Viola Larsen
Hexenpakt Irrlicht Band 413
Kalt war es in Usbekistan und der Mond stand bleich am Himmel. Eine Karawan...
6 downloads
580 Views
329KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Viola Larsen
Hexenpakt Irrlicht Band 413
Kalt war es in Usbekistan und der Mond stand bleich am Himmel. Eine Karawane zog über die Seidenstraße. Der Jeep, der abseits anhielt, gehörte nicht dazu. Ein Mann stieg aus. Von der Karawane lief eine junge Frau mit einer Tragetasche auf ihn zu. Beide waren junge, schöne Menschen, und sie waren Mann und Frau. »Unser Pakt gilt, Baron«, sagte die Frau. »Achtzehn Jahre gehört sie dir. Dann mir.« Sie übergab ihm die Tasche und lief zu der Karawane zurück. Behutsam trug der Mann die Tasche zu dem Jeep. In der Tasche lag ein Baby, ein kleines Mädchen. Achtzehn Jahre, dachte er, sind eine lange Zeit. Doch die Jahre vergingen schneller als ein Tag.
Es war kurz vor Mitternacht. Der bleiche Mond tanzte wie ein Derwisch zwischen den zerrissenen Wolken des herbstlichen Himmels, so schnell tauchte er auf und verschwand wieder, und die Sterne flimmerten wie Irrlichter im Wechselspiel der Wolken. Wie unruhig der Himmel heute ist, dachte Baronesse Malou beklommen. Dabei war sie doch eigentlich voll freudiger Erwartung! Sie stand am offenen Fenster ihres Mädchenzimmers in dem schottischen Schloß Stonehaven und fieberte dem ersten Glockenschlag der Mitternachtsstunde entgegen, denn damit begann ihr achtzehntes Lebensjahr! Würde ihr größter Wunsch in Erfüllung gehen und die schmerzliche Sehnsucht, die sie hinaus in die lockende Ferne zog, endlich gestillt werden? So sehr Baronesse Malou ihre Heimat liebte, litt sie doch unter der Einsamkeit und Melancholie, die über der Baronie Stonehaven im schottischen Hochmoor lag. Eine innere Unrast trieb sie um. Vielleicht lag es daran, daß ihr Vater ihr keine Chance gab, die Welt kennenzulernen! In der letzten Zeit war seine ständige Fürsorge, mit der er jeden ihrer Schritte überwachte, so bedrückend für Baronesse Malou geworden, daß sie sich in dem alten Schloß wie in einem Gefängnis vorgekommen war. Was Wunder, daß sie, die ein Hauch ungezähmter Wildheit umwehte, an den unsichtbaren Gitterstäben des Gefängnisses väterlicher Liebe rüttelte. Sie konnte es einfach nicht verstehen, daß ihr Vater, der doch selbst ein freiheitsliebender Mensch war und in seinen jungen Jahren als Diplomat die ganze Welt bereist hatte, ihr keine persönliche Freiheit zugestand.
Der Mond kam wieder hervor. Sein Silberlicht ließ Baronesse Malous langes, seidiges Haar wie Bernstein aufleuchten. Auch ihre eigenartig geschnittenen Augen, von denen eine unglaubliche Faszination ausging, leuchteten wie helle Bernsteine. Baronesse Malou war bezaubernd, und sie war auffallend schön. Aber das war es nicht allein, was Menschen, die in ihren Bannkreis gerieten, zu schwärmerischen Bewunderern machte. So zierlich sie war und obgleich sie fast zerbrechlich wirkte, besaß Baronesse Malou doch eine starke Ausstrahlung, die ihr eine seltsame Macht verlieh. Spielerisch gelang es ihr, in die Gedanken und Gefühle anderer Menschen einzudringen und diese nach ihrem Willen zu steuern. Das machte natürlich Spaß, aber manchmal erschreckte es sie auch. Es gab noch mehr Fähigkeiten, die sie besaß und die sie zuweilen erschreckten. Sie hätte gerne mit ihrem Vater darüber gesprochen. Aber das ging nicht. Als sie es einmal versucht hatte, war Baron Reuben derart in Panik geraten, daß sie es nie wieder gewagt hatte, mit ihm darüber zu reden. Er hatte ein schwaches Herz und Aufregungen waren gefährlich für ihn. Es gab noch ein Thema, über das sie nicht mit ihm reden konnte, und das war ihre Mutter, die bei ihrer Geburt gestorben war. Nun war es nicht so, daß Baronesse Malou die Mutterliebe vermißt hätte, denn wie hätte sie etwas vermissen sollen, das sie nicht kannte? Sie hätte nur einfach gerne etwas über ihre Mutter erfahren, die so jung hatte sterben müssen! Kalt drängte sich die Nachtluft durch das offene Fenster. Baronesse Malou fröstelte und kroch tiefer in ihren warmen weißen Morgenmantel. Auf den Bergen war schon der erste Schnee gefallen. Im Hochland kam der Winter früh. Das ferne Rauschen des Atlantiks, diese eintönige Melodie der
Einsamkeit, drang durch die Stille, und aus dem Loch Eyre stiegen blasse Nebelschleier auf. Es waren nur noch wenige Minuten bis Mitternacht! Wenn sie achtzehn sei, hatte ihr Vater der Baronesse versprochen, werde er mit ihr zusammen eine Weltreise unternehmen, und auf das Wort des Baron Reuben von Stonehaven war Verlaß! Ein zarter doch durchdringender Duft nach Pinien und fremdländischen Blüten breitete sich plötzlich aus. Baronesse Malous Herz klopfte schneller. Sie kannte diesen Duft seit ihrer Kindheit, aber sie wußte nicht, woher er kam. Manchmal hüllte er sie sogar in ihren Träumen ein und jedesmal wurde sie von einer tiefen Erregung ergriffen, für die sie keine Erklärung finden konnte. Es war ein süßes Entzücken, das sie dann erfüllte, während zugleich ein unheimliches Bangen ihr das Herz zusammenschnürte. Sie wandte sich unwillkürlich um. Das Mondlicht fiel hell in das Zimmer, und in den Spiegel ihres Frisiertisches sah Baronesse Malou ein wundersames Glitzern, Gleißen und Schimmern. Wie magisch angezogen, lief sie zu dem Frisiertisch hinüber. Was funkelte da nur so märchenhaft und geheimnisvoll? Es war ein Ring! In einem Kästchen aus Ebenholz lag auf violettem Samt ein Diamantring von kristallener Reinheit. Ohne Zweifel, das war ein Geburtstagsgruß ihres Vaters! Baronesse Malou war gerührt und überwältigt. Vorsichtig nahm sie das kostbare Geschenk aus dem Kästchen. Es schien ein Zauberring zu sein, denn in dem Diamant spiegelten sich, je nachdem wie Baronesse Malou ihn drehte, die Sieben Weltwunder: Die Pyramiden von Gihse, der Tempel der Artemis, die hängenden Gärten in Babylon… Entströmte den
Gärten der betäubende Blütenduft, der Baronesse Malou so intensiv einhüllte, daß ihr fast die Sinne schwanden? Von der Schloßkapelle ertönte der erste Glockenschlag der Mitternachtsstunde, als sie den Ring überstreifte. Er war so wundervoll, daß ihr Tränen in die Augen schossen. Mit Schmuck hatte der Vater sie nie verwöhnt, sie hatte sogar das Empfinden gehabt, daß er eine Abneigung dagegen hegte. Und nun dies! Sie wollte ihm danken, gleich, sofort! Sicher saß er noch in seinem Studierzimmer und bastelte an ihrer Reiseroute, die sie beide ja rund um den Globus führen sollte. Sie fand es echt groß von ihm, daß er aus Anlaß ihres achtzehnten Geburtstags seine Abneigung gegen Schmuck überwunden und ihr diesen wunderbaren Ring geschenkt hatte! Baronesse Malou vermutete, daß er das Kästchen auf den Frisiertisch geschmuggelt hatte, als er gekommen war, um ihr schöne Träume für ihre Geburtstagsnacht zu wünschen. »Die Träume der Geburtstagsnacht sind wichtig und bedeutungsvoll für das kommende Lebensjahr!« hatte er gesagt. Ach, sie liebten sich ja, und auch wenn es gelegentlich zu Differenzen zwischen ihnen kam, blieben Vater und Tochter einander doch immer von Herzen verbunden. Der Blütenduft verflüchtigte sich, als Baronesse Malou ihr Zimmer verließ. In dem langen Korridor des Obergeschosses, der von gedämpften, kleinen Wandlampen erhellt wurde, schlug ihr eisige Kälte entgegen. Das alte Schloß im schottischen Hochmoor war nur schwer beheizbar und sobald man sich von der Wärmequelle eines flackernden Kaminfeuers entfernte, war man der Kälte ausgeliefert. Aber Baronesse Malou fror nicht, weil sie viel zu erfüllt war von Freude und Dankbarkeit! In den letzten Wochen war es oft zu Auseinandersetzungen mit ihrem Vater gekommen. Sein Mißtrauen den Menschen
ihres Umfelds gegenüber und seine Angst um sie hatten ihrer Ansicht nach krankhafte Züge angenommen. Deshalb hatte er es auch strikt abgelehnt, eine Geburtstagsfete zu arrangieren. Nun, wen hätte Baronesse Malou auch einladen sollen? Freunde gab es in ihrem Einsiedlerleben nicht. Auf der Galerie blieb sie stehen, weil sie Stimmen hörte. Das war merkwürdig. Um diese Zeit schlief das alte Schloß! Das Personal hatte sich längst zurückgezogen und späte Besucher kamen nie. Doch Baronesse Malou hörte deutlich, daß ihr Vater sich in erregtem Tonfall mit jemanden unterhielt. Die Frauenstimme, die gelassen und überlegen klang, war ihr fremd. Es war eine tiefe, keineswegs unangenehme Stimme. Baronesse Malou beugte sich über das Geländer der Galerie. Die Tür zum Studierzimmer ihres Vaters im Erdgeschoß stand halb offen. Da war niemand. Der Baron war allein. Er saß an seinem Schreibtisch und telefonierte. Hatte er vergessen, den Raumton des Telefons auszuschalten? Das vergaß er doch nie. Wie in einem grausamen Bann befangen wurde sie Zeugin des Gesprächs.
»Blockiere die Abschaltung des Raumtons nicht länger!« gebot der Baron zornig in das Telefon. »Du hast mir nicht zu befehlen, Reuben.« Ein lauerndes Schweigen. »Oder befürchtest du, Malou könnte uns hören?« »Genau das bezweckst du doch!« »Auf irgendeine Weise muß sie es schließlich erfahren, oder?« »Nicht auf diese Weise.« »Sondern – auf welche Weise?« »Das ist mein Problem.«
»Ein ziemliches Problem! Wie willst du Malou denn erklären, daß ihre Mutter gar nicht tot ist, wie du ihr gesagt hast, sondern daß ihre Mutter lebt und daß wir beide, du, Reuben und ich vor achtzehn Jahren auf der Seidenstraße im fernen Usbekistan einen Pakt geschlossen haben, der galt: Ab ihrem achtzehnten Lebensjahr gehört Malou mir!« »Malou gehört weder dir noch mir noch sonst irgend jemanden«, brauste der Baron auf. »Kein Mensch ist das Eigentum irgend eines anderen Menschen.« »Gewiß, gewiß«, bestätigte die Frauenstimme spöttisch. »Es ist richtig, was du sagst. Mit ganz kleinen Einschränkungen. Wie beispielsweise dem Pakt, den wir vor achtzehn Jahren geschlossen haben und der nichts von seiner Gültigkeit verloren hat: Die achtzehn Jahre sind vorbei, es ist Mitternacht, und von dieser Stunde an gehört Malou mir!« »Niemals!« rief der Baron außer sich. »Ich werde es nicht zulassen, daß mein Kind…« »Unser Kind, Reuben!« unterbrach ihn die Frauenstimme sehr bestimmt. Es folgte ‘eine kurze Pause. »Du hast doch hoffentlich die heißen Liebesnächte in der Taiga nicht vergessen? Nein, wie solltest du! Ich habe sie auch nicht vergessen. Du warst ein hinreißender Bursche! Ich glaube, ich habe dich sogar wirklich geliebt! Und wie herrlich jung wir damals gewesen sind!« »Ich schätze«, bemerkte der Baron ungewohnt sarkastisch, »daß du im Gegensatz zu mir inzwischen nicht älter wurdest, sondern noch genau so jung bist wie damals.« »Schmeichler!« Ein Seufzer zitterte durch den Draht. »Schade, daß du damals hinter mein kleines Geheimnis gekommen bist, sonst wäre ich womöglich noch eine brave Ehefrau geworden! Ich soll dich übrigens von deinem Schwager Regone grüßen. Er freut sich schon riesig auf seine
Nichte Malou! Ah, wir werden eine herrliche Zeit zusammen haben!« Der Baron rang mühsam um Fassung und versuchte diplomatisch einzulenken. »Wo bist du, Rega?« Sie lachte amüsiert. »Ganz in deiner Nähe, Reuben!« »Dann lasse uns persönlich über diesen unseligen Pakt miteinander reden.« »Vergiß es! Da gibt es nichts mehr zu reden. Die Zeit ist um. Ich habe mich achtzehn Jahre lang an unseren Pakt gehalten, was mir nicht leicht gefallen ist. Halte du dich nun auch daran und überlasse mir Malou.« »Niemals!« Der Baron geriet außer sich. »Auch ich habe mich, was mir sehr schwer fiel, in einzelnen Punkten an unseren Pakt gehalten. So wurde Malou nicht getauft!« »Es war klug von dir, Reuben, meine Rache nicht herauszufordern.« »Malou war noch so klein und hilflos! Ich habe Angst um sie gehabt! Aber solltest du es nun wagen, die Hand nach Malou auszustrecken, werde ich dafür sorgen, daß die Welt erfährt, wer die berühmte, die wohltätige und hochverehrte Marchesa Terebinto in Wahrheit ist, nämlich…« »Du drohst mir also?« unterbrach sie ihn kalt. »Das ist keine Drohung!« rief der Baron leidenschaftlich. »Es ist ein Versprechen!« »Und du fürchtest die dunklen Mächte nicht, die mir gehorchen, und die dich vernichten können?« »Ich fürchte nichts, wenn es um Malou geht!« »Du bist ein Narr!« »Ich bin ein Vater, der um seine Tochter kämpft und der zu allem entschlossen ist, um sie vor Unheil zu bewahren.« »Vor Unheil?« Ein klirrendes Spottgelächter schnitt ihm die Rede ab. »Vor der Frau, die sie geboren hat, meinst du, vor ihrer leiblichen Mutter!«
»Ja! Denn du bist das Unheil in Menschengestalt. Du bist ein Ungeheuer! Ich werde es nicht zulassen, daß Malou in deine Gewalt gerät, ich werde kämpfen bis zu meinem letzten Atemzug.« »Bis zu deinem letzten Atemzug?« Eine kurze Stille folgte. Eisig empfahl die Frauenstimme: »Dann atme schnell, Reuben Stonehaven.« Es klickte in der Leitung. Die Verbindung war unterbrochen. Der Teilnehmer hatte aufgelegt. Zwei, drei Herzschläge lang verharrte Baronesse Malou wie erstarrt auf der Galerie. Ungläubiges Entsetzen und große Angst befielen sie. Was sie gehört hatte, es war wahnwitzig! War es das wirklich? Warum trägt der Name ihrer Mutter auf dem Gedenkstein der Familiengruft nur das Geburts- nicht aber das Todesdatum? Baronesse Malou rannte die Treppe hinunter. Als sie in das Studierzimmer stürmte, saß Baron Reuben in seinem Sessel, und der Telefonhörer lag auf dem Schreibtisch. Sein Kopf war gegen die Lehne des Sessels geglitten, seine Gesichtszüge waren verzerrt. Mit beiden Händen schien der Baron zu versuchen, etwas, das ihm große Qual bereitete, aus seiner Brust zu reißen. Seine Augen waren weit geöffnet und sahen die Tochter starr und blicklos an. »Vater…«, stammelte sie. »Oh, Vater… Ich habe alles gehört. Was hat das zu bedeuten? Ich habe so viele Fragen, du mußt sie mir beantworten…« Sie verstummte, als sie begriff, daß der Vater ihr nie mehr eine Antwort geben konnte. Baron Reuben von Stonehaven war tot.
Als der Morgen kam, war der Mond weit fort, und die Irrlichter der Sterne erloschen in dem glatten Wasserspiegel des tiefen Eyre-Sees. Kurz vor vier Uhr in der Frühe, noch bevor die Hähne krähten, kam der Doktor aus der nächsten Distriktstadt. Er war kein junger Mensch mehr, und der Weg war weit und sehr beschwerlich nach Stonehaven-Castle. »Ein Herzversagen«, stellte er seine Diagnose, und das schrieb er auch auf den Totenschein. »Der Baron hatte ein sehr schwaches Herz, das keinen Belastungen mehr standhielt. Der Tod muß kurz nach Mitternacht eingetreten sein. Hatte der Baron um diese Zeit vielleicht eine Aufregung zu verkraften?« Baronesse Malou, die reglos am Fenster stand und in die stumpfe, fleckige Schwärze des heraufdämmernden Morgens hinausstarrte, antwortete nicht. Außer ihr war nur noch Rob anwesend, der junge Jagdgehilfe des Barons, und Rob sagte, als die Baronesse schwieg: »Der Telefonhörer lag auf dem Schreibtisch.« »Demnach wäre es also möglich«, folgerte der Doktor, »daß der Baron zu ungewöhnlicher Stunde einen Anruf erhielt, der ihn in Aufregung versetzte?« Er wandte sich dabei fragend an Baronesse Malou. Sie nickte stumm. »Ja, das wäre möglich«, bestätigte auch Rob. Es lag ihm aus einem ganz bestimmten Grund viel daran, daß der Doktor keine weiteren Fragen stellte und sich vor allem mit der Diagnose eines plötzlichen Herztods zufriedengab, denn dem Doktor war eine winzige Kleinigkeit entgangen, die Rob sehr wohl bemerkt hatte. Rob war fünfundzwanzig Jahre und ein Prachtbursche. Er war ein Hochländer, lang, schlank und drahtig, von Wind und Wetter gestählt und auffallend gutaussehend mit seinem dichten rötlichen Haar und Bart.
Zunächst war Rob in Diensten des Barons nur ein Gillie gewesen, also ein Jagdgehilfe. Das waren im Hochland in langen Märschen trainierte, im Waidwerk und Fischen geschickte und erfahrene Burschen, die fähig und in der Lage waren, für ihre Dienstherren auch schwierige und gefährliche Situationen zu meistern. Im Hochland war die Natur mächtiger als der Mensch, und wer sich im unwegsamen Gelände der Berge und Moore, der Lochs und Glens nicht auskannte, geriet leicht in tödliche Gefahr. Während der langen Jagdausflüge und durch die gemeinsamen Erlebnisse war zwischen dem Baron und dem jungen Jagdgehilfen ein freundschaftliches Verhältnis gewachsen. Das war nicht ungewöhnlich, und wie so mancher Gillie in hohen Adelskreisen war auch Bob in den persönlichen Dienst des Barons berufen, war sein Diener und in gewisser Weise sein Vertrauter geworden. Einmal, und das war noch nicht lange her, hatte der Baron zu Rob gesagt: ›Wenn mir plötzlich etwas zustoßen sollte, dann gib gut acht auf Baronesse Malou! Gott bewahre uns davor, doch es könnte geschehen, daß sie in große Gefahr gerät.‹ Daran mußte Rob denken, während der Doktor die Formalitäten erledigte und versprach, alle traurigen Notwendigkeiten zu veranlassen. Der Doktor war in Sorge um die Baronesse, die völlig abwesend und verstört wirkte. Er befürchtete, daß sie durch den plötzlichen Tod ihres Vaters einen Schock erlitten hatte und nicht in der Lage war, irgendwelche Entscheidungen zu treffen. Rob erklärte, daß er sich um alles kümmern würde, das getan werden mußte. »Ich denke«, äußerte er in seiner bedächtigen und schnörkellosen Art, »dem Herrn Baron wäre es recht, wenn er auf der letzten Reise seinen Jagdrock tragen dürfte?«
»Dann beeile dich, Rob«, empfahl der Doktor, »denn…« Er murmelte etwas Lateinisches. »Rigor mortis«, murmelte er, räusperte sich und verstummte. Rob konnte kein Latein, aber er wußte wie das war, wenn die Totenstarre eintrat. »Ich werde mich beeilen, Herr Doktor.« »Brav, mein Junge! Du wirst der Baronesse eine große Hilfe sein.« Damit verabschiedete der Doktor sich und versicherte, als Rob ihn zum Portal begleiten wollte, daß er allein hinaus finde. »Es ist keine Zeit zu verlieren, Rob!« Als die Tür hinter dem Doktor zugefallen war, bat Rob: »Es ist besser, wenn du jetzt auch gehst, Malou.« Sie waren Freunde seit Baronesse Malous Kindertagen. Rob hatte der kleinen Baronesse auf ihrem ersten Pony das Reiten beigebracht, und später hatte er sie auf ihren Streifzügen durch das Hochland begleitet, hatte ihren Sinn für die Schönheiten der Natur geweckt und ihr Verständnis dafür, wie man mit der Natur umgehen mußte. Rob war ein Bauernsohn und mit Leib und Seele ein Hochländer. Sein Vater war ein Crofter, einer der Pächter des Barons, der das bescheidene Stück Land, das ihm zugewiesen war, bewirtschaftete, Schafe züchtete und sich mit dem Erlös der Wolle ein Zubrot verdiente. Robs Mutter lebte schon lange nicht mehr. »Rob«, fragte Baronesse Malou, und sie sah ihm fest in die Augen, »du hast es auch bemerkt, nicht wahr?« Er nickte. »Der Doktor hat es nicht bemerkt«, flüsterte Baronesse Malou. »Der Doktor mußte auf andere Dinge achten.« Baronesse Malou beugte sich über ihren Vater und eine furchtbare Angst befiel sie. Auf der weißen Hemdbrust, dort, wo sein Herz geschlagen hatte, war ein winziger Blutflecken. »Was hat das zu bedeuten, Rob?«
»Daß der Herr Baron sich wahrscheinlich verletzt hat, als er sich zum Herzen griff.« Rob glaubte nicht, daß es so gewesen war, aber er konnte Baronesse Malou nicht sagen, was er vermutete. »Gehe jetzt, Malou«, bat er. »Du hast doch gehört, ich muß mich beeilen! Und schicke die Leute auf ihre Zimmer! Ich kann hier niemanden brauchen!« Sie begriff. Rob wollte nicht, daß möglicherweise noch jemand den winzigem Blutflecken bemerkte. Sie ging schnell hinaus. In dem Entree war die verstörte Dienerschaft versammelt. Die Frauen beteten. Die Männer standen stumm und ernst beieinander. »Bitte, geht jetzt in eure Zimmer und versucht, noch ein wenig zu schlafen«, bat Baronesse Malou. »Es wird ein langer und anstrengender Tag werden.« Einer der Männer fragte, ob Rob keine Hilfe brauche? »Nein«, antwortete Baronesse Malou freundlich aber sehr bestimmt, »Rob wird zunächst gut allein fertig. Wenn er Hilfe braucht, wird er schon jemanden rufen.« Sie blieb in dem Entree, bis alle, wenn auch zögerlich, den langen Korridor hinuntergegangen waren, der zu dem Personaltrakt führte. Dann stieg sie langsam die Treppe hinauf. War es wirklich erst Stunden her, daß sie über die Galerie gestürmt war, um sich bei ihrem Vater für den zauberhaften Ring zu bedanken? War nicht ihr Geburtstag? Ach, das war nicht mehr wichtig. Nichts war mehr wichtig. Alles war durcheinander geraten. Nichts hatte mehr Bedeutung für Baronesse Malou. Nichts, außer der unfaßbaren Tatsache, daß ihr Vater nicht mehr lebte, daß sie nie mehr mit ihm zusammen lachen und nie mehr auch mit ihm streiten konnte. Er wird mir fehlen, konnte sie nur immer wieder denken, oh, wie er mir fehlen wird!
Der Schmerz zerriß ihr das Herz, und schlimm war, daß sie nicht weinen konnte. In ihrem Zimmer war das Kaminfeuer erloschen. Sie ging hin und her. Bevor der Doktor gekommen war, hatte sie sich eilends umgezogen, trug nun ein schwarzes Kleid und wickelte sich fröstelnd in die seidene schwarze Stola. Wie sollte das Leben nur weitergehen? Ein Leben ohne ihren Vater. Mit einer Mutter, die sie tot gewähnt hatte. Es schauderte Baronesse Malou, wenn sie an das schreckliche Telefongespräch dachte, dessen Zeugin sie geworden war! Nein, sie hatte Rob nichts davon gesagt. Sie hatten keine Geheimnisse voreinander, Rob war sogar der Einzige, der um Malous seltsame Fähigkeiten wußte, aber es war einfach nicht der richtige Zeitpunkt gewesen, um darüber zu reden. Warum nur brachte sie den winzigen Blutflecken in einen dunklen Zusammenhang mit dem Inhalt des Telefongesprächs? Und da war die Angst wieder, diese furchtbare Angst! Sie blieb vor dem Spiegel stehen und sah in ihr blasses, verstörtes Gesicht. Hielten nach einem alten Volksglauben Spiegel nicht die Seelen fest? War es deshalb nicht ein noch immer geübter Brauch, in einem Haus, darin ein Toter ruhte, die Spiegel zu verhängen, um die Seele des Verstorbenen nicht festzuhalten? Baronesse Malou nahm ihre schwarze Stola ab und breitete sie über das Spiegelglas.
Als der Tag kam, waren alle Spiegel in Stonehaven-Castle mit schwarzen Tüchern verhängt. Trauer senkte sich über die Baronie. Auch wenn der Baron Zeit seines Lebens sehr zurückgezogen gelebt und nie Kontakt zu anderen Menschen gesucht hatte,
zeigte sich nun, wie sehr man ihn respektiert und verehrt hatte. Er war allen seinen Croftern ein gerechter und gütiger Herr gewesen. Sein jäher Tod löste tiefe Betroffenheit aus. Natürlich hatte man gewußt, daß der Baron ein schwaches Herz gehabt hatte, aber daß er so plötzlich hatte gehen müssen, das war ein Schock für alle. Die Gerüchte über seine kurze Ehe die fast schon in Vergessenheit geraten waren, flackerten wieder auf. »Was weißt du darüber, Rob?« fragte Baronesse Malou leise. »Worüber?« »Über Vaters Ehe. Über – meine Mutter.« Rob schüttelte unwillig den Kopf. »Findest du, das ist der geeignete Ort und die richtige Stunde, um darüber zu reden?« Sie hielten die Totenwache in der Schloßkapelle und unterhielten sich im Flüsterton. Es war düster und kalt in dem Gotteshaus von StonehavenCastle. Nur die vielen brennenden Kerzen verströmten einen Hauch von Wärme und verbreiteten eine sanfte Helligkeit. Graf Reuben war in seinem grünen Jagdrock aufgebahrt, wie er es sich wohl gewünscht hätte. Weiße Chrysanthemen schmückten den Sarg. Der Tod hatte seine verzerrten Gesichtszüge geglättet, und so lag er friedlich da, als schliefe er. »Aber irgendwo und irgendwann müssen wir darüber reden, Rob«, flehte Baronesse Malou. »Es zerreißt mir das Herz.« Sie stockte kurz. »Da war ein Anruf, weißt du. Kurz vor seinem Tod. Ich stand auf der Galerie, weil ich zu ihm gehen und ihm für den Ring danken wollte.« Bedrückt stellte sie fest, daß der Ring, seit sie in die Kapelle gekommen war, seinen Bilderzauber verloren hatte und nichts anderes mehr war als ein wunderschöner Diamant. »Ich wollte es nicht. Aber das Telefon war auf Raumton geschaltet, so habe ich alles mitbekommen, was geredet wurde.«
»Und was wurde geredet?« Baronesse Malou wollte es sagen, aber sie spürte verzweifelt, daß sie im Angesicht des toten Vaters nicht darüber sprechen konnte. »Später, Rob«, flüsterte sie unglücklich. »Du hast recht, das ist nicht der geeignete Ort und nicht die richtige Stunde.« Er stand leise auf. »Ich sage dem Butler und der Mamsell Bescheid, damit sie uns ablösen. So war es ja auch ausgemacht.« Baronesse Malou nickte stumm. Sie war erleichtert, daß Rob eine Entscheidung traf, die es ihr ermöglichte, mit ihm zu sprechen. ›Ich komme wieder zu dir, Vater‹, versprach sie in ihrem Herzen. ›Und bitte, verzeih mir, daß ich mit Rob darüber rede. Aber ich habe ja sonst niemanden. Rob kann ich vertrauen. Du hast ihm doch auch vertraut.‹ Rob kam bald zurück und brachte die Ablösung mit. Die Mamsell und der Butler, zwei in Diensten von Stonehaven ergraute, brave Menschen, die aufrichtig um den heimgegangenen Herrn trauerten, nahmen die Plätze zu Seiten des Sarges ein. Als Baronesse Malou und Rob die Kapelle verließen, schlug ihnen ein eisiger Wind entgegen. Es roch nach Schnee. Vereinzelt taumelten dünne Flocken von dem zinkgrauen Himmel. »Gehen wir zu den Pferden«, bat Baronesse Malou. In den Stallungen war es warm, und es roch gut nach frischem Heu. »In der Sattelkammer sind wir ungestört«, meinte Rob. »Dort kann ich uns auch einen Tee kochen. Ein heißer Tee wird dir guttun.« »Ach, ich bin froh, daß es dich gibt, Rob!« Seine Augen verrieten, was seine Lippen verschwiegen. Er war glücklich, daß es sie gab, denn er liebte Baronesse Malou
von ganzem Herzen. Aber er hätte es niemals gewagt, ihr die Gefühle, die er für sie empfand, zu offenbaren. Sie war die Baronesse von Stonehaven, und er, der Sohn eines Crofters, war nur ein Gillie, ein Jagdgehilfe, ein Diener. Das reimte sich nicht. Er setzte das Teewasser auf. In der Sattelkammer war alles vorhanden, um einen guten Tee zu kochen, damit die Burschen, die Nachtwachen in den Stallungen schoben, nicht einschliefen. Bedächtig nahm er zwei Teebecher und den Kandiszucker von dem Geschirrbord. Dann zog er etwas verlegen ein in Seidenpapier gewickeltes Päckchen aus seiner Jackentasche. »Mein Geburtstagsgeschenk für dich, Malou. Ich habe es dir noch nicht geben können. Was da drin ist, es soll dir Glück bringen und dich beschützen.« »Ein Amulett?« Die Überraschung lenkte Baronesse Malou flüchtig von ihrem Schmerz, von ihrem Jammer und ihrer Ratlosigkeit ab. »So etwas Ähnliches, ja.« Rob sagte ihr nicht, daß er sein Geschenk hatte weihen lassen. »In jedem Fall«, fügte er schnell und gleichsam abschwächend hinzu, »ist es ein Glücksbringer.« Der Glücksbringer war ein kleines goldenes Hufeisen, das mit winzigen Rubinen beschlagen war und an einem goldenen Kettchen hing. »Oh, Rob!« stammelte Baronesse Malou. »Das ist wunderbar. Aber das ist doch viel zuviel für mich!« »Für dich ist nichts zuviel, Malou«, entgegnete er mit einer Stimme, die ganz rauh war vor Rührung und unterdrückter Zärtlichkeit. »Das Hufeisen gefällt dir also?« »Und ob es mir gefällt! Es ist zauberhaft. Ich werde es immer tragen. Danke, Rob. Ich danke dir!«
Sie legte das Kettchen gleich um. Doch als das kleine goldene Hufeisen ihre Haut berührte, stellte sie bestürzt fest, daß der Diamantring seinen Glanz verlor. Das dumpfe Bangen beschlich sie wieder. Sie zuckte zusammen, als ein schriller Pfiff ertönte. Aber es war ja nur der Wasserkessel, der pfiff! Rob überbrühte den Tee. »Und nun rede!« bat er. Aber so einfach war das nicht, auch nicht in der Sattelkammer. »Darf ich dich zuerst noch mal fragen, was du weißt, Rob?« »Weniger als du wohl vermutest.« »Aber Vater hatte doch so großes Vertrauen zu dir! Hat er mit dir nie über seine Ehe oder über meine Mutter geredet?« »Nie, nein.« »Ihr seid manchmal tagelang auf Pirsch zusammen gewesen, irgendwo in der Einsamkeit. Nun gut, tagsüber seid ihr mit der Fährtensuche oder eben mit der Jagd beschäftigt gewesen. Aber die langen Nächte, zwei Männer allein am Lagerfeuer? Da ist nie die Rede darauf gekommen?« »Niemals, Malou.« Sie seufzte. Sie glaubte ihm. Rob schenkte ein. Der heiße Tee tat wohl. Baronesse Malou grübelte. »Mir ist das erst jetzt bewußt geworden. Aber ist dir nicht aufgefallen, daß der Name meiner Mutter auf der Grabplatte der Stonehavens nur das Geburtsaber kein Todesdatum trägt?« »Doch. Das ist mir aufgefallen.« Rob zögerte kurz. »Und nicht nur mir.« »Willst du damit sagen, daß es irgendwelche Gerüchte gibt?« fragte Baronesse Malou erregt. Rob verabscheute Gerüchte, doch er gab zu: »Wenn du mich so direkt fragst, Malou, ja, die gibt es.«
»Und was sagen sie?« »Nichts Genaues. Nur, daß dein Vater irgendwo in der Taiga die Prinzessin eines Tartarenstammes geheiratet habe und daß die Ehe kurz nach der Geburt eines Kindes in die Brüche gegangen sein soll.« »Das ist alles?« »Ja.« Viel war das nicht. Baronesse Malou fragte spontan: »Gibt es in der Taiga Pinien?« »Pinien? Pinien in der Taiga? Wie kommst du denn jetzt darauf?« »Ich weiß nicht.« Baronesse Malou wußte es wirklich nicht. Aber zwischen dem Duft, der sie zuweilen sogar in ihren Träumen begleitete und ihrer Mutter bestand irgend ein Zusammenhang, den sie nicht zu entschlüsseln vermochte. »Vergiß es.« »Erst willst du etwas von mir wissen, und dann soll ich es vergessen!« sagte Rob vorwurfsvoll. »Ich werde mich kundig machen, ob es in der Taiga Pinien gibt.« Er beobachtete Baronesse Malou unauffällig aber sehr aufmerksam. »Es kann ja auch gut sein, daß alles gar nicht stimmt und in Wahrheit ganz anders gewesen ist. Wie ich schon sagte, es sind nur Gerüchte.« »Und Gerüchte enthalten das berühmte Körnlein Wahrheit!« »Manchmal, vielleicht. Aber nicht immer«, widersprach Rob und fragte geradeheraus wie es seine Art entsprach: »Willst du mir jetzt nicht sagen, was mit diesem Telefongespräch gewesen ist?« Baronesse Malou nickte, und dann sagte sie Rob alles, genau so wie es gewesen war. »Demnach lebt meine Mutter«, schloß sie, »und sie hat mit meinem Vater irgend einen Pakt geschlossen, der bedeutet, daß ich mit Beginn meines achtzehnten Lebensjahres ihr gehöre.«
»Daß du ihr gehörst? Hat sie das so gesagt?« »Wörtlich!« Rob überlegte. »Das soll wohl heißen, daß sie mit deinem Vater vereinbart hat, daß du bis zu deinem achtzehnten Lebensjahr bei ihm lebst und danach bei deiner Mutter.« »Wie du das sagst, klingt es vernünftig. So klang das aber nicht! Und was hat überhaupt dieser ›Pakt‹ zu bedeuten, den sie geschlossen haben?« »Eine Vereinbarung, die man trifft, ist ein Pakt.« Das überzeugte Baronesse Malou nicht. »Es hat sich unheimlich angehört. Und warum hat Vater sich so verzweifelt dagegen gewehrt, daß meine Mutter irgendwelche Rechte an mich geltend macht?« »Er war doch immer in Sorge um dich«, antwortete Rob ausweichend. Aber er dachte an die Bitte des Barons, daß Rob, falls ihm plötzlich etwas zustoße, gut acht auf Baronesse Malou geben solle. ›Gott bewahre uns davor‹ hatte der Baron gesagt, ›doch es könnte sein, daß sie in große Gefahr gerät.‹ »Und warum«, begehrte Baronesse Malou leidenschaftlich auf, »tut meine Mutter das überhaupt? Sie hat sich achtzehn Jahre nicht um mich gekümmert. Was will sie denn jetzt von mir?« »Wir wissen zu wenig, um das beurteilen zu können«, versuchte Rob, die Dinge zurecht zu rücken. »Im Grunde wissen wir nichts. Nur, daß du ein Baby gewesen bist, als dein Vater mit dir nach Hause kam, daß er den diplomatischen Dienst quittiert hat und fortan auf Stonehaven geblieben ist.« »Diese Blutflecken«, murmelte Baronesse Malou. »Durch das Telefon kann man einen Menschen doch nicht töten, oder?« »Nein, gewiß nicht«, beschwichtigte Rob. Er sagte nichts von der unheimlichen Endeckung, die er noch gemacht hatte. »Ach, Rob! ich habe Angst«, flüsterte Baronesse Malou.
Auch Rob hatte Angst, große Angst. Er nahm sich zusammen. »Angst ist ein schlechter Wegbegleiter, Malou. Ich weiß das von den Jagden im Hochmoor. Sobald man anfängt, sich zu fürchten, ist man verloren, weil man der Gefahr nicht mehr mutig entgegen treten kann.« »Was soll ich denn jetzt machen?« »Warten, bis deine Mutter Verbindung zu dir aufnimmt«, entschied Rob. »Bevor die Trauerfeierlichkeiten nicht vorbei sind, wird sie das nicht tun, schätze ich.« »Und dann?« »Dann wirst du weitersehen und kannst deine freien Entscheidungen treffen.« Das war ein kluger Rat. Er war nur so schwer zu befolgen. Baronesse Malou seufzte tief. »Jedenfalls danke ich dafür, daß du mir zugehört hast, Rob. Jetzt ist mir doch ein wenig leichter. Und nochmals danke für den Glücksbringer!« Als sie die Stallungen verließ, war es draußen dunkel geworden. Durch das Licht der romantischen Kutscherlampen, die den Innenhof erhellten, wirbelten Schneeflocken. Eine kalte Nacht zog herauf. Aber Baronesse Malou fror nicht. War ihr doch, als hülle das kleine Hufeisen an dem Goldkettchen sie in Wärme ein. Ganz bestimmt, dachte sie und mußte trotz allen Kummers ein wenig lächeln, auch wenn es ein trauriges Lächeln war, ganz bestimmt, hat Rob mir wirklich einen Glücksbringer geschenkt!
Doch der Glücksbringer sollte zu einer bösen Überraschung werden. Nur wenig später, als Baronesse Malou in ihrem Zimmer die Trauergarderobe für die Bestattungsfeierlichkeiten am
nächsten Tag richtete, spürte sie plötzlich einen brennenden, würgenden Schmerz am Hals. Erschrocken griff sie mit beiden Händen nach dem Kettchen. Es saß so fest, daß es ihr schier die Luft abschnürte, denn ihr Hals war angeschwollen, und die Haut war stark gerötet. Das mußte eine Allergie sein, schoß es Baronesse Malou durch den Kopf, eine Überempfindlichkeit gegen das Metall, gegen die Rubine, gegen irgend etwas, das mit dem Amulett zusammenhing. Sie schaffte es kaum, den Verschluß der Kette zu öffnen, ihre Hände zitterten, weil sie das Empfinden hatte, daß die Schwellung ständig zunahm und die Atemnot, die sie peinigte, immer bedrohlicher wurde. Eigenartig war, daß sofort, nachdem sie die Kette abgenommen hatte, die Schwellung zurückging und sie wieder frei durchatmen konnte. Zu ihrer Verwunderung gewann im gleichen Augenblick auch der Ring seinen Glanz zurück und als sie ihn ein wenig drehte, schimmerte tief verborgen in dem Diamant das Bild der hängenden Gärten von Babylon. Lag es an diesem Zauber, daß der Duft Baronesse Malou wieder umwehte, dieser unvergleichliche Duft nach Pinien und Blumen, deren Namen sie nicht kannte? Doch kein süßes Entzücken erfüllte sie dieses Mal, sondern nur das unheimliche Bangen schnürte ihr Herz zusammen. Was geschah mit ihr? Welchen dunklen Mächten war sie ausgeliefert? Wer trieb sein böses Gaukelspiel mit ihr? Natürlich fürchtete sie sich. Aber sie wurde auch zornig. Keinesfalls war sie gewillt, als ergebene Dulderin still leidend alles hinzunehmen! Vielmehr war sie kämpferisch bereit und wild entschlossen, den dunklen Mächten Paroli zu bieten. Angst sei ein schlechter
Wegbegleiter, hatte Rob gesagt, und recht hatte er! Sie jagte die Angst fort, und die Wut machte sie stark. Dennoch wagte sie es nicht, die Kette mit dem kleinen Glücksbringer noch einmal anzulegen, weil sie genau spürte, daß dies ein leichtfertiges Unterfangen gewesen wäre. Wenn es denn dunkle Mächte waren, die ihre schwarzen Schwingen über sie breiteten, so war Vorsicht geboten. Sie erinnerte sich, daß ihr Vater dies mehr als einmal zu ihr gesagt und sie davor gewarnt hatte, sich leichtfertig in Gefahr zu begeben. »In was für eine Gefahr denn?« hatte sie wißbegierig gefragt. »In die Gefahr, den Zorn der dunklen Mächte herauszufordern.« An alles erinnerte sie sich nun wieder, auch daran, daß sie ihren Vater ausgelacht hatte. »Es gibt doch keine dunklen Mächte! Wo sollten die denn sein? Man sieht sie nicht, man hört sie nicht. Verstecken sie sich im Kleiderschrank oder hinter der Gardine, auf dem Dachboden oder im Keller?« »Die dunklen Mächte sind überall«, hatte Baron Reuben ernst und traurig erwidert, und Baronesse Malou wußte noch genau, daß er ihr leid getan und daß sie ihn für ein bißchen verrückt gehalten hatte. Wie töricht das von ihr gewesen war! Denn sie wußte auch sehr genau, wann diese merkwürdigen Gespräche über die ›dunklen Mächte‹ schon zu ihrer Kinderzeit stattgefunden hatten, nämlich jedesmal dann, wenn die kleine Baronesse sich ihrer Ansicht nach einen Spaß gemacht hatte. Baron Reuben hatte das freilich absolut nicht spaßig gefunden. So hatte sie es fertig gebracht, durch die magische Kraft ihres Blickes Gegenstände in Bewegung zu setzen. Nie hatte sie etwas Böses damit beabsichtigt, aber zuweilen hatte ihr kindlicher Übermut böse Folgen gehabt. Einmal hatte der Butler sich ein Bein gebrochen, weil er in panischem Schrecken vor dem hölzernen Stiefelknecht, der ihn
verfolgt hatte, davongelaufen, gestolpert und gestürzt war. Ein anderes Mal war die Mamsell vor Schrecken über den Mülleimer, der plötzlich im Kreis herumgehüpft war, ausgerutscht und hatte sich die Hand an der heißen Suppe verbrüht. Die unbeabsichtigten schlimmen Folgen ihrer Späße hatten der kleinen Baronesse furchtbar leid getan, und sie hatte ihrem Vater feierlich Besserung gelobt! Doch irgend etwas in ihr war stärker gewesen als ihr guter Wille, und so hatte sie es denn nicht lassen können, gelegentlich doch wieder die Leute zu erschrecken! Bei allen hatte das mühelos geklappt, nur bei Rob hatte es nicht funktioniert. Und bei ihrem Vater hatte sie es nie riskiert. Die meisten ihrer Streiche waren wirklich nur spaßig gewesen, doch ihr Vater hatte nie darüber lachen können. Es war doch ein harmloser Spaß, wenn das Salzfaß auf der Tafel Purzelbäume schlug, die Glühbirnen im ganzen Schloß aus unerfindlichen Gründen gruselig flackerten, zur Erntezeit die Heuballen auf der Tenne Polka tanzten oder im Dezember plötzlich die Gänse in die Küche marschierten, als hätten sie es nicht abwarten können, im Kochtopf zu landen. Nein, das tat niemanden weh! »Sie ist eben eine kleine Hexe, unsere Baronesse«, hatten die Bediensteten des Castle dann gutmütig gemeint und gelacht. Doch zwischen Baron Reuben und seiner Tochter war es jedesmal wieder zu einem der unvermeidlichen, unerquicklichen Gespräche über die dunklen Mächte gekommen. Warum, fragte Baronesse Malou sich unglücklich, hatte sie die Besorgnis ihres Vaters so leicht genommen, warum hatte sie sich mit seinen Ängsten nicht ernsthaft auseinandergesetzt? Nun war es zu spät dazu. Und vielleicht gab es sie ja wirklich,
diese dunklen Mächte, die man nicht sah und nicht hörte und die dennoch über zerstörerische Kräfte verfügten? Baronesse Malou blickte in den Spiegel, sah sich in ihrem schwarzen Trauerkleid, sah in ihr blasses, verstörtes Gesicht und erschrak. Irgend etwas mit dem Spiegel stimmte nicht! Er gab ihr Bild getreu wider, stellte ihre Gestalt jedoch in ein fremdes Umfeld. Das war nicht die vertraute Umgebung ihres Zimmers, die sie in dem Spiegel sah, es war eine Steppenlandschaft, durch die Wildpferde streiften und eine erschöpfte Karawane müde ihres Weges zog. Wie geblendet schloß Baronesse Malou die Lider, sie riß die Augen wieder auf, doch das Bild blieb: Die Steppe, die Wildpferde, die Karawane. Panik packte sie. Sie hatte das Empfinden, daß der Spuk mit dem Ring zusammenhing. Sofort wollte sie ihn abziehen, doch das ging nicht. Verzweifelt zog und zerrte sie daran. Er saß wie festgeschmiedet. Tränen schossen ihr in die Augen. War der Ring nicht das letzte Geschenk ihres Vaters? Das spukhafte Spiegelbild verschwand. Baronesse Malou atmete tief durch. Wie sollte sie den nächsten Tag durchstehen?
Der nächste Tag war leichter durchzustehen, als Baronesse Malou befürchtet hatte. Es war eigenartig, stellte sie fest, wie gewisse Rituale einem halfen, die Haltung zu bewahren. Das fing an mit dem Empfang der Trauergäste, die Baronesse Malou begrüßen mußte, und es kamen so viele! Einfache Leute waren es, alle Crofter mit ihren Familien, und ihre Trauer um den heimgegangenen Herrn war ehrlich. Sie brachten viele
Blumen, Gebinde und Kränze als Zeichen der Zuwendung und Anteilnahme. Und da waren die Glocken, deren Läuten am Herzen rührte, war der sanfte Trost des hellen Lichtes der Kerzen, die in der Schloßkapelle brannten. Baronesse Malou war nicht getauft worden, aber sie liebte die stille Schönheit der Gotteshäuser, in denen sie sich geborgen fühlte, und sie war dankbar’ dafür, daß sie in der Kapelle Abschied von ihrem Vater nehmen durfte. Der alte Reverend, der ein guter Freund ihres Vaters gewesen war, hielt eine schlichte Rede, die dem Baron gefallen hätte, dessen war Baronesse Malou gewiß. Als der Trauerzug sich von der Schloßkapelle aus zu der Familiengruft der Stonehavens in Bewegung setzte, kam die Sonne hervor. Eine dünne Schneedecke lag über den Wegen, und im Sonnenlicht glitzerte der Schnee, als sei er mit Diamanten übersät. Der Diamantring hingegen, den Baronesse Malou trug, war seit der Trauerfeier in der Kapelle wieder so glanzlos, als sei sein Feuer erloschen. Das Kettchen mit dem goldenen Hufeisen trug sie nicht, weil sie fürchtete, sobald sie es anlegte, wieder eine Attacke von Atemnot heraufzubeschwören. Die Schwellung und die Röte an ihrem Hals waren zurückgegangen und nicht mehr sichtbar. Aber an der Stelle, an der das Schmuckstück ihre Haut berührt hatte, war wie ein Brandmal ein kleiner, blutroter Fleck in Form des Hufeisens zurückgeblieben. Das Trauerkleid war hochgeschlossen, und der Kragen der schwarzen Pelzjacke, die sie darüber trug, machte es ihr leicht, vor Rob zu verbergen, daß sie seinen Glücksbringer nicht trug. Hatte sie ihm nicht versprochen, ihn immer zu tragen? Die letzten Minuten an der Gruft waren noch einmal sehr schlimm. »Erde zu Erde«, sagte der Reverend, »Asche zu Asche, Staub zu Staub.« Der Abschied war plötzlich so absolut
endgültig. Aber trotz des unbeschreiblichen Schmerzes, der ihr das Herz zerriß, blieben Baronesse Malous Augen tränenleer. Nachdem alles vorbei war, lud sie die Trauergäste zu einem kleinen Imbiß in das Schloß. Ihr Vater hatte einmal erwähnt, daß er sich das wünschen wurde, und das Personal hatte alles für eine reiche Brotzeit und einen guten Umtrunk vorbereitet. Baronesse Malou wurde nun bewußt, daß ihr Vater viele Dinge, die seinen Abschied von dieser Erde betrafen, im Laufe der Zeit wie unabsichtlich ganz beiläufig erwähnt hatte, so daß sie sich nun danach richten und danach handeln konnte. Das erleichterte ihr manche Entscheidung. So hatte Baron Reuben auch nicht gewünscht, daß sein Heimgang hochgestellten Persönlichkeiten aus seiner Diplomatenlaufbahn, entfernten Verwandten oder irgendwelchen Würdenträgern bekanntgegeben wurde, bevor die Trauerfeierlichkeit nicht vorbei war. ›Sonst würden nur eine Menge dummer Reden gehalten‹, hatte er gesagt, ›von denen die meisten nicht einmal ehrlich gemeint wären.‹ Auch an diesen Wunsch ihres Vaters hatte Baronesse Malou sich erinnert und ihn erfüllt. Aber daß seine Crofter gekommen waren, um ihm die letzte Ehre zu erweisen, darüber hätte er sich gewiß gefreut! Rob nahm an dem Imbiß in dem Schloß nicht teil. Er müsse sich um den Rappen kümmern, sagte er zu Baronesse Malou. »Es ist die Zeit für seinen täglichen Ausritt.« Der Rappe war das Lieblingspferd des Barons gewesen, und dieser hatte den Rappen jeden Morgen um die gleiche Zeit ›ein bißchen bewegt, damit er keine steifen Beine bekommt‹, wie er das genannt hatte. Aus dem ›bißchen bewegen‹ war dann meistens ein stundenlanger Ausritt geworden war. »Ich verstehe, Rob«, erwiderte Baronesse Malou traurig. »Du willst den Rappen ein bißchen bewegen, damit er keine steifen Beine bekommt, nicht wahr?«
Zunächst vermißte sie Rob während des Imbisses nicht. Aber als die Trauergäste sich dann nach und nach verabschiedeten und schließlich auch die letzten Gäste gingen, kam ihr das Castle auf einmal schrecklich leer vor, und sie wünschte sich, daß Rob bei ihr gewesen wäre. Das Personal räumte die Tische ab, und die meisten hatten noch immer verweinte Augen. »Wenn ich nur auch weinen könnte«, klagte Baronesse Malou leise der treuen Mamsell. »Weinen?« Die alte Frau sah Baronesse Malou erstaunt an. »Aber das konnten Sie doch noch nie, Baronesse. Nicht einmal als Kind, wenn Sie hingefallen sind und sich weh getan haben oder wenn sonst irgend eine Kinderkatastrophe über Sie hereingebrochen ist. Alle haben immer gesagt, daß unsere kleine Baronesse sehr tapfer ist, und das sind Sie gewiß auch gewesen.« Sie zögerte und senkte ihre Stimme ein wenig. »Aber ich habe damals gedacht, daß unsere kleine Baronesse vielleicht keine Tränen hat und deshalb nicht weinen kann!« »Gibt es das denn?« fragte Baronesse Malou bestürzt. »Ich meine, es ist doch nicht möglich, daß ein Mensch keine Tränen hat?« »Oh, es gibt auf dieser Welt eine Menge Dinge, die man nicht für möglich hält, Baronesse!« wich die Mamsell aus, und sie hatte es auf einmal eilig und behauptete, unbedingt in der Küche nach dem Rechten sehen zu müssen. Baronesse Malou flüchtete in ihr Zimmer. Sie kam sich so schrecklich allein gelassen vor. Wie sollte ihr Leben denn nun weitergehen? Darüber hatte sie sich nie Gedanken gemacht. Solange der Vater bei ihr gewesen war, hatten sie Pläne für die Zukunft immer gemeinsam geschmiedet. Niemals, dessen war sie sicher, hätte er es zugelassen, daß diese Frau, die behauptete, ihre Mutter zu sein,
sie auseinanderriß. Sie war überzeugt, daß die Behauptung eine Lüge war! Obwohl, warum hatte das Gespräch den Baron so ungeheuer erregt? Was für eine Bewandtnis hatte es mit dem ›Pakt‹, den er mit der Frau angeblich geschlossen hatte? Zweifel beschlichen Baronesse Malou. Sie war verstört und ratlos. Wie gut, daß es noch Rob in ihrem Leben gab, einen Menschen, der ihr von Kindheit an vertraut war und dem sie vertrauen konnte. Unwillkürlich griff sie nach dem goldenen Hufeisen, das in der Schmuckschale auf ihrem Frisiertisch lag, ließ es aber sofort erschrocken wieder zurückfallen, denn in dem gleichen Augenblick, als sie das Hufeisen berührte, durchzuckte ein derart höllischer Schmerz das Brandmal auf ihrer Haut, daß sie aufschrie. Ihr Blick fiel in den Spiegel. Kein Trugbild narrte sie darin, alle Dinge des Raumes befanden sich in der Wiedergabe des Spiegels an ihrem gewohnten Platz. Doch quer über das Spiegelglas waren mit einem roten Stift und in einer großzügigen Schrift Zahlen geschrieben. Und da war auch der Duft wieder, der Malou umschmeichelte, dieser unvergleichliche Duft, der Entzücken und Bangen zugleich in ihr auslöste. Wer hatte die Zahlen auf das Spiegelglas geschrieben? Was hatten sie zu bedeuten? Wie unter einem geheimen Zwang stehend, zog Baronesse Malou das Telefon zu sich heran und fing an, die Zahlen zu wählen. Wenn es denn eine Telefonnummer sein sollte, dann hätte es eine ausländische Handy-Nummer sein können.
Sie zuckte zurück, als der Ruf tatsächlich ankam. Eine sympathische Männerstimme meldete sich mit der Frage: »Baronesse Malou?« »Ja.« Ihr Herz klopfte wild vor Schrecken und heimlichem Entsetzen. »Und wer sind Sie?« »Ich bin Commander Sergio Varese.« »Ich kenne keinen Commander Sergio Varese.« »Wir werden uns bald kennen lernen. Ich bin der Pilot der Marchesa Terebinto.« »Und wer ist die Marchesa Terebinto?« »Ihre Frau Mutter, Baronesse.« Der Commander ließ ihr keine Zeit, eine weitere Frage zu stellen. »Wir werden Sie mit dem Helikopter abholen…« »Wer ist ›wir‹?« unterbrach Baronesse Malou energisch. Der Commander überging ihre Frage. »Der Helikopter landet in einer halben Stunde auf dem Schloßhof. Halten Sie sich bereit. Sie brauchen kein Gepäck. Seien Sie bitte pünktlich.« »Und wohin geht die Reise?« »Es tut mir leid, Baronesse, aber ich bin nicht befugt, Fragen zu beantworten. Weisung der Marchesa. Over.« Die Verbindung brach ab. Zorn schoß in Baronesse Malou hoch. So ging das nicht! Sie ließ sich nicht herumkommandieren, und sie konnte auch nicht einfach auf und davon! Sofort wollte sie zurückrufen, um das klarzustellen – aber die Zahlen auf dem Spiegelglas waren verschwunden. Das war der Gipfel! Baronesse Malou wurde immer wütender. Sie konnte Stonehaven nicht im Stich lassen, nicht ausgerechnet an dem Tag, an dem sie ihren Vater zu Grabe getragen hatte! Und was sollte sie dem Personal sagen? Was… Rob? Nein, sie wußte nicht einmal, wie sie es Rob hätte erklären sollen.
In dieser ganzen Geschichte waren zu viele Ungereimtheiten, zu viele Rätsel, zu vieles, das unheimlich, unerklärlich und mit dem Verstand nicht faßbar war. Andererseits, fädelte Baronesse Malou ihre Überlegungen zu einer logischen Gedankenkette, war die Begegnung mit der Marchesa vielleicht eine Chance, womöglich sogar die einzige Chance, um die Wahrheit zu ergründen? Ihr Entschluß war gefaßt, ehe ihr das richtig bewußt wurde. Nun handelte sie schnell und zielbewußt. Zuerst schrieb sie einige Zeilen an Rob. Sie schrieb ihm, daß sie für kurze Zeit fort mußte. »Es ist wichtig, glaube es mir!« Sie legte das Kettchen mit dem Hufeisen zu dem Brief und bat Rob, beides gut für sie aufzubewahren. »Ich werde Dir alles erklären, wenn ich zurück bin. Bis dahin vertraue ich Dir Stonehaven an. Du wirst es richtig machen, das weiß ich. Malou.« Sie versiegelte das Couvert und machte sich reisefertig. Die Zeit lief ihr davon. Eine halbe Stunde, das war nicht viel Zeit! Sie bat die Mamsell und den Butler ins Entree, und sie faßte sich so kurz wie möglich. Als sie die erschrockenen und verständnislosen Gesichter der beiden treuen alten Leute sah, fiel es ihr schwer, die richtigen Worte zu finden. »Ich muß für kurze Zeit fort«, sagte sie. »Ich habe für meinen Vater etwas Wichtiges zu erledigen, das nicht aufzuschieben ist.« Sie übergab den beiden Getreuen den Brief an Rob und bat, ihm das Couvert gleich nach ihrem Abflug auszuhändigen. »Abflug?« fragte die Mamsell mit zitternden Lippen und mit einem Gesichtsausdruck, als zweifle sie an Baronesse Malous Verstand. »Oh, Baronesse, womit wollen Sie denn fliegen? Hier ist doch weit und breit kein Flugplatz!« »Und was ist das?« fragte Baronesse Malou. Es war ein Geräusch, das rasch näher kam.
»Das hört sich ja an wie der Motor eines Helikopters«, murmelte der Butler ungläubig, und er lief zu dem Portal und machte es weit auf. Dünne Schneeflocken wehten herein. Kalt war es, und es dunkelte schon. »Ja, es ist ein Helikopter!« rief der Butler aufgeregt. »Er steuert das Castle an! Sieht so aus, als wolle er auf dem Schloßhof landen!« Die Lichter des Helikopters kamen rasch näher. »Sehen Sie, damit werde ich fliegen, Mamsell«, sagte Baronesse Malou, und sie versuchte, zu lächeln, doch es gelang ihr nicht recht. Dafür fand sie herzliche Worte des Abschieds. »Gebt gut acht auf euch, ihr beiden Lieben, und machte euch keine Sorgen um mich!« Die beiden Alten sahen ihr unglücklich nach, und die Herzen waren ihnen schwer vor Angst um ihre Baronesse. Sie wirkte so zart und verletzlich, wie sie da durch die sinkende Dunkelheit zu dem Helikopter lief, und der Schnee fiel dichter, schloß sich wie ein Theatervorhang über einem Kapitel von Baronesse Malous jungem Leben. Die Mamsell griff, einen Halt suchend, nach der Hand des Butlers und flüsterte mit tränenerstickter Stimme: »Sie hat nicht einmal eine Reisetasche mitgenommen! Ach, ich habe Angst um unsere Baronesse!« »Ich auch, Mamsell«, gestand der Butler bekümmert, »ich habe auch Angst um Baronesse Malou!« Hand in Hand blieben die beiden Alten stehen und froren und warteten, obwohl sie in der Dunkelheit und durch das Flockentreiben hindurch nichts mehr erkennen konnten. Sie wollten bleiben, bis der Hubschrauber abhob.
Doch das dauerte. So schnell ging das nicht.
Die Flügel des schwerfälligen Riesenvogels standen still, das Motorengeräusch war verstummt. An den Fenstern des Castle erschienen neugierige Gesichter. Doch kein Fenster wurde geöffnet, und da der Butler und die Mamsell vor dem Portal standen, wagte es niemand, ungebeten die Außenbeleuchtung einzuschalten. So sah auch niemand, was bei dem Helikopter geschah. Der Commander kam Baronesse Malou einige Schritte entgegen, salutierte und stellte sich vor: »Ich bin Commander Sergio Varese, Baronesse.« Himmel, war das ein Mann! Jung, lang, schlank, athletisch, ein drahtiger, aufregender Typ. Baronesse Malou war beeindruckt. Er war ihr ritterlich und galant beim Einsteigen behilflich, bevor er seinen Platz am Steuer einnahm. Aber sie waren nicht allein an Bord. »Willkommen, liebste Nichte«, grüßte eine sonore, angenehme Männerstimme. »Ich bin Marchese Regone Terebinto und dein Onkel. Auf Wunsch meiner Schwester habe ich unseren Commander begleitet, um dich abzuholen. Aber bitte, sage nicht ›Onkel‹ zu mir, das würde mich zutiefst betrüben, denn ich würde mir dann noch älter vorkommen, als ich ohnehin schon bin.« So sehr alt konnte er, seiner Stimme nach zu schließen, noch nicht sein! Es irritierte Baronesse Malou, daß sie in der Dunkelheit, die in dem Helikopter herrschte, weder das Gesicht des Commanders noch das ihres Onkels erkennen konnte. Bis zu diesem Augenblick hatte sie überhaupt nicht gewußt, daß sie, vorausgesetzt, daß die Marchesa tatsächlich ihre Mutter war, einen Onkel mütterlicherseits besaß. »Hallo, Regone«, erwiderte sie seinen Willkommensgruß mit großer Zurückhaltung. »Brav, daß du nicht ›Onkel‹ gesagt hast!« freute er sich. »Oh, ich merke, unser Commander wird ungeduldig. Aber vor dem
Start sei uns doch ein Willkommensdrink genehmigt. Es ist ein amüsanter Cocktail, ich habe ihn höchstselbst für diesen großen Augenblick gemixt!« Baronesse Malou wollte nichts trinken, aber sie wollte auch nicht unhöflich sein, deshalb nahm sie den Cocktailbecher entgegen, den der Marchese ihr reichte. Flüchtig berührten sich dabei ihre Hände und ein eigenartiges Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins überlief Baronesse Malou. Doch da war auch etwas, das sich nicht nur verwirrte, sondern in eine trügerische Sicherheit einlullte und das war der Duft, der dem Cocktailbecher entströmte, denn es war der Duft, den sie so gut kannte, von ihrer Kindheit an. »Trinken wir ex!« bat der Marchese. »Leeren wir unsere Becher bis auf den Grund, so wie es sich für einen Willkommenstrunk gehört. Ich hoffe doch, du wirst meinem speziell für diesen Augenblick kreierten Drink die Ehre antun, ihn bis zum letzten Tropfen zu genießen?« Und so leerte Baronesse Malou den Becher bis zur Neige. Der Cocktail, den der Marchese gemixt hatte, mundete köstlich und ihr war, als trinke sie den Duft, der sie wieder mit Entzücken und Bangen erfüllte. Eine wohlige Müdigkeit überkam sie, gegen die sie nicht anzukämpfen vermochte, und sie wollte das auch gar nicht. Mit einem leisen Seufzer lehnte sie den Kopf zurück und machte die Augen zu. Es war angenehm, davon zu gleiten und alles zurückzulassen, den Schmerz, den Kummer, die Ängste. Sie fühlte sich auf einmal herrlich leicht und frei. Vorsichtig nahm der Marchesse den Cocktailbecher aus Baronesse Malous kraftloser Hand. »Wie wirkt der Drink?« fragte der Commander nervös. »Hervorragend.« »Ist alles in Ordnung?«
»Was sollte denn in Unordnung sein?« Des Marcheses leises Lachen verriet Genugtuung und unverhohlene Häme. »Wann können wir endlich starten?« »Sofort, mein Junge. Die Baronesse wird erst, wenn wir in dem Palazzo bei der Marchesa sind, wieder zu sich kommen.«
Als Baronesse Malou langsam wieder zu sich kam, fühlte sie Seide. Ihre Hände streichelten Seide! Aber ihre Augen sahen, noch in Traumbilder eingesponnen, unendliche grüne Wälder, einen tiefen, tiefen See und sumpfige Wiesen, in denen Blumen blühten, deren Schönheit sie entzückte. Doch es waren nicht die Wälder und Wiesen Schottlands, und auch der EyreSee war es nicht. Die Bilder wechselten rasch, und sie kehrte in eine Traumkulisse zurück, in dem sie schon einmal gewesen war, in eine öde Steppe, durch die Wildpferde galoppierten und eine einsame Karawane müde ihres Weges zog. Und sie hörte Stimmen! Sie kannte diese Stimmen. Aber es waren Stimmen ohne Gesichter. Was sie sagten, konnte sie nicht verstehen, denn sie redeten leise, klangen weit fort. Doch die Stimmen redeten nur wenige Schritte von Baronesse Malou entfernt hinter einer geschlossenen Tür. In dem Roten Salon des Palazzo Terebinto nahm die Marchesa die Berichte des Commanders und des Marchese entgegen. Der Commander meldete, daß die ›Aktion Stonehaven‹ planmäßig verlaufen sei. Die Marchesa, eine hinreißend schöne rothaarige Frau stand an dem Panoramafenster und blickte von dem Pinienhügel herab auf die Landschaft, die zu ihren Füßen lag. Ein zauberhafter Herbsttag dämmerte herauf über der Riviera dei
Fiori, und die aufgehende Sonne zog eine Goldstraße durch das ligurische Meer. Langsam wandte die Marchesa sich um, faßte den Commander scharf in den Blick. Sie hatte eigenartig geschnittene, sehr helle grüne Augen, die an die Augen edler mongolischer Schönheiten erinnerten. Die Lider wirkten ein wenig schwer, die Wangenknochen waren hoch angesetzt, ein asiatischer Hauch lag über ihrer Erscheinung. »Keine Zwischenfälle, Commander?« forschte sie mit eisiger Eindringlichkeit. »Keine Zwischenfälle, Marchesa.« »Auch nicht bei dem riskanten Wechsel der Passagiere von dem Hubschrauber in den Terebinto-Jet?« »Auch das lief reibungslos.« »Mit der Charter des Helikopters gab es keine Schwierigkeiten?« »Nein. In diesem unwegsamen Land ist es wohl nicht ungewöhnlich, daß Helikopter für Kurzflüge gechartert werden.« »Wir haben also mit keinen nachträglichen Unannehmlichkeiten zu rechnen?« »Nein, Marchesa. Dafür verbürge ich mich.« »Danke, Commander. Wenn es sich so verhält, wie Sie sagen, haben Sie saubere Arbeit geleistet. Sie können gehen. Aber halten Sie sich abrufbereit.« »Sehr wohl, Marchesa.« Sie wartete, bis der Commander gegangen war, bevor sie sich dem Marchese zuwandte. »Nun zu dir, Regone. Was hast du zu berichten?« »Auftrag ausgeführt. Punkt.« Damit war sie nicht zufrieden. »Das ist keine Antwort auf meine Frage!« »Was willst du denn noch hören?«
»Alles. Ich will alles wissen!« »Vertraust du mir vielleicht nicht?« »Ich vertraue nur mir selbst!« »Was für eine amüsante Beschäftigung!« Der Marchese war ein schlanker, eleganter Herr mit leicht ergrauten Schläfen, ein gut aussehender, südländischer Aristokrat, der seiner Schwester äußerlich überhaupt nicht glich. »Es gibt nichts weiter zu berichten, und außerdem«, fuhr er ärgerlich fort, »gefällt mir der Ton nicht, in dem du mit mir redest. Ich bin nicht dein Untergebener, sondern dein Bruder, und rangmäßig bin ich dir in der Hexen-Hierarchie durchaus ebenbürtig und gleichgestellt.« »Na schön, Hexenmeister!« Sie machte eine wegwerfende Geste, änderte ihren Befehlston aber doch etwas, als sie ungeduldig fragte: »Es geht Malou gut?« »Ich würde mein Handwerk miserabel beherrschen, wenn es ihr schlecht ginge. Natürlich geht es ihr gut.« »Und sie wird durch deinen Höllendrink keinen Schaden nehmen?« »Das war kein Höllendrink«, brauste der Marchese auf, »sondern eine sorgsam zusammengestellte Kräutermixtur, die Malou bunte Träume beschert hat…« »Träume – wovon?« unterbrach die Marchesa scharf. »Von den Wäldern der Taiga, von Sumpfgelände und schillernden Blumen, von Steppe und Wildpferden und einer einsamen Karawane, die über die Seidenstraße zog.« »Du wirst nie ein großer Teufel werden!« Die Marchesa zog verächtlich die Brauen Hoch. »Du wirst immer nur ein kleiner Hexenmeister bleiben. Warum hast du ihr nicht andere, lockendere Träume beschert, die unserem Vorhaben nützlicher gewesen wären als die Wälder oder langweiligen Wildpferde in der Steppenöde?«
»Du bist nervös, liebe Schwester«, stellte der Marchese mit aufreizender Gelassenheit fest. »Du stehst unter Druck, nicht wahr?« Als er sah, daß Zornesröte in ihre Wangen schoß, fügte er noch maliziös hinzu: »Irre ich mich oder setzt vielleicht der Meister höchstpersönlich dich unter Druck?« »Er will nicht länger warten!« fauchte die Marchesa. »Keinen Tag, keine Stunde länger. Er will Malou, und er will sie sofort. Von uns erwartet er die gebotene Ergebenheit und, den Erfolg! Und vergiß nicht, Regone, daß wir im gleichen Boot sitzen, du und ich. Wenn wir den Wunsch des Meisters nicht erfüllen, und er hat achtzehn Jahre auf die Erfüllung dieses Wunsches gewartet, wird seine Rache fürchterlich sein und seine Strafe uns beide treffen. Aus und vorbei wäre es mit Glanz und Reichtum eines schönen Lebens. Dann könnten wir die nächsten paar Jahrhunderte als erbärmliche Teufel der untersten Kaste niedere Dienste verrichten, hungern und betteln und für das geringste Versäumnis exemplarisch bestraft werden, wann und wie immer es dem Meister gefällt!« »Das wäre ja in der Tat die Hölle!« spottete der Marchese wenig beeindruckt. Er schüttelte den Kopf. »Nachdem bis zu diesem Zeitpunkt alles glatt gelaufen ist, was sollte denn jetzt noch schiefgehen?« »Daß Malou, sobald sie die Wahrheit erfährt, sich weigert, dem Meister zu Willen zu sein. Noch kann sie das tun. Noch ist sie Herrin ihres Willens, und wir können sie zu nichts zwingen. Wenn sie so stark ist, wie ich befürchte, haben wir ein Problem.« Der Marchese sah das nicht so eng. »Dann setze doch deine Wunderwaffe ein: Sergio. Es ist nicht das erste Mal, daß er den Job des Verführers elegant erledigt, er ist grandios in dieser Hinsicht, ohne dem Meister ins Gehege seiner Lüste zu kommen. Malou wird sich blind in Sergio verlieben und tun, was man von ihr verlangt.«
»Oder auch nicht.« Fröstelnd zog die Marchesa die Schultern zusammen, obwohl die Sonne warm durch das Fenster fiel. Der Marchese beobachtete sie aufmerksam. Sie schien ernstlich beunruhigt zu sein und das hieß ihn im stillen frohlocken. »Wann geruhen der Meister zu erscheinen?« »Wann es ihm gefällt.« »Dann bleibt uns nicht viel Zeit.« Die Miene des Marchese wurde flüchtig bedenklich, er faßte sich jedoch sofort wieder. »Wann trifft der Hexenrat zusammen?« »Heute Nacht.« »An unserem üblichen Treff.« »Um die Siegerin der Schau zu küren? Die steht doch jetzt schon fest!« »Ohne die Zustimmung des Hexenrates geht nichts.« »Aber nach der Schau findet doch erst mal die Fete statt?« »Der Hexenrat tagt nach der Fete, Regone, die Nacht ist lang.« »Aber der Tag ist kurz.« Der Marchese erteilte seine Order. »Malou wird bald aufwachen. Sorge dafür, daß sie viel Obst zu sich nimmt, stärkende Säfte, frisches Gemüse, Salate, gewürzt mit unseren speziellen Kräutern und Fisch aus unserem Teich. Wenn sie bleich und erschöpft ist, wird der Meister wenig Freude an ihr haben!« Knapp und präzise gab er seine Weisungen. »Ich werde solange schon einmal Sergio informieren, damit er weiß, was er zu tun und«, fügte er mit einem perfiden Lächeln hinzu, »was er zu lassen hat.« Die Marchesa und der Marchese maßen sich mit kalten Blicken. Sie waren zwei Leitwölfe eines Hexenrudels, keiner vermochte es, sich dem anderen unterzuordnen, und das war ihr Verhängnis. Sie waren einander ebenbürtig! Jeder lauerte nur auf eine Chance, den anderen zu vernichten. Der Marchese wußte, daß die Marchesa unangreifbar war. Sie hatte nur eine einzige
Schwachstelle – das war ihre Tochter Malou. Und das war vielleicht seine Chance! Es gab nur einen Weg, diese Chance zu nützen, und er zögerte nicht, den Weg zu gehen! Die Marchesa wußte, daß er ein gefährlicher Ränkeschmied war. »Ich hasse dich, Bruder«, schleuderte sie ihm ins Gesicht. »Nur leider, ohne dich geht es nicht.« »Ich hasse dich auch, Schwester.« Er verbeugte sich ironisch. »Doch leider, nur gemeinsam sind wir stark!« Mit lässiger Eleganz zelebrierte der Marchese wieder eine spöttische Verneigung und zog sich zurück. Die Marchesa wartete noch einige Atemzüge lang, versuchte, ihre aufsteigenden Ängste niederzukämpfen und sich auf die bevorstehende heikle Aufgabe zu konzentrieren. Es war eine Aufgabe, die ihr alles abverlangen würde, aber es ging auch um alles, um Reichtum, Macht, Schönheit, unverwelkbare Jugend, gesellschaftlichen Glanz, geschäftlichen Erfolg und den Ruf eine geniale Modeschöpferin und große Wohltäterin der Armen zu sein. Wie hätte sie dies alles einer sentimentalen Regung wegen aufs Spiel setzen können! Sie würde also tun, was der Meister von ihr verlangte und erwartete. Sie würde ihre Tochter umarmen, mit scheinbarer Liebe umgarnen, und jeder Kuß, den sie ihr schenken würde, er würde ein Verrat sein. Im Grunde hatte die Marchesa sich seit achtzehn Jahren vor diesem Augenblick gefürchtet. Doch Ängstliche und Kleingläubige, Zweifler, Zauderer und Versager gar, die ihm nicht gehorchten und seine Forderungen nicht bedingungslos erfüllten, bestrafte der Meister mit Verachtung und grausamer Höllenpein. Nein, die Marchesa hatte keine Wahl, wenn sie denn nicht bereit dazu war, alles zu verlieren und elendiglich zu Grunde zu gehen.
Sie nahm sich zusammen. Entschlossen gab sie die Weisungen weiter, die der Marchese ihr erteilt hatte, orderte Obst, Gemüse, Salate, Fisch und stärkende Säfte für die Schlummernde. Persönlich arrangierte sie alles auf dem Servierwagen, schickte die Zofe fort und öffnete die geschlossene Tür, die von dem Roten Salon in das Zimmer führte, in dem Baronesse Malou schlief. Es war der entscheidende Augenblick! Von diesem Augenblick der ersten Begegnung an mußte es der Marchesa gelingen, mit List, Schläue und unter Einsatz aller ihr zu Gebote stehenden Hexenkünste Baronesse Malou den Wünschen und dem Willen des Meisters gefügig zu machen. Leise trat sie ein. Baronesse Malou schlief noch immer. Der Palazzo Terebinto auf dem Pinienhügel war in das helle Licht der Morgensonne getaucht, und heiter fiel die Sonne auf die Schläferin. Ein warmer, freundlicher Herbsttag zog wieder herauf über der Riviera del Fiori.
In Stonehaven war es kalt und der Morgen war faltig und grau. In der Nacht hatte es geschneit. Rob war schon zeitig auf den Beinen. Er hatte keinen Schlaf gefunden und die innere Unruhe, die ihn plagte, trieb ihn auch am frühen Morgen um. Er verstand das alles nicht, weder die Botschaft, die Baronesse Malou ihm hinterlassen und warum sie ihm sein Geschenk zurückgegeben hatte, noch ihr merkwürdiges Verschwinden aus Stonehaven-Castle. Diese unerklärlichen Geschehnisse, noch am Tag des Abschieds von Baron Reuben, beschworen düstere Ahnungen in ihm herauf. Immer wieder fragte er sich, ob sie in Zusammenhang mit dem standen, was
Baronesse Malou ihm über das Telefongespräch erzählt hatte? Was aber hatte dann der winzige Blutflecken über dem Herzen des Barons zu bedeuten und was die nadelfeine Narbe auf seiner Haut, die Rob aufgefallen war, als er dem Baron den Jagdrock angelegt hatte? Zu dem Zeitpunkt, als der Helikopter Baronesse Malou abgeholt hatte, war Rob in den Stallungen bei den Pferden beschäftigt gewesen und hatte von dem spektakulären Aufbruch der Baronesse erst durch den verstörten Butler erfahren, der ihm Baronesse Malous Brief überbracht hatte. Dieser Brief war das Schlimmste! Sein Inhalt schürte Robs Ängste um das Mädchen, das er über alles liebte. Er spürte die unsichtbaren Schwingen dunkler Mächte, die Baronesse Malou und auch Stonehaven bedrohten. Es hielt ihn nicht in dem kleinen Jagdhaus unweit des Castle, das er bewohnte, seit er in den persönlichen Dienst des Barons berufen worden war. Wenigstens, gebot er sich, konnte er versuchen, die Gefahr, die Stonehaven bedrohte, aufzuspüren. Die kalte Morgenluft tat ihm wohl. Die dünne Schneedecke, die sich während der Nacht ausgebreitet hatte, war gefroren und knirschte unter seinen langen Schritten, als er von dem Jagdhaus zu den Stallungen hinüberging. Er sattelte den Fuchs ›Diavolo‹, einen ungebärdigen Hengst, der seinen italienischen Namen ›Satan‹ zu Recht trug. Eines Tages hatte er in einer leeren Box gestanden, war einfach dagewesen und geblieben und niemand schien ihn vermißt zu haben. Außer Rob und Baronesse Malou kam niemand mit ihm zurecht. Querfeldein sprengte Rob durch den Forst von Stonehaven, getrieben von quälenden Ängsten. Doch alles war ruhig. Nichts deutete auf irgend etwas Ungewöhnliches hin.
Die Sicht war freilich diffus, denn zu tief war der Himmel von Wolken verhangen, zu schwach war die Helligkeit des Morgens, um einen klaren Durchblick zu gewähren. Von den verschneiten Baumkronen bröselten dünne Flocken herab, sobald die frierenden Vögel sich bewegten, die in den Kronen Schutz vor der nächtlichen Kälte gesucht hatten. Der Fuchs wurde unruhig. Die Art, wie er den Kopf hochwarf verriet ebenso wie die zögerliche Umsetzung der von Rob gegebenen Reiterbefehle, daß Diavolo ungewöhnlich nervös, ja, sogar ängstlich war. Plötzlich glaubte Rob in einiger Entfernung eine Gestalt zu erkennen, die sich in dem Wald so gemächlich fortbewegte, als sei sie damit beschäftigt, alles sehr genau zu betrachten. Auf Stonehaven trieben sich keine Wegelagerer herum, und ein Wanderer verirrte sich bei Schnee und Kälte um diese frühe Morgenstunde gewiß nicht hierher. Es irritierte Rob, daß sich auf dem Schnee keine Fußspuren abzeichneten und daß die Entfernung gleich blieb, obwohl er sich auf Diavolo schneller fortbewegte als die Gestalt. »Hallo!« rief er die Gestalt schließlich laut an. »Wer sind Sie und was suchen Sie hier?« Die Gestalt reagierte auf den Zuruf und blieb stehen. Aber Diavolo scheute und sträubte sich, weiter zu galoppieren. So störrisch und ungebärdig hatte Rob den Hengst noch nie erlebt. Sie waren doch Freunde, der Fuchs und er, kannten sich, waren einander vertraut. »Vorwärts, Diavolo!« gebot er. Doch Diavolo keilte aus und rührte sich nicht. Dafür kam die Gestalt auf sie zu. »Zwingen Sie das Pferd nicht, etwas zu tun, was es nicht tun will«, empfahl eine sonore Männerstimme liebenswürdig. »Feurige Füchse sind zuweilen unberechenbar. Gestatten Sie deshalb, daß ich mich in einiger Entfernung halte.«
Die Entfernung war nun nur noch so gering, daß Rob ihn zu sehen vermochte. Er war ein Fremder, ein in ei nen kostbaren Pelz gehüllter, hochgewachsener, schlanker Gentleman. Er trug Reiterstiefel und eine elegante Pelzmütze auf dem dichten weißen Haar. Seine Haltung war stolz und selbstbewußt. Er sah aus wie ein Herr, der Befehle erteilte, doch niemals Befehle entgegennahm. Sein interessantes Männergesicht hatte einen leicht slawischen Einschlag, und sein Lächeln war überaus gewinnend. »Sie wollten wissen, was ich hier mache?« fragte er. »Nun, ich sehe mich ein wenig um. Stonehaven gefällt mir. Das Castle, das Umfeld, die Wälder, alles. Ich würde es gerne kaufen.« Rob gab es einen Stich mitten durch das Herz. Auch wenn der Baron ihn bezüglich seiner privaten Vergangenheit nie in sein Vertrauen gezogen hatte, wußte Rob im übrigen über die Sorgen, die der Baron gehabt hatte, doch gut Bescheid. Er wußte, daß es nicht zum Besten um Stonehaven stand und daß der Baron sich deshalb mit dem Gedanken getragen hatte, einiges an Land, Forst und Jagden zu verkaufen, um die Weltreise mit seiner Tochter finanzieren zu können. Aber nie war die Rede davon gewesen, daß er beabsichtigt hätte, ganz Stonehaven aufzugeben. Das konnte Rob sich auch nicht vorstellen. »Stonehaven steht nicht zum Verkauf!« stieß er hervor. »Noch nicht«, bestätigte der Gentleman. »Ganz recht, es steht noch nicht zum Verkauf. Doch manchmal ändern die Gegebenheiten sich schnell. Wir werden gewiß bald voneinander hören!« »Von wem werden wir hören, Sir?« »Von Mister Master. Und Ihr Name ist Rob, nicht wahr?« »Robert, ja.«
»Aber Ihre Freunde nennen Sie ›Rob‹. Nun, ich hoffe, daß ich bald zu Ihren Freunden zählen werde.« Er machte eine rasche, liebenswürdig verabschiedende Geste. Der Fuchs bäumte sich wild schnaubend auf, bleckte die Zähne, rollte mit den Augen und drehte sich auf den Hinterläufen um sich selbst. Rob brauchte alle Kraft, um sich im Sattel zu halten. Er kämpfte mit dem tobenden Hengst, der wie irre war vor Angst. Als Diavolo schließlich schweißbedeckt, mit Schaum vor dem Maul und zitternden Flanken erschöpft stehen blieb, war der Fremde verschwunden. An der Stelle, an der er gestanden hatte, zeichnete sich in dem Schnee ein seltsames Mal ab. Es sah aus wie ein Rapunzelgewächs, das in den Wäldern wucherte. Die ›Ährige Rapunzel‹ wurde es genannt oder auch ›Fuchsschwanz‹. Es gedieh in Stauden mit rübenförmigen Wurzeln, und die Kinder der Crofter sammelten auf Geheiß ihrer Mütter die Wurzeln und jungen Blätter, weil sich daraus ein knackiger Salat oder wohlschmeckendes Gemüse zubereiten ließ. Aber das Gewächs, wußte Rob, es hatte noch einen anderen Namen. Es hieß nicht nur die ›Ährige Rapunzel‹ oder ›Fuchsschwanz‹. Man nannte es auch – ›Teufelskralle‹.
Um die gleiche Zeit schlug an der Blumenküste in dem Palazzo Terebinto auf dem Pinienhügel Baronesse Malou die Augen auf. Sie sah die Sonne und eine wunderschöne fremde Frau. Ihre Hände streichelten immer noch Seide. Sie fühlte sich gut. »Willkommen, Malou«, grüßte die Fremde, und sie lächelte. »Willkommen zu Hause.«
Baronesse Malou hatte überhaupt nicht das Empfinden, jemals fortgewesen zu sein. »Du mußt etwas essen und trinken, damit du zu Kräften kommst«, fuhr die Fremde fort. War sie eine Fremde? »Ich glaube, ich weiß, wer du bist«, sagte Baronesse Malou. »Natürlich weißt du das. Ich bin schließlich deine Mutter.« »Aber du bist so jung, und so schön…« »Ach, weißt du, das täuscht ein wenig. Jung bin ich nicht mehr, und was die Schönheit betrifft, so brauchst du nur in den Spiegel zu sehen. Dein Gesicht und mein Gesicht, sie gleichen sich.« Das war es, was die Marchesa verwirrte, diese unglaubliche Ähnlichkeit! Vor allem die Augen! Ja, das waren ihre Augen! Doch die Art, wie Malou sich aufrichtete, wie sie den Kopf ein wenig schief legte, um nachzudenken, das erinnerte die Marchesa an Baron Reuben. Die Erinnerungen an jenen Liebessommer in der Taiga überfielen sie mit einer Wucht, der sie nicht gewachsen war. Hatte es je ein echtes Gefühl in ihrem Leben gegeben, so hatte sie es für den Baron empfunden, damals, es war so lange her. Aus der Liebe, die sie verbunden, aus dem Glück, das sie geteilt hatten, war eine Tragödie geworden. Und Malou, das Kind ihrer Liebe, war den dunklen Mächten ausgeliefert. Fürsorglich rollte die Marchesa den Servierwagen an das Himmelbett, strich die seidene Decke glatt, die Baronesse Malous Hände immer noch streichelten. »Iß und trinke. Der Tag wird lange und anstrengend für dich werden. Der Commander wird dich nach Alassio bringen. Unsere Firma in Mailand hat eine Boutique in Alassio, und wir haben dort am Nachmittag eine kleine Modenschau. Du wirst auf dem Laufsteg einen großen Triumph feiern.«
Sie beobachtete Baronesse Malou aufmerksam. Offensichtlich hatte der Marchese mit seinem Kräutermix wirklich gute Arbeit geleistet, denn Baronesse Malou schien sich an nichts, was in ihrer Vergangenheit lag, zu erinnern. Sie erwähnte nichts, und gab sich so unbefangen, nahm alles so selbstverständlich, als sei sie schon immer in dem Palazzo und bei ihrer Mutter gewesen. Sie griff tüchtig zu, und es schmeckte ihr. Das war gut so, denn der Hexentrank hatte an ihren Kräften gezehrt, auch wenn ihr das nicht bewußt wurde. »Wirst du denn nicht mitkommen?« fragte sie, und es klang enttäuscht. Dieser Hauch von Enttäuschung tat der Marchesa wohl und erschreckte sie zugleich, denn wenn sie sich etwas nicht leisten konnte, dann waren es Gefühle! Malou war so rührend arglos, so offen und zutraulich, daß der Gedanke an das, was ihr bevorstand, der Marchesa ins Herz schnitt. Sie konnte es verhindern, gewiß, doch vor den Folgen dieses Handelns schreckte sie zurück. »Ich werde nachkommen«, versprach sie. Es war besser, wenn sie Malou mit dem Commander erst einmal allein ließ. »Ich habe hier ziemlich viel zu tun. Wir sehen uns dann bei der Schau.« Baronesse Malou stellte keine Fragen. Nur die Sache mit dem Laufsteg beunruhigte sie. »Ich fürchte, das kann ich nicht.« »Was man will, das kann man«, setzte die Marchesa dagegen. »Und du willst es doch, oder?« »Ich glaube schon. Ich stelle es mir jedenfalls fantastisch vor. Und du glaubst wirklich, daß ich es kann?« »Ja. Du wirst es können.« Baronesse Malou mußte es können, denn die Schau war die Prüfung, die sie bestehen mußte, um in die Hexenzunft aufgenommen zu werden. »Es ist
ja auch ganz einfach«, versicherte die Marchesa, »du brauchst nur einen Fuß vor den anderen zu setzen.« Sie lächelte aufmunternd. »Alles, was du wissen mußt, wird dir gesagt und gezeigt werden. Und der Commander wird ein angenehmer Begleiter sein.« »Der Commander – ich kenne ihn, nicht wahr?« fragte Baronesse Malou grüblerisch. Das war ein gefährlicher Augenblick. Auf keinen Fall durfte die Erinnerung an ihren Abflug von Stonehaven in Baronesse Malou wach werden! Später, wenn alles vorbei war, wenn sie zu der Zunft gehörte, war das nicht mehr wichtig, denn dann war die Entscheidung unwiderruflich gefallen. Die Marchesa rettete sich in ein amüsiertes Lachen. »Wer kennt den Commander nicht?« stellte sie eine Gegenfrage. »So, und wenn du nun satt bist, dann beeile dich. Dein Bad ist gerichtet, deine Garderobe auch. Ich denke, du solltest ganz in Weiß gehen, schließlich wirst du heute Abend zum krönenden Abschluß der Schau das Brautkleid vorführen!« Baronesse Malou mußte an den Commander denken, an diesen gutaussehenden Mann, der ihr Herz schon einmal hatte schneller schlagen lassen. Nur – wann und wo war das gewesen? Die Marchesa ließ ihr keine Zeit, um darüber nachzudenken. Sie zog ihr die Decke weg. Baronesse Malou lachte und hüpfte aus dem prachtvollen Himmelbett, in dem sie geruht hatte. Nicht einmal das zauberhafte Neglige, das sie trug, versetzte sie in Erstaunen, irgendwie hatte sie einfach das Empfinden, daß alles so sein mußte wie es war. Sie warf einen Blick aus dem Fenster und war entzückt. »Dieser Duft!« Sie seufzte glücklich. Es war ein vertrauter Duft, nur wußte sie nicht, woher sie ihn kannte? »Das sind die Pinien«, murmelte die Marchesa, sorgsam darauf bedacht, kein Wort zu sagen, das Baronesse Malous
Erinnerungsvermögen hätte zurückrufen können. Sie tat sehr geschäftig. »Ich sage schon einmal dem Commander Bescheid, daß ihr in einer halben Stunde starten könnt. Oder wirst du länger brauchen?« »Gewiß nicht!« »Dann also bis gleich!« »Ja, ist gut.« Es fiel der Marchesa auf, daß ihre Tochter eine Anrede wohl instinktiv vermied. Wie hätte sie auch ›Mutter‹ zu ihr sagen können, zu ihr, die ihr Baby auf Befehl des Meisters dem. Baron überlassen und sich achtzehn Jahre lang nicht um ihr Kind gekümmert hatte? Ganz so war das freilich nicht gewesen! Sie hatte oft Baronesse Malous Nähe gesucht, doch eben nur auf die ihr mögliche Weise. Niemals hätte die Marchesa es gewagt, sich dem Befehl des Meisters zu widersetzen. Sie hatte sich in die Gewalt der dunklen Mächte gegeben und also an den Pakt gehalten, den sie auf des Meisters Geheiß hin mit dem Baron geschlossen hatte, achtzehn Jahre lang. Die Jahre waren so schnell vergangen, und waren doch eine lange Zeit gewesen. Konnte es möglich sein, fragte sich die Marchesa bestürzt, daß sie während dieser ganzen Zeit Sehnsucht nach ihrem Kind gehabt hatte? Auf einmal fühlte sie sich unendlich erschöpft. Lange, das spürte sie, durfte das böse Spiel nicht dauern, es mußte alles schnell gehen, damit es vollbracht war, bevor ihre Kräfte sie verließen und sie etwas tat, das sie ins Verderben stürzte. Sie rief den Commander an. »Sie können in Kürze starten, Commander. Der Marchese hat Ihnen seine Weisungen erteilt?« »Jawohl, Marchesa.«
»Dann halten Sie sich daran.« Als sie auflegte, überlief sie ein Frösteln. Sie traute dem Marchese nicht! Er plante etwas! Sie spürte das. Nur konnte sie ihm nichts beweisen, zumal er sich offensichtlich an ihre Abmachung gehalten hatte, was den Kräutermix betraf. Doch sie wußte, wie gefährlich der Marchese war! Was hatte er vor, um die Vormachtstellung seiner Schwester zu untergraben und selbst ihre Machtposition einzunehmen? Die Tür flog auf. »Fertig!« verkündete Baronesse Malou strahlend. Da stand sie, ein Bündel Anmut und Jugend und in einer hinreißenden weißen Robe sah sie bezaubernd aus. »Wie schön du bist«, flüsterte die Marchesa bewundernd. »Ich gefalle dir also?« fragte Baronesse Malou ein wenig ängstlich. »O ja. Du gefällst mir sehr, mein Kind.« Das hätte die Marchesa nicht sagen dürfen, nicht dieses ›mein Kind‹, es waren zwei Worte so voll Zärtlichkeit gewesen. »Danke, Mutter«, erwiderte Baronesse Malou herzlich. Einige Herzschläge lang standen sie sich gegenüber, und Baronesse Malou spürte wie ihre Zuneigung zu der Frau wuchs, die ihre Mutter war, und die Marchesa erkannte, daß ihr Herz nicht gefühllos geworden war. Sie war einmal den falschen Weg gegangen, damals, vor achtzehn Jahren. Sollte auch Malou diesen Weg gehen? Es war ein Glück, daß der Commander kam, um Baronesse Malou abzuholen. Ihr Herz schlug wieder schneller, als sie ihn sah, genau so wie schon einmal. Wenn sie nur gewußt hätte, wann und wo und in welchem Zusammenhang das gewesen war? Seine bewundernden Blicke machten sie erröten. Ob des Commanders Herz auch schneller schlug, wenn er sie sah?
Rob gab es in ihrem Leben ja nicht mehr, seit sie in den Palazzo gekommen war, denn ihr Erinnerungsvermögen war ausgelöscht. Dabei war sie Rob doch sehr herzlich zugetan gewesen, und manchmal hatte sie sogar gedacht, daß ihr Vater glücklich darüber gewesen wäre, wenn aus Rob und ihr einmal ein Paar geworden wäre. Einen wunderschönen Tag wünschte die Marchesa ihrer Tochter. »Du wirst viel sehen und erleben. Neues, Interessantes, Eleganz, Glanz und Glimmer. Ach, genieße jeden Augenblick!« Das werde sie tun, versprach Baronesse Malou, sie warf der Marchesa eine Kußhand zu und wirbelte an der Seite des Commander davon. Die Marchesa sah den beiden nach, wie sie übermütig den Hügel zusammen hinunterliefen, und sie wäre dankbar dafür gewesen, wenn sie Tränen gehabt hätte. Doch sie mußte sich auf den Hexenrat vorbereiten, dessen Vorsitzende sie war und der frei darüber entscheiden konnte, ob ein neues Mitglied in die Hexenzunft aufgenommen wurde oder nicht. Wahrscheinlich war Überzeugungsarbeit nötig, um die Zustimmung der Hexen für Malou zu erhalten. Es gab genügend boshafte und gehässige Neiderinnen in der Zunft, die nur auf ihre Chance lauerten, um eine Trumpfkarte auszuspielen und eine unliebsame Rivalin loszuwerden. Die Marchesa ertappte sich dabei, daß sie froh darüber gewesen wäre, wenn der Rat nicht zugestimmt hätte, denn dann wäre Malou frei gewesen! In diesem Augenblick war es ihr gleichgültig, was danach mit ihr selbst geschehen würde. Sei wenigstens heute glücklich, mein Kind, wünschte sie sehnlichst, wenigstens heute, diesen einen Tag!
Es wurde ein Traumtag für Baronesse Malou!
Zuweilen glaubte sie wirklich, alles Wunderbare, das sie erlebte, nur zu träumen, denn sie befand sich in einem eigenartigen Schwebezustand zwischen Traum und Wirklichkeit. Alassio mit seinen lebhaften, winkeligen Gassen, seinen Hotels, Villen, Parkanlagen und Gärten, der alten Seemannskapelle und dem wundervollen Strand, dem eine kleine Insel in Form einer Schildkröte vorgelagert war, dieser zauberhafte alte Ort war wirklich! Dennoch hatte Baronesse Malou das Empfinden so leichtfüßig darüber zu schweben als tanze sie über einen Regenbogen. Oder lag es daran, daß der Commander, den Baronesse Malou immer aufregender fand, daß dieser amüsante Begleiter an ihrer Seite war? Er kannte sich aus in Alassio! Es gab keine Sehenswürdigkeit, auf die er Baronesse Malou in seiner witzigen und charmanten Art nicht aufmerksam machte. Sie genoß es in vollen Zügen in Begleitung dieses gutaussehenden Mannes durch Alassio zu streifen. O ja, das war sie, die Welt, nach der sie sich immer gesehnt hatte! Aber sie verschwendete keinen Gedanken daran, wann und wo diese Sehnsucht sie erfüllt hatte, zu sehr war sie mit der bunten Gegenwart beschäftigt. Alles, was zuvor gewesen war, befand sich gleichsam hinter Nebelschleiern, die ihr Denken und Fühlen nicht zu durchdringen vermochten. Sie unternahm auch keinen Versuch, es zu ergründen, denn sie wollte es gar nicht wissen, was hinter den Nebeln verborgen war! Aber es gab Momente, in denen sie mitten in dem quirligen Leben des spätsommerlichen Alassio von ihrem Tanz auf dem Regenbogen abzustürzen drohte. Einer dieser Momente war es, als sie mit dem Commander zusammen im Café Roma an der Via Dante eine Kleinigkeit aß. Sie lachten und scherzten zusammen. Baronesse Malou fiel ihre Serviette herunter, die wie ein erschreckter kleiner Vogel
unter den lisch flatterte. Der Commander bückte sich, um sie aufzuheben, dabei verschob sich ein wenig das Armband der kostbaren Uhr, die er am Handgelenk trug. »Was ist denn das an Ihrem Handgelenk, Commander?« fragte Baronesse Malou übermütig. »Etwa ein Tattoo? Das sieht ja komisch aus. Was haben Sie sich denn da tätowieren lassen?« Er schob das Armband rasch zurück und tat gekränkt, weil sie das Tattoo komisch fand. »Das ist nicht komisch, Baronesse!« »Sieht aber so aus«, beharrte sie. »Ist es ein 11er, ein Scherz oder was?« »Es ist eine Teufelskralle«, antwortete er kurz. Da war es Baronesse Malou, als streife sie in dem warmen Sonnenschein ein eisiger Hauch. Sie fröstelte und wurde blaß. Die Sonne bekomme ihr wohl nicht, meinte der Commander besorgt und überdies sei es höchste Zeit, an die Arbeit zu gehen. Sie brachen sehr schnell auf, aber sie mußten nicht lange gehen, denn die Boutique der Marchesa lag an der Via Dante unweit des Cafe Roma und war ein exklusives, nobles Geschäft, das den Namen ›Terebinto‹ trug. »Was heißt das eigentlich genau?« wollte Baronesse Malou wissen, als sie mit dem Commander zusammen die mit exquisiten Modellen und Accessoires dekorierten Schaufenster bewunderte. »Terebinto?« »Nun, es ist ein Name, und zwar der Name der Marchesa«, wich er aus. Das wußte Malou auch. »Aber Namen haben doch etwas zu bedeuten?« »Exakt bedeutet der Name ›Terpentinbaum‹«, antwortete der Commander etwas zögernd. »Und nicht exakt?«
Er überlegte kurz. »Pinie. Das ist der Baum, der einen Duftstoff spendet, nämlich das Pinienöl…« »Und der Palazzo Terebinto liegt auf dem Pinienhügel!« unterbrach Baronesse Malou lebhaft. »O ja. Ich kenne den Duft.« Nur, woher kannte sie ihn, und warum sah der Commander sie so forschend an? Dies war das zweite Mal, daß ein eisiger Hauch Baronesse Malou streifte an diesem Traumtag. Freilich verflog ihr Unbehagen rasch, als sie in die Boutique hineingingen. Baronesse Malou war überwältigt. Das war wirklich Glitzer und Glimmer, das war Mode vom Feinsten, von den ausgefallensten Modellen bis zu schlichten Creationen war jedes einzelne Stück eine modische Delikatesse. Es war ein herrliches Erlebnis für Baronesse Malou, sich überall umsehen zu dürfen und als Tochter der Marchesa wie eine große Dame behandelt zu werden. Da war das Empfinden alles in einem Traum zu erleben, wieder sehr stark, und die Vergangenheit hinter den Nebeln entglitt ihrem Bewußtsein vollkommen. Baronesse Malou probierte begeistert die eleganten Modelle an, und sie war einfach glücklich. Wenn ihr die Verkäuferinnen in der Boutique nur etwas sympathischer gewesen wären! Alle gaben sich ja die größte Mühe, sehr nett zu ihr zu sein, doch Baronesse Malou empfand eine heftige Abneigung gegen sie, vor allem gegen die Direktrice, eine spitznäsige, schon etwas ältere Dame. Dabei wies diese sie mit freundlicher Geduld für ihren Auftritt bei der Modenschau ein. Die Schau finde nicht in der Boutique, sondern in einer Villa statt, erläuterte sie, da der Platz in der Boutique für eine Schau zu beengt sei. Das irritierte Baronesse Malou, denn davon hatten weder die Marchesa noch der Commander etwas gesagt. Was das denn für eine Villa sei, wollte sie wissen?
»Es ist eine der schönsten Villen in dem Umfeld von Alassio.« Die Direktrice lächelte maliziös. »Sie ist genau der richtige Rahmen für eine Modenschau, und sie gehört einem einflußreichen, für die Firma Terebinto sehr wichtigen Mann.« Zu weiteren Erklärungen ließ sie sich nicht herab, sondern wechselte abrupt das Thema. »Es werden übrigens noch mehr Elevinnen da sein, die heute zum ersten Mal über den Laufsteg wandeln. Es ist sozusagen eine Eignungsprüfung. Sie werden also Konkurrenz haben, Baronesse, und nur eine Siegerin wird unter den Mädchen auserwählt!« Auch davon hatte die Marchesa nichts zu Baronesse Malou gesagt. »Sind es Mädchen, die das gelernt haben?« fragte sie bestürzt. »Ich meine, ein Model zu sein?« »Auch solche Mädchen, ja«, bestätigte die Direktrice wieder mit diesem unangenehmen, boshaften Lächeln. »Aber auch ungelernte Naturtalente wie Sie sind unter den Bewerberinnen.« »Ich weiß ja gar nicht, ob ich ein Naturtalent bin!« gestand Baronesse Malou ehrlich. »Ihre Frau Mutter ist überzeugt davon und das genügt«, erwiderte die Direktrice, und Baronesse Malou war nun ganz sicher, daß die Freundlichkeit der Spitznäsigen nicht echt war und sie der Marchesa eine Niederlage ihrer Tochter gegönnt hätte. Diesen Triumph gönnte wiederum Baronesse Malou der Spitznäsigen nicht! Wie hatte die Marchesa gesagt? ›Was man will, das kann man!‹ Nun, Baronesse Malou war grimmig entschlossen, zu wollen und auf dem Laufsteg die Auserwählte zu werden! Es beunruhigte sie allerdings, daß die Marchesa nicht kam und auch der Commander sich nicht blicken ließ, denn in der Boutique breitete sich Hektik aus.
Der Verkaufsraum wurde geschlossen, Koffer mit Schminkund Frisierutensilien wurden gepackt, Roben in Cellophan gehüllt, Schuhe, Perücken, Taschen, Schals, Modeschmuck und andere Accessoires in durchsichtige Tüten verfrachtet, so daß man gleich wußte, was drin war. Es herrschte ein unglaubliches Durcheinander, das jedoch nach einem ganz bestimmten System zu funktionieren schien. Die Spitznäsige hatte das Kommando, und die Verkäuferinnen ordneten sich ihren Anweisungen willig unter. Da saß jeder Handgriff, kein unnötiger Schritt wurde getan, kein überflüssiges Wort gewechselt, das war perfekte Routine, zum ersten Mal lief dieses Spektakel gewiß nicht ab. Schließlich fuhr ein Kleinbus vor, in dem ein Rudel Mädchen saß, von denen eine jünger und schöner als die andere war, und alle schnatterten durcheinander und waren furchtbar aufgeregt. »Sie fahren mit mir und unseren Verkaufsdamen zusammen, Baronesse«, entschied die Spitznäsige und darüber war Baronesse Malou ja nun recht froh, denn es wäre ihr ein Graus gewesen, zu den anderen Mädchen in den engen Kleinbus gepfercht zu werden. Allerdings entging ihr nicht, daß die Mädchen die Sonderbehandlung, die ihr zuteil wurde, mit giftigen Blicken und hämischen Bemerkungen quittierten. Ein ganzer Konvoi von Wagen setzte sich von der Via Dante aus in Bewegung. In der Limousine der Spitznäsigen wurde nur über das Wetter geredet, ob der Mond hervorkommen, ob es warm bleiben und hoffentlich nicht regnen werde. Noch war es hell, war der Himmel wolkenlos, aber alle fixierten mit besorgten Mienen einen Hügel, der aussah, als habe er sich einen Kranz aus Nebelschleiern umgehängt. Was das zu bedeuten habe, wollte Baronesse Malou wissen? »Ein Herbstgewitter«, antwortete eine der Verkäuferinnen ängstlich. »Das würde uns gerade noch fehlen!« murmelte die Spitznäsige erbost.
Die Fahrt dauerte nicht lange. Die Villa lag auf dem Hügel mit dem Nebelkranz, und sie war das schönste Haus, das Baronesse Malou jemals in ihrem Leben gesehen hatte. Es lag inmitten eines Parks, war aus weißem Marmor und wurde von schlanken Säulen flankiert. Eine geschwungene weiße Marmortreppe führte von dem Park zu dem Portal empor. Auch hier herrschte ein wildes, aber perfekt funktionierendes Durcheinander. Ein Stab von Technikern und Handwerkern war damit beschäftigt, die Beleuchtung, die Beschallung und technische Gags auf höchstes Niveau zu bringen. Ein roter Teppich wurde auf dem von einer Blumenbalustrade gesäumten Vorplatz des Portals und auf der Freitreppe ausgerollt. Die Modenschau fand demnach im Freien statt! Kein Wunder also, daß man sich um das Wetter sorgte! Die aufgeregt schnatternden Mädchen wurden von den Verkaufsdamen aus dem Bus in das Haus verfrachtet, in dem eine Flucht von Zimmern für die Präsentation in Garderoben umgewandelt worden war. Baronesse Malou wurde von der Spitznäsigen in einen kleinen Salon mit Spiegelwänden dirigiert, in dem ein traumhaftes weißes Brautkleid ausgebreitet war. Vom Fenster aus, sagte die Direktrice, könne man die Darbietung verfolgen. »Sie kommen als Letzte an die Reihe, Baronesse. Die Vorführung des Brautkleids ist Höhepunkt und Schluß der Schau. Falls Blitz und Donner«, schränkte sie mit ihrem hämischen Lächeln ein, »nicht einen Strich durch unser Kalkül ziehen.« Im Grunde hätte Baronesse Malou gegen ein gesundes Gewitter, das ihr den Auftritt erspart hätte, gar nichts einzuwenden gehabt. Doch danach sah es nicht aus. Dafür wurde sie, als mit Einbruch der Dämmerung draußen die Präsentation begann, in dem Spiegelsalon von kundigen
Händen in eine Märchenbraut verwandelt. Kosmetikerin, Friseuse, Garderoberin, Schneiderin und Visagistin gaben ihr Bestes, obzwar es gar kein Kunststück war, Baronesse Malou in eine zauberhafte Braut zu verwandeln. Die emsigen Helferinnen applaudierten begeistert, als ihr Werk vollendet war, und Baronesse Malou war selbst entzückt und ein bißchen ungläubig, als sie sich schließlich in den Spiegeln erblickte. Endlich konnte sie durch das Fenster auch einen Blick auf die Treppe werfen, und was sie sah, erbarmte sie, obwohl es eigentlich nichts Schlimmes war. Die Mädchen führten gerade Negliges vor, jedes Stück ein Nichts aus Tüll, Organza und durchsichtiger Seide. Baronesse Malou war jedenfalls sehr froh, daß ihr das erspart geblieben war. Allmählich bekam sie Herzklopfen. Ihr Auftritt rückte näher. Warum nur sah die Marchesa nicht nach ihr? Sie hätte ein aufmunterndes Wort ihrer Mutter jetzt so gut brauchen können! Was, wenn sie eine der Stufen verfehlte, wenn sie stolperte oder die hohen Absätze ihrer Schuhe sich in dem roten Teppich oder der Schleppe des Kleides verfingen? Die Spitznäsige kam in den Salon gehastet. »Es ist soweit, Baronesse! Wenn wir Glück haben, wartet das Gewitter noch fünf Minuten.« Sie dirigierte Baronesse Malou aus dem Spiegelsalon in das Entree, ermahnte sie, sich gerade zu halten, aber sich nicht zu verkrampfen, locker zu gehen, die Stufen langsam hinunter zu schreiten. »Vielleicht hat die Marchesa ja recht, und Sie sind ein Naturtalent!« Pas glaubte Baronesse Malou nicht, aber die Bemerkung der Spitznäsigen klang derart höhnisch, daß sie entschlossen war, es zu schaffen! Die Nervosität der Spitznäsigen entging ihr nicht, als diese sich verbeugte, um eine Schleife an Baronesse Malous
Ausschnitt zurechtzuzupfen, verrutschte ihr Ohrclip. Sie schob ihn sofort zurück, aber Baronesse Malou hatte es gesehen: die Spitznäsige hatte auf dem Ohrläppchen das gleiche Tattoo wie der Commander an seinem Handgelenk – die Teufelskralle. Da war der eisige Hauch wieder, der Baronesse Malou streifte, und sie erschauerte. Draußen verstummte die Musik kurz, eine atembeklemmende Stille breitete sich aus, aber dann setzte der Sound machtvoll ein, doch nicht der Hochzeitsmarsch erklang, sondern die aufwühlende Weise des Bolero von Ravel. »Auftritt!« zischte die Spitznäsige. »Das ist Ihr Auftritt, Baronesse! So gehen Sie doch schon!« Ganz mechanisch setzte Baronesse Malou sich in Bewegung. Sie hatte nicht geahnt, wie groß der Vorplatz, wie lang der Weg von dem Portal zu der Treppe war. Es war dunkel geworden, und es war drückend schwül. Die erste Stufe! Kein Mondlicht! Finsternis. Nur das Zucken des Laserlichts über dem Laufsteg und am Himmel das Zucken fahlen Wetterleuchtens. Stufe um Stufe. Nur jetzt nicht versagen! Das durfte sie ihrer Mutter nicht antun! Stufe um Stufe schritt Baronesse Malou die Freitreppe hinunter. Als sie die letzte Stufe erreicht hatte, zuckte ein stechender Blitz auf, dem ein krachender Donnerschlag folgte. Baronesse Malou strauchelte, ihr Fuß fand die letzte Stufe nicht, sie verlor das Gleichgewicht, fiel ins Leere und lag wie hingeweht in den Armen eines eleganten weißhaarigen Gentleman, der liebenswürdig’ versicherte, daß er glücklich sei, sie vor einem Sturz bewahrt zu haben und daß sie hinreißend gewesen und dieses kleine Mißgeschick doch ohne Bedeutung sei! Vorsichtig stellte er Baronesse Malou wieder auf ihre Beine und da war auch die Marchesa, und sie lachte und sagte: »Dann darf ich also bekannt machen, dies, lieber Freund, ist
meine Tochter Malou, und dies Malou, ist ein Freund unseres Hauses – Mister Master.« Panik befiel Baronesse Malou. Wer war dieser Mensch? Sein fratzenhaft lächelndes Gesicht, seine eiskalten Augen jagten ihr eine entsetzliche Angst ein. Sie raffte ihre Schleppe und fing zu laufen an, rannte blindlings in den Park hinein, lief und lief, nur fort, fort…
Der Commander holte sie ein, als der Glockenrock ihres Kleides sich zwischen zwei Oleanderbüschen verfing und sie stehen bleiben mußte, weil sie nicht weiterkam. Sie zitterte wie Espenlaub. »Wer ist das?« stieß sie hervor. »Wer ist dieser schreckliche Mensch?« »Mister Master?« Der Commander blieb ruhig und souverän. »Nun, er ist ein wichtiger Mann, ein Freund des Hauses Terebinto. Ich bin unterwegs übrigens Ihren Schuhen begegnet, Baronesse, darf ich mir erlauben, sie Ihnen wieder anzuziehen? Alle Achtung, Sie haben ein tüchtiges Tempo vorgelegt.« Er tat, als sei Baronesse Malous Verhalten nur eine etwas unpassende Caprice, eben die Laune einer schönen, jungen Frau. Geschickt streifte er ihr die hochhackigen Schuhe über, die Baronesse Malou, um schneller laufen zu können, von den Füßen geschleudert hatte. Umsichtig befreite er den Glockenrock des Brautgewandes aus dem Gestrüpp des Oleanders. »Das hat ein paar Blessuren gesetzt«, bedauerte er. »Seide hat wohl was gegen Oleander.« Es war Baronesse Malou egal, daß der Rock zerrissen war. »Ich gehe sowieso nicht dorthin zurück, wo dieser Mister Master ist!«
Blitz und Donner. Der Himmel riß auf, schien Feuer zu speien. Dünne Hagelkörner prasselten herunter, denen Sturzbäche eiskalter Regentropfen folgten. Der Commander nahm Baronesse Malou auf seine Arme und trug sie durch das tobende Unwetter hindurch zu einer Seitenpforte des Parks, vor der ein Wagen wartete. Am Steuer saß der Marchese. »Übernehmen Sie, Commander«, gebot er, stieg aus, öffnete den Schlag des Fonds und half dem Commander, Baronesse Malou in ihrem Brautstaat im Fond unterzubringen. »Fahren Sie los, Commander, und schnell!« »Und wohin, Marchese?« »In den Palazzo, natürlich. Wohin denn sonst?« Der Marchese setzte sich zu Baronesse Malou. »Ja, ja, die Nerven!« Auch er machte kein Aufhebens von ihrer Flucht aus der Villa des Mister Master. »Die Nerven spielen uns manchen Streich. Ist ja auch alles wohl ein wenig viel gewesen heute. Jetzt bist du naß wie ein Kätzchen, das in eine Regentonne gefallen ist und wirst dir garantiert einen Schnupfen holen!« Während er beschwichtigend auf Baronesse Malou einredete, arbeiteten seine Gedanken fieberhaft. Damit, daß die Braut vor Mister Master die Flucht ergreifen würde, war nicht zu rechnen gewesen! Das änderte alles. Er mußte handeln und zwar unverzüglich, ehe es zu spät war. Baronesse Malou beruhigte sich allmählich etwas. Das Unwetter, das mit unverminderter Gewalt tobte, schreckte sie nicht. Ihr war nur wichtig, daß sie sich schnell und weit von der Villa dieses Mister Master entfernten. »Wieso eigentlich ›Mister‹?« fragte sie plötzlich. »Ist er denn kein Italiener?« »Mister Master? Oh, ich denke, er hat mehrere Pässe«, antwortete der Marchese. »Ich würde sagen, er ist an keine
Nationalität gebunden sondern überall auf der Welt zuhause. Was meinen Sie, Commander?« Der Commander meinte das auch. »Und was hat er mit Mode zu tun?« fragte Baronesse Malou beharrlich weiter. »Ist das sein Geschäft?« »Mister Master betreibt vielerlei Geschäfte«, antwortete der Marchese. »Die Mode ist sicher nicht das Wichtigste seiner Unternehmen, er hat nur einfach Spaß daran, weil er eine Schwäche dafür hat, schöne Frauen schön anzuziehen.« Der Wagen bog in die Auffahrt des Palazzo Terebinto. »Ich werde ein heißes Bad nehmen«, entschied Baronesse Malou, »und danach wird es mir sicher bessergehen.« Dieses Mädchen war stärker, als der Marchese vermutet hatte. Auch damit war nicht zu rechnen gewesen. »Eine gute Idee!« stimmte er zu. »Ich erwarte dich anschließend in unserem Media-Salon.« Das war seine gute Idee! »Was ist denn das, ein Media-Salon?« fragte Baronesse Malou verblüfft. »Lasse dich überraschen!« Der Wagen hielt vor dem Portal. Das Unwetter hatten sie bei Alassio hinter sich zurückgelassen, kein Tropfen Regen fiel auf dem Pinienhügel. Der Commander war behilflich, Baronesse Malou in ihrem ramponierten Brautstaat aus dem Fond zu befördern. »Halten Sie sich weiter bereit, Commander«, bat der Marchese, »möglich, daß ich noch eine Order für Sie habe.« Charmant bot er Baronesse Malou seinen Arm und geleitete sie ins Haus. »Wir beide werden uns einen gemütlichen Abend zusammen machen!« »Wird meine Mutter denn nicht kommen?« fragte Baronesse Malou kleinlaut. »Es tut mir so leid, daß ich sie enttäuscht habe!«
»Du hast sie nicht enttäuscht«, versicherte der Marchese wider besseren Wissen durchaus glaubhaft. »Du warst eine zauberhafte Braut. Das kleine Mißgeschick am Ende der Treppe war doch nur eine Folge von Blitz und Donnerschlag und ist deshalb durchaus verzeihlich.« »Ja, schon, aber es ist sicher unverzeihlich, daß ich davongelaufen bin«, klagte Baronesse Malou sich an. »Das hätte ich nicht tun dürfen! Nur, ich konnte einfach nicht anders. Dieser Mister Master hat mich in Panik versetzt!« »Sagen wir, das Unwetter war Schuld daran, daß dir die Nerven durchgegangen sind«, beschwichtigte der Marchese. »Deine Mutter kann nicht kommen, weil sie noch einen Treff mit Freundinnen hat, der schon lange vereinbart war. Ich verspreche dir, daß ich dich nicht langweilen werde. Wir werden etwas extra Feines zusammen essen und trinken, aber nichts Alkoholisches! Was du jetzt brauchst, ist ein exzellenter Kräutertee, damit können wir dem Schnupfen vielleicht noch Paroli bieten! Und ich bin sicher, unser Media-Salon wird dich faszinieren!« Der Media-Salon war seine Chance, und er mußte sie nützen! Sein Plan war ebenso genial wie einfach und mußte gelingen! Vorausgesetzt allerdings, daß seine Rechnung diesmal aufging. Wenn sie es denn tat, hatte er gesiegt und die Marchesa war bis in alle Ewigkeit der höllischen Rache des Meisters ausgeliefert. Mit einem galanten Handkuß verabschiedete der Marchese sich von seiner Nichte. »Dann also bis später, meine Liebe. Wie gesagt, ich erwarte dich in unserem Media-Salon!«
Als Baronesse Malou eine halbe Stunde später, erfrischt und in einen schicken Hausanzug gewandet, von der Zofe in den Media-Salon geleitet wurde, erwartete der Marchese sie nicht.
Sie dachte, daß er sich verspätet habe und war viel zu fasziniert von dem Raum, um enttäuscht über seine Säumigkeit zu sein. Ein riesiger Bildschirm zog sich um die Wände. In der Mitte gruppierten sich schwarze Ledersessel um kleine Tische aus schwarzem Glas. Auf jeden der Tische lag eine Fernbedienung. Die Beleuchtung war indirekt und nicht sehr hell, Röhren, die an der Decke entlang liefen, spendeten ein fahles Licht. Fenster gab es nicht. Außer der Flügeltür, durch die Baronesse Malou eingetreten war, führte noch eine schmale Tür in einen Nebenraum, der, wie auf einem Schild stand, der Regieraum war und nicht betreten werden durfte. Einer der Sessel und einer der gläsernen Tische waren etwas vorgerückt. Auf dem Tisch waren ein Silberteller mit kleinen Delikatessen, eine Schale mit Konfekt und eine Teekanne auf einem Wärmehalter um ein Gedeck arrangiert. Auf dem Teller lag ein kleiner Brief, in dem der Marchese unendlich bedauerte, in einer dringenden Angelegenheit abberufen worden zu sein. Versprich mir, schrieb er, daß Du erst etwas ißt und brav Deinen Tee trinkst, bevor Du auf den roten Knopf der Fernbedienung drückst, die auf Deinem Tisch liegt. Regone. Irgend etwas an dem Namen irritierte Baronesse Malou plötzlich, als sie ihn geschrieben vor sich sah, es kam ihr vor, als würde etwas daran fehlen. Natürlich war es schade, daß der Marchese nicht kommen konnte, aber sie war viel zu neugierig auf das, was es auf dem Bildschirm zu sehen gab, um sein Fernbleiben sonderlich zu bedauern. Sie fühlte sich wieder recht gut. Der Schock über die Begegnung mit Mister Master saß zwar tief, doch sie war stark genug, um damit fertig zu werden, und in dem Palazzo ihrer Mutter fühlte sie sich geborgen. Sie war sogar ein wenig hungrig und dies war gewiß eine gesunde Reaktion! Deshalb fiel es ihr nicht schwer, der Bitte des Marchese zu erfüllen und
die Leckerbissen auf dem Silberteller zu kosten. Sie schmeckten köstlich, machten aber durstig. Doch auch der aromatisch duftende Kräutertee mundete gut, und in der Kanne war genug, um den Durst zu stillen. Als sie fertig war, drückte sie erwartungsvoll auf den roten Knopf der Fernbedienung. Die Leuchtröhren an der Decke erloschen. Finsternis breitete sich aus. Flüchtig wurde es Baronesse Malou beklommen zumute, aber das legte sich schnell, als der Bildschirm lebendig wurde, obwohl die Szene, die er zeigte, keineswegs erbaulich war. Sie zeigte eine verlassene, heruntergekommene Hütte, die zwischen verkrüppelten Bäumen und verwahrlostem Gestrüpp stand und von dem bleichen Mondlicht so schwach erhellt wurde, daß kaum etwas zu erkennen war. Ein Käuzchen schrie. Baronesse Malou zuckte zusammen. Es hatte wie echt geklungen. Dadurch merkte sie, was für eine fatale Wirkung der rings um die Wände verlaufende Bildschirm hatte: Der Zuschauer fühlte sich unmittelbar in die Szene versetzt, so als sei er darin einbezogen und nehme selbst unmittelbar daran teil. Rabenvögel flatterten in die Höhe, als das Geräusch sich rasch nähernder Autos sie von dem Dachfirst scheuchte. Das grelle Licht der Scheinwerfer entblößte die abstoßende Häßlichkeit der verfallenen Hütte. Aber die Wagen, die vorfuhren, waren Edelmarken, und die Damen, die ausstiegen, trugen teure Eleganz der Haute Couture. Sie verschwanden in der Hütte. Drinnen ging Licht an. Es war Kerzenlicht, das unruhig zuckte und flackerte und verzerrte Schatten gegen die Wände warf. Der Raum war kahl, nur in der Mitte stand ein langer Tisch aus wurmstichigen Holz, dessen Längsseiten zwei
hölzerne Bänke flankierten. Die eine Schmalseite des Tisches nahm ein roter Sessel ein, der wie ein Thron aussah. Die Damen gingen, eine nach der anderen, durch eine schmale Tür in einen anderen Raum, und dorthin folgte die Kamera ihnen nicht. Es war gespenstisch, daß ihre Schritte auf den knarrenden Holzbohlen zu hören waren, aber daß kein Wort geredet wurde. Wie gebannt blickte Baronesse Malou auf den Bildschirm, der sie magisch in die Handlung einbezog, so daß sie glaubte selbst an dem lisch zu sitzen. Dumpfes Grauen faßte sie an. Nach einer Weile kam eine der Damen nach der anderen zurück. Doch nun trugen sie keine Haute-Couture mehr, sondern lange schwarze Gewänder und vor den Gesichtern schwarze Schleier, die von turmartigen Gebilden auf ihren Köpfen herabfielen. Jede nahm einen bestimmten Platz an dem Tisch ein. Nur der rote Sessel blieb leer. »Die Marchesa läßt auf sich warten«, sagte eine Stimme, die Baronesse Malou schaudern machte, denn es war die Stimme der Spitznäsigen. »Nun, der Meister wird ein paar ernste Worte mit ihr zu reden haben, nachdem ihr feines Töchterchen sich diesen Eklat geleistet hat und vor dem Meister davongelaufen ist.« Alle lachten. Einige schlugen die Schleier zurück. Entsetzt erkannte Baronesse Malou die Verkaufsdamen der Nobelboutique Terebinto. »Diesmal hat die Marchesa schlechte Karten«, fuhr die Spitznäsige hämisch fort, »denn wenn wir die Wahl ihres ungeratenen Töchterchens zur Siegerin der Schau nicht einstimmig billigen, ist sie verloren. Der Meister wird es ihr nie verzeihen, wenn er nicht bekommt, was er haben will! Wer also von euch, meine Schwestern, wird der Wahl zustimmen?«
Die Damen ließen die Schleier wieder fallen, erhoben mit verhüllten Gesichtern die Hände und alle drehten die Daumen nach unten. »Keine!« frohlockte die Spitznäsige. »Ich danke euch, meine Schwestern. Wir haben uns verstanden. Dann kann ich ja unbesorgt und im Interesse von uns allen für die Kleine stimmen. Das wird den Meister freuen, denn eine einzige Zustimmung des Hexenrats braucht er, sonst ist die Kandidatin durchgefallen und ist ihm in jedem Fall verloren.« Die Verhüllten applaudierten frenetisch. »Du bist die Größte von uns allen!« rief eine. »Eine von uns muß es ja sein, Schwestern«, nahm die Spitznäsige den Applaus gnädig entgegen. »Der Meister will dieses unbedarfte junge Blut nun einmal unbedingt besitzen, nur fürchte ich, die Baronesse wird ziemlich widerspenstig sein. So wird der Marchesa, wenn sie nicht in ihr Verderben stürzen will, nichts anderes übrig bleiben, als ihr Töchterchen dem Meister unter Einsatz ihrer Hexenkünste oder notfalls sogar mit Gewalt, in die Arme zu legen. Er wird diesem störrischen Kind dann schon auf seine Weise die nötige Raison beibringen.« »Dann wird sie es nicht mehr riskieren, ihm noch einmal davonzulaufen!« kreischte eine der Verhüllten, und die übrigen prusteten vor Lachen. Baronesse Malou erstarrte. Die Rede war von ihr! Und von dem Menschen mit dem fratzenhaften Lächeln und den eiskalten Augen. Mister Master – der Meister! »Vertreiben wir uns die Zeit, bis die Marchesa kommt, mit unserem liebsten Spiel!« ermunterte die Spitznäsige. »Zünden wir die Räucherstäbchen an, Schwestern! Schwelgen wir in Erinnerungen und malen uns dabei aus, wie es sein wird, wenn der Meister die Baronesse freit! Hei, was wird das für ein grandioses Spektakel sein, an dem wir alle uns erlaben werden.
Der Meister wird die Tochter der Marchesa zur Hexe taufen und in unserer Mitte mit ihr zusammen die Brautnacht feiern!« Sie schnippte mit den Fingern, und wie durch Zauberei regnete es Stäbchen auf den Tisch, die von den Verhüllten angezündet wurden. Ein süßer, schwüler Duft breitete sich in der Hütte aus, drang in den Media-Raum und schnürte Baronesse Malou schier den Atem ab. Dünne weiße Rauchwolken kräuselten sich über dem Hüttentisch. »Laßt uns das letzte Fest noch einmal genießen, Schwestern!« rief die Spitznäsige. »Zu den Trommeln und der Musik, die wir lieben.« Sie klatschte in die Hände, und Trommeln ertönten begleitet von schriller Musik. Wo kamen die Trommeln, kam die Musik auf einmal her? In den Rauchgespinsten, die über den Stäbchen waberten, zeichneten sich abscheulich obszöne Szenen ab, Frauen, die kaum bekleidet waren und auf Besenstielen durch die Lüfte ritten, bocksgesichtige Burschen, die mit kreischenden Mädchen tanzten und mitten darin der Meister im Smoking und mit einer weißen Nelke im Knopfloch, der einen höllischen Spaß an dem wilden Treiben zu haben schien und Bewegungen machte, als dirigiere er ein Orchester. »Was werden wir einen Spaß haben«, tönte die Spitznäsige, »wenn die störrische Baronesse auf einem Besenstiel zu ihrer Hochzeit mit dem Meister reitet!« Alle wieherten vor Vergnügen. Baronesse Malou sprang auf. »Nein!« schrie sie zornig und verzweifelt. »Nein! O nein! Es wird keine Hochzeit geben! Nicht mit mir!« Die Tür zu dem Media-Raum ging auf. Der Bildschirm war plötzlich schwarz. Die Trommeln und die Musik verstummten, der schwüle Duft verzog sich. Die Lichtröhren an der Decke verbreiteten matte Helligkeit.
Unter der Tür stand die Marchesa. Sie war sehr blaß und sah unendlich erschöpft aus. Aber ihre Stimme klang ruhig und fest, als sie bat: »Beruhige dich. Habe keine Angst mehr, mein Kind. Es ist vorbei.« Für Baronesse Malou war es das nicht. Das Grauen hielt sie noch gepackt und dann war da noch etwas, das sie zutiefst erschütterte: Ihre Erinnerung kehrte zurück. Stonehaven. Der Tod ihres Vaters. Ihr Abflug in dem Helikopter. Rob. Wieso hatte sie das alles vergessen gehabt? Was war nur mit ihr geschehen? »Wir müssen fort«, drängte die Marchesa. »Wir können nicht bleiben. Ich habe hier nur erst noch eine Kleinigkeit zu erledigen.« Ihre Stimme erhob sich etwas, war plötzlich von schneidender Schärfe. »Komme heraus aus deinem Versteck, Regone!« Langsam ging die verbotene Tür auf. Der Marchese war die ganze Zeit über in dem Regieraum anwesend gewesen! »Dieses Mal warst du ein miserabler Regisseur«, empfing die Marchesa ihn mit beißendem Spott. »Hattest du es dir so hübsch ausgedacht! Der Kräutertee, der Malous Erinnerung zurückruft. Die Schaltung zu der Hütte, zum Hexenrat, live übertragen in den Media-Salon des Palazzo. Malou, die entsetzt und verängstigt flieht. Und ich, die große Verliererin, die der Rache des Meisters ausgeliefert ist. So hast du es dir doch ausgedacht und die Karten trefflich gemischt! Du wolltest der Sieger sein.« »Ich bin der Sieger! Du hast verloren, Strega.« »Nein, du hast verloren, Stregone.« ›Rega‹ hatte Baron Reuben am Telefon gesagt, Regone hatte der Marchese sich genannt. Nun wußte Baronesse Malou, was bei beiden Namen gefehlt hatte: Zwei Buchstaben. Er hieß Strega und Stregone. Hexe und Hexenmeister.
»Höre mir gut zu, Stregone«, gebot die Marchesa. »Ich habe mich von dem Meister losgesagt. Meine Tochter wird ihm nicht gehören. Ich habe endlich das getan, was ich vor achtzehn Jahren schon hätte tun sollen. Damals war ich zu jung, zu verblendet, zu sehr voller Angst. Heute nehme ich mein Schicksal an, gleichviel was es mir bringen mag. Wahrscheinlich Armut, Not und Einsamkeit. Aber in keinem Fall die Rache des Meisters, denn ich habe aus freiem Willen und ehrlicher Reue, aus Liebe zu meiner Tochter und ohne Rücksicht auf mich selbst, auf alle Privilegien verzichtet und somit hat der Meister seine Macht über mich verloren…« »Wenn du mal Hilfe brauchst«, unterbrach der Marchese spöttisch, »dann wende dich getrost an mich. Ich werde dir gerne helfend unter die Arme greifen…« »Das wird mir wenig nützen. Denn die Rache des Meisters trifft dich, Stregone! Dir gibt er die Schuld daran, daß alles schiefgelaufen ist.« »Und wer«, höhnte der Marchese, »wer soll deine Stelle in der Hexenrangordnung einnehmen, wenn nicht ich?« »Der Mann, dem ich dich jetzt auf Order des Meisters übergebe und der dich der Strafe des Meisters zuführen wird.« Unter der Tür stand der Commander. Der Marchese wurde aschfahl. Tierische Angst malte sich auf seinen Zügen. »Das glaube ich nicht«, stieß er hervor, »nein, das glaube ich nicht!« »Walten Sie Ihres Amtes, Commander«, gebot die Marchesa. »Es ist der letzte Befehl, den ich Ihnen erteile.«
Danach ging alles sehr schnell. Die Marchesa bestand darauf, daß Baronesse Malou sich warm anzog. Sie war besorgt, wie Mütter nun einmal besorgt waren, wenn ihre Kinder auf Reisen gingen. »Am besten du
ziehst genau das an, was du getragen hast, als du gekommen bist. Das ist auch am unauffälligsten für deine Rückkehr und es wird dich warm halten. Das ist nötig, denn es ist noch kälter geworden in Stonehaven.« »Stonehaven!« Baronesse Malou seufzte. »Wenn ich nur wüßte, wie ich dahin komme?« »Das lasse meine Sorge sein. Und beeile dich, bitte. Ich habe dem Meister versprochen, daß wir den Palazzo schnell verlassen werden, und ich möchte seine Geduld nicht strapazieren.« Als Baronesse Malou sich eilends umzog, fiel ihr zum erstenmal auf, daß sie den Ring nicht trug. »Ich muß ihn verloren haben!« rief sie bestürzt. »Du hast ihn nicht verloren«, beschwichtigte die Marchesa, »ich habe ihn während deines Aufenthaltes in dem Palazzo nur für dich aufbewahrt.« Sie zog den Ring aus dem Ausschnitt ihres Kleides und steckte ihn Baronesse Malou an den Finger. »Nun hast du ihn wieder.« »Wenn du wüßtest, wie froh ich darüber bin! Ich hätte es mir nie verziehen, wenn ich den Ring verloren hätte. Es ist doch das letzte Geschenk meines Vaters.« »Das ist der Ring nicht«, widersprach die Marchesa bestimmt. »Es tut mir leid, Malou, wenn ich dich enttäuschen muß. Aber der Ring ist ein Geschenk von mir. Leider ist er nun, da ich keine Hexe mehr bin, auch kein Zauberring mehr. Aber ein wunderschöner Diamant ist er noch immer, und der Ring wird dich, so oft du magst, an mich erinnern.« Sie wurde ein wenig ungeduldig. »Du bist fertig? Dann können wir gehen.« Sie verließen den Palazzo ohne Hast und in aufrechter Haltung durch das Hauptportal. Es war nicht sehr warm draußen, das Unwetter über Alassio hatte die laue Nacht abgekühlt.
»Wohin gehen wir?« fragte Baronesse Malou. »Ich bringe dich nach Hause«, antwortete die Marchesa. »Nach Stonehaven?« fragte Baronesse Malou ungläubig. »Da werden wir aber weit gehen müssen!« Die Marchesa blieb stehen, warf einen prüfenden Blick an den Himmel. »Der Mond wird bald über dem Hügel scheinen. Bis dahin müssen wir auf dem Höhenweg sein.« Sie lächelte flüchtig, fragte: »Spürst du den Pinienduft? Wenn ich in deiner Nähe war, hat es doch auch immer nach Pinien geduftet, freilich hatte ich da noch Moschus und Ambra hinzugetan.« »Wie hast du das nur möglich machen können, in meiner Nähe zu sein? Mich in deinen Duft einzuhüllen, etwas auf meinem Spiegel zu schreiben, mir einen Ring zu schenken?« »Hexen ist vieles möglich. Allerdings«, schränkte sie ein, »ohne einen Helfer, der die Energien einer Hexe aufnimmt und weiterleitet, geht es nicht. In Stonehaven hatte ich einen Helfer.« Das vermochte Baronessee Malou nicht sich vorzustellen. »Jemand von dem Gesinde? Von den Zugehleuten oder von den Pächtern?« »Ein Helfer muß nicht unbedingt ein Mensch sein«, antwortete die Marchesa in einem Ton, der verriet, daß sie nicht weiter darüber reden wollte oder konnte. Eine Weile schritten sie schweigend rüstig aus, denn es würde nicht mehr lange dauern, bis die Mondstrahlen den Höhenweg erreichten. Baronesse Malou wurde das Herz schwer. »Darf ich dich etwas fragen? Als Vater starb, da war ein winziger Blutfleck…« »Ich weiß«, unterbrach die Marchesa. »Aber soviel Macht, um mittels ihrer Energie durch einen Telefondraht hindurch zu töten, besitzt eine Hexe nicht. Diese Macht besitzt nur einer…«
»Der Meister«, murmelte Baronesse Malou erschüttert. »Das würde aber doch bedeuten, daß wir ständig von unsichtbaren bösen Geistern umgeben sind?« »Nicht nur von bösen Geistern, Kind«, widersprach die Marchesa. »Es sind auch die guten Geister da, um die Menschen vor den bösen Geistern zu schützen. Es kommt ganz auf die Menschen an, wem sie sich zuneigen, den bösen oder den guten Mächten.« Hand in Hand kletterten sie die letzte, steile Strecke zu dem Höhenweg hinauf und der Palazzo, der auf halber Höhe des Pinienhügels erbaut worden war, versank schon im Schatten des Mondlichts. »Uns bleibt noch ein wenig Zeit«, sagte die Marchesa. Sie setzten sich auf einen Baumstamm, der am Weg lag. »Wer war der Helfer, den du in Stonehaven hattest?« wollte Baronesse Malou wissen. Die Marchesa zögerte kurz mit ihrer Antwort, sagte dann: »Irgendwann wird etwas verschwinden, was du zwar bedauern, aber das du nicht allzusehr vermissen wirst, und dann wirst du wissen, daß es mir gutgeht und wer mein Helfer gewesen ist.« »Warum kommst du nicht mit mir nach Stonehaven?« drängte Baronesse Malou. »Ich habe nie gewußt, wie wunderbar es ist, eine Mutter zu haben. Jetzt habe ich dich gefunden und muß dich gleich wieder verlieren? Komme doch mit mir!« »Das kann ich nicht«, antwortete die Marchesa traurig. »So einfach geht das nun wirklich nicht. Ich hatte mich den bösen Mächten ergeben, ich bin eine Hexe gewesen, und dafür muß ich Buße tun. Vielleicht werde ich hinter Klostermauern Vergebung und meinen Frieden finden. Vielleicht. Wichtig ist für mich jetzt nur, daß du gut nach Hause kommst, dies ist das Einzige, was ich noch für dich tun kann.«
Baronesse Malou faßte es nicht. Da saßen sie auf einem Baumstück auf dem Pinienhügel an der Blumenriviera, und Stonehaven war so unendlich weit fort, wie sollte das gehen? »Wie soll das gehen?« fragte sie. Die Marchesa lächelte flüchtig. »Mit ein wenig Hexerei, wie denn sonst? Nein, nein!« versicherte sie, als sie Baronesse Malous erschrockenen Blick wahrnahm. »Ich bin keine Hexe mehr. Die guten Mächte werden uns helfen, mit Duldung des Meisters, freilich.« Sie seufzte. »Seine Abschiedsgabe an mich für hundert und hundert Jahre treu geleisteter Dienste.« »Hundert und hundert Jahre?« rief Baronesse Malou. »Aber so alt bist du doch nicht!« »Noch viel älter, mein Kleines. Hexen kommen und gehen, sind mal jung, mal alt, ganz wie der Meister es gebietet, die Zeit hat da keine Bedeutung, sie ist wertlos für das Dasein einer Hexe, aber immer wieder, in jedem irdischen Leben erhält sie die Chance, sich von den bösen Mächten loszusagen. Meine Chance bist du gewesen, Malou. Damals, vor achtzehn Jahren, als ich dich geboren habe.« »Wie war das mit Vater und dir?« »Es war Liebe. Das hat dem Meister nicht gefallen. Es hat ihn nicht gestört, wenn ich mit einem Mann meinen Spaß hatte, nur Liebe durfte es nicht sein! Doch weil es Liebe war und weil du ein Kind der Liebe bist, besaß er keine Macht über dich. Also zwang er mich, den unseligen Pakt mit deinem Vater zu schließen: Bis zu deinem achtzehnten Lebensjahr solltest du bei ihm bleiben, doch dann war es meine Aufgabe, dich dem Meister zuzuführen.« »Und wenn du dich damals geweigert hättest?« »Ach, weißt du, dein Vater hatte mich zu seiner Frau gemacht, aber der Meister hat dafür gesorgt, daß er hinter mein Geheimnis kam und erfuhr, daß ich eine Hexe war, die mit dem Bösen im Bunde stand. Das war ein grausamer Schock für
ihn, und er fürchtete um dich und wollte nur noch dich dem Einfluß des Bösen entziehen.« »Armer Vater«, flüsterte Baronesse Malou. »Ja, armer Reuben.« »Was wäre aus dir geworden, Mutter, wenn er dich verlassen hätte?« »Ich wäre wieder mit der Karawane weitergezogen, als Prinzessin eines Nomadenstammes, und das war ein armseliges Leben. Ich hatte damals den Mut und die Kraft nicht, um Reichtum und Glanz an der Seite des Meisters zu entsagen…« Sie unterbrach sich. »Das Mondlicht«, flüsterte sie. »Es erklimmt den Höhenpfad. Es ist soweit. Wir müssen Abschied nehmen, Malou.« Es war Baronesse Malou, als zerreiße der Abschiedsschmerz ihr das Herz. »Ach Mutter, Mutter…« »Du mußt tapfer sein, mein Kind. Ich bin es auch. Umarme mich, halte mich ganz fest. Ja, ja. So ist es gut.« Eng umschlungen standen sie auf dem Höhenpfad, und das Mondlicht kam näher und immer näher. »Ich liebe dich, mein Kind!« »Ich liebe dich auch, Mutter.« Als das Mondlicht sie erreichte, leuchtete es hell in den Tränen, die sie beide nie besessen hatten und die sie nun weinen durften… Baronesse Malou war es, als löse sie sich in den Tränen auf, so leicht und frei fühlte sie sich auf einmal, und ohne bewußt wahrzunehmen was geschah, überließ sie sich der Energie der guten Mächte.
Es war kälter geworden in Stonehaven, die Marchesa hatte recht gehabt.
Als Baronesse Malou kurz nach Mitternacht vor dem Portal des Castle stand, schneite es sacht, und der Schnee, der den Park bedeckte, war während der kurzen Zeit ihrer Abwesenheit viel höher geworden. Sie setzte den Klingelklöppel in Bewegung, und sie hatte den Eindruck, daß sein Läuten richtig aufgeregt klang. Es tat ihr ja leid, daß sie den alten Butler aus seiner wohlverdienten Ruhe scheuchen mußte, doch wie hätte sie bei ihrem überstürzten Aufbruch auch noch daran denken sollen, einen Hausschlüssel mitzunehmen? Es dauerte eine Weile, bis der Butler kam, und er lugte erst vorsichtig durch den Spion, bevor er, in einen geblümten Schlafrock gehüllt, das Portal aufriß. »Baronesse!« rief er so grenzenlos erleichtert, daß es sie rührte. »Da sind Sie wohlbehalten wieder! Das ist ein Glück, ein großes Glück! Ach, was haben wir uns nicht für Sorgen um Sie gemacht, seit Sie fortgegangen sind!« Baronesse Malou hatte das Empfinden, unendlich lange fortgewesen zu sein, doch das konnte nicht stimmen. Während sie eintrat und der Butler ihr die Pelzjacke abnahm, fragte sie vorsichtig: »Aber ich bin ja nicht lange fortgewesen, oder?« »Nur einen Tag, Baronesse. Doch uns ist das wie eine Ewigkeit vorgekommen!« So erging es auch Baronesse Malou. Was war nicht alles geschehen an diesem einen einzigen Tag! »Wie sind Sie denn zurückgekommen?« wollte der Butler wissen, »ich habe keinen Helikopter gehört, obwohl ich noch wachgelegen habe.« Auf welche Weise sie zurückgekommen war, wußte Baronesse Malou nicht, es war auch nicht wichtig, fand sie, wichtig war doch nur, daß sie wieder zu Hause war. »Hauptsache, ich bin wieder da, und es geht mir gut!« meinte sie. »Nur müde bin ich. Sehr müde.«
Ob sie noch einen Tee trinken wolle oder sonst Wünsche habe, wollte der Butler wissen. Aber Baronesse Malou wollte nur schlafen. Sie war froh, als sie wieder in der vertrauten Umgebung ihres Zimmers war! Ja, sie war heimgekommen nach Stonehaven! Sie mußte an ihren Vater denken, und der Schmerz, der durch die Ereignisse vorübergehend verdrängt worden war, überkam sie wieder. Auch an ihre Mutter dachte sie mit großer Innigkeit, und der Gedanke an den Abschied, den sie auf dem Höhenpfad des Pinienhügels voneinander genommen hatten, tat furchtbar weh. Doch nun hatte Baronesse Malou Tränen, sie konnte weinen, und sie weinte sich in einen langen Schlaf. Am nächsten Morgen schneite es noch immer. Das reine Weiß des frisch gefallenen Schnees hatte etwas unendlich Beruhigendes und Tröstliches. Als Baronesse in den Spiegel sah, wunderte sie sich darüber, daß sie noch genau so aussah wie vor ihrem Abflug und daß sie an diesem einen Tag, der ihr Leben verändert hatte, nicht viel, viel älter geworden war. Es war eigenartig, daß sie sich plötzlich und sehr ernst der Verantwortung bewußt wurde, die nach dem Heimgang ihres Vaters nun sie für Stonehaven trug. Sie mußte mit Rob darüber reden. Gleich nach dem Frühstück ging sie durch den Park zu dem Jagdhaus hinüber. Der Fußmarsch durch den tiefen Schnee tat ihr gut. Die Luft schmeckte so sauber, als habe der Schnee sie gereinigt, und wie immer, wenn Schnee gefallen war, klang das Rauschen des Atlantik viel entfernter und nicht so bedrohlich wie zuweilen an heißen Sommertagen. In dem Jagdhaus brannte Licht. Um diese Morgenstunde war Rob damit beschäftigt, die Verwaltungsarbeiten zu erledigen, die der Baron ihm nach und nach übertragen hatte. Immer wieder hatte der Baron lobend
erwähnt, wie gut Rob sich eingearbeitet habe, und er hatte zu Baronesse Malou gesagt: ›Rob ist der beste Verwalter, den Stonehaven je hatte.‹ Der Butler hatte Rob noch in der Nacht davon unterrichtet, daß die Baronesse heimgekommen war, und das Glück leuchtete ihm aus den Augen, als sie wohlbehalten vor ihm stand. »Ich bin so froh, Malou, daß du wieder da bist!« »Ich bin auch von Herzen froh darüber, Rob!« Sie hielten sich so fest an den Händen, als wollten sie einander nie mehr loslassen. Rob stellte keine Fragen, doch in seinen Augen konnte Baronesse Malou alle die Fragen lesen, die ihn bewegten. Sie schüttelte den Kopf ein wenig. »Es ist noch zu früh, Rob. Ich kann noch nicht darüber reden. Ich brauche etwas Zeit.« »Ich verstehe.« Er nickte. Und auch er erwähnte nichts von dem beängstigenden Besuch dieses Mister Master, der sein Interesse daran bekundet hatte, Stonehaven käuflich zu erwerben. Er spürte, daß es sich irgendwie verbot, zu diesem Zeitpunkt darüber zu reden. »Ich kann warten, Malou.« Es war gemütlich in dem alten Jagdhaus. Ein trauliches Feuer brannte in dem runden Kachelofen. Rob und Baronesse Malou setzten sich zusammen an den Schreibtisch, der mit Abrechnungsbüchern, Bankkorrespondenzen und Pachtverträgen beladen war. »Ich denke, du wirst dich jetzt schnell nach einem Verwalter umsehen müssen, Malou«, sagte Rob. »Ich habe doch schon einen Verwalter.« Er zog die Brauen ein wenig hoch und schüttelte den Kopf. »Nein, nein, so geht das nicht. Ich gebe mir gewiß große Mühe und ich habe durch deinen Vater viel gelernt, aber Stonehaven braucht jetzt einen Mann, der sein Handwerk beherrscht.«
»Stonehaven hat dich«, setzte Baronesse Malou energisch dagegen, »und noch dazu eine Frau, die zwar keine Ahnung von dem Handwerk der Verwaltung hat, aber sehr schnell lernen wird, was sie wissen muß.« Rob lächelte flüchtig. »Stelle dir das nicht so einfach vor, Malou. Die Verwaltung eines Besitzes wie Stonehaven es ist, erfordert viel.« »Dann werden wir eben viel tun.« »Du willst mich nicht verstehen! Ich bin kein gelernter Verwalter, ich bin nur ein gelernter Gillie, ein Jagdgehilfe…« »Und jetzt bist du still!« unterbrach ihn Baronesse Malou. »Das Lied vom Jagdgehilfen hast du schon oft gesungen, und ich will es nie mehr hören! Oder muß ich dir erst sagen, was für eine hohe Meinung Vater von dir hatte? Ich sage dir etwas: Wir beide packen das zusammen.« »Weißt du, es herrscht Unruhe in der Mannschaft, das erleichtert es nicht. Die Pächter bangen um ihre Zukunft.« »Dann werden wir die Pächter beruhigen müssen.« »Aber es steht nicht zum Besten um Stonehaven, Malou.« Gewußt hatte sie das nicht, denn sie hatte sich für diese Dinge nie interessiert, aber geahnt hatte sie es eben doch, wenn sie es auch nur der zuweilen sorgenvollen Miene ihres Vaters oder seinen vorsichtigen Äußerungen über das strenge Gebot zur Sparsamkeit entnommen hatte. »Das schreckt mich nicht, Rob. Es ist eher ein Ansporn für mich. Und für dich sollte das genau so sein. Worauf warten wir denn noch? Lasse uns gleich mit der Arbeit anfangen!« Sie merkte schnell, daß es so einfach wirklich nicht war, sich in der ihr völlig fremden Materie zurechtzufinden, doch das stachelte nur ihren Ehrgeiz an, die Aufgabe zu meistern! Und allzu schwierig war es wiederum auch nicht, denn der Baron hatte seine Unterlagen tadellos in Ordnung gehalten. Schriftsachen, zu denen Rob keinen Zugriff gehabt hatte,
konnte Baronesse Malou nun beibringen, sodaß es ihnen in recht kurzer Zeit gelang, sich wenigstens einen Überblick über die tatsächliche Lage von Stonehaven zu verschaffen. Rosig war sie nicht. Aber die Arbeit, der Kontakt mit den Pächtern und ihren Familien, alle die Dinge, die sie nun zu tun hatte, halfen Baronesse Malou, den Schmerz um den Heimgang ihres Vaters und auch ihre Erlebnisse in dem Palazzo an der Blumenriviera richtig einzuordnen. Manchmal fragte sie sich, was aus dem Modehaus Terebinto in Mailand und aus der Boutique an der Via Dante in Alassio, was vor allem aus dem Palazzo auf dem Pinienhügel wohl geworden war? Für einen Zufall hielt sie es nicht, als sie eines Tages, bei dem Durchblättern eines Magazins, das Rob von einer Geschäftsreise nach London mitgebracht hatte, die Antwort auf ihre Fragen fand. Wahrscheinlich hätte sie die Notiz in der Gesellschaftsspalte überblättert und gar nicht gelesen, wenn da nicht ein Glanzfoto des Palazzo gewesen wäre! Das Modeimperium Terebinto, stand darunter, habe sein Designeratelier in Mailand sowie die Boutique in Alassio aufgelöst und seinen Firmensitz nach Marokko verlegt, weshalb der Palazzo Terebinto zum Verkauf stehe. In einer spontanen Aufwallung war Baronesse Malou, als sie dies gelesen hatte, nahe daran, Rob alles zu sagen, doch soweit war es noch nicht. Sie brauchte noch etwas Abstand. Wenige Tage später fiel ihr, als sie in dem Geheimfach des Schreibtisches ihres Vaters bestimmte Vertragsunterlagen suchte, ein Blatt Papier in die Hände, auf dem eine Teufelskralle abgebildet war. Dies sei, so stand erläuternd dabei geschrieben, das geheime Brandmal der Hexen, das sie an verborgenen Stellen an ihrem Körper trugen. Der
Commander, das wußte Baronesse Malou, trug es am Handgelenk unter seiner Armbanduhr, die Spitznäsige unter ihrem Ohrclip. Das Mal, das sich einmal wie ein Brandzeichen in ihre Haut gegraben hatte, jenes kleine Hufeisen, es war ja längst geheilt und verschwunden. Freilich war es auch kein Brandmal des Bösen gewesen, sondern ein Freundschaftszeichen, gegen das die dunklen Mächte aufbegehrt hatten, weil es geweiht gewesen war. Noch immer hatte sie Rob nicht gebeten, ihr das Hufeisen zurückzugeben, denn dies wollte sie erst dann tun, wenn sie ihm alles gesagt hatte. Noch etwas fand sie in dem Geheimfach. Es war das Familienstammbuch und das gab ihr eine Erklärung für ihren seltsamen Vornamen. Baron Reubens Mutter hatte den Namen Marie-Louise getragen. In Baron Reubens Handschrift war ein Vermerk eingetragen: ›Rega will nicht, daß unser Kind den Namen seiner Großmutter trägt, obwohl der Brauch in unserem Hause ist. Wir haben uns darauf geeinigt, nur die beiden ersten Silben zu verwenden, und so wird aus Marie-Louise denn ›Malou‹ werden. Mir gefällt das nicht. Doch wenn es Rega glücklich macht?‹ Zu diesem Zeitpunkt hatte der Baron das Geheimnis seiner Frau wohl noch nicht entdeckt gehabt! Vieles, was mit dem oft befremdlichen Verhalten ihres Vaters zusammenhing, war Baronesse Malou inzwischen klar geworden. Es tat ihr weh, daß sie, auch ohne die Zusammenhänge zu kennen, nicht mehr Verständnis für ihn aufgebracht hatte. Allmählich gewannen Baronesse Malou und Rob den Durchblick in den Geschäften, bauten die Verbindungen aus, die der Baron schon geknüpft hatte, legten mehr Gewicht als er es getan hatte, auf die Schafzucht, die Fischkultur im Eyre-See, die Verpachtung der Jagden und die gewinnbringende
Verwertung des in den Wäldern geschlagenen Holzes. Schnelle Erfolge hatten sie nicht, zumal der Winter lange und hart war, doch es ging stetig aufwärts. Von der Wirklichkeit gefordert, kam Baronesse Malou ihr Erlebnis an der Blumenküste manchmal nur noch wie ein Traum vor, obwohl die Erinnerung an alles, was dort geschehen war, nicht verblaßte. Zuweilen wurde ihr durch kleine Begebenheiten auch bewußt, daß sie die Fähigkeit, selbst ein bißchen zu hexen, verloren hatte. Einmal hatte die Mamsell es wieder mit den leidigen Rückenschmerzen, und es fiel ihr schwer, den Mülleimer von der Stelle zu bewegen. Halb im Scherz, halb im Ernst bat sie Baronesse Malou: »Könnten Sie dem störrischen Burschen nicht sagen, daß er das gefälligst selber machen soll, Baronesse?« Versuchen könne sie es ja, meinte Baronesse Malou, und sie versuchte es, doch das funktionierte nicht mehr. Auch der Butler, in dem strengen Winter heftig vom Zipperlein geplagt, mußte allein sehen, wie er mit dem Stiefelknecht zurechtkam, denn auf Baronesse Malous Weisungen hörte der nicht mehr. Für die getreuen Alten war das eine mißliche Enttäuschung. Baronesse Malou hingegen war herzlich erleichtert darüber, daß sie keine übersinnlichen Kräfte mehr besaß, war es doch ein Beweis dafür, daß die dunklen Mächte nichts mehr mit ihr zu tun hatten! Ganz traute sie dem Frieden freilich nicht, denn zutiefst in ihrem Herzen lauerten immer noch heimliche Ängste. Es blieb kalt, immer wieder fiel Schnee, und nur selten ließ sich die Sonne blicken. So verging die Zeit.
Eigensinnig klammerte der Winter sich an seine Macht und wollte nicht loslassen. Doch der Zeitenlauf ließ sich von einer störrischen Jahreszeit nicht aufhalten, und so lag die Gefahr nahe, daß der Frühling sich sein Recht kämpferisch erringen mußte. »Die Luft ist zu lau, und der Himmel gefällt mir nicht«, äußerte Rob besorgt, als er am Abend mit Baronesse Malou zusammen von dem Jagdhaus zum Castle hinüberging, denn die Mamsell legte Wert darauf, daß sie rechtzeitig zum Essen kamen. »Die Wolken sind merkwürdig gelb, und es riecht nach Schwefel.« Baronesse Malou erschrak. Den ganzen Tag über war sie unruhig gewesen, hatte sich kaum auf die Arbeit konzentrieren können, weil ihre heimlichen Ängste sie bedrängt hatten. Sie hatte viel an ihre Mutter denken müssen und sich immer wieder bang gefragt, ob die dunklen Mächte ein Opfer, das ihnen schon sicher gewesen war, wirklich kampflos freigaben? »Du meinst«, forschte sie beklommen, »es könnte ein Unwetter kommen?« »Vielleicht zieht Sturm auf«, antwortete Rob, »oder ein Gewitter braut sich zusammen. Mir ist heute morgen schon aufgefallen, daß der Eyre-See aufgewühlt ist und die Fische ungewöhnlich unruhig sind. Und hörst du denn nicht auch, daß der Atlantik so bedrohlich rauscht, als liege er just um die Ecke? In jedem Fall sollten wir in dem Castle alle Fenster und die Läden schließen. Aber sehen wir zuerst noch bei den Pferden nach dem Rechten.« In den Boxen war es ruhig. Die Stallburschen hatten auch keine besonderen Vorkommnisse zu melden. Dennoch lag eine unterschwellige Spannung in der Luft. Baronesse Malou blieb an der Box von Diavolo stehen. Der Fuchs habe sprechende Augen‹, hatte Baron Reuben einmal gesagt, und das stimmte. Als er Baronesse Malou nun ansah
war ein Ausdruck in seinem Blick, der sie zutiefst anrührte. Sie beugte sich zu ihm, und der sonst so ungebärdige Fuchs rieb, was er noch nie getan hatte, den Kopf an ihrer Schulter. »Ist ja schon gut, Diavolo«, versicherte Baronesse Malou leise, »alles ist gut.« Rob, der den Stallburschen seine Anweisungen für den Fall eines hereinbrechenden Unwetters gegeben hatte, meinte, daß sie gehen sollten. »Wir müssen im Castle auch unsere Vorbereitungen treffen.« »Adieu, Diavolo«, verabschiedete sich Baronesse Malou von dem Fuchs, und ein unbeschreibliches Weh überkam sie bei dem Abschiedsgruß. Draußen war es inzwischen fast dunkel geworden. Der Schnee tropfte von den Bäumen, als Baronesse Malou und Rob von dem Wirtschaftshof aus zu dem Castle hinübergingen. Dort waren schon eifrige Hände damit beschäftigt, sämtliche Außentüren und die Fensterläden zu schließen. Der Butler hatte bereits seine Weisungen gegeben, er kannte sich aus mit den Warnsignalen des Wetters. Meistens fiel zuerst der Strom aus, wenn ein Unwetter hereinbrach, deshalb ließ er überall in dem ganzen großen Haus Kerzen aufstellen, die notfalls für eine wenn auch nur dürftige Helligkeit sorgen konnten. Rob lief auf den Dachboden, um dem Personal dort oben behilflich zu sein, sämtliche Luken dicht zu machen. Baronesse Malou eilte in ihr Zimmer. Die Fenster im Obergeschoß waren noch nicht alle geschlossen, und das Fenster in ihrem Zimmer stand immer einen Spalt weit offen. Als sie an dem Spiegel über ihrem Frisiertisch vorbeikam, zerriß der erste Sturmstoß die laue Luft, gefolgt von einem grellen Blitz und dem Knall eines krachenden Donnerschlags. Klirrend flog das Fenster auf. Im Widerschein des Blitzes erblickte Baronesse Malou in dem Spiegel die grinsende Fratze des Mister Master. Sie sah,
daß er begann, sich zu manifestieren, daß er Gestalt annahm, um aus dem Spiegel herauszutreten, und sie sah, wie er gierig die Hände nach ihr ausstreckte. Gellend schrie sie auf. Panische Angst lähmte sie. Aber sie mußte sich wehren! Wilder Zorn stieg in ihr hoch. Mit beiden Händen packte sie den schweren Kristallflakon, der auf dem Frisiertisch stand und schleuderte ihn mit aller Kraft in den Spiegel, mitten hinein in die grinsende Fratze. Ein zweiter Sturmstoß heulte zum Fenster herein, als die Fratze verschwand und der Spiegel klirrend in winzige Stücke zerbrach. Rob riß die Tür auf. Außer sich fragte er: »Hast du eben geschrien, Malou?« Sie flüchtete in seine Arme, und er hielt sie ganz fest. »Du zitterst ja, Malou.« »In dem Spiegel«, stammelte sie, »war sein Gesicht!« »Wessen Gesicht?« »Dieses Gesicht mit dem falschen Lächeln und den eiskalten Augen…« Sie barg ihren Kopf an Robs Schulter. »Die Fratze des Mister Master.« Zusammenhänge dämmerten Rob, die ihn schaudern ließen. Aber er nahm sich zusammen. Malou brauchte ihn. »Wie wäre es«, fragte er sanft, »wenn ich dir zum Schutz deinen Talisman wiedergeben würde? Das kleine goldene Hufeisen, du weißt schon.« Nun hatte Malou nichts mehr dagegen einzuwenden. »Ja, gib es mir, Rob.« Er trug das Kettchen immer bei sich, weil er ja auch immer hoffte, daß Baronesse Malou es wiederhaben wollte. Behutsam legte er ihr das Kettchen um, und sie atmete tief und erleichtert auf, denn nun brauchte sie nicht mehr zu fürchten, daß sich das kleine Hufeisen wie ein Brandmal in ihre Haut grub.
Sie waren einander so nahe! Aber bevor sie sich noch ein wenig näherkommen konnten, klopfte es und die Tür ging auf, und die Mamsell und der Butler fragten besorgt, ob alles in Ordnung sei? »Ein merkwürdiges Unwetter war das«, wunderte sich der Butler. »Zwei Sturmstöße und nur ein Blitz und ein Donnerschlag. Jetzt ist draußen alles wieder ruhig. Und nicht einmal der Strom ist ausgefallen.« »Na, dann können Sie Ihre Kerzen ja wieder einsammeln«, meinte die Mamsell. Sie bemerkte den zerbrochenen Spiegel und stellte zufrieden fest: »Wenn weiter nichts kaputt gegangen ist, dann ist es ja gut, und ich kann das Essen auftragen.« Aber essen wollten Baronesse Malou und Rob nichts. Nur einen Tee wollten sie trinken. Sie hatten sich ja soviel zu sagen. Sie redeten und redeten. Rückhaltlos berichtete Baronesse Malou alles, was sie erlebt hatte. »Ich fürchte, du kannst das vielleicht nicht glauben?« »Doch«, erwiderte Rob ernst. »O doch, denn auch ich bin Mister Master begegnet!« Und er sagte Baronesse Malou wie das gewesen war mit dem seltsamen Besucher, der Stonehaven hatte kaufen wollen. »Als ich den Abdruck der Teufelskralle im Schnee gesehen habe, da wußte ich, daß nicht nur du in Gefahr bist, sondern das ganz Stonehaven von bösen Mächten bedroht wird, und ich habe eine furchtbare Angst bekommen. Aber dann bin ich wütend geworden und war entschlossen, alles zu tun, was ich tun konnte, um dich und Stonehaven gegen die Mächte des Bösen zu verteidigen.« »Danke, Rob.« Baronesse Malou legte ihre Hand auf Robs Hand. »Ich glaube, am wichtigsten ist, daß man die Angst besiegt. Solange man sich vor etwas fürchtet, ist man wie gelähmt und kann sich nicht wehren. Der Sieg über die Angst ist auch der Sieg über das Böse.«
Sie fühlten sich beide erleichtert, nachdem sie sich ausgesprochen hatten. »So wollen wir das immer halten, Malou«, versprach Rob, »unser ganzes Leben lang, wenn es schwierig wird, dann wollen wir miteinander reden. Und wenn du es willst, dann wollen wir auch unser Leben lang zusammen bleiben. Weißt du, ich habe dich lieb.« Sie lächelte und neigte sich ihm ein wenig entgegen. »Du hast schon immer zu meinem Leben gehört, mir ist das nur nie bewußt geworden. Wir beide sind füreinander bestimmt. Mein Herz gehört dir schon lange. Ich habe dich auch lieb, Rob!« »Du kennst ja die Vorbehalte, die ich immer hatte und die es mir verboten haben, dir meine Gefühle für dich einzugestehen, weil du nun einmal eine Baronesse bist und ich nur ein Gillie war«, räumte er ein. »Aber ich bin auch mit dieser Angst fertig geworden und so frage ich dich nun, nach alldem was geschehen ist und was wir zusammen durchgestanden und gemeistert haben, ob du meine Frau werden willst?« »Ja, Rob«, antwortete Baronesse Malou fest und mit großer Innigkeit, »ja, das will ich.« Zart umschlossen seine Hände ihr Gesicht, und sie schenkten sich einen ersten, zärtlichen Kuß, der sie beide sehr glücklich machte. Trotzdem gestand Rob mit bekümmerter Miene, daß es noch etwas gab, das ihm Kummer bereitete. »Du wolltest doch immer reisen und die Welt kennenlernen! Das war deine große Sehnsucht. Aber diese Sehnsucht werden wir uns zunächst nicht erfüllen können.« »Zunächst nicht, das ist richtig«, räumte Baronesse Malou ein, und sie sah keineswegs unglücklich dabei aus, »aber sobald wir Stonehaven gerettet haben, werden wir alles nachholen!«
»Auch die Hochzeit?« rief Rob bestürzt. »Müssen wir damit solange warten?« »Ach, du liebe Güte, nein! Ich habe die Reisen gemeint!« Baronesse Malou lachte, wurde aber gleich wieder ernst. »Erinnerst du dich noch«, fragte sie leise, »daß Vater sich immer gewünscht hat, ich sollte einmal eine weiße Braut sein?« »Ja, und er hat sich noch etwas gewünscht, nämlich daß du dann als Christin vor den Altar trittst.« »Ach, das ist nun ja kein Problem mehr«, erklärte Baronesse Malou erleichtert, »der Pakt der es verhindert hat, daß ich getauft wurde, es gibt ihn nicht mehr. Gerne werde ich Vaters Wunsch erfüllen, und ich bin sicher, Mutter ist damit einverstanden.« Sie wurde sehr traurig. »Ach, Rob! Ich mache mir Sorgen um meine Mutter, ich weiß ja nicht, wie es ihr ergangen ist seit wir Abschied voneinander genommen haben. Wenn ich nur wenigstens wüßte, ob sie Frieden gefunden hat!« Es war kurz vor Mitternacht. Die Portalglocke schrillte in die Stille. Ein aufgeregter Stallbursche wollte Rob sprechen. Der Bursche war vollkommen aufgelöst. »Wir sind nicht schuld daran, Mister Rob, das kann ich beschwören«, stieß er außer sich hervor. »Wir haben alles genau so gemacht, wie Sie es gesagt haben, und es ist ja auch gar nichts passiert! Das Wetter ging schnell vorbei, und die Tiere haben sich gleich wieder beruhigt. Nur, als wir gerade noch einmal einen Rundgang gemacht haben, da – da haben wir festgestellt, daß er nicht mehr da ist! Einfach verschwunden. Wir wissen nicht, wie. Alle Türen sind geschlossen gewesen, auch die Tür zu seiner Box war zu und ist es noch. Aber er ist nicht mehr da. Er ist fort…« »Wer?« unterbrach Rob. »Wer ist fort?« »Diavolo«, flüsterte Baronesse Malou.
Wie hatte die Marchesa auf dem Pinienhügel zu ihr gesagt. Irgendwann wird etwas verschwinden, was du zwar bedauern, aber das du nicht allzusehr vermissen wirst, und dann wirst du wissen, daß es mir gutgeht und wer mein Helfer gewesen ist.‹