Herz am Wendepunkt
ANNE HAMPSON
Elizabeth ist begeistert, als ihr der portugiesische Graf Miguel de Castro eine Stell...
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Herz am Wendepunkt
ANNE HAMPSON
Elizabeth ist begeistert, als ihr der portugiesische Graf Miguel de Castro eine Stellung als Gesellschafterin seiner jungen Schwester anbietet. Sie freut sich auf einen wunderschönen Sommer in dem alten Familienschloß in Sintra, nahe bei Lissabon. Doch dann geschieht, was sie nicht gewollt hatte: Sie verliebt sich in Rom in Miguel. Diese Liebe ist nicht nur durch den Standesunterschied so aussichtslos – viel belastender scheint Elizabeth der Schatten, den des Grafen verstorbene Frau über sein Leben wirft und der sich nicht bannen läßt… © by Anne Hampson
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Mills & Boon Limited, London
Deutsche Übersetzung 1974 by KORALLE VERLAG Berlin – Hamburg.
1. KAPITEL Elizabeth Salway zögerte, ehe sie die Tür zum Zimmer der Rektorin öffnete. Automatisch glättete sie das blonde Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel. Die stattliche, ergraute Dame hinter dem Schreibtisch empfing sie mit warmer Herzlichkeit „Setzen Sie sich, Miss Salway.“ Die Stimme klang kultiviert und beherrscht. Miss Crossland war seit elf Jahren Rektorin der Hochschule für Erziehung. Ihre Haltung und ihre Toleranz waren für unzählige Studentinnen ein leuchtendes Vorbild gewesen. Obwohl nach diesem Semester über hundert Studentinnen ihr Abschlußexamen gemacht hatten, verabschiedete sich Miss Crossland von jeder einzelnen. „Ich weiß, daß Sie bei allem Stolz über das bestandene Examen heute doch ein wenig traurig sind“, sagte sie mit leisem Lächeln zu Elizabeth, die ihr gegenübersaß. „Ja, ich bin sehr traurig.“ Das kam spontan und war ehrlich. „Ich würde am liebsten noch einmal von vorn beginnen. Es waren drei wundervolle Jahre, Miss Crossland. Ich möchte Ihnen für alles danken?“ Die Rektorin war sichtlich gerührt. Das Verhältnis zwischen ihr und Elizabeth war vom ersten Tag an ausgezeichnet gewesen. Die erfahrene Pädagogin hatte an dem eifrigen, den Kommilitoninnen oft überlegenen, aber immer kameradschaftlichen Mädchen viel Freude gehabt. Die letzten Worte der Rektorin machten Elizabeth verlegen und stolz: „Ich glaube, jede Schule kann froh sein, Sie als Lehrerin zu gewinnen.“ Damit stand sie auf, und Elizabeth sprang sofort von ihrem Stuhl hoch. Sie nahm die ausgestreckte Hand in ihre. „Noch einmal vielen Dank, Miss Crossland.“ Ihre Stimme schwankte, und sie versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Vorm Hinausgehen schaute sich Elizabeth noch einmal um. Das Bild der verehrten Lehrerin sollte sie ihr Leben lang begleiten! „Wie war’s?“ fragte eine andere Studentin, die vor der Tür wartete, bis sie an der Reihe war. „Es hat mich fast umgeworfen!“ „Sachte! Du tust immer so, als ob du am liebsten dein ganzes Leben lang studieren möchtest.“ „Jedenfalls noch ein Jahr…“ gab Elizabeth zu und machte Susan Platz, so daß sie eintreten konnte. Eine Zeitlang ging Elizabeth mit wehmütigen Gefühlen durch die Räume des Colleges. Sie stand eine Weile in der Bibliothek und dachte an den Beginn ihrer Studienzeit zurück, als sie sich zum erstenmal bewußt geworden war, daß all diese Bücher ihr für drei Jahre zur Verfügung stehen würden. Sie wanderte durch die einzelnen Hörsäle und schaute in einen der Gemeinschaftsräume, wo Studenten in Gruppen beieinandersaßen und schwatzten. Sie waren im ersten oder zweiten Semester. Elizabeth beneidete sie glühend! Die meisten ihrer Freundinnen fand sie schließlich in der Mensa. Sie wurde mit fröhlichen Zurufen empfangen. „Ich hole mir erst meinen Kaffee“, erwiderte sie. Sie ging an die Theke und empfing ihr Kännchen von derselben freundlichen Frau, die ihr am ersten Morgen ihr Frühstück zugereicht hatte, als sie sich noch ganz verlassen und verloren im College fühlte. Elizabeth trug das Tablett zu dem Tisch, um den fünf ihrer Freundinnen saßen. „Ist es nicht trostlos?“ fragte sie. „Unsere Stimmung?“ Doreen Evans lächelte und zuckte mit den Achseln. „Natürlich werden wir wochenlang unser Beisammensein vermissen, all die
gemeinsamen Kümmernisse und Vergnügungen.“ Die anderen nickten. Elizabeth sah sich in dem Kreis um. Diese fünf waren drei Jahre für sie die wichtigsten Menschen gewesen. Mädchen, die sie in den ersten Wochen hier kennengelernt hatte, und mit denen sie nun nur noch Briefe wechseln würde – eine Zeitlang jedenfalls. Denn wenn sie erst alle im Beruf wären, schliefe der Briefwechsel bestimmt allmählich ein. „Wir dürfen niemals die Verbindung aufgeben – nie!“ erklärte Jane Hülse gerade. Sie meinte es ehrlich – wie die anderen auch. Aber keine von ihnen konnte sicher sein, daß sie einander nicht doch aus den Augen verloren. „Warum sind wir eigentlich noch alle hier?“ fragte Jane eine halbe Stunde später. „Nach dem Abschiedsgespräch mit Miss Crossland sind wir doch frei. Warum sind wir nicht längst auf und davon?“ „Weil uns diese letzten gemeinsamen Stunden zu kostbar sind“, entgegnete Elizabeth aus vollem Herzen, und wieder stimmten ihr die anderen zu. Aber schließlich erhoben sie sich doch und verließen die Mensa. Zum letztenmal würden sie die Nacht im College verbringen. Nur der Abschiedsgottesdienst am nächsten Morgen in der Universitätskapelle führte sie dann noch einmal alle zusammen. Elizabeth ging mit Doreen und Jane, deren Zimmer neben dem ihren lagen, zu dem Wohnhaus hinüber, als einer der Studienleiter ihren Weg kreuzte. „Leben Sie wohl, und viel Glück für Sie alle“, sagte er. Danach, mit einem Blick auf Elizabeth, fuhr er in weniger feierlichem Ton fort: „Haben Sie aufs Schwarze Brett geachtet?“ Elizabeth schüttelte den Kopf. Die Anschläge dort interessierten am letzten Tag niemanden mehr. „Ist eine Nachricht für mich angeschlagen?“ „Ja. Von Mr. Kershawe“, antwortete der Lehrer. „Er möchte Sie sprechen.“ „Vielen Dank, Mr. Yates.“ Elizabeth war beunruhigt. Denn Mister Kershawe, der Mathematikprofessor, war der einzige aus dem ganzen College, der ihr restlos unsympathisch war. Sie hatte seine Vorlesungen nur während des ersten Jahres besuchen müssen, und sie war sehr zufrieden gewesen, daß sie die letzten beiden Jahre nicht mehr in seinen Hörsaal zu gehen brauchte. Trotzdem kreuzten sich ihre Wege immer wieder, da Mr. Kershawe es darauf anzulegen schien. Ihre Freundinnen hatten ihr sogar vorgeworfen, sie betrage sich herzlos gegen ihn. Elizabeth blieb stehen, unentschlossen, ob sie sich um Mr. Kershawes Notiz kümmern sollte oder nicht Sie hatte keine Lust, sich noch einmal seine versteckten Schmeicheleien und Liebesbeteuerungen anzuhören. Bisher hatte sie es nicht gewagt, seine plumpen Annäherungsversuche mit Entschiedenheit zurückzuweisen – schließlich war er ein Professor und sie eine kleine Studentin! Sie hatte ihren Freundinnen auch nie erzählt wie weit sich Mr. Kershawe oft vorgewagt hatte… „Wenn ich doch nur schon fortgegangen wäre, bevor Mr. Yates mich erwischte“, sagte sie zu den anderen. „Am liebsten würde ich einfach nicht hingehen!“ Die anderen lachten. „Wahrscheinlich wird er dir einen Antrag machen“, spöttelte Jane und erhielt als Antwort nur einen wütenden Blick. „Aber du mußt zu ihm“, meinte Doreen sachlich, „denn Mr. Yates wird womöglich erwähnen, daß er dir Bescheid gesagt hat.“ Mit düsterer Miene winkte Elizabeth ihren Freundinnen einen Abschiedsgruß zu und machte sich auf den Weg. Wenig später betrat sie Terry Kershawes Zimmer und ertrug den unverschämten Blick, mit dem er sie von Kopf bis Fuß musterte, mit schlecht verhüllter
Ungeduld. Aber er ließ sie wie stets erst einmal zappeln. „Würden Sie mir bitte sagen, was Sie von mir wollen?“ fragte sie schließlich kühl. „Ich habe heute nachmittag noch einiges zu erledigen.“ Seine Augen glitzerten. Fischaugen, hatte Elizabeth bei der ersten Begegnung verächtlich gedacht – kalte, ausdruckslose Augen, die zu eng beieinanderstanden. Aber die dünnen, irgendwie grausamen Lippen paßten dazu. „Nun ja, jetzt, da Sie uns verlassen, können Sie diesen Ton mir gegenüber anschlagen.“ Seine Stimme klang aber nicht beleidigt, sondern triumphierend. Elizabeth fühlte eine unklare Angst in sich aufsteigen. Dennoch war sie auf seine nächsten Worte nicht im geringsten vorbereitet. „Es dürfte Sie doch wohl interessieren, daß ich Ihr erster Schuldirektor sein werde.“ „Mein Direktor?“ Sie starrte ihn ungläubig an. „Sie verlassen die Universität?“ Die dünnen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Er genoß offensichtlich ihre Verwirrung. „Sie haben sich doch an die AshfordParkSchule nach Manchester verpflichtet. Da werden Sie wohl gehört haben, daß der alte Direktor im nächsten Monat in den Ruhestand tritt, also im Juli…“ „Natürlich“, warf sie ein. „Bei meiner Besprechung in der Schulbehörde wurde ich davon unterrichtet.“ „Also, Elizabeth, ich bewarb mich um den Posten und bekam ihn. So brauchen wir nicht endgültig Abschied zu nehmen. Im September, wenn Sie als Lehrerin beginnen, werde ich auch an Ihrer Schule anfangen!“ Elizabeth konnte die Erinnerung an die Unterhaltung mit dem widerlichen Mr. Kershawe nicht abschütteln. Auch während des Abschiedsgottesdienstes am nächsten Morgen mußte sie immer wieder daran denken. Ausgerechnet er sollte ihr erster Schulleiter sein! Das bedeutete natürlich, daß ihr Probejahr ausgesprochen schwierig werden würde. Nach zwölf Monaten könnte sie zwar die ParkSchule verlassen und sich eine andere Stelle suchen. Aber bis dahin wäre ihr Leben alles andere als erfreulich. „Sie können ebensogut gleich einwilligen, daß Sie mich heiraten“, hatte er gesagt, als sie gestern sein Zimmer verlassen wollte. „Sie werden diesem Schicksal doch nicht entgehen. Schon beim erstenmal, als ich Sie sah… vor mir im Hörsaal, so jung und unschuldig, achtzehn waren Sie damals, aber Sie sahen viel jünger aus… also da wußte ich gleich, meine Liebe, daß wir zueinander gehören.“ Als sie das College verließ, atmete sie so befreit die benzingetränkte Stadtluft ein, als sei sie rein und frisch. Mr. Terry Kershawe hatte sie von dem gefürchteten Heimweh nach dem College kuriert – und sie haßte ihn deswegen nur noch mehr. Der Gedanke an ihn beunruhigte sie noch immer, als sie am Montagmorgen das international bekannte SherbourneHotel betrat, in dem sie bis Mitte August einen Zeitjob übernommen hatte. Sie meldete sich beim zweiten Direktor. „Wohnen Sie in der Nähe?“ fragte er, nachdem er den leichten weißen Regenmantel von ihren Schultern genommen und das schlichte schwarze Leinenkleid gemustert hatte. Ein kleiner, runder, weißer Kragen schloß es am Hals ab. Das lange Haar hatte sie brav mit einem schwarzen Samtbändchen im Nacken zusammengebunden. „Ich komme aus Manchester“, erzählte sie. „Warum wollen Sie als Stubenmädchen bei uns arbeiten?“ „Ich wollte in den Semesterferien Geld verdienen und hörte, daß Sie Studenten
beschäftigen.“ Sie sah ihn beunruhigt an. „Ich habe das mit einem anderen Herrn abgesprochen – damals waren Sie in Urlaub, hörte ich.“ „Ich wurde davon informiert. Sie werden im September Ihre erste Stellung antreten?“ „Ja.“ „Dann werden Sie ungefähr sieben Wochen bei uns bleiben.“ Elizabeth schüttelte den Kopf. „Nur sechs. Denn eine Woche möchte ich mit einer Freundin Urlaub machen. Sie ist Krankenschwester. In diesem Jahr können wir es noch gut einrichten, miteinander zu verreisen.“ „Ihre Freundin ist Krankenschwester? Meine Schwester auch, sie arbeitet im MiddlesexHospital.“ „June ist in einer privaten Frauenklinik angestellt.“ Sie nannte den Namen, und seine Miene verriet, daß er beeindruckt war. „Die kostspieligste und wohl auch exklusivste Klinik in London“, sagte er. „Das erzählte sie mir. June ist schrecklich gern dort. Wir sind Schulfreundinnen“, erklärte Elizabeth unbefangen. Ob der junge Mann zu allen Angestellten so freundlich war und sich für jede soviel Zeit nahm? „Gut, Miss Salway, nun haben wir uns ein bißchen kennengelernt, und ich übergebe Sie jetzt an unsere Hausdame. Ihr untersteht das weibliche Personal. Sie wird Ihnen die Zimmer zuweisen, die Sie zu betreuen haben.“ Er klingelte. Während sie gemeinsam auf die Hausdame warteten, wagte Elizabeth die neugierige Frage, ob zur Zeit irgendwelche Berühmtheiten im Hotel abgestiegen seien. „Bei uns wohnen immer Prominente“, wurde sie in etwas herablassendem Ton belehrt. „Sie haben natürlich die Luxusapartments. Augenblicklich“, fuhr der junge Mann fort, „ist die blaugoldene Suite – das sind unsere ,Fürstenzimmer’ – von dem Grafen Ramiro Vicente Miguel de Castro gemietet. Ein sehr vornehmer Portugiese!“ „Macht er hier Ferien?“ fragte Elizabeth und dachte etwas belustigt, ob sie diesen Hotelgast wohl mit seinem ellenlangen Namen anreden müßte, wenn sie ihm einmal begegnen sollte. „Ob er Urlaub macht, wissen wir nicht. Er ist allein hier und spricht nur das unumgänglich Nötigste.“ Elizabeth sah den Grafen schon am nächsten Tag. Ihr waren die Zimmer angewiesen, die sich an seine Suite anschlossen. Als sie, mit Staubsauger und Staubtuch bewaffnet, die Tür zu einem der Räume aufschließen wollte, sah sie ihn aus dem Lift treten. Er blickte sie einen Augenblick mit ungeteilter Aufmerksamkeit an. Dann verschloß sich seine Miene, und er ging an ihr vorüber. Elizabeth schaute ihm nach, bis er in der kleinen, gewölbten Nische verschwunden war, die den Eingang zu seinen Räumen bildete. Was für ein faszinierender Mann, dachte sie traumverloren. Ein richtiger Charakterkopf, wenn seine Züge auch viel Selbstsicherheit und ein wenig Hochmut verrieten… Dieser eine kurze Blick auf seine hohe, schlanke Gestalt, in das dunkle, herrische Gesicht hatte genügt, um zum erstenmal im Leben schwärmerische Gefühle in ihr wachzurufen. Sie hatte sich jede Einzelheit eingeprägt: die braune, glatte Haut, die sich straff über die etwas zu hohen Wangenknochen spannte; der schön geschwungene Mund, wenn die Lippen auch ein wenig zu fest aufeinandergepreßt waren. Die Augen hatten sie durchdringend angeblickt, eine Sekunde später waren sie so kalt wie graues Metall. Die Erscheinung dieses Mannes bot das Bild einer starken, selbstbewußten Persönlichkeit. Und doch hatte Elizabeth den Eindruck, daß er von irgend etwas tief getroffen war.
Sie grübelte darüber nach, während sie mechanisch ihre Arbeit verrichtete. Lag es an der Art, wie er sie einen Augenblick lang angesehen hatte? Angesehen mit einem Ausdruck, der für den Bruchteil einer Sekunde Kummer, sogar Schmerz verriet… Und dabei schien es ihr nachträglich, als ob er sie gar nicht richtig gesehen hätte, als wären seine Gedanken ganz woanders gewesen… „Miss Webber“, sagte sie abends um sechs Uhr zu der Hausdame, „darf ich gehen, wenn meine Arbeit fertig ist?“ Die Hausdame sah von ihrer Wäscheliste auf, angenehm überrascht von dieser höflichen Bitte. „Aber natürlich. Wurde Ihnen das nicht bei Ihrer Einstellung gesagt?“ „Nein.“ Elizabeth zögerte. „Muß ich bis zu einer bestimmten Zeit zurück sein?“ „Sind sie zu einer Party eingeladen?“ Elizabeth schüttelte den Kopf. Sie erzählte Miss Webber, daß ihre Freundin, eine Krankenschwester, sie am Nachmittag angerufen habe. „Sie hat heute Spätdienst, und ich kann ein bißchen mit ihr zusammensitzen, da sie normalerweise nie viel zu tun hat“, schloß sie. „Für den Weg in die Klinik brauchen Sie ja allerlei Zeit“, meinte Miss Webber freundlich. „Natürlich können Sie so spät zurückkommen, wie Sie wollen. Viel Spaß!“ Die Privatklinik lag in einem riesigen Park. Haus und Grundbesitz hatten jahrhundertelang einer bekannten adeligen Familie gehört. Elizabeth wußte von June, daß Arzthonorare und Pflegekosten sehr hoch waren, so daß nur reiche Patientinnen sich die Behandlung leisten konnten. „Es ist so schön, dich endlich einmal wiederzusehen“, sagte June ganz gerührt, als Elizabeth zu ihr geführt worden war. „Komm, laß uns in unseren Aufenthaltsraum gehen. Es sind im Moment mehr Schwestern da, als wirklich benötigt werden. Darum kann sich jede mal Zeit nehmen, wenn Besuch kommt. Die anderen springen schon ein.“ Sie legte im Gehen den Arm um Elizabeths Schultern und erzählte vergnügt weiter: „Auch während der Nachtwache habe ich kaum etwas zu tun. Die meisten Patenten geben Ruhe, wenn sie ihren Schlaftrunk bekommen haben. Dann sehen sie noch ein bißchen fern oder lesen, aber sie rufen fast nie mehr nach der Schwester.“ Inzwischen hatten sie den Wohnraum der Pflegerinnen erreicht. Elizabeth sah sich erstaunt um. Der Raum war so elegant und geschmackvoll tapeziert und eingerichtet, daß er jeder Privatvilla zur Ehre gereicht hätte. „Das ist ja wunderhübsch bei euch“, sagte sie zu June, als sie beide an einem kleinen, polierten Tischchen Platz genommen hatten, der direkt vor dem großen, französischen Fenster stand. „In diesem Haus ist alles schön und luxuriös – und ich liebe nun einmal den Luxus, auch wenn ich ihn sozusagen, nur aus zweiter Hand genieße.“ Junes große, blaue Augen lachten vergnügt. „Aber dir kann es doch im Sherbourne Hotel auch nicht schlecht gehen! Da ist es doch noch viel eleganter als bei uns. Du mußt mir von euren prominenten Gästen erzählen… Aber erst will ich uns Kaffee holen. Oder möchtest du lieber Tee?“ „Kaffee wäre mir lieber, danke, June.“ „Gut, es dauert nur eine Sekunde.“ June drehte sich in der Tür noch einmal um. „Ich habe dir ja noch gar nicht zu der bestandenen Prüfung gratuliert! Bist du nicht sehr stolz, daß du es so glatt geschafft hast, Frau Lehrerin?“ Elizabeth lachte. „Lehrerin ist noch etwas verfrüht – ich fange ja erst im September an. Habe ich dir das nicht geschrieben?“
June nickte, ging hinaus und kam kurz darauf mit einem Tablett zurück. „So, nun erzähl mir, welche Berühmtheiten du schon kennengelernt hast“, begann sie neugierig, während sie Kaffee einschenkte. „Ich lese immer, welche Filmstars im Sherbourne abgestiegen sind. Ich weiß, jetzt ist ein portugiesischer Graf dort.“ „Woher weißt du das?“ unterbrach sie Elizabeth. Junes Zögern verriet, daß sie um eine Antwort verlegen war. „Es ist alles ganz geheim“, sagte sie endlich. „Aber dir kann ich es wohl verraten. Bitte, du darfst es aber nicht weitererzählen: Seine Schwester liegt bei uns. Sie bekommt ein Baby!“ June sprach den letzten Satz in einem dramatischen Flüsterton, über den Elizabeth lächeln mußte. Sie begriff nicht ganz, warum diese natürlichste Sache von der Welt eine solche Sensation war. „Ich habe mich schon gewundert, was der Graf so allein in London macht. Irgend jemand im Hotel erzählte mir, daß er nur morgens für zwei, drei Stunden das Hotel verläßt und dann am Abend noch einmal.“ June nickte und sagte, daß er vermutlich jeden Augenblick hier eintreffen würde. „Dona Carlota ist gerade siebzehn geworden.“ Dann nahm ihre Stimme einen Klang an, der verriet, wie sehr die kleine romantische Person diese aufregende Angelegenheit genoß: „Und sie ist nicht verheiratet!“ „Unverheiratet?“ Sofort stand Elizabeth wieder das Bild des Grafen vor Augen, der ihr heute morgen beim ersten Sehen den Eindruck eines tief verletzten Mannes gemacht hatte. „Wie schrecklich – besonders für eine so vornehme, alte Familie“, sagte sie mitleidig. Wieder nickte June bedeutungsvoll. Sie wandte sich ab, um nach dem Kaffeekännchen zu greifen. Elizabeth sah Junes Profil mit der lustigen Stupsnase deutlich in dem fast bis zum Boden reichenden Fensterglas widergespiegelt. Die Vorhänge waren weit zurückgezogen, und das Licht aus dem Raum fiel auf den kiesbestreuten Vorplatz. Fast unhörbar fuhr gerade ein Wagen vor. Er hielt genau in Elizabeths Blickfeld. Ein Mann stieg aus, schloß die Autotür und schaute einen Augenblick direkt in Elizabeths Augen. Er hatte sie wiedererkannt, das spürte sie mit einem prickelnden Erstaunen an der Art, wie er sich nur zögernd abwandte und schließlich zur Haustür ging. „Er ist einfach großartig“, murmelte sie und blickte immer noch auf den Platz, wo er gestanden hatte. „Wir tauften ihn den König von Portugal“, warf June mit einer fröhlichen Grimasse ein und reichte ihr die volle Kaffeetasse. „Das Unglück seiner Schwester hat ihm nichts von seinem großartigen Gehabe genommen!“ „Ich finde schon, daß er bekümmert aussieht. Gleich heute morgen fiel mir das auf. Wie ist denn seine Schwester?“ „Umwerfend hübsch“, antwortete June spontan. „Ich möchte wissen, was ihr Bruder gesagt hat, als er es erfuhr. Ich wette, sie hat viele Wochen entsetzlich leiden müssen. Er hat sie natürlich hierhergebracht, damit alles geheim bleibt.“ „Wie kann so etwas verborgen bleiben?“ Elizabeth schüttelte den Kopf. „Wenn er sie erst vor kurzem hier eingeliefert hat.“ „Nein, sie hat mir selbst erzählt, daß sie die letzten sechs Monate bei einer Tante gelebt hat, auf einer der vielen Besitzungen ihres Bruders. Im Süden, wo seine Korkplantagen liegen“, berichtete June eifrig, die Kaffeetasse in der Hand, ohne daß sie sich die Zeit nahm, zu trinken. „Aber siehst du, es ist doch bei allen dasselbe, ob Gräfin oder kleine Angestellte – jede kann einer Versuchung erliegen…“
„Eigentlich sollte man denken, daß ihre Eltern sie ständig behütet hätten.“
„Die Eltern sind tot. Ihr Bruder nahm ihre Stelle ein“, erklärte June. Elizabeths
nächster Frage zuvorkommend, fügte sie hinzu: „Niemand von uns weiß mehr als
diese wenigen Tatsachen. Und wir sind strikt angewiesen, nicht darüber zu
sprechen. Aber wir alle malen uns natürlich die unwahrscheinlichsten Dinge aus,
die die Kleine erlebt hat.“
Elizabeth blickte verloren vor sich hin. „Ich finde alles schrecklich traurig. Wann
wird denn das Baby kommen?“
„In den nächsten Stunden.“
Elizabeth erschrak, obwohl sie sich im selben Moment schalt, daß sie an dem
Schicksal eines gänzlich fremden Mädchens so starken Anteil nahm. Das war ihr
noch nie passiert. Jedenfalls hatte die bloße Erzählung eines fremden Schicksals
noch niemals so heftige Gefühle in ihr erregt.
Sie sahen den Conde wieder hinausgehen. Zu ihrer Überraschung fragte June sie,
ob sie die junge Portugiesin einmal sehen wollte. Aufgeregt sagte Elizabeth ja.
„Ich bringe ihr noch die letzte Medizin am Abend. Sie muß ein Stärkungs und
Beruhigungsmittel einnehmen. Du kannst dir ja vorstellen, daß sie ziemlich am
Ende ihrer Kräfte ist, wenig ißt und schläft. Du kannst also mit mir kommen und
beim Bettenmachen helfen. Daran ist nichts Ungewöhnliches, wir machen es oft
zu zweit. Sie wird denken, daß du vielleicht bis heute frei hattest.“
„Aber ich trage doch keine Schwesterntracht.“
„Darauf wird sie kaum achten.“
„Und was ist mit dem Arzt?“
„Doktor Harrington? Er ist schon oben in seiner Wohnung. Er kommt nie
herunter, wenn er nicht gerufen wird“, erklärte June bestimmt.
Der Raum war das luxuriöseste Krankenzimmer, das man sich vorstellen konnte.
Die junge Patientin lehnte blaß und niedergedrückt an der Rückwand des Bettes.
Ein Buch lag aufgeschlagen auf der Decke, von einer überaus langen, schmalen
Hand gehalten. Die dunkelbraunen Augen starrten auf einen unsichtbaren Punkt.
Aber als June und Elizabeth eintraten, wandte Dona Carlota ihnen das Gesicht zu,
wenn auch ohne Interesse oder Verwunderung zu zeigen. Daß jemand June
begleitete, der fremd war, schien sie nicht wahrzunehmen.
Eine ganze Weile blieb Elizabeth unschlüssig an der Tür stehen. Sie biß sich
nervös auf die Lippen. Ängstlich bemühte sie sich, die Erschütterung zu
verbergen, die sie beim Anblick des blutjungen, schwarzhaarigen Mädchens
befiel, das so entsetzlich hilflos wirkte.
„Dona Carlota“, hörte sie June freundlich sagen, „ich bringe Ihnen die Medizin.“
„Danke.“ Ein fremdartiger Akzent, kaum wahrnehmbar, eine sanfte höfliche
Stimme mit einem kindlichen Tonfall. Eine ausgestreckte Hand nahm das Glas
und reichte es wieder zurück. Elizabeth konnte dies alles unbemerkt beobachten.
Erst als sie June half, das Laken zu glätten, schaute die kleine Portugiesin sie
zum erstenmal richtig an.
„Sind Sie neu hier?“ fragte sie. Automatisch schüttelte Elizabeth den Kopf. June
blickte überrascht auf, doch dann wurde sie durch ein leises Klingeln abgelenkt,
das durch die offenstehende Tür drang. Mit einem flüchtigen „Entschuldigen Sie“
huschte sie zu einer anderen Patientin hinaus.
„Wie heißen Sie?“ erkundigte sich Dona Carlota. Elizabeth hatte den Eindruck,
daß es ihr schwerfiel, die ihr vom Bruder auferlegte Zurückhaltung dem
Klinikpersonal gegenüber zu bewahren. Mit dem ihr angeborenen
Einfühlungsvermögen, durch das Elizabeth stets das Vertrauen der Menschen
gewann, spürte sie, daß Carlota normalerweise auch Fremden gegenüber eher
zutraulich war.
Sie nannte ihren Namen. „Elizabeth ist ein hübscher Name“, rief Carlota lebhafter. Danach entstand ein etwas verlegenes Schweigen, das Elizabeth durch geschäftiges Schütteln des Kopfkissens und der Decke überspielte. Carlota schien froh zu sein, noch nicht allein bleiben zu müssen, denn sie begann die Unterhaltung von neuem. „Sind Sie verheiratet?“ „Nein“, sagte Elizabeth und erzählte, daß sie gerade ihre Prüfung bestanden habe und ab September unterrichten würde. „Ach so… Dann sind Sie gar nicht hier beschäftigt.“ Es klang enttäuscht. „Nein. Ich bin mit Schwester June befreundet und wollte ihr heute abend Gesellschaft leisten.“ Wieder gab es eine Pause. Dann überwand Carlota ihre Scheu, blickte Elizabeth mit großen Augen an und fragte: „Sie haben wohl noch kein Baby gehabt, oder doch?“ „Nein, noch nicht“, antwortete Elizabeth gerührt. Diesmal zögerte Carlota nur einen Augenblick. Dann sagte sie tapfer: „Wissen Sie, daß ich nicht verheiratet bin?“ Elizabeth wandte sich ab, ging in ihrer Verlegenheit zum Fenster und zog die Vorhänge zu. Doch Dona Carlota wiederholte in etwas lauterem Ton ihre Frage. Elizabeth mußte antworten. „Ja, Dona Carlota. Ich weiß es.“ Die Kleine drehte sich um und legte eine Hand über die Augen. Elizabeth konnte die Tränen sehen, die langsam hinabtropften. „Ich darf nicht mit Ihnen sprechen – mit niemandem“, heulte Carlota. Sie wischte sich mit der einen Hand die Tränen ab, mit der anderen Hand suchte sie unter dem Kopfkissen nach dem Taschentuch. „Mein Bruder wird zornig, wenn er es erfährt.“ „Er erfährt es doch nicht, meine Liebe. Deshalb brauchen Sie sich darüber auch keine Sorgen zu machen.“ „Ich habe solche Angst, wissen Sie. Solche Angst.“ Zu Elizabeths Bestürzung fing die Kleine fast hysterisch zu schluchzen an. „Wenn Sie ein Baby gehabt hätten, könnte ich Sie danach fragen, und Sie würden mir erzählen, wie es war… Ich wagte nicht einmal, meine Tante zu fragen. Sie ist schon alt, und sie war so empört über mich.“ Die Tränen stürzten ihr aus den Augen. Elizabeth trat ans Bett, wand das zerknüllte Taschentuch aus den zusammengepreßten Fingern und tupfte ihr die Wangen ab. „Weinen Sie doch nicht… bitte nicht Sie sind hier in den besten Händen. Es wird bestimmt keine Komplikationen geben. Sie können ganz ruhig sein.“ Fast schmerzhaft war das Mitgefühl, das Elizabeth bei der Vorstellung empfand, wie einsam dieses Kind war. Abgeschoben zu einer puritanisch strengen Tante, vor allen Augen versteckt. Unterdessen erzählte ihr Bruder wahrscheinlich überall, daß sie sich in der Stille auf dem Lande von einer Krankheit erholte. Vielleicht hatte er sogar die Ausrede gebraucht der Arzt hätte diesen Landauf enthalt verordnet. Plötzlich flammte Zorn in ihr auf. Eine ganz unbegründete Wut auf diesen Bruder, der so wenig menschliches Mitgefühl für seine Schwester aufbrachte. Es war bestimmt der erste große Fehler, den dieses Kind begangen hatte. Ein tragischer Fehler, unter dem sie selbst am meisten litt. Daß Carlota nicht triebhaft war und sich selbst fallen ließ, verriet der klare, offene Blick ihrer Augen, das ganze zarte,
feingezeichnete Gesicht. Ohne an die Anordnung des Bruders zu denken, sagte
Elizabeth impulsiv: „Möchten Sie mit mir darüber sprechen, Carlota? Ich bin eine
ganz Fremde für Sie, und wir werden uns wohl nie wiedersehen. Sie brauchen
also keine Angst zu haben. Erzählen Sie es mir, wenn Sie es möchten.“
Sie schwieg abwartend und lächelte Carlota besänftigend an. Die Tränen
begannen zu trocknen.
„Aber sprechen Sie nur, wenn Sie es wirklich wollen“, sagte sie mit Nachdruck.
„Sie haben mein Versprechen, daß kein Wort über meine Lippen kommen wird,
nicht einmal zu Schwester June.“
Erleichtert sah Elizabeth, wie das verweinte Gesicht sich aufhellte. Ein Lächeln
glitt zaghaft um den hübsch geschwungenen Mund. Mit einem letzten
Aufschluchzen steckte Carlota das nasse Taschentuch wieder unter das
Kopfkissen.
„Wir sind eine der alten vornehmen Familien in Portugal“, begann sie und zählte
mit kindlichem Stolz ihres Bruders Titel auf. „Aber niemand redet ihn so an. Zu
Hause nennen Sie ihn Dom Miguel.“
Elizabeth dachte einen Moment daran, sie zu unterbrechen und ihr zu beichten,
daß sie ihrem Bruder schon begegnet war. Aber dann entschied sie sich dagegen.
Bestimmt würde Carlota ihr nichts mehr erzählen. Doch Elizabeth war überzeugt,
daß es ihr guttun würde, wenn sie sich alles von der Seele redete, gerade jetzt,
vor ihrer schweren Stunde, vor der sie solche Angst hatte. Hoffentlich wurde
June noch länger aufgehalten!
„Wir leben in unserem Palacio in Sintra“, fuhr Carlota mit ganz natürlicher
Stimme fort. „Es ist nur eines der de Castros’schen Häuser. Aber wir sind am
liebsten dort. Es ist so schön. Es liegt ganz oben auf einem grünen Hügel,
umgeben von einem riesigen Park.“ Sie unterbrach sich und wurde ein bißchen
rot. „Es ist nicht recht von mir, Ihnen von all unseren Besitzungen zu sprechen.
So etwas nennen Sie in Ihrem Land, glaube ich, Angabe…“
Elizabeth lächelte und versicherte ihr, daß sie es nicht als Prahlerei auffaßte. Im
Gegenteil, es interessiere sie wirklich, wie es bei Carlota zu Hause aussehe.
Carlota erzählte weiter: von der Schönheit des Schlosses, das ein gepflegter
Garten umgab, mit Statuen, kleinen Teichen und Springbrunnen; mit Zitronen
und Orangenbäumen; mit Gartenpavillons, von sorgfältig gestutzten Hecken
umgeben. Dort, sagte Carlota, hätte sie am liebsten im Sommer gesessen,
gelesen oder einfach den prächtigen Pfauen und wilden Vögeln zugeschaut, die
den Park bevölkerten.
„Dieses Schloß und alle anderen Besitzungen erbte mein Bruder, als unsere
Eltern bei einem Autounfall in Frankreich ums Leben kamen. Ich war noch klein,
wissen Sie. Von da an behütete mich mein Bruder, weil wir keine nahen
Verwandten hatten, die mich erziehen konnten.“
Ihre Stimme veränderte sich, als sie stockend fortfuhr: „Ich… dann traf ich
jemanden… ich verliebte mich…“
Elizabeth war darauf gefaßt, daß es dem Mädchen schwerfallen würde, diesen
Teil ihrer Geschichte zu erzählen. Sie wunderte sich nicht, daß Carlota noch
blasser wurde. Am liebsten hätte sie sie in die Arme genommen.
„Ich dachte, wir würden heiraten. Aber Lourenco… er war kein guter Mensch. Er
ging fort.“
Elizabeth stand neben dem Bett und horchte auf. Ihr war, als höre sie Stimmen.
Hastig trat sie ein paar Schritte zurück. Sie wollte nicht, daß June Carlota
überraschte, wie sie ihre Geschichte erzählte. Es durfte niemand auch nur
vermuten, daß Carlota ihr alles anvertraut hatte. Aber die Stimmen verstummten
wieder, und Elizabeth ging zu dem Mädchen zurück.
„Wie kam es denn, Carlota, daß sie mit Lourenco ausgehen durften? Ich habe immer geglaubt, daß die portugiesischen Mädchen ebenso wie die spanischen streng behütet werden – besonders in einer Familie wie der Ihren.“ „Ja, das stimmt. Mein Bruder hätte es mir auch nie erlaubt. Aber er besitzt ja noch andere Güter, bei uns heißen sie Quintas. Dort muß er natürlich manchmal nach dem Rechten sehen. Und während seiner Abwesenheit bin ich mit Lourenco ausgegangen. Ich war doch so allein.“ Sie stöhnte leise und hielt inne. Erschrocken starrte sie zur Tür. Sie war weit offen. Dort stand ihr Bruder. Seine Augen funkelten zornig, während er eindringlich von Carlota zu Elizabeth blickte. „Was tun Sie hier?“ forschte er herrisch, ging auf das Bett zu und stellte sich wie zum Schut2 vor seine Schwester. „Wer sind Sie überhaupt?“ Verdutzt blickte Elizabeth ihn an. Sie war völlig überrascht von dem unerwarteten Auftauchen des Conde, der das Haus doch offensichtlich vor einer halben Stunde verlassen hatte. Blitzschnell überlegte sie, wieviel er mitangehört haben konnte, da die Tür offen geblieben war. Schließlich hatte sie sich gefaßt und erklärte: „Ich bin eine Freundin von Schwester June.“ Doch schon packte sie neue Angst: daß er June bei ihren Vorgesetzten melden könnte, weil sie eine Fremde in Carlotas Zimmer gelassen hatte. „Ich habe Sie doch in meinem Hotel gesehen?“ „Ich arbeite dort.“ „Sie arbeiten im Sherbourne?“ Carlotas Frage klang schrill vor Entsetzen. „Wie konnten Sie mich so belügen?“ Tränen schossen ihr in die Augen. „Ich habe geglaubt, daß Sie Lehrerin sind… und nun arbeiten Sie – “ Sie brach erregt ab und starrte Elizabeth an. „Sie arbeiten im Hotel meines Bruders!“ „Aber nur für einige Wochen, in meinen Ferien.“ Elizabeth versuchte verzweifelt, sich gegen den Vorwurf der Täuschung zu wehren. „Ich wollte Sie wirklich nicht anlügen, glauben Sie mir.“ Ihr Ton war so flehend und aufrichtig, daß Carlota sich beruhigte. Aber Elizabeth bemerkte, daß der Conde sie prüfend ansah. Als sie seinem Blick standhielt, las sie aus seinem Gesichtsausdruck, daß er wohl das meiste von Carlotas Geständnis gehört hatte. Ihre Angst um Carlota wuchs. Doch dann sagte sie sich, daß er in diesen entscheidenden schweren Stunden unmöglich unfreundlich zu seiner Schwester sein würde. Trotzdem machte sie den Versuch, Carlota zu verteidigen. Sie wollte seinen Zorn lieber auf sich selbst ziehen. „Sir, Ihre Schwester war so allein, und zufällig kam ich, eine völlig Fremde. Ich sagte ihr, daß sie mir vertrauen und mir ihr Herz ausschütten könnte.“ Groß, mit einem offenen Blick sah sie ihn an. „Bitte, seien Sie nicht böse, Sir. Was Ihre Schwester mir anvertraut hat, wird niemand erfahren. Sie haben mein Wort darauf!“ Eine Weile schwiegen alle drei. Elizabeth bemerkte, daß Carlota ihren Bruder gequält anschaute. Sie schien sich wie ein Kind vor seinem Zorn zu fürchten. Elizabeth ärgerte sich plötzlich über diesen selbstbewußten, hochfahrenden Mann. Doch als er schließlich nach einer langen Pause sprach, klang statt der erwarteten Härte nur kühle Abwehr aus seiner Stimme. „Senhorita, Sie brauchen meine Schwester nicht vor mir in Schutz zu nehmen. Sie weiß selbst, daß sie meine Vorwürfe leider verdient. Sie hat meiner strikten, begründeten Anweisung zuwidergehandelt. Durch ihr allzu impulsives Vertrauen hat sie zuviel von sich selbst preisgegeben. Ich habe meine Gründe, indiskrete
Fragen oder intime Gespräche zu verbieten.“ Er schwieg. Doch der durchdringende Blick der kühlen grauen Augen ließ Elizabeth nicht los. Was für ein überheblicher, selbstgerechter Mensch, dachte sie wütend. Trotzdem imponierte er ihr auch in diesem Augenblick durch die Sicherheit und angeborene Eleganz, mit der er sich bewegte und sprach. Schließlich hatte er Carlota Vater und Mutter ersetzen müssen, überlegte sie, ihn unwillkürlich verteidigend. Die Verantwortung mußte jetzt schwer auf ihm lasten! „Erklären Sie mir bitte, was Sie in diesem Raum zu suchen hatten, ich warte…“ Bei dem Gedanken an June klopfte Elizabeths Herz wieder wie wild. „Ich habe meine Freundin besucht – abends bin ich ja frei. Schwester June wollte Dona Carlota für die Nacht zurechtmachen und ihr Medizin bringen, da bin ich mit ihr gegangen.“ „Hatten Sie einen besonderen Grund, Senhorita?“ Sie starrte ihn verständnislos an. „Natürlich nicht. Ich verstehe nicht, was Sie meinen.“ Die dichten schwarzen Augenbrauen hoben sich leicht. Dom Miguels Blick richtete sich auf seine Schwester. Er sah sie eine Weile schweigend an. Dann bedeutete er Elizabeth mit einer Handbewegung, den Raum zu verlassen. „Aber warten Sie bitte draußen“, setzte er hinzu. „Sir… Conde… Ich meine – “ Unter seinem forschenden Blick errötete sie dunkel und gab es auf. Wie sollte sie ihn überhaupt anreden? Wenn sie Dom Miguel zu ihm sagte, wüßte er mit absoluter Sicherheit, daß seine Schwester auch von ihm erzählt hatte. Denn anfangs konnte er bestimmt noch nicht in der Tür gestanden haben. „Warten Sie auf mich“, wiederholte er und wandte ihr den Rücken zu.
2. KAPITEL June wurde blaß, als sie zurückkam und Elizabeth dicht neben der Tür zu Carlotas
Zimmer warten sah.
„Ihr Bruder ist noch einmal gekommen“, flüsterte sie. „War er wütend, daß er
dich in ihrem Zimmer fand?“
„Und wie! Er hat mir gesagt, ich sollte hier auf ihn warten.“
„Großer Gott! Da habe ich mir etwas Schönes eingebrockt.“
„Er wird dich nicht melden“, beruhigte Elizabeth sie.
„Bist du sicher?“
„Ganz sicher. Er wirkt furchtbar herrisch – aber er ist alles andere als kleinlich
oder gehässig.“
June sah sie verwundert an. „Mir scheint, du hast seinen Charakter ziemlich
schnell ergründet“, meinte sie spöttisch. „Bist du etwa Hellseherin?“
Elizabeth mußte lächeln, obwohl ihre Gedanken ständig bei dem Mädchen hinter
der geschlossenen Tür waren. Was geschah jetzt dort? Was hatte der Bruder vor?
„Ich glaube, um seinen Charakter zu ergründen, müßte man mehr von ihm
wissen, ihn etwas genauer kennenlernen. Und das möchte ich mir nicht
wünschen!“ Irgendwie fühlte sie sich gezwungen, Junes Neugier abzuwehren, die
deren forschender Blick verriet.
„Jedenfalls möchten wir hier alle zu gern wissen, ob er verheiratet ist oder nicht.“
Junes Interesse richtete sich zu Elizabeths Erleichterung nicht mehr auf ihre
Gefühle. „Aber bei all dieser angeordneten Geheimniskrämerei um das Mädchen
und seine Familie werden wir es nie erfahren.“
„Bestimmt ist er verheiratet“, meinte Elizabeth nachdenklich. Ihr Blick wanderte
wieder zu der Tür, durch die er bald kommen würde. „Er ist doch wohl über
Dreißig, meinst du nicht?“
June nickte und sagte, daß sie sein Alter auf zwei oder dreiunddreißig schätzte.
Dann fiel ihr das unerwartete Auftauchen des Conde wieder schwer auf die Seele,
und sie wollte erfahren, was vorgefallen war.
Elizabeth versprach ihr hastig, später alles zu erzählen. Bevor June trotzdem
weitere Fragen stellen konnte, öffnete sich die Tür, und der Graf stand auf der
Schwelle.
Er bemerkte die beiden sofort, schaute aber nur June mit einem strengen Blick
an.
„Schwester“, sagte er kurz, „ist es hier üblich, daß Fremden erlaubt wird, die
privaten Krankenzimmer zu betreten?“
June wurde abwechselnd blaß und rot. „Entschuldigen Sie, Sir, ich dachte mir
nichts Böses dabei, als ich Miss Salway bat, mir… mir beim Bettenmachen zu
helfen.“
Ein ironisches Lächeln glitt um seinen Mund. Elizabeth erkannte, daß sie sich
nicht getäuscht und er in dieser Angelegenheit bestimmt das letzte Wort
gesprochen hatte. Seine nächste überraschende Frage richtete er an sie:
„Senhorita, wollen Sie zurück ins SherbourneHotel? Möchten Sie mit mir
fahren?“
Schweigen – ein etwas verstörtes Schweigen. Elizabeth und June tauschten
verstohlen einen Blick.
„Das ist sehr freundlich von Ihnen“, stammelte Elizabeth verwirrt. Was hatte er
vor? Denn daß er ihr etwas sagen wollte, war ihr klar. Aber dazu brauchte er sie
doch nicht in seinem Auto mitzunehmen.
„Also bitte. Ich möchte jetzt fahren.“ Die Bitte schien mehr ein Befehl zu sein.
Der großmächtige Dom Miguel gab ihr auf seine Weise zu verstehen, daß sie die
Klinik nicht auf ihren eigenen, sondern auf seinen Wunsch augenblicklich zu verlassen hatte. Sie warf den Kopf herausfordernd zurück. Aber sogleich warnte sie ihr Verstand, sich nicht womöglich auch noch Ärger im Hotel zuzuziehen, falls sie dem prominenten Gast zu entschieden widersprach. So sagte sie June gute Nacht und folgte Dom Miguel durch die imposante Halle bis zu seinem Auto, das an der Seite der geschwungenen Auffahrt geparkt war. Die Rückfahrt war für Elizabeth eine Nervenbelastung. Doch was sie befürchtete, trat nicht ein: Der Conde erwähnte nicht ein einziges Mal ihre unerlaubte Anwesenheit bei seiner Schwester. Unauffällig betrachtete sie ihn von der Seite. Sie mußte sich eingestehen, daß sie das klassisch geschnittene Profil bewunderte. Er konzentrierte sich nur aufs Fahren, den Blick auf die Straße gerichtet, so daß sie ihn gefahrlos beobachten konnte. Ernst wirkte er, verschlossen und in sich gekehrt… Sie dachte daran, wie June und sie gerätselt hatten, ob er wohl verheiratet sei. Auf einmal vermochte sie sich ihn als Ehemann überhaupt nicht vorstellen. Konnte er denn eine Frau lieben? Vielleicht täuschte dieses kühle Äußere, und dahinter verbarg sich Leidenschaft, die er durch sein herrisches Wesen zu verbergen trachtete… Mit ungläubigem Staunen merkte sie, daß sie von einem Gefühl für diesen fremden Menschen erfüllt war, das ihr den Atem nahm. Plötzlich mußte sie an Terry Kershawe denken – diese stechenden Augen, das fliehende Kinn, die dünnen Lippen, die so grausam wirkten. Warum diese Gedanken an ihn? Sie wunderte sich selbst. Vielleicht hatte sie sein Gesicht unbewußt mit dem des Conde verglichen, und nun packte sie plötzlich die Angst vor den zwölf Monaten, in denen sie gezwungen sein würde, tagtäglich mit ihm zu arbeiten. Ein Probejahr war ohnehin schon schwierig genug, auch ohne daß ein Mann wie Terry Kershawe ihr das Leben zur Hölle machen würde. Elizabeth spürte eine Anwandlung von Verzweiflung und wünschte sich, die Möglichkeit der Wahl zu haben. Einen anderen Posten zu finden, so daß sie dem verhaßten Terry entfliehen konnte, dessen Annäherungsversuche ihr schon während der Collegezeit Unbehagen und Widerwillen eingeflößt hatten. Sie wurde jäh in ihren Gedanken unterbrochen, als das Auto hielt. Sie waren auf dem Parkplatz des SherbourneHotels angelangt. Dom Miguel stellte den Motor ab und löschte die Scheinwerfer. Aber er machte keine Anstalten auszusteigen. Statt dessen fragte er, ohne sie dabei anzusehen: „Was hat meine Schwester Ihnen anvertraut?“ Elizabeth erschrak. Rasch, ohne nachzudenken, erwiderte sie: „Haben Sie Dona Carlota denn nicht danach gefragt?“ „Nein, ich habe sie natürlich nicht mit Fragen gequält. Ihr… das Kind wird doch in wenigen Stunden zur Welt kommen.“ Er hatte es also gottlob nicht fertiggebracht, mit Carlota zu schelten, dachte Elizabeth erleichtert und fast ein wenig gerührt. Ihr war das kleine Zögern nicht entgangen, als er von dem Kind sprach. Es schien ihn Überwindung zu kosten, diese beschämende Tatsache einer völlig Fremden gegenüber zu erwähnen. Sie überlegte, was sie nun sagen sollte. Aber da wiederholte der Conde seine Frage so eindringlich, daß ihr nichts anderes übrigblieb, als ihn ehrlich über ihr Gespräch mit Carlota zu unterrichten. Er hörte sie schweigend an. „Ich habe mich wirklich nicht aus Neugier mit Ihrer Schwester unterhalten“, verteidigte sie sich am Ende. „Ich interessiere mich nicht für Skandale und Klatsch und schleiche mich nicht ungebeten in das Vertrauen anderer Menschen.“ Sie versuchte, in dem schwachen Licht, das sie umgab, den Ausdruck seines
Gesichtes zu erkennen. Einem plötzlichen Impuls folgend, setzte sie hinzu: „Ich glaube, daß unser Gespräch Ihrer Schwester ein wenig geholfen hat. Dona Carlota ist fast noch ein Kind. Sie war so ängstlich und allein unter den fremden Leuten in einer fremden Umgebung. Ich hoffe, Sie zürnen mir nicht, weil ich sie zum Sprechen ermunterte. Es war gut für Carlota.“ Besorgt, daß sie sich zu weit vorgewagt hatte, schwieg sie einen Moment. Da er immer noch nichts entgegnete, sagte sie in einem krampfhaft unbefangenen Ton: „Ihre Schwester erzählte mir, daß Sie zu Hause Dom Miguel angeredet werden.“ Er schaute sie etwas verwundert an. „Ja. Warum?“ „Ist es richtig, wenn ich Sie dann auch so nenne?“ „Das ist völlig korrekt.“ Sie hatte fast den Eindruck, daß er lächelte. Dann spürte sie mehr, als sie es sah, wie er nervös mit den Fingern spielte, und endlich sprach er: „Ich muß zugeben, daß meine Schwester sehr viel ruhiger wirkte. Ich kam zu ihr zurück, weil mich ihr Zustand beunruhigte. Sie war so ängstlich und überreizt… Mir war auch klar, daß sie einen Menschen brauchte, eine Frau, die ihr in diesen schweren Stunden Beistand und Hilfe geben konnte. Aber Sie müssen verstehen, daß ich mich davor scheute, eine der Schwestern ins Vertrauen zu ziehen. Ich kenne den Klatsch, der in den meisten Krankenhäusern üblich ist…“ Er machte eine Pause und schien zu überlegen. Elizabeth störte ihn nicht. Sie erkannte, wie schwer ihm dieses Geständnis fiel. „Carlota brauchte eine Vertraute“, wiederholte er, und ein Unterton von Bitterkeit schwang in seiner Stimme, als ob eine schmerzliche Erinnerung oder Erfahrung ihn bedrängte. „Sie scheint eine spontane Zuneigung zu Ihnen gefaßt zu haben…“ Er wandte sich Elizabeth wieder zu, und sie hatte das unbehagliche Gefühl, daß sein Blick ihre verborgensten Gedanken zu ergründen suchte. „Sie sind sehr sympathisch, Senhorita“, fuhr er fort, „und sehr verständnisvoll. Auch auf Ihr Taktgefühl kann man sich, glaube ich, verlassen. All dies ermutigt mich, Ihnen einen Vorschlag zu machen.“ Sie zuckte zusammen, ihre Nerven begannen zu vibrieren. Noch während die Vision vor ihren Augen stand, wie Carlota und sie an einem verschwiegenen Platz für das Baby sorgten, hörte sie sich schon hastig einwenden: „Dom Miguel, ich habe gerade meine Prüfung als Lehrerin abgelegt und trete im September meine erste Stellung an.“ Sie wollte nicht, daß er sich irgendwelchen Hoffnungen hingab, und sah nun, wie er sich in seinem Sitz höher reckte. „Ich habe Ihnen meinen Vorschlag ja noch gar nicht unterbreitet, Senhorita“, sagte er. Die mit Höflichkeit verbrämte Zurechtweisung war unüberhörbar. Erschrocken entschuldigte sich Elizabeth. „Verzeihen Sie, Dom Miguel. Ich glaubte… ich dachte, Sie wollten mich vielleicht als Pflegerin für das Baby.“ Ein peinliches Schweigen folgte. Elizabeth fragte sich, ob die Erwähnung des Babys schuld daran war. „Mein Vorschlag betraf nicht das Baby, das von jemandem adoptiert werden wird. Ich wollte Sie um Ihre Einwilligung bitten, als Gesellschafterin meiner Schwester Carlota mit ihr heimzufahren.“ Zwingend sah er sie an und fuhr mit großer Festigkeit fort: „Was geschehen ist, darf nicht noch einmal passieren. Das wird es auch nicht, wenn meine Schwester in der Gesellschaft eines jungen Menschen ist, den sie gern hat. Sie hätten nur die Aufgabe, bei ihr zu sein. Ich muß so oft geschäftlich verreisen und brauchte mir keine Sorgen zu machen, wenn ich Carlota in Ihrer Obhut wüßte.“ Also ist er nicht verheiratet, überlegte Elizabeth. Der Conde störte ihr nachdenkliches Schweigen nicht. Doch obwohl sie glücklich über seinen Vorschlag
war, der ein so großes Vertrauen zu ihr bewies, schüttelte sie am Ende energisch den Kopf. Es schien, als wolle sie sich selbst die Träume von einem Leben im Schloß der Castros verbieten. Er erriet ihre Entscheidung und wollte ihr ersparen, eine Absage auszusprechen. Ob er enttäuscht war, konnte sie aus dem Klang seiner beherrschten Stimme nicht erraten. „Gut, Senhorita, ich bedauere Ihren Entschluß, aber ich muß ihn akzeptieren. Nur sagen Sie es mir bitte ohne Scheu, falls Sie Ihre Meinung ändern sollten.“ Er griff an ihr vorbei und öffnete die Autotür. Sie stieg aus, wünschte ihm eine gute Nacht und ging davon. Er blieb regungslos sitzen, allein in der Dunkelheit. Obwohl Elizabeth nach wie vor die Absage für richtig hielt, beschäftigten sich ihre Gedanken immer wieder mit dem Vorschlag des Conde. Während sie ihrer Arbeit nachging, tauchte Carlotas Bild vor ihren Augen auf. Mit wachsender Ungeduld wartete sie auf den Dienstschluß, damit sie mit June telefonieren konnte, die nach ihrem Nachtdienst bis vier Uhr am Nachmittag schlief. Endlich, um fünf Uhr, erreichte sie ihre Freundin und fragte, wie es Carlota ginge. „Das Baby ist tot geboren. Es war ein Junge.“ Junes Stimme klang nüchtern, völlig ungerührt. Aber Krankenschwestern waren wohl an solche Tragödien gewöhnt… „Und Carlota – wie fühlt sie sich?“ Elizabeth bemühte sich, aufsteigende Tränen hinunterzuschlucken. Es war doch töricht, um ein fremdes Mädchen zu weinen, das sie nur einmal gesprochen hatte und nie wiedersehen würde. „Sie ist natürlich traurig, aber sie hat alles gut überstanden.“ Das Baby kam um zwei Uhr morgens zur Welt, berichtete June weiter. Carlotas Bruder hatte es gegen acht Uhr erfahren. Er war sofort gekommen und wollte tagsüber bei ihr bleiben. Elizabeth versuchte sich vorzustellen, wie Dom Miguel seine kleine Schwester tröstete. Würde er das überhaupt fertigbringen? Wie gern wäre sie selbst noch einmal zu Carlota gegangen. Vielleicht konnten ihr weibliches Mitgefühl und Verständnis besser helfen als jedes Beruhigungsmittel. „Hat der Conde mit dir geschimpft?“ unterbrach June ihre Gedanken. „Nein. Sonderbarerweise schien er sogar froh darüber zu sein, daß sich Carlota mir anvertraut hatte. Ich glaube, er hätte auch nichts dagegen, wenn ich sie noch einmal besuchte.“ „Frag ihn doch, wenn du es so gern möchtest.“ Obwohl Elizabeth selbst schon mit dieser Idee gespielt hatte, wußte sie doch, daß sie nie den Mut dazu aufbringen würde. Denn wie könnte er ihre Bitte, Carlota noch einmal zu sehen, erfüllen, nachdem sie sein Angebot ausgeschlagen hatte? Irgend etwas mußte sie aber für Carlota tun. So ging sie in die nächste Blumenhandlung und ließ einen großen bunten Strauß in die Klinik schicken. Die sehr erstaunte Hausdame richtete Elizabeth am nächsten Morgen aus, daß der Conde sie zu sprechen wünsche. „Danke“, murmelte Elizabeth und floh vor dem neugierigen Blick von Miss Webber. Wenig später klopfte sie an seine Tür und hörte sein: „Bitte, kommen Sie herein.“ „Ich möchte mich bei Ihnen herzlich bedanken“, sagte er, als sie beide Platz genommen hatten. „Es war lieb, daß Sie Carlota Blumen schickten.“ Seine Worte klangen viel weicher, und er wirkte nicht mehr so angespannt wie am Tag zuvor. Elizabeth war nicht allzu überrascht, als er bat: „Wollen Sie meine Schwester noch einmal besuchen, Senhorita?“ Er erwähnte das tote Kind nicht. Vermutlich dachte er sich, daß June ihr von der
Geburt erzählt hatte. „Ich würde ihre Schwester gern wiedersehen“, sagte sie herzlich. Er dankte ihr mit dem ersten Lächeln, das sie auf diesem ernsten Gesicht sah. Es war ein Lächeln, das ihn überraschend verwandelte. Dom Miguel sah auf einmal so jung und anziehend aus, daß sie den Blick kaum abwenden konnte. Nachdem sie verabredet hatten, daß er sie nach dem Abendessen mit in die Klinik nehmen würde, erhob sie sich und erklärte, daß sie an ihre Arbeit zurückgehen müsse. Kaum war Elizabeth wieder mit Wischtuch und Staubsauger in den Gästezimmern beschäftigt, da plagte sie sich mit Skrupeln und Zweifeln. War es nicht unvernünftig, Carlota wieder zu besuchen? Sicher, sie konnte ihr über ein paar trübe Stunden hinweghelfen und ihr ein wenig Verständnis schenken, das dieses Mädchen offenbar schmerzlich entbehrte. Aber wirklichen Trost konnte sie ihr doch nicht geben. Allzubald würde Carlota wieder zurückreisen… Carlotas blasses Gesicht nahm etwas Farbe an, als sie Elizabeth erblickte. Sie lächelte und schaute strahlend auf den großen Bruder, der in der Tür stehengeblieben war. „Miguel, wie lieb von dir, Miss Salway mitzubringen!“ „Ich dachte, daß du sie gern wiedersehen würdest. Wie geht’s dir, mein Kleines?“ Er trat ans Bett und streichelte zärtlich ihre Wange. Elizabeth stand am Fußende und beobachtete staunend, wie verändert er war. Seine Züge wirkten gelöst. In einer rührend fürsorglichen Art sprach er mit seiner Schwester. Bestimmt konnte er streng sein, und sicher war er tief enttäuscht von Carlota. Aber in diesen Minuten zeigte er so viel Zartgefühl, daß Elizabeth ihn mit glänzenden Augen unverwandt anstarrte. Etwas später richtete er sich auf. Er zog den leichten Sessel ans Bett und bat Elizabeth, sich zu Carlota zu setzen. „Aber Sie…“ begann sie und schaute sich vergeblich nach einer zweiten Sitzgelegenheit um. Doch da kam schon eine Schwester, die einen Besucherstuhl brachte, und der Conde nahm Elizabeth gegenüber Platz. Carlota zeigte auf den bunten Strauß, der in einer Glasvase auf dem Fenstertisch stand. „Ich habe mich so gefreut, haben Sie vielen Dank für die schönen Blumen“, sagte sie. „Es war eine besondere Freude, weil sie so gänzlich unerwartet kamen.“ Ein kleiner Seitenblick auf ihren Nachttisch, auf dem reich blühende Orchideen prangten, verriet, daß dieser Gruß von ihrem Bruder sie nicht überrascht hatte. Über eine Stunde blieben Elizabeth und Dom Miguel im Krankenzimmer. Das Baby wurde mit keinem Wort erwähnt. Elizabeth wußte instinktiv, daß niemals mehr zwischen den Geschwistern von ihm gesprochen werden würde. Es wurde hauptsächlich von Portugal geredet. Elizabeth ließ sich erzählen, daß die Familie Weingüter und Korkeichenplantagen besaß, aus denen offenbar das Familienvermögen stammte. Dom Miguel betrieb außerdem eine Fabrik, in der Kork hergestellt wurde. Er berichtete ihr stolz, daß das kleine Portugal die Hälfte des Bedarfs an Kork in der ganzen Welt deckte. „Wenn Sie sich nun noch ein wenig mit Ihrer Freundin unterhalten möchten“, sagte er schließlich zu Elizabeth, „lassen Sie sich bitte nicht aufhalten. Ich werde Sie benachrichtigen, wenn ich zurückfahren will.“ „Danke, ich hätte natürlich gern noch ein wenig Zeit für Schwester June.“ Sie erhob sich rasch von ihrem Stuhl, ein wenig verunsichert, weil sie nicht wußte, ob der Conde ihr nur eine Höflichkeit erweisen oder sie los sein wollte. „Leben Sie wohl, Dona Carlota“, sagte sie mit weichem Lächeln und einem Seitenblick zu ihrem Bruder, „vielleicht kann ich ja noch einmal kommen.“ Sie sah zu ihrer Freude, daß er zustimmend nickte. „Morgen abend?“ schlug er
vor. Elizabeth willigte sofort ein. June überfiel sie mit neugierigen Fragen: Warum der Graf so freundlich zu ihr wäre, wieso sie seine Schwester besuchen dürfe und was sie miteinander besprochen hätten. Elizabeth behauptete, daß sie selbst keine Erklärung dafür fände und nur Vermutungen äußern könne. „Ich nehme an, daß er mir vertraut. Er spürt wohl, daß seine Schwester mich gern hat und sich einsam fühlt“, sagte sie. Sicher, das war nicht die ganze Wahrheit, denn sie fühlte, daß Dom Miguel die Hoffnung, sie für den angebotenen Posten zu gewinnen, nicht aufgegeben hatte. Aber es war eine recht harmlose Lüge… Zu ihrer Erleichterung gab June sich damit zufrieden. In der restlichen Zeit sprachen sie über die gemeinsamen Ferien, die vor ihnen lagen, und schmiedeten Pläne. Sie beschlossen, sich eine Woche lang in einer richtig guten Pension an der See zu erholen. Dann wollten sie in den letzten Urlaubstagen die Museen und Sehenswürdigkeiten in London besichtigen, die sie noch nicht kannten. „Morgen abend komme ich wieder hierher“, sagte sie zu June, nachdem eine andere Schwester ihr mitgeteilt hatte, daß der Conde aufbrechen wollte. Elizabeth wartete mit June in der Halle auf ihn. „Du hast morgen keinen Dienst, oder?“ „Nein, ich höre in der Frühe auf und muß erst am Dienstag wieder anfangen.“ June blickte Elizabeth forschend an und wollte sie gerade etwas fragen, als Dom Migue^zu ihnen trat. So rief Elizabeth der Freundin nur einen schnellen Gruß zu und folgte ihm zum Auto. „Wann wird Ihre Schwester entlassen?“ erkundigte sie sich höflich, als sie eine Weile schweigend gefahren waren. „Ich werde sie Montag in acht Tagen mit nach Hause nehmen.“ „In zehn Tagen also“, meinte Elizabeth. „Wird sie so lange in der Klinik bleiben?“ „Bis zum Vorabend der Abreise, ja. Carlota ist noch recht Schwach. Ich finde, es ist besser, daß sie möglichst lange dort bleibt, wo sie so vorzüglich gepflegt wird.“ Elizabeth nickte. Und bis zu ihrer Ankunft auf dem Hotelparkplatz, wo sie einander höflich ,Gute Nacht’ wünschten, sagte keiner mehr ein Wort. Zwei Tage später wurde Elizabeth von ihrer Cousine angerufen. Bei ihr hatte sie die beiden Jahre nach dem Tod ihrer Mutter gelebt, bis sie dann in das College eintrat. Die Ferien hatte sie immer bei Margret verbracht. Und wenn sie ihren Posten an der Schule in Manchester antrat, würde sie wieder bei ihr wohnen. Margret erzählte Elizabeth, daß Terry Kershawe angerufen und nach ihr gefragt habe. Unglücklicherweise hätte sie ihm gesagt, daß Elizabeth vorübergehend im SherbourneHotel arbeitete. „Es fuhr mir so raus, bevor ich darüber nachgedacht hatte“, entschuldigte sich Margret. „Erst nachdem er erwähnte, daß er für einige Tage nach London will, fiel mir ein, daß du ihn nicht ausstehen kannst. Er wird dich bestimmt aufsuchen, darum wollte ich dich vorher warnen, verstehst du?“ Elizabeth hörte mit wachsendem Ärger zu. Weil sie fürchtete, der Cousine eine zu scharfe Antwort zu geben, zählte sie vorsichtshalber bis zehn, ehe sie ruhig sagte: „Zu dumm, daß du ihm meine Adresse gegeben hast. Aber nun läßt sich das ja nicht mehr ändern, also rege dich bitte nicht unnütz auf.“ „Es tut mir so leid“, jammerte Margret. „Meinst du, daß er dich wirklich belästigen wird?“ „Er hat mich drei Jahre lang belästigt“, entgegnete Elizabeth mit mühsam
unterdrückter Ungeduld. „Ich habe richtige Schuldgefühle!“ Elizabeth biß sich auf die Lippen, meinte dann aber nur mit einem tiefen Seufzer: „Vergiß es, Margret. Schließlich kannst du dich ja nicht an alles erinnern, was ich dir einmal erzählt habe. Hat er gesagt, wann er hier ankommt?“ „Ja, soviel ich weiß, heute gegen Abend. Er nimmt vermutlich den Bus. Er behauptete, dann könnte er mehr von der Gegend sehen, aber wahrscheinlich ist die Busfahrt am billigsten.“ Elizabeth zuckte die Schulter. Terry Kershawes Knickerigkeit war im College berüchtigt. Er ließ sich sogar von den Studenten den Kaffee bezahlen, wenn er sie in einer der EspressoStuben rund um das Universitätsgelände traf. „Danke, daß du mich gewarnt hast“, sagte sie, ehe sie den Hörer auflegte. „In ungefähr fünf Wochen sehen wir uns ja.“ Terry erschien tatsächlich am gleichen Tag gegen achtzehn Uhr. Da Dom Miguel sie ausdrücklich gebeten hatte, Carlota wieder zu besuchen, konnte sie gottlob Kershawes Einladung, ins Kino zu gehen, ablehnen. Sie hätte auf alle Fälle versucht, eine Ausrede zu finden. Aber die tatsächliche Verabredung machte es ihr leichter, seinen Bitten zu widerstehen. „Dann lassen Sie uns jedenfalls morgen abend ausgehen“, drängte er. Sie saßen in dem kleinen Wohnraum, der den Angestellten zur Verfügung stand, und während der ganzen Unterhaltung blickte Elizabeth immer wieder zur Tür. Wenn nur jemand kommen würde, dachte sie, damit Terry endlich aufhören und verschwinden müßte! Aber es kam niemand, Terry nutzte das Alleinsein, um ihre Hand zu ergreifen. „Warum können Sie nicht ein bißchen freundlicher zu mir sein? Ich liebe Sie so, daß – “ Er brach mitten im Satz ab, denn Elizabeth fuhr entsetzt hoch. „Ich bin Ihr Vorgesetzter“, zischte er sie an. „Vergessen Sie das nicht, Elizabeth!“ „Noch nicht“, erinnerte sie ihn ruhig. Sie fragte sich im stillen, ob sie wohl so elend aussah, wie sie sich fühlte. Es war nicht nur der Widerwille vor ihm, den sie kaum verbergen konnte – vielmehr flößte ihr diese Szene gesteigerte Angst vor der Zukunft ein. Immer stärker wurde ihre Furcht vor dem kommenden Jahr. Immer stärker der Wunsch, der Anstellung an seiner Schule doch noch zu entfliehen. Aber sie hatte schließlich einen Vertrag unterschrieben, und schon der Versuch, ihn nicht zu erfüllen, würde ihrer Karriere schaden. Sie konnte ja keinen vernünftigen Grund angeben. Oder sollte sie ihrer Behörde erzählen, daß ihr künftiger Direktor sie anwidere? . * „Aber in fünf Wochen, Elizabeth“, hörte sie ihn höhnisch sagen. „Dann bin ich Ihr Direktor. Das ist so etwas wie ein Kapitän, der auch unbeschränkte Vollmachten hat. Und alle, die auf dem Schiff arbeiten, wissen es!“ „Die Tatsache, daß ich für Sie arbeiten werde, gibt Ihnen keineswegs das Recht, mich mit Ihren Aufmerksamkeiten zu belästigen! Ich habe Ihnen gesagt, daß ich mich nicht mit Ihnen befreunden möchte.“ „Ich bat Sie, mich zu heiraten, und nicht, meine Freundin zu werden. Ich liebe Sie – noch nie zuvor habe ich einen Menschen geliebt, Elizabeth“, sagte er nun in weinerlichem Ton, „seien Sie doch nicht so unfreundlich zu mir. Wenn Sie wüßten, wie ich mich nach Ihnen gesehnt habe, wären Sie nicht so grausam, mir sogar einen gemeinsamen Kinobesuch zu verweigern.“ Sie war vor ihm zur Tür geflohen und preßte sich an die Wand. Sie wußte selbst nicht, ob sie Angst vor ihm hatte oder sogar ein wenig Mitleid. Sie würde ihn nie lieben können, aber er verriet deutlich, wie sehr er sie begehrte. Mit vernünftigen Worten versuchte sie, ihm zu erklären, daß er sich keine Hoffnungen machen dürfte. Doch auch das endete nur in Gegenargumenten und flehentlichen Bitten.
Am Schluß stieß Terry sogar heftige Drohungen aus: „Sie werden es erleben, daß es Ihnen eines Tages leid tut, mich mit Füßen getreten zu haben. Ich bin Ihr Vorgesetzter – und weiß der Teufel, Sie sollen es zu spüren bekommen!“ Er stieß sie beiseite und riß die Tür auf, die er gegen die Wand schmetterte, wobei er eines der Zimmermädchen fast zu Boden riß, das gerade eintreten wollte. „lieber Himmel, war der aber wütend! War das ein Freund von dir?“ Weiß bis in die Lippen, verstört von dem abscheulichen Auftritt antwortete sie der Kollegin, Studentin wie sie: „Eher das Gegenteil. Er ist mein Feind – aber das schlimmste ist, daß er in den nächsten zwölf Monaten mein Direktor sein wird.“ Elizabeth wußte später nicht genau zu sagen, wann sie ihre Entscheidung getroffen hatte. Sie wußte nur, daß ihre innere Unruhe immer größer wurde, als die Tage verstrichen und Dom Miguels Abreise näherrückte. Daß es ihr nicht gelang, die Angst vor Terry abzuschütteln, erfüllte sie mit Beschämung. Aber da sie wußte, daß sie mit dieser Angst nicht leben konnte, gab es nur einen Ausweg: das Angebot des Conde anzunehmen. Er hatte sie in dieser Woche an jedem Abend mit in die Klinik genommen. Am letzten Abend, bevor Dom Miguel seine Schwester abholen wollte, sagte sie ihm auf der Rückfahrt zum Hotel, daß sie ihre Meinung geändert hätte. Er hörte es sich schweigend an. Einen Augenblick fürchtete sie, daß auch er anderer Meinung geworden sei und sie gar nicht mehr engagieren wollte. Aber er hatte nur zurückgeschaltet und fuhr ganz langsam weiter. „Vielen Dank, Senhorita“, sagte er, nachdem er ihr einen kurzen Blick zugeworfen hatte. „Ich bin glücklich, daß Carlota in Zukunft Sie als Freundin haben wird. Sie ahnen nicht, wie Sie mit jedem Besuch, den Sie ihr machten, mehr und mehr ihr Herz gewannen.“ Wie höflich er ist, dachte Elizabeth, aber man spürt doch, wenn man ihn näher kennenlernt daß es eine wirkliche Herzenshöflichkeit und nicht nur die äußere Form einer guten Erziehung ist. Laut sagte sie: „Es gibt natürlich noch allerlei für mich zu erledigen, Dom Miguel, so daß ich bestimmt am Montag noch nicht reisen kann.“ „Das ist mir klar. Wir können warten.“ „Vielen Dank.“ In dieser Nacht schlief Elizabeth kaum; sie war viel zu aufgeregt. Sie stellte eine Liste auf, was sie alles tun mußte, vom Schreiben an die Schulbehörde bis zum Kauf eleganterer Kleider, als sie bisher besaß und für die sie ihre Ersparnisse opfern wollte. Danach kam noch der Abschied von June, den Freundinnen aus dem College und vor allem von Margret. Sie würde sicher ein wenig enttäuscht sein, daß sie nun doch nicht zu ihr nach Manchester käme. Aber Margret würde sie bestimmt verstehen… Dann träumte Elizabeth von dem neuen Leben, für das sie sich wider alle Vernunft entschieden hatte. Sie malte sich das prächtige Schloß aus, in dem Dom Miguel und Carlota lebten. Ihr würde alles fremd und ungewohnt sein, aber davor fürchtete sie sich nicht. Ihre Hauptaufgabe war Carlota – und daß sie beide gute Freundinnen werden würden, bezweifelte sie keinen Augenblick.
3. KAPITEL Eine Woche später hatte Elizabeths neues Leben im Palacio de Castro seinen Anfang genommen. Ihr Zimmer blickte auf den Garten des Schlosses, dessen exotische Pracht sie mit staunendem Entzücken erfüllte. Sie besaß ein eigenes Badezimmer mit einer in den Boden eingelassenen Wanne, indirekter Beleuchtung und zartrosa Tapeten und Vorhänge, die mit dem gleichen Muster bedruckt waren. Mit einem tiefen Seufzer der Zufriedenheit sah sie sich in ihrem Reich um, als sie alles ausgepackt hatte. Dann ging sie ins Parterre hinunter und hinaus auf die Terrasse. Klarblauer Himmel wölbte sich über ihr, die Sonne strahlte und hob die leuchtenden Farben der üppigen Pflanzenwelt hervor. Was für ein unwahrscheinliches Glück hatte sie, in diesem Paradies zu leben! Bei all dem Abschiedstrubel in England hatte sie keinen klaren Gedanken fassen können, und ihre Vorfreude auf das Neue war in der Reisenervosität untergegangen. Doch jetzt wurde sie von einem jubelnden Glücksgefühl gepackt. Heimlich sagte sie an das Schicksal ein Dankeschön, daß es sie mit Carlota und Dom Miguel zusammengeführt hatte. Gedankenverloren hörte sie dem durchdringenden Zirpen der Zikaden und dem Singen der Vögel zu, sie freute sich an den Pfauen, die ihre imponierenden Räder schlugen, um den Hennen zu gefallen. Und dann blieb ihr Blick an der vornehmen Erscheinung des Hausherrn hängen, der mit seinem raschen Gang aus dem Park auf sie zukam. Seine erste besorgte Frage galt Carlota, die seit ihrer Rückkehr elend und blaß aussah. „Sie ruht sich aus, Dom Miguel“, antwortete Elizabeth höflich. „Als ich nach ihr schaute, schlief sie fest.“ „Ich hoffe, daß sie sich rasch wieder erholt. Am ersten Tag hier hatte ich Angst, daß sie einem Zusammenbruch nahe wäre.“ „Ja, sie wirkte sehr niedergeschlagen“, stimmte Elizabeth zu. „Eine Reaktion, die wohl vorauszusehen war. Aber sie ist so jung und wird es schnell überwinden.“ Seine dunklen Augen blickten sie an, nur eine Sekunde lang. „Ihre Fürsorge tut ihr gut. Ich bin froh, Senhorita, daß Sie bei uns sind.“ „Danke, Dom Miguel“, erwiderte Elizabeth, zu ihrem Ärger verlegen errötend. „Ich will Ihr Vertrauen zu verdienen versuchen.“ „Ich bin sicher, daß Sie mich nicht enttäuschen“, sagte er ruhig und ging, ohne eine Erwiderung abzuwarten, ins Haus. Sie blieb noch eine ganze Weile auf der Terrasse. Aber die Schönheit, die sie umgab, nahm sie kaum mehr wahr. Sie versuchte, sich über den Charakter Dom Miguels klarzuwerden. Waren diese äußere Förmlichkeit, die Reserve, die er außer Carlota jedem Menschen gegenüber wahrte, sein wirkliches Ich? Oder war er in Wahrheit so warmherzig und fürsorglich, wie er sich seiner Schwester gegenüber zeigte? Eines Tages würde sie es wissen! Als die Wochen vorübergingen, spürte Elizabeth immer stärker, daß etwas Ungreifbares das Leben im Palacio beschattete. Sie fand keinen Grund für ihre Vermutung, so sehr sie auch darüber nachdachte. Ein Indiz allerdings war, daß Carlota, mit der sie unbefangen über alles mögliche gesprochen hatte, plötzlich in ein starres Schweigen versank, als sie ganz harmlos fragte: „Ihr Bruder wird doch sicherlich eines Tages heiraten, nicht wahr? Ich denke mir, daß er sich einen Erben wünscht.“ Carlota schwieg nicht etwa, weil sie sich über die Wünsche ihres Bruders nicht klar war. Es war vielmehr ein bedrücktes Schweigen, das Elizabeth so
erschreckte, daß sie schnell das Gesprächsthema wechselte. Ein weiteres Steinchen in dem Mosaik ihrer Überlegungen fand sich, als sie eines Tages, während Carlotas Mittagsruhe, in die Ahnengalerie ging, die sie in Ruhe betrachten wollte. Eine Weile freute sie sich an den Proportionen des großen Raumes, dessen stuckverzierte Decke liebevoll weißgold gemalt war. Dann wandte sie sich den Bildern zu. Die Vorfahren des Conde – sie sahen so vornehm aus! Aber auch streng und herrisch. Vicente Diego Laurenco Henriques de Castro schaute besonders abweisend auf sie hinunter, und Leonore, seine Ehefrau, wirkte so kalt und unweiblich, daß es kaum glaubhaft schien, sie hätte Nuno Jose Goncalo Froylas de Castro das Leben geschenkt; doch hatte sie es getan. Einer folgte dem andern, sie schritt die ganze Galerie ab, besah Dutzende von Bildern, in mehr oder weniger prunkvollen Rahmen. Aber alle Gesichter dieser Porträts zeigten die typischen, vornehmen Züge der portugiesischen Aristokratie. Beim Anblick des bärtigen Martim Tavira Nuno Ordonho de Castro überlief Elizabeth tatsächlich eine Gänsehaut. So furchterregend wirkte er in seinem dunklen, spartanischen Wams, mit den dünnen Lippen und den grausamen eisgrauen Augen. „Ich möchte wissen, ob du wohl eine Frau gehabt hast?“ murmelte sie halblaut. Dann erstarrte sie, weil eine Stimme hinter ihr sagte: „Natürlich…“ Sie wandte sich schnell um, und das Blut stieg ihr in die Wangen. „Ich sprach mit mir selbst weil er mich so beeindruckte.“ Sie zeigte auf das Bild des dunklen Dom Martim. Dom Miguel fuhr fort, ohne auf ihre Erklärung einzugehen: „Wir können unseren Stammbaum in gerader Linie bis ins Jahr 987 zurückverfolgen.“ Aus seiner Stimme klang Stolz, den auch seine Miene verriet. Groß und breitschultrig ging er neben ihr her. Sie fand ihn mit seinem dunklen Haar und den tiefgrauen Augen ebenso imponierend wie seine Ahnen. Und für sie ebenso unerreichbar wie ein Stern am Himmel, mußte sie plötzlich denken. Er ging durch den langen, schmalen Raum auf die Tür zu, durch die Elizabeth eingetreten war. Ganz automatisch folgte sie ihm, ohne zu überlegen, ob ihm an ihrer Gesellschaft gelegen war. Sie machte eine Bemerkung über die Porträts, die, je näher sie der Tür kamen, immer jüngeren Datums waren. Plötzlich entdeckte sie eine Lücke an der Wand, deren Verfärbung zeigte, daß dort ein Bild gehangen hatte. Ohne das danebenhängende Porträt anzusehen, fragte sie unbefangen: „Fehlt dort nicht ein Bild?“ Stille. Die gleiche bedrückende Stille, die ihrer Frage an Carlota nach des Condes Heiratsplänen gefolgt war. Elizabeth sah zu Dom Miguel auf, und der Ausdruck auf seinem Gesicht erschreckte sie zutiefst. Dom Miguels Züge, die sie nicht anders als harmonisch und beherrscht kannte, hatten sich in ein erschreckend hartes, fast grausames Zerrbild verwandelt. Seine Lippen preßten sich aufeinander. Eine quälende, verhaßte Erinnerung schien von ihm Besitz ergriffen zu haben. Alles an ihm verriet einen jähen Zorn, einen Hang zur Grausamkeit, der wohl in jedem Mann schlummert, aber meist ein Leben lang nicht zum Ausbruch kommt. Was, um Himmels willen, hatte sie gesagt, das einen so erschreckenden Wandel hervorrief? Sie konnte doch nicht erklären, daß es ihr leid täte, ihn verletzt zu haben, da sie völlig im dunkeln tappte, womit und warum… Bevor sie irgendeinen Entschluß fassen konnte, war er gegangen. Elizabeth blieb zitternd zurück und starrte auf die hohen Flügeltüren, durch die er
verschwunden war. Sie schaute noch einmal auf die Lücke an der Wand und erschrak. Denn das nächste Bild war das des Conde – ein unbeschreiblich lebendiges Porträt! Schön, stolz, edel – und die Augen sahen sie mit einem ihr ganz fremden zärtlichsanften Ausdruck an. Elizabeth fühlte sich seltsam angerührt. Ihr Herz begann heftiger zu schlagen, alle ihre Sinne waren angespannt. So stand sie lange Zeit. Sie wußte – und sie wußte es seit ihrer ersten Begegnung mit Dom Miguel – , daß sie in Gefühle verstrickt war, gegen die sie machtlos war. Schließlich wandte sie sich mit einem letzten Blick auf den freien Platz neben Dom Miguels Bild ab. Nun gut, sie war sich jetzt sicher, daß es ein Geheimnis gab. Aber es ging sie nichts an, obwohl es sie beunruhigte. Sie durfte nicht mehr daran denken. Ihre Aufgabe war es, Carlota zu behüten. Sie war hier nur eine Angestellte, die an ihre Pflichten zu denken hatte. Drei weitere Wochen verstrichen ohne besondere Ereignisse. Carlota und Elizabeth gingen täglich ein bis zwei Stunden in dem großen Park spazieren, sie schwammen im Swimmingpool, sie fuhren zum Einkaufen nach Lissabon. Nur wenn Dom Miguel Gäste empfing, waren die beiden nicht zusammen. Das geschah selten, und dann mußte Carlota die Hausfrau ersetzen. Elizabeth speiste allein in einem der kleinen Wohnräume, den Dom Miguel ihr in den ersten Tagen zur Verfügung gestellt hatte, wann immer sie ihn zu benutzen wünschte. Es war ein ausgesprochen gemütlich eingerichtetes Zimmer, wenn auch keineswegs so luxuriös ausgestattet wie die übrigen Gesellschaftsräume des Schlosses. Carlota hätte eines Tages ganz harmlos gesagt, daß dieses kleine Wohnzimmer den bevorzugten Angestellten zugeteilt würde. „Gibt es außer mir noch andere bevorzugte Angestellte?“ fragte Elizabeth mit leichter Ironie. Carlota, der erst in diesem Augenblick die Bedeutung ihrer Bemerkung bewußt wurde, errötete. „Ich hab’ damit doch nicht Sie als eine Angestellte bezeichnen wollen, bitte glauben Sie mir. „Aber das bin ich, Carlota. Wollen Sie mir nicht erzählen, wer diese anderen Bevorzugten waren?“ Carlota biß sich auf die Lippen, und es war nicht schwer zu bemerken, daß sie sorgfältig Elizabeths Blick auswich. „Wir hatten so eine Art Zofe…“ „Für Sie?“ „Ja.“ Das kam sehr schnell und war bestimmt gelogen. Elizabeth ließ das Thema auf sich beruhen. Aber insgeheim grübelte sie darüber nach, zumal sie immer bestimmter fühlte, daß es ein Geheimnis gab. Diese Gewißheit verstärkte sich nochmals ihr eines Tages die Haushälterin Ina begegnete. Elizabeth wollte gerade in ihr Zimmer hinaufgehen. Ina sprach recht gut Englisch und jammerte, daß ihr Rheumatismus immer schlimmer würde, so daß es ihr schwerfiele, die Treppen zu steigen. Sie hielt ein goldgepreßtes Notizbuch und einen Füllfederhalter in der Hand, die Dom Miguel im Salon vergessen hatte. Aber beides müßte ständig auf dem Tischchen neben seinem Bett liegen, damit er sich jederzeit Notizen machen konnte, auch nachts, erzählte Ina. „Wenn er sein Notizbuch nicht findet, wird er ganz ärgerlich“, endete sie eifrig. „Möchten Sie, daß ich es für Sie in sein Zimmer lege?“ bot Elizabeth der schwerfälligen Alten freundlich an. „Oh, würden Sie es tun, Miss Elizabeth? Ich wäre Ihnen sehr dankbar.“ Notizbuch und Füllfederhalter wanderten in Elizabeths Hand. „Sie wissen, wo Dom Miguels
Schlafzimmer ist – aber natürlich wissen Sie’s!“ Als Elizabeth die Tür zu seinem Zimmer aufmachte, war sie nervös, obwohl sie genau wußte, daß der Conde ausgegangen war. Vor einer knappen Stunde hatte sie mit Carlota vom Fenster aus beobachtet, wie der silbergrau livrierte Chauffeur Dom Miguel die Autotür aufhielt. Er hob grüßend die Hand zum Abschied, dann war die Limousine lautlos davongefahren. Es gab keinen Grund, ängstlich zu sein. Dennoch trat Elizabeth nur zögernd in den Raum und ging über den weichen Teppich zum Nachttischchen. Plötzlich blieb sie stehen. Ihr war, als ob sich im benachbarten Raum etwas geregt hatte. Die Verbindungstür war nur angelehnt, vermutlich führte sie zu einem Ankleide oder Badezimmer. War Dom Miguel etwa unbemerkt zurückgekommen? Unruhig schaute sie um sich, und da sie Schritte zu hören glaubte, die sich der Tür näherten, suchte sie nach einem Versteck. Vor lauter Panik kam sie nicht auf die Idee, einfach auf den Korridor hinauszugehen. Statt dessen verbarg sie sich hinter den schweren Samtvorhängen, die ein wenig zugezogen waren. Närrin! schalt sie sich im gleichen Moment. Dom Miguel war zu Hause, und nun war sie gefangen. Vielleicht würde er das Zimmer sofort wieder verlassen… vielleicht entschloß er sich aber, ein wenig auszuruhen. Dann würde er sich ganz bestimmt erst ausziehen! Das war das Idiotischste, was ich tun konnte, warf sie sich selbst vor. Es wäre doch leicht zu erklären, daß sie nur das Notizbuch in sein Zimmer hatte bringen wollen, wenn er sie wirklich hier vorgefunden hätte. Und zwar auf Inas Wunsch, aus purer Rücksicht auf sie… Was sollte sie nun tun? Die Frage erübrigte sich, weil sie in diesem Moment hörte, wie die Verbindungstür geschlossen wurde. Sehr leise fiel sie ins Schloß. Auf einmal sah sie schattenhaft die Silhouette einer Frau, die auf die Eingangstür zu Dom Miguels Zimmer zuging. Auf Zehenspitzen, wie Elizabeth bemerkte, als sie vorsichtig hinter dem Vorhang hervorschaute. Über dem Arm hing ihr ein kostbarer Pelzmantel – ein Nerz! Elizabeth erkannte eines der Hausmädchen, das sich noch mit einem besorgten Blick zurück versicherte, daß sie die Tür zum Nebenraum fest zugemacht hatte, und das dann im Korridor verschwand. Auch diese Tür schnappte sehr leise zu. Elizabeth kam aus dem Versteck hervor, legte Notizbuch und Füllfederhalter auf das Bettischchen und starrte lange auf den Eingang zum Nebenzimmer. Ein Nerzmantel…Wieso hatte Dom Miguel einen Damenmantel in seinem Ankleidezimmer? Kümmere dich nur um deine eigenen Angelegenheiten, mahnte eine Stimme in ihr. Aber ihre Neugier war schon zu groß geworden. Obwohl sie wußte, daß sie etwas Unrechtes tat, wagte sie einen Blick in den Nebenraum. Sie stand starr von ungläubigem Staunen erfüllt. Also war Dom Miguel verheiratet gewesen! Langsam, wie von einem Magneten angezogen, ging Elizabeth zu dem ihr einmalig schön und wertvoll erscheinenden Toilettetischchen hinüber. Auch die anderen Möbel waren auserlesene Stücke, wenn sie auch nicht beurteilen konnte, aus welchem Jahrhundert sie stammten. Auf dem Spiegeltischchen lagen Bürsten mit vergoldetem Rücken, standen Kristallflakons und Dresdener Porzellanfiguren, die ihre Hände ausstreckten… sie hielten Ringe, Ketten, Armbänder. Sie nahm eine der Bürsten in die Hand. Sie trug die Initialen D AP. de C. Doch auch als sie die Bürste längst zurückgelegt hatte, stand Elizabeth noch wie angewurzelt da. Ihre Gedanken beschäftigten sich mit den verschiedenen kleinen Zwischenfällen, die in ihr den Argwohn erweckt hatten, daß es ein Geheimnis gab: Die Lücke neben des Grafen Porträt, Carlotas Verwirrung auf ihre
Bemerkung, daß Dom Miguel wohl einmal heiraten würde; die „Zofe“, von der sie versehentlich gesprochen hatte… Nun, dieser Raum war die Antwort Dom Miguels Frau war gestorben. Oder sollte er geschieden sein? Unwillkürlich schüttelte Elizabeth den Kopf. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß Dom Miguel eine Scheidung überhaupt in Betracht zog. Dom Miguel verwitwet, so jung, wie er war! Elizabeth erinnerte sich an den erschreckenden Ausdruck seines Gesichtes, als sie in der Porträtgalerie waren. Jetzt wußte sie, daß es ein Ausdruck maßlosen Schmerzes gewesen war. Schmerz, den er nicht überwinden konnte… Sie hielt den Atem an, das Herz tat ihr auf seltsame Weise weh. Plötzlich, ohne es mit dem Verstand begründen zu können, wünschte sie inbrünstig, nichts gesehen zu haben. Nicht zu wissen, daß der Conde eine Frau gehabt hatte, die er verwöhnt, beschützt – und über alle Maßen geliebt hatte. Endlich verließ sie den Raum und betrat Dom Miguels Schlafzimmer. Im Geiste stand plötzlich das Hausmädchen Rosaria vor ihren Augen, mit dem kostbaren Nerzmantel über dem Arm. Wahrscheinlich mußte sie die Garderobe der Toten pflegen und also auch den Pelz von Zeit zu Zeit lüften. Aber warum geschah es so heimlich, auf Zehenspitzen, mit diesem vorsichtig prüfenden Blick? Wenn Dom Miguel sie nun gar nicht beauftragt hatte? Wollte sie den Pelz etwa stehlen? Dann war da noch Carlota. Carlota und das Baby… Sie hatte erwähnt, daß sie viel allein war, wenn ihr Bruder zu seinen Besitzungen unterwegs war. Damals hatte sie den Mann kennengelernt, der der Vater ihres Babys wurde. War zu dieser Zeit Dom Miguels Frau mit ihm gereist? Würde er wirklich seine kleine Schwester sich selbst überlassen haben? Fragen über Fragen. Aber die wichtigste und quälendste war, warum die verstorbene Frau weder von Dom Miguel noch Carlota je erwähnt wurde. Und warum auch die Bediensteten offenbar zum Schweigen verpflichtet worden waren… In einem plötzlichen Schwächegefühl setzte sich Elizabeth auf das Bett. Sie fühlte sich unerklärlich deprimiert, etwas schnürte ihr die Kehle zu. Was um Himmels willen schmerzte so? Tat die Erkenntnis so weh, daß Dom Miguel verheiratet gewesen war? Mit aller Energie versuchte sie, die Fragen aus ihrem Bewußtsein zu bannen. Vergebens. Sie spürte, daß sie verwandelt war, seit sie die beiden Räume betreten hatte, daß das Rätsel sie nicht loslassen würde. Sie dachte an einen Abend, als sie mit Miguel und Carlota am kerzenbeleuchteten Tisch zu Abend gegessen hatte. Sie fühlte seine Augen auf sich ruhen, mit soviel Wärme wie nie zuvor. Einbildung, hatte sie sich gesagt und in eine andere Richtung geschaut. Doch als sie nach einer Weile verstohlen zu ihm hinsah, war sein Blick immer noch auf sie gerichtet. „Senhorita“, hatte er plötzlich förmlich gesagt, „haben Sie keinen Appetit, Sie essen ja gar nicht?“ Errötend hatte sie nach Messer und Gabel gegriffen. Sie war verwirrt und zugleich seltsam glücklich gewesen. Nach dem Essen waren die drei in den Salon gegangen, durch dessen offene Terrassentüren die linde Nachtluft drang. Der erleuchtete Garten lag vor ihren Blicken. Elizabeths Gedanken waren zu dem letzten Zusammentreffen mit Terry Kershawe zurückgewandert Sie erinnerte sich an die Angst vor ihm und dem Probejahr an seiner Schule, die schreckliche Angst, durch die sie zu ihrer Entscheidung getrieben worden war, des Condes Angebot anzunehmen. So vieles war seitdem in ihrem Leben anders geworden, daß sie immer noch fürchtete, aus diesem wundervollen Traum zu erwachen. Sie hatte Carlota angesehen, die wohlerzogen ein Gähnen unterdrückte. Das Mädchen würde
einmal heiraten – trotz allem, was geschehen war. Es würde ein Mann kommen, der dieses anziehende, junge Geschöpf so liebte, daß er alles verstand und verzieh. Dann würde sie überflüssig werden. Sie hatte Dom Miguel angeschaut, der in Gedanken versunken in den Park hinaussah. Der Conde Ramiro Vicente Miguel de Castro war von der Natur glänzend ausgestattet, schön, elegant, intelligent. Und dazu noch reich… Und wieder hatte sie an den Tag gedacht, voller Kummer, an dem ihre Dienste hier nicht länger benötigt wurden. Wie eintönig und glanzlos würde ihr Leben sein, wenn sie daheim in England als Lehrerin arbeitete. Aber sie würde sich eingewöhnen müssen… „Miguel“, hatte sie Carlota sagen hören. „Ich bin so müde. Entschuldigt ihr mich, ich möchte schlafen gehen.“ „Ja, Liebes, natürlich. Aber ich hoffe, es ist wirklich nur Müdigkeit, nichts anderes?“ hatte er besorgt gefragt. „Wir sind heute morgen stundenlang gelaufen, Elizabeth und ich“, beruhigte sie ihn lächelnd. Dann hatte sie ihren Bruder aufmerksamer angesehen. „Mir scheint, du siehst besonders angestrengt aus – ich glaube, du arbeitest zuviel.“ „Ja, ich sollte mich wirklich etwas ausruhen“, hatte er überraschend bereitwillig zugegeben. „Wir sollten Urlaub machen.“ Carlotas Gesicht strahlte. „Das wäre wundervoll. Wohin wollen wir fahren?“ Don Miguel zuckte lächelnd mit den Achseln. „Ich habe keine besonderen Wünsche. Ich werde dir und Elizabeth die Entscheidung überlassen.“ Ein glücklicher Schauer hatte Elizabeth bei diesen Worten überrieselt. Zum erstenmal hatte er das formelle „Senhorita“ fallenlassen. Er war zwar immer höflich und freundlich zu ihr. Aber stets blieb eine Distanz zwischen ihnen. „Meinen Sie wirklich“, hatte sie ganz verlegen gefragt, „daß ich mit Ihnen verreisen soll?“ „Aber selbstverständlich“, rief Carlota spontan dazwischen. „Ich kann gar nichts mehr ohne Sie anfangen, Elizabeth.“ Ein Lächeln hatte des Condes Gesicht erhellt. Es erlosch, als Carlota gute Nacht gesagt und den Salon verlassen hatte. Elizabeth erinnerte sich an seine Worte. „Sie sind für meine Schwester besser als jede Medizin, Senhorita“, hatte er gesagt, als sie beide allein waren. „Ich hoffe, daß Sie immer bei uns bleiben werden.“ Überrascht von diesem unerwarteten Wunsch, vergaß Elizabeth das leise Gefühl der Enttäuschung, das sie verspürte, als er zu der förmlichen Anrede zurückgekehrt war. Sie hatte ihn verwirrt angeschaut und gesagt: „Carlota wird eines Tages heiraten, Dom Miguel. Dann wird meine Anwesenheit nicht mehr erforderlich sein.“ „Heiraten…“ wiederholte er mit hochgezogenen Brauen. „Ich fürchte, Carlota kann nicht heiraten, Senhorita.“ Mit einer schlecht verhehlten Empörung setzte Elizabeth ihm auseinander, daß ihrer Ansicht nach ein einziger Fehler nicht das ganze Leben seiner Schwester zerstören könne. Dom Miguels Miene hatte sich verschlossen. „Hierzulande wird das, was Carlota geschehen ist, nicht als ein .Fehler’ bezeichnet. Wiegt er bei Ihnen nicht schwerer?“ Sie erschrak. Sie spürte genau die Kritik in seiner Frage, den forschenden Blick der metallischgrauen Augen, seine plötzlich steifere Haltung… All dies signalisierte ihr, wie wichtig ihre Antwort für ihn war. Sie war auf der Hut, als sie leise erwiderte: „Ich habe solche Geschehnisse nie leichtgenommen, Dom Miguel, bitte, glauben Sie es mir. Andererseits hüte ich mich davor, über Menschen leichtfertig den Stab
zu brechen. Sie wissen, daß es in der Bibel heißt: Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein. Ich kann doch niemanden richten, nur weil mir so etwas gottlob nie geschehen ist.“ Unwillkürlich hatte sie beim Sprechen den Kopf geschüttelt. Das Licht zauberte goldene Reflexe auf ihr Haar, so daß der Conde seinen Blick nicht von ihr wenden konnte. „Sie sind sehr großmütig, Senhorita“, sagte er endlich und fügte nach einer Pause hinzu: „Aber mit ihrem letzten Satz bin ich nicht ganz einverstanden. Jeder kann selbst entscheiden, ob er sich in Gefahr begibt oder nicht. Meine Schwester hat ihr Schicksal herausgefordert.“ Eine Weile entstand ein drückendes Schweigen. Der Conde hatte so leidenschaftslos gesprochen, er schien so endgültig über Carlotas Leben entschieden zu haben, daß Elizabeths Mitgefühl über ihre Vorsicht siegte. „Kein so junges Mädchen, besonders keines in Carlotas Stellung, fordert so ein Schicksal heraus! Carlota hat mir erzählt, daß sie ganz allein war, während Sie fort waren…“ Sie brach ab, weil sie sich bewußt wurde, wie falsch es war, das zu erwähnen. Trotzdem sah sie gespannt zu ihm hin. Wie würde er es aufnehmen, daß sie ihn auf einen entscheidenden Fehler aufmerksam gemacht hatte? Das Blut stockte ihr, als sie bemerkte, daß sich des Condes Miene vor ihren Augen wieder in diese unbarmherzige, grausame Maske zu verwandeln schien. Sie mußte in ihm eine Erinnerung wachgerufen haben, die unerträglich für ihn war. Am liebsten hätte sie ihn um Verzeihung gebeten, daß sie ihn mit ihren Worten so getroffen hatte – aber sie brachte es nicht fertig zu sprechen. Statt dessen sagte Dom Miguel mit gepreßter Stimme: „Es war für mich nicht vorauszusehen, daß sie auf diese verhängnisvolle Weise alleingelassen wurde.“ Er gewann seine Haltung zurück und setzte mit der gewohnten Höflichkeit hinzu: „Selbstverständlich fühle ich mich verantwortlich. Ich hätte so etwas eben doch voraussehen müssen…“ Voraussehen? Elizabeth sah ihn fragend an. Aber er schien weit fort zu sein, und eine innere Stimme warnte sie, ihn in seinen Gedanken zu stören. Er dachte an die Frau, die er geliebt hatte, wußte sie. Ihr Instinkt gebot ihr, aufzustehen, ihm gute Nacht zu wünschen und ihn alleinzulassen – allein mit seinen Erinnerungen. Sie stand schon, als er sich ihr zuwandte. Sie sah, daß er die Stirn runzelte und kaum merklich den Kopf schüttelte, so, als wolle er sie nicht gehen lassen. Als wolle er gar nicht allein bleiben mit seinen trüben Gedanken, seinen quälenden Erinnerungen. „Ich… ich wollte schlafen gehen“, stotterte sie und setzte sich linkisch wieder in den Sessel. „Sie sind müde, Senhorita?“ Das klang wieder völlig unpersönlich. „Eigentlich nein – aber ich hatte den Eindruck, daß Sie allein sein möchten.“ „Habe ich wirklich diesen Eindruck auf Sie gemacht?“ Ihre Hände erhoben sich in einer hilflosen Geste, als sie nach einer harmlos klingenden Erklärung suchte. „Sie wirkten, als ob… als ob Sie über etwas nachdachten. Ich nahm an, daß meine Anwesenheit störend sei.“ „Sie besitzen ein außergewöhnliches Einfühlungsvermögen“, hatte er schließlich gesagt und hinzugefügt, daß er keineswegs den Wunsch gehabt hätte, allein zu sein. Es erfüllte Elizabeth mit einer sonderbaren Wärme und Zufriedenheit, daß bei diesem überraschenden Zugeständnis seine Augen mit einem ungewohnt weichen Ausdruck auf sie gerichtet waren. Sie empfand, daß etwas Unerwartetes
auf sie zukam, und sie wußte nicht, ob sie sich freuen oder fürchten sollte. Als sie später in ihrem behaglichen Bett lag, wollte der Schlaf nicht kommen. Immer wieder überdachte Elizabeth das Geschehen dieses Abends. Beide waren sie verändert – der Conde und sie. Es war, als ob es auf einmal keinen Unterschied mehr zwischen ihnen gegeben hätte.
4. KAPITEL Elizabeth ging im Garten in der warmen Sommersonne auf und ab und wartete, daß Carlota aus ihrem Zimmer herunterkäme. Sie wollten gemeinsam den Sommermarkt von Sintra besuchen, der jedes Jahr stattfand. Elizabeth hoffte, dort ein hübsches Stück volkstümlicher Kunst zu finden. Sie sah zu Carlotas Balkon empor und lächelte verständnisvoll darüber, daß Carlota, wie fast alle jungen Mädchen, viel Zeit fürs Schönmachen brauchte. Sie ging zu einem der vielen Springbrunnen im Park und schaute dem Wasserspiel zu. Wieder einmal wandten sich ihre Gedanken Dom Miguel zu. Sie dachte an den ersten Abend, als der Conde sie aus der Privatklinik ins Hotel zurückgefahren hatte. Wie stark hatte schon damals seine Persönlichkeit auf sie gewirkt! Inzwischen war sie sich bewußt geworden, wie sehr er ihre Gefühle beherrschte, obwohl ihr Verstand sich dagegen wehrte. Deshalb hatte sie es auch in der letzten Zeit nach Möglichkeit vermieden, sich mit ihm zu unterhalten oder gar mit ihm allein zu sein. Sie quälte sich ja selbst, wenn sie, wie schon oft, nachts stundenlang wach lag und immer nur sein Gesicht vor sich sah. Wieder schaute Elizabeth zu Carlotas Fenster hinauf. Was macht sie da oben so lange, fragte sie sich, sie muß doch wissen, wie hübsch sie auch ohne das viele Makeup ist. Carlotas Augen waren auch ohne Lidschatten ausdrucksvoll genug, und ihr Mund brauchte wirklich keinen Lippenstift! Elizabeth beschloß, noch ein paar Schritte durch den Garten zu schlendern und gelangte ans Ende des Parks. Sie wollte gerade langsam zurückgehen, als sie zu ihrer Überraschung in einiger Entfernung eine Bewegung bemerkte. Es war nur ein rasches, farbiges Aufleuchten zwischen den Bäumen. Sie blieb stehen, obwohl sie fast sicher war, daß es eigentlich nur ein flüchtender Vogel gewesen sein konnte, der ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Trotzdem waren alle ihre Sinne angespannt. Ihr Herz klopfte schneller. Instinktiv versteckte sie sich hinter einem dicken Baumstamm. Ein Mann und eine Frau… Sie konnte sie auf diese große Entfernung nicht genau erkennen; außerdem behinderten blühende Büsche und hochwachsende Pflanzen die Sicht. Aber Elizabeth sah, daß die zwei miteinander sprachen und daß die Frau ein oder zweimal auf das Haus zeigte. Was hatte das Paar in Dom Miguels Park zu suchen? Wer waren die Leute? Am Ende Diebe? Aber das war absurd, sie verwarf diese Idee sofort. Diebe würden nicht am hellichten Tag im Park stehenbleiben und sich unterhalten. Was sollte sie jetzt tun? Hingehen und das Paar fragen, was es hier tat? Aber dann überlegte sie, daß es ja genausogut Angestellte des Conde sein konnten, die das Recht hatten, sich auf seinem Grund und Boden aufzuhalten. Ja, so muß es sein, dachte sie, und fand ihren Verdacht ein wenig töricht. Die Leute müssen hierher gehören! Kein Unbefugter würde sich trauen, in Dom Miguels Besitz einzudringen. „Elizabeth, wo bist du?“ hörte sie Carlota vom Haus her rufen, und sie schaute unwillkürlich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Flüchtig sah sie noch, wie der Mann und die Frau blitzschnell hinter einem Zierstrauch Deckung suchten. Widerstrebend kam sie hinter dem Baumstamm hervor und ging Carlota entgegen, die auf der Suche nach ihr durch den Park lief. „O Liebste, verzeihen Sie mir“, sagte Carlota ganz außer Atem. „Aber ich hab’ solange zu meiner neuen Frisur gebraucht. Mögen Sie sie so? Ich – “ „Carlota“, unterbrach Elizabeth sie, „ich habe eben ein Paar beobachtet, einen
Mann und eine Frau – dort drüben hinter den Sträuchern.“ „Einen Mann und eine Frau?“ wiederholte Carlota. Sie spähte in die Richtung, in die Elizabeth deutete. „Nun ja, wir haben viele Gärtner oder Landarbeiter, die im Park arbeiten, sogar am Sonntag.“ „Aber die Frau – was tut sie denn hier?“ Mit gerunzelter Stirn versuchte Elizabeth, sich darüber klarzuwerden, ob sie sich nicht völlig unnötige Gedanken machte. Ob das Paar sich wirklich so verdächtig benahm, wie sie sich einbildete. Vielleicht waren es auch nur Verliebte – ein Angestellter von Dom Miguel, der seine Freundin treffen wollte, die sich in den Garten geschlichen hatte, um ihn zu sehen. Das wäre eine einleuchtendere; romantischere Erklärung für das Versteckspiel der beiden. „Ich kann mir auch nicht vorstellen, was eine Frau im Garten zu suchen hat“, antwortete Carlota nachdenklich. „Ich sehe allerdings niemanden…“ „Sie verschwanden hinter dem Gebüsch, als Sie nach mir riefen.“ Carlotas Augen suchten noch immer den Park ab. Da sie jedoch nicht sonderlich interessiert oder gar aufgeregt schien, fügte Elizabeth achselzuckend hinzu: „Es wird schon irgendeine Erklärung geben, nehme ich an. Aber im Augenblick werden wir sie kaum finden. Wollen wir aufbrechen?“ Als sie, von dem Chauffeur gefahren, unterwegs waren, nahm Carlota ganz unerwartet doch noch einmal das Thema auf. „Ich wünschte, Miguel wäre zu Haus. Wir könnten ihm diese unerklärliche Geschichte mit der Frau erzählen.“ „Ja“, nickte Elizabeth mit einem unhörbaren Seufzer. „Das wäre natürlich gut.“ Dom Miguel war auf seiner Quinta in der Nähe von Portoalegre, wo er riesige Flächen mit Korkeichen bepflanzt hatte. Seine Abwesenheit würde vier oder fünf Tage dauern, hatte er erklärt, und nach seiner Rückkehr sollten die gemeinsamen Ferien beginnen. Doch die beiden Mädchen hatten sich noch immer nicht entschieden, wohin die Reise gehen sollte. Carlotas Vorschlag, Elizabeth die Hauptstadt Lissabon zu zeigen, war sehr verlockend. Aber Elizabeth hatte doch widersprochen. Für Dom Miguel, fürchtete sie, würden die Tage in der heißen, lärmenden Stadt keine Erholung sein. Sie hatte Carlota daran erinnert, daß Dom Miguel abgespannt war und dringend Ruhe brauchte. Der Sommermarkt in Sao Pedro de Sintra übertraf noch Elizabeths Erwartungen. Sie genoß das farbenfrohe, fröhliche Menschengewühl und kaufte, nachdem sie sich gründlich umgeschaut hatte, zwei Elfenbeinfigürchen, einen farbig bemalten, glasierten Tonkrug und an einem anderen Stand handgearbeitete Spitzendecken. „Ich fürchte, wir bekommen wohl kaum noch irgendwo etwas zu essen“, meinte endlich Carlota enttäuscht. „Es ist nach zwei Uhr, und ich hab’ schrecklichen Hunger. Am besten, wir fahren heim und essen dort.“ „Ich weiß, wo die Senhoritas noch etwas bekommen“, sagte der Chauffeur zu den Mädchen, die unschlüssig am Auto stehengeblieben waren. „Im Palacio de Seteais.“ „Wissen Sie das bestimmt, Gregorio?“ erkundigte sich Carlota eifrig. „Ja, sicher, Senhorita“, antwortete er respektvoll. Wenige Minuten später waren sie zu dem prächtigen „Palast der sieben Seufzer“ unterwegs, der im vorigen Jahrhundert von einem holländischen Diamantenhändler erbaut, dann vom Staat gekauft und jetzt ein Hotel geworden war. Auf einer Terrasse, von der man über den gepflegten Garten bis zu einem See hinunterschauen konnte, tranken die beiden Sherry und leisteten sich dann ein wahres Festessen. Als Vorspeise gab es geeiste Melone mit Schinken, dann wurde gebratene Ente mit safrangelbem Reis serviert, und als Nachspeise
nahmen sie flambierte Kirschen und Eis.
„Das war köstlich“, rief Carlota am Ende zufrieden aus, und Elizabeth lächelte,
weil es so kindlich klang.
„Sie tun so, als ob Sie noch nie in Ihrem Leben so gut gegessen haben, Carlota.“
„Doch, natürlich. Aber wissen Sie, warum ich es so genossen habe? Weil Sie bei
mir sind. Ich bin meinem Bruder so dankbar, daß er Sie zu uns geholt hat.“
„Das hört sich richtig feierlich an, und ich werde rot, wenn Sie mir weiter so
schmeicheln, Carlota. In Wirklichkeit bin doch ich der Glückspilz, daß ich einen so
guten Posten bekam, einen so wenig anstrengenden noch dazu! Ich hab’ mir
schon oft gesagt, daß ich mein Gehalt eigentlich gar nicht verdiene.“
„Geld“, meinte Carlota mit einem leicht verächtlichen Naserümpfen. „Wir beide
wollen doch nicht von Geld sprechen. Ich hab’ die Vorstellung von Anfang an
nicht gemocht, daß Miguel Ihnen ein Gehalt zahlt.“
„Nein?“ Elizabeth konnte ihre Belustigung nicht verbergen.
Carlota lächelte und streckte ihr, wie um Verzeihung bittend, die Hand entgegen.
„Selbstverständlich müssen Sie ein Gehalt haben – ich hoffe, Sie verstehen, was
ich sagen wollte. Ich möchte an Sie nur als Freundin denken. Wissen Sie, ich hab’
noch nie eine Freundin gehabt.“ Ihre Stimme klang so ernst und eindringlich, daß
Elizabeth ihr voller Herzlichkeit zunickte, sie aber nicht unterbrach. „Dora konnte
mich nicht ausstehen, und darum nahm sie mich niemals irgendwo mit hin.“
Abrupt brach sie ab und starrte Elizabeth erschrocken an. Sie winkte dem Ober,
beglich die Rechnung, und beide schwiegen, bis sie wieder im Auto saßen und
Gregorio heimwärts fuhr.
„Dora war Ihre Schwägerin?“ Elizabeths Frage klang ganz normal. Sie hatte
sofort an die Haarbürsten mit den Initialen gedacht, die sie auf dem
Toilettentischchen gesehen hatte. Es war an dem Tag, als Rosaria mit dem
Nerzmantel durch Dom Miguels Schlafzimmer schlich.
Carlotas langes Zögern, bevor sie Elizabeth antwortete, war seltsam. Aber
schließlich überwandte sie sich doch.
„Ja, sie war meine Schwägerin“, erklärte sie. Mehr sagte sie nicht.
Elizabeth wagte nicht, weiter in sie zu dringen. Obwohl sie ungeduldig wünschte,
einen Zipfel des Geheimnisses zu lüften, hatte sie doch eine unklare Angst davor,
die Wahrheit zu erfahren.
„Ich hätte nicht von Dora sprechen dürfen“, gestand Carlota schließlich ein wenig
ängstlich. „Mein Bruder hat allen verboten, sie auch nur zu erwähnen. Aber
eigentlich bin ich froh, daß ich es Ihnen gesagt habe. Irgendwann einmal wäre
mir der Name doch entschlüpft. Es ist so schwer, immer auf der Hut zu sein und
nichts zu erzählen. Sie werden es doch meinem Bruder nicht verraten, –
Elizabeth?“
„Nein, sicher nicht, Carlota.“ Nach einer kleinen Pause setzte sie folgendes hinzu:
„Sie ist gestorben, nehme ich an?“ Mit seltsamer Spannung wartete sie auf die
Antwort Sie mußte sich eingestehen, daß es für sie eine Erleichterung bedeuten
würde, wenn sie endgültig erführe, daß die Frau des Conde nicht mehr lebte.
„Ja, sie ist tot.“ Aber etwas Unausgesprochenes schwang in Carlotas Stimme, das
durch diese dürren Worte nicht erklärt war.
Grenzenloses Mitleid mit Dom Miguel erfüllte Elizabeth. Leise sagte sie: „Ihr
Bruder hat sie wohl über alle Maßen geliebt…“
Carlota nickte. „Er betete sie an. Sie können sich nicht vorstellen, Elizabeth, wie
schön meine Schwägerin war. Mein Bruder war völlig gebrochen, als er sie
verlor.“
Elizabeth atmete tief, doch der beklemmende Druck, der ihr die Kehle einengte,
wollte nicht weichen. Wieder stieg die Erinnerung an den Tag in ihr auf, als sie
mit Dom Miguel in der Porträtgalerie zusammengetroffen war. Er hatte das Abbild seiner geliebten Frau entfernt… Aber einmal würde seine grenzenlose Trauer gemildert sein, mit der er jetzt noch nicht fertig werden konnte. Einmal würde auch er sich dem Leben wieder zuwenden. „Wann?“ fragte sie, noch ganz in ihre Gedanken versunken, und erschrak. „Verzeihung, Carlota, ich weiß, auch für Sie ist es schmerzlich, von Ihrer Schwägerin zu sprechen.“ „Ach nein, mir macht es nichts aus. Vor allem jetzt nicht mehr, nachdem ich sie Ihnen gegenüber endlich einmal erwähnt habe. Sie ist vor acht Monaten gestorben.“ Acht Monate… Elizabeth starrte auf Gregorios Rücken und dachte an Carlotas Bemerkung, daß Dora sie niemals irgendwohin mitgenommen hatte, weil sie sie nicht hatte leiden können. „Sie sagten einmal, daß Sie so allein gewesen wären, wenn Ihr Bruder verreiste. Fuhr seine Frau mit ihm?“ „Nein, sie blieb zu Hause.“ Eine neue Frage unterdrückte Elizabeth im letzten Moment. Sie fürchtete, Carlota könnte sie für neugierig und indiskret halten. Aber Carlota schien ihre Gedanken zu erraten. Sie erzählte freiwillig, daß Dora viele Freunde gehabt hätte und ständig eingeladen worden wäre. Eben darum wäre sie oft allein gewesen, weil Dora häufig länger fortblieb. Nur so war es auch möglich, daß sie sich sogar über die Aufmerksamkeiten des Mannes gefreut hatte, der ihr Unglück verschuldete. „So sehr mein Bruder auch seine Frau liebte – als er herausfand, was mit mir geschehen war, richtete sich sein ganzer Zorn gegen sie“, sagte Carlota. Ihr Gesicht wurde blaß, als sie die Szene schilderte. „Dora wollte die Schuld nicht auf sich nehmen. Und ich habe meinem Bruder gesagt, daß die Verantwortung für das, was ich getan habe, nicht Doras, sondern meine Sache sei. Ich – ich wußte, was ich angerichtet hatte.“ Carlota wandte ihr Gesicht zum Fenster und starrte blicklos in die vorüberziehende Landschaft. „Es bedrückt mich immer noch, daß ich die Ursache dieses fürchterlichen Streits zwischen Miguel und Dora war – so kurz vor ihrem Tod. Eine Woche später starb sie.“ „So plötzlich! Ist sie verunglückt?“ Carlota wandte sich Elizabeth wieder zu. „Ich weiß es nicht.“ Sie wirkte starr und unnatürlich ängstlich. Ihr Gesicht war nun kreideweiß. „Dora verreiste, und mein Bruder wurde zu ihr gerufen. Als er zurückkam, wirkte er wie betäubt. Seither ist er so streng und überhaupt ganz verändert. Er hat nur gesagt, daß Dora tot sei und ihr Name nie erwähnt werden dürfe.“ Carlota schluckte. Mit schwankender Stimme fuhr sie fort: „Ich nahm an, er konnte es nicht ertragen, von ihr zu sprechen. Er hat es auch all unseren Angestellten gesagt. Aber selbstverständlich werden die miteinander doch darüber geredet haben. Sehen Sie, Elizabeth, irgendwie war alles so seltsam. Miguel sagte nur noch, daß sie in Griechenland gestorben und dort begraben sei. Sie hatte dort Freunde auf einer kleinen Insel. Und das Gesetz befiehlt, daß ein Toter nach ein oder zwei Tagen beerdigt werden muß. Wahrscheinlich, weil’s dort so heiß ist.“ Wie schwer hatte das Schicksal den glücklichen, reichen Conde de Castro getroffen, dachte Elizabeth. Seine Frau in fremder Erde zu begraben, statt in dem Familiengrab nahe dem Palacio, wo seine Eltern lagen. Die Schande, die seine kleine Schwester erlitten hatte. Nun verstand sie, warum Dom Miguel so oft abweisend und distanziert wirkte, völlig versponnen in eine eigene Welt, zu der andere keinen Zutritt hatten.
„Wie lange waren sie verheiratet?“ erkundigte sie sich, und Carlota erzählte, daß sie kurz vor Doras Tod den fünften Hochzeitstag gefeiert hatten. „Fünf Jahre – und keine Kinder?“ sprach Elizabeth halblaut ihre Gedanken aus. „Nein, kein Kind, und wie sehnsüchtig hat sich mein Bruder einen Sohn gewünscht“, meinte Carlota. „Ich weiß nicht, ob er je die Hoffnung aufgegeben hat. Aber vielleicht sollte es nicht sein…“ Elizabeths Phantasie beschäftigte sich mit Dom Miguels toter Frau. Er schien sie abgöttisch geliebt zu haben, doch irgendwie nahm die Tote in Elizabeths Vorstellung Züge an, die nicht sympathisch waren. Vielleicht, weil sie wußte, daß Dora Carlota nicht gemocht hatte. Sie selbst empfand eine so starke Zuneigung zu dem jungen liebebedürftigen Geschöpf, daß sie nicht verstehen konnte, wie eine Frau es fertigbrachte, Carlota schlecht zu behandeln. Aus dieser Überlegung heraus fragte sie: „Wußte Ihr Bruder eigentlich, daß Dora nicht gut zu Ihnen war, Carlota? Daß sie Sie nicht ausstehen konnte?“ Wieder fürchtete sie, daß Carlota ihre Frage als eine Einmischung in interne Familienangelegenheiten empfinden und sie zurückweisen könnte. Aber zu ihrer Erleichterung blickte das Mädchen sie mit einem kleinen traurigen Lächeln an. „Ich habe es Miguel verschwiegen. Ich habe bis zuletzt gehofft, daß Dora ihre Abneigung gegen mich verlieren würde. Ich wußte gar nicht, was sie an mir auszusetzen hatte. Ich war ja erst eineinhalb Jahre, als sie zu uns kam, damals als Miguels Braut, wissen Sie. Ich sagte mir, daß sie es als störend empfinden mußte, wenn sie einen Teenager mitheiratete. Natürlich war mir das anfangs nicht so klar wie heute…“ Elizabeth fand die Erklärung für die herzlose Haltung einem Kind gegenüber nicht ausreichend. Aber sie wagte nicht, weiter in Carlota zu dringen. Statt dessen sagte sie: „Eines Tages sah ich mich in Ihrer Ahnengalerie um und entdeckte eine Lücke neben dem Porträt Ihres Bruders. Wie schwer muß ihn der Verlust seiner Frau getroffen haben, daß er ihr Bild entfernte.“ „Ja, er tat es sofort nach seiner Rückkehr aus Griechenland. Es war schrecklich.“ Ein spürbarer Schauder überlief Carlota, so daß Elizabeth unwillkürlich tröstend den Arm um sie legte. „Er wirkte wie ein Wahnsinniger, und dabei… dabei war er unheimlich fuhig. Er sah aus wie einer, der morden könnte. Sie können es sich nicht vorstellen, Elizabeth. Ich weinte und weinte, aber er nahm gar keine Notiz von mir. Ich glaube, auch das Personal wunderte sich über seinen Befehl, das Bild abzunehmen. Er gab Gregorio die Anweisung, es auf den Dachboden zu bringen, wo alte Möbel, Kleider, also eigentlich das Gerumpel aufbewahrt wird.“ „Auf den Dachboden?“ wiederholte Elizabeth fragend und starrte Carlota ungläubig an. „Wie seltsam.“ „Ja, ich fand es auch sonderbar. Aber ich glaube, daß mein Bruder in der ersten Zeit völlig verstört war. Wie jemand, der unter einem Schock steht.“ Elizabeth nickte, und Carlota fuhr fort: „Jetzt wirkt er wieder so wie früher. Ich meine, er läßt es sich nicht anmerken, daß er Kummer hat, finden Sie nicht auch, Elizabeth?“ „Doch, Sie haben wohl recht, Carlota. Aber häufig scheint Ihr Bruder ganz abwesend, völlig in seine Gedanken versponnen. Vielleicht kämpft er dann mit seinen Erinnerungen.“ „Ja, er ist immer noch stiller als früher. Er war nie ein übermütiger, besonders lebhafter Mensch. Aber er war sonst gleichmäßig heiter und gesprächig. Jetzt habe ich oft das Gefühl, daß er selbst dann, wenn er abends mit uns zusammen ist, sich im Grunde furchtbar einsam fühlt.“ Abwesend nickte Elizabeth. Sie hatte dasselbe gedacht Carlotas und ihre Gegenwart würden ihn kaum über den Schmerz um seine Frau hinwegtrösten
können. Nur die Zeit konnte ihm helfen. Aber vielleicht würde er Jahre brauchen. Sie fühlte sich auf eine sonderbare Weise niedergeschlagen und irgendwie zurückgewiesen, ohne daß sie einen Grund dafür fand. Als sie den Palacio erreicht hatten, nahm ein ungewöhnlicher Lärm am anderen Ende der Halle ihre Aufmerksamkeit in Anspruch. Carlota sah Elizabeth überrascht an und blieb stehen. „Was mag dieser Krach zu bedeuten haben?“ Der Ton von Carlotas Stimme und die hochmütige Haltung, als sie einen scharfen Befehl auf portugiesisch ausrief, erstaunten Elizabeth. Sie verstand die Worte nicht, aber der Sinn war eindeutig, zumal die Haushälterin mit hochrotem Gesicht und entschuldigendem Gebaren auf sie zukam. Eine neue Frage folgte, dann eine Antwort und rasch wieder eine Frage. Carlotas Gesicht wirkte eisig, und die Haushälterin kroch förmlich. „Es ist mir unbegreiflich, wie sie hier in der Empfangshalle einem Mädchen eine Szene machen kann, so eine Art Strafgericht“, erklärte Carlota, zu Elizabeth gewandt. „Wie kann sie es nur wagen? Wenn sie sich schon streiten, dann sollen sie es in den Personalräumen tun – nicht hier. Mein Bruder hätte sie augenblicklich entlassen, wenn er das miterlebt hätte. Genau das habe ich ihr gesagt.“ Sie selbst hatte der Haushälterin offenbar noch einmal verziehen, und Ina war, so schnell sie mit ihren rheumatischen Gliedern vermochte, verschwunden. „Der ganze Krach ging um Rosaria“, fuhr Carlota auf englisch fort. „Ina sagt, daß das Mädchen immer wieder ausreißt.“ Sie gingen in den behaglichen kleinen Wohnraum, in dem sie sich am liebsten aufhielten. „Carlota“, sagte Elizabeth impulsiv, „halten Sie es für möglich, daß die Frau im Park heute morgen Rosaria gewesen sein könnte?“ Statt einer Antwort begann Carlota sich zu entschuldigen. „Es tut mir leid, daß ich so unbeherrscht war. Sie wissen, daß ich mich sonst nicht so aufführe, aber wir können den Angestellten so etwas nicht durchgehen lassen. Mein Bruder sagt, er müsse streng mit ihnen sein, sonst könne er sich während seiner Abwesenheit auf keinen von ihnen verlassen.“ „Ihre Haltung hat mich beeindruckt“, lächelte Elizabeth. „Aber Ina tat mir beinahe leid.“ „Im Grunde hat sie nur ihre Pflicht getan, wenn sie Rosaria bestrafte. Doch es hätte nie in der Halle geschehen dürfen, wo wir davon gestört werden.“ Sie dachte einen Augenblick nach und fuhr dann fort: „Ich glaube nicht, daß Rosaria morgens im Park war. Inas Strafgericht wäre dafür reichlich spät gekommen, meinen Sie nicht?“ Das schien logisch. Dennoch konnte Elizabeth den Gedanken an dieses Mädchen, das an den unerwartetsten Stellen im Haus auftauchte, nicht verdrängen. Ina hatte ja auch gesagt, daß Rosaria schon oft ausgerissen sei, und für dieses merkwürdig verstohlene Wegtragen des Nerzmantels hatte sie noch immer keine plausible Erklärung gefunden. Was geht es dich an, schalt sie sich selbst aus, als sie vor dem Zubettgehen vor dem Spiegel ihr Haar bürstete. Selbst wenn im Haus und mit Rosaria nicht alles mit rechten Dingen zuging – mit ihr hatte es nichts zu tun! Als die Zeit von Dom Miguels Rückkehr nahte, war Elizabeth von einer freudig erwartungsvollen Unruhe erfüllt. Ihr klarer Verstand sagte ihr, daß diese Vorfreude durch nichts begründet war. Aber sie gestand sich ein, daß allein seine Anwesenheit, das so selten aufscheinende Lächeln, das warme Licht in den grauen Augen, das sie manchmal beobachten konnte – daß alles dieses den Reiz ihres Lebens im Palacio ausmachte.
Auch Gariota schien sich auf ihn zu freuen. Als sie am letzten Tag seiner Abwesenheit spazierengingen, sagte sie mit so viel Fröhlichkeit in der Stimme, wie Elizabeth es noch nie von ihr gehört hatte: „Morgen um diese Zeit wird Miguel hier sein! Ich ertappe mich dabei, daß ich ihn so ungeduldig erwarte wie ein Kind den Weihnachtsmann. Genauso würde ich empfinden, wenn ich einmal auf Ihre Gesellschaft verzichten müßte. Ist das nicht übertrieben?“ „Nein“, lächelte Elizabeth und sah sie liebevoll an. „So soll es sein zwischen Menschen, die sich gern haben.“ „Ja, aber es ist so neu für mich. Bevor Sie kamen, war ich trotz Miguel eigentlich immer allein – schrecklich allein!“ „Ich bin froh darüber, daß ich jetzt für Sie da sein kann. Und wenn ich einmal von hier fortgehe, dann weiß ich sicher, daß wir Freunde bleiben werden, Carlota.“ Wenn sie fortging… dachte sie. Dom Miguel hatte einmal ausgesprochen, daß sie hier für immer bleiben sollte. Aber da nach seiner Überzeugung Carlota nie heiraten würde, mußte er wünschen, sie als Gesellschafterin für seine Schwester im Haus zu behalten. Doch Elizabeth teilte seine Ansicht nicht, daß Carlota zur Einsamkeit verdammt war. Sie war zu hübsch, zu liebenswert. Das mußte die Männer anziehen. Eines Tages würde der eine kommen, der ihren Fehltritt, begangen als ein halbes Kind, hinnehmen, verstehen und entschuldigen konnte. An diesem Tage würde Elizabeth überflüssig sein und heimfahren müssen, weil es dann keine Aufgabe mehr für sie gab. „Wenn Sie einmal fortgehen?“ Erschrocken war Carlota stehengeblieben. „Sie sollten nie mehr fortgehen, Elizabeth. Versprechen Sie mir, daß Sie hierbleiben.“ Elizabeth konnte nicht weitergehen, weil Carlota sie am Arm festhielt. Sie sah, daß sie ein wenig blaß geworden war und wirklich Angst hatte, sie zu verlieren. „Ich werde bestimmt nicht vor dem Tag weggehen, an dem Sie mich nicht mehr brauchen“, versprach sie ernsthaft. „Ich werde Sie immer brauchen.“ Dann nahm Carlotas Gesicht einen überraschten Ausdruck an. „Wieso glauben Sie, daß ich Sie eines Tages nicht mehr brauchen würde?“ Elizabeth suchte nach Worten, um Carlota, ohne ihr weh zu tun, von den Gedanken um ihre dereinstige Hochzeit zu erzählen. „Sie werden erwachsen“, sagte sie schließlich. „Und dann wollen Sie mich gar nicht mehr immer um sich haben.“ „Das meinen Sie ja gar nicht“, rief Carlota, die Elizabeths Gedanken erriet. „Sie glauben, ich könnte später heiraten.“ Ihre Stimme bebte plötzlich. Minuten vorher hatte sie so fröhlich geklungen. Jetzt sah Carlota wieder so bedrückt aus wie in der ersten Zeit nach der Rückkehr aus England. „Ich werde nie heiraten… Nein, bitte, unterbrechen Sie mich nicht, Elizabeth. Ich möchte einmal klar aussprechen, wie meine Zukunft aussehen wird. Und dann wollen wir nie mehr davon reden. Bei uns in Portugal, so wie in anderen romanischen Ländern, müssen wir Mädchen unberührt in die Ehe gehen. Kein Mann wird je bei meinem Bruder um meine Hand anhalten.“ Sie wandte das Gesicht ab, damit Elizabeth nicht die Tränen in ihren Augen sehen sollte. Sie tat, als ob sie den Vögeln zuschaute, die fröhlich am Rand des Springbrunnens herumhüpften. „Für mich gibt es keinen Grund, der so entscheidend ist, daß Sie nie heiraten könnten“, entgegnete Elizabeth bestimmt. Sie war froh, daß dieses Thema einmal zwischen ihnen zur Sprache gekommen war. Nicht nur, weil es ihr bewies, daß die Freundschaft zwischen ihr und Carlota stark genug geworden war, um Ehrlichkeit und sogar Belastungen zu vertragen. Sie hoffte auch, dem sensiblen
Mädchen die Zukunftsangst nehmen zu könne, die dieses junge Leben beschattete. „Sie sind so hübsch, Carlota, und so lieb. Eines Tages werden sie bestimmt einen Mann für sich gewinnen, der glücklich sein kann, Ihre Liebe zu besitzen. Es ist unvermeidlich…“ Carlota schüttelte heftig den Kopf. „Wir müßten es ihm erzählen – und das wäre dann das Ende.“ „Nein, Liebes, das wäre es nicht! Wenn er Sie liebt, dann wird er begreifen, daß alles geschah, weil Sie jung, unerfahren und unschuldig waren – und ohne Schutz dazu.“ Carlota blickte sie großäugig an. „Das klingt, als ob Sie glauben, daß es nicht allein meine Schuld war.“ „Davon bin ich fest überzeugt.“ „Aber nicht alle, nein, fast niemand wird so tolerant sein wie Sie!“ „Doch, Carlota, das wird eines Tages so sein. Das heißt, ein ganz bestimmter Mensch wird es sein, und das ist dann derjenige, auf den es ankommt.“ Gedankenverloren ging Carlota weiter. Beide schwiegen eine Weile. Dann begann Carlota zu sprechen, und obwohl sie auf Elizabeths Prophezeiung nicht weiter einging, klangen ihre Worte wieder fröhlicher: „Sie sind so lieb zu mir, Elizabeth. Ich hab’ eine Bitte: Wollen Sie nicht du zu mir sagen?“ Gerührt legte Elizabeth den Arm um die fast kindlich zarten Schultern des Mädchens. „Wie gern, Carlota. Aber dann mußt auch du mich duzen – wir sind doch Freundinnen.“ Ein rascher Kuß besiegelte das gegenseitige Versprechen. Danach schritten beide, fast ein wenig verlegen, schneller aus. Inzwischen waren sie in den Teil des Parks gelangt, in dem Elizabeth, am letzten Sonntag das Paar gesehen hatte. Unwillkürlich ging sie zu dem Gebüsch hinüber, ohne etwas Bestimmtes zu suchen. Aber als sie ungefähr die Stelle erreicht hatte, an der sich die beiden versteckten, sah sie im Gras etwas glitzern. Überrascht blickte sie Carlota an, die ihr gefolgt war, und zeigte stumm auf die Erde. Carlota bückte sich und hielt in der offenen Hand einen Diamantclip. „Hast du ihn hier verloren?“ erkundigte sich Elizabeth. Ratlos schüttelte Carlota den Kopf und erklärte, daß er ihrer Schwägerin gehört hätte. „Dora?“ fragte Elizabeth völlig überrascht. „Die Steine sind echt? Dann müssen sie ein Vermögen wert sein.“ „Natürlich sind sie echt.“ Carlota sah noch immer fassungslos das Schmuckstück in ihrer Hand an. „Ich verstehe nicht, wie der Clip hierher kommt Dora muß ihn irgendwann verloren haben, Dora oder irgend jemand anderes…“ Sie brach den Satz ab, als ob sie nicht weiterdenken wollte. „Es ist so gespenstisch, Elizabeth. Bitte, nimm du ihn.“ Ehe Elizabeth widersprechen konnte, hatte sie ihr das Schmuckstück in die Hand gedrückt und fuhr fort: „Ich will es nicht an mich nehmen. Bitte, leg du es einfach zurück, ich möchte es nicht tun.“ „Unsinn. Wir können den Clip nicht einfach wieder hinlegen, Carlota. Wir müssen ihn an einem sicheren Platz aufbewahren. Willst du ihn nicht in ihr Zimmer zurückbringen?“ „Nein, das kann ich nicht. Ich gehe nie hinein“, erklärte Carlota hastig und schwieg dann, um ihre Gedanken zu sammeln. Sie war sich bewußt, daß Elizabeth sie mit einer Mischung aus Erstaunen und Erschrecken ansah. „Es ist… es ist kein Raum, in dem man sich glücklich fühlt.“ Sie flüsterte fast. „Ich bin erst einmal wieder drin gewesen. Es war dort noch immer ihre Anwesenheit
zu spüren. Alles schien von Dora zu sprechen… Und ich hab’ die entsetzliche Vorstellung, daß mein Bruder nachts häufig dort hingeht und in Gedanken ihr nahe ist oder gar mit ihrem Geist spricht…“ Elizabeth fühlte eine Gänsehaut. Sie erinnerte sich, wie sie Doras Zimmer betreten hatte. Nein, es war kein behaglicher Raum, in dem man wohnen möchte, stimmte sie Carlota innerlich zu. Er war zwar wunderschön eingerichtet, aber er verriet zu viel Besitzerstolz! Sie konnte sich nicht vorstellen, daß Dom Miguel ihn wirklich oft betrat. Es kam ihr krankhaft vor, und es sah ihm so gar nicht ähnlich… Da begann Carlota wieder zu sprechen, und Elizabeth war froh, daß sie in ihren Überlegungen unterbrochen wurde. „Was wollen wir denn mit dem Clip machen, Elizabeth? Du kannst ihn Miguel nicht geben. Es würde ihn traurig machen, weil er ihn Dora zum Geburtstag geschenkt hatte.“ „Ich will’s mir überlegen, Carlota. Vielleicht kann ich ihn mit deiner Erlaubnis in ihr Zimmer zurückbringen und ihn sicher in einer Schublade verwahren oder in einem Schmuckkasten.“ Elizabeth erinnerte sich, daß sie ein Kästchen auf dem Spiegeltisch gesehen hatte, als Rosaria… Wieder sah sie das Mädchen mit dem Pelzmantel deutlich vor sich, und Tage später war das Paar im Park verschwunden… Es war beinahe unmöglich, daß niemand von den beiden den Clip bemerkt haben sollte, ein so auffällig glitzerndes Stück im kurzgeschorenen Gras. Aber sie waren so blitzschnell weggelaufen und hatten sich hinter dem Busch versteckt, daß er dennoch ihrer Aufmerksamkeit hatte entgehen können. „Selbstverständlich hast du meine Erlaubnis“, bestätigte Carlota. „Ja, das ist wohl die beste Lösung. Alle ihre Sachen sind noch in ihrem Zimmer – genauso, wie sie dort waren, als sie verreiste.“ Alle ihre Sachen… Alle, außer dem Nerzmantel!
5. KAPITEL Als Dom Miguel zurückkehrte, wurde sofort über die Ferien entschieden. Sie alle wollten zu der Quinta reisen, die die Familie in der Provinz Minho im Norden Portugals besaß. „Aber du wirst doch auch richtig Urlaub machen“, bat Carlota, als der Reisetermin feststand. „Ich kenne es ja schon, Miguel, daß du doch immer beschäftigt bist, wenn wir auf einer deiner Quintas sind.“ Er lächelte. Sie warteten im Wohnzimmer auf den Nachmittagstee, und Miguel lehnte in einem der großen Armsessel. Er sah frischer und gebräunter aus als vor seiner Abreise, fand Elizabeth. Er wirkte auch gelöster als all die Zeit vorher. „Nun, dann hab’ ich auch eine Aufgabe vor mir“, meinte er fröhlich, „mich von der Arbeit fernzuhalten – was gar nicht so einfach ist!“ „Prima. Außerdem sind wir genau zur Zeit der ,Festa’ da.“ Carlota drehte sich zu Elizabeth um, die nun den Tee einschenkte. „Das wird dir gefallen, Elizabeth! Die Festa wird in der Stadt Viano do Castelo gefeiert, und alles strömt dorthin, weil es der Höhepunkt des ganzen Jahres ist. Die Frauen des Nordens tragen ihre Trachten: Röcke mit schwarzen Streifen, darüber reichbestickte Schürzen. Die Boleros haben Gold oder Silberstickereien, und die Fransentücher, die alle tragen, sind leuchtend bunt. Es sieht einfach himmlisch aus.“ Sie erzählte begeistert weiter. Nach einer Weile begegneten sich Dom Miguels und Elizabeths Blicke. Er lächelte und zog ein wenig die Brauen hoch über soviel kindliche Schwärmerei. Elizabeth ärgerte sich über sich selbst, weil ihr Herz sofort wieder rascher schlug, und sie sich seiner Gegenwart so beunruhigend bewußt war, daß sie auf der Hut sein mußte, ihn nicht zu oft anzuschauen, ohne etwas von ihren geheimen Gefühlen zu verraten. Sie wagte nicht einmal, sich selbst einzugestehen, was sie empfand. Aber eine unbestimmte Angst wuchs in ihr. Sie ahnte, daß ihr Kummer bevorstand, mit dem sie dann ganz allein fertig werden müßte. Rasch schob sie diesen Gedanken von sich. Nichts sollte ihr die Vorfreude auf die gemeinsame Reise nehmen. Nach zwei hektischen Tagen, in denen Carlota und sie einkauften und packten, fuhren sie am Morgen des dritten Tages tatsächlich in der großen Limousine die Küstenstraße entlang. Zum erstenmal in ihrem Leben war Elizabeth richtig leichtsinnig gewesen und hatte für das gesamte Geld, das sie bisher in Portugal verdient hatte, Kleider gekauft. In London war sie sich ihrer Stellung als Carlotas Gesellschafterin zu bewußt, sie hatte deshalb ihre Garderobe mehr nach diesem Gesichtspunkt ausgesucht – Tageskleider, ein sportliches Kostüm, einen leichten Wettermantel… Aber nun hatte der Conde erwähnt, daß sie sicher oft eingeladen sein würden, und sie an diesen Abenden dabeisein müßte. So hatte sie sich mit dem Vergnügen aller Frauen am Einkaufen drei Cocktailkleider, zwei Hemdblusenseidenkleider, einen schicken Hosenanzug, außerdem noch leichte Blusen und zwei Sommerröcke gekauft. Als sie sorgfältig ihre Garderobe in zwei Koffer packte und schon insgeheim befürchtete, daß sie viel zuviel Gepäck mitnahm, kam Carlota ins Zimmer und fragte ganz überrascht: „Ist das alles, was du mitnimmst?“ „Wir bleiben doch wohl nur eine Woche“, sagte Elizabeth lachend. „Mir scheint’s reichlich genug.“ „Wahrscheinlich“, gab Carlota zu und fuhr fort: „Du weißt ja, wie gern ich mich ein paarmal am Tag umziehe – darum nehme ich immer einen Haufen Zeug mit.“ Tatsächlich wurden für Carlota dann drei riesige Koffer in das Auto verladen, und Dom Miguel schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf.
Die Reise ging über dreihundert Kilometer. Mittags machten sie Pause und aßen im „Grandhotel at Figuerra da Foz.“ Sie bekamen Spezialitäten des Landes serviert, dazu tranken sie Wein aus der Provinz, die ihr Ziel war, aus Minho. Als sie aus dem Hotel traten und zurück zum Auto gingen, schaute Elizabeth mit scheuem Lächeln zum Conde auf und sagte ihm Dank für diese köstliche Mahlzeit. Er hatte auf das Meer geschaut, doch bei ihren Worten wandte er ihr den Blick zu. Er sah in ihr Gesicht, in ihre klaren, weit offenen Augen. Er sah auf ihre Haare, die schulterlang fielen, sich an den Enden leicht lockten und wie Gold in der Sonne leuchteten. Dann hing sein Blick wieder an diesen klaren, mädchenhaften Zügen, und es schien, als ob er sie zum erstenmal bewußt ansehe. Lange konnte er den Blick nicht von ihr lösen. Verlegen schlug Elizabeth die Augen nieder und bekämpfte ein jäh aufsteigendes Glücksgefühl. Mit prickelnder Freude hatte sie bemerkt, daß jede Spur von hochmütiger Zurückhaltung aus Miguels Zügen verschwunden war. „Es freut mich, daß es Ihnen gefallen hat, Elizabeth“, sagte er schließlich mit seiner tiefen Stimme, deren Klang Elizabeth so gefiel. „Aber bedanken sollten Sie sich nicht“, fuhr er mit leichtem Spott fort. „Sie haben doch Anspruch auf Kost und Logis.“ Zartes Rot überzog ihr Gesicht, nicht, weil sie sich über die letzte Bemerkung etwa ärgerte, sondern weil er ihren Namen so betont vertraulich ausgesprochen hatte. Sie sah aus den Augenwinkeln, daß Carlota ihren Bruder überrascht ansah und nachdenklich die Stirn runzelte. Aber sie sagte nichts, gottlob, und inzwischen waren sie auch bei Gregorio angelangt, der ihnen die Wagentüren aufhielt. Zunächst schwiegen alle drei. Doch dann begann zu Elizabeths Erstaunen Dom Miguel mit lebhaften Erzählungen über die Quinta, zu der sie fuhren. Sie lag hoch in den Hügeln, die die Antlantikküste säumten. Dort wuchsen Oliven und der Wein, den sie mittags getrunken hatten und der als Vinho Verde bekannt war. „Wie schade, daß wir die Weinlese nicht miterleben“, warf Carlota ein. „Elizabeth müßte einmal dabeisein.“ „Vielleicht fahren wir später wieder hierher. Die Weinlese beginnt im Oktober“, erklärte er Elizabeth. „O ja, laß uns wiederkommen“, freute sich Carlota. „Ich bin so gern im kleinen Schlößchen in Calvares, weil es so behaglich und anspruchslos ist, ganz anders als der Palacio. Nicht, daß ich dort nicht gern bin“, fügte sie hastig hinzu, als sie sah, daß der Bruder die Brauen hochzog. „Es ist ja nur, weil in Milho alles so anders ist. Ich genieße die Abwechslung.“ „Ja“, stimmte er nach kurzer Überlegung zu, „es ist tatsächlich ein vollständiger Wechsel der Umgebung. Und ein höchst vergnüglicher dazu, Sie werden es erleben.“ Er wandte sich wieder zu Elizabeth. „Ein ,Solare’ also ein Herrensitz, ist für den Norden absolut typisch. Aber im Gegensatz zu Ihren englischen Landsitzen und Schlössern ist er nicht so imponierend und prächtig, sondern ländlicheinfach.“ „Im Süden gibt es diese ,Solare’ nicht?“ erkundigte sich Elizabeth interessiert. „Nein, nur im Norden. Wie überhaupt unsere Traditionen, jedenfalls die meisten, ihre Wurzeln im Norden haben.“ „Dann sind wohl die berühmten Weinlesefeste auch hier?“ „Oh, hier finden eine ganze Reihe von Festen statt. Aber kein spezielles Fest zur Zeit der Lese.“ „Wieso nicht?“ fragte Elizabeth. „Weil während der ganzen Lese überall fröhliches Treiben und Feiern stattfindet,
an dem jedermann teilhat Sie brauchen also nicht zu fürchten, daß Sie kein Volksfest erleben. Einen Grund finden wir immer, weil wir fröhliche, leichtherzige Menschen sind. Wir lieben es, zum Beispiel, das Einbringen der Ernte zu feiern. Damit meine ich jedwedes Ernten, nicht nur das der Trauben.“ „Jedes Gut“, ergänzte Carlota, „jeder Hof lädt zur Erntezeit Gäste ein.“ Eine Weile fuhren sie in etwas schläfrigem Schweigen dahin. Nur Elizabeth wandte keinen Blick von der wechselnden Landschaft durch die Gregorio sie in zügigem Tempo fuhr. Sie genoß den Ausblick auf die wuchtig heranrollenden Wogen des Atlantiks und die jäh aufsteigenden Klippen, wenn sie nahe der Küste waren, die einige Kilometer weiter von breiten goldenen Sandstränden in den Hintergrund gedrängt wurden. In diesen weit geschwungenen Meeresbuchten mit den breiten Sandstränden tummelten sich vergnügte Urlauber. Dann führte die Straße wieder mehr landeinwärts. Sie fuhren durch kleine Dörfer mit anheimelnd schlichten Bauernhäusern, die farbig gestrichene Wände und Veranden hatten. Kinder winkten ihnen lachend und übermütig zu. Doch manchmal kamen sie auch durch kleine Städte, die einen durchaus düsteren Eindruck machten; die Häuser dunkel und abgewandt von der Straße, die ganze Stadt umgeben von dunklen Eichen und Pinienhainen. Wenn sie sich dann der Küste wieder näherten, gab es auch dort Stellen, die bedrückend einsam waren, wo nur windschiefe Fischerhütten sich vereinzelt in den Schutz der Dünen schmiegten. „Jetzt ist es nicht mehr weit“, sagte Carlota, als die Sonne tiefer sank. „Bist du schon sehr müde, Elizabeth?“ „Überhaupt nicht, ich hab’ jeden Augenblick der Fahrt genossen.“ Ihr Blick streifte Dom Miguel, der ihr einen Moment fest in die Augen sah, bis er den Kopf wandte, um nach draußen zu schauen. Sie begann, von der kleinen Begebenheit zu träumen, die sich während der Teepause ereignet hatte, die sie in einem kleinen Cafe am Straßenrand gemacht hatten. Während sie auf die Tische im Vorgarten zugingen, war sie umgeknickt und hatte sich unwillkürlich am Arm von Dom Miguel festgehalten. Er hatte sie sofort mit dem anderen Arm gestützt und sie vor dem Hinfallen bewahrt. Aber sie wußte auch jetzt noch nicht, ob er wirklich den Kopf auf ihr Haar geneigt und dessen Duft eingeatmet hatte, oder ob sie es sich nur einbildete. Gottlob war sie am Tag vorher beim Friseur gewesen, der ihr ein sündhaft teures französisches Duftwasser in die letzte Spülung getan hatte, dessen Duft noch nicht verflogen war. Nein, sagte sie sich schließlich energisch, natürlich hat sein Gesicht mein Haar nicht berührt. Fang nicht an, dir etwas einzubilden, Elizabeth Salway! Dom Miguel trauert um seine Frau, und er kann und hat sie nicht vergessen… Der erste Abend und der folgende Tag verstrichen in heiterer Ferienlaune mit köstlichem Nichtstun. Faulenzen in der Sonne auf bequemen Liegen, schwimmen im großen Swimmingpool, leckere Mahlzeiten, die Dom Miguels Haushälterin Maria Viegas kochte, und die von den beiden Töchtern serviert wurden. Marias Mann und die Töchter versorgten das Haus, während Maria allein in der Küche herrschte. Dann gab es noch zwei Gärtner, die Blumen und Gemüse fürs Haus zogen, und Jose, der alle anfallenden handwerklichen Arbeiten erledigte, die von Zeit zu Zeit nötig waren. Am zweiten Abend klopfte Ana, eine der Töchter, an Elizabeths Tür und sagte, sie sei von ihrer Mutter geschickt. „Meine Mutter läßt ausrichten, daß Dom Miguel heute ein kleines festliches Abendessen für einige Gäste gibt. Meine Schwester und ich sollen Dona Carlota und Ihnen beim Ankleiden helfen“, erklärte die Kleine ganz auf geregt Elizabeth
war einen Augenblick unschlüssig. Sie hätte sich lieber allein umgezogen, der Gedanke, eine Art Zofe zu haben, kam ihr zu lächerlich vor. Aber dann sah sie das eifrige Gesicht des Mädchens, und sie fürchtete Mutter und Tochter zu kränken, wenn sie die Hilfe zurückwies. Also fügte sie sich ins Unvermeidliche und bat Ana, das Badewasser einzulassen. „Tragen Sie das weiße. Kleid, Senhorita?“ bat Ana eine Weile später. Sie nahm es aus dem Kleiderschrank, als Elizabeth aus dem Badezimmer zurückkam, und hielt es bewundernd in die Höhe. „Es ist wunderschön!“ „Danke, Ana.“ Sie lächelte das Mädchen an und war nun doch insgeheim froh, daß sie ihre Hilfe akzeptiert hatte. Es war eine so angenehme Erfahrung für sie, bedient und verwöhnt zu werden. Sie hätte sich niemals allein mit soviel Gründlichkeit für ein Abendessen zurechtgemacht. Und für, morgen waren sie alle zum Essen bei dem Visconde Teixeira Goncalo Sanches de Calveiro in dessen Haus eingeladen, der „Solare de Lucena“. Ein wunderschönes Haus, hatte Carlota erzählt, mit einem riesigen Grundbesitz bis zu den Ufern des LimaFlusses hinab. Überrascht hatte Elizabeth gesehen, daß Carlota abwechselnd rot und blaß wurde, .als Miguel von der Einladung berichtete. Kaum waren sie beide allein, hatte Carlota aufgeregt gesagt: „Sanches ist der bestaussehende Mann, den ich kenne. Er ist so gut und immer liebenswürdig. Du wirst ihn leiden mögen, Elizabeth.“ „Den Visconde?“ „Ja, natürlich…“ Plötzlich schweigsam und verschlossen, starrte Carlota eine ganze Zeit ins Leere. Dann, verlegen und bekümmert, gestand sie: „Ich hab’ das Gefühl, er weiß von der Geschichte mit dem Baby.“ Elizabeth suchte nach einer Antwort, mit einer solchen Möglichkeit hatte sie nicht gerechnet. „Ist… ich meine, ist es für dich sehr wichtig, ob er davon unterrichtet ist?“ „Wichtig? Nein, nein…“ Elizabeth streifte sie mit einem verstohlenen Blick. Diese hastige Verneinung stimmte ganz offenbar nicht. Im gleichen Augenblick fuhr Carlota fort: „Ich fürchte, daß ich vor Scham in den Erdboden sinke, wenn wir uns sehen.“ „Warum meinst du, daß er von dem Baby erfahren hat?“ „Instinktiv, Elizabeth. Sicher bin ich nicht“, entgegnete Carlota etwas gefaßter. „Du erinnerst dich, daß ich ganz am Beginn fortgeschickt wurde, als Miguel davon erfuhr. Natürlich hab’ ich Sanches seit meiner Rückkehr noch nicht gesehen. Aber bevor ich damals abreiste, besuchte uns Sanches, und Miguel erzählte ihm, daß ich mich für einige Zeit auf dem Land erholen sollte. Mit einem seltsamen Blick sagte Sanches plötzlich: ,Du wirst also einige Monate fortbleiben?’ Findest du nicht auch, daß diese Bemerkung etwas seltsam war, eigentlich fast anzüglich?“ „Das war sie in der Tat.“ Elizabeth wollte gerade noch sagen: Es war eine taktlose Bemerkung, wenn Sanches wirklich den Grund deines Landaufenthaltes erraten hat! Carlota unterbrach sie: „Ich hatte gleich den Eindruck, daß er seine Worte am liebsten zurückgenommen hätte, kaum daß sie ausgesprochen waren. Gottlob hörte mein Bruder sie nicht.“ Die Frage, wo eigentlich Lourenco damals hingefahren sei, lag Elizabeth auf der Zunge. Aber sie wagte nicht, sie zu stellen, um Carlota nicht weh zu tun, obwohl sie doch, diesmal relativ unbefangen, selbst von dem Baby gesprochen hatte. Elizabeth konnte in diesem Augenblick nicht ahnen, daß sie sehr bald allerlei über Lourenco erfahren sollte. Auch über Dora Amelia Paula de Castro, die wunderschöne Frau des Conde. Das Dinner wurde in dem hohen, lichten Speiseraum eingenommen, der mit ländlichen Motiven dekoriert war. Um den großen, ovalen Tisch waren acht
Personen versammelt. Elizabeth und Carlota saßen links und rechts von Dom Miguel. Neben Carlota hatte Dom Andre Garcia, Miguels Nachbar, Platz genommen. Seine Quinta lag jenseits des LimaFlusses. Dann folgten Inez, Sanches Schwester, und ihr Mann, neben dem Clara, Dom Andres Frau, saß. Die Reihe schloß Sanches, der seine Tischdame sofort in Beschlag nahm. Vier Paare – eine hübsche, gerade passende Zahl für ihre erste offizielle Gesellschaft, dachte Elizabeth. Sie war in glücklichster Stimmung. Schon bei den Drinks vor dem Essen hatte Dom Miguel ihr versichert, daß sie besonders reizend aussähe. Sie hatte wohl bemerkt, daß auch die anderen Gäste sie bei ihrem Eintreten überrascht und anerkennend musterten. Besonders Sanches, der sie bei dieser Gelegenheit bereits nach Carlotas Befinden ausfragte, und ob sie als Freundin oder als Gesellschafterin hierhergekommen wäre. Elizabeth stellte amüsiert fest, daß er eine gewisse Schüchternheit überwinden mußte, um seine neugierigen Fragen zu stellen. Aber alles was Carlota betraf, schien ihm wichtig zu sein. So antwortete Elizabeth ihm möglichst unbefangen und freute sich, daß seine angespannte Haltung sich bald verlor und er gänzlich ungezwungen wurde. Er sah tatsächlich gut aus, fand sie. Sein offenes Gesicht mit dem feingezeichneten Mund verriet ein sensibles, aber im Grunde heiteres Gemüt. Er war blond, wie viele Menschen aus dem Norden Portugals, die tiefblauen Augen schimmerten warm und empfindsam. Sanches setzte ihre Unterhaltung aus dem Salon nun bei Tisch unverzüglich fort. „Ich freue mich so, daß Sie morgen zum erstenmal bei uns zu Gast sein werden, Senhorita“, sagte er. Elizabeth, die sich lächelnd bedankte, merkte plötzlich, daß Dom Miguel sie ansah. Als sie seinem Blick begegnete, lächelte auch er, aber trotzdem spürte sie, daß er sich ein wenig ärgerte. Über sie? Sie fühlte sich etwas verstört. Doch Sanches nahm sie wieder in Beschlag. „Würden Sie mir erlauben, Sie Elizabeth zu nennen?“ „W wie bitte?“ Sie fuhr aus ihren Gedanken hoch und sah ihn fragend an. „Ich bat Sie, Elizabeth sagen zu dürfen.“ „Oh, natürlich.“ „Sagen Sie bitte Sanches zu mir, wie es alle Freunde tun. Ich hasse Förmlichkeit.“ Ein gewisser jungenhafter Eifer schien zu seinem Wesen zu gehören, eine Ungeduld, die keinen Aufschub liebte… Elizabeth müßte daran denken, daß Carlota ihr ungewollt ihre Gefühle für Sanches offenbart hatte, und sie konnte sie jetzt gut verstehen. Es wäre herrlich, wenn der Visconde diese Neigung erwidern würde; denn ganz offensichtlich ergänzten sich die beiden wunderbar und schienen wie füreinander geschaffen. „Schmeckt Ihnen die Vorspeise nicht?“ unterbrach Dom Miguel ihre Zukunftsvision. „Sie essen ja gar nicht.“ „Ich hab’ wohl zuviel geredet“, lachte sie und steckte ein Stückchen zarten Lachs in den Mund. Endlich brachte sie es auch fertig, ‘ in Ruhe die zauberhafte Tischdekoration zu bewundern. Vor jedem Platz standen in kleinen Kristallschälchen, die zu den Weingläsern paßten, verschiedene Blumensträußchen. In der Mitte prangte eine große Meißner Schale mit einem reichen Blumengebinde aus roten und gelben Rosen, den Wappenfarben der Castros. Rechts und links davon schimmerte das Licht der Kerzen in weiß goldenen Leuchtern. Es war ein so festlicher Anblick mit den heiter plaudernden, hübschen und eleganten Menschen um diesen Tisch, daß Elizabeth wieder einmal versucht war, sich zu kneifen, ob es nicht nur ein schöner Traum wäre, daß sie dazugehörte… „So ist es besser“, meinte Dom Miguel mit väterlicher Zufriedenheit, als er
Elizabeths halbleeren Teller betrachtete. „Ich fürchtete schon, wir hätten Sie irgendwie enttäuscht!“ Sie sah, ganz verblüfft von diesem ungewohnten Ton, zu ihm auf und lief rot an, als sie bemerkte, daß er sie nur necken wollte. Der Mokka wurde in dem gemütlichen Wohnzimmer serviert. Die hohen Fenster waren weit geöffnet, um die milde Nachtluft hereinzulassen. Wieder nahm Sanches neben Elizabeth auf dem zweisitzigen Sofa Platz, ohne sie groß um Erlaubnis zu bitten. „Elizabeth“, begann er auf einmal wieder schüchtern und rührte dabei so heftig in seiner Tasse, daß sie fast umgefallen wäre. „Ich hab’ Sie schon so gern, als würde ich Sie nicht erst seit heute abend kennen, sondern viel länger.“ Er schwieg und legte endlich den Mokkalöffel auf die Untertasse. Dann trank er einen Schluck und schien sich selbst Mut zuzusprechen. Elizabeth war bei den einleitenden Worten ein wenig steif geworden, mißtrauisch wartete sie darauf, wie es weitergehen würde. Hoffentlich war diese plötzliche Sympathieerklärung nicht allzu wörtlich gemeint! Hinzu kam, daß sie wieder einen strengen Blick von Dom Miguel auffing, der, scheinbar in eine Unterhaltung mit Clara und Andre Garcia vertieft, sie dennoch ständig beobachtete. Nach einer Weile fragte Sanches leise: „Ich fühle, daß ich Ihnen völlig vertrauen kann – Elizabeth, darf ich zu Ihnen über Carlota sprechen?“ „Das hängt davon ab – “, sagte sie wachsam, aber er unterbrach sie. „Vorweg will ich gleich erzählen, daß ich Miguel gebeten habe – es ist schon einige Wochen her – , ob ich in den Palacio kommen und um Carlota werben dürfte. Aber er lehnte ab. Sie können sich vielleicht vorstellen, daß das normalerweise eine Beleidigung für einen Mann meines Standes wäre, wenn… ja, wenn ich nicht einiges wüßte, das mir Miguels Widerstand, Carlota zu verheiraten, in einem anderen Licht erscheinen ließe. Darum hab’ ich keine Affäre daraus gemacht, sondern ihm gegenüber stillgeschwiegen.“ Anfangs hatte Sanches geradezu mitleiderregend kerzengerade neben ihr gesessen. Doch nun schien er sich wieder zu entspannen, auch seine Worte klangen gelöster. „Was wissen Sie?“ erkundigte sich Elizabeth. Sie ahnte, was kommen würde, da ja Carlota selbst vermutete, daß der Visconde alles wußte. Ganz sicher hätte sie es bei aller Sympathie für Sanches vermieden, dieses delikate Thema mit ihm zu besprechen – schon aus Loyalität für Dom Miguel. Aber die Art, wie Carlota von ihm redete, verriet, daß sie – bewußt oder unbewußt – ihn liebte. Und nun hatte auch Sanches ihr seine Gefühle für Carlota verraten. Er schien sie heiraten zu wollen – trotz allem! Wie konnte sie sich da einer Aussprache widersetzen? „Was ich weiß?“ wiederholte er langsam, während er sich im Raum umsah, ob auch niemand so nahe saß, daß er ihnen zuhören konnte. „Sie haben Carlota und ihren Bruder in London kennengelernt, glaube ich. Jedenfalls habe ich Miguel so verstanden, daß er Sie während der… der Ferien dort traf.“ „Ja, das stimmt.“ Sie war immer noch auf der Hut. Sanches mußte sich zuerst offenbaren. „Ich kann mir schwer vorstellen, wie es möglich war, daß Sie Miguel kennenlernten.“ Erschrocken hielt er inne und entschuldigte sich sofort: „Ich wollte damit nicht etwa andeuten, Elizabeth…“ Amüsiert beobachtete sie seine verlegene Miene und kam ihm schnell zur Hilfe: „Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Sanches. Selbstverständlich sind die Kreise, in denen Miguel und Carlota sich bewegen, gänzlich andere, als ich sie gewohnt bin. So hätten wir uns unter normalen Umständen wohl nie getroffen.“
„Ich nehme an, daß Sie über Carlota genausoviel erfahren haben wie ich“, sagte Sanches in außerordentlich ernstem Ton. „Ich wußte es in der ersten Minute, als ich sie sah. Schon als Miguel von Ihnen sprach, spürte ich, daß Sie sein ganzes Vertrauen haben. Würden Sie mir jetzt berichten, wo Sie ihm begegnet sind?“ „Ich hatte einen Ferienjob in dem Hotel, in dem er abgestiegen war“, erklärte sie. Diese Antwort kam für Sanches unerwartet. „Ich hatte angenommen, Sie seien Krankenschwester“, meinte er und biß sich nachdenklich auf die Unterlippe. Nach einer Pause fuhr er fort: „Aber Sie wissen Bescheid, Elizabeth. Sonst hätten Sie sich durch neugierige Fragen oder durch Ihre Überraschung verraten.“ „Sanches“, sagte Elizabeth freundlich, aber bestimmt, „wenn Sie mir erzählen wollen, was Sie eigentlich wissen, dann tun Sie es jetzt bitte.“ Ihr Blick streifte Dom Miguel, der in seinem bequemen Sessel ihr gegenübersaß, das markante Profil ihr zugewandt. „Verzeihen Sie. Ich wollte nicht, daß Sie etwa zuerst sprächen. Ich achte Ihre Zurückhaltung und weiß, daß Sie Carlota und Dom Miguel gegenüber vollständig loyal sind. Aber die Tatsache, daß Sie in diese Unterhaltung einwilligten, berechtigt mich zu der Hoffnung, daß Sie mir helfen werden, Carlota als meine Frau zu gewinnen!“ „Sie sind fest entschlossen, um sie zu werben?“ „Es ist mein sehnlichster Wunsch, Carlota zu gewinnen“, bestätigte er mit rührender Offenheit. Elizabeth wartete schweigend, daß er die Frage beantwortete, die sie ihm anfangs gestellt hatte: was er wisse. Und Sanches begann zu erzählen. Schon bei der harmlosen Erklärung, die Miguel wegen Carlotas Landaufenthalt abgegeben habe, hätte er gewußt, daß in Wirklichkeit vor allen Leuten etwas verheimlicht werden sollte. Als Elizabeth jedoch erstaunt fragte, wieso er das sofort habe erraten können, verdüsterte sich sein Gesicht, und das Gespräch stockte ein paar Augenblicke. „Es wurde mir durch eine Bemerkung von Miguels Frau klar. Aber ich möchte erst zu Ende erzählen, von Dora rede ich später.“ Elizabeth lehnte sich zurück und hörte gespannt zu, glücklich, daß alle Scheu bei Sanches geschwunden war. Er sagte, daß er gespannt gewartet hätte, was geschehen würde, nachdem Carlota, angeblich zur Erholung, aufs Land gefahren wäre. „Miguel verkündete dann eines Tages seinen Verwandten und Freunden, daß er mit Carlota in London Urlaub machen wolle. Das war ziemlich genau sieben Monate später“, fügte er hinzu, und er wurde ein wenig rot. „Die Zeit stimmte also. Als Sie, Elizabeth, dann mit Miguel und Carlota zurückkamen, war mir ebenfalls klar, daß Sie zu ihrer Gesellschaft da waren. Aber auch, um sie zu behüten. Es war eigentlich Doras Aufgabe – eine Aufgabe, die sie sträflich vernachlässigt hat.“ Diese Worte klangen bitter. In seinen Augen blitzte es zornig auf. Doch dann fuhr er ruhig fort: „Irgendwie nahm ich an, daß Sie eine Krankenschwester seien, daß Sie Carlota gepflegt hätten und Dom Miguel Ihnen darum das Angebot machte, hier zu leben.“ „Ich wurde in das Geheimnis eingeweiht.“ Sie berichtete, wie es dazu gekommen war und gab acht, daß sie ihm nur das Nötigste erzählte, damit er verstehen konnte, wie Carlota zu ihr stand. Als sie schwieg, fragte er stockend, seine Stimme klang fast gequält: „Was geschah mit dem Baby? Wurde es adoptiert?“ „Es starb bei der Geburt“, erklärte Elizabeth in sachlichem Ton. Nach einer Pause
fragte sie: „Sind Sie wirklich gewillt, das alles zu akzeptieren und zu vergessen? Sonst sehe ich keine Chance…“ „Ich liebe Carlota von ganzem Herzen. Außerdem bin ich gewiß, daß es nicht ihre Schuld war. Sie war noch ein halbes Kind, Elizabeth – sie ist es in gewisser Weise noch. In meinen Augen ist sie unschuldig.“ Er sah eine Bewegung im Zimmer und bemerkte leise: „Inez setzt sich an den Flügel, es soll wahrscheinlich getanzt werden. Natürlich muß Inez ihren bevorzugten ,Fado’ spielen.“ Nach dieser Unterbrechung fuhr er fort, Elizabeth zu erzählen, daß er und Carlota sich früher häufig sahen, entweder im Palacio in Sintra oder hier auf der Quinta, zu der Miguel anfangs oft mit seiner Frau und seiner Schwester gereist war. „Ich wußte, daß Carlota mich gern hatte, und ich hoffte, daß sie mich eines Tages lieben würde – so wie ich sie. Wenn ich nur früher mit ihrem Bruder gesprochen hätte! Aber für ihr Alter war sie noch so naiv. Mit sechzehn ist man ja auch bei uns noch nicht erwachsen, obwohl die Mädchen früher reif werden als in Ihrem Land. Miguel mußte immer öfter verreisen. Aber er nahm natürlich an, daß Dora auf Carlota aufpaßt Statt dessen war sie...“ Er verstummte und zog die Brauen finster zusammen. Elizabeth wartete mit angehaltenem Atem, daß er weitersprechen würde. „Dora vernachlässigte ihre Pflichten.“ Ganz offensichtlich hatte er etwas anderes sagen wollen. Mit mühsam beherrschter Stimme fuhr er fort. „Sie selbst brachte Carlota mit Lourenco zusammen. Ein Taugenichts – es hat Miguel eine große Summe gekostet, ihn zur Abreise aus Portugal zu bewegen. Jetzt soll er in Frankreich leben. Ich bin überzeugt daß er auch jetzt noch monatlich Geld von Miguel bekommt und das so weitergehen wird.“ „Miguel mußte sich sein Schweigen erkaufen?“ „In der Tat. Der Mann ist ein Schmarotzer. Früher war er einmal bei Doras Vater angestellt gewesen, der tot ist Daher kannte ihn Dora. Es war zwischen den beiden eine sehr merkwürdige Beziehung.“ Wieder schwieg Sanches, er schien sich davor zu scheuen, vor Elizabeth schmutzige Wäsche zu waschen. „Sie erwähnten, daß es Dora war, die in Ihnen den Verdacht erweckte, daß Carlota… daß mit ihr etwas nicht in Ordnung sei?“ Elizabeth war bestrebt das Gespräch mit Sanches zu Ende zu bringen. Immer stärker war sie sich bewußt daß Don Miguel zwar noch am Flügel lehnte, aber Inez allein in den Noten blätterte auf der Suche nach ihrem „Fado“. Sein Blick war fast ununterbrochen auf sie und Sanches gerichtet und seine Miene war alles andere als heiter. „Ja, sie hatte wohl bemerkt daß ich in Carlota verliebt war. Sie’ beobachtete mich, als ich Carlota mit Lourenco zu einem Spaziergang fortgehen sah. Ich muß idiotisch bekümmert und wütend ausgeschaut haben. Sie lachte auf ihre spöttische Art und sagte: ,Armer Sanches, es wäre besser, du würdest nicht mehr an sie denken. Du wirst sie nicht mehr haben wollen – weder du noch ein anderer Mann!’ Dabei sah sie mich triumphierend an.“ Sanches blickte so finster, daß Elizabeth erschrak. Seine Augen wurden feucht er brauchte ein, zwei Minuten, bevor er weitersprechen konnte. „Seither weiß ich es, Elizabeth. Sie hat Carlota gehaßt. Aber sie war immerhin so klug, es Miguel nicht merken zu lassen.“ Hassen Wie konnte jemand dieses bezaubernde Wesen hassen? Carlota mit ihrem unschuldigen Charme, mit dem sie alle Herzen gewann! „Sie werden mir doch helfen, Elizabeth? Ja, ich weiß es!“ Elizabeths Zögern galt nicht Sanches. Sie wußte, daß sie alles tun würde, ihn und Carlota zu vereinen. Ihre Gedanken galten der eigenen Zukunft. Dom Miguel
hatte zwar den Wunsch geäußert, sie möge für immer hierbleiben. Aber damals sah er noch keine Chance für Carlota, sich zu verheiraten. Jetzt hatte sich das Blatt gewendet. Sie würde also nach England zurückfahren müssen. Abschied nehmen… Ihr Blick suchte die hohe Gestalt des Conde. Schmerz überfiel sie, nahm ihr den Atem. Es schien so unfaßbar, daß es eines Tages so kommen würde – und doch wußte sie, der Tag war nicht mehr fern. Sie und Carlota würden sich Briefe schreiben, sich vielleicht einmal wiedersehen, aber ihren Bruder… Elizabeths Lippen begannen zu zittern, sie verkrampfte unwillkürlich die Hände ineinander. Als sie aufsah, bemerkte sie, daß Dom Miguel bestürzt einen Schritt auf sie zukam. „Ich helfe Ihnen gern“, sagte sie hastig zu Sanches. „Ich weiß nicht wie, aber ich werde darüber nachdenken.“ Sanches Blick leuchtete auf. Aber da stand Dom Miguel schon vor den beiden und betrachtete sie mit einem rätselhaften Ausdruck in den Augen. „Schenken Sie mir diesen Tanz, Elizabeth?“ bat er mit vollendeter Höflichkeit. Er legte den Arm um sie, und beide tanzten nach den Klängen des „Fados“ durch den Raum. Die anderen räumten rasch ein paar Stühle und Tischchen beiseite. Dann forderte Andre Garcia Clara auf und Sanches Carlota. Elizabeth beobachtete die beiden. „Sie scheinen sich eigentlich nur für Carlota zu interessieren… oder soll ich besser sagen, für ihren Partner?“ fragte Dom Miguel. Sein Ton war sanft, doch es schwang ein Hauch von Bitterkeit mit. Elizabeth, die sich eben noch in seinen Armen so glücklich gefühlt hatte, war jäh ernüchtert. „Der Visconde und ich hatten eine Unterhaltung“, sagte sie lahm. „Das habe ich bemerkt“, erwiderte er trocken und schien zu erwarten, daß Elizabeth ihm mehr erzählte. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sollte sie ihm die ganze Geschichte beichten? Nein, es war jetzt kaum der geeignete Augenblick. Sie mußte eine Möglichkeit abwarten, um in aller Ruhe mit ihm zu sprechen. „Er ist ein reizender junger Mann, wenn auch ein wenig schüchtern“, wich sie aus. Obwohl er zustimmend nickte, wußte sie, daß ihn ihre Bemerkung geärgert hatte. Was dachte er? Hatte er das Gespräch auf dem Sofa etwa falsch verstanden? Konnte er eifersüchtig sein? Sie tanzten eine Weile schweigend. Elizabeth rief sich selbst zur Ordnung. Einmal war Sanches um ein oder zwei Jahre jünger als sie, und Dom Miguel würde kaum glauben, daß er sich in ein fremdes, älteres Mädchen auf den ersten Blick verliebte. Außerdem wußte er, daß Sanches um Carlota warb. Eben konnte sie die beiden wieder sehen. Carlotas Kopf ruhte an Sanches Schulter, und sie schien es nicht fertigzubringen, ihm in die Augen zu schauen. Er sprach auf sie ein, sie nickte ein paarmal ohne aufzublicken. „Sie finden den Visconde also reizend?“ Dom Miguels Frage unterbrach ihre Gedanken. Sein Blick war dem ihren gefolgt. Aber nun sah er Elizabeth fest in die Augen. „Viele junge Damen finden ihn sehr anziehend, soviel ich weiß.“ „Das kann ich durchaus verstehen“, gab Elizabeth in leichtem Ton zurück. „Aber hat sich der Visconde auch um sie alle bemüht?“ Kaum hatte sie es ausgesprochen, war sie sich schon bewußt, daß Dom Miguel diese Frage leicht mißverstehen könnte. „Da ich Sanches in den letzten Monaten viel zuwenig gesehen habe, kann ich Ihre Frage nicht erschöpfend beantworten“, entgegnete er kühl. Entmutigt schwieg Elizabeth. Sie heftete ihren Blick auf seine Schulter und sah keines der anderen Paare mehr an, bis der Tanz zu Ende war. Dom Miguel ließ sie los. Aber er stand einen Moment reglos vor ihr und hielt
ihren Blick fest. Sein Gesichtsausdruck war unergründlich. Dann auf einmal lächelte er, ein fast zärtliches Lächeln, wie ihr schien, und ihre Lippen öffneten sich überrascht. Als sein Lächeln verschwand, sah sie einen Muskel in seiner Wange. Und immer noch sah er sie an wie gebannt. Es war, als ob sie allein in diesem Raum waren… in einer schweigenden, vollkommenen Übereinstimmung. Der flüchtige Augenblick verging, doch die Erinnerung daran würde Elizabeth ihr Leben lang bewahren… Denn in diesen wenigen Sekunden gestand sie sich ein, was sie bisher sich selbst nicht hatte zugeben wollen: daß sie Miguel tief und hoffnungslos liebte!
6. KAPITEL Auch als sich Elizabeth schlafen gelegt hatte, beschäftigten sich ihre Gedanken noch mit dem Gespräch zwischen ihr und Sanches. Nachdem sie wußte, wieviel Dom Miguel auf sich genommen hatte, um Carlotas Geheimnis zu wahren, konnte sie seine Haltung besser verstehen. Sein Stolz ließ nicht zu, daß er die Werbung des Visconde annahm. Denn wenn er in die Heirat einwilligte, wäre er verpflichtet, Sanches alles zu gestehen. Jetzt glaubte Dom Miguel, daß außer ihm nur noch drei Menschen von dem Baby wußten: Carlota, Elizabeth und die Tante, bei der sich Carlota verborgen hatte. Was würde er tun, wenn er erfuhr, daß auch Sanches alles wußte? Würde er ihm dann Carlota zur Frau geben? Sie hatte Sanches, kurz bevor die Gäste gingen, noch geraten, Dom Miguel einen Brief zu schreiben. Ihm zu gestehen, daß er etwas ahnte, aber Carlota so liebe, daß er sie um jeden Preis gewinnen wollte. „Das ist doch so einfach“, hatte sie eifrig gesagt, froh, eine Lösung gefunden zu haben. „Ja, es scheint einfach“, hatte er zugestimmt. „Aber ganz gewiß wird Miguel keine Ruhe geben, bis er erfahren hat, woher ich von Carlotas Baby weiß. Er betete seine Frau an, er kann ihren Verlust nicht verwinden. Die Erinnerung an sie schmerzt ihn so, daß er nie von ihr spricht. Ich kann ihm doch nun nicht erzählen, sie sei es gewesen, die mir verriet, daß Carlota von Lourenco ein Kind erwartete. Und daß sie mir dabei höhnisch ins Gesicht lachte!“ Er sah sie fast flehend an. „Verstehen Sie, daß es nicht geht? Ich hatte schon einmal einen Brief an Miguel angefangen, hab’ ihn dann aber sofort wieder zerrissen.“ Elizabeth nickte zustimmend. Aus Carlotas spärlichen Berichten über Dora wußte sie ja, daß sie ihre Fürsorge für die kleine Schwägerin gröblich vernachlässigt hatte. Zwischen Dom Miguel und seiner Frau gab es damals einen heftigen Streit. „Miguel ahnte wohl, wie wenig sich Dora um Carlota gekümmert hat, davon bin ich überzeugt“, fuhr Sanches fort. „Ich glaube auch, daß er ihr Vorwürfe machte. Aber selbst ihr Versagen konnte seine Liebe nicht schmälern. Als sie starb, vergaß und vergab er ihr alles. Ich kann ihm nichts Schlechtes über seine tote Frau erzählen, ich darf seine Erinnerung an sie nicht beschmutzen.“ Elizabeth mußte ihm recht geben. Sanches Einstellung verdiente Respekt. „Miguel verbirgt seine Gefühle sehr gut“, sagte Sanches. „Sein Ehrgefühl läßt ihm wohl auch keine andere Wahl. Dora war die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Dennoch haßte sie Carlota ihrer Jugend wegen, und alle wissen es, genau wie ich. Alle, nur Miguel nicht. Sie war übrigens nur ein Jahr jünger als er, sie starb mit fünfunddreißig.“ Das war das Ende ihrer Unterhaltung, und bisher sah Elizabeth noch keine Möglichkeit, Sanches zu helfen. Ihr war klargeworden, daß Dora ebenso schön wie schlecht gewesen sein mußte und es eine seltsame Verbindung zwischen ihr und Lourenco gegeben hatte, dem ehemaligen Angestellten ihres Vaters. Ein Mann wie Dom Miguel hatte eine solche Frau nicht verdient. Es schien fast unglaubhaft, daß er sie so geliebt hatte. Auch wenn sie noch so klug war – irgendwie mußte sie ihm doch ihren wahren Charakter verraten haben. Es dämmerte schon, als Elizabeth endlich einschlief. Aber letztlich war es nicht Carlotas Zukunft, die sie wachgehalten hatte, sondern die Erinnerung an den einen Augenblick dieses Abends, an den einzigen, der wirklich zählte: Sie sah Dom Miguel in ihren Anblick versunken, sein Lächeln, das Zucken seines Wangenmuskels – und außer ihr und ihm hatte es keinen Menschen mehr gegeben…
Als Elizabeth den Frühstücksraum betrat, war Dom Miguel allein. „Carlota möchte im Bett frühstücken, ließ sie uns sagen. Dieser Faulpelz!“ Er sah sie aufmerksam an. „Und Sie? Sie schauen müde aus, haben Sie nicht gut geschlafen?“ Sie schüttelte den Kopf, als sie ihren Platz einnahm. „Wahrscheinlich war ich noch zu angeregt, es war ein so wunderschöner Abend.“ Sie bemühte sich, ihn unbefangen anzulächeln. Im gleichen Augenblick verschwand der freundliche Ausdruck seines Gesichts. „Ich hoffe jedenfalls, daß es hübsche Gedanken waren, die Sie wachhielten, oder?“ Sie errötete. „Nein, ich hab’ mir eigentlich Sorgen gemacht…“ Sie unterbrach sich und warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Warum, um Himmels willen, war er so kühl? „Um den Visconde?“ erkundigte er sich spöttisch. Langsam wurde Elizabeth ärgerlich. „Dom Miguel“, sagte sie nach kurzem Zögern mit Nachdruck, „ich interessiere mich für den Visconde keineswegs auf eine Weise, wie Sie sie eben anzudeuten beliebten.“ Sie nahm ihre Serviette und faltete sie auseinander. Was würde er erwidern? „Würden Sie mir bitte noch Kaffee eingießen?“ war alles, was er sagte. Sie gehorchte, aber die Hand, die die Kanne hielt, zitterte. Doch bevor seine Tasse endgültig überlief, nahm er ihr die Silberkanne aus der Hand und stellte sie auf die Wärmeplatte zurück. „Irgend etwas stimmt doch mit Ihnen nicht“, erklärte er, während er Sahne in die Tasse rührte. „Sie schauen jedenfalls heute morgen nicht so frisch aus wie sonst. Was ist los?“ Elizabeth schluckte. Warum ließ er sie nicht in Ruhe? Irgendwie machte seine höfliche Besorgnis ihr deutlich, was für eine Närrin sie doch war. Wie konnte sie nur ihr ganzes Herz an einen Mann hängen, der ebenso unerreichbar war wie ein Stern am Himmel? Sie tat sich doch bloß selber weh! Elizabeth erlaubte sich den Luxus von Tränen sehr selten, aber jetzt konnte sie sie kaum zurückhalten. Sollte sie aufstehen und sich entschuldigen, daß sie keinen Appetit hätte? Nein, das wäre zu albern. Was sollte Dom Miguel denken? „Ich sagte doch schon, daß ich zuwenig geschlafen habe“, antwortete sie schließlich ausweichend. „Und ich sagte, daß irgend etwas nicht stimmt“, beharrte er ungeduldig. „Wollen Sie mir erzählen, was geschehen ist?“ Es klang beinahe wie ein Befehl. „Nein, ich meine…“ Sie konnte nicht weitersprechen, und als sie ihn ansah, war sein Blick wieder weich und freundlich. Aber trotzdem wußte sie, daß sie ihm nicht länger ausweichen konnte. „Nun, Elizabeth, was meinten Sie?“ Sie blickte ihn flehentlich an. „Warum fragen Sie soviel?“ brach es aus ihr heraus. „Meine Gedanken sind meine Privatsache.“ Ihre Augen wurden feucht, und sie zwinkerte heftig, damit er es nicht sah. Er zog die Brauen hoch, erstaunt über ihre Erregung. Völlig ungerührt, mit einer Spur von Hochmut im Ton sagte er: „Ich bat Sie, mir zu erzählen, was Sie so ungewöhnlich erregt hat. Aber nun fangen Sie erst einmal mit Ihrem Frühstück an – Sie können trotzdem reden…“ Automatisch schüttelte sie den Kopf, immer noch voller Abwehr. „Dom Miguel“, begann sie, doch er unterbrach sie sofort. „Wenn ich nicht davon überzeugt wäre, daß es eine Angelegenheit ist, die mich betrifft, würde ich nicht darauf bestehen, daß Sie sprechen. Ist das klar?“ Er beobachtete, wie sie gehorsam ihren Toast mit Butter und Marmelade bestrich
und einen Schluck Kaffee trank. Ganz sicher ahnte er, was sie nach dem gestrigen Abend beschäftigte – und seine nächsten Worte bestätigten es. „Wenn Sanches nicht mit Ihnen geflirtet hat, dann vertraute er Ihnen etwas an!“ Elizabeths Mut sank. Wenn sie Dom Miguel alles erzählte, bekannte sie gleichzeitig, daß sie sein Vertrauen mißbraucht hatte. Er durfte von ihr erwarten, daß sie weder seine, noch Carlotas Privatangelegenheiten mit Gästen besprach und ganz gewiß nicht mit diesem Gast! Hätte sie sich nicht so lange und vertraut mit Sanches unterhalten, wäre der Conde ganz gewiß nicht so mißtrauisch geworden. „Ja, er hat mir etwas anvertraut“, gab sie zu und bemühte sich um ein Lächeln. Sofort fragte Miguel: „Und zwar?“ „Sanches, der Visconde, meine ich… er gestand mir seine Liebe zu Carlota und seine Enttäuschung, daß Sie ihm nicht erlaubten, um sie zu werben.“ Dom Miguel betrachtete sie mit Mißfallen. Seine Züge wirkten streng, der Mund war eine schmale Linie. „Das habe ich mir gedacht! Sanches hatte kein Recht, Ihnen das alles zu erzählen. Und Sie, Senhorita, hatten als unsere Angestellte die Verpflichtung, einem solchen Gespräch aus dem Wege zu gehen!“ Senhorita… Wieder die formelle Anrede und in welch eisigem Ton! Nichts konnte sie mehr verletzen. Plötzlich begannen ihre mühsam zurückgehaltenen Tränen zu fließen. Keiner sprach eine Zeitlang. Von draußen drang nur das mißtönende Geschrei der Pfauen herein. „Ich wußte, daß Sie zornig sein würden“, sagte Elizabeth niedergeschlagen. „Darum wollt« ich Ihnen ja auch nichts davon erzählen.“ Scheinbar unberührt nahm er sich ein frischgeröstetes Stück Toast und legte es auf seinen Teller. „Fahren Sie fort“, forderte er. „Trotz meiner Abneigung gegen dieses Thema möchte ich nun alles hören.“ Wieder flehte sie ihn stumm an, er möge nicht weiter in sie dringen. Doch während er ihren Blick erwiderte, verengten sich seine grauen Augen. „Da ist.:. Ich kann Ihnen nicht… nicht mehr viel erzählen“, stammelte sie nervös. „Senhorita“, sagte er leise, aber in schneidendem Ton, „ich möchte Sie daran erinnern, daß Sie über eine halbe Stunde mit dem Visconde sprachen.“ Sie senkte den Kopf. Ihr Wangen begannen zu brennen. Er hatte sie und Sanches also tatsächlich die ganze Zeit beobachtet, auch als er selbst in eine angeregte Unterhaltung vertieft schien. „Wir haben natürlich auch über andere Dinge geredet.“ Sie brach erschrocken ab, als der sonst stets beherrschte Dom Miguel wütend mit der Faust auf den Tisch schlug, daß die Tassen tanzten. „Ich sagte, ich möchte alles hören“, erklärte er dann, etwas ruhiger. „Jedenfalls alles, was Carlota und mich selbst betrifft.“ Alles… Panik ergriff sie. Alles, das hieß, daß sie ihm berichten mußte, was Sanches von Carlota wußte. Und dann würde Dom Miguel die Wahrheit erraten. Denn ihm mußte klar sein, daß nur seine Frau Sanches eingeweiht haben konnte! „Ich kann nicht alles erzählen!“ stieß Elizabeth weinend hervor. „Bitte, Dom Miguel, bestehen Sie nicht darauf, daß ich Ihnen mehr sage, als daß Sanches Carlota ehrlich liebt und mich bat, ihm zu helfen.“ Ihr unerwarteter Ausbruch, das erkannte sie sogleich, überzeugte ihn endgültig davon, daß sie ihm etwas verheimlichen wollte. Es überraschte sie nicht, daß er bleich vor Zorn wurde und seine Haltung sich verkrampfte. Sein Anblick erschreckte sie; denn dieser Zorn galt ihr, nicht Sanches oder Carlota. Sie selbst war es, die das Vertrauen enttäuschte, das er ihr geschenkt hatte. Von nun an
würde es keinen beglückenden Augenblick des stillschweigenden Einverständnisses mehr geben. „Ich muß aus Ihrer Weigerung schließen“, erklärte Dom Miguel in unverändert eisigem Ton, „daß der Gegenstand Ihrer Unterhaltung mich betraf. Sie nehmen wohl an, daß es mich verletzen müßte, wenn Sie Ihr Gespräch wiedergeben?“ „Ich möchte Ihnen nicht weh tun“, antwortete sie rasch, ohne nachzudenken. „Weh tun?“ wiederholte er mit hochgezogenen Brauen. Elizabeth schluchzte. Zu ihrem Ärger mußte sie nun auch noch in ihrer Jackentasche nach einem Taschentuch suchen. Sie schneuzte sich und wischte ihre Tränen fort. So konnte sie nicht sehen, daß für einen Augenblick der strenge Ausdruck von seinem Gesicht wich und er sie mit zärtlicher Rührung betrachtete. Das einzige, was sie merkte, war, daß seine Stimme anders klang, als er fortfuhr: „Ich muß Sie bitten, ehrlich zu mir zu sein. Auch wenn Sie fürchten, daß Sie mir weh tun könnten.“ Sie konnte so gut nachempfinden, daß er alles wissen wollte. Und er hätte ein Recht darauf, das wußte sie auch. Was sollte sie also tun? Einfach stumm bleiben, ihm nicht gehorchen? Das würde ihre Stellung im Haus einschneidend verändern, ihre Gefühle für ihn noch hoffnungsloser machen. Es war schon schlimm genug, daß er sich nichts aus ihr machte, gerade eben erkennen ließ, daß sie ihm sympathisch und vertrauenswürdig erschien. Wenn er sie künftig nur noch als Angestellte behandelte, wäre es unerträglich, in seiner Nähe zu leben. Die andere Möglichkeit war, ihm alles zu gestehen und ihm zu seiner Trauer um die Tote neue Schmerzen zu bereiten. Hastig begann sie nach einem Ausweg zu suchen, um Zeit zu gewinnen. Aber ihre Bitte, sie in Ruhe nachdenken zu lassen, lehnte er zu ihrer Bestürzung schroff ab. „Wenn Sie sich meinem Wunsch nicht fügen wollen, werden Sie die Konsequenzen ziehen und nach England zurückkehren müssen.“ Mit allem hatte sie gerechnet. Aber nicht mit einer Kündigung. Sie dachte an Carlota und sagte mit schwankender Stimme: „Ihre Schwester… sie wird wieder so allein sein…“ Der Conde sah sie an. Elizabeth las aus seinem Blick, daß die Entscheidung, ihr notfalls zu kündigen, ihm schwerfiel – daß sie aber ernstgemeint war. „Wenn es erforderlich sein sollte, werde ich für meine Schwester eine neue Gesellschafterin engagieren. Ich meine es so, wie ich es gesagt habe“, erklärte er mit weicher Stimme. Seine plötzliche Sanftheit trieb Elizabeth erneut die Tränen in die Augen. Resigniert hob sie die Hände und begann stockend zu wiederholen, was sie und Sanches in der Nacht zuvor besprochen hatten. Nur über Doras Rolle verlor sie kein einziges Wort. Dom Miguels Miene verriet nichts, während Elizabeth sprach und er zuhörte. Auch als sie schwieg, blieb sein Gesicht unbewegt. Was dachte er, überlegte sie unbehaglich und beobachtete ihn unter halbgesenkten Lidern. Mit großer Erleichterung stellte sie jedenfalls eins fest: Sein Zorn war verflogen. Er sah ernst aus, doch nicht mehr so eisighochmütig. Vielleicht würde Sanches Entschluß, Carlota trotz allem zu heiraten, den Schlag mildern, der Dom Miguels Stolz zugefügt worden war. Endlich, nach langem Schweigen, sprach er. Aber er stellte genau die Frage, vor der sie sich am meisten gefürchtet hatte: „Hat Sanches Ihnen nicht erzählt, wie er die Tatsachen über Carlota erfahren
hat?“
Ohne nachzudenken, schüttelte Elizabeth den Kopf; es war eine automatische,
hinhaltende Reaktion. Doch da die grauen Augen unerbittlich prüfend direkt in
die ihren schauten und auf Antwort warteten, sprach sie die Lüge aus.
„Nein – das hat er nicht getan.“
„Sagen Sie mir die Wahrheit!“
Sie zuckte zusammen wie ein Kind, dem eine Ohrfeige angedroht wurde, und das
Blut stieg ihr ins Gesicht „Dom Miguel“, sagte sie, „bitte, fragen Sie doch den
Visconde selbst.“
Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Sie konnte nicht erraten, was
für Schlußfolgerungen er aus ihrer Bitte zog. Er sagte nur langsam und leise:
„Ich erwähnte schon, daß Ihr Gespräch mit Sanches nahezu eine halbe Stunde
dauerte. Aber was Sie mir erzählten, nahm höchstens drei oder vier Minuten in
Anspruch.“
Sie fand keine Erwiderung, und er fuhr fort, immer noch in dem leisen,
beherrschten Ton:
„Sie wissen doch selbst, daß Sie zu dem wenigen, was Sie anfangs berichteten,
kaum etwas hinzugefügt haben.“
Sie befeuchtete ihre Lippen und zuckte mit einer hoffnungslosen Bewegung die
Achseln, als wolle sie ihn bitten, sie nicht länger mit Fragen zu quälen.
„Es gibt doch nicht viel mehr zu erzählen, Dom Miguel“, sagte sie
niedergeschlagen. „Der Visconde sprach über die Zeit, in der er und Carlota oft
zusammen waren – damals, als Sie häufiger zu Ihren Besitzungen fuhren. Er
sagte mir, daß er sehr gehofft hätte, sie würde sich auch in ihn verlieben, so, wie
er sie liebte. Und daß er Sie nur nicht um ihre Hand gebeten hätte, weil Carlota
noch so jung war und erwarten konnte…“
Elizabeth hielt inne, weil der Conde eine ungeduldige Handbewegung machte.
„Begreifen Sie doch, Dom Miguel“, setzte sie hilflos hinzu, „für mich ist das alles
so schwierig – ich bin doch nur als Gesellschafterin hier.“
Er zögerte sehr lange, bevor er wieder sprach. Aber mit einem Male war nichts
mehr von der Fremdheit zu spüren, die sich seit Beginn dieses quälenden
Gesprächs zwischen ihnen aufgetan hatte. Ihre Bemerkung schien ihn getroffen
zu haben. Elizabeth hatte den völlig überraschenden Eindruck, daß er mit seiner
nächsten Frage um ihr Vertrauen bat und keine Forderung mehr stellte.
„Bitte, Elizabeth, sagen Sie mir: Hat Sanches meine Frau erwähnt?“
„Ja, Dom Miguel.“
Ein kurzes Zurückweichen und dann: „Jetzt verstehe ich Ihren Widerstand,
Elizabeth.“ Er fügte sehr leise hinzu: „Ich danke Ihnen, daß Sie meine Gefühle
schonen wollten.“
Sie blickte ihn unbeschreiblich erleichtert an, wie von einer Last befreit, obwohl
sie sich klar war, daß er litt.
„Ich danke Ihnen“, sagte sie ein wenig scheu. „Ich war so unglücklich, daß ich
Ihren Zorn erregt habe.“
Ein kaum merkliches Lächeln spielte um seine Lippen. „Ich fürchte, ich habe Sie
erschreckt mit meinem Zorn. Ich weiß ja nun, daß Sie nur aus Rücksicht auf mich
schweigen wollten – also bitte, verzeihen Sie mir.“
Sein Lächeln wurde herzlicher, als er das beglückte Aufleuchten ihres Gesichts
sah. Sie ahnte nicht, wieviel sie ihm damit verriet.
„Haben Sie eigentlich vor der letzten Nacht jemals etwas über meine Frau
gehört?“ wollte Dom Miguel plötzlich wissen.
Diesmal zögerte Elizabeth nur eine Sekunde, ehe sie bejahte. Sie wollte ihn nicht
mehr belügen und nichts mehr verschweigen. Er erwartete zu Recht absolute
Aufrichtigkeit von ihr. „Carlota machte mir einmal Andeutungen – eigentlich ohne es zu wollen“, erklärte sie hastig. Er schaute nachdenklich aus dem Fenster. Zu ihrer Verwunderung zeigte sein Ausdruck nichts von dem Schmerz, den die Erwähnung der Toten hätte hervorrufen müssen. Er wirkte zwar ernst, das Lächeln war verschwunden. Aber sein Ton war ganz ruhig und sachlich, als er sagte: „Meine Frau soll in meiner Gegenwart nicht erwähnt werden, ich möchte auch jedes Gerede innerhalb meines Hauses vermeiden. Bitte, ersparen Sie mir, über die Gründe zu sprechen.“ Beide beendeten das Frühstück, dem keiner von, beiden wie gewohnt zugesprochen hatte. Dom Miguel lehnte sich in seinen Stuhl zurück. „Ich brauche gar nicht zu fragen, woher Sanches alles über Carlotas Unglück erfahren hat“, sagte er mit einem tiefen Atemzug. „Aber das spielt nun auch keine große Rolle mehr. Entscheidend ist wohl nur, daß Sanches Carlota heiraten möchte.“ Er überlegte eine Weile und fügte, als Elizabeth ihn in freudiger Erwartung anstarrte, hinzu: „Er bat Sie um Ihre Hilfe, nicht wahr?“ Noch einmal schrak sie vor dem Eingeständnis zurück. Dann gab sie zu: „Ja, wir sprachen über die Möglichkeit, wie ich Sanches und Carlota helfen könnte. Ich versprach ihm, gründlich darüber nachzudenken, wie das Problem zu lösen wäre…“ „Das Problem, von dem Sie sprechen, ist wohl meine Weigerung, Sanches als Ehemann auch nur in Betracht zu ziehen?“ Sie nickte. „Der Visconde wußte ja, warum Sie seine Werbung ablehnten. Er brachte es nur nicht über sich, mit Ihnen darüber zu sprechen.“ „Ich verstehe…“ Wieder ein wenig entmutigt, weil er seine Gedanken verschwieg, meinte Elizabeth: „Sie werden doch nun nicht mehr nein sagen, Dom Miguel?“ „Es liegt Ihnen offenbar sehr viel daran, daß die beiden heiraten, Elizabeth.“ Es war weniger eine Frage als eine Feststellung, und ihre Bitte hatte er damit nicht beantwortet. Aber sie zweifelte nicht mehr daran, wie seine Entscheidung ausfallen würde. Gleichzeitig wurde ihr klar, was diese Entscheidung für sie selbst bedeutete – und dieser Gedanke schmerzte wie ein Schnitt. Er beobachtete sie unablässig. Er sah, wie sich ihre Augen verdunkelten, und ihre Unterlippe zuckte, als sie leise sagte: „Ja, Dom Miguel, ich wünsche es für Carlota von ganzem Herzen.“ Sie blickte ihm einen Moment fest in die Augen, dann aber wich sie seinem Blick aus. Zu stark war das Gefühl, das sie zu ihm hinzog und das sie um jeden Preis vor ihm verbergen wollte! „Ich weiß, daß ich dann hier überflüssig sein werde.“ Sie schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter. Was war nur mit ihr los? Ihr hatten doch sonst nie die Tränen so locker gesessen! Ohne aufzuschauen faltete sie fein säuberlich ihre Serviette zusammen und erhob sich. „Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen. Ich habe… ich muß…“ Nun begann auch noch ihre Stimme zu schwanken. Schweigend wandte sie sich um. Da stand auch er hastig auf, kam um den Tisch herum zu ihr und griff impulsiv nach ihren Händen. „Elizabeth“, sagte er sanft und zwang sie, ihn anzuschauen. „Natürlich brauchen wir Sie…“ Verwirrt schüttelte sie den Kopf. „Aber ich bin für Carlota engagiert. Was soll ich
hier sonst tun?“ Seine Züge verschatteten sich, seine Stimme klang ein wenig bitter, als er antwortete: „Ich kann es Ihnen noch nicht sagen, aber ich werde eine Aufgabe für Sie finden.“ Noch immer hielt er ihre Hände, und es war, als ob seine Blicke sie zärtlich streichelten. Elizabeth stand vor ihm, verwirrt, ungläubig – und doch von einem zaghaft aufkeimenden Gefühl der Hoffnung erfüllt. „Versprechen Sie mir, daß Sie bleiben“, drängte er. „Versprechen Sie es mir, Elizabeth.“ „Ja, gern“, sagte sie tonlos. Und dann, ein wenig lauter: „Natürlich verspreche ich es Ihnen, Dom Miguel!“ Er lächelte. „Danke“, sagte er nur. Und ehe sie ganz begriff, was geschah, neigte er den Kopf über ihre Hände und berührte sie mit seinen Lippen. Dann war er fort. Elizabeth blieb in ihre Gedanken versunken im Frühstückszimmer zurück, bis ein Mädchen kam, um den Tisch abzuräumen. So deutlich ihr durch die eben erlebte Szene klargeworden war, daß er sie nicht nur wie die anderen Angestellten mit freundlichen, aber unpersönlichen Gefühlen betrachtete – so sicher war sie sich auch, daß diese zarte, liebevolle Geste fast gegen seinen Willen geschehen war. Bei nüchterner Überlegung hätte er vermieden, sich ihr zu nähern. Warum? Sie wußte es nicht. Daß es jedoch etwas gab, was sie beide – trotz aller Unterschiede, trotz aller Hindernisse – zueinander hinzog, hätte sie schon nach dem gestrigen Abend wissen müssen. Sie dachte an den Augenblick zurück, in dem der Tanz zu Ende war und er vor ihr stand, als könne er den Blick nicht von ihr wenden. Er hat mich gern, gestand sie sich atemlos vor Glück ein. Niemals hätte er mich sonst gebeten zu bleiben, auch wenn Sanches und Carlota ein Paar wurden. So unbestimmt seine Worte auch gewesen waren – er wollte sie nicht gehen lassen! Und ihr müßte es auch in Zukunft genügen, in seiner Nähe zu sein, selbst wenn er ihre Liebe nicht erwidern konnte. Vielleicht würde noch viele Jahre lang der Schatten seiner toten Frau zwischen ihnen stehen. Möglich, daß er niemals den Entschluß fassen könnte, eine andere ihre Stelle einnehmen zu lassen. Es mußte ihr genügen – vielleicht für immer – , daß er sie brauchte! Am Abend fuhren Dom Miguel, Carlota und sie zu der DinnerEinladung bei Sanches. Elizabeth nutzte einen kurzen Moment, in dem sie etwas abgesondert von den anderen neben Sanches stand, um ihm zuzuflüstern, daß sie mit Dom Miguel gesprochen habe. Als sie bemerkte, daß er leicht zusammenfuhr, tröstete sie ihn sofort. „Er wartet jetzt nur darauf, daß Sie sich wieder an ihn wenden. Und diesmal können Sie sicher sein, daß Sie die Antwort erhalten, die Sie sich immer gewünscht haben.“ „Carlota“, sagte er fast scheu, „womöglich will Carlota mich ja gar nicht heiraten.“ Elizabeth lachte ihn strahlend an, und eigentlich bedurfte es keiner weiteren Worte, um ihm jeden Zweifel zu nehmen. „Dom Miguel hat heute morgen schon mit ihr gesprochen und sie gefragt, ob sie etwas für Sie empfände. Muß ich Ihnen wirklich erst Mut machen, sie selbst zu fragen?“ „Hat Carlota Ihnen es selbst erzählt? Ich meine, daß Miguel mit ihr über mich
gesprochen hat?“ „Ja, ja – und sie sah so glücklich aus.“ „Und das verdanke ich alles Ihnen, Elizabeth“, sagte er feierlich. Als sie seinen Dank abwehrte, schüttelte er nur den Kopf. „Sie müssen auf Miguel einen sehr großen Einfluß haben“, meinte er nachdenklich. „Ich habe ihm nur wiedergegeben, was Sie mir gebeichtet hatten. Er verlangte von mir, daß ich alles erzähle.“ „Aber die Art, wie Sie von mir und Carlota gesprochen haben, muß ihn beeinflußt haben“, beharrte Sanches. „Ich kenne doch Miguels unbeugsamen Stolz. Ich werde Ihnen zeitlebens dankbar sein!“ Seine schlichte Herzlichkeit tat ihr wohl. Wie warmherzig und fröhlich die Menschen um sie herum waren! Elizabeth fühlte, daß sie gerne in Portugal bleiben würde; ganz unabhängig davon, daß sie den Conde liebte. Für ihre Gefühle gab es keine Hoffnung, darüber war sie sich im klaren. Aber auch, wenn ihre Liebe unerwidert blieb, war sie dem Schicksal dankbar, daß es sie mit ihm und Carlota zusammengeführt hatte. Sie hatte eine zweite Heimat gefunden. Wie schon am Abend zuvor, setzte sich Inez an den Flügel. Der Conde tanzte mit seiner Schwester. Gleich danach kam er auf Elizabeth zu, die mit Carla und ihrem Mann zusammensaß und sich eifrig mit ihnen unterhielt. Dom Miguel lächelte Elizabeth an und streckte ihr die Hand mit einer so selbstverständlichen Geste entgegen, die fast einen Besitzanspruch auszudrücken schien. Er legte den Arm um sie und tanzte mit ihr davon. Für einige Minuten überließ Elizabeth sich dem Gefühl einer ungetrübten Glückseligkeit, in der nur das Bewußtsein seiner Nähe zählte. Sie spürte seinen straffen Körper, fühlte, wie er sie fester an sich zog. Ihre Lippen öffneten sich leicht, und der Blick, mit dem sie zu ihm aufsah, schien ihm ihr ganzes Herz zu offenbaren; denn er schaute sie mit einem staunenden Ausdruck an. Sie schloß die Augen. Auf einmal merkte sie, daß er mit ihr auf die Terrasse hinaustanzte, durch die weitgeöffneten französischen Fenstertüren. Noch ein paar Schritte, dann verstummte die Musik. Er hielt sie in seinen Armen, am Ende der Terrasse, wohin das Licht aus dem Wohnraum nicht mehr drang. „Elizabeth, Liebes…“ Er flüsterte nur. Aber die Worte verrieten, wie stark er gegen seine Gefühle kämpfte… Seine Lippen berührten ganz zart ihre Wange – nur wie ein Hauch. Dann nahm er ihr Gesicht in seine beiden Hände. Mit angehaltenem Atem und einem Gefühl, als höbe er sie in den Himmel, wartete sie auf seinen Kuß. Doch plötzlich wußte sie, daß der beseligende Augenblick vorüber war. Sie ahnte mehr, als sie sah, wie er sich verkrampfte, sich mit einer beinahe hilflosen Bewegung abwandte. „Wir müssen hineingehen“, hörte sie ihn mit erstickter Stimme sagen. Er legte leicht eine Hand unter ihren Ellbogen und führte sie über die breite Terrasse zurück ins Haus. Als sie das Wohnzimmer betraten, begann Inez einen neuen Fado, und die übrigen Gäste begannen wieder zu tanzen. Miguel blieb zögernd stehen, als brächte er es nicht über sich, mit den anderen fröhlich zu sein. Elizabeth stand neben ihm, als Sanches mit Carlota an ihnen vorübertanzte. Er sagte ihr etwas ins Ohr, und ihr Gesicht glühte vor Freude. „Carlota ist glücklich“, murmelte Elizabeth. Sie sah zu Miguel auf und wußte, daß endlich alle Scheu und Befangenheit verflogen war, die sie sonst in seiner Nähe empfunden hatte. Merkwürdig, dachte sie, daß ich gar nicht enttäuscht bin, weil er mich nicht küßte. Es genügte ihr, daß er zum erstenmal verraten hatte, wie er fühlte. Sie bedeutete ihm mehr, als sie geahnt hatte – das mußte ihr genügen.
Ob es die Erinnerung an seine Frau war, die den Glanz des kurzen Augenblicks ausgelöscht hatte? Würde der Schmerz um sie immer zwischen ihm und den anderen Menschen stehen? „Ja, sie ist glücklich und Sanches auch.“ Sie konnte kaum glauben, was seine Worte ihr verrieten. Es war nicht nur Freude über die gesicherte Zukunft seiner kleinen Schwester – es schwang ganz unüberhörbar auch ein Unterton von Neid in seiner Stimme. „Was ist denn mit euch?“ fragte Barrolo, Inez Mann. Erstaunt blickte er ihnen in die erregten Gesichter und fuhr etwas verlegen fort: „Ihr habt wohl ein bißchen die frische Nachtluft genossen?“ „Ja, wir haben ein wenig auf der Terrasse getanzt“, antwortete Miguel mit scheinbarem Gleichmut. „Es ist draußen wunderschön.“ Er sah Elizabeth lächelnd an, und noch einmal waren sie wie mit unsichtbaren Fäden aneinandergebunden, wie in dem Moment, als er sie in seinen Armen hielt. „Ja, es ist wirklich schön draußen“, meinte Barrolo, und Elizabeth war fast sicher, daß es keine Anspielung war. „Ist unser Klima nicht einzigartig, Miss Salway?“ „Das ist es wirklich“, bestätigte sie enthusiastisch. „Ich genieße die herrliche Sonne und die lauen Nächte.“ „Ganz sicher wird Ihnen diese Wärme fehlen, wenn Sie einmal in Ihr Heimatland zurückkehren, nicht wahr?“ Eine hinterlistige Frage – diesmal machte Barrolo keineswegs nur leichte Konversation. Obwohl er zu Elizabeth gesprochen hatte, war der Blick seiner braunen Augen forschend auf Dom Miguels Gesicht gerichtet Miguel faßte Elizabeth leicht unter den Arm und dirigierte sie weiter in den Wohnraum hinein. Über die Schulter sagte er zu Barrolo: „Soweit es sich vorausschauen läßt, wird Elizabeth nicht in die Heimat zurückgehen.“ . „Nein?“ Barrolo deutete mit dem Kopf zu Sanches und Carlota, die weltvergessen miteinander tanzten. Sanches Kopf neigte sich dicht über ihr zu ihm erhobenes Gesicht. „Nun, das sind ja erfreuliche Neuigkeiten! So brauchen wir nicht zu fürchten, Sie zu verlieren, kaum, daß wir uns kennengelernt haben.“ „Dafür besteht wirklich kein Grund“, beendete Miguel die Unterhaltung. Er zog Elizabeth in seine Arme und tanzte mit ihr davon.
7. KAPITEL Elizabeth hatte den Eindruck, daß alles Volk aus der Umgebung nach Viano de Castelo geströmt war, um das Fest Unserer lieben Frau, der schmerzensreichen Mutter Maria, zu feiern, das alljährlich im August stattfand. Es war der größte Festtag des Jahres, hatte ihr Carlota erzählt. Alle Hotels waren in der Regel so überfüllt, daß viele Besucher in Zelten oder in ihren Autos schlafen mußten. „Miguel mag eigentlich diese Volksfeste nicht“, sagte sie, während sie und Elizabeth hinter ihrem Bruder und Sanches durch die Straßen schlenderten. Die vier waren gemeinsam zu der Festa gefahren, doch Carlota hatte gebeten, ob sie und Sanches eine Zeitlang ihre eigenen Wege gehen dürften. Elizabeth war sich nicht ganz klar, ob sie froh sein sollte, daß Dom Miguel lächelnd Carlotas Bitte erfüllte, oder ob es für sie und ihren Seelenfrieden nicht besser wäre, in der Gesellschaft des glücklichen Brautpaares zu bleiben und nicht mit Miguel allein zu sein. Doch es war sinnlos, darüber nachzudenken. Nachdem sie gemeinsam in einem Cafe eine Erfrischung zu sich genommen hatten, sagte Sanches, nun wolle er mit Carlota eine Bootsfahrt auf dem Fluß machen. Er versprach, sie rechtzeitig wieder nach Hause zu bringen. Elizabeth stellte fest, daß eine leichte Wolke des Unbehagens sekundenlang Miguels Gesicht überflog. Doch als die beiden verschwunden waren, wandte er sich ihr lächelnd zu: „Also, nun müssen Sie mit mir allein vorliebnehmen. Ich hoffe, ich werde Sie nicht langweilen.“ Elizabeth lächelte. „Aber wie könnte ich mich langweilen – mit all diesen fröhlichen Menschen um uns herum! Schauen Sie doch nur…“ Mit einer schwungvollen Armbewegung deutete sie auf den vor ihnen liegenden Platz. Folkloresänger gruppierten sich, Paare stellten sich zum Tanz voreinander auf, die Frauen in farbenprächtigen Trachten mit dem dazugehörigen Schmuck von Armspangen, Halsketten und Ohrringen. Musik klang über den blumengeschmückten Platz, und selbst die Hitze schien sich zu steigern, je länger der temperamentvolle Tanz dauerte. „Genießen Sie diese lärmende Ansammlung von Menschen?“ fragte Dom Miguel, als er Elizabeth am Arm durch die dichtgedrängte Menge steuerte, damit sie in der Hauptstraße der Prozession zuschauen konnten. „Es ist doch meine erste Festa hier, natürlich finde ich sie herrlich“, antwortete sie eifrig. Dann aber, plötzlich ein wenig ängstlich, fragte sie ihn: „Und Sie? Sie mögen diese Volksfeste nicht?“ Zu ihrer Überraschung widersprach er. „Ach, wissen Sie, zur Abwechslung finde ich es auch einmal wundervoll.“ Sie atmete erleichtert auf. Wie hätte sie das Ereignis aus vollem Herzen genießen können, wenn er nur ihr zuliebe mitgemacht hätte? „Carlota meinte, daß Sie dieses Gedränge nicht leiden können.“ „Im allgemeinen liebe ich Massenveranstaltungen wirklich nicht“, erwiderte er ernst. „Aber das Fest Unserer lieben Frau haben wir nie versäumt, wenn wir im August im Landhaus waren. Es ist absolut Familientradition dabeizusein. Und nach der Abgeschiedenheit unseres Alltags in Sintra ist es ein reizvoller Gegensatz, nicht wahr?“ „Ich bin froh, daß Sie auch Spaß daran haben!“ rief sie impulsiv. Sie spürte, daß er sie mit einem sonderbaren Ausdruck in den Augen forschend betrachtete. „Bedeutet es Ihnen wirklich etwas, ob es mir Freude macht oder nicht?“ Der Ernst seiner Frage überraschte sie. Dann aber sah sie, wie seine Züge sich verfinsterten, seine Augen schauten plötzlich an ihr vorbei. Es war, als habe ein
Schatten der Vergangenheit ihn gestreift. „Ja“, antwortete Elizabeth so eindringlich, als ob sie ihn zu sich zurückholen müßte. „Ja, es ist wichtig für mich.“ Die Menge trat, als die Prozession vorbeigezogen war, den Rückweg zum Marktplatz an. Elizabeth und Miguel waren zwischen den drängenden und schiebenden Menschen eingekeilt. Um sie nicht zu verlieren, ergriff er ihre Hand. Sie spürte den Druck seiner schlanken Finger, die sich1 fest in ihre falteten. Die Berührung erfüllte sie mit einem wilden Glücksgefühl. Sie schaute zu ihm auf, und ihr wurde leicht ums Herz, als sie das warme Lächeln sah, das in seine dunklen Augen stieg. Sie wußte jetzt mit absoluter Sicherheit, daß sie nur glücklich sein konnte, wenn auch er es war. Für den Moment waren die Schatten der Vergangenheit gebannt. Die Reserviertheit seines Wesens schien einem schweigenden Einverständnis Platz gemacht zu haben. „Habe ich Ihnen schon einmal gesagt, wie bezaubernd Sie aussehen?“ Seine Frage kam so unerwartet, daß sie dunkelrot wurde und verlegen wegschaute. „Außerdem können Sie wunderhübsch erröten“, fuhr er fort, offensichtlich amüsiert, daß sein Kompliment sie so verwirrt hatte. „Gestehen Sie, Elizabeth, haben Sie eigentlich schon einmal einen Freund gehabt?“ „Nein, keinen richtigen…“ Er mußte lachen. „Meinen Sie damit, er war nicht der Richtige für Sie, oder waren Sie es nicht für ihn?“ „Weder der jeweilige ,er’ noch ich nahmen es ernst.“ Sie schwieg eine Weile, weil die fröhlich herumwirbelnden Tänzer mit ihren Partnerinnen in den leuchtenden Trachten ihre Aufmerksamkeit fesselten. Doch dabei mußte sie auf einmal an die Zeit im College zurückdenken, und sie fuhr fort: „Ich bin häufig mit anderen Studenten zum Tanzen oder ins Kino gegangen, ich hatte Spaß daran. Allerdings gab es jemanden, der mir fast immer den Spaß an Partys verdarb, weil er ständig dabei war und mich mit seinen Aufmerksamkeiten belästigte.“ Beinahe gegen ihren Willen begann Elizabeth, dem Conde von Terry Kershawe zu erzählen. Sie gestand, daß im Grunde die Angst vor dem Probejahr an seiner Schule der Hauptgrund für sie gewesen sei, nach Portugal zu gehen. „Was für ein Glück für uns, daß er Ihnen zuwider war“, warf Dom Miguel ein. Elizabeth fiel auf, daß er eine Sekunde lang zögerte, ehe er das Wörtchen ,uns’ aussprach. Hatte er statt dessen ,mich’ sagen wollen? Dieser Gedanke war ebenso beglückend wie die Berührung seines Arms, der sich in diesem Augenblick um ihre Schultern legte – wie um sie an sich zu binden. Weder er noch sie sagten ein Wort. Sie spürten einander nur. Aber Elizabeth konnte kaum glauben, daß der steife, verschlossene Conde Ramiro Vicente Miguel de Castro derselbe Mann war, an dessen Schulter sie sich schmiegte. Oder lernte sie ihn jetzt erst kennen, wie er wirklich war? Ihr Blut strömte schneller durch die Adern, sie war so glücklich wie nie zuvor. Würde es je wieder einen so traumhaften Tag geben wie dieses Volksfest an seiner Seite? Am Abend, als sie alle miteinander im Landhaus ein Festmahl genossen, sagte sie Carlota und Miguel mit ehrlicher Überzeugung, wie unvergeßlich diese Festa in Viano de Castelo für sie sei und wie dankbar sie ihnen wäre. Carlota sprang auf. Sie umarmte Elizabeth, während ihr Bruder ihr einen warmen und irgendwie prüfenden Blick zuwarf. Nach dem Essen bat Sanches um die Erlaubnis, seine Braut noch ausführen zu dürfen, denn die Feier in Viano war noch nicht zu Ende. Zu Elizabeths
Überraschung willigte Dom Miguel ohne Zögern ein – ein Zeichen, wie sehr er dem jungen Mann vertraute. „So sind wir beide also wieder einmal allein.“ Das Lächeln, das diese Feststellung begleitete, erregte Elizabeth. Sie saßen auf der Terrasse. Aber im nächsten Moment stand Dom Miguel auf und fragte: „Wollen wir auch noch ausgehen?“ „O ja, wenn Sie es wirklich möchten.“ Sie war so befangen, weil er ihr die Entscheidung überließ, daß sie schüchtern hinzufügte: „Sie bestimmen es doch.“ Er lachte, seine grauen Augen funkelten. „Aber Elizabeth, was ist denn mit Ihnen?“ Er ergriff ihre Hand und zog sie aus dem Stuhl hoch. „Seien Sie doch nicht so ängstlich und korrekt. Ich bin nur ein ganz normaler Mensch…“ Das kam genauso unerwartet wie die sanfte Bewegung, mit der er ihre Hand an seine Lippen hob. Sie spürte, wie eine heiße Welle in ihr Gesicht stieg, und sah, daß ein undeutbarer Ausdruck in dem Blick lag, mit dem er sie anschaute. „Kommen Sie“, sagte er rauh, „wir versäumen sonst den ganzen Spaß.“ Sie kamen gerade rechtzeitig zum Feuerwerk, das an den Ufern des Limas in die Luft gejagt wurde, während ein kleines Kammerorchester in einem Boot Serenaden spielte. Danach begann der Tanz in den Straßen, bei dem alle Menschen fröhlich mitmachten. Elizabeth und Dom Miguel wurden sofort in den Wirbel hineingezogen. Beinahe finde ich es schon selbstverständlich, dachte Elizabeth, daß er das Beisammensein mit mir schön findet und es so deutlich zeigt. Sie lachte ihm zu, während er sich im Walzertakt geschickt durch das dichte Gewoge drehte und sie fest in seinen Armen hielt. Sie fühlte sich jung und frei und unbeschwert… „Das war herrlich“, rief sie atemlos, als die Kapelle pausierte und Miguel, ebenfalls ein wenig außer Atem, sie zu einem ruhigeren Plätzchen zog. „Oh, ich hab’ mich noch nie so gut amüsiert, Miguel.“ Erschrocken hielt sie inne und sah zu ihm auf. Sie überlegte sich ein paar Worte der Entschuldigung, aber dann erkannte sie am belustigten Funkeln seiner Augen, daß es keiner Förmlichkeit bedurfte. Alles, was sie sagte, war: „Ach du lieber Gott.“ Da lachte er fröhlich auf. „Es wäre schade, wenn Sie etwa um Verzeihung bitten würden, Elizabeth. Es ist sowieso höchste Zeit, daß wir nicht mehr so formell miteinander sind.“ „Aber…es ist mir wirklich nur so rausgeschlüpft…“ „Darüber freue ich mich ja so“, erwiderte er. Doch dann war der vergnügte Ausdruck seines Gesichts wie weggewischt. Wieder sah er hoffnungslos aus, und es schien fast, als ob er seine Worte bedauerte. Elizabeths fröhliche Stimmung schwand. Sie war sich ihrer Gefühle so sicher, und zum erstenmal hatte sich eine zaghafte Hoffnung in ihr geregt, daß er sie erwidern könnte. Daß er sie nicht nur ein bißchen gern hatte… Aber sie erkannte, daß er sich gegen seine Gefühle wehrte. War die Treue zu seiner toten Frau stärker als der Reiz einer neuen Liebe? Es war etwas Unverständliches, Geheimnisvolles in Miguels Verhalten ihr gegenüber, das sie stets von neuem in ihre Schranken zurückwies. Der Conde schien die Ursache ihrer Verwirrung und Traurigkeit richtig zu deuten, denn plötzlich lächelte er ihr etwas wehmütig zu. „Wollen wir heimfahren?“ fragte er. Elizabeth sagte erleichtert ja. Der Trubel um sie paßte nicht mehr zu ihrer Stimmung, und sie saß still neben ihm im Auto, bis er vor dem Landhaus hielt. Dann dankte sie ihm noch einmal für diesen schönen Tag. „Sie müssen mir nicht danken, Elizabeth“, erwiderte er ernst. „Sie glauben gar nicht, wie dankbar ich Ihnen bin. Es ist schon lange her, daß ich mich so wohl gefühlt habe wie heute.“
Elizabeth verstand instinktiv, was Miguel ihr damit sagen wollte: daß sie es war, die ihn glücklich gemacht hatte. Aber den zaghaft wieder in ihr aufsteigenden Hoffnungsschimmer, daß er ihr einmal seine Liebe gestehen würde, unterdrückte sie rasch. Sie wollte vernünftig sein. Bevor sie die Autotür öffnete, um auszusteigen, sagte sie nur scheu: „Wie lieb, daß Sie mir gegenüber so großzügig sind. Ich bin froh, daß auch Ihnen der Tag gefallen hat.“ In stillschweigendem Einverständnis betraten sie das Haus nicht, sondern gingen außen herum in den Garten. Der süße Duft der vielen blühenden Pflanzen lag in der Luft, und wie Musik erklang das Plätschern des Wassers der Springbrunnen. Es lag ein Zauber in dieser warmen Sommernacht, der Elizabeth die Kehle zuschnürte. Sie konnte es nicht mehr ertragen, ihn so nah und doch so unerreichbar fern zu wissen. Ohne zu überlegen, brach sie das Schweigen. „Es ist so wunderbar und so unbeschreiblich friedlich. Welch ein Glück, wenn man aus all dem Trubel hierher zurückkehren kann…“ Ihre raschen^ nervösen Worte brachen ab, weil Miguel sie in den Arm nahm und mit der anderen Hand ihr Kinn berührte, damit sie das Gesicht heben und ihm in die Augen schauen mußte. Ihre Lippen öffneten sich, aber sie konnte nicht weitersprechen, denn Miguel beugte sich über sie und schloß mit einem sanften Kuß ihren Mund. Als er sich von ihr löste, schüttelte er den Kopf, als wolle er sich von einem unsichtbaren Netz befreien, das sein Denken und Handeln gefangenhielt. Auf Elizabeths Gesicht lag ein Strahlen, das ein licht in seinen Augen entzündete. Er zog sie fester an sich und suchte wieder ihren Mund. Diesmal erwiderte sie seinen Kuß, bis beide spürten, daß* leidenschaftliches Verlangen nach einander warme Zärtlichkeit verdrängte. Ihre Sehnsucht nacheinander wurde immer brennender. Als er sie endlich freiließ, konnte sie nur atemlos dastehen, dicht bei ihm, ihn anschauen und staunen, daß diese Augenblicke Wirklichkeit waren. Ihre Lippen zuckten, und er streichelte ihren Nacken. Eine Wolke zog über den Mond und löschte das silberne, verzauberte Licht aus. „Du bist so schön“, sagte er sanft, „und sehr, sehr lieb. Bleib so, mein Herz, bitte, bleibe immer so, wie du bist.“ Elizabeth erschrak fast über diese Worte, die aus den Tiefen seines Wesens kamen und sich so verzweifelt anhörten. „Ich werde mich niemals ändern“, flüsterte sie. Aber alle die zärtlichen Worte, die sie ihm so gern gesagt hätte und auf die er voller Spannung zu warten schien, sprach sie nicht aus. Als das Schweigen zwischen ihnen bedrückend wurde, sagte sie nur rasch: „Ich gehöre zu den Menschen, die sich treu bleiben.“ Miguel sah sie lange an, aber sie konnte seinen Blick nicht deuten. Schließlich entgegnete er in hartem Ton: „Das glaubt jeder von sich – und trotzdem wandeln wir uns. Jeder…“ Der Klang seiner Stimme verletzte sie, und sie verbarg ihre Enttäuschung nicht. Aber schon wurden seine Züge wieder weich. Er lächelte. „Nein, Elizabeth, du wirst dieselbe bleiben, ich weiß“, meinte er begütigend, als wolle er ein Kind trösten. Dann fuhr er nachdenklich fort: „Beständigkeit ist ein Grundzug deines Charakters, das wußte ich vom ersten Augenblick an. Du wirst deinem Mann treu sein.“ Sie sah ihn erstaunt an, aber sein Gesicht trug wieder die Maske, die alle Gefühle verbarg. Hatte er, die Untreue seiner Frau erleben müssen? War etwa das der Schatten, der über seinem ganzen Leben lag? Auch er war beständig und irgendwie unwandelbar. Die alte Furcht, daß Dora unsichtbar immer an seiner Seite sein würde, packte Elizabeth mit verzweifelter Heftigkeit.
Eine Woche, nachdem sie wieder in den Palacio zurückgekehrt waren, sah sich Elizabeth eines Nachmittags unerwartet frei von irgendwelchen Pflichten. Carlota fühlte sich nicht wohl und beschloß, im Bett zu bleiben. Dom Miguel hatte geschäftlich in Lissabon zu tun. Der Garten lag im Schein der niedersinkenden Sonne in schläfriger Stille da und verlockte Elizabeth, sich mit einem Buch auf den Rasen zu setzen. Doch die Ruhe ringsumher machte sie müde, sie klappte die Lehne der Liege herunter und legte sich entspannt zurück. Ihr Blick wanderte über das satte Rasengrün zu dem Springbrunnen mit der Statue der Nixe und der dunklen Kulisse des Waldes, der den Park abschloß. Weiter hinten wuchsen die Berge empor, an deren sanft ansteigenden Flanken hier und da eine der prächtigen Villen der reichen Lissabonner erbaut war. Mit einem zufriedenen, tiefen Einatmen nahm Elizabeth wieder ihr Buch in die Hand. Doch ihr Blick blieb an der Front des Palacios hängen. Sie konnte sich an der eleganten, klassischschönen Linie des Hauses immer von neuem freuen. Sie sah die große Terrasse, die sich über die ganze Breite erstreckte; die Steintöpfe auf dem Geländer waren jetzt mit den ersten Herbstchrysanthemen bepflanzt. Die tiefen französischen Fenster und Terrassentüren standen weit offen, die seidenen Vorhänge des Salons waren halb zugezogen. Sie schaute nach oben, auf ihre Fenster und die der angrenzenden Räume. Plötzlich weiteten sich ihre Augen, sie erschrak. An dem Fenster von Doras Zimmer stand Rosaria und starrte in den Garten hinab. Blitzschnell hob Elizabeth ihr Buch und tat so, als sei sie gänzlich in ihre Lektüre vertieft. Doch verstohlen warf sie hin und wieder einen raschen Blick zu Rosaria hinauf, die sich zwar für ein paar Augenblicke ins Zimmer zurückgezogen hatte, dann aber am zweiten Fenster wieder auftauchte. Elizabeth überlegte, ob sie wohl dort oben saubermachte, aber sie verwarf den Gedanken sogleich. Voller Unbehagen wurde sie sich bewußt, daß sich erneut der Schatten eines Geheimnisses über diesen friedlichen Nachmittag legte. Sie spürte eine fröstelnde Nervenanspannung. Was konnte sie tun? Am liebsten wäre es ihr, Dom Miguel auf taktvolle Weise ihren Argwohn wissen zu lassen. Aber dann prüfte sie, ob sie denn wirklich stichhaltige Verdächtigungen vorbringen könnte, und sie schüttelte in Gedanken den Kopf. Gewiß, sie hatte Rosaria mit dem Nerzmantel gesehen, den sie auf sehr merkwürdige und heimliche Weise aus dem Zimmer brachte. Aber es gab dafür die einfache Erklärung, daß der Pelz ausgelüftet werden sollte. Dann war da das Paar im Park, das so spurlos verschwand. Sie glaubte noch immer, die Frau sei Rosaria gewesen – aber sie hatte nicht den Schimmer eines Beweises. Auch das gefundene Schmuckstück verriet nicht, wer es verloren hatte oder ob es gestohlen worden war. Und nun befand sich Rosaria wieder dort oben in diesem Raum. Doch auch das brauchte absolut nichts zu bedeuten. Das Zimmer mußte schließlich, genau wie alle anderen im Palacio, geputzt werden. Elizabeth versuchte wieder, sich in ihr Buch zu vertiefen. Aber .hartnäckig kehrten ihre Gedanken stets zu den Vorgängen zurück, die nach ihrem Gefühl auf ein Geheimnis hinzudeuten schienen. Fast gegen ihren Willen stand sie nach einer halben Stunde auf und ging ins Haus. Sie war eigentlich ärgerlich, daß ausgerechnet sie, die sich nie in das Schicksal anderer Menschen eingemischt hatte, nun ungebeten hinter anderen herspionierte. Zögernd stieg sie die Treppe hinauf und blieb vor der Tür zu Doras Zimmer unentschlossen stehen. Alles war still, selbst aus dem Souterrain drang kein Laut. In einem jähen, trotzigen Entschluß drückte Elizabeth die Messingklinke nieder und stieß die Tür auf.
Der Raum lag vor ihr – niemand war zu sehen. Sie trat ein und zog die Tür hinter sich ins Schloß. Mit Herzklopfen stand sie da und starrte beklommen auf die Verbindungstür zu Miguels Schlafzimmer. Wenn er sie aufmachen würde… Aber sie sagte sich rasch, daß er ja fortgefahren sei und es nicht den geringsten Grund für dieses Rasen ihrer Pulse gab. Eine ganze Weile rührte sie sich nicht von der Stelle. Sie ließ den Blick durch den kostbaren Raum wandern und sie dann ganz unwillkürlich nach der Schmuckkassette aus, in die sie den Ohrclip gelegt hatte. Ohne zu zögern, trat sie an den Toilettentisch und hob den Deckel der Schatulle. Ein Laut des Entsetzens entfuhr ihr, als sie sah, daß nicht nur der Clip verschwunden war, sondern auch die mit Saphiren besetzte Goldkette, die auf einem weißen Samtdeckchen gelegen hatte. Elizabeth geriet in Panik. Es konnte nicht anders sein: Das Mädchen hatte alles gestohlen. Rosaria war eine Diebin. Allem Anschein nach händigte sie die Beute einem Komplizen aus, anders ließ sich das Vorgefallene nicht deuten… Wie sollte sie nun Dom Miguel einen Wink geben, ohne daß es zu unangenehmen Fragen kam? Es war ihre Pflicht, ihn zu warnen, das wußte sie. „Ich kann ihm doch nicht meinen Verdacht und meine Neugier eingestehen“, murmelte sie kleinlaut vor sich hin. Ratlos blieb sie in dem Zimmer, unschlüssig und immer wieder nach neuen Lösungen suchend. Schließlich ging sie hinaus. Aber anstatt wieder in den Garten zurückzukehren, trieb irgend etwas sie, die schmale Treppe hinaufzusteigen, die zum Boden führte. Sie gestand sich ein, daß es der Wunsch war, einen Blick auf das Porträt der toten Condessa zu werfen. Die erste Kammer enthielt nichts als leere Schränke und dicken dazwischen Stühle und kleine Tischchen, allesamt von einer dicken Staubschicht bedeckt. Sie stieß eine andere Tür auf, die von dem kleinen Gang abzweigte, und entdeckte sofort einige Bilder, die gegen die Wände gelehnt waren. Elizabeth drehte das erste Bild um: Mit angehaltenem Atem starrte sie die Frau an, die ihr direkt in die Augen zu schauen schien. Carlota und Sanches hatten ihr erzählt, daß Dora eine Schönheit gewesen sei. Aber es gab keine Worte für die unbeschreibliche Faszination, die von diesem Gesicht mit den vollendet ebenmäßigen Zügen ausging. Elizabeth stand wie betäubt. Noch nie hatte sie solche Augen gesehen, so groß und voll glühendem Leben, die so dichte, gebogene Wimpern umrahmten! Noch nie ein so klassisches Profil, in dem sie auch nicht den kleinsten Schönheitsfehler entdecken konnte. Der volle Mund schien sie auszulachen und zu verhöhnen, daß sie es wagte, auch nur einen Hoffnungsschimmer zu hegen, Miguel könne sich jemals ihr zuwenden, ihr, der kleinen Lehrerin aus England. Ihre Phantasie zeigte ihr beide: Miguel und Dora, glücklich, zärtlich, leidenschaftlich miteinander. Sie hatte von Anfang an gewußt, daß er seine Frau nie vergessen konnte. Dora und er hatten miteinander gelebt, sie hatten sich geliebt, und nie würde eine andere ihren Platz einnehmen können. Begierig forschte sie in dem Gesicht der Toten, ob es nicht sonst einen Makel gab, eine Spur von Härte oder Lieblosigkeit, den die äußere Schönheit verhüllte. Denn Carlota mußte unter Dora leiden, und Sanches hatte ein hartes Urteil über sie gefällt. Aber die tote Frau gab ihr Geheimnis nicht preis. Verwirrend weiblich und sanft sah sie Elizabeth entgegen. Wo lag die Wahrheit? Ein Schauder überlief Elizabeth. Irgend etwas schmerzte tief in ihrem Innern. Gerade hatte sie zaghaft zu glauben begonnen, daß ihre Liebe zu Miguel vielleicht doch nicht zu Hoffnungslosigkeit verurteilt sei. Die Enttäuschung nun war so groß, daß ihr Tränen in die Augen schossen.
Die Knie waren ihr weich, sie drehte das Porträt wieder zur Wand. Als sie sich umwandte, wurde sie kreidebleich, und ihr Herzschlag setzte einmal aus. In der geöffneten Tür stand der Conde. „Miguel“, flüsterte sie und griff haltsuchend an die Wand. Auf seinem Gesicht lag der erschreckende Ausdruck, den sie zweimal bei ihm gesehen hatte. Seine Augen waren wie kalter Stahl, der Blick schien sie zu durchbohren. Unwillkürlich drückte sie sich eng an die Wand, als er durch die Bodenkammer auf sie zukam. „Was tun Sie hier?“ fuhr er sie mit schneidender Stimme an. „Wie können Sie sich unterstehen, nach diesem Bild zu suchen.“ Ratlos zuckte sie mit den Achseln. Sie war einfach unfähig, etwas zu erklären. Sie sah, wie sich die harten Linien um seinen Mund vertieften, wie die Wut immer stärker von ihm Besitz ergriff. „Antworten Sie. Stehen Sie nicht so herum!“ „Ich… ich“, stotterte sie. „Es tut mir leid, daß...“ „Warum sind Sie hier heraufgekommen? Was für einen Grund kann es für Sie geben, alles durchzustöbern?“ Er trat auf sie zu, als ob er ihr den Fluchtweg abschneiden wollte. „Dieses Bild – was hatten Sie damit vor?“ In ihren Ohren klang es, als habe sie ein Heiligtum beschmutzt. „Ich kann’s nicht erklären, Miguel“, antwortete sie tonlos, und im gleichen Augenblick war sie sich bewußt, daß es falsch war, ihn jetzt mit seinem Vornamen anzureden. „Ich wollte… das Bild Ihrer Frau war es, das ich so gern einmal anschauen wollte.“ Sie senkte den Kopf, beschämt, daß ihre gestammelte Erklärung so unglaubwürdig klingen mußte. „Wer hat Ihnen denn erzählt, daß es hier oben ist?“ Miguel bückte sich und rückte das Bild, das tiefer gerutscht war, wieder zurecht. Elizabeth beobachtete ihn unter den Wimpern hervor. Sie biß sich nervös auf die Lippen und spürte, daß schon wieder Tränen ihre Augen füllten. Sie rannen über ihre Wangen und mit einer rührenden Bewegung wischte sie sie mit dem Handrücken ab. „Ich sprach mit Carlota über das Porträt. Ich meine“, erklärte sie, als sie merkte, wie er drohend die Brauen zusammenzog, „ich erzählte Carlota von der Lücke in der Gemäldegalerie, die mir aufgefallen war. Und ich fragte sie, ob dort das Bild Ihrer Frau gehangen hätte.“ Sie schwieg, weil sie hoffte, ihre Erklärung würde ihm genügen. Aber er knurrte nur: „Weiter.“ „Carlota erzählte, Sie hätten den Befehl gegeben, das Porträt auf den Boden zu schaffen.“ Er starrte sie mit funkelnden Augen an. „So entschlossen Sie sich, hier oben nachzuschauen.“ Unerbittlich nagelte sein Blick sie fest. „Ja. Eine unwiderstehliche Neugier trieb mich dazu. Verzeihen Sie mir. Ich weiß, ich hätte es nicht tun dürfen!“ Einen Augenblick lang wirkte er fast besänftigt. Aber als er jetzt zu dem Bild hinschaute, wurde seine Miene noch drohender als zuvor. Ein kalter Schauer überflog Elizabeth. Dom Miguel sah aus, als sei er fähig, einen Mord zu begehen. „Also gut. Sie haben sie gesehen. Und wie finden Sie meine Frau? Reden Sie!“ „Sie war schön“, sagte Elizabeth. „Ich habe noch nie eine so wunderschöne Frau gesehen.“ Es war fast ein noch größerer Schock, daß Dom Miguel auf einmal zu lachen begann. Zuerst laut und wild, doch dann wurde daraus ein kaltes, böses, geradezu mörderisches Gelächter. Es war, als gäbe es zwei Miguels, die nichts miteinander zu schaffen hatten, kaum äußere Ähnlichkeit besaßen. „Schön, nicht wahr?“ Er betrachtete wieder das Porträt. „O ja, sie war die
schönste Frau auf Erden. Jede andere verblaßte in ihrer Gegenwart.“ Seine Augen brannten, als er nun Elizabeth wieder ansah. Sie preßte sich gegen die Wand, voller Furcht vor dem Mann, den sie doch liebte. Plötzlich erinnerte sie sich, daß Carlota einmal geäußert hatte, ihr Bruder sei seit dem Tod seiner Frau krankhaft verändert. „Sie sind doch auch hübsch! Aber Sie möchten lieber so schön sein wie meine Frau, was?“ Wieder erfüllte sein Gelächter die stickige Bodenkammer, durch deren Dachluke das Tageslicht nur gedämpft hereinschien. Elizabeth befiel ein Zittern. Aber obwohl Dom Miguel es bemerkte, hatte er kein Erbarmen mit ihr. „Antworten Sie!“ rief er. „Sie beneiden sie doch um diese makellose Schönheit. Schauen Sie hin – eine einmalige Frau, nicht wahr? Ich sage, Sie sollen sie ansehen.“ Er riß das Bild in dem schweren Rahmen hoch und hielt es direkt vor Elizabeths Gesicht. Gehorsam blickte sie hin, fast blind vor Tränen. Sie fühlte nur den Wunsch, fortzulaufen aus diesem fürchterlichen Raum, fort von diesem Wahnsinnigen, der sie in ihrer Ecke wie eine Gefangene festhielt. „Ja“, antwortete sie, „ja, Dom Miguel, ich habe sie mir angesehen…“ „Gut, dann schauen Sie noch einmal hin und noch einmal. Sie wollten sich Dora doch ansehen. Betrachten Sie sie, damit Sie sie auch wirklich niemals vergessen.“ „Bitte“, flehte sie. „Bitte, tun Sie es fort.“ Die Furcht schüttelte sie wie ein Fieberanfall. Es schmerzte, ihn so zu sehen, hemmungslos und gewalttätig. Sie konnte das Weinen nicht mehr unterdrücken. Zusammenhanglos begann sie Entschuldigungen zu stammeln, von Schluchzern unterbrochen. Wie leid es ihr täte, ihm weh getan zu haben. Wie unverzeihlich es sei, so neugierig zu sein, und doch möge er es ihr verzeihen… „Ich schäme mich, daß ich Sie gequält habe. Ich wollte es nicht, glauben Sie mir doch. Mich selbst habe ich damit viel mehr verletzt...“ Sie brach mitten im Satz ab, weil das Bild krachend in der entferntesten Ecke an die Wand schlug und der Rahmen in viele Stücke zerbarst. „Dom Miguel!“ „Hinunter mit Ihnen“, befahl er, während er einen Schritt beiseite trat und zur Tür zeigte. „Und kommen Sie nie wieder hierher zurück!“
8. KAPITEL Elizabeth wußte nicht, wie sie in ihr Zimmer gekommen war. Sie lehnte sich gegen die geschlossene Tür und zitterte wie Espenlaub. Immer wieder dachte sie an den schrecklichen Augenblick, als der Conde plötzlich in der Bodenkammer auftauchte. Was hatte ihn veranlaßt, dort hinaufzugehen? Er war viel schneller zurückgekommen, als sie erwartet hatte. Doch das war nicht so ungewöhnlich, er hatte eben seine Geschäfte schneller erledigt, als vorauszusehen war. Überraschend war nur, daß er auf den Boden ging. Vielleicht wollte er sich irgend etwas herunterholen – vielleicht aber wollte er auch voller Sehnsucht das Bild seiner Frau anschauen… Was immer der Grund war, er hatte für Elizabeth katastrophale Folgen gehabt. Nie wieder konnte sie dem Conde unbefangen gegenübertreten. Auch er würde den Vorfall nicht vergessen, und sie fürchtete sich schon jetzt vor dem Augenblick der nächsten Begegnung. Schmerzhaft klar kam ihr zu Bewußtsein, daß sie ihre Liebe nun endgültig begraben mußte. Sie selbst hatte zerstört, was er für sie zu empfinden begann. Wo war er? Immer noch auf dem Boden? Vielleicht sammelte er sorgsam die Stücke des Rahmens zusammen und bat seine tote Frau um Verzeihung für seine Unbeherrschtheit. „Jede andere verblaßte in ihrer Gegenwart…“ Seine Worte schienen in ihren Ohren zu dröhnen, und sie schloß gepeinigt die Augen. In Wirklichkeit hatte er damit sagen wollen, daß sie, Elizabeth, nur ein Schatten war im Vergleich zu der Toten. Miguel hatte gespürt, daß er Gefallen an ihr fand. Er hatte sich an einem Tag voller Musik und Heiterkeit vergessen, und er bereute nun, sie geküßt zu haben. Womöglich fürchtete er, daß sie sich sogar einbildete, Rechte zu haben, weil er sie geküßt hatte? In Elizabeth wuchs die Überzeugung, daß keine andere Frau, und schon gar nicht sie selbst, Dora aus Miguels Herz verdrängen konnte. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sein Haus so rasch wie möglich zu verlassen. Der Gedanke, ihn nie wiederzusehen, war niederschmetternder als alles andere. Aber nach Carlotas Hochzeit gab es für sie keinen Grund mehr, in Dom Miguels Nähe zu bleiben. Ob er einwilligte oder nicht – sie würde in ihre Heimatzurückkehren. Mechanisch begann sie, sich für die Teestunde umzukleiden. Aber ihre Gedanken drehten sich noch immer im Kreis. Wenn du erst wieder zu Hause bist, redete sie sich selbst zu, wirst du diesen aufregenden Mann bald vergessen! Ein Mann, der sie in dem einen Augenblick unwiderstehlich anzog und ihr im nächsten tödliche Angst einjagte… Sie fröstelte. Niemals hatte sie so große Furcht verspürt wie vor wenigen Minuten, als sein Zorn sich über sie entlud, weil sie es gewagt hatte, Doras Bild zu berühren. Elizabeth hielt es für unwahrscheinlich, daß Carlota übersehen würde, wie verstört sie war. So überraschte es sie nicht, als Carlota gleich erschreckt fragte: „Bist du krank?“ Ihr junges Gesicht verriet ihre Bestürzung. „Du hast geweint, ich seh’ es dir doch an!“ „Ich hab’ Kopfschmerzen“, log Elizabeth und griff nach der Teekanne. „Es ist nicht schlimm. Nach einer Tasse Tee wird’s mir bessergehen.“ Carlota schüttelte energisch den Kopf. „Das glaub’ ich dir nicht“, sagte sie geradezu, ohne Rücksicht auf das ihr angeborene Taktgefühl. „Hast du etwa schlechte Nachrichten aus, England?“ Elizabeth brachte es zuwege, ihr beruhigend zuzulächeln. „Nein, Carlota, wirklich nicht Bitte, sorge dich nicht um mich. Ich sage dir doch, alles – was ich jetzt
brauche, ist ein starker Tee.“ „Mach mir nichts vor – “ „Genug, Carlota!“ Die ruhige, kultivierte Stimme ließ die kleine Schwester verstummen. Elizabeth bückte kurz auf und sah Miguel in der offenen Terrassentür stehen. „Elizabeth hat dir nun schon zweimal gesagt, daß ihr nichts fehlt.“ Carlota senkte unter seinem strengen Blick die Wimpern. „Es tut mir leid, Miguel“, sagte sie und fuhr dann in einem bemüht fröhlichen Ton fort: „Willst du mit uns Tee trinken?“ Da nach ihrer Frage eine merkwürdige Stille eintrat, hob Elizabeth den Blick und sah Miguel an. Das Blut stieg ihr ins Gesicht und sie mußte die Teekanne absetzen. Zu ihrem grenzenlosen Erstaunen fand sie in seinem Gesicht keinen Anflug von Zorn oder Ablehnung. „Gern“, sagte er, und kam zum Tisch, „warum sollte ich nicht mit euch Tee trinken?“ Die brutale Szene, die sich vor einer Stunde abgespielt hatte, schien Elizabeths Phantasie entsprungen zu sein – so unbefangen war Miguels Verhalten. In ihrer Erleichterung spürte sie nicht, daß unter der normalen Oberfläche und seinem gleichmütigen Plaudern eine verborgene hochmütige Abwehr lag. Er war wieder der alles beherrschende Herr des Hauses. Doch als die Teestunde sich dem Ende zuneigte, mußte sich Elizabeth eingestehen, daß er sie auf unnachahmlich elegante Weise wieder an ihren Platz verwiesen hatte: den der Angestellten im Palacio des Conde de Castro, eine Stufe höher als die anderen Bediensteten. Es gelang ihr, die Enttäuschung zu verbergen. Sie akzeptierte sogar sein distanziertes Verhalten, weil sie sich selbst die Schuld daran geben mußte. Aber gleichzeitig wünschte sie, es ihm heimzahlen zu können. Er durfte nicht sicher sein, daß die Erinnerung an die zärtlichen Augenblicke ihr so viel mehr bedeute als ihm. Er sollte nicht glauben, daß sie ihre Gefühle nicht bezwingen konnte. Die vorletzte Woche vor der Hochzeit verging so rasch, daß Elizabeth kaum spürte, wie die Atmosphäre zwischen ihr und Dom Miguel kühler und förmlicher wurde. Sie stürzte sich in die Vorbereitungen für das große Ereignis. Sie selbst sollte Carlotas erste Brautjungfer sein, die anderen gehörten zu Sanches Familie. Nicht nur Carlotas Brautkleid, sondern auch Elizabeths Abendkleid stammten aus dem vornehmsten Modesalon Lissabons. Die Trauung fand in der Kathedrale der portugiesischen Hauptstadt statt, der Hochzeitsempfang anschließend im Palacio. „Die viele Arbeit – und alles geschieht nur für mich und meinen schönsten Tag“, strahlte Carlota, als sie mit Elizabeth vor dem Schloß stand. Sie schauten zu, wie Arbeiter Lichtgirlanden an der Fassade befestigten und danach den ganzen Garten illuminierten. Vor der Terrasse war eine Empore für das Orchester gebaut, das während des Essens spielen sollte und für jene Hochzeitsgäste, die sich draußen hinsetzen wollten, während im großen Festsaal eine Band zum Tanz aufspielte. „Ach, Elizabeth, ist mein Bruder nicht einfach wundervoll?“ fragte Carlota begeistert Elizabeth löste ihren Blick von den Männern auf den hohen Leitern und wandte sich ihr lächelnd zu. „Das ist er“, bestätigte sie ein wenig hastig. „Er ist ganz unbeschreiblich gut zu dir.“ Sie konnte das leichte Schwanken ihrer Stimme nicht unter Kontrolle bringen. Carlota hatte es registriert und sah sie stirnrunzelnd an. „Ich hab’ das Gefühl, daß dich irgend etwas bedrückt, Elizabeth. Du bist – du hast dich verändert…“ Elizabeth brachte ein herzliches Lachen zustande. „Um Himmels willen, was sollte mich bedrücken – und ausgerechnet jetzt?“
„Ich weiß es doch nicht.“ Carlota überlegte und sagte dann eindringlich: „Aber mein Bruder hat mir gesagt, daß du eingewilligt hättest, auch nach meiner Hochzeit hierzubleiben. Daran hat sich doch nichts geändert, nicht wahr, Elizabeth?“ Es blieb still. Elizabeth war sich mit schmerzlichem Erschrecken der Tatsache bewußt, daß diese herrliche Zeit nun mit jedem Tag rascher dem Ende zuging. Bevor sie zur Besinnung käme, würde sie wahrscheinlich schon auf dem Heimweg nach England sein. „Antworte mir doch bitte, Elizabeth. Ich weiß, daß du dann irgendeine andere Aufgabe bekommen wirst, weil ich ja meinen Sanches habe, der auf mich achtgibt. Aber Miguel sagte mir, es sei endgültig beschlossen, daß du im Palacio wohnen bleibst.“ Plötzlich legte sie die Arme um Elizabeths Hals, die großen strahlenden Augen sahen sie liebevoll bittend an. „Ich wünsch’ mir so sehr, daß du immer meine Freundin bleibst auch wenn wir nun weiter voneinander entfernt leben. Miguel bringt dich jedesmal mit ins Landhaus, wenn er dorthin fährt, und wir kommen hierher und besuchen euch.“ Carlota wartete, aber eine Antwort erhielt sie noch immer nicht Elizabeth fühlte, daß sie Carlota durch ihr Schweigen quälte. Doch sie wußte einfach nicht was sie ihr sagen sollte. „Ich war überzeugt daß alles fest verabredet war“, drängte Carlota noch einmal. „Miguel hat mir gesagt daß du es ihm versprochen hast, fest versprochen.“ Elizabeth seufzte unwillkürlich. „Liebste Carlota, ich weiß noch nicht sicher, ob ich wirklich bleiben kann“, sagte sie schließlich ausweichend. „Sieh, es gibt doch gar keine Aufgabe mehr für mich.“ „Miguel wird eine für dich finden“, beteuerte Carlota. „Ehrenwort, er will doch, daß du bleibst.“ Miguel will, daß ich bleibe… Fast hätte Elizabeth gelacht aber Carlota sprach eifrig weiter und achtete nicht auf den Gesichtsausdruck der Freundin. „Er weiß doch, wie schrecklich gern ich dich habe, und wie gut du zu mir gewesen bist. Er hat mir gesagt daß er die ganze Zeit beruhigt war, weil du bei mir warst Schau, Elizabeth, wir würden einander furchtbar vermissen, und du wärst doch immer bei mir geblieben, wenn Sanches nicht gekommen wäre. Es gibt wirklich keinen Grund, warum du nicht auch nach meiner Heirat hierbleiben könntest nicht wahr?“ „Ich weiß nicht – “ Carlota sah sie in ehrlichem Entsetzen an. „Das klingt als ob du fort wolltest! Willst du mich verlassen?“ „Nein, ganz sicher nicht Kleines.“ Elizabeth brachte es nicht übers Herz, ihr die Vorfreude zu verderben. „Wir brauchen wirklich nicht darüber zu reden. Schau, wir haben so viele andere Dinge zu tun und zu entscheiden.“ Mit einem Lächeln wies sie auf die Arbeiter, die ihre Geräte zusammenpackten. „So, wieder etwas fertig. Ich hörte, daß deine Hochzeit das Hauptgesprächsthema in der Stadt ist.“ Carlota nickte nur. Sie war noch lange nicht beruhigt, und sie schien ihrem Bruder erzählt zu haben, was sie bedrückte. Denn am Abend, während sich Carlota zum Essen umzog, kam Dom Miguel auf die Terrasse und setzte sich Elizabeth gegenüber. „Carlota hat den Eindruck, daß Sie noch unentschlossen sind, ob Sie bleiben wollen, nachdem sie verheiratet ist. Stimmt das?“ Die höfliche, kühle Frage kam für Elizabeth gänzlich unerwartet. Einen Augenblick zögerte sie, dann erwiderte sie ruhig: „Ja, Dom Miguel, das ist richtig. Aber ich werde wohl nach Hause fahren, sobald Carlota fort ist.“ Sie brachte es fertig, ihn nicht anzuschauen, obwohl sie gern sein Gesicht
beobachtet hätte, als er ihre Entscheidung hörte. Die bittere Erinnerung an den Auftritt in der Dachkammer stieg wieder auf, und sie senkte den Kopf. Dann hörte sie seine Stimme, beherrscht und in tiefem Ernst. „Ich möchte Sie daran erinnern, daß Sie mir Ihr Wort gegeben haben, auch nach Carlotas Hochzeit hierzubleiben. Ich erwarte von Ihnen, daß Sie Ihr Versprechen halten!“ Verwirrt sah sie hoch. „Sie möchten, daß ich bleibe, nach allem, was… was war?“ Unwillkürlich preßte sie die Hände zusammen. „Das kann ich nicht glauben, Dom Miguel“, fuhr sie mit etwas festerer Stimme fort, „ich habe mich so töricht benommen.“ „Wollen wir das nicht vergessen, Elizabeth?“ fragte er rasch. Instinktiv wußte sie, daß ihn die Erinnerung an seine Unbeherrschtheit tief beschämte. „Werden Sie Ihr Versprechen halten?“ Der eindringliche Klang seiner Stimme machte sie wieder schwankend. Was konnte sie anderes tun als fortgehen? Sie wußte doch, was auf sie zukam, wenn sie blieb. Ihre Liebe zu Miguel würde immer stärker werden und ihr ganzes Leben bestimmen. Zu ihrem eigenen Schutz mußte sie seine Nähe fliehen – aber konnte sie noch ohne ihn existieren? Wäre es nicht besser, hier unglücklich zu sein, als zu Hause vor Sehnsucht nach ihm zu vergehen? Dann gewann die klare Vernunft die Oberhand. „Nein“, sagte sie leise, „es ist nicht möglich…“ Um Verständnis bittend, sah sie ihn an. „Ich möchte heim.“ Sie konnte nicht erkennen, ob ihn ihre Verzweiflung anrührte. Aber Miguel, der seit Tagen so kühl und distanziert war, sprach zum erstenmal wieder mit Wärme zu ihr. „Und was ist der Grund?“ fragte er. „Ganz gewiß gibt es doch einen zwingenden Grund für Sie, oder?“ Sie nickte kaum merklich und war bemüht, ein wenig Zeit zu gewinnen, um ihm etwas Glaubwürdiges zu sagen. „Ich werde nicht mehr gebraucht“, war das einzige, was sie schließlich vorbrachte. Natürlich gab er ihr darauf die Antwort, daß sie beide das ja längst geklärt hätten. Was nun? Mit jedem Wort, das sie zur Erklärung vorbrachte, würde sie ihm nur eingestehen, was sie für ihn fühlte. Es gibt doch einen zwingenden Grund für Sie, hatte er gesagt. Wahrscheinlich wußte er längst, daß ihre hoffnungslose Liebe zu ihm dieser Grund war. „Ich weiß, daß Sie mich nicht gehen lassen wollen – .“ Sie brach erschrocken ab, denn sie hatte nur ihre Gedanken ausgesprochen, Gedanken, die nicht für seine Ohren bestimmt waren. Miguel schaute sie mit einem etwas mitleidigen Lächeln an und sagte unumwunden: „Sie haben vollkommen recht, Elizabeth.“ „Aber warum? Sie haben wirklich nichts für mich zu tun.“ „Ich weiß, daß es Ihnen sonderbar vorkommt, das verstehe ich auch… Aber im gegenwärtigen Augenblick möchte ich einfach nur, daß zwischen uns alles so bleibt, wie es war. Also habe ich Ihr Versprechen?“ Sie hob die Hände, sie fühlte sich hilflos. Er war zu stark für sie – oder vielleicht war es auch ihr eigener Entschluß, der auf so schwachen Füßen stand. So richtig es war, was sie sich vorgenommen hatte, so schwer war es, die Konsequenzen zu ziehen und die unerträgliche Abschiedsstunde zu durchleben. Vielleicht würde ein Wunder geschehen, und er bekannte sich zu ihr? So unsinnig diese Hoffnung war, sie gab schließlich den Ausschlag. „Ich will dableiben, Dom Miguel“, willigte sie ein, und sah mit weiten unnatürlich glänzenden Augen vor sich hin.
„Braves Mädchen!“ Er lächelte, und ihr wurde wieder leicht zumute, als er fast liebevoll hinzufügte: „Aber ,Dom’ will ich nie wieder hören, abgemacht?“ Sie betrachtete den Springbrunnen, dessen Wasserstrahl im Licht, das aus dem Haus drang, glitzerte. „Ja“, murmelte sie, ohne den Blick zu wenden. Ihr gehorsames Ja schien ihn zu amüsieren, denn sie hörte ihn leise lachen. Nun wandte sie doch den Kopf. Aber ohne ihren Willen hatte sie plötzlich wieder das wutverzerrte Gesicht dieser schrecklichen Minuten in der Bodenkammer vor sich. Ihr zaghaftes Lächeln erlosch. Sie hörte, wie er scharf den Atem einzog, sah, wie sich seine Stirn faltete und er ihrem Blick auswich. Er schien zu spüren, woran sie dachte, und es war, als hätte er einen Schlag erhalten. Seine Stimme klang gepreßt, als er sagte: „Soll ich Ihnen einen Aperitif holen, Elizabeth? Es wird wohl noch eine Weile dauern, ehe Carlota fertig ist und wir essen können.“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, war er schon aufgestanden und durch die französischen Fenstertüren ins Haus gegangen.
9. KAPITEL Der große Tag, die Hochzeit am 9. September, stand kurz bevor. Die Vorbereitungen im Palacio wurden fast ein wenig hektisch. Sanches war in der letzten Zeit stets übers Wochenende zu Besuch gekommen und erst Montag früh wieder abgereist. Da das junge Paar am liebsten die Zeit allein miteinander verbrachte, war Elizabeth häufig sich selbst überlassen, denn Dom Miguel war oft unterwegs. Er benahm sich wieder völlig natürlich ihr gegenüber. Es war, als hätte sich die häßliche Szene auf dem Boden nie ereignet. Elizabeth machte lange Spaziergänge. Die Schönheit der Natur half ihr, die innere Unruhe und das Bangen um ihre Zukunft zu unterdrücken. Dennoch beschäftigten sich ihre Gedanken viel mit dem Rätsel, das Miguel ihr aufgab. Oft schien er stundenlang wie von einer schweren Last niedergedrückt, er nahm kaum Notiz von den anderen Menschen. Dann wieder ertappte sie ihn, wie er sie voll zärtlicher Freude ansah. Obwohl er sie nie geküßt hatte, spürte sie instinktiv, daß es ihm oft genug schwerfiel, sie nicht in seine Arme zuziehen. Auch die verschwundenen Juwelen kamen ihr immer wieder ins Gedächtnis zurück. Aber sie hatte sich entschlossen, weder Miguel noch Carlota ihre Entdeckung und ihren Verdacht mitzuteilen. Es war ja nicht ihre Angelegenheit. Auf keinen Fall wollte sie ein zweites Mal der Anlaß sein, daß Miguel an seine tote Frau erinnert wurde. Trotzdem kam ein Nachmittag, an dem sie gänzlich unerwartet in diese unerfreuliche Affäre verwickelt wurde. Carlota war mit Sanches nach Lissabon gefahren, Miguel zu einem Inspektionsgang aufgebrochen. Als Elizabeth ihr Zimmer verließ, um sich auf die Terrasse zu setzen, stieß sie mit Rosaria zusammen. Sie kam geradeaus Doras Schlafzimmer in den Korridor gelaufen. „Miss!“ rief Rosaria aus und wurde so auffallend blaß, daß Elizabeth argwöhnisch werden mußte. Sie hatte einen kleinen Lederbeutel am Arm, der durch ein besticktes Leinenband zusammengezogen war. „Ich… ich dachte, Sie hätten sich etwas hingelegt“, stotterte sie und schwieg abrupt, weil sie sich selbst verraten hatte. „Ach, hatten Sie das angenommen?“ fragte Elizabeth sehr ruhig. „Warum ist Ihnen denn dieser Gedanke gekommen?“ Rosaria hob scheinbar gleichgültig die Schultern. „Sie schlafen ja manchmal zu Mittag.“ „Manchmal, ja.“ Elizabeths Blick heftete sich auf den Beutel, den das Mädchen ein wenig hinter ihren Rücken geschoben hatte. Es war wieder eine Bewegung gut gespielter Bedeutungslosigkeit, aber Rosarias Gesichtsfarbe war inzwischen fast grau geworden. „Ich habe in Dona Doras Zimmer gearbeitet“, sagte sie nervös. „An einem Sonntag?“ erkundigte sich Elizabeth, ohne die Augen von dem Beutel abzuwenden. „Wieso gerade am Sonntag?“ Rosaria befeuchtete ihre Lippen, ehe sie antwortete. So verschreckt sie wirkte, es lag doch eine Spur von Trotz in ihrer Haltung, auch im Blick ihrer etwas vorstehenden Augen. „Wenn ich sonntags arbeiten möchte, dann tue ich es eben.“ Ihr Englisch hatte einen starken Akzent, aber sie konnte sich klar ausdrücken. Zwischendurch murmelte sie etwas auf portugiesisch vor sich hin, das Elizabeth nicht verstand, und versuchte noch einmal, den Beutel aus Elizabeths Blickfeld zu schieben. „Es gibt ja soviel zu tun, wegen Dona Carlotas Hochzeit“, bemerkte sie dann etwas gefaßter. „Darum muß ich auch am Sonntag arbeiten.“ „Saubermachen?“ fragte Elizabeth.
Jetzt wurde Rosarias Gesicht vor Ärger dunkelrot. „Miss, damit haben Sie doch nichts zu tun! Außerdem arbeiten Sie hier im Palacio, genau wie ich auch.“ „Das ist völlig richtig“, stimmte Elizabeth zu. Mit einer leichten Bewegung ihres Kopfes deutete sie auf den Beutel. „Sicher benötigen Sie doch für Ihre Arbeit Staub und Wischtücher?“ „Gewiß.“ Rosiaria schaute unruhig den Korridor entlang, als fürchte sie, jemand könne kommen und sie ebenfalls zur Rede stellen. „Haben Sie die Tücher in diesem Beutel?“ „Ja.“ Rosaria zog den Beutel etwas hervor und hielt ihn mit beiden Händen fest. Offensichtlich hatte sie Angst, daß Elizabeth nach ihm greifen könnte. „Eine außergewöhnlich hübsche Art, Staubtücher aufzubewahren“, meinte Elizabeth trocken, während sie überlegte, wie es weitergehen sollte. Auch wenn ihr Verdacht begründet war, konnte sie kaum etwas unternehmen. Rosaria hatte nachdrücklich behauptet, daß sie im Zimmer ihrer früheren Herrin geputzt hatte, und es gab keinen Beweis, daß sie log – außer, daß sie weder Staubsauger noch Bürsten bei sich hatte. „Ich muß jetzt gehen“, sagte Rosaria, ohne auf Elizabeths letzte Bemerkung einzugehen. Sie machte ein paar Schritte zur Treppe hin, doch auf einmal blieb sie stehen. Nach einigem Zögern fuhr sie in einem Ton, der eine Mischung aus flehentlicher Bitte und Trotz war, fort: „Sie werden doch niemandem erzählen, daß Sie mich aus Dona Doras Zimmer kommen sahen, nicht wahr?“ Elizabeth verbarg ihren Triumph. Ihr Verdacht war also nicht unbegründet. Sie hatte zwar nie daran gezweifelt, daß das Mädchen etwas Unrechtes tat, jedoch nie dieses indirekte Eingeständnis erwartet. Wieviel hatte das Mädchen schon mitgenommen, fragte sie sich, zornig bei dem Gedanken, daß Miguel so schamlos bestohlen wurde. „Aber wenn Sie wirklich gearbeitet haben“, erklärte sie, „gibt es doch keinen Grund, das geheimzuhalten.“ Rosarias Augen funkelten. „Sie werden es doch nicht dem Herrn erzählen“, sagte sie unerwartet heftig. „Nein, Sie dürfen es niemandem erzählen!“ „Also haben Sie gar nicht saubergemacht? Darf ich einmal sehen, was Sie in diesem Beutel haben?“ „Nein. Es sind Staubtücher, genau, wie Sie es sagten.“ „Dann haben Sie auch keinen Grund, sich davor zu fürchten, daß ich hineinschaue“, erwiderte Elizabeth ruhig. „Sie denken, daß ich gestohlen habe!“ rief das Mädchen leise. „Ich sehe es Ihnen doch an.“ „Ich habe schon einmal etwas mitangesehen, und zwar, daß Sie einen Nerzmantel aus diesem Zimmer davontrugen.“ Elizabeth war jetzt so kühl und überlegen, daß Rosaria voller Angst die Hände vors Gesicht schlug und der Beutel zu Boden fiel. „Aber ich habe nicht gestohlen!“ Voller Entsetzen schaute sie auf den Teppichläufer. Der Beutel hatte sich geöffnet. Elizabeth bückte sich und hob einen Smaragdring auf, der mit Diamanten besetzt war. Sie hielt ihn auf ihrer offenen Handfläche dem Mädchen entgegen, überwältigt von der Kostbarkeit des Schmuckstücks. „Nun, Rosaria, Sie wollen doch nicht behaupten.“ „Doch, ich sage die Wahrheit. Ich stehle nicht“, unterbrach sie das Mädchen ungestüm. „Und was ist das, woher haben Sie es?“ Schweigend sah sie Rosaria an. Dann bückte sie sich und hob die anderen Juwelen auf, die verstreut auf dem Teppichläufer lagen. Sie nahm auch den Beutel auf und legte alle Schmuckstücke
wieder hinein. „Stammen diese Dinge auch aus dem Schmuckkästchen?“ fragte
sie.
Rosaria atmete hörbar ein. „Woher kennen Sie denn das Schmuckkästchen?“
versetzte sie herausfordernd.
Elizabeth sah sie gelassen an. „Ich fand vor einiger Zeit einen Ohrclip im Park,
den irgend jemand dort verloren hatte. Ich legte ihn in das Kästchen zurück.
Aber inzwischen ist er wieder verschwunden.“
„Das war ich nicht!“ Wie ein verängstigtester spähte Rosaria um sich. „Ich habe
ihn nicht weggenommen!“
Sie war wieder blaß, doch der Anflug von Trotz schien stärker geworden.
Elizabeth hatte den merkwürdigen Eindruck, daß das Mädchen eine Trumpfkarte
hatte, die es aber nicht auszuspielen wagte.
„Es ist wirklich das beste, wenn sie keinem Menschen etwas erzählen, Miss
Salway – nichts, weder über den Schmuck noch über mich.“
„Und ich soll Sie seelenruhig davongehen lassen, damit Sie Ihren Herrn weiter
bestehlen?“
„Ich sagte, es ist das beste zu schweigen. Ja, ich nahm den Clip.“
„Sagen wir doch lieber, Sie stahlen ihn und verloren ihn dann“, beschuldigte
Elizabeth sie. Rosaria senkte den Kopf. „Oder haben Sie einen Komplicen?“
forschte Elizabeth weiter.
„Nein.“ Das Mädchen erschrak sichtlich. „Ich habe keinen Komplicen, und ich
verkaufe die Dinge auch nicht.“
Elizabeth überlegte und faßte einen Entschluß: „Ich denke, im Augenblick gibt es
für uns beide nichts mehr zu besprechen. Ich werde Dom Miguel verständigen,
sobald er zurück ist. Er mag dann seine Entscheidung treffen.“
„Nein!“ Rosaria schrie beinahe, aber sie faßte sich rasch wieder, nachdem sie sich
vergewissert hatte, daß niemand aufmerksam geworden war. „Ich habe Ihnen
doch gesagt, daß es für alle das beste ist, wenn Sie schweigen.“
Sie trat ganz dicht an Elizabeth heran und fuhr, in ihrer Erregung zuerst auf
portugiesisch, dann auf englisch fort:
„Ich habe auch gesagt, daß ich nicht stehle. Warum glauben Sie mir nicht?“
„Wie kann ich das? Der Beutel ist doch ein schlagender Beweis, daß Sie nicht die
Wahrheit sagen!“ „Nein, Senhorita, Sie täuschen sich.“ Obwohl Rosaria den Tränen nahe war, verriet sie doch einen so hartnäckigen, irgendwie begründet wirkenden Widerstand, daß Elizabeths Entschluß wieder ins Wanken geriet. „Und der Pelzmantel? Was haben Sie mit dem gemacht?“ „Ich habe ihn jemandem übergeben.“ „Der Sie dafür bezahlt hat!“ warf Elizabeth kurz angebunden ein. „Niemand hat mich bezahlt, Senhorita. Wie oft soll ich das noch sagen? Ach, hören Sie doch auf, fragen Sie mich nicht weiter. Bitte geben Sie mir den Beutel, und dann denken Sie nicht mehr daran.“ Rosaria schien einem hysterischen Ausbruch nahe, und Elizabeth beobachtete sie mit einer Mischung aus Verachtung und Mitleid. Mitleid, das sich auf die immer wieder aufsteigenden Zweifel gründete, ob Rosaria nicht doch die Wahrheit sagte und mehr hinter dieser Geschichte steckte als ein schamloser Diebstahl. „Sie sind verrückt, das von mir zu erwarten“, erklärte Elizabeth schließlich unfreundlich. Der Gedanke, daß Dom Miguel auf jeden Fall hintergangen wurde und sie auch noch Hilfestellung leisten sollte, war ihr zuwider. Andererseits bereitete ihr die Vorstellung, ihm zu erzählen, daß sie Rosaria beim Stehlen erwischt hätte, genausoviel Unbehagen. Nach einer nachdenklichen Pause sagte sie darum etwas lahm:
„Ich kann doch nicht einfach schweigen… Rosaria, wenn Sie mir versprechen,
jedes Stück, auch den kleinsten Gegenstand, wieder zurückzubringen, und mir
schwören, daß Sie nie mehr etwas anrühren, das Ihnen nicht gehört, dann würde
ich Dom Miguel nichts erzählen.“
„Ich kann nichts zurückbringen“, gestand Rosaria mit einer Stimme, in der ein
Hauch von Resignation mitschwang.
„Dann haben Sie eben doch alles verkauft.“ Das war keine Frage mehr, sondern
eine Feststellung. „Es tut mir leid, Rosaria, aber in diesem Fall muß ich Dom
Miguel verständigen. Es wäre eine grobe Pflichtverletzung, wenn ich ihm nicht
sagen würde, daß er bestohlen wird. Ich bin schließlich auch seine Angestellte,
und ich kann mir vorstellen, daß ihm diese Kostbarkeiten schon als Erinnerung an
seine Frau unersetzlich sind.“
„Unersetzlich?“ Rosarias Gesicht war eine höhnische Grimasse. „Das ist ein Witz!
Sie ahnen nicht, wie komisch da» ist!“ Sie lachte auf. „Kostbare Erinnerungen!
Wenn Sie wüßten, Miss… Ich frage Sie zum letztenmal: Werden Sie schweigen?“
„Hören Sie endlich damit auf!“
„Sie werden also dem Conde erzählen, daß Schmuck, Kleider, Mäntel und der
Nerz von Dona Dora verschwunden sind? Und daß Sie mich erwischt haben, wie
ich Sachen forttrug…“
Elizabeth biß sich auf die Lippen. Es war keine schöne Aufgabe, das Mädchen der
Strafe auszuliefern. Aber es blieb ihr keine andere Wahl.
„Dom Miguel muß es erfahren.“
„Ist das Ihr letztes Wort, Senhorita?“
„Ja, so leid es mir tut, Rosaria. Wenn Sie allerdings die Sachen wiederbringen
können...“
„Diese Sachen, Senhorita“, fiel Rosaria ihr ins Wort, „sind inzwischen bei ihrer
Eigentümerin.“
Schweigen. Elizabeths Lippen bewegten sich, sie wollte eine Frage stellen,
protestieren, aber sie brachte keinen Ton hervor. Eine Eisenklammer schien ihren
Kopf zu umspannen. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht, Schweißtropfen traten ihr
auf die Stirn.
„Bei ihrer… ihrer Eigentümerin?“ wiederholte sie endlich tonlos.
„Ja. Bei Dona Dora, Dom Miguels Frau!“
Die Augen des Mädchens funkelten. Aus ihrer Stimme klang soviel Haß gegen
Dom Miguel, daß Elizabeth zurückschrak, als Rosaria fortfuhr:
„Meine Herrin – meine wunderschöne Herrin! Ich war so stolz, daß ich ihr dienen
durfte. Ich liebte sie, und sie mußte fort. Sie wurde von ihrem Mann fortgejagt!
Ich habe ihre Sachen genommen und sie dem Mann übergeben, dem einzigen,
dem sie trauen kann. Und er hat sie ihr gebracht… Wollen Sie nun endlich Ruhe
geben und alles vergessen, Senhorita? Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich keine
Diebin bin. Nun werden Sie mir ja wohl glauben.“
Elizabeth schüttelte benommen den Kopf, sie schien in einem Alptraum gefangen
zu sein. Miguel war noch verheiratet…
„Dona Dora… warum ging Dona Dora fort?“
„Ich sagte doch, daß sie davongejagt wurde. Oh, Senhorita, ich habe gesehen,
wie Sie Dom Miguel anschauen. Ich passe auf. Sie finden ihn bewundernswert.
Sie sind in ihn verliebt! Ja, das habe ich Ihnen angemerkt, wenn ich das Essen
servierte oder den Tee brachte. Vielleicht machen Sie sich Hoffnungen“, fuhr sie
höhnisch fort, „weil Sie glaubten, er sei verwitwet. Zum Lachen, nicht wahr? Ich
werde meiner Herrin schreiben, daß sich eine kleine englische Lehrerin in ihren
Mann verliebt hat. Sie wird sich köstlich amüsieren, wenn sie das erfährt, dort in
Griechenland auf der kleinen Insel…“
„Hören Sie auf! Schweigen Sie, bevor ich Ihnen in Ihr unverschämtes Gesicht schlage. Hier!“ Elizabeth warf Rosaria den Beutel zu. „Schicken Sie ihn Ihrer geliebten Herrin!“ „Danke, Senhorita.“ Rosaria drückte den Beutel an ihre Brust und sagte erstaunlich ruhig: „Sie versprechen mir also jetzt, Stillschweigen zu bewahren?“ Da Elizabeth schwieg, gab sie sich selbst die Antwort: „Natürlich halten Sie dicht. Denn Sie wissen, daß sich Dom Miguel entsetzlich aufregen wird, wenn er erfährt, daß ein Dienstbote in das Geheimnis eingeweiht ist, daß seine Frau lebt. Sie wollen ihn doch nicht aufregen?“ „Ich werde nichts sagen“, versprach Elizabeth tonlos. „Das ist gut. Ich gehe jetzt, Senhorita.“ Elizabeths Augen folgten Rosaria, die leise den Korridor entlangging und schließlich auf der Treppe ihrem Blick entschwand. Miguel war verheiratet… Es war fast unmöglich, diese Tatsache zu fassen, sie zu glauben. Aber es gab keinen Zweifel, daß Rosaria die Wahrheit gesagt hatte. Wie gern hätte sie mehr erfahren, gefragt, was vorgefallen war. Aber sie konnte sich doch nicht entblößen und Dom Miguels Dienstmädchen nach seiner Frau ausfragen… Verheiratet! Das Wort peinigte sie und erfüllte sie mit Verzweiflung. Sie hatte nicht die leiseste Chance! Miguel hatte seine Frau nach Griechenland .verbannt’. Es mußte einen zwingenden Grund dafür geben, denn er war zu einer grausamen Ungerechtigkeit gar nicht fähig, überlegte Elizabeth. Ihr fiel der Abend ein, an dem Sanches von einer seltsamen Beziehung zwischen Dora und Lourenco gesprochen hatte, dem Vater von Carlotas totem Baby. Carlota und er hatten übereinstimmend erzählt, wie häßlich sich Dora gegenüber ihrer Schwägerin verhalten und wie grob sie ihre Pflichten vernachlässigt habe. Das Bild begann sich abzurunden. Vieles, das Elizabeth nicht verstehen konnte, klärte sich nun. Elizabeth ging in ihr Zimmer hinüber, mit müden marionettenhaften Schritten. Sie fühlte sich elend. Eines wußte sie gewiß: Miguels Gefühl für sie war mehr als oberflächliche Sympathie, und auf seine Weise hatte er die Verantwortung für sie als selbstverständliche Verpflichtung übernommen. Darum bestand er auch darauf, daß sie bei ihm bleiben müßte. Aber wie stellte er sich dieses Leben miteinander vor? Auf keinen Fall würde er sich scheiden lassen, und alle Menschen, einschließlich Carlota, würden weiter in dem Glauben leben, daß Dora tot wäre. Es war eine hoffnungslose, verfahrene Situation. Ihre Verzweiflung wuchs, als sie in ihrem Zimmer allein und unbeobachtet war. Ruhelos ging sie auf und ab. Ihre Gedanken kreisten fieberhaft um die unglaubliche Tatsache, die sie eben erfahren hatte. Es schien ihr ebenso unmöglich, daß Miguel das Märchen von Doras Tod aufrechterhalten konnte wie ein plötzliches Eingeständnis, daß sie am Leben war… Von einer möglichen Scheidung ganz zu schweigen! Aber ohne Doras Einverständnis konnte ja die Todesnachricht nicht in die Welt gesetzt worden sein. Das bedeutete, daß sie eingewilligt haben mußte, nie mehr zurückzukehren. Einen Augenblick fühlte sich Elizabeth erleichtert. Aber mit einem Rest klaren Verstandes sagte sie sich, daß ihr das auch keine größere Chance gäbe. Da war so manches, das ihr noch verborgen blieb. Zusammenhänge, die sie nie erfahren würde – denn für sie gab es nur noch eines: Portugal sofort nach Carlotas Hochzeit für immer zu verlassen. Schon am nächsten Morgen, nachdem sie von Carlota Abschied genommen hätte, würde auch sie abreisen – was immer Miguel einwenden mochte. Als sie eine halbe Stunde später zur Teestunde hinunterging, erwartete Miguel
sie schon. „Carlota und Sanches sind noch nicht zurück“, sagte sie, als sie seinen verwunderten Blick bemerkte. „Sie sind sehr blaß, fühlen Sie sich nicht wohl?“ fragte er, während er sie unverwandt forschend ansah. Sie blieb verdutzt stehen. „Doch, mir geht es gut, danke“, sagte sie schließlich steif. Sein Stirnrunzeln zeigte, daß er ihr nicht glaubte. „Es ist doch etwas passiert – ich kann es Ihrem Gesicht ansehen?“ Sie schüttelte heftig den Kopf. „Aber ich habe nichts. Wieso sind Sie davon überzeugt?“ Sie bemühte sich, in unbefangenem Ton zu sprechen, was ihr offenbar nicht gelang. Sein forschender Blick veränderte sich nicht. „Nichts passiert…?“ Einen Augenblick schien er unschlüssig, dann zuckte er mit den Schultern. „Nun, dann müssen wir es im Moment dabei belassen. Setzen Sie sich, meine Liebe, vielleicht wird ein starker Tee Ihrem Gesicht wieder etwas Farbe geben.“ Zweideutige Worte! Sie suchte nach einer Ausrede. „Ich… nun ja, ich hatte leichte Kopfschmerzen und...“ Er hob abwehrend die Hand. „Sie brauchen nicht nach Ausreden zu suchen, Elizabeth. Wir wollen das Thema fallenlassen. Würden Sie uns den Tee einschenken?“ „Gern.“ Seine Worte erzeugten ein unbehagliches Gefühl in ihr. Er durchschaute ihre Ausflüchte. Und er beobachtete sie genau, während sie Tee eingoß und dabei sorgfältig vermied, seinem Blick zu begegnen. „Ich muß für einen, höchstens zwei Tage verreisen“, erklärte er einige Minuten später mit undurchdringlicher Miene. „Morgen oder übermorgen.“ „So kurz vor der Hochzeit?“ fragte sie überrascht. Er lächelte flüchtig. „Es ist eine für mich ungeheuer wichtige Sache.“ Seine Aufmerksamkeit schien sich auf die Tasse zu konzentrieren, in die er Sahne und Zucker rührte, als sei das eine Sache, die ihn ganz beanspruchte. Dann aber setzte er wie selbstverständlich hinzu: „Wir werden uns heute abend noch länger unterhalten müssen, damit Sie die Verantwortung übernehmen können, während ich fort bin. Zum erstenmal.“ „Aber nein!“ Sie schüttelte abwehrend den Kopf. „Das kann ich nicht, Miguel. Außerdem würden weder die Arbeiter noch die Hausangestellten Befehle von mir entgegennehmen.“ „Das müssen sie! Und Sie werden es können“, sagte er fest. „Ich werde alles klären, bevor ich fahre. Nun schauen Sie nicht so ängstlich drein, Kind. Ich würde Ihnen diese Aufgabe nie übertragen, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, daß Sie mich hervorragend vertreten.“ „Danke“, murmelte sie scheu. Sie wußte nicht, ob sie sich über seine Anerkennung freuen oder sie verwünschen sollte. So vieles würde auf sie einstürmen, im Haus und draußen auf diesem riesigen Besitz. „Ich hoffe nur, daß ich Sie nicht enttäusche“, meinte sie sorgenvoll. Ein Lächeln war seine Antwort, so weich und liebevoll, daß sie es fast nicht ertrug. Denn nichts durfte sie von dem Vorsatz abbringen, aus diesem Haus zu fliehen! Sie war sich darüber klar, daß Miguel seinen ganzen starken Willen aufbieten würde, um sie zu halten. Aber diesmal durfte sie nicht nachgeben. Es gab keine Zukunft mit ihm. Sie wollte nicht seine Geliebte werden. Und trotz aller Unsicherheit über seine Gefühle und Pläne – eines war sicher: Auch er beabsichtigte nicht, ein heimliches, entwürdigendes Verhältnis mit ihr zu beginnen. Vielleicht wußte er
selbst nicht, wie er diesen Konflikt lösen sollte. Vielleicht hatte er einzig den Wunsch, sie in seiner Nähe zu wissen… Am Abend vor seiner Abreise saßen Miguel und Elizabeth lange in seinem Arbeitszimmer. Er gab ihr seine Instruktionen, und sie notierte sich methodisch alle Anordnungen, so daß sie praktisch nichts falsch machen konnte. Schließlich waren sie fertig. Mit einem zufriedenen Lächeln lehnte sich Miguel zurück. „Sie werden müde sein, Elizabeth. Möchten Sie sofort schlafen gehen, oder würden Sie noch einen Drink mit mir nehmen?“ „Ja, gern.“ Ihre Antwort kam spontan, und er schien sich darüber zu freuen. „Die Nacht ist so warm, daß wir uns auf die Terrasse setzen können“, schlug er vor. „Wie schön…“ Während sie angespannt miteinander gearbeitet hatten, war ihr der – seltsam enttäuschende – Gedanke gekommen, daß er sich ihrer Gegenwart gar nicht bewußt war. Jetzt aber schien er seine Anspannung abgeschüttelt zu haben. Während sie ihren Gin Tonic tranken, war er heiter und gelöst. „Ich wage gar nicht zu fragen, ob Sie mit mir noch einen kleinen Gang durch den Park machen wollen?“ Sie waren aufgestanden, und Elizabeth hatte ihm gute Nacht wünschen wollen. Sie hörte ihn fortfahren: „Nein, verzeihen Sie, es ist schon viel zu spät.“ Selbstverständlich wollte sie noch gern einen Gang mit ihm machen, erklärte sie. Eine, zwei Minuten schritten sie schweigend nebeneinander her. Dann ergriff Miguel ihre Hand und zog ihren Arm unter den seinen. Ihr Herz klopfte rascher, sie wußte, es wäre vernünftiger gewesen, seinen Wunsch nicht zu erfüllen. Plötzlich blieb er stehen, nahm Ihr Gesicht in seine beiden Hände und küßte sie. „Miguel, bitte nein.“ „Warum?“ Sein Blick forschte im hellen Mondlicht in ihren Zügen. Sie wollte den Kopf senken, aber er ließ es nicht zu. „Warum darf ich dich nicht küssen?“ „Bitte…“ flehte sie. Zu ihrer Erleichterung fragte er nicht weiter. Er sagte nur mit tiefem Seufzer: „Ich werde dich vermissen. Sag, werde ich dir auch fehlen?“ Sie war nicht imstande, ihm eine Lüge zu erzählen, obwohl sie wußte, wie folgenschwer die Wahrheit sein konnte. Die Nacht war so schön. Er war ihr so nahe, und noch nie hatte sie ein so zärtliches Verlangen empfunden wie in diesem Augenblick. „Ja, Miguel, ich werde dich auch vermissen…“ Seine Augen leuchteten auf. Er wirkte wie ein neuer Mensch, der in nichts mehr dem herrischen Conde glich, dem sie in England begegnet war. Gewiß, immer würde er der Überlegene sein, der Mann, der eine Frau führte und beschützte. Aber er würde sie nicht um jeden Preis beherrschen wollen. Für eine Frau müßte es der Himmel auf Erden sein, mit ihm verheiratet zu sein, dachte Elizabeth mit ungewohnter Schwärmerei. Und wieder einmal quälte sie das Rätsel, wie Dora diesen Mann, dieses Zuhause hatte aufs Spiel setzten können Miguel nahm ihre Hand in seine. Sie gingen weiter, beide in ihre Gedanken versunken. Der Mond und die Sterne tauchten alles um sie her in ein silbriges Licht, zeichneten die Umrisse des Palacios wie eine verzauberte Kulisse gegen den Himmel. Die Nacht war erfüllt vom Duft der tropischen Blüten. „Bist du müde?“ fragte Miguel sanft. Sie schüttelte nur den Kopf. Süße Gefahr! dachte sie. Ich möchte die ganze Nacht so mit ihm gehen. Sie sah ihn an und wußte, daß er ihre Gedanken lesen konnte. Ein Lächeln lag um seinem Mund, ein fast übermütiges Sprühen war in seinem Blick. Sie fühlte, daß seine Hand sich fester um ihre preßte. Und sie ertappte sich dabei, daß ihr
Daumen zärtlich seine Haut streichelte. „Unsere Luft wirkt wie Sekt, nicht wahr? Aber warte, bis es erst Frühling ist! Dann sind Luft und Licht so rein und klar, von einer alles durchdringenden Helligkeit, die man sonst nur in Griechenland findet. Unsere Berge haben einen blauen Schimmer, und die Wiesen sind smaragdgrün. Es ist wundervoll, wenn alles so saftig und üppig heranwächst, das Obst und die Oliven in den Gärten, die Blumen, die niemals verschwenderischer blühen.“ Sie hätte fast aufgeschrien, denn diesen Frühling würde sie niemals mit ihm erleben. Es schmerzte, als er fortfuhr: „Du wirst unser Land lieben, wenn du es in dieser Jahreszeit erlebst. Ich bin so froh, daß du dich zum Bleiben entschlossen hast!“ Er war so sicher, daß sie ihr Versprechen hielt, dachte Elizabeth traurig. Wie sollte sie ihm klarmachen, daß sie ihre Meinung geändert hatte, daß sie fortgehen mußte? Nun, es blieb ihr noch eine kurze Spanne Zeit, bis es soweit war. Heute nacht brauchte sie einmal nicht an die Zukunft zu denken. Diese seltene, kostbare Stunde voll Glück, in der sie Miguel ganz für sich allein hatte, wollte sie bewußt auskosten! Er erzählte ihr mehr von seiner Heimat, von den Besonderheiten der Bäume und Pflanzen, die das Gesicht des Nordens prägten, während im Süden, im Laufe des DouroFlusses, eine Vegetation wie etwa in Schottland anzutreffen sei, nur üppiger. Sie waren auf einer natürlichen Steinterrasse angekommen, wo zwei große Blöcke zu Sitzbänken zurechtgehauen waren. Von hier hatte man einen herrlichen Blick in zwei Richtungen: auf die bewaldeten Berge und auf die See mit dem ebenen Küstenstreifen. Miguel blieb stehen. Er behielt Elizabeths Hand in der seinen. Aber er schien meilenweit von ihr entfernt, als er schweigend zu den Bergen hinübersah, von denen hier und da aus einem Landhaus noch ein erleuchtetes Fenster herüberblinkte. „Wir müssen wohl nun zurückgehen.“ Es klang fast widerstrebend. Miguels Stimmung hatte sich getrübt, ein Hauch von Schwermut hüllte ihn ein. Woran mochte er denken? Wie wenig wußte sie doch noch immer von ihm, dachte Elizabeth und fragte sich mit jäh aufsteigender Bitterkeit, mit wieviel Einsamkeit und enttäuschten Erwartungen sie diese Zeit am Ende bezahlen mußte. Waren seine Gedanken bei seiner Frau? Wünschte er sich, von ihr frei zu sein? Oder rief er die glücklichen Stunden in seine Erinnerung zurück, die sie gemeinsam erlebt hatten? Wenn Dora ihm auch Unverzeihliches angetan hatte, so war es doch möglich, daß er ihr noch mit all seinen Sinnen verfallen war, sich nach ihr sehnte und ihr vergeben wollte. Was bedeuteten dagegen die zart aufkeimenden Gefühle, die er für sie selbst hegen mochte? Carlota hatte ihr erzählt, daß Dora in den Urlaub gefahren war. Wahrscheinlich hatte sie Miguel dann zu sich gerufen und ihm eröffnet, daß sie niemals mehr zurückkehren wolle. Elizabeth war nur auf Vermutungen angewiesen. Aber so ähnlich mußte es sich abgespielt haben, denn von Carlota wußte sie, daß er damals wie von Sinnen gewesen war… Warum jedoch hatte er die Nachricht von Doras Tod verbreitet? Dafür fand Elizabeth keine einleuchtende Erklärung. Eine so einschneidende Lüge zu erzählen, ein solches Risiko einzugehen, sah ihm gar nicht ähnlich. Sollte Dora ihn erpreßt haben? Dann ergäbe dieser totale Bruch einen Sinn. Aber womit, um Himmels willen, könnte sie ihn erpreßt haben? Miguel hatte sich nicht schuldig gemacht – schon der Gedanke daran kam ihr absurd vor! „Komm“, drängte Miguel, „laß uns zurückgehen. Ich muß morgen früh aufstehen. Mein Flugzeug startet um halb neun.“
„Flugzeug?“ Elizabeth schrak aus ihren quälenden Gedanken hoch. Sie hatte angenommen, er führe zu einer seiner Besitzungen. Er nickte, und sie hatte den Eindruck, daß er den Flug nur versehentlich erwähnt hatte. „Ich fliege ins Ausland“, erklärte er knapp. Ein wenig später, als sie miteinander durch den Park zum Haus zurückgingen, fügte er etwas zu beiläufig hinzu: „Du brauchst Carlota nicht zu erzählen, daß ich nicht in Portugal bin. Sie nimmt wahrscheinlich an, daß ich nach Portoalegre fahre, wenn sie überhaupt in ihrem siebenten Himmel einen Gedanken für mich übrig hat.“ Elizabeth brachte es fertig, unbefangen über seine Bemerkung zu lachen und Carlota im Scherz zu verteidigen. Für jedes Mädchen wäre, so wenige Tage vor der Hochzeit, die übrige Welt versunken… Doch trotz der unverfänglichen Unterhaltung über die Festvorbereitungen, die sich bis zu ihrem Eintritt ins Haus entspann, bohrten Elizabeths Gedanken weiter: Wohin ging Miguels Flug? Gerade jetzt war doch nicht die Zeit für einen Auslandsurlaub. Er hatte ja auch erwähnt, daß er nur einen oder zwei Tage fort sein würde… Eine Ahnung dämmerte ihr, die fast zur Gewißheit wurde: Miguel flog nach Griechenland!
10. KAPITEL Die fixe Idee, daß Miguel zu seiner Frau gereist war, stürzte Elizabeth in einen Abgrund der Verzweiflung, obwohl sie sich mit allen Vernunftgründen dagegen zu wehren versuchte. Was sie quälte, war das Bewußtsein, daß es mehr als unwahrscheinlich schien, Miguel könne Dora zur Scheidung überreden. Viel wahrscheinlicher, daß er eine Aussöhnung erreichen wollte. Ihre Phantasie spiegelte ihr das Bild eines glücklich vereinigten Paares vor. Dora hatte jeden Grund und nach allem, was sie von Rosaria gehört hatte, auch das Verlangen, wieder zu dem gewohnten Luxus und der Stellung als Miguels Frau zurückzukehren. Und er – erhatte sie stets angebetet. Was lag also näher, als ihr zu vergeben und das alte Leben neu zu beginnen! Elizabeth konnte zwar nicht daran zweifeln, daß er auch sie gern hatte. Aber was bedeutete das gegenüber der leidenschaftlichen Liebe zu seiner Frau! Er würde Elizabeth rasch vergessen, wenn Dora erst wieder im Palacio einzog. Die Frage, wie Miguel es allen erklären wollte, daß Dora nicht gestorben, sondern höchst lebendig war, vermochte Elizabeth sich nicht zu beantworten. Aber er würde schon alle Hindernisse überwinden! Das Bewußtsein, von Anfang an gegen Miguels Ehefrau keine Chance gehabt zu haben, ließ sie den Gedanken, ihn zu verlieren, etwas leichter ertragen. Viel schlimmer war die Vorstellung, daß sie beinahe die Rolle der .Nebenfrau’ übernommen hätte. Sie fühlte sich schuldig, obwohl es nichts gab, dessen sie sich zu schämen hatte. Aber sie begann, den Tag herbeizusehnen, an dem sie das Haus verlassen konnte. Und doch weinte sie, allein in ihrem Zimmer, bitterlich aus Angst vor dem, endgültigen Abschied von Miguel. Bis dahin aber würde sie die ihr übertragene Aufgabe so perfekt wie möglich ausführen. Niemand sollte ihr anmerken, was in ihr vorging! So saß sie am Nachmittag heiter plaudernd mit Carlota im Wohnzimmer, als Sanches kam, der bis zur Hochzeit bei Verwandten in Lissabon wohnte. Er ließ natürlich keinen Tag vergehen, ohne seine Liebste zu sehen. „Ihr gebt ein bezauberndes Bild ab, ihr beiden“, sagte er heiter lächelnd. „Dazu seht ihr auch noch erwartungsvoll und glücklich aus.“ Er ergriff Carlotas Hand und küßte sie. „Ich bin so eingebildet zu fragen, mein Herz, ob ich zu diesem Glück beigetragen habe?“ Carlota strahlte ihn an. „Ohne dich könnt’ ich nicht mehr leben“, sagte sie ernst. „Aber das weißt du selbst so gut wie ich. Und nun komm, der Tee ist fertig.“ So rasch wie möglich überließ Elizabeth die beiden Liebenden sich selbst. Sie ging in den großen Ballsaal hinüber, um zu kontrollieren, wie weit die Vorbereitungen gediehen waren. Die Handwerker befestigten gerade große Glaskugeln an der Decke. Jeder dieser Bälle war aus unzähligen kleinen Spiegeln gebildet und würde sich während des Festes langsam drehen. Die großen Kronleuchter im Saal sollten dunkel bleiben, nur brennende Kerzen in den vielen Wandleuchtern den Raum erhellen. Der Widerschein der Lichter würde von den rotierenden Spiegelfacetten tausendfach zurückgestrahlt. Elizabeth überflog ihre Notizen und runzelte die Stirn. „Es sollten doch an jeder Seite vier von den etwas kleineren Kugeln aufgehängt werden und die große in der Mitte, nicht wahr?“ Nur einer der Handwerker verstand und sprach leidlich Englisch. Er übersetzte Elizabeths Frage seinem Meister, erhielt eine Antwort und erklärte ihr dann: „Große Kugel kaputt. Nun wir hängen drei gleiche an jede Seite, eine in Mitte und eine über dem Platz, wo Musik spielt.“
Elizabeth schüttelte nachdrücklich den Kopf. Sie kannte Dom Miguel gut genug, um zu wissen, daß er auf seiner ursprünglichen Anordnung bestehen würde. „Und wie ist die große Kugel kaputtgegangen?“ Ein betretenes Schweigen entstand. Schließlich antwortete der Arbeiter zögernd: „Wir fallen lassen, Senhorita.“ „Dann müssen Sie eine neue bestellen, und zwar rasch.“ „Aber sehr teuer, Senhorita!“ „Darum brauchen Sie sich nicht zu kümmern. Setzen Sie sich sofort mit der Firma in Verbindung, und veranlassen Sie, daß wir gleich eine neue große Kugel geliefert bekommen.“ Der Mann gab den Befehl an seinen Meister weiter, der Elizabeth zunickte und seinen Leuten kurze Anordnungen zurief. Die Männer stiegen von ihren Leitern, jeder einzelne erhielt seinen neuen Auftrag. Als Elizabeth den Saal verließ, war das Werk eines ganzen Vormittags und des halben Nachmittags umsonst gewesen. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Hoffentlich hatte sie in Miguels Sinn gehandelt, als sie die Arbeit stoppte, so daß die Handwerker erst einmal woanders eingesetzt werden mußten. Doch diese Sorge hätte sie sich sparen können. Denn als sie ihm nach seiner Rückkehr Bericht erstattete, war er mit allem einverstanden. Er sah erschreckend müde und deprimiert aus, fand Elizabeth. Was war geschehen? Ganz sicher hatte es keine Aussöhnung gegeben, und sie begann daran zu zweifehl, daß er überhaupt zu seiner Frau geflogen war. Vielleicht hatte dieses Wiedersehen nur in ihrer Einbildung stattgefunden? Er war am vergangenen Abend sehr spät angekommen, es ging schon auf Mitternacht zu. Carlota war längst schlafen gegangen. Aber Elizabeth, von innerer Unruhe getrieben, war aufgeblieben und hatte auf ihn gewartet. Er schien überrascht, als er sie in dem kleineren Wohnraum entdeckte, wo sie zerstreut in Zeitschriften blätterte. Irgendwie wirkte er abweisend, und sie hatte den Eindruck, es wäre ihm lieber gewesen, ihr in dieser Nacht nicht mehr zu begegnen. Das wurde ihr noch klarer, als er nach fünf Minuten, in denen sie ihm kurz Bericht erstattete, höflich ein Gähnen unterdrückte und erklärte, er wolle schleunigst ins Bett. Der Hochzeitstag war da. Carlota war eine so liebliche, tiefes Glück ausstrahlende Braut daß ein Raunen durch die Reihen der Gäste lief, als sie am Arm ihres Bruders durch das Kirchenschiff ging. Die beiden waren ein schönes Paar. Dom Miguel hatte niemals so distinguiert und stolz ausgesehen, fand Elizabeth. Sie selbst war in ihrem lindgrünen Abendkleid eine bezaubernde Brautjungfer. Einmal, während der Trauung, schaute er sie an… Sie sah voller Bestürzung, daß seine Augen dunkel wurden und er seine Lippen fest aufeinander preßte. Dann wandte er den Kopf, sie beobachtete ihn verstohlen und bemerkte, daß seine Wangenmuskeln nervös zuckten. Es war, als ob ihn ein jäher Schmerz überfallen habe… Sie schluckte hart, um sich von dem Druck zu befreien, der ihr auf einmal den Atem nahm. Die beiden letzten Tage vor der Hochzeit waren schwer für sie gewesen. Miguel schien ihre Gegenwart zu meiden; er besprach nur das Nötigste mit ihr. Waren sie zufällig einmal allein, floh er unter dem Vorwand, er hätte noch etwas zu tun, in sein Arbeitszimmer. Es sah so aus, als wolle er ihr eindeutig klarmachen, wie sinnlos es war, ihn zu lieben. Zum erstenmal glaubte sie, daß auch er ihre Abreise wünschte. Verwirrt und unglücklich hatte sie sich noch am Vorabend der Hochzeit buchstäblich in den Schlaf geweint… Sie saß ihm beim Hochzeitsessen gegenüber. Ein paarmal richtete er auch das
Wort an sie, er wirkte dabei ganz natürlich und freundlich, ja, fast herzlich. Dann begann der Ball. Nachdem er seine Pflichttänze hinter sich gebracht hatte, kam er und bat sie um den nächsten Tanz. „Nun kann ich Ihnen endlich sagen, wie hinreißend Sie heute aussehen, Elizabeth.“ Es klang ein wenig steif und gezwungen, und Elizabeth ließ ihren Blick auf seinem Frackrevers ruhen, das sie genau vor Augen hatte. Sie fühlte sich auf einmal wieder so scheu in seiner Gegenwart und war sich dabei unerträglich stark seiner Nähe, seiner Unwiderstehlichkeit bewußt… Nie wieder würde sie ihm so nahe sein! Die Erinnerung an dieses Fest würde sie für lange Zeit nicht loslassen. „Weißt du mir denn gar nichts zu sagen, mein Liebes“, hörte sie ihn plötzlich flüstern. Sie spürte seine Wange, die er sacht auf ihr Haar legte. Mein Liebes… Seit seiner Rückkehr hatte er das nicht mehr zu ihr gesagt, sie nicht mehr geduzt – und nun tat diese Liebkosung ihr nur weh. Ihre Lippen zuckten. „Ich… ich wußte nicht, was ich sagen sollte.“ Sein Arm umschloß sie fester. Sie fühlte, daß er ihre Verwirrung, ihr Unglücklichsein erkannte und verstand. „Ja, Elizabeth, Liebes, es gibt wirklich nichts, das du mir sagen müßtest!“ Sie schaute zu ihm auf, nachdem sie tapfer die aufsteigenden Tränen zurückgepreßt hatte. „Du bist ein Rätsel für mich, Miguel.“ Ihre Stimme war nur ein Hauch, und sie erschrak über ihre eigenen Worte. Irgendein unbewußter Wunsch, ihn aus seiner Reserve zu locken, endlich von ihm zu erfahren, was geschehen war, ließ sie sprechen. „Ich… ich verstehe alles nicht mehr.“ Er atmete nur tief ein und schüttelte stumm den Kopf. Ohne eine Erwiderung tanzte er mit ihr aus der stillen Ecke des Ballsaals mitten hinein in die fröhliche Menge der Gäste. Oder war gerade dies seine Antwort gewesen? Sanches forderte sie ein wenig später auf. „Ich möchte Ihnen noch einmal danken, Elizabeth, für Ihre große Hilfe. Ich werde es Ihnen nie vergessen!“ „Ich habe doch gar nichts getan“, widersprach sie, aber er protestierte. „Wir wissen, daß Sie es waren, die es Carlota und mir möglich machten zu heiraten.“ Ernst fuhr er fort: „Wenn einmal der Augenblick kommen sollte, wo Sie Hilfe brauchen – dann müssen Sie wissen, daß ich für Sie dasein werde. Immer und zu jeder Zeit, auch wenn es für mich Schwierigkeiten bringen sollte!“ Seine Stimme schwankte ein wenig vor Bewegung, und sein junges Gesicht sah so entschlossen aus, als ob er im stillen hoffte, daß sie seine Hilfe einmal brauchen werde. Elizabeth lächelte dankbar, aber sie schwieg. Warum sollte sie ihm heute das Herz schwermachen und ihm sagen, daß sie sich vermutlich nie wiedersehen würden? Das junge Paar flog mit der MitternachtsMaschine ab Lissabon nach Mexiko. Dort wollten die beiden die Flitterwochen in einem behaglichen Bungalow in Acapulco verleben, der einem Onkel von Sanches gehörte. Er besuchte in diesem Monat Verwandte in Amerika, und als Hochzeitsgeschenk hatte er seinem Neffen sein Haus mit allen Bequemlichkeiten zur Verfügung gestellt. „Wie sehr doch ein Hochzeitsfest an Glanz verliert, sobald das Brautpaar abgefahren ist“, sagte Miguel etwas melancholisch, als er wieder einmal mit Elizabeth tanzte. Sie verstand so gut, daß ihm der endgültige Abschied von seiner kleinen Schwester schwerfiel. Wie leer würde das Haus für ihn sein, wenn auch sie… Doch sie brachte es fertig, mit normaler Stimme zu sprechen. Er durfte nicht wissen, daß für sie dieser ganze Abend wie von grauen Schleiern verhangen war. „Es war ein einmaliges Fest, Miguel. Du bist ein wunderbarer Gastgeber.“
„Nun ja“, meinte er leichthin, „ich habe natürlich bei all den vielen Einladungen,
die wir geben, eine gewisse Routine.“
Sie nickte, und ihre Schläfe berührte seine Schulter.
„Bestimmt ist ein Weihnachtsfest in Portugal auch wunderschön“, sagte sie leise
in dem trostlosen Bewußtsein, dann weit fort zusein.
„Weihnachten…“ Er wiederholte es voller Bitterkeit. Doch dann fing er sich wieder
und wurde lebhafter. „Du wirst sehen, daß wir das Christfest auf eine ganz
besondere Weise feiern.“
„Ich werde dann nicht mehr hier sein.“ Wie unter einem Zwang sagte sie es ihm,
sie wollte wissen, wie er darauf reagierte. Doch seine Antwort traf sie wie ein
Schlag. Sie löschte alles aus, was an Gefühl und Vertrauen in ihr war. Sie
wünschte verzweifelt, daß sie stillgeschwiegen und sich einen Rest von Glauben
an seine Empfindungen bewahrt hätte.
„Du bist also entschlossen abzureisen?“ Er stellte die Frage vollkommen sachlich,
ohne einen Anflug von Schmerz oder Protest.
Sie hob ihr weißes Gesicht und antwortete mit bebender Stimme: „Ja, Miguel, ich
habe mich entschlossen.“
„Dann kann ich dazu nichts mehr sagen. Außer – danke, daß du zu uns kamst –
danke, für alles.“
Es klang so gefühllos! Dann wirbelte er Elizabeth mit einem fast gewalttätigen
Schwung noch ein paar Augenblicke über das spiegelblanke Parkett, bis die Musik
aufhörte.
Es war der letzte Tanz. Das Fest war zu Ende.
Der Frühling war ins Land gezogen, und Elizabeth war mit ihrer Schulklasse
hinausgefahren. Sie sammelten am Fluß wilde Blumen und Kräuter. Elizabeth war
vollauf beschäftigt, ihre Kinder im Auge zu behalten.
„Susan, geh nicht so nah ans Ufer!“
„Ich kann doch schwimmen, Miss Salway. Ich meine, wenn ich wirklich
hineinfallen sollte.“
„Mir war’ es lieber, du gingst das Risiko gar nicht erst ein.“
Susan lachte und entfernte sich vom Wasser.
„Es ist einfach zu verlockend, Miss Salway, verstehen Sie das nicht?“ erklärte
Stephen mit spitzbübischem Grinsen und eine langsam immer näher an den Fluß
heran.
„Ja, wenn ihr der Versuchung nicht widerstehen könnt, werden wir. einfach das
Wasser meiden und auf den Wiesen weitersuchen.“
„Bitte, nein!“ riefen andere Kinder. „Susan und Stephen, kommt zurück. Wir
wollen nicht euretwegen alle bestraft werden“, erklärte eines der Mädchen
energisch.
Eine halbe Stunde später, mit Armen voller Blumen, Kräutern und Gräsern
stiegen sie in den Bus und fuhren in die Schule zurück.
„Der Ausflug war schön“, erklärte Avril und sortierte ihre Ausbeute fein säuberlich
auf dem großen Tisch im Klassenzimmer in Zier und Nutzpflanzen. „Gottlob
haben wir keine Schularbeiten mehr auf!“
Kurze Zeit später tobten die Kinder bereits wieder auf dem Spielplatz der
Internatsschule herum, während sich Elizabeth im Lehrerzimmer etwas erschöpft
in einen Armstuhl fallen ließ.
„Sie haben hoffentlich alle Kinder unversehrt zurückgebracht?“ fragte der
Schulleiter. „War der Spaziergang hübsch?“
Elizabeth beantwortete lächelnd beide Fragen mit einem Ja. Es war nichts
Ungewöhnliches, daß der Direktor sich besorgt nach seinen Zöglingen erkundigte.
Einige der größeren Schülerinnen kamen herein und servierten den Lehrern den
Nachmittagstee. Elizabeth beobachtete die Mädchen, die eifrig die Tassen vollschenkten und Gebäck herumreichten. Es war erstaunlich, fand sie, wie gern die Kinder diese Aufgabe erfüllten. Zu Hause, berichteten die Mütter, zogen sie meist ein mürrisches Gesicht, wenn sie helfen sollten. Hier drängten sich die Mädchen förmlich danach, zu der Gruppe eingeteilt zu werden, die die Lehrer bediente. Doch dann wanderten Elizabeths Gedanken, wie sooft, zu Miguel. Was tat er wohl in diesem Augenblick? Manchmal hatte sie das sichere Gefühl, daß er zur gleichen Zeit an sie dachte, sich nach ihr genauso sehnte wie sie sich nach ihm… Er hatte sie nicht mehr zu überreden versucht, ihr nichts erklärt. Zwei Tage nach der Hochzeit brachte er sie im Wagen zum Flughafen nach Lissabon. Sie wußte, die Straße führte durch die ganze Stadt und wieder hinaus. Einige tausend Meter vor dem Ziel war er plötzlich in einen ruhigen Seitenweg abgebogen. Er hielt und blickte sie lange wortlos an. Dann zog er sie in seine Arme. Sie fühlte, wie sein Herz hämmerte, genauso hart wie ihres. Er küßte sie zärtlich und voller Innigkeit. „Ein Abschiedskuß, mein Geliebtes“, hatte er geflüstert. Dann gab er sie frei, und kurz darauf erreichten sie den Flugplatz. Sie glaubte zu wissen, was geschehen war. Er hatte Dora um die Scheidung gebeten, und sie hatte ihre Einwilligung verweigert. Aber sie würde nie die Wahrheit erfahren, nie wissen, warum Dora und Miguel sich wirklich getrennt hatten. Sie mußte den Conde Ramiro Vicente Miguel de Castro rasch und für alle Zeiten vergessen. Er gehörte nicht ihr! Nur war das Vergessen so schwer. Sie stürzte sich in die Arbeit, froh, daß sie diesen Posten im Internat in Northumberland so rasch bekommen hatte. Northumberland war gottlob weit von der Schule entfernt, an der Terry Kershawe Direktor war. Zu ihrem Ärger war sie ihm in den wenigen Tagen, die sie bei ihrer Cousine verlebte, zweimal auf der Straße begegnet. Nach der Teestunde ging Elizabeth in ihre kleine Wohnung unweit der Schule. Beim Abendessen las sie den Brief von Carlota, der heute angekommen war. Carlota hatte darauf bestanden, daß sie in ständiger Verbindung blieben, und Elizabeth mußte einwilligen, obwohl es ihr sehr viel lieber gewesen wäre, einen endgültigen Schnitt zu machen. Die Briefe wurden jedoch mit der Zeit oberflächlicher, die Abstände immer größer. Das war allein Elizabeths Schuld, sie ließ bewußt oft Wochen vergehen, ehe sie Carlota antwortete. Sie räumte ihre kleine Küche auf. Dann setzte sie sich über die Aufsatzhefte, die sie korrigieren mußte. Es war eine reine Routinearbeit und Elizabeth ertappte sich dabei, daß ihre Gedanken wieder bei Miguel waren. Würde denn die Erinnerung an ihn nie verblassen? Konnte sie ihre Liebe zu ihm niemals überwinden? Er war in jedem wachen Augenblick in ihrem Bewußtsein. Selbst beim Unterricht, wenn sie sich mit aller Intensität mit ihrer Klasse beschäftigte, war sie sich der dumpfen Traurigkeit bewußt, die sie nie verließ. Das Läuten der Türklingel schreckte sie auf. Sie öffnete und starrte ungläubig auf die schlanke, große Erscheinung. Carlotas Mann Sanches! „Schauen Sie mich nicht so ängstlich an“, sagte er schnell. „Es ist nichts passiert. Darf ich eintreten?“ bat er mit einem kleinen Lächeln, da sie nur stumm dastand und ihn anblickte. „Ja, selbstverständlich.“ In ihren Ohren dröhnte ihr eigener Herzschlag. „Warum sind Sie hergekommen?“ fragte sie, noch bevor sie ihn ins Wohnzimmer führte. „Ich sagte Ihnen am Hochzeitstag, daß ich wünschte, Ihnen auch einmal helfen zu können, und daß ich immer für Sie dasein würde…“ Ohne auf ihre abwehrende Handbewegung zu achten, fuhr er fort: „Ich glaube, daß ich Ihnen jetzt helfen kann. Aber, bitte, beantworten Sie mir erst eine Frage, Elizabeth? Lieben Sie
Miguel?“ „Sanches“, drängte sie ihn, „warum sind Sie hier?“ „Um Ihnen in der gleichen Weise zu helfen, wie Sie mir geholfen haben“, erwiderte er ernsthaft. „Sie lieben meinen Schwager, nicht wahr?“ „Ja“, antwortete sie schlicht. „Dann ist alles gut. Wenn Sie meine Frage verneint hätten, wäre meine Reise vergeblich gewesen. Elizabeth, wissen Sie denn auch, daß Miguel Sie liebt?“ Sie schloß die Augen und zwang sich zur Ruhe. Aber das Gefühl der Betäubung ließ nicht nach. „Bitte, sagen Sie es rasch, Sanches. Was hat das alles zu bedeuten?“ „Sie wissen, daß er noch verheiratet war – daß Dora lebte.“ Sie sah ihn mit weitaufgerissenen Augen an. „Ist es herausgekommen? Wissen jetzt alle Bescheid? Wie schrecklich für Miguel“ „Sie ist tot, Elizabeth“, unterbrach er sie. „Tot? Seine Frau ist gestorben? Wie ist das geschehen, Sanches?“ „Ein Unfall. Im Auto waren auch noch Lourenco und eines der Hausmädchen von Miguel, das zu Dora gefahren war.“ „Rosaria? Ist sie davongelaufen?“ Aber so erstaunlich war diese Tatsache eigentlich nicht. Das Mädchen hatte an seiner Herrin gehangen. „Und Lourenco war auch dabei?“ fragte Elizabeth. „Er war Doras Geliebter.“ Sanches berichtete ohne Erregung, daß alle drei den Unfall nicht überlebt hatten. Sie hinterließen keine Angehörigen, so daß außer Miguel niemand von dem tragischen Unglücksfall verständigt wurde. Erst allmählich begriff Elizabeth die volle Wahrheit. Sanches saß ihr gegenüber, und in den nächsten fünf Minuten hörte sie ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen. „Sie werden vieles von mir erfahren, und ich schlage vor, daß Sie sich ihre Fragen bis zum Ende aufsparen“, sagte er, indem er sich bequemer im Sessel zurechtsetzte. Sie nickte nur. „Ich werde möglichst von Anfang an berichten, jedenfalls das, was ich miterlebt habe.“ Er erzählte, daß Carlota und er wenige Monate nach Elizabeths Abreise Miguel im Palacio besucht hätten. An einem Tag wäre er mit Miguel allein gewesen. Miguel hätte seine Brieftasche aus dem Jackett gezogen, und dabei wäre ihm unbemerkt etwas entfallen. „Ich hob es auf“, sagte Sanches, „und sah verblüfft, daß es ein Foto von Ihnen war. Carlota hatte es irgendwann aufgenommen.“ Elizabeth lächelte. Glück erfüllte sie beim Gedanken, daß Miguel die ganze Zeit ihr Bild bei sich getragen hatte. „Miguel fing sich rasch, obwohl er zunächst ärgerlich schien, daß ich das Foto gesehen hatte. Als ich es ihm zurückgab, steckte er es ganz gelassen wieder in die Brieftasche. Ich erzählte es natürlich Carlota. Ich fragte sie, ob sie jemals vermutet habe, daß Sie in Miguel verliebt seien. Aber Carlota verneinte es entschieden. Daraufhin nahmen wir an, daß Miguel Ihnen seine Gefühle gestanden hätte und Sie ihm einen Korb gaben. So war auch Ihre hastige Abreise verständlich, die wir uns nie erklären konnten.“ Er schaute Elizabeth fragend an, aber sie schwieg und wartete gespannt auf den Rest der Geschichte. „Weihnachten besuchten wir Miguel wieder“, fuhr Sanches fort. „Eines Tages wurden wir Zeugen einer höchst unerfreulichen Szene. Rosaria war dabei ertappt worden, wie sie aus Miguels Arbeitszimmer Geld stehlen wollte. Offenbar hob er in seinem Schreibtisch häufig beträchtliche Summen auf, für Löhne oder um
größere Rechnungen bar zu bezahlen. Nun, ich nehme an, daß Miguel ihr gerade fristlos gekündigt hatte, ehe wir in sein Zimmer kamen, Rosaria schrie wütend, daß sie einen ständigen Kontakt mit seiner Frau hätte und sie allen die Wahrheit erzählen würde, falls er sie nicht laufenließ, ohne die Polizei zu verständigen.“ Sanches machte eine Pause. Er wirkte etwas abgespannt, und Elizabeth entschuldigte sich, weil sie ihm keine Erfrischung angeboten hatte. Aber er nahm nur ein Glas Saft, trank es in einem Zug leer und berichtete weiter. „Miguel war weiß vor Zorn. Was er nicht wußte, war, daß wir zufällig einmal gehört hatten, wie Rosaria zu jemandem am Telefon über Dora sprach. So hatten wir erfahren, daß sie noch am Leben war. Zunächst standen wir wie benommen in Miguels Zimmer, verstehen Sie? Ich muß dann gesagt haben, daß wir uns zurückziehen wollten, aber er bat uns, zu bleiben. Da drohte Rosaria noch einmal, einen Skandal zu entfesseln.“ „Es muß entsetzlich für Miguel gewesen sein, sich von einem Mädchen wie Rosaria unter Druck setzen zu lassen“, warf Elizabeth ein. „Und wie. Rosaria gestand schließlich, daß sie aus Doras Zimmer öfter Kleidung und Schmuck geholt und die Sachen Lourenco übergeben hatte. Anscheinend steckten Dora und Lourenco trotz des Geldes, das Miguel ihnen zahlte, ständig in finanziellen Schwierigkeiten. Vermutlich haben sie den gesamten Schmuck verkauft, Rosaria erhielt für ihre Mitwirkung auch immer etwas Geld.“ Sanches machte wieder eine Pause. Es fiel ihm offenbar schwer fortzufahren, er suchte nach den geeigneten Worten. „Plötzlich sagte Rosaria, daß Sie, Elizabeth, ebenfalls wüßten, daß Dora noch lebte. Es war furchtbar, Miguel zu beobachten, als er das erfuhr. Später erklärte er uns, daß er es Ihnen nie erzählt hätte und er jetzt verstünde, wie Sie ihn wegen dieser Täuschung hassen müßten!“ „Hassen – um Gottes willen, nein!“ „Ich hätte das gleiche gedacht“, sagte Sanches, „wenn ich der Frau, die ich liebe, so wenig Vertrauen geschenkt hätte. Nun, das Ende war jedenfalls, daß Miguel dem Mädchen eine größere Geldsumme gab, um ihr Schweigen zu erkaufen, und sie dann fortschickte. Sie muß sofort nach Griechenland gefahren sein, wo Dora und Lourenco auf einer kleinen Insel ein Haus gekauft hatten.“ Sanches warf Elizabeth einen prüfenden Blick zu und sprach entschlossen weiter: „Ganz offensichtlich hatte Rosaria, ehe wir in Miguels Arbeitszimmer traten, ihn ihretwegen verhöhnt. Er sagte später, Rosaria hätte Dora geschrieben, daß sich ,die kleine Engländerin in ihren Mann verliebt hätte’. Woher wußte sie es?“ Elizabeth errötete. „Sie hat es erraten.“ Darauf berichtete sie Sanches, was sich zwischen ihr und dem Mädchen abgespielt hatte. „Und Miguel?“ fragte sie, „hat er Ihnen beiden dann endlich die volle Wahrheit erzählt?“ „Ja, er hat uns nichts verschwiegen. Es ist eine widerliche Geschichte, Elizabeth.“ Miguels Gefühle für Dora, die er aus Liebe heiratete, hätten sich langsam gewandelt. Auch sie wäre immer weniger daran interessiert gewesen, ihn auf seinen vielen Reisen zu begleiten. So war Carlota immer häufiger ihrer Obhut überlassen geblieben. „Dann hat einer von Doras Liebhabern begonnen, sie zu erpressen“, berichtete Sanches widerstrebend. „Er drohte nicht nur damit, ihre Beziehung Miguel zu offenbaren. Er wollte überall herumerzählen, daß sie nicht nur ihn, sondern viele Liebhaber gehabt hätte. Sie hat diese Männer in einem kleinen Hotel in Rio Tinto getroffen, wenn Miguel verreist war. Der Erpresser holte den letzten Pfennig aus Dora heraus, das ganze kleine Erbe, das sie von ihrem Vater erhalten hatte. Und er verlangte immer mehr. Sie begann, Schmuck aus dem Familienbe^sitz zu verkaufen, der bei den Castros immer dem ältesten Sohn vererbt wird. Miguel
hat den Schmuck nie vermißt, denn Dora bevorzugte sowieso die moderneren Stücke, die er ihr zu Weihnachten oder an Geburtstagen schenkte.“ Sanches hob resigniert die Achseln. „Natürlich sind Carlota und Miguel traurig über den Verlust des Familienschmucks, weil so viele Erinnerungen daran hängen. Aber das ist für Miguel nicht das schlimmste… Eines Tages erzählte Dora ihm, daß sie mit einer Schulfreundin in Griechenland Urlaub machen wolle. In Wahrheit wurde sie von Lourenco begleitet, damals kauften die beiden das Haus auf der kleinen. Insel. Dann rief Dora Miguel an und bat ihn zu kommen. In Griechenland erfuhr er von ihr die volle Wahrheit.“ „Sie erzählte ihm alles? Mein Gott, wie furchtbar muß es ihn getroffen haben!“ Sanches nickte. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie man es erträgt, von seiner Frau ein so schmutziges Bekenntnis zu hören! Jedenfalls hat Dora selbst vorgeschlagen, daß sie für tot und in Griechenland beerdigt gelten sollte. Sie wollte der Erpressung auf diese Weise ein Ende machen.“ „Konnte Miguel sich damit einverstanden erklären?“ Ein bedrücktes Schweigen entstand, bevor Sanches mit rauher Stimme erklärte: „Miguel hatte keine Wahl. Dora drohte, sonst überall zu verbreiten, daß Carlota ein Baby erwartete.“ „Das war es also.“ Elizabeth starrte ihn fassungslos an. „Ich kann es einfach nicht glauben.“ Sanches’ Gesicht verriet, wie schmerzhaft dieser Teil der Geschichte für ihn selbst war. „Dora verlangte eine hohe monatliche Unterhaltszahlung und eine große Abfindung für Lourenco. Miguel willigte in alles ein.“ Elizabeth runzelte die Stirn. Aber Doras früherer Geliebter konnte sie doch gar nicht mehr erpressen, nachdem Miguel alles wußte.“ „Er drohte doch, es in Miguels Bekanntenkreis zu erzählen! Außerdem eröffnete ihm Dora, daß Lourenco schon vor der Hochzeit ihr Liebhaber gewesen sei und sie jetzt mit ihm leben wolle. Miguel hatte keine andere Wahl, als zu akzeptieren. Konnte er denn wünschen, daß Dora zu ihm zurückkehrte?“ „Nun ist mir endlich alles klar“, sagte Elizabeth. „Ich hatte immer den Eindruck, daß es ein Geheimnis gab, unter dem Miguel unerträglich litt. Wie muß es ihn gequält haben, mit dieser Lüge zu leben.“ „Er ist durch eine Hölle gegangen. Aber nun ist er frei.“ „Frei…“ Elizabeth sah Sanches mit geöffneten Augen an. Sie schien erst jetzt zu begreifen, was dieses Wort für sie selbst bedeutete. „Sie müssen mir noch etwas erklären“, bat sie. Sanches lächelte. Er verstand sie sofort. „Miguel flog kurz vor unserer Hochzeit nach Griechenland“, erzählte er. „Er sagte uns jetzt, daß er Dora damals um ihre Einwilligung zur Scheidung bat. Er hätte eine Scheidung natürlich auch gegen ihren Willen erreicht. Aber er wollte alles Aufsehen vermeiden. Doch Dora lachte ihn aus. Sie wußte ja von Rosaria, daß er in Sie verliebt war, so wie Sie in ihn. Sie dachte gar nicht daran, ihn freizugeben, damit er Sie heiraten könnte.“ Elizabeth schluchzte fast. „Wie kann jemand so selbstsüchtig, so niederträchtig sein!“ „Sie war ein Teufel mit dem Aussehen eines Engels.“ Sanches junges, offenes Gesicht war tiefernst. „Nun begreife ich, warum Miguel mich ohne Widerspruch aus Portugal abreisen ließ. Immer wieder hatte ich ihm versprechen müssen, auch nach eurer Hochzeit zu bleiben. Aber als er von seiner kurzen Reise zurückkam, war er wie verwandelt. Ich wußte, auch ohne daß er es mir ausdrücklich sagte, er würde
mich fortlassen. Er wünschte, daß ich nach Hause fuhr…“ Sie schlang nervös die Hände ineinander. „Es war schrecklich, Sanches. Ich liebte ihn doch so. Damals verstand ich ihn nicht, aber jetzt weiß und begreife ich alles. Dafür danke ich Ihnen, Sanches.“ Beide schwiegen eine Weile. Dann sprach Elizabeth die Frage aus, die ihr noch auf der Seele brannte: „Dora – wie lange ist sie schon tot?“ „Sie starb vor vierzehn Tagen. Dora war schwer verletzt, die anderen waren auf der Stelle tot. Ein vorbeifahrender Autofahrer rief telefonisch einen Krankenwagen herbei. Sie konnte aus der Klinik noch einmal Miguel anrufen. Er flog sofort nach Griechenland, aber sie ist gestorben, ehe er dort ankam. Er sorgte für die Beerdigung – sie liegen alle drei auf dem Friedhof der kleinen Insel.“ Sanches warf einen Blick zum Fenster hinaus. „Er kam zurück und berichtete uns alles. Aber dann flog Miguel noch einmal nach Griechenland, weil er Doras Nachlaß ordnen mußte. Das Haus gehörte ihr ja. Er hat sich mit einem Anwalt in Verbindung gesetzt und mit ihm geregelt, daß das Grundstück, das Haus und alles, was in ihm ist, einem jungen griechischen Paar geschenkt werden soll. Der Mann arbeitete bei Dora und Lourenco als Gärtner, die Frau als Haushälterin. Es sollen sehr fleißige, ordentliche Leute sein, die ihr Glück kaum fassen konnten. Wahrscheinlich spenden sie ihren Heiligen jeden Tag eine Kerze.“ Zum erstenmal war in Sanches Stimme ein fröhlicher Klang. „Sie haben die weite Reise gemacht, um mir das alles zu erzählen“, sagte Elizabeth nach einer nachdenklichen Pause. „Und Miguel… wird er auch kommen?“ „Ich habe ihn danach gefragt, bevor er zum zweitenmal auf die Insel flog. Er ist übrigens noch dort… Nein, Elizabeth, er wird nicht kommen. Er war trostloser Stimmung. Er glaubt, Sie werden es ihm nie verzeihen können, daß er Sie so schlecht behandelt hat.“ „Mich schlecht behandelt?“ „Es gäbe keine Entschuldigung für ihn, sagte er, daß er Sie getäuscht hätte. Er hätte Ihnen volles Vertrauen schenken müssen. Und daß er Sie ohne Widerspruch einfach abreisen ließ...“ „Aber es blieb ihm doch nichts anderes übrig?“ rief Elizabeth. „Er wußte, daß es für uns keine gemeinsame Zukunft gab!“ Sanches zuckte mit den Achseln. „Er glaubt, er hat ihre Liebe nicht verdient, und Sie haben ihn bestimmt schon vergessen. Es hat keinen Sinn, ihn überreden zu wollen, er war zu deprimiert. So beschlossen Carlota und ich, zu Ihnen zu fliegen, um Ihnen alles zu erzählen. Aber Carlota fing gestern abend an zu fiebern. Es war unmöglich, daß sie mit ihrer Grippe reisen konnte. Ich wollte warten, aber sie beschwor mich zu fahren. Sie meinte zu Recht, daß es für Miguel wundervoll wäre, wenn er diesmal nach Hause käme und Sie dort fände.“ „Er denkt, ich hätte ihn vergessen?“ Elizabeth war fassungslos. „Er muß doch wissen, daß ich nie aufhören kann, ihn zu lieben.“ „Sie haben Carlota nur sehr selten geschrieben, und in Ihren Briefen stand nie sehr viel… Als Carlota einmal mit Miguel darüber sprach, meinte er bitter, daß Sie wohl einen endgültigen Bruch mit allen wünschten, denen Sie in Portugal begegnet sind.“ „Wann wird Miguel zurückerwartet?“ fragte sie ruhig. „Am Samstag gegen Abend.“ „Dann werde ich, wenn irgend möglich, am Samstagmorgen hier abfliegen. Ich möchte nicht vor ihm im Palacio sein. Ich bin nicht ganz sicher, ob er es richtig
finden würde, wenn ich während seiner Abwesenheit einfach dorthin zurückkehre.“ Sie hob die Hand, als Sanches protestieren wollte. „Es wäre auch nicht richtig“, beharrte sie. „Wenn ich ein Flugzeug bekomme, werde ich rechtzeitig zum Abendessen im Palacio sein. Gottlob haben wir ab Montag Schulferien. Nur ein paar Tage, aber sie genügen ja, so daß ich zum Unterrichtsbeginn wieder zurück sein kann.“ Der Garten des Palacio prangte in der vollen Pracht des Frühlings. Täler und Hänge, auf „denen Weinstöcke wuchsen, leuchteten in frischem Grün. Die Berge, die jenseits von Sintra hochragten, waren so blau, wie Miguel es ihr einmal beschrieben hatte. Elizabeth ließ das Taxi schon vor dem Palacio anhalten. Sie wollte den Rest des Weges zu Fuß gehen und sich in Gedanken vorbereiten – ja, worauf eigentlich? Es war drei Wochen her, seit Dora starb. War es nicht taktlos, so kurz nach ihrem Tod zu Miguel zu eilen? Ihre Schritte wurden immer langsamer. Aber es war ja längst keine wirkliche Ehe mehr, beruhigte sie sich selbst. Dora lebte mit Lourenco… Sie trat in den Vorgarten des Schlosses ein. Ihre Augen feierten ein Wiedersehen mit der herrlichen Fassade des Palacios, dem plätschernden Springbrunnen, der Blütenpracht… Ihr Herz klopfte wild, als sie an der Haustür läutete. War es Furcht oder freudige Aufregung – oder beides? Vielleicht hatte Sanches sich geirrt? Miguel hatte ihr niemals mit Worten seine Liebe gestanden. Es gab ein paar zärtliche Augenblicke, ja… aber vielleicht hatten diese Küsse ihr soviel mehr bedeutet als Miguel! Es öffnete einer der Diener, mit dem Elizabeth kaum Kontakt gehabt hatte, da er nur portugiesisch sprach. Mit den paar Worten, die sie gelernt hatte, fragte sie ihn, ob der Conde zu Hause sei. Der alte Mann schüttelte langsam den Kopf. Voller Angst und Ungeduld bat sie ihn, die Haushälterin zu holen. Ina kam und fing vor Wiedersehensfreude zu weinen an. Die Tränen rollten ihr über die runzligen Wangen, als sie erzählte, daß Dom Miguel am Mittag von einer Reise zurückgekehrt sei und sich plötzlich entschieden habe, nach England zu fliegen.“ „Nach England?“ wiederholte Elizabeth ungläubig. „Er ist nach England unterwegs?“ „Ja, Senhorita.“ Einen Augenblick glaubte Elizabeth, ohnmächtig zu werden. Die Enttäuschung war zu groß. Miguel war nach Hause gekommen und sofort wieder aufgebrochen, um sie zu suchen. Er hatte offenbar keine Stunde mehr verlieren wollen. Wie kam es, daß alles so schiefgelaufen war? „Ich weiß nicht, was ich tun soll.“ Sie war völlig ratlos. „Darf ich mich eine Weile hier ausruhen?“ „Aber natürlich, Senhorita.“ Ina schaute auf die Standuhr in der Halle. „Wollen Sie vielleicht Dom Miguel anrufen? Sie können ihn noch auf dem Flughafen erreichen.“ „Sie meinen, daß er noch gar nicht abgeflogen ist?“ „Das Flugzeug startet erst in einer halben Stunde, Senhorita.“ Elizabeth starrte Ina an. Irgendwie brachte sie es fertig, höflich zu fragen, ob sie das Telefon im Wohnzimmer benutzen könnte. „Natürlich, Senhorita.“ Die beiden Alten ließen sie durch die weite Halle in das vertraute kleine Wohnzimmer gehen, dessen drei große Fenstertüren auf den Park hinausführten.
Sie stand regungslos am Fenster, bis sie eine Autohupe hörte, eine Wagentür, die zuschlug. Sie ging ein paar zögernde Schritte in die Mitte des Raumes, voll Erwartung, voll bebender Vorfreude auf sein Kommen. Als er die Tür öffnete, blieb auch er einen Augenblick stehen. Er nahm ihr Bild in sich auf, wie sie vor ihm stand, still und blaß, doch mit Augen, aus denen ihre ganze Liebe strahlte. „Geliebtes…“ Sie lag in seinen Armen. Der Kuß dauerte eine beseligende Ewigkeit Dann trat er einen Schritt zurück, ohne sie freizugeben. „Laß dich anschauen, mein Herz. Endlich hab’ ich dich wieder. Ich begreife nur immer noch nicht, daß du hier bist. Erklär es mir.“ Sie brachte kein Wort hervor. Sie war wie betäubt vor Glück. „Ich konnte es gar nicht glauben, als mir auf dem Flughafen dein Anruf ausgerichtet wurde. Gottlob war Felipe mit dem Auto noch nicht wieder zurückgefahren.“ „Ja, ich ließ dich auf dem Flughafen ausrufen…“ Dann war sie endlich imstande, ihm einigermaßen zusammenhängend zu erzählen, was geschehen war. Er hörte atemlos zu. „Sanches muß den Eindruck gehabt haben, daß ich kaum noch Hoffnung hatte“, sagte er nachdenklich. „Aber auf einmal wußte ich es, Elizabeth, ich wußte mit absoluter Sicherheit, daß du nicht aufgehört hast, mich zu lieben. Von da an hatte ich nur den Wunsch, alles schnell zu regeln, um endlich zu dir kommen zu können.“ Er sah sie voller Zärtlichkeit an. „Eigentlich hättest du wissen müssen, mein Liebstes, daß ich dich nicht so rasch auf gebe.“ „Ich wagte nicht, mir Hoffnungen zu machen, Miguel. Doch meine Gedanken und Wünsche waren immer bei dir…“ Ihre Stimme verebbte in Erinnerung an die trostlose Zeit, die hinter ihr lag. Aber dann löschte er mit seinen Küssen die Monate der Hoffnungslosigkeit aus. Sie schmiegte sich in seine Arme. Viele Minuten verstrichen, in denen sie sich immer wieder beteuerten, wie sehr sie einander liebten. Miguel ergänzte mit ein paar Sätzen, was Sanches schon berichtet hatte: „Als Dora damals nach Griechenland flog, war ich ehrlich davon überzeugt, daß sie mit einer Freundin reiste. Kannst du dir den Schock vorstellen, als ich von ihr die volle Wahrheit erfuhr? Du weißt, daß ich ihre Bedingungen akzeptiert habe, akzeptieren mußte!“ Er schwieg, und sein Gesicht hatte noch einmal diesen harten erbitterten Ausdruck, den sie fürchtete. Aber es dauerte nur eine Sekunde. „Daß ich tun mußte, was sie befahl, war mir unerträglich. Doch ich hatte nur die Wahl, einzuwilligen oder Carlota preiszugeben und damit den guten Ruf der Familie. In diesem Augenblick begann ich, Dora zu hassen. Ich haßte sie wegen ihrer Niederträchtigkeit und Haltlosigkeit. Ich wollte sie niemals wiedersehen. Ich muß wie ein Wahnsinniger gewesen sein, als ich nach Hause zurückkam. Die arme Carlota war in Tränen aufgelöst. Aber ich konnte ihr nicht erzählen, was passiert war.“ Elizabeth legte seine Hand an ihre Wange. „Ich hab’ von Anfang an gespürt, daß es irgendein Geheimnis gab. Doch ich habe mir immer wieder gesagt, daß es mich nichts anging.“ „Rosaria hat mir gestanden, daß du sie einmal ertappt hast, als sie aus dem Schlafzimmer Schmuck holte. Ach, Liebes, ich weiß nun, daß du in einer hoffnungslosen Lage warst und genauso unglücklich wie ich. Gottlob, daß alles vorüber ist.“ Seine Lippen berührten voller Zärtlichkeit ihre Stirn, ihre Wangen und schlossen ihr die Augen. Um die beiden versank die Welt. Später fragte er sie, wann sie endgültig nach Portugal kommen könnte. „Das Schuljahr ist in zwei Monaten zu Ende. Dann kann ich aufhören.“
„Zwei Monate!“ Entsetzt schüttelte er den Kopf. In seinem Gesicht erschien der herrische Zug, der zeigte, daß der Conde de Castro nicht gewohnt war, Dinge hinzunehmen, die er sich anders wünschte. „Ich lasse das nicht zu. Weißt du, daß wir über ein halbes Jahr voneinander getrennt waren?“ Sie nickte. Sie war vor genau sieben Monaten und drei Tagen abgereist. „Ich kann meinen Direktor nicht im Stich lassen, Miguel“, bat sie. „Es wäre unfair, einfach meine Schülerinnen mitten im Jahr sitzenzulassen.“ Schließlich gab er nach. Aber er kündigte an, daß er in diesen zwei Monaten an jedem Wochenende nach England fliegen werde, um sie zu sehen. Elizabeth strahlte. Dann fiel ihr etwas ein. „Sanches ist bestimmt davon überzeugt, daß er es war, der uns zusammengebracht hat. Er ist so glücklich, daß er seine sogenannte Dankesschuld an mich abgetragen hat. Wir müssen ihm doch nicht erzählen, daß du aus eigenem Entschluß zu mir fliegen wolltest…“ Miguel schaute sie sprachlos an. „Ich will nicht, daß jemand glaubt, ich hätte zuwenig Mut, mir mein Glück nach Hause zu holen.“ „Bitte, liebster Miguel!“ flehte sie. „Er wäre so grenzenlos enttäuscht, wenn er erführe, daß es nicht allein seine gute Tat ist.“ . Miguel murrte, aber auch diesmal gelang es ihm nicht, den Bitten Elizabeths zu widerstehen. „Also gut“, meinte er, „lassen wir ihn in dem Glauben, daß er uns zusammengeführt hat.“ Sie warf die Arme um seinen Hals und küßte ihn. Eine Weile später klingelte Miguel nach einem der Mädchen, das Elizabeth in ihr Zimmer führen sollte. Es ging auf den Park hinaus, und Elizabeth stieß einen Laut des Entzückens aus, als sie sich umschaute. Miguel war ihnen gefolgt. Als das Mädchen hinausgegangen war, kam er zu ihr, legte den Arm um ihre Schultern, und gemeinsam traten sie ans Fenster. Der blühende, grünende Park lag zu ihren Füßen, am Horizont erhoben sich die blauen Berge von Sintra. „Gefällt dir der Raum? Es war früher das Zimmer meiner Mutter.“ Sie sah sich um. Es war das eleganteste und zugleich wärmste Schlafzimmer, das sie je gesehen hätte, mit dem behaglichen großen Mahagonibett, den sonnigen Seidentapeten und Vorhängen und dem dazu passenden weichen Teppich… Dann sah sie die offenstehende Verbindungstür, die in einen angrenzenden Schlafraum führte. Leichtes Rot färbte ihre Wangen. Miguel hob mit einer sanften Bewegung ihr Kinn, so daß sie ihm in die Augen schauen mußte. „Ja, mein Geliebtes. Sehr bald werde ich da drüben einziehen. Ist dir alles so recht?“ Sie nickte, stumm vor Glück. Der Gedanke, später Doras Zimmer zu bewohnen, hätte sie beunruhigt. Sein Zartgefühl rührte sie. Hier würde sie zu Hause sein für alle Zeiten… „Es ist das schönste Wochenende meines ganzen Lebens“, flüsterte sie ergriffen. Sie wußte, dieser Tag, der allen Kummer hinwegfegte, würde in ihrer Erinnerung nie an Glanz verlieren. Doch Miguel verbesserte sie. „Eines der schönsten, mein Herz. Bestimmt wollen wir es nicht vergessen. Aber die Zukunft, so hoffe ich, hält viele wunderschöne Tage für uns bereit. Wenn wir nur beieinander sind!“ Er behielt recht. Ein strahlender Tag im Juni war ihr Hochzeitstag. Sie feierten kein so glanzvolles Fest wie Sanches und Carlota. Aber auch sie wurden in der Kathedrale von Lissabon getraut. Und niemand, der Zeuge der Trauzeremonie war, konnte an der innigen Liebe des Paares zweifeln. Als sie die Ringe gewechselt hatten, hob Elizabeth ihr Gesicht mit einer hingebungsvollen Bewegung. Er neigte sich und küßte sie.
„Meine geliebte Condessa“, flüsterte er gerührt. Dann richtete er sich auf, und in der würdevollen Haltung, die die Öffentlichkeit von dem Conde Ramiro Vicente Miguel de Castro erwarten durfte, schritt er mit ihr durch das Kirchenschiff hinaus in den hellen Sonnenschein.