heimweg nichts mehr im Weg. Sich in den Schweber schwingend, gab er laut die Anweisung: „Zum Ausgang!“ Das Fahrzeug nahm den Weg zu der Riesenhalle, wartete wieder bis sich dort das Tor geöffnet hatte, und fuhr ein. Obwohl schon einmal gesehen, verschlug ihm dieser Anblick nochmals den Atem. Die Fahrt ging jetzt quer durch diese Halle, seitlich am Riesenwürfel vorbei. Ihm schwindelte. Was er hier sah, war schwer verdaulich. Und wieder beschlich ihn das Gefühl, dass etwas nicht passte. Kurze Zeit später war der Schweber am anderen Ende angelangt, hielt wieder kurz und verließ den Riesenraum durch ein großes Tor. Danach ging es verschiedene Gänge entlang, bis sie plötzlich in einem relativ kleinen Gang ankamen. Dieser Gang maß höchsten 3 mal 3 Meter, und war im Verhältnis zu den vorhergegangenen Gängen und Räumen klein und eng. Dieser Gang wollte nicht aufhören. Es ging immerzu minimal schräg bergauf. 93
Endlich endete der Gang vor einem Tor. „Tor = Bergaußenseite“, informierte PUL. „Öffnen?“ „Ja“, antwortete Peter diesmal einsilbig. Mit einem Rauschen glitt das Tor zur Seite. „Fahrzeug außerhalb benötigt?“, wollte PUL wissen. „Könnte ich es denn mitnehmen, steuern und würde es dort funktionieren?“, fragte Peter neugierig. „Ja.“ Das war die gesamte Antwort. Peter wusste eigentlich schon vorher, dass er zunächst auf keinen Fall zu erkennen geben wollte, was er entdeckt hatte. Er musste sich selbst erst einmal Klarheit verschaffen, was richtig sein würde. Daher musste er das Fahrzeug zurücklassen und irgendwie zu Fuß in die Hotelanlage kommen. Er trat ins Freie und befahl: „Der Schweber bleibt hier im Gang stehen bis ich wieder komme. Tor schließen. Tschüs PUL.“ 94
„Tschüs Peter“, antwortete ihm PUL, und das Tor schloss sich wie von Geisterhand geführt. Ungewollt musste Peter wegen dieses Abschiedsgrußes, die ihm eine Maschine nachgesandt hatte, lachen. Das war eine Programmierung, die ihm sogar für einen Zentralrechner einer fremden, außerirdischen Rasse ungewöhnlich vorkam. Die Stelle, an welcher unmittelbar zuvor noch das Tor gelegen hatte, war jetzt in der Felsenwand nicht mehr zu erkennen. Er selbst stand auf einem schmalen Sims, der als enger Weg so ungefähr 250 Meter nach unten führte und er erkannte das Tal, welches er heute Morgen mit Sepp im Auto durchfahren hatte. Drüben, auf der anderen Seite, so etwa 5 Kilometer weit entfernt, glaubte Peter den Golfplatz ausmachen zu können. Es war jetzt kurz vor 19.00 Uhr und die Sonne stand im Begriff, hinter den Bergspitzen zu verschwinden. Es kam Peter vor, als würde zwischen dem heutigen Morgen und dem Jetzt ein ganzes Leben liegen. Er fühlte sich körperlich so ausgeruht, als hätte er gerade einen Zehn-Stunden-Schlaf hinter sich. Hatte er dort in der Station ein Aufputschmittel verabreicht bekommen oder warum ging es ihm so gut, fragte er sich, den Abstieg beginnend. Es lief sich mit den neuen Schuhen sehr angenehm. 95
Als er den größten Teil des stetig abwärts führenden Bergpfades hinter sich hatte, kam ihm eine Idee: ‘Gravitation niedriger 5 Tiefe 1 Meter. Gravitation ein!’ Kaum hatte er diese Anweisung gedacht, hatte er das Gefühl, erheblich leichter zu sein. Er machte einen Schritt nach vorne, wurde wie von Geisterhand angehoben und konnte sich nicht mehr halten. Das Gleichgewicht verlierend, kippte er seitwärts den steilen Hang hinunter und purzelte etwa vierzig Meter tief bis zum Tal. Er war so erschrocken, dass er erst einmal ganz ruhig liegen blieb. Da hatte er die neue Technik wohl noch nicht beherrscht. An sich herunter sehend, stellte er fest, dass ihm die Hose in den Kniekehlen hing und sein Parka noch zerfetzter, aber immer noch geschlossen, war. Dementsprechend musste er eigentlich verletzt sein. Aber er spürte keinerlei Schmerzen. Er stand auf, klopfte sich den Schmutz von der Kleidung, befestigte seine Hose wieder notdürftig und achtete immerzu auf Schmerzen. Es gab keine. Er erinnerte sich an die Informationen zu den Antigravschuhen, so wollte er sie künftig nennen, und wusste, dass er PULs Warnung nicht genügend beachtet hatte. Schutzfeld Stufe 1 war 96
automatisch eingeschaltet worden und hatte dementsprechend keine Schläge an ihn heran gelassen. Die alte Kleidung war außerhalb des Feldes gewesen, und so sah sie jetzt auch aus. „Grav aus, Schutzschirm 1 an“ rief er, und sofort verspürte er wieder das alte Gewicht. Er nahm einen kleinen Stein mit der rechten Hand und warf ihn vorsichtig auf seinen linken Handrücken. Der Stein erreichte seine Haut nicht, sondern prallte unmittelbar davor ab und fiel seitwärts auf den Boden. „Toll“, freute er sich. Das war eine Jungfernanwendung der Antigravschuhe gewesen, die er innerlich gleichstellte mit der Jungfernfahrt der Titanic: untergegangen. 19.20 Uhr. Endlich hatte er die Straße erreicht, überquerte sie und ging in die Richtung, wo er das Hotel und den Golfplatz vermutete. Immer wenn er ein Auto in seine Richtung fahrend erspähte, hielt er den Daumen hoch, um so vielleicht als Anhalter mitgenommen zu werden. Logischerweise dachten die vorbeifahrenden Autofahrer bei seinem Ausse97
hen, dass er ein Landstreicher sein musste. 19.55 Uhr. Endlich hielt ein alter, schwarzer Jeep an. Er lächelte den Fahrer, ein Einheimischer, wie er am Nummernschild des Fahrzeuges sehen konnte, an und fragte ihn, ob er ihn Richtung Golfhotel mitnehmen könnte. Der Fahrer, ein ungefähr vierzig Jahre alter Mann mit einem riesigen Schnauzbart, musterte ihn ausgesprochen skeptisch. Erst nach der Erklärung Peters, er sei bei seiner Bergwanderung einen Weg hinuntergefallen, ließ er ihn einsteigen und fuhr ihn sogar bis zum Hotel. Dort kam er gegen 20.07 Uhr an, bedankte sich bei dem freundlichen Fahrer, eilte ins Hotel und erlebte gerade noch, wie seine Ellen, mit dem Rücken zu ihm stehend, umkippte. Frau Obermoser stürzte, ohne den Neuankömmling zu bemerken, um den Empfangstresen herum und kniete sich behände neben Ellen nieder. Ihre Oberweite wogte in dem blau-roten Dirndlkleid gewaltig und das Gesicht lief puterrot an, als sie Marie anschrie: „Du dummes Ding, Du! Tu doch was! Ruf den Doktor und die Gendarmerie an. Beweg dich!“ 98
Marie bewegte sich überhaupt nicht. Sie stand mit dem Gesicht zum Eingang gewandt und bekam große Augen. „Beeil dich, du blöde Kuh! Was stehst so damisch herum und starrst Löcher in die Luft!“, schrie die Chefin Richtung Marie und nahm dabei Ellens Kopf in den Arm und tätschelte leicht die Wangen. Marie hob derweil entgeistert ihren rechten Arm und zeigte, alle Fingern ausgestreckt, auf Peter. Dieser war inzwischen auch etwas blass geworden, als er den Grund der Aufregung bemerkte. Die Tür hinter sich zuwerfend, eilte er zu der am Boden knienden Wirtin. Diese verstand erst in diesem Augenblick, warum sich Marie so außergewöhnlich verhalten hatte. Als sie aufblickte und den verdreckten, ramponierten Mann sah, wäre ihr fast Ellens Kopf aus dem Arm geglitten. Marie fing jetzt wieder an hysterisch zu schreien und auch die Wirtin konnte sich einen kurzen Aufschrei nicht verkneifen. Alle verdammt hysterisch hier, dachte Peter wütend bei sich. Er war über sich selbst verärgert, weil er doch zu langsam mit dem Nachhause kommen gewesen war. Aber warum die Frauen hier alle kreischten, das konnte er nicht nachvollziehen. Die ersten ungebetenen Zuschauer kamen bereits aus dem Speiseraum. 99
Sich neben Ellen und die Wirtin hinkniend, fragte er heiser: „Was ist los mit ihr? Was ist passiert?“ „Wir dachten..., sie dachte....“, stammelte Frau Obermoser und konnte ihren Blick einfach nicht von Peter losreißen. „Was dachten Sie oder meine Frau?“, fuhr sie Peter an, „ist sie krank?“ „Nein, Nein. Bestimmt nicht. Es ist nur wegen..., weil wir halt dachten, Sie wären heute mit dem Sepp....“ Sie ließ das Ende des Satzes offen und tätschelte wieder Ellens Wangen. „Was ist mit dem Sepp?“, wollte Peter nun wissen, obwohl er nur zu genau ahnte, was die Wirtin meinte. Aber er hatte sich nun endgültig darauf festgelegt, seine Entdeckung vorläufig geheim zu halten. Also musste er die Erlebnisse der vergangenen 12 Stunden verwischen. „Ihre Frau meinte zu uns, Sie seien heute mit dem Sepp oben auf’m alten Gletscher gewesen. Und da 100
ist doch das große Unglück gescheh´n“, antwortete Marie anstelle ihre Chefin. „Dass was passiert ist, da oben, habe ich unterwegs gehört. Aber was genau, weiß ich nicht. Was ist denn geschehen?“, hinterfragte Peter die beiden verstörten Frauen. „Der Sepp und seine Gruppe. Alle bei einem Erdrutsch verschüttet. Alle tot!“, erläuterte nun wieder die Wirtin. Inzwischen bekam Ellens Gesicht wieder etwas Farbe. Kurz darauf schlug sie die Augen auf: „Wo bin.....“, flüstere sie und stieß mitten in der angefangenen Frage einen kurzen, spitzen Schrei aus. Sie hatte Peter gesehen, wie er so über sie gebeugt war. Sie sah ihn sichtlich verwirrt an: „Du lebst? Ich dachte du wärst da oben....“ Sie ließ den Rest des Satzes unausgesprochen. „Ich war nicht mit dem Sepp auf Tour“, fing Peter zu schwindeln an, „ich bin mit ihm bis zur 101
Schwaiger Alm hoch gefahren und dann noch ein paar Meter mit ihm und der Gruppe gegangen. Da die Gruppe für mich sehr langweilig war, ich verstehe doch nichts von Geologie, und Sepp musste sich um seine Leute kümmern und zudem auch noch die Gegend zu öde war, dort oben, habe ich mich nach kurzer Zeit von ihnen abgeseilt und bin meine eigenen Wege gegangen. So lief ich dann hinter dem Berg herum, langsam wieder nach unten. Dabei hab ich mich ein paar Mal verlaufen, und bin sogar zweimal solch blöde, steinige Hänge hinunter geschlittert. Aber mir ist nichts passiert. Dass aber irgendwas oben in den Bergen los war, hab ich mitbekommen, denn es waren ja genug Sirenen unterwegs gewesen. Nur was.....“ Er ließ den Rest ungesagt, und hoffte, dass er überzeugend gewesen war. Im Stillen verfluchte er sich schon selbst, weil er so einen Unsinn zusammengelogen hatte, aber jetzt hieß es wohl, sich durchzubeißen. Die Wirtin und er hatten bei diesen Worten Ellen wieder auf die Beine geholfen. Ellen betrachtete ihn ganz intensiv und schüttelte den Kopf: „Wie siehst du denn aus. Völlig zerlumpt. Da musst du aber mächtig hingefallen sein.“ 102
Dann stutzte sie, wie nur Frauen stutzen können, wenn es um Kleidungsfragen geht: „Sag mal. Was sind den das für Sa....“, fing sie an, skeptisch geworden, zu fragen. Aber Peter unterbrach sie, vorahnend was jetzt kommen musste, mit einem scharfen Blick in die Augen: „Komm, lass uns nach oben gehen. Ich will die Kinder sehen und muss unbedingt sofort in die Wanne“, dabei zog er sie sanft vom Rezeptionstresen weg. „Vielen Dank für Ihre Hilfe. Wir kommen nachher noch zu einem Drink an die Bar“, rief er über die Schultern der Wirtin und Marie zu. Ellen ließ sich willenlos aus dem Raum führen. Hinter ihnen schauten sich die Wirtin und Marie kopfschüttelnd und zweifelnd an. So zerschlissen und trotzdem scheinbar unverletzt hatten sie noch keinen Gast zurückkommen sehen. Irgendetwas an der Geschichte war da merkwürdig, dachten beide offensichtlich. Peter bemerkte dies noch, als die Tür zu fiel. Noch im Korridor raunte er Ellen ein „Psst!“ zu: „Keine Fragen. Komm, ich erkläre dir oben alles.“ Im Zimmer angekommen, platzte es aus Ellen heraus: 103
„Wie siehst Du aus und vor allen Dingen, was hast du da an? Wo warst Du? Woher kommt das Zeug? Warum warst du nicht mehr bei Sepp? Wie.....“ Peter fing an zu lachen. Es war ein befreiendes Lachen. Er legte Ellen die Arme um den Hals und umarmte sie ganz kräftig. Die Anspannung des Tages fiel von ihm und dabei sichtlich auch von ihr ab. Auch sie fing glucksendes zu lachen an – es war ein glückliches Lachen. „Wo sind die Kinder? Wie geht’s ihnen? Was hast du den ganzen Tag gemacht? Wann hast du von der Katastrophe erfahren?“, purzelten nun aus Peter die Fragen heraus. „Also den Kindern geht’s ausgesprochen gut und sie sind mit ihren neuen Freunden unten Billard spielen. Ich hab den ganzen Tag gefaulenzt und erst unmittelbar vorhin von dem Tod der Gruppe erfahren. Deshalb dachte ich auch, dass du ebenfalls verschüttet wurdest. So – und nun nur noch deine Story. Ich lass dir Badewasser ein und du fängst sofort an zu erzählen“, befahl Ellen scherzend.
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Er zog sich langsam aus und Ellen verschwand kurz im Bad. Als sie zurückkam und ihn in der Kombination sah, bemerkte sie: „Sieht gar nicht so übel aus. Steht dir richtig gut. Wo hast du die gekauft? Nun schieß schon los.“ Und Peter erzählte, während er sich weiter auszog und badete, seine Geschichte. Ellen saß wortlos staunend dabei. Sie war eine gute Zuhörerin, aber am Ende des Berichtes merkte er deutlich, dass sie nicht alles geglaubt oder verstanden hatte. Schon gar nicht das mit der Station, dem Raumschiff, den Helas und dem Anzug. Der pure Zweifel lag in ihren Augen. Kritisch den Kopf schüttelnd prüfte sie das Material der Kombi. So etwas hatte sie noch nie in den Fingern gehabt – und sie kannte fast jede Stoffart. Er kam aus der Wanne, trocknete sich ab und zog sich neue Unterwäsche an. Danach nahm er die Kombi, den Gürtel und die Schuhe und zog auch diese Sachen an. „Warum ziehst du das Zeug jetzt wieder an?“, fragte Ellen verwirrt und betastete weiterhin ausgiebig das Material. 105
„Um dir mal einige kleine Möglichkeiten dieser Ausrüstung zu demonstrieren“, lächelte er sie vergnügt an und nahm den Strahler für organische Materie in die rechte Hand. ‘Intensität 1, Länge 1 Meter, Breite zehn Zentimeter, Dauer 1 Sekunde’. Er nahm einen Apfel aus der Obstschale und legte ihn auf den Waschbeckenrand, stellte sich einen knappen Meter davor auf, richtete den Strahler auf diesen Apfel und dachte: ‘Jetzt’. Kaum gedacht, schoss aufblitzend ein kurzer hellblauer Strahl auf den Apfel zu, traf auf diesen auf und schon war der Apfel verschwunden. Eine hauchdünne Spur von Dampf verflüchtigte sich in der Luft. Ellen, aber auch er, waren ausgesprochen beeindruckt von diesem Experiment. Als Nächstes, und für heute Letztes, wollte er ihr das Schutzfeld 2 vorführen. Um es besonders effektvoll zu demonstrieren, nahm er das alte, zerfetzte Hemd und wickelte und verknotete es um seinen rechten Oberschenkel. „So, mein Schatz, jetzt geh´ mal einen Meter zurück, es könnte gefährlich werden. Jetzt kannst Du den Schutzcharakter dieser Kombi sehen. Achte 106
auf das alte Hemd an meinem rechten Schenkel“, kündigte er Ellen den Versuch an „Schutzfeld 2 an“, befahl er laut sprechend. Mit einem leisen Knall entstand der Raumanzug. Der Helm wurde übergelegt, die Hände eingehüllt und das Hemd flog in weitem Bogen, jetzt endgültig zerstückelt, auf den Boden. „Werfe mal einen Apfel ganz leicht auf meine Brust“, trug er Ellen auf. Er war selbst gespannt, ob der Apfel nur abprallen würde, oder ob er zersprang oder gar verrauchte. Vorsichtig, wie ein Wattebällchen, warf Ellen aus gut einem Meter Entfernung einen Apfel gegen Peters Brust. Der Apfel prallte in etwa zehn Zentimeter Entfernung von der Kombi einfach nur ab und fiel zu Boden. „So, und jetzt das Gleiche mit einer Geldmünze“, wandte er sich wieder an Ellen, „Und werfe ruhig etwas stärker.“ Sie suchte aus ihrer Geldbörse eine Münze heraus und schmiss sie, so kräftig sie konnte, in Richtung Peters Brust. Das Geld streifte zwar nur das Ziel, aber das Ergebnis war doch eindeutig. Die Münze wurde im Flug in gut zehn Zentimeter Abstand von der Kombi deutlich abgelenkt und fiel unbe107
schädigt zu Boden. Das befriedigte Peter außerordentlich. Jetzt wusste er, dass von dem Schutzfeld um ihn herum keine Gefahr für andere Lebewesen und Gegenstände ausging. Man konnte nur nicht an ihn herankommen. „Und nun als letztes - berühre meinen Schutzschirm mit der Hand!“, forderte er Ellen auf. Peter sah ihren ängstlich Blick, als sie ganz langsam zu ihm trat und den Zeigefinger ausstreckte. Vorsichtig, als würde sie einen Stromschlag erwarten, berührte sie mit der Fingerspitze das Schutzfeld. Nichts passierte. Sie drückte etwas fester. Wieder nichts. Sie legte die Handfläche gegen das Feld. „Es fühlt sich angenehm an. So warm und glatt. Eigentlich richtig kuschelig“, teilte sie ihm nun mit. ‘Also genau so, wie Ellen das Feld hier beschrieb, hatte sich auch das große Schutzfeld am Eingang zur Station angefühlt’, dachte Peter bei sich und schaltete per Gedankenbefehl das Schutzfeld wieder aus. Dieses brach zusammen, wie Peter es inzwischen schon kannte, und der Helm und die Handschuhe verschwanden wie gewohnt. 108
Ellen war sichtlich erstaunt. Allerdings schien sie jetzt von der Erzählung Peters absolut überzeugt zu sein. „Und wie soll es nun weitergehen?“, wollte sie wissen. „Das ist ja das Problem. Darüber müssen wir noch gründlich nachdenken und bis dahin sollten wir die ganze Sache geheim halten. Allein wenn ich an diese soeben demonstrierten Machtmöglichkeiten denke, oder an das biologische Regenerationsprogramm, wird mir ganz mulmig. Wenn ich damit rechnen muss, dass das in die falschen Hände kommt, läuft es mir kalt den Rücken runter. Wir sollten erst einmal so viel wie möglich lernen und in Erfahrung bringen und dann unsere Entscheidung treffen. Kommt nur das Geringste an die Öffentlichkeit, sitzt man uns sofort im Nacken und wir haben nie wieder auch nur eine Sekunde Ruhe.“ Peter sah Ellen Einverständnis erheischend an. Diese nickte nur. Steile Falten zeichneten sich auf ihrer Stirn ab. „Damit wir nicht im eigenen Saft schmoren und uns in unserer kleinen Welt verfangen, bin ich der 109
Meinung, dass wir unsere engsten Freunde, Georg und Brigitte einweihen und mit ihnen gemeinsam die Probleme lösen sollten. Was hältst du davon?“, fragte er nachdenklich. „Gute Idee“, kam spontan die Antwort, „wir haben ja in der Vergangenheit schon alle möglichen Probleme gemeinsam bestens gelöst. Aber jetzt zieh dich erst mal vollständig an und lass uns nach unten an die Bar gehen, wie Du es vorhin gesagt hast. Es fällt sonst vielleicht auf, wenn wir nicht dort erscheinen. Außerdem müssen wir auch mal nach den Kids schauen. Die müssen langsam ins Bett. Es ist gleich elf Uhr“ Also zog sich Peter gehorsam die Kombi nebst Utensilien wieder aus und seine normalen Sachen an. Er versteckte die Sicherheitsausrüstung im Schrank, schloss sorgfältig die Tür ab und ging mit Ellen Arm in Arm nach unten. Nachdem die Landers den Empfangsraum des Hotels verlassen hatten, wandte sich Frau Obermoser wieder Marie zu und sagte mit gewohnt herrischem Tonfall:
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„Geh wieder hinter den Tresen, Marie, und mach deine Arbeit weiter. Es ist schon alles in Ordnung.“ Marie ging wortlos und immer noch verstört hinter den Tresen und die Wirtin eilte durch ihr Büro in ihre privaten Gemächer. Alois, ihr Göttergatte saß, mit einer Flasche Bier vor dem Bauch vor dem Fernseher und sah die neueste Nachrichtensendung und rief sofort seiner Frau entgegen: „Du, Spatz´l, der Sepp´l lebt noch. Er liegt im Kreiskrankenhaus auf der Intensiv, haben’s gesagt, und er soll noch im Koma liegen.“ Man sah ihm die Freude und Erleichterung deutlich an. „Was war denn los? Warum hat die Marie so geplärrt?“, wollte er noch wissen. Sie erzählte ihm was vorgefallen war und Alois nickte nachdenklich vor sich hin: „So so. Das ist ja ein Wunder. Hat der einen Schutzengel gehabt, dass er sich getrennt hat“, murmelte er vor sich hin: „Da fällt mir etwas ein. Das kann uns was nutzen. Der soll sich wundern....“, stand auf und ging in Richtung Büro davon. Noch in der Tür wandte er sich zurück und wies seine Frau an: 111
„Wenn die Landers nachher in die Bar kommen, sorg dafür, dass sie alles auf Kosten des Hauses heute trinken können. Verstehst. Und die Kinder von denen auch!“ Hinter sich die Bürotür schließend, griff er nach dem Telefonhörer und wählte grinsend eine Nummer.... Peter und Ellen setzten sich an einen kleinen Nischentisch in der gemütlichen, holzgetäfelten Hotelbar. Die Wirtin kam persönlich angetänzelt und begrüßte sie mit den Worten: „Sie sind heute Abend unsere Gäste. Auch die Kinder. Sie haben heute genug erlebt und viel Dusel gehabt, dass Sie nicht mit dem Sepp da oben mitgegangen sind. Darauf wollen wir Einen ausgeben. Was darf´s denn sein?“ „Vielen Dank“, erwiderte Peter, „für mich ein Mineralwasser mit einer Scheibe Zitrone und für meine Frau einen Viertel Gumpoltskirchner.“ „Das ist ja toll. Schau, da kommen Alex und Bine. Die strahlen aber“, bemerkte Ellen und zeigte auf den Eingang, wo die Kinder auch schon angerannt kamen. 112
„Ha, heut haben wir es den Einheimischen aber gezeigt, beim Billard und beim Kickern“, brüllte Alexander schon vom weiten „wir haben gewonnen, wenn auch nur ganz knapp, aber immerhin gewonnen!“ Er war offensichtlich rundum zufrieden. Sabine lief zu Peter, warf sich ihm an den Hals und drückte einen dicken Schmatz auf seine Wange. „War’s schön da oben?“, wollte sie wissen. „Ja, aber sehr anstrengend. Und bei Euch?“, stellte er sofort die Gegenfrage, damit sie ihn nicht allzu sehr löchern konnten. „Ach, es ist einfach Super hier. Wir haben schon Freunde und die Pferde sind Spitze. Dürfen wir heute ausnahmsweise noch eine halbe Stunde länger aufbleiben? Bitte, Bitteeee...“, schmuste sie. Sie wusste bestens, wie sie ihren Papa um den Finger wickeln konnte. Genau in dem Augenblick, als Sabine ihrem Papa einen weiteren Schmatz aufdrücken wollte, ging polternd die Lokaltür auf und mit viel Getöse und diversen Geräten kamen zwei Männer und eine Frau herein. 113
Die Frau trug ein Mikrofon in der Hand, eines ohne Kabel, einer der Männer eine Filmkamera mit Lichtleiste und der Andere einen Photoapparat. „Sind Sie Herr Peter Lander?“, wollte die Frau direkt auf Peter zugehend, mit einschmeichelndem Tonfall sprechend, wissen. „Ja“ kam die Antwort Peters. Ihm schwante Fürchterliches. Woher wussten die, dass er mit dort oben war. Und warum spendierte die Wirtin heute Getränke. Er zählte zwei und zwei zusammen und wusste Bescheid. Jetzt hieß es vorsichtig sein. Einen kurzen, warnenden Blick Ellen zuwerfend, fragte er: „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“ Die Reporterin nickte strahlend Peter, Ellen und den Kindern zu, wandte sich über die Schulter an den Kameramann, nickte auch diesem zu und ging dann, stur in die Kamera blickend, auf Peters Frage ein: „Meine Damen und Herren. Wir freuen uns, Ihnen heute neben der verheerenden Tragödie auf dem Tauernsattel, wo es durch einen unvorhersehbaren Bergrutsch so viele Tote gegeben hat, einen Menschen vorstellen zu können, der wie durch ein 114
Wunder diese Katastrophe überlebt, oder sagen wir besser, ganz knapp nicht erlebt hat.“ Verdammt, dachte Peter, genau das wollte er eigentlich nicht haben. Warum hatte er so einen Mist zusammengelogen? Publicity war das Letzte, was sie gebrauchen konnten. Aber jetzt hieß es gute Miene zum bösen Spiel zu machen und sich irgendwie wieder herauszuwinden. „Wie meinen Sie denn das. Es war doch gar nichts Besonderes“, versuchte er die Angelegenheit herunter zu spielen. Aber es nutzte nichts. Sie mussten die ganze Prozedur über sich ergehen lassen. Die einzigen aus der Familie Lander, die das Fernsehinterview genossen, waren die Kinder. Und die Hotelbesitzer freuten sich, denn ihre Hotelanlage wurde wiederholt erwähnt und gefilmt. Peter blieb sauber bei der Version, welche er zuvor der Wirtin aufgetischt hatte. Nach einer viertel Stunde war alles vorüber. Das Reporterteam rückte wieder ab und versprach, die Aufnahmen schnellstens in den Nachrichten unterzubringen. 115
‘Schöne Scheiße’, dachte Peter. Und nun waren sie auch noch eine Art Hauptattraktion im Hotel. Immerzu kamen andere Gäste an und wollten Peters „Lügengeschichte“ hören. Es war fürchterlich. Nur die Kinder strahlten vor Glück. Nach einer weiteren Stunde zogen sich die Landers in ihr Zimmer zurück und schlüpften schnellstens in ihre Betten. Die Kinder, und auch Ellen, waren bald eingeschlafen. Es war ja auch schon nach Mitternacht. Nur Peter lag immer noch hellwach im Bett. Das muss etwas mit dieser biophysikalischen Behandlung in der Station zu tun haben, ging es ihm durch den Kopf. Er wusste, er würde diese Nacht nicht schlafen können, sondern nur noch denken und grübeln. Die Nacht kam Peter endlos vor. Immer wieder sah er die friedlich schlafende Ellen an, und wünschte sich, auch so schön schlummern zu können. Aber es ging nicht. Er war und blieb munter. Viel nachdenken und Probleme wälzen wollte er eigentlich nicht, aber seine Gedanken kreisten immerzu um die Station. Was war dort nicht stimmig? Die Geräte und Bauwerke waren ungewöhnlich und fremdartig, aber geistig ohne weite116
res erfassbar. Und trotzdem war dort etwas nicht richtig gewesen? Als gegen fünf Uhr der Tag zu grauen begann und es etwas heller im Zimmer wurde, stand er ganz leise auf, wandte sich zum Schrank und holte die Kombi nebst Gürtel heraus. Ohne unnötige Geräusche zu machen, zog er sich seine Unterwäsche und dann die Sicherheitskleidung an. Es war schon eigenartig, dachte er so bei sich, dass er das Gefühl hatte, unter der Kombi, in alter Gewohnheit, Unterwäsche tragen zu müssen. Die Kombi war bestimmt auch ohne diese hygienisch zu tragen. Als er alles angezogen hatte, überlegte er erst noch einmal, ob das, was er jetzt vorhatte, wirklich richtig war. Er wollte Kontakt mit der Station, und dort speziell mit PUL, aufnehmen und ein bisschen Informationen sammeln. Dadurch würde die Zeit schneller vergehen. Ja, es war richtig, entschied er und gab lautlos per Gedanken die Anweisung: ‘Sender ein! Empfänger ein!’ Ha – wie und als was sollte er sich melden? ‘Peter ruft PUL, bitte melden!’, versuchte er, neugierig ob es funktionieren würde. 117
„Station = Empfang“, kam prompt die Antwort in sein Gehirn. ‘Frage: Ist es momentan gefährlich, wenn wir uns jetzt unterhalten?’ „Nein. Anpeilungsgefahr negativ.“ ‘Frage: Ich kann nicht einschlafen. Liegt das an der biophysischen Behandlung in der Station?’ „Ja.“ ‘Frage: Aber ein Lebewesen benötigt doch unbedingt Schlaf zum Regenerieren’, hinterfragte Peter. „Nein. = Teilregeneration - Zellen.“ ‘Frage: Wie lange hält die Regenerationsbehandlung bei mir an?’ „42 Tage. Dringend weitere Behandlungen vornehmen lassen. Werte unter erlaubtem Durchschnitt.“ Hatte er richtig verstanden. 42 Tage ohne das Bedürfnis nach Schlaf sollten noch kommen. Oh je. Das konnte problematisch werden. Denn obwohl er kein Bedürfnis nach Schlaf verspürte, da er sich 118
absolut frisch fühlte, hatte er den vehementen Wunsch, schlafen zu wollen. Es war zwar irreal, und das wusste er, aber er konnte nicht anders. Er hoffte, dass er sich schnell mit der neuen Situation würde abfinden können. ‘Frage: In welchem Abstand darf ich die biophysikalischen Regenerationen über mich ergehen lassen, ohne Schaden zu nehmen und vollständig regeneriert zu werden?’ „1 Durchgang. Regenerationsvorgang = vier Stunden. Nächste Regeneration = Werte um 40 %. Zwischen 100 % und 40 % = Helas 46 Jahre. Dein biogenetischer, chemischer und physischer Aufbau nahezu = Helas - Daten übertragbar.“ ‘Frage: Wie lange kann ein so stets regeneriertes Lebewesen dann leben?’ „Solange Wert nicht unter 0 oder Totalausfall der biomechanischen Funktionen.“ Er hatte es schon vermutet. Das bedeutete die Erfüllung eines Wunschtraumes der Menschen, ob sinnvoll und vernünftig oder nicht, mit der Möglichkeit, sich nicht mehr regenerieren zu lassen und so dann das Zeitliche zu segnen. 119
Nun wollte er mal hören, was PUL auf seine gedachten Fragen über die Stromversorgung an seinem Anzug antworten würde: ‘Frage: Handelt es sich um einen Akku an meinem Gürtel, der die Kombi mit Strom versorgt?’ „Nein“, kam die, für Peter erheblich zu kurze Antwort. So konnte er nicht einen Elektronenrechner fragen. ‘Frage: Wie werden die Kombination, die Schuhe und die Strahler mit Strom versorgt?’, versuchte es Peter noch einmal. „Ultrakernfusionsanlage - Gesamtleistungsabgabe 60 Millionen Megawatt.“ Buh – das war eine Leistung. Das war fast das Dreifache der Energieproduktion eines Jahres aller Staaten dieser Erde. Und das in diesem kleinen Kasten. Unglaublich und vermutlich wahr. Nach allem was er bisher gesehen und erlebt hatte, zweifelte er nicht an der Richtigkeit der Wertangabe PULs. ‘Frage: Kann das Kraftwerk kritisch werden und um welche Art Kernfusion handelt es sich hier?’ 120
„Kann nicht kritisch werden = kalte, direktkontrollierte Fusion mit Polleron.“ So – das hatte er nun auch intus, was immer auch Polleron sein mochte. Das was er hierzu in seine Gedanken gesendet bekommen hatte, hätte er so ausgesprochen – ein erkennbares Bild war nicht entstanden. Und kalte Fusion? Davon hatte er einmal etwas gelesen, aber nichts verstanden. Fragen hätte er unzählige stellen können, aber er wollte sich erst einmal einen Überblick verschaffen und noch nicht tiefer in die Materie einsteigen. Sein nächstes Interessengebiet würde jetzt das Raumschiff sein: ‘Frage: Könnte und dürfte ich das Expeditionsraumschiff, welches in der Station steht, persönlich fliegen?’ „Nein“, kam wieder eine so kurze Antwort. Peter konnte ja nichts an diesen präzisen, kurzen Antworten aussetzen, nur sie gingen ihm allmählich gegen den Strich. PUL war eben doch nur eine bessere Rechenmaschine. ‘Anweisung: Für die nächsten 60 Minuten sollen alle Fragen etwas ausführlicher beantwortet werden. Die letzte Frage wird hiermit wiederholt.’ 121
„Lebewesen können Raumschiffe nicht fliegen. Das gilt auch für die Erbauer des Raumschiffes. Kein Lebewesen könnte solche komplexe Maschinen bedienen, selbst wenn unzählige Lebewesen eingesetzt werden würden. Geistige Verarbeitungsgeschwindigkeit - Abstimmungsverhalten Reaktionszeit wäre ungenügend. Es genügt = Kommandant - Anweisungen - Flug. Alles Weitere erledigen Rechen-und Schalteinheiten. 11 berechtigte Besatzungsmitglieder müssen in der Zentrale sein, um jederzeit bei Ausfällen ein neues Mitglied zur Verfügung zu haben.“ ‘Frage: Wenn ich morgen in die Station käme, zehn weitere Menschen mitbringe und diese autorisiere und dann verlange, einmal die Erde mit dem Raumschiff zu umkreisen, würde das dann funktionieren?’ „Ja. Start-und Landefläche = Verunreinigungen – entfernen - damit das Dach geöffnet werden kann = drei Stunden Zeit. Für solche kurzen Flüge werden die kleinen Expeditionsraumschiffe verwendet!“
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„Holla!“, entfuhr es Peter vor Erstaunen ungewollt laut. Es gab also noch mehr Raumflugkörper dort im Berg! ‘Frage: Zähle die kleinen und kleinsten Raumschiffe, welche sich an Bord des Forschungsschiffes befinden, auf. Mit Größenangaben und der Mindestbesatzung!’ „12 Kleinflugschiffe, 1 Mann Besatzung, 12 Meter lang, 4 zu 2 Meter Durchmesser, 6 Forschungsraumschiffe, 5 Mann Besatzung erforderlich, 38 Meter Kantenlänger. 24 Frachtträger, 3 Mann Besatzung, 50 mal 30 mal 30 Meter.“ ‘Frage: Kann ein Lebewesen wenigsten das Kleinflugschiff alleine fliegen?’ „Frage unpräzise. Umformulieren!“ ‘Pah, duselige Maschine’, dachte Peter und wusste im gleichen Augenblick, dass ihn gerade diese Maschine auch mit diesen Gedanken hören konnte. Er riss sich zusammen und formulierte im Geist die Frage neu: ‘Frage: Kann ein Lebewesen das Einmannschiff manuell fliegen?’ 123
„Helastechnik = Geräte nicht manuell bedienbar. Kommandant - Kleinflugschiff - Steuerung - Gedankenbefehle. Technik = analog Sicherheitsanzug.“ ‘Ja, das leuchtet ein’, sinnierte Peter, ‘jetzt schließt sich der Kreis. Dann war es natürlich auch logisch, dass riesige Raumschiffe auch nur per Gedanken gesteuert werden konnten. Wie arbeiteten dann eigentlich Forscher, wenn sie etwas Neues entwickeln wollten? Das zu sehen wäre wirklich interessant’. ‘Frage: Wie ist das Ver-und Entsorgungsproblem für die Lebewesen in der Station und auf den Raumschiffen gelöst?’ „Nahrung = Tablettenform. Getränke = flüssige Form. In den meisten Räumen immer verfügbar. Ernährung = lebenswichtige Stoffe - reinste Form. Entsorgung = besondere Räume oder Kleidung. Anforderung und Verbringung = per Anweisung.“ Das war also auch gelöst. Ob die Tabletten schmecken würden, war zu bezweifeln, dachte Peter bei sich, aber verhungern würde man jedenfalls nicht. Er sah auf seine Uhr. Es war gleich sieben Uhr. So war die Zeit angenehm schnell vergangen. Aber 124
sie war auch einsam vergangen. Er schaute aus dem Fenster. Im Tal und auf den Berghängen verzogen sich die letzten Morgennebel. Es würde wieder ein wunderschöner Sommertag werden. Sein Blick suchte fast automatisch das Massiv, wo die Station liegen musste. Es zog ihn dort hin. ‘Sendung Ende. Empfang aus’. Er blieb am Fenster sitzen und fing an zu träumen. „Guten Morgen, Schatz. Was machst du denn da?“, ertönte Ellens, noch etwas verschlafene Stimme hinter ihm. Er erschrak, denn er war in seinen Träumen wie weggetreten gewesen. „Ich glaube, ich habe geträumt“, erwiderte Peter, sich zu Ellen umdrehend, „aber, wenn du mich fragen würdest, ich wüsste nicht einmal mehr, was ich geträumt habe.“ Er stand auf und gab ihr einen Kuss. „Wieso hast du die Kombi an?“, wollte sie neugierig geworden wissen. „Ich hab mich mit der Station unterhalten“
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„Davon habe ich aber nichts gehört und worüber hast du dich mit wem unterhalten?“, fragte sie spitz. Jetzt musste Peter herzhaft lachen. Sie war eben doch noch in der normalen Erdzeit. Deshalb erklärte er ihr ganz behutsam, wie und was er gemacht und erfahren hatte. „Zieh mal schnell die Sachen wieder aus und verstecke sie. Gleich nach dem Frühstück gehen wir in die Stadt und kaufen neue Anziehsachen. Und zwar so große, dass du darunter, ohne aufzufallen, deine Kombi tragen kannst. Einverstanden?“, forderte Ellen ihn auf. Das war typisch für sie. Praktisch veranlagt und immer auf ordentliche Kleidung bedacht. Das mochte er so an ihr – allerdings immer nur dann, wenn er nicht mit ihr einkaufen gehen musste. Aber diesmal wollte auch er, denn er sah die Notwendigkeit ein. „Einverstanden. Aber auch für dich und für die Kinder, sollten wir neue, weite Klamotten besorgen, denn die Sicherheitsausrüstung wird auch auf euch zukommen. Und dann möchte ich von unterwegs aus einer Telefonzelle Georg anrufen und dafür sorgen, dass wir uns umgehend zusammensetzen können“, erweiterte er ihr Ansinnen und 126
machte dabei leise die Tür zum Schlafzimmer der Kinder auf. „Die Beiden schlafen ja immer noch“, flüsterte er über die Schulter Ellen zu, „wir schreiben einen Zettel, dass wir schon beim Frühstücken sind.“ Ellen machte sich fertig und dann gingen sie nach unten. Sie wurden von allen möglichen Gästen wie alte Bekannte begrüßt. In der Ecke lief ein Fernseher. Es musste eine Ausnahme sein, dass um diese Zeit in diesem Raum das Gerät angeschaltet war, aber Ursache dafür war wohl die Erwartung der Reportage vom Vortag. Und richtig. Sie saßen kaum, schon war der erste Bericht zu sehen. Es war das lokale Ereignis überhaupt. Alle Anwesenden im Raum starrten gebannt auf die Sendung. Die Bilder zeigten den Geröllhang und kurz darauf den alten, fast abgetauten Gletscher. Dann kam ein Kameraschwenk auf einige Bergwachtleute mit Hunden bei der Suche. Die nächste Einstellung zeigte den Abtransport eines der beiden Verletzten per Hubschrauber. Der Kommentator erklärte, dass es sich um den Bergführer Sepp Hintermayer handeln würde und dass er schwer verletzt und ohne Bewusstsein sei. Dass Sepp doch überlebt hatte, war Peter neu. Es freute ihn einerseits, andererseits bekam er Bedenken, dass nun seine blöd127
sinnige Schwindelei in Frage gestellt werden könnte. Aber was soll´s, dachte er bei sich, ich werde mich dann schon wieder herauswinden. Und jetzt folgte das Interview von gestern Abend mit Peter und der Familie. Sie waren alle gut getroffen und gerade bei Peter verweilte die Kameraeinstellung unangenehm oft und lange. Die Geschichte wurde unerträglich aufgebauscht und breit gewalzt. Er war froh, als es endlich vorbei war. Trotzdem machte sich der unerwünschte Bekanntheitsgrad sofort bemerkbar. Überall im Raum wurde getuschelt, mit den Augen und Fingern auf Ellen und ihn gedeutet und einige, ihm völlig fremde Gäste sprachen ihn sogar an und beglückwünschten ihn zu seinem Glück. Wenn ihr wüsstet, dachte Peter, und grinste dabei verstohlen Ellen an. Der Ruhm war irgendwie unangenehm. Sie beeilten sich mit dem Frühstück. So richtig schmecken wollte es nicht mehr. Gleich danach gingen sie wieder auf ihre Zimmer. Die Kinder waren inzwischen aufgestanden, zankten sich wie gewohnt und zogen sich gerade an. Sabine beschwerte sich lautstark, dass Alexander zu lange das Badezimmer blockieren würde und sie so niemals rechtzeitig mit dem Schminken fertig werden würde. Jeden Tag die gleiche Prozedur. 128
Danach verabschiedeten sich die Kinder, weil sie direkt vom Frühstückstisch zum Reiten gehen wollten. Sie waren dort mit ihren neuen Freunden verabredet. Abends würde man sich mit den Eltern wieder treffen, meinten sie fröhlich. Und weg waren sie. Ellen und Peter machten sich noch einmal kurz frisch und gingen nach unten, um in die Stadt zu fahren. Kaum waren sie am Hotelausgang, standen zwei Radioreporter vor ihnen und wollte unbedingt ein kurzes Interview. Da Peter aus gutem Grunde kein unnötiges Aufsehen erregen wollte, gab er es ihnen, und das sogar freundlich. Die Geschichte änderte er bereits unmerklich ab, indem er erzählte, dass er ein gutes Stück des Weges mit Sepp und seiner Gruppe zurückgelegt hatte. Dann ließen ihn die Reporter endlich in Ruhe. Sie fuhren bis nach Salzburg zum Einkaufen. Dort, glaubte Peter, würde keiner die Fernsehsendung mit ihnen gesehen haben. Aber bereits im ersten Bekleidungsgeschäft stellte er fest, dass das ein Trugschluss war. Sie wurden sogar mit Namen angesprochen, und immer wieder musste er die gleichen Fragen beantworten. Sie kauften ein paar übergroße Hosen und PULlis und waren froh, als sie wieder aus dem Geschäft raus waren. 129
„Komm, jetzt trinken wir erst mal Kaffee“, forderte er Ellen auf, „und dann ruf ich Georg an.“ „Gern“, war Ellens einsilbige Antwort. Auch ihr schien der neue Bekanntheitsgrad nicht ganz zu behagen, wusste sie inzwischen doch, was sich wirklich im Hintergrund befand. Selbst im Café hatten sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Nach der Kaffeepause suchten sie eine Telefonzelle und riefen bei ihrem Freund Georg Keller an. Georg hob, als das Telefon bei ihm klingelte, sehr schnell den Hörer ab: „Keller“, brüllte er militärisch kurz hinein. Wie immer. „Grüß dich Georg. Hier ist Peter. Bist du allein?“, fragte Peter vorsichtig. „Servus, Peter, klar bin ich allein. Du sag mal. Hab ich dich da wirklich im Fernsehen gesehen. Warst du das?“, kam sofort die Gegenfrage von ihm. „Ja. Und jetzt stell mal keine Fragen mehr, sondern pass genau auf. Du kannst dir ja als selbständiger Unternehmer deine Zeit frei einteilen und es 130
fällt auch gar nicht auf, wenn du mal kurzfristig für ein paar Tage verreist....“, fing Peter an. „Ja, aber was soll das?“, unterbrach Georg ihn trotzdem. „Mensch, Georg, sei jetzt endlich ganz still. Ich sage nur das: absolute Geheimhaltung und wichtig. Sag dies auch Gitti, genau wie ich es dir jetzt gesagt habe. Und jetzt kommt es, was du machen sollst. Komm sofort, ohne jemand etwas zu erzählen, zu mir hierher ins Hotel. Auch zu den Kindern kein Wort. Verschleiere alles irgendwie, aber plausibel. Geschäfte, und so. Einverstanden?“, fuhr Peter unbeirrt und besonders eindringlich sprechend fort. „Kannst du mir gar nichts sagen und hängt es mit deiner Bergwanderung zusammen?“, wollte Georg doch noch wissen. „Ja, aber es ist viel, viel mehr. Frag nichts mehr sondern komm sofort und bring Zeit mit. Wann kannst du frühestens hier sein?“, antwortete und fragte Peter zugleich. Georg wohnte seit fünfzehn Jahren in einem kleinen Dorf bei Passau. Tiefenbach hieß das Örtchen und lag schön sanft hügelig eingebettet. Die Kellers fühlten sich ausgespro131
chen wohl dort. Georg überschlug die Fahrtstrecke und Fahrtzeit und brummte: „Jetzt ist es 12.30 Uhr. Vier Stunden benötige ich ungefähr. Hhmm, so in etwa um halb fünf oder fünf Uhr würde ich mal locker sagen. Reicht das?“ „Ja. Bring Sachen zum Übernachten und deine weitesten Hosen, Hemden und Jacken mit. Ich buche dir ein Zimmer. Kontaktiere mich unauffällig, wenn es geht. Du weißt schon, so ohne Lärm“, wies Peter ihn an. „Na, da bin ich aber gespannt. Tschüs“, antwortete Georg kurzatmig und eindeutig nervös geworden. „In Ordnung und bis dann, und grüß Gitti und die Kinder“, verabschiedete sich auch Peter. Kellers waren Landers beste und intimste Freunde. Georg, der nur ein Jahr älter als Peter war, hatte diesen in Berlin auf einem Abendgymnasium kennen gelernt. Sie absolvierten dort die Schule mit Erfolg und studierten anschließend. Peter promovierte im Anschluss noch, während Georg, von zu Hause aus finanziell gut betucht, sich im Transportsektor selbständig machte. Peter fing nach seiner Promotion in Georgs Berliner Ableger des Transportunternehmens zu arbeiten an. Wenn auch 132
nur als gut bezahlter Angestellter und räumlich über 600 Kilometer getrennt, blieben sie doch engste Freunde und Vertraute. Und gerade wegen dieser vertrauten Freundschaft, wollte Peter Georg an diesem gewaltigen Geheimnis teilhaben lassen. Ellen und Peter kauften in verschiedenen Geschäften noch mehrere Kleidungsstücke ein und fuhren dann wieder zurück ins Hotel. Da sie unterwegs bereits eine Kleinigkeit zu Mittag gegessen hatten, gingen sie umgehend mit ihren zahlreichen Tüten auf ihr Zimmer. Von den Kindern war nichts zu sehen, nur die Unordnung im Schlafzimmer der Kinder zeugte davon, dass sie im Laufe des Tages einmal dort gewesen sein mussten. Schnell packte Ellen alle neu gekauften Sachen aus und Peter zog seine Sicherheitskleidung an. Darüber trug er einen neuen Pullover mit Rollkragen und eine weite, dunkel karierte Hose. Er betrachtete sich so im Spiegel und konnte feststellen, dass er sich so ungeniert in der Öffentlichkeit sehen lassen konnte. Man würde die Kombi und den Gürtel nicht bemerken. Es schlackerte alles schön um ihn herum. Etwas beleibter sah er allerdings aus. 133
„Sportlich siehst du nicht unbedingt aus“, stichelte Ellen, formte mit beiden Händen ein Fass in der Luft und musste dazu lachen, „komm lass uns nach unten gehen, für Georg ein Zimmer bestellen und ein Stück Kuchen essen.“ Als sie im Lokal ankamen, war es bereits 16.30 Uhr. Auch heute lief im Restaurant wieder der Fernseher. Ellen und Peter setzten sich so, dass sie sowohl den Fernseher, als auch die Eingangstür im Auge hatten. Die Gäste hatten die Landers noch nicht vergessen und grüßten von allen Seiten, ließen sie aber ansonsten weitgehend in Ruhe. Peter registrierte das als sehr angenehm. Endlich, kurz vor 17.00 Uhr ging die Tür auf und Georg kam weltmännisch hereinspaziert. Er sah wieder blendend aus. Braungebrannt, nur ein paar Zentimeter kleiner als Peter, braune Haare, braune Augen, mit einem etwas gedrungenen, schlanken und muskulösen Körperbau und sorgfältig gekleidet, stand er so in der Mitte des Restaurants und suchte nach Ellen und Peter. Sie entdeckend, kam er sofort auf die beiden zu, setzte sich ohne ein Wort zu sagen an den Tisch und grinste.
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„Schön dass du hier bist“, platzte es erleichtert aus Peter heraus, „gleich vorweg, wir müssen extrem vorsichtig sein. Warum wirst du bald erfahren.“ „Grüß dich, Ellen. Wenn ich euch nicht so gut kennen würde, müsste ich jetzt annehmen, dass ihr völlig durchgedreht seid. Aber ich kennéuch gut genug, also warte ich, bis ich alles erfahren habe“, erwiderte Georg mit seiner dunklen, etwas rauchigen Stimme. „Bestell dir was zu trinken und zu futtern. Dein Zimmer ist reserviert. Wie lange du bleibst, wird sich noch herausstellen. Ich erzähle dir oben alles, nur so viel schon m.....“ . Peter konnte nicht mehr aussprechen. Ellen hatte ihn kräftig mit dem Arm in die Seite gestoßen und auf den Fernseher gedeutet. Dort liefen im Augenblick die Nachrichten. Und richtig, wieder war ein Bericht über die Bergrutschkatastrophe zu sehen. Die Kamera machte einen Schwenk von den Geröllmassen zum Gletscherrest und der Kommentator berichtete: .“... ungewöhnlicher Bergrutsch. Die Wissenschaftler rätseln schon seit Jahren, warum dieser Gletscher so schnell abtaut. Die Abtaugeschwindigkeit liegt um ein Mehrfaches höher als vergleichbare andere Gletscher in der Region. Eine 135
Expertengruppe unter der Leitung von Professor Doktor Manfred Mergent untersucht seit heute Vormittag das Gebiet. Vorgesehen sind Probebohrungen auf dem Gletscher und auf dem Bergrücken. Man versucht die Theorie zu belegen, dass sich im Bergmassiv Hohlräume befinden müssen, von denen einer eingebrochen ist, und so den ungewöhnlichen Bergrutsch auslöste.“ „Ha, ich weiß wo die Hohlräume sind und warum er so schnell verschwindet, dieser Gletscher“, murmelte Peter leise vor sich hin. Aber es war nicht leise genug. Georg hatte ihn verstanden. „Bin ich deshalb hier? Hast du was Besonderes herausgefunden“, wollte er sofort wissen. „Richtig, aber warte bitte ab!“, flüsterte Peter ihm eindringlich ins Ohr. Der Bericht über den Gletscher und den Erdrutsch war nun zu Ende. Jetzt sprach nur noch die Nachrichtenansagerin: „Eine erfreuliche Meldung aus dem Kreiskrankenhaus erreichte uns soeben. Der einzige Überlebende des Erdrutsches, Bergführer Sepp Hintermayer, ist aus seinem Koma erwacht. Trotz der vielen Knochenbrüche und Hautabschürfungen geht es 136
ihm den Umständen entsprechend gut und er konnte sogar schon aus der Intensivstation entlassen werden. Eine Befragung konnte allerdings wegen seines schwachen Gesamtzustandes noch nicht erfolgen. Die Staatsanwaltschaft und die Geologische Gesellschaft Wien erhoffen sich aufschlussreiche Auskünfte über den Hergang des ungewöhnlichen Bergrutsches“ „Ach, das ist schön“, freute sich Ellen spontan, „es war so ein netter Kerl, stimmt’s Schatz?“ „Ja, das kann man wohl sagen. Hoffentlich wird die Story, die ich erzählt habe, durch seine Ausführungen nicht allzu sehr beachtet“, brummte Peter sichtlich beunruhigt. „Kommt, lasst uns nach oben gehen“, forderte Georg die Beiden auf „ich will nichts Essen und trinken. Ich hab eh keinen Hunger. Ich bin nur mörderisch neugierig.“ Er hatte Peters Unruhe längst bemerkt und wusste, dass etwas nicht normal war. Sie standen auf und gingen nach oben. In Landers Zimmer angekommen, schloss Ellen hinter sich die Tür ab. Georg quittierte es mit einem kritischen Zucken der Augenbraue. Dieses Zucken der 137
Augenbrauen, welches besonders stark bei hoher Anspannung auftrat, war ein besonderes Merkmal Georgs. Peter fing an, sich auszuziehen. Nun wurde es Georg zu bunt: „Sagt mal, tickt ihr nicht mehr richtig? Was soll das? Und was hast du da für einen komischen Anzug an? Sieht ja aus wie dein alter Taucheranzug, nur eben grau und ein bisschen eleganter.“ Er konnte sich kaum noch bremsen. „Wir haben überlegt, wie wir dir alles am schnellsten, schonendsten und trotzdem sehr überzeugend darlegen können und entschlossen uns für die folgenden Demonstrationen. So! Und jetzt halt bis zum Ende der Vorführungen deinen Schnabel. Danach kannst du fragen.“ Diese Worte Peters waren deutlich. Er konnte dies Georg getrost an den Kopf werfen, sie wussten sich gegenseitig nur allzu genau einzuschätzen und nahmen einander nichts mehr krumm. Peter wiederholte haargenau die gleichen Versuche, die er nur einen Tag zuvor Ellen vorgeführt hatte. Georg saß da, nach dem ersten Versuch klappte der Mund auf und schloss sich erst wieder, als Pe138
ter ihn wachrüttelte, indem er erklärte, dass die Versuche nun beendet seien. „Was wollt ihr mir hier erklären? Ich glaub, ihr solltet ganz von vorne zu erzählen anfangen.“ Während Peter sich wieder vollständig anzog, erzählte er ihm die ganze Geschichte. Danach sagte keiner mehr ein Wort. Wenn nicht die Kinder wild an die Tür geklopft hätten, hätten sie wohl noch lange stumm sich gegenübergesessen. So öffnete Ellen den Kindern die Tür. Sabines erste Frage war sogleich, wo Verena, Simon und Marian, die fast gleichaltrigen Kinder Georgs, waren. Als sie erfuhren, dass Georg nur geschäftlich mit Papa hier zu tun hatte, waren sie zunächst etwas enttäuscht, was sich aber bald wieder legte, als Ellen ihnen ankündigte, dass sie heute solange aufbleiben konnten, wie sie wollten, wenn sie alles allein arrangierten. Das ließen sie sich nicht zweimal sagen. Im Nu waren sie weg und die drei Erwachsenen waren wieder allein. „Verstehst du jetzt das Problem?“, fragte Peter, sich an Georg wendend. „Nein. Das ist doch Spitze. Damit wirst du berühmt, mächtig und reich!“, schrie er begeistert. 139
„Leise!“, ermahnte ihn Peter. „Siehst du wirklich nicht die Crux in der Geschichte. Wer soll von der Station und den Raumschiffen erfahren und was tun die dann damit. Jetzt denk mal nach. Lass uns heute kein Wort mehr darüber sprechen und überschlaf mal, ob du wirklich einer der Nutznießer dieser überragenden Technik mit all seinen Folgen, wie Riesenmacht, unbegrenztes Leben und ungeheures Wissen sein willst und bedenke dabei, wie ab diesen Augenblick, dein Leben und das deiner Familie aussehen wird. Denk auch mal darüber nach, wem auf dieser Welt wir diese Entdeckung wirklich übergeben könnten.“ Georg sah grübelnd seinen Freund an und wiegte dann bedächtig seinen Kopf. „Das gilt auch für dich. Mein Schatz. Morgen könnt ihr mir eure Entscheidung mitteilen. Dann sehen wir weiter. Uns jetzt lass uns Essen und danach an der Bar etwas Trinken gehen. Morgen ist auch noch ein Tag.“ Sie nickten sich zu und gingen nach unten. Gegen Mitternacht lag dann jeder in seinem Bett. Aber keiner machte ein Auge zu. Peter, weil er 140
ohnehin nicht schlafen konnte, Ellen und Georg weil sie nachdachten. Ellen lag wach. Dass Peter nicht mehr einschlafen konnte, wusste sie. Aber auch sie bekam diese Nacht kein Auge zu. Immerzu musste sie an Peters Worte und Erlebnisse denken. Es war ihr klar, dass Peters Entdeckung nicht nur Vorteile hatte. Ungeheuer viel Macht lag darin, die, wenn man sie annahm, den Charakter eines Menschen schnell verändern konnte. Und das nicht unbedingt zum Besseren. Diese Macht, und dabei dachte sie sogar nur an die Raumschiffe, Schutzschirme und Strahler, war gewaltig. Wen an dieser Macht teilhaben lassen. Sie Politikern übergeben? Welchen? Es gab bestimmt eine Vielzahl uneigennütziger, nur auf das Wohl der Menschheit bedachte, redliche Politiker. Bestimmt gab es die, jeder von ihnen nahm das für sich in Anspruch. Aber es gab auch genug, mehr als genug, von ihnen, die nur an ihre Macht und Position dachten und denen die Menschen, welche sie idiotischerweise unter Umständen auch noch gewählt hatten, so ziemlich egal waren. Das waren dann immer die anderen Politiker, speziell die von der jeweiligen Opposition. Oder sie waren nichts als bessere Lobbyisten der Großindustrie und hatten nur ihre eigenen finan141
ziellen Vorteile im Auge, selbst wenn dabei die Welt ökologisch, sozial oder wirtschaftlich in den Abgrund geht. Viele politische Ergebnisse weltweit zeigten dies nur allzu deutlich. Die jüngste, weltweite Bankenkrise war das perverseste Beispiel dafür. Wenn diesen diese Technik in die Hände fiel, wäre deren Macht unendlich und nicht mehr zu beseitigen. Kam diese Macht gar in die Hände von Verbrechersyndikaten, Fanatiker oder Wahnsinnigen, waren die Folgen erst recht nicht mehr auszudenken. Auch die Aussicht auf ein extrem verlängertes Leben, ein Menschheitstraum, barg so seine Probleme. Ließ man diese Möglichkeit ungebremst und unkontrolliert auf die gesamte Menschheit los, musste dann die Erde nicht kurzerhand an einer Überbevölkerung gleichsam ersticken. Beschränkte man sie bewusst nur auf eine kleine, ausgesuchte Personengruppe, würde diese dann nicht auf Dauer gesehen, sehr einsam werden? Selbst wenn es gelang, diese Tatsache geheim zu halten, was ziemlich unwahrscheinlich war, würde es fürchterlich sein, immerzu Menschen, welche man lieb gewonnen hatte, sterben zu sehen. Und immer seine Angehörigen und Freunde in diesen erlauchten Kreis aufzunehmen, wäre auch wieder problema142
tisch, weil dies dann ganz schnell eine Kettenreaktion auslösen könnte. Und auch die Technik des Abtastens der Gedanken, würde, wenn sie in skrupellose Hände gelangen würde, gefährlich missbraucht werden können und den Menschen dann jede individuelle Persönlichkeit nehmen. Eine Einbindung von reinen Wissenschaftlern, um hinter das „Wie“ dieser Supertechnik zu kommen und die Menschheit auf den Wissensstand der Helas zu bringen, schien ihr allerdings eine akzeptable, sinnvolle Lösung zu sein. Diese hatten ein gutes Fachwissen, waren meist politisch und machtstrukturell unbedeutend und nur an der Lösung von Problemen und der Erweiterung ihrer Kenntnisse interessiert. Eventuelle Profilierungsneurosen oder Ruhmsucht dürften hierbei eine untergeordnete Rolle spielen. Ja – diese Idee würde sie Morgen Peter und Georg unterbreiten. Plötzlich durchzuckte sie ein ganz anderer Gedanke. Veränderte die Bioregeneration der Helas vielleicht einige Eigenschaften der Menschen. Sie sah vorsichtig zu Peter hinüber und überlegte, ob er überhaupt noch.....?
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„Schatz, schläfst du schon?“, fragte sie schmusig, obwohl sie genau wusste, dass er grübelnd neben ihr lag. „HHmm, wenn ich diese Stimmlage höre, dann denk ich, du meinst etwas ganz anderes“, grinste er sie an, legte seinen Arm um ihre Schulter und zog sie ganz sacht und zärtlich zu sich heran. Nun musste auch sie lachen. Scheinbar hatte er sich in dieser Richtung auch schon so seine Gedanken gemacht. Die folgende halbe Stunde war ausgefüllt mit Zärtlichkeit und Begierde. Danach wussten Beide, dass sie sich zu mindestens in diesem Punkt, unnötige Sorgen gemacht hatten. Sie diskutierten noch eine Weile leise über die Probleme ihrer Entdeckung und den möglichen Folgen für sie und all denen, die an diesem Geheimnis noch partizipieren würden. Die Kinder schliefen längst, und eine halbe Stunde später auch Ellen. Peter lag bis zum Morgen wach. Er verzichtete in dieser Nacht auf einen Kontakt mit der Station. Am folgenden Morgen trafen sie sich um 8.00 Uhr zum Frühstück im Restaurant des Hotels. Peter hatte unter der normalen Kleidung seine Sicherheitsausrüstung an und sie sogar auf Sicherheits144
stufe 1 eingestellt. Es war für ihn bereits zur Routine geworden. Als er allerdings etwas essen und trinken wollte, musste er auf Sicherheitsstufe Null zurückgehen, da er sonst nichts hätte zu sich nehmen können. Lag hier ein Schwachpunkt der Schutzeinrichtung vor. In dem Augenblick, wenn man etwas zu sich nehmen musste, war man gezwungen, den Schutzschirm abzuschalten. Diese Frage wollte er bei nächster Gelegenheit mit PUL klären. Georg wirkte sichtlich übernächtigt. Die Kinder hingegen wie das blühende Leben. Man sah ihnen die Vorfreude auf die kommenden Ereignisse des Tages förmlich an. „Wann kommen Verena, Simon und Marian?“, wollte Sabine neugierig wissen. „Gleich wenn die Ferien beginnen. Also nächste Woche. Und wir bleiben dann die ganzen sechs Wochen hier“, erwiderte Georg. Ellen und Peter sahen erst sich, und dann Georg an. Peter war völlig überrascht Was war das? Davon wusste er bisher noch nichts. Die Kellers hatten doch drei Wochen Fuerteventura gebucht? 145
„Oh Prima. Dann können wir doch auch etwas länger hier bleiben. Ja Mama, Bitteeee..?“, flehte Sabine sofort mit einem ganz besonders lieben Blick in Richtung Ellen. Ach, darum ging es. Clever eingefädelt von Georg, dachte Peter so bei sich. Auf diese Weise konnte man ganz unauffällig erklären, warum man gleich sechs Wochen gerade hier seinen Urlaub verbrachte beziehungsweise ihn um zwei Wochen verlängerte. Ob aber noch genug Quartier frei war, musste erst noch geklärt werden. Eine Stunde später wussten sie es – es waren genügend Zimmer frei, und so buchten sie dementsprechend ein. Da dieses Problem gelöst war, teilten sie ihren Erfolg sogleich Alexander und Sabine mit, was diese mit einem lauten Jubelgeschrei quittierten. Anschließend einigten sich Ellen und die Kinder, dass sie um 19.00 Uhr zum Abendessen wieder im Hotel sein mussten und bis dahin ihren Tag ganz frei gestalten konnten. Und schon waren die Beiden verschwunden. „Ich ruf mal schnell Gitti an. Da gibt’s auch noch etwas zu regeln. Fahren wir dann rauf?“, wollte 146
Georg wissen. Was er mit „rauf“ meinte, war Peter sofort klar. „Wenn du dir alles gründlich überlegt und durchdacht hast und es wirklich willst, dann ja. Aber nochmals: es gibt danach kein zurück mehr! Das gilt für euch Beide. Euer Leben verändert sich ab dem Augenblick entscheidend, sobald ihr beim Betreten der Station gescannt werdet“, wies Peter zum wiederholten Male auf die große Tragweite ihrer Entscheidung hin. „Solltest du das nicht vorher noch mit Gitti absprechen?“, wandte er sich nochmals Georg zu. „Nein, es passt schon. Viel zu interessant, die Sache. Und auch deshalb, weil ich dich in so einer Situation nicht allein lassen würde“, entgegnete er lachend, erhob sich, und ging auf sein Zimmer um zu telefonieren. Georg hatte es eilig. Ja – er hatte es sich gut überlegt. Wenn er nicht mitmachen würde, musste er seine besten Freunde verlieren, denn diese lebten dann ein gänzlich anderes Leben. Gitti würde es verstehen und genau so handeln und mitmachen. Ob die Kinder auch einbezogen werden sollten, musste noch extra überlegt werden. Er wählte die Telefonnummer und wartete aufgeregt. Was er 147
jetzt zu sagen hatte, war schon eine Zumutung für seine bessere Hälfte. „Keller“, sprach eine weiche, weibliche Stimme in den Hörer. „Guten Morgen, Gitti, mein Spatz. Wie geht’s?“, antwortete Georg schnell. „Ah – Du bist’s. Na – gut geht’s, wie immer. Und dir. Warum musstest du so dringend zu Peter? Ist was passiert?“, wollte sie hörbar gespannt von Georg wissen. „Nein, es ist nichts passiert und doch ´ne Menge geschehen. Aber frag jetzt nichts mehr, sondern tu genau das, was ich dir jetzt sage. Einverstanden?“, entgegnete er eindringlich. An der Art, wie er sprach, musste sie merken, dass es sich um etwas sehr Wichtiges handeln musste und sie musste wissen, dass sie keine Fragen stellen musste, denn er würde ihr später präzise belegen, um was es gegangen war. „In Ordnung. Schieß los“, bekam er deshalb nur von ihr zu hören. „Bestell sofort unseren Fuerteventuraurlaub ab. Egal wie viele Stornokosten anfallen. Dann verkli148
ckere den Kindern, dass wir sechs Wochen an den gleichen Urlaubsort fahren, wie schon vergangenes Jahr. Das dürfte dir nicht allzu schwer fallen, weil sie es letztes Jahr hier ja ganz prima fanden. Und als letztes, pack schon alle Klamotten zusammen, und für uns alle möglichst viele, sehr große, weite Sachen zum Anziehen ein. Erkläre den Kindern und allen Bekannten, dass wir doch wieder hierher nach Österreich fahren, weil wir Freunde hier treffen würden. Das müsste genügen. Auf Unauffälligkeit achten. Auch gegenüber den Kindern. Ich weiß noch nicht genau, wann ich komme, aber eventuell müsst ihr allein gleich am ersten Ferientag fahren. Sag den Kindern, dass mich die Arbeit außer Haus hält. Sonst zu niemand ein Wort. O.K. ?“ „O.K. Na, das muss aber ein Knaller sein? Ist es wirklich nichts Gefährliches oder Verbotenes?“ „Nein, ganz sicher nicht. Also bis später. Ich melde mich wieder. Tschüs und Küsse an dich und die Kinder“, beruhigte er Gitti. „Tschüs, und grüß Ellen, Peter und die beiden Kinder von uns“, verabschiedete sich auch Gitti und legte auf. 149
Gitti war sichtlich aufgeregt. Was da wohl auf sie zukam? Egal wie hoch die Stornokosten sind und dann auch noch sechs Wochen ein derart teurer Urlaub? Das ging an ihre finanziellen Grenzen und widersprach dem teilweise leicht geizigen Verhalten ihres Georgs. Wenn er so weit ging, musste etwas ausgesprochen Wichtiges dahinter stecken. Aber es wird schon alles seine Richtigkeit haben, dachte sie so bei sich aufseufzend, bis jetzt hatte er ja noch nie allzu großen Bockmist gebaut. Und flugs machte sie sich an die Ausführungen der Anweisungen. Georg zog sich die weitesten Kleidungsstücke an und ging zu Ellen und Peter. Diese warteten bereits auf ihn, ebenfalls vollständig ausstaffiert. Ellen und Georg waren auf dem Weg zum Eingang zur Station ausgesprochen nervös. Alle schwiegen verkrampft. Es war gut, dass Peter ein so gutes Ortsgedächtnis hatte, so dass es für ihn kein Problem war, die Stelle wiederzufinden, an der er die Straße vorgestern betreten hatte. Der Pfad den Berg hoch war gut zu erkennen. Sie begannen sofort den Aufstieg. Kommissar Fritz Moser und sein Assistent, Inspektor Herbert Malchin, betraten gegen neun Uhr 150
das Kreiskrankenhaus und fragten sich zum Krankenzimmer von Sepp Hintermayer durch. Zu ihrer Aufgabe gehörte es, in solchen Angelegenheiten, wie einem Lawinenabgang oder Bergrutsch, immer dann zu ermitteln und eventuell Schuldige festzustellen, wenn es Tote oder Schwerverletzte gegeben hatte. Neun Tote bei diesem mysteriösen Steinschlag waren sehr viel, und deshalb musste hier ganz besonders genau und gewissenhaft ermittelt werden. Da Sepp der einzige Überlebende und zugleich der einzige Augenzeuge war, benötigten sie vorrangig seine Aussage. In seinem Krankenzimmer angekommen, stellte Kommissar Moser mit Genugtuung fest, dass es dem Bergführer scheinbar schon wieder gut ging und dass er allein in einem Zweibettzimmer lag. Die große Anzahl an Blumen zeigte, dass er bereits zahlreiche Besucher empfangen hatte und dass viele Menschen mit ihm mitfühlten. „Grüß dich, Sepp. Wie wir sehen, geht’s dir schon wieder ganz passabel“, eröffnete der Kommissar das Verhör. Der Inspektor nickte kurz grüßend Richtung Sepp. Sie kannten sich alle recht gut.
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„Grüßt euch, Fritz und Herbert. Schön dass ihr auch herein schaut. Aber wie ich euch kenn, wollt ihr gleich eine Menge wissen, stimmt’s?“, entgegnete Sepp fröhlich. Er ist wirklich schon wieder einigermaßen fit, trotz der zahlreichen Knochenbrüche und Hautabschürfungen, stellte der Kommissar befriedigt fest, sehr blass wirkt er zwar noch, aber seine Augen strahlen wieder. „Richtig. Und los geht’s. Erzähl uns mal, wie der Tag ablief“, forderte er Sepp jovial auf. Sepp berichtete minutiös über den Ablauf dieses Tages, bis zu dem Augenblick, als er das Bewusstsein verloren hatte. „Du sagst, dieser Peter Lander, den du aus dem Golfhotel abgeholt hast, sei bis zum Bergrutsch dabei gewesen?“ Kommissar Moser war verwirrt. Er hatte die Fernsehreportage gesehen, die einen Peter Lander als den Glückspilz der Woche bezeichnet hatte, weil er sich so zeitig vor dem Bergrutsch von der Gruppe getrennt hatte, dass er nicht einmal die Katastrophe mitbekommen hatte. Und nun erzählte Sepp, dass er ihn noch unmittelbar vor dem Steinschlag als letzten der Gruppe gesehen hatte. 152
„Ja. Ist er auch tot?“, fragte Sepp traurig. Sepp hat weder Radio gehört noch Fernsehen gesehen, vermutete der Kommissar, sonst hätte er diese Frage soeben nicht gestellt. „Nein, Nein. Er lebt“, beeilte er sich zu sagen, „ihm geht’s sogar blendend. Er kam völlig unverletzt ins Hotel zurück und hat erzählt, dass er zum Zeitpunkt des Bergrutsches schon lange nicht mehr bei deiner Gruppe gewesen war, und deshalb gar nichts von dem Unglück wusste.“ „Was?“, staunte Sepp, „dann muss ich mir das nur eingebildet haben. Hängt wohl mit meinen Verletzungen zusammen.“ Bei diesen Worten tippte er mit seinen knochigen Fingern an die faltige Stirn. Der Kommissar sah seinen Assistenten verblüfft an, wünschte Sepp noch eine gute Besserung und verließ das Krankenhaus. „Hmm. Das stinkt zum Himmel. Solang ich jetzt den Sepp kenn, und das sind schon mehr als 50 Jahre, hat er sich noch nie so geirrt“, stellte Herbert Malchin stirnrunzelnd fest. 153
„Das sehe ich auch so. Ich glaub, da werden wir mal ein bisschen nachstochern“, entschied der Kommissar grimmig blickend. Er nahm sein Funktelefon und rief im Golfhotel an. Während des Gespräches nickte er mehrmals mit dem Kopf und verabschiedete sich dann höflich. „So, jetzt wird’s interessant. Wie die Obermoserin mir eben erzählt hat, ist Peter Lander an diesem Abend gegen 20.10 Uhr völlig abgerissen im Hotel angekommen. Heute Abend werden wir ihn mal besuchen. Jetzt ist er unterwegs. Mal sehen, was er uns erzählt“, berichtete er Herbert. Inzwischen waren Ellen, Peter und Georg ungefähr an der Stelle angekommen, wo Peter den Eingang vermutete. Zu sehen war absolut nichts von einem Zugang zur Station. „Sender an“, sprach er laut, damit Ellen und Georg wussten, was er gerade machte. Sie hatten sich verabredet, sämtliche Gedanken, welche für die Kommunikation untereinander und mit PUL wichtig waren, laut auszusprechen. PUL würde weiterhin in allen Gedanken lesen können, das war wohl nicht zu ändern, aber Menschen untereinan154
der sollten nicht in der Intimsphäre der geheimen Gedanken anderer herumstochern können. Entsprechende Anweisungen würde er PUL noch geben. „Wenn ich jetzt den Befehl geben würde, „Tor zur Station auf“ und wir stehen vor der falschen Stelle, was ja sein kann, dann kann jeder, der zufällig gerade vorbeikommt, unser Geheimnis entdecken. Und das muss nicht sein. Also werde ich PUL anweisen, mir mitzuteilen, ob wir uns wirklich vor dem Tor befinden. Ich weiß es wirklich nicht genau“, erklärte Peter sein Vorhaben. „Hinweis geben, ob wir uns vor dem Tor befinden“, befahl er PUL. „Zwölf Meter Ost“, kam die Hilfe von PUL in seinem Gehirn an. Sie waren also bereits am Eingang vorüber gegangen. Er hatte doch so genau die Steine gemustert und trotzdem nichts erkennen können. „Georg, geh genau 13 Schritte wieder zurück und dann bleib stehen“, rief er seinem Freund zu. Dieser ließ sich das nicht zweimal sagen. An der neuen Stelle angekommen, wartete er noch, bis Ellen und Peter ebenfalls dort waren. 155
„Und was kommt jetzt?“ Georg knabberte, entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, unentwegt an seinen Fingernägeln. „Ich sorge gleich dafür, dass sich das Tor öffnet. Wann und wo der Eingangsscan kommt weiß ich nicht. Aber wenn er kommt, erschreckt nicht. Es kann nichts passieren. Wollen wir?“, fragte Peter nochmals eindringlich. Ellen und Georg nickten nur stumm. „Tor auf. Licht an. Schweber bereitstellen.“ Mit einem leisen Zischen bewegte sich das Felsentor zur Seite und gab einen 3 mal 3 Meter großen Eingang frei. Sie traten schnell in den hell erleuchteten Gang und hinter ihnen schloss sich das Tor wieder. Sie standen vor einem Schweber mit drei Sitzplätzen. Ein vergrößertes, ebenfalls quadratisches Modell des Einsitzers. Peter war erstaunt. Er hatte einen mit einem Sitzplatz zurückgelassen, und nun stand ein größerer bereit. PUL musste also mitdenken und seine Gedanken auswerten. Er würde es sich merken. 156
Obwohl er schon einmal hier gewesen war, war er aufgeregt. Man sah es Georg an, dass ihn bereits der Schweber brennend interessierte. Ihm zu erklären, dass er dieses Fahrzeug mit keinem anderen Fahrzeug auf der Erde vergleichen konnte, ersparte sich Peter. Er würde es selbst schnell genug herausbekommen. Sie stiegen ein und Peter gab an PUL laut seine Anweisungen: „Ich bringe zwei Menschen mit. Sie werden beide autorisiert und sollen Nummer 2 und 3 sein. Nach dem Eingangsscan der Beiden, soll für alle Menschen in dieser Station folgendes gelten: Die Gedanken der Menschen sollen untereinander grundsätzlich nicht über dich an die anderen Menschen weitergegeben werden. Menschen sollen sich untereinander nur über die Stimme verständigen können. Ausnahmen: bei Gefahr und auf besondere Anweisung von autorisierten Personen. Die Bezeichnung der Menschen soll nach dem Scan der Eigenname des jeweiligen Menschen sein. Frage: Ist diese Anweisung zulässig?“ „Ja. Anweisung zulässig und verstanden, Peter Lander“, kam prompt die richtige Antwort. 157
„Den Namen nur dann nennen, wenn es sinnvoll ist. Bis auf Widerruf, alle Fragen von uns in jedes Gehirn senden. Jetzt zum Eingangsscan für die neuen Mitglieder und dann zur Vollregeneration und Ausstattung mit der Sicherheitsausrüstung bringen.“ Kaum hatte Peter diese Anweisung gegeben, setzte sich der Schweber in Bewegung. Georg stöhnte leise auf. Seine Augenbrauen zuckten unaufhörlich. An den Fingern knabberte er nicht mehr. Es ging wieder denselben Weg zurück, den Peter schon kannte. Als sie aus dem Felsengang in die Station einfuhren, hielt das Fahrzeug unmittelbar hinter dem Tor an, welches den Felsengang von der Station trennte. Ellen und Georg saßen wie versteinert da, während er sich unbehindert bewegen konnte. Offensichtlich lief gerade der Scanvorgang. Das irisierende Licht konnte er nicht bemerken. Er vermutete, dass es nur in absoluter Dunkelheit sichtbar wurde. Gute drei Minuten dauerte der Scan, dann konnten sich Ellen und Georg wieder bewegen. Sie gaben auch augenblicklich ihren Kommentar zu dem Vorgang ab. „Wenn du mich nicht vorher auf dieses Scannen vorbereitet hättest, ich glaube, ich hätte mir vor 158
Angst in die Hosen gemacht“, gab Georg ehrlich zu. „Man war ja wie gelähmt, wie festgenagelt“, untermauerte Ellen Georgs Rede noch. Sie waren offensichtlich tief beeindruckt. „Frage: Waren die Scanwerte ungefähr die gleichen wie bei mir?“, wollte Peter von PUL wissen. „Werte ungefähr identisch. Ausnahme: Ellen: Biogenetische Verfassung = 18 %, physische Verfassung = 23 %.“ Aha, sie war also besser in Schuss gewesen, als er. Aber das schien typisch für die menschliche Rasse zu sein. Frauen sind wohl grundsätzlicher zäher, dachte Peter. Es ging weiter in die Richtung zu dem Raum, wo er für die Sicherheitskleidung vermessen worden war und die erste Regeneration stattgefunden hatte. Auf diesem Weg würden sie auch durch den Raum fahren, in welchem das Expeditionsraumschiff stand. Peter war gespannt, auf die Reaktion von Ellen und Georg. Eine Erzählung zu hören ist doch etwas anderes, als es mit eigenen Augen zu sehen. Als sie einfuhren, beobachtete er die Beiden und amüsierte sich königlich. Ihnen ging es genau so, 159
wie ihm vorgestern ergangen war. Die Münder standen weit auf und sie wagten fast nicht mehr zu atmen. „Wenn ich nicht genau wüsste, dass das alles Wirklichkeit ist, würde ich sagen, ich träume“, kam es nach geraumer Zeit aus Georg heraus gepoltert. Und schon waren sie wieder aus dem Riesenhangar hinausgefahren und kurz darauf hielten sie in dem Raum, wo jetzt die Anpassungen erfolgen würden. Hier kam plötzlich überraschend die Anweisung von PUL: „Georg aussteigen. Anpassung und Regeneration hier. Grad der Regeneration?“ „Oh, muss ich jetzt ´ne Antwort geben? Was meinst du, Peter?“, fragte Georg verunsichert. „Wir sollten alle die Vollregeneration mitmachen. Sie dauert ungefähr 4 Stunden und dann haben wir über vierzig Jahre Ruhe. Einverstanden?“ „Ja. Also an PUL: Vollregeneration!“, wies Georg an. Er hatte kaum ausgesprochen, fuhr der Schweber mit Ellen und Peter aus dem Raum hinaus. Sie sahen gerade noch, wie sich der große Kasten in die 160
Mitte des Raumes bewegte, die Liege heraus klappte und Georg sich auf diese zu legen begann. Sie kamen in den nächsten Raum. Dort wiederholte sich das Gleiche mit Ellen. Peter kam in den dritten Raum. Nun kannte er die Prozedur schon und es machte ihm nichts mehr aus, sich auf die Liege zu legen. Schnell noch ein Blick auf die Uhr: 11.23 Uhr. Und schon kam der Tentakelarm auf ihn zu, um seine Arbeit zu beginnen. Die Totalregeneration begann. Ihm schwanden die Sinne. Nach etwas mehr als vier Stunden wachte er wieder auf. Er fühlte sich genau so gut, wie zuvor. Insgeheim hatte er erwartet, sich noch besser zu fühlen, obwohl er eigentlich gar nicht wusste, wie man sich dann hätte fühlen müssen, wo er sich doch ohnehin schon absolut fit fühlte. „Frage: Meine aktuellen Werte, bitte“, wollte er von PUL wissen. „Alle Werte 100 %, weitere medizinische Eingriffe nicht erforderlich“, war die präzise Antwort. „Frage: Sind Ellen und Georg fertig?“ „Ja. Einweisungen und Tests folgen.“
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„Bring mich zu den Beiden, ich will bei den Tests dabei sein.“ Und schon kam ein Schweber angefahren. Als die Drei wieder zusammen waren, wurden die Tests durchgeführt. Es verlief alles problemlos. Sie trugen jetzt die gleiche Uniform. Der einzige Unterschied bestand in dem Abzeichen an den Unterarmen. Bei Peter waren sechs Punkte zu sehen, bei Ellen und Georg nur fünf. Auch ihnen stand die Kombi ausgesprochen gut, fand Peter. „Frage: Wie sind die Regenerationen bei Ellen und Georg verlaufen?“, schickte Peter, wie verabredet laut sprechend, seine Frage an PUL. „Ellen: Regeneration einwandfrei. Werte = 100 %. Georg: Regeneration - Teilbereichen unvollständig. 14 Tagen = Auswechslungen von Funktionsorganen. Anfertigung wurde schon begonnen. Restliche Werte = 100 %“, kam die, für Georg beunruhigende Antwort. „Keine Angst, Georg, das ist nichts Schlimmes. Wenn ich vorgestern richtig verstanden habe, wurde dein genetischer Abdruck genommen und die züchten hier das entsprechende Organ, um es dir dann einzupflanzen, oder so ähnlich. Keine 162
mechanischen Teile. Frage: Stimmt das in etwa, PUL“, beruhigte Peter seinen Freund. „Ausführungen = sinngemäß. Eingriff = geringfügig - gefahrlos. Eingriffs-und Regenerationszeit 75 Stunden“, folgte prompt die präzisierende Antwort. „Na gut. Ganz schön lange, diese Operation. Alles klar, weiter“, machte sich Georg selbst Mut. Die Gedankenfetzen, die in seinem Gehirn angekommen waren, hatte er nur mit einiger Mühe zu einem Sinninhalt zusammen bekommen. Mehr als gewöhnungsbedürftig, fand er. Nur weil ihn im Augenblick das Neue hier in der Station so faszinierte, ließ er sich schnell ablenken. Er wusste, die Gedanken über die bevorstehende Operation würden später noch kommen. „Wir wollen einen Rundgang oder Rundfahrt durch das Raumschiff und seine kleinen Begleitschiffe machen“, sprach Peter laut die Anweisung aus, die alle hören wollten. Der Schweber setzte sich umgehend, nachdem sie ihre Sitzplätze eingenommen hatten, in Bewegung und hielt erst wieder in der großen Halle an.
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„Wie groß ist dieses Raumschiff“, wollte Georg wissen, den Mund vor staunen weit aufgerissen. Auch er identifizierte den Riesenwürfel unbewusst sofort als Raumschiff. Keine Antwort. Peter musste grinsen, als Georg zu ihm gewandt verärgert brummte: „Ich kann mit dem Rechner nicht kommunizieren, wo doch...“ „Ha – denk mal nach“, fiel Ellen ihm ins Wort, „Gibt’s da nicht so ein Zauberwort?“ „Wie? Der Rechner reagiert nur auf Bitte? So ein Qua....“, antwortete er noch, dann schlug er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Bin ich blöd. Frage: Größe dieses Raumschiffes?“ „Kantenlänge 535 Meter“, kam die prompte Antwort. „Gewicht: 6,8 Milliarden Tonnen. Antriebsenergie im Maximum pro Sekunde: 98 Billionen Megawatt. Rauminhalt: 3....“ „Stop“, unterbrach Georg laut. „Nicht zu viele Informationen. Die kann ich nicht alle auf einmal verdauen!“ „Das kann keiner, glaub ich“, unterstützte ihn Peter. 164
Ellen sah nur ehrfurchtsvoll nach oben. Eine durchgehende, minimal genarbt wirkende Wand. Obwohl das obere Ende so weit entfernt war, konnte sie die obere Kante messerscharf erkennen. Das konnte eigentlich nicht sein? Sie stutzte. „Jetzt weiß ich, was dir hier als nicht stimmig vorkam, Schatz“, wandte sie sich an Peter und zeigte mit ausgestrecktem Arm nach oben. „Die Konturen, egal wie weit entfernt, sind in diesem Raum perfekt zu sehen. Normalerweise dürften wir das obere Ende nicht erkennen und die leichte Narbenstruktur müsste mit zunehmender Entfernung optisch ganz glatt werden. Hier stimmt etwas mit den Perspektiven nicht.“ Peter und Georg sahen sich überrascht an. Das hatten sie so nicht registriert. „Und? Weißt du auch, warum das so ist?“, hakte Georg nach. „Ich glaube ja! Fällt euch nicht noch eine Merkwürdigkeit auf? Schaut euch doch einmal ganz genau um.“ Sie sahen sich um, wussten aber nicht, worauf Ellen hinauswollte. 165
„Naja. Die Helas waren Kubisten und Puristen. Alles rechteckig und sehr schnörkellos. Ist es das, was du meinst?“, fragte Peter, leicht mit der Schulter zuckend. Es war ihm klar, dass es das nicht gewesen sein konnte, was sie gemeint hatte. Und richtig. Sofort kamen das energische Kopfschütteln und eine Erklärung: „Kubisten hin, Puristen her. Das erklärt es nicht. Es liegt an der Beleuchtung. Alle Körper scheinen selbst die Lichtquelle zu sein. Es gibt hier keinerlei Schatten. Schaut euch um. Die Lichtstärke scheint auf uns abgepasst zu sein. Ganz oben müsste sie intensiver sein, als hier unten und so wirkt es für uns, als könnten wir alle Dinge, egal wie weit sie entfernt sind, gleich gut sehen. Daher auch die augenblickliche Vorstellungskraft, dass dieser Würfel hier kein Gebäude ist.“ Peter und Georg nickten anerkennend. „Frage: Warum hat das Raumschiff die phantasielose Würfelform?“, staunte Georg, den Koloss bewundernd anstarrend. Er hatte sich außerirdische Raumschiffe immer irgendwie bizarr geformt vorgestellt. 166
„Würfelform = optimalster Rauminhalt“, antwortete PUL bildhaft. „Frage: Können wir nun rein?“, fragte Peter, damit eine indirekte Anweisung gebend. „Ja“, kam PULs lakonische Antwort. Der Schweber hob sich senkrecht in die Höhe und schwebte auf dem kürzesten Weg auf die nächste Wand des Riesenwürfels zu. Dort angekommen, öffnete sich wie von Geisterhand eine Lücke, die gerade mal so groß war, wie es der Länge und Breite des Schwebers entsprach. Er schwebte langsam in das Raumschiff ein. Die Wandstärke des Raumschiffes musste mindestens drei Meter betragen haben, überlegte Georg, den Kopf staunend schüttelnd. Danach verbreiterte sich der Schacht auf ungefähr zehn mal zehn Meter und der Schweber stieg mit seinen Insassen immer höher, bis er schließlich in einem riesigen Hangar ankam. Die Höhe des Raumes betrug etwa 5 Meter, die Fläche dieses Raumes war allerdings nicht zu schätzen. In ihm standen unzählige ähnliche, verschieden große Geräte, wie das, auf dem sie saßen. Es musste sich um eine Art Parkdeck handeln. Der Schweber bewegte sich noch ungefähr zehn Meter zur Seite, ordnete sich zwischen zwei 167
gleich aussehende Platten ein und blieb dann, auf den Boden absinkend, stehen. Das Innere dieses Raumes schimmerte in einem hellen, leicht bräunlichen Farbton. Dieser Farbeindruck konnte von der indirekten Beleuchtung herrühren, die, wie auch in der gesamten Station, scheinbar von allen Seiten kam, ohne dass man sie direkt sehen konnte. Es handelte sich um ein sehr weiches Licht, welches zusammen mit einer Raumtemperatur von ungefähr 20 bis 22 Grad Celsius, ein ausgesprochen behagliches Gefühl in der kleinen Gruppe entstehen ließ. „In Raumschiffen der Helasflotte - Transporteinrichtungen des jeweiligen Schiffes benutzen. Hilfe kann angefordert werden“, wurde als Erklärung für das Anhalten und Abstellen des Schwebers in ihren Gehirnen abgebildet. Sie stiegen aus und machten sich zu Fuß auf den Weg. Vor ihnen leuchtete auf dem Fußboden eine Art Richtungsweiser aus Lichtpunkten, welche im Fußboden eingelassen war. Sie folgten diesen Wegweisern, traten durch ein, sich automatisch öffnendes, Tor und kamen in einem breiten Gang. „Wir benötigen etwas zu essen!“, teilte Ellen PUL mit. 168
„Lichtpfeilen folgen“, kam die Anweisung zurück. Jetzt, da Ellen es gesagt hatte, verspürten auch Peter und Georg relativ starken Hunger und Durst. Sie gingen den Lichtpunkten nach und kamen in einen kleinen Raum. Er war nur knapp 5 mal 4 Meter groß und etwa 3 Meter hoch. Dort endete der letzte Lichtpunkt direkt an der gegenüberliegenden Wand. „Was soll das?“, fragte Ellen, zu ihren Begleitern gewandt, entsetzt. Peter erinnerte sich an seine angenehme Haltung in der Eishöhle. Er ging auf die Stelle zu, die der Pfeil in etwa anzeigte, und streckte eine Hand in Hüfthöhe gegen die Wand und ließ sie auf der Wand ruhen. Bereits nach wenigen Sekunden wurden sie gefragt, was sie wollten. „Essen und Trinken für drei Personen“, gab Peter an. Unmittelbar danach entstand direkt vor ihm eine Nische in der Wand. Eine quadratische Schale mit Inhalt und drei schachtelförmige Gefäße mit einer Flüssigkeit standen darin. In der Schale lagen mehrere grünlich gefärbte, 1 Zentimeter große, rechteckige Tabletten. Peter nahm die Tabletten 169
mit der rechten Hand heraus und gab je zwei Ellen und Peter. Zwei blieben noch für ihn selbst. „Runter damit“, forderte er die Beiden auf, und schluckte, als gutes Vorbild, selbst zwei Stück hinunter. Der Geschmack konnte ohne weiteres als neutral bezeichnet werden. Sie hatten schlicht gar keinen Geschmack und rutschten trotz der kantigen Form problemlos die Speiseröhre hinab. Ellen und Georg sahen dies, und schon wurden die Speisetabletten geschluckt. „Pah, war das alles“, wollte Georg angewidert wissen, „Das hat ja nach gar nichts geschmeckt. Da lob ich mir doch ein Eisbein mit Sauerkraut, da weiß man wenigstens, was man hat“, setzte er noch hinterher. „Ich bin gespannt, ob mein Heißhunger davon jetzt weggeht“, grübelte Ellen vor sich hin. „So, und nun das Wasser“, entschied Peter für die kleine Gruppe. Er besah sich die bläulich schimmernde Flüssigkeit. Er roch daran. Kein Geruch war festzustellen. Er trank mutig das Gefäß in mehreren Zügen aus. Es schmeckte wiederum nach nichts, aber es löschte augenblicklich den Durst. Ellen und Georg sahen das gute Beispiel 170
von Peter und ahmten es nach. Auch ihr Durst war nun gelöscht. Und ganz allmählich stellte sich bei allen ein Gefühl des Sattseins ein. „Frage: Was enthalten die Tabletten und Getränke? Antwort nur bezüglich der Qualität, nicht der Art und Quantität der Zusammensetzung?“, forderte Peter PUL auf, ihnen mitzuteilen, was sie da zu sich genommen hatten. „Ernährung gemäß gespeicherten Daten eurer jeweiligen Biophysik - vollständig ausgewogen Proteine, Vitamine, Ballaststoffe, Spurenelemente. Zwei Tabletten = Tagesbedarf - 24 Stunden. - Getränk - drei Mal je Tag. Menge = 0.7 Liter je Gefäß. Qualität = Speisetabletten.“ „Frage: Ist in der Station das Essenfassen in derselben Art möglich?“, brüllte Georg laut in die Richtung, in welcher er scheinbar PUL vermutete. Peter und Ellen mussten grinsen. „Ja.“ „Was grinst ihr so?“, brummte Georg seine Freunde an. „Du musst nicht so brüllen, wenn du denkst, sondern nur so laut reden, dass wir dich verstehen. 171
Wenn es nach PUL geht, müssen wir gar keine Stimme benutzen, aber wir wollen alle wissen, welche Fragen er gerade beantwortet“, erklärte ihm Ellen freundlich. Nun war es an Georg, zu grinsen. Plötzlich mussten alle lachen. Es war befreiend. „Was meint ihr, was wollen wir uns als Nächstes ansehen?“, fragte Peter. „Die Zentrale“, kam es von Beiden wie aus einem Mund. „Also ab in die Zentrale. Anweisung: Wir wollen in die Zentrale!“ Und sofort änderten sich die Lichtzeichen auf dem Boden. Da sie nun wussten, was zu tun war, folgten sie diesen. Es ging wieder zurück in den breiten, schnurgeraden Gang. Die Zeichen sprangen plötzlich auf die linke Seite des Ganges. ‘Was sollte das’, fragte sich Peter. „Ich nehme an, dass es der Hinweis ist, präzise hinter der Lichtleiste herzulaufen“, sinnierte Ellen und trat hinter die Lichtspur. Kaum hatte sie ihren neuen Standort eingenommen und wollte weiter gehen, fiel sie mit einem Ruck nach hinten um und 172
lag auf dem Rücken. Sie bewegte sich, oder besser gesagt schwebte, knapp über dem Boden mit ziemlich hoher Geschwindigkeit, zappelnd in die Richtung, welche die Lichtspur anzeigte. Es handelte sich scheinbar um eine Art Laufband, ohne dass jedoch ein solches Band selbst zu sehen war. Schnell sprangen auch Peter und Georg auf dieses seltsame Laufband, damit sie Ellen nicht aus den Augen verloren. Beide fielen ebenfalls sofort hin und wurden hinter Ellen her geschickt. Kurz vor dem Ende des, mindestens 30 Meter langen Ganges sahen sie Ellen unbeweglich auf dem Boden sitzen und sich den Hintern reiben. „Vorsicht!! Wir kommen!!“, schrie Georg ihr zu, und schon rutschte er ihr in das Hinterteil. Peter konnte sich mit einer geschickten Bewegung knapp an den Beiden vorbei rollen. „AU!! Du Rindvieh! Schau doch, wo du hinfällst!“, brüllte Ellen Georg in ihrem Schmerz an. „Was war denn das? Da war doch gar nichts von einem Transportband zu sehen?“, überlegte Georg verblüfft, „Frage: Warum konnten wir das Transportband nicht erkennen?“, wollte er deshalb von PUL wissen. 173
„= horizontales Antigravband. Befehle: Geschwindigkeit -ein-und ausschalten. Geschwindigkeitstandart = Stufe zehn. Gänge - Raumschiffe = Antigravbänder. Vertikalen Antigravlifte = so aktiviert, Richtung zusätzlich angeben“, erklärte er den, auf dem Boden sitzenden Menschen. Diese standen wieder auf und wunderten sich, dass die Lichtpfeile auf ein rechteckiges Loch in der Wand zeigten. Ellen war nach der Erklärung von vorhin sofort klar, dass es sich um einen Antigravlift handeln musste. Sie hielt zuerst ihren Zeigefinger hinein, und als nicht passierte, wurde sie mutiger und ließ die ganze Hand folgen. Es passierte immer noch nichts. Nun steckte sie ihren Kopf in die Öffnung und sah zuerst nach unten und dann nach oben. Die Lichtspur wies eindeutig den Weg nach oben. Es war kein Luftzug und auch kein Widerstand zu spüren. „Frage: Wie ist der Antigravlift praktisch zu bedienen?“, wollte Ellen nun genau wissen. „Vor oder nach dem Betreten - aktivieren. Antigravfeld endet automatisch – Stelle - Lichtzeichen Richtung ändern.“
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„Frage: Genügt es, wenn einer für eine Gruppe den Antigravlift aktiviert?“, hakte sie nach. „Ja.“ „Antigravlift ein, Geschwindigkeit 5, nach oben“, gab sie sofort die Anweisung und sprang in das Loch. Sie hatte inzwischen scheinbar ein nahezu blindes Vertrauen zu der neuen Technik. Kaum war sie darin, wurde sie wie von Geisterhand langsam mindestens 100 Meter, vorbei an diversen Ausgangslöchern, nach oben getragen. Daraufhin hüpften auch Peter und Georg in das Loch und sahen dabei nach oben. Ellen schwebte im immer gleichbleibenden Abstand vor ihnen her. Plötzlich verringerte sich dieser Abstand kontinuierlich. „Raus aus dem Schacht“, rief Peter nach oben. Ellen war fasziniert stehen geblieben und hatte die von unten Hochschwebenden beobachtet und dabei völlig vergessen, dass sie Platz gerade für diese Nachfolgenden machen musste. Hastig hopste sie nach vorne in den leeren Gang. Und schon kamen auch Peter und Georg in den Gang gesprungen. „Den Umgang mit diesen Einrichtungen müssen wir wohl noch ein bisschen üben. Allerdings heute 175
schaffen wir das nicht mehr. Es ist schon 17.20 Uhr. Wir können maximal noch eine Stunde bleiben. Ich bin gespannt, ob wir bis dahin überhaupt die Zentrale erreicht haben werden. Los weiter“, meinte Peter zu Ellen und Georg und zeigte dabei auf die Leuchtspur in dem Gang vor ihnen. Wo sie sich im Augenblick im Raumschiff befanden, wussten sie nicht mehr. Sie hatten längst jede Orientierung verloren. Sie mussten blind auf die Leuchtpfeile vertrauen. Soeben sprang das Licht wieder auf die linke Seite. „Antigravband ein, Geschwindigkeit 5“, gab Ellen selbstsicher die Anweisung, ging auf die linke Seite und fuhr wie auf einem Laufband den Gang hinunter. Peter und Georg eilten hinterher. Diese Geschwindigkeit war fast zu langsam. „Geschwindigkeit 6“, erhöhte Georg, und sofort ging es etwas schneller voran. Kurz vor dem Ende des Ganges stolperte Ellen plötzlich nach vorne, konnte sich aber gerade noch aufrecht halten. Peter und Georg, obwohl gewarnt, fielen wieder zu Boden. Fluchend rappelten sie sich auf. Die Lichtzeichen gingen nach rechts. Wieder liefen sie hin176
terher. Beim nächsten Antigravband wussten sie dann bereits, wie weit vor einer Kreuzung es ungefähr enden würde, und alle überstanden, mächtig strauchelnd, das Ende des Bandes ohne hinzufallen. Nach mehreren Fahrten mit Antigravbändern und –liften standen sie dann plötzlich vor einer Wand, die von dem Lichtpfeil markiert wurde. Ellen hielt ihre Handfläche in Hüfthöhe gegen die Wand. So hatte sie es zuvor bei Peter beim Essen bestellen gesehen. Aber nichts tat sich. Peter versuchte es ebenfalls. Nichts geschah. „Frage: Was sollen wir nun tun?“, stellte er deshalb an PUL die Frage. „Hand = Kennung - Befehl - Öffnen des Tores geben. - Zentrale kann nur so geöffnet werden. Ellen - Georg als berechtigt erklären - nur für diesmal oder für immer - Zentrale betreten - Erlaubnis!“ Es handelte sich also um eine zusätzliche Eintrittssicherung, erkannten die Drei. „Ellen und Georg sind hiermit grundsätzlich berechtigt, immer die Zentrale zu betreten“, kam Peter seiner Pflicht nach
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„Tür öffnen“, befahl er, die Hand an die Wand haltend. Ohne Geräusche fuhr eine zweigeteilte Tür zu beiden Seiten auf und machte einen 3 Meter breiten, 2,5 Meter hohen Eingang frei. Sie traten ohne Zögern ein. Die Wandstärke von gut 3 Meter verblüffte Peter. ‘Bei der Zentrale muss es sich um eine Sicherheitskapsel handeln, die, wenn alles rundherum ausfällt, noch irgendwie intakt bleibt’, dachte Peter. Sie befanden sich zuerst in einem schmalen, lang gestreckten, rechteckigen Raum. Gegenüber dem Eingang folgte eine weitere Türe, die ebenfalls mit der besonderen Kennung geöffnet werden musste. Danach kamen sie in einen weiteren, großen Raum, schon fast eine Saal, der sich von den bisherigen völlig unterschied. Diese Zentrale stellte sich als ein kreisrunder Raum von mindestens 30 Meter Durchmesser mit einer ungefähr 17 Meter hohen Kuppel dar. In der Mitte waren im Kreis 8 Schalensessel so aufgestellt, dass sich die darin Sitzenden nicht sehen konnten und ihre Blickrichtung zu der jeweils ge178
genüberliegenden Wand zeigte. Davor umliefen viele, niedrige Pulte mit diversen fast horizontal liegenden Bildschirmen diese Sitzanordnung. In der Mitte, im Rücken der acht Schalensessel, befand sich auf einer einen Meter hohen, runden Plattform ein weiterer Schalensessel. Die Wände und die Kuppel waren schwarz und leer. Peter hatte gedacht, dass das Raumschiff überall Fenster haben musste, damit man sehen konnte, wohin man flog. Aber er hatte noch keines entdecken können. Es schien keine zu geben. Außerdem waren er seiner Meinung nach nicht im Randbereich des Raumschiffes, sondern eher irgendwo in der Mitte. ‘Wie fliegen dann solche Raumschiffe, wenn man gar nicht nach draußen sehen kann’, dachte er. Er war verblüfft. „Frage: Gibt es in diesem Raumschiff Fenster nach außen? Wenn nein, warum nicht und wie kann man dann so ein riesiges Raumschiff fliegen, wenn man nicht sehen kann, wohin man fliegt?“, wollte Georg wissen. Er schien die gleichen Gedanken wie Peter gehabt zu haben. „Fenster – negativ = kein Nutzen. Fenster - zu klein - Größe des Raumschiffes – nicht ausreichend sichtbar. Raumflug = untauglich - nicht - erforderlichen Einstellungen - Daten liefern, welche 179
notwendig sind - richtige Anweisungen - Raumschiffflüge. Nur Kleinflugschiffe = 225 Grad Sichtkuppeln = direkt - Sicht flugfähig“, wurde die erstaunliche Erklärung in ihre Gehirne gesendet. „Und wie werden dann die großen Kästen geflogen. Blind oder nach Gehör?“, stellte Georg laut frotzelnd fest. „Frage: Wie oder wonach wird dann geflogen und müssen alle Plätze hier in der Zentrale, wenn man fliegen will, besetzt sein?“, hakte Peter sofort nach. „Mindestens = Kommandantenplatz + vier weitere Plätze - alle vier Richtungen gleich verteilt. Zusätzlich = 6 weitere Berechtigte - Abruf - falls Ausfälle. Sichtverhältnisse - Demonstration“, teilte PUL der staunenden Gruppe mit. Kaum ausgesprochen, veränderten sich in der Zentrale die Wände und die Kuppel. An den Wänden im gesamten Kreisrund entstanden unzählige Bildschirme. Die Kuppel wurde zu einem überdimensionalen Sternenzelt. Um welche Sterne oder Galaxis es sich dort handelte, wussten sie nicht zu sagen. Auch was auf den Bildschirmen dargestellt 180
wurde, konnten sie auf die Schnelle nicht enträtseln. Plötzlich rief Ellen laut: „Dort, schaut!“, rief sie aufgeregt, „ist das nicht das Gebirgsmassiv mit Umgebung, in dem wir uns gerade befinden, direkt von oben gesehen? Und dort. Das da ist doch genau neben unserem Raumschiff in der großen Halle! Und hier, seht, eine Totalaufnahme unseres Raumschiffes.“ Ihr stockte der Atem – und auch Peter und Georg wagten kaum noch zu atmen. Was hatte Ellen da gerade von sich gegeben? Und kein sofortiger Protest von PUL. Wurde das, was sie eben gesagt hatte, wirklich akzeptiert: „Unser Raumschiff.“ Es folgte nichts vonseiten des Superrechners. Peter wollte sichergehen: „Frage: Sind wir die uneingeschränkten Herren über dieses Raumschiff nebst Station?“ „Ja.“ Das war eindeutig, kurz und bündig. „Wenn ich jetzt Champagner hier hätte, würde ich darauf sofort anstoßen“, jubelte Georg und schlug vor Begeisterung Peter auf die Schulter. 181
„Wir müssen aber zurück. Es ist Zeit“, dämpfte Ellen mit dieser Bemerkung die Freude Georgs. „Es wird noch sehr lange dauern, bis wir hier alles gesehen haben und noch länger, bis wir alles nutzen können.“ „Zurück zum Schweber und dann zu den Räumen, in denen unsere restlichen Kleidungsstücke liegen“, wies Peter PUL an. Die Bildschirme erloschen und die Tür hinter ihnen öffnete sich wieder. Die Lichtleiste wies den Weg. Der Rückweg ging bereits ausgesprochen gut und flüssig. Diesmal benötigten sie höchstens die Hälfte der Zeit des Hinweges. Der Schweber brachte sie zu den Kleidungsstücken, welche sie über die Kombis anzogen, um so draußen nicht aufzufallen. Dann dauerte es nochmals gut zehn Minuten, bis sie wieder an der Ausgangspforte standen. „Tür auf, der Schweber bleibt hier, bis wir wieder zurück sind.“ Das Felsentor öffnete sich nicht. Was war los. Sie waren ratlos. Es war bereits 18.43 Uhr. „Frage: Warum öffnet sich das Tor nicht?“, wollte Ellen ängstlich von PUL wissen. Ihre Stimme ver182
riet ihre Angst, dass sie in der Station gefangen waren und sie womöglich ihre Kinder nicht mehr sehen würde. Sie zitterte etwas. „Nicht zutrittsberechtigte Lebewesen = unmittelbare Sichtweite - Tor geortet. Tor = Grundprogramm - erst öffnen = kein Lebewesen - Sichtbereich. Programmierung ändern?“, kam die Erklärung, verbunden mit einer Frage, von PUL zurück. Ellen atmete sichtbar erleichtert auf. „Nein, keine Änderung und Danke“, erwiderte Peter, ebenfalls erleichtert. „Bitte!“ Peter stutzte. „Hast du was gesagt, Georg?“, wollte er von seinem Freund wissen. „Nein. Warum?“ Georg war wegen dieser Frage verwirrt. „Ich dachte, ich hätte deutlich ein „Bitte!“ gehört“, erklärte Peter.
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„Ich auch, aber das war unser elektronischer Freund, dieser PUL“, lachte Georg, der erst jetzt verstand, warum Peter so verblüfft war. PUL konnte sogar höflich sein. Es war wie ein Witz. Ein Rechner mit gutem Benehmen. Für Peter war das bereits die zweite unlogische Handlung eines Elektronengehirns. Das Tor ging endlich auf. Sie traten schnell hinaus und sahen sich um. Strahlendes Sommerwetter über der großartigen Alpenkulisse. Weit und breit niemand zu sehen. Das Sicherheitssystem der Station war ausgezeichnet. Aber was würde passieren, wenn sich irgendwann einmal eine fremde Person dauerhaft vor dem Eingang niederließ. Das konnte noch spannend werden. Sie kamen erst gegen 19.20 Uhr im Hotel an. Alexander und Sabine standen schon am Eingang und warteten. Als sie die Ankömmlinge sahen, liefen sie ihnen entgegen. „Schön dass ihr endlich kommt“, empfing sie Alexander aufgeregt, „Auf dich warten schon zwei Männer, Papa“ „Weißt du wer die Männer sind?“, wollte Ellen wissen. 184
„Wir kennen sie nicht und sie haben auch nichts gesagt. Sie sind da drinnen“, berichtete Sabine und zeigte mit dem Finger über die Schulter. „Schutzfeld 1 an“, gab Peter wispernd Richtung Ellen und Georg seine Anweisung. Er hoffte, dass die Beiden verstanden hatten und seinem Beispiel aus Sicherheitsgründen folgten. Sie nickten stumm. Peter war zufrieden. Er ging in das Hotel und schon kamen ihm die beiden Herren entgegen. „Guten Abend, Herr Lander, Gnä´ Frau“, stellten sie sich vor, „ich bin Kommissar Fritz Moser, und das ist mein Kollege Herbert Malchin. Wir hätten da so ein paar Fragen an Sie, Herr Lander, wegen des Bergrutsches. Wir müssen einen Bericht schreiben, und so, und da können Sie uns vielleicht helfen.“ Bei diesen Worten hielt er Peter seinen Dienstausweis als Legitimation hin. In Peter läuteten Alarmsirenen. Jetzt hieß es vorsichtig sein. „Aber gern. Wollen wir uns dort in die Ecke setzen - dort sind wir ungestört“, ging er freundlich auf das Ansinnen der Beamten ein. „Geht ruhig schon mal zum Essen. Ich komm gleich nach. Und lasst mir was übrig“, wandte er sich an Ellen, 185
Georg und die Kinder und versuchte betont heiter zu klingen. Sie setzten sich und sofort schoss der Kommissar seine erste Frage ab: „Sie sagten, wie ich im Fernsehen gehört habe, dass Sie sich schon sehr zeitig von Sepp Hintermayers Gruppe beim Aufstieg getrennt hatten. Wann und wo genau war das?“ „Na, erst bin ich noch eine ganze Weile mit raufgekraxelt, dann wurde es mir zu schwierig und zu langweilig. Deshalb hab ich mich von der Gruppe getrennt und bin meine eigenen Wege gegangen. An welcher Stelle das genau war, kann ich nicht sagen, weil ich mich hier in der Gegend nicht auskenne“, antwortete Peter ausweichend. „Und Sie haben dem Sepp Hintermayer gesagt, dass Sie jetzt allein woanders entlang gehen?“, fragte listig der Kommissar. Ha – so nicht, dachte Peter bei sich. Wenn er das bestätigen würde, könnten sie ihn sofort der falschen Aussage bezichtigen, denn der Sepp könnte und würde das nie bestätigen. Er konnte nur hoffen, dass der Sepp ihn im Augenblick des Bergrutsches nicht mehr registriert hatte. 186
„Nein, das ging doch gar nicht“, erwiderte Peter offenherzig, „Die Gruppe war schon sehr weit auseinander gezogen. Sepp war an der Spitze und ich war der Letzte, weit unten. Ich sagte der blonden Dame vor mir, dass sie Sepp bei der nächsten Pause meinen Entschluss zu Trennung mitteilen sollte“ Hoffentlich genügte das. Der Kommissar nickte nachdenklich und brummte nachdenklich fragend: „In welcher Sprache sprachen Sie denn da mit der blonden Dame? Sprechen Sie französisch? Und hatte diese Dame Sie überhaupt verstanden?“ „Ja, sprechích und hat sie. Sie nickte und winkte bestätigend“, gab er flüssig sprechend zur Antwort. „Also Sie wissen nichts von dem Bergrutsch und haben auch nichts von ihm gesehen?“, wollte jetzt der Gendarm wissen. „Nein, nichts. Aber warum ist das so wichtig?“, hinterfragte Peter das Interesse der beiden Polizisten. „Ja, wenn Sie da oben bei dem Bergrutsch dabei gewesen wären und Ihnen gar nichts passiert wäre 187
und Sie weggelaufen wären, müssten wir jetzt wegen unterlassener Hilfeleistung bis hin zur fahrlässigen Tötung gegen Sie ermitteln“, antwortete lauernd der Kommissar. Er wollte offensichtlich die Reaktion Peters auf diese Feststellung erkennen. „Wieso das?“, kam die verblüffte Reaktion von Peter. Diese Aussagen kamen ihm absolut an den Haaren herbeigezogen vor. „Wer dort oben direkt nach dem Unglück unverletzt gewesen wäre, hätte sofort Hilfe holen und Hilfe leisten müssen. Er hätte die Suchmannschaften ganz schnell zu den Verunglückten führen können, und so hätte man viel Zeit gewonnen und vielleicht Verschüttete rechtzeitig gefunden und lebendig gerettet. Das liegt doch auf der Hand, oder?“, erklärte der Kommissar eindringlich. Es war offensichtlich, dass er eine erschütterte Reaktion bei Peter hervorrufen wollte. Aber Peter hatte in dieser Hinsicht verständlicherweise kein schlechtes Gewissen. Daher konnte er ganz ruhig vorbringen: „Sie können versichert sein, meine Herren, wenn ich irgendeine Art der Hilfestellung hätte leisten 188
können, hätte ich sie auch geleistet. Aber ich konnte nicht, da ich nicht vor Ort war.“ Damit hatte er nicht einmal gelogen. „Danke, Herr Lander, das wäre alles. Wie lange bleiben Sie denn noch?“ wollte der Kommissar scheinbar belanglos wissen. „Noch fast sechs Wochen. Wir verbringen die gesamten Schulferien hier“, musste Peter, ob er wollte oder nicht, antworten. „Ach, haben Sie das schön. Also dann noch erholsame Ferien“, verabschiedete sich der Kommissar. Der Inspektor nickte nur kurz. „Auf Wiedersehen“, kam es trocken aus Peters Kehle. Er fühlte sich durchleuchtet oder sah er bereits Gespenster? Oder waren seine Nerven nur überreizt? Oder war die Station insgeheim längst bekannt? Unsinn, entschied er still für sich und begab sich beunruhigt in den Speiseraum. Im Polizeifahrzeug schaute der Kommissar seinen Begleiter nur stumm an und provozierte so diesen zu der Feststellung: 189
„Ich will einen Besen fressen, wenn der nicht Dreck am Stecken hat.“ Beim Abendbrot wurden nur belanglose Dinge gesprochen, damit die Kinder nichts bemerkten. Die Nachrichten brachten diesmal keine neuen Erkenntnisse und das allgemeine Interesse schien inzwischen bereits wesentlich nachgelassen zu haben. Den drei Erwachsenen am Tisch war es nur recht und die Kinder interessierte es ohnehin kaum. Sie hatten gegessen wie hungrige Löwen, die Erwachsenen begnügten sich mit kleinen Salaten von der Salatbar. Nur der Durst war geblieben. Erst auf dem Weg nach oben, verabredeten Peter, Ellen und Georg, wenn Alexander und Sabine eingeschlafen waren, sich in der Bar zu treffen und alles Weitere zu besprechen. Georg wollte in der Zwischenzeit noch mit Gitti und seiner Firma telefonieren. An der Bar, es war bereits nach Mitternacht, beschlossen sie, während der kommenden Tage die Station und das Raumschiff eingehend in Augenschein zu nehmen. Um mehr konnte es erst einmal nicht gehen. Auch wollten sie vorrangig lernen, mit solch einfachen Dingen umzugehen, wie zum Beispiel mit den Schwebern, Antigravliften und Antigravbändern. Sie schätzten, dass allein die 190
Bildschirm-und Kuppelbetrachtungen in der Zentrale Wochen in Anspruch nehmen würden. Und wie sah es mit einem kleinen Ausflug in den Weltraum aus? Und wo sollten sie anfangen? Es gab in dieser Nacht viel zu diskutieren, stellten sie fest. Und es gab unendlich viel Raum für Träume. „Können wir uns überhaupt mit unserem Wissensstand in den Weltraum hinauswagen, selbst mit solch einer Supertechnik im Hintergrund. Und wie lange wird es dauern, bis wir uns den erforderlichen Kenntnisstand angeeignet haben“, grübelte gerade Georg halblaut vor sich hin. „Du sprichst zwei Kardinalfragen an, die mir schon seit Stunden durch den Kopf gehen“, stieg Peter auf dieses Thema ein, „1.: Gibt es eine Möglichkeit erheblich schneller das Wissen in unsere Köpfe zu verfrachten, und sei es mit Maschinenhilfe, und 2.: Wann sind wir so weit, ein Raumschiff, und sei es noch so klein, zu fliegen und damit auch wieder zurückzukommen.“ „Das sind die gleichen Gedanken, wie meine von eben, nur ein bisschen anders formuliert. Und wie willst du das erfahren?“, wollte nun Georg genauer wissen. 191
„Ganz einfach. Wir fragen diesen PUL, dieses Rechengenie. Und das am Besten noch heute Nacht per Funk. Was meint ihr?“, warf Ellen lächelnd ein. Sie hatte die Situation präzise erfasst. Nur das konnte jetzt weiterhelfen. „Aber von wo aus und wann. Wir dürfen nicht auffallen?“, wollte Peter wissen. „Von meinem Zimmer aus, da können wir auch nicht von den Kindern gestört werden. Kommt wir gehen“, meinte Georg. Sie standen auf und gingen in Georgs Zimmer. Vorher vergewisserte sich Ellen noch, dass die Kinder auch fest schliefen. Da sie selbst ohnehin nicht schlafen konnten, hatten sie für dieses „Gespräch“ mit PUL ausreichend Zeit. „Schaltet alle per Gedankenbefehl den Sender und Empfänger ein. Vor allen Dingen, denkt daran, dass wir ganz leise sprechen müssen, damit wir Niemanden auf uns aufmerksam machen. Das Licht bleibt aus. Einverstanden“, flüsterte Peter den Beiden zu. Nachdem alle die Verbindung zu PUL hergestellt hatten, stellte Peter die erste Frage: 192
„Frage: Gibt es für uns eine Möglichkeit, das Wissen der Helas irgendwie im Schnellverfahren übermittelt zu bekommen. Aber so dass wir es auch verstehen und dass es in unserem Hirn haften bleibt? Ausführliche Antwort, Bitte!“ „Nein. Wissen = Fragen und Erfahrungen. Beschleunigte Wissensvermittlung - fehlgeschlagen. Versuch - Erhöhung Geschwindigkeit der Gedankenübermittlung - Faktor 2 = 15 % irreparable Bewusstseinsschäden. 1000-fache Übertragungsrate = Totalausfall aller Teilnehmer. Verstärkung Sendeleistung = Übertragungsrate. Suggestionsmethoden = marginale Erfolge - kein Verhältnis zum Aufwand. Aufnahmequalität - Gehirns - medizintechnischem Weg – erhöhen = neue Verbindungen zwischen Gehirnhälften oder Nervenbahnen im Gehirn = mehr als fünfzigprozentigen geistigen Verwirrung der Teilnehmer. Teilnehmer Versuch überstanden = mehr als 1000-fache Erhöhung - Aufnahmefähigkeit = Wissen - extrem kurzer Zeit erlangt. Risiko einzugehen?“ Einhellig schüttelten die Drei den Kopf und dachten sich auch dieses Nein, so dass PUL ebenfalls Bescheid wusste. Die Versuche mit der Herstellung von neuen Verbindungen innerhalb des Gehirns oder der beiden Hirnhälften, erinnerte Ellen 193
an die Dyslexie, wo bei einigen Menschen die rechte und linke Hirnhälfte anders angekoppelt waren, als bei den Durchschnittsmenschen. Hier gab es auch ausgesprochene Gedächtniswunder mit einem IQ von 178 und höher, aber auch total Verwirrte. „Also müssen wir alles step by step lernen“, stellte Georg lakonisch fest. „Nächste Frage: Wann können wir mit unserem Wissensstand ein Raumschiff fliegen, und wie lange dauern die Startvorbereitungen?“ „= Wissensstand unabhängig. Steuerung – Raumschiff = Zentralrechner. Mindeste Mannschaftsstärke = einzuhalten. Notfälle = Abweichung. Kommandant - Ziel - Ziel technisch unmöglich = Alternativvorschläge - Zentralrechner. Gefahrensituationen reagiert Zentralrechner selbständig. Freimachen - Start-und Landefläche = circa drei Stunden.“ „Ah, das ist gut!“, rief Georg viel zu laut. „Sssscht...“, zischte Ellen entsetzt in Richtung Georg und tippte sich dabei auf die Stirn und zeigte anschließend mit dem Zeigefinger nach oben, „die Nachbarn.“ 194
„Frage: Kann man schneller als Licht fliegen oder gibt es so etwas wie Zeit-, Raum oder Entfernungssprünge und wie schnell fliegen die, sich hier befindlichen, Raumschiffe?“, setzte Peter gleich als nächste Frage Richtung PUL ab. „Lichtgeschwindigkeit – Erde = 299.792.458 Meter pro Sekunde = Lichtart von vielen. Schnellste, künstliche Bewegung verbundener Masse durch den Raum - Helas = größer 2000-fache ErdLichtgeschwindigkeit = ungefähr 2000 Lichtjahre pro Jahr. Expeditionsraumschiff = etwas über 1000 Lichtjahre pro Jahr. Kleinflugschiff = maximal zehn Lichtjahre pro Jahr. Raum-und Zeitsprünge – unbekannt – Wahrscheinlichkeit = unter 0,1 Prozent“, kam als Antwort zurück. „Ist wohl ziemlich schnell, diese Geschwindigkeit, und Einstein mit seiner speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie etwas überholt“, konnte sich Georg nicht enthalten zu flüstern. Das mit dem Leise sein, hatte er inzwischen kapiert, als er fortfuhr: „e = mc hoch 2. Bei Erreichen der Lichtgeschwindigkeit wird die Masse sprich Energie unendlich. Die Helas können die Lichtgeschwindigkeit wohl mit noch mehr Energie, mehr als es sich Einstein selbst in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen konnte, überwinden.“ 195
Er schüttelte immer noch den Kopf, als Peter schon die nächste Frage an PUL abschickte: „Frage: Du hast immer von der Start-und Landefläche gesprochen. Wo befindet die sich eigentlich, wie groß ist sie und welcher Art ist die Verschmutzung, die beseitigt werden muss.“ „Start-und Landefläche = 1200 Meter mal 560 Meter = über Raumschiffraum. Raumschifflandung = Gegengravitation über dieser Fläche - anschließend Decke - zurückgefahren - Raumschiff senkt sich sehr langsam in den Stellplatzraum. Start = ganz langsam wieder auf die Startfläche durch Antigravkräfte - Decke - öffnet und schließt sich Raumschiff = im Freien = Raumschiff ganz langsam starten. Prozedur Landung mit Abstellen oder Start = mindestens zwanzig Minuten – Expeditionsraumschiff. Reihenfolge = unbedingt erforderlich - beschleunigter Abflug oder direkter Landung = Druckkräfte nach unten = Vielfaches Masse des Raumschiffes. Je kleiner ein Raumschiff = schneller Lande-oder Startvorgang = Druckmasse geringer. Verschmutzung = Gesteinsund Geröllmassen - Jahrtausende auf die Start-und 196
Landefläche gespült + Gletschereis. Peter = Landeflächeneingang - Station gelangt. Flächenreinigung = Eismassenschmelzung + störende Gestein und Geröll Zerstrahlung. Reinigung Start-und Landefläche?“, hängte PUL gleich eine folgerichtige Frage an seine Ausführungen. „Das wäre doch gut“, meinte Georg überschwänglich, „dann können wir jederzeit herumfliegen, wenn wir wollen.“ „Spinnst Du! Dann weiß doch gleich jeder, dass da was ganz Besonderes im Berg liegt“, widersprach Ellen vehement. „Und außerdem gibt’s da noch ein kleines Problem“, schmunzelte Peter süffisant, „hast du dir schon mal überlegt, Georg, was passiert, wenn PUL innerhalb von drei Stunden den gesamten Restgletscher abtaut?“ „Nö, was soll passieren. Er wird zu Wasser, fließt in den Fluss und später ins Meer“, erwiderte Georg. „Ja. Wasser entsteht wohl. Aber eine ungeheure Menge auf einmal. Das wäre wie eine Sintflut. Ich glaube, da würden Tausende von Menschen ertrinken, von den Sachschäden mal abgesehen“, er197
klärte Peter, geduldig wie ein Schulmeister. „Wir sollten das lieber sein lassen.“ „Georg PUL. Eis nicht plötzlich abtauen. Frage: Würde ein Verdampfen ähnlich funktionieren?“ „Ja = mehr als zwei Tage = NiederschlagsmengenErhöhung - ungefähr 500 - 1000 Kilometer Entfernung - augenblickliche Windstärke und Windrichtung“ „Na seht ihr, es geht auch so. Jetzt müssen wir nur noch die generelle Windrichtung und Windstärke beachten und wir können errechnen, wo es kräftig regnet. Vielleicht sogar in einem ausgesprochenen Trockengebiet“, trug Georg stolz vor, weil er eine so gute Idee gehabt hatte. „Das könnte im Bedarfsfall klappen. Aber momentan warten wir damit noch, würde ich vorschlagen“, warf Ellen ein, „lasst uns Morgen wieder in die Station gehen und weiterhin alles ansehen und kennen lernen, dann können wir weiter sehen.“ So wurde es dann auch gemacht und die Verbindung mit der Station aufgelöst. Sie unterhielten sich noch bis in die Morgenstunden und fantasierten, was das Zeug hielt. Danach legten sie sich 198
doch noch etwas ins Bett, und sei’s nur, um dem Hotelpersonal vorzuspielen, dass darin ganz normal geschlafen worden war. Im Bett ging Peter der Bildschirm, der die Tauernregion von oben gezeigt hatte nicht mehr aus dem Kopf. Wie war das möglich. Das musste er Morgen unbedingt vor Ort untersuchen, entschied er. Bei Georg drehte sich alles um die verschiedenartigen Fahrzeuge, welche er im Raumschiffhangar gesehen hatte. Die wollte er unter die Lupe nehmen. Und Ellen dachte daran, was mit den Kindern passieren würde, wenn sie diese in ihr Geheimnis einweihen mussten. Es würde bald geschehen müssen, das wusste sie instinktiv. Warum sie das wusste, konnte sie allerdings nicht sagen. Es war so eine unangenehme Vorahnung. Wie würde diese neue Entwicklung auch das Leben der Kinder verändern? Würden diese dann noch so eine unbedarfte Lebensfreude wie jetzt haben? Es gab noch viel zu überdenken. Die Kinder kamen als Letzte zum Frühstück. Georg war schon um 7.00 Uhr im Restaurant gewesen. Es hielt ihn nicht mehr im Zimmer, denn er 199
hatte Hummeln unter dem Hintern. Nur schnell so tun, als ob er frühstücken würde, und dann so schnell, wie möglich wieder zur Station. Aber er musste sich gedulden, ob er wollte oder nicht, bis endlich gegen 7.40 Uhr Ellen und Peter kamen. Alle hatten ihre Sicherheitsausrüstung unter der normalen Kleidung an. Es war schon ein klein wenig zur Gewohnheit geworden. „Wo bleibt ihr denn?“, drängelte er ungeduldig. „Na, wer wird’s denn so eilig haben?“, lachte ihm Peter entgegen, „wir haben heute noch mehr vor, als das, was du gerade denkst.“ „So, was denn?“, wollte er sofort wissen. Jetzt war er neugierig geworden. Und Ellen sah ihn auch fragend an. „Sag mal, Georg, was hast du letztes Jahr eigentlich während deines dreiwöchigen Urlaubs tagsüber hier so gemacht?“, fragte Peter scheinheilig. „Na ja, also, wenn.....“, wollte er anfangen zu erzählen, als er plötzlich stutzte, „du meinst doch nicht etwa.....?“, vollendete er den angefangenen Satz nicht mehr.
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„Genau das meine ich, und wenn wir es nicht tun, dann fallen wir recht deutlich auf. Und genau das wollen wir doch verhindern, stimmt’s?“, stellte Peter fragend fest. „So ein Mist!, verdammt noch m..“ Georg unterdrückte frustriert den Rest. „Worum geht’s hier“, mischte sich nun Ellen ein. „Um das, was wir heute mit Sicherheit tagsüber spielen würden, wenn wir nicht....“, deutete Georg an. „Golf spielen. Richtig!“, stellte sie fest, inzwischen ebenfalls verstehend. „Also ich schlage nun vor“, fing Peter an, „dass wir uns gleich nach dem Frühstück fürs Golf eintragen und dann schleunigst raus. Nach dem Spiel essen wir hier eine Kleinigkeit und dann gehen wir in den Berg. Einverstanden?“ Ellen und Georg nickten bedauernd. Es war schon erstaunlich. Normalerweise waren alle Drei begeisterte Golfspieler, aber seit ihrer Entdeckung verspürten sie keinen Drang mehr, den kleinen, weißen Ball durch die Gegend zu schlagen. Um 201
aber unauffällig zu bleiben, mussten sie sich wenigsten in etwa so verhalten, wie man es von ihnen erwartete, beziehungsweise kannte. Sie gingen deshalb, gleich nachdem sie gefrühstückt und die Kinder verabschiedet hatten, auf die Runde. Das Spiel lief ausgezeichnet. Die Abschläge kamen bei allen perfekt, die Fairwayschläge saßen im Ziel und die Annäherungen waren eine reine Freude. Nur das Putten blieb in etwa so wie früher. Nach vier Stunden kamen sie mit ungewöhnlich guten Ergebnissen wieder zurück. Erstaunt stellte Ellen fest, dass sie keinerlei Ermüdungserscheinungen fühlte oder die gewohnten Muskelschmerzen verspürte und dass sie so locker, aber auch gleichgültig, wie noch nie gespielt hatte. Und das war auch des Rätsels Lösung: Früher wollte sie unbedingt gut spielen, verkrampfte deshalb teilweise und spielte unnötig schlechter. Heute wollte sie nur wieder weg. Es war ihr egal, ob sie gut oder schlecht spielte, schlug auf diese Weise relaxt die besten Bälle und erreichte so ein Spitzenergebnis. Ein erheblich besseres Resultat, als ihr Handicap aussagte. Eine gute Sache hatte das Golfen dann aber doch. Sie hatten wieder richtigen Hunger und bestellten deshalb die leckersten Gerichte zum Mittagessen, welche ihnen auch ausgezeichnet schmeckten. 202
„Tausend mal besser als die Tabletten“, bemerkte Georg deshalb auch prompt. „Das können wir grundsätzlich so halten“, schlug Ellen vor, „wenn wir zur Station gehen und länger dort bleiben, sollten wir uns Verpflegung mitnehmen und nur die Getränke von der Station trinken. Dann können wir hier immer gut futtern. Einverstanden?“ „Gut, so machen wir es ab jetzt. Heute brauchen wir allerdings nichts mehr. Wir schauen noch kurz nach den Kindern, und dann geht’s los“, bemerkte Peter, „und du wolltest doch Gitti anrufen, Georg. Damit sie nicht zu unruhig wird, sag ihr, dass du heute spät abends noch nach Hause kommst und ihr dann gleich Morgen gemeinsam hierher fahrt. Das wird sie freuen und beruhigen. Was hältst du davon.“ „Ich hab auch schon daran gedacht“, gab dieser sichtlich erfreut zu, „und wollte deshalb mit euch darüber sprechen. Aber jetzt ist es ja geregelt.“ „Und noch eine Sache liegt mir am Herzen“, machte Peter gleich weiter, während ihn Ellen und Georg gespannt ansahen, „wir haben und tragen ja nun die Sicherheitskombis. Deshalb schlage ich 203
vor, dass wir ab sofort grundsätzlich immer die Sicherheitsstufe 1 einschalten. Seid ihr damit einverstanden?“ „Klar, das ist doch ein Stück Sicherheit mehr für uns, und die kostet noch nicht mal etwas“, kam es aus Georg fröhlich herausgesprudelt. „So, und nun los. In einer halben Stunde am Auto. O.K.?“, verabschiedete sich Peter und ging mit Ellen in den Reitstall, wo sie die Kinder vermuteten und auch fanden. Diese waren bestens versorgt, wie Ellen und Peter schnell feststellten, und so gingen sie gleich zum Wagen und warteten auf Georg. Als dieser ankam, brausten sie augenblicklich mit Peters Passat los. Der Weg zur Station wurde diesmal auf Anhieb gefunden und sie kamen problemlos in die Station hinein. „Ich möchte einen weiteren Vorschlag machen“, fing Peter an, „wenn wir im Raumschiffhangar bei den Fahrzeugen sind, sollten wir uns trennen und jeder für sich verschiedene Aufgabengebiete erledigen. Was würdest du gerne machen, Georg?“, erkundigte er sich bei diesem. 204
„Also, ehrlich gesagt, mich interessieren die Fahrzeuge, oder Schweber wie du sie genannt hast, und die anderen, kleineren Raumschiffe, die an Bord des Expeditionsraumschiffes sein müssten, oder Mutterschiffes, wie wir es künftig nennen sollten, erst einmal ganz besonders“, rief er vor Begeisterung, „und das weißt du ganz genau, du, du.....“ Er hatte eindeutig eine Spitzenlaune. „Na klar“, schmunzelte Peter, „und du, mein Schatz?“ Er wandte sich an Ellen und sah ihr direkt in die Augen. „Wir müssen uns einen Überblick über die Anzahl und Art der Räume und ihre Einrichtung, und wenn möglich sogar ihre Funktionen, machen. Hiermit fange ich dann mal an. Einverstanden?“, schlug Ellen vor, „und was willst du machen?“, fragte sie Peter. „Ich gehe in die Zentrale. Ist euch gestern nicht aufgefallen, dass einer der Bildschirme das Tauerngebirge von oben zeigte. Ellen, du hast es doch entdeckt. Ist euch eigentlich die Reichweite dieser Aussage klar. Wir müssen herausbekommen, wie diese Bilder entstehen“, erklärte Peter 205
nachdenklich. „Wir fahren jetzt gemeinsam in den Schiffshangar, dort trennen wir uns und treffen uns um 18.00 Uhr dort wieder. Am Abend tauschen wir dann unsere Erfahrungen aus und können darüber diskutieren. Die Zeit dafür haben wir ja reichlich, da wir ohnehin nicht einschlafen können. Wollen wir es so machen?“, fragte er die Beiden. Sie nickten nur stumm. Die Wangen waren vor Aufregung und Neugierde gerötet. „Wir sollten uns von PUL um 17.45 Uhr erinnern lassen, damit wir auch pünktlich zurück sind. Bei den vielen ungewohnten, sensationellen Dingen, die es hier gibt, kann man die Zeit im Nu verpennen, was schlecht wäre“, schlug Ellen vor, „und dazu müssten wir PUL auf unsere Zeitrechnung umstellen. Die Zeit dürfte hier nämlich nach der Zeitrechnung der Helas laufen. Was meint ihr dazu?“, wollte sie noch wissen. „Nein, das müssen wir erstaunlicherweise scheinbar nicht. Er rechnet längst mit unseren Werten“, widersprach Peter und stellte eine Frage an PUL: „Frage: PUL, ist dir alles bekannt bezüglich unserer Zeitrechnung?“ 206
„Ja = Donnerstag, 15.06 Uhr, 43 Sekunden“, ließ PUL in ihren Gehirnen aufleuchten. Peter überlegte trotzdem: Wieso war PUL die Zeitrechnung bekannt und wieso wusste er so viel? Hatte er ihr gesamtes Wissen bei den Scannvorgängen ausgesogen? Zuviel konnte es nicht sein, nur unerklärlich und beängstigend. „Anweisung an PUL: Wenn wir uns trennen, dann mit jedem einzeln kommunizieren. Wenn wir wieder gemeinsam unterwegs sind, dann wieder mit allen zugleich“, wies Peter abschließend an, immer noch grübelnd die Augenbrauen hochziehend. Ellen warf Peter einen nachdenklichen Seitenblick zu. Er hatte unmerklich das Kommando übernommen. Vor der Entdeckung dieser Station, war er eher zurückhaltend gewesen und im beruflichen Bereich hatte immer Georg das Sagen gehabt und Peter hatte sich gerne in diese Rolle eingefügt. Jetzt schien sich unmerklich der Charakter ihres Mannes zu ändern. Sie würde diese Entwicklung gründlich beobachten, nahm sie sich vor. Danach stiegen sie in den Schweber und ließen sich in den Hangar bringen.
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‘Es ist schon erstaunlich, wie schnell man sich selbst an solch eine Übertechnik gewöhnen kann’, dachte Ellen, sich überall umsehend. Trotz dieser Gedanken liefen ihr in diesem Moment Schauder der Unsicherheit über den Rücken. Worauf hatten sie sich eingelassen? Im Hangar ging der Abschied schnell vonstatten. Ellen lief zuerst noch ein paar Gänge mit Peter mit, dann trennte sie sich von ihm. Peter war schnurstracks unterwegs in Richtung Zentrale und Georg blieb im Hangar und näherte sich dem nächsten Fahrzeug. Georg stellte schnell fest, dass es sich bei allen Fahrzeugen in der Reihe, in der auch der Schweber eingeparkt war, der sie gebracht hatte, um baugleiche Fahrzeuge handelte. Nur einige Größen waren unterschiedlich. Die Kleinsten waren die Einsitzer, die Größten konnten mindestens 200 Personen aufnehmen. Er versuchte den kleinen Einsitzer mit seiner Muskelkraft anzuheben. Nicht einen Millimeter konnte er ihn bewegen. Weder nach oben noch zur Seite. „Frage: Wie schwer ist dieser Schweber und aus welchem Material besteht er hauptsächlich?“, wollte er deshalb von PUL wissen.
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„3.245 Kilogramm Gewicht, Außenmaterial Puriol = hoch elastisches, stark komprimiertes Metall spezifisches Gewicht = 98,3 Kilogramm“. Georg stutzte. Diese kleine, gerade mal knapp einen Quadratmeter große Platte sollte schwerer sein, als ein ausgewachsener Mercedes 600 Pullmann mit Panzerung? Unfassbar. Mit dem spezifischen Gewicht konnte er nicht so richtig etwas anfangen, er wusste nur, dass es extrem hoch war. Er nahm sich jeden Schwebertyp vor, setzte sich hinein und ließ ihn per Gedankensteuerung im Hangar hin und her und nach oben und unten fahren. Nach kurzer Zeit hatte er es bereits nahezu perfekt raus, wie man mit diesen Fahrzeugen umgehen musste. Man konnte fixe Ziele, wie Raum x oder y, oder man konnte auch nur den Weg direkt angeben. Letzteres war den Anderen noch unbekannt. Das bedeutete letztendlich, dass sie diese Schweber auch außerhalb der Station benutzen konnten. Nur waren sie alle ohne Wände und Dächer, und eine Heizung war ebenfalls nicht zu erkennen. „Frage: Gibt es Schweber mit Wänden, Dächern und Fenstern und vielleicht auch mit Heizung?“, erkundigte er sich deshalb bei PUL. 209
„Ja, Heizung unnötig. Körpertemperatur = Sicherheitsanzug“, bekam er als Antwort, und zugleich leuchtete ein Lichtpfeil auf dem Boden auf. Er folgte diesem und entdeckte so im Nachbarhangar genau diese gewünschten Fahrzeuge. Allerdings unterschieden sie sich doch wesentlich von den vorherigen Fahrzeugen. Die Dächer waren vollständig durchsichtig und die Seitenwände gut 30 Zentimeter hoch. Auf beiden Seiten waren vier zylinderförmige, ungefähr 1 Meter lange, 5 Zentimeter dicke Stangen angebracht. Vier, dachte Georg bei sich, das erinnerte ihn doch an was. Unabsichtlich, oder fast automatisch, tastete er nach seinen Strahlern im Gürtel. Das musste es sein. „Frage: Sind das Strahler, entsprechend denen an meiner Kombi?“, wollte er sich versichern. „Ja.“ „Frage: Kann ich mit einem Schweber in den Testraum und die Strahler ausprobieren?“ „Ja. Strahler - anorganische Materie + Thermostrahler. Intensität nicht über 3 - Einsturzgefahr!“, wurde ihm als wesentlichen Hinweis mitgegeben. Diese Tests wollte er sofort in Angriff nehmen. Die folgende Fahrt unternahm er diesmal in direk210
ter Gedankensteuerung, indem er den Lichtpfeilen folgte. Die Tests mit den Strahlern, jagten ihm Schauer des Entsetzens über den Rücken. Er hatte nur Intensität 1, Reichweite 50 Meter, Breite 5 Zentimeter und Dauer 1 Sekunde genommen. In beiden Fällen hatte es förmlich dumpf gerummst, als die Strahlen in den Fels schlugen und ihn regelrecht zertrümmerten. Speziell die Hitzestrahlung hatte den Felsen in einem großen Radius zerschmelzen lassen. Was musste bei einer Intensität von 100 geschehen, fragte er sich. Interessant fand er auch die hohe Beweglichkeit der Strahler. Nachdem er einen ausgewählt hatte, fuhren diese an ihrer Halterung ungefähr einen halben Meter aus und folgten ohne Zeitverzögerung seiner jeweiligen Blickrichtung. Nun verstand er auch, warum an beiden Seiten des Fahrzeuges Strahler angebracht waren. Nur so, konnte wirklich jeder Punkt in einem Umkreis von mehr als einem Meter um den Schweber herum, bestrichen werden. Nach den Versuchen fuhr er sehr still und nachdenklich zum Hangar zurück. „17.45 Uhr. Treffen mit Ellen und Peter um 18.00 Uhr im Raumschiffhangar“, klang es plötzlich in seinem Kopf auf. Er zuckte zusammen und machte sich umgehend auf den Weg zum Treffpunkt. 211
Ellen hatte in ihrer Jackentasche fast immer ein Notizbuch mit einem kleinen Stift darin. Sie griff in die Jackentasche und wollte es herausnehmen. Aber sie suchte vergeblich. Als sie merkte, dass sie es diesmal nicht mitgenommen hatte, fluchte sie leise vor sich hin. Wie sollte sie da Aufzeichnungen von Grundrissen und so weiter machen. Da kam ihr eine Idee: „Frage an PUL: Gibt es von der Station und vom Raumschiff Pläne?“ „Ja.“ Ach, es war ätzend. Dieser blöde PUL antwortet kein bisschen menschlich, dachte Ellen leicht verärgert, und musste nach diesem Gedanken sogleich lachen. „Anweisung. Ich möchte die Pläne der Station einsehen“, versuchte sie ihren Fehler von vorhin wieder gut zu machen. Kaum hatte sie die Anweisung gegeben, da erschien die obligate Leuchtspur auf dem Boden. Sie folgte ihr, bis nach einem endlos langen Weg über diverse Flure und Antigravlifte in einen größeren, lang gestreckten Raum kam. 212
‘Wozu sollen die großen Tische in der Mitte des Raumes gut sein?’, dachte sie Sie war verblüfft. Dergleichen hatte sie bisher noch nicht gesehen. Es handelte sich um große, quadratische Platten, mit massiven Mittelfüßen. Einer der Tische fing auf der Oberfläche zu leuchten an. Ellen trat ganz nahe an diesen Tisch und sah, wie tatsächlich eine 3 – D – Projektion auf dieser Fläche entstand. Es handelte sich um den Bauplan von irgendetwas. Die Art der dreidimensionalen Ansicht machte für Ellen alles total unübersichtlich. „Bitte eine zweidimensionale, horizontale Darstellung“, wies sie den Rechner an. Augenblicklich veränderte sich die Darstellung und sie begann die Zeichnung zu verstehen, wenn sie diese auch keinem bekannten Ort zuordnen konnte. „Frage: Können diese Pläne auch ausgedruckt werden?“ „Frage unverständlich, präzisieren“ kam als Antwort von PUL zurück. „Diese Pläne sind hier auf einem Bildschirm zu sehen. Frage: Gibt es noch andere Medien, um die Pläne zu sehen? als Bildschirme?“ versuchte sie zu erklären, indem sie diese Frage stellte. 213
„Nein.“ Das war’s also. Die Helas kannten augenscheinlich kein Papier oder Vergleichbares. So etwas war ja auch eine ausgemachte ökologische Ressourcenverschwendung, weil viele Bäume auf der Erde wegen Papier fallen mussten. Aber wie sollte sie nun die Pläne dieser riesigen Anlage in ihr Gehirn bekommen, fragte sie sich verzweifelt. Vermutlich gab es da doch noch eine Möglichkeit: „Frage: Gibt es einen kleinen, tragbaren Bildschirm für mich, auf dem die Pläne von der Station und den Raumschiffen verzeichnet sind?“, erkundigte sie sich, inzwischen völlig aufgeregt, bei PUL. „Ja.“ Schon wieder, zum x-ten Male, diese kurze, präzise Antwort. Es war zum Heulen. „Anweisung: Gib mir sofort solch einen kleinen Bildschirm mit den Plänen!“, schrie sie, als würde PUL einzuschüchtern sein. Sie war irgendwie wütend geworden. In die Luft schauend, wartete sie auf eine Antwort von PUL. Es kam keine. Jetzt war sie gänzlich verunsichert. 214
Was war denn los, dachte sie bei sich. Hätte sie PUL nicht anschreien dürfen? Nichts geschah. Traurig senkte sie den Kopf, stutzte, und fing an, hysterisch zu lachen. Dadurch, dass sie nur nach oben geblickt hatte, als würde von dort irgendetwas kommen, hatte sie nicht bemerkt, dass in gewohnter Weise auf dem Boden die Lichtspur erschienen war. Augenblicklich folgte sie den Lichtzeichen, bis sie wiederum in einen anderen, diesmal kleineren Raum kam. Die Wände waren voll gestellt mit geschlossenen, raumhohen Schränken. Der Lichtpfeil zeigte eindeutig auf einen von ihnen. Sie lief sofort hin und stellte fest, dass sich er sich nicht von Hand öffnen ließ. Sie hielt die Handfläche in Hüfthöhe dagegen und schon bewegte sich die Schranktüre zu Seite. Im Schrank leuchtete ein Fach ganz oben auf, die anderen Fächer blieben dunkel. Die Raumhöhe betrug ungefähr drei Meter. Dementsprechend hoch lag das beleuchtete Fach. Wie sollte sie dorthin kommen. Eine Leiter schien es nicht zu geben. Sie versuchte es mit hochspringen. Das funktionierte beim besten Willen nicht. Da fehlten mindestens noch vierzig Zentimeter. Was tun. Sie stand da und grübelte. PUL wollte sie bewusst nicht fragen, weil sie wusste, dass es eine einfache Lösung geben muss215
te. So stand sie fast zehn Minuten, bis es ihr wie Schuppen von den Augen fiel. Die Antigravschuhe mussten entsprechend aktiviert werden: „Antigrav 5, Antigrav ein“, sprach sie leise vor sich hin, und augenblicklich hatte sie das Gefühl, leichter zu sein. Nun versuchte sie einen kleinen Sprung nach oben. „Au!“, schrie sie auf. Sie war, wie von unten beschleunigt, nach oben geschossen und mit ziemlicher Wucht mit dem Kopf ungebremst gegen die Decke gestoßen und danach seitlich auf den Boden gefallen. Wütend stieß sie mit dem rechten Bein in Richtung Schrankwand. Das hätte sie nicht machen sollen, denn dadurch schoss sie sofort, auf dem Boden rutschend, diagonal durch den Raum und knallte auf der anderen Seite mit der Schulter gegen den Schrank. Nur dadurch, dass sie reaktionsschnell die Arme nach oben gerissen hatte, um ihren Kopf zu schützen, wurde sie vor ernstlichen Verletzungen bewahrt. Sie blieb ganz ruhig liegen und überlegte erst einmal. „Antigrav aus“, murmelte sie und bemerkte, dass sie wieder normales Gewicht unter den Füßen hatte. Vorsichtig erhob sie sich und ging humpelnd zu 216
dem Teil der Schrankwand, der offen stand und in dem ganz oben immer noch das Licht schimmerte. ‘Antigrav 1, Antigrav ein’, dachte sie, bewegungslos und abwartend stehend. Diesmal geschah nichts Auffallendes. Sie machte einen leichten Sprung nach oben, und erreichte die gleiche Höhe wie zuvor, als sie ohne Antigrav mit voller Kraft gesprungen war. Jetzt wurde sie wieder mutiger und machte einen Hopser mit halber Kraft. Sie hätte dort oben beinahe den Rand erreicht, stellte sie jubelnd fest. ‘Antigrav 2’, denkend und den gleichen Sprung noch mal. Jetzt erreichte sie mühelos das beleuchtete Fach. Sie hielt sich am Rand fest und sah hinein. Ein kleines, annähernd 30 mal 30 Zentimeter großes, 1 Zentimeter dickes Gerät lag darin. Sie nahm es mit der rechten Hand heraus und schon ging es wieder abwärts Richtung Boden. Sie kam so hart und ungeschickt auf, dass sie das Gleichgewicht verlor, und schon wieder hinfiel. Das Gerät in der Hand fiel in hohem Bogen Richtung Tür und blieb dort liegen. Hoffentlich ist es nicht im Eimer, dachte sie, sonst war alle Mühe umsonst.
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„17.45 Uhr. Um 18.00 Uhr Treffen mit Peter und Georg im Raumschiffhangar“, hörte sie deutlich eine Stimme in ihrem Gehirn. Sie annullierte die Antigravstufe, stand auf, nahm das Gerät hoch und gab PUL die Anweisung: „Zum Treffpunkt.“ Danach folgte sie den Lichtpfeilen und traf zusammen mit Georg dort ein. Peter war auf dem schnellsten und kürzesten Weg zur Zentrale gegangen. Er benötigte keine fünf Minuten dafür, so gut kam er inzwischen mit den Lichtpfeilen, Antigravbändern und Antigravliften zurecht. In der Zentrale angekommen, setzte er sich sofort in einen der acht Schalensitze. „Kommandant = Mittelsitz!“, meldete sich PUL unaufgefordert. Es gab also Rangordnungen, die sich in den Abzeichen an den Uniformen und den Sitzanordnungen manifestierte. Also setzte er sich wortlos um. ‘Bitte das Bild anschalten, welcher das Gelände über der Station zeigt’, ordnete er an. Kaum hatte 218
er den letzten Teil seiner Anweisung gedacht, leuchtete direkt vor ihm eine Art Monitor auf und zeigte von ganz weit her das Tauerngebirge und den Großglockner von oben. Genau genommen handelte es sich um keinen Monitor in dem Sinne, wie Peter sie aus der Computertechnologie oder vom Fernsehen her kannte, sondern um gut ausgeleuchtete Bilder an der Wand, ihm gegenüber. ‘Wie brillante, fast schon dreidimensional wirkende Dias’, dachte er sofort. Tausend mal besser und schärfer als alles, was inzwischen jeder über das Internet beziehen konnte. Neben diesen Bildern begannen unerwartet weitere sechs aufzuflammen. Sie waren rund um das erste angeordnet und zeigten fast die ganze Welt nahtlos von oben. Der Kreis der Bilder wäre geschlossen gewesen, wenn nicht zwei dunkle Stellen geblieben wären. Als würden zwei Bilder fehlen. Wenn sich bei den Bildern nicht helle und dunkle Stellen langsam über die Länder und Meere bewegt hätten, würde Peter auf Photographien aus einem Atlas geschlossen haben. So aber erinnerten sie ihn an Zeitlupenausgaben von Satellitenbildern der allabendlichen Wetterkarte. Über dieser Gruppe von Bildern erschien nun noch ein weiteres, allerdings erheblich größeres. Hatte jeder der sieben unteren Bilder ei219
ne Diagonale von circa 2 Metern aufzuweisen, maß das obere, zuletzt entstandene Bild gut und gerne zehn Meter in der Diagonale. Im Gegensatz zu den unteren Bildern, passte dieses nicht mehr auf die senkrechte Wand. Es war daher im darüber befindlichen Kuppelbereich abgebildet. Diese Ansicht entsprach exakt der, die auf dem mittleren Bild abgebildet war, nur dass man jetzt alles detaillierter sah und mehr Einzelheiten zu erkennen waren. Peter war über alle Maßen verblüfft. Die gesamte Erdkugel wurde von irgendwelchen Satelliten der Station aufgezeichnet. War das eine Bildschirmdemonstration, oder war es echt. Oder lief hier eine Version des neuen Galileo-Systems ab? War diese Station mit den Medien der Welt verbunden? Er musste es wissen: „Frage: Sind diese gezeigten Bilder aktuell von diesem Augenblick?“ Gespannt wartete er auf eine Antwort. Und schon kam sie: „Aktuell. 16.02 Uhr, 12 Sekunden“ „Anweisung: Nur in wichtigen Fällen die Sekunden bei Zeitangaben angeben“ 220
‘12 Sekunden. Als ob das bedeutend wäre, dass es 16.02 Uhr und 12 Sekunden wäre’, regte sich Peter innerlich auf. Dieses Aufregen war allerdings nur ein Ausdruck seiner Aufgewühltheit. „Frage: Werden die Bilder von Helas-Geräten erzeugt?“ „Ja.“ ‘Die Erde wird also seit über 130.000 Jahren von allen Seiten beobachtet’, überlegte er fasziniert. Er war sich sicher, dass es Aufzeichnungen für diesen gesamten Zeitraum gab. Eine Frage diesbezüglich an PUL konnte er sich sparen. Bedeutete diese Entdeckung für sich allein nicht schon einen wissenschaftlichen Knaller ersten Ranges. Auf der Erde wurden tiefer gehende Klimabeobachtungen seit gut 100 Jahren aufgezeichnet, und die Wissenschaftler konnten daraus, oder meinten es zu können, bereits wesentliche Schlüsse über die Erdwärmeentwicklung und das künftige Weltklima ableiten. Wenn diesen Spezialisten die Aufzeichnungen dieser Helasstation zur Verfügung gestellt werden könnten, dann käme die Wissenschaft allein in diesem Bereich einen ungeheuren Schritt 221
weiter. Peter dachte dabei an Ellens Vorschlag, hochrangige Wissenschaftler in die Station einzuladen, damit durch deren Studien genau diese Erfolge eintreten konnten. Und noch mehr konnte es bedeuten, sinnierte Peter vor sich hin. Seit einigen Jahrzehnten wurde der Weltraum, und dieser speziell in Erdnähe, ausgesprochen gründlich beobachtet. Mussten nicht längst diese Satelliten bekannt sein. Wenn ja, warum hatte er noch nichts davon gehört. Immerzu fragte man sich allerorten, ob es irgendwann einmal zu einem Kontakt mit außerirdischen Lebewesen kommen könnte. Und hier schwebten die Beweise dafür direkt vor ihren Erfassungsgeräten. Wusste PUL, ob die Menschen wussten, dass es diese Station und die Satelliten gab? Hier galt es nachzuhaken: „Frage: Wie kommst du zu diesen aktuellen Bildern?“ „Planeten - Stationen = flächendeckendes Messund Beobachtungssystem auf und über Planeten. Boden = seismologische Messgeräte. Über Planeten = Abhängigkeit - Bedeutung, Größe + Beschaffenheit = Messkapseln stationär. Messungen = Temperatur – Windgeschwindigkeiten - Magnet-+ Elektrofelder, Anziehungskräfte = Aufzeichnungen. Planeten = neun Messgeräte - Erd222
entfernung = 17.200 Kilometer festgemacht. Verluste: Alle erdgebundenen, seismologischen Messgeräte, zwei stationäre Messkapseln.“ Also hatte er richtig vermutet, grübelte Peter vor sich hin. Neun stationäre Messkapseln. Die musste doch irgendjemand gefunden haben. Oder sollten sie so klein sein, dass sie in dieser großen Entfernung nicht zu finden sind? Und wieso und wie wurden zwei Geräte verloren? Erklärte das die beiden freien Bildschirmplätze vor ihm? „Frage: Wodurch wurden die Geräte verloren?“, wollte er folgerichtig von PUL wissen. „Seismologische Messkapseln = Abmessung drei Zentimeter x drei Zentimeter x zehn Zentimeter. Sämtliche durch Erdbewegungen verschüttet. Stationäre Messkapseln = Kantenlänge 2,3 Meter. Identische Exemplare - Lagerräume 2029 bis 2053 des Expeditionsraumschiffes: 12.451 Stück. Ausfall - Messkapsel 3 vor 57.967 Jahren - Kollision Gesteinsbrocken = Durchmesser 12,52 Meter. Ableitungsschutzschirm = zehn Zentimeter. Messkapsel = ins Weltall geschleudert. Messkapsel 7 = 26. Januar 1998 - Raumschiff - Erdbewohner eingesammelt.“ 223
Also doch. Ihm stockte der Atem. Bedeutete das, dass diese Station auch schon bekannt war? Wenn auch erst vor verhältnismäßig wenigen Jahren die Messkapsel aufgelesen wurde, mussten die entsprechenden Stellen doch schon geraumer Zeit davor Bescheid gewusst, aber es auch streng geheim gehalten haben. Welche Instanzen wussten also davon. Militärische? Wissenschaftliche? Politische? Industrielle? Syndikate? „Frage: Wurde das Einsammeln der Messkapsel aufgezeichnet und kann ich diese Aufzeichnung in Kurzform jetzt sehen?“ Er hatte kaum die Frage laut gedacht, als das große Bild, ausgesprochen deutlich, eine Raketenabschussrampe aus dem Blickwinkel von schräg oben zeigte. In der linken, unteren Ecke war das Datum 22. Januar 1998, 03.48 Uhr eingeblendet. Es handelte sich zweifellos um Cape Canaveral und um eine dicke Trägerrakete mit einem Space Shuttle huckepack. Bei dem Shuttle musste es sich um die Endeavour handeln, welche angeblich bemannt zur russischen Raumstation Mir fliegen wollte. Peter konnte sich noch vage daran erinnern. Die folgenden Bilder stellten das Andocken an die Raumstation dar. Dann kamen die Abkopplung und die erneute Beschleunigung aus eigener 224
Kraft. Die letzten Sequenzen zeigten das Öffnen des voluminösen Frachtraumes der Endeavour und das Ausfahren zweier Greiferarme. Dann wurde es unvermittelt dunkel. Kurz darauf entstand wieder das alte Bild, welches das Tauerngebirge von oben zeigte. Die Amerikaner also, überlegte Peter grübelnd. Die Mir umlief in 390 Kilometer Höhe die Erde. Von der Raumstation bis zur Messkapsel waren es dann noch 16.800 Kilometer, wenn sie direkt über der Mir stand. Eine ungeheuer weite Strecke. Das musste von langer Hand vorbereitet worden sein. Das Pentagon und der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika mussten eigentlich dementsprechend informiert sein. Oder doch nicht. Darüber musste er sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Zu knacken dürfte die Messkapsel eigentlich von Niemand sein, da mit Sicherheit ein Schutzschirm aktiviert war. Der aktivierte Schutzschirm konnte allerdings höchstens vergleichbar mit der Stufe 2 der Kombi sein. „Frage: Kann die Messkapsel aufgebrochen werden?“, wollte er bestätigt wissen. Mal sehen, ob er schon richtig kombinierte, dachte er dabei. „Kapsel nicht aufzubrechen - Schutzschirm = Stufe 2, aktiviert“, kam prompt die Bestätigung. 225
„Frage: Arbeitet die Kapsel noch und können wir Bilder empfangen?“ „Ja.“ Mit dieser kurzen Antwort, zeigte augenblicklich die große Bilderwand eine riesige Handinnenfläche und daneben helle Schatten. Die Hand verschwand und ein großes Gesicht erschien. Während sich anschließend das Gesicht rückwärts wegbewegte, gab es den Blick auf eine Menschengruppe in weißen Kitteln frei. Man konnte deutlich erkennen, wie mehrere Personen mit den Schultern zuckten, eine kratzte sich am Kopf, eine andere warf, offensichtlich wütend, eine Schreibkladde zu Boden. „Das genügt“, instruierte Peter PUL, was dieser mit einer Zurückschaltung des Bildes quittierte. Peter konnte sich die Nöte der Messkapselknacker sehr gut vorstellen. Bei diesem Gedanken fing er aus heiterem Himmel zu lachen an. Es war zu komisch. Aber da war noch etwas zu klären: „Frage: Ist diese Station schon von anderen Menschen, ausgenommen uns Dreien, entdeckt worden?“ „Nein“ 226
Ah – gut, freute er sich. Da kam ihm noch ein Gedanke: „Zeige einen größeren Ausschnitt des Gebirges über uns!“, wies der PUL an. Ohne, dass eine Antwort kam, konnte er zweierlei beobachten. Zum einen entstand auf dem kleineren Bild, welches das Gebirge von oben zeigte, in der Mitte ein weißes umrandetes Quadrat. Zum anderen erschien genau dieser Ausschnitt auf dem Riesenbild. „Näher ran!“, kann wieder seine Anweisung. Und wieder wurde der Ausschnitt größer. Er wiederholte seine Ansagen so oft, bis er auf einmal einen Hubschrauber zu erkennen glaubte. Es war nur ein winziger Fleck auf dem Bild gewesen, der sich über dem Eisfeld bewegt hatte. Die Entfernung war noch zu groß. Aber je näher er sich auch bringen ließ, er konnte den Hubschrauber nicht mehr finden. „Frage: Gibt es die Möglichkeit, ein einmal eingefangenes Zielobjekt mit der Kamera verfolgen zu lassen“, wollte Peter wissen. „Ja. Welches?“, erfolgte als Gegenfrage. 227
Puh – was nun. Sollte er sagen den Hubschrauber von vorhin. Er versuchte es einmal: „Den Hubschrauber von vorhin“ „Bildfolgen – zurückgehen = entsprechendes Bild gefunden = Zurückverfolgung stoppen - Objekt gedanklich markieren - Verfolgung anordnen!“ Mit dieser Erklärung konnte er etwas anfangen. Umgehend ließ er die Aufzeichnung rückwärts laufen und sie an der Stelle anhalten, als er das Flugobjekt wieder sah. Er markierte es in der angegebenen Weise und ordnete die augenblickliche Verfolgung an. Schlagartig änderte sich das Bild und wanderte sehr, sehr langsam mit dem Objekt mit. Als Nächstes ließ er sich so dicht an den Hubschrauben heranfahren, dass er bald nur noch diesen von oben im Blickfeld hatte. Es war wie im Film, dachte er so bei sich, nur dass er den Ablauf des Films selbst bestimmen konnte. „Etwas weiter weg.“ Es funktionierte prächtig. Der Hubschrauber setzte gerade zur Landung unmittelbar neben dem alten Gletscher an. Mehrere Menschen näherten sich dem Fluggerät und begannen auszuladen. Eine Vielzahl von Kisten wurde neben einem Zelt ge228
stapelt. Was machten diese Menschen dort, grübelte Peter. War das die Forschergruppe, welche Probebohrungen in dem Katastrophengebiet durchführen wollte, um zu erfahren, weshalb der Bergrutsch entstanden ist. Er ließ den Bildsichtwinkel eine Kleinigkeit schwenken. Ja eindeutig. Dort stand bereits ein primitives LeichtmetallBohrgerüst, und es arbeitete auch schon. ‘Die sind aber fleißig’, grinste er. Mehr wollte er darüber nicht nachdenken. Auf dem kleinen Bild sah er das weiß umrandete Quadrat inzwischen nur noch als hellen Punkt. Das war zu erwarten gewesen, denn wenn die Kamera so nahe an die Erdoberfläche herangefahren war, musste auf der totalen Sicht kaum mehr etwas zu sehen sein. Wenn er die Kameraeinstellung des kleinen Bildschirmes auch erheblich näher an das Zielgebiet heranfahren könnte, müsste er in der Lage sein, selbst kleinste Objekte auf dieser Erde gezielt zu suchen. „Kleineres Bild näher an das Zielgebiet heranfahren“, kam daher seine Anordnung. Das kleinere Bild tat ihm allerdings nicht den Gefallen. Es blieb, wie es war. Dafür entstand jedoch links neben dem großen Bild, ein weiteres, gleich großes. Ja, so geht’s natürlich noch besser, grinste er vor sich hin. Jetzt kannte er die Logik dieser Technik. 229
So konnte er mehrere Bilder nebeneinander, mit immer präziseren Einstellungen laufen lassen, bis er sein Ziel gefunden hatte. Er probierte es umgehend aus. Dazu nahm er sich das Hotel vor, und dort den Golfplatz vor. Schnell hatte er ihn gefunden. Wie es der Zufall auch so wollte, sah er, wie Alexander und ein ihm unbekannter Junge auf dem Kurs waren. Er ging ganz nahe heran. Gesichter konnte er leider nicht erkennen, da er immer nur die Vogelperspektive zur Verfügung hatte. Aber den kleinen Ball konnte er spielend auf Bildgröße heranzoomen. Selbst den Schmutz auf dem Ball konnte er noch präziser einstellen. Es war gewaltig. So konnte man jeden Zentimeter auf der Erde beobachten. Dagegen waren die Beobachtungssatelliten der Armeen dieser Erde grobes Spielzeug. Peter stellte wieder etwas zurück, um die Kinder noch etwas zu beobachten. Sie spielten mit zwei weiteren Kindern. Da schummelte doch einer, stellte er schmunzelnd fest. Schade dass er heute Abend nichts darüber sagen konnte. Aber er hatte ganz deutlich gesehen, wie eines der beiden Kinder den Ball im tiefen Gras verdeckt aufgenommen und besser gelegt hatte. Dabei schaute dieser Bengel sich schnell um, ob er auch ja nicht beobachtet worden war und schlug danach behän230
de den Ball. ‘Na, so geht’s aber nicht’, grinste er immer noch vor sich hin. „17.45 Uhr. Um 18.00 Uhr Treffen mit Ellen und Georg im Raumschiffhangar“, wurde er in seinen schönen Gedanken jäh unterbrochen. Er ließ alles ausschalten und verließ eilends die Zentrale. Kurz nach Ellen und Georg erschien er im Hangar. Sie machten sich sofort auf den Heimweg. Unterwegs hätten am Liebsten alle ihre Erkenntnisse zur gleichen Zeit erzählt. Da das aber wenig Sinn gemacht hätte und alles gleichermaßen wichtig war, einigte man sich darauf, dass Ellen beginnen sollte. Dann kam Georg und als Letzter Peter. Als dieser mit seiner Erzählung annähernd fertig war, hatten sie auch schon das Hotel erreicht. Es war kurz nach 19.00 Uhr. Ellen, Peter und die Kinder machten es sich für den Rest des Tages mit erzählen, essen, trinken und spielen ausgesprochen gemütlich. Den kleinen Kasten hatte Ellen im Zimmer unter dem Kopfkissen versteckt. Wenn die Kinder eingeschlafen waren, wollten sie ihn genauer untersuchen. 231
Georg packte in seinem Zimmer schnell seine Sachen zusammen, schwang sich in seinen Mercedes und fuhr Richtung Tiefenbach los. Kommissar Moser war um diese Zeit gerade auf dem Weg nach Hause. Er hatte schlechte Laune. Der Bericht über die Bergrutschkatastrophe war bisher unangenehm dünn. Keine Unglücksursache konnte ermittelt, kein Schuldiger ausgemacht werden. Er wusste, dass dies den Imageschaden für diese Region verschlimmern würde. Und das war fatal. Sie waren auf Touristen angewiesen. Wenn der Öffentlichkeit nicht erklärt werden konnte, warum so ein Unglück passiert ist, hatten die meisten Menschen verständlicherweise Angst, dass es sich jederzeit wiederholen könnte und sie selbst dann zu den Opfern zählen könnten. Dieser Peter Lander war seine einzige Spur und Möglichkeit, irgendwie so eine Art Schuldigen aufzubauen. Er stellte sich das in etwa so vor: Dieser Lander hat gelogen. Er war von Anfang bis zum Ende dabei. Wäre er nicht feige weggelaufen, hätten alle Opfer rechtzeitig gefunden und gerettet werden können. Die Katastrophe wäre zu einem ungewöhnlichen, und dann sogar interessanten, Naturereignis reduziert worden. Aber nichts war zu machen. Es war zum verrückt werden. 232
Während er noch vor sich hin brummelte, trillerte das Funktelefon. Er nahm es flink in die Hand und meldete sich: „Moser.“ Danach hörte er eine Weile stumm zu und nickte nur hin und wieder mit dem Kopf. „Seid ihr sicher? Das ist doch eine ausgesprochene Neuigkeit?“, fragte er gespannt nach. „Dann sofort für Morgen ganz früh den Bericht auf meinen Schreibtisch. Vielen Dank für die gründliche Nachforschung. Servus!“, verabschiedete er sich noch und lachte dann vergnügt laut vor sich hin. Unmittelbar nach diesem Gespräch rief er seinen Assistenten Herbert Malchin an, erzählte ihm den Inhalt des Gesprächs und bestellte ihn für den nächsten Tag um 8.00 Uhr ins Golfhotel. Laut summend und singend, fuhr er nun den Rest des Weges nach Hause. Kaum hatte Georg die Grenze zwischen Österreich und Deutschland hinter Salzburg passiert, wurde das Wetter schlagartig schlechter. Es pfiff ein scharfer, böiger Westwind von links gegen den Wagen. Große dunkle Regenwolken zogen auf. Keine zehn Minuten später fielen, geräuschvoll 233
gegen die Windschutzscheibe klatschend, die ersten Regentropfen. Georg schimpfte knurrend vor sich hin: „Muss so ein Sauwetter ausgerechnet jetzt kommen. Bei diesem starken Verkehrsaufkommen und dann noch gut zwei Stunden bis Passau. Das kann ja heiter werden.“ Aber auch das Schimpfen nutzte nichts. Der Regen wurde immer stärker. Es war schon nach halb zehn. Er bog bei der Abfahrt Traunstein von der Autobahn auf die Bundesstraße 304 ab. Es ging durch Traunstein, vorbei an Traunreut und bei Altenmarkt weiter auf die Bundesstraße 299. Er fuhr betont vorsichtig. Der Gegenverkehr blendete ihn teilweise so stark, dass er aus Sicherheitsgründen die Geschwindigkeit noch mehr drosselte. In Unterneukirchen stellte er fest, dass er frühestens gegen Mitternacht zu Hause ankommen würde. Er fingerte nach seinem Handy und wählte mit der rechten Hand die Kurzwahlnummer von seinem Hausanschluss. Der Regen peitschte so laut gegen das Fahrzeug, dass er bezweifelte, seine Gitti ihn würde verstehen können. Schon wieder kam ihm ein Ungetüm von Lastwagen entgegen und spritzte gleich eimerweise Wasser, von der Straße hochreißend, gegen seine Frontscheibe. 234
„Keller“, meldete sich Gitti, so leise, dass Georg sie nur erahnen konnte. „Ich bin’s, Schatz“, brüllte er in sein Handy. „Du musst ganz laut schreien, sonst kann ich dich nicht verstehen.“ „Ich kann dich gut hören. Wo bist du denn? Warum müssen wir so brüllen?“, wollte Gitti nun wissen. „Ich bin kurz vor Altötting auf der 299. Bei dem Sauwetter kann es noch etwas dauern. Bei euch alles klar?“, schrie er immer noch und versuchte zugleich den Wagen auf der rechten Fahrbahnseite zu halten. Der Wind hatte inzwischen fast Orkanstärke erreicht. Er fuhr auf einer geraden Strecke einen leichten Hügel hinunter und konnte vage erkennen, dass die Straße weiter gerade aus einen neuen, langgezogenen Hügel hinaufführte. Über die gegenüberliegende Hügelkuppel blickend, erkannte er, dass wieder einer dieser Riesenlastwagen auf ihn zukam. „Hier ist alles in Ordnung. Ich hab schon gepackt. Schön, dass du uns abholst. Soll ich dir was zu Essen machen?“, erkundigte sie sich brüllend. 235
Hmm, gute Idee, dachte Georg bei sich, und fühlte das Wasser in seinem Munde zusammenlaufen. „Was macht denn dieser Idiot da vorne?“, schrie Georg entsetzt auf. Gitti hörte dies, und fragte sich, was das wohl sollte und bekam langsam ein dumpfes, flaues Gefühl in der Magengegend. War da etwas nicht in Ordnung? Georg bemerkte, wie der entgegenkommende Sattelzug zu schlingern anfing. Er bremste augenblicklich seinen Wagen vorsichtig ab und hielt sich ganz weit rechts am Fahrbahnrand. Der Sattelauflieger des Lastwagens trudelte immer stärker und kam immer mehr auf Georg zu. Dessen Fahrzeug stand inzwischen fast. Rechts in den Graben konnte er nicht fahren, weil eine lange, durchgehende Leitplanke dies unmöglich machte. In diesem Augenblick schlug der Sattelauflieger mit seiner rechten Seite gegen die Leitplanke auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ohne Leitplanken wäre der gesamte Lastzug die steile Böschung hinabgestürzt, so aber wurde er nach links, wieder zurück auf die Bundesstraße geschleudert und begann, sich quer stellend, auf Georgs Mercedes hinzu zu bewegen.
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„Scheiße!“, brüllte Georg auf, „ist der wahnsinnig. Hilfe! Stufe 2!“ Mehr konnte er nicht mehr herausbringen, denn in diesem Augenblick krachte der vollgeladene Auflieger quer treibend mit brutaler Wucht frontal gegen seinen Wagen, diesen restlos zertrümmernd, um dann, sich zwei Mal überschlagend, den Mercedes, mit Georg darin, unter sich begrabend, auf der Fahrbahn liegen zu bleiben. Die Limousine wurde völlig zerquetscht. Für Georg lief alles wie in Zeitlupe ab. Die Sattelzugmaschine wurde durch das Drehen des Aufliegers förmlich in die Luft geschleudert und über die Leitplanke weg gegen einen Baum katapultiert. Beim Aufprall fiel Georg das Handy aus der Hand. Er sah bei vollem Bewusstsein, wie alles vor sich ging und wie, gleichsam wie in einem Panzer sitzend, sich alles um ihn herum drehte und verbog. Dann war schlagartig Ruhe. Gitti hörte den lauten Aufschrei Georgs, konnte aber nicht nachvollziehen, was er geschrieen hatte. Sie hörte nur mit brutaler Deutlichkeit, wie es krachte und schepperte. Plötzlich nur noch ein kurzer Knall, dann absolute Stille. Die Verbindung war unterbrochen und das Handy offenbar zerstört 237
worden. Sie fing an zu schluchzen. Es war etwas Fürchterliches passiert, das wusste sie. Ein Unfall. „Wo hatte Georg gesagt, dass er war?“, fragte sie sich und versuchte, sich fieberhaft konzentrierend, zu erinnern. Schnell die Polizei und einen Krankenwagen zu dem Unfallort schicken, eventuell konnte Georg rechtzeitig gerettet werden. „Ach ja“, atmete sie auf, „B 299, kurz vor Altötting.“ Es war ihr trotz ihres Schocks wieder eingefallen. Sie wählte sofort die 110 und schickte Polizei, Krankenwagen und Feuerwehr in Richtung Unfallort los. Georg konnte sich nicht mehr bewegen. Es war, als wäre er in einer überdimensionalen Blechdose eingeschlossen. Aber er hatte trotzdem keine Schmerzen. Er stellte dies erstaunt fest. Noch erstaunlicher fand er es, dass er bei diesem fundamentalen Aufprall nicht auseinander gerissen oder gänzlich irreparabel zerbrochen worden war. Er lag in seiner ursprünglichen Sitzstellung eingekeilt auf der Seite. Aber nicht er hatte sich verbogen, sondern das aufprallende Material, hatte sich wie 238
ein Stahlmantel um ihn herum gelegt. Spätestens in diesem Augenblick, erkannte er die Schutzfunktion des Sicherheitsanzugs. Er war gespannt auf die Gesichter der Menschen, wenn sie ihn da unverletzt herausholten. Nun bemerkte er auch den Helm über seinem Kopf. Er musste ganz automatisch, ohne richtig zu denken, die Schutzstufe zwei aktiviert haben. Tastend untersuchte er, ob um ihn herum Gegenstände oder anderes Material beweglich waren. Als er feststellte, dass alles fest war, entschloss er sich, auf Sicherheitsstufe eins herunterzugehen. Der Helm zog sich wieder zurück und plötzlich hatte er wieder etwas mehr Platz. Er hörte von weitem eine Sirene. Das musste bereits die Polizei sein, dachte er, sind die aber schnell. Obwohl er sich wieder ein wenig mehr bewegen konnte, war an eine selbständige Befreiung nicht zu denken. Er musste, ob er wollte oder nicht, warten, bis sie ihn herausschnitten. Polizeiobermeister Jörg Neuhauser kam als Erster an der Unfallstelle an. Er war entsetzt. Hatte er doch schon viele schwere Verkehrsunfälle gesehen, aber einen so verheerenden wie diesen, an so etwas konnte er sich nicht erinnern. Er forderte hastig mehrere Krankenwagen und die Feuerwehr mit schwerem Gerät an. Jedem der ankam, erging 239
es wie dem Polizeiobermeister. Sogar die Schaulustigen, die selbst bei diesem Sauwetter nach kurzer Zeit zahlreich am Unfallort waren, schauderten vor Entsetzen. Der Lastkraftwagenfahrer konnte nur noch tot geborgen werden. Kurze Zeit später fanden sie noch die Leiche eines jungen Mädchens unter der Sattelzugmaschine. Es musste sich um eine Anhalterin handeln, mutmaßte Neuhauser. Als sich die Feuerwehr endlich zu dem, unter dem Auflieger begrabenen, Mercedes vorgearbeitet hatte, hörten sie überraschend eine deutliche, rufende Stimme: „Seid ganz vorsichtig, wenn ihr mich hier herausschneidet. Ich hab den Unfall durch einen Mordsdusel unverletzt überstanden. Also macht mich nicht alle, indem ihr mich hier zerschneidet!“ Das war typisch Georg. Der, dem zertrümmerten Wagen am Nächsten stehende Feuerwehrmann erschrak, als er die klare Stimme hörte, so heftig, dass er sein Montiereisen schlagartig nach hinten riss und einem Kollegen ins Gesicht schlug. Dieser wurde sofort vom, inzwischen eingetroffenen, Arzt versorgt. Der Pressephotograph, Bernd Brunner, vom Altöttinger Anzeiger schoss ein Photo nach dem anderen. Das 240
war eine Sensation. Ein Überlebender in diesem Wrack. Und wie hier gemunkelt wurde, soll er sogar unverletzt sein. Es war eigentlich unmöglich. Über die Schulter blickend, sah er, wie ein Redakteur seiner Zeitung ebenfalls schon kräftig beim Sammeln von Informationen war. Georg hoffte, dass die Feuerwehr beim Schweißen so vorsichtig war, dass er nicht gezwungen wurde, die Sicherheitsstufe 2 einzuschalten. Das wäre ärgerlich, dachte er bei sich, denn dann würden alle sehen können, wie sich der Schutzhelm entfaltete. Das später zu erklären, war unmöglich. Als sie mit dem Heraustrennen beginnen wollten, bat Georg die Feuerwehrleute darum, zuvor sofort bei ihm zu Hause anzurufen und seiner Frau Bescheid zu geben, dass ihm nichts passiert war. Es dauerte bei strömenden Regen und starkem Wind noch über eine Stunde, bis sie eine so große Lücke frei gebrannt hatten, dass er ganz vorsichtig herausgezogen werden konnte. Er machte einen tiefen, befreienden Atemzug, weil er die Sicherheitsstufe nicht hatte erhöhen müssen. Die Umstehenden interpretierten dies allerdings als dankbares Aufatmen, dass er überlebt hatte, und dies sogar noch völlig unverletzt. Sie applaudierten. Er wur241
de wie ein Wunderkind von einem zum anderen gereicht. Der Photograph fluchte, dass er nur fünf Filme a´ 36 Bilder mit hatte. Seine Digitalkamera hatte er wie immer zuhause gelassen – er konnte diese modernen Dinger immer noch nicht leiden. Endlich konnte Georg sich in den Polizeiwagen setzen und seine Angaben zum Unfallhergang machen. Gegen 1.00 Uhr war er abgefertigt. Die Kleidungsreste hingen in Fetzen von seiner Kombi herunter. Polizeiobermeister Neuhauser schrieb seinen Bericht, und erwähnte dort ebenfalls, dass die Kombi völlig unbeschädigt schien, während die restliche Kleidung darüber nur noch aus Fetzen bestand. Dies, wie auch die Kleiderordnung waren ihm unerklärlich. Die Polizei stellte beide Fahrzeuge sicher. Georg ließ sich mit einem Taxi nach Tiefenbach fahren. Der Taxifahrer hatte einen ausgesprochen günstigen Preis gemacht, weil er dadurch Informationen aus erster Hand von dem Wunderkind erhielt. Er hatte dann am Stammtisch viel zu erzählen, und das war ihm einiges wert. Gitti stand in der Tür und fiel Georg um den Hals. Als dieser ihr anschließend von Anfang an alles 242
erzählte, wusste sie nichts mehr zu sagen. Nach den Vorführungen mit den Strahlern, fing sie plötzlich zu zittern und zu weinen an. Georg war völlig verwirrt: „Was ist los? Was hast du?“ „Wenn das alles öffentlich bekannt wird, werden wir von Jedem und Allen gejagt werden, bist du dir darüber im Klaren. Die Kindheit ist für unsere Kinder in diesem Augenblick vorbei, weißt du auch das?“, fragte sie, immer noch weinend. „Genau das hat Peter auch zu bedenken gegeben. Aber sag mal ganz ehrlich, kommen wir überhaupt an dieser Entdeckung noch vorbei?“, hielt er ihr rhetorisch entgegen. „Die einzige Möglichkeit, allem aus dem Weg zu gehen, wäre eventuell gewesen, wenn Peter nach seiner Entdeckung, alles für sich behalten hätte und nie mehr hingegangen wäre. Aber ist das realistisch. Hätte einer von uns so gehandelt? Glaubst du das wirklich?“ „Nein, das glaube ich nicht. Keiner würde so handeln. Zudem hätte er ohnehin erklären müssen, wie er den verheerenden Bergrutsch überlebt hat. Spätestens dann wäre alles herausgekommen“, gestand sie, mit dem Kopf nickend ein, „aber trotz243
dem. Wer weiß, was nun noch alles kommt. Wir müssen ganz besonders auf unsere Kinder achten, wenn es nicht mehr geheim zu halten ist. Und dass es kurz vor dem Bekannt werden steht, kann man getrost daraus schließen, dass eine Messkapsel klammheimlich eingefangen wurde. Wenn dieselbe Gruppe euer Geheimnis entdeckt, na dann viel Spaß.“ Es war Sarkasmus pur und sie wusste es, aber genau so, dachte sie in diesem Augenblick auch. „Nicht zu ändern“, bemerkte Georg lax, zu ihr gewandt, „wir müssen mit geschlossenen Augen durch, trotzdem aufpassen und das Beste daraus machen. Leg dich noch ein paar Stunden ins Bett. Ich bring die Kinder zur Schule und hol sie um 10.40 Uhr nach der Zeugnisverteilung wieder ab. Danach fahren wir mit deinem Wagen schleunigst los. Dann sind wir, die heutige Hauptreisezeit bedacht, so gegen 19.00 Uhr im Hotel. Einverstanden?“ Sie nickte nur, trocknete ihre Tränen ab und ging zu Bett. Es war bereits 4.30 Uhr. Pünktlich um 8.00 Uhr stand Inspektor Herbert Malchin vor dem Golfhotel und wartet geduldig und gespannt auf seinen Vorgesetzten. Einige Minuten waren gera244
de erst vergangen, als dieser die Einfahrt herauf gefahren kam. Noch bevor die Beiden das Haus betreten hatten, kannte auch Herbert die neuesten Fakten. Sie traten an die Rezeption und fragten Marie, ob die Landers schon beim Frühstücksbüffet wären. Marie nickte nur verwundert. Der Kommissar grinste Herbert grimmig zu und schwang die Tür zum Restaurant schwungvoll auf. Peter und Ellen saßen allein beim Frühstück. Die Kinder schliefen noch tief und fest. Sie waren während der letzten Tage nicht mehr vor Mitternacht ins Bett gekommen, dementsprechend lange blieben sie morgens im Bett. Sie spürten vermutlich längst das veränderte Verhalten der Eltern und nutzten es inzwischen wie selbstverständlich weidlich aus. „Herr Lander? Herr Peter Lander?“ fragte Kommissar Moser steif, als würde er Peter noch nie gesehen haben, und nickte dabei einen stummen Gruß in Richtung Ellen. So formell, das konnte nichts Gutes bedeuten, ahnte Peter bereits. Und richtig: „Herr Lander, ich muss Sie bitten, mit uns aufs Amt zu kommen“, ergriff dieses Mal Inspektor Malchin das Wort, „Ich weise Sie auch darauf hin, 245
dass alles, was Sie ab jetzt sagen, gegen Sie verwandt werden kann. Es steht Ihnen ferner frei, sich nicht zu äußern und sich einen Anwalt zu nehmen“ Peter registrierte, dass er verhaftet werden sollte. Das konnte ausgesprochen problematisch werden. Nicht, weil er irgendwelche Schuldgefühle hegte, sondern weil er, würden sie ihn in eine Gefängniszelle stecken wollen, dann seinen Gürtel abgeben musste. Und genau das wollte und konnte er nicht. Zum einen würde die unbekannte Technik sofort auffallen, zum anderen wäre die Kombi dann kein Schutzpanzer mehr und eine Kommunikation mit der Station sowie Ellen und Georg wäre unmöglich. Aber mitgehen musste er, wollte er nicht augenblicklich ein großer Fall für die Öffentlichkeit werden. Also stand er auf, nickte den Polizisten kurz zu und beugte sich zu Ellen hinab. „Schalte den Sender ab jetzt immer auf Empfang. Ich setze mich mit dir via PUL in Verbindung“, flüsterte er ihr ins Ohr, gab ihr noch einen zärtlichen Kuss und ging mit den beiden Polizeibeamten wortlos mit.
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Im Fahrzeug des Kommissars schaltete er per Gedankenbefehl den Sender und Empfänger ein und dachte Richtung Ellen: ‘Hallo Schatz! Kannst Du mich verstehen?’ ‘Klar und deutlich. Und du mich auch?’, kam es prompt von Ellen zurückgedacht. Weder der Kommissar noch der Inspektor hatten etwas bemerkt. Wie auch, lachte Peter in sich hinein, Gedanken lesen konnten sie ja, Gott sei Dank, noch nicht. ‘Ich melde mich bei dir, wenn’s etwas Interessantes gibt. Sag den Kindern noch nichts, geh ruhig in die Station und versuch mal herauszubekommen, wie dein kleiner, neuer Kasten funktioniert. Schön wäre auch, wenn du durch die Bau-und Lagepläne durchsteigen würdest. Dazu sind wir ja leider heute Nacht nicht mehr gekommen. See you later’, wandte er sich beruhigend nochmals an Ellen. ‘Alles in Ordnung, und mach dir nicht zu viel Sorgen, mein Schatz’, antwortete sie. Jetzt war Ellen beruhigt. Erfreut hatte sie auch registriert, dass die direkte geistige Kommunikation zwischen Menschen genau den gewohnten Gedan247
kenbildern entsprach, die nicht so abgehackt wirkten, wie die Bilder des Zentralrechners. Sie ging zu den Kindern hinauf und leistete ihnen noch Gesellschaft, bis diese sich wieder, glücklich, ausgelassen und etwas zankend selbständig gemacht hatten. Anschließend nahm sie den Passat, stellte ihn auf dem gewohnten Parkplatz ab und ging zur Station. In der Station angekommen, ließ sie sich wieder zu dem Raum bringen, in welchem sie tags zuvor die Pläne auf einem großen Tischbildschirm gesehen, aber noch nicht nachhaltig verstanden hatte. Heute würde sie versuchen, dieses Problem zu lösen und ihre Black Box zu enträtseln. Sie machte sich sofort mit Eifer an die Arbeit. Im Auto schwiegen alle. Jeder hing seinen Gedanken nach. Herbert Malchin dachte an das Fußballspiel vom Vorabend und ärgerte sich immer noch, dass sein Heimatverein klar verloren hatte. Der Kommissar Fritz Moser freute sich, nun wohl doch noch einen Schuldigen der Öffentlichkeit präsentieren zu können und malte sich das Verhör und das folgende Geständnis Peters im Geiste bereits aus.
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Peter war nur mittelmäßig gespannt. Ihn beschäftigte mehr die Frage, warum keine Helas mehr in der Station waren. Warum alle zu ihrem Heimatplaneten zurückgekehrt waren und nicht mehr hierher zurückkamen, und was von alledem war auch für PUL nicht mehr normal? Da passte etwas nicht. ‘Frage an PUL: Warum sind alle Helas per Transmission nach Hause geflogen und nicht mit dem Raumschiff und war das Usus?’, wollte er deshalb wissen. „Maximale Geschwindigkeit - Expeditionsraumschiffe = etwas über 1000 Lichtjahre pro Jahr. Transmission = 1,2 Sekunden pro Lichtjahr. Raumschiff = fast 18 Jahre - Strecke - Planeten Heimatplaneten der Helas. Transmission = circa fünf Stunden. Wichtige Planeten = dauerhafte Raumschiffe. Dieser Planet = absolut unwichtig = Seitenarm des Universums = keine interessanten Rohstoffe. Normal: Alle Besatzungsmitgliedernach Prospektion = per Transmission – Heimatplaneten der Helas. Ergebnis: ordnungsgemäß eingetroffen = Empfang ordnungsgemäß
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quittiert. Nach dem Empfang - Empfänger in ungewöhnlich kurzer Zeit deaktiviert + bis jetzt nicht wieder aktiviert. Unnormal.“ Diese Ausführungen PULs waren zwar ausgesprochen aufschlussreich, verringerte aber das mulmige Gefühl Peters nicht. Was war nach der Ankunft der Besatzung auf ihrem Heimatplaneten passiert. Es musste etwas so Gravierendes gewesen sein, dass danach niemand mehr im Reiche der Helas etwas von dem Verbleib des Expeditionsraumschiffes und damit von diesem Planeten wusste. Andernfalls wären sie mit Sicherheit längst wieder hier aufgekreuzt und hätten ihr Schiff aktiviert. Eine solche geballte Menge Technik würde auch ein so weit entwickeltes Volk, wie es die Helas offenkundig waren, nicht einfach abschreiben, selbst, wenn sie sehr weit vom Heimatplaneten entfernt ist und die Erde absolut uninteressant war, folgerte Peter für sich. Außerdem: Man lässt doch eine derartig große Station mit so vielen Raumschiffen nicht ohne eine Notbesatzung zurück? Wenn doch - dann war auch die 1000 Jahre - Sicherheitsklausel nachzuvollziehen. „Ob es die Helas überhaupt noch gibt?“, überlegte Peter vor sich hinmurmelnd, „oder ob sie, nachdem die Besatzung verschwunden war, nur nicht 250
mehr wussten, wo sich ihr Raumschiff befindet? Das ist allerdings extrem unwahrscheinlich, aber möglich kann alles sein. Aber das ist in diesem Augenblick auch unwichtig.“ ‘Frage: Gibt es denn keine, sagen wir mal, Funkverbindungen mit anderen Planeten oder Raumschiffen?’ „Vor Transmission = Datenaustausch per Funk planmäßig. Nach Transmission - kein erneuter Funkkontakt.“ „Das ist stark“, murmelte Peter, „da muss wirklich etwas Außergewöhnliches geschehen sein.“ Das Gemurmel Peters hatten die Polizisten sehr wohl bemerkt und sich verstohlen viel sagende Blicke zugeworfen. Diese Blicke besagten in etwa: Siehst du, er hat ein schlechtes Gewissen. Auf dem Amt angekommen, wurde er vor einen alten, wurmstichigen Schreibtisch dirigiert und aufgefordert sich zu setzen. Nachdem er sich hingesetzt hatte, begann das Verhör. Es wurden immerzu die gleichen Fragen gestellt. Ob er nicht doch bis zum Ende dabei gewesen war, wo er genau die Gruppe verlassen hatte, welchen Weg er nach der Trennung genommen hatte, und so wei251
ter. Als sie merkten, dass er sich nicht in Widersprüche verfing, versuchten sie, ihm mit einem möglichen Strafverfahren zu drohen. Aber Peter blieb bei seiner Geschichte. Nun spielten sie ihren vorletzten Trumpf aus: „Herr Lander. Der Sepp hat bezeugt, dass er Sie unmittelbar, als er den Bergrutsch bemerkte, noch am Ende bei der Gruppe sah. Wie wollen Sie das erklären?“ Diese Frage kam wie aus der Pistole geschossen. Peter wusste schon gar nicht mehr, wer von den Beiden sie gestellt hatte. „Gar nicht. Er muss sich geirrt haben oder verwirrt sein“, war trotzdem seine lakonische Antwort. Nun kam der letzte Trumpf. „Wie erklären Sie sich dann die Tatsache, dass ein Tourist Sie mit einem Fernglas beim Aufstieg beobachtet hat?“, setzte der Kommissar sofort nach. „Weiß ich nicht. Vielleicht hat er eine andere Gruppe gesehen“, mutmaßte Peter. „Außerdem reicht´s jetzt. Ich will gehen. Sie haben nichts gegen mich in der Hand. Eine Vernehmung im gesetzlichen Rahmen ist in Ordnung. Sie müssen ja 252
ermitteln. Ab jetzt wird es jedoch Freiheitsberaubung im Amt. Oder haben Sie noch irgendetwas Besonderes auf Lager?“, griff nun Peter seinerseits die Beamten an. Sie waren merklich verärgert und unsicher. Sie schienen genau zu wissen, dass Peter log. Sepp Hintermayer hatte bei weiteren Befragungen unter vier Augen eindeutig zugegeben, dass er Peter Lander unmittelbar vor dem Steinschlag noch gesehen hatte. Aber es so offiziell an die große Glocke hängen, wollte dieser seine Aussage nicht. Also würde diese Aussage bei einer Anklage nicht viel nützen. Der Zeuge mit dem Fernglas würde wegen der großen Entfernung als unzuverlässig eingestuft werden, so dass die Angaben von Peter nicht zu widerlegen waren. „Sie können gehen, Herr Lander!“, brüllte ihn der Kommissar barsch an. „Und wie soll ich wieder zum Hotel zurückkommen, verehrter Herr Kommissar?“, wollte Peter, nun fast flüsternd, scheinheilig wissen. „Das ist Ihre Sache“, kam kurz angebunden als Antwort zurück. 253
„Nein ist es nicht, verehrter Herr Kommissar. Entweder Sie lassen mich augenblicklich wieder zurückbringen, oder ich fahre mit einem Taxi und stelle dann Ihrer Dienststelle die Kosten in Rechnung, Herr Kommissar“, konterte Peter sofort energisch. „Sakra!“, explodierte dieser, hielt sich dann aber nur mit Mühe zurück und gab wütend die Anweisung: „Herbert, fahr ihn ins Hotel.“ Alles noch mal gut gegangen. Als sie auf dem Rückweg waren, gab er Ellen über den Ausgang des Verhörs kurz Bescheid. Da es bereits Mittag war, beschloss er im Hotel noch etwas zu essen. Während der Mahlzeit wurde eine kurze Reportage über die Probebohrungen auf dem Gletscher im Fernsehen gesendet. Sie kamen dort nur sehr langsam voran. Ergebnisse hatten sie noch nicht erzielen können. Es war bereits kurz nach 13.00 Uhr. Peter wollte schon aufstehen und das Restaurant verlassen, als ihn eine Meldung, welche in diesem Moment im Fernseher lief, aufhorchen ließ und die ihm den Atem verschlug. Zu sehen war ein völlig zertrümmerter LKW nebst Auflieger und ein total zerquetschter, verbogener Mercedes. Als dann auf einem Bild, originalgetreu 254
und eindeutig lebend, Georg gezeigt wurde, wusste er, dass das nächste Problem geballt auf sie zukommen würde. Das Bild zeigte seinen Freund mit einer gänzlich zerfetzten, kaum noch vorhandenen Kleidung über einer perfekt sitzenden, sauberen, grauen und unversehrten Kombi. Wer sich dieses Bild genau betrachtete, musste sich fragen, ob es sich um eine gestellte Aufnahme handelt, um eine Photomontage oder ob der gute Georg einen Superstoff entwickelt hat, der selbst bei solchen Unfällen nicht zerstört werden konnte. Letzterer Schluss musste näher liegen, weil wiederholt darauf hingewiesen wurde, dass man normalerweise aus einem dermaßen zerquetschten Häufchen Schrott nicht lebendig, und wie hier sogar, völlig unverletzt, herauskommen konnte. Emilio Gonzo saß zur gleichen Zeit in seinem geräumigen, eleganten Büro in der Münchner Innenstadt. Grübelnd blickte er vom Fenster aus, auf die Menschen, welche über den Marienplatz hasteten. Er war vorbildlich mit einem dunkelgrauen Anzug bekleidet, roch dezent nach einem herben Männerparfum, und trug sein schwarzes, teilweise leicht ergrautes, gewelltes Haar sorgfältig nach hinten gebürstet. Mit seinen 55 Jahren wirkte er noch immer sehr sportlich. Dass es so blieb, dafür 255
sorgte sein tägliches Fitnessprogramm. Nur wenn man in seine dunklen Augen sah, die so stechend aus seinem braungebrannten, südländisch geschnittenem Gesicht blickten, merkte man, dass mit ihm nicht zu spaßen sein würde. „Mama mia, wie kommt das. Das gibt’s doch nicht“, murmelte er vor sich hin, „sollte das wieder so eine dämliche Zeitungsente sein. Wenn aber nicht? Da könnte es unter Umständen was zu holen geben.“ Der vor ihm liegende Zeitungsartikel gab ihm zu denken. Er war inzwischen ausgesprochen wohlhabend. Dass er es geschafft hatte, sich aus seiner armen Kindheit in Palermo so erfolgreich hochzuarbeiten, hatte mehrere Gründe. Der erste und wesentlichste Grund war seine Härte, die auf der körperlichen Ebene als nahezu brutal eingestuft werden konnte. Der zweite Grund war in seiner Verbindung zu seinem Patrone in Palermo zu sehen. Für diesen hatte er in seinen jüngeren Jahren gerade diese Härte so vortrefflich einsetzen können und sich auf diese Weise zur rechten Hand des Patrons in München hinaufarbeiten können. Dies allein hätte allerdings noch nicht den Erfolg so leicht 256
bringen können. Er hatte, neben seinen zuvor erwähnten Vorteilen, ein Gespür dafür, wenn irgendwo Geld zu verdienen war. Und gerade hier, roch er wieder, wie schon so oft, ein solches Geschäft. Wenn es das wirklich war, was er sich dachte: ein Prototyp eines neuen, extrem strapazierbaren Stoffes, dann musste er ihn haben. Mechanisch griff er nach dem Telefonhörer und drückte eine Taste: „Jacomo und Tino sofort zu mir“, wies er den Teilnehmer auf der anderen Seite herrisch an. Keine zwei Minuten später standen Jacomo und Tino vor ihm. Es waren zwei drahtige, schlanke Männer, ebenfalls mit einem südländischen Einschlag. Ihre hellen Anzüge waren unter der linken Achselhöhle minimal ausgebeult, was auf das Tragen von Schusswaffen in Schulterhalftern schließen ließ. Emilio erklärte ihnen kurz, um was es sich handelte und schickte sie los, Hintergrundinformationen zu besorgen. „Wenn es keine Ente war, dann bekomm ich die Formel für das Material, und wenn ich einen Großkonzern niedermachen muss“, motivierte er sich selbst fanatisch. Seine Augen funkelten vor Unternehmungslust und Gier. 257
München, Pullach, 13.12 Uhr, Zimmer 316, Abteilung technische Ermittlungen, Außenstelle des BND. Paul Wenig studierte zuerst die Zeitung, dann ließ er nochmals die aufgezeichneten Nachrichten auf dem Monitor abspielen. ‘Das Fahrzeug ist doch so zerquetscht, dass man gar nicht unverletzt bleiben kan?’, grübelte er vor sich hin. Auch er hob den Telefonhörer ab und wählte eine interne Rufnummer: „Max, sei mir gegrüßt. Ich bin’s, Paul. Ich komme gleich mal zu dir runter. Mach den Schneidetisch für Videos und die Vergrößerungsanlage fertig. Wir müssen uns da mal etwas genauer anschauen“, nuschelte er in den Hörer. Eine Antwort wartete er gar nicht mehr ab. Max wunderte das schon lange nicht mehr. Er kannte seinen Kollegen Paul nur zu gut. Paul war einer der Übrig gebliebenen aus der Zeit des „kalten Kriegs“ zwischen Ost und West. Damals war er ein erfolgreicher Außendienstagent gewesen und hatte sich wie James Bond gefühlt und benommen. Danach blieb nur noch ein langweiliger Schreibtischposten für ihn übrig. Seit dieser Zeit war er 258
frustriert und lustlos. Er wartete sehnsüchtig auf seine Pensionierung in annähernd 6 Jahren. Im Schneideraum angekommen, knallte Paul vor Max Rollof das kleine Bündel Zeitungsartikel und die Nachrichten-CDs auf den Tisch. „Spann das Zeug mal ein! Ich will mir die Bilder, wo dieser Mensch, der den Unfall gestern auf der B 299 so sensationell überlebt hat, genauer ansehen“, müffelte er Max an. Dieser zuckte nur kurz mit den Schultern, nahm die Zeitungsausschnitte und die CD, präparierte sie so wie er sie benötigte, und legte das erste Video ein. Es zeigte zuerst die Nachrichtensprecherin, dann ein Bild von den zerstörten Fahrzeugen und danach Georg, wie er so lachend in seiner Kleidung dastand. Als das Bild mit dem verbogenen Mercedes kam, ließ Paul es anhalten und mittels eines Bildwerfers, auf 2 mal 3 Meter vergrößert, an die Wand werfen. „Geh mal näher an den Innenraum heran“, wies er Max an. Als wäre das Fahrzeug um einen festen Gegenstand herumgewickelt worden, schoss es Paul durch den Kopf. Nach fünf Minuten ließ er das Bild von Georg auflegen. Die Gedanken summten förmlich 259
in seinem Kopf. Hier war einiges nicht so, wie es normal wäre. Das spürte er. Aber was? „Fahr mal so nahe heran, dass nur der Kopf zu sehen ist“, verlangte er überraschend von Max. ‘Das Bild muss eine Fälschung sein,’ sinnierte er, ‘so unberührt konnte man bei diesem Sauwetter und nach so einem Unfall nicht sein. Und gestern hat es doch um diese Zeit gestürmt und gegossen, was das Zeug hielt. ‘ Und richtig! Die Haare und das Gesicht Georgs wirkten so, als hätten sie die Witterung nicht beeinflussen können. „Geh mit dieser Größeneinstellung mal langsam höher“, forderte er Max auf. „Jetzt wird der Hund in der Pfanne verrückt“, entschlüpfte es ihm laut. Er war aufgeregt. Max war sichtlich verwundert, denn er hatte das bei Paul in den 32 Dienstjahren noch nie erlebt. Dass Paul plötzlich, nur wegen solcher Photos, Nerven zeigte, war ungewöhnlich. „Schau doch mal, du Hornochse!“, erklärte Paul und tippte dabei Max an den Arm, „es muss eine Fälschung sein, oder weiß der Teufel was. Der Kopf wirkt eindeutig trocken und unversehrt. Die 260
einteilige Kombination, die den Großteil seiner Kleidung ausmacht, und auch dieser eigenartigen Gürtel mit den Stiften daran, sind ebenfalls bei trockenem, schönem Wetter aufgenommen worden. Die zerfetzten Klamotten aber sind quatschnass, völlig desolat und sehen aus, als hätte sie jemand mit Gewalt auseinander gerissen. Der gesamte Hintergrund des Photos zeigt ausgemachtes Sauwetter. So was gibt’s nicht. So was kann’s gar nicht geben. Verstehst du jetzt, was ich meine?“, fragte er überflüssigerweise noch. Max schien verstanden zu haben und schüttelte nur den Kopf. „Ich glaube du hast Recht. Nur, es macht keinen Sinn. Warum eine so ungeheuer aufwendige Photomontage angefertigt wurde, für solch eine unwichtige Sache. Das passt wirklich nicht zusammen. Ich glaube, jetzt hast du endlich mal wieder einen Grund, deinen Schreibtisch zu verlassen und nachzuforschen, wer, und vor allen Dingen warum und wozu, solch ein Bild hergestellt hat. Was meinst du?“, munterte Max mit diesen Worten, den, in den letzten Jahren schon ziemlich lethargisch gewordenen Paul, auf.
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Dieser nickte nur, nahm die Unterlagen vom Tisch, aus der Schneidemaschine und dem Vergrößerungsapparat und verließ grußlos die Abteilung von Max. Er hatte Blut geleckt. Diesen Fall wollte er aufklären. Entweder war es etwas Wichtiges, oder ein Photograph würde vor den Kadi kommen. In seinem Büro angekommen, wählte er umgehend die Telefonnummer der Deutschen Presse Agentur DPA und verlangte seinen Bekannten im Archiv zu sprechen. Als er ihn endlich an der anderen Seite der Verbindung schnaufend abnehmen hörte, überfiel er ihn sofort mit der Frage, wer das ominöse Photo der DPA angeboten hatte. Da sich die Beiden gut kannten und Paul sein Gegenüber zwischendurch immer wieder gut mit Informationen schmierte, erhielt er umgehend die Auskunft. Paul legte grußlos auf und brummte zufrieden vor sich hin: „So, so. Ein Provinzphotograph aus Altötting. Vielleicht wollte er nur mal groß herauskommen. Andererseits ist das eigentlich eine Nummer zu dick, für so einen Provinzler. Na ja. Den schau´n wir uns gleich mal an. Freitag, dreiviertel zwei. Da benötige ich mindestens zwei Stunden. Also los.“ 262
Er ging schlürfendes Schrittes zu seinem alten, grünen BMW 323 i, stieg ein und brauste vergnügt los. Endlich mal wieder Außendienst. Im Schneideraum fasste Max unter den Schneidetisch und holte ein Photo hervor. Es war eine Kopie, eines der Bilder, welche Paul mitgebracht hatte und das Georg so vergnügt lachend zeigte. Er hatte Kopien, von den verschiedensten Vorgängen, im Laufe der vergangenen 22 Jahre wiederholt verbotenerweise, still und heimlich, angefertigt. Er hasste sich dafür, aber er konnte nicht anders. Vor 23 Jahren, gerade erst 33 Jahre alt, glücklich verheiratet, zwei kleine Kinder und in einem hübschen, kleinen Reihenhaus in Ismaning wohnend, lernte er bei einem Spezialtechnikerlehrgang des BND in Köln, eine hübsche, dunkelhaarige Frau kennen. Sie machte ihn ganz vorsichtig an und er fing sofort Feuer. Sie war haargenau sein heimlicher Typ, so ganz anders wie Luise, seine Frau. Außerdem konnte von der Affäre sowieso nichts herauskommen, da sie ja ebenfalls beim BND ist, dachte er damals. Wie er erst viel später erfuhr, war sie jedoch vom russischen Geheimdienst auf ihn angesetzt und ihre Liebesspiele waren allesamt gefilmt worden. Und was die Sache noch schlimmer machte, er schrieb ihr, von ihr spielerisch da263
zu aufgefordert, noch aus München heimlich Briefe, welche sie sogleich auf die schönste Art beantwortete. Eines Tages kam statt einer Antwort, ein unscheinbar aussehender Mann zu ihm und forderte ihn auf, künftig den russischen Geheimdienst mit Informationen aus dem BND und von seiner Tätigkeit zu versorgen. Wenn er darauf nicht eingehen würde, könnten sie nicht für die Sicherheit seiner Familie garantieren und sie würden ihn vernichten. Also ging er darauf ein. Nach der Perestroika und dem Zusammenbruch des Ostblocks befürchtete er, jede Sekunde entlarvt zu werden. Aber nichts geschah. Von 1990 bis 1997 hörte er nichts mehr von seinem Führungsoffizier, einem Mann namens Wassili. Er machte sich schon Hoffnungen, alles überstanden zu haben und seine Rente lebend und unentdeckt zu erleben. Dann kam der Schock. Eines Morgens im Dezember 1997 klingelte das Telefon. Er hob selbst den Hörer ab und hörte nur einen Satz: „Ab sofort wollen wir wieder Informationen haben, welche, wie und wohin teilen wir dir noch mit. Wassili.“ Es dauerte nur ein paar Tage, und er wusste, welche Geheimnisse er künftig verraten sollte. Wem er diese allerdings verriet, wusste er nicht. Auch 264
war Wassili nicht mehr an Informationen über den Aufbau oder Geheimnisse des BND interessiert, sondern nur noch an politischen und industriellen Neuigkeiten. Da er Spezialist für Detailfindung auf Photos und Filmen war, hatte er deshalb im Laufe der vergangenen 23 Jahre wiederholt Kopien von vermutlich wichtigen Vorgängen oder Dingen gemacht und sie weitergegeben. So würde es auch dieses Mal sein. Er steckte die Kopie in seine Brusttasche, räumte alles weg und verließ, diverse Sicherheitskontrollen durchlaufend, das Gelände. Der alten Routine gehorchend, fuhr er zu einer bestimmten Telefonzelle, wählte eine Nummer, wartete ab, bis abgehoben und das Erkennungswort genannt wurde, gab sein Codewort an und hörte zu, was ihm gesagt wurde. Danach legte er den Hörer wieder auf, fuhr zu einem leeren Parkplatz am Olympiastation und wartete. Nach kurzer Zeit kam ein dunkelgrauer Ford und parkte sehr dicht links neben seinem Wagen. Die rechte Seitenscheibe des Fords wurde von einem Insassen heruntergekurbelt. Max tat das Gleiche bei seinem Fahrzeug auf der Fahrerseite. „Was hast du?“, fragte ihn der Fordinsasse barsch. 265
„Ein Bild von einem Mann, der unbegreiflicher Weise einen nicht zu überlebenden Unfall gesund überlebt hat. Ein Kollege stellte fest, dass damit etwas nicht stimmen kann“, fing Max zitternd zu erzählen an. Er hatte, wie bei jedem Kontakt, Angst, dass er enttarnt werden könnte und wollte jedes Mal aufs Neue endgültig die Zusammenarbeit beenden. Aber dieses Mal, schwor er sich, würde er es endlich wagen. So informierte er die Zuhörer in dem Wagen neben sich, über alles, was er von Paul erfahren hatte und gab ihnen das Bild. Diesmal packe ich es, motivierte er sich heftig und fing ängstlich an: „Das war heute das letzte Mal, dass ich Euch Informationen geben kann. Ich will und ich kann nicht mehr. Außerdem, ich weiß noch nicht einmal, wer ihr seid und wem ich alle diese Informationen gebe!“ Er sah in den dunklen Innenraum des Fords und wurde mutiger, als er merkte, dass dort niemand negativ auf seine Worte reagierte. „Also, ist das klar. Ich will nicht mehr!“, schrie er, mutiger geworden. 266
„Du willst die Zusammenarbeit beenden?“, stellte der Fordinsasse mit rauchiger Stimme, eine mehr rhetorische Frage, „wir sind einverstanden damit. Du hast uns bereits genug geholfen.“ Max glaubte zu träumen. Er hätte jubeln können. Endlich frei. Eine Zentnerlast fiel von seinen Schultern. Erleichtert, ja sogar fröhlich sprudelte es aus ihm heraus: „Ach, das ist gut. Ich verrat auch bestimmt nichts. Von mir erfährt keiner auch nu......“ Mehr konnte Max nicht mehr sagen. Sein angefangener Satz erstarb bei einem dumpfen, leisen Knall. Der Fordinsasse hatte unbemerkt eine Pistole aus seinem Gürtel gezogen und unvermittelt Max durch einen Schuss in den Kopf getötet. „Stimmt, du sagst nichts mehr“, kam es noch hämisch aus dem Ford gezischt. Das Fenster wurde geschlossen, als der Wagen schon fast den Parkplatz verlassen hatte. Jacomo und Tino fuhren direkt zum Verlagsgebäude des Münchner Merkurs. Die mussten wissen, wer das Bild gemacht hat, sagten sie sich. Ohne zu zögern begaben sie sich in die Redaktion und sprachen mit dem Assistenten des verantwort267
lichen Redakteurs. Dieser wollte anfangs diese beiden Galgenvögeln, wie er sie innerlich bezeichnete, nicht einmal empfangen. Als sie ihn jedoch mit einer unmissverständlichen Geste überzeugten, dass eine Kooperation besser für sein Wohlergehen sei, wurde er schnell zugänglicher. Ein paar Hunderter brachen dann endgültig den Damm. Er besorgte in Windeseile den Namen und die Anschrift des Photographen. Sie bedankten sich zynisch und fuhren weiter, direkt nach Altötting. Der Freitagsfeierabendverkehr hatte bereits eingesetzt und verschluckte auch sie. Der Ford hielt an der Tankstelle Vaterstetten. Ein mittelgroßer Mann stieg aus dem hinteren Teil des Wagens, den dunklen Hut tief ins Gesicht gezogen und betrat eine Telefonzelle. Bei wichtigen Telefonaten benutzte er immer eine neutrale Telefonzelle, Handys waren dann aus Sicherheitsgründen tabu. Nach zehn Minuten kam er wieder heraus, stieg leise brummend in den Wagen und gab Anweisung, sogleich Richtung Altötting zu fahren. ‘Die haben gute Arbeit in Berlin geleistet’, dachte er grinsend, ‘und sehr schnell die nötigen Informationen über den Bildermacher besorgt.
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Georg saß trotz des schweren Unfalls vom Vortag wieder am Steuer, als es für ihn und die ganze Familie Richtung Golfhotel in der Tauernregion losging. Es war kurz nach 13.00 Uhr und der Himmel leicht bewölkt. Die Kinder saßen zwar beengt auf den hinteren Sitzen des Wagens, waren aber bei der Aussicht auf die Ferien im Golfhotel ausgesprochen aufgeregt. Sie alberten und quietschten vor Vergnügen. Von Georgs schwerem Unfall wussten sie nur soviel, dass er angeblich nur einen unwichtigen Crash gehabt hatte, der schöne Mercedes zwar kaputt, aber ihm weiter nichts passiert war. Sie sprachen nicht mehr darüber. Der Freitagsfeierabend-und Ferienreiseverkehr aus München war um diese Uhrzeit sogar schon auf der B 12 bei Passau deutlich zu bemerken. Georg wollte unbedingt die gleiche Strecke zurück fahren, die er am Vorabend in umgekehrter Richtung gekommen war. Dass sie dabei an der Unfallstelle vorbeikommen mussten, beunruhigte ihn nicht im Geringsten. Im Gegenteil. Er war gespannt, wie dieser Ort bei Tageslicht aussah. Gegen 14.25 Uhr durchfuhren sie Altötting und bogen kurze Zeit danach links in die B 299 Richtung Traunstein ein. Fünf Minuten später sahen sie schon von weitem gelbe Blinkzeichen und rotweiße Warnbaken auf der Straße. Sie näherten sich 269
augenscheinlich dem Unfallort, der noch immer gesichert wurde. Vermutlich waren die Aufräumarbeiten noch nicht beendet, überlegte Gitti. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sehr langsam an der lang gezogenen Unfallstrecke entlang zu rollen. Die Insassen waren entsetzt, als sie die Zerstörungen sahen. Die Leitplanken waren auf beiden Seiten der Straße entlang gänzlich verbogen und verbeult. Teilweise waren sie bis zur Unkenntlichkeit platt gedrückt. An der Stelle, wo die Sattelzugmaschine sie durchbrochen hatte, fehlte sie in einer Länge von fast zwanzig Meter total. Der Baum, an dem die Sattelzugmaschine zum Halten gekommen war, war in der Mitte durchgeknickt. Fahrzeugreste lagen noch zertrümmert vor dem Baumstumpf. Die Wrackteile auf der Fahrbahn waren inzwischen bereits beseitigt worden. Die verschiedensten Einzelteile auf dem Feld wurden soeben eingesammelt. Man konnte die Schwere des Unfalls noch sehr deutlich nachvollziehen. Georg und Gitti sahen sich an und nickten sich zu. „Es ist eigentlich wahnsinnig“, resümierte Georg, „ich fahr doch wirklich vorsichtig und sicher. Aber im ungünstigen Fall nutzt einem das gar nichts. Wenn da so ein Brummer auf dich zukommt und zermalmt, dann bist du tot, aber 270
schuldlos. Meistens sind bei solchen Unfällen die Fahrer hoffnungslos übermüdet oder die Eigentümer mussten wegen der ruinösen Frachtpreise an der Sicherheit ihrer Fahrzeuge sparen. Leidtragende sind dann Menschen, welche wirklich nichts damit zu tun haben.“ Gitti musste unweigerlich grinsen. Das war ein Lieblingsthema Georgs. Wenn er jetzt loslegte, konnte das einen Monolog von mehreren Stunden zur Folge haben. Dieses Thema kam bei Georg noch vor der Politik. Da sie das aber nicht wollte, brachte sie ihn schnell auf andere Gedanken, welche er aber wegen der Kinder nicht laut aussprechen konnte. „Hast du mal das überdacht, was ich gestern Nacht über die Zukunft der Kinder gesagt habe?“, erkundigte sie sich flüsternd bei ihm. Der Erfolg war umwerfend. Er wurde sofort still und nachdenklich, brummte ein paar Mal vor sich hin und schwieg grübelnd bis zum Ziel. Gegen 17.50 Uhr kamen sie im Hotel an und bezogen umgehend ihre Zimmer. Von der Familie Lander war noch nichts zu erspähen. Spätestens zum Abendbrot würden sie sich treffen, vermutete Georg. 271
Peter sah auf die Uhr, welche über dem Empfangstresen hing. Es war kurz nach 14.00 Uhr. Er wollte so gerne noch zur Station, aber wie ohne Auto hinkommen. Er hätte Ellen ansprechen können, zurückzukommen und ihn abzuholen, aber das wollte er nicht, da er sie nicht in ihren Erkundungen stören wollte. Beim Essen hatte er einmal kurz mit ihr Verbindung aufgenommen und erfahren, dass sie das Rätsel des kleinen Kästchens entschlüsselt hatte und nun im Raumschiff nach Plan herumlief. Sie war Feuer und Flamme. Sie war begeistert, gab aber gleichzeitig auch zu, dass sie nur allzu viele Dinge nicht verstehe und eine kräftige Spur Angst verspürte. Nein, beschloss er, es war besser sie in Ruhe arbeiten lassen. Alexander war auf einer Golfrunde, Sabine auf einer Shoppingtour in der nächsten Stadt und dadurch ebenfalls nicht zu erreichen. Er ging zur Driving Range und schlug ein paar Bälle. Aber so richtig Freude wollte es ihm heute nicht machen. Deshalb ließ er es auch bald bleiben und ging spazieren um nachzudenken und einige Fragen an PUL zu stellen. Das Photo von Georg ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er überlegte, welche Gefahren drohen konnten und wie ihnen künftig zu begegnen sein würden. Gegen 18.50 Uhr kam er wieder zurück ins Hotel. Er hatte alles gründlich durchdacht und 272
war für sich zu Entscheidungen gelangt. Diese müsste er nun noch mit Ellen, Georg und Gitti besprechen und abstimmen. Er freute sich schon, sie wieder zu sehen. Als er in die Lobby kam, sah er, dass Alexander, Sabine, Verena, Simon und Marian bereits gemeinsam in einer Ecke saßen und durcheinander mit hochroten Köpfen aufeinander einredeten. Gitti entdeckte ihn sofort und winkte sogleich. Schnell lief sie zu ihm und sie begrüßten sich überschwänglich. Georg winkte nur kurz und zwinkerte. „Schon alles erzählt?“, wollte Peter von Georg wissen und wies dabei mit den Augen Richtung Gitti. „Klar. Die Sache mit dem Unfall kennst du schon?“, wollte dieser seinerseits nun wissen. „Mhm“, bestätigte Peter nickend, „Problematische Geschichte mit dem veröffentlichten Photo. Aber wir sollten erst dann über diese Sachen sprechen, wenn die Kinder nicht in unserer Nähe sind. Lass uns jetzt alles arrangieren und dann Essen gehen. Danach schicken wir die Kinder ins Bett. Dann 273
haben wir Zeit für uns. Ellen muss auch bald kommen. Die ist drinnen.“ Bei den letzten Worten deutete er mit dem Daumen über die Schulter in die Richtung, in der er die Station vermutete. Beide nickten stumm und zustimmend mit dem Kopf. In diesem Augenblick kam Ellen durch die Tür und stürzte rufend auf die Gruppe zu. Es wurde eine große Begrüßung zelebriert und anschließend verlief der Abend mit Erzählungen allgemeiner Art. Das Abendessen war für alle entspannend. Paul Wenig kam gegen 16.10 Uhr in Altötting an. Zuvor war er noch schnell an der Unfallstelle vorbeigefahren, um den Tatort in Augenschein zu nehmen. Er sah gerade noch, wie die zertrümmerten Reste der Sattelzugmaschine von einem Autokran auf einem Spezialauflieger gehievt wurden. Danach fuhr er direkt zum Altöttinger Anzeiger. Dort war es augenblicklich sehr ruhig. Paul wusste, dass Reporter und Photographen häufig im Verlag herumsaßen, verbotenerweise den Polizeifunk abhörten, um dann, bei entsprechenden, interessanten Funkgesprächen schnellsten zum Ta274
tort zu fahren und ihre Aufnahmen oder Reportagen zu machen. So war es auch heute. Als Paul in den großen, verrauchten Raum der Reporter eintrat, stellte ein langer, hagerer Mann hastig den Polizeifunk ab und augenblicklich erloschen die Gespräche. Gespannte Stille trat ein. „Guten Abend. Mein Name ist Paul Wenig, Kripo München. Sie können den Polizeifunk ruhig wieder anstellen. Das interessiert mich nicht im Geringsten. Sie machen auch nur Ihren Job. Ich muss mit Bernd Brunner sprechen. Ist der hier“, führte sich Paul fragend ein, setzte dabei ein joviales Lächeln auf. Dieses Lächeln hatte meistens gewirkt. So auch heute. Einen echten Kripoausweis hatte er immer bei sich. Aufgrund seines Berufes hatte er Zugang zu den verschiedensten Ausweisen. Auch Diplomatenpapiere, wenn es erforderlich sein sollte. Der Hagere drehte den Polizeifunk wieder an und aus der Gruppe der Reporter löste sich eine schmuddelig wirkende, kleine, korPULente, schwitzende Gestalt, die sich Paul näherte und mit den Worten vorstellte: „Zu Diensten, Gnä´ Herr. Was darf´s denn sein. Portrait oder Hochzeitsphotos?“ 275
Das war scheinbar sein Standardspruch, der komisch wirken sollte, aber durchwegs diese Wirkung verfehlte. „Nein, Nein“, widersprach Paul schnell, „Ich muss nur eine Kleinigkeit wegen des Unfalls von gestern ermitteln. Wo können wir uns ungestört unterhalten?“ Bei diesen Fragen beobachtete er den Photographen sehr genau. Er wollte sehen, ob dieser irgendwie unsicher oder nervös wurde. Aber nichts dergleichen war zu entdecken. „Kommen´s mit, wir gehen in die Kantine“, schlug Bernd Brunner vor und zog ihn, am Arm ziehend, aus dem Reporterzimmer hinaus. Im Flur ging er bis zur Kantine voraus. Dort setzten sie sich in die hinterste Ecke. „Haben Sie dieses Photo gestern gemacht?“, wollte Paul wissen und hielt ihm eine Kopie eines Zeitungsphotos hin. „Ja. Dieses und noch eine ganze Menge mehr. Das war ein irres Ding. So viel Dusel, wie der, möchte ich auch mal haben“, fing der Photograph zu plappern an. 276
Das ist ein Schwätzer, stellte Paul angewidert fest. Er mochte solche Menschen nicht. „Sie haben noch mehr Aufnahmen gemacht? Das ist ja toll. Darf ich die mal sehen?“, schmeichelte ihm Paul. „Ja, gerne. Die sind in meinem Atelier, gleich zwei Straßenzüge weiter“, antwortete Bernd Brunner mit sich leicht überschlagender Stimme. Dieser Unfall war ein Geschenk des Himmels gewesen. Die Bilder waren ihm von der Redaktion richtiggehend aus der Hand gerissen worden. Sogar bei der DPA hatten sie zwei Aufnahmen im Schnellverfahren angenommen. Das gab noch einen ganzen Batzen Geld. Er war so zufrieden, wie noch nie zuvor in seiner, eher mittelmäßigen Karriere als Pressephotograph. Und jetzt wollte sogar noch jemand mehr Bilder von ihm sehen. Endlich war er bekannt. Sich umdrehend, ging er dem vermeintlichen Münchner Kripobeamten, schnurstracks in sein Atelier voraus. Das Atelier, wie Bernd Brunner es nannte, entpuppte sich als eine kleine, schmutzige Einzimmerwohnung in einem heruntergekommenen, grauen, zweistöckigem Altbau. Eine veraltete Dunkelkammer befand sich im Badezimmer. Die Fixierlösungen standen im 277
Badezimmerschrank, die Bäder in der Badewanne. Aber das störte Paul wenig. Er kannte solche Behausungen zu Haufe. Ihn interessierten nur die Bilder und Negative. Zugleich wollte er hier feststellen, ob dieser Brunner überhaupt das Zeug und die technischen Möglichkeiten hatte, dermaßen geschickte, drastische Fälschungen herzustellen. Als er diesen Sauhaufen von Ausstattung sah, musste er das eindeutig verneinen. Selbst Computeranlagen, mit denen er das hätte bewerkstelligen können, waren nirgends zu bemerken. Jetzt wurde es spannend, das spürte er. „Haben sie Aufnahmen etwa alle auf Zelluloid gebannt? Benutzen Sie keine Digicams?“, fragte Paul. Er war irritiert. „Nur Zelluloid, wie Sie´s nennen. Der neumodische Kram taugt doch nichts!“, antwortete Brunner mit aufgeblähter Brust und legte ihm noch über hundert weitere Photos von dem Unfall vor. Sorgfältig begutachtete Paul jedes Einzelne. Wenn nun noch die Negative unretuschiert dazu passten, dann war an der Echtheit der Photos kein Zweifel, dachte er vor sich hin. „Tolle Aufnahmen. Gute Einstellungen. Sie verstehen was von ihrem Fach. Sie werden es noch 278
sehr weit bringen. Darf ich mal die Negative zu diesen vier Bildern sehen?“, seifte er den Photographen ein und zeigte dabei auf vier bestimmte Bilder. Es war seine alte Taktik: Wenn man etwas haben will, erst mal kräftig Zucker in Form von Komplimenten verteilen, dann kommt der Rest fast von selbst. So auch hier. Bernd Brunner fühlte sich so geschmeichelt, dass er sofort die vier Negative heraussuchte und Paul übergab. Dieser betrachtete sie kurz gegen das Licht. Er konnte nichts Bedenkliches feststellen. „Sie erlauben, dass ich sie für kurze Zeit mal mit aufs Präsidium mitnehme und meine Kollegen zeige? Die werden Augen machen“, strahlte er den Photographen an und steckte schon, die Einverständnis voraussetzend, die Bilder und Negative ein. Bernd Brunner war völlig übertölpelt worden, sagte aber nichts dagegen, sondern nickte nur kurz. Normalerweise bekam niemand Negative von ihm ausgehändigt, wenn er nicht zuvor Kopien angefertigt hatte und dafür bezahlt wurde. Hier aber fühlte er, dass Widerspruch längst zwecklos war. Außerdem war dieser Kripobeamte endlich mal ein netter Mensch, denn alle Anderen, die er so kannte, waren ihm gegenüber ausgesprochen 279
überheblich und frech. Er zuckte mit den Schultern und geleitete den Beamten hinaus. Anschließend begab er sich bester Dinge wieder zurück in den Reporterraum im Verlag. Paul fuhr sofort weiter zu dem Polizeirevier, welches für diesen Unfall zuständig war. Polizeiobermeister Jörg Neuhauser dokterte und zimmerte immer noch an seinem Unfallaufnahmebericht und der Tätigkeitsbucheintragung herum. Etwas praktisch, handgreiflich erledigen, das war seine Welt, diesen verdammten Schriftkram hasste er. Paul setzte sich ihm gegenüber auf einen der wackeligen Stühle, legitimierte sich kurz als Kripobeamter aus München und fing umgehend mit seiner Schmeichelei an: „Kollege, ich hab gehört, dass Sie als Erster am Unfallort waren und ausgesprochen gute Sicherungsarbeit geleistet haben. Hut ab, vor Ihnen. Da können noch einige, jüngere Kollegen von Ihnen lernen. War der Mercedes wirklich so schlimm verbogen und zerstört, wie’s überall geschrieben steht, beziehungsweise gesagt wird?“, wollte er von dem Polizisten wissen. Diesem erging es, wie zuvor dem Photographen. Dieser Kripobeamte aus München war endlich mal ein netter Kollege, sagten die Augen des Polizisten aus. Sonst sehen die280
se Kripofuzzis, wie er sie nannte, immer nur auf uns normale Polizisten von oben herunter. Wo wir doch die eigentliche Drecksarbeit vor Ort am Hals haben, während die mit ihren Vernehmungen schön im Warmen sitzen. Er antwortete erfreut: „Ja. Eigentlich sogar noch schlimmer, als man so reden kann. Es ist ein Wahnsinnswunder, dass dieser Keller da noch lebendig, ja sogar unverletzt herausgekommen ist.“ „Haben Sie mit eigenen Augen gesehen, dass dieser Keller in dem zerstörten Mercedes saß?“, hinterfragte er zur Sicherheit noch mal. „Ja. Und nicht nur ich. Der Schorschi, der Ma....“, wollte der Polizist loslegen, aber Paul unterbrach ihn auflachend: „Nein, Nein. Ich glaub’s schon. Weil´s halt nur so ein Wunder ist. Wie heißt dieser Keller mit vollem Namen und wo wohnt er?“ Jörg Neuhauser gab ihm bereitwillig alle erforderlichen Daten, und schon war Paul, sich freundlich verabschiedend, wieder draußen. „So so, Tiefenbach bei Passau“, überlegte er, in seinem Fahrzeug sitzend, „Na, dann können wir 281
dort auch gleich noch hinfahren, und dem Burschen mal auf den Zahn fühlen.“ Ohne weiter zu zögern, fuhr er los. Bernd Brunner war wieder im Reporterzimmer angelangt und wollte gerade seinen Kollegen von dem starken Interesse des Münchner Kripobeamten erzählen, als erneut die Tür aufging und Jacomo und Tino hereinkamen. Wie schon zuvor, wurde der Sender weggedreht und jegliches Gespräch erstarb. Als die Frage gestellt wurde, ob ein Photograph namens Bernd Brunner hier anwesend sei, ging ein nachhaltiges Raunen durch den Raum. So viel Aufmerksamkeit wurde einem Pressephotographen in ihren Kreisen noch nie gewidmet. Dieser fühlte sich allerdings wie im siebten Himmel. Was einige gute Bilder von einer Sensation doch alles ausmachen konnten. Er meldete sich selbstbewusst und stolz bei den Neuankömmlingen: „Zu Diensten, Gnä´ Herrschaften. Was darf´s denn sein. Portraits oder Hochzeitsphotos?“ Als er den eisigen Blick Jacomos sah, hätte er sich für diesen Spruch am liebsten auf die Zunge gebissen. Mit denen war irgendwie nicht zu spaßen, fühlte er. 282
„Wir wollen Ihnen ein paar Bilder von dem Unfall von gestern abkaufen. Die sind nämlich echt gut gemacht. Haben sie noch mehr?“, fragte Jacomo so betont freundlich, wie er nur konnte. Nur seine Augen straften diese Freundlichkeit Lügen, „und können wir uns nicht im Flur unterhalten?“ Da die Beiden schon wieder aus dem Raum hinaus auf den Flur getreten waren, blieb dem Photographen gar nichts anderes übrig, als ihnen zu folgen, wollte er ein gutes Geschäft machen. „Ja, ich hab ´ne ganze Menge Bilder geschossen. Wollen Sie einige davon sehen. Danach können wir gerne jederzeit über den Preis verhandeln“, gab er sich ganz geschäftsmännisch selbstsicher. In seinem Inneren flackerte allerdings bereits eine Spur Angst auf. „Wir müssen in mein Atelier gehen, dort sind sie“, setzte er noch hinterher. Jacomo und Tino nahmen Bernd Brunner in die Mitte und fuhren mit ihm in ihrem Fahrzeug zum Atelier. Dort unterbreitete der Photograph ihnen alle gemachten Aufnahmen. Diese musterten sie genau so interessiert, wie zuvor der Kommissar. Sie stellten sogar fast die gleichen Fragen. Was soll das, fragte er sich, was ist so Besonderes an diesem Unfall oder an meinen Bildern, mal abge283
sehen von dem ungewöhnlichen Überleben des Mercedesfahrers. Recht viel weiter konnte er allerdings nicht mehr denken. Die Preisverhandlungen begannen. Sie wollten zwei Bilder, die diesen Überlebenden zeigten. Der Preis der geboten wurde, war horrend. Er willigte sofort ein und gab ihnen die Bilder. Er konnte sie ja jederzeit nachmachen, da er die Negative hatte. Hier irrte er sich jedoch, wie sich sofort herausstellte. „Mensch, du Idiot. Her mit den Negativen. Meinst du, wir zahlen dir so viel Geld, dass du dann anschließend nochmals die Bilder abziehst und weiterverkaufst. Du spinnst wohl. Die wollen wir exklusiv haben. Also her mit den Negativen, aber avanti!“, befahl Jacomo, nun gar nicht mehr so freundlich. Eine innere Stimme warnte den Photographen, zu zögern oder gar zu verweigern. Also gab er zitternd die beiden dazugehörigen Negative aus der Hand. „Wie heißt der Knabe, und wo wohnt er?“, wollte Tino nun von ihm wissen. „Das weiß ich nicht“, log er. Man sah ihm diese Lüge allerdings sehr deutlich an. 284
„Sag mal. Meinst du wir machen hier Späßchen? Noch eine solche Antwort, und du fängst dir ein paar Backpfeifen ein, du Pfeife“, drohte ihm, extrem böse blickend, Jacomo. Dieser Jacomo war zwar nur knapp 1,70 Meter lang, besaß aber die Statur eines Schwergewichtsboxers. Bernd Brunner hatte zwar fast ähnliche Maße, allerdings war an ihm alles weich und schwabbelig. Und er hatte mehr Angst als Vaterlandsliebe. „Ich glaub er heißt Georg Keller und wohnt in Tiefenbach. Krieg ich jetzt mein Geld?“, bettelte er vorsichtig. „Die genaue Anschrift, du ...“ Jacomo ließ den Rest ungesagt und hob nur ganz leicht die Hand. Es genügte auch so. Der Photograph gab die Daten zitternd weiter. Tino warf ihm die vereinbarte Summe auf den Tisch, packt die beiden Bilder und Negative in ein Kuvert, steckte dieses in seine Jackeninnentasche und verließ mit Jacomo das Atelier. Sie ließen einen verängstigten, zitternden, aber auch grübelnden Photographen zurück. Im Fahrzeug sitzend diskutierten Beide noch ein paar Minuten, ob sie zurück nach München oder 285
gleich einen Abstecher nach Tiefenbach machen sollten. Da sie sich nicht einigen konnten, riefen sie mit ihrem Handy ihren Chef, Emilio Gonzo, an und überließen diesem die Entscheidung. Dieser hörte sich den Bericht an, dachte kurz nach und schickte sie dann weiter nach Tiefenbach, um sich diesen Georg Keller vorzuknöpfen und seinem neuartigen Anzug dabei abzuknöpfen. Diese Anweisung befolgend, machten sie sich auf den Weg Richtung Passau. Der dunkle Ford stand schon eine ganze Weile hinter dem Fahrzeug von Jacomo und Tino. Er war fast im selben Augenblick angekommen, wie die beiden Italiener. Die Insassen hatten diese dann mit dem Photographen aussteigen und ins Haus gehen gesehen und warteten nun, wann sie wieder heraus kommen würden. Die Adresse von Bernd Brunner hatten sie von ihrem Büro in Berlin bekommen. Diese Organisation hatte, aufgrund ihrer vergangenen Tätigkeiten, ausgezeichnete Kontakte, so dass es für sie kein Problem war, in wenigen Minuten den Photographen des Bildes zu ermitteln. Es handelte sich bei dieser Organisation um eine geheime, straff geführte, russische Interessengruppe, die den größten Teil ihrer Erträge aus Schutzgelderpressung und Waffenhandel, Drogen286
und Menschenhandel, Diebstählen und Schmuggel im großen Stile erwirtschaftete. Um ihre Ziele durchzusetzen, bedeutete ihnen ein Menschenleben nichts. Ihre Mitglieder waren zur Zeit des kalten Krieges allesamt im Geheimdienst ihres Landes tätig gewesen und hatten mehr oder weniger über eine gute, harte Ausbildung und viel Macht verfügt. Nach dieser Zeit, wurden sie von ihrem Staat wie überflüssiger Ballast über Bord geworfen. Der Führer der Organisation, Oberst Michail Roskow, hatte es nach seiner Entlassung verstanden, die besten Agenten für sich zu gewinnen, und konnte auf diese Weise, ohne Probleme, eine mächtige Gruppe aufbauen. Die alten Verbindungen und Seilschaften waren vorhanden und wurden weiterhin weidlich genutzt. Einen wesentlichen Teil seiner Verbindungen bestand in der aktiven Zusammenarbeit mit führenden Kräften der Militärverwaltung seines Landes. Diese betrachteten sich als die geheime Macht Russlands und hielten von den eingetretenen Veränderungen nicht sehr viel. Nach zehn Jahren hatte die Organisation so viel Kapital angehäuft, dass für sie inzwischen das Problem bestand, dieses Geld weiß zu waschen und zugleich in der Gesellschaft zu legalisieren. Die alten Raubritter hatten es seinerzeit leichter. Das Produkt, welches Roskow aus 287
München, via Berlin, in seine Zentrale bei Moskau gemeldet worden war, hatte ihn aufhorchen lassen. Wenn man hier wirklich an einen neuen, sensationellen Bekleidungsstoff kam, und diesen exklusiv produzieren und vertreiben konnte, wäre es einer der Wege, wie man seriös, schwarzes Geld zu weißem machen konnte. Bei der geschilderten Qualität war es für militärische Zwecke wie geschaffen. Er gab deshalb die Anweisung, wenn es sich wirklich um solch ein Superprodukt handeln sollte, dieses Material in die Hände zu bekommen, koste es was es wolle. Als die drei Insassen des Fords nur Jacomo und Tino, zufrieden feixend herauskommen sahen, beschlossen sie, noch so lange mit einem Besuch bei diesem Photographen zu warten, bis der Wagen vor ihnen abgefahren war. „Schreibe das Kennzeichen und die Automarke auf, Igor!“, ordnete Nicolai an. Er saß auf der Rückbank des Wagens und war offensichtlich der Chef der kleinen Gruppe. Igor, auf dem Beifahrersitz sitzend, kramte im Dunklen einen kleinen Block hervor und schrieb das Kennzeichen und den Wagentyp wie befohlen auf. Er war es auch gewesen, der, auf Anweisung von Nicolai, vor ein paar Stunden in München Max Roloff kaltblütig 288
erschossen hatte. Der Wagen mit Jacomo und Tino setzte sich in Bewegung. Selbst als er außer Sichtweite war, warteten die Insassen des Fords noch ein paar Minuten. „Komm, Igor!“, zischte Nicolai nach einigen Minuten Richtung Beifahrer, „Du, Leonid, bleibst hier. Achte auf die Gegend!“ Nicolai und Igor zogen sich Handschuhe an, stiegen behände aus dem Fahrzeug aus, schlossen gekonnt leise die Türen, zogen ihre Hüte tief ins Gesicht und betraten leise das Haus, in welchem der Photograph wohnte. Brunner saß völlig erschüttert und zitternd auf seinem zerwühlten Bett. ‘Gott sei Dank dass diese Kanaillen weg sind“‘ dachte er, ‘aber was ist das schon wieder!’ Er erschrak sichtlich, als es leise an die Wohnungstür klopfte. Nicht hingehen, nicht reagieren. Diese Gedanken sausten ihm durch den Kopf. Er ahnte Gefahr. Er spürte sie körperlich. Nicolai wunderte sich, dass auf sein Klopfen niemand die Tür öffnete. Hatten diese Mafiosi den Photographen kalt gemacht, fragte er sich. Dass diese beiden Männer nicht von der Polizei oder 289
Freunde von diesem Brunner waren, das hatte er aufgrund seiner jahrelangen Erfahrung, an der Art wie sie sich bewegt hatten, sofort erkannt. Er hielt sie für Mitglieder irgendeiner italienischen Mafiaoder Camorragruppe. Vielleicht waren es auch Libanesen, aber dies schien ihm eher unwahrscheinlich. Vorsichtig nahm er sein Türbesteck heraus und begann geräuschlos das Türschloss zu bearbeiten. In diesem Geschäft war er Spezialist. Nach zehn Sekunden hatte er die Tür leise geöffnet und trat ein. Vor sich sah er den Photographen mit offenem Mund und vor Schreck geweiteten Augen auf dem zerwühlten Bett sitzen. „Wenn du genau das tust, was wir von dir verlangen, brauchst du keine Angst zu haben“, näherte sich ihm Nicolai mit einem freundlichem Winken. Er sprach nahezu perfekt deutsch. Nur der leicht gebrochene, harte Akzent ließ den Osteuropäer in ihm vermuten. Sein Äußeres war völlig unscheinbar. Er war schlank und muskulös, hatte ein schmales, blasses Gesicht mit einer kleinen Nase und leicht hervorstehenden Wangenknochen, dunkelblonde, kurz geschnittene Haare und er wirkte durchtrainiert. Es war eine Erscheinung, die so unauffällig war, dass man sich in der Regel nicht an sie erinnern konnte und die auch nirgends auf290
fiel. Dies war in seinem Tätigkeitsfeld sein größtes Kapital. „Was wollten die Beiden, die eben gegangen sind?“, fragte Nicolai als Nächstes. „Nur ein paar Bilder von dem gestrigen Unfall“, brachte der Photograph zitternd heraus. „Auch von dem Überlebenden?“, hakte Nicolai sofort nach. „Ja, eigentlich nur von dem“, kam es noch ängstlicher, aber auch eine Spur erstaunt, über die Lippen Bernd Brunners. „Hast du noch Photos von ihm?“ „Nein. Nein“, antwortete der dicke Photograph prompt. Dabei machte er den typischen Fehler all Derjenigen, die nicht lügen können. Er wurde rot im Gesicht und sein Blick ruckte kurz in Richtung Wohnzimmertisch. Nicolais geschultem Blick war dies nicht entgangen. Er machte zwei Schritte auf den Tisch zu und durchwühlte mit der linken Hand die zahlreichen Unterlagen, welche dort schlampig und ungeordnet herumlagen. Gleich mit dem ersten flüchtigen Wischen hatte er eines der Unfallphotos aufgedeckt. Sich schnell umdrehend, 291
schlug er mit dem Handrücken der rechten Hand dem Photographen so kräftig gegen dessen Stirn, dass dieser rückwärts gegen die Wand krachte. Die linke Augenbraue sprang bei diesem derben Schlag auf und ein Blutrinnsal ergoss sich über das linke Auge. „Willst du mich auf dem Arm nehmen? Wenn du noch einmal lügst, mach ich dich kalt! Ist das klar?“, drohte ihm Nicolai, die Hand, wie zu einem weiteren heftigen Schlag erhoben. Der Photograph zwängte sich ängstlich heulend in die hinterste Ecke seines Bettes. „Nicht schlagen. Ich gebéuch alles was ihr wollt. Ihr braucht auch nichts zu bezahlen.“ Die Angst ums nackte Überleben sprach aus seinen winselnden Worten. Nicolai bemerkte einen dunklen, sich beständig vergrößernden Fleck in der Schrittgegend seines Opfers. Er wusste, dass nun kein Widerstand mehr kommen würde. Er verachtete solche feige Kreaturen, wie diesen Brunner, aufs Tiefste. „Steh auf und bring alle Bilder und Negative des Unfalls und von dem Überlebenden sofort her“, pfiff er ihn herrisch an, „Aber alle. Ist das klar!“, 292
schickte er noch drohend hinterher. Der Photograph kroch wimmernd von seinem Bett herunter und fing zitternd die geforderten Unterlagen zu suchen an. Nach fast drei Minuten hatte er alles gefunden und gab sie zitternd Nicolai. „Ist das wirklich alles?“, fragte dieser nochmals, einen drohenden Blick dem Zitternden zuwerfend, „wenn das alles ist, musst du keine Angst mehr haben. Wir bezahlen dich sogar reichlich dafür. Und jetzt noch Namen und Anschrift des Überlebenden.“ Bernd Brunner gab ihm alle gewünschten Auskünfte und versicherte wiederholt, dass es wirklich alles sei, er kein Geld wolle und er nie zu irgendjemand je ein Sterbenswörtchen, von dem was heute passiert war, sagen würde. Nicolai holte aus der Jackettasche ein Bündel Geldscheine und warf es lässig auf den Tisch. Gierig leuchten die Augen des immer noch zitternden, aus allen Poren schwitzenden Photographen auf. „Das ist für dich, du Angsthase“, schmähte er Brunner noch, hämisch grinsend, „So, und nun Marsch ins Bad. Und dort bleibst du mindestens eine Stunde, ist das klar“, zischte er ihn an. Igor 293
fasste den Photographen mit beiden Händen an den Schultern und schob ihn Richtung Badezimmer. Einen kurzen Blick auf Nicolai werfend, versicherte er sich, dass er, nachdem er das Codewort „Marsch“ gehört hatte, nach der üblichen Methode verfahren sollte. Nicolai nickte nur stumm grinsend. Igor schob nun nur noch dezent mit der linken Hand, mit der rechten holte er seine Pistole heraus und hielt sie versteckt. Nicolai fingerte sich ein schmutziges Kissen vom Bett und warf es Igor zu. Dieser ließ nun den wimmernden Photographen los, fing das Kissen auf, hielt es vor den Lauf seiner Pistole und schoss dem, sich gerade umdrehenden Bernd Brunner in den Kopf. Ungläubig sah dieser noch, was mit ihm geschehen sollte. Die Augen weit aufgerissen, wollte er noch schreien. Aber es kam kein Ton mehr über seine Lippen. Mit einem dumpfen Plopp durchschoss die Kugel, aus der Mündung der Pistole kommend, das Kissen und den Kopf des Opfers. Ein leichtes Klatschen an der hinteren Badezimmerwand ließ ein kleines Loch entstehen. Der Photograph kippte nach hinten um und fiel in die Badewanne. Nur die Füße hingen noch heraus. Igor nahm diese auf, und schubste sie ebenfalls in die Wanne. Nicolai brachte die Bettwäsche vom Bett. Beide deckten gemeinsam den Toten gründlich zu. 294
„Wenn den keiner vermisst, wird er auf diese Weise nicht so schnell entdeckt. Der Fäulnisgeruch steigt nicht so leicht auf“, erklärte Nicolai eiskalt seinem Begleiter und Vollstrecker Igor. „Warum sollte ich den eigentlich auch noch umlegen“, wollte Igor nun doch wissen. Er sah keinen Sinn in diesem Mord. „Ganz einfach. Dieser Max vorhin war längst überfällig. Deswegen waren wir ja auch in München. Wenn bei dem aus irgendeinem Grund irgendein Familienangehöriger einen Unfall gehabt hätte, der irgendwie eigenartig gewesen wäre, hätte er unter Umständen ausgepackt, obwohl wir nichts mit dem Unfall zu tun gehabt haben. Ist doch klar, oder?“ erklärte Nicolai geduldig, „dann wäre mit Sicherheit nachgeforscht worden und Spuren zu unserer Organisation gefunden worden. Deshalb kam vor einem Monat von oben die Anweisung, dieses Sicherheitsrisiko zu liquidieren. Bei diesem Angsthasen hier, liegt es anders: Vor uns kam er doch mit zwei schrägen Vögeln hier an. Die haben den bestimmt irgendwo aufgegabelt. Dort kann man sich an solche markanten Typen mit Sicherheit auch viel später noch erinnern. Wenn der hier nun gefunden wird, fällt der Verdacht sofort auf die Beiden und damit, meiner 295
Meinung nach, auf die Mafia. Du hast den hier nun mit der gleichen Waffe kaltgemacht, wie heute Nachmittag diesen Max. Also wird die Polizei davon ausgehen, dass dieser Max in Geschäfte mit der Mafia verstrickt war. So, jetzt sind wir fein raus. Verstanden?“, wollte er, vergnüglich grinsend wissen. „Nicht schlecht“, war der einzige Kommentar, der von Igor kam. Sie nahmen das Geldpäckchen und sämtliche Photos nebst Negative vom Wohnzimmertisch, schalteten alle Lichter aus, verließen unauffällig die Wohnung und das Haus, stiegen leise in den Ford und brausten Richtung Tiefenbach davon. Es war bereits kurz nach halb sechs Uhr, als Paul Wenig vor dem Einfamilienhaus der Kellers in Tiefenbach ankam. Ein kurzer Blick auf das Gebäude genügte ihm, um zu erkennen, dass die gesamte Familie verreist sein musste. Diese Gebäude sahen für ihn immer gleich unbewohnt und tot aus. Da halfen auch diverse Zeitschaltuhren, die irgendwelche Lichter an und ausknipsten, nichts. Ohne zu zögern, ging er zum Nachbarhaus und fragte, den gerade vor der Garage seinen Wagen putzenden, älteren Mann: 296
„Kripo München. Ich muss noch ein paar Nachermittlungen wegen des schuldlosen Unfalls von Gestern auf der B 299 machen. Wissen sie, wo ich Herrn Keller finden kann?“ Diese wenigen Erklärungen musste man schon abgeben, damit eine Art Vertrauensverhältnis aufgebaut wurde, wusste Paul. „Die san heit alle zámma in Urlaub g´fahr´n“, kam sofort die hilfsbereite, freundliche Antwort, „aber wohin, woas i net. Do müss´n´s fei scho in seina Spedition frog´n.“ Das genügte Paul. Die Keller-Spedition am Ortseingang von Passau war ja nicht zu übersehen gewesen. Er dankte dem netten, alten Herrn ausgesprochen höflich und verabschiedete sich. Eine viertel Stunde später stand er bereits an der Einfahrt zum Speditionsgelände. Es war ein gepflegtes, größeres Areal. Mehrere Lastzüge standen herum und eine Art Pförtner oder Kalfaktor kam schon auf Paul zu. „Grüß Gott. Was darf´s sein?“, wollte dieser von Paul wissen. „Grüß Gott“, antwortete der Gefragte freundlich. 297
Er versuchte, nach Möglichkeit stets den gleichen Gruß wie sein Gegenüber zu benutzen. Das verband meist von vornherein. „Ich wollte eigentlich zu Herrn Keller. Da er aber in den Urlaub gefahren ist, müsste ich mit dem derzeitigen Firmenleiter sprechen. Wo kann ich den finden?“, brachte er sein Anliegen hervor. „Gleich da vorn im Hauptgebäude sitzt der Herr Müller. Er ist unser Prokurist“, wies er auf einen Büroflachbau vor einer größeren Lagerhalle hin. Paul stellte sein Fahrzeug davor ab und ging hinein. Er wurde, nachdem er sein Anliegen erklärt hatte, von der Empfangsdame sogleich zum Prokuristen in dessen Büro gebracht. Das Büro war schlicht, aber modern und zweckmäßig ausgestattet. Auf pompösen Schnickschnack war bewusst verzichtet worden. Die Farbe der Einrichtung entsprach der des Computers auf dem geräumigen Schreibtisch: hellgrau. Herr Gerd Müller, auch er wirkte grau, stand zuvorkommend auf und begrüßte Paul wie einen wichtigen Kunden: „Guten Tag. Kann ich was für Sie tun“, erkundigte er sich bei Paul, und wies ihn, mit einer einladen298
den Geste, auf dem bequemen Armlehnenstuhl vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen. „Guten Tag. Mein Name ist Paul Wenig, Kripo München“, fing Paul an und zeigte bei diesen Worten seine Dienstmarke vor, „ich muss noch einige Dinge wegen des gestrigen Unfalls auf der B 299 ermitteln. Herr Keller war schuldlos daran beteiligt, wie Sie vielleicht wissen. Ich muss ihn unbedingt sprechen. Wissen Sie, wo ich ihn erreichen kann?“ „Er ist heute Mittag mit seiner ganzen Familie für sechs Wochen in den Urlaub gefahren. Da kann ich Ihnen wohl kaum helfen“, erklärte der Geschäftsführer hilfsbereit. „Sechs Wochen an einem Stück. Fährt er immer sechs Wochen im Stück in den Urlaub?“ Ungläubiges Staunen sprach aus den Worten Pauls. „Nein, im Gegenteil. Normalerweise hält er sich hier für unentbehrlich“, lachte der Prokurist, „aber diesmal ist es so. Und dabei hatte er bis vor einer Woche noch drei Wochen Fuerteventura gebucht. Plötzlich stornierte er und fuhr, wegen der Kinder, wie seine Frau sagte, wieder nach Österreich in 299
das Golfhotel, in dem sie letztes Jahr schon waren.“ „Ah, er ist ein Golfspieler. Sie auch?“, fragte Paul interessiert. „Nein. Beim besten Willen nicht. Dazu hab ich gar keine Zeit“, kam erklärend zurück. „In welches Hotel ist er gefahren? Dann such ich ihn nächste Woche dort auf.“ „Ins Golfhotel in der Tauernregion bei Rauris. Ist es denn so wichtig?“, wollte nun der Prokurist Paul auf den Zahn fühlen. Der ließ sich aber nicht auf den Zahn fühlen. „Nein, nur Formalien. Wie’s halt so ist. Vielen Dank für die Hilfe und auf Wiedersehen“, blockte Paul ab und wollte sich auf diese Weise gleich verabschieden. Der Prokurist hielt ihn mit den Worten zurück: „Warten Sie! Ich komm gleich mit Ihnen raus. Ich hab auch Feierabend und will schnellstens nach Hause. Meine Familie wartet schon, denn wir fahren gleich übers Wochenende alle gemeinsam in die Berge.“ 300
Paul wartete geduldig und verließ gemeinsam mit dem Prokuristen die Spedition. Sie verabschiedeten sich noch einmal, danach fuhr jeder seines Weges. Anschließend lenkte Paul seinen Wagen Richtung München. Fürs Erste konnte er nichts mehr tun. Am Montagvormittag würde er seinem Vorgesetzten Bericht von dieser mysteriösen Angelegenheit erstatten und abwarten, wie es weiterging. Er konnte sich gut vorstellen, dass er weiter auf diesen Fall angesetzt werden würde. Aber jetzt kam erst einmal das Wochenende. Und das hatte er sich verdient, fand er. Jacomo und Tino kamen ungefähr eine Stunde später an Georgs Haus an. Der Nachbar polierte immer noch an seinem Fahrzeug herum. Als er die beiden Männer auf Kellers Haus zugehen sah, rief er ihnen schon von weitem zu: „Do brauch´ns goar net schelln. Die san net do. Wenn’s was wiss´n woin, fahrens zur Spedition, glei drüb´n bei Passau, rüber.“ Das ließen die Beiden sich nicht zweimal sagen. Sie winkten dem Alten kurz zu, und fuhren auf die nächste Tankstelle. Der Tankwart kannte die Keller-Spedition und wies ihnen kurz den Weg. Schnellstens nahmen sie den vorgeschlagenen 301
Weg. Sie hatten es so eilig, dass sie die Schönheit Passaus gar nicht aufnahmen. Obwohl sie selbst Italiener waren, erkannten sie nicht den leicht südländischen Charakter der Altstadt am Donauufer. Sie hatten auch keinen Blick für die mächtige Burg, die von oberhalb auf die Stadt blickte und sie gleichsam bewachte. An der Spedition angekommen, empfing sie der Pförtner. Als sie Herrn Keller sprechen wollten, klärte sie dieser auf, dass Herr Keller für die nächsten Wochen im Urlaub sei, und Herr Müller, der Prokurist, erst am Montag von seinem Wochenendtrip zurückkäme. Enttäuscht verließen die Beiden Passau und fuhren nach München, um ihrem Chef ihre Ermittlungsergebnisse darzulegen. Nur zehn Minuten nach Jacomo und Tino traf Nicolai mit seinen Leuten am Kellerschen Haus in Tiefenbach ein. Der alte Nachbar war verblüfft. Er fragte sich, was mit den Kellers los sei, wenn sie von so vielen Leuten gesucht wurden. Und was für komische Typen hier ankamen. Er schüttelte nur den Kopf. Diesmal wollte er nichts sagen. Igor stieg aus und klingelt wiederholt bei den Kellers. Als niemand öffnete, erstattete er Nicolai kurz Bericht. Dieser stieg grübelnd aus und näher302
te sich dem, immer noch Auto putzenden Nachbarn. „Guten Tag. Ich will zu Herrn Keller. Können sie mir sagen, wo ich ihn finden kann?“, fragte er höflich den Alten. „Na. Do müss´ns schon in der Spedition Keller frog´n“, gab dieser kurz angebunden von sich. Obwohl er eigentlich nichts mehr sagen wollte, warnte ihn eine innere Stimme, zu abweisend zu sein. Also gab er die kürzest mögliche Antwort, hoffend, dass diese, nach Tod riechenden Männern schnell wieder verschwinden würden. Worauf hatte sich der Georg da eingelassen, überlegte sich der Alte erschüttert. Nicolai genügt diese Auskunft vollauf, stieg wieder ein und gab die Anweisung, zur Spedition Keller zu fahren. Wie Leonid die finden würde, war dessen Sache. Leonid fand sie mit der gleichen Methode, wie zuvor Jacomo und Tino. Auch sie kamen nicht am Pförtner der Spedition vorbei. Bei ihrer Frage, ob sie Georg Keller sprechen könnten, verschlug es dem Pförtner fast die Sprache. Was war denn heute Abend los. Schon die dritte Anfrage. Von dem schweren Unfall, den sein Herr Kel303
ler glücklich überlebt hatte, wusste er schon. Aber so viel fremdes Interesse? Unfassbar. „Sie sind jetzt innerhalb einer Stunde bereits der Dritte, der nach Herrn Keller fragt“, fing er an, und erzählte ihnen das Gleiche, wie nur zehn Minuten zuvor den Italienern. Nicolai dankte und verabschiedete sich. Als sie ein kurzes Stück Strecke zurückgelegt hatten, befahl er Leonid, auf dem nächsten Parkplatz anzuhalten. Der dritte Anfrager, grübelte er, wieso der Dritte. Oder meinte der alte Zausel die beiden Italiener als zwei Anfrager. Möglich wäre es. Aber merkwürdig war es schon. Sollte da noch Jemand dem Geheimnis nachjagen? Er würde die Augen offen halten. Gut dass sie hinten saßen, wie beim Skat spielen, grinste er über diesen Vergleich. Er nahm das Telefon ab, informierte mit verschlüsselten Worten in russischer Sprache Berlin über alles Erreichte und beschloss vor Ort für das Wochenende ein Quartier zu suchen. Am Montag würden sie dann den Prokuristen befragen. Der Reporter des Altöttinger Anzeigers, der auch die Berichte über den spektakulären Unfall vom Vortag geschrieben hatte, saß um 21.00 Uhr immer noch im Reporterzimmer des Verlags, lausch304
te auf den Polizeifunk und war fürchterlich sauer auf seinen Photographen Bernd Brunner. Vor weit mehr als vier Stunden war er mit diesen windigen Typen weggegangen und bisher nicht mehr erschienen. Das hatte er noch nie gemacht. Zuverlässig war er eigentlich immer. Zu Hause war er scheinbar ebenfalls nicht mehr, denn er hatte auf die zahlreichen Anrufe nicht reagiert und wohl auch den Anrufbeantworter nicht abgehört. Dem würde er was erzählen, wenn er hier ankam, nahm sich der Reporter, Wut geladen, vor und hörte weiter den spärlichen Funkverkehr ab. Die Familien Lander und Keller saßen an diesem Freitagabend gemeinsam an einem großen Tisch, aßen und plauderten erregt und fröhlich. Besonders die Kinder, wenn man genauer hinsah, musste man feststellen, dass es schon kleine Erwachsene waren, waren wie aus dem Häuschen. Ellen ertappte Gitti wiederholt dabei, wie sie einen traurigen Blick in Richtung ihrer quietschvergnügten Kinder warf. Und sie konnte sie verstehen. Das würde das Hauptthema in dieser Nacht werden. Das Problem der Diskussion würde sein, dass Gitti, im Gegensatz zu den anderen drei Erwachsenen am Tisch, trotz der ungeheuren Tragweite der Ereignisse, spätestens um Mitternacht im Sitzen 305
einschlafen würde. Recht viel früher würden die Kinder auch nicht ins Bett gehen, so dass sie letztendlich ohne Gitti beginnen mussten, Strategien ihres künftigen Vorgehens zu entwickeln. Teilbereiche ihrer Erlebnisse konnte sie jedoch, bewusst leise sprechend, austauschen und erörtern. „Bist du sicher, dass sich bei Stufe 2, der Anzug so versteift, dass sich Metall um den Anzug biegt?“, wollte Peter gerade von Georg wissen. „Nein, Nein. Da hab ich mich wohl falsch ausgedrückt. Das Metall des Fahrzeugs hat sich nicht um den etwas steiferen Schutzanzug gebogen, sondern um das Schutzfeld. Das bedeutet nichts anderes, als dass sich der Anzug nur von innerhalb des Schutzfeldes oder Schutzschirmes, wenn du es so nennen willst, bewegen lässt. Das Schutzfeld bewegt sich dementsprechend mit. Wenn du von außen auf das Schutzfeld einwirkst, wie kräftig auch immer, werden die Kräfte absorbiert oder abgelenkt, und das Metall biegt sich um das Schutzfeld herum. Verstanden?“, erklärte Georg ausführlich. „Ja“, nickte Peter, „warum gibt es dann auch noch die Stufe 3?“
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„Vermutlich um Superkräften zu widerstehen. Man darf diese Stufe auf Planeten und in Räumen nur in äußersten Notfällen einschalten, also werden sie mehr für den freien Weltraum geschaffen sein. Hoffentlich brauchen wir sie nie“, schaltete sich Ellen in das Gespräch ein. „Wie verläuft eigentlich das Schutzfeld 1 genau. Du sagtest doch, wenn man etwas essen will, muss man es ausschalten?“, stellte Gitti, an Peter gewandt, nun ihrerseits eine Frage. Dieser antwortete auch prompt: „Ja, du hast Recht. Die Schutzfelder sind für Ernährungsgewohnheiten, wie wir Menschen sie haben, nicht gedacht. Die Helas ernähren sich offensichtlich gänzlich anders. Ich hab darüber heute Nachmittag PUL ausgehorcht. Wenn wir Morgen in die Station gehen, werden wir neue Sicherheitsanzüge bekommen. Denn, habt ihr schon mal das Entsorgungsproblem bedacht? Im Augenblick müssen wir uns fast ganz ausziehen, wenn wir nur mal pinkeln müssen. Ganz schön mühsam. Also Fakt ist: die Helas ernähren sich ausschließlich durch synthetische Nahrung. Sei’s Essen oder Trinken. Sie können sie auf zwei Arten zu sich nehmen: in Tablettenform und flüssigen Getränken, wie wir es schon mal gekostet haben, wenn 307
sie keine Sicherheitsausrüstung tragen. Das ist grundsätzlich in abgeschlossenen Stationen, Raumschiffen und gesicherten Planeten, was immer das sein mag, der Fall. Außerhalb dieser Bereiche müssen Helas diese Anzüge tragen. Wenn sie nur sehr kurz, so bis sechs Stunden, außerhalb sind, tragen sie Anzüge, wie wir sie im Augenblick haben. Ohne Ernährungs-und Entsorgungsfunktion. Sind sie länger draußen, gibt’s Anzüge, und die bekommen wir Morgen angepasst, die am Gürtel zusätzlich zwei kleine Kästchen, die Versorgungseinheiten mehr haben, welche mit wiederum zwei weiteren winzige Kästchen, den Entsorgungseinheiten gekoppelt sind.“ Hier machte Peter bewusst eine Pause. Er wollte die Spannung seiner Zuhörer steigern. „Mensch, red weiter“, forderte ihn Georg auch schon auf. „Also gut. Eine Versorgungseinheit ist für die festen Nährstoffe, die andere für flüssige Stoffe zuständig. Mir wurde versucht die Herstellungsmethode zu erklären, aber das hab ich nicht geschnallt. Es muss ungefähr so funktionieren, dass mittels hochenergetischer Strahlung oder Spannung hoch komprimierte Basisstoffe zu Ernäh308
rungseinheiten aufgebaut werden und dann über unser Kapillarsystem in den Körperkreislauf verbracht werden. Ihr könnt Euch ja noch erinnern, wie klein die Ernährungstabletten seinerzeit waren, wie lange sie aber gesättigt haben. Sättigung bedeutet bei den Helas nichts anderes, als die notwendige Versorgung des Körpers und all seiner Zellen mit den erforderlichen Stoffen. Das gilt für flüssige wie auch für feste Stoffe. Aber nun zum Schönsten. Die Entsorgung läuft wie folgt ab: Hinten und vorn werden die Ausscheidungen über das gleiche Kapillarsystem nahezu direkt abgenommen und, und jetzt haltet Euch fest.“ Hier stoppte er wieder, zum gespielten Ärger von seinen Freunden. „Ich steck dir gleich die Entsorgung in den Hals, wenn du nicht weiter berichtest“, drohte Georg scherzhaft. „Also sie werden direkt den Entsorgungseinheiten zugeleitet und verarbeitet. Das gleiche gilt für die Ausdünstungen unserer Haut. Sie werden alle abgeleitet, den Entsorgungseinheiten zugeführt und dort quasi wieder aufbereitet. Anschließend gelangen sie wieder in die Versorgungseinheiten.“ 309
Hier endete vorläufig seine Rede. Peter grinste, die Anderen schwiegen nachdenklich und verdutzt. „Soll das heißen, wir fressen unseren eigenen Kot dann wieder?“, wollte Ellen, angewidert das Gesicht verziehend, wissen. „Genau. Diese Frage habe ich PUL auch gestellt. Er versicherte mir, dass alle Schadstoffe entzogen wurden, die übrigens bei dieser Ernährungsart extrem niedrig sind, ja – fast Null, und wir nur Nützliches reingepumpt bekommen. Er erklärte mir auch, dass wir Menschen nur deshalb so viele Schadstoffe ausscheiden, ja sogar ausscheiden müssen, weil die Nahrung, welche wir zu uns nehmen, extrem belastet ist. Und damit meinte er nicht nur die Umweltgifte, sondern hauptsächlich die natürliche, ungesunde, belastende Zusammenstellung unserer Nahrung. Würde ein Helas nur eine einzige x-beliebige Mahlzeit wie wir zu sich nehmen, würde er sofort umkippen. Das System in der Kombi ist sozusagen eine Art Selbstversorger, oder Allesrecycler, und damit annähernd autark. Und damit ist dann auch die Sicherheitsfrage künftig beantwortet“, erläuterte Peter weiter. „Hmm, das gefällt mir nur bedingt. Wenn wir diese Technik bei uns anwenden, und das werden wir 310
wohl müssen, werden wir uns biologisch logischerweise ebenfalls verändern. Über die lange Frist, müssen wir so werden, wie es die Helas waren“ warf Gitti skeptisch ein. „Wie lange hält so eine autarke Versorgungseinheit?“, fragte sie, Peter interessiert anblickend. „Etwas über zwei Jahre. Man muss sich nicht mal waschen, weil diese Ernährung und Reinigungsfunktion einfach perfekt ist. Alles wird in einem Kreislauf wieder verwendet. Jeder Dreck, im reinsten Sinne des Wortes“, prustete Peter so laut lachend aus sich heraus, dass sogar die Kinder auf ihn aufmerksam wurden und an dem Witz teilhaben wollten. Nur mit Mühe gelang es, die Kinder wieder abzulenken und dafür zu sorgen, dass sie sich wieder alleine unterhielten. „Bei dieser Gelegenheit bekam ich auch einen Einblick geliefert, wie unser Raumanzug, also materialmäßig, aufgebaut ist“, fuhr Peter danach weiter fort, „er besteht genau genommen aus drei Schichten. Die innere Schicht ist präzise auf unsere Gen-und Biostruktur abgestimmt. Sie wird auch irgendwie biomechanisch, genetisch hergestellt, oder besser gesagt gezüchtet. Am dichtesten an unserer Haut befindet sich so eine Art kommunizierender Haut, das heißt, die Schichten tauschen 311
permanent alle möglichen und notwendigen Stoffe miteinander aus. Das bedeutet, das Innenstück unserer Kombi ist die Versorgungs-und Entsorgungsschicht. Die Sauerstoffversorgung, oder Atmungsaktivität unserer Haut wird dort genau so geregelt, wie die äußere Körpertemperatur. Deswegen fühlt es sich auch so angenehm temperiert an. Dann folgt eine Isolationsschicht. Es die Mittelschicht. Sie trennt die äußere und innere Schicht. In der äußeren Schale soll die Energieversorgung für alle Schichten verlaufen. Sie ist hochenergetisch. Dieser Anzug ist ein wandelndes Kraftwerk. Die äußere Schicht ist die Schutz-und Trutzschicht. Das Material, aus dem sie ist, ist grundsätzlich schon ausgesprochen fest. Durch Hinzufügen ungeheurer Energiefelder, erreicht sie eine Undurchlässigkeit, welche hier auf unserer Erde bislang noch unbekannt ist. In dieser äußeren Hülle sind unzählige, nennen wir es mal Antennen, integriert. Über diese werden die Schutzfelder aufgebaut. Schon bei Schutzfeld 1 können wir eigentlich keine Geräusche mehr hören, da Schallwellen nicht mehr durchkommen, schon gar nicht bei den höheren Stufen. Die Helas müssen aber auch Ohren gehabt haben, denn diverse Sensoren im oberen Teil des Kombirandes übermittelt uns jedes Geräusch von außerhalb. Zum Schutzfeld 1. 312
Der Kopf und die Hände werden nicht, wie die restliche Kombi, in ungefähr einem Zentimeter Abstand von einem Schutzfeld umgeben, sondern von einem zylindrischen Feld eingehüllt. Die Abstrahlung dieses Feldes erfolgt über unsichtbare, innen liegende Ringe im Halsrand und an den beiden Armauslässen.“ „Ich glaub, das reicht“, stöhnte Georg nach dieser langen Ausführung Peters. „Wenn ich dich dann richtig verstanden habe“, forschte jedoch Ellen noch mal nach, „dann sollten wir ab Morgen keine Unterwäsche mehr unter der Kombi tragen, da sonst unter Umständen unser der biologische Ausgleich gestört werden könnte?“ „Richtig. Genau das wurde mir PUL ebenfalls bestätigt“, gab Peter ihr recht. Eine längere Pause trat ein. Jeder schien das eben Gehörte erst einmal verdauen zu müssen. „Wie bist du mit den Plänen vom Raumschiff und der Station weitergekommen?“, wollte Peter nach einer Weile von Ellen wissen. „Super. Das war spannend.“ Sie blühte vor Begeisterung auf, als sie fortfuhr: 313
„Ich zeige euch demnächst mal, wie dieser Stadtplan in Dose funktioniert. Und ich kann euch sagen, dieses Raumschiff ist wie eine kleine Stadt. So viele Räume, Gänge und Schächte. Es soll sage und schreibe 332.426 Räume geben. Das hört sich sehr viel an, ist es aber nicht. Würde man mal davon ausgehen, dass es nur 30 Quadratmeter große und drei Meter hohe Räume geben würde, würden in die Riesenkugel mindestens fünf mal soviel passen. Die Lichtleisten in den Gängen und Schächten wurden nicht für Gäste oder wo möglich für uns angebracht, sondern für die Helas selbst. Denn auch sie würden sich sonst hoffnungslos verirren, da es neben der Raumvielfalt an Bord üblich zu sein scheint, die Räume nach neuen Bedarfsstrukturen beliebig und häufig umzubauen. Die Station ist simpel dagegen und hat im Augenblick nur 76.981 Räume. Da es in der Station keine Lichtleisten gibt, kann man hier mit Schwebern fahren. Ich bin eine Zeitlang nach Plan gelaufen. Es ging gut. Dann hab ich die Pläne studiert. Und nun gibt’s eine kurze Erläuterung, wie das Raumschiff in etwa aufgebaut ist.“ Jetzt machte Ellen eine Pause. Sie hatte bemerkt, wie überaus gespannt Peter und Georg der Erzählung lauschten, Gitti allerdings nur verständnislos 314
in Ellens Gesicht blickte. Bei der Nennung der Anzahl der Räume, waren ihnen die Kiefer herunter geklappt. Sie stellten sich bestimmt gerade vor, wie viele Jahre man benötigen würde, jeden einzelnen Raum ausgiebig zu begutachten. So etwas nennt man eine Retourkutsche, dachte sie bei sich. Aber Peter hatte den listigen Blick Ellens bemerkt. Er sagte kein Wort. Georg und Gitti hatten es ebenfalls mitbekommen, nur Georg konnte nicht mehr an sich halten: „Nun red schon. Du kannst Peter nachher im Bett ärgern“, forderte er Ellen auf, weiter zu reden. „Ich werde mal so anfangen: In diesem Raumschiff in seinem Aufbau ist alles genau andersherum, wie wir es gewohnt sind. Wir würden irgendwo ganz weit außen und oben die Zentrale bauen, In der Mitte käme die Energieversorgung, daneben die Lagerräume, und wiederum ganz außen die Aufnahmeräume für die Begleitschiffe und die Unterkunfts-und Forschungsräume. Seht ihr das auch so?“, wollte sie von ihren Zuhörern wissen.
Diese nickten stumm und warteten, bis Ellen weitererzählte. 315
„Nur in einem Punkt liegen wir dann richtig. Die Aufnahmeräume für die Begleitschiffe liegen im äußeren Bereich. Die Außenwand ist übrigens wirklich etwas über drei Meter dick und aus einem Metallmaterial, welches ich vom Namen her gedanklich nicht erfassen konnte. Alle restlichen Räume entlang der Außenschale, und das sind teilweise ganz schön riesige Einheiten, dienen als Lagerräume oder Funktionsräume, Antriebseinheiten, wie immer die auch funktionieren mögen und so weiter. So das war der Außenbereich. Der geht so in eine Tiefe von Hundert Meter. Bleibt also noch ein Innenwürfel von immerhin 300 Meter Kantenlänge. Jetzt folgt der zweite Innenbereich, mit einer Tiefe von ungefähr 50 Metern. Darin befinden sich die Energiestationen. Es gibt nicht nur eine Energiebank, so möchte ich eine Energiestation mal nennen, sondern 36 Stück. Ich hab sie auf dem Plan gezählt und anschließend PUL um Bestätigung gebeten. Ich hatte richtig gezählt. Sie umgeben in gleichmäßiger Anordnung den inneren Würfel, der immerhin immer noch etwas mehr als 200 Meter Kantenlänge hat. Jetzt der nächste Bereich: Die Unterkünfte, Aufenthalts-, Forschungsund weiß-der-Teufel-was-sonst-noch-für-Räume. Übrig bleibt der innerste Würfel. Und ihr erratet 316
nicht, was sich dort wirklich und genau befindet?“, kam die provozierende Frage. „Klar! Es bleibt ja nur noch die Zentrale, was sonst“, platzte Georg auch schon mit seinem ganzen Wissen heraus. „Hmm... Bedingt richtig. Aber es trifft noch lange nicht des Pudels Kern“, erhöhte Ellen die Spannung. „Nun pack schon aus“, drängelte Peter. Da keiner augenscheinlich die wirkliche Antwort geben konnte, aber jeder sie sehnsüchtig erwartete, erbarmte sich Ellen. „Die Zentrale, das ist fast korrekt. Wir waren ja auch schon drin. Dort befindet sich auch das einzige runde Attribut des Raumschiffes, die kuppelartige Zentrale. Aber das ist bei weitem nicht alles. Es handelt sich um ein vollständig autarkes, flugfähiges kleines Raumschiff. Das muss so eine Art Sicherheitssystem sein. Wenn mal alles um die Zentrale herum auseinander fliegt, kann sich die Zentrale abschotten und den gesamten Rest um sich wegsprengen und selbständig weiterfliegen. Das Wegsprengen funktioniert genau so, wie die Sicherheitsstufe 3 bei unserer Kombi, nur mit 317
unendlich mehr Power. Die kuppelartige Zentrale belegt die obere Hälfte. Mit Antigravliften kommt man nach unten. Wir sind von der Seite eingetreten, aber das ist eigentlich nicht der normale Weg. Dort befinden sich die Energie-, Sicherheits-und Antriebssysteme. Einige andere Räume gibt es auch noch. Dieses Raumschiff entspricht so ziemlich den genau kleinen Forschungsraumschiffen, die im Hangar des Mutterschiffes stehen.“ „Die waren schon sehr weit in ihrer Entwicklung, die Helas. Nicht schlecht“, bemerkte Georg fasziniert, „wenn du fertig bist, dann kann ich euch etwas über die Fahrzeuge erzählen.“ „Ich bin fertig! Fang an, Georg“, forderte Ellen ihn freundlich auf. „Also, das ist so. Alle Fahrzeuge die in der Station oder im Raumschiff sind, können wir nur bedingt hier auf der Erde benutzen. Diese Dinger sollten nur über einem stabilen, festen Untergrund eingesetzt werden“, begann dieser. „Das liegt an der Antriebsart, diesem Antigravsystem. Es wird ein Art Gegendruckpolster, ohne Luftbewegung, gegen die Erdanziehungskraft aufgebaut, welches direkt unter dem Fahrzeug wirkt. Das bedeutet, wenn ein drei Tonnen schweres Fahrzeug knapp 318
über dem Boden schweben soll, muss ein Gegenkraftfeld von drei Tonnen aufgebaut werden. Soll es steigen muss das Kraftfeld größer werden. In vertikale Richtungen wird das Fahrzeug dadurch bewegt, dass die Richtung des abstrahlenden Kraftfelds minimal in die Fahrtrichtung schräg gestellt wird. Computer berechnen diese Vorgänge und halten auch die Stabilität aufrecht. Egal wie hoch ein solches Fahrzeug über der Erde steht, es muss sich das Kraftfeld bis zu seinem Widerlager, also den Boden, fortsetzen. Je höher sich ein solches Fahrzeug oder Raumschiff über dem Boden befindet, umso größer ist die Luft oder Atmosphäre als Widerstandsfaktor von Bedeutung. Alles was in diese Kraftsäule gerät oder sich darin befindet, wie seinerzeit dein kleiner Finger, wird mit der entsprechenden Kraft zu Boden gedrückt. Bei 3 Tonnen auf einem Quadratmeter verteilt, wird dabei noch nicht viel Schaden entstehen. Aber stellt euch mal einen über 500 Tonnen schweren Schweber vor, der in 200 Meter Höhe über eine Stadt rast. Ganz zu schweigen von einem riesigen Raumschiff. Eine Schneise der Verwüstung würde seinen Weg kennzeichnen. Wenn dieses Objekt gar stark beschleunigt, steigert sich das Kraftfeld entsprechend der Beschleunigung um ein Vielfaches.“ 319
Georg ließ die Worte bei seinen Freunden einwirken. Ellen schüttelte wiederholt bedächtig den Kopf. „Da passt etwas nicht. Wozu sind dann so viele Schweber aller Größenordnung da?“, kam es überlegend über ihre Lippen. „Die Helas bauen Gebiete in etwa so aus, wie im 19. Jahrhundert die Eisenbahn durch das unwegsame Gelände der USA gebaut wurde. Auf den Schienen, die jeweils gerade fertig gestellt worden waren, wurde der Nachschub für den weiteren Bau herangeschafft. Die Schweber sind teilweise Arbeitsmaschinen, oder präziser gesagt, Roboter. Die benötigen weder Helas noch Menschen, um eine bestimmte, angeordnete Tätigkeit auszuführen. Ich hab übrigens gestern das erste Mal Maschinen von alleine herumfahren gesehen“, teilte Georg den Anwesenden lächelnd mit „und es hat mich nicht im Geringsten unangenehm berührt.“ „Wo?“, wollte Ellen sofort wissen. „In der Riesenhalle, direkt neben dem Raumschiff. Hast du sie etwa aktiviert?“, wurde Georg nun neugierig. 320
„Nein. Aber ich hatte auch einmal das Gefühl, als hätte ich in einer der großen Lagerhallen eine Bewegung entdeckt“, erklärte sie, „da ich aber nichts hören konnte, dachte ich, ich hätte mich geirrt.“ „Mir ist jetzt übrigens auch klar, warum die Landung und der Start des großen Raumschiffes mit über zwanzig Minuten so lange dauern müssen. Euch auch?“ Gespannt schaute sich Georg in der Runde um. Er sah nur verdatterte Gesichter. Es blieb ruhig. Georg genoss die Situation. „Das hab ich selbst herausbekommen. Anschließend bestätigte mir PUL meine Vermutung“, begann er, vor Stolz fast platzend. „Wenn so ein schweres Ungetüm, wie unser Expeditionsraumschiff schnell fallend ein volles Bremskraftfeld, oder umgekehrt, beim Starten voll beschleunigen, also ein Abstoßkraftfeld aufbauen würde, wäre diese auf den Boden auftreffende Kraft in der Lage, so ein Gebirgsmassiv wie dieses in den weichen Erdkern hinein zu drücken, also in den Lavabereich oder in das Erdmagma. Hier würde ein Teil des Gebirges verschwinden und anderswo auf der Welt würden Vulkane ausbrechen und Erdbeben im größten Ausmaß auftreten. Die Helas 321
scheinen grundsätzlich gegen solche Umweltzerstörungen zu sein. Erst in sehr großer Höhe wirkt die Atmosphäre eines Planeten mehr oder weniger wie ein Polster dämpfend.“ „So groß ist die Kraft, die entstehen kann? Was müssen das für Kraftwerke sein, die so eine Menge Energie erzeugen können?“, fragte sich Gitti kopfschüttelnd. „Richtig“, erklärte Georg gleich weiter, „und wenn wir nun, selbst mit dem kleinsten Schweber hinausfahren, könnten wir zwar ohne Probleme alle Straßen benutzen. Die würden das aushalten. Aber der Weg vom Ausgang bis zur Straße, also den steilen Berghang runter, wäre sofort ein Problem. Es würden massenhaft Steine herabstürzen und vermutlich die Straße verschütten und zerstören.“ „Mmm, Mmm“, summte Peter, den Kopf schüttelnd, „das Problem werden wir anders und ungefährlicher lösen.“ Als dieser die verblüfften Gesichter seiner Zuhörer sah, musste er vor Genugtuung in sich hinein grinsen. 322
„Wie denn?“, kam es zu gleichen Zeit aus allen drei Mündern. „Wenn’s soweit ist, werdet ihr es schon sehen“, beendete er dieses Thema und lenkte sofort auf ein Neues über. „Nun zu etwas anderem. Es ist inzwischen gleich Mitternacht. Ich würde sagen, wir schicken in ein paar Minuten die Kinder nach oben, dann gehst du auch schlafen Gitti. Du siehst bereits todmüde aus. Und wir“, dabei sah er Ellen und Georg an, „treffen uns bei mir im Zimmer. Einverstanden?“ „Das finde ich prima“, antwortete Gitti zufrieden, „aber eine Frage sollten wir vorher noch kurz anschneiden, um über Nacht mal darüber nachzudenken: Könnte der überstandene Unfall von Georg für uns irgendwelche Folgen haben? Was meint ihr?“, fragte sie interessiert, denn sie befürchtete Folgen, nur wusste sie nicht, was zu dieser Angst führte. Sie erhoffte sich ein wenig Aufschluss. „Allerdings. Ich hab in den Mittagsnachrichten Bilder vom Mercedes und von dir gesehen“, gab Peter, Georg ernst anblickend, zurück. „Beim Spazierengehen am Nachmittag kaufte ich dann eine Abendzeitung und fand diese Bilder!“ 323
Er holte aus seiner Brusttasche zwei zusammengefaltete Schwarz-Weiß-Zeitungsbilder heraus und legte sie vor sich auf den Tisch. Gitti nahm ohne zu zögern das Erste in ihre Hände, entfaltete es und stieß einen leisen Ruf des Entsetzens aus. Der zerschmetterte Mercedes war abgebildet. Ellen und Georg betrachteten es ebenfalls. Ellen schüttelte nur den Kopf, während Georg verstohlen grinste. „Also, da kann normalerweise keiner Mensch lebend herauskommen“, sinnierte Ellen vor sich hin. Georg nahm inzwischen das zweite Bild, entfaltete auch dieses und rief erschrocken: „Verdammt. Diese verdammten Pressefuzzis. Ich hab keine Erlaubnis zur Veröffentlichung meines Konterfeis gegeben.“ Er schimpfte wie ein Rohrspatz. Gitti war verblüfft und verstand ihren Georg nicht mehr. Als er vor einem Jahr auf dem Schützenfest in Tiefenbach als zweitbester Schütze mit dem Schützenkönig und dem Bürgermeister photographiert worden war, hatte er sich vor lauter Stolz gar nicht mehr einkriegen können. Und jetzt meckerte er wie ein alter Ziegenbock. 324
„Warum schimpfst du denn so. Zeig doch mal her“, fragte sie ihn, ihm das Bild aus der Hand nehmend. „Bist doch gut getroffen, und das sogar bei dem Sauwetter“, kam noch aufmunternd hinterher. Das war genau der falsche Trost. Nun war er richtig sauer. Seine Augen sprühten nur so vor Wut. Gitti war ratlos. „Genau das ist unser Problem“, erklärte ihr Peter, „er wurde blendend getroffen. Schau dir das Bild mal ganz genau an. Kann man so aussehen, wenn man als durchschnittlicher Mensch mit einer normalen Kleidung bei diesem schlechten Wetter aus einem dermaßen zerstörten Auto herausgeschnitten wird?“ Sie schlug sich die flache Hand vor die Stirn, dass es laut klatschte und hatte verstanden: „Meint ihr, dass das eventuell auch Anderen auffallen könnte?“ „Genau das befürchte ich“, fiel Georg ein, „die meisten Menschen schauen sich Bilder nicht genau an. Von denen, die sie sich genauer ansehen, werden die Meisten denken, es handelt sich um eine gestellte Aufnahme. Aber ein paar von ihnen 325
könnten stutzig werden. Wenn dann Jemand darunter ist, der hier Genaueres wissen will, könnten Nachforschungen einsetzen. Das aber wollten wir unbedingt vermeiden.“ „Da ist nichts mehr zu ändern“, meldete sich nun auch Ellen resolut zu Wort „lasst uns heute Nacht darüber nachdenken und morgen Entscheidungen treffen. Wir müssen jetzt die Kinder ins Bett beordern. Warum wollen wir drei uns noch mal treffen?“, fragte sie Peter. „Wir sollten heute Nacht, weil wir ja eh nicht schlafen können, die Benutzung unserer Antigravschuhe üben. Wir können bei richtiger Benutzung mit denen sogar an der Decke laufen. Aber es will gelernt und geübt sein. Einverstanden?“ Alle willigten ein. Die Kinder wurden auf ihre Zimmer geschickt und Gitti ging schnellstens todmüde ins Bett. Im Nu war sie eingeschlafen. Leise schlich Georg zu Ellen und Peter und sie begannen ihre Übungen. Im Laufe der Nacht erlernten sie einigermaßen, wie man die Schuhe richtig benutzt. An der Decke entlang zu gehen, war für sie allerdings nicht möglich.
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Die Kinder und Gitti hatten wie Steine bis nach 9.00 Uhr geschlafen. Als sie endlich nach unten ins Restaurant kamen, saßen Peter, Ellen und Georg bereits bei der dritten Tasse Kaffee und diskutierten angeregt. Das Gespräch erstarb augenblicklich, als die Kinder an den Tisch kamen. Verena, mit ihren knappen 19 Jahren schon eine ausgewachsene, hübsche Frau, bemerkte es prompt und fragte brühwarm, sichtlich verärgert: „Warum hört ihr immer auf zu reden, wenn wir in eure Nähe kommen. Das habt ihr sonst nie gemacht. Das ist wirklich voll ätzend. Ihr habt bestimmt Geheimnisse.“ Sie glühte vor Erregung. Für solche außergewöhnlichen Dinge oder Vorgänge hatte sie, wie ihre Mutter, ein feines Gespür. Die Beiden ähnelten sich ohnehin sehr, speziell von ihrem Wesen und Temperament her. Vielleicht war das auch der Grund für die häufigen Reibereien, vielleicht aber auch nur der Abnablungsvorgang zwischen Eltern und Kind. In diesem Augenblick wollte sie unbedingt genau wissen, was die Eltern da mit ihren Freunden immerzu zu tuscheln hatten. Diese kamen nun verständlicherweise in einen Erklärungsnotstand: 327
„Ja, es ist was Besonderes im Busch“, versuchte Georg geschickt auszuweichen, „aber momentan können und dürfen wir euch noch nichts sagen. Es soll eine Riesenüberraschung werden. Nur wenn wir euch jetzt schon was sagen, ist es nichts mehr mit dieser Überraschung.“ Er hatte seiner Tochter suggerieren wollen, ein schönes Geschenk, wie ein eigenes Pferd zum Beispiel, steht irgendwo im Hintergrund. Das war aber buchstäblich Wasser auf Verenas Mühlen. Sie wurde ausgesprochen neugierig und würde ab sofort nicht eher locker lassen, bis sie alles wusste. Gitti blickte, vorwurfsvoll den Kopf schüttelnd, nach oben in die Luft: ‘Typisch Papa Georg’, dachte sie verzweifelt, ‘er sollte doch sein Kind inzwischen besser kennen. Jetzt hat er sie aufgeheizt. Die lässt nicht mehr locker, du alter Dussel.’ „Au fein“, kam es auch schon aus Verena herausgeplatzt, „dann gib mir doch wenigstens eine kleine Andeutung. Nur so einen klitze, kleinen Hinweis.“ Sie fing an, ihren Papa in der gewohnten Art zu umschmusen. 328
So begann es immer. Das Resultat war absehbar. Zum Glück hatten die anderen Kinder augenscheinlich nichts von diesem Dialog soeben mitbekommen. Gitti beschloss sofort einzugreifen. „So, Verena, jetzt pass mal ganz genau auf“, begann sie streng und eindringlich zu sprechen, „von dem, was wir soeben gesprochen haben, wird zu Niemandem, aber auch wirklich zu Niemandem, auch nur ein Wort gesprochen. Ist das klar?“ Diesen Tonfall hatte Verena noch nie von ihrer Mutter gehört. Ihre Mutter war überhaupt in den letzten Tagen wie ausgewechselt. Sie hatte schon oft gebrüllt, manchmal auch getobt dass die Fetzen flogen, und immer war hinter dem aufbrausenden Temperament die Mutterliebe zu spüren gewesen. Dieser Satz aber war soeben eiskalt und sehr hart gesprochen worden. Sie bekam es mit der Angst zu tun. Hatten die Eltern etwa Probleme miteinander? Sie beschloss, diesmal lieber den Mund zu halten. „Wir werden euch, wenn es so weit ist, schon informieren. Und wehe, du hältst den Mund nicht“, setzte sie noch einmal messerscharf hinterher.
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Verena war völlig eingeschüchtert. Georg hätte sie am liebsten in den Arm genommen, aber er wusste, das wäre gerade jetzt das Dümmste gewesen, was er hätte machen können. Also blieb er ruhig sitzen und schwieg verlegen. Verena sah noch einmal kurz auf die vier Erwachsenen, schluckte ein paar Mal heftig und wandte sich Sabine zu, um sich mit ihr zu unterhalten. Sie würde auf der Hut sein und die Alten ab jetzt genau beobachten, schwor sie sich innerlich. Die Szene von eben hatte eine unauslöschliche Spur in ihr hinterlassen. Die vier Erwachsenen blickten einander bedrückt an. Begann schon die befürchtete Veränderung in ihnen und in ihren Beziehungen? Aber es sollte gleich noch schlimmer kommen. Alexander wandte sich an Peter mit der Frage: „Sag mal, Papa“, so fingen seine Fragesätze sehr häufig an, „was sind das eigentlich für Kombis, die Du, Mama und Georg unter der normalen Kleidung anhabt?“ „Ach, das“, fing Peter, auf diese Frage total unvorbereitet zu stottern an. Er war in Verlegenheit geraten. „Das ist ´ne ganz normale Arbeitskombi, nichts weiter. Ist zurzeit nur so ein Kleidungsspleen von uns. Nur in einer Kombi herumzulaufen, sähe hier albern aus. Wir sind doch keine 330
Klempner, oder so etwas. Deshalb tragen wir unsere anderen Sachen noch drüber. O.K.?“ Hoffentlich genügte diese Antwort, dachte Peter inbrünstig. Aber es kam, wie es typischerweise kommen musste: „Das ist wirklich cool. Ich würde auch gerne so ´ne Kombi haben. Ihr fühlt euch zwar komisch an, seitdem ihr die Dinger tragt, aber trotzdem, wann bekomm ich eine?“ „Ja, und ich auch!“, kam es aus allen Kindermündern, mit Ausnahme Verenas, die, ihre Stirn kraus ziehend, die Erwachsenen verstohlen beobachtete. Von den Kombis hatte sie noch gar nichts bemerkt. Was war denn das schon wieder. Ausgerechnet ihr Papa, der so sehr auf seine Kleidung achtete, machte so einen unmöglichen, primitiven Firlefanz mit? Es wurde für sie immer mysteriöser. „Ihr bekommt alle so eine Kombi, da könnt ihr sicher sein“, fiel Ellen der Kinderschar ins Wort. Das war anders gemeint, als es die Kinder auffassten. Sie fingen lautstark zu jubeln an. Nur Verena zuckte mit keiner Wimper. 331
„Ich will so ´ne doofe Kombi nicht“, kam es trotzig aus ihr heraus. „Da ihr jetzt mit dem Essen fertig seid, verschwindet zum Reiten, Schwimmen oder Golf spielen. Heute Abend gegen 19.30 Uhr treffen wir uns hier wieder“, beendete Georg die Diskussion, „wir vier“, dabei zeigte er auf Ellen, Gitti und Peter, „machen eine Tagestour durchs Gebirge.“ Er hatte wieder ein Eigentor geschossen und es noch nicht einmal bemerkt. Verena glaubte nämlich, bei diesem Satz, nicht richtig gehört zu haben: ‘Gebirgstour. Dass ich nicht lache. Ihr macht irgendwas Anderes, aber was?’, grübelte sie vor sich hin, ‘Wenn Morgen wieder so eine Tour in die Berge auf dem Plan steht, werde ich mitgehen wollen. Mal sehen, wie ihr darauf reagiert. Ihr verbergt was. Aber was, das bekomm ich noch raus.’ Die Kinder, einschließlich Verena, tobten aus dem Restaurant hinaus. „Das war knapp“, atmete Georg auf und schaute verlegen in die Runde. „Knapp daneben“, murmelte Gitti, aschgrau im Gesicht. 332
Peter hob nur leicht eine Augenbraue. „Das ist gründlich daneben gegangen“, knurrte auch er leise. „Lasst uns heute Abend ausführlich darüber sprechen und jetzt in die Station gehen. Gitti, willst du wirklich, mit allen Konsequenzen?“, wollte Peter von Gitti wissen. „Es geht doch gar nicht mehr anders. Und die Kinder werden über kurz oder lang, ebenfalls dabei sein müssen. Ich fürchte nur, es wird das Ende ihrer Kindheit sein“, kam wohl überlegt ihre Antwort. „Über kurz, nicht über lang“, ergänzte Ellen noch Gittis Ausführung in der Art einer Wahrsagerin, „über sehr kurz.“ Sie packten sich jeder ein Verpflegungspaket ein und fuhren in die Station. Peter hatte in dieser Gruppe bereits die Position des Vorsprechers eingenommen. Ellen bemerkte es und quittierte es mit einem schiefen Grinsen. Früher war diese Rolle in dieser Konstellation Georg zugefallen. Peter regte nun an, dass sich Ellen weiter um den Stationsaufbau und Georg um die Fahrzeuge, Raumschiffe und Ladung kümmern sollten, was diese mit Begeisterung akzeptierten. Er wollte Gitti zur Rege333
neration bringen, sich dann zur Zentrale begeben und Gitti nach der Regeneration wieder abholen, um ihr alles, was sie selbst bis dahin kannten, zu zeigen. Nach dem Eingangsscan und der künftigen Legitimation für Gitti, forderte sie PUL auf, vor dem Verlassen der Station die neuen Kombis abzuholen und anzuziehen. Ellen und Georg machten sich sofort enthusiastisch an ihre Arbeit. Peter brachte Gitti wie vereinbart zur Regeneration und begab sich dann so schnell er konnte, zur Raumschiffzentrale. Er stoppte die Zeit: 11 Minuten, 45 Sekunden. Das war eine gute Leistung, fand er. Alle Antigravwege hatte er mit einem ziemlich hohen Tempo benutzt. Mit Sicherheit konnte man mit ausreichender Übung die Geschwindigkeit der Fortbewegung noch weiter steigern, dachte er zufrieden bei sich. Diesmal setzte er sich gleich in den Kommandantensitz. „Alle Beobachtungsbilder der Erde öffnen“, begann er mit den Anweisungen. Der gleiche Vorgang, wie zwei Tage zuvor, begann. Es bauten sich sämtliche Bilder auf. Er fokussierte gekonnt den Gletscherbereich näher heran.
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‘Die Geologen arbeiten sogar an einem Samstag’, dachte er anerkennend bei sich, ‘jetzt bohren sie genau am Rande des Gletschers, fleißig, fleißig.’ Er sah von oben, wie sie eine Tube mit Proben aus dem hohlen Bohrkern zogen. Plötzlich wurde das Bild grau und kurze Zeit später war der Grauschleier wieder weg. „Das muss eine Wolke gewesen sein“, überlegte er, „wenn es stark bewölkt ist, dann kann man gar nichts mehr sehen. Das ist unangenehm.“ „Frage: Gibt es eine Darstellungsart, welche Wetterstörungen ausschließt?“ „Ja.“ Augenblicklich verändert sich das Bild. „Das ist ja scheußlich!“, brüllte Peter auf. Es war ein blau, grün, rot, orange Bild entstanden. Hätte er nicht unmittelbar zuvor das normale Bild gesehen, hätte er damit nichts anfangen können. Der Gletscher war dunkelstes Blau, der Bohrturm in der Mitte und ein kleiner viereckiger Fleck daneben, hellstes orange. Die Menschen bildeten rotbraune Punkte. Das musste ein infrarot ähnli335
ches Bild sein. Oder Wärmemessung? Jedenfalls eine Technik, die auf der Erde schon lange ebenfalls in Gebrauch war. „Inverse Darstellung“, wies er PUL an. Jetzt waren die hellen Stellen dunkel, die dunkelblauen fast weiß. So konnte er eher etwas erkennen, aber das Wahre war es nicht, entschied er für sich. Alles zu schemenhaft. An bewegten Objekten, wie Menschen, bildeten sich stets kleine Fahnen. Unangenehme Einstellung, stellte Peter fest. Spezialisten würden das anders sehen, wusste er. Aber er war keiner. „Zurück zur normalen Darstellung.“ Schon war das Bild für ihn wieder gut erkennbar. Da hatte er eine weitere Idee: „Frage: Gibt es eine Darstellungsform, welche anzeigt, wie die Station in dem Gebirgsmassiv liegt?“ „Ja.“ Plötzlich, ohne Vorwarnung, drehte sich der Schalensessel ungefähr um 60 Grad nach rechts. Vor ihm erschien ein neues Bild. Es zeigte wieder das 336
Tauernmassiv von oben. Unmittelbar darauf war ein rotes Rechteck eingezeichnet. Unmittelbar an der rechten roten Linie war das Forschungsteam mit ihren Bohrarbeiten beschäftigt. „Wenn die sich noch etwas nach links mit ihren Bohrversuchen orientieren, werden sie die Station anbohren“, überlegte er die Stirn runzelnd, „und dann wird’s interessant.“ „Frage: Sind das die Stationsgrenzen von oben gesehen?“ „Ja.“ Nun wandelte sich das Bild. Was sich gegenwärtig entwickelte, konnte nicht mehr von oben aufgenommen worden sein. Der Blickwinkel kam jetzt schräg von der Seite und das Rechteck wurde zu einem Quader im inneren des Gebirges. Man erkannte deutlich, wie die Station in den Berg hineingebaut worden war. Zu sehen war ebenfalls, dass sich in diesem Gebilde Räume befanden. Es war zwar nur schematisch, trotzdem war die Gebäudestruktur eindeutig erkennbar. Rechts von der Mitte befand sich ein großer Würfel. Das musste das Expeditionsraumschiff sein. Er hatte immer gedacht, das Raumschiff stünde in der Mitte. 337
Falsch gedacht. Es ist alles eine Frage der Perspektive, erkannte er. „Frage: Wie groß ist die Station, wer hat die Station erbaut und handelt es sich um eine besondere Station?“ „Station - Länge = 1280, Breite = 580, Höhe = 630 Meter. Station = Bord - Raumschiff - Maschinen = errichtet. Stationen Forschungsklasse III = gleich. Expeditionsraumschiff = Material - 16 Stationen Bord. Stationen = grundsätzlich - Gesteinsmassive - höhere Region - zu erforschenden Planeten geschnitten + errichtet. Station = 2 Raumschiffe Forschungsklasse aufnehmen. An Bord = Material - 9 Stationen.“ Also eine reine Routineangelegenheit für die Helas, solch eine Station zu errichten. Wenn er das Bild vor sich richtig interpretierte, lag auf dem oberen Dach der Station der alte Gletscher. Das Dach ist die Lande-und Startplattform für Raumschiffe. Nach dem Landen öffnet sich das Dach und das Raumschiff versinkt ganz langsam per Antigravitation in die Station. Beim Startvorgang dreht sich die Reihenfolge um. Für einen Statiker müsste dieser Riesenbau ein interessantes Studienobjekt sein, überlegte Peter, allein die Dach338
verschiebung muss einen ungeheuren Druck aushalten. Aber auch damit sollten sich später einmal Spezialisten auseinandersetzen. Er bemerkte immer häufiger, dass sie ohne eine größere Anzahl von Wissenschaftlern nicht auskommen würden. Er sah auf die Uhr und stellte fest, dass es höchste Zeit wurde, Gitti von der Regeneration wieder abzuholen. Als er sie mit den Worten: „Willkommen im Club der Schlaflosen“ begrüßte, konnte sie sich vor Lachen kaum mehr aufrecht halten. Wie schon bei Ellen und Georg, erfragte er Gittis Werte. Sie waren in Ordnung. „Hat dir Georg von seinen Werten berichtet?“, wollte er von ihr wissen. Sie schüttelte nur fragend den Kopf. „Ich glaub, für ihn war es ein Superglück, dass er hierher kam. Seine Werte sind so schlecht, dass er in knapp zwei Wochen unters Messer muss. Das ist hier bei dieser fortgeschrittenen Medizintechnik kein Problem, aber draußen hätte er vermutlich bald ernsthafte, gesundheitliche Schwierigkeiten bekommen“, erklärte er nüchtern. „Jetzt dürfte aber alles wieder gut werden.“ 339
Sie schwieg betroffen. Das hatte Georg ihr nicht erzählt. Dies war auch typisch für ihn, er wollte ihr auf keinem Fall Sorgen bereiten wenn er wirklich Probleme hatte, machte aber einen auf irre leidend, wenn er nur einen kleinen Schnupfen oder verspannten Rücken hatte. Als er ihr die Station und Teile vom Raumschiff zeigte, weidete er sich genüsslich an ihrem maßlosen Staunen. Sie hatte viel erwartet, aber so etwas Gewaltiges, in seiner Schlichtheit und offensichtlichen Funktionalität Erhabenes nicht. Nicht nur die fremdartige, schlichte Technik verschlugen ihr den Atem, sondern auch die ungeheuren Größen einzelner Anlagen und des Raumschiffes. „Fällt dir eigentlich auf, dass hier etwas absolut ungewöhnlich ist?“, fragte sie ihn plötzlich. Er stutzte. Was könnte sie meinen, überlegte er fieberhaft. Das mit dem Locht und dem fehlenden Schatten konnte sie nicht meinen, das hatte er ihr schon erzählt. Er sah sich um, konnte aber nichts entdecken, was Gitti gemeint haben könnte. Es gab so unendlich viel Ungewöhnliches hier. Was Gitti gemeint haben musste, musste etwas ganz Triviales gewesen sein. „Nein“, gab er, sich immer noch umsehend, ehrlich zur Antwort. 340
„Typisch Mann“, lachte Gitti glucksend, „In diesem Riesenbau liegt nicht ein einziges Staubkörnchen und das, wo dieser Bau doch schon 130.000 Jahre alt sein soll!“ Jetzt wo Gitti darauf hinwies, bemerkte er es ebenfalls. Spitzenhygiene hier, grinste er in sich hinein. Man würde nicht einmal Staub saugen müssen. Ein Reinigungsteam, bestehend aus Robotern, hatte er allerdings noch nicht bemerkt. Es gab Rätsel über Rätsel hier. Unterwegs durch die Anlage trafen sie auch Georg. Der winkte nur kurz und verschwand schon wieder in einem anderen Raum. Um 17.00 Uhr ließ Peter Ellen und Georg über den Zentralrechner ausrichten, dass es Zeit sei, in die Anpassungsräume zu kommen. Als sie alle dort versammelt waren, bekamen sie ihre neuen Sicherheitskombinationen ausgehändigt. Sie unterschieden sich nur durch vier winzig kleine Kästchen am Gürtel von den alten Kombis. Es war für alle ausgesprochen gewöhnungsbedürftig, unter der Kombi keine Unterwäsche zu tragen. Aber bereits nach wenigen Minuten fühlten sie, wie angenehm sich der Anzug trug. Man hatte das Gefühl, als würde man mit dem Anzug verschmelzen, als wäre es eine zweite Haut. Sie machten sich wieder auf den Weg zurück zum Hotel. Für Ellen, 341
Peter und Georg war es bereits Routine geworden, nur Gitti achtete fasziniert auf jede Kleinigkeit. Alexander und Verena saßen rittlings auf ihren Stühlen im Hotelzimmer der Mädchen. Sabine, Simon und Marian lagen bäuchlings auf dem Doppelbett. Sie hielten bereits seit einer Stunde geheimen Kriegsrat. Es war keinem die Unterhaltung zwischen Verena und den Eltern und Alexanders Frage nach den Kombis entgangen. Sie hatten auch die hochgradige Spannung bei diesen Dialogen bemerkt. Jeder von ihnen hätte heute auf das Reiten, Schwimmen und Golf spielen gerne verzichtet, wenn sich dafür die Ungereimtheiten in Luft aufgelöst hätten und alles wieder beim Alten wäre. Aber irgendetwas war hier los. Sie beschlossen, den Eltern keine Fragen mehr zu stellen, sondern sie irgendwie zu belauschen und zu beobachten. Dazu schmiedeten sie Pläne, welche sie bereits am Abend umsetzen wollten. Gitti fiel beim Abendessen als erste die gespannte Stille bei den Kindern auf. Ob sie bereits etwas wussten. Jedes der Kinder holte sich vom kalten Büffet mindestens zwei Nachschläge. Alexander brachte es sogar auf fünf. Die nahezu beendete Pubertät mit ihren Wachstumssprüngen machte sich bei ihm besonders bemerkbar. Die Erwachse342
nen waren durch das Tragen ihrer neuen, alles versorgenden Sicherheitskleidung schon von vornherein gesättigt. Sie rührten und stocherten in ihren kleinen Portionen nur etwas herum und ließen nahezu alles wieder zurückgehen. „Habt ihr keinen Hunger?“, wollte Sabine, dies bemerkend, wissen. „Nein, wir haben schon unterwegs gegessen“, log Ellen unverblümt. Was sollte sie sonst auf diese Frage antworten. „Dürfen wir nach dem Essen alle in die Disco in Rauris gehen?“, fragte Verena vorsichtig und gespannt. Häufig gab es auf diese Frage einen ablehnenden Bescheid. Der Rückweg war nachts sehr problematisch. „Ja“, erlaubte Georg ohne Umschweife „ich hab nichts dagegen. Ihr etwa?“, fragte er Ellen, Peter und Gitti, diese fragend anblickend. Sie schüttelten nur stumm den Kopf.
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„Spätestens um 24.00 Uhr seid ihr aber wieder hier“, reglementierte Gitti die vorangegangene Erlaubnis noch etwas. Die Kinder nickten schweigend, aßen auf und verabschiedeten sich ruhig. „Die ahnen was“, fing Gitti spontan, das Gespräch auf den längst überfälligen Punkt bringend, an. „Normalerweise wären sie hier jubelnd hinausgestürzt. Aber das hier eben, kann man getrost einen geordneten Rückzug nennen.“ „Richtig. Aber was sollen wir tun?“, grübelte Ellen, laut vor sich hinmurmelnd. „Was ist richtig?“ Peter räusperte sich und begann die längst fällige Diskussion: „Wir müssen die Kinder, ob wir und auch sie selbst wollen oder nicht, aus Sicherheitsgründen in die Station bringen. Ich begründe das mal kurz: Erstens: Die Messkapsel ist bekannt. Also auch die Existenz außerirdischer Technik hier auf unserem Planeten. Zweitens: Ein Forschungsteam bohrt auf dem Gletscher. Jede Minute kann es passieren, dass sie 344
auf die Start-und Landedecke stoßen. Dann wird’s spannend. Drittens: Dein Bild in der Zeitung könnte alle möglichen Menschen und Instanzen aufmerksam gemacht haben. Die werden nachforschen und auch namentlich auf uns kommen. Viertens: Wir leben zu dicht mit unseren Kindern zusammen, als dass wir ihnen allen Ernstes so etwas Fundamentales verheimlichen könnten. Sie haben unsere Veränderung bereits deutlich bemerkt und sind ausgesprochen misstrauisch geworden. Das sind erst einmal die Eckdaten vorweg. Die alleine würden die Notwendigkeit der Sicherung unserer Kinder noch nicht begründen. Aber stellt euch mal vor, irgend so eine staatliche, private, industrielle oder gar kriminelle Gruppe bekommt nur den leisesten Hauch einer Vermutung über das konkrete Vorhandensein einer überragenden, neuen Technik, konkretisiert auf einen Ort und uns persönlich mit. Dann wären unsere Kinder Freiwild. Glaubt mir, einige dieser Gruppen würden alles, aber auch wirklich alles tun, um diese Technik für ihre Zwecke in die Hände zu bekommen. Wir würden über unsere Angehörigen erpressbar werden. Wir könnten gar nicht so schnell gucken, wie unsere Kinder gekidnappt werden würden. 345
Und das wäre vermutlich sogar nur die mildeste Form. Spätestens an dieser Stelle wäre es mit der Kindheit, wenn nicht sogar mit dem Leben zu Ende. Ich glaube, selbst wenn wir dann, um unsere Kinder zu retten, alles übergeben, würden die uns, aufgrund unseres Wissens, nicht leben lassen. Das galt soeben für den Fall, dass sie nur einen Hauch von Wissen besitzen. Also mehr ein Vermuten. Wenn sie gar ganz genau wissen, was hier verborgen liegt, dann beginnt ein Sturmlauf auf uns. Was meint ihr, habích recht?“ Beklommenes Schweigen. Die Richtigkeit von Peters Ausführungen war ihnen klar. Trotzdem versuchte Georg zaghaft einen Widerspruch: „Aber die Geologen auf dem Gletscher könnten doch die Bohrungen einstellen, oder sie an einer anderen, für uns ungefährlichen Stelle fortführen, oder nicht auf das Stationsdach stoßen. Genauso muss keiner den Widerspruch und wahren Hintergrund auf dem Bild erkannt haben oder sich etwas dabei denken. Und die Amerikaner versuchen doch schon seit Jahren, das Rätsel der Messkapsel zu lösen. Auch die Kinder können wir doch noch lange mit diversen Ausreden hinhalten. Dann hätten wir noch viel Zeit und könnten den Kindern ihre Jugend lassen. Wir sind uns doch wohl alle ei346
nig, dass sich das Leben der Kinder, wenn wir sie in die Station bringen, noch einschneidender verändert, als unseres. Sie verlieren alle ihre bisherigen Freunde und können keine mehr hinzugewinnen. Auch ihre Unbedarftheit geht schlagartig verloren. Mal von ihren erwachenden, beziehungsweise schon vorhandenen, sexuellen Ansprüchen abgesehen.“ Gitti und Peter hatten bei diesen Worten Georgs teilweise stumm den Kopf geschüttelt. Ellen stierte nur vor sich hin. „Diese Möglichkeiten sind vorhanden. Aber es wären wohl zu viele günstige Zufälle auf einmal. Peter hat den worst case an die Wand gemalt, du, Georg, die absolut günstigste Variante. Irgendwo dazwischen wird’s wohl liegen. Ich neige eher zu deiner Ansicht“, nickte Ellen nachdenklich in Richtung Peter. Hier fiel Gitti in die Diskussion ein: „Ich sehe das ähnlich, wie du, Ellen. Selbst wenn Georg recht hätte, wären wir schlecht beraten, lange zu warten, denn wenn plötzlich eines der Ereignisse, die Peter skizziert hat, eintritt, und wir gerade in der Station oder abwesend sind, sind die 347
Kinder ungeschützt. Einer von uns könnte mit seinem Schutzanzug natürlich immer als Aufpasser in ihrer Nähe bleiben, aber das würde auch nicht viel nützen, denn zum Einen könnte er körperlich, wenn überhaupt, immer nur ein Kind beschützen, zum Anderen würden sich die Kinder im Nu beobachtet fühlen und wieder wäre ihre Kindheit und Unbedarftheit im Eimer. Außerdem bleiben fünf Kinder selten durchgehend zusammen, zumal sie aufgrund ihres Alters auch schon sehr selbständig sind. Also müssen wir sie kurzfristig einweihen, ob wir wollen oder nicht.“ „Die Probleme sind ja noch bedeutend vielschichtiger“, setzte Peter den Gedankengang Gittis fort. „Gesetzt den Fall, wir nehmen Morgen die Kinder mit in die Station und statten sie mit der Sicherheitsausrüstung aus und Georgs optimistisches Szenario trifft zu, dann müssen wir in fünf Wochen wieder nach Hause fahren. Die Kinder würden zur Schule gehen und augenblicklich zu Außenseitern werden.“ „Warum das denn?“, unterbrach Georg fragend Peters Redefluss.
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„Weil der Schutzpanzer der Stufe 1 sie nicht nur vor fremden Angriffen schützen würde, sondern sie auch von ihren Artgenossen absondert. Wie will Alexander seinem Freund Jens die Kombis erklären. Wie dem Sportlehrer. Ach, hier könnten unzählige Möglichkeiten von unlösbaren Problemen genannt werden. Außerdem ist es noch sehr fraglich, ob wir in fünf Wochen von hier wieder wegkommen oder auch wegwollen“, vollendete er seine Ausführungen leise. „Wenn diese Entdeckung nicht so ungeheuer faszinierend und nützlich wäre, hätte ich gesagt, die hat uns der Teufel geschickt“, brachte Gitti die Gesamtsituation auf den Punkt. „Lange Reden, kurzer Sinn“, fasste Ellen zusammen, „wir sollten die Kinder so lange nicht mitnehmen, bis ein Gefahrenmoment wirklich in wahrscheinlicher Reichweite liegt. Dann haben sie wenigstens bis dahin noch was von ihrer Kindheit. Wenn allerdings auch nur die kleinste Gefahr in Sicht ist, werden die Kinder aus Sicherheitsgründen sofort mit in die Station genommen. Dort müssen wir aber unbedingt Sicherheitsvorkehrungen treffen, damit sie in der Station oder im Raumschiff nicht zu Schaden kommen können. 349
Wir sollten ihnen aber erst dann von der Station und allen anderen Dingen erzählen.“ „Damit bin ich einverstanden“, stimmte Gitti zu. „Na, ja. Ich dann auch“ gab nun auch Georg klein bei, „und du“ fuhr er zu Peter gewandt fort. „Erst recht“, gab dieser sofort zur Antwort. „Zusätzlich sehe ich mehrere Punkte nicht so negativ wie ihr. Wir werden, wie es ja auch schon mal dein Vorschlag war, Ellen, Fachleute mit ihren Familien in die Station und ins Raumschiff holen müssen. Dabei müssen wir zwar extrem vorsichtig und bedacht vorgehen, aber wir werden genügend gute Leute finden, denke ich. Die haben dann auch Kinder, und mit der Zeit existiert dann in diesem Kreis wieder eine, hoffentlich intakte und auch für Kinder geeignete, Welt.“ Die Kinder hatten sich nur einige Meter hinter der Restauranttür in eine Nische in der Empfangshalle zurückgezogen. Sie hatten nicht die geringste Lust, in die Disco zu gehen. Stattdessen berieten sie nun, wie sie ein Stück näher an das Geheimnis der Eltern gelangen könnten. „Wir könnten am Montag ein kleines Mikrofon kaufen und dieses unter dem Esstisch installieren. 350
Das müsste funktionieren, da wir immer am selben Tisch essen“, schlug Marian den anderen vor. „Erstens bekommen wie kein solches Mikro hier in dieser Gegend. In Salzburg würden wir eines bekommen, aber hier in den Gebirgsdörfern? Nie. Zweitens haben wir alle zusammen nicht so viel Geld, um überhaupt eines kaufen zu können“, widersprach Verena sogleich vehement. „Ich bin hier die Kleinste“, fing Sabine an, „ich könnte mich jetzt ins Restaurant schleichen und hinter einem der großen Blumenkästen, welche die Tische voneinander abgrenzen, verstecken und lauschen. Was meint ihr dazu?“ „Tolle Idee“, fing Simon prompt Feuer. Ihm gefiel dieser Einfall. Sie war mit ihren fünfzehn Jahren eher etwas kürzer geraten als der große Durchschnitt Gleichaltriger und es hatte so einen Hauch von Abenteuer a la` Winnetou und Old Shatterhand. „Und wie willst du unbemerkt da hineinkommen?“, wollte Alexander, ebenfalls bereits stark interessiert, wissen. „Ganz einfach“, erklärte Sabine ihr Vorhaben euphorisch. Ihre Wangen glühten vor Erregung. 351
„Wenn die dicke Bedienung mit ihrem Tablett wieder hineingeht, laufe ich ganz dicht hinter ihr her und versteck mich ganz schnell hinter dem Blumenkasten, der gleich bei Georg steht.“ Diesem Vorschlag stimmten alle erregt zu. Da kam auch schon die zuvor genannte Bedienung angewatschelt. Sie hatte ein rot-weißes Dirndlkleid an und trug ein Tablett mit verschiedenen Büffetgerichten vor sich her. Ihr Gesicht war vor Anstrengung fast so rot, wie ihr Kleid. Sabine hüpfte flott ganz dicht hinter die dicke Bedienung und ging im Gleichschritt mit. Es sah zu komisch aus und glich einem Slapstick aus den Anfängen des Kintopps. Die Tür wurde kraftvoll aufgestoßen, und schon waren beide im großen Speisesaal. Die Eltern waren so in ihrem Gespräch vertieft, dass sie gar nicht auf die wiederholt den Raum betretende Bedienung achteten. Sabine gelang es problemlos, sich hinter der Blumenabtrennung zu verstecken. Der große Raum, ausgestattet mit schönsten Zirbelholz und bequemen Möbeln, roch herrlich nach Holz, Blumen und Essen. Gerade die Blumen machten den Eindruck des Raumes noch angenehmer. Sabine konnte die Erwachsenen nur bedingt gut hören. Teilweise waren ganze Passagen ihrer Rede nicht zu verstehen, so laut war es in 352
dem Raum. Aber vieles war auch sehr gut zu hören. Sie lauschte und versuchte zu behalten, was immer gesprochen wurde. Teilweise glaubte sie nicht richtig verstanden zu haben, so absurd schien ihr das Gehörte zu sein. Nach einer halben Stunde taten ihr die Knie von der zusammengekauerten Haltung so weh, dass sie sich entschloss, sich wieder zurückzuziehen. Als die Bedienung wieder einmal den Weg zurück machte, kroch sie genau in dem Augenblick aus ihrem Versteck, als sie glaubte, dass diese den Blick zwischen den Eltern und ihr ganz verstellen würde. Behände sprang sie vor ihr hin und wollte so im Sichtschutz der dicken Bedienung den Raum verlassen. Aber noch ehe sie die Tür erreicht hatte, wurde sie an der Schulter festgehalten. Sie sah sich erschrocken um. „Sag mal, du kleines Luder. Hast du uns belauscht?“, fragte Peter verärgert. Sie schluckte und war nicht mehr in der Lage, etwas zu sagen. „Warten die Anderen draußen in der Empfangshalle?“, wollte er nun wissen. Sie nickte nur verängstigt.
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„Dann hol mal alle zu uns rein“, gab er ihr die Anweisung. Mit einem kleinen, freundlichen Klaps auf den Rücken ließ er sie wieder los. „Hat sie uns belauscht?“, wollte Georg neugierig wissen, als Peter wieder zurück an den Tisch kam. Dieser setzte sich stumm hin und nickte nur traurig. „O.K. Dann sollten wir Morgen die Kinder mitnehmen und einweihen. Es geht dann eben nicht mehr anders. Wenn Sabine nur einen Bruchteil von dem verstanden hat, worüber wir hier soeben gesprochen haben, sind sie nicht mehr sicher“ stellte Ellen zerknirscht fest. Alle nickten bedrückt, Zustimmung signalisierend. Da kamen die Fünf auch schon anmarschiert. Bis auf Verena, sah man allen das schlechte Gewissen an. Sie setzten sich wieder an den Tisch und Peter ließ sich von Sabine wiederholen, was sie gehört und verstanden hatte. Es genügte. Sie hatte eine sehr gute Auffassungsgabe. „Passt mal auf, ihr dummen, neugierigen Kinder, oder besser gesagt, jungen Damen und Herren“, begann Ellen verärgert, „durch dieses Lauschen verändert sich ab Morgen eure Dasein entschei354
dend. Ob zum Besseren oder Schlechteren kann noch Niemand sagen, aber wir werden ja sehen. Es handelt sich um etwas so Bedeutendes, dass ihr zu Keinem, weder heute noch später, jemals ein Wort sagen dürft. Wenn ihr Morgen Vormittag alles erfahrt, werdet ihr verstehen. So, und jetzt ins Bett. Schlaft euch gründlich aus. Alles klar?“ Vollständig verwirrt, aufgeregt und teilweise verängstigt verließen sie, wie begossene Pudel, den Raum. Nicht einmal Alexander und Verena widersprachen, wie es doch sonst so häufig ihre Art war. Aus den Aussagen Sabines hatten sie, wenn auch nur marginal, eine Vorahnung, dass es in den Bergen etwas Ungeheuerliches geben musste. So tief greifend war die Erschütterung, dass sie sogar schweigend ins Bett gingen und nicht einmal mehr miteinander schwatzten. Der Reporter des Altöttinger Anzeigers saß wieder im Reporterzimmer des Verlages und sah innerhalb einer Stunde mindestens zum zwanzigsten Mal auf seine Uhr. Es war schon 21.30 Uhr. Wo blieb nur Bernd Brunner, der Photograph. Mehr als ein Dutzend Mal hatte er bereits bei ihm zu Hause angerufen. Der Anrufbeantworter nahm längst keine Nachrichten mehr auf. Mehrmals hat355
te er auch an seine Tür geklopft, aber er rührte sich nicht. „Sagt mal, Kollegen!“, brüllte er um Aufmerksamkeit heischend in den Raum, „war der Brunner heute schon mal hier. Oder weiß einer, wo er ist oder sein könnte?“ Keiner meldete sich. Sie schüttelten nur bedauernd und nicht wissend die Köpfe. ‘Wenn Bernd morgen Mittag nicht hier ist, geh ich mit dem Neuhauser in seiner Wohnung nachschauen’, überlegte er, ‘vielleicht ist ihm was passiert. Diesen schrägen Vögel, die ihn gestern Abend abgeholt haben, ist alles Mögliche zuzutrauen.’ Traurig und verunsichert rauchte er eine Zigarette nach der anderen und wartete. Peter und Georg besuchten kurz Alexander, Simon und Marian in ihrem Zimmer. Es war bereits dunkel und kein Mucks war zu hören, obwohl sie noch nicht schliefen. „Ihr müsst keine Angst vor dem morgigen Tag haben. Es ist eine tolle Sache, die euch erwartet. Der Nachteil liegt darin, dass ihr so bekannt werdet, 356
dass es euch bald auf die Nerven gehen wird. Reiten, Schwimmen und Golf spielen könnt ihr auch weiterhin, wann immer ihr wollt, nur ob es euch noch so brennend interessiert wie bisher, wagen wir zu bezweifeln. Das ist es, was wir vorhin meinten. Und es ist so geheim, dass ihr mit keinem, nicht mal mit Freunden, darüber sprechen dürft. Also lasst eure Handys schön stecken, macht euch keine Sorgen und schlaft schön.“ Diese freundliche, beruhigende Ansprache Georgs verfehlte ihren Zweck nicht. Ein sichtliches Aufatmen ging durch die jungen Männer. Nun waren sie wieder beruhigt. Am Ende wurde sogar schon wieder herumgealbert und eine stundenlange, leise, phantasievolle Unterhaltung setzte ein. Ähnlich erging es Ellen und Gitti bei den Mädchen. Sogar Verena freute sich auf das Kommende. „So, Mitternacht ist vorbei. Zuerst tauschen wir die wichtigsten Fakten des heutigen Tages aus, dann überlegen wir uns die präzise Vorgehensweise für Morgen. O.K.?“, leitete Peter die folgende Diskussionsrunde ein. "Wie ich vorhin schon erwähnte, bohrt sich das Forscherteam oben auf dem Gletscher immer näher an die Station heran. Ich weiß jetzt genau, wie das quaderförmige Bauwerk im Bergmassiv liegt“, setzte er seinen Bericht fort. 357
„Und ich weiß, wie diese Station und das Raumschiff in seinem Grundgerüst aufgebaut ist“, unterbrach Ellen stolz Peter. Der schmunzelte amüsiert. So viel Freude und Enthusiasmus hat sie während ihrer Berufstätigkeit nie gezeigt. Auffordernd fortzufahren, nickte er ihr lächelnd zu. „Also zuerst mal zur Station: Alle vier Seiten und einmal quer durch die Mitte sind mit senkrechten Stützpfeilern alle 100 Meter versehen. Die Seiten wurden zusätzlich mit zwei umlaufenden Traversen und diagonalen Versteifungen versehen. Die Decke besteht aus zwei 12 Meter dicken Platten, die ineinander verschiebbar sind. Alle Pfeiler sind quadratisch und etwas über zwanzig Meter dick. Die Bodenplatte ist massiv. Alles ist aus einem Metall hergestellt, dessen Namen ich nicht erfassen kann. Die Außenwände der Station sind knapp drei Meter dick.“ Sie weidete sich an den fassungslosen Blicken der Anderen, konnte aber nicht sagen, ob es bei ihnen die Faszination über die gehörten Daten war oder ob sie sich nur wunderten, wie man derart trockene Zahlen faszinierend finden konnte. „Nun zum Raumschiff, dem Mutterschiff“, fuhr sie fort, „hier müsst ihr Euch ein Gitter aus senk358
rechten Stäben, gekreuzt von waagrechten Stäben vorstellen. Die Enden der Stäbe und Kanteneckpunkte sind fest mit der Außenschale verbunden. Jeder Stab ist quadratisch und hat eine Kantenlänge von etwas über zwanzig Meter. Das Raumschiff ist so als ausgesprochen stabil zu bezeichnen. Das Metallmaterial ist überall das Gleiche. Was sagt ihr dazu?“ „Ja, das ist bestimmt gut, oder?“, stellte Gitti eine Gegenfrage, die aufzeigte, dass sie überhaupt nichts verstand und diese Technik als nichts Besonders empfand. „Seht ihr denn nicht, was das bedeutet?“, Ellen war erstaunt über die unwissenden, verblüfften Blicke Gittis und Georgs. Selbst Peter, der es eigentlich hätte erkennen müssen, war ahnungslos. „Die Helas stricken nach dem gleichen Muster wie wir, wenn auch alles monumentaler und das eingesetzte Material bedeutend weiterentwickelter ist. Verstanden?“ „Nö, was soll daran so bedeutend sein“, platzte Georg vorwurfsvoll heraus. „Ganz einfach. Die Menschheit befindet sich auf dem gleichen Weg, wenn auch viel, viel weiter 359
hinten. Leuchtet euch nun die weitere Konsequenz ein?“, kam die folgernde Frage. Nur Peter nickte jetzt, er glaubte verstanden zu haben: „Wir werden, wenn’s auch ein Weilchen dauern wird, die Technik der Helas im Laufe der Zeit nachvollziehen können, weil wir aus dem gleichen Strickmuster sind und im gleichen Schema denken. Meintest du das?“, fragte er weich. „Genau, und das beruhigt mich ungemein“, schloss Ellen das Thema ab. „Und was war bei dir Besonderes, Georg? Wir haben dich unterwegs im Raumschiff herum düsen gesehen“, wollte nun Gitti wissen. „Alles was wir bisher erlebt und gesehen haben, passt eigentlich zu der Theorie von Ellen. Ich hab eine Unzahl von Lagerräumen besichtigt. Fast alle waren randvoll mit irgendwelchen metallenen, riesigen Kisten. Wie man da hineinschauen kann, sagte mir PUL. In den meisten Behältern war eine Art Metallgranulat. Dann hab ich die Kleinflugschiffe gefunden. Die sehen so ganz anders aus, als ich sie mir vorgestellt habe. Ich kam leider nicht rein, weil ich keine Freigabe dafür hatte“, erzählte er daraufhin. 360
„Sobald wir die Kinder versorgt haben, sehen wir uns diese Fluggeräte gemeinsam an“, meinte Peter auf Georgs Erzählung reagierend. Sie diskutierten die ganze Nacht flüsternd weiter. Zwischendurch übten sie wieder mit den Antigravschuhen. Gitti machte erheblich schnellere Fortschritte als die Anderen, weil diese sie durch gute Ratschläge vor unnötigen Fehlern bewahrten. Bereits um 7.00 Uhr klopften die Kinder an Gittis und Georgs Zimmertür. Sie waren hellwach und sogar frisch gewaschen und gekämmt. Selbst das leidige Zähneputzen hatten die Jungs nicht vergessen. Erwartungsvoll und aufgeregt standen sie in der Tür. Sie waren überrascht, als sie die Beiden vollständig angezogen auf der kleinen Couch sitzen und sich leise unterhalten sahen. Das Bett war noch nicht benutzt worden. Normalerweise lagen sie sonntags bis mindestens 10.00 Uhr tief schlafend im Bett. „Habt ihr die ganze Nacht hier gesessen und gequatscht?“, fragte Simon baff. „Ja, wir brauchen keinen Schlaf mehr“, erklärte Gitti ehrlich, „ihr dürft euch alle fünf mal kurz hineinwerfen, damit es benutzt aussieht. Dann holt 361
Peter und Ellen, damit wir nach unten gehen können und ihr frühstücken könnt.“ Das ließen sie sich nicht zweimal sagen. Mit lautem Gebrüll warfen sie sich auf die sorgfältig gemachten Betten und ließen unvermittelt eine Kissenschlacht folgen. Danach sahen die Betten entsprechend gebraucht aus. Sie holten Ellen und Peter ab und gingen gemeinsam in das Restaurant. Die Kinder aßen mit großem Appetit und wunderten sich, dass die Eltern nichts anrührten. „Müsst ihr auch nichts mehr essen und trinken?“, fragte Verena spitz. „Ja und nein, Verena“, erwiderte Ellen, „Das ist aber nur ein kleiner Teil unseres Geheimnisses. Und seid bitte ab sofort ganz leise, während ich euch alles erkläre.“ Die Kinder saßen über eine Stunde mucksmäuschenstill da. Simon und Marian, wie es sich für Zwillinge gehört, beide mit offenem Mund, Verena mit ungläubiger, kritischer, krauser Stirn, Sabine Kaugummi kauend und Alexander so stark mit dem Stuhl wippend, dass er jede Sekunde umzufallen drohte. Man sah ihnen sehr deutlich an, dass 362
sie bei Weitem nicht alle Worte, der auf sie einredenden Erwachsenen, verstanden. Das Wichtigste aber hatten sie kapiert. Danach fuhren sie mit zwei Fahrzeugen los, um in die Station zu gelangen. Als sie vor dem Eingang standen, konnte es sich Peter nicht verkneifen zu bemerken: „Schaut euch noch mal um. Das war einmal. Sobald wir im Berg sind, verändert sich für euch alles.“ „Hör auf die Kinder zu ängstigen“, schimpfte Gitti umgehend mit ihm. „Was wollen wir denn hier auf diesem schmalen Weg am Berghang. Hier ist doch weit und breit kein Eingang, der...“. Mehr konnte Alexander in seiner Verblüffung nicht mehr aussprechen, denn in diesem Augenblick rauschte der Berg vor ihm auseinander und gab den Eingang frei. Georg schob die Kinder förmlich in den warm beleuchteten Gang hinein. Als sie sich alle darin befanden, schloss sich die Öffnung wieder. Da tags zuvor nur der kleine Schweber abgestellt worden war, sprang Georg in diesen hinein, als wenn es sich um ein offenes Sportcabriolet handeln würde, 363
und brauste geräuschlos fort. So schweigsam, ruhig aber auch fassungslos hatten sie ihre Kinder noch nie erlebt. Wie würde das erst werden, wenn sie den Riesenhangar sahen, überlegte Ellen. „An PUL“, begann Peter laut zu sprechen, „hier kommen die nächsten Berechtigten: Verena, Alexander, Simon, Marian und Sabine. Es sind unsere Kinder. Sie dürfen, bis auf weiteres, die Zentralen von Raumschiffen und Kleinflugschiffen nur in Begleitung von Erwachsenen betreten. Das Verlassen der Station ist für jeden von ihnen nur nach Bestätigung durch einen berechtigten Erwachsenen möglich. Nach dem Eingangsscan soll die Abmessung für den Sicherheitsanzug für lange Außenaufenthalte und die Vollregeneration erfolgen. Ausstattung dieser Anzüge ohne Werkzeuge. Bei diesen Anzügen Schutzfeldaktivierung Stufe 3 blockieren. Außerhalb der Station durch Zentrale generell Stufe 1 einschalten und Deaktivierung nur nach Bestätigung durch einen berechtigten Erwachsenen erlauben. Anweisung in Ordnung?“ Die Kinder sahen sich instinktiv um, um zu sehen, mit wem Peter da gesprochen hatte. Es war ihnen zwar ausführlich die Sache mit den messbaren Gehirnwellen und der Gedankenübertragung erklärt worden, trotzdem meinten sie, dass im Gang 364
noch eine Person oder ein außerirdisches Wesen stehen müsste. „Verstanden. Wenn nicht voll ausgereifte Lebewesen = keine Regeneration. Funktionalität - Organe + Zellen = überprüfbar = instandsetzbar“, unterrichtete PUL die im Gang Stehenden. Als die Kinder diese Gedankenbilder in ihrem Geist auftauchen sahen, war ihnen zwar unheimlich zumute, aber jetzt verstanden sie, wie das mit der Kommunikation funktionierte. Alexander kam auch sofort auf die Idee, es mal auf seine Weise auszuprobieren, indem er nur dachte, ohne seine Gedanken laut auszusprechen: ‘Alexander an PUL’, den Namen des Zentralrechners hatte er sich sofort gemerkt. Er gefiel ihm. ‘Gib an Verena weiter, dass ihr Lippenstift hier im Gang zu dunkel wirkt.’ Er grinste vor sich hin. Wenn das funktioniert, würde das eine Gaudi sein. „Was quakst du da, Alex!“, keifte Verena aus heiterem Himmel Richtung Alexander los. Alle sahen sie verständnislos an. „Du hast doch davon gar keine Ahnung.“ Sie wurde rot im Gesicht und war sichtlich sauer. 365
„He, was ist los mit dir?“, wollte Gitti wissen, „Alexander hat doch gar nichts gesagt oder getan.“ „Klar, der hat gesagt, mein Lippenstift sei hier im Gang zu dunkel“, verteidigte sie sich wütend. „Ich hab’s genau gehört!“ Als sie die irritierten Blicke der Anderen sah, aber Alexander laut zu lachen begann, ahnte sie bereits, dass sie irgendwie gefoppt worden war. Aber wie? „Sag mal, du Schlaumeier“, hob Ellen an und blickte dabei ihrem Sohn in die Augen, „du hast das mit der Gedankensprache via PUL schon ganz gut verstanden, stimmt’s?“ Sie hatte als Erste diese komische Situation durchblickt. Langsam dämmerte es auch bei den Anderen. Nur die immer noch aufgeregte Verena musste genauer aufgeklärt werden. Danach wurde diese Situation zum allgemeinen Gelächter. In dieses Gelächter hinein kam Georg mit einem zehnsitzigen Schweber zurück. Er sah erstaunt in die Gruppe. Da Verena ein Gegengewicht zu dem eben erfolgten Reinfall aufbauen wollte, kam ihr ein Gedanke: 366
‘Verena an PUL: Sende an Papa neutral: Sag mal, warum bist du mit dem Viersitzer selbst losgefahren und hast einen größeren Schweber geholt. Das hätte PUL doch viel schneller und besser ohne dich gemacht. Oder wolltest du vor uns nur angeben?’ „Was ist los“, blaffte Georg in die vor ihm stehende Runde: „Wer war das?“ „He, führst du Selbstgespräche?“, fragte Verena scheinheilig, „es hat doch keiner was gesagt, stimmt’s?“ Jetzt kapierte Georg die Situation, und auch er fing an zu lachen. „So, jetzt hast auch du die Gedankenkommunikation verstanden. Aber ich sag euch eines: geht behutsam damit um. Über kurz oder lang werden wir noch andere Menschen hierher holen. Die meisten werden nur eine begrenzte und beschränkte Berechtigung erhalten. Treibt um Himmels Willen keine solchen Spielchen mit ihnen. Außerdem sollten wir die Sache mit der Gedankenkommunikation als größtes Geheimnis für uns Berechtigte behalten, denn damit können wir uns nicht nur unterhalten, sondern auch alle Maschinen steuern. 367
Deshalb sollten wir uns angewöhnen, immer laut mit PUL zu sprechen. Also, denkt immer daran!“, mahnte Peter eindringlich. Die Kinder nickten verstehend. „Weiterhin wollen wir grundsätzlich immer dabei bleiben, aus Gründen der Fairness unsere Gedanken laut auszusprechen und nur in Notsituationen rein gedanklich arbeiten. Einverstanden?“, setzte Gitti noch hinterher. Die Kinder nickten einmütig. Ob sie sich wirklich immer an diese Anweisung halten würden, war zu bezweifeln. Aber, wenn es zu schlimm werden würde, und sich die Beschwerden häuften, würde man schon einen Riegel mit Hilfe PULs vorschieben können. „Aber ich hab da noch was“, maulte Verena, sichtlich angesäuert. „Was denn?“, fragte Georg. Seine Augen verengten sich merklich. „Ich bin kein Kind mehr. Ich bin 19! Wieso werde ich hier als Kind eingestuft?“
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Als Peter das hörte, musste er grinsen. Als er Sabines Blick sah, wusste er, dass er ganz schnell eine sehr plausible Antwort finden musste. Seine Tochter fühlte sich längst als Erwachsene und hasste es abgrundtief, als Kind angesehen zu werden. „Für uns und für alle außerhalb der Station seid ihr genau genommen alle schon ziemlich erwachsen. Aber nicht für die Einstufung, wie sie hier vorgenommen wird. Diese erfolgt, wie ihr selbst gehört habt, auf rein biomechanischer Basis. Also spart euch das maulen!“ Dass seine Rede die beiden Mädchen nicht überzeugt hatte erkannte er sofort – aber es war erst einmal Ruhe. Anschließend nahmen sie Platz im Schweber. Ohne dass es einer Abstimmung bedurft hätte, bildete sich eine Sitzordnung. Peter vorne rechts, Georg links daneben. Dahinter die Frauen, dahinter die Mädchen, dann folgten die Zwillinge und in der letzten Reihe platzierte sich, über zwei Sitzplätze breitmachend, Alexander. Georg übernahm augenblicklich die Steuerung des Fahrzeuges durch Gedankenimpulse. Der Eingangsscan der Kinder verlief problemlos, da diese gut darauf vorbereitet 369
worden waren. Während bei den Kindern die Abmessung vorgenommen wurde, zogen sich die Erwachsenen die Kombis aus und ihre alten, normalen Kleidungsstücke wieder an. „Iiihh“, quietschte Georg auf, „die fühlen sich ja eklig an.“ Er sprach exakt das aus, was die anderen in diesem Augenblick ebenfalls dachten und spürten. Sie hatten sich schon so sehr an den unfühlbaren, bequemen Sitz der Kombis gewöhnt gehabt, dass ihnen die normale Kleidung unangenehm vorkam. „Frage: Gibt es eine nicht schutzanzugähnliche Freizeitkleidung, welche wir hier in der Station und im Raumschiff tragen können?“, wollte Gitti aufgrund dieser Erfahrung von PUL wissen. „Ja. Anfertigung vornehmen?“ „Wie lange dauert das?“, hakte sie schnell nach. Nichts kam. Georg schlug sich vor Vergnügen auf die Schenkel, als Gitti verärgert nach oben sah. So war es ihnen auch schon ergangen. Jetzt hatte es Gitti erwischt. Nur schaltete sie schneller als Georg seinerzeit, als sie diesen so vergnügt, schadenfroh lachen sah. 370
„Frage: Wie lange dauert das?“, kam es, schwer atmend, aus ihr heraus. „Zehn Minuten.“ „Wir können ja zwischendurch hierher kommen und uns umziehen, oder es auf Morgen verschieben. Anweisung an PUL: Für alle solche Kleidung herstellen. Farbliche Abstimmung: Berechtigte Männer und Frauen: blau, berechtigte Kinder: rot, nichtberechtigte Menschen: gelb.“ Diese Anweisung Peters stieß auf Proteste Gittis und Ellens. „Es soll uns nur helfen, wenn hier mal sehr viele Menschen sind, sofort die wichtigen Gruppen zu erkennen. Im Laufe der Zeit werden wir die Farbskala mit Sicherheit noch erweitern“, verteidigte er sich auf ihre Einwände postwendend. Dies leuchtete ihnen ein und wurde akzeptiert. Nach der Abmessung fuhren und liefen sie gemeinsam den ganzen Tag durch die Anlage und das Raumschiff. Den Kindern erging es, wie zuvor den Erwachsenen. Sie staunten was das Zeug hielt, waren aber von der Schlichtheit der Anlage und seiner Geräte schwer enttäuscht. Sie hatten sich hochtechnisch aussehende Apparate, Roboter und 371
Fluggeräte, so wie sie sie aus Filmen und Büchern kannten, vorgestellt. Trotzdem kapierten sie sehr schnell die ungeahnten Möglichkeiten, die diese Technik der Helas beinhaltete. Es würde ein tolles, abenteuerliches Terrain werden. Mittags holten sie sich die Freizeitkleidung und zogen sie sich an. Es waren wieder Kombis mit Gürtel und flachen Schuhen, nur alles viel leichter und dünner. Am Gürtel der Erwachsenen waren die Werkzeuge und eine Energieeinheit angebracht, während die Kinder nur einen Gürtel mit Energiekästchen trugen. Auch die Armstulpen und Halskrause fehlten. Eine Überraschung hatte die Helastechnik dann aber doch bereit: Verena und Sabine hatten ebenfalls blaue Kombinationen mit einer Energieeinheit an, allerdings ohne Werkzeuge. Das System hatte sie als biologisch erwachsen eingestuft. Für die beiden Neuerwachsenen war der Tag gerettet. Sie liefen stolz aufgebläht herum und konnten es auch nicht unterlassen, Alexander, Simon und Marian unentwegt damit aufzuziehen, dass sie noch Kinder wären. Peter schüttelte nur den Kopf und wies PUL sicherheitshalber an: „An die unberechtigten Menschen, welche künftig in die Station oder ins Raumschiff kommen, keine Werkzeuge ausgeben.“ 372
Die neue Freizeitkleidung trug sich zwar nicht ganz so angenehm angepasst, wie die autarke Sicherheitskleidung, aber dafür viel leichter, als die alte Kleidung. Und sie saß super, schwärmten die weiblichen Wesen der Gruppe entzückt. Die Kinder entdeckten als erste die verschiedenen Abzeichen an den unteren, linken Ärmeln. Bei den Erwachsenen waren es die gleichen, wie an den Sicherheitskombis, bei den Kindern waren die Kreise mit einem horizontalen Strich versehen, auch bei Verena und Sabine, sehr zu deren Leidwesen, denn nun bekamen sie von den Jungs alles wieder zurückgezahlt. „Gott sei Dank, bei Allen gleich“, atmete Ellen befreit auf. Die Probleme, wenn nur einer ein anderes Abzeichen gehabt hätte, wären nicht auszudenken gewesen, die Kombifarbe war schon zu viel. Danach ging es den gesamten Nachmittag weiter auf Besichtigungstour. Zwischendurch wurden Speisetabletten gegessen und mehrmals getrunken. Gegen 19.30 Uhr mussten sie dann wieder ihre Sicherheitsausrüstung, und darüber ihre normale Straßenkleidung anziehen. Da die Kinder keine Werkzeuge bei sich trugen, konnten sie nur die Si373
cherheitsstufen 1 und 2 üben, und das Einschalten des Senders und Empfängers lernen. Es war kein Problem. Das Training mit den Antigravschuhen stand für die Nacht im Zimmer auf dem Programm. Gegen 20.20 Uhr kamen sie im Hotel an. Die Kinder trafen sich mit ihren Bekannten und spielten mehrere Runden Billard. Ellen beobachtete sie mehrmals und stellte erfreut fest, dass sie sich gegenüber den anderen Kindern einigermaßen unauffällig verhielten. Es war fast 21.00 Uhr. Der Reporter des Altöttinger Anzeigers wurde immer unruhiger. Er hatte schon während des gesamten Tages versucht, Bernd Brunner zu erreichen. Etliche Male versuchte er es per Telefon und genau so oft hatte er an Brunners Wohnungstür geklopft. Er hatte sogar Hausbewohner befragt, ob sie den Photographen gesehen hätten. Nur Einer sagte aus, dass er ihn am Freitag Spätnachmittag mit zwei Männern ins Haus gehen gesehen hätte, und dass diese Männer dann zwanzig Minuten später wieder alleine heraus gekommen wären. Jetzt wollte er nicht mehr länger warten. Nur zehn Minuten später traf er auf dem Polizeirevier ein. Jörg Neuhauser hatte zu dieser Zeit Spätschicht. Er kannte den Beamten von diversen 374
Unfällen, bei denen er seine Lokalreportagen gemacht hatte. Deshalb wandte er sich auch sogleich an ihn: „Grüß dich, Jörg“, begann er nervös, „der Brunner ist verschwunden. Dem muss in seiner Wohnung was passiert sein. Komm mal schnell mit, damit wir nachschauen können.“ Jörg kannte den Reporter sehr gut. Er mochte ihn zwar nicht allzu sehr, aber es war immer gut, wenn einem ein Reporter gut gesonnen war. Dies in sein Kalkül ziehend, erklärte er sich umgehend bereit, mit ihm zu der Wohnung von diesem Brunner zu fahren. Zwei Minuten später standen sie bereits vor der Tür des Photographen. Als auf wiederholtes Klopfen nicht geöffnet wurde, bot sich der Reporter an, die Tür einzutreten und wenn es sich um einen Fehlalarm gehandelt haben sollte, sofort auf seine Kosten für die Schadensbeseitigung zu sorgen. Jörg Neuhauser wusste zwar, dass das nicht ganz legal war. Aber wenn dieser Reporter unbedingt wollte, soll er es doch machen, sagte er sich. Die Tür war so alt und desolat, dass sie nach der Aktion nur besser werden konnte. Der Reporter trat zwei Mal mit dem rechten Fuß kräftig gegen die Wohnungstür, und schon krachte sie auf. 375
„Taugt auch nichts mehr, das alte Gelumpe“, murmelte Jörg. Sie betraten die Wohnung, sich vorsichtig umsehend. Es roch faulig und feucht. Der Reporter war geschockt, als er die verdreckte, schlampige Wohnung sah. Er war noch nie bei seinem Kollegen zuhause gewesen. Jörg warf einen kurzen Blick in die kleine Küche. Hier stank es noch schlimmer. Alte, halb verbrauchte, offen herumliegende Lebensmittel waren teilweise bis zur Unkenntlichkeit verschimmelt. Ihm wurde leicht übel. Als er sich vergewissert hatte, dass in der Küche niemand war, warf er schnell die Tür hinter sich zu. Der Reporter öffnete die angelehnte Badezimmertür, sah kurz hinein und konnte nichts entdecken, was auf einen Verbleib Brunners hingedeutet hätte. Die Tür offen stehend lassend, kniete er sich im Wohnraum hin und blickte unter das Bett. Inzwischen betrat Jörg Neuhauser das Bad. Er wunderte sich außerordentlich, als er das trockene Bettzeug in der Badewanne liegen sah. Kopfschüttelnd, ohne sich eigentlich etwas dabei zu denken, zog er am hinteren Ende die Überdecke aus der Wanne heraus.
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„Himmel, was ist das!“, schlug er erschrocken Alarm. „Komm schnell her“, rief er dem Reporter fassungslos zu. Beide starrten auf den toten Photographen. Mit starren, erstaunten Augen sah der Tote nach oben. Kleine Leichenflecke bedeckten bereits einige Bereiche seiner Haut. Der Reporter musste sich übergeben. Jörg stürzte ans Telefon, rief in der Wache an und bestellte die Kollegen von der Kripo. Schon bald hatte die Mordkommission festgestellt, wann der Photograph verstorben sein musste. Der Bewohner des Hauses, der Brunner mit den beiden Unbekannten ins Haus gehen gesehen hatte, wurde für den kommenden Vormittag ins Büro des zuständigen Kommissars bestellt. Dort sollte er sich dann diverse Verbrecheralben ansehen. Das Gleiche wurde auch für alle Mitarbeiter des Altöttinger Anzeigers angeordnet, welche die Besucher vom Freitagabend gesehen hatten. Es war kurz nach 22.00 Uhr und die Ermittlungen liefen bereits auf Hochtouren. Sabine war die Erste, die es an sich selbst bemerkte: Sie war todmüde und wollte augenblicklich ins Bett. Nur ganz kurz verabschiedete sie sich von Gitti und Georg, gab ihrem Papa einen dicken Kuss und verschwand. Nur zwanzig Minuten spä377
ter erging es den Jungs ebenso. Auch sie wollten ins Bett, weil sie so müde waren. Aus Solidarität begleitete Verena sie ebenfalls nach oben, obwohl sie hellwach war. Eine viertel Stunde später schliefen sie bereits. Das konnte doch nicht sein. Die Erwachsenen waren nicht mehr in der Lage einzuschlafen, die Kinder aber waren, wie es normal war, bettreif. „Merkwürdig“, stellte Ellen grübelnd fest, „wo liegt der Unterschied zwischen uns?“ „Das würde ich auch gerne wissen“, fiel Georg in die Überlegung Ellens mit ein, „wobei ich auch gerne wieder einschlafen können würde“, setzte er resignierend hinterher. Peter gab keinen Ton von sich. Was war anders? Nur Gitti schmunzelte und betrachtet mit großem Vergnügen, wie sich ihre Freunde um des Rätsels Lösung bemühten. „Warum grinst du so, Gitti?“, wollte Georg aus diesem Grunde wissen, „weißt du was?“ „Na, das ist doch wohl klar“, erläuterte sie, immer noch grinsend, „wie wurden regeneriert, die Kinder, scheinbar bis auf Verena, dürfen noch nicht regeneriert werden. Interessanter wäre doch die 378
Frage, warum wir nach der Regeneration nicht mehr schlafen müssen.“ „Genau“, fing nun auch Peter an, sich am Gespräch zu beteiligen. „Als hätten wir dauerhaft wirkende Aufputschmittel verabreicht bekommen“ Gitti schaltete per Gedankenbefehl die Verbindung zu PUL ein, und gab den Anderen einen Wink, dies gleichermaßen zu tun. „Frage: Warum können wir nach der Regeneration nicht mehr schlafen?“, stellte sie diese bedeutende Frage an PUL. „Regeneration = Erneuerung wesentlicher Zellen + Funktionen. Zusätzlich – Langzeiterfrischer = keine Drogen = unabdingbar notwendig - Zellen = biologisches Gleichgewicht erhalten = kein Schlafbedürfnis.“ „Frage: Was würde geschehen, wenn wir auf den Langzeiterfrischer das nächste Mal verzichten würden?“, wollte nun Ellen wissen. „Nicht möglich.“ „Das hätten wir vorher wissen müssen“, kam es verärgert aus Ellen herausgepoltert, „das nächste 379
Mal werden wir auf den Langzeiterfrischer verzichten.“ Sie waren alle etwas verwirrt. Peter sprach aus, was Fakt war: „Das nächste Mal ist in rund 46 Jahren. Bis dahin, schätze ich, haben wir uns an die Schlaflosigkeit so gewöhnt, dass wir gar nicht mehr schlafen wollen.“ Ein zustimmendes, resigniertes Nicken beendete die Unterhaltung. Die Sonne stieg an diesem Montagmorgen gerade über dem nordöstlichen Rand von München empor, als einer Streifenwagenbesatzung der Münchener Polizei, der ganz allein auf dem leeren Parkplatz am Olympiastadion stehende Wagen auffiel. Sie beschloss augenblicklich, das Fahrzeug näher in Augenschein zu nehmen und sie staunten nicht schlecht, als sie den Toten darin entdeckten. Die eiligst herbeigerufene Mordkommission konnte in kürzester Zeit den Toten identifizieren. Er stand bereits seit Samstag auf der Vermisstenliste. Auch die Todesursache festzustellen bereitete ihnen keine Probleme. Die Untersuchung des Projektils würde aufweisen, um welche Waffe es sich 380
gehandelt hatte. Die Verwandten und die Dienststelle des Ermordeten wurden umgehend benachrichtigt. Bereits gegen Mittag lag dem Kommissariat das Ergebnis vor: es handelte sich um eine deutsche Walther PPK, eine ehemalige Polizeipistole, Kaliber 7,65 Millimeter. Die Ermittlungsdaten wurden in den Zentralcomputer des BKAs und der Europol eingeben. Paul Wenig verspätete sich an diesem schönen Montagmorgen etwas. Normalerweise war er spätestens um 8.30 Uhr im Büro, heute jedoch kam er erst gegen 9.00 Uhr. Er setzte sich sofort an seinen Schreibtisch und schrieb einen kurzen Bericht. Bereits eine Stunde später meldete er sich bei seinem direkten Vorgesetzten an. Als er dessen Büro betrat, war er überrascht, dass nahezu sämtliche Hauptabteilungsleiter anwesend waren. Es musste etwas ganz Besonderes vorgefallen sein, denn sie redeten alle aufgeregt durcheinander. „Was wollen Sie denn“, wurde er bei seinem Eintritt sofort von seinem unmittelbaren Vorgesetzten angeschnauzt, „hat das nicht bis später Zeit?“
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„Was ist denn los?“, wollte Paul, neugierig geworden, wissen. „Wir haben seit ewigen Jahren wieder einen Agentenmord zu verzeichnen, und wir können uns nicht erklären, wer es gewesen sein könnte. Seit dem Ende des kalten Kriegs haben wir in dieser Richtung keine Probleme mehr gehabt“ erklärte ihm sein Chef aufgebracht. „Wen hat’s denn erwischt?“, fragte Paul lau. Es interessierte ihn nur mittelmäßig. „Den Max Roloff, den von der Bildaufklärung“, bekam er kurz angebunden, schroff hingeworfen, „und nun raus hier!“, folgte es noch unfreundlicher hinterher. „Max, das kann nicht sein! Ich hatte noch am Freitagmittag mit ihm einen neuen Fall bearbeitet“, brach es erschüttert aus Paul heraus. Er setzte sich auf den nächsten Stuhl. Vor zehn oder zwanzig Jahren hätte ihn dieser Mord kaum berührt. Damals musste man nahezu täglich mit solchen Dingen rechnen. Aber heutzutage. Inzwischen war er innerlich so weit von diesen Prakti382
ken entfernt, dass es ihn wie ein Keulenschlag traf, als hinter dem zuvor unbekannten Toten plötzlich, ein ihm bekannter Namen stand. Er war blass geworden. Seinem Vorgesetzten, der ihn recht gut kannte, fiel es sogleich auf. Er winkte ihn ins Nebenzimmer, wo Paul ihm ungestört von dem letzten Fall berichten konnte. „Das ergibt doch keinen Sinn“, stellte Paul fest, „was soll so wichtig an diesem Unfall sein, dass Max erschossen wird? Und von wem? Er hatte doch gar kein Material.“ „Warten Sie bitte mal hier. Ich komme gleich wieder“, ordnete sein Vorgesetzter an, schnappte sich Pauls Unterlagen und verschwand aus dem Raum. Paul war froh, dass er jetzt allein sein konnte. Er war tieftraurig. Er hatte mit Max viele Stunden seines Lebens verbracht und plötzlich war er tot. Warum nur, fragte er sich permanent. Er musste in Ruhe nachdenken. Der Vorgesetzte blätterte noch einmal die dünne Akte durch, welche er soeben Paul abgenommen hatte. Er schüttelte verwundert den Kopf. Eiligen Schritts durchquerte er mehrere Gänge des großen Gebäudes und fuhr mit dem Fahrstuhl in die ober383
ste Etage. Die Vorzimmerdame des Geheimdienstchefs der Münchner Außenstelle sah ihm verblüfft entgegen. Um diese Zeit kam normalerweise niemand. Als sie bemerkte, wie erregt ihr Gegenüber, den sie sonst als ausgesprochen ruhigen, ja eher etwas lethargischen Typ kannte, war, meldete sie ihn augenblicklich bei ihrem Chef an und forderte ihn sogleich auf, ins Chefzimmer zu gehen. „Na, mein Lieber“, kam es jovial über die Lippen Manfred Mangers, „was verschafft mir die unerwartete Ehre?“ Der Geheimdienstchef war ein beleibter, immer schwitzender, fast 60 jähriger Mann. Seinen exzellenten Kontakten zu allen möglichen anderen Geheimdiensten und zur Politik hatte er es zu verdanken, dass er diesen gut bezahlten Frühstücksposten erhalten hatte und auch nicht in den 90er Jahren mit nach Berlin umziehen musste. Mit den aktuellsten Problemen, wie zum Beispiel Terroristenfahndung und ähnlichem hatte er höchstens zuarbeitend zu tun. Im Büro sitzend, las er die meiste Zeit alle möglichen Zeitungen, sammelte Informationen und knüpfte weitere Verbindungen. Bei den Mitarbeitern des BND wurde gemunkelt, dass er irgendeine geheime Sonderermittlung leiten würde 384
und seine Stellung und Mitarbeiter benutzte, sich selbst mit geheimen Informationen zu versorgen, welche er dann für seine eigenen Zwecke ausnutzte. Auch in diesem Fall ließ er sich Bericht erstatten. Als er die Bilder sah, wurde er ausgesprochen nachdenklich und unruhig. So schnell es ging, verabschiedete er sein Gegenüber und bat diesen, ihm umgehend Paul Wenig nach oben zu schicken. Das Dossier behielt er bei sich. Keine zehn Minuten später stand Paul vor ihm. Er war verwundert, dass er zu seinem obersten Chef beordert wurde. In seiner gesamten Dienstzeit, hatte er erst zwei Mal das Vergnügen gehabt, in diesem Zimmer zu stehen. Das erste Mal, als er einen einigermaßen bedeutenden, russischen Agenten entlarvt und gefasst hatte. Damals erhielt er eine Belobigung. Und dann vor sechs Jahren, als er nahe dran war, wegen Alkoholproblemen rausgeschmissen zu werden. In diesem Fall hatte er einen Verweis erhalten. „Und heute?“, schoss es ihm durch den Kopf, „nur wegen diesem merkwürdigen Unfall und plötzlichen Mord? Da muss mehr dahinter stecken“, kombinierte er, und beschloss, auf der Hut zu sein. Er erstattete auch Manfred Manger ausführlichen Bericht und wurde dann gebeten, sich kurz zu set385
zen und zu warten. Der Geheimdienstchef verließ den Raum durch eine rückwärtige, kaum erkennbare Tür. Vom Nebenraum aus, ging es nochmals weiter, in einen kleineren, schallgedämpften, abhörsicheren, fensterlosen Raum. Sorgfältig verschloss er hinter sich den Raum. Geübt öffnete er einen schweren, riesigen Stahlschrank, zog eine große Schublade heraus und entnahm einen schwarzen, schlanken Telefonhörer. Es handelte sich um eine der modernsten, abhörsicheren Anlagen der Welt und erlaubte Verbindungen zu allen wichtigen Zentralen der Welt. Flink sah er in einem kleinen Taschenbuch, welches er unmittelbar zuvor aus seiner inneren Jackentasche geholt hatte, nach und wählte eine zwölfstellige Telefonnummer und wartete. „Yes“, kam es kurz angebunden bei Manger an. „Manger. Schnell Charles Milligan“, verlangte er schnörkellos. Er musste annähernd zehn Minuten warten, bis sich am anderen Ende der Leitung wieder Jemand meldete. „Mill hier.“ 386
Mehr wurde nicht gesagt. Keine Begrüßung, keine Freundlichkeiten. „Manger.“ Auch nicht mehr. Es hörte sich wie ein Ritual an. „O.K. Was hast du Wichtiges?“ Wieder nur ein sachlicher Tonfall. „Du wolltest doch von mir in Kenntnis gesetzt werden, wenn wir eine ungewöhnliche Entdeckung in Richtung neue Materialien oder Techniken machen. Jetzt ist mir hier so etwas aufgestoßen. Und sogar einen Mord hat’s deswegen scheinbar schon gegeben. Ich schicke dir eine Kopie der Akte gleich mal auf den Schreibtisch. Dann warte ich auf deinen Rückruf, ob ich meinen Agenten die Sache weiter verfolgen lassen soll. O.K.?“ Das war eine ungewöhnlich lange Rede über diese Verbindung. Das bemerkte sein Gegenüber ebenfalls. Charles Milligan schien hellhörig geworden zu sein. Sollten sie endlich die erste brauchbare Spur haben.
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„Ja, schicke es gleich zu mir. Ich gehe an den Empfänger und sage dir sofort Bescheid. Und – Danke, Manfred. Bis gleich.“ Es knackte in der Leitung. Die Verbindung war unterbrochen. Manger nahm die Akte und faxte sie durch einen Spezialzerhacker abfanggesichert zu Milligan. Dieser hatte nach dem Telefonat sofort nach seinen besten Agenten, Joe Crabbs und Fred Jones, geschickt. Er hatte die Akte noch nicht vollständig erhalten, als sich die Beiden schon in seinem Büro einfanden. „Was gibt’s? Wieder ´ne tote Spur?“, lästerte Fred sogleich nach seinem Eintreten, unentwegt Kaugummi kauend. Das konnte er sich getrost erlauben. Gemeinsam mit seinem Freund, Joe, waren sie das beste Ermittlergespann, welches die CIA aufzuweisen hatte. Jeder von Ihnen sprach fließend acht Fremdsprachen, sie beherrschten nahezu alle Waffengattungen perfekt und waren mit ihren 34 und 35 Jahren in körperlicher Höchstform.
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„Kommt her, und seht euch das hier mal an“, bot ihnen Milligan die gefaxten Papiere zum Lesen an. Sie warfen sich in die bequemen Clubsessel, welche vor Milligans überladenem Schreibtisch standen und begannen, die Unterlagen zu studieren. „Du sagtest, es hat vermutlich deswegen sogar schon einen Mord in München gegeben?“, wollte Joe, Bestätigung erwartend, wissen. „Ja“, kam es undeutlich nuschelnd über Milligans Lippen, „und ich glaube, hier könnte Musik drin liegen. Das könnte die erste taugliche Spur sein. Was meint ihr?“ „Mmhhmm, Mhhmmm“ stimmte Fred kopfnickend zu. Joe kratzte sich am Hinterkopf und polterte plötzlich los: „Damned, wenn das keine echte Spur zu den Erbauern der Raumkapsel ist, verspeise ich meine Großmutter.“ Milligan wählte die Nummer von Manger und war überrascht, dass schon abgenommen wurde, als noch nicht einmal das erste Klingelzeichen zu Ende war. 389
„Ja“, kam es einsilbig über den Draht. „Mill.“ Mehr nicht. „Und?“ Wieder nicht mehr. „Dranbleiben. Ich schicke zwei Männer rüber. J and F. Verbinde die Beiden mit deinem Mann und dranbleiben. Ihr habt gut geschaltet. Danke. Ende.“ Knacks. Die Leitung war tot. Aber Manger hatte diese kurzen Informationen verstanden. Sorgfältig verschloss er den Schrank wieder und begab sich zu Paul in seinen offiziellen Büroraum zurück. ‘Wie erklär ich ihm, dass er weitermachen soll aber zu Niemanden, auch, oder besser gesagt, gerade nicht in diesem Haus, ein Sterbenswörtchen reden darf?’, fragte er sich. „Sehr gute Ermittlungsarbeit. Sie bleiben mit allen Sondervollmachten an dem Fall dran. Berichte nur noch an mich. Ausschließlich an mich! Ich unterrichte die Anderen. Vermutlich bekommen Sie noch Hilfe. Absolute Geheimhaltung. Wir wissen 390
nicht, was an der Sache dran ist. Da deswegen wahrscheinlich bereits einer unserer Leute ermordet wurde, warum auch immer, höchste Vorsichtsstufe. Lassen Sie sich unten mit allem, was Sie brauchen, versorgen. Unbeschränkte Mittel. Ich gebe persönlich die Order. Keine schriftlichen Aufzeichnungen, alles nur noch mündlich an mich.“ Das sollte genügen, überlegte Manger. Unbeschränkte Mittel! Paul dachte, ihn tritt ein Pferd. Das hatte es seit undenkbarer Zeit nicht mehr gegeben, denn die Finanzen des BND wurden seit Jahren immer weiter durch die Politiker eingeschränkt. ‘Das muss ein ganz dicker Fall sein’, schoss es ihm durch den Kopf, ‘und dann so oft der Hinweis, dass ich nur an ihn beichten soll!’ „Kann ich noch ein paar Hintergrundinformationen erhalten?“, wollte Paul unbedingt noch wissen. Er hatte Angst, dass er sonst in eine Falle oder Hinterhalt lief. „Ich kann nur soviel sagen, dass die CIA ebenfalls daran interessiert ist und wir mit ihr zusammenarbeiten. Von dort wird auch Hilfe kommen. Es gibt wohl irgendwo auf der Welt eine Entdeckung, die 391
für die Staaten, welche sie in ihre Hände bekommen, unendliche Vorteile haben wird. Und sie darf nicht in die falschen Hände kommen. Dieses Bild gibt den Hinweis, auf diese Supertechnik. Wir müssen herausbekommen, wer hinter der Technik steckt, und nach Möglichkeit sie in unsere Hände bekommen. Egal zu welchem Preis. Verstanden?“ Das war eine irre Information. Das Bild passte ebenfalls zu dieser Information. Vielleicht war dieser Keller so eine Art Tester eines Erlkönigs der Stoffindustrie. Er würde dran bleiben und sich heute noch in dieses Golfhotel bei Rauris aufmachen und dem guten Manne etwas auf den Zahn fühlen. Paul wurde verabschiedet und begab sich, in ein absolutes Hochgefühl versetzt, unverweilt in die Ausrüstungsabteilung. Dort ließ er sich diverse echte Pässe und Dienstausweise, ausreichend finanzielle Mittel und zwei kleine, durchschlagskräftige Pistolen aushändigen. Als er noch eine der leichten schusssicheren Westen, ein abhörsicheres, tragbares Spezialtelefon und einen flotten Sportwagen, a la James Bond, verlangte, versicherte sich der ausgebende Beamte erst einmal bei seinem Vorgesetzten, inwieweit er das überhaupt dürfe und ob Paul Wenig eventuell durchgedreht sei. Er bekam allerdings so schnell, wie selten zu392
vor, grünes Licht für die extremen Wünsche Pauls. Der oberste Chef selbst hatte alle Anweisungen durchgegeben und darüber hinaus sogar noch verlangt, dass er bezüglich des Mordfalles an Max Roloff über jede, auch noch so kleine, Entwicklung persönlich informiert werden möchte. Und den Wünschen Mangers sollte man besser unverzüglich folgen, da mit ihm in solchen Augenblicken nicht zu spaßen war. Das wussten alle. Die Dienststelle der Altöttinger Kriminalpolizei verzeichnete seit einer Stunde bereits einen ungewöhnlichen Andrang. Die Augenzeugen, welche die beiden Männer, die den Photographen aus dem Reporterzimmer abgeholt hatten, gesehen hatten, saßen in verschiedenen Zimmern und studierten Bilder aus der Verbrecherkartei. Gegen 10.20 Uhr verdichtete sich der Verdacht zur Gewissheit, dass ein gewisser Jacomo Albertino und Tino Tronco, beide italienischer Abstammung, vermutlich zur sizilianischen Mafia gehörend und in München als wohnhaft gemeldet, zuletzt den Photographen begleitet hatten. Sie ersuchten unverzüglich die Münchner Kriminalpolizei um Amtshilfe, indem sie diese baten, die beiden Verdächtigen aufzusuchen und zur Vernehmung einzukassieren. Bereits eine Stunde später war klar, dass die Tatverdächtigen seit Freitag verschwunden waren. Eine Fahn393
dung auf europäischer Ebene wurde um die Mittagszeit eingeleitet. Sämtliche Dienststellen an den außer-und innereuropäischen Grenzübergängen erhielten Photographien der Beiden zugefaxt. Das Geschoss wurde zur ballistischen Untersuchung nach München geschickt und kam prompt bei demselben Sachbearbeiter an, der auch das Geschoss, welches Max getötet hatte, untersuchte. Dieser staunte nicht schlecht, als er feststellte, dass es sich in beiden Fällen um dieselbe Waffe gehandelt haben musste. Die entsprechenden Dienststellen wurden umgehend informiert und die Kriminalpolizei, Direktion München übernahm den Fall. Jacomo und Tino wurden ab jetzt wegen zweifachen Mordes gesucht und der erstaunte, ahnungslose Emilio Gonzo einem Dauerverhör unterzogen. Manger unterrichtete gegen 12.00 Uhr persönlich Paul, welcher sich bereits kurz vor Salzburg befand, von dem neuen Ermittlungsstand. Als sich Jacomo und Tino an diesem Morgen, kurz nach 8.00 Uhr, zur Keller-Spedition begaben, um den Prokuristen über den Aufenthaltsort Georg Kellers zu befragen, ahnten sie noch nichts von dem Verdacht, der bald auf ihnen lasten würde. Der Prokurist empfing die beiden Italiener genau 394
so freundlich, wie am Freitagabend den so netten Kommissar aus München. Unmittelbar bevor sie eintraten, hatte er mit Georg telefoniert. Da ihm die Beiden ausgesprochen unsympathisch waren, verweigerte er ihnen die gewünschte Auskunft. Daraufhin nahmen sie zu einem oft eingeübten Druckmittel Zuflucht. Ganz dezent öffneten sie ihre Jacken, so dass ihr Gesprächspartner deutlich die Pistolen im Schulterhalfter erkennen konnte, und sahen ihn drohend an. Der Prokurist versuchte zwar noch ein paar Ausflüchte, gab dann aber doch die Ferienanschrift Georgs heraus. Jacomo und Tino entfernten sich triumphierend grinsend, setzten sich in ihr Fahrzeug und brausten Richtung Österreich los. Als der Prokurist die beiden Gestalten vom Hof fahren sah, griff er auch schon zum Telefonhörer und wählte die Nummer des Golfhotels, in dem Georg abgestiegen war. Zu seinem großen Kummer, erreichte er seinen Chef nicht mehr. Er sei just in diesem Augenblick mit seiner Familie und den Landers weggefahren und käme erst spät am Abend wieder, informierte ihn Marie, den Wegfahrenden nachschauend. Der Prokurist zuckte nur mit den Schultern und versuchte über Handy Georg zu erreichen. „Dieser Anschluss ist vorü395
bergehend nicht erreichbar“, mehr kam nicht zustande. Er nahm sich vor, es am Abend noch mal zu versuchen. Der graue Ford stand gegenüber dem Speditionsgelände, als das Fahrzeug der beiden Italiener das Gelände verließ. Nicolai verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. „Fahr dem Wagen unauffällig hinterher“, wies er Leonid an, „die bringen uns direkt ans Ziel.“ „Wär’s nicht besser, wenn wir mal die Mitarbeiter der Spedition ausquetschen würden?“, wollte Igor von Nicolai wissen, während Leonid sich schon, mit einem gehörigen Abstand, aber immer noch auf Sichtweite, an die Verfolgung der italienischen Mafialeute, wie sie diese nannten, machte, „dann wäre es nicht schlimm, wenn wir sie verlieren.“ „Denk erst einmal nach, bevor du redest“, rüffelte Nicolai überheblich und hart Igor an, „wenn wir jetzt da hineingegangen wären, hätten die uns wunderbar beschreiben können. Und warum sollten die uns sagen, wo dieser Georg Keller Urlaub macht. He. Also hätten wir nachhelfen müssen, wenn wir was erfahren wollen. Und damit wäre 396
unsere clevere Aktion von gestern Abend umsonst gewesen. Kapiert.“ Igor war wieder einmal begeistert, welch klugen Boss er doch hatte. Er, und auch Leonid nickten bestätigend und anerkennend. Es machte Spaß, für Nicolai zu arbeiten. Die Kinder der Landers und Kellers waren bereits um sieben Uhr startbereit. Sie hatten sich nicht waschen und die Zähne putzen müssen. Dass die Zähne künftig aufgrund der ausgewogenen und schadstoffminimierten Nahrung keimfrei, und damit nicht mehr für die diversen Krankheiten anfällig waren, ließ sie innerlich aufjubeln. Es störte sie auch nicht im Geringsten, dass sie keinen Hunger mehr verspürten und noch nicht einmal das Bedürfnis hatten, auf die Toilette zu gehen. Selbst die Haare wirkten immerzu wie frisch gewaschen. Es war toll. Es war ein herrliches Leben, befanden sie einstimmig. Nur das Schminken musste noch vorgenommen werden, stellten die beiden Mädchen kichernd fest und nahmen sich die frisch gewonnene Zeit zusätzlich für diese Verrichtung. Die Erwachsenen konnten dieses Hochgefühl nicht so ohne weiteres teilen. Das normale, leckere Essen vermissten sie doch sehr. Für sie war gut zu speisen ein Genuss und ein gesellschaftlich be397
gehrtes Ereignis. Auch mal so richtig schön eine längere Sitzung zu veranstalten, konnte etwas Feines sein. Die Sache mit dem Waschen und Zähneputzen gefiel allerdings auch ihnen sehr gut. Was sie jedoch am Heftigsten vermissten, war die Fähigkeit, schlafen zu können. Sie mussten sich zusammennehmen, nicht immerzu daran zu denken und wussten inzwischen, dass sie sich zu unbedarft der neuen Supertechnik anvertraut hatten. Die Folgen waren noch nicht übersehbar. Sie hofften insgeheim, dass sie keinen psychischen Schaden davontragen würden. Georg telefonierte kurz nach acht Uhr mit seinem Prokuristen. Danach verließen die beiden Familien, ohne auch nur zum Schein zu frühstücken, die Hotelanlage Richtung Station und waren eine Stunde später dort. Nach der Umkleideaktion überlegten sie, wie sie vorgehen sollten. „Wir sollten heute nicht nur planlos durch die Anlage flitzen“, schlug Gitti vor, „sondern gezielt Aufgabenbereiche abarbeiten. Deshalb schlage ich vor: Jutta und ich nehmen uns gemeinsam mit den Kindern hintereinander die Räumlichkeiten hier in der Station vor, damit wir wenigstens von einigen wissen, wie sie ausgestattet sind. Du Georg, wirst dir vermutlich wieder die Fahrzeuge vorknöpfen 398
und du, Peter, schätze ich, die Raumschiffzentrale? Stimmt’s?“ „Nö“, kam lax die Antwort Peters. Als er das verblüffte Gesicht Gittis und Ellens sah, setzte er schleunigst eine Erklärung hinterher. Er wollte sie nicht verärgern. „Die Idee, was ihr Frauen gemeinsam mit den Kindern machen wollt, finde ich Spitze. Aber auch wir, Georg und ich, sollten ab sofort immer gemeinsam bestimmte neue Bereiche erarbeiten. Und das meine ich jetzt nicht nur auf heute bezogen, sondern grundsätzlich. Mindestens zwei sollten für die nächste Zeit immer gemeinsam unterwegs sein. Ad eins, macht’s mehr Spaß, ad zwei, wenn irgendetwas passiert, kann der Eine dem Anderen schneller helfen. Was haltet ihr davon?“ Alle nickten zustimmend. Die Gruppe der Frauen und Kinder zog fröhlich schwatzend zu Fuß los. Sie gingen direkt auf den nächstliegenden Türbereich zu. Diese Bereiche waren jedes Mal mit einem fast drei Meter hohen und ebenso breiten blauen Rechteck, welches mit einer Kante auf dem Boden aufstand, versehen. Die Handfläche in Hüfthöhe angelegt oder auch 399
nur den Gedankenbefehl gegeben, und schon öffnete sich eine, entsprechend der Markierung, große Öffnung, indem sich die Wand teilte und zur Seite verschwand. Nach dem Eintritt schloss sie sich wieder automatisch, es sei denn, man hatte die Anweisung gegeben, dass sie geöffnet stehen bleiben sollte. Das System entsprach ziemlich genau einer Schiebetür, mit dem Unterschied allerdings, dass man Rollen und Gleitflächen nicht erkennen konnte und dass die Wände sehr schnell und nahezu geräuschlos auf glitten und sich wieder schlossen. Peter und Georg schwangen sich in einen, extra herbei georderten, kleinen Schweber und überlegten sich, was sie angreifen wollten: „Wir sollten uns von PUL zu den Kleinflugschiffen, Frachtern und Forschungsraumschiffen bringen lassen, was meinst du?“ schlug Georg als erster vor. Das zu sehen, lag ihm brennend am Herzen. Man sah es ihm deutlich an. „Mhmm, ja“, wog Peter, nachdenklich den Kopf wiegend, ab. „Auf dem Weg dorthin, drehen wir mal ´ne Runde durch die zweite Hälfte der Raum400
schiffhalle. Ich dachte nämlich beim ersten Anblick, dass das Raumschiff in der Mitte der gesamten Anlage stehen würde. Die Strukturaufzeichnungen der Station belegen aber, dass es lediglich in unserer Hälfte steht. Wir sollten mal darüber hinaus fahren.“ Das musste man Georg nicht zweimal sagen. Noch ehe der Satz ausgesprochen war, setzte er per Gedankensteuerung den Schweber in Bewegung. Sie fuhren am Raumschiff vorbei und immer weiter geradeaus, sich am Boden bewegend. Als sie ein überdimensionales, großmaschiges Gitterwerk, der Eifelturm war dagegen klein und filigran, durchfuhren, verstand Peter schlagartig, warum er dachte, das Raumschiff stünde in der Mitte der Halle. Die Mittelabstützungen der Raumschiffhalle wirkten wie eine optische Wand. Die Halle dahinter war bis auf einige verschiedenartige Kästen, Riesenpulte und schlanke Türme, alle an den Rändern der Halle platziert, leer. „Traust du dir zu, den Schweber mal ganz nach oben, in die linke Ecke zu ziehen?“, wollte Peter skeptisch wissen. Er hätte seinen Freund eigentlich besser kennen sollen. Wenn es um Fahrzeugtechnik und fahren 401
ging, dann machte ihm so schnell keiner etwas vor, wenn er es mal kapiert hatte. Georg nickte nur stumm, und schon flogen sie zu der gewünschten Stelle. Es war genau das, was sich Peter gedacht hatte. „Schau mal“, fing er zu erläutern an, „das System ist auch hier auf der Erde bestens bekannt. Die eine Dachhälfte senkt sich etwas ab und schiebt sich beim Öffnen dann, seitwärts bewegend, unter die andere Hälfte. Und schon ist das Dach offen. Der Unterschied ist nur der, dass die Helas bedeutend besseres Material und unvorstellbare Energien zur Verfügung haben.“ Georg sah, was Peter meinte, als dieser mit der ausgestreckten Hand darauf hinwies. Eine überdimensionale Rille zog sich auf beiden Seiten des Daches entlang. Sie war mindestens drei Meter hoch und nicht absehbar tief. In dieser Lafette musste sich das Riesendach bewegen. Es war gewaltig. Beide staunten über diesen monströsen Bau. „Und nun in das Raumschiff und zu den Begleitschiffen“, wies Georg PUL an. Er verzichtete, aus Unkenntnis über den kommenden Weg, auf die Selbststeuerung des Schwebers. Dieser flog dies402
mal nicht in die untere Hälfte des Raumschiffes, sondern bis auf die halbe Höhe des würfelförmigen Raumschiffes.“ Kurz vor der Wand verlangsamte der Schweber seine Geschwindigkeit. Mit Erstaunen stellten sie fest, dass die von weitem leicht narbig aussehende Außenhaut des Raumschiffes in Wirklichkeit mit unübersehbar vielen, höchstens fünf Zentimeter diagonal durchmessenden, quadratischen Löchern versehen war. Überall gab es diese Löcher, dicht an dicht. „Fahr mal ganz nahe an die Außenhaut ran, Georg“, bat Peter seinen Freund. Dieser nickte nur und legte an die Wand an. Konzentriert schaute Peter in eines der kleinen Löcher. „Ich würde sagen, da steckt ein kleiner Stachel in jeder Öffnung und tiefer als zehn Zentimeter ist keines der Löcher“, teilte er Georg überrascht mit. „Hört sich so an, als wären es unzählige Antennen oder so etwas ähnliches“, meinte dieser nachdenklich. Sie schauten sich noch einige andere Löcher an und flogen dann weiter die Außenhaut entlang. 403
„Alles gleich. Nichts zu sehen“, grummelte Georg vor sich hin. „Hinter welchem Teil der Wand könnten sich denn die kleineren Forschungsraumschiffe oder die Frachtschiffe befinden?“ „Beweg den Schweber mal ein Strecke von der Wand weg, Georg“, bat Peter seinen Freund und kurze Zeit später konnten sie einen größeren Teil der Außenhaut sehen. „Anweisung an PUL: Irgendwie kenntlich machen, wo das Forschungsraumschiff untergebracht ist!“, sprach er laut vor sich hin. Genau vor ihnen verdunkelte sich an der Außenhaut des Raumschiffes ein Quadrat mit einer Kantenlänge von ungefähr 38 Meter. „Und nun?“, wunderte sich Georg. „Frage: Soll sich dahinter das kleinere Forschungsraumschiff verbergen?“ „Dunkle Fläche = Außenwand – Forschungsraumschiff.“ „Jetzt versteh ich“, grinste Georg. „Die kleineren Raumschiffe sind ebenfalls allesamt kastenförmig und passen genau in ein Loch im Mutterschiff. Absolut optimal. Absolut Platz sparend.“ 404
„Allerdings“, nickte Peter, und zog dabei eine Augenbraue in die Höhe. „Anweisung an PUL: Alle Stellen anzeigen, hinter denen sich weitere Raumschiffe oder Frachtschiffe verbergen.“ Kaum hatte er diese Anweisung ausgesprochen, als sich der Gleiter in Bewegung setzte, so weit als möglich vom Raumschiff entfernte und langsam das gesamte Raumschiff mehrfach umkreiste. Auch der obere Bereich wurde so überflogen. Sehr schnell konnten sie feststellen, dass sich auf jeder Stirnseite genau in der Mitte ein Forschungsraumschiff untergebracht war und jeweils in präziser Symmetrie weitere vier Frachtschiffe ihren Platz hatten. Die Frachtschiffe wiesen Kantenlängen von 30 Metern auf. Auf Anfrage erfuhren sie, dass sich auch in der Station kleinere Raumschiffe befanden. „Wir sollten uns mal ein Forschungsraumschiff anschauen, was meinst du, Peter?“, schlug Georg, neugierig wie eine kleine Katze, vor. Dieser nickte nur und wunderte sich nicht, als sich ihr Schweber einer dunkleren Stelle in der Außenwand des Raumschiffes näherte und direkt vor ihnen ein Loch auftat, in das sie hineinglitten. Es war nur ein kleiner, wie immer gut ausgeleuchteter 405
Raum, wie gemacht für ihren Schweber. Zügig stiegen sie aus und forderten von PUL den Weg zur Zentrale des kleinen Raumschiffs. Wie gewohnt folgten sie den Leuchtzeichen. Nachdem sie mehrere Gänge und Etagen durchquert hatten, standen sie vor der Tür zur Zentrale, welche auf die gleiche gesichert war, wie die Zentrale im Mutterschiff. Flott durchquerten sie auch diese und den folgenden Durchgang und standen in einem runden Raum. Die Zentrale des Forschungsraumschiffes entsprach haargenau der des Mutterschiffes. Peter stieg die kleine Empore hoch und setzte sich in den Schalensessel. Zu Georg umgewandt, sagte er: „Schmeiß dich mal in den Sessel da vorne“, und wies dabei auf einen Platz genau vor ihm, „ich zeig und erklär dir jetzt mal die Sache mit den Beobachtungssatelliten.“ Das ließ sich Georg nicht zweimal sagen. Peter ließ die Bilder aufleuchten und nach einer guten Stunde hatte sein Freund alles Wissen darüber intus. Es machte ihm sogar so viel Freude, dass Peter schon befürchtete, ihn dort nicht mehr wegzubekommen. Diese Freude hatte seinen Grund darin, dass es Georg, nach einigem Üben gelungen 406
war, sein Speditionsgelände zu finden und er so nun die Abfahrt von zwei und die Ankunft von einem seiner Lastkraftwagen miterleben konnte. Da Peter diese Spielchen schon hinter sich hatte, entschloss er sich, ein anderes, interessantes Problem anzugreifen. „Frage: Wir können hier auf der Erde zwar jedes Detail sehr genau sehen, aber alles leider immer nur aus der Vogelperspektive. Gibt es denn nicht Möglichkeiten, alles auch irgendwie räumlich zu sehen?“ „Ja.“ Peter hätte ausrasten können. Wieder dieses, zwar präzise, aber zu kurze Antwortbild in seinem Kopf. „Erklären“, gab er ebenfalls nur kurz angebunden den Befehl. „Wichtige Planeten = Observationsbereich = fünf Messkapseln installiert. Eine = Mittelpunkt - vier = um diesen herum - ausreichende Entfernung Mittelpunktmesskapsel = gleicher Planetenentfernung = gleichen Mess-und Observationsbereich = 407
fünf Blickwinkel = rechnerunterstütztes, dreidimensionales Bild.“ Gut, das hatte er verstanden. So etwas gab es auch bei Ihnen schon. Aber schon wieder war der Hinweis auf die Unwichtigkeit seines Planeten gekommen. Es tat ihm aus irgendeinem Grunde irgendwie weh, wenn auf diese Bedeutungslosigkeit hingewiesen wurde. Es war unsinnig, und er wusste das. Bei der Erwähnung der Dreidimensionalität durchzuckte ihn ein anderer Gedanke: ‘Frage: Als ich einen Spiegel verlangte, erhielt ich statt dessen eine 3 – D – Projektion von mir. Wurde diese Projektion gespeichert und kann ich sie jetzt noch einmal sehen?’ Wieder kam nur das obligate „Ja“ in seinem Gehirn an. Zugleich aber entstand vor Peter und Georg dieselbe Projektion, wie damals im Abmessungsraum. Georg brüllte auf. Es kam für ihn wie der Blitz aus heiterem Himmel. Mit einem Ruck sah er sich dorthin um, wo er Peter vermutete und erblickte ihn auch dort. Daraufhin sah er wieder zu der Projektion. Da die Figur stand, während Peter hinter ihm erhöht im Schalensessel saß, musste er an eine Fata Morgana glauben. Schlagartig war der stehende Peter wieder verschwunden. 408
„Was war das“, stammelte Georg kreidebleich. Peter hatte jetzt doch ein schlechtes Gewissen. Es war nicht fair, seinem Freund einen solchen Schrecken einzujagen. „Sorry, Georg“, fing er an, beruhigend auf seinen Freund einzureden, denn dieser stand eindeutig noch unter einem leichten Schock. „Das war unbedacht von mir. Ich wollte dich nicht so erschrecken. Außerdem dachte ich nicht, dass dieser PUL meine gedachte Frage nach einer 3 – D – Aufzeichnung von mir sogleich in die Tat umsetzt.“ Inzwischen war wieder etwas Farbe in Georgs Gesicht zurück gekehrt. Verhalten versuchte er zu grinsen: „Warst du das?“, kam die zögerliche Frage, obwohl es eigentlich klar war. Peter nickte nur und erklärte ihm den gesamten Vorgang. Daraufhin probierten sie eine Aufzeichnung von ihnen Beiden in der Zentrale aus und ließen sich diese dann wieder vorspielen. Nun war Georg nicht mehr unruhig, sondern wieder begeistert.
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„Ich wollte das mit der gespeicherten Projektion eigentlich aus einem anderen Grunde wissen“, erläuterte Peter seinem Freund. „Ja? Warum?“, staunte Georg. „Wenn ich am ersten Tag gescannt und auch jetzt unsere Projektionen aufgezeichnet wurden, dann wurden bestimmt auch alle anderen Aufnahmen gespeichert. Was meinst du?“, äußerte Peter langsam seine Gedanken. „Ja. Warum nicht. Ich versteh nicht, worauf du eigentlich hinaus willst“, schüttelte Georg überlegend den Kopf. „Ganz einfach. Hast du dir schon mal Gedanken gemacht, wie die Helas aussahen, oder wie die Erde vor, was weiß ich für einer Zeit aussah, oder andere Planeten und Sonnen und so weiter. Jetzt kapiert?“ Georgs Mund klappte auf: „Mensch, das ist gut. Du meinst, wir brauchen uns nur solche 3 – D – Projektionen anzusehen, und wir erleben quasi die Vergangenheit und lernen indirekt die Erbauer dieser Supertechnik kennen. 410
Das ist stark. Woll´n wir gleich mal damit anfangen?“ „Ich glaub, das lassen wir schön sein. Diese Projektionen können scharf geschliffene Messer darstellen, mit denen wir uns psychisch mörderisch verletzen können“, gab Peter zu bedenken. Georg schaute ungläubig seinen Freund an. Er verstand nicht, was dieser gemeint hatte. „Versteh ich nicht. Erklär mir das mal näher?“, bat er aufrichtig. Das war typisch für Georg: Wenn er etwas nicht verstand, versuchte er es erst gar nicht zu bemänteln oder zu überspielen, sondern war innerlich so gefestigt, dass er rundheraus um Aufklärung bitten konnte. „Kannst du dich noch an „Starlight Express“ erinnern“, fragte Peter, ohne eigentlich eine Antwort zu erwarten, „dieses Stück war technisch ausgesprochen aufwändig und perfekt inszeniert. Ich hab mir damals, als wir es gesehen haben, ausgemalt, was geschehen würde, wenn man diese Aufführung drei Jahrhunderte früher genau so dargebracht hätte. Die Zuschauer, vermutlich alles reichere, gebildete Menschen, hätten das Stück nicht verkraften können. Sie wären geistig völlig verwirrt aus der Vorführung herausgekommen. Die 411
mentalen Folgeschäden malte ich mir damals in allen Nuancen aus. Und nun betrachte dich selbst einmal. Wie hast du eben auf meine erste Projektion reagiert?“ Georg saß nachdenklich, mit überschlagenen Beinen, in seinem Schalensitz. Er wog den Kopf hin und her. Die Argumentation Peters hatte ihn offensichtlich nicht überzeugt, was er auch prompt ausdrückte: „Na-ja. Einverstanden, wenn wir uns, ohne vorher darüber zu sprechen, gleich geballte Ladungen reinziehen. Wenn wir aber langsam und scheibchenweise vorgehen, und vorher und nachher alles besprechen, müsste es gut gehen. Im Laufe der Zeit gewöhnen wir uns dann ganz schnell an diese Vorführungen.“ Sie saßen, jeder seinen Überlegungen nachhängend, stumm in ihren Sesseln. „Außerdem, wenn du auch nur annähernd recht haben könntest, sollten wir umgehend, und zwar noch hier in diesem Raum, eine Projektion eines Helas ansehen!“, fing Georg erneut an. Nun war es an Peter, verblüfft zu sein. Diesen Gedankengang 412
Georgs konnte er nicht nachvollziehen. Er sah ihn fragend an. „Stell die vor, das Abbild eines Helas ist für uns so erschreckend, dass uns das Blut in den Adern gefrieren könnte. Willst du das den Kindern zeigen. Da ist es doch besser, wenn wir zuvor, das was auf uns zukommen kann, vorsichtig getestet haben. Hab ich nicht recht?“, gab Georg zu bedenken. Peter nickte verstehend und akzeptierend seinem Freund zu. „Dann sollten wir jetzt eine Standprojektion eines Helas verlangen, was meinst du?“, hakte Georg sogleich nach. Peter nickte wieder. „Frage: Ist es möglich, 3 – D – Projektionen von den Erbauern der Station zu sehen, und können wir dies als stehendes Bild vorgeführt kommen und auch alles, was so die letzten Jahrtausende geschah?“ fragte Georg PUL. „Ja. Projektionen = älter 112 Jahre = Vorführraum – Archiv = Deck 87. Vorführung jetzt?“ „Nein“, beantwortete Peter PULs Frage. 413
Das hatte Zeit. Sie wollten heute vorrangig die Begleitraumschiffe sehen. Da er aber Georg nicht mit seiner Ansicht überfahren wollte, fragte er ihn noch: „Einverstanden, Georg?“ Dieser nickte nur. Er hatte augenblicklich sowieso keine Lust aufzustehen. Seine Aufmerksamkeit wurde gerade von dem großen Bild vor ihm in Anspruch genommen. Es zeigte die Forschungsgruppe am Rande des Gletschers. Man konnte deutlich erkennen, dass irgendetwas Ungewöhnliches geschehen sein musste. Die Menschen liefen um den Bohrturm wie angestochen herum. Georg fuhr das Bild so nahe an die Forschergruppe heran, dass er Gesichter hätte erkennen können, wenn sie eine andere Sicht, als diese Vogelperspektive, zur Verfügung gehabt hätten. Plötzlich sah einer der Männer, der nahe am Bohrturm stand, nach oben. Georg und Peter fühlten sich ertappt. Sie konnten das Gesicht des Mannes recht gut sehen. Er hatte einen dunklen Vollbart und eine kleine Nickelbrille auf der Nase. Diese Nase war kräftig rot, was sowohl von der Sonne, als auch von reichlichem Alkoholgenuss kommen konnte. Er schaute immer noch nach oben. 414
„Warum wohl?“, überlegte Georg laut und sprach damit das aus, was auch Peter verblüfft dachte. Er konnte doch unmöglich von der Messkapsel etwas wissen, und schon gar nicht, dass er beobachtet wurde. Der Nächste der Forschergruppe begann nach oben zu sehen. Weitere folgten, bis sie alle in den Himmel stierten. Was sollte das. Georg fiel es blitzartig wie Schuppen von den Augen: „Du, die schauen nicht zu uns herauf. Die blicken zum oberen Ende des Bohrturmes. Da muss etwas Außergewöhnliches sein. Ich fahr mal ran“, klärte er Peter auf. Auch dieser verstand jetzt. Als Georg das obere Ende des Bohrturmes ansteuerte, sahen sie nur, wie eine Frau, die ganz nach oben geklettert war, hilflos immerzu mit den Armen ruderte und dabei die Schultern zuckte. Sie war in keiner Gefahr, denn sie war angeseilt, schien aber irgendetwas nicht zu verstehen oder damit nicht klarzukommen. Peter und Georg beobachteten die aufgeregte Szene eine Weile. Da sie sich keinen Reim aus der Geschichte machen konnten und es zudem allmählich langweilig wurde, schalteten sie die Bilder ab. Sie überlegten und diskutierten noch geraume Zeit über die gesehenen Vorgänge, kamen aber zu keinem brauchbaren Ergebnis. Vermutlich lag ein Defekt am Bohrturm vor. Sie beendeten ih415
re Erörterungen und blieben noch nachdenklich und schweigend sitzen. Jacomo und Tino überquerten gegen 11.30 Uhr die deutsch-österreichische Grenze. Da es sich um eine innereuropäische Grenze handelte, gab es keine Grenzkontrollen mehr. Drei Fahrzeuge hinter dem ihren passierten auch Nicolai mit seinen Männern die Grenze. Gegen 13.20 Uhr kamen sie am Golfhotel an. Nicolai ließ den Wagen vor dem Hotelparkplatz anhalten, stieg aus und wies Igor und Leonid an, bis zu seiner Rückkehr im Fahrzeug zu bleiben. Das war für die Beiden kein Problem. Sie waren gewohnt zu warten. Die beiden Italiener, Jacomo und Tino, parkten geruhsam ein, stiegen ahnungslos und lässig aus und begaben sich an die Rezeption. Sie wollten ein Doppelzimmer bestellen, wurden von Marie aber höflich, mit dem Hinweis, dass sie ausgebucht wären, abgewiesen. Genau in diesem Moment trat Nicolai von der Seite an den Tresen. Er hielt den Kopf leicht nach unten und zur Seite geneigt. Die abschlägig beschiedene Anfrage der Beiden hatte er gerade noch mitbekommen. Er griff scheinbar interessiert nach einem Hotelprospekt und studierte ihn eifrig. Als Jacomo sich nach Georg Keller erkundigte, spitzte er ganz besonders die Ohren. 416
Marie, darauf getrimmt immer freundlich und hilfsbereit zu sein, egal wie unsympathisch ihre Gegenüber waren, gab bereitwillig die Auskunft, dass die Kellers noch irgendwo in den Bergen unterwegs waren und in der Regel erst gegen Abend wieder zurückkämen. Jacomo bedankte sich höflich und verließ den Empfangsraum. Nicolai hatte sich bereits während des letzten Teils der Antwort unauffällig aus dem Hotel zu seinem Fahrzeug zurückgezogen. Er hatte genug gehört. Rasch wies er Leonid an, kehrt zu machen. Sie fuhren nach Rauris und quartierten sich in einem größeren Mittelklassehotel unauffällig ein. Jacomo und Tino hatten die gleiche Idee. Nur fünf Minuten später erreichten sie dasselbe Hotel und erhielten das von ihnen gewünschte Doppelzimmer. Es lag gegenüber dem Einzelzimmer von Nicolai. Kommissar Fritz Moser war immer noch sauer. Er hatte diesem aalglatten Peter Lander nichts nachweisen können. Doch aufgrund seiner jahrelangen kriminalistischen Erfahrung spürte er messerscharf, dass dieser Kerl etwas verbarg und somit Dreck am Stecken hatte. Am Vormittag hatte er wieder mit Sepp Hintermayer unter vier Augen gesprochen. Dieser hatte ihm nochmals hinter vorgehaltener Hand bestätigt, dass er Peter Lander 417
unmittelbar zu dem Zeitpunkt gesehen hatte, als der Bergrutsch begann und er glaubte sich sogar noch zu erinnern, dass dieser, am Ende der Gruppe, einen Spurt Richtung Gletscher unternommen hatte. Er ließ sich von Sepp auf einer Detailkarte des Unglücksgebiets die Positionen der einzelnen Teilnehmer, nebst Fluchtrichtung und Weg von Peter Lander, eintragen. Als er die abgestürzten, und noch herumliegenden, Gesteinsmassen einzeichnete, stellte er verwundert fest, dass dieser Peter Lander ebenfalls verschüttet worden sein musste und somit eigentlich gar nicht mehr am Leben sein konnte. Der Fall wurde immer unheimlicher. Die Präzision der Aussagen Sepps bezweifelte er keine Sekunde. Er hatte sogar bereits ein Verbrechen anderer Art ins Kalkül gezogen. Was wäre, wenn dieser Peter Lander einen eineiigen Zwillingsbruder hat und dieser nun die Rolle Peters spielte? Aber bereits eine Anfrage beim Landeseinwohnersamt Berlin ließ diese Theorie platzen. Er wollte Morgen, sehr zeitig, den Angestellten vom Golfhotel auf den Zahn fühlen. Eventuell gab es dort etwas zu holen. Dr. Manfred Mergent, einer der führenden Geologen und Gletscherforscher Europas, stand unter dem Bohrturm, den er auf dem alten, nahezu abge418
tauten Gletscher in Rekordzeit hatte errichten lassen, und fluchte, was das Zeug hielt: „Taugen denn diese Bohrspitzen heutzutage überhaupt nichts mehr? Schon die Dritte an diesem Bohrloch ausgeglüht und platt. Wir sind doch erst knappe 60 Meter tief.“ Er hatte die Bohrungen in einer Reihe vom äußeren Rand des Hochsattels bis zu dieser Stelle, die sich immer noch weit außerhalb der Mitte befand, hintereinander vornehmen lassen. Hinweise auf Höhlen oder Verschiebungen im Gestein hatte er noch nicht finden können. Nichts untermauerte bisher seine Theorie, dass größere Hohlräume, welche teilweise zusammengebrochen sein mussten, für den ungewöhnlichen Bergrutsch verantwortlich waren. Und jetzt versagte das Material, obwohl sie nur in Eis und dem darunter liegenden, relativ weichen Kalkstein bohrten. Unfassbar. Zwei verglühte Bohrspitzen hatte er bereits mit dem Hubschrauber zum Hersteller zurückfliegen lassen. Spätestens Morgen müssten die Ersatzbohrer an die Bohrstelle geliefert werden. Er brach das Projekt, immer noch schimpfend, für den heutigen Tag ab.
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Paul Wenig kam kurz nach 17.00 Uhr im Golfhotel an. Da er nur ein Einzelzimmer verlangte, hatte er das Glück, das kleinste und letzte, ganz oben unter dem Dach des Nebenhauses, zu erhalten. Er gab sich als Tourist aus. Dementsprechend hatte er vorsorglich auch Gepäck mitgebracht. Nach Georg fragte er nicht, da er diesen am Abend auch so unauffällig zu treffen glaubte. Nachdem er sein Zimmerchen bezogen hatte, setzte er sich auf die Terrasse, den Eingang und Parkplatz gut im Blickfeld, und wartete scheinbar lesend und trinkend auf Georg. Seine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Peter grübelte, immer noch im Kommandantensessel des Forschungsraumschiffes sitzend, vor sich hin. Irgendetwas stimmte nicht. Er konnte nicht sagen was, nur er fühlte es in seinem Innersten. ‘ Es hat keinen Zweck weiter zu grübeln, wenn man gar nicht weiß, worüber man eigentlich grübelt’, entschied er nach einer Weile. Georg hatte wieder die Satellitenbilder eingeschaltet und spielte mit ihnen. Als Peter sich erhob, schaltete er ab und wartete ab, was dieser nun vorschlagen würde. 420
„Komm mal mit. Ich hab da so eine Idee“, winkte er Georg zu. Er sorgte dafür, dass sie wieder zu ihrem Schweber gelangten und gab, nachdem sie eingestiegen waren, seine Anweisung an PUL: „Wir wollen in Höhe dieses Hangars ganz langsam um das Expeditionsraumschiff fliegen. Öffne alle Tore, die zur Aufnahme von Fahrzeugen oder Raumschiffen dienen.“ „Wozu denn das?“, wollte Georg neugierig wissen. „So bekommen wir den schnellsten Überblick über Eingänge und die Ausstattung an Zusatzfahrzeugen oder Raumschiffen“, erklärte er lachend. Er hatte ihn wieder einmal verblüfft. Auf solche praktische Ideen kam normalerweise sonst Georg. Sie flogen langsam aus dem kleinen Hangar hinaus vor den Würfel. Dort drehte sich der Schweber um 90 Grad und bewegte sich in einem Abstand von 15 Metern an der Außenwand entlang. Das Raumschiff, welche sie umflogen, war so groß, dass sie bei diesem Abstand nicht erkennen konnten, wann die nächste Öffnung kam. Fast unvermittelt sahen sie einen sich öffnenden Eingang, 421
aber schon folgte eine weitere Tür, hinter der sich wiederum ein kleiner, Raum befand. „Das scheinen die Schleusenräume zu sein“, sinnierte Georg laut vor sich hin, „bestimmt befinden sich dahinter weitere Räume, die sich erst öffnen, wenn sich der Eingang verschlossen und die Luft wieder eingeströmt ist.“ Peter nickte nur. Sie flogen weiter. Das Tor des darauf folgenden Hangars war bedeutend größer. Sie ließen sich ganz dicht heran fliegen und anhalten. In dem Raum befanden sich 4 Kleinflugschiffe. Das war bis die Entdeckung des Tages. Zum ersten Mal sahen sie ein Produkt, welches eine gewaltige Ähnlichkeit mit einem Zwischending zwischen einem Flugzeug und Hubschrauber, allerdings ohne Propeller, Düsenaggregate oder Rotorblätter, hatte. Das bedeutendste Merkmal, was diesen Eindruck der Ähnlichkeit hervorrief, war die große, durchsichtige Kuppel mit nach unten blickfreiem Vorderteil, die Stummelflügel zu beiden Seiten und die vier, deutlich sichtbaren, Schalensitze im Innenraum. Der hintere Bereich war nicht aus diesem durchsichtigen Material. Das 225 Grad Sichtfeld resultierte also aus dem Bereich über den Passagieren bis unter die Füße derselben. Das Gefährt hing frei in der Luft, knapp über dem 422
Boden und es war ganz und gar nicht rechteckig und kantig, sondern geschmeidig weich, rundlich, aerodynamisch geformt. Georg wäre am liebsten sofort hingelaufen und hätte sich hineingesetzt. Peter konnte ihn nur mit dem Argument zurückhalte, dass die Zeit schon sehr fortgeschritten war und sie noch viele Tage und Jahre vor sich hätten, diese Fluggeräte genauer in Augenschein zu nehmen. Also flogen sie weiter. Sie bekamen so mit, dass sich unzählige Zugänge hinter der riesigen Außenwand befanden. Als sie auf der anderen Seite des Würfels an dem Bereich vorbeikamen, wo sich ein Forschungsraumschiff befinden sollte, mussten sie erstaunt feststellen, dass die Außenfläche eine andere, erheblich dunklere Farbe wie die vergleichbaren Flächen aufwies. Als sie bei PUL nachfragten, bewegte sich statt einer Antwort plötzlich die Außenwand in einer Größe von 38 mal 38 Meter tief nach innen und gab einen großen Raum frei. Sie hielten augenblicklich an, und rieben sich die Augen, ob sie sich nicht verguckt hätten.
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„Wo ist das Forschungsraumschiff?“, fragte Georg, hörbar so verblüfft, dass er sogar das Wort Frage vergaß. „Frage: Wo ist das Forschungsraumschiff, das hier hinein gehört?“, wiederholte deshalb Peter, nicht minder verwundert, die Frage. „Totalverlust - vor 131.089 Jahren“, kam kurz als Antwort. „Frage: War das Schiff mit Helas besetzt?“, hakte Peter sogleich nach. „Ja.“ „Frage: Wo befindet sich die Besatzung jetzt?“, wollte Georg ängstlich wissen. Irgendwie hatte er die Befürchtung, dass die Antwort den Unsterblichkeitsnimbus der Helas jäh zerstören könnte. Und so kam es auch. „Totalverlust.“ „Frage: War es ein Unfall oder eine kriegerische Auseinandersetzung?“ „Unfall. Kriegerische Auseinandersetzungen = unbekannt.“ 424
Das war starker Tobak. Ein Volk, welches eine so hohe technische Entwicklung hatte und die Raumfahrt beherrschte, soll absolut friedfertig sein? Peter hatte das schon an der Formulierung „Werkzeuge“ seinerzeit erahnt. Jetzt erhielt er Gewissheit. Zerbrach auch der Nimbus der Unsterblichkeit, so wandelte sich langsam seine Bewunderung in reine Achtung. Georg erging es nicht anders. Sie flogen langsam weiter. Die Wand in der Außenhaut des Mutterschiffs schloss sich wieder. In den einigen, sich öffnenden Räumen befanden sich die erwarteten Fluggeräte. Es blieben Fragen über Fragen, welche unentwegt hätten gestellt werden können. Aber eine Frage interessierte Peter doch noch vorrangig: „Frage: Sind die Rechner der Forschungsraumschiffe mit dem Mutterschiff verbunden und sind sie gleich groß?“ „Forschungsraumschiff = an Bord - Mutterschiff = Verbindung - Zentralrechner. Meine Rechnerleistung = Vielfaches - Rechnerleistung = Forschungsraumschiff. Zentrale – Mutterschiff = ab425
gesprengt = größte Teil - Rechnerleistung = zerstört = Rechnerleistung - Forschungsraumschiff.“ „Frage: Kann von dir die Anweisung, je ein Forschungsraumschiff, einen Frachtträger und ein Kleinflugschiff in die leere Seite der großen Halle zu stellen, auch ohne uns im Kommandosessel ausgeführt werden?“ „Nein.“ Aha! „Warum hast du diese Frage gestellt?“, wollte Georg fassungslos wissen. Er sah keinen Sinn in dieser Frage. „Wir hätten so besser diese Raumschiffe während der nächsten Tage untersuchen und begutachten können“, erklärte er freundschaftlich und wusste doch genau, dass er sich soeben nur herausgeredet hatte. Georg bemerkte es nicht, denn ihm leuchtete die Begründung ein. Er brummte zustimmend, war allerdings etwas enttäuscht, dass die Fluggeräte nicht alleine fliegen konnten. Und trotzdem freuten sie sich schon, diese Geräte demnächst untersuchen und eventuell sogar benutzen zu können. 426
Georg gab diesem Gefühl auf seine Weise Ausdruck: „Mensch, was bin ich gespannt, wie die Dinger zu fliegen sein werden?“, rief er begeistert, „Aber wie kommen wir mit diesen Metallkartons aus der Station hinaus?“ „Mit den großen Fluggeräten vorläufig noch gar nicht, aber mit Schwebern oder einem Kleinflugschiff könnte es klappen“, meinte Peter nachdenklich. Seine Stirn zog er bei diesen Worten etwas kraus. „Wie denn?“, wollte Georg wissen. Er hatte eindeutig Feuer gefangen. Jetzt wollte er Fakten wissen. „Pass mal auf. Ich zeig dir was. An PUL: Bringe uns zur Zentrale des Mutterschiffes!“ Bei diesen Worten wies Peter auf das große Raumschiff. Der Schweber bewegte sich wieder. Er fand seinen Weg von selbst in den nächsten Schweberhangar des Raumschiffes. Sie stiegen aus und eilten in die Zentrale. Dort angekommen, ließ Peter das Bild von der Station entstehen, wie 427
es so im Berg eingebaut war. Er zeigte Georg die große Start-und Landefläche nebst dem Eingang, den Peter durch die Gletscherspalte genommen hatte. Es war alles sehr gut zu erkennen. Auch den Ausgang zur Nordseite, den sie jeden Tag benutzten, fanden sie augenblicklich. Das Ende dieses Ausgangs befand sich ungefähr 300 Meter über dem Tal an einem ziemlich steilen Berghang. Ihre Autos waren im Talbereich, etwas mehr westlich von diesem Ausgang geparkt. Sie waren zwar auf dieser Abbildung nicht zu sehen, aber ihre exakte Position über die direkte Satellitenerfassung eindeutig zu bestimmen. Peter ließ das Bild auf die unterste Ebene der vor ihnen liegenden Wand schalten und ging zu dem Bild. Er deutete auf die Stelle, wo die Autos geparkt sein mussten und legte Georg seine Idee dar: „Diese Stelle wäre im Augenblick unter den gegebenen Umständen der ideale Aus-und Eingang aus der Station. Wir könnten mit unseren Autos hineinfahren und unter Umständen mit Schwebern oder dem Kleinflugschiff raus und rein. Was sagst du dazu, Georg?“ „Tolle Idee. Aber willst du mich veralbern. Wie, und vor allen Dingen wer, soll den Tunnel buddeln 428
und wie viele Jahre soll das dann dauern“, entgegnete dieser skeptisch. „Frage: Kannst du diesen Ausgang, mit einer Breite von zehn Metern und einer Höhe von fünf Metern und einem Sicherheitstor, so wie den Nordausgang, bauen und wie lang würde es dauern?“ Beide warteten gespannt auf die Antwort. Es dauerte zum ersten Mal eine gute Minute, bis die Antwort erfolgte. „Ja. 79 Stunden. Auftrag ausführen?“ Staunend über diese Antwort schauten sich die beiden Freunde an. „Ja, sofortiger Baubeginn, wenn es so geschehen kann, dass man außerhalb des Berges kaum etwas bemerken kann. Frage: Ist das möglich und warum hast du eine Minute mit deiner Antwort gewartet?“, stellte Peter nach seiner Anweisung diese wichtige Frage. „Ja! Berechnungs-+ Projektierungsdauer = 63 Sekunden.“ „Frage: Kann die Zeit so festgelegt werden, dass der äußere Torbau zwischen 1.00 Uhr und 4.00 429
Uhr morgens stattfindet. Wenn, ja, dann unverzüglich bauen.“ „Ja.“ Georg rieb sich die Hände. Jetzt wusste er, was Peter damals meinte, als er sagte, er wüsste, wie das Problem mit dem Verlassen der Station mit Schwebern zu meistern wäre. Darauf hätte aber auch er selbst kommen können. Beide waren zufrieden. Sie schalteten die Bilder ab, verließen erregt diskutierend das Raumschiff und begannen ihre Frauen und Kinder in der Station zu suchen. Das Suchen war auf diese Weise aussichtslos. Georg sah auf die Uhr. Kurz vor 19.00 Uhr. Sie hätten nun zwar auch über PUL mit ihnen Kontakt aufnehmen können, aber sie beschlossen, an ihrem Treffpunkt, dem Umkleideraum, zu warten. Eine halbe Stunde später hörten sie die Gruppe, laut und fröhlich singend und redend, kommen. Es wurde eine Begrüßungszeremonie, als hätten sie sich Jahre nicht mehr gesehen. Nach dem Umziehen, bestiegen sie ihren Schweber und wollten losfahren. „Ssssschttt“, machte Gitti, die Hand ausstreckend, „Hört ihr nichts?“ 430
Alle schwiegen augenblicklich und lauschten angestrengt. Richtig, da brummte und rauschte irgendetwas. Ganz leise, aber trotzdem deutlich vernehmbar. Was konnte das sein. So lange sie jetzt diese Station kannten, hatten sie bis auf einige Türöffnungssignale noch keine Geräusche in seinem Inneren vernehmen können. Und nun brummte und rauschte es deutlich vernehmbar. Georg und Peter sahen sich an und fingen aus heiterem Himmel zu lachen an. Sie konnten sich nicht mehr beruhigen und prusteten, was das Zeug hielt. Georg klopfte sich vor Vergnügen sogar auf die Schenkel. „Habt ihr ´ne Macke, oder was“, fing Gitti zu schimpfen an, „oder wisst ihr, was uns da so einen Schrecken eingejagt hat?“ Sie war ernstlich böse. Ellens Augen funkelten auch nicht gerade freundlich. „Ja, ich glaube, wir wissen was da los ist“, begann Georg sie aufzuklären, „und glaubt mir, es ist nichts Gefährliches, sondern etwas sehr Nützliches. Wir lassen von den mechanischen Gehilfen PULs einen neuen, ziemlich großen Ausgang bauen. Er soll in unmittelbarer Nähe unserer Autos enden. O.K.?“ 431
Er gluckste immer noch. „Hättet ihr uns nicht vorwarnen können, ihr Idioten“, kam es aus Gitti heraus gepoltert. Sie war immer noch stinksauer. „Wir wussten selbst nicht, dass man hier die Arbeit hören kann“, fing Peter an, sich zu rechtfertigen, „Morgen werden wir uns die Baustelle mal anschauen. Einverstanden. Und jetzt ins Hotel. Die Kinder müssen ins Bett. Sie sehen ganz schön hohl aus. Richtig Kinder?“ Diese nickten nur und ab ging es nach Hause ins Hotel. Eine gute Stunde später waren sie dort. Es war kurz vor 19.00 Uhr. Paul Wenig überlegte fieberhaft, wie er, ohne aufzufallen, an Georg herankommen und diesen aushorchen konnte. Wenn Georg doch nichts mit einem Superstoff zu tun hatte, hätte er ihn unmittelbar, als angeblicher Polizeibeamter ansprechen können. Hatte er etwas mit diesem Material zu tun, wäre dies unüberlegt. Dieser Georg würde sich augenblicklich verschanzen. Wenn es sehr schlecht lief, würde er unter Umständen sogar fliehen. Nein, so konnte er nicht vorgehen. Das Beste würde sein, entschied er, sich diesem Georg, mehr oder weniger, wie ein Tourist 432
zu nähern und sein Vertrauen zu gewinnen. Eventuell konnte man das sogar über die Kinder bewerkstelligen. Gut gekleidet, in hellgrau, karierten Hosen und einem leichten, rostfarbigen Pullover mit Golfemblem, begab er sich zum Empfang. Marie hatte immer noch Dienst. „Guten Abend“, begann er höflich lächelnd, „ich möchte meinen Bekannten, Herrn Georg Keller überraschen. Er weiß nicht, dass ich heute schon hier angekommen bin. Es war erst in vier Wochen geplant. An welchem Esstisch sitzt er denn? Er hat doch immer den gleichen Tisch, oder?“ Marie musterte überrascht den Gast, der erst heute angekommen war. Sie fand ihn so angenehm sympathisch, dass sie entgegen ihrer sonstigen Angewohnheit, grundsätzlich keine Auskünfte über Gäste zu erteilen, diesmal eine Ausnahme machte und ihm freundlich antwortete: „Wenn’s reingehen, dann gleich den zweiten Tisch ganz links am Fenster. Der ist für die Kellers und Landers reserviert.“ Paul war betroffen. Damit hatte er nicht gerechnet. Die Kellers und die Landers. Da wird es schwer 433
sein, an diesen Georg unauffällig heran zu kommen, stöhnte er leise auf. Er dankte, einnehmend lächelnd, und begab sich als einer der Ersten in den gemütlichen, großen Speiseraum des Hotels. Die Fensterplätze waren alle reserviert und für einen Einzelnen auch viel zu groß. Aber unmittelbar gegenüber dem Tisch der Landers und Kellers stand ein kleiner Tisch auf der Innenseite des Raums. Er war nur für zwei Personen gedeckt und es stand kein Reservierungsschild darauf. Vergnügt lächelnd, setzte er sich an diesen Tisch. Dabei achtete er darauf, dass er so saß, dass er den Eingang im Auge behalten konnte. Ausführlich und langsam studierte er die Getränkekarte, bestellte Mineralwasser und holte sich eine Kleinigkeit vom kalten Büffet. Die Wartezeit begann. Jacomo und Tino hatten bei ihrem Besuch im Golfhotel am Nachmittag festgestellt, dass Hausgäste und auswärtige Gäste in verschiedenen Räumen zu Abend speisten. Es war daher sinnlos für sie, dort ebenfalls zu essen und auf Georg zu warten. Deshalb verzehrten sie unterwegs einen kleinen Imbiss und fuhren anschließend, gegen 19.00 Uhr, zum Parkplatz des Golfhotels. Dort angekommen, stellten sie sich, in ihrem Fahrzeug sitzen bleibend, so geschickt hin, dass sie sowohl 434
den gesamten Parkplatz, als auch den Hoteleingang gut beobachten konnten. Auch für sie begann nun die Wartezeit. Nicolai ließ sich von Leonid gegen 19.30 Uhr zum Golfhotel fahren und vorsorglich weit vor dem Parkplatz absetzen. Er befahl Leonid zu warten. Nachdem er, sich nach allen Seiten vorsichtig umblickend, ausgestiegen war, schlenderte er, so wie es müßige Touristen taten, betont langsam zum Haupteingang des Hotels. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er den Wagen der beiden Mafiosi und konnte sich ein Feixen nicht verkneifen. In der geräumigen Lobby angekommen, setzte er sich leise und unauffällig in einen der bequemen Sessel, nahm eine Zeitschrift vom Tisch, und begann diese scheinbar stark interessiert und konzentriert zu lesen. In Wirklichkeit beobachtete er den Eingangsbereich und wartete auf Georg Keller. Georg fuhr mit seinem Fahrzeug als Erster auf den Parkplatz des Hotels. Direkt hinter ihm folgte Peter. Es war bereits nach 20.00 Uhr. Die Sonne stand schon tief über den Bergspitzen und versendete ein golden farbiges, weiches Licht. Als alle ausgestiegen waren, mahnte Ellen die Kinder:
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„Also denkt daran, dass ihr zu Niemandem, aber auch wirklich zu Niemandem, egal was geschieht, auch nur ein Sterbenswörtchen von unserem Geheimnis sprecht. Unterhaltet euch auch dann nicht darüber, wenn ihr denkt, dass ihr ganz allein seid. Nur in der Station dürft ihr darüber reden. Sicherheitsstufe 1 darf nie abgeschaltet werden. Sollte einer von euch in Gefahr sein, schaltet sofort Stufe 2 ein und lasst sie an, bis ihr wieder bei uns seid. Außerdem über PUL bei uns melden. Alles klar?“ Sie hatte sehr eindringlich gesprochen. Gitti nickte bei diesen Worten permanent zustimmend mit dem Kopf. Beide Frauen hatten fühlbar eine ungute Vorahnung. „Da wir uns krass satt fühlen, würden wir gerne gleich noch ein paar Runden Billard spielen. Dürfen wir das?“, fragte Alexander stellvertretend für Simon und Marian. Sie hatten sich vorher bereits diesbezüglich abgesprochen. „Klar. Kein Problem, Großer“, erwiderte Peter, seinem Sohn, der ihn bereits um mehr als fünf Zentimeter überragte, liebevoll auf die Schulter klopfend, „aber geht nicht zu spät ins Bett.“
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Alexander schüttelt verärgert seinen Kopf. Er mochte dieses „Auf-die-Schulter-geklopfe“ ganz und gar nicht, aber die Eltern schienen das einfach nicht zu bemerken. ‘Ich bin doch kein Baby mehr’, dachte er empört. „Sabine und ich gehen sofort ins Bett“, tat Verena laut gähnend kund. „Wollen wir noch ein Stündchen spazieren gehen und unsere Erfahrungen austauschen?“, schlug Georg vor, „Essen müssen wir eh nicht mehr.“ Die Kinder liefen vergnügt ins Hotel und gingen dort ihren Interessen nach. Die Erwachsenen sperrten ihre Fahrzeuge ab und marschierten den breiten Wanderweg entlang. Eine gute Stunde würden sie noch Zeit haben, bis es richtig dunkel wurde. Sie waren erst einige Schritte gegangen, als Gitti zu berichten begann: „Also die Erbauer dieser Anlage müssen ungefähr so groß wie ich, also so 1 Meter 60 groß, gewesen sein. Ahnt ihr, warum wir das wissen?“ „Ja. Weil ihr PUL gefragt habt“, stellte Georg lakonisch fest. 437
„Nein. Weil wir mehrere Räume gefunden haben, die man als Wohnräume bezeichnen kann. Es befanden sich Abarten von Tischen, Stühlen, eingebauten Schränken, Liegen und andere, undefinierbare Geräte darin. Alles so, wie wir es gewohnt sind, und doch ganz anders. Vielleicht lag es daran, dass alle Decken und alle Wände samtig schwarz waren und eigentlich alles irgendwie eckig, kantig ist. Es ist nur schwer zu beschreiben. Ihr werdet es ja selbst sehen. Jedenfalls würde ich die Helas als Minimalisten und Funktionalisten bezeichnen. Eine Art Zentrale haben wir ebenfalls gefunden. Einige Schalensitze mit diversen Kästen davor und wieder schwarze Wände. Danach versuchten wir die großen Türme in der Riesenhalle zu betreten. Es wurde uns verweigert mit dem Hinweis, dass es sich um Energiestationen handeln würde und ein Betreten für Lebewesen tödlich sei. Auch einige andere Räume oder größere Behältnisse konnten nicht geöffnet werden. Immer kam der Hinweis auf eine Lebensgefahr für Lebewesen. Diese Station ist ein ganz schön großer Kasten“, beendete sie ihren Bericht. Danach schilderten Georg und Peter ihre Erlebnisse. Gegen 21.00 Uhr betraten sie den Hoteleingang, durchquerten den Empfangsraum, holten die 438
Schlüssel vom Tresen und begaben sich direkt auf das Zimmer von Peter und Ellen. Jacomo hatte zuerst die beiden Fahrzeuge, welche augenscheinlich zusammen gehörten, nicht beachtet. Er war davon ausgegangen, dass dieser Georg Keller mit Familie nur alleine in der Anlage sein würde. Erst als die Insassen eine Weile vor den Fahrzeugen standen und sich unterhielten, erkannte sein Partner Georg bei der Gruppe. Jacomo stieg leise aus, machte Tino ein Zeichen zu warten und näherte sich, stets hinter parkenden Fahrzeugen verdeckt, den diskutierenden Personen. Verstehen konnte er nichts. Als die Kinder wegliefen und die vier Erwachsenen begannen, spazieren zu gehen, überlegte er sich, ob es ratsam war, hinter ihnen her zu schleichen. Er entschied sich dagegen. Es barg unnötigerweise das Risiko, vorzeitig entdeckt zu werden. Schnell huschte er zu seinem Wagen zurück, setzte sich hinein und begann wieder zu warten. Nach einer knappen Stunde kamen die Vier wieder den Spazierweg herauf gewandert und betraten das Hotel durch den Haupteingang. Flott sprang Jacomo aus dem Fahrzeug und eilte ihnen nach. Er öffnete in dem Augenblick die Eingangstür, als die kleine Gruppe am Empfangstresen stand und sich die Zimmerschlüssel aushändigen 439
ließ. Er betrat so überhastet die Lobby, dass er einen mittelgroßen, unscheinbaren Mann nicht bemerkte und etwas anrempelte. Ohne sein Hindernis eines Blickes zu würdigen, entschuldigte er sich flüchtig bei diesem, und näherte sich eilig Georg von hinten. Nicolai gähnte leise, hinter vorgehaltener Hand. ‘Blöde Warterei’, dachte er zum zigsten Male. Die Eingangstür war schon sehr häufig aufgegangen, ohne dass der Erwartete eingetreten wäre. Es war ein gut frequentiertes Hotel, stellte er befriedigt fest. Das kam seinem Bestreben nach Unauffälligkeit entgegen. Trotzdem hatte seine Wachsamkeit nicht eine Sekunde nachgelassen. Jetzt, kurz nach 21.00 Uhr erschien der Ersehnte endlich, in seinem Schlepptau drei unbekannte Personen. Er nahm sich vor, schnellstens in Erfahrung zu bringen, wer diese waren. Vorsichtig, aber trotzdem behände, stand er auf, um sich der kleinen Personengruppe unauffällig zu nähern. Er war so auf sein Ziel konzentriert, dass er den Rempler von hinten gegen seine Schultern erst bemerkte, als der Verursacher schon fast vorbei war. Als dieser sich flüchtig entschuldigte, erschrak Nicolai, denn er erkannte einen der beiden Mafiosi. In sei440
ner Absicht, sich Georg zu nähern, hatte er die Italiener, welche sich auf dem Parkplatz postiert hatten, um Georg Keller abzufangen, völlig vergessen. So etwas war ihm schon seit vielen Jahren nicht mehr passiert. Er ermahnte sich, künftig besser aufzupassen und nicht solch elementare Fehler zu begehen. Trotz des Schrecks musste er grinsen. So viel Dämlichkeit, wie dieser Mafiosi an den Tag legte, war kaum zu überbieten. Lief doch dieser Mensch mit einem dunklen Anzug, greller Krawatte und einem dunklen Schlapphut herum. Es war nicht zu fassen. „Er hätte sich doch gleich eine heulende Sirene auf den Hut kleben können“ murmelte Nicolai. Er selbst trug eine mittelgraue Hose, ein, die oberen beiden Knöpfe geöffnetes, blassblaues Hemd und darüber einen dezenten, dunkelgrauen Blazer. Total unauffällig. Er blieb stehen, und wartete, wie sich die Dinge entwickeln würden. Die Vierergruppe um Georg spazierte auf den Fahrstuhl zu, drückte den Knopf und wartete. Jacomo stellte sich zu der Gruppe und betrachtete Georgs Kleidung kritisch unter seiner Hutkrempe hervor. Die Vierergruppe und Jacomo stiegen ein und fuhren in die zweite Etage. Dort verließen sie den Fahrstuhl. Jacomo ging den langen Flur be441
wusst in die entgegen gesetzte Richtung, wie die Gruppe um Georg. Am Ende des Ganges, tat er so, als wäre ihm sein Schlüssel auf den Boden gefallen. Während er danach suchte, beobachtete er gespannt, welches Zimmer Georg betreten würde. Es war das Vorletzte auf der rechten Seite. Etwas erstaunt, dass alle vier im gleichen Zimmer verschwanden, wartete er noch einige Sekunden, dann ging er ebenfalls auf diese Tür zu. Den Mann im Treppenhaus bemerkte er nicht. Als er das Türschild ablas, es handelte sich um Zimmer 236, öffnete sich die Tür von innen und eine Frau kam heraus, grüßte verwundert Jacomo, um sogleich im Nebenzimmer, Zimmer 238, zu verschwinden. Jacomo bekam einen roten Kopf, als wäre er ertappt worden. Er drehte sich schnellstens um und ging zurück zum Lift, fuhr nach unten und begab sich zu seinem Fahrzeug. Er wusste fürs Erste, was er wissen wollte. Er wies Tino an, zu ihrem Hotel zurückzufahren. Dort liefen sie eiligst in ihr Zimmer, und begannen einen mittelgroßen, schwarzen Koffer auszupacken. „Hast du schon einen Plan?“. wollte Tino von Jacomo gespannt wissen. „Si. Wie werden Morgen, wenn die wieder ausgeflogen sind, diese kleinen Wanzen in den Zimmern 442
installieren. Das eine wirst du dann abhören, den Rest ich. Capito?“, erklärte er wichtigtuerisch und hielt eine kleine Schachtel in die Höhe. Tino störte das nicht. Jacomo war hier der Boss. Deshalb nickte er nur. Nicolai sah die Gruppe im Fahrstuhl verschwinden. So schnell wie es ging, ohne aufzufallen, eilte er zum Treppenhaus, welches unmittelbar neben dem Fahrstuhl nach oben und unten führte. Als er es erreicht hatte, legte er einen kurzen Sprint bis zur ersten Etage ein. Dort hielt er an und lauschte, ob die Gruppe hier ausgestiegen war. Als er eine Etage höher Schritte mehrerer Personen hörte, wusste er, dass die Gesuchten dort ausgestiegen waren. Leise schlich er auf seinen Gummisohlen nach oben. Vorsichtshalber hatte er sogar seine dünnen Lederhandschuhe angezogen. Nur keine Spuren hinterlassen. Als er auf halber Höhe war, sah er die Schatten von vier Personen, welche sich nach rechts bewegten. „Dieser Mafiosi muss nach links gegangen sein“, kombinierte er, „hätte ich auch so gemacht.“ Er stieg langsam weiter die Treppe hinauf. Als er fast die zweite Etage erreicht hatte, huschte der Italiener vorbei. Nicolai hatte bewusst nach unten geblickt, damit sein Gesicht nicht unnötig erkannt werden konnte. Aber der Ita443
liener war so in Eile, dass er ihn nicht bemerkt hatte, stellte Nicolai mit einem zufriedenen Lächeln fest. Er blickte vorsichtig nach rechts um die Ecke und registrierte, wie der Italiener eine bestimmte Türe musterte. Er sah auch noch, wie eine der Frauen, welche er zuvor bei der Gruppe um Georg bemerkt hatte, aus diesem Zimmer heraustrat, der Mafiosi heftig erschrocken zur Seite sprang, und die Frau im Zimmer daneben verschwand. Nicolai änderte sofort seinen Plan, weiter nach oben zu gehen. Er sprang geräuschlos und flott, immer mehrere Stufen auf einmal nehmend, bis zur ersten Etage hinunter und hielt an. Er lauschte wieder nach oben. Deutlich war zu hören, wie jemand den Fahrstuhl betrat und sich dieser nach unten bewegte. Nach einigen Minuten stieg er wieder in die zweite Etage hinauf, vergewisserte sich, dass sich niemand auf dem Flur befand und schlich dann zu den beiden Türen, welche zuvor den Italiener so stark interessiert hatten. Er notierte sich die Zimmernummern im Kopf und verließ schnellstens die Etage. Als er aus dem Hotel hinaustrat, bemerkte er gerade noch die Schlusslichter des Fahrzeuges, welches die Mafiosi benutzten. Er kehrte mit Leonid und Igor noch in einer Nachtbar im Ort ein und 444
besprach mit ihnen das weitere Vorgehen. Wenn am nächsten Tag die Zimmer der zu Observierenden leer und aufgeräumt waren, würden sie Minisender dort verstecken. Das würde weiterhelfen. Zugleich nahmen sie sich vor, die Mafiosi dergestalt zu ärgern, dass sie zuerst diese in den Zimmern agieren ließen, dann anschließend deren Sender unbrauchbar machten, um so allein in den Genuss des Abhörens zu kommen. Denn dass diese die Zimmer ihrerseits ebenfalls verwanzen würden, lag für Nicolai auf der Hand. Er freute sich wie ein kleines Kind auf einen Streich, den man Erwachsenen spielt. Paul Wenig war verunsichert. Hatte er irgendetwas übersehen? Hatte er irgendetwas falsch gemacht? Er war der erste und jetzt bereits der letzte Gast in diesem Restaurant. Die dicke Bedienung schaute ihn schon mehrmals verwundert an. So lange hatte sich bisher noch kein Gast beim Abendessen aufgehalten. Und dieser hatte noch nicht einmal viel gegessen. Sie schüttelte immer nur verwundert den Kopf. Kurz vor 22.00 Uhr stand Paul resigniert auf und verließ den Raum. Als er an den Rezeptionstresen kam, stellte er fest, dass sich momentan niemand dahinter befand. Vorsichtig sah er sich um. Es befand sich auch keine Person im Emp445
fangsraum. Leise rief er nach der Bedienung. Als keiner kam, bewegte er sich, immerzu umblickend, um den Tresen herum. Als er dahinter stand, suchte er flink nach der Belegungsliste. „Hoffentlich ist das hier nicht so ein voll computerisiertes Haus“, dachte er. Es war aber voll computerisiert. Eine Belegungsliste war nicht zu finden. Er wollte schon den Bereich hinter dem Tresen verlassen, als er an der Pinwand einen größeren Wochenplan entdeckte. Bei genauerer Betrachtung stellte er sich als die gewünschte Informationsquelle heraus. Es handelte sich um den Reinigungsplan der Hotelzimmer. Säuberlich stand unter anderem darauf verzeichnet: Resi, Zimmer 236 Lander, Zimmer 238 Keller, Zimmer 237 Lander, Zimmer 239 Keller. Geübt nahm er sein kleines Notizbuch aus der Jackentasche und notierte sich die Angaben. Er war kaum aus dem Bereich hinter dem Tresen herausgetreten, als auch schon Frau Obermoser, welche die Abendschicht hatte, aus dem rückwärtigen Büroraum kam. Sie hatte nichts bemerkt und grüßte den Gast nur freundlich. Dieser erwiderte den Gruß ebenso freundlich und ging auf sein Zimmer. Auf dem Weg dorthin, überprüfte er kurz, wo sich die notierten Zimmer befanden. Eines von ihnen, welches den Kellers gehören 446
musste, lag direkt unter dem seinen. Das musste doch zu nutzen sein, überlegte er sich zufrieden. Morgen zum Frühstück würde er sein Glück wiederum versuchen. Irgendwann müssen die doch essen. Ellen wollte kurz einmal in Berlin, bei ihren Eltern anrufen. Sie verließ das Zimmer von Gitti und Georg. Als sie den Gang betrat, sah sie den Mann, der zuvor mit im Fahrstuhl ebenfalls in die zweite Etage gefahren war. Sie war erstaunt ihn direkt an dieser Tür zu sehen und bemerkte, wie dieser Mann, der in einem Haus unnötigerweise einen Schlapphut trug, vor Schreck einen kleinen Sprung zur Seite machte. Sich nicht weiter um ihn kümmernd, schloss sie ihr Zimmer auf, ging hinein und telefonierte mit den Eltern. Anschließend beeilte sie sich, wieder zu den Anderen zu kommen. Gleich beim Eintreten legte sie los: „Also in Berlin ist alles o.K.. Das Wetter ist durchwachsen. Aber da gibt’s etwas, was mir eigenartig vorkommt. Als ich vorhin aus diesem Zimmer rausgegangen bin, stand der komische Typ vom Fahrstuhl unmittelbar vor unserer Tür und ist fürchterlich erschrocken, als er mich sah. Vielleicht sehe ich Geister, aber....“ 447
Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Peter und Georg sahen sie interessiert an, Gitti nickte bestätigend mit dem Kopf. „Mir kam er auch merkwürdig vor“, fing sie an, „wir sollten künftig höllisch aufpassen.“ Sie diskutierten noch die ganze Nacht hindurch, wie sie weiterhin vorgehen sollten. Die Maschine der Delta Airlines DA 437 war pünktlich 22.00 Uhr von Washington, D.C. gestartet. Sie würde Morgen um 10.40 Uhr in Frankfurt / Main landen. Joe Crabbs und Fred Jones befanden sich komplett ausgerüstet mit ihrer reichhaltigen Spezialausrüstung an Bord. In der Nacht hatte es zu regnen begonnen. Es goss wie aus Eimern. Alexander wachte durch das peitschende Klatschen der Regentropfen gegen die Zimmerfenster bereits kurz nach sieben Uhr auf. Simon und Marian schliefen noch. Er stand geräuschlos auf und zog sich Hose, Strümpfe und einen dünnen RollkragenPullover über den Sicherheitsanzug. Er fand, dass es sich in der Kombi hervorragend schlief. Man konnte getrost auf Bettzeug verzichten. Selbst harte Unterlagen fühlten sich angenehm kuschelig an. Der Gürtel und die 448
weichen Schuhe waren nicht im Geringsten hinderlich. Auch die Körpertemperatur blieb konstant in einem wohligen Rahmen. Nur Kopfkissen brauchte man unbedingt. Zum einen für den Kopf zum Unterlegen, zum anderen zum Knuddeln und Knautschen während der Nacht. Fertig angezogen, begab er sich auf leisen Sohlen in Georgs Zimmer. Die beiden Elternpaare saßen um den kleinen Couchtisch herum und unterhielten sich flüsternd. Er setzte sich wortlos dazu. „Guten Morgen, du Frühaufsteher“, begrüßte ihn Gitti, „schlafen die Anderen noch?“ Er nickte nur kurz. Ihm lag etwas auf der Seele, das sah man ihm deutlich an. „Was hast du“, machte Peter es ihm leicht, mit der Sprache herauszurücken, „raus damit.“ „Ich glaub, wir haben da gestern etwas Wichtiges vergessen. Ich meine unter dem Aspekt, Geheimhaltung und Unauffälligkeit“, kam es zögerlich aus ihm heraus. Er stockte etwas. „Was denn, erzähl schon“, drängelte Georg. „Wir hatten für den Sonntag und Montag ganz feste Reitstunden gebucht. Es hat keiner abgesagt. 449
Wir sind in unserer Aufregung einfach nicht erschienen. Wenn da einer stutzig wird und nachzuforschen beginnt?“ „Au, verdammt!“, entfuhr es Peter, „da hast du recht. Und wenn ich jetzt deine Beobachtung von gestern Abend berücksichtige, könnte man uns auf die Schliche kommen. Zumindest kann man feststellen, dass wir uns untypisch verhalten. Betrachtet man auch noch unsere Golfspielhäufigkeit, im Vergleich zu deiner früheren Praxis, Georg, dann kann’s eng werden.“ „Und die Mahlzeiten nehmen wir ebenfalls nicht in der Art ein, wie man es von einem Pauschaltouristen mit einem „all inklusive“ Arrangement erwarten könnte“, verstärkte Ellen die vorangegangenen Argumente noch. „Danke Alex, dass du uns darauf aufmerksam gemacht hast. Ab wann kannst du die Reitstunden absagen?“, hakte sie sogleich nach. Alexander schaute auf seine Armbanduhr. „Das geht ab 7.30 Uhr. Bei Martina. Die ist dann gerade mit dem Füttern der Tiere fertig. Ich verschwinde nach unten und sage alles ab. O.K.?“, schlug er engagiert vor. Die Eltern sahen sich wortlos an und nickten bestätigend. Alexander 450
schoss wie ein Wiesel aus dem Raum, um diese Aufgabe zu erfüllen. „Da kann man mal sehen, wie sehr es selbst die Kinder gepackt hat“, resümierte Gitti stirnrunzelnd, „sogar ihr liebste Freizeitbeschäftigung, das Reiten, haben sie vollständig vergessen. Und zwar alle.“ Inzwischen waren auch die anderen Kinder aufgestanden und erschienen in Georgs Zimmer. Nachdem Alexander wieder zurück war, wurde eine kurze Lagebesprechung abgehalten. Neben den Belehrungen, die den Kindern allmählich auf die Nerven ging, immer zusammenzubleiben, vorsichtig zu sein und nicht über die Entdeckung zu sprechen, wurden die Aufgabengebiete für diesen Tag in der Station verteilt. Ellen, Gitti und die Kinder sollten weiter die Räume des Raumschiffs durchforschen, Peter und Georg wollten sich die kleinen Raumschiffe genauer ansehen und zwischendurch immer wieder den Baufortschritt beim Tunnelbau betrachten. Georg rief kurz vor dem Aufbruch in seiner Firma an, und sprach einige Minuten mit seinem Prokuristen. Mehrmals brummte er dabei missmutig. Ein paar Minuten nach acht Uhr brach 451
die Gruppe auf, verließ auf dem direkten Weg das Hotel und fuhr mit zwei Fahrzeugen zu dem Parkplatz unterhalb des Berges, auf dem der Eingang lag. Als sie die Fahrzeuge abstellten, musterten sie noch einmal genau den künftigen, neuen Eingangsbereich. Der Berg stieg vor den abgestellten Fahrzeugen sehr steil auf. Eine größere Einbuchtung, gut 12 Meter breit, konnte die ideale Tarnung für das neue Tor darstellen. Sie waren schon sehr gespannt, wie der riesige Felsen an dem gleitenden Teil des Tores befestigt werden würde. Nach einer kurzen Unterhaltung diesbezüglich, machten sie sich auf den Weg zu dem oberen, alten Eingang. Der Vorgang des Betretens der Anlage war schon fast zur Routine geworden. Über das Wie und Warum dachte längst keiner mehr nach. Es war bereits Alltag. Kommissar Fritz Moser erschien mit seinem Mitarbeiter, Herbert Malchin, bereits kurz nach 7.30 Uhr im Golfhotel. Als sie die Eingangstür öffneten, kam ihnen Alexander entgegen geschossen, stürmte an ihnen vorbei und verschwand Richtung Pferdeställe. Der Kommissar hatte ihn augenblicklich erkannt, und wunderte sich über dessen Hast zu solch früher Morgenstunde. Kopfschüttelnd betraten sie den Empfangsraum. Marie stand hinter 452
dem Tresen und diskutierte heftig mit Frau Obermoser: „Na, die hab´n gestern Morgen und Abend nix gegessen“, verteidigte sich Marie offenkundig. „Fragens doch die dicke Erna, die muss es genau wissen. Die hat den ganzen Abend bedient.“ „Grüß Gott. Gibt’s Probleme?“, mischte sich der Kommissar in die Unterhaltung ein, „können wir helfen?“, bot er gleich darauf freundlich an. „Nein, Nein, Herr Kommissar“, beschwichtigte Marie sofort, „das ist hier kein Fall für einen Kriminaler. Es ist halt nur, weil die Landers und Kellers seit ein paar Tagen so anders sind. Die Kinder waren an den ersten Tagen hin und weg mit den Pferden und so. Plötzlich, seit zwei Tagen, schauen´s die Pferde nicht einmal mehr an und vergessen sogar, dass sie Reitstunden gebucht haben. Sie sind immerzu mit den Eltern unterwegs. Und wenn’s dann alle zusammen wegfahren, frühstücken´s nicht mal mehr. Wenn’s abends nach Hause kommen, essen´s auch net. Des ist doch merkwürdig? Stimmt’s.“ „Ja und der Karl, der mein Bub ist, hat mir gestern Abend gesagt, dass die Buben von denen, der 453
Alex, Simon und Marian, seit kurzem so anders seien. Die haben das Gefühl, als würden sie niemand mehr mögen, wo sie doch vorher immer so nett waren. Und so blöd angezogen sind sie jetzt auch immer. Im Hochsommer mit Rollkragenpulli. Die spinnen“, warf Frau Obermoser wichtigtuerisch ein und unterstrich ihre Rede noch durch ein Tippen ihres rechten Zeigefingers gegen ihre Stirn. Fritz Moser und Herbert Malchin sahen sich verschwörerisch an. Also doch. „Ihr würdet also sagen, seit dem Erdrutsch sind die ganz anders geworden, ha?“, hinterfragte Herbert prompt. „Ja, aber was soll´s. Solange sie ruhig sind und alles bezahlen, ist mir das Wurscht“, kam die geschäftstüchtige Antwort der Wirtin. „Kann ich euch was helfen?“, wollte sie nun von den beiden Männern wissen. „Nein, Nein“, wiegelte der Kommissar schnell ab, „wir waren nur zufällig mal hier in der Gegend und haben nur mal so zu euch reingeschaut. Wir müssen auch gleich wieder weg. Servus dann auch“, verabschiedete er sich, nett lächelnd. 454
Sie hörten nicht einmal mehr den Abschiedsgruß der beiden Frauen, so flott hatten sie wieder das Hotel verlassen. „Mensch, das ist ja was“, fing Herbert sogleich zu jubeln an, „da ist was im Busch, aber was?“ „Wir setzen uns jetzt ins Auto und warten, bis die beiden Familien das Hotel verlassen. Dann fahren wir ihnen ganz vorsichtig nach. Wir wollen doch mal sehen, wo die hinfahren und ob die dort was zu verbergen haben“, schlug der Kommissar vor. Herbert Malchin nickte nur. Ein Widerspruch wäre ohnehin sinnlos gewesen, außerdem fand er die Idee ausgezeichnet. So eine Verfolgungsfahrt hatten sie schon seit Jahren nicht mehr gehabt. Sie setzten sich in ihr Fahrzeug, und warteten. Als sie die neun Familienmitglieder der beiden Familien aus dem Hotel kommen und in ihre Fahrzeuge einsteigen sahen, starteten sie ihr Auto. Sie verfolgten die Fahrzeuge mit gehörigem Abstand und waren sehr verwundert, dass sie nicht Richtung Rauris, abbogen, sondern entgegengesetzt, mitten in die Berge hinein. Nach einigen Kilometern bogen sie nach rechts, also noch tiefer ins Gebirge hinein, ab. Die stets den Berg hinauf führende, kleine Landstraße war in gutem Zustand, aber 455
ausgesprochen kurvenreich. Die Fahrgeschwindigkeit war dementsprechend langsam, und das war auch das Glück der Verfolger, denn hinter einer der engen Kurven, hatten die vorausfahrenden Fahrzeuge ihre Geschwindigkeit so stark verringert, dass sie beinahe aufgefahren wären. So konnten sie gerade noch bremsen und unbemerkt auf dem schmalen Seitenstreifen anhalten und weiter observieren. Sie waren ausgesprochen verblüfft, als die Fahrzeuge auf dem ehemaligen Bremsweg, welcher auf der linken Seite der abschüssigen Fahrbahn etwas bergauf gebaut worden war, einscherten und einparkten. Dieser Bremsweg endete direkt vor dem steil aufsteigenden Gebirgsmassiv. Als die Insassen ausstiegen, eine kurze Weile palaverten und dann anfingen, nach links einen schmalen Gebirgsweg den Berg hinaufzuklettern, stiegen auch der Kommissar und sein Begleiter aus. Herbert Malchin nahm vorsorglich seinen Feldstecher mit, als sie sich entschlossen, auf der anderen Bergseite eine Position zu suchen, welche ihnen erlaubte, die Personen noch eine Weile zu beobachten. Abgehetzt kamen sie auf einem kleinen, von Latschen eingesäumten Felsvorsprung, gut 40 Meter über ihrem Fahrzeug, an. Da Herbert die Gegend wie seine Westentasche kannte, suchte er, immer noch schwer atmend, umgehend die Ge456
gend, in welcher sich die Gesuchten ungefähr aufhalten mussten, mit dem Feldstecher ab. Kurze Zeit später hatte er sie im Visier. Sie wanderten immer noch ganz langsam den steilen Weg entlang den Berg hinauf. Für eine kurze Zeit verschwanden sie einmal hinter einer Einbuchtung, um anschließend wieder zu erscheinen. So ging das gute zehn Minuten lang. Höher und immer höher. Plötzlich verschwanden sie wieder hinter so einer kleinen Einbuchtung. ‘Gleich müssen sie wieder zum Vorschein kommen’, dachte Herbert vergnügt. Er gönnte dieser Flachlandgruppe diese Anstrengung einer solchen Gebirgswanderung. „Warum kommen die nicht wieder zum Vorschein?“, fragte Herbert verwirrt seinen Vorgesetzten. Dieser verstand gar nichts. Herbert erklärte ihm die Sachlage. Immer und immer wieder suchte er den Weg, den die Gruppe genommen hatte und auch nehmen musste, mit dem Fernglas ab. Aber nichts. Sie blieben wie vom Erdboden verschluckt. Die beiden Männer sahen sich verwundert an. „Komm, Herbert, da wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben, als selbst mal nachzuschauen“, for457
derte der Kommissar seinen Mitarbeiter auf, „wie werden den gleichen Weg raufklettern. Los!“, machte er ihm noch Dampf, selbst schon mit dem Abstieg beginnend. Herbert Malchin stapfte fluchend und schimpfend hinterher. Sie liefen, stiegen und kletterten den gesamten Weg, den zuvor die Landers und Kellers genommen hatten, hoch. Als sie ganz oben auf dem Bergplateau angekommen waren, wurden sie noch verwirrter. Nichts mehr zu sehen von den Gesuchten. Wie aufgelöst. „Wir gehen wieder zurück“, entschied der Kommissar, „und du zeigst mir mal die Stelle, wo du sie aus den Augen verloren hast. Ja?“ Herbert nickte nur resigniert und begann den Rückweg. Als er die Stelle erreicht hatte, an der, seiner Meinung nach, die neun Personen verschwunden waren, hielt er an. Es handelte sich um eine kleine Einbuchtung, mitten auf dem Weg. Der Kommissar schaute auf den Boden und suchte ihn ab. „Kruzifix. Verdammt, verdammt, verdammt“, schimpfte er plötzlich wütend los, „sind wir blöd gewesen.“
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„Wieso?“, wollte Herbert, nun vollends durcheinander, wissen. „Schau mal“, fing der Kommissar zu erklären an, „es regnet doch immer noch, wenn auch nicht mehr sehr stark. Der Boden, selbst auf diesem Gebirgsweg ist stellenweise ganz schön aufgeweicht, so dass wir wunderbar die Fußspuren sehen können. Siehst das auch so? „Ja“, kam achselzuckend die Antwort Herberts, „na und?“ „Dämmert dir Hornochse immer noch nicht, was wir falsch gemacht haben?“, wollte er von ihm, nach oben blickend, wissen. „Nö.“ „Ach, du lernst es nie.“ Hoffnungslosigkeit schwang in seinen Worten mit. „Wir hätten zuerst nur bis hierher gehen dürfen, dann hätten wir den Spuren folgen müssen. So aber sind wir raufgelatscht und wieder zurück, und haben dabei alle Spuren schön zertrampelt. Verstanden, du Trampeltier.“ Er fand sein Wortspiel mit dem Trampeln und Trampeltier so gut, dass er herzhaft zu lachen an459
fangen musste. Herbert wäre auch ohne das Lachen seines Vorgesetzten nicht beleidigt oder eingeschnappt gewesen, dafür kannte er ihn zu lange und zu gut. Jetzt fiel er ebenfalls schallend in das Gelächter mit ein. Verstanden hatte er trotzdem nichts. Sie kletterten den Berg wieder hinunter und fuhren zurück in ihre Dienststelle. Abends, hatten sie sich vorgenommen, würden sie Peter Lander ausfragen und schon herausbekommen, wo sie heute gewesen waren. Vielleicht würde er dann unruhig werden. Paul Wenig stand an diesem Morgen bewusst zeitig auf und zog sich flott an. Warum gestern Abend die Familien um Georg nicht Abendbrot gegessen hatten, konnte er sich nicht richtig erklären. ‘Vielleicht sind sie unterwegs irgendwo eingekehrt’, versuchte er sich selbst zu beruhigen. Wie es seine Angewohnheit war, ging er zu Fuß die drei Etagen hinunter, um im Frühstücksraum wieder seinen Posten zu beziehen. ‘Hungrig werden sie ja wohl nicht aus dem Haus gehen’, überlegte er. In dem Augenblick, als er die 460
Lobby betreten wollte, hörte er deutlich Stimmen. Schlagartig hielt er mit seiner Bewegung inne und lauschte. Er glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Das Gespräch zwischen der Wirtin, Marie und den beiden Männern war ausgesprochen aufschlussreich und verwirrend. ‘Die heimische Kripo hier - und dermaßen interessiert an diesem Thema. Georg Keller nebst Familie und den Landers essen hier nicht mehr und haben sich in kürzester Zeit gänzlich verändert’, grübelte er, sich dabei in der Nase bohrend, ‘und dann das mysteriöse Überleben Georg Kellers bei diesem grausigen Unfall, geschützt durch eine Wunderkombi. Lander, den Namen hatte er in irgendeinem Zusammenhang in letzter Zeit auch schon einmal gehört. Nur in welchem? Was steckt dahinter?’ Als die beiden Kriminalbeamten und Frau Obermoser verschwunden waren, begab er sich, freundlich Richtung Marie grüßend, in den Frühstücksraum. Wenn heute diese beiden Familien wiederum nicht zum Frühstück erschienen, würde er die Räume mit Kameras ausstatten, nahm er sich vor. Und er musste herausbekommen, was es über diese Landers zu wissen gab. Außerdem brauchte er dann dringend Verstärkung. Er war gespannt, ob 461
er diese, auf seine Anforderung hin, erhalten würde. Ellen, Gitti und die Kinder kleideten sich in der Station rasch um und waren danach im Nu unterwegs zum großen Raumschiff. Peter und Georg behielten heute ihre Sicherheitskombis an, da sie den Baufortschritt im Tunnel inspizieren wollten. Als sie allein in der großen Halle in ihrem Fahrzeug saßen, konnte Georg nicht mehr an sich halten: „Die Frauen hatten mit ihren Vorahnungen recht“, fing er an, „Gerd hat mir vorhin mitgeteilt, dass sich am Freitag Abend ein Kripo Mann aus München wegen des Unfalls nach mir erkundigt hat. Er hat ihm unsere Ferienanschrift gegeben. Was sollte er auch anderes tun.“ Hier machte er eine Pause. Peter dachte, das wäre alles und versuchte deshalb seinen Freund zu beruhigen. „Na und. Das ist doch nichts Besonderes. Bei so einem schweren Unfall, kannst du noch mehrmals verhört werden und musst unter Umständen sogar bei Gericht in den Zeugenstand. Nur ist es etwas 462
eigenartig, dass die Kripo München, und nicht die vor Ort, nämlich Altötting, ermittelt.“ Georg grinste fast schon frech. Peter kannte ihn gut genug, so dass er augenblicklich alarmiert war. „Ja, meinst du denn, dass ich mir deswegen ernsthaft Sorgen machen würde?“, fing Georg auch schon zu poltern an, „am Montag erschienen bei Gerd, so gegen acht Uhr kurz nachdem ich mit ihm telefoniert hatte, zwei ganz windige Typen. Die wollten auch wissen wo ich stecke. Gerd wollte nichts sagen, aber dann haben sie ihm ihre Pistolen unter die Nase gehalten. Also wissen die nun auch, wo ich bin. Gerd hat gestern den ganzen Tag versucht, uns zu erreichen, aber wir waren ja nicht erreichbar, wie du weißt.“ „Hast du sie dir beschreiben lassen?“, wollte Peter aufgeregt wissen. „Klar, was denkst du denn. Wie meinte Gerd Müller so schön: Die sahen aus, als wären sie aus einem Al Capone Film entsprungen. Sie trugen zu dieser Jahreszeit unpassende, dunkle Schlapphüte.“ Den letzten Teil des Satzes dehnte Georg bewusst lange aus, um so auf den wichtigsten Punkt seiner 463
Rede hinzuweisen. Peter war perplex. Der Typ, den Ellen im Flur gesehen hatte, war doch auch mit einem solchen Hut bekleidet gewesen. Alles, was sie bisher besprochen und geplant hatten, war nun Makulatur. Jetzt mussten sie neu denken und planen. Da war jemand hinter ihnen her. Das Photo Georgs, welches ihn nach dem Unfall zeigte, war also doch nicht unbemerkt geblieben. „Gut. Das besprechen wir, wenn wir mit den Anderen wieder zusammentreffen. Lass uns nun mal zum neuen Tunnel fahren“, beendete Peter das unerfreuliche Thema. Da Georg nicht genau wusste, wo die Baustelle lag, ließen sie sich, von PUL gesteuert, hinfahren. Sie schwebten durch die Riesenhalle auf halber Höhe, weiter durch einen breiten Gang in der Station und hielten vor einer Wand. Zuerst erkannten sie gar nichts. Sie standen vor der Metallwand und nichts tat sich. Ohne Vorwarnung öffnete sich plötzlich in dieser Wand ein großes Tor und ein Schweber, ausgestattet mit senkrechten Streben auf der Ladefläche, kam ihnen von außerhalb, aus einem Tunnel entgegen, fuhr an ihnen vorbei und verschwand hinter ihnen in der großen Halle. Das leise Gesumme, welches in der Raumschiffhalle immer noch zu hören war, war hier, in diesem Gang sehr intensiv. Das Tor 464
blieb geöffnet. Der Schweber fuhr aber nicht hindurch, sondern bewegte sich ganz an die Seite, als wollte er nicht im Wege stehen. Der Grund war umgehend zu spüren. Mit einem starken Rauschen und eindeutig spürbarem Wind flogen mehrere beladene Schweber an ihnen vorbei. Was diese Schweber genau geladen hatten, konnten sie auf die Schnelle nicht präzise ausmachen. Es sah aus wie vorgefertigte, ungefähr 50 Zentimeter dicke, 5 mal 3 Meter große, bräunliche Platten. Ihr Fahrzeug bewegte sich seitwärts wieder etwas Richtung Gangmitte und durchquerte dann das neue Tor, welches sich hinter ihnen automatisch schloss. Im Gang war es ausgesprochen kalt und nahezu dunkel. Hier funktionierte weder die Beleuchtung noch die Heizung. Die Temperatur konnten sie, da sie noch den Schutzanzug anhatten, nur durch die kühle Atemluft erahnen. Automatisch schaltete der Schweber, in dem sie saßen, eine raumfüllende, matte Beleuchtung ein. Sie konnten danach erkennen, dass der Gang schon mehr als 100 Meter lang sein musste und auf der linken Seite, solche Platten, wie sie sie kurz zuvor gesehen hatten, durch rechteckige Kästen mit Greifarmen verlegt wurden und dahinter andere ähnliche Maschinen mit einem irisierenden, grünlichen Licht diese nahtlos verbanden. Hätte es 465
Funken gesprüht und laut gezischt, hätte man meinen können, dass diese Platten zusammengeschweißt wurden. Um genau solch einen Vorgang musste es sich auch hier handeln, stellte Peter fest, denn nach dieser Behandlung, waren zwei Platten so miteinander verbunden, dass nichts mehr den Übergang erkennen ließ. Als er nach vorne blickte, konnte er erkennen, wie ganz am Ende des Tunnels, welches ungefähr 50 Meter entfernt und an dieser Stelle noch reiner Felsen war, mittels Bestrahlung ganz langsam aufgelöst wurde. Unterhalb der aufgelösten Stelle fuhr eine Art Staubsauger mit dem Auflösungsstrahl hin und her. Ein schlauchähnliches Gebilde, welches einen quadratischen Umfang hatte, endete auf einem Schweber, der einen würfelförmigen Kasten beförderte. Daneben stand genau der gleiche Schweber noch einmal. Wie von Geisterhand wurde bei dem linken Schweber der Schlauch eingezogen und das Fahrzeug fuhr mit seiner Fracht, vorbei an Peter und Georg, in Richtung Station. Aus dem zurückgebliebenen Schweber fuhr nun ebenfalls eine Art Schlauch heraus, welcher die Position und Tätigkeit des Vorgängers einnahm und mit dem Strahl hin und herfuhr. Offensichtlich wurde so Schicht für Schicht aus dem Felsen heraus gestrahlt und irgendwie abgesaugt. 466
„Frage: Warum wird der neue Gang so langsam abgebaut?“, interessierte sich Georg für dieses technische Kabinettstückchen. „Schnelleres abgetragen = Bergeinsturz.“ „Schau mal, Georg, die arbeiten in fünf Schichten rundherum. Erst kommt eine Schicht dieser Metallplatten, darauf eine zweite, darauf eine dritte uns so weiter. Und alle werden irgendwie miteinander verschweißt und nahtlos verbunden“, erläuterte Peter, was er so sah und wie er es verstand. „Komm, wir haben erst einmal genug gesehen. Lass uns mal das Kleinflugschiff und dann die Produktionsstätte der Metallplatten anschauen!“ Georg drehte den Schweber um und sie glitten in die große Raumschiffhalle. Immer wieder mussten sie beladene Schweber passieren lassen. Paul Wenig saß an diesem regnerischen Vormittag in seinem kleinen Zimmer und dachte über das heute früh Gehörte nach. Nicht nur Georg Keller, auch seine Familie und seine Freunde verhielten sich unnormal. Sie waren nicht einmal zum Frühstück erschienen. Nachdenklich griff er zu seinem Spezialhandy und wählte die geheime Nummer 467
seines obersten Chefs beim BND. Nachdem dieser abgenommen hatte, teilte er diesem die neuen Fakten mit, und bat ihn, alles, was es über diese Kellerfamilie und seine Freunde, die Landers, zu wissen gab, schnellstens in Erfahrung zu bringen und ihm zu übermitteln. Außerdem gab er eine Liste der Gegenstände durch, welche er am Spätnachmittag benötigte. Ihm wurde jede Unterstützung zugesagt. Nach dem Gespräch legte er sich, weiter grübelnd, auf sein Bett und wartete auf die bestellten Geräte und Informationen. Am frühen Nachmittag würde er dem hiesigen Kommissariat einen Besuch abstatten und den Kommissar ein klein wenig über Peter Lander aushorchen, nahm er sich vor. Sollten hier Zusammenhänge bestehen? Auf dem alten Gletscherrest schien die Sonne. Nur wenige Meter unterhalb, war ein dichter Wolkenteppich zu sehen. Ein Hubschrauber senkte eine Kiste mit neuen Bohrköpfen gekonnt neben dem, auf dem Gletscher verankerten, Bohrturm ab. Professor Mergant hakte die Kiste eigenhändig aus. „Wird auch Zeit, dass sie endlich kommt“, schimpfte er halblaut knurrend vor sich hin, „es ist schon fast Mittag, und wir haben heute noch nicht einmal angefangen.“ 468
Er war immer noch verärgert, dass ihm, ausgerechnet ihm, dem so bekannten Wissenschaftler, minderwertige Bohrköpfe angedreht worden waren. Der Lasthaken war noch nicht im Hubschrauber verschwunden, als er schon die Kiste aufgerissen hatte und das oben aufliegende Kuvert heraus fingerte und umgehend öffnete. Während er, die an ihn gerichteten Zeilen las, hievten seine Helfer den ersten Bohrkopf heraus und begannen ihn, an die Bohrspindel zu montieren. Er war so in seine Lektüre vertieft, dass er gar nicht bemerkte, dass der Hubschrauber immer noch über der Bohrstelle stand. Erst nach wiederholtem Rufen durch seine Helfer, blickte er nach oben. „Was soll das?“, fragte er sich verblüfft, „wer ist denn das?“ In einer Schlinge sitzend, kam ein junger Mann vom Hubschrauber herunter geschwebt. Mit den Worten: „Hallo. Mein Name ist Mertens. Salzburger Nachrichten“, begrüßte er lautstark die Forschergruppe. Jetzt wurde es dem Professor allmählich zu bunt. Erst die defekten Bohrköpfe, dann ein Schreiben des Herstellers, dass die reklamierten Bohrköpfe vor der Bohrung fehlerfrei gewesen waren und 469
nun noch ein Reporter. Diesen interessierten die missbilligenden Blicke des Wissenschaftlers nicht im Geringsten. Unverblümt begann er, nach seinem Ausstieg aus der Schlinge, seine erste Frage dem Professor zu stellen: „Wie bekannt wurde, gab es gestern einen unerwarteten Zwischenfall bei den Bohrversuchen. Worum ging es dabei, Herr Professor?“ Dieser konnte Reporter auf den Tod nicht ausstehen, aber er war grundsätzlich auf Publicity bedacht und fürchtete die zerstörerische Macht der Presse. Also entschloss er sich, das Beste aus dieser vertrackten Geschichte zu machen. Etwas Ruhm, und sei er noch so unverdient, konnte nicht schaden. Es war bestimmt seinem Ruf nicht förderlich, wenn er eine ordinäre Materialpanne zugeben würde, überlegte er. Also, warum nicht die Flucht nach vorne antreten: „Ja, es ist schon eine tolle Sache. Wenn ich das richtig interpretiere, sind wir einer geologischen Sensation auf der Spur“, fing er an zu erzählen. „Wie Sie vermutlich wissen, bin ich einer der führenden Geologen und Gletscherforscher Europas“, setzte er sich erst einmal ins rechte Licht. Eigenlob kann nie schaden. „Ich habe nun entdeckt, dass 470
sich unter dem Eis des Gletschers nicht der normale Kalkstein, wie er hier in den Alpen üblich ist, befindet, sondern eine erhebliche härtere Steinsorte. Um welche Sorte es sich handelt, wissen wir noch nicht, aber da wir jetzt die neueste Lieferung von Bohrköpfen haben, werden wir das ganz schnell wissen“, vollendete er erst einmal seine Ausführungen, sich auf die Brust klopfend. „Welche Sorte Stein kann denn dort unten liegen, die so hart ist, dass sie Bohrköpfe verglühen lässt?“, hakte der Reporter schnell nach. Nicht locker lassen, war seine Devise. „Also es kann weder Granit noch Schiefer oder ähnliches sein“, begann der Wissenschaftler, scheinbar konzentriert überlegend. ‘Was soll ich diesem Affen hier nur sagen’, überlegte er fieberhaft. Er wusste doch selbst nichts und er glaubte auch nicht an den Quatsch, den er gerade verzapfte. Da hatte er eine Idee. Diesen jungen Zeitungsschnösel würde er jetzt kräftig auf den Arm nehmen. Ihm fiel soeben eine wahre Geschichte aus den neunziger Jahren ein. Damals hatten einige amerikanische Wissenschaftler behauptet, dass sie in einem Meteoriten, der vom Mars stammen musste, Restspuren von Aminosäu471
ren festgestellt hatten. Es musste also irgendeine Form von Leben auf dem Mars möglich sein oder geben. Daraufhin gab die amerikanische Regierung endlich die dringend benötigten Forschungsgelder frei und eine Marssonde konnte losgeschickt und mit Erfolg auf dem Mars gelandet werden. Dort stellte man dann allerdings sehr schnell fest, dass es kein Leben auf dem Mars gab. Der damalige Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika gab anschließend in einer Pressekonferenz unumwunden zu, dass es sich um eine zweckgerichtete Zeitungsente gehandelt hatte. Seine Worte: „Euch kann man aber auch wirklich alles erzählen, ihr glaubt auch alles“, hallte just in diesem Augenblick in seinem Ohr nach. Er musste nun sogar lächeln. „Meine Erfahrung sagt mir, dass wir hier, genau unter unseren Füßen, einen riesengroßen Meteoriten liegen haben, der vor Jahrtausenden in den Gletscher eingeschlagen sein muss. Wir werden ihn freilegen. Wenn meine Theorie stimmt, dann umgibt ihn dort unten ein großer Hohlraum, der beim Einschlag entstanden sein muss. Der Bergrutsch muss eine Spätfolge dieses Einschlags gewesen sein“, begann er aus dem Stehgreif einen Vortrag zu halten. 472
„Wieso kann nach so langer Zeit noch irgend etwas passieren?“, wollte der verdatterte Reporter wissen. Wenn dieser Professor Recht hat, war das hier allerdings eine Sensation. „Beim Einschlag entstand eine gewaltige Hitze, die in großem Maßstab das Gletschereis geschmolzen hat und so einen riesigen freien Raum im Eis hervorrief. In den folgenden Jahrhunderten oder Jahrtausenden schloss sich die Oberfläche durch Schnee und neues Eis wieder. Der Hohlraum darunter blieb aber. Durch einen Teilzusammenbruch wurde dann eine so große Spannung im Erdreich erzeugt, dass es zu dem Erdrutsch kam. Die extrem ungewöhnlichen, schrägen Spalten und Verschiebungen belegen zudem noch, dass es in der Vergangenheit immer wieder zu mehr oder weniger großen und kleinen Hohlraumzusammenbrüchen gekommen sein muss. Haben Sie verstanden?“, fragte er gönnerhaft den Reporter. „Darf ich heute noch etwas zusehen?“, wollte dieser wissen. „Ja. Aber passen Sie gut auf, dass Sie nicht zu nahe an den Bohrturm oder die Gletscherspalten kommen“, wies ihn der Professor mahnend an. 473
Während des Gesprächs hatte sich der neue Bohrkopf wieder in das Bohrloch im Eis gesenkt und wurde nun mit Druck versehen. Abwartend standen der Wissenschaftler und seine Helfer herum. Der Bohrer kam keinen Millimeter tiefer in den Boden hinein, wie schon am Tag zuvor. Als nach mehreren Versuchen der Bohrkopf aus dem Bohrloch geholt wurde, staunten die Anwesenden nicht schlecht: Die Bohrspitze war wiederum völlig verglüht und stumpf und der Professor sehr nachdenklich geworden. Hatte er gestern noch getobt wie ein Irrer, so blieb er jetzt ganz ruhig. Sollte der Unsinn, den er soeben dem Reporter aufgetischt hatte, sich etwa als richtig herausstellen. Das konnte doch gar nicht sein. Es gab bisher noch keinen Meteoriten, der einer solchen Bohrspitze standgehalten hatte. Ihm kam eine Idee: „Männer, kommt mal alle her“, brüllte er, so laut er konnte, „baut den Turm ab und setzt ihn hier, an diese Stelle. Da bohren wir dann noch einmal, aber mit einer neuen Bohrspitze.“ Die Position, auf welche er gezeigt hatte, lag genau zwischen der jetzigen und der vorangegangenen Bohrstelle, an der er noch tief in den Kalkstein hineinbohren konnte. Er würde so lange an neuen Stellen bohren lassen, bis er wusste, wie groß die474
ser harte Brocken dort unten war, nahm er sich vor. Und dann wird er ausgegraben. Der Reporter verließ den Wissenschaftler und die Bohrstelle. Er stieg zu Fuß, trotz des schlechten Wetters, welches unterwegs auf ihn warten würde, den Berg hinab. Endlich hatte er wieder mal eine Topstory. Die würde einschlagen wie eine Bombe. Gegen 19.30 Uhr war er in der Redaktion, schrieb schnell seinen reißerischen Artikel und gab ihn seinem Chefredakteur. Dieser las ihn durch und entschied, dass er so gut und interessant sei, dass er es verdient habe, auf die Titelseite gesetzt zu werden. Reporter Mertens platzte fast vor Stolz. Jacomo und Tino warteten schon seit mehr als einer Stunde, bis sie sich endlich sicher waren, dass die Zimmer der Landers und Kellers vom Hauspersonal des Hotels gereinigt waren. Es war bereits kurz nach Mittag. Sie schlichen sich über den Hintereingang ins Haus, stiegen, immer wieder vorsichtig lauschend, in die zweite Etage und öffneten mit einem Spezialbesteck das Zimmer, welches am Abend zuvor Jacomo ausgemacht hatte. Ganz sachte durchsuchten sie das Zimmer, konnten aber nichts Interessantes finden. Sie sprachen kein Wort, als sie in der Steckdose an der Tür den 475
Minisender unterbrachten. Danach öffneten sie geräuschlos die Tür, blickten hinaus, ob der Flur auch wirklich leer war, traten hinaus und verschlossen hinter sich die Tür. Im Nachbarraum wiederholten sie die Prozedur. Als sie fertig waren, verließen sie flink das Hotel und begaben sich auf Warteposition in ihr Fahrzeug. Jacomo versuchte wieder seinen Patrone, Emilio Gonzo, telephonisch zu erreichen, aber jedes Mal, wenn am anderen Ende der Leitung abgehoben wurde, fehlte das Kennwort. Da war einiges nicht in Ordnung in München, entschied Jacomo. Er einigte sich mit Tino, bis auf weiteres nicht mehr in München anzurufen. Der Chef konnte sich ja auch bei ihnen melden. Igor saß hinter einem Busch am Parkplatz des Hotels und beobachtete die beiden Italiener. Als sie das Auto verließen und ins Hotel schlichen, rief er Nicolai an und berichtete ihm davon. Dieser wies augenblicklich Leonid an, ihn schnellstens zum Golfhotel zu bringen. Sie parkten wieder vor dem Parkplatz und Nicolai schlich zu Igor. Da die Italiener noch nicht zurückgekommen waren, warteten beide gemeinsam auf deren Rückkehr. ‘Sind die langsam’, lachte Nicolai in sich hinein. 476
Endlich kamen sie. Wie erwartet, setzten sie sich in ihr Fahrzeug und warteten. ‘Da können sie aber lange warten, bis sich mal ein Erfolg einstellen wird’, feixte Nicolai in Vorfreude auf sein Vorhaben. Er gab Igor ein Zeichen, weiterhin die beiden Mafiosi zu beobachten. Geschwind huschte er zu seinem Wagen zurück, nahm eine kleine, braune Ledertasche aus dem Kofferraum und ging, weit den Parkplatz umrundend, direkt durch den Haupteingang in das Hotel hinein und weiter in die Gaststube für auswärtige Gäste. Dort verzehrte er ein leckeres Mittagessen und wartete einen günstigen Augenblick ab, bis er unbemerkt in den Hoteltrakt gelangen konnte. Schnell und total lautlos eilte er in das gleiche Zimmer, welches nur eine knappe Stunde zuvor Jacomo und Tino mit einem Abhörgerät versehen hatten. ‘Nur keine Geräusche machen’, sagte er sich, wenn auch nicht zu erwarten war, dass diese Mafiosi bereits den Raum abhören würden, da die Bewohner noch unterwegs waren. Zuerst holte er einen kleinen Empfänger aus seiner Ledertasche und setzte einen Kopfhörer, der mit diesem Empfänger verbunden war, auf. Ganz langsam drehte er den Regler, bis er ein leises 477
Rückkopplungspiepsen hörte und zugleich ein rotes Lämpchen am Empfänger aufleuchtete. Jetzt hieß es aufpassen. Er hatte die Gegenfrequenz des Abhörgeräts gefunden. Die verschieden starke Intensität würde ihm verraten, wo sich das kleine Ding befand. Bereits eine Minute später, hatte er die mutmaßliche Stelle identifiziert. Extrem langsam schraubte er die Steckdose auf und sah augenblicklich den Minisender. Ein durchschnittlicher Mensch hätte das kleine Gerät für ein kleines Stück Draht gehalten, welches vermutlich nicht ordnungsgemäß installiert war. Aber Nicolai wusste Bescheid. Er verwendete nahezu die gleichen Wanzen. Mit einer winzigen, gepolsterten Pinzette nahm er den Minisender ab und packte ihn in eine kleine Schachtel mit Watte. Schnell baute er seine Wanze ein, schraubte die Steckdose wieder zu und verließ den Raum. Das gleiche Spiel wiederholte sich im Nebenraum. Anschließend begab er sich eine Etage tiefer, öffnete das nächstbeste Zimmer, vergewisserte sich, dass niemand drinnen war und baute dort das zuvor ausgebaute Abhörgerät der Italiener ein. Dies wiederholte er im nächsten Zimmer. Er war gerade mit dem Einbau fertig und schraubte die Steckdose zu, als eine ältere Dame die Tür aufsperrte, ihn sah und zu schreien anfing. 478
„Sie müssen nicht schreien“, versuchte er sie zu beruhigen, „ich bin der Hauselektriker und repariere nur eine Stromleitung.“ Er hielt seinen Schraubenzieher hoch und lächelte so freundlich, wie er nur konnte. Sie blickte in sein Gesicht und hörte zu schreien auf. „Ich bin schon fertig“, fuhr er fort, damit sie nicht noch unnötige Fragen stellte, „Sie können jederzeit rein. Bitte schön.“ Er hielt ihr die Türe auf und sie bedankte sich sogar dafür. Als sie im Raum war, verließ er denselben und schloss hinter sich die Tür. Tief durchatmend blieb er im Flur erst einmal stehen. Das ist noch einmal gut gegangen. Der Schweiß stand auf seiner Stirn. Hätte er nicht die Aufgabe, eine Zielperson hier im Haus dauerhaft zu observieren, wären die Überlebenschancen der alten Dame sehr gering gewesen. Der Schraubenzieher in seiner Hand hatte schon auf ihre Herzgegend gezeigt. Flott verließ er das Hotel und schlich zu Igor. Dieser saß unbeweglich hinter dem Busch. Die Italiener zuckten mit ihren Köpfen im Auto hin und her, ungefähr so, als würden sie heiße Rhythmen hören und danach tanzen. 479
„Ist dir etwas an den beiden Itakern aufgefallen als ich weg war?“, wollte Nicolai von Igor gespannt wissen. Dieser schüttelte maulfaul nur seinen Kopf. Nicolai wies ihn an, auf dem Beobachtungsposten zu verbleiben und sofort Nachricht zu geben, wenn die Kellers und Landers auftauchen sollten. Er selbst ließ sich in sein Hotel bringen, rief Berlin an und erstattete Bericht. Gegen 14.00 Uhr fuhr Paul Wenig nach Rauris. Die Polizeidienststelle war im schönen, alten Rathaus des Ortes untergebracht. Es handelte sich nur um eine sehr kleine Einheit. Paul gab sich als Kollege aus München aus und wurde deshalb umgehend zu Kommissar Moser weitergeschickt. Als er die alte Tür zum Büro des Kommissars öffnete, hörte er, wie Herbert Malchin gerade losschimpfte: „Mei, san die blöd. Da schicken´s uns zwei Fahndungsphotos von zwei solchen Papagallos, die zwei Männer in Bayern umgebracht haben sollen. Als ob die ausgerechnet hier zu uns her kämen. So was fährt nach Sankt Moritz oder so, aber doch nicht nach Rauris!“ Paul sah, als er im Raum stand, dass der Sprecher knallrot vor Ärger im Gesicht war. 480
„Was können wir für Sie tun“, fragte Kommissar Moser den Eintretenden trotzdem ausgesprochen freundlich. „Grüß Gott“, begann Paul liebenswert, „mein Name ist Hans Schmidt, Kripo München. Ich bin ganz inoffiziell hier. Es geht um.....“
Weiter kam er nicht mehr. „Was!“, rief Herbert Malchin aufgeregt, „soll das heißen, dass die Mörder, nach denen ihr sucht, doch hier bei uns in der Gegend sind?“ Bei diesen Worten gab er Paul die beiden Fahndungsfaxe in die Hand. Dieser nahm sie verdattert entgegen und sah sie sich automatisch kurz an. Plötzlich stutzte er. Was las er da: Mutmaßlicher Mörder von Max Roloff, Tatort München, und von Bernd Brunner, Altötting. Schnell suchte er die Namen der Beschuldigten: Jacomo Albertino und Tino Franco, dem Umfeld der sizilianischen Mafia zuzuordnen. Höchste Vorsicht geboten, da Schusswaffenbesitz vermutet wird. Sofort festzunehmen. Er war stark verwirrt, hoffte aber, dass seine Gegenüber nichts bemerkten. Wie sollte er 481
hier nun weitermachen, überlegte er nervös. Die Gesichter der Gesuchten prägte er sich genau ein, da man nie wissen konnte. „Ja, das ist möglich, wenn auch unwahrscheinlich“, versuchte er eine Brücke zu seinem eigentlichen Anliegen zu schlagen, „einer der Toten stand in einer entfernten Beziehung zu Georg Keller. Ist Ihnen der bekannt?“ „Nein“, entgegnete der Kommissar und schaute fragend seinen Mitarbeiter an. Beide schüttelten nachdenklich den Kopf. „Er wohnt oben im Golfhotel und ist mit der Familie Lander befreundet“, half Paul noch etwas nach. Vielleicht zündete es jetzt. Es hatte gezündet. „Ah, Ja!“, schrie Herbert Malchin erregt auf, „den Peter Lander kennen wir. Dann ist der Georg Keller einer aus dieser befreundeten Familie. Wir .....“ Das Eis war gebrochen. Paul setzte sich, auf Einladung des Kommissars, und erfuhr von den Beiden die ganze Geschichte. Auf Gegenfragen des Kommissars antwortete er ausgesprochen entgegenkommend, aber nichtssagend und auswei482
chend. Nach einer Stunde fuhr er vergnügt zurück ins Hotel. Der Fall wurde immer interessanter. Da steckte mehr drin, als das kleine Zeitungsbild von Georg Keller hatte erwarten lassen. Wenn das Material aus München angekommen war, würde er in den vier Zimmern der Landers und Kellers Minikameras installieren. Dann würde man sehen, was hinter der ganzen Sache wirklich steckte. Georg und Peter untersuchten als erstes einen der großen Frachtträger. Er erwies sich als ausgesprochen uninteressant. Am hintersten, unteren Ende waren ein rechteckiger Kommandoraum mit fünf Schalensitzen, davor ein, über die gesamte Breite des Raumes gehendes Pult und wiederum davor die obligatorischen schwarzen Wände. Mehrere kleinere Räume und zwei Energieräume waren ebenfalls noch vorhanden. Fünf der kleineren Räume dienten eindeutig als Wohnräume. Es waren schlichte Liegen, Sessel und jeweils ein Tisch vorhanden. Aber keine Schränke und sämtliche Wände und die Decke waren schwarz. Das war alles. Der Rest war reiner Laderaum. Ein Forschungsraumschiff war dann als Nächstes dran. Die Kommandozentrale besuchten sie heute nicht. Aber auch die restlichen Räume gaben nicht viel her. Etwa ein Dutzend Räume dienten Auf483
enthalts-oder Wohnzwecken, ähnlich ausgestattet wie zuvor im Frachtträger, vier Räume mussten Lagerräume sein, und drei Räume waren nicht betretbar: Energieräume? Also machten sie sich erregt auf den Weg, das Kleinflugschiff zu inspizieren. Es war das Objekt ihrer momentanen Begierde. Wie es da so vor ihnen knapp über dem Boden schwebte, sah es, im Vergleich zu den anderen Raumschiffen, ausgesprochen zierlich aus. „Was meinst du“, grinste Georg Peter fragend an, „wenn wir nun den Eingang öffnen lassen, hebt sich die durchsichtige vordere Hälfte oder entsteht eine Lücke im geschlossenen hinteren Teil?“ „Ich tippe auf vorne. Und du?“, stellte Peter ohne zu zögern seine Gegenfrage. „Auch vorne“, gestand Georg. Er hatte offenbar gehofft, Peter würde eine andere Meinung haben. Dann hätte er so schön Recht haben können. „Kleinflugschiff: Tür auf“, befahl er laut sprechend. Wie erwartet, schob sich die gesamte durchsichtige, vordere Hälfte in drei Teilen nach hinten zu484
rück. Das Flugschiff hob sich einen guten halben Meter an und so bereitete es ihnen keine Schwierigkeiten, sich auf die beiden vorderen Schalensitze zu schwingen. Die hinteren beiden Sitze blieben frei. Als sie in den Sitzen saßen, schloss sich die Kuppel wieder und zeitgleich legten sich zwei Gurte um den Oberkörper und um die Oberschenkel und pressten sie sanft in die Sitze. Ein leises Summen setzte ein. Zwischen den Sitzen befand sich eine flache Konsole. Mit dem Summen flimmerten an den verschiedensten Stellen auf dieser Konsole etliche kleine Bildschirme und bunte Lämpchen und Skalen auf. Perplex betrachteten die Beiden die Konsole. Nichts, aber auch wirklich gar nichts, erinnerte sie an irgendetwas, was sie kannten. Georg zuckte nur mit den Schultern und Peter lachte vergnügt auf: „Bis wir das kapiert haben, sind wir immer noch nicht alt. Jetzt weiß ich wenigstens, warum die Erbauer so alt werden müssen“, flachste er. „Warum?“, fiel Georg prompt auf diese unsinnige Frage herein. „Weil man fast ewig braucht, bis man alles, was es hier gibt, kapiert hat“, erklärte er immer noch la485
chend, „aber wir können ja trotzdem damit fliegen, wie wir wissen. PUL macht’s möglich.“ „Langsam aus dem Hangar hinausfliegen, etwas aufsteigen und stehen bleiben“, gab Georg laut, den Wahrheitsgehalt von Peters Aussage umgehend überprüfend, als Anweisung an PUL weiter. Kaum hatte er ausgesprochen, erhob sich das Flugschiff langsam und geräuschlos. Eine Öffnung entstand vor ihnen. Das Fluggerät schwebte aus dem Raumschiff in die Halle hinaus und blieb tatsächlich zehn Meter höher stehen. Die Aussicht nach vorne, oben und unten war perfekt. Nur die eigenen Beine beeinträchtigten die Sicht. Es war der erste, bescheidene Versuch, ein raumflugfähiges Fahrzeug in Bewegung zu setzen. Georg war zwar schon mehrmals mit einem Freund in einer kleinen, zweisitzigen Chesna über den sanften Hügeln von Niederbayern herumgeflogen, und hatte dabei auch selbst steuern dürfen, aber das hier, war doch etwas völlig anderes. Die Gesichter der Beiden beginnenden Piloten waren vor Spannung stark gerötet. Da die Hände ungewohnter weise nichts zu tun hatten, wussten sie nichts damit anzufangen. Georg hielt sie so hoch, als hätte er ein imaginäres Lenkrad in der 486
Hand. Peter setzte sich mal auf seine Hände, mal fummelte er in der Luft damit herum. Aber keiner von Beiden bemerkte diese unkontrollierten Gesten des Anderen. „Hinunter bis auf den Hallenboden“, befahl Georg. Gespannt, wie das Kommando ausgeführt werden würde. Aber nichts tat sich. Stattdessen meldete sich PUL: „Geschwindigkeit gedanklich bestimmen - Vorstellung genügt. Vorstellung - Zielrichtung oder Zielpunkt genügt.“ „Mensch, das funktioniert!“, brüllte Georg begeistert los, „ich hab bewusst keine Geschwindigkeit gedacht, weil ich mal sehen wollte, wie schnell er dann fliegen würde. Aber schau an, wir müssen künftig immer an alles selber denken.“ Er war fasziniert von den Möglichkeiten, welche sich ihm in der Zukunft beim Fliegen mit Raumschiffen bot. „Dann wollen wir doch mal die Fehlermöglichkeiten dieses Traumsystems überprüfen. Jetzt pass 487
mal auf!“, bremste Peter den Eifer und die Freude Georgs. „Anweisung an PUL: Geschwindigkeit langsam, Ziel Expeditionsschiff obere Fläche, Flughöhe gleichbleibend, 1 Meter vor dem Ziel anhalten!“, sprach er, gerade wegen Georg, deutlich sprechend. Das Flugschiff setzte sich prompt langsam in Bewegung. Bei dieser Geschwindigkeit und der zurückzulegenden Entfernung mussten sie ungefähr eine Minuten unterwegs sein. Georg sah Peter ratlos an. Wo sollte hier der Witz liegen, fragte er sich und lächelte dabei schief. „Ich hab eben das Kommando gegeben“, begann Peter wieder, „und ich will auch der Kommandant des Flugschiffes bleiben. Nun gib du mal, als grundsätzlich Berechtigter, ein total anderes Flugziel an. Aber nur deutlich gedanklich, nichts aussprechen und befehle getrost, dass du die Führung übernehmen willst.“ Jetzt wusste Georg, worauf sein Freund hinaus wollte. Sofort machte er sich an die Ausführung. Die steile Stirnfalte drückte die Anstrengung aus, mit der er geistig arbeitete. Aber nichts änderte 488
sich, das Flugschiff zog unbeirrt seine Bahn. Georg schüttelte bedauernd den Kopf. „Und nun sprech´s laut aus“, schubste ihn Peter an. Zuerst sprach Georg leise, dann wurde er lauter bis hin zum Brüllen. Nichts veränderte sich. „Super. Der erste Sicherheitstest war erfolgreich“, beendete er seine Gebrülle. Inzwischen waren sie am oberen Ende des Expeditionsschiffs angekommen. Peter übergab, dies gut vernehmbar aussprechend an Georg das Kommando. Sie besprachen das neu zu wählende Flugziel, in diesem Fall, in immer gleich bleibendem Abstand, gemächlich um das Expeditionsschiff rechts herum zu fliegen. Georg gab die Anweisung, und sie wurde auf der Stelle ausgeführt. Jetzt sollte Peter das Kommando, gegen den Willen Georgs, wieder an sich reißen und links herum fliegen lassen. Schon beim reinen Denken gelang das Experiment. Das Flugschiff hielt unvermittelt an, drehte sich um 180 Grad und flog links herum um das Expeditionsschiff. „So, das wäre also auch geklärt“, stellte Georg lakonisch, auch leicht säuerlich, fest, „es gibt hier 489
Prioritäten. Du hast eindeutig die Stufe 1, dann glaube ich, bin ich dran, dann Ellen und zu guter Letzt Gitti. Siehst du das auch so?“, wollte er noch von Peter bestätigt wissen. „Mhmm“, brummte dieser nur, seine Augen funkelten aufgeregt, „und ich denke, das ist gut, richtig und wichtig so. Stell dir mal vor, bei Uneinigkeit über das Flugziel oder Geschwindigkeit oder sonst was, fliegt so ein Kraftpaket im Zickzackkurs. Da ist es so schon besser“, beschwichtigte er seinen Freund. An dessen Lachen, konnte er sehen, dass dieser diese Rangordnungsgeschichte nicht als sonderlich tragisch empfand. Im Gegenteil, er war mit seinen Gedanken bereits bei einem weiteren Test. „Gib mir mal das Kommando zurück und achte darauf, was geschehen wird“, bat er Peter, was dieser auch umgehend machte. „Anweisung: Richtungsänderung: Runter bis auf eine Höhe von zehn Zentimeter über dem Boden, danach mit unverminderter Geschwindigkeit immer geradeaus, Richtung Süden, durch die Halle fliegen.“ 490
Zuerst wusste Peter nicht, worauf Georg eigentlich hinaus wollte. Als sie aber gemächlich, haarscharf über dem Boden gleitend, die benachbarte Riesenhalle durchquerten und die südlich Wand immer näher kam, ahnte er, was Georg sehen wollte. Würde das Raumschiff nur stehen bleiben, seinen Kurs eigenmächtig ändern oder neue Anweisungen abfragen. Sie waren Beide auf das Höchste angespannt. „Kollisionsgefahr - neue Anweisungen erforderlich“, stellte sich die Ansage PULs illustrativ in den Köpfen der beiden Piloten dar. Georg machte Peter ein Zeichen, nichts zu sagen und keine Änderungen zu denken. Das Flugschiff flog immer näher an den Punkt, wo es gegen die Wand krachen musste. Unmittelbar davor hielt es an und bewegte sich nicht mehr. Georg bat um Zurückgeleiten der Sichtkuppel und sprang hinaus. Als er sich vorne den Abstand zwischen Flugschiff und Wand betrachtete, schüttelte er bewundernd den Kopf, drehte um und setzte sich wieder auf seinen Platz. Die Kuppel schloss sich wieder. „Zurück zum Abstellplatz in der Halle“, gab er laut seine Anweisung. 491
„Na?“ Peter wollte mit dieser kurzen Silbe nur anzeigen, dass er das Ergebnis der Untersuchung ebenfalls gerne erfahren würde. „Höchstens einen Millimeter Abstand. Irre, nicht wahr. Tolle Messtechnik“, bekam er als Antwort zu hören. „Frage: Wenn der neue Ausgang fertig ist, können wir mit diesem Fluggerät diesen Ausgang dann ebenfalls benutzen?“ Georg war wissbegierig und seiner Frage war deutlich der Wunsch anzumerken, mit dem Flugschiff im Freien herum zu fliegen. „Ja.“ „Frage: Wie funktioniert der Antrieb in etwa und welche Antriebsarten hat das Gerät hier?“ Das war schon eine wichtigere Frage, fand Peter. „Flugschiff = 3 Antriebsarten. 1. Art = Antigravitationsantrieb = Schwebern. 2. Art = PlasmaPhotonenantrieb = kalte Atomkernspaltung - Materials Polleron - hohe Dichte + hoher Druck = Austritt mehreren speziellen, kleinen Düsen = Fortbewe492
gung. 3. Art = Interstellarer Antrieb = hohe Energie-+ Schwerkraftfelder = interstellare Energie-+ Schwerkraftfelderverstärkung – Gegenpolung - Geschwindigkeiten - dichte materielle Gegenstände = mehr als 10 Lichtjahre pro Jahr erreichbar.“ Das war ausführlich. Darüber sollten sich später einmal hochgradige Wissenschaftler Gedanken machen, stellten die Beiden lachend fest. Aber eines wollte Peter, der nicht einmal einen Bruchteil wirklich verstanden hatte, nun doch noch wissen. Diese Frage interessierte ihn schon seit längerem: „Frage: Laut Einstein kann sich nichts schneller als Licht bewegen, weil bei dieser Geschwindigkeit die Masse unendlich wird. Wo liegt der Fehler dieser Annahme?“ Wenn er diese Frage so beantwortet kam, dass er sie außerhalb der Station beweisen und darlegen konnte, war ihm der nächste Nobelpreis in Physik nicht mehr zu nehmen. „Einstein = Licht keine Materie, sondern = Energie = Irrtum. Kosmos = Materie = überall verschieden dicht + schwer - unterliegt Energie-+ Schwerkrafteinflüssen des Universums. Hier ge493
messene Lichtgeschwindigkeit = verschieden hoch - gesamtes Universum. Erde - Lebewesen, Luft, Steine = dichte Materie. Licht = sehr dünne Materie. Materielose Bewegung + Energie = unmöglich. Absolute Geradlinigkeit - Bewegung = unmöglich = immer wechselnde, interplanetarische Kräfteverhältnisse.“ „Aha“, kam es aus Georg erleichtert heraus, „dann müssen wir ja keine Angst haben, dass wir, wenn wir mal schneller als Licht fliegen, unendlich schwer werden. Also muss ich nicht extra abnehmen“, versuchte er zu witzeln. Es gelang ihm auf diese Weise, Peter zum Lachen zu bringen und von der Frage abzubringen, woher PUL seinen Kenntnisstand der Erdwissenschaften hatte. Nachdem das Flugschiff wieder seinen alten Platz im Hangar des Raumschiffes eingenommen hatte, bestiegen sie ihren Schweber und fuhren zum neuen Tunnel. Sie waren ausgesprochen verblüfft, als sie den Baufortschritt sahen. Auf den ersten 50 Metern war bereits Beleuchtung installiert und angeschaltet. Die Beleuchtung wie auch die Heizleistung ging auch hier von allen Wänden, Decken und Fußböden gleichzeitig und flächendeckend aus. Es musste sich um eine Art Elektroheizung handeln, welches das Material so erwärmte, 494
dass es überall, um somit auch im Innenraum gleich warm war. Georg war es, der bemerkte, dass in der zuletzt aufgebrachten Fußbodenplatte die Energie-und Versorgungsleitungen enthalten sein mussten. Mit Sicherheit war hier ein Antigravband installiert. Aber das wollten sie später ausprobieren. „Frage: Wann wird das Tor installiert und wird es so gut getarnt, wie das Obere?“ Peter wünschte sich, dass es bald fertig sein möge. „In 29 Stunden = Montage - Tores. Tarnung = oberes Tor. Freie Benutzung = 58 Stunden.“ „Frage: Ist es möglich, bis zur Straße den Untergrund so zu verdichten, dass er den hohen Drücken eines schweren Schwebers standhält“, wollte Georg wissen. „Ja.“ „Dann erteile ich hiermit die entsprechende Anweisung. Aber bitte auch dort auf die Tarnung achten.“ Das war typisch für Georg. Ein Praktiker, durch und durch. An so etwas hätte Peter nie gedacht 495
und hätte dann einen fürchterlichen Flurschaden bei der ersten Ausfahrt angerichtet und sich geärgert, dass er nicht daran gedacht hatte. „Spitze, Georg“, lobte Peter anerkennend, „jetzt lass uns zurückkehren. Es ist schon kurz nach 17.00 Uhr. Wir sollten uns in der Raumschiffzentrale treffen und die neue Situation eingehend besprechen.“ Georg nickte nur. Er freute sich über das Lob seines Freundes. Sie hatten es zwar nach all den Jahren nicht mehr nötig, sich gegenseitig mit Lobhudeleien zuzuschütten, aber es tat, wie in diesem Fall, trotzdem gut. Und schon ging es zurück. Peter rief über PUL die Frauen und Kinder zu einem Treffen in der Zentrale zusammen. Als sie dort ankamen, warteten diese bereits. Marian empfing sie ungesäumt mit einer Neuigkeit: „Du, Papa. Stell dir vor, die Sitze sind irgendwie nummeriert oder besetzt oder so. Das ist wirklich voll krass.“ Man merkte ihm an, dass er diese Angelegenheit nicht richtig fassen konnte. „Wenn man sich auf den falschen Sitz setzt, wird man von PUL aufgefordert, sich wo anders hin zu setzen. Mein Sitz ist der da.“ Dabei zeigte er auf den Sitz 496
direkt vor ihm. „Wo ihr sitzen müsst, weiß ich nicht.“ Peter und Georg kannte die Rangordnungsfolge inzwischen ja auch bereits. Aber sie wollten dazu nichts sagen, und die Kinder hatten es eher wie ein Spiel aufgefasst. „Ah, ja“, fing Peter an. Er bemerkte die Sitzanordnung und stellte fest, dass sie sich, so Rücken an Rücken sitzend, nicht allzu gut würden unterhalten können. „Kennt ihr einen Raum, wo wir alle gemütlich sitzen, uns anschauen und plaudern können?“ Ellen und Gitti nickten und winkten zum Mitkommen. Sie gingen voran. Zwei Etagen tiefer und mehrere Gänge weiter öffnete Gitti eine Tür und lud alle ein, hineinzukommen. Endlich erhielt er den erwarteten Anruf. Paul Wenig war inzwischen schon leicht ungeduldig geworden. Mit jeder Minute, die seine angeforderten Ausrüstungsgegenstände später bei ihm im Hotel ankamen, stieg die Gefahr, dass die Kellers und Landers wieder zurückkamen und er somit seine Kameras nicht mehr in deren Zimmer installieren 497
konnte. Er ließ aus alter Gewohnheit sein Handy fünf Mal trillern, ehe er die Verbindung herstellte. „Ja“, meldete er sich. „Hier ist Joe Crabbs, Paul?“, kam als Antwort in fehlerfreiem Hochdeutsch zurück. „Joe Crabbs?“, war seine Gegenfrage. „Ja. Und Fred Jones ist auch hier im Hotel. Wir wurden avisiert und werden künftig eng zusammenarbeiten.“ Paul Wenig war skeptisch. Wen hatte ihm da die CIA geschickt? Er würde sich überraschen lassen. „Kommt hoch. Zimmer 328. Bringt gleich alles unauffällig mit“, gab er noch den gut gemeinten Ratschlag. Keine zehn Minuten später klopften die Beiden an die Tür. Er öffnete gespannt, wie seine Partner aussehen würden. Wie normale, durchschnittliche, deutsche Touristen standen sie mit ihren, leicht abgetragenen und einigen Aufklebern versehenen, Koffern vor ihm und lächelten. Da konnte er auch nicht anders, und begann ebenfalls freundlich zu schmunzeln. Sie musterten sich gegenseitig kurz 498
und traten dann leise ein. Nach dem Austausch von Informationen gingen sie umgehend an die Arbeit. Pro Zimmer würden sie annäherungsweise eine gute halbe Stunde benötigen. Paul sah auf die Uhr: Kurz vor 19.00 Uhr. Das konnte elend knapp werden. Mit welchem, der vier Zimmer sollten sie anfangen? Sie entschieden sich für das Zimmer, welches direkt unter dem Seinen lag. Paul begab sich in den Empfangsraum und setzte sich in einen der bequemen Sessel und wollte dort abwarten, bis die beiden Familien, oder auch einzelne Familienmitglieder zurückkamen und den Zimmerschlüssel verlangten. Dann würde er ein kurzes Funkwarnzeichen nach oben zu den beiden Amerikanern geben, damit sie schleunigst aus den Zimmern verschwinden konnten. Er saß erst wenige Minuten, als die Tür aufging und Kommissar Moser hereinspaziert kam. Dieser grüßte kurz Marie, welche hinter dem Empfangstresen stand, und erblickte anschließend Paul in seinem Sessel. Das war Beiden ausgesprochen willkommen. Der Kommissar hatte so eine nette Unterhaltung, bis dieser Peter Lander kam und er ihm endlich wieder etwas auf den Zahn fühlen konnte. Paul konnte mit Hilfe des Kommissars den beiden CIAAgenten oben in den Zimmern im Bedarfsfall etwas Zeit verschaffen. So fackelte er nicht lange 499
und lud den Kommissar ein, sich zu ihm zu setzen und sich mit ihm zu unterhalten. Der Raum, in den Gitti sie einließ, erinnerte Peter an andere, bereits in der Station und im Expeditionsschiff gesehenen Privaträume. Der einzige Unterschied bestand darin, dass es hier zwanzig Sessel und fünf Tische gab. Das sanfte, weiche Licht kam einheitlich von allen Seiten, obwohl die Wände und die Decke schwarz zu sein schienen und der Fußboden schimmerte, wie überall in der Station und im Raumschiff, in einem warmen, hellbraunen Ton. Die Sitzmöbel hatten einen grünlich braunen Farbton, die Tische waren quadratisch, mit einem Kantenlänge von gut einem Meter und ihre Farbe schlicht mittelgrau. Liegen befanden sich nicht im Raum. „Kommt, lasst uns hinsetzen und über einige Probleme sprechen“, lud Georg die Anwesenden mit einer einladenden Handbewegung ein, Platz zu nehmen, Er erzählte kurz, was er am Morgen von Gerd Müller, seinem Prokuristen, erfahren hatte. Die Kinder schwiegen betroffen und Gitti und Ellen warfen sich einen Blick zu, der in etwa besagte: 500
„Seht ihr, es kommt doch so, wie wir es gesagt haben.“ Sie diskutierten eine ganze Weile hin und her und kamen letztendlich zu dem Schluss, dass sie alle diese Nacht aus Sicherheitsgründen in der Station verbringen sollten. „Wir müssen unbedingt im Hotel Bescheid geben, dass wir, sagen wir mal, bei Bekannten übernachten, sonst werden die misstrauisch oder melden uns gar als vermisst. Und das würde wieder diesen komischen Kommissar auf den Plan rufen, der mir ohnehin etwas anhängen möchte“, gab Peter zu bedenken. „Schade dass wir kein Handy bei uns haben. Die liegen im Hotel. Dann muss eben einer von uns schleunigst losgehen, da es sonst auf dem engen Gebirgspfad zu dunkel wird“, warf Ellen ein. „Richtig. Ich geh zum Auto und fahre in den nächsten Ort und rufe im Hotel an. Dann komme ich unverzüglich wieder zurück. Einverstanden?“ Alle nickten zustimmend und Peter machte sich eiligst auf den Weg. In Rekordzeit erreichte er seinen Wagen und nur vierzig Minuten später stand er in einer Telefonzelle. Er rief im Hotel an und 501
hatte Frau Obermoser persönlich am anderen Ende der Leitung. Höflich sagte er Bescheid, dass sie über Nacht bei Freunden blieben und erst am morgigen Abend wieder im Hotel sein würden. Frau Obermoser bedankte sich für das nette Bescheid sagen und schon war er wieder auf dem Rückweg. Als er dann bei den Anderen, die immer noch in dem Aufenthaltsraum saßen, ankam, waren gerade einmal eineinhalb Stunden vergangen. Alle atmeten erleichtert auf. „Ist euch schon einmal aufgefallen, dass sämtliche Wohnräume und einige andere Räume mit schwarzen Wänden und Decken ausgestattet sind?“, wollte Gitti wissen. „Na klar“, entgegnete Georg trocken, „die Helas sind negrophil.“ Die Kinder sahen ihn verdattert an – so ein Wort hatten sie noch nie gehört. „Was meinst du denn damit?“, hinterfragte auch umgehend Verena, wieder kräftig die Stirne runzelnd. „Er meint, sie lieben das Schwarze oder vielleicht sogar den Totenkult“, mischte sich Ellen gedan502
kenvoll ein, „ich kann mir das jedoch nicht vorstellen, bei einer so weit entwickelten Rasse.“ „Ich ebenfalls nicht“, hieb Peter in die gleiche Kerbe, „könnt ihr euch noch an die Demonstration der Sternenpracht in der Raumschiffzentrale erinnern. Auch dort sind die Wände und die Kuppel samtartig schwarz. Aber die schönsten Bilder konnten darauf projiziert werden. Das könnte hier gleichfalls der Fall sein. Nur wie, das ist hier die Frage?“ „Ich hab da so ´ne Idee“, nuschelte Gitti mehr in sich selbst hinein, „passt mal auf!“ Sie hielt sich beide Hände an die Stirn, schloss halb die Augen und dachte offensichtlich angestrengt nach. Schlagartig änderten sich alle vier Wände um sich herum. Georg und die Kinder schrien vor Schreck laut auf, Peter stöhnte ungläubig und Ellen riss den Mund auf. Es hatte ihr den Atem verschlagen. Direkt vor ihnen allen, war ein Blick von der linken Donauseite auf Passau an den Wänden abgebildet und auf dem Wasser fuhr sogar einer der Donaudampfer Richtung Österreich. Links oben war deutlich die Burg zu sehen, blickte man auf die rechte Wand, war weit im Hintergrund die, die Donau überspannende Autobahn503
brücke zu erkennen, und hinter ihnen die sich sacht bergauf schlängelnde B 85. Gitti stand immer noch hochkonzentriert in der Mitte des Raumes. Auf der B 85 kam gerade ein Fahrzeug langsam angefahren. Georg schrie nochmals verwundert auf. Das war sein Mercedes Cabriolet, unverwechselbar. So plötzlich wie die Wände mit farbigen Bildern versehen waren, so plötzlich verschwanden diese Bilder auch wieder. „Was sagt ihr nun?“, freute sich Gitti, „ist nun klar, was man mit schwarzen Wänden machen kann?“ „Nö, Mama“, schüttelte Marian den Kopf, „aber das war wirklich irre fetzig. Erklär mal.“ „Ich habe PUL die Anweisung gegeben, meine Vorstellung auf die Wände zu projizieren. Dass die Wände dafür geeignet sind, sagte mir die Kuppel in der Zentrale. Das Schiff und unser Auto habe ich mir vorgestellt, wie sie gerade so fahren. Und dann kam meine Vorstellung auch schon auf die Wand. Ist das nicht irre?“ Alle stimmten einhellig zu. Jetzt wollten die Kinder dieses neue Spielzeug ebenfalls augenblicklich anwenden, und wieder musste Peter sie bremsen: 504
„Wenn wir schon einmal an diesem Wissensstand angekommen sind, dann sollten wir weiterhin wie folgt vorgehen. Wir suchen zwei Räume für die Kinder, damit sie ins Bett, oder besser gesagt, auf die Liegen kommen. Dort können sie dann mit den Gedankenbildern spielen. Jeder hat eine Wand für sich zur Verfügung. Gegessen haben wir hoffentlich alle unsere Ernährungspillen und getrunken wird im Laufe eines Tages ohnehin oft genug. Wir, die wir nicht mehr schlafen können, schauen dann etwas beim Tunnelbau zu und untersuchen noch weiter das Raumschiff.“ „Genau“, unterstützte Georg das Ansinnen Peters. Georg wusste, dass sein Freund noch etwas sehr Wichtiges auf Lager hatte, wozu er aber die Kinder auf keinen Fall dabei haben wollte. „Also kommt und lasst uns unsere Ruheräume suchen. Wenn ihr etwas von uns wollt, dann ruft uns über PUL an. O.K.“ Die Kinder waren nur murrend einverstanden. Eine halbe Stunde später hatten sie die beiden Nebenräume bezogen. Da in jedem Raum nur eine Liege stand, schafften sie kurzerhand aus anderen Räumen noch die Fehlenden heran. Gitti testete eine der hart anmutenden, wie lang gestreckte Kästen aussehenden Liegen, um dann erstaunt 505
festzustellen, dass sie in dem Augenblick, wenn man sich drauflegte, ausgesprochen bequem, ja geradezu kuschelig, wurden. Die Oberfläche passte sich hervorragend der jeweiligen Körperform und Körperlage an. Wollte man mehr Kopfhöhe, musste man nur etwas den Kopf heben, und schon erhöhte sich die Unterlage entsprechend. Gitti probierte es sogar mit hinsetzen aus. Die Form folgte ihr augenblicklich. Sie entsprach einem Sessel mit sehr breiten Armlehnen. Erst als sie aufstand, wurde die Liegestatt wieder zur flachen, harten Liege. Diese Technik war eine ausgesprochene Sensoren-, Rechner-und Energiehochburg. Um all die Daten umsetzen zu können, mussten Rechnerleistungen möglich sein, die auf der gesamten Erde nicht vorstellbar waren. Die Kinder waren bald zufrieden, und so konnten sich die Erwachsenen wieder in den größeren Aufenthaltsraum zurückziehen. „Also, mein Schatz, was hast du auf dem Herzen“, begann Ellen. Sie hatte die Absicht Peters, ein Projekt ohne die Kinder durchführen zu wollen, ebenfalls erkannt. „Georg. Kannst du dich noch an unsere Unterhaltung in der Zentrale erinnern? Es ging um Bilder 506
der Erbauer dieses Raumschiffs. Um 3 – D – Darstellungen“, wollte Peter von seinem Freund wissen. Dieser nickte nur. Er konnte sich an die eventuellen Probleme erinnern. Er war gespannt, wie Peter diese Probleme meistern wollte. Dieser erklärte kurz den Gesprächsinhalt, welchen er seinerzeit mit Georg hatte. .“... deshalb glaube ich, dass wir zuerst eine stehende Projektion betrachten sollten“, beendete er seinen Bericht. Nachdenklich saßen sie eine Weile stumm da, bis Georg zustimmend zu nicken anfing, dann folgten fast gleichzeitig Ellen und Gitti. „Anweisung: Eine stehende 3-D-Projektion eines Helas, bitte“, forderte Peter. „Aufzeichnungen = älter 112 Jahre = Zentralarchiv einsehbar“, wurde ihnen als Erklärung von PUL mitgeteilt.
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„Richtig“, ging es Peter durch den Kopf, „es gibt ja bereits seit über 130.000 Jahren keine Helas mehr.“ Auf dem Boden leuchteten wieder die obligaten Leuchtpunkte, denen sie umgehend folgten. Vor dem Zentralarchiv angekommen, mussten sie sich vor dem Betreten ähnlich eindeutig identifizieren, wie seinerzeit bei der Zentrale. Im Raum staunten sie, wie lang gestreckt er war. Im Hintergrund standen mehrere Sessel, in die sie sich setzten. Peter fand es schon sehr erstaunlich, dass offensichtlich inzwischen sämtliche Möbel den Größenbedürfnissen der Menschen angepasst worden waren. Irre Leistung. Er wiederholte seinen Wunsch erneut. Das erste Mal sahen sie einen Roboter, wenn man es so nennen konnte, in Aktion. Eine, knapp einen Meter hohe, schwebende dunkelfarbige Kiste bewegte sich entlang der Wände und hielt an einer bestimmten Stelle an, ein kurzer, tentakelartiger Arm kam heraus und bewegte sich Richtung Wand. Die Wände waren einheitlich geschlossen. Trotzdem öffnete sich unmittelbar, bevor das Ende des Arms die Wand erreichte, eine kleine Lücke. Der Gegenstand, welcher sich in dieser Lücke befand, schien an dem Arm festgeklebt zu sein, als dieser ihn herausnahm, an dem Kasten zog und 508
mit ihm in die entgegen gesetzte Richtung verschwand. Die kleine Lücke in der Wand blieb. Der Gegenstand war rechteckig und gut vierzig Zentimeter lang, zwanzig Zentimeter breit und 25 Zentimeter hoch. Nach gut fünf Minuten entstand ohne jegliche Vorwarnung direkt vor ihnen eine Skulptur, ein stehendes Lebewesen. Sie waren so erschrocken, dass sie alle laut aufschrien. Erst ganz allmählich beruhigten sich die Nerven wieder etwas, und sie konnten sich das, was da vor kurzem vor ihnen entstanden war, genauer ansehen. Es war zweifelsfrei ein Wesen, welches nicht von dieser Welt sein konnte. Etwa 160 Zentimeter hoch, ausgesprochen schlank, sehr schmale Schultern, extrem dünne Beine und Arme, sehr kleine, fingerlose Hände, ein extrem großer, kugelrunder, haarloser Kopf und eine hellbraune, matt schimmernde Hautfarbe. Bekleidet war das Wesen mit einer eng anliegenden, grünen Kombi, die der ihren stark glich. Das interessanteste war jedoch das Gesicht. Unter der ausgesprochen hohen, leicht faltigen Stirn befanden sich ein überproportional großes, kreisrundes Auge und darunter ein winziger, lippenloser Mund. Eine Nase war nicht zu erkennen, Ohren ebenfalls nicht. Bei genauerem Hinsehen erkannte man jedoch eine Vielzahl ganz 509
kleiner Löcher, die symmetrisch auf dem Kopf verteilt waren. Das Auge war faszinierend. Es gab diesem Wesen einen ausgesprochen sympathischen, aber auch unheimlichen, fremdartigen Eindruck. Die gesamte Figur sah damit so verletzlich aus. Das innere des Auges war rabenschwarz. Genau in der Mitte befand sich eine daumennagelgroße, hellgraue Pupille, wenn es sich wirklich um eine solche handelte. Also genau anderes herum, wie bei einem menschlichen Auge. Diese Figur wirkte nicht nur verletzlich, sondern auch ausgesprochen zerbrechlich. Bei Gitti stellte sich, ohne dass sie es wollte, Muttergefühle, gepaart mit einer gewissen Portion Abscheu ein. „Lass die Darstellung sich doch mal bewegen“, bat sie. Noch während sie dies äußerte, begann die Figur sich zu drehen. Dann ging sie vor der sitzenden Gruppe hin und her. Der Gang war überraschenderweise katzenhaft weich und rund. Es gab kein Heben und Senken. Wie ein Schlittschuhläufer. Dann blieb die Figur wieder stehen und begann den Kopf hin und her zu wiegen. Man konnte 510
Angst bekommen, dass er bald herunter fallen würde. „Habt ihr das gesehen“, rief Ellen unvermittelt, „das war aber schnell.“ „Was war schnell“, wollte Peter wissen, „ich hab nichts gesehen.“ „Er hat einmal ganz kurz das Auge geschlossen“, erklärte sie den Anderen, „das ging ungeheuer schnell. Das Auge hat keine Lider wie wir, sondern es schließt sich von allen Seiten zugleich. Da schon wieder. Habt ihr es jetzt gesehen.“ Sie war völlig aus dem Häuschen. Die anderen hatten es nun ebenfalls bemerkt. Sie beobachteten dieses Phänomen noch mehrmals. „Wer sagt dir eigentlich, dass es sich um ein männliches Wesen handelt?“, frotzelte Georg mit Ellen etwas. „Frage: Handelt es sich um ein männliches oder weibliches Wesen und wie pflanzen sich die Helas fort“, beendete Gitti den beginnenden, kleinen Schlagabtausch auf ihre Weise.
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„Abbild = weibliches Wesen. Männlichen Wesen = nicht mehr existent. Fortpflanzung = Arterhaltung = medizintechnisch - künstlichen Einleitung von Zellteilungen.“ In den kommenden Stunden ließen sie die zierliche Gestalt noch häufig hin und her gehen und konnten sich nicht satt sehen. Erregt diskutierten sie Stunde um Stunde, ohne wirklich eine tiefer gehende Erkenntnis zu erlangen. Im Nu war es sieben Uhr morgens. Sie wussten zu guter letzt gar nicht mehr, ob das, was sie diese Nacht gesehen hatten, wichtig oder unwichtig war. Schnell gingen sie zurück zu den Räumen, in denen ihre Kinder schliefen und unterhielten sich immer noch über das soeben Gesehene. Als die Kinder aufgewacht waren, teilten sie sich wieder in zwei Gruppen und untersuchten weiter eigenständig die Station und das Raumschiff. Paul und der Kommissar und saßen bis nach Mitternacht in der Lobby. Dann wurde es dem Kommissar zu bunt. Er fragte kurzerhand Frau Obermoser, ob sie eine Ahnung hätte, wann die Landers wieder zurückkämen. Als er erfuhr, dass Peter Lander bereits gegen 20.00 Uhr angerufen und mitgeteilt hatte, dass die Landers und Kellers die 512
Nacht bei Freunden übernachten würden, wäre er beinahe vor Wut geplatzt. Wenn er nicht einen so netten Gesprächspartner gehabt hätte, hätte er diesen Abend als Totalverlust abbuchen müssen. Er teilte das soeben Erfahrene Paul mit. Bei diesem begannen alle Alarmsirenen im Kopf zu läuten. Wohin waren die beiden Familien heute Vormittag gefahren, überlegte er. Ob die Fahrzeuge noch dort standen? Er musste den Kommissar davon überzeugen, dass es wichtig sei, zu überprüfen, ob die Fahrzeuge noch dort geparkt seien. Es kostete einige Überredungsversuche, bis dieser endlich einwilligte, mit ihm zu dieser Stelle zu fahren. Als sie sahen, dass die Fahrzeuge der beiden Familien immer noch auf dem Bremsweg am Berghang standen, kam der Kommissar stark ins Grübeln: „Bei Freunden wollen die übernachten? Da oben? Das gibt’s doch gar nicht“, sprudelte es aufgeregt aus ihm heraus. „Warum nicht? Sind da oben keine Hütten?“, wollte Paul verwundert wissen. „Nein. Da oben ist weit und breit gar nichts. Da halten sich noch nicht mal Bergziegen auf“, erläuterte er gestenreich. „Da – da, auf der anderen Bergseite, ganz weit hinten, da gibt’s noch die 513
Schwaiger Alm. Von da ist die Geologengruppe auch weitergeklettert. Der Peter Lander war damals auch dabei. Aber auf dieser Seite des Massives, unbegreiflich? Da kommt doch nur der alte Gletscher?“ Der Kommissar war ratlos. „Können die nicht von diesem Teil des Massivs auf den anderen Teil hinüber laufen und in der Schwaiger Alm wohnen?“, hinterfragte Paul noch eingehender. „Nein, das ist nahezu unmöglich. Das traut sich noch nicht einmal ein erfahrener Bergführer. Zu viele Spalten und Risse im Boden“, bekam er als Antwort zu hören. „Warum nicht?“ „Na, da liegt doch der alte Gletscherteil dazwischen. Und der ist ungeheuer gefährlich. Kaum berechenbar. Dort oben, auf der rechten Seite ist zwar so ein Forscherteam, aber die kommen auch nur über den rechten Berg da rauf. Oder mit dem Hubschrauber“, erklärte der Kommissar, immer noch seinen ergrauten Kopf schüttelnd.
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Paul wurde schweigsam. Sollten Georg Keller und dieser Peter Lander, nebst Familien, doch etwas mit dieser Supertechnologie, von der auch Joe Crabbs erzählt hatte, zu tun haben. Aber warum hier? Unbegreiflich. Der Kommissar brachte den schweigsamen Paul wieder zum Hotel zurück. Dieser bedankte sich freundlich, und man verabredete sich für den kommenden späten Abend wieder in der Lobby des Hotels. Paul eilte geschwind auf sein Zimmer, welches inzwischen wie ein elektrotechnisches Labor aussah, und berichtete den erstaunten CIA Agenten. „Fred, du bleibst hier und überwachst die Geräte. Paul und ich fahren zu den beiden Fahrzeugen und bringen Minisender an. Dann sind wir über Bewegungen dieser Wagen immer informiert. O.K.?“, schlug Joe vor. Paul nickte nur, und schon waren sie auf leisen Sohlen unterwegs. Als sie eine gute Stunde später ihre Aufgaben erledigt hatten, und wieder im Hotel waren, legten sich immer zwei Mann schlafen und einer hielt Wache, falls die beiden Familien doch noch ihren Plan kurzfristig änderten. Es war in dem Einzelzimmer zwar sehr beengt, aber es ging einigermaßen. 515
Jacomo tat bereits der Rücken, vom Sitzen und Warten im Fahrzeug, weh. Immer wieder stieg er kurz aus, rauchte eine Zigarette und vertrat sich die Beine. Er verstand nicht, warum dieser Georg Keller nicht zurückkam. Ausgezogen waren sie nicht, dass wusste er. Eventuell machten sie einen Zweitagesausflug. Die Empfangsgeräte für die Wanzen hatten sie deswegen immer noch ausgeschaltet. Immer wieder kamen Gäste an, oder andere fuhren weg. Nur die Erwarteten waren nie dabei. Sein Begleiter, Tino, schlief bereits seit zwei Stunden laut schnarchend auf dem Beifahrersitz. Da Mitternacht längst vorbei war, hatte er sich schon damit abgefunden, dass sie heute wohl vergeblich warten würden. Trotzdem fühlte er sich verpflichtet durchzuhalten. Man konnte ja nie wissen. Nicolai lag angezogen auf dem Bett in seinem Hotelzimmer. Wiederholt rief er Igor und Leonid an, ob sich beim Golfhotel etwas getan hatte. Immer wieder erhielt er die Auskunft, dass die, auf die sie warteten, noch nicht erschienen waren. Es war zum Verzweifeln. Mitternacht war lange schon überschritten. Inzwischen hatte er von seiner Organisation in Berlin ausreichend Hintergrundmaterial über die Familien Keller und Lander erhalten. 516
Es gab noch nahe stehende Verwandte in beiden Familien. Unter Umständen konnte das noch von Nutzen sein, dachte er. Die Mutter von diesem Georg Keller und Vater und Mutter von Jutta Lander lebten noch, und letztere sogar, idealer weise in Berlin, in seinem eigenem Revier. Wenn es sein musste, konnte man diese Leute einkassieren und sich damit die Anderen gefügig machen. Bei diesem Gedanken musste er lächeln. Diese Praxis hätte er dann nicht zum ersten Mal angewandt. Wenn sich diese Nacht nichts mehr tat, würde er eventuell, bei guter Gelegenheit, am kommenden Abend etwas härter zur Sache gehen. Als sich Paul Wenig gegen neun Uhr in den Frühstückssaal des Hotels begab, hatte er eine mittelgroße Umhängetasche in seinen Händen. Nach dieser Nacht fühlte er sich wie zerschlagen. Zu dritt in einem kleinen Einzelzimmer, voll gestopft mit Abhörelektronik und alle zwei Stunden eine Stunde Wachdienst, das musste einen kaputt machen. Er frühstückte genussvoll, trank mehrere Tassen Kaffee und packte heimlich sechs belegte Brötchen und einige Trinkpäckchen Orangensaft für Joe und Fred ein. Auf dem Weg nach oben, teilte er Marie mit, dass heute das Zimmer nicht gereinigt werden soll, da er sich nicht wohl fühle und 517
den ganzen Tag im Bett bleiben würde. Nur zu den Mahlzeiten würde er im Restaurant erscheinen. So etwas kannte Marie schon. Das kam bei Gästen öfters vor, besonders wenn sie am Abend zuvor zu viel und zu lange getrunken hatten. Und genau so sah, ihrer Meinung nach, Paul Wenig heute auch aus. Paul wollte gerade die Lobby wieder verlassen, als er abrupt stehen blieb und überrascht auf die, auf dem Tresen liegende, Zeitung blickte. Dort stand ganz groß auf der Titelseite: „SENSATION AUF DEM ALTEN GLETSCHER – HAT EIN EINSCHLAG EINES GROSSEN METEORITEN DEN ERDRUTSCH VERURSACHT?“ Bilder von Professor Mergant, dem Gletscher und dem Erdrutsch waren abgebildet. Darunter kamen dann einige Erläuterungen. „Darf ich mir die Zeitung mit nach oben nehmen“, fragte Paul Marie besonders höflich, „dann hab ich wenigstens etwas zu lesen?“ Diese nickte nur lächelnd und er zog sich schnellstens mit den Neuigkeiten zurück. Als er diese 518
neue Nachricht Joe und Fred zeigte, sahen sich die drei eine Weile nur stumm an. „Paul und Fred, ihr haltet hier die Stellung. Ich fliege sofort auf den Gletscher und schaue mir das an. Wenn es das ist, was wir vermuten, dann liegt dort oben ein Überbleibsel einer außerirdischen Rasse, welches unter Umständen sogar noch radioaktiv strahlt. Fred rufe schnell einen Hubschrauber zu dem kleinen Flugplatz bei Rauris und gib erhöhte Alarmstufe an Milligan durch“, ordnete Joe an. Er hatte unmerklich das Kommando in der kleinen Gruppe übernommen, was jedoch die beiden Anderen nicht störte. Bereits eine Stunde später war er im Landeanflug an der Bohrstelle auf dem Gletscher. Die Forschergruppe sah erstaunt dem Ankömmling entgegen. Professor Mergant eilte zu ihm und begrüßte ihn, skeptisch blickend: „Wer sind sie denn und was wollen Sie hier?“, überfiel er ungesäumt Joe, nachdem der Helikopter so weit entfernt war, dass man sich wieder verständigen konnte. „Mein Name ist Herrmann Klein und ich bin von der ESA. Uns wurde gemeldet, dass es hier einen 519
größeren Meteoriteneinschlag gegeben haben soll. Das liegt in unserem Zuständigkeitsbereich und ich muss leider bis auf weiteres bei Ihren Arbeiten dabei sein“, log Joe gekonnt sein Gegenüber an. Dieser schluckte mehrmals heftig, wurde blass und fing dann zu stottern an: „Aber es gibt doch gar keinen Meteoriteneinschlag hier. Das habe ich doch nur diesem dämlichen Reporter erzählt, damit er schnell wieder von hier verschwindet. Ich konnte doch nicht ahnen, dass dieser Idiot das schreiben würde.“ Wenn diese Geschichte herauskam, dann hatte er gestern ein Eigentor geschossen. Ein Beobachter von der ESA, das durfte doch nicht wahr sein. Er musste ihn milde stimmen, denn der konnte ihm mächtig schaden. Professor Mergant war so aufgeregt, dass er völlig vergaß, den ungebetenen Besucher nach einer Legitimation zu fragen. Joe wusste um die Gefahr dieser fehlenden Legitimation und war deshalb ausgesprochen liebenswürdig zu dem Professor: „Das ist gut. Das haben Sie gut gemacht. Ich kann diese Presseheinis ebenfalls nicht ausstehen. Aber Sie haben Schwierigkeiten mit den Bohrlöchern, 520
ist das richtig?“, wollte er einschmeichelnd wissen. Professor Mergant erzählte ihm daraufhin alles sehr ausführlich, zeigte ihm die letzte, verglühte Bohrspitze und wies erklärend auf den augenblicklich arbeitenden Bohrturm. „Es stimmt schon, dass wir an einigen Stellen nicht tiefer als knapp 60 Meter in den Boden hineinkommen, aber das ist kein Meteorit, sondern irgendein sehr harter Stein“, erklärte er gewissenhaft und zeigte auf die Bohrlöcher am Boden, „die hier rechts gehen so tief hinein, wie wir wollen, und ab diesem hier, bleibt es bei den knapp 60 Metern. Wir bohren jetzt immer weiter in dieser Richtung, dann werden wir ja sehen, wie groß diese Steinplatte da unten ist.“ Dabei wies er mit der linken Hand in die Richtung, in der die Bohrversuche unternommen werden sollten. „Wurden Messungen bezüglich irgendwelcher Strahlungen vorgenommen? Haben Sie auch ein Sonar benutzt?“, fragte Joe, ausgesprochen nachdenklich geworden. Es mochte schon sein, dass der Professor den Reporter etwas veralbern wollte, 521
aber trotzdem, war und blieb diese Platte dort in der Gletschertiefe ungewöhnlich. „Und haben Sie schon einmal davon gehört, dass es in den Alpen so harte Steinplatten gibt?“ „Nein, weder das Eine, noch das Andere“, gab der Professor ehrlich zu. „Haben Sie hier überhaupt Strahlungs-Messgeräte oder Sonare?“, hakte Joe nach. „Nein, die habe ich noch nie benötigt. Sonare nutzen bei Gletschereis nicht viel. Sie ergeben keine verwertbaren Ergebnisse“, erwiderte der Professor. „Ich werde trotzdem mal solche Messgeräte anfordern, damit wir auf Nummer Sicher gehen können. Sind Sie damit einverstanden, werter Herr Professor Mergant?“ „Oh, ja. Sehr sogar.“ Er fühlte sich geschmeichelt, dass er so höflich gefragt wurde und ihm sogar noch zusätzliches Forschungsgerät zu Verfügung gestellt werden sollte. Joe entfernte sich ein paar Schritte, damit keiner mithören konnte, und rief mittels einem abhörsicherem Handy seine Dienststelle an, teilte ihr den 522
Sachverhalt kurz mit und bat um umgehende Zusendung der geforderten Messgeräte, egal wie teuer es werden würde. Ihm wurde nicht nur die prompte Lieferung zugesagt, sondern er sollte zusätzlich noch personelle Verstärkung erhalten. Die Warterei auf dem alten Gletscher begann nun für Joe. Peter und Georg überprüften im Laufe des Tages mehrmals den Baufortschritt im neuen Tunnel. Deshalb behielten sie bereits seit zwei Tagen durchgehend die Sicherheitskleidung an. Die Frauen und Kinder liefen mit ihren Freizeitkombis herum. Sie waren übereingekommen, den ganzen Tag weiterhin das Raumschiff zu durchstreifen und auf Neuigkeiten zu achten und am Abend darüber zu reden. Bei dieser Gelegenheit erfuhren Peter und Georg, wo und wie die Metallplatten, die zurzeit im Tunnel verbaut wurden, hergestellt wurden. Die Produktion erfolgte in einem der größeren Räume des Raumschiffs. In einem großen, rechteckigen Kasten verschwand permanent eine Art braunes Granulat, welches zuvor über ein vollständig geschlossenes, durchsichtiges Fließband, wobei sich nur das Granulat zu bewegen schien, zu dem Kasten transportiert wurde. Es kam aus verschiedenen Vorratsräumen. Immer wenn ein 523
Raum leer war, zog eine schwebende Maschine das Förderband vom Eingangsloch dieses Raumes weg, und steckte es in ein Loch eines anderen Vorratsraumes. Wie dann der Herstellungsprozess im Inneren der Produktionsmaschine ablief, war nicht erkennbar. Am anderen Ende dieser Maschine kamen dann die fertigen Platten heraus, wurden von einem Greiferarm abgenommen und auf den bereitstehenden Schweber geladen. Dieser verbrachte sie anschließend in den Tunnel zum Einbau. Das ganze System war hochgradig automatisiert und durchdacht. Die Technik der Helas war bereits so weit entwickelt, dass offensichtlich für Lebewesen keine andere Tätigkeit, als reine Gedankenarbeit geblieben war. Es musste sehr interessant sein, das Freizeitverhalten dieses Volkes zu studieren, dachte Peter bewundernd. Kommissar Fritz Moser las als Erster die Sensation vom Gletscher. Er freute sich riesig darüber. Das würde Touristen, Schaulustige und Wissenschaftler in die Region bringen, und diese brachten Geld. Er war so vergnügt, dass er beschloss, gemeinsam mit Herbert ins Sporthotel zu seinem neuen Freund Paul zu fahren und mit ihm darüber zu plaudern. Da das Wetter wieder einigermaßen angenehm und trocken war, und sie zudem etwas 524
länger im Restaurant des Hotels bleiben wollten, verzichteten sie darauf, wie üblich, direkt auf der Vorfahrt zu parken, sondern bogen auf den großen Parkplatz des Hotels ein, um dort ihren Wagen abzustellen. Als sie ausstiegen, sah Herbert Malchin, wie im Nebenfahrzeug ein schlafender Mann hinter dem Lenkrad saß. Der Kopf lag rückwärts, schräg gegen die Kopfstütze und Türholmen gelehnt. Der Mund stand offen und das Schnarchen war sogar durch die geschlossene Scheibe zu hören. Aus den Büschen kam ein zweiter, dunkelhaariger, nicht allzu großer, schlanker Mann, rückte noch seine Hose etwas zurecht, öffnete leise die Beifahrertür und setzte sich vorsichtig hinein und begann vor sich hin zu dösen. Herbert Moser betrachtete den Schlafenden eine Weile nachdenklich, zuckte dann die Schulter und folgte seinem Vorgesetzten. Irgendwie kam ihm dieser Mann bekannt vor. Er grübelte noch eine Weile, dann vergaß er es wieder. Er holte den Kommissar erst im Empfangsraum ein. Dieser war gerade dabei, Paul über die Hausleitung in dessen Zimmer anzurufen und nach unten zu bitten, da er ihm etwas Tolles zu zeigen hätte. Fünf Minuten später erschien Paul in der Lobby und eine herzliche Begrüßung erfolgte. Der Kommissar zeigte ihm kurz die Schlagzeile der Zeitung und wollte beginnen, 525
sich mit ihm darüber zu unterhalten, als er bemerkte, wie sein Mitarbeiter blass wurde, sich gegen die Stirn schlug und zu stottern begann: „Jetzt! Jetzt weiß ich, wer das war“, brachte er krächzend heraus, „den haben wir gestern auf dem Fahndungsphoto aus München gesehen. Das waren die beiden Mörder!“ Zum Ende seiner Ausführung, hatte er fast gebrüllt. Der Kommissar und Paul sahen ihn verständnislos an. Drehte Herbert durch? Dieser klärte daraufhin die Beiden auf, so dass nun auch sie blass wurden. Was tun? Hier war guter Rat teuer. Sollten sie Verstärkung anfordern oder selbst die Verhaftung dieser gefährlichen Verbrecher vornehmen. Nach einer kurzen, teils kontrovers geführten Diskussion, entschieden sie sich dafür, selbst umgehend zuzuschlagen. Sie legten sich einen Plan zur Vorgehensweise zurecht, untersuchten ihre Waffen und begaben sich, so ruhig und gelassen sie konnten, langsam zu dem Fahrzeug der Italiener. Igor war wieder mit dem Überwachen des Parkplatzes, der öden Mafiosi und des Golfhotels an der Reihe und Leonid setzte sich aufatmend in den Ford. Ihr Fahrzeug stand immer noch außerhalb 526
des Hotelgeländes so postiert, dass es weder sonderlich auffiel, noch vom Parkplatz aus gesehen werden konnte. Deshalb konnte auch immer nur Einer im bequemen Wagen sitzen, während der Andere hinter einem Busch auf Beobachtungsstation sein musste. Tagsüber, bei angenehm warmem und trockenem Wetter war das kein Problem, aber in der vergangenen Nacht war es eine reine Tortur gewesen. Igor blickte kurz auf seine Armbanduhr: 15.48 Uhr. Das konnte noch dauern. Gelangweilt saß er auf einem Plastikbeutel hinter dem Busch und schnipste Grashalme in die Luft. In diesem Moment kamen drei Männer, wie schon viele vor diesen, langsam auf den Parkplatz gegangen, näherten sich einem Fahrzeug und, wie aus heiterem Himmel, rissen sie mit lautem Getöse und Geschrei die Türen dieses Wagens auf und zielten mit ihren Waffen auf die darin sitzenden Insassen. Erst jetzt bemerkte er, dass es sich bei den Männern, die nun aus einem Fahrzeug gezerrt wurden, um die Italiener, auf die er ebenfalls immer ein Auge haben sollte, handelte. Und schon standen die Beiden mit weit gespreizten Beinen an ihrem eigenen Fahrzeug, wurden abgetastet und bekamen danach Handschellen angelegt. Was sollte denn das bedeuten, fragte sich Igor kopfschüttelnd, die hatten doch gar nichts getan. In kürzes527
ter Zeit wurden die zwei Verhafteten in dem daneben stehenden Auto verstaut. Zwei der Männer stiegen vorne ein und der Dritte hob kurz grüßend die Hand und ging zum Hotel zurück. Der hatte aber auch eine Waffe gehabt, erinnerte sich Igor verblüfft, warum bleibt er dann hier? Als der Wagen mit den Verhafteten verschwunden war, lief er hastig zu seinem Fahrzeug, rief Nicolai mit seinem Handy an und erstattete ihm Bericht. Dieser beorderte augenblicklich Leonid zu sich ins Hotel, um ihn abzuholen. Igor setzte sich ebenfalls in das Fahrzeug und fuhr mit. Paul kehrte nachdenklich in sein Zimmer zurück. Da stimmte irgendetwas nicht, das fühlte er. Die beiden Typen hatten sich so leicht und unbedarft überraschen lassen, wie es eigentlich bei Menschen, die erst vor ein paar Tagen zwei andere Menschen kaltblütig ermordet hatten, nicht hätte der Fall sein dürfen. Die Spur über Max Roloff, Bernd Brunner und diesem Ort zeigte jedoch, dass sie mit seinem Fall zusammenhingen. Waren sie hinter dem gleichen Geheimnis her, wie er? Bestimmt! Aber irgendetwas passte nicht zusammen? Was nur? Er hatte mit Kommissar Fritz Moser und seinem Mitarbeiter ausgemacht, dass sie ihn mit keinem Wort in ihrem Bericht erwähnen sollten, 528
da er noch unerkannt weiter ermitteln wollte. Dies hatten Beide sichtlich begeistert aufgenommen, konnten sie doch so den Erfolg für sich allein verbuchen. Als Paul sogar nach den Festnahmen noch freundschaftlich bemerkte, sie hätten ihn, bei ihrer Professionalität ohnehin nicht gebraucht, erfüllten sie ihm seinem Wunsch erst recht gerne. So einen dicken Fisch hatten sie in ihrem ruhigen Nest, wo es höchstens ein paar Ladendiebstähle oder Verkehrsunfälle gab, noch nie. Sie waren stolz auf sich. Paul teilte Fred sein ungutes Gefühl mit. Dieser machte ihm den Vorschlag, sich das Fahrzeug der Beiden mal genau unter die Lupe zu nehmen. Eventuell gab es dort etwas zu finden. Diese Idee fand er überzeugend. Er ging auf den Parkplatz und durchsuchte jeden Winkel des Fahrzeuges, konnte aber nichts Wichtiges entdecken. Deshalb begab er sich anschließend wieder zu Fred auf sein Zimmer und wartete weiter auf die Landers und Kellers. Nicolai wurde ausgesprochen wütend, als er Leonid und Igor an ihrer Unterkunft vorfahren sah. „Bist du von allen guten Geistern verlassen, du Idiot. Du solltest auf deinem Posten bleiben und 529
aufpassen, was dort noch geschieht oder ob die Ausflügler wieder zurückkommen“, zischte er ihn aufgebracht an. „Wir müssen schnellstens wieder zurück. Hoffentlich ist noch nichts Wichtiges geschehen.“ Igor bekam einen knallroten Kopf, wie ein kleiner Schuljunge, der gerade beim Abschreiben erwischt worden war. „Warum wurden die beiden Itaker verhaftet?“, wunderte er sich kleinlaut, „die haben doch gar nichts getan?“ „Du bist und bleibst ein Vollidiot“, erwiderte Nicolai angeekelt, „ich hab dir doch erklärt, wie und warum wir denen die beiden Morde in die Schuhe geschoben haben. Und jetzt, werde ich das Fass für die Beiden endgültig zu machen“, setzte er noch, an die kommende Aktion denkend, lachend hinzu. Seine Wut war bereits wieder verraucht. Als sie auf ihrem üblichen Standplatz ankamen, sprangen Nicolai und Igor fix aus dem Wagen und versteckten sich wieder hinter dem Busch. Igor sah ihn verblüfft an, als Nicolai Handschuhe anzuziehen anfing, von ihm die geladene Pistole verlangte, sie 530
gründlich abputzte und in der Hosentasche verstaute. Da die Luft rein war, schlich Nicolai zu dem Fahrzeug der Italiener, öffnete lautlos die unverschlossene Fahrertür, zog mit seiner behandschuhten, rechten Hand Igors Pistole aus der Tasche und schob sie vorsichtig tief unter den Vordersitz des Beifahrers. Ein kurzer Kontrollblick noch, ob die Waffe gut verborgen war, und schon schloss er die Fahrzeugtür wieder geräuschlos. Schnell verschwand er wieder hinter dem Busch, wo Igor ihn kopfschüttelnd empfing. Diese Aktion schloss Nicolai keine Sekunde zu früh ab, denn schon kam ein Abschleppwagen auf den Parkplatz eingebogen. Neben dem Fahrer dieses Hebekranwagens saß Herbert Malchin und dirigierte diesen direkt zu dem Wagen der Festgenommenen. Ihre Aufgabe war es, das Fahrzeug zwecks Spurenfeststellung sicherzustellen. Zehn Minuten später waren sie mit dem Objekt ihrer Begierde verschwunden. Zurück blieben Igor und ein vor Vergnügen feixender Nicolai. Nun mussten sie nur noch auf die Familien Lander und Keller warten. Sie hatten sich vor einer viertel Stunde wieder im schwarzen Versammlungsraum getroffen. Peter lief vor den Sitzenden, die Hände auf dem Rück531
end verschränkt, in Gedanken versunken, hin und her. Die Kinder hatten sich die Wände durch losen aufgeteilt. Sabine hatte die gesamte Decke zum Spielen. Sie dachte sich gerade einen dunkelblauen, mit bunten Sternen übersäten Himmel aus, der danach augenblicklich abgebildet wurde. Die anderen Kinder klatschten begeistert Beifall. Jeder von Ihnen durfte sich etwas ausdenken und es dann an seiner Wand darstellen. Inzwischen hatten sie herausgefunden, dass man ein so gedachtes Bild per Gedankenbefehl stehen lassen konnte, so dass es wie ein perfektes Gemälde wirkte. Ellen und Gitti bedachten diese Spielerei mit einem freudigen Lächeln, war es doch ein Anzeichen für sie, dass die Kinder ihre neue Umgebung bereits akzeptierten und einverleibten. Sie war überzeugt davon, dass sehr viele Wände in den Raumschiffen nun ihren Gedanken-Bild-Stempel tragen würden. Die Damen unterhielten sich leise über die wichtige Frage, ob sich Helasdamen nach irgendeiner Mode gekleidet haben würden. Georg fläzte sich in einem Sessel, bemerkte lästernd, dass Helasdamen so etwas nicht nötig gehabt hätten, weil es ja keine Männer gab, für die man sich hätte hübsch 532
machen können und blickte auf die Uhr: 17.20 Uhr. ‘Es wird höchste Zeit, die weitere Vorgehensweise festzulegen’, sinnierte er. In diesem Augenblick blieb Peter stehen, räusperte sich kurz und vernehmlich und fing ziemlich laut zu sprechen an: „Also, hört mal zu!“ „Ja, Chef!“ unterbrach ihn Ellen in einem leicht sarkastischen Tonfall zu und fletschte leicht ihre blendend weißen Zähne. Peter schüttelte nur missbilligend den Kopf und fuhr unbeirrt fort: „Bis zu diesem Augenblick sind wir wie die Blindfliegen, oder sagen wir mal besser, wie Schaulustige durch die Anlagen geirrt. Nun wird’s aber langsam Zeit, dass wir mit unserer Entdeckung etwas Nützliches anfangen. Hierzu wird es erforderlich sein, dass wir uns, so wie du vorgeschlagen hattest“, dabei nickte er Ellen zu, „Fachleute holen. Zuverlässige und nicht nur egoistische Personen müssen das sein. Wir sollten, meine ich, uns zu aller erst mal in unserem Freundes-und Bekanntenkreis umschauen. Ich glaube, da haben wir so einige potente Leute. Danach können wir suk533
zessive erweitern. Hierzu müssen wir kurzfristig nach Passau und Berlin. Da wir da draußen aber scheinbar bereits verfolgt werden, und wenn alles noch offensichtlicher wird, wir sogar richtiggehend bedrängt werden, gehen nur noch wir zwei, also Georg und ich, gemeinsam raus. Der Rest bleibt bis auf weiteres aus Sicherheitsgründen hier. Wie seht ihr das?“ Peter sah sich fragend um. „Ist es wirklich so gefährlich, Papi?“, kam es zweifelnd aus Sabine heraus. „Ja, noch viel gefährlicher, als du dir überhaupt vorstellen kannst“, beantwortete Georg ihre Frage und fuhr eindringlich fort: „Und wir sollten sogar noch heute das Hotel mit allen unseren Sachen verlassen, bin ich der Meinung.“ „Ja, genau“, stimmte Gitti vehement zu. Auch Ellen signalisierte mit einem Kopfnicken ihre Zustimmung. „Gut, dann fahren wir beide gleich los und holen erst einmal die Sachen ab. Wenn wir wieder zurück sind, sollten wir mit einem mehrtägigen Trainingsprogramm beginnen. Wir müssen alle, auch die Kinder, schnellstens lernen, selbständig mit 534
den Schwebern, Antigravschuhen, Flugschiffen und allen anderen, alltäglichen Errungenschaften dieser Technik umzugehen. Georg du bist der Spezialist für Fahrzeuge. Kannst du uns schulen?“, wollte Peter von seinem Freund wissen. Georgs Brust wölbte sich sichtlich. Er erklärte sich sofort dazu bereit. „Wenn ihr jetzt die Klamotten aus dem Hotel holt, kommen wir mit“, formulierte Gitti einen kleinen Einwand gegen Peters Ausführungen. „Warum? Glaubst du, wir können das nicht allein?“, hielt Georg dagegen, „außerdem, willst du wirklich die Kinder allein hier lassen?“ Das war ein gewichtiges Gegenargument. Die Kinder protestierten auch prompt lautstark. Nach einer längeren Diskussion über das Für und Wider, einigte man sich darauf, dass Verena und Alexander mitfahren sollten, denn diese kannten wenigstens sämtliche Sachen der Kinder und konnten sie einpacken. „Ab sofort muss bei uns allen außerhalb der Station die Sicherheitskombi immer mindestens auf Schutzstufe 1 gestellt und der Sender und Empfänger eingeschaltet sein. Das gilt vor allen Din535
gen für euch, Kids“, bestand Ellen auf dieser Sicherheitsanforderung. Sie hatte Angst um die Kinder. Gleich darauf zogen sich Verena und Alexander die Sicherheitskleidung an, schalteten so demonstrativ Stufe 1 und den Sender und Empfänger ein, als wollten sie sagen, was wollt ihr eigentlich von uns, wir sind doch keine Kinder mehr. Darüber trugen sie normale, weite Kleidung, damit sie außerhalb der Station nicht auffielen. Anschließend fuhren Peter, Georg, Verena und Alexander los. Bereits eine Stunde später erreichten sie mit beiden Fahrzeugen das Hotel und blieben auf der Vorfahrt stehen. „Peter und ich gehen erst einmal bezahlen. Ihr Beide geht auf unsere Zimmer und wartet dort auf uns. Bleibt bitte immer zusammen, ist das klar?“ Die Kinder nickten nur. Am Tresen nahmen sie den Zimmerschlüssel in Empfang und verschwanden nach oben. Georg und Peter beglichen bei der erstaunten Frau Obermoser die, mit einem gepfefferten Aufpreis, wegen der verfrühten Abreise, versehene Rechnung und begaben sich ebenfalls auf die Zimmer. Igor war fast am eindösen, als er die beiden Fahrzeuge, wegen der sie schon so viele Stunden hinter 536
diesem verdammten Busch herumstanden, die Auffahrt heraufkommen sah. Eiligst lief er zu seinem Wagen und gab Nicolai Bescheid. Dieser öffnete daraufhin den, neben ihm, auf dem Rücksitz, bereitliegenden, Koffer, verband ein Stromkabel mit dem Zigarettenanzünder, schaltete die Zündung des Fahrzeugs ein, nahm einen Kopfhörer, gab diesen Leonid und setzte sich selbst den anderen Hörer auf. Er hatte ihn gerade erst aufgesetzt, als er ganz deutlich eine Tür zuklappen hörte. Dann folgten die ersehnten Stimmen: „Wir sind doch keine Kinder mehr. Eltern tun immer so, als wären wir noch klein und wüssten nicht, was wir dürfen und was nicht.“ Es war die aufgeregte, verärgerte, etwas hohe Stimme eines Mädchens. Dieser antwortete eine jungenhafte, sich bereits im Endstadium des Stimmbruchs befindliche Stimme: „Na, ja. Aber Recht haben sie doch irgendwo. Die ganze Sache ist so riesig, dass, wenn das jemand auf der Welt wüsste, hier der Teufel los wäre. Aber was anderes, Verena. Wenn wir nachher in unsere Zimmer gehen um alle Sachen zusammenzupacken, dann würde ich gerne mal schnell in den Reitstall gehen und mich von den Pferden 537
verabschieden. Es wissen die Götter, wann ich mal wieder meine Lieblingstiere werde sehen und streicheln können. Kannst du die Sachen schnell einpacken. Ja. Das kannst du doch viel besser als ich. Ja. Bitteee, Bitteeeee....“ Die Stimme war zum Ende des Satzes hin, ausgesprochen schmeichelnd geworden, schien aber beim Empfänger nicht vollständig gewirkt zu haben, denn das Mädchen antwortete prompt: „Das geht nicht, und das weißt du ganz genau, Alex. Wir müssen zusammen bleiben. Wir haben es versprochen. Schau mich nicht so an. Ich mag Pferde mindestens genau so wie du.“ Es klang nur teilweise wirklich ablehnend. Als dann von dem Jungen noch mal ein langgezogenes Bitteeee... kam, ließ sie sich erweichen: „In Ordnung, aber wir machen es so. Wir packen ganz, ganz schnell die Sachen, stellen die Koffer an die Tür und flitzen Beide supergeschwind zu den Pferden. Dann sind wir zehn Minuten später wieder zurück und die Alten haben gar nichts gemerkt. Einverstanden?“ Die letzten Worte waren bereits verschwörerisch leise gesprochen worden. Trotzdem hatte sie Nico538
lai hervorragend verstanden. Die beiden kleinen Verschwörer mussten unmittelbar neben der verwanzten Steckdose stehen. Die Worte, „riesige Sache, wenn es irgend jemand auf der ganzen Welt wüsste, Teufel los“, hallten immer wieder in seinem Kopf nach. Die beiden Familien wollten offensichtlich jetzt fluchtartig ausziehen. Dann war es anschließend fraglich, ob er sie weiter beschatten und bei Gelegenheit ausquetschen konnte. Jetzt war guter Rat teuer. Er wusste, er musste nun schnellstens irgendwie handeln. Aber was tun. Er überlegte fieberhaft. Einige Sekunden später hatte er sich entschieden. „Igor, hol schnell die Watte und Chloroform aus dem Kofferraum und mache zwei starke Einheiten fertig. Los, beeil dich, wir haben nur wenig Zeit“, wies er seinen Untergebenen scharf an. Sein Gefährte stand noch vor dem Fahrzeug und eilte schnellstens nach hinten, um den Auftrag auszuführen. Nicolai hörte soeben in seinem Kopfhörer wieder die Tür klappen und eine männliche, dunkle Stimme sagen: „So, Kinder. Hier sind eure Zimmerschlüssel. Packt alles zusammen und dann treffen wir uns in einer halben Stunde wieder hier, in diesem Zimmer.“ 539
Danach ertönte mehrmaliges Türklappen, dann waren nur noch Packgeräusche zu hören. Die beiden Männer schienen schweigend zu arbeiten. Igor kam mit zwei kleinen Päckchen, die er aus dem Kofferraum geholt hatte, zurück und setzte sich in den Wagen. Eines der Päckchen reichte er wortlos zu Nicolai auf den Rücksitz. Dieser nahm es gelassen entgegen. „Los, Leonid, fahr nach dort hinten, zu den Pferdeställen. Ganz dicht an die kleine Tür dort hinten, direkt bei der Bank an der Stallwand. Wenn wir ausgestiegen sind, dann wende den Wagen. Wenn wir mit unseren Gästen herauskommen und wir wieder im Wagen sind, dann langsam losfahren. Wir wollen kein Aufsehen erregen“, wies Nicolai seinen Fahrer an. Dieser setzte befehlsgewohnt den Ford in die angegebene Richtung in Bewegung. Nicolai kannte die Örtlichkeit bestens. Er hatte sich mehrmals alles genau angesehen und eingeprägt und somit seine Schulaufgaben gemacht. Der Wagen parkte an der vorgeschriebenen Stelle ein. Nicolai und seine Helfer blieben sitzen und warteten. Nur wenige Minuten später, sahen sie Verena und Alexander eilig aus dem Hintereingang des Hotelgebäudes kommen, über den Hof laufen und im 540
Pferdestall verschwinden. Nicolai gab Igor einen leichten Klaps auf die Schulter. Dieser hatte verstanden. Sie waren ein gut eingespieltes Team und hatten diese Arbeit schon häufig verrichtet. Leise verließen sie den Wagen und gingen durch die Seitentür ebenfalls in das Stallgebäude. Gleich bei der dritten Pferdebox standen die beiden Kinder und sprachen mit einem schwarzen Friesländer, streichelten ihn immerzu am Kopf und gaben ihm Heu und getrocknete Brötchen zu fressen. Nicolai und Igor nahmen an, dass die Kinder arglos sein mussten. Deshalb entschlossen sie sich zu der List, ganz normal an den Beiden vorbei zu schlendern, um dann, wenn sie auf gleicher Höhe mit ihnen waren, diese blitzschnell mit, in Chloroform getränkten, Wattebäusche zu betäuben. Unverzüglich setzten sie diesen Plan in die Tat um. Verena und Alexander schienen nicht einmal mitzubekommen, dass zwei Männer an ihnen vorbeigehen wollten und was danach mit ihnen geschah. Es ging so schnell, dass sie schon zuckend das Bewusstsein verloren hatten, ehe sie die Situation erfassen konnten. Da die beiden Halbwüchsigen sehr schlank und leicht waren, hatten Nicolai und Igor nicht die geringste Mühe, sie in ihr Fahrzeug zu zerren. Kaum war die Tür geschlossen, setzte 541
es sich auch schon in Bewegung und verließ langsam das Hotelgelände. Niemand hatte den Vorgang bemerkt. Auf der Hauptstraße angekommen, beschleunigte Leonid, fuhr aber niemals schneller, als es erlaubt war. Es wäre Dummheit, wusste Nicolai, unnötig aufzufallen und Risiken einzugehen, wenn sie solch eine wertvolle Fracht an Bord hatten. Sie würden über Rauris, Salzburg, München, und Nürnberg nach Berlin fahren und dort dann die Kinder als Tauschmittel gegen die sagenhafte Erfindung benutzen. Paul wurde von Fred geweckt. 18.35 Uhr. Er war am hellen Tag eingeschlafen. Das kam selten vor. Unkonzentriert wollte er von seinem Zimmergenossen wissen, was los sei. Dieser winkte ihm nur und zeigte auf einen der Monitore. Dort sahen sie zwei Kinder einen Raum betreten und sich unterhalten. Paul erkannte, trotz der Froschaugenperspektive, augenblicklich Verena und Alexander. „Mach mal etwas lauter“, bat er Fred. Dieser drehte den Lautstärkeregler etwas auf. Sie bekamen gerade noch die Unterhaltung der Beiden wegen des Pferdebesuchens mit. Auch ihnen stie542
ßen die ersten Bemerkungen Alexanders auf, nur ordneten sie diese anders ein. Immer mehr verdichtete sich der Verdacht, dass dort oben im Gebirgsmassiv etwas Bedeutendes liegen musste und diese beiden Familien es gefunden hatten. Jetzt galt es, sich Gewissheit zu verschaffen und anschließend diese Technologie in die Hände zu bekommen, koste es was es wolle. Paul war nun hellwach. Die Erwachsenen, Peter Lander und Georg Keller, wie sie erkannten, kamen und die Kinder verließen den Raum, um in zwei anderen Räumen ausgesprochen flink zu packen. Bereits nach wenigen Minuten waren sie fertig und verließen eiligst ihre Zimmer. Paul und Fred mussten herzhaft lachen, als sie diese Szenen sahen. Die Männer erledigten ihre Arbeit gewissenhaft und wortlos. Nach zwanzig Minuten hatten sie bereits alles zusammen gepackt und warteten nun im ersten Zimmer auf die Kinder, welche immer noch nicht von den Ställen zurück waren. ‘Typisch Kinder’, dachte Paul, ‘wenn’s um solche Sachen ging, Vergessen sie ganz schnell die Zeit’. Nach einer weiteren viertel Stunde wurden Peter und Georg unruhig, wie er auf dem Monitor erkennen konnte. 543
„Wo bleiben die nur?“, hörten sie Peter grummeln, „Ich gehe mal rüber und schaue nach.“ Sie sahen ihn auf dem einen Monitor aus dem Zimmer hinausgehen und auf dem anderen in das Zimmer der Kinder eintreten. Die Koffer standen säuberlich gepackt in dem Raum. Von den Kindern war keine Spur zu sehen. Peter ging in den Nachbarraum. Kein Gepäck, keine Kinder. Paul und Fred konnten die Unruhe der Eltern verstehen, denn diese wussten ja nichts von der verbotenen Verabredung der beiden Kinder. Sie hörten noch, wie Peter Lander Georg rief und dieser daraufhin das Zimmer verließ. Nun konnten sie niemanden mehr sehen. „Funktionieren die Sender in den Fahrzeugen der Beiden?“, wollte Paul besorgt von Fred wissen. „Klar, sie werden via Satellit gesteuert. Ganz egal wo die in Europa herumfahren, wissen wir auf zwei Meter genau, wo sie sind. Hier steht die Gegenstation“, beruhigte ihn Fred lächelnd und zeigte auf einen Computer mit großem Bildschirm und einem angeschossenem Telefon. Er hatte die Unruhe Pauls bemerkt. „Können wir Joe benachrichtigen?“ 544
„Ja. Das werde ich auch augenblicklich tun“, antwortete Fred und nahm auch schon das Spezialhandy und wählte Joes Nummer. Nach einem kurzen Gespräch, schaltete er wieder ab und wandte sich an Paul: „Er ist ungefähr in einer Stunde hier, Paul. Du solltest dich mal unauffällig draußen herumtreiben und schauen, was unsere Freunde so machen und wo die Bälger bleiben. Ich halte hier die Stellung.“ Paul nickte nur, kämmte sich kurz die Haare über, betrachtete den ordentlichen Sitz seiner leicht zerknitterten Kleidung und verließ den Raum. Unten angekommen, sah er, dass die beiden Fahrzeuge immer noch unbeladen vor dem Eingang standen. Flott ging er zu den Reitställen und erblickte dort Peter und Georg, die Kinder suchend. „Hier sind sie auch nicht“, rief Peter Georg zu, „Hast du sie irgendwo gesehen?“ Georg hockte an der kleinen Tür auf dem Boden, hob ein rot gemustertes Halstuch auf und hielt es gegen das Licht. Anschließend schnupperte er daran, stutzte und schnupperte noch mal. Erschrocken fuhr sein Kopf zurück. Hastig winkte er Peter herbei: 545
„Das hier ist mit Sicherheit Verenas Halstuch. Ich hab’s ihr selbst geschenkt. Riech mal dran“, erklärte er sein Verhalten und wollte nun dessen Meinung zu dem Geruch an dem Halstuch wissen. Peter kannte sich mit Parfums nicht aus. So etwas interessierte ihn nicht sonderlich. Trotzdem kam er Georgs Aufforderung nach. ‘Nach Parfum riecht das aber überhaupt nicht, nach Pferden auch nicht’, grübelte er, ‘es riecht unangenehm, fast einschläfernd. Nach Chemie. Einschläfernd!’ In Peter läuteten Alarmglocken. Wenn es das war, was er jetzt befürchtete, dann waren die Kinder in höchster Gefahr. Georg sprach es auch schon aus: „Irgend ein Betäubungsmittel. Chloroform oder so. Oder wie siehst du das!“ Er zitterte und setzte sich auf die kleine Bank neben dem Eingang. Peter nahm neben ihm Platz. „Normalerweise kann ihnen mit dem Schutzanzug nicht viel passieren. Ab sofort verständigen wir uns außerhalb der Station bis auf weiteres über die Gedankenvermittlung!“, presste er verzweifelt heraus. 546
Er machte sich trotz seiner beruhigenden Worte wahnsinnige Sorgen. „Anweisung: Ab sofort bis auf weiteres eine Verbindung mit Georg, Ellen und Gitti herstellen“, wies er PUL an. „Ellen, Gitti, Georg, könnt ihr mich hören? Sprecht nur mit den Gedanken. Die Kinder dürfen nichts davon mitbekommen.“ Das hätte er besser in anderer Reihenfolge gemacht. Schlagartig dröhnten drei verschiedene Stimmen in seinem Kopf. Er verstand nichts. „Um Himmels Willen nicht alle auf einmal. Lasst mich erst einmal kurz berichten. Wir glauben, dass Verena und Alexander betäubt und entführt wurden. Sie sind Gott sei Dank gut geschützt. Ich stelle jetzt erst einmal einige Fragen an PUL. Frage: Kannst du die Schutzanzüge von Verena und Alexander auf Stufe 2 stellen?“ „Nein.“ „Frage: Kannst du das Energiefeld der Beiden durch die Messsatelliten anpeilen?“ „Nein, erst ab Stufe 2.“
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„Frage: Kannst du sie über den eingeschalteten Sender anpeilen?“ „Ja.“ „Frage: Wo sind sie jetzt und bewegen sie sich?“ „44 Kilometer Nordwestlich - Station - Richtung Norden“ Ellen, Gitti und Georg hatten alles mitgehört. Diesen Bereich der Möglichkeiten beherrschte Peter wirklich am Besten, erkannten sie neidlos an. Und schon fragte Peter weiter: „Frage: Kannst du Kontakt zu Verena und Alexander aufnehmen?“ „Nein.“ „Frage: Warum nicht?“ „Sendung = geringe Wellen + undefinierbare Bilder = ohne Bewusstsein.“ „Frage: Leben sie noch?“ Es war die wichtigste Frage. Alle hielten den Atem an. 548
„Ja.“ Ein Aufatmen ging durch die Brust Peters und der Anderen. „Ellen, geh schnell in die Zentrale und leite uns. Wir verfolgen die Entführer und holen die Kinder da raus. Gitti pass du bitte erst einmal auf die Kinder bei euch in der Station auf und wenn sie schlafen, unterstütze Ellen in der Zentrale. Jetzt ist es zum ersten Mal ein Vorteil, dass wir nicht schlafen müssen. Wir sind also frisch. Anweisung an PUL: Schalte in der Zentrale alle Bildschirme, mehrfach gestuft ein, welche die Station und die Anpeilung von Verena und Alexander, sowie Georg und meine Person permanent zeigen. Alles klar?“ „Ja.“ Dieses kurze „Ja“ kam von PUL. Dann kam Gittis Bestätigung, dann Ellens. Georg nickte nur. Peter hatte nicht bemerkt, dass er und Georg während dieser Gedankengesprächszeit wie in Trance bewegungslos, leicht nach vorne gebeugt auf der Bank am Reitstall gesessen hatten. Jetzt löste sich die Erstarrung von den Beiden. „Das hast du ja toll gemacht“, lobte Georg seinen Freund, „wir schleppen schleunigst das Gepäck in 549
deinen Wagen und parken ihn auf dem Hotelparkplatz. Dann nehmen wir meinen Mercedes und jagen denen hinterher. Einverstanden?“ Er hatte vor lauter Aufregung vergessen, dass sie sich nur noch denkend unterhalten wollten. Als er seinen Vorschlag beendet hatte, bemerkte auch er es und errötete wie ein kleines Mädchen, das man beim Naschen ertappt hatte. Peter ging darüber hinweg, als hätte er nichts bemerkt, nickte nur, stand auf und ging voraus zum Hotel. Georg eilte ihm nach. Kurz vor 19.30 Uhr hatten sie alles verstaut, Peters voll gepackten Wagen gut eingeparkt und fuhren mit Georgs Wagen Richtung Deutschland los. Paul hatte die Szene mit dem Halstuch und das starre Sitzen der Beiden auf der Bank mit Verwunderung beobachtet. Als er sie so sitzen sah, lief ihm ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Hatte er hier etwa Aliens vor sich. Es war unheimlich. Ohne zu sprechen verluden die beiden Väter später alles Gepäck in einen Wagen, der dann so vollgeladen war, dass der Fahrer nur noch mit Mühe und Not hinter das Lenkrad passte. Um die verloren gegangenen, eindeutig entführten Kinder kümmerten sie sich scheinbar gar nicht mehr. Völlig unnormales Verhalten. Normale Eltern hätten 550
längst alles rebellisch gemacht und die Polizei laut schreiend gerufen. Und die hier, packten ohne zu reden und parkten ein Fahrzeug auf dem Parkplatz. Aber wer hatte die Kinder entführt? Immer mehr Rätsel taten sich auf. Mit dem anderen Wagen verließen die beiden Väter anschließend das Hotelgelände. Ebenfalls absolut unnormal. Als sie hinter dem Parkplatz verschwunden waren, begab er sich wieder auf sein kleines Zimmer und berichtete Fred von den eigenartigen Vorfällen. Dieser aktivierte umgehend den Empfangscomputer für die Satellitenauswertung, damit sie immer im Bilde waren, wo sich Georgs Mercedes aufhielt. Sie stellten fest, dass er bereits durch Rauris hindurch war und sich in Richtung Norden bewegte. „Wir warten auf Joe. Er müsste bald hier sein. Dann bleibst du hier am Empfänger und gibst uns die Fahrzeugpositionen durch. Bis Joe hier ist, erkläre ich dir alles genau. Joe und ich brausen dann hinter den Beiden her“, schlug Fred, keinen Widerspruch erwartend, vor. Joe kam fast eine Stunde später. Er berichtete kurz, was sich noch auf dem Gletscher zugetragen hatte. Sie hatten versucht, einen Bergsteiger an 551
mehreren Stellen in eine der Gletscherspalten abzuseilen, um zu sehen, was sich da auf dem Boden befindet, mussten aber jedes mal ergebnislos abbrechen, weil keine der Spalten aufgrund der ungewöhnlichen Horizontalverschiebungen bis zum Boden reichte oder durchgängig breit genug war. Der Professor hatte weitere Bohrungen, immer auf einer geraden Linie durchführen lassen und jedes Mal festgestellt, dass es nach ungefähr 50 bis 60 Metern nicht mehr tiefer ging. Joe hörte sich den Bericht von Fred an und entschied, dass sie, bevor sie dem Mercedes folgten, höchste Alarmstufe an ihre Zentrale in Washington D.C. durchgeben sollten. Eine viertel Stunde später nahmen sie die Verfolgung auf. Igor saß in der Mitte auf der Rückbank des Fords, Verena links und Alexander rechts von ihm. Die Beiden waren immer noch ohne Besinnung und würden es wohl noch einige Stunden bleiben. Die Dosis Chloroform hätte ausgereicht, um einen ausgewachsenen Schwergewichtsboxer umzuhauen. Ihre Köpfe lagen an den Schultern Igors. Es sah aus, als würden zwei Kinder lieb an den Schultern des Vaters schlafen. Bis vor ein paar Minuten hatte Igor noch versucht, ihnen die Kombis zu öffnen. Aber er konnte machen was er woll552
te, er erreichte nichts. Sie blieb fest verschlossen. Auch der Gürtel ließ sich nicht abnehmen und die Schuhe saßen fest wie einzementiert. Es war unglaublich. Dieses Problem würde in Berlin zu lösen sein. Sie hatten vor zehn Minuten Salzburg hinter sich gelassen und waren nun wieder in Deutschland. Um diese Zeit, dreiviertel zehn am Abend, war die Autobahn fast leer, so dass sie mit hoher Geschwindigkeit fahren konnten. Nicolai wollte die Kinder in seinem Hauptquartier in Berlin haben. Der oberste Chef aus Moskau hatte sein Kommen bereits angekündigt und ihn, nach seiner Berichterstattung, ausdrücklich gelobt. In Berlin würden sie über die Eltern dieses Peter Keller Kontakt mit Georg Lander aufnehmen und ihre Forderungen stellen. Wenn die Kinder aufwachten, sollte ihnen Igor Betäubungsspritzen verabreichen. Dass es sich dabei um Morphiahte handelte, die ein Leben zerstören konnten, war ihnen egal. Ellen saß in der Zentrale und war verzweifelt. Als sie die ersten Bilder gesehen hatte, war sie noch ganz optimistisch gewesen. Es war noch hell, das Wetter gut, der Himmel wolkenlos und man konnte sowohl die Landschaft, wie auch das Fahrzeug, in dem sich die Kinder befinden mussten, gut erkennen. Es gelang ihr, Peter und Georg die Rich553
tung zu weisen, weil sie zugleich auch die Bewegung dieses Fahrzeugs auf den Bildern wahrnehmen konnte. Da das Fahrzeug Georgs mit einem Navigationssystem ausgestattet war, sahen Peter und Georg, dass es über Salzburg auf der Autobahn nach Deutschland gehen würde. Mit zunehmender Dunkelheit hatten sich die Sichtverhältnisse verschlechtert und jetzt, 21.58 Uhr, wo es draußen stockdunkel war, sah Ellen auf ihren Bildern fast gar nichts mehr. An den hellen Quadraten erkannte sie zwar, dass PUL die Objekte immer noch präzise im Visier hatte, aber sie konnte damit nichts mehr anfangen. „Peter, Georg. Ich kann nichts mehr erkennen. Ich glaube allerdings, dass ihr auf dem richtigen Weg seid. Der Abstand bleibt annähernd gleich und ihr bewegt euch in etwa in die gleiche Richtung. Genügt euch das?“, gab sie als Meldung an Peter und Georg durch. „Lass auf Wärmemessung umstellen, und danach auf invers, dann erkennst du wieder etwas, mein Schatz“ antwortete Peter freundlich, genau in dem Augenblick, als Gitti die Zentrale betrat und sich neben Ellen setzte. 554
Sie staunte über die dunklen Bildschirme. „Kannst du da was erkennen?“, fragte sie verdattert. Diese freute sich, dass sie Gitti etwas Neues zeigen und erklären konnte und legte auch sofort los: „Ja, wenn im Moment auch nicht gut. Es ist zu dunkel, aber das ändere ich gleich. Die Beiden sind an den Entführern dran.“ Danach schaltete sie auf Wärmemessung und invers um und jubelte auf, als sie sah, dass sie die Fahrzeuge wieder erkennen konnte. Sie klärte Gitti über die Technik auf und diese gab ehrlich zu, dass das nicht ihre Welt sei. Ellen hatte allerdings nun alles kapiert und probierte es gleich mal aus. Diese große Lichteransammlung links von Peter und Georg, und der leichte Rechtsbogen um diese Lichteransammlung herum, den sie gerade nordwärts fuhren, musste München sein. Die Lichtbänder stärker befahrene Straßen. Mal sehen, ob es stimmt: „Ihr seid gerade bei München, ist das richtig?“, fragte sie die Männer.
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„Ja, woher weißt du das?“, kam die verblüffte Gegenfrage Georgs. „Das erkenne ich an den massenhaften Wärmequellen links von euch. Die Entführer sind kurz vor Ingolstadt, im Augenblick gerade die Donau überquerend“, gab sie stolz durch. Gitti sah sie an, als wäre sie von einem anderen Stern. Sie konnte beim besten Willen nichts Brauchbares erkennen. „Das kannst du aus diesen schemenhaften Umrissen erkennen?“, bewunderte sie Ellen aufrichtig. Als diese loslegen wollte, ihr alles zu erklären, winkte sie nur gequält lachend ab. Sie waren Beide gespannt, wo die Entführer hinwollten. Viel sprach für Berlin. Sie hatten Angst um ihre Kinder. Joe und Fred passierten in diesem Augenblick mit ihrem Mietwagen die Grenze von Österreich nach Deutschland. Paul konnte es ausgesprochen präzise auf dem Monitor in seinem Zimmer erkennen. Er war froh, dass sie in dieses Fahrzeug unmittelbar vor der Abfahrt einen weiteren Sender eingebaut hatten. So konnte er seinen amerikanischen Kollegen auch Abstandsveränderungen mitteilen.
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‘Das GPS-System ist schon eine hervorragende Sache’, dachte er zufrieden schniefend. Der Vorsprung Georgs und Peters betrug etwas mehr als eine Stunde und schien sich stetig etwas zu vergrößern. „Vermutlich ist hier wieder an der falschen Stelle gespart worden“, brummte er vor sich hin, „ein stärker motorisierter Wagen hätte sie schneller vorangebracht.“ Die Fahrt ging immer weiter nach Norden. Drei Stunden später ahnte Paul, dass das Ziel der Reise Berlin sein würde. Die beiden Väter waren fast am Hermsdorfer Kreuz und Joe und Fred kurz hinter Nürnberg. Der Abstand betrug jetzt bereits 1,5 Stunden. Es war schon 1.00 Uhr. Er war hundemüde. ‘Die haben es gut in ihrem Auto’, dachte er verbittert, ‘dort kann immer einer schlafen, nur ich muss durchgehend wach bleiben’. Noch während er so vor sich hin dachte, fielen ihm die Augen zu. ‘Gegen drei Uhr müssten wir in Berlin sein, wenn dieses das Ziel der Gangster vor uns ist’, dachte 557
Georg scharfsinnig, ‘kannst du das bestätigen, Ellen?’ ‘Ja’, dachte sie so kurz zurück, wie es sonst nur PUL fertig brachte. Es war seit Stunden langweilig, aber sie musste ausharren und aufpassen, falls sich bei den Entführern etwas tat, was wichtig sein könnte. Der Abstand betrug höchstens noch eine halbe Stunde, aber sie bezweifelten inzwischen, dass sie die Vorausfahrenden noch vor Berlin würden einholen können. „Wir sind ja prima durchgekommen“, jubelte Leonid auf, als er das Berlin-Schild in Zehlendorf vor sich aufleuchten sah. Es war eine stockdunkle, mondlose Nacht. Nicolai wachte bei diesem Ausruf erschrocken auf, war aber sofort wieder im Bilde. Er hatte mindestens vier Stunden unruhig geschlafen. Als er nach hinten blickte, konnte er feststellen, dass nicht nur die Kinder nicht ansprechbar waren, sondern dies auch für Igor galt. Er schlief wie ein Murmeltier, ohne das geringste Geräusch von sich zu geben. „Sind die Kinder zwischendurch einmal wach geworden?“, erkundigte sich Nicolai bei Leonid. 558
„Nein, keine Spur“, bekam er von diesem als Antwort zu hören, „wo soll ich hinfahren?“ „Direkt in die Zentrale und dort in die Tiefgarage!“, kam die Anweisung. Nicolai grinste. Diese beiden kleinen Nüsse da hinten, würden sie dort schon knacken. Wenn sie erst einmal im Bunker und getrennt waren, würde der Inhalt einer Spritze die Beiden schon gefügig machen. Er war ausgesprochen gespannt, wie diese Anzüge auszuziehen waren und was sie so alles aushielten. Am Besten könnte es sein, überlegte er, wenn der Junge die Kleidung anbehielt und sie an seinem Körper austesteten, was man damit machen konnte. Einen großen, geheimen Schießkeller hatten sie ja. Leonid bog gleich die erste Ausfahrt in Berlin von der A 10 Richtung Zehlendorf in die Potsdamer Chaussee ab. Die zweite links, weiter nach Nikolasee. Vor einer großen Einfahrt am Hirschsprung 186 hielt der Wagen kurz an, hupte dezent und schon fuhr das schwere, gepanzerte Tor nach unten in den Boden und gab so den Weg frei. Langsam rollte der Ford den langen Kiesweg bis zum palastähnlichen Haus, bog vor diesem links ab um auf der linken Seite nach unten in die Tiefgarage, welche sich direkt unter dem Haus befand, zu fahren. Dort angekommen, weckte Nicolai Igor auf 559
und befahl ihm, die Kinder nach unten in die gut verborgenen, gepanzerten Zellen zu bringen. Er selbst stieg aus und begab sich nach oben, um zu sehen, ob der Chef aus Moskau schon anwesend war. Er wurde von der Berliner Mannschaft mit großem Bahnhof begrüßt und von allen Seiten beglückwünscht. Sein Erfolg hatte sich bereits herum gesprochen. Er sonnte sich darin. Die Zellen, in denen sich jetzt die Kinder befanden, wurden jeweils mittels einer Kamera überwacht. Davor waren im Gang zwei Posten aufgestellt. Die Wände waren fast einen Meter dick und aus Stahlbeton. Der Boden und die Decken waren zusätzlich noch mit vierzig Zentimeter dicken Doppel-TStahlträgern versteift worden. Selbst schwerste Bombenangriffe würden die Kellerräume unbeschadet überstehen. Dieser untere Teil des Bauwerks war vor sieben Jahren ohne Bauerlaubnis, heimlich erbaut worden. Nur das Bauwerk über der Erde, war so errichtet worden, wie es in den Bauzeichnungen bei den Ämtern vorlag. Es hatte eine Menge Schmiergelder gekostet, dass nicht nachgeprüft und gefragt wurde. ‘Wo sind die jetzt?’, wollte Georg verzweifelt wissen. 560
Sie waren soeben in Berlin Zehlendorf angekommen und warteten auf der Potsdamer Chaussee auf eine Antwort von Ellen. ‘Also - ihr seid ganz dicht dran. Seit zwanzig Minuten hat sich die Position nicht mehr verändert. Die wurden bestimmt irgendwo eingesperrt. Die Signale sollen laut Rechner etwas schwächer sein, was auf ein sehr, sehr dickes Mauerwerk schließen lässt’, erklärte Ellen. Sie holte die beiden Positionen noch näher heran. Da es noch dunkel war, konnte sie nicht genau sagen, wie die Gegend rundherum aussah. „Schade, dass die Helas trotz ihrer Supertechnik kein Kartenmaterial unter der Ortung hinterlegt haben. Die kennen unsere Straßen und Orte scheinbar nicht“, flüsterte sie leise, um gleich danach wieder Richtung Peter und Georg zu denken. ‘Fahrt mal die nächste Möglichkeit nach links und dort hundert Meter weiter geradeaus’, wies sie Georg an. Dies setzte er augenblicklich in die Tat um. Ellen zeigte Gitti, wie sich die beiden Positionspunkte einander näherten. 561
‘Jetzt noch mal hundert Meter weiter geradeaus und dann links. Sagt mir mal, wo ihr dann seid’. Georg nickte nur, und schon ging es weiter. Peter wunderte sich über die noble Gegend, in der sie augenblicklich herumfuhren. In seiner Vorstellung geisterte immer herum, dass solche Gangster sich ausschließlich in Slums ansiedelten. Er schüttelte nun schon zum wiederholten Male seinen Kopf. ‘Halt’, hörten sie einen gedanklichen Aufschrei. ‘Was ist los?’, wollte nun Peter wissen, ‘warum Halt?’ Georg hatte sofort gebremst. ‘Nach meiner Detailkarte wärt ihr beinahe vorbeigefahren. Ihr müsst jetzt links fahren, sonst seid ihr zu weit’, kam die Erklärung in ihren Köpfen an. Sie konnten aber hier nicht nach links fahren. Eine hohe Steinmauer wäre da im Weg gewesen. Also fuhren sie noch gut vierzig Meter weiter geradeaus und dann erst nach links. ‘Wie weit sollen wir jetzt weiter fahren?’, wollte Peter wissen.
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‘Maximal hundert Meter, würde ich sagen. Ich rufe wieder „Halt“, wenn ihr auf der gleichen Höhe seid. O.K..’ Nach knapp sechzig Meter kam der Haltebefehl. Sie sahen zu ihrer linken Seite immer noch die hohe Steinmauer. ‘Wir fahren bis zur nächsten Kreuzung, biegen dort links ab, fahren wieder geradeaus und du rufst wieder Halt’. Nach vierzig Meter kam wieder der gedankliche Halt-Ruf. So umfuhren sie mehrmals dieses Karree. Bis auf eine, durch ein großes, schweres, gepanzertes Tor versperrte Einfahrt konnten sie immer nur die hohe Mauer von außen betrachten. „Also dort sind sie drin“, resümierte Georg halblaut, „ich hätte nicht gedacht, dass Verbrecher in solch einer guten Gegend zu Hause sein könnten.“ Peter nickte, sich am Kopf kratzend. Dieses war mit die beste Wohnlage Berlins. Das Grundstück umfasste einen ganzen Block von etwa hundert mal hundertzwanzig Metern und war bestimmt ein Vermögen wert. Und dann kam noch das Haus. Entweder war es eine staatliche Stelle oder es gehörte irgendeiner größeren Organisation. Gegen 563
eine staatliche Stelle sprach, dass seit dem Wegfall der Mauer solche Liegenschaften längst offiziellen Aufgaben zugewiesen wurden und dementsprechend von außen gekennzeichnet waren. Diese Möglichkeit schied also höchstwahrscheinlich aus. Blieb noch die anderweitige Organisation. Welche? Verbrecher? Syndikate? Italienisch, deutsch, russisch, polnisch, libanesisch? ‘Es ist auch egal’, entschied Peter für sich, ‘wir müssen die Kinder dort herausholen’. ‘Frage: Wie ist der Zustand der Kinder?’ Diese Frage hatten sie im Laufe der letzten Stunden immer wieder gestellt. Es zeigte deutlich ihre Unsicherheit und Angst. ‘Unverändert. Ohne Bewusstsein’. ‘Wenn sich diesbezüglich etwas ändert, dann gib uns sofort Bescheid’, wies Peter PUL an, auch zum x-ten Male. „Was machen wir jetzt?“, wollte Georg von Peter wissen. „Wir bleiben hier stehen, bis es hell wird und die Kinder bei Bewusstsein sind. Dann dringen wir in 564
das Objekt ein und holen sie raus. Bei Dunkelheit sind wir durch unnötige Fehltritte gefährdet und solange die Kinder nicht selbständig laufen können, wird das Herauskommen unnötig problematisch. Gut?“ Peter hatte seinen Plan immer wieder und wieder durchdacht und war zu dem Schluss gekommen, dass es nur so funktionieren konnte. Georg sah ihn trotz der verzweifelten Situation lachend an: „Eindringen? Willst du nicht vorhandene Bomben hochgehen lassen?“, wollte er wissen. „Nein. Wart’s ab. Du wirst schon sehen, wie das funktioniert“, teilte ihm sein Freund mit, ohne seine Idee preiszugeben. Paul wunderte sich über die Fahrmanöver von Georg. Dieser fuhr, immer wieder anhaltend, in Berlin Nikolasee um einen Häuserblock. Seine Einstellung auf dem Computerbildschirm zeigte ihm zwar die Straßen und Straßennamen, nicht aber die Art der Bebauung. Er unterrichtet Joe und Fred über sein Funktelefon. Sie überquerten im Augenblick gerade bei Coswig die Elbe und würden noch eine gute Stunde bis nach Berlin benötigen. 565
„Sie haben scheinbar die Entführer aufgespürt. Ich habe die Luftraum-und Funküberwachung angerufen und wollte wissen, ob es irgendeine Art von Luft-oder Funkverkehr mit dem Fahrzeug gegeben hat. Diese Frage wurde eindeutig negiert. Wie konnten die so schnell die Entführer finden? Kannten sie diese bereits? Wird ihnen vielleicht in diesem Augenblick eine Falle gestellt?“, rätselte Joe herum und blickte Fred von der Seite an. Aber auch Fred wusste keine passable Erklärung für all diese Phänomene, die mit diesen beiden Familien zusammenhingen. Als das Ziel feststand, rief Joe die Zentrale an und bat um Unterstützung. Er bestand darauf, dass so schnell wie möglich, mindestens zwanzig Mann das Objekt in Nikolasee umstellten und jeden unauffällig festnahmen, der herauskam. Hinein durfte jeder. Nach längerem Hin und Her, einigten sie sich, dass diese Aktion spätestens um 10.00 Uhr starten würde. Die deutsche Kriminalpolizei und der Verfassungsschutz hatten grünes Licht gegeben und würden ebenfalls dabei sein. Joe wurde die Leitung der Aktion übertragen. Dieser hoffte, sich dadurch die Dankbarkeit der Kellers und Landers zu erwerben, um so an deren Geheimnis zu kommen. Zeigten 566
sie sich dann trotzdem nicht kooperativ, gab es auch noch andere Methoden. Inzwischen waren sie in Berlin angekommen und sofort in die amerikanische Botschaft gefahren. Paul bestätigte noch einmal, dass Georg und Peter vor dem Objekt standen und vermutlich schliefen. Sie mussten ja todmüde sein, nach dieser langen Fahrt. Sie konnten sich auch noch schnell einige Stunden hinlegen und sich wieder wecken lassen, wenn sich an der Lage etwas änderte. Gegen acht Uhr erwachte Alexander. Ihm war noch etwas schwindelig. Verwundert sah er sich um. Wo war er? Was war das für eine kleine, leere Kammer? Was war geschehen? Langsam setzte er sich auf. Puh, ging es ihm schlecht. Er konnte noch keinen klaren Gedanken fassen. Hatte er nicht vor kurzem ein Pferd gestreichelt und gefüttert? Was war das für ein ekeliger Geschmack im Mund? ‘Frage: Wo bin ich?’, bat er PUL um Hilfe, als er wieder etwas klarer denken konnte. ‘Ich bin´s, Mama. Du bist in Berlin Nikolasee. Gefangener irgendeiner Verbrecherorganisation’, hörte er in seinem Inneren Ellen antworten und 567
glaubte dabei sogar deutlich ihre Erleichterung zu spüren. ‘Alex. Ich bin’s, Papa. Wo ist Verena und wie geht’s euch? Nicht sprechen, nur denken’, begannen nun auch Peters Gedanken in seinem Kopf aufzutauchen. ‘Wo Verena ist weiß ich nicht, aber mir geht’s ganz gut. Was ist passiert?’ Peter ließ ihn nicht im Ungewissen. So schnell es möglich war, erklärte er ihm alles, und schloss mit der Anweisung: ‘Warte mit Schutz 2 bis wir wissen, was mit Verena ist, beziehungsweise sie ebenfalls aufgewacht ist. Wir dürfen vorab nur dann diesen Schutz benutzen, wenn akute Lebensgefahr für dich besteht. Schaltest du zu früh ein, gefährden wir Verena, weil sie diese, solange sie ohne Bewusstsein ist, mit Äther immerzu betäuben und dann unkontrollierte Dinge mit ihr machen können. Hast du das verstanden?“ ‘Klar. Ich bin jetzt durchgehend auf Sendung. Sollte ich Äther oder sonst ein Gas nur annäherungsweise verspüren, schalte ich Schutz 2 ein, nicht früher. O.K.?’ Peter war stolz auf seinen Sohn. Obwohl erst 16 Jahre alt, drehte er in dieser 568
kritischen Situation nicht durch. Jetzt hieß es abwarten bis Verena aufwachte und beide Schutz 2 einschalten konnten. Früher wollten Peter und Georg nicht aktiv werden, weil zu befürchten stand, dass ihr Eindringen augenblicklich entdeckt werden würde und dann das Leben der bewusstlosen Kinder extrem gefährdet gewesen wäre. Georg, Ellen und Gitti hatten alles mit angehört und waren wegen Verena ungeheuer beunruhigt. Gitti zitterte so stark, dass Ellen sie in die Arme nehmen musste. Da hatte sie eine Idee. Sie ließ das Bild, welches den Aufenthaltsort der Kinder aus der Vogelperspektive zeigte immer dichter heranfahren. Wenn sich beide in verschiedenen Räumen befanden, mussten sich die Bilder genau dann trennen, wenn sie so dicht dran waren, dass die Positionen der Kinder nicht mehr als identisch dargestellt werden konnten. Dann war festzustellen, wie weit sie auseinander waren. Ellens Idee zeitigte bereits nach kurzer Zeit Erfolg. Da es inzwischen heller wurde, schaltete sie wieder auf normale Bildeinstellung, um umgehend wieder zurückzuschalten. Es regnete so stark in Berlin, dass die Wolken eine gute Sicht von oben nicht zuließen. Trotzdem konnte sie erkennen, dass sich die Kinder in zwei verschiedenen Räumen, aber ganz 569
dicht beieinander liegend, befinden mussten. Dies teilte sie ungesäumt Peter und Georg mit. Die Beiden waren trotzdem etwas enttäuscht, denn sie hatten sich von tauglichen Luftaufnahmen Hinweise auf die Art des Bauwerkes und seiner Bewachung erwartet. Das Sauwetter machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Das Warten ging weiter. Nicolai wurde unverzüglich, wie angeordnet, von der Videoaufsicht verständigt, als diese bemerkte, dass der Junge aufgewacht war. Er zog sich sorgfältig an, aß ein Brötchen, trank mehrere Tassen extrastarken Kaffee und begab sich in den Videoüberwachungsraum. Dort sah er, wie der Junge in der Zelle hin und her lief, während in der anderen Zelle das Mädchen noch bewusstlos auf dem Boden lag. Er betrachtete sich lange nachdenklich das Mädchen. Höchstens 18 Jahre alt, schätzte er. Ganz hübsch. Wenn wir mit der fertig sind, können sie meine Männer haben. Er grinste dreckig bei diesem Gedanken. „Ist der Boss schon da?“, fragte er den Aufseher. Dieser schüttelte nur den Kopf und erwiderte: „Er soll gegen 10.00 Uhr in Tegel landen. Dann wird er so gegen 10.45 Uhr hier sein.“ 570
Nicolai überlegte, ob er warten sollte, bis Michail Roskow hier war oder ob er bereits versuchen sollte, das Geheimnis aus dem Jungen herauszuquetschen. Schweren Herzens entschied er sich dafür, zu warten und seinem Chef den Vortritt zu lassen. Manchmal war es klüger, etwas zurückzutreten um dadurch anschließend umso weiter nach vorne zu kommen. Also wurde wieder gewartet. Pünktlich um acht Uhr weckte der amerikanische Wirtschaftsattache persönlich Joe und Fred. Er kannte die Beiden sehr gut. Sie hatten schon häufig miteinander gearbeitet, denn es gehörte zu seinem inoffiziellen Hauptaufgabengebiet, CIA Agenten zu betreuen und ihnen die Einsätze zu ermöglichen. Auch heute Morgen hatte er bereits ganze Arbeit geleistet. Die Mannschaft für den Einsatz in Nicolasee stand. 8 Mann von der ehemaligen deutschen GSG 9, 5 Mann vom Berliner Verfassungsschutz, 5 Kriminalbeamte der Einsatzgruppe Drogenfahndung, 3 Mann der ständigen CIA Agenten Reserve aus Berlin. Letztere waren ein Überbleibsel aus der Zeit des kalten Krieges. Sie wollten nach dem Abzug der Alliierten nicht mit zurück nach den Vereinigten Staaten, denn sie waren inzwischen mit deutschen Ehepartnern verheiratet. Sie wurden alle zu absolutem 571
Stillschweigen vergattert. Höchste Geheimhaltungsstufe. „Wem gehört das Anwesen?“, wollte Joe von dem Attaché wissen. „Einer Frau Gertrud Maier. Aber die soll nur ein Strohmann, oder besser gesagt, eine Strohfrau sein. Das Objekt war bis heute unauffällig. Trotzdem wird vermutet, dass die russische Mafia dahinter steckt. Aber nichts ist bewiesen“, erläuterte dieser gewissenhaft. „Ich schätze, nach dem heutigen Einsatz wissen wir es“, brummte Joe nachdenklich, „wir werden zuerst einmal unsere Männer postieren und dann abwarten, was geschieht. Sollten diese Beiden, dieser Georg Keller und Peter Lander, reingehen und nach einer Stunde nicht wieder heraus kommen, werden wir stürmen. Sind die geforderten Hubschrauber ebenfalls da?“ „Ja. In Tempelhof. Getarnt als Polizeihubschrauber. O.K.?“ Joe und Fred nickten nur und entwickelten den Einsatzplan. Die Nachfrage bei Paul ergab nichts Neues. Sie gaben ihm zu verstehen, dass er sich nun schlafen legen konnte, da der Rest von Berlin 572
aus gemacht werden würde. Die, noch in der Nacht unauffällig in der Nähe vom Einsatzort postierten amerikanischen Beobachter meldeten ebenfalls keine besonderen Vorkommnisse. Eine Stunde später war die gesamte Einsatzgruppe auf dem ehemaligen Flugplatz Tempelhof im Hangar III auf seinem Platz. Im Bedarfsfall konnten sie in 6 Minuten auf dem Gelände sein und zuschlagen. Nun wurde erst einmal abgewartet, wie es weitergehen würde. Gegen 10.40 Uhr fuhren drei schwarze, gepanzerte Fahrzeuge am Hirschsprung 186 vor und wurden ohne Zögern eingelassen. Als der amerikanische Beobachter das versenkbare Tor in Aktion sah, traten im fast die Augen aus dem Kopf. Eine solche bombastische Sicherung kannte er nur von Hochsicherheitstrakten der Regierung, aber nicht von Privatpersonen. Er setzte sofort eine entsprechende Meldung ab. Vor dem Haus hielten die Wagen an und Michail Roskow entstieg. Er war seit der Wende erst zwei Mal im Westen gewesen, denn das Pflaster war dort sehr heiß für ihn. Es gab sehr viele Menschen und Gruppen, die ihn seit langem suchten und fangen wollten. Aber die Angelegenheit heute war so wichtig, dass er einfach persönlich kommen musste. Schnellen Schrittes 573
begab er sich in das Haus und wurde von Nicolai wärmstens begrüßt. Nach einer kurzen Berichterstattung war er kaum mehr zu halten, den Jungen zu sehen und ihm sein Geheimnis abzunehmen. Bevor er nach unten ging, befahl er, dass die Videoanlage ausgeschaltet werden sollte. Er wollte keine unnötigen Mitwisser haben. Igor begleitete die beiden Männer nach unten. Geräuschvoll öffneten sie die Zellentür und sahen in den Raum. Er schien leer zu sein. Verblüfft und ratlos sah Igor Nicolai an. Das konnte doch gar nicht sein, wo war der Junge. Alexander hörte die polternden Schritte näher kommen. An den Türangeln erkannte er, dass diese massive, dicke Tür nach innen aufgehen musste. Er überlegte, was er machen könnte, um noch etwas Zeit zu schinden. ‘Was meint ihr, soll ich mich hinter der Tür verstecken? Das wird sie verwirren?’, fragte er gedanklich die Erwachsenen. ‘Ha. Das kann nicht schaden. Aber reize sie nicht zu stark. Im Gegenteil, mach auf freundlich und hilfsbereit. Und wiederhole genau jedes wichtige Wort, was du verstehen kannst und erläutere alles, damit wir mitbekommen, mit wem wir es da ei574
gentlich zu tun haben, was die wollen und wie viel sie bereits wissen. Machst du das, Großer’, motivierte ihn Peter. Er hatte vor Aufregung feuchte Hände. Blitzschnell huschte Alexander hinter die Tür und machte sich ganz dünn. Die Tür schlug auf und hätte jeden ungeschützten Menschen an der Wand zerquetscht. Nicht aber ihn. Seine Kombi schützte ihn perfekt. Wäre keine Wand hinter ihm gewesen, wäre er weggeschoben worden. Mit der Wand als Gegenlager und der Kombi als Schutz, prallte die Tür an seiner kräftigen Brust ab. Er hörte erst einmal nur betretenes Schweigen, dann wurde etwas in einer fremden Sprache gesprochen. Er tippte auf Russisch. Kurz darauf betrat jemand den Raum und verließ ihn nach kurzer Zeit wieder. Die Tür wurde wieder geschlossen, eine Nebenzelle aufgesperrt, wieder Stimmen, die Nebenraumtür mit lautem Knall zugeworfen, eine weitere Tür aufgeschlossen und wieder zugeknallt und dann entfernten sich die Schritte wieder. Alexander berichtete jedes Detail seinen Eltern und musste laut lachen. Seine Idee hatte mehr Erfolg gebracht, als er gedacht hatte. Als die Schritte verklungen waren, begab er sich zur Tür und versuchte sie zu öffnen. Es funktionierte nicht. Es musste sich um ein 575
Schnappschloss, welches nur von außen zu öffnen war, handeln. Pech gehabt, dachte er sich und setzte sich in die Ecke und wartete wieder. Nicolai stürmte blass nach oben. Michail Roskow und Igor folgten. Der Eine wütend, der Andere verängstigt. Der Junge weg, das Mädchen bewusstlos in der Zelle daneben. Da musste Zauberei im Spiel sein. Das gab es doch gar nicht. Nicolai lief in den Videoüberwachungsraum. Der Junge konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Schnell ließ er die Kameras wieder einschalten. Aber das gab es doch gar nicht! Michail Roskow und Igor standen in der Tür und sahen ebenfalls auf den Monitor, der Alexanders Zelle zeigte. Dort saß der Junge in der Ecke und wippte mit dem rechten Fuß. Sie sahen sich fassungslos an, drehten sich um und liefen wieder zu den Zellen nach unten. Dieses Mal öffnete Nicolai selbst die Tür. Der Junge stand lächelnd in der Mitte des Raumes und begrüßte sie höflich. Als Alexander wieder die Schritte näher stürmen hörte, beschloss er, sie dieses Mal in der Mitte stehend, freundlich zu empfangen. Seine Eltern stimmten dem zu. Es galt auf Zeit zu spielen. Verena musste erst wieder zu Bewusstsein kommen. 576
Als sich die Tür öffnete, begrüßte er sie mit den Worten: „Guten Tag, meine Herren. Was kann ich für Sie tun?“ Nicolai war so verblüfft, dass er abrupt im Türrahmen stehen blieb, so dass Igor mit voller Wucht auflief und ihn förmlich in die kleine Zelle hinein katapultierte. Unabsichtlich erwiderte er dabei ebenfalls höflich den Gruß: „Guten Tag, Alexander.“ Inzwischen waren hinter Nicolai auch Igor und Michail Roskow in den kleinen Raum getreten. „Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Ihnen soeben Sorgen bereitet habe. Mit wem habe ich die Ehre?“, fing Alexander schmeichelnd zu sprechen an. Er fühlte sich, trotz der gefährlichen Lage, so sicher wie nie zuvor. Die Möglichkeit, jederzeit bei Gefahr Schutzfeld 2 einschalten zu können und damit nahezu unantastbar zu sein, war herrlich. Jetzt galt es klug zu sein und Verena heraus zu holen. Taktik war gefragt.
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„Das geht dich gar nichts an Bürschchen“ begann Igor grob, sich in den Vordergrund schiebend, „wenn.....“ Nicolai legte ihm die Hand auf den Arm und bedeutete ihm mit den Augen, zu schweigen und zur Seite zu gehen. „Wir sind Freunde und wollen dir nichts tun. Uns interessiert eigentlich nur deine Kleidung. Willst du uns die geben?“ Bei diesen Worten lächelte er gutherzig Alexander an. „Mein Papa hat zwar gesagt, dass ich sie nicht hergeben darf, aber wenn ihr sie unbedingt haben wollt, warum eigentlich nicht?“, entgegnete dieser, immer noch lächelnd. Ihm war ein glänzender Einfall gekommen, wie er Verena in Sicherheit bringen konnte. Die drei Russen waren über diese scheinbare Hilfsbereitschaft so erstaunt, dass es ihnen erst einmal an Worten fehlte. Deshalb fuhr Alexander unbeirrt freundlich fort: „Wollt ihr mal sehen, wie toll meine Kleidung eigentlich ist?“ 578
Die Drei nickten nur. Sie glaubten, ihren Ohren nicht trauen zu können. Sie hatten sich schon schwerste Repressalien gegen den Jungen ausgedacht, und nun verhielt er sich so ganz anderes, als gedacht. „Einer von euch, der Stärkste bitte, soll mir mal mit voller Wucht in den Bauch schlagen. Aber nehmt am Besten einen Gegenstand dazu. Ihr werdet sehen, dass er nicht in der Lage sein wird, mich umzuhauen.“ Bei diesen Worten wich er bis an die Wand zurück und stellte sich mit dem Rücken, eng anliegend, dagegen. Igor bekam von Nicolai einen Wink mit den Augen, den Test auszuführen. Dieser trat ganz nahe an Alexander heran, sah ihm grausam lächelnd in die Augen, holte kurz mit der rechten Faust aus und schlug ihm mit voller Wucht in den Magen. Er war in seiner Jugend einer der besten und stärksten Boxer Moskaus gewesen. Als die Faust den Magen Alexanders traf, krachte es fürchterlich, ein spitzer lauter Aufschrei war zu hören und weiter schreiend brach Igor zusammen. Er wand sich unter Schmerzen auf dem Boden. Die Faust war blutig und gut sichtbar zerschmettert. 579
„Aber ich hab doch gesagt, er soll einen Gegenstand nehmen, dieser Wahnsinnige“, kam es bedauernd aus Alexander heraus, während er sich bückte, um Igor zu helfen. Auch Nicolai und Michail kümmerten sich augenblicklich um ihren Mitarbeiter. Dieser kräftige Mann winselte wie ein kleiner Hund. Die Schmerzen mussten wahnsinnig stark sein. Zwei weitere Männer kamen hereingestürzt und schleppten Igor auf Befehl Michails aus dem Raum. „Wie hast du das gemacht?“, wollte Nicolai, nun nach dem Verlust seines engsten Mitarbeiters, gar nicht mehr so freundlich, wissen. Er gab innerlich Alexander die Schuld an dieser schweren Verletzung Igors. „Das ist das Material meiner Kleidung. Das mit Ihrem Mitarbeiter wollte ich nicht. Ich habe doch ausdrücklich gesagt, er soll einen Gegenstand nehmen. Warum hat er nicht auf mich gehört?“, jammerte Alexander scheinheilig. Ihm tat dieser Gorilla überhaupt nicht leid. Diesen grausamen Blick hatte er noch in Erinnerung.
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„Schon gut, schon gut“, beruhigte Michail den Jungen, „nun zeige uns die Sachen. Zieh sie aus!“, befahl er schon wieder etwas strenger. „Gerne, nur das geht nicht allein. Kommen Sie her und versuchen sie mal, mir die Kombi auszuziehen“, forderte er den großen Boss auf. Dieser ließ sich das nicht zwei Mal sagen und begann, an ihm herum zu zerren. Als Nicolai das sah, versuchte er seinem Chef zu helfen. Wie sie auch zerrten und zogen, sie konnten die Sicherheitskombi nicht öffnen. „Warum geht das nicht?“, fragte Nicolai wütend. Er war völlig außer Atem. „Ich benötige dazu Verena. Das Material ist zur Sicherheit so beschaffen, dass man es nur mit der Kodierung der passenden Gegenkleidung auflösen kann. Das genau ist der Sinn dieser doppelten Kodierung. Wo ist Verena?" Jetzt ging Alexander zum Gegenangriff über. „Die ist noch bewusstlos“, erklärte Nicolai ratlos. Was nun? Michail nahm ihm nun die Führung aus der Hand: 581
„Komm mit, wir gehen in einen gemütlicheren Raum und dorthin holen wir dann deine Verena.“ Alexander jubelte innerlich laut auf. Die Eltern hörten dies und freuten sich mit ihm und beglückwünschten ihn zu seinem Vorgehen. Sein Plan war wirklich gut. Um an die Kombis heranzukommen, mussten sie Verena wach bekommen. Wenn ihnen das gelang, hatten die Entführer verloren. Sie verließen die leere Zelle und gingen den Gang hinunter, bis sie an eine dicke Stahltüre kamen. Nicolai öffnete sie und trat in den dahinter liegenden Raum. Michail schob Alexander hinein und folgte ihm. Vor Alexander tat sich ein etwa 5 Meter hoher, zehn Meter breiter und mindestens 30 Meter langer Raum auf. Die Decke und Wände waren mit einem dunkelgrauen, schallschluckenden Beschlag versehen. Am hinteren Ende des Raumes befanden sich Zielscheiben in Form von menschlichen Oberkörpern und Köpfen und mehrere weiße Leinwände. Im vorderen Bereich war eine breite Balustrade aufgebaut, so dass die Zielscheiben genau 25 Meter entfernt waren. Eine Vielzahl modernster Ohrenschützer lag darauf herum. In der rechten Ecke war eine gemütliche, rote Sitzgruppe mit einem kleinen Couchtisch zu sehen. Nicolai ging direkt auf die Sitzgruppe zu und bot Alexan582
der und seinem Chef Platz an. Danach nahm er ein Haustelefon, welches sich unmittelbar neben dem Eingang in einer Halterung an der Wand befand, und rief in der Wachzentrale an und verlangte, dass augenblicklich die kleine Gefangene in den Schießkeller gebracht werden solle. „Gemütlich hier“, stellte Alexander lächelnd fest, während er sich in die Ecke setzte, „aber wie heißen Sie eigentlich. Warum kennen Sie meinen Namen? Woher kommen Sie und wer sind Sie?“ Diesmal erzählte ihm Michail alles. Alexander staunte nicht schlecht. ‘Trägt einer von denen einen dunklen Schlapphut?’, tauchte plötzlich eine Frage in seinen Gedanken auf. Das musste von Gitti kommen, überlegte er. ‘Nein, ganz und gar nicht. Die sind nicht so gekleidet, wie Georg sie beschrieben hat. Das muss hier eine andere Gruppe sein’, sendete er zurück. In diesem Moment wurde Verena hereingebracht und auf das Sofa geworfen. Sie gingen ausgesprochen rüde mit ihr um, fand Alexander. Sie war immer noch ohne Bewusstsein. Er kniete sich zu 583
ihr hin und tätschelte ihre Wangen. Vielleicht würde sie auf diese Weise wach werden. ‘Frag nach Riechsalz, oder so etwas, das soll helfen’, dröhnte es in seinem Kopf. Diesen Vorschlag ungesäumt umsetzend, wurde nach kurzer Zeit Riechsalz gebracht. Sie hoben Verenas Kopf etwas an und hielten ihr das Fläschchen unter die Nase. Nach einigen Minuten zeitigte dieses Vorgehen Erfolg. Ganz allmählich kam sie zu sich. ‘Lass dir Zeit mit dem Aufwachen, Verena. Gib nicht zu erkennen, dass du schon wieder voll bei Bewusstsein bist’, sendete er ihr zu. Da sie nicht antwortete, sondern immer nur stöhnte, schickte er ihr diese Botschaft immer wieder zu. Endlich kam die ersehnte Antwort: ‘Ja, Ja. Ich hör dich doch, du Ochse. Du musst dich nicht dauernd das Selbe sagen. Mir ist so voll schwindlig. Was war denn los?’ Verena war geistig wieder da. Nach außen jedoch tat sie immer noch so, als könnte sie noch nicht wieder klar denken. Nicolai und Michail beobachteten gespannt und schweigsam die Szene. Sie fühlten sich bereits am Ziel ihrer Wünsche. 584
Georg, Peter und Alexander erklärten ihr kurz den Sachverhalt. Nach den Erklärungen erkannte sie, wie recht doch die Mütter gehabt hatten, als sie immer wieder vor den Gefahren der Entdeckung warnten. ‘Wenn ihr Beide das Schutzfeld 2 eingeschaltet habt, denkt es bitte ganz deutlich, dann kommen wir rein und holen euch raus. Bleibt genau wo ihr seid. Habt ihr kapiert?’, gab Peter seine abschließende Anweisung. Nicolai und Michail blickten verwundert die Kinder an, als diese plötzlich ohne ersichtlichen Grund beide nickten. „Hey, Mädchen, kannst du mich hören?“, wollte Michail, eindringlich sprechend, wissen. Diese erhob sich langsam. Alexander stützte sie etwas. Sie nickte nur und sah sich verwundert um. „Wo sind wir hier?“, fragte sie angeblich verstört und verschüchtert. Sie spielt ihre Rolle gut, fand Alexander. „In einem Schießkeller, und wenn ihr nicht spurt, machen wir euch zu Zielscheiben. Wenn ihr tut, was wir verlangen, geschieht euch nichts“, erläuterte Michail sein Ansinnen, lächelnd wie ein Hai585
fisch, der gleich in das Bein eines Schwimmers beißen wollte, „und jetzt: ausziehen, aber flott. Verstanden?“ Verena stieß einen kurzen, spitzen Schrei aus und lehnte sich verängstigt an die Wand. Alexander begann ganz langsam, sich die normale Überkleidung, welche er immer noch über der Kombi trug, auszuziehen und zusammen zu legen. Verena sah dies, musste kurz verstohlen lächeln und begann ebenfalls sich die Überkleidung auszuziehen. Mit einem Mal fing sie an, herumzutanzen, als wollte sie einen Striptease-Tanz hinlegen. Es passte so gar nicht zu ihrem vorherigen, ängstlichen Verhalten. Nicolai fiel es unangenehm auf. Warum wurde sie jetzt so kess? Er beschloss, auf der Hut zu sein. Auch sie legte ihre Kleidungsstücke fein säuberlich zusammen. ‘Pass mal auf, Verena. Wir nehmen nun die Beiden genau zwischen uns und dann, bei drei, schalten wir zur gleichen Zeit Stufe 2 ein’, schlug Alexander ihr vor. Sie nickte nur. Wieder so eine völlig unpassende Geste, fand Nicolai. Da Michail und Nicolai nebeneinander standen, war es nicht allzu problematisch, dieses Vorhaben zu bewerkstelligen. Alexander stand ohnehin schon dicht bei 586
Nicolai und Verena tanzte trippelnd um die Gruppe herum, um dann neben Michail stehen zu bleiben. Es sah schon recht hübsch, aber auch irgendwie albern aus. Ihre jahrelange Balletterfahrung hatte sich bemerkbar gemacht. ‘Eins, zwei..., drei’, zählte Alexander in Gedanken und schaltetet zeitgleich mit Verena das Schutzfeld 2 ein. Nicolai und Michail wurden auf der Seite wie von einem großflächigen Hammer getroffen und stießen mit so großer Wucht zusammen, dass sie wortlos zusammenbrachen. Verena schrie vor Schreck laut auf und bückte sich augenblicklich, um nachzusehen, ob die Beiden noch am Leben waren. Befriedigt stellte sie fest, dass sie nur ohnmächtig waren. Sie gaben ihre Meldung an die Eltern durch und setzten sich auf die Balustrade der Schießanlage, mehrere Ohrenschützer achtlos auf den Boden stoßend, um auf ihre Befreiung zu warten. Es sah schon eigenartig aus, wie sie, zehn Zentimeter über der Sitzfläche schwebten und den vollständig durchsichtigen Helm auf dem Kopf hatten. Peter und Georg hatten mit Erleichterung gehört, dass den Kindern nichts geschehen war und dass 587
sie gegenwärtig nahezu unantastbar waren. Schutzfeld 2 war auf dieser Welt wohl nicht zu knacken. Bevor sie nun versuchen würden, die Kinder heraus zu holen, wollte Peter noch einige grundsätzliche Einstellungen vornehmen. ‘Anweisung an PUL: Bis auf weiteres bei allen Sicherheitskombis Außengeräusche auch ab Stufe 2 gedämpft anschalten. Ebenso die Gedankenübertragung auf alle Berechtigten über dich, als Vermittler, schalten. Da wir aber nicht erkennen können, von wem welche Gedanken kommen, die jeweiligen Gedankensendungen mit dem Bild des Senders hinterlegen. Weiterhin die Sendungen so ordnen, dass nicht alle Gedanken auf einmal durchschlagen, da man sonst nichts verstehen kann. Also eine Reihenfolge nach zuerst eingegangen bis zuletzt eingegangen Sendungen herstellen. Die alte Anweisung, dass nur bewusst gewollte und in Sätzen gedanklich formulierte Inhalte vermittelt werden dürfen, bleibt bestehen. Frage: Ist das alles so möglich?’ „Ja.“ ‘So. und jetzt los!“, forderte Peter Georg auf, „Ellen, Gitti, seid ihr auf dem Posten?’ 588
‘Ja, und die Kinder sitzen auch hier neben uns’, antwortete Gitti prompt. Georg warf einen kurzen Blick auf seine Uhr. Es war inzwischen bereits nach elf Uhr. Als er den mit Wolken bedeckten Himmel sah, fluchte lautlos. Mit einem Ächzen verließ er den Wagen, zog seine Überkleidung und warf sie achtlos auf die Rückbank. Peter folgte ihm und zog sich ebenfalls bis auf die Kombi aus. Als er vor dem Wagen stand, winkte er seinem Freund zu, auf die andere Straßenseite zu wechseln. Dort befand sich die mindestens drei Meter hohe, weiß gestrichene Wand des Grundstückes. Als sie vor der Mauer standen, schüttelte Georg immer noch den Kopf. Wie sollten sie diese hohe Mauer überwinden. Sie hatten nicht einmal ein Seil und die Antigravschuhe schienen ihm hier absolut ungeeignet zu sein. ‘Peter muss spinnen’, dachte er, außerdem sahen sie mit ihren hellgrauen Kombis ausgesprochen auffallend aus. „Georg, nimm deinen Betäubungsstrahler und stelle ihn auf Reichweite 50 Meter, Umfang 5 Meter, Intensität zehn, Dauer 5 Sekunden auf Befehl „jetzt“ wiederholbar“, bat Peter seinen Freund, „du musst alle eventuellen Angreifer damit betäu589
ben. Außerdem schalten wir jetzt auf Schutz 2. Alles klar?“ „Ja“, bestätigte Georg lakonisch, nahm die kurzerhand die entsprechenden Einstellungen vor. „Aber wie willst du da rein kommen?“ wollte er nochmals wissen. „Ganz einfach. Jetzt schau mal“, antwortete Peter und nahm dabei seinen Strahler für anorganische Materie vom Gürtel und gab an PUL die Anweisung: ‘Reichweite 5 Meter, Umfang zehn Zentimeter, Intensität zehn, Dauer zehn Sekunden auf Befehl „jetzt“ wiederholbar!’ Daraufhin stellte er sich gute zwei Meter von der Mauer entfernt auf und gab laut den Befehl: „Jetzt!“. Nun zeichnete er einen senkrechten Strich von oben, dem Beginn der Mauerkrone, nach unten, bis auf den Boden. Anschließend ging er drei Meter nach rechts und wiederholte die Prozedur. Zu guter Letzt zeichnete er eine, schräg von oben nach unten gerichtete, horizontale Linie, knapp über dem Erdboden zwischen den beiden senkrechten Linien. Kaum war die letzte Linie vollen590
det, stürzte die Mauer mit einem dumpfen Krachen in das Grundstück. Peter hatte mit seinem Strahler einfach die Mauer wie einen Kuchen aufgeschnitten und den Rest umfallen lassen. Georg war sichtlich beeindruckt. Er ging zu der neu entstandenen Lücke, kniete sich davor hin und untersuchte die Schnittstelle. „Nun verstehe ich, was diese Sauger in dem neu erbauten Gang machten“, begann er lachend Peter mitzuteilen, „sie haben schlicht den Staub der Zerstrahlung weggesaugt. Schau her, hier liegt massenhaft feinster Staub. Dein Strahler hat diese feste Materie, vermutlich durch hochfrequente Schwingungen, zu Staub zersetzt. Tolle Technologie.“ Auch Peter betrachtete kurz interessiert das Ergebnis seiner Arbeit. Danach warfen sie einen Blick auf das, gut 50 Meter entfernt liegende, stattliche Haus auf dem Grundstück. Es war wirklich keine Sekunde zu früh, denn zwei schwarze, zähnefletschende Dobermänner kamen auf sie zugerast. Peter und Georg hatten sich noch nicht einmal vollständig aufgerichtet, als die wütenden Hunde bereits zum Sprung auf ihre Beute ansetzten. Peter war erst einmal vor Schreck wie erstarrt. Der vordere der beiden Hunde riss sein, mit schar591
fen Zähnen bewehrtes Maul weit auf und versuchte ihn an der Gurgel zu erwischen. Mit einem lauten Gewinsel fiel er bei diesem Versuch jedoch zurück auf den Boden. Das Schutzfeld Peters hatte ihm scheinbar einen fürchterlichen Schlag versetzt, so als wäre er gegen eine Wand gesprungen. Der andere Wachhund versuchte in diesem Augenblick, Georg in dessen linkes Bein zu beißen, um ihn so zu Fall zu bringen. Aber auch ihm erging es nicht besser. Mit lautem Geheul ließ er von dem erfolglosen Versuch ab und flitzte mit höchster Geschwindigkeit zurück in Richtung Zwinger. Der zweite Hund folgte ihm hinkend und jaulend. Diese Szene hatte ein, mit einer Kalaschnikow bewaffneter, dunkelgrau gekleideter Mann, der in diesem Moment am Eingang des Hauses erschienen war, bemerkt. Er sah verblüfft in Richtung des Lärmes und glaubte nicht richtig zu sehen. Dort war doch tatsächlich ein gutes Stück Mauer verschwunden und in der Lücke standen zwei Männer, welche offensichtlich in diesem Augenblick ihre scharfen, ausgesprochen zuverlässigen Wachhunde in die Flucht geschlagen hatten. Das konnte doch nicht sein. Die Mauer war fast einen halben Meter dick und über drei Meter hoch gewesen. 592
Außerdem hatte sich auf der Mauerkrone ein, mit 10.000 Volt durchflossener, Draht befunden, der jeden, der ihn berührt hätte, augenblicklich getötet hätte. Er überlegte blitzschnell, ob er zuerst einmal schnell über Funk Alarm schlagen oder gleich schießen sollte. Er entschied sich für letzteres. Schnell entsicherte er seine Maschinenpistole und begann in Richtung der Eindringlinge zu feuern. Das letzte woran er sich noch erinnern konnte, war, dass er den vorderen der beiden Fremden getroffen haben musste, dieser aber nicht sonderlich darauf reagierte, sondern nur seine rechte Hand hob. Dann verlor er das Bewusstsein. Peter hatte die Hunde erst bemerkt, als ihn einer ansprang und fast umschmiss. Er dachte, dass nun sein letztes Stündchen geschlagen hat. Umso erstaunter war er, als er sah, wie der Hund winselnd zu Boden fiel und jaulend die Flucht ergriff. Er fasste sich an den Hals und verstand. Die Sicherheitskombi hatte ihm das Leben gerettet. Schnell stand er auf, als ihn von vorne mehrere leichte Schläge trafen, die er wie ein sachtes Antippen verspürte. Als diese Schläge aufhörten, hatte er endlich Zeit, sich nach der Ursache umzusehen. Es war jedoch nichts zu sehen. Verblüfft sah er Georg 593
an. Dieser lachte, wie hinter dessen, kaum sichtbaren, Kopfhelm zu erkennen war. ‘Mensch, Peter. Hast du es noch nicht kapiert. Auf uns ist geschossen worden. Ich habe den Schützen schlafen gelegt. Komm weiter.’ Langsam, sich immerzu umschauend, gingen sie auf die Riesenvilla zu. Sergej Smirnoff war allein in der Überwachungszentrale des Hauses. Es war das sicherungstechnische Herzstück des Hauses. Überhaupt konnte man getrost sagen, dass in diesem, gerade einmal fünf Jahre alten Bauwerk, das Modernste an Sicherungselektronik, welches es auf dem Weltmarkt gab, eingebaut war. Die Zentrale wirkte wie das Cockpit eines Jumbo-Jets. Ein Betreten dieses Hauses, und gar des unterirdischen Sicherheitstraktes war für Unbefugte unmöglich. In dem dicken Außenmauerwerk der Tiefgeschosse war zusätzlich ein dickes Metallgeflecht eingegossen worden, welches im Alarmfalle unter Starkstrom gesetzt werden konnte. Sergej wusste, dass er sich am sichersten Platz der Erde befand. Er hatte vorhin über den Monitor auch mit einer großen Portion Schadenfreude gesehen, wie Igor, dieser hirnlose Muskelprotz, auf den schmächtigen Jungen 594
eingedroschen hatte und wie er mit schmerzverzehrtem Gesicht schreiend zusammengebrochen war und weggetragen wurde. Die Szene im Schießkeller verfolgte er ebenfalls äußerst gespannt. Er hatte längst mitbekommen, dass die beiden gefangenen Kinder ein Geheimnis verbargen, welches dort unten, wenn es sein musste, sogar mit Gewalt geknackt werden sollte. Als sich die beiden Halbwüchsigen auszogen, hatte er nur noch Augen für diese Szene. Er glaubte seinen Augen nicht trauen zu können, als schlagartig seine Chefs zusammenbrachen und am Boden liegen blieben. Wie gelähmt fühlte er sich. Es war ihm unerklärlich, wie dies hatte geschehen können, denn die Kinder waren unverletzt und setzten sich nun sogar noch lachend auf die Balustrade. So schnell er konnte, rief er im Mannschaftsraum an und forderte den Wachhabenden auf, augenblicklich mindestens fünf bewaffnete Männer in den Schießkeller zu schicken. Die Kinder hockten immer noch an ihrem Platz. Er schüttelte verwundert den Kopf, als er bemerkte, dass sie scheinbar über ihrem Sitzplatz zu schweben schienen. Das konnte nicht sein, entschied er für sich. Es waren höchstens zwei Minuten vergangen, als er, immer noch, nur den Monitor, welcher den 595
Schießkeller zeigte, betrachtend, sah, wie fünf schwer bewaffnete Männer die Tür dort aufrissen und ohne Vorwarnung auf die Kinder schossen. Diese fielen beim Einschlag der Geschosse rückwärts von der Balustrade und waren nicht mehr zu sehen. Die Schützen glaubten offensichtlich, dass sie ganze Arbeit geleistet hatten und eilten zu ihren Vorgesetzten. Diese waren und blieben ohne Bewusstsein. In diesem Augenblick begann im Videoüberwachungsraum eine rote Lampe grell leuchtend zu blinken. An der Grundstücksmauer war Alarm ausgelöst worden. Er hatte in mehreren Lehrgängen präzise gelernt, was er nun tun musste, aber genau in diesem Moment war er wie vor den Kopf geschlagen. Schnell griff er nach dem grauen, rechts von ihm liegenden, Notfallhandbuch und suchte im Stichwortverzeichnis: Maueralarm. Noch bevor er es gefunden hatte, fiel es ihm wieder ein. Er schaltete mit der rechten Hand die Entrieglung für das Hundegatter ein, so dass die beiden Dobermänner heraus und den Eindringling zerfleischen konnten. Mit der anderen Hand griff er nach dem Haustelefon und beorderte einen bewaffneten Mann hinaus, um nachzusehen, was dort los war. Jetzt hätte er 596
eigentlich auf dem Monitor den Eindringling suchen müssen, aber genau in diesem Augenblick sah er aus den Augenwinkeln, wie im Schießkeller die beiden Kinder hinter der Schießbalustrade auftauchten und langsam, sich scheinbar belanglos unterhaltend, zu den Zielscheiben schlenderten. Seine Leute bemerkten nichts, denn sie befassten sich immer noch mit den bewusstlosen Chefs. Verzweifelt schrie er ins Mikrofon: „He, ihr Idioten im Schießkeller, passt doch auf. Die Kinder laufen weg!“ Die Köpfe der Fünf ruckten erschrocken hoch. Es war an sich schon eine Seltenheit, dass sie über Lautsprecher angesprochen wurden, dass aber die niedergestreckten Kinder noch lebten und sogar gehen sollten, das war ungeheuerlich. Sie blickten über die Balustrade und waren erst einmal bewegungslos staunend. Verena und Alexander hatten inzwischen das Ende des Schießkellers erreicht und lehnten sich zwischen den Zielscheiben rückwärts gegen die Wand und warteten lächelnd, was nun kommen würde. Inzwischen hatte sich der Erste von seinem Schrecken erholt, zog seine Pistole aus dem Schulterhalfter, entsicherte und zielte langsam und präzise 597
auf den Jungen. Er drückte gleich drei Mal hintereinander ab und war sicher, dass er genau in die Brust getroffen hatte. Aber der Junge stand offensichtlich unverletzt dort hinten an der Wand. Dieses hatten seine Kumpane nun ebenfalls mitbekommen. Sie zogen allesamt ihre Waffen und feuerten aus allen Rohren auf ihre lebenden Ziele. Kaum war der Pulverdampf verflogen, mussten sie feststellen, dass keines der beiden Kinder offensichtlich auch nur eine Schramme abbekommen hatte. Zwei der Männer liefen schreiend hinaus, die anderen drei schwangen sich über die Brüstung und bewegten sich ganz langsam und vorsichtig auf die Kinder zu. Es war ihnen unheimlich und sie hatten Angst. Sergej Smirnoff sah das alles mit an und wusste nun nicht mehr, was er tun sollte. Hatte er es hier mit Geistern zu tun? Er hätte viel darum gegeben, wenn er jetzt hätte weit weg sein können. Als er auf einem der Monitore blickte, welcher den Hauseingang zeigte, gefror ihm nahezu das Blut in den Adern. Der von ihm hinaus geschickte, schwer bewaffnete Mann lag wie tot auf dem Boden. Was ging hier vor? Er bekam ganz langsam Panik. Er gab in seiner Verzweiflung Großalarm, welche alle noch vorhandenen bewaffneten Bewacher in ihre Stellungen gehen ließ. 598
Zwölf weitere Männer verließen die Unterkunft und eilten, ihre Waffen entsichernd, auf ihre vorgeschriebenen Punkte, um jeden Fremden augenblicklich nieder zu schießen. Joe nahm den Anruf eines seiner Leute, welche das Objekt in Nikolasee bewachten, persönlich entgegen. „Es geht los“, teilte ihm der Anrufer mit. „Die Beiden sind ausgestiegen und stehen an der Außenmauer. Jetzt zeigt der etwas Größere mit der rechten Hand auf die Mauer und bewegt sie von oben nach unten. Er geht drei Meter weiter und wiederholt die Bewegung. Nun bewegt er sie, schräg nach unten zeigend, horizontal. Und was ist das...“ Der Anrufer brüllte den letzten Satz in den Hörer, so dass Joe ihn etwas von seinem Ohr entfernen musste, um überhaupt noch etwas zu verstehen. „Schon gut, schon gut!“, brüllte Joe zurück, „erzählen Sie mir alles, wenn ich vor Ort bin. Wir kommen schnellstens unauffällig hin. Nicht eingreifen. Nur beobachten. Bis dann. Ende.“ Er knallte energisch den Hörer auf die Gabel und gab den Einsatzbefehl durch. 599
„Wie weit sind wir noch von den Kindern entfernt?“, wollte Peter von Ellen wissen. „Nach Metern kann ich es dir nicht sagen, aber geht immer in der gleichen Richtung weiter, und ihr müsst auf sie stoßen“, kam als Antwort zurück. „Das ist leichter gesagt als getan“, grummelte Georg, „wir stehen vor der Hauswand.“ Peter zielte mir seinem Strahler auf die Wand vor ihnen und schnitt eine ungefähr zweimal zwei Meter große Lücke heraus. Diese Stelle der Wand sackte etwas nach unten und fiel mit einem dumpf polternden Geräusch nach innen. Sie stiegen über die Trümmer und sahen wieder die Staubmengen, welche der Zersetzungsvorgang hinterlassen hatte. Sie befanden sich in einem großräumigen, sehr modern eingerichteten Büroraum. Nachdem sie ihn durchquert hatten, öffneten sie die Tür und sahen ein weiteres, etwas schmaleres Büro. Vor ihnen stand ein kleiner, dicker Mann, welcher gerade Geldbündel aus einem Tresor in einen größeren Aktenkoffer packte. Laut um Hilfe schreiend verließ er durch eine andere Tür das Büro und rannte einen Flur entlang. 600
Peter und Georg eilten, so schnell es die Kombi erlaubte, hinterher. Unerwartet kamen ihnen zwei Männer entgegen. Sie hatten ihre Pistolen gezogen und feuerten ohne Vorwarnung auf die beiden Eindringlinge. Georg schickte ihnen einen kurzen Betäubungsstrahl entgegen und schon sanken sie zusammen. Sie durcheilten noch drei weitere Räume und standen dann wieder vor einer Wand. „Immer noch geradeaus?“, fragte Peter zweifelnd. „Ja!“ Er nahm wieder seinen Zersetzer und schnitt die Wand heraus. Hinter der Wand waren nur eine große, betonierte Terrasse und dahinter ein Garten. Sie waren perplex. Wo sollten hier die Kinder sein. Sich ratlos anschauend, polterte Georg laut brüllend los: „Spinnst du da oben, Ellen. Wir stehen hier wieder im Garten und hier sind unsere Kinder nicht. Also was ist los?“ ‘Ha, denk mal nach, dann kommst du auch darauf. Übrigens haben sich die Kinder ungefähr zwanzig Meter weiter in eure Richtung bewegt’, konterte Ellen wütend. Sie mochte es gar nicht, wenn sie 601
jemand als Spinnerin bezeichnete. Schon gar nicht Georg. Sie hatte inzwischen von Alexander erfahren, dass sie im Schießkeller als Zielscheiben fungiert hatten, aber wirklich unantastbar waren. ‘Mensch Georg’, begann Peter beschwichtigend auf seinen Freund per Gedankenübertragung einzureden, ‘reg dich nicht auf, die Kinder sind in Sicherheit. Wir müssen sie nur noch herausholen. Und was sagt dir der Begriff Schießkeller?’ Georg überlegte kurz, hob dann beide Arme zum Himmel und wandte sich sofort an Ellen: ‘Entschuldige Ellen, war nicht so gemeint. Ich mach mir nur solche Sorgen um die Kinder. Keller! Klar, bei meinem Namen müsste ich das eigentlich kennen. Die sind unten. Peter lass uns ins Haus zurückgehen und den Treppenabgang suchen’ ‘Nö, das machen wir anders’, antwortete dieser. Er zeichnete mit seinem Zerstrahler vor sich einen gut zwei Meter durchmessenden Kreis auf den Boden. Er hatte ihn kaum vollendet, da krachte die Platte mit lautem Getöse nach unten und der Raum darunter wurde sichtbar. Sie knieten sich hin und 602
sahen hinunter. Es war kaum etwas zu erkennen. Die abgestürzte Deckenplatte hatte eine Menge Staub aufgewirbelt. Ganz langsam begann er sich zu legen. ‘Das ist eine Garage’, stellte Georg fest. Beide waren so sehr in ihre Betrachtung dieses Raumes vertieft, dass sie nicht die drei dunklen Gestalten, welche sich ihnen von hinten genähert hatten, bemerkten. In dem Moment, als sie sich wieder aufrichten wollten, wurden ihnen von hinten mehrere Pistolen in den Rücken gedrückt. Sie merkten zwar nichts von dem Druck, hörten aber die Aufforderung, sich nicht zu bewegen. ‘Lass die ruhig herumballern’, übermittelte Peter Georg, ‘wir springen jetzt hier hinunter. Aber schalte für diesen Sprung sicherheitshalber Grav 2 ein. Einverstanden?’ Georg nickte nur, grinste vor sich hin, schaltete Grav 2 ein, sprang in die Tiefe und kam weich auf. Peter machte es ihm schnellstens nach. Die Männer hinter ihnen waren sichtlich so verblüfft, dass sie erst reagierten, als die Beiden in der Tiefgarage auf dem Boden ankamen. Sofort feuerten sie was das Zeug hielt mit ihren Pistolen hinterher. 603
Jetzt reichte es Georg. Er hob seinen Strahler und betäubte die über den Rand sehenden Männer. Einer fiel dabei in das Loch hinein, die Anderen blieben am Lochrand liegen. ‘Schau mal, da stehen unsere Fluchtfahrzeuge’. Bei dieser Bemerkung zeigte Georg auf die drei schwarzen Mercedes der S-Klasse: ‘Mensch, das sind ja bestens gepanzerte Fahrzeuge. Ich dachte immer, solche erhalten nur hochrangige Politiker oder Wirtschaftsbosse. Die Auflage ist doch angeblich absolut limitiert und geheim. Und jetzt besitzen diese Fahrzeuge sogar schon Mafiabosse, und dann auch noch drei Stück’. Er bestaunte noch eine Weile die Wagen, öffnete alle, zog die steckenden Zündschlüssel ab und verschloss sie anschließend. Peter war etwa fünf Meter weiter nach vorne gegangen und begann erneut, grimmig grinsend, mit seinem Zerstrahler einen Kreis auf den Boden zu zeichnen. Und wieder krachte die ausgeschnittene Platte laut tosend nach unten. Diesmal sprangen sie sofort hinab und sahen sich direkt um. Es war der Schießkeller. 604
Die Kinder kamen auf sie winkend zugelaufen. Georg drehte sich trotzdem noch mal um und sah gerade noch, wie drei dunkle Gestalten den lang gestreckten Raum durch die Tür verließen, diese hinter sich zuwarfen und lautstark verriegelten. Die beiden Väter und die Kinder lachten lauthals auf, als sie diese Flucht und den Versuch, sie hier einzusperren, bemerkten. ‘Hallo Kinder. Schaltet Grav 4 ein und dann springen wir durch das Loch wieder in das obere Stockwerk. Dort wartet unser Fluchtwagen auf uns’. Georg übernahm jetzt die Führung beim Rückzug aus dem Gefängnis der Kinder. Und schon stieß er sich ab und schwebte durch die Öffnung. Oben angekommen, schaltete er den Grav wieder aus und wartete auf die Anderen. Kurz darauf kamen auch diese an. Er wies auf den dritten Wagen und bereits eine Minute später saßen sie darin. Sie mussten die Sitze extrem nach hinten und tiefer stellen, sonst hätten sie mit ihrem Schutzfeld nicht hineingepasst. Mit etwas Mühe gelang es jedoch. ‘Warum nehmen wir ausgerechnet diesen Wagen?’, wollte Alexander wissen. 605
‘Weil der hier als einziger voll getankt ist. Wir fahren damit zu meinem Wagen und dann verschwinden wir schnellstens aus der Gegend hier. Schutz 2 bleibt bis auf weiteres an’. Zügig fuhr er los. Er war froh, dass es sich um ein Automatikfahrzeug handelte. Bis er das Tor fand musste er eine ganze Weile suchen. Als Georg davor anhielt, stieg Peter aus und versuchte es zu öffnen. Es gab keinen Millimeter nach. Mit dem Zerstrahler schnitt er die senkrechten Laufschienen heraus und machte noch einen waagrechten Schnitt in zwei Meter Höhe, so dass er das gesamte Tor mit einer Hand nach außen stoßen konnte. Laut scheppernd krachte es auf den Boden. Er stieg wieder ein und Georg fuhr langsam über das flach liegende Tor. Als sie oben vor dem Haus ankamen und auf die Ausfahrt einbiegen wollten, stoppte Georg abrupt. Vor ihnen standen 6 schwer bewaffnete, wieder mit grauen Anzügen bekleidete Männer. Einer hatte sogar einen alten Flammenwerfer der ehemaligen Nationalen Volksarmee auf der Schulter. Georg stieg augenblicklich aus und hob dabei die linke Hand. Die Männer glaubten, dass er sich ergeben wollte und zögerten deshalb, ihre Waffen einzusetzen. Georg zögerte jedoch keine Sekunde seinen Betäubungsstrahler einzusetzen. Wie von einer unsichtbaren Faust getroffen, brachen sie zu606
sammen. Nur dem Mann mit dem Flammenwerfer gelang es noch, eine volle Ladung auf Georg abzuschießen, bevor auch er ohnmächtig zusammensank. Georg riss geblendet die linke Hand vor die Augen. Die Flammen hatten ihn vollständig erfasst und loderten stark wallend um ihn herum. Nach drei Sekunden war der Spuk beendet. Peter und die Kinder hatten einen fürchterlichen Schreck bekommen, als sie Georg so aufflammen sahen. Erst als sie feststellten, dass er immer noch unbeschädigt und unverletzt an ihrem Fahrzeug stand, atmeten sie erleichtert auf. Georg hielt sich wie benommen die Hand vor die Augen. Er war geblendet und sah weiße Flecke, obwohl er die Augen geschlossen hatte. Vorsichtig blinzelte er und stellte erleichtert fest, dass er seine Sehfähigkeit nicht eingebüßt hatte. Ganz allmählich kehrte sie zurück und er stieg wieder in den Wagen. ‘Also vor Flammenwerfern müssen wir uns in Acht nehmen. Frage: Gibt es eine Schutzmöglichkeit gegen schlagartig auftretende Helligkeit?’ ‘Ja’.
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‘Anweisung: Wenn wir wieder zurück sind, sind alle Kombis mit diesem besonderen Schutz auszustatten!’ Georg hatte aufgrund seiner schlimmen Erfahrung sofort die entsprechende Verbesserung angeordnet. Peter bemerkte es mit Freude. Langsam arbeiteten sie sich in diese Supertechnik ein und verstanden sie zu nutzen. Kurz vor den ohnmächtigen Gestalten hielten sie erneut an, stiegen aus und zogen die Betäubten zur Seite. Sie waren noch keine zehn Meter auf dem Kiesweg Richtung Tor gefahren, als sie von hinten Einschläge in das gepanzerte Fahrzeug bemerkten. Verena schaute durch die Heckscheibe nach hinten und schrie erregt auf: „Da stehen am Hauseingang mehrere bewaffnete Männer. Die haben sogar eine richtiges Kanonenrohr auf der Schulter und wollen uns scheinbar in die Luft jagen“ Schlagartig trat Georg auf die Bremse, riss die Tür auf und ließ sich mit einem Hechtsprung seitwärts weit aus dem Fahrzeug fallen. Noch im Fallen, zog er den Betäubungsstrahler. Als er wieder auf 608
die Beine gekommen war, traf ihn ein fürchterlicher Schlag und schleuderte ihn mit einem lauten Knall gut zehn Meter weiter Richtung Tor. Er überschlug sich mehrmals, bevor er auf dem Rücken zum Liegen kam. Als Sergej Smirnoff wieder auf den Monitor blickte, welche den Schießkeller zeigte, bemerkte er, wie drei seiner Leute sich auf die lachenden Kinder zu bewegten. Ohne Vorwarnung krachte plötzlich vor diesen ein Teil der Decke herunter und zwei fremde Männer in Overalls kamen hinterher gesprungen, gingen zu den Kindern und schienen diese zu betrachten. Seine Leute drehten sich erschrocken um und verließen überhastet den Raum, die Tür hinter sich verriegelnd. Fasziniert beobachtete er die Männer und Kinder, wie sie nach oben, durch die Deckenlücke in die Garage entschwebten. Als er sie in einen der gepanzerten Wagen einsteigen und wegfahren sah, beorderte er sechs seiner Männer an die Garagenausfahrt und erteilte den Befehl, wenn sie den Wagen sahen, diesen zu stoppen und die Eindringlinge zu erschießen. Er selbst begab sich mit dem schwer bewaffneten Rest seiner Mannschaft zum Haupteingang des Hauses und wartete ab. Eigentlich rechnete er nicht mehr damit, dass diese Wahnsin609
nigen überleben würden, aber er wollte auf Nummer sicher gehen. Umso größer war seine Überraschung, als der Wagen langsam auf den Kiesweg Richtung Ausfahrt einbog. Er befahl, sofort zu schießen, was auch augenblicklich befolgt wurde. Er selbst, behielt sich die mörderische Panzerfaust vor, da er wusste, dass dies ihre ultimative Waffe war. Das Geschoss hatte eine Explosionskraft, die selbst den größten Panzer durchschlagen und zerrissen hätte. Als er eine Person aus dem anhaltenden Wagen springen sah, zielte er, aus einem inneren Impuls heraus, auf diese und drückte ab. Der Lichtblitz der Detonation nahm ihm die Sicht. Als er wieder etwas sehen konnte, hörte er seine Mitstreiter jubeln. Er erblickte den Beschossenen gut zehn Meter weiter auf dem Boden sitzend. Panik trat in ihm auf. Dann verlor er das Bewusstsein. Georg setzte sich auf, nahm seinen, neben ihm herunterbaumelnden, Strahler auf und schoss nun seinerseits auf die, immer noch jubelnde Gruppe. Sie fiel geschlossen lautlos um. Wie schon bei seinem Unfall, hatte er keinerlei Schmerzen verspürt. Das Schutzfeld hatte in diesem Fall sogar einer 610
Sprenggranate standgehalten und die Sprengkraft größtenteils abgeleitet und absorbiert. Georg stand, sich schüttelnd wie ein nasser Hund, schnell auf und eilte zu den Anderen zurück. ‘Du testest heute aber das Schutzfeld 2 sehr intensiv aus’, empfing ihn Peter. Man sah ihm die Erleichterung, dass Georg trotz der massiven Angriffe immer noch unverletzt war, deutlich an. Georg ließ sich in den Wagen plumpsen, zog die Tür zu und fuhr weiter Richtung Tor. Diesmal hielt sich Peter mit einem manuellen Öffnungsversuch gar nicht erst auf, sondern legte gleich den Strahler an. Zuerst versuchte er es in der gewohnten Weise aufzuschneiden, musste jedoch sehr schnell bemerken, dass das bei den augenblicklichen Einstellungen zu lange dauern würde. Deshalb erhöhte er alle Werte beträchtlich und die Strahlungsbreite sogar auf einen Meter. Danach begann er noch einmal. Ganz langsam zersetzte er das Tor in einer Breite von fast drei Meter und von oben nach unten, bis er Bodenniveau erreicht hatte. Als nur noch eine Menge Staub auf dem Boden lag, stieg er wieder ein und Georg brauste los. Zwei Mal rechts herum, und sie standen neben seinem Mercedes. Peter und Alexander sprangen aus dem ausgeliehenen Fahrzeug und setzten sich in 611
Georgs geparkten Wagen. Schleunigst verließen sie Nikolasse Richtung Steglitz. Fred und Joe waren mit ihren Leuten bereits seit mehreren Minuten vor Ort. Sie standen gegenüber dem geschlossenen Einfahrtstor, als sie mit ansehen mussten, wie sich dieses massive Tor vor ihren Augen aufzulösen begann, und anschließend ein schwerer S-Klasse Mercedes herausgefahren kam. „Sollen wir ihnen folgen?“, fragte Fred aufgeregt Joe. Dieser schüttelte nur nachdenklich den Kopf. Er wusste wohin das Fluchtfahrzeug fahren würde. Als der Wagen um die Ecke verschwunden war, rief er laut nach hinten, wo mehrere Personen standen, auf die zerstörte Einfahrt deutend: „Wir gehen jetzt rein. Alles festnehmen, was sich bewegt. Drei Mann bewachen das Eingangstor, drei Mann die Mauerlücke. Der Rest folgt mir.“ Als Fred und seine Spezialisten, welche die Anlage durchforschten, das Ausmaß und die Art der Zerstörung sahen, lief es ihnen kalt den Rücken runter. Sie sammelten den verwundeten Igor und die Bewusstlosen ein und brachten sie nach Tem612
pelhof in die unterirdischen Anlagen, welche sich seit über 80 Jahren unter dem alten Flughafen Tempelhof befanden. Es war das geheime Hauptquartier der CIA in Europa, und auch der Grund, warum dieser ehemalige Flughafen, mitten in Berlin liegend, bisher nicht verkauft werden konnte. Die Funde im ehemaligen Quartier der russischen Mafia waren äußerst aufschlussreich, stellten sie fest. Endlich hatten sie diesen Michail Roskow in ihren Händen. Das war ein fetter Fang. Jetzt konnten einige alte Rechnungen beglichen werden. Fred hatte eine Tüte voll Staub, welchen er an der Einfahrt gefunden hatte, gesammelt und dem Labor zur Untersuchung gegeben. Paul Wenig im Golfhotel war informiert worden und dieser gab ihnen den letzten Standort des Wagens von Georg durch: Unter den Eichen, vor der Bundesanstalt für Materialprüfung. Sie waren sich einig, dass sie den Erbauern der Messkapsel auf der Spur waren. Nachdem die Ereignisse und Schlussfolgerungen in das Hauptquartier der CIA, und hier speziell an Charles Milligan, durchgegeben worden waren, erhielten sie den Befehl, zu warten, bis die Führungsspitze selbst in Deutschland eintraf und die Leitung der Mission übernahm. Bis dahin waren 613
die Kellers und Landers nur unauffällig unter Beobachtung zu halten. Der vorausfahrende Peter hielt vor der BAM auf einem Parkplatz an und stieg aus. Er hatte auf Schutz 1 zurückgestellt, da er keine Verfolger ausgemacht hatte. Georg tat es ihm gleich. Die Kinder mussten in den Fahrzeugen mit voller Sicherung sitzen bleiben. ‘Wie soll es nun weitergehen?’, stellte Georg an alle diese wichtige Frage, ‘wir sind nun eindeutig erkannt und der Run auf uns hat bereits begonnen.’ ‘Seid ihr sicher, dass ihr nicht verfolgt wurdet’, wollte Gitti ängstlich wissen. ‘Ja, ziemlich sicher, denn ich glaube, dass sie das jetzt gar nicht mehr nötig haben. Aus Alexanders Erzählung geht eindeutig hervor, dass sie über unsere familiären Verhältnisse ausgezeichnet Bescheid wissen’, erklärte Peter, ‘wir können uns also ab sofort eine übergroße Geheimhaltung sparen und sollten uns auf das künftig Wichtige konzentrieren.’ ‘Und das wäre?’, kam augenblicklich Georgs Gegenfrage. 614
‘Bisher haben wir die Supertechnik der Helas nur bewundert, angeschaut und etwas an uns anpassen lassen. Ich glaube nicht, dass es sinnvoll und richtig wäre, diese Errungenschaften nur zu übernehmen. Besser wäre es, wenn wir sie mit dem, was wir selbst auf unserer Erde erreicht haben, kombinieren und verbinden. Dazu habe ich mir schon einige Gedanken gemacht.’ Hier beendete Peter seine Rede und stand nachdenklich an den Wagen gelehnt. ‘Nun fahr schon fort’, drängelte ihn Ellen, ‘mach’s nicht so spannend.’ ‘Also’, begann er, seine Ideen den Anderen zu unterbreiten, ‘zum Einen, sollten wir auf dem Raumschiff große Räumlichkeiten dergestalt einrichten, dass wir uns dort, so wie wir es von der Erde her gewohnt sind, wohl fühlen können. Dabei habe ich an einen Park mit vielen Pflanzen und Sitzgelegenheiten, oder an eine ausgedehnte Badelandschaft, oder an eine ausgesprochene Spiel-, Sportund Unterhaltungslandschaft, oder an Schulungseinrichtungen oder, oder, oder .... gedacht. Mir wurde bestätigt, dass wir sechs derartige Riesenräume, symmetrisch im Raumschiff verteilt, einrichten können. Die Ausmaße wären beachtlich, so 60 mal 60 Meter bei einer Höhe bis zu 50 Meter. 615
Das Freimachen würden Maschinen des Raumschiffes besorgen, die Inneneinrichtung und Gestaltung wäre unsere Angelegenheit. Auch sollten wir an das Ausschmücken von kleinen Privaträumen denken. Zum Anderen, und das erscheint mir fast noch wichtiger, sollten der Wissensstand und die Technik der Erde mit dem Wissen und der Technik der Helas verbunden werden. Das stelle ich mir ungefähr so vor: Hochrangige Fachleute holen alles, was die Erde so zu bieten hat und was brauchbar ist, in das Raumschiff und installieren es dort oder kombinieren es. Es gibt beispielsweise trotz des Energiereichtums im Raumschiff keine 220 Volt Steckdosen. Wie wollt ihr, meine Damen, euch dort eigentlich die Haare föhnen oder vielleicht mal fernsehen? Ist dir schon aufgefallen, Georg, dass wir uns zwar nicht mehr waschen müssen, aber unser Bart trotzdem weiter wächst. In zehn Jahren wären wir zugewachsen wie Urwaldheinis. Versteht ihr nun, was ich meine?’ Allgemeine Zustimmung brandete ihm in seinem Gehirn entgegen. ‘Und wie soll das in die Praxis umgesetzt werden?’, kam sogleich die folgerichtige Gegenfrage 616
Georgs, ‘darüber hast du, wie ich dich kenne, bestimmt ebenfalls schon nachgedacht.’ ‘Ja. Wir haben in unserem Bekanntenkreis bereits eine Menge fähige, qualifizierte Personen. Das Hauptproblem liegt hier an einer anderen Stelle. Bei unseren Bekannten und Freunden müssen wir erst einmal, nachdem wir sie aufgeklärt haben, fragen, ob sie dieses gewaltige Risiko überhaupt eingehen wollen. Bei Fremden müssen wir vorab überprüfen, ob sie es ehrlich meinen, oder ob sie sich nur bereichern oder anderen Egoismen frönen wollen. Sie könnten auch nur Handlanger fremder Mächte sein. Dazu müssen wir sie in die Station einladen. Dass das System das Gedankenlesen beherrscht, darf deshalb nur dem Personenkreis bekannt werden, dem wir absolut vertrauen. Das ist unser eigentliches Geheimnis und unsere einzige, wirkliche Möglichkeit, Gute von Schlechten zu trennen. Also denkt alle immerzu daran: Nur Berechtigte wissen um die Gedankenkommunikation. Ja, in den zuvor dargelegten Punkten sehe ich unsere kommende Aufgabe.’ ‘Dann sollten wir gleich anfangen’, warf Gitti ein, ‘Georg ruf unterwegs Gerd Müller an, damit er so schnell wie möglich Fahrzeuge und Packer zu uns nach Tiefenbach und zu Peter und Ellen nach Ber617
lin schickt, damit unsere Hausstände hierher in die Station kommen. Damit können wir es uns dann in der uns gewohnten Weise schon mal gemütlich machen. Meintest du das so, Peter?’ Sie hatte genau ins Schwarze getroffen. Die Kinder meldeten sogleich noch diverse Wünsche an. Georg versprach, umgehend dem Wunsch Gittis nachzukommen. Wie, wann und ob das Zeug in die Station kommen würde, war ihm noch unklar. Peter und Georg kamen überein, dass sie sich jetzt trennen sollten. Peter wollte erst einmal nach Hause fahren und von dort aus bereits die entsprechenden Freunde und Bekannten vorab informieren. Georg sollte Handys aus der Berliner Filiale besorgen, damit sie nicht mehr auf öffentliche Telefonzellen angewiesen waren und anschließend zu seiner Mutter fahren, um diese abzuholen und in die Station in Sicherheit zu bringen. Das Gleiche galt auch für Peter, nach dem Besuch in seinem Haus. Seine Schwiegereltern waren ebenfalls gefährdet. Wenn alles erledigt war, wollten sie sich wieder treffen und gemeinsam den Rückweg in ihre neue Heimat antreten. Georg und Verena stiegen wieder in ihr eigenes Auto und fuhren nach Wedding. Peter und Alexander mit dem ausgeliehenen, gepanzerten Mer618
cedes nach Lichterfelde. Während der gesamten Fahrt achteten sie auf Verfolger. Aber es war nichts zu erkennen. Zu Hause angekommen, schalteten sie wieder Schutz 2 ein und betraten vorsichtig den Eingangsraum. Nichts Auffälliges war zu bemerken. Erst als sie ins Wohnzimmer traten und Peter in seinem Sekretär nachsah, bemerkte er, dass ungebetene Gäste im Haus gewesen sein mussten. Eiligst lief er zu dem Bild im Kaminzimmer, hing es ab und öffnete den kleinen Tresor. Das wenige Geld und die paar Wertpapiere, die eiserne Reserve, waren noch vollzählig vorhanden. Aber an der veränderten Reihenfolge erkannte er ebenfalls, dass Unbefugte den Safe spielend geknackt haben mussten. Ellen hätte bestimmt schon eher erkannt, dass Einbrecher hier gewesen waren. Irgendwelche Socken hätten bestimmt anders gelegen, als zuvor. Aber es bestätigte Peters Theorie, dass sie letztendlich erkannt waren. Er war überzeugt davon, dass das Haus seit einiger Zeit unter ständiger Bewachung stand. Nun war er gespannt, wann, wie und wer alles mit ihnen in Verbindung treten würde. Dass es für diese Parteien nicht einfach werden würde, das hatten sie ihnen heute hoffentlich eindeutig gezeigt.
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Nachdem er sich frisch rasiert hatte, fuhr er zu einer Telefonzelle und rief nacheinander seine Freunde, welche noch nicht im Urlaub waren, an und erklärte ihnen in groben Zügen, worum es ging. Er hatte Glück, dass er sie noch fast alle erreichen konnte, denn sie hatten durchwegs die zweiten drei Wochen der großen Schulferien als Reisezeit gebucht. Im Anschluss an diese Gespräche bat er sie, am kommenden Samstag, mit ihren Kindern zu der Auslaufspur im Tauernmassiv zu kommen. Er beschrieb den Weg so genau wie möglich und schlug zudem noch vor, dass sie gemeinsam fahren sollten. Es wurde von allen zugesagt. Gegen 18.00 Uhr wollten sie dort sein. Die gespannte Neugierde der Angerufenen spürte er fast körperlich. Diese Telefonaktion hatte über vier Stunden benötigt und würde die Telefongesellschaft freuen. Es war inzwischen bereits nach 16.00 Uhr. Alexander und Peter suchten anschließend zuhause noch unzählige Utensilien zusammen und trugen sie zum Auto. Als sie die Sachen in den Kofferraum legen wollten, staunten sie mächtig, als sie zwei große Aktenkoffer unter einer Decke verborgen fanden. Weil sämtliche Versuche, sie zu öffnen, fehlschlugen, legten sie diese wieder hi620
nein, warfen ihre Gegenstände dazu und fuhren dann zu den Schwiegereltern nach Steglitz. Da er sich zuvor bereits angemeldet hatte, waren diese auch anwesend. Sie freuten sich riesig, die Beiden zu sehen. „Wir haben dein Bild in der Zeitung gesehen“, fing seine Schwiegermutter, welche trotz ihrer 82 Jahre noch sehr deutlich und klar sprach, an, „da hast du aber Glück gehabt, dass du nicht mit auf den Berg geklettert bist. Warum habt ihr uns nicht gleich angerufen?“ „Das Bild von deinem Freund Georg fand ich noch viel interessanter“, fiel ihr Ellens Vater ins Wort. Er hatte immer das Gefühl, dass er bei Unterhaltungen viel zu kurz kam. „Wie er so einen Unfall überleben konnte, muss er mir mal persönlich erklären.“ „Das werde ich jetzt tun“, begann Peter lachend, „setzt euch hin, das dauert länger.“ Sanft drückte er sie auf die Wohnzimmercouch und erzählte ihnen das Wesentliche seiner Entdeckung. Als er auf die hohe Gefahr, in der sie sich nun befanden, zu sprechen kam, und ihnen vor621
schlug, sie sofort mitzunehmen, widersprachen sie heftig: „Wir sind Beide schon so alt und haben kaum noch lange zu leben“, erläuterte der Schwiegervater kopfschüttelnd, „warum sollten wir da noch mal umziehen. Was kann man uns noch groß antun. Nein, nein. Es war lieb gemeint, aber wir bleiben hier.“ Diese Aussage war so bestimmt geäußert worden und wurde durch heftiges, zustimmendes Nicken von seiner Frau unterstützt, dass Peter lange schweigend und nachdenkend sitzen blieb. „Es besteht die Gefahr, dass sie uns mit euch erpressen und euch im schlimmsten Fall sogar quälen oder töten werden“, hielt Peter doch noch einmal entgegen. „Wir werden nichts sagen und ihr dürft euch auf gar keinen Fall erpressen lassen, egal was mit uns geschieht“, entgegnete der alte Mann streng. „Wir haben unsere Leben gelebt. Und schön war’s“, setzte er noch hinterher und tätschelte seiner Frau zärtlich die Hände. Peter wollte aber um jeden Preis die Beiden mitnehmen. Er hing sehr an ihnen, und seine Ellen erst recht. Ihm kam der Satz: 622
„Der Tod ist immer nur schlimm für die Hinterbliebenen“, ungewollt in den Sinn. Wieder wurde lange nichts gesprochen. Peter hatte eine Entscheidung gefällt. Er würde jetzt unvernünftig handeln, das wusste er. „Was ich euch jetzt noch erzähle, wird für euch alles in ein völlig anderes Licht setzen. Eigentlich wollte ich darüber nicht sprechen, weil, wenn das allgemein bekannt wird, Kriege ausbrechen könnten. Es besteht die Möglichkeit, und Ellen und ich haben sie bereits ausgenutzt, euer Leben nahezu unbegrenzt zu verlängern, und das bei intaktem Körper und Geist. Na, was sagt ihr jetzt?“ Peter hatte geglaubt, dass sie nun in helle Freudenstürme ausbrechen und augenblicklich mit dem Packen beginnen würden. Als er sie schweigend, sich gegenseitig anschauend und bei der Hand nehmend, sah, wusste er, dass er sich geirrt hatte. Was sein Schwiegervater nun zu ihm sagte, bestätigte dies: „Nein, nein. Schau, Peter, wenn wir ewig leben würden, und das war es ja, was du gemeint hast, würden wir unglücklich werden. Wir haben keinen mehr vor uns, nur noch viele hinter uns. Wir spre623
chen doch gar nicht mehr die Sprache der uns nachfolgenden Generationen. Die geistig, moralischen Grundlagen sind aufgrund unseres Alters gegenüber den jüngeren Generationen inzwischen verschieden. Das wäre nicht mehr lebenswert. Ihr könnt sicher sein, dass wir kein Wort über dieses Gespräch weitergeben werden.“ Das war wirklich abschließend. Ellen konnte es ja noch einmal versuchen, aber er glaubte nicht mehr daran, dass sie sie doch noch umstimmen würde. “Ihr könnt, wenn ihr darauf angesprochen werdet, ruhig von unserer Entdeckung sprechen, denn es wird über kurz oder lang ohnehin Hauptthema in den Medien werden. Nur das Letztere verschweigt, wenn möglich. Und wir fahren jetzt wieder in unseren Berg. Lebt wohl, Ihr beiden Querköpfe.“ Alexander und Peter verließen traurig die Wohnung und setzten sich in ihren Wagen. ‘Georg, wie weit bist du’, rief er nach seinem Freund. ‘Wir sind schon auf dem Weg’ antwortete dieser prompt, ‘wo seid ihr?’ 624
‘Wir fahren jetzt in Steglitz los und sind in gut zwanzig Minuten in Drei Linden. Schaffst du das auch in dieser Zeit. Ist deine Mama an Bord?’ ‘Ja, ich bin sogar schon früher dort. Zweite Frage: nein, sie wollte nicht mit. Absolut nicht. Und bei Euch?’, wollte Georg wissen. ‘Dito’, kam es einsilbig zurück. ‘Wann könnt ihr hier sein’, mischte sich nun Gitti ein, ‘wir haben nämlich ein etwas ungutes Gefühl hier in der Station.’ ‘Warum das?’, fragte Georg besorgt, ‘was ist denn los bei euch?’ ‘Ich weiß nicht, es bewegen sich immer wieder irgendwo irgendwelche Maschinen oder Kästen, obwohl wir nichts befohlen haben. Es ist unheimlich’, erzählte sie, sich offensichtlich gruselnd. ‘Ja, und ich hatte anscheinend einen Wachtraum’, fiel Ellen in dieses Konzert mit ein. ‘In meinem Traum, so ein Realtraum, sah ich einen Hela in der Tür stehen und mich mit seinem schwarzen Riesenauge mustern. Dabei bin ich so erschrocken, dass ich wieder aufgewacht bin. Es war natürlich 625
keiner da. Sicherheitshalber schaute ich mich noch gründlich um. Aber logischerweise ohne Erfolg.’ Peter verstand die Frauen nur zu gut. So allein in dieser Riesenstation, da konnte einem schon Angst und Bange werden. ‘Wie weit ist der Baufortschritt des neuen Tunnels?’, lenkte Georg mit seiner Frage geschickt ab. ‘Der ist fast fertig. Heute Nacht wird das Tor installiert. Wenn ihr in den frühen Morgenstunden kommt, könnt ihr vermutlich bereits den Gang benutzen. Fahrt vorsichtig, aber kommt bitte schnell.’ Peter und Georg trafen sich in Drei Linden und brausten mit beiden Fahrzeugen Richtung Süden los. Joe und Fred saßen an diesem Abend vor den Berichten und Videoaufnahmen und kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Der Staub war untersucht worden. Das Ergebnis war mehr als ungewöhnlich – es gab keines. Das Material konnte nicht bestimmt werden. Die Forscher rätselten, um welchen Stoff es sich hierbei handeln könnte. Sie verlangten, dass ihnen mitgeteilt werden soll, woher der Staub stamme. Aber dies war unmöglich, 626
unterlag die gesamte Aktion doch der absoluten Geheimhaltung. Was innerhalb des Grundstückes vorgegangen war, wussten sie nicht. Igor erzählte, offensichtlich geistig immer noch völlig verwirrt, immerzu von den kräftigen Bauchmuskeln des dünnen Jungen, an denen er sich die rechte Hand zerschmettert hatte. Die anderen Gefangenen lagen wie im Koma, unansprechbar. Die Fernsehkameras in der Villa hätten an ein Aufnahmegerät angeschlossen werden können, nur leider waren sie es nicht. Das Vernichten der Mauer und die Abfahrt beider Fahrzeuge war so leider nicht per Video aufgezeichnet worden. Die Aufnahmen, welche sie selbst von außen von der Auflösung des Tores gemacht hatten, und die sie immer wieder und wieder ansahen, gaben zu mehr Fragen als deren Antworten Anlass. „Stoppe noch einmal den Film an der Stelle, wo die Mauer nahezu verschwunden ist“, bat Fred seinen Partner Joe. Joe spulte vor und stoppte genau an der gewünschten Stelle. „Schau mal, es sieht aus, als hätte Lander einen hauchdünnen Helm auf. Er ist kaum zu sehen, aber wenn man genau hinschaut, sieht man durch den 627
leichten Staubschleier, dass er einen Helm aufhaben muss“, erklärte ihm Fred, und fragte gleich darauf: „Wann kommen die hohen Herren von drüben?“ „Morgen früh sind sie hier. Mit der One !“ Joe dehnte das „One“ so lange, um deutlich hervorzuheben, dass nach der Landung hier die Hölle los sein würde. „O.K. Bis dahin müssen wir wohl noch warten. Ich habe angeordnet, dass die beiden Wagen, auch der gepanzerte Mercedes, beim Grenzübertritt nach Österreich unbehelligt durchkommen. Paul Wenig nimmt sie im Hotel, an ihrem immer noch dort geparkten Fahrzeug, in Empfang und observiert sie unauffällig weiter.“ „Was meinst du, geschieht mit diesen russischen Mafiosi?“, hakte Fred nach. „Normalerweise würden wir sie schnellstens der ordentlichen Gerichtsbarkeit überstellen. Bei dieser wichtigen Angelegenheit jedoch, werden wir sie wohl nie mehr laufen lassen können“, erklärte Joe gelassen.
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„Du meinst, nachdem wir sie gründlich ausgequetscht haben, werden sie...“, fragte Fred, und machte dabei eine Geste mit der rechten Hand entlang seiner Gurgel, die besagen sollte, dass sie liquidiert werden würden. Joe nickte nur stumm grinsend. Plötzlich schlug sich er mit der Hand vor den Kopf. Er hatte in der Hektik der Geschehnisse eine andere, ebenfalls sehr wichtige Spur völlig vergessen. Er sah auf die Uhr. 19.42 Uhr. „Empfange du die Oberheinis allein, Fred. Ich schnappe mir einen Wagen samt Fahrer aus der Fahrbereitschaft und lasse mich nach Rauris bringen. Morgen früh bin ich dann wieder auf dem Gletscher. Ich glaube nämlich inzwischen, der bohrt dort oben ein abgestürztes Raumschiff oder so etwas an. Fordere reichlich Verstärkung für dort Rauris an. Es könnte sein, dass wir dort oben alle einkassieren müssen, wenn sie etwas entdecken. Ich bin über mein Handy zu erreichen. So long, Fred.“ Joe sah seinen, nach dieser Rede, sichtlich perplexen Kollegen kurz an, zwinkerte ihm aufmunternd zu, nahm seine Jacke und Mantel und lief zur Fahrbereitschaft. 629
Verena schlief tief und fest in Georgs Wagen auf dem Rücksitz, Alexander in Peters. Der Verkehr war ätzend. Lastwagen reihten sich an Lastwagen, Baustellen an Baustellen und Staus an Staus. Endlich waren sie aus Deutschland heraus. Jetzt ging es flüssiger. Sabine, Simon und Marian schliefen ebenfalls bereits seit langem, hatte ihm Ellen mitgeteilt. Sie hatten keine Angstgefühle und sahen nur das Neue, Spannende und Spielerische in der ganzen Geschichte. Es war das Abenteuer ihres bisherigen Lebens überhaupt. ‘Glückliche Kinder’, dachte Peter vergnügt lächelnd. 4.45 Uhr. Jetzt war das neue Tor bestimmt schon installiert. Noch gute zwei Stunden bis zum Ziel. Er freute sich schon darauf, den neuen Eingang zu benutzen und die Fahrzeuge in der Station abzustellen. Außerdem interessierte ihn sehr, wie das Problem des Höhenunterschiedes von immerhin gut 300 Meter bei einer Tunnellänge von ungefähr 500 Meter gelöst worden war und wie man dann mit größeren Fahrzeugen in die Station hinein und wieder hinaus gelangen konnte. Der Himmel begann schon etwas heller zu werden. Ein Tag mit 630
wunderschönem Wetter kündigte sich langsam an. Er freute sich auch schon auf Samstagabend, wenn er seine Freunde und Bekannten wieder sehen würde. Es war ein ausgesprochenes Glück gewesen, dass die meisten erst in der zweiten Ferienhälfte ihre Urlaubsreisen gebucht hatten und er war überzeugt, dass sie sämtliche Reisen stornieren würden. Endlich, gegen 7.00 Uhr kamen sie an ihrem Bergparkplatz an. Es war definitiv kein Unterschied zu vorher zu entdecken. Peter, Georg und die Kinder stiegen aus ihren Fahrzeugen und besahen sich ungläubig, die vor ihnen emporragende Felswand. „Frage: Ist der Tunnel nebst Eingang fertig?“ Georg hatte sich nicht mehr bremsen können. Er war zu neugierig und musste deshalb diese Frage laut sprechend stellen. „Ja.“ „Sesam öffne dich“, fing er grinsend an zu spinnen.
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Da rauschte das Tor zu beiden Seiten auf und vor ihnen standen Ellen, Gitti, Sabine, Simon und Marian und lachten aus vollem Hals. Es war eine Begrüßungsszene wie im Kitschfilm. Aber sie kam aus ganzem Herzen. Sie fielen sich um den Hals und konnten sich kaum mehr beruhigen. „Jetzt aber schnell mit den Autos herein, bevor jemand kommt“, behielt zu guter Letzt Ellen wenigstens noch etwas einen kühlen Kopf. Eiligst sprangen Peter und Georg in ihre Fahrzeuge und fuhren in den Gang hinein. Kaum hatten sie das Tor passiert, schloss es sich wieder. Der Rest der Gruppe stieg in ihren Schweber ein und weiter ging es den hell erleuchteten Tunnel entlang. Ohne dass sie gebremst hätten, stoppten beide Fahrzeuge und konnten nicht mehr weiterfahren. Nichts bewegte sich mehr. „Frage: Was ist los?“, wollte Peter verärgert wissen. Er wollte ohne Aufenthalt weiter. „Fahrzeug 2 = aktiver Sender. Entfernen!“ „Ach, du Schreck!“, entfuhr es Georg. 632
An seinem Wagen war ein Sender angebracht worden. Dann wussten jetzt eventuell irgendwelche unbekannte Parteien, wo sie sich augenblicklich befanden. Eine längliche, rechteckige, kleine Kiste kam angeschwebt und entnahm aus dem Motorraum mit einem Metallarm eine winzige, magnetbehaftete Dose. „Anweisung: Mir aushändigen“, bellte Georg laut los. Umgehend wurde ihm von der kleinen Kiste der Minisender gegeben. Georg drehte sich mit dem Sender um und stieg wieder in sein Fahrzeug. „Komm, Peter, steig ein. Wir bringen dieses Ding sofort an einem anderen Fahrzeug in Rauris an und holen bei dieser Gelegenheit schnellstens deinen Wagen mit den Klamotten rein. Wenn wir hier drinnen sind, wissen wir dann ganz schnell, ob auch der verwanzt ist“ Peter ließ sich das nicht zwei Mal sagen, bat die anderen hier zu warten, stieg ein und schon wendete Georg und fuhr Richtung Tor. „Öffnen“, befahl er kurz angebunden.
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Er war sauer auf sich, obwohl er nichts dafür konnte. Mit hoher Geschwindigkeit fuhren sie die kurvenreiche Landstrasse entlang. In Rauris befestigten sie den Sender an einem alten Fiat Uno mit italienischem Kennzeichen. Wenn sie Glück hatten, würde der Eigentümer mit dem Wagen samt Sender bald nach Italien fahren und die Lauscher ganz schön verwirren. Es wäre ein kleiner Zeitgewinn. Anschließend holten sie Peters vollgepackten Wagen vom Parkplatz des Golfhotels. Da Gerd sich die Stelle gemerkt hatte, wo der vorhergehende Sender angebracht worden war, schaute er dort ebenfalls nach und entdeckte auch prompt dieses kleine Gerät. Knirschend nahm er es ab, heftete es an ein anderes Fahrzeug auf dem Parkplatz, schmiss sich hinter das Lenkrad seines vollgeladenen Fahrzeugs und rauschte grummelnd los. Zehn Minuten später waren sie wieder bei den Anderen im Tunnel. Die ganze Aktion hatte nur etwas mehr als eine Stunde gedauert. Ellen nahm den gepanzerten Mercedes und fuhr der Gruppe voran, immer tiefer in den Tunnel hinein. Nach etwa 200 Meter war er zu Ende. Vor ihnen ragte ein Loch steil und hoch nach oben, so breit wie der Tunnel und gut 30 Meter tief. Ganz langsam begannen die Fahrzeuge wie von Geister634
hand etwa 300 Meter nach oben zu schweben. Genau zehn Meter unterhalb der Decke stoppten sie. Dann konnten sie über dem scheinbar luftleeren Raum wieder so losfahren, als hätten sie festen Boden unter sich. Nach einigen Metern kam dann wieder der feste Tunnelboden. Auf diesem ging es weiter bis sie erneut vor einem Tor ankamen. Automatisch öffnete es sich, und sie konnten in die Station einfahren. Sie ließen es sich nicht nehmen, bis dicht an das Raumschiff zu fahren. „Frage: Arbeiten der Antigravlift und das innere Tor automatisch?“ Diese Frage interessierte Peter sehr. Ellen fing an zu lachen. ‘Nein’, kam auch schon die Antwort PULs. „Aber Schatz“, fing Ellen, immer noch kichernd, an zu erklären, „ich war doch in unserer Gruppe der vorderste Wagen und da habe ich die entsprechenden Befehle gegeben. Ist doch logisch, oder?“ Obwohl sie es nicht böse gemeint hatte, ärgerte sich Peter doch etwas und bekam einen roten Kopf. Wie sagte er sonst immer so schön: „Erst überlegen, dann reden oder fragen.“ 635
Selbst Schuld. Sie begannen nun als nächstes, mit Hilfe von Schwebern ihre Sachen in das Raumschiff zu schaffen. Im Raumschiff, mussten sie PUL beauftragen, mechanische Helfer zu schicken, welche ihnen die Gegenstände an die gewünschten Orte brachten. Sie waren sehr erstaunt, als sie kleine Antigravplatten erhielten und begannen die Sachen darauf zu laden. Die beiden metallenen Diplomatenkoffer erregten allgemeines Aufsehen. Da sie allesamt durchwegs neugierig waren, machten sie sich sofort daran, die Schlösser zu knacken. ‘Ohne Werkzeug wird es nicht möglich sein’, überlegte Peter konsterniert, ‘aber wenn ich den Zerstrahler für anorganische Materie entsprechend kurz einstelle, könnte ich eventuell die Schlösser auflösen.’ Gedacht, getan. Innerhalb von zwei Minuten waren sie geknackt und der Inhalt der beiden Koffer tat sich vor ihnen auf. Ein lautes Staunen war von allen zu hören. Die Koffer waren randvoll mit gebrauchten amerikanischen und Schweizer Geldscheinen. Bei der augenblicklichen Zählung stellten sie fest, dass sie 636
fast 18 Millionen Euro und 12 Millionen Schweizer Franken in ihren Händen hielten. Als Georg nüchtern bemerkte, dass der unerwartete Geldsegen zu spät käme, da sie ihn hier in der Station ohnehin nicht gebrauchen können, erhob sich ein allgemeines Gelächter. Anschließend begannen sie mehrere Räume, in der Nähe der Zentrale, gemütlich einzurichten. „Hast du deinen Prokuristen mit dem Abholen des Hausrates beauftragt?“, wollte Gitti von Georg wissen. „Ja, schon aus Berlin“, antwortete dieser bereitwillig, „aber es hat ewig gedauert, bis er kapiert hat. Ich habe die Lastwagen zu der Tankstelle in Rauris beordert. Von dort aus, holen wir sie dann persönlich hier herein.“ „Ach, darauf freue ich mich schon riesig“, ließ sich nun auch noch Ellen seufzend hören. Alle stimmten ihr zu. „Wenn man uns nur nicht daran hindert“, fiel Peter nachdenklich ein. „Ich habe das Gefühl, dass jetzt erst die Probleme so richtig losgehen.“ Entsetzt sahen ihn die Anderen an. Sie wussten, dass sie sich auf die Vorahnungen Peters bisher 637
immer hatten verlassen können und das, worum es hier ging, war immens viel wert.
Fortsetzung: Nachdem Peter Lander und seine Familie die ersten Gefahren abgewehrt haben, kommen nun ganz andere Gruppen zum Zuge. Die Mächtigen der Erde haben von der Entdeckung erfahren und versuchen nun, die Hinterlassenschaften der Außerirdischen um jeden Preis in Ihren Besitz zu bringen sie wären dann unbesiegbar. Obwohl Peter Lander und seine Freunde nicht abgeneigt wären, diese Gruppen an den Errungenschaften der Helas zu beteiligen, müssen sie sehr bald erfahren, dass es so nicht funktioniert. Die Gegenseite will alles um jeden Preis - geht es doch um die unendliche Macht... Helastrilogie II : Die Gier nach Macht Helastrilogie III : Die Gier nach Ruhm Folgende Romane sind beim AAVAA E-Book Verlag erschienen: 638
AAVAA Thriller: Todeslogistik AAVAA Thriller: Doppelte Gefahr AAVAA Abenteuer Maltas Geheimnis AAVAA Krimi MORD statt SPORT AAVAA Science Fiction: Helastrilogie
Buch 2: Die Gier nach Macht Buch 3: Die Gier nach Ruhm Bilder des Künstlers Karlheinz SMOLA, dessen Bild „Kurz vor Weltuntergang“ die Vorlage für das Cover ist, siehe unter www.fivolang.augensound.de Sämtliche Bücher des AAVAA E-Book Verlages, Berlin können auch als gebräuchliche Taschenbücher, MINI-Bücher und Taschenbücher mit extra großer Schrift bezogen werden www-aavaa.de Email:
[email protected] Hans Lebek wurde 1950 in München geboren, ist verheiratet, hat 2 erwachsene Kinder und lebt seit 1964 in Berlin. Sein beruflicher Werdegang um639
fasste zuerst neben einer zweijährigen Polizeidienstzeit langjährige Erfahrungen als Taxifahrer (Studentenjob). Nach dem Studium der Rechtsund Wirtschaftswissenschaften schloss er diese als Dipl. Kaufmann und Dipl. Volkswirt ab und promovierte später bei Prof. Dr. Hubert Bronck. Er ist Vorstand eines Logistikunternehmens
und neben Reisen zählt Golfspielen zu seinem vorrangigen Hobby. 1998 begann er seinen ersten Roman zu verfassen. Seit dieser Zeit hat er seine schriftstellerische Tätigkeit nicht mehr unterbrochen und schreibt derzeit an seinem zehnten Roman Hans Lebek 640