Thomas Tillmann Hermeneutik und Bibelexegese beim jungen Goethe
Historia Hermeneutica Series Studia Herausgegeben von
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Thomas Tillmann Hermeneutik und Bibelexegese beim jungen Goethe
Historia Hermeneutica Series Studia Herausgegeben von
Lutz Danneberg
Wissenschaftlicher Beirat
Christoph Bultmann · Fernando Domı´nguez Reboiras Anthony Grafton · Wilhelm Kühlmann · Ian Maclean Reimund Sdzuj · Jan Schröder · Anselm Steiger Theo Verbeek
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Walter de Gruyter · Berlin · New York
Thomas Tillmann
Hermeneutik und Bibelexegese beim jungen Goethe
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Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISSN 1861-5678 ISBN-13: 978-3-11-019068-7 ISBN-10: 3-11-019068-0 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
쑔 Copyright 2006 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Meinen Eltern gewidmet
Vorwort Auf die vorliegende Arbeit lief ein in jeder Hinsicht idiosynkratisches Interesse des Autors für die Beschäftigung Goethes mit der Bibel hinaus, eine Fixierung, die sich früh im Studium ergab und die nie wirklich auf rationalen Argumenten gründete, so sehr sich diese finden ließen. Eine solche Arbeit wagt sich notwendigerweise vorwitzig weit in fremde Disziplinen, namentlich die Theologie, vor und hofft dabei auf Nachsicht dem gegenüber, der die ubiquitäre Forderung nach Interdisziplinarität einzulösen versucht und sich dabei fast unweigerlich von seiten des Faches, in dem er zu wildern sich anmaßt, angreifbar macht. Ohne dieses Recht, die abgesteckten Fachgrenzen passieren zu dürfen, wäre eine Arbeit wie diese über Goethe und die theologische Tradition nicht möglich. Dem Unwillen, den der Autor bei der Lektüre ermüdend langer methodologischer Einführungstraktate anderer Arbeiten empfand, ist die Entscheidung geschuldet, selbst auf ähnliche Präliminarien zur Forschungsmethode verzichten. Dabei ist dies auch der Versuch, den unverstellten Ansatz zu pflegen, den Albrecht Schöne eine „ein wenig handwerklich gestimmte Germanistik“1 genannt hat. Ich danke Prof. Dr. Ernst Osterkamp für die Betreuung dieser Arbeit: Seine inhaltlichen Anregungen und Hinweise wie gleichermaßen seine vertrauensvolle Art, die mir den notwendigen Freiraum für die Entwicklung eines eigenen Zugangs ließ, haben jederzeit motiviert und beigetragen, das vermessene Vorhaben einer Goethe-Dissertation relativ zügig zu realisieren. Daneben danke ich Prof. Dr. Lutz Danneberg für vielfältige Anregungen zur Hermeneutikgeschichte sowie für die Aufnahme des Bandes in seine Reihe Historia Hermeneutica im Verlag Walter de Gruyter. Zu Dank bin ich darüber hinaus vor allem auch Dr. Andrea Polaschegg verpflichtet, die mit großem Interesse und konstruktiver Kritik zur Seite stand. Daneben bedanke ich mich für die Unterstützung im Rahmen eines Forschungsstipendiums bei der Fritz-Thyssen-Stiftung und den Franckeschen Stiftungen. Zuvörderst aber danke ich meinen Eltern und meinem Bruder, die mit ihrer Freude am Wissen und ihrer Ermutigung für meinen Werdegang und
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Schöne 2005, S. 14 („Das Menschengedächtnis der Wörter“).
VIII
Vorwort
auch für diese Promotion die Basis gelegt haben. Für weit mehr als nur die akkurate Korrektur der Arbeit, dafür daß sie jederzeit Lichtblick war, danke ich Isabel. Bonn, im September 2006
Thomas Tillmann
Inhalt Einleitung .............................................................................................................. 1 Hermeneutische Grundpositionen der Bibelexegese im 18. Jahrhundert ................................................................................................... 5 Lutherisch-orthodoxe Bibelexegese............................................................... 8 claritas et perspicuitas – Hermeneutischer Optimismus.............................. 8 ratio diaboli sponsa – Hermeneutischer Pessimismus...............................10 analogia fidei zur Sicherung der widerspruchsfreien Auslegung............11 Verbale Inspiriertheit und uneingeschränkte Irrtumslosigkeit der Schrift.....................................................................................................13 Rückkehr zum „einfachen Sinn“ und Ablehnung der Allegorese.....................................................................................................16 Pietistische Bibelexegese................................................................................19 Philipp Jakob Spener und die Grundlegung pietistischer Bibelhermeneutik........................................................................................20 August Hermann Francke und die Systematisierung pietistischer Bibelhermeneutik..................................................................28 Affekte als hermeneutischer Schlüssel ....................................................32 Bibelexegese der Aufklärungstheologie und Neologie..............................34 Spinoza und die Grundlegung der aufklärerischen Bibelkritik............35 Johann Salomo Semler und die neologische Bibelkritik.......................36 „Unparteilichkeit“ und Ethisierung .........................................................39 Neologische Akkomodationslehre...........................................................41 Johann David Michaelis und die biblische Realienforschung .............46 Reimarus und die radikale Bibelkritik......................................................48
X
Inhalt
Johann Georg Hamann und die Idee der Kondeszendenz......................50 Herder und das Verständnis der Bibel als „jugendlicher Dichtung“.........................................................................................................54 Robert Lowth und die „Poesie der Hebräer“ ........................................54 Herders historisch-genetische Hermeneutik ..........................................57 Herders Hermeneutik als Produktionsästhetik......................................59 Herders Imperativ der hermeneutischen Immedesimation .................62 Die Bibelexegese in der satirischen Kritik des jungen Goethe ..........65 Prolog zu den neuesten Offenbahrungen Gottes.....................................................65 Carl Friedrich Bahrdts Neuste Offenbarungen Gottes .................................66 Erwiderungen auf Bahrdts Übersetzung.................................................71 Goethes satirische Kritik an Bahrdt ........................................................72 Goethes Bahrdt als Hieronymus-Persiflage............................................75 Goethes Personalsatiren im Licht der Kondeszendenztheorie Hamanns ......................................................................................................76 Jahrmarktsfest zu Plundersweilern .......................................................................79 Satire auf die Bibelkritik der Aufklärung.................................................81 Satire auf den Pietismus.............................................................................84 Die Genesis in der Bibelparodie...............................................................87 Ambivalenz der Auseinandersetzung des jungen Goethe mit der Bibel in nuce.......................................................................................................90 Die Entwicklung pneumatischer Hermeneutik und Produktionsästhetik .........................................................................................93 Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu *** ..........................................94 Theologische Positionsbestimmung des Pastors...................................95 Der Pastorenbrief als Pfarrerspiegel........................................................97 Der Pastorenbrief und Carl Friedrich Bahrdts Briefdebatte..............101 Biblische Argumentationsstrukturen und exegetischhermeneutische Annahmen des Pastors ...............................................105 Idiosynkrasie und Rollenfiktion .............................................................119
Inhalt
XI
Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen .................................................122 Exegetische Positionsbestimmung des Landgeistlichen.....................123 Die Opposition von Partikularität und Universalität als Klammer der Zwo biblischen Fragen ..........................................................127 „Erste Frage. Was stund auf den Tafeln des Bunds?“: Zurückweisung religiöser „Universalverbindlichkeiten“....................128 „Andere Frage. Was heißt mit Zungen reden?“: Glossolalie statt Prophetie ...........................................................................................137 Partikularität als Individualität – Kirchenkritische Implikationen ............................................................................................152 Glossolalie als Ausdrucksform des Idiosynkratischen – Vom Sprechen zum Lallen................................................................................155 Von Deutscher Baukunst..................................................................................157 Die „ganze Seele“ als hermeneutische Disposition.............................159 Das Hinzutreten des Geistes (Genius/Pneuma) .................................161 Glossolalische Produktionsästhetik .......................................................165 Pfingsten als hermeneutisches und produktionsästhetisches Paradigma...................................................................................................168 Die Pose des Lallens ................................................................................169 Die Wagnerszene im Faust (frühe Fassung)..............................................175 Fausts Verteidigung einer pneumatischen Hermeneutik....................176 Der „trockne Schwärmer“ als „theologische Kameralist“.................181 Fausts Säkularisation der pneumatischen Hermeneutik und Produktionsästhetik..................................................................................182 Das Hohelied Salomons in der Bearbeitung Goethes ...............................185 Grundprobleme der Auslegungstradition .................................................187 Wortverstand und Allegorese .................................................................188 Das Problem der Kanonizität.................................................................190 Das Problem der form- und gattungskritischen Einordnung ...........191 Exemplarische zeitgenössiche Übersetzungen und Deutungen............193 Hoheliedauslegungen aus dem Geist der Orthodoxie........................193 Mystisch-spirituelle Hoheliedauslegung: Gottfried Arnold ...............194
XII
Inhalt
Öffnung zur Sinnlichkeit: Hohelieddichtungen des Pietismus .........196 Das Hohelied als Unterweisung in bürgerlicher Ehemoral: Johann David Michaelis und Johann Friedrich Jacobi .......................202 Mystischer Literalismus: Johann Georg Hamann ...............................204 Das Hohelied als Volkslied: Johann Gottfried Herder.......................207 Goethes Bearbeitung des Hohenliedes......................................................216 Gliederung in autonome Lieder .............................................................220 Auslassung von Redundanzen, refrainhaften und exkursiven Elementen..................................................................................................222 Fokussierung auf die Intimität der Protagonisten ...............................226 Zentrierung auf das „Innere, Eigentliche“................................................230 „Das Innere, Eigentliche einer Schrift“...................................................235 Anhang A. Fragmentarische Handschrift einer
Hoheliednachdichtung aus dem Nachlaß Susanna Katharina v. Klettenbergs...........................................................239 Anhang B. Goethes Hoheliedfassung in der Synopse mit der Lutherübersetzung ..........................................................................243 Anhang C. Literaturverzeichnis .................................................................255 Abkürzungen .................................................................................................255 Ausgaben der Werke Goethes ....................................................................256 Andere Quellen .............................................................................................257 Forschungsliteratur .......................................................................................264
Einleitung Mit den glänzenden Arbeiten von Willems (Das Problem der Individualität als Herausforderung an die Semantik im Sturm und Drang) und Schneider (Propheten der Goethezeit), beide erschienen 1995, ist in den vergangenen Jahren verstärkt das Augenmerk auf die Bedeutung der Religion für die Entfaltung der literarischen Individualität des jungen Goethe gerichtet worden: Willems hat anhand des Briefs des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu *** dargelegt, wie Goethe dieses Individualitätskonzept in einem „religiöse[n] Code“1 entwickelt, Schneider ist detektivisch den Spuren gefolgt, die von den „inspirierten Werkzeugen“ pietistisch-sezessionistischer Kreise und ihrem verzückten Sprechen zu Goethes poetischer Neubestimmung führen.2 Diese säkularisierende Indienstnahme religiöser und spezifisch pietistischer Paradigmen, aus deren aneignender Umformung die neue Ästhetik des jungen Dichters hervorgeht, wurde bislang als Übertragung religiös geprägter Ausdrucksmuster begriffen. Doch neben Mustern religiösen Sprechens werden ebenso Muster religiösen Verstehens auf die Literatur transferiert; den produktionsästhetischen entsprechen die hermeneutischen Übertragungsprozesse. Zumal die Bibelexegese bietet Goethe hochreflektierte Verstehenslogiken an, die ebenso säkularisierend auf die Literatur übertragen werden und deren Umwandlungsprodukte in der Geniekonzeption aufgehen.3 Die vorliegende Arbeit möchte aufzeigen, wie Goethes intensive Auseinandersetzung mit bibelexegetischen Fragen auf die hermeneutischen Vorstellungen ausstrahlt, die viele seiner frühen Texte durchziehen und zu einem wesentlichen Ausgangspunkt seiner Genieästhetik werden. Es gilt noch immer, was Beisler feststellt: „Goethes Gedanken zur Hermeneutik haben bisher kaum Beachtung gefunden.“ 4
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Willems 1995, S. 60. Vgl. Schneider 1995, S. 156. Im folgenden wird Schönes Definition angelegt, nach der Säkularisation, entsprechend der Überführung von kirchlichem Eigentum in staatlichen Besitz, als Übertragungsprozeß verstanden wird, bei dem „sprachliche Formen und Strukturen, vorgebildete Begebenheiten, Verhaltensweisen, Denkfiguren usf. aus dem religiösen Bereich, in dem sie geprägt wurden, herausgelöst und der ‚Herrschaft‘ weltlich-dichterischer Ordnung unterworfen, fremden Absichten dienstbar gemacht“ werden. Schöne 1958, S. 23. Beisler 1999, S. 1
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Einleitung
Insbesondere die pietistische Hermeneutik, wie sie sich in der spezifischen Bibelauslegung durch „erweckte“ Kreise expliziert, dient Goethe als fruchtbares verstehenstheoretisches Paradigma, das auf spielerische Weise in der Phase seiner Entfaltung literarischer Individualität herangezogen wird. Die Vertrautheit des jungen Goethe mit der bibelexegetischen Tradition und den zeitgenössischen Debatten um eine angemessene Bibelauslegung ist dabei nicht nur Produkt eines genuin protestantischen Bildungsweges im 18. Jahrhundert, sondern auch Ergebnis einer bislang weithin unterschätzten methodischen Reflexion über die hermeneutischen Grundfragen der Bibelauslegung. Hermeneutische Theorie als verstehenstheoretische Metaebene entfaltet sich vor allem dort, wo die Frage der richtigen Auslegung eines Textes existentielle Bedeutung gewinnt. So verwundert es nicht, daß zuvörderst Theologie und Rechtswissenschaften die Disziplinen sind, für die hermeneutische Theorien ausschlaggebend werden: Zumindest potentiell über Leben und Tod entscheiden in der Theologie wie in den Rechtswissenschaften Texte. So unabhängig voneinander diese beiden Disziplinen heute auftreten, so verwoben sind sie noch zu Goethes Zeiten, dessen Jurastudium nicht nur ein Studium iuris utriusque ist, sondern weit über das Kirchenrecht hinaus in die Theologie weist, wie noch Goethes Dissertationsversuch zeigt.5 Im literarischen Werk des jungen Dichters hinterläßt die anzunehmende Bekanntmachung des Studenten Goethe mit den Theorien juristischer Hermeneutik indes keine signifikanten Spuren, was angesichts der im folgenden herausgestellten Valenz theologischer Verstehenslehre bemerkenswert erscheint. Angesichts der unzähligen biblischen Verweise in Goethes Werk, seiner von der Bibel durchdrungenen Sprache und der Bemerkungen in Dichtung und Wahrheit über die frühe Vertrautheit mit dem Buch der Bücher gehört es zu den Gemeinplätzen der Forschung, auf die prägende Bedeutung der Bibel in Leben und Schaffen Goethes hinzuweisen.6 Akribischer Positivismus der Kommentatoren führte dazu, daß heute in den gängigen Kommentaren viele Tausend Anleihen an die Bibel im Werk Goethes gekennzeichnet sind, denen sich bei noch genauerem Hinsehen
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Vgl. Cros/Lühmann 1971. Vgl. z.B. Althaus 1951, S. 5ff. und Fischer-Lamberg 1956, S. 201 sowie etwa Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 9, S. 510 (12. Buch): „Ich hatte sie [die Bibel], wie bei dem Religionsunterricht der Protestanten geschieht, mehrmals durchlaufen, ja, mich mit derselben sprungweise, von vorn nach hinten und umgekehrt, bekannt gemacht.“
Einleitung
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wohl weitere hinzufügen ließen.7 Daß Goethe jedoch nicht nur das wieder und wieder Gelesene und Gehörte in sich aufnimmt, seine eigene Ausdruckskraft an der Expressivität der Bibel schult und auf ihr überreiches Arsenal an Bildern und Motiven zurückgreift, sondern sich überdies gleichsam auf einer methodologischen Metaebene mit der Auslegung der Heiligen Schrift auseinandersetzt, findet indes kaum die gebührende Erwähnung. Die Reflexion des jungen Goethe über die Bibel und ihre angemessene Auslegung soll zunächst am Beispiel zweier weithin unbeachteter Texte des heranwachsenden Dichters beleuchtet werden, die Grundfragen der Bibelexegese satirisch-polemisch beleuchten. Die kurze Posse Jahrmarktsfest zu Plundersweilern mit ihrer Ironisierung theologischer und zumal bibelexegetischer Überzeugungen und ihrer Persiflierung biblischer Stoffvorlagen sei dabei neben die polemische Farce Prolog zu den neuesten Offenbahrungen Gottes gerückt, in der Goethe sich mit aller satirischen Schärfe gegen die aus seiner Sicht anmaßende Mißachtung der Bibel durch ihren Übersetzer Carl Friedrich Bahrdt wendet. Wenn der junge Goethe sich auch keiner der verschiedenen Strömungen und Schulen der Bibelexegese verschreibt, so kann dennoch festgestellt werden, daß die pietistische Bibelhermeneutik in besonderem Maße zum Gegenstand seines Interesses wird. Indem die pietistische Bibelhermeneutik eine pneumatische Disposition gelingendem Verstehen voraussetzt, bietet sie sich der aneignenden Adaption durch die Geniekonzeption an: Der „Wiedergeborene in Christo“, dem gnadenhaft Verstehen zuteil wurde und dessen Verzückung sich in normvergessener Zungenrede Bahn bricht, wird zur Schablone, nach der das Verhältnis von Eindruck und Ausdruck, Hermeneutik und Produktionsästhetik des Genies, gezeichnet wird. Wurde die Bedeutung des Aufsatzes Von Deutscher Baukunst als produktionsästhetischen Manifests bereits früh erkannt, so ist bislang nicht dargelegt worden, wie die propagierte neue, „karackteristische Kunst“8 durch eine spezifische Hermeneutik bedingt ist, die ihre Prägung durch das pietistische Hermeneutikmodell nicht verhehlen kann. Dieses Umschlagen einer geistgewirkten, pneumatischen Hermeneutik in eine neue, gleichfalls pneumatische bzw. genialische Produktionsästhetik wird von Goethe in der Auseinandersetzung mit theologischen und insbesondere bibelexegetischen Fragen in den Texten
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Einen – wenngleich unvollständigen – Überblick über biblische Anleihen im Werk Goethes gibt Janzer 1929, S. 121ff. Baukunst, DjG, Bd. 2, S. 373.
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Einleitung
Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu *** und Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen entworfen und in der Rollenfiktion vorgeblich schreibender Geistlicher reflektiert. Die enge Bezogenheit dieser drei anonymen, spielerisch sich Positionen aneignender Texte aufeinander darzulegen, ist dabei zentrales Anliegen der zweiten der drei Untersuchungen zum Problem des Einflusses bibelhermeneutischer Konzepte auf die Ausbildung eigener hermeneutischer Positionen des heranwachsenden Dichters. Abschließend sei anhand der Wagnerszene angerissen, wie diese Vorstellung einer zirkulären Bezogenheit von pneumatischem Verstehen und pneumatischem Ausdrucksvermögen noch auf die ersten Arbeiten am Faust ausstrahlt. Die dritte Untersuchung wählt sich Goethes Fassung des Hohenliedes Salomonis zum Gegenstand. Insofern sich in der ‚Übersetzung‘ dieser „herrlichste[n] Sammlung liebes Lieder die Gott erschaffen hat“9, hermeneutische Annahmen im Herantreten an den Bibeltext gleichsam selbst explizieren, soll das Hohelied Salomons aus dem Herbst 1775 im Spannungsfeld anderer Hoheliedfassungen der Zeit unter der Fragestellung betrachtet werden, welche hermeneutischen Vorstellungen Goethes dichterische Aneignung des Bibeltextes bestimmen. Um die komplexen bibelexegetischen Implikationen der ausgewählten Schriften herausstellen zu können, ist den Untersuchungen ein theologiegeschichtlicher Überblick vorangestellt, der schematisch das verwirrende Neben- und Gegeneinander der theologischen und speziell der exegetischen Strömungen des deutschen Protestantismus im 18. Jahrhundert, wie es sich in den Schriften Goethes widerspiegelt, darzustellen haben wird. Dabei kann es nicht Aufgabe sein, einen Überblick über die Entwicklung der Theologie und Exegese insgesamt zu geben; vielmehr soll versucht werden, einige Grundprobleme und Begrifflichkeiten der exegetischen Auseinandersetzung der Zeit anzureißen, die für die Untersuchung bibelexegetischer Paradigmen in Goethes Werken unerläßlich sind.
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Briefe, DjG, Bd. 1, S. 700 (an Johann Heinrich Merck, 7. Oktober 1775).
Hermeneu tisch e Grun dposi tionen der Bi belex egese i m 18. Jahrhun dert
Voraussetzungen: Hermeneutische Grundpositionen der Bibelexegese im 18. Jahrhundert Die Debatte um das angemessene Verständnis der Heiligen Schrift zählt zu den wichtigsten und in ihrer Wirkung nachhaltigsten geistesgeschichtlichen Geschehnissen des 18. Jahrhunderts. Die überaus leidenschaftlich geführte Diskussion muß einen jungen Menschen, der wie Goethe an den intellektuellen Entwicklungen seiner Zeit rege teilnimmt, beschäftigen. Er setzt sich, wie zu zeigen sein wird, mit den verschiedenen methodischen Ansätzen der Bibelauslegung kritisch auseinander, steht mit maßgeblichen Exegeten in persönlicher Beziehung und mischt sich überdies mit kleineren Schriften selbst in die exegetische Debatte ein. Nachfolgend kann es nicht darum gehen, eine systematische Exegesegeschichte des 18. Jahrhunderts zu schreiben. Vielmehr sollen die der exegetischen Debatte zugrundeliegenden Kernprobleme des Bibelverständnisses in der Umbruchszeit des 18. Jahrhunderts, soweit Goethe auf sie Bezug nimmt, vorgestellt werden. Damit sollen zugleich die Begrifflichkeiten eingeführt werden, die es erlauben nachzuzeichnen, wie Goethes Auseinandersetzung mit der Bibel auf die Herausbildung seiner allgemeinen literarischen Hermeneutik wirkt. Das verworrene Neben- und Gegeneinander disparatester Auslegungsweisen und methodischer Ansätze in der Theologie des 18. Jahrhunderts wird vielfach unzulänglich vereinfachend und verzerrend als „immer weitergehende Rezeption der aufklärerischen Gedanken“1 (Jørgensen/Bohnen/Øhrgaard) beschrieben. Doch stellt sich die Lage weit vielschichtiger und komplexer dar: Weder ist die Theologie der Zeit alleine von der Aufklärung bestimmt, noch kann von einer genau bestimm- und abgrenzbaren Aufklärungstheologie die Rede sein. Die Formierung des modernen Bibelverständnisses und die Herausbildung der historischkritischen Methode, deren hermeneutische Grundlagen sich bis zu Lorenzo Valla (1407-1457), Hugo Grotius (1583-1645), Thomas Hobbes (1588-1679) und Baruch Spinoza (1632-1677) zurückverfolgen lassen, fallen in diese Zeit.2 Einen besseren Zugang zu den biblischen Original-
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Jørgensen/Bohnen/Øhrgaard 1990, S. 39. Vgl. Schottroff 1985, S. 122 u. Reventlow 1988.
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Hermeneutische Grundpositionen der Bibelexegese im 18. Jahrhundert
texten eröffnet überdies die Orientalistik, die im 18. Jahrhundert u.a. an der Universität Halle im Rahmen der Theologenausbildung verstärkte Bedeutung gewinnt. Mit den Orientreisen, wie der von Johann David Michaelis angeregten, werden Sprache, Kultur und Natur des zeitgenössischen Nahen Ostens erstmals wissenschaftlich erforscht, um die Ergebnisse für das Verständnis der biblischen Vergangenheit nutzbar zu machen.3 Dem neuen kritischen Bibelverständnis steht aber noch immer die mächtige lutherische Orthodoxie entgegen. Von beiden Strömungen wiederum setzt sich die pietistisch bestimmte, um Verinnerlichung bemühte Bibelexegese ab.4 Diese Strömungen lassen gänzlich unterschiedliche Methoden der Bibelexegese erkennen, ja es wird der spezifische Umgang mit der Heiligen Schrift geradezu zum Signum der einzelnen theologischen Strömungen. Die unerbittliche Heftigkeit des exegetischen Streites wird nur vor dem Hintergrund der gemeinsamen protestantischen Grundüberzeugung verständlich, daß einzig die Heilige Schrift die letzte Autorität in allen Glaubensfragen darstelle. Die von allen Seiten beanspruchte richtige Bibelexegese ist somit vor allem die Fähigkeit, verbindlich über Wahrheit und Irrtum, Glaube und Unglaube zu entscheiden. Seit Mitte des Jahrhunderts ist jedoch eine eklektizistische Tendenz in der protestantischen Theologie zu erkennen, aus den disparaten Richtungen einzelne Elemente herauszugreifen und jenseits der Frontenbildung zu einer pragmatischen, synkretistischen ‚Mischtheologie‘ vorzudringen. Insbesondere Pietismus und Orthodoxie nähern sich unter den Angriffen der rationalistischen Religions- und Bibelkritik einander an, doch ließen sich ebenso zwischen Pietismus und Aufklärungstheologie zahlreiche Verwebungen aufzeigen.5 So bereitet beispielsweise der Hallesche Pietismus mit seinen Verdiensten um die Erforschung der Quellensprachen und eine sichere biblische Textgrundlage der historischkritischen Exegese der Aufklärungstheologie den Boden und kann als
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Vgl. Löwenbrück 1988, S. 161. Zu den Orientreisen und zum Entstehen der wissenschaftlichen Orientalistik vgl. Schimmel 1999, Nebes 1999, Fück 1955, S. 97ff. u. Bourel 1988. Goethe geht in Dichtung und Wahrheit auf die sich als Wissenschaft formierende Orientalistik ein. Vgl. Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 9, S. 275, 7. Buch. Goethe nimmt beispielsweise interessiert Anteil an der 1761 aufbrechenden Orientexpedition im Auftrag des dänischen Königs, die vom Göttinger Theologen Michaelis angeregt worden war. Vgl. Michaelis, Lebensbeschreibung, S. 66ff.; zu Goethes Interesse für die arabische Welt vgl. Mommsen 1988, S. 24ff. Einen Überblick über die wichtigsten theologischen Strömungen des 18. Jahrhunderts gibt Hornig 1998. Vgl. Kantzenbach 1966, S. 167 u. S. 173f.
Lutherisch-orthodoxe Bibelexegese
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verbindendes Glied verstanden werden.6 Die Forschungsdiskussion zum Verhältnis von Pietismus und Aufklärung zusammenfassend, bemerkt Müsing: „Etwas schematisiert reicht die Palette der Antworten von der völligen Abhängigkeit des Pietismus von der Aufklärung über eine dem Pietismus innewohnende Tendenz zur Aufklärung, über ein Sowohl-Alsauch im Geben und Nehmen, und ein hartes Gegenüber bis hin zur Behauptung eines umgekehrten Kausalverhältnisses.“7 Gegenüber simplen, eindimensionalen Oppositionen zwischen den Strömungen versucht eine um mehrdimensionale „Verräumlichung“ (Manger) bemühte historische Darstellung, verschiedene parallele Strömungen auf theologischem wie auf literarischem Gebiet als unterschiedliche Ausformung der Aufklärung zu beschreiben.8 Ein „erweiterter Aufklärungsbegriff“ (Hofmann) der aktuellen Forschung kann so selbst die pietistische Mystik mit einschließen.9 Trotz dieser wechselseitigen Bedingtheit und Verwobenheit bleibt es in der Wahrnehmung der Zeitgenossen wie in der Retrospektive der Theologiegeschichte weithin bei den plakativen Oppositionen von Orthodoxie, Pietismus und Aufklärungstheologie. Systematisierend sollen im folgenden diese drei Hauptströmungen des deutschen Protestantismus im 18. Jahrhundert in ihren bibelexegetischen Ansätzen voneinander abgegrenzt werden, ohne dabei außer acht zu lassen, daß es Verbindendes gibt und die einzelnen Schulen selbst ein äußerst heterogenes Bild abgeben. Neben diesen drei großen theologisch-exegetischen Schulen kommen mit dem Verständnis der Bibel als „hebräischer Dichtung“ u.a. bei Herder und dem Hamannschen Verständnis der Schrift als Kondeszendenz, d.h. als „Herunterlassung“ Gottes in die selbstgewählte Niedrigkeit menschlicher Literatur, neue Sichtweisen auf, die nicht nur in der theologischen Wissenschaft, sondern auch in der Literatur ihre Wirkung entfalten. Diese literarisch-ästhetischen Lesarten stecken mit den theologisch-exegetischen Ansätzen das Spannungsfeld ab, in dem der junge Goethe um ein eigenes Verständnis der Bibel ringt, und seien daher ebenso nachfolgend konzis umrissen.
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Vgl. Müsing 1977, S. 32ff. u. Schäfer 1980, S. 121. Müsing 1977, S. 36. Zu Verwebungen von Pietismus und Aufklärung am konkreten Beispiel Halles vgl. Sträter 1995. Vgl. Manger 2001, S. 46. Vgl. Hofmann 2001, S. 157.
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Hermeneutische Grundpositionen der Bibelexegese im 18. Jahrhundert
Lutherisch-orthodoxe Bibelexegese Die Bibelauslegung der lutherischen Orthodoxie gründet auf dem Offenbarungsverständnis der Reformation, das schlagwortartig mit der Parole „sola scriptura“ zusammengefaßt wird: Allein aus der Heiligen Schrift spreche die klare und unverfälschte Stimme Gottes und damit nicht ebenso aus der kirchlich-lehramtlichen Tradition, wie es Auffassung des Katholizismus ist.10 Die Hermeneutik des Wortes Gottes, das Luther (1483-1546) bezeichnenderweise oft nicht schlicht als verbum, sondern als promissio übersetzt, steht so mit existentieller Dringlichkeit im Zentrum der reformatorischen Theologie.11 Erst das richtige Verstehen der Offenbarung gibt der Auferstehung Christi ihren soteriologischen Sinn. Bibelhermeneutik ist damit nicht nur akademische Disziplin, sondern sie wird für Luther zur heilsbestimmenden Weichenstellung des Gläubigen: Das Wort, das wort, das wort [...], das wort thuts, Denn ob Christus tausentmal fur uns gegeben und gecreutzigt würde, were es alles umb sonst, wenn nicht das wort Gottes keme, und teylets aus und schencket myrs und spreche, das soll deyn seyn, nym hyn und habe dyrs.12
Zugleich deuten sich aber schon bei Luther im Spannungsverhältnis zwischen der eingeforderten Wissenschaftlichkeit der Bibelexegese und der intendierten Erbaulichkeit der Bibellektüre die Bruchstellen innerhalb der protestantischen Theologie an, die im 18. Jahrhundert unter den unerbittlichen Angriffen der Aufklärung, wie zu zeigen sein wird, aufklaffen werden.
claritas et perspicuitas – Hermeneutischer Optimismus Die Exegese der lutherischen Orthodoxie findet ihren Ausgangspunkt in der Überzeugung des Reformators von der sufficientia der Schrift, d.h. der Annahme, die Bibel erschließe sich ohne weiteres, lege sich selbst dabei aus und bedürfe nicht der Ergänzung um weitere normative hermeneutische Autoritäten:
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Vgl. Linder 1998, S. 5f. Zu Luthers Auseinandersetzung mit der Gewichtung von kirchlichem Lehramt und biblischer Offenbarung vgl. Beisser 1987, S. 25ff. Zum Gebrauch des Wortes promissio vgl. etwa Luther, WA, Bd. 6, S. 517 (De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium). Ebd., Bd. 18, S. 202f. (Wider die himmlischen Propheten, von den Bildern u. Sakrament).
Lutherisch-orthodoxe Bibelexegese
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Sic habet universa scriptura, ut collatis undique locis velit seipsam interpretari et se sola magistra intelligi.13
Die lutherische Orthodoxie des 18. Jahrhunderts hält an der Annahme der umfassenden Klarheit und Deutlichkeit, claritas et perspicuitas, fest; so konstatiert noch David Hollaz (1648-1713) in der letzten umfassend angelegten Dogmatik der lutherischen Orthodoxie, seinem Examen theologicum acroamaticum (1707), ob dieser Eigenschaft der Bibel, sich selbst zu erschließen, sei die Schrift jedem vernunftbegabten und sprachmächtigen Menschen zugänglich und müsse letztlich als Heilsweg erkannt werden: Omnium hominum, pleno rationis vso pollentium, & verbi externi capacium, saluti diuinitus destinatae & conscriptae sunt sacrae litterae [...], vt eas attende legere, deuoteque meditari liceat & expediat clericis & laicis, doctis & indoctis, viris & foeminis [sic!] [...].14
Angesichts der claritas und perspicuitas der Bibel hat die Exegese nach Luther unmittelbar vom biblischen Text auszugehen und ist im Gegensatz zur vorreformatorischen, katholischen Auslegungspraxis zunächst nicht mehr gleichermaßen der Heiligen Schrift wie der kirchlichen Auslegungstradition verpflichtet, um ‚dunkle‘ Stellen oder Widersprüchlichkeiten verständlich werden zu lassen: Allein das Wort eröffnet für Luther den Zugang zu Christus.15 Wo sich der Sinn der Schrift jedoch nicht allein aus dem einzelnen Wort erschließe, müsse das Ganze der Bibel in Betracht gezogen werden. Luther überträgt so die seit der Antike verwendete organische Vorstellung, die den Text mit einem intakten Körper und dessen Verhältnis von Haupt und Gliedern vergleicht, auf die Bibel und erhebt zum Prinzip seiner Textinterpretation, „daß alle Einzelheiten eines Textes aus dem contextus, dem Zusammenhang, und aus dem einheitlichen Sinn, auf den das Ganze zielt, dem scopus, zu verstehen sind“16 (Gadamer). Luther geht dabei von einem harmonisch-konsistenten Bibelverständnis aus, das nichts Unvereinbares oder Widersprüchliches in der Heiligen Schrift zu finden vermag. Alle Wörter der Bibel laufen demnach auf das eine Wort Gottes zu, von dem ausgehend dialektisch das einzelne Wort zu erschließen ist:
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Ebd., Bd. 14, S. 556 (Vorlesung über das Deuteronomium). Hollaz, Examen, S. 99. Vgl. Lohse 1981, S. 200 u. Ebeling 1991, S. 405f. Gadamer 1990, Bd. 1, S. 179. Zum Körper-Topos in der Hermeneutik vgl. Danneberg 2003.
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Hermeneutische Grundpositionen der Bibelexegese im 18. Jahrhundert
omnia verba dei sunt unum, simplex, idem, verum, quia ad unum omnia tendunt, quantumvis multa sint. Et omnia verba, que in unum tendunt, unum verbum sunt.17
Das Verfahren des fortwährenden Bezugs des einzelnen Wortes auf das unum verbum als scopus oder „Mitte der Schrift“ hat neben inhaltlich-methodischen Konsequenzen auch formale Auswirkungen: Gegenüber der Disparität der einzelnen biblischen Perikopen und Bücher tritt die Heilige Schrift als geschlossen gedachte Einheit in den Vordergrund.18 ratio diaboli sponsa – Hermeneutischer Pessimismus Luthers hermeneutischem Optimismus, die Schrift lasse sich in ihrer claritas et perspicuitas erschließen, korreliert sein hermeneutischer Pessimismus, der, so verständlich die Schrift auch sei, tatsächliches Verstehen schlichtweg für ein überaus selten geschehendes Wunder hält: In rebus divinis mirum potuis, si unus et alter non caecutiat; Non mirum vero, si plane omnes caecutiant.19
Für Luther setzt das Verstehen der Heiligen Schrift den Glauben voraus; erst der Glaube befähige den Leser bzw. Zuhörer, das Wort Gottes auf sich zu beziehen und es so in seinem eigentlichen Gehalt als Offenbarung jenseits des vernünftigen, aber unbeteiligten und mithin unfruchtbaren Verstehens (intelligentia mortua) zu durchdringen.20 Der Mensch stehe vor der Wahl zwischen einer Hermeneutik des Glaubens und einer Hermeneutik des Teufels. Der bloße Verstand, trete nicht der Glaube hinzu, wird von Luther gegeißelt – „ratio est diaboli sponsa“21 – und der Hermeneutik des Teufels zugeordnet: „Wer Gott nicht wil horen reden, audiat diabolum.“22 Den objektiven Eigenschaften der claritas und perspicuitas als intellektueller Zugänglichkeit der Bibel steht also eine subjektive Unzugänglichkeit der Bibel gegenüber. Diese Verschlossenheit der Schrift gründet in der lutherischen Anthropologie der Sündenverfangenheit, die sich in der zwingenden Ablehnung der Christologie, dem übergreifenden scopus der
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Luther, WA, Bd. 3, S. 356 (Dictata super Psalterium). Vgl. Karpp 1992, S. 186. Luther, WA, Bd. 18, S. 659 (De servo arbitrio). Zur intelligentia mortua bei Luther vgl. Karpp 1992, S. 186f. Luther, WA, Bd. 34/2, S. 313 (Predigten des Jahres 1531, Nr. 91, 8. Oktober). Ebd., Bd. 49, S. 175 (Predigten des Jahres 1540, Nr. 30, 24. Dezember).
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gesamten Schrift, äußere.23 Nur durch Gottes wundersame Hilfe („ut nisi spiritu Dei mirabiliter suscitetur“) könne der Christ im Glauben die Heilige Schrift verstehen: Audientes audientis et non cognoscetis, et videntes non videbitis. Quid hoc est aliud, quam liberum arbitrium seu cor humanum sic esse Satanae potentia oppressum, ut nisi spiritu Dei mirabiliter suscitetur, per sese nec ea videre possit nec audire, quae in ipsos oculos et in aures manifeste impingunt, ut palpari possint manu? tanta est miseria et caecitas humani generis.24
Der Glaube und mit ihm die Absage an die Hermeneutik des Teufels eröffnen ein Verstehen, das Gottes Wort durch den Heiligen Geist als Offenbarung wirksam werden ließe. Damit bleiben die zentralen Begriffe Verheißung und Glaube, promissio und fides, bei Luther in einer hermeneutischen Dialektik immer aufeinander bezogen: Quilibet enim facile intelligit, quod haec duo sunt simul necessaria, promissio et fides: sine promissione enim credi nihil potest, sine fide autem promissio inutilis est, cum per fidem stabilitur et impleatur.25
Gegenüber dieser ambivalenten Hermeneutik läßt sich eine Engführung der lutherischen Verstehensparadigmen durch die Orthodoxie des 17. und 18. Jahrhunderts bemerken, die, wie beispielsweise Hollaz in seinem Examen, den hermeneutischen Optimismus der perspicuitas und claritas einseitig gegenüber den pessimistischen Zügen betont und Luthers Vorstellung einer subjektiven Unzugänglichkeit der Schrift weitgehend außer acht läßt.26 analogia fidei zur Sicherung der widerspruchsfreien Auslegung Eng verbunden mit dem zirkulären Bezug der einzelnen Aussage auf die vorausgesetzte Gesamtaussage der Bibel („Mitte der Schrift“) ist die aus der Patristik stammende Lehre der verbindlichen analogia fidei. Ihre Methode ist die Auslegung jeder einzelnen Offenbarungsaussage aus dem
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Vgl. Ebeling 1991, S. 376ff. Luther, WA, Bd. 18, S. 658 (De servo arbitrio). Luther paraphrasiert den Vers Mt. 13,14 („An ihnen erfüllt sich die Weissagung Jesajas: Hören sollt ihr, hören, aber nicht verstehen; / sehen sollt ihr, sehen, aber nicht erkennen.“, zit. n. Einheitsübersetzung; ebenso Mk. 4,12), der Jes. 6,9 wiedergibt. Ebd., Bd. 6, S. 517 (De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium). Vgl. Hollaz, Examen, S. 99 („Omnium hominum, pleno rationis vso pollentium, & verbi externi capacium, saluti diuinitus destinatae & conscriptae sunt sacrae litterae [...]“) und Luther, WA, Bd. 5, S. 597 (Operationes in Psalmos, „Utrunque enim tractatori scripturam necessarium est, magis tamen spiritus quam lingua.“).
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Gesamtgefüge der Offenbarung. Dem Anspruch der protestantischen Theologie auf Bibelimmanenz nach muß das Gesamtgefüge der Offenbarung jedoch identisch mit der kirchlichen Dogmatik sein, so daß die analogia fidei in der exegetischen Praxis den Beleg der kirchlichen Glaubenslehre der jeweiligen Konfession verlangt und so zur apologetischen Selbstbestätigung verkürzt wird.27 Die Lehre beruft sich dabei auf den Römerbrief (12,6) und seine Forderung nach „Übereinstimmung mit dem Glauben“28 in der Prophetie.29 Der analogia fidei liegt dabei erkennbar die Absicht der Sicherstellung der widerspruchsfreien Einheit der Schriftauslegung und der Festigung dogmatischer Lehren zugrunde.30 Johann Jakob Rambach (1693-1735) bestimmt in den Institutiones hermeneuticae sacrae (1723), seinem „Hauptwerk der pietistischen Hermeneutik“31 (Stroh), die analogia fidei, methodisch in Übereinstimmung, inhaltlich freilich in Divergenz zur katholischen Dogmatik, als übergeordnetes Prinzip, mit dem jede Auslegung übereinzustimmen habe: Auctoritas, quam haec analogia fidei in re exegetica habet, in eo consistit, ut sit fundamentum ac principium generale, ad cuius normam omnes scripturae expositiones [...] exigendae sunt.32
Das Vorgehen der lutherisch-orthodoxen Bibelhermeneutik ist damit apologetisch-induktiv: Die bereits feststehende Lehre wird über die dem Text erst noch zu entnehmende, potentiell abweichende Erkenntnis gestellt, so daß diese dogmatisch-gebundene Bibelexegese secundum analogiam fidei immer neue dicta probantia zum Beleg ihrer vorausgesetzten Annahmen liefert, diese jedoch nicht in einem offenen Erkenntnisprozeß korrigieren kann.33 War der ursprüngliche protestantische Impetus des „sola scriptura“ also auf eine rein bibelimmanente Theologie gerichtet, so kehrt sich die lutherische Orthodoxie durch die analogia fidei und ihren Zwang zur Bestätigung ihrer lehramtlichen Voraussetzungen implizit wieder von der propagierten textimmanenten Bibelhermeneutik ab.
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Vgl. Przywara 1957ff., Sp. 475. Röm. 12,6 zit. n. Einheitsübersetzung: „Wir haben unterschiedliche Gaben, je nach der uns verliehenen Gnade. Hat einer die Gabe prophetischer Rede, dann rede er in Übereinstimmung mit dem Glauben“. Vgl. Karpp 1992, S. 185. Vgl. Hornig 1996, S. 253. Stroh 1977, S. 40. Rambach, Institutiones, S. 72. Es wird aus der Jenaer Ausgabe aus dem Jahr 1764 zitiert. Vgl. ähnlich Hollaz, Examen, S. 161: „Omnis interpretatio fidei analoga, siue consentanea, ex ipsia scriptura sacra est petenda.“ Vgl. Hornig 1961, S. 51.
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Verbale Inspiriertheit und uneingeschränkte Irrtumslosigkeit der Schrift Mit dem protestantischen Anspruch auf eine bibelimmanente Theologie ist die Hervorhebung der Verbalinspiration aufs engste verbunden. Wenn die Bibel zur alleinigen Autorität wird, muß diese durch das Dogma der umfassenden göttlichen Eingebung gegen jede Relativierung und Kritik, beziehe sie sich auch nur auf Äußerlichkeiten der Texttradierung oder inhaltliche Einzelheiten, geschützt werden.34 Die Theologie hat damit zu klären, in welchem Maße göttliche Offenbarung und biblischer Text dekkungsgleich sind. Die Antworten auf diese Frage markieren wesentlich die Abgrenzungen zwischen den einzelnen bibelhermeneutischen Strömungen des 18. Jahrhunderts. Zu den Kernüberzeugungen der lutherischen Orthodoxie zählt das Theologumenon der verbalen Inspiriertheit der Schrift, deren Entgegennahme als getreu niedergeschriebenes Diktat des Heiligen Geistes vorgestellt wird, so daß Wort Gottes und Wort der Bibel in eins zu setzen seien (Identitätsthese):35 Omnia & singula verba, quae in sacro codice leguntur, a Spiritu sancto prophetis & apostolis inspirata, & in calamum dictata sunt.36
In der dogmatischen Ausschließlichkeit dieser Diktatvorstellung kann sich die Lehre der Verbalinspiration dabei nicht auf Luther berufen, der zwischen der unmittelbaren Inspiration des Sprechens Christi und der mittelbaren oder relativen Inspiriertheit des Bibeltextes unterscheidet.37 Wie noch im Detail darzulegen sein wird, formuliert die aufklärerisch beeinflußte Richtung der Neologie gegenüber der Identitätsthese der lutherischen Orthodoxie vorsichtiger, die Heilige Schrift enthalte das Wort Gottes.38 Mit dieser Preisgabe der Vorstellung, die Bibel stelle eine geschlossene, in toto direkt göttlich inspirierte Einheit dar, ist auch das
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Vgl. Schäfer 1980, S. 109. Als locus classicus zum Beleg der Vorstellung, die Bibel sei vom Heiligen Geist inspiriert, darf der zweite Brief an Timotheus gelten: „Jede von Gott eingegebene Schrift ist auch nützlich zur Belehrung, zur Widerlegung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit [...].“ 2 Tim. 3,16 zit. n. Einheitsübersetzung. Zur Identitätsthese vgl. Hornig 1961, S. 45f. Hollaz, Examen, S. 85. Vgl. Luther, WA, Bd. 18, S. 606 (De servo arbitrio): „Sic habet mea distinctio, ut et ego parum rhetoricer vel Dialecticer, Duae res sunt Deus et Scriptura Dei, non minus quam duae res sunt, Creator et creatura Dei“. Zur Inspirationsvorstellung bei Luther vgl. Ebeling 1991, S. 365ff. Nur vor dem Hintergrund dieser noch offeneren Inspirationsvorstellung erscheinen Luthers Ansätze einer Kanonkritik, wie sie sich etwa in seiner Herauslösung des Buches Tobias aus dem Zusammenhang der übrigen Schriften des Alten Testaments oder in seiner Skepsis gegenüber der johanneischen Apokalypse manifestieren, verständlich. Vgl. Beisser 1987, S. 20f. Vgl. Schäfer 1980, S. 126f.
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hermeneutische Prinzip Luthers, das einzelne und das Ganze, verbum und contextus, sich wechselseitig erschließen zu lassen, so nicht mehr aufrechtzuerhalten.39 Angesichts der immer stärker wahrgenommenen Disparität der Bibel vermag etwa bei Johann Salomo Semler (1725-1791) nicht mehr der Zusammenhang der anderen biblischen Bücher als erhellender contextus zu dienen, sondern der historische und lebensweltliche Zusammenhang ihrer Entstehung.40 Damit gerät die geschichtliche und innerweltliche Dimension der Bibel für die Aufklärungstheologie und die vermittelnde Neologie stärker in den Mittelpunkt des Interesses. Ausgehend von der Annahme der verbalen Inspiriertheit der Bibel in all ihren Teilen, muß die altprotestantische Orthodoxie die unbedingte sachliche Unfehlbarkeit und Irrtumslosigkeit der Bibel in allen Aussagen ableiten.41 Indem die angenommene uneingeschränkte Irrtumslosigkeit nicht nur auf die res graviores, die heilsgeschichtlich relevanten Textstellen, beschränkt wird, sondern der Wahrheitsanspruch die Heilige Schrift in ihrer Gesamtheit umfaßt, muß die Orthodoxie auch gegenüber anderen Wissenschaften wie Astronomie, Physik, Geologie oder Geschichtswissenschaft die Anerkennung der biblischen Aussagen als unhinterfragte Autorität einfordern:42 Continentur in S. scriptura res historicae, chronologicae, genealogicae, astronomicae, physicae & politicae; quae licet cognitu ad salutem non sint simpliciter necessariae; sunt tamen diuinitus reuelatae, quia illarum notitia ad interpretandam sacram scripturam & illustranda dogmata fidei morumque praecepta haud parum facit.43
Indem die Evangelisten und die übrigen Autoren der Bibel zu bloßen Schreibern herabgestuft werden und sie nur noch ein göttliches Diktat entgegennehmen und getreu zu Papier bringen – „Omnia & singula verba [...] in calamum dictata sunt“44 –, erstreckt sich der Anspruch der Voll-
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Vgl. Gadamer 1990, Bd. 1, S. 179f. So etwa die Ansätze Michaelis’, der über die Erforschung u.a. der zeitgenössischen Kultur des Nahen Ostens einen Zugang zu den biblischen Büchern sucht. Vgl. Michaelis, Fragen. Vgl. Hollaz, Examen, S. 105: „Principium hoc: Quaecunque, scriptura inspirante Deo, consignata est, illa certo & infallibiliter vera est, eudiens est, omnique sano intellectui peruium & ex ipsis terminis apprehensis notum. Vt enim a sole nullae tenebrae, ita a Deo, veritate prima, nulla mendacia proficiscuntur: sed quidquid Deus, fallere & falli nescius dicit, reuelat, suisque amanuensibus quasi in calamum dictat: id absolute verum est, cui subesse falsum simpliciter repugnat.“ Zur Diskussion, ob hinsichtlich der Inspiriertheit des Bibeltextes zwischen heilsgeschichtlichen Schlüsselaussagen (res graviores) und minder relevanten Passagen (res leviores) unterschieden werden könne, vgl. Hornig 1961, S. 46. Hollaz, Examen, S. 83; vgl. auch Hornig 1961, S. 53f. Hollaz, Examen, S. 85.
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kommenheit auch auf die äußere, sprachliche Form der Bibel.45 Mit der dogmatischen Engführung dieser These zur Lehre, selbst die Vokalzeichen des hebräischen Textes müßten vom Heiligen Geist diktiert worden sein, sowie der eingeforderten Anerkennung der biblischen Aussagen auch in ihren res leviores wird die Position der Orthodoxie so verletzbar, daß selbst etwa der Beweis der späteren Hinzufügung der Vokalzeichen die orthodoxe Offenbarungslehre in Bedrängnis zu bringen vermag.46 „Es ist eine Feinheit, dass Gott griechisch lernte, als er Schriftsteller werden wollte – und dass er es nicht besser lernte“47 – wie Nietzsche im Bonmot feststellt, steht die χοινή des Neuen Testaments jedoch in auffälligem Gegensatz zum ‚reinen‘ Griechisch der klassischen Epoche und entspricht kaum den Vorstellungen der an den klassischen Werken der attischen Dichtung geschulten Philologen. Bereits Erasmus von Rotterdam (1466/1469-1536) und andere Humanisten des 16. Jahrhunderts betrachten es als Aufgabe, in ihren Übersetzungen des Neuen Testaments diese sprachlichen ‚Unsauberkeiten‘ zu glätten.48 Vor dem Hintergrund der (u.a. von Hollaz) stärker in den Mittelpunkt des Schriftverständnisses gerückten Lehre der Verbalinspiration wird im 18. Jahrhundert dieses Problem des Anspruchs allseitiger und damit eben auch sprachlich-stilistischer Vollkommenheit der Schrift immer dringlicher. Die Orthodoxie muß ihr Dogma der verbalen Inspiration also sowohl gegen den Hinweis auf die inhaltlichen Widersprüchlichkeiten und
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Vgl. Hirsch 1949ff., Bd. 1, S. 221. Vgl. Hornig 1961, S. 42 u. S. 214. So hält es beispielsweise der katholische Oratorianer Richard Simon (1638-1712) in seiner Histoire critique du Vieux Testament (1685), der die historisch-kritische Exegese wesentliche Impulse schuldet, für eine Illusion anzunehmen, die Vokalzeichen seien ebenso alt wie der hebräische Text des Alten Testaments. Vgl. Simon, Histoire, S. 145ff („l´entestement & [...] l´illusion dans l´esprit de ceux qui croyent que les points sont aussi anciens que le Texte de l´Ecriture“). Nietzsche, Werke, Bd. 6/2, S. 94 (Jenseits von Gut und Böse, „Sprüche und Zwischenspiele“, Nr. 121). Vgl. Erasmus, Ausgewählte Schriften, Bd. 3, S. 94 (In Novum Testamentum Praefationes, Apologia): „Nos locos aliquot innovavimus, non tam ut elegantius redderemus quam ut dilucidius ac fidelius.“ Der orthodoxe Apologet Hollaz erwidert Erasmus: „Stilus sacrae scripturae, tam veteris, quam N.T. est grauis & dignus maiestate divina, nullo vitio grammatico, nullo barbarismo aut soloecismo foedatus.“ Hollaz, Examen, S. 97. Noch schärfer und abfälliger als Erasmus urteilt der Gräzist Georg David Kypke (1724-1779) in den Observationes Sacrae (1755) über das verkommene und von Barbarismen durchsetzte Griechisch der Evangelisten. Vgl. Kypke, Observationes, o.S. (Praefatio) sowie Lindner 1988, S. 21 u. Hempelmann 1988, S. 8. Ähnlich auch Voltaire im Essai sur ler moeurs et L´esprit des nations über die hebräische Dichtung: „Nulle politesse, nulle science, nul art perfectionné dans aucun temps chez cette nation atroce“. Voltaire, Oeuvres, Bd. 11, S. 209 (Essai sur les moeurs). Zur Geschichte der literarästhetischen Bewertung der Bibel, v.a. seit Ende des 17. Jahrhunderts, vgl. Lessenich 1967.
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faktische Unrichtigkeiten der Bibel als auch gegen den Vorwurf sprachlicher Unzulänglichkeiten verteidigen.49 Das Festhalten weiter Teile der lutherischen Theologie an einem solchen Biblizismus wird nur vor dem Hintergrund der beiden Alternativen verständlich, zwischen denen zu wählen sich die meisten Theologen gezwungen sahen: Entweder an der orthodoxen Schriftlehre festzuhalten, Wort Gottes und Wort der Bibel in eins zu setzen und über die historisch gewachsene Gestalt der Bibel hinwegzusehen, oder die Erkenntnis ihrer historischen Bedingtheit und objektiven Unstimmigkeiten mit der Preisgabe der Bibel als des von Gott inspirierten Wortes zu bezahlen.50 Tertium non datur; für vermittelnde Positionen läßt die Frontenbildung über lange Zeit keinen Platz. Rückkehr zum „einfachen Sinn“ und Ablehnung der Allegorese Mit dem hermeneutischen Optimismus der claritas und perspicuitas geht eine Aufwertung des buchstäblichen Sinnes einher, den Luther ins Zentrum seiner Exegese stellt. Damit werden die Gewichte in der seit der Patristik geführten Auseinandersetzung zwischen allegorischem (Alexandrinische Schule) und literalem Verständnis (Antiochenische Schule) zugunsten des letzteren erneut verschoben:51 Der Wortlaut der Schrift hat einen eindeutigen, aus ihr selbst zu erkennenden Sinn. Demgegenüber tritt die zuvor immer stärker differenzierte Allegorese auf den Ebenen des mehrfachen Schriftsinns52 spätestens seit 1519 bei Luther in den Hintergrund.53
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Vgl. Hempelmann 1988, S. 8 u. Gutzen 1972, S. 23ff. Vgl. Hempelmann 1988, S. 10. Vgl. Dohmen 2003, S. 48. Die Lehre des mehrfachen Schriftsinns gründet auf der Annahme, die denotative Lektüre eines Textes erschöpfe seinen Sinngehalt nicht völlig, d.h. unter der Oberfläche der buchstäblichen Aussage lägen weitere Sinnebenen, die mittels der Allegorese erschlossen werden könnten. Der Allegorese werden dabei nicht nur einzelne Textstellen unterzogen, in denen das rhetorische Mittel der Allegorie Anwendung findet, vielmehr wird der ganze Text selbst als Allegorie verstanden. Eine solche hermeneutische Praxis läßt sich bis ins sechste vorchristliche Jahrhundert zurückverfolgen: Die homerischen Texte, durch neue religiöse Vorstellungen in ihrem buchstäblichen Sinne in Frage gestellt, werden einer Lektüre unterzogen, bei der die überholten mythischen Bilder als allegorisch begriffen werden. Vgl. hierzu Norton 1993, Bd. 1, S. 54ff. Diese Lektüretradition gipfelt schließlich in der stoischen Schule von Pergamon. Wurde auch im vorchristlichen Judentum bereits dem buchstäblichen Sinn des Alten Testaments teilweise ein weiterer, allegorischer Sinn unterlegt, so wird diese Hermeneutik für die Autoren des Neuen Testaments verbindlich: Mit dem Glauben an Jesus als Messias geht ein allegorisch-typologisches Verständnis der Thora einher, das die Überlieferungen des Alten Testaments als typologische Präfigurationen der heilsgeschichtlichen Versprechungen versteht, die durch Christus erfüllt
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Luther lehnt die auf der Vorstellung des mehrfachen Schriftsinns gründende Auslegung in der Nachfolge Origenes’ scharf ab: „Origenis nugas repudiamus“54. Eine biblische Hermeneutik, die die Allegorse überstrapaziere, könne nur „Lappen- und Kinderwerk, ja, Affenspiel“55 sein. Es sei eine anmaßende Abwertung des göttlichen Wortes anzunehmen, erst der allegorische oder anagogische Sinn erschließe den göttlichen
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werden: So deutet Paulus im Galaterbrief die zwei Frauen Abrahams allegorisch („quae sunt per allegoriam dicta“, Gal. 4,24 zit. n. Vulgata) als Verkörperungen des Alten und des Neuen Testaments. Origenes systematisiert schließlich zu Beginn des dritten Jahrhunderts die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn, indem er die hermeneutischen Schichten des Neuen Testaments in Bezug zur ontologischen Dreiheit des Menschen setzt: Leib, Seele und Geist des Menschen entsprechen demnach der somatische (buchstäbliche), der psychische (moralische) und der pneumatische (allegorisch-mystische) Sinn der Schrift: „Sicut ergo homo constare dicitur ex corpore et anima et spiritu, ita etiam sancta scriptura, quae ad hominum salutem divina largitione concessa est“. Origenes, Principiis, IV, 2, 4, S. 710. Das von Origenes geschaffene dreigliedrige System wird immer weiter differenziert, es bleibt jedoch die Grundlage aller Einteilungen der Schriftsinne. Die weiteste Verbreitung findet ein viergeteiltes Schema, das prägnant in dem Augustinus von Dänemark zugeschriebenen Merkvers zusammengefaßt wurde: „Littera gesta docet, quid credas allegoria, / Moralis quid agas, quod tendas anagoga“ (Zit. n. Meyer 1971ff., Sp. 1434; ebenso etwa Luther, WA, Tischreden, Bd. 2, S. 317) – der buchstäbliche Sinn lehre die historischen Tatsachen; was zu glauben sei, eröffne der allegorische Sinn; der moralische Sinn lehre, wie man handeln solle; der anagogische Sinn erschließe, wohin zu streben sei, und verweise so auf die Transzendenz. Dante Alighieri praktiziert in seinem Brief an Can Grande Della Scala eine solche expositio quadriga eines Bibelverses (Ps. 114,1f.) auf den verschiedenen Ebenen des mehrfachen Schriftsinns, die hier beispielhaft zitiert sei: „Qui modus tractandi, ut melius pateat, potest considerari in his versibus: ‚In exitu Israel de Ægypto, domus Jacob de populo barbaro, facta est Judæa sanctificatio ejus, Israel potestas ejus.‘ Nam si litteram solam inspiciamus, significatur nobis exitus filiorum Israel de Ægypto, tempore Moysis; si allegoriam, nobis significatur nostra redemptio facta per Christum; si moralem sensum, significatur nobis conversio animæ de luctu et miseria peccati ad statum gratiæ; si anagogicum, significatur exitus animæ sanctæ ab hujus corruptionis servitute ad æternæ gloriæ libertatem. Et quamquam isti sensus mystici variis appellentur nominibus, generaliter omnes dici possunt allegorici, quum sint a literali sive historiali diversi.“ Dante, Can Grande, S. 514. Der Anspruch, jedem biblischen Vers diese Vielheit hierarchisch abgestufter Sinnebenen abzugewinnen, führt jedoch zu immer hypertropheren Interpretationen. Luther bricht mit diesem Schriftverständnis und bemüht sich um eine Bibelexegese „simplici sensu“, die den in der Scholastik immer stärker abgewerteten Literalsinn wieder ins Zentrum der Betrachtung rückt. Vgl. Luther, WA, Tischreden, Bd. 5, S. 45. Vgl. auch Meyer 1971ff., Kraft 1987, S. 30ff. u. Manguel 2000, S. 105ff. Vgl. Reventlow 1990ff., Bd. 3, S. 73. Während die erste Psalmvorlesung Luthers (15131515) noch vom mehrfachen Schriftsinn her argumentiert, lassen die Operationes in psalmos (ab 1519) die Lösung vom allegorischen Schriftverständnis erkennen. Vgl. Ebeling 1951, S. 175f. u. Hahn 1950f., S. 413ff. Luther, WA. Bd. 42, S. 172 (Vorlesungen über 1. Mose); ähnlich: „Origenis et Hieronymi absurda ratio [...] nota est“. Ebd., S. 173. Zu Luthers Auseinandersetzung mit Origenes vgl. Ebeling 1990, S. 146f. u. Hahn 1950f., S. 417f. Luther, WA, Tischreden, Bd. 2, S. 317. Vgl. auch Steiger 1999, S. 334..
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Gehalt, während der Literalsinn nicht über die banalen res gestae hinauskomme.56 Gott wähle hingegen das Wort in seinem literalen Sinn zum Medium seiner Selbstmitteilung (verbum externum), so daß es die substantia der christlichen Lehre transportiere.57 Der verstiegenen Lehre des mehrfachen Schriftsinns, wie er sie als Mönch noch selbst angewandt hatte, setzt Luther seine reformatorische, um den „einfachen Sinne“ (sensus simplex) bemühte Exegese gegenüber: Weil ich jung war, da war ich gelertt, und sonderlich, ehe ich in die theologia kam, da gieng ich mitt allegoriis, tropologiis, analogiis umb und machte lauter kunst; wens jtzt einer hette, er hilts vor eitell heiltumb. Ich weiß, das ein lauter dreck ist, den nuhn hab ichs faren lassen, und diß ist mein letzte und beste kunst: Tradere scripturam simplici sensu, denn literalis sensus, der thuts, da ist leben, trost, krafft, lehr und kunst inen. Das ander ist narren werck, wie wol es hoch gleist.58
Gegenüber dem Verfahren der allegorischen Auslegung der gesamten Schrift auf den verschiedenen Ebenen des mehrfachen Schriftsinns, das Luther als beliebig und willkürlich kritisiert, läßt er die allegorische Interpretation nur noch für die Textstellen gelten, deren allegorische Absicht aus der Schrift selbst hervorgeht.59 Eine solche allegorische Absicht sei bei Passagen zu unterstellen, die das rhetorische Mittel der Allegorie verwenden (so z.B. für die Gleichnisreden Jesu), oder deren wörtliche Auslegung mit der von Paulus geforderten „Übereinstimmung mit dem Glauben“60 brechen würde.61 So habe die Allegorese als Deutungsverfahren für den persönlichen Glauben durchaus weiterhin ihre Berechtigung; da sie jedoch über keine Beweiskraft verfüge, sei sie aber in der Grundlegung des Glaubens wie in der Kontroverstheologie fehl am Platze.62 Insofern die
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Vgl. Steiger 1999, S. 332f. Vgl. ebd. Luther, WA, Tischreden, Bd. 5, S. 45. Vgl. z.B. Luther bei der Auseinandersetzung mit der Auslegungsgeschichte von Gen. 3, 23f. : „Sunt [...] fere tales, quibus Origenes uti solet et qui eum secuti sunt. Ubi enim ex scriptura probari potest, Paradisum significare coelum, Arbores autem Paradisi Angelos?“ Luther, WA. Bd. 42, S. 173 (Vorlesungen über 1. Mose). Zu Luthers Kritik an der Willkür der Allegorese vgl. Beisser 1987, S. 19. Röm. 12,6 zit. n. Einheitsübersetzung. Vgl. Luther, WA, Bd. 42, S. 174 (Vorlesungen über 1. Mose): „Sed nihil necesse est huic Allegoriae immorari. Hoc monuisse sit satis, ut, qui Allegoriis uti volent, iis utantur, quas indicarunt Apostoli e quae habent fundamentum certum in ipsa litera seu historia. Alioqui fiet, ut aedificemus super fundamentum paleam et stipulas, non aurum.“ Ebeling attestiert, Luthers Auslegungspraxis hafte diesbezüglich ein „gewisse[s] Maß an Inkonsequenz“ an. Vgl. Ebeling 1951, S. 175f. Zu Luthers Auseinandersetzung mit der Allegorese vgl. auch Brecht 1987, S. 56ff. Vgl. Steiger 1999, S. 335.
Pietistische Bibelexegese
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Allegorese der argumentativen Beweiskraft entbehrt, eignet sie sich damit für Luther nicht mehr als Beleg der Richtigkeit reformatorischer Schriftauslegung; die theologisch-exegetische Beweisführung vollzieht Luther daher auf der Grundlage des sensus simplex.63 Zumal für die Auslegung des Alten Testaments ist dieser Paradigmenwechsel von zentraler Bedeutung, denn er markiert die Abkehr vom Verfahren, den alttestamentlichen Büchern qua Allegorese eine christliche bzw. christologische Relevanz abzugewinnen. Im Gegenteil eröffnet für Luther paradoxerweise gerade das wörtliche Verständnis des Alten Testaments einen christologischen Horizont; erst indem der Christ das Gesetz des Alten Bundes simplici sensu ernstnehme, werde die Gnadentat Christi als Befreiung vom Gesetz begreiflich:64 Euangelium et lex proprie differunt, quod lex praedicat facienda et omittenda [...], Euangelium autem remissa peccata et omnia impleta factaque.65
Pietistische Bibelexegese So sehr der vielfach einseitig als schwärmerisch-antiintellektuell verstandene Pietismus auf den ersten Blick im diametralen Gegensatz zur Rationalitätsemphase des Aufklärungszeitalters zu stehen scheint, zeigen sich doch bei differenzierterer Betrachtung deutliche Parallelen zwischen beiden Strömungen, die sich schlagwortartig mit den Begriffen Erfahrung, Individualismus, Nützlichkeit, Sensualismus und Perfektibilitätsglaube zusammenfassen lassen:66 Die persönliche Erfahrung des Gläubigen, nicht
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Vgl. ebd. Vgl. Gadamer 1990, Bd. 1, S. 178f. Luther, WA, Bd. 2, S. 466 (In epistolam Pauli ad Galatas commentarius). Vgl. auch ebd., Bd. 24, S. 4 (Ein unterrichtung wie sich die Christen ynn Mosen sollen schicken): „Das gesetz gebeut und foddert von uns was wir thuen sollen, ist allein auff unser thuen gericht und stehet ym foddern, Denn Gott spricht durch das gesetz: das thue, das lasse, das wil ich von dir haben. Das Euangelion aber prediget nicht was wir thuen odder lassen sollen, foddert nichts von uns, sondern wendet es umb, thut das widderspiel und saget nicht: thue dis, thue das, sondern heyst uns nur die schos herhalten und nemen und spricht: Sihe, lieber mensch, das hat dir Gott gethan, er hat seinen son für dich ynns fleisch gesteckt, hat yhn umb deinet willen erwürgen lassen und dich von sunde, tod, Teuffel, und helle errettet, das gleube und nym es an, so wirstu selig.“ Zur Opposition von Evangelium und Gesetz bei Luther vgl. auch Karpp 1992, S. 147. Schenk spricht daher auch von der „pietistischen Aufklärung“, die sich insbesondere aus dem engen Nebeneinander pietistischer und aufklärerischer Reformkräfte an der Universität Halle entwickelt habe. Vgl. Schenk 2000, S. 31f.
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gelehrte Unterweisung, steht für den Pietisten am Anfang aller Religion; Erfahrung wird zum Prüfstein der Wahrheit.67 In der subjektiven Innerlichkeit des Erlebens spiegelt sich der individualistische Zug der Zeit. Theologie als Wissenschaft hat im auf ‚Frucht‘ und ‚Nutzen‘ hin orientierten Zeitalter nur da ihre Berechtigung, wo sie diese Nützlichkeit erweist, indem sie der ethischen Praxis des einzelnen und seiner persönlichen Erbauung zu dienen vermag. Der Sensualismus und die kritische Selbstbespiegelung der Aufklärung finden im Pietismus ihre Entsprechung im Anspruch auf den lebensweltlichen Beweis des Glaubens sowie in der pietistischen Gewissenserforschung mit ihrer eingeforderten Rechenschaft des Gläubigen vor sich selbst.68 Aufklärerische Selbstbespiegelung und pietistische Gewissenserforschung haben ihren gemeinsamen Ausgangspunkt im vorausgesetzten Perfektibilitätsglauben der Epoche. Philipp Jakob Spener und die Grundlegung pietistischer Bibelhermeneutik Der Pietismus wird im protestantischen Deutschland – durchaus in Übereinstimmung mit seinem Selbstverständnis – weithin als Gegenbewegung zur lutherischen Orthodoxie betrachtet, obwohl sein ursprünglicher Impetus doch, gleichsam im zweifachen Sinne „reformatorisch“, auf die Erneuerung und Rückbesinnung des Luthertums auf sich selbst gerichtet ist.69 Philipp Jakob Speners (1635-1705) Programmschrift Pia desideria, 1675 erstmals als Vorrede zu Johann Arndts Postilla, Das ist: Geistreiche Erklärung Der Evangelischen Texte durchs gantze Jahr (erstm. 1616 ) veröffentlicht, ist ihrem Anspruch nach zunächst eine kritische Betrachtung des Zustands der lutherischen Kirche und eine Beschreibung der „Mängel unser selbs und der übrigen Kirchen“70, die zum niederschmetternden Urteil kommt: Wo wir mit Christlichen und nur etwas erleuchteten augen / [...] den jetzmahligen zustand der gesammten Christenheit ansehen / so möchten wir billich mit Jeremia 9 v. I. in die klägliche wort außbrechen: Ach / daß wir wassers gnug
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Vgl. Schäfer 1980, S. 119. Zur pietistischen Gewissenserforschung vgl. Kahn 1964, S. 46ff. Vgl. die zahlreichen apologetischen Polemiken beider Seiten, die sich in Schriften mit bezeichnenden Titeln wie Lutherus Antipietista (1716) von Moritz Wilhelm Wagner oder Lutherus Speneri Vorgänger und dieser jenes treuer Nachfolger (1719) von Johann Ulrich Schwentzel niederschlägt. Vgl. Schmidt 1984b, S. 161. Spener, Pia desideria, S. 8.
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hätten in unsern häuptern / und unsere augen thränen-quellen wären / daß wir tag und nacht beweinen möchten den Jammer unseres Volcks.71
Ausgehend von der Analyse der Korrumpierung der Kirche und der sittlichen Verkommenheit aller Stände eröffnet Spener die Perspektive einer Erneuerung aus dem Geist der Urkirche, die in der Spiritualität des einzelnen, in seiner Bekehrung zum „innern oder neuen menschen“72, und in der Intensivierung der Bibellektüre ihren Ausgangspunkt finden müsse.73 So lautet der erste Ansatzpunkt Speners: „Daß man dahin bedacht wäre / das Wort GOttes reichlicher unter uns zu bringen.“74 Spener evoziert das reformatorische Anliegen, den einfachen Gläubigen, dem die römische Kirche die Lektüre der Schrift versagt habe, „zu dem Wort GOttes / so fast unter die banck verstecket gelegen / wiederumb zu bringen“75, und geht über die individuelle Bibellektüre hinaus, wenn er anregt, die Heilige Schrift in sogenannten collegia pietatis, privaten Erbauungskreisen, wie Spener sie auch selbst in Frankfurt begründet, gemeinsam zu lesen und auf die Lebenssituation des einzelnen diskursiv zu beziehen:76 Wo zu gewissen zeiten unterschiedliche auß dem Predigampt [...] oder doch unter dirigirung deß Predigers andere mehrere auß der Gemeinde / welche von GOtt mit ziemlicher erkantnüß begabet / oder in derselben zu zunehmen begierig sind / zusammen kämen / die Heilige Schrift vor sich nehmen / darauß offentlich lesen / und über jegliche stelle derselben von dem einfältigen verstand / und was in jeglichem zu allerhand unser erbauung dienlich wäre / brüderlich sich unterredeten [...].77
Speners Rehabilitierung des „einfältigen Verstandes“ gegenüber verstiegener exegetischer Spitzfindigkeit weist auf einen zentralen Begriff des Pietismus: „Einfalt“ beschreibt zum einen die Qualität, die der selbst Bibel zugeschrieben wird, und zum andern die charakterliche Disposition des Lesers, die dem Pietismus zur hermeneutischen Voraussetzung gelingen-
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Ebd., S. 9f. Als noch verheerender stellt sich freilich Spener der Zustand der katholischen Kirche dar, der gegenüber er alle irenischen und unionistischen Bestrebungen ablehnt, wenn er als Kontroverstheologe auch um eine sachliche und weitgehend auf Polemik verzichtende Einstellung bemüht ist. Vgl. Weiß 1986, S. 294f. Spener, Pia desideria, S. 79. Vgl. ebd., S. 14ff. u. Aland 1960, S. 25f.. Spener, Pia desideria, S. 53. Ebd., S. 58. Bereits seit 1670 lädt Spener Laien zu Konventikeln in sein Pfarrhaus neben der Barfüßerkiche ein, um in der charakteristischen offenen Gesprächsatmosphäre die Heilige Schrift gemeinsam auszulegen. Zur Entstehung der ersten collegia pietatis vgl. Wallmann 1970, S. 253ff. Spener, Pia desideria, S. 55.
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der Exegese wird.78 So zielen Speners Anregungen zu einer grundlegenden Reform der Pfarrerausbildung auch darauf, „die gantze Theologia wieder zu der Apostolischen einfalt“79 zurückzuführen.80 Dieser „Einfalt“ der Bibel korrespondiert bei Spener jedoch nicht eine ‚einfältige‘ Hermeneutik im Sinne des lutherischen sensus simplex, sondern ein dichotomisches Hermeneutikmodell, das einem rationalen, unvollständigen Verständnis ein spirituelles, erschöpfendes Verständnis gegenüberstellt. Die akademische Theologie, die in ihrer uninspirierten Gespreiztheit ohnehin nach Spener eher eine „Philosophia de rebus sacris“81 genannt werden müsse, ordnet er dabei tendenziell dem geistlosen, oberflächlichen Verständnis zu: Dann gewiß ist / ein obwohl mit wenigern gaben gezierter mensch / der aber GOtt hertzlich liebet / wird mit seinem geringern Talento und Studiis der Gemeinde GOttes mehr nutzen / als ein doppel-doctor-mässiger vanitätischer welts-narr / so zwar voller kunst steckte / aber von GOTT nicht gelehrt ist. Denn jenes arbeit ist gesegnet / und er hat den Heiligen Geist bey sich / dieser aber allein ein in der that fleischliches wissen / damit er so leicht mehr schaden als nutzen kan.82
Der evozierten Opposition von Theologie als Theorie und Frömmigkeit als Praxis sowie der impliziten Opposition von individueller Glaubenserfahrung und institutionalisierter Kirchlichkeit folgend, vertieft der Pietismus die Auseinanderentwicklung von akademischer und lehramtlicher Theologie einerseits und persönlichem Credo andererseits, die durch
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Zu Begriff und Konzept der Einfalt vgl. Stammler 1961 u. Gutzen 1988, S. 274ff. Im pietistischen Gebrauch bezeichnet „Einfalt“ die charakterliche Voraussetzung für die unio mystica; aus dem Bereich des Religiösen und Charakterlich-Moralischen wird das Konzept der Einfalt, wie zu zeigen sein wird, auf das Gebiet des Ästhetischen schließlich übertragen. Vgl. Langen 1954, S. 362ff. Spener, Pia desideria, S. 74. Zur Umsetzung der Reform des Theologiestudiums unter Francke vgl. Brecht 1993, S. 470ff. Mit Friedrich Christoph Oetinger (1702-1782) wird diese Kategorie der Einfalt schließlich vom Theologischen ins Ästhetische gewendet. In seiner Schrift Von den unerkannten Zierlichkeiten der heiligen Schrift (1750) entfaltet er eine Ästhetik, die der Einfalt der Bibel ihre spezifische, von affektiertem decorum freie Schönheit erwachsen sieht: „Es gibt so viele Schönheiten in der Einfalt der Schrift, welche die affectirte Zierrath der heutigen Schriftsteller weit übertreffen.“ Oetinger, Schriften, 2. Abt., Bd. 3, S. VIII (Die Psalmen Davids, Vorrede). Zu Oetingers Ästhetik vgl. auch Gutzen 1988, S. 274f. Oetinger selbst überträgt diese Ästhetik von der Bibel auf profane Kunst, Musik und Literatur und deutet ein Geschmacksideal an, das u.a. für Winckelmann, Herder und im Sturm und Drang maßgeblich wird. Vgl. Gutzen 1972, S. 53. Vgl. Spener, Pia desideria, S. 71. Ebd., S. S. 72.
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die Relativierung der Kirchenbindung noch verstärkt wird.83 So durchzieht der hermeneutische Gegensatz zwischen „Buchstaben“ und „Geist“ als cantus firmus die überlieferten Homilien Speners.84 Die „Wiedergeburt in Christo“ wird zur zentralen soteriologischen wie exegetischen Voraussetzung. Mit ihr vollzieht sich die „Innewohnung“85 Gottes selbst im Herzen des Gläubigen:86 Die Seligkeit ist nichts anders als eine wesendliche Einverleibung Christi und mit Christo der Gottheit in uns, und unser in Christum und durch ihn in GOtt, da Christus uns gantz und gar durchdringet, und unserer Seelen seine Eigenschafften wesendlich und wahrhafftig mittheilet.87
Mit dieser Vorstellung der „Wiedergeburt in Christo“ deutet Spener die bei Luther noch in juristisch-forensischen Kategorien als Gericht gedachte Rechtfertigung in ein zu Lebzeiten direkt erfahrbares, mit biologischen Kategorien („Empfängnis“, „Geburt“, „Wachstum im Glauben“ etc.) operierendes Konzept um. Insofern nach dieser „Einwohnung“ im Gläubigen dem Anspruch nach Gott selbst unmittelbar erfahrbar wird, relativieren sich ‚äußerliche‘ Norminstanzen: Die im Innern selbst vernommene Zusprache Gottes läßt alle theologische Normierung, Systematisierung und Dogmatisierung als pharisäerhafte „Mätologie“ erscheinen.88 Dem sich abzeichnenden dichotomischen Grundzug des Pietismus entspricht seine charakteristische „Eigentlichkeits“-Rhetorik, die in der Kontrastierung von Äußerlichkeit und eigentlichem Innern die ihr gemäße Ausdrucksform findet und Speners Schrift Pia desideria bis in ihren syntaktischen Aufbau hinein prägt. In immer neuen Parallelismen baut er den Gegensatz von „Buchstabe“ und „Geist“, Äußerlichkeit und Innerlichkeit, Oberfläche und Eigentlichkeit auf : Also / daß es nicht gnug seye / getaufft seyn / sondern / [...]: Daß es nicht gnug seye / äusserlich das H. Abendmahl empfangen zu haben / sondern / [...]: Daß es nicht gnug seye / äusserlich mit dem munde zu beten / sondern [...]: Daß es nicht gnug seye / GOtt seinen Dienst in dem äusserlichen Tempel zu leisten / sondern [...].89
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Vgl. Müsing 1977, S. 54 u. S. 60. Vgl. Schmidt 1970, S. 27f. So etwa Berleburger Bibel, Bd. 7, S. 156 (Kommentar zu 2 Petr. 1,4). Vgl. Schrader 1994, S. 59ff. Berleburger Bibel, Bd. 7, S. 155 (Kommentar zu 2 Petr. 1,4). Vgl. 1 Tim. 1,6. Vgl. hierzu Schrader 1994, S. 55ff. Spener, Pia desideria, S. 80.
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Die sich bei Spener andeutende Abkehr von der Annahme der vollständigen claritas und perspicuitas der Schrift und die Hinwendung zu einer Hermeneutik, die eine „Wiedergeburt“ als gnadenhafte Disposition voraussetzt, um die Bibel in ihren tieferen Straten zu durchdringen, wird später von Francke – wie noch darzustellen sein wird – detailliert und mit seinem hermeneutischen Modell von Schale und Kern, sensus litteralis (oder realis) und sensus mysticus (oder spiritualis), systematisiert. Mit der Abkehr vom hermeneutischen Optimismus Luthers geht bezeichnenderweise zugleich die Abwendung von der haptisch-visuellen (Lektüre) oder akustisch-sinnlichen Wahrnehmung des Wortes (Lesung und Predigt) und seinem Verstehen als psychophysikalischem Prozeß zu einem sich ganz im Innern des Menschen vollziehenden spirituellen Vorgang einher: Hatte Luther das äußerliche Tun und die sinnliche Wahrnehmung beim Lesen oder Hören noch für wesentlich gehalten, so wertet Spener das äußerliche Tun ab und geht von einem idiosynkratischen90 Verstehensprozeß aus, der sich ganz im Innern des Menschen vollzieht und sich so weithin der intersubjektiven Mittelbarkeit und damit auch dem intellektuellen Diskurs entzieht.91 Die angestrebte Erbauung bei der Bibellektüre ist Spener nicht Selbstzweck, vielmehr gehört ein auf die konkrete Lebenspraxis (praxis pietatis) zielender Wesenszug zum Kern der Theologie Speners wie des Pietismus insgesamt:92 Die Heilige Schrift wird als das große Erbauungsbuch der Christenheit unter der Perspektive ihrer Anwendbarkeit gelesen; der
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Im folgenden soll der Begriff der Idiosynkrasie, unabhängig von der landläufigen Verwendung im Sinne einer Abneigung, herangezogen werden, um einen Bereich radikalen Subjektivismus in Empfinden und Verstehen zu kennzeichnen, für den konstitutiv ist, daß er sich sowohl der Versprachlichung als auch der Nachvollziehbarkeit durch Dritte weitgehend entzieht. Eine solche Verwendung greift die Begriffsgeschichte der ursprünglich aus der Terminologie der antiken Ärzteschule der Methodiker stammenden Bezeichnung der Idiosynkrisie auf, die als spezifische Zusammensetzung der kleinsten Teile des menschlichen Körpers die individuelle Konstitution eines Menschen und seine abweichenden physischen Reaktionsweisen erklären soll. Als Idiosynkrasie wird der Begriff leicht modifiziert von der Humorallehre herangezogen, um die je individuelle Mischung der humores eines Menschen zu bezeichnen, die für seine von einer Norm abweichenden körperlichen Verhaltensweisen als ursächlich verstanden wird. In der heutigen medizinischen Fachsprache findet der Begriff kaum noch Anwendung. Vgl. Kudlien 1971ff. u. Pschyrembel 2002, Art. „Idiosynkrasie“, S. 769. Vgl. Schmidt 1970, S. 19. So moniert etwa Johann Michael Mehlig, Autor des ganz spätorthodoxen Geist atmenden Historischen Kirchen- und Ketzer-Lexicons (1758), daß im pietistischen Umfeld „am meisten die Sittenlehre getrieben wurde, mit Hintansetzung und Geringschätzigkeit der Glaubensarticul“. Mehlig, Lexicon, Artikel „Pietisten“, Bd. 2, S. 378.
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applicatio gilt der Primat in Hermeneutik wie Homiletik.93 Auf dem Gebiet der hermeneutischen Theorie ist es daher konsequent, daß Johann Jakob Rambach (1693-1735), Nachfolger Franckes als Leiter des Hallischen Waisenhauses, in seinen Institutiones hermeneuticae sacrae (1723) den Hermeneutikbegriff um eine pragmatische Dimension erweitert: Er gliedert die Hermeneutik nicht mehr nur in Verstehen und Auslegen, subtilitas intelligendi und subtilitas explicandi, auf, sondern fügt mit der subtilitas applicandi als Fähigkeit der rechten Anwendung das dritte konstitutive Element gelingenden Verstehens hinzu.94 Unter Verweis auf das emotionale und subjektive Moment des Pietismus wird oftmals die gesamte Bewegung als unwissenschaftlich und antirationalistisch abgetan, doch heißt dies, Zweck und Mittel zum Zweck zu verwechseln.95 In ihrer Intention ist die von Spener ausgehende Strömung nicht objektiv-wissenschaftlich, sondern subjektiv-fromm. Wohl aber fördert sie alle Wissenschaften, die ihrem erbaulichen Zweck dienen.96 In diesem Sinne erfährt vor allem die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Bibel bedeutende Impulse.97 Hiervon zeugen beispielsweise die Bemühungen August Hermann Franckes (1663-1727) um philologisch exakte Bibelausgaben und getreue Bibelübersetzungen sowie die von ihm ausgearbeiteten Lehrpläne der Theologischen Fakultät zu Halle, die auf das Erlernen des Hebräischen und Griechischen verstärkten Wert legen und so die Voraussetzung für den Aufstieg Halles zum Zentrum der Bibelforschung im 18. Jahrhundert schaffen.98
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Vgl. Hainzmann 2002, S. 71f. Zur applicatio in der pietistischen Hermeneutik vgl. auch Stroh 1977, S. 39f. Vgl. Gadamer 1990, Bd. 1, S. 312 u. Rambach, Institutiones, S. 625ff. Peting hat die antipietistische Literatur des 18. Jahrhunderts analysiert. Vgl. Peting 1984, v.a. S. 24ff. Zu den einflußreichsten Kritikern des Pietismus aus orthodoxer Perspektive gehört Valentin Ernst Löscher (1673-1749), der wiederholt das „malum Pietisticum“ u.a. als antiintellektuell und schwärmerisch geißelt. Eine Einführung in Löschers Schriften gibt Greschat 1982. Stoeffler erkennt eine Doppelbewegung von Simplifizierung und Intensivierung als Charakteristikum der akademischen Theologie pietistischer Prägung: Zum einen befrage der Pietismus das hochkomplexe, von der Orthodoxie bereitgestellte Theologumenasystem auf seine Heilsrelevanz hin und reduziere es auf das „Nützliche“, zum anderen führe die pietistische Theologenausbildung zur Intensivierung der Auseinandersetzung mit diesen als Kernbestand erkannten theologischen Inhalten. Vgl. Stoeffler 1973, S. 45f. Zu den philologischen und exegetischen Leistungen des Pietismus und insbesondere der Universität Halle vgl. Reventlow 1988, S. 51. Vgl. Hirsch 1949ff., Bd. 2, S. 163: „Die pietistische Theologie hat die Schrift als den Quell und Ursprung aller christlichen Erkenntnis, aller persönlichen Frömmigkeit und aller christlichen Predigt so stark in die Mitte gestellt, daß sie nunmehr der Hauptgegenstand
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Neben der Entwicklung spezifisch pietistischer Formen der Verkündigung (etwa collegia pietatis) und dem Entwurf einer exegetischen Hermeneutik durch Francke kommt dem Pietismus auch das Verdienst zu, zur Verbreitung der Bibel in der protestantischen Bevölkerung immens beigetragen zu haben. Die im Umfeld Franckes entstandene Bibelanstalt, die Karl Hildebrand von Canstein (1667-1719) mit seiner programmatischen Schrift Ohnmaßgeblicher Vorschlag / Wie GOTTES Wort denen Armen zur Erbauung um einen geringen Preiß in die Hände zu bringen (1710) zu gründen anregt, druckt allein im 18. Jahrhundert mehrere Millionen relativ preisgünstige Bibeln und Teilausgaben.99 Vor allem Gerhard Tersteegen (1697-1769) und Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700-1760) sind bemüht, durch neue Wege der Verkündigung die Auseinandersetzung mit der Heiligen Schrift zu befördern. Zinzendorfs Reformideen finden dabei weit über die von ihm gegründete Brüdergemeinde hinaus Anklang und setzen sich in weiten Teilen des Protestantismus durch. So sehr Zinzendorf „vom Pietismo [...] direkte das Oppositum“100 intendiert zu haben behauptet und sich zumal von der hallischen Bekehrungstheologie, mit der er als Zögling des Päd-
_____________ theologischer Bildung werden muß.“ Zu Franckes Verbesserungen der Lutherübersetzung in den Observationes biblicae und pietistisch geprägten Neuübersetzungen der Bibel vgl. Köster 1998. Zur Umgestaltung des Theologiestudiums in Halle vgl. Aland 1960, S. 28ff., Stoeffler 1973, S. 42ff u. Brecht 1986, S. 100ff. sowie den institutionsgeschichtlichen Überblick von Mau 1979, v.a. S. 83ff. Der Lehrplan erwartete u.a. von den Studenten, bereits im ersten Jahr des Curriculums das Alte Testament einmal vollständig im hebräischen Original und das Neue Testament zweimal im griechischen Urtext gelesen zu haben. Vgl. Aland 1960, S. 30. 99 Um die Ausgaben kostengünstig herstellen und vertreiben zu können, schlägt Canstein vor, „Es sollen so viel Littern angeschaffet werden / als zu Absetzung aller und jeden Bogen gehören / daß sie nicht wieder voneinander genommen [...] werden / sondern in ihren Formen / wie sie einmahl gesetzet sind / stehen bleiben [...] / damit / wenn man wieder eine neue Aufflage machen will / man die Formen nicht von neuen [...] setzen und einrichten / sondern die bereits vormals gesetzten wieder hervor bringen / und gleich in die Presse tragen / und so viel hundert oder tausend Exemplaria / als man verlanget / abdrucken köne; Auf solche Weise könten in kurtzer Zeit [...] bey die viermahl hundert tausend Exemplaria abgedrucket werden“. Canstein, Vorschlag, S. 3. Canstein greift damit auf das Vorbild der in Holland gedruckten Englischen Bibel zurück, die ebenfalls vom stehenden Satz produziert wurde. Vgl. Aland 1960, S. 32 u. S. 52. Zu Entstehung und Progammatik der Cansteinschen Anstalt vgl. Bertram 1863, Schürmann 1898, S. 26ff.; Aland 1960, S. 31ff. u. Köster 1979, S. 105ff. 100 Zit. n. Uttendörfer 1935, S. 230. Zinzendorf führt weiter aus: „Die differentia specifica zwischen uns und den Pietisten ist: Sie dringen auf eine Veränderung der Sitten oder des Gottesdienstes oder beides zugleich. Wir aber predigen nichts als den gekreuzigten Jesum ins Herz und lassen die Lehre wirken, und da ist´s uns einerlei, ob die Arznei laxiert oder Schweiß treibt oder Fieber macht oder sanften Schlaf verursacht, suffizit, der Patient wird gesund.“ Ebd.
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agogikums der Franckeschen Anstalten selbst aufgewachsen war, abwendet, muß die Herrnhuter Brüdergemeinde im Rückblick geradezu als ein Kern des deutschen Pietismus gelten.101 Zum einen empfiehlt der Graf den Mitgliedern seiner Herrnhuter Brüdergemeinde, in kleinen Zirkeln die biblischen Bücher laut vorzulesen und die Worte, wie von Spener vorgeschlagen, unter Verzicht auf Kommentar, Anmerkungen oder Besprechung auf den einzelnen wirken zu lassen; zum anderen gibt er seit 1731 die Losungssammlungen heraus. Zinzendorfs Glaube hat sein Zentrum in der angestrebten persönlichen „Konnexion“ des einzelnen mit Christus, der für jeden Menschen einen individuellen Heilsweg vorsehe und aufzeige.102 Diese vorausgesetzte individuelle Offenbarung bildet den Hintergrund, vor dem sich der häufige Gebrauch des Loses als Mittel erklärt, einen Fingerzeig Christi zu erhalten und mit ihm in einem „connectirenden Gespräche“103 persönlich verbunden zu sein, so daß die Losungen nicht nur zur Erbauung, sondern auch als Entscheidungshilfe bei alltäglichen Fragen von der sich um Zinzendorf gruppierenden Gemeinschaft herangezogen werden:104 Unsere Loosungen haben mehrentheils den Zwek, daß der Heiland uns über unsre gegenwärtigen Umstände bedeuten will, so daß wol, wenn man es nicht in acht genommen, ein Schade daraus entstanden ist.105
Diese einzelnen biblischen Verse, die für jeden Tag aus einem von Zinzendorf bestimmten Kanon besonders erbaulicher biblischer Texte ausgelost werden, sollen, oft noch um Gesangbuchverse ergänzt, zur meditativen Beschäftigung mit der Bibel dienen. So verdeutlicht gerade diese Praxis der Losungen die pneumatische, verinnerlichende Bibelexegese im pietistischen Umfeld. Der als Tageslosung aus seinem Zusammenhang gerissene Vers beispielsweise einer alttestamentlichen Erzählung kann solchermaßen isoliert gar nicht mehr in seinem buchstäblichen, sich erst durch den Kontext erhellenden Sinn begriffen werden und muß subjektivierend und von der literalen Bedeutungsebene
_____________ 101 Vgl. Sträter 1995, S. 50f. 102 Zur Entstehung der Losungen und ihrer Bedeutung bei Zinzendorf vgl. Renkewitz 1953 u. Renkewitz 1970, S. 163ff. 103 Losungen, o.S. (Vorrede). 104 Vgl. Meyer 1983, S. 34f. 105 Losungen, o.S. (Vorrede).
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abstrahierend als mystische Offenbarung jenseits des sensus simplex verinnerlicht werden.106 Zinzendorf begründet zwar diese Tradition der täglichen Losung, knüpft aber mit der Bibliomantie, die einen vom Zufall ausgewählten Bibelvers gleichsam als persönliche Offenbarung an den Leser begreift, an ein hermeneutisches Muster an, das beispielsweise auch Augustinus in der Darstellung seines Bekehrungserlebnisses in den Confessiones gestaltet.107 August Hermann Francke und die Systematisierung pietistischer Bibelhermeneutik Ausgehend von der Überzeugung, daß der methodischen Reflexion des Verstehens der Heiligen Schrift zentrale Bedeutung für die Theologenausbildung zukommen müsse, greift Francke die bibelhermeneutischen Ansätze des frühen Pietismus um Spener auf, gestaltet sie theoretisch aus und überführt sie in ein prägnantes Modell.108 Dieses Modell fußt auf den Begriffen von „Schale“ (cortex) und „Kern“ (nucleus) der Bibel, die dialektisch einander gegenübergestellt werden und doch aufeinander bezogen bleiben.109 Jedem Menschen sei es kraft seiner Vernunft möglich, den sensus litteralis (bzw. sensus realis) der Schrift zu begreifen. Die als eigentlich begriffene Aussage der Bibel unter dieser oberflächlich-dinglichen
_____________ 106 Renkewitz erläutert noch 1953 zum rechten Gebrauch der Losungen: „Wir lesen Losung und Lehrtext als die der christlichen Gemeinde für den heutigen Tag von ihrem Herrn gegebenen Worte, als Tagesparole. Wir lesen Losung und Lehrtext als uns ganz persönlich für den heutigen Tag gegebenes Wort Gottes“. Renkewitz 1953, S. 92. 107 Augustinus, Confessiones, VIII, 12, 29, S. 177f.: „et ecce audio vocem de vicina domo cum cantu dicentis et crebro repetentis quasi pueri an puellae, nescio: ‚tolle lege, tolle lege‘. [...] repressoque impetu lacrimarum surrexi nihil aliud interpretans divinitus mihi iuberi, nisi ut aperirem codicem et legerem quod primum caput invenissem. [...] itaque concitus redii in eum locum, ubi sedebat Alypius: ibi enim posueram codicem apostoli, cum inde surrexeram. arripui, aperui et legi in silentio capitulum, quo primum coniecti sunt oculi mei.“ Augustinus selbst wiederum gestaltet die Bekehrung, wie er andeutet, in enger Anlehnung an die Hagiographie des Antonius, der auf die gleiche Weise einen zufällig aufgeschlagenen Vers der Bibel als an ihn gerichtete Offenbarung verstand und zum Anlaß seiner Bekehrung nahm. Vgl. ebd. Seit der Antike läßt sich die ähnliche Bibliomantie der sortes virgilianae nachweisen, bei der in ähnlicher Weise die Aeneis als Orakelbuch und Quelle göttlicher Verheißungen befragt wurde. Vgl. hierzu Manguel 2000, S. 241ff. Goethe äußert sich im West-östlichen Divan zur Praxis der Bibliomantie; vgl. Divan, FA, 1. Abt., Bd. 3/1, S. 62 u. 208f. 108 Zur Bedeutung der Hermeneutik im Denken Franckes vgl. Stroh 1977, S. 40. 109 Die unausgesprochene Allegorie einer Nuß hatte Luther schon verwendet. Vgl. Luther, WA, Bd. 3, S. 12 (Dictata super psalterium).
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„Schaale der äussern Historie des Buchstabens und der Worte“110 zu erfassen, bedürfe es jedoch der Gabe des sensus mysticus (bzw. sensus spiritualis), über die nur der in Christus „Wiedergeborene“ verfüge:111 Id vero notandum est [...] recte sic quidem & ex vero sensum Scripturae S. distingui in Sensum Litterae, Litteralem & Mysticum s. Spiritualem; attamen ipsam Scripturam Sacram suppeditare aliam sensus alicuius litteralis & spiritualis considerationem, non ratione Objecti, sed ratione Subjecti, ut Sensus Litteralis dicatur qui e lectione & meditatione Scripturae apprehensus fuerit ab homine etiam spiritu Dei carente: spiritualis vero, qui non cadit nisi in eos, qui spiritu Dei praediti sunt, & ab eo impertiuntur vero gustu rerum spiritualium, seu eorum, quae in Scripturae meditatione animo comprehendunt, vero sensu adficiuntur.112
Während der sensus litteralis nichts als die papierne Erkenntnis des Pharisäers sei, wird der sensus mysticus als sich allein dem Verständigen offenbarende christologische Mystik verstanden, die allen Büchern der Bibel
_____________ 110 Francke, Werke, S. 234 (Christus Der Kern Heiliger Schrifft). 111 Vgl. Francke, Manuductio, S. 175f. Francke nutzt in unterschiedlichen Schriften z.T. voneinander abweichende Terminologien zur Bezeichnung der verschiedenen Schriftverständnisse. Hierbei kommt es zu verwirrenden Begriffsverschiebungen zwischen den einzelnen Ebenen seines hermeneutischen Modells: Entspricht dem Gegensatz von Schale und Kern in der Manuductio ad lectionem Scripturae Sacrae (1693) noch das Begriffspaar von sensus litterae und sensus litteralis, so treten u.a. mit sensus mysticus und sensus spiritualis immer neue Begriffe hinzu, deren Verhältnis zueinander variiert. Eine detaillierte Darlegung der Genese der Terminologie Franckes liefert Peschke 1970, S. 70ff. Zur besseren Verständlichkeit wird nachfolgend die Gegenüberstellung von sensus litteralis (oder realis) und sensus mysticus (oder spiritualis) herangezogen. Franckes Theologie weist eine Tendenz auf, komplexe terminologische Systeme zu errichten. Entsprechend wird in der Manuductio ein insgesamt siebenstufiges Auslegungsverfahren detailliert, das zunächst mittels dreier Analysen die „Schale“ des biblischen Wortes hinsichtlich ihres historischen Zusammenhanges, der Wortbedeutung und der logischen Verknüpfung mit anderen Aussagen der Bibel betrachtet (lectio historica, lectio grammatica, lectio analytica), um anschließend in vier Stufen (lectio exegetica, lectio dogmatica, lectio porismatica, lectio practica) den „Kern“ der Aussage vom Wortsinn über seine dogmatischen Implikationen und erbaulichen Konsequenzen bis hin zur lebensweltlich-konkreten Anwendung herauszulösen. Vgl. Francke, Manuductio, S. 1f. Zu Franckes Hermeneutik vgl. auch Peschke 1970, S. 61ff. u., konzis, Peschke 1964 sowie Barth 2000, S. 70ff. 112 Francke, Praelectiones, S. 22f.; ähnlich: „Ad Positionem primam notavimus, distingui etiam Sensum Scripturae in Sensum Litteralem & Spiritualem, diversa quadam ab ea, quae in Scholis urgetur, & quam ipsi antea exposuimus, acceptione; qua nimirum sensus omnis, sive alias Litterae, sive Litteralis, sive Mysticus appelletur, quatenus cognitione humana, naturali & externa apprehenditur, Litteralis & irregenitis competere dicitur; quatenus vero per Spiritum Sanctum, & ex lumine gratiae, intelligitur, Spiritualis, & non nisi regenitis competere dicitur.“ Ebd., S. 57. Dabei handelt es sich nicht um unterschiedliche Sinne der Schrift, sondern um unterschiedlich erschöpfende Erkenntnisse des einen, wahren Schriftsinnes, den Francke in lutherischer Tradition weiterhin annimmt: „est igitur lectionis exegeticae, unicam hanc, &veram Spiritus S. mentem in Scripturis indagare.“ Francke, Manuductio, S. 91.
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innewohne; wie Paulus in seinen Allegoresen die Worte des Alten Testaments direkt auf Christus beziehe, lege das gesamte Alte Testament so Zeugnis von der neutestamentlichen Erlösung ab.113 Mit dieser Scheidung von Schale und Kern lehnt sich Francke jedoch in gewisser Hinsicht wieder an die vorreformatorische Exegese an und kehrt zur Annahme eines mehrfachen Schriftsinns der Bibel zurück, wie sie von der reformatorischen Theologie, wenn auch nicht konsequent, zu beseitigen versucht wurde.114 Indem hinter dem literalen Sinn, der für die Reformation der entscheidende und allein beweisfähige war, andere Sinnebenen vorausgesetzt werden, können auch heilsgeschichtlich zunächst (auf der literalen Ebene) nicht relevante Bibeltexte wieder heilsgeschichtlich interpretiert werden.115 Durch diese Unterscheidung von buchstäblicher und geistiger Erkenntnis wird die lutherische Überzeugung der vollkommenen Klarheit und allgemeinen Verständlichkeit der Bibel (claritas et perspicuitas) entscheidend umgedeutet, wenn Francke die Begriffe auch weiterhin verwendet:116 Dem nicht im pietistischen Sinne „lebendig Glaubenden“ muß wirkliches Verständnis der Bibel abgesprochen und kann allein die Erkenntnis der „Schale“ zugestanden werden.117 Die Entwicklung des persönlichen Verstehensvermögens spiegelt damit das geistliche Curriculum des Auslegers.118 Die Abgrenzung zu Luther markiert einerseits die Zurückweisung des sensus simplex als entscheidendem Bedeutungsträger und andererseits die radikale Entschiedenheit der Trennung zwischen den wenigen Wieder-
_____________ 113 Vgl. Hirsch 1949ff., Bd. 2, S. 175. Paulus deutet z.B. im Galaterbrief die beiden Frauen Abrahams, Sara und Hagar, als allegorische Verkörperungen („quae sunt per allegoriam dicta“, Gal. 4,24 zit. n. Vulgata) des Alten und des Neuen Testaments: „In der Schrift wird gesagt, daß Abraham zwei Söhne hatte, einen von der Sklavin, den andern von der Freien. Der Sohn der Sklavin wurde auf natürliche Weise gezeugt, der Sohn der Freien aufgrund der Verheißung. Darin liegt ein tieferer Sinn: Diese Frauen bedeuten die beiden Testamente.“ Gal. 4,22ff. zit. n. Einheitsübersetzung. Paulus formuliert so ein Bibelverständnis, das die Schriften des Alten Testaments als Prätext zu denen des Neuen Testaments versteht. Prätext (AT) und Text (NT) stehen dabei in einem Verhältnis der Erfüllung zueinander. Matthäus bringt dieses Erfüllungsverhältnis auf die Formel: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen.“ Mt. 5,17 zit. n. Einheitsübersetzung. Vgl. Brecht 1987, S. 56ff. u. Kurz 1993, S. 41ff. 114 Vgl. Barth 2000, S. 75. 115 Vgl. Kantzenbach 1966, S. 161. 116 Vgl. Peschke 1964, Sp. 102. 117 Vgl. Hirsch 1949ff., Bd. 2, S. 175f. 118 Vgl. Barth 2000, S. 75.
Pietistische Bibelexegese
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geborenen und den vielen Nichtwiedergeborenen, die bei Luther in der Trennung der Hermeneutik des Glaubens und der Hermeneutik des Teufels nur ihre Entsprechung in einer konkreten Lektüresituation hat, ohne Gültigkeit für ein ganzes Leben zu beanspruchen. Das exegetische Paradigma der Dichotomie von Schale und Kern findet seine Entsprechung in der Ekklesiologie des radikalen und sezessionistischen Pietismus, die einer nur bruchstückhaft erkennenden „Kreuzkirche“ die zur umfassenden Erkenntnis gelangte „Geistkirche“ gegenüberstellt.119 Neben die schon von der Orthodoxie vertretene und von Francke nicht bestrittene Inspiriertheit der Autoren der Heiligen Schrift tritt so im Pietismus die angestrebte Inspiriertheit des Lesers als ihr Korrelat, das den entbundenen Individualismus der pietistischen Exegese ermöglicht. Nicht mehr die lehramtliche Tradition, nicht mehr die analogia fidei, sondern einzig das Empfinden des einzelnen sich als inspiriert verstehenden Auslegers wird zum Kriterium der Exegese.120 Gegenüber der verinnerlichten Erfahrung der Heiligen Schrift erscheint die akademische Gelehrsamkeit der „doppel-doctor-mässig[] vanitätische[n] welts-narr[en]“121 (Spener) papieren; jede lehramtliche Festlegung muß als so anmaßender wie unmöglicher Versuch erscheinen, den lebendig erfahrenen Heiligen Geist im toten Buchstaben festzuhalten.122 Die Argumentation beruft sich dabei auf den Zweiten Korintherbrief: Er hat uns fähig gemacht, Diener des Neuen Bundes zu sein, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.123
Verstehen wird so als abhängig von der Erlebnisfähigkeit und -weise des einzelnen begriffen, die zu Erkenntnisinstanzen werden, deren subjektiver Wahrheitsanspruch sich der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit nicht mehr stellt und der lehramtlichen Bestätigung nicht mehr bedarf.124 War die Orthodoxie von der Theopneustie des Textes der Bibel ausgegangen, so hofft der Pietismus, die Theopneustie bei ihrer Lektüre zu erfahren. Der Pietismus definiert damit das Verhältnis von Autor und Leser neu
_____________ 119 Vgl. Brinkmann 1976, S. 170. Zum Gegensatzpaar „Kreuzkirche“/“Geistkirche“ vgl. Zimmermann 1969ff., Bd. 1, S. 65. 120 Vgl. Linder 1998, S. 16. 121 Spener, Pia desideria, S. 72. 122 Zur pietistischen „Erfahrungstheologie“ und ihren Wurzeln vgl. Keding 2001, S. 16ff. 123 2 Kor. 3,6 zit. n. Einheitsübersetzung. 124 Vgl. Gutzen 1972, S. 43 u. Linder 1998, S. 16.
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Hermeneutische Grundpositionen der Bibelexegese im 18. Jahrhundert
und verlangt nach einer Einbeziehung der Affekte des Lesers und seiner Selbstinspektion bei der Lektüre.125 Affekte als hermeneutischer Schlüssel Dieser individuell-subjektive Impetus des Pietismus ist der Ausgangspunkt der Entwicklung einer theologischen Psychologie als Hilfsmittel einer ‚erlebnisorientierten‘ Exegese. Francke hängt seiner Manuductio ad lectionem scripturae sacrae so eine Delineatio doctrinae de affectibus an, die mit einer Übersicht über die Grundaffekte u.a. von Liebe, Haß, Begehren, Furcht, Freude und Traurigkeit der Bibelexegese ein hermeneutisches Hilfsmittel bereitstellen möchte. Die Einbeziehung dieser Affekte sei für ein erschöpfendes Verständnis unverzichtbar: Iam si nesciremus, quid sint affectus illi, quos expressos legimus, aliquam, eamque non minimam Scripturae partem non intelligeremus.126
Franckes Affektenlehre intendiert ein Verstehen der Affekte auf den vier Ebenen von auctor, scriptor, Medium und Rezipient, d.h. Francke erkennt einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Affekten Gottes selbst („affectus, qui ipsi Deo tribuuntur“) zum ersten, den Affekten des Schreibers biblischer Bücher („affectus ipsius Scriptoris S.“) zum zweiten, den Affekten der geschilderten biblischen Personen („affectus ejus, de quo sermo est“) zum dritten und den Affekten des Lesers und seiner subjektiven Gemütslage beim Lesen („affectus ejus, ad quem scribitur“) zum vierten.127 Seine Affekthermeneutik geht davon aus, daß die zeitliche Kluft und der lebensweltliche Abstand zwischen Schreiber und Leser durch die affektive Identifikation überwunden werden kann, wenn gleichsam die Affekte Gottes, die der Schreiber der biblischen Bücher, der geschilderter Person und der Leser zur Deckung gebracht werden.128 Eine gnadenhafte
_____________ 125 Vgl. Dyck 1977, S. 116. 126 Francke, Manuductio, S. 175f. (Delineatio doctrinae de affectibus). 127 Vgl. ebd., S. 209: „In consideratione textus sacri probe secernendi sunt affectus ipsius Scriptoris S.; affectus ejus, ad quem scribitur; affectus ejus, de quo sermo est, & affectus, qui ipsi Deo tribuuntur.“ Bereits Luther hatte einem Verständnis der Schrift die Übereinstimmung der Affekte, die der Text zu evozieren sucht, mit den tatsächlichen Affekten des Lesers, vorausgesetzt: „Nullus enim loquitur digne nec audit aliquam Scripturam, nisi conformiter ei sit affectus“. Luther, WA, Bd. 3, S. 549 (Dictata super Psalterium). Zur Affektenlehre Luthers vgl. Hahn 1950f., S. 414. Vgl. auch Kantzenbach 1966, S. 161 u. Gutzen 1972, S. 43ff. 128 Vgl. Dyck 1977, S. 115 u. Gutzen 1988, S. 273f.
Pietistische Bibelexegese
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Disposition vorausgesetzt, verbürgt das affektive Erlebnis des Lesers die subjektive Richtigkeit seiner Auslegung. Indem den Affekten der Schreiber Relevanz für die Auslegung des Bibeltextes zugesprochen wird, deutet sich zudem eine persönliche Involviertheit bei der Abfassung des biblischen Textes an, die über das orthodoxe Verständnis der Verbalinspiration, das die menschlichen scriptores der Bibel Gott als auctor gegenüberstellt, hinausgeht. Diese Realinspiration nimmt im Gegensatz zur Verbalinspiration nur noch die unbedingte inhaltliche Richtigkeit der Heiligen Schrift an und relativiert die direkte, als „Diktat“ vorgestellte göttliche Autorschaft der konkreten textlichen Gestalt.129 Die Unterscheidung von Schale und Kern, cortex und nucleus, spiegelt sich auch in der Affektenlehre wider, die zwischen den jedem verständlichen „natürlichen“ und den entscheidenden, einzig dem „Wiedergeborenen in Christo“ zugänglichen „spirituellen“ Affekten differenziert.130 Allein theoretisch könne der Nichtwiedergeborene die Affekte erkennen, der hermeneutische Schlüssel jedoch liege in der Unmittelbarkeit der Erfahrung als Brücke zwischen sich offenbarendem Gott, biblischem Autor, geschilderter Person und Leser: Cognitio affectuum est practica; Irrenatus vero in Scriptura sacra legenda theorice versatur; sibique sufficere credit, quae per ratiocinationem naturalem assequi valet.131
Diese Affekttheologie findet ihre vielleicht stärkste Ausprägung in der Herrnhuter Brüderunität Zinzendorfs, der „die Gründung aller theologischen Erkenntnis im religiösen Gefühl“132 (Hirsch) vertritt. Dieser Selbstinspektion des Lesers hinsichtlich seiner Affekte entspringt das
_____________ 129 Zur Unterscheidung von Verbal-, Real- und Personalinspiration vgl. Dohmen 2003, S. 24 u. Bea 1957ff. 130 Vgl. Francke, Manuductio, S. 192f. (Delineatio doctrinae de affectibus): „Homo irrenatus nescit alios affectus, quam naturales […]. In interpretanda autem Scriptura S. conoscendi sunt praecipue affectus spirituales.“ Dementsprechend besteht für Francke ein fundamentaler Unterschied zwischen profaner Literatur, die ausschließlich mit „natürlichen“ Affekten operiere und prinzipiell jedem zugänglich sei, und biblischer Offenbarung, deren wesentliche Affekte „spirituell“ seien. Vgl. ebd., S. 194. 131 Ebd., S. 193. 132 Hirsch 1949ff., Bd. 2, S. 406. Vgl. auch Zinzendorf, Socrates, S. 289 (Anhang zum Socrate): „Die Religion kan ohne Vernunfft-Schlüsse gefaßt werden, sonst könte niemand eine Religion haben, als der einen aufgeklärten Kopf hätte. und die wären die besten Gottesgelehrten, die am meisten Vernunfft hätten, jenes aber ist nicht glaublich, und auch dieses streitet mit der Erfahrung.“
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starke psychologische Moment pietistischer Hermeneutik, das sie zur Übertragung ihrer Ansätze auf profane Literatur prädestiniert. Mit dieser Subjektivierung der Auslegung gibt paradoxerweise gerade der biblizistische Pietismus einen entscheidenden Impuls zur ästhetischen Betrachtung der Bibel, die implizit die Singularität der Heiligen Schrift nivelliert, indem Bibel und profane Literatur unter der Perspektive ihrer jeweiligen rhetorisch-psychologischen Mittel und der durch sie ausgelösten Leseraffekte vergleichbar werden.
Bibelexegese der Aufklärungstheologie und Neologie Zum größten Angriffspunkt der orthodoxen Exegese werden die offensichtlichen Widersprüchlichkeiten der Heiligen Schrift, die bei einer vom Literalsinn (sensus simplex) ausgehenden Deutung nicht mehr, wie es die Lehre des mehrfachen Schriftsinns erlaubt, auf einer als höher verstandenen, allegorischen Ebene „geglättet“ werden können, sondern in ihrer Schroffheit zu Tage treten. Goethe selbst berichtet in Dichtung und Wahrheit davon, wie sehr ihn diese Unstimmigkeiten und Widersprüche an der Schrift haben zweifeln lassen.133 Die Orthodoxie verliert außerdem in dem Maße an verbindlicher Geltung, wie die Theologie ihre Funktion als verbindliche Leitwissenschaft einbüßt. Naturwissenschaften und Geschichtsforschung beginnen sich zu entfalten und sprengen mit ihren Erkenntnissen zum Teil die von der Bibel vorgegebenen Weltdeutungen und Geschichtsbilder.134 Die zu Tage tretenden Spannungen zu lösen, vermag lediglich eine Entkoppelung von Bibelexegese und theologischer Dogmatik, wie sie zum zentralen Anliegen von u.a. Johann August Ernestis oder Johann Salomo Semlers wird. Der sich von England ausbreitende Deismus und die ihm verpflichtete Exegese der Aufklärungstheologie weisen auf die inneren Widersprüchlichkeiten und sachlichen Fehler der Bibel hin und provozieren mit ihren Traktaten, in denen sie unerbittlich Wortsinn der Bibel und Vernunft des Menschen einander gegenüberstellen, Verteidigungen der orthodoxen Auslegungsweise. So entfacht sich eine Auseinandersetzung, die sich in einer Flut von Kampfschriften, Repliken, Verteidigungen, Satiren und Traktaten niederschlägt, deren Ausmaße kaum zu überblicken sind. Die ‚rechtgläubigen‘ Repliken verbreiten auf diese Weise
_____________ 133 Vgl. Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 9, S. 127, 4. Buch. 134 Vgl. Hornig 1988, S. 222.
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die Thesen, die sie zu ersticken suchen, und tragen dazu bei, daß bald auch das europäische Festland an der Auseinandersetzung teilnimmt.135 Spinoza und die Grundlegung der aufklärerischen Bibelkritik Bereits Baruch Spinoza (1632-1677) hatte in seinem 1670 anonym erschienenen Tractatus theologico-politicus die Bibel einer nüchtern-kritischen Musterung unterzogen und in seiner Exegese christologische Grundannahmen in Frage gestellt:136 In Jesus verehrt er nicht den Sohn Gottes, sondern einzig den Boten einer Ethik, in deren Zentrum die Nächstenliebe steht.137 Er verwirft die Inspirationslehre und hält alle Wunder für natürlich erklärbare Vorgänge:138 Ex quibus porro evidentissime sequitur miracula res naturales fuisse, atque adeo eodem ita explicanda, ut neque nova [...] neque naturae repugnantia videantur, sed, si fieri potuit, ad res naturales maxime accendentia.139
Spinoza entfaltet im 7. Kapitel des Tractatus eine Interpretationsmethode der Heiligen Schrift, die sich auf die „natürliche“ Vernunft gründet und mit ihren Prinzipien die Bibel zu verstehen versucht. Wo die „natürliche“ Vernunft jedoch das Geschriebene nicht mehr zu begreifen vermag (res imperceptibiles), müsse der Inhalt aus dem Sinn (mens) der Autoren erschlossen und die Historizität der biblischen Texte in ihre Deutung miteinbezogen werden.140 Damit bleibt es bei einem Verstehen, das von der erhellenden Funktion des contextus ganz im Sinne Luthers ausgeht, der jedoch nicht mehr als konsistente Harmonie des Ganzen der Bibel, sondern als Kontext der historischen Entstehungsumstände des Textes gedacht und damit aus der Textimmanenz auf das Historisch-Lebens-
_____________ 135 Vgl. Schäfer 1980, S. 117. 136 Reventlow bestreitet die zentrale Bedeutung Spinozas in der Formierung der modernen Bibelkritik. Der Philosoph habe konfessionsübergreifend als Ketzer gegolten, so daß eine Bezugnahme auf ihn über Jahrhunderte nicht möglich gewesen sei. Hingegen betont Reventlow die entscheidende Rolle Lorenzo Vallas (1407-1457) und Hugo Grotius’ (15831645). Vgl. Reventlow 1988, S. 53ff. u. S. 59. 137 Vgl. Schäfer 1980 sowie Ackroyd/Evans/Greenslade/Lampe 1963ff., Bd. 3, S. 341. 138 Zu Spinozas Wunderverständnis vgl. auch Bron 1975, S. 23ff. 139 Spinoza, Tractatus, S. 224. 140 Vgl. ebd., S. 230ff.: „Nam sicuti methodus interpetandi naturam in hoc potissimum consistit, in concinnanda scilicet historia naturae, ex qua, utpote ex certis datis, rerum naturalium definitiones concludimus: sic etiam ad Scripturam interpretandam necesse est ejus sinceram historiam adornare, et ex ea tanquam ex certis datis et principiis mentem authorum Scripturae legitimis consequentiis concludere.“
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Hermeneutische Grundpositionen der Bibelexegese im 18. Jahrhundert
weltliche ausgedehnt wird.141 Hiermit nimmt Spinoza Grundgedanken der aufgeklärten Bibelkritik vorweg, die im englischen und französischen Deismus, hier vor allem bei Voltaire, ihren prononciertesten Ausdruck finden, während in Deutschland eher die gemäßigte Richtung der Neologie vorherrscht. Als Vorläufer und Impulsgeber dieser moderateren, vor allem in Deutschland vertretenen Strömung kann der französische Oratorianermönch Richard Simon (1638-1712) gelten, dessen Histoire critique du Vieux Testament (1685) konsequent die Historizität der Textgestalt offenlegt und die Schrift der Text- und Manuskriptkritik unterzieht.142 Johann Salomo Semler und die neologische Bibelkritik Die in Deutschland vorherrschende Aufklärungstheologie wird vor allem von Johann Salomo Semler (1725-1791) geprägt, dessen als Neologie bezeichnete Lehre nicht so weit wie die englische Bibelkritik geht, der Bibel ihren Offenbarungscharakter prinzipiell abzusprechen, sondern vielmehr um eine Synthese von Vernunft und Offenbarung ringt und, entgegen der radikalen Ausformung der Aufklärungstheologie, beide in Einklang zu bringen für möglich erachtet.143 So kann geradezu als Charakteristikum der Aufklärung im protestantischen Deutschland gelten, daß ihre kritischen Anfragen an die Theologie zuvörderst in der und nicht primär gegen die Theologie wirken.144 In seiner Abhandlung von freier Untersuchung des Canon (1771-1775) versucht Semler nachzuweisen, daß die Bildung des biblischen Kanons einzig geschichtlich bedingt sei und sich im Ringen der einzelnen frühchristlichen Gemeinden vollzogen habe.145 Erst im zweiten Jahrhundert sei von den einzelnen Kirchenprovinzen mit der Sammlung christlicher Quellen begonnen worden und die sich herausbildenden Textzusammenstellungen hätten zunächst höchst unterschiedlichen Charakter gehabt, ehe sich in einem jahrhundertelangen Prozeß der Konsens- und Kompromiß-
_____________ 141 Vgl. Gadamer 1990, Bd. 1, S. 180f. 142 Vgl. etwa Simons Analyse der Textveränderungen im Laufe der Tradierungsgeschichte des Alten Testaments oder die von ihm entwickelten Kriterien zur Beurteilung des philologischen Wertes unterschiedlicher Manuskripte und Quellen. Vgl. Simon, Histoire, S. 21ff. Vgl. auch Reventlow 1990ff., Bd. 4, S. 87ff. 143 Einen Überblick über die Lehren Semlers geben Kaiser 1979 u. Hornig 1988. 144 Vgl. Schlaffer 2002, S. 61. 145 Vgl. Semler, Canon, S. S. 58ff.
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findung aus diesen heterogenen Sammlungen ein Kanon der für den Gottesdienst geeigneten Schriften herausgebildet habe, der später lehramtlich verabsolutiert worden sei.146 Der Argumentation unterliegt dabei die Unterscheidung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit der Religionsausübung; für die individuelle Glaubenspraxis des einzelnen habe der Kanon ohnehin stets eine untergeordnete Rolle gespielt: Nach diesen ganz klaren Umständen ist es gewiß, daß die gemeine Vorstellung von der steten Einförmigkeit und Gleichheit des Canons oder des Verzeichnisses der öffentlichen heiligen Schriften der Christen ohne Grund und historische Richtigkeit seie, wenn sie anders verstanden wird, als daß es eine Verabredung für die öffentliche Gesellschaft und öffentliche [...] Übung der Religion gewesen seie, woran einzelne nachdenkende Christen sich nicht stets gebunden haben [...].147
Mit Semlers Nachweis der geschichtlich-menschlichen anstatt revelatorisch-göttlichen Kanonbildung wird das altevangelische Dogma des göttlich autorisierten Kanons unhaltbar. Durch die belegte Kontingenz des Kanons gerät zugleich die Lehre, für alle Teile der Bibel müsse die direkte verbale Inspiriertheit des Bibeltextes angenommen werden, ins Wanken.148 Semler hält jedoch an der Göttlichkeit der Offenbarung fest, die freilich auf ihre inhaltlichen Aussagen beschränkt und nicht auf ihre äußere Form zu beziehen sei.149 Die alte, orthodoxe Gleichung von Wort Gottes und Bibeltext (Identitätsthese) wandelt er in bezeichnender Weise um und lehrt, die Heilige Schrift enthalte das Wort Gottes, ohne mit diesem identisch zu sein.150 So unterscheidet Semler zwischen Wort Gottes und Wort der Bibel, ohne jedoch beide gänzlich voneinander zu trennen. Auf diese Weise versucht er, biblische Exegese und theologische Dogmatik zu entflechten. Semler kann die Notwendigkeit einer kritischen Betrachtung der Bibel mit der eingeforderten Erbaulichkeit ihrer Lektüre versöhnen, indem er einen theologischen Freiraum öffnet, innerhalb dessen die Schrift text- und sachkritisch untersucht werden kann, ohne ihre Autorität als Offenbarung aufzugeben:151 Heilige Schrift und Wort Gottes sind gar sehr zu unterscheiden [...]. Zu der heiligen Schrift, wie dieser historische, relative terminus unter den Juden aufgekommen ist, gehört Ruth, Esther, [...] Hoheslied etc., aber zum Worte Gottes, das alle Menschen in
_____________ 146 147 148 149 150 151
Vgl. Hornig 1961, S. 60. Semler, Canon, S. 21. Vgl. Merk 1998, S. 13; Hirsch 1949ff., Bd. 4, S. 60 u. Kümmel 1958, S. 73ff. Vgl. Hornig 1961, S. 74. Vgl. Semler, Canon, S. 60; Schäfer 1980, S. 127 u., detailliert, Hornig 1961, S. 84ff. Vgl. Hornig 1988, S. 227ff. u. Hornig 1996, S. 238.
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allen Zeiten weise macht zur Seligkeit, [...] gehörten diese heilig genannten Bücher nicht alle.152
Die Titulierung „Heilige Schrift“ wird ob der nachgewiesenen historischen Kontingenz der Zusammenstellung des Kanons und der für Semler fraglichen Erbaulichkeit einzelner Bücher (wie Ruth, Esther oder dem Hohenlied) zum „historische[n], relative[n] terminus“. Auch wenn weiterhin zumindest Teile der Bibel uneingeschränkt als inspiriertes Wort Gottes gelten, ist doch diese Herauslösung einzelner Bücher aus der Bibel unweigerlich mit der Aufgabe sowohl der Kanonverbindlichkeit als auch der verbalen Inspiriertheit verbunden, die nun nicht mehr unter Hinweis auf die göttlich legitimierte Kanonizität eben exakt dieser Auswahl von Büchern begründet werden kann.153 Dabei richtet sich Semlers Schrift nicht primär gegen den pragmatischen Gebrauch des kirchlichen Kanons für Liturgie und Verkündigung, sondern vielmehr gegen die orthodoxe Kanonlehre, die wider historische Erkenntnisse den Kanon verabsolutiere.154 Die textkritische Arbeit, die Semler als Professor und Rektor der Universität Halle entfaltet, läßt es unter Verweis auf verschiedene Bibelquellen und im Text erkennbare Brüche immer fraglicher erscheinen, „daß der hebräische und griechische Text des alten und neuen Testaments, geradehin so unverändert auf uns gekommen seie, daß es noch immer so ganz ächt sey“.155 In seiner Lebensbeschreibung (1781f.) berichtet Semler rückblickend über diesen Bruch mit der Lehre einer bei der Tradierung der Bibel wirkenden providentia dei156:
_____________ 152 153 154 155
Semler, Canon, S. 60. Vgl. Hempelmann 1988, S. 9 u. Schäfer 1980, S. 126f. Vgl. Hornig 1996, S. 239. Semler, Lebensbeschreibung, Bd. 2, S. 123. Zur Legitimität der textkritischen Untersuchung der Bibel wie jedweden profanen Textes vgl. ebd., S. 125. 156 Die Lehre der providentia dei postuliert, so Karl Rahner, „das erkennend-planende, wollende u. seinen Planwillen durchführende Verhältnis Gottes zum Ganzen der von ihm geschaffenen Welt [...] u. ihren [...] Momenten, durch das er die Welt zu ihrem von ihm selbst bestimmten Ziel führt“. Rahner 1957ff., Sp. 887. Ausgehend vom Begriff der πρόυοια, der seit Anaxagoras (5. Jh. v. Chr.) ein Wirken göttlicher Vernunft zum Wohle des Menschen annimmt, wird die Vorstellung göttlicher Vorsehung vom Judentum wie vom Christentum übernommen und in seinem Spannungsverhältnis zur postulierten Handlungsfreiheit des Menschen diskutiert. Zur biblischen Untermauerung wird dabei u.a. auf die Feststellung der Apostelgeschichte verwiesen, nach der sich Jesu Erlösungstod durch „Gottes beschlossenem Willen und Vorauswissen“ (Apg. 2,23 zit. n. Einheitsübersetzung) habe vollziehen müssen. Vgl. auch Apg. 4,28 u. Eph. 1,3ff. Im engeren Sinne wird der Begriff der providentia dei auch im Zusammenhang mit der Tradierung des biblischen Textes durch die Zeiten verwendet, um die für die lutherische Orthodoxie verbindliche Lehrmeinung zu
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das Abschreiben aber und das drucken der Bibel [hielt ich] für eben dieselbe menschliche Arbeit [...], als wenn Abschreiber und Drucker den Plato oder Horatius in Arbeit namen. Eine besondre ausserordentliche Regierung und Aufsicht Gottes bey solcher Arbeit des Abschreibens, zumal des neuen Testaments, kan nur derjenige behaupten, der die wirkliche Welt aus seinem Kopfe abhängen läßt, und nun noch dazu die eigenen Vorstellungen anderer Menschen durchaus nicht für eben so gut und so rechtmäßig hält, als seine.157
Mit der Auflösung des dogmatischen Kanonverständnisses durch Semler als den „eigentlichen Begründer der historisch-kritischen Theologie“158 (Kaiser) eröffnet sich gleichzeitig die Freiheit zur selektiven Lektüre der persönlich als besonders erbaulich präferierten Bibelstellen.159 Vor diesem Hintergrund ist die Flut von Evangelienauszügen und Teilausgaben der Bibel zu verstehen, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts verstärkt auf den Buchmarkt spült und die Glaubenspraxis des einzelnen durch die nun ins Belieben des Lesers gestellte Lektüreauswahl neuerlich individualisiert.160 „Unparteilichkeit“ und Ethisierung Indem die Bibel nun in ihrer Entstehung, Zusammenstellung und Textüberlieferung als historisch bedingt und somit kontingent nachgewiesen ist, verliert für Johann Salomo Semler eine bislang gepflegte spezifische, die Heilige Schrift als interpretatorischen Einzelfall betrachtende Bibelhermeneutik ihre Berechtigung. Vielmehr müsse der Exeget
_____________
157 158 159 160
bezeichnen, nach der von einer besonderen Aufsicht des Heiligen Geistes über die an der Textüberlieferung beteiligten Menschen auszugehen ist, die eine depravierende Korrumpierung, etwa durch die fehlerhafte Arbeit von Schreibern und Druckern, verhindere. In diesem Sinne verwendet noch Leo XIII den Begriff in seiner Providentissimus Deus (1893) überschriebenen Enzyklika zum katholisch-lehramtlichen Verständnis der Bibel. Spätestens mit den Anfängen neuzeitlicher Naturwissenschaften und der Erkenntnis ihrer Gesetzmäßigkeiten gerät der Vorsehungsglaube in die Defensive. Zur Geschichte und dogmatischen Begründung der Lehre der providentia dei vgl. Schmid 1957ff. und Rahner 1957ff. Zum Spannungsverhältnis zwischen aufklärerischer Naturwissenschaft und orthodoxem Vorsehungsglauben vgl. Krolzik 1988. Semler, Lebensbeschreibung, Bd. 2, S. 125. Kaiser 1979, S. 66. Semler regt an, solche erbaulichen Kompilationen herauszugeben, verwirklicht diesen Vorschlag selbst aber nicht. Vgl. Hornig 1961, S. 112ff. Vgl. Hornig 1996, S. 240f. Vor diesem Hintergrund erkennt Sauder in Semler einen wirkmächtigen „Anwalt einer christlichen ‚Privatreligion‘“, der das orthodoxe Ideal einer alle Bürger einschließenden Religionseinheit verabschiedet habe. Sauder 2001a, S. 114.
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das neue Testament eben so lesen, nach eben den Grundsätzen auslegen, als alle Schriften in der Welt. Komme heraus, was mag.161
Die Auslegung der Heiligen Schrift kann für Semler nicht mehr apologetisch-induktive Bestätigung der an sie herangetragenen theologischen Überzeugungen sein, sondern muß sich auch über Religionsparteiungen hinweg dem Anspruch auf intersubjektive Nachvollziehbarkeit stellen, um die konfessionellen Differenzen auf der objektiven Ebene des Bezugs auf die den Konfessionen gemeinsame Offenbarung zu überwinden.162 Denn nicht auf Verstocktheit oder Böswilligkeit von Arianern oder Juden sei es zurückzuführen, daß diese zu fundamental anderen Auslegungen der Schrift kämen, sondern auf die mangelnde Evidenz einer dogmatischen Apologetik, die bislang in der Exegese vorherrsche.163 Was Semler als „Allgemeinheit“ der Regeln intendiert, wird unter dem Schlagwort der „Unparteilichkeit“ zur Losung der Zeit: Hatte Gottfried Arnold schon 1688 mit seiner Unpartheyischen Kirchen- und Ketzer-Historie eine sich über die Polarisierung der Konfessionen hinwegsetzende Geschichte des Christentums in allen seinen Parteiungen schreiben wollen (wenn das Opus auch kaum geeignet war, eine konsensfähige Darstellung der Geschichte zu schreiben), so wird Unparteilichkeit in der Neologie zur Maxime auch der Exegese.164 Damit entwickelt sich eine Exegese, die unter Verweis auf ihre allgemein anerkannte Vorgehensweise und ihre objektive Beweisführung den Anspruch auf zwingende Überzeugungskraft über Konfessionsgrenzen hinweg formuliert. Johann David Michaelis (1717-1791) bemüht sich um die Erarbeitung einer Ausgabe des Neuen Testaments, die „voll Treue und Unpartheylichkeit [...] die Lehren keiner Religion im Christenthum“165 auf die Schrift projiziere:
_____________ 161 Semler, Lavater, S. 123. 162 Vgl. Semler, Hermeneutik, Bd. 1, S. 144f.: „Es muß also der hermeneutische Grund des Wahren weit genug entwickelt werden [...]; sonst entstehet für andere, deren gewönliche Reihe von Vorstellungen der hermeneutischen Gründe man nicht umstossen kan, keine innere Möglichkeit und Verbindlichkeit zur Anname einer Auslegung, wenn man sie auch mit den höchsten Eidschwüren vertheidigen wolte. Wenn also die christliche Hermeneutik mehr und besser geübet und getrieben werden sol: so muß darauf gesehen werden, daß mehrers in den Gründen und Regeln derselben so algemein werden möge, daß weniger Grund für andre übrig bleibt, gewisse Stellen nach voriger Art und Gewonheit zu deuten [...].“ 163 Ebd., S. 139ff. 164 Zu Johann Gottfried Arnold vgl. Büchsel 1970, Brinkmann 1976 u. Schneider 2001. 165 Michaelis, NT, Bd. 1, S. 37 (Vorrede). Carl Friedrich Bahrdts verfaßt etwa den Entwurf einer unpartheyischen Kirchen Geschichte Neuen Testaments. Ein academisches Lehrbuch (1773).
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Diese Unpartheylichkeit erstreckt sich besonders darauf, daß ich Untersuchern, Bezweiflern, Gegnern der christlichen Religion, dasjenige, was Einwürfe gegen das N.T. veranlassen könnte, nicht entziehe.166
Mit dem Anspruch, die Heilige Schrift unparteilich zu lesen und polemischen Konfessionalismus zu überwinden, verschiebt sich der Fokus der Lektüre von heilsgeschichtlich-jenseitigen und konfessionell umstrittenen Aussagen auf den ethisch-diesseitigen und konfessionell weniger umstrittenen Gehalt der Bibel.167 Wie auch dem Pietismus eignet der Neologie ein starkes pragmatisches, auf die praxis pietatis zielendes Moment. Starre Dogmatik und engstirniger Konfessionalismus treten zugunsten einer stärker um Konsens bemühten und auf die biblische Ethik konzentrierten Betrachtungsweise in den Hintergrund. Mit einer solchen „Ethisierung“ der Religionsbetrachtung geht zugleich der Versuch einher, die Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen und Religionen auf ein objektives Niveau zu heben und durch Betonung der allen Glaubensgemeinschaften eigenen ethischen Imperative das Gemeinsame der Religionen bzw. ihre Übereinstimmung mit der angenommenen „positiven Religion“ in der Orthopraxis hervorzuheben. Die Göttlichkeit der Bibel wird im sensualistischen Zeitalter nicht mehr axiomatisch vorausgesetzt, sondern hat sich erst am Vermögen, ihren Leser tatsächlich sittlich zu verbessern, zu erweisen. In der eingeforderten Beförderung der Sittlichkeit begegnen sich Religion und Literatur, sakrale Bibel und profane Dichtung: Indem die Kraft zur diesseitigen sittlichen Vervollkommnung zum Wertmaßstab erhoben wird, tritt die von der Perfektibilität des Menschen beseelte Profanliteratur (etwa die dem britischen Spectator nachstrebenden Moralischen Wochenschriften) in Konkurrenz zur Heiligen Schrift.168 Neologische Akkomodationslehre Durch die Öffnung der Exegese für eine historisch Betrachtungsweise der Bibel bietet sich der Neologie eine neue, als Akkomodationslehre169
_____________ 166 167 168 169
Ebd., S. 38. Zur Ethisierung der Homiletik vgl. etwa Schott 1981, S. 56f. Vgl. Gutzen 1972, S. 38ff. Akkomodation bezeichnet die Vorstellung, der Heilige Geist habe sich bei der Inspiration der Bibel an das menschliche Vorstellungsvermögen angepaßt bzw. die Propheten, Jesus und die Apostel hätten sich in ihren Äußerungen der z.T. von falschen Vorstellungen geprägten Gedankenwelt ihrer Zuhörer oder Leser „anbequemt“. In der reformatorischen
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bezeichnete, Argumentationsweise an, die eingesteht, es seien widervernünftige Passagen in der Bibel zu finden, und zugleich an einer Harmonie von Vernunft und Offenbarung festhält. Im Bemühen um eine Berücksichtigung der Historizität der Offenbarung wird versucht, den ‚wahren‘ heilsgeschichtlichen Gehalt der Bibel aus seiner spezifischen
_____________ Theologie taucht der Gedanke erstmals bei Matthias Flacius (1520-1575) auf, der die Anwendung der menschlichen Sprache durch den Heiligen Geist in der Offenbarung für eine Akkomodation an Denk- und Ausdrucksweise des Menschen hält; auch Spinoza stellt fest: „revelationes autem opinionibus etiam prophetarum accomodatae sunt“. Spinoza, Tractatus, S. 232. Johannes Andreas Quenstedt (1617-1688) erklärt die stilistische Verschiedenheit der doch alle von Gott eingegebenen neutestamentlichen Schriften unter Hinweis auf die „Anbequemung“ Gottes an die jeweilige Ausdrucksweise des Schreiber. Vgl. Körtner 1998ff., Sp. 254. Um den philologischen Einwänden gegen die Inspirationslehre zu begegnen, wird später die Vorstellung aufgegriffen, die sprachlichen und stilistischen Unterschiede der einzelnen biblischen Bücher belegten die rein menschliche Verfasserschaft der Bibel. Um an der Inspiriertheit und damit Verbindlichkeit der Schrift festhalten zu können und zugleich die Augen vor der offenkundigen Verschiedenheit der biblischen Schriften in Grammatik, Stil und Ausdrucksweise nicht verschließen zu müssen, wurde diese sprachliche Verschiedenheit als eine Anpassung des Heiligen Geistes an die individuelle Ausdrucksweise der einzelnen biblischen Verfasser begriffen (Realinspiration). Mit dem Aufkommen der neuzeitlichen Naturwissenschaften und dem immer drängenderen Problem der Unvereinbarkeit biblischer Aussagen mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen wird die These der Akkomodation herangezogen, um den Widerspruch zwischen Bibel und Wissenschaft unter Hinweis auf eine Anpassung der biblischen Autoren an das Naturverständnis ihrer Zeit zu entschärfen. In diesem Sinne weist die Akkomodationsvorstellung eine stark apologetische Tendenz auf. Vgl. Hornig 1961, S. 214. Semler und die Neologen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts greifen die Akkomodationslehre auf und verfolgen den Plan, den vernunftgemäßen „Kern“ der Bibel aus seiner zum Teil als widervernünftig empfundenen Einkleidung herauszulösen, die einst legitimes Mittel der Verkündigung gewesen sei, im aufgeklärten Zeitalter aber ihre Berechtigung verloren habe. Vgl. etwa Semler, Kirchengeschichte, Bd. 1, S. 8f. Die neologische Homiletik greift ihrerseits bei der Verkündigung zum Mittel der Akkomodation, um die biblischen Inhalte durch „anbequemende“ Veränderung ihrem Zeitalter zugänglich zu machen. Vgl. hierzu Schott 1981, S. 54ff. Diese These einer „entgegenkommenden Anpassung“ Gottes bei der Verkündigung löste in der protestantischen Theologie in Deutschland eine als Akkomodationsstreit bezeichnete Debatte aus, die ihren Höhepunkt gegen Ende des 18. Jahrhunderts erreicht und sich in einer umfangreichen Traktatliteratur niederschlägt. Mit den Forschungsergebnissen der historisch-kritischen Bibelbetrachtungen überlebt sich die Akkomodationstheorie; eine kritische Lektüre der neutestamentlichen Schriften läßt keine andere Deutung mehr zu, als daß Jesus und die Apostel die Vorstellungen ihrer Zeit und ihrer Umgebung nicht nur aus pädagogischen Gründen übernahmen, sondern sie tatsächlich teilten. Zur Akkomodationlehre vgl. Hornig 1961, S. 211ff.; Hornig 1971ff.; Körtner 1998ff. und Schildenberger 1957ff. Goethe befaßt sich u.a. in Dichtung und Wahrheit mit der Vorstellung der Akkomodation. Die Lehre beinhalte, schreibt der Autobiograph, „daß man [...] sehr willig annahm, Gott habe sich nach der Denkweise und Fassungskraft der Menschen gerichtet, ja, die vom Geiste Getriebenen hätten doch deswegen nicht ihren Charakter, ihre Individualität verleugnen können, und Amos als Kuhhirte führe nicht die Sprache Jesaias, welcher ein Prinz solle gewesen sein.“ Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 9, S. 275, 7. Buch.
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zeitlichen, örtlichen und nationalen Einkleidung herauszulösen. Diese „jüdische Tracht“170 (Semler) des überlieferten Textes wird als seine Verderbnis begriffen. Daß die Bibel mit teilweise vernunftwidrigen Geschichten operiere und von Bildern durchzogen sei, die der Lebenswirklichkeit eines orientalischen Hirtenvolkes entliehen sind, wird als „entgegenkommende Anpassung“ (accomodatio) der göttlichen Offenbarung an die „beschränkte“ Gedankenwelt der Israeliten verstanden.171 So beruhe die sehr unterschiedliche Qualität neutestamentlicher Schriften auf ihrer jeweils unterschiedlichen Zielgruppe und abweichenden pädagogischen Motivation.172 Einzig für intellektuell beschränkte und der Abstraktion unfähige Zuhörer bequeme sich somit die Heilige Schrift teilweise orientalischer Bildlichkeit an:173 Ich erinnere [...], daß Jesus sowohl als die Apostel einen sehr merklichen Unterschied machen zwischen unfähigen Zuhörern und den geübtern, welche nun weiterzukommen suchen in geistlicher Erkenntnis und nicht bei sinnlichen Bildern und niedrigen Vorstellungen [...] stehenbleiben.174
Die Akkomodationstheorie darf sich bei ihrer Annahme, die Verkündigung sei an die Vorstellungswelt der Zielgruppe angepaßt worden, auf das paulinische Bekenntnis stützen, er sei im Dienst der Mission den Juden ein Jude, den Gesetzlosen ein Gesetzloser und den Schwachen ein Schwacher geworden.175 Semler argumentiert, die Akkomodation sei
_____________ 170 Semler, Canon, S. 81. 171 Zum literarästhetischen Kontext der Ablehnung der als überreich empfundenen Bildlichkeit der Bibel und insbesondere des Alten Testaments, so u.a. bei Hobbes und Le Clerq, vgl. Lessenich 1967, S. 24ff. 172 Semler verwendet zur Erläuterung der pädagogischen „Haushaltung“ Gottes bei der Offenbarung den Vergleich eines geschickten Lehrers: „Daß ein Lehrer mehr weis, und es besser weis, als die, welche seine Schüler werden, ist ganz ausgemacht. Daß der Lehrer eine Art von Sparsamkeit und Haushaltung im Unterricht beobachten muß, ist auch ausser Zweifel. Daß den Anfängern viele Mängel und Unrichtigkeiten ihrer Vorstellungen von allerley Dingen, die sie nach und nach erst besser lernen solten, zu gute gehalten werden müssen, wenn der Lehrer in der That ihnen einen nützlichen Unterricht geben, und sie nicht abschrecken will: ist wohl auch schon aus Erfahrung gewiß. [...] Wir wollen nur die Historie des Lehramts JEsu und Pauli näher betrachten, um zu wissen, daß es eine solche Herablassung gegeben habe, wobey manche Unrichtigkeiten der Gedanken bey den Zuhörern und Lesern eine Zeitlang wohlbedächtig übersehen werden.“ Hesse, Dämonologie, S. 341f. (Anhang Semlers). 173 Mit noch klarerem antijüdischen Impetus spricht Semler an anderer Stelle von der „niedrigen uncultivierten Denkungsart so vieler eifriger Juden“. Semler, Canon, S. 41. Zum Antijudaismus bzw. Antisemitismus in der Neologie vgl. Löwenbrücks Studie zu Michaelis (Löwenbrück 1995). 174 Semler, Canon, S. 81f. 175 Vgl. 1 Kor. 9,20ff.
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insofern legitim und keineswegs ein Bruch mit dem Wahrheitsgebot, als daß sie keine Verfälschung der ‚eigentlichen‘, heilsgeschichtlichen Aussagen vornehme und lediglich ein klug gewähltes Mittel sei, die Ausbreitung des christlichen Glaubens zu erleichtern.176 So legt Semler bei seiner Erwiderung im Streit über die Existenz des Teufels und der Dämonen dar, daß Jesus wie auch Paulus nur vorgeblich und aus „Nachgebung und Herablassung gegen unfähige und schwache Glieder der christlichen Gesellschaft“177 die Vorstellungen ihrer Zeitgenossen bedienten und von Teufel und Dämonen als realen Geschöpfen sprächen. Paulus verpflichte sogar den Christen zur Akkomodation an falsche Vorstellungen seiner Mitmenschen, wenn er zur Frage des Genusses von Götzen zum Opfer dargebrachtem Fleisch feststellt, „Was nun das Essen von Götzenopferfleisch angeht, so wissen wir, daß es keine Götzen gibt“178, und dennoch Weisung gibt, solches Fleisch nicht zu essen. Jemand, der noch dem irrationalen Glauben an Götzen verhaftet sei, könne so gleichfalls zum Essen dieses Fleisches verleitet werden, was notwendigerweise das Gewissen des Einfältigen belasten und so dem auf die Wahrheit Pochenden zur Sünde gereichen müsse:179 Es ist nichts deutlicher, als daß Paulus diese zwey Sätze vorträgt: 1) es giebt einen Vorzug der Erkenntnis bey fähigen Christen, wonach sie wohl wissen, daß alle gemeine Meinungen von den Götzenbildern, in welchen Dämonen wohnen solten, denen das Opferfleisch nun zugehöre, ohne allen Grund sind. 2) Es giebt aber auch viele unfähige Christen, denen man eben diese Einsicht nicht beibringen kan; und um dieser willen müssen jene Christen zuweilen nachgeben, und sich solches Götzenfleisches enthalten, ihnen also gleichsam eingestehen, es sey unerlaubt, um ihrer vermeinten Gründe willen. Daß hier eben diese Herablassung zur Duldung unwahrer Vorstellungen an den unfähigen Christen, von Paulo empfohlen werde, ist ganz ausser Zweifel.180
Solche „blos für die damalige Zeit“181 legitimen Anbequemungen seien jedoch in der Lehre der Kirche „ferner beibehalten und algemein gemacht worden [...]; wodurch die freie und beste Beförderung christlicher
_____________ 176 Vgl. Hornig 1961, S. 225. Vgl. etwa auch Semler, Kirchengeschichte, Bd. 1, S. 8f.: „so ist begreiflich, daß auch christliche Lehrer bald anfänglich manches nachgegeben haben, um desto eher solche Personen ohne Anstos zu gewinnen, und zu ihrer Gesellschaft zu ziehen.“ 177 Hesse, Dämonologie, S. 345 (Anhang Semlers). 178 1 Kor. 8,4 zit. n. Einheitsübersetzung. 179 Vgl. 1 Kor. 8,7ff. 180 Hesse, Dämonologie, S. 345f. (Anhang Semlers). 181 Semler, Kirchengeschichte, Bd. 1, S. 9.
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Einsichten nicht wenig gehindert worden“182 sei. Die Neologie stellt sich so selbst die Aufgabe, die ‚eigentliche‘ Aussageabsicht der Offenbarung von ihrer lediglich als Akkomodation verstandenen orientalisch-jüdischen Ausgestaltung zu trennen, um dem aufgeklärten Leser diesen ‚eigentlichen‘ Gehalt, frei von vernunftwidrigen Wundergeschichten, als infantil empfundenen Gleichnisreden und archaischer Bildlichkeit, wieder zugänglich zu machen.183 Das der Akkomodationslehre zugrundeliegende hermeneutische Modell mit seiner Trennung von Einkleidung und Inhalt entspricht in seinem dichotomischen und hierarchischen Aufbau vordergründig dem Paradigma von Schale und Kern bei Francke. Doch erscheint bezeichnenderweise die spirituelle Prämisse des Pietismus, nach der es einer gnadenhaft erfahrenen Disposition bedarf, um zum christologisch gedachten Kern der Aussage vorzudringen, in der Akkomodationslehre in säkularer Form: Dem spirituellen Perfektibilitätsglauben des Pietismus entspricht der intellektuelle Perfektibilitätsglaube der Aufklärung – nicht mehr Gnade, sondern Bildung ist die Voraussetzung erschöpfenden Verständnisses. Semler bezieht damit eine Gegenposition zu der dem Pietismus eigenen Vernunftskepsis und betont einen Erkenntnisoptimismus im Sinne der lutherischen claritas et perspicuitas. Mit der Negierung einer notwendigen spirituellen Disposition geht bei Semler die Negierung eines einheitlichen, spirituell-christologischen scopus der Schrift einher, wie er für Franckes Vorstellung des dem Widergeborenen zugänglichen Kerns wesentlich ist. Angesichts der nachgewiesenen Kontingenz des Kanons kann es für Semler keinen einheitlichen scopus der gesamten Schrift mehr geben und es bleibt bei der Disparität der Schrift, die der persönlichen Auswahl von Textstellen bedarf, um weiterhin erbaulich zu sein. Überdies unterscheiden sich die hermeneutischen Modelle in der Wertung von Schale bzw. Einkleidung: Während die Akkomodationslehre den cortex weithin pejorativ belegt, geht Francke noch von einer organischen Einheit aus, deren Schale zunächst kontextuell verstanden werden müsse, um sich anschließend dem Kern nähern zu können. So sehr Semler die apologetisch-induktive Hermeneutik secundum analogiam fidei abgelehnt und einen offenen Verstehensprozeß propagiert hatte („Komme heraus, was mag“184), so deutlich liegt der Akkomodationstheorie doch noch immer
_____________ 182 Ebd. 183 Vgl. Hirsch 1949ff., Bd. 4, S. 61 u. S. 66. Zur Problematik des Wunderverständnisses der Neologie vgl. auch Bron 1975, S. 35f. 184 Semler, Lavater, S. 123.
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die apologetische Motivation zugrunde, insbesondere die Unvereinbarkeit der biblischen Schilderungen von Naturvorgängen mit den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften zu überbrücken. Indem die geschichtliche Bedingtheit der Bibel in Inhalt, Form und Überlieferung zwar bejaht, aber noch von der ahistorischen Vorstellung ausgegangen wird, die biblischen Autoren wären den unrichtigen Vorstellungen ihrer Zeit selbst eben nicht verhaftet gewesen und hätten diese nur aus pädagogischer Motivation vordergründig übernommen, bleibt die Neologie inkonsequent und wird ihrem Anspruch, die Bibel „so [zu] lesen [...] als alle Schriften in der Welt“185 (Semler), letztlich nicht gerecht. Johann David Michaelis und die biblische Realienforschung Zu den prägendsten Gestalten dieser um Vermittlung von Vernunft und Offenbarung bemühten Strömung gehört der in Göttingen lehrende Orientalist Johann David Michaelis (1717-1791),186 bei dem auch Goethe zeitweilig zu studieren erwägt.187 Michaelis betreibt eine Bibelerforschung, die sich allen wissenschaftlichen Disziplinen ihrer Zeit öffnet, um durch ihre Heranziehung die Schrift erschöpfender zu verstehen. Ausgehend von der Erkenntnis, die Bibel und zumal das Alte Testament sei „ein Buch, welches uns gleichsam zwinget in die ganze Naturgeschichte und Sitten der Morgenländer hineinzugehen, wenn wir es verstehen wollen“188, wird in seinen Kommentaren immer wieder auf Geschichtswissenschaft, Archäologie, Geographie, Philologie, Rechtsgeschichte, Botanik, Zoologie und Medizin verwiesen.189
_____________ 185 Ebd. 186 Wenngleich Michaelis selbst sich nicht der Neologie zurechnet und ihr z.T. kritisch gegenübersteht. Vgl. Kantzenbach 1965, S. 218. 187 Vgl. Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 9, S. 241, 6. Buch: „Auf Männern wie Heyne, Michaelis und so manchem anderen ruhte mein ganzes Vertrauen; mein sehnlichster Wunsch war, zu ihren Füßen zu sitzen und auf ihre Lehren zu merken. Aber mein Vater blieb unbeweglich. Was auch einige Hausfreunde, die meiner Meinung waren, auf ihn zu wirken suchten: er bestand darauf, daß ich nach Leipzig gehen müsse.“ Goethe besucht Michaelis 1783 auf der 2. Harzreise und ist später bekannt mit seiner Tochter Caroline, die in zweiter Ehe mit August Wilhelm Schlegel und in dritter Ehe mit Friedrich Wilhelm Schelling verheiratet ist und zu einem Mittelpunkt der Jenaer Frühromantik wird. Vgl. Artikel „Schelling, Caroline Albertine“, in: Wilpert 1998, S. 932. 188 Michaelis, Fragen, o.S. (Vorrede). 189 Damit greift Michaelis freilich Ansätze auf, die sich u.a. schon bei Samuel Bochart (15991667, v.a. Geographia sacra und Hierozoicon sive bipertitum opus de animalibus Sacrae Scripturae)
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Für sein Studium der Realien übersetzt Michaelis u.a. historische Reiseberichte aus dem Arabischen ins Lateinische und regt zugleich neue wissenschaftliche Expeditionen in den Orient an, um über den Umweg der Erforschung der zeitgenössischen Lebensumstände der „Morgenländer“ zu einem besseren Verständnis der Realien der Bibel zu gelangen.190 Die Dimension zeitlicher Veränderung für den Orient weithin ignorierend, wird die Reise in den Orient gleichermaßen als diachrone wie diatopische Bewegung verstanden; Reiseziel ist immer das „Morgenland“ der biblischen Zeit. Es gelingt Michaelis schließlich, das dänische Königshaus für sein Vorhaben zu gewinnen, und er wird beauftragt, die Teilnehmer für eine großangelegte Expedition auszuwählen sowie einen Katalog von Fragen zusammenzustellen, denen nachgegangen werden solle. Diese Fragen an eine Gesellschaft Gelehrter Männer, die auf Befehl Ihro Majestät des Königes von Dännemark nach Arabien reisen (1762) zeigen zum einen, wie breit das Interesse Michaelis’ gefächert ist,191 zum anderen machen sie seine Triebfeder deutlich, durch eine rationale Erklärung der Bibelpassagen, die seitens der radikalen Bibelkritik als vernunftwidrig zurückgewiesen werden, das Festhalten an der Heiligen Schrift als inspirierten Offenbarung mit der Empirie ihrer Auslegung zu versöhnen.192 So regt er u.a. an, der Ebbe der äußersten Spitze des rothen Meeres, ihrer Zeit, Stärke, und der Tiefe, nebst dem Boden des Meeres an dem Orte, wo die Israeliten hindurch
_____________ finden; er betitelt daher sein umfassendes Werk zur biblischen Geographie Spicilegium geographiae Hebraeorum exterae post Bochartum (1769). 190 Vgl. Löwenbrück 1988, S. 161. Zu den Orientreisen und zum Entstehen der wissenschaftlichen Orientalistik vgl. Schimmel 1999 u. Nebes 1999. 191 Vgl. etwa Michaelis’ entlegene Fragen zu Themen wie „Vom Ausspeyen“ (Michaelis, Fragen, S. 167), „Von dem medicinischen Nutzen der Beschneidung der Knaben und Mädchen“ (ebd., S. 152), „Gibt es in dem rothen Meer fliegende Fische?“ (ebd., S. 11) und „Ist in Arabien noch irgend eine Spur von dem Rechte anzutreffen, vermöge dessen der hinterbliebene nächste Verwandte, sonderlich der Bruder, des ohne Kinder Abgeschiedenen Wittbe heyrathen, und ihm Samen erwecken muß?“ (ebd., S. 170). 192 Vgl. Löwenbrück 1988, S. 170. Michaelis versucht nicht nur, biblische Aussagen auf dem Gebiet der Natur- und Geschichtswissenschaft wieder als vernunftgemäß zu erklären, sondern auch ebenso im eigentlichen Sinne theologische Inhalte der Bibel für den aufgeklärten Gläubigen seiner Zeit faßbar zu machen. So legt er z.B. in seiner Schrift Gedanken über die Lehre der heiligen Schrift von der Sünde als eine der Vernunft gemässe Lehre (1752) die völlige Übereinstimmung der biblischen Sündenlehre mit dem säkularen Rechtsempfinden seiner Zeit dar: „Da GOtt uns nichts verboten hat, als was an und für sich schon schädlich war, so hat sein Gesetz die Zahl des Uebels in der Welt nicht vermehret: es hat aber das Uebel in Sünde verwandelt, so daß wir nun dasjenige auch aus Pflicht gegen ihn zu meiden haben, was wir ohnehin aus Selbst-Liebe hätten vermeiden müssen, wenn wir vernünftig gewesen wären.“ Michaelis, Sünde, S. 8.
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gegangen sind [besondere Beachtung zu schenken, um] [...] mit Gewißheit zu bestimmen, ob durch eine Ebbe über Ebbe, welche ein der Fluth widriger NordNord-West-Wind verursachte, so viel von dem Meer hat ausgetrocknet werden können, daß den Israeliten eine Straße durch dasselbe geöffnet ward.193
Zwar hält Michaelis weitgehend am lehramtlichen Offenbarungsverständnis fest, doch vermag er nur den biblischen Schriften die Qualität inspirierter Offenbarung zuzusprechen, die nachweislich einer historisch-kritischen Prüfung von den Aposteln selbst verfaßt sind. Insofern Lukas und Markus nicht zu den Aposteln zu zählen sind, erscheinen Michaelis ihre Evangelien sowie die Apostelgeschichte im Korpus des Kanons als verzichtbar.194 Reimarus und die radikale Bibelkritik Gemäßigte deutsche Neologen (unter anderem Baumgarten, Semler und Jerusalem195) gehen in ihrer Exegese nicht so weit wie die Vertreter einer radikalen Aufklärungstheologie, die mit dem Dogma der Inspiration auch die Vorstellung einer Offenbarung verwerfen, sondern trennen Inspiration und Offenbarung – bei kritischer Zurückweisung der ersten halten sie an der zweiten fest.196 Damit löst sich die protestantische Theologie in Deutschland vom Biblizismus, um in eine Phase des Übergangs zu einem Offenbarungsglauben zu treten, der von der Vernunftmäßigkeit des christlichen Glaubens überzeugt ist und sich deshalb nicht dagegen sperrt, die Bibel mit dem kritischen Verstand des Menschen zu betrachten.197 Siegmund Jacob Baumgarten (1706-1757) verbindet in für diese „Übergangstheologie“ fast idealtypischer Weise pietistische Prägung mit aufklärerischem Denken.198 Selbst bekennt er sich nicht zum Deismus, macht jedoch durch seine Schriften, Übersetzungen und Rezensionen die deistischen Thesen auch in Deutschland publik und wird zum wichtigsten
_____________ 193 Michaelis, Fragen, S. 4, Ergänzungen durch den Verfasser. 194 Vgl. Hirsch 1949ff., Bd. 4, S. 33. 195 Der einflußreiche protestantische Theologe Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (17091789), der als Hofprediger in Braunschweig wirkt, ist der Vater des Juristen Carl Wilhelm Jerusalem (1747-1772) aus dem Wetzlarer Umfeld des jungen Goethe, dessen Selbstmord Gegenstand des Briefwechsels zwischen Goethe und Johann Christian Kestner ist und in den Leiden des jungen Werthers aufgegriffen wird. 196 Vgl. Hirsch 1949ff., Bd. 2, S. 376ff. 197 Vgl. ebd., S. 378. 198 Vgl. Voigt 2003, S. 149. Eine Einführung in Baumgartens Hermeneutik gibt Barth 2000, S. 77ff.
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Vermittler der in England entstandenen Ideen; die eigentliche historischkritische Methode, wie der radikale Deismus sie entwickelt, lehnt Baumgarten selbst jedoch ab.199 Die Ideen der radikalen Bibelkritik der Aufklärung werden in Deutschland verstärkt ab 1774 durch die Vermittlung Lessings (17291781) verbreitet, der Fragmente der nachgelassenen Schrift Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes (entstanden ca. 1735-1768) des Hamburger Orientalisten Hermann Samuel Reimarus (1694-1768) posthum herausgibt. Reimarus propagiert eindringlich eine Religion innerhalb der Grenzen der Vernunft und läßt in seinen provozierenden Schriften lediglich jene Glaubenswahrheiten gelten, die einer inquirierenden Examination durch den kritischen Geist standhalten.200 Zentrale christliche Lehren werden als irrational, nicht dem eigentlichen Willen Jesu entsprechend oder gar als nachträglicher Schwindel zu entlarven gesucht. Die eigentliche Lehre Jesu lasse sich mit dem Grundsatz der Vernunft vereinbaren, doch die Ausgestaltung der Botschaft Jesu durch Apostel, Kirchenväter und kirchliches Lehramt habe die ursprüngliche christliche Lehre korrumpiert und vernunftwidrig manipuliert.201 Jesu Mission sei, wie auch von den Aposteln ursprünglich angenommen, tatsächlich die weltlich-politische Erlösung Israels gewesen und erst nach Scheitern dieser Mission hätten die Apostel die widervernünftige Lehre der Erlösung durch Tod und Auferstehung entwickelt: Das vorige System der Apostel, Jesus sey zur zeitlichen Erlösung des Volks Israel, und zur Aufrichtung einer neuen Theokratie gesandt, war in der That das wahre System ihres Meisters. Da es aber übel ausfiel: so ist das neue System der Apostel aus Noht, wegen ihrer fehlgeschlagenen Hofnung, von ihnen ertichtet worden: Es bestand darin, daß Jesus eben dazu gekommen sey, daß er leyden und sterben sollte, um die Sünde der gantzen Welt zu büssen [...]. Ich sage: wofern wir von den Absichten Jesu [...] richtig geurtheilet haben, so können wir dieses
_____________ 199 Vgl. Merk 1998, S. 10. Zur Ablehnung der historisch-kritischen Methode durch Baumgarten vgl. seine Darstellung „Von den Atheisten“ im Rahmen der monumentalen Geschichte der Religionspartheyen (1766), in der er sich u.a. gegen Pierre Bayle wendet. Vgl. Baumgarten, Geschichte, S. 43. 200 Vgl. Reimarus, Apologie, Bd. 1, S. 69. Zu Reimarus und seiner Exegese vgl. Reventlow 1990ff., Bd. 4, S. 157ff. 201 Vgl. Reimarus, Apologie, Bd. 2, S. 305f. Reimarus legt u.a. dar, daß gegenüber der Botschaft Jesu die Lehre der Apostel bereits eine Korrumpierung darstelle. In seiner Apologie habe er „das gantze Christenthum, welches auf diese Facta [die Lehre der Apostel] gebauet worden, von Grund aus, und in seiner ersten Anlage (was nämlich die Glaubens-Lehre betrifft) als bodenlos“ nachgewiesen. Ebd.; vgl. auch Schäfer 1980, S. 128.
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System nicht anders als ein ertichtetes ansehen, und mögen es sogleich ohne weitere Untersuchung verwerffen.202
Mit detaillierter Kritik versucht Reimarus unter Verweis auf die Widersprüche und Ungereimtheiten der Evangelien, den Kern dieser apostolischen Theologie, die Auferstehung Christi, als Betrug zu decouvrieren: Alles deute darauf hin, daß die Jünger selbst Jesu Leichnam aus dem Grab entfernt hätten, um seine Auferstehung vorzuspiegeln.203 Orthodoxe, Pietisten, Neologen und eine Vielzahl kaum einzuordnender Theologen antworten auf den mit der Veröffentlichung der Thesen Reimarus’ durch Lessing ausgelösten „Fragmentenstreit“ mit einer Flut von Gegenschriften, die Reimarus’ Thesen eher zur weiteren Verbreitung verhelfen, anstatt diese zu verhindern. Der profilierteste und zugleich hartnäckigste Gegner Lessings in dieser Auseinandersetzung ist der Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze (1717-1786), der zum Wortführer einer intransigenten lutherischen Orthodoxie wird.204
Johann Georg Hamann und die Idee der Kondeszendenz Wie die Vertreter der neologischen Akkomodationslehre erkennt auch Johann Georg Hamann (1730-1788) in der biblischen Offenbarung eine entgegenkommende „Herunterlassung Gottes“205. Diese als Kondeszendenz bezeichnete Erniedrigung Gottes ist genetisch, sprachlich und inhaltlich der Akkomodationsthese Semlers oder Michaelis’ ähnlich, wendet die Motivation einer Anbequemung Gottes bei der Verkündigung aber aus dem Bereich des Pädagogisch-Methodischen ins TheologischInhaltliche.206 Unterscheiden die Neologen zwischen dem als eigentlich verstandenen Inhalt und der „jüdischen Tracht“207, die einst pädagogisch motiviert gewesen sei, sich in einer aufgeklärten Zeit jedoch überlebt habe
_____________ 202 Reimarus, Apologie, Bd. 2, S. 180f. 203 Vgl. ebd., S. 179ff. 204 Zum Fragmentenstreit vgl. z.B. Kröger 1979; Pütz 1978, S. 43ff.; Hirsch, 1949ff., Bd. 4, S. 144ff. u. Fick 2000, S. 344ff. 205 Hamann, Werke, Bd. 1, S. 5 (Über die Auslegung der Heiligen Schrift). 206 Vgl. Schnur 1994, S. 62. Die unterschiedlichen Vorstellungen der Neologie und der Theologie Hamanns werden im folgenden begrifflich mit den Worten „Akkomodation“ und „Kondeszendenz“ differenziert, obgleich dies nicht den Sprachgebrauch der beiden Theorien wiedergibt; Hamann selbst verwendet den lateinischen Begriff nicht und zieht i.d.R. deutsche Wendungen wie „Herunterlassung“ heran. Vgl. ebd. 207 Semler, Canon, S. 81.
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und in der Exegese abgestreift werden müsse, so besteht für Hamann kein Spannungsverhältnis zwischen Inhalt und Einkleidung. Vielmehr seien die niedrige Gestalt der Bibel, ihre unrichtigen Vorstellungen und ihre der eloquentia nicht gemäße Sprache Teil der göttlichen Botschaft selbst, nicht allein ihre Mittel.208 Der intendierten Niedrigkeit Gottes bei der Inkarnation in die Gestalt Christi entspreche die ebenso freigewählte humilitas der Inverbation Gottes in die Gestalt der Bibel: Es gehört zur Einheit der göttlichen Offenbarung, daß der Geist GOttes sich durch den Menschengriffel der heiligen Männer, die von ihm getrieben worden, sich [sic!] eben so erniedrigt und seiner Majestät entäußert, als der Sohn Gottes durch die Knechtsgestalt und wie die ganze Schöpfung ein Werk der höchsten Demuth ist.209
Hatte die lutherische Orthodoxie das Spannungsverhältnis zwischen vorausgesetzter Göttlichkeit des Inhalts des Neuen Testaments und seiner äußeren Form in der „niedrigen“ χοινή schlicht geleugnet und die Aufklärungstheologie den sermo humilis des biblischen Personals entweder noch als nur vordergründige Anpassung verstanden oder aber die Bejahung der geschichtlichen Dimension der Schrift mit dem Preis der Aufgabe ihres Charakters als inspirierter Offenbarung bezahlt, so vermag Hamanns Modell dieses Spannungsverhältnis theologisch aufzulösen: Sprache und Form der Heiligen Schrift begreift er als literarästhetisches Äquivalent der Erniedrigung Gottes. In der Offenbarung läßt Gott sich „zu der Menschen Neigungen und Begriffe, ja selbst Vorurtheilen und Schwachheiten“210 herab, doch ist dies nicht didaktisches Mittel zum Zweck der Verkündigung, sondern das „vorzügliche Merkmal seiner Menschenliebe, davon die ganze heilige Schrift voll ist“211. Die neologische Dichotomie von Form und Inhalt, die Scheidung zwischen
_____________ 208 Zum Unterschied von Akkomodation und Kondeszendenz vgl. Jørgensen 1998, S. 169f. u. Lindner 1988, S. 26f. Gründner führt die theologiegeschichtlichen Muster, an die Hamann mit seiner Kondeszendenztheorie anknüpfte, bis zu Chrysostomus zurück und entdeckt auch bei Thomas von Aquin und v.a. bei Luther Spuren ähnlicher Vorstellungen, bleibt jedoch sehr vage und grenzt den Begriff nicht scharf genug gegenüber neologischen Akkomodationsvorstellungen und ihren theologiegeschichtlichen Wurzeln ab. Vgl. Gründer 1958, S. 28ff. So kommt Dyck zu der Erkenntnis, daß die spezifische Kondeszendenzvorstellung Hamanns ein theologiegeschichtliches Novum ist. Vgl. Dyck 1977, S. 120. Gleichwohl lassen sich m.E. Ansätze bei Luther finden der u.a. in den Tischreden die Knechtsgestalt Christi mit der Niedrigkeit der Sprache des Evangeliums parallelisiert: „Quemadmodum autem omnia opera Dei mundus iudicat esse simplicia et humilia, ita et euangelium simplicissimis et humilibus verbis describit“. Luther, WA, Tischreden, Bd. 5, S. 92. 209 Hamann, Werke, Bd. 2, S. 171 (Kleeblatt hellenistischer Briefe, erster Brief). 210 Ebd., Bd. 1, S. 10 (Biblische Betrachtungen). 211 Ebd.
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Uneigentlichem und Eigentlichem, hebt Hamann zugunsten eines ganzheitlichen Textverständnisses auf, das es erlaubt, die geschichtlichmenschliche Dimension des Bibeltextes mit seinem Verständnis als inspirierter Offenbarung zu vereinbaren. Gerade die zeitbedingte, menschliche Gestalt der Schrift, die sperrigen Geschichten der Bibel und ihr unvollkommener Sprachstil seien die ureigenste Ausdrucksweise Gottes und ließen ihn als demütigen Autor erfahrbar werden.212 Daß Gott die Maßstäbe elaborierter Rhetorik mißachte, sei nur die formale Konsequenz der inhaltlichen Offenbarung, daß es das Füllen einer Eselin war, auf dem Christus in Jerusalem Einzug hielt.213 Wie das Wesen Gottes, die Form der Bibel und ihr Inhalt in der humilitas zusammenfinden, so bedarf es nach Hamann auch seitens des Lesers der humilitas als des hermeneutischen Schlüssels, der allein Zugang zur Aussageintention des sich herablassenden Gottes verschaffe: Die Eingebung dieses Buchs ist eine eben so große Erniedrigung und Herunterlassung Gottes als die Schöpfung und Menschwerdung des Sohnes. Die Demuth des Herzens ist daher die einzige Gemüthsverfassung, die zur Lesung der Bibel gehört, und die unentbehrlichste Vorbereitung zur selbigen.214
Dieses Prinzip einer affektiven Identifikation zwischen Autor, Inhalt des Textes und Leser als Voraussetzung durchdringenden Verständnisses erscheint in interessanter Parallele zu Franckes Delineatio doctrinae de affectibus.215 Hamann teilt die pietistische Überzeugung, erst eine persönliche Disposition, eine bestimmte „Gemüthsverfassung“, erschließe die Schrift, säkularisiert diese Voraussetzung jedoch aus der Sphäre des Spirituellen („Gnade“) in den nur noch spirituell konnotierten Bereich des Charakterlichen („Demut“).216 Weniger distanziert erscheint an anderer Stelle diese „Gemüthsverfassung“ als positive, amourös-affektive Befangenheit des Liebhabers:
_____________ 212 Vgl. Hempelmann 1988, S. 11 u. Schnur 1994, S. 84. 213 Vgl. Hamann, Werke, Bd. 2, S. 171 (Kleeblatt hellenistischer Briefe, erster Brief). Vgl. etwa Mt. 21,1-11 in typologischer Entsprechung u.a. zu Sach. 9,9. 214 Hamann, Werke, Bd. 1, S. 5 (Über die Auslegung der Heiligen Schrift). 215 Vgl. Francke, Manuductio, S. 209 u. Dyck 1977, S. 115f. 216 Demut erscheint zwar auch bei Francke als hermeneutische Voraussetzung, sie ist hier aber immer Teil einer letztlich spirituellen Gnade: „So aber jemand die grosse Niedrigkeit / süsse Einfältigkeit / und die recht ungefärbte Weißheit der unmündigen in den Worten Johannis erkennen will / so ist vonnöthen / daß er die Gnade und Barmhertzigkeit vom HErrn erlange / in dem niedrigen / demüthigen und holdseligen Sinn dieses Jüngers des HErrn hinein zu schauen / und aus demselbigen Sinne von seiner gantzen Rede zu urtheilen.“ Francke, Werke, S. 241, (Christus Der Kern Heiliger Schrifft).
Johann Georg Hamann und die Idee der Kondeszendenz
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Wenn also die göttliche Schreibart auch das alberne – das seichte – das unedle – erwählt, um die Stärke und Ingenuität aller Profanscribenten zu beschämen: so gehören freylich erleuchtete, begeisterte, mit Eyfersucht gewaffnete Augen eines Freundes, eines Vertrauten, eine Liebhabers dazu, in solcher Verkleidung die Strahlen himmlischer Herrlichkeit zu erkennen.217
Mit der Betonung der Niedrigkeit („das alberne – das seichte – das unedle“) geht ein radikales Ernstnehmen der Zeitbezogenheit der göttlichen Offenbarung einher: Gott habe sich bestimmten Menschen zu einer bestimmten Zeit geoffenbart, so daß seine Verkündigung geprägt sei von ihren zeitlichen und lebensweltlichen Umständen.218 Durch den „logischen Circul menschlicher Vergötterung und göttlicher Incarnation“219 wird die Trennung sowohl zwischen Transzendenz und Immanenz, Heilsund Profangeschichte, als auch zwischen Sakralem und Profanem, menschlicher und göttlicher Literatur, hinfällig.220 Hamann kann so Socrates neben Petrus stellen: Könnte man nicht von Socrates, wenn er sich auf seinen Schutzgeist bezog, eben das sagen, was von Petrus steht: er wuste nicht was er sagte; oder von Caiphas, der prophezeyte und göttliche Wahrheiten verkündigte, ohne daß er, noch seine Zuhörer, das Geringste von dem wahr nahmen, was Gottes Geist durch ihn redte.221
So unverständig Hamann später selbst seinen Schriften mit ihrem wirren, assoziativen Centostil gegenübersteht („Ich versteh mich selbst nicht mehr“222), so zeitübergreifend plausibel erscheint doch vor dem Hintergrund der dialektischen Profanisierung der Sakralliteratur und der Sakralisierung der Profanliteratur sein Ausruf, „Gott ein Schriftsteller!“223, mit dem er zur Schrift Über die Auslegung der Heiligen Schrift anhebt. Der Auslegung stellt sich somit die Aufgabe, diese „Menschlichkeit“ der Bibel,
_____________ 217 Hamann, Werke, Bd. 2, S. 171 (Kleeblatt hellenistischer Briefe, erster Brief). Hamann paraphrasiert den ersten Korintherbrief: „das Törichte in der Welt hat Gott erwählt, um die Weisen zuschanden zu machen, und das Schwache in der Welt hat Gott erwählt, um das Starke zuschanden zu machen.“ 1 Kor. 1,27 zit. n. Einheitsübersetzung. 218 Vgl. Hamann, Werke, Bd. 2, S. 170 (Kleeblatt hellenistischer Briefe, erster Brief) sowie Hempelmann 1988, 39f. 219 Ebd., Bd. 3, S. 224 (Konxompax), Hervorhebung des Originals nicht übernommen. 220 Vgl. Jørgensen 1998, S. 171. 221 Hamann, Werke, Bd. 1, S. 304 (Brocken). 222 Hamann, Briefe, Bd. 5, S. 358 (an Johann George Scheffner, 11. Februar 1785). Hamann reflektiert, was er „von 59 – 83 geschrieben“ habe. Die Schriften erschlössen sich ihm selbst nicht mehr, „weil sich alles auf die wirkliche Lagen meines Lebens bezieht, auf Augenblicke, falsche, schiefe, verwelkte Eindrücke, die ich mir nicht zu erneuern im stande bin.“ Ergänzung durch den Herausgeber. 223 Hamann, Werke, Bd. 1, S. 5 (Über die Auslegung der Heiligen Schrift).
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verstanden als Historizität der Offenbarung, ernstzunehmen und die Schrift in diesem Licht auch mit den Mitteln der historisch-kritischen Analyse zu beleuchten – nicht um ihre Autorität zu schmälern, sondern um mit einer Hermeneutik der Demut der selbstgewählten Niedrigkeit Gottes erst gerecht zu werden. Herder un d das Vers tän dnis der Bi bel als „jugendlich er Dichtu ng“
Johann Gottfried Herder und das Verständnis der Bibel als „jugendlicher Dichtung“ „Nur der Bibel zu gut ward ich Theolog“224, bekennt 1783 der inzwischen zum Generalsuperintendent des Herzogtums Sachsen-Weimar aufgestiegene Johann Gottfried Herder (1744-1803) gegenüber Friedrich Haller. Doch – abgesehen von der nicht zu übersehenden Koketterie dieses Bekenntnisses – ist Herders Wirken in der Tat nicht nur im Sinne des reformatorischen „sola scriptura“ bibelzentriert; die Heilige Schrift als Untersuchungsgegenstand stellt darüber hinaus das verbindende Glied zwischen den unterschiedlichsten Betätigungsfeldern Herders in Theologie, Ästhetik, Philologie, Geschichtsforschung und Geschichtsphilosophie dar. Robert Lowth und die „Poesie der Hebräer“ Galten bis Mitte des 18. Jahrhunderts nur wenige, ausgesuchte Passagen der Bibel als explizit poetisch, vor allem das Canticum Canticorum, der Psalter und das Buch Hiob, und verbot sich vor dem Hintergrund der Annahme der verbalen Inspiriertheit biblischer Sprache eine primär literarästhetische Betrachtung der Bibel, so erschließt Robert Lowth (1710-1787) mit seiner in Oxford gehaltenen Vorlesungsreihe eine neue Perspektive, indem er die Poetik des Alten Testaments zum Gegenstand der Untersuchung erhebt.225 Die 1753 als De Sacra Poesi Hebraeorum Prae-
_____________ 224 Herder, Briefe, Bd. 4, S. 251f. (an Friedrich Haller, 3. Januar 1783). 225 Vgl. Norton 1993, Bd. 2, S. 65. Neben Norton geben Smend 2001, Löwenbrück 1986 u. Hepworth 1978, S. 77ff. Einführungen in die Ideen Lowths. Zur Geschichte der Entdeckung des poetischen Wertes der Bibel und insbesondere des Alten Testaments vgl. Dyck 1977, S. 91ff. In diesem Zusammenhang ist zumal auf den französischen Benediktiner Augustin Calmet (1672-1757) und sein Commentaire littéral sur tous les livres de l´Ancien et du Nouveau Testament (1707-1716) zu verweisen, in dem sich einige der später von Lowth entfalteten Gedanken angedeutet finden. Vgl. Dyck 1977, S. 97ff. Zu Calmet vgl. auch Lessenich 1967, S. 7f.
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lectiones Academicae publizierten 34 Vorlesungen untersuchen erstmals das Alte Testament konsequent mit den Kategorien profaner Literarästhetik und beschreiben u.a. mit dem parallelismus membrorum226 wesentliche Stilprinzipien der als „hebräische Dichtung“ verstandenen biblischen Bücher. Entgegen der christlichen Apologetik, die den auch sprachlichformalen Wert des Bibeltextes aus ihrem göttlichen Charakter ableitet und voraussetzt, versucht Lowth, die sprachlich-formale Würde des Alten Testaments anhand objektiver Kategorien der Literarästhetik zu belegen. Obschon Lowth in seiner Argumentation der griechisch-lateinischen Regelpoetik verhaftet bleibt und sie auf die „poesia Hebraeorum“ zu applizieren versucht, erkennt er, daß die hebräische Dichtung des Alten Testaments sich als religiöse Poesie weniger nach festgesetzten Regeln als nach spontan empfundenen Emotionen richte.227 Trotz dieses letztlich ahistorischen Ansatzes kommt Lowth das Verdienst zu, das Alte Testament dem direkten Vergleich mit den Monumenten antiker Profandichtung zu öffnen, den zu scheuen das Alte Testament keinen Grund habe:
_____________ 226 Lowth erkennt das Charakteristikum der alttestamentlichen Sprache u.a. in ihrem Hang zur sentenzhaften Verdichtung (so ist die 19. Vorlesung „Poesin propheticam esse sententiosam“ überschrieben), die oft mit dem Stilprinzip einer sachlichen oder wörtlichen Entsprechung zweier oder mehrerer Satzglieder einhergeht: „Poetica sententiarum Compositio maximam partem constat in aequalitate, ac similitudine quadam, sive parallelismo, membrorum cujusque periodi, ita ut in duobus plerumque membris res rebus, verbis verba, quasi demensa et paria respondeant“. Lowth, Praelectiones, S. 180 (19. Vorlesung). Lowths Herausstellung u.a. des parallelismus membrorum als Stilprinzip der althebräischen Dichtung überwindet die Debatte um eine ursprüngliche metrische Durchgestaltung der alttestamentlichen Texte im Sinne klassischer griechischer Metrik zugunsten einer zunehmend erkannten Eigengesetzlichkeit der hebräischen Literatur, wenngleich Lowth selbst an der Annahme einer ursprünglichen, verlorengegangenen metrischen Durchformung der alttestamentlichen Dichtung festhält. Vgl. Lessenich 1967, S. 105ff. u. v.a. S. 113 u. Norton 1993, Bd. 2, S. 67f. Lowth selbst schenkt dieser Entdeckung minderes Gewicht als die nachfolgende Theologiegeschichte, die auf seine De Sacra Poesi Hebraeorum Praelectiones Academicae zumeist nur noch unter dem Gesichtspunkt der erstmaligen Beschreibung des parallelismus membrorum verweist. Diese Verengung der Lowth-Rezeption erstaunt umso mehr, als daß bereits Augustin Calmet (1672-1757) und vor diesem schon Rabbi Azariah dei Rossi (Meor Enajim, 1574) den parallelismus membrorum im Sinne Lowths beschrieben haben. Vgl. Norton 1993, Bd. 2, S. 22f. u. S. 68f. Vgl. Smend 2001, S. 196ff.; Alpers 1927, S. 11ff. u. Hepworth 1978, S. 83f. 227 Vgl. Dyck 1977, S. 100. Lowth ist u.a. dem klassischen Dichtungsverständnis in der Nachfolge Horaz’ verhaftet und geht auch für die Dichtung des Alten Testaments von der Motivation des „aut Prodesse, aut Delectare, aut etiam Utrumque“ aus. Lowth, Praelectiones, S. 3 (1. Vorlesung); vgl. hierzu auch Alpers 1927, S. 26f. Ebenso zwängt er die verschiedenen literarischen Formen des Alten Testaments in die Kategorien klassischer Regelpoetik: „De idyllio hebraeo“ (ebd., S. 281, 29. Vorlesung) oder „Odae hebraeae [...] character“ (ebd., S. 245, 25. Vorlesung) sind beispielsweise einzelne Vorlesungen betitelt.
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Enimvero quid est cur Homeri, Pindari, Horatii scriptis celebrandis omnique laude cumulandis toties immoramur, Mosem interea, Davidem, Isaiam silentio praeterimus?228
Der Erhabenheit und der Würde der Bibel tue eine Untersuchung, die das methodische Instrumentarium profaner Literaturkritik anwende, keinen Abbruch.229 Der „Inhalt der heiligen Poesie“ bezeuge gerade bei „Unpartheylichkeit der Untersuchung“ ihre „ganz vorzügliche, göttliche [...] Würde und Fülle“230: Man hat zwar geglaubt, die heilige Poesie liege ganz außer dem Gebiet aller Critic, doch ist dies Vorurtheil leicht zu widerlegen. Zwar zeigt sich ihr Ursprung weit erhabner und ehrwürdiger, als daß man ihn bloß auf Kunst und Genie reduciren sollte, doch schadet dies der Unpartheylichkeit der Untersuchung nicht.231
Aus diesem Nachweis ihrer umfassenden, nicht nur inhaltlichen, sondern auch sprachlich-formalen Vollendung leitet Lowth in seiner Argumentation die Göttlichkeit der Heiligen Schrift ab.232 Diese Göttlichkeit der Bibel versteht er jedoch nicht im engen Sinne einer verbalen Inspiriertheit, sondern als Göttlichkeit ihres Ursprungs.233 Die Annahme der ursprünglichen Göttlichkeit schließt bei Lowth eine rein menschliche und damit auch korrumpierende Tradierung des Textes der Bibel durch die Zeiten nicht aus. Lowth bricht so mit der Lehre der providentia dei als göttlicher Aufsicht über die Textüberlieferung. Der Göttinger Neologe Johann David Michaelis, der bei seinem Studienaufenthalt in Oxford die Praelectiones selbst gehört hatte, übersetzt und kommentiert die Thesen Lowths seit 1758 und führt die ästhetische Betrachtung der Bibel in die exegetische Debatte in Deutschland ein. Wie sehr Lowths Annahmen Michaelis’ noch geteiltem Inspirationsglauben widersprechen und welcher Impuls zur Säkularisierung des Bibelverständnisses von Lowths De Sacra Poesi Hebraeorum ausgeht, erkennt Michaelis selbst jedoch nicht.234 Erst Johann Gottfried Herder (1744-1803) geht in Deutschland den von Lowth aufgezeigten Weg und liest die Bibel konsequent als „Poesie der Hebräer“, der eine Bewertung mit den
_____________ 228 229 230 231 232 233 234
Lowth, Praelectiones, S. 20 (2. Vorlesung). Vgl. Linder 1998, S. 17f. Lowth, Vorlesungen, S. 12. Ebd. Vgl. Gutzen 1972, S. 80. Zur Inspirationsvorstellung bei Lowth vgl. Alpers 1927, S. 27. Vgl. Smend 1989, S. 22f.
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normativen ästhetischen Kategorien der klassischen Poetik und Rhetorik nicht gerecht werden könne.235 Herders historisch-genetische Hermeneutik Herder erkennt die anachronistische Projektion Lowths, die mit „römischen und griechischen Namen“ operiere, obgleich diese „seinen uralten, morgenländischen, heiligen Objekten nicht immer angemessen“236 seien. So ergebe sich eine Perspektive, mit der die originäre Qualität der hebräischen Dichtung nicht erfaßt werden könne: Daher die manchmal unpassende Fragen und Gesichtspunkte: ob das Buch Hiob ein wahres Drama? das hohe Lied ein wahres theokritisches Hirtengedicht sey? und unter welche Classe von Oden und Gedichten jeder Psalm, jeder Prophet gehöre? Sammt und sonders gehören sie unter keine dieser Classen und Arten: nicht blos, weil [...] keine dieser Classen und Arten noch erfunden war, sondern weil überhaupt kein biblischer Scribent (im Sinn der Griechen und Römer, geschweige der Neuern) Dichter seyn wollte.237
Zentral für Herders Textverständnis ist die Interpretation aus den Kategorien der Zeit und Entstehungsumstände heraus. Geschichtlichkeit der Verkündigung im Sinne Herders ist dabei nicht die Negation eines Wirkens Gottes bei der Verkündigung.238 Vielmehr vollzieht sich nach Herders Geschichtstheologie jedwedes Wirken Gottes – in Anlehnung an Hamann – in der Geschichte.239 So müsse Gott in der „unvollkommenen,
_____________ 235 Vgl. Dyck 1977, S. 101. Zum Verhältnis Herders zu Lowth vgl. auch Baildam 1999, S. 58f. 236 Herder, SW, Bd. 10, S. 15 (Briefe, das Studium der Theologie betreffend). Ähnliche Kritik erhebt Herder an Michaelis’ Schrift Mosaisches Recht (1770-1775; die Rezension bezieht sich auf die ersten beiden der sechs Teile, 1770 u. 1771). In den Frankfurter Gelehrten Anzeigen moniert der anonyme Rezensent, der gemeinhin als Herder identifiziert wird, Michaelis projiziere in der Gegenwart virulente rechtsphilosophische Theorien lediglich auf die Lebenswelt der Israeliten: „Hier ist alles nur immer im Geiste unsres Jahrhunderts behandelt, dem guten Moses politische Maximen geliehen, die selbst bei uns doch nur oft Loci communes sind und jenem Volk, jener Zeit, jenem Gesetzgeber wahrhaftig fremde waren.“ FGA, Nr. 34, 28. April 1772 (Rezension zu Johann David Michaelis, Mosaisches Recht). 237 Herder, SW, Bd. 10, S. 15 (Briefe, das Studium der Theologie betreffend). 238 Vgl. ebd., Bd. 31, S. 106 (Über die Göttlichkeit und Gebrauch der Bibel): „Wenn Gott sich also für Menschen offenbarte: wie anders als in der Sprache und Denkart des Volkes, des Erdstrichs, des Jahrhunderts, des Zeitalters, zu dem seine Stimme geschah?“ 239 Zu Herders Geschichtsverständnis vgl. Gutzen 1988, S. 263ff. u. Dyck 1977, S. 103.
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Hermeneutische Grundpositionen der Bibelexegese im 18. Jahrhundert
mangelhaften Sprache“240 des Menschen reden, um sich dem Menschen zu offenbaren: „er kann nicht göttlich, er muß ganz Menschlich reden.“241 Herders poetische Lesart des Alten Testaments widerspricht in der Frage nach dem Ursprung der Heiligen Schrift also Lowth. Hatte dieser unter Verweis auf die dichterische Qualität des Alten Testamentes die Göttlichkeit seiner äußeren Form beweisen wollen, so greift Herder dasselbe Argument auf, um die „Menschlichkeit“ der Bibel nachzuweisen.242 Die Umkehrung der Argumentation läuft nunmehr darauf hinaus, das Alte Testament gerade wegen seines ergreifenden menschlichen Gehaltes für göttlich zu befinden.243 Herder beginnt seine Briefe, das Studium der Theologie betreffend (1780ff.) mit dem programmatischen Bekenntnis zur „menschlichen“ Lektüre der Bibel: Es bleibt dabei, mein Lieber, das beste Studium der Gottesgelehrsamkeit ist Studium der Bibel, und das beste Lesen dieses göttlichen Buchs ist menschlich. [...] Menschlich muß man die Bibel lesen: denn sie ist ein Buch durch Menschen für Menschen geschrieben: menschlich ist die Sprache, menschlich die äußern Hülfsmittel, mit denen sie geschrieben und aufbehalten ist; menschlich endlich ist ja der Sinn, mit dem sie gefaßt werden kann, jedes Hülfsmittel, das sie erläutert, so wie der ganze Zweck und Nutzen, zu dem sie angewandt werden soll.244
Lowth geht es darum, mit dem Nachweis der sprachlichen Vollkommenheit und des künstlerischen Wertes jenen Angriffen auf die Bibel zu begegnen, die unter Hinweis auf die Unvereinbarkeit ihrer Sprache mit den Idealen der klassischen Rhetorik den Anspruch der Heiligen Schrift auf allgemeine Gültigkeit auszuhebeln versuchen. Herder verfolgt hingegen neben der theologisch-exegetischen auch eine literarische Intention: Für Herder wird die „Poesie der Hebräer“ zum ältesten dichterischen Zeugnis der Menschheit und somit zum Paradigma ursprünglicher und – innerhalb seiner Theorie einer nach Lebensaltern aufgebauten Literarhistorie – „jugendlicher“ Dichtung.245
_____________ 240 Herder, SW, Bd. 31, S. 103 (Über die Göttlichkeit und Gebrauch der Bibel). 241 Ebd., S. 104: „Aber zwischen Gott und Menschen ist gar kein Verhältniß, sie haben gleichsam gar nichts gemeinschaftliches, um sich zu verstehen; Gott muß sich also den Menschen ganz Menschlich, ganz nach ihrer Art und Sprache, ganz nach ihrer Schwachheit und Eingeschränktheit der Begriffe erklären: er kann nicht göttlich, er muß ganz Menschlich reden.“ Vgl. auch Baildam 1999, S. 90f. 242 Vgl. Gutzen 1972, S. 92. 243 Vgl. Schöffler 1956a, S. 79. 244 Herder, FA, Bd. 9/1, S. 145 (Briefe, das Studium der Theologie betreffend). 245 Vgl. Niggl 1984, S. 132.
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Herders Hermeneutik als Produktionsästhetik Herder öffnet die Bibelexegese für die historische und ästhetische Dimension der Heiligen Schrift, indem er Dichtung allgemein als die den „jugendlichen“ Völkern gemäße Ausdrucksform ansieht. Insofern die Bibel zwar Paradigma „jugendlicher Dichtung“, aber nicht einziges Dokument originär-archaischer Poesie sei, verliert die Heilige Schrift bei Herder ihre Singularität als Offenbarung, gewinnt jedoch überragende Bedeutung als produktionsästhetisches Ideal.246 Den frühkeltischen Schriften, wie etwa den noch für authentisch erachteten Gesängen Ossians247, kommt dadurch eine der Heiligen Schrift vergleichbare normative Funktion zu. Diese Normativität versteht sich im Gegensatz zur bis dato gültigen Regelpoetik griechisch-römischer Provenienz jedoch nicht als zu imitierende Stilistik, sondern Altes Testament wie keltische Dichtung sind normgebend, insofern sie originärer, unverfälschter Ausdruck ihrer geschichtlich-kulturellen Entstehungsbedingungen seien. Mit dieser Theorie der „jugendlichen Dichtung“ knüpft Herder an die Vorstellungswelt seines Lehrers Johann Georg Hamann an, der gleichfalls in den ältesten Dichtungen das normative Paradigma des originären Ausdrucks zu erkennen meinte.248 In seiner ästhetischen Programmschrift Aesthetica in nuce. Eine Rhapsodie in kabbalistischer Prose (1761/62) propagiert Hamann die Poesie als die ursprüngliche Ausdrucksweise des Menschen, der die Sprache seines Schöpfers nachahme:249 Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts; wie der Gartenbau, älter als der Acker: Malerey, – als Schrift: Gesang, – als Deklamation: Gleichnisse, – als Schlüsse; Tausch, – als Handel.250
Diese Theorie, nach der die Ursprache des Menschen poetisch gedacht werden müsse und ihr vor allem in den Zeugnissen althebräisch-biblischer Dichtung nahezukommen sei, entwickelt sich vor dem Hintergrund der Annahme, üppige Bildlichkeit sei das Charakteristikum früher Sprach-
_____________ 246 Vgl. Gutzen 1988, S. 267. 247 Herder hat bis zu seinem Lebensende 1803 an die Authentizität der irrtümlich dem keltischen Dichter Ossian zugeschriebenen Dichtungen geglaubt, deren erste Fragmente der schottische Theologe James Macpherson (1736-1796) unter dem Titel Fragments of Ancient Poetry 1760 herausgibt. Zur Geschichte der Wirkung und Aufdeckung des beispiellosen literarischen Coups vgl. Schöffler 1956b, zur Wirkung Ossians auf Herder vgl. Gillies 1933. 248 Vgl. Baildam 1999, S. 59ff. Zum Verhältnis Hamanns und Herders vgl. Schnur 1994, S. 97ff. 249 Vgl. Moustakas 2003, S. 130. 250 Hamann, Werke, Bd. 2, S. 197 (Aesthetica in nuce).
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stufen.251 Hier wird die Umdeutung dieser zuvor (etwa bei den Neologen) noch despektierlich betrachteten Bildlichkeit der Bibel durch Hamann und Herder deutlich, die nun nicht mehr als Verunreinigung eines abstrakt zu verinnerlichenden Gehaltes betrachtet wird, sondern der ein ästhetischer Eigenwert zuerkannt wird. Wie jede Dichtung in ihrer Form durch die Umstände ihrer Entstehung bedingt sei, erkennt Herder in Nation, Kultur, Geographie, Politik und Klima des Nahen Ostens Faktoren, die auch der Bibel ihr spezifisches Gepräge gegeben hätten und die durch eine historisch-genetische Hermeneutik zu erschließen seien.252 Der zentrale Gedanke der Geschichtlichkeit der Offenbarung muß Herder zum Bruch mit der altlutherischen Lehre der Inspiration führen, deren Annahme einer Autorschaft Gottes bis in den konkreten Sprachgebrauch des Schreibers hinein er nicht mehr teilen kann:253 Die „Frage über die Theopneustie“ sei in der „Hermeneutik der Exegese“ fehl am Platz; Gott habe „geredet durch Mosen […]: ich höre nichts, als Moses; das Andre glaube ich“254. Herder bezeichnet es als „Aberglaube“ anzunehmen, die Bibel sei bis auf jede Kleinigkeit ihrer Schreibmaterie, Pergament, oder Papier, Griffel oder Feder, bis auf den, der Eins oder das Andre führt, bis auf jeden Strich oder Charakter ihrer Schrift und Sprache übermenschlich, überirdisch; mithin ganz ungemein und ohne Vergleichung, weder einem Truge noch Irrtum unterworfen, anzubeten und nicht zu untersuchen, nicht zu studieren, noch zu prüfen.255
Das Alte Testament ist für Herder primär hebräische Dichtung und kann als solche vor dem Hintergrund eines Hamannschen Dichtungskonzeptes die Göttlichkeit beanspruchen, die auch anderen Zeugnissen originärer Literatur zukommt.256 Die Bibel allgemein und zumal biblische Bücher wie der Psalter, das Hohelied oder die Genesis, insofern hervorragende Zeugnisse authentischer Poesie, behalten ihren Offenbarungscharakter, den sie
_____________ 251 Vgl. Lessenich 1967, S. 30f. 252 Vgl. Baildam 1996, S. 436. Vgl. auch Gutzen 1972, S. 93 u. Bunge 1988. Ähnlich stellt bereits Hamann die Prägung der biblischen Texte durch die Lebenswirklichkeit des Palästinas der Zeitenwende fest. Vgl. Hamann, Werke, Bd. 2, S. 170, (Kleeblatt hellenistischer Briefe, erster Brief). 253 Vgl. Gutzen 1972, S. 91 u. Baildam 1999, S. 91. 254 Herder, SW, Bd. 32, S. 198 (Aphorismen). 255 Herder, FA, Bd. 9/1, S. 145 (Briefe, das Studium der Theologie betreffend). 256 Herder bezeichnet die Genesis explizit als „morgenländisches Gedicht“ und bezieht diesen Gattungscharakter in seine Auslegung ein. Vgl. Schnur 1994, S. 108.
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jedoch mit Werken wie den Epen Homers, den Gesängen Ossians oder originären Volksliedern teilen.257 In Übereinstimmung mit Irmschers Feststellung, Herders Hermeneutik sei immer zugleich Produktionsästhetik, offenbart sich hier die nicht nur theologisch-hermeneutische, sondern auch produktionsästhetische Intention dieses exegetischen Ansatzes.258 Wie die Juden in den hebräischen Büchern der Bibel, vor allem im Psalter und im Hohenlied, zu einer originären und kraftvollen Ausdrucksweise gefunden hätten, solle auch die deutsche Dichtung zu einer ihr gemäßen Ausdrucksform finden und sich von epigonaler Nacheiferung fremder Vorbilder lösen. In diesem Sinne steht die Bibel, ohne ihre religiöse Dimension zu leugnen, als ein Text der profanen Literatur neben anderen Zeugnissen „jugendlicher“ Dichtung; auch der hebräischen Bibel dürfe nicht unreflektiert nachgeeifert werden, vorbildhaft sei sie nur als Beispiel und Inbegriff „jugendlicher“ Dichtung. Ein biblizistisches Deutsch, das Zitate und Motive der Heiligen Schrift unreflektiert aufnehme, sei der deutschen Literatur ebensowenig gemäß wie die bloße imitatio griechisch-römischer Normen. Eher solle die deutsche Literatur die Bildlichkeit ihrer eigenen kulturellen und zeitlichen Umgebung wählen, anstatt Bilder aus anderen Zusammenhängen zu kopieren:259 Wenn die biblischen Dichter von den Schneegüssen des Libanon; vom Tau des Hermon; von den Eichen Basans; vom prächtigen Libanon, und angenehmen Karmel reden; so geben sie Bilder, die ihnen die Natur selbst vorgegeben hat: wenn unsre Dichter ihnen diese Bilder entwenden, so zeichnen sie nicht unsre Natur, sondern reden ihren Originalen einige Worte nach, die wir kaum nur halb verstehen.260
_____________ 257 Vgl. Baildam 1999, S. 91ff. 258 Vgl. Irmscher 1973, S. 53. Auch hierin folgt Herder den Ansätzen Lowths, dessen Auseinandersetzung mit dem Charakteristischen des Alten Testaments ebenfalls produktionsästhetische Implikationen hat, die Alpers als Forderungen nach „Individualismus, Originalität, dichterische[m] Enthusiasmus, Volkstümlichkeit, Sehnsucht nach dem Unendlichen, Freiheit vom Zwang der Regel und des Reims“ versteht. Alpers 1927, S. 31. 259 Vgl. Baildam 1996, S. 443. 260 Herder, FA, Bd. 1, S. 277 (Ueber die neuere Deutsche Literatur). Vgl. auch Baildam 1999, S. 98ff.
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Die fremden Bilder der Bibel mit unserer Lebenswirklichkeit „ungeschickt [zu] vermischen“, sei völlig unpassend und heiße, so Herder in seiner Schrift Ueber die neuere Deutsche Litteratur (1767), „mit orientalischen Mastkälbern zu pflügen“ und „die orientalischen Tiger mit unsern Lämmern [zu] gatten.“261 Allein eine Dichtung, die ihren nationalen und kulturellen Zusammenhang widerspiegle, könne originär genannt werden. Damit fügt sich Herders Lektüre der Bibel in eine breite ästhetische Strömung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein, in der die bislang angenommene universelle und zeitlose Verbindlichkeit literarischer Idealbilder antiker Provenienz dem Wissen um die Vielfalt der Kulturen und Zivilisationen und dem Respekt vor diesen Traditionen weicht.262 Herders Imperativ der hermeneutischen Immedesimation Insofern die Bibel ihre Singularität einbüßt und jedwede originäre, die Ansprache Gottes an den Menschen nachahmende Dichtung für ‚göttlich‘ gehalten werden darf, ergibt sich eine dialektische Doppelbewegung bei Herder: Der Säkularisierung sakraler Literatur korreliert die Sakralisierung säkularer Literatur.263 Diese Göttlichkeit speist sich nicht mehr aus dem abstrakten Inhalt der Dichtung, sondern aus der ästhetischen Ausgestaltung in Poesie, deren Lektüre nach Herder zumindest der empfindsam privilegierten Seele religiöse Erlebnisräume öffnet.264 Mit der dialektischen Annäherung geistlicher und weltlicher Literatur vollzieht sich so eine Verschmelzung der interpretatorischen Anforderungen der bislang strikt auseinandergehaltenen Textgruppen, für die nunmehr nur noch eine Hermeneutik angenommen wird.265 Ausgehend von einem „semantischen Monismus“266 (Baildam), der die sprachliche Form als signifiant nicht vom signifié ihres Bedeutungsgehalts und seiner kultu-
_____________ 261 Herder, FA, Bd. 1, S. 279 (Ueber die neuere Deutsche Literatur), Hervorhebung des Originals nicht übernommen. 262 Vgl. Baildam 1996, S. 435. 263 Vgl. Lindner 1988, S. 21 u. Gutzen 1972, S. 111. 264 Vgl. Gutzen 1988, S. 283. 265 Vgl. Gadamer 1990, Bd. 1, S. 181. 266 Vgl. Baildam 1999, S. 114: „Herder´s organic definition of language, however, imposed a semantic monism in which form and content were indistinguishable […].“
Herder und das Verständnis der Bibel als „jugendlicher Dichtung“
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rellen und zeitlichen Konnotationen ablösen zu können glaubt, muß Herder die hermeneutische Strategie der simplen translatio aufgeben, um sich über den Weg nacherlebenden Einfühlens dem Text, unabhängig ob in traditionellen Kategorien „sakraler“ oder „profaner“ Provenienz, zu nähern. Herder postuliert einen hermeneutischen Imperativ der zeitlichen und lebensweltlichen Immedesimation („das Erläutern aus der dasigen Zeit und Gegend“267), den er der anachronistischen Projektion vermeintlich überzeitlich gültiger Kategorien entgegenstellt: Werden Sie mit Hirten ein Hirt, mit einem Volk des Ackerbaues ein Landmann, mit uralten Morgenländern ein Morgenländer, wenn Sie diese Schriften in der Luft ihres Ursprungs genießen wollen, und hüten sich insonderheit, so wie vor Abstractionen dumpfer neuerer Schulkerker, so noch mehr für so genannten Schönheiten, die aus unsern Kreisen der Gesellschaft jenen heiligen Urbildern des höchsten Alterthums aufgezwungen und aufgedrungen werden.268
Wie in der Vorstellung des Pietismus die „Wiedergeburt in Christo“ Voraussetzung für ein volles Verständnis der Bibel ist, gilt Herder die unverbildete, empfindende Seele, die allein sich in ihrer „jugendlichen“ Einfalt der „Poesie der Hebräer“ zu öffnen vermöge, als conditio sine qua non der Erkenntnis biblischer Wahrheit:269 „Auch hier entdeckt nur Seele die Seele“270. Nur dieser unverbildeten Seele ist das unbefangene Herantreten an den Text möglich, nur sie hat das Zutrauen zum unmittelbaren Eindruck, der zur maßgeblichen hermeneutischen Instanz erhoben wird.271 Herder erhebt damit eine persönliche Disposition zur hermeneutischen Voraussetzung („Seele“ oder „Gefühl“), deren Mangel auch nicht durch Intellekt und Studium kompensiert werden könne.272 Angesichts der Konvenienz sakraler und profaner Literatur ist diese unabdingbare Disposition freilich kein Spezifikum der Bibelexegese mehr, sondern Voraussetzung des Verstehens jedweder Dichtung. Das religiöse Erlebnis
_____________ 267 Herder, SW, Bd. 31, S. 108 (Über die Göttlichkeit und Gebrauch der Bibel). 268 Ebd., Bd. 10, S. 14 (Briefe, das Studium der Theologie betreffend); ähnlich ebd., Bd. 3, S. 202 (Kritische Wälder, „Zweites Wäldchen“): Herder versucht, „mit den Ebräern ein Ebräer, mit den Arabern ein Araber, mit den Skalden ein Skalde, mit den Barden ein Barde“ zu werden, „um Moses und Hiob, und Oßian in ihrer Zeit und Natur zu fühlen […].“ Zum hermeneutischen Verfahren des Sich-Hineinversetzens vgl. auch Bunge 1988, S. 249ff. 269 Vgl. Herder, FA, Bd. 9/1, S. 148 (Briefe, das Studium der Theologie betreffend). 270 Herder, SW, Bd. 8, S. 327 (Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele). 271 Vgl. Schnur 1994, S. 106. 272 Vgl. ebd., S. 111.
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Hermeneutische Grundpositionen der Bibelexegese im 18. Jahrhundert
des Pietisten wird so ins ästhetische Erlebnis des Poeten gewendet. Die hermeneutische Disposition des „Wiedergeborenen“ wird damit zum durchdringenden Verständnis der „empfindsamen Seele“ säkularisiert.273
_____________ 273 Vgl. Gutzen 1972, S. 109: „Die Bibel wird ein Buch für Auserwählte, Auserwählte nun nicht mehr im theologischen, sondern im psychologischen Sinn.“
Bibelexeg ese in der satirisch en Kritik d es jungen Go ethe
Die Bibelexegese in der satirischen Kritik des jungen Goethe
Die Annäherung des jungen Goethe an die bibelexegetische Debatte seiner Zeit vollzieht sich spielerisch: Anonymität des Verfassers, vorgehaltene Masken fingierter Autoren, beißender Spott und hintersinnige „Zitat-Spiele“1 (Henkel) prägen die Phase der experimentierenden Aneignung verschiedener bibelexegetischer und bibelhermeneutischer Positionen und werden im Verlaufe dieser Arbeit in die Analyse aller Texte einzubeziehen sein.2 Zwei kleinere Texte der juvenilia aus dem Entstehungszeitraum 1773/1774, von der Forschung als opera minores abgetan, belegen diese satirisch-polemischen Einmischungen in die Debatte um ein angemessenes Verstehen der Heiligen Schrift: Der Prolog zu den neuesten Offenbahrungen Gottes zielt als Invektive auf eine zeitgenössische Übersetzung des Neuen Testaments aus dem Geist der radikalen Aufklärung; das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern läßt die Vertreter einer verbissenen Aufklärung und eines schwärmerischen Pietismus sich einander auf der Binnenbühne eines ‚Spiels im Spiel‘ gegenübertreten und persifliert auf einem weiteren ‚Theater auf dem Theater‘ den Schöpfungsbericht der Genesis. In ihrer spielerischen Experimentalität sind die beiden dramatischen Texte nicht geeignet, direkt auf eigene Positionen des heranwachsenden Dichters zu schließen. Vielmehr bilden die satirisch zitierten und polemisch verworfenen bibelexegetischen Positionen den Ausgangspunkt einer weitreichenden Transformation, an deren Ende die Herausbildung der Geniekonzeption des jungen Goethe und ihrer spezifischen Hermeneutik steht, wie sie in der zweiten Untersuchung dieser Arbeit betrachtet werden wird.
Prolog zu den neuesten Offenbahrungen Gottes Ohne sich als Autor zu erkennen zu geben, veröffentlicht Goethe im März 1774 den Prolog zu den neuesten Offenbahrungen Gottes Verteutscht durch Dr. Carl Friedrich Bahrdt. Die kurze dramatische Farce gibt sich als Prolog zur kurz zuvor erschienenen Neuübersetzung des Neuen Testaments
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Vgl. Henkels Aufsatz zu „Zitat-Spielen“ Goethes (Henkel 1984). Die Hoheliedfassung Goethes bildet im Korpus der in dieser Arbeit eingehender untersuchten Schriten die einzige Ausnahme. Der Text wurde jedoch von Goethe zu Lebzeiten nicht veröffentlicht und erschien erst posthum.
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Bibelexegese in der satirischen Kritik des jungen Goethe
durch den Gießener Theologieprofessor Carl Friedrich Bahrdt (17401792). Bahrdt gehört unzweifelhaft zu den bemerkenswertesten Vertretern der Aufklärungsbewegung in Deutschland. Seine in zahllosen wissenschaftlichen Streitschriften, offenen Briefen, Romanen, frivolen Satiren, Theaterstücken und agitatorischen Pamphleten ausgebreitete, rigoros rationalistische Heterodoxie, aber ebenso sein unsteter, stets von Skandalen, Intrigen und Gerichtsverfahren begleiteter Lebenswandel kosten Bahrdt verschiedenste Ämter. So hat er u.a. Lehrstühle an den Universitäten Leipzig, Erfurt und Gießen inne, leitet kurzzeitig eine Knabenerziehungsanstalt in der Schweiz, des Postens enthoben, wird er Generalsuperintendent und verliert die Stellung wieder, sitzt zeitweilig in Festungshaft, betreibt eine Lichtgießerei und eine Wagenschmierfabrik und zieht sich schließlich in die Nähe von Halle zurück – als Privatgelehrter und Kneipier.3 Carl Friedrich Bahrdts Neuste Offenbarungen Gottes Mit seiner Verdeutschung des Neuen Testaments, deren vier Bände 1773 und 1774, um die Zensur zu umgehen, in Riga erscheinen, verfolgt der zu dieser Zeit in Gießen lehrende Aufklärungstheologe das Ziel, der Orthodoxie den Boden, die Textgrundlage, unter den Füßen wegzuziehen und die griechischen Originaltexte mit dem Licht der Aufklärung auszuleuchten. Im charakteristischen „höchst leichtfertigen Ton“4 (Knigge) seiner Autobiographie schreibt Bahrdt in der Rückschau:5 Meine Begierde, Priester und Theologen in ihren Verschanzungen zu beunruhigen und ihre morschen Werke zu zerstören, war zu feurig. Erlittene Verfolgungen […] und gutgemeinter Eifer […] gaben mir den Entschluß ein, mich an die Bibel selbst zu wagen und diese von mir noch für göttlich gehaltene Quelle der Wahrheit für [die] Orthodoxie unbrauchbar zu machen. So entstand meine so verschriene und auf die nachfolgenden Schiksale meines Lebens so vielfältig wirksam gewesene Uebersezzung des N. Testaments, unter dem Titel: die neusten Offenbarungen Gottes in Briefen und Erzählungen.6
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Vgl. den biographischen Abriß zu Bahrdt in ADB, Bd. 1, S. 772ff. und NDB, Bd. 1, S. 542f. sowie Zimmermann 1996, Mühlpfordt 1995 u. Schyra 1987. Knigge, Schriftsteller, S. 106. Knigge mokiert, Bahrdts Lebenserinnerungen mangele es an „Würde im Vortrage“. Zur Autobiographie Bahrdts vgl. Engels 1992. Vgl. Geismar 1846, S. 12. Bahrdt, Geschichte seines Lebens, S. 646 (neue Paginierung).
Prolog zu den neuesten Offenbahrungen Gottes
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In den Vorreden zum ersten und dritten Band der Neusten Offenbarungen Gottes legt Bahrdt umfänglich die Maximen seines Übersetzungsvorhabens dar – freilich ohne sich in der Übertragung unbedingt an diese Leitlinien strikt zu halten.7 „Wollen wir nie, daß unsere Christen die Bibel mit Geschmack und Vergnügen lesen sollen?“, fragt Bahrdt und stellt sich dem Anspruch, den Freunden der liebenswürdigsten Religion eine solche Uebersetzung in die Hände zu geben, welche sie ohne Commentar verstehen, und zu ihrer Befestigung im Glauben benutzen könnten.8
Eine Übertragung, die dies intendiere, könne sich nicht sklavisch an den Urtext binden und seine orientalische Prägung auch im Deutschen beibehalten, denn der Leser suche „den Inhalt der Bibel, aber nicht ihre Schale“, er verlange „Sachen und keine Worte.“9 Die verachtende Geringschätzung der Form, die Bahrdt ganz im Geiste der Akkomodationstheorie vom Inhalt klar zu scheiden sich zutraut, wird auf die Spitze getrieben, wenn der Übersetzer es sich als Verdienst anrechnet, „den eckelhaften morgenländischen Dialog modernisirt“ zu haben und über die Koine des Originals, ohnehin „ein Bastart von einer Sprache“10, hinweggegangen zu sein, um eine genuin deutsche Fassung des Neuen Testaments zu schaffen.11 Dabei setzt Bahrdt sich vor allem von Johann David Michaelis ab, der, obzwar selbst der Neologie zuzuordnen, noch weithin der Orthodoxie verbunden bleibt. Michaelis habe sich in seiner Übertragung „getreu, oder wie man eigentlich sagen sollte, sklavisch, an die ersten WörterbuchsBedeutungen“ gehalten und „statt deutsch zu schreiben, griechisch oder hebräisch mit deutschen Buchstaben“12 geschrieben. Bahrdt hatte sich bereits in den Kritiken über die Michaelische Bibelübersetzung (1773), die sich weithin als Vorwegnahme seiner Übersetzungsmaximen ex negativo lesen lassen, vom Grundkonsens der Bibelübersetzer, zunächst von der Wortbedeutung des Originals auszugehen, abgewandt: Wem ist unbekannt, daß es noch ein allgemein angebeteter Grundsatz der biblischen Hermeneutik ist: a propria verborum significatione non est recendum
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Vgl. Sauder 1992, S. 373. Bahrdt, Neuste Offenbarungen, Bd. 1, o.S. (Vorrede). Ebd. Ebd. Vgl. Schyra 1987, S. 113. Bahrdt, Neuste Offenbarungen, Bd. 1, o.S. (Vorrede).
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Bibelexegese in der satirischen Kritik des jungen Goethe
nisi summa urgeat necessitas? Und woher dieses unsinnige Ding von einer Regel?13
Diese Kritik führt Bahrdt auch gegen die Lutherübersetzung an, die „morgenländische Wortfügungen und Wörterbuchs-Ausdrücke“ vielfach beibehalten habe und insbesondere mit hoch aufgeladenen, synechdochalen Wendungen, beispielsweise „Buchstabe, Geist, Fleisch, Gesetz, Werke, Gerechtigkeit“, „so vielen mystischen, zweydeutigen und dunklen Kram in die Dogmatiken, ich will nicht sagen, hineingetragen, aber doch unterhalten“14 habe. Die Flut der umgehend erscheinenden Antibahrdtiana aufgreifend, wendet sich der Übersetzer in der Vorrede des dritten Bandes der Übertragung neuerlich an seine Leser und legt in der Form eines fiktiven Dialogs mit einem naiven Gläubigen dar, warum gerade die vermeintliche Ausdrucksstärke der Lutherübersetzung vielfach nur „Spielwerk“ und „vorbeyrauschende Aufwallungen der gedankenlos gerührten Seele“15 sei. Beispielhaft führt er die Verwendung des Wortes „Blut“ bei Luther an, das synechdochal für das ganze Leben Jesu gemeint sei, aber eine Christologie nahelege, die einzig auf die Passion gerichtet sei und suggeriere, „daß das Blut, das aus den Wunden des sterbenden Erlösers floß, einen eigenen, und wohl gar den einzigen Antheil“16 an der Erlösungstat habe. Wenn Bahrdt auch Zinzendorf hier nicht erwähnt, so ist doch unverkennbar, daß seine Polemik gegen die suggestive Betörung durch eine Blut-Christi-Metaphorik sich stärker noch gegen die Herrnhuter Lied- und Predigtsprache als gegen Luthers Bibelübersetzung selbst richtet: Glaubet mir, mein lieber Freund, daß hier euer Religionsgefühl elende Täuscherey ist. Nichts als eure Phantasie – euer Herz warlich nicht – ist in Bewegung, wenn ihn von Blut – Kreuz – Wundenshölen – oder dergleichen Ausdrücken höret. – Und eben diese Illusion, diese Täuschung der Einbildungskraft ist die Quelle von so vielen verderblichen Schwärmereyen geworden, welche noch itzt in dem Schoosse unserer Kirche ernährt, und durch jene wörtlichen Uebersetzungen unterhalten werden.17
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Bahrdt, Kritiken, S. 6. Wie eine Zusammenfassung liest sich die offenbar von Bahrdt selbst verfaßte Notiz zu den Kritiken über die Michaelische Bibelübersetzung in der ersten von ihm redigierten Ausgabe der Frankfurter Gelehrten Anzeigen. Vgl. FGA, Nr. 1, 1. Januar 1773 (Notiz zu Bahrdt, Kritiken). Bahrdt, Neuste Offenbarungen, Bd. 1, o.S. (Vorrede). Ebd. Ebd. Ebd.
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Doch in der Wahrnehmung des Publikums ist weniger dieser reflektierte Verzicht auf suggestive Synechdochen das Charakteristikum der Sprache der Neusten Offenbarungen Gottes, sondern vielmehr die Wahl eines modischen Aufklärungsjargons, den Bahrdt seinem „Geschmack und Vergnügen“ erwartenden Publikum schuldig zu sein glaubt. Das Haptische, Konkrete und Anschauliche des Originaltextes wird von Bahrdt vielfach ins Sphärische, Nichtfaßbare aufgelöst, wie exemplarisch ein Vergleich der Makarismen der Bergpredigt in den Übersetzungen Luthers und Bahrdts belegt: Lutherbibel
Bahrdt: Neuste Offenbarungen Gottes
Selig sind / die da geistlich arm sind / Denn das himelreich ist ir. Selig sind / die da leide tragen / Denn sie sollen getröstet werden. Selig sind die Senfftmütigen / Denn sie werden das Erdreich besitzen.18
Wohl denen, die wenige Wünsche für diese Erde haben. Für sie ist die Religion, die ihre Bekenner auf die Ewigkeit vertröstet. – Wohl denen, welche die süssen Melancholien der Tugend den rauschenden Freuden des Lasters vorziehen, sie werden reichlich dafür getröstet werden! – Wohl denen, welche Unrecht ertragen und Beleidigungen erdulden können. Das Vaterland der Tugendhaften ist ihr gewisses Erbtheil!19
Die intendierte Rationalisierung der Bibel führt bei Bahrdt weithin zur säkularisierenden Wendung der konkreten heilsgeschichtlichen Aussagen in einen gleichförmigen Fluß empfindsam-melancholischer Topoi, der Heymel in den Neusten Offenbarungen Gottes eher Paraphrasen der Evangelien als ihre Übersetzung erkennen läßt.20 Wie Bahrdt das lebensweltliche Kolorit des Originaltextes in die Begriffe der Tugendempfindsamkeit und der aufgeklärten Kameralistik zwängt, verdeutlicht etwa die Übersetzung des Vaterunsers: Gott! Vater der Menschen! erfülle unser aller Herz mit Ehrfurcht gegen dich, als das allervollkommenste Wesen. Gründe und erweitere dein Reich, welches da ist, wo Weißheit und Tugend blühen. Lehre uns alle im Gehorsam gegen deine Gebote und in der Ergebung in deinen Willen unsere Ruhe und Glückseeligkeit finden. Befreye uns durch deine liebreiche Vorsorge von ängstlichen Sorgen für
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Mt. 5,3-5 zit. n. Lutherübersetzung. Mt. 5,3-5 zit. n. Bahrdt, Neuste Offenbarungen. Vgl. Heymel 1992, S. 227. Auch Goeze spricht von Paraphrasen der Evangelien. Vgl. Goeze, Beweis, S. XXXIXf.
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Bibelexegese in der satirischen Kritik des jungen Goethe
die Zukunft. Verzeihe uns, wenn wir von Sünden übereilt werden, wie wir auch unsern Nebenmenschen gern alle Beleidigungen vergeben wollen. Laß uns in Stunden, wo wir zur Verleugnung der Wahrheit oder der Tugend gereizet werden, nicht unterliegen. Errette uns von allem was uns wahrhaftig unglücklich macht. Auf dir steht unser Vertrauen: Denn du bist unser Herr, du bist mächtig; du bist der Besitzer aller Schätze des Himmels und der Erden; du bist es und bleibest es in alle Ewigkeit. Amen.21
Dem paraphrasierenden Moment entspricht die Tendenz zur Homogenisierung des Neuen Testaments nicht nur in seinen unterschiedlichen Tonlagen, sondern auch in seinen verschiedenen Erzählformen u.a. von Gleichnisreden, Streitgesprächen, Beispielerzählungen oder Wundergeschichten, die zu einer gleichförmigen, von solchen formalen „Akkomodationen“ des Originaltextes freien, indirekten Rede nivelliert werden.22 Insofern Bahrdt die Aussagen der Evangelien als vernunftgemäße, jedem einsichtige Wahrheiten und Grundsätze einer allgemeinen Moral versteht, bedürfen sie der Einkleidung etwa in pädagogisch motivierte Gleichnisreden nicht mehr.23 Bereits in seinen Kritiken über die Michaelische Bibelübersetzung hatte Bahrdt die dialogischen Erzählformen als „dem Mangel an Politur“ geschuldete Eigenheit der Bibelsprache abgetan, die in deutschen Übersetzungen zu vermeiden sei: Es ist vieles Orientalismus, aber es ist deßwegen nicht alles Schönheit, was Orientalismus ist. Z.B. daß der Morgenländer bey Erzählungen alles bis zum Eckel dialogirt, ist keine Schönheit. Es gehört vielmehr zu den Gebrechen, zu dem Mangel an Politur seiner Sprache. Es gehört also auch nicht in die Uebersetzung.24
Die vorausgesetzte Vernunftgemäßheit der Evangelien läßt Bahrdt die biblischen Begebenheiten in seiner Übertragung so umdeuten, daß sie sich in den neologischen Rationalismus fügen und so gleichsam apologetisch die Prämisse ihrer Rationalität belegen. Der Glaube etwa an Wunder, der letztlich den Zweifel an der Verkündigung nähren müsse, gilt Bahrdt gleichsam als die Wurzel allen menschlichen Übels.25 So kann es etwa nicht die widervernünftige Gestalt des Teufels, sondern muß es schlicht ein „boßhafte[r] Widersacher“26 sein, der Jesus in der Wüste versucht.
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Mt. 6,9-13 zit. n. Bahrdt, Neuste Offenbarungen. Vgl. Heymel 1992, S. 238f. Vgl. ebd., S. 243f. Bahrdt, Kritiken, S. 30f. Vgl. Bron 1975, S. 48f. Vgl. Mt. 4,1 zit. n. Bahrdt, Neuste Offenbarungen: „Bald hernach führte Gott Jesum an einen einsamen Ort, um ihn von einem boßhaften Widersacher harte Begegnungen erdulden zu
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Den „Geist eines [...] stutzerhaft geschniegelten Aufklärertums“27, den noch der Kommentator der Frankfurter Ausgabe in den Neusten Offenbarungen Gottes erkennt, kritisiert umgehend eine Flut von über 40 Erwiderungen, Streitschriften und Polemiken, die Bahrdt Mißverständnisse und Übersetzungsfehler nachzuweisen suchen. Vor dem endgültigen Verbot der unverhohlen heterodoxen Übersetzung durch einen Reichshofratsbeschluß 1778 schützt Bahrdt auch nicht, daß er es paradoxerweise erreicht, gerade dem katholischen Fürstbischof von Würzburg die Neusten Offenbarungen Gottes widmen zu dürfen. Diese Widmung war Bahrdt vielversprechend erschienen, pflegte der Bischof doch jede Dedikation mit einem Fuder feinsten Weines zu belohnen.28 Erwiderungen auf Bahrdts Übersetzung Tenor der Kritiken ist die entschiedene Zurückweisung der als willkürlich verstandenen Umformung des Originaltextes: Bahrdt „schmeist weg, verändert, thut hinzu, was er will.“29 Zumal die anmaßende Polemik gegen die Sprache und Erzählweise der Bibel und, damit verbunden, sein Bemühen, „die Bibel gerne in einem Roman-Stylo liefern“30 zu wollen, stehen im Zentrum der Erwiderungen auf Bahrdts Übersetzung:31 Worin das dialogische und dessen Werth in dem Vortrage der Evangelisten bestehe, das muß der Verf. gar nicht verstanden und empfunden haben; sonst hätte er unmöglich die Dialogen in den einförmigen Lehr- und Erzählungston umschmelzen können.32
Eine der akribischsten und zugleich polemischsten Erwiderungen stammt aus der Feder des notorischen Hamburger Hauptpastors Johann Melchior Goeze (1717-1786). Der Beweis, daß die Bahrdtische Verdeutschung des Neuen Testaments keine Uebersetzung, sondern eine vorsetzliche Verfälschung und frevelhafte
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lassen.“ Luther übersetzt: „DA ward Jhesus vom Geist in die Wüsten gefürt / Auff das er von dem Teuffel versucht würde.“ Mt. 4,1 zit. n. Lutherübersetzung. Kommentar zu Prolog, FA, 1. Abt., Bd. 4, S. 903. Zur Widmung der Neusten Offenbarungen Gottes vgl. Bahrdt, Geschichte seines Lebens, S. 648ff (neue Paginierung). Schyra erwähnt, Bahrdt habe sogar zuvor versucht, die Übersetzung der englischen Königin zu dedizieren, die jedoch dankend abgelehnt habe. Vgl. Schyra 1987, S. 116. Kayser, Beweis, S. 47. Ebd., S. 45. Vgl. etwa ebd., S. 51f. Allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. 22/1, 1774, S. 118 (Rezension von Friedrich Gabriel Resewitz zu Carl Friedrich Bahrdt, Neuste Offenbarungen Gottes).
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Bibelexegese in der satirischen Kritik des jungen Goethe
Schändung der Worte des lebendigen Gottes sey (1773) erlaubt sich keine Differenzierungen und hebt die kritische Abweichung Bahrdts von der Bibel in den Worten Luthers ins Grundsätzliche:33 Mit einem Worte, diejenigen, denen von Luthers Schreibart ekelt, haben im Grunde einen Ekel vor den biblischen Wahrheiten, und man thut ihnen nicht unrecht, wenn man sie beschuldigt, daß sie nicht so wohl Feinde der Uebersetzung Luthers, als der heiligen Schrift selbst, sind.34
Bahrdt solchermaßen als vermeintlichen Feind der Bibel selbst identifiziert, führt Goeze ihm die dogmatischen Irrtümer seiner „von ihm selbst ersonnenen Religion“35 auf, die er in seine Übersetzung „hineinzukneten“36 versucht habe: So hänge Bahrdt modalistischen Häresien an, verleugne die „Grundlehre von der Genugthuung Jesu für die Sünden der Welt“, lehre – um „vermuthlich den Papisten zu heucheln“ –, „daß wir durch Almosen die Seligkeit erlangen können“37 und verneine die Existenz von Engeln und Teufel. Goethe stellt sich so mit seinem Prolog zu den neuesten Offenbahrungen Gottes pikanterweise an die Seite des intransigenten Goeze, der kurz zuvor erst gegen Goethe selbst und die übrigen Autoren des Jahrgangs 1772 der Frankfurter Gelehrten Anzeigen publizistisch vorgegangen war.38 Goethes satirische Kritik an Bahrdt Die Neusten Offenbarungen Gottes müssen dem jungen Goethe, dem es gerade auf das Kolorit der Zeit, auf die „derbe Natürlichkeit des Alten Testaments und die zarte Naivetät des Neuen“ und auf „des Orients Lokalität und Kostüm“39 (Dichtung und Wahrheit) ankommt, zutiefst zuwider sein. Bei seiner Kritik an Bahrdt wählt Goethe freilich einen deut-
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Goezes Beweis, daß die Bahrdtische Verdeutschung des Neuen Testaments keine Uebersetzung, sondern eine vorsetzliche Verfälschung und frevelhafte Schändung der Worte des lebendigen Gottes sey ist seinerseits wieder Gegenstand der umfänglichen Goeze-Kritik Lessings im Rahmen des Fragmentenstreits (u.a. Anti-Goeze. Das ist Notgedrungene Beyträge zu den freywilligen Beyträgen des Herrn Pastors Goeze, 1778). Goeze, Beweis, S. XII. Ebd., S. XXXIIIf. Ebd., S. XXXV. Ebd., S. XXXVff. Wie um den Kreis zu schließen, übernimmt Bahrdt ab Januar 1773 die Redaktion des Blattes. Zu den Frankfurter Gelehrten Anzeigen und ihren wechselnden Redaktionen vgl. Roertgen 1964. Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 9, S. 510f., 12. Buch.
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lich anderen Ansatz als Goeze. Er führt dem Theologieprofessor Bahrdt die Schwächen seiner Übersetzung nicht in der Form einer wissenschaftlichen Streitschrift oder in einem Pasquill vor Augen, sondern in einer satirischen Farce. Im Gegensatz zu Goeze intendiert er nicht die orthodoxe Klassifizierung der dogmatischen Irrungen des Theologen, sondern zielt er auf die Sprache des Übersetzers Bahrdt. Goethe stellt die Farce in der Fiktion den Neusten Offenbarungen als Prolog voran, um in der kurzen dramatischen Szene eine Erklärung zu geben, wie es zur verwässernden, sich dem empfindsamen Zeitgeschmack anbiedernden Übersetzung Bahrdts gekommen sei. Im ersten Auftritt, nur wenige Zeilen lang, sitzt Bahrdt am Schreibtisch und ist offenbar mit seiner Bibelübersetzung befaßt, als „Frau Professor“ als „Anwältin der gesellschaftlichen Verpflichtungen des Professors“40 (Sauder) das Zimmer betritt. Auf die Ermahnung seiner Gattin, Bahrdt möge zu einer Kaffeetafel in den Garten kommen, antwortet dieser, er müsse gerade noch einen Gedanken zu Papier bringen: „Da kam mir ein Einfall von ungefähr, / […] So redt ich wann ich Christus wär.“41 Bereits der erste Vers, den Goethe Bahrdt in den Mund legt, beinhaltet seine ganze Kritik an den Neusten Offenbarungen: Bahrdt läßt Jesus so sprechen, wie Bahrdt selbst spräche, wäre er Christus.42 Plötzliches Getrampel auf der Treppe läßt beide erschrocken aufhorchen: „Gott behüt, es ist der Tritt von Thieren“!43 Die vier Evangelisten treten laut polternd in das Arbeitszimmer Bahrdts, an ihrer Seite jeweils ihre allegorische Gestalt, wie sie auf die Vision des Propheten Ezechiel zurückgeht; Matthäus wird von einem Engel begleitet, Markus tritt mit dem Löwen auf, neben Lukas geht der Stier und über Johannes schwebt der Adler.44 Ganz offenbar kommt jedoch Bahrdt der Besuch der Evangelisten ungelegen, und überdies kann ihm die grobschlächtige Erscheinung seiner Besucher, die in ihrem altmodischen Aufzug weder salon- noch gesellschaftsfähig sind, nicht behagen: BAHRDT
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Sauder 1992, S. 375. Prolog, DjG, Bd. 1, S. 374. Herder wirft Bahrdt ebendiese Anmaßung vor und schreibt unter Rückgriff auf Goethes Farce: „Bahrd [sic!] schrieb neue Offenbarungen Gottes im achtzehnden Jahrhundert, d. i. wie die alten abgelebten Offenbarungen durch Christum, Evangelisten und Apostel, wenn sie durch Bahrdt sprechen sollten, sprechen würden.“ Herder, SW, Bd. 5, S. 268 (Gefundene Blätter aus den neuesten Deutschen Litteraturannalen von 1773). Prolog, DjG, Bd. 1, S. 374. Vgl. Ez.1,4-10.
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Bibelexegese in der satirischen Kritik des jungen Goethe
Willkomm ihr Herren! Doch thut mirs Leyd Ihr kommt zur ungelegnen Zeit, Muß eben in Gesellschafft nein. JOHANNES Das werden Gottes Kinder seyn, Wir wollen unß mit dir ergötzen. BAHRDT Die Leuthe würden sich entsetzen. Sie sind nicht gewohnt solche Bärte breit Und Röcke so lang, und Falten so weit, Und Eure Bestien muß ich sagen, Würd jeder andere zur Thür hinaus jagen.45
Auf die Frage des Evangelisten Markus, wie sie denn auftreten sollten und welches Benehmen denn Bahrdt für angemessener halte, holt der Übersetzer zu einem Monolog aus, der mit seinem Falschmünzervergleich den Kern der Posse vorstellt: BAHRDT Daß ich euchs kürtzlich sagen thu: Es ist mit Eurer Schrifften Art Mit Euren Falten und Eurem Bart, Wie mit den alten Thalern schwer, Das Silber fein, geprobet sehr, Und gelten dennoch jetzt nicht mehr. Ein kluger Fürst der müntzt sie ein, Und thut ein feines Kupfer drein Da mags dann wieder fort coursiren. So müßt ihr auch, wollt ihr rouliren, Euch in Gesellschafft produciren. So müßt ihr werden, wie unßer einer, Geputzt, Gestutzt, glatt – es gilt sonst keiner. Ein seidner Mantel und Kräglein Flinck, Das ist doch ganz ein ander Ding.46
Im Bild der Münzen, die inflationiert werden, indem der Silbergehalt der Taler gemindert und das Geld mit beigemengtem Kupfer gestreckt wird, und im Bild des aalglatten Stutzers gestaltet Goethe seine Kritik an Bahrdts Übersetzung. Wie das blecherne Geld seinen Wert verloren habe, auch wenn es „dann wieder fort coursire[]“, wie der eitle Geck in Gesellschaft reüssiere, auch wenn er hohl sei, so bemühe sich die verwässernde Übersetzung des Theologieprofessors, à la mode zu sein, und wähle dabei eine Gefälligkeit, die auf Kosten der Substanz gehe.
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Prolog, DjG, Bd. 1, S. 374f. Ebd., S. 375.
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Goethe greift mit dem Bild des Falschmünzers interessanterweise ein Motiv auf, das auch sein sonstiger Gegner Goeze in dessen Polemik auf Bahrdt münzt: Ich frage einen jeden ehrlichen Mann hier auf sein Gewissen, ob ein solcher Mensch in der gelehrten Welt anders angesehen zu werden verdiene, als ein falscher Münzer in der bürgerlichen angesehen wird, der die guten Gold- oder Silbermünzen einschmelzet, einen Zusatz von geringerem Metalle hinzuthut, und solche alsdenn unter dem ersten Stempel wieder ausprägt, und den Leuten, als ächte Münzen, in die Hände zu bringen sucht?47
Der Ochse, der Lukas begleitet, quittiert den Rat Bahrdts daraufhin, indem er Bahrdt „zu Boden [tritt], Bahrdt thut ein Groß Geschrey“48. „Frau Professorin“ mokiert, „Die Kerls nehmen keine Lebens Art an“49 und beweist damit eben jene Bewertung nach der Oberfläche, die Bahrdt einst die Bibelsprache ob ihres „Mangels an Politur“50 hatte ablehnen lassen. Erbost nimmt sich Bahrdt nun die Evangelien vor, um sich mit seiner Übersetzung an den Evangelisten zu rächen. Die Farce endet mit Bahrdts wütendem „Komm, es sollen mir ihre Schrifften dran.“51 Die Neusten Offenbarungen Gottes als Rache Bahrdts an den Evangelisten – das ist die abschließende Klimax der Polemik Goethes, mit der er den blinden Eifer Bahrdts im Kampf gegen die Orthodoxie geißelt.52 Goethes Bahrdt als Hieronymus-Persiflage Wer die Schrift achtlos als jugendliche Gelegenheitsdichtung abtut, wird leicht übersehen, wie geschickt der junge Pamphletär die Posse konstruiert. Durch feine Andeutungen unterlegt er dem Geschehen um den Bibelübersetzer Bahrdt die Folie eines anderen, ungleich fähigeren Bibelübersetzers. Die subtilen Rekurse auf diesen zweiten Übersetzer erst lassen Bahrdt in seiner ganzen bornierten Beschränktheit und seiner weltflüchtenden Gestelztheit hervortreten. Hieronymus, der Könner, schimmert als Kontrastfigur hier und da zwischen den Zeilen durch und läßt Bahrdt, den Dilettanten, um so kleiner erscheinen.
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Goeze, Beweis, S. XXIXf. (Einleitung). Prolog, DjG, Bd. 1, S. 376. Ebd. Bahrdt, Kritiken, S. 31. Prolog, DjG, Bd. 1, S. 376. Vgl. Schyra 1965, S. 200.
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Bibelexegese in der satirischen Kritik des jungen Goethe
Bahrdt „sitzt [...] am Pulten und schreibt“53 an seiner Bibelübersetzung, beginnt Goethe die Farce. Die von Goethe mit wenigen Strichen skizzierte Szene – der Bibelübersetzer an seinem Pult bei der Arbeit – ist ein Topos der Hieronymus-Ikonographie. Die Anspielung auf den Schöpfer der Vulgata wird noch deutlicher, wenn mit dem Evangelisten Markus der Löwe die Szenerie betritt: Der Heilige am Pult bei der Übersetzung der Heiligen Schrift, ruhig neben ihm der Löwe liegend, dem er einst, wie die Legenda aurea berichtet, den Stachel aus der Tatze ziehen ließ – das sind in der christlichen Kunst die Attribute, die den Topos des „Hieronymus im Gehäuse“ evozieren, wie er, den Löwen durch den Pudel ersetzt, ironisch auch in der Übersetzungsszene des Faust zitiert wird.54 Der Heilige, der ohne Berührungsängste den Löwen neben sich duldet, steht im diametralen Gegensatz zu Bahrdt, dem das ungeschlachte Wesen der Tiere nicht behagt und der sich über ihre mangelnde Gefälligkeit mokiert: BAHRDT Schaff ab zuerst das garstig Thier, Nehm ich doch kaum ein Hündlein mit mir.55
Die Flucht vor dem Lebensweltlichen und Begreifbaren in Bahrdts Neusten Offenbarungen, die Auflösung des Anschaulichen und Faßbaren ins Nebulöse, Gefällige und Unverbindliche einer lebensfernen Abstraktion finden ihren sinnfälligen Ausdruck im konträren Verhalten der beiden Bibelübersetzer gegenüber diesem im tableau vivant so gleichermaßen doppelt allegorisch aufgeladenen Löwen. Goethes Personalsatiren im Licht der Kondeszendenztheorie Hamanns Der Satire ist damit, jenseits der religiös-exegetischen Dimension, ein ästhetischer Impetus der Verteidigung des Originären eigen, der die Prägung durch Herders Ästhetik nicht verleugnen kann. Von einer den zeitlichen und kulturellen Entstehungsbedingungen gemäßen und somit authentischen Form kann der Inhalt nicht abstrahiert und in neue Kleider gewandet werden. Der teilweise inperfekten, ungelenken und von historischen Verwerfungen durchzogenen Überlieferungsform der Bibel ist für
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Prolog, DjG, Bd. 1, S. 374. Vgl. Legenda aurea, S. 655f. Zur Hieronymus-Ikonographie und zur Darstellungsweise des „Hieronymus im Gehäuse“, wie sie ab dem 14. Jahrhundert üblich wird, vgl. Ridderbos 1984 (bes. S. 15ff.) u. Wiebel 1988. Zur Hieronymus-Parallele im Faust vgl. Pestalozzi 1996, S. 42f. Prolog, DjG, Bd. 1, S. 376.
Prolog zu den neuesten Offenbahrungen Gottes
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Goethe eine spezifische ästhetische Würde abzugewinnen, die im korrelativ aufeinander bezogenen Verhältnis von Offenbarung und Textgestalt gründet, wie Hamann es zum Ausgangspunkt seiner Kondeszendenztheorie macht. Der frei gewählten Niedrigkeit der Inkarnation entspricht nach Hamann die intendierte Niedrigkeit der Inverbation: Es gehört zur Einheit der göttlichen Offenbarung, daß der Geist GOttes sich durch den Menschengriffel der heiligen Männer, die von ihm getrieben worden, sich [sic!] eben so erniedrigt und seiner Majestät entäußert, als der Sohn Gottes durch die Knechtsgestalt und wie die ganze Schöpfung ein Werk der höchsten Demuth ist.56
Hamanns Kondeszendenzlehre, obschon ganz in religiösen Kategorien verbleibend, ist eine starke Tendenz zur Säkularisierung eigen. Insofern Gott selbst sich durch Inkarnation Christi und Kondeszendenz der Bibel vermenschlicht, konvergieren Sakral- und Profanliteratur:57 Hamanns Parole, „Gott ein Schriftsteller!“58, hebt die scharfe Grenzziehung zwischen fanum und profanum in der Dichtung auf. So ist in der Argumentation Goethes nicht mehr mit Bestimmtheit auszumachen, in welchem Maße der Text auf die Verteidigung der Heiligkeit des biblischen Textes zielt und in welchem Maße er eine lediglich religiös konnotierte ästhetische Würde der Bibel als Dichtung gewahrt wissen möchte. Der Impetus der Satire wird so auch auf zunächst säkulare Monumente originärer Dichtung übertragbar, die Goethe ebenso einer anmaßenden Geringschätzung ihrer authentischen Ästhetik ausgesetzt sieht. Die zweite Personalsatire der Zeit, Götter Helden und Wieland, ist die Ahndung eines ähnlichen „literarischen Sakrilegs“59 (Stern), dessen sich Wieland im Singspiel Alceste an Euripides schuldig gemacht habe.60 Wie eben Bahrdt die Evangelisten, „Geputzt, Gestutzt, glatt“61, in die gefällige bürgerliche Tracht seiner Zeit kleidet, führt der Weimarer Prinzenerzieher Wieland, seinem Zögling Carl August zum Vorbild, den ungebändigten Herkules als adretten, einzig der Tugend dienenden, „wohlgestalteten Mann, mittlerer Grösse“62 vor.63 In beiden Farcen folgt nun dem Sakrileg
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Hamann, Werke, Bd. 2, S. 171 (Kleeblatt hellenistischer Briefe, erster Brief). Vgl. Jørgensen 1998, S. 171. Hamann, Werke, Bd. 1, S. 5 (Über die Auslegung der Heiligen Schrift). Vgl. Stern 1980, S. 26. Vgl. hierzu jüngst Herboth 2001. Prolog, DjG, Bd. 1, S. 375. Götter Helden und Wieland, DjG, Bd. 1, S. 371. Vgl. Erxleben 1986, S. 80.
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Bibelexegese in der satirischen Kritik des jungen Goethe
ein vorgestelltes Verhör durch die betroffenen, ‚geschändeten‘ Autoren und ihre Figuren selbst.64 Der Erniedrigung Gottes in Inkarnation und Inverbation entsprechend, hatte Hamann eine Hermeneutik der humilitas als einzig angemessene Haltung beim Herantreten an den Text gefordert. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß die Schärfe der Kritik an den Sakrilegien Bahrdts und Wielands eben darin begründet liegt, daß die Autoren die geforderte Hermeneutik der humilitas mit einer Hermeneutik der superbia vertauscht haben. Eben dieser Mangel an „Ehrfurcht“ in der Annäherung an eines „der ältesten Monumente des menschlichen Geistes“, den Pentateuch, hatte Goethe bereits im Sommer 1772 zu einer scharf ablehnenden Rezension des von Bahrdt und Jakob Heinrich von Gerstenberg (1712-1776) verfaßten Traktats Eden, das ist, Betrachtung über das Paradies und die darinnen vorgefallenen Begebenheiten (1772) in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen bewogen:65 Hätte der Verf. sich den Schriften Mosis auch nur als einem der ältesten Monumente des menschlichen Geistes, als Bruchstücken einer ägyptischen Pyramide mit Ehrfurcht zu nähern wissen, so würde er die Bilder der morgenländischen Dichtkunst nicht in einer homiletischen Sündflut ersäuft, nicht jedes Glied dieses Torso abgerissen, zerhauen und in ihm Bestandteile deutscher Universitätsbegriffe des 18. Jahrhunderts aufgedeckt haben.66
Diese Stoßrichtung, die Anmaßung derer zurückzuweisen, die sich ermächtigt sehen, sich über die Bibel und die ihre eigene Gestalt zu erheben, konvergiert mit Goethes Schadenfreude im Brief an Schönborn: Herder habe mit seiner Aeltesten Urkunde des Menschengeschlechts die Lasterbrut der neuern Geister, De- und Atheisten, Philologen, Textverbesserer, Orientalisten, mit Feuer und Schwefel und Fluthsturm ausgetilget. Sonderlich wird Michaelis von Skorpionen getödtet.67
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Vgl. Stern 1980, S. 26f. Die Schrift stammt von Gerstenberg, erscheint jedoch anonym und mit einem namentlich gekennzeichneten Vorwort Bahrdts, so daß dieser die Kritik an der Veröffentlichung auf sich zieht. Zu der Goethe zugeschriebenen Rezension vgl. Kertscher 1995, S. 63 u. Schyra 1987, S. 109. Bräuning-Oktavio sieht hingegen v.a. Anhaltspunkte für eine Autorschaft Herders. Vgl. Bräuning-Oktavio 1966, S. 647f.; hier umfangreiche Dokumentation der Zuschreibungsdebatte. FGA, Nr. 49, 19. Juni 1772 (Rezension zu Friedrich Heinrich v. Gerstenberg/Carl Friedrich Bahrdt, Eden, das ist, Betrachtung über das Paradies und die darinnen vorgefallenen Begebenheiten). Briefe, WA, 4. Abt., Bd. 2, S. 173 (an Gottlob Friedrich Ernst Schönborn, 1. Juni bis 4. Juli 1774). Wie hier die „Textverbesserer“, so werden im Brief des Pastors die „Liederverbesserungen“ scharf kritisiert. Vgl. Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 386.
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Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Prologs zu den neuesten Offenbahrungen Gottes sind Goethe und Bahrdt sich noch nicht persönlich begegnet und stehen, wie auch später, nicht in Korrespondenz. Dennoch mangelt es nicht an Berührungspunkten der näheren Umgebungen beider Persönlichkeiten, zumal die Redaktion der Frankfurter Gelehrten Anzeigen, die Bahrdt mit dem Jahrgang 1773 übernimmt, stellt eine indirekte Verbindung zwischen beiden her.68 Zu Goethe, dem „Saul auch unter den Propheten“, äußert Bahrdt sich erst wieder im Kirchen- und Ketzer-Almanach aufs Jahr 1781, den er 1780 im Verlagsort „Häresiopel“ herausbringt: Er geht, auch in der Theologie – wie die Genie’s alle, seinen eignen Weg […]. Daher hat er mit Herdern und einigen andern eine eigne Mittelbahn betreten, hat rechts und links Orthodoxen und Ketzern Ohrfeigen ausgetheilt, und – im Grunde mit dem lieben Publikum seinen Spaß gehabt.69
Jahrmarktsfest zu Plundersweilern Der Prolog zu den neuesten Offenbahrungen Gottes liest sich nicht nur als scharfe, auch durch die scherzhafte Form nicht gemilderte Polemik gegen das „literarische Sakrileg“70 (Stern) der gefällig-selbstgefälligen Bibelübersetzung des Aufklärers Carl Friedrich Bahrdt. Unter dieser Oberfläche des konkreten Anlasses der Schrift wird Goethes genereller Mißmut über Anmaßung und Spott der Aufklärung im Umgang mit der Bibel vernehmbar – eine Kritik, die auch in zahlreichen anderen Schriften der
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Eine Erwähnung in Dichtung und Wahrheit hält einen späteren kurzen, aber um freundschaftlichen Ton bemühten Besuch Bahrdts bei Goethe in Frankfurt fest, über den Bahrdt nichts verliert: „Doktor Bahrdt, damals in Gießen, besuchte mich, scheinbar höflich und zutraulich; er scherzte über den ‚Prolog‘, und wünschte ein freundliches Verhältnis.“ Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 9, S. 595, 13. Buch. Zum Verhältnis zwischen Goethe und Bahrdt vgl. Schyra 1965 und Sauder 1992, S. 377ff. Es sei erwähnt, daß neben den bereits oben kurz angerissenen möglichen Bahrdt-Bezügen im Brief des Pastors mehrfach Anspielungen im Faust und im Fragment Hanswursts Hochzeit ausgemacht worden sind, die sich auf Bahrdts Schriften bezögen. Vgl. Schyra 1965, S. 197f. u. Schyra 1987, S. 118f. So verweise Goethe u.a. in der Übersetzungsszene des Faust auf Bahrdts unbeholfene Übertragung des Beginns des Johannesevangeliums – „Der Logus, war schon bey dem Entstehen dieser Welt“ (Joh. 1,1 zit. n. Bahrdt, Neuste Offenbarungen). –, die in besonderer Weise die Kritik der Zeitgenossen auf sich gezogen hat. Vgl. etwa Allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. 22/1, 1774, S. 111f. (Rezension von Friedrich Gabriel Resewitz zu Carl Friedrich Bahrdt, Neuste Offenbarungen Gottes). Dieser Bezug der Übersetzungsszene auf Bahrdts Johannesübertragung wird erstmals hergestellt von v. Biedermann (1883, S. 345). Bahrdt, Almanach, S. 66. Stern 1980, S. 26.
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Zeit geübt wird. In ähnlicher Weise wie im Prolog polemisiert Goethe auch im kurzen, teilweise schwankhaften Drama Jahrmarktsfest zu Plundersweilern (entstanden im Frühjahr 1773, publiziert im Herbst 1774 im Rahmen der Sammlung Neueröfnetes moralisch-politisches Puppenspiel, 1778 völlig überarbeitet und vermehrt) gegen die Aufklärungstheologie, ohne freilich andere theologische Strömungen wie den Pietismus ungeschoren davonkommen zu lassen. Kaleidoskopisch wird in den Knittelversen ein Panorama der kleinstädtischen Gesellschaft des fiktiven Plundersweiler gezeichnet, das seinen ästhetischen Reiz aus der Begegnung der verschiedenen sozialen Gruppen des Ortes mit dem fahrenden Volk des Jahrmarktes, pittoreskexotisch gezeichnet, gewinnt.71 Randgruppen wie Zigeuner, Marktschreier, Schausteller und Bänkelsänger werden mit ihren charakteristischen Sprechweisen vorgestellt. Ihr Werben, Locken und Provozieren kommentieren in einer Figurenrevue die vorbeiziehenden Bürger, deren Reaktionen dem fremd erscheinenden Jahrmarkttreiben gegenüber dialektisch zwischen Attraktion und Repulsion changieren. Inmitten des dargestellten Durcheinanders des Jahrmarkts, das statt durch eine übergeordnete Handlung zunächst einzig durch den Schauplatz eine dramatische Einheit bildet, führt eine Gruppe fahrender Schauspieler auf einer Bretterbühne eine dramatisierte und persiflierte Fassung des biblischen Buches Esther auf:72 MARKTSCHREYER […] Meine Damen und Herrn Sähen wohl gern ‘s trefliche Trauerstück Und diesen Augenblick Wird sich der Vorhang heben Belieben nur Acht zu geben Ist die Historia Von Esther in Drama Ist nach der neusten Art Zähnklapp und Grausen gepaart […].73
Damit greift Goethe die Tradition des Estherspiels auf, das, neben Bearbeitungen u.a. von Hans Sachs, vor allem im Jesuitendrama des 16. Jahrhunderts große Verbreitung findet, aber auch in der Form jiddischer Purimspiele mit parodistischen Einlagen noch im 18. Jahrhundert zur
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Vgl. Braun 2001, S. 127. Vgl. Müller 1992, S. 918. Jahrmarktsfest, DjG, Bd. 1, S. 214f.
Jahrmarktsfest zu Plundersweilern
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Aufführung gelangt.74 Neben dem Estherspiel wird mit einer Laternamagica-Vorführung der Genesisgeschichte ein weiterer biblischer Stoff aufgegriffen und in einem zweiten, der Rahmenhandlung eingebetteten ‚Spiel im Spiel‘ auf dem Jahrmarkt zur Aufführung gebracht. Die Lockrufe und Späße der Marktschreier, ihre Selbstdarstellung auf den Bühnen ihrer Verkaufsstände, lassen dabei die scharfe Trennung zwischen dem Rahmenspiel und den eingebetteten ‚Spielen im Spiel‘ (Estherspiel und Genesispersiflage) zurücktreten; die kleinstädtische Welt des Jahrmarkts selbst ist Theater. Wie Goethe später in Dichtung und Wahrheit schreibt, verbergen sich hinter „allen dort auftretenden Masken“75 Menschen des näheren Umfeldes Goethes. Dies hat die Goetheforschung bewogen, das kurze Drama zumeist nur als Schlüsseltext unter der Fragestellung zu interpretieren, welcher „Maske“ welche reale Person zuzuordnen ist. So legt Scherer etwa dar: „Plundersweilern ist natürlich Frankfurt“ und „Ist der Amtsmann Schlosser, so ist die Amtmännin Goethes Schwester“76. Es sei hier jedoch nicht primär der Frage nachgegangen, auf welche Zeitgenossen Goethe im einzelnen anspielt. Vielmehr sei der kurze Text Jahrmarktsfest zu Plundersweilern (stets in der Erstfassung von 1774) unter der Fragestellung untersucht, in welcher Weise auf die Heilige Schrift rekurriert wird. Satire auf die Bibelkritik der Aufklärung Goethe verwendet in der Estherepisode erstmals die Technik des ‚Spiels im Spiel‘, wie sie später u.a. auch in Faust. Der Tragödie erster Teil neuerlich eingesetzt werden wird.77 Als „eine Tragödia / Voll süsser Worten und
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Zur Tradition des Estherspiels vgl. Kommentar zu Jahrmarktsfest, FA, 1. Abt., Bd. 4, S. 751 sowie Greiner 2001, S. 49ff. Herrmann hat bereits 1900 umfänglich Quellen zum Jahrmarktsfest zu Plundersweilern zusammengestellt. Vgl. Herrmann 1900. Zur jiddischen Tradition der Purimspiele, bei denen der Estherstoff zur Aufführung gebracht wird, und ihren möglichen Einfluß auf Goethe vgl. Weinryb 1934. Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 9, S. 595, 13. Buch. Scherer 1879, S. 26 u. S. 33. Vgl. zu ähnlichen vermeintlich eindeutigen Zuordnungen auch Scherer 1880 sowie Werner 1880. Die Parallele zum „Prolog im Himmel“ im Faust drängt sich um so stärker auf, als in beiden Fällen auf biblische Motive zurückgegriffen wird: das Buch Esther im Jahrmarktsfest, das Buch Hiob im Faust. Die Kommentatoren der DjG-Ausgabe betonen hingegen, die Estherepisode könne im Rahmen des Jahrmarktsfests zu Plundersweilern nicht als „Stück im Stück“ begriffen werden, da das Theaterspiel als ein Element typischer Jahrmarktsatmosphäre lediglich zitiet, nicht aber als geschlossenes Ganzes zu Ende geführt werde. Vgl. Kommentar zu Jahrmarktsfest, DjG, Bd. 1, S. 215. Diese Argumentation läßt freilich
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Bibelexegese in der satirischen Kritik des jungen Goethe
Sittensprüchen“78 wird ein Estherdrama angekündigt, das den biblischen Bezugstext weithin lediglich als Projektionsfläche ihrer Satire heranzieht und die Handlung des Estherstoffes charakteristisch umdeutet. Goethe nimmt sich die Freiheit, die biblische Erzählung ironisierend als religiösen Weltanschauungskampf seiner Zeit zu schreiben:79 Die Juden Mardochai und Königin Esther ringen nicht mehr mit dem Hofintriganten Haman um die Gunst des Königs Artaxerxes, um die Juden des Perserreiches vor der Vernichtung zu bewahren, sondern in Mardochai und Haman treffen, satirisch überspitzt, die Vertreter eines schwärmerischen Pietismus und einer zur Religionsfeindlichkeit übergesteigerten Aufklärung aufeinander, die jeweils im Reich des Artaxerxes missionieren wollen. Goethes Haman wird als Religionsverächter eingeführt, dessen Abscheu vor dem Glauben ihn angesichts des „Pöbels Heer“, das noch immer dem Christentum anhängt, förmlich verzehren muß: HAMAN Gnädger König Herr und Fürst Du mir es nicht verargen wirst Wenn ich an deinem Geburtstag Dir beschwerlich bin mit Verdruß und Klag. Es will mir aber das Herz abfressen Kann weder schlafen noch trinken noch essen. Du weißt wieviel es uns Mühe gemacht Bis wir es haben so weit gebracht An Herrn Kristum nicht zu glauben mehr Wie’s thut das grose Pöbels Heer.80
Damit setzt Goethe hier dramatisch überspitzt und ironisch gebrochen um, was im dritten Kapitel der biblischen Vorlage über Hamans Haß auf das Volk Gottes geschrieben steht: „Da man [Haman] gesagt hatte, welchem Volk Mordechai angehörte, wollte Haman alle Juden im Reich des Artaxerxes vernichten – das ganze Volk Mordechais.“81 Die Trennung zwischen Persern und Juden, die das biblische Buch Esther durchzieht, wird von Goethe gewendet zur Gegenüberstellung von Nicht-mehr-
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unberücksichtigt, daß nicht irgendein Schwank innerhalb der Binnenszene zur Aufführung gelangt, sondern eine deutlich erkennbare Stoffvorlage verarbeitet wird, die geradezu zwingt, sie mit der Rahmenszene in Verbindung zu bringen. So reiht Greiner die Estherpassage zu Recht in den größeren Zusammenhang der „theatralischen Doppelung“ ein, die sich durch Goethes gesamtes Werk zieht. Vgl. Greiner 2001, S. 43ff. Jahrmarktsfest, DjG, Bd. 1, S. 210. Vgl. Herrmann 1900, S. 85. Jahrmarktsfest, DjG, Bd. 1, S. 215. Vgl. Est. 3,6 zit. n. Einheitsübersetzung.
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Gläubigen und Noch-immer-Gläubigen, die, widerstehen sie weiter, nach dem Willen Hamans vernichtet sein sollen. Haman malt sich eine totalitäre Vernunftherrschaft aus:82 Aber wir wollen sie bald belehren Und zum Unglauben sie bekehren Und lassen sie sich wa [sic!] nicht weisen So sollen sie alle Teufel zerreissen.83
Nicht jedoch allein die Ablehnung der „leidigen Irrlehren / Der Empfindsamen aus Judäa“84 zeichnet den Intriganten Haman aus, sondern sein Abscheu rührt vor allem vom Hohn und Spott über die Bibel her, die „endlich“ als „schlechtes Buch“ entlarvt zu haben, sich der intransigente Rationalist zum Verdienst anrechnet: Wir haben endlich erfunden klug Die Bibel sey ein schlechtes Buch. Und sey im Grund nicht mehr daran Als an den Kindern Heyemann Drob wir denn nun Jubiliren Und herzliches mitleiden spüren Mit dem armen Schöpsenhaufen Die noch zu unserm Herrn Gott laufen.85
Durch den überdeutlichen Gestus der Anmaßung Hamans lenkt Goethe den Hohn zurück auf diejenigen, die höhnische Kritik an der Bibel üben und in der Heiligen Schrift ob ihrer vermeintlichen Vernunftwidrigkeit nur ein Kinderbuch, wie das der „Haimonskinder“86, zu erkennen vermögen. Damit wird evident, daß vor allem die anmaßende Verachtung durch Teile der Aufklärung als Angriffspunkt gewählt wird. In der Forschung ist, Goethes in Dichtung und Wahrheit ausgelegten Spur folgend, hinter der Figur Hamans wiederholt die Person Carl Friedrich Bahrdts erkannt worden.87 Dieser Interpretation zufolge wäre im Jahrmarktsfest zu Plundersweilern (Frühjahr 1773) im Keim bereits die Kritik an Bahrdt angelegt, die Goethe rund ein Jahr später in seinem Prolog zu den neuesten Offenbahrungen Gottes ausgestaltet. Ist der Bezug zu Bahrdt nicht eindeutig zu belegen und letztlich auch für das Verständnis der Szene nicht essentiell, so darf die Binnenszene doch in jedem Falle als ironisch
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Vgl. Bollacher 2001, S. 164. Jahrmarktsfest, DjG, Bd. 1, S. 215f. Ebd., S. 216. Ebd., S. 215. Vgl. Kommentar zu Jahrmarktsfest, DjG, Bd. 1, S. 215. Vgl. z.B. Janzer 1929, S. 56 u. Kommentar zu Jahrmarktsfest, FA, 1. Abt., Bd. 4, S. 751f.
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gebrochene Kritik an der Aufklärung allgemein und speziell an ihrem als respektlos empfundenen Umgang mit der Bibel verstanden werden. In diesem Sinne fügt sie sich in die lose Reihe von Typenparodien ein, die im Jahrmarktsfest zu Plundersweilern einer Vielzahl von Gruppen einen satirischen Zerrspiegel vorhalten. Satire auf den Pietismus Gegenfigur zu Haman, dem Judenverfolger und rationalistischen Religionskritiker, ist Mardochai, der Onkel Esthers. Er wird im Binnendrama Goethes als Vertreter eines schwärmerischen Pietismus gezeichnet, dessen Angriffsfläche ein naives Eiferertum ist, ohne daß diese satirische Deutung sich auf einen Hinweis im biblischen Bezugstext berufen könnte. Mardochais Einsatz gilt im Estherspiel des Jahrmarksfests zu Plundersweilern nicht der verzweifelten Rettung des jüdischen Volkes vor der Vernichtung, die Haman intrigant betreibt, sondern der Aufgabe, die Heiden, die „Schwein“, zu missionieren und sie seiner pietistisch-erweckten ecclesiola zuzuführen: Möcht’ all sie gern modifiziren Die Schwein zu Lämmern recktifiziren Und ein ganzes draus combiniren. Daß die Gemeine zu Corinthus Und Rom, Coloß und Ephesus Und Herrenhut und Herrenhag Davor bestünde mit Schand und Schmach Da ist es nun an dir o Frau!88
Unter der Oberfläche betulicher Diminutive verrät die letztlich latent gewalttätige Sprache die intolerante Unbedingtheit der Bekehrungsvorstellungen Mardochais, wie Soboth pointiert: „modifizieren, rektifizieren und kombinieren, das ist eine Gemengelage von aufklärerisch-instrumentellem Kalkül, hallischem Bekehrungsrigorismus und -formalismus, gekrönt von einem empfindsam-herrnhutischen ‚Lämmelein‘-Glanzlicht.“89 Goethe läßt die Figur des Mardochai durch die groteske Überschätzung ihrer eigenen Person komisch wirken; Mardochai maßt sich an,
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Jahrmarktsfest, DjG, Bd. 1, S. 218. Soboth 2001, S. 221. Ganz ähnlich schreibt Goethe im ironischen Ton an Johanna Fahlmer von der „Frömmlammsfreundlichkeit“, mit der Wieland in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen behandelt werde. Briefe, WA, 4. Abt., Bd. 2, S. 126 (an Johanna Fahlmer, 29. November 1771). Vgl. hierzu auch Hofmann 2001, S. 408.
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durch sein Sendungsbewußtsein eine Gemeinde schaffen zu können, an der gemessen sowohl die von Paulus gegründeten Urgemeinden als auch die vom Grafen Zinzendorf ins Leben gerufenen Brüdergemeinden sich beschämend unbedeutend ausnehmen würden. In metaphorischer Nähe zum wiederholt in der Bibel verwandten Bild von Wolf und Schaf ruft Mardochai seine Nichte Esther auf, das „Schwein“, den König, zum Lamm zu bekehren, d.h. den König für das Schicksal der Juden zu gewinnen und die drohende Verfolgung durch Haman abzuwenden:90 Da ist es nun an dir o Frau! Dich zu machen an die Königssau Und seiner Borsten harten Straus Zu kehren in Lämmleins Wolle kraus.91
Diese Bildlichkeit wird fortgeführt und die ausgezierte Naivität der Sprache mit der Derbheit ihrer Aussage geschickt kontrastiert. Die kindliche Sprache des Pietisten mit ihrem Hang zum verniedlichenden Diminutiv („Hämmlein“, „Lämmelein“, „Häuflein“, „Mägdlein“92) wird ins offen Zwielichtige, Gewalttätige gewendet, indem Mardochai sein Bekehrungsversuche an den Heiden in den seeräuberischen Jargon des „Caper[ns]“ kleidet und der Sprache eine animalisch-fäkalische Bildlichkeit mit stark erotischer Konnotation unterlegt:93 MARDOCHAI [...] Ich geh aber im Land auf und nieder Caper immer neue Schwestern und Brüder Und gläubige sie alle zusammen Mit Hämmleins Lämmleins Liebesflammen. Geh dann davon in stiller Nacht Als hätt ich in das Bett gemacht Die Mägdlein haben mir immer Dank Ists nicht Geruch, so ists Gestank. ESTHER Mein Gemahl ist wohl schon eingeschlaffen Läg lieber mit einen von euren Schaaffen Indessen, kann’s nicht anders seyn
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Zur Motivik vgl. u.a. Jes. 11,6;65,25; Sir. 13,17; Mt. 10,16 und Joh. 10,12. Jahrmarktsfest, DjG, Bd. 1, S. 218. Vgl. ebd., S. 218f. Gerade in dieser Derbheit des Ausdrucks Mardochais sieht Weinryb einen Anhaltspunkt für eine Beeinflussung des Dramas Goethes durch die Tradition des jüdischen Estherbzw. Purimspiels, wenn er diesen Einfluß auch nicht mit Bestimmtheit glaubt als These formulieren zu können. Vgl. Weinryb 1934, S. 393ff. Herrmann hatte versucht, die Quelle des Goethetextes in einem bestimmten Estherspiel nachzuweisen. Vgl. Herrmann 1900, S. 78ff.
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Bibelexegese in der satirischen Kritik des jungen Goethe
Ists nicht ein Schaaf, so ists
ein Schwein.94
Auf diese Weise erscheinen die gezeichnete „empfindsame Sozialutopie“95 (Soboth) und die realitätsflüchtende Sprache des psychopathologisch gezeichneten Mardochais als Kompensation des brutalen Rigorismus seines Missionierungswillens. In dieser sprachlichen Decouvrierung einer pietistisch-empfindsam kaschierten Rücksichtslosigkeit berührt sich das Jahrmarksfest zu Plundersweilern mit dem Fastnachtsspiel, auch wohl zu tragieren nach Ostern, vom Pater Brey dem falschen Propheten, das Goethe 1774 zusammen mit dem Jahrmarktsfest im Rahmen der Sammlung Neueröfnetes moralisch-politisches Puppenspiel veröffentlich. Wie skrupellos der Pfaffe im Fastnachtsspiel tatsächlich agiert, wird durch den Gegensatz zur diminutivischen Beschaulichkeit seines vorgeblichen Idylls pointiert. Auch bei ihm schlägt die prätendierte geistliche Sublimierung erotischen Begehrens in die nur noch spirituell verbrämte Gewalt um:96 Hab ich doch mit Geistesworten Auf meinen Reisen aller Orten Aus rohen ungewaschnen Leuten Die lebten wie Juden Türcken und Heyden Zusammengebracht eine Gemein Die lieben wie Mayenlämmelein Sich und die Geistesbrüderlein.97
Wie in der Figur des Mardochai erkennt die Goetheforschung auch hinter der Maske des Pater Brey im Fastnachtsspiel eine satirische Abrechnung mit dem schwärmerischen, missionarisch eifernden Franz Michael Leuchsenring (1746-1827).98 Zeitgenossen warfen ihm vom, die Vertraulichkeit seiner pastoralen Position mißbraucht zu haben; leicht bestimmbare Mädchen und Frauen habe er durch vorgespiegelten Seeleneinklang und empfindsame Einschmeichelei für sich eingenommen und ihm anvertraute Intimitäten bei zahlreichen Intrigen im weiteren Umfeld Goethes schamlos mißbraucht.99 Leuchsenrings Zwischenträgereien führen dabei
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Jahrmarktsfest, DjG, Bd. 1, S. 218f. Soboth 2001, S. 222. Verwiesen sei auch auf ähnliche Momente im kurzen satirischen Drama Satyros oder Der vergötterte Waldteufel, das Goethe im Herbst 1773 fertigstellt. Vgl. Satyros, DjG, Bd. 1, S. 334ff. Pater Brey, DjG, Bd. 1, S. 229. Vgl. z.B. Herrmann 1900, S. 60 u. Kommentar zu Jahrmarktsfest, FA, 1. Abt., Bd. 4, S. 751f. sowie Kommentar zu Jahrmarktsfest, DjG, Bd. 1, S. 740. Zur Person Leuchsenrings vgl. Bollert 1901 sowie die biographischen Abrisse in ADB, Bd. 18, S. 473ff. u. NDB, Bd. 14, S. 367f. Zum Verhältnis Goethes zu Leuchsenring vgl.
Jahrmarktsfest zu Plundersweilern
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nicht zuletzt Herder und seine Verlobte Caroline Flachsland (1750-1809) in peinliche Unannehmlichkeiten.100 Entgegen dem biblischen Bezugstext wird Mardochai im Ganzen nicht positiver gezeichnet als sein Widersacher Haman. Bei aller Gegensätzlichkeit ihrer Position finden Haman und Mardochai im jeweils kaum verhohlenen Wunsch nach folgsamen Gläubigen, nach fügsamem Herdenvieh, zueinander.101 Durch die Handlung höherer Ordnung, das Jahrmarkttreiben, wird diese Kritik gleichsam überboten, indem die Funktion dieses persiflierten Mysterienspiels ja einzig die Steigerung des Umsatzes der fliegenden Händler mit „Wagenschmeer“, „Palatinen“ und Quacksalberpräparaten ist. Wie Haman und Mardochai für ihre Vorstellungen zu missionieren suchen, „perschwadirt“102 – wohl die Verquickung von argumentativem persuadere und marktscheierischem Schwadronieren – der Marktschreier das Publikum für seine Auslagen. Zwischen den beiden ‚Akten‘ ruft er:103 MARKTSCHREYER Die Herren gehn noch nicht von hinnen Wir wollen den zweyten Akt beginnen Indessen können sie sich besinnen Ob sie von meiner Waar was brauchen104.
Die Genesis in der Bibelparodie Nach der Estherparodie wendet Goethe im Knittelversschwank ein weiteres Mal die Technik des ‚Spiels im Spiel‘ an, indem er das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern mit dem Auftritt eines „Schattenspielmanns“, einer Laterna-magica-Szene, ausklingen läßt. Als Bühne höherer Ordnung dieses Binnenspiels dient der abgedunkelte Raum, in den der „Schattenspielmann“ sein Publikum lockt: SCHATTENSPIELMANN Orgelum, orgeley Dudeldumdey!
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Wilpert 1998, S. 627, Artikel „Leuchsenring“ u. Kommentar zu Jahrmarktsfest, FA, 1. Abt., Bd. 4, S. 751f. Vgl. ausführlich Scherer 1880, S. 102ff. u. Castle 1918, S. 71ff. Vgl. Soboth 2001, S. 221. Jahrmarktsfest, DjG, Bd. 1, S. 217. Vgl. Soboth 2001, S. 222. Jahrmarktsfest, DjG, Bd. 1, S. 218.
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Bibelexegese in der satirischen Kritik des jungen Goethe
Lichter weg! mein Lämpgen nur! Nimmt sich sonst nicht aus. Ins dunkle da, Mesdames!105
Der Bediener der Laterna magica bringt eine auf nur rund vierzig Zeilen geraffte liedhafte Nachdichtung des biblischen Buches Genesis zur Aufführung: Von der Schöpfung über die Vertreibung aus dem Paradies und die Abkehr von Gott bis zur vernichtenden Sintflut. Das „Orgelum, orgeley / Dudeldumdey!“ des „Schattenspielmanns“, das den Klang des Spiels der begleitenden Drehorgel nachahmt, gliedert dabei die Erzählung in grobe Abschnitte.106 In einem ersten Abschnitt wird der erste biblische Schöpfungsbericht (Genesis) grotesk verzerrt wiedergegeben und der karikierende Effekt offenbar durch Bilder verstärkt, die der Laterna magica entlockt werden: SCHATTENSPIELMANN Orgelum, orgeley :,: Ach wie sie is alles dunkel Finsternis is War sie all wüst und leer Hab sie all nicks auf die Erd gesehn Orgelum:,: Sprach sie Gott ‘s werd Licht Wie’s hell da ‘rein bricht Wie sie all durkeinander gehn Die Element alle vier In sechs Tag alles gemacht is Sonn Mond Stern Baum und Thier Orgelum orgeley Dudeldumdey […]!107
Nach dem gliedernden „Orgelum orgeley / Dudeldumdey“ des Brummtoninstruments erzählt der Schausteller in nur fünf Versen die Geschichte des Sündenfalls und der Vertreibung aus dem Paradies, wie sie das dritte Kapitel der Genesis ausgestaltet. Die biblische Episode wird dabei nicht nur extrem gerafft, sondern überdies inhaltlich verzerrt, indem die erotische Valenz hervorgehoben, ja großteils erst projiziert wird. So wird beispielsweise unter den Strafen, die Gott fortan der Menschheit auferlegt, der Geburtsschmerz hervorgehoben, um zur sich anschließenden Schilde-
_____________ 105 Ebd., S. 219. 106 Herrmann hat das „Orgelum, orgeley“ als zitathafte Wiederholung eines stereotypischen Verses der Tradition des Drehorgelliedes nachgewiesen. Vgl. Herrmann 1900, S. 41. 107 Jahrmarktsfest, DjG, Bd. 1, S. 219f.
Jahrmarktsfest zu Plundersweilern
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rung der Vermehrung der Menschheit überzuleiten, die auf ein orgiastisches „Sich begehn, sich begatten“ reduziert wird:108 Seh sie Adam in die Paradies Seh sie Eva hat sie die Schlang verführt Nausgejagt Mit Dorn Disteln Geburtsschmerzen geplagt Oweh! Orgelum :,: Hat sie die Welt vermehrt Mit viel gottlose Leut Waren so fromm vorher Habe gesunge gebet Glaube mehr an keine Gott Ist es ein Schand und Spott. Seh sie die Ritter und Damen Wie sie zusammen kamen Sich begehn, sich begatten In alle grüne Schatten Uf alle grüne Häide Kann das unser Herr Gott leide?109
Daß diese derbe Tendenz durch entsprechende, von der Laterna magica projizierten Bilder unterstrichen werden soll, darf vermutet werden; die Obszönität der Aufführung der Laterna magica deutet sich bereits im Gespräch zwischen dem Doktor und dem Amtmann an, das der Bibelparodie vorgeschaltet ist. Die Altherrenwitzeleien über das „honette Haus“, die Laterna magica-Bude, setzt gleichsam die Erwartungshaltung, die der Leierkastenmann in seiner derben Genesispersiflage bedienen wird: DOCKTOR Laßt ihn rein kommen Thut die Lichter aus Sind ja in einem honetten Haus Nicht wahr Herr Amtmann! man ist was man bleibt?
_____________ 108 Vgl. Gen. 3,16-19. 109 Jahrmarktsfest, DjG, Bd. 1, S. 220. Interessant erscheint die Parallele dieses naturhaftungezügelten „Sich begehn, sich begatten“ zur Naturschilderung des Satyros im annähernd zeitgleich entstandenen grotesken Dramolett Satyros oder Der vergötterte Waldteufel. Der als Vertreter einer bukolischen Beschaulichkeit karikierte Einsiedler beschreibt die ihn umgebende Natur: „Das quillt all von Erzeugungskrafft/ Wie sich’s hat aus dem Schlaff gerafft/ Vögel und Frösch und Tier und Mücken/ Begehn sich zu allen Augenblicken/ Hinten und vorn auf Bauch und Rücken./ Daß man auf ieder Blüt und Blat/ Ein Eh- und Wochenbettlein hat.“ Satyros, DjG, Bd. 1, S. 328.
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Bibelexegese in der satirischen Kritik des jungen Goethe
AMTMANN Man ist, wie man’s treibt.110
Dem zügellosen Treiben des „Sich begehn, sich begatten“ setzt schließlich die Sintflut ein Ende – „All all ersauffen schwer / Is gar kein Rettung mehr“111 – und der „Schattenspielmann“ beendet seine Vorführung mit dem refrainartigen „Orgelum, orgeley / Dudeldumdey“. Der komische Effekt, den der Autor mit dieser Parodie des ersten Buches der Bibel erzielt, gründet auf drei Techniken: Goethe nutzt die ‚Fallhöhe‘ eines solchen, für die christliche Heilsgeschichte essentiellen Textes, d.h. er spielt bewußt mit dem sakrilegischen Moment, das einer solchen Parodie allein schon aufgrund des sakralen Charakters des Buches Genesis als Referenztext anhaften muß.112 Dieser durch das Sakrileg komische Effekt wird verstärkt durch die Umdeutung der Bibelepisode ins Obszöne sowie durch die extreme Raffung des Geschilderten, die die heilsgeschichtliche Bedeutung gegenüber der unverhältnismäßigen Kürze der Parodie grotesk verzerrt erscheinen läßt. Die Revue der naiv-simplen Bilder des Raritätenkastenmanns, die Grundfragen nach Schöpfung und Erbsünde illustrieren wollen, evoziert die Haltung humoristischer Distanz gegenüber dem Treiben der Welt, das als ephemerer Trubel eines turbulenten Jahrmarkts vorgestellt wird.113 Ambiv alen z der Aus einan dersetzu ng des jung en G oethe mit d er Bibel i n nuc e
Die Ambivalenz der Auseinandersetzung des jungen Goethe mit der Bibel in nuce Ein als schwärmerisch-verlogen gezeichneter Pietismus wie ein als anmaßend vorgestellter Rationalismus der Aufklärung werden von Goethe im Rahmen des Jahrmarktsfestes zu Plundersweilern gleichermaßen kritisiert, indem ihre Vertreter karikaturistisch überzeichnet auf der Binnenbühne des Estherspiels einander gegenübertreten. Der Dramatiker Peter Hacks, selbst Autor einer Neubearbeitung des Stoffes, faßt Goethes satirische Spitzen zusammen: „Der Ur-Jahrmarkt zeigt den lächerlichen Kampf der veramteten Aufklärung mit der vergammelten Empfindsamkeit.“114 Indem
_____________ 110 Jahrmarktsfest, DjG, Bd. 1, S. 219. 111 Ebd., S. 220. 112 Zu diesem sakrilegischen Moment sowie zu alchimistischen Implikationen der Drehorgelpassage vgl. Greiner 2001, S. 40ff. 113 Vgl. Herrmann 1900, S. 42. 114 Hacks 1975, S. 43.
Ambivalenz der Auseinandersetzung des jungen Goethe mit der Bibel in nuce
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Goethe den Konflikt in eben der Weise nach außen verlegt, die er in Dichtung und Wahrheit als „dialektische Übungen“115 beschreibt, entwindet sich der Dichter dem Zwang, die eigene Position festzulegen. Mit der Distanznahme des Ironikers verwandelt Goethe den religiösen Weltanschauungskampf seiner Zeit ins theatralische Experiment: Gewöhnt, am liebsten seine Zeit in Gesellschaft zuzubringen, verwandelte er auch das einsame Denken zur geselligen Unterhaltung, und zwar auf folgende Weise. Er pflegte nämlich, wenn er sich allein sah, irgend eine Person seiner Bekanntschaft im Geiste zu sich zu rufen. Er […] verhandelte mit ihr den Gegenstand, der ihm eben im Sinne lag. […] Sodann fuhr der Sprechende fort, dasjenige, was dem Gaste zu gefallen schien, weiter auszuführen oder, was derselbe mißbilligte, zu bedingen, näher zu bestimmen, und gab auch wohl zuletzt seine These gefällig auf.116
Wenn Goethe die eigene Position also nur schemenhaft erkennen läßt, können doch Unterschiede in den Stoßrichtungen seiner Kritik an Pietismus und Aufklärung konstatiert werden. Der satirischen Kritik am empfindsamen Pietismus kommt im Rahmen der vorliegenden Arbeit eine geringere Bedeutung zu als der polemischen Kritik an der radikalen Aufklärung, wie Goethe sie an der Person Hamans exemplifiziert und wie sie ähnlich im Prolog zu den neuesten Offenbahrungen Gottes an Carl Friedrich Bahrdt geübt wird. Zwar karikiert Goethe ebenso die Schwächen, Lächerlichkeiten und Verirrungen des Pietismus, wie er die Aufklärungstheologie in ihren Defiziten bloßstellt. Im Unterschied zu seiner Abrechnung mit dem kalten Rationalismus der Aufklärung zielt seine Kritik am Pietismus jedoch bezeichnenderweise nicht auf den spezifisch pietistischen Umgang mit der Bibel; in der satirischen Invektive gegen Bahrdt und in der karikierend überzeichneten Figur des kalten Rationalisten Haman im Jahrmarktsfest zu Plundersweilern liegt eben in diesem Punkt die zentrale Kritik Goethes. Den Pietismus schont Goethe mit seinem sicheren Gespür für Lächerlichkeiten und Angriffsflächen nicht, seine Kritik richtet sich in diesem Falle jedoch nicht gegen die pietistische Bibelexegese. Der Schwank Jahrmarktsfest zu Plundersweilern birgt gleichsam in nuce die Komplexität und Widersprüchlichkeit der experimentierenden Herausbildung einer bibelexegetischen wie hermeneutischen Position durch den jungen Goethe. Es ist bezeichnend für die Ambivalenz seines Umgangs mit der Bibel, daß der junge Dichter auf nur wenigen Seiten einerseits die vermeintlich respektlose Bibelkritik der Aufklärungstheologie geißelt und
_____________ 115 Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 9, S. 577, 13. Buch. 116 Ebd., S. 576f. Vgl. hierzu auch Stern 1977ff., S. 98f.
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Bibelexegese in der satirischen Kritik des jungen Goethe
er sich andererseits größte Freiheiten in der Bearbeitung biblischer Stoffvorlagen herausnimmt. Goethe wendet sich im Prolog zu den neuesten Offenbahrungen Gottes im Sinne einer hermeneutischen „Demuth des Herzens“117 (Hamann) mit beißender Polemik gegen eine verflachende Übersetzung der Bibel im Geist der Aufklärung und schleudert im Jahrmarktsfest zu Plundersweilern der anmaßenden Bibelkritik der Aufklärungstheologie neuerlich eine scharfe Kritik entgegen, um den kurzen Text mit einer Satire auf die biblische Schöpfungsgeschichte ausklingen zu lassen. Diese Inkohärenz aufzulösen, vermag einzig das sich konstituierende Selbstverständnis des Dichters als Genie, das sich in seiner Auserwähltheit größere Freiheiten zugesteht, als es anderen zuzubilligen bereit ist. Diese Geniekonzeption entwirft der junge Goethe in der Auseinandersetzung mit der Bibel. Bibelexegetische und bibelhermeneutische Vorstellungen des Pietismus werden, wie im nachfolgenden Kapitel dargelegt werden soll, in spielerischer Aneignung zur pneumatischen Hermeneutik und Produktionsästhetik des Genies transformiert.
_____________ 117 Hamann, Werke, Bd. 1, S. 5 (Über die Auslegung der Heiligen Schrift).
Die Entwicklung pn eum atis cher Herm eneutik und Produk tions ästh etik
Fühlbare Seelen lallen poetisch – Die Entwicklung pneumatischer Hermeneutik und Produktionsästhetik Zeitgenossen wie heutige Leser stehen frappiert vor der ungeheuerlichen literarischen Individualität des jungen Goethe, die sich in Werken wie den Leiden des jungen Werthers (1774) Bahn bricht. In einzelnen Ansätzen ist in der literaturwissenschaftlichen Forschung dargelegt worden, zuletzt 1995 von Willems für den Brief des Pastors (1773), wie sich diese Entfaltung literarischer Individualität immer wieder im Rückgriff auf die Religion vollzieht.1 Nicht jedoch Religiosität allgemein, sondern theologischhermeneutische und speziell bibelexegetische Theorien des Pietismus werden in den Jugendschriften immer wieder herangezogen, um das Konzept einer sich individualisierenden Literatur zu flankieren. Die Konstituierung der Genielehre des jungen Goethe in den frühen 1770er Jahren, als deren Programmschrift Von Deutscher Baukunst gelesen werden kann, vollzieht sich, wie zu zeigen sein wird, in enger Anlehnung an pietistische Modelle theologischer und spezifisch bibelexegetischer Hermeneutik, mit denen sich Goethe u.a. in Schriften wie Brief des Pastors oder Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen auseinandersetzt. Dabei wird eine pietistische Deutung des Pfingstwunders mit seinem Zusammenfall plötzlichen geistgewirkten Verstehens und eigenen, gleichfalls geistgewirkten Sprechens der Apostel zum Paradigma eines Dichtungsverständnisses des jungen Goethe erhoben, das sich durch die Doppelbewegung einer Säkularisation theologischer und einer Sakralisierung literarischer Muster konstituiert. Das nachfolgende Kapitel setzt sich zum Ziel, diese intensive Bezugnahme auf bibelexegetische und theologisch-hermeneutische Fragestellungen in den „theologischen Jugendschriften“ (Barner) Brief des Pastors und Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen nachzuzeichnen, um anschließend darzulegen, wie diese in der Rollenfiktion schreibender
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Vgl. Willems 1995, S. 6ff. Willems legt anhand des Briefs des Pastors dar, wie das Goethesche Individualitätskonzept in einem „religiösen[n] Code“ entwickelt wird. Vgl. ebd., S. 60.
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Die Entwicklung pneumatischer Hermeneutik und Produktionsästhetik
Geistlicher herangezogenen pietistischen Vorstellungen auf den Aufsatz Von Deutscher Baukunst und die ersten Arbeiten am Faust ausstrahlen.
Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu *** Seine Autorschaft doppelt verschleiernd, zum einen durch die Fiktion als Übersetzung „aus dem Französischen“, wie es im Untertitel heißt, zum andern durch die „Maske eines Landgeistlichen“2, wie in Dichtung und Wahrheit erwähnt, veröffentlicht Goethe im Frühjahr 1773 anonym den Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***. Daß die Schrift als eines der wichtigsten Zeugnisse der Auseinandersetzung des jungen Goethe mit religiösen Fragen anzusehen ist, wurde von der Goetheforschung früh erkannt.3 Dennoch liegen mit den Dissertationen Barners (1930) und Willems’ (1995) bislang erst zwei umfangreichere Untersuchungen des in Briefform verfaßten Traktates vor. Zumeist wurde die Schrift nur oberflächlich zur Kenntnis genommen und zur Untermauerung der These einer sehr weitgehenden Identifizierung Goethes mit dem Pietismus auch noch nach der Frankfurter Rekonvaleszenz herangezogen. Die Position des fiktiven schreibenden Geistlichen wurde dabei cum grano salis mit der des realen Autors gleichgesetzt und über die komplex konstruierte Erzählsituation mit ihren mehrfachen Brechungen hinweggesehen.4 Der Benediktinerpater Brunnert (1989) geht in seiner Analyse des Briefs des Pastors noch über dieses simplifizierende Ineinssetzen einer fiktionalen Schrift mit dem Credo ihres Autors hinaus und versteht Goethes Rollenprosa gar „als Vorwegnahme theologischer Anliegen heute“: Betrachtet im Licht der Theologie des Zweiten Vaticanums, glaubt Brunnert, die Anliegen der sich im Geiste des aggiornamento öffnenden Konzilstheologie bei Goethe vorweggenommen zu finden.5 Das spielerische Element der fortwährend mit dem Changieren zwischen subjektivistischer Frömmigkeit, selbstgefälliger Ketzerei und ernsthaftem theologischen Raisonnement kokettierenden Prosafiktion sowie die offensichtliche Konstruktivität der Form eines fiktiven anonymen Briefs, Schlüsselmedium empfindsamer Kommunikation, übersehen solche Simplifizierungen dabei gänzlich.
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Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 9, S. 512, 12. Buch. Vgl. z.B. Koopmann 1998, S. 526. So z.B. Barner 1930, S. 96ff. u. Galling 1948f., S. 535 Vgl. etwa Brunnert 1989, S. 3.
Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***
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Nach einer kurzen theologischen Positionsbestimmung des schreibenden Pastors im Spannungsfeld der Theologie seiner Zeit soll der Text mit deutschen Pfarrerspiegeln des 18. Jahrhunderts verglichen werden, anschließend werden Parallelen zu den Briefen über die systematische Theologie zur Beförderung der Toleranz (1770/1771) von Carl Friedrich Bahrdt herausgearbeitet. Der Schwerpunkt der Untersuchung soll den biblischen Argumentationsformen des schreibenden Geistlichen gelten, deren exegetisch-hermeneutische Annahmen herauszuarbeiten sein werden, um vor diesem Hintergrund die Bedeutung der Rollenfiktion eines schreibenden Landgeistlichen offenzulegen. Theologische Positionsbestimmung des Pastors Der Brief des Pastors gibt sich als Sendschreiben eines offenbar an Alter und Erfahrung reicheren Landgeistlichen pietistischer Prägung an den jungen, soeben eingeführten Pastor der Nachbargemeinde. Grüße des Amtsbruders, obligate Höflichkeiten, Ratschläge für die seelsorgerische Arbeit und vor allem eigene theologische und allgemein menschliche Betrachtungen mischen sich in dem Schreiben, das keiner strengen Gliederung unterworfen ist. Der ältere, dem Pietismus zugeneigte Pastor behandelt auf wenigen Seiten eine Fülle theologischer Probleme, wie sie zur Zeit der Entstehung des Briefs des Pastors im deutschen Protestantismus virulent sind, darunter die Frage der Toleranz gegenüber anderen Glaubensgemeinschaften, das Problem der Verbalinspiration, die lehramtlich verworfene These der Apokatastasis, das Ärgernis des unversöhnlichen Konfessionalismus und die kirchliche Vorstellung der Erbsünde. In allen diesen Fragen äußert sich der Pastor im Sinne größtmöglicher Toleranz jeder Konfession und allen Glaubensvorstellungen gegenüber und läßt, seinen eigenen Standpunkt bisweilen nur vage festlegend, ein breites Spektrum religiöser Überzeugungen und Formen der Frömmigkeit gelten.6 Auf dem Boden seiner eigenen Heilsgewißheit ist er zur größtmöglichen Toleranz bereit: so viel weiß ich, daß ich auf meinem Weg gewiß in den Himmel komme, und ich hoffe, daß er [Gott] andern auch auf dem ihrigen hinein helfen wird.7
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So gilt dem Pastor die Intoleranz als das „Haupt-Elend“. Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 381. Ebd. S. 378.
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Ganz im Sinne der pietistischen Erkenntnistheorie ist das eigene Gefühl, die subjektive fromme Empfindung, die entscheidende Erkenntnisinstanz, die der äußeren, kirchlich-dogmatischen Bestätigung nicht weiter bedarf, da intersubjektive Begründbarkeit und Nachvollziehbarkeit religiöser Wahrheiten ohnehin bestritten werden.8 Aus seinem subjektiven religiösen Empfinden heraus ist sich der Pastor so seines Glaubens vollkommen gewiß; die individuelle Glaubensgewißheit ist ihm zugleich Heilsgewißheit:9 Da habt ihr also die eine Ursache, warum und wie tolerant ich bin, ich überlasse wie ihr seht alle Ungläubigen der ewigen wiederbringenden Liebe, und habe das Zutrauen zu ihr, daß sie am besten wissen wird, den unsterblichen und unbeflecklichen Funken, unsre Seele, aus dem Leibe des Todtes, auszuführen und mit einem neuen und unsterblich reinen Kleide zu umgeben. Und diese Seligkeit meiner friedfertigen Empfindung vertausche ich nicht mit dem höchsten Ansehn der Infallibilität.10
In logischer Konsequenz des im Brief des Pastors entwickelten subjektivistischen und individualistischen Religionsverständnisses wird jede Allgemeingültigkeit von Glaubensvorstellungen in Frage gestellt und durch eine Religiosität ersetzt, die durch ihren persönlichen Erlebnischarakter nur für den einzelnen Geltung beanspruchen kann: Denn wenn mans beym Lichte besieht, so hat jeder seine eigene Religion, und Gott muß mit unserm armseligen Dienste zufrieden seyn, aus über großer Güte, denn das müßte mir ein rechter Mann seyn, der Gott diente wie sich gehört.11
Daß sich die philanthrope Großmut und weitherzige Duldsamkeit des pietistisch-schwärmerischen Geistlichen dabei der Grenze zum Karikaturistischen nähern, etwa in der Ablehnung jeder Kodifizierung auch der zentralsten christlichen Glaubensgrundsätze, ist in der Goetheforschung kaum erwähnt worden: Es sind wunderliche Leute die Theologen, da prätendiren sie was nicht möglich ist. Die Christliche Religion in ein Glaubensbekänntniß bringen, o ihr guten
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Vgl. Willems 1995, S. 9. Vgl. ebd., S. 13f. Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 380. Ebd., S. 382. Goethe schreibt in auffälliger Parallele zu diesen Worten in Dichtung und Wahrheit kokettierend über seine eigene religiöse Jugendentwicklung: „Ich studierte fleißig die verschiedenen Meinungen, und da ich oft genug hatte sagen hören, jeder Mensch habe am Ende doch seine eigene Religion, so kam mir nichts natürlicher vor, als daß ich mir auch meine eigene bilden könne, und dieses tat ich mit vieler Behaglichkeit.“ Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 9, S. 350, 8. Buch.
Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***
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Leute! Petrus meynte schon in Bruder Pauli Briefen wäre viel schwer zu verstehen, und Petrus war doch ein andrer Mann als unsre Superintendenten [...].12
Der Pfarrer bezieht sich dabei immer wieder sowohl auf die Bibel als auch auf die Schriften Luthers und legt die Heilige Schrift, um seine Haltung zu den religiösen Fragestellungen der Zeit zu untermauern, vordergründig betrachtet, in der spezifisch pietistischen Weise aus. Stets wird das subjektive Erleben der Wahrheit vorausgesetzt, um die biblischen Verse durchdringen zu können. Die „Süßigkeit des Evangelii“ müsse selbst „[ge]schmeck[t]“, die „Göttlichkeit der Bibel“13 selbst gefühlt werden. So analysiert Barner treffend: „Nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen, nicht auf dem Wege rationaler Erkenntnis, sondern auf dem Wege irrationalen Erfassens und Erfaßtwerdens findet der Pastor seinen Gott.“14 Der Pastorenbrief als Pfarrerspiegel In allen gängigen Kommentaren werden die Bezüge des Pastorenbriefes auf andere literarische Ausgestaltungen des Pfarreramtes, zumal auf Rousseaus Profession de foi du Vicaire savoyard aus dem Roman Émile (1762), aufgezeigt; inwiefern der Brief des Pastors jedoch auch anderen Traditionen verpflichtet ist, findet keine Darstellung.15 Den Goethetext auch als fiktive Aneignung der Tradition des Pfarrerspiegels zu lesen, wie es eine zeitgenössische Rezension bereits nahelegt, wurde von Barner und Galling zwar angeregt, jedoch nicht umgesetzt.16
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Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 383. Zu diesen Momenten karikaturistischer Überzeichnung können auch die lapidaren Worte gezählt werden, mit denen der Pastor über die biblische Begründbarkeit der die Konfessionen trennenden Rechtfertigungslehre hinweggeht („Unsre Kirche behauptet, daß Glauben und nicht Werke selig machen, und Christus und seine Apostel lehren das ohngefähr auch.“ Ebd., S. 378), oder das naiv-simplifizierende Urteil zum Eucharistieverständnis („Daß bey der Einsetzung des Abendmals die Jünger das Brod und Wein genossen wie die reformirte Kirche, ist unläugbar.“ Ebd., S. 383). Ebd., S. 380. Barner 1930, S. 44. Vgl. z.B. Kommentar zu Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 376ff.; Kommentar zu Brief des Pastors, HA, Bd. 12, S. 694ff.; Kommentar zu Brief des Pastors, FA, 1. Abt., Bd. 18, S. 1111ff. und Kommentar zu Brief des Pastors, MA, Bd. 1.2, S. 844ff. Vgl. Barner 1930, S. 32 u. Galling 1948f., S. 535. Vgl. die Rezension in der Deutschen Chronik, Nr. 68, 21. November 1774, S. 543: Der Brief des Pastors sei „schwerer an Innhalt, reicher an gemeinnützigen großen Gedanken, als ganze große Werke über die Pastoraltheologie.“ Zuletzt hat Graf in der FAZ am Rande auf den Modellcharakter der
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In seinem Charakter als Reflexion eines Pastors gegenüber einem Amtsbruder über Selbstverständnis, vermittelbare Dogmatik und pastorale Praxis kann der Brief des Pastors tatsächlich bis zu einem gewissen Grad als Anverwandlung der Tradition des Pfarrerspiegels verstanden werden, in der auch Traktate wie etwa Gottfried Arnolds pietistische Kybernetik Die geistliche Gestalt eines Evangelischen Lehrers (1704), die pastorale Unterweisung Jeremias, Ein Prediger der Gerechtigkeit (1741) des Grafen Zinzendorf oder Johann Joachim Spaldings (1714-1804) Schrift Über die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung (1772) stehen.17 Wenngleich bereits mit der Ausgestaltung des Textes als fiktivem Brief ein wesentlicher formaler Unterschied zu Tage tritt, sei im folgenden der Versuch einer Analyse unternommen, in welchem Maße sich inhaltliche Parallelen zu einzelnen wirkmächtigen Pfarrerspiegeln des 18. Jahrhunderts aufzeigen lassen. Zu den wesentlichsten Zügen des Pfarrerideals, das der schreibende Pastor zeichnet, gehören die duldsame, nicht auf Kontroversen bedachte Unaufgeregtheit und ein Quietismus („Unsere Seele ist einfach und zur Ruhe gebohren“18), dessen Grund selbstgewisse Seelenruhe ist, wie der Briefschreiber sie auch am Ruf des neuen Pfarrers seines Nachbarsprengels schätzt: ich höre so viel guts von Euch als man von einem Geistlichen sagen kann, das heißt: Ihr treibt euer Amt still, und mit nicht mehr Eifer als nötig ist, und seyd ein Feind von Controversen.19
Die Forderung nach eben dieser heilsgewissen Ruhe und irenischen Duldsamkeit, „passive[n] Stille und Gelassenheit“20, wie Arnold formuliert, durchzieht die Pfarrerspiegel der Zeit als ideale Gemütsverfassung des Amtsinhabers, die es auch den Gläubigen zu vermitteln gelte: „die
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Kybernetik Spaldings für die Pastorengestalten Goethes und Lenz’ aufmerksam gemacht. Vgl. Graf 2003. Zu Pfarrerspiegeln, insbesondere des Pietismus, vgl. Schmidt 1984a und Drews 1905, S. 101ff. Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 377. Barner sieht diese Haltung in der Tradition des augustinischen „inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te.“ Augustinus, Confessiones, I, 1,1, S. 1. Vgl. Barner 1930, S. 42f. Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 376. Arnold, Lehrer, II, IX, S. 47: „Bey allen solchen Wirckungen GOttes aber hält sich ein göttlich Beruffener nur passiv und leidend / und siehet in allen Umständen GOTTE nach wie Ers ordne / dabey er sich bloß als ein Werckzeug einfältig brauchen läßet. Denn dabey kan man eben göttliches Willens recht gewiß seyn / wenn man Ihm nirgends zuvorläufft / oder aus Übereilung einer scheinbaren guten Meynung in eigenes Lauffen und Wircken verfällt. Der Geist GOttes wil in allen seinen Wercken nur gehorsame stillhaltende Gefäße haben / darein Er seine Gaben legen / und dadurch er sie wieder brauchen kan.“ Vgl. auch Schmidt 1984a, S. 148f.
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Menschen gut und recht gesinnet zu machen, damit sie ruhig und glücklich werden können“21, hebt Spalding als die vordringlichste Aufgabe des Pfarrers hervor, der sich als „freundschaftlicher Wegweiser zur Gemüthsruhe“22 verstehen möge. Hierzu ist für Spener, Francke und Zinzendorf wie auch für Arnold die persönliche „Wiedergeburt in Christo“ des Pfarrers Voraussetzung, die der schreibende Pastor Goethes kurz streift:23 „Es war eine Zeit da ich Saulus war, gottlob daß ich Paulus geworden bin“24. Es bedürfe, so Spalding, einer „sorgfältigen Prüfung“25, welche Lehren der Kirche geeignet seien, tatsächlich verkündet zu werden, damit „unsere Christen das werden, was sie seyn sollen“26 – die pastorale Praxis als Sorge um die „Gemüthsruhe“ verlange nach kritischer Durchsicht der Dogmatik auf ihre Vermittelbarkeit hin.27 Eben diese selektive Freiheit
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Spalding, Predigtamt, S. 114. Francke erkennt in der Furcht vieler Geistlicher als Gegenteil heils- und selbstgewisser Seelenruhe die Ursache für diverse Mißstände innerhalb der Kirche. Vgl. Francke, Nicodemus, S. 35ff. Dieser Unruhe vieler Pfarrer und Lehrer zu begegnen, verfaßt er eigens seine Schrift Nicodemus Oder Tractätlein von der Menschen-Furcht (1702). Spalding, Predigtamt, S. 43. Zu Spaldings Wirkung auf Pfarrerfiguren in der deutschen Literatur vgl. die kurzen Ausführungen in Beutel 2004. Zur Voraussetzung der Wiedergeburt für das Pfarramt bei Spener und Francke vgl. Schmidt 1984a, S. 123 u. S. 127. Zu Arnold vgl. Arnold, Lehrer, IV, XV, S. 106: „Und demnach muß freylich ein zukünfftiger Seelsorger unumgänglich erst durch Erneuerung seines Gemüths recht verwandelt werden. Dieses aber geschieht allein und eintzig durch das hohe Werck der neuen Geburt.“ Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 377. Der Briefschreiber charakterisiert seine Bekehrung mit den Worten, er sei „sehr erwischt“ (ebd.) worden, und greift damit auf gängige sprachliche Topoi des Pietismus zurück, wie sie ähnlich auch in Goethes Brief vom 17. Januar 1769 an Ernst Theodor Langer nachzuweisen sind: „Mich hat der Heiland endlich erhascht […].“ Briefe, DjG, Bd. 1, S. 621. Langens Der Wortschatz des deutschen Pietismus (1954) belegt ähnliche Formulierungen wie „ergriffen werden“ oder „erfaßt werden“. Vgl. Langen 1954, S. 28ff. Spalding, Predigtamt, S. 115. Ebd. Vgl. ebd., S. 114f.: „Wenn wir aber darin einig seyn sollten, daß unsere Arbeiten hauptsächlich auf die Besserung und Gottseligkeit, und auf die damit so genau zusammenhangende Gemüthsruhe der Menschen gehen müssen, so bedarf es dann noch wieder einer gleichmässigen sorgfältigen Prüfung, was für Lehren wir zu diesem Ende zu treiben haben, was für Erkenntnisse und Betrachtungen im Grunde dazu dienen, daß unsere Christen das werden, was sie seyn sollen. Es kann unmöglich damit genug seyn, daß wir überhaupt annehmen, die christliche Glaubenslehre, welche von jedermann für eine Lehre der Gottseligkeit erkannt werde, sey einmal nach ihrem ganzen Umfange und nach ihren nöthigen Bestimmungen in den kirchlichen Bekenntnißbüchern, in den Katechismen und in den größeren dogmatischen Werken der Gottgelehrten, begränzt und festgesetzt; und wir dürften nur das vortragen und einschärfen, was dastehe, so predigten wir das heiligende und
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gegenüber dogmatischen Verbindlichkeiten und das Unbehagen, das er einzelnen kirchlichen Lehren gegenüber empfindet, prägen auch den Geistlichen des Goethetextes, der freimütig bekennt: es giebt gewisse Materien, von denen anzufangen ich so entfernt bin, daß ich vielmehr jedesmal am Ende der Woche, meinem Gott von ganzem Herzen danke, wenn mich niemand darum gefragt hat [...]; und so wirds jedem rechtschaffnen Geistlichen seyn, der gutdenkende Gemüther nicht mit Worten bezahlen will [...].28
Diese Ruhe des Pfarrers, sine ira et studio, erscheint als die angemessene Einstellung eines Geistlichen, der sich bewußt ist, daß es für den Glauben letztlich nicht auf sein pastorales Tun ankomme, sondern daß es zunächst der Gnade Gottes bedürfe. Zinzendorf ruft seinen Pfarrern unter Anspielung auf den Ersten Korintherbrief in Erinnerung: Wenn hilfft weder Wunder-Glaube, noch Theologische Wissenschaft, noch alle Geheimnisse, noch Marterthum? wenn die Liebe GOttes nicht ins Hertz ausgegossen ist.29
Hiermit stimmt Goethes schreibender Pastor überein, wenn er auf sich selbst bezogen feststellt: „wahrhaftig es ist meine Schuld nicht daß ich glaube“30. Dieser Haltung entsprechend, gibt Arnold den Pfarrern zu bedenken, die am Fehlen sichtbarer Früchte ihres Wirkens verzweifeln, daß es auf ihr Tun nicht ursächlich ankomme:31 Eben dieses ists / wornach manche mühselige und im äussern Kirchendienst mürbe gemachte Prediger offt begierig fragen: nemlich was doch ihre Arbeit nütze / und ob sie nicht gantz vergeblich sey. Es ist aber darauf im grossen Unterscheid zu antworten. Einmal ist ausgemacht / daß es mit unserem eigenen Thun verloren sey / und daß es an niemands eigenen Rennen und Lauffen liege.32
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tröstende Christenthum, so würde das schon seine guten Früchte bringen, wenn wir gleich nicht allemal einsehen oder sagen könnten, wie diese Früchte daraus zu erwarten wären.“ Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 376f. Unbehagen bereitet dem schreibenden Pastor v.a. die lehramtliche Einstellung gegenüber Ungetauften: „Ich muß Euch gestehen, daß die Lehre von Verdammung der Heiden eine von denen ist, über die ich wie über glühendes Eisen eile.“ Ebd., S. 377. Zinzendorf, Jeremias, S. 249. Vgl. 1 Kor. 13. Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 377. Vgl. Schmidt 1984a, S. 148f. Arnold, Lehrer, XVI, I, S. 509. Arnold mißt dieser Mahnung besondere Bedeutung zu, da das Pfarreramt prädestiniert sei, Eiferertum zu fördern: „Was hier zuletzt von Mäßigung des Eifers gesagt wird / das ist eine höchstnöthige Erinnerung. Denn es ist nicht auszusprechen / wie sich die eigensinnige und hitzige Natur hinter diesen Namen verstecken / und unter guten Schein wider das böse eifern kan. Nun gibts ja im Predigtamt unzehlige Gelegenheiten / auf die verderbte Natur zu zürnen; und wenn daher der noch ungetödtete adfect in einem Lehrer herrschen kan / so wird er bey so mancherley Reitzungen gewaltig
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Angesichts dieser angerissenen Parallelen in zentralen Fragen des pastoralkybernetischen Selbstverständnisses kann der Text als literarische Aneignung der Tradition pietistischer Pfarrerspiegel im 18. Jahrhundert verstanden werden; vor dem Hintergrund des noch aufzuzeigenden Spiels mit theologischen Verweisen und biblischen Bezügen sowie der Konstruktivität der Rollenfiktion fügt sich diese zitierte Traktattradition jedoch in die übergeordnete Intention des Textes, im Rückgriff auf die Religion das Programm literarästhetischer Individualität zu entwerfen, und erfährt so eine bezeichnende Umdeutung. Der Pastorenbrief und Carl Friedrich Bahrdts Briefdebatte Eine neue Betrachtung des Pastorenbriefes ist von Schyra vorgeschlagen worden, der kurz angerissen hat, der Brief des Pastors sei vermutlich durch die Schrift Briefe über die systematische Theologie zur Beförderung der Toleranz (1770/1771) des Radikalaufklärers Carl Friedrich Bahrdt (1740-1792) angeregt worden. Schyra sieht in der Forderung nach Toleranz und vernunftgemäßen Lehren wie in der Ablehnung von Heidenverdammung, Erbsündenlehre und Verbalinspiration verbindende Elemente zwischen beiden Texten, die es nahelegten, Goethes Rollenprosa sei durch Bahrdts Briefwechsel mit bekannten und unbekannten Persönlichkeiten seiner Zeit zu eben diesen Themen angeregt worden.33 Zusätzlich erkennt er in der chronologischen Nähe der beiden Schriften, die zeitgleich 1770/71 entstanden sein sollen, einen Beleg für seine These, der Brief des Pastors stelle einen fiktiven Beitrag Goethes zu der von Bahrdt initiierten Debatte dar, der „zwar nie an Bahrdt abgesandt“ worden sei und „demzufolge auch nie in dessen Briefsammlung“ erschien; „das zeitliche Zusammentreffen und vor allem die inhaltlichen Übereinstimmungen“34 deuteten jedoch auf diesen Entstehungskontext. Beide Argumentationswege, mit denen Schyra seine in der Forschung weithin unbeachtete These zu stützen versucht, der inhaltliche wie der chronologische, lassen sich indes widerlegen. Goethes im Januar 1773 veröffentlichte Rollenprosa ist, folgt man Goethes als „biographischen Schema“ bekannten Paralipomenon, 1772 zeitgleich mit den Zwo wichtigen bisher unerörterten biblischen Fragen ent-
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wachsen / und dennoch immer den Schein eines guten rechtmäßigen Eifers behalten.“ Ebd., IIX [sic!], XVI, S. 265f. Vgl. Schyra 1965, S. 195. Ebd.
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standen.35 In Übereinstimmung mit dieser Datierung bemerkt Goethe im zwölften Buch von Dichtung und Wahrheit: Doch hatte ich mir die Terminologie dieser Lehre [des Luthertums] so ziemlich zu eigen gemacht, und bediente mich derselben in einem Briefe, den ich unter der Maske eines Landgeistlichen an einen neuen Amtsbruder zu erlassen beliebte. [...] Solche Dinge, die nach und nach entstanden, ließ ich, um mich an dem Publikum zu versuchen, im folgenden Jahre auf meine Kosten drucken [...].36
Angesichts dieser Indizien und des völligen Verzichts auf eine Begründung der anderslautenden Datierung seitens Schyras kann davon ausgegangen werden, daß der Brief des Pastors tatsächlich 1772 und damit in jedem Falle nach Veröffentlichung der Briefe über die systematische Theologie zur Beförderung der Toleranz (1770/1771) entstanden ist, so daß eine Entstehung gleichsam als fiktiver Beitrag zu Bahrdts Debatte ausgeschlossen werden kann. Ein inhaltlicher Vergleich zeigt in der Tat einzelne Parallelen zwischen dem Pastorenbrief Goethes und dem Buch Bahrdts, das eine vom Erfurter (und später Gießener) Theologieprofessor initiierte, brieflich geführte Debatte dokumentiert, in der nach dem Wunsch des Autors diskursiv ein „Religionssystem“ des Christentums entwickelt werden soll, das sich ganz auf die Lehren beschränke, die zweifelsfrei anhand der Bibel zu begründen seien.37
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Paralipomena, FA, 1. Abt., Bd. 14, S. 866f. („Biographisches Schema“). Auf je einer Seite für jedes Jahr des Zeitraumes 1742 bis 1809 notiert Goethe 1809/1810 stichwortartig in einem Heft wichtige persönliche wie politische oder kulturelle Ereignisse. Neben „Körperlichen Übungen“ und „Schrittschu laufen“ hält Goethe für das Jahr 1772 die Stichworte „Werther“, „Brief des Pastors“ und „Sendschreiben über zwei Fragen“ fest. Ebd., Ergänzung durch den Herausgeber der FA. Siehe auch Kommentar zu Paralipomena, ebd., S. 1304. Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 9, 512, 12. Buch. Angesichts der großen inhaltlichen wie formalen Nähe der beiden „theologischen Jugendschriften“ Goethes ist darüber hinaus von einer engen zeitlichen Nähe der Entstehung auszugehen, die bislang in der Forschung nie bezweifelt worden ist. Neben inhaltlichen Parallelen beziehen sich die Zwo biblischen Fragen mit ihrem schreibenden „Landgeistlichen aus Schwaben“ und ihrem vorgeblichen Erscheinungsort „Lindau am Bodensee“ erkennbar auf Johann Georg Hamanns Beylage zun Denkwürdigkeiten des seligen Sokrates, die als Buch „von einem Geistlichen aus Schwaben“ herausgegeben wurde. Das Erscheinen des ersten Teils der Hamannschrift 1772 kann also als terminus post quem herangezogen werden, der Goethes Datierung in den Paralipomena bzw. in der Druckfassung von Dichtung und Wahrheit stützt. Vgl. Bahrdt, Theologie, Bd. 1, S. 6f. Zu entwerfen sei „ein System, woraus alles, was nur mit einigem Grunde bestritten werden könnte, verbannt wäre – ein System, worinnen blos diejenigen Lehrsätze simpel und ohne Subtilitäten und Nebenfragen vorgetragen würden, welche das Wesen der christlichen Religion dergestalt ausmachen, daß ein Mensch, der sie nicht annehmen wollte, einen offenbaren Unglauben gegen die heilige Schrift begehen, und alle Billigkeit und Vernunft verleugnen müßte.“
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Inhaltlich fällt, von Schyra nicht erwähnt, bei beiden Schriften das übergroße Bedürfnis des realen wie des fiktiven Briefschreibers auf, die eigene positive Forderung nach Toleranz von einem verwerflichen, gleichgültigen Indifferentismus abzugrenzen – dreimal werden im Pastorenbrief die Begriffe „Toleranz“ und „Indifferenz“ aufeinander bezogen und voneinander abgesetzt, wie auch Bahrdt direkt auf den einleitenden Seiten die dringende Notwendigkeit verspürt, diesbezüglich zu unterscheiden:38 Goethe: Brief des Pastors
Bahrdt: Briefe Theologie
über
die
systematische
Zwar müßt Ihr nicht denken, daß Die Grenzen zwischen Toleranz und meine Toleranz mich indifferent Indifferentismus, und wiederum die zwischen Indifferentismus und dem gemacht habe.39 völligen Unglauben, sind so wahrhaftig So wenig die ewige einzige Quelle der nicht, daß man ganz kühnlich Wahrheit indifferent seyn kann, so fortschreiten könnte, ohne in Gefahr zu tolerant sie auch ist, so wenig kann ein kommen, sie gar zu überschreiten. Die Herz, das sich seiner Seligkeit Sache bleibt allemal intrikat.40 versichern will, von der Gleichgültigkeit Profeßion machen.41 So wenig bin ich indifferent, darf ich deßwegen nicht tolerant seyn?42
Daß der geistliche Verfasser des Pastorenbriefes ansonsten „ganz speziell die Thesen, die Bahrdt und seine prominenten Freunde [...] zum Mittelpunkt ihrer Erörterungen gewählt hatten“43, aufgreift, hält einem Vergleich nicht stand; Toleranz, Überwindung der Lehren von Verbal-
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Die Kritik einer zu Indifferentismus inflationierten Toleranz gehört zu den Topoi der reichen Antizinzendorfiana-Literatur, wie sich etwa in Johann Philip Fresenius’ Vorläufiger Antwort, Welche Er denjenigen zu ertheilen pfleget, Die ihn fragen, Ob sie zu der Herrnhutischen Gemeinde übergehen, oder in derselbigen bleiben sollen? (2. Aufl., 1746) belegen läßt: Zinzendorf suche, um seine Gemeinde zu mehren, „bald den Lutheranern, bald den Reformirten, bald den Römisch-Catholischen, bald den Socinianern, Dippelianern, Widertäuffern, Quäckern, Inspirirten, und wie sie weiter nach einander heisen, zu gefallen“; dabei werde „hier eine Warheit unterdrucket, und dort einen groben Irthum stehen lassen“ (Fresenius, Antwort, S. 33). Fresenius war Senior des evangelisch-lutherischen Kirchenministeriums und hat als der Familie Textor verbundener Geistlicher Goethe getauft. Vgl. Dechent 1890, S. 159ff. Ähnliche Kirtik findet sich im orthodoxen Historischen Kirchen- und Ketzer-Lexicon Johann Michael Mehligs. Vgl. Mehlig, Lexicon, Artikel „Herrnhuter“, Bd. 1, S. 743ff. u. Artikel „Pietisten“, Bd. 2, S. 377ff. Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 377. Bahrdt, Theologie, Bd. 1, S. 5f. Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 377. Ebd., S. 378. Schyra 1965, S. 195.
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inspiration und Erbsünde sind schlicht die großen Themen der zeitgenössischen theologischen Auseinandersetzung und als solche nicht geeignet, einen Kausalzusammenhang zwischen den Schriften zu belegen, der den Brief des Pastors als Beitrag zur Bahrdtschen Debatte zu lesen nahelegen würde.44 So sehr also ein Kausalzusammenhang zwischen dem wenige Seiten umfassenden Brief des Pastors und Bahrdts rund tausendseitiger Briefsammlung auszuschließen ist, so plausibel erscheint eine indirekte Beeinflussung des Goethetextes durch die Briefe über die systematische Theologie auf dem von Schyra nicht beachteten Feld der formalen Konstruktion. Bei beiden Texten handelt es sich um Brieftraktate, die – real oder fiktiv – zwischen Theologen gewechselt werden. Neben deutlich authentischen Briefen, die Bahrdt mit namhaften Theologen seiner Zeit (u.a. Johann August Ernesti, 1707-1781) wechselt, nimmt er in seinen Band auch Briefe auf, die von anonymen Diskutanten stammen bzw. an Anonymi gerichtet sind. Ähnlich dem fiktiven Briefschreiber Goethes (Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***) nutzt Bahrdt als Herausgeber dabei vielfach Asterisken als Auslassungszeichen („An meinen Freund in M**“), um in den Titeln der Briefe die Anonymität ihrer Absender oder Adressaten zu wahren.45 Selbst vorausgesetzt, daß auch solche anonymen Briefe authentisch sind, bleibt doch der hohe Konstruktionsgrad der Briefsammlung Bahrdts zu konstatieren. Der ‚Herausgeber‘ Bahrdt nimmt etwa den realen oder fiktiven Brief eines Ungenannten in seine Sammlung auf, in dem dieser umfangreich Bahrdt direkt zitiert, paraphrasiert und kommentiert.46 Artifizielle Kompilationsmuster wie diese rücken die Briefe über die systematische Theologie zur Beförderung der Toleranz hinsichtlich ihrer formalen Konstruktion zumindest in die Nähe literarischer Rollenprosa, als die der Pastorenbrief Goethes bezeichnet werden kann.
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Vgl. etwa Goethes Bemerkung zur Virulenz des religiösen Toleranzproblems in Dichtung und Wahrheit: „Das Hauptthema desselbigen Schreibens [Brief des Pastors] war jedoch die Losung der damaligen Zeit, sie hieß Toleranz, und galt unter den besseren Köpfen und Geistern“. Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 9, 512, 12. Buch. Es sei am Rande bemerkt, daß der junge Goethe sich bei seinen Koran-Auszügen u.a gerade für die Koransuren interessiert, die gleichfalls religiöse Toleranz – zumindest gegenüber den anderen Buchreligionen – propagieren. Vgl. Koran-Auszüge, DjG, Bd. 2, S. 398 (V. Sure, V. 70). Vgl. Bahrdt, Theologie, Bd. 1, S. 9. Freilich ließen sich solche Betitelungen als Mode des 18. Jahrhunderts und seiner Vorliebe für Herausgeberfiktionen belegen, wie sie sich etwa auch im Titel des Romans Christian Fürchtegott Gellerts (1715-1769), Leben der Schwedischen Gräfinn von G*** (1747/1748), niederschlägt. Vgl. Bahrdt, Theologie, Bd. 1, S. 73ff.
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Biblische Argumentationsstrukturen und exegetisch-hermeneutische Annahmen des Pastors Der Brief des Pastors ist durchzogen von einem biblisch-homiletischen Ton lutherischer Prägung, der die Grenzen zwischen dem eigenen theologischen Raisonnement des Briefschreibers und den herangezogenen Paraphrasen, die der Bibel als letzten Autorität entliehen sind, zurücktreten läßt.47 Doch mit den biblischen Formulierungsmustern und den der Schrift entliehenen Bildern übernimmt der Pastor keinesfalls notwendig deren religiösen Sinn, auch wenn der schwärmerische Predigtton geschickt über die oftmals hintersinnige und überaus heterodoxe Auslegung der paraphrasierten Stellen hinwegtäuscht. Der fiktive Autor des Briefes bezieht sich bisweilen einzig auf die Bibel, um deren Sinn gewandt wieder zu unterlaufen.48 Ähnliches läßt sich für die Bezüge zu Luthers Schriften feststellen. So legt der Pastor beispielsweise seine die Erbsündenlehre der Kirche relativierende Haltung dar und übernimmt dabei fast wörtlich die Formulierungen Luthers im Katechismus, deren Sinn freilich dabei gänzlich verkehrt wird.49 Scheinbar unmißverständliche biblische Zitate werden rhetorisch brillant ins Mißverständliche gewendet. Der Pastor führt etwa aus, es könne angesichts der Vielzahl konfessioneller Überzeugungen nur ein Kriterium angelegt werden, um noch Christen von Nichtchristen zu unterscheiden. Dieses Kriterium habe bereits „der liebe Johannes“ in seinem Evangelium gelehrt: Der liebe Johannes lehrt uns ganz kurz allen Religionsunterschied; das sey der einzige den wir kennen. Ich habe in meinem Amt Jesum so laut geprediget, daß sich die Widerchristen geschieden haben, und weiter brauchts keine Scheidung.
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Vgl. etwa die Bemerkung, unter Rückgriff auf 2 Kor. 12: „was sah der Apostel im dritten Himmel? Nicht wahr, unaussprechliche Dinge?“ Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 384. Vgl. Willems 1995, S. 34 u. S. 45. Vgl. ebd., S. 31f. Willems erkennt Parallelen zwischen dem Glauben des Pastors an die Liebe Gottes, die „am besten wissen wird, den unsterblichen und unbeflecklichen Funken, unsre Seele, aus dem Leibe des Todtes, auszuführen und mit einem neuen und unsterblich reinen Kleide zu umgeben“ (Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 380), und Formulierungen des Katechismus zur Satisfaktion, die jedoch im Gegensatz zu den Bekenntnissen des schreibenden Pastors von der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen ausgehen. Trotz der „orthodox-religiösen Formulierungsmuster“ (Willems 1995, S. 32) sei somit die Grundaussage des paraphrasierten Textes wiederum in Frage gestellt. Die Struktur dieser doppelbödigen Verweise des jungen Goethe erinnert dabei an einige verzerrende Homerparaphrasen der Leiden des jungen Werthers, wie u.a. Duncan (1982) – Werther as (Mis-) Reader – oder Tobol/ Washington (1977) sie analysiert haben. Vgl. etwa Duncan 1982, S. 44f.
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Wer Jesum einen Herrn heißt, der sey uns willkommen, können die andre auf ihre eigene Hand leben und sterben, wohl bekomme es ihnen.50
Indes bezieht sich die Unterscheidung des Pastors, „Wer Jesum einen Herrn heißt, der sey uns willkommen“, nicht auf Johannes, sondern auf die paulinischen Worte im Ersten Korintherbrief, die in Luthers Übersetzung lauten: Darumb thu ich euch kund. Das niemand Jhesum verfluchet, der durch den Geist Gottes redet. Und niemand kann Jhesum einen Herrn heißen, on durch den heiligen Geist.51
Angesichts der für die fiktive Figur des schreibenden Pastors anzunehmenden Bibelkenntnis und angesichts der bewiesenen Bibelkenntnis des realen Verfassers Goethe ist wohl kaum von einer Verwechselung auszugehen.52 Es wird im Gegenteil dem bibelkundigen Leser ein deutliches Signal gesetzt, daß hier ein doppelbödiges „Zitat-Spiel“53 (Henkel) inszeniert wird und folglich über die biblischen Paraphrasierungen nicht unkritisch hinwegzulesen ist. Wie von Willems analysiert, liegt die Sinnumkehrung des Pauluszitats paradoxerweise in der wortgetreuen Übernahme der Lutherübersetzung.54 Die Passage, die in der Vulgata „et nemo potest dicere: Dominus Jesus, nisi in Spiritu sancto“55 lautet, erscheint bei Luther mit dem unbestimmten Artikel „einen“ wiedergegeben („Jhesum einen Herrn heißen“), obwohl es im Sinne der Aussage lauten müßte, niemand könne sagen, Jesus sei der Herr, wenn er nicht aus dem Heiligen Geist spreche. So schreibt es auch heute die Einheitsübersetzung.56 Während Luther aber aus dem Sprachgebrauch seiner Zeit heraus noch die unbestimmte Übertragung wählen konnte, ohne zweideutig zu sein, so klingt dieselbe Formulierung im Sprachgebrauch Goethes zumindest doppeldeutig:57 Der Satz könnte,
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Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 385. 1 Kor. 12,3 zit. n. Lutherbibel. Zu tatsächlichen Fehlern und Verwechselungen Goethes bei Bibelverweisen vgl. Janzer 1929, S. 32. Henkel erwähnt in seinen Bemerkungen zu „Zitat-Spielen“ Goethes explizit den „zitierenden, anspielenden, umdeutenden Umgang Goethes mit der religiösen Tradition, vor allem mit der Bibel“, geht jedoch nicht im Detail auf solche verzerrenden Bibelverweise ein. Henkel 1984, S. 119. Vgl. Willems 1995, S. 44ff. 1 Kor. 12,3 zit. n. Vulgata. Vgl. 1 Kor. 12,3 zit. n. Einheitsübersetzung. In Luthers Schriften finden sich zahlreiche ähnliche Formulierungen, bei denen der unbestimmte Artikel gewählt wird, obwohl die Formulierung semantisch einen bestimmten
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ja er müßte also im Deutsch der Zeit Goethes verstanden werden, Christ sei auch, wer Jesus als einen Herren verehre – als einen Herren unter mehreren. Goethe spielt mit der im Frühneuhochdeutsch Luthers eindeutigen, beim Lutherzitat im Neuhochdeutschen aber mehrdeutigen Übersetzung. Er rückt den Pastor auf diese Weise ins Zwielicht der Ketzerei, denn hier wird mit der Exklusivität der Mittlerfunktion Jesu einer der zentralsten christlichen Glaubensgrundsätze in Frage gestellt und zugleich mit dem angedeuteten Verständnis Jesu als lediglich eines Mittlers des Göttlichen unter mehreren eine als Irrlehre gegeißelte christologische Vorstellung aufgegriffen, die in der Kirchengeschichte wiederholt aufgekeimt ist.58 Eine Auslegung der Stelle, die dem Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts folgt, erscheint im Kontext des Brief des Pastors durchaus schlüssig, wird doch nirgends im Text explizit die Göttlichkeit und Einmaligkeit Christi erwähnt.59 Ganz im Gegenteil wird Jesus mit provozierend lapidaren und christologisch vagen Worten als „die göttliche Liebe, die vor so viel hundert Jahren, unter dem Namen Jesus Christus, auf einem kleinen Stückgen Welt, eine kleine Zeit als Mensch herumzog“60 bezeichnet. In einem weit abstrakteren Sinne, als es der christologischen Dogmatik jedweder Konfession entspräche, wird Jesu Eigenschaft als Gottes einziger Sohn relativiert und seine Person als eine zeitweilig auf der Erde wirkende Verkörperung der „göttlichen Liebe“ begriffen; eine christologische Definition, die angesichts der gleichzeitigen Ineinssetzung von Gott und Liebe – „wenn Ihr eben so alt seyn werdet als ich, sollt Ihr auch bekennen, daß Gott und Liebe Synonymen sind“61 – um so vager erscheint.
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Artikel beinhaltet, so schreibt Luther beispielsweise „ßo hatt uns doch [...] ein Christus erlößett“ (Luther, WA, Bd. 14, S. 373, Predigten über das erste Buch Mose, gehalten 1523/24) oder „Ein Christen [...] hat ein Christum, der ist sein Schatz und erloser“ (ebd., Bd. 49, S. 627, Predigten des Jahres 1544, Nr. 35, 12. Oktober). Vgl. auch Willems 1995, S. 45. Zur Minimierung der Bedeutung der Person Christi in Goethes Vorstellung des Heilsgeschehens vgl. etwa Loewen 1972, S. 30 und Zimmermann 1969ff., Bd. 1, S. 68. So kommt es auch v.a. über das Christusverständnis Goethes zum Bruch der Beziehung zu Lavater (vgl. hierzu Weigelt 2001, S. 147ff. u. Hermann 1951, Sp. 577ff.), die einst mit Lavaters begeistertem Brief über den Brief des Pastors begonnen hatte. Im Zusammenhang der Minimierung der heilsgeschichtlichen Relevanz Christi sei hier beispielhaft auf subordinatistische Häresien verwiesen, die von einer Unterordnung Christi unter die trinitarische Person Gottvaters ausgehen und in Jesus Christus lediglich einen Boten Gottvaters erkennen. Zum Subordinatianismus vgl. Marcus 1957ff. Vgl. Barner 1930, S. 40f. Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 379. Ebd., S. 377.
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Insofern Christus hier als temporäre Erscheinungsform Gottes vorgestellt wird, kann die dem Pastor in die Feder diktierte Christologie dem lehramtlich verworfenen Modalismus zugewiesen werden, der in seinen verschiedenen Ausformungen vor allem des zweiten und dritten Jahrhunderts die drei Personen der Trinität als sich abwechselnde Erscheinungsformen (modi) einer einzigen Person begreiflich zu machen versucht.62 Der Bruch mit der kirchlichen Christologie scheint folgerichtig, insofern mit der Negierung der christlichen Sündenlehre, wie sie der Pastor vornimmt, die soteriologische Notwendigkeit der Erlösung des Menschen durch Kreuzigung, Tod und Auferstehung Christi entfällt. Nicht zufällig geht der Geistliche mit keinem Wort auf die Passion und Auferstehung Christi ein. Nach der angedeuteten Lehre der Apokatastasis, der als häretisch verurteilten Vorstellung einer umfassenden endzeitlichen „Wiederbringung“ oder „Allversöhnung“, die im protestantischen Deutschland des 18. Jahrhunderts halb kaschiert, halb unverhohlen kompensatorisch mit dem Schwinden der Sünden- und Erbsündenlehre wieder an Boden gewinnt, holt Gott nach dem Verständnis des Pastors ohnehin am Ende der Zeiten seine ganze, einst von ihm ausgegangene Schöpfung zu sich zurück:63
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Zu modalistischen Häresien vgl. Crouzel 1957ff. Apokatastasis (griech. Wiederherstellung), restitutio omnium bzw. Wiederbringungs- oder Allversöhnungslehre bezeichnet die Vorstellung einer endzeitlichen Wiederherstellung der gesamten Schöpfung in einen Zustand vollkommener Glückseligkeit und zugleich „die allgemeine Rückkehr in den Unschuldsstand der Schöpfung“ (Burdach 1932, S. 45). Die virulent in der ganzen Theologiegeschichte nachweisbare (so noch im 20. Jahrhundert die Auseinandersetzung um Apokatastasisvorstellungen in der Theologie Karl Barths, vgl. hierzu Müller 1964), aber bereits auf der Synode von Konstantinopel 534 lehramtlich verworfene Vorstellung der Apokatastasis wird erstmals von Origenes systematisch dargelegt (vgl. Origenes, Principiis, III, 6, 6, S. 658ff.) und unter Verweis auf den ersten Korintherbrief begründet: „Wenn ihm [Christus] dann alles unterworfen ist, wird auch er, der Sohn, sich dem unterwerfen, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott herrscht über alles und in allem.“ 1 Kor. 15,28 zit. n. Einheitsübersetzung, vgl. auch Eph. 1,10 u. Apg. 3,21. Im protestantischen Deutschland des 18. Jahrhunderts erlebt der Gedanke der Apokatastasis im Zuge des verstärkten Interesses an den Lehren Origenes’ eine Renaissance, obwohl die Apokatastasis in der Confessio Augustana (1530) auch von der lutherischen Konfession offiziell verworfen worden war. Goethe greift die „Allversöhnung“ wiederholt auf: Wie der junge Goethe die Wiederbringungslehre in den Brief des Pastors einfließen läßt, so gestaltet noch der alte Goethe die „Himmelfahrt“ Fausts in der letzten Szene der Tragödie („Bergschluchten“) in enger Anlehnung an Origenes und an Gottfried Arnolds Origenesparaphrasen. Vgl. Schöne 1994, S. 20ff.; Zimmermann widerspricht dieser These freilich. Vgl. Zimmermann 1994. Bei der Lektüre der Unpartheyischen Kirchen- und Ketzerhistorie (1699-1700), in der Arnold die Vorstellungen Origenes’ darlegt, stieß der junge Goethe wahrscheinlich erstmals auf die Idee der Apokatastasis. Goethe selbst schreibt dieser Lektüre einen „großen Einfluß“ (Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 9, 350, 8. Buch) auf
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Ihr wißt lieber Herr Amtsbruder, daß viele Leute, die so barmherzig waren wie ich, auf die Wiederbringung gefallen sind, und ich versichre Euch, es ist die Lehre womit ich mich insgeheim tröste; aber das weis ich wohl, es ist keine Sache davon zu predigen.64
Vor dem Hintergrund dieses von Apokatastasis und spiritueller Passivität des Menschen geprägten Glaubensverständnisses, das ohnehin „nicht Ursache [...] an jemands Seligkeit zu verzweifeln“65 habe, wird deutlich, wie grundsätzlich der Pastor mit der lutherisch-orthodoxen, aber auch mit der pietistischen Anthropologie und Soteriologie bricht, die beide von der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen (Satisfaktionslehre) als anthropologischem Konstituens ausgehen und die Einsicht in die eigene Sündhaftigkeit zum Ausgangspunkt des Glaubens machen.66 Die Allversöhnungslehre ist dem Pastor so vor allem „Zuflucht seiner tiefen Dogmenskepsis und seiner daraus entspringenden Tolerenz in dogmatischen Dingen“67 (Zimmermann). Zwar streift der Pastor am Rande auch die Erbsündenlehre, im ganzen Text erscheint die Sündhaftigkeit des Menschen aber eher als ein leidiges menschliches Übel denn als religiös-anthropologisches Grundproblem:68 „für die Erbsünde können wir nichts, und für die
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seine Entwicklung zu, einen Einfluß, der sich tatsächlich in seinem gesamten Werk nachweisen läßt. Vgl. Brinkmann 1976, S. 168. Auch Susanna Katharina von Klettenberg war von der Vorstellung der Apokatastasis beseelt. Vgl. Dohm 2001, S. 129f. Zur Apokatastasis allgemein vgl. Mussner/Loosen 1957ff., Müller 1964 u. Müller 1974. Zur Rezeption der Apokatastasislehre speziell im 18. Jahrhundert vgl. Breuer 1985. Zur Apokatastasis bei Goethe vgl. Schöne 1994 u. Zimmermann 1994, zum Einfluß Arnolds auf den jungen Goethe vgl. Brinkmann 1976. Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 378. Ebd. Vgl. Willems 1995, S. 40f. Zimmermann 1994, S. 175. Vgl. Barner 1930, S. 42. Zu Goethes eigenem Sünden- und Erbsündenverständnis zur Entstehungszeit vgl. die stilisierten Bemerkungen in Dichtung und Wahrheit, die den endgültigen Bruch Goethes mit der Brüdergemeinde begründen sollen: „Was mich nämlich von der Brüdergemeine so wie von andern werten Christenseelen absonderte, war dasselbige, worüber die Kirche schon mehr als einmal in Spaltung geraten war. Ein Teil behauptete, daß die menschliche Natur durch den Sündenfall dergestalt verdorben sei, daß auch bis in ihren innersten Kern nicht das mindeste Gute an ihr zu finden, deshalb der Mensch auf seine eignen Kräfte durchaus Verzicht zu tun, und alles von der Gnade und ihrer Einwirkung zu erwarten habe. Der andere Teil gab zwar die erblichen Mängel der Menschen sehr gern zu, wollte aber der Natur inwendig noch einen gewissen Keim zugestehn, welcher, durch göttliche Gnade belebt, zu einem frohen Baume geistiger Glückseligkeit emporwachsen könne. Von dieser letztern Überzeugung war ich aufs innigste durchdrungen […].“ Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 10, S. 43f., 15. Buch; vgl. hierzu auch Niggl 2001, S. 267ff.
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würkliche auch nichts“69. Die sich selbst gestellte Frage, in welchem Umfang es wünschenswert sei, daß die Gemeinde selbstständig die Bibel lese, beantwortet der Geistliche mit den Worten: Noch Eins Herr Bruder, laßt Eure Gemeine ja die Bibel lesen so viel sie wollen, wenn sie sie gleich nicht verstehen, das thut nichts; es kommt doch immer viel guts dabey heraus; und wenn Eure Leute Respeckt für der Bibel haben, so habt ihr viel gewonnen. Doch bitte ich Euch nichts vorzubringen, was ihr nicht jedem an seinem Herzen beweisen könnt, und wenns hundert mal geschrieben stünde. Ich habe sonst auch gesorgt, die Leute mögten Anstos an Dingen nehmen, die hier und da in der Bibel fürkommen, aber ich habe gefunden, daß der Geist Gottes sie gerade über die Stellen wegführt, die ihnen nichts nützen dürften. Ich weiß zum Exempel, kein zärtliches Herz das an Salomons Discursen, die freylich herzlich trocken sind, einigen Geschmack hätte finden können.70
Zwar statuiert der Pastor offenkundig die Bibel als letzte Autorität, an der sich die Richtigkeit jeder Glaubensvorstellung zu beweisen habe, doch differenziert er deutlich zwischen den verschiedenen Büchern der Schrift. So nennt er die Diskurse Salomonis „trocken“ und deutet – wohl im Hinblick auf etwa das Hohelied – an, daß an Bibelstellen auch sittlich Anstoß genommen werden könne.71 Diese Bemerkungen mögen genügen, um zu verdeutlichen, daß die Figur des Geistlichen die Lehre von der umfassenden verbalen Inspiration der Heiligen Schrift, wie sie die Orthodoxie ihrem Bibelverständnis zugrundelegt, ablehnt und an ihrer Statt von einer pietistisch geformten, auf die praxis pietatis hin gerichteten Sichtweise der Schrift ausgeht, die bei der Beurteilung einzelner biblischer Bücher das Kriterium der ‚Nützlichkeit‘, verstanden als Erbaulichkeit und sittliche Erziehung, anlegt. Die selektive Lektüre der Bibel unter der Perspektive der ‚Nützlichkeit‘ ihrer einzelnen Bücher verweist auf die Auflösung des
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Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 378. Zur Erosion der Erbsündenlehre in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stellt Aner fest: „Mögen sie sonst noch so getrennte Wege gegangen sein – in der Verurteilung des Sündenpessimismus und dem optimistischen Glauben an die bildungsfähige Menschennatur waren alle Geister der Zeit von Goethe bis Nicolai, von Herder bis zum schlichten Dorfpfarrer einig.“ Aner 1929, S. 163f. Vgl. auch Schuberts Studie zum „Ende der Sünde“ (Schubert 2002). Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 386. Die dem Pastor in den Mund gelegten Worte erinnern stark an die Worte des alten Goethe über die Bibellektüre, die in den Maximen und Reflexionen überliefert sind: „Man streitet viel und wird viel streiten über Nutzen und Schaden der Bibelverbreitung. Mir ist klar: schaden wird sie wie bisher, dogmatisch und phantastisch gebraucht; nutzen wie bisher, didaktisch und gefühlvoll aufgenommen.“ Maximen und Reflexionen, HA, Bd. 12, S. 374. Mit den „trockenen“ Diskursen ist die Salomo zugeschriebene Sammlung von Sprichwörtern gemeint, nicht jedoch das Hohelied.
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inspirierten Kanonbegriffs u.a. durch Semler, dessen Nachweis der Kanonkontingenz es folgerichtig erscheinen läßt, nicht mehr alle Teile der Bibel als gleichwertig zu betrachten, sondern eine persönliche Auswahl zu treffen, die dem Kriterium des eigenen Lektüreerlebnisses folgt.72 In der Nutzenorientierung dieser Perspektive tritt der Pastor als Kind seiner Zeit hervor, die – in so unterschiedlichen Strömungen wie dem Pietismus und der Aufklärungstheologie – auch von der Religion einen innerweltlichen ‚Nutzen‘ als Legitimation verlangt. So großmütig der Pastor der Gemeinde die Bibel zur eigenständigen Lektüre anempfiehlt, „wenn sie sie gleich nicht verstehen“, so großmütig gibt er sich auch demjenigen gegenüber, dem sich die Göttlichkeit der Bibel nicht erschließt. Diese zu beweisen, sei wohl nicht möglich, sei vor allem aber auch nicht nötig. Denn wer Einsicht in die Herrlichkeit der Bibel gewonnen habe, „der mag so was herrliches niemanden aufdringen“73. Es könne kein Vorwurf dem gegenüber erhoben werden, der „keine Gnade am Herzen fühle“74 und darum die Göttlichkeit der Heiligen Schrift nicht begreifen könne. Der fiktive Briefsteller läßt hier eine übersteigerte Bibelhermeneutik pietistischer Prägung erkennen, die das Verstehen der Bibel nicht aus dem Verstand allein heraus für möglich hält, wie es Luthers hermeneutischem Optimismus entspricht, sondern eine auf Gottes Gnade allein zurückzuführende Disposition für unabdingbar erachtet, um die Schrift in ihre tieferen Straten zu durchdringen. Mit missionarischem Eifer auf den göttlichen Charakter der Bibel denen gegenüber zu pochen, denen diese hermeneutische Gnade nicht zuteil geworden sei, erscheine töricht und überdies ungerecht: Einem Meynungen aufzwingen, ist schon grausam, aber von einem verlangen, er müsse empfinden was er nicht empfinden kann, das ist tyrannischer Unsinn.75
Die These, die wiederum ganz dem pietistischen Geist, den die Sprache des Brief des Pastors atmet, zu entsprechen scheint, soll durch den Verweis auf die höchste Autorität und zugleich auf ihren eigenen Gegenstand, die Bibel, untermauert werden. In der „Sprache einer etwas naiv-landläufigen Bibelexegese“76 (Koopmann) schreibt der Pfarrer:
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Vgl. Semler, Canon, S. 60. Semler unterscheidet zwischen „Heiliger Schrift“ und „Wort Gottes“, so daß der kanonische Korpus der Bibel zum „relativen terminus“ (ebd.) wird. Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 380. Ebd. Ebd., S. 384. Koopmann 1998, S. 528.
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Und giebt uns unser Herr nicht das exzellenteste Beyspiel selbst? Ging er nicht gleich von Gergesa ohne böse zu werden, so bald man ihn darum bat. Und vielleicht wars ihm selbst um die Leute nicht zu thun, die ihre Schweine nicht drum geben wollten, um den Teufel loß zu werden. […] Was wir thun können, ist die Heilsbegierigen zurecht zu weisen, und den andern läßt man, weil sies nicht besser haben wollen, ihre Teufel und ihre Schweine.77
Der Pfarrer spielt auf eine Episode aus dem Leben Jesu an, die von allen drei Synoptikern überliefert ist: Jesus heilt einen besessenen, dem Wahnsinn verfallenen Mann, indem er den ihn quälenden Dämonen erlaubt, in eine nahe Schweineherde zu fahren. Von den bösen Geistern getrieben, stürzt sich die gesamte Herde eine Klippe hinunter und ertrinkt im See. Daraufhin bitten die Einwohner von Gerasa (oder Gergesa bzw. Gadara) Jesus, den Ort zu verlassen.78 Die vom fiktiven Autor des Brief des Pastors intendierte Parallele ist evident: So wie Jesus sich den Menschen nicht aufgedrängt habe und sie, nahmen sie seine Botschaft nicht an, ohne Groll in ihrem alten Glauben habe verharren lassen, sei, mit selbstgewissem Großmut, der Kritiker der Bibel seiner Überzeugung überlassen: „Unser lieber Herr […] wollte anklopfen an der Thüre und sie nicht einschmeißen.“79 Neuerlich bringt der Pastor die lehramtlich verworfene These der Apokatastasis ins Spiel: ich überlasse wie ihr seht alle Ungläubigen der ewigen wiederbringenden Liebe, und habe das Zutrauen zu ihr, daß sie am besten wissen wird, den unsterblichen und unbeflecklichen Funken, unsre Seele, aus dem Leibe des Todtes, auszuführen und mit einem neuen und unsterblich reinen Kleide zu umgeben.80
Doch wiederum gerät bei genauerem Hinsehen die Schlüssigkeit der Argumentation ins Wanken. Der Landgeistliche bringt implizit die Bitte der Bewohner, Jesus möge weiterziehen, in Verbindung mit dem Verlust ihrer Schweine. Aus Wut und Trauer um den Tod der Schweine hätten, so legt der Pastor nahe, die Bewohner des Ortes Jesus weggeschickt; ja möglicherweise habe Jesus sogar angesichts ihres Undanks aus eigenem Wunsch die Gegend verlassen: Und vielleicht wars ihm [Jesus] selbst um die Leute nicht zu thun, die ihre Schweine nicht drum geben wollten, um den Teufel loß zu werden. Denn man mag ihnen vorsagen was man will, so bleiben sie auf ihrem Kopfe.81
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Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 380. Vgl. Mt. 8,28ff., Mk. 5,1ff. u. Lk. 8,26ff. Nur Matthäus berichtet von einem zweiten Besessenen in Gerasa, der gleichfalls geheilt wird. Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 383. Ebd., S. 380. Ebd.
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Der Gedanke, der Sorge um das eigene Seelenheil stehe das Festhalten an irdischen Gütern im Wege, taucht in vielen Gleichnissen des Neuen Testaments auf.82 Dadurch, daß der Pastor die Episode von Gerasa im Licht dieses Topos der Lehre Jesu interpretiert, wird die verzerrende Umdeutung zunächst überspielt. Der Geistliche kann sich bei seiner Interpretation der biblischen Begebenheit indes nicht auf die Darstellung der Episode in den Evangelien berufen.83 An keiner Stelle wird dort die ablehnende Haltung der Dorfbewohner Jesus gegenüber mit dem materiellen Verlust der Schweineherde in Verbindung gebracht. Nicht Sorge um den eigenen Besitz, sondern Angst und Verzagtheit lassen die Einwohner von Gerasa sich der Botschaft Jesu verschließen. Lukas schreibt: Darauf eilten die Leute herbei, um zu sehen, was geschehen war. Sie kamen zu Jesus und sahen, daß der Mann, den die Dämonen verlassen hatten, wieder bei Verstand war und ordentlich gekleidet Jesus zu Füßen saß. Da fürchteten sie sich. Die, die alles gesehen hatten, berichteten ihnen, wie der Besessene geheilt wurde. Darauf baten alle, die im Gebiet von Gerasa wohnten, Jesus, sie zu verlassen; denn es hatte sie große Angst gepackt. Da stieg Jesus ins Boot und fuhr zurück.84
Die Psychologisierung theologischer Begrifflichkeiten, auf die Meinhold in den „theologischen Jugendschriften“ aufmerksam gemacht hat, führt hier dazu, die Vorstellung der Sünde als Abkehr von Gott zu säkularisieren und primär mit vernunftgemäßen Kategorien innerweltlicher Ethik zu operieren, die, wie etwa in Michaelis’ Sündenlehre dargelegt, der zusätzlichen Sanktionierung als Sünde nicht notwendig bedürfen, um in ihrer Falschheit erkannt zu werden.85 Der Pastor formt die biblische Episode also nach Gutdünken um und unterlegt ihr eine völlig neue Aussage. Nicht mehr ihre eigene kleinmütige Angst steht demnach der Erlösung des Menschen durch Christus im Wege, sondern ihr Besitzstreben, ihre Bindung an diesseitige Güter.86 In diesem Sinne, fährt der Geistliche fort, dürfe man keinen missionarischen Eifer an die Skeptiker und Bibelkritiker verschwenden und solle sich statt dessen den „Heilsbegierigen“ zuwenden:
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Vgl. z.B. Mt. 19,24, Lk. 6,24 oder Mk. 10,21. Vgl. Willems 1995, S. 37. Lk. 8,35-37 zit. n. Einheitsübersetzung. Der Kommentar der DjG-Ausgabe ist falsch: „Nur in einem dieser drei Evangelien ist der Wunsch der Bewohner überhaupt motiviert, und dort ist es Furcht; vgl. Markus 5,15“. Kommentar zu Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 380. Bei Lukas und Markus ist die Haltung der Bewohner Jesus gegenüber gleichlautend – „Da fürchteten sie sich.“ – motiviert. Vgl. Lk. 8,35-37 zit. n. Einheitsübersetzung u. Mk. 5,15-17 zit. n. Einheitsübersetzung. Vgl. Meinhold 1958, S. 17 sowie Michaelis, Sünde, S. 8. Vgl. Willems 1995, S. 37f.
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Was wir thun können, ist die Heilsbegierigen zurecht zu weisen, und den andern läßt man, weil sies nicht besser haben wollen, ihre Teufel und ihre Schweine.87
Der Pastor versucht, die biblische Episode ins Parabolische zu wenden. Dem blinden Bibelkritiker sollen dabei die dem irdischen Besitz verhafteten Einwohner des Dorfes entsprechen. Als beide Gruppen verbindendes tertium comparationis erscheint dann die Gnade, die Voraussetzung zur Annahme der Lehre Christi ist. Ihnen steht nicht mehr die individuelle Angst im Wege, sondern das soziale und somit überpersönliche Übel der Habsucht. Ihre Entscheidung gegen Christus wird durch die vom Pastor vorgenommene Umdeutung relativiert, indem sie aus dem Bereich des Persönlichen und Religiösen in die Sphäre des Gesellschaftlichen und somit Weltlichen gehoben wird. Den Einwohnern von Gerasa wäre überdies gar nicht vorzuwerfen, daß sie Jesus wegschicken anstatt seine Lehre anzunehmen, denn ihnen fehlt – ebenso wie den Bibelkritikern – das Geschenk der Gnade, die Wahrheit einzusehen. Doch in diesem zentralen Punkt der Deutung kann sich der Pastor nicht auf die Evangelien berufen, denn die Gnade der Erkenntnis wurde den Bewohnern ja gerade zuteil, es wurde ihnen die Göttlichkeit Christi durch das wundersame Wirken eindringlich vor Augen geführt. Im Gegensatz zu diesem äußerlichen Erlebnis eines Wunders als Zuschauer scheint es jedoch nach Ansicht des Pastors eines inneren, radikal-subjektivistischen Erlebens der Gnade zu bedürfen, um zum Glauben zu gelangen. Bereits Rousseau, auf den Goethe seinen Geistlichen sich mehrfach beziehen läßt, formuliert diesen Gedanken, nach dem es der Gnade bereits bedürfe, um ihre Notwendigkeit überhaupt zu erfahren. In der Profession de foi du Vicaire savoyard heißt es: L’Inspiré: O cœur endurci! la grâce ne vous parle point. Le Raisonneur: Ce n’est pas ma faute; car, selon vous, il faut avoir déjà reçu la grâce pour savoir la demander.88
Das Problem der Bekehrung wird im Brief des Pastors durch den erneuten Hinweis auf die Apokatastasis weiter relativiert. Wenn der Mensch ohnehin kraft der unendlichen göttlichen Liebe bereits erlöst ist, verliert die individuelle Bekehrung zu Lebzeiten ihre Bedeutung. So wie die Bibelkritiker in ihrer Ablehnung gegenüber der Heiligen Schrift verstockt und blind sind, seien die Einwohner von Gerasa zu sehr in ihrem Besitzdenken verhaftet, um die ihnen vor Augen geführte Göttlichkeit Jesu bzw. der Bibel zu begreifen. So wie Jesus ohne Groll weiterzieht, solle auch der
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Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 380. Rousseau, Émile, S. 370.
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Christ die Kritiker gewähren lassen. In der Vorstellung des Pastors ist also die Religiosität zu Lebzeiten von der Erlösung nach dem Tod geschieden; die erste ist eine Gnade Gottes, die zweite wird – unabhängig vom Glauben zu Lebzeiten – als Apokatastasis jedem Menschen zuteil. Das Verständnis des rechten Glaubens und des Durchdringens der christlichen Wahrheit als Gnadengeschenk teilt der Geistliche mit großen Teilen des Pietismus; wie auch im pietistischen Exegeseverständnis, so spiegelt sich hier das dichotomische Hermeneutikmodell von „Schale“ und „Kern“. Das Vordringen zum Kern der christlichen Botschaft ist nur den in besonderer Weise mit der Gabe der Erkenntnis Beschenkten möglich. Es könne den Bibelkritikern ihre mangelnde Einsicht in die „Göttlichkeit der Bibel“ nicht zum Vorwurf gemacht werden, sei ihnen doch nicht gegeben, sie zu fühlen: „Ich weiß nicht, ob man die Göttlichkeit der Bibel einem beweisen kann der sie nicht fühlt [...].“89 Doch diese sensualistische Erkenntnis stützt sich nicht allein auf den Sinn des „Fühlens“: Wer die Süßigkeit des Evangelii schmecken kann, der mag so was herrliches niemanden aufdringen.90
Bei der Verbalisierung dieser sich rationalen Wegen verschließenden Erkenntnis der Göttlichkeit der Bibel als Vordringen zum sensus mysticus treten synästhetisch die einzelnen Sinne von „Fühlen“, „Schmecken“ und „Begreifen“ zugunsten einer umfassenden Erfahrung, für die beliebige Verben der Wahrnehmung synonym eingesetzt werden können, in den Hintergrund. Die Formulierung spiegelt dabei den Sprachgebrauch des deutsche Pietismus wieder, wie er sich etwa bei Zinzendorf nachweisen läßt, der Wortverbindungen wie „sich in Gott einessen“ als näherungsweise Versprachlichungen der pietistischen Grundintention einer sich letztlich der Verbalisierung versperrenden unio mystica verwendet.91 In solchen gnadenhaft erfahrenen Momenten der visio beatifica wird die Dimension der Zeitlichkeit durch den Zusammenfall von Ewigkeit und Augenblick aufgehoben: „Man fühlt Einen Augenblick, und der Augenblick ist entscheidend für das ganze Leben“92. Damit wird der Goethesche
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Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 380. Ebd. Zum pietistischen Gebrauch ähnlicher Wortverbindungen vgl. Langen 1954, S. 296ff. sowie Stroh 1977, S. 45. Ähnliche Verwendungen lassen sich jedoch auch bereits bei Luther belegen. Vgl. Kommentar zu Brief, F-L, Bd. 3, S. 447. Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 377f. Das Zitat bezieht sich hier auf das Bekehrungserlebnis des Pastors, das als hermeneutischer Prozeß des Begreifens gestaltet wird.
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Topos des „ewigen Augenblicks“ evoziert, der hier als Moment der Gnade zum lebensgeschichtlichen Wendepunkt – „der Geist Gottes hat sich vorbehalten ihn zu bestimmen“93 – stilisiert wird.94 Die pietistische Prägung des Pastors erweist sich nicht nur in den hermeneutischen Annahmen, die seinen biblischen Argumentationen zugrundeliegen, und der Erweckungssprache, sondern auch in seiner Homiletik, die den Weg empathischer Immedesimation wählt, ihr Anliegen zu vermitteln. Um darzulegen, wie es zu einem aus seiner Sicht übersteigerten Sakramentenverständnis kam, versetzt der Briefsteller sich in die Perspektive der Apostel und läßt die Geschehnisse aus ihrer Perpektive für den Leser unmittelbar erfahrbar werden: Kaum war der Herr von der Erde weg, als zärtliche, liebesgesinnte Leute sich nach einer innigen Vereinigung mit ihm sehnten, und weil wir immer nur halb befriedigt sind, wenn unsere Seele genossen hat, so verlangten sie auch was für den Körper, und hatten nicht unrecht, denn der Körper bleibt immer ein merkwürdiger Theil des Menschen, und dazu gaben ihnen die Sakramente die erwünschteste Gelegenheit.95
Das Gefühl – „Eben das fühlten [die Apostel] beym Abendmal, und glaubten [...], es für das halten zu können was sie so sehr wünschten.“96 – ist dem Pastor die wesentliche Erkenntnisinstanz.97 Hierin gibt er sich als Schüler der pietistischen Predigtlehre zu erkennen, die eine systematische doctrina de affectibus (August Hermann Francke) entwickelt, um über den intendierten Gefühlsgleichklang zwischen Gott als auctor der Heiligen Schrift, den Evangelisten als scriptores, ihren Personen und ihrem Leser gleichsam einen parallelen Erkenntnisweg, einen weiteren „Canal“98 des
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Ebd., S. 378. Der „ewige Augenblick“ ist nach Anglet (1991) ein Zeitbegriff, der so emphatisch und aussagekräftig wie kein anderer von Goethe verwendet worden ist. Er bezeichne stets eine Erfahrung, „deren Intensität und Bedeutung die Flüchtigkeit ihrer meßbaren Ereignisdauer übersteigt“. Anglet 1991, S. 1. „Auf seinem höchsten Punkt erhält der ‚ewige‘ Augenblick für Goethe dabei immer den Charakter einer Theodizee-Erfahrung“. Ebd., S. 1f. Hillebrand sieht die Ewigkeit gleichsam implodieren im Goetheschen Moment der „erfüllten Zeit“. Vgl. Hillebrand 1997, S. 6 u. S. 12. Zum Topos des „ewigen Augenblick“ im Brief des Pastors vgl. Anglet 1991, S. 218f. Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 383f. Ebd., S. 384. Der Rezensent des Wandsbecker Bothen, Matthias Claudius, hebt denn auch hervor, der Brief des Pastors zeige einen „Weg, seinem Herzen die Lehre vom Abendmahl, nach der Lutherischen und Reformierten Kirche, begreiflich zu machen.“ Wandsbecker Bothe, Nr. 43, 3. Juli 1773. Zit. n. Stroh 1977, S. 52. Vgl. hierzu auch Lischka 1975, S. 160ff.
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Verstehens (Rambach), jenseits rationaler Vermittlung zu eröffnen.99 Dieser „Canal“, der dem Gehalt der Offenbarung näherzukommen erlaubt, steht nach Rambach freilich nur dem ‚Wiedergeborenen‘ offen. Wie schon beim ersten, für den Umgang des Pastors mit der Bibel höchst aufschlußreichen Beispiel, läßt Goethe auch hier den bibelkundigen Leser durch falsche Widergabe biblischer Stellen stutzen. Was mit der höchsten Autorität, der Bibel, begründet werden soll, entpuppt sich als doppelbödig: Durch geschickte Montage werden unter der Oberfläche einer biblizistischen Rhetorik christliche Dogmatik, ‚Häresie‘ und Bibel unauflösbar verwoben. Die Ablehnung analytisch-zergliedernder Bibelkritik, die Zurückweisung der Verbalinspiration und die eigene Herangehensweise des Pastors an die Bibel, der den Weg subjektivierender Einfühlung geht, zeigen ein Bibelverständnis, das gleichermaßen weit vom aufklärerischen Spott auf der einen Seite und von orthodoxer Verhärtung bzw. dogmatischer Systematisierung auf der anderen Seite entfernt ist. Die „Mittelstraße“, die auch der Briefsteller der Zwo wichtigen bisher unerörterten biblischen Fragen „getroffen zu haben“100 glaubt, ist der undogmatisch-eklektizistische Weg eines zutiefst pietistisch geprägten Pastors, für den die Bibel zuvörderst zum Herzen, nicht zum Verstand spricht.101 Diese Position wird durch die augenfällige Konstruktivität des Textes als fiktiven Briefes in die notwendige Distanz gerückt, die es Goethe erst erlaubt, ironisch mit Phänomenen pietistischer Sprache und Erkenntnistheorie zu spielen. Es kann und soll nicht bestritten werden, daß der Brief des Pastors in einem sehr eingeschränkten Sinne auch als Credo des jungen Goethe gelesen werden kann. In der Tat entspringt der Text der eigenen Auseinandersetzung mit religiösen Fragen und deckt sich in mancher der skizzierten religiösen Überzeugungen mit denen Goethes in den frühen 1770er Jahren, so weit sich diese erkennen lassen.102 Das parodistisch überzeichnete Moment der Darstellung darf nicht übersehen werden: Es fällt auf, daß Goethe den Pastor viele dieser philanthropisch-großherzigen Glaubensvorstellungen ausgerechnet mit falschen oder verzerrten Bibel-
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Diese Gewichtung zwischen dem rationalen und dem empatisch-irrationalen Erkenntnisweg findet sich, ins Negative gespiegelt, auch bei der Ablehnung jedweden religiösen Zwangs: „Einem Meynungen aufzwingen, ist schon grausam, aber von einem verlangen, er müsse empfinden was er nicht empfinden kann, das ist tyrannischer Unsinn.“ Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 384. Zur pietistischen Homiletik vgl. auch Schivan 1912, S. 34ff. 100 Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 390. 101 Vgl. Schottroff 1985, S. 113. 102 Vgl. Barner 1930, S. 96ff.
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verweisen begründen läßt. Der spielerische Umgang mit pietistischer Sprache, die bei genauerer Analyse hintersinnige biblizistische Homilie und die parodistische Überzeichnung lassen Koopmann im Brief des Pastors ein „Sprachexperiment“ erkennen. Völlig zutreffend bemerkt er, daß die innere Distanz des Autors zur pietistischen Sprache trotz aller Nähe, die einen solchen Text erst ermöglicht, immer wieder gerade in der imitierenden Anlehnung hervortritt.103 Goethe, der schon im Herbst 1773 Lavater gegenüber lapidar feststellt, „Ich bin kein Christ“104, spielt mit dem homiletischen Ton pietistischer Erweckungssprache, der nicht zuletzt durch die schlichte, selbstgefällige Gedankenwelt des Dorfpfarrers ironisch gebrochen wird und den „gewollten Überzeugungsgestus“105 (Koopmann) ins Leere laufen läßt. In der Parallelität offensichtlicher intimer Vertrautheit Goethes mit Positionen und Sprache des Pietismus einerseits und subtiler Distanznahme andererseits wird der Brief des Pastors als Zeugnis der sich dialektisch vollziehenden Verabschiedung Goethes von pietistischen Vorstellungen und ihrer sprachlichen Ästhetik deutlich. Erst die artifizielle Konstruktivität eines anonym erscheinenden, vorgeblichen Brieftraktats eines fiktiven Briefstellers ermöglicht dieses literarästhetische Experiment. Nur eine Interpretation, die über solche ironisierenden Brüche hinwegsieht, kann – wie etwa Barner – die fiktive Gestalt des Geistlichen mit der ihres realen Schöpfers in eins setzen und vom „Pastor-Goethe“ sprechen.106 Ein Pastor, der sich fragwürdiger Bibelzitate bedient, kann indes kaum glaubhaft als Identifikationsfigur für einen jungen Dichter angenommen werden, der am Christentum noch am ehesten die Bibel schätzt.
_____________ 103 Vgl. Koopmann 1998, S. 528. 104 Goethe und Lavater, S. 9. Lavater zitiert im Brief vom 30. November 1773 an Goethe dessen zuvor, in einem nicht erhaltenen Brief an Lavater gemachte Feststellung. Vgl. hierzu auch Weigelt 2001, S. 138f. 105 Koopmann 1998, S. 529. 106 Vgl. Barner 1930, S. 96ff. oder auch Janzer 1929, S. 18f. Entgegen Barner und Janzer haben Linder (1998) und Sauder (1995) durchaus deutliche Unterschiede zwischen den im Brief des Pastors geäußerten Einstellungen und den persönlichen Überzeugungen des jungen Goethe zur Zeit der Abfassung festgestellt. Vgl. Linder 1998, S. 27 u. Sauder 1995, S. 104. Der Frage der tatsächlichen Übereinstimmung des Pastorenbriefes mit Goethes eigenem Credo kann an dieser Stelle nicht nachgegangen werden.
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Idiosynkrasie und Rollenfiktion „Aber warum tritt der liebenswürdige Herr Pastor hinter den drei Sternchen nicht hervor?“107, fragt schon der Rezensent der Frankfurter Gelehrten Anzeigen und der Kritiker der Allgemeinen theologischen Bibliothek erkennt bereits die Konstruktivität der Rollenfiktion: Sie sind eine Masque Herr Pastor! Nicht Pastor sind Sie, und was brauchts, Ihnen die Masque zu nehmen? Ist sie doch so klein und hat so viel Löcher, daß man ihr Angesicht überall durchsehen kann. So heiter, runder, elastischer Witz, und desselben eine solche Hülle, daß der Schmerz des Zurückhaltens Ihnen über all anzusehen ist.108
Die Wahl der komplexen Fiktion eines aus dem Französischen übersetzten Briefes, der zwischen zwei Geistlichen gewechselt wird, mag angesichts der Auseinandersetzungen Goethes mit den Frankfurter Kirchenautoritäten einem tatsächlichen persönlichen Bedürfnis nach Anonymität entsprungen sein; die Rollenfiktion fügt sich überdies aber auch sinnvoll in die sprachtheoretische Reflexion des Pastorenbriefes ein.109 Der Text mit seinem Verzicht auf geschraubte argumentative Strukturen und der Weigerung, die Autorschaft zu erkennen zu geben, ist Ausdruck der Einsicht in die Untauglichkeit der Sprache, deren Ausdrucksmöglichkeiten angesichts der Idiosynkrasie religiöser Erfahrung und ihrer „unaussprechlichen Empfindungen“110 versagen: „was sah der Apostel im dritten Himmel? Nicht wahr, unaussprechliche Dinge?“111 Wie eben auch die Jünger Jesu beim Letzten Abendmahl „nicht eine Sylbe von dem was der Herr sagte [verstunden]“112. Die Sprache als Medium objektivierter Erkenntnis muß als kontingentes, auf kodifizierten Regeln beruhendes System ebenso ungeeignet erscheinen, dieses Erleben zu veräußerlichen, wie dogmatische Lehr-
_____________ 107 FGA, Nr. 21, 12. März 1773, S. 169 (Rezension zu Brief des Pastors). 108 Allgemeine theologische Bibliothek, Bd. 1 (1774), S. 345f. Ob der Rezensent, hinter dessen eigenem „n.n.“, mit dem er den Artikel zeichnet, möglicherweise Bahrdt als Herausgeber der Allgemeinen theologischen Bibliothek steckt, tatsächlich Goethe zu erkennen glaubt, bleibt freilich offen. Der Dank des Autors gilt Mark-Georg Dehrmann, der ihn auf die bislang von der Forschung nicht erschlossene Rezension des Goethetextes aufmerksam gemacht hat. 109 Linder weist zu Recht darauf hin, daß sich die „Abrechnung mit den Positionen der lutherischen Orthodoxie“ im gesamten Frühwerk „nur in Figurenrede“ vollzieht. Linder 1998, S. 25. 110 Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 384. 111 Ebd. Der Briefschreiber bezieht sich auf 2 Kor. 12. 112 Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 383.
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gebäude als Formen starrer Normierung absurd erscheinen müssen: „Wenn man von Dingen spricht die niemand begreift, so ists einerley was für Worte man braucht.“113 Das Arkanum den Mustern intersubjektiv gültiger Normierungen zu unterwerfen, „alles was in der Bibel steht in Ein System zerren“114 zu wollen, hieße bereits, es zu verfremden:115 Es sind wunderliche Leute die Theologen, da prätendiren sie was nicht möglich ist. Die Christliche Religion in ein Glaubensbekänntniß bringen, o ihr guten Leute!116
Bereits die Apostel hätten diesen Sündenfall begangen, indem sie „unaussprechliche Empfindungen [...] zum Gesetz gemacht“117 hätten. Der gewählten Form eines Briefes, bevorzugtes Medium der egozentrischen Selbsterforschungskultur der Empfindsamkeit, kommt also nicht zuletzt auch die Funktion zu, diese bedingungslose Subjektivität und den Verzicht auf Allgemeingültigkeit in der Rede von der Offenbarung zu verdeutlichen.118 Die evozierte Gegenüberstellung zwischen dem „Wehen des heiligen Geistes“119 einerseits und der starren lehramtlichen Normierung andererseits läßt die Grundkonstellation der Dekadenz- und Depravationstheorie Gottfried Arnolds (Unpartheyische Kirchen- und Ketzer-Historie) anklingen, die, ausgehend von eben dieser Unmöglichkeit ungebundener Spiritualität innerhalb der als entgeistlicht empfundenen Kirche, das Paradigma aller bisherigen Kirchengeschichtsschreibung auf den Kopf stellt:120 In allen Zeiten seien „gemeiniglich die allertheuersten zeugen der warheit“121 als
_____________ 113 Ebd., S. 379. 114 Ebd., S. 383. 115 Vgl. Willems 1995, S. 65. In interessanter Parallele warnt Zinzendorf vor theologischer Systembildung: „Sobald die Wahrheit zum System wird, so hat man sie nicht, weil unser Wissen Stückwerk bleibt“. Zit. n. Zinzendorf, Hauptschriften, Bd. 3, S. XV (Vorrede von Erich Beyreuther). 116 Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 383. Vgl. auch die Bewertung des Augsburger Bekenntnisses als rein äußerlicher und somit höchst relativer Normierung des individuellen Glaubens: „Was sollte mich antreiben die Augspurgische Confeßion für was anders als eine Formel auszugeben, die damals nötig war und noch nötig ist etwas fest zu setzen, das mich aber nur äusserlich verbindet, und mir übrigens meine Bibel läßt.“ Ebd., S. 381. 117 Ebd., S. 384. 118 Zur Briefkultur der Empfindsamkeit vgl. Anderegg 2001 sowie Reinlein 2003. 119 Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 384. 120 Schneider (2001) geht so weit festzustellen, daß im Brief des Pastors „Leitmotive Arnolds bis hin zu fast zitathaften Anklängen“ zu erkennen seien, kann eine so weitgehende Paraphrasierung jedoch nicht en détail belegen. Schneider 2001, S. 101. 121 Arnold, Geschichte, Bd. 1, S. 15.
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Ketzer verurteilt worden, da die Kirche in ihrer Starrheit und Dekadenz dem wirklich Gläubigen keinen Platz lasse.122 Spiritualität ist damit für Arnold, selbst Superintendent der preußischen lutherischen Kirche, nur außerhalb der Kirche und jenseits systematisierter Theologumena in der radikalen Individualität und Vereinzelung möglich.123 Ketzer, Sektierer, Schwärmer und Dissidenten erscheinen in dieser Sicht der Kirchengeschichte als die Träger wahrer Spiritualität, denen jede Form institutionalisierter und hierarchisierter Religiosität als heuchlerisch und geistlos gegenübersteht.124 Ganz in diesem Sinne läßt Goethe seinen Pastor tönen: „Und einmal vor allemal, eine Hierarchie ist ganz und gar wider den Begriff einer ächten Kirche.“125 Eben vor diesem Hintergrund erhält die fortwährende subtile Koketterie des Geistlichen mit als häretisch gebrandmarkten theologischen Überzeugungen ihren Sinn als ein dem Eingeweihten vertrautes Zeichen, mit dem der Pastor sich seinem neuen Amtsbruder im Nachbarsprengel als Mitglied dieser „ächten Kirche“ oder, mit Arnolds Worten, „unsichtbaren allgemeinen kirchen“126 zu erkennen gibt, die „durch die gantze welt unter allen völckern und gemeinden verstecket, und zerstreuet ist.“127
_____________ 122 Vgl. Biennert 1977, S. 236f. So steht Arnold beispielsweise den Wiedertäuferbewegungen des 17. Jahrhunderts verständig-wohlwollend gegenüber. Vgl. Arnold, Geschichte, Bd. 1, S. 1016ff. Zu Johann Gottfried Arnolds Unpartheyischer Kirchen- und Ketzerhistorie, die sich in der elterlichen Bibliothek in Frankfurt befand, vgl. Büchsel 1970. Zum Ketzerbegriff Arnolds vgl. Decker 2000, S. 155ff. Zu Goethes Auseinandersetzung mit Arnold vgl. Brinkmann 1976, Meinhold 1958, S. 1ff.; Bollacher 1969, S. 55ff. u. Schneider 2001. Goethe selbst geht in Dichtung und Wahrheit auf den Einfluß des Denkens Arnolds auf ihn ein: „Einen großen Einfluß erfuhr ich dabei von einem wichtigen Buche, das mir in die Hände geriet, es war Arnolds ‚Kirchen- und Ketzergeschichte‘. Dieser Mann ist nicht ein bloß reflektierender Historiker, sondern zugleich fromm und fühlend. Seine Gesinnungen stimmen sehr zu den meinigen, und was mich an seinem Werk besonders ergetzte, war, daß ich von manchen Ketzern, die man mir bisher als toll oder gottlos vorgestellt hatte, einen vorteilhaftern Begriff erhielt.“ Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 9, 350, 8. Buch. 123 Keding versucht das Spannungsverhältnis dieser „oszillierenden und doch einlinigen Gestalt“ zu umreißen: „Er war nicht ‚von der Kirche‘, und doch in der Kirche; er sympathisierte mit separatistischen Strömungen und wurde doch Diener der Kirche; er war Radikalpietist und doch Superintendent der preußischen lutherischen Kirche, Rebell und doch einer der ‚Stillen im Lande‘, mystischer Liebhaber der göttlichen Sophia und doch Ehemann.“ Keding 2001, S. 1f. 124 Vgl. Bollacher 1969, S. 56. Zu Arnolds Ketzerbegriff vgl. Biennert 1977. 125 Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 383; ähnlich ebd., S. 381: „Luther arbeitete uns von der geistlichen Knechtschaft zu befreyen, möchten doch alle seine Nachfolger so viel Abscheu vor der Hierarchie behalten haben, als der große Mann empfand.“ 126 Arnold, Geschichte, Bd. 1, o.S. (Vorrede). 127 Ebd.
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Willems hat den Brief des Pastors unter dieser Perspektive der Indienstnahme der Religion zum Ziel der Entfaltung radikaler Individualität erschlossen.128 Daß diese Möglichkeit der radikalen Subjektivität aber nicht in der Religion allgemein, sondern in spezifisch hermeneutischen Paradigmen des Pietismus begründet liegt, erkennt sie nicht. Diese Auseinandersetzung mit der Subjektivität einer arkan erfahrenen Religiosität bildet dabei eine inhaltliche Klammer, die den Brief des Pastors mit den Zwo bisher unerörterten biblischen Fragen, gleichfalls einem fiktiven Pastorenbrief, verbindet, in dem Goethe sich u.a. mit dem Phänomen der Zungenrede als nicht verständlicher Äußerung innerer, idiosynkratischer Erkenntnis, die notwendigerweise mit dem Argwohn der Dogmatik und institutionalisierten Kirchlichkeit konfrontiert ist, auseinandersetzt: Die Schwärmer und Inspiranten haben sich oft unglücklicher Weise ihrer Erleuchtung überhoben, man hat ihnen ihre eingebildete Offenbarung vorgeworfen; aber weh uns, daß unsre Geistlichen nichts mehr von einer unmittelbaren Eingebung wissen, und wehe dem Christen der aus Commentaren die Schrift verstehen lernen will. Wollt ihr die Würkungen des heiligen Geistes schmälern? bestimmet mir die Zeit, wenn er aufgehöret hat an die Herzen zu predigen, und euern schaalen Diskursen das Amt überlassen hat, von dem Reiche Gottes zu zeugen.129
Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen Auch in der zweiten „theologischen Jugendschrift“, den Zwo wichtigen bisher unerörterten biblischen Fragen, betreibt Goethe das von ihm selbst nachträglich als „sibyllinisch“130 (Dichtung und Wahrheit) bezeichnete Versteckspiel, mit dem er kurz zuvor schon seine Autorschaft des Briefs das Pastors zu *** an den neuen Pastor zu *** zu verschleiern gesucht hatte. Neuerlich arbeitet er mit der Technik der doppelten Brechung: Zum einen hält sich der junge Dichter wiederum die Maske eines Geistlichen vor und gibt der Schrift den Untertitel „Zum erstenmal gründlich beantwortet, von einem Landgeistlichen aus Schwaben“131, zum anderen verwischt Goethe in dieser Schrift seine Spuren durch den Verzicht auf Nennung des Verfassers und die fiktive Ortsangabe „Lindau am Bodensee“132. Tatsächlich
_____________ 128 129 130 131 132
Vgl. Willems 1995, S. 3 u. S. 8. Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 384. Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 9, S. 512, 12. Buch. Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 388. Ebd.
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erschien der Text im Frühjahr 1773 entweder in Deinets Frankfurter Verlag oder im Selbstverlag Johann Heinrich Mercks in Darmstadt.133 Die Maske des „Landgeistlichen aus Schwaben“, neben Halle dem zweiten Zentrum des Pietismus in Deutschland, hat so neben der Verschleierung der realen Autorschaft Goethes noch die Funktion, den Text, für den gebildeten Leser der Zeit erkennbar, in die Nähe der kurz zuvor erschienenen Schrift Johann Georg Hamanns Beylage zun Denkwürdigkeiten des seligen Sokrates (1772/1773) zu stellen, die gleichfalls, so im Titel, als Buch „von einem Geistlichen aus Schwaben“ erscheint. Der Rahmen, der den Traktat einfaßt, ist wiederum als Brief eines Landgeistlichen pietistischer Prägung an einen Amtsbruder konzipiert. Die beiden essayistischen Texte lassen sich als Traktate in Briefform bezeichnen; der Brief des Pastors neigt dabei jedoch deutlich eher zur Seite des Briefes, die Zwo wichtigen bisher unerörterten biblischen Fragen eher zur der des Traktats.134 So weist etwa der Text eine klare Gliederung auf, wie sie die sprunghaft assoziierende Gedankenkette des Pastorenbriefes nicht erkennen läßt, und verzichtet, entgegen dem Brief des Pastors, auf die brieftypischen Elemente von eröffnender Anrede und obligater Grußformel am Ende des Textes.135 Exegetische Positionsbestimmung des Landgeistlichen Der Beschäftigung mit den zwei bibelexegetischen Fragen stellt Goethe eine längere Einleitung voran, die in Aufbau und Ton dem Brief des Pastors sehr ähnlich ist. Er bedient sich bei der in Ich-Form verfaßten Exposition des Landgeistlichen einer kontrastiven Technik: Ähnlich der Abgrenzung gegenüber dem als Kontrastfolie dienenden verstorbenen Geistlichen des Nachbarsprengels im Brief des Pastors, stellt Goethe auch hier seinem fiktiven Briefautor ein Gegenbild zur Seite, um Wesen und Einstellung des Landgeistlichen um so schärfer konturieren zu können. Wie auch der als dogmatisch versessen und misanthropisch gezeichnete Vorgänger des Adressaten des Pastorenbriefes tritt die Kontrastfigur in den Zwo wichtigen bisher unerörterten Fragen, der Sohn des schreibenden Pfarrers, nicht selbst
_____________ 133 Vgl. Wilpert 1998, S. 1226f., Artikel „Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen“. 134 Vgl. Barner 1930, S. 21ff. 135 Lediglich an einigen Stellen wendet sich der schreibende Landgeistliche direkt („lieber Herr Bruder“, Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 396) an seinen Adressaten.
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auf, sondern wird gleichsam indirekt evoziert. „Es ist betrübt die langen Winterabende so allein zu seyn“136, hebt der Text an, um fortzufahren: Mein Sohn der Magister ist in der Stadt; ich kanns ihm nicht verdenken, er findet bey mir so wenig Unterhaltung für seine Gelehrsamkeit, als ich an ihm Liebeswärme für meine Empfindung [...].137
Es wirft ein Schlaglicht auf die Bedeutung der Bibelexegese zur Entstehungszeit des Brieftraktats, daß Goethe den vorgeblichen Traktatautor die bibelexegetische Positionierung seiner selbst wie seines Sohnes wählen läßt, um den Antagonismus zwischen Vater und Sohn zu explizieren. Insofern der pietistischen Überzeugung nach charakterliche Dispositionen in der Exegese hermeneutisch ausschlaggebend werden, kann der Haltung zur angemessenen Auslegung der Heiligen Schrift eine beschreibende Kraft beigemessen werden, Charaktere in nuce vorzustellen.138 Der trocken-akademischen Bildung des städtisch lebenden Sohnes und seiner aus Büchern geschöpften Gelehrsamkeit stellt der Vater die eigene „Fühlbarkeit“ gegenüber, der „kalten Reduction“ des Sprößlings seine durch „Lebens- und Amtsgange“ auf dem Lande gewonnene Weisheit des Erfahrenen und Verständigen.139 Ablehnend und mit einer Mischung aus Verachtung und mitleidiger Nachsicht betrachtet der Vater die neuen exegetischen Vorstellungen des Sohnes, der in seinen akademischen „Collegia“ einen „Universalschlüssel“ gewonnen zu haben glaubt, der ihm unverstellten Zugang zu den Büchern des Neuen und Alten Testaments gebe.140 Alles ihm Unverständliche der Bibel, was sich nicht in seine Vorstellungen fügen lasse, werde kurzerhand zu „Lokalkleinigkei-
_____________ 136 Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 388. 137 Ebd. 138 Es sei am Rande bemerkt, daß Goethe auch im Werther bibelexegetische Positionen spöttisch heranzieht, um einzelne Charaktere zu kennzeichnen. Wie im Briefroman immer wieder Lektüren und Lesegewohnheiten der Figuren zur Exposition ihrer Charaktere dienen, läßt der Autor seinen Protagonisten bissig bemerken, eine als gefühlskalt und unverständig geschilderte Pfarrersfrau sei eine „Frazze, die sich abgiebt gelehrt zu seyn, sich in die Untersuchung des Canons melirt, gar viel an der neumodischen moralisch kritischen Reformation des Christenthums arbeitet“. Werther, DjG, Bd. 2, S. 327. Wird hier nur die Lektüre Semlers Abhandlung von freier Untersuchung des Canon (1771-1775) angedeutet, heißt es später, die Pfarrerin, die in ihrer ästhetischen Unzugänglichkeit zwei Werther so liebe Nußbäume habe fällen lassen, lese unter anderem „Kennikot, Semler und Michaelis“. Werther, DjG, Bd. 2, S. 328. Beutler hat mit detektivischer Akribie nachgewiesen, wie Züge der Pfarrersfrau Griesbach, der Nachbarin der Familie Textor und Tochter des Hallenser Theologen Johann Jakob Rambach, in die Figur des Romans eingeflossen sind. Vgl. Beutler 1940, S. 144ff. 139 Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 389. 140 Vgl. ebd.
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ten“ erklärt, zu entgegenkommenden Akkomodationen an Geist und Umwelt der alten Israeliten, die für den heutigen Gläubigen ohne Belang seien. Der Pfarrer vergleicht seinen eigenen Ausbildungsgang mit dem Studium seines Sohnes und zeichnet in groben Linien die Geschichte der Bibelexegese im 18. Jahrhundert nach – vom „zu universal[en]“ Bibelverständnis der lutherischen Orthodoxie, das in jedem Vers der Bibel die inspirierte Offenbarung erblickt, über die ersten „Inconvenienzien“ und Zweifel am orthodoxen Biblizismus bis hin zu den von der Aufklärung bestimmten Ideen der Neologie, die dem Sohn von den Kathedern gelehrt werden: Zur Zeit da ich studirte, erklärte man die Bibel zu universal, die ganze Welt sollte an jedem Spruche Theil haben. Dieser Meynung war ich immer feind, weil sie so viele Inconvenienzien und Anstöse in den Weg legte. Nun, wie mein Magister zurückkam, wunderte ich mich, ihn von denen schweren Vorurtheilen so frey zu sehn, mein Herz ging mir recht auf, wie ich grad mit ihm reden konnte, wie er meine Ahndungen durch gelehrte Beweise bestättigte. Doch die Freude dauerte nicht lang, ich sah ihn mit der entgegen gesetzten Thorheit behaftet, alle dunkle, alle seinem System widrige Stellen zu Lokalkleinigkeiten zu drechseln. Darüber kamen wir abermals auseinander. Ich glaube die Mittelstraße getroffen zu haben.141
Der fiktive Autor des Briefes selbst hat offenbar ein Verständnis der Bibel gewonnen, das in vielem dem Pietismus verpflichtet ist und das er selbst als „Mittelstraße“142 zwischen den Extremen ansieht, auf der er sich durch das „verwachsene Dickigt“143 der Exegese begibt. Es behagt ihm weder der Biblizismus und Dogmatismus des Altluthertums mit seiner Lehre der umfassenden Inspiration noch die als anmaßend empfundene Art, alle „widrige[n] Stellen“144 als bloße Akkomodationen im Sinne der Neologen abzutun. Subjektives Begreifen des sensus mysticus – „wenn mir hier und da ein brauchbarer Spruch aufgeht“145 – setzt die „Fühlbarkeit“ der Seele voraus und erkennt in ihr den eigentlichen hermeneutischen Schlüssel zur Schrift, dem gegenüber philisterhaftes Bücherwissen für den Pastor, der „niemals ein Freund von Büchern, am wenigsten von Exegetischen war“146, von untergeordneter Bedeutung ist. Der anonyme Rezensent der von Carl Friedrich Bahrdt verantworteten Allgemeinen theologischen Bibliothek
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Ebd., S. 389f. Ebd., S. 390. Ebd., S. 388. Ebd., S. 389. Ebd., S. 388. Ebd.
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charakterisiert den offenbar nicht als fiktiven, sondern als realen Autor angenommen schreibenden Geistlichen als „Naturalist[en]“, dessen wissenschaftliche Mängel eben diesem blinden Zutrauen in die Unmittelbarkeit der Leseerfahrung und damit einhergehend dem Verzicht auf den exegetischen Sekundärapparat entspringe: Der Mann hat Kopf. Das ist nicht zu leugnen. Aber schade, daß er ein bloßer Naturalist ist. Sprachkunde, Lectüre – alle zu gründlichen Untersuchungen nöthige Hülfsmittel fehlen ihm.147
Zugleich betont der fiktive Pfarrer des exegetischen Traktats wieder und wieder, Religion müsse so vermittelt werden, daß sie auf die Bedürfnisse der Menschen antworte und nütze, also auch vor den kritischen Anfragen des auf ‚Nutzen‘ und ‚Frucht‘ hin orientierten Zeitalters Bestand haben könne. Er sucht Bibelverse, die „brauchbar“ sind, stellt sich die Frage, „was brauchen meine Zuhörer?“, verkündet, „die einzige brauchbare Religion muß einfach und warm seyn“148 und läßt so in der deutlichen Hörerorientierung seiner Homiletik die Prägung durch die pietistische Predigtlehre erkennen.149 Neben der scharfen Abgrenzung gegenüber seinem Sohn deutet der Geistliche jedoch auch eine selbstempfundene Fremdheit im Kreis seiner jovial-zotigen Amtsbrüder an: „die Collegen um mich her sind und bleiben meine letzte Gesellschaft.“150 Die eigene, spirituell grundierte Introversion lasse ihn sich fehl am Platz vorkommen im launigen Treiben der Pfarrerkonvente, in denen Religiöses nur noch in gestanzten, spöttisch gemeinten Floskeln vorkomme: Wer nach einem kurzen Benedicite von Gewissensfragen und andern Pastoralkleinigkeiten sich nicht zur ausgelaßnen Spiel- und Trinkcollation hinsetzen, und das Gratias gegen Mitternacht mit Zoten intoniren mag, der muß wegbleiben, wissen Sie lieber Herr Bruder.151
Mit dem evozierten pietistischen Topos des Gegensatzes zwischen Äußerlichkeit und Innerlichkeit klingt auch das Motiv des existentiellen Allein-
_____________ 147 Allgemeine theologische Bibliothek, Bd. 1 (1774), S. 37. Die Rezension fährt fort: „Daher kommt es, daß er ohne Regel ausstößt – so blindhin, wie es sein guter gesunder Mutterwitz ihm eingiebt, und wie es seine lebhafte Imagination gerade mit sich bringt. Manchmal trift er, manchmal aber geht aber auch der Stoß eine halbe Meile seitswärts: Und mit solchen Naturalisten ist nicht gut fechten. Doch wollen wir einige Gänge mit ihm wagen.“ Ebd. 148 Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 388f. 149 Zur von Spener eingeforderten Hörerorientierung in der Homilie vgl. Hainzmann 2002, S. 54f. 150 Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 388. 151 Ebd.
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seins des wahren Christen an, das bereits im ersten Satz des Textes – „Es ist betrübt die langen Winterabende so allein zu seyn“152 – hervortritt.153 Die Opposition von Partikularität und Universalität als Klammer der Zwo biblischen Fragen Nach dieser kontrastiven Exposition leitet der Text, ehe er auf die eigentlichen Fragestellungen eingeht, zu einer thesenartigen Voraussetzung über, die als Klammer die zunächst disparaten Zwo wichtigen bisher unerörterten biblischen Fragen zusammenhält: Der Landgeistliche versucht, Judentum und Christentum in ihrer Bezogenheit aufeinander und ihrer Abgrenzung voneinander zu bestimmen. Er zieht die von Paulus verwendete Metapher der Veredelung eines Gewächses durch Aufpfropfung eines anderen Triebes heran, um das Christentum als neues, höheres Stadium der dem Judentum erwachsenen Tradition darzustellen: Das jüdische Volk seh ich für einen wilden unfruchtbaren Stamm an, der in einem Krais von wilden unfruchtbaren Bäumen stund, auf den pflanzte der ewige Gärtner das edle Reis Jesum Christum, daß es, darauf bekleibend, des Stammes Natur veredelte, und von dannen P[f]ropfreiser zur Befruchtung aller übrigen Bäume gehohlt würden.154
Zur Abgrenzung der beiden Religionen voneinander greift der Landgeistliche auf ein Modell zurück, das Universalität und Partikularität einander gegenüberstellt: Das Judentum sei durch und durch „partikular“, d.h. seinem Wesen und seinem Anspruch nach einzig auf sich, das Volk Gottes, bezogen, während nach der veredelnden Pfropfung das Christentums in Lehre und Geschichte „universell“ sei, d.h. seinem Anspruch als Missionsreligion nach auf die ganze Menschheit gerichtet.155 Diese Unterscheidung und die „Meynung: hier sey so wenig particulares als dort uni-
_____________ 152 Ebd. 153 Vgl. etwa Spener, Pia desideria, S. 80. 154 Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 390, Ergänzung durch den Herausgeber. Die volle Aussage der Passage erhellt sich erst im Rückgriff auf die referierte Passage des Römerbriefes, die vor jeder Überheblichkeit dem „Stamm“ bzw. der „Wurzel“ gegenüber warnt: „Wenn aber einige Zweige herausgebrochen wurden und wenn du als Zweig vom wilden Ölbaum in den edlen Ölbaum eingepfropft wurdest und damit Anteil erhieltest an der Kraft seiner Wurzel, so erhebe dich nicht über die anderen Zweige. Wenn du es aber tust, sollst du wissen: Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“ Röm. 11, 17f. zit. n. Einheitsübersetzung. 155 Vgl. Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 390.
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verselles zu vermuthen und zu deuten“156, bilden das übergeordnete Modell, in das die Beantwortungen beider Fragen einzuordnen sein werden. „Erste Frage. Was stund auf den Tafeln des Bunds?“: Zurückweisung religiöser „Universalverbindlichkeiten“ Die erste der beiden „biblischen Fragen“ bezieht sich auf die Offenbarung der steinernen Bundestafeln, die im Zweiten Buch Moses (Exodus) in verworrener Folge, mehrfach von längeren Einschüben unterbrochen, geschildert wird. „Was stund auf den Tafeln des Bunds?“157, fragt der Geistliche und läßt unmittelbar seine Antwort folgen: „Nicht die zehen Gebote, das erste Stück unsers Katechismus“158, sondern eine Zusammenstellung kultischer Gesetze, die der Pfarrer im 34. Kapitel des Exodusbuches überliefert sieht. Diese These zur ersten Frage bricht mit der bis dahin fast uneingeschränkt vorherrschenden Deutung des Buches Exodus, nach der Gott seinem Volk auf den Tafeln den im 20. Kapitel des Exodusbuches überlieferten Dekalog offenbart und diesen zum Gesetz des Bundes erhebt.159 Indem der Landgeistliche die im Buch Exodus verwirrend erzählten Begebenheiten chronologisch zu reihen versucht und zugleich die grundlegenden Überlegungen über das „partikulare“ Wesen des Judentums einfließen läßt, kommt er durch einen zweisträngigen Argumentationsduktus zu der These, es habe sich bei den geoffenbarten Gesetzen um zehn Kultgebote für die Israeliten gehandelt, die er aus dem biblischen Text wieder zu erschließen versucht.160 Beide Argumentationsstränge, der chronologische und der theologisch-systematische, sollen im folgenden kurz nachgezeichnet werden. Der Geistliche faßt die Exoduskapitel 20 bis 34 prägnant zusammen und unterlegt ihnen eine eigene Gliederung in neun Abschnitte, die er mit den Fußnoten „a“ bis „i“ im Bibeltext akkurat belegt.161 Indem er den Text solchermaßen gliedert, lichtet sich die Verwirrung um die Gescheh-
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Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Schottroff 1985, S. 119. Vgl. ebd., S. 115ff. Vgl. Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 390f.
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nisse am Berg Sinai, die im Exodustext durch lange Einschübe (z.B. zum Inhalt des Bundesbuches oder zum Bau der Stiftshütte162) unterbrochen dargelegt werden. Dieser Gliederung folgend, erscheint die These schlüssig, daß die erstmals im 31. Kapitel erwähnten und nach ihrer Zerstörung durch Moses neuerlich geschaffenen steinernen Tafeln die kultischen Vorschriften enthielten, die erst im 34. Kapitel des Buches aufgeführt werden. Die Gesetzgebung habe mit der Theophanie „majestätisch fürchterlich“ begonnen, indem Gott „meist allgemeine Wahrheiten“ als Gebote erlassen habe, die universelle Gültigkeit eingefordert und somit für Israel wie für alle Völker Gültigkeit besessen hätten.163 Wie die Fußnote erkennen läßt, sind mit diesen „allgemeinen Wahrheiten“ die im 20. Kapitel erstmals genannten Zehn Gebote gemeint. Das Volk habe Mose beauftragt, „den weiteren Willen des Herrn zu vernehmen“, so daß Gott ihm die umfangreichen Bestimmungen des sogenannten Bundesbuches (Ex. 20,22 bis 23,32) offenbart habe. Nun (Ex. 24,12) fänden erstmals steinerne Tafeln Erwähnung, die entgegenzunehmen Mose ein weiteres Mal den Sinai bestiegen habe.164 Ohne daß zunächst die Tafeln erwähnt würden, folge der lange Einschub (Ex. 25-31), in dem detailliert Anweisung zum Bau der Stiftshütte gegeben werde: „und da der Herr ausgeredt hatte – gab er ihm die Tafeln. Was drauf gestanden, erfährt niemand“165, denn aus Zorn über das „Unwesen mit dem Kalb“, die Hinwendung zum Baalkult (Ex. 32), habe Mose die Steintafeln zerschmettert (Ex. 32,19), „ehe wir ihren Inhalt nur muthmasen können.“166 Nach der „Reinigung des reuigen Volks“ habe Jahwe Mose jedoch neuerlich aufgefordert: „haue dir zwo steinerne Tafeln wie die ersten waren, daß ich die Worte drauf schreibe die in den ersten waren“167 (Ex. 34,1). Nachdem Gott seinen Bund mit Israel erneuert habe (Ex. 34,10ff.), werde erst jetzt der Inhalt der Tafeln wiedergegeben, als den der Geistliche Ex. 34,14-26 betrachtet.168 Die Vorschriften, die das Ergebnis der philologisch-exegetischen Erkenntnisse des fiktiven Briefautors sind, umfassen dabei u.a. religiöse Gesetze (Monotheismus, Sabbatheiligung), rituelle Gebote (Tieropfer) und
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Vgl. Ex. 21-23 u. 25-31. Vgl. Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 391. Vgl. ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 391f.
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hygienische Regeln („Du sollst das Böcklein nicht kochen, wenns noch an seiner Mutter Milch ist.“169). Wie um zu bestätigen, daß das Vorgenannte tatsächlich der Inhalt der Tafeln war, schließt der Pfarrer mit dem Zitat von Ex. 34,27-29: Und der Herr sprach zu Mose: schreibe diese Worte, denn nach diesen Worten hab ich mit dir und mit Israel einen Bund gemacht. Und er war allda bey dem Herren vierzig Tag und vierzig Nächte und as kein Brod und trank kein Wasser. Und er schrieb auf die Tafeln solchen Bund, die zehen Worte.170
Wie der Geistliche belegt, werden die Begebenheiten des zweifachen Bundesschlusses also im zweiten Buch Mose tatsächlich in ihrer chronologischen Reihenfolge berichtet, jedoch solcherart durch Einschübe unterbrochen, daß die Stringenz des Textes gleichsam verschüttet worden sei und es naheliege, die im Bibeltext erstgenannte Zusammenstellung von zehn allgemeinen ethischen Regeln, den sogenannten Dekalog aus Ex. 20, für den Inhalt der Tafeln zu sehen, der jedoch erst in Ex. 34 als ein kultischer, nur für das Volk Israel gültiger Dekalog geoffenbart werde. Dem ethischen Dekalog komme damit nicht die Funktion des Bundesschlusses zu, sondern die Zehn Gebote seien lediglich als „Proömium der Gesetzgebung“171 zu betrachten.172 Der Geistliche versucht, dieses Bundesgesetz aus dem Buch Exodus zu erschließen, und legt dieser philologischen Arbeit die in der Einleitung des Briefes bereits ausgebreiteten Überlegungen zum „partikularen“ Charakter des Judentums zugrunde, die Voraussetzung also, daß ein Bundesschluß Gottes mit seinem auserwählten Volk sich nicht in „universellen“ Geboten, „Universalverbindlichkeiten“173, wie sie für jeden Menschen Gültigkeit besitzen, habe erschöpfen können. An die Eingangsvoraussetzungen einer Opposition von Partikularität und Universalität anknüpfend, arbeitet er den Unterschied heraus zwischen den „universellen“ ethischen Zehn Geboten (Ex. 20) einerseits, „die Gott bey seinem Volke als Menschen und als Israeliten voraussetzte“174 („Als Menschen, dahin gehören die allgemeinen moralischen; als Israeliten, die Erkenntniß eines einzigen Gottes, und die Sabbathfeyer.“175), und andererseits den
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Ebd., S. 392, Hervorhebungen des Originals nicht übernommen. Ebd. Ebd., S. 393. Vgl. auch Eißfeldt 1966, S. 139. Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 393. Ebd. Ebd.
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„partikularen“ Kultregeln als „Zeugniß des Bunds mit dem sich Gott ganz besonders Israel verpflichtete.“176 Damit korrigiere er den Irrtum, „es habe der partikularste Bund auf Universalverbindlichkeiten [...] gegründet werden können.“177 Diese Feststellung, der Dekalog sei zu allgemein formuliert, als daß er das Dokument des Bundesschlusses Gottes mit seinem Volk gewesen sein könne, taucht zur Entstehungszeit des Brieftraktats wiederholt in der Forschung auf und wird u.a. vom Rechtsphilosophen Karl Ferdinand Hommel (1722-1781) ausgeführt, der jedoch im Gegensatz zur Argumentation des Landgeistlichen nicht einen gänzlich anderen Inhalt der Tafeln annimmt, sondern die Gebote des ethischen Dekalogs lediglich als Überschriften detaillierterer und gleichsam „partikularerer“ Bestimmungen versteht, die im Exodustext selbst nicht elaboriert werden: Mich deucht also, daß, man mich verstehen wird, wenn ich sage: daß die Worte: du solst den Feyertag heiligen, nicht das Geseze selbst, sondern nur die Ueberschrift, und der kurze Inhalt gar vieler vom Gottesdienste handelnder, vorher unbekanter Ceremonial Geseze gewesen, so Got insgesamt auf diese Tafeln wirklich geschrieben, Moses aber zu nennen, der Kürze halber, unterlassen habe.178
Wenn Goethe hinter der Maske des schwäbischen Geistlichen zwischen den allgemeinen („universellen“) Normen des Menschen und den besonderen („partikularen“) Normen der Israeliten unterscheidet, greift er Vorstellungen auf, wie Baruch Spinoza sie bereits in seinem Tractatus theologicopoliticus (1670) formuliert hatte.179 Spinoza hatte schroff zwischen einem „natürlichen Gesetz“ unterschieden, das für alle Menschen gleichermaßen bindend sei, und Vorschriften, die „in der Hauptsache dem Charakter und insbesondere der Erhaltung eines einzelnen Volkes“180, des jüdischen,
_____________ 176 Ebd., S. 392f., Hervorhebung des Originals nicht übernommen. 177 Ebd., S. 393. 178 Hommel, Plappereyen, S. 264. Der bisher angenommene Dekalog sei „längst schon in das menschliche Herz geschrieben“ gewesen: „Moses selbst, sagen die Feinde der Offenbahrung, würde sich geschämet haben, dergleichen Geseze abzulesen; Geseze, woran noch nie ein Hurone, noch Grönländer, noch Hottendotte, noch Thracier, noch Garamante gezweifelt.“ Ebd., S. 261f. In den Frankfurter Gelehrten Anzeigen weist der Rezensent des Brieftraktats Goethes bereits auf die Argumentation Hommels hin, die 1773 in einem Sammelband (Kleine Plappereyen) neu erscheint. Vgl. FGA, Nr. 83, 15. Oktober 1773, S. 687 (Rezension zu Zwo biblische Fragen u. Brief des Pastors). 179 Zur Auseinandersetzung des jungen Goethe mit Spinoza vgl. u.a. Lindner 1960, S. 72ff. u. Bollacher 1969, bes. S. 50-73. 180 Spinoza, Tractatus, S. 141 („nam hac etiam consideratione res ad Deum referuntur [...], et hoc sensu lex Mosis, quamvis non universalis, sed maxime ad ingenium et singularem
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angepaßt gewesen seien.181 Vor dem Hintergrund dieser Zuordnung von jüdischer Partikularität einerseits und menschlicher Universalität andererseits hatte Spinoza bereits den Beweis zu erbringen versucht, daß partikulare Zeremonialbestimmungen nicht der Inhalt eines letztlich auf die universa societas zielenden göttlichen Gesetzes gewesen sein könnten.182 Bei Jean-Jacques Rousseau finden sich im 1762 erschienen staatstheoretischen Traktat Contrat Social ähnliche Gedanken. Die Scheidung zwischen „universellem“ Gesetz und „partikularem“ jüdischen Gesetz wird hier bereits, wie später bei Goethe, ins Private gewendet: Der „universellen“ Religion des Menschen stellt Rousseau freilich nicht die „partikulare“ Religion eines bestimmten Volkes bzw. einer Religionsgemeinschaft gegenüber, sondern die Religion des Bürgers und scheidet damit den öffentlichen und den privaten Vollzug des Glaubens.183 In dieser Frage der möglichen Diskrepanz zwischen öffentlich und privat gelebter Religiosität liegt der Berührungspunkt des Traktats mit De legislatoribus, dem bereits einige Jahre zuvor (ab Herbst 1770) entstandenen Dissertationsversuch des „überwitzigen Halbgelehrten und [...] wahnsinnigen Religions-Verächters“184 Goethe, wie einer der am Promotions-
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conservationem unius populi accommodata fuerit, vocari tamen potest lex Dei, sive lex divina ; quandoquidem credimus eam lumine prophetico sancitam fuisse“, ebd. S. 140). Vgl. Schottroff 1985, S. 117f. Vgl. Spinoza, Tractatus, S. 160: „Cum autem caeremoniae, eae saltem quae habentur in Vetere Testamento, Hebraeis tantum institutae et eorum imperio ita accommodatae fuerint, ut maxima ex parte ab universa societate, non autem ab unoquoque exerceri potuerint, certum est eas ad legem divinam non pertinere adeoque nec etiam ad beatitudinem et virtutem aliquid facere; sed eas solam Hebraeorum electionem, hoc est [...] solam corporis temporaneam foelicitatem et imperii tranquillitatem respicere, proptereaque nonnisi stante eorum imperio ullius usus esse potuisse.“ Vgl. Rousseau, Contrat Social, S. 306: „La religion considérée par rapport à la société, qui est ou générale ou particulière, peut aussi se diviser en deux espèces, à savoir la religion de l´homme et celle du citoyen. La première, sans temples, sans autels, sans rites, bornée au culte purement intérieur du dieu suprême et aux devoirs éternels de la morale, est la pure et simple religion de l’Évangile, le vrai théisme, et ce qu’on peut appeler le droit divin naturel. L’autre, inscrite dans un seul pays, lui donne ses dieux, ses patrons propres et tutélaires: elle a ses dogmes, ses rites, son culte extérieur prescrit par des lois […].“ Brief Elias Stöbers (1719-1778), Straßburger Theologieprofessor, an Friedrich Dominikus Ring vom 4./5. Juli 1772: „Der Herr Goethe hat eine Rolle hier [in Straßburg] gespielt, die ihn als einen überwitzigen Halbgelehrten und als einen wahnsinnigen Religions-Verächter nicht eben nur verdächtig, sondern ziemlich bekannt gemacht. Er muß, wie man fast durchgängig von ihm glaubt, in seinem Obergebäude einen Sparren zu viel oder zu wenig haben. Um davon augenscheinlich überzeugt zu werden, darf man nur seine vorgehabte Inaugural-Dissertation de Legislatoribus [nur hier dieser Titel überliefert] lesen, welche selbst die Juristische Fakultät ex capite religionis et prudentiae unterdrückt hat; weil sie hier nicht hätte können abgedruckt werden anders, als daß die Professores sich hätten müssen
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verfahren beteiligten Professoren urteilt. Wenn auch die lateinische Promotionsschrift nicht überliefert ist, so kann doch zumindest eine der Thesen rekonstruiert und folgendermaßen zusammengefaßt werden:185 Die Regelung der religiösen Observanz sei „ganz und gar Sache des Staates, der religiöse Glaube selbst hingegen ganz und gar Privatsache“.186 Noch weiter geht indes der Weimarer Gymnasialdirektor Karl August Böttiger (1760-1835) in seinen Erinnerungen, deren Zuverlässigkeit indes nicht zweifelsfrei vorausgesetzt werden kann. Böttiger gibt einen Bericht des Goetheschen Jugendfreundes Franz Christian Lersés (1749-1800) wieder, nach dem der kultische Dekalog bereits Gegenstand der ersten, gescheiterten Dissertationsthesen Goethes gewesen sei: In Strasburg sollte Goethe Doctor juris werden. Dazu schrieb er eine Dissertation, worin er bewies, daß die zehn Gebote nicht eigentlich die Bundesgesetze der Israeliten wären, sondern daß nach Deuteronomium zehn Zeremonien eigentlich die zehn Gebote vertreten hätten.187
Die Scheidung der Sphären von Privatheit und Öffentlichkeit spiegelt sich ebenso in der zeitgenössischen Theologie wider: Pietismus und Aufklärungstheologie kommen in ihrer Skepsis jedweder allgemeinverbindlicher Dogmatik überein, die unter Hinweis auf den Ersten Timotheusbrief unter dem Generalverdacht der „Mätologie“, des leeren Geschwätzes,
_____________ gefallen lassen mit Urteil und Recht abgesetzt zu werden.“ DjG, CD-ROM, Hervorhebung und Ergänzungen durch den Herausgeber der DjG-Ausgabe. 185 Einen Überblick über die Quellen zu Goethes Dissertationsversuch und seinem späteren Lizentiat geben Cros/Lühmann 1971. Cros und Lühmann glauben, Goethes Inauguraldissertation aus dem Brief des Pastors und den Zwo wichtigen bisher unerörterten biblischen Fragen rekonstruieren zu können, blenden allerdings dabei das „Maskenspiel“ Goethes vollkommen aus. Vgl. auch Bollacher 1969, S. 50ff. sowie die Schilderung der Geschehnisse in Dichtung und Wahrheit, die möglicherweise einer späteren Stilisierung entsprungen sind (Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 9, S. 471ff., 11. Buch). Interessant ist der Hinweis Cros/Lühmanns, die Datierung des Brieftraktats auf den 6. Februar 1773 (vgl. Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 388) verweise unmittelbar auf das Datum der Diskussion der Promotionsthesen Goethes am 6. August 1771, wenn man die „anderthalb Jahre“, die seit dem letzten Besuch des Sohnes des schreibenden Pastors vergangen seien (vgl. ebd., S. 389), vom fiktiven Briefdatum zurückrechne. Vgl. Cros/Lühmann 1971, S. 70. 186 Boyle 1999, Bd. 1, S. 130. Vgl. auch Zimmermann 1969, S. 57f. Vgl. auch Dichtung und Wahrheit: „Ich hatte mir daher in meinem jugendlichen Sinne festgesetzt, daß der Staat, der Gesetzgeber, das Recht habe, einen Kultus zu bestimmen, nach welchem die Geistlichkeit lehren und sich benehmen solle, die Laien hingegen sich äußerlich und öffentlich genau zu richten hätten; übrigens sollte die Frage nicht sein, was jeder bei sich denke, fühle oder sinne.“ Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 9, S. 472f., 11. Buch. Die Thesen Goethes scheinen den Vorstellungen zu ähneln, für die sich Johann Wolfgang Textor, Goethes Großvater mütterlicherseits, einst eingesetzt hatte. Vgl. Bollacher 1969, S. 53. 187 Böttiger, Zustände, Bd. 1, S. 60. Vgl. hierzu auch Cros/Lühmann 1971, S. 68ff.
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steht.188 Es wird der Entfaltung der individuellen religiösen Überzeugungen des Gläubigen ein so großer Freiraum gelassen, daß sich die Theologie als akademische Disziplin von der Sphäre des privaten Glaubens gleichsam abkoppelt.189 Die prägnanteste und konsequenteste Ausformulierung dieses Gedankens findet sich bei dem Radikalpietisten Johann Gottfried Arnold, der in seiner Unpartheyischen Kirchen- und Ketzerhistorie Ketzer, Sektierer und Schwärmer im Gegensatz zu jeder Form institutionalisierter Kirchlichkeit als Träger lebendiger Spiritualität erkennt und auf eine Auflösung der ekklesiologischen Grundannahmen zielt: Wahres Christentum ist demnach immer nur in der Privatheit gelebter individueller und vermeintlich häretischer Glaube; äußerlicher, öffentlich vollzogener Kult birgt den Keim der eigentlichen Häresie.190 Doch auch Neologen wie Semler greifen diese Trennung von öffentlich vollzogenem Kult und privat gelebter Gläubigkeit auf. Die Religion als lebendige Frömmigkeit wird von der Theologie als akademischer Disziplin gesondert. Diese These Semlers, unter anderem in der Abhandlung von freier Untersuchung des Canon (1771-1775) entwickelt, relativiert die Dogmen der Orthodoxie und vertieft die Trennung von öffentlicher und privater Religion.191 Nicht einmal der Pfarrer muß sich im Privaten an die öffentliche Religion halten, sofern er in der Öffentlichkeit ihren Gültigkeitsanspruch unangetastet läßt.192 Der biblische Kanon umfasse die Schriften, führt Semler aus, die im frühen Christentum zur öffentlichen Lesung bestimmt gewesen seien, davon zu trennen sei die Freiheit zur privaten Religionsausübung des einzelnen, der in seiner selektiven Lektürewahl keiner Vorgaben bedürfe.193
_____________ 188 Vgl. 1 Tim. 1,6. Vgl. hierzu Schrader 1994, S. 55f. 189 Vgl. Jørgensen/Bohnen/Øhrgaard 1990, S. 39f. u. Müsing 1977, S. 61f. Solche Ansätze finden sich auch bei Goethes Großonkel Johann Michael von Loen (1694-1776), der zwischen den wissenschaftlichen Anforderungen der akademisch-lehramtlichen Theologie und den Erfordernissen der pastoralen Praxis schroff unterschied (Die einzig wahre Religion, 1751). Da die „Schriftgelehrten [...] stets unruhige und zänkische Leute“ (Loen, Wahre Religion, Teil I, IV, § 20, S. 206) gewesen seien, solle eine Vereinigung der Kirchen kurzerhand „ohne weitere Umstände, auch allenfalls ohne Einwilligung der theologischen Facultäten“ (ebd.) durch die weltliche Obrigkeit herbeigeführt werden. Vgl. hierzu Barner 1930, S. 134ff. 190 Zu Arnolds Konzeption des „Ketzers“ vgl. Decker 2000, S. 155ff. 191 Vgl. Barth 2000, S. 92ff. 192 Vgl. Jørgensen/Bohnen/Øhrgaard 1990, S. 39f. 193 Vgl. Semler, Canon, S. 21f.: „Nach diesen ganz klaren Umständen ist es gewiß, daß die gemeine Vorstellung von der steten Einförmigkeit und Gleichheit des Canons oder des Verzeich-
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Zimmermann analysiert eine immer evidenter werdende „Distanzierung zum äußerlichen Religionsbekenntnis“194 des jungen Goethe. In diesem Zusammenhang erhellen sich auch die ‚häretischen‘ Äußerungen im Brief des Pastors, so z.B. das Bekenntnis, der Geistliche tröste sich selbst, ohne dies freilich öffentlich zu predigen, mit der seitens des kirchlichen Lehramtes verurteilten Lehre der Apokatastasis und unterscheide wohlwissend zwischen der offiziellen Dogmatik und seiner tatsächlichen Verkündigung195 Wie der Kanon der biblischen Bücher nach Semler anfangs nur für den öffentlichen Vollzug des Gottesdienstes verbindlich war und der einzelne im persönlichen Glauben die Bibel selektiv lesen darf, die „partikularen“ Regeln der Bundestafeln nur für die Israeliten galten und nach Arnold Christentum nur weit außerhalb jeder Kirchlichkeit möglich ist, so scheidet der Pastor auch für seinen eigenen Glauben zwischen Öffentlichkeit und Privatheit; öffentlich gibt er sich im wesentlichen orthodox, heterodox glaubt er privat. Die „Partikularität“, in der nach Ansicht des Geistlichen jeder Bund zwischen Gott und dem Menschen gründen müsse, kann im Lichte dieser Verweise als Individualität in der Begegnung mit Gott verstanden werden. Auf verschlungenen Wegen dringt die Kunde von Goethes Theorie zu den Bundestafeln bis zu John Adams, dem zweiten Präsidenten der Vereinigten Staaten und Vorkämpfer für eine Staatstheorie, die ihre Grenzen gegenüber dem Machtanspruch der Kirchen klar zieht. Adams erkennt die weitreichenden Implikationen und schreibt im November 1813 an Thomas Jefferson, der ihm als dritter Präsident nachgefolgt war: Have you ever met a book, the design of which is to prove, that the ten Commandments as we have them in our catechisms and hung up in our churches were not the ten Commandments written by the Finger of God upon tables and broken by him in a passion with Aaron for his golden calf nor those afterwards
_____________ nisses der öffentlichen heiligen Schriften der Christen ohne Grund und historische Richtigkeit seie, wenn sie anders verstanden wird, als daß es eine Verabredung für die öffentliche Gesellschaft und öffentliche Übung der Religion gewesen seie, woran einzelne nachdenkende Christen sich nicht stets gebunden haben; <wie die besondere Religionsausübung freilich unter der öffentlichen zwar begriffen, aber davon in der Reihe der Vorstellungen und der eigenen Beschäftigung des Gemüts sehr verschieden sein kann.>“; die spitzen Klammern markieren in der Semler-Edition Scheibles Zusätze der zweiten, 1776 erschienen Ausgabe. Der Theologiehistoriker Hirsch bemerkt zu Sätzen wie diesen, Semlers Sprache sei „wohl das schlechteste Deutsch, das je ein Deutscher von geistigem Rang geschrieben“ habe. Hirsch 1949ff., Bd. 4, S. 50. 194 Zimmermann 1969ff., Bd. 1, S. 58. 195 Vgl. Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 378.
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engraved by him on tables of stone, but a very different set of Commandments? There is such a book by Johann Wolfgang Goethe! I wish to see this book.196
Goethe läßt seinen Landgeistlichen durch Streichungen und Hervorhebungen aus dem 34. Kapitel des Zweiten Buches Moses einen „kultischen Dekalog“ kompilieren. Ohne daß Goethes Beitrag den Gang der Forschung nachweislich beeinflußt hätte, decken sich das Ergebnis seiner philologisch-exegetischen Arbeit mit den Erkenntnissen der späteren Pentateuchforschung.197 Die Vorgehensweise des Geistlichen zeigt eine souveräne Beherrschung des Quellentextes, aus dem er durch Gliederung, Dekomposition und Hervorhebung den Katalog kultischer Gebote kompiliert, der als Inhalt der steinernen Tafeln, der ursprünglichen wie der erneuerten, angenommen werden müsse. Daß diese souveräne Arrangierung des Textes frei von orthodoxem Biblizismus und der Voraussetzung einer verbalen Inspiriertheit des Textes ist, deuten bereits die textkritischen Bemerkungen zum Buch Deuteronomium und der schnoddrige Tonfall der Exodusparaphrasen an: Lapidar stellt der Briefautor fest, der „Verfasser des fünften Buchs Mosis“ sei wohl „zu erst in den Irrthum“198 verfallen, den ethischen Dekalog als Inhalt der Tafeln zu verstehen, um anschließend das gesamte fünfte Buch Mose in seinem Quellenwert in Zweifel zu ziehen: Es ist wahrscheinlich, und ich glaube es irgendwo einmal gelesen zu haben, daß dieses Buch in der Babylonischen Gefangenschaft aus der Tradition zusammengestoppelt worden sey.199
So sehr jedoch der Pastor eine kritische Distanz zum Text beweist und ihm mit dem Instrumentarium der exegetisch-philologischen Textkritik begegnet, so vereinfachend wäre es, den Landgeistlichen der historischkritisch verfahrenden Schule zuzuordnen. Mit der historisch-kritischen Maxime unvoreingenommenen Gegenübertretens unvereinbar, geht der Briefsteller von einer klaren Hypothese aus: Anstatt ergebnisoffen histo-
_____________ 196 Zit. n. Kommentar zu Zwo biblische Fragen, GA, Bd. 4, S. 1018. 197 Vgl. z.B. Galling 1948ff, S. 531 u. ähnlich Kommentar zu Zwo biblische Fragen, F-L, Bd. 3, S. 448, sowie Schottroff 1985, S. 119. Koopmann relativiert hingegen eher die Bedeutung der Thesen Goethes und urteilt, seine Überlegungen seien „bloße Spekulationen, wenngleich er mit der Frage nach der wirklichen Überlieferung der Mosaischen Gesetze ein Problem behandelt, das später in der Theologie Beachtung finden sollte“. Koopmann 1998, S. 531. Eine detaillierte Einordnung der Thesen Goethes in die theologische Forschungsgeschichte gibt Eißfeldt 1966. Zum Einfluß der Thesen Goethes auf Julius Wellhausens (1844-1918) Exodusforschungen vgl. Levinson 2002. 198 Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 393. 199 Ebd.
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rische Textschichtungen freizulegen, nähert er sich dem Text induktiv in der „Meynung: hier sey so wenig particulares als dort universelles zu vermuthen und zu deuten“200, die er sich am Exodusbuch bestätigen läßt. Daneben ist der Beweisführung ein deutlicher intuitiver Zug eigen, der jenseits der kritischen Freilegung historischer Textschichtungen von einer angenommenen Prämisse ausgeht. Zwischen der in der Einleitung verworfenen, „zu universal[en]“ Exegese secundum analogiam fidei und „der entgegen gesetzten Thorheit“ „kalter Reduction“ und anmaßenden Zurechtstutzens des Bibelwortes („widrige Stellen zu Lokalkleinigkeiten zu drechseln“) wählt der Geistliche tatsächliche eine „Mittelstraße“, die als weithin methodisch unreflektiert und heuristisch zweifelhaft erscheint.201 Diese Herangehensweise spiegelt den persönlichen „Lebens- und Amtsgange“ des Briefschreibers, wie er mit wenigen Strichen gezeichnet wird: Studium der lutherisch-orthodoxen Exegese, Erkenntnis „vieler Inconvenienzien und Anstöse“ im Geiste aufklärerischer Textkritik und schließlich Verwurzelung in einer pietistisch geprägten Pastoralpraxis, für die Erkenntnis als gnadenhaft erfahren wird:202 Was kann einem Geistlichen zwar angelegener seyn als die Auslegung der Sammlung Schriften, woran sein zwiefaches Leben hängt; mit allem dem hab ich mich nie genug über Männer wundern können, die sich hinsetzen ein ganzes Buch, ja viele Bücher unsrer Bibel, an einem Faden weg zu exegesiren, da ich Gott danke, wenn mir hier und da ein brauchbarer Spruch aufgeht, und das ist wahrhaftig alles was man nöthig hat.203
„Andere Frage. Was heißt mit Zungen reden?“: Glossolalie statt Prophetie „Auch das Neue Testament war vor meinen Untersuchungen nicht sicher“204, schreibt der alte Goethe über die zweite der beiden „unerörterten biblischen Fragen“ und deutet so in Dichtung und Wahrheit ironische Distanz zu seinen jugendlichen Bibelstudien an. Thema des zweiten Teils
_____________ 200 201 202 203 204
Ebd., S. 390. Vgl. ebd., S. 389f. Vgl. ebd. Ebd., S. 388. Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 9, S. 511, 12. Buch.
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des Traktates ist die Glossolalie205, die Zungenrede, wie sie im Neuen Testament geschildert wird.206 Die selbst gestellte Frage, „Was heißt mit Zungen reden?“207, läßt Goethe seinen Landgeistlichen wiederum umgehend beantworten: „Vom Geist erfüllt, in der Sprache des Geists, des Geists Geheimnisse verkündigen.“208 Diese Erklärung, die der Pfarrer für die Glossolalie gibt, stammt, wie im Text vermerkt, von Diodorus Siculus.209 Der sizilianische Verfasser der Historischen Bibliothek, deren Monumentalität die Geschichte von den Anfängen bis zu den Kriegszügen Caesars umfassen soll, konnte seine Ausführungen gar nicht im Hinblick auf die Zungenrede der Apostel oder der Mitglieder der Urgemeinden geäußert haben, weil er noch vor der Zeitenwende starb. Diodorus äußert seine Definition in einem gänzlich anderen religionsgeschichtlichen Zusammenhang und bezieht ihn auf die heidnische orakelspendende Sibylle.210 Bemerkenswert an der Argumentation, die Goethe seinem fiktiven Geistlichen in die Feder diktiert, ist zunächst der Ansatz, die Zungenrede aus dem spezifischen frühchristlichen Kontext in den Bereich des allgemein Religiösen zu überführen. Der Verweis auf Diodorus und damit
_____________ 205 Glossolalie, Glossenrede oder Zungenrede, bezeichnet das wiederholt im Neuen Testament erwähnte und ebenso in anderen Religionen bezeugte Phänomen „eingegebenen“ Sprechens. Im Unterschied zur Prophetie, die als göttliches Sprechen durch das Medium eines Menschen begriffen wird, äußert sich die Glossolalie in unverständlichen Lauten, die sich nur dem inspirierten Sprecher oder einem gleichfalls inspirierten „Werkzeug“ als sinnvoll erschließen. Paulus setzt sich im ersten Brief an die Korinther, die in ihrer Gemeinde die Zungenrede auf besondere Weise pflegten, mit der Glossolalie eingehend und kritisch auseinander. Vgl. 1 Kor 14. Durch ihren geringen Nutzen für die Gemeinde, der ein unmittelbares Verständnis des „eingegebenen“ Sprechens verschlossen ist, ordnet er die Glossolalie der Prophetie nach. Vgl. auch Gewiess 1957ff. 206 Vgl. Apg. 2,4ff.: „Alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab.“ Zit. n. Einheitsübersetzung. Vgl. auch Apg. 10,46;19,6; Mk. 16,17 u. 1 Kor. 14. 207 Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 393. 208 Ebd., S. 394. 209 Der Landgeistliche selbst versieht diese Paraphrase mit einer Fußnote, in der er gesteht, nicht zu wissen, „wer eigentlich der Diodorus war“ (Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 394, Fußnote „l“), und gibt an, ihn in Johann Albert Fabricius’ Biblioteca graeca (Bd. 1, S. 24, Hamburg 1708) gefunden zu haben. Dort findet sich tatsächlich die Bemerkung „Addit Diodorus, Daphnen istam propter oracula, quae numine afflata funderet, Sibyllam appellatam“ (Fabricius, Bibliotheca graeca, Bd. 1, S. 19; zitiert nach der Ausgabe aus dem Jahr 1790) sowie das vom Geistlichen angeführte und frei übersetzte Zitat. 210 Vgl. Schottroff 1985, S. 114. In der deutschen Übersetzung Wurms (1829) lautet die Passage Diodorus’: „Weil sie oft im Zustande der Begeisterung Orakel ausgesprochen, habe sie den Beinamen Sibylle erhalten; begeistert seyn heiße nämlich nach einem selteneren Ausdruck sibyllainein“. Zit. n. Schottroff 1985, S. 131, Fußnote 22.
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auf Glossolalie vor Entstehen des Christentums impliziert bereits, daß dieses Phänomen zeitlich nicht, wie von der lutherischen Orthodoxie vertreten, auf die Urgemeinde eingegrenzt werden könne, und deutet mit dieser Öffnung der Perspektive an, daß ebenso eine inspirierte Zungenrede nach der Zeit der Apostel vorstellbar sei.211 Mit dieser Implikation einer zeitübergreifenden Permanenz pneumatischen Sprechens weisen die Zwo wichtigen bisher unerörterten biblischen Fragen auf die scharfe Kirchenkritik, die, wie zu zeigen sein wird, unter der Oberfläche einer exegetischen Detailfrage transportiert wird. Die Herleitung dieser Erklärung beruft sich ganz auf die Bibel als einzig verbindliche Autorität. Der Geistliche verwebt verschiedenste Bibelzitate und Bibelparaphrasen mit eigenen Kommentaren und Auslegungen einzelner Bibelworte. Die textliche Grundlage dieser Herleitung ist dabei vor allem die Schilderung des pfingstlichen Sprachenwunders (im zweiten Kapitel der Apostelgeschichte), das der Geistliche als Fall von Zungenrede deutet, und die paulinische Warnung vor dem übertriebenen Gebrauch der Glossolalie im 14. Kapitel des Ersten Briefes an die Korinther. Zur Kernthese seiner Exegese der Pfingstperikope erhebt der Geistliche, wie der Rezensent der Frankfurter Gelehrten Anzeigen bündig zusammenfaßt, daß die verzückte Rede an Pfingsten soll keine Gabe gewesen seyn, allerley fremde und wirklich existirende Sprachen sprechen zu können, sondern der Geist Gottes soll die Apostel eine gewisse vorher nirgends existirende, noch nie erfundene, allgemeine, einfache Sprache gelehrt haben […].212
Ganz im Sinne der bereits aufgezeigten dichotomischen Argumentationsstruktur in der Vorrede und bei der Behandlung der ersten Frage legt Goethe auch der Beantwortung der zweiten Frage einen kontrastiven Gedankengang zugrunde. Der Geistliche paraphrasiert die Apostelgeschichte und vertieft dabei die im biblischen Original nur angedeutete Spaltung der Zeugen des Pfingstwunders zu einem prinzipiellen Gegensatz zwischen „fühlbaren Seelen“ und „schlechten Menschen“ mit „kalten Herzen“:213
_____________ 211 Zum orthodoxen Glossolalieverständnis vgl. Schneider 1995, S. 73. Das orthodoxe Historische Kirchen- und Ketzer-Lexicon (1758) bezeichnet mit dem Vorwurf der Scharlatanerie denn auch die glossolalisch inspirierten Pietisten als „Leute, die […] unmittelbare Eingebung von GOtt vorgeben“. Mehlig, Lexicon, Artikel „Inspirirte“, Bd. 1, S. 808. 212 FGA, Nr. 83, 15. Oktober 1773, S. 691 (Rezension zu Zwo biblische Fragen und Brief des Pastors). Vgl. Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 394. 213 Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 394.
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Der verheissene Geist erfüllt die versammelten Jünger mit der Kraft seiner Weisheit. Die göttlichste Empfindung strömt aus der Seel in die Zunge, und flammend verkündigt sie die grosen Thaten Gottes in einer neuen Sprache und das war die Sprache des Geistes. [...] Es waren aber nicht allen die Ohren geöffnet zu hören, nur fühlbare Seelen nahmen an dieser Glückseligkeit theil; schlechte Menschen, kalte Herzen, stunden spottend dabey und sprachen: sie sind vol süsen Weins!214
Die den Text durchziehende Dichotomie von Verständnis und Unverständnis, Innerlichkeit und Äußerlichkeit, lebendiger Spiritualität und bloßer Dogmatik wird bei der Betrachtung der Pfingstgeschehnisse weitergeschrieben. In der Apostelgeschichte scheinen jedoch nur vereinzelte Zuhörer dem Geschehen unverständig gegenübergestanden zu haben; der Gegensatz zwischen verständigen, „fühlbare[n] Seelen“ und unverständigen, „schlechte[n] Menschen“ stellt so eine Verzerrung des Originaltextes dar, in dem es heißt: Alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab. In Jerusalem aber wohnten Juden, fromme Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. Als sich das Getöse erhob, strömte die Menge zusammen und war ganz bestürzt; denn jeder hörte sie in seiner Sprache reden. Sie gerieten außer sich vor Staunen und sagten: Sind das nicht alles Galiläer, die hier reden? Wieso kann sie jeder von uns in seiner Muttersprache hören [...] Alle gerieten außer sich und waren ratlos. Die einen sagten zueinander: Was hat das zu bedeuten? Andere aber spotteten: Sie sind vom süßen Wein betrunken.215
Nach der biblischen Schilderung scheinen zunächst alle ergriffen und vom Geist erfüllt zu sein, lediglich eine kleine Gruppe, auf die nicht weiter eingegangen wird, spottet über die Apostel; die Paraphrase des Geistlichen hingegen suggeriert eine genau umgekehrte Proportion:216 „Es waren aber nicht allen die Ohren geöffnet zu hören, nur fühlbare Seelen nahmen an dieser Glückseligkeit theil“217. Der Geistliche verkehrt die Proportionen nicht allein um größerer Plastizität willen oder aus homiletisch-pädagogischen Überlegungen, vielmehr verzerrt er die Bibel bewußt, um die Paraphrase seiner theologischen
_____________ 214 Ebd. 215 Apg. 2,4-13 zit. n. Einheitsübersetzung. 216 Den Vorwurf der Trunkenheit unter Anspielung auf Apg. 2,13 legt Goethe in einem Brief an Schönborn auch den Rezensenten von Herders Aeltester Urkunde des Menschengeschlechts, deren uninspirierte Kritik er vorherzusehen zu können glaubt, in den Mund: „Aber ich höre das Magister Volck schon rufen: er ist voll süsen Weins“. Briefe, WA, 4. Abt., Bd. 2, S. 173 (an Gottlob Friedrich Ernst Schönborn, 1. Juni bis 4. Juli 1774). 217 Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 394.
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Aussageabsicht dienstbar zu machen. Die Proportionierung in seiner Paraphrase läuft auf ein ‚exklusiveres‘ Verständnis des Heilsgeschehens heraus, bei dem die – pietistisch gesprochen – ‚Erweckung‘ als Gnade der Wenigen und nicht als Erlösung der Vielen erscheint. Es ist nicht der ganzen Menschheit gegeben, Christi Wort zu vernehmen, sondern einzig den Erwählten, denen besondere Gnade zuteil wurde, öffnen sich die Ohren für die glossolalische Verkündigung. Die Gegenüberstellung von hermeneutisch tauben Unverständigen und begnadeten Verständigen spiegelt damit die hermeneutischen Kategorien wieder, die auch die expositive Selbstvergewisserung der eigenen „Fühlbarkeit“ des Briefstellers und seine Abgrenzung gegenüber dem Sohn markieren. Auf subtile Weise liegen dieser verzerrenden Paraphrase der Apostelgeschichte pietistische Gedanken zugrunde, wie sie Johann Gottfried Arnold radikal in seiner Unpartheyischen Kirchen- und Ketzerhistorie (16991700) zum Ausdruck gebracht hat. Zumindest in der Tendenz folgt der Geistliche einem Religionsverständnis, daß „innerliches wahres Christenthum“218 nur bei einigen einzelnen Christen findet, die darüber zwangsläufig seitens der „verfallenen Clerisey“219 in den Ruf der Ketzerei geraten. Die bereits in der Exposition durch die kontrastive Figurenkonstellation (Vater vs. Sohn) angedeutete Gegenüberstellung wird also auch innerhalb der eigentlichen Untersuchung fortgeschrieben. So bezeichnet der Geistliche z.B. die Sprache des Geistes, in der die Apostel zu Pfingsten sprechen (Apg. 2,4), als „einfache, allgemeine Sprache, die aufzufinden mancher grose Kopf vergebens gerungen“220 habe, und greift damit den antirationalistischen Reflex der Einleitung wieder auf. Der Pastor entwickelt eine Deutung der Zungenrede, die der Glossolalie die Funktion eines sichtbaren Erweises der Wiedergeburt eines Christen zuschreibt, die sich im ekstatisch-pneumatischen Ausnahmezustand vollzieht: Kam in der Folge der Geist über eine Seele, so war das Aushauchen seiner Fülle, das erste nothwendigste Athmen eines so gewürdigten Herzens. Es floß vom Geiste selbst über, der so einfach wie das Licht, auch so allgemein ist, und nur wenn die Wogen verbraust hatten, floß aus diesem Meere der sanfte Lehrstrom zur Erweckung und Aenderung der Menschen.221
_____________ 218 219 220 221
Arnold, Geschichte, Bd. 1, S. 17. Ebd. Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 394. Ebd., S. 395.
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Nachdem der Verfasser des Briefes zunächst die Geschehnisse des Pfingstwunders nach der Apostelgeschichte, wenngleich nicht getreu, paraphrasiert hat, bezieht er sich hier auf den ersten paulinischen Brief an die Gemeinde in Korinth, in dem sich Paulus (Kap. 12-14) u.a. mit den verschiedenen Charismen, den „Gaben des Geistes“222, auseinandersetzt. Paulus grenzt darin das Charisma der unmittelbar verständlichen Prophetie von der Gabe der zunächst unverständlichen Glossolalie ab, der herausragende Bedeutung zuzumessen die Gemeinde von Korinth im Ruf stand.223 An diese Opposition knüpft der Briefschreiber an, wie die Fußnote des Originaltextes belegt, die den „sanften Lehrstrom“ als das „προφητευειν“224 (prophetisches Sprechen) näher bestimmt, das Paulus im 14. Kapitel des Korintherbriefes beständig dem „γλοσσαις λαλειν“ (Zungensprechen) gegenüberstellt:225 „Wer in Zungen redet, erbaut sich selbst; wer aber prophetisch redet, baut die Gemeinde auf.“226 Diese paraphrasierende Übersetzung des Korintherbriefes birgt, wie zu zeigen sein wird, eine weitreichende Umdeutung der Prophetie, die vom Geistlichen nicht mehr als eines der geistgewirkten Charismen vorgestellt, sondern gleichsam als Kontrastfolie zu einer sich aus lebendiger Spiritualität speisenden Religiosität herangezogen wird. In der sprachlichen Markierung der Zungenrede als brausenden Wogens gegenüber einem eher schwächlich dahinfließenden „sanften Lehrstrom“ deutet sich bereits eine Konnotierung an, die der Glossolalie urkräftige, unkontrollierte Inspiration zuspricht, an der gemessen die Prophetie normverhaftet und wie von minderem Charisma erscheint. Die pädagogisch wirkende Prophetie, die auf „Erweckung und Aenderung der Menschen“ aus ist, erscheint als das wenig inspirierte, pedantische Pendant der „heiligsten tiefsten Empfindung“227 der Zungenrede, die als gesteigerter Zustand der Inspiration vorgestellt wird. Die Eingangsbetrachtungen über Partikularität und Universalität aufgreifend, wird diese Umkehrung der paulinischen Wertung noch deutlicher. Die Prophetie als intersubjektiv verständliches Charisma läßt sich innerhalb der Opposition eindeutig der Universalität, die Glossolalie als idiosynkratische Offenbarung klar der Partikularität zuordnen, in der das als eigentlich verstandene Verhältnis
_____________ 222 223 224 225 226 227
1 Kor. 12,1 zit. n. Einheitsübersetzung. Vgl. Gewiess 1957ff., Sp. 972f. Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 395, Fußnote „r“. Vgl. Schrage 1999, S. 382ff. 1 Kor. 14,4 zit. n. Einheitsübersetzung. Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 395.
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des Menschen zu Gott, wie der Geistliche in Einleitung und Beantwortung der ersten Frage darlegt, grundgelegt werden muß.228 Bereits der Geistliche des Briefs des Pastors evoziert diesen paulinischen Gegensatz von Prophetie und Glossolalie und läßt letztere als normative Verhärtung erscheinen. Die ursprünglich lebendig waltende und erbaulich wirkende Inspiration (Glossolalie) sei nach und nach zum uninspirierten Gesetz (Prophetie) erstarrt: Aber das waren unaussprechliche Empfindungen, die sie wohl im Anfang zur gemeinschaftlichen Erbauung einander communicirten, die aber leider nachher zum Gesetz gemacht wurden.229
Mit der Opposition von Glossolalie und Prophetie übernimmt der Briefschreiber der Zwo biblischen Fragen auch die Begrifflichkeiten von „πνευμα“ (Geist) und „νους“ (Verstand), die Paulus den beiden Geistesgaben zuordnet (Glossolalie/Pneuma vs. Prophetie/Nous).230 Des Geistlichen Präferenz für die Glossolalie gegenüber der Prophetie wird so bestätigt, wenn er in seinem Ausruf „πνευμα! πνευμα! was wäre νους ohne dich!“231 den Zustand der Verstandesbegabung ohne Hinzutreten der Geistbegabung als unzureichend hinstellt. Ohne die Provokation zu explizieren, kehrt der Landgeistliche die Grundaussage des 14. Kapitels des Ersten Korintherbriefes genau um: Legt Paulus dar, warum das Charisma der Prophetie dem der Glossolalie, zumindest in der gottesdienstlichen Praxis, vorzuziehen sei, so gibt der Verfasser der Zwo wichtigen bisher unerörterten biblischen Fragen eindeutig der Zungenrede den Vorzug vor der Prophetie. Wiederum verzerrt er bei seinen Bibelparaphrasen den Sinn des Bezugstextes, um die heterodoxe Provokation im Ton orthodoxer Homiletik daherkommen zu lassen. Als kontrastierte Paulus nicht zwei unterschiedliche Charismen, deren Verbundenheit und Bezogenheit aufeinander er umfänglich ausbreitet (12. Kapitel), suggeriert der Briefsteller, der Apostel stelle die glossolalische Inspiration dem nüchternen, uninspirierten Verstand gegenüber und ordne diesen hinsichtlich des Grades des empfangenen Pneumas der Zungenrede nach:
_____________ 228 Vgl. ebd., S. 393: „Wie gerne wirft man den beschwerlichen alten Irrthum weg: es habe der partikularste Bund auf Universalverbindlichkeiten [...] gegründet werden können.“ 229 Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 384. 230 Vgl. etwa 1 Kor. 14,14 zit. n. Einheitsübersetzung.: „Denn wenn ich nur in Zungen bete, betet zwar mein Geist, aber mein Verstand bleibt unfruchtbar.“ 231 Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 395.
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Die Entwicklung pneumatischer Hermeneutik und Produktionsästhetik
Paulus setzt die zur Empfindung des Geists bewegte Seele dem ruhigen Sinn entgegen, nebeneinander vielmehr, nacheinander!232
Die Position Pauli, der im paraphrasierten Kapitel des Korintherbriefes stolz auf seine eigene glossolalische Begabung verweist – „Ich danke Gott, daß ich mehr als ihr alle in Zungen rede“233 – und nur Vorbehalte gegen die unverständliche Zungenrede im gottesdienstlichen Rahmen vorbringt, wird so in die Nähe der „wohlgekleideten Personen“ und „theologische[n] Kameralisten“234 gerückt, deren geistlose, erstarrte Theologie als Folie fungiert, vor der sich das ungestüm waltende Pneuma abhebt. Die Umkehrung der paulinischen Skepsis gegenüber der Glossolalie ist plausibel innerhalb der Theologie des aus den Zeilen hervortretenden pietistischen Pfarrers und zumal auch vor dem Hintergrund der im Brief des Pastors umrissenen Vorstellungen einer auf radikale Subjektivität bedachten Religionskonzeption. Paulus legt bei der Bewertung des liturgischen Wertes der beiden Charismen von Glossolalie und Prophetie das Kriterium des Nutzens, verstanden als Erbaulichkeit (oikodome), für die Gemeinde an: „Alles geschehe so, daß es aufbaut.“235 Dieses Kriterium angelegt, fällt seine Bewertung von prophetischer und glossolalischer Rede im Gottesdienst eindeutig aus: Strebt aber auch nach den Geistesgaben, vor allem nach der prophetischen Rede! Denn wer in Zungen redet, redet nicht zu Menschen, sondern zu Gott; keiner versteht ihn: Im Geist redet er geheimnisvolle Dinge. Wer aber prophetisch redet, redet zu Menschen: Er baut auf, ermutigt, spendet Trost.236
Diesen Nutzen einer gemeinschaftlichen Erbaulichkeit kann eben nur ein Charisma erweisen, das die Möglichkeit der intersubjektiven Vermittelbarkeit birgt. Wenn Paulus also auch dankbar für seine eigene glossolalische Begabung sei, so wolle er doch „vor der Gemeinde [...] lieber fünf Worte mit Verstand reden […], als zehntausend Worte in Zungen stammeln.“237 Insofern die glossolalische Rede zunächst nur, wenn denn überhaupt,
_____________ 232 Ebd. 233 1 Kor. 14,18 zit. n. Einheitsübersetzung 234 Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 396. Der Begriff der „theologische[n] Kameralisten“ greift die Bestimmung des Christen als „Verwalter von Geheimnissen Gottes“ (1 Kor. 4,1 zit. n. Einheitsübersetzung) auf, die Paulus an anderer Stelle im Ersten Korintherbrief gibt. Diesen „theologischen Kameralisten“ wird – unter Rückgriff auf dieselbe Korintherpassage – die positiv konnotierte Gruppe der „Haushalter im Verborgnen“ gegenübergestellt. Vgl. Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 396. 235 1 Kor. 14,26 zit. n. Einheitsübersetzung; vgl. auch 12, 7. 236 1 Kor. 14,1-3 zit. n. Einheitsübersetzung. 237 1 Kor. 14,19 zit. n. Einheitsübersetzung.
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subjektiv dem Glossolalen verständlich ist und, um intersubjektiv vermittelbar zu werden, eines Übersetzungsaktes bedarf, erscheint sie gegenüber der prophetischen Rede, die kommunikabel und der Gemeinde unmittelbar verständlich sei, im Rahmen der Liturgie defizitär.238 Der Landgeistliche schiebt einen längeren, durch Anführungszeichen als Pauluszitat gekennzeichneten Absatz ein, der diese Ablehnung pneumatischen Sprechens durch den Apostel belegen soll. Was er jedoch als geschlossenes, fortlaufendes Zitat anführt, stellt sich als eine Kompilation nicht unmittelbar aufeinander folgender Paulusverse heraus:239 Goethe: Zwo biblische Fragen
1 Kor. 14
“Der wie ihr mit der Geistssprache redet, redet nicht den Menschen, sondern Gott; denn ihn vernimmt niemand; er redet im Geist Geheimnisse. So ich mit der tiefen Sprache bete, betet mein Geist, mein Sinn bringt niemanden Frucht. Dieses Reden ist nur ein auffallendes, Aufmerksamkeit erregendes Zeichen für Ungläubige, keine Unterweisung für sie, keine Unterhaltung in der Gesellschaft der Gläubigen.“240
[2] Denn wer in Zungen redet, redet nicht zu Menschen, sondern zu Gott; keiner versteht ihn: Im Geist redet er geheimnisvolle Dinge. [14] Denn wenn ich nur in Zungen bete, betet zwar mein Geist, aber mein Verstand bleibt unfruchtbar. [22] So ist Zungenreden ein Zeichen nicht für die Gläubigen, sondern für die Ungläubigen, prophetisches Reden aber ein Zeichen nicht für die Ungläubigen, sondern für die Glaubenden.241
Die Auslassungen dieser Kompilation, die übersprungenen Verse des Korintherbriefes, lassen die Verengung der paulinischen Präferenz für die Prophetie gegenüber der Glossolalie im gottesdienstlichen Gebrauch zu einer prinzipiellen Ablehnung der Zungenrede, wie der Pastor sie hier suggeriert, deutlich hervortreten. Die differenzierte Argumentation des Apostels, der dem Reden in Zungen große Bedeutung, vor allem auch in seiner Funktion als Beweis der christlichen Charismen Ungläubigen gegenüber, zumißt, wird so buchstäblich verkürzt und der Aussageabsicht
_____________ 238 Vgl. Schrage 1999, S. 376f. u. S. 384 sowie Wolff 1996, S. 328. Folgerichtig gesteht Paulus auch der Glossolalie hohen gottesdienstlichen Nutzen zu, sofern sie durch den Zungenredner selbst oder eine dritte, ebenfalls geistbegabte Person übersetzt wird. Vgl. 1 Kor. 14, 27f. 239 Der Kommentar der Münchner Ausgabe erkennt überdies Verweise auf die Verse 4 und 9 des entsprechenden Kapitels des Korintherbriefes, die sich so jedoch nicht nachweisen lassen. Vgl. Kommentar zu Zwo biblische Fragen, MA, Bd. 1.2, S. 852. 240 Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 396. 241 1 Kor. 14, 2;14 u. 22 zit. n. Einheitsübersetzung.
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eines Antagonismus von einerseits geistbegabter, lebendinger und andererseits geistloser, erstarrter Religiosität dienstbar gemacht.242 Der religiöse Individualismus des Pastors betrachtet die Charismen nicht mehr unter der liturgischen und somit kollektiven Perspektive des Apostels, sondern kann nur noch seine eigene Erbauung zum Maßstab erheben, an dem gemessen die unverständliche Glossolalie in ihrer subjektivistischen Idiosynkrasie dem hermeneutischen Ziel des nur individuell erfahrbaren sensus mysticus näherzukommen imstande ist als die zur Banalität abgewertete Prophetie. Der Umwertung von Glossolalie und Prophetie in den Zwo wichtigen bisher unerörterten biblischen Fragen liegt der Paradigmenwechsel zugrunde, der zwischen der intersubjektiven Kollektivität des auf liturgischen und institutionellen Halt der Kirche bedachten Apostels und der subjektivistischen Individualität des pietistischen Geistlichen klafft. Goethe läßt seinen Geistlichen Paulus und dessen Wirken als kirchengeschichtlichen Wendepunkt interpretieren, der das Umschlagen eines aus lebendiger Spiritualität gespeisten pneumatischen Urchristentums in eine normsetzende, institutionalisierte Kirchlichkeit markiert und, im Lichte der ekklesiologischen Prämissen eines Johann Gottfried Arnold betrachtet, gleichsam den kirchengeschichtlichen Sündenfall ausmacht. Der spirituelle Solipsismus, der Paulus vor dem übermäßigen Gebrauch der Glossolalie im Gottesdienst warnen läßt, wird für den Pietisten zum Ideal, das gerade in der radikalen Subjektivität und ihrer objektiven Unzugänglichkeit seine Authentizität verbürgt. Der Landgeistliche gesteht ein, es sei bereits „zu Paulus Zeiten [...] diese Gabe“ der Zungenrede „in der Gemeine gemißbraucht“ worden, wogegen sich zu Recht „Paulus mit allem Ernst in dem vierzehnten Kapitel der ersten Epistel an die Korinthische Gemeinde“243 gewandt habe. Doch schwingt noch in der empathischen ‚Nachfühlung‘, wie es zu dieser ungeeigneten, da artifiziell herbeigeführten Glossolalie habe kommen können, deutlich erkennbare Sympathie für die Randbereiche spirituellen Schwärmertums mit: Bei der Zungenrede dränge die „Fülle der heiligsten tiefsten Empfindung [...] für einen Augenblick den Menschen zum überirdischen Wesen“, „Leben und Licht“ flamme die Zunge des solchermaßen Begnadeten „aus den Tiefen der Gottheit“244. Und doch könne sich der Zungenredner, so sehr er sich anstrenge, nicht auf dieser
_____________ 242 Vgl. die ausgelassenen Verse 1 Kor. 14,3-13;15-21 u. 23ff. 243 Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 395. 244 Ebd.
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„Höhe der Empfindung“245 halten. Mit aller Kraft suche er danach, das einmal Erlebte wieder zu erleben – in dieser Situation entspinne sich der verständliche Mißbrauch der Glossolalie, den der Pfarrer durch den Vergleich der Zungenrede mit dem Lauf eines Flusses veranschaulicht: Wie aber jede Quelle, wenn sie von ihrem reinen Ursprung weg durch allerley Gänge zieht, und vermischt mit irdischen Theilen zwar ihre selbstständige innerliche Reinigkeit erhält, doch dem Auge trüber scheint, und sich wohl gar zuletzt in einen Sumpf verliert. So giengs hier auch.246
Die nunmehr nur noch spärlich und untergründig fließende Strömung werde zu stauen versucht, um sie zum alten, gewaltigen Strom neuerlich anwachsen zu lassen. Der Geistliche wählt hier zum Verständnis der Heiligen Schrift einen homiletischen Ansatz, der den biblischen Geschehnissen über den Weg der empathischen Immedesimation in die Psyche der Beteiligten näherzukommen sucht: Sie verschlossen sich in sich selbst, hemmten den reinen Fluß der Lebenslehre um die Wasser zu ihrer ersten Höhe zu dämmen, brüteten dann mit ihrem eignen Geiste über der Finsterniß und bewegten die Tiefe. Vergebens! Es konnte diese geschraubte Krafft nichts als dunkle Ahndungen hervordrängen, sie lallten sie aus, niemand verstund sie, und so verdarben sie die beste Zeit der Versammlung.247
Der Pastor deutet also die Passage des Korintherbriefes, in der Paulus sich gegen den übertriebenen Gebrauch der Zungenrede in der korinthischen Gemeinde wendet, in eine allgemeine Warnung vor der Zungenrede um, die als unkontrollierbares Geistwirken seit je den Argwohn einer auf Normierung und Institutionalisierung bedachten Theologie auf sich habe ziehen müssen. Als Exponent dieser erstarrten Kirchlichkeit wird Paulus gezeichnet, der so vom pneumatischen Glossolalen, als den er sich selbst vorstellt, zum argwöhnischen Kirchenfürsten umgedeutet wird.248
_____________ 245 246 247 248
Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. auch die Spitzen gegen institutionalisierte Kirchlichkeit im Fragment gebliebenen Versepos Des ewigen Juden, erster Fetzen, die neuerlich das Umkippen pneumatischen Urchristentums in starre und zugleich dekadente Kirchenordnung – wenngleich hypothetisch – am Beispiel Pauli explizieren: „Und ich schwöre bey meinem Leben/ Hätte man Sanckt Paulen ein Bisstum geben,/ Pollrer wär worden ein fauler Bauch/ Wie coeteri confratres auch.“ Ewige Jude, DjG, Bd. 2, S. 158. Wie der Pastor die Beantwortung seiner zweiten „biblischen Frage“ in der polemischen Karikierung einer kleinmütig um Domestizierung jeder lebendigen Spiritualität bemühten Kirchlichkeit gipfeln läßt, so beendet Paulus seine Betrachtung der Charismen im 14. Kapitel des ersten Korintherbriefes tatsächlich mit dem betulich erscheinenden Aufruf zu „Anstand und Ordnung“, die auch noch in der pneumatischen Ekstase gelten mögen: „Strebt also nach der Prophetengabe,
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Goethe lehnt sich bei der Darstellung des geschichtlichen Schicksals der Zungenrede deutlich an Herders Gedanken zur Entwicklung der Sprache und Literatur an. Von einem naiven und unverfälscht vitalen Stadium sieht Herder (Ueber die neuere Deutsche Litteratur, 1767) die Sprache in ihrer Geschichte in immer vernünftigere, aber auch formalisiertere Bahnen münden. In dieser frühen Phase der Sprachentwicklung, in der „Sprache in ihrer Kindheit“, die ob der noch weithin unentfalteten verbalen Möglichkeiten Gebärden zur Hilfe nehme, drängten Leidenschaften und Empfindungen ungestüm zum Ausbruch: Eine Sprache in ihrer Kindheit bricht wie ein Kind, einsylbichte, rauhe und hohe Töne hervor. [...] Töne und Geberden sind Zeichen von Leidenschaften und Empfindungen, folglich sind sie heftig und stark: ihre Sprache spricht für Auge und Ohr, für Sinne und Leidenschaften: sie sind größerer Leidenschaften fähig, weil ihre Lebensart voll Gefahr und Tod und Wildheit ist [...].249
Goethe greift in seinem exegetischen Traktat diese Gedanken Herders zur Sprachentwicklung auf und überträgt sie auf das Phänomen der Zungenrede. Eben eine solche originäre Expressivität, die auch Gebärden und unartikulierte Laute zur Hilfe nehme, wie sie nach Herder die „Sprache in ihrer Kindheit“ auszeichnet, erkennt der Landgeistliche in der Schrift Goethes als Charakteristikum auch der Glossolalie.250 Sich eng an die obige Herderpassage anlehnend, heißt es im Brieftraktat, die Zungenrede habe „Mehr als Pantomine doch unartikulirt“251 sein müssen.252
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249 250
251 252
meine Brüder, und hindert niemand daran, in Zungen zu reden. Doch alles soll in Anstand und Ordnung geschehen.“ 1 Kor. 14,39f. zit. n. Einheitsübersetzung. Herder, SW, Bd. 1, S. 152 (Ueber die neuere Deutsche Litteratur, Erste Sammlung, „Von den Lebensaltern einer Sprache“). Vgl. ebd., S. 153: „Man pantomimisirte, und nahm Körper und Geberden zu Hülfe: damals war die Sprache in ihren Verbindungen noch sehr ungeordnet und unregelmäßig in ihren Formen.“ Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 395, Hervorhebung des Originals nicht übernommen. Herder, dessen sprach- und literarhistorische Ideen Goethe erstmals auf das Problem der Zungenrede anwendet, greift die Argumentation Goethes auf und parallelisiert in der Schrift Von der Gabe der Sprachen am ersten christlichen Pfingstfest (1794) die Geschichte der Glossolalie mit der Geschichte der Sprache allgemein. Nach gängiger Ansicht der Goethephilologie (vgl. z.B. ebd.) lehnt sich Herder in seiner 1794 veröffentlichten Schrift an Goethe an und führt dessen in den Zwo wichtigen bisher unerörterten biblischen Fragen entwickelte Argumentation weiter. Die Vorbemerkung zu Herders Traktat Von der Gabe der Sprachen am ersten christlichen Pfingstfest jedoch, der „Inhalt dieser Abhandlung sollte vor zwanzig Jahren bereits einer anderen Schrift einverleibt werden“ (Herder, SW, Bd. XIX, o.S., Vorbemerkung zu Von der Gabe der Sprachen am ersten christlichen Pfingstfest), muß als Hinweis verstanden werden, daß es möglicherweise gar nicht Goethes Eigenleistung war, die Phasen der Sprachentwicklung auf die Glossolalie zu übertragen, sondern daß auch
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Daß Schottroff den Text in seiner zentralen Aussage über das fortwährende Wirken des Pneumas schlicht in ihr Gegenteil umkehrt, wenn er konstatiert, der Landgeistliche sei „der Meinung, daß die urchristliche enthusiastische Prophetie schon in den Gemeinden des Paulus in das Stadium der Entartung eingetreten“253 sei, deutet auf ein Mißverständnis sowohl der sprach- und literarhistorischen Ideen Herders als auch des Goethetextes hin. Herder geht es nicht darum, die Entwicklung der Sprache schlicht als abgeschlossene Vergangenheit zu beschreiben, sondern er sucht bei seinen sprach- und literarhistorischen Untersuchungen nach angemessenen und lebendigen Ausdrucksformen für die Gegenwart.254 Ebenso ist es zu kurz gegriffen festzustellen, Goethe sei daran gelegen nachzuweisen, wie die Zungenrede bereits zu paulinischen Zeiten in die Phase des Niedergangs eingetreten sei. Indem der Landgeistliche den Mißbrauch und die Gefahr der Glossolalie in der frühen Geschichte der Kirche darstellt, möchte er nicht ihren Untergang nachzeichnen, sondern vielmehr das dialektische Grundproblem zwischen dem lebendigen Pneuma einerseits und andererseits der Notwendigkeit zu kirchlicher Institutionalisierung und dogmatischer Systembildung exemplifizieren, das Paulus im 14. Kapitel des Ersten Korintherbriefes diskutiert. Letztlich geht es also nicht um den Untergang der Zungenrede, sondern um ihr verborgenes Fortbestehen in „fühlbarer“ Spiritualität, die stets im Spannungsverhältnis zu Institution, Norm und System stehen müsse.255 Wie bereits der eingangs gewählte religionskomparatistische Ansatz (Diodoruszitat) impliziert, deutet der Landgeistliche – um die Wassermetaphorik des Textes aufzugreifen – den untergründig weiter strömenden Fluß der Zungenrede durch alle Zeiten hindurch an:256 Wie eine Quelle, wenn sie sich „von ihrem reinen Ursprung weg durch allerley Gänge zieht, [...] zwar ihre selbstständige innerliche Reinigkeit erhält, doch dem Auge trüber scheint“, so seien Menschen noch immer vom πνευμα
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253
254 255 256
dieser Transfer des Sprachmodells Herders eigene, dann jedoch zunächst von Goethe aufgegriffene und publizierte Idee gewesen sein könnte. Schottroff 1985, S. 114. Überdies verwischt Schottroff die terminologische Schärfe der entsprechenden paulinischen Epistel, der es um die Unterscheidung von Prophetie und Glossolalie geht, wenn er mit Blick auf die Zungenrede undifferenziert von „enthusiastischer Prophetie“ spricht. Vgl. Niggl 1984, S. 132. In der Hervorhebung des Pneumas als Voraussetzung individueller Spiritualität deutet sich neuerlich der Einfluß der Unpartheyischen Kirchen- und Ketzerhistorie Arnolds an. Vgl. Galling 1948ff., S. 532. Gegenüber Galling ist lediglich einzuwenden, daß der Schluß von der Argumentation des fiktiven Autors (Landgeistlicher) auf die Intention des realen Autors (Goethe) zu voreilig und unreflektiert gezogen wird.
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bewegt, spreche der Geist Gottes noch immer durch menschliche Zungen, wenngleich verborgen und nicht offen zu Tage liegend. Bereits der geistesverwandte Briefsteller des Briefs des Pastors hatte rhetorisch fragend angedeutet, daß die pneumatische Zungenrede noch immer lebendig sei: Wollt ihr die Würkungen des heiligen Geistes schmälern? bestimmet mir die Zeit, wenn er aufgehöret hat an die Herzen zu predigen, und euern schaalen Diskursen das Amt überlassen hat, von dem Reiche Gottes zu zeugen.257
Diese These des Fortbestehens göttlicher Eingebung tritt offen der orthodoxen Lehrmeinung gegenüber, die von der Abgeschlossenheit der göttlichen Eingebung ausgeht, als deren Hervorbringung einzig der verbalinspirierte biblische Kanon zu betrachten sei.258 Das Pneuma wird also einem reiferen Stadium der Entwicklung der Kirche nicht einfach gegenübergestellt, sondern vielmehr zur unabdingbaren Voraussetzung, zum „Keim“ allen lebendigen Glaubens erhoben. Bereits die botanische Metaphorik von „Keim und Pflanze“ schließt den Kreis der Argumentation und knüpft an die Einleitung der Zwo wichtigen bisher unerörterten biblischen Fragen wieder an, in der das „partikulare“ Wesen des Judentums gegenüber dem „universellen“ Wesen des Christentums unter Rückgriff auf die Epistel an die Römer als „Pfropfung“ eines edlen Triebes auf einen Stamm bestimmt wird:259 Es [πνευμα und νους] ist Vater und Sohn, Keim und Pflanze. πνευμα! πνευμα! was wäre νους ohne dich!260
Der pneumatische Charakter des Urchristentums wird so zum religiösen Ideal erhoben, an dem sich jede Kirche zu messen hat, an dem gemessen die institutionell verfaßte Kirche jedoch geistlos erscheint.261 Für eben jene Empfindsamen, zu denen der Geistliche sich und den Adressaten seines Schreibens rechnet, für „uns Haushalter im Verborgenen“, nicht aber für die „wohlgekleideten Personen“ und „theologische[n] Kameralisten“, sei der Strom der Zungenrede noch nicht versickert, sondern „wässere“ noch immer. Wer ihn hingegen einzu-
_____________ 257 Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 384. 258 Vgl. Jacob 2002, S. 312f. Im Brief des Pastors warnt der Briefsteller: „weh uns, daß unsre Geistlichen nichts mehr von einer unmittelbaren Eingebung wissen […]. Wollt ihr die Würkungen des heiligen Geistes schmälern? bestimmet mir die Zeit, wenn er aufgehöret hat an die Herzen zu predigen, und euern schaalen Diskursen das Amt überlassen hat, von dem Reiche Gottes zu zeugen." Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 384. 259 Vgl. Röm. 11,17f. u. Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 390. 260 Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 395. 261 Vgl. Meinhold 1958, S. 20.
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dämmen und zu kanalisieren versuche, wer ihn „einteichen, Landstraßen durchführen und Spaziergänge darauf anlegen“262 wolle, könne niemals aus dem verborgenen Strom schöpfen. Auch in der Beantwortung der zweiten Frage hebt also Goethe lebendige, individuelle, „partikulare“ Religiosität von stumpf und festgefahren erscheinenden „Universalverbindlichkeiten“ ab und propagiert mit dem Pneuma die Partikularität eines radikalen Subjektivismus als einzig mögliche Basis lebendigen und somit individuellen Glaubens. Der Gegensatz zwischen „fühlbaren“ und ‚tauben‘ Seelen, der den gesamten Traktat implizit durchzieht, wird final auf die Spitze getrieben, indem der Landgeistliche sich in der direkten, rhetorischen Ansprache an die „Kameralisten“, die theologischen Buchhalter, wendet: Für uns Haushalter im Verborgnen bleibt doch der wahre Trost: Dämmt ihr! Drängt ihr! Ihr drängt nur die Krafft des Wassers zusammen, daß es von euch weg auf uns desto lebendiger fliesse.263
Die Wassermetaphorik mit ihrer physikalischen Bildlichkeit von Fließen, Dämmen, Stauen, Sickern, die der Landgeistliche bei der Beantwortung der zweiten „bisher unerörterten biblischen Frage“ fortwährend bemüht, gehört dabei zu den bevorzugten Topoi des Pietismus im Sprechen über das Pneuma. Langen belegt, wie diese stark von der Sprache der katholisch-quietistischen Mystikerin Jeanne-Marie Bouvière de la MotheGuyon (1648-1717, v.a. Les torrents spirituels) geprägte Metaphorik aus ihrem originären Bereich des Spirituellen auf profane Kontexte übertragen wird.264 Diese Säkularisierung läßt sich auch beim jungen Goethe in der Übertragung der Wassermetaphorik aus dem Bereich religiöser Verzückung auf den Bereich künstlerischer Inspiration nachweisen. In deutlicher Parallele zum Spott über die geistlosen „theologische[n] Kameralisten“, die in ihrem Unbehagen gegenüber dem „Wehen des heiligen Geistes“265 (Brief des Pastors) den lebendigen Strom am liebsten
_____________ 262 Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 396. 263 Ebd. 264 Vgl. Langen 1954, S. 319ff. Schneider hat die Wassermetaphorik als typisches Merkmal verzückten Sprechens in den sezessionistischen Inspirationsbewegungen der Goethezeit nachgewiesen. Vgl. Schneider 1995, S. 86. Zum Einfluß Madame Guyons auf Goethe und sein Umfeld vgl. Eckhardt 1928, S. 17ff.; zu Spuren ihrer Metaphorik in den Zwo wichtigen bisher unerörterten Fragen vgl. Barner 1930, S. 151ff. u. Galling 1948f., S. 533 sowie Schrader 2002. Langen geht davon aus, daß Goethe Guyons Autobiographie gelesen hat. Vgl. Langen 1954, S. 459. 265 Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 384.
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„einteichen“266 und berechenbar machen wollen, schreibt Goethes Werther über das Künstlertum und die es hemmenden Kräfte: O meine Freunde! warum der Strom des Genies so selten ausbricht, so selten in hohen Fluthen hereinbraust, und eure staunende Seele erschüttert. Lieben Freunde, da wohnen die gelaßnen Kerls auf beyden Seiten des Ufers, denen ihre Gartenhäuschen, Tulpenbeete, und Krautfelder zu Grunde gehen würden, und die daher in Zeiten mit dämmen und ableiten der künftig drohenden Gefahr abzuwehren wissen.267
Partikularität als Individualität – Kirchenkritische Implikationen In diese Dichotomie von „Universalität“ und „Partikularität“, von Öffentlichkeit und Privatheit, Kollektivität und Individualität, die den Text durchzieht, fügt sich auch die kontrastive Figurenkonstellation, die Goethe zur Autoexposition seines schreibenden Landgeistlichen wählt. Der individuelle Glaubensvollzug, die gelebte und somit „partikulare“ Frömmigkeit des Geistlichen, sei sie auch heterodox, wird zum Ideal erhoben, dem auf einer niedrigeren Stufe der Erkenntnis die akademische Gelehrsamkeit (z.B. des Sohnes), die auf dem Objektivierbaren, schriftlich Fixierbaren und „Universellen“ basiert, unterzuordnen ist. Das Wort des Geistlichen über den Bundesschluß zwischen Gott und seinem Volk Israel, es sei ein Irrtum anzunehmen, der „partikularste Bund“ habe „auf Universalverbindlichkeiten [...] gegründet werden“268 können, muß somit auf das Verhältnis des einzelnen Gläubigen zu seinem Gott übertragen werden: Der Glaube kann sein Fundament demnach nicht allein, oder doch mindestens nicht zuvörderst, in allgemeingültigen Formen und Inhalten haben, wie sie durch die Gemeinschaft tradiert werden, sondern muß im persönlichen Erleben, im individuell geschlossenen Verhältnis zwischen Mensch und Gott gründen. Den dialektischen Aufbau des Textes aufgreifend, kann hier wiederum auf das pietistische Exegeseverständnis mit seiner Dichotomie von „Schale“ und „Kern“, sensus litteralis und sensus mysticus, wie es im Brief des Pastors und in den Zwo wichtigen bisher unerörterten biblischen Fragen anklingt, verwiesen werden. Wie durchdringende Exegese nicht eigentlich gelehrt, sondern nur als Geschenk angenommen und persönlich erlebt werden
_____________ 266 Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 396. 267 Werther, DjG, Bd. 2, S. 277. Zur Wassermetaphorik im Werther vgl. auch Zimmermann 1969ff., Bd. 2, S. 204ff. 268 Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 393.
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könne, verhalte es sich auch mit der Religion allgemein. Eben dies gelte auch für die Gabe der Zungenrede, die der „fühlbaren“ Natur zu allen Zeiten direkt vom Geist eingegeben sei, während sie seit je das Mißtrauen der Unverständigen auf sich ziehe. Die Aussageintention des Traktates in Briefform ist also nicht nur biblisch-exegetisch, sondern die Botschaft des Textes ist ebenso ekklesiologisch-hermeneutisch zu verstehen und zielt auf eine Relativierung aller „Universalität“ beanspruchender Mittler zwischen Gott und dem „partikularen“ Menschen. Goethe pointiert, wie Sauder formuliert, seine Vision eines „individuellen Christentums“.269 Um eine Religionskonzeption zu exemplifizieren, die von der Subjektivität der Beziehung des Gläubigen zu seinem Gott ausgeht und der vermittelnden Institution Kirche nicht mehr bedarf (oder sie zumindest weit hintanstellt), unterzieht Goethe zwei biblische Kernstellen zum Verhältnis zwischen Gott und Mensch, den Bundesschluß Gottes mit Mose und seinem Volk sowie die Geistbegabung der Apostel, einer kritischen Untersuchung: „wer will das ächte Verhältniß der Seele gegen Gott bestimmen als Gott selbst.“270 Der Text richtet sich also nicht primär gegen eine – tatsächliche oder vermeintliche – Fehlinterpretation des Buches Exodus oder die paulinische Bewertung von Glossolalie und Prophetie, sondern gegen eine Kirche, die den offensichtlichen Irrtum, Glaube könne „auf Universalverbindlichkeiten [...] gegründet werden“, predige, die das inspiratorische Wirken des Heiligen Geistes abgeschlossen wissen wolle und der das freie Wirken des Heiligen Geistes seit je ein Dorn im Auge sei.271 Indem der
_____________ 269 Sauder 1995, S. 105. 270 Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 389. 271 Galling faßt diese kirchenkritischen Implikationen prägnant zusammen: Goethe habe darlegen wollen, „wie peripher und ‚äußerlich‘ eigentlich doch die Kirchenordnung ist, und wie wichtig es sei, über Lehre und Kultus nicht zu vergessen, daß das Leben in der Kirche letztlich vom unwägbar Spirituellen aus gefördert und getragen wird.“ Galling 1948f., S. 533. Meinhold geht in seiner Interpretation weiter als Galling und erkennt in den Zwo wichtigen bisher unerörterten biblischen Fragen eine scharfe Zurückweisung der Kirchlichkeit selbst: Goethe habe – im Gefolge der Ideen Johann Gottfried Arnolds – die institutionelle Verfaßtheit der Kirche kritisieren wollen, um sie mit dem Ideal der pneumatischen und noch nicht institutionell verfaßten Urkirche zu kontrastieren. Vgl. Meinhold 1958, S. 20. Diese Vorstellungen fügen sich in die auf Arnold zurückgehende Dichotomie von „Kreuzund Geistkirche“ ein, die Goethe – hier allerdings spielerisch und ironisch – im Brief an Ernst Theodor Langer vom 17. Januar 1769 ebenfalls aufgreift, als er eine pietistische Zusammenkunft im Elternhaus beschreibt: „Einer am Flügel sitzend der die Melodien spielte, zwey mit Flöten die accompagnirten, und wir übrigen sangen. Mellin und ich stunden etwas zurück und hatten kein rechtes Licht; was soll die Finsterniss hier! Sagte ich und zündete einen Lüstre an der über uns hing, da wurd’s hübsch helle. Seht, sagt ich zu
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Landgeistliche den Propheten (im Gegensatz zum Glossolalen) als uninspirierten Lehrer vorstellt, zielt seine Invektive auf die Grundfeste lutherischer Kybernetik, hatte doch Luther das Amtsverständnis des Pfarrers unter Verweis auf das in den Zwo biblischen Fragen umgedeutete Kapitel des Korintherbriefes (1 Kor. 14) wesentlich als Prophetentum definiert.272 Es böte sich an, diese sich erst durch eine Interpretation des Goethetextes erschließende Kirchenkritik in einen autobiographischen Zusammenhang mit den scharfen Anfeindungen Goethes seitens kirchlicher Institutionen zu bringen; so wendet sich der Text nach Ansicht Sauders unmittelbar gegen die etablierte lutherische Orthodoxie in Gestalt des Frankfurter Kirchenministeriums.273 Doch will erneut die komplexe narrative Fiktion bedacht sein: Könnte die implizite Kirchenkritik des fiktiven Landgeistlichen als persönliche Haltung des nichtfiktiven jungen Schriftstellers gelten, wäre die umständliche Rollenfiktion eines ja anonym erscheinenden Textes nur schwer zu erklären. Es ist wohl richtig, die Zwo wichtigen bisher unerörterten biblischen Fragen ein „Dokument der Ablösung Goethes“274 (Sauder) von seiner religiösen Sozialisation zu nennen. Schneider hat detektivisch die Verbindungslinien zwischen den zeitgenössischen radikal-pietistischen, sezessionistischen Kreisen, in denen die Zungenrede zur neuen Blüte gelangt war (Propheten der Goethezeit), und dem Umfeld des jungen Goethe nachgezeichnet, so daß plausibel wird, wie die Frage einer zeitübergreifenden Permanenz glossolalischen Sprechens aktuelle Relevanz für den heranwachsenden Dichter gewinnt:275 Seit dem Anfang des Jahrhunderts sind inspirierte „Werkzeuge“ wie Johann Friedrich Rock (1678-1749) unermüdlich in Europa unterwegs, um ihre eingegebenen Bekehrungsimperative und Mahnrufe unter das Volk zu bringen, begleitet von Schnellschreibern und beäugt von staatlichen wie kirchlichen Autoritäten.276 Darüber hinaus muß die Glossolalie zum Faszinosum für Goethe und Herder werden, die in der säkularisierenden
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Mellinen, das ist ein Typus vom neuen Jerusalem, wenn die Kreutzkirche zur Geistkirche geworden seyn wird.“ Briefe, DjG, Bd. 1, S. 621. Vgl. etwa Luther, WA, Bd. 11, S. 412f. (Das eyn Christliche versamlung odder gemeyne recht und macht habe, alle lere tzu urteylen und lerer tzu beruffen). Vgl. Sauder 1995, S. 105. Ähnlich Beutler in Kommentar zu Brief des Pastors, GA, Bd. 4, S. 1015f. sowie Kommentar zu Zwo biblische Fragen, GA, Bd. 4, S. 1019f. Sauder 1995, S. 104. Vgl. Schneider 1995, S. 156ff. Erinnert sei an den Besuch Goethes in Marienborn 1769. Vgl. ebd., S. 10ff.; hierzu richtigstellend Peucker: Goethe hat nicht an der Marienborner Synode teilgenommen, sondern lediglich noch die letzten Versammlungen vor Abreise der letzten Synodenteilnehmer erleben können. Vgl. Peucker 2001, S. 22. Als kurze Einführung vgl. Schrader 2000.
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Auseinandersetzung mit dem Phänomen pneumatischen Sprechens ihre poetische Selbst- und Neubestimmung betreiben.277 Die Spuren dieser Auseinandersetzung lassen sich in der ästhetischen Programmschrift Von Deutscher Baukunst finden, wie eine theologische Lektüre vor dem Hintergrund des Briefs des Pastors und der Zwo wichtigen bisher unerörterten biblischen Fragen nachfolgend darlegen soll. Glossolalie als Ausdrucksform des Idiosynkratischen – Vom Sprechen zum Lallen Neben diesen ekklesiologischen Aspekten der Kritik an einer sich selbst vor dem Heiligen Geist verschließenden Kirche zeugt die Reflexion über die Glossolalie ebenso von der Auseinandersetzung des jungen Goethe mit einem Problem, das ins Zentrum der Geniesprache weist.278 Ohne daß Willems die Zwo wichtigen bisher unerörterten biblischen Fragen für ihre Argumentation heranzieht, ist der Text ein weiterer Beleg ihrer These, daß Goethe in seiner Rollenprosa unter Rückgriff auf religiöse Semantik und ihr „Ideen- und Formulierungsgut“ ein Individualitätskonzept entfaltet, das nicht nur für den Bereich des Religiösen Gültigkeit beansprucht, sondern, gleichsam säkularisiert, ebenso auf die sich entfaltende individualistische Ästhetik des jungen Goethe ausstrahlt.279 Die Schrift muß im Lichte des bereits oben angedeuteten zentralen hermeneutischen Dilemmas betrachtet werden, das sich aus dem allein subjektiven Wesen religiöser Erkenntnis und der auf intersubjektive Verständlichkeit bedachten Sprache ergibt: Wie ist das Sprechen über die religiöse Offenbarung möglich, wenn sich die Erkenntnis tatsächlich in einen kommunikablen sensus realis als lediglich äußere „Schale“ und einen nicht mehr kommunikablen, einzig durch Gnade subjektiv erfahrbaren sensus mysticus als eigentlichen „Kern“ scheidet? Ließ der Brief des Pastors bereits begreifbar werden, wie das starre Regelwerk der Sprache angesichts einzig subjektiv erfahrbarer Offenbarung versagen muß, so stellt die Glossolalie zunächst den hilflosen Versuch dar, das Idiosynkratische in seiner Inkommunika-
_____________ 277 Vgl. Schneider 1995, S. 10. 278 Einzig Willems hat auf dieses sprachtheoretische Problem aufmerksam gemacht, es jedoch nur auf die Schrift Brief des Pastors bezogen. Überdies erkennt Willems nicht das pietistische Exegeseparadigma als Kern des Problems, sondern stellt es einzig in den Zusammenhang der Entfaltung von Individualität. Vgl. Willems 1995, S. 60ff. 279 Vgl. Willems 1995, S. 7 u. Schneider 1995, S. 178.
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bilität, die „unaussprechlichen Dinge“280 (Brief des Pastors), doch zu verbalisieren. Das Lallen der Glossolalie ist somit die eine Lösung eines Dilemmas, dessen andere Lösung nur Schweigen sein könnte.281 Das Ergebnis eines solchen Versuches der Versprachlichung muß sich freilich für den Außenstehenden kryptisch und unverständlich ausnehmen. Dieses von Paulus, zumindest in der liturgischen Praxis, skeptisch betrachtete solipsistische Moment verbürgt geradezu die Authentizität der Erkenntnis, indem sie im Katalog des immer schon mühelos Verstandenen nicht zu finden ist.282 Die paulinische Wertung verliert für den Geistlichen ihre Plausibilität, wenn Religiosität von vornherein von ihrer Inkommunikabilität ausgeht. Gegenüber dem Mitteilungsakt des Sprechens, das sich nicht mehr zutraut, das Arkanum tatsächlich zu vermitteln, erscheint der bloße Ausdrucksakt des Lallens, der keinen Prozeß des Verstehens durch einen anderen mehr intendiert und Ausdruck um seiner selbst willen ist, als angemessenere, authentischere Form. Indem sich das Lallen dem Anspruch der Kommunikabilität nicht mehr stellt, sich von der intersubjektiven Funktion befreit und so vom ‚Inhalt‘ emanzipiert, löst es sich aus seiner Bindung an die Sphäre des Religiösen und wird als ästhetisch-individueller Selbstzweck der Säkularisation verfügbar. Wie bereits die Wassermetaphorik in auffälliger Weise die sich ungestüm bahnbrechende Kraft der Zungenrede (Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen) mit dem „in hohen Fluthen“ hereinbrausenden „Strom des Genies“283 (Werther) verbindet, konstituiert sich im funktionsenthobenen Lallen gleichermaßen religiöse wie ästhetische Individualität. Die Beantwortung der Frage „Was heißt mit Zungen reden?“ mündet damit in die umfassende ästhetische Neuorientierung Goethes unter dem Vorzeichen der Genievorstellung: Die glossolalische Selbsterbauung des Sprachrohrs Gottes wandelt sich zur „narzißtische[n] Erbauung“ des Genies „von und
_____________ 280 Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 384. 281 In diesem Zusammenhang sei auf Christoph Otto Freiherr v. Schönaich (1725-1807) verwiesen, der sich in seiner polemischen, ganz Gottschedschen Paradigmen verhafteten Kritik der Literatur der Jahrhundertmitte (Die ganze Aesthetik in einer Nuß oder Neologisches Wörterbuch, 1754) über das Lallen und unverständliche Stammeln mokiert, das immer mehr Einzug in die Literatur, etwa bei Johann Jacob Bodmer (1698-1783), halte. Vgl. Schönaich, Wörterbuch, S. 169. Zum Gebrauch des Verbs „lallen“ im deutschen Pietismus, so beispielsweise bei Spener, vgl. Langen 1954, S. 174. 282 Vgl. Schlaffer 2002, S. 81f. 283 Werther, DjG, Bd. 2, S. 277.
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durch sich selbst“284 (Soboth). So schließt der Briefsteller die Betrachtung zur Glossolalie mit dem programmatischen Imperativ des Lallens, der zugleich als Forderung nach dem Hervortreten des „Erwählten“, des Genies, gelesen werden muß: Wirft aber der ewige Geist einen Blick seiner Weisheit, einen Funken seiner Liebe einem Erwählten zu, der trete auf, und lalle sein Gefühl.285
Von Deutscher Baukunst Als käme er der in den Zwo wichtigen bisher unerörterten biblischen Fragen erhobenen Forderung, der vom „ewige[n] Geist“ beseelte „Erwählte[] […] trete auf, und lalle sein Gefühl“286, nach, veröffentlicht Goethe im Herbst 1772 die von entbundenem Individualismus tönende Programmschrift Von Deutscher Baukunst.287 Als Kritik gemeint, doch zielsicher die ästhetische Intention der Schrift ganz im Sinne ihres Autors zusammenfassend, mokiert sich der Rezensent Christian Heinrich Schmid prompt über die „lallende Affektation“288 im Gestus des neuerlich anonym auftretenden Autors. Ganz ähnlich urteilt Goethe knapp drei Jahre nach der Veröffentlichung des Baukunstaufsatzes selbst über seine lallende Eloge des zur künstlerischen Heilsgestalt erhobenen Baumeisters Erwin von Steinbach (Dritte Wallfahrt nach Erwins Grabe im Juli 1775): Ich schrieb ehmals ein Blatt verhüllter Innigkeit […]. Wunderlich war’s von einem Gebäude geheimnißvoll reden, Thatsachen in Räzel hüllen, und von Maasverhältnissen poetisch lallen!289
Das Ringen um den Ausdruck des eigentlich Unaussprechlichen, der zum Scheitern verurteilte Versuch der intersubjektiven Vermittlung der sub-
_____________ 284 285 286 287
Soboth 2001, S. 217f. Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 396. Ebd. Zur Debatte um Länge und Datierung des Entstehungszeitraumes des Baukunstaufsatzes vgl. Beutler 1943, S. 25ff; Kremer 1998, S. 564; Robson-Scott 1959 u. Zimmermann 1957. 288 Erfurtische Gelehrte Zeitung, Nr. 99, 10. Dezember 1772. Goethe echauffiert sich in einem Brief an Kestner über die Rezension des in Gießen lehrenden Schmid: „Der Scheiskerl in Giessen […], dessen Nahme keinen Brief verunzieren müße in dem Lottens Nahme steh[e]“, habe „flugs […] eine Rezension gesudelt […]. Als ein wahrer Esel frisst er die Disteln die um meinen Garten wachsen nagt an der Hecke die ihn vor solchen Tieren verzäunt und schreit denn sein Critischen J! a! ob er nicht etwa dem Herrn in seiner Laube bedeuten möchte: ich binn auch da.“ Briefe, WA, 4. Abt., Bd. 2, S. 51 (an Johann Christian Kestner, 25. Dezember 1772). Vgl. hierzu Bräuning-Oktavio 1966, S. 88ff. 289 Dritte Wallfahrt, DjG, Bd. 2, S. 455.
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jektiv erfahrenen Wahrheit, durchzieht auch die beiden dithyrambischen Schriften zum Straßburger Münster: „In Dichtung stammelt“ die Seele, „in krützlenden Strichen wühlt sie auf dem Papier Anbethung dem Schaffenden“290 und windet sich um das, „was sie unaussprechlich, und unausgesprochen glücklich macht.“291 Das vorliegende Kapitel folgt dieser von Goethe selbst ausgelegten Spur des Lallens und schlägt eine neue Lektüre des ästhetischen Manifests vor. Sie möchte aufzeigen, wie die intensive Auseinandersetzung mit bibelexegetischen Fragen und insbesondere mit dem Phänomen der Zungenrede zum Ausgangspunkt für die Herausbildung sowohl einer pneumatischen Hermeneutik als auch einer pneumatischen Produktionsästhetik wird, als deren Programmschrift sich Von Deutscher Baukunst liest.292 Die bauästhetischen Theorien und Polemiken, die bislang, wohl auch dank des stärker kunstgeschichtlichen als literaturwissenschaftlichen Interesses am Text, im Zentrum der Aufmerksamkeit standen, werden dabei ergänzt um Bezüge, die aus dem Blickwinkel der Theologie zu erschließen, die Forschung versäumt hat. Wurde bislang ausschließlich herausgearbeitet, wie Goethe Erwin von Steinbach als künstlerisches Genie zur prometheischen, gottgleichen oder doch –ähnlichen Schöpfergestalt erhebt, so soll diese Perspektive dahingehend korrigiert werden, daß aufgezeigt wird, wie Goethe dem Genie zugleich ein anderes Vorbild, den pneumatisch inspirierten Zungenredner, unterlegt.293 Auf diese Weise
_____________ 290 Ebd. 291 Ebd. 292 Bislang sind die „theologischen Jugendschriften“ kaum auf den Baukunstaufsatz bezogen worden. Beutler deutet en passant und ohne die Parallele auszuführen zur Dritten Wallfahrt nach Erwins Grabe im Juli 1775 an: „Wie von einer Offenbarung des Heiligen Geistes redet Goethe hier, dem ja noch vor wenigen Jahren in seinen ‚Zwo biblischen Fragen‘ die Schrift gegolten hatte: ‚Was heißt mit Zungen reden?‘“. Beutler 1943, S. 59. Schneider hat im Schlußkapitel seiner Untersuchung zu den Propheten der Goethezeit eine Brücke zwischen dem Baukunstaufsatz, der Shakespearerede und dem Brief des Pastors geschlagen, steigt aber nicht in eine textnähere Darlegung der Bezüge ein: „Entwickelt Goethe am Beispiel Erwin von Steinbachs und Shakespeares die pantheistisch-spinozistische Vorstellung vom naturhaftgotterfüllten Genie, das aus sich selbst ‚karackteristische Kunst‘ schaffe, nach ‚Stoff‘ greife, ‚ihm seinen Geist einzuhauchen‘, so expliziert er im Pastorbrief am Beispiel des Kirchenliedes seine auf der dichterischen Subjektivität beruhende Vorstellung von einer intuitiv entstehenden und daher allein individuell zu verantwortenden Dichtung.“ Schneider 1995, S. 175. Die Andeutungen Schneiders beziehen sich allein auf die Nähe produktionsästhetischer Vorstellungen; die verbindende, den Texten unterlegte Hermeneutik findet keine Beachtung. Einzelne der herangezogenen Belege zum Einfluß dieses inspirierten Sprechens auf Goethe erscheinen zu voreilig und willkürlichen gewählt. Vgl. ebd., S. 155ff. 293 Wohlleben etwa hebt einzig die Stilisierung des Künstlers zum „zweite[n] Schöpfer“ und „zweite[n] Prometheus“ „in der wieder über Herder vermittelten Nachfolge der
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können die Verbindungslinien freigelegt werden, die es nahelegen, den Aufsatz Von Deutscher Bakunst in seiner engen und bislang kaum gesehenen Bezogenheit auf die Goetheschen Brieftraktate Brief des Pastors und Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen zu deuten. Götting stellt angesichts des sich in sakralem Pathos überschlagenden Baukunstaufsatzes fest: „Man kennt Goethe nicht wieder, den Pietisten der Frankfurter Jahre von 1768 bis 1770“294. Den pietistischen Andachten im Hirschgraben, von denen der Genesende im Januar 1769 Langer berichtet, stehe der heidnische Straßburger Hymnus auf Erwin von Steinbach diametral gegenüber.295 Nachfolgend soll damit auch belegt werden, wie groß hingegen die verbindenden Elemente zwischen den pietistischen Erfahrungen und dem Hymnus auf die titanenhafte Schöpferkraft des Originalgenies sind. Die „ganze Seele“ als hermeneutische Disposition Die polarisierenden Dichotomien der beiden Brieftraktate schreibender Geistlicher finden auch im Baukunsttraktat ihre Parallelen. Wie in den Zwo wichtigen bisher unerörterten biblischen Fragen die lebenserfahrene, undogmatische Einsicht des Briefstellers den anmaßenden, akademisch-trockenen Lehrsätzen seines Sohnes gegenübergestellt werden und wie sich der großmütig-duldsame Geistliche im Brief des Pastors von seinem jüngst verstorbenen, engherzigen Mitbruder im Nachbarsprengel absetzt, so werden auch in Von Deutscher Baukunst sowie in der Dritten Wallfahrt nach Erwins Grabe beständig geistbegabte, gnadenhaft disponierte Charaktere den unverständigen Menschen entgegengesetzt. Die Parallele wird im Rückgriff auf die Beantwortung der ersten der Zwo wichtigen bisher unerörterten biblischen Fragen evident. Auf die Frage hin, „Was heißt mit Zungen reden?“, verweist der Geistliche auf die Pfingsterzählung der Apostel-
_____________ Philosophie Shaftesburys“ hervor. Wohlleben 1981, S. 64. Ähnlich Bisky, der nur das „Zielbild des prometheischen Künstlers“ erkennt. Bisky 2000, S. 42. Auch Eibl analysiert in seiner theologisch-mythologischen Einordnung der Schlußpassage nur die Stilisierung des Genies zur prometheischen Gestalt. Vgl. Eibl 1981. Zum Einfluß Youngs und Shaftesburys auf die Ästhetik des jungen Goethe vgl. u.a. Keller 1974, S. 14ff. 294 Götting 1947, S. 492. 295 Vgl. ebd., S. 492f. Zu den pietistischen Andachten vgl. Briefe, DjG, Bd. 1, S. 620ff. (an Ernst Theodor Langer, 17. Januar 1769). Ähnlich Götting, stellt Beutler die im Elternhaus stattfindende Shakespeare-Feier im Oktober 1771 den zuvor gepflegten Konventikelfeiern gegenüber. Vgl. Beutler 1938, S. 5.
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geschichte, die im Sinne pietistischen Wiedergeburtglaubens als einzig den wenigen Erwählten zugängliches Geschehen wiedergegeben wird: Es waren aber nicht allen die Ohren geöfnet zu hören, nur fühlbare Seelen […] nahmen an dieser Glückseligkeit theil; schlechte Menschen, kalte Herzen, stunden spottend dabey und sprachen: sie sind voll süsen Weins!296
Sich die gefeierte Kathedralarchitektur in der Betrachtung zu erschließen, setzt ebenfalls eine persönliche, charakterliche Disposition voraus: Der Einsicht der „fühlbare[n] Seelen“ in das Pfingstwunder entsprechend, ist auch die Erkenntnis der künstlerischen Monumentalität des Münsters den „ganze[n] Seelen“ (Baukunst) bzw. den „guten Seelen nur“ (Dritte Wallfahrt) vorbehalten. Ohne diese hermeneutischen Bezüge zu erkennen, stellt Bisky richtigerweise fest, daß die „Anschauung des Kunstwerks“ so „zur Probe auf den Charakter des Rezipienten“297 wird: Dem schwachen Geschmäckler wirds ewig schwindlen an deinem Coloß, und ganze Seelen werden dich erkennen ohne Deuter.298 Ich schrieb ehmals ein Blatt verhüllter Innigkeit, […] worinn gute Seelen nur Funken wehen sahen des was sie unaussprechlich, und unausgesprochen glücklich macht.299
Diesen „ganze[n]“ und „guten Seelen“, die „ohne Deuter“ erkennen, stehen die „schwachen Geschmäckler“ wie der Kunstschriftsteller Marc Antoine Laugier (1713-1769) entgegen, deren mangelnde Geistbegabung und deren Gebundenheit an kodifizierte Normen, zu imitierende exempla und vermeintlich allgemeingültige Prinzipien einem durchdringenden Verstehen im Wege sind: „Schädlicher als Beyspiele sind dem Genius Principien“300, tönt Goethe als Pamphletist, „ein schädlicheres Nichts“ als die einschlägigen ästhetischen Theorien sei „nicht erfunden worden“301, schleudert Goethe als Rezensent Johann Georg Sulzer (1720-1779), dessen imitatio-Ästhetik auch im Baukunstaufsatz mit Verve verworfen wird, entgegen. Die „schwachen Geschmäckler“ (Baukunst) und „Kenner-
_____________ 296 297 298 299 300 301
Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 394. Vgl. Apg. 2,4ff. Bisky 2000, S. 38. Baukunst, DjG, Bd. 2, S. 367. Dritte Wallfahrt, DjG, Bd. 2, S. 455. Baukunst, DjG, Bd. 2, S. 368. Beiträge zu FGA, DjG, Bd. 2, S. 412 (Rezension zu Johann Georg Sulzer, Die schönen Künste in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung, Nr. 101, 18. Dezember 1772). Nach einhelliger Ansicht der Goetheforschung kann die anonym erschienene Rezension Goethe zugeschrieben werden. Bräuning-Oktavio nimmt eine Mitarbeit Johann Heinrich Mercks an dem Artikel an. Vgl. Bräuning-Oktavio 1966, S. 712; so auch Sauder 2001b, S. 45.
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chen[]“302 (Sulzer-Rezension) fungieren als negative Folie, vor der sich die Selbstkonstituierung des Genies vollzieht, und sind damit funktionales Äquivalent etwa der „theologische[n] Kameralisten“303, die in den Zwo wichtigen bisher unerörterten biblischen Fragen der autoexpositiven Abgrenzung dienen. Ebenso lassen sich die vermeintlich allgemeingültigen Theorien, die im Baukunstaufsatz als hermeneutisch untauglich gegeißelt werden, mit dem „Universalschlüssel“304 zur Heiligen Schrift parallelisieren, den gefunden zu haben, sich der Sohn des fiktiven Verfassers des bibelexegetischen Traktats anmaßend rühmt. Das Hinzutreten des Geistes (Genius/Pneuma) Die dem durchdringenden Verstehen vorausgesetzte Geistbegabung erscheint ganz in Analogie zur Kondition der „Wiedergeburt in Christo“, wie sie pietistische Hermeneutiker als unverzichtbar sehen. Hätten sie diesen Geist empfangen, hält Goethe den Vertretern einer als „welsch“305
_____________ 302 Beiträge zu FGA, DjG, Bd. 2, S. 415 (Rezension zu Johann Georg Sulzer, Die schönen Künste in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung, Nr. 101, 18. Dezember 1772). 303 Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 396. 304 Ebd., S. 389. 305 Vgl. Baukunst, DjG, Bd. 2, S. 367: „Hat nicht der, seinem Grab entsteigende Genius der Alten, den deinen gefesselt, Welscher! […] Hättest du mehr gefühlt als gemessen, wäre der Geist der Massen über dich gekommen, die du anstauntest, du hättest nicht so nur nachgeahmt, weil sie’s thaten und es schön ist; nothwendig und wahr hättest du deine Plane geschaffen, und lebendige Schönheit wäre bildend aus ihnen gequollen.“ Die sich hier andeutende politisch-nationalistische Instrumentalisierbarkeit des Textes, von der die zur völkischen „Deutschkunde“ mutierte Germanistik weidlich Gebrauch macht, beschäftigt insbesondere Götting, der sich Von Deutscher Baukunst 1947 vor dem Hintergrund der Katastrophe nähert. Vgl. Götting 1947, v.a. S. 490f. u. 498f. Zu Unrecht wirft Kremer auch dem Goetheforscher Ernst Beutler, dem die umfassende wissenschaftliche Erschließung des Baukunstaufsatzes zu danken ist, einseitig vor, „dem nationalsozialistischen Dispositiv“ in der Behandlung der Schrift nicht entgangen zu sein. Vgl. Kremer 1998, S. 567. In der Tat versteigt sich Beutler zeitweilig zur Emphase, der Aufsatz sei „ein Fanal der Deutschheit, ja im besonderen der deutschen Sehnsucht.“ Beutler 1941, S. 262. Eine faire Beurteilung des Werks Beutlers muß jedoch auch anerkennen, wie subtil und zugleich mutig Beutler immer wieder dem obwaltenden nationalistischen Zeitgeist entgegentritt, etwa wenn er zur Straßburger Architektur feststellt, daß die „Bauten, die der Straßburger Student als deutsch, als im besonderen ‚deutsch‘ empfand“, „wie wir heute wissen“, „ihrem Ursprung nach keineswegs“ so deutsch waren. Beutler 1943, S. 31. Im gleichen Aufsatz des Kriegsjahres 1943 umreißt Beutler als Aufgabe: „Inwieweit sind die Nationen gebend, inwieweit empfangend, das ist noch heute, ja gerade heute, lebhaftes europäisches Gespräch.“ Ebd., S. 43. Knopp hat diese „sachliche Interpretation des Textes“, an der Beutler auch zur NS-Zeit festgehalten habe, gewürdigt. Vgl. Knopp 1979, S. 617; vgl. auch Germanistenlexikon, Artikel „Beutler, Ernst“.
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bezeichneten, normverhafteten Produktionsästhetik vor, hätten sie aus durchdringendem Verstehen jenseits bloßer imitatio selbständig schaffen können und ihrem Werk mehr als einen „Schein von Wahrheit und Schönheit aufgetüncht“306. Dieses tiefergehende, zur Wahrheit vordringende und so zur eigenen Produktion befähigende Verständnis, das sich bezeichnenderweise im Fühlen, nicht in intellektueller Annäherung vollzieht, zeichnet der selbstgewisse Traktatverfasser anhand seiner eigenen Annäherung an das Straßburger Münster nach. In diesem dreistufigen Erkenntnisprozeß kommt die Anlehnung an das hermeneutische Paradigma des Pietismus zum Tragen.307 Neuerlich wird dieser Verstehensprozeß als Durchstoßen einer äußeren Erkenntnis „zur Region der Wahrheit“308 gestaltet, die als eigentlicher Gehalt in tieferen Straten verborgen ist. Ihr steht der bloße „Vorhof der Geheimnisse“309 gegenüber. Im ersten Schritt dieser Annäherung stellt sich der Traktatautor selbst als normverhafteten, vom „Hörensagen“ der Gotik abholden („Ganz von Zierrath erdrückt!“310) Banausen vor. In seinem festgefahrenen systemischen Denken muß er an der hermeneutischen Aufgabe scheitern, das „mißgeformte[] krausborstige[] Ungeheuer[]“311 zu begreifen: Als ich das erstemal nach dem Münster gieng, hatt ich den Kopf voll allgemeiner Erkenntniß guten Geschmacks. Auf Hörensagen ehrt ich die Harmonie der
_____________ 306 Baukunst, DjG, Bd. 2, S. 368. Zur Ablehnung der imitatio-Ästhetik durch den „grose[n] Geist“ vgl. auch das Briefzeugnis an Röderer: „Das größte Meisterstück der deutschen Baukunst, das Sie täglich vor Augen haben, das Sie mit Muse bey genialischen Stunden durchdenken können, wird Ihnen nachdrücklicher als ich sagen, daß der grose Geist sich hauptsächlich vom kleinen darin unterscheidet, daß sein Werk selbstständig ist, daß es ohne Rücksicht auf das was andre getahn haben, mit seiner Bestimmung von Ewigkeit her zu coexistiren scheine; da der kleine Kopf durch übelangebrachte Nachahmung, seine Armuth und seine Eingeschränktheit auf einmal manifestirt.“ Briefe, WA, 4. Abt., Bd. 2, S. 25f. (an Johann Gottfried Röderer, 21. September 1772). 307 Auch Bisky zeigt einen dreistufigen Prozeß, in dem der Betrachter sich das Ganze des Kirchenbaus erschließe. Wenn Bisky auch feststellt, diese Erkenntnis werde als Offenbarung inszeniert, geht er diesen theologisch-hermeneutischen Bezügen doch nicht nach. Vgl. Bisky 2000, S. 40. Bisky ist es vor allem zu danken, die strenge kompositorische Durchgestaltung des Textes Von Deutscher Baukunst belegt zu haben, die, z.B. von Keller, hinter dem „Durcheinander von Gedanken, Stimmungen, Ahnungen, Halbwissen und Theorien“ zuvor vielfach nicht erkannt wurde. Keller 1974, S. 7. 308 Baukunst, DjG, Bd. 2, S. 369. 309 Ebd., S. 368. 310 Ebd., S. 370. 311 Ebd.
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Massen, die Reinheit der Formen, war ein abgesagter Feind der verworrnen Willkürlichkeiten gothischer Verzierungen.312
Dieser Phase, in der verstockt gefangen zu sein, er den Kritikern des Münsters und seines Stils vorwirft, schließt sich eine Stufe äußerer Erkenntnis an. Sie stellt sich, Goethes „unbedingte[m] Primat der eigenen Anschauung“313 (Osterkamp) entsprechend, mit dem intensiven Anblick des Münsters ein. Eine „unerwartete[] Empfindung“314 überrascht und durchdringt den Betrachter, der jedoch die flirrenden Details der gotischen Kathedralarchitektur noch nicht zusammenführen kann, wie sprachlich schon anhand der Reihung disparat aufgeführter Adjektive deutlich wird: Ein, ganzer, großer Eindruck füllte meine Seele, den, weil er aus tausend harmonirenden Einzelnheiten bestand, ich wohl schmecken und genießen, keineswegs aber erkennen und erklären konnte.315
Deutet sich in der synästhetischen Verwendung des für die religiöse Empfindung im Sprachgebrauch des deutschen Pietismus (vor allem bei Zinzendorf) gebräuchlichen Verbs „schmecken“ schon die Bezugnahme auf Vorstellungen religiöser und spezifisch pietistischer Hermeneutik an, so expliziert der Autor diese Parallele im nachfolgenden Satz:316 „Sie sagen, daß es also mit den Freuden des Himmels sey […].“317 Der sich dem nunmehr Eingeweihten eröffnende, nur sinnlich erfahrbare („schmecken“, „genießen“) Eindruck erscheint jedoch noch defizitär, kann er doch die disparaten Beobachtungen, die „tausend harmonirenden Einzelnheiten“, noch nicht in der stimmigen Gesamtschau erfassen; jenseits des Genießens ist ihm umfassendes Erkennen noch verwehrt.
_____________ 312 Ebd. 313 Osterkamp 1998, S. 119. Vgl. hierzu auch Goethes Rezension zu Sulzers Ästhetik: „Wer von den Künsten nicht sinnliche Erfahrung hat, der lasse sie lieber.“ Beiträge zu FGA, DjG, Bd. 2, S. 411f. (Rezension zu Johann Georg Sulzer, Die schönen Künste in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung, Nr. 101, 18. Dezember 1772). Ähnlich: „Gott erhalt unsre Sinnen, und bewahr uns vor der Theorie der Sinnlichkeit“. Ebd., S. 415. 314 Baukunst, DjG, Bd. 2, S. 370. Sauder bemerkt für die Phase der ästhetischen Theoriebildung des jungen Goethe, daß die „angemessene Rezeption des Kunstwerkes [...] ganz auf die ‚Empfindung‘ konzentriert“ sei. Sauder 2001b, S. 50. 315 Baukunst, DjG, Bd. 2, S. 370. 316 Zum pietistischen Gebrauch des Verbs „schmecken“ und ähnlicher Wortverbindungen im deutschen Pietismus vgl. Langen 1954, S. 296ff. sowie Stroh 1977, S. 45. Im Brief des Pastors bemerkt der Geistliche, der Gläubige müsse „die Süßigkeit des Evangelii schmecken“. Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 380. 317 Baukunst, DjG, Bd. 2, S. 370.
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Auch auf der dritten Stufe wird dieser explizite Bezug auf theologische Hermeneutik fortgeschrieben. Endlich „offenbart[] sich“ dem Betrachter „in leisen Ahndungen, der Genius des großen Werkmeisters.“318 Signum dieser Erkenntnis ist die Gesamtschau, in der die verwirrenden Details der gotischen Turmarchitektur erstmals in toto erfaßt werden und sich zu einem Ganzen fügen. In dem Moment, in dem das Objekt zur hermeneutischen Instanz, der kundigen „Seele“, vordringt, verschmelzen in der von Abenddämmerung belebten Imagination die „unzähligen Theile, zu ganzen Massen […], einfach und groß“319: Wie oft hat die Abenddämmerung mein durch forschendes Schauen ermattetes Aug, mit freundlicher Ruhe geletzt, wenn durch sie die unzähligen Theile, zu ganzen Massen schmolzen, und nun diese, einfach und groß, vor meiner Seele standen, und meine Kraft sich wonnevoll entfaltete, zugleich zu genießen und zu erkennen.320
Dieses Vorstoßen zur erkennenden Gesamtschau wird dabei als Hinzutreten des Genius expliziert.321 Das angemessene Verstehen setzt die Begeisterung durch eben jenen Genius voraus, der auch den Schöpfer des monumentalen Kunstwerkes beseelt hat. Der Verstand allein scheitert an der hermeneutischen Aufgabe, tritt der disponierten Seele nicht gnadenhaft die Geistbegabung hinzu, die im Baukunstaufsatz lateinisch als „Genius“, im Traktat Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen griechisch als „Pneuma“ bezeichnet wird. „πνευμα! πνευμα! was wäre νους ohne dich!“322, faßt der fiktive Geistliche des Brieftraktats diese Hermeneutik in nuce zusammen. In der komplementären Ergänzung des unzureichenden menschlichen Verstandes durch die unverzichtbare pneumatische Begabung findet dieses hermeneutische Credo im Baukunstaufsatz seine
_____________ 318 Ebd., S. 371. 319 Ebd. Zur Funktion der Dämmerung für die poetische Imagination des jungen Goethe bei der Betrachtung des Straßburger Münsters vgl. Osterkamp 2001, S. 155f. 320 Baukunst, DjG, Bd. 2, S. 371. 321 Vgl. ebd.: „Deinem Unterricht dank ich’s, Genius, daß mirs nicht mehr schwindelt an deinen Tiefen, daß in meine Seele ein Tropfen sich senkt, der Wonneruh des Geistes, der auf solch eine Schöpfung herabschauen, und gottgleich sprechen kann, es ist gut!“ Nach dem gnadenhaft ermöglichten Verstehen durch die plötzliche Geistbeseelung flaut der Genius wieder ab: „Und so schied er von mir, und ich versank in theilnehmende Traurigkeit.“ Ebd. Ganz ähnlich die Passage zum Schwinden der Geistbegabung des Glossolalen: „Auf der Höhe der Empfindung erhält sich kein Sterblicher.“ Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 395. Doch auch noch nach dem „ewigen Augenblick“ läßt die Erinnerung die Jünger „ein ganzes Leben nachvibriren“, wie auch der Verfasser des Baukunstaufsatzes noch nach dem Schwinden des nur zeitweilig wirksamen hermeneutischen Genius lebenslang euphorisiert erscheint. Ebd. 322 Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 395.
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Parallele im epigrammatischen Ausruf „Hättest du mehr gefühlt als gemessen“323. Zur Genielehre säkularisiert, wird die im Brieftraktat in Religionsdingen so leidenschaftlich propagierte „partikulare“ Hermeneutik im Baukunstaufsatz auf die Kunst übertragen. Das Empfangen des Geistes befähigt den solchermaßen Beglückten jedoch nicht allein, „zugleich zu genießen und zu erkennen“, der Genius läßt beim Betrachter auch „Kraft sich wonnevoll entfalte[n]“324 und beseelt den Erwählten so zu eignem geistgewirkten Ausdruck. Glossolalische Produktionsästhetik Wie in der Pfingstperikope geistgewirktes Verstehen und geistgewirktes Sprechen einhergehen, erweist sich auch die gnadenhafte künstlerische Disponierung, indem sie den „Gesalbten Gottes“325 sich selbst künstlerischem Schaffen zuwenden läßt.326 Den verstehenden Menschen, der „mitwürkend genießt“327 (Sulzer-Rezension), drängt es zum eignen Werk. Über alle Zeiten und Kulturen hinweg wird dem unverstellten, unverkünstelten Charakter ein künstlerischer Gestaltungswille als anthropologische Konstante zugesprochen, der sich impulsiv in einem originären Ausdruck Bahn breche, dessen Kriterium nicht konventionell vereinbarte Schönheit sein könne. Die Polemik richtet sich gegen Sulzers Ästhetik, „die weiche Lehre neuerer Schönheiteley“328, die der Kunst allein die verbrämende Funktion zuerkennt, das Nützliche angenehm auszuzieren:329
_____________ 323 324 325 326
Baukunst, DjG, Bd. 2, S. 367. Ebd., S. 371. Ebd., S. 373. Vgl. Liess, der feststellt, „Verstehen und Schaffen traten in engste Verbindung, ja entsprangen derselben Quelle.“ Liess 1985, S. 41. Bisky versteht dieses Umschlagen der Kunstrezeption in eigene künstlerische Produktion als Überwindung der conditio humana: „Im künstlerischen Produzieren liegt für Goethe ein Moment von erlösender Seligkeit, in der die Nichtigkeit der eigenen Existenz aufgehoben und ihre Begrenztheit überwunden wird.“ Bisky 2000, S. 42. 327 Beiträge zu FGA, DjG, Bd. 2, S. 414 (Rezension zu Johann Georg Sulzer, Die schönen Künste in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung, Nr. 101, 18. Dezember 1772). 328 Baukunst, DjG, Bd. 2, S. 372. 329 Ähnliche Polemik findet sich in Goethes (und Mercks) Rezension der Ästhetik Sulzers. Vgl. Beiträge zu FGA, DjG, Bd. 2, S. 412f. (Rezension zu Johann Georg Sulzer, Die schönen Künste in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung, Nr. 101, 18. Dezember 1772). Zum Schönheitsbegriff in Von Deutscher Baukunst vgl. Bisky 2000, S. 42.
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Die Entwicklung pneumatischer Hermeneutik und Produktionsästhetik
Die Kunst ist lange bildend, eh sie schön ist, und doch, so wahre, große Kunst, ja, oft wahrer und größer, als die Schöne selbst. Denn in dem Menschen ist eine bildende Natur, die gleich sich thätig beweist, wann seine Existenz gesichert ist. Sobald er nichts zu sorgen und zu fürchten hat, greift der Halbgott, wirksam in seiner Ruhe, umher nach Stoff ihm seinen Geist einzuhauchen.330
Hermeneutik und Produktion, „Erkenntniß und Thätigkeit“331, werden auf diese Weise in einem kausalen Zirkel aufeinander bezogen, dessen Modell sich in der Beantwortung der Frage „Was heißt mit Zungen reden?“ findet: Kommt an Pfingsten „der Geist über eine Seele“, so ist, neben dem plötzlichen Verstehen, die unmittelbare Expression, das „Aushauchen“ der „Fülle“ des Geistes, „das erste nothwendigste Athmen eines so gewürdigten Herzens“332. Ähnlich der normfreien, glossolalischen Expressivität der „neuen Sprache“333, die der Geistliche an Pfingsten entstehen sieht, entspringt nach Ansicht des Pamphletisten des Baukunstaufsatzes auch der ästhetischen Geistbegabung eine neue künstlerische Ausdrucksweise. Ihre „aus inniger, einiger, eigner, selbstständiger Empfindung“ geschöpfte Individualität entfalte sich „unbekümmert, ja unwissend alles Fremden“334 und dränge eruptiv hervor.335 In ihrer Idiosynkrasie entzieht sich diese
_____________ 330 Baukunst, DjG, Bd. 2, S. 372f. 331 Ebd., S. 368. 332 Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 395. Der Traktatverfasser bezieht sich in der Fußnote zum zitierten Satz auf Apg. 19,6. Zum Verhältnis von Rezeption und Produktion vgl. beispielhaft auch Briefe, WA, 4. Abt., Bd. 2, S. 119f. (an Johann Gottfried Röderer, Herbst 1773) sowie das Gedicht „An Kenner und Liebhaber“: „Was frommt die glühende Natur/ An deinem Busen dir?/ Was hilft dich das Gebildete/ Der Kunst rings um dich her?/ Wenn liebevolle Schöpfungskraft/ Nicht deine Seele füllt,/ Und in den Fingerspitzen dir/ Nicht wieder bildend wird?“ Gedichte, DjG, Bd. 2, S. 175 („An Kenner und Liebhaber“, frühe Fassung). Vgl. hierzu auch Robson-Scott 1981, S. 58. 333 In den Zwo wichtigen bisher unerörterten biblischen Fragen läßt Goethe den fiktiven Briefsteller das pfingstliche Sprachenwunder paraphrasieren: „Der verheissene Geist erfüllt die versammelten Jünger mit der Kraft seiner Weisheit. […] Die göttlichste Empfindung strömt aus der Seel in die Zunge, und flammend verkündigt sie die grosen Thaten Gottes in einer neuen Sprache […] und das war die Sprache des Geistes.“ Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 394. Der Pamphletär bezieht sich auf Apg. 2,1ff. Vgl. auch die Verheißung „neuer Sprachen“ im Markusevangelium: „Und durch die, die zum Glauben gekommen sind, werden folgende Zeichen geschehen: In meinem Namen werden sie Dämonen austreiben; sie werden in neuen Sprachen reden“. Mk. 16,17 zit. n. Einheitsübersetzung. 334 Baukunst, DjG, Bd. 2, S. 373. 335 Zur Autonomie der „Originalwerke“ in der ästhetischen Theorie Edward Youngs (16831765) vgl. Fischer 1992, S. 181: „Die ‚Originalwerke‘ genügen sich selbst, ihre ästhetische Autonomie entzieht sie der Geschichte und der Tradition. Ihr Verhältnis ist das einsame Nebeneinander, das die verschiedenen in sich konsistenten und gültigen, aber alle anderen ausschließenden Logiken der Werke versammelt.“
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„karackteristische Kunst“336 ebenso den hergebrachten ästhetischen Normen wie sich die Glossolalie über die starren Ausdrucksmuster der konventionell regulierten Sprache hinwegsetzen muß, um sich gerade in dieser Normüberschreitung als göttlich eingegeben zu erweisen.337 Sowohl die verzückte Sprache als auch die „karackteristische Kunst“ prägt dabei der regelvergessene, eruptive Drang, sich auszudrücken, der im Begriff der „Notwendigkeit“, in beiden Texten akzentuiert, seinen Niederschlag findet.338 Die Ästhetik dieser „karackteristische[n] Kunst“ weist ein bezeichnendes Spannungsverhältnis zwischen ihrer objektiven Simplizität und ihrer subjektiven Unzugänglichkeit für den nicht mit dem Genius Begabten auf. Nicht durch ein Übermaß ästhetischer Verstiegenheit wird sie schwer faßbar, sondern durch die ihr eigene Klarheit: „ganz, groß, und bis in den kleinsten Theil nothwendig schön“339, ein „Coloß“340, ist diese Kunst, der die „erdrechsel[ten]“341 Hervorbringungen des epigonalen „schwachen Geschmäckler[s]“ gegenüberstehen.342 Es ist vielmehr der persönlichen Verstellung des Rezipienten, seiner aus Verkünstelung geborenen hermeneutischen Taubheit, zuzuschreiben, wenn er diese erhabene Wahrheit nicht erkennt. Diese hermeneutische Unzulänglichkeit erscheint dabei als conditio humana, von der allein die besondere, gnadenhaft zuteilgewordene Disposition zur Erkenntnis, d.h. die erkennende
_____________ 336 Baukunst, DjG, Bd. 2, S. 373. 337 Dies entspricht der legitimierenden Funktion der Inspirationsvorstellung in ihren zwei Ursprungsmythen, dem griechisch-antiken wie dem christlichen. Mit dem geliehenen Wahrheitsanspruch der als inspiriert betrachteten Äußerung ist die Anerkennung der sich potentiell aller Normen entledigenden Autonomie der inspirierten Kunst eng verwoben. Vgl. zur Geschichte der Inspirationsvorstellungen Jacob 2002, S. 311. 338 Das eigene verzückte Sprechen ist nach Ansicht des Geistlichen an Pfingsten „das erste nothwendigste Athmen eines so gewürdigten Herzens“, während im Baukunstaufsatz etwa selbst Details der Turmverzierung als notwendig bezeichnet werden („Alle diese Maßen waren nothwendig“, „das all war nothwendig“, ähnlich auch: „ganz, groß, und bis in den kleinsten Theil nothwendig schön“). Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 395 u. Baukunst, DjG, Bd. 2, S. 371 u. 366. 339 Ebd., S. 366. 340 Ebd., S. 367. 341 Ebd., S. 368. 342 Solcher „reichen Einfalt der Vollkommenheit“ singt auch die zweite enthusiastische Künstlerrhapsodie der Zeit, Zum Schäkespears Tag, ihr exstatisches Loblied; „danck sey meinem erkenntlichen Genius“. Schäkespears Tag, DjG, Bd. 2, S. 362. Ganz in Übereinstimmung mit dem Baukunstaufsatz propagiert die Rede ebenfalls eine Ästhetik der „Colossalische[n] Grösse“, wie Shakespeare sie paradigmatisch geschaffen habe. Ebd., S. 364, Hervorhebung des Originals nicht übernommen.
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Seele und die Segnung mit dem Genius, wieder befreit: „Wäre dein Ohr nicht für Wahrheit taub, diese Steine würden sie dir gepredigt haben.“343 Dieses Spannungsverhältnis von ästhetischer Einfachheit und hermeneutischer Unzugängigkeit, das zum proprium der „karackteristische[n] Kunst“ wird, fügt sich in die Ausführungen des schreibenden Geistlichen der Zwo wichtigen bisher unerörterten biblischen Fragen zum pfingstlichen Sprachenwunder. Wenn „der verheissene Geist“ die versammelten Jünger „erfüllt“ und die „göttlichste Empfindung […] aus der Seel in die Zunge [strömt]“, dann zeichnet eben dieses Spannungsverhältnis auch die neue „Sprache des Geistes“344 aus, wie sie sich für den fiktiven Verfasser des Bibeltraktats in der Glossolalie Bahn bricht. Gerade die ästhetische Einfachheit dieser neuen Ausdrucksweise bedingt ihre hermeneutische Unzugängigkeit, die erst durch die pneumatische Disponierung überwindbar wird: Das war jene einfache, allgemeine Sprache, die aufzufinden mancher grose Kopf vergebens gerungen. In der Einschränkung unsrer Menschlichkeit ist nicht mehr als eine Ahndung davon zu tappen.345
Pfingsten als hermeneutisches und produktionsästhetisches Paradigma Der Baukunstaufsatz ist ein in hohem Maße poetologischer Text. Er propagiert nicht nur eine nachzuahmende künstlerische Ausdrucksform und breitet die Voraussetzungen ihrer Entstehung aus, sondern möchte zugleich eigene Äußerung des exstatisch gefeierten Genius sein: „Von Verdiensten die wir zu schätzen wissen, haben wir den Keim in uns“346, ruft der junge Goethe am 14. Oktober 1771 den Teilnehmern der Shakespearefeier im Großen Hirschgraben zu, und es besteht kein Zweifel, daß der enthusiasmierte Sprachduktus der Rede selbst sich diesem „Keim“ erwachsen sehen möchte, wie auch der Verfasser des Baukunstaufsatzes den „schwachen Geschmäckler“ an seiner genialischen Sprache ruhig „ewig schwindlen“347 lassen möchte. Diese eigene genialische Ästhetik, als deren erste Hervorbringungen sich die Pamphlete lesen, hat einen entscheidenden Bezugspunkt in der
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Baukunst, DjG, Bd. 2, S. 369. Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 394, Hervorhebung des Originals nicht übernommen. Ebd. Schäkespears Tag, DjG, Bd. 2, S. 361. Baukunst, DjG, Bd. 2, S. 367.
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geistgewirkten Glossolalie, wie sie Gegenstand der intensiven Auseinandersetzung Goethes, aber auch etwa Hamanns und Herders ist. Der Sturm-und-Drang-Gestus, Normen schlichtweg nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen, nicht die Verständlichkeit, sondern nur das eigene, sich bahnbrechende Ausdrucksbedürfnis zum Maß zu nehmen und Individualität zu entfesseln, wählt sich hier die Geistsendung an Pfingsten zum Paradigma. Fallen doch in der Perikope der Apostelgeschichte plötzliches, geistgewirktes Verstehen im „ewigen Augenblick“ und eigene schöpferische Hervorbringung zusammen.348 Zu Recht hat Jacob die „Genie-Konzeption des Sturm-und-Drang“ als „Säkularisat des radikal-pietistischen Inspirationsbewußtseins“349 bezeichnet. Die pneumatische Zungenrede als zugrundeliegendes Paradigma solchen Inspirationsbewußtseins wurde jedoch bislang nicht erkannt. Die Pose des Lallens Das seit ca. 1771 immer wieder aufgegriffene Motiv des Lallens in der Ästhetik des jungen Goethe ist diesem ästhetischen Modell der ‚lallenden‘ Zungenrede geschuldet, das Goethe in den Rollentexten Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen und Brief des Pastors reflektiert. Das religiöse wie das künstlerische Arkanum entzieht sich der Kodifizierung im normativen System der Sprache, weil es in seiner Idiosynkrasie nicht mehr intersubjektiv mitteilbar ist. Produktion ist damit nicht mehr ingeniös, indem das durch die Tradition Vorgefundene spielerisch umgebildet, neu kombiniert und reizvoll variiert sich in die Kette der Erudition einfügt, die zugleich Bedingung seiner Entstehung ist, sondern das selbstreferentielle Produktionsschema wird zugunsten einer eruptiv hervordrängenden, ungebundenen Schöpferkraft durchbrochen.350 Der Genius und die ihm zu verdankenden, individuell erfahrenen Wahrheiten sperren sich dagegen, wie der
_____________ 348 Vgl. beispielsweise auch die Gestaltung des „ewigen Augenblicks“, zu dem der Shakespeare-Redner die erste, freilich nur ahnende Begegnung mit Shakespeares Werk stilisiert: „Die erste Seite die ich in ihm las, machte mich auf Zeitlebens ihm eigen, und wie ich mit dem ersten Stücke fertig war, stund ich wie ein blindgebohrner, dem eine Wunderhand das Gesicht in einem Augenblicke schenckt. Ich erkannte, ich fühlte auf’s lebhaffteste meine Existenz um eine Unendlichkeit erweitert, alles war mir neu, unbekannt, und das ungewohnte Licht machte mir Augenschmerzen.“ Schäkespears Tag, DjG, Bd. 2, S. 361f.; vgl. hierzu auch Anglet 1991, S. 216. 349 Jacob 2002, S. 314. Jacob lehnt sich eng an Schneider an. Vgl. u.a. auch Schneider 1995, S. 9. 350 Vgl. Schrader 2000, S. 354f.
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Autor des Baukunstaufsatzes warnt, auf „fremden Flügeln, und wären’s die Flügel der Morgenröthe, empor gehoben und fortgerückt [zu] werden.“351 Wer die Privatoffenbarung dennoch zu medialisieren sucht, d.h. sie in das ihr nicht gemäße Korsett der vorgegeben Sprache zwängen will, gefährde damit seine persönliche hermeneutische Disposition: Und ihr selbst, treffliche Menschen, denen die höchste Schönheit zu genießen gegeben ward, und nunmehr herabtretet, zu verkünden eure Seeligkeit, ihr schadet dem Genius.352
An die Stelle des Mitteilungsaktes des Sprechens tritt damit der bloße Ausdrucksakt des Lallens, für den das Kriterium der Verständlichkeit irrelevant ist. So bemerkt schon der schreibende Geistliche des Briefs des Pastors: „Wenn man von Dingen spricht die niemand begreift, so ists einerley was für Worte man braucht.“353 In diesem Sinne lehnt der vorgebliche Briefschreiber auch die vieldiskutierten „Liederverbesserungen“ leidenschaftlich ab.354 Wenn es gleichgültig ist, „was für Worte man braucht“, besteht keine Notwendigkeit, die Gesangbücher einer kritischen Revision zu unterziehen. Jenseits des möglicherweise zweifelhaften Inhalts erfüllen die Lieder ihren subjektiv erbaulichen Zweck, wenn sie den Sänger zur affektiven Empathie mit dem Pneuma des Dichters führen: was ist dran gelegen was man singt, wenn sich nur meine Seele hebt, und in den Flug kömmt, in dem der Geist des Dichters war […].355
Noch ganz auf seinen religiösen Ursprungsbereich bezogen, verwendet der Rezensent Goethe die Figur des kausalen Zirkels von geistgewirktem, plötzlichen Verstehen und geistgewirktem, lallendem Ausdruck in einer Protokollrezension der von den Radikalaufklärern Carl Friedrich Bahrdt (1740-1792) und Jakob Heinrich von Gerstenberg (1712-1776) verfaßten
_____________ 351 Baukunst, DjG, Bd. 2, S. 374. Die „Flügel der Morgenröthe“ nehmen das Motiv aus Psl. 139,9 auf. 352 Baukunst, DjG, Bd. 2, S. 374. 353 Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 379. 354 Zur Gesangbuchreform vgl. Möller 2000, S. 203ff. Der Hymnologe stellt noch in der um Verständnis bemühten Rückschau auf die Reformbewegung mit Mokanz fest: „Im berechtigten Bemühen, das geistliche Singen zeitgemäß zu aktualisieren und einheitlich zu profilieren, ereignet sich der größte Bruch in der Gesangbuch-Entwicklung: Ohne Gespür für Geschichte, ohne Verständnis für biblische Metaphern und Tiefendimensionen der Symbole wird der Hauptteil des überkommenen Liedbestand ausgeschieden, der verbleibende Rest durch Umdichtung bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Die entstandenen Lücken werden durch eine Flut von ad hoc verfaßten rationalistischen oder rührseligen Texten aufgefüllt.“ Ebd., S. 203. Vgl. auch die Gesangbuchrezension; FGA, Nr. 75, 18. September 1772 (Rezension zur Sammlung verbesserter und neuer Gesänge). 355 Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 386
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Schrift Eden, das ist, Betrachtung über das Paradies und die darinnen vorgefallenen Begebenheiten (1772). Das Buch schicke sich mit „ikonoklastische[m] Eifer“ an, „auf einmal die Welt von dem Überrest des Sauerteigs [zu] säubern und unserm Zeitalter die mathematische Linie zwischen nötigem und unnötigem Glauben vor[zu]zeichnen“356. Zu den Anmaßungen des Traktates gehöre es, das soteriologische Arkanum des Opfers Christi im lapidaren Ton darlegen zu wollen.357 Doch von diesen „sonderbarsten Erscheinungen“ könne nicht in „deutsche[n] Universitätsbegriffe[n] des 18. Jahrhunderts“358 klar gesprochen werden; auch der „scharfsichtigste Geist“ bedürfe erst der pneumatischen Disposition, die sich im Lallen als einzig angemessener Ausdrucksform bestätige: Mit dieser Dreustigkeit erklärt er die sonderbarsten Erscheinungen in der Geschichte der Menschheit, worunter gewiß die Opfer gehören und von deren Entstehung der scharfsichtigste Geist nichts zu lallen vermag, wenn er keinen positiven Befehl Gottes annehmen will.359
Diese Koppelung von gnadenhaft erfahrenem, einfühlendem Verstehen und unmittelbarem, lallendem Ausdruck findet sich beispielsweise auch in der kurzen Notiz, die Goethe im Mai 1772 über einen Kupferstich („nach Mich. Angelo von Caravaggio, von Oesern gezeichnet, von Bausen radirt“360) in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen veröffentlicht. Hier dem Baukunstaufsatz ähnlich, transformieren sich die pietistische Entrückung
_____________ 356 FGA, Nr. 49, 19. Juni 1772 (Rezension zu Jakob Heinrich v. Gerstenberg/Carl Friedrich Bahrdt, Eden, das ist, Betrachtung über das Paradies und die darinnen vorgefallenen Begebenheiten). Die Schrift stammt von Gerstenberg, erscheint jedoch anonym und mit einem namentlich gekennzeichneten Vorwort Bahrdts. Stilistische und inhaltliche Nähe der Position des Rezensenten zu den in den Zwo wichtigen bisher unerörterten biblischen Fragen ausgebreiteten Positionen (v.a. Inspirationsvorstellung, Skepsis akademischen Terminologie- und Theologumenasysteme gegenüber, Verteidigung des literarischen Eigenwertes „morgenländische[r] Dichtkunst“, die „nicht in einer homiletischen Sündflut ersäuft“ werden dürfe) lassen den Verfasser eine (Mit-) Autorschaft Goethes annehmen; ebenso Kertscher 1995, S. 63 u. Schyra 1987, S. 109. Bräuning-Oktavio sieht hingegen v.a. Anhaltspunkte für eine Autorschaft Herders. Vgl. Bräuning-Oktavio 1966, S. 647f; hier umfangreiche Dokumentation der Zuschreibungsdebatte. 357 Der vom Rezensenten gerügte Paragraph des Traktates versucht, den in diesem Falle weithin orthodoxen Lehrsatz zu belegen: „Man kann demnach gar wohl sagen, das Opfer des Blutes Christi versöhne uns, indem es unser eigenes Blut des Lebens, oder der Wirksamkeit, beraubet.“ Gerstenberg, Eden, S. 151f. 358 FGA, Nr. 49, 19. Juni 1772 (Rezension zu Jakob Heinrich v. Gerstenberg/Carl Friedrich Bahrdt, Eden, das ist, Betrachtung über das Paradies und die darinnen vorgefallenen Begebenheiten). 359 Ebd. 360 Ebd., Nr. 38, 12. Mai 1772 (Notiz zu Kupferstichen), Hervorhebung des Originals nicht übernommen. Der anonym erschienene Artikel wird von der Forschung übereinstimmend Goethe zugeschrieben. Vgl. hierzu Bräuning-Oktavio 1966, S. 637.
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und heilige Begeisterung, wie Osterkamp darlegt, wiederum in den Enthusiasmus der Kunsterfahrung.361 Da „Empfindung und Erkänntniß“ einhergehen, legt der Rezensent den Stich anderen „fühlenden Seelen“ ans Herz und kann selbst wiederum dieses „empfundenste Kunstwerk“ nur lallend angemessen lobpreisen: Es ist das empfundenste Kunstwerk, das uns seit langer Zeit vor die Augen gekommen. Auch lallen wir nur eine Anzeige, um jeden wahren Liebhaber einzuladen, mit uns die Freuden der Empfindung und Erkänntniß zu geniessen, die eine anhaltende Betrachtung solch eines Werks, einer fühlenden Seele reichlich gewährt.362
Diese „anhaltende Betrachtung“, in der sich das kongeniale, durchdringende Erkennen und Verstehen des Kupferstiches wie der Münsterfassade vollzieht, weist dabei über die rein optische Betrachtung (visio) hinaus auf die spirituelle Betrachtung (visio beatifica) als Schau der nicht zu versprachlichenden Dinge. Dieser pneumatischen Hermeneutik entspringt die gleichfalls pneumatische Produktionsästhetik des Lallens. So versteigt sich Goethe als Rezensent von Lavaters Aussichten in die Ewigkeit, in Briefen an Zimmermann (Bd. 3, 1773) zu einer fast gebetsartigen Beschwörung Lavaters: die „Herrlichkeit“ des „gewürdigten Seher[s] unsrer Zeiten“, vermutlich Swedenborgs, „umleucht“ den Autor, wenns möglich ist, durchglüh ihn, daß er einmal Seeligkeit fühle, und ahnde, was sey das Lallen der Propheten, wenn αρρητα ρηματα den Geist füllen!363
Wiederum ermöglicht eine Geistbegabung einfühlendes Ahnen einer propagierten neuen Ästhetik, einer „Sprache des Geistes“ (Zwo biblische Fragen), die als prophetisch inspiriertes Lallen „unaussprechlicher“, in das normierte System der Sprache nicht zu kleidender Erkenntnisse („αρρητα ρηματα“) vorgestellt wird, wie im Brief des Pastors mit den „unaussprechliche[n] Empfindungen“ und den „unaussprechliche[n] Dinge[n]“364 gerungen wird und in der Dritten Wallfahrt nach Erwins Grabe im Juli 1775
_____________ 361 Vgl. Osterkamp 1991, S. 16. 362 FGA, Nr. 38, 12. Mai 1772 (Notiz zu Kupferstichen). Vgl. zu Goethes Kupferstichrezension auch Osterkamp 2001, S. 153f. Osterkamp rückt hier das Lallen des Rezensenten in den Kontext der Dämmerungsstimmung des Kupferstiches: „Die phonetische Diffusion des Lallens beim Rezensenten bildet die sprachliche Entsprechung zur optischen Diffusion der Dämmerung im Bilde.“ Ebd., S. 154; vgl. hierzu auch Sauder 2001b, S. 51ff. 363 FGA, Nr. 88, 3. November 1772 (Rezension zu Johann Caspar Lavater, Aussichten in die Ewigkeit, in Briefen an Zimmermann), Hervorhebung des Originals nicht übernommen. Der Rezensent alludiert 2 Kor. 12,4. Die Autorschaft Goethes kann mit Sicherheit angenommen werden. Vgl. Bräuning-Oktavio 1966, S. 695. 364 Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 384.
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nach Worten gesucht wird für das, „was […] unaussprechlich, und unausgesprochen glücklich macht“365. Ebenso ringt Goethe im Brief an die pietistische Stiftsdame Auguste von Stolberg (1753-1835) in „stammelnde[m] Ausdruck“ um Worte, „wenn das Bild des Unendlichen in uns wühlt“366, der ShakespeareLaudator Goethe stellt klar, daß nicht damit zu rechnen sei, daß er „ordentlich schreibe“367 und der Autor des Fragment gebliebene Epos vom Ewigen Juden reimt im holprigen Vers „Bewältigungs-Spott“368 (Schrader) über die ihn irritierende Inspiration: Drum hör’ es denn wenn dir’s beliebt So kauderwelsch wie mir der Geist es giebt.369
Dieser glossolalischen Ästhetik korrespondiert dialektisch als einzig angemessene Hermeneutik eine Strategie gleichfalls geistgewirkten, plötzlichen Verstehens auch der tieferen Schichten der Wahrheit. Eine solchen Hermeneutik der partikularen ‚Erfahrung‘ hat der fiktive Autor des Brieftraktates Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen bereits für sich umrissen: Im Gegensatz zum oberflächlichen, Bibelverständnis jener, „die sich hinsetzen ein ganzes Buch, ja viele Bücher unsrer Bibel, an einem Faden weg zu exegesiren“, danke er, wenn ihm „hier und da ein brauchbarer Spruch aufgeh[e]“370. Der Baukunstaufsatz stilisiert das Originalgenie also einerseits selbst zur prometheisch trotzenden, gottähnlichen Schöpfergestalt, zum „second maker“371 im Sinne Shaftesburys, wie bislang stets von der Forschung
_____________ 365 Dritte Wallfahrt, DjG, Bd. 2, S. 455. Zum Motiv des Unaussprechlichen im Werther vgl. Vollmer 2003, S. 482ff. 366 Briefe, WA, 4. Abt., Bd. 2, S. 230 (an Auguste Louise Gräfin zu Stolberg-Stolberg, 18.-30. Januar 1775). 367 Schäkespears Tag, DjG, Bd. 2, S. 361: „Erwarten Sie nicht, das ich viel und ordentlich schreibe, Ruhe der Seele ist kein Festtagskleid […]“. 368 Schrader 1994, S. 73. 369 Ewige Jude, DjG, Bd. 2, S. 158. Vgl. hierzu auch Schrader 1994, S. 72f. Zu weiteren ähnlichen Beispielen vgl. Anglet 1991, S. 211ff. Morris trägt weitere Belege zum „Lallen“ bei Goethe und Herder zusammen. Vgl. Morris 1915, S. 125f. 370 Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 388. In ähnlicher Weise gestaltet Goethe gegenüber Herder seine revelatorische Begegnung mit der griechischen Ästhetik und insbesondere dem Werk Pindars. Vgl. Briefe, WA, 4. Abt., Bd. 2, S. 15f. (an Johann Gottfried Herder, Mitte Juli 1772); hierzu auch Anglet 1991, S. 216. 371 In Abgrenzung zum epigonalen Künstler umreißt Shaftesbury (Soliloquy: or Advice to an Author, 1710) den wahren Künstler als „second maker“: „But fort he Man, who truly and in a just sense deserves the Name of Poet, and who as a real Master, or Architect in the kind, can describe both, Man and Manners, and give to an Action its justo Body and Proportions; he will be found, if I mistake not, a very different Creature. Such a Poet is indeed a second
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hervorgehoben. Andererseits wählt sich der Text, der auch hinsichtlich seiner argumentativen Stringenz das als kleinlich empfundene Korsett logischer Normen abwirft, den Gestus der geistgewirkt „lallende[n] Affektation“372 des Glossolalen zum ästhetischen Modell. Mit diesem Gestus des Lallens und seiner genialischen Pose wird nicht das Lallen selbst übernommen; vielmehr kokettiert er mit einer getriebenen, sich überschlagenden Ästhetik, die sich auch da noch dem Regelsystem der Sprache unterwirft, wo sie sich im Gestus der verzückten Normvergessenheit gefällt. Ergebnis ist nicht eine Semantik des Lallens, sondern zuvörderst eine Pose des Lallens. So wenig diese doppelte Stilisierung der Produktionsästhetik widerspruchsfrei und stringent ist, so sehr findet sie in der ihr gemäßen Hermeneutik wieder zusammen: Für die Hervorbringungen des zum alter deus stilisierten Originalgenies wie für die geistgewirkte, zunächst unverständliche Eruption des Glossolalen eignet sich die vom Pietismus bereitgestellte Verstehensstrategie als pneumatisches Korrelat einer sakralisierten Produktionsästhetik. Die drei anonym erschienen, hochexperimentellen Texte Brief des Pastors, Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen und Von Deutscher Baukunst müssen aufeinander bezogen werden, um zu erkennen, wie Goethe in spielerischer Umbildung pietistischer Paradigmen eine pneumatische Hermeneutik und pneumatische Produktionsästhetik entwickelt, die im Gestus genialischen Verstehens und genialischen Ausdrucks weit über die knappen Schriften hinaus Wirkung entfalten. Die „lallende Affektation“, die der Rezensent des Baukunsttraktates rügen zu müssen glaubte, trifft den Kern der propagierten Ästhetik damit weit besser als Goethes eigene Rückschau in Dichtung und Wahrheit auf die Eloge Erwins. Als verstünde er die ästhetische Intention der exaltierten Rhapsodie selbst nicht mehr, mäkelt der spätere Goethe, er habe, statt die Schrift „klar und deutlich, in vernehmlichem Stil abzufassen“, es damals, „durch Hamanns und Herders Beispiel verführt“, vorgezogen, den Traktat „in eine Staubwolke von seltsamen Worten und Phrasen“ zu „verhüll[en]“373.
_____________ Maker: a just PROMETHEUS, and JOVE.“ Shaftesbury, Characteristicks, Bd. 1, S. 207 (Soliloquy). Vgl. auch Götting 1947, S. 498. 372 Erfurtische Gelehrte Zeitung, Nr. 99, 10. Dezember 1772. 373 Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 9, S. 508, 12. Buch.
Die Wagnerszene im Faust (frühe Fassung)
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Die Wagnerszene im Faust (frühe Fassung) Der junge Goethe breitet die ungeheuren ästhetischen Möglichkeiten der sich neu eröffnenden Ausdrucksmuster und der ihnen vorausgesetzten Verstehensleistungen in den ersten Arbeiten am Faust noch einmal aus und führt sie zugleich an ihr Ende. In der Wagnerszene der Tragödie, die schon in der frühesten überlieferten Fassung („Urfaust“) vollständig ausgeführt ist, werden neuerlich die hermeneutischen und produktionsästhetischen Paradigmen diskutiert, die den jungen Goethe fesseln. Nachfolgend soll eine Lektüre vorgeschlagen werden, die diese Szene, entstanden ca. 1773/1774, in engem Bezug auf die beiden Brieftraktate vorgeblich schreibender Pastoren versteht: In der Gegenüberstellung von Faust und seinem Famulus sollen inszenatorische wie inhaltliche Muster aufgezeigt werden, die in den vorgeblichen Brieftraktaten pietistischer Geistlicher grundgelegt sind. Der direkte Bezug der Wagnerszene auf die „theologischen Jugendschriften“ und zumal auf die Zwo wichtigen bisher unerörterten biblischen Fragen wurde indes von der Forschung bislang kaum zur Kenntnis genommen; Raabe führt die Passage etwa in seiner Zusammenstellung der pietistisch beeinflußten Szenen der Tragödie ebensowenig auf, wie Schöne den Bezug kommentiert.374 Lediglich Fischer-Lamberg geht in ihrem Kommentar zur frühen Faustfassung auf diese innere Verwobenheit der Texte ein.375 Über die Figur des Famulus Wagner bemerkt sie: „[…] in den Zwo biblischen Fragen spukt diese Gestalt in dem Sohn des Landgeistlichen, dem Magister, gleichsam vor, ist hier noch Entwurf, gilt einer Nebenperson, um in dem Gespräch Faust-Wagner Selbständigkeit als Träger einer engen, wenn auch geschlossenen Lebensansicht zu erlangen.“376 Doch nicht nur Wagner findet in den Zwo biblischen Fragen seinen Prätyp. Auch Züge Fausts weisen auf die Brieftraktate zurück: Der studierte Theologe vertritt gegenüber seinem Famulus Positionen, die ihn in die Nähe der Pfarrer-
_____________ 374 Vgl. Goethe (Raabe), S. 158ff. u. Kommentar zu Faust, FA, 1. Abt., Bd. 7/2, S. 219ff. Auch Trunz, Arens sowie die Münchner Ausgabe gehen nicht auf die Bezüge ein. Vgl. Kommentar zu Faust, HA, Bd. 3, S. 522ff.; Arens 1982, S. 97ff. u. Kommentar zu Faust, MA, Bd. 1.2, S. 752f. 375 Es sei der Biographismus gestattet, am Rande zu erwähnen, daß August Hermann Francke zu den direkten Vorfahren Fischer-Lambergs zählt. Vgl. Germanistenlexikon, Artikel „Fischer-Lamberg, Hanna“. 376 Kommentar zu Urfaust, F-L, Bd. 5, S. 472. Im Rahmen der Debatte um die Datierung der ersten Arbeiten am Fauststoff geht Fischer-Lamberg näher auf die Bezüge der beiden Texte ein. Vgl. Fischer-Lamberg 1957, S. 396ff.
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gestalten rücken, wie insbesondere im Hinblick auf die kausale Bedingtheit geistgewirkten Verstehens und originären Sprechens dargelegt werden soll. Fausts Verteidigung einer pneumatischen Hermeneutik In der Gegenüberstellung von Genie und Gelehrtem greift Goethe neuerlich auf die Technik der kontrastiven Exposition zurück, die auch dem Brief des Pastors, den Zwo biblischen Fragen und Von Deutscher Baukunst gemein ist; zumal der Brieftraktat zum Buch Exodus und zum Pfingstwunder kann als Modell dieses inszenatorischen Verfahrens gelten. Bemerkenswert ist zunächst, wie stringent die Figurenkonstellationen trotz der unterschiedlichen gattungsspezifischen Anforderungen eines Brieftraktats und eines lustspielhaft-komischen Dramenauftritts parallelisiert sind: Der Hauptperson Faust ist in persona Wagners die verzerrte, inferiore Kopie seiner selbst zur Seite gestellt wie dem Landgeistlichen der Zwo wichtigen bisher unerörterten biblischen Fragen sein beschränkter Sohn, der ihm im Beruf nachzufolgen gedenkt. Professor und Pastor haben im „Lebens- und Amtsgange“377 die Erkenntnisgrenzen schauen können und so – trotz oder gerade wegen ihrer jeweiligen Stellung – zur hermeneutischen Bescheidenheit derer gefunden, die wissen, daß es letztlich nicht ihrer eigenen Leistungen und Bemühungen, sondern zuvörderst einer besonderen Disposition bedürfe, um zu erkennen. Der Geistliche, der „niemals ein Freund von Büchern, am wenigsten von Exegetischen war“378, ist sich bewußt, daß er nicht „ein ganzes Buch […] an einem Faden weg […] exegesiren“ kann, sondern daß er dankbar zu sein hat, „wenn [ihm] hier und da ein brauchbarer Spruch aufgeht“379. Ebenso belächelt der Gelehrte in seiner bücherüberladenen Studierstube Wagners Zutrauen zur papiernen Erkenntnis und umreißt ebenfalls ein hermeneutisches Konzept, das erkennende „Erquikung“ ihm nur passiv widerfahren läßt: FAUST. Das Pergament ist daß der heilge Bronnen, Woraus ein Trunk den Durst auf ewig stillt? Erquikung hast du nicht gewonnen
_____________ 377 Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 389. 378 Ebd., S. 388. 379 Ebd.
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Wenn sie dir nicht aus eigner Seele quillt.380
Indem Goethe „Pergament“ und „Seele“ als die divergierenden Erkenntniswege Wagners und Fausts nennt, reflektiert er die Dichotomie von „Gelehrsamkeit“ und „Empfindung“, mit der er den vorgeblichen Autor des Brieftraktats sich direkt zu Beginn der Zwo wichtigen bisher unerörterten biblischen Fragen von dessen Sohn absetzen läßt: Mein Sohn der Magister ist in der Stadt; ich kanns ihm nicht verdenken, er findet bey mir so wenig Unterhaltung für seine Gelehrsamkeit, als ich an ihm Liebeswärme für meine Empfindung […].381
Die Szene kann nicht zu einer Diskussion über eine konventionelle Rhetorik der eruditio im Gegensatz zu einem ungebundenen Gestus der unkonventionellen Rede verkürzt werden.382 Eben diese Verengung auf eine von der Hermeneutik abgekoppelte Rhetorik – „Was Vortrag!“ – weist Faust an der Vorstellung seines Famulus zurück, „Allein der Vortrag [nütze] dem Redner viel.“383 Wagners Bemühen um die Kunst der Deklamation („Ueberredung“384) beantwortet Faust mit einem umfassenderen Modell, das rhetorische Konzepte in ihrer engen Bezogenheit auf hermeneutische Paradigmen vorstellt, die diese wesentlich bestimmen.385 In Fausts Credo, „Wenn ihrs nicht fühlt ihr werdets nicht erjagen“386, kommt neuerlich der Kausalzusammenhang pneumatischen Verstehens und pneumatischen Ausdrucks zum Tragen. Die Maxime propagiert eine originäre Rede, die in ihrer natürlichen Expressivität die Konventionen und exempla hinter sich läßt und kein „Ragout von andrer Schmaus [braut]“387, sondern von der disponierten Empfindung aus eine authentische Ausdrucksweise sich ungezwungen entfalten sieht: FAUST. Wenn ihrs nicht fühlt ihr werdets nicht erjagen. Wenns euch nicht aus der Seele dringt Und mit urkräftigen Behagen
_____________ 380 381 382 383 384 385
Faust (frühe Fassung), DjG, Bd. 1, S. 543. Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 388. So etwa Requadt 1972, S. 77. Faust (frühe Fassung), DjG, Bd. 1, S. 542. Ebd., S. 541. Bereits der Briefsteller des Briefs des Pastors spottet über die „Redekunst“ derer, die bloß „mit Worten um sich werfen die sie nicht verstehen.“ Brief des Pastors, DjG, Bd. 2, S. 377. 386 Faust (frühe Fassung), DjG, Bd. 1, S. 542. 387 Ebd.
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Die Herzen aller Hörer zwingt.388
Innerhalb der hermeneutischen Konzeption Fausts, wie sie in der Wagnerszene deutlich wird, erscheint das „Herz“ (bzw. die „Seele“) gleichermaßen als wesentliche Erkenntnisinstanz und als Kommunikationsweg der Erkenntnis, ähnlich wie Johann Jakob Rambach in seiner Hermeneutik von der Emotion als „Canal“ der Erkenntnis spricht:389 „Doch werdet ihr nie Herz zu Herzen schaffen, / Wenn es euch nicht von Herzen geht.“390 Die besonders konditionierte, ‚fühlbare‘ „Seele“ wird neuerlich zur hermeneutischen Voraussetzung erhoben; „aus eigner Seele quillt“391 und „aus der Seele dringt“ Faust die Erkenntnis.392 Dieses Modell wird vom jungen Goethe, wie nachgewiesen werden konnte, erstmals im Hinblick auf die göttlich eingegebene Glossolalie theoretisiert und später im Aufsatz Von Deutscher Baukunst zum Ideal „karackteristischer Kunst“ transformiert. Die hermeneutisch-ästhetische Maxime Fausts, „Wenn ihrs nicht fühlt ihr werdets nicht erjagen“, liest sich damit als gedämpfte Variation der Vorstellungen, die Goethe im Hinblick auf eine originäre Architektur ekstatisch formuliert: Hättest du mehr gefühlt als gemessen, wäre der Geist der Massen über dich gekommen, die du anstauntest, du hättest nicht so nur nachgeahmt, weil sie’s thaten und es schön ist; nothwendig und wahr hättest du deine Plane geschaffen, und lebendige Schönheit wäre bildend aus ihnen gequollen.393
Die Wendung des ‚Quellens‘ bzw. ‚Drängens‘ aus der Seele folgt dabei der Präfiguration der abundantia cordis, wie das Matthäusevangelium sie vorgibt und Luther ihr im Deutschen die eindringliche Übersetzung gibt: „Wes das Hertz vol ist / des gehet der Mund uber.“394 Der alludierte biblische
_____________ 388 Ebd. Fischer-Lamberg weist auf die pietistische Prägung des Verbs ‚erjagen‘ im Sinne des Erringens einer Erkenntnis hin. Vgl. Kommentar zu Urfaust, F-L, Bd. 5, S. 473. In deutlicher Parallele zum Vers „Wenn ihrs nicht fühlt ihr werdets nicht erjagen“ heißt es im Konvolut Aus Goethes Brieftasche: „Wem’s nicht gegeben wird, wird’s nicht erjagen […].“ Brieftasche, DjG, Bd. 2, S. 449. 389 Vgl. hierzu Lischka 1975, S. 60ff. sowie Stroh 1977, S. 52. 390 Faust (frühe Fassung), DjG, Bd. 1, S. 542. 391 Ebd., S. 543. 392 Schmidt bemerkt zutreffend, zum „Spektrum der Emotionalisierung gehören“ Fausts „immer wiederkehrende Worte: Herz, Gefühl, Sinne.“ Schmidt 1999, S. 90. 393 Baukunst, DjG, Bd. 2, S. 367. 394 Mt. 12,34 zit. n. Lutherübersetzung; ähnlich Lk. 6,45. Die Vulgata schreibt, „ex abundantia enim cordis os loquitur“. Mt. 12,34 zit. n. Vulgata. Luther rechtfertigt sich im Sendbrief vom Dolmentschen umfänglich für seine Übersetzung der Stelle: „Als wenn Christus spricht: Ex abundantia cordis os loquitur. Wenn ich den Eseln sol folgen, die werden mir die buch-
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Prätext verknüpft die Voraussetzung eines hermeneutisch ausschlaggebenden Herzens mit sich natürlich ergebender, unverstellt-originärer Ausdrucksweise. Die zentralen Begriffe „Erquikung“, „dringen“ und „erjagen“, mit denen Faust operiert, zitieren hermeneutische Kategorien, wie Langen sie in seinem Wortschatz des Pietismus belegt.395 Noch ganz auf seinen religiösen Herkunftsbereich bezogen, wenngleich ins Negative gespiegelt, verwendet Goethe die Vorstellung des ‚Quellens aus der Seele‘ auch in einer Rezension der Aussichten in die Ewigkeit aus der Feder Lavaters. In den Frankfurter Gelehrten Anzeigen erhebt Goethe im November 1772 zur Kritik: von der Sprache des Himmels wollen wir sein Wohlgedachtes nicht abläugnen, doch quillt auch da nichts aus der Seele, es ist so alles in die Seele hereingedacht.396
In der angedeuteten kausalen Verknüpfung von Hermeneutik und Produktionsästhetik liegen auch die Grenzen der Versprachlichung begründet. Indem das „Herz“ bzw. die „Seele“ zur Instanz wie zum Kommunikationsweg der Erkenntnis wird, kollidiert die Subjektivität der Erkenntnisinstanz mit der Objektivität der Normen des sprachlichen Ausdrucks. Dieses sprachtheoretische Problem, das Goethe in seinen Extremformen am Beispiel der unverständlichen religiösen Zungenrede auslotet, klingt noch in den Knittelversen des Faust nach. Durch den Verweis auf das notwendige Scheitern derer, die in ihrem naiven Zutrauen in die Kommunikabilität „ihr Schauen offenbaarten“, wird das sprachliche Dilemma noch einmal auf die Religion als seinen Ursprungsbereich bezogen:
_____________ staben furlegen, und also dolmetzschen: Auß dem uberflus des hertzen redet der mund. Sage mir, Jst das deutsch geredt? Welcher deutscher verstehet solchs? Was ist uberflus der hertzen fur ein ding? […] sondern also redet die muotter ym haus und der gemeine man: Wes das hertz vol ist, des gehet der mund uber, das heist gut deutsch geredt, des ich mich geflissen, und leider nicht allwege erreicht noch troffen habe, Denn die lateinischen buchstaben hindern aus der massen, seer gut deutsch zu reden.“ Luther, WA, Bd. 30/2, S. 637 (Sendbrief vom Dolmetschen). 395 Zum Wort „Erquikung“ vgl. Langen 1954, S. 58, zur Vorstellung des „Dringens“ und „Drängens“ vgl. ebd., S. 27 sowie zum Wortfeld des „Jagens“ vgl. ebd., S. 193. Schmidt bemerkt richtigerweise, „daß alle entscheidenden Wahrnehmungen“ Fausts „nicht durch Beobachtungen, sondern durch prärationale ‚Schau‘ zustanden kommen“; wie konkret Fausts Erkenntnismodell jedoch durch pietistische Paradigmen vorgegeben ist, erkennt Schmidt nicht. Schmidt 1999, S. 90. Ähnlich Arens in seinem Faustkommentar: Faust verstehe unter „Erkenntnis“ eine „gefühlsbetonte innere Schau mit Evidenzcharakter.“ Arens 1982, S. 102. Fausts „Primat der Inspiration“ benennt Mayer, ohne jedoch das direkt auf pietistische Hermeneutik referierende Inspirationsmodell aufzuzeigen. Mayer 1969, S. 178. 396 FGA, Nr. 88, 3. November 1772 (Rezension zu Johann Caspar Lavater, Aussichten in die Ewigkeit, in Briefen an Zimmermann). Zur Lavater-Rezension in den FGA vgl. FischerLamberg 1957, S. 396ff.
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FAUST. Ja was man so erkennen heisst. Wer darf das Kind beym rechten Nahmen nennen? Die wenigen die was davon erkannt Die Thörig gnug ihr volles Herz nicht wahrten. Dem Pöbel ihr Gefühl ihr Schauen offenbaarten Hat man von ie gekreuzigt und verbrannt.397
Indem die „Thörig[en]“ ihre idiosynkratische Erkenntnis, „ihr Gefühl ihr Schauen“, ans Licht der Verlautbarung zerren, verletzen sie das Arkanum. Ganz Arnolds Sicht auf die Kirchengeschichte entsprechend, riskieren sie damit, wie Christus gekreuzigt oder wie Ketzer verbrannt zu werden. Die Seele kann nur individuell ihrem Gott begegnen; diese Begegnung mitzuteilen, scheitert an den Grenzen der Sprache: Der Versuch der Objektivierung der Religion negiert ihr Wesen, während der subjektive Ausdruck der Begegnung mit Gott dem Heer der Unverständigen seit je verdächtig war.398 Goethe läßt Faust das Selbstverständnis der zeitgenössischen Inspirierten zitieren, die unter Verweis auf die Evangelien Christus in die Reihe derer stellen, die ob ihres Pneumas ausgestoßen, gar getötet werden.399 Insbesondere die Tradition der pietistisch-sezessionistischen Selbst- und Fremdbiographien, u.a. die Historie Der Wiedergebohrnen (1698-1745), zieht diese pneumatische Stigmatisierung Christi als Präfiguration eigner Ausgrenzungen und Verfolgungen heran.400 In diesem Wissen um eine sich der Versprachlichung letztlich entziehende Schau spricht der schreibende Pfarrer der Zwo biblischen Fragen von der „geheimen Spaarbüchse“, in der er seine idiosynkratischen Erkenntnisse wohl verschließe und „die nun freylich einer wie der andre bey Seite verwahrt“401. Noch in seiner säkularisierten, auf die Kunst bezogenen Adaption des Erkenntnismodells warnt auch der Autor des Baukunstaufsatzes davor, die Offenbarung der gnadenhaft erfahrenen Schau medialisieren zu wollen:
_____________ 397 Faust (frühe Fassung), DjG, Bd. 1, S. 544. 398 Vgl. Schneider 2001, S. 81. 399 So erwähnen Johannes und Markus, Christus sei verdächtigt worden, von Dämonen besessen zu sein Vgl. Joh. 10,20 u. Mk. 3,21. 400 Etwa der Biograph des „Erweckten“ Conrad von Beuningen schreibt in der Historie Der Wiedergebohrnen: „Hierauff giengs man an / mit Lästern / Schimpffen und Spotten / seiner Person. Seine Frau und Freunde […] hielten ihn für einen Unsinnigen; eben wie die Verwandte Christi den Heyland selbsten / Marc. 3/21.“ Reitz, Historie, S. 124 (Lebensbeschreibung Conrad v. Beuningen). Weitere Einordnungen und Belege dieses Referenzschemas gibt Schrader. Vgl. Schrader 2000, S. 359f. 401 Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 389.
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Und ihr selbst, treffliche Menschen, denen die höchste Schönheit zu genießen gegeben ward, und nunmehr herabtretet, zu verkünden eure Seeligkeit, ihr schadet dem Genius.402
Der „trockne Schwärmer“ als „theologische Kameralist“ Faust wie dem Pastor stehen ihre jeweiligen inferioren Zerrbilder zur Seite, die in beiden Texten als „Magister“403 auftreten. Den Gelehrten Faust kontrastiert Goethe mit dem zur Humanistenkarikatur geronnenen Famulus; dem lebenserfahrenen Landgeistlichen stellt er den jungen, anmaßenden Nachwuchstheologen zu Seite, der so „gewaltig auf einen Professor [sticht]“404, wie dies als Berufs- und Lebensziel wohl ebenso für Wagner angenommen werden darf. Wie der Sohn des schreibenden Pastors mit seinem neologischaufklärerischen Optimismus einen „Universalschlüssel“ zur Heiligen Schrift gefunden zu haben und alle „widrige[n] Stellen“ dem menschlichen Verstande anbequemen zu können glaubt, wird auch Wagner als Vertreter der Aufklärung gekennzeichnet:405 „Die Schilderung des Magisters durch seinen Vater wirkt“, bemerkt Fischer-Lamberg, „ganz wie ein Porträt Wagners.“406 Bereits die komische Regieanweisung, „im Schlafrock und der Nachtmütze, eine Lampe in der Hand“407, führt ihn in seinem Zutrauen in die erhellende Erkenntnis karikaturistisch vor. Als „ließen sich ohne inneres Gefühl, ohne starke Persönlichkeit aus gelehrter Kärnerarbeit Aufschlüsse über Welt und Menschenseele […] gewinnen“408, so kommentiert schon Petsch 1908, hält Wagner an seiner hermeneutischen Überzeugung fest, „Sich in den Geist der Zeiten […] versezzen“409 zu können: Zu schauen wie vor uns ein weiser Mann gedacht,
_____________ 402 Baukunst, DjG, Bd. 2, S. 374. 403 Vgl. Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 388: „Mein Sohn der Magister ist in der Stadt […].“ Sowie Faust (frühe Fassung), DjG, Bd. 1, S. 542: „Mein Herr Magister hab er Krafft! “ 404 Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 389. Mit ‚stechen‘ ist das Streben nach dem Professorenamt gemeint. 405 Ebd. 406 Fischer-Lamberg 1957, S. 400. Darüber hinaus verweis Fischer-Lamberg auf interessante Parallelen zur Beschreibung Wilhelms in der Theatralischen Sendung hin. Vgl. ebd. 407 Faust (frühe Fassung), DjG, Bd. 1, S. 541, Hervorhebung des Originals nicht übernommen. 408 Petsch 1908, S. 96. 409 Faust (frühe Fassung), DjG, Bd. 1, S. 543.
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Und wie wirs dann zulezt so herrlich weit gebracht.410
Beide Epigonen kommen in ihrem komischen Erkenntnisoptimismus überein: „Helles, kaltes Wissensch[aftliches] Streben“411, umreißt Goethe die Figur des „trockne[n] Schwärmer[s]“412 Wagner knapp in einem Paralipomenon zum Faust und spiegelt damit die „kalte Reduction“413 des neologisch geprägten Pfarrersohns der Zwo biblischen Fragen. Fausts Säkularisation der pneumatischen Hermeneutik und Produktionsästhetik So dicht die Verweise der Wagnerszene auf die „theologischen Jugendschriften“ sind, gilt es doch die inhaltlichen Verschiebungen zwischen den Texten zu markieren, die jenen Übertragungsprozeß erkennbar werden lassen, der als Säkularisation beschrieben werden kann. Goethe entwickelt die Vorstellung einer kausalen Bedingtheit von Hermeneutik und Produktionsästhetik in der Rollenfiktion eines schreibenden Geistlichen im Hinblick auf die religiöse Erkenntnis und das normsprengende, lallende Sprechen über diese gnadenhaft erfahrene Schau. Wie bereits die Spiegelungen dieses hermeneutisch-produktionsästhetische Modell im Aufsatz Von Deutscher Baukunst belegten, säkularisiert Goethe das Paradigma jedoch und überträgt es auf die ästhetische Erkenntnis und die ihr entspringende neue, „karackteristische Kunst“414. Die Disposition der ‚fühlbaren‘ Seele wird dabei nicht mehr als göttlich geschenkte Gnade expliziert, sondern erscheint nur noch als intellektuell-künstlerische Auserwähltheit; das religiöse „Pneuma“ Pauli wird bei seiner Übersetzung
_____________ 410 Ebd. 411 Paralipomena zu Faust, FA, 1. Abt., Bd. 7/1, S. 577. Vgl. hierzu auch Mayer 1969, S. 186f. u. Bohnenkamp 1994, S. 222ff. 412 Faust (frühe Fassung), DjG, Bd. 1, S. 541. Später ersetzt Goethe „Schwärmer“ durch „Schleicher“. Vgl. Faust, FA, 1. Abt., Bd. 7/1, S. 38. Zum Verständnis des Wortes „Schwärmer“ vgl. Mayer 1969, S. 176ff. Mit der Charakterisierung als „trocken“ greift Goethe nicht nur die „leitmotivische Spannung zwischen Trockenem und Feuchtem“ im Faust auf (Requadt 1972, S. 77), sondern evoziert auch eine Dichotomie, die in den beiden Brieftraktaten vorgeblich schreibender Geistlicher fortwährend bemüht wird: In den Zwo biblischen Fragen ruft der Geistliche etwa im Hinblick auf die pneumatische Beseelung, „Sucht ihr nach diesem Bache“, während die „theologische[n] Kameralisten“ eben diesen Strom „einteichen“ und letztlich wohl trockenlegen wollten. Vgl. Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 396. 413 Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 389. 414 Baukunst, DjG, Bd. 2, S. 373.
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zum nur noch diffus religiös konnotierten „Genius“ umgedeutet. Mit dieser Übertragung verschiebt sich zugleich das Sprechmodell: Tritt der pneumatische Sprecher als Medium einer selbst nur empfangenen Botschaft auf, so präsentiert sich der genialische Sprecher zugleich als ihr eigner Autor. Im direkten Bezug auf die Apostelgeschichte stellt der Landgeistliche der Zwo wichtigen biblischen Fragen den Glossolalen noch als Medium des eingegebenen pfingstlichen Geists dar: Der verheissene Geist erfüllt die versammelten Jünger mit der Kraft seiner Weisheit. Die göttlichste Empfindung strömt aus der Seel in die Zunge, und flammend verkündigt sie die grosen Thaten Gottes in einer neuen Sprache und das war die Sprache des Geistes.415
Im Aufsatz Von deutscher Baukunst setzt die „karackteristische Kunst“ ebenso eine Geistbegabung voraus, ist aber nur noch Ausdruck „inniger, einiger, eigner, selbstständiger Empfindung“416. In diesem Sinne verweist die hermeneutisch-produktionsästhetische Bedingtheit, wie Faust sie seinem Famulus darlegt, auch nicht mehr über seine Person hinaus: Aus „eigner Seele quillt“ ihm die „Erquikung“417. Nicht mehr die „göttlichste Empfindung“ (Zwo biblische Fragen), sondern „Freundschafft, Liebe, Brüderschafft“418 trägt sich ihm ungezwungen selber vor. Die Gegenüberstellung von Genie und Gelehrtem greift damit noch einmal die ästhetischen wie hermeneutischen Kategorien auf, mit deren Potential einer Entfaltung radikaler Individualität und Originärität der junge Goethe in immer neuen Adaptionen experimentiert. Faust sind noch immer Züge der pietistischen Pfarrergestalten des Briefs des Pastors und der Zwo biblischen Fragen ebenso eingeprägt, wie ihm ästhetische Vorstellungen des enthusiastischen Architekturpamphletes eigen sind. Fausts hermeneutische Vorstellungen sind zwar rhetorisch noch an die Religion als ihren Ursprungsbereich rückgebunden, erscheinen im übrigen aber gänzlich säkularisiert als allgemeine Hermeneutik. Gegenüber den Ideen der dithyrambischen Baukunstschrift gedämpft und abgemildert und gegenüber den „theologischen Jugendschriften“ säkularisiert, unterliegt der Kontrastierung von Faust und Wagner, Genie und Gelehrtem,
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Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 394. Baukunst, DjG, Bd. 2, S. 373. Faust (frühe Fassung), DjG, Bd. 1, S. 543. Ebd., S. 542.
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doch noch immer die Unterscheidung von pneumatisch Inspiriertem und „theologische[m] Kameralisten“419.
_____________ 419 Zwo biblische Fragen, DjG, Bd. 2, S. 396.
Das Hohelied Salomons in der Bearbeitung Goethes Im September 1775, in den letzten Frankfurter Wochen vor der Abreise nach Weimar, streut Goethe in einen Brief an Lavater unvermittelt ein, er wolle in seine physiognomischen Texte „auch einen Würzruch drein dampfen“1. Woher sich die eigenwillige Formulierung speist, offenbart ein wenige Wochen später entstandenes Briefzeugnis. Goethe schreibt an Johann Heinrich Merck (1741-1791), Mittelpunkt des Darmstädter Kreises: „Ich hab das Hohelied Salomons übersezt welches ist die herrlichste Sammlung liebes Lieder die Gott erschaffen hat.“2 Diese im Herbst 1775 entstandene Fassung des Hohenliedes Salomonis, zu Lebzeiten nie veröffentlicht, soll im folgenden als dichterische Aneignung des ästhetisch reizvollen biblischen Stoffes dargestellt werden. Insofern sich in der Übersetzung bzw. Bearbeitung Hermeneutik selbst expliziert, gewährt der Text aufschlußreichen Einblick in die hermeneutischen Annahmen, die Goethes Aneignung des Bibeltextes bestimmen. Die Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts könnte en miniature als Literaturgeschichte der Hoheliedübersetzungen geschrieben werden: Nicht nur alle theologischen Strömungen des Säkulums formieren sich auch als Auslegungsweisen des Hohenliedes, sondern auch alle wirkmächtigen literarischen Bewegungen des Jahrhunderts ziehen das Canticum Canticorum heran, um ihre poetischen Selbstverständnisse zu exemplifizieren.3 Diese bemerkenswerte Vorliebe für das Hohelied, die sich in
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Briefe, WA, 4. Abt., Bd. 2, S. 288 (an Johann Caspar Lavater, September 1775). FischerLamberg datiert den Brief auf den 9. September. Vgl. Kommentar zu Hohelied, F-L, Bd. 5, S. 487. Briefe, DjG, Bd. 1, S. 700 (an Johann Heinrich Merck, 7. Oktober 1775). Goethe verwendet in seiner Bearbeitung des Hohenliedes beispielsweise die Worte „Würzfrucht“ und „Würzgärtlein“ sowie „Ruch“. Vgl. Hl. 4,13; 5,13 u. 1,12 zit. n. Goethebearbeitung. Als weiteren Beleg der intensiven Auseinandersetzung Goethes mit dem Hohenlied kann das Zeugnis Christoph Friedrich Nicolais (1733-1811) gelten. Der Aufklärer notiert am 6. Januar 1776, Goethe sei mit seiner Fassung des Hohenliedes zu Wieland gegangen, „um Wieland tod zu reiten“ und „W. aufzufordern ihm die Obscönitäten zu zeigen, die er im Merkur dem Buche vorwirft.“ Zit. n. Cohn/Geiger/Mentzel/Werner 1887, S. 127. Einen systematischen Überblick zur Auslegungsgeschichte des Hohenliedes geben Reventlow/Kuhn/Köpf/Vincent 1977ff., S. 503ff. sowie Lerch 1957; eine umfangreichere, chronologisch vorgehende Darstellung bietet Ohly 1958. Einen bibliographischen Überblick über die Auslegungsgeschichte des Hohenliedes in der Patristik erlaubt Elliott 2000.
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Das Hohelied Salomons in der Bearbeitung Goethes
Übersetzungen bzw. Bearbeitungen u.a. von Hamann, Herder, Goethe und Gleim dokumentiert, gründet in seiner anerkannten literarischen Monumentalität einerseits und in seiner interpretatorischen Offenheit andererseits: Das Hohelied als gleichermaßen literarische Autorität wie optimale ästhetische Projektionsfläche erlaubt es, in seiner dichterischen Aneignung dialektisch das Vorgegebene und das Eigene zu verschmelzen und so das bereits Bekannte als immer Gleiches immer neu zu gestalten. Goethes Fassung des Hohenliedes wurde in der Forschung zumeist unter der Perspektive von Abhängigkeit und Eigenständigkeit gegenüber der Hoheliedauseinandersetzung Herders betrachtet. Als Kern dieser Debatte kristallisierte sich das Problem der Datierung der ersten Ansätze der 1778 erschienenen Hoheliedübersetzung Herders heraus und damit die Frage, ob Goethe bereits zu Straßburger Zeit erste Übertragungsversuche Herders kennengelernt hat, die seine spätere eigene Fassung prägen; daß Goethe in jedem Falle zum Zeitpunkt seiner Überarbeitung mit Herders allgemeinen Ideen zum Canticum-Verständnis vertraut war, wird indes kaum bestritten.4 Vor diesem Hintergrund relativiert sich die Bedeutung der Datierung der ersten Übertragungsversuche Herders und es erscheint geboten, Goethes Bearbeitung in einem breiter aufgespannten Netz von Bezügen und Einflüssen zu betrachten. Die nachfolgende Untersuchung möchte vor allem die jüngst von Dohm aufgezeigte Strömung betont sinnlicher
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Es ist allgemein verbreitete Ansicht, daß Goethes Verständnis des Buches auf Herder und dessen für den jungen Goethe in vielerlei Hinsicht bestimmenden Einfluß zurückzuführen ist. Vgl. etwa Kommentar zu Hohelied, MA, Bd. 1.2, S. 857. Umstritten hingegen ist, ob Goethe zum Zeitpunkt seiner Bearbeitung des Hohenliedes im Herbst 1775 bereits die Übersetzung Herders gekannt haben kann. Sauder geht davon aus, daß Herder bereits seit 1772 mit Übersetzungsversuchen befaßt war und daß diese Goethe im Herbst 1775, zum Zeitpunkt seiner eigenen Bearbeitung des Textes, bekannt gewesen sein mußten. Vgl. ebd. Dies wird u.a. dadurch gestützt, daß Herders schon 1766 erschienene Rezension des Versuchs einer richtigern Auslegung des Hohenliedes Salomonis (1765) von Christian Gottfried Hase Grundlinien der späteren Hoheliedauffassung zeigt. Vgl. Herder, SW, Bd. 1, 89ff. (Aus den Königsbergschen Gelehrten und Politischen Zeitungen auf das Jahr 1765, Rezension zu Christian Gottfried Hase, Versuch einer richtigern Auslegung des Hohenliedes Salomonis). Vgl. auch Baildam 1999, S. 39ff. In diese Auffassung fügte sich auch die These Haupts, wonach in den Briefen, das Studium der Theologie betreffend (1780ff.) angedeutet sei, daß Herders Auffassung des Hohenliedes sich rund fünf Jahre vor seiner Übertragung (1778, also ca. 1773) gebildet habe. Vgl. Haupt 1907, S. VIII. Haym versucht hingegen, mit einem Briefzeugnis Goethes an Frau von Stein zu belegen, daß Goethe erst nach 1775 den Text der Herderschen Übersetzung gelesen habe. Vgl. Haym 1958, Bd. 2, S. 106. Haym wird in dieser Auseinandersetzung von Gaier sekundiert, der ins Feld führt, daß die Quellenlage es nur zulasse, erst ab 1776 als terminus post quem „erste tastende Übersetzungsversuche“ Herders anzunehmen. Herder, FA, Bd. 3, S. 1208 (Kommentar zu Lieder der Liebe).
Grundprobleme der Auslegungstradition
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Rezeption des Hohenliedes in den Kreisen des Pietismus, wie sie sich auch bei Susanna Katharina von Klettenberg nachweisen läßt, für ein umfassenderes Verständnis der Hoheliedbearbeitung Goethes fruchtbar machen.5
Grundprobleme der Auslegungstradition Die Auslegung des Hohenliedes stellt eines der aufschlußreichsten Kapitel in der Geschichte biblischer Exegese dar. Wohl bei keinem anderen biblischen Buch stehen sich die verschiedenen Auslegungsweisen so konträr und unversöhnlich gegenüber wie im Falle des Canticum Canticorum, das durch seinen im Kanon der Heiligen Schrift einmaligen Charakter herausfordert.6 Kein anderes Buch des Alten oder Neuen Testaments hat eine solche Mannigfaltigkeit von Auslegungen provoziert, so daß schon Herder ironisch kommentiert, „jede Messe“ erschienen „neue glückliche Hypothesen“7 zum Hohenlied.8 So vielfältig die einzelnen Deutungen sind, so einfach lassen sie sich doch überwiegend zwei konkurrierenden Schulen zuordnen, die sich in der Nachfolge zweier rabbinischer Auslegungsweisen bis auf den heutigen Tag weithin unversöhnt gegenübertreten: Eine literale Lesart faßt das Hohelied als weltlichen Gesang über die zwischenmenschliche Liebe auf, eine allegorische Lesart erkennt hingegen unter der semantischen Oberfläche der zwischenmenschlichen Liebe theologische Aussagen als das eigentliche Thema des Textes. Schon Herder konstatiert, das Hohelied sei ein Buch, „davon der eine von Liebesschwänken im Himmel, der andre im Schlafzimmer Salomons träumet“9. So sehr beide Lektüretraditionen ihrerseits wiederum in eine Vielzahl von teilweise widersprüchlichen Auslegungen zerfallen, „so sind doch die Erklärungsarten der Neuern beynahe immer auf diesen Spuren“10 (Herder). Diesen beiden Hauptlinien der Hoheliedhermeneutik sei im folgenden kurz nachgegangen.
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Vgl. Dohm 2000. Vgl. Ohly 1958, S. 7 u. Horine 2001, S. 13. Herder, FA, Bd. 3, S. 488 (Lieder der Liebe). Vgl. Timm 1982, S. 11. Herder, SW, Bd. 1, 89 (Aus den Königsbergschen Gelehrten und Politischen Zeitungen auf das Jahr 1765, Rezension zu Christian Gottfried Hase, Versuch einer richtigern Auslegung des Hohenliedes Salomonis). Ebd.
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Das Hohelied Salomons in der Bearbeitung Goethes
Wortverstand und Allegorese Für die christliche Kirche galt die allegorische Auslegung des Hohenliedes seit der Patristik zwar offiziell als verbindlich, sie blieb in ihrer beanspruchten Ausschließlichkeit jedoch nicht unangefochten. Daß auf das Canticum an keiner Stelle des Neuen Testaments verwiesen wird und es als prätypische Figuration des durch Christus neu zu schließenden Bundes nicht herangezogen wird, mag darauf deuten, daß eben diese seitens der lehramtlichen Exegese behauptete Eindeutigkeit des Hohenliedes als einer Allegorese von den Autoren des Neuen Testaments nicht geteilt wird. Die Exegese des syrischen Bischofs Theodor von Mopsuestia (350428) liest den Text als weltliche erotische Dichtung, weist auf die Parallelen des Hohenliedes zu anderer orientalischer Liebesdichtung hin und tut das Buch als des Kanons nicht würdig ab. Theodors Exegese, die schon auf dem Fünften Ökumenischen Konzil von Konstantinopel 553 lehramtlich verworfen wird, markiert damit den Ausgangspunkt einer sich auf die literale Bedeutung beschränkenden Lesart.11 Trotz der magistralen Zurückweisung läßt sich die literale Lesart durch die gesamte folgende Theologiegeschichte „als freilich ganz verborgene Unterströmung“12 (Lerch), die von Zeit zu Zeit aus dem Untergrund ans Tageslicht der theologischen Öffentlichkeit drängt, nachweisen. Zumeist sind es Zurückweisungen und Widerlegungsversuche der literalen Lesart in allegorischen Exegesen des Hohenliedes, welche die untergründige Permanenz der geächteten wörtlichen oder auch „natürlich“ genannten Lesart belegen.13 Die allegorische Deutung legt ihrem Exegeseansatz die Annahme zugrunde, ein profaner Text hätte keine Aufnahme in den Kanon der Bibel finden können, und ist bemüht, unter der Oberfläche des Wortsinnes die als eigentlich angenommene Sinnebene zu erschließen.14 Zu unterscheiden sind dabei die parabolische Deutung, die das wörtliche Verständnis des Textes für hermeneutisch nichtig gegenüber der allegorischen Bedeutungsebene hält, und die typologische Deutung (etwa Hugo Grotius), die das wörtliche Verständnis zwar nicht als primäre Verstehensebene auffaßt, ihm aber dennoch einen Eigenwert zugesteht und somit als
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Vgl. Ohly 1958, S. 55f. u. Lerch 1957, S. 258. Zur Exegese Theodors vgl. Reventlow 1990ff., Bd. 2, S. 12ff. Die Schriften Theodors sind nur in Bruchstücken überliefert, so daß seine Auslegungsweise größtenteils auf Basis ihrer parteilichen lehramtlichen Verurteilungen rekonstruiert werden muß. Vgl. ebd. Lerch 1957, S. 259. Vgl. ebd.. Vgl. Groß 1957ff., Sp. 440.
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Kompromißposition zwischen allegorischem und „natürlichem“ Verständnis angesehen werden kann.15 Wie auch ihre konkurrierende Schule stellt die allegorische Exegesetradition dabei keine kohärente Strömung dar; vielmehr wird das Thema der zwischenmenschlichen Liebe im Prozeß der Allegorese auf die unterschiedlichsten theologischen Vorstellungen bezogen. Neben u.a. mariologischen, kirchengeschichtlichen, politisch-historischen und mystischen Deutungsversuchen stellt die ekklesiologische Allegorese die wirkmächtigste Lesart der Verse dar.16 Die Liebe zwischen den Protagonisten des Hohenliedes wird dabei als allegorisch verschlüsselte Offenbarung der Liebe zwischen Jahwe und Israel von den rabbinischen Exegeten, von den christlichen Exegeten seit Origenes hingegen als Botschaft der Liebe zwischen Gott und seiner Kirche verstanden.17 Gegenüber dieser vorherrschenden Deutung hat sich auch Luther nicht einmal im Protestantismus durchsetzen können.18 Da eine literale Deutung zu einer evidens absurditas führe, die sich verbiete, hält Luther, trotz seiner Emphase eines „überaus einfachen Verstandes“ des Hohenliedes („simplicissimus et germanus huius Libri sensus“19), letztlich am hermeneutischen Verfahren der Allegorese fest.20 Er löst die Allegorie jedoch im Gegensatz zur bis dato vorherrschenden exegetischen Tradition historisch-politisch auf, indem er im Hohenlied die Verherrlichung des friedfertigen Regiments König Salomos erkennt:21
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Vgl. ebd. u. Rudolph 1962, S. 90 u. S. 94. Zu weniger verbreiteten Auslegungsweisen vgl. Groß 1957ff., Sp. 439f.; Krinetzki 1981, S. 31ff. u. Lerch 1957, S. 259. Vgl. Origenes, Canticum, Sp. 61ff.: „Epithalamium libellus hic, id est nuptiale carmen, dramatis in modum mihi videtur a Salomone conscriptus, quem cecinit instar nubentis sponsae, et erga sponsum suum, qui est sermo Dei coelesti amore flagrantis. Adamavit enim eum, sive anima quae ad imaginem ejus facta est, sive Ecclesia. Sed et magnificus hic ipse atque perfectus sponsus, quibus verbis usus sit ad conjunctam sibi animam, vel Ecclesiam, haec ipsa Scriptura nos docet.“ Vgl. Baildam 1999, S. 149. Luther, WA, Bd. 31/2, S. 586 (In Cantica Canticorum brevis, sed admodum dilucida enarratio). Vgl. Rudolph 1962, S. 85. Vgl. auch Luther, WA, Bd. 31/2, S. 589 (In Cantica Canticorum brevis, sed admodum dilucida enarratio): „Neque enim unquam assentiemur iis, qui putant esse amatorium Carmen de filia Pharaonis a Salomone adamata.“ Vgl. Luther, WA, Bd. 31/2, S. 586 (In Cantica Canticorum brevis, sed admodum dilucida enarratio): „Verum utquam simplicissimus et germanus huius Libri sensus quaeratur, existimo esse eiusmodi Canticum, in quo Salomon laudibus deum celebret eique pro constituto et confirmato divinitus regno ac Politia sua gratias agat et oret pro eiusdem regni sui conservatione et propagatione […].“
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Est enim [canticum canticorum] Encomium politiae, quae temporibus Salomonis in pulcherrima pace floruit.22
Nicht als Lob des Regiments unter Salomo, sondern als Salomos eigenes Danklied für den Gehorsam seines Volkes deutet Luther das Hohelied hingegen in der Vorrede zu seiner Übersetzung der salomonischen Bücher: Das Canticum sei ein Lobesang / darin Salomo Gott lobt fur den gehorsam / als fur eine Gottes gabe. Denn wo Gott nicht haushelt und selbs regiert / da ist in keinem Stande / weder gehorsam noch Friede. Wo aber gehorsam / oder gut Regiment ist / da wonet Gott / und küsset und hertzet seine liebe Braut / mit seinem wort / das ist / seines mundes Kuss.23
Das Problem der Kanonizität Eng mit der Frage nach dem Gegenstand des biblischen Buches verbunden ist das Problem seiner Kanonizität. Wenn das Hohelied tatsächlich, wie von den Vertretern der „natürlichen“ Lesart behauptet, ausschließlich von der Liebe zwischen Menschen kündet, wie kam es dann zur Aufnahme in den Kanon der Bibel und mit welchem Recht wird es weiterhin dort tradiert? Dieser Einwand der allegorischen Schule gegen die literale Exegese offenbart zugleich unfreiwillig das zentrale Problem der allegorischen Exegeten: Ist es methodisch vertretbar, von der Tatsache der Präsenz des Hohenliedes im biblischen Kanon auf eine verbindliche andere als literale Lesart zu schließen? Und würde ein solcher Text, in dem Gott keine Erwähnung findet, außerhalb des biblischen Kanons auch als theologische Allegorie aufgefaßt? Nicht unmittelbare, die Allegorese als Verstehensstrategie nahelegende Lektüre des Textes hatte offenbar das allegorische Verständnis hervorgebracht, sondern vielmehr die Notwendigkeit, den Platz des vordergründig so „unbiblischen“ Buches in der Bibel zu rechtfertigen. Wenn der Kanon aber als Korpus der direkt von Gott inspirierten Schriften betrachtet wird, ist die Kanonizität des Hohenliedes für die meisten Exegeten nur durch die allegorische Überhöhung der auf der literalen Ebene geschilderten profanen zwischenmenschlichen Liebe zu legitimieren.24
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Ebd., S. 591. Lutherbibel, o.S. ("Vorrede auff die Bücher Salomonis"). Vgl. Lerch 1957, S. 270. Es wäre zu diskutieren, inwiefern die Geschichte der Hoheliedallegorese damit den Allegoriebegriff Gadamers exemplifiziert, der die Allegorie „aus dem theologischen Bedürfnis“ entstehen sieht, „in religiöser Überlieferung – so ursprünglich im
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Mit der literalen Auslegung des Hohenliedes geht somit seit Theodor von Mopsuestia vielfach eine Ablehnung des biblischen Buches einher, das Moral und decorum verletze und dem Kanon der Heiligen Schrift unwürdig sei.25 Es zeichnen sich damit die Strukturen eines bibelhermeneutischen Dilemmas ab, nach dem ein wörtliches Verständnis des Hohenliedes seine Preisgabe als kanonischen Textes erforderlich macht oder aber die Voraussetzung der göttlichen Provenienz des biblischen Textkorpus und die aus dem angenommenen deus dixit gespeiste Würde eine allegorische Überhöhung gegen jede textimmanente Evidenz erzwingt. Erst im 18. Jahrhundert beginnt sich die wechselseitige Exklusion von wörtlichem Verständnis und biblischer Kanonizität aufzulösen: Zum einen relativiert sich mit Semlers Nachweis der geschichtlichen Bedingtheit und somit menschlichen Kontingenz des Kanons die dogmatische Absolutsetzung des Korpus biblischer Schriften, zum andern werden neue „natürliche“ Auslegungen vorgebracht, die der vorausgesetzten Würde des Kanons nicht mehr zu widersprechen scheinen. Johann Friedrich Jacobi (1712-1791) geht etwa vom literalen Sinn des Textes aus, dem er einen sittlichen Wert als Loblied der ehelichen Treue abgewinnen kann, und muß damit die Kanonizität des literale verstandenen Hohenliedes nicht in Frage stellen.26 Die überzeugendste und konsequenteste Lösung des Spannungsverhältnisses zwischen „natürlichem“ Wortsinn und biblischer Kanonizität entwirft jedoch Herder, der auf der Grundlage seines Dichtungsverständnisses, wie zu zeigen sein wird, gerade aus einer konsequent literalen Auslegung die kanonische Würde des Hohenliedes erwachsen sieht.27 Das Problem der form- und gattungskritischen Einordnung Neben der Frage der angemessenen Exegese und dem Problem der Kanonizität stellt die Auseinandersetzung um den formalen Charakter des Hohenliedes den dritten großen Streitpunkt dar. Ausgehend von der impliziten göttlichen Inspiration des biblischen Buches, setzt die allegorische Schule mehrheitlich die providentia dei als Garantie der bis aufs Jota unveränderten textlichen Überlieferung voraus und muß so die Geschlos-
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Homer – das Anstößige zu eliminieren und gültige Wahrheiten dahinter zu erkennen.“ Gadamer 1990, Bd. 1, S. 78. Zur Ablehnung der Tradierung des Hohenliedes im biblischen Kanon durch Theodor von Mopsuestia vgl. Lerch 1957, S. 258. Vgl. Jacobi, Hohe Lied, S. 14f. u. Lerch 1957, S. 270f. Vgl. Baildam 1999, S. 128.
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senheit des Hohenliedes in Entstehung und Überlieferung ableiten. Die literale Lesart dagegen, zumal wenn sie Kanonizität, Inspiration und providentia dei nicht mehr voraussetzt, kann die textlichen Brüche und elliptischen Momente des Hohenliedes aufzeigen, die auf eine Zusammenstellung fragmentarischer Texte deuten. Das Problem der Form des Hohenliedes beinhaltet jedoch nicht nur die Frage nach fragmentarischer Offenheit oder kompositorischer Geschlossenheit der Überlieferung, sondern auch die Auseinandersetzung um die gattungskritische Einordnung des Textes. Die Ich-Perspektive hebt das Hohelied von den alttestamentlichen Erzählungen ab und läßt verschiedene Gattungszuweisungen des Textes zu.28 Bereits Origenes (In canticum canticorum prologus) hatte dramatische Elemente des Aufbaus erkannt: „nuptiale carmen, dramatis in modum“29. Im 18. Jahrhundert wird dieses dramatische Verständnis des Canticum wiederholt aufgegriffen, indem das biblische Buch etwa als Libretto eines Singspiels „in fünff Actus“ „nach Art der heutigen Operen“30 (Georg Wachter, Das Hohe Lied des Salomo, 1722) begriffen wird oder in Bearbeitungen um Regieanweisungen ergänzt wird, die diese ursprüngliche dramatische Form wieder erkennbar machen sollen (Johann Friedrich Jacobi, Das durch eine leichte und ungekünstelte Erklärung von seinen Vorwürfen gerettete Hohe Lied, 1771).31 Andere Exegeten, u.a. Robert Lowth, verstehen das Hohelied in der Tradition des Epithalamiums, eines dramatisch-kultischen Hochzeitsritus:32 Canticum canticorum Salomonis […] est Epithalamium […] Carmen Amorum, fervidissimos simulque suavissimos exprimens affectus, amoris vim omnem ac dulcedinem spirans; ipsius Salomonis sermo cum Sponsa sua, qui varie exhibentur, et soli, et inter se invicem loquentes.33
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Zu Deutungen des Hohenliedes als dramatischen Textes vgl. Rudolph 1962, S. 94ff. Origenes, Canticum, Sp. 61. Vgl. auch Ohly 1958, S. 19f. Insofern beispielsweise Origenes ein allegorisches Verständnis des Hohenliedes mit der gattungskritischen Einordnung als dramatischen Textes verbindet, erweist sich die Systematik Horines als falsch, die nur für die literale Schule zwischen unterschiedlichen gattungskritischen Zuordnungen unterscheidet. Vgl. Horine 2001, S. 15. Wachter, Hohe Lied, S. 4 u. 1. Wachter setzt das Hohelied in Form eines fünfaktigen Librettos und führt als Ortsangabe der Handlung an: „Das Theatrum ist meistentheils ein Mayer-Hof einer fürnehmen Adelichen Familie auf dem Lande bey der Stadt Jerusalem / und derselben Bergichten Gegend“. Ebd., S. 5. Vgl. Jacobi, Hohe Lied, S. 11ff. Zum dramatischen Verständnis des Hohenliedes bei Lowth vgl. Alpers 1927, S. 24. Vgl. hierzu Horine 2001, S. 27ff. Lowth, Praelectiones, S. 294f.
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Neben dem dramatischen Verständnis, heute angesichts des Fehlens anderer Zeugnisse orientalischer Dramenliteratur kaum noch vertreten, wird das Hohelied immer wieder als lyrischer Text betrachtet, der in die Tradition hebräischer Gedichte oder Gedichtsammlungen bzw. in die Tradition jüdischer Lieder oder Liedsammlungen einzuordnen sei.34 Exempl arisch e zeitgenössiche Üb ersetzung en und Deu tungen
Exemplarische zeitgenössische Übersetzungen und Deutungen des Hohenliedes Salomonis Das 18. Jahrhundert erweist sich auch in der Auslegungsgeschichte des Hohenliedes Salomonis als Phase entscheidender Umbrüche. Die für die Orthodoxie verbindliche allegorische Auslegung (im 18. Jahrhundert etwa Christian Fende, Das Hohe Lied Salomons, 1727, oder Peter Hanssen, Betrachtungen über das Hohe Lied Salomo, 1756) wird in ihrer Vorherrschaft gebrochen und als dem Text nicht gerechte Umdeutung einer rein profanen erotischen Dichtung mehr und mehr zurückgewiesen.35 Die lange Zeit klandestine, untergründige Überlieferung des in allen Konfessionen ins Verborgene gedrängten wörtlichen Verständnisses tritt wieder offen zu Tage. Das Hohelied erfährt so in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Ringen um eine zeitgemäße und den neuen exegetisch-philologischen Erkenntnissen der Bibelwissenschaft Rechnung tragende Exegese besonderes Interesse, das sich in einer Fülle von Auslegungen dokumentiert. Hoheliedauslegungen aus dem Geist der Orthodoxie Dialektisch treten den Exponenten der „natürlichen“ Exegese des Canticum Canticorum die entschiedenen Apologeten der allegorischen Exegese im Sinne der protestantischen Orthodoxie entgegen. Peter Hanssen (1686-1760) etwa weist in seinen Betrachtungen über das Hohe Lied Salomo (1756) angewidert die sich aus einer „natürlichen“ Lesart des Canticum ergebenden „Verunglimpfungen“ scharf zurück:36 Es ist aber nicht wenig zu bedauren, daß dieses göttliche Buch noch bis jetzo allerley Verunglimpfungen über sich hat müssen ergehen lassen. Es sind Leute aufgetreten, welche sich nicht gescheuet, die verlegene Meynung wieder zu
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Vgl. Groß 1957ff., Sp. 439ff. Vgl. Lerch 1957, S. 262. Andere Schreibweisen: Peter Hansen bzw. Petrus Hanssen/Hansen.
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erneuern, als wenn dieß erhabene Lied nicht höher, als vor ein unreines Buhlenlied, könne gehalten und ausgegeben werden. Man hat es mit den Schertz und Liedesgedichten, dergleichen uns die wollüstige Heiden, als Horatius, Catullus, Tibullus, Martialis, Ovidius und die ihres Geschlichters sind, gelassen, in Vergleich zu stellen, sich nicht entblödet.37
Christian Fende (1651-1746; Das Hohe Lied Salomons, 1727) greift auf den paulinischen Gegensatz von Fleisch und Geist (z.B. Röm. 1,3f.) zurück, wenn er propagiert, der Leser müsse das Hohelied „mit reinem Herzen nach dem Geist betrachte[n]“, um „in diesem geistlichen Liebes-Spiel sich nicht nach dem fleischlichen Sinn auf[zu]halte[n], und unreine fleischliche Gedancken [zu] hege[n]“38. Mystisch-spirituelle Hoheliedauslegung: Gottfried Arnold In dieser Voraussetzung einer für rechtes Verstehen notwendigen Lektürehaltung berührt sich Fendes Position mit den mystischen Hoheliedspekulationen etwa Gottfried Arnolds (Poetische Lob- und Liebes-Sprüche / von der Ewigen Weißheit / nach Anleitung Des Hohenlieds Salomonis, o.J.), der diese Disposition im Sinne des Pietismus als gnadenhaft erfahrene „Wiedergeburt in Christo“ konkretisiert und mit der zentralen Kategorie der „Erfahrung“ verknüpft: Niemand könne „dieses buch verstehen […] / der nicht wahrhafftig aus Gott wieder geboren“ sei und so „in lebendiger erfahrung aller darinne vorgelegten grossen geheimnisse stehe“39. Der nicht solchermaßen gnadenhaft disponierte Ausleger müsse das Canticum mißverstehen: Denn dieweil er die an sich selbst keuschen liebes-namen nicht rein und mit züchtigen ohren vernehmen kan: so wird er alles von dem inneren menschen auff einen äusseren und fleischlichen menschen ziehen / sich von dem geist zum fleisch wenden / und in ihm selbst die fleischlichen lüste hegen.40
Das hermeneutische Modell von innerem Kern und äußerer Schale erscheint hier zurückgespiegelt auf den Leser selbst. Unzureichendes äußeres, d.h. auf die körperliche Hülle (Schale) bezogenes, erotisches Verstehen wird einem durchdringenden inneren, d.h. auf die Seele (Kern) bezogenen, spirituellen Verstehen gegenübergestellt. Dabei wird diese hermeneutische Opposition durch die Heranziehung des vor allem
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Hanssen, Hohe Lied, o.S. (Vorrede). Fende, Hohe Lied, S. 2. Arnold, Hohelied, o.S. (Vorrede, Absatz 3). Ebd. (Absatz 8).
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paulinischen Gegensatzes von „Fleisch“ und „Geist“ zusätzlich soteriologisch aufgeladen. Wider den Mißbrauch des Hohenliedes zur konfessionellen Apologetik, die doch immer nur dazu führe, daß „ein ieglicher seinen hauffen“ für „die wahre Christliche kirche“ ansehe, die im Hohenlied als „reine jungfrau und die einige Braut CHristi“ vorgestellt sei und „deren Bräutigam der HErr CHristus heissen“ müsse, spreche das biblische Buch doch eigentlich „von der unsichtbaren gemeine / oder einer erneuerten seele / oder auch denen künfftigen verheissungen“41. Mit der Verteidigung einer sich der Institutionalisierung entziehenden und somit „unsichtbaren“ Kirche im Gegensatz zur sichtbaren, depravierenden Institution läßt Arnold auch in seiner Canticum-Exegese das Zentralmotiv seiner kirchengeschichtlichen Vorstellungen anklingen. Auch die mystische Exegese Arnolds hält also am Verfahren der Allegorese fest, wenn sie als scopus des Hohenliedes die „vereinigung und gemeinschafft GOttes mit der gläubigen seele“42 annimmt. Gegenüber der exegetischen Tradition grenzt sich Arnold jedoch durch seinen betont individuell-spirituellen Verständnisansatz ab: Im Gegensatz zur überkommenen kollektiv-ekklesiologischen Deutung, die in erster Linie von heilsnotwendigen kirchlichinstitutionellen Strukturen und Sakramenten ausgeht, rückt er den Bezug des einzelnen zu Gott in den Mittelpunkt seiner Deutung. Dieses sprituelle Verhältnis werde von Salomo in den Bildern der Liebe zu Sophia als „Braut und geistliche[n] Gespielin“43 gestaltet.44 Der weise König habe die himmlische Weißheit ihm zur Gemahlin verlanget und erhalten […]. […] Dahero er nothwendig diese und keine andere im sinn gehabt haben muß / als er im geiste dieses lied gesungen.45
Neben mystisch-spirituellen Deutungen haben gegen Mitte des 18. Jahrhunderts auch geschichtsspekulative Auslegungen des Hohenliedes Konjunktur. Exemplarisch sei hier ein 1756 anonym erschienener Traktat mit aufschlußreichem Titel genannt: Das Lied der Lieder, oder Das Hohelied Salomonis […] dergestalt erkläret, daß in einer dreyfachen Paraphrasi desselben deutlich und überzeugend zu sehen ist: wie in diesem allerherrlichsten Liede nicht nur die
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Ebd. (Absatz 12). Durch diesen kontroverstheologischen Mißbrauch seien die Kirchen doch „schon zur hure geworden / und also nichts weniger als CHristi Braut“, als die sie sich in der Hoheliedallegorese begriffen. Ebd., o.S. (Absatz 13). Ebd. (Absatz 21). Ebd. (Absatz 19). Zur erotisch-sinnlichen Ausgestaltung dieser Beziehung in den Exegesen Arnolds vgl. Goebel 1914, S. 97ff. sowie Dohm 2000, S. 187ff. Arnold, Hohelied, o.S. (Vorrede, Absatz 19).
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Das Hohelied Salomons in der Bearbeitung Goethes
Kirchen-Geschichte des alten und neuen Testaments, sondern auch der wahre und geheime Weg zur innigsten Vereinigung der Seelen mit Gott, enthalten sey und besungen werde.46 Solchen überbordenden Deutungen aus dem Geist der Orthodoxie wie des Pietismus, die in ihren „elenden Grillen und phantastischen Deuteleien“47 das Hohelied auf alle erdenklichen (u.a. theologischen, kirchenpolitischen oder geschichtlichen) Vorkommnisse ihrer Zeit bezögen und es „für unrecht und sündlich“ erachteten, „nach hermeneutischen Vorschriften“ bei der „ganzen mystischen Auslegung zu handeln“48, tritt Johann Salomo Semler (Kurze Vorstellung wider die neue dreyfache Paraphrasin über das Hohe Lied, 1757) entgegen.49 Wider solche spekulativen Ausleger des Canticum Canticorum vertritt er die rationalistische Position: „ordentliche, oder so genante menschliche Gelersamkeit“, gegründet auf soliden Kenntnissen der Quellensprachen wie auf hermeneutischer Reflexion, sei Voraussetzung, „wenn man rechte Einsicht der heiligen Schrift, und erbaulichen Vortrag derselben, suche und haben wolle“50; an ihr vorbei könne es keine mystischen Privatoffenbarungen des Hohenliedes geben. Öffnung zur Sinnlichkeit: Hohelieddichtungen des Pietismus Eine umfassende Geschichte der Hoheliedrezeption im deutschsprachigen Raum, wie sie noch Desiderat ist, hätte nicht nur Übersetzungen, Kommentare, Traktate und Homilien in den Blick zu nehmen, sondern ebenso die reiche Tradition der Hohelieddichtung sowie der Hoheliedbezüge in der Lyrik. Ob seiner sinnlich Haptik und affektiven Bildlichkeit wird das Hohelied in weltlicher und in geistlicher Lyrik wie in jener „zwischen dem Ausdruck religiösen Abhängigkeitsgefühls und dem einer bräutlichen Liebe zur Gottheit wie zu einem Geliebten“ schillernden Poesie, die
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Im genannten Werk wird beispielsweise als Inhalt der ersten Passage des Hohenliedes zusammengefaßt: „Cap. 1. V. 1 bis cap. 2. V. 2 handelt: […] im Vorbilde von der ersten Kirche unter den Juden, oder von dem Zustande derselben von ihrem Ausgange aus Egypten, bis zu ihrem Eingange ins gelobte Land […].“ Anonymus, Hohelied, S. 55. Semler, Hohe Lied, S. 38. Ebd., S. 40, Hervorhebung des Originals nicht übernommen. Semler reagiert mit seiner Schrift Kurzen Vorstellung wider die neue dreyfache Paraphrasin über das Hohe Lied (1757) auf den genannten Traktat des Anonymus. Semler, Hohe Lied, S. 12.
Exemplarische zeitgenössiche Übersetzungen und Deutungen
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Oppel als „religiöse Liebeslyrik“51 bezeichnet, immer wieder als Rekursebene herangezogen. Dies gilt in besonderer Weise für die „Spättöne einer geistlichen Minne-Erotik“52 (Schrader) in barockmystischer und pietistischer Poesie.53 Diese religiös motivierte Aneignung des biblischen Buches in der Poesie läßt sich, wie Dohm in seinen Studien hat nachweisen können, nicht innerhalb der simplen Opposition frommer und also allegorischer Hermeneutik einerseits und sinnlich-ästhetischer und also literaler Hermeneutik andererseits verorten.54 Wider die Schablonen simplifizierender Kulturgeschichtsschreibung, die erst mit der Aufklärung die Rehabilitation einer vorgeblich durch das Christentum im allgemeinen und den Paulinismus im besonderen verdrängten Sinnlichkeit entdeckt, eigne gerade barockmystischer wie pietistischer Lyrik eine charakteristische „‚Öffnung‘ geistlicher Literatur für Phänomene des Sinnlichen und des Leiblichen“55: Statt der literatur- und kulturgeschichtlichen Klischees, die einen weltflüchtenden, sinnenfeindlichen Pietismus von einer sich der Welt öffnenden, Leib und Sinnlichkeit erst wieder gelten lassenden Aufklärung absetzen, werde gerade in der barocken und pietistischen Hohelieddichtung eine Ästhetik der weithin eben nicht mehr allein allegorisch, sondern auch sinnlich-konkret aufgefaßten Liebe des Canticum manifest. In der Erfahrungshermeneutik des Pietismus wird das sinnliche Erleben des Gläubigen, die „lebendige[] erfahrung“56 (Arnold), zur entscheidenden Glaubensquelle erhoben, die es dem Wiedergeborenen erlaubt, das Numinose bereits diesseitig im imaginierten Liebesspiel mit Christus zu erahnen.57 Dieses connubium spirituale wird dabei vielfach nach der Vorlage des als „nuptiale carmen“58 (Origenes) verstandenen Hohenliedes gezeichnet.59 Bis hin zu sexuellen Deutungen der anzustrebenden unio mystica durch die hervorgehobene, wörtlich zu begreifende Sinnlichkeit wird die Spiritualität aus der Sphäre des Abstrakten, psychisch
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Oppel 1911, S. 1. Zur Tradition der „religiösen Liebeslyrik“ in der deutschen Literatur vgl. ebd., S.1ff. Schrader 1994, S. 70. Vgl. Dohm 2000, S. 5. Vgl. ebd., S.1ff. Ebd., S. 5. Arnold, Hohelied, o.S. (Vorrede, Absatz 3). Vgl. Dohm 2000, S. 15. Origenes, Canticum, Sp. 61. Vgl. Oppel 1911, S.1.
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Das Hohelied Salomons in der Bearbeitung Goethes
Wahrnehmbaren in die Sphäre des Konkreten, physisch Wahrnehmbaren gezogen.60 Ein wörtliches Verständnis der erotischen Bildlichkeit steht damit einer weiterhin theologisch motivierten Hoheliedhermeneutik keineswegs entgegen, sondern fügt sich damit gerade in die pietistische Erlebnistheologie. Diese Tendenz zur nicht mehr ausschließlich allegorischen oder auch zur schon nicht mehr primär allegorischen Hoheliedhermeneutik läßt sich, wie bereits bei Gottfried Arnold, auch in der Herrnhuter Lied- und Erbauungsdichtung nachweisen.61 Für die Dichtung Zinzendorfs und der Brüderunität allgemein wird das Hohelied zur zentralen Referenzebene.62 Die leibliche Plastizität des Textes wird dabei auf die leibliche Plastizität der Passionsschilderungen, vor allem im Johannesevangelium, bezogen und so ein neuer Deutungsraum eröffnet, in dem sich eine zunächst literale Hermeneutik sinnlicher Konkretion und eine soteriologische Mystik wechselseitig bedingen.63 Zur sinnlichen Imaginierung der für die Herrnhuter Spiritualität zentralen Wunden-Christi-Ästhetik rekurriert beispielsweise die Herrnhuter Schwester Marianne Ringgold (1721-1796) in ihrem Lied „O Du wunderschoenes Lam“ auf das Hohelied Salomonis: O Du wunderschoenes Lam, ja, du schoenster unter allen! mir gefallen deine wunden groß und klein; Seitenschrein mich scharmiren deiner leichen ihre bunte marter-zeichen. Schoen bist du, mein Laemmelein!64
Indem die Lieddichterin den geschundenen Leib des Gekreuzigten in den durch das Hohelied vorgegebenen Paradigmen der gepriesenen Schönheit Sulamiths gestaltet – „Schön bist du, meine Freundin, / ja, du bist
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Vgl. Dohm 2000, S. 16ff.; ähnlich auch Dohm 2001, S. 117. Zu Arnolds Hohelieddichtung vgl. Dohm 2000, S. 187ff. Zu Beispielen allgemein pietistischer und spezifisch herrnhuterischer Hohelieddichtung vgl. Pietist. Lieder, v.a. S. 14ff, 22f. u. 63f. Zur Bedeutung des Hohenliedes bei Zinzendorf vgl. Bettermann 1935, S. 38ff. u. Dohm 2000, S. 281ff. Vgl. Bettermann 1935, S. 44f.: Das Canticum werde bei Zinzendorf „der Passion untergeordnet, von dort aus gedeutet und gegen die damals aufkommende historische Kritik und die Auffassung als weltliches Liebeslied legitimiert. Es wird im Sinne einer theologia crucis erklärt“. In seinem angestrengten Bemühen darzulegen, daß das Hohelied durch diese Bezugnahme auf die Passion seiner sinnlich-erotischen Valenz gänzlich befreit wird, fällt Bettermann hinter die „Öffnung zur Sinnlichkeit“ seines Idols Zinzendorf jedoch weit zurück. So stellt Beyreuther treffend fest, daß Zinzendorf keine Scheu etwa vor der erotischen Sprache der Barockdichtung habe. Vgl. Beyreuther 1962, S. 43. Zinzendorf, Materialien, Reihe 4, Bd. 3/2, S. 2016 (II. Herrnhuter Gesangbuch, Lied 2114). Vgl. hierzu die Ausführungen Dohms (2000, S. 319ff.). Der „Seitenschrein“ ist als Bild für die durch den Lanzenstich zugefügte Seitenwunde Christi zu verstehen.
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schön.“65 –, wird Christus in einem nicht mehr nur allegorischen Sinne als Bräutigam vorgestellt. Ähnlich wird die Vision der in der Apokalypse verheißenen „Hochzeit des Lammes“ sinnlich-erotisch unter Rückgriff auf den Bilderschatz der salomonischen Dichtung ausgestaltet:66 Wo ich mit GOttes Lamme/ Auf unsern Hochzeit Tag/ In reiner Liebes-Flamme Mich ewig küssen mag! […] Da du mich wirst vergnügen/ Mein Seelen-Bräutigam Und mir in Armen liegen Als mein geliebtes Lamm!67
Ganz ähnliche Hoheliedbezüge finden sich auch in den überlieferten Liedern der mütterlichen Freundin Goethes, Susanna Katharina von Klettenberg, die der Brüderunität nahesteht. Ebenfalls die seit Bernhard von Clairvaux (1091-1153) zum Topos gewordene Parallele zwischen der Seitenwunde Christi und der im Hohenlied erwähnten, Tauben als Nistplatz dienenden Felsspalte (Hl. 2,14) aufgreifend, gestaltet Klettenberg in ihrem ferventen Lied „Herzensheiland, Deine Liebe“ eine leiblichkonkrete Christuserfahrung:68 Drum schließ ich mich in die Ritzen Deiner offenen Seit hinein; Kann ich nur hier ruhig sitzen Als Dein liebes Täubelein, So bin ich recht wohl geborgen. Ich bin Dein, so wie ich bin, Und leg alle meine Sorgen Auf Dein eignes Herze hin.69
Daß im Kontext der herrnhuterisch geprägten Spiritualität Klettenbergs eine Christologie plausibel ist, die sich Christus keineswegs allegorischabstrakt, sondern im wörtlichen Sinne – „Kein Glaube wo nicht sinliche
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Hl. 1,15 zit. n. Einheitsübersetzung. Auch das Bild des Lammes wird im Hohenlied, freilich nicht als „Schlachtlamm“ der Passion, herangezogen. Vgl. Hl. 4,2. Vgl. Apk. 19,7. „Aria in concerto, Bey der Beysetzung der Hoch-Gräfl. Leiche“ zit. n. Schrader 1994, S. 69. Vgl. auch Dohm 2001, S. 115. Nach Bettermann kann die Seitenwunde Christi in ihrem Bezug auf das Hohelied geradezu als Zinzendorfs „Hauptsymbol der am Kreuz geschehenen Versöhnung“ gelten. Vgl. Bettermann 1935, S. 70f. Schon Bernhard von Clairvaux übt sich in seinen 86 Sermones super Cantica Canticorum, die Felsspalten in Hl. 2,14 betrachtend, in meditativer Versenkung in die Seitenwunde Christi. Vgl. Köpf 1990ff., S. 43. Klettenberg, Schriften, S. 201 („Herzensheiland, Deine Liebe“, 4. Strophe).
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Das Hohelied Salomons in der Bearbeitung Goethes
Erfahrung zum Grund ligt“70 (Klettenberg) – als ersehnten Geliebten vorstellt, bestätigt die Liebesmystik Zinzendorfs selbst:71 In der angestrebten „Prokurator-Ehe“ nehme der Ehemann als direkter Stellvertreter auch die Rolle Christi ein und erfülle somit das Brautwerben, als das die Christussuche der gläubigen Seele, bei Zinzendorf stets weiblich gedacht, imaginiert wird.72 Auf diese Weise könne eine Ehefrau, wenn sie ihren mann ansieht, sich den Heiland dabey einfallen lassen […], und wenn sie ihres mannes genießt, sich den Heiland dabey vorstellen […].73
„Die Theologi haben die Sache bisher metaphorisch und allegorisch genommen“, kommentiert der Herrnhuter Bruder August Gottlieb Spangenberg das Befremdliche des hermeneutischen Paradigmenwechsels: „Darum frappirt sies so sehr, wenn mans literal nimmt.“74 Wenn auch der Ausgangspunkt einer solchen Hermeneutik der einer Allegorese bleibt, wird die sinnlich-erotische Valenz der literalen Bedeutung auf das Verhältnis des Gläubigen zu Christus übertragen.Wie sich in dieser „religiösen Liebeslyrik“ spirituelle Gottessehnsucht und erotisches Liebesverlangen unauflösbar vermengen, verschränken sich in komplexer Weise allegorische und literale Hermeneutik: „mystisch, nicht leiblich“, aber doch in aller sinnlich imaginierten Konkretion, begreift sich der Herrnhuter so als „sünderschaamrothe Bettel-Hure[]“75 Christi (Spangenberg).
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Goethe und Lavater, S. 30 (Susanna Katharina v. Klettenberg an Johann Caspar Lavater, 6.-9. Mai 1774). Zur spirituell aufgeladenen Ehemystik Zinzendorfs vgl. Zinzendorf, Hauptschriften, Bd. 4, S. 122ff. (Gemeinreden, Nr. 7., „Von der Repraesentation JESU und der Gemeine, als dem eigentlichen und ganzen zwek der Ehe der Kinder GOttes“) sowie Oppel 1911, S. 54ff. u. Dohm 2000, S. 341ff. Vgl. Zinzendorf, Hauptschriften, Bd. 4, S. 134f. (Gemeinreden, Nr. 7., „Von der Repraesentation JESU und der Gemeine, als dem eigentlichen und ganzen zwek der Ehe der Kinder GOttes“) sowie Zimmerling 1999, S. 48ff. Das Verstörende dieser Bilder ist dabei von Zinzendorf, wie Beyreuther darlegt, bewußt intendiert, operiere die Offenbarung doch selbst mit irritierender Topik: „Ja, je häßlicher und abstoßender die Bilder waren und auf den natürlichen Menschen wirken mußten, desto mehr trafen sie nach seiner Ansicht die göttliche Wahrheit, daß Gott wirklich in der Gestalt des sündlichen Fleisches […] auf Erden erschienen ist.“ Beyreuther 1962, S. 40. Zinzendorf, Hauptschriften, Bd. 4, S. 135 (Gemeinreden, Nr. 7., „Von der Repraesentation JESU und der Gemeine, als dem eigentlichen und ganzen zwek der Ehe der Kinder GOttes“). Zur Widersprüchlichkeit des sich zwischen den Ansprüchen auf spirituelle Gleichberechtigung und lebenspraktische Unterordnung aufspannenden Frauenbildes Zinzendorfs vgl. Zimmerling 1999, S. 40ff. Zinzendorf, Hauptschriften, Ergänzungsbd. 3, S. 601 (August Gottlieb Spangenberg, Apologetische Schluß-Schrift). Ebd.
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Indem die pietistische Hoheliedhermeneutik diese „Öffnung zur Sinnlichkeit“ betreibt und damit die Widersprüche zwischen allegorischmystischer und literal-erotischer Lesart zu überbrücken versucht, bleibt sie in einem eigentümlichen Schwebezustand, der jeden Augenblick zur einen oder andern Seite hin umzuschlagen droht. So findet sich beispielsweise im Nachlaß von Klettenbergs ein weiteres Zeugnis ihrer intensiven Auseinandersetzung mit dem Hohenlied, das dieses alternierende Umschlagen mal zur literal-erotischen, mal zur allegorisch-mystischen Seite dokumentiert. Das bislang nicht edierte Konvolut wurde von Autographenmarkt und literaturwissenschaftlicher Forschung wiederholt irrtümlich als Abschrift der Hoheliedfassung Goethes gehandelt, obwohl es mit aller Wahrscheinlichkeit Klettenberg selbst zuzuschreiben ist.76 Auch diese freie Nachdichtung versucht, gerade in der explizit sinnlichen Vergegenwärtigung eine implizite christologische Spiritualität zu evozieren und damit den neuen, u.a. von Zinzendorf eröffneten Deutungsraum zu nutzen. Dennoch changieren die einzelnen Passagen der Dichtung zwischen den beiden sich gegenüberstehenden hermeneutischen Herangehensweisen: Um des Königs Lager-Stätte um das Grabe wo Er ruht /: dieses ist sein Ehren Bette :/ steht der Obern-Wächter Hut Sechzig starcken auß den Schaaren auß den Golden Israel müßen dießen Platz bewahren denn hier ruht Imanuel77
In der zitierten Passage, die sich an das dritte Kapitel des biblischen Buches anlehnt, wird das Lager Salomos direkt auf die Krippe Christi
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77
Vgl. Oppel 1911, S. 52 sowie Dechent 1896, S. 163 u. Endnoten zur Seite; ebenso etwa Kommentar zu Hohelied, F-L, Bd. 5, S. 487 u. Kommentar zu Hohelied, MA, Bd. 1.2, S. 856. Bereits 1897 belegt der Kommentator der Sophienausgabe (WA), daß die jüngst, im Oktober 1896, im Handel als Abschrift der Goethebearbeitung angebotene Handschrift Klettenbergs „mit Goethes Übersetzung gar nichts gemein“ habe. Kommentar zu Hohelied, WA, 1. Abt., Bd. 38, S. 403f. Die Zuschreibung ist zusätzlich gänzlich unplausibel, da Klettenberg bereits am 13. Dezember 1774, also vor dem übereinstimmend angenommenen Entstehenszeitraum der Goethefassung im Herbst 1775, stirbt. Möglicherweise nicht zuletzt weil ein Goethetext einen höheren Preis verspricht, wurde die Handschrift trotzdem 1921 erneut im Autographenhandel als Goetheabschrift angeboten; im Katalog der Versteigerung heißt es: „Klettenberg, Susanna Kath. v., Goethes´ schöne Seele, Dichterin; 1723-1774. Eigenhändiges Manuskript: Uebertragung des Hohenliedes (Goethes Uebertragung).“ Henrici-Katalog 1921, S. 65 (Nr. 349); siehe auch ebd., S. 67. Das Fragment findet sich derzeit im Archiv des Freien Deutschen Hochstiftes/Frankfurter Goethe-Museums (Nr. 6035). Klettenberg, Hoheslied; entspricht Hl. 3,7ff.
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Das Hohelied Salomons in der Bearbeitung Goethes
bezogen; an anderer Stelle jedoch scheint sich die erotische Valenz der Liebesschilderung von jeglichem allegorischen Bezugsrahmen emanzipiert zu haben: Mein Lieber soll dich fester faßen mein Arm soll dich Nie mahls laßen biß ich dich in das Hauß gebracht wo von der Feinde Neid verborgen der Mutter imer Müdes Sorgen die Kammer unß zu recht gemacht.78
Das Hohelied als Unterweisung in bürgerlicher Ehemoral: Johann David Michaelis und Johann Friedrich Jacobi Mit der im 18. Jahrhundert fußfassenden Tendenz zum literalen Verständnis geht das Bemühen einher, den „poetischen Schmelz des Buches“ nicht der „frivolen Auffassung des nüchternen Auslegers zum Opfer“79 fallen zu lassen (Haym), sondern der literalen Lesart die empfundene moralische Anstößigkeit expliziter Erotik, die einst im Judentum zum Verbot der Hoheliedlektüre vor dem 30. Lebensjahr geführt hatte, zu nehmen und sie mit den Vorstellungen bürgerlicher Ethik und dem zeitgenössischen decorum zu versöhnen.80 So vermag etwa Michaelis den Text zur moralischen Unterweisung in bürgerlicher Tugend umzudeuten: Die Protagonisten des Hohenliedes seien bereits verheiratet, nicht etwa außeroder voreheliche Geliebte („castros conjugum amores cani, non sponsi et sponsae“81), müßten ihre Liebe aber vor der begierigen Zudringlichkeit des Königs Salomo schützen, der nach zeitgenössischem höfischen Muster Sulamith, Ehefrau eines Hirten, seinem Harem zuzuführen suche. Trotz des ungelenken Versuchs, das nunmehr auf der literalen Ebene verstandene Hohelied solchermaßen moralisch zu rehabilitieren, nimmt Johann David Michaelis das Canticum Canticorum als dem Kanon der
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Ebd.; entspricht Hl. 3,4. Haym 1880ff., Bd. 2, S. 84. Zum jüdischen Verbot der Lektüre vor Abschluß des 30. Lebensjahres („nisi quis aetatem sacerdotalem, id est tricesimum annum impleverit“. Zit. n. Oppel 1911, S. 5) vgl. Rudolph 1962, S. 83. Michaelis, Notae, S. 605 (Nota 123): „Restat, ut meam profitear sententiam, castros conjugum amores cani, non sponsi et sponsae.“ Vgl. hierzu auch Herder, FA, Bd. 3, S. 1200 (Kommentar zu Lieder der Liebe).
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Heiligen Schrift nicht gemäßes Buch nicht in seine Bibelübersetzung (1778) auf.82 Johann Friedrich Jacobi (1712-1791) greift die von Michaelis eröffnete Deutung auf und führt sie 1771 in seiner Hoheliedbearbeitung unter dem Titel Das durch eine leichte und ungekünstelte Erklärung von seinen Vorwürfen gerettete Hohe Lied weiter aus. Durch Einschub erklärender Kommentare versucht er, die ursprüngliche Handlung des Buches wieder freizulegen, die dadurch verdunkelt worden sei, „daß man den König Salomo und den Mann der Sulamith als Eine Person angesehen, die doch in diesem Gedichte so gar deutlich von einander unterschieden werden.“83 Dieses Mißverständnis korrigiert, erschließe sich das Hohelied als Dreiecksgeschichte, in der sich Sulamith den Zudringlichkeiten des lüsternen Königs Salomo entwinde, um an der Liebe zu ihrem einfachen Schäfer unverbrüchlich festzuhalten: Diese Sulamith wird wegen ihrer muntern und gesunden Land-Schönheit an dem Hofe des Salomons bekannt und an den Hof gezogen, um in die Königlichen Arme desselben geliefert zu werden. Sie verschmähet aber die Ehre eine Königliche Beyschläferin zu seyn und die Pracht des Hofes, bleibet ihrem Geliebten getreu, und will lieber ihre Gärten und Weinberge bearbeiten und einen Eigenthümer von einigem Vieh zum Manne haben, dessen Liebe sie alleine besitzet, als an einem wollüstigen Hofe leben und die wandelbahre Liebe des Königes mit so vielen andern theilen.84
Mit dem Hohenlied dem zügellosen Hofleben ein „Muster einer ehlichen Tugend“ entgegenzusetzen und zugleich ein Beispiel der „Zufriedenheit mit einem niedrigem Stande“ zu geben, sei „zu den Zeiten eines Salomons,
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Vgl. Herder, FA, Bd. 3, S. 1202f. (Kommentar zu Lieder der Liebe). Herder spielt auf Michaelis’ Auslassung des Hohenliedes in seiner Bibelübersetzung an: „manche vornehme Theologen unserer Zeit, die sich überhaupt jetzo sonderbar nehmen, [...] haben das Buch aus ihrem Kanon ruhig ausgeschlossen, verbitten es vornehm höflich, daß der berühmteste deutsche Übersetzer es doch ja nicht deutsch übersetze und seine Bibel damit verunziere.“ Ebd., S. 488 (Lieder der Liebe). Jacobi, Hohe Lied, S. 15. Ebd., S. 14f. Ganz ähnlich Wilhelm Friedrich Hezel (Neue Uebersetzung und Erklärung des Hohen Liedes Salomons, 1777): Das Hohelied, „Meisterstück der hebräischen Dichtkunst“, sei „kein geistliches Brautlied auf Christum und die Kirche, keine Weißagungen von Schicksalen der jüdischen oder christlichen Kirche“, sondern eine Unterweisung in bürgerlicher Ehemoral: „Sulamith, von tugendhaftem Charakter, eine Feindinn unerlaubter Liebe, ihrem Gatten treu, schlug die Ehre, eine Nebengemahlinn des Königs zu werden, aus, und wünschte nichts mehr, als eine ewige Dauer derjenigen Verbindung, in welcher sie damals mit ihrem liebenswürdigen Gatten stund.“ Hezel, Hohe Lied, S. 3f. u. 6.
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Das Hohelied Salomons in der Bearbeitung Goethes
und einiger seiner Nachfolger, sehr nöthig und heilsam“85 gewesen, legt Jacobi die unterstellte Intention des Hohenliedes dar. Mystischer Literalismus: Johann Georg Hamann Johann Gottlieb Lessing (1732-1808), Bruder Gotthold Ephraim Lessings, veröffentlicht 1777 seine Eclogae regis Salomonis, eine ins gefällige Hexametergewand gekleidete Fassung des Hohenliedes, die ganz den bukolischen Geist des Rokoko atmet und in ihrer poetischen Freiheit eher als Nachdichtung denn als Übersetzung zu bezeichnen wäre:86 Iam dudum in thalamo tenebris percontor obortis: Delicias animae vano molimine quaero! Consurgo; vicos viso, plateasque pererro: Delicias animae vano molimine quaero! Occurro vigili turbae, que circuit urbem, Ac prior, heus, inquam: si qua vidistis amicum Errantem, mostrate; mihi non charior alter!87
Können Lessings Eclogae als Versuch einer radikalen Überführung des Hohenliedes in die Formen der Regelpoetik griechisch-römischer Provenienz gelten, so markiert Johann Georg Hamanns unveröffentlichte Hoheliedübersetzung gleichsam das entgegengesetzte Extremum größtmöglicher Nähe zum hebräischen Original. Entgegen seiner sonstigen, auf Aneignung des Fremden zielenden Übersetzungspraxis, formuliert Hamann in den Biblischen Betrachtungen für die Übertragung der Bibel die Maxime größtmöglicher Anlehnung an die sprachlichen Strukturen der Quellensprache.88 Das beschriebene ganzheitliche Dichtungskonzept Hamanns läßt die neologische Scheidung von Form und Inhalt nicht zu; zumal für die alten Sprachen gelte, daß der semantische Inhalt nicht von den ihn fassenden sprachlichen Strukturen abstrahiert werden könne. So müsse es sich die Übersetzung der göttlichen Offenbarung zur Aufgabe machen, die sprachlichen Eigentümlichkeiten des Originals, seine „Idiotismi“, weitestmöglich auch in der Zielsprache beizubehalten:
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Jacobi, Hohe Lied, S. 14f. Vgl. Herder, FA, Bd. 3, S. 1201 (Kommentar zu Lieder der Liebe). Lessing, Eclogae, S. 58; entspricht Hld. 3,1-3. Vgl. Bohnenkamp 2002, o.S. Der Aufsatz wurde von der Autorin freundlicherweise als bislang ungedrucktes Vortragsmanuskript zur Verfügung gestellt. Die nachfolgenden Ausführung zu Hamanns Hoheliedübersetzung sind überwiegend Bohnenkamp geschuldet; es wird darauf verzichtet, im einzelnen auf das nicht paginierte Manuskript zu verweisen. Zu Hamanns Übersetzungstätigkeit vgl. Patri 1999, S. 323ff.
Exemplarische zeitgenössiche Übersetzungen und Deutungen
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Die Idiotismi der alten Sprachen sind der Natur der Gedanken und Empfindungen am nächsten; man sollte also in unsern Uebersetzungen der heiligen Schrift so nahe bleiben als möglich und lieber stark als rein, mehr der Sprache, in der die Schrift geschrieben ist, einräumen, den Worten getreuer übersetzen.89
Dieser Maxime gehorchend, lotet Hamann in seiner wahrscheinlich im Zeitraum 1760 bis 1762 entstandenen Übersetzung des Hohenliedes, „Nabel“90 seines Bibelverständnisses, die lexikalischen und syntaktischen Grenzen des Deutschen aus, indem er konsequent und ohne Rücksicht auf sprachliche Eingängigkeit „das Original in Syntax, Wortstellung und Lexik […] nachzubuchstabieren“91 sucht (Bohnenkamp). Wo etwa Luther und fast alle deutschen Übersetzer glättend eingreifen, stellt Hamann die geschmeidige Eingängigkeit im Deutschen hintan, um die „Idiotismi“ des Canticum Canticorum auch in der Zielsprache zu wahren:92 Luther
Hamann
Das man deine gute Salbe rieche Zum Geruch sind deine Öle gut […].94 […].93 Die Fromen lieben dich.95
Die Aufrichtigkeiten lieben Dich.96
Mein Freund ist mein / vnd ich bin Mein Geliebter mir, und ich ihm, der da sein / der vnter den Rosen weidet / weidet in den Lilien, bis daß wehren
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Hamann, Werke, Bd. 1, S. 124 (Biblische Betrachtungen). Ganz ähnlich formuliert Hamann mit Bezug auf die Übersetzung des Psalters im Brief an Lindner: „Stark und schön ist alles, was ich bey einem Gedichte fordere und ein solches nenne ich ein Meisterstück. Die Uebersetzungen der Psalmen mögen sehr edel seyn; sie kommen mir aber nicht genau genung [sic!] vor, und ich sehe mehr bey einer Uebersetzung auf das letztere denn auf das erstere.“ Hamann, Briefe, Bd. 1, S. 390 (an Johann Gotthelf Lindner, 8. August 1759). Hamann, Briefe, Bd. 4, S. 49 (an Johann Friedrich Hartknoch, Mitte Februar 1779): „Das hohe Lied ist der Nabel meiner Bibel […].“ Vgl. ganz ähnlich ebd., S. 51 (an Johann Gottfried Herder, 21. Februar 1779). Bohnenkamp 2002, o.S. Zu eben diesem Verfahren Luthers, die einzelnen „Idiotismi“ (Hamann) des so heterogenen Originals „einzudeutschen“ und homogen wiederzugeben, bemerkt Goethe in Dichtung und Wahrheit: „Nur will ich noch […] an Luthers Bibelübersetzung erinnern: denn daß dieser treffliche Mann ein in dem verschiedensten Stile verfaßtes Werk und dessen dichterischen, geschichtlichen, gebietenden, lehrenden Ton uns in der Muttersprache, wie aus einem Gusse überlieferte, hat die Religion mehr gefördert, als wenn er die Eigentümlichkeiten des Originals im einzelnen hätte nachbilden wollen.“ Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 9, S. 493f., 11. Buch. Vgl. hierzu auch Linder 1998, S. 74f. Hl. 1,3 zit. n. Lutherübersetzung. Hamann, Werke, Bd. 4, S. 251 (Das Lied der Lieder); entspricht Hl. 1,3. Hl. 1,4 zit. n. Lutherübersetzung. Hamann, Werke, Bd. 4, S. 251 (Das Lied der Lieder); entspricht Hl. 1,4.
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Das Hohelied Salomons in der Bearbeitung Goethes
Bis der tag küle werde / vnd der schatten weiche. Kere vmb / werde wie ein Rehe mein Freund / oder wie ein junger Hirss auff den Scheidebergen.97
wird der Tag, und geflohen sind die Schatten, zeuch umher, sey (gleich) dir, mein Geliebter, mein Rehbock oder Jüngere der Hirsche auf dem Berge Bothot.98
Indem sich Hamann in Sätzen wie „Siehe, du schön meine Freundin, siehe du schön“99 z.B. durch Verzicht auf die eigenmächtige Einfügung der im Deutschen notwendigen Kopula einer Interlinearübersetzung annähert, vermeidet er es zum einen, die semantische Offenheit des Originaltextes durch interpretatorische Festlegungen im Deutschen einzuschränken, wie sie der Anspruch auf eine geschliffene Fassung in der Zielsprache nach sich zöge.100 Zum anderen löst Hamann damit die literalistische Überzeugung Hieronymus’, „verborum ordo mysterium est“101, übersetzungstheoretisch ein. Hamanns Maxime größtmöglicher Nähe zum Originaltext und seinen Deutungsspielräumen spiegelt sich bereits im Titel. Die Übersetzung „Das Lied der Lieder | des, dem Salomo“102 behält zum einen das Polyptoton des hebräischen Intensitätsgenitivs bei und stellt zum andern beide grammatikalisch möglichen Kasuslesarten der Anbindung vor. Luther etwa geht hingegen von den gegebenen Möglichkeiten der Zielsprache aus, die ihn nötigen, die semantische Offenheit des hebräischen Titels engzuführen. Seine Wahl des Titels „Das Hohelied Salomons“103, darin gefolgt von der Einheitsübersetzung, kann zum einen die figura etymologica nicht beibehalten und legt sich zum andern auf das genitivische Verständnis im Sinne einer Zuschreibung fest. Sie engt damit den Deutungsspielraum
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Hl. 2,16f. zit. n. Lutherübersetzung. Hamann, Werke, Bd. 4, S. 252 (Das Lied der Lieder); entspricht Hl. 2,16f. Ebd., S. 253; entspricht Hl. 4,1. Zu den im hebräischen Original ausgelassenen Kopula bemerkt Peter Hanssen (Betrachtungen über das Hohe Lied Salomo, 1756): „Die Mittelsbegriffe, welche die Rede füllen und leicht machen, sind hie noch mehr, als in dem Prediger weggelassen“. Hanssen, Hohe Lied, o.S. (Vorrede). 101 Hieronymus, Genus interpretandi, S. 508. Vgl. auch Bohnenkamp 2003a, S. 18. 102 Zit. n. Bohnenkamp 2002. Bohnenkamp zitiert nach dem Nachlaß Hamanns in der Universitätsbibliothek Münster. Der Hamann-Herausgeber Nadler hat, wie er zugesteht, in den Text eingegriffen, um „den Wortlaut glatt fortlaufen“ zu lassen. Hamann, Werke, Bd. 4, S. 486 (Kommentar zu Das Lied der Lieder). Entscheidende Ergänzungen wie „des, dem Salomo“ streicht er aus der Übersetzung, um sie nur im Kommentar anzuführen. Vgl. ebd., S. 251 u. 486f. Darüber hinaus merkt Bohnenkamp sinnentstellende Textfehler der NadlerAusgabe an. 103 So der Titel in der Lutherübersetzung; bis auf die Genitivbildung gleichlautend der Titel in der Einheitsübersetzung („Das Hohelied Salomos“).
Exemplarische zeitgenössiche Übersetzungen und Deutungen
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implizit um das wenigstens theoretisch mögliche dativische Verständnis im Sinne einer Zueignung ein. Das Hohelied als Volkslied: Johann Gottfried Herder Wie kein anderes biblisches Buch ist das Hohelied Salomonis geeignet, Herders Vorstellungen des Alten Testaments, der „Poesie der Hebräer“, als ältestem dichterischen Zeugnis der Menschheit zu exemplifizieren.104 Für Herders Auseinandersetzung ist eine deutliche produktionsästhetische Intention charaktersistisch, die darauf zielt, das Hohelied mit dem Nachweis seiner authentischen Expressivität zum Paradigma einer „jugendlichen“, originären Dichtung zu erheben und seinen poetischen Extrakt als „Arznei für unser krankes Jahrhundert“105 zu verabreichen. In seinem poetologisch-ästhetischen Modellcharakter fügt Herder das Buch so in die zeitlich und kulturell so heterogene Reihe authentischer dichterischer Ausdrucksformen ein, die er sich von der hebräischen Dichtung über die Gesänge des Barden Ossian bis hin etwa zu zeitgenössischen Volksliedern erstrecken sieht.106 Herders Auseinandersetzung mit dem Canticum wird erstmals durch seine Rezension des Versuchs einer richtigern Auslegung des Hohenliedes Salomonis (1765) Christian Gottfried Hases (gest. 1766) in den Königsberger Gelehrten Anzeigen vom 18. Oktober 1766 dokumentiert.107 In der Skepsis gegenüber einem allegorischen Verständnis wie in den evozierten Parallelen zu anderen, außerbiblischen Liedern des Altertums deuten sich Grundlinien einer Hoheliedhermeneutik an, die auch Herders spätere
_____________ 104 Lange Zeit entsprach dieser offensichtlichen Bedeutung des Hohenliedes für die dichtungstheoretischen und bibelhermeneutischen Konzepte Herders nicht der Grad der wissenschaftliche Bearbeitung der Auseinandersetzung Herders mit dem Hohenlied. Jüngst erst hat Baildam (1999) die erste umfangreiche Studie hierzu vorgelegt. 105 Herder, FA, Bd. 3, S. 506 (Lieder der Liebe). 106 Vgl. ebd., S. 483: „Selbst Oßian und alle Völker in der ersten Einfalt, singen sie Liebe, so ists immer, wie aus dem Hohenliede.“ Das Zitat aus der veröffentlichten Fassung des Textes widerlegt die Theorie Clarks, nach der Herder aus Angst vor dem Vorwurf der Heterodoxie jeden Bezug zu Ossian aus dem Werk gestrichen habe. Vgl. Clark 1946, S. 1097f. 107 Vgl. Habersaat 1936, S. 14.
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Das Hohelied Salomons in der Bearbeitung Goethes
eigene, 1778 publizierte Übersetzung, Kommentierung und Einordnung des Hohenliedes bestimmen.108 Seit Beginn der 1770er Jahre setzt sich Herder intensiv mit dem Hohenlied Salomonis auseinander und erarbeitet in den folgenden Jahren eine Verdeutschung der acht Kapitel des biblischen Buches, die 1778 unter dem aufschlußreichen Titel Lieder der Liebe. Die ältesten und schönsten aus Morgenlande erscheint.109 Die Schrift gliedert sich in zwei Teile. Zunächst bietet Herder eine Übersetzung des Textes („Salomons hohes Lied“), die immer wieder durch Kommentare, Erläuterungen und Verweise unterbrochen wird. Im zweiten Teil, überschrieben „Über den Inhalt, die Art und den Zweck dieses Buches in der Bibel“, liefert er die theoretische Grundlegung seiner vorangegangenen Übertragung und setzt sich teils kritisch, teils offen polemisch mit der Auslegungstradition des Canticum Canticorum auseinander. „Was ist nun sein Inhalt? was sagt das Buch vom Anfang bis zum Ende?“, fragt Herder zu Beginn seiner Ausführung „Über den Inhalt, die Art und den Zweck dieses Buches in der Bibel“ und läßt die Antwort folgen: „Mich dünkt: Liebe, Liebe.“110 Diese Liebe werde in einzelnen, zunächst voneinander unabhängigen Liedern „von ihrem ersten Keim, von ihrer zärtesten Knospe, durch alle Stufen und Zustände ihres Wachstums, ihrer Blüte, ihres Gedeihens bis zu reifer Frucht und neuer Sprosse“111 erzählt. Auf diese Weise ziehe sich durch das biblische Buch, trotz seines Charakters einer anthologischen Zusammenstellung, gleich einer „Reihe schöner Perlen auf Eine Schnur gefasset“112, ein „Faden der Einheit“113. Den Exegeten, die dem Hohenlied ob ihrer eigenen, sich in ihrer Verstiegenheit überbietenden Hypothesen diesen anthologisch-disparaten, aber dennoch stimmigen Charakter absprechen zu müssen meinen, pariert Herder polemisch, indem er sie vor König Salomo hintreten und sie
_____________ 108 Vgl. Herder, SW, Bd. 1, 89ff. (Aus den Königsbergschen Gelehrten und Politischen Zeitungen auf das Jahr 1765, Rezension zu Christian Gottfried Hase, Versuch einer richtigern Auslegung des Hohenliedes Salomonis). Vgl. auch Baildam 1999, S. 39ff. 109 Vgl. Herder, FA, Bd. 3, S. 1206f. (Kommentar zu Lieder der Liebe). 110 Herder, FA, Bd. 3, S. 483 (Lieder der Liebe). 111 Ebd., S. 496. 112 Ebd., S. 450; ähnlich ebd. S. 499. 113 Ebd., S. 496, Hervorhebung des Originals nicht übernommen.
Exemplarische zeitgenössiche Übersetzungen und Deutungen
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sich in ihrer selbstgefälligen interpretatorischen Willkür selbst vorführen läßt:114 Großer König, siehe, du sangest der Lieder viel, du gibst mir, selbst dem Namen nach, einen Ausbund, eine Blumenlese, ein Lied der Lieder; aber, König, ich habe eine glückliche Hypothese, mit der freilich alle einzelne Stücke, Personen und Situationen zerrissen und verschwemmt, deine viele Lieder aber alle nur Ein Lied werden. Ich nähe und flicke, deute und sticke, verunziere und lege Liebesränke, würdige Moralabsichten, Politik und Mystik hinein, daran du zwar, weiser König, nicht gedacht hast, ich aber denke und dein unwürdiges Buch seiner biblischen Stelle würdig mache – – 115.
Entsprechend seiner Überzeugung vom florilegischen Charakter des Hohenliedes, geht Herder statt von einem Autor, von einem „Sammler“116 der Lieder der Liebe aus, der als salomonisch bezeichnet werden könne – „die Lieder alle sind Salomonisch“117 –, ohne notwendigerweise oder auch nur wahrscheinlich mit der historischen Person des Königs Salomo gleichgesetzt werden zu können.118 Das Salomonische des Buches sei nicht in der individuellen Person eines Autors bzw. Sammlers zu suchen, sondern liege in den singulären kulturell-lebensweltlichen Umständen der Entstehung und Zusammenstellung des Werks begründet. Insofern allein unter seiner glücklichen Regentschaft „die Blume des Hohenliedes“119 habe sprießen können, sei der Herrscher des Zehnten vorchristlichen Jahrhunderts doch in einem höheren Sinne „Urheber des Buchs“120. Diesem Hinweis auf die singulären kulturell-lebensweltlichen Umstände, die es erst erlaubt hätten, das Hohelied in seiner ästhetischen Perfektion hervorzubringen, korrespondiert Herders hermeneutisches Verfahren der Immedesimation: Indem diese singulären Umstände neu evoziert werden, kann Herder die Entstehung der Dichtung gleichsam einfühlend neu miterleben. Diesem Bemühen, Poesie aus ihrer Zeit-, Ortsund Kulturgebundenheit zu verstehen, macht sich Herder die Mitte des
_____________ 114 Herder zeigt an mehreren Stellen die inneren Unstimmigkeiten und Fugen des florilegischfragmentarisch verstandenen Hohenliedes auf; etwa: „Daß dies Stück mit dem vorigen nicht zusammenhänge, siehet ein jeder.“ Ebd., S. 446. 115 Ebd., S. 486f. 116 Vgl. etwa ebd., S. 448, 450 u. 482. 117 Ebd., S. 491. 118 Vgl. ebd., S. 491f. u. 495. Der Kommentar der Münchner Goetheausgabe simplifiziert über Gebühr, wenn er feststellt, Herder habe an der These der Autorschaft Salomos festgehalten. Vgl. Kommentar zu Hohelied, MA, Bd. 1/2, S. 857. 119 Herder, FA, Bd. 3, S. 495 (Lieder der Liebe). 120 Ebd., S. 491, Hervorhebung des Originals nicht übernommen.
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18. Jahrhunderts einsetzende Flut teils literarisch ambitionierter, teils wissenschaftlich intendierter Berichte von Orientreisenden dienstbar.121 „Er küsse mich / Mit seines Mundes Küssen“, hebt Herder in seiner Übersetzung an und bemerkt im nachgeschalteten Kommentar: „Vielleicht ward dieser Seufzer mit einer schmachtenden Blume, mit einer duftenden Morgenrose übersandt“; hierzu wiederum ergänzt er in einer Fußnote: Daß sich die Morgenländer solche Boten und Briefe der Liebe in Blumengeschenken zusenden, ist aus der Montague Briefen, Hasselquists Reisen (S. 37) Guy’s Briefen u.a. bekannt.122
Die Reiseliteratur hinzuzuziehen, erlaubt Herder gleichsam ein Einlesen in den Orient, eine „Verrückung“ der Perspektive (Willi).123 Daß gerade der Kulturhistoriker Herder bei diesem hermeneutischen Verfahren die zeitliche Dimension weithin ausblendet, ist bemerkenswert. Als gehe mit der räumlichen Bewegung des Reisenden automatisch eine zeitliche einher oder als habe dort die Dimension Zeit keine Geltung, führt für Herder die Reise in den Orient, als Raum ohnehin nicht eben eng gefaßt, offenbar zwingend in den alten Orient. Die unaufholbare zeitliche Diskrepanz zwischen den historischen Entstehungsumständen des Buches und dem zeitgenössischen Orient als Ziel der Reisen reflektiert er jedenfalls nicht. Der Hoheliedkommentar Herders weist einen aufschlußreichen Doppelcharakter auf. Nur teilweise ist er auf der Metaebene erläuternder und reflektierender Anmerkungen anzusiedeln, teilweise eröffnet er auch einen parallelen, d.h. in der Gleichzeitigkeit zur Handlung vorgestellten Raum
_____________ 121 Zu Herders Einbeziehung von Reiseliteratur in die Auslegung des Hohenliedes vgl. Baildam 1999, S. 131f. u. Willi 1971, S. 18ff. Thomas Harmar (1744-1788) verfaßt etwa ein umfängliches Kompendium, in dem er die Erkenntnisse der Reisenden für die Bibelforschung fruchtbar zu machen sucht (deutsche Übersetzung: Beobachtungen über den Orient aus Reisebeschreibungen, zur Aufklärung der heiligen Schrift, 1772-1779); seine Bemerkungen zu den Realien des Hohenliedes erscheinen in einem gesonderten Werk (deutsche Übersetzung: Materialien zu einer neuen Erklärung des Hohenliedes, 1778f.). 122 Herder, FA, Bd. 3, S. 434 (Lieder der Liebe). Herder verweist hier auf Lady Mary Wortley Montagus (1690-1752) Letters Written during her Travels in Europe, Asia, and Africa (1763) und Fredrik Hasselquists (1722-1752) Reise nach Palästina in den Jahren von 1749 bis 1752 […] (1762). Der dritte genannte Autor ist nicht genau zu bestimmen. Ähnliche Randbemerkungen in Fußnoten finden sich zu einer Fülle von Realien des Hohenliedes: „Der Zustand der Weiber in Morgenlande ist aus mehr als Einem kläglichen Bericht der Reisenden bekannt […].“ Herder, FA, Bd. 3, S. 435 (Lieder der Liebe). „Das Lob der Schönheit fängt bei den Morgenländern immer von den Augen an. Ohne Gazelle und Augen derselben ist keins ihrer Liebesgedichte.“ Ebd., S. 442. „Da die Morgenländer so sehr Reinigkeit des Mundes und gesunden Atem lieben; so ist auch deswegen für die Zähne kein besser Bild, als die neugewaschene, neugeschorne Herde.“ Ebd., S. 456. 123 Vgl. Willi 1971, S. 20.
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des Miterlebens. Weit über die kulturell-lebensweltlichen „Verrückung“ der gelehrigen Metaebene hinausgehend, ist sein hermeneutisches Verfahren der Immedesimation darauf aus, bis in die individuelle Innenwelt der Protagonisten vorzudringen, um die geschilderten Empfindungen selbst zu empfinden und dem Leser empfindbar zu machen: Und da wendet sich ihr Auge von allen gaffenden und neidenden Schönen, zu dem, der sie liebet. Sie schmachtet ihm nach, unbekannt und schamrot, lange wie eine Verlorne umirren zu müssen, nach ihm in fremden Gezelten zu fragen: O Sage mir Den meine Seele liebet, Wo weidest du? Wo zeltest du Am Mittag? – – Er ist also Hirt, wie sie; nur sie mit ein paar Ziegen, und Er mit vielen Hirten und Herden. [...] Schöne Szene der Hirtenunschuld!124
Über den Anspruch hinaus, „mit den Ebräern ein Ebräer, mit den Arabern ein Araber, mit den Skalden ein Skalde, mit den Barden ein Barde“ zu werden, „um Moses und Hiob, und Oßian in ihrer Zeit und Natur zu fühlen“125 (Kritische Wälder), versucht Herders Hermeneutik, gleichsam nicht nur ein Hebräer, sondern der individuelle Hebräer zu werden, dessen Innensicht er zu schildern intendiert. Dieser Ansatz, die Lieder der Liebe zu kommentieren, kann so als radikale Steigerung des homiletischen Bemühens der pietistischen Affekttheologie verstanden werden, die das innere Erleben der biblischen Figuren dem Hörer erlebbar zu vermitteln sucht.126 Mit dieser empathischen Herangehensweise verbietet sich für Herder eine Hermeneutik, die den Text nicht aus den Umständen seiner Entstehung begreifen will, sondern ihn an eigenen, ebenso singulären kulturell-lebensweltlichen Rezeptionsumständen messen zu können glaubt. In diesem Fehler liege das grundlegende Mißverständnis begründet, das so viele Ausleger, zuletzt Johann David Michaelis, dazu gebracht habe, das so keusche Hohelied als obszönen, dehors und Moral verletzenden Schund abzutun:127
_____________ 124 Herder, FA, Bd. 3, S. 437f. (Lieder der Liebe); entspricht Hl. 1,7. 125 Herder, SW, Bd. 3, S. 202 (Kritische Wälder, „Zweites Wäldchen“). Vgl. auch Mueller-Sievers 1990, S. 324f. 126 Zur Strategie der pietistischen Homilie, die Gefühle biblischer Figuren und Heiliger nacherlebbar zu vermitteln, vgl. Kantzenbach 1966, S. 161 u. Gutzen 1972, S. 43ff. 127 Zu Herders Betonung der Keuschheit des Hohenliedes vgl. etwa Herder, FA, Bd. 3, S. 476 (Lieder der Liebe). Hierzu auch Baildam 1999, S. 127ff. Zu Herders scharfer Polemik gegen Michaelis vgl. Herder, FA, Bd. 3, S. 488f. (Lieder der Liebe).
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Der Inhalt des Buchs also, Liebe und orientalische Liebe aus denen Zeiten, macht alles am schwersten. Wenn sich der Europäer im Punkte der Weiber recht bescheiden dünkt, wird er dem Morgenländer oft unerträglich; und wenn dieser sich über sie mit Manneswürde, und der freien offenen Einfalt ausdruckt, die allein Unschuld ist, so jucken unsre Ohren; unser Geschmack ist beleidigt […].128
Diese intendierte „Verrückung“ geht soweit, daß Herder den Zustand eines tiefgreifenden Gedächtnisverlustes als Voraussetzung gelingenden Verstehens erträumt; erst wenn die ursprüngliche Identität des Lesers abgelegt sei, könne die Immedesimation als Neugeburt vollzogen werden. Den katholischen Ritus mit dem Bild des Unterweltflusses Lethe verquickend, sehnt sich Herder schließlich nach dem hermeneutischen Aspergill, das seine Leser mit dem Segen kulturellen Vergessens beschenken möge: Könnte ich […] einige Tautropfen als Tropfen der Vergessenheit auf meine Leser sprengen, daß sie das treffliche Stück ganz und allein und unvermengt mit vorigen Farben und Eindrücken fühlen!129
Nicht nur seine Kommentare, sondern auch Herders Übersetzungsmaximen spiegeln dieses hermeneutische Bemühen, der Originarität des Textes Rechnung zu tragen. Ausgangspunkt Herders ist die unauflöslichen Gebundenheit der Sprache an ihren kulturellen Kontext.130 Nichts solle in seiner Übersetzung „verschönert, verneut, verschmäckelt“ werden, nichts solle „seinem Ort, seiner Zeit, seinem Lande entrissen werden.“131 Angesichts der Erkenntnis, „daß nichts so verschieden ist, als Morgenlands Poesie, Sprache und Liebe gegen die unsre“132, stellt er sich selbst damit dem Anspruch einer Unmöglichkeit. Diesem Dilemma zwischen notwendiger Nähe zu den sprachlichen Strukturen des Originals einerseits und andererseits dem Bemühen um über-setzende Vermittlung, d.h. Nahebringen an die grammatischen und semantischen Erfordernisse der Zielsprache, scheint die eigentümliche, Übersetzung und Kommentar verschränkende Form seiner Lieder der Liebe geschuldet zu sein:133 Ausgehend von seinem „semantischen Monis-
_____________ 128 Herder, FA, Bd. 3, S. 490 (Lieder der Liebe). 129 Ebd., S. 459. 130 Vgl. ebd., S. 473: „Freilich verlieren […] diese Bilder mit der Sprache, den Gegenden und Sitten Morgenlandes für uns viel.“ 131 Ebd., S. 489. 132 Ebd., Hervorhebungen des Originals nicht übernommen. 133 Zu diesem Dilemma vgl. die Reflexion einer sinnvollen Übertragung des hebräischen Versmaßes ebd., S. 489f.
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mus“134 (Baildam), lehnt sich Herder sprachlich eng an das Original an und kompensiert das sich hieraus zwangsläufig ergebende Verständlichkeits- und Vertrautheitsdefizit der Überzeugung durch den eingeschobenen Kommentar, der immer wieder die hermeneutische Bewegung des kulturell-lebensweltlichen Heranführens an den Text vollzieht: Faht uns die Füchse, Die kleinen Füchse, Die Weinbergsverderber, Der Weinberg knospt. Es […] ist ein einzelnes Scheuchlied, wie man ja Jagd- und Ernte-, Kriegs- und Fischerlieder hat; dem Schäferleben des Orients war dies Scheuchlied wider die sogenannten Dibs oder Jackals nötig.135
Dabei können, wie Kelletat zu Recht bemerkt, Herders Übersetzungsmaximen, nicht in das einfache „Gegensatzpaar ‚Nachschöpfung‘ versus ‚treue Wiedergabe‘ gezwängt werden“; nach Herders Überzeugung kann ohnehin „eine dem Original gerecht werdende Übersetzung nur durch die Methode der schöpferischen Reproduktion“136 geschaffen werden. Herder erwähnt einen ersten Übersetzungsversuch, der die Metrik des Hohenliedes „in unsre Sylbenmaße gekleidet und […] unmerklich zu runden gesucht“ habe, so daß „deutsche Verse, nichts weiter“137, entstanden seien: aller Gang des Originals […], sein Ausströmen, sein trunkner Flug und wiederum seine Kindeseinfalt, sein Winken, sein Lallen war damit verloren.138
Erst in der Reproduktion durch den Übersetzer kann das Dilemma gelöst werden, indem der Text aus dem Geist seiner Entstehung zum zweiten Mal geschaffen wird.139 Reproduktion setzt damit die hermeneutische Immedesimation voraus, die immer wieder vor allem durch die eingeschobenen Erläuterungen angestrebt wird. Mit diesem Verfahren gelingt Herder eine Verdeutschung, die in vielen Details präziser ist als Luthers Fassung, die, den im Sendbrief vom Dolmetschen (1530) dargelegten Übersetzungsmaximen entsprechend, den Text vermittelt und ihn auf die
_____________ 134 Baildam 1999, S. 114: „semantic monism“. 135 Herder, FA, Bd. 3, S. 447 (Lieder der Liebe); entspricht Hl. 2,15. Herder ergänzt zum Wort „Jackals“ in der Fußnote die entsprechende Reiseliteratur zum Thema. 136 Kelletat 1984, S. 63f. Vgl. auch Baildam 1999, S. 118. 137 Herder, FA, Bd. 3, S. 489 (Lieder der Liebe). 138 Ebd. 139 Vgl. Baildam 1999, S. 118.
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kulturell-lebensweltliche Verwurzelung des Lesers zu bewegt.140 Damit stellt sich Herder dem Anspruch des Bibelübersetzers als selbst schaffenden, dem Originalautor nicht nachstehenden Genies, wie er ihn in seiner Schrift Ueber die neuere Deutsche Litteratur bereits 1767 umreißt: Wo ist ein Uebersezzer, der zugleich Philosoph, Dichter und Philolog ist: er soll der Morgenstern einer neuen Epoche unsrer Litteratur seyn!141
Die zentrale Bedeutung der lebensweltlichen Realien des Hohenliedes, die zu erschließen sich Herder in seinen eingeschobenen Kommentaren immer wieder bemüht, läßt bereits erahnen, daß für Herder das literale Verständnis des Textes im Mittelpunkt seiner Hoheliedhermeneutik steht; für eine sich zwingend auf der Ebene allegorischer Überhöhung vollziehende Auslegung findet Herder, wie er im angehängten Essay erläutert, keine Ansatzpunkte im Text des Canticum Canticorum: Ich lese das Buch und finde in ihm selbst nicht den kleinsten Wink, nicht die mindeste Spur, daß ein andrer Sinn Zweck des Buchs, erster Wortverstand Salomons gewesen wäre […].142
Der „von allen beleidigte klare Wortverstand“ ist ihm der „Ausleger aller Ausleger“143. Jede Etablierung einer allegorischen Metaebene erweise ihre hermeneutische Willkür, indem sie allzu deutlich ihren Projektionscharakter als „Schoßkind“144 ihres jeweiligen Exegeten erkennen lasse. Der jeweils angenommene allegorische Bezugsrahmen trage „immer die Gestalt seines Vaters, des Erfinders“145:
_____________ 140 Vgl. Bohnenkamp 2003a, S. 18: Bei Luther werde beispielsweise „die jüdische Unterwelt […] zur Hölle, die Gazelle […] zum Reh“. Vgl. die hermeneutischen und übersetzungstheoretischen Reflexionen in Luther, WA, Bd. 30/2, S. 636ff. (Sendbrief vom Dolmetschen): Entgegen der Ansicht der „buchstabilisten“, müsse der Übersetzer so genau wie möglich den Sinn des Originals in der kulturell-sprachlichen Wirklichkeit des Adressaten wiedergeben; im Zweifel solle er „die buchstaben faren lassen, unnd [sic!] forschen, wie der Deutsche man solchs redet […].“ Ebd., S. 637 u. 639. 141 Herder, SW, Bd. 1, S. 274 (Ueber die neuere Deutsche Litteratur). Ähnlich formuliert Herder bereits in der Rezension der Übersetzung Hases, ein erfolgreicher Ausleger des Hohenliedes müsse „Sprachkundiger, Poet und Theolog zugleich“ sein. Herder, SW, Bd. 1, 89f. (Aus den Königsbergschen Gelehrten und Politischen Zeitungen auf das Jahr 1765, Rezension zu Christian Gottfried Hase, Versuch einer richtigern Auslegung des Hohenliedes Salomonis). 142 Herder, FA, Bd. 3, S. 512 (Lieder der Liebe). 143 Ebd., S. 489. 144 Ebd., S. 513. 145 Ebd.
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fühlte er fein, so ist auch die Seide des Märchens fein, die er aus Salomo spinnet; ist er grob, so kommt auch so ein dickhäutiges Schiffseil von Allegorik heraus, daß dem Leser die Nerven zittern.146
Wendet sich Herder auch entschieden dem Wortsinn als eigentlicher hermeneutischer Ebene zu, so lehnt er ein allegorisches Verständnis des Hohenliedes doch nicht rundweg ab, sofern es sich seines Charakters als applicatio bewußt sei: Die Turteltaube könne als Stimme des sich leise ankündigen Messias aufgefaßt werden, die Morgenröte als Hinweis auf die erlösende Ankunft Christi begriffen werden, doch sei dies eben persönliche „Anwendung, nicht Wortsinn“147. So sehr Herders hermeneutisches Bemühen auf den Wortsinn als den eigentlichen Sinn gerichtet ist, läßt er verinnerlichende Anwendungen, d.h. die Aneignung als persönliche „Seelenspeise“, zu, die jedoch „den Ersten Wortverstand nicht aufheben, sondern voraussetzen, bestätigen und gleichsam bewähren“148 müsse. Im Gegensatz zum Wortsinn entzögen sich solche „Anwendungen“ hermeneutischen Beurteilungskriterien, so daß sie gleichermaßen legitim wie beliebig nebeneinander stünden: und nie vergesse mans, daß es Anwendung sei, nicht ursprüngliche Absicht, sonst wird Eine Anwendung die andre hassen und verfolgen, da sie doch alle, und unzähliche ihrer, Schwestern unter einander und Töchter Eines Wortsinnes, des Textes der Liebe, sein und bleiben.149
Indem er gleichermaßen die orthodoxe Allegorese wie die deistische, den Text als unsittlich geißelnde Auslegung ablehnt, positioniert sich Herder außerhalb der Gräben der zeitgenössischen exegetischen Debatte.150 Aus dieser Position heraus vermag er, auch auf die Frage nach der Kanonizität des Hohenliedes eine neue Antwort zu geben; trotz seiner Konzentration auf den Wortverstand des Hohenliedes kann er die Aufnahme und Tradierung des biblischen Buches im Kanon der Heiligen Schrift legitimieren. Auf die Frage, „Aber warum steht denn das Lied in der Bibel?“151, antwortet Herder mit seinem Bibelverständnis, das einen Widerspruch zwischen der Heiligkeit der Bibel und der wörtlich verstandenen, erotischen Dichtung des Hohenliedes, Ausgangspunkt der Notwendigkeit zur allegorischen Überhöhung, nicht zu erkennen vermag:
_____________ 146 147 148 149 150 151
Ebd. Ebd., S. 514. Vgl. auch Baildam 1999, S. 152 u. Mueller-Sievers 1990, S. 329. Herder, FA, Bd. 3, S. 516. Ebd., S. 519. Vgl. Baildam 1999, S. 37. Herder, FA, Bd. 3, S. 501 (Lieder der Liebe).
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Es ist ein abgeschmackter Wahn unsres Lustrums, daß die Bibel eine Spreutenne kahler Moralen und trockner Akroame sein müsse; weder die Natur noch sie selbst hat den Wahn genehmigt.152
Herder überwindet die orthodoxe Logik, nach der ein wörtliches Verständnis zwangsläufig die Negation der göttlichen Inspiriertheit nach sich zieht, die wiederum die Ablehnung der Hohenliedes im Kanon der biblischen Schriften erfordert. Ein „menschliches“ Verständnis des Hohenliedes als Liebesdichtung – „Menschlich muß man die Bibel lesen: denn sie ist ein Buch durch Menschen für Menschen geschrieben“153 – schließt für Herder eine göttliche Inspiriertheit des Textes nicht aus.154 Gerade die Menschlichkeit des Hohenliedes verbürge seinen kanonischen Offenbarungscharakter. In der Natur spricht Gott nicht vom Holzkatheder zu uns und so wollte er auch nicht in der Schrift zu uns sprechen; sondern durch Geschichte, durch Erfahrung, durch Führung Eines Volkes, dem ganzen Menschengeschlecht zum Vorbild.155
Damit betont Herder die Geschichtlichkeit des Bundes zwischen Jahwe und seinem Volk, die es rechtfertige, das „salomonische“ Hohelied als Zeugnis einer der „Hauptpersonen“, die „in den Weg des göttlichen Ratschlusses traten“, „als göttlich-autorisierter Belag seines Charakters und Lebens“, „unter den hagiographis, den heiligen Büchern, die mehrere dergleichen Beläge enthalten“156, zu führen.
Goethes Bearbeitung des Hohenliedes Das Hohelied Salomons in der Bearbeitung Goethes teilt das Schicksal der „theologischen Jugendschriften“ und ist wie diese bislang noch nicht erschöpfend philologisch kommentiert und bearbeitet worden. Neben der kommentierten Erstveröffentlichung (Loeper 1879) und den knappen, sich weithin fast wörtlich entsprechenden übersetzungskritischen Kommentaren in den einschlägigen Goetheausgaben sind als kritische Literatur lediglich die kurzen Aufsätze Badts (1881) und Pniowers (1892), der Kommentar Haupts in der Einleitung zu seiner eigenen Hohelied-
_____________ 152 153 154 155 156
Ebd. Herder, FA, Bd. 9/1, S. 145 (Briefe, das Studium der Theologie betreffend). Vgl. Baildam 1999, S. 140f. Herder, FA, Bd. 3, S. 501 (Lieder der Liebe). Ebd., S. 502f., Hervorhebungen des Originals nicht übernommen.
Goethes Bearbeitung des Hohenliedes
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übersetzung (1907) und die kaum dreiseitigen Anmerkungen Habersaats (1936) anzuführen.157 Dieser Mißstand erweist sich bereits in der Terminologie: Ist es tatsächlich möglich, wie dies unreflektiert und offenbar bedenkenlos die meisten Kommentatoren und Herausgeber tun, von einer Übersetzung Goethes zu reden?158 Reichten seine Hebräischkenntnisse aus dem Unterricht bei Rektor Albrecht überhaupt aus, das Buch des Alten Testaments aus seiner Quellensprache zu übertragen?159 Alle Kommentatoren erwähnen die auf den ersten Blick deutlichen Parallelen zur Übersetzung Luthers sowie zur Verdeutschung Dietelmairs, auf die Goethe mehr als nur verstohlen geschielt habe, und bemerken, Goethe habe weiterhin auch Vulgata und Septuaginta bei seiner Übertragung zur Hand gehabt.160 Die Frage, wie die Übersetzungen Luthers und Dietelmairs in ihrer Bedeutung für Goethe gegeneinander zu gewichten sind, wird indes kontrovers beantwortet. Die Kommentatoren der Frankfurter Ausgabe halten die Anlehnung an die Bibelübersetzung und -kommentierung Dietelmairs für noch bestimmender als die Orientierung an der Lutherübersetzung.161 Die Kommentatoren der Münchner Ausgabe heben indes, gestützt auf Pniower und Haupt, eher die Bedeutung der Lutherbibel hervor.162 Loeper, 1879 Herausgeber der Trouvaille, hatte zunächst als These aufgestellt, die
_____________ 157 Erste Auszüge veröffentlicht bereits Adolf Schöll 1846 (Brief und Aufsätze von Goethe aus den Jahren 1766-1786); hier wird die zweite Auflage herangezogen (Schöll 1857). Loeper macht den Text erstmals 1879 vollständig zugänglich (Briefe Goethe´s an Sophie von La Roche und Bettina Brentano nebst dichterischen Beilagen). Ergänzend sei zur Sekundärliteratur noch das knappe Aufsatzexposé Stickels (1896) aufgeführt. 158 Einzig die Kommentatoren der Frankfurter Ausgabe setzen den Begriff „Übersetzung“ in Anführungszeichen und deuten so eine Distanznahme an; diskutiert und problematisiert wird die Bezeichnung indes nicht. Vgl. Kommentar zu Hohelied, FA, 1. Abt., Bd. 12, S. 1349. Die Münchner Ausgabe beispielsweise bezeichnet, ebenso wie Fischer-Lamberg, Das Hohelied Salomons bedenkenlos als „Übersetzung“. Vgl. Kommentar zu Hohelied, MA, Bd. 1/2, S. 856 u. Kommentar zu Hohelied, F-L, Bd. 5, S. 487. Morris hingegen hatte bereits formuliert, es handele sich um „eine reine, nicht umdeutende Nachdichtung“ des biblischen Textes. Vgl. Kommentar zu Hohelied, MM, Bd. 6, S. 527. 159 Zu Goethes Hebräischkenntnissen vgl. Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 9, S. 124ff. (4. Buch). Goethe behauptet, Motivation seines Hebräischstudiums sei es gewesen, die hebräischen Einsprengsel des Jiddischen zu verstehen. Vgl. auch Waldman 1929. Zum Hebräischunterricht bei Rektor Albrecht und der stilisierten Darstellung in Dichtung und Wahrheit vgl. die Ausführungen Linders (1998, S. 92ff.). 160 Vgl. z.B. Kommentar zu Hohelied, FA, 1. Abt., Bd. 12, S. 1349f. u. Kommentar zu Hohelied, MA, Bd. 1/2, S. 858. 161 Vgl. Kommentar zu Hohelied, FA, 1. Abt., Bd. 12, S. 1349f. 162 Vgl. Kommentar zu Hohelied, MA, Bd. 1/2, S. 857f. sowie Haupt 1907, S. VII u. Pniower 1892, S. 182.
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Das Hohelied Salomons in der Bearbeitung Goethes
Goetheversion sei, bei einiger Anlehnung an Luther, primär ausgehend von der Vulgata als eigenständige Verdeutschung aus dem Lateinischen entstanden.163 Schöll, der 1846 als erster auf die Bearbeitung Goethes hinweist, kommt zur so vagen wie realistischen Einschätzung, Goethe habe, „wie gar mancher gute Uebersetzer“, vor allem „aus Uebertragungen weiter übertragen.“164 Kann man angesichts dieser verwirrenden Quellenlage noch von einer Übersetzung sprechen, oder handelt es sich nicht vielmehr um eine Nachdichtung, eine dichterische Durchformung anderer Übersetzungen oder eine eklektische Synthese mehrerer Fassungen des Hohenliedes? Nachfolgend sei daher vorsichtiger von einer Goetheschen Bearbeitung des biblischen Buches gesprochen. So unterschiedlich diese übergeordneten Gewichtungen ausfallen, so weithin vollständig ist in den gängigen Goethekommentaren im Detail für die einzelnen Formulierungen herausgearbeitet worden, in welchem Verhältnis sie zu den in Betracht kommenden Quellen stehen. Diese Arbeit setzt sich nicht zum Ziel, diesen übersetzungskritischen Beobachtungen weitere Mosaiksteine hinzuzufügen; vielmehr soll die Goethefassung des Hohenliedes im folgenden als autonomes poetisches Gebilde begriffen werden, dessen Charakteristika sich nicht in Anlehnung und Abgrenzung gegenüber anderen Fassungen erschöpfen. Unabhängig von Detailfragen, in welcher Formulierung Goethe offenbar vom hebräischen Original, von der griechischen Septuaginta oder der lateinischen Vulgata ausgeht, und den Philologissima der teilweisen Übernahme von Wörtern und Wendungen der ein oder andern deutschen Übertragung, soll die Hoheliedfassung Goethes primär in ihrer Immanenz, als dichterische Aneignung einer biblischen Vorlage, betrachtet werden. Die sprachbildende Kraft der Bibel im Deutsch Martin Luthers kann für den lutherisch geprägten Goethe als so groß angenommen werden, daß – unabhängig von der Frage, ob die Übersetzung Luthers oder ob die Übertragung Dietelmairs stärker durch die Zeilen der Goethebearbeitung schimmert – sich eine Übersetzung eines biblischen Textes nur in Auseinandersetzung mit der übermächtigen Lutherbibel, die dem lutherisch Erzogenen stets im Ohr klingt, vollziehen kann.165 Eine prononcierte Abweichung von der Übertragung Luthers, besonders wenn sich durch ihre häufige Wiederholung hinter ihr ein Konzept vermuten
_____________ 163 Vgl. Loeper 1879, S. 140. 164 Schöll 1857, S. 155. 165 Vgl. Müller 1989, S. 132.
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läßt, kann nicht zufällig vorgenommen werden. Nicht also um die These einer weitgehenden Anlehnung an Luther zu bekräftigen, sondern um die eigenständige dichterische Durchformung und somit die Kontingenz dieser poetischen Gestaltung des Goethetextes aufzuzeigen, wird dabei immer wieder auf die Biblia Germanica Luthers (in der Fassung von 1545) hingewiesen werden. Diese Betrachtung der Bearbeitung Goethe bedarf einer editorischen Grundlage, die mit den bisherigen Goetheausgaben noch nicht vorliegt.166 Alle gängigen Ausgaben drucken die Hoheliedbearbeitung Goethes als literarischen Text, auf den nur unter Angabe von Seite und eventuell Zeile verwiesen werden kann und nicht mittels der für Bibeltexte üblichen Zugriffsstruktur von Kapitel- und Versnumerierungen. Auf diese Weise ist es indes kaum möglich, die Bearbeitung Goethes mit anderen Bibelausgaben direkt zu vergleichen, zumal angesichts der Tatsache, daß Goethe nicht unerhebliche Teile der biblischen Vorlage ausläßt und den gesamten Text gänzlich neu gliedert. Die vorgeschlagene Ausgabe (s. Anhang) unterlegt der Hoheliedbearbeitung Goethes in der Fassung der Frankfurter Ausgabe die Kapitel- und Versstruktur der Bibel, wie sie wenige Jahre nach der Veröffentlichung der Lutherbibel durch Robert Estienne (Stephanus genannt, 1503-1559) verbindlich wird, und läßt so zwei Strukturprinzipien erkennen:167 Zum einen wird ersichtlich, wie Goethe das Hohelied eigenmächtig durch eingeschobene Asteriske durchformt; zum andern erlaubt die eingefügte biblische Kapitel- und Versnumerierung, den Text der Goethebearbeitung auf der Grundlage des für biblische Texte üblichen Referenzsystems mit anderen Fassungen des Hohenliedes zu vergleichen.168 Synoptisch wird dieser Ausgabe der Bearbeitung Goethes schließlich der Text der Lutherübersetzung gegenübergestellt (Biblia
_____________ 166 Einen Ansatz hat Loeper in seinem Kommentar geliefert. Vgl. Loeper 1879, S. 140ff. 167 Stephanus, Sproß der bedeutenden Pariser und später Genfer Buchdruckerfamilie Estienne, erarbeitet auf der Grundlage älterer Numerierungssysteme die bis heute gängige Zugriffsstruktur der Bibel, die ab der Mitte des 16. Jahrhunderts durch die in seiner Offizin verlegten Bibelausgaben ihre Gültigkeit entfaltet. Vgl. Guggisberg 1957. Zu Geschichte und Problematik der Vers- und Kapitelnumerierung biblischer Texte vgl. Ackroyd/Evans/Greenslade/Lampe 1963ff., Bd. 3, S. 438ff. u. Schenker 1998ff. 168 Der Verfasser ist sich dabei des methodischen Problems bewußt, Goethes Bearbeitung in der Weise üblicher Bibelverweise zu zitieren. Insofern Goethe bewußt die Struktur des Originaltextes mit ihrer Vers- und Kapiteleinteilung zugunsten einer ästhetisch orientierten, eigenen Gliederung aufhebt, bedeutet die hier praktizierte Zitierweise, gegen den erkennbaren Willen des Autors den Text wieder als biblischen erkennbar werden zu lassen. Aus praktischen Erwägungen und im Sinne der besseren Vergleichbarkeit der Goetheschen Bearbeitung mit anderen Fassungen des Textes sei trotzdem, wie oben angedeutet, auch auf die Goethebearbeitung nach dem üblichen Vers- und Kapitelschema verwiesen.
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Germanica, 1545).169 Auf diese Weise lassen sich einzelne Verse direkt vergleichen und Goethes Eingriffe in den Text, insbesondere seine Auslassungen, kenntlich machen und benennen. Bei allen Überlegungen und Beobachtungen heißt es jedoch, sich stets die Tatsache zu vergegenwärtigen, daß der Dichter Das Hohelied Salomons in keine seiner Ausgaben, die zu Lebzeiten erscheinen, aufnimmt und Goethe das Hohelied in seinen Werken zumeist nicht nach seiner eigenen, sondern nach der Fassung Luthers zitiert.170 Diese Quellenlage läßt es nicht zu, mit Eindeutigkeit über die Frage zu befinden, ob es sich bei der vorliegenden Fassung um eine von Goethe selbst als abgeschlossen betrachtete Bearbeitung handelt oder ob er den Text in seine Werkausgabe nicht aufnimmt, weil er selbst ihn für vorläufig und unausgegoren, für unbedeutsam oder mißlungen hält. Gliederung in autonome Lieder Goethe blendet die Kapitelstruktur des Hohenliedes aus und unterlegt seiner Fassung des Textes eine eigene Gliederung in 31 Abschnitte, die er so als einzelne, weithin autonome Episoden des Hohenliedes vorstellt.171 Diese Sinnabschnitte umfassen dabei teilweise nur einen einzelnen Bibelvers.172 Bei dieser Arrangierung werden Verse ausgelassen, die Versreihenfolge des Originals jedoch nicht umgestellt. Ebenso wahrt Goethe, ohne sie kenntlich zu machen, die Kapitelgrenzen des Originaltextes, so daß einzelne Abschnitte nie Verse mehrerer Kapitel überspannen. Seinen Kommentar zur „herrlichste[n] Sammlung liebes Lieder“173 aufgreifend, können die durch eingeschobene Asteriske gebildeten Sinnabschnitte als Goethes Versuch aufgefaßt werden, die anthologisch zusammengestellten „Lieder“ voneinander abzusetzen und so wieder in
_____________ 169 Dabei wurde auch dem Text dieser Ausgabe, die nur die Kapitelnumerierung aufführt, die Versstruktur nach Stephanus Estienne unterlegt. 170 Zu Hoheliedzitaten nach der Fassung Luthers vgl. Habersaat 1936, S. 16. Umfangreicher haben Scherer (1896, S. 85f.; zu Egmont), Pniower (1892, S. 182ff.; v.a. zu Faust) und Bohnenkamp (2003b, S. 154ff.; v.a. zum „Buch Suleika“ im West-östlichen Divan) die Hoheliedbezüge im restlichen Werk Goethes nachgewiesen. 171 Die Weimarer Ausgabe erkennt im Gegensatz zu den übrigen Editionen nur 30 Absätze. Vgl. Kommentar zu Hohelied, WA, 1. Abt., Bd. 38, S. 403. 172 So werden beispielsweise die Verse Hl. 1,12 u. 7,11 als eigenständige Textabschnitte konstituiert. 173 Briefe, DjG, Bd. 1, S. 700 (an Johann Heinrich Merck, 7. Oktober 1775).
Goethes Bearbeitung des Hohenliedes
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ihrer Eigenständigkeit hervortreten zu lassen.174 Damit eröffnet sich eine deutliche Parallele zu Herder, der gleichfalls von mehreren Liedern der Liebe ausgeht, die er durch den Einschub z.T. umfänglicher Kommentare bereits im Druckbild trennt. Deutlicher als bei der Vers- und Kapitelstruktur üblicher Bibelausgaben treten bei Goethe die Wechselgesänge, die Einschübe und Kehrverse hervor, so daß die formale Disparität des biblischen Buches akzentuiert wird.175 Allerdings verzichtet Goethe darauf, wie Herder diese einzelnen „Lieder“ als strophisch gegliedert erkennen zu lassen.176 Ein genauerer Vergleich dieser Einteilungen Goethes und Herders, wie hier für die ersten beiden Kapitel exemplifiziert, zeigt, daß zwar manche Passagen von Goethe, manche Passagen von Herder feingliedriger unterteilt werden, beide Aufteilungen sich jedoch in hohem Maße decken: Goethe Abschnitt 1 2 3 4 5 6 7 8 9
Versgruppe 1,2-1,4 1,5-1,6 1,7-1,8 1,9-1,11 1,12 1,13-1,14 1,15-1,17 2,1-2,7 2,8-2,15
10
2,16-2,17
Herder Abschnitt 1 2
Versgruppe 1,2-1,4 1,5-1,8
3
1,9-1,14
4
1,15-2,7
5 6 7
2,8-2,14 2,15 2,16-2,17
Jahrzehnte später, im Rahmen der Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans (entstanden 1816-1818), erwähnt Goethe seine mehrfachen Pläne, in „dieser lieblichen Verwirrung“ des „fragmentarisch durcheinander geworfenen, übereinander geschobenen Gedichte[s]“177 kompositorische Kohärenz zu stiften: Mehrmals gedachten wir aus dieser lieblichen Verwirrung einiges herauszuheben, aneinander zu reihen; aber gerade das Rätselhaft-Unauflösliche gibt den wenigen Blättern Anmut und Eigentümlichkeit. Wie oft sind nicht wohldenkende,
_____________ 174 175 176 177
Vgl. Pniower 1892, S. 182f. So schon Schöll 1857, S. 155f. Zur strophischen Gliederung bei Herder vgl. Bohnenkamp 2003a, S. 18f. Noten und Abhandlungen, Abschnitt „Hebräer“, HA, Bd. 2, S. 128f.
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Das Hohelied Salomons in der Bearbeitung Goethes
ordnungsliebende Geister angelockt worden, irgendeinen verständigen Zusammenhang zu finden oder hineinzulegen, und einem Folgenden bleibt immer dieselbe Arbeit.178
Entgegen der eigenen Skepsis in der Rückschau kann insgesamt festgestellt werden, daß sich Goethes Gruppierung der Verse mit heutigen textkritischen Gliederungen, beispielsweise der Krinetzkis, weithin deckt.179 Auslassung von Redundanzen, refrainhaften und exkursiven Elementen Daß Goethe im Vergleich zu etwa Herder und Hamann am freiesten mit dem biblischen Buch umgeht, zeigen bereits seine tiefen Schnitte in den Text.180 An insgesamt acht Stellen läßt Goethe bei seiner Bearbeitung einzelne Verse oder Versgruppen des Hohenliedes aus.181 Die Auslassungen Goethes erweisen sich, wie zu zeigen sein wird, als zu systematisch, um, wie von Baildam vorgeschlagen, schlicht davon auszugehen, die unvollständige Wiedergabe des Originals belege, daß Goethe seine Bearbeitung nie abgeschlossen habe.182 Im Gegenteil, die Kürzungen Goethes sind von größtem Erkenntniswert, lassen sie doch ex negativo sein Verständnis des Hohenliedes erkennen: Indem er einzelne Verse und Passagen als dem Text nicht gemäß erachtet, definiert er implizit eine abstrakte Eigentlichkeit des Buches, der er den Text durch
_____________ 178 Ebd., S. 129. Seine Position bezüglich der „lieblichen Verwirrung“ des Hohenliedes, die ordnen zu wollen vergebens sei, revidierend, stellt Goethe 1820 in seiner Rezension der kommentierten Übersetzung Friedrich Wilhelm Carl Umbreits (1795-1860; Lied der Liebe: das älteste und schönste aus dem Morgenlande, 1820) fest, „der Versuch ist diesmal glücklich gelungen, und zwar weil er auf die im Divan angegebene Zerstückelung gegründet ist. Nämlich als Gegenstand des Ganzen nimmt der Verfaßer an: Nur Wärme und Entzücken im vollen Genuße der sinnlichen Gegenwart.“ Aufsätze, FA, 1. Abt., Bd. 20, S. 654 (Rezension zu Friedrich Wilhelm Carl Umbreit, Lied der Liebe). 179 Vgl. Krinetzki 1981, S. 64ff. Haupt kritisiert hingegen die Gliederung Goethes. Er habe „mehrfach Zusammengehöriges getrennt“ und es zugleich versäumt, im Überlieferungstext „versprengte zusammengehörige Bruchstücke zu vereinen“. Haupt 1907, S. VIIf. u. XXXIIIf. 180 Vgl. Bohnenkamp 2003a, S. 19. 181 Dies betrifft die Verse und Versgruppen Hl. 3,5; 3,7-11; 4,6; 6,5b-7; 6,12; 7,4; 8,3f.; 8,8-14. Die im Kommentar der Münchner Ausgabe aufgeführte Liste der Auslassungen Goethes ist unvollständig und ordnet die Verse Goethes einzelnen Bibelversen z.T. falsch zu: Vgl. Kommentar zu Hohelied, MA, Bd. 1/2, S. 857f.. 182 Vgl. Baildam 1999, S. 219: „The work was never quite completed, as the last section is missing, as well as various verses throughout (its total length is only 1,666 words).“ Ähnlich urteilt schon 1881 Badt: „offenbar hatte der dichter die absicht, das weggelassene bei näherer ausführung nachzutragen.“ Badt 1881, S. 349.
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die Auslassungen sich annähern lassen möchte. Im Verständnis Goethes wird der Text also aus der Perspektive Goethes nicht ver-ändert, sondern findet gleichsam gegenüber dem tatsächlichen Überlieferungstext in höherem Maße zu sich selbst. Insgesamt lassen sich Goethes Auslassungen in drei Gruppen einteilen. Zum einen sind es refrainartig wiederkehrende Elemente, die Goethe in seiner Bearbeitung ausläßt. Dies trifft beispielsweise auf die mehrfach wiederholte Ermahnung der „Töchter Jerusalems“ zu.183 Neben solchen, sich in der Art eines Kehrreimes wiederholenden Versen sind es vorwiegend Doppelungen der verwendeten Metaphern und Vergleiche, die Goethe in seiner Bearbeitung mehrfach wiederzugeben vermeidet: Goethe läßt beispielsweise die Verse 6,5b-7 aus, die die bereits im Vers 4,2 bemühte Metaphorik („Deine Zähne eine geschorene Herde, aus der Schwemme steigend [...]“184) wiederaufgreifen; ebenso den in Vers 7,4 neuerlich gezogenen Vergleich (erstmals 4,5), mit dem der Verfasser die Brüste Sulamiths beschreibt: „Deine beiden Brüste, wie Rehzwillinge die unter Lilien weiden.“185 Insgesamt könnten die Kürzungen von Wiederholungen und rekurrierende Isotopien als Versuch Goethes verstanden werden, den disparaten Charakter des Hohenliedes als florilegischer Sammlung hervorzuheben, indem er gerade die Verse streicht, die sich als Fäden durch das Gewebe des Textes ziehen und so die einzelnen, von Goethe als disparat betrachteten Lieder der Anthologie verknüpfen. Die dritte Gruppe von Auslassungen betrifft längere Versgruppen des Hohenliedes (3,7-11 und 8,8-14), die sich semantisch nicht in Goethes Verständnis des Textes als Liebesdichtung fügen. Die erste längere Passage, die Goethe ausläßt, gestaltet die machtvolle Herrlichkeit des Königs Salomo und die Pracht seines Gefolges; die Verse lauten bei Luther: SJhe / vmb das bette Salomo her / stehen sechzig starcken aus den starcken in Jsrael. Sie halten alle Schwerter / vnd sind geschickt zu streitten. Ein jglicher hat sein Schwert an seiner hüfften / vmb der furcht willen in der nacht. DEr könig Salomo lies jm eine Senffte machen von holtz aus Libanon / Der selben Seulen waren silbern / die Decke gülden / der Sitz purpern / der Boden mitten inne war lieblich gepflastert / vmb der Töchter willen zu Jerusalem.
_____________ 183 Goethe gibt die Ermahnung in Hl 2,7 wieder („Ich beschwör euch Töchter Jerusalems bei den Rehen, bei den Hinden des Feldes, rühret sie nicht, reget sie nicht meine Freundin bis sie mag.“), kürzt aber die gleichlautenden Wiederholungen in Hl. 3,5 u. 8,4. 184 Hl. 4,2 zit. n. Goethebearbeitung. 185 Hl. 4,5 zit. n. Goethebearbeitung.
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Das Hohelied Salomons in der Bearbeitung Goethes
GEhet er aus vnd schawet an / jr töchter Zion / den könig Salomo / in der Krone / da mit jn seine Mutter gekrönet hat / am tage seiner Hochzeit / vnd am tage der freuden seines hertzens.186
Wenn auch Herder, wie z.B. auch Krinetzki, in der Darstellung der Sänfte des Königs Salomo einen Lobpreis auf das königliche Hochzeitslager erkennt und die Passage so wieder auf die Liebe als zentrales Thema des Textes zu beziehen vermag, so hat die Versgruppe doch einen spezifischen Charakter, der sich nicht in den Tonfall der vorangegangenen Verse fügt.187 Die Hoheliedpassage öffnet die intime Perspektive der Zweisamkeit und bezieht schließlich einen ganzen Hofstaat ein. Ist die Bildlichkeit des Buches, trotz der eingestreuten Anspielungen städtischer Lebensweise, primär rural-pastoraler Erfahrung entliehen, so geht mit dieser Weitwinkelperspektive der Passage 3,7-11 ein Wechsel von einfältiger Bildlichkeit zu höfisch-repräsentativen Metaphern einher, der Goethe die Passage kürzen läßt.188 Nicht, wie Loeper und Stickel vermuten, weil Goethe anstatt des Königs Salomo „den Hirten Aminadib für den begünstigten Liebhaber der Sulamith angesehn“189 habe, sondern um den Ton einfältiger Intimität sich nicht angesichts der auf Äußerlichkeit angelegten Prachtentfaltung des Hoflebens auflösen zu lassen, kürzt Goethe die Passage. Ebenso verfährt der Dichter mit den Schlußversen des Hohenliedes. Rund die Hälfte des letzten, achten Kapitels des Buches (8,8-14) läßt er in seiner Bearbeitung aus. Für die Verse 8,11f. ist die Motivation Goethes offensichtlich; wie bei der ersten längeren Auslassung führt auch hier die Erzählung, ehe sie in den Schlußversen (8,13f.) wieder zum eigentlichen Thema zurückfindet, von der Intimität der Liebenden fort und kreist um Macht und Besitz des Königs Salomo.190 Aufschlußreicher ist die Tatsache, daß Goethe auch die vorangehende Versgruppe 8,8-10 als im Gefüge des Buches unstimmig ausläßt, obwohl in ihnen erotische Sinn-
_____________ 186 Hl. 3,7-11 zit. n. Lutherübersetzung. 187 Zu Herders Verständnis der Passage, die den „Gesang […] vom Bett des Helden zum Bette der Liebe, von ihm zur Krone der Hochzeit und Herzensfreude“ steigere, vgl. Herder, FA, Bd. 3, S. 452 (Lieder der Liebe). Vgl. auch Krinetzki, 1981, S. 120ff. 188 Städtisches Leben und einhergehende Sozialkontrolle spiegeln sich v.a. in der Passage zur nächtlichen Suche des Geliebten (Hl. 3,1-4). 189 Loeper 1879, S. 140; fast wörtlich auch in Stickel 1896, S. 371. 190 Die Verse lauten in der Verdeutschung Luthers: „DJE du wonest in den Garten / Las mich deine stimme hören / Die Geselschafften mercken drauff. Fleuch mein Freund / vnd sey gleich eim Rehe oder jungen Hirssen auff den Würzbergen.“ Hl. 8,13f. zit. n. Lutherübersetzung.
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lichkeit äußerst präsent ist. Die entsprechende Passage wird von Martin Luther wiedergegeben: VNser Schwester ist klein / vnd hat keine Brüste / Was sollen wir vnser Schwester thun / wenn man sie nu sol anreden? Jst sie eine Maure / so wöllen wir silbern Bollwerg drauff bawen. Jst sie eine Thür / so wöllen wir sie festigen mit Cedern bolen. Jch bin eine Maur / vnd meine Brüste sind wie Thürne / Da bin ich worden fur seinen augen / als die Frieden findet.191
Auf andere Weise als im Falle der höfischer Prachtentfaltung entliehenen Bildlichkeit führen auch diese Verse von Goethes Auffassung des Hohenliedes weg. Die Passage, die offenbar als kleine, halb ernst, halb scherzhaft gemeinte Szene zwischen der jugendlich-kokettierenden Geliebten und ihren auf den ehrbaren Ruf ihrer Schwester bedachten Brüdern vorzustellen ist, fügt sich nicht in Goethes Vorstellung des Hohenliedes:192 Nicht nur öffnen die Verse wiederum die Perspektive, indem sie über die Liebenden hinaus weitere Personen in den Blick nehmen, vor allem bricht die ironische Tändelei Sulamiths mit dem Ideal der einfältigen Innigkeit der Liebenden, die als Grundstimmung die übrigen Teile des biblischen Buches durchzieht. Die in Sulamiths kokettem Winden und ihrem spielerisch neckenden Ton den übervorsichtigen Brüdern gegenüber hervortretende Ironie steht der einfältigen Ästhetik ungebrochener Absolutheit diametral entgegen. So poetisch die fast rokokohafte Szene in den nur drei Versen ausgestaltet wird, so wenig läßt sie sich in Goethes auf ästhetische Kohärenz bedachte Bearbeitung einfügen. Goethe vollzieht mit seiner Auslassung der Schlußverse (8,8-14), was Herder gerne vollzöge – „Ich wollte beinah, das Buch schlösse“193 –, scheute er nicht aus Ehrfurcht vor diesem Schritt zurück; auch für ihn ist die von Goethe kurzerhand gestrichene Passage bloßer „beigefügter Nachhall“194 des Hohenliedes. Entgegen seinem früheren Bemühen, dem Hohenlied durch entsprechende Kürzungen ein kohärentes, einfältig rurales Gepräge zu verleihen und es so seiner abstrahierten Eigentlichkeit anzunähern, läßt der alte Goethe (Noten und Abhandlungen) gerade in der poetischen Inkohärenz der widersprüchlichen, mal ländlichen, mal städtischen, mal höfischen
_____________ 191 Hl. 8,8-10 zit. n. Lutherübersetzung. 192 Die Szene wird von manchen Exegeten auch als Gespräch der Brüder über das zu vereinbarende Brautgeld für ihre Schwester verstanden. Vgl. etwa Rudolph 1962, S. 182ff. 193 Herder, FA, Bd. 3, S. 479 (Lieder der Liebe). Diese Konvergenz der Fassung Goethes und des Kommentars Herders läßt vermuten, daß Goethe zum Zeitpunkt seiner Bearbeitung (Herbst 1775) detailliertere Kenntnis der 1778 publizierten Vorstellungen Herders hat. 194 Ebd.
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Das Hohelied Salomons in der Bearbeitung Goethes
Situierung des Canticum Canticorum einen charakteristischen ästhetischen Reiz erahnen: Durch und durch wehet eine milde Luft des lieblichsten Bezirks von Kanaan; ländlich trauliche Verhältnisse, Wein-, Garten- und Gewürzbau, etwas von städtischer Beschränkung, sodann aber ein königlicher Hof mit seinen Herrlichkeiten im Hintergrunde.195
Fokussierung auf die Intimität der Protagonisten Deuteten die Auslassungen Goethes bereits ex negativo eine Konzentration des Textes auf die beiden Protagonisten an, so läßt sich diese Tendenz in vielerlei Hinsicht auch ex positivo bestätigen. Annähernd alle stilistischen Unterschiede, die zwischen der Fassung Goethes und der Luthers ins Auge fallen, lassen sich in dieser Tendenz zusammenfassen, den gesamten Text auf die einfältige Intimität der Liebenden hin zu fokussieren. In diesem Sinne gestaltet Goethe beispielsweise die Wechselrede zwischen den Protagonisten. Die im Vergleich deutlich umständlichere Dialogstruktur Luthers gibt er als unmittelbare Ansprache wieder, die lebensnah und unumwunden daherkommt. Bezeichnend ist beispielsweise die unterschiedliche Übersetzung des Numerus in Hl. 1,6; übersetzt Luther korrekt pluralisch und öffnet damit die Zweisamkeit der Liebenden gegenüber einem imaginären Publikum, so wählt Goethe eine singularische Formulierung, die der Zweisamkeit der Protagonisten keinen Dritten hinzutreten läßt:196 Goethe
Luther
Schau mich nicht an daß ich braun Sehet mich nicht an / Das ich so schwartz bin / denn die Sonne hat mich bin, von der Sonne verbrannt.197 so verbrand.198
Dieser Begrenzung der Perspektive auf die Liebenden korrespondiert Goethes Bemühen um sprachliche und inhaltliche Unmittelbarkeit in der Wechselrede der Protagonisten, die durch einen stark initialbetonten Stil
_____________ 195 Noten und Abhandlungen, Abschnitt „Hebräer“, HA, Bd. 2, S. 129. 196 Auch Interlinearübersetzung, Hamann, Herder, Vulgata und Einheitsübersetzung geben den Imperativ in der zweiten Person Plural wieder. Vgl. Hl. 1,6 zit. n. Vulgata, Interlinearbibel u. Einheitsübersetzung; vgl. Hamann, Werke, Bd. 4, S. 251 (Das Lied der Lieder) u. Herder, FA, Bd. 3, S. 435 (Lieder der Liebe). 197 Hl. 1,6 zit. n. Goethebearbeitung. 198 Hl. 1,6 zit. n. Lutherübersetzung.
Goethes Bearbeitung des Hohenliedes
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befördert wird. Sinntragende sprachliche Einheiten, zumeist Verben und Adjektive, werden bevorzugt an den Beginn der Verse gestellt und so eine Akzentuierung erreicht.199 Mit dieser Technik, die sich auch in den auffällig häufig eingestreuten Ausrufezeichen niederschlägt, wird der emotionale Überschwang der sprechenden Protagonisten verstärkt.200 Im folgenden sei diese Technik der invertierenden Initialemphase an ausgesuchten Beispielen dem weniger markierten Stil Luthers gegenübergestellt: Goethe
Luther
Küß er mich den Kuß seines Mundes! ER küsse mich mit dem Kusse seines Trefflicher ist deine Liebe denn Mundes / Denn deine Brüste sind lieblicher denn Wein.202 Wein.201 Schön sind deine Backen in den Deine Backen stehen lieblich in den Spangen / vnd dein Hals in den Spangen, dein Hals in den Ketten.203 Keten.204 Aufstehen will ich und umgehen in der Stadt, auf den Märkten und Straßen. Suchen den meine Seele liebt, ich sucht ihn, aber fand ihn nicht.205
Jch wil auffstehen / vnd in der Stad vmbgehen auff den gassen vnd strassen / vnd suchen / den meine Seele liebet / Jch sucht / Aber ich fand jn nicht.206
Gewonnen hast du mich, Schwester Du hast mir das hertz genomen / meine liebe Braut, mit deiner Augen einem, Schwester liebe Braut / mit deiner augen einem / vnd mit deiner Halsketen mit deiner Halsketten einer.207 eine.208
_____________ 199 Vgl. Kommentar zu Hohelied, FA, 1. Abt., Bd. 12, S. 1349 u. Kommentar zu Hohelied, MA, Bd. 1/2, S. 858. 200 Vgl. Baildam 1999, S. 219. Zum exklamatorischen Stil vgl. etwa: „Sie ists die Stimme meines Freundes. Er kommt! Springend über die Berge! Tanzend über die Hügel!“ Hl. 2,8 zit. n. Goethebearbeitung. „Kehre! Kehre! Sulamith! Kehre! Kehre!“ Hl. 7,1 zit. n. Goethebearbeitung. 201 Hl. 1,2 zit. n. Goethebearbeitung. 202 Hl. 1,2 zit. n. Lutherübersetzung. Die Varianz „Brüste“ (Luther) vs. „Liebe“ (Goethe) in der Übersetzung von Hl. 1,2 (ähnlich 4,10) erklärt sich aus der Homographie der Worte „dodim“ (Liebe) und „daddayim“ (Brüste) im hebräischen Original, die bei einer Notation, die auf Vokalzeichen verzichtet, nicht zu unterscheiden sind. Die divergierende Übersetzung spiegelt damit eine seit der Patristik virulente Auseinandersetzung um das Verständnis des Wortes wider. Vgl. Garbini 1989, S. 11f.; vgl. auch Badt 1881, S. 350. 203 Hl. 1,10 zit. n. Goethebearbeitung. 204 Hl. 1,10 zit. n. Lutherübersetzung. 205 Hl. 3,2 zit. n. Goethebearbeitung. 206 Hl. 3,2 zit. n. Lutherübersetzung. 207 Hl. 4,9 zit. n. Goethebearbeitung. 208 Hl. 4,9 zit. n. Lutherübersetzung.
228
Das Hohelied Salomons in der Bearbeitung Goethes
Diese semantische Initialemphase Goethes geht mit einer gleichfalls initialbetonten Metrik einher, deren trochäisch-daktylische Prägung mit ihrem fallenden Ton (z.B. „Hold ist deine Liebe, Schwester liebe Braut!“209) sich vom regelmäßigeren jambischen Grundrhythmus der Lutherübersetzung („WJe schön sind deine Brüste meine Schwester / liebe Braut […].“210) deutlich abhebt. Die Tendenz, die lebensnahe Unmittelbarkeit der Verse zu steigern, spiegelt sich auch in den sogenannten Beschreibungsliedern, die vor allem die weibliche Geliebte mit der Fülle orientalischer Bildlichkeit bedenken. Die Topik des hebräischen Originals wechselt zwischen vergleichenden (z.B. 4,1) und metaphorischen Wendungen (z.B. 4,2), ohne daß diese Varianz einem erkennbaren Muster folgt.211 Im Gegensatz zum Literalismus Herders und vor allem Hamanns, die die durch den Wechsel der Topik sperrigen Verse ganz exakt auch in der Varianz von Vergleich und Metapher wiedergeben, stiften sowohl Luther als auch Goethe topologische Kohärenz, indem sie diese Varianz zur einen oder anderen Seite hin vereinheitlichen:212 Goethe
Luther
Schön bist du meine Freundin, ja SIhe meine Freundin / du bist schön / schön, Taubenaugen die deinen Sihe / schön bistu. Deine Augen sind wie taubenaugen / zwisschen deinen zwischen deinen Locken. Zöpffen. Dein Har ist wie die Ziegen Dein Haar eine blinkende Ziegenherd / die beschoren sind auff dem herde auf dem Berge Gilead. Deine
_____________ 209 Hl. 4,10 zit. n. Goethebearbeitung. 210 Hl. 4,10 zit. n. Lutherübersetzung. 211 Vgl. Bohnenkamp 2002, o.S.; vgl. auch Hl. 4,1f. n. Interlinearbibel. Aus pragmatischen Gründen wird im folgenden Quintilians Begriff der Metapher als eines um das Vergleichspartikel verkürzten Vergleichs herangezogen, auch wenn sprachtheoretische Einwände gegen das diesem Verständnis zugrundeliegende Substitutionsmodell von Bildspender und Bildempfänger erhoben werden können. Vgl. Kurz 1993, S. 7ff. 212 Vgl. Hamanns Übersetzung: „Siehe, du schön meine Freundin, siehe du schön, deine Augen Tauben zwischen deiner Decke herfür. Dein Haar wie die Heerde der Ziegen, welche herabscheeren vom Berge Gilead. Deine Zähne wie die Heerde der Gleichgeschnittenen, welche aufgestiegen sind aus der Schwemme, welche alle Zwillingtragend und nicht eine Beraubte unter ihnen.“ Hamann, Werke, Bd. 4, S. 253 (Das Lied der Lieder); entspricht Hl. 4,1f. Herder überträgt die Passage freier, doch hinsichtlich der Varianz von Vergleich/Metapher ebenso korrekt wie Hamann: „O schön bist du, meine Liebe, / O du bist schön. // Deine Augen Täubchen, / Am Lockenhaar. // Dein Haar ist wie die Gemsenherde, / Die weidet vom Gilead. // Die Zähne wie die Lämmerherde, / Die neugeschoren aus der Quelle steigt, // Die alle Zwillinge tragen, / Und keins derselben fehlt.“ Herder, FA, Bd. 3, S. 452f. (Lieder der Liebe); entspricht Hl. 4,1f. 213 Hl. 4,1f. zit. n. Goethebearbeitung.
Goethes Bearbeitung des Hohenliedes
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Zähne eine geschorene Herde, aus der berge Gilead. Deine Zeene sind wie die Schwemme steigend, all Zwillings herde mit beschnitten wolle / die aus der schwemme komen / die allzumal trächtig, kein Mißfall unter ihnen.213 Zwilling tragen / vnd ist keine vnter jnen vnfruchtbar.214
Während Luther die vergleichende Übersetzung bevorzugt, auch dort, wo das Original die Metapher als verkürzten Vergleich wählt, gestaltet Goethe die zur Beschreibung der Geliebten herangezogene Bildlichkeit durchgängig metaphorisch, d.h. unter teilweiser Auslassung des Vergleichspartikels. Luthers Präferenz für die Mittelbarkeit des hermeneutischen Übersetzungsaktes eines Vergleichs über sein tertium comparationis steht also auch hier Goethes Wahl der hermeneutischen Unmittelbarkeit höherer Ordnung gegenüber, wie sie die Metapher auszeichnet. Vielfach wählt Goethe Formulierungen knapper Eindringlichkeit, die in ihrer naiven, oftmals durch diminutivische Formen verstärkten Beschaulichkeit wohl nicht zufällig den Ton stilisierter Volkslieddichtung zum Klingen bringen: „Ich bin die Rose im Tal! Bin ein Mai Blümgen!“215 Wo Luther die Hohelieddichtung (z.B. „ICH bin ein Blumen zu Saron / vnd ein Rose im tal.“216) eindeutig im altjüdischen Orient verortet, erscheinen die Verse in Goethes Bearbeitung zeitlich und räumlich weit weniger bestimmt. Nicht nur wird die genaue örtliche Bestimmung „zu Saron“ zugunsten eines beliebigen Tals aufgehoben und der alte Orient so zurückgedrängt, sondern es wird mit dem leicht dialektal anmutenden Diminutiv „Blümgen“ ein Topos auch zeitgenössischer Volkslieddichtung evoziert.217 Ähnlich beschaulich-volksliedhaft muten etwa Wendungen wie „Gewonnen hast du mich“218 oder „Lieblich wie der Mond, rein wie die Sonne“219 an. Zu Recht weist Fischer-Lamberg überdies darauf hin, daß in
_____________ 214 215 216 217
Hl. 4,1f. zit. n. Lutherübersetzung. Hl. 2,1 zit. n. Goethebearbeitung. Hl. 2,1 zit. n. Lutherübersetzung. Es fügt sich in diese Tendenz, daß Goethe im darauffolgenden Vers die Geliebte als „mein Liebgen unter den Mädgen“ vorstellt. Hl. 2,2 zit. n. Goethebearbeitung. Eine Dialektfärbung schimmert auch in der Wahl des Wortes „Wingerte“ durch, das im Deutschen Wörterbuch als rheinfränkische und oberhessische Form für „Weinberg“ belegt ist. Vgl. Hl. 2,15 zit. n. Goethebearbeitung u. DWb., Bd. 14, Sp. 337. Gleim wählt konsequent diesen Weg der „Eindeutschung“ in die Volkslieddichtung: Jerusalem und Libanon kommen in seiner Bearbeitung nicht mehr vor, dafür ist die Dichtung „So wohl am Nekkar als am Rhein“ angesiedelt. Gleim, Lieder der Liebe, S. 518 (6. Strophe, 6. Vers; entspricht Hl. 2,15). 218 Hl. 4,9 zit. n. Goethebearbeitung. 219 Hl. 6,10 zit. n. Goethebearbeitung.
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Das Hohelied Salomons in der Bearbeitung Goethes
der Vorliebe für verkürzende Wortformen („all“220, „Ruch“221, „Parden“222 oder „Gaum“223) eine Neigung zu volkstümlicher bzw. volkstümlich anmutender Sprache aufscheint, wie sie auf die Prägung Herders zurückgeführt werden kann.224 Dieser volksliedhaften Note kommen die eingestreuten Anachronismen, meist wörtlich Luther entliehen, zugute. Formulierungen wie „Zeuch mich!“225 oder „Fahet uns die Füchse“226 müssen im Neuhochdeutsch Goethes als Antiquarismen gelten, denen im Gefüge der Bearbeitung Goethes im Gegensatz zu ihren wörtlichen Entsprechungen im Kontext der frühneuhochdeutschen Fassung Luthers eine stilistische Markierungsfunktion zukommt, die sich in die Tendenz fügt, den Text auf die einfältige, räumlich und zeitlich entrückte Intimität der Liebenden hin zu fokussieren.
Zentrierung auf das „Innere, Eigentliche“ Die einzelnen distinktiven Momente der Bearbeitung Goethes zusammenfassend, lassen sich zwei Tendenzen konstatieren. Hinsichtlich der Form wird der florilegisch-anthologische Charakter des biblischen Textes zu belegen und herauszustellen versucht; dieser Absicht dienen die eigenmächtigen Kürzungen und die Neugliederung des biblischen Buches. Hinsichtlich des Inhalts unterstreicht Goethe die intime Unmittelbarkeit des Geschehens; so werden die Dialoge lebendiger, direkter ausgestaltet und Passagen ausgelassen, die von diesem eng umzirkelten Kreis der Liebenden wegführen. In diesen Tendenzen der Bearbeitung Goethes läßt sich das Ziel einer poetisch-volksliedhaften Verdichtung auf die angenommene erotisch-intime Eigentlichkeit des Hohenliedes als „Sammlung liebes Lieder“227 erkennen.
_____________ 220 221 222 223 224 225 226
Hl. 4,2; 4,14 u. 8,7. zit. n. Goethebearbeitung. Hl. 4,11 u. 7,14 zit. n. Goethebearbeitung. Hl. 4,8 zit. n. Goethebearbeitung. Hl. 2,3 u. 7,10 zit. n. Goethebearbeitung. Vgl. Vgl. Kommentar zu Hohelied, F-L, Bd. 5, S. 488. Hl. 1,4 zit. n. Goethebearbeitung. Vgl. DWb., Bd. 15, Sp. 938f. Hl 2,15 zit. n. Goethebearbeitung. Im Deutschen Wörterbuch ist bereits bei Luther der allmähliche Übergang von der Form „fahen“ zu „fangen“ belegt. Vgl. DWb., Bd. 3, Sp. 1236f. 227 Briefe, DjG, Bd. 1, S. 700 (an Johann Heinrich Merck, 7. Oktober 1775).
Zentrierung auf das „Innere, Eigentliche“
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Die Analyse der Hoheliedfassung des jungen Goethes bestätigt damit, was der spätere Goethe in Dichtung und Wahrheit über die Entwicklung seines Bibelverständnisses notiert: Er habe die Bibel in jungen Jahren immer mehr als „ein zusammengetragenes, nach und nach entstandenes, zu verschiedenen Zeiten überarbeitetes Werk anzusehn“228 gelernt, dessen innere Widersprüche auf der Hand lägen. Zur hermeneutischen Auflösung kontradiktischer Passagen habe damals allgemein das exegetische Verfahren der analogia fidei vorgeherrscht, indem „man die deutlichste Stelle zum Grunde legte, und die widersprechende, weniger klare jener anzuähnlichen bemüht war“229, während er ein eigenes hermeneutischexegetisches Vorgehen entwickelt habe: Ich dagegen wollte durch Prüfung herausfinden, welche Stelle den Sinn der Sache am meisten ausspräche; an diese hielt ich mich und verwarf die anderen als untergeschoben.230
In der kurzen Passagen in Dichtung und Wahrheit vollzieht Goethe in nur wenigen Zeilen seinen hermeneutischen Übertragungsprozeß nach, der aus der Umschmelzung bibelhermeneutischer Muster eine hermeneutische „Grundmeinung“231 hervorbringt, deren Geltungsbereich über die Bibelexegese hinaus geht. Von der Bibel ausgehend, doch nicht mehr allein auf sie bezogen, statuiert Goethe die Maxime: bei allem, was uns überliefert, besonders aber schriftlich überliefert werde, komme es auf den Grund, auf das Innere, den Sinn, die Richtung des Werks an; hier liege das Ursprüngliche, Göttliche, Wirksame, Unantastbare, Unverwüstliche […].232
Damit wird der Schritt von einer bibelexegetischen Sonderhermeneutik hin zu einer allgemeinen Hermeneutik getan, die als verstehenstheoretische Methode universell anwendbar wird. Diese allgemeinen hermeneutischen Maximen Goethes werden in Dichtung und Wahrheit als Produkt seiner umformenden Aneignung bibelhermeneutischer Paradigmen deutlich. Das Bemühen, einen inneren ‚Kern‘ des Aussagegehalts herauszulösen, wie es sich exemplarisch in der Kompilation seines Hohenliedes Salomons erkennen läßt, deutet dabei auf den bestimmenden Einfluß zumal pietistischer Bibelhermeneutik hin. Verstehen wird abhängig von der individuellen Erlebnisfähigkeit und Erlebnisweise jedes einzelnen, in-
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Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 9, S. 509, 12. Buch. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
232
Das Hohelied Salomons in der Bearbeitung Goethes
sofern der nucleus des „Innere[n]“ einer Schrift nicht allein rezeptiv zur Kenntnis genommen werden könne, sondern sich gelingendes Verstehen subjektiv verinnerlichend in einem dialogischen Verhältnis zum eigenen Inneren vollziehe:233 Das Innere, Eigentliche einer Schrift, die uns besonders zusagt, zu erforschen, sei daher eines jeden Sache, und dabei vor allen Dingen zu erwägen, wie sie sich zu unserm eignen Innern verhalte, und inwiefern durch jene Lebenskraft die unsrige erregt und befruchtet werde […].234
Ist dieser hermeneutischen „Grundmeinung“ die Prägung durch das schalenartig gedachte Verstehensparadigma des Pietismus anzusehen, so läßt sie sich doch nicht mehr im Koordinatensystem der bibelhermeneutischen Grabenkämpfe des 18. Jahrhunderts verorten. Gerade durch das optimistische Zutrauen, das „Innere“ eines Textes verstehen zu können, relativiert sich seine textliche Einkleidung. Das „Äußere“ müsse nicht mehr in jedem Jota literalistisch absolut gesetzt werden und könne „der Kritik […] überlassen“ werden, die in ihrer analytischen Zergliederung „den eigentlichen Grund“235 eines Textes nie in Frage stellen könne. Überzeugt, in der Liebe zwischen den Protagonisten das „Innere, Eigentliche“ des Hohenliedes zu finden, kommt der historisch überlieferten Textgestalt damit ein nur noch funktionaler und relativer Wert zu, der es erlaubt, tief in den alttestamentlichen Text einzugreifen. Gerade indem Goethe das Canticum nach literarisch-ästhetischen Maßstäben forsch durchformt und auf seine haptische Sinnlichkeit fokussiert, begegnet sich sein Hoheslied Salomons mit den betont sinnlichen Hohelieddichtungen, wie sie für den Pietismus charakteristisch sind. Darüber hinaus ist für die Neuübertragungen der Bibel aus pietistischem Geist gerade solche „Nutzbarmachung der Übersetzung […] für eigene Interessen“236 (Köster) charakteristisch. Ohne die Allegorese als Verstehensstrategie nahezulegen, erscheint über das „Innere, Eigentliche“ des Hohenliedes, seine Sinnlichkeit, gleichzeitig ein spiritueller Verweis noch möglich. Gerade in dieser Doppelgesichtigkeit wird der Text für Goethe ästhetisch reizvoll. Dechent hat bereits 1896 die von der Forschung nicht aufgegriffene Vermutung geäußert, Goethe sei, längst vor seiner Begegnung mit Herder,
_____________ 233 Zur Abhängigkeit des Verstehens von der „Erlebnisfähigkeit und Erlebnisweise eines jeden einzelnen“ innerhalb der pietistischen Hermeneutik vgl. Gutzen 1988, S. 276. 234 Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 9, S. 510, 12. Buch. 235 Ebd. 236 Köster 1998, S. 114.
Zentrierung auf das „Innere, Eigentliche“
233
von Susanna Katharina von Klettenberg zur Auseinandersetzung mit dem Hohenlied Salomonis angeregt worden.237 Dechent folgend wäre mit der „schönen Seele“ neben Herder eine zweite Quelle der Anregung zur Beschäftigung mit dem Canticum Canticorum anzunehmen. Wenn auch diese These eines direkten Einflusses Klettenbergs nicht nachzuweisen ist, fügte sich doch ein Verständnis der Hoheliedfassung Goethes, das die Bearbeitung nicht ausschließlich in die Nähe Herders rückt und sie auch im Kontext der sinnlichen Hohelieddeutung des Pietismus mit ihrem schillernden Changieren zwischen dem Sehnen nach dem diesseitigen Eros und dem jenseitigen Numinosen liest, in seine Bemerkung im Brief an Merck, die, ohne hierin auch nur ein Spannungsverhältnis vernehmbar werden zu lassen, das Hohelied als weltliche Liebeslyrik göttlicher Provenienz bezeichnet: Ich hab das Hohelied Salomons übersezt welches ist die herrlichste Sammlung liebes Lieder die Gott erschaffen hat.238
_____________ 237 Vgl. Dechent 1896, S. 163. 238 Briefe, DjG, Bd. 1, S. 700 (an Johann Heinrich Merck, 7. Oktober 1775).
„Das Innere, Eigentliche einer Schrift“ Es konnte gezeigt werden, wie intensiv Goethe sich in satirisch-polemischen Abgrenzungen sowie in spielerischer Übernahme einzelner Positionen und ihrer umformenden Aneignung mit hermeneutischen Fragen der Bibelexegese auseinandersetzt. Vor allem die kleineren Schriften Jahrmarktsfest zu Plundersweilern und Prolog zu den neuesten Offenbahrungen Gottes lesen sich als erste Einmischungen in die intellektuelle Debatte um eine angemessene Auslegung der Heiligen Schrift. Den Texten gemein ist die Stoßrichtung einer entschiedenen Ablehnung einer aufklärerisch bestimmten Herangehensweise an die Bibel, deren Impetus als anmaßend und die gebotene Pietät verletzend decouviert wird. Als Fluchtpunkt des gegen Carl Friedrich Bahrdt gerichteten Prologs zu den neuesten Offenbahrungen Gottes läßt sich die leidenschaftliche Einklage einer Hermeneutik der humilitas im Umgang mit der Heiligen Schrift ausmachen. In einem Spannungsverhältnis zu dieser Forderung steht freilich der überaus leichtfertige, blasphemisch-parodierende Verweis auf die Bibel, mit dem im Jahrmarktsfest zu Plundersweilern gespielt wird. Goethe nimmt indes nicht nur interessiert an einer der für die Geistesgeschichte bedeutendsten Debatten seiner Zeit teil, sondern nutzt vor allem die literarästhetischen Potentiale bibelhermeneutischer Modelle. Ausgehend von der pietistischen Vorstellung des pneumatisch ermöglichten Verstehens eines verschlossenen sensus mysticus entwirft der junge Goethe ein umfassendes Ästhetikmodell, dessen Wesenszug die wechselseitige kausale Bedingtheit eines pneumatischen, idiosynkratischen Verstehens und eines gleichfalls pneumatischen, höchst individuellen Sprechens ist. In seiner radikalsten Zuspitzung findet Goethe dieses Ästhetikmodell in der religiösen Zungenrede verwirklicht: Der gnadenhaft schauende Inspirierte kann die Erfahrung des sensus mysticus nicht mehr im Korsett der normgebundenen Sprache ausdrücken und schafft sich im regelvergessenen Lallen einen neuen Ausdrucksraum, der in seiner Unzugänglichkeit Dritten gegenüber die subjektivistische Erfahrung der pneumatischen Schau reflektiert. Goethes Beschäftigung mit dem Faszinosum pneumatischen Verstehens und pneumatischen Sprechens mag einem biographisch-religiösen Interesse entspringen. Doch bereits die „theologischen Jugendschriften“, Brief des Pastors und Zwo biblische Fragen, lassen erkennen, wie Goethe im Gewand eines Landgeistlichen die
236
„Das Innere, Eigentliche einer Schrift“
literarästhetischen Potentiale solcher religiösen Phänomene auslotet. Diese Möglichkeiten eines radikal individuellen Ausdrucks an den Grenzen des Verständlichen werden vor allem im Aufsatz Von Deutscher Baukunst zu den Voraussetzungen einer umfassenden ästhetischen Neubestimmung unter dem Vorzeichen des Geniekultes: Die durch den „Geist“ ermöglichte gnadenhafte Schau eines – in der pietistischen Terminologie – sensus mysticus befähigt das Genie, zu neuen Ausdrucksweisen jenseits epigonaler imitatio vorzustoßen. In der experimentellen Radikalisierung tritt auch in den Schriften des jungen Goethe die vorgebliche Pose des Lallens an die Stelle des Sprechens. Die experimentelle Adaption ursprünglich bibelhermeneutischer Modelle vollzieht sich nicht zufällig in durchweg anonymen Rollentexten, die sich teils darüber hinaus komplexer Autorfiktionen bedienen. Einmal biographisch überwunden, nutzt Goethe den Pietismus tatsächlich als Fundus vorgeformter hermeneuticher wie produktionsästhetischer Paradigmen, die er heranzieht, seine ästhetische Selbstverortung zu flankieren.1 Wie konstatiert werden darf, experimentiert der junge Goethe in der Konstruktion vorgeblich schreibender Geistlicher vor allem auch mit den literarästhetischen Möglichkeiten einer Hermeneutik, von deren pietistischer Verankerung er sich bereits zu lösen im Begriffe ist. In dieser gegenläufigen Doppelbewegung biographischer Distanzierung und experimenteller Aneignung eröffnet sich die Möglichkeit, die Individualitätsemphase der pietistischen Hermeneutik in ihren literarästhetischen Möglichkeiten auszuschöpfen. Hatten Willems und Schneider dargelegt, wie Goethe produktionsästhetische Muster religiösen Sprechens aufgreift und in seiner Geniekonzeption aufgehen läßt, so muß als komplementäres Korrelat die Aneignung hermeneutischer Paradigmen religiösen Ursprungs ergänzt werden: Verstehen und Sprechen, Eindruck und Ausdruck, Hermeneutik und Produktionsästhetik sind in dieser Konzeption zirkulär untrennbar aufeinander bezogen. Die zentrale Bedeutung dieser kleineren Schriften, insbesondere der Zwo wichtigen bisher unerörterten biblischen Fragen, in ihrer Ausstrahlung auf Schlüsseltexte des jungen Goethe zu verdeutlichen, war eines der Hauptanliegen der Untersuchung. Noch der programmatischen Schrift Von Deutscher Baukunst oder der Wagnerszene des Urfaust können im Lichte der in den Pfarrerbriefen ausgebreiteten hermeneutischen Vorstellungen neue Lektüren abgewonnen werden. So greift etwa die Kontrastierung von
_____________ 1
Ähnlich Soboth 2001, S. 229.
„Das Innere, Eigentliche einer Schrift“
237
Faust und Wagner, Genie und Gelehrtem, neuerlich die ästhetischen wie hermeneutischen Paradigmen auf, mit deren Potential einer Entfaltung radikaler Individualität sich der Dichter in immer neuen Adaptionen auseinandersetzt. Säkularisiert und transformiert, unterliegt der Gegenüberstellung von Gelehrtem und Famulus somit die pietistische Unterscheidung von pneumatisch Inspiriertem und uninspiriertem „Kameralisten“. Sauder urteilt, Goethe habe „die orthodoxen Grundsätze der Verbalinspiration und die pietistische Hermeneutik eines Bengel oder Johann Jakob Heß sowie das erbauliche Bibelverständnis Lavaters“ abgelehnt und „sich die Grundsätze der kritischen und rational verfahrenden Partei zu eigen“ gemacht.2 Gegenüber dieser Pauschalisierung ist einzuwenden, daß die hermeneutischen Annahmen des jungen Dichters – trotz aller biographischen Loslösung von pietistischen Exegesepraktiken – zutiefst von pietistischen Vorstellungen geprägt bleiben. Die Analyse des Hohenliedes Salomos belegt diese umformende Aneignung. Alle literarische Freiheit erlaubt Goethe sich im Umgang mit dem alttestamentlichen Text: Kürzungen, Neugliederung und eigenständige Durchformung des Überlieferungstextes dienen dem Ziel, das Wesen des biblischen Buches herauszustellen. Dieses Bemühen um das „Innere, Eigentliche einer Schrift“ läßt indes um so stärker die inzwischen säkularisierten Hermeneutikparadigmen des Pietismus nachklingen. Ein angenommener ‚Kern‘ der Aussage wird subjektivierend auf den Leser zu beziehen versucht, wie Goethe noch in Dichtung und Wahrheit rückschauend ausführt: Das Innere, Eigentliche einer Schrift, die uns besonders zusagt, zu erforschen, sei daher eines jeden Sache, und dabei vor allen Dingen zu erwägen, wie sie sich zu unserm eignen Innern verhalte, und inwiefern durch jene Lebenskraft die unsrige erregt und befruchtet werde […].3
Damit wird eine allgemein verbindliche, objektive Interpretation zugunsten einer Pluralität möglicher subjektiver Interpretationen eines Textes aufgehoben. Indem das „Innere, Eigentliche einer Schrift“ erst im Wechselspiel mit dem Inneren des Lesers seine Kraft entfaltet, konstituiert sich ein höchst individueller Raum der Auslegung, dessen proprium seine immer nur subjektive Evidenz ist.
_____________ 2 3
Sauder 2001a, S. 121. Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 9, S. 510, 12. Buch.
Anhang A. Fragmentarische Handschrift einer Hoheliednachdichtung aus dem Nachlaß Susanna Katharina v. Klettenbergs Die Edition folgt der fragmentarischen Handschrift Susanna Katharina v. Klettenbergs, die im Archiv des Freien Deutschen Hochstiftes/ Frankfurter Goethe-Museums (Nr. 6035) verwahrt wird. Ergänzungen wurden in eckigen Klammern eingefügt. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Frankfurter Goethe-Museums. [V. 10]
[V. 11-13]
[V. 14]
[V. 15-17]
[Cap. 2] […] jezo ruffet mir mein Freund sanfft und dennoch reizend zu Kom zu Mir Holde schöne stehe auff von deiner ruh # Kom! Freundin kom! der Winter ist vergangen So Frost alß regen ist vorbey die Taube lockt der Blumen frisches Prangen zeigt daß der Lentz im Nahn sey unßer Feigen Baum hat Knoten, unßers Weinstocks Blüthe dufft höre Freundin kom o schöne zu dem deinen der dir rufft # Du Tauben Herz das reine einfalt zieret du derer Wohnung in der Felßen ritze ist stim’ an das Lied das meine Seele rühret zeig mir dein Bild das mir so lieblich ist # Aber jene kleine Füchse die des Weinstocks Feinde sind fahet unß weill unßere Rebe täglich Neuen safft gewinnt Freund durch Einiges verbinden bistu mein u[nd] ich bin dein Weide ferner bey den Rosen biß der Tag wird kühle seyn u[nd] wenn finsterniß die Schatten in ein dunckles Nichts verschlingt dann kom Eilend wie ein rehe Munter von den Bergen springt
240
[V. 1]
[V. 2]
[V. 3]
[V. 4]
Anhang A: Fragmentarische Handschrift einer Hoheliednachdichtung
Cap. 3 O Schreckens volle Finsternißen, soll ich den besten Freund vermißen? den Freund! den meine Seele liebt ich such Ihn Kummer voll im Bette in Friede mir die leere Stätte O Mangel der mein Herz betrübt # nicht Nacht nicht dunckel soll mich hindern kein Schlummer meine Sehnsucht Mindern ich stehe auff und suche Ihn Ich gehe um durch alle Straßen vieleicht wird Er sich finden laßen um sonst, Er scheinet mich zu Fliehn # Hier fande ich der Wächter Schaaren vieleicht kan ich es da erfahren wo sich mein Freund hat hin gewant ich wag es sie darum zu fragen allein sie können mirs nicht sagen mein Freund ist Ihnen unbekant # So will ich dann mit Heißem Flehen ja thränend will ich Ihm nach gehen so lange biß Er mir erscheint O Seeligkeit nun komt Er wieder Verstumet bange Trauer Lieder Er ist schon da der beste Freund # Mein Lieber soll dich fester faßen mein Arm soll dich Nie mahls laßen biß ich dich in das Hauß gebracht wo von der Feinde Neid verborgen der Mutter imer Müdes Sorgen die Kammer unß zu recht gemacht. V. 5 Töchter von Jerusalem, ich beschwer’ euch bey den Hinden wecket mir nicht meine Braut werdet ihr sie schlumernd finden sie wird nicht zu lange schlaffen, ihr Herz ist auff mich gericht darum sage ich mit Nachdruck reget meine Freundin nicht. V. 6 Wer ist die die in fernen Wüsten der durch und durch verdorbnen Welt
Anhang A: Fragmentarische Handschrift einer Hoheliednachdichtung
[V. 9f.]
[V. 11]
und dem Gesträuche schnöder Lüsten alß Pilger thränend sich enthält die stündlich in die Höhe steiget wie Rauch von keiner Specerey die Braut ists die sich so bezeuget Der Zug der Liebe macht sie frey. V. 7 Um des Königs Lager-Stätte um das Grabe wo Er ruht /: dieses ist sein Ehren Bette :/ steht der Obern-Wächter Hut Sechzig starcken auß den Schaaren auß den Golden Israel müßen dießen Platz bewahren denn hier ruht Imanuel V. 8 jeder führet seine Waffen unter ihrer Muntren Macht werden wir auch ruhig schlaffen in der düstern Grabes Nacht V. 9 noch eins muß ich von Salomo bezeugen das meine Seele inigst rührt wie könte ich den Schmuck verschweigen der seine Holde Menschheit ziert die auß einem Zeug erbauet die der Unschuld Silber schmückt da das Gold, so man dran schauet u[nd] der Purpur unß entzückt V. 10 Ihr Zions Töchter komt seht euren König an gefält euch wohl der Schmuck den ihr an Ihm erblicket den Ihm am Hochzeit Tag, die Mutter umgethan seht jene krone die den theuren Scheitel schmücket Glänzt vom Pracht der Blut Rubinen euch zum Besten trägt Er sie euch will Er damit verdienen sich zum Lohn vor seine Müh.
241
Anhang B. Goethes Hoheliedfassung in der Synopse mit der Lutherübersetzung Die nachfolgend vorgeschlagene Ausgabe der Goetheschen Bearbeitung des Hohenliedes Salomonis liegt der Zitierweise des Textes in dieser Arbeit zugrunde. Die Vers- und Kapitelstruktur des biblischen Textes wurde den Versen unterlegt, um deutlicher die Eingriffe Goethes in den Text erkennen zu lassen (in Zweifelsfällen hat sich diese Verszuordnung an der Einheitsübersetzung orientiert). Dieser Fassung des Hohenliedes wird die Übertragung Martin Luthers synoptisch gegenübergestellt. Der Text der Goetheübersetzung des Hohenliedes folgt dabei der Frankfurter Ausgabe (FA, 1. Abt., Bd. 12, S. 364-370), die Übertragung Martin Luthers ist der 1545 in Wittenberg erschienenen Biblia: Das ist: Die gantze Heilige Schrifft / Deutsch / Auffs new zugericht entnommen. Ergänzungen der Herausgeber der Frankfurter Ausgabe wurden im Goethetext in spitzen Klammern (< >) übernommen, Ergänzungen des Verfassers dieser Arbeit erscheinen in beiden Texten in eckigen Klammern ([ ]), so vor allem die Kapitel- und Versnumerierung. Absätze konnten aufgrund des nur beschränkt zur Verfügung stehenden Raumes nicht übernommen werden und sind in beiden Texten durch ein Gleichheitszeichen in eckigen Klammern ([=]) angedeutet. In der Goetheübersetzung folgen die trennenden Asteriske (*) der Frankfurter Ausgabe. Johann Wolfgang Goethe
Martin Luther
[Kap. 1]
Das Hohelied Salomo
[2] Küß er mich den Kuß seines Mundes! Trefflicher ist deine Liebe denn Wein. [3] Welch ein süßer Geruch deine Salbe, ausgegoßne Salb ist dein Name, drum lieben dich die Mädgen. [4] Zeuch mich! Laufen wir doch schon nach dir! Führte
I. [2] ER küsse mich mit dem Kusse seines Mundes / Denn deine Brüste sind lieblicher denn Wein. [3] Das man deine gute Salbe rieche / Dein Name ist ein ausgeschütte Salbe / Darumb lieben dich die Megde. [=, 4] ZEuch mich dir nach / so lauffen wir / Der König füret mich in
244
Anhang B. Goethes Hoheliedfassung
mich der König in seine Kammer, wir sprängen und freuten uns in dir. Priesen deine Lieb über den Wein. [=] Lieben dich doch die Edlen all! * [5] Schwarz bin ich, doch schön, Töchter Jerusalems! Wie Hütten Kedars wie Teppiche Salomos. [=, 6] Schau mich nicht an daß ich braun bin, von der Sonne verbrannt. Meiner Mutter Söhne feinden mich an, sie stellten mich zur Weinberge Hüterin. Den Weinberg der mein war hütet ich nicht. * [7] Sage mir du den meine Seele liebt, wo du weidest? Wo du ruhest am Mittag? Warum soll ich umgehn an den Herden deiner Gesellen. [=, 8] Weiß du s nicht schönste der Weiber folge nur den Tapfen der Herde, weide dein<e> Böcke um die Wohnung der Hirten. * [9] Meinem reisigen Zeug unter Pharaos Wagen vergleich ich dich mein liebgen. [10] Schön sind deine Backen in den Spangen, dein Hals in den Ketten. [11] Spangen von Gold sollst du haben mit silbernen Pöcklein. * [12] So lang der König mich koset gibt meine Narde den Ruch. * [13] Ein Büschel Myrrhen ist mein Freund, zwischen meinen Brüsten übernachtend. [14] Ein Trauben Kopher ist mir mein Freund in den Wingerten Engedi. *
seine Kamer / Wir frewen vns / vnd sind frölich vber dir / Wir gedencken an deine Brüste mehr / denn an den Wein / Die Fromen lieben dich. [=, 5] JCh bin schwartz / Aber gar lieblich / jr töchter Jerusalem / Wie die hütten Kedar / wie die teppiche Salomo. [6] Sehet mich nicht an / Das ich so schwartz bin / denn die Sonne hat mich so verbrand. Meiner mutter Kinder zürnen mit mir / Man hat mich zur Hüterin der Weinberge gesetzt / Aber meinen Weinberg den ich hatte / habe ich nicht behütet. [=, 7] SAge mir an du / den meine Seele liebet / Wo du weidest / wo du rugest im mittage? Das ich nicht hin vnd her gehen müsse / bey den Herden deiner Gesellen. [=, 8] KEnnestu dich nicht / du schöneste vnter den Weibern / So gehe hin aus auff die fusstapffen der Schafe / vnd weide deine Böcke bey den Hirten heusern. [=, 9] JCH gleiche dich / meine Freundin / meinem reisigen Zeuge an den wagen Pharao. [10] Deine Backen stehen lieblich in den Spangen / vnd dein Hals in den Keten. [11] Wir wöllen dir güldene Spangen machen mit silbern Pöcklin. [=, 12] DA der König sich her wandte / gab mein Narde seinen ruch. [13] Mein Freund ist mir ein büschel Myrrhen / das zwisschen meinen Brüsten hanget. [14] Mein Freund ist mir ein drauben Copher / in den Weingarten zu Engeddi. [=, 15] SJhe / meine Freundin / du bist schöne / schöne bistu / Deine augen sind wie Tauben augen. [16] Sihe mein Freund / du bist schön vnd lieblich / Vnser Bette grünet / [17] vnser Heuser balcken sind Cedern / vnser latten sind Cipressen.
Anhang B. Goethes Hoheliedfassung
245
[15] Sieh du bist schön meine Freundin! Sieh du bist schön! Tauben Augen die deinen. [=, 16] Sieh du bist schön mein Freund. Auch lieblich! Unser Bette grünt, [17] unsrer Hütte Balken sind Zedern unsre Zinnen Zypressen. * [Kap. 2] [1] Ich bin die Rose im Tal! Bin ein Mai Blümgen! [2] Wie die Rose unter den Dornen so ist mein Liebgen unter den Mädgen. [3] Wie der Apfelbaum unter den Waldbäumen, ist mein liebster unter den Männern. Seines Schatten begehr ich, nieder sitz ich, und süß ist meinem Gaum seine Frucht. [4] Er führt mich in die Kelter, über mir weht seine Liebe. [5] Stützet mich mit Flaschen, polstert mir mit Äpfeln denn Krank bin ich für Liebe. [6] Seine linke trägt mein Haupt seine rechte herzt mich. [7] Ich beschwör euch Töchter Jerusalems bei den Rehen, bei den Hinden des Feldes, rühret sie nicht, reget sie nicht meine Freundin bis sie mag. * [8] Sie ists die Stimme meines Freundes. Er kommt! Springend über die Berge! Tanzend über die Hügel! [9] Er gleicht mein Freund einer Hinde er gleicht einem Rehbock. Er steht schon an der Wand, siehet durchs Fenster gucket durchs Gitter! [10] Da beginnt er und spricht: Steh auf meine Freundin meine Schöne und komm. [11] Der Winter ist vorbei, der Regen vorüber. Hin ist er! [12] Blumen sprossen vom Boden, der Lenz ist gekommen, und der
II. ICH bin ein Blumen zu Saron / vnd ein Rose im tal. [2] Wie eine Rose vnter den Dörnen / So ist mein Freundin vnter den Töchtern. [3] Wie ein Apffelbawm vnter den wilden Bewmen / So ist mein Freund vnter den Sönen. Jch sitze vnter dem Schatten des ich begere / vnd seine Frucht ist meiner Kele süsse. [=, 4] ER füret mich in den Weinkeller / vnd die Liebe ist sein Panir vber mir. [5] Er erquicket mich mit Blumen / vnd labet mich mit Epffeln / Denn ich bin krank fur liebe. [6] Seine Lincke liget vnter meinem Heubte / vnd seine Rechte hertzet mich. [=, 7] JCH beschwere euch / jr töchter Jerusalem / bey den Rehen oder bey den Hinden auff dem felde / Das jr meine Freundin nicht auffweckt noch reget / bis das jr selbst gefellt. [=, 8] DA ist die stimme meins Freunds / Sihe / Er kompt vnd hüpffet auff den Bergen / vnd springet auff den Hügeln. [9] Mein Feund ist gleich einem Rehe oder jungen Hirss. Sihe / Er stehet hinder vnser Wand / vnd sihet durchs fenster / vnd gucket durchs gitter. [=, 10] MEin Freund antwortet / vnd spricht zu mir / Stehe auff meine Freundin / meine schöne / vnd kom her. [11] Denn sihe / der Winter ist vergangen / der Regen ist weg vnd da hin / [12] Die Blumen sind erfür komen im Lande / Der Lentz ist er bey komen / vnd die Dordeltaube lesst sich hören in vnserm Lande. [13] Der Feigenbawm hat
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Anhang B. Goethes Hoheliedfassung
Turteltaube Stimme hört ihr im Lande. [13] Der Feigenbaum Knotet. Die Rebe duftet. Steh auf meine Freundin mein Schöne, und komm. [14] Meine Taube in den Steinritzen im hohlhort des Felshangs. Zeig mir dein Antlitz, tön’ deine Stimme, denn lieblich ist deine Stimme schön dein Antlitz. [15] Fahet uns die Füchse, die kleinen Füchse die die Wingerte verderben, die fruchtbaren Wingerte. * [16] Mein Freund ist mein, ich sein, der unter Lilien weidet. [17] Bis der Tag atmet, die Schatten fliehen, wende dich, sei gleich mein Freund einer Hinde einem Rehbock, auf den Bergen Bether.
knoten gewonnen / die Weinstöcke haben augen gewonnen / vnd geben jren Ruch / Stehe auff meine Freundin vnd kom / meine schöne kom her. [14] Meine Taube in den felslöchern / in den steinritzen / Zeige mir deine gestalt / Las mich hören deine stim / Denn deine stim ist süsse / vnd deine gestalt lieblich. [=, 15] FAhet vns die Füchse / die kleinen Füchse / die die Weinberge verderben / Denn vnsere Weinberge haben augen gewonnen. [16] Mein Freund ist mein / vnd ich bin sein / der vnter den Rosen weidet / [17] Bis der tag küle werde / vnd der schatten weiche. Kere vmb / werde wie ein Rehe mein Freund / oder wie ein junger Hirss auff den Scheidebergen.
* [Kap. 3] Auf meiner Schlafstätte zwischen den Gebürgen sucht ich den meine Seele liebt, sucht ihn, aber fand ihn nicht. [2] Aufstehen will ich und umgehen in der Stadt, auf den Märkten und Straßen. Suchen den meine Seele liebt, ich sucht ihn, aber fand ihn nicht. [3] Mich trafen die umgehenden Hüter der Stadt: den meine Seele liebt, saht ihr ihn nicht? [4] Kaum da ich sie vorüber war fand ich den meine Seele liebt, ich faß ihn ich laß ihn nicht. Mit mir soll er in meiner Mutter Haus, in meiner Mutter Kammer. [5 fehlt] * [6] Wer ist die herauf tritt aus der Wüsten wie Rauch Säulen, wie Gerauch Myrrhen und Weihrauch, köstlicher Spezereien. [7-11 fehlen]
III. ICH sucht des nachts in meinem Bette / den meine Seele liebet / Jch sucht / Aber ich fand jn nicht. [2] Jch wil auffstehen / vnd in der Stad vmbgehen auff den gassen vnd strassen / vnd suchen / den meine Seele liebet / Jch sucht / Aber ich fand jn nicht. [3] Es funden mich die Wechter die in der Stad vmbgehen / Habt jr nicht gesehen den meine Seele liebet? [4] Da ich ein wenig fur vber kam / da fand ich den meine Seele liebet / Jch halt jn / vnd wil jn nicht lassen / Bis ich jn bringe in meiner Mutter haus / in meiner Mutter kamer. [=, 5] ICH beschwere euch / jr töchter zu Jerusalem / bey den Rehen oder Hinden auff dem felde / Das jr meine Freundin nicht auffweckt / noch reget / Bis das jr selbs gefellet. [=, 6] WER ist die / die er auff gehet aus der Wüsten / wie ein gerader Rauch / wie ein Gereuch von myrrhen / weyrauch vnd allerley
Anhang B. Goethes Hoheliedfassung
*
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puluer eins Apotekers? [=, 7] SJhe / vmb das bette Salomo her / stehen sechzig starcken aus den starcken in Jsrael. [8] Sie halten alle Schwerter / vnd sind geschickt zu streitten. Ein jglicher hat sein Schwert an seiner hüfften / vmb der furcht willen in der nacht. [=, 9] DEr könig Salomo lies jm eine Senffte machen von holtz aus Libanon / [10] Der selben Seulen waren silbern / die Decke gülden / der Sitz purpern / der Boden mitten inne war lieblich gepflastert / [11] vmb der Töchter willen zu Jerusalem. [=] GEhet er aus vnd schawet an / jr töchter Zion / den könig Salomo / in der Krone / da mit jn seine Mutter gekrönet hat / am tage seiner Hochzeit / vnd am tage der freuden seines hertzens.
[Kap. 4] Schön bist du meine Freundin, ja schön, Taubenaugen die deinen zwischen deinen Locken. [=] Dein Haar eine blinkende Ziegenherde auf dem Berge Gilead. [2] Deine Zähne eine geschorene Herde, aus der Schwemme steigend, all Zwillings trächtig, kein Mißfall unter ihnen. [3] Deine Lippen ein rosinfarbe Schnur, lieblich deine Rede! Wie der Ritz am Granatapfel deine Schläfe zwischen deinen Locken. [4] Wie der Turn David dein Hals, gebauet zur Wehre, dran hängen Tausend Schilde, alles Schilde der Helden. [5] Deine beiden Brüste, wie Rehzwillinge die unter Lilien weiden. [6 fehlt] [7] Völlig schön bist meine Freundin kein Flecken an dir. * [8] Komm vom Libanon meine Braut, Komm vom Libanon. Schau her von dem Gipfel Amana, vom
IIII. SIhe meine Freundin / du bist schön / Sihe / schön bistu. Deine Augen sind wie taubenaugen / zwisschen deinen Zöpffen. Dein Har ist wie die Ziegen herd / die beschoren sind auff dem berge Gilead. [2] Deine Zeene sind wie die herde mit beschnitten wolle / die aus der schwemme komen / die allzumal Zwilling tragen / vnd ist keine vnter jnen vnfruchtbar. [3] Deine Lippen sind wie eine rosinfarbe schnur / vnd deine Rede lieblich. Deine Wangen sind wie der ritz am Granatapffel / zwisschen deinen zöpffen. [4] Dein Hals ist wie der thurm Dauid / mit brustwehr gebawet / daran tausent Schilde hangen / vnd allerley waffen der Starcken. [5] Deine zwo Brüste sind wie zwey junge Rehe zwillinge / die vnter den rosen weiden / [6] bis der tag küle werde / vnd der schatten weiche. Jch wil zum Myrrhenberge gehen vnd zum Weyrauch hügel. [=, 7] DV bist aller ding schöne / mein Freundin / vnd ist kein flecken an dir. [8] Kom meine Braut vom Libanon /
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Anhang B. Goethes Hoheliedfassung
Gipfel Senir und Hermon, von den Wohnungen der Löwen von den Bergen der Parden. * [9] Gewonnen hast du mich, Schwester liebe Braut, mit deiner Augen einem, mit deiner Halsketten einer. [10] Hold ist deine Liebe, Schwester liebe Braut! Trefflicher deine liebe denn Wein, deiner Salbe Geruch über alle Gewürze. [11] Honig triefen deine Lippen meine Braut, unter deiner Zunge sind Honig und Milch, deiner Kleider Geruch wie der Ruch Libanons. [12] Schwester liebe Braut ein verschloßner Garten Bist du, eine verschloßne Quelle ein versiegelter Born. [13] Dein Gewächse ein Lustgarten Granatbäume mit der Würzfrucht, Zypern mit Narden, [14] Narden und Safran, Kalmus und Cynnamen, allerlei Weihrauch Bäume, Myrrhen und Aloe und all die trefflichsten Würzen. [15] Wie ein Garten Brunn, ein Born lebendiger Wasser, Bäche vom Libanon. [16] Hebe dich Nordwind, komm Südwind, durchwehe meinen Garten daß seine Würze triefen.
Kom vom Libanon / Gehe er ein / Trit her von der höhe Amana / von der höhe Senir vnd Hermon / von den wonungen der Lewen / von den bergen der Leoparden. [9] Du hast mir das hertz genomen / meine Schwester liebe Braut / mit deiner augen einem / vnd mit deiner Halsketen eine. [=, 10] WJe schön sind deine Brüste meine Schwester / liebe Braut / deine Brüste sind lieblicher denn Wein / vnd der geruch deiner Salben vbertrifft alle Würtze. [11] Deine Lippen / meine Braut / sind wie trieffender honigseim / honig vnd milch ist vnter deiner Zungen / vnd deiner Kleider geruch ist / wie der geruch Libanon. [=, 12] MEine Schwester / liebe Braut / Du bist ein verschlossen Garten / Ein verschlossen Quelle / ein versiegelter Born. [13] Dein Gewechs ist wie ein Lustgarte von Granatepffeln / mit edlen Früchten / Cipern mit Narden / [14] Narden mit Saffran / Kalmus vnd Cynamen mit allerley bewmen des Weyrauchs / Myrrhen vnd Aloes mit allen besten Würtzen / [15] Wie ein Gartenbrun / wie ein Born lebendiger Wasser / die von Libano fliessen. [=, 16] STehe auff Nordwind vnd kom Sudwind / vnd wehe durch meinen Garten / das seine Würtze trieffen.
* [Kap. 5] Er komme in seinen Garten mein Freund und esse die Frucht seiner Würze! [=] Schwester liebe Braut ich kam zu meinem Garten, brach ab meine Myrrhen meine Würze. Aß meinen Seim meinen Honig, Trank meinen Wein meine Milch. [=] Esset Gesellen! Trinket, werdet trunken in Liebe. *
V. Mein Freund kome in seinen Garten / vnd esse seiner edlen Früchten. Jch kom / mein Schwester / liebe Braut / in meinem Garten / Jch habe meine Myrrhen sampt meinen Würtzen abgebrochen / Jch hab meins Seims sampt meinem Honige gessen / Jch habe meins Weins sampt meiner Milch getruncken. Esset meine Lieben / vnd trincket meine Freunde vnd werdet truncken. [=, 2] ICH schlaff / Aber mein
Anhang B. Goethes Hoheliedfassung
[2] Ich schlafe, aber mein Herz wacht. Horch! Die Stimme meines klopfenden Freundes: Öffne mir meine Schwester, meine Freundin, meine Taube, meine Fromme, denn mein Haupt ist voll Taus und meine Locken voll Nachttropfen. [3] Bin ich doch entkleidet, wie soll ich mich anziehen? hab ich doch die Füße gewaschen soll ich sie wieder besudeln? [4] Da reichte mein Freund mit der Hand durchs Schalter und mich überliefs. [5] Da stunde ich auf meinem Freunde zu öffnen, meine Hände troffen von Myrrhen, Myrrhen liefen über meine Hände an dem Riegel am Schloß. [6] Ich öffnete meinem Freund aber er war weggeschlichen, hingegangen. Auf seine Stimme kam ich hervor, ich sucht ihn und fand ihn nicht, rief ihm er antwortet nicht. [7] Mich trafen die umgehenden Wächter der Stadt. Schlugen mich, verwundeten mich, nahmen mir den Schleier die Wächter der Mauern. * [8] Ich beschwör euch Töchter Jerusalems. Findet ihr meinen Freund, wollt ihr ihm sagen daß ich für Liebe krank bin. [9] Was ist dein Freund vor andern Freunden du schönste der Weiber, was ist dein Freund vor andern Freunden, daß du uns so beschwörest? [10] Mein Freund ist weiß und rot auserkoren unter viel Tausenden. [11] Sein Haupt das reinste Gold seine Haarlocken schwarz wie ein Rabe. [12] Seine Augen Taubenaugen an den Wasserbächen, gewaschen in Milch, stehend in Fülle. [13] Würzgärtlein seine Wangen, volle Büsche des Weihrauchs, seine Lippen Rosen träufelnd köstliche Myrrhen. [14] Seine Hände
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hertz wacht / Da ist die stim meins Freundes der anklopffet. Thu mir auff liebe Freundin meine Schwester / meine Taube / meine frome / Denn mein heubt ist vol tawes / vnd meine locken vol nachtstropffen. [3] Jch habe meinen Rock ausgezogen / wie sol ich jn wider anziehen? Jch habe meine Füsse gewasschen / wie sol ich sie wider besuddeln? [=, 4] ABer mein Freund steckt seine Hand durchs loch / Vnd mein Leib erzittert da für. [5] Da stund ich auff / das ich meinem Freunde auffthet / Meine hende troffen mit Myrrhen / vnd Myrrhen lieffen vber meine Finger an dem rigel am schlos / [6] Vnd da ich meim Freund auffgethan hatte / war er weg vnd hin gegangen. [=] DA gieng meine Seele er aus nach seinem wort / Jch sucht jn / Aber ich fand jn nicht / Jch rieff / Aber er antwortet mir nicht. [7] Es funden mich die Hüter die in der Stad vmbgehen / die schlugen mich wund / Die Hüter auff der mauren namen mir meinen Schleier. [8] Jch beschwere euch jr Töchter Jerusalem / findet jr meinen Freund / so saget jm / das ich fur Liebe kranck lige. [=, 9] WAS ist dein Freund fur andern Freunden / O du schönst vnter den Weibern? Was ist dein Freund fur andern Freunden / das du vns so beschworen hast? [10] Mein Freund ist weis vnd rot / auserkoren vnter viel tausent. [11] Sein Heubt ist das feinest Gold. Seine Locken sind kraus / schwartz wie ein Rabe. [12] Seine Augen sind wie Taubenaugen an den wasserbechen / mit milch gewasschen / vnd stehen in der fülle. [13] Seine Backen sind wie die wachsende wurzgertlin der Apoteker. Seine Lippen sind wie Rosen die mit fliessenden Myrrhen trieffen. [14] Seine Hende sind wie güldene Ringe vol Türkissen. Sein Leib ist wie rein Elphenbein mit Saphiren geschmückt. [15] Seine Beine sind wie Marmelseulen
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Anhang B. Goethes Hoheliedfassung
Goldringe mit Türkisen besetzt, sein Leib glänzend Elfenbein geschmückt mit Sapphiren. [15] Seine Beine wie Marmorsäulen auf güldenen Sockeln. Seine Gestalt wie der Libanon, auserwählet wie Zedern. [16] Seine Kehle voll Süßigkeit, er ganz mein Begehren. Ein solcher ist mein Liebster, mein Freund ist ein solcher, o Töchter Jerusalems.
/ gegründet auff gülden füssen. Seine gestalt ist wie Libanon / ausserwelt wie Cedern. [16] Seine Kele ist süsse vnd gantz lieblich / Ein solcher ist mein Freund / mein Freund ist ein solcher / jr töchter Jerusalem.
* [Kap. 6] Wohin ging dein Freund du schönste der Weiber. Wohin wandte sich dein Freund wir wollen ihn mit dir suchen. [2] Mein Freund ging in seinen Garten hinab, zu den Würzbeeten, sich zu weiden im Garten, Lilien zu pflücken. [3] Mein Freund ist mein und ich bin sein der unter Lilien sich weidet. * [4] Schön bist du meine Freundin wie Thirza! Herrlich wie Jerusalem! Schröcklich wie Heerspitzen. [5] Wende deine Augen ab von mir sie machen mich brünstig. [5b-7 fehlen] * [8] Sechzig sind der Königinnen, achzig der Kebsweiber, Jungfrauen unzählig. [9] Aber Eine ist mein Taube, Eine meine Fromme. Die einzige ihrer Mutter, die köstliche ihrer Mutter. Sie sahen die Mädgen, sie priesen die Königinnen und Kebsweiber, und rühmten sie. * [10] Wer ist die hervorblickt wie die Morgenröte? Lieblich wie der Mond, rein wie die Sonne, furchtbar wie Heerspitzen.
VI. WO ist denn dein Freund hin gegangen / O du schönest vnter den Weibern? Wo hat sich dein Freund hin gewand? So wöllen wir mit dir jn suchen. [2] Mein Freund ist hin ab gegangen in seinen Garten / zu den Wurzgertlin / das er sich weide vnter den Garten vnd Rosen breche. [3] Mein Freund ist mein / vnd ich bin sein / der vnter den Rosen sich weidet. [=, 4] DV bist schön / meine Freundin / wie Thirza / lieblich wie Jerusalem / schrecklich wie Heerspitzen [5] (Wende deine Augen von mir / Denn sie machen mich brünstig) Deine Har sind wie ein herd Ziegen / die auff dem berge Gilead geschoren sind. [6] Deine Zeene sind wie ein herd Schaf / die aus der schwemme komen / die allzu mal Zwilling tragen / vnd ist keine vnfruchtbar vnter jnen. [7] Deine Wangen sind wie ein Ritz am Granatapffel / zwisschen deinen zöpffen. [=, 8] SEchzig ist der Königinnen / vnd achzig der Kebsweiber / vnd der Jung frawen ist kein zal. [9] Aber eine ist meine Taube / mein Frome / eine ist jrer Mutter die liebste / vnd die ausserwelete jrer Mutter. Da sie die Töchter sahen / preiseten sie dieselbige selig / die Königinnen vnd Kebsweiber lobeten sie. [10] Wer ist die erfür bricht / wie die
Anhang B. Goethes Hoheliedfassung
* [11] Zum Nußgarten bin ich gangen zu schauen das grünende Tal. Zu sehen ob der Weinstock triebe, ob die Granatbäume blühten. [12 fehlt, 13 als 7,1] *
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Morgenröte / schön wie der Mond / ausserwelet wie die Sonne / schrecklich wie die Heerspitzen. [=, 11] JCH bin hin ab in den Nussgarten gegangen / zu schawen die Streuchlin am Bach / zu schawen ob der Weinstock blühet / ob die Granatepffel grüneten. [12] Meine Seele wusts nicht / das er mich zum wagen AmiNadib gesetzt hette. [=, 13 bzw. 7,1] KEre wider / kere wider / o Sulamith / kere wider / kere wider / das wir dich schawen / Was sehet jr an Sulamith / den Reigen zu Mahanaim?
[Kap. 7] Kehre! Kehre! Sulamith! Kehre! Kehre! Daß wir dich sehen. Seht ihr nicht Sulamith wie einen Reihen Tanz der Engel. [2] Schön ist dein Gang in den Schuhen o Fürstentochter, deiner Lenden gleiche Gestalt wie zwo Spangen, Spangen des Künstlers Meisterstück. [3] Dein Nabel ein runder Becher der Fülle, dein Leib ein Weizenhaufen umsteckt mit Rosen. [4 fehlt] [5] Dein Hals ein Elfenbeinerner Turn, deine Augen wie die Teiche zu Hesbon am Thore Bathrabbim, deine Nase der Turn Libanon schauend gegen Damaskus. [6] Dein Haupt auf dir wie Carmel, deine Haarflechten wie Purpur des Königs in Falten gebunden. [7] Wie schön bist du wie lieblich! du Liebe in Wollüsten. [8] Deine Gestalt ist Palmengleich, Weintrauben deine Brüste. [9] Ich will auf den Palmbaum steigen, sagt ich, und seine Zweige ergreifen. Laß deine Brüste sein wie Trauben am Weinstock, deiner Nasen ruch wie Äpfel. [10] Dein Gaum wie guter Wein, der mir glatt eingehe, der die schlafenden geschwätzig macht.
VII. [2] Wie schön ist dein gang in den Schuhen / du Fürsten tochter. Deine Lenden stehen gleich an einander / wie zwo Spangen / die des Meisters hand gemacht hat. [3] Dein Nabel ist wie ein runder Becher / dem nimer getrenck mangelt. Dein Bauch ist wie ein Weitzenhauffe vmbsteckt mit Rosen. [4] Deine zwo Brüste sind / wie zwey junge Rehe zwillinge. [5] Dein Hals ist wie ein Elffenbeinen thurm. Deine Augen sind / wie die Teiche zu Hesbon / am thor Bathrabbim. Deine Nase ist wie der Thurm auff Libanon / der gegen Damascon sihet. [6] Dein Heubt stehet auff dir / wie Carmelus. Das Har auff deinem heubt / ist wie die purpur des Königs in falten gebunden. [=, 7] WJE schön vnd wie lieblich bistu / du Liebe in wollüsten. [8] Deine Leng ist gleich einem Palmbawm / vnd deine Brüste den Weindrauben. [9] Jch sprach / Jch mus auff den Palmbawm steigen / vnd seine zweige ergreiffen / Las deine Brüste sein wie Drauben am weinstock / vnd deiner Nasenruch wie Epffel / [10] vnd deine Kele wie guter Wein / der meinem Freunde glat eingehe / vnd rede von fernigem. [11] Mein Freund ist mein / vnd er helt sich auch zu mir. [=, 12] KOm mein Freund / las vns auffs Feld
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Anhang B. Goethes Hoheliedfassung
* [11] Ich bin meinem Freunde, bin auch sein ganzes Begehren! * [12] Komm mein Freund laß uns aufs Feld gehn, auf den Landhäusern schlafen. [13] Früh stehn wir auf zu den Weinbergen, sehen ob er der Weinstock blühe, Beeren treibe, Blüten die Granatbäume haben. Da will ich dich herzen nach Vermögen.
hin aus gehen / vnd auff den Dorffen bleiben. [13] Das wir früe auffstehen zu den Weinbergen / Das wir sehen / ob der Weinstock blühet vnd augen gewonnen habe / Ob die Granatepffelbewm ausgeschlagen sind / Da wil ich dir meine Brüste geben. [14] Die Lilien geben den ruch / vnd fur vnser thür sind allerley edle Früchte. Mein Freund ich hab dir beide heurige vnd fernige behalten.
* [14] Die Lilien geben den Ruch vor unsrer Tür sind allerlei Würze, heurige, fernige. Meine Liebe bewahrt ich dir! * [Kap. 8] Hätt ich dich wie meinen Bruder der meiner Mutter Brüste saubgt. Fänd ich dich draus ich küßte dich, niemand sollte mich höhnen. [2] Ich führte dich in meiner Mutter Haus daß du mich lehrtest! Tränkte dich mit Würzwein mit Most der Granaten. [3-4 fehlen] * [5] Wer ist die heraufgeht aus der Wüsten, sich gesellet zu ihrem Freund? * Unterm Apfelbaum weck ich dich wo deine Mutter dich gebar, wo dein pflegte die dich zeugte. * [6] Setze mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel auf deinen Arm. Denn stark wie der Tod ist die
VIII. O Das ich dich / mein Bruder / der du meiner Mutter brüste saugest draussen fünde / vnd dich küssen müste / das mich niemand hönete. [2] Jch wolt dich füren vnd in meiner Mutter haus bringen / da du mich leren soltest / Da wolt ich dich trencken mit gemachtem Wein / vnd mit dem Most meiner Granatepffel. [3] Seine Lincke ligt vnter meinem Heubt / vnd seine Rechte hertzet mich. [=, 4] JCH beschwere euch töchter Jeruslam / Das jr meine Liebe nicht auffweckt noch reget / bis das jr selbs gefellet. [5] Wer ist die / die er auff feret von der Wüsten / vnd lehnet sich auff jren Freund? Vnter dem Apffelbawm weckt ich dich / da deine Mutter dich geboren hatte / da mit dir gelegen ist / die dich gezeuget hat. [=, 6] SEtze mich wie ein Siegel auff dein Hertz / vnd wie ein siegel auff deinen Arm / Denn Liebe ist starck wie der Tod / vnd Eiuer ist fest wie die Helle / Jr glut
Anhang B. Goethes Hoheliedfassung
Liebe. Eifer gewaltig wie die Hölle. Ihre Glut Feuer Glut, eine fressende Flamme. [7] Viel Wasser können die Liebe nicht löschen, Ströme sie nicht ersäufen. Böt einer all sein Hab und Gut um Liebe man spottete nur sein. [8-14 fehlen]
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ist fewrig / vnd ein flamme des HERRN / [7] Das auch viel Wasser nicht mügen die Liebe auslesschen / noch die ströme sie erseuffen / Wenn einer alles Gut in seinem hause vmb die Liebe geben wolt / so gülte es alles nichts. [=, 8] VNser Schwester ist klein / vnd hat keine Brüste / Was sollen wir vnser Schwester thun / wenn man sie nu sol anreden? [9] Jst sie eine Maure / so wöllen wir silbern Bollwerg drauff bawen. Jst sie eine Thür / so wöllen wir sie festigen mit Cedern bolen. [10] Jch bin eine Maur / vnd meine Brüste sind wie Thürne / Da bin ich worden fur seinen augen / als die Frieden findet. [=, 11] SAlomo hat einen Weinberg zu BaalHamon / Er gab den Weinberg den Hütern / das ein jglicher fur seine Früchte brechte tausent Silberlinge. [12] Mein Weinberg ist fur mir. Dir Salomo gebüren tausent / Aber den Hütern zwey hundert sampt seinen Früchten. [=, 13] DJE du wonest in den Garten / Las mich deine stimme hören / Die Geselschafften mercken drauff. [14] Fleuch mein Freund / vnd sey gleich eim Rehe oder jungen Hirssen auff den Würzbergen. [=] Ende des Hohenlieds Salomo.
Anhang C. Literaturverzeichnis Abkürzungen ADB AGP AOAT CSEL DjG DVJ DWb EKK EvTh FA FAZ FGA F-L GA GHb GJb Goethe GR GRM GV Herder, FA Herder, SW HJb HWPh JbWGV JGG LAR
Allgemeine Deutsche Biographie Arbeiten zur Geschichte des Pietismus Alter Orient und Altes Testament Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum Der junge Goethe in seiner Zeit Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Grimm, Deutsches Wörterbuch Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament Evangelische Theologie Goethe, Frankfurter Ausgabe Frankfurter Allgemeine Zeitung Frankfurter Gelehrte Anzeigen Der junge Goethe (Fischer-Lamberg) Goethe, Gedenkausgabe Goethe-Handbuch Goethe-Jahrbuch Goethe. Viermonatsschrift der Goethe-Gesellschaft The Germanic Review Germanisch-Romanische Monatsschrift Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums 1700-1910 Herder, Frankfurter Ausgabe Herder, Sämmtliche Werke Herder-Jahrbuch Historisches Wörterbuch der Philosophie Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft Veröffentlichungen der Luther-Akademie Ratzeburg
256 Ljb LThK Luther, WA MA MLN MLR MM PMLA PuN RGG SchillerJb ThLZ TRE WA ZfdPh ZRGG ZThK
Anhang C. Literaturverzeichnis
Lutherjahrbuch Lexikon für Theologie und Kirche Luther, Weimarer Ausgabe Goethe, Münchner Ausgabe Modern Language Notes Modern Language Review Der junge Goethe (Max Morris) Publications of the Modern Language Association of America Pietismus und Neuzeit Religion in Geschichte und Gegenwart Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft Theologische Literaturzeitung Theologische Realenzyklopädie Goethe, Weimarer Ausgabe Zeitschrift für deutsche Philologie Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte Zeitschrift für Theologie und Kirche
Ausgaben der Werke Goethes Der junge Goethe (FischerLamberg)
Der junge Goethe. Neu bearbeitete Ausgabe in fünf Bänden. Hrsg. v. Hanna Fischer-Lamberg, Berlin 1963-1974.
Der junge Goethe (Morris)
Der junge Goethe. Neue Ausgabe in sechs Bänden. Hrsg. v. Max Morris, Leipzig 1909-1912.
Der junge Goethe in seiner Zeit
Der junge Goethe in seiner Zeit. Texte und Kontexte. 2 Bde. u. CDROM, hrsg. v. Karl Eibl, Fotis Jannidis u. Marianne Willems, Frankfurt a. M. u. Leipzig 1998.
Frankfurter Ausgabe
Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde., hrsg. v. Friedmar Apel u.a., Frankfurt a. M. 1985ff.
Gedenkausgabe
Goethe, Johann Wolfgang v.: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. 28. August 1949. 24 Bde. u. 3 Ergänzungsbde., hrsg. v. Ernst Beutler, Zürich 1948-1971.
Hamburger Ausgabe
Goethe, Johann Wolfgang v.: Werke. 12. durchgesehene Aufl., 14 Bde., hrsg. v. Erich Trunz, München 1994.
Andere Quellen
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Münchner Ausgabe
Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. 21 Bde. in 33, hrsg. v. Karl Richter, Herbert G. Göpfert, Norbert Miller u. Gerhard Sauder, München 19851998.
Goethe (Raabe)
Goethe, Johann Wolfgang v.: Träume und Legenden meiner Jugend. Texte über die Stillen im Lande. Hrsg. v. Paul Raabe, Leipzig 2000 (=Kleine Texte des Pietismus 3).
Weimarer Ausgabe
Goethe, Johann Wolfgang: Goethes Werke. 133 Bde. in 143, hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie v. Sachsen, Weimar 1887-1919 (Photomechanischer Nachdruck, München 1987).
Andere Quellen Allgemeine deutsche Bibliothek
Allgemeine deutsche Bibliothek. Kiel u. Berlin 1765-1796.
Allgemeine theologische Bibliothek
Allgemeine theologische Bibliothek. Mietau 1774-1780.
Anonymus, Hohelied
Anonymus: Das Lied der Lieder, oder Das Hohelied Salomonis: nach dem Grundtexte übersetzet, und dergestalt erkläret, daß in einer dreyfachen Paraphrasi desselben deutlich und überzeugend zu sehen ist: wie in diesem allerherrlichsten Liede nicht nur die Kirchen-Geschichte des alten und neuen Testaments, sondern auch der wahre und geheime Weg zur innigsten Vereinigung der Seelen mit Gott, enthalten sey und besungen werde. Halle u. Leipzig 1756.
Arnold, Geschichte
Arnold, Gottfried: Unpartheyische Kirchen- und Ketzer-Historie, Vom Anfang des Neuen Testaments Biß auf das Jahr Christi 1688. 2 Bde., Frankfurt a. M. 1729 (Photomechanischer Nachdruck, Hildesheim 1967).
Arnold, Hohelied
Arnold, Gottfried: Poetische Lob- und Liebes-Sprüche / von der Ewigen Weißheit / nach Anleitung Des Hohenlieds Salomonis. [O.O. u. J.]
Arnold, Lehrer
Arnold, Gottfried: Die geistliche Gestalt eines Evangelischen Lehrers Nach dem Sinn und Exempel Der Alten Auff vielfältiges Begehren Ans Licht gestellet. Halle 1704.
Augustinus, Confessiones
Aurelius Augustinus: S. Aureli Augustini confessionum. Hrsg. v. Martin Skutella u.a., Stuttgart 1969.
Bahrdt, Almanach
Bahrdt, Carl Friedrich: Kirchen- und Ketzer-Almanach aufs Jahr 1781. Häresiopel [Züllichau] 1780.
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Anhang C. Literaturverzeichnis
Bahrdt, Geschichte seines Lebens
Bahrdt, Carl Friedrich: Geschichte seines Lebens, seiner Meinungen und Schicksale. Hrsg. v. Günter Mühlpfordt, Stuttgart u. Bad Cannstatt 1983 (=Deutsche Autobiographien 2).
Bahrdt, Kritiken
Bahrdt, Carl Friedrich: Kritiken über die Michaelische Bibelübersetzung und die exegetischen Grundsätze welche er darinnen verfolgt hat. Frankfurt a. M. 1773.
Bahrdt, Neuste Offenbarungen
Bahrdt, Carl Friedrich: Die neusten Offenbarungen Gottes in Briefen und Erzählungen. 4 Bde., Riga 1773f.
Bahrdt, Theologie
Bahrdt, Carl Friedrich: Briefe über die systematische Theologie zur Beförderung der Toleranz. 2 Bde., Erfurt 1770f.
Baumgarten, Geschichte
Baumgarten, Siegmund Jacob: Geschichte der Religionspartheyen. Hrsg. v. Johann Salomon Semler, Halle 1766 (Photomechanischer Nachdruck, Hildesheim 1966).
Baumgarten, Pastoraltheologie
Baumgarten, Siegmund Jacob: Kurtzgefaßte casuistische Pastoraltheologie. Halle 1752.
Berleburger Bibel
Die Heilige Schrift Altes und Neues Testaments: nach dem Grund-Text aufs neue übersehen und übersetzt: Nebst einiger Erklärung des buchstäblichen Sinnes […]. 8 Bde., Berleburg 1726-1742.
Böttiger, Zustände
Böttiger, Karl August: Litterarische Zustände und Zeitgenossen. In Schilderungen aus Karl August Böttiger´s Nachlasse. 2 Bde., Leipzig 1838.
Canstein, Vorschlag
Canstein, Karl Hildebrand v.: Ohnmaßgeblicher Vorschlag / Wie GOTTES Wort denen Armen zur Erbauung um einen geringen Preiß in die Hände zu bringen. Berlin 1710.
Dante, Can Grande
Dante Alighieri: . In: ders.: Il convito e le epistole. Hrsg. v. Pietro Fraticelli u.a., 6. Aufl., Florenz 1887, S. 508-537.
Deutsche Chronik
Deutsche Chronik. Augsburg 1774-1778.
Einheitsübersetzung
Die Bibel. Altes und Neues Testament. Hrsg. im Auftrag der Bischöfe Deutschlands, Österreichs u. der Schweiz, des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland u.a., Stuttgart 1980.
Erasmus, Ausgewählte Schriften
Erasmus v. Rotterdam: Ausgewählte Schriften. Lateinisch und Deutsch. 8 Bde., hrsg. v. Werner Welzig, Darmstadt 1967-1980.
Erfurtische Gelehrte Zeitung
Erfurtische Gelehrte Zeitung. Erfurt 1769-1779 [Zitiert nach: Der junge Goethe in seiner Zeit, CD-ROM].
Fabricius, Bibliotheca graeca
Fabricius, Johann Albert: Bibliotheca graeca. 8. Aufl., Bd. 1, Hamburg [Leipzig] 1790.
Fende, Hohe Lied
Fende, Christian: Das Hohe Lied Salomons. Frankfurt a. M. 1727
Andere Quellen
259
Francke, Manuductio
Francke, August Hermann: Manuductio ad lectionem Scripturae S. una cum Additamentis regulas Hermeneuticas de affectibus, & enarrationes ac introductiones fuccinctas in aliquot epistolas Paulinas complectentibus. 2. Aufl., Halle 1700.
Francke, Nicodemus
Francke, August Hermann: Nicodemus oder Tractätlein von der Menschen-Furcht: Deren Beschreibung, Ursachen, Kennzeichen, Schaden, Bemäntelung, dagegen geordneten Mitteln, und wie zu einem freudigen Glauben zu gelangen, und derselbe weislich und nützlich zu gebrauchen; Zu Pflantzung der wahren Furcht Gottes in allen Ständen heilsam, besonders aber dem Lehr-Stande. 5. Aufl., Halle 1729.
Francke, Praelectiones
Francke, August Hermann: Praelectiones hermeneuticae, ad viam dextre indagandi et exponendi sensum scripturae S. theologiae studiosis ostendendeam, in academia Hallensi. Halle 1723.
Francke, Werke
Francke, August Hermann: Werke in Auswahl. Hrsg. v. Erhard Peschke. Berlin 1969.
Frankfurter Gelehrte Anzeigen
Frankfurter Gelehrte Anzeigen. Frankfurt a. M. 1772-1790.
Fresenius, Antwort
Fresenius, Johann Philip: Vorläufige Antwort, Welche Er denjenigen zu ertheilen pfleget, Die ihn fragen, Ob sie zu der Herrnhutischen Gemeinde übergehen, oder in derselbigen bleiben sollen? 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1746.
Gerstenberg, Eden
Gerstenberg, Jakob Heinrich v. [anonym erschienen]: Eden, das ist, Betrachtungen über das Paradies und die darinnen vorgefallenen Begebenheiten. Frankfurt a. M. 1772.
Gleim, Lieder der Liebe
Gleim, Johann Wilhelm Ludwig: „Lieder der Liebe“. In: ders.: Ausgewählte Werke. Hrsg. v. Walter Hettche, Göttingen 2003, S. 516-525.
Goethe und Lavater
Goethe und Lavater. Briefe und Tagebücher. Hrsg. v. Heinrich Funck, Weimar 1901.
Goeze, Beweis
Goeze, Johann Melchior: Beweis, daß die Bahrdtische Verdeutschung des Neuen Testaments keine Uebersetzung, sondern eine vorsetzliche Verfälschung und frevelhafte Schändung der Worte des lebendigen Gottes sey. Hamburg 1773.
Grimm, Deutsches Wörterbuch
Deutsches Wörterbuch. Begr. v. Jacob u. Wilhelm Grimm, 33 Bde., Leipzig 1854-1971.
Hamann, Briefe
Hamann, Johann Georg: Briefwechsel. 4. Aufl., 7 Bde., hrsg. v. Walther Ziesemer u. Arthur Henkel, Wiesbaden 1955-1979.
Hamann, Werke
Hamann, Johann Georg: Sämtliche Werke. 6 Bde., hrsg. v. Josef Nadler, Wien 1949-1957.
Hanssen, Hohe Lied
Hanssen, Peter: Betrachtungen über das Hohe Lied Salomo. Hamburg 1756.
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Anhang C. Literaturverzeichnis
Herder, Briefe
Herder, Johann Georg: Briefe. Gesamtausgabe 1763-1803. Unter der Leitung v. Karl-Heinz Hahn hrsg. v. der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätte der klassischen deutschen Literatur, 8 Bde., Weimar 1977-1984.
Herder, Frankfurter Ausgabe
Herder, Johann Gottfried: Werke. 10 Bde., hrsg. v. Martin Bollacher u.a., Frankfurt a. M. 1985ff.
Herder, Sämmtliche Werke
Herder, Johann Gottfried: Sämmtliche Werke. 33 Bde., hrsg. v. Bernhard Suphan, Berlin 1877-1913.
Hesse, Dämonologie
Hesse, Otto Justus Basilius [anonym erschienen]: Versuch einer biblischen Dämonologie, oder Untersuchung der Lehre der heil. Schrift vom Teufel und seiner Macht. Mit einer Vorrede und einem Anhang von D. Johann Salomo Semler. Halle 1776 (Photomechanischer Nachdruck, Waltrop 1998).
Hezel, Hohe Lied
Hezel, Wilhelm Friedrich: Neue Uebersetzung und Erklärung des Hohen Liedes Salomons. Leipzig u. Breslau 1777.
Hieronymus, Genus interpretandi
Sophronius Eusebius Hieronymus: „Ad Pammachium de optimo genere interpretandi”. In: ders.: Epistularum pars I. Epistulae I-LXX. Hrsg. v. Isidor Hilberg, Wien u. Leipzig 1910, S. 503-526 (=CSEL 54).
Hollaz, Examen
Hollaz, David: Examen theologicum acroamaticum universam theologiam thetico-polemicam complectens. Stockholm u. Leipzig 1750.
Hommel, Plappereyen
Hommel, Karl Ferdinand: Kleine Plappereyen. Leipzig 1773.
Interlinearbibel
Das Alte Testament. Interlinearübersetzung Hebräisch-Deutsch und Transkription des hebräischen Grundtextes nach der Biblia Hebraica Stuttgartensia 1990. Auf zahlr. Bde. ber., hrsg. v. Rita Maria Steurer, Stuttgart 1989ff.
Jacobi, Hohe Lied
Jacobi, Johann Friedrich: Das durch eine leichte und ungekünstelte Erklärung von seinen Vorwürfen gerettete Hohe Lied; Nebst einem Beweise, daß selbiges für die Zeiten Salomons und seiner Nachfolger sehr lehrreich und heilsam und eines heiligen Dichters würdig gewesen. Celle 1771.
Kayser, Beweis
Kayser, Johann Andreas: Beweiß, daß D. Bahrd die Sprüche Neuen Testaments, so von der Gottheit Christi und des H. Geistes handeln, in seiner Neuen Offenbahrung falsch übersetzt. Frankfurt a. M. u. Leipzig 1775
Klettenberg, Hoheslied
Klettenberg, Susanna Katharina v.: . Nachlaß im Freien Deutschen Hochstift/Frankfurter Goethe-Museum, Nr. 6035.
Andere Quellen
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Klettenberg, Schriften
Klettenberg, Susanna Katharina v.: Die schöne Seele. Bekenntnisse, Schriften und Briefe. Hrsg. v. Heinrich Funck, Leipzig 1911.
Knigge, Schriftsteller
Knigge, Adolph Frhr. v.: Ueber Schriftsteller und Schriftstellerey. Hannover 1793 (Photomechanischer Nachdruck, Leipzig 1977).
Kypke, Observationes
Kypke, Georg David: Observationes sacrae in novi foederis libros. 2 Bde., Bratislava 1755.
Legenda aurea
Jacobus de Voragine: Legenda aurea vulgo historia lombardica dicta. Hrsg. v. Johann Georg Theodor Graesse, 3. Aufl., [Breslau] 1890 (Photomechanischer Nachdruck, Osnabrück 1969).
Lessing, Eclogae
Lessing, Johann Theophil [Gottlieb]: Eclogae regis Salomonis. Leipzig 1777.
Loen, Wahre Religion
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