Birgit Knister Hexe Lilli
Hexe Lilli bei den Piraten
Lilli hext für ihr Leben gern, seit sie eines Tages plötzlich ein...
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Birgit Knister Hexe Lilli
Hexe Lilli bei den Piraten
Lilli hext für ihr Leben gern, seit sie eines Tages plötzlich ein Zauberbuch neben ihrem Bett fand. Und die Folgen der Hexereien sind meist höchst überraschend... So auch diesmal, als Lilli es schafft, sich auf ein altes Piratenschiff zu hexen. Prompt muß sie es dort mit dem gefürchteten Kapitän Bartbacke und seiner wilden Mannschaft aufnehmen. ISBN: 3401045474 Arena Erscheinungsdatum: 1995
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Inhalt 1. Kapitel .............................................................................. 5 2. Kapitel ............................................................................ 13 3. Kapitel ............................................................................ 25 4. Kapitel ............................................................................ 36 Piratentrick ,,Seemannsknoten“ ......................................... 47 Piratentrick ,,Großer Bär“ .................................................. 50 Piratentrick ,,Flaschenpost“................................................ 51
Das ist Lilli, die Hauptperson unserer Geschichte. Sie ist ungefähr so alt wie du und sieht aus wie ein gewöhnliches Kind. Das ist sie eigentlich auch...aber doch nicht ganz. Lilli besitzt nämlich etwas, was überhaupt nicht gewöhnlich ist: ein Hexenbuch! Eines Morgens fand Lilli es neben ihrem Bett. Wie ist es da wohl hingekommen? Keine Ahnung. Lilli weiß nur, dass die schusselige Hexe Surulunda Knorx das Buch aus Versehen liegen gelassen hat. Und sie weiß, dass echte Zaubereien und wilde Hexentricks in dem Buch stehen. Einige davon hat Lilli schon ausprobiert. Aber aufgepasst: Versuche lieber nicht, Lillis Hexereien nachzumachen! Hast du nur ein Wort falsch gelesen, wird Zahnbürste zum Hexenbesen. Aus Lehrerin wird böser Schurke, aus Eis am Stiel wird saure Gurke. Vorsichtshalber hat Hexe Lilli niemandem von ihrem tollen Buch erzählt. Sie ist sozusagen eine echte Geheimhexe.
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Auch vor ihrem kleinen Bruder Leon hält sie das Hexenbuch geheim. Das ist gar nicht so einfach, denn Leon ist sehr neugierig und kann manchmal ziemlich nervig sein. Lilli hat ihn aber trotzdem sehr lieb. So... und jetzt kann der Lesespaß losgehen!
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1. Kapitel
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„Schiff ahoi! Hisst die Segel! Den Anker hoch!“ Lillis kleiner Bruder Leon schiebt sein Piratenschiff hin und her. Seitdem er das Modellschiff hat, spielt er Pirat. „Alle Kanonen nach Backbord! Wir müssen mit einem Angriff vom Festland rechnen!“ Leon setzt die sechs kleinen Kanonen auf die linke Schiffsseite. Dann lässt er den grimmigen Kapitän aus dem Aussichtskorb in der Mastspitze herunterklettern und klemmt ihn vorn am Bug des Schiffes fest. „Ich rieche eine Attacke!“, ruft Leon mit derber Stimme. „Alle Mann an Deck!“ Nach und nach holt er alle Piratenfiguren aus dem Bauch des Schiffes und baut sie an Deck auf. Er ist so in sein Spiel vertieft, dass er gar nicht bemerkt, wie Lilli ins Zimmer kommt und sich hinter ihn stellt. Er streckt seinen Arm energisch nach vorn, gerade so, als ob er selbst der Piratenkapitän wäre, und ruft: „Zeigt es den verdammten Landratten! An die Geschütze, Männer!“ „Dann nehmt dies, ihr miesen Kerle!“, mischt Lilli sich jetzt lautstark ein und lässt von oben eine ganze Salve kleiner Zuckereier auf Leons Modellschiff herabprasseln. “Das ist gemein!“, protestiert Leon. „Wieso?“, fragt Lilli schnippisch. „Ich wusste nicht, dass du hinter mir stehst, sonst hätte ich nach oben geschossen“ -6-
„Überraschungsangriff! Das gilt nicht“, versucht Leon sich zu wehren. „Doch! So ist das bei Piratenkämpfen“, lacht Lilli und nimmt das Modellschiff erneut unter Zuckerei-Beschuss. „Gemein! Gemein! Gemein!“, schreit Leon. Lilli hat den Eindruck, dass ihr Meiner Bruder jeden Moment losheulen wird. „Ich habe es doch nicht böse gemeint“, versucht sie einzulenken. „Das darfst du nicht!“, schimpft Leon und beginnt seine Schwester mit den Zuckereiern zu bewerfen. „Und überhaupt: Mädchen dürfen nicht mitmachen bei Piratenspielen. Mädchen dürfen überhaupt nicht mitmachen bei Piraten. Bei den echten auch nicht!“ „Wer sagt das?“„Das war schon immer so!“, sagt Leon bestimmt.
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“Und was ist mit dem Roten Korsaren? Das war auch eine Frau, die sich nur als Mann verkleidet hat. „ „Ach, die, aus dem Piratenfilm... „ Leon muss seiner Schwester Recht geben. „Und was ist mit all den anderen berühmten Piratenfrauen? Was ist mit Calamity Jenny, der Schwester von Calamity Jane? Oder Säbeljule, Larissa der Gerissenen, Koralla Piranja, Bloody Mary, Ernestina de Schlitzdichauf, Frenzi Frikassee und wie sie alle hießen...?“ Leon ist baff. „So viele Piratinnen gab es?“, fragt er staunend. „Es gab noch viel mehr. Und gerade sie waren es, die auf den Weltmeeren besonders gefürchtet waren, weil sie einfach gerissener waren.“ „Und wieso habe ich noch nichts von ihnen gehört?“, fragt Leon. „Weil sie einfach zu schlau waren. Sie haben sich nicht erwischen lassen. Die meisten Piraten haben sie doch geschnappt und aufgehängt, so wie den Klaus Störtebeker zum Beispiel. Aber die Frauen haben sie selten gekriegt. Darum sind sie auch nicht so bekannt. Außerdem haben sie die Drecksarbeit ohnehin von den Kerlen machen lassen und lieber nur abkassiert.“ Jetzt ist Leon richtig neugierig geworden und seine Wut über Lillis Attacke ist wie weggeblasen. „Los, erzähl!“, drängt er. „Wovon?“ Lilli stellt sich dumm. -8-
„Na, von den tollen Piratenfrauen!“ „Von welcher willst du was hören? Vielleicht von Frenzi Frikassee? Nach der sie später das Hühnerfrikassee benannt haben? - Du weißt, das klein geschnetzelte Hühnerzeugs, das man kaum noch erkennen kann, weil es so kurz und klein gemetzelt ist.“ Leon klappt der Mund auf und vor Aufregung läuft sein Gesicht rot an. „Aber nein, besser nicht. Ich glaube, die Geschichte ist nichts für kleine Jungs. Außerdem mag ich sowieso kein Hühnerfrikassee.“ Leon nickt und bringt vor Staunen keinen Ton heraus. Lilli aber hockt sich zu ihrem Bruder auf den Boden und überlegt, mit was für einer verwegenen Geschichte sie Leon wohl noch beeindrucken könnte. Doch bevor ihr was einfällt, findet Leon seine Stimme wieder und schlägt vor: „Erzähl mir von der Erna Schlitzauf oder wie sie noch hieß... Die klang so schön spannend“.„Ach, du meinst Ernestina de Schlitzdichauf. Nun ja, von der gibt's nicht viel zu erzählen. Außer dass sie mit dem Messer besser umgehen konnte als mit der Gabel. Du verstehst, was ich meine?“
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Leon versteht zwar nichts, aber er nickt trotzdem. Er will Lilli auf keinen Fall unterbrechen, damit sie weitererzählt. „Mit ihrem Talent hat sie ein wirklich scharfes Leben geführt. Leider war ihr Leben kürzer als die Klinge ihres gefürchteten Messers. Sie hat ein tragisches Ende genommen. Nachdem sie sich kreuz und quer durch die westlichen Kariben geschlitzt hatte, wollte sie sich auf der Insel unter den Winden ein Seeräuberdenkmal in eine Riesenpalme schnitzen. Nun, wie jeder weiß, war sie im Schlitzen besser als im Schnitzen, und ehe sie sichs versah, rutschte ihr Messer so unglücklich ab, dass sie... Also mit einem Wort, sie hauchte auf der Insel unter den Winden ihr Leben aus. Natürlich gab man ihr das Messer mit Ins Grab. Und wenn man den alten Seeräubergeschichten Glauben schenken darf, soll es so scharf gewesen sein, dass es den Sarg durchschlagen hat und aus dem Grab heraus direkt in die Hölle fuhr. Dort soll es mit Schwung dem leibhaftigen Teufel den rechten Fuß abgemetzelt haben. Der Teufel habe vor Wut wie ein Pferd gewiehert, heißt es, und]_darauf sei ihm ein Pferdefuß gewachsen, den er von Stund an tragen musste.“ „Das mit dem Pferdefuß vom Teufel habe ich schon einmal gehört“, bestätigt Leon mit hochroten Ohren. „Ich habe nur nicht gewusst, dass Ernestasia von Schlitzdichauf dafür gesorgt hat.“ „So sind sie eben, die Piratenbräute“, meint Lilli. „Selbst nach ihrem Tode geben sie sich noch nicht geschlagen. Und wenn es in der Hölle ist.“ Leon nickt anerkennend. „Mehr“, sagt er kurz und bündig. Aber Lilli ist jetzt nicht mehr nach Geschichtenerzählen. Während sie Leon das wilde Piratenmärchen aufgetischt hat, ist ihr nämlich etwas in den Sinn gekommen: das Hexenbuch. Ob es damit vielleicht möglich ist, sich zu den Piraten zu hexen? Auf so ein richtiges altes Piratenschiff?. Dafür müsste Lilli allerdings eine Zeitreise in die Vergangenheit machen. So etwas hat sie noch nie versucht. Aber vielleicht klappt es ja mit einem der vielen Zaubersprüche im Hexenbuch. -10-
Lilli kommt ins Träumen. Ja, warum eigentlich nicht eine Reise zu den Piraten... und falls es mit der eigenen Zeitreise nicht funktioniert, wäre umgekehrt ein Besuch von einer leibhaftigen Piratin auch nicht schlecht. Aus Mamas Auto ließe sich sicher ein prächtiges Piratenschiff zaubern... aus dem Lineal ein Säbel, aus dem Schulranzen eine Schatzkiste, aus dem Bett eine Hängematte, aus Mamas Bügeleisen... „Erzähl mir noch was!“, reißt Leon seine Schwester aus ihren Gedanken.
„Keine Zeit“, antwortet Lilli. „Ich muss in meinem Zimmer was erledigen.“ Sie geht in ihr Zimmer, aber Leon tapst schon hinterher. „Ich muss allein sein“, sagt Lilli. Sie will sofort in ihrem geheimen Hexenbuch nach einem Zauberspruch für Piratenabenteuer suchen. Das darf Leon natürlich nicht mitbekommen. Schließlich ist Lilli eine Geheimhexe und will es auch bleiben. „Ich muss Hausaufgaben machen und da brauche ich Ruhe“, flunkert Lilli und schiebt ihren Bruder zur Tür hinaus. Sie -11-
klemmt die Stuhllehne unter die Türklinke; so wie sie das immer macht, wenn sie allein sein will. Dann kriecht sie unter ihr Bett und kramt das Buch aus dem Versteck. Die Suche kann beginnen. Eine schwierige Suche, denn das Stichwort Pirat ist beim besten Willen nicht zu finden. Auch das Wort Abenteuer fehlt im Hexenbuch. Lilli grübelt und grübelt. Irgendeinen Weg muss es doch geben. Vielleicht finde ich Zeitreise?... Lilli schlägt nach unter dem Buchstaben Z. Aber auch das Stichwort Zeitreise ist nicht aufgeführt. Mist!
Aber so schnell gibt Lilli nicht auf. Sie blättert in dem dicken Buch herum. Könnte ja sein, dass sie durch Zufall den richtigen Zauberspruch entdeckt. Da! Kann das vielleicht weiterhelfen? Hier steht eine Beschreibung darüber, wie Hexen auf Reisen gehen; über vier Seiten ist die lang. „Und ich dachte, sie reisen immer auf dem Besen“, murmelt Lilli vor sich hin. Aber weit gefehlt! Von Hexenbesen kein Wort. Zumindest auf der ersten Seite nicht. Und es dauert sehr lange, bis Lilli sich durch die erste Seite gearbeitet hat. Die Beschreibung ist nämlich gar nicht so leicht zu verstehen. Lilli muss sich sehr anstrengen. Aber sie ahnt jetzt, dass sie auf dem richtigen Weg ist. Darum liest sie unverdrossen weiter, so schwer es auch fällt. Plötzlich hellen sich ihre Gesichtszüge auf. Hat sie etwas Brauchbares gefunden? -12-
2. Kapitel
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Lilli liest noch eine ganze Weile konzentriert. Dann legt sie das Hexenbuch aufgeschlagen in ihr Bett und deckt es mit der Bettdecke sorgfältig zu. Sie rückt die Stuhlsperre zur Seite und geht in Leons Zimmer. Dort spielt Leon immer noch mit seinem Modellschiff „Na, endlich fertig?“, wird Lilli empfangen. „Diesmal rechne ich aber mit deinem Überraschungsangriff. Du hast keine Chance.“ Er rückt die kleinen Kanonen so zurecht, dass sie auf Lilli zielen. Lilli lacht und sagt: „Aye, aye, Kapitän Leon. Ich gebe mich geschlagen. Sagen Sie Ihren Männern, sie können ihre Geschütze wieder zurückziehen.“ „Nichts da!“, ruft Leon. „Den Trick kennen wir! Kaum sind die Kanonen weg, kommt die Attacke. Ich bin doch nicht Hein Blöd!“
„Nein, ehrlich, Leon. Ich brauche deine Hilfe. „ „Ein ehrlicher Seemann hilft, wo er kann“, sagt Leon. Er freut sich, dass seine große Schwester ihn um Hilfe bittet. „Ich brauche dein Schiff“, sagt Lilli ohne Umschweife. „Das heißt, ich brauche es nicht lange. Nur für einige Zeit.“ „Prima. Dann können wir in deinem Zimmer zusammen mit dem Schiff spielen“, willigt Leon ein Aber er hat Lilli offensichtlich nicht richtig verstanden, denn sie erklärt: -14-
„Nein, ich brauche das Schiff für mich allein.“ „Allein?“ Leon schaut Lilli mit großen Augen an. Lilli nickt.„Warum?“ „Weil ich es eben allein brauche.“ „Dann kriegst du es nicht“, sagt Leon trotzig. „Du bekommst es doch zurück. Ich brauche es ja nicht lange“, beteuert Lilli. Aber mit Leon ist darüber nicht zu reden. Energisch klemmt er sich sein Modellschiff unter den Arm. Lilli geht zurück in ihr Zimmer. Ohne Leons Schiff kann sie die Reise zu den Piraten vergessen. In dem Kapitel über Hexenreisen steht nämlich etwas über einen so genannten „Hexensprung“. Für diesen Reisezauber braucht die Hexe einen Gegenstand, der mit dem Reiseziel zu tun hat. Willst du geschwind zum Blocksberg fliegen, musst einen Blocksbergstein du kriegen. Willst essen du am Königstisch? Des Königs Knopf nur erst erwisch! Willst du durchs goldne Hasentor? Kleb Hasenköttel hinters Ohr. So steht es da. Natürlich reicht es nicht aus, nur den passenden Gegenstand dabeizuhaben. Ein Reisezauberspruch gehört schon auch noch dazu - aber dafür hat Lilli schließlich das dicke, dicke Hexenbuch. Ob Leons Modellschiff sie zu ihrem Piratenziel bringen kann? Lilli weiß es nicht, aber sie will es ausprobieren. Und wenn der Reisezauber tatsächlich gelingt, in welcher Zeit wird sie wohl landen? Schließlich gibt es die Piraten, von denen Lilli träumt, schon lange nicht mehr. Und ob sie sich vor ihrer Reise bewaffnen soll? Sie hat gelesen, dass manche Piraten bis über die Zähne bewaffnet waren. Das kann gefährlich werden. Aber zuerst muss Lilli an Leons Piratenschiff herankommen. Sie versucht mit allen Tricks ihren Bruder zu überzeugen. Sie bietet ihm an, dass er ihre nächsten fünf Nachspeisen essen darf. -15-
Fehlanzeige. Leon soll am Sonntag ihr Taschengeld bekommen. Nichts. Leon darf eine Woche lang auf ihrem Fahrrad fahren. „Obwohl ich dein Schiff nur für einen Nachmittag will!“ Wieder nichts.
Egal, was Lilli ihrem Bruder auch zum Tausch gegen sein Schiff anbietet, Leon bleibt stur. Na warte, denkt Lilli. Dann werde ich dein verflixtes Piratenschiff eben einfach entführen! Sie will bis zum späten Abend warten, bis Leon fest eingeschlafen ist. Die paar Stunden bis dahin kommen Lilli wie eine Ewigkeit vor. Doch dann ist es bald so weit. Nach dem Zähneputzen lässt sie sich von Mama einen Gutenachtkuss geben und legt sich ins Bett. Es fällt ihr nicht schwer, wach zu bleiben. Sie ist viel zu aufgeregt. Was sie bei den Piraten wohl alles erleben wird? Inzwischen ist es elf Uhr. Zeit für Lillis Beutezug. Leon träumt sicher schon längst. Sie steht auf und horcht. In der Wohnung ist es mucksmäuschenstill. Auch Mama scheint zu schlafen. Barfuß schleicht Lilli zu Leons Zimmer. Schon drückt sie lautlos seine -16-
Tür auf. „Lilli? Was machst du denn da?“ Mist! Mama merkt aber auch alles. „Was willst du denn um diese Zeit bei Leon? Ich denke, ihr schlaft schon.“ „Ich - ich muss mal aufs Klo und hab mich in der Tür geirrt“, antwortet Lilli. „Na, dann gib Acht, dass du dir auf dem Klo nicht aus Versehen die Jacke statt der Hose ausziehst“, ruft Mama aus der Küche. Sie sitzt dort und liest. Lilli hatte sie natürlich längst im Schlafzimmer vermutet. Pech. Obwohl Lilli gar nicht aufs Klo muss, geht sie also brav ins Bad. Sie setzt sich auf den Klodeckel und zählt langsam bis fünfundzwanzig. Dann drückt sie die Klospülung.
„Händewaschen nicht vergessen!“, ruft Mama. Lilli verdreht die Augen und lässt das Wasser eine Weile rauschen. Dann trocknet sie sich besonders gründlich die Hände ab, während sie bis elfeinhalb zählt. Zurück ins Bett und wieder warten. Endlich hört sie ihre Mutter im Bad. Die Klospülung bullert, dann rauscht der Wasserhahn. Und jetzt ist Mama im Schlafzimmer. Kurz nach Mitternacht beschließt Lilli es noch einmal zu versuchen. Sie ist hellwach. Vorsichtig stakst sie aus dem Bett. Sie horcht. Die Luft ist rein. Sie huscht durch den kleinen Flur zu Leon. -17-
Endlich hält Lilli das Piratenschiff in ihrer Hand und schleicht damit zurück in ihr Zimmer. Ganz vorsichtig schließt sie die Tür und stößt einen lautlosen Freudenschrei aus. Der erste Schritt ist geschafft! Sie stellt das Schiffsmodell direkt neben ihr Hexenbuch. Aufgeregt nestelt sie den kleinen Notizzettel aus ihrer Schlafanzugjackentasche. Darauf hat sie sich den Zauberspruch notiert. Sie greift nach dem Schiff und will die Hexenformel sprechen, da fällt es ihr gerade noch ein: Sie braucht ja auch noch einen Gegenstand, um zurückzukommen, und sie darf die Zeit nicht vergessen! Aus der Schreibtischschublade holt sie ihre neue Armbanduhr mit Stoppuhr und eingebautem Wecker. Die muss mit. Lilli kann nicht lange bei den Piraten bleiben, denn sie muss spätestens zum Wecken zurück sein. Sie stellt den Wecker auf halb sieben. Jetzt aber los! Sie murmelt die magische Formel und hält dabei das Schiff an ihr Herz, genau wie es im Buch steht. -18-
ZAWUSCH...
macht es und Lilli hat plötzlich ein komisches Gefühl im Bauch. Sie schafft es nicht mehr, die Augen offen zu halten. Ihre Ohren sausen und sie fühlt, wie der Fußboden unter ihr verschwindet. „Ich fliege...“, stammelt sie. Nur einen winzigen Moment später spürt sie wieder festen Boden unter ihren Füßen. Sie wagt es kaum, ihre Augen zu öffnen. Und als sie es doch tut, sagt sie nichts anderes als: “Das darf doch wohl nicht wahr sein!” Sie hat mit allem Möglichen gerechnet, nur damit nicht: Sie steht vor einem Bett. Vor Leons Bett. “Das darf doch wohl nicht wahr sein”, wiederholt sich Lilli und kneift sich inden Arm.Aber sie träumt nicht.Denn als sie Leon sanft am Ellbogen berührt, dreht er sich nur schaufend auf die andere Seite.Lilli geht zurück in ihr Zimmer. Noch einmal baut sie sich vor ihrem Schreibtisch auf mit den Schiff unter dem Arm. Dann prüft sie gewissenhaft den Zauberspruch auf ihrem Zettel. Vielleicht hat sie ihn nicht richtig aufgesat. Nachdem sie sich sicher ist, dass sie den Spruch genau beherrscht, murmelt sie ihn aufs Neue.
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Wieder schwinden ihr die Sinne. Und wieder landet sie in Leons Zimmer. Diesmal führt ihr Hexenflug sogar direkt in sein Bett. Von der Landung wird Leon natürlich wach. „Was machst du denn hier?“, fragt er ganz verschlafen und reibt sich die Augen. „Schon gut“, flüstert Lilli, „ich wollte dir nur gute Nacht sagen.“ „Gute Nacht“, sagt Leon, dreht sich um und schläft weiter. In ihrem Zimmer schlägt Lilli noch einmal in ihrem Hexenbuch nach. Möglicherweise hat sie den Zauberspruch ja falsch abgeschrieben. Aber die Sprüche im Buch und die auf dem Zettel stimmen überein. Vielleicht kann man doch keine Zeitreisen mit dem Hexenreisezauber machen, sondern nur ganz normale Reisen. Ganz normal? Immerhin ist es doch wohl etwas Besonderes, wenn man mit einem Modellschiff und einem Zauberspruch so mir nichts, dir nichts von einem Zimmer ins andere kommt. Aber Lilli hat sich nun mal eine Zeitreise in den Kopf gesetzt. Sie grübelt. Warum ist sie ausgerechnet im Zimmer ihres Bruders gelandet? Warum nicht in der Küche oder auf dem Dachboden? Aber nein. Das Schiff gehört ja Leon. Darum ist sie bei ihm angekommen. Das ist logisch. Lilli überlegt weiter. Sie hat als Reiseziel einfach nur ein Piratenschiff angegeben. Aber heute gibt es ja keine Piratenschiffe mehr. Sicher braucht sie einen Gegenstand aus der Piratenzeit um zu den echten Piraten zu reisen. Mist! Wie soll sie an einen richtigen Piratensäbel oder ein echtes Piratenkopftuch kommen? Das ist aussichtslos. Lilli geht an ihr Bücherregal und angelt sich ein Piratenbuch. „Ich - Grace O'Malley“ steht auf dem Umschlag. Das Buch erzählt die Lebensgeschichte von Grace O'Malley, einer Piratin, die vor mehr als dreihundert Jahren gelebt hat. Schon hat Lilli sich ins Buch vertieft. Es ist wirklich toll geschrieben. Bald fühlt -20-
Lilli sich selbst wie eine Piratin. Sie schafft es kaum, das Buch aus der Hand zu legen. Aber sie will jetzt versuchen mit diesem echten Piratengefühl eine neue Hexenreise zu starten. Den Zauberspruch für den Hexensprung kennt sie inzwischen auswendig. Sie klemmt sich Leons Piratenschiff unter den linken Arm und drückt es an die Brust. Ihr Herz klopft. Dann murmelt sie den Spruch. Los geht's! ZUWUSCH...
Hurra, es klappt! Diesmal dauert der Flug erheblich länger. Lilli spürt, wie ihr der Wind um die Ohren pfeift. Ihre Augenlider sind bleischwer. Sie kann nichts sehen. Aber jetzt scheint sie durch eine Regenwolke zu fliegen, denn es ist feuchtkalt um sie herum. Sie fröstelt. Doch schon wenige Augenblicke später wird es warm. Nein, heiß! Unerträglich heiß. Die Sonne brennt vom Himmel. Lilli sieht sie durch die geschlossenen Augenlider hindurch. Dann wird es plötzlich dunkel. Die Luft ist stickig und feucht. Ein fremdartiger Geruch beißt in der Nase. Lilli öffnet die Augen. Sie ist gelandet. Es ist ziemlich finster hier. Lilli streckt ihre Arme aus, tastet mit den Händen. Sie hockt mitten zwischen sorgsam aufgerollten dicken Seilen. Die Seile verströmen diesen eigenartigen Geruch. Nach und nach gewöhnen sich ihre Augen an das spärliche Licht, das durch einige Ritzen in der Decke dringt. Von Piraten keine Spur. Neben den aufeinander getürmten Seilrollen liegen große Tuchballen. Und etwas weiter weg stehen jede Menge Fässer. Schnell ist Lilli klar, wo sie sich befindet. Und sie begreift auch, warum das Rauschen in ihren Ohren nicht aufhören will. Sie ist im Bauch eines Schiffes! Und das Schiff ist auf See und pflügt durch die Wellen. So tief im Schiffsrumpf muss es dabei -21-
natürlich laut rauschen.
„Jippie!“, ruft Lilli. Da fällt ihr ein, dass es vielleicht nicht ratsam ist, so laut zu jubeln. Sie ist ja sozusagen ein blinder Passagier. Und sie weiß nicht, was die Piraten von ihrem Besuch halten. Die Ladung eines Piratenschiffes hat Lilli sich allerdings viel aufregender vorgestellt. Nicht solche langweiligen Berge von Seilen und groben Tüchern.. Lilli klettert durch den Laderaum. Aber außer gestapelten Holzplanken, haufenweise Nägeln und Eisenbeschlägen, Lederfetzen und geteerten Fässern gibt es nichts zu entdecken. Keine Spur von Edelsteinen und unermesslichen Goldschätzen. Wo ist nur die Piratenbeute? Nicht einmal Kanonenkugeln sind hier zu finden. Plötzlich legt sich das Schiff so kräftig auf die Seite, dass Lilli sich an einem Seilende festhalten muss, um nicht quer über die Ladung zu kullern. Zum ersten Mal sind jetzt über ihr hektische Schritte zu hören. Männerstimmen brüllen unverständliche Kommandos. Lilli horcht. Das Schiff richtet sich wieder auf und es kehrt Ruhe ein. -22-
Sie sieht sich weiter um. Den herumliegenden Sachen nach zu urteilen, muss es sich um ein wirklich altes Schiff handeln. Sie ist also in der Vergangenheit gelandet. Aber wie soll es jetzt weitergehen? Darüber hat Lilli sich noch gar keine Gedanken gemacht. Sie ist am Ziel - was nun? Nach allem, was Lilli über das Piratenleben gelesen hat, ist nicht zu erwarten, dass sie hier besonders freundlichen Menschen begegnen wird. Wilde Spießgesellen sollen es sein, Teufelsbräute. Schöne Aussichten... Für einen Moment überlegt Lilli, ob es nicht ratsamer ist, gleich den Zauberspruch für die Rückreise zu murmeln. Aber Nachschauen kostet ja nichts und zurückhexen kann sie sich ja immer noch. Sie steckt den Notizzettel für den Hexensprung zurück in die kleine Ladeklappe in Leons Piratenschiffsmodell und beschließt die Erkundung des Laderaums fortzusetzen. Vielleicht findet sich ja auch irgendwo eine Treppe nach oben. Kaum hat sie ihren Entschluss gefasst, hört sie direkt über sich schwere Schritte und ein schleifendes Geräusch. Lilli horcht angestrengt. Was spielt sich da ab? Irgendjemand schimpft da oben laut. Plötzlich blitzt ein greller Lichtstrahl durch einen Spalt in der Decke und durchschneidet messerscharf die dunkle Umgebung. Lilli springt blitzschnell zur Seite und klettert geistesgegenwärtig in eine der großen Taurollen. Unglücklicherweise ist das Tau so eng aufgewickelt, dass Lilli kaum durch die Ritzen blicken kann. Sie kann nur erkennen, dass der Lichtstrahl nicht weiterwandert. Und sie reimt sich zusammen, dass an Deck eine Luke geöffnet wurde. Jetzt wird es oben noch lauter. Lillis Herz pocht. Hätte sie doch bloß nicht vor Schreck das Schiffsmodell fallen lassen!
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Das liegt jetzt irgendwo neben dem Tauwerk. Im Modell steckt der Notizzettel; und ohne den kriegt sie den Rückreisespruch niemals richtig auf die Reihe. Hätte sie den verflixten Zettel doch bloß in ihrer Hosentasche! Und was ist, wenn man das Modell findet? Wird man dann nicht auch nach ihr suchen? Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als abzuwarten, was jetzt passiert.
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3. Kapitel
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Es dauert nicht lange und Lilli hört, wie etwas polternd eine Holztreppe herunterkullert. Das Decksluk wird geschlossen und im Schiffsbauch herrscht wieder Dunkelheit. Vorsichtig lugt Lilli über den Seilturmrand. Wenn sie doch nur eine Taschenlampe mitgenommen hätte! Aber was war das? Hat da nicht jemand gestöhnt? Lilli lässt sich in die Seilrolle zurückrutschen. Sie ist nicht mehr allein im Laderaum. Sie schluckt, wagt kaum zu atmen. Ihr Mund ist ganz trocken und ihre Hände sind schweißnass und kalt. Jetzt ist das Stöhnen wieder zu hören, ganz leise. Und Lilli hört noch etwas. Sie horcht angestrengt. Wenig später hat sie keinen Zweifel mehr. Im Laderaum weint ein Kind. Vielleicht zehn, zwanzig Schritte neben ihr. Soll sie sieh zu erkennen geben? Lilli überlegt. Was hat sie von einem weinenden Kind schon zu befürchten; außerdem klingt es, als ob es Hilfe gebrauchen könnte.
Kurz entschlossen krabbelt Lilli aus ihrem Versteck. Vorsichtig schleicht sie vorwärts. Man weiß ja nie... Jetzt hat sie Leons Schiffsmodell erreicht. Sie hebt es auf. Sicher ist sicher. Auf leisen Sohlen geht's weiter, dem Wimmern entgegen. AUTSCH! Lilli ist mit dem Kopf gegen einen niedrigen Sparren gestoßen. Sie schreckt zurück und wirft dabei auch noch eine -26-
kleine Kiste um. Der Inhalt scheppert durch den Laderaum. Mist! Lilli kriecht schnell unter einen Stapel alter Säcke. Der Staub kitzelt in der Nase und sie muss niesen. Auch das noch! Sie lauscht. Das Wimmern hat aufgehört. Wurde sie entdeckt? Lilli kneift sieh die Nase zu, damit sie nicht noch einmal niesen muss. Jetzt hört sie, dass sich da auch jemand die Nase schnäuzt. War das das Kind? Vielleicht wurde Lilli ja noch gar nicht bemerkt. Also nichts wie raus aus den Säcken und vorsichtig weiter. Weiter voraus fällt mehr Licht durch die Ritzen und Spalten der Decksplanken. Lilli kann erkennen, dass in der Nähe einer schmalen, steilen Treppe ein Junge kauert. Er dürfte ungefähr so alt sein wie sie. Sein schulterlanges Haar ist zu einem Pferdeschwanz zusammengeknotet. Das weiße, halb zerrissene Hemd, an dem ein Ärmel fehlt, hat er in eine knielange Hose gestopft. Sicher ein Piratenjunge, denkt Lilli. „Hallo“, sagt sie und schlüpft hinter einer Kiste hervor.
Der Junge fährt vor Schreck zusammen und verkriecht sich unter der Treppe. „Möwenschiss und Tropenfieber. Es spukt!“, schimpft er. Erst jetzt sieht Lilli, dass der Junge verletzt ist und sieh den abgerissenen Hemdsärmel notdürftig als Verband ums Bein gewickelt hat. „Du brauchst doch keine Angst vor mir zu haben“, versucht Lilli ihn zu beruhigen. Aber das scheint den Jungen nicht zu überzeugen. -27-
„Du bist eine Meerjungfrau, stimmt's?“ „Nein“, lacht Lilli. „Wer bist du dann?“ „Ich heiße Lilli, und du?“
„Bist du... Ich meine, bist du echt?“ Wieder muss Lilli lachen. „Ich bin ganz normal. Ein Mädchen wie du... äh, ich meine... ,, „Wie bist du an Bord gekommen?“ Lilli sucht nach einer passenden Antwort. Sie kann ja schlecht erzählen, dass sie sich an Bord gehext hat. „Kapitän Bartbacke sagt, dass Frauen an Bord Unglück bringen.“
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„So, sagt er das?“ Lilli überlegt immer noch, wie sie ihre Anwesenheit einleuchtend erklären kann. Die Tatsache, dass der Kapitän keine Frauen an Bord duldet, macht ihre ohnehin schwierige Lage nicht gerade leichter. „Dann gibt es hier wohl außer mir keine Frauen?“ „Frauen?“ Da fängt der Junge plötzlich an zu lachen. „Das ist wirklich das Unmöglichste, was man auf Kapitän Bartbackes Schiff finden wird. Noch keine Frau hat jemals lebend seine Piratenplanken betreten. So sagt er jedenfalls.“ „Da bin ich ja wohl der lebendige Gegenbeweis“, meint Lilli schnippisch. „Rätselfisch und Knotenknäuel. Das verstehe, wer will. Im ersten Augenblick habe ich an Hexerei geglaubt. Aber du siehst eigentlich nicht wie eine Hexe aus. Und für irgendeinen Höllenspuk bist du zu freundlich. Also noch einmal: Wer bist du? Was machst du hier? Und wie kommst du an Bord?“ „Jede Menge Fragen“, sagt Lilli, um Zeit zu gewinnen. „Ich will mit der letzten anfangen. Ich habe mich im letzten Hafen an Bord geschlichen und hier unten versteckt.“ „Und was hast du gegessen? Immerhin haben wir seit mehr als sechs Monden kein Land gesehen!“ Lilli legt ihre Hände links und rechts an den Mund, formt sie zu Pfoten und piepst. „Ratten?“, fragt der Junge ungläubig. Er verzieht sein Gesicht zu einer Grimasse und schluckt. Ihm bleibt wohl vor Ekel die Spucke weg. Lilli nickt und reibt sich über den Bauch. Sie setzt noch eine Lüge drauf. „Wenn man erst einmal die ersten zehn hinunter hat, schmecken sie gar nicht so schlecht. Natürlich darf man die Köpfe nicht mitessen. Und Rattenschwänze sind einfach zu bitter.“ Wieder verzieht ihr Gegenüber das Gesicht und staunt: -29-
„Pickerton, unser Segelmacher, hat auch schon einmal behauptet, dass er sich ein paar Wochen von Ratten ernährt hat, als er im Kerker saß. Ich hab es immer für Seemannsgarn gehalten.“
„Nein, nein. Es stimmt“, sagt Lilli stolz. „Ich habe es in mehreren Piratenbüchern gelesen.“ „Du kannst lesen?“, fragt der Junge und staunt immer mehr. „Aber das lernt man doch in der Schule!“ „Was ist eine Schule?“ Lilli fasst sich an den Kopf. Aber dann fällt es ihr ein. Sie ist ja fast vierhundert Jahre zurückgeflogen. Zu der Zeit gab es noch keine Schulen. Die Lehrer kamen nur zu den Kindern ganz reicher Eltern ins Haus. Kein Wunder, dass der Bursche hier keine Schule kennt. Also versucht Lilli zu erklären: „Eine Schule nennt man bei uns das Zimmer, in dem man lesen lernt.“ Aber der Piratenjunge scheint gar nicht richtig zuzuhören. Auf einmal sieht er traurig aus und sagt: „Meine Mutter konnte auch lesen, früher.“
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„Lesen verlernt man nicht“, ruft Lilli. Aber im selben Moment tut es ihr Leid und sie erkundigt sich: „Ist sie blind geworden oder gestorben?“ „Nein. Sie hat es gelernt. Früher, als sie noch nicht Piratin war.“ „Deine Mutter ist Piratin?“, fährt Lilli hoch. „Los, erzähl!“ „Das ist eine verrückte Geschichte. Ich kenne sie selbst noch nicht lange. Immer wieder habe ich Pickerton in den Ohren gelegen mir davon zu erzählen. Natürlich musste ich mir das eine oder andere selbst dazureimen. Zu groß war Pickertons Angst vor Bartbackes Rache. Aber seit ein paar Stunden weiß ich es genau: Ich hatte Recht mit meinen Vermutungen. Ich habe den Schiffsnagel auf den Kopf getroffen. Warum säße ich wohl sonst hier unten?“ Lilli versteht kein Wort. „Ich will es kurz machen“, erklärt der Piratenjunge. „Ich bin der leibhaftige Sohn der berüchtigten Piratin Doña Isabel Añoranza de Felicidad. Auf den sieben Weltmeeren besser bekannt und gefürchtet unter dem Namen Donnerisa. Mein Vater ist niemand anders als Louis de Pomme, genannt Bartbacke. Als ich noch nicht auf der Welt war, hat mein Vater Doña Isabel von einem spanischen Schiff entführt. Und weil sie so schön war, hat er sich gleich in sie verliebt. Doña Isabel war damals eine feine adelige Dame. Aber mein Vater hat ihr -31-
gefallen und das Piratenleben wohl auch. Sie wurde jedenfalls eine echte Piratin. Und was für eine! Sie hat in den Hafenbüros die geheimen Schifffahrtswege und die teuersten Schiffsladungen ausspioniert. Die Pläne und Verzeichnisse zu lesen war für sie ja kein Problem. Und irgendwann hat sie sogar selber ein Schiff geplant, mit einer ganz neuen Segeltechnik. Mein Vater ließ es bauen. Es wurde das schnellste Piratenschiff aller Meere.
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Die Männer waren begeistert. Nur mein Vater nicht. Der wurde eifersüchtig, weil seine Frau mehr und mehr das Kommando übernahm. Und dann kam es, wie es kommen musste. Meine Eltern verkrachten sich. Mutter nahm das schnelle Schiff und machte sich davon. Ich konnte damals gerade erst laufen und musste bei meinem Vater bleiben. Er hat verhindert, dass Mutter mich mitnehmen konnte. Er meinte, so würde sie bald wieder zu ihm zurückkommen. Aber da hatte er sich getäuscht. Aus Doña Isabel war inzwischen Donnerisa geworden.“ „Und dann?“, fragt Lilli beeindruckt. „Sie hat ihm ausrichten lassen, ich solle später selbst entscheiden, wohin ich gehöre. Wenn er mir bis dahin auch nur ein Haar krümmte, würde sie ihm die andere Backe auch noch rasieren.“ „Die Backe rasieren?“ „Ja“, erklärt der Piratenjunge. „Bei ihren Streitereien hat sie ihn mit ihrem Messer einmal derart zugerichtet, dass seitdem auf seiner linken Backe kein Barthaar mehr wachst. Das hat ihm ziemlichen Respekt vor ihr eingeflößt und ihm den Spitznamen Bartbacke eingebracht.“
Lilli streicht sich unwillkürlich über ihre Wange und pfeift durch die Zähne. „Und warum hat er dich hier eingesperrt?“, will sie wissen. -33-
„Als ich dank Pickertons Hilfe die Wahrheit über meine Mutter herausgefunden habe, ist er wütend geworden. Vielleicht hat er Angst, dass ich jetzt zu ihr will. Dann hätte er nicht nur seine Frau, sondern auch noch seinen Sohn verloren.“ „Und willst du zu ihr?“, erkundigt sich Lilli. Der Junge überlegt einen Moment und sagt: „Eigentlich kenne ich sie ja gar nicht. Obwohl ich sie gern kennen lernen würde. Sicherlich bringt sie mir sogar Lesen und Schreiben bei. Aber Bartbacke lässt mich garantiert nicht weg... obwohl ich bestimmt zurückkäme. Natürlich müsste er mich dann zum Steuermann machen, weil ich ja mehr wüsste als alle zusammen auf dem Schiff, wegen dem Lesen und so....“. Der Piratenjunge sieht traurig aus. Er hat es ja auch wirklich schwer. Lilli überlegt, ob sie ihm irgendwie helfen kann. Aber im Moment weiß sie auch keinen Rat. „Und was ist mit dem Verband an deinem Bein?“, fragt sie schließlich. „Ach, das ist nichts weiter. Nur ein Loch. Die Wunde wollte nicht aufhören zu bluten. Darum musste ich sie verbinden. Selber schuld! Ich bin nicht schnell genug zur Seite gesprungen, als der Koch mit dem Messer nach mir geworfen hat, weil er mich in der Kombüse beim Naschen erwischt hat.“
Harte Sitten bei den Piraten, denkt Lilli und sie ist sich auf einmal gar nicht mehr so sicher, ob sie Kapitän Bartbacke und seine Mannschaft überhaupt kennen will. Aber Lilli bleibt nicht viel Zeit darüber nachzudenken. Denn in diesem Moment wird die Luke über der Treppe geöffnet. Sie -34-
schafft es gerade noch wieder in Deckung zu springen. „Los, raus mit dir!“, ruft es von oben. „Der Kapitän verlangt nach dir. Er will von dir genau wissen, was Pickerton alles ausgeplaudert hat. Der ganzen Mannschaft war es streng verboten mit dir über deine Vergangenheit zu sprechen. Also, wirds bald! Der Verräter klebt schon am Besanmast. Aus dem machen wir gleich Haifischfutter. ,, „Das könnt ihr doch nicht tun!“, ruft der Piratenjunge. Aber von oben ist nur ein Lachen zu hören. Der Junge setzt sich auf die Treppe und guckt Lilli ganz verzweifelt an. „Das war Desaforado“, sagt er dann, „der Brutalste hier an Bord. Leider versteht er auch vom Segeln ne Menge, mehr als der Pastor von der Bibel. Und darum ist er der zweite Mann nach dem Kapitän. Alle fürchten sich vor ihm. Wahrscheinlich sogar mein Vater. Dabei hat der Bursche mehr Schiss vor Seejungfrauen und Meeresgeistern als der Teufel vorm Weihwasser. ,, Der Piratenjunge macht sich auf den Weg nach oben. „Lass du dich dort oben bloß nicht blicken“, flüstert er Lilli noch zu. „Ich muss versuchen Pickerton zu retten. Ich sehe später nach dir. Mit blinden Passagieren fackeln die nicht lange; und dann noch Bartbackes Wut auf alle Frauen... ,, Mehr Zeit für Erklärungen bleibt ihm nicht, denn schon kommt Desaforado wieder brüllend ans Luk, um den Jungen zur Eile anzutreiben. So bleibt Lilli allein zurück. Klar, dass sie dem Jungen und seinem Freund Pickerton hellen will. Aber klar ist auch, dass ein solches Rettungsunternehmen wahnsinnig gefährlich ist. Haifische sind blitzschnell und Haifischzähne sind messerscharf. Lilli bleibt nicht viel Zeit zum Überlegen. Hier kann nur eine List helfen.
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4. Kapitel
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„Feuer! Feuer im Schiff!“, ruft es an Deck. Und tatsächlich aus den Decksplanken und vor allem aus dem Luk zum Laderaum quellen dicke Rauchschwaden. Panisch laufen die Seeleute hin und her und schleppen eimerweise Wasser heran, das sie in den Schiffsbauch schütten.
Denn eine Feuersbrunst ist das, was die Seeleute am meisten fürchten, nach bösem Zauber und Geisterspuk. Und das, obwohl sie ringsum von nichts als Wasser umgeben sind. Auch Lilli weiß, dass diese alten hölzernen Schiffe häufig lichterloh in Flammen stehen, noch bevor man genug Löschwasser heranschleppen kann. Deshalb kämpften die Piraten auch häufig mit Feuer. Lilli kennt aus ihren Piratenbüchern die alte Piratentaktik, einen „Brandling“ zu setzen. Man ließ ein mit brennendem Holz bestücktes Beiboot auf die feindlichen Schiffe zutreiben. Erreichte der Brandling brennend sein Ziel, so tobte dort bald ein Feuersturm, der schlimmer war als jeder Wirbelsturm. Kein Wunder also, dass Kapitän Bartbackes Mannschaft jetzt völlig kopflos herumrennt. Nur Lilli behält einen kühlen Kopf. Sie nutzt das Durcheinander, um unbeobachtet an Deck zu kommen. Mit einem Bündel Stoff unterm Arm, in das sie das Modellschiff gewickelt hat, und einem schweren Blecheimer in der Hand erreicht sie den Hauptmast. Links und rechts führen starke Webleinen wie eine Strickleiter den Mast hoch. Schon hat Lilli die erste untere Rahe erklettert, die wie ein Querbalken am Mast befestigt ist. Dann geht's immer höher hinauf. Lilli ist so aufs Haltsuchen und Klettern konzentriert, dass sie nicht einmal Zeit findet nach unten zu schauen. Das ist nur gut, denn sonst würde -37-
ihr sicherlich schwindelig werden. Völlig erschöpft erreicht sie endlich den kleinen Aussichtskorb, der haushoch am Mast befestigt ist. „Das Krähennest! Genau wie auf Leons Boot.“
Der erste Blick nach unten raubt Lilli fast den Atem. Sie hat das Gefühl, kopfüber aufs Deck zu fallen. Ihre Hände suchen nach Halt. Aber bald hat sie ihr Schwindelgefühl überwunden und genießt die Aussicht. Von hier kann sie nicht nur weit rundum nach Schiffen oder Land Ausschau halten. Von hier aus hat sie auch einen Überblick über das gesamte Piratenschiff. Die Qualmwolken, die aus dem Schiffsinneren quellen, lassen allmählich nach. Lilli weiß auch, warum. Denn sie war es ja schließlich selbst, die für den Rauch gesorgt hat - aber nicht mit Feuer, sondern mit einer kleinen Hexerei. Den passenden Rauchzauberspruch dazu kennt sie auswendig. Der hat ihr schon einmal gute Dienste geleistet, als sie mit ihren Hexereien die Schule auf den Kopf gestellt hat. Damals waren alle völlig aus dem Häuschen. Es qualmte und rauchte in der ganzen Schule. Nur ein Feuer war nirgendwo zu finden. Jetzt hat Lilli die Verwirrung der Piraten genutzt, um unentdeckt in den Mast zu klettern. Aber sie hat noch mehr vor. Deshalb das weiße Tuch und der schwere Blecheimer. Sie wartet, bis sieh der Rauch völlig verzogen hat. An Deck laufen die Männer immer noch rastlos hin und her. Sie suchen verzweifelt die Feuerstelle. Lilli feixt schadenfroh in sieh hinein. „Das muss Bartbacke sein“, sagt sie zu sieh selbst, als sie -38-
einen Mann entdeckt, dessen linke Gesichtshälfte bis zu ihr herauf feuerrot leuchtet.
Lilli hat Recht. Bartbacke fordert gerade seine Mannschaft auf weiterzusuchen. “Wo Rauch ist, muss auch Feuer sein!“, ruft er. „Los, vorwärts, Männer.“ Doch je länger seine Piraten erfolglos suchen, desto wütender wird er. „Ist das hier ein Piratenschiff oder ein Hexenkessel?“, brüllt er und tritt mit seinen schweren Stiefeln so kräftig gegen den Mast, dass Lilli es noch in der Mastspitze zu spüren bekommt. „Desaforado soll zu mir kommen! Er soll die Peitsche nicht vergessen, damit er euch Beine machen kann!“ Und dann klettert Desaforado fluchend und schimpfend aus der Kombüse. Lilli hat keinen Zweifel, dass er es ist. Ein wilder Geselle. Die wüsten Haare hat er mit einem bunten Tuch zusammengebunden; und sein Ohrring ist so groß, dass man ihn als Handtuchhalter benutzen könnte. Er trägt den heftig strampelnden Piratenjungen in seinen bratpfannengroßen Pranken. „Du miese Ratte hast uns das Feuer gelegt!“, brüllt er den Jungen an. „Gestehe!“ „Ich war's nicht! Ich war es nicht!“ Aber Desaforado hört gar -39-
nicht hin. Er schüttelt den Jungen wie ein Kopfkissen: „Du warst im Laderaum. Wie hast du das Feuer gemacht? Sag's, oder ich quetsch dir dein Lebensfeuer aus!“
Und seine über und über tätowierten Arme drücken zu. Zum Glück geht jetzt Bartbacke dazwischen: „Du bringst den Balgja um! Noch wissen wir nicht, ob er's war. Wenn ich nicht genau wüsste, dass Pickerton an den Besanmast gefesselt ist, würde ich sagen, der hat gezündelt.“ Oh weh, denkt Lilli. Das hab ich nicht gewollt. Zuerst der arme Piratenjunge und jetzt auch noch Pickerton. Na warte, wir sprechen uns gleich! Sie geht in die Hocke und greift in den Eimer. Das pikst ein bisschen, denn der Eimer ist mit lauter kleinen Nägeln gefüllt. Dann geht alles ganz schnell. Mit vollen Händen streut Lilli die Nägel auf das Deck. Dabei gibt sie gut Acht, dass sie selbst nicht von unten zu sehen ist. In ein paar Sekunden ist der Eimer restlos leer. Lilli horcht, wie die letzten Nägel aufs Deck prasseln, und lugt durch die Korbritzen nach unten. Die Wirkung ist groß. Wie angewurzelt stehen die Piraten auf dem Hauptdeck und starren nach oben. „Himmel hilf! Es regnet Nägel!“ , rufen sie. Bartbacke ist der Erste, der sich fängt. „Quatsch! Höllenhund und Haifischzahn! Da sitzt einer im Krähennest und will uns foppen. Los, Desaforado, hoch in den Mast!“ Mist, denkt Lilli. Sie hat Kapitän Bartbacke unterschätzt. Was nun? -40-
„Los, Desaforado! Worauf wartest du noch?“, drängt Bartbacke. „Rauf mit dir! Und vergiss nicht, einen Nagel mitzunehmen, damit du ihn gleich festnageln kannst!“ „Aber wenn es nun doch... Ich meine, es könnte der Klabautermann...,,, kommt Desaforado ins Stottern. „Zuerst der Rauch ohne Feuer und jetzt der Nagelregen... ,, „Teergestank und Großmastbruch! Ich sag's euch, eine Fopperei ist das, eine hundsgemeine! Soll etwa euer Kapitän auf seine alten Tage in den Mast hinaufmüssen?“ „Und wenn wir abzählen, ob einer von uns fehlt?“, schlägt jetzt einer aus der Mannschaft vor. „Sag ich doch!“, stimmt Bartbacke zu. „Alle Mann an Deck! Und fein in Reih und Glied aufgestellt, damit wir richtig zählen können. Kanonier, du zählst!“ Der Kanonier beginnt zu zählen. „Dreizehn Mann!“, meldet er. „Oh nein! Nicht die Dreizehn!“, jammert Desaforado. „Eine Unglückszahl, die Dreizehn. Dieses Schiff ist verflucht. Niemals würde ich bei dreizehn Mann anheuern., “ „Papperlapapp, wir sind fünfzehn“, unterbricht ihn Bartbacke und streicht sieh über die feuerrote Wange. „Navigator, zähl du. Du kannst am besten rechnen.“ „Vierzehn, Kapitän!“, meldet er. ,,Ah... ich glaube, ich habe vergessen mich selbst mitzuzählen“, gibt jetzt der Kanonier kleinlaut zu. -41-
Der Kapitän verdreht die Augen. Und auch Lilli muss schmunzeln und sagt still vor sich hin: „Wenn sie schon nicht lesen können, sollten sie wenigstens das Zählen beherrschen.“ „Bist du sicher, dass es vierzehn sind?“, fragt der Kapitän seinen Navigator. „So sicher, wie der Nordstern im Norden zu finden ist.“ „Also fehlt einer, und den finden wir im Krähennest“, sagt Bartbacke selbstzufrieden.
„Und was ist mit Pickerton?“, fragt der Piratenjunge. Desaforado wechselt wutentbrannt die Farbe. „Richtig!“, brüllt er zornrot. „Pickerton! Diese ausgekochte Ratte! Euch einen solchen Schrecken einzujagen. Der soll meine Peitsche schmecken!“ Er reißt seine Peitsche aus dem Gürtel und stürmt schon auf den Großmast zu. Aber sein Kapitän pfeift ihn zurück und ruft: „Halt, zurück, du Trottel! Ist Pickerton nicht noch an den Besanmast gefesselt?“ Natürlich, Pickerton ist am Besanmast. Das hatten sie glatt vergessen. Und wieder wechselt Desaforado die Farbe. Kreidebleich und mit schlotternden Knien starrt er unentwegt in die Mastspitze. „Palstek, Ring- und Achterknoten. Jetzt wird es schwierig“, sagt der Kapitän und seine Stimme klingt auf einmal nicht mehr so fest und energisch. Das ist für Lilli das Signal erst richtig loszulegen. Sie klopft mit dem Eimer kräftig siebenmal gegen den Mast. „Der Klabautermann!“, rufen die Männer und starren entsetzt nach -42-
oben. “Und siebenmal hat er geklopft“, sagt Desaforado mit zitternder Stimme. „Wenn das kein Unglück bringt!“ Lilli stülpt sich den Eimer über den Kopf und ruft: „Huhh! Huuuh!“ Aus dem Blecheimer klingt ihre Stimme wirklich fremd und schauerlich. „Der Klabautermann! Der Klabautermann!“, rufen die Piraten wie aus einem Munde und rücken ganz dicht zusammen. ,,Iiich!“, ruft Lilli mit der Geisterstimme. „Ich bin! Ich biiin...!“ Sie schlüpft unter das weiße Tuch und richtet sich langsam auf. Sie muss das Tuch gut festhalten, denn hier oben flattert es im Wind. Aber dadurch sieht es nur noch gespenstischer aus. Ein Anblick, der die Piraten verstummen lässt. Und selbst Kapitän Bartbacke reibt sich nicht mehr die Backe, sondern die Stirn, weil ihm dort der Angstschweiß ausbricht. „Ich bin nicht der Klabautermaaann!“, lässt Lilli erneut ihre Blecheimerstimme erschallen. „Ich bin die Klabauterfrau!“ „Feuer, Pest und Ruderbruch! Das ist das Ende!“, entfährt es Bartbacke. „Eine Frau. Und dazu noch eine, die klabautert. Das ist das Ende!“
Aber Lilli gibt noch längst keine Ruhe: “Ich bin gekommen, um Rache zu nehmen. Rache für das, was ihr dem Jungen -43-
angetan habt. Und für das, was ihr Pickerton antun wollt.“ „Pickerton losbinden. Sofort!“, befiehlt Bartbacke. „Gut so! Guuut sooo!“, tönt es von hoch oben. „Und jetzt den Jungen. Schickt ihn herauf zu mir!“ „Aber nein!“, meldet Bartbacke sich jetzt zu Wort. „Das kannst du nicht verlangen! Ich bitte dich. Er ist mein Sohn! Er kann doch nichts dafür... Ich bin zwar manchmal etwas grob zu ihm... Ich meine, wenn du unbedingt ein Opfer willst, könnte ich doch auch... Ich meine, er ist doch noch so jung... ,, „Guuut sooo! Dann schick mir Desaforado, ich würde ihm gern einen Klabauterkuss geben! Hohohooo!“ „Oh nein! Nur das nicht“, wimmert Desaforado und rutscht vor seinem Kapitän auf den Knien hin und her. „Das kann keiner von mir verlangen!“ ,,Dörrfisch oder Wildschweinbraten. Ich fürchte, ich habe keine andere Wahl“, ist Bartbackes Antwort.
„Und wenn ich doch gehe“, mischt sich jetzt der Piratenjunge ein. Ihm kommt die Stimme der Klabauterfrau nämlich sehr bekannt vor und er hat sich längst zusammengereimt, wer dort im Krähennest herumspukt. -44-
„Guuut sooo!“, schallt es von oben. „Zeig Desaforado und den anderen Kerlen, dass du mehr Mumm in den Knochen hast als sie alle zusammen!“ Und allen Warnungen der Piratenmannschaft zum Trotz klettert der Piratenjunge in den Mast. Bis er oben angekommen ist, vergeht eine Weile und Lilli muss warten. Und gerade jetzt passiert es. Lillis Armbanduhr piepst. Ach du Schreck! Schon halb sieben. Jeden Moment wird ihre Mutter ins Kinderzimmer kommen um sie zu wecken. Sie wird sich zu Tode erschrecken, wenn Lilli nirgends zu finden ist. Lilli bleibt nicht mehr viel Zeit. Sie muss zurück. Sofort! Sie schaut durch die Ritzen im Korb. Der Piratenjunge ist inzwischen auf der ersten Rahe angekommen. Da bleibt keine Zeit für Erklärungen. Kurz entschlossen stülpt sie sich noch einmal den Eimer über und ruft: ,,Bartbacke! Hörst du mich?“ „Ich höre!“ „Versprich, dass du deinen Jungen zu seiner Mutter schickst, damit sie ihm Lesen und Schreiben beibringen kann!“ „Ich verspreche es! Bei meinem halben Barte! Wir nehmen heute noch Kurs auf ihr Piratennest! ,, Lilli atmet tief durch. „Mehr kann ich leider nicht für dich tun, mein Piratenfreund“, sagt sie ganz leise. Sie gestattet sich noch einen letzten, wehmütigen Blick über das Schiff und drückt Leons Boot an ihr Herz. Dann murmelt sie die Hexenreiseformel. Sie spürt, wie ihr die Sinne schwinden.
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*** ,,Lilli! Lilli, aufstehen“, hört sie schließlich Leons Stimme. Lilli liegt noch ganz benommen in ihrem Bett. „Lilli, los, aufwachen. Mama hat dich schon dreimal gerufen!“, sagt Leon vorwurfsvoll. „He, das ist ja mein Piratenschiff!“ Lilli deckt das Schiff rasch mit der Bettdecke zu. Aber Leon ist schnell. Schon hat er sieh sein Schiff geschnappt. Und was ist das? Unter der Decke hat Lilli noch etwas versteckt. „Was machst du denn mit dem alten Blecheimer im Bett?“, fragt Leon. „Ach der... Das ist eine verrückte Geschichte. Die erzähle ich dir später.“
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Piratentrick ,,Seemannsknoten“
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Piraten beherrschen Seemannsknoten, die auch bei Sturm halten und sich trotzdem immer leicht lösen lassen. Kreuzknoten Mit diesem Knoten verbindest du zwei Seilenden.
Palstek Dieser Knoten bildet eine Schlinge, die sich auch unter Belastung nicht zuzieht.
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Für den Palstek nimmst du ein ausreichend langes Stück Schnur - d.h. natürlich Schiffstau - und befestigst ein Ende, zum Beispiel unter einem Gewicht oder an einer Türklinke. Danach kommt es vor allem auf den richtigen Dreh von ① zu ②. ① Zuerst legst du mit dem Zeigefinger der rechten Hand das freie Tauende genau wie auf der Abbildung zu einer großen Schlinge. Dann drehst du die Hand von dir weg, bis der Handrücken nach unten zeigt. ② Dabei entsteht wie von selbst eine kleine Schlinge, aus welcher der Zeigefinger mit dem Tauende herausschaut. Der Rest ist aus den weiteren Abbildungen leicht zu erkennen!
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Piratentrick ,,Großer Bär“
Im Osten geht die Sonne auf. Im Süden steigt sie hoch hinauf. Im Westen will sie untergehen. Im Norden ist sie nie zu sehen. Tagsüber kann sich jeder leicht an der Sonne orientieren. Seeräuber müssen aber auch bei Nacht die richtige Himmelsrichtung kennen. Einige Sterne zeigen sie ihnen (solange gutes Wetter ist). Zum Beispiel der Nordstern. Such dir das Sternbild des Großen Bären. (Manche nennen ihn auch Großer Wagen.) Verlängere die hintere Achse fünfmal nach oben. Dann siehst du ihn. Der Nordstern leuchtet auffällig hell.
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Piratentrick ,,Flaschenpost“ Dich hat es auf eine entlegene Insel verschlagen. Eine Flaschenpost kann dein Leben retten! Schreibe also einen Brief. (Notizzettel und Kugelschreiber sollte man für Notfälle immer bei sich haben.) Halte den Brief kurz. Wenn's eben geht, schreibe gleich in Englisch. Und vergiss nicht deine Adresse anzugeben! Dann suche dir eine große, robuste Flasche, schiebe den zusammengerollten Brief hinein und verschließe sie besonders sorgfältig. (Den Korken vorher mit Leim bestreichen.) Jetzt brauchst du deine Flaschenpost nur noch ins Meer oder den See oder den Fluss zu befördern, die deine Insel umspülen.
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PS: So eine Flaschenpost kann dir Brieffreundschaften aus der ganzen Welt einbringen.
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