TERRY BROOKS
HEXENZAUBER Landover Band 5 Roman Aus dem Amerikanischen von Rainer Gladys
GOLDMANN
Die Originalausgab...
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TERRY BROOKS
HEXENZAUBER Landover Band 5 Roman Aus dem Amerikanischen von Rainer Gladys
GOLDMANN
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Witches’ Brew« bei Ballantine Books, a division of Random House, Inc. New York
Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Das Papier enthält Recycling-Anteile.
Der Goldmann Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann Copyright © der Originalausgabe 1995 by Terry Brooks This translation published by arrangement with Ballantine Books, a division of Random House, Inc. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1996 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Tilman Michalski Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck: Graphischer Großbetrieb Pößneck Verlagsnummer: 24687 Redaktion: Janka Panskus SN • Herstellung: Peter Papenbrok Made in Germany ISBN 3-442-24687-3
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Einst hatte sich Ben Holiday, Anwalt aus Chicago, aus einem Weihnachtskatalog das magische Königreich Landover gekauft. In dieser Zauberwelt lebt er nun gemeinsam mit seiner geliebten Elfenfrau Willow und seiner schönen Tochter Mistaya. Doch dann wird der Friede im Königreich gestört: Vor den Toren des Schlosses erscheint ein geheimnisvoller Ritter, der unmiß verständliche Drohungen gegen Ben und seine Familie ausstößt. Ben beauftragt den Hofschreiber Questor und seinen Schreiber Abernathy, Mistaya in Sicherheit zu bringen. Doch dann läuft etwas schief. Denn ein paar Tage später steht der mysteriöse Ritter wieder vor den Toren des Schlosses. Mistaya befindet sich in seiner Gewalt, und er wird sie nur dann wieder freigeben, wenn Ben gegen ihn kämpft – auf Leben und Tod. Pure Magie – der neueste Roman von Terry Brooks, dem Autor der weltweit erfolgreichen Shannara-Saga. DEUTSCHE ERSTVERÖFFENTLICHUNG
Terry Brooks im Goldmann Verlag: Das Schwert von Shannara (23828) • Der Sohn von Shannara (23829) • Der Erbe von Shannara (23830) • Die Elfensteine von Shannara (23831) • Der Druide von Shannara (23832) • Die Dämonen von Shannara (23833) • Das Zauberlied von Shannara (23893) • Der König von Shannara (23894) • Die Erlösung von Shannara (23895) • Die Kinder von Shannara (24535) • Das Mädchen von Shannara (24536) • Der Zauber von Shannara (24537) • Die Schatten von Shannara (11584) • Die Elfenkönigin von Shannara (24571) • Die Verfolgten von Shannara (24572) • Die Reiter von Shannara (24588) • Die Talismane von Shannara (24590) • Der verschenkte König (24502) • Königreich zu verkaufen (23914) • Das schwarze Einhorn (23935) • Das Zauberlabyrinth (24623) • Hook. Roman zum Film von Steven Spielberg (41326)
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Für Lisa, die immer für mich da war, und für Jill, die nie lockerließ.
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Alle Kinder, bis auf eines, werden irgendwann erwachsen. Sie wissen schon bald, daß sie erwachsen werden müssen, und Wendy lernte es auf folgende Weise: Eines Tages, als sie zwei Jahre alt war, spielte sie im Garten und pflückte eine Blume. Mit ihr lief sie zu ihrer Mutter. Ich denke, daß sie ganz reizend ausgesehen haben muß, denn Mrs. Darling legte die Hände auf ihr Herz und rief: »Ach, warum kannst du nur nicht immer so bleiben wie jetzt!« Dies war alles, was zwischen ihnen über diesen Umstand geäußert wurde, aber von nun an wußte Wendy, daß sie erwachsen werden mußte. Du weißt es immer, wenn du zwei bist. Zwei ist der Anfang vom Ende. J. M. Barrie, Peter Pan
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MISTAYA
Eine Krähe mit roten Augen saß auf einem Ast in der gewaltigen, alten Eiche – dort, wo das Laub am dichtesten war – und blickte zu den Menschen hinab, die sich auf der sonnigen Lichtung zu einem Picknick versammelt hatten. So nannte Holiday es: ein Picknick. Auf dem üppigen Frühlingsgras war eine leuchtendbunte Decke ausgebreitet, und auf ihr hatte man den Inhalt von mehreren Eßkör ben verteilt. Wenn man ein Mensch war und über guten Appetit verfügte, würden diese Lebensmittel einen sicher entzücken, nahm die Krähe an. Da gab es Teller mit Fleisch und Käse, Schüsseln mit Salat und Obst, Brotlaibe und Flaschen mit Bier und gekühltem Wasser. Für jeden Teilnehmer waren Teller und Servietten vorhanden, Becher, aus denen man trinken, und Gerätschaften, mit denen man essen konnte. In der Mitte des Festmahles stand eine Vase mit Wildblumen. Die meiste Arbeit bei den Vorbereitungen verrichtete Willow, die Sylphe mit den smaragdgrünen Locken und der kleinen, biegsamen Gestalt. Sie war lebhaft und lachte und sprach mit den anderen, während sie arbeitete. Der Hund und der Kobold halfen ihr: Abernathy, Landovers Hofschreiber, und Parsnip, der für die Küche des Schlosses zuständig war. Questor Thews, der zerzauste, weißbärtige Zauberer, streifte umher und betrachtete verwundert die neuen Triebe und seltsamen Wildblumen. Bunion, der andere Kobold, der gefährliche, der fast alles ausspionieren konnte, patrouillierte wachsam am Rand der Lichtung entlang. Der König saß allein an einem Ende des bunten Tuches. Ben Holiday, Landesherr von Landover. Er starrte gedankenverloren in die Bäume hinauf. Das Picknick war seine Erfindung, etwas, das sie in jener Welt taten, aus der er kam. Indem er es in diese Welt einführte, schenkte er ihnen eine neue Erfahrung. Und jetzt schienen sie das Picknick sogar mehr zu genießen als er selbst. Die Krähe mit den roten Augen verharrte absolut regungslos im Schutz der Zweige der alten Eiche. Sie war sich der Anwesenheit 6
der Erwachsenen vollständig bewußt, aber sie interessierte sich einzig und allein für das Kind. Andere Vögel, einige mit bunterem Gefieder, andere mit einer süßeren Singstimme, schwirrten durch das Gehölz, flatterten unbekümmert und sorglos hin und her. Sie waren kühn und achtlos; die Krähe blieb dagegen absichtlich im verborgenen. Kein Auge außer dem des Kindes würde auf sie fallen; niemand außer dem Kind würde auf sie aufmerksam werden. Die Krähe hatte über eine Stunde lang darauf gewartet, daß das Kind sie bemerkte, daß es ihren unhörbaren Rufen antwortete, ihren stillen Befehlen gehorchte und daß es seine leuchtendsmaragdgrünen Augen auf die belaubten Schatten richtete. Das Kind streunte umher, spielte hier und da, scheinbar völlig ziellos, doch in Wirklichkeit war es bereits auf der Suche. Geduld, ermahnte sich die Krähe mit den roten Augen. Wie bei so vielen anderen Gelegenheiten im Leben mußte sie sich auch hier in Geduld üben. Dann war das Kind direkt unter ihr. Das kleine Gesicht hob sich, und die verwirrenden grünen Augen blickten suchend umher und fanden sie plötzlich. Die Augen des Kindes trafen die der Krähe, Smaragdgrün traf auf Blutrot, Mensch auf Vogel. Worte wurden zwischen ihnen gewechselt, die nic ht ausgesprochen werden mußten, ein lautloser Austausch von Gedanken über das Sein und das Haben, über das Verlangen und den Verlust, über die Macht des Wissens und die unerbittliche Notwendigkeit, erwachsen zu werden. Das Kind stand so still wie ein Stein. Es starrte nach oben und begann zu ahnen, daß es enorme und wunderbare Dinge zu lernen gab, wenn es nur den richtigen Lehrer finden konnte. Die Krähe mit den roten Augen hatte vor, dieser Lehrer zu werden. Die Krähe war die Hexe Nightshade. Ben Holiday lehnte sich auf seine Ellbogen zurück. Der Geruch des Picknickessens ließ seinen leeren Magen knurren. Das Frühstück lag bereits Stunden zurück, und er hatte sorgsam darauf geachtet, in der Zwischenzeit nichts zu essen. Gott sei Dank war 7
das Warten jetzt fast vorüber. Willow packte mit Hilfe von Abernathy und Parsnip die Behälter aus und stellte sie auf die Decke. Bald wäre Essenszeit. Es war ein perfekter Sommertag für ein Picknick. Der Himmel war wolkenlos und blau, die Sonne wärmte die Erde und das neue Gras und vertrieb wieder einmal die Erinnerungen an die Kälte des Winters. Die Blumen blühten, und die Bäume standen voller Laub. Die Tage wurden länger, je näher der Mittsommer heranrückte, und die farbigen Monde von Landover jagten sich für immer kürzere Zeiträume über den dunklen Himmel. Willow fing Bens Blick auf und lächelte ihn an. Sofort verliebte er sich aufs neue in sie, als wäre es das erste Mal; als würden sie sich wieder in den mitternächtlichen Wassern des Irrylyn treffen, und sie sagte ihm, daß sie füreinander bestimmt waren. »Du könntest mal mit anfassen, Zauberer«, fuhr Abernathy Questor Thews an und unterbrach damit Bens Gedankenfluß. Abernathy ärgerte es offensichtlich, daß Questor sich nicht an den Vorbereitungen für das Picknick beteiligte. »Hmmm?« Questor blickte völlig abwesend von einer ungewöhnlichen, purpurfarbenen und gelben Wildblume auf. Der Zauberer sah immer so aus, als sei er geistesabwesend, gleich, ob er das wirklich war oder nicht. »Faß mit an!« wiederholte Abernathy schärfer. »Wer sich nicht an der Arbeit beteiligt, bekommt auch nichts zu essen – lautet so nicht die Moral von jener Fabel?« »Schon gut, es gibt keinen Grund, gleich sauer zu sein!« Questor Thews beendete sein Pflanzenstudium, um sich der dringlicheren Aufgabe zu widmen, seinen Freund zu besänftigen. »Schau her, so macht man das doch nicht! Laß mich dir zeigen, wie es geht.« Der Wortwechsel zwischen den beiden dauerte noch ein paar Augenblicke an, bis schließlich Willow eingriff und sie sich wieder beruhigten. Ben schüttelte den Kopf. Wie viele Jahre hackten sie jetzt schon so aufeinander herum? Seit der Zauberer den Schreiber in einen Hund verwandelt hatte? Oder schon früher? Ben war sich nicht sicher, zum Teil, weil er ein Neuling in der 8
Gruppe war und die Geschichte selbst jetzt noch nicht ganz klar war, zum Teil aber auch, weil die Zeit für ihn ihre Bedeutung verloren hatte, seit er von der Erde hierher gekommen war. Wobei er, mußte er zugeben, eine Trennung von Landover und der Erde unterstellte, die vielleicht eher theoretisch als tatsächlich bestand. Denn wie konnte man schließlich eine Grenze definieren, die nicht durch geographische Landmarken oder ordentliche Landvermessungen festgelegt wurde, sondern durch Elfennebel? Wie unterschied man zwischen Ländern, die man in nur einem Schritt überqueren konnte, aber nicht, ohne dabei magische Worte oder Talismane zu benutzen? Landover war hier und die Erde dort, ganz einfach, das eine links und das andere rechts, aber das half nicht dabei, den Abstand zwischen den beiden zu bestimmen. Ben Holiday war nach Landover gekommen, als sich seine Hoffnungen und Träume zerschlagen und Vernunft sich in Verzweiflung verwandelt hatte. Kauf ein magisches Königreich, und du beginnst ein neues Leben, hatte die Anzeige in Rosens Weihnachtskatalog versprochen. Mach dich zum König eines Landes, in dem die Märchen deiner Kindheit Wirklichkeit sind. Die Idee war gleichzeitig unglaubwürdig und unwiderstehlich gewesen. Sie forderte einen Akt absoluten Glaubens, und Ben war dieser Forderung nachgekommen wie ein Ertrinkender, der nach dem Rettungsring greift. Er hatte den Kauf getätigt und war in das Unbekannte hinübergewechselt. Er war zu einem Ort gekommen, der unmöglich existieren konnte, und mußte erkennen, daß er dies dennoch tat. Landover war genau das gewesen, was er erwartet hatte, und zugleich doch völlig anders. Es hatte ihn stärker gefordert, als er es für möglich gehalten hätte. Aber letztendlich hatte es ihm das gegeben, was er gebraucht hatte: einen neuen Anfang, eine neue Chance, ein neues Leben. Es hatte seine ganze Vorstellungskraft gefangengenommen. Es hatte ihn vollständig verwandelt. Dennoch verwirrte ihn Landover auch jetzt noch. Er versuchte noch immer, alle seine Nuancen zu verstehen. Wie diese Sache mit der Zeit. Sie verstrich hier anders als in seiner alten Welt; das wußte er, weil er mehr als einmal hin und zurück gewechselt war 9
und dabei festgestellt hatte, daß die Jahreszeiten nicht übereinstimmten. Er wußte es zudem durch die Auswirkung, die die Zeit auf ihn hatte oder besser: das Fehlen einer solchen Auswirkung. Es hatte damit zu tun, wie er hier alterte. Es war kein fortschreitender Prozeß, keine stetige Abfolge von Veränderungen, die sich Minute um Minute und Stunde um Stunde fortsetzten. Es war nur schwer zu gla uben, aber manchmal alterte er überhaupt nicht. Früher hatte er dies nur vermutet, aber jetzt war er sich hierüber absolut sicher. Er war nicht zu dieser Schlußfolgerung gekommen, indem er seine eigene Alterungsrate beobachtet hatte, denn ihm mangelte es an der nötigen Objektivität und dem nötigen Abstand zu sich selbst, um diese bestimmen zu können. Nein, Mistaya war das Objekt seiner Beobachtung gewesen. Er blickte zu ihr hinüber. Sie stand vor einer mächtigen, alten weißen Eiche und schaute mit intensive m Blick in ihr Gezweig hinauf. Seine Stirn runzelte sich, während er sie so betrachtete. Wenn es ein einzelnes Wort gab, mit dem er seine Tochter beschreiben würde, dann wahrscheinlich dieses: »Intensiv«. Sie ging alles mit der Zielstrebigkeit eines Falken an, der auf Beutesuche war. Da waren keine Konzentrationsschwächen oder Ablenkungen erlaubt. Wenn sie sich einer Sache annahm, dann schenkte sie ihr ihre komplette Aufmerksamkeit. Ihr Gedächtnis war erstaunlich und erforderte anscheinend, daß sie eine Sache so lange untersuchte, bis sie sich diese zu eigen gemacht hatte. Es war ein seltsames Benehmen für ein kleines Kind. Aber schließlich war Mistaya überhaupt seltsam. Da war die Frage ihres Alters. Sein Studium ihrer Wachstumsrate war es gewesen, durch das Ben klarer hatte erkennen können, daß seine Vermutungen über ihn selbst nicht unbegründet waren. Gemessen am Verstreichen von Landovers Jahreszeiten – den gleichen vier Jahreszeiten, die auf der Erde im Verlauf eines Jahres verstrichen –, war Mistaya vor zwei Jahren geboren worden. Demzufolge sollte sie jetzt zwei Jahre alt sein. Aber das war sie nicht. Sie war nicht im entferntesten zwei Jahre alt. Sie schien fast zehn zu sein. Sie war zwei Jahre alt gewesen, als sie 10
zwei Monate alt gewesen war. Sie wuc hs buchstäblich sprunghaft. In wenigen Monaten alterte sie um Jahre, und das noch nicht einmal in einer logischen, gleichmäßigen Art und Weise. Zu manchen Zeiten wuchs sie überhaupt nicht – zumindest nahm man es nicht wahr. Dann wiederum alterte sie über Nacht um mehrere Monate oder gar ein ganzes Jahr. Sie wuchs dann körperlich, geistig, emotional und auf jede andere Weise, die sich feststellen ließ. Nicht alles gleichzeitig, oder auch nur mit der gleichen Geschwindigkeit, aber im allgemeinen holte ein Charakteristikum schließlich immer die anderen ein. Sie schien als erstes immer geistig reifer zu werden; ja, da war er sich ziemlich sicher. Schließlich hatte sie bereits mit drei gesprochen. Monaten, wohlgemerkt, nicht Jahren. Und sie hatte gesprochen, als sei sie bereits acht oder neun. Jetzt, mit zwei oder zehn Jahren, oder welchen Maßstab man auch anlegen wollte, sprach sie, als wäre sie fünfundzwanzig. Mistaya. Den Namen hatte Willow ausgewählt. Ben hatte ihn von Anfang an gemocht. Mistaya. Misty Holiday. Er fand, das hörte sich sehr hübsch an. Es klang nach Süße und Nostalgie und nach angenehmen Erinnerungen. Es paßte dazu, wie sie ausgesehen hatte, als er sie das erste Mal erblickt hatte. Er war gerade aus dem Wirrkästchen freigekommen; sie und ihre Mutter waren aus dem Tiefen Schlund gekommen, wo Mistaya geboren worden war. Willow wollte zunächst nicht über die Geburt sprechen, aber wenn sie ehrlich zueinander sein wollten, mußten sie die Geheimnisse, die sie voreinander hatten, enthüllen, und am Ende hatten sie beide geredet. Er hatte ihr von Nightshade als der Lady erzählt; sie hatte ihm von Mistaya berichtet. Es war schwierig, aber heilsam gewesen. Willow war besser mit Bens Wahrheit umgegangen als er mit ihrer. Der Art und Weise ihrer Geburt nach, hätte Mistaya alles mögliche sein können. Sie war als Sämling eines Baumes geboren worden, genährt von den Mutterböden Landovers, der Erde und der Elfennebel. Sie war in der feuchten, dunstigen Ödheit des Tiefen Schlundes ans Licht der Welt gekommen, und so war Mistaya eine Melange der Welten, der Magien und des unterschiedlichen Blutes. Aber da war sie 11
gewesen, als er sie das erste Mal gesehen hatte, wie sie in ihren behelfsmäßigen Tüchern lag: ein vollendetes, wunderschönes Baby. Verwirrend grüne Augen, die einem bis in die Seele drangen, ebenmäßige, rosafarbene Haut, honigblondes Haar und Gesichtszüge, die sofort als eine Mischung aus denen von Ben und Willow zu erkennen gewesen waren. Ben hatte vom ersten Moment an das Gefühl gehabt, daß alles zu gut war, um wahr zu sein. Er begann nur zu bald zu entdecken, daß er damit recht hatte. Er hatte zugesehen, wie Mistaya ihr Babyalter in wenigen Monaten hinter sich ließ. Er hatte beobachtet, wie sie in ein und derselben Woche ihre ersten Schritte machte und schwimmen lernte. Sie hatte zur gleichen Zeit zu sprechen und zu laufen begonnen. Bevor sie noch ein Jahr alt war, hatte sie bereits das Lesen und einfaches Rechnen gemeistert. Zu diesem Zeitpunkt schwirrte ihm bereits der Kopf bei der Aussicht, der Vater eines phänomenal begabten Kindes zu sein, eines Genies, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte. Doch selbst das entwickelte sich nicht so, wie er es erwartet hatte. Sie reifte heran, aber niemals so schnell in eine Richtung, wie er es vorhergesehen hatte. Sie entwickelte sich immer bis zu einem gewissen Punkt und hörte dann einfach auf. Zum Beispiel verlor sie vollständig das Interesse an der Mathematik, nachdem sie die Grundrechenarten verstanden hatte. Sie lernte lesen und schreiben, ließ es dann aber dabei bewenden. Sie schien Vergnügen daran zu haben, von einer neuen Sache zur nächsten zu hüpfen; es gab niemals eine rationale Erklärung dafür, warum sie sich in einem Bereich nur bis zu einem bestimmten Punkt und nicht weiter entwickelte. Vom ersten Tag an hatte sie niemals irgendein Interesse an kindlichen Beschäftigungen gezeigt. Mit Puppen oder Spielzeug zu spielen, einen Ball zu werfen oder zu fangen oder auch Seilspringen war nur etwas für andere Kinder. Mistaya wollte wissen, wie Dinge funktionierten, warum sie geschahen und was sie bedeuteten. Die Natur faszinierte sie. Sie unternahm lange Spaziergänge, viel länger, als Ben geglaubt hätte, daß ein so junges Kind sie durchhalten könnte. Und die ganze Zeit 12
untersuchte sie alles, was sie umgab, stellte Fragen über dies und jenes und verstaute alles in den Schubfächern und Schränken ihres Verstandes. Einmal, als sie noch sehr jung gewesen war, erst wenige Monate alt, und gerade dabei, sprechen zu lernen, hatte er sie mit einer Lumpenpuppe gefunden. Einen Augenblick lang hatte er geglaubt, daß sie damit spielte, aber dann hatte sie ihn angeblickt und ihn mit dieser ernsten Stimme und diesen intensiven Augen gefragt, warum der Macher der Puppe einen bestimmten Stich benutzt hatte, um die Glieder zu befestigen. Das war Mistaya. Immer ganz direkt und todernst. Sie nannte ihn »Vater«, wenn sie ihn ansprach. Niemals »Papa« oder »Daddy« oder irgend so etwas. »Vater«. Oder »Mutter«. Höflich, aber formell. Die Fragen, die sie stellte, waren für sie ernst und wichtig, und sie nahm sie nicht leichtfertig. Ben lernte, das ebenfalls nicht zu tun. Als er einmal über eine ihrer Äußerungen gelacht hatte, weil sie ihm lustig vorgekommen war, hatte sie ihm einen Blick zugeworfen, der ihn ermahnte, erwachsen zu werden. Es war nicht so, daß sie nicht lachen konnte oder Dinge in ihrem Leben nicht mit Humor betrachtete; sie war nur sehr eigen darin, was sie lustig fand und was nicht. Abernathy brachte sie regelmäßig zum Lachen. Sie piesackte ihn gnadenlos, immer sehr ernst, als ob sie ihn überhaupt nicht hochnehmen würde, nur um ihn dann breit anzugrinsen, sobald er zu ahnen begann, was vorging. Er ließ das erstaunlich gutmütig über sich ergehen. Als sie noch sehr klein gewesen war, pflegte sie auf ihm zu reiten und ihn an seinen Ohren zu ziehen. Sie war nicht boshaft dabei gewesen, sondern nur verspielt. Abernathy hätte dies von keiner anderen lebenden Seele toleriert. Bei Mistaya schien es ihm hingegen sogar zu gefallen. Zumeist fand Mistaya jedoch, daß die Erwachsenen öde waren und sie einengten. Sie hielt nichts von ihren Bemühungen, sie anzuleiten und zu beschützen. Sie reagierte nicht besonders gut auf das Wort »Nein« oder auf die Beschränkungen, die ihr ihre Eltern und Lehrer auferlegten. Abernathy war ihr Tutor, aber im privaten Gespräch gestand er, daß sich seine Musterschülerin in seinem Unterricht regelmäßig langweilte. Bunion war ihr 13
Beschützer, aber seit sie laufen konnte, war er die meiste Zeit damit beschäftigt, sie wenigstens in Sichtweite zu behalten. Sie liebte Ben und Willow und zeigte ihnen auch ihre Zuneigung, aber immer auf diese seltsame, reservierte Art, die ihr zu eigen war. Gleichzeitig war sie offenkundig der Ansicht, daß ihre Eltern in Verhaltensregeln und Einstellungen gefangen waren, die in ihrem eigenen Leben keinen Platz hatten. Sie hatte eine bestimmte Art, ihre Eltern anzusehen, wenn diese ihr etwas erklärten, die ganz offen zu verstehen gab, daß die beiden sie überhaupt nicht verstanden, denn wenn sie dies täten, würden sie nicht ihre Zeit mit unnötigen Erklärungen verschwenden. Sie schien zu glauben, daß Erwachsene ein notwendiges Übel in ihrem jungen Leben waren, und je eher sie selbst erwachsen würde, desto besser. Das könnte erklären, warum sie in zwei Jahren um zehn gealtert war, dachte Ben oft. Das könnte auch erklären, warum sie, fast sofort nachdem sie sprechen gelernt hatte, alle Erwachsenen auf eine erwachsene Art angesprochen und dabei komplette Sätze und eine korrekte Grammatik verwendet hatte. Sie konnte ein Sprachmuster beim ersten Hören aufnehmen und sich merken. Wenn Ben jetzt mit ihr sprach, war es, als führte er eine Unterhaltung mit sich selbst. Sie sprach auf genau die gleiche Art mit ihm, wie er mit ihr. Er hatte schnell jeden Versuch unterlassen, mit ihr zu sprechen wie mit einem normalen Kind oder gar – Gott verhüte es – in Kindersprache, als ob sie ihm sonst nicht folgen könnte. Wenn man Mistaya in Kindersprache anredete, sprach sie einen ebenfalls an, als sei man ein Kind. Im Gespräch mit seiner Tochter war es immer fraglich, wer das Kind war und wer der Erwachsene. Die einzige Ausnahme in dieser Hinsicht war Questor Thews. Die Beziehung, die sie zu dem Zauberer hatte, unterschied sich vollständig von jeder, die sie zu anderen Erwachsenen hatte einschließlich ihrer Eltern. Bei Questor schien Mistaya gern ein Kind zu sein. Sie sprach zum Beispiel nicht so mit ihm, wie sie mit Ben sprach. Sie hörte sorgsam allem zu, was er sagte, schenkte jeder Sache, die er tat, ihre volle Aufmerksamkeit und schien überhaupt ganz zufrieden damit, daß er ihr in gewisser 14
Weise überlegen war. Sie hatten eine Beziehung zueinander, die Großväter und Enkelinnen manchmal teilen. Ben glaubte, daß es hauptsächlich die Magie des Zauberers war, welche die beiden miteinander verband. Mistaya war von ihr fasziniert, selbst wenn sie einmal nicht so funktionierte, wie Questor es geplant hatte, was nur allzuoft der Fall war. Questor zeigte ihr ständig kleine Zauberstückchen, probierte Neues aus und experimentierte mit diesem und jenem herum. Er achtete allerdings sorgsam darauf, nichts Gefährliches auszuprobieren, wenn Mistaya zugegen war. Und dennoch folgte sie ihm überallhin und saß stundenlang bei ihm, um nicht die Chance zu verpassen, daß er ihr eine kleine Probe der Macht lieferte, die er besaß. Am Anfang war Ben besorgt gewesen. Mistayas Interesse an der Magie schien sehr stark jener Faszination zu ähneln, die kleine Kinder für das Feuer empfinden, und er wollte nicht, daß sie sich verbrannte. Doch sie bat nie darum, Zaubersprüche oder Runen ausprobieren zu dürfen, fragte nie nach, wie ein bestimmtes Stück Magie funktionierte, und sie hörte sich respektvoll und ohne Klagen Questors Ausführungen über die Gefahren an, die die Anwendung von Magie für den ungeschulten Anwender bereithielt. Es war, als hätte sie es nicht nötig, es auszuprobieren. Für sie war Questor einfach eine erstaunliche Kuriosität; etwas, das man beobachtete, aber nicht nachahmte. Es war seltsam, aber nicht ungewöhnlicher als alles andere an Mistaya. Gewiß hatte ihre Neigung zur Magie etwas mit ihrer Herkunft zu tun: ein Kind, das aus Magie geboren worden war, das über magische Vorfahren verfügte und Magie im Blut hatte. Worauf würde das wohl alles hinauslaufen? fragte sich Ben. Die Zeit verstrich, und Ben bemerkte, daß er ständig darauf wartete, daß etwas geschah. Mistaya war nicht das Kind, das er sich vorgestellt hatte, als Willow ihm mitgeteilt hatte, daß er Vater werden würde. Sie war überhaupt nicht wie irgendein Kind, dem er jemals begegnet war. Sie war einfach ein großes Rätsel. Er liebte sie, fand sie faszinierend und wundervoll und konnte sich ein Leben ohne sie nicht vorstellen. Sie gab den Begriffen »Kind« 15
und »Eltern« eine neue Bedeutung und ließ ihn täglich die Richtung überdenken, die sein Leben nahm. Doch er fürchtete sich auch – nicht vor dem, wer und was sie im Augenblick war, sondern vor dem, was sie einmal werden mochte. Ihre Zukunft war eine weite Reise in ein unbekanntes Land, über die er, wie er fürchtete, absolut keine Kontrolle haben würde. Was konnte er tun, damit ihr Weg ebenmäßig verlief? Willow schien sich um all diese Dinge keine Sorgen zu machen. Aber schließlich ging Willow mit dem gleichen Ansatz daran, ein Kind aufzuziehen, mit dem sie an alles heranging: Das Leben präsentierte einem Entscheidungen, die getroffen, Gelegenheiten, die ergriffen, und Hindernisse, die überwunden werden mußten, und es präsentierte sie einem dann, wenn es gut und richtig war, und keinen Moment früher. Es war sinnlos, sich über etwas den Kopf zu zerbrechen, über das man keine Kontrolle besaß. Jeder Tag mit Mistaya war eine Herausforderung, die man meistern, und eine Freude, die man genießen mußte. Willow gab ihrer Tochter, was sie konnte, und nahm dankbar an, was ihr im Gegenzug angeboten wurde. Sie sagte Ben immer und immer wieder, daß Mistaya etwas Besonderes war, ein Kind verschiedener Welten und Rassen, ein Kind von Elfen und Menschen, von Königen und Magiern. Das Schicksal hatte ihr sein Zeichen aufgedrückt. Zu gegebener Zeit würde sie einmal etwas Wunderbares vollbringen. Sie beide mußten ihr die Gelegenheit geben, dies tun zu können. Sie mußten ihr gestatten, so heranzuwachsen, wie sie es wollte. Ja, das war alles gut und schön, dachte Ben kläglich. Aber es war einfacher gesagt, als getan. Er beobachtete seine Tochter, wie sie in das Gezweig jener großen Eiche hinaufstarrte, und fragte sich, was er noch tun konnte. Er fühlte sich überfordert mit der Aufgabe, sie zu erziehen. Er fühlte sich von dem, wer und was sie war, überwältigt. »Ben, es ist Zeit zum Essen«, verkündete Willow. Ihre Stimme war eine sanfte Unterbrechung seiner Gedanken. »Ruf Mistaya.«
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Er stand auf und wischte die sorgenvollen Gedanken beiseite. »Misty!« rief er. Sie sah ihn nicht an, ihr Blick war fest auf den Baum gerichtet. »Mistaya!« Nichts. Sie war eine Statue. Questor Thews kam an seine Seite. »Wieder in ihre eigene kleine Welt versunken, wie es scheint, Eure Hoheit.« Er zwinkerte Ben zu und formte dann mit seinen Händen einen Trichter vor dem Mund. »Mistaya, komm jetzt!« befahl er, und seine dünne Stimme wirkte fast schwächlich. Sie wandte sich um, zögerte einen Moment lang und eilte dann herbei. Ihr langes, blondes Haar schimmerte im Sommerlicht, und ihre smaragdgrünen Augen leuchteten und blitzten. Sie warf Questor Thews ein kurzes Lächeln zu, als sie an ihm vorbeischoß. Ben schien sie hingegen kaum wahrzunehmen. Nightshade blickte dem Kind nach, als es sich von dem Baum entfernte, um sich wieder den anderen anzuschließen. Für den Fall, daß einer von ihnen auf den Gedanken kommen sollte, einen näheren Blick auf die sie verbergenden Zweige zu werfen, verhielt sie sich ganz still. Aber niemand kam auf die Idee. Lachend und redend versammelten sie sich um Essen und Trinken und ahnten nichts von dem, was gerade geschehen war. Das Mädchen gehörte nun ihr; die Saat ihrer Macht war tief in ihr eingepflanzt und mußte nur noch genährt werden, damit sie sie ganz für sich beanspruchen könnte. Die Zeit würde kommen. Schon bald. Nightshades lange herangereifter Plan kam nun in die Umsetzungsphase. Wenn er ganz ausgeführt war, würde Ben Holiday vernichtet sein. Die Krähe mit den roten Augen erinnerte sich – und die Erinnerungen brannten wie Feuer. Zwei Jahre waren vergangen, seit Nightshade dem Wirrkästchen entkommen war. Verbittert durch den Betrug, den der Möchtegern-König an ihr begangen hatte, und verärgert durch ihr Versagen, sich durch seine Frau und sein Kind an ihm zu rächen, hatte sie geduldig darauf gewartet, daß ihre Chance zum Zuschlagen kam. Holiday hatte sie in das Wirrkästchen hinabgezogen, hatte sie in den nebligen Grenzen des Labyrinths 17
gefangengehalten, ihr ihre Identität gestohlen, sie ihrer Magie beraubt, ihre Verteidigung niedergerissen und sie dazu gebracht, sich ihm hinzugeben. Daß keiner von ihnen gewußt hatte, wer er selbst oder gar der andere war, spielte keine Rolle. Es war auch nicht von Belang, daß sie beide, zusammen mit dem Drachen Strabo, von einem mächtigen Wesen eingefangen worden waren. So oder so war Holiday dafür verantwortlich. Holiday hatte ihre Schwäche aufgedeckt. Holiday hatte sie dazu gebracht, das für ihn zu empfinden, was sie vor langer Zeit bereits geschworen hatte, niemals mehr für einen Mann zu empfinden. Noch viel schlimmer wurde dies alles dadurch, daß sie ihn schon immer gehaßt hatte. Das machte es unmöglich, das, was geschehen war, zu akzeptieren. Sie hatte ihren Zorn immer weißglühend gehalten und ließ ihn die ganze Zeit dicht unter der Oberfläche brodeln. Sie brannte vor Wut, und der Schmerz sorgte dafür, daß sie ihr Ziel immer im Auge behielt und nie vergaß, was zu tun war. Vielleicht wäre sie zufrieden gewesen, wenn man ihr das Kind nach seiner Geburt im Tiefen Schlund übergeben hätte. Vielleicht hätte es genügt, wenn sie Anspruch auf das Kind erhoben und zugleich seine Mutter vernichtet hätte, so daß Holiday mit diesem Vermächtnis als Bestrafung für seinen Betrug zurückgeblieben wäre. Aber die Elfen hatten eingegriffen und sie davon abgehalten, und seitdem war sie gezwungen gewesen, mit dem zu leben, was man ihr angetan hatte. Bis jetzt. Denn jetzt war das Kind alt genug, um sowohl von Menschen als auch von Elfen unabhängig zu sein, alt genug, um Wahrheiten zu entdecken, die noch nicht enthüllt waren, und um durch andere Mittel als durch Gewalt errungen zu werden. Mistaya – sie würde für Nightshade der Balsam sein, dessen die Hexe des Tiefen Schlundes so verzweifelt bedurfte, um wieder ein Ganzes zu werden, und zugleich würde Mistaya die Waffe sein, derer sie sich bedienen würde, um Ben Holiday zu vernichten. Die Krähe mit den roten Augen blickte auf die Gruppe aus Familie und Freunden hinab und dachte, daß dies der letzte 18
Moment des Glücks sein würde, den jeder von ihnen jemals erfahren würde. Dann erhob sie sich aus den laubdunklen Schatten und flog nach Hause.
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RYDALL VON MARNHULL
Der Sonnenaufgang war erst eine helle Silbersichel am östlichen Horizont, das Land noch in die Schatten der Nacht gehüllt, als Willow sich am nächsten Morgen mit einem so heftigen Ruck aufsetzte, daß es Ben aus dem tiefen Schlaf riß. Er fand sie steif und zitternd vor; sie hatte die Bettdecke zurückgeworfen, und ihre Haut war eiskalt. Er zog sie sofort an sich und umarmte sie fest. Nach einem Moment wurde das Zittern schwächer, und sie ließ zu, daß er sie sanft wieder unter die Decke zog. »Es war eine Vorahnung«, flüsterte sie, als sie wieder sprechen konnte. Sie lag dicht bei ihm und ganz still, als warte sie darauf, daß etwas nach ihr schlüge. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, das sie in seine Brust vergraben hatte. »Ein Traum?« fragte er und streichelte ihren Rücken, um sie zu beruhigen. Die Verkrampfung wollte jedoch nicht aus ihrem Körper weichen. »Was war es?« »Kein Traum«, antwortete sie, und ihr Mund bewegte sich dabei auf seiner Haut. »Eine Vorahnung. Das Gefühl, daß etwas geschehen wird. Etwas Schreckliches. Es war ein Gefühl von solcher Schwärze, daß es über mich hinwegbrandete wie ein großer Fluß, und ich spürte, wie ich darin ertrank. Ich konnte nicht mehr atmen, Ben.« »Jetzt ist ja alles gut«, sagte er leise. »Du bist wach.« »Nein«, sagte sie sofort. »Es ist überhaupt nicht gut. Die Vorahnung betraf uns alle – dich, mich und Mistaya. Aber vor allem dich, Ben. Du bist in großer Gefahr. Ich kenne nicht die Ursache, ich weiß nur, daß es sich ereignen wird. Etwas wird geschehen, und wenn wir nicht darauf vorbereitet sind, werden wir...« Sie brach ab, wollte die Worte nicht aussprechen. Ben seufzte und zog sie sanft an sich heran. Ihr langes, smaragdenes Haar floß über seine Schulter und auf das Kissen hinab. Ausdruckslos blickte er in den stillen, dunklen Raum. Er wußte, daß er Willow 20
nicht anzweifeln konnte, wenn es um Träume und Vorahnungen ging. Sie waren ein normaler Bestandteil des Lebens der Einstmals-Elfen, die sich auf ihre Träume ebenso verließen wie die Menschen auf ihre Instinkte. Und sie wurden selten von ihnen getrogen. Willow wurde in ihren Träumen von Elfenwesen und Toten heimgesucht, die ihr Ratschläge gaben und sie warnten. Vorahnungen waren weniger verläßlich und auch seltener, aber sie waren nicht weniger wertvoll für das, was sie bewirken sollten. Wenn Willow glaubte, daß sie in Gefahr waren, dann war es klug, davon auszugehen, daß sie damit recht hatte. »Es gab keinen Hinweis darauf, worin diese Gefahr besteht?« fragte er einen Augenblick später in dem Versuch, es etwas zu verdeutlichen. Verneinend schüttelte sie den Kopf; es war nur eine kleine Bewegung gegen seinen Körper. Sie schaute ihn nicht an. »Aber sie ist gewaltig. Ich habe noch niemals ein so starkes Gefühl gehabt, nicht seit der Zeit, als wir uns getroffen haben.« Sie machte eine Pause. »Was mir Sorgen bereitet, ist, daß ich nicht weiß, was die Vision heraufbeschworen hat. Gewöhnlich tritt vorher ein kleines Ereignis ein, ein kleiner Teil einer Nachricht, irgendein Hinweis, der ihr vorangeht. Träume werden von anderen gesandt, um ihren Gedanken Ausdruck zu verleihen und um Rat anzubieten. Aber Vorahnungen sind gesichtslose, stimmenlose Geister, die nur dazu dienen, den Empfänger zu warnen, ihn auf eine Ungewisse Zukunft vorzubereiten. Sie werden während unseres Schlafes durch kleine Fäden des Verdachts und des Zweifels zu uns gezogen, die uns vor dem Unerwarteten beschützen. In unserem Schlaf werden uns Pfade geöffnet, die uns verschlossen bleiben, wenn wir wach sind. Der Pfad, über den diese Vorahnung zu mir gekommen ist, muß wirklich sehr breit und gerade gewesen sein, so monströs war ihr Ausmaß.« Sie preßte sich an ihn, als die Erinnerung sie erneut in Angst versetzte. »Seit Monaten hat uns nichts mehr bedroht«, sagte Ben und dachte an die vergangene Zeit zurück. »In Landover herrscht überall Friede. Nightshade und Strabo halten Ruhe. Die Herren des Grünlandes streiten sich nicht. Selbst die Felstrolle haben 21
schon seit längerer Zeit keinen Ärger mehr gemacht. Es gibt keine Störung in den Elfennebeln. Keine einzige.« Dann schwiegen sie, während sie gemeinsam in dem großen Bett lagen. Sie sahen zu, wie das Licht über die Fenstersimse kroch und die Schatten zu verblassen begannen, lauschten den Geräuschen des erwachenden Tages. Ein winziger, leuchtendroter Vogel flog von den Zinnen herab an ihrem Fenster vorbei und war wieder verschwunden. Schließlich hob Willow den Kopf und blickte ihn an. Ihre makellosen Gesichtszüge waren bleich und wie eingefroren, »Ich weiß nicht, was ich tun soll«, flüsterte sie. Er küßte ihre Nase. »Wir werden tun, was immer wir tun müssen.« Er erhob sich vom Bett und ging zur Waschschüssel hinüber; sie stand auf einem Gestell vor dem Fenster, das nach Osten blickte. Ben hielt inne, um den neuen Tag zu betrachten. Der Himmel über ihm war klar, und das Licht des Sonnenaufgangs dehnte sich aus in eine Flut von Helligkeit, die bereits ein verschwenderisches Übermaß an Grün und Blau hervorgezaubert hatte. Bewaldete Hügel, die wie eine rauhe Decke über den noch immer schlafenden Formen des Landes lagen, erstreckten sich jenseits der schimmernden Mauern von Sterling Silver. Die Blumen auf der Wiese jenseits des Sees, der die Schloßinsel umgab, begannen sich zu öffnen. Auf dem Burghof direkt unter ihm waren die Wachen gerade mitten im Wachwechsel begriffen, und Stallknechte brachten den Tieren ihr Futter. Ben spritzte sich Wasser ins Gesicht, das vom Schloß für den neuen Tag erwärmt worden war. Sterling Silver war eine lebende Wesenheit und besaß eine Magie, die es dem Schloß erlaubte, für den König und seinen Hofstaat zu sorgen wie eine Mutter für ihre Kinder. Als Ben gerade erst nach Landover gekommen war, war das eine Quelle stetigen Staunens für ihn gewesen – auf Befehl ein eingelassenes Bad mit genau der richtigen Temperatur vorzufinden, Licht, das erschien, wenn er es wünschte, zu fühlen, wie sich die Steine des Fußbodens in kalten Nächten unter seinen 22
Füßen erwärmten, Nahrung, die gekühlt oder getrocknet wurde, je nachdem, wie es nötig war –, aber mittlerweile hatte er sich an diese kleinen Wunder gewöhnt und dachte nicht mehr viel darüber nach. Dennoch ertappte er sic h an diesem Morgen aus irgendeinem Grund dabei. Er trocknete sich das Gesicht ab und schaute auf die glänzende Oberfläche des Wassers in der Schüssel hinab. Sein Spiegelbild blickte ihm entgegen, ein gesundes, sonnengebräuntes, schmales Gesicht mit durchdr ingenden, blauen Augen, einer Habichtsnase und einem an den Schläfen bereits zurückweichenden Haaransatz. Die sanften Wellen im Wasser gaben ihm Falten und Verzerrungen, die er nicht hatte. Er sah so aus, dachte er, wie er immer ausgesehen hatte, seit er aus der alten Welt hierhergekommen war. Der Schein trügt, sagt das Sprichwort, aber in diesem Fall war er sich dessen nicht so sicher. Magie war die Grundlage der Existenz von Landover, und wo Magie beteiligt war, war alles möglich. Genau wie bei Mistaya, erinnerte er sich selbst, die ständig dabei war, dieses Konzept neu zu definieren. Willow erhob sich vom Bett und kam zu ihm herüber. Sie trug keine Kleidung, war sich dessen aber wie immer überhaupt nicht bewußt, und das ließ ihre Nacktheit völlig natürlich und richtig erscheinen. Er zog sie in seine Arme und drückte sie an sich. Wieder einmal dachte er daran, wie glücklich er war, daß er sie hatte, wie sehr er sie liebte und wie sehr er sie brauchte. Sie war noch immer die schönste Frau, die er jemals gesehen hatte, eine Voreingenommenheit, die er gerne eingestand. Er war der Meinung, daß ihre Schönheit ebensosehr von innen kam wie von außen. Sie war die große Liebe, die er verloren hatte, als Annie in der alten Welt ums Leben gekommen war – vor so langer Zeit, wie ihm schien, daß er sich kaum noch an das Ereignis erinnern konnte. Sie war die Lebenspartnerin, von der er geglaubt hatte, daß er sie niemals wieder finden würde, jemand, der ihm Stärke gab, ihn mit Freude erfüllte und ein Gleichgewicht in seinem Leben erzeugte. 23
Ein Klopfen erklang an der Schlafzimmertür. »Hoheit?« rief Abernathy drängend und mit Erregung in der Stimme. »Seid Ihr wach?« »Ich bin wach«, antwortete Ben, der noch immer Willow an sich gedrückt hielt, und blickte an ihrem nach oben gerichteten Gesicht vorbei. »Es tut mir leid, aber ich muß mit Euch sprechen«, verkündete Abernathy. »Jetzt gleich.« Willow schlüpfte aus Bens Armen und huschte schnell davon, um sich in eine lange, weiße Robe zu hüllen. Ben wartete, bis sie fertig war, dann ging er, um die Tür zu öffnen. Dort stand Abernathy, der nicht in der Lage war, auch nur einen Teil seiner Ungeduld und Bestürzung zu verbergen. Beides zeigte sich ganz deutlich in seinen Augen. Hunde vermitteln mit ihrem Blick immer einen gewissen besorgten Eifer, und Abernathy, auch wenn er nur der Gestalt nach ein Hund war, bildet hier keine Ausnahme. Steif stand er in seiner roten und goldenen Uniform da, der Robe seines Amtes als Hofschreiber, aber seine Finger – das einzige, was nach seiner Verwandlung in einen flauschigen Wheaten Terrier von seinem menschlichen Selbst übriggeblieben war – spielten nervös mit den verzierten Metallknöpfen, als wollte er sich vergewissern, daß sie alle am richtigen Platz waren. »Euer Hoheit.« Abernathy trat vor und beugte sich vertraulich zu ihm vor. »Es tut mir leid, daß ich Euren Tag mit etwas Unangenehmem beginnen muß, aber da sind zwei Reiter vor den Toren. Sie sind anscheinend hier, um eine Art Herausforderung auszusprechen. Sie weigern sich, sich jemand anderem außer Euch mitzuteilen, und der eine hat einen Handschuh auf die Mitte der Brücke geworfen. Sie warten auf Eure Erwiderung.« Ben nickte und unterdrückte ein halbes Dutzend unangebrachter Erwiderungen. »Ich werde gleich da sein.« Er schloß die Tür und begann sich eilig anzuziehen. Er berichtete Willow, was geschehen war. Einen Fehdehandschuh zu werfen klingt für einen Mann des zwanzigsten Jahrhunderts wunderlich, aber in Landover war nichts Komisches an der Geste. 24
Hier befolgte man noch die alten Kampfregeln, und wenn ein Handschuh geworfen wurde, dann gab es keinen Zweifel darüber, was das zu bedeuten hatte. Eine Herausforderung war verkündet worden, und es wurde eine Erwiderung darauf erwartet. Selbst ein König konnte eine solche Handlung nicht ignorieren. Oder vielleicht, dachte Ben, während er seine Stiefel anzog, konnte es gerade ein König nicht tun. Er stand auf und knöpfte sein Wams zu. Er hielt inne, um das Medaillon, das an seinem Hals hing, in die Hand zu nehmen. Es war das Symbol seines Amtes, der Talis man, der ihn beschützte. Wenn Ben herausgefordert worden war, wurde der Kampf von seinem Kämpen ausgefochten, dem Ritter, der Paladin genannt wurde und der seit Anbeginn jeden König von Landover verteidigt hatte. Das Medaillon beschwor den Paladin, der in Wirklichkeit das andere Ich des Königs war. Denn es war Ben selbst, der den Körper und den Verstand des Paladins beherrschte, wenn dieser seine Kämpfe für ihn austrug. Ben wurde dann zu seinem eigenen Kämpen und verlor sich eine Zeitlang in den kriegerischen Fertigkeiten und dem Leben des anderen. Ben hatte eine lange Zeit gebraucht, um die Wahrheit über die Natur des Paladins zu entdecken. Und er hatte noch viel länger gebraucht, um sich damit abzufinden, was diese Wahrheit bedeutete. Er ließ das Medaillon fallen. Später würde noch genug Zeit sein, um über all dies zu spekulieren, falls es sich überhaupt um eine Herausforderung zum Kampf handelte, falls der Paladin gebraucht wurde, falls die Gefahr nicht nur eingebildet war, falls, falls, falls... Er nahm Willow beim Arm und ging durch die Tür. Schnell schritten sie die Halle entlang und erklommen eine Treppe zu den Zinnen hinauf, die über dem Haupttor des Schlosses aufragten. Sterling Silver, das auf einer Insel inmitten eines Sees stand, war mit dem Festla nd durch eine Brücke verbunden, die Ben errichtet hatte – und mittlerweile bereits mehrfach hatte erneuern müssen –, um Besuchern den Zugang zu erleichtern. Landover befand sich nicht im Krieg – hatte sich nicht im Krieg befunden, seit Ben die Königswürde übernommen hatte –, und er hatte bereits vor langer 25
Zeit entschieden, daß es keinen Grund gab, den Herrscher von seinem Volk zu isolieren. Natürlich hatte sein Volk nicht die Angewohnheit, Handschuhe zu werfen und Herausforderungen zu verkünden. Er öffnete die Tür, die zum Wehrgang hinausführte und ging zu dem Balkon hinüber, der Aussicht auf die Brücke gewährte. Dort standen bereits Questor Thews und Abernathy und unterhielten sich leise. Bunion huschte auf der einen Seite hurtig und gewandt an der Brustwehr entlang, mit seinen Koboldklauen war es ihm ein leichtes, sich in den Stein zu krallen. Wenn Bunion wollte, konnte er die Wand gerade hinablaufen. Seine leuchtendgelben Augen waren zu bedrohlichen Schlitzen zusammengezogen, und seine bemerkenswerten Zähne zeigten sich in der Parodie eines Lächelns. Questor und Abernathy blickten sofort auf, als Ben mit Willow erschien, und eilten ihm entgegen. »Hoheit, Ihr müßt dies nach Eurem eigenen Gutdünken behandeln«, sagte Questor in seiner typischen, kurz angebundenen Art, »aber ich würde Euch zu großer Vorsicht raten. Diese beiden Männer sind von einer Aura der Magie umgeben, die selbst meine Kräfte nicht zu durchdringen vermag.« »Welch unwiderlegbarer Beweis!« merkte Abernathy ironisch mit aufgerichteten Hundeohren an. Er warf Ben einen schmerzerfüllten Blick zu. »Hoheit, dies sind impertinente, möglicherweise gestörte Kreaturen, und es mag Eurer Erwägung wert sein, ihnen ein wenig Zeit in Euren Kerkern anzubieten.« »Auch euch einen guten Morgen«, begrüßte Ben sie fröhlich. »Ein schöner Tag, um einen Fehdehandschuh zu werfen, nicht wahr?« Er warf beiden ein schiefes Lächeln zu, während er sich auf den Balkon zubewegte. »Ich sage euch was. Hören wir uns erst einmal an, was sie zu sagen haben, bevor wir uns Konsequenzen überlegen.« Sie bewegten sich als Gruppe auf den Aussichtspunkt hinaus und blieben an der Brüstung stehen. Zwei schwarzgekleidete Reiter saßen in der Mitte der Brücke auf schwarzen Pferden. Der 26
größere der beiden trug eine Rüstung, und an seinem Sattel hingen ein Breitschwert und eine Streitaxt. Sein Visier war geschlossen. Der kleinere war in eine Robe gehüllt und hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Er war zusammengesunken wie ein altes Weib, das sich ausruht, und Gesicht und Hände waren verborgen. Keiner von ihnen bewegte sich. Keiner trug irgendein Wappen oder hielt eine Standarte. Der schwarze Panzerhandschuh des gerüsteten Reiters lag vor ihnen in der Mitte der Brücke. »Ihr seht, was ich meine«, flüsterte Questor rätselhaft. Das tat Ben nicht, aber das machte auch keinen Unterschied. Da er die Konfrontation nicht unnötig hinauszögern wollte, rief Ben zu den beiden auf der Brücke hinab: »Ich bin Ben Holiday, der König von Landover. Was wünscht Ihr von mir?« Der Helm des gepanzerten Reiters hob sich ein wenig. »König Holiday, ich bin Rydall, König von Marnhull und aller Länder östlich, jenseits der Elfennebel bis zum Großen Unpassierbaren.« Die Stimme des Mannes war tief und donnernd. »Ich bin hier, um Eure Unterwerfung zu fordern. Ich will sie auf friedliche Art erlangen, aber ich bin auch bereit, sie mit Gewalt zu erzwingen, wenn es nötig sein sollte. Ich wünsche Eure Krone, Euren Thron und das Medaillon Eures Amtes. Ich wünsche Eure Gewalt über Eure Untertanen und Euer Königreich. Drücke ich mich einfach genug aus, damit Ihr mich versteht?« Ben spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg. »Was ich verstehe, Rydall von Marnhull, ist, daß Ihr ein Narr seid, wenn Ihr erwartet, daß ich Euch irgendwelche Beachtung schenke.« »Und Ihr seid ein Narr, wenn Ihr mich nicht ernst nehmt«, antwortete der andere schnell. »Hört mir zu, bevor Ihr noch etwas sagt. Mein Königreich Marnhull liegt jenseits der Elfennebel. Alles, was auf jener Seite der Grenze liegt, gehört mir. Ich habe es bereits vor langer Zeit mit Gewalt und der Stärke meiner Armee erobert. Jahrelang habe ich nach einem Weg gesucht, die Nebel durchqueren zu können, aber die Elfenmagie hat mich daran gehindert. Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Ich habe Eure 27
wichtigste Verteidigung durchbrochen, König Holiday, und Euer Land liegt endlich offen vor mir. Ihr verfügt nur über eine kleine, mir weit unterlegene Armee. Meine hingegen ist riesig und geübt, sie würde Euch an einem einzigen Tag zerschmettern. In diesem Augenblick wartet sie an Eurer Grenze auf meinen Befehl. Wenn ich sie rufe, wird sie wie eine Seuche über Landover hereinbrechen und alles zerstören, was ihr in den Weg kommt. Ihr verfügt über keine Möglichkeit, sie aufzuhalten, und sobald sie einmal in Bewegung gesetzt wurde, braucht es seine Zeit, um sie wieder unter Kontrolle zu bekommen. Ich muß mich nicht deutlicher ausdrücken, nicht wahr, Hoheit?« Ben warf Willow und seinen Ratgebern einen kurzen Blick zu. »Hat jemand von euch schon einmal irgend etwas von diesem Kerl gehört?« fragte er leise. Alle drei schüttelten den Kopf. »Holiday, werdet Ihr Euch mir unterwerfen?« rief Rydall erneut mit seiner dröhnenden Stimme. Ben drehte sich ihm wieder zu. »Ich denke nicht. Vielleicht ein andermal. König Rydall, ich kann nicht glauben, daß Ihr hierhergekommen seid und wirklich erwartet, daß ich tun werde, was Ihr von mir verlangt. Niemand hat von Euch gehört. Ihr bringt weder einen Beweis Eures Ranges noch von der Existenz Eurer Armee. Ihr sitzt da auf Eurem Pferd und stoßt Drohungen und Forderungen aus, aber das ist auch alles. Zwei Männer, ganz allein, die aus dem Nichts hier aufgetaucht sind.« Er machte eine kurze Pause. »Was wäre, wenn ich Euch einfach gefangennehmen und in den Kerker werfen ließe?« Rydall lachte, und sein Lachen war ebenso donnernd und tief wie seine Stimme; es klang gemein. »Ich würde Euch nicht raten, das zu versuchen, Hoheit. Es wäre nicht so einfach, wie es scheinen mag.« Holiday nickte. »Hebt Euren Handschuh auf und geht nach Hause. Ich habe Hunger auf mein Frühstück.« »Nein, Hoheit. Ihr seid es, der den Handschuh aufnehmen muß, wenn Ihr meiner Forderung nach Unterwerfung nicht nachkommen wollt.« Rydall ließ sein Pferd einen Schritt nach vorn 28
machen. »Euer Land liegt auf dem Weg meiner Armee. Ich kann nicht um es herum gehen, und ich werde dies auch nicht tun. Es wird auf die eine oder andere Art in meine Hände fallen. Aber das Blut jener, die ihr Leben lassen müssen, wird nicht an meinen Händen kleben; es wird an Euren sein. Ihr habt die Wahl, Eure Hoheit.« »Ich habe meine Wahl getroffen«, antwortete Ben. Rydall lachte erneut. »Wacker gesprochen. Nun, ich habe auch nicht erwartet, daß Ihr so einfach nachgeben würdet, nicht ohne einen Beweis meiner Stärke, ohne einen Grund, der Euch glauben läßt, daß Euer Widerstand gegen me inen Befehl Euch, und vielleicht jenen, die Ihr liebt, Schaden zufügen wird.« Ben schoß erneut das Blut ins Gesicht. »Drohungen werden Euch bei mir nichts nützen. Unsere Unterhaltung ist hiermit beendet.« »Wartet, Hoheit!« rief der andere eilig aus. »Es wäre besser, Ihr würdet unsere Unterhaltung nicht so...« »Geht dorthin zurück, wo Ihr hergekommen seid!« knurrte Ben und drehte sich weg. Dann sah er Mistaya. Sie stand ein paar Meter entfernt allein auf dem Wehrgang und blickte zu Rydall hinab. Sie stand ganz still, ihr honigblondes Haar ergoß sich über ihre schmalen Schultern, ihr elfenhaftes Gesicht war wie gebannt, und ihre smaragdfarbenen Augen waren fest auf die Reiter am Tor gerichtet. Sie schien nichts anderes wahrzunehmen, ihre ganze Konzentration war nach unten gerichtet, dorthin, wo Rydall und sein Begleiter warteten. »Mistaya!« rief Ben sanft. Er wollte nicht, daß sie dort stand, wo man sie sehen konnte, wollte nicht, daß sie sich so dicht an der Kante aufhielt. Er spürte, daß ihm der Schweiß auf der Stirn stand. Seine Stimme wurde lauter. »Mistaya!« Sie hörte nicht oder wollte nicht hören. Ben verließ die anderen und ging zu ihr. Wortlos umfaßte er ihre Taille und trug sie von den Zinnen weg. Mistaya widersetzte sich ihm nicht. Sie legte ihm die Arme um den Hals und erlaubte ihm, sie wieder abzusetzen. 29
Er verbarg seinen Ärger, als er sich zu ihr hinabbeugte. »Gehe bitte hinein«, sagte er ihr. Sie blickte ihn neugierig an, als müßte sie ein Rätsel lösen, dann wandte sie sich gehorsam um, ging durch die Tür und war verschwunden. »König Ben Holiday!« rief Rydall von unten. Bens Zähne preßten sich hart aufeinander, als er ein letztes Mal zu den Zinnen herumwirbelte. »Ich bin mit Euch fertig, Rydall!« rief er wütend zurück. »Laßt ihn von mir gefangennehmen und vor Euch bringen«, knurrte Abernathy. »Ein letztes Wort!« rief Rydall empor. »Ich sagte, ich habe nicht erwartet, daß Ihr Euch mir ohne einen Beweis dafür, daß ich nicht lüge, unterwerfen würdet. Wollt Ihr, daß ich es Euch beweise, Hoheit? Wollt Ihr einen Beweis, daß ich in der Lage bin, das zu tun, was ich Euch angedroht habe?« Ben holte tief Luft. »Ihr müßt tun, was Ihr für richtig haltet, Rydall von Marnhull. Aber bedenkt eines – Ihr werdet Euch für Eure Wahl verantworten müssen.« Es folgte ein la nges Schweigen, während die beiden sich fest anstarrten. Trotz seines Ärgers und seiner Entschlossenheit spürte Ben, wie ihn ein Frösteln durchzog, so als durchschaue Rydall ihn besser als umgekehrt. Es war ein beunruhigender Moment. »Für jetzt lebt wohl, König Ben Holiday«, sagte Rydall schließlich. »Ich werde in drei Tagen wiederkommen. Vielleicht wird Eure Antwort dann anders ausfallen. Ich lasse den Handschuh dort, wo er liegt. Niemand außer Euch wird in der Lage sein, ihn aufzuheben. Und Ihr werdet ihn aufheben.« Er warf sein Pferd herum und galoppierte davon. Der andere Reiter blieb noch einen Augenblick stehen, zusammengekauert und schweigend. Er hatte sich die ganze Zeit über weder bewegt noch gesprochen. Er hatte nichts von sich selbst enthüllt. Jetzt wandte er sich ohne Eile ab und folgte Rydall. Gemeinsam überquerten sie, zwischen Wildblumen und Gras hindurch, die Wiese. Sie wirkten wie schwarze Schatten vor dem stärker 30
werdenden Licht. Sie verschwanden zwischen den Bäumen hinter der Wiese. Ben Holiday und seine Gefährten sahen ihnen nach, bis sie außer Sicht waren. Sie sprachen kein einziges Wort. Das Frühstück war an diesem Morgen eine gedrückte Angelegenheit. Ben, Willow, Questor und Abernathy saßen dicht zusammen an einem Ende des langen Speisetisches, stocherten in ihrem Essen herum und redeten miteinander. Mistaya hatte ihr Frühstück bereits bekommen und war zum Spielen hinausgeschickt worden. Einem nachträglichen Gedanken folgend, hatte Ben Bunion beauftragt, ein Auge auf sie zu haben. »Also hat niemand etwas von Rydall gehört?« wiederholte Ben noch einmal. Er kam immer wieder auf die gleiche Frage zurück. »Seid ihr euch sicher?« »Hoheit, dieser Mann ist ein Fremder in Landover«, versicherte ihm Questor Thews. »Es gibt innerhalb unserer Grenzen weder einen Rydall noch ein Marnhull.« »Und, soweit wir wissen, auch nirgendwo sonst!« knurrte Abernathy hitzig. »Rydall behauptet, durch die Elfennebel gekommen zu sein, aber dafür haben wir nur seine Aussage. Niemand kann die Nebel durchdringen, Hoheit. Die Elfen würden das nicht erlauben. Nur mit Magie ist es möglich, sie zu passieren, und darüber verfügen nur die Elfen und ihre Kreaturen. Rydall scheint mir aber weder das eine noch das andere zu sein.« »Vielleicht besitzt er wie ich einen Talisman, der ihm erlaubt, sie zu durchqueren«, warf Ben ein. Questor beugte sich mit gerunzelter Stirn vor. »Was ist mit diesem schwarzverhüllten Begleiter? Ich habe Euch gesagt, daß ich Magie in diesem Paar gespürt habe, aber die kam wahrscheinlich nicht von Rydall. Vielleicht ist der andere ein Geschöpf der Magie, ein Elfenwesen wie der Gorse. Solch ein Wesen könnte den Durchgang ermöglichen.« Ben dachte an den Gorsen zurück, den dunklen Elfen, der zur Zeit von Mistayas Geburt befreit und nach Landover 31
zurückgebracht worden war. Eine Kreatur seiner Art war gewiß in der Lage, in die Elfennebel einzudringen und jedem, der ihm im Weg stand, soviel Leid anzutun wie möglich. »Aber warum sollte ein so mächtiges Wesen Rydall dienen?« fragte er abrupt. »Wäre es nicht eher andersherum?« »Vielleicht steht das Elfenwesen in seinem Bann«, schlug Willow ruhig vor. »Oder vielleicht sind die Dinge nicht so, wie es den Anschein hat, und es ist tatsächlich Rydall, der dem anderen dient.« »Wenn der Schwarzverhüllte über Magie verfügt, dann mag es trotzdem anders aussehen«, überlegte Questor. »Ich wünschte, ich hätte die Verkleidung der beiden durchdringen können.« Ben lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Laßt uns das noch einmal zusammenfassen. Diese beiden, Rydall und sein Begleiter, erscheinen aus dem Nichts. Einer von ihnen, vielleicht auch beide, verfügt über Magie – bedeutende Magie, behaupten sie. Aber wir wissen nicht, was diese Magie vermag. Was wir wissen, ist, daß sie einen bedingungslosen Verzicht auf den Thron von Landover fordern und daß sie überzeugt zu sein scheinen, daß sie ihn auf die eine oder andere Art erlangen werden. Warum?« »Warum?« wiederholte Questor Thews verwirrt. »Laß es mich anders ausdrücken«, fuhr Ben fort. Er schob seinen Teller von sich und blickte den Za uberer an. »Sie stellen eine Forderung, ohne einen Beweis dafür zu liefern, warum sie ernst genommen werden sollte. Sie haben keine Magie enthüllt, die in der Lage gewesen wäre, uns einzuschüchtern, und sie haben uns nichts von ihrer gepriesenen Armee geze igt. Sie haben einfach nur ihre Forderung gestellt und sind dann davongeritten, nachdem sie uns drei Tage Bedenkzeit gegeben haben. Bedenkzeit wofür? Für ihre Forderung, die wir bereits zurückgewiesen haben? Ich glaube nicht.« »Du denkst, daß sie vorhaben, uns eine Demonstration ihrer Macht zu geben«, vermutete Willow. Ben nickte. »Das tue ich. Sie haben uns nicht umsonst drei Tage gegeben. Und sie haben eine recht offene Drohung ausgesprochen, 32
als sie gegangen sind. Rydall hat zu schnell auf seine Forderung nach sofortiger Unterwerfung verzichtet. Warum sollte er sie stellen, wenn er nicht vorhatte, ihr Nachdruck zu verleihen? Hier wird irgendein Spiel gespielt, und ich glaube, wir kennen noch nicht alle seine Regeln.« Die anderen nickten düster. »Was solle n wir tun, Hoheit?« fragte Questor schließlich. Ben zuckte mit den Schultern. »Ich wünschte, ich wüßte es.« Er dachte einen Moment lang nach. »Laß uns den Schau-ins-Land benutzen, Questor. Vielleicht finden wir mit seiner Hilfe irgendein Anzeichen von Ryda ll oder seiner Armee in Landover. Wir können damit eine gründliche Suche durchführen. Ich will die Bevölkerung nicht in Angst versetzen, indem ich ihr die Drohung mitteile, bevor wir nicht sicher herausgefunden haben, daß auch wirklich Gefahr besteht, aber es kann nicht schaden, unsere Grenzpatrouillen für ein paar Tage zu verstärken.« »Es mag auch nicht schaden, unsere Wachen hier zu verstärken«, knurrte Abernathy, der sich streckte. »Die Drohung scheint immerhin direkt gegen Euch gerichtet zu sein.« Ben stimmte ihm zu. Da niemand mehr etwas hinzuzufügen hatte, erhoben sich alle vom Tisch, um mit ihrem Tagwerk zu beginnen. Sie hatten es zum größten Teil bereits vor Wochen geplant, als sie noch nichts von Rydall und seinen Drohungen ahnen konnten. Ben ging seinen Pflichten gewissenhaft nach, ohne Beunruhigung zu zeigen, aber seine Besorgnis über den König von Marnhull beschäftigte ihn unvermindert. Sobald sie die Zeit dazu fanden, stiegen Ben und Questor auf den höchsten Turm des Schlosses hinauf, wo sich eine kleine, runde Kammer befand. Ihre Wand war im Halbkreis geöffnet, so daß man einen weiten Blick über das Land hatte. In Hüfthöhe zog sich am Rand ein Geländer entlang, und ein silbernes Lesepult stand an der Mitte des Geländers. Von ihm aus blickte man direkt in die Wolken hinaus. In das Metall waren Tausende reichverzierter Runen eingraviert. Dies war der Schau-ins-Land. 33
Ben schloß die Tür und verriegelte sie. Dann holte er aus einer Truhe eine verschlissene Landkarte von Landover und ging zu dem Pult hinüber. Er breitete die Karte auf der Lesefläche aus und befestigte sie mit Spangen. Anschließend stellte er sich direkt hinter das Pult, hielt sich am Geländer fest und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf die Karte. Er konzentrierte sich auf das Seenla nd, denn dort wollte er mit der Suche beginnen. Sekunden später wichen die Wände des Turmes zurück, und er flog über Landover dahin, mit nichts als dem Geländer als Halt. Es war eine Illusion, wie er jetzt wußte: In Wirklichkeit stand er noch immer innerha lb des Schlosses, und nur sein Geist zog frei über Landover dahin. Doch die Illusion, die von der Magie des Schauins-Land ausging, war sehr machtvoll. Ben sauste über die Wälder, Flüsse, Seen und Sümpfe des Seenlandes dahin, und mit seinen Augen, die so scharf waren wie die eines Adlers auf der Jagd, erspähte er alle Einzelheiten der Landschaft. Die Suche erbrachte jedoch keine Ergebnisse. Es fanden sich keine Anzeichen von Rydall, seinem schwarzverhüllten Begleiter oder ihrer Armee. Die Grenzen zu den Elfennebeln waren ruhig. Ben brütete immer noch über die Angelegenheit nach, als Willow ihn gegen Mittag beiseite nahm. Sie gingen in einen privaten Garten hinaus, der sich direkt an jene Räume im Erdgeschoß anschloß, die Willow für sich selbst und für Mistaya beanspruchte. Mistaya war nicht anwesend. Sie aß gerade zusammen mit Parsnip in der Küche. »Ich möchte Mistaya fortschicken«, verkündete Willow unvermittelt und richtete ihre Augen fest auf Ben. »Morgen.« Ben schwieg einen Augenblick und erwiderte ihren Blick. »Deine Vorahnung?« Sie nickte. »Sie war zu stark, als daß ich sie ignorieren könnte. Vielleicht war Rydalls Auftauchen ihre Ursache, vielleicht auch nicht. Aber ich würde mich besser fühlen, wenn Mistaya für einige Zeit woanders wäre. Es mag schwierig genug werden, uns selbst zu schützen.« 34
Sie schlenderten einen gewundenen Weg entlang und blieben schließlich vor einigen Rhododendronbüschen stehen. Ben atmete ihren Duft ein. Er erinnerte sich an Rydalls Drohung, jenen Schaden zuzufügen, die er liebte. Und Rydall hatte Mistaya auf der Mauer gesehen. Ben verschränkte die Arme und blickte in die Ferne. »Du hast wahrscheinlich recht. Aber wohin können wir sie schicken, wo sie sicherer ist, als in diesen Mauern?« Willow nahm seine Hand. »Zu meinem Vater. Zum Flußherrn. Ich weiß, wie schwierig er in der Vergangenheit war, wie sehr er manchmal gegen uns war. Ich will ihn auch überhaupt nicht verteidigen. Aber er liebt seine Enkeltochter, und er wird dafür sorgen, daß sie gut aufgehoben ist. Er kann sie besser schützen als wir. Niemand kann das Land der Einstmals-Elfen betreten, wenn er nicht eingeladen wurde. So sehr ihre Magie auch dadurch gemindert wurde, daß sie die Nebel verlassen haben, ist sie dennoch sehr stark. Mistaya wäre dort sicher.« Sie hatte natürlich recht. Der Flußherr und sein Volk besaßen beachtliche Magie, und ihr Land war sicher vor all jenen, die dort nicht willkommen waren. Es war so gut wie unmöglich, ohne Führer einen Weg hineinzufinden; wieder hinauszugelangen war sogar noch schwerer. Aber Ben war noch nicht überzeugt. Der Flußherr und seine Tochter standen sich nicht sehr nahe, und obgleich sich der Herrscher des Volkes des Seenlandes über die Geburt von Mistaya gefreut hatte und nach Landover gereist war, um sie zu besuchen, war er doch noch immer so unnahbar und unabhängig wie eh und je. Er erkannte Ben nur widerwillig als König von Landover an, und er war auch nicht davon überzeugt, daß die Monarchie irgendeinen Nutzen für ihr Leben der Einstmals-Elfen hatte. Bei mehr als einer Gelegenheit hatte er Ben behindert oder widersprochen, und er hatte auch nie verhehlt, daß er danach trachtete, sein Herrschaftsgebiet auszudehnen. Dennoch war Ben ebenso besorgt wie Willow, daß Mistaya in Sterling Silver nicht sicher war. Seit er seine Tochter von den Zinnen weggebracht hatte, war ihm der Gedanke nicht mehr aus 35
dem Kopf gegangen. Wenn Willows Vorahnung zutraf – und es gab keinen Grund, etwas anderes anzunehmen –, dann lauerte die wirkliche Gefahr hier, denn die Bedrohung seiner Familie richtete sich hauptsächlich gegen ihn. Es erschien daher sinnvoll, Mistaya an einen anderen Ort zu bringen, und außerhalb der Elfennebel gab es keinen sichereren Ort als das Seenland. »In Ordnung«, stimmte er zu. »Wirst du sie begleiten?« Willow schüttelte langsam den Kopf. »Nein, Ben. Mein Platz ist bei dir. Ich werde hier bleiben. Wenn ich kann, werde ich helfen, dich zu beschützen. Vielleicht erhalte ich ja noch eine weitere Ahnung.« »Willow...«, setzte er an. »Nein, Ben. Verlange es nicht von mir. Ich habe dich schon bei früheren Gelegenheiten gegen meinen Willen verlassen, und jedesmal habe ich dich fast verloren. Dieses Mal werde ich nicht gehen. Mein Vater wird sich gut um Mistaya kümmern.« Ihre Augen zeigten sehr deutlich, daß die Angelegenheit damit für sie geklärt war. »Gib ihr statt dessen jemand anderen mit, der sie auf der Reise beschützt. Sende Questor oder Abernathy.« Ben ergriff ihre Hand. »Ich werde noch mehr tun. Ich werde sie beide mitschicken. Questor wird Mistaya beaufsichtigen, und Abernathy wird darauf achten, daß Questor keinen überstürzten Gebrauch seiner Magie macht. Und überdies soll sie eine Eskorte königlicher Wachen begleiten.« Wortlos schmiegte sich Willow an ihn, und Ben umarmte sie. So standen sie in der Mittagssonne und hielten einander fest. »Ich muß dir sagen, daß ich sie nicht gerne gehen lasse«, murmelte Ben schließlich. »Genausowenig wie ich«, flüsterte Willow zurück. Er konnte fühlen, wie ihr Herz gegen seine Brust schlug. »Ich habe vorhin mit Mistaya gesprochen. Ich habe sie gefragt, was sie auf der Mauer wollte, als sie zu Rydall hinabblickte.« Sie machte eine Pause. »Mistaya sagt, sie kennt ihn.« Ben richtete sich auf. »Sie kennt ihn?«
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»Ich habe sie gefragt, woher, aber sie sagte, sie sei sich nicht sicher.« Willow schüttelte den Kopf. »Ich glaube, sie war ebenso verwirrt wie wir.« Dann schwiegen sie. Sie hielten sich noch immer umschlungen, blickten in den Garten und lauschten den Lauten und Klängen der Insekten und Vögel, die sich von der entfernten Geräuschkulisse des geschäftigen Schloßlebens abhoben. Eine Verbindung zwischen Mistaya und Rydall? Ben spürte, wie sich etwas Kaltes tief in seinem Magen ausbreitete. »Wir schicken sie bei Tagesanbruch fort«, flüsterte er und spürte, wie sich Willows Arme als Antwort fester um ihn schlossen.
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HALTWHISTLE
Am Abend teilten Ben und Willow ihrer Tochter mit, sie hätten beschlossen, daß Mistaya ihren Großvater im Seenland besuchen und bereits am nächsten Morgen abreisen sollte. Auf ihre typische, direkte Art fragte Mistaya, ob irgend etwas nicht in Ordnung sei, aber ihre Eltern verneinten. Doch die Art, wie sie dies taten, zeigte Mistaya, daß wirklich etwas nicht stimmte. Sie kannte ihre Eltern jedoch gut genug, um zu wissen, daß es besser war, ihnen nicht dadurch zu widersprechen, daß sie nachbohrte – obgleich sie ziemlich sicher war, daß es etwas mit dem Mann zu tun hatte, der am Morgen am Tor gewesen war –, und sie beschloß, die Sache ruhen zu lassen, bis sie Gelegenheit hatte, mit einem von ihnen allein zu sprechen. Das würde höchstwahrscheinlich ihre Mutter sein, denn diese war ehrlicher zu ihr als ihr Vater. Es war nicht so, daß ihr Vater sie täuschen wollte. Er beharrte nur darauf, sie als Kind anzusehen und versuchte ständig, sie vor dem zu beschützen, was er als die rauhen Tatsachen des Lebens ansah. Es war eine lästige Angewohnheit, aber Mistaya tolerierte sie, so gut sie konnte. Ihr Vater hatte auf allen Gebieten Probleme, sie zu verstehen, auf jeden Fall mehr als ihre Mutter. Er beurteilte sie nach einem Maßstab, mit dem Mistaya nicht vertraut war, einem Maßstab, der in seiner alten Welt galt, der Welt namens Erde, wo man von Magie noch kaum gehört hatte und Elfenwesen als Mythen angesehen wurden. Natürlich liebte Ben sie und würde alles für sie tun. Aber Liebe und Verstehen gingen im wirklichen Leben nicht unbedingt Hand in Hand, und so war es leider auch hier der Fall. Ihr Vater stand jedoch mit seinem Befremden Mistaya gegenüber nicht allein da. Die meisten Schloßbewohner hielten sie, aus dem einen oder anderen Grund, für ein wenig seltsam. Das hatte sie fast von Beginn an gespürt, aber es störte sie nicht. Ihr Selbstvertrauen und ihre Selbständigkeit waren so ausgeprägt, daß das, was andere dachten, kaum eine Rolle spielte. Zudem war ihre 38
Mutter mit ihr zufrieden, und ihr Vater stand ihr, auch wenn er sie merkwürdig fand, immer bei. Und Abernathy ließ sich von ihr sogar Dinge gefallen, die einem anderen Kind unverzüglich Arrest im eigenen Zimmer eingebracht hätten, wo es lange Zeit darüber hätte nachdenken dürfen, was gute Manieren waren. Bunion und Parsnip waren genauso seltsam wie sie; sie bestanden ganz aus Ohren, Zähnen und stachligem Haar, und sie schnatterten ständig in einer geheimnisvollen Sprache, von der sie annahmen, daß Mistaya sie nicht verstünde – was sie aber natürlich tat. Am liebsten von allen aber war ihr Questor Thews. Sie liebte den alten Mann auf die Art, wie ein Kind einen besonderen Großvater liebt oder eine Lieblingstante. Ein geheimnisvolles Band verband die beiden, so als wären sie mit derselben Weltsicht geboren worden. Questor sprach niemals von oben herab mit ihr, und er sprach ihr auch niemals das Recht auf eine Frage oder eine Meinung ab. Er hörte ihr zu, wenn sie etwas sagte, und ging dann direkt auf sie ein. Er war immer etwas geistesabwesend, und, wenn er ihr seine Magie zeigte, oft auch ein wenig linkisch, aber das machte ihn nur um so liebenswerter. Sie spürte, daß Questor sie wirklich für einen erstaunlichen Menschen hielt – einen Menschen und kein Kind – und daß er ihr alles zutraute. Oh ja, manchmal schalt und berichtigte er sie auch, aber er tat es auf eine Weise, die sie nie verletzte; vielmehr rührte sie seine Anteilnahme an ihr. Ihm fehlte die feurige Liebe ihrer Mutter und die eiserne Entschlossenheit ihres Vaters und wahrscheinlich auch beider enge Bindung zu ihr, aber er machte dies durch seine Freundschaft wett, die zu jener Art gehörte, die man nur selten im Leben fand. Mistaya freute sich zu hören, daß Questor ihr Beschützer auf der Reise in den Süden sein würde. Sie freute sich natürlich auch, daß Abernathy dabei sein würde, aber am glücklichsten war sie über Questor. Die Reise selbst würde wunderbar werden. Mistaya war nicht mehr aus dem Schloß fortgewesen, seit sie ein Baby gewesen war, das kaum laufen konnte, und damals waren es auch nur Tagesausflüge gewesen; Picknicks und kurze Ausritte zählten nicht. Dies war jedoch ein Abenteuer, eine Reise zu einem Ort, an dem sie noch nie gewesen war. Wie viele Entdeckungen sie 39
machen würde! Und Questor wäre immer dabei, um sie mit ihr zu teile n. Es würde ein Riesenspaß werden! Während sie so länger darüber nachdachte, mußte sie sich eingestehen, daß ein Teil ihrer Vorfreude darin bestand, von ihren Eltern getrennt zu sein. Wenn ihre Eltern in ihrer Nähe waren, wurde sie immer viel strenger beaufsichtigt und stärker eingeschränkt. Tue dies nicht. Berühre das nicht. Bleib in der Nähe. Halte dich von dort fern. Und die Belehrungen, die sie ihr immer erteilten, waren endlos und völlig überflüssig in bezug auf das, was wirklich zählte. Nur wenn Mistaya mit Questor allein war, spürte sie, wie ihr Horizont sich erweiterte und sich ihr neue Möglichkeiten eröffneten. Ein großer Teil ihrer Begeisterung hatte mit der Magie des alten Zauberers zu tun, eine wirklich faszinierende und wichtige Angelegenheit. Mistaya liebte es, zuzuschauen, was Questor mit seinen Zaubersprüchen und Beschwörungen alles tun konnte, selbst wenn es ihm nicht richtig gelang. Sie glaubte, daß sie eines Tages lernen konnte, Magie ebenso zu benutzen wie er. Sie war sogar davon überzeugt. Hin und wieder probierte sie im geheimen ein oder zwei Zaubersprüche aus, eine Beschwörung hier und da, und sie stellte fest, daß sie schon beinahe funktionierten. Doch das behielt sie natürlich für sich. Jeder, auch Questor Thews, sagte ihr, daß Magie außerordentlich gefährlich war. Jeder sagte ihr, sie solle nicht einmal daran denken, etwas auf dem Gebiet auszuprobieren. Sie versprach es jedesmal aufrichtig, wenn sie gewarnt wurde, aber sie hielt sich ihre Möglichkeiten offen. Im Gegensatz zu den anderen wußte sie, daß Magie ein ganz wesentlicher Teil ihres Lebens war. Ihre Mutter hatte ihr schon sehr früh von ihrem Geburtsrecht erzählt. Sie war das Kind eines Menschen und einer Einstmals-Elfe. Sie war das Kind dreier Welten, geboren aus drei verschiedenen Mutterböden. Sie war in dem Schlupfwinkel einer Hexe geboren worden, in jener Senke, die Tiefer Schlund genannt wurde, dem Heim von Nightshade. All das befand sich in ihrem Blut, und es war durchzogen von Magie. Das war auch der Grund, warum sie, anders als andere Kinder, in 40
nur zwei Jahren zu einem Alter von zehn Jahren herangereift war. Das war auch der Grund, warum sie in Schüben wuchs. Ihr Wachstum war zwar auch ihr noch immer etwas rätselhaft, aber sie verstand es besser als ihre Eltern. Als erstes reifte immer ihre Intelligenz, der dann ihre Gefühle und ihr Körper nachfolgten. Das Wann und Wie konnte sie weder vorhersehen noch lenken, aber sie war sich eines eindeutigen Fortschrittes immer bewußt. Sie war auch der Ansicht, daß es nicht besonders wünschenswert oder wichtig war, ein Kind zu sein, sondern daß es nur ein notwendiger Schritt auf dem Weg war, erwachsen zu werden, und das war es, was sie wirklich wollte. Kinder standen nur eine Stufe über Haustieren; man kümmerte sich um sie, fütterte sie regelmäßig und schickte sie für gewöhnlich zum Spielen hinaus, und nie erlaubte man ihnen irgend etwas. Erwachsene durften alles tun, was sie wollten, wenn sie dafür bereit waren, die Folgen ihres Handelns auf sich zu nehmen. Mistaya hatte von Anfang an die Triebkraft des Heranwachsens verstanden, und sie war begierig darauf, die Vorstufen hinter sich zu bringen und endlich die eigentliche Stufe zu erreichen. Sie scheuerte und zerrte an den Beschränkungen, die ihr sowohl ihr Körper als auch ihre Eltern auferlegten, ohne jedoch in der Lage zu sein, viel gegen das eine oder das andere zu tun. Eine Reise zum Seenland und zu ihrem Großvater kam da als willkommene Ruhepause. So unterwarf sie sich pflichtschuldig den Wünschen ihrer Eltern in dieser Angelegenheit, während sie insgeheim über ihr Glück jubelte und begann, Pläne zu schmieden. Es schien keine Dauer für diesen Besuch festgelegt worden zu sein, so daß er vielleicht über mehrere Wochen gehen mochte. Das war für Mistaya völlig in Ordnung. Den ganzen Frühling oder vielleicht sogar den ganzen Sommer im Seenland bei den Einstmals-Elfen zu verbringen war eine aufregende Aussicht. Sie mochte ihren Großvater, obwohl sie ihn nur ein einziges Mal getroffen hatte. Er war zum Schloß gekommen, um sie zu sehen, als sie noch sehr jung gewesen war, erst ein paar Monate alt. Der Flußherr war ein großer, schlanker, strenger Mann, ein Wasserschrat mit silberner Haut und dichtem, schwarzem Haar, das ihm den Nacken hinab und auf den 41
Unterarmen wuchs. Er war ihr verschlossen und kühl gegenübergetreten, als verschmähte er es, sie allzu genau kennenzulernen, und als mißtraute er dem, was und wer sie war. Sie erfuhr bei dieser Begegnung keine Gnade. Sie hatte jedoch seine Zurückhaltung vollständig ignoriert, war direkt auf ihn zumarschiert und hatte gesagt: »Hallo, Großvater. Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen. Ich hoffe, daß wir gute Freunde werden.« Kühnheit und Offenheit zeigten Wirkung. Ihr Großvater erwärmte sich sofort für sie, beeindruckt davon, daß ein so kleines Kind so entgegenkommend sein konnte, und erfreut, daß sie seine Freundschaft suchte. Er machte einen Spaziergang mit ihr, auf dem er lange mit ihr sprach, und lud sie schließlich ein, ihn zu besuchen. Er blieb nur einen Tag, dann ging er wieder. Ihre Mutter sagte , daß er nicht gerne in geschlossenen Räumen schliefe und daß Schlösser ihn im besonderen störten. Sie sagte, er sei ein Wesen des Waldes und würde sich nur selten weit von seiner Heimat entfernen. Es war ein großes Kompliment, daß er überhaupt gekommen war, um sie zu sehen. Mistaya hatte sich darüber gefreut und gefragt, wann sie ihn besuchen dürfte, aber die Bitte war beiseite gelegt und anscheinend vergessen worden. Seitdem hatte Mistaya ihn nicht mehr gesehen. Es würde interessant sein, herauszufinden, was er jetzt von ihr hielt. Nach dem Abendessen war sie emsig damit beschäftigt, für ihre Reise zu packen, und fand daher keine Gelegenheit, ihre Mutter oder ihren Vater nach dem Mann vor dem Tor zu fragen. Sie schlief unruhig in dieser Nacht und war schon vor Sonnenaufgang wach. Nachdem ihre Eltern sie mit Umarmungen und Küssen ihrer Zuneigung versichert hatten, brach sie beim ersten Tageslicht mit ihrer Eskorte auf: Questor Thews, Abernathy und ein Dutzend der königlichen Wachen. Mistaya ritt auf Leichtfuß, ihrem Lieblingspony. Sie beobachtete, wie die Sonne die Schatten über die Wiesen und Hügel bis in die dunklen Gehölze zurückscheuchte, während der neue Tag anbrach. Sechs Wachen ritten vor ihr und sechs hinter ihr. Questor saß auf einem alten Schecken, der den unglaubhaften Namen Eule trug, und hielt sich an ihrer Seite. 42
Abernathy, der Pferde nicht mochte, fuhr auf der Kutsche mit, die ihre Kleidung und ihr übriges Gepäck transportierte. Ein Kutscher lenkte das Gespann den grasigen Weg entlang, dem sie nach Süden folgten. Mistaya wartete, bis Sterling Silver ganz außer Sichtweite war, dann ließ sie Leichtfuß dichter an Questor herantraben und fragte: »Wer war der Mann am Tor, Questor – der, von dem Vater nicht wollte, daß er mich sieht?« Questor Thews schnaubte. »Ein Störenfried namens Rydall. Er behauptet, der König eines Landes zu sein, das Marnhull heißt, aber keiner von uns hat jemals etwas von diesem Land gehört. Er sagt, es würde auf der anderen Seite der Elfennebel liegen, aber wir wissen beide, wie unwahrscheinlich dies ist.« »Ist das der Grund, warum ich zu Großvater geschickt werde?« »Ja.« »Warum?« Der Zauberer zuckte mit den Schultern. »Er könnte gefährlicher sein, als er aussieht. Er hat ein paar Drohungen ausgestoßen.« »Welche Art von Drohungen?« Die zottigen, weißen Brauen zogen sich heftig zusammen. »Schwer zu sagen; sie waren recht vage. Rydall will, daß ihm dein Vater die Krone überläßt und er damit zum König wird. Reiner Unsinn. Aber er deutete an, es sei besser, wenn man täte, was er verlangt. Dein Vater geht der Sache nach.« Mistaya schwieg einen Moment und dachte nach. »Wer war der andere, der in der schwarzen Robe?« »Ich weiß es nicht.« »Ein Magier?« Questor blickte sie an, und Überraschung stand in seinem schmalen Gesicht. »Ja, vielleicht. Es war Magie im Spiel. Hast du sie auch gespürt?« Sie nickte. »Ich glaube, ich kenne einen von ihnen.« Seine Überraschung verwandelte sich in Erstaunen. »Wirklich? Woher?« 43
Sie runzelte die Stirn. »Ich weiß es nicht. Ich hatte nur das Gefühl, als ich auf der Mauer stand.« Sie hielt inne. »Zuerst dachte ich, es sei der große Mann, Rydall. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Es könnte auch der andere gewesen sein.« Sie zuckte mit den Schultern, als ihr Interesse an der Angelegenheit verebbte. »Meinst du, wir werden unterwegs Moorwumps sehen, Questor?« Sie kamen den ganzen Tag über stetig voran. Unterwegs machten sie mehrmals Rast, damit die Pferde sich ausruhen konnten, und einmal, um Mittag zu essen. Bei Sonnenuntergang hatten sie das südliche Ende des Irrylyns erreicht. Hier schlugen sie ihr Nachtlager auf. Mistaya ging im warmen Wasser des Sees schwimmen und fischte anschließend mit Abernathy und ein paar der Wachen ihr Abendessen. In kürzester Zeit fingen sie ein paar Dutzend Fische, so daß sich Mistaya enttäuscht beim Schreiber beklagte, es sei viel zu einfach gewesen. Während die Wachen ihren Fang zum Lager brachten, um ihn zu säubern und zu kochen, blieben das Mädchen und der Hund allein am Ufer des Sees zurück und blickten über das silberne Wasser. Die Sonne versank gerade in einem Kranz aus Rot und Rosa hinter dem fernen Horizont. »Meinst du, Vater und Mutter sind in Gefahr, Abernathy?« fragte sie ihn. Ihr Gesicht und ihre Stimme waren dabei ungemein ernst. Abernathy dachte einen Moment lang nach, dann schüttelte er seinen zotteligen Kopf. »Nein, Mistaya, das glaube ich nicht. Und selbst, wenn sie es sind, wäre es nicht das erste Mal für sie. Ein König und eine Königin sind immer in Gefahr. Jeder, der Macht innehat, ist immer in Gefahr. Aber deine Eltern wissen sich zu helfen. Sie haben schon viele Schwierigkeiten überstanden. Ich würde mir um sie keine Sorgen machen, wenn ich du wäre.« Ihr gefiel seine Antwort, und sie nickte zustimmend. »Gut, das werde ich nicht. Bleiben du und Questor bei mir, wenn wir in Eldero angekommen sind?«
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»Nur für ein oder zwei Tage. Dann müssen wir zurück. Dein Vater wird uns brauchen. Wir können nicht so lange fortbleiben.« »Nein, natürlich nicht«, pflichtete sie ihm bei. Es war ihr nicht unrecht, daß sie allein bleiben würde. Auch ihr Großvater kannte sich in Magie aus. Sie überlegte, wie sie ihn wohl überreden könnte, es ihr beizubringen. Sie fragte sich, ob er ihr gestatten würde, ein wenig damit zu experimentieren. Eine schattenhafte Gestalt kroch aus den Bäumen auf der einen Seite und verschmolz mit den Büschen, die sich am Seeufer dahinzogen. Mistaya und Abernathy saßen auf einer kleinen Ansammlung flacher Felsbrocken, die sich über die Büsche erhoben. Von dort konnten sie alles sehen, was sich ihnen zu nähern versuchte. Keiner von ihnen hatte die verstohlenen Bewegungen übersehen. »Ein Moorwump?« fragte sie mit aufgeregtem Flüstern. Abernathy schüttelte den Kopf. »Irgendeine Art von Wicht. Weder sehr alt noch besonders schlau, wenn man bedenkt, wie sorglos er ist.« Sie stieß den Schreiber leicht an. »Bell ihn bitte an, ja, Abernathy?« »Mistaya...« »Ach bitte! Ich werde dich für den Rest der Reise auch nicht mehr an den Ohren ziehen.« Der Hund seufzte. »Vielen herzlichen Dank.« »Tust du es?« drängte sie ihn. »Nur einmal? Ich will ihn springen sehen.« Abernathys Kiefer mahlten. »Humpf.« Dann bellte er. Es war eine schnelle, scharfe Explosion, die das Schweigen der Dämmerung zersplittern ließ. Unter ihnen sprang der Wicht aus den Büschen, in denen er sich verborgen hatte, und schoß schnurstracks in den Wald zurück, als wäre er von einem Katapult abgeschossen worden. Mistaya hielt sich den Bauch vor Lachen. »Das war wunderbar! Ah, war das lustig! Ich liebe es, wenn du so bellst, Abernathy! Es bringt mich immer zum Lachen!« 45
Sie umarmte ihn und zog ihn sanft an den Ohren. »Du bringst mich zum Lachen, du altes Wollknäuel.« »Humpf«, erwiderte Abernathy. Aber er war trotzdem sichtlich zufrieden. Die Fische ließen sich gut kochen, so daß das Abendessen köstlich ausfiel. Die Mitglieder der kleinen Karawane aßen gemeinsam, und schnell war alles verzehrt. Es war besser als ein Picknick, fand Mistaya. Trotz Abernathys ausdrücklicher Mißbilligung blieb sie lange auf und erzählte sich Geschichten mit den königlichen Wachen. Als sie sich schließlich in ihre Decken wickelte – die daunengefüllte Matratze, die man zu ihrer Bequemlichkeit mitgeführt hatte, lehnte sie ab (schließlich benutzten die Wachen auch keine) –, schlief sie sofort ein. Ohne zu wissen warum, erwachte sie, als es noch dunkel war. Alle anderen schliefen noch fest, und die meisten, vor allem Questor Thews, gaben Schnarchtöne von sich, die wie rostige Türangeln klangen. Mistaya blinzelte, setzte sich auf und sah sich um. Ein Augenpaar blickte sie aus ein paar Metern Entfernung an, in dem sich leuchtend gelb das ersterbende Lagerfeuer spiegelte. Mistaya kniff die Augen zusammen. Angst hatte sie keine. Die Augen gehörten einem Sumpfmoppel. Sie hatte noch nie einen gesehen, aber sie erkannte ihn nach den Beschreibungen, die ihr Abernathy in einer seiner endlosen Lektionen über die in Landover heimischen Tierarten gegeben hatte. Um sicher zu sein, wartete sie einen Augenblick, bis ihr Blick schärfer wurde. Der Sumpfmoppel wartete mit ihr. Als sie deutlicher sehen konnte, fand sie sich einem seltsamen Wesen gegenüber, dessen langer Körper in unterschiedlichen Brauntönen gefärbt war. Seine kurzen Beine waren mit Schwimmhäuten versehen, das Gesicht wirkte ein wenig biberartig, es hatte lange Schlappohren und einen dünnen, glatten Echsenschwanz. Ja, ganz eindeutig ein Sumpfmoppel, dachte sie. Sie spitzte den Mund und warf ihm einen Kuß zu. Der Sumpfmoppel blinzelte. 46
Sie erinnerte sich plötzlich daran, daß Sumpfmoppel den Elfenwesen gehörten. Sie wurden nur sehr selten in Landover gesichtet und fast niemals außerhalb des Seenlandes. »Du bist süß«, flüsterte sie. Der Sumpfmoppel wedelte als Antwort mit dem Schwanz. Er bewegte sich ein paar Schritte weg, dann drehte er sich um und wartete. Als Mistaya aus ihren Decken kroch, begann der Sumpfmoppel weiterzugehen. Es war klar, was er wollte, dachte das Mädchen. Was für ein Glück! Da war ja schon das erste Abenteuer! Sie zog sich ihre Stiefel an und schlich hinter ihrem neuen Gefährten durch das schlafende Lager. Der Sumpfmoppel achtete immer darauf, nicht zu weit vorzulaufen; er führte sie sehr sorgsam. Sie erinnerte sich zu spät daran, daß an jedem Ende des Lagers ein Wachposten stand, und noch bevor sie anhalten konnte, stand sie bereits vor einem. Aber der Posten schien sie gar nicht zu sehen. Er starrte reglos in die Nacht hinaus. Der Sumpfmoppel und nach ihm Mistaya konnten direkt an ihm vorbeigehen. Magie! dachte das Mädchen, erneut ganz aufgeregt. Der Sumpfmoppel führte sie vom Irrylyn fort und in den nahe gelegenen Wald. Sie marschierten recht lange dorthin. Dabei durchquerten sie ein wahres Labyrinth dichtstehender Bäume, wateten durch Flußfurten, kletterten Abhänge hinab und stiegen Hügel hinauf. Die Nacht war warm und still. Die Luft roch nach Kiefern und Jasmin. Grillen zirpten, und kleine Nagetiere raschelten im Unterholz. Mistaya beobachtete alles und lauschte allem; sie achtete darauf, daß ihr nichts entging. Sie hatte keine Ahnung, wo sie hinging, aber sie machte sich keine Sorgen, ob sie den Rückweg finden würde. Sie nahm an, daß der Sumpfmoppel sie zu jemandem führte, und sie hoffte, daß es sich dabei um ein Wesen der Magie handeln würde. Endlich erreichten sie eine Lichtung. Ein breiter Streifen Mondlicht beleuchtete eine grasige Morastfläche, wo ein Strom auf seinem abschüssigen Weg von seiner weit entfernten Quelle bis hierher endete. Das Wasser war durchsetzt mit Gräsern und 47
des Nachts aufblühenden Lilien. Es war so glatt wie Glas. Der Sumpfmoppel ging bis auf einen halben Meter an den Rand heran und setzte sich dort. Mistaya trat an seine Seite und wartete. Das Warten dauerte nicht lange. Fast sofort kräuselte sich das sumpfige Wasser und teilte sich schließlich. Etwas unter der Oberfläche stieg nach oben. Es war eine Frau, die ganz aus Morast bestand, feuchtglänzend und dunkel. Sie erhob sich, bis sie Mistaya weit überragte. Sie war viel größer als jede andere Frau, die das Mädchen je gesehen hatte, und ihre üppigen Formen glitzerten feucht im Mondlicht. Sie stand auf der Wasseroberfläche des Teiches, als wäre es fester Grund, und ihre Augen öffneten sich und senkten sich in die von Mistaya. »Hallo, Mistaya«, grüßte sie mit einer sanften, vollen Stimme, die nach feuchter Erde und kühlem Schatten klang. »Hallo«, erwiderte Mistaya. »Ich bin die Erdmutter«, sagte die Frau. »Ich bin eine Freundin deiner Mutter. Hat sie dir von mir erzählt?« Mistaya nickte. »Du warst ihre beste Freundin, als sie ein kleines Mädchen war. Du hast ihr von meinem Vater erzählt, bevor er nach Landover gekommen ist. Du kümmerst dich um den Erdboden und um die Dinge, die darauf leben. Du kannst Magie gebrauchen.« Die Erdmutter lachte leise. »Nur ein wenig. Das meiste, was ich tue, ist einfach nur harte Arbeit. Magst du Magie?« »Oh ja, sehr. Aber ich darf sie nicht benutzen.« »Weil sie gefährlich für dich is t.« »Ja.« »Aber das glaubst du nicht?« Mistaya zögerte. »Es ist nicht so sehr, daß ich es nicht glaube. Vielmehr verstehe ich nicht, wie ich lernen kann, mich vor ihren Gefahren zu schützen, wenn ich sie nie benutzen darf.« Die Augen der Erdmutter glänzten wie silberne Teiche. »Eine gute Antwort. Unwissenheit bietet keinen Schutz; Wissen schützt. Wußtest du, daß ich deiner Mutter geholfen habe, sich auf deine Geburt vorzubereiten, Mistaya? Ich habe ihr aufgetragen, die 48
verschiedenen Erdböden zu sammeln, aus denen du geboren wurdest. Ich habe es getan, weil ich etwas über dich wußte, was deine Mutter nicht weiß. Ich wußte, daß Magie ein sehr wichtiger Teil deines Lebens sein würde und daß du dich nicht vor ihren Auswirkungen schützen können würdest, wenn die Elemente der Magie nicht zu einem Bestandteil deines Körpers würden. Du brauchtest ebenso Erde aus den Elfennebeln wie aus den Ländern deines Vaters und deiner Mutter.« »Ich bin ein Elfenwesen?« fragte Mistaya rasch. Die Erdmutter schüttelte den Kopf. »So einfach kann man nicht erklären, was du bist, mein Kind«, antwortete sie. »Du bist nicht einfach das eine oder das andere, sondern eine Mischung aus mehreren Dingen. Du bist etwas ganz Besonderes. So jemand wie dich gibt es in ganz Landover nicht noch einmal. Was hältst du davon?« Mistaya dachte nach. »Ich denke, ich werde mich daran gewöhnen müssen.« »Das wird nicht so einfach werden«, fuhr die Erdmutter fort. »Du wirst an jeder Ecke Hindernisse überwinden müssen. Du magst denken, daß das Heranwachsen bisher schwierig gewesen ist, aber es wird noch schwieriger werden. Viele harte Lektionen liegen noch vor dir. Einige Prüfungen können dich vernichten, wenn du nicht achtgibst. Erfahrung ist ein unverzichtbarer Lehrer für alle Kinder, die heranwachsen, und sie besteht aus Enthüllungen und Entdeckungen, aus Enttäuschungen und Belohnungen, aus Erfolgen und Fehlschlägen. Der Trick besteht darin, das Gleichgewicht zu finden und so zu überleben. Dann kann man Wissen in Weisheit verwandeln. Dies wird für dich doppelt so schwierig werden, Mistaya, denn du mußt dich den Lektionen und Prüfungen von drei Welten stellen, und du mußt besonders achtsam sein, wohin du dich wendest.« »Ich habe keine Angst«, sagte Mistaya tapfer. »Das sehe ich.« Mistaya runzelte nachdenklich die Stirn. »Erdmutter, kannst du sehen, was vor mir liegt? Kannst du in die Zukunft blicken?« 49
Die silbernen Augen der Erdmutter schlossen und öffneten sich langsam wie die einer Katze. »Ach, Kind, ich wünschte, ich könnte es. Wie einfach wäre dann das Leben. Aber ich kann es nicht. Was ich sehe, sind nur Möglichkeiten. Die Zukunft mag so oder so werden. Meist ist es mehreres. Ich sehe flüchtige Bilder von dunklen Wolken und Regenbogen in den Leben derer, die auf meinem Land wohnen, und manchmal kann ich etwas, das geschehen könnte, verhindern oder verändern. Die Zukunft ist niemals festgelegt, Mistaya. Sie ist für jeden von uns eine leere Leinwand, auf die wir unser Leben malen müssen.« »Mutter und Vater glauben, daß wir in Gefahr sind«, sagte das Mädchen. »Stimmt das?« »Es stimmt«, antwortete die Erdmutter. »Eine jener dunklen Wolken, von denen ich gesprochen habe, kommt auf dich zu. Sie wird deine Entschlossenheit prüfen und deine ganze Lebenserfahrung und Einsicht fordern. Es scheint wirklich eine sehr dunkle Wolke zu sein. Du mußt dich vor ihr in acht nehmen. Sie ist auch der Grund, warum ich dich heute nacht zu mir geholt habe.« »Um mich zu warnen?« »Mehr als das, Mistaya. Du bist bereits gewarnt, und meine eigene Warnung kann dem nichts mehr hinzufügen.« Die Erdmutter glitzerte, als sie einen Arm hob und auf den Sumpfmoppel deutete. »Der Sumpfmoppel, der dich zu mir gebracht hat, heißt Haltwhistle. Er hat mir lange und gut gedient. Deine Mutter kennt ihn seit ihren Kindertagen. Haltwhistle ist ein Elfenwesen, das einst aus den Nebeln kam, um mein Gefährte zu werden. Sumpfmoppel können sowohl in den Nebeln als auch außerhalb von ihnen leben und sich aussuchen, wem sie dienen wollen. Sie sind völlig frei in ihrer Wahl, und wenn sie sie getroffen haben, sind sie ewig treu. Sie verfügen über eine sehr mächtige Form von Elfenmagie. Es ist eine gute Magie, eine Magie der Heilung. Sie wirkt magischen Sprüchen entgegen, die schaden oder vernichten sollen. Sie kann nicht vollständig vor ihnen schützen, aber sie kann ihre Auswirkungen ändern, so daß 50
diese nicht so schlimm sind. Haltwhistles Magie tut dies für jene, denen er dient, und für deren Freunde.« Mistaya blickte zu Haltwhistle hinab, der mit großen, seelenvollen Augen zu ihr aufschaute. »Er scheint sehr nett zu sein«, sagte sie. »Er gehört jetzt dir«, sagte die Erdmutter freundlich. »Ich gebe ihn dir, bis du zur Frau herangewachsen bist. So lange wird Haltwhistle dein Gefährte und Beschützer sein. Er wird dich vor einem Teil des Schadens bewahren, der dir von jenen dunklen Wolken zugefügt werden könnte, die in dein Leben treten werden.« Ihr Arm sank, im Mondlicht glitzernd, wieder herab. »Aber du mußt dir des Folgenden bewußt sein, Mistaya. Haltwhistle kann dich nicht gegen alles beschützen. Niemand kann das. Wenn dunkle Magie benutzt wird, um dir zu schaden, so kann er dein Schild sein. Aber wenn die dunkle Magie deine eigene ist, kann er dir nicht helfen. Es liegt in deiner eigenen Verantwortung, was du mit deinem Leben anfängst. Die Konsequenzen deiner Handlungen und Entscheidungen mußt du allein tragen. Wenn du Fehler machst und dich töricht verhältst, kann dich Haltwhistle nicht aufhalten. Dies sind die Lehren des Erwachsenwerdens, die du erdulden mußt.« Mistayas Stirn legte sich in Falten, und ihr Mund wurde schmal. »Ich werde keine Fehler machen oder mich töricht verhalten, wenn ich es vermeiden kann«, sagte sie mit Nachdruck. »Ich werde meine Entscheidungen immer sehr sorgfältig fällen, Erdmutter.« Die seltsamen Augen der Erdmutter wurden plötzlich ein wenig traurig. »Du wirst das Beste tun, was du kannst, mein Kind. Erwarte nicht mehr.« Mistaya dachte nach. »Habe ich Magie, die mir helfen wird?« fragte sie impulsiv. »Verfüge ich über eigene Magie?« »Ja, Mistaya, das tust du. Und vielleicht wird sie dir helfen. Aber sie kann dir auch Leid zufügen. Du gehst ein gewisses
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Risiko ein, wenn du dich dazu entschließt, dich ihrer zu bedienen.« »Aber ich weiß ja nicht einmal, worin sie besteht. Wie kann ich sie dann benutzen? Wie kann sie mich verletzen?« »Das wirst du mit der Zeit lernen«, sagte die Erdmutter. Mistaya seufzte ungeduldig. »Jetzt klingst du wie mein Vater.« »Es wird Zeit für dich zurückzukehren«, wies die Erdmutter sie an, indem sie ihre Beschwerde ignorierte. »Bevor du das tust, gibt es jedoch noch ein paar Dinge, die du über Haltwhistle wissen mußt. Er wird immer bei dir sein, aber du wirst ihn nicht immer sehen. Er gibt auf jeweils die Art und Weise auf dich acht, die er für die beste hält, also verzweifle nicht, wenn du ihn von Zeit zu Zeit nicht finde n kannst. Außerdem darfst du ihn niemals berühren. Sumpfmoppel dürfen nicht berührt werden. Sei also davor gewarnt. Und schließlich denke immer an folgendes: Haltwhistle benötigt weder Nahrung noch Wasser von dir. Er wird sich selbst versorgen. Aber du mußt seinen Namen jeden Tag mindestens einmal aussprechen. Du kannst ihn auf jede Art sagen, die du magst, aber du mußt ihn aussprechen. Wenn du das versäumst, riskierst du, ihn zu verlieren. Denn wenn er nicht das Gefühl hat, gebraucht zu werden, wird er dic h verlassen und zu mir zurückkommen. Hast du dies alles verstanden?« Mistaya nickte entschieden. »Das habe ich, Erdmutter. Ich werde mich gut um Haltwhistle kümmern.« Ihr fiel etwas ein. »Erdmutter, ich bin auf dem Weg zu meinem Großvater im Seenland. Was ist, wenn er nicht gestattet, daß Haltwhistle sein Heim betritt? Er ist ein sehr strenger Mann und in einigen Dingen unerbittlich.« »Mach dir keine Sorgen, mein Kind«, meinte die Erdmutter aufmunternd. »Sumpfmoppel sind Elfenwesen. Sie kommen und gehen, wann und wohin es ihnen beliebt. Man kann sie nur mit sehr mächtiger Magie davon abhalten, zu einem Ort zu gelangen, den sie besuchen wollen. Haltwhistle wird bei dir sein, wo immer du auch hingehst.«
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Mistaya blickte zu dem Sumpfmoppel hinunter und lächelte. »Vielen Dank, Erdmutter. Vielen Dank für Haltwhistle. Ich liebe ihn schon jetzt.« »Leb wohl, Mistaya.« Die Erdmutter begann, wieder in den Morast hinabzusinken. »Und denke an das, was ich dir gesagt habe, mein Kind.« »Das werde ich!« rief Mistaya zurück. »Leb wohl.« Doch dann rief sie: »Warte! Wann werde ich dich wiedersehen?« Aber das Elementarwesen war bereits fort, in der Erde verschwunden. Wo sie gestanden hatte, schimmerte der Morast mit kleinen Wellen sanft im Mondlicht. Die Lichtung war leer und still. Plötzlich war Mistaya wieder schläfrig. Es war ein wunderbares Abenteuer gewesen, und sie freute sich schon auf weitere. Sie gähnte und streckte sich, dann lächelte sie zu Haltwhistle hinab. »Bist du auch müde?« fragte sie leise. Haltwhistle blickte sie an. »Laß uns zurückgehen und schlafen, einverstanden, Junge?« Haltwhistle wedelte zögerlich mit dem Schwanz. Er schien sich dessen nicht ganz sicher zu sein. Aber Mistaya war bereits losgegangen, und so folgte der Sumpfmoppel ihr pflichtschuldig. Zusammen gingen sie durch den Wald auf das Lager zu und auf das Schicksal, das dort auf sie wartete.
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ZAUBEREI
Die Krähe mit den roten Augen, die in menschlicher Gestalt Nightshade war, saß hoch oben in den Zweigen eines Weißnußbaumes und beobachtete Mistayas Rückkehr aus dem nächtlichen Wald. Das Mädchen tauchte abrupt auf, als ein lautloser, verstohlener Schatten. Da die Wachen durch die Magie der Erdmutter blind für Mistayas Gegenwart waren, sahen sie durch sie hindurch, als sie an ihnen vorbeikam, so als existiere sie überhaupt nicht. Das Mädchen ging schnell zu seinen Decken, hüllte sich hinein und schloß die Augen. Sekunden später war es bereits eingeschlafen. Die Krähe warf einen scharfen Blick über die Lichtung und in den dahinterliegenden Wald. Es gab kein Anzeichen für den Sumpfmoppel. Gut. Die Anwesenheit des Sumpfmoppels hatte Nightshades Pläne durcheinandergebracht. Sie hatte seine Gegenwart nicht vorhergesehen und wußte noch immer nicht, weshalb er da war. Sie war sich natürlich darüber im klaren, daß er der Erdmutter diente, aber das erklärte nicht, was ihn zu dem Mädchen geführt hatte. Eine Einladung von der Erdmutter? Möglich. Eigentlich sogar wahrscheinlich. Aber warum hatte die Erdmutter das Mädchen heute nacht zu sich geholt? Wußte sie von Nightshades Vorhaben? Hatte sie das Mädchen auf irgendeine Art gewarnt? Doch das konnte nicht zutreffen, denn ebensowenig wie Nightshade die Magie der Erdmutter durchdringen konnte, um herauszufinden, warum sie den Sumpfmoppel geschickt hatte, konnte die Erdmutter in Nightshades Magie eindringen, um zu erfahren, was sie für das Mädchen plante. Beide konnten höchstens eine Ahnung davon bekommen, was die andere vorhatte, aber nicht mehr. Es war also eine Art Patt. Und jeder Versuch, dem Sumpfmoppel und dem Mädchen zu folgen, um herauszufinden, was die Erdmutter im Sinn hatte, wäre schnell vereitelt worden. Schlimmer noch,
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Nightshade hätte dadurch ihre Anwesenheit im Seenland offenbart, und das hätte sehr schnell alles ruinieren können. Auf jeden Fall war das Mädchen allein zurückgekehrt, also mußte die Erdmutter ihre Angelegenheit mit ihr beendet haben. Der Umstand, daß sie überhaupt zurückgekommen war, deutete stark darauf hin, daß sie nichts von Nightshades Plänen ahnte. Demnach gab es wahrscheinlich gar keine n Grund, sich Sorgen zu machen. Nicht, daß die Hexe vom Tiefen Schlund sich jemals irgendwelche Sorgen gemacht hätte. Denn hätten die Erdmutter oder ihr vierbeiniger Bote sich entschlossen, einzugreifen, hätte Nightshade schon einen Weg gefunden, daß sie das noch lange bereut hätten. Die Magie der Hexe war viel stärker als die der Erdmutter; in kürzester Zeit hätte sie das Elementarwesen in die Flucht geschlagen. Die Krähe mit den roten Augen blinzelte zufrieden. Alles war so, wie es sein sollte. Wahrscheinlich hatte die Erdmutter das Mädchen nur zu sich gerufen, um sie als eine alte Freundin und Beschützerin ihrer Mutter zu begrüßen. Aber jetzt war das Mädchen ja wieder dort, wo Nightshade es haben wollte: schlafend inmitten ihrer vollkommen machtlosen Beschützer und absolut ahnungslos, wie sehr ihr Leben sich bald ändern würde. Nightshade hatte damit gerechnet, daß Holiday seine Tochter fortschicken würde, nachdem Rydall seine Drohung gegen Holidays Familie ausgestoßen hatte. Sie hatte genau gewußt, was Holiday tun würde. Die Vorahnung der Sylphe – die Nightshade ihr im Schlaf gesandt hatte und die sie so düster und erschreckend gemacht hatte, wie sie nur konnte – hatte die Saat für diese Idee gelegt. Rydalls Erscheinen hatte die Saat dann zum Knospen gebracht. Was auch immer geschah, niemals würden Holiday und die Sylphe ihre geliebte Tochter einer Gefahr aussetzen. Nightshade hatte natürlich nicht gewußt, wo das Mädchen hingeschickt werden würde, auch wenn das Seenland ihre erste Vermutung gewesen war, aber das spielte eigentlich keine Rolle. Wo immer Mistaya auch hingegangen wäre, Nightshade hätte dort auf sie gewartet. 55
Und jetzt war es an der Zeit. Noch ein letztes Mal ließ sie ihren Blick mit wachem Instinkt über die Lichtung und den umgebenden Wald schweifen, ein letztes Mal forschte sie in den Schatten und im Dunkel, wo sich etwas verbergen konnte. Doch es war nichts zu erspähen. Die roten Augen leuchteten. Nightshade lächelte innerlich. Jetzt gehörten die schlafenden Männer und das Mädchen ihr. Die Krähe erhob sich von dem Zweig, auf dem sie Wache gehalten hatte, in die Luft, schwang sich empor, kreiste über der Lichtung und ließ sich dann wieder in einer langsamen Spirale hinabgleiten. Es waren die letzten Stunden der zurückweichenden Nacht, die schon den neuen Tag ankündigen und in denen der Schlaf am tiefsten ist und Träume ihn regieren. Dunkelheit und Stille hüllten die Männer, das Mädchen und ihre Tiere ein. Niemand spürte die Anwesenheit der herabschwebenden Krähe. Ungesehen und ungehört flog sie über ihren Köpfen dahin. Um ganz sicherzugehen, daß wirklich niemand sie bemerkt hatte, zog sie zwei weitere Kreise über ihnen, aber selbst die Posten, die jetzt wieder wachsam waren, nachdem das Mädchen wieder da und der Zauber der Erdmutter von ihnen genommen war, sahen nichts. Sanft kurvte die Krähe nach links über Mistaya hinweg, dann flog sie wieder zurück; ihr Schatten strich über die kleine, reglose Gestalt wie die beruhigende Berührung einer Mutter. Im Vorbeifliegen hatte sich von den Flügeln der Krähe ein seltsamer grüner Staub gelöst, wie Pollen von einer Blume. Er glitzerte im Mondlicht und schwebte tanzend hinab, um sich auf das schlafende Mädchen zu legen. Insgesamt viermal flog die Krähe über Mistaya hinweg, und jedesmal fiel der grünliche Staub wie ein moosiger Schleier auf sie herab. Das Mädchen atmete ihn im Schlaf ein. Es lächelte über seinen angenehmen Duft und kuschelte sich stärker in ihre Decken. Immer tiefer und tiefer sank sie in den Schlaf. Träume umschmeichelten sie, beschworen ihre farbigsten Vorstellungen herauf und zogen sie schnell in ihr Licht hinein.
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Die Krähe schwang sich wieder gen Himmel und glitt zurück in den Schutz der Bäume. Jetzt würde das Mädchen so lange schlafen, bis Nightshade bereit war, sie zu wecken. Sie würde nichts von dem erfahren, was nun als nächstes geschehen würde. Langsam hüpfte die Krähe von Ast zu Ast durch das schützende Laub abwärts, bis sie sich nur noch etwa einen Meter vom Erdboden entfernt befand. Dort verwandelte sie sich zurück in Nightshade. Aus de n Federn und Flügeln erwuchs mit wirbelnden dunklen Gewändern die Hexe, um im Schatten der Nacht wieder auf der Erde zu stehen. Groß und königlich stand sie da, ihre Schönheit war so glänzend und kalt wie neu gefallener Schnee, ihr schwarzes Haar mit der einzelnen weißen Strähne war aus ihrem raubvogelhaften Gesicht zurückgestrichen, und ihr Lächeln war so hart wie Stein. Sie sammelte ihre Magie um sich, dann trat sie aus dem Schatten der Bäume auf die vom Mondlicht erhellte Lichtung. In ihren Träumen war Mistaya ein Vogel mit schneeweißen Federn. Sie flog über ein Land aus leuchtenden Farben. Dort gab es Wälder aus smaragdenem Grün, Felder aus Buttergelb und Frühlingsminze, Berge aus Lakritze und Schokolade, Hügel aus Rot und Violett, himmelblaue Seen und Flüsse aus Silber und Gold. Überall sprossen Wildblumen und sprenkelten das Land wie Feenstaub. Ein Vogel mit schwarzem Gefieder flog neben ihr. Er führte sie und zeigte ihr die Wunder, die unter ihnen lagen. Er sagte nichts; er brauchte auch keine Worte. Seine Gedanken und Gefühle flossen durch Mistayas kleinen, gefiederten Körper. Sie trieb auf ihnen dahin wie auf einem Wind, segelte in ihren Strömungen, ritt auf ihren Böen und streckte sich lang aus, um auf ihren Flanken entlangzugleiten. Es war wunderbar. Es verlieh einem das berauschende Gefühl, daß einem die ganze Welt zu Füßen lag. Der Flug dauerte an. Jetzt glitten sie über Menschen dahin. Die Menschen warfen ihren Kopf in den Nacken und deuteten auf sie. Einige riefen etwas zu ihr hinauf und winkten. Es waren 57
Menschen, die sie in einem anderen Leben, in einer anderen Gestalt gekannt hatte und die sie hinter sich gelassen hatte. Sie hatten sie vielleicht einst geliebt und sich um sie gesorgt; vielleicht hatten sie sie sogar aufgezogen, als sie noch ein Küken gewesen war. Jetzt versuchten sie, sie zu sich zurückzulocken, sie auf den Boden zu ziehen, damit sie sie in einen Käfig sperren konnten. Sie beneideten sie um ihre Freiheit, und sie ärgerten sich darüber, daß sie nicht mehr über ihr Schicksal bestimmten. In ihren Stimmen war Zorn, Enttäuschung und Neid zu hören. Mistaya war begierig, sie weit hinter sich zu lassen. Sie flog weiter, ohne langsamer zu werden und ohne zurückzuschauen. Sie flog weiter und immer weiter auf ihre Zukunft zu. Der Vogel mit dem schwarzen Gefieder wandte ihr seinen Kopf zu, und sie konnte sehen, wie in seinen roten Augen Zustimmung aufleuchtete. Nachdem sie vollständig aus ihrem schattigen Versteck getreten war, richtete Nightshade ihre Aufmerksamkeit als erstes auf die beiden Posten, die an den beiden gegenüberliegenden Enden der Lichtung Wache hielten. Ganz verhüllt und durch eine Kapuze verdeckt, zeigte sie sich ihnen als eine große, schwarze Gestalt, die so bedrohlich war wie der Tod. Als die Männer ihre Waffen auf sie richteten, da sie instinktiv spürten, daß sie Ärger bedeutete, hob sie ihre Hände und ließ ihre Magie als zwei grüne Feuerblitze auf sie zuzucken. Noch bevor die Wachen schreien konnten, wurden sie schon davon verschlungen. Als das Feuer erstarb, waren sie nur noch Felsbrocken von der Größe von Brotlaiben, Felsbrocken, die rauchten und wie lebende Kohlen knisterten. Die Hexe vom Tiefen Schlund trat ein paar Schritte vor und deutete auf das Seil, an das die Tiere der Karawane angebunden waren. Es flammte auf und zerfiel zu Asche. Die Pferde, darunter auch Leichtfuß und Eule, sprangen panisch davon. Fast beiläufig winkte Nightshade nun zum Kochfeuer hinüber, das jetzt nur noch aus ersterbender Glut bestand, und schon flammte es wieder auf und wuchs in den Himmel, als wäre es zu einem feurigen Trugbild 58
geworden, das aus der Erde aufstieg. Einen Augenblick später brach auch Mistayas Kutsche in Flammen aus. Jetzt erwachten die restlichen königlichen Wachen. Sie blinzelten im plötzlichen Licht, krabbelten aus ihren Decken und griffen instinktiv nach ihren Waffen. Doch sie waren mitleiderregend langsam. Nightshade hatte bereits fünf von ihnen verwandelt, bevor sie auch nur wußten, wie ihnen geschah. Sie hüllte sie in ihre Magie und machte sie zu Steinen. Die anderen waren schneller, ein paar waren sogar flink genug, aufzuspringen und auf sie zuzulaufen. Aber wie ein dunkler Engel der Vernichtung deutete sie auf einen nach dem anderen, bis sie alle niedergestreckt waren. Innerhalb von Sekunden war auch der letzte von ihnen dahin. Jetzt war die Lichtung leer bis auf Nightshade, das schlafende Mädchen und die verwirrten und erstaunten Questor Thews und Abernathy. Diese beiden hatten sich vor Mistaya gestellt, um sie zu beschützen. Es war alles so schnell gegangen, daß sie kaum Zeit gehabt hatten, zu erwachen und zu ihr zu eilen. Questor Thews wob irgendeinen Schutzzauber. Seine Hände, die so alt und vertrocknet waren wie dürre Zweige, formten Schattenbilder vor dem Lodern des neu entfachten Feuers. Doch Nightshade zerstörte den Zauber, bevor er Gestalt annehmen konnte. Dann trat sie in den Lichtschein, warf ihre Kapuze zurück und gab sich zu erkennen. »Gib dir keine Mühe, Questor Thews«, riet sie ihm, als er erneut dazu ansetzte, gegen sie vorzugehen. »Diesmal wird dich keine Magie retten.« Der alte Mann starrte sie, vor Wut und Entrüstung bebend, an. »Nightshade, was hast du getan?« rief er mit heiserer Flüsterstimme aus. »Getan?« erwiderte sie erregt. »Nichts, was ich nicht tun wollte, Zauberer. Und nichts, was ich nicht seit zwei langen Jahren geplant habe. Beginnst du jetzt zu begreifen, wie hoffnungslos deine Lage ist?«
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Abernathy schob sich zur Seite, um nach einer Waffe zu suchen, die er gegen sie verwenden konnte. Doch sie machte eine scharfe Geste, und er erstarrte mitten in seiner Bewegung. »Es ist besser, wenn du bleibst, wo du bist, Schreiber.« Sie lächelte ihn an, befriedigt durch das Gefühl der Macht, das sie durchfloß. Questor Thews richtete sich gerade auf und versuchte, seine Würde wiederzuerlangen. »Du übernimmst dich, Nightshade«, erklärte er tapfer. »Der König wird dies nicht tolerieren.« »Der König wird alle Hände voll damit zu tun haben, um sein Leben zu kämpfen, denke ich«, erwiderte sie, und ihr Lächeln wurde breiter. »Oh ja, ich denke, er wird sie wirklich sehr voll haben. Zu dumm, daß ihr nicht da sein werdet, um ihm zu helfen. Keiner von euch beiden.« Jetzt erkannte Questor Thews, worum es ihr ging. »Du bist wegen des Mädchens gekommen, nicht wahr? Wegen Mistaya?« »Sie gehört mir«, sagte die Hexe. »Sie hat immer mir gehört! Sie wurde aus meiner Erde geboren, in meinem Heim und aus meiner Magie! Sie hätte mir übergeben werden müssen, doch die Elfen haben damals eingegriffen. Aber nicht dieses Mal, Zauberer. Dieses Mal werde ich sie bekommen. Und wenn ich fertig mit allem bin, wird sie niemals wieder den Wunsch verspüren, mich zu verlassen.« Das Feuer loderte wild und knisternd in der tiefen Stille der Nacht, als wäre es ein begeisterter Komplize der Hexe. Questor Thews und Abernathy wirkten wie Vogelscheuchen, die gefangen waren im Licht des Feuers, hilflos und nicht in der Lage zu entkommen. Aber sie weigerten sich aufzugeben. »Holiday wird kommen, um sie zu holen«, beharrte der alte Mann stur, »selbst wenn es uns nicht mehr gibt.« Nightshade lachte. »Du hörst nicht besonders gut zu, Questor Thews. Holiday muß erst mit Rydall fertig werden, und Rydall wird dafür sorgen, daß er vernichtet wird. Ich habe es so geplant, und ich werde auch dafür sorgen, daß die Umsetzung gelingt. Der König von Marnhull ist meine Kreatur, und er wird so sicher 60
Holidays Vernichtung sein, wie die Sonne an jedem neuen Tag aufgeht. Holiday wird gegen sein Schicksal ankämpfen, und ich werde diesen Kampf mit Genuß beobachten, aber am Ende wird er unterliegen. Seines Kindes, seiner Freunde und schließlich auch seiner Frau beraubt, wird er allein und verlassen sterben. Mit weniger werde ich mich nicht zufriedengeben. Weniger wäre nicht genug, um mich für das zu entschädigen, was ich erleiden mußte.« »Rydall ist dein Werk?« flüsterte der Za uberer erschreckt. »Alles ist mein Werk – alles, was geschehen ist und alles, was noch geschehen wird. Ich habe es mir zu meiner Lebensaufgabe gemacht, den Möchtegern-König zu einem Nichts zusammenschrumpfen zu lassen, und ich werde nicht enttäuscht werden.« Abernathy schob sich einen Schritt vor. »Nightshade, das kannst du nicht tun. Laß Mistaya gehen. Sie ist doch nur ein Kind.« »Nur ein Kind?« Das Lächeln verschwand von Nightshades Gesicht. »Nein, Schreiber, das genau ist sie nicht. Das ist es, worin ihr euch alle so bitterlich irrt. Ich muß es wissen, denn ich sehe mich selbst in ihr. Ich sehe in ihr, was ich war. Und ich sehe, was sie werden kann. Ich werde das Wissen an sie weitergeben, das ihr vor ihr verborgen hättet. Ich werde sie zu dem formen, wozu sie bestimmt ist. Und wenn ich mit ihr fertig bin, wird sie mein Instrument zur Vernichtung des Möchtegern-Königs sein!« Sie sah die Hoffnungslosigkeit in ihren Augen, als sie geendet hatte, und wartete auf ihre Reaktion. Questor Thews hatte bereits damit begonnen, seine verstreute Magie zu einem Schutzzauber zu sammeln, und seine knorrigen alten Hände arbeiteten im Schatten seines mageren Körpers. Sie lächelte über die Vergeblichkeit seiner Bemühungen. Keiner von ihnen sah Haltwhistle, der sich aus der Dunkelheit des Waldes schob und vorsichtig auf den äußersten Rand der Lichtung trat; seine traurigen Augen beobachteten alles wachsam. »Was hast du mit uns vor?« wollte Abernathy wissen und riskierte einen kurzen Blick über die Schulter zu Mistaya. Er fragte sich, warum sie nicht aufwachte. 61
»Ja, Nightshade, was?« drängte auch Questor Thews. Er versuchte, Zeit zu gewinnen, damit er seinen Zauber beenden konnte; er war sich nicht bewußt, daß es dazu bereits viel zu spät war. »Willst du uns auch in Felsbrocken verwandeln?« Nightshade lächelte. »Nein, Zauberer, ich würde mich nicht mit so etwas Banalem aufhalten, wenn es dich betrifft. Oder dich, Schreiber. Ihr seid eine ständige Quelle des Ärgers für mich gewesen, aber diesmal habt ihr euch das letzte Mal eingemischt. Eure Leben enden hier. Niemand wird euch jemals wiedersehen.« Einen Moment lang, während die Worte der Hexe zum Knistern des Feuers davontrieben, gefror die Zeit. Dann riß Questor Thews plötzlich seine Hände hoch, und Magie flackerte in einem weiten Bogen vor ihm auf. Hastig drehte sich Abernathy zu Mistaya um und versuchte, sie hochzuheben. Aber Nightshade lachte nur. Sie breitete ihre Arme aus, grünes Feuer explodierte aus ihren Fingerspitzen, und ihre Magie schoß in einem Strom aus Energie und finsterem Willen vor, um ihre Opfer zu verschlingen. Währenddessen senkte Haltwhistle seinen Kopf, sackte in sich zusammen und sträubte seine Nackenhaare. Plötzlich erhob sich etwas aus seiner zusammengekrümmten Gestalt, das wie eine Mischung aus Mondlicht und Frost wirkte, und das schoß quer über die Lichtung. Einen Augenblick, bevor Nightshades Magie auf Questor Thews und Abernathy traf, nachdem sie den schwachen Schild des Zauberers zerfetzt hatte, erreichte der Mondlicht-Frost die beiden. Dann wurden sie jedoch schon vom Hexenfeuer verschlungen, und innerhalb eines Augenblicks waren sie fort. Es blieb nichts von ihnen zurück, außer Rauch und der Gestank nach Verschmortem und Vernichtetem. Nightshade wirbelte herum. Was war das gewesen, was sie gesehen hatte? Das seltsame Leuchten aus dem Nichts? Ihre Augen schweiften schnell über die Lichtung und bohrten sich dann in den Wald, der dahinter lag. Nichts. Sie blickte intensiver hin. Da war doch etwas gewesen, oder etwa nicht? Sie hob die Hände und sandte Hexenlicht tief zwischen die Bäume, auf der 62
Suche nach irgendwelchen Lebewesen, die sich dort verbergen mochten. Kleine Nagetiere, Insekten und eine Handvoll Vögel flohen vor ihrer Macht. Aber etwas anderes war da nicht. Schließlich wandte sie sich ein wenig unbefriedigt wieder ab. Die Lichtung war leer, bis auf sie selbst und das Mädchen. Die königlichen Wachen waren zu Stein verwandelt worden. Der Zauberer und der Hund waren verschwunden und würden niemals wieder auftauchen. Alles war so geschehen, wie sie es geplant hatte. Jetzt konnte sie mit ihrem Plan fortfahren. Und dennoch... Ärgerlich wischte sie ihre bösen Ahnungen beiseite, ging zu dem schlafenden Mädchen und blickte auf es hinab. So viel wird mit dir geschehen, Kleines, dachte sie mit Befriedigung. So viele Lektionen werden gelehrt werden, so viele Geheimnisse enthüllt und so viele Tricks ausgespielt. Kannst du hören, was ich denke? Das Mädchen regte sich in seinen Decken, es träumte. Ja, schlafe nur weiter, drängte die Hexe vom Tiefen Schlund es schweigend. Morgen beginnt dein neues Leben. Dann beugte sie sich hinunter und nahm das Kind in ihre Arme. Es war leicht wie eine federgefüllte Steppdecke. Nightshade blickte auf ihr neues Kind hinab und lächelte. Dann verwandelte sie die Luft um sich herum in eisigen Nebel. Einen Augenblick später war die Lichtung verlassen.
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DIE HERAUSFORDERUNG
Exakt drei Tage nach seinem ersten Erscheinen kehrte Rydall nach Sterling Silver zurück. Dieses Mal erwartete Ben Holiday ihn. Ben hatte nicht daran gezweifelt, daß Rydall sein Versprechen halten würde. Die einzige Frage, die noch offenstand, war, welche Art von Gewalt der König von Marnhull ausüben wollte, um Ben dazu zu bewegen, seine lächerlichen Forderungen zu akzeptieren. Ben war bereits vor Sonnenaufgang erwacht und hatte überlegt, eine Runde zu laufen, um seinen Kopf freizubekommen. Als Überbleibsel aus seiner Zeit als Boxer trainierte er noch immer regelmäßig; eine Mischung aus Laufen, Gewichtheben und Training mit den leichten und schweren Sandsäcken. Manchmal boxte er mit Männern aus der königlichen Wache, aber unter ihnen gab es keinen, der diesen Sport gut genug beherrschte, um Ben richtig zu fordern. Oder möglicherweise hielten sie es auch nur für besser, ihn das glauben zu lassen. Daher trainierte er meistens allein. An diesem Morgen bereitete er sich darauf vor zu laufen, verlor dann aber das Interesse daran. Statt dessen stieg er mit Willow und Bunion auf die Schloßmauer, um auf den Sonnenaufgang und auf Rydall zu warten. Die Nacht war kühl gewesen, und als sich die Dunkelheit allmählich in den Westen zurückzog und es im Osten heller wurde, bemerkte Ben, daß während der Nacht Nebel von den Bäumen bis zur Wiese vor dem Schloß gezogen war. Er lag als dicker, grauer Schmierfleck auf dem feuchten Gras und erstreckte sich vom Wald bis zum See. Als die Sonne wie ein silberner Klecks vor dem östlichen Horizont aufging, zog sich der Nebel zollweise von der Wasserkante zurück, wo die Brücke zum Schloß ihren Anfang hatte, und dort war Rydall. Er saß gerüstet und mit Waffen gespickt auf seinem Streitroß, sein schwarzverhüllter Begleiter hockte zusammengesunken auf seinem eigenen schwarzen Pferd, und beide sahen genauso aus wie zuvor, so, als seien sie nie weggewesen. 64
Wortlos blickte Ben von der Burgmauer hinunter und wartete. Der Handschuh, den Rydall vor drei Tagen zu Boden geworfen hatte, lag noch immer mitten auf dem Weg. Ben hatte angeordnet, ihn zu entfernen, aber niemand hatte diesen Befehl ausüben können. Es war, als sei der Handschuh dort festgenagelt worden. Niemand konnte ihn aufheben; niemand konnte ihn überhaupt von der Stelle bewegen – nicht einmal Questor Thews. Irgendeine Art von Magie hielt ihn fest, und die einzige Möglichkeit, ihn zu entfernen, schien darin zu bestehen, die Brücke aufzureißen. Doch so verzweifelt war Ben noch nicht, und deshalb war der Handschuh geblieben, wo er war. Jetzt glänzte er ein wenig von der Feuchtigkeit. Er erinnerte daran, was der König von Marnhull versprochen hatte. »Holiday!« rief Rydall scharf. Dieses Mal hielt er sich nicht mit »König« oder »Hoheit« auf. Diesmal gab er nicht vor, Respekt vor ihm zu haben. »Habt Ihr noch einmal über meine Forderung nachgedacht?« »Meine Antwort bleibt die gleiche!« rief Ben zurück. Er spürte, wie Willow sich zu ihm stellte. »Ihr wußtet, daß dies so sein würde!« Rydalls Pferd stampfte ungeduldig auf. Er hob seine Hand in einer wegwerfenden Geste. »Dann muß ich Euch auffordern, sie zu ändern. Oder besser gesagt, ich muß darauf bestehen. Denn Ihr habt nicht länger die Wahl. Die Dinge haben sich verändert, seit wir das letzte Mal miteinander sprachen. Ich habe Eure Tochter.« Es folgte ein langes Schweigen. Willows Hand schloß sich fest um Bens Arm, und er hörte, wie sie scharf die Luft einsog. Bens Kehle schnürte sich zusammen. Ich habe Eure Tochter. Aber Mistaya war in Sicherheit. Sie war seit zwei Tagen bei ihrem Großvater im Seenland und damit außerhalb von Rydalls Reichweite. Oder war sie das etwa nicht? »Ich habe Euch gesagt, ich würde einen Weg finden, daß Ihr mir zuhört«, fuhr Rydall fort und brach damit die anhaltende Stille.
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»Ich denke, nun müßt Ihr es tun. Ich nehme an, Eure Tochter ist Euch wichtig.« Ben bebte vor Zorn. »Dies ist wieder eines Eurer Spiele, Rydall! Ich habe jetzt genug von ihnen!« Die wegwerfende Geste wurde wiederholt. »Das wird sich zeigen. Ich erwarte jedenfalls nicht, daß Ihr meinen Worten allein Glauben schenkt. Ihr nicht, Holiday. Ihr gehört zu der Sorte von Menschen, die einen Beweis verlangen, selbst wenn ihnen die Wahrheit direkt ins Gesicht starrt. Also gut.« Er pfiff, und aus dem dichten Nebelvorhang erschienen zwei Pferde. Ben fühlte, wie ihm das Herz schwer wurde, als sie näher kamen. Das eine war Leichtfuß und das andere Eule. Ihre Zeichnungen waren nicht zu verkennen. Sie liefen an Rydall vorbei und trabten über die Brücke. »Schickt jemand herunter und laßt Euch bringen, was an den Sattel des Ponys gebunden ist«, rief Rydall nach oben. Ben blickte zu Bunion hinüber. Sofort rannte der Kobold los, so daß er sich nur noch als verschwommener, dunkler Blitz von den Steinen des Schlosses abhob. Ben drückte Willow fest an sich; es brodelte eine solch starke Wut in ihm, daß er nicht fähig war zu sprechen. Einen Augenblick später war Bunion wieder da. Sein seltsames, verschrumpeltes Gesicht war ohne Ausdruck. Er übergab Ben eine Halskette und einen Schal. Nachdem Ben sie sich genau angesehen hatte, reichte er sie mit schmerzendem Herzen an Willow weiter. Sie gehörten Mistaya. Sie hatte sie getragen, als sie zum Seenland aufgebrochen war. »Oh, Ben«, flüsterte Willow leise. »Wo sind Questor Thews und Abernathy?« rief Ben zu Rydall hinunter. »Wo sind die Männer der Eskorte?« »In sicherer Verwahrung«, antwortete Rydall. »Seid Ihr jetzt bereit, meine Forderung anzuhören, König von Landover?« Mit Macht drängte Ben die Gefühle zurück, die drohten, seinen Verstand zu überwältigen. Er legte seinen Arm um Willow, aber er stützte sich selbst damit ebenso wie sie. Er war nicht bereit zu akzeptieren, was man ihm gerade gesagt hatte. Es war nicht 66
denkbar, daß Rydall Mistaya so einfach hatte gefangennehmen können. Wie war ihm das gelungen? Wie hatte er ihre Eskorte überwältigen können? Questor Thews und Abernathy wären eher gestorben, als daß sie aufgegeben hätten. »Rydall!« rief er plötzlich hinab und erschrak selber über die Stärke in seiner Stimme. »Ich werde Landovers Thron oder sein Volk auf keinen Fall übergeben. Ich lasse mich nicht erpressen. Ihr scheint Euch damit zufriedenzugeben, Jagd auf kleine Mädchen zu machen, und das läßt mich an Eurer Behauptung zweifeln, Ihr hättet mit tausendköpfigen Armeen Eroberungen gemacht. Ich glaube, Ihr seid ein Feigling.« Rydall lachte. »Tapfere Worte für einen Mann in Eurer Position. Aber ich verdenke sie Euch nicht. Und ebensowenig erwarte ich, daß Ihr mir jetzt den Thron eher überlaßt als zuvor. Ich habe es nur gefordert, weil ich es mußte. Ein König muß immer als erstes den einfachsten Weg versuchen. Das liegt in der Natur von Eroberungen. Manchmal gibt ein Gegner nach. Ich habe zwar nicht angenommen, daß Ihr dies tun würdet, aber es war nötig, daß ich es herausfand. Jetzt haben wir das hinter uns, keine Spiele mehr, keine Verhandlungen; wir sehen jetzt der Realität ins Gesicht. Ich habe Eure Tochter und Eure Freunde. Ihr habt mein Königreich. Einer von uns muß auf etwas verzichten. Wer von uns wird das sein?« Rydall ließ sein Pferd bis an den Anfang der Brücke vortreten. »Ich glaube, Ihr werdet es sein, König von Landover, aber ich bin bereit, die Angelegenheit auf eine ehrenhafte Weise zu regeln. Durch eine Herausforderung also. Meine Herausfor derung wird folgendermaßen aussehen: Ich werde sieben Kämpen gegen Euch aussenden. Jeder wird zu einem Zeitpunkt kommen, den ich bestimme. Und jeder wird eine andere Gestalt haben. Alle werden kommen, um Euch zu töten. Wenn Ihr sie davon abhalten könnt, wenn Ihr also in der Lage seid, sie zuerst zu töten und alle sieben zu vernichten, dann werde ich Eure Tochter und Eure Freunde freilassen und von meinem Anspruch auf Landover zurücktreten. Aber wenn auch nur einer von ihnen Erfolg hat, dann ist Euer Königreich mein, und Eure Familie wird auf alle Zeit ins Exil 67
geschickt. Nehmt Ihr also meine Herausforderung an? Wenn ja, so kommt auf die Brücke heraus und hebt meinen Handschuh auf.« Ben starrte voller Unglauben zu seinem Widersacher hinunter. »Er ist verrückt«, flüsterte er Willow zu, die wortlos nickte. »Ihr habt einen eigenen Kämpen, der Euch verteidigt«, fuhr Rydall fort. »Jeder weiß von dem Paladin, dem Ritter und Beschützer des Königs. Ihr werdet also eine Verteidigung gegen die Kreaturen haben, die ich Euch schicken werde.« Jetzt sind es Kreaturen, dachte Ben, nicht mehr Kämpen. »Soweit ich weiß, hat noch niemand den Paladin je besiegt. Das heißt, Ihr habt eine durchaus vernünftige Chance zu gewinnen, nicht wahr? Nehmt Ihr an?« Noch immer antwortete Ben nicht, da sein Verstand wie rasend den Vorschlag überdachte. Es war lächerlich, aber es war die einzige Chance, die er besaß, um Mistaya zurückzubekommen. Es gab ihm Zeit herauszufinden, wo sie war und vielleicht sogar, sie zu retten. Und auch Questor Thews, Abernathy und seine Soldaten. Aber der Handel selber war verrückt. Sein Leben in der Waagschale mit dem von Rydalls sieben Mördern? Wenn er diese Herausforderung annahm, wenn er auf die Brücke hinaustrat und den Handschuh aufhob, dann war er gebunden wie durch einen heiligen Eid. Es gab Zeugen für den Vorgang – Mitglieder seines Hofes, königliche Wachen und Bedienstete –, und die Gesetze Landovers würden ihm nicht erlauben, sein Wort zu brechen, sobald er es einmal gegeben hatte. Er könnte Rydall töten und dadurch seines Wortes entbunden werden, aber die Möglichkeiten, die sich ihm boten, waren extrem und ließen ihm nur sehr wenig Spielraum. »Wenn Ihr nicht annehmt«, rief Rydall plötzlich, »werde ich Eure Tochter und Eure Freunde auf Pferde binden lassen und sie vor meiner Armee hertreiben, die über Euer Königreich hereinbrechen wird. Ich würde es zwar bedauern, aber es wäre notwendig, meinen Männern zu befehlen, ihr Leben als Preis für Eure Sturheit zu opfern. Ich habe Euch schon einmal gesagt, daß ich es vorziehen würde, Euer Königreich ohne Blutvergießen zu 68
erlangen. Ihr mögt es ebenso vorziehen – wenn auch aus anderen Gründen. Meine Herausforderung gibt Euch die Chance dazu. Nehmt Ihr an?« Ben fiel ein, wenn er die Herausforderung annahm, müßte er, um sein Leben zu retten, auch akzeptieren, wieder zum Paladin zu werden – und das nicht ein- oder zweimal, sondern siebenmal. Davor fürchtete er sich am meisten. Ständig grübelte er, was es wirklich bedeutete, sich seinem Alter ego auszuliefern. Es wurde jedesmal schwieriger, dabei nicht die eigene Identität zu verlieren. Zum Paladin zu werden, bedeutete, vollständig in seinem Wesen aufzugehen. Und jedesmal wurde es ein wenig schwieriger, wieder aus dieser gepanzerten Hülle aufzutauchen, sich wieder aus den Erinnerungen und dem Leben zu befreien, das seinem Kämpen gehörte. Wenn Ben Rydalls Herausforderung annahm, so sah er sich nicht nur der Aussicht gegenüber, im Kampf getötet zu werden, sondern auch, für immer in seine eigene dunklere Hälfte verwandelt zu werden. »Akzeptiert Ihr, Hoheit?« drängte Rydall beharrlich. »Nein, tue es nicht!« rief Willow plötzlich aus und ergriff seinen Arm. »Da steckt mehr dahinter, als er dir sagt! Hinter Rydalls Worten verbirgt sich noch etwas anderes! Ich spüre es, Ben!« Sie stellte sich vor ihn. Tränen standen in ihren Augen. Ihre Stimme war so leise, daß er kaum hören konnte, was sie sagte. »Nimm nicht an, selbst wenn wir Mistaya deshalb verlieren.« Ben konnte nicht einmal ermessen, was es sie gekostet haben mußte, dies zu sagen. Sie hätte alles getan, um Mistaya zu schützen. Aber sie wollte ihm die Chance geben, sich zu retten. Sosehr liebte sie ihn. Er legte seine Arme um sie und zog sie dicht zu sich heran. »Ich muß es versuchen«, sagte er ihr sanft. »Wie soll ich mir sonst je wieder ruhigen Gewissens ins Gesicht schauen können?« Er küßte sie und wandte sich ab. Dann bedeutete er Bunion, ihm zu folgen, und schritt über den Wehrgang zur Treppe, die hinunterführte. »Warte hier auf mich«, rief er zu Willow zurück.
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Während er die Treppe hinunterging, dachte er darüber nach, was er tun mußte, nachdem er den Handschuh aufgehoben hatte. Er mußte Mistaya, Questor, Abernathy und seine Wachen finden und befreien. Das war das Wichtigste. Dann mußte er Rydall dazu bringen, seine Herausforderung und die Bedrohung Landovers zurückzunehmen. Ober wenn er dazu nicht in der Lage war, dann mußte er ihn töten. Die Alternative bestand darin, Rydalls sieben Herausforderern gegenüberzutreten und darauf zu hoffen, daß er sie tötete, bevor sie ihn umbrachten. Oder mußte er sie überhaupt töten? Vielleicht konnte er sie einfach besiegen. Aber Rydall hatte nicht so geklungen, als würde diese Möglichkeit bestehen. Beim zweiten Mal hatte er sie »Kreaturen« genannt. Ben fragte sich, was für Kreaturen das wohl sein mochten. Er lief über den Schloßhof zum Haupttor hinüber, Bunion, der die Zähne zu einer furchterregenden Grimasse gefletscht hatte, immer einen Schritt hinter ihm. Es war klar, was der Kobold dachte. »Laß sie in Ruhe, Bunion«, warnte ihn Ben leise. »Wir müssen erst Mistaya und die anderen zurückhaben.« Der Kobold grunzte etwas als Erwiderung, und Ben hoffte, daß es die Antwort war, die er haben wollte. Er trat durch das Haupttor und auf die Brücke hinaus. Der Tag wurde heller, der Himmel war klar und blau, und der letzte Nebel verzog sich auf der Wiese vor dem Schloßsee. Rydall und sein schweigender Begleiter saßen auf ihren Pferden und warteten. Ben betrat wachsam, auf jeden Verrat gefaßt, die Brücke, und mit jedem Schritt wuchs sein Zorn. Vielleicht hatte Bunion die richtige Idee gehabt. Wie schwer könnte es sein, den Paladin zu beschwören und sich Rydall ein für allemal vom Hals zu schaffen? Es wäre nur allzu einfach, wenn er sich dazu entschlösse, dachte er. Aber was würde das für Mistaya bedeuten? Er fragte sich plötzlich, ob das eine Falle war, ob die Pferde, die Halskette und der Schal nur Köder waren, die ihn nach draußen locken sollten. Er fragte sich, ob Rydall Mistaya und ihre Eskorte wirklich gefangenhielt. Es konnte schließlich alles ein ausgefeilter Trick sein. 70
Doch in seinem Herzen wußte er, daß dem nicht so war. Er erreichte das andere Ende der Brücke und blieb stehen. Die Reiter blickten von ihren Rössern auf ihn herunter. Wortlos griff Ben nach dem Handschuh. Er löste sich ohne Schwierigke iten von der Brücke, so als hätte ihn in den letzten drei Tagen nichts als Willenskraft an seinem Ort festgehalten. Ben richtete sich gerade auf und blickte Rydall direkt an. Der König von Marnhull war viel größer, als er zunächst angenommen hatte, ein Mann von erstaunlicher Größe und unverkennbarer Stärke. Sein schwarzverhüllter Begleiter schien andererseits kleiner als erwartet. Beider Gesichter waren sorgsam hinter Helm beziehungsweise Kapuze verborgen. Ben warf den Handschuh zurück zu Rydall. Der große Mann fing ihn mit Leichtigkeit auf und winkte damit in spöttischem Gruß. »Macht nicht den Fehler, dies für etwas anderes zu halten, als was es ist, Rydall«, sagte Ben ruhig. »Und gebt acht. Denn wenn Mistaya oder Questor Thews, Abernathy und den Wachen irgend etwas zustößt, werde ich Euch kriegen, und wenn ich dazu bis in die Feuer von Abaddon hinabsteigen muß!« Rydall beugte sich zu ihm vor. »Ihr werdet niemals so weit gehen müssen, um mich zu finden, Holiday. Und Ihr solltet keinen Moment lang glauben, daß ich Angst vor Euch hätte, selbst wenn Ihr dies tätet.« Er zog an seinen Zügeln und warf sein Pferd herum. »Drei Tage, König von Landover. Dann wird meine erste Kreatur erscheinen. Ich würde allmählich anfangen, darüber nachzudenken, wie ich am Leben ble iben kann, wenn ich Ihr wäre.« Er trat seinem Pferd hart in die Seiten, und das Schlachtroß sprang davon. Erneut blieb der schwarzverhüllte Begleiter noch kurz stehen. Ben spürte, wie ihn Augen aus den tiefen Schatten der Kapuze heraus musterten, als versuchten sie, etwas zu entdecken. Angst vielleicht? Ben hielt stand und starrte entschlossen zurück. Dann war Bunion an seiner Seite und zischte den Reiter wütend an, ganz Zähne und Klauen.
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Daraufhin wendete auch der zweite Reiter sein Pferd und galoppierte quer über die Wiese hinter Rydall her. Ben sah ihnen nach, bis sie zwischen den Bäumen verschwunden waren. Als sie wieder sicher im Dunkel des Waldes verborgen waren, das selbst das neue Tageslicht noch nicht hatte durchdringen können, zügelten die Reiter ihre Pferde und stiegen ab. Nightshade warf den Umhang ab, der sie verhüllt hatte, entledigte sich der gebeugten, verkrümmten Gestalt, die sie als Tarnung gewählt hatte, und nahm wieder ihr normales Aussehen an. Mit ihren Händen formte sie dann einen schne llen Unsichtbarkeitszauber, der sie vor dem unwahrscheinlichen Zufall schützen sollte, daß jemand über sie stolperte. Als der Zauber zu wirken begann, benutzte sie ihre Magie noch ein zweites Mal, um die Pferde wieder in winzige grün- und schwarzgestreifte Eidechsen zurückzuverwandeln, die schnell ihren Arm hinaufwieselten und sich in den Falten ihres Gewandes verbargen. Rydall sah ihr zu, sein Visier war noch immer geschlossen. »Er scheint sich nicht zu fürchten«, meinte er verdrießlich. Nightshade lachte. »Nein, noch nicht. Im Augenblick schützt ihn noch sein Zorn. Er zweifelt noch daran, daß wir seine Tochter haben. Er wird sich erst davon überzeugen müssen, bevor die Furcht ihn packen kann. Dann werden ihn meine Kreaturen heimsuchen, eine nach der anderen, und seine Furcht wird sich allmählich aufbauen. Er wird beginnen, sich alle möglichen Dinge vorzustellen, die passieren könnten, und es werden keine angenehmen Vorstellungen sein. Er wird nach uns suchen und nicht die leiseste Spur finden. Schließlich wird er jede Hoffnung verlieren. Und dann, das verspreche ich dir, wird ihn die Furcht packen.« »Vergiß nicht, daß er die Unterstützung der Sylphe besitzt.« Ein zorniger Blitz zuckte durch Nightshades rote Augen. »Verspotte mich nicht, König Rydall, der nie Rydall oder König war. Du dienst meinen Wünschen, vergiß das niemals.«
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Ihr Gegenüber stand regungslos vor ihr und sagte nichts, er war wie eine Wand aus Eisen. Aber sie konnte sein Zögern spüren und war zufrieden. »Noch hat er sie, ja«, gab sie zu. »Aber ich werde dabei zusehen, wie auch sie ihm entrissen wird. Am Ende wird er ganz allein sein.« Rydall bewegte sich ungeduldig. »Ich würde mich besser fühlen, wenn ich deinen ganzen Plan kennen würde. Was ist, wenn etwas schiefgeht?« Sie richtete sich so gerade auf, daß sie vor ihm zu wachsen schien. »Nichts wird schiefgehen. Dafür habe ich alles so sorgfältig geplant. Und was die Kenntnis meines Vorhabens betrifft, so ist es besser, wenn ich einige Dinge für mich behalte. Du weißt alles, was du wissen mußt.« Sie warf ihm einen kalten, abschätzigen Blick zu. »Ich werde dich jetzt zurückschicken. Kümmere dich um deine Angelegenheiten, und erwarte meinen Ruf.« Rydall blickte weg, und seine Rüstung knackte dabei. »Ich hätte ihn auf der Brücke töten können, und die Sache wäre damit ein für allemal erledigt gewesen. Du hättest es mich tun lassen sollen.« »Und damit alles verderben, wofür ich die letzten beiden Jahre gearbeitet und geplant habe?« Nightshade sah ihn ungläubig an. »Ich denke nicht. Außerdem bin ich nic ht sicher, daß du ihm überlegen bist. Du hast es noch nie bewiesen.« Er wollte ihr gerade widersprechen, ein zorniges Grunzen drang schon aus seiner Kehle, aber sie brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Still. Du wirst tun, was ich dir sage. Holidays Ableben bleibt meine Angelegenheit. Dein Anteil daran ist bereits geregelt. Ich will keinen Streit. Du versuchst doch nicht, mit mir zu streiten, oder?« Ihr Gegenüber schwieg eine lange Zeit. »Nein«, erwiderte er schließlich. »Gut. Wenn du Holiday tot sehen willst, und ich weiß, daß du das tust, dann überlasse es mir, dafür zu sorgen. Und jetzt geh.« Sie fuhr mit den Händen durch die Luft, und Rydall verschwand in einer aufsteigenden Nebelsäule. Sie wartete, bis sie sicher war, 73
daß er dorthin zurückgebracht worden war, wo er hergekommen war. Sie mochte ihn ebensowenig, wie sie ihm vertraute, aber er war in dieser Angelegenheit nützlich und würde ihr als Handlanger dienlich sein, bis sie fertig war. Bis Holiday tot war. Sie schloß genußvoll die Augen, als sie sich die letzten Augenblicke des Möchtegern-Königs vorstellte. Sie hatte diese Situation im Geiste immer wieder heraufbeschworen, hatte sie geformt, geschliffen und bis zur Perfektion poliert. Sie konnte jede Einzelheit sehen. Sie konnte sehen, wie er das letzte Mal Atem holte, sie konnte den Blick in seinen Augen sehen, während ihm bewußt wurde, was ihm angetan worden war, und sie hörte die Verzweiflung in seiner Stimme, als er versuchte aufzuschreien. Oh ja, so würde es sich ereignen. Ganz sicher. Doch im Augenblick gab es andere Dinge, die ihre Aufmerksamkeit erforderten. Ein Wirbel dunklen Nebels hüllte sie ein, und sie war verschwunden. Ben Holiday dachte bereits fieberhaft über die nächsten Schritte nach, als er über die Brücke zurückschritt und Sterling Silver betrat. Willow war vom Wehrgang heruntergekommen und wartete auf ihn. Sie stürzte auf ihn zu, und er schloß sie fest in die Arme, bemüht, das Zittern zu beruhigen, das sie beide schüttelte. »Wir werden sie zurückbekommen«, flüsterte er und spürte, wie sich ihre Fäuste in seinen Rücken preßten. »Ich verspreche es.« Dann wandte er sich Bunion zu, der ihm gefolgt war. »Mache dich sofort auf den Weg zum Seenland«, befahl er dem Kobold. »Berichte dem Flußherren, daß seine Großtochter von Ryda ll von Marnhull entführt worden ist, und bitte ihn, uns bei der Suche nach ihr zu helfen. Sag ihm, daß wir jede Unterstützung sehr zu schätzen wissen, die er uns geben kann. Und mache ihm deutlich, daß sie entführt wurde, während sie auf dem Weg zu ihm war, um in Sicherheit gebracht zu werden. Halte bei der Reise zu ihm die Augen nach Anzeichen dafür offen, was geschehen sein könnte. Und Bunion«, fügte er hinzu, »sei vorsichtig. Gehe keine Risiken
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ein. Ich habe bereits Questor und Abernathy verloren. Ich will dich nicht auch noch verlieren.« Der Kobold grinste und zeigte seine Zähne. Es war nicht sehr wahrscheinlich, daß einer Kreatur etwas geschah, die einen Höhlenwicht oder einen Moorwump bezwingen konnte, ohne ins Schwitzen zu geraten, aber Ben dachte daran, wie leicht Rydall Mistayas Schutzbegleitung überwältigt hatte. Falls das überhaupt stimmte, natürlich. Ben war sich dessen immer noch nicht sicher, aber er mußte vom schlimmsten Fall ausgehen. Bunions Reise zum Flußherrn war notwendig. Bunion drehte sich um und war so schnell verschwunden, daß Ben sich wieder in Erinnerung bringen mußte, warum er seinen königlichen Boten überhaupt geschickt hatte. Kobolde waren die schnellsten Lebewesen, die es gab. Eine Reise zum Seenland dauerte für einen Kobold nur knapp einen Tag. Sie waren schon sonderbare Wesen; ihre Gestalt war eine Mischung bizarrer und unterschiedlicher Elemente: ihr Körper war völlig knorrig und borstig, ihre Beine krumm und ihre Arme verzogen, ihr Gesicht ähnelte dem von Affen, und ihre Zähne waren so zahlreich und scharf wie die eines Alligators. Aber Kobolde dienten den Königen von Landover schon seit vielen Jahren, und sie waren treu und zäh. Ben wußte, daß er sich auf Bunion verlassen konnte. Er ging mit Willow an seiner Seite über den Vorhof. »Ich werde hinaufgehen, um den Schau-ins-Land zu benutzen. Vielleicht kann ich ja eine Spur von Misty finden. Würdest du bitte alle meine Termine für heute absagen? Ich komme, sobald ich kann, wieder herunter.« Er stieg auf den höchsten Turm des Schlosses hinauf und betrat den Schau-ins-Land, jenes magische Instrument, das es seinem Benutzer erlaubte, von einem Ende des Landes bis zum anderen zu reisen, ohne dabei Sterling Silver zu verlassen. Ben rief Magie ins Leben, erhob sich aus dem Turm, als würde er tatsächlich fliegen, und durchsuchte mit seinem geistigen Auge das ganze Land, ohne seine Tochter und seine Freunde zu finden oder auch nur einen Hinweis darauf, was ihnen zugestoßen war. Dann 75
inspizierte Ben kurz Eldero, das Heim des Flußherrn, aber nichts zeigte an, daß die Einstmals-Elfen wußten, daß etwas geschehen war. Von Eldero flog Ben zu den östlichen Grenzen und suchte die Ränder der Elfennebel von den Federquellen aus nach Süden ab, aber auch dort gab es keine Spur von Rydall oder Mistaya oder irgend etwas anderem, das ihn zu einem von beiden hätte führen können. Er hielt Ausschau nach Strabo, aber der Drache war nicht zu finden. Wahrscheinlich schlief er in einer der Feuergruben, die er sein Heim nannte. Ben wandte sich Melchor im Norden zu und schließlich dem Tiefen Schlund, dessen Senken der einzige Ort waren, in den er mit dem Schau-ins-Land nicht eindringen konnte. Nightshades Magie verhinderte dies. Ben hielt einen Moment inne und überlegte, daß alle, die er suchte, mit Leichtigkeit dort versteckt sein könnten, ohne daß er es jemals erfahren würde. Aber es war sehr weit hergeholt, sich vorzustellen, daß Nightshade etwas mit all dem zu tun hatte. So sehr sie ihn auch haßte, Fremde haßte sie noch viel mehr. Sie würde sich niemals mit jemandem verbünden, der plante, Landover zu erobern. Außerdem hatte sie seit Monaten niemand mehr gesehen. Ben flog weiter. Er verbrachte den gesamten Morgen damit, das Land nach Mistaya und seinen Freunden abzusuchen, aber er fand nicht die geringste Spur. Es war, als seien sie vom Angesicht der Erde verschwunden. Als Ben endlich in die Kammer zurückkehrte und vom Pult hinunterstieg, war er erschöpft. Die Benutzung der Magie des Schau-ins-Lands hatte ihn ausgelaugt, und er hatte trotzdem nichts vorzuweisen. Er war entmutigt und verängstigt. Er ging in seine Schlafkammer hinunter und schlief ein. Als er erwachte, saß Willow neben ihm und wartete begierig auf Neuigkeiten. Doch er konnte ihr nichts erzählen. Den Rest des Nachmittags verbrachten sie damit, die Liste der Termine und Treffen für die Woche durchzugehen, die sie schließlich zum größten Teil absagten. Einige mußten eingehalten werden, da es sich um Verpflichtungen handelte, die keinen Aufschub duldeten. Aber das alles waren im besten Sinne ablenkende Beschäftigungen, denn Ben konnte kaum an etwas anderes denken als an 76
seine vermißte Tochter und an seine Freunde. Er wußte nicht, was er als nächstes tun sollte. Es schien, als könne er nichts anderes tun, als auf Rydalls Herausforderer zu warten. Drei Tage waren ihm gegeben worden. Dann würde der erste erscheinen. Ben sprach nicht mit Willow darüber, aber er konnte in ihren Augen sehen und in ihrer Stimme hören, daß auch sie daran dachte. Ein siebenmaliger Kampf bis zum Tode, falls er überhaupt so lange überleben würde. Siebenmal mußte der gepanzerte und kampferprobte Paladin gerufen werden. Siebenmal mußte sich Ben dem Leben und den Erinnerungen eines Wesens ausliefern, dessen einziger Lebenszweck darin bestand, die Feinde des Königs zu vernichten. Es war eine absolut erschreckende Aussicht. Sie schliefen in dieser Nacht sehr schlecht. Sie wachten oft auf, um sich gegenseitig festzuhalten, lagen eng beieinander in der Stille und dachten an das, was die kommenden Tage für sie bereithielten. Ben hatte sich noch nie so leer gefühlt. Im nachhinein erschien es ihm so, als hätte er Mistaya im Stich gelassen, indem er sie fortgeschickt hatte, und daß er sie dicht bei sich hätte behalten sollen. Vielleicht hätte er sie auf diese Art besser vor Rydall schützen können. Das sagte er natürlich nicht zu Willow. Es war einfach, jetzt zu überlegen, was man hätte anders machen sollen, jetzt, da es zu spät und alles bereits geschehen war. Diese Grübeleien führten zu nichts. Es blieb nur noch, einen Weg zu finden, wie man die Dinge wieder in Ordnung bringen konnte. Aber wie sollte er das tun? Was konnte er noch versuchen? Am Mittag des folgenden Tages kehrte Bunion zurück. Er hatte sich mit dem Flußherrn getroffen. Mistaya und die anderen hatten Eldero nie erreicht. Niemand unter de n Einstmals-Elfen hatte die geringste Ahnung, was mit ihnen geschehen sein konnte. Nichts sprach dafür, daß sie jemals den Weg entlanggekommen waren. Ben Holiday und Willow tauschten einen langen, hilflosen Blick aus und versuchten, ihre Verzweiflung zu verbergen.
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VERFÜHRUNG
Als Mistaya erwachte, war sie von diesigem Licht und tiefer Stille umgeben. Sie lag auf dem Boden und war noch immer in ihre Decken gehüllt, aber sie war weit von dem Ort entfernt, an dem sie eingeschlafen war. Das merkte sie ins tinktiv. Sie spürte außerdem, daß sie eine lange Zeit geschlafen hatte. Sie war noch immer benommen, ihre Glieder waren steif, ihre Augen trüb, und ihr ganzer Körper hatte die Art von Schwere, die er nur nach einem tiefen Schlaf aufwies. Etwas war mit ihr geschehen. Etwas Unerwartetes. Sie setzte sich auf und schaute sich um. Sie war allein. Es gab keine Spur von Questor, Abernathy oder den königlichen Wachen. Die Tiere waren fort. Ihr Gepäck und der Wagen fehlten. Sie war jedoch nicht überrascht. Sie war offensichtlich weggebracht worden, während sie geschlafen hatte. Sie glaubte, daß sie nicht einmal mehr in derselben Gegend war. Das Aussehen der Dinge war ganz falsch. Sie blickte zum Himmel. Da war kein Himmel zu sehen. Überall waren Bäume, aber sie waren uralt und mit Efeu und Moos überwuchert. Das Licht war grau und voller Nebel. Es roch und schmeckte nach feuchter Erde und Verfall. Seltsamerweise kam es ihr dennoch vertraut vor. Sie stand auf und putzte sich ab. Sie hatte keine Angst. Sie hätte welche haben sollen, nahm sie an, aber sie hatte keine. Zumindest noch nicht. Die Dinge waren seltsam und fremdartig, aber bislang hatten sie ihr noch nichts getan. Sie fragte sich, was mit Questor und Abernathy geschehen war, aber sie war noch nicht bereit, zu dem Schluß zu kommen, daß sie sich in Gefahr befand. Sie blickte sich sorgfältig um und drehte sich einmal ganz im Kreis, um alles zu erspähen, was es zu erspähen gab, aber sie entdeckte nichts als Unterholz, Bäume und die neblige Stille. Als sie ihren Kreis vollendet hatte, fand sie sich plötzlich Auge in Auge mit einer großen, majestätisch wirkenden Frau.
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»Sei willkommen, Mistaya«, sagte die Frau lächelnd. Es war ein kaltes Lächeln. »Wo bin ich?« fragte Mistaya. Gleichzeitig dachte sie: Ich kenne diese Frau. Ich kenne sie. Aber woher? »Du bist im Tiefen Schlund«, antwortete die Frau, die ruhig und bewegungslos im Halblicht stand. Sie war in Schwarz gekleidet. Ihr Haar war schwarz und hatte eine einzelne weiße Strähne in der Mitte. Ihre Haut war alabasterweiß . Ihre Augen... »Du erinnerst dich an mich, nicht wahr?« fragte die Frau, aber es war mehr eine Feststellung als eine Frage. »Ja«, erwiderte Mistaya, die jetzt sicher war, daß sie sie kannte, aber noch immer nicht wußte, woher. Sie befand sich im Tiefen Schlund, hatte die Frau gesagt, und nur eine einzige Person lebte im Tiefen Schlund. »Du bist Nightshade.« »Das bin ich«, antwortete Nightshade erfreut. Die Augen, die zuvor silbern gewesen waren, wurden plötzlich rot. »Du bist der Vogel, die Krähe«, sagte das Mädchen plötzlich. »Beim Picknick. Du hast mich beobachtet.« Nightshades Lächeln wurde breiter. »Das habe ich. Und du hast mich dabei beobachtet, nicht wahr? Dein Gedächtnis ist hervorragend.« Mistaya schaute sich unsicher um. »Was tue ich hier? Hast du mich hergebracht?« Die Hexe nickte. »Ja, das habe ich. Du hast geschlafen, als euer Lager von Leuten angegriffen wurde, die im Dienste des Königs Rydall von Marnhull stehen, dem Mann, der vor kurzem zum Schloß deines Vaters gekommen ist. Erinnerst du dich an ihn?« Mistaya nickte. »Der Angriff kam ganz plötzlich und unerwartet. Er war dazu gedacht, dich zu entführen. Wenn du in Rydalls Gewalt wärest, könnte er deinen Vater vielleicht dazu zwingen, auf seine Forderung einzugehen – ihm die Krone von Landover auszuhändigen und mit seiner Familie ins Exil zu gehen. Deine Eltern dachten, daß Rydall nichts von deiner Reise zum Seenland und zu deinem Großvater wüßte, aber er ist gefährlicher, als sie 79
angenommen hatten. So war es ein glücklicher Umstand, daß ich dich im Auge behielt, weil ich mich um deine Sicherheit sorgte. Ich war in der Lage, dich fortzubringen, bevor sie dich gefangennehmen konnten. Und so habe ich dich hierhergebracht, in den Tiefen Schlund, zu mir.« Mistaya sagte nichts, aber ihre Augen verrieten sie. »Du glaubst mir nicht, oder?« sagte Nightshade. Mistayas Lippen preßten sich zu einer schmalen Linie zusammen. »Mein Vater würde nicht wollen, daß ich hier bin«, sagte sie ruhig. »Weil wir keine Freunde sind und er mir nicht traut«, gab die Hexe mit einem Schulterzucken zu. »Das stimmt. Aber die Wahrheit ist, daß er weiß, daß du hier bist, und mit dieser Information tun kann, was ihm beliebt.« Mistaya runzelte die Stirn. »Er weiß es?« »Natürlich. Ich habe ihm bereits Nachricht gesandt. Natürlich im geheimen, damit Rydall es nicht erfährt. Ich mußte schnell handeln, als der Überfall stattfand, so daß ich deine Freunde nicht benachrichtigen konnte. Ich glaube, daß es ihnen gutgeht, aber ich konnte nicht bleiben, um mich davon zu überzeugen. Questor Thews schien sich gut zu halten. Ich nehme an, der Angriff wurde bald abgeblasen, nachdem du nicht mehr da warst. Schließlich gab es keinen Grund mehr, ihn fortzusetzen.« »Weil ich bei dir war.« »Genau. Aber das weiß Rydall nicht. Er denkt, du bist nach Sterling Silver zurückgekehrt oder nach Eldero zu deinem Großvater weitergereist. Natürlich ist keiner dieser Orte sicher. Er wird dort nach dir suchen. Aber er wird nicht darauf kommen, hier nach dir Ausschau zu halten. Du bleibst besser bei mir, bis die Sache geklärt ist. Dein Vater wird damit einverstanden sein, sobald er darüber nachgedacht hat.« Mistaya trat von einem Fuß auf den anderen, während sie überlegte. Das kam ihr alles nicht richtig vor. »Woher weißt du über Rydall Bescheid? Und weshalb hast du mich beobachtet?«
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»Ich interessiere mich für dich, Mistaya«, antwortete Nightshade langsam. »Ich weiß Dinge über dich, die nicht einmal du selbst weißt. Ich wollte sie dir erzählen, aber ich wußte nicht, wie. Und so folgte ich dir und wartete auf eine Gelege nheit. Ich weiß, was dein Vater und deine Mutter für mich empfinden. Wir sind nicht immer gut miteinander ausgekommen. In manchen Zeiten haben wir einander sogar bekämpft. Aber wir teilen ein gemeinsames Interesse an dir.« Sie machte eine Pause. »Wußtest du, daß du im Tiefen Schlund geboren wurdest, Mistaya?« Mistayas Stirn legte sich in Falten. »Wurde ich das denn?« »Deine Mutter hat es dir nicht erzählt, nicht wahr? Das dachte ich mir.« Nightshade trat zur Seite. Scheinbar unbeteiligt, verlor sich ihr Blick in den Bäumen. »Hat sie dir gesagt, daß du über Magie verfügst?« Mistaya fiel der Unterkiefer herab. Interesse blitzte in ihren smaragdgrünen Augen auf. »Wirklich? Richtige Magie?« »Natürlich. Jede Hexe verfügt über Magie.« Nightshade blickte wieder zu ihr, und ihre roten Augen funkelten. »Du wußtest, daß du eine Hexe bist, oder?« Mistaya holte sehr tief Luft, bevor sie antwortete. »Nein, das wußte ich nicht. Lügst du mich auch nicht an?« Nightshade antwortete nicht. Statt dessen gestikulierte sie schnell vor sich in der Luft, worauf ein Tisch und zwei Stühle erschienen. Der Tisch war mit einem scharlachroten Tuch bedeckt, und auf ihm lagen Obst, Nüsse, Brot, Käse und Most. »Setz dich«, sagte die Hexe. »Wir können etwas essen, während wir uns unterhalten. « Mistaya zögerte, aber ihr Hunger siegte über die Zurückhaltung, und sie setzte sich auf den Stuhl gegenüber von Nightshade. Noch immer vorsichtig, probierte sie eine Nuß und dann eine Scheibe Käse. Beide schmeckten wundervoll, und so machte sie sich über den Rest des Essens und einen Becher Most her. Nightshade saß ihr gegenüber und kaute abwesend an einer Scheibe Brot. »Ich werde dir etwas sagen, Mistaya«, sagte sie. »Ich habe dich hierhergebracht, weil sich die Gelegenheit dazu bot und ich 81
befürchtete, daß sie sich nicht noch einmal bieten würde. Es war natürlich ein glücklicher Zufall. Wenn ich darauf gewartet hätte, daß du von dir aus kämst oder daß deine Eltern dich schickten – wenn ich mutig genug gewesen wäre, diese Bitte zu stellen, denn sie hätten es nie von sich aus angeboten –, dann wärst du wahrscheinlich niemals gekommen. Ich nehme das keinem übel. Ich verstehe, wie die Dinge liegen. In vielen Kreisen und bei vielen Leuten bin ich nicht gut angesehen. Ich bin sicher, daß du viel über mich gehör t hast.« Mistaya blickte von ihrem Essen auf, und ein besorgtes Flackern stand in ihren grünen Augen. Doch in der Stimme der Hexe lag keine Drohung, und auch in ihrem Gesicht spiegelte sich keine wider. »Du brauchst keine Angst vor mir zu haben«, versicherte ihr Nightshade. »Du bist hier aus Gründen der Sicherheit und nicht, um verletzt zu werden. Du kannst gehen, wann immer du willst. Aber ich würde mir wünschen, daß du mir zuerst zuhörst. Wirst du mir das zugestehen?« Mistaya dachte darüber nach, während sie eine Handvoll Nüsse kaute, dann nickte sie. »Gut. Du bist sehr aufgeweckt. Ich habe ernst gemeint, was ich dir darüber gesagt habe, daß du hier sicherer bist als bei deiner Familie.« Nightshade machte eine wegwerfende Geste mit der Hand. »Rydall ist ein nach dem Thron gierender Fremder, ein Eroberer unbedeutender Länder, der Landover zu seiner Beute hinzufügen will. Worüber dein Vater und ich auch immer gestritten haben, in einem Punkt stimmen wir überein. Landover darf nicht von Rydall regiert werden. Ich bin eine Hexe, Mistaya, und Hexen wissen Dinge, von denen andere nichts ahnen. Sie hören vieles als erste, und sie verstehen alles viel umfassender. Rydall war mir schon in dem Moment bekannt, als er und sein schwarzverhüllter Begleiter aus den Nebeln auftauchten. Ich habe seinen Zauberer entdeckt. Er ist ein sehr mächtiges Wesen, das vielleicht sogar mir gleichrangig ist. Ich erfuhr von ihnen und habe sie während ihres Besuches bei euch beschattet. Ich habe ihre 82
Forderungen gehört. Ich wußte, was sie tun würden. Und als sie dich überfielen, war ich zur Stelle.« Sie blickte erneut nachdenklich zu den Bäumen hinüber. »Aber ich hatte noch andere Gründe, um gerade zu diesem Zeitpunkt einzugreifen. Ich wollte dich hierherbringen. Ich wollte, daß du einige Ze it mit mir im Tiefen Schlund verbringst. Ich fühlte, daß die Gelegenheit nicht noch einmal kommen würde. So war ich sehr darum bemüht, sie zu ergreifen. Ich bin der Meinung, daß es wichtig ist, daß du die Wahrheit über dich selbst erfährst – wichtig für dich und für mich.« »Für dich?« Mistaya sah zweifelnd aus. »Ja, Mistaya.« Nightshades Hände streichelten sich gegenseitig wie kleine weiße Mäuse. »Ich bin die Hexe des Tiefen Schlundes, die einzige Hexe in ganz Landover, und ich habe lange Zeit auf eine weitere gewartet. Ich will jemandem enthüllen, was ich weiß. Ich will mit jemandem reden, der meine Leidenschaft für die Magie teilt. Und du bist diese Person.« Mistaya hörte auf zu essen. Sie starrte Nightshade fasziniert an. »Ich dachte mir, daß ich Magie hätte«, sagte sie leise, zögernd; sie mußte an die Erdmutter denken. »Manchmal konnte ich es fast spüren. Aber ich war mir nicht sicher.« »Du wurdest nicht gelehrt, sie zu benutzen, bist nicht geübt, sie heraufzubeschwören, und man hat dir verschwiegen, daß sie überhaupt existiert. Aber die Magie ist in dir«, sagte Nightshade. »Sie war immer in dir.« »Warum hat man es mir nicht gesagt?« Mistaya war noch immer nicht überzeugt, aber sie begann bereits, die Möglichkeiten zu erforschen, die sich ihr eröffneten. »Warum haben meine Eltern und sogar Questor mir gesagt, daß der Gebrauch von Magie – jeder Magie – gefährlich sei? Willst du behaupten, daß sie mich angelogen haben?« Nightshade schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Das würden sie nie tun. Sie haben nur von dir ferngehalten, wozu du ihrer Meinung nach noch nicht bereit warst. Sie hätten dir zu gegebener Zeit alles erzählt. Ich glaube natürlich, daß es falsch von ihnen 83
war, es dir so lange vorzuenthalten. Aber jetzt gibt es andere Gründe, warum es dir gesagt werden muß, Gründe, die nichts mit einer unterschiedlichen Ansicht zwischen deinen Eltern und mir zu tun haben, Gründe, die ausschließlich mit dem Erscheinen von Rydall und der Gefahr zu tun haben, die er für deinen Vater darstellt.« »Was für einer Gefahr?« fragte Mistaya sofort. »Sag es mir.« Doch Nightshade schüttelte den Kopf und hob eine schlanke Hand. »Geduld, Mistaya. Laß mich alles auf meine Weise erzählen. Du kannst dir deine Meinung bilden, wenn ich fertig bin.« Sie erhob sich, und Mistaya stand mit ihr auf. Nightshade machte eine kurze Geste, und der Tisch mit seinem Essen und den Getränken verschwand. Die Lichtung, auf der sie standen, war, bis auf sie selbst, wieder leer. Nightshade lächelte Mistaya an. Mit demselben kalten Lächeln. Aber dieses Mal schien es dem Mädchen angenehmer. Sie stellte fest, daß sie es fast unbewußt erwiderte. »Wir beide werden Freunde sein, du und ich«, sagte die Hexe und wölbte eine Augenbraue, so daß sie sich dem Ansatz der weißen Strähne in ihrem schwarzen Haar näherte. »Wir werden uns all unsere Geheimnisse erzählen. Komm mit.« Sie bewegte sich über die Lichtung und in den Wald hinein, ohne zurückzuschauen. Mistaya, die neugierig geworden war, folgte ihr. Sie war begierig darauf, mehr von dem zu hören, was die andere erzählen konnte. Sie dachte nicht mehr an die Umstände, die sie in den Tiefen Schlund gebracht hatten. Sie dachte nicht einmal mehr an ihre Eltern oder an Questor Thews oder Abernathy. Statt dessen dachte sie an ihre Magie, an die Magie, von der sie immer gewußt hatte, daß sie sie besaß, an die Magie, die sie so heftig begehrt hatte. Jetzt, endlich, würde sie ihr enthüllt werden. Sie konnte es in den Worten der großen Frau spüren. Als sie ein kurzes Stück in das Gehölz eingedrungen waren, dorthin, wo der Dunst so dicht war, daß man ihn beinahe 84
schneiden konnte, und wo das Licht nur noch schwach war, hielt Nightshade an und wandte sich dem Mädchen zu. »Du bekommst nicht leicht Angst, Mistaya, nicht wahr?« fragte sie. Mistaya schüttelte den Kopf. »Für dich ist die Anwendung von Magie kein Grund zu weinen und sich unter dem Kopfkissen zu verbergen, wie ein kleines Kind es tut, wenn ein Sturm mit Donner und Blitz hereinbricht?« Mistaya schüttelte abermals den Kopf, und diesmal sah sie absolut trotzig dabei aus. »Ich habe vor überhaupt nichts Angst!« sagte sie tapfer und glaubte es auch fast selbst. Nightshade nickte, und ihre Augen waren wieder silbern und ruhig. »Ich habe dich hierher, in den Tiefen Schlund, gebracht, weil du eine Hexe bist. Eine Hexe«, wiederholte sie eindringlich, »wie ich. Du wurdest im Tiefen Schlund geboren, geboren aus Erdreich, das wieder und wieder durch meine Magie geweiht wurde, geboren mit einem Erbe von Elfenblut, geboren in eine Welt, in der die Starken und Selbstsicheren mit Macht gesegnet sind. Du bist aus diesem Grund ein Mysterium für deine Eltern. Ein Mysterium. Kennst du dieses Wort?« Mistaya nickte. »Ein Rätsel.« »Ja, ein Rätsel. Denn es gibt niemanden wie dich in ganz Landover. Du besitzt Fähigkeiten, von denen sie nicht einmal etwas ahnen. Du verfügst über Magie, die nur ich verstehen kann. Ich kann dich lehren, deine Kräfte zu beherrschen und sie zu nutzen. Niemand anders kann für dich tun, was ich für dich tun kann. Nicht deine Eltern. Nicht Questor Thews. Niemand. Keiner von ihnen ist, was wir sind – Hexen –, und keiner von ihnen kann dir geben, was du brauchst. Ja, der Gebrauch von Magie kann in der Tat gefährlich sein. Das ist kein Geheimnis. Aber die Gefahr rührt aus der Unkenntnis darüber, was Magie bewirken kann und wie man sicherstellt, daß man sie immer unter Kontrolle behält. Verstehst du das?« Mistaya nickte wieder, diesmal eifriger und aufgeregt durch die unausgesprochenen Versprechungen hinter den Worten der Frau.
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»Gut. Also dann, sieh her.« Nightshade bückte sich und pflückte eine Wildblume, deren Knospen noch geschlossen waren. Sie hielt sie Mistaya hin. Dann hob sie einen Finger und streichelte eine winzige Knospe. Die Knospe zitterte und erblühte zu einer blutroten Blüte. »Siehst du? Magie hat sie zum Leben erweckt. Versuch du es jetzt.« Sie reichte den Stengel mit den vielen Knospen und der einen offenen Blüte Mistaya, die ihn zaghaft nahm und vor sich hielt, als sei er aus Glas. »Konzentriere dich auf eine Knospe«, sagte die Hexe vom Tiefen Schlund. »Konzentriere dich darauf, wie sie aussehen wird, wenn sie sich zu einer Blüte öffnet. Bringe das Gefühl davon, wie sie zum Leben erwacht, tief in deinen Körper hinein, ganz tief hinab, dorthin, wo nur Dunkelheit und die Bilder sind, die wir mit unserer Vorstellungskraft formen. Konzentriere dich auf die Blüte, die du machen willst, und greife dann langsam hinauf und berühre die Knospe.« Mistaya tat, wie ihr geheißen. Sie bündelte jedes Gramm ihrer Energie zu einem geistigen Bild der Knospe, wie sie sich zu einer Blüte öffnete. Dann streckte sie die Hand aus und berührte sanft und zögernd die Knospe. Die Knospe öffnete sich zur Hälfte und hielt dann inne. »Sehr gut, Mistaya«, lobte Nightshade, nahm ihr den Stengel aus der Hand und warf ihn beiseite. »War das so schwierig?« Mistaya schüttelte schnell den Kopf. Ihr Mund war trocken, und ihr Herz pochte heftig. Sie hatte wirklich Magie bewirkt. Sie hatte gespürt, wie die Knospe auf ihre Berührung reagiert hatte, hatte gesehen, wie sie leicht gezittert hatte, genau wie bei Nightshade. Aber da war noch mehr gewesen. Tief in ihrem Inneren hatte sich etwas Glattes und Silbriges gerührt, das sie wie eine Katze umschmeichelt und sie warm und begierig auf mehr zurückgelassen hatte. Nightshades schlanke Hand strich über die Hand Mistayas. Mistaya hatte nichts gegen die Berührung. Sie erschien ihr
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vertraut und daher angenehm. »Jetzt versuche folgendes«, sagte die Hexe. Sie bückte sich und hob eine schwarz- und orangegestreifte Raupe auf. Die Raupe rollte sich auf ihrer Handfläche zu einem Ball zusammen, dann rollte sie sich nach einem Moment wieder auseinander und begann, in Sicherheit zu kriechen. Die Hexe berührte die Raupe, und diese wurde sofort zu Gold verwandelt. »Jetzt verwandele sie wieder zurück«, bestimmte sie und hielt ihre offene Handfläche mit der Raupe Mistaya hin. »Konzentriere dich. Mach dir im Geiste ein Bild von dem, was du tun willst. Greife in dich hinein und spüre, daß es geschieht.« Mistaya befeuchtete ihre Lippen und preßte sie zusammen. Sie konzentrierte sich, sosehr sie konnte, auf die Raupe, stellte sie sich lebendig vor, sah, wie sie sich von Metall in organischen Stoff verwandelte. Sie sah es erst in ihrem Geist, dann fühlte sie es in ihrem Herzen. Sie streckte ihre Hand aus und berührte die Raupe. Die Raupe wurde wieder orange und schwarz und begann, davonzukriechen. »Ich habe es getan!« hauchte sie aufgeregt. »Hast du es gesehen? Ich habe es getan! Ich habe Magie bewirkt!« In diesem Augenblick vergaß sie alles: ihre Zweifel, ihre Fragen und ihre Freunde. Nightshade fegte die Raupe weg und beugte sich schnell zu dem Mädchen hinunter, ihre Augen waren so scharf wie geschliffenes Glas. »Jetzt verstehst du, Mistaya. Jetzt siehst du, was du in Wahrheit tun kannst. Aber das war noch gar nichts, das kleine Stückchen Magie, das du gerade bewirkt hast. Das war nur der Anfang dessen, was du erreichen kannst. Doch du mußt auf das hören, was ich dir sage. Du mußt die Dinge lernen, die ich dir beibringe. Du mußt üben, was ich dir zeige. Und du mußt sehr hart arbeiten. Bist du dazu bereit?« Mistaya nickte eifrig. Ihr blondes Haar schimmerte von der Feuchtigkeit des Dschungels, ihre Augen leuchteten wie die einer Katze in einer Höhle. »Ja, das bin ich. Aber...« Sie brach ab,
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zügelte sich selbst, als sie sich der Umstände erinnerte, durch die sie im Tiefen Schlund war. »Mein Vater...« »Dein Vater weiß, daß du hier bist und wird dich holen kommen, wenn er meint, du solltest nicht hierbleiben«, antwortete Nightshade glatt und rasch. »Die Frage, die du beantworten mußt, lautet, ob du bleiben möchtest. Die Entscheidung liegt ganz allein bei dir. Aber bevor du deine Wahl triffst, gibt es noch eine Sache, die du wissen mußt. Erinnerst du dich, daß ich dir gesagt habe, es gäbe noch einen Grund dafür, daß du hier bei mir bist und deine Magie erforschen sollst?« Nightshade machte eine erwartungsvolle Pause. Mistaya zögerte und nickte dann. »Ja, ich erinnere mich. Du sagtest, du würdest es mir später erzählen.« Nightshade lächelte. »Recht nah dran. Ich habe gesagt, ich würde es dir auf meine Weise und zu meiner Zeit erzählen. Also, hör jetzt gut zu. Rydall von Marnhull ist nach deiner Abreise noch einmal zu deinem Vater gekommen. Er hat deinem Vater gesagt, daß er die Magie seines Zauberers benutzen wird, um ihn zu vernichten. Questor Thews wird versuchen, deinen Vater zu schützen, aber ihm fehlt es an der nötigen Macht dazu. Rydalls Zauberer ist viel mächtiger als Questor.« Sie hob ihren schmalen Finger und berührte Mistaya sanft an der Nasenspitze. Wie der Kuß einer Schlange. »Aber du hast die Anlagen, noch viel mächtiger zu werden, Mistaya. In dir ist die Magie verborgen, auch wenn sie noch schlummert, mit der du Rydall und seinen Zauberer besiegen und deinen Vater retten kannst. Ich spüre diese Macht, und aus diesem Grund hielt ich es für richtig, dich hierherzubringen und dich auf deine Bestimmung vorzubereiten. Denn du wirst eine Hexe von nicht geringer Bedeutung werden und eine Königstochter zudem, und dein Umgang mit diesem Erbe wird deinen Lebensweg bestimmen.« Mistaya starrte sie mit offenem Mund an. »Ich werde meinen Vater retten können? So stark wird meine Magie sein?«
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»So stark, wie du es dir nur vorstellen kannst.« Die Hexe machte eine Pause und lächelte, dann wurde sie plötzlich ganz aufmerksam. »Hat dir die Erdmutter nichts davon erzählt?« »Ja, sie ...« Mistaya zögerte, ohne zu wissen, warum. Sie dachte auf einmal, daß sie jemandem, der bereits soviel wußte, nicht alles enthüllen sollte. Schließlich sollte ihr Treffen mit der Erdmutter eigentlich ein Geheimnis bleiben. »Sie hat mir einiges über mein Erbe erzählt, es aber mir überlassen, die Art der Magie herauszufinden, über die ich möglicherweise verfüge.« Plötzlich erinnerte sie sich an Haltwhistle. Wo war der Sumpfmoppel? War auch er an der Stätte des Angriffs zurückgeblieben, als Nightshade sie zum Tiefen Schlund gebracht hatte? Sie wollte die Hexe nach ihm fragen, aber wieder hielt sie irgend etwas davon ab. Nightshade hatte Haltwhistle nicht erwähnt, als sie von den anderen gesprochen hatte. Vielleicht wußte sie nichts von dem Sumpfmoppel. »Die Erdmutter ist deine Freundin, so wie sie die deiner Mutter war«, fuhr Nightshade fort. »Eine gute Freundin, nehme ich an, nicht wahr?« Mistaya nickte. »Sie hat dich kurz vor dem Angriff zu sich geholt. Ich habe es beobachtet. Hat sie dich vor ihm gewarnt?« »Nein«, antwortete Mistaya und dachte erneut nach. Warum wußte Nightshade das nicht? »Was war es denn, was sie von dir wollte?« fragte die Hexe sanft. »Erzähle es mir.« Mistaya zuckte mit den Schultern, es war ein reiner und einfacher Reflex. Nach außen war sie ruhig und innerlich ganz kalt. Hier geschah etwas, das sie nicht verstand. Sie brachte ein kleines Lächeln zustande. »Sie hat mir gesagt, daß Gefahr auf mich lauere und daß ich vorsichtig sein soll. Sie sagte, ich müßte immer klug handeln.« Sie wartete. Das Lächeln gefror auf ihrem Gesicht, als die Hexe ihr tief in die Augen blickte. Sie glaubt mir nicht! dachte Mistaya. Gleichzeitig fragte sie sich, warum das etwas ausmachte und was es war, das sie so ängstigte. 89
Dann senkte Nightshade ihren Blick und erhob sich. Ihre schmalen, weißen Hände legten sich auf Mistayas kleine Schultern. »Willst du bei mir im Tiefen Schlund bleiben, Mistaya? Willst du mit mir gemeinsam lernen, deine Magie zu gebrauchen?« Mistaya wurde durch die Berührung besänftigt. Die Worte ermutigten und beruhigten sie ebenso schnell, wie sie zuvor mißtrauisch geworden war. »Wie lange würde ich denn bleiben?« fragte sie zaghaft, da sie noch immer an ihren Vater denken mußte. »Solange du willst. Du kannst jederzeit gehen. Aber«, sagte die Hexe und beugte sich herab, so daß ihr Gesicht nahe dem Mistayas war, »sobald du gehst, um nach Hause zurückzukehren, gehst du für immer. Das liegt in der Natur der Sache. Sobald du mit deinem Lernen beginnst, mußt du bis zum Ende dabeibleiben oder es vollständig aufgeben.« »Aber was ist, wenn mein Vater kommt, um mich zu holen?« »Dann werden wir mit ihm sprechen, und es wird eine Entscheidung getroffen werden«, antwortete Nightshade. »Aber, Mistaya, du mußt das verstehen. Magie ist ein zerbrechliches Gefäß, eines, das große Macht in sich trägt, das aber auch wie Glas zerbrechen kann. Es kann nicht unbeaufsichtigt bleiben, sobald es einmal ans Licht geholt wurde. Wenn wir also mit deinem Unterricht beginnen wollen, mußt du zustimmen, ihm bis zu seinem Abschluß zu folgen. Kannst du das?« Mistaya erinnerte sich daran, wie die Knospe erblüht und die Raupe wieder zum Leben erwacht war. Sie dachte an das Gefühl der Magie, die glatt und seidig in ihr siedete. Ihre seltsamen Ahnungen, wie sie in den Tiefen Schlund gekommen war, schienen im Vergleich dazu unbedeutend. »Ja«, antwortete sie fest. »Also, wirst du bleiben?« Mistaya nickte mit dem entschlossenen Ernst eines Kindes. »Das werde ich.«
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Nightshade lächelte sie wohlwollend an. »Dann werden wir sofort beginnen. Komm mit.« Sie wandte sich ab und begann, zurück zur Lichtung zu gehen. »Also, Mistaya, es gibt einige Regeln, die du unbedingt einhalten mußt«, sagte sie, während sie zusammen durch den Dunst gingen. »Du mußt mir zuhören und tun, was ich sage. Du darfst deine Magie nie ohne mich anwenden. Du mußt sie immer so verwenden, wie ich es dir sage, auch wenn du nicht gleich verstehst, warum. Und...« Sie blickte zurück, um sich zu vergewissern, daß Mistaya ihr in die Augen schaute. »Du darfst den Tiefen Schlund niemals ohne mich verlassen.« Sie ließ diese Worte wirken. »Denn Rydall wird nach dir suchen, und ich könnte es mir niemals vergeben, wenn du durch meine Sorglosigkeit in seine Hände fallen würdest. Also werden wir beide immer in der Nähe der jeweils anderen bleiben, solange du in meiner Obhut bist. Verlasse niemals die Senke. Verstehst du mich?« Mistaya nickte. Das tat sie. Die Hexe drehte sich um. Ein befriedigtes Lächeln lag auf ihrem glatten, kalten Gesicht, und in ihren rotgefärbten Augen stand Triumph. Doch das konnte Mistaya nicht mehr sehen. Sie verbrachten den ganzen Tag mit Nightshades Lektionen. Einige waren für Mistaya unverständlich, ganz wie die Hexe ihr gesagt hatte. Andere waren bloß Übungen, die ohnehin jeden erkennbaren Sinn vermissen ließen. Bei einigen spürte Mistaya, wie eine Kraft aus ihr herausströmte, und wieder andere waren so sanft und unbestimmt, daß sie überhaupt nichts spürte; sie bestanden nur aus Worten und kleinen Gesten in der Luft. Als der Tag endete, blieben in Mistaya gemischte Gefühle zurück. Einerseits hatte sie die Magie, die in ihr verborgen lag, gesehen und gefühlt – eine seltsame, vergängliche Kreatur, die zum Leben erwachte und kurze Blicke auf ihr Antlitz erhaschen ließ, während Mistaya versuchte, sie aus ihrem Bau zu locken. Andererseits war die Weise, wann und wie sie erschien, rätselhaft
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und unergründlich. Nightshade schien zufrieden zu sein, aber Mistaya war verwirrt. Einmal hatten sie zum Beispiel daran gearbeitet, ein Monster zu erschaffen. Das Monster war von Mistaya selbst erdacht worden, denn ihre Lehrerin drängte sie, ihre eigene Kreativität einzusetzen, und ermutigte sie, die Kreatur so unverwundbar zu machen, wie sie es sich nur vorstellen konnte. Nightshade war über ihre Bemühungen in diesem Fall besonders erfreut gewesen. Sie hatte gesagt, daß sie morgen ein neues ausprobieren wollten. Monster? Mistaya verstand das zwar nicht, aber schließlich hatte man ihr gesagt, daß sie so manches nicht verstehen würde, nicht wahr? Als sie in ihre Decke gewickelt neben dem Feuer lag, das die Hexe ihr als Wärmung erlaubt hatte – Nightshade selbst schien solche Bequemlichkeiten nicht zu brauchen –, blickte sie in die Dunkelheit des Tiefen Schlundes hinaus, hinaus in die stille Düsternis, und fragte sich, ob sie das Richtige tat. Es war aufregend, die Magie zu erforschen, die sie besaß, aber der Unterricht hatte ein Gefühl des Verbotenen an sich, das sie nicht ignorieren konnte. Wäre ihr Vater wirklich einverstanden? Das mußte er wohl, wenn er nicht kam, um sie abzuholen. Andererseits wußte er vielleicht gar nicht, was sie mit Nightshade tat. Falls er also verlangen würde, sie sollte damit aufhören, was würde sie dann tun? Sie war sich nicht sicher. Es stimmte, daß sie hier sicherer war als an den Orten, von denen Rydall wußte. Es stimmte auch, daß es hier viel interessanter war. Nightshade war faszinierend, sie quoll über vor fremdartigem Wissen und besaß exotische Kenntnisse. Obgleich sie ganz eindeutig die Lehrerin war, behandelte sie Mistaya bei den Studien gleichwertig, und das gefiel Mistaya. Sie genoß den Respekt, der ihr hier entgegengebracht wurde – etwas, das ihr daheim verweigert worden war. Sie würde eine Weile bleiben, entschied sie. Lange genug, um zu sehen, wie sich die Dinge entwickelten. Sie konnte schließlich
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jederzeit gehen, hatte Nightshade gesagt. Wenn sie bereit war, als Preis mit dem Verlust ihres Unterrichtes zu zahlen. Ja, sie würde noch ein wenig bleiben. Sie dachte wieder an Haltwhistle. Er würde immer bei ihr sein, hatte die Erdmutter versprochen. War das so? Man brauchte ihm weder Nahrung noch Wasser zu geben und auch nicht für ihn zu sorgen. Mistaya mußte nur wenigstens einmal am Tag seinen Namen aussprechen, damit er in ihrer Nähe blieb. Sie fuhr sich mit der Hand an den Mund. Das hatte sie nicht getan. Sie hatte seinen Namen nicht ein einziges Mal ausgesprochen. Sie hatte es vergessen. Sie öffnete ihren Mund, hielt dann aber inne. Nightshade wußte nichts von dem Sumpfmoppel. Was würde sie dazu sagen? Würde sie Haltwhistle fortschicken? Und Mistaya ebenso? Mistayas Lippen preßten sich aufeinander. Nun, das würde auch keinen Unterschied machen, wenn der Sumpfmoppel gar nicht da war. Sie konnte es ebensogut erst herausfinden, bevor sie sich über den Rest Gedanken machte. »Haltwhistle«, sagte sie leise, fast unhörbar. Sofort war der Sumpfmoppel neben ihr, blickte sie mit seinen großen, seelenvollen Augen aus der Dunkelheit an. Erleichtert wollte sie nach ihm greifen, hielt sich aber dann noch rechtzeitig zurück. Du darfst einen Sumpfmoppel niemals berühren, hatte die Erdmutter sie gewarnt. Niemals. »Hallo, mein Junge«, flüsterte sie lächelnd. Haltwhistle wedelte als Erwiderung mit seinem komischen Schwanz. »Hast du gerufen, Mistaya?« fragte Nightshade aus der Dunkelheit vor ihr. Mistaya hob erschrocken den Kopf. Abrupt tauchte die Hexe vom Tiefen Schlund vor ihr auf und beugte sich über sie. »Hast du etwas gesagt?« Mistaya blinzelte und sah sich nach Haltwhistle um. Der Sumpfmoppel war verschwunden. »Nein, nichts. Ich muß im Schlaf geredet haben.« »Dann gute Nacht«, sagte die Hexe und glitt wieder in die Dunkelheit zurück. 93
»Gute Nacht«, sagte Mistaya. Sie holte tief Atem und ließ ihn langsam entweichen. Sie blickte sich noch mal nach Haltwhistle um. Der Sumpfmoppel erschien wieder, nahm aus der Nacht heraus Gestalt an. Sie schaute ihn einen Moment lang lächelnd an. Dann schloß sie die Augen und schlief ein.
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BUMBERSHOOT
In dem Augenblick, da Nightshades Hexenfeuer ihn erreichte, verschwand Landover, und die Zeit stand still. Weiches, seidiges Licht umgab Abernathy, und er verlor Questor Thews vollständig aus den Augen. Er trieb schwerelos in dem Licht, eingehüllt in Stille und verzehrt von einer gefühllosen Taubheit. Er wußte nicht, was mit ihm geschah. Er nahm an, daß er tot sei und daß sich so das Sterben anfühlte, aber er war sich nicht sicher. Er versuchte, sich zu bewegen, aber er schaffte es nicht. Dann bemühte er sich, etwas außer der leuchtenden Weiße zu erkennen, die um ihn herum war, aber er konnte auch das nicht. Er war kaum in der Lage, einen sinnvollen Gedanken zu fassen. Er wußte nicht einmal, ob er atmete. Dann verschwand das Licht in einem plötzlichen Sturm aus Wind und leuchtenden Farben, und in rasendem Tempo wurden wieder die Landschaften, Geräusche, Gerüche und der Geschmack des Lebens in schmerzender Klarheit wahrnehmbar. Das Seenland war verschwunden. Er war sich ziemlich sicher, daß sogar ganz Landover verschwunden war. Er saß auf einer grasbewachsenen Fläche, die sich um ein großes, steinernes Becken erstreckte. Eine Fontäne in der Mitte des Beckens sandte einen Wasserstrahl in die Luft, der hoch oben federartig auseinandersprühte. Licht fing sich in dem Wasser und erschuf kleine, leuchtende Regenbögen. Überall auf der Wiese und am Rand des Springbrunnens saßen Menschen. In dem Springbrunnen selbst spielten Kinder, die sich in das flache Steinbecken vorgewagt hatten und nun lachend durch den Wasserstrahl hüpften und sich gegenseitig naßspritzten. Es war Sommer, und der Tag war sonnig und heiß. Abernathy setzte sich aufrecht hin und sah sich um. Überall waren Menschen. Es war eine Art Fest im Gange, und jeder feierte. Auf der anderen Seite des Weges standen zwei Jongleure. Ein Clown wanderte auf Stelzen umher. An einem Tisch in der Nähe ließ sich ein Junge sein Gesicht anma len. Durch die Wiese 95
liefen verschiedene Wege, und auf dem Weg, der ihm am nächsten war, reihten sich behelfsmäßige Buden aneinander, in denen Kunsthandwerker ihre Arbeiten feilboten: Glasprismen, Holzschnitzereien, Metallskulpturen und Kleidung jeglicher Art. Auf anderen Wegen drängten sich kleine Karren und Stände, an denen Essen und Getränke verkauft wurden. Grelle Schilder verkündeten die Art der Genüsse, die hier angeboten wurden. Abernathy erkannte keinen der Namen. Aber er konnte die Schilder lesen. Wenn er nicht in Landover war, dürfte er das eigentlich nicht können. Sein erster Gedanke war: Wo bin ich dann? Sein zweiter: Warum bin ich nicht tot? Ein Mann mit langem, verfilztem schwarzen Haar und einem Vollbart, in den purpurne Strähnen eingefärbt worden waren, stand neben einer Frau, die feste, perlenbesetzte Zöpfe trug, die in winzigen Glöckchen endeten. Beide trugen goldene Ohrringe und Halsketten und hatten gleichartige Rosen auf ihre Gesichter gemalt, die von roten Herzen eingerahmt wurden. Sie starrten Abernathy ungläubig an. »Hey, Mann, das war unglaublich!« erklärte der Mann ehrfürchtig. »Wie hast du das bloß gemacht?« »War das so eine Art Magie?« fragte die Frau. Abernathy hatte keine Ahnung, wovon die beiden sprachen. Aber er konnte ihre Sprache verstehen, und das war ebenso rätselhaft wie sein Vermögen, die Schilder zu lesen. Er blickte sich verwirrt um. Überall um ihn herum erklang Musik, die sich mit Rufen und Lachen mischte. Die Wege führten an hohen Steingebäuden vorbei und an Pavillons, in denen dichtgedrängte Menschenmassen standen. Die Gebäude sahen nicht vertraut aus – und doch waren sie es. Die Musik war von sehr unterschiedlicher Art, aber er erkannte keine sofort wieder. Sie war laut und entschieden mißtönend. Eine Gruppe von Musikern befand sich auf einer Bühne, die vor einem Pavillon errichtet worden war, gegenüber vom Springbrunnen. Die Musik, die sie spielten, war rauh und verstärkt, so daß sie klang, als käme sie aus der leeren 96
Luft. An jeder Ecke flatterten Fähnchen, Wimpel und Banner. Die Menschen tanzten und sangen. Wo man auch hinschaute, geschah etwas. »He, das ist doch noch nicht deine ganze Nummer, oder?« fragte der Mann mit dem purpurgestreiften Bart. »Komm schon, mach noch was!« drängte seine Begleiterin. Abernathy lächelte und zuckte mit den Schultern, er wünschte, der Mann und die Frau würden fortgehen. Was ging hier überhaupt vor? Offensichtlich war er nicht tot. Was war also mit ihm geschehen? Er tastete mit den Händen seinen Körper ab und suchte nach Schäden. Aber es schien alles vorhanden zu sein. Zwei Arme, zwei Beine, ein Rumpf, Finger, Zehen – er konnte sie in seinen Stiefeln fühlen. Alles an Ort und Stelle. Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und strich sie zurück. Er rieb sich das Kinn, stellte aber nur fest, daß er eine Rasur gebrauchen könnte. Er rückte seine Brille zurecht. Es schien alles in Ordnung zu sein. Dann drehte er sich in die entgegengesetzte Richtung und stand plötzlich Questor Thews gegenüber. Der Zauberer starrte ihn an. Er starrte ihn an, als hätte er ihn noch nie zuvor in seinem ganzen Leben gesehen. »Questor Thews, bist du in Ordnung?« fragte Abernathy hastig. »Was, in aller Welt, geht hier vor?« Questors Mund öffnete sich, aber es kamen keine Worte heraus. Das irritierte Abernathy vollends. »Zauberer, was ist mit dir los? Hat die Magie der Hexe dich stumm gemacht? Hör auf, mich so anzusehen!« Questor hob seinen mageren Arm, als wolle er einen Geist abwehren. »Abernathy?« fragte er voller Unglauben. »Ja, natürlich. Wer denn sonst?« fuhr Abernathy ihn an. Dann bemerkte er, daß mit Questor etwas absolut nicht in Ordnung war. Es lag an seinen Augen, am Klang seiner Stimme und an der Art, wie er nicht in der Lage zu sein schien, das Offensichtliche zu akzeptieren, ja nicht einmal, seinen ältesten Freund zu erkennen! Vielleicht der Schock. »Questor Thews, möchtest du dich für
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einen Moment hinlegen?« fragte er sanft. »Möchtest du, daß ich dir Wasser bringe oder ein Glas Ale?« Der Zauberer starrte ihn noch einen Moment lang an, dann schüttelte er schnell seinen Kopf. »Nein, es ist nicht... es ist... Ich bin in Ordnung, wirklich, aber du...« Er brach ab, sichtlich entgeistert. »Abernathy«, sagte er leise. »Was ist mit dir geschehen?« Jetzt war es an Abernathy, sein Gegenüber anzustarren. Mit ihm geschehen? Nochmals blickte er an sich hinunter. Derselbe Rumpf, Arme, Beine, vertraute Kleidung, alles war am richtigen Ort. Er blickte wieder seinen Freund an und schüttelte verwirrt den Kopf. »Wovon redest du?« Er mußte laut sprechen, damit er die Musik übertönte. Das hagere, weißbärtige Gesicht durchlief eine schier unglaubliche Reihe von Verzerrungen. »Du bist... du hast dich zurückverwandelt! Schau dich an! Du bist kein Hund mehr!« Kein Hund... Abernathy begann zu lachen, dann brach er abrupt ab. Jetzt erinnerte er sich! Das war richtig – er war ein Hund. Er war ein flauschiger Wheaten Terrier, von Questor Thews dazu gemacht worden, als der boshafte Sohn des alten Königs, Michel Ard Rhi, versucht hatte, ihm ernsthaften Schaden zuzufügen, und dann war er so geblieben, weil Questor ihn nicht wieder zurückverwandeln konnte. Ja, ein Hund. Nur daß er, erkannte er plötzlich schockiert, jetzt kein Hund mehr war. Er war wieder ein Mann! »Du liebe Güte!« hauchte er leise. Er konnte es nicht fassen. »Das kann nicht sein! Mein Herz und meine Seele ...!« Er betastete sich rasch und studierte sich nochmals eingehend. Ja, das waren Arme, Beine, Finger und Zehen. Sein Körper war wieder da! Sein menschlicher Körper! Er klopfte sich hektisch ab und griff unter seine Kleidung. Kein Fell, sondern Haut, wie bei jedem normalen Menschen! Er begann jetzt zu weinen, Tränen liefen ihm über die Wangen. Er suchte nach etwas, in dem er sich spiegeln konnte, und ergriff schließlich einen der Silberknöpfe, 98
die seinen bestickten Rock zusammenhielten. Er blickte in dessen winzige, gravierte Oberfläche, und sein Atem stockte ihm in der Kehle. Es war sein menschliches Gesicht, das ihn da anstarrte, das Gesicht, das er seit über dreißig Jahren nicht mehr gesehen hatte. »Das bin ich!« flüsterte er und mußte schlucken. »Schau, Questor Thews, das bin wirklich ich! Nach all dieser Zeit!« Er weinte so heftig und lachte zur gleichen Zeit, daß er dachte, er würde zusammenbrechen. Aber Questor Thews stützte ihn, indem er ihm die Hände auf beide Schultern legte. »Mein alter Freund«, rief er entzückt aus und weinte ebenfalls. »Du bist wieder da!« Dann begannen sie, sich in einer spontanen und für beide recht ungewöhnlichen Zurschaustellung ihrer Zuneigung zu umarmen und auf den Rücken zu klopfen; sie waren beide nicht in der Lage zu sprechen. Das Publikum, das sich versammelt hatte, während dies alles sich ereignete, schaute unsicher zu. Es war ursprünglich von den seltsamen Kostümen angezogen worden und von dem offenkundigen Interesse des Mannes und der Frau, die als erste dagewesen waren. Dann waren sie geblieben, um dem zuzuschauen, was sie für eine Art von Straßentheater hielten. Es war wirklich recht gut, dachten sie, wenn auch nicht ganz angemessen für die Gelegenheit. Es erklang ein wenig höflicher Applaus. Abernathy klammerte sich weiterhin an Questor Thews, als würde er wieder zurückverwandelt werden, sobald er ihn losließ. Er konnte die Luft und die Wärme der Sonne spüren, und er konnte den Geruch des Essens riechen und die Musik hören, als sei er nie zuvor in seinem Leben in der Lage gewesen, eines dieser Dinge wahrzunehmen. Wenn er noch einmal geboren würde, dachte er, so würde es sich bestimmt genauso anfühlen! »Was ist mit uns geschehen?« brachte er schließlich hervor und löste sich aus der Umklammerung seines alten Freundes. »Wieso habe ich mich verwandelt? Wie ist das geschehen?« 99
Questor ließ ihn widerstrebend los, dann schüttelte er den Kopf. Sein strähniges Haar stand als Ergebnis der enthusiastischen Umarmung zu allen Seiten ab. »Ich weiß es nicht«, gestand er verwundert. »Ich verstehe überhaupt nichts. Ich dachte, wir seien tot!« Die Menge applaudierte erneut. Erst jetzt nahm Abernathy wahr, daß drei bis vier Zuschauerreihen um ihn und den Zauberer herumstanden. Er erschrak unwillkürlich – und war peinlich berührt. »Questor Thews, tue etwas!« verlangte er hitzig und deutete auf die Menschenmenge, die sie umringte. Der Zauberer blickte sich überrascht um, aber irgendwie gelang es ihm, seine Fassung zu bewahren. »Hallo, zusammen!« grüßte er sie. »Kann uns jemand sagen, wo wir sind?« Es erklang Gelächter in der Menge. »Bumbershoot«, antwortete ein großer, schlaksiger Junge. »Bumbershoot?« wiederholte Questor Thews zweifelnd. »Sicher. Sie wissen schon, Bumbershoot, das Festival der Künste.« Der Junge grinste. Er hatte Spaß an dem Spiel, das die beiden Darbietenden offensichtlich spielten. »Nein, nein, er meint die Stadt«, sagte ein stämmiger Mann. Auch er fand Gefallen an dem Spiel. »Ihr seid in Seattle, im Staat Washington, Freunde.« »In den Vereinigten Staaten von Amerika«, fügte eine weitere Stimme hinzu. Andere Namen und Orte wurden gerufen, da die Zuschauer jetzt zu dem Schluß gekommen waren, daß dies eine Vorstellung war, an der sich das Publikum beteiligen sollte. Alle waren sehr enthusiastisch, und die Menge wuchs noch immer. »Questor!« sagte Abernathy scharf. »Ist dir klar, wo wir sind? Wir sind in der alten Welt des Königs! Wir sind erneut durch die Elfennebel befördert worden!« Dem Zauberer fiel das Kinn herab. »Aber wie könnte das geschehen sein? Nightshade hatte vor, uns zu vernichten! Was tun wir hier?« »Befehlt Scotty, euch raufzubeamen!« rief jemand. 100
»Seid ihr Trekkies?« fragte jemand anders hoffnungsvoll. Die Menge heulte vor Gelächter und ging dann zu einem rhythmischen Klatschen über, um die beiden zum Weitermachen zu bewegen. Die Musik aus dem Pavillon hatte für den Augenblick aufgehört, und es schien, als würde jeder auf dem ganzen Festival plötzlich ihnen zusehen und begierig auf eine neue Vorstellung warten. Verspätet wurde Abernathy klar, daß ihr unerwartetes Erscheinen der Auslöser für diese Aufmerksamkeit gewesen war. Schließlich waren sie aus dem Nichts aufgetaucht, wie durch... nun, wie durch Magie – was ja auch stimmte, aber das war jetzt nicht wichtig. Dies war die Erde, die alte Welt des Königs, und hier wurde keine Magie praktiziert. Eigentlich nicht einmal toleriert. Zum größten Teil glaubte man überhaupt nicht an sie. Die Menge nahm an, daß die beiden zum Festival gehörten, wie die Jongleure, die Stelzengänger und alles übrige. Jede Form von Magie, die sie besaßen, war nur Illusion. Sie diente nur zur Unterhaltung. »Wir müssen uns sofort aus dieser Situation herauswinden!« meinte Abernathy mit einem heimlichen, drängenden Flüstern. »Diese Leute glauben, daß wir ihnen eine Art Vorstellung geben!« Er krabbelte auf die Füße und blickte dabei zum wiederholten Male hinunter. Er konnte es noch immer nicht ganz glauben, daß er wunderbarer- und unglaublicherweise wiederhergestellt war. Seine Stimme verfing sich in seiner Kehle. »Wir müssen über diese... diese ganze Sache sprechen! Aber allein, Questor Thews!« Der Zauberer nickte und erhob sich mit ihm zusammen. Sie trugen beide Kleidung aus Landover und sahen dadurch sehr unpassend aus, außer natürlich, man sah in ihnen Schauspie ler. Der Zauberer entschied schnell, daß es besser war, die Leute in ihrem Glauben zu belassen, statt zu versuchen, die Situation zu erklären. Er war ebenso verwirrt über das, was geschehen war, wie Abernathy, und er war ebenso begierig darauf, sich an einem ruhigen Fleck hinzusetzen und zu versuchen, eine Erklärung dafür zu finden.
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»Ahem! Meine Damen und Herren! Dürfte ich Sie um Ihre Aufmerksamkeit bitten?« Er sprach die Menge mit seiner autoritärsten Stimme an und hob seine Arme, um ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu erlangen. Es wurde sofort leise. »Mein Kollege und ich benötigen ein paar Minuten der Vorbereitung, bevor wir mit der nächsten Vorstellung beginnen können. Wenn Sie also so freundlich wären, jetzt zu gehen – genießen Sie den Rest des Festivals –, werden wir Sie in, na, sagen wir, in einer Stunde, hier wiedersehen. Oder auch nicht«, fügte er unhörbar hinzu. »Ich danke Ihnen, vielen Dank.« Er senkte die Arme und wandte sich ab. Doch die Menge bewegte sich nicht. Niemand war bereit, schon zu gehen. Einige waren nicht einmal bereit, zu glauben, daß sie überhaupt gehen sollten. Es konnte schließlich alles ein Teil der Vorstellung sein. Zwei Fremde, die aus einer anderen Welt kamen – das war höchst interessant. Was mochte wohl als nächstes geschehen? Niemand wollte etwas verpassen. Es wurde ein wenig von einem Fuß auf den anderen getreten, aber niemand setzte sich in Bewegung. »Es funktioniert nicht!« beschwerte sich Abernathy, der von der ganzen Sache irritiert, verwirrt und überwältigt war. »Verdammt noch mal, Zauberer, bring uns hier weg!« Questor Thews seufzte, da er nicht wußte, wie er das anstellen sollte, dann hob er mit einem entschlossenen Blick den Kopf, nahm Abernathy beim Arm und marschierte mit ihm direkt durch die Menge hindurch. »Entschuldigen Sie bitte, danke, ja, das ist sehr freundlich von Ihnen, entschuldigen Sie bitte.« Die Menge teilte sich höflich, wenn auch ein wenig enttäuscht. Questor Thews und Abernathy entkamen unbehelligt und eilten schnell über die Festivalwiese davon, auf einen Häuserblock hinter den Eßständen zu. »Wo gehen wir hin?« fragte Abernathy, der nicht wagte, über die Schulter zu schauen, ob ihnen jemand folgte. »Wo immer wir hinkommen, denke ich«, antwortete Questor achselzuckend. »Da wir keine Ahnung haben, wo irge nd etwas ist.« 102
Sie gingen einen Weg entlang, vorbei an einem Gesichtsmaler, an einem Mann, der Kreisel drehte, und an mehreren Eßständen. Schließlich kamen sie zu einer viereckigen Grasfläche, die vor einem höhlenartigen Gebilde aus Glas und Metall lag, aus dem eine besonders mißtönende Form von Musik erklang. »Was ist denn das für ein Krach?« fragte Questor Thews und schüttelte erschreckt den Kopf. »Rock and Roll«, antwortete Abernathy abwesend. »Als ich das letzte Mal hier war, habe ich eine ganze Menge davon gehört.« Erinnerungen wurden in seinem Kopf freigesetzt, aber er wischte sie beiseite. Er wandte sich um, faßte Questor bei den Schultern und drehte ihn herum, so daß sie sich in die Augen sehen konnten. »Zauberer, was geht hier vor? Schau mich an! Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll! Ich bin wieder ein Mensch, bei allem, was heilig ist! Wie ist das geschehen? Das hat Nightshade doch ganz gewiß nicht vorgehabt! Sie hat versucht, uns zu töten! Warum sind wir dann nicht tot? Warum sind wir hie r?« Questors Mund wurde schmal, und er zwinkerte heftig. »Nun, entweder ist etwas mit ihrer Magie schiefgegangen, oder eine andere Magie hat eingegriffen und das geplante Ergebnis verändert. Ich halte letzteres für wahrscheinlicher.« Questor berührte Abernathys Gesicht. Seine Hand zitterte. »Du liebe Güte, Abernathy, bist du dir eigentlich bewußt, daß du keinen Tag gealtert bist, seit ich dich vor all diesen Jahren von einem Mann in einen Hund verwandelt habe?« »Das ist nicht möglich!« rief Abernathy ungläubig aus. »Nicht einen Tag? Nein, ich muß gealtert sein! Warum sollte ich nicht altern? Das muß die Magie sein, oder? Jene, die deiner Meinung nach eingegriffen hat. Sie hat mich nicht nur in einen Menschen zurückverwandelt, sondern sogar zu dem Mann, der ich einst war. Warum, Questor? Warum sollte sie das tun?« Sie starrten sich einen Moment lang in verwundertem Schweigen an, während die Musik aus der Halle über sie hinwegbrandete und das Lachen und die Fröhlichkeit des Festivals um sie herum anstieg. Sie waren Fremde in einer anderen Welt, 103
verbannt durch Umstände, die sie nicht ergründen konnten. Ja, aber ich bin wieder ein Mann! dachte Abernathy freudig. Was auch sonst geschehen ist, ich bin wieder zu dem geworden, der ich war und der ich immer sein will! Questor Thews schüttelte den Kopf. »Ich brauche dir nicht zu sagen, daß dies alles sehr seltsam ist«, erklärte er nüchtern. »Entschuldigung?« Sie drehten sich um und erblickten ein Mädchen, das ein paar Schritte von ihnen entfernt stand und sie ansah. Sie war vielleicht ein wenig älter als fünfzehn Jahre, schätzte Abernathy, eher klein, mit lockigem blonden Haar und vereinzelten Sommersprossen um die Nase. Sie trug eine kurze, braune Hose, eine recht eng anliegende himmelblaue Bluse, auf der etwas geschrieben stand, und Sandalen. Sie sah verblüfft aus. »Ich war vorhin in der Menge«, sagte sie und musterte sie intensiv, vor allem Abernathy. »Ich bin Ihnen danach gefolgt, weil Ihre Stimme... ich weiß, das klingt dumm, aber weil... Sie erinnern mich an jemanden...« Sie brach ab, und ihre Stirn legte sich in Falten. Sie schaute plötzlich zu Questor Thews. »Ich erinnere mich an Sie. Jetzt bin ich mir ganz sicher. Ihr Name ist Questor Thews.« Questor und Abernathy wechselten einen schnellen Blick. »Sie hat uns bela uscht«, sagte Abernathy sofort. »Nein, das habe ich nicht.« Sie schüttelte heftig den Kopf und trat einen Schritt näher. »Abernathy, du bist das, nicht wahr? Du bist kein Hund mehr! Deshalb war ich so verwirrt. Aber deine Stimme ist noch dieselbe. Und deine Augen. Erinnerst du dich nicht mehr an mich? Ich bin Elizabeth Marshall.« Sie lächelte hilfreich. »Ich bin Elizabeth.« Mit einem Mal erinnerte er sich. Elizabeth. Sie war zwölf Jahre alt gewesen, als er sie das letzte Mal gesehen hatte. Sie war damals durch die Gänge von Graum Wythe gestreunt, der Festung von Michel Ard Rhi, einst ein Prinz von Landover und Sohn des alten Königs, aus den Tagen vor Ben Holiday. Abernathy war durch einen weiteren fehlgeschlagenen Zauber von Questor Thews 104
zur Erde geschickt worden und im Thronraum seines schlimmsten Feindes erwacht, wo ihn ein schnelles Ende erwartet hätte, wenn ihn nicht Elizabeth gefunden und sein Leben gerettet hätte. Mit vereinten Kräften hatten sie sich bemüht, Abernathys Existenz vor Michel zu verbergen, und einen Weg gesucht, wie der Schreiber wieder nach Landover zurückkehren konnte. Elizabeth hatte die ganze Zeit über zu ihm gehalten. Selbst als sie entdeckt worden und ihre eigene Sicherheit gefährdet gewesen war, hatte sie sich geweigert, ihren Freund zu verraten. »Ich habe gedacht, daß ich dich niemals wiedersehen würde«, sagte sie leise, als sei sie nicht sicher, daß er wirklich er war. »Ich auch nicht«, hauchte er ungläubig. Sie ging schnell auf ihn zu und umarmte ihn. »Ich kann es nicht glauben«, sagte sie in seine Schulter hinein, während sie ihn fest an sich drückte. »Das ist einfach zu unglaublich.« »Nun, ja«, stimmte er ihr sprachlos zu und umarmte sie ebenfalls. Sie löste die Umarmung. Tränen standen in ihren Augen. »Schau mich nur an, ich weine wie ein kleines Kind.« Sie wischte die Tränen weg. »Als ich dich sah, als ich euch beide sah, umgeben von all diesen Menschen, da konnte ich mir nicht vorstellen, daß es wahr sein könnte. Ich meine...« Sie brach ab und schüttelte den Kopf. »Aber was tust du eigentlich hier, Abernathy?« Er zuckte verlegen mit den Schultern. »Das weiß ich auch nicht so genau. Wir wollten es gerade herausfinden. Wir wissen nicht so recht, wie wir hierhergekommen sind. Es ist eine ziemlich lange Geschichte.« Er starrte sie an. »Du bist erwachsen geworden.« Sie lachte. »Na ja, noch nicht ganz, aber doch ein wenig mehr als das letzte Mal, als wir uns gesehen haben. In ein paar Monaten werde ich sechzehn. Also erst einmal Hallo. Und auch dir Hallo, Questor Thews.« »Es ist schön, dich wiederzusehen«, erwiderte Questor. Er räusperte sich. »Ach, Elizabeth, ich frage mich, ob ich dich wohl bemühen dürfte...«
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»Ihr habt keinen Platz, wo ihr bleiben könnt, oder?« fragte sie, bevor er seinen Satz beenden konnte. »Natürlich habt ihr keinen. Seid ihr gerade erst angekommen? Nun, ihr braucht jedenfalls einen Ort, an dem ihr bleiben könnt, solange ihr hier seid. Wie lange wird das sein?« Questor seufzte: »Das ist auch so etwas, worüber wir zur Zeit nur spekulieren können.« »Das ist egal; ihr könnt bei mir bleiben. Ich wohne noch immer draußen in Woodinville, aber nicht mehr in Graum Wythe. Mein Vater und ich haben ein Haus nicht weit davon entfernt, nur ein Stück die Straße hinab. Dad beaufsichtigt noch immer das Anwesen und das Schloß. Aber er ist bis Ende der nächsten Woche fort, so daß wir das ganze Haus für uns haben. Abgesehen von Mrs. Ambaum. Sie ist die Haushälterin. Und meine Hüterin.« Sie kicherte. »Ich werde es euch später erzählen. Abernathy, ich kann es nicht glauben. Schau dich nur an!« Abernathy wurde rot. »Na ja«, brachte er heraus. »Vielleicht sollten wir jetzt gehen«, riet Questor. »Zu dir, Elizabeth. Wir müssen uns wirklich hinsetzen und miteinander reden.« »Sicher«, stimmte Elizabeth ihm schnell zu. »Laßt mich nur schnell meinen Freunden Bescheid sagen, daß ich gehe. Ich bin mit dem Bus hergekommen, also müssen wir auch mit ihm nach Hause fahren. Ich denke, ich habe genug Geld für uns drei. Ich hoffe es jedenfalls, denn ich wette, ihr habt keines. Oh, Junge, das ist doch wirklich merkwürdig, nicht wahr, daß wir uns auf diese Weise wiedertreffen?« Questor Thews nickte und blickte abwesend zu den Menschenmengen und dem Festival hinüber. Musik ergoß sich über die offenen Flächen zwischen den Gebäuden. Fähnchen und Ballons schwebten in der warmen Brise. Der Geruch nach Essen erfüllte die Luft. Von überall her erscholl Lachen und Singen. Bumbershoot, das Festival der Künste. Seattle, Washington, Vereinigte Staaten. Die alte Welt Seiner Hoheit. Jetzt Elizabeth. Es war wirklich alles sehr seltsam. Außerdem war es das größte 106
zufällige Zusammentreffen, das ihm jemals widerfahren war – oder es war etwas viel Komplizierteres. Er sagte es nicht, aber er hielt die letztere Möglichkeit für die wahrscheinlichere. Er dachte, daß sie gut daran täten, sich über alles klar zu werden, bevor vielleicht noch mehr geschah.
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EIN ENTSCHÄRFTES GRAUM WYTHE
Nachdem sich Elizabeth von ihren Freunden verabschiedet hatte, führte sie Abernathy und Questor Thews durch die Menschenmenge von Bumbershoot. Sie kamen an einem Gebäude vorbei, das Center House hieß, dann an einer Reihe von Karussells, in denen kreischende Kinder saßen, und an mehreren Eßständen. Schließlich gelangten sie zu einer Plattform, die zu einer Einschienenbahn gehörte – etwas ganz Neues für Questor, der nicht soviel Zeit in der alten Welt des Königs verbracht hatte wie Abernathy. Nach einer kurzen Wartezeit stiegen sie in die Bahn ein und fuhren in die Stadt. Abernathy war vergnügt darüber, wie sehr er mit allen Dingen vertraut war, und zusätzlich wurde seine Stimmung durch die unglaubliche Tatsache seiner Verwandlung gehoben. Während sie in der Bahn saßen und auf die hohen Gebäude der Stadt zuglitten, blickte er immer wieder auf sein Spiegelbild im Fenster neben ihm, noch immer nicht ganz imstande zu glauben, daß es Wirklichkeit war. Aber es war Wirklichkeit. Er war wieder er selbst, ein ganzer Mann, tatsächlich sogar genau derselbe Mann, der er gewesen war, bevor Questor ihn ursprünglich in einen Hund verwandelt hatte. Er sah ziemlich durchschnittlich aus, war von mittlerer Größe und Gewicht und hatte dunkles, recht glattes Haar, das sein Gelehrtengesicht einrahmte. Seine randlose Brille saß bequem auf seiner Nase und paßte perfekt zu ihm, als mache es überhaupt keinen Unterschied, ob er ein Mann oder ein Hund war. Seine Augen waren braun und standen weit auseinander. Sein Mund war voll und sein Kinn fest. Ein durchschnittliches Gesicht, keine Frage, aber insgesamt doch ein Gutes. Und es war Seines. Während er es im Fenster betrachtete, fühlte er sich, als sei ihm eine schwere Last von den Schultern genommen worden. Als er das letzte Mal in Ben Holidays Welt gewesen war, hatte er vorgeben müssen, wirklich ein Hund zu sein, um einer ganzen Reihe von Unannehmlichkeiten aus dem 108
Wege zu gehen. Magie wurde hier nicht akzeptiert. Von sprechenden Hunden hatte man noch nie etwas gehört. Abernathy war eine Kuriosität von überragender Bedeutung gewesen, und es hatte mehr als nur einen Versuch gegeben, diesen Umstand auszunutzen. So war er denn wie ein Die b in der Nacht herumgeschlichen und hatte, peinlich berührt und verängstigt, etwas gespielt, das er nicht war. Jetzt hingegen konnte er wie jeder andere herumgehen, da er wieder wie jeder andere aussah. Er paßte hervorragend zu dem Ort. Na ja, jedenfalls mehr, als er es als Hund getan hätte. Immerhin war dies trotz allem nicht sein Heimatland. Aber wenn er schließlich nach Landover zurückkehren würde... Der Gedanke daran ließ ihn lächeln. »Wie fühlt es sich an?« fragte Elizabeth ihn plötzlich. Sie hatte ihn beobachtet. »Ich meine, wieder ein Mensch zu sein?« Abernathy hatte den Anstand zu erröten. »Ich scheine gar nicht aufhören zu können, mich anzusehen. Es tut mir leid. Aber es fühlt sich wunderbar an. Ich kann dir gar nicht sagen, wie wunderbar. Es ist sehr lange her, Elizabeth, daß ich...« Er wurde leiser und brach ab. »Ich... ich bin sehr glücklich.« Daraufhin grinste sie ihn an. »Weißt du was? Du siehst ziemlich gut aus.« Seine Kinnlade fiel herab. Er spürte, wie seine Wangen brannten. »Nein, wirklich«, beharrte sie. »Das tust du.« Er erwartete an dieser Stelle eine schnippische Bemerkung von Questor Thews, aber der Zauberer schenkte der Unterhaltung keine Beachtung; sein Blick war abgewandt, und er schaute gedankenverloren ins Nichts. Abernathy murmelte Ellizabeth etwas Unverständliches zu und blickte aus dem Fenster zu den vorbeiziehenden Gebäuden hinüber. Er hatte sich genug selbst bewundert. Er sollte auch lieber nachdenken. Sie mußten schließlich herausfinden, was vor sich ging. Was es gewesen war, das sie zu diesem Ort und dieser Zeit gebracht hatte und das ihn in einen Mann zurückverwandelt und erneut mit Elizabeth zusam109
mengebracht hatte. Wie Questor, hielt auch er es für einen enormen Zufall. Er hatte das Gefühl, als sei eine Maschinerie am Werk, die er nicht verstand und es wahrscheinlich auch gar nicht sollte. Aber für den Augenblick war er so von seiner Verwandlung gefangengenommen, daß er an kaum etwas anderes denken konnte. Er betrachtete sich noch einmal im Fenster und fing fast an zu weinen. Er hatte das Recht, dieses Gefühl noch ein paar Momente länger zu genießen, oder nicht? Schließlich hatte er so lange darauf gewartet! Am Ende der Bahnstrecke stiegen sie aus und betraten ein großes Gebäude, das zwischen anderen großen Gebäuden stand. Die ganze Anlage war sehr imposant, fast überwältigend. Sie stiegen Treppen hinab, von denen einige sich sogar bewegten, bis sie zu einer unterirdischen Bushaltestelle kamen. Da Questor nichts über Busse wußte, nahm sich Abernathy einen Moment Zeit, um ihm zu erklären, wie sie funktionierten, aber er machte es falsch. Elizabeth kicherte und klärte beide auf. Mittlerweile waren sie weit genug von Bumbershoot weg, daß die Leute ihre etwas ungewöhnliche Kleidung bemerkten – Questor trug seine graue, flickenbesetzte Robe mit ihren leuchtendbunten Schärpen, und Abernathy hatte seinen rotgestreiften, silberbesetzten Reitmantel um –, aber niemand war so ungehobelt, eine Bemerkung darüber zu verlieren. Der Bus fuhr eine Zeitlang unterirdisch, wo er zweimal hielt, dann fuhr er aus einem Tunnel in den Sonnenschein des späten Nachmittags hinaus. Sie befanden sich nun auf einer Straße mit mehreren Fahrspuren, die alle voller Fahrzeuge waren und die bis in die weite Ferne zu führen schienen. Niemand kam schnell voran. Abernathy, Questor und Elizabeth saßen hinten im Bus und schauten aus dem Fenster. Eine Zeitlang sprach keiner von ihnen. »Geht es Ben Holiday und Willow gut?« wandte sich Elizabeth schließlich an Abernathy. Er bejahte die Frage. Dann erzählte er ihr von Mistaya , und eins führte zum anderen. Als Questor ihm keinen warnenden Blick 110
zuwarf oder ihn zur Vorsicht ermahnte, begann er, ihr alles über Nightshade und den Angriff auf die Karawane zu berichten, die das kleine Mädchen zu ihrem Großvater bringen sollte. Er sprach leise, damit niemand, der in der Nähe saß, es hören konnte. Allerdings bestand bei dem Krach, den der Bus verursachte, ohnehin keine große Gefahr. Abernathy erzählte Elizabeth auch, wie sie gedacht hatten, daß nun alles aus wäre, nachdem Nightshade ihre überwältigende Magie heraufbeschworen hatte, und wie sie sich dann aber plötzlich in der alten Welt des Königs wiedergefunden hatten, in Seattle, bei Bumbershoot. Den Rest kannte sie. »Das ist alles sehr merkwürdig«, sagte sie, als er fertig war. »Ich frage mich, warum ihr hier aufgetaucht seid.« »In der Tat«, sagte Questor Thews, ohne sich ihr zuzuwenden. »Ich würde gern in eurer Welt leben«, meinte sie plötzlich. »Dort geschieht immer soviel.« Abernathy blickte sie überrascht an, dann schaute er schnell weg. Sie fuhren mit dem Bus bis zu einer Haltestelle in Woodinville. Dort stiegen sie aus und gingen eine recht lange Strecke zu Fuß aus dem Ort hinaus. Die Häuser und der Verkehr wurden immer spärlicher, der Tag wurde kühler, und die Sonne sank allmählich auf die Berge am Horizont zu. Das Land um sie herum war waldig und hügelig, und die Luft war erfüllt mit beißenden Gerüchen und Vogelgesang. Die Straße, der sie folgten, verlief schnurgerade und ungehindert in die Ferne und war völlig leer. »Ich wollte euch noch von Mrs. Ambaum erzählen«, sagte Elizabeth nach einer Weile. Sie hatte ihr Gesicht zusammengekniffen, wie sie es immer tat, wenn sie über ein schwieriges Thema sprach. »Sie ist die Haushälterin. Sie lebt bei uns. Dad ist viel unterwegs, und sie sorgt für mich, wenn er fort ist. Sie ist ganz nett, aber sie meint, daß alle Kinder – das bin ich und alle übrigen, die noch unter fünfundzwanzig sind – sich unweigerlich in Schwierigkeiten bringen. Es ist nicht so, daß sie glaubt, wir würden danach suche n; sie ist der Meinung, daß wir sie einfach 111
nicht vermeiden können. Daher versucht sie, mich die meiste Zeit sicher im Haus zu behalten. Sie hatte fast einen Anfall, als ich ihr sagte, daß ich mit dem Bus nach Bumbershoot fahren würde, aber Dad hat ihr gesagt, daß es in Ordnung sei, also konnte sie nicht viel dagegen tun. Auf jeden Fall denken wir uns besser eine Geschichte für sie aus, wo ihr herkommt, oder es gibt Ärger.« »Die Wahrheit würde wohl nicht funktionieren, nehme ich an?« fragte Questor. Elizabeth grinste. »Die Wahrheit würde ihr das Gehirn wegpusten.« »Wir könnten irgendwo anders bleiben, wenn wir dir zuviel Ärger verursachen«, bot Abernathy an. »Ja, wir könnten vielleicht in irgendeiner Scheune oder auf irgendeinem Feld übernachten«, erklärte Questor und warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. »Also wirklich, Abernathy.« »Nein, nein, ihr müßt bei mir bleiben«, beharrte Elizabeth schnell. »Wir haben viel Platz. Aber wir brauchen eine Geschichte für Mrs. Ambaum. Wie wäre es damit: Abernathy, du bist mein Onkel, der aus Chicago zu Besuch ist. Und Questor ist dein Freund, ein Professor der... Geologie. Ihr seid auf der Suche nach Fossilien. Nein, ihr nehmt an einem Forum an der Universität über ausgestorbene Tierarten teil. Ihr seid vorbeigekommen, um Dad zu besuchen, da ihr nicht wußtet, daß er nicht daheim ist, und so habe ich euch eingeladen, bei uns zu schlafen. Genau. Das müßte eigentlich funktionieren.« »Wir werden uns auf dich verlassen«, verkündete Questor Thews. Er lächelte tapfer. »Mit etwas Glück sollte unser Besuch nur kurz sein.« »Darauf würde ich nicht wetten«, sagte Elizabeth, und keiner ihrer Begleiter widersprach ihr. Kurze Zeit später erreichten sie ein zweistöckiges Haus, das ein wenig von der Straße zurückgesetzt in einem Hain aus Rottannen und Hornsträuchern stand. Blumenbeete grenzten an sein Fundament. Der Fußweg war von Petunien gesäumt, und der Garten wies viele Rhododendronbüsche auf. Das Gebäude hatte 112
Außenwände aus Holz und war in einem Weiß gestrichen, das mit dunkelblauen Holzleisten abgesetzt war. Blumenkästen verzierten die Front des Hauses, und über die ganze Länge verlief eine überdachte Veranda, auf der Schaukelstühle standen. Aus dem schrägen Dach sprangen Dachfenster vor, die mit hellen Gardinen versehen waren, und die Wände wurden an allen Seiten von massiven, steinernen Schornsteinen begrenzt. Sonnenlicht betupfte das Haus und den Garten durch Lücken in den Bäumen, und eine weißorangefarbene Katze schlich in Sicht und verschwand in einer Sträucherwand. Elizabeth führ te sie den Fußweg entlang zur Haustür und läutete. Nichts rührte sich. Anscheinend war Mrs. Ambaum ausgegangen. Elizabeth suchte in ihrer Tasche nach einem Schlüssel, schloß die Tür auf und ließ sie hinein. »Wir müssen uns auch eine Erklärung dafür überlegen, warum ihr kein Gepäck dabei habt«, erklärte sie, nachdem sie sich davon überzeugt hatte, daß Mrs. Ambaum wirklich nicht da war. »Das könnte sich als schwieriger herausstellen, als ich dachte.« Sie zeigte ihnen das Schlafzimmer im ersten Stock, in dem sie wohnen würden, dann führte sie sie wieder hinunter in die Küche. Sie bat die beiden Männer, sich an den Frühstückstisch zu setzen und begann, Sandwiches zu streichen. Binnen kürzester Zeit waren sie am Essen. Sowohl Abernathy als auch Questor bemerkten, daß sie hungriger waren, als sie gedacht hatten, und verzehrten rasch alles, was ihnen vorgesetzt wurde. Als sie fertig waren – das Tageslicht ging nun rasch in die Dämmerung über –, fingen sie an, über die vergangenen Ereignisse zu sprechen. Sie saßen dicht am Tisch, Arme und Ellbogen ruhten auf der polierten Oberfläche, die Hände hatten sie verschränkt oder sie stützten ihr Kinn. So bildeten sie ein nachdenkliches, wenn auch etwas verwirrtes Dreigespann. »Nun, eines scheint zumindest sicher zu sein, denke ich«, erklärte Questor Threws und eröffnete damit die Diskussion. »Nightshade hatte vor, uns zu vernichten, und nicht, uns in diese Welt zu befördern. Wir sind also trotz ihrer Bemühungen hier, nicht durch sie.« 113
»Nun, ja, natürlich«, stimmte ihm Abernathy ungeduldig zu. »Das haben wir bereits herausgefunden, Zauberer. Erzähl uns etwas Neues. Was ist zum Beispiel mit mir?« »Du wurdest gleichzeitig verwandelt. In einen Menschen zurückverwandelt und dann mit mir hierhergesandt.« Mit tief gefurchter Stirn strich sich Questor über die Barthaare. »Es scheint alles irgendwie miteinander verknüpft zu sein, meinst du nicht?« »Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, gab Abernathy zu. »Was meinst du damit: verknüpft?« Questor legte seine Finger dachförmig vor seinem Gesicht zusammen. »Wie ich schon gesagt habe, müssen wir davon ausgehen, daß eine fremde Magie eingegriffen hat, die die Hexe davon abhielt, uns zu vernichten. Fragt sich also, wessen Magie dies war. Sie könnte von den Einstmals-Elfen gekommen sein, vielleicht vom Flußherren selbst, der dadurch versuchte, seine Enkeltochter zu schützen. Sie könnte auch von der Erdmutter gekommen sein; sie war Willow immer sehr verbunden und hätte dadurch Grund genug, das Kind ihrer Freundin beschützen zu wollen.« Abernathy runzelte die Stirn. »Das klingt beides nicht sehr wahrscheinlich. Wenn tatsächlich der Flußherr oder die Erdmutter auf Mistaya aufgepaßt hätten, wie hätte Nightshade ihr dann überhaupt erst so nahe kommen können? Außerdem habe ich keine Anzeichen dafür wahr genommen, daß Mistaya gerettet wurde, nachdem wir entfernt worden waren.« »Das stimmt, es paßt nicht zusammen, nicht wahr?« pflichtete Questor ihm bei. Elizabeth, die aufmerksam zugehört, aber bislang geschwiegen hatte, schaltete sich ein: »Könnte es Mista ya selbst gewesen sein, die euch gerettet hat? Besitzt sie Magie, die sie verwenden kann?« Beide blickten sie gleichzeitig an und überdachten diese Möglichkeit. »Eine exzellente Idee, Elizabeth«, sagte Questor nach einem Moment. »Aber Mistaya hat keinerlei Ausbildung im Gebrauch jeglicher Magie, über die sie verfügen mag, und die 114
Magie, die benutzt wurde, um Nightshades Zauber abzulenken oder zu ändern, erforderte sowohl tiefe Kenntnisse als auch viel Übung.« »Außerdem«, warf Abernathy ein, »schlief Mistaya noch. Ich bemerkte es, als ich nachschaute, ob sie verletzt wäre. Sie schlief, als sei überhaupt nichts geschehen. Ich denke, die Hexe hat sie möglicherweise mit einem Zauber belegt, der sie davon abhielt zu erwachen.« »Absolut möglich«, stimmte Questor ihm zu. Er lehnte sich zurück und kräuselte seine Lippen. »Also gut. Irgendeine andere Magie griff ein und rettete uns das Leben. Sie sandte uns zur alten Welt Seiner Hoheit, verwandelte Abernathy und gab uns die Fähigkeit, die Landessprache zu sprechen und zu verstehen. Aber – und das ist wichtig – sie schickte uns damit auch an genau denselben Ort, an dem Abernathy unabsichtlich mit dem Darkling ausgetauscht wurde, an den Ort, wo Graum Wythe steht, das einstige Heim von Michel Ard Rhi, und«, sagte er und nickte Elizabeth bedeutungsvoll zu, »nur wenige Meter von dir entfernt.« Abernathy starrte ihn an. »Warte, Questor Thews. Was willst du damit sagen?« »Was wir alle zum einen oder anderen Zeitpunkt gesagt haben, seit wir uns auf dem Festival getroffen haben: daß unser Auftauchen hier, in der Nähe von Graum Wythe und praktisch in Elizabeths Armen, ein etwas zu großes zufälliges Zusammentreffen ist, um es in einem Bissen zu schlucken. Ich möchte wetten, daß es einen Grund für alles gibt, was uns widerfahren ist. Wer oder was immer uns das Leben gerettet hat, tat dies nicht aufs Geratewohl. Er tat es mit Vorbedacht und zu einem bestimmten Zweck. Wir wurden aus einem bestimmten Grund gerettet. Wir wurden mit voller Absicht hierhergesandt, in die alte Welt Seiner Hoheit und in die Nähe von Graum Wythe.« Er machte eine Pause, um nachzudenken. »Elizabeth, sagtest du nicht, daß Graum Wythe noch steht?« »Kommt und überzeugt euch selbst«, bot sie an und stand vom Tisch auf. 115
Sie führte sie durch eine mit einem Vorhang verhängte Tür in den Hintergarten hinaus. Ein gutgepflegter Rasen, auf dem sich mehrere Rottannen befanden, erstreckte sich bis zu einem Lattenzaun. Elizabeth brachte sie bis auf halben Weg zum Zaun, wo sich die Bäume ein wenig lichteten, dann blieb sie stehen und deutete nach rechts. Und dort hob sich Graum Wythe im verblassenden Licht gegen den Himmel ab. Die Burg stand allein auf einer Erhebung, umringt von Wällen und bewacht von Türmen. Sie wirkte unnahbar, schwarz und brütend, während die Nacht auf sie zuwogte. Elizabeth ließ ihren Arm wieder sinken. Flecken aus Sonnenlicht schimmerten in ihren krausen Haaren. »Noch immer da, genau dort, wo du sie zurückgelassen hast. Erinnerst du dich, Abernathy?« Abernathy schauderte. »Ich würde lieber ohne die Erinnerung auskommen. Sie sieht so abstoßend aus wie immer, das muß ich schon sagen.« Ein plötzlicher Gedanke ließ ihn noch stärker frösteln. »Michel Ard Rhi ist nicht zufällig zurückgekommen, oder?« »Oh nein, natürlich nicht.« Elizabeth lachte entwaffnend. »Er ist runter nach Oregon gezogen, ein paar hundert Meilen weit weg. Er hat Graum Wythe dem Staat als Museum überlassen. Ein Treuhandfonds verwaltet den Besitz. Mein Vater ist der Haupttreuhänder. Er beaufsichtigt alles. Nein, keine Angst. Michel ist schon lange fort.« »Meine Magie hat dafür gesorgt«, fügte Questor betont hinzu. »Das hoffe ich sehr«, murmelte Abernathy und mußte, noch während er die Worte aussprach, daran denken, daß Questor Thews’ Magie niemals sehr verläßlich gewesen war. Sie gingen wieder hinein und nahmen am Tisch Platz. Die Dunkelheit war hereingebrochen, und das letzte Tageslicht war versiegt. Elizabeth goß jedem ein großes Glas kalte Milch ein und brachte einen Teller mit Keksen zum Vorschein. Questor bediente sich eifrig, aber Abernathy hatte den Appetit verloren.
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»Also ist nichts von alledem ein Zufall; alles ist Teil eines mysteriösen Planes«, faßte der Schreiber zweifelnd zusammen. »Aber was für ein Plan?« Questor betrachtete ihn, als wäre Abernathy ein unaufmerksames Kind und hob die Augenbrauen. »Nun, natürlich kenne ich die Antwort hierauf auch nicht. Wenn ich es täte, brauchten wir diese Diskussion ja schließlich nicht zu führen, oder?« Abernathy ignorierte ihn. »Eine unbekannte Magie hat uns also vor Nightshade gerettet und uns zu der alten Welt Seiner Hoheit gesandt, zur Erde, und zwar im besonderen zu Graum Wythe und Elizabeth.« Er blickte Elizabeth an. Dann sah er Questor an. »Ich verstehe es noch immer nicht.« »Ich bin nicht sicher, ob ich selbst es tue«, gab Questor Thews zu. »Aber nehmen wir für einen Moment mal an, daß derjenige, der uns geholfen hat, es tat, um auch Mistaya zu helfen. Soweit uns bekannt ist, weiß außer uns niemand, was mit dem Kind geschehen ist. Wir wissen, daß Nightshade es entführt hat. Wir wissen, daß die Hexe vorhat, das Kind zu benutzen, um sich am König zu rächen, und daß Rydall von Marnhull ein Teil dieses Planes ist. Wenn es uns gelingt, Ben Holiday zu benachrichtigen, ist er vielleicht in der Lage, die Pläne der Hexe zu durchkreuzen. Möglicherweise is t es das, was wir tun sollen. Wir sind aus einem besonderen Grund hier, Abernathy. Und was könnte es für einen besseren Grund geben, als daß wir einen Weg finden sollen, Nightshade aufzuhalten, bevor sie ihre Ränke ausführen kann?« »Gerettet, um an einem anderen Tag kämpfen zu können, meinst du also?« fragte Abernathy und kratzte sich mit den Fingern statt mit dem Hinterbein am Kopf, ohne daß er darüber hatte nachdenken müssen. »Vielleicht wurden wir nur hierhergeschickt, damit wir aus dem Weg waren. Vielle icht hat unser Retter anschließend auch Mistaya in Sicherheit gebracht.« Aber Questor Thews schüttelte entschieden den Kopf. »Nein. Nein, ich bin mir ziemlich sicher, daß dem nicht so ist. Erstens, wenn unser Retter die ganze Zeit da war und nur auf dieses 117
Ereignis gewartet hat, was, wenn man die schnelle Reaktion bedenkt, der Fall gewesen sein muß, warum hat er Mistaya dann nicht schon früher gerettet? Warum hat er bis zum letzten Augenblick gewartet? Und wenn unser Retter nur vorhatte, uns aus dem Weg zu schaffen, warum hat er sich dann die Mühe gemacht, uns so weit zu befördern? Warum hat er uns nicht zum Beispiel nach Sterling Silver gebracht? Nein, Abernathy, wir sind aus einem bestimmten Grund hier, und es hat etwas damit zu tun, Mistaya vor der Hexe zu retten.« »Du glaubst, daß die Antwort auf alles in Graum Wythe liegt, nicht wahr?« meinte Elizabeth und zog damit als erste die logische Schlußfolgerung. »Das tue ich«, erwiderte Questor Thews. »Graum Wythe ist eine riesige Fundgrube für magische Artefakte, von denen einige recht mächtig sind. Eines dieser Objekte könnte sich als Weg zurück nach Landover herausstellen. Oder uns die Mittel zur Hand geben, mit denen wir die Hexe besiegen können. Es bleibt immerhin der Umstand bestehen, daß wir ohne Magie irgendeiner Art hier gefangen sind und nichts tun können, um dem König oder Mistaya zu helfen. Wir kennen keinen Weg, um die Elfennebel zu durchqueren. Und niemand weiß, wo wir sind. Niemand wird uns hier suchen. Ich glaube, daß wir unseren eigenen Weg nach Hause finden sollen. Ich glaube, wir müssen es tun, wenn Ben Holiday und Mistaya gerettet werden sollen.« Die drei starrten sich an und wägten die Bedeutung der Worte des Zauberers ab. »Vielleicht«, stimmte Abernathy schließlich zu. »Da gibt es kein ›vielleicht‹. Graum Wythe enthält die Antwort auf unser Dilemma«, meinte Questor Thews ernst. »Aber der Schlüssel zu Graum Wythe bist du, Elizabeth. Wir wurden zu dir gesandt, weil dein Vater der Verwalter der Burg und all ihrer Schätze ist. Du hast in der Burg gelebt und bist mit allen Gegenständen vertraut, die sich darin befinden. Und du hast Zugang zu Räumen, die andere nicht betreten dürfen. Was wir
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benötigen, befindet sich irgendwo in der Burg. Ich bin mir ganz sicher. Wir müssen es nur finden.« »Wir können gleich morgen früh anfangen, sobald die Burg geöffnet wird«, versprach Elizabeth. »Das ist der leichtere Teil. Das Schwierigere wird sein, zu finden, was du suchst, da du nicht einmal weißt, wonach du suchst.« »Stimmt«, gab Questor Thews mit einem leichten Schulterzucken zu. »Aber was hat das alles damit zu tun, daß ich von einem Hund in einen Menschen zurückverwandelt wurde?« fragte Abernathy. Er wartete noch immer auf eine Antwort, als das Geräusch eines Schlüssels in der Vordertür erklang. Drei Köpfe drehten sich wie ein einziger um. »Elizabeth, bist du zu Hause?« rief die Stimme einer Frau. »Mrs. Ambaum!« verkündete Elizabeth und verzog das Gesicht. Für den Moment zumindest blieb Abernathys Frage unbeantwortet. Mrs. Ambaum stellte sich als weniger schrecklich heraus als befürchtet. Sie war eine große, sehr gerade aufgerichtete Frau mit ergrauendem Haar, einem derben Gesicht und einem mißtrauischen Wesen, aber sie war nicht bösartig. Elizabeth erzählte ihr, daß Abernathy und Questor zu Besuch gekommen und zum Bleiben eingeladen worden waren, und Mrs. Ambaum akzeptierte ihre Anwesenheit nach ein paar oberflächlichen Fragen und der Feststellung, daß sie jegliche Verantwortung dafür ablehnte. Dann zog sie sich in ihr Zimmer im hinteren Teil des Hauses zurück, um Kräutertee zu trinken und fernzusehen. Sie machte keine Bemerkung über die ungewöhnliche Kleidung oder das fehlende Gepäck der beiden Gäste. Erleichtert gingen Questor und Abernathy zu Bett. Am nächsten Morgen erwachten sie schon sehr früh, blieben aber in ihrem Zimmer, bis Elizabeth zu ihnen kam. Sie brachte ihnen Kleidung von ihrem Vater, die zwar nur mehr oder minder paßte, aber auf jeden Fall weniger Aufmerksamkeit erregen würde 119
als ihre eigene. Sie zogen sich an und gingen zum Frühstück hinunter, wo sie erfuhren, daß Mrs. Ambaum bereits zu ihrer Schwester aufgebrochen war und dort den Tag verbringen würde. Sie aßen eilig, da sie begierig waren, mit ihrer Suche in Graum Wythe zu beginnen. Dann begaben sie sich unter Elizabeths Führung auf den Weg. Es war ein schöner, wolkenloser, sonniger Tag. Vögel sangen in den Bäumen, und die Luft war erfüllt vom Duft der Blumen und Rottannen. Die kleine Dreiergruppe lächelte gutgelaunt, als sie das Haus verließ. Sie folgten dem Fußweg bis zum Ende des Grundstücks, dann bogen sie nach links ab und gingen die Straße entlang auf die Burg zu. Elizabeth hakte sich bei Abernathy unter und lächelte ihn verschwörerisch an. Abernathy fühlte sich steif und etwas unwohl. »Du siehst in Dads Kleidern sehr gut aus«, sagte sie zu ihm. »Sehr vornehm. Du solltest dich immer so anziehen.« »Er sollte auch mehr lächeln«, fügte Questor Thews hinzu, bevor er sich zurückhalten konnte. »Es ist so unglaublich, Abernathy, daß du wieder hier bist«, sprach das Mädchen weiter und drückte seinen Arm herzlich an sich. »Schau dich an, schau dich nur an! Wer würde glauben, was geschehen ist? Ist es nicht wundervoll? Bist du nicht glücklich?« »Sehr«, bestätigte Abernathy und setzte sein strahlendstes Gesicht auf, obwohl er in Wirklichkeit noch immer darüber grübelte, welchen Preis er wohl für diese bemerkenswerte, aber noch immer unerklärliche Verwandlung würde zahlen müssen. Solche Dinge hatten immer ihren Preis. Er mußte dabei an Horris Kews Traumkristalle zurückdenken. Elizabeth trug ein kobaltbla ues Sweatshirt, eine Jeans und ausgetretene Turnschuhe. Ihr Haar war kunstvoll zerzaust, und sie hatte violetten Lidschatten und Lippenstift in dunklem Magentarot aufgelegt. Abernathy dachte, daß sie schrecklich schnell herangewachsen war, aber das behielt er für sich. »Hast du eine Familie?« fragte sie ihn plötzlich. »Eine Frau und Kinder?« 120
Er schüttelte den Kopf. Die Geste wirkte ein wenig niedergeschlagen. »Vater und Mutter?« »Seit vielen Jahren schon nicht mehr.« Er konnte sich kaum noch an sie erinnern. »Brüder und Schwestern?« »Nein, leider nicht.« »Hmmm. Das ist ziemlich traurig, findest du nicht? Vielleicht sollte ich dich adoptieren!« Sie grinste breit. »Ist nur Spaß. Aber du könntest wirklich ein Teil meiner Familie werden, da sie recht klein ist und gut ein oder zwei neue Mitglieder brauchen könnte. Was sagst du dazu? Eine inoffizielle Adoption, in Ordnung?« »Vielen Dank, Elizabeth«, erwiderte er und war wirklich sehr gerührt. So marschierten sie die Straße hinauf, der alte Mann mit den wirren, weißen Haaren, der jüngere Mann mit der randlosen Brille und dem ernsten Gesicht und das kraushaarige Mädchen, das sie anzuführen schien. Sie näherten sich Graum Wythe wie Dorothy und ihre Gefährten der Smaragdstadt von Oz. Nur, daß Graum Wythe natürlich, obgleich es schloßartig und imposant war, überhaupt nichts von der Smaragdstadt an sich hatte. Es war weder grün noch leuchtend, sondern steingrau und öde. Es führte auch keine gelbe Backsteinstraße auf seinen Eingang zu, sondern nur Asphalt. Und seine Mauern waren nicht von Feldern voller Mohnblumen umgeben, obgleich in seinen Weinstöcken noch Reste von Grün zu sehen waren. Es war mittelalterlich und festungsartig, und von seinen Wehrtürmen flatterten keine Wimpel sondern nur die Flaggen der Vereinigten Staaten und des Staates Washington am Eingang. Nicht, daß Abernathy oder Questor Thews etwas über Oz oder die Smaragdstadt gewußt hätten. Sie hätten der Trostlosigkeit von Graum Wythe wohl höchstwahrscheinlich den Glanz von Sterling Silver gegenübergestellt, aber statt dessen waren sie mit ganz anderen Themen beschäftigt. Abernathy versuchte zu ergründen, wie sein Leben wohl jetzt verlaufen würde, da er nicht mehr ein 121
Mann in Hundegestalt war, sondern wieder ein richtiger Mensch. Questor Thews hingegen dachte über die Frage nach, die sein Freund am Vorabend gestellt hatte: was Abernathys Verwandlung vom Hund zurück in einen Menschen mit ihrem Erscheinen in der alten Welt Seiner Hoheit zu tun hatte. Questor hoffte, daß seine Ahnungen, die er noch nicht geäußert hatte, sich als unbegründet erweisen würden. Die kleine Gruppe erreichte die niedrige Steinmauer, die die Burg umgab, und ging durch die offenen Eisentore zur Zugbrücke. Graum Wythe ragte über ihnen als massive Ansammlung von Türmen und Zinnen auf. Da die Zugbrücke herabgelassen und das Fallgitter hochgezogen war, traten sie in den Schatten der Burgmauer, durch das Tor hindurch und auf den Parkplatz der Burg. Ein einziger Wagen stand hinten auf dem Besucherparkplatz. Der Souvenirstand, den man in einem ehemaligen Wachhäuschen untergebracht hatte, war noch nicht geöffnet, und die Fensterläden waren verschlossen. Graum Wythe schien völlig verlassen. »Es ist in Ordnung«, versicherte Elizabeth ihren Gefährten. »Das Museum ist noch nicht für das Publikum geöffnet, aber wir können schon hinein.« Sie führte sie über den Parkplatz und die Stufen zu den eisenbeschlagenen Eingangstüren hinauf. Sie pochte mit dem schweren Türklopfer und wartete. Einen Augenblick später öffnete sich die Tür, und ein Mann, den sie als Harve y begrüßte, lächelte, als er Elizabeth erkannte, und ließ sie hinein. Sie betraten die gleiche Eingangshalle, in der vor einigen Jahren Ben, Willow und Miles Bennett – Bens alter Anwaltspartner, der für diesen Zweck dienstverpflichtet worden war –, alle in Halloweenkostümen, Abernathys Flucht aus Michel Ard Rhis Kerkern bewerkstelligt hatten. Abernathy sah sich mit düsteren Ahnungen um, aber die Bedrohung durch Michel und seine Wachen lag schon lange zurück, und inzwischen war die Eingangshalle neu eingerichtet worden, mit hellen Tapeten, Ständern mit Broschüren und einer Eintrittskasse, hinter der sich Harvey aufhielt. Nachdem Elizabeth Harvey die gleiche Erklärung über Questor und 122
Abernathy gegeben hatte, die auch Mrs. Ambaum zu hören bekommen hatte, und nachdem sie ein paar Freundlichkeiten mit Harvey ausgetauscht hatte, führte Elizabeth den Zauberer und den Schreiber in das Innere der Burg. Den Rest des Tages verbrachten sie mit der Suche. Zunächst beschränkten sie sich auf die Korridore und Räume, die den Besuchern zugänglich waren, und auf die öffentlich ausgestellten Objekte und Sammlerstücke. Die meisten dieser Objekte waren, erkannte Questor Thews, nur das, was sie waren. Fast keines von ihnen verfügte über eigene Magie. Einige wenige hingegen taten es, und ein- oder zweimal fühlte sich der Zauberer verpflichtet, auf Gegenstände hinzuweisen, die besser nicht in der Öffentlichkeit ausgestellt werden sollten, so gefährlich war die Möglichkeit ihres Mißbrauchs. Nirgendwo jedoch fand er das geheimnisvolle und noch immer nicht bekannte Objekt, nach dem er suchte. Der Mittag ging vorüber, ohne daß sie etwas erreicht hatten. Zu Mittag aßen sie etwas an dem Imbißstand, der in der alten Burgküche untergebracht war. Mittlerweile kamen ganze Autoladungen voller Besucher, und Busse brachten Touristengruppen herbei. Das Geschäft zog an. Um die Menschenmenge zu vermeiden, brachte Elizabeth sie in die hinteren Zimmer und Lagerräume der Burg, die für die Besucher gesperrt waren. Dort sahen sie sich die Gegenstände an, die zu unbedeutend oder noch nicht vorbereitet waren, um ausgestellt zu werden. Überall stapelten sich Kisten, aber es gelang ihnen, die meisten von ihnen herunterzunehmen und einen Blick hineinzuwerfen. Schränke waren angefüllt mit seltsamen Steinen und Mineralien, mit Holzschnitzereien und Skulpturen, mit Gemälden und Kunsthandwerk aller Art, aber nichts von alledem war von irgendeinem erkennbaren Nutzen. Eine Stunde nach Schließung der Burg teilte ihnen Harvey mit, daß sie jetzt gehen und morgen wiederkommen müßten. Widerstrebend trotteten sie nach Hause, ohne etwas für ihre
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Anstrengungen vorweisen zu können. Questor Thews war besonders enttäuscht. »Es ist da, ich weiß es«, murmelte er und schüttelte seinen zotteligen weißen Kopf. »Ich kann mich da nicht täuschen. Es ist da, aber ich sehe es nicht, das ist alles. Wir müssen einfach morgen wiederkommen und es noch einmal versuchen. Verflixt!« Abernathy und Elizabeth sahen sich kurz an. Keiner von ihnen ärgerte sich darüber, daß die Jagd einen weiteren Tag dauern würde. Hätte Questor darauf geachtet, so hätte er bemerkt, daß Elizabeth Abernathys Hand hielt. Hätte er darauf geachtet, so hätte er bemerkt, daß es Abernathy nichts mehr auszumachen schien.
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WAS MAN SIEHT...
Der erste von Rydall von Marnhulls Kämpen erschien, genau wie versprochen, drei Tage, nachdem Ben Holiday die Herausforderung des Königs angenommen hatte. Der Kämpe wartete bei Sonnenaufgang vor den Toren von Sterling Silver, eine starke, einzelne Figur, die an der Brücke stand und zum Schloß hinüberblickte. Es war ein großer Mann von offenkundiger Stärke. In einem Land, in dem Kämpfer häufig um die zwei Meter groß waren, erreichte er mit Leichtigkeit zwei Meter fünfzig. Er war ein Riese von bedeutendem Umfang, mit breiten Schultern und Beinen wie Baumstämmen. Sein muskulöser Körper war mit Tierhäuten bedeckt, die mit Lederbändern befestigt waren. Die Stiefel, die mit Beinschützern verbunden waren, reichten ihm bis zum Oberschenkel hinauf, und eisenbeschlagene Handgelenkschutze gingen in Lederhandschuhe über. Ein schwarzer Bart und grobes, dickes Haar verbargen den größten Teil seines Gesichtes, aber seine Augen waren zu sehen. Sie funkelten im Aufgang der Morgensonne. Er trug nur eine einzige Waffe, eine mit Kampfspuren übersäte Holzkeule, die mit Streifen aus gehämmertem Eisen beschlagen war. Ben Holiday stand mit Willow und Bunion auf den Wehrgängen des Schlosses und blickte zu Rydalls Kämpen hinunter. Sein Erscheinen war natürlich keine Überraschung gewesen. Seit Mistaya zusammen mit Questor Thews und Abernathy verschwunden war, war Ben davon überzeugt, daß Rydall echt war. Der Umstand, daß niemand jemals etwas von ihm oder von Marnhull gehört hatte und keiner herausfinden konnte, wo er hergekommen oder wo er hingegangen war oder, noch viel wichtiger, was er mit Bens Tochter und seinen Freunden getan hatte, bedeutete nicht, daß seine Drohung weniger ernst zu nehmen war. Ben hatte die ganzen drei Tage, die er nach Rydalls Abreise zur Verfügung gehabt hatte, damit verbracht, Landover 125
mit dem Schau-ins-Land zu durchsuchen, aber er hatte weiterhin nichts gefunden. Es gab keine Spur von Rydall, keinen Hinweis auf seinen Reiseweg und nicht das kleinste Anzeichen dafür, an welcher Stelle er in Landover aufgetaucht war. Bunion hatte ebenfalls unter Einsatz seiner großen Geschwindigkeit und außerordentlichen Fährtenlesekunst, die einem Kobold zur Verfügung standen, gesucht. Auch er hatte versagt. Am Ende blieb nur die eine Schlußfolgerung, wie unwahrscheinlich sie auch klang, daß der König von Marnhull tatsächlich von außerhalb gekommen war und auf irgendeine Weise die Elfennebel durchdrungen hatte. Und nachdem er Mistaya und ihre Wachen, darunter auch Abernathy und Questor, gefangengenommen hatte, mußte er auf demselben Weg wieder dorthin zurückgekehrt sein. Zurück blieb Ben Holiday, der sich nun der Herausforderung gegenübersah, die Rydall ausgesprochen hatte. Resigniert schüttelte Ben den Kopf. Er war bereits seit kurz nach Mitternacht wach und erwartete seitdem die Ankunft seines ersten Vernichters. Er war nicht müde, nicht einmal ausgelaugt, nur traurig. Er würde gezwungen sein, gegen diese Kreatur zu kämpfen, wer oder was sie auch sein mochte, und wahrscheinlich würde er sie vernichten. Er würde dies in Gestalt des Paladins tun, seines anderen Ichs, aber das änderte nichts an der Tatsache, daß er selbst es war, der das Kämpfen und möglicherweise auch das Töten übernahm. Es änderte nichts an der Notwendigkeit, sich in den eisengerüsteten Krieger zu verwandeln, der die Könige von Landover beschützte, eine Verwandlung, die Ben fürchtete und verabscheute, weil jedesmal, wenn er sich ihr unterzog, ein klein wenig mehr von ihm in dem Abgrund des finsteren Wahnsinns versank, der das Leben des Paladins einhüllte. Krieger und Ritter, Beschützer und Kämpe – aber vor allem war der Paladin ein Zerstörer, mit dem sich kein geistig gesunder Mensch freiwillig verbinden würde. Doch Ben Holiday war mit ihm verbunden. Und würde es von jetzt bis zum Ende immer sein. Aber ich habe diese Wahl selbst getroffen, als ich mein altes Leben für dieses neue aufgegeben habe, rügte er sich selbst. Die Entscheidung habe ich selbst gefällt. 126
»Vielleicht können wir ihn einfach ignorieren«, sagte Willow leise. Ben sah zu ihr hinüber, aber sie hielt ihre Augen weiterhin auf den Riesen gerichtet. »Wenn wir ihn vor den verschlossenen Toren stehen lassen, was kann er dann schon tun? Vielleicht wird er des Wartens müde. Die Zeit ist auf deiner Seite, Ben. Laß ihn einfach stehen.« Ben dachte darüber nach. Es war eine Möglichkeit. Er konnte den Riesen einfach stehenlassen und abwarten, was geschah. Es war keine schlechte Idee, obwohl es all jene behindern würde, die das Schloß betreten oder verlassen wollten. Es stärkte jedoch nicht gerade sein Ansehen als König. Es machte ihn zu einem Gefangenen in seinem eigenen Palast. »Er hat keine Forderung gestellt?« fragte Ben Bunion, während er noch immer die Möglichkeiten abwägte. Der Kobold schnatterte leise. Nein, der Riese hatte bis jetzt kein einziges Wort gesprochen. »Gut.« Ben schob entschlossen das Kinn vor. »Wir lassen ihn eine Weile warten. Erst mal ein kleines Frühstück, jetzt, da wir wissen, daß er da ist. Dann werden wir weitersehen.« Er setzte dazu an, sich abzuwenden, und abrupt hob sich der Arm des Riesen und deutete direkt auf ihn. Die Geste war nicht mißzuverstehen. Wende dich nicht ab, sagte sie. Drehe mir nicht den Rücken zu. Ben wirbelte herum und trat wieder an die Mauer. Der Arm des Riesen senkte sich, und er nahm wieder seine Warteposition ein. Eine Hand ruhte dabei auf seiner gegürteten Hüfte, die andere lag auf dem Griffende seiner schweren Keule. Seine seltsamen Augen glitzerten. Die mächtige Gestalt wirkte wie aus Stein gemeißelt. »Es scheint, daß er deine Idee nicht gutheißt, Willow«, murmelte Ben und spürte, wir sich ihre Hand über die seine legte. Er wußte, was sie dachte: Sei vorsichtig. Geh nicht auf seine Provokation ein. Laß dich nicht auf diesen Kampf ein, bevor du nicht dazu bereit bist. Sie sagte nicht zu ihm »geh nicht«. Sie wußte, daß er es tun mußte. Sie wußte, daß er diese Auseinandersetzung nicht 127
vermeiden konnte und auch keine der noch folgenden, wenn sie Mistaya lebend wiedersehen wollten. Sie haßte die Situation ebensosehr wie er, aber von dem Augenblick an, als Rydall ihnen Nachricht von ihrer vermißten Tochter gebracht hatte, war ihnen klar gewesen, daß sie in diesem tödlichen Spiel gefangen waren und daß sie irgendeinen Weg finden mußten, um es zu gewinnen. »Worin liegt seine Stärke?« fragte sie plötzlich und deutete mit einem ärgerlichen Wedeln ihrer Hand auf den Riesen. »Er ist groß und stark, aber er ist kein Gegner für den Paladin. Warum wurde er geschickt?« Ben hatte sich das auch schon gefragt. Der Paladin war besser bewaffnet und gerüstet. Wie konnte der Riese darauf hoffen, ihn zu besiegen? Neben ihm schnatterte Bunion leise. Er wollte hinuntergehen und die Kraft des Riesen testen, um zu sehen, worin seine Stärken lagen und worin seine Schwachpunkte. Ben schüttelte den Kopf. Er würde in seinem Konflikt mit Rydall niemanden außer sich selbst irgendeiner Gefahr aussetzen. Schließlich waren jetzt schon die Leben von Mistaya, Abernathy und Questor bedroht. »Er verbietet uns, die Zinnen zu verlassen«, sagte er schließlich. »Was wird geschehen, wenn wir ihm nicht gehorchen? Vielleicht sollten wir das herausfinden. Bunion, du bleibst hier oben und hältst für uns Ausschau.« Ben faßte Willows Hand mit festem Griff, wandte sich von der Mauer ab und schritt zu der offenen Treppe hinüber, die über dem Wachhaus begann und sich zum Burghof hinunterwand. Er war kaum die erste Stufe hinuntergestiegen, als er Bunion eine Warnung zischen hörte. Der Riese hatte zu schimmern begonnen, wie eine Luftspiegelung in der Mittagshitze des Sommers. Die Luft um ihn herum war so feucht, daß sie fast flüssig wirkte, Regenbogenfarben glitten über seine Oberfläche wie Herbstblätter über Glas. Ben zögerte und wartete ab. Plötzlich zuckte Bunion zusammen und blickte hastig zu ihnen herüber. 128
Der Riese war verschwunden! Ben starrte den Kobold an. Er konnte sich nicht entscheiden, was er tun sollte. Dann begann er, wieder zu ihm zurückzugehen; er mußte es selbst sehen. Im gleichen Augenblick hörte er Willow keuchen. Er wirbelte zurück und folgte ihrem Blick in den Burghof unter ihnen. Soldaten und Bedienstete waren zurückgewichen, als Licht in einem Schauer leuchtender Farben die Mitte des Hofes erfüllte. Der Riese tauchte wieder auf, er kam aus der leeren Luft und befand sich jetzt innerhalb der Burgmauern. Riesig und düster erhob er sich aus dem Nichts. Die schwere Keule hatte er geschultert, und eine ganz neue Bedrohlichkeit ging von ihm aus. Ein Trupp Soldaten näherte sich ihm vorsichtig und platzierte sich zwischen ihm und ihrem König. In einem Moment würde der Kampf beginnen. Aber Ben wußte bereits, daß er das nicht zulassen durfte. »Bleibt, wo ihr seid!« rief er hinunter. Die Soldaten blickten erwartungsvoll zu ihm hinauf. Auch der Blick des Riesen hob sich. Ben spürte, daß Willow seine Hand losließ, konnte es aber nicht über sich bringen, sie anzuschauen. Er griff in sein Wams und zog das Medaillon der Könige von Landover hervor, den Talisman, der sie vor Gefahr beschützte, Er hielt es so vor sich, daß die Morgensonne sich darin fing und beschwor widerstrebend den Paladin. Sofort flammte blendendweißes Licht am Fuß der Treppe auf, und aus seinem Glanz trat der Paladin hervor. Er war zu Fuß und bewaffnet mit seinem blanken Breitschwert und einem eisenbeschlagenen Streitkolben, der von seiner Hüfte herabhing. Seine silberne Rüstung erstrahlte wie die heiße Mittagssonne. Ben spürte sofort eine Verbindung zwischen ihnen, wie Schlösser, die zuschnappten, und ein Bild formte sich in seinem Kopf, eine seltsame Kombination von Feuer und Eis, die sich zu etwas völlig Neuem vermischten. Ihre Gefühle und Gedanken rankten sich ineinander und fügten sie zu einem Ganzen 129
zusammen. Ben wurde in einer Lichtwelle aus seinem Körper hinausgetragen und in die Rüstung des Paladins gesandt. Er wurde an den anderen gefesselt, wie von einem Dutzend Hände; er wurde eingehüllt und in Eisen gepackt, er wurde eins mit den Waffen seines Beschützers. Er wurde durchflutet von den Erinnerungen an Kämpfe, die in tausend Leben geschlagen und gewonnen worden waren. Er wurde mit Zeiten und Orten vertraut, die längst vergangen und schon fast vergessen waren. Er wurde in sein anderes Selbst verwandelt, und das andere Selbst erhob sich in Wut und Blutlust, um sich Rydalls Riesen zu stellen. Sie stürmten aufeinander zu. Waffen prallten aufeinander und knirschten, wo Metall und eisenbeschlagenes Holz zusammentrafen, – sie wurden einen Augenblick gehalten und dann zurückgezogen. Grunzend trennten sie sich und stürmten dann wieder aufeinander los. Der Riese war stark und entschlossen, er benutzte seine längere Reichweite und seine furchteinflößende Kraft. Doch der Paladin war zu kampferfahren, um so einfach niedergerungen zu werden. Einen Moment später hatte er den Gegner zur Seite gestoßen, ihm die Keule aus der Hand geschlagen und ihn zu Boden geworfen. Der Riese schlug hart auf. Er rollte von der Schwertklinge weg, die über ihm schwebte, und kam unverletzt und mit der Keule in der Hand wieder auf die Füße. Sofort stürzte er sich auf den Paladin. Der Kämpe parierte einen weiteren monströsen Hieb und schlug dem Riesen gegen den Kopf. Der Riese ging zu Boden und rollte weg. Blut beschmierte die staubige Erde, wo er aufschlug. Dann war er wieder auf den Beinen. Das Blut trocknete, und die Wunden schlossen sich. Der Paladin zögerte zum ersten Mal. Der Riese sollte verletzt sein, aber seine Wunden waren sofort wieder geheilt. Jeder Schlag hätte ihn langsamer oder schwächer machen müssen; doch keiner hatte diese Wirkung gehabt. Der Riese griff erneut an, und er war stärker als zuvor. Er krachte mit solcher Wucht in den Paladin, daß der Kämpe des Königs zurück und gegen die Burgmauer prallte. Der Riese preßte ihn dort fest, entwand ihm das Schwert und hob seine Keule unter 130
das Kinn des Paladins, um ihm den Hals zu brechen. Der Kämpe versuchte, sich aus dem tödlichen Griff zu winden, vermochte es aber nicht. Der Riese grunzte vor Anstrengung, als er gege n den Hals des Paladins drückte. Die dunklen Augen glitzerten. Der große Körper schob sich machtvoll nach vorn. Dem Paladin wurde die Luft abgedrückt. Er schaffte es nicht, sich zu befreien. Verzweifelt hämmerte er beide Eisenhandschuhe in den Leib des Riesen. Der Gigant stöhnte vor Schmerzen. Der Paladin schlug erneut zu, diesmal gegen die Stelle, wo sich die Rippen treffen. Der Riese taumelte zurück, griff sich an die schmerzende Stelle, und seine Keule fiel zu Boden. Der Paladin traf ihn noch einmal, diesmal direkt zwischen die Augen. Der Riese wurde zurückgeschleudert und brach zusammen. Dann kam er jedoch unglaublicherweise wieder auf die Beine, aufrecht, als sei er nie gefallen, und hob begierig seine Keule. Da der Paladin sein Schwert verloren hatte, mußte er jetzt den Streitkolben von seinem Gürtel lösen. Er war kürzer als die Keule des Riesen, aber ebenso tödlich. Doch es gab keine Waffe, die es mit der Geschwindigkeit aufnehmen konnte, mit der sich der Riese jedesmal erholte, wenn er zu Boden geschickt wurde. Es war, als würden ihm die Schläge neue Kräfte verleihen. Der Riese griff den Paladin von neuem an, hämmerte mit so mächtigen Schlägen auf seinen Körper ein, daß der Streitkolben zur Seite gefegt wurde, als sei er ein Spielzeug. Der Paladin sprang in den mörderischen Bogen der Keule hinein und rang mit seinem Gegner. Die Arme fest um den großen Leib geschlungen, hob er den Riesen hoch, um ihn zu Boden schmettern zu können. Der Riese brüllte vor Bestürzung auf. Etwas an diesem Angriff beunruhigte ihn ganz offensichtlich. Zusammen stolperten die Kämpfer über den Burghof und grunzten dabei vor Anstrengung. Der Riese hatte seine Keule fallen gelassen und versuchte freizukommen, indem er mit beiden Armen gegen den gepanzerten Körper des Paladins schlug. Doch dieser hatte etwas Nützliches entdeckt. Als er seinen Widersacher angehoben hatte, war der Riese merklich schwächer geworden. Er verlor an Wildheit und Beharrlichkeit und heulte in offensichtlichem 131
Unbehagen auf. Er wollte wieder auf die Erde zurück, und daher kämpfte der Paladin darum, ihn in der Luft zu halten, denn es war die Erde, wie es jetzt aussah, aus der der Riese seine Stärke erhielt. Schließlich brachte der Paladin den Riesen zu den Stufen des Wachturmes und warf ihn dort auf die Steine. Der Riese trat um sich und kämpfte darum, die Stufen hinabzurollen, damit er wieder die Erde des Burghofes erreichte, aber der Paladin ließ ihn nicht entkommen. Der Riese brüllte erneut auf, und jetzt strömte ihm Blut aus Nase und Mund und floß bei jeder Bewegung aus seinen Wunden. Der Paladin stieß seinen Widersacher die Treppe noch weiter hinauf, immer weiter weg von der Erde des Burghofes, und mit einem plötzlichen, krampfartigen Keuchen brach der Riese zusammen. Der Paladin schleppte den großen Körper noch ein paar weitere Stufen hinauf, und jetzt konnte der Riese nicht mehr atmen. Seine Arme fielen herab, und seine Beine lagen schief abgewinkelt auf den Stufen. Der Paladin hielt ihn dort fest, preßte ihn auf die Steine, bis er tot war. Als sein Leben endete, verwandelte sich der Riese zu Staub. Später, nachdem der Paladin verschwunden und Ben wieder zu sich gekommen war, fragte er sich, ob er das Leben des Riesen wohl hätte schonen können. Das war nicht so leicht zu beantworten. Zunächst war offen, ob der Paladin es gestattet hätte, denn wenn Ben der Paladin war, dann unterstand er der Ethik und den Lebensregeln des Ritters, und die waren weit von seinen eigenen entfernt. Der Paladin hatte kein Interesse daran, das Leben eines Feindes zu schonen. Feinde mußten schnell und gnadenlos getötet werden. Ben war sich nicht sicher, ob er genug Kontrolle über sein Alter ego erlangen könnte, daß dieser sich auch nur eine kleine Überlegung dahingehend gestattete, ob ein Leben geschont werden sollte oder nicht. Außerdem war es fraglich, ob der Riese darauf eingegangen wäre oder ob er Mitgefühl ebenso verachtete wie der Paladin und daher bis zum Tode gekämpft hätte. Und 132
schließlich stellte sich noch die Frage, ob der Riese überhaupt real gewesen war. Er hatte sich im Tod zu Staub verwandelt, und Wesen aus Fleisch und Blut taten dies nicht derart schnell. Es schien sehr wahrscheinlich, daß der Riese ein Geschöpf der Magie gewesen und daß seine Vernichtung angesichts einer stärkeren Magie unvermeidbar gewesen war. Das alles sorgte jedoch nicht dafür, daß Ben sich besser fühlte. Daß er gezwungen gewesen war, den Riesen zu töten, wurde durch den Umstand, daß dieser wahrscheinlich kein sterblicher Mensch gewesen war, nicht gemindert. Sein Sterben war nur zu wirklich gewesen, und es war durch Bens Hand geschehen. Er spürte noch immer das Gefühl des schwächer werdenden Widerstands, als er den Riesen gegen die Steinstufen gepreßt hatte. Er würde sich, solange er lebte, an die Augen des Riesen erinnern, als das Leben aus ihnen schwand. Ben kehrte mit Willow in seine Schlafkammer zurück und schlief eine Weile; er versuchte, dadurch dem Erlebnis zu entkommen. Sie blieb bei ihm, während er sich ausruhte, und lag dicht neben ihm im Bett. Ihre kühlen Hände strichen ihm über Brust und Arme, ihre Stimme flüsterte mitfühlend und beruhigend in sein Ohr. Er wußte nicht, wie er ohne sie hätte leben können, so nah war sie ihm, so sehr ein Teil von ihm. Wenn der Paladin seine dunkle Seite war, dann war sie mit Sicherheit seine helle. Bei ihr fand er Ruhe, Wärme und Frieden. Als er erwachte, war es Mittag. Er war hungrig und aß ein wenig, um sich anschließend seinen Regierungsgeschäften zu widmen. Er sprach mit Willow nicht über das, was geschehen war. Er hatte ihr niemals die Wahrheit über den Paladin gesagt – und auch niemandem sonst. Niemand wußte, daß Landovers König und sein Kämpe ein und derselbe waren, vereint durch die Magie des Medaillons, unwiderruflich verbunden in der Verteidigung des Reiches. Niemand wußte, daß der erstere unterdrückt wurde, wenn letzterer erschien. Der eine verdrängte und überschattete den anderen; nur einer war jeweils vorherrschend. Es wurde für Ben jedoch immer schwerer, das Geheimnis vor seiner Frau zu bewahren. Die Anstrengung, sich nach jeder Verwandlung wieder 133
zusammenzufügen, ganz zu bleiben, während Teile und Fetzen seiner selbst von ihm weggerissen wurden, begann Wirkung zu zeigen. Er konnte die Tatsache nicht leugnen, daß er als Paladin in der Macht von dessen Magie schwelgte und sich nicht wieder zurückverwandeln wollte. Eines Tages, so fürchtete er, würde er dieser Verführung erliegen. Es kamen Besucher ins Schloß, zu denen auch Mitglieder des Landreformkomitees gehörten. Er hatte sie damit berauftragt, die Veränderungen in der Ackerbautechnik und die Bewässerung verschiedener Teile des Reiches, insbesondere des trockenen östlichen Ödlandes, zu beaufsichtigen. Er besprach mit ihnen ausführlich die Fortschritte, die sie in ihren Bemühungen erzielt hatten, die Herren des Grünlandes dazu zu bewegen, Arbeitskräfte und Material für dieses Projekt zur Verfügung zu stellen. Das Treffen brachte gemischte Ergebnisse, ermutigte ihn aber dazu, einen Besuch bei einigen von den Herren zu planen, die noch widerspenstig waren, hauptsächlich, wenn auch nicht überraschend, Kallendbor von Rhyndweir. Kallendbor lehnte alles ab, was Ben vorschlug, und vor zwei Jahren war er durch die Machenschaften eines dunklen Elfenwesens, dem Gorse, sogar dazu verführt worden, gegen ihn zu rebellieren. Ben Holiday hatte ihn hart dafür bestraft; das verkündete Urteil hatte auf ein Jahr Exil und den Verlust mehrerer Titel und Ländereien gelautet. Kallendbor hatte die Bestrafung ohne Klage angenommen; vielleicht hatte er erkannt, daß seine Strafe viel schlimmer hätte ausfallen können. Sein Jahr im Exil war abgeleistet worden, und einige der Titel und Ländereien hatte er zurückerhalten. Dennoch war er weiterhin bei jeder Gelegenheit ungebärdig und herausfordernd, und Ben war klar, daß Kallendbor so gut wie nichts aus seiner Strafe gelernt hatte. Von dem Treffen mit dem Komitee ging Ben zu einem Empfang mit mehreren Vertretern seiner Gerichtsbarkeit, der jedoch nur kurz dauerte. Dann sah er juristische Dokumente durch, die sich mit Besitzstreitigkeiten befaßten. Daß er diesen Verpflichtungen ohne Abernathys kundige Unterstützung nachkommen mußte, ließ ihn erneut an Mistayas Entführung denken. Wieder haderte er mit 134
seinem Unvermögen, sie zu finden, und wehrte die Verzweiflung ab, die ihn jedesmal überkam, wenn er sich vorstellte, sie vielleicht verloren zu haben. Sein bereits rotglühender Haß auf Rydall stieg ins Unermeßliche. Es war absolut unverzeihlich, daß der König von Marnhull zu solch abscheulichen Maßnahmen griff, um ihn dazu zu bringen, bei seinem lächerlichen Spiel mitzumachen. Doch zur gleichen Zeit war es auch rätselhaft. Es fehlte irgendwie an Gleichgewicht bei der Sache; es ließ an Verstand mangeln. Irgend etwas daran ließ Ben vermuten, daß mehr hinter diesem Rätsel steckte, als vordergründig sichtbar war. Er hätte vielleicht noch länger über dieses Rätsel nachgedacht, als Bunion herbeistürmte, um ihm zu verkünden, daß ein weiterer von Rydalls Kämpfern erschienen sei. Ben war verblüfft. Schon so schnell? Er hatte doch kaum den ersten besiegt! Anscheinend war Rydall entschlossen, die Frage, wer Landovers König sein sollte, schnell zu entscheiden. Ben eilte auf die Zinnen. Bunion wieselte ihm voraus. Wachen traten beiseite, als er vorbeikam, und riefen ihm Worte der Ermutigung zu. Mitlerweile war jedem klar, was vor sich ging; jeder hatte erkannt, daß eine unbekannte Macht von außerhalb versuchte, die Kontrolle über den Thron an sich zu reißen. Seit der Niederlage des Gorsen vor zwei Jahren hatte Frieden in Landover geherrscht, aber jetzt war eine neue Bedrohung aufgetaucht. Ben bedankte sich für die freundlichen Worte mit einem Kopfnicken und gelegentlich einer ebenfalls aufmunternden Antwort. Als er die Stufen zum Wachturm hinaufstieg, schloß Willow sich ihm an. Ihr smaragdgrünes Haar flatterte hinter ihr her, und ihr wunderschönes Gesicht war von ihrem eisernen Willen verhärtet. Königliche Wachen sammelten sich im Burghof und machten sich zum Vormarsch bereit. Stallknechte brachten Streitrösser herbei. Alle bereiteten sich auf die Schlacht vor. Ben erklomm die Burgmauer, von der man die Zugbrücke überblicken konnte. Plötzlich blieb er stehen.
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An der Brücke wartete ein einzelner Ritter in einer silbernen Rüstung; er hatte seine Lanze zum Gruß erhoben. Selbst aus der Entfernung war er sofort erkennbar: es war der Paladin. Ben starrte ihn in sprachlosem Schock an, nicht fähig zu glauben, was er da sah. Der Paladin? Hier, ohne daß er ihn gerufen hatte? War er gekommen, um gegen seinen Herrn zu kämpfen? Hatte Rydall irgendwie die Kontrolle über ihn erlangt? »Das kann doch nicht sein«, murmelte er. »Das ist nicht der Paladin.« Willow war die erste, die es aussprach. »Er kann es nicht sein. Du hast ihn nicht gerufen, und niemand anders kann es tun. Dieser Ritter ist ein Schwindler.« Aber ein ziemlich überzeugender, dachte Ben finster. Nun ja, er hatte ohnehin keine Wahl. Er sah sich dem gleichen Dilemma gegenüber wie vorhin, als der Riese aufgetaucht war. Abwarten war sinnlos. Wenn er sich weigerte, dem Ritter draußen gegenüberzutreten, würde er es nur allzubald drinnen tun müssen. Ben legte die Hände auf die Steine der Burgmauer und versuchte zu entscheiden, ob er stark genug war, bereits nach so kurzer Zeit erneut einen Kampf zu bestreiten. Denn obgleich die Verwandlung in den Paladin ihm körperlich nur wenig abverlangte, war sie geistig und gefühlsmäßig doch außerordentlich erschöpfend. Wenn ein Kampf beendet war und ein weiterer Herausforderer tot dalag, dann war es seine Psyche, die durch Schlachtwunden verletzt worden war. Mit grimmigem Gesicht blickte Ben zu dieser neuen Bedrohung hinunter, die ihm Rydall gesandt hatte. Zumindest war dieser hier gesichtslos, aber die Aussicht, mit sich selbst kämpfen zu müssen – oder zumindest mit einem Teil seiner selbst –, war beunruhigend, selbst wenn es nicht wirklich ein Teil von ihm war, sondern nur etwas, das so aussah... Er gab seine Grübelei auf; sie konnte tödlich sein. Ihm wurde in dieser Angelegenheit schließlich keine Wahl gelassen. Selbst wenn Rydall an diesem Tag drei Kämpfer schicken sollte, würde er gegen sie alle antreten müssen. »Ben«, sagte Willow sanft und schob ihren Arm unter den seinen. 136
Er nickte. »Ich weiß, du brauchst es nicht auszusprechen. Aber ich kann die Kreatur dort unten nicht verschwinden lassen, indem ich sie ignoriere.« »Es wird wieder ein Trick nötig sein, um gewinnen zu können«, sagte sie, »genau wie bei dem Riesen.« Sie ließ ihn widerstrebend los, und er zog das Medaillon hervor. Einen Augenblick später beschwor er den Paladin. Er verspürte große Erleichterung, als dieser in zuckendem Licht aus dem Wald am Ende der Wiese erschien; jetzt hatte er die Gewißheit, daß es nicht der echte Paladin war, der Rydall diente. Bens Beschützer schwenkte mit zum Angriff gesenkter Lanze auf den Vortäuscher ein. Ben fühlte, wie er wieder hinübergezogen wurde. Diesmal ließ er sich leicht mit der Verwandlung treiben, da er vom Morgen her an sie gewöhnt war; er hieß sie sogar fast willkommen. Die Rüstung des Paladins schloß sich um ihn, seine Erinnerungen wühlten sein Blut auf, und die Erwartung des Kampfes durchflutete wie eine Hitzewelle seine Knochen und Muskeln bis in das Eisen seiner Waffen hinein. Der Paladin stieß seinem Schlachtroß die Fersen in die Flanken, und das Tier stürmte zum Angriff vor. Vor ihm wendete der falsche Ritter und gab seinem Pferd ebenfalls die Sporen. Mit gesenkten Lanzen rasten sie unter dem Donner der Hufe über das Gras und trafen mit einem Krachen von Eisen und gesplitterter Eiche aufeinander; beide Lanzen zerbrachen. Noch immer im Sattel, die Schilde geborsten und verschrammt, ritten die Kämpfer, diesmal mit den Schlachtbe ilen in der Hand, wieder aufeinander zu. Ein zweites Mal prallten sie zusammen. Der Paladin lenkte die schwere Klinge des anderen Ritters zur Seite; sein Widersacher tat dasselbe mit seiner. Ein zweiter Schlag kam durch die Verteidigung des anderen, aber das tat auch umgekehrt ein Hieb seines Gegners. Die Ritter hämmerten aufeinander ein, bis beider Äxte am Griff abbrachen und unbrauchbar zu Boden fielen. Die Kämpfer zogen wild an den Zügeln ihrer Schlachtrösser, um in Position zu gelangen, und griffen nach ihren Breitschwertern. 137
Ein drittes Mal trafen sie aufeinander. Die Klingen ihrer Schwerter leuchteten in der Nachmittagssonne feurig auf, und Funken sprangen von ihren Waffen und Panzerungen weg. Ihre Pferde wurden schwächer, sie schnauften und keuchten von der Anstrengung, ihre gepanzerten Reiter zu tragen und den Aufprall der Schläge abzufangen. Schließlich gingen sie gemeinsam zu Boden, warfen dabei ihre Reiter ab, erhoben sich unsicher und standen mit gesenkten Köpfen und blutigen Nüstern da, unfähig, weiterzumachen. Auch die beiden Paladine standen auf, die Breitschwerter noch immer in den Händen, und setzten ihren Kampf zu Fuß fort. Wenn sie müde waren, so zeigten sie es jedenfalls nicht. Mit hartnäckiger Entschlossenheit gingen sie aufeinander los, und es war jedem, der zusah, klar, daß keiner nachgeben würde, bevor nicht der andere vernichtet war. Oben auf der Festungsmauer beobachtete Willow den Kampf mit steigender Besorgnis. Für jeden Treffer mußte ein ebensolcher hingenommen werden. Die Paladine waren genaue Ebenbilder des Andern. Sie wichen zurück und griffen an, schlugen zu und blockten ab, bewegten sich mit gleichartigen Bewegungen in einem bizarren Tanz der Zerstörung. Schon bald war es ihr unmöglich zu sagen, welcher von den beiden der echte war. Er hätte sich von seinem Nachahmer durch seine Erfahrung und sein Kampfgeschick abheben müssen, doch das war nicht der Fall. Je länger der Kampf dauerte, desto unmöglicher wurde es ihr, die beiden auseinanderzuhalten. Sie attackierten und verteidigten sich auf genau die gleiche Art – Hieb für Hieb, Wunde für Wunde, Schaden für Schaden. Es gab keinen Unterschied in ihrem Aussehen, keine Variationen in ihren Strategien, keine Konter, die nicht sofort nachgeahmt wurden. Irgend etwas am Verlauf des Kampfes war nicht richtig; sie erkannte nur zu bald, was es war. Der Paladin konnte in diesem Kampf keinen Vorteil herausholen, weil er gegen sich selber kämpfte. Es war, als schaue man in den Spiegel und sähe seine eigene Reflexion, die alles exakt imitierte, was man selber tat. Ein Spiegelbild ermüdete nicht und wurde 138
niemals schneller oder langsamer als man selbst. Während man vor dem Spiegel stand, konnte man ihm nie entkommen... Sie schrak auf. Sie hatte das Geheimnis von Rydalls Kämpfer erkannt. Und sie hatte dadurch auch erkannt, wie er besiegt werden konnte. »Ben!« rief sie über das Klirren von Waffen und Rüstungen hinweg. Sie griff nach ihm, aber er reagierte nicht auf sie. Er stand neben ihr und schaute bewegungs - und wortlos zum Kampf hinüber, als sei er in Trance. »Ben!« rief sie abermals und schüttelte ihn stärker. Er wandte sich mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung in ihre Richtung. Er schien sie wie aus einer großen Entfernung anzublicken. »Ben, schicke den Paladin zurück!« rief sie aus. »Schick ihn fort! Rydalls Kämpfer stiehlt ihm seine Kraft. Er erschöpft ihn! Hör mir zu, Ben! Wenn du den Paladin fortschickst, wird auch Rydalls Kämpe verschwinden!« Von irgendwoher, weit hinten in seinem Verstand, hörte Ben ihre Stimme. Aber er war zu weit weg, um zu antworten, im Körper des Paladins gefangen, in den schrecklichen Kampf mit seinem Zwilling verstrickt, einem Widersacher, der jede seiner Bewegungen genau zu kennen schien, der jeden seiner Versuche, ihn zu überrumpeln, vorherzusehen schien und jede seiner Strategien konterte. Ben! hörte er die Stimme dringlich rufen. Ben, hör mir zu! Der Paladin wischte die Aufforderung beiseite und griff von neuem an. Er glaubte, ein Schwächerwerden bei seinem Feind zu bemerken. Er weigerte sich, zu akzeptieren, daß dies nur seine eigene Schwäche widerspiegelte. Verzweifelt ließ Willow den regungslosen Ben los und eilte hastig die Treppen hinab. Ben schien nicht in der Lage zu sein, handeln zu können; mit ihm geschah etwas, das sie nicht verstand. Da er nicht auf die Nöte des Paladins eingehen konnte, mußte sie es tun. Sie erreichte den Burghof, riß einen Speer aus einem Waffenstand, eilte durch das Knäuel von königlichen Wachen, die 139
sich durch die offenen Tore den Kampf anschauten, sprang auf den Rücken eines Schlachtrosses, spornte das Pferd mit einem Tritt in die Flanken an und stürmte durch das Tor, ohne auf die Rufe zu achten, die um sie herum aufbrandeten. Sie donnerte über die Zugbrücke und galoppierte auf die Kämpfer zu. Alarmrufe erschollen hinter ihr, aber sie kümmerte sich nicht darum. Sie wußte, was nötig war. Der Paladin und Rydalls Kämpfer waren in einem Kampf der Zwillinge gefangen, der mit beider Vernichtung enden würde. Das einzige, was den Paladin retten konnte, war ein Bruch der Magie, von der Rydalls Kämpe abhing. Dieses Mal war es nicht die Erde, aus der er seine Kraft zog, wie es bei dem Riesen der Fall gewesen war, sondern die eigene Kraft und Geschicklichkeit des Paladins. Rydalls Kämpfer war eine Art von Suckubus, ein Spiegelbild, das von seinem Original zehrte, es imitierte, jede seiner Bewegungen kopierte und ihm seine Lebenskraft entzog. Aber wenn der Spiegel verdunkelt würde... Sie erreichte die Kämpfer und rauschte, ohne langsamer zu werden, an ihnen vorbei, wobei ihr gesenkter Speer ihre gerüsteten Körper streifte. Es reichte, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sie drehten sich wie ein einziger um und nahmen sie zum ersten Mal wahr. Sie zügelte ihr Pferd und schwang das Tier herum. Den Speer zum Angriff gesenkt, schickte sie sich an, wieder vorzustürmen. Bei beiden Paladinen war Verwirrung zu bemerken, eine Unsicherheit darüber, was ihre Anwesenheit zu bedeuten hatte. Sie mußte hoffen, daß diese Störung der Magie, welche die beiden verband, ausreichend war. »Zieh dich zurück!« rief sie wild und stieß die Lanze nach ihnen. Sie sauste dicht an einem der beiden Kämpfer vorbei. Er schlug ihre Waffe zur Seite, als wäre sie nicht mehr als eine lästige Fliege. Der andere, der ein wenig weiter hinten stand, imitierte die Handlung sinnloserweise. Da, dachte sie triumphierend, das ist Rydalls Kreatur!
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Sie trieb das Pferd, so dicht sie es wagte, an den echten Paladin heran und zügelte dort ihr Tier. Um sie herum war alles still geworden. Sie blickte zum Paladin hinunter. »Schieb dein Schwert in die Scheide, und zieh dich zurück!« sagte sie. »Nur so kannst du gewinnen!« Es folgte ein langer Moment der Stille und der Ungewißheit, der Konfrontation zwischen der Sylphe und den beiden gepanzerten Rittern. Dann, ganz abrupt, schob der echte Paladin sein großes Breitschwert in die Scheide. Eine Bewegung seiner metallbehandschuhten Hand brachte sein erschöpftes Schlachtroß an seine Seite. Er blickte Willow kurz an und stieg dann auf. Sonnenlicht funkelte auf der Silberrüstung, als er auf Sterling Silver zutrabte. Ein Lichtstrahl schoß auf die Zinnen zu, spiegelte sich in dem Medaillon, das von Ben Holidays Hals hing, und ließ es wie geschmolzen aussehen. Dann verschwanden Pferd und Reiter in einem Lichtblitz, und der Paladin war fort. Willow wandte sich schnell dem anderen Ritter zu. Sie hielt den Atem an und wartete. Rydalls Kreatur starrte in die leere Luft, wo vorher der Paladin gestanden hatte. Mit dem Verschwinden seines Feindes war sein Lebenszweck erreicht. Gebunden durch die Gesetze der Magie, die ihn erschaffen hatte, ahmte er sein Original ein letztes Mal nach. Er schob sein Schwert in die Scheide, ging zu seinem Schlachtroß und stieg auf. Er hatte jedoch keine Anweisungen über sein Fortreiten. Die Magie hielt ihn nicht über diesen Zeitpunkt hinaus am Leben. Und so fiel er einfach in einem Vorhang aus windverwehter Asche in sich zusammen. Willow stand allein auf der Wiese. Sie hatte richtig geraten. Sobald der Paladin verschwand, aus welchem Grund auch immer, konnte Rydalls Kämpfer nicht weiterexistieren. Sie erla ubte sich ein Lächeln der Befriedigung und der Erleichterung, dann ritt sie langsam wieder zum Schloß und zu Ben zurück.
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DAS ARDSHEAL
Es war noch hell, die Sonne schwebte über dem Rand des Horizontes, der im Schatten der Berge im Westen lag, als ein Bote des Flußherrn an der Tür zu Ben und Willows Schlafkammer erschien. Sie hatten sich zurückgezogen, um sich für das Abendessen frisch zu machen und umzuziehen. Sie waren zwar körperlich von den Ereignissen des Tages vollkommen erschöpft, aber geistig und emotional so aufgewühlt, daß sie nicht an Schlaf denken konnten, bevor sie sich nicht etwas beruhigt hatten. Woher der Bote gewußt hatte, wo er sie finden würde, oder wie er überhaupt bis hierher vordringen konnte, ohne gesehen zu werden, war ein Rätsel, das man am besten den Spekulationen anderer Leute überließ. Ben wußte mittlerweile, daß die Einstmals-Elfen, darunter auch Willow, sich fast überallhin bewegen konnten, ohne von Menschen wahrgenommen zu werden. Der Bote klopfte leise. Als Willow die Tür öffnete, stand er mit steinernem Gesicht regungslos da. Er war ein Baumschrat, so hager und knorrig wie ein Zaunpfahl und mit Augen, die wie Edelsteine in einem Gesicht leuchteten, das ansonsten fast keine anderen Züge aufwies. Er verbeugte sich respektvoll vor Willow und wartete, bis sich Ben ihnen zugesellte. »Eure Hoheit«, grüßte er und machte eine zweite Verbeugung. »Mein Fürst, der Flußherr, bittet seine Tochter und ihren Gemahl, sogleich zu ihm nach Eldero zu kommen, um mit ihm zu sprechen. Er möchte mehr über seine vermißte Enkelin erfahren und ihren Eltern seinen Rat und seine Hilfe zur Verfügung stellen. Werdet Ihr kommen?« Ben und Willow warfen sich einen kurzen Blick zu. Keiner von ihnen hatte momentan das Verlangen, irgendwohin zu gehen, aber beide erkannten sofort, daß es Gründe dafür gab, die Einladung anzunehmen. Wenn sie im Schloß blieben, würden sie schon bald Besuch von einem weiteren von Rydalls Kämpfern bekommen. Vielleicht konnten sie dies umgehen, wenn sie woanders waren. 143
Zeit für ihre Suche nach Mistaya zu gewinnen war eine der wenigen Möglichkeiten, die ihnen offenstanden. Es mochte zudem sein, daß der Flußherr, der ein Wesen mit großer magischer Macht war, ihnen einen Talisman oder einen Zauber geben wollte, der sie schützen sollte. Zumindest mochte er Informationen über seine Enkeltochter haben, denn er hatte ja vor einigen Tagen von ihrer Entführung gehört und mußte in der Zwischenzeit das Flußland und die umliegenden Regionen nach Spuren von ihr durchforstet haben. Es wurden keine Wor te zwischen ihnen gewechselt, aber Ben und Willow verständigten sich gewöhnlich auf einer anderen Ebene, und da waren Worte nicht immer nötig. »Sage dem Flußherrn, daß wir kommen werden«, teilte Ben dem Boten mit. Der Schrat nickte und verbeugte sich erneut. Er ging den Gang entlang in die wachsende Dämmerung hinein und war fort. Sie nahmen das Abendessen in ihrem Zimmer ein, da sie allein und in soviel Abgeschiedenheit wie möglich sein wollten. Das Schloß wimmelte noch immer vor Wachen, die auf Posten standen oder sich darauf vorbereiteten, auf Patrouille zu gehen. Zwei Angriffe an einem einzigen Tag, das war noch nie vorgekommen. Auch Bunion war unterwegs und suchte nach Anzeichen, die erkennen ließen, wo die vernichteten Kämpen Rydalls hergekommen waren, obgleich es so gut wie sicher war, daß er nichts finden würde. Die Termine der nächsten Tage waren abgesagt und die ganze Garnison des Schlosses war in Alarm versetzt worden. Niemand würde das Schloß betreten oder verlassen dürfen, ohne zuvor genau überpr üft zu werden. Solche Vorkehrungen waren jedoch nur von geringem Nutzen, wenn Magie im Spiel war, wie das ungewöhnliche Erscheinen des Boten des Flußherrn bewiesen hatte. Ben hegte nicht den geringsten Zweifel daran, daß Rydall über bedeutende Magie verfügte, und diese würde es seinen Kämpfern höchstwahrscheinlich erlauben, die gewöhnlichen Vorsichtsmaßnahmen zu umgehen. Wahrscheinlich war es Rydalls schwarzverhüllter 144
Begleiter, der diese Magie beherrschte, während Rydall selbst ihre Anwendung befahl, aber wer von ihnen es genau war, machte keinen Unterschied. Die ersten beiden Kämpfer, die geschickt worden waren, um ihn zu vernichten, hatten Magie besessen, und man konnte davon ausgehen, daß die fünf, die noch kommen sollten, über noch stärkere Zauberkraft verfügen würden. Also besprachen Ben und Willow während des Abendessens ihre Lage. Sie kamen erneut zu dem Schluß, daß es am besten sei, wenn sie für ein paar Tage ins Flußland fuhren. Vielleicht würde Rydall dadurch Schwierigkeiten haben, sie zu finden. Vielleicht würde ihre Reise seine Pläne etwas stören. Wenn sie hierblieben und hilflos abwarteten, spielten sie ihm damit nur in die Hände. Außerdem gab es nur wenig Hoffnung, Mistaya, Questor und Abernathy ohne Hilfe von außen zu finden. Die Benutzung des Schau-ins-Land hatte wiederholt zu keinem Ergebnis geführt. Alle Anstrengungen, das Land abzusuchen, waren ebenfalls fehlgeschlagen. Aber es gab noch die Möglichkeit, daß jemand, den sie zu fragen vergessen hatten, etwas wußte. Oder daß jemand, der größere Macht hatte als sie und Quellen besaß, die ihnen versagt waren, wie der Flußherr, über Wissen verfügte, das er ihnen mitteilen würde. Sie beschlossen, noch in dieser Nacht aufzubrechen, im Schutz der Dunkelheit und vor Tagesanbruch. Sie hofften, ungesehen abreisen zu können, ohne sich mit einem weiteren von Rydalls Kämpfern auseinandersetzen zu müssen. Besonders Ben litt sehr unter den Erlebnissen des vergangenen Tages. Willow konnte die Ursache seines Leids nicht erkennen. Ben schwieg noch immer beharrlich über das, was bei dem zweiten Kampf geschehen war – warum er auf ihre Bitten nicht reagiert hatte, warum er so entrückt gewirkt hatte und danach so erschöpft gewesen war. Er hatte ihr für ihre Hilfe gedankt, sie in keiner Weise dafür gerügt, daß sie auf das Schlachtfeld hinausgeritten war, und dann hatte er die Angelegenheit abrupt fallengelassen und sich irgendwo tief in sich selbst zurückgezogen, bis der Bote des Flußherrn erschienen war. Willow hatte ihn ihrerseits nicht gedrängt. Es war offenkundig, daß dies etwas war, über das er sprechen würde, wenn er dazu 145
bereit war; sie war zufrieden damit, daß sie hatte helfen können, Rydalls Kreatur zu besiegen. Sie machte sich jedoch Sorgen darüber, was beim nächsten Mal geschehen würde. Ihr gefiel nicht, wie er sich während des Kampfes verhalten hatte. Es behagte ihr auch nicht, daß sie nicht wußte, was los war. Sie warteten auf Bunions Rückkehr, da sie beschlossen hatten, den Kobold als zusätzlichen Schutz mitzunehmen. Ben und Willow gaben ein paar wenigen Vertrauten Anweisungen, was während ihrer Abwesenheit geschehen sollte, sagten alle verbliebenen Termine bis zur nächsten Woche ab und erklärten, daß der König auf Urlaub sei. Dann verließen sie das Schloß durch ein Seitentor an der Ostmauer, nahmen den letzten Seegleiter zum Ufer hinüber und trafen sich dort mit Bunion, der sie bereits mit Bens braunem Wallach Jurisdiktion und Willows weißgesichtiger Fuchsstute Kranich erwartete. Sie bestiegen ihre Tiere und trotteten hinter Bunion, der zu Fuß vorauseilte, in die Nacht hinaus. Sie ritten fast bis Sonnenaufgang. Zu dieser Zeit waren sie bereits weit von Sterling Silver entfernt und nahe dem Seenland. Noch einige Meilen vor dem Irrylyn hielten sie in einem dichten Hain aus Eschen und Walnußbäumen, stiegen ab, banden ihre Pferde an, wickelten sich in leichte Decken und schliefen ein. Während der anscheinend unermüdliche Bunion Wache hielt, ruhten sie bis tief in den Vormittag hinein. Als sie aufwachten, packte Willow Käse, Brot, Obst und Leichtbier aus, das sie mitgenommen hatte, und sie aßen auf einem sonnigen Fleck am Fuß eines knorrigen alten Nußbaumes. Bunion tauchte kurz auf, um sich ein paar Bissen zu schnappen, dann eilte er wieder eifrig fort, um den Bewohnern des Seenlandes ihre Ankunft anzukündigen. Nachdem Ben und Willow ihr Mahl beendet hatten, ritten sie weiter nach Süden. Bunion würde sie irgendwo auf dem Weg finden. Der Morgen war schwül und still. Die Hitze der Sonne lastete so schwer auf dem Waldland wie der Hammer eines Grobschmiedes. Keine Brise erfrischte sie auf ihrer Reise. Als sie den Irrylyn erreichten, lenkte Willow Kranich in den Schutz einer 146
verdeckten Bucht, stieg ab, band ihr Pferd an einen Baum, zog ihre Kleidung aus und ging in den See hinein. Ben folgte ihr. Sie schwammen eine Weile im See, trieben auf dem Rücken und blickten zu den Zweigen der Bäume und zum Himmel hinauf; dabei sprachen sie kein Wort. Ben erinnerte sich daran, wie er Willow das erste Mal getroffen hatte. Hier, im Wasser dieses Sees, war es kurz nach Sonnenuntergang gewesen. Sie hatte auf ihn gewartet, ohne zu wissen, wer er sein würde. Du bist für mich, hatte sie ihm gesagt. Es ist bei meiner Empfängnis vorhergesagt worden. Ich wußte, daß du kommen würdest. Jetzt schwamm sie zu ihm hinüber, umarmte und küßte ihn und sagte: »Ich liebe dich.« Dann schwamm sie wieder davon. Sie stiegen kühl und erfrischt aus dem See, zogen sich wieder an und ritten weiter. Am Nachmittag näherten sie sich schließlich dem alten Urwald, der die Grenze zu Eldero und dem Land der Einstmals-Elfen darstellte. Bunion wartete an der Stelle auf sie, wo der Weg im Gestrüpp verschwand. Er berichtete, daß der Flußherr sie erwarte. Ein wenig weiter vorn würden Führer zu ihnen stoßen und sie in die Stadt geleiten. Sie verließen den Pfad dort, wo er endete , und begannen, sich ihren Weg zwischen monströsen Tannen und Rottannen, zwischen Nußbäumen und weißen Eichen, roten Ulmen und Eschen hindurch zu suchen. Die Bäume ragten rings um sie herum turmhoch auf, verdeckten den Himmel und ließen kein Licht hindurch. An einigen Stellen, die wohl niemals von der Sonne beschienen wurden, war es dunkel und kalt. Es war kein Geräusch zu hören, so als ob kein Lebewesen in diesem Wald lebte. Doch Ben konnte spüren, daß ihn Augen beobachteten. Als der Boden weich wurde und die Luft nach Sumpf und Moor zu riechen begann, erschienen die Führer, die ihnen versprochen worden waren. Es waren Kreaturen mit grünem Haar, das von ihren Köpfen abstand, und Gliedern wie Strauchzweigen; hagere, sehnige Gestalten, die mit dem Wald verschmolzen und sich durch jede Öffnung zwängen konnten, wie eng und verwinkelt sie auch war. Ihre Führer geleiteten sie einen gewundenen Weg zwischen 147
den großen Bäumen hindurch und über unsicheren Grund. Zu beiden Seiten tauchten im aufsteigenden Nebel Gesichter mit leuchtenden und neugierigen Augen auf, die in einem Augenblick da waren und im nächsten schon wieder verschwunden. Der Sumpf schloß sich zu beiden Seiten um sie, und Wasserkreaturen erhoben sich aus dem Morast und aus dem Gras, um sie vorbeiziehen zu sehen. Die Zeit verstrich. Eldero lag tief im Inneren des Urwaldes, behütet von Elementarwesen der Natur und der Magie. Niemand konnte es betreten, wenn er nicht dazu eingeladen war. Die Einstmals-Elfen waren ein zurückgezogen lebendes Volk, das der Außenwelt mißtrauisch gegenüberstand und fremden Kreaturen nur mit Vorsicht begegnete. Ben hatte große Anstrengungen unternommen, um dieses Mißtrauen und die Furcht zu beseitigen, und mittlerweile reisten die Bewohner des Seenlandes auch in andere Teile Landovers und brachten gelegentlich sogar Fremde mit zurück. Aber alte Gewohnheiten und tiefverwurzeltes Mißtrauen starben nur schwer; es würde noch einige Zeit dauern, bis die Barrieren vollständig fallen würden. Ben hätte den Weg nach Eldero mit Willows oder Bunions Hilfe finden können, aber es wäre rüde gewesen, Tradition und Gastfreundschaft zu ignorieren. Die Führer des Flußherrn wurden als höfliche Geste nur jenen gesandt, die willkommen waren. Ben zwang sich zur Geduld. Bald lagen die Sumpfgebiete hinter ihnen, und sie kamen wieder auf festen Boden. Die Bäume waren hier größer und älter, Hartholzgewächse, die seit zweihundert Jahren und länger hier standen. Die Luft wurde frisch und warm und trug den Duft von Sonne und Wildblumen mit sich. Kleine Grüppchen von Leuten erschienen. Einige grüßten sie scheu. Die Kinder unter ihnen schossen wagemutig zwischen den Pferden hindurch, lachten und neckten sich. Plötzlich tauchte der Pfad aus dem Nichts wieder auf, gut ausgetreten und breit führte er zwischen den Bäume n hindurch. Vor ihnen kam die Stadt Eldero in Sicht, ein Wunder an Baukunst und Erfindungsgeist, das Ben jedesmal aufs neue tief beeindruckte. 148
Die Stadt befand sich inmitten eines Gehölzes aus Hartholzbäumen, die noch gewaltiger waren als die kalifornischen Redwoods. Die Zweige dieser Bäume waren ineinander verschränkt und bildeten so Verbindungswege über der Erde. Die Stadt erhob sich in mehreren Ebenen über dem Grund bis zu den mittleren Ästen des Hochwaldes; sie schmiegte sich in die Äste hinein wie Spie lzeug in die Arme eines Kindes. Häuser und Läden reihten sich an Straßen und kräftigen Zweigen aneinander und bildeten ein komplexes Netzwerk von Wegen. Sonnenlicht drang in langen Strahlen durch den Baldachin aus Geäst, sprenkelte den Schatten und erhellte den natürlichen Dämmer mit leuchtenden Flecken. Überall liefen Leute hin und her, denn die EinstmalsElfen waren ein geschäftiges Volk, das die Bedeutung harter Arbeit wohl verstand. Ein großer Teil dieser Arbeit bestand aus kleinerer Magie, die ihr Arbe itsmittel war. Sie beschäftigten sich vor allem mit dem Erhalt ihrer waldigen Heimat. Es war beeindruckend, wie viele Aspekte ihres Lebens sie mit ihren Bemühungen beeinflussen konnten. Ben Holiday stand in dieser Hinsicht, obgleich er der König von Landover war, noch immer am Anfang. Willow warf Ben ein aufmunterndes Lächeln zu, mit dem sie ihm verheißen wollte, daß ihre Heimatstadt ihnen noch immer freundlich gesinnt war. Sie ritten schweigend weiter, während Bunion mit den Führern zu Fuß voranging, und sahen zu, wie sich Elderos Vielschichtigkeit vor ihnen entfaltete. Die Bäume breiteten sich immer weiter aus, und die verschiedenen Ebenen der Stadt waren immer besser zu sehen. Vor ihnen öffnete sich einladend das Amphitheater, das als Ort vieler Feierlichkeiten der Einstmals-Elfen diente. Es bestand aus ineinanderverzweigten Bäumen, die in Form eines Hufeisens angeordnet waren. Die Sitze auf den Ästen nahmen weit oben ihren Anfang und reichten bis zum Boden der Arena hinunter. Das Amphitheater war ebenso beeindruckend wie die Stadt, der es diente. An seinem Eingang wartete der Flußherr auf sie. Er stand in einfachen, unscheinbaren Gewändern inmitten seines Gefolges. Wenn man nicht wußte, wer er war, hätte man ihn an seiner 149
Kleidung nicht erkannt. Allerdings hätte man es an seiner Haltung getan. Er war ein großer, schlanker, eindrucksvoll aussehender Mann, ein Wasserschrat mit silbriger Haut, die so gemasert war, daß sie fast wie Fischschuppen wirkte. Er hatte dickes schwarzes Haar, das, wie bei Willow, die Unterseite seiner Unterarme und die Rückseite seiner Waden entlanglief und Gesichtszüge, die so stark und scharf waren, daß sie aus Stein gemeißelt hätten sein können. Sein Gesicht war ausdruckslos wie eine Maske, aber seine Augen waren hell und schnell. Ben hatte gelernt, die Gedanken des Flußherrn aus seinem Blick zu lesen. Der Flußherr kam auf sie zu, während sie langsamer wurden und abstiegen. Sofort ging er zu Willow, umarmte sie steif und flüsterte ihr zu, er sei froh, daß sie gekommen war. Willow umarmte ihn ebenfalls, aber sie fühlte sich genauso unbehaglich bei der Begrüßung wie er. Ihre Beziehung war weiterhin schwierig, distanziert und von Mißtrauen gezeichnet. Willows Mutter war eine Waldnymphe, die so wild war, daß sie nirgends außer im Wald überleben konnte, und Willows Vater war niemals über ihre Weigerung hinweggekommen, bei ihm zu leben. Während Willow heranwuchs, war sie für ihn eine ständige Erinnerung an die Frau gewesen, die er geliebt hatte und die er nicht länger als eine einzige Nacht hatte halten können. Er hatte seiner Tochter dafür gegrollt, was sie war, und hatte sie von Kindheit an sich selbst überlassen. Selbst nachdem sie erwachsen geworden war, hatte sie für ihn eine Quelle der Enttäuschung dargestellt. Er hatte ihre Heirat mit Ben nicht gebilligt, da er ein Mensch und zudem ein Ausländer war, auch wenn er zum neuen König von Landover erklärt worden war. Er war der Ansicht, daß Willow ihr Volk verraten hatte. Es hatte lange gedauert, bis er ihre Entscheidung akzeptiert hatte. Mittlerweile war er ihr gegenüber nicht mehr so kühl und abweisend wie einst, aber die alten Erinnerungen waren für beide nicht so einfach zu vergessen. Dennoch sorgte er sich aus ganzem Herzen um Mistaya, so daß die Differenzen zwischen Vater und Tochter ein wenig durch seine Verbundenheit zu seiner Enkeltochter überwunden wurden. 150
Wenn es irgend etwas gab, womit er dem kleinen Mädchen helfen konnte, so würde er keine Mühe scheuen, es zu tun. Der Flußherr wandte sich von seiner Tochter ab und machte vor Ben eine formale Verbeugung. Mehr konnte Ben nicht erwarten. Er nickte zurück. »Es wird euch zu Ehren heute abend ein Essen gegeben«, teilte der Flußherr ihnen mit und überraschte damit beide. »Kommt, laßt uns ein wenig reden, während die Vorbereitungen dazu im Gange sind.« Er führte sie von der Arena fort, in der Tische und Bänke aufgestellt und bunte Tischdecken ausgebreitet wurden. Sie gingen zum Park, der Eldero umgab und bis an die ersten Gebäude der Stadt heranreichte. Während sie dahinschritten, rannten Kinder an ihnen vorbei, die sich nicht um die Ermahnungen der Erwachsenen kümmerten, die diese ihnen nachriefen. Es erinnerte Ben an andere Zeiten und Orte, an Annie und die Kinder, die sie hätten haben können, an die Parks von Chicago im Sommer, an Träume, die schon lange begraben waren. Aber die Erinnerung währte nur einen Augenblick. Heutzutage dachte er nur noch selten an seine alte Welt. Er hatte auch nur wenig Grund dazu. Sie durchquerten den Spielbereich und kamen an einen Weg, der einem Strom folgte; er schlängelte sich zwischen den Nadelhölzern hindurch, als versuchte er, ihnen nicht unter die Füße zu geraten. Die Kinder blieben hinter ihnen zurück, es war von ihnen nur noch entferntes Lachen und Rufen zu hören. Die drei waren jetzt allein, aber es war mit Sicherheit anzunehmen, daß die Wachen des Flußherrn irgendwo zwischen den Bäumen lautlos und unsichtbar mit ihnen Schritt hielten. Als sie eine verlassene Lichtung erreichten, auf der sich zwei Bänke über einen kleinen Teich hinweg gegenüberstanden, der mit Blumenbeeten begrenzt war, bedeutete der Flußherr ihnen, sich zu setzen. Ben und Willow ließen sich auf der einen Bank nieder, und der Flußherr schritt automatisch zu der anderen. »Hier werden wir nicht gestört werden«, teilte er ihnen mit, und seine fremdartigen Augen glitten flüchtig über die sonnen151
durchflutete Lichtung. Er blickte sie wieder an. Als er sprach, war sein Tonfall anklagend. »Ihr hättet mich benachrichtigen müssen, daß ihr Mistaya herschickt. Ich hätte eine Eskorte gesandt, um sie zu beschützen.« »Dazu war keine Zeit«, erwiderte Ben ruhig und schluckte die Antwort hinunter, die er am liebsten gegeben hätte. »Ich nahm an, daß Questor Thews und ein Dutzend Wachen genügend Schutz bieten würden. Ich hatte gehofft, daß Rydall sich auf mich konzentrieren würde.« »Jetzt ist Mistaya sein Werkzeug, das er gegen dich verwenden kann«, erklärte der Flußherr bitter. »Hast du irgend etwas erfahren?« fragte Willow in einem Versuch, seinen Zorn abzulenken. Der Flußherr schüttelte den Kopf. »Ich konnte nur den Ort ausfindig machen, an dem der Überfall stattgefunden hat. Bei Mistayas Entführung war eine bemerkenswerte Menge von Magie im Spiel. Selbst mehrere Tage später waren noch Spuren davon zurückgeblieben. Ihren Ursprung konnte ich jedoch nicht ausmachen. Es gab keine Anzeichen von den Angreifern oder den Verteidigern. Es gab keine Fußspuren, die vom Kampfplatz fortführten.« Ben entging nicht die Wortwahl seines Gegenübers. Kampfplatz. Er drängte diesen Gedanken beiseite. »Keine Fußspuren. Wie kann das sein?« Die gemeißelten Gesichtszüge des Flußherrn neigten sich in den Schatten zurück. »Entweder wurden alle vernichtet, oder die Überlebenden brauchten sich nicht zu Fuß zu entfernen.« Er machte eine Pause. »Wie ich schon sagte, war beträchtliche Magie bei dem Überfall im Spiel.« »Hast du darüber hinaus noch etwas herausgefunden?« Der Flußherr schüttelte den Kopf. »Ich habe weder von Rydall noch von Marnhull je gehört. Sie existieren nicht in den Grenzen von Landover. Marnhull muß irgendwo außerhalb liegen. Ich habe vergebens versucht, Rydall und seinen schwarzen Begleiter
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aufzuspüren. Ich habe nach ihnen gesucht; ich habe sogar Fallen aufgestellt. Aber sie sind nicht zu finden.« »Und auch Mistaya und ihre Eskorte nicht?« »Nein.« Ben nickte. Er blickte Willow an und sah die Enttäuschung in ihren Augen. Sie hatte gehofft, daß wenigstens eine winzige gute Nachricht sie hier erwarten würde. »Also sind wir noch genausoweit davon entfernt, Mistaya zu finden, wie zuvor«, meinte er und versuchte, nicht erbittert zu klingen. »Warum hast du uns dann herbestellt?« Der Flußherr saß mit vornehmer Haltung auf der Kante der Bank und blickte zu ihnen herüber. Sein Gesicht war ausdruckslos, und seine Augen ließen kein Gefühl erkennen. »Ich habe eure Anwesenheit erbeten«, berichtigte er mit ruhiger, flacher Stimme. »Ich möchte euch meine Hilfe dabei anbieten, Mistaya wieder in ihr Zuhause zurückzubringen. Es stimmt, daß ich bisher noch nicht viel tun konnte, aber vielleicht kann ich das wiedergutmachen.« Er hielt inne und wartete auf ihre Reaktion. Ben nickte zustimmend. »Wir sind dir für jede Hilfe, die du uns geben kannst, sehr dankbar«, sagte er. Das schien den Flußherrn zu beruhigen. Seine Schultern entspannten sich kaum wahrnehmbar. »Ich weiß, daß wir keine Freunde gewesen sind«, sagte er ruhig. »Ich weiß, daß unser Verhältnis bislang kein sonderlich warmes war.« Er blickte von Ben zu Willow und schloß sie beide in diese Feststellung ein. »Das bedeutet aber nicht, daß ich euch irgendein Leid wünsche. Das tue ich nicht. Ihr wißt auch, wie sehr ich für Mistaya empfinde. Es darf ihr nichts zustoßen.« »Nein«, pflichtete Ben ihm bei. »Kannst du sie finden?« fragte Willow plötzlich. Der Flußherr zögerte. »Vielleicht.« Er warf ihr einen abschätzenden Blick zu. »Ich würde nicht zu schnell die Möglichkeit verwerfen, daß ihr sie selbst finden werdet. Und ich würde ebenfalls nicht die Möglichkeit verwerfen, daß sie einen 153
Weg findet, sich selbst zu befreien. Sie ist ein sehr findiges Kind. Und sehr mächtig. Sie verfügt über große Magie , Willow. Wußtet ihr das?« Willow und Ben tauschten erneut einen Blick aus, diesmal einen der Überraschung. Sie schüttelten gleichzeitig die Köpfe. »Ich spürte es in dem Moment, als wir uns begegneten«, erklärte der Flußherr. »Ihre Macht schläft noch, aber sie ist eindeutig vorhanden. Sie ist eine Einstmals-Elfe von außerordentlichem Potential, und sobald sie ihr Talent entdeckt, sind ihre Möglichkeiten grenzenlos.« Ben starrte ihn an. Er überlegte, ob das gut war. Er hatte niemals ernsthaft angenommen, daß Mistaya über Magie verfügen könnte. Jetzt erschien es ihm lächerlich, daß er nie daran gedacht hatte. Ihre Herkunft machte es möglich, und ihr seltsames Heranwachsen deutete sogar ganz klar darauf hin. Aber sie war seine Tochter, und er hatte niemals glauben wollen, daß sie irgendwie anders sein könnte, als er es erwartete. »Du hast es ihr nicht gesagt?« fragte Willow ruhig. Der Flußherr schüttelte den Kopf. »Das stand mir nicht zu. Soviel weiß ich zumindest über die Rolle eines Großvaters.« »Wird Rydall ihr Talent für Magie spüren?« fragte Ben plötzlich. Der Flußherr dachte nach. »Wenn er selbst ein Wesen der Magie ist, wie es den Anschein hat – wenn er zum Beispiel einer von uns ist, ein Einstmals-Elf, ein Wesen, das Magie verwendet –, dann muß ich annehmen, daß er ihre Macht erkennen wird.« »Aber sie weiß es nicht, also wird ihr das Talent zur Magie nicht helfen«, überlegte Ben. »Sofern Rydall ihr nicht die Wahrheit darüber enthüllt. Oder wenn sie es nicht selbst entdeckt.« Der Flußherr zuckte mit den Schultern. »Ich habe euch nur von ihrer Magie erzählt, damit ihr versteht, daß sie in dieser Situation nicht völlig hilflos ist. Sie ist auf jeden Fall ein kluges und unabhängiges Kind. Es mag sein, daß sie einen Weg findet, sich selbst zu befreien.«
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»Aber du wirst mit deiner Suche nach ihr fortfahren«, drängte ihn Willow. »Du wirst deine Bemühungen, ihr zu helfen, nicht einstellen.« Der Flußherr nickte. »Ich werde nicht aufhören, nach ihr zu suchen, bis sie gefunden ist. Ich werde nichts dem Zufall überlassen, Willow. Du kennst mich zu gut, als daß du das glauben könntest.« Er klang ein wenig verletzt. »Aber die direkte Hilfe, die ich anbieten kann, gilt nicht ihr, sondern euch. Oder, genauer gesagt«, verbesserte er sich und sah Ben an, »sie gilt dir.« Ein kle iner, gelb und schwarz gesprenkelter Vogel flog aus den Bäumen herab und landete am Ufer des Teiches. Er blickte sie ernst an, seine Augen leuchteten hell und wachsam, dann trank er schnell. Er wippte ein paarmal auf und ab, dann schlug er mit den Flügeln und war wieder verschwunden. Der Flußherr sah ihm gedankenverloren nach. »Die Gefahr richtet sich gegen dich, König«, erklärte er und lenkte seinen Blick wieder auf Ben. »Rydall, wer immer er auch ist und woher er auch kommen mag, versucht, dich zu vernichten. Er benutzt Mistaya zu diesem Zweck, und wer immer sich dazu herabläßt, ein Kind zu benutzen, um einen Feind zu töten, der ist in der Tat sehr gefährlich. Ich habe von den gestrigen Angriffen gehört. Das Risiko für dich ist groß, und es wird nicht geringer werden, solange Mistaya nicht befreit und Rydall besiegt worden ist. Aber dies mag einige Zeit dauern. Es wird nicht leicht werden. In der Zwischenzeit müssen wir einen Weg finden, um dich am Leben zu halten.« Ben war genötigt zu lächeln. »Ich verspreche dir, daß ich mein Bestes tun werde.« Der Flußherr nickte. »Dessen bin ich mir sicher. Das Problem ist, daß du nicht über die nötigen Mittel verfügst. Abgesehen von dem Paladin besitzt du keine Magie, um die Magie von Rydall abzuwehren. Rydall weiß das; ich bin sicher, daß er darauf zählt. Es ist etwas sehr seltsam an dieser Herausforderung, die er dir gestellt hat. Sieben Kämpfer, die ausgeschickt werden, um den Paladin zu vernichten, und wenn nur einer erfolgreich ist, mußt du 155
abdanken. Warum? Warum spielt er dieses Spiel? Warum befiehlt er dir nicht, ihm den Thron zu überlassen, weil er sonst deine Tochter töten wird?« »Das habe ich mich auch schon gefragt«, gab Ben zu. »Dann wirst du mir zustimmen, wenn ich dir sage, daß hinter diesem Spiel mehr steckt, als zu sehen ist. Rydall enthält dir etwas Wichtiges vor. Er verbirgt eine Überraschung.« Der Flußherr blickte weg. »Also solltest du vielleicht auch eine Überraschung für ihn bereithalten.« Er stand abrupt auf. »Ich habe eine, die dir vielleicht gefallen wird. Komm mit.« Ben und Willow erhoben sich, und sie gingen in den Wald hinein. Sie folgten ein kurzes Stück einem gewundenen Pfad, der in ein dichtes Gehölz aus Rottannen und Fichten führte. Der Boden war mit Nadeln bedeckt, und die Luft war schwer von ihrem Duft. Es war außerordentlich still zwischen diesen Bäumen; alle Geräusche wurden durch den Waldboden und die schweren, grünen Zweige gedämpft, die um sie herum herabhingen. Die Sonne sank im Westen als rote Scheibe hinter die Bäume; sie war von einem purpurnen Schimmer umgeben. Zwielicht erfüllt den Wald mit langen Schatten und kühlen Stellen, die vom Nahen der Nacht kündeten. Sie erreichten eine zweite Lichtung. Hier wartete eine verhüllte und von einer Kapuze verdeckte Gestalt auf sie. Sie rührte sich nicht, als sie in Sicht kamen. Sie stand absolut reglos da. Der Flußherr führte sie bis auf zwei Meter an die Gestalt heran, dann blieb er stehen. Er winkte der Gestalt zu, worauf sie ihre Kapuze abnahm. Es war eine Kreatur unbestimmbaren Geschlechts und Ursprungs, ihre Haut war holzfarben, Mund, Nase und Augen waren Schlitze auf ihrem flachen Gesicht, das fast keine Züge aufwies. Hinter den Augen glomm ein Licht, aber das war auch alles. Das Wesen war von durchschnittlichem Wuchs, aber sein Körper war unter dem Mantel völlig glatt, dünn und hart.
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Ben warf Willow einen kurzen Blick zu. In ihren Augen zeigte sich Erkennen und etwas, das er seit langer Zeit nicht mehr bei ihr gesehen hatte. Es war Angst. »Dies ist ein Ardsheal«, sagte der Flußherr zu Ben. »Es ist ein Elementarwesen. Es braucht weder Nahrung noch Wasser oder Schlaf. Es braucht nichts, um überleben zu können. Es wurde durch die Magie der Einstmals-Elfen zu einem einzigen Zweck erschaffen: dich zu beschützen. Willow weiß das. Ein Ardsheal kann es mit allem, was lebt, aufnehmen. Es gibt nichts Gefährlicheres.« Ben nickte als Erwiderung, da er nicht sicher war, was er sagen sollte. Er hatte diese Gabe nicht erwartet. Und er war sich nicht sicher, ob er sie wollte. Er blickte das Ardsheal an. Es reagierte nicht. Es schien im Koma zu sein. »Diese Kreatur wird mich beschützen?« wiederholte er. »Bis zum Tod«, sagte der Flußherr. »Ein Ardsheal ist sehr gefährlich, Vater«, bemerkte Willow leise. »Nur für seine Feinde. Nicht für euch. Nicht für den König. Es wird ihm dienen, wie ihm befohlen wird. Wenn es keine direkten Anweisungen erhält, wird es das tun, wofür es erschaffen wurde: Es wird euch beschützen.« Er blickte Willow ein wenig überrascht an. »Fürchtest du dich immer noch vor ihnen?« Sie nickte mit einem seltsamen Gesichtsausdruck. »Ja.« Ben, der gerade nachdachte, bemerkte ihren Blick nicht. »Warum hast du beschlossen, es mir zu geben?« fragte er schließlich. »Ich meine, warum ein Ardsheal statt irgendeiner anderen Art von Magie?« »Eine gute Frage.« Der Flußherr wandte sich ihm zu, so daß das Ardsheal nun zu seinem Schatten wurde. »Rydall erwartet, daß dich der Paladin verteidigt. Er muß Grund zu der Annahme haben, daß dieser zu irgendeinem Zeitpunkt nicht in der Lage sein wird, dies angemessen zu tun. Wenn das tatsächlich geschehen sollte, wird das Ardsheal dasein. Du verteidigst dich gegen einen Feind, den du weder kennst noch verstehst. Du brauchst eine 157
Verteidigung, die dein Feind im Gegenzug nicht erwartet. Das Ardsheal wird diese Verteidigung sein. Nimm es. Es wird dir ein gewisses Maß an Beruhigung geben. Es wird dir Zeit verschaffen, nach Mistaya zu suchen. Es wird uns allen Zeit geben, nach ihr zu suchen.« Er trat einen Schritt näher, und sein gemeißeltes Gesicht beugte sich vor. »Du mußt am Leben bleiben, König Ben Holiday. Wenn du stirbst, ist es sehr gut möglich, daß deine Tochter mit dir stirbt. Sie dient nur einem einzigen Zweck: dich zu ködern. Welchen Grund hast du, anzunehmen, daß man ihr erlauben wird, weiterzuleben, sobald dies erreicht ist? Denke einmal sorgfältig über die Natur deines Feindes nach.« Ben hielt dem Blick des Flußherren stand und tat, wie geheißen. »Er hat recht«, sagte Willow leise, fast widerstrebend. Ben mußte ihr zustimmen. Man brauchte nicht viel nachzudenken, um den Wert zu erkennen, den ein zweiter Beschützer hatte. Es würde ihm vielleicht einen Vorteil gegen Rydalls Kreaturen verschaffen. Wenn es ihn auch nur ein einziges Mal davor bewahrte, den Paladin rufen zu müssen, so hätte es ihm damit bereits einen wertvollen Dienst geleistet. »Ich werde dein Geschenk annehmen«, sagte er schließlich. »Vielen Dank.« Der Flußherr nickte zufrieden. »Eine gute Entscheidung. Und jetzt laßt uns zum Essen gehen.« Das Fest war eine prachtvolle, extravagante Angelegenheit, wie es bei den Einstmals-Elfen üblich war. Da gab es mit Essen beladene Tische, Krüge mit eisgekühltem Ale, Blumengirlanden, Kinder und Erwachsene, die in bunte Kleidung gewandet waren, und überall Musik und Tanz. Der Flußherr plazierte Ben und Willow am Kopf seiner Tafel, hieß sie vor allen Anwesenden im Seenland willkommen und sprach im Namen der Einstmals-Elfen einen Toast auf sie aus. Den ganzen Abend über kamen die Bewohner von Eldero, um sie persönlich zu begrüßen; einige brachten ihnen 158
sogar kleine Gesche nke, andere ihre guten Wünsche. Es brachte Ben und Willow zum Lächeln und half ihnen, sich zu entspannen. Für ein paar Stunden vergaßen sie Rydall von Marnhull und den Kummer, den er ihnen bereitet hatte. Sie aßen, tranken und lachten mit den Einstmals-Elfen und ließen sich von der Fröhlichkeit und dem Feiern einfangen. Die kühle Brise, die von den Bäumen herüberblies, und die Wärme der Leute, die sie umgaben, beruhigte sie angenehm. Um Mitternacht zogen sie sich in ein kleines Gästehaus zurück, das man für sie vorbereitet hatte. Sie fielen erschöpft, aber lächelnd ins Bett, legten sich dicht nebeneinander und hielten sich fest, um sich vor einer Rückkehr der Ängste und Zweifel zu bewahren, die sie hatten zur Seite drängen können. Schließlich schliefen sie, von der Erschöpfung überwältigt, ein. Irgendwann später, aber noch mehrere Stunden vor Anbruch des Morgens, erwachte Ben. Er löste sich aus Willows Armen, stand auf und ging zum Fenster. Die Welt draußen wurde von einem einzigen Halbmond erleuchtet und von einigen Sternen, die durch eine Ansammlung tiefhängender Wolken und ineinander verschränkter Zweige blinzelten. Ben blickte in die Dunkelheit hinaus und versuchte, das Ardsheal zu entdecken. Er fragte sich, ob es wohl da war. Er hatte es nicht mehr gesehen, seit der Flußherr es ihm gezeigt hatte. Zu jener Zeit war es nur allzu wirklich gewesen, aber jetzt kam es ihm so vor, als sei es nur ein Phantasiegebilde gewesen, das er in einem Traum heraufbeschworen hatte. Ein Ardsheal ist sehr gefährlich, Vater, hatte Willow gesagt. Plötzlich sah er es, hinten zwischen den Bäumen, wie ein weiterer nächtlicher Schatten. Er hätte es nicht gesehen, wenn es sich nicht gerade so viel bewegt hätte, daß er es sehen konnte und wußte, daß es da war und Wache hielt. Warum hatte Willow solche Angst vor ihm? War das gut oder schlecht, wenn man seinen Zweck berücksichtigte? Er wußte es nicht. Er verstaute beide Fragen in jenem Schubfach in seinem Kopf, in dem er alle seine unbeantworteten Fragen 159
aufbewahrte, und ging wieder zu Bett. Morgen würde er versuchen, es herauszufinden. Er schmiegte sich eng an Willows Körper und legte seine Arme um sie. Er lag noch lange wach, bevor er wieder einschlief.
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NIGHTSHADES GESCHICHTE
Mistayas Tage im Tiefen Schlund vergingen so schnell, daß sie sich kaum ihres Verstreichens bewußt wurde. Gefangengenommen von ihrem Unterricht in der Magie, vertieft in die Erforschung ihrer neu entdeckten Kräfte und vollkommen in Anspruch genommen von Nightshades ständigen Forderungen, schenkte sie dem Verstreichen der Zeit nur wenig Beachtung. Vielleicht waren es nur Tage, seit sie hergekommen war, vielleicht aber auch Wochen. Eigentlich hatte das keine Bedeutung. Was Bedeutung hatte, waren die Ausübung ihrer Magie und die Fortschritte, die sie dabei erzielte. Darüber war sie erfreut, wenn auch nie befriedigt. Sie hatte schon viel gelernt, aber es war noch immer nicht genug. Sie dachte fast nie an ihre Eltern. Sobald sie erfahren hatte, daß sie wußten, wo sie war, hatte sie sie vollständig aus ihren Gedanken verdrängt. Ihr wachsendes Vertrauen zu Nightshade und ihr Enthusiasmus für ihren Unterricht machten dies einfach. Am Anfang war sie nicht sicher gewesen, ob ihre Eltern wirklich wußten, wo sie war. Doch Nightshades Beteuerungen und ihr eigenes Verlangen, es zu glauben, hatten sie schnell davon überzeugt, daß ihre Befürchtungen unnötig waren und alles in Ordnung war. Nightshade hatte gesagt, daß sie gehen könne, wann immer sie wollte, und so wäre es recht einfach gewesen, herauszufinden, ob die Hexe log oder nicht. Das war für Mistaya Beweis genug, daß man ihr die Wahrheit gesagt hatte. Außerdem würde ihre ständig wachsende Beherrschung ihrer Magie ihrem Vater in seinem Kampf gegen Rydall helfen. Das gab ihr einen zusätzlichen Grund zu bleiben. Ihr Vater brauc hte sie; sie durfte ihn nicht im Stich lassen. Ihr vages Zeitgefühl wurde auch von dem Ort beeinflußt, an dem sie sich befand. Der Tiefe Schlund neigte dazu, Tag und Nacht zu verwischen, Helligkeit und Dunkelheit, einst und jetzt. Er machte alles einander so ähnlich, daß es gleich aussah. Das 161
dichte Dschungeldach des Schlundes sorgte dafür, daß unter ihm alles grau und diesig wirkte. Sonnenlicht drang nicht hindurch. Niemals waren der Mond und die Sterne zu sehen, und die Temperatur schwankte nur sehr geringfügig. Das Aussehen von Mistayas Umgebung blieb immer gleich und unauffällig. Was an Farbe und Helligkeit zu finden war, entsprang ganz allein ihrer Magie, den Wundern, die sie geschehen ließ. Nightshade vermittelte ihr bei jedem Unterricht neues Wissen. Sie lenkte Mistayas Aufmerksamkeit nach innen, so daß sie nur das sah, was sie erschuf, und nichts von der Welt um sie herum. Nightshade war eine gute Lehrerin. Sie hatte endlose Geduld mit ihrer Schülerin, lobte und berichtigte sie, wenn es angemessen war, und machte sich nie über einen fehlgeschlagenen Versuch lustig oder schimpfte mit ihr. Es kam Mistaya so vor, als wäre Nightshade am Anfang hauptsächlich an Ergebnissen interessiert gewesen, mit der Zeit jedoch immer mehr von der Art und Weise gefangengenommen worden, mit der diese Magie ausgeübt wurde. Es schien die Hexe ebenso zu überraschen wie das Mädchen; es schien die beiden außerdem stärker miteinander zu verbinden. Und sie waren sich jetzt schon bemerkenswert nahe, so nahe, daß Mistaya Nightshade schon beinahe wie eine zweite Mutter ansah. Das erschien ihr nicht seltsam. Natürlich würde niemand jemals ihre wirkliche Mutter ersetzen, aber es gab keinen Grund, warum sie nicht mehr als eine haben sollte, von denen jede bestimmte Aufgaben in ihrem Leben wahrnahm. Nightshade war eine starke Persönlichkeit, und ihre Beherrschung der Magie und die Enthüllung ihrer Geheimnisse stellten starke Anreize für das Mädchen dar. Mistaya war sehr jung und leicht zu beeindrucken. Nightshade hatte sie vor Rydall gerettet. Sie hatte sie in den Tiefen Schlund gebracht, damit sie in Sicherheit war. Sie lehrte sie die magischen Künste, damit sie ihrem Vater helfen konnte. Sie erwies sich als gute Freundin und kluge Lehrerin. Mehr konnte Mistaya nicht erwarten. Und doch gab es auch immer noch Zeiten, in denen sie kleine Stiche des Zweifels spürte. Die meisten wurden vom Erscheinen 162
Haltwhistles ausgelöst, der jede Nacht im geheimen zu ihr kam. Auch wenn sie sich keine Sorgen mehr um ihre Eltern oder um Questor Thews und Abernathy machte, so wurde sie durch den Sumpfmoppel immer wieder daran erinnert, daß es außerhalb der Grenzen des Tiefen Schlundes noch ein anderes Leben gab. Sosehr sie es auch versuchte, konnte sie die Erinnerung an jenes Leben nicht auslöschen. Auch wenn Haltwhistle nie etwas sagte oder irgendwie eingriff, wußte sie doch, daß er hier war, um dafür zu sorgen, daß sie es nicht vergaß. Auf der einen Seite beunruhigte sie das, auf der anderen Seite war sie sich jedoch der Warnung der Erdmutter bewußt, daß Gefahren auf sie lauerten, und dem Versprechen, daß der Sumpfmoppel versuchen würde, sie davor zu bewahren, wenn sie einmal pro Tag seinen Namen aussprach. So vollführte sie denn den Balanceakt, sich tagsüber in Nightshades Unterricht zu vertiefen, während sie sich in jeder Nacht an kleine Splitter dessen erinnerte, was sie hinter sich gelassen hatte. Haltwhistle verriet sie nie. Es war riskant, die Anwesenheit des Sumpfmoppels geheimzuhalten. Nightshade würde es nicht gutheißen, aber stand es ihr überhaupt zu, darüber zu urteilen? Hin und wieder hatte Mistaya das Gefühl, daß Haltwhistle sie, verborgen im Nebel und im Grau, bei ihrer Arbeit beobachtete. Kleine Teile von ihm waren manchmal sichtbar: einmal die Augen, das nächste Mal die Füße, dann wieder die Ohren oder die Nase. Bei Nacht kam er auf ihr leises Flüstern zu ihr, saß gerade außerhalb ihrer Reichweite in der nebligen Dunkelheit und war kaum handfester als der Rauch, aus dem er erschien. Guter alter Haltwhistle, sagte sie dann. Und sie lächelte, wenn er mit dem Schwanz wedelte. Doch auch zu anderen Zeiten regten sich Zweifel in ihr, die nichts mit Haltwhistles Erscheinen zu tun hatten. Am merkwürdigsten erschien ihr, daß Nightshade so sehr darauf bestand, Monster zu erschaffen. Zunächst waren es nur zwei gewesen, und Mistaya hatte die Aufgabe als normalen Teil ihrer Ausbildung akzeptiert. Sie rief sich immer wieder in Erinnerung, daß man ihr gesagt hatte, von ihr würden manchmal Dinge verlangt, die sie 163
nicht verstand, und sie müßte diese ohne Einwand ausführen. Das tat sie auch. Versuche dir Wesen auszudenken, gegen die es keine Abwehr gibt, hatte Nightshade sie aufgefordert. Mistaya begann mit Kreaturen, von denen sie in einem Buch gelesen hatte, das ihr Vater aus seiner alten Welt mitgebracht hatte. Sie hatte es einmal zufällig in einer Ecke seiner privaten Bibliothek gefunden. Der Titel war irgend etwas mit Mythen oder Mythologien. Das Buch hatte durch sein Thema und die Fremdartigkeit seiner Sprache ihre Neugier geweckt, und sie hatte es schnell durchge lesen und dann beiseite gelegt. Aber die beschriebenen Kreaturen hatte sie in Erinnerung behalten. Der Riese, der seine Kraft aus der Erde erhielt. Der Doppelgänger, der jeden kopieren konnte, der ihm gegenüberstand. Die ersten beiden Monster, die sie schuf, basierten auf diesen Vorbildern. Es waren eigentlich gar keine Monster, sondern nur Wesen, die mit unmenschlichen Kräften ausgestattet waren. Bis heute war Nightshade sehr zufrieden mit ihren Ergebnissen gewesen. Doch jetzt verkündete sie ganz plötzlich, daß sie von Mistaya wünschte, ein drittes Monster zu erschaffen, das diesmal weniger menschlich und noch mächtiger sein sollte als seine beiden Vorläufer. Das erste Mal, seit sie hier war, stellte Mistaya einen Befehl in Frage. Was war der Sinn darin, ein drittes Monster zu erschaffen? Was war der Grund für diese Übung, nachdem sie sie bereits zweimal ausgeführt hatte? Für einen kurzen Moment dachte sie, daß Nightshade ärgerlich würde. Ihre seltsamen Augen wurden dunkler, und die Sehnen an ihrem schlanken Hals traten etwas hervor. Dann drehte sie sich kurz weg, so daß ihr Gesicht nicht zu sehen war, und wandte sich ihr ebensoschnell wieder zu. »Mistaya, hör mir zu«, sagte sie. Sie war ruhig und überlegt. »Ich habe gehofft, ich könnte dir dies ersparen, aber es geht wohl nicht. Dein Vater wird bereits von Rydall und seinem Zauberer angegriffen. Es werden Kreaturen auf ihn gehetzt, und er ist gezwungen, die Magie Questor Thews’ und Paladins einzusetzen, um zu überleben. Bislang war er erfolgreich. Aber Rydalls Zauberer wird noch größere Kräfte herbeibeschwören. Am Ende wird dein Vater vielleicht nicht mehr in der Lage sein, sich zu 164
verteidigen. Dann wird es an dir liegen. Die beste Verteidigung gegen ein Monster ist ein anderes. Das ist der Sinn dieser Übung.« Nightshades Logik siegte über Mistayas Zweifel. Und so arbeitete das Mädchen den ganzen Tag hart an seiner Schöpfung. Als sich der Sonnenuntergang näherte, war sie erschöpft. Nightshade hatte sie in der Anwendung ihrer Magie sehr weit gebracht, und mittle rweile machte ihr manches, was sie tat, angst. Einiges von dem, was sie sich vorstellte und ins Leben rief, war wirklich erschreckend. Doch Nightshade war schnell zugegen, um alles zusammenzuklauben und in die Truhe der ersten Versuche zu stecken, die sie sicher wegsperrte. Mistaya war erleichtert. Sie wollte nichts von alledem je wiedersehen. Jetzt saß sie allein vor einem kleinen Kochfeuer – das einzige Licht, das die Hexe nach Einbruch der Dunkelheit im Tiefen Schlund erlaubte – und knetete Teig zu Brot, um es mit Gemüse zu braten. Parsnip hatte ihr gezeigt, wie das ging. Sie kochte hauptsächlich für sich selbst, da Nightshade noch weniger aß als Haltwhistle. Tatsächlich blieb Nightshade nie sehr lange bei ihr, nachdem der Unterricht für den Tag beendet war, sondern verschwand an einen Ort, an den sie immer ging, wenn sie allein sein wollte. Gelegentlich blieb sie in der Nähe und nur gerade außer Sichtweite; Mistaya konnte ihre Gegenwart dann spüren. Je näher sie sich kamen, desto stärker nahm das Mädchen auch die Anwesenheit der Hexe wahr. Es war, als brächte die gemeinsame Anwendung von Magie die beiden körperlich ebenso nahe zueinander, wie sie es gefühlsmäßig waren, so als würden Verbindungen geknüpft, die es dem Mädchen erlaubten, mehr über die andere zu erfahren. Sie konnte zwar nicht Nightshades Gedanken lesen oder in ihren Geist eindringen, aber sie konnte ihre Gegenwart spüren. Mistaya fragte sich, ob es Nightshade umgekehrt wohl ebenso ging; sie ahnte aber irgendwie, daß dem nicht so war. In dieser Nacht zog sich die Hexe nicht wie üblich zurück, sondern setzte sich zu Mistaya vor das Feuer. Schweigend sah sie dem Mädchen bei der Arbeit zu, schaute zu, wie sie den Teig knetete und rollte, ihn zu Pasteten formte, wie sie das Gemüse 165
wusch und schälte und dann alles zusammen in eine Pfanne mit Öl gab, um es zu braten. Dann beobachtete sie, wie Mistaya das Essen vom Feuer nahm und aß. Reglos wie ein Stein saß sie da und schaute zu, als wäre das, was sie sah, das Interessanteste, was sie je erblickt hätte. Mistaya ließ sie in Ruhe da sitzen. Sie wußte, daß Nightshade sprechen würde, wenn sie dazu bereit war; sie wußte, daß Nightshade etwas zu sagen hatte. Doch erst nachdem die Pfanne und das Geschirr abgewaschen und in der große Holztruhe verstaut waren, die in der Mitte der Lichtung stand, sagte die Hexe schließlich: »Ich bin sehr zufrieden mit dir, Mistaya. Du machst große Fortschritte.« Das Mädchen schaute auf. »Vielen Dank.« »Deine heutige Arbeit war besonders gut. Was du erschaffen hast, war wundervoll. Bist du ebenso zufrieden wie ich?« »Ja«, log Mistaya. Nightshades kaltes, weißes Gesicht hob sich zum Dunst hinauf, als würde sie nach Sternen Ausschau halten, dann senkte es sich wieder zum Feuer hinab. »Ich werde dir die Wahrheit sagen: Ich war mir nicht sicher, ob du der Aufgabe gewachsen sein würdest, die ich dir gestellt habe. Ich befürchtete, daß du nicht in der Lage sein könntest, die Magie zu meistern.« Ihre Augen wanderten umher, dann richteten sie sich wieder auf das Mädchen. »Mir war von Anfang an klar, daß deine Magie stark ist. Mir war auch klar, daß dein Potential, sie anzuwenden, eigentlich grenzenlos ist. Aber der bloße Besitz von Magie ist niemals genug. Es gibt Dinge, die nicht greifbar sind, die aber den Erfolg des Anwenders bestimmen. Wille ist eines von ihnen. Entschlossenheit. Konzentration und Zielstrebigkeit. Magie ist wie eine große Katze. Du kannst ihre Energie bändigen und lenken, aber du darfst niemals wegschauen, und sie darf nie Furcht in deinen Augen erblicken.« »Ich habe keine Angst vor der Magie«, erklärte Mistaya mit Nachdruck. »Sie gehört zu mir. Sie fühlt sich an wie ein alter Freund.«
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Nightshade warf ihr ein kurzes, kleines Lächeln zu. »Ja. Das kann ich sehen. Du behandelst sie wie einen Freund. Du fühlst dich wohl mit ihr, ohne sie dadurch leichtzunehmen. Dein Gefühl für Gleichgewicht ist sehr gut.« Sie machte eine Pause. »Du erinnerst mich an mich selbst, als ich in deinem Alter war.« Mistaya blinzelte. »Wirklich?« Nightshade blickte durch sie hindurch zu einem weit entfernten Ort. »Sogar sehr stark. Es erscheint mir zwar merkwürdig, mich jetzt Erinnerungen hinzugeben, aber auch ich war einmal so alt wie du. Ich war ein Mädchen, das seine schlummernden Talente entdeckte. Ich war ein Neuling, auf der Suche nach einem Leben, auf der Erkundung meiner Grenzen als Hexe. Es ist sehr lange her.« Ihre Stimme verebbte, während sie weiterhin in die Dunkelheit blickte. Mistaya rutschte dichter an sie heran. »Erzähl mir davon«, ermutigte sie sie. Nightshade zuckte die Achseln. »Die Vergangenheit ist vorbei.« »Aber ich würde es gerne hören. Ich möchte wissen, wie du dich gefühlt hast. Es hilft mir vielleicht dabei, mich selber zu verstehen. Bitte, erzähle es mir.« Die seltsamen, roten Augen richteten sich wieder auf die Gegenwart und fixierten das Mädchen. Sie durchdrangen sie mit einer solchen Grausamkeit, daß Mistaya sich einen Moment lang fürchtete. Dann wurde der wilde Blick müde und verblaßte. »Ich wurde in den Elfennebeln geboren«, begann die Hexe vom Tiefen Schlund, und ihre große, hagere Gestalt war so reglos wie ein Mondschatten in einer windstillen Nacht. Sie fuhr sich mit den schlanken Fingern durch ihr rabenschwarzes Haar. »Genau wie du erbte auch ich das Blut von mehr als einer Welt. Genau wie du erbte ich die Gabe zur Magie. Meine Mutter war eine Zauberin, die aus einer der Welten stammte, die an Landover grenzen, einer Welt, in der Magie gefürchtet wird. Sie war sehr mächtig, und so konnte sie durch die Nebel von einer Welt zur nächsten reisen. Sie war kein Elfenwesen, aber sie konnte sich ohne Probleme unter ihnen bewegen. Eines Tages, als sie gerade auf dem Weg von 167
einer Welt in eine andere war, traf sie meinen Vater. Mein Vater war ein Wechselbalg, ein Wesen, das keine wahre Gestalt hat, sondern jede Form annehmen kann, die ihm nützlich ist. Er sah meine Mutter und verliebte sich in sie. Er nahm eine Gestalt an, die für sie anziehend war: ein Wolf, der ganz aus schwarzem Fell und Zähnen bestand. Schließlich verführte er sie und machte sie sich Untertan.« Ihre Stimme war fla ch und ohne jedes Gefühl, aber Mistaya überhörte nicht die Schärfe darin. »Er behielt sie eine Zeitlang bei sich, dann verließ er sie und ging anderen Interessen nach. Er war ein unbeständiges und verantwortungsloses Wesen, wie alle aus dem Elfenvolk, und nicht fähig, die Bedürfnisse und Verantwortlichkeiten der Liebe zu begreifen. Ich wurde aus dieser Vereinigung geboren, gezeugt in der Tollheit des Frühlingslichtes, wenn sich der zweite Kreis schließt und das Eis des Winters schmilzt.« Ihr Blick wurde wie der entrückt. Ihre Worte, so poetisch und lyrisch sie auch waren, blieben dem Mädchen unverständlich. »Mein Vater nahm die Gestalt eines Wolfes an, als er mich mit meiner Mutter zeugte. Meine Mutter umarmte ihn als Tier und war, so denke ich, ihm in Wildhe it und Leidenschaft gleich.« Sie blinzelte einmal, anscheinend, um ein Bild zu verdrängen, das sich vor ihrem geistigen Auge formte. »Ich erhielt von ihrer Verbindung ein Teil von beiden: Tier und Verrückte, Elf und Mensch, Magie aus der einen Welt und Magie aus der anderen. Ich wurde mit der Fähigkeit geboren, mich in ein Tier zu verwandeln. Ich wurde geboren mit der Verachtung für Leben und Tod.« Sie blickte Mistaya an. »Ich war noch ein Kind und schon bald allein. Mein Vater verschwand, noch bevor ich auf die Welt kam. Meine Mutter gebar mich, aber sie wurde mir bald genommen.« Erneut verstummte sie, und das Echo ihrer Worte durchdrang bitter die Stille. Mistaya wartete; sie wußte, daß sie jetzt nichts sagen durfte.
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»Die Elfen verdammten sie für ihre Bemühungen, eine der ihren zu werden. Sie hatte sich mit einem Elfen gepaart und ein Kind empfangen, und das war nicht erlaubt. Sie wurde ausgestoßen. Sie wurde aus den Nebeln verbannt, und es war ihr verboten, jemals wieder dorthin zurückzukehren. Sie flehte die Elfen an, dieses Urteil noch einmal zu überdenken. Sie wollte, daß ich in den Genuß der Ausbildung und der Erfahrung kam, die nur die Elfen mir geben konnten. Sie wollte, daß ich das Leben meines Vaters ebenso leben durfte wie das ihrige. Sie wollte mir alles ermöglichen. Aber sie wurde abgewiesen. Sie wurde in ihre eigene Welt zurückgesandt. Es bedeutete das Todesurteil für sie. Sie war zu lange in der Lage gewesen, durch die Nebel zu reisen, von einer Welt zur nächsten zu wechseln und dorthin zu fliegen, wohin sie wollte. Die Beschränkung auf eine einzige Welt war ihr unerträglich. Sie ertrug es, solange sie konnte. Dann ließ sie alle Vorsicht fahren und versuchte noch einmal, die Nebel zu durchqueren. Sie ging hinein und kam niemals wieder heraus. Sie verschwand wie Rauch im Wind.« Nightshades Blick wurde wieder scharf. Die Kraft ihrer Worte wurde beinahe greifbar. »Siehst du, wie ähnlich wir uns sind? Genau wie bei dir, wurde es auch mir selbst überlassen, zu entdecken, wer ich war. Wie bei dir, wurde auch mein Geburtsrecht vor mir verborgen. Ich wurde anderen Leuten zur Erziehung übergeben, einem Mann und einer Frau, die nichts von meinen Bedürfnissen verstanden und die die Magie nicht erkannten, die in mir wuchs. Ich blieb eine Weile bei ihnen, aber irgendwann lief ich davon. Ich hatte begonnen, meine Kräfte zu spüren, aber ich verstand noch nicht, sie zu nutzen. Es regte sich etwas in mir, aber ich konnte es nicht benennen. Wie du wuchs auch ich auf Elfenart heran, in Sprüngen, die die menschliche Weise weit überstiegen. Der Mann und die Frau fürchteten sich vor mir. Wenn ich bei ihnen geblieben wäre, hätten sie mich vielleicht getötet.« »Wie dich«, hätte sie beinahe gesagt, tat es aber nicht. Dennoch konnte Mistaya die Worte geflüstert in der Stille hören, und sie erschreckten sie. Sie war natürlich nicht wie Nightshade. 169
Zumindest in dieser Beziehung nicht. Sie erkannte es ganz deutlich. Aber Nightshade verspürte offensichtlich ein überwältigendes Bedürfnis danach zu glauben, daß sie mehr gemeinsam hatten, als sie es wirklich taten. Hier ging etwas vor sich, das das Mädchen nicht verstand. Sie fühlte sich unbehaglich und ermahnte sich zur Vorsicht. Nightshades Augen glitzerten im Feuerschein. »Ich entkam in einen Wald, der an die Elfennebel grenzte und der ein Zufluchtsort für all jene war, die beide Welten in sich trugen, aber von keiner erkannt wurden. Ich fand dort Gefährten. Wir waren keine Freunde, aber wir hatten vieles gemeinsam. Wir waren Gesetzlose, ohne es verdient zu haben; wir waren für das verurteilt worden, was wir waren. Wir lehrten einander, was wir wußten, und lernten soviel wir konnten. Wir erforschten unsere Talente. Wir legten die Geheimnisse frei, die in uns verborgen waren. Es war gefährlich, denn wir waren unerfahren und einige unserer Geheimnisse konnten töten. Mehr als nur ein paar von uns starben. Einige wurden verrückt. Ich hatte das Glück, beiden Schicksalen zu entgehen und mich als Meisterin meines Talentes zu erweisen. Ich ging daraus als erwachsene Frau und Hexe von großer Macht hervor. Ich fand und beherrschte das Wissen.« Das Holz im Feuer knisterte plötzlich und sandte fliegende Funken durch die Luft. Mistaya fuhr zusammen, doch Nightshade rührte sich nicht. Sie blickte starr in das Licht des Feuers und war ganz steif vor Konzentration. Ihre Augen richteten sich auf Mistaya. »Ich war jünger als du, als ich von meinen Kräften erfuhr. Und ich war allein. Ich hatte niemanden, der mich anleitete, so wie du mich hast. Aber wir sind uns sehr ähnlich, Mistaya. Ich war innerlich hart, und nichts konnte mich brechen. Ich war wie aus Stein. Ich ließ mich nicht belügen. Ich ließ mich nicht betrügen oder durch Tricks täuschen. Ich wußte, was ich wollte, und ich suchte nach Wegen, um es zu erlangen. Das alles sehe ich auch in dir. Ich sehe dieselbe Entschlossenheit. Du wirst alles tun, was du dir vornimmst, ohne dich durch etwas abschrecken zu lassen. Du wirst der Vernunft lauschen, aber du wirst dich von ihr nicht notwendigerweise von 170
einer Handlung abbringen lassen, nicht wenn das, was du begehrst, dir wichtig ist.« Mistaya nickte, aber nicht so sehr aus Zustimmung, denn sie war sich nicht sicher, ob sie dieser Einschätzung zustimmte, sondern um die Hexe zum Weiterreden zu ermutigen. Sie wollte noch mehr hören. Sie war fasziniert. »Nach einiger Zeit«, sagte Nightshade langsam, »beschloß ich, in die Elfennebel zu gehen. Ich war verbannt worden, aber das war gewesen, bevor ich das Ausmaß meiner Kräfte entdeckt hatte. Jetzt, so spürte ich, würden die Dinge anders liegen. Ich gehörte zu den Elfen. Es war mein Recht, zwischen den Welten zu wandeln, so wie es meine Mutter einst getan hatte. Ich ging zum Rand der Nebel und rief. Ich rief eine lange Zeit, aber es kam keine Antwort. Schließlich betrat ich die Nebel einfach, fest entschlossen, denje nigen gegenüberzutreten, die mich verbannt hatten. Sie fanden mich sofort. Sie hörten mich nicht an. Sie wiesen mich ab. Ich wurde ausgestoßen und konnte es trotz meiner Magie nicht verhindern.« Ihr Mund war eine zusammengepreßte harte Linie. »Ich gab jedoch nicht auf. Ich ging wieder und wieder zurück, nicht bereit, mich ihren Wünschen zu beugen, und am Ende entschlossen, eher zu sterben als aufzugeben. Jahre vergingen. Ich lebte mehrere menschliche Lebenszeiten, ohne zu altern. Ich unterlag nicht den Gesetzen der Zeit. Ich war mehr Elfin als Mensch. Ich gehörte in die Nebel. Doch noch immer durfte ich sie nicht betreten. Dann fand ich einen Spalt, durch den ich ungesehen in die Nebel eindringen konnte. Ich wechselte meine Gestalt, um nicht entdeckt zu werden. Ich betrat die Nebel und verbarg mich unter ihren geringeren Wesen. Niemand erkannte mich. Ich blieb dort, änderte von Zeit zu Zeit meine Gestalt und hütete mich immer davor, entdeckt zu werden. Ich wurde akzeptiert. Ich stellte fest, daß ich mich frei unter den Elfen bewegen konnte. Ich begann, die Magie so zu benutzen wie sie. Ich lebte so, wie sie lebten. Meine Täuschung war erfolgreich. Ich war eine von ihnen.«
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Sie lächelte zynisch und bitter. »Und dann verliebte ich mich, genauso wie meine Mutter.« Ihre Stimme wurde plötzlich zaghaft und brüchig. »Ich begegnete jemandem, der so schön und begehrenswert war, daß ich mir nicht helfen konnte. Ich mußte ihn haben. Ich sehnte mich verzweifelt danach, ihm zu gehören. Ich folgte ihm, freundete mich mit ihm an, wurde seine Gefährtin, und schließlich gab ich mich ihm ganz hin. Um dies zu erreichen, war ich gezwungen, mich ihm zu offenbaren. Als ich dies tat, wies er mich sofort ab. Er verriet mich. Er enthüllte meine Anwesenheit. Die Elfen kannten kein Mitgefühl. Ich wurde ohne Umschweife verbannt. Weil ich mich verliebt hatte. Weil mich mein Urteilsvermögen getrogen hatte.« Eine Augenbraue wölbte sich in bitterer Rückschau. »Wie bei meiner Mutter.« Sie weinte fast, bemerkte Mistaya plötzlich. Es kamen keine Tränen, aber das Mädchen konnte die scharfe Messerklinge des Schmerzes der Hexe spüren, die scharf und dicht an ihrer Haut war. »Ich wurde hierhergesandt«, schloß Nightshade. »In den Tiefen Schlund. Verbannt aus den Elfennebeln, verbannt aus meinem Heimatland. Verbannt nach Landover, um hier mein Leben zu beenden. Ich hatte meine Magie benutzt und ihrer Welt meinen Stempel aufgedrückt, ohne eine von ihnen zu sein. Ich hatte ihre Gesetze übertreten. Also wurde ich bestraft. Ich wurde an den Kreuzweg all der Welten verbannt, die ich niemals mehr betreten durfte. Ich wurde an den Rand der Nebel verbannt, durch die ich niemals mehr schreiten durfte.« Sie verschränkte ihre Hände, und ihre Finger krümmten sich zusammen. Langsam bewegte sie ihren Kopf von einer Seite zur anderen. »Nein, die Elfen kennen kein Mitgefühl.« »Es erscheint mir sehr ungerecht.« Nightshade lachte. »Das Wort hat für das Elfenvolk keine Bedeutung. Sie haben kein Gefühl dafür. Bei ihnen unterscheidet man nur zwischen Dingen, die erlaubt sind, und Dingen, die verboten sind. Wenn du einmal darüber nachdenkst, ist die ganze 172
Idee der Gerechtigkeit nicht mehr als die Einbildung eines Narren. Schau dir unsere Welt hier in Landover an. Die Gerechtigkeit wird von denjenigen bestimmt, die die Macht haben, sie zu verweigern. Nur Bettler beschwören sie flehentlich, wenn alles andere versagt hat. ›Seid gerecht zu mir!‹ Wie armselig und hoffnungslos!« Sie spie die Worte voller Verachtung aus. Dann beugte sie sich in plötzlicher Eindringlichkeit vor. »Ich habe etwas aus dem gelernt, was man mir angetan hat, Mistaya. Ich habe gelernt, niemals zu bitten, niemals Freundlichkeit zu erwarten, mich niemals auf den Zufall oder das Glück zu verlassen. Meine Magie erhält mich. Meine Macht gibt mir Stärke. Verlasse dich auf diese beiden Faktoren, und du wirst beschützt sein.« »Und verliebe dich nicht«, fügte Mistaya ernst hinzu. »Nein«, stimmte die Hexe zu, und es lag so viel wilde Wut in ihrem Gesicht, daß sie einen Moment lang nicht wiederzuerkennen war. Sie ähnelte einem der Tiere, in die sie behauptete, sich verwandeln zu können. »Nein«, wiederholte sie, und das Wort klang wie aus Stahl geprägt. Mistaya spürte, daß sie an jemanden im besonderen dachte, an einen Ort und eine Zeit, die erst sehr kurz zurücklagen, an ein Ereignis, das noch immer mit rotglühender Hitze in ihr brannte. »Nein, niemals wieder.« Mistaya saß bewegungslos in dem schwindenden Licht des Feuers und wartete, daß Nightshades Wut abklang. Sie machte sich selbst so unscheinbar, daß sie nur wie ein Schatten in der Dunkelheit wirkte, der keinerlei Bedrohung darstellte und völlig unwichtig war. Sie befürchtete, die Hexe würde sie sonst bei lebendigem Leib verschlingen. Nightshade blickte sie an, als ob sie ihre Gedanken lesen würde, dann lächelte sie ihr entwaffnend zu. »Wir sind uns sehr ähnlich«, sagte sie noch einmal, als müsse sie es sich selbst bestätigen. »Du und ich, Mistaya. Die Magie verbindet uns. Wir sind zuerst und vor allem Hexen, geboren mit einer Macht, die andere nur begehren, aber niemals besitzen können. Es ist unser Segen und unser Fluch, abseits der anderen zu leben. Es ist unser Schicksal.«
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Sie hob die Hand, und die Luft erfüllte sich mit smaragdenem Licht, mit einem Staub, der sich in der Dunkelheit ausbreitete und wie Glitzer herabsank. Als sich Mistaya später in ihre Decke wickelte, dachte sie noch immer darüber nach, was Nightshade ihr enthüllt hatte. Soviel Elend, Bitterkeit und Einsamkeit war in dem Leben der Frau. Und soviel Zorn. Wie ich, hatte die Hexe immer und immer wieder gesagt. Du und ich. Mistayas Unsicherheit wuchs, als sie über die Worte nachgrübelte. Vielleicht lag mehr Wahrheit in der Behauptung, als sie bereit war zuzugeben. Sie hatte es nicht glauben wollen, aber nun begann sie, darüber nachzudenken. Da sie auch eine Hexe war, gehörte sie vielleicht wirklich hierher zu Nightshade. Diese Möglichkeit beunruhigte sie so sehr, daß sie fast vergessen hätte, Haltwhistle zu rufen, bevor sie einschlief.
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DER MOLOCH
Die Morgendämmerung brachte einen Wetterumschwung im Seenland mit sich. Als Ben und Willow erwachten, fiel ein langsamer, dauerhafter Regen. Sie kleideten sich an, nahmen ein leichtes Frühstück aus Obst, Brot mit Marmelade und Ziegenmilch zu sich, dann hüllten sie sich in ihre Reisemäntel und machten sich auf die Suche nach dem Flußherrn. Eldero war nebelverhangen und lag unter einer tiefhängenden Wolkendecke. Durch das Dach der Stadt, das aus regendurchnäßten Zweigen bestand, fielen kühle Tropfen auf sie herab, während sie den verlassenen Weg zur Stadt entlangschritten. Sie hatte keine Eile. Der Flußherr würde bereits Nachricht erhalten haben, daß sie wach waren. Er würde kommen, um sie zu treffen, bevor sie gezwungen waren, nach ihm zu fragen; das war so seine Art. Ben schaute sich heimlich nach dem Ardsheal um, sah es aber nicht. Doch er konnte seine Gegenwart fühlen. Er konnte spüren, daß es sie aus der Düsternis heraus beobachtete. Der Flußherr erschien, als sie sich dem Stadtkern näherten. Er stand allein auf einer Lichtung, durch die der Pfad hindurchführte. Er begrüßte Ben mit einem Nicken und Willow mit einer kurzen Umarmung, ohne viel Wärme in beide Gesten hineinzulegen, dann teilte er ihnen mit, daß ihre Pferde bereitstünden. Er fragte sie nicht, ob sie noch etwas länger bleiben mochten. Nachdem er ihnen jetzt das Ardsheal gegeben hatte, erwartete er von ihnen, daß sie die Suche nach Mistaya fortsetzten. Er nahm ihnen das Versprechen ab, ihn über ihre Fortschritte auf dem laufenden zu halten. Bunion erschien mit Jurisdiktion und Kranich. Sein knorriger Körper war gebeugt und tropfte vor Nässe, während seine Augen zu gelben Schlitzen zusammengezogen waren. Als Ben und Willow aufsaßen, legte der Flußherr seine Reserviertheit kurz ab und erklärte ihnen, daß sie nur nach ihm zu senden brauchten, wenn sie seiner Hilfe bei der Befreiung Mistayas bedurften. Er würde dann sofort zu ihnen kommen. Es war eine 175
unerwartete Abweichung von der bewußten Distanz, die er ihnen gegenüber gewöhnlich wahrte. Ben und Willow waren überrascht, zeigten es aber nicht. Sie dankten ihm für sein Angebot und ritten los. Am Rand des Urwaldes, der Eldero schützend umgab, warteten Waldschrate auf sie, um sie durch den Sumpf und das Unterholz zu geleiten. Der Regen dauerte an. Es war ein heftiges Nieseln, das den Boden unter den Hufen ihrer Pferde durchweichte und rutschig werden ließ. Als ihre Führer sie wieder in den weniger dichten Wald jenseits von Eldero gebracht hatten, legten sie eine kurze Verschnaufpause ein. »Hast du es heute morgen schon gesehen?« fragte Ben Willow, während sie den Beutel mit Ale herumreichten. Sie standen unter dem Schutz der Bäume neben ihren Pferden. »Nein«, erwiderte sie. »Aber Bunion hat es gesehen. Er sagt, es folgt uns im Schatten der Bäume und hält stetig Schritt mit uns. Bunion hat es ebenso ungern bei uns wie ich.« Ben warf einen Blick zum Kobold hinüber. Bunion hatte sich in eine Ecke des Unterstandes verkrochen und saß mißmutig drein. »Er sieht wirklich selbst für seine Verhältnisse unglücklich aus.« »Er sieht sich als unser Leibwächter. Die Anwesenheit des Ardsheals gibt ihm das Gefühl, daß er nicht fähig ist, diese Aufgabe zu erfüllen.« Ben schaute sie an. »Du findest auch, daß das Ardsheal nicht bei uns sein sollte, nicht wahr?« »Nein, das stimmt nicht. Ich glaube, daß das Ardsheal dich besser beschützen kann als jeder andere.« Sie bedachte ihn mit einem langen, kühlen Blick. »Das heißt jedoch nicht, daß ich es bei uns haben möchte.« Er nickte. »Das sagtest du schon gestern abend. Was ist der Grund dafür?« Sie zögerte. »Ich werde es dir später sagen. Heute abend.« Sie schwieg einen Moment. »Ich habe Bunion erzählt, daß das Ardsheal ein Geschenk meines Vaters ist und daß es unhöflich
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und möglicherweise gefährlich gewesen wäre, es zurückzuweisen. Bunion hat diese Erklärung akzeptiert.« Ben schaute erneut zu de m Kobold hinüber. Er starrrte Ben mit glitzernden gelben Augen an. Als er bemerkte, daß Ben ihn ansah, lächelte er wie ein hungriger Alligator. »Nun, ich hoffe, du hast recht«, sagte Ben zerstreut. Sein Blick richtete sich wieder auf sie. »Ich habe nachgedacht. Sollten wir nicht versuchen, die Erdmutter zu rufen? Sie scheint immer alles zu wissen, was in Landover vorgeht. Vielleicht könnte sie uns ein paar Hinweise darauf geben, was mit Mistaya und den anderen geschehen ist. Vielleicht weiß sie etwas über Rydall.« Regen tropfte vom Rand von Willows Kapuze auf ihre Nase. Sie zog sie ein wenig vor, um besser geschützt zu sein. »Daran habe ich auch schon gedacht. Aber die Erdmutter wäre mir bereits in meinen Träumen erschienen, wenn sie mir irgendeine Hilfe geben könnte. Mistaya ist ihr sehr wichtig. Sie hätte nicht zugelassen, daß man ihr irgendwie schadet, wenn sie es hätte verhindern können.« Ben stieß mit dem Stiefel gegen ein Stück verrottetes Holz. »Ich wünschte, einige Leute wären ein wenig beständiger mit ihrer Hilfe«, murmelte er säuerlich. Sie warf ihm ein kleines Lächeln zu. »Hilfe ist ein Geschenk, an das man sich niemals gewöhnen darf. Also, wo gehen wir jetzt hin?« Er zuckte mit den Schultern und schaute wieder zu den Bäumen hinüber. Er haßte es, daß er das Ardsheal nicht sehen konnte. Es war schon schlimm genug, von seinen Feinden beschattet zu werden. Mußte er sich jetzt auch noch damit abfinden, von seinem Beschützer beschattet zu werden? Er seufzte. »Nun, ich sehe keinen Grund, warum wir nach Sterling Silver zurückkehren sollten. Wenn wir das täten, würde uns Rydall nur ein weiteres Monster schicken. Und wir wären bei unserer Suche nach Mistaya um kein Stück weitergekommen.« Er runzelte die Stirn, als würde er seine eigenen Argumente anzweifeln. »Ich habe überlegt, daß wir ins Grünland reiten 177
könnten. Kallendbor kennt jeden Widersacher, der Landover jemals heimgesucht hat. Er hat gegen die meisten von ihnen gekämpft. Vielleicht weiß er etwas über Rydall und Marnhull. Vielleicht hat er etwas gehört, das uns bei der Suche nach Mistaya helfen kann.« »Man kann Kallendbor nicht trauen«, mahnte sie ihn ruhig. Er nickte. »Das stimmt. Aber er wird uns bestimmt Rydalls Eroberungsarmee vorziehen. Außerdem schuldet er mir noch etwas dafür, daß ich ihn nicht schwerer für seine Allianz mit dem Gorsen bestraft habe. Und das weiß er. Ich denke, es ist den Versuch wert.« »Vielleicht.« Sie sah nicht überzeugt aus. »Aber du solltest ganz besonders vorsichtig sein, wenn es um ihn geht.« »Das werde ich«, versicherte er ihr und fragte sich, wieviel vorsichtiger er noch sein mußte, jetzt, da der Paladin, Bunion und auch noch das Ardsheal über ihn wachten. Sie saßen wieder auf und ritten weiter. Bunion, dem sie ihr neues Ziel mitgeteilt hatten, eilte durch die Bäume voraus. Er erkundete das Land, das sie durchqueren würden, und überließ sie der Wachsamkeit ihrer unsichtbaren Leibwache. Das Ardsheal blieb im verborgenen. Der Tag verging mit behäbiger Langsamkeit. Der Morgen ging in den Vormittag über, der Vormittag wurde zum Nachmittag. Und noch immer regnete es. Sie ritten nach Nordosten, auf das Grünland zu. Allmählich dünnte der Wald aus, und das Seenland ging in die Hügellandschaft unterhalb von Silver Sterling über. Sie machten zum Mittagessen an einem Strom Rast, wo sie sich unter einer alten Zeder unterstellten. Der Regen tropfte von den durchnäßten Zweigen auf den schlammigen Boden. Die Welt um sie herum war kalt, feucht und still. Nachdem sie das Mahl beendet hatten, ritten sie weiter. Sie sahen den ganzen Tag über ke inen anderen Reisenden. Bei Einbruch der Nacht erreichten sie den Rand des Grünlandes. Von hier aus erstreckten sich grasbewachsene Ebenen durch die Provinzen der unbedeutenderen Fürsten Landovers bis hin zum Melchor. Die Sonne ging als eisengrauer Schimmer über den weit 178
entfernten Bergen im Westen unter. Ben und Willow schlugen ihr Nachtlager in einem Hain aus Kirschbäumen und Blaubonnies auf, der auf einer Erhebung stand. Von hier aus hatte man einen weiten Blick über die Ebene. Bunion kehrte zurück, um mit ihnen das Abendessen einzunehmen – ein kaltes Mahl, das ohne die Wohltat eines Feuers zubereitet wurde –, dann verschwand er wieder. Das Ardsheal tauchte nicht auf. Als die Nacht hereingebrochen war und der Regen zu einem feuchten Nebel versiegt war, der wie geisterhafte Schleier über das Grasland zog, legte Ben seine Arme um Willow, zog sie mit dem Rücken an sich, so daß sie beide in die Düsternis hinausschauten, und sagte: »Erzähl mir über das Ardsheal.« Zunächst sagte sie nichts, sondern lehnte nur steif und regungslos an ihm. Er konnte spüren, wie sie atmete, wie sich ihre Brust hob und senkte, hörte das leise Wispern der Luft, die über ihre Lippen strich. Er wartete geduldig, während er über ihr Haar hinweg zu den dicker werdenden Nebelschwaden blickte. »Es hat immer Ardsheals gegeben«, sagte sie schließlich. »Sie wurden geschaffen, um die Einstmals-Elfen zu beschützen, nachdem diese die Nebel verlassen hatten und in die Welt der Menschen gekommen waren. Die Ardsheals sind eine alte Magie, geboren aus dem Erdwissen, und weil sie Elementarwesen sind, kann man sie von überall herbeirufen. Die Einstmals-Elfen benutzten sie nur selten, denn sie sind Zerstörer, beschworen aus verzweifelter Not. Wenn die Einstmals-Elfen lebensgefährlich bedroht waren und fürchten mußten, daß es Verluste unter ihnen geben würde, dann wurden die Ardsheals gerufen. Gewöhnlich wurden nur ein paar wenige gebraucht. In lange vergangenen Zeiten, noch vor dem alten König, als Landover gerade erst erschaffen worden und noch dabei war, seine Länder und Völker hervorzubringen, herrschte Krieg zwischen den Menschen und den Einstmals-Elfen. Die Menschen besiedelten Landover als erste; die Einstmals-Elfen kamen später und wurden als Eindringlinge angesehen. In den Schlachten, die zwischen ihnen ausgetragen wurden, wurden Ardsheals beschworen, um gegen 179
jene Kreaturen anzutreten, die Zauberer erschaffen hatten, die den Menschen dienten.« Sie hielt inne und sammelte ihre Gedanken. »Das ist sehr lange her. Seit damals werden Ardsheals nur noch selten benutzt. Das letzte Mal ist noch nicht allzulange her. Es geschah, als einer der Dämonen Abaddons den Schutzwall um Eldero in der Verkleidung eines Einstmals-Elfen durchbrach. Er war ein Wesen der Zauberei, ein Wechselbalg, der versuchte, im Herzen des Seenlandes einen Zugang für seine Gefährten zu schaffen. Die Magie, die dort ruhte, so dachte er, würde dann ihnen gehören. So verkleidete er sich, kam in die Stadt und versuchte, meinen Vater zu ermorden.« »Weil er der Flußherr war?« fragte Ben sanft. »Ja. Weil er der Anführer seines Volkes war.« Willows Worte waren fast unhörbar. »Aber es mißlang ihm. Doch bei seinen Mordanschlägen auf meinen Vater tötete er eine Handvoll anderer, darunter mehrere Kinder. Der Dämon konnte entkommen. Es brach eine schreckliche Panik unter den Einstmals-Elfen aus. Und Zorn. Mein Vater und die Ältesten beschworen fünf Ardsheals und schickten sie auf die Suche nach dem Dämon. Die Ardsheals spürten ihm von Haus zu Haus nach, fingen ihn schließlich in einer seiner vielen Verkleidungen und töteten ihn.« Sie holte tief Luft. »Es war mein Haus, in dem er sich verbarg, als sie ihn fanden. Er hatte sich als eine meiner Schwestern getarnt. Er war sehr schlau. Er war zu dem Ort zurückgekehrt, von dem er annahm, daß er dort sicher sein würde: das eigene Haus des Flußherrn. Aber die Ardsheals waren erbarmungslos. Sie können ihre Opfer durch Berührungen, Gerüche, den Geschmackssinn, das leiseste Geräusch und sogar durch die Veränderung der Temperatur aufspüren, die durch einen Schatten verursacht wird. Und doch waren sie nicht perfekt. Nicht an diesem Tag. Sie waren schnell und unvollständig beschworen worden. Hast führte zu Sorglosigkeit. Der Dämon wechselte mehrmals die Gestalt, bis er die annahm, in der sie ihn ertappten. Davor hatte er zuletzt das Aussehen meiner Schwester Kaijelln 180
gehabt. Zu dieser Zeit hatten die Ardsheals ihn schon fast erreicht, und als sie durch den Eingang unseres Hauses stürmten und dabei die Türen zerfetzten, als bestünden sie aus Leinen, da dachten sie, der Dämon wäre noch immer Kaijelln.« »Und so«, flüsterte sie, und ihre Stimme zitterte jetzt, »töteten sie sie, ohne sich die Zeit zu nehmen, die Wahrheit zu entdecken. Sie handelten instinktiv. Sie töteten sie direkt vor meinen Augen.« Ben schluckte, um die Trockenheit in seiner Kehle zu beseitigen. »Dein Vater konnte sie nicht aufhalten?« Willow schüttelte den Kopf. »Sie waren zu schnell. Zu mächtig. Wenn ein Ardsheal angreift, kann nichts es aufhalten. So war es an jenem Tag bei Kaijelln. Sie war von einem Augenblick zum nächsten tot.« Sie schwiegen eine lange Zeit. Ben hielt die Sylphe fest an sich gedrückt. Keiner von ihnen bewegte sich, während sie beide in die Dunkelheit hinausblickten. Irgendwo rief ein Nachtvogel, und ein anderer gab Antwort. Wasser tropf te von Zweigen in die Stille hinein. »Wir hätten es zurücklassen sollen«, sagte Ben schließlich. »Wir hätten es ablehnen sollen.« »Nein!« Dieses Mal war Willows Stimme hart und bestimmt. »Nichts kann einem Ardsheal widerstehen. Nichts! Du brauchst es, um dich gegen das zu schützen, was Rydall gegen dich aussenden wird. Außerdem wird mein Vater alles Erdenkliche unternommen haben, um sicherzugehen, daß dieses Ardsheal tut, was es tun soll, und nicht mehr.« Sie drehte sich plötzlich in seinen Armen um und blickte ihn direkt an. »Verstehst du nicht? Es ist nicht wichtig, daß ich Angst vor ihm habe. Es zählt nur, daß es dich am Leben erhalten wird.« Sie beugte sich vor, und ihr Gesicht war nur noch wenige Zentimeter von seinem entfernt. »So sehr liebe ich dich, Ben Holiday.« Dann küßte sie ihn und fuhr fort, ihn zu küssen, bis er alles andere vergessen hatte.
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Bei Tagesanbruch ritten sie weiter. Der Tag war grau und neblig, aber der Regen war weitergezogen. Bunion, der während der Nacht zurückgekehrt war, reiste diesmal mit ihnen zusammen, eilte jedoch immer eifrig vor ihnen her, um ihnen den Weg zu weisen. Auch das Ardsheal erschien. Als sie ins offene Grasland kamen, tauchte es aus dem Wald auf, um sich etwa zwanzig Meter hinter sie zu setzen. Dort blieb es, während sie weiterreisten, und folgte ihnen wie ein Schatten. Sie beobachteten es eine Weile, indem sie flüchtige Blicke über die Schulter zurück warfen. Sie bewunderten die leichten, flüssigen Bewegungen, mit denen es lief. Es trug keine Kleidung, und sein Körper war völlig ohne Merkmale – Arme, Beine, Füße, Hände, Leib und Kopf waren glatt und glänzten von der Feuchtigkeit, die Haut war nahtlos und straff, die Augen waren schwarze Löcher, die sich in die Dämmerung bohrten. Es gab kein Zeichen des Erkennens von sich, während es ihnen folgte; es sprach nie ein Wort. Es hielt an, wenn sie es taten, wartete geduldig, bis sie sich wieder in Bewegung setzten, und nahm dann wieder sein beständiges Tempo auf. Im Laufe des Vormittag hörten sie auf, sich nach ihm umzusehen. Gegen Mittag dachten sie überhaupt nicht mehr an das Wesen. Das Grasland war dick mit Nebel überzogen. Die Städte und Bauernhöfe des Volkes des Grünlandes und die Festungen der Fürsten tauchten mit geisterhafter Plötzlichkeit vor ihnen auf. Sie ritten um alle herum, da sie Rhyndweir und Kallendbor noch vor Einbruch der Nacht erreichen wollten. An einem Stand auf einem Markt am Rande einer kleinen Stadt kauften sie heiße Suppe und schlürften sie im Weiterreiten aus Zinnbechern. Bunion hatte seine Brühe in einem einzigen Augenblick ausgetrunken und eilte wieder davon. Das Ardsheal blieb im Dämmer zurück; es aß nichts. Ben und Willow ritten schweigend Seite an Seite. Sie waren damit zufrieden, die Begleitung des anderen zu spüren, und hatten kein Bedürfnis nach Worten. Ben verbrachte den größten Teil des Tages damit, über die Geschichte von den Ardsheals und Kaijelln 182
nachzudenken. Er bemerkte, wie er das Ardsheal mit dem Paladin verglich. Beide waren Zerstörer, beide perfekte Kampfmaschinen und beide in seinen Diensten. Somit lag die Verantwortung für jeden Schaden, den sie anrichten mochten, bei ihm. Der Vergleich beunruhigte ihn mehr, als er äußern konnte. Er mußte erneut darüber nachgrübeln, was die Verwandlung in den Paladin seiner Psyche antun mochte. Würde er eines Tages den Punkt erreichen, an dem der Unterschied zwischen ihnen nicht mehr wahrnehmbar war? Würde er dann so wie das Ardsheal werden, eine leidenschaftslose Maschine, eine Kreatur ohne Gewissen, die nur ihrem Meister diente? Ihm wurde bewußt, daß er daran dachte, wie er sich gefühlt hatte, als er in dem Wirrkästchen als Paladin gefangen gewesen war. Er hatte damals keine andere Identität besessen als die des Kämpen des Königs; außer seinen Fertigkeiten als Kämpfer hatte er alles verloren. Die Gedanken wirbelten in seinem Kopf herum und verdrehten sich mit heimtückischer Heftigkeit ineinander. Von neuem zweifelte er an der Stärke seiner Entschlossenheit in den Auseinandersetzungen mit Rydalls Monstern. Er kämpfte mit diesem Gedanken, aber er behielt den Kampf sorgfältig für sich. Am späten Nachmittag kamen sie in Sichtweite von Rhyndweir. Kallendborgs Burg stand auf einem Steilufer am Zusammenfluß von Anhalt und Piercenal. Seine Mauern, Wehranlagen und Türme ragten düster über dem Grasland in die Höhe. Unterhalb der Burgtore lag eine geschäftige und menschenreiche Stadt, in der es von Käufern und Verkäufern aller Art wimmelte: Händlern, Bauern, Waldläufern und Handwerkern. Der Regen hatte wieder eingesetzt, ein graues Nieseln, das sich mit dem Nebel vermischte und die Gebäude und Menschen gleichermaßen verhüllte. Es verwandelte sie in dunkle, vage Schemen in der Düsternis. Ben und Willow waren ohne Fanfare gekommen, ohne Eskorte und ohne vorherige Ankündigung. Es gab niemanden, der sie erwartete hätte, und niemanden, der sie zum Palast geleitete. Aber das war Ben gerade recht. Er wollte Kallendbor überraschen, den Herrn von Rhyndweir unvorbereitet erwischen, so daß dieser gezwungen war, improvisiert auf Bens Erscheinen zu reagieren. 183
Es bestand eine größere Chance, ihn zur Zusammenarbeit zu bewegen, wenn er keine Zeit hatte, Vorteile und Kosten abzuwägen. Ben wurde langsamer, als sie den Anhalt und die Brücke erreichten, die zur Burg hinüberführte. Er rief Bunion zu sich und winkte dann das Ardsheal heran. Zu seiner Überraschung tat es, was von ihm gefordert wurde. Es kam heran und stellte sich direkt neben ihn. Sein Gesicht war flach und ohne Ausdruck, während seine Augen nach vorn starrten. Ben blickte mit hochgezogener Augenbraue zu Willow hinüber, wies sie alle an, dicht bei ihm zu bleiben, und trieb dann Jurisdiktion sachte vorwärts. Sie überquerten die Brücke und betraten die Stadt. Sie ritten durch die Menschenmenge und den Regen, während das Nachmittagslicht allmählich in eine trübe Dämmerung überging. Die Leute eilten jetzt nach Hause, so daß nur wenige den beiden Reitern und ihren zu Fuß gehenden Begleitern Beachtung schenkten. Jene, die es taten, schauten schnell wieder weg. Ein Ardsheal war etwas, über das sie lieber keine Fragen stellten. Als die kleine Gruppe die Burgtore erreichte, wurde sie von den Wachen angehalten, die mit weit aufgerissenen Augen versuchten, sie am Weiterreiten zu hindern, aber Ben befahl einfach dem nächststehenden Bediensteten, sie zum Palast zu geleiten. Die Nachricht ihrer Ankunft würde ihnen ohnehin vorauseilen, und Ben wollte nicht so lange warten, bis der Burgherr von ihrem Eintreffen verständigt war. Ein Kommandeur, der mutiger war als seine Kameraden, stellte die Anwesenheit des Ardsheals in Frage, wurde aber durch Bens barsche Antwort zum Schweigen gebracht. Das Ardsheal war die persönliche Leibwache des Königs. Wo Seine Hoheit hinging – oder seine Königin –, da ging auch das Ardsheal hin. Der Kommandant gab nach. Man ließ sie passieren. Sie ritten durch Hohlgänge und über Kopfsteinpflasterwege, durch mehrere Verteidigungsringe und an den Unterkünften der Soldaten vorbei, bis sie die grasbwachsene Ebene erreichten, auf der sich der Palast erhob. Ihr Führer versuchte, ihr Tempo zu bremsen, damit die Nachricht von ihrer Ankunft den Fürsten 184
erreichen würde und dieser sich darauf vorbereiten konnte, aber Ben trieb Jurisdiktion vorwärts und ritt den bummelnden Bediensteten fast um. Innerhalb von Minuten waren sie vor dem Palasteingang angekommen und saßen ab. Man mußte Kallendbor zugute halten, daß er sofort herauskam, um sie zu begrüßen. Er war allein, abgesehen von dem Türhüter, der nervös am Eingang stand. Offenkundig war keine Zeit gewesen, Bedienstete oder Höflinge herbeizubeordern. Der Herr von Rhyndweir war ein großer, grobknochiger Mann mit feuerrotem Haar und dazu passendem Temperament. Kampfnarben überzogen seine Hände und Unterarme und zeichneten sein ansonsten gutaussehendes Gesicht. Von seiner Hüfte hing ein Breitschwert herab, als sei es ein natürlicher Teil seiner Kleidung. Er kam mit hochrotem Kopf und zornigem Blick auf sie zu, machte aber dennoch eine tiefe und respektvolle Verbeugung vor seinen Gästen. »Hätte ich gewußt, daß Ihr kommt, Eure Hoheit, dann hätte ich ein besseres Willkommen vorbereitet«, sagte er und konnte seinen Verdruß fast verbergen. Er musterte Bunion mit einem kurzen Blick, dann bemerkte er das Ardsheal. »Was hat das zu bedeuten?« fuhr er Ben an. Jetzt war sein Ärger nicht zu verkennen. »Warum bringt Ihr diese Kreatur mit?« Ben warf einen kurzen Blick zu dem Ardsheal, als hätte er vergessen, daß es überhaupt da war. »Es ist ein Geschenk des Flußherrn. Es dient als mein Beschützer. Sollen wir nicht lieber hineingehen und dort, im Trockenen, über alles sprechen?« Kallendbor zögerte. Er sah so aus, als wolle er Einwände vorbringen, überlegte es sich dann aber offensichtlich anders. Er führte sie aus dem Regen in die Vorhalle hinein und dann einen langen Gang entlang. Sie kamen in ein Wohnzimmer, das von einem riesigen Kamin beherrscht wurde, der sich vom Boden bis zur Decke erstreckte. Die lodernden Flammen der Holzscheite, die in der Feuerstelle verbrannt wurden, warfen Hitze und Licht von Wand zu Wand. Als sie zu den Sesseln hinübergingen, die vor dem Kamin standen, tanzten ihre Schatten an den Wänden. 185
Bunion war zurückgeblieben, um nach den Pferden zu sehen. Das Ardsheal blieb an der Tür stehen und verschmolz mit der Dunkelheit des Korridors. Kallendbor ließ sich gegenüber von Ben und Willow nieder. Sein Ärger hatte nicht nachgelassen. »Ardsheals sind schon seit Jahrhunderten die Feinde des Volkes vom Grünland, Euer Hoheit. Sie sind hier nicht willkommen. Das müßte Euch doch bekannt sein.« »Die Zeiten ändern sich.« Ben blickte zu den leeren Gläsern, die neben der Karaffe mit der bernste ingelben Flüssigkeit auf dem Tisch standen. Er wartete, bis Kallendbor zwei von ihnen gefüllt und ihm und Willow gereicht hatte. Die Lippen des Herren von Rhyndweir waren zu einer schmalen Linie zusammengepreßt, und seine großen Hände hatte er zu Fäusten geballt. »Habt Ihr es jetzt bequem genug, Euer Hoheit?« knurrte er. Ben nickte. »Ja, vielen Dank.« Er ignorierte den schroffen Tonfall des anderen. »Entschuldigt, daß ich das Ardsheal mit nach Rhyndweir gebracht habe, aber die Umstände verlangen gerade jetzt außerordentliche Vorsicht. Ich nehme an, Ihr habt von der Drohung gegen mein Leben gehört.« Kallendbor machte eine wegwerfende Geste. »Von Rydall von Marnhull? Ja, ich habe davon gehört. Hat er denn schon etwas in der Sache unternommen?« »Zwei Angriffe bislang.« Kallendbor musterte ihn. »Zwei. Und fünf weitere sollen noch folgen, soweit ich weiß. Aber dem Paladin kann niemand standhalten. Und jetzt habt Ihr zudem noch ein Ardsheal. Die beiden sollten Euch doch ausreichend schützen können.« Ben lehnte sich vor. »Werdet Ihr schrecklich enttäuscht sein, wenn es Ihnen gelingt?« Jetzt lächelte Kallendbor das erste Mal. Es war eine bittere und grimmige Grimasse. »Wir sind keine guten Freunde, Euer Hoheit. Ich habe keinen besonderen Grund, Euch Gutes zu wünschen. Aber Rydall von Marnhull ist ebenfalls kein Freund von mir.« »Kennt Ihr ihn denn?« hakte Ben nach. 186
Kallendbor schüttelte den Kopf. »Ich weiß überhaupt nichts über ihn. Er muß von irgendwo außerhalb von Landover kommen.« »Aber wie ist er durch die Elfennebel gekommen, wenn das der Fall wäre?« »Ebenso wie Ihr, nehme ich an.« Kallendbor zuckte die Achseln. »Er hat wohl Magie benutzt.« Ben nippte an seinem Getränk. Es war ein recht süßer Wein. Den hätte er von Kallendbor nicht erwartet. Neben ihm bewegte sich Willow unruhig. Sie war ungeduldig über das Gespräch und begierig, es zu beenden. Sie mochte Kallendbor nicht, ebensowenig wie Rhyndweir oder das Grünland überhaupt. Sie gehörte zu den Einstmals-Elfen, und die Herren des Grünlandes waren niemals deren Freunde gewesen. Ben blickte kurz in das Feuer, bevor er sich wieder Kallendbor zuwandte. »Dies ist nur ein kurzer Besuch. Eine Nacht, um wieder trocken zu werden. Dann machen wir uns wieder auf den Weg. Wir werden unser Essen in unseren Räumen einnehmen, Ihr werdet Euch also nicht bemühen müssen, uns zu unterhalten. Das Ardsheal wird in unserer Nähe und außer Sicht bleiben. Und Bunion kann sich uns ebenfalls anschließen.« Kallendbor nickte. Es war ein Ausdruck offensichtlicher Erleichterung in seinem Gesicht. »Was immer Euch beliebt, Euer Hoheit. Ich werde Euch heißes Wasser für ein Bad bringen lassen.« Ben nickte. »Da wäre nur noch eine Sache.« Er beugte sich vor, so daß die ganze Kraft seines Blickes auf Kallendbor lastete. »Wenn ich auch nur einen Moment lang glauben würde, daß Ihr etwas über Rydall wißt und es mir vorenthaltet, so würde ich Euch in Ketten legen lassen.« Kallendbor wurde stocksteif. Sein Gesicht lief vor Wut hochrot an. »Euer Hoheit, ich muß mir nicht...« »Denn ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie Ihr Euch vor nicht allzulanger Zeit mit dem Gorsen gegen mich verbündet habt«, fuhr Ben fort und schnitt ihm damit das Wort ab. »Ich hatte guten Grund, Euch auf Lebenszeit zu verbannen und Euch 187
sämtlichen Besitzes zu entblößen. Ich hatte Grund genug, Euch zum Tode zu verurteilen. Aber Ihr seid ein starker Anführer, und Euer Wort hat beträchtliches Gewicht unter Euren Standesgenossen. Ich schätze Euren Dienst für den Thron. Und ich will nicht, daß das Grünland Euch verliert. Zudem glaube ich, daß Ihr in jener Angelegenheit fehlgeleitet wart. Das waren wir alle zu einem gewissen Teil.« Er machte eine Pause. »Aber wenn es erneut geschehen sollte, würde ich nicht zögern, meine Position Euch gegenüber zu überdenken, Fürst Kallendbor. Ich möchte, daß Ihr Euch das merkt.« Kallendbor nickte kaum wahrnehmbar. Er konnte kaum sprechen. »Wäre das alles, Euer Hoheit?« »Nein.« Ben blickte ihn fest an. »Rydall hat unsere Tochter entführt. Das werden Euch Eure Spione vielleicht noch nicht mitgeteilt haben. Sie is t seine Geisel, bis der Paladin entweder alle Kreaturen besiegt hat, die Rydall gegen mich ausschickt, oder selbst vernichtet wurde. Ich bin auf der Suche nach ihr. Aber es ist keine Spur von Rydall von Marnhull zu finden. Niemand scheint mir helfen zu können, Ihr eingeschlossen. Ich bin entschlossen, meine Tochter zurückzubekommen, Kallendbor. Wenn Ihr mir in irgendeiner Weise weiterhelfen könnt, wäre es klug von Euch, dies auch zu tun.« Er wartete. Kallendbor schwieg einen Moment lang. »Ich habe es nicht nötig, Kinder als Geiseln zu nehmen, um meine Kämpfe mit meinen Feinden auszufechten«, brachte er schließlich hervor. Er schien Schwierigkeiten zu haben, die Worte auszusprechen. Ben fragte sich, warum. »Dann werdet Ihr mir sofort Nachricht senden, wenn Ihr irgend etwas hören solltet, was mir dabei helfen könnte, Mistaya zu finden?« bohrte er nach. Kallendbors Gesicht wurde undurchdringlich, flach und ausdruckslos. Ein harter Blick trat in seine Augen. »Ihr habt mein Wort, daß ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um dafür zu sorgen, daß Eure Tochter sicher wieder nach Hause zurückkehrt. Mehr kann ich Euch nicht versprechen.« 188
Ben nickte langsam. »Ich werde Euch beim Wort nehmen.« Es folgte ein langes Schweigen. Dann rutschte Kallendbor unruhig auf seinem Sessel hin und her und sagte: »Wenn Ihr soweit seid, werde ich Euch Eure Räume zeigen.« Zumindest für den Augenblick hatten beide Seiten genug voneinander gehabt. Mitternacht kam und verstrich. Regen strömte aus schweren Gewitterwolken nieder, die die Barriere der Berge überwunden hatten und im Dunklen ins Grasland getrieben wurden. Blitze zuckten in weißglühenden Linien über den schwarzen Himmel und blendeten und betäubten etwaige Betrachter. Jenseits der Mauern von Rhyndweir brandete das aufgepeitschte Wasser von Anhalt und Piercenal, die angeschwollen und mit Treibgut übersät waren, gegen ihre Ufer. Ben schlief unruhig. Schon zweimal war er erwacht und aufgestanden, um sich umzusehen. Das erste Mal hatte ihn die Stille geweckt, das zweite Mal das Brausen des Sturms. Beide Male hatte er erst an der Tür gelauscht, bevor er zu den Turmfenstern des Schlafgemaches gegangen war, um hinunterzuschauen. Sie waren im Westturm untergebracht worden, in Räumen, die gewöhnlich für wichtige Besucher bereitgehalten wurden, hoch oben im Palast und weit weg von der Dienerschaft und anderen Gästen. Von ihren Fenstern ging es über dreißig Meter die felsigen Klippen hinab zum Wasser des Anhalts. Von ihrer Tür führten lange gewundene Treppen an mehreren Stockwerken und unbewohnten Räumen vorbei, bis man schließlich in die Halle gelangte, die zum Hauptteil des Palastes führte. Wie es der Brauch war, lagen die Räume, die für den König von Landover ausgewählt worden waren, abgesondert von den übrigen, und es gab aus Sicherheitsgründen nur einen einzigen Zugang zu ihnen. In dieser Nacht konnte Ben jedoch nur daran denken, daß sie auch nur einen einzigen Ausgang boten.
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Dennoch war es hier sicher. Bunion hielt vor der Tür Wache, und das Ardsheal streifte die Treppen und Gänge unter ihnen entlang. Draußen zuckten Blitze, der Donner rollte, und der Wind heulte über die Ebenen wie eine große, unveränderliche Macht. Doch der Sturm drang, bis auf sein brausendes Geräusch, nicht dorthin, wo Ben und Willow schliefen, und es gab nichts anderes, was den König vom Schlafen hätte abhalten können. Und doch war er unruhig. Und als von der Treppe ein schweres Poltern erklang und Bunion warnend aufschrie, war er bereits wach und saß aufrecht im Bett. Sofort erhob sich auch Willow neben ihm. Ihr Gesicht sah erschreckt aus, ihre Augen waren weit aufgerissen. Die eisenbeschlagene Eichentür zerbarst zu Bruchstücken, die kaum noch von dem Beschlag zusammengehalten wurden, und flog in den Raum. Etwas Riesiges und Dunkles füllte die Türöffnung aus und zerrte an den Steinwänden, die sein Hindurchkommen behinderten. Bunion klammerte sich an das Wesen und riß mit Zähnen und Klauen an ihm, aber es schien den Kobold nicht einmal zu bemerken. Es trat in die Schlafkammer, wobei es Stein und Mörtel beiseite hämmerte, den Türsturz zerschmetterte und den letzten Rest der Tür zerfetzte. Ein Blitz zuckte auf und beleuchtete die monströse Erscheinung. Ben und Willow starrten sie ungläubig an. Es war ein Riese, der von Kopf bis Fuß aus Metall bestand. Mein Gott, dachte Ben in betäubter Überraschung, es ist ein Roboter! Eisen quietschte und stöhnte, als er mit erhobenen Armen und geöffneten Fingern auf sie zukam. Die Kreatur bestand aus Metallplatten und eisernen Verstrebungen. Ein Roboter! Aber es gab keine Roboter in Landover, überhaupt keine Art von mechanischen Menschen! Niemand hatte hier jemals von so etwas auch nur gehört! Willow schrie auf und sprang aus dem Bett. Ben wich zurück, rutschte jedoch auf dem Bettzeug aus und fiel hin. Sein Kopf schlug hart auf dem hölzernen Kopfstück des Bettes auf, und seine 190
Augen füllten sich mit blitzenden Lichtern und Tränen. »Ben!« hörte er Willow schreien, aber er konnte keine Antwort herausbringen. Er wußte, er mußte etwas unternehmen, aber der Schlag gegen den Kopf hatte ihn so erschüttert, daß ihm nicht einfiel, was. Eine Waffe! Er brauchte eine Waffe. Durch den verschwommenen Vorhang seiner Tränen sah er, wie der Roboter Bunion wegschleuderte, als bestünde der Kobold nur aus Papier. Die massiven Eisenfüße des Monsters schlugen einen schweren Rhythmus, während es auf das Bett zuschritt. Es griff nach dem Fußteil und riß es weg. Das Bett brach mit einem Krachen zusammen. Ben rollte sich heraus und versuchte, auf die Beine zu kommen. Bunion griff erneut an, aber diesmal schlug ihn der Roboter so hart beiseite, daß der Kobold mit einem hörbaren Knirschen gegen die Wand prallte, auf den Boden rutschte und reglos liegenblieb. »Ben, ruf den Paladin!« rief Willow aus, während sie in dem vergeblichen Versuch, das Monster zu verlangsamen, Bettzeug und zerbrochene Möbelstücke nach dem Roboter warf. In dem Moment erschien das Ardsheal. Es flog aus der Dunkelheit durch die Türöffnung und krachte von hinten gegen den Angreifer. Die Gewalt des Aufpralls ließ den Roboter einen Augenblick lang schwanken, bevor er sich umwandte. Das Ardsheal stürzte sich furchtlos auf den Riesen und rang mit ihm, um ihn zu Boden zu werfen. Wieder zuckte ein Blitz auf und zeichnete die Umrisse der Kämpfenden nach, die sich auf der Suche nach Halt über den Boden des Schlafzimmers schoben. Willow schoß an ihnen vorbei, um zu Ben zu gelangen, der inzwischen benommen an der gegenüberliegenden Wand lehnte. Blut rann seine Schläfe hinab. Er tastete nach dem Medaillon, um den Paladin zu beschwören, aber zu seinem Entsetzen konnte er es nicht finden. Das Medaillon und die Kette, an der es hing, waren verschwunden! Der Roboter und das Ardsheal krachten, in tödlichem Kampf ineinander verkeilt, gegen die Steinmauer. Sie waren wie große 191
Bären in ihrem schrecklichen Streit gefangen. Das Ardsheal packte mit seinen Händen einen der großen, metallenen Unterarme des Roboters und zog mit Gewalt daran. Plötzlich kreischte das nachgebende Metall auf, und Unterarm und Hand lösten sich und fielen zu Boden. Sofort umklammerte der Roboter das Ardsheal, wobei sich seine intakte Hand fest um die Überreste seines zerstörten Armes legte, und zog die Arme zu einem zermalmenden Griff zusammen. Das Ardsheal machte sich steif und warf den Kopf zurück. Etwas in ihm zerbrach mit einer Reihe deutlich hörbarer Knacklaute. Willow griff sich ein Stück der zerborstenen Tür, stürmte mit einem Schrei vor und schmetterte die improvisierte Keule in das Gesicht des Roboters. Das Monster schien den Schlag jedoch gar nicht zu bemerken, es konzentrierte noch immer all seine Kraft auf das Ardsheal. In dem Augenblick sprang Ben herbei, der wieder etwas sehen konnte. Er riß Willow zurück, schnappte sich ein großes Stück Bettzeug, warf es dem Roboter über den Kopf und zerrte an den Enden. Der metallene Riese verdrehte den Kopf und begann dann, sich umzudrehen, ohne jedoch das gefangene Ardsheal loszulassen. Doch sein Stiefel verfing sich im Bettzeug, und er stolperte. Um sein Gleichgewicht wiederzuerlangen, mußte er den Griff lockern. Sofort riß sich das Ardsheal los. Aus Mund und Nase rann ihm eine dunkle Flüssigkeit, und seine Gelenke sahen aus, als hätten sie sich aus ihren Verankerungen gelöst. Doch es schien seine Verletzungen nicht zu spüren. Es griff von neuem an. Mit beiden Fäusten hämmerte es gegen den Roboter und stieß ihn rückwärts auf das offene Fenster zu. Als der Roboter zu ihm herumwirbelte, warf sich das Ardsheal mit einem wilden Sprung auf ihn, der beide Kämpfer gegen die vergitterte Öffnung schmetterte. Stein und Mörtel gaben unter ihrem vereinten Gewicht nach, und die Eisenstäbe brachen los. Der Fensterrahmen und ein Teil der umgebenden Wand wurden beschädigt.
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Dann klammerte sich das Ardsheal an dem Roboter fest und sprang mit ihm durch die Öffnung. Beide Kreaturen fielen in die Nacht hinaus. Ben und Willow erreichten die regendurchnäßte Öffnung einen Augenblick später – zu spät, um ihren Fall zu sehen, aber noch rechtzeitig genug, um zu hören, wie sie auf den Felsen aufschlugen und in den Fluß fielen. Der Regen durchnäßte ihre Köpfe und Schultern, als sie sich in die Dunkelheit hinauslehnten und hinunterspähten. Blitze zuckten auf und erleuchteten die schlüpfrigen Burgmauern, die leeren Felsen und den brausenden Fluß. Auf den Felsen bewegte sich nichts. Auch im Fluß war nichts zu sehen. Ben zog Willow in den Raum zurück und umarmte sie fest. Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. Er konnte spüren, wie sie schluchzend tief Luft holte. »Verdammter Rydall!« fluchte er ihr ins Ohr und versuchte, sein eigenes Zittern zu unterdrücken. Ihre Finger gruben sich in seinen Arm, während sie ihm wütend mit einem Nicken zustimmte.
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HILFE VOM DRACHEN
Erst hinterher entdeckte Ben, daß er das Medaillon noch immer trug. Er blickte an sich hinunter, und da war es: Es hing an der Kette um seinen Hals. Einen Augenblick lang konnte er es nicht glauben. Er hielt es hoch und starrte es an. Die vertraute Gravur des Paladins, wie er bei Sonnenaufgang aus Sterling Silver hinausritt, glitzerte ihm entgegen. Er war so sicher gewesen, daß er es verloren hatte. Er hatte nach ihm gesucht, und es war nicht dagewesen. »Ben, stimmt etwas nicht?« fragte Willow schnell, als sie den Ausdruck in seinem Gesicht sah. Er schüttelte den Kopf und ließ das Medaillon wieder fallen. »Nein, nichts. Ich habe nur...« Er brach, noch immer verwirrt, ab. Der Schlag gegen seinen Kopf mußte ihn schlimmer betäubt haben, als er gedacht hatte. Aber er war sich so sicher gewesen! Als er nach dem Medaillon gegriffen hatte, war es nicht dagewesen! Willow drang nicht weiter in ihn. Sie ging zu dem Kleiderschrank und holte frische Kleidung heraus. Sekunden später stürmte eine Abteilung der Palastwachen mit gezückten Waffen die Treppe herauf, um endlich auf den Angriff zu reagieren. Ben und Willow, die bereits dabei waren, sich um Bunion zu kümmern, ignorierten sie. Der Kobold hatte beträchtliche Prellungen, schien aber sonst in Ordnung zu sein. Kobolde sind zähe kleine Burschen, dachte Ben bewundernd. Er war erleichtert darüber, daß sein Freund nicht ernsthaft verletzt worden war; jeder andere wäre wahrscheinlich getötet worden. Die Palastwachen stöberten in dem Zimmer herum, starrten durch das Loch in der Mauer in den nächtlichen Regenguß hinaus und schienen sich hauptsächlich unwohl zu fühlen, daß sie gezwungen waren, überhaupt hier zu sein. Ihnen war bewußt, daß der Überfall fast Erfolg gehabt hätte, und sie fürchteten die
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Reaktionen des Königs und Kallendbors darauf, daß sie nicht in der Lage gewesen waren, ihn zu vereiteln. Ben, für seinen Teil, war zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, als daß er sich damit abgegeben hätte, Schuldzuweisungen auszusprechen; er grübelte immer noch über die Unvermitteltheit des Überfalls nach und über die Umstände, die ihn begleitet hatte. Kallendbor, der mit nacktem Oberkörper und dem Breitschwert in der Hand in den Raum stürzte, war jedoch weniger wohlmeinend. Nachdem er von Ben eine verkürzte Version des Überfalls gehört hatte, beschimpfte er lauthals jeden in Hörweite. Dann schickte er einen Suchtrupp zu den Flußufern hinunter, um nach Spuren des Ardsheals oder von Rydalls Monster zu suchen. Andere ließ er die Burg durchkämmen, um sicherzustellen, daß es keine weitere Bedrohung geben würde. Ben, Willow und Bunion wurden in anderen Räumen untergebracht, und es wurden Wachen abgestellt, die Befehl hatten, sie den Rest der Nacht mit höchster Wachsamkeit zu beschützen. Offensichtlich unangenehm von dem Vorfall berührt und darauf bedacht, nicht länger als nötig in ihrer Gesellschaft zu bleiben, wünschte Kallendbor ihnen dann schroff eine gute Nacht und ging wieder zu Bett. Die erschöpfte Willow und Bunion taten es ihm schnell gleich. Ben jedoch blieb noch lange wach und dachte über das letzte Monster nach. Zwei Dinge beschäftigten ihn, und für keines fand er eine Lösung. Das erste war, wie die Kreatur überhaupt in die Burg gekommen war. Wie war es ihr gelungen, an Kallendbors Wachen und an dem Ardsheal vorbeizugelangen? Etwas, das so groß und ungeschlacht war, hätte dazu nicht in der Lage sein dürfen. Es hätte nicht einmal an den Vordertoren vorbeikommen dürfen. Das hieß natürlich, wenn es überhaupt durch die Tore gekommen war und nicht durch Magie in den Palast eingedrungen war, was die einzige Schlußfolgerung war, die einen Sinn ergab. Und das brachte ihn zu der Überlegung – obwohl es zugegebenermaßen weit hergeholt war –, ob nicht auch während des Kampfes Magie benutzt worden war, um ihn glauben zu lassen, daß er das 195
Medaillon verloren hatte. Wie hätte es sonst sein können, daß er es nicht gefunden hatte – auch wenn er von dem Schlag gegen den Kopf betäubt und die Situation sehr hektisch gewesen war –, wenn es doch direkt um seinen Hals gehangen hatte? Die zweite Sache, die ihn beschäftigte, war, daß irgend etwas an dem Roboter ihm vage bekannt vorkam, aber er konnte sich nicht erklären, wie das sein konnte. Es gab keine Roboter in Landover, und soweit er wußte, existierte nicht einmal die Vorstellung, ein solches Wesen könne in der Zukunft erschaffen werden. Folglich mußte er es in seiner alten Welt in einem Film, einem Comic oder etwas dergleichen gesehen haben, denn auch dort waren Roboter ja im wesentlichen noch Zukunftsmusik. Er durchforstete sein Gedächtnis nach einer Erinnerung daran, aber ihm fiel nichts ein. Als er schließlich kurz vor Tagesanbruch einschlief, war er immer noch vergeblich darum bemüht, den Grund für dieses Wiedererkennen zu finden. Willow weckte ihn irgendwann am Vormittag. Der Himmel war wieder klar; der Regen war nach Osten gezogen. Ben lag noch einen Moment lang still da und betrachtete sie, wie sie neben ihm saß und ihn auf diese besonders wunderbare Art anlächelte. Er traf eine spontane Entscheidung. Willow litt unter dem Verlust von Mistaya und unter Rydalls Drohung ebensosehr wie er. Es war falsch, seine Gedanken für sich zu behalten. Also erzählte er ihr alles, selbst einen Teil dessen, was er zuvor noch niemandem anvertraut hatte: daß das Medaillon und der Paladin miteinander verbunden waren, daß das Medaillon den Paladin heraufbeschwor. Sie waren allein im Zimmer, da Bunion verschwunden war, um irgendeine Sache zu erledigen, über deren Natur er nicht gespr ochen hatte. Willow hörte sich aufmerksam alles an, was Ben zu sagen hatte, dann nahm sie seine Hände und hielt sie fest in den ihren. »Wenn jemand das Medaillon manipuliert hat«, sagte sie ruhig, während sie dicht neben ihm auf dem Bett saß, »dann muß derjenige, wer immer es auch gewesen ist, wissen, daß es deine
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Verbindung zum Paladin darstellt.« Sie blickte ihn einen Augenblick lang fest an. »Wer, außer mir, könnte das sein?« Die Antwort war: niemand. Nicht einmal Questor Thews kannte die Verbindung, obw ohl er, abgesehen von Ben, mehr als jeder andere über das Medaillon wußte. Die meisten wußten, daß es das Symbol und Eigentum jenes Mannes war, der Landover als König regierte. Ein paar wenige wußten, daß es seinem Träger einen Weg durch die Elfennebel bahnte. Nur Ben, und jetzt auch Willow, wußten, daß es den Paladin heraufbeschwor. In diesem Augenblick war er fast versucht, ihr alles über das Medaillon zu erzählen, auch das letzte seiner Geheimnisse. Er hatte ihr berichtet, wie es ihn mit dem Paladin verband, wie es ihm erlaubte, den Kämpen des Königs zu beschwören. Warum sollte er ihr nicht auch erzählen, auf welche Art er und der Paladin miteinander verbunden waren, daß der Paladin eine andere Seite seiner selbst war, eine dunklere Seite, die Gestalt annahm, wenn er sich einem Kampf stellen mußte? Er hatte jetzt schon mehrfach daran gedacht, es ihr zu sagen. Es war das letzte Geheimnis, daß er bezüglich der Magie des Paladins vor ihr hatte, und plötzlich belastete es ihn auf beinahe unerträgliche Weise. Dennoch schwieg er. Er war noch nicht bereit dazu. Er war sich noch nicht sicher. Die Größe einer solchen Enthüllung konnte unerwartete Folgen haben. Er wollte Willows Bindung zu ihm nicht dadurch auf die Probe stellen, daß er ihr eine solch furchtbare Wahr heit mitteilte. Er hatte selbst jetzt noch, nach so langer Zeit, Angst davor, sie zu verlieren. »Wohin gehen wir jetzt, Ben?« fragte sie auf einmal und unterbrach damit sein Grübeln. »Du hast doch nicht vor, noch länger hier zu bleiben, oder?« »Nein«, erwiderte er, erleichtert, sich einem anderen Thema zuwenden zu können. »Kallendbor scheint uns nicht weiterhelfen zu können, also haben wir keinen Grund zu bleiben. Wir reisen ab, sobald ich angezogen bin und wir etwas gegessen haben. Wo ist übrigens Bunion?«
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Der Kobold kehrte just in dem Moment in die Schlafkammer zurück, als Ben mit Waschen und Anziehen fertig war. Bunion war in der Lage gewesen, eine starke Geruchsspur von dem Roboter aufzunehmen, und war die Treppe hinuntergestiegen, um seine Fährte aus der letzten Nacht zurückzuverfolgen. Es war nur ein kurzer Weg gewesen. Ein Großteil der Fährte war durch die Wachen zertrampelt worden, die die Treppe herauf und herunter gelaufen waren, aber es war noch genug von dem Geruch übriggeblieben, um festzustellen, daß Rydalls Monster ein Stockwerk unter dem ihren aus dem Nichts auf dem Treppenabsatz aufgetaucht war. Ben schaute Willow an und blickte dann wieder zu dem Kobold zurück. Sie wußten alle, was das bedeutete. Bunion teilte ihnen außerdem mit, daß ein gründliches Absuchen des Anhalts und seiner Ufer durch Kallendbors Soldaten keine Spur von ihrem Angreifer oder dem Ardsheal zutage gefördert hatte. Sie orderten ein Frühstück, das sie auf ihrem Zimmer einnahmen, dann packten sie ihre Habseligkeiten zusammen und gingen zur Haupthalle hinunter. Dort erwartete sie Kallendbor mit ernstem Gesicht und wegen der Geschehnisse der letzten Nacht sichtlich zahmer geworden. Ben teilte ihm mit, daß sie sofort abreisen würden, worauf sich eine verborgene Erleichterung in seinen Augen zeigte. Ben hatte dies erwartet, da sie selbst unter den besten Umständen kaum Freunde zu nennen waren. Er entbot dem anderen seinen Dank für die Gastfreundschaft und ließ ihn erneut versprechen, ihn sofort zu benachrichtigen, falls er etwas über Mistaya oder Rydall erführe. Kallendbor begleitete sie noch bis zu den Toren seines Palastes, wo ihre Pferde bereits gesattelt auf sie warteten. Ben lächelte in sich hinein. Kallendbor würde niemals einen guten Pokerspieler abgeben. Sie saßen auf und ritten durch die Burgtore hinaus in die Stadt. Als sie die Brücke über den Anhalt überquert hatten, schlugen sie südwestliche Richtung ein, auf Sterling Silver zu. Willow blickte Ben fragend an, aber er zog nur eine Augenbraue hoch und sagte nichts. Erst nachdem sie die Burg weit hinter sich gelassen hatten 198
und sich mitten im Grasland befanden, zügelte er Jurisdiktion und hielt an. »Ich wollte nicht, daß Kallendbor sieht, wo wir wirklich hinreiten«, erklärte er. »Und wohin ist das?« »Nach Osten, in das Ödland, zu dem einzigen noch verbleibenden Wesen, das etwas über Mistaya wissen könnte.« »Ich verstehe«, erwiderte Willow ruhig, die seinen Gedankengang bereits erraten hatte. »Er wird mit dir sprechen. Er mag dich.« Sie nickte. »Vielleicht wird er es tun.« Sie ritten wieder zum Anhalt zurück und folgten für den Rest des Tages seinem Lauf. Bei Einbruch der Nacht hatten sie den Rand des Ödlandes erreicht. Sie lagerten im Schutz eines Eschenhaines auf einem Hügel, der ihnen in alle Richtungen einen guten Blick auf das umliegende Land bot. Sie aßen ein kaltes Abendbrot. Bunion bot ihnen an, die ganze Nacht Wache zu halten, aber Ben wollte davon nichts wissen. Der Kobold benötigte seine Ruhe ebensosehr wie sie, vor allem, wenn er beim nächsten Angriff von irgendeinem Nutzen sein sollte – und es machte keinen Sinn mehr, vorzugeben, es gäbe keinen nächsten. Da sie alle aufeinander angewiesen waren, würden sie auch alle Pflichten miteinander teilen, beharrte Ben. In dieser Nacht suchte sie kein Monster heim, und Ben schlie f ungestört. Am Morgen fühlte er sich frisch und erholt. Auch Willow sah ausgeruht aus. Alle drei sahen hoffnungsvoll dem entgegen, was sie am heutigen Tag erwartete. Selbst Bunion hatte das Reiseziel erraten. Er eilte voraus, um den Weg auszukundschaften, während Ben und Willow in gemächlicherem Tempo folgten. Sie ließen das Grünland hinter sich und kamen ins Ödland. Der Tag war bedeckt und grau, aber es sah nicht nach Regen aus. Selbst ohne Sonnenschein war die Luft heiß und trocken. Die Erde war ausgedörrt und gesprungen und das Land ohne Leben und so still wie der Tod.
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Gegen Mittag waren sie bereits tief im Ödland, und Bunion kam zurück, um ihnen zu berichten, daß die Feuerquellen direkt vor ihnen lagen und Strabo, der Drache, zu Hause war. »Wenn irgend jemand etwas über Rydall weiß, dann ist es Strabo«, sagte Ben zu Willow, während sie in die felsige Hügellandschaft ritten, die die Quellen umgaben. »Strabo kann überall hin, wo er will, und vielleicht ist er schon einmal durch die Elfennebel nach Marnhull geflogen. Es ist zumindest die Frage wert. Solange du sie stellst.« Strabo hatte nicht viel für Holiday übrig, obgleich sie sich seit ihrem Erlebnis in dem Wirrkästchen etwas nähergekommen waren. Aber der Drache mochte Willow sehr gern. Er erklärte gern, daß Drachen schon immer eine Schwäche für schöne Maiden gehabt hätten, auch wenn er von Zeit zu Zeit glaubte, sich darin getäuscht zu haben, und dann behauptete, daß Drachen sie in Wirklichkeit gerne fraßen. Zu stolz, um seine Verwirrung zuzugeben, hatte er sich bei mehreren Gelegenheiten vom Charme der Sylphe verzaubern lassen. Dennoch war jeder Besuch bei den Feuerquellen eine neue und ungewisse Erfahrung, und Strabo, der Drache, war selbst zu seinen besten Zeiten unberechenbar und eigenwillig. Als sie nahe genug herangekommen waren, um die Hitze der Feuerlöcher zu spüren – lange nachdem sie bereits den Rauch wahrgenommen und den Gestank eingeatmet hatten –, stiegen sie ab, banden die Pferde an und gingen zu Fuß weiter. Es war ein schwieriger Weg, über zerklüftete, tote Hügel und durch felsige Schluchten. Bunion ging wie immer voran, aber er blieb jetzt dicht bei ihnen. Sie waren einige Minuten gelaufen, als sie das Zermalmen von Knochen hörten. Bunion blickte über die Schulter zurück und bleckte seine Zähne zu einem humorlosen Lächeln. Der Drache war beim Essen. Sie erstiegen einen Kamm, und da war er. Strabo lag zusammengerollt um eine der Quellen herum. Sein zwölf Meter langer, sehniger Körper war pechschwarz und überall mit Dornen und Stacheln bedeckt; an einigen Stellen war er rauh, 200
an anderen wiederum glatt. Er war gerade dabei, die Überreste eines Kadavers zu verzehren, der wohl einst eine Kuh gewesen war, obgleich man das schwer sagen konnte, da der Drache ihn bereits auf die Beine und einen Teil einer Hüfte reduziert hatte. Seine bösartigen, geschwärzten Zähne glänzten, während er an einem großen Knochen nagte und ihn von den letzten Fetzen Fleisch befreite. Seine gelben Augen, die von seltsamen, rötlichen Lidern geschützt wurden, waren auf den Knochen gerichtet, aber als die Neuankömmlinge auf der Erhebung auftauchten und in Sicht kamen, hob sich sein gehörnter Kopf und schwang herum »Gesellschaft?« zischte er nicht allzu freundlich. Seine gelben Augen weiteten sich und blinzelten. »Oh, Holiday, du bist’s nur. Wie langweilig. Was willst du?« Seine Stimme war tief und knurrend. »Warte, sage es mir nicht, laß mich raten. Du bist wegen dieser Kuh hier. Du hast den ganzen weiten Weg von den Annehmlichkeiten deines glänzenden, kleinen Schlößchens hierher auf dich genommen, um mich wegen dieser Kuh zu tadeln. Spar dir den Atem. Die Kuh streunte wild herum. Sie ist in das Ödland getrottet und wurde dadurch zu meinem Eigentum. Also bitte keine Belehrungen.« Es überraschte Ben immer wieder, daß der Drache sprechen konnte. Es widersprach allem, was ihn seine Lebenserfahrung in seiner alten Welt gelehrt hatte. Aber andererseits existierten schließlich in seiner alten Welt überhaupt keine Drachen. »Diese Kuh ist mir egal«, teilte Ben ihm mit. Er hatte Strabo einst das Versprechen abgenommen, kein Vieh mehr zu stehlen. Das Maul des Drachen öffnete sich weit, und er lachte auf seine gewisse Art. »Nicht? Nun, in dem Fall kann ich dir ja gestehen, daß sie sich vielleicht doch nicht ganz innerhalb der Grenzen des Ödlands befand, als ich sie mir schnappte. So, jetzt fühle ich mich besser. Die Wahrheit erleichtert einem doch das Gewissen.« Seine Augen verengten sich wieder. »Hallo, hallo! Ist das die hübsche Sylphe da bei dir, Holiday?« Er nannte Ben nie »Eure Hoheit«. »Hast du sie zu einem Besuch zu mir gebracht? Nein, so aufmerksam wärst du nie. Du mußt aus einem anderen Grund hier sein. Was ist es?« 201
Ben seufzte. »Wir sind gekommen, um dich zu bitten...« »Warte, du unterbrichst mein Abendessen.« Die Nüstern des Drachen rauchten, und er hustete rauh. »Man muß schließlich immer die Formen wahren. Nehmt doch bitte Platz, bis ich fertig bin. Dann werde ich mir anhören, was du zu sagen hast. Wenn du dich kurz faßt.« Ben sah Willow an, und widerstrebend setzten sie sich mit Bunion auf den Hügel und warteten, daß Strabo sein Mahl beendete. Der Drache ließ sich Zeit. Er zermalmte jeden einzelnen Knochen und verzehrte auch noch den letzten Fetzen Fleisch, bis nur noch die Hufe und Hörner übrig waren. Er machte ein großes Aufhebens darum, schmatzte mit den Lippen und grunzte bei jedem Bissen vor Genuß. Es war eine beinahe endlose Vorstellung, und sie hatte die geplante Wirkung. Als der Drache endlich fertig war, war Ben so ungeduldig, daß er sich kaum noch beherrschen konnte. Strabo warf einen herumliegenden Huf beiseite und blickte sie erwartungsvoll an. »Also, dann laß mal hören, was du zu sagen hast.« Ben versuchte, ein Zähneknirschen zu unterdrücken. »Wir sind gekommen, um dich in einer gewissen Sache um Hilfe zu bitten«, begann er, aber weiter kam er nicht. »Spar dir den Atem, Holiday«, unterbrach ihn der Drache mit einem kurzen Abwinken seines Vorderbeins. »Ich habe dir bereits alle Hilfe gegeben, die du in diesem Leben von mir bekommst – sogar mehr Hilfe, als du jemals verdient hast.« »So hör mich doch wenigstens an«, drängte ihn Ben verärgert. »Muß ich?« Der Drache rutschte auf dem Boden herum, als wolle er es sich bequemer machen. »Nun, um der lieblichen jungen Dame willen werde ich es tun.« Ben entschloß sich, die Sache abzukürzen. »Mistaya wird vermißt. Wir glauben, daß sie von König Rydall von Marnhull gefangengenommen wurde. Zumindest behauptet er, daß er sie hat. Und wir versuchen nun, sie zurückzubekommen.«
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Strabo starrte ihn einen Augenblick lang wortlos an. »Sollte ich wissen, wovon du sprichst? Mistaya? Rydall von Marnhull? Wer sind diese Leute?« »Mistaya ist unsere Tochter«, sagte Willow schnell und übernahm das Reden, bevor Ben vollends die Beherrschung verlor. »Du hast Ben geholfen, uns zu finden, als ich sie aus dem Tiefen Schlund hinaustrug.« »Ah ja, ich erinnere mich.« Der Drache strahlte. »War doch nett von mir, oder? Und du hast sie Mistaya genannt? Sehr hübsch. Der Name gefällt mir. Sein schöner Klang enthält das Versprechen, daß sich deine Schönheit bei ihr wiederholt.« Gib mir einen Löffel, damit ich mich übergeben kann, dachte Ben finster, hielt aber den Mund. »Sie ist ein wunderschönes Kind«, bestätigte Willow, damit die Aufmerksamkeit des Drachen auf sie gerichtet blieb. »Ich liebe sie sehr, und ich bin entschlossen, sie sicher und wohlbehalten wieder nach Hause zu holen.« »Natürlich bist du das«, stimmte ihr Strabo entrüstet zu. »Wer ist denn dieser König Rydall, der sie entführt hat?« »Das wissen wir nicht. Wir hatten gehofft, du könntest uns vielleicht weiterhelfen.« Willow wartete. Strabo schüttelte langsam seinen hornbesetzten Kopf. »Nein. Nein, ich glaube nicht. Ich habe noch nie von ihm gehört. Ein weiterer in einer langen Reihe unwichtiger Könige, nehme ich an. Es gibt Hunderte von ihnen, die alle herumstolzieren und sich aufplustern, als würde sich irgend jemand von Bedeutung davon auch nur einen Augenblick lang beeindrucken lassen.« Er warf Holiday einen bedeutungsvollen Blick zu. »Aber wie auch immer, wer er auch sein mag, ich kenne ihn nicht. Und er stammt aus einem Ort namens Marnhull? Wirklich? Marnhull? Klingt ja sehr komisch, der Name!« Der Drache lachte tosend, bis er rückwärts in eine der Feuerquellen fiel und dadurch Asche und zerschmetterte Felsbrocken aufwirbelte. Er richtete sich mit einiger Mühe wieder auf. 203
»Du hast also von beiden noch nie gehört?« drängte ihn Ben zur Antwort, der sich nicht länger still verhalten konnte. »Noch nie.« Strabo blies Schmutz und Rauch aus seinen Nüstern. »Sie existieren nicht.« »Nicht einmal außerhalb von Landover, jenseits der Elfennebel?« hakte Ben ungläubig nach. »Nicht einmal dort?« Der große, schwarze Kopf schwang scharf herum. »Holiday, hör gut zu. Ich bin in alle Länder gereist, die es jemals gegeben hat, und in einige, die es nicht gegeben hat. Ich bin in allen gewesen, die die Nebel umgeben. Ich bin weit über sie hinausgelangt. Ich lebe schon eine sehr lange Zeit, und ich bin immer gerne gereist – vor allem, wenn ich Orte finde, an denen ich nicht willkommen bin und daher die Bewohner fressen kann.« Seine gelben Augen blinzelten träge. »Also: Wenn es ein Land namens Marnhull gäbe, hätte ich es gefunden. Und wenn ein König mit Namen Rydall existieren würde, so hätte ich von ihm gehört. Das habe ich aber nicht. Folglich gibt es sie beide nicht.« »Nun, auf jeden Fall existiert jemand, der sich König Rydall nennt, denn er ist bereits zweimal nach Sterling Silver gekommen, um mich zu bedrohen. Er behauptet, er hielte Mistaya gefangen, und verkündet, daß er Monster auf mich hetzen würde, die versuchen sollten, mic h zu töten!« Bens Geduld war erschöpft. »Mistaya ist verschwunden, und ich wurde bereits dreimal angegriffen! Irgend etwas geht hier vor, würdest du das nicht auch so sehen?« »Das würde ich nicht«, erklärte der Drache bewußt desinteressiert, »da ich nicht weiß, wovon du sprichst. Ich habe Besseres zu tun, als auf den örtlichen Klatsch zu achten. Wenn man dich angegriffen hat, so ist das neu für mich. Und es ist zudem, möchte ich hinzufügen, eine eher uninteressante Nachricht.« Willow nahm Ben beim Arm und zog ihn sanft zurück, dann stellte sie sich vor den Drachen. »Strabo, höre mich bitte an. Mir ist klar, daß das, was wir dir erzählen, für dich nicht von persönlichem Interesse ist. Du bist mit viel wichtigeren Dingen 204
beschäftigt. Und wenn du sagst, daß du noch nie von Rydall oder von Marnhull gehört hast, dann stimmt das. Jeder weiß, daß Drachen niemals lügen.« Ben hörte das zwar zum ersten Mal, aber es schien Strabo zu gefallen, da er als Erwiderung freundlich nickte. »Ich wende mich an dich als meinen Freund«, fuhr Willow fort, »um deine Hilfe bei der Suche nach meiner Tochter zu erbitten. Sie ist spurlos verschwunden; wir haben ganz Landover ohne Erfolg nach ihr durchsucht. Wir haben mit jedem gesprochen, der uns eingefallen ist, um herauszufinden, wo sie sein könnte. Doch niemand konnte uns helfen. Du bist unsere letzte Hoffnung. Wenn irgend jemand etwas über Rydall oder Marnhull wissen könnte, so dachten wir, dann du. Bitte, gibt es irgend etwas, was du uns sagen kannst, irgend etwas, was uns weiterhelfen könnte? Kennst du jemanden, der Rydall sein könnte? Gibt es einen Ort, der Marnhull sein könnte?« Der Drache schwieg eine lange Zeit. Überall um ihn herum husteten die Feuerquellen und spien Asche und Rauch. Das Grau des Tages vertiefte sich, als die Sonne nach Westen wanderte und die Wolken sich zu einer soliden Decke verbanden. Unter den Wolken und dem Rauch erstreckte sich das Land in trüber, trostloser Einsamkeit. »Ich lege großen Wert auf mein Privatleben«, sagte Strabo schließlich. »Das ist der Grund, warum ich hier draußen wohne, mußt du wissen.« »Ich weiß«, bestätigte Willow. Der Drache seufzte. »Also gut. Erzähle mir mehr über Rydall. Erzähle mir alles, was du weißt oder vermutest.« Und Willow tat, wie ihr geheißen. Sie ließ nichts aus, außer der Information über das Medaillon. Als sie fertig war, dachte Strabo nach. »Nun, Holiday«, verkündete er sanft, »es scheint, daß ich dir noch einmal helfen muß, auch wenn es eigentlich gegen meine Überzeugung verstößt. Die Hilfe, die du bekommst, entspringt jedoch einzig und allein meiner Zuneigung zu der lieblichen Sylphe.« 205
Er räusperte sich. »Nichts kann die Elfennebel durchdringen, ohne daß ich es mitbekomme. Das ist einfach so. Drachen haben ein ausgezeichnetes Gehör und scharfe Augen. Nichts entgeht ihrer Aufmerksamkeit.« Er hielt inne und überlegte. »Jedenfalls, wenn sie es ihrer Aufmerksamkeit für würdig erachten.« Er schien sich daran zu erinnern, daß er vorhin bestritten hatte zu wissen, was in Sterling Silver vorgefallen war. »Die Sache ist, daß in letzter Zeit niemand durch die Nebel hergekommen ist. Aber selbst wenn ich mich hierbei täuschen würde – und eine kleine Lücke in meiner Aufmerksamkeitsspanne könnte durchaus einmal vorgekommen sein –, so würde es doch eine erkennbare Spur dieser Durchquerung geben. Kurz gesagt, könnte ich es auf jeden Fall herausfinden.« Er warf ihnen ein breites Lächeln zu und fügte dann hinzu: »Falls ich mich dazu entschließen sollte.« Er richtete seinen häßlichen Kopf auf Willow. »Ich frage mich, liebste Dame, ob du mich wohl mit einem deiner hinreißenden Lieder erfreuen würdest. Hin und wieder vermisse ich den Klang der Stimme einer Maid.« Das war ihm das Liebste auf der ganzen Welt. Und während es ihm früher peinlich gewesen wäre, darum zu bitten, schien er mittlerweile über sein Unbehagen hinweggekommen zu sein. Willow hatte die Bitte erwartet. Bei den früheren Gelegenheiten, bei denen sie ihn bezaubert hatte, war der Erfolg zu einem großen Teil ihrem Gesang zuzuschreiben gewesen. Deshalb zögerte sie jetzt nicht, ihm den Gefallen zu tun. Ein unausgesprochener Handel wurde zwischen ihnen abgeschlossen, und der Preis, den der Drache für seine Hilfe forderte, war wahrlich nicht groß. Willow sang von blumenübersäten Wiesen, von tanzenden Mädchen und von einem Drachen, der über alles gebot. Ben hatte das Lied noch nie gehört und fand es reichlich kitschig, aber Strabo legte seinen hornbewehrten Kopf auf den Rand einer Quelle und bekam ganz verträumte Augen. Als sie schließlich zum Ende kam, war er völlig dahingeschmolzen. Tränen rannen aus seinen laternengroßen Augen. 206
»Wenn du von deiner Suche zurückkehrst«, rief sie ihm zu und erinnerte ihn damit an seinen Teil der Abmachung, »dann werde ich noch ein Lied für dich singen, als zusätzliche Belohnung.« Strabo hob langsam seinen Kopf von seinem Ruheplatz und bleckte in dem rührend vergeblichen Versuch eines Lächelns seine Zähne. »Je t’adore«, teilte er ihr sanft mit. Ohne ein weiteres Wort breitete er dann seine großen Flügel über seinem Schlangenkörper aus und erhob sich in die Lüfte. Er stieg in Kreisen immer weiter empor, bis er nicht mehr zu sehen war. Sie warteten den Rest des Tages und die ganze Nacht auf seine Rückkehr. Schließlich ging Bunion zu den Pferden zurück, um ihre Decken zu holen, und sie ließen sich auf der windabgewandten Seite der Feuerquellen nieder, um nicht den Rauch und Gestank einatmen zu müssen. Abwechselnd hielten alle drei Wache. Flammen schlugen aus den Kratern hoch, und geschmolzenes Gestein schoß in regelmäßigen Abständen empor und vereitelte damit recht erfolgreich ihre Versuche, einzuschlafen. Die Hitze war zu manchen Zeiten sehr intensiv und wurde nur hin und wieder von einer sanften Brise gemildert. Aber sie waren immerhin in Sicherheit, denn niemand würde es wagen, sich in das Lager des Drachen zu begeben. Es war bereits kurz vor der Dämmerung, als Strabo zurückkehrte. Landovers Monde waren bereits untergegangen, und die Sterne verblaßten allmählich vor dem heller werdenden Osten. Der Leib des Drachen hob sich als riesiger, dunkler Schatten vom Himmel ab; er hätte auch ein Stück des Himmels sein können, das unerwartet losgebrochen war. Er schwebte so sanft und zierlich auf die Erde zu wie ein großer Schmetterling – lautlos, ohne Anstrengung und ohne von seiner monströsen Massigkeit behindert zu werden. »Liebe Dame«, begrüßte er Willow mit seiner tiefen, rauhen Stimme. Müdigkeit und Bedauern lagen in diesen beiden Worten. »Ich bin alle vier Grenzen des Landes abgeflogen, von den 207
Feuerquellen zum Melchior, vom Grünland bis zum Seenland, von einem Gebirge und einem Nebel zum anderen. Ich habe alle Grenzen zwischen Landover und den Elfenreichen abgesucht. Ich habe alle Witterungen aufgenommen, alle Spuren betrachtet und auf die kleinsten Zeichen geachtet. Doch ich fand keine Spur von Rydall von Marnhull. Ich fand keine Spur von deinem Kind.« »Keine?« fragte Willow leise, als würde er seine Antwort vielleicht noch einmal überdenken. Der knorrige Kopf des Drachen schwenkte zur Seite. »Niemand hat in den letzten Tagen die Nebel durchquert. Niemand.« Er gähnte und entblößte dabei seine geschwärzten, gekrümmten Zähne. »Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest, ich brauche etwas Schlaf. Es tut mir leid, aber mehr kann ich nicht für dich tun. Ich entbinde dich von deinem Versprechen, noch einmal für mich zu singen. Ich bedauere das zwar sehr, aber ich bin zu müde, um zuzuhören. Leb wohl, meine Dame. Leb wohl, Holiday. Kommt doch mal wieder vorbei, aber bitte nicht allzu bald, hmmm?« Er kroch zwischen den Felsen davon, schlängelte sich zwischen den brodelnden Kratern hindurch, rollte sich auf einem Geröllhaufen zusammen und fing fast auf der Stelle an zu schnarchen. Ben und Willow blickten sich an. »Das verstehe ich nicht«, sagte Ben schließlich. »Wie ist es möglich, daß es überhaupt keine Spur gibt.« Willows Gesicht war blaß und eingefallen. »Wenn Rydall nicht durch die Nebel eingedrungen ist, wo ist er dann hergekommen? Und wo ist er jetzt? Was hat er mit Mistaya gemacht?« Ben schüttelte langsam den Kopf. »Ich weiß es nicht.« Er hob seine Decke auf und begann, sie zusammenzufalten. »Aber irgend etwas an der ganzen Sache ist merkwürdig, und ich werde schon noch herausfinden, was es ist.« Er nahm Willow bei der Hand, wandte sich betrübt von den Feuerquellen und dem schlafenden Drachen ab und ging mit Willow zu den Pferden zurück. 208
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DER WYRM
Sie ritten von den Feuerquellen fort und in westlicher Richtung zurück in das Ödland. Die Sonne lag hinter ihnen wie ein trüber, weißer Ball auf dem Horizont. Durch den Nebel, die Wolken und die dicke, heiße Sommerluft war sie nur verschwommen zu erkennen. Es war schon jetzt heiß und drohte, noch heißer zu werden. Von Westen her trieben Wolken heran und begannen sich zusammenzuballen. Es würde vermutlich Regen geben, noch bevor der Tag vorüber wäre. Vor ihnen erstreckte sic h das Land öde und unveränderlich bis in die weite Ferne. Ben ritt schweigend. Seine Stimmung war ebenso düster wie das Land, durch das sie reisten. Er erhielt einen tapferen Anschein aufrecht, aber er wußte, daß seine Möglichkeiten erschöpft waren. Strabo war seine letzte Chance gewesen. Da ihm der Drache nicht hatte sagen können, wie er Rydall finden konnte, mußte er der unangenehmen Möglichkeit ins Gesicht sehen, daß es ihm niemand sagen konnte. Und wenn er Rydall nicht finden konnte, so konnte er auch Mistaya, Questor Thews und Abernathy nicht finden. Demnach blieb ihm nichts anderes übrig, als nach Sterling Silver zurückzukehren und tatenlos darauf zu warten, daß ihn der Rest von Rydalls Monstern heimsuchte. Er hatte drei hinter sich – vier lagen noch vor ihm; es war kein sehr angenehmer Gedanke. Sie hatten ihn bereits ein paarmal fast besiegt – hatten den Paladin fast besiegt, berichtigte er sich, aber das blieb sich gleich. Er glaubte nicht, daß er noch vier weitere überleben konnte, und selbst wenn er das doch täte, so glaubte er nicht wirklich daran, daß er Mistaya jemals zurückbekommen würde. Es war ein schrecklicher Gedanke. Er verfluchte sich innerlich dafür, ihn gedacht zu haben. Aber es stimmte. Es war seine Überzeugung. Rydall war nicht der Typ, der eine Vereinbarung einhielt – nicht dieser Mann, der Länder verwüstete, der Monster aussandte, um ihre Könige zu töten, und der Kinder entführte und als Geiseln benutzte. Nein, Rydall spielte mit seinen Opfern, und 210
wenn man Spiele dieser Art spielte, dann bog man sich die Regeln so zurecht, daß man nicht verlieren konnte. Es blieb sich gleich, ob der Paladin alle sieben Kämpfe überlebte oder nicht. Mistaya würde nicht zurückkommen. Sofern Ben sie nicht fand und zurückholte. Und im Augenblick sah es so aus, als bestünde dafür nicht die geringste Hoffnung. Er dachte darüber nach, was Strabo ihm berichtet hatte. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, daß Rydall jetzt oder vor kurzem die Elfennebel durchquert hatte. Es gab keine Spur von Mistaya. Was sagte ihm das? Daß Rydall log? Daß Strabo etwas übersehen hatte? Aber Rydall hatte gesagt, er sei durch die Elfennebel gekommen. Er hatte gesagt, daß seine Armee bereit stünde, um ihm zu folgen. Durch die Nebel. Vielleicht, dachte Ben plötzlich, verfügte Rydalls schwarzverhüllter Begleiter über eine Magie, die das bewerkstelligt hatte und dabei keine Spuren hinterließ. Vielleicht war die Magie von solcher Art, daß sie die Stelle des Durchgangs verschleierte. Aber hätte Strabo nicht eine Spur dieser Magie finden müssen? Dem Drachen entging schließlich nichts. Hatte Rydall geschafft, was niemand sonst vermochte, und Strabo getäuscht? Dann fiel Ben ein, daß es noch einen anderen Weg nach Landover gab, einen Weg, den er vergessen hatte – durch die Dämonenwelt von Abaddon. Konnte es sein, daß Rydall von dort her Zutritt erlangt hatte? Aber um das tun zu können, hätte er die Dämonen umgehen müssen. Oder er hätte, wie der Gorse, ihre Unterstützung gewinnen müssen, indem er ihnen etwas als Gegenleistung versprach. Könnte der König von Marnhull das getan haben? Irgendwie erschien ihm das sehr unwahrscheinlich. Die Dämonen haßten Menschen; sie gingen niemals Vereinbarungen mit ihnen ein, wenn sie nicht dazu gezwungen wurden. Es war eine Sache, sich mit dem Gorsen zu verbünden, der selbst ein Wesen dunkler Magie war, aber etwas ganz anderes, sich mit jemandem wie Rydall einzulassen. Außerdem hatte
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Rydall gesagt, daß er durch die Nebel gekommen sei, und das war nicht dasselbe wie Abaddon. Jurisdiktion ging im Schritt. Sorgsam suchte er sich seinen Weg auf dem felsigen Untergrund und bewegte sich so langsam, daß sie fast überhaupt nicht vorankamen. Ben bemerkte es jedoch nicht, da er völlig in Gedanken versunken war. Willow ritt an seiner Seite und betrachtete sein Gesicht. Sie wollte ihn aber nicht aus seinen Gedanken reißen. Bunion, der neben ihnen herlief, schaute beide abwechselnd an, bevor er sich wieder dem öden Land zuwandte, das vor ihnen lag. Schließlich ging es ihn nichts an. Hinter ihnen waren die Feuerquellen unter dem Horizont verschwunden; sie waren nur noch durch einen dunklen Fleck aus Rauch und Asche auszumachen, der am Himmel stand. Eine Krähe mit roten Augen tauchte plötzlich aus der Nacht auf, die sich allmählich in den Westen zurückzog. Träge und unbemerkt kreiste der Vogel über ihnen. Welcher Baustein fehlte ihm? fragte sich Ben. Es mußte etwas geben, das er übersehen, falsch verstanden oder nicht erkannt hatte – etwas, das ihn zu Rydall führen würde. Vielleicht packte er die Sache falsch an. Einmal angenommen, Rydall log, wer und was er war und woher er kam. Das war eine durchaus berechtigte Annahme, wenn man Rydalls Vorliebe für Spiele bedachte. Erfinde die Regeln eines Spiels, beginne zu spielen und schau dann, was dabei herauskommt – das schien zu dem zu passen, was Ben über Rydall wußte. Die Frage, die er sich schon früher gestellt hatte, ohne zu einer Antwort zu gelangen, war: Warum tat Rydall das alles überhaupt? Das war auch die Frage des Flußherrn gewesen. Warum schickte der König von Marnhull Monster, um Ben herauszufordern, statt einfach sein Leben im Austausch für das von Mistaya zu fordern? Warum verschwendete er soviel Zeit damit, den Paladin in einzelnen Duellen anzugreifen, wenn er genausogut einfach mit seiner Armee in Landover einmarschieren und sich das Land mit Gewalt nehmen konnte? Um ein Blutvergießen zu vermeiden und Menschenleben zu schonen? Das erschien unwahrscheinlich. 212
In der Tat fragte sich Ben allmählich – und das war nun wirklich weit hergeholt –, ob Rydall überhaupt wirklich Interesse an Landover hatte. Denn die ganze Angelegenheit begann eine sehr persönliche Form anzunehmen. Ben konnte nicht genau sagen, warum, aber er hatte das deutliche Gefühl, daß es so war. Es hatte etwas mit diesen Monstern zu tun, mit der Natur ihrer Magie und der Art ihrer Angriffe. Irgend etwas. Die Konfrontation zwischen Rydall und ihm schien mehr mit ihnen beiden persönlich zu tun zu haben als mit Landover. Der Kampf um das Königreich wirkte fast wie ein vorgeschobener Grund, ein Bauer, der seinen Zweck im Spiel hatte und anschließend vom Brett genommen wurde. Rydall schien es überhaupt nicht eilig zu haben, seine Eroberung zu beenden. Es war keine Zeitspanne genannt worden, bis zu der der Thron übergeben werden sollte, und Rydall hatte auch nicht erwähnt, bis wann der Konflikt beendet sein sollte. Alles, was zu zählen schien, war der Wettkampf selbst. Warum vergeudete Rydall soviel Zeit, wenn sein eigentliches Ziel darin bestand, Ben dazu zu bewegen, auf den Thron zu verzichten? Würde Ben das nicht ohnehin tun, wenn das bedeutete, daß er Mistaya unversehrt zurückbekäme? Würde er es tun? Er warf Willow einen schnellen Blick zu. Ein Stachel der Schuld bohrte sich in ihn, als er mit seiner Antwort zögerte. Sie blickte ihn an, aber in ihren grünen Augen standen kein Vorwurf oder Mißtrauen, nur Sorge und Trauer und, hinter allem, unerschütterliche Liebe. Plötzlich schämte er sich. Er kannte die Antwort, oder etwa nicht? Als Annie, seine Frau in der alten Welt, und ihr ungeborenes Kind gestorben waren, hatte er geglaubt, er würde sich niemals davon erholen; sie waren für immer fort, – und er konnte sie niemals zurückholen. Jetzt hatte er Willow und Mistaya, und er könnte es nicht ertragen, sie ebenfalls zu verlieren. Er würde alles aufgeben, um sie zu behalten. Der Vormittag war angebrochen, und das Ödland war von einer diesigen Helligkeit erfüllt. Es war brütend heiß. 213
Ben wandte sich Willow zu. »Noch eine Meile oder so, dann machen wir eine Rast«, sagte er zu ihr. »Und dann besprechen wir ein paar Dinge.« Sie nickte wortlos. Langsam ritten sie weiter. Über ihnen schwenkte die Krähe mit den roten Augen herum und verschwand in derselben Richtung, aus der sie hergeflogen war. Eilig flog Nightshade zu dem kleinen Tal, durch das Holiday und seine Begleiter kommen würden. Dabei hielt sie den sich windenden Wyrm fest in ihrem Schnabel. Sie konnte ihre Wut kaum im Zaum halten. Die ganze Nacht hatte sie darauf gewartet, daß er herkäme, so sicher war sie gewesen, daß der Drache ihm keine Hilfe gewähren, sondern ihn fortschicken würde. Statt dessen war das Biest für ihn auf die Jagd gegangen – auf die Jagd, als wäre er ein zahmes Hündchen! –, und Holiday war nicht, wie erwartet, umgedreht, sondern hatte im Bereich der Feuerquellen gelagert – ein Ort, den nicht einmal sie mit ihrer mächtigen Magie gefahrlos betreten konnte. So war sie gezwungen gewesen zu warten, hatte die ganze Nacht im Ödland damit zugebracht, auf ihren kleinen Liebling aufzupassen. Wie als Antwort auf ihren Zorn wand sich der Wyrm um ihren Schnabel und versuchte, sie zu beißen. Sie lachte in sich hinein, als sie zusah, wie seine kleinen Zähne knirschten. Er war einmal ein gewöhnlicher Regenwurm gewesen, fett und glitschig und träge. Jetzt war er ihr Geschöpf und würde die Aufgabe ausführen, die sie ihm gestellt hatte, und Rydalls viertes Monster werden. Sie war noch immer verärgert darüber, daß ein viertes Monster überhaupt nötig geworden war. Der Roboter hätte genügen sollen, und er hätte auch genügt, wenn nicht das Ardsheal dazwischengekommen wäre. Es war zum Wütendwerden, daß der Flußherr sich auf Holidays Seite gestellt hatte, Enkeltochter hin oder her. Holiday und er waren ebensowenig Freunde, wie es Holiday und der Drache waren. Warum boten all diese offenkundigen Feinde 214
dem Möchtegern-König plötzlich ihre Hilfe an und störten damit ihre Pläne? Was war nur in sie gefahren? Andererseits, dachte sie und versuchte, die Angelegenheit in einem besseren Licht zu sehen, hatte sie von Anfang an vorgehabt, Holiday bis zu dem besonderen Ende überleben zu lassen, das sie für ihn geplant hatte – das Ende, das ihn aus Mistayas Hand ereilen sollte. Es wäre viel weniger befriedigend, wenn er vorher sterben würde. Und das Auftauchen des Ardsheals hatte sie mit frischer Inspiration versorgt, wie sie mit dem bedrängten König von Landover spielen konnte. Also war noch überhaupt nichts verloren, nicht wahr? Sie schoß auf die Ebene zu und glitt in den Schatten eines Tales, das sich zwischen zwei großen Hügeln öffnete, die den Weg nach Osten und Westen versperrten. Holiday und seine Begleiter waren auf dem Weg zum Drachen hier hindurchgekommen; die Hufspuren der Pferde zeigten das ganz deutlich an. Sie würden auf dem gleichen Weg zurückkehren. Aber dieses Mal würde der Wyrm auf sie warten. Die Krähe hüpfte auf ihren Vogelfüßen über den Boden, bis sie zu einer winzigen Pfütze aus Sickerwasser kam, das sich im Schatten der Felsen gehalten hatte und in der Hitze des Tages noch nicht verdunstet war. Ein wenig Wasser war alles, was nötig war; es reichte nur ein klein wenig. Sie hielt den Wyrm über das Wasser und sah zu, wie er versuchte, sich freizuwinden. Sie war es müde, ihn zu halten. Es war schon schlimm genug, daß sie gezwungen gewesen war, den ganzen Weg ins Ödland in nichtmenschlicher Gestalt zurückzulegen und es nicht wagen durfte, ihre Magie zu verwenden, da diese sie möglicherweise verraten und ihren Plan auffliegen lassen hätte. Aber das kleine Monster die ganze Zeit fest im Schnabel zu halten war wirklich zuviel. In der letzten Nacht hatte sie ihn wenigstens oben in den Felsen absetzen können, wo der Boden hart und trocken gewesen war und keine Möglichkeit zur Flucht geboten hatte. Jetzt war sie bereit, ihn endlich freizulassen. Sie überlegte, daß sie gern in der Nähe bleiben würde, um das Geschehen zu beobachten, aber sie war schon zu lange aus dem Tiefen Schlund fort, und sie ließ das Mädchen nicht gern allein. 215
Mistaya wurde immer ungeduldiger über die Richtung und Beschränkung ihres Unterrichts. Tatsächlich war der Wyrm Nightshades Idee gewesen, als dem Mädchen nichts Neues mehr einfie l. Mistaya war noch immer folgsam, aber es gab bereits erste Anzeichen dafür, daß das Mädchen bald die Regeln in Frage stellen würde, die Nightshade für sie aufgestellt hatte. Mistaya war unglaublich begabt, sowohl mit Vorstellungskraft als auch mit Talent, und unter der Anleitung der Hexe war ihre Fertigkeit, ihre Magie anzuwenden, enorm gewachsen. Wenn sie jemals auf den Gedanken kommen sollte, Nightshade herauszufordern... Schnaubend wischte die Hexe den Gedanken beiseite. Sie hatte vor niemandem Angst. Aber es schadete nicht, vorsichtig zu sein. Ihr Entschluß stand fest. Es war am besten, wenn sie so schnell wie möglich zum Tiefen Schlund zurückkehrte. Es war besser, wenn sie sich davon überzeugte, daß Mistaya nicht aus der Reihe tanzte. Sie ließ den Wyrm in die Wasserpfütze fallen und sah zu, wie er darin versank. Dann flog sie eilig davon. Ben Holiday spähte in die Ferne und erblickte das schmale Tal, das durch die zerklüfteten Hügel des Ödlands zu den dahinterliegenden Ebenen führte. Die Lichtverhält nisse waren heute ungünstig. Die Sicht war wegen der Hitze und des Dunstes so verschwommen, daß alles vage und verzerrt aussah. Selbst der Horizont schimmerte, als sei er eine Fata Morgana, die jederzeit verschwinden konnte. Das Tal vor ihnen war eine Masse aus undurchdringlichen Schatten. Er lenkte Jurisdiktion auf die Öffnung zu, während sein Verstand mit anderen Dingen beschäftigt war. Er dachte erneut über diesen Roboter nach. Warum war er ihm so bekannt vorgekommen? Wo hatte er ihn schon gesehen? Er war sich mittlerweile absolut sicher, daß er ihn von irgendwoher kannte, und es machte ihn beinahe verrückt, daß er sich nicht an die Gelegenheit erinnern konnte. Es kam noch erschwerend hinzu, 216
daß er auch die anderen Monster von Rydall schon einmal gesehen hatte. Und je länger er darüber nachdachte, hätte er darauf wetten können, daß sie ihm untergekommen waren, seit er in Landover lebte. Aber wie war das möglich? Sie konnten nicht wirklich existieren, daran würde er sich erinnern. Hatten Questor oder Abernathy ihm von ihnen erzählt? Hatte sie ihm jemand beschrieben? Hatte er eine Zeichnung oder ein Bild gesehen? Sie erreichten den Eingang zum Tal. Der Durchgang vor ihnen war dunkel und leer. Ben trieb Jurisdiktion hinein, während sein Magen leise in Erwartung des Mittagessens knurrte. Plötzlich schnatterte Bunion eine Warnung. Ben schaute zu dem Kobold hinunter, der zurückblickte. Er mußte seine Augen vor der gleißenden Sonne beschatten. Zuerst sah er überhaupt nichts, dann bemerkte er einen winzigen, schwarzen Punkt, der tief am Horizont hing. Der Punkt schien größer zu werden. Ben blinzelte unsicher. »Was, zum Henker, ist...« Das war alles, was er herausbrachte, bevor der Boden vor ihnen in einem Erd- und Steinregen explodierte und sich etwas Riesiges und Finsteres aus dem tiefen Schatten des Tales erhob. Bunion katapultierte sich über Kranich hinweg und riß Willow gerade noch rechtzeitig aus dem Sattel, bevor das Pferd von dem Wesen vor ihnen in einem Bissen verschlungen wurde. Es erscholl ein schrecklicher Schrei, und Knochen knackten. Staub und Hitze erfüllten die Luft. Jurisdiktion sprang in panischer Angst davon und entging nur knapp den schweren Kiefern, die jetzt nach ihm schnappten. Ben mußte sich festklammern, als sich sein Pferd aufbäumte. Er konnte nur einen kurzen Blick auf das Wesen erhaschen, das sie angriff – eine monströse Art von Schlange. Sie war gesichts- und augenlos und bestand fast nur aus Zähnen und Maul. Ihr Körper war glatt und geringelt, wie ... Wie ein Wurm, um Himmels willen! Ben griff instinktiv nach dem Medaillon, aber Jurisdiktion scheute so heftig – er jagte einen steilen Hang hinauf, bockte und warf sich wild herum –, daß er den Versuch aufgeben und Zügel und Sattel mit beiden Händen fest packen mußte, um nicht 217
abgeworfen zu werde n. Er sah, wie Bunion und Willow die andere Seite des Tales hinaufliefen und zwischen die Felsen kletterten. Plötzlich stieß das Monster in die Erde hinunter. Es grub sich in den Boden, und sein riesiger Leib verschwand, wie ein Wal, der unter die Oberfläche eines Ozeans taucht. Es wühlte sich dort unten weiter. Die Erde hob sich über ihm, wo es entlangbuddelte. Die Linie des Tunnels bewegte sich direkt auf Ben zu. Ben trat Jurisdiktion wild in die Seiten und versuchte, das Pferd dazu zu bringen, wieder vom Hügel herunterzukommen. Doch Jurisdiktion war vollständig von Panik erfüllt und dachte nur daran, immer höher zu klettern. Es war eine bereits verlorene Schlacht, da die Hufe des Pferdes immer wieder auf dem Geröll wegrutschten und dadurch jedes Fortkomme n vereitelten. Ben zwang den Kopf des Pferdes mit Gewalt herum und ließ es parallel zum Kamm am Abhang entlanglaufen; er hoffte noch immer, daß er es dazu bringen konnte, wieder hinabzusteigen. Hinter ihnen wölbte und hob sich die Erde, als das Monster die Richtung änderte, um ihm zu folgen. Der Abstand zwischen ihnen verringerte sich zunehmend. Voller Verzweiflung löste Ben seine Hand vom Sattel und versuchte, in sein Wams und nach dem Medaillon zu greifen. Doch just in diesem Augenblick stolperte Jurisdiktion und stürzte, so daß Ben Hals über Kopf in das Gestrüpp geschleudert wurde. Das schreckerfüllte Pferd kam sofort wieder auf die Beine und jagte diesmal den Abhang hinunter und in Sicherheit. Ben hatte nicht soviel Glück. Von seinem Sturz benommen und blutend, rappelte er sich auf und rannte einfach los. Er wußte nicht, wohin; er konnte an nichts anderes denken, als daß das unterirdische Schreckenswesen ihn fast erreicht hatte. Felsen und Erdreich brachen auseinander, als ihn der riesige Leib der Kreatur unterirdisch verfolgte. Ben griff nach dem Medaillon, spürte seine Härte durch den Stoff seines Wamses, konnte es aber nicht aus den Falten lösen, in denen es sich verfangen hatte. Schweiß und Blut rannen ihm in die Augen und blendeten ihn. Jeden Moment würde sein Angreifer durch die Oberfläche brechen. Jeden Moment würde er ihn erwischen. Er konnte die glatte Kante des 218
Medaillons fühlen, konnte seine gravierte Oberfläche durch den Stoff des Wamses berühren. Einen Augenblick noch! Nur noch einen einzigen...! Dann schossen Erdreich und Felsbrocken in den Himmel, warfen Ben um und schleuderten ihn davon. Er verlor seinen Griff um das Medaillon und landete mit einem scharfen Ächzen auf dem Rücken, so daß ihm die Luft aus den Lungen gepreßt wurde. Das Wurmwesen türmte sich über ihm auf, der erdverkrustete Körper bog sich vor, seine Kiefer öffneten sich, das Maul senkte sich herab... Ben wand sich herum. Er versuchte zu fliehen, während er zugleich wußte, daß es zu spät war, daß er nicht mehr entkommen konnte. Das Medaillon! dachte er. Ich muß...! Plötzlich stieß etwas aus dem Himmel herab, das größer, schwärzer und wilder war als sein Angreifer. Klauen packten den Körper des Monsters und rissen es zurück. Riesige Kiefer schnappten zu und trennten den augenlosen Kopf ab. Der Kopf, dessen Maul noch immer aufgerissen war, flog in einem Schwall von Schleim davon, aber der Körper zuckte weiterhin wie verrückt umher. Die Kiefer schnappten noch einmal zu und noch einmal, bis das Monster schließlich leblos in sich zusamme nsackte. Strabo ließ die Überreste fallen, schlug einmal mit seinen großen Flügeln und ließ sich langsam auf den Boden hinab. Willow und Bunion rannten von der anderen Seite des Tales herbei. »Du verursachst wirklich eine ganze Menge Ärger, Holiday«, zischte der Drache. Sein großer Kopf schwenkte herum, und seine lampengroßen Augen richteten sich auf ihn. »Eine ganze Menge.« »Ich weiß«, brachte Ben heraus, während er keuchend versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. »Aber trotzdem vielen Dank.« Willow stürmte auf ihn zu und warf ihre Arme um ihn. »Vielen Dank, Strabo«, sagte auch sie und lockerte ihre Umarmung um Ben gerade weit genug, daß sie sich zu dem Drachen umdrehen konnte. »Du weißt, wieviel er mir bedeutet. Vielen, vielen Dank.«
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Strabo schnaufte. »Nun, ich habe dir Anlaß zu einem Lächeln gegeben, und das ist genug für mich«, erklärte er mit einer Spur von Freude in seiner rauhen Stimme. »Woher wußtest du, daß wir Hilfe brauchten?« fragte Ben. »Als wir gegangen sind, hast du geschlafen.« Der Drache faltete seine Flügel an seinem Körper zusammen und blinzelte. »Das Ödland gehört mir, Holiday. Es ist mein. Es ist alles, was mir von meinem einst endlosen Land übriggeblieben ist. Daher wird es so regiert, wie ich es beschließe. Keine Magie außer meiner eigenen ist hier erlaubt. Wenn eine fremde Magie eindringt, werde ich sofort gewarnt. Selbst wenn ich schlafe, melden es mir meine Sinne. Ich wußte im selben Augenblick von der Kreatur, als sie Gestalt annahm.« Er hielt inne. »Weißt du, was es ist?« Sowohl Ben als auch Willow schüttelten den Kopf. »Es ist ein Wyrm. W-Y-R-M. Ein gewöhnlicher Wurm, der durch Magie zum Raubtier gemacht wird. Wenn man ihn Wasser aussetzt, wächst er zu der Größe heran, die du hier siehst.« Strabo blickte auf die zerfetzten Überreste und spuckte angewidert aus. »Was für ein armseliger Grund, meinen Schlaf zu stören.« »Das war wieder Rydall«, sagte Ben ruhig. Strabos Kopf schwenkte zurück. »Ich weiß nichts über Rydall«, zischte er leise, »aber ich weiß einiges über Hexen. Wyrmer werden besonders gern von Hexen benutzt.« Ben starrte ihn an. »Nightshade?« sagte er schließlich. Der Kopf des Drachen hob sich. »Neben anderen.« Er gähnte und schaute nach Osten. »Es wird Zeit, daß ich wieder ins Bett komme. Versuch bitte, zumindest noch so al nge am Leben zu bleiben, bis du das Ödland verlassen hast, Holiday. Danach fällst du nicht mehr in meinen Zuständigkeitsbereich.« Ohne ein weiteres Wort breitete er seine Flügel aus, hob ab und flog davon. Ben und Willow blickten ihm nach. Bunion stand noch einen Moment bei ihnen, dann machte er sich auf Bens Anweisung hin auf die Suche nach Jurisdiktion.
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Willow wischte mit einem Streifen Stoff, den sie von ihrem Hemd abgerissen hatte, Ben das Blut vom Gesicht. Nach einem Moment sagte sie: »Könnte Nightshade mit alldem zu tun haben?« Ben schüttelte den Kopf. »Zusammen mit Rydall? Warum sollte sie das tun?« Willows lächelte bitter. »Sie haßt dich. Das ist Grund genug.« Ben starrte in die einsame Hügellandschaft und in die gleißende Sonne, ohne etwas erkennen zu können. Willow beendete die Reinigung seines Gesichtes und gab ihm einen leichten Kuß. »Sie haßt uns alle.« Ben nickte. Er mußte plötzlich an etwas anderes denken. »Willow«, sagte er, »ich erinnere mich jetzt, wo ich Rydalls Monster gesehen habe – und zwar alle drei.« Die Sylphe trat einen Schritt zurück. »Wo?« Er schaute sie wieder an, und es lag Verwunderung in seinen Augen. »In einem Buch.«
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POGGWYDD
Mistaya erwachte schon am frühen Morgen und bemerkte, daß sie das erste Mal, seit sie sich im Tie fen Schlund befand, allein war. Ihre Reaktion war Ungläubigkeit; Nightshade ließ sie niemals allein. Sie stand in der grauen, nebligen Dämmerung auf und sah sich um. Sie erwartete, daß die Herrin der Senke sich jeden Moment zeigen würde. Als sie nicht erschien, rief Mistaya nach ihr. Als sie daraufhin noch immer nicht auftauchte, ging das Mädchen suchend bis an den Rand der Lichtung. Es war jedoch keine Spur von Nightshade auszumachen. Unerwarteterweise stellte Mistaya fest, daß sie erleichtert war. Es hatten in der letzten Zeit bedeutende Veränderungen stattgefunden, und die wichtigste unter ihnen betraf ihr Verhältnis zu der Hexe. Am Anfang war Nightshade eine willige, enthusiastische Lehrerin gewesen, eine Gefährtin in den magischen Künsten, die gern bereit war, ihr Wissen weiterzugeben, und eine geheime Freundin, die Mistaya im Gebrauch ihrer geheimnisvollen, faszinierenden Macht unterweisen konnte. Mistaya wäre hier, um die Wahrheit über ihr Geburtsrecht zu ergründen, hatte Nightshade gesagt. Sie sei hier, um Wege zu finden, wie sie ihrem Vater bei seinem Kampf gegen Rydall von Marnhull helfen könnte. Durch die Fähigkeiten, die es zu entdecken galt, würde Gutes getan werden. Aber irgendwie war das alles auf der Strecke geblieben. Weder Rydall noch ihr Ge burtsrecht wurden noch erwähnt. Die ganze Welt außerhalb des Tales wurde kaum mehr erwähnt. Inzwischen schien einzig und allein zu zählen, wie schnell und gut Mistaya die Anweisungen der Hexe ausführte. Die große Geduld, die sie zunächst an den Tag gelegt hatte, war mittlerweile völlig verschwunden. Vielfalt und Erforschung waren vollkommen aufgegeben worden. Schon seit mehreren Tagen verwandten sie die Magie ausschließlich auf die Erschaffung von Monstern. Oder wenn sie gerade keine Monster erschufen, dann sprachen sie zumindest über sie. Dadurch hatte das Schüler-Lehrer-Verhältnis 222
schwer gelitten. Statt sich immer näherzukommen, schien es Mistaya nun, daß sie und Nightshade sich immer stärker voneinander entfernten. Lob und Ermutigung waren Kritik und Widerwillen gewichen. Beschuldigungen wurden laut. Mistaya bemühe sich nicht hart genug. Sie konzentriere sich nicht. Sie denke nicht nach. Sie schien einen Punkt erreicht zu haben, an dem sie nichts richtig machen konnte. Als Mistaya den Roboter entworfen hatte – eine weitere der Kreaturen, die sie in dem alten Buch ihres Vaters gesehen hatte –, hatte Nightshade ihn wunderbar gefunden. Dann, kaum zwei Tage später, hatte sie ihn als Fehlschlag bezeichnet. Er war nicht gut genug, sie wollte etwas Besseres. Mista ya versuchte, sich ein neues Monster auszudenken, aber unter dem gewaltigen Druck der Forderungen der Hexe und ihrem eigenen, wachsenden Desinteresse an dem Projekt war ihr nichts eingefallen. Voller Ärger hatte Nightshade selbst eine Kreatur ersonnen – einen Wyrm nannte sie sie –, die sie gemeinsam von einem harmlosen Kriecher in ein gefährliches Raubtier verwandelt hatten. Dieses Mal war Mistaya ganz offen störrisch geworden und hatte gesagt, daß sie Monster satt habe, dieser Anwendung von Magie müde wäre und daß sie darauf brenne, etwas anderes auszuprobieren. Nightshade hatte ihre Beschwerde mit einem vernichtenden Blick und einer Ermahnung daran abgetan, daß das Mädchen versprochen hatte, als Gegenleistung für ihren Unterricht alles zu tun, was von ihr verlangt wurde. Mistaya war versucht gewesen anzumerken, daß dieser Handel mittlerweile recht einseitig geworden war, aber sie hatte ihre Zunge im Zaum gehalten. Dabei verstand sie eigentlich gar nicht, was überhaupt los war. Trotz ihrer Meinungsverschiedenheiten sah sie Nightshade als ihre Freundin an. Es bestand eine Nähe zwischen ihnen, die sogar ihre momentane Unzufriedenheit überlagerte, aber Mistaya erkannte allmählich, daß diese zunehmend an eine Form von Konkurrenz grenzte, als ob irgendwie beide wüßten, daß es ihr Schicksal war, eher Rivalinnen als Freundinnen zu werden. Jeden Tag gab es mehr Gezerre und Geschiebe gegeneinander, statt miteinander, und der Spalt zwischen ihnen wurde unerbittlich größer. Mistaya 223
wollte das nicht, aber sie stand diesem Vorgang hilflos gegenüber. Nightshade hörte ihr nicht zu; sie bemühte sich nicht um einen Kompromiß oder Ausgleich. Sie wollte, daß Mistaya tat, was sie von ihr verlangte, keine Fragen stellte und alle anderen Einwände unterdrückte. Mistaya war dazu jedoch immer weniger und weniger in der Lage. Als sie also an diesem Morgen allein war, atmete sie die Luft ein, als ob sie ganz neu und frisch wäre. Da sie ihrer unerwarteten Freiheit nicht ganz traute, beschwor sie einen einfachen Zauber, um sicherzugehen, daß Nightshade nicht versuchte, sie irgendwie zu täuschen. Doch sie entdeckte keine Spur der Hexe, und so rief sie Haltwhistle. Der Sumpfmoppel erschien sofort, indem er aus dem Dämmer heraus mit seelenvollen Augen, leicht gespitzten Ohren und wedelndem Schwanz Gestalt annahm. »Guter alter Haltwhistle«, begrüßte sie ihn lächelnd. »Ich wünsche dir einen schönen guten Morgen.« Haltwhistle ließ sich auf seine Hinterschenkel nieder und pochte mit dem Schweif auf den Boden. »Sollen wir irgend etwas zusammen unternehmen?« fragte sie ihren vierbeinigen Freund. »Nur wir beide?« Sie schaute sich auf der Lichtung um, als erwarte sie, daß sich die Antwort dort irgendwo offenbaren müsse. Bäume und Büsche waren in Düsternis gehüllt, der Himmel war unsichtbar, und die Welt lag in einem Kokon aus Stille. Sie war es leid, auf einen so kleinen Bereich begrenzt zu sein; sie wollte weiter sehen können als bis zum Rand des Nebels. Sie erinnerte sich an die Welt draußen, und sie wollte sie wiedersehen – sie wollte wieder Sonnenlic ht, grünes Gras, blauen Himmel, Seen, Wälder, Berge und Lebewesen sehen. Sie hatte in letzter Zeit öfter an ihre Eltern gedacht – etwas, was sie eine ganze Weile lang nicht getan hatte. Sie fragte sich, warum sie nicht gekommen waren, um nach ihr zu sehen, oder ihr geschrieben oder sich auf irgendeine Art nach ihr erkundigt hatten. Und was war mit ihren Freunden in Sterling Silver? Warum hatte sie nicht zumindest von Questor Thews
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gehört? Sie waren doch die besten Freunde. Was war mit ihnen allen geschehen? Doch das hatte sie Nightshade nicht gefragt. Sie wußte, was sie ihr geantwortet hätte. Sie waren vorsichtig, weil Rydall nach ihr suchte. Sie wollten, daß sie in Sicherheit war. Aber diese Antwort befriedigte sie nicht so, wie sie es hätte tun sollen. Sie schien ihr irgendwie nicht ausreichend. Es mußte doch irgendeinen Weg geben, wie ihre Eltern und ihre Freunde selbst hier mit ihr Kontakt aufnehmen konnten. Ob sie es wollte oder nicht, Mistaya hatte Heimweh. »Na gut«, erklärte sie impulsiv. »Genug hier herumgestanden. Laß uns einen Spaziergang machen.« Entschlossen und ohne ihre Entscheidung weiter zu überdenken, ging sie los. Sie war dabei, ein großes Risiko einzugehen, und das wußte sie auch. Sie hatte vor, nach draußen zu gehen, wo sie weiter schauen konnte als nur hundert Meter weit, wo es Licht und Wärme gab und lebendige Wesen. Sie hatte vor, den Tiefen Schlund zu verlassen, und das bedeutete, daß sie Nightshades Regel brach. Seltsamerweise kümmerte sie das nicht sonderlich. Sie zauberte einen Blaubonniestengel herbei, auf dem sie herumkaute – begierig nach etwas, was sie seit längerer Zeit nicht mehr gesehen hatte. Sie kam leicht voran. Früher wäre sie nicht in der Lage gewesen, ihren Weg aus dem Tiefen Schlund heraus zu finden. Jetzt benutzte sie da zu, fast ohne zu überlegen, ihre Magie und war im Null Komma nichts am Fuß des Abhangs, der zum Rand hinaufführte. Sie fand einen Pfad und kletterte auf das Licht zu. Haltwhistle stapfte stetig hinter ihr her. Schon Augenblicke später trat sie aus dem trüben Dunst in einen Tag hinaus, der von Sonnenschein und Sommergerüchen erfüllt war. Sie lächelte, als ihr das Licht über Gesicht und Arme strich. Blinzelnd schaute sie zuerst nach links zu bewaldeten tiefgrünen Hügeln und dann nach rechts, wo sich ein Tal voller blauer und gelber Wildblumen erstreckte. Purpurn beschattete Berge erhoben sich am fernen Horizont, über deren Gipfel Wolken kratzten. 225
Vögel flogen in Mistayas Nähe zwischen den Bäumen hindurch, und ein Waldkaninchen schoß durch das lange Gras des Ta ls. »Also, in welche Richtung wollen wir gehen?« fragte sie Haltwhistle mit einem strahlenden, entschlossenen Lächeln. Da der Sumpfmoppel keine bestimmte Vorliebe erkennen ließ, traf Mistaya die Entscheidung. Sie liefen gen Osten, in den Wald, suchten sich einen Weg durch Lichtungen und Schluchten, stießen auf kleine Flüßchen und stille Teiche, beobachteten Waldtiere und rochen Nüsse und Beeren. Mistaya streifte ziellos umher, ohne sich groß darum zu kümmern, wo sie hinging. Sie wußte, daß ihr die Magie den Weg zurück weisen würde, wenn sie nur wollte. Sie dachte kurz an Rydall, ließ den Gedanken aber schnell wieder fallen. Sie hatte ihre magischen Warnwellen beschworen, die sie sofort alarmieren würden, wenn sich ihr irgend jemand nähern sollte. Sie nahm allerdings nicht an, daß Rydall sie überhaupt finden würde. Sie glaubte nicht, daß das irgend jemand tun würde. Es überraschte sie daher, als sie, während sie gerade Steinchen über das Wasser eines kleinen Teiches hüpfen ließ, jemanden in ihrer Nähe wahrnahm. Sie blieb absolut reglos stehen und streckte ihre magischen Fühler aus. Nightshade hatte ihr eine Menge beigebracht, und so fand sie ihn ohne Schwierigkeiten. Es war ein Mann, er war allein. Es schien keine Gefahr von ihm auszugehen. Sie wägte ab, was sie tun sollte, und entschied, daß es Spaß machen könnte, mit jemandem zu sprechen. Schließlich hatte sie, mit Ausnahme der Hexe, seit Wochen mit niemandem mehr geredet. Sie würde ihn sich ansehen, und wenn er nicht bedrohlich aussah, würde sie sich ihm zeigen. Gefolgt von Haltwhistle, schlüpfte sie lautlos durch die Bäume und hüllte sich dabei schützend in ihre Magie. Sie fand ihr Opfer, wie es mit gekreuzten Beinen auf einer Lichtung vor einem kleinen Feuer saß und an den Resten eines kleinen Tieres knabberte, das es gekocht hatte. Es war ein seltsam aussehender Kerl mit kurzen Gliedern und einem runden Leib, der überall behaart war. Sein Schnauzbart stand wie die Borsten einer Bürste von seinem Gesicht ab, und seine winzigen, spitzen Ohren waren 226
an den Ende n ausgefranst. Seine Kleider waren schlecht genäht; sie paßten nicht besonders gut und waren schon recht zerschlissen. In einem Ohr trug er einen Goldring, von dem eine zerzauste Feder herabhing. Er war von seinen nackten Füßen bis zu seinem unbedeckten Kopf mit Schmutz bedeckt. Sie wühlte in ihrem Gedächtnis, um zu identifizieren, was für eine Sorte von Kreatur er war, und entschied schließlich, daß es sich bei ihm um einen G’heim-Gnom handeln mußte. Sie hielt es für ungefährlich, ihn anzusprechen, und trat tapfer auf die Lichtung hinaus. »Guten Morgen«, grüßte sie ihn. Das Wesen am Feuer zuckte derart zusammen, daß ihm der Knochen, an dem er genagt hatte, in den Dreck fiel. »Bei den hüpfenden Himbeeren, hast du mich vielleicht erschreckt!« rief er aus. »Warne einen in Zukunft doch bitte etwas vor! Wo kommst du überhaupt her?« Er griff eilig zu seinem Knochen, hob ihn auf und wischte ihn mit den Fingern ab. »Tut mir leid«, entschuldigte sie sich. »Ich wollte dich nicht ängstigen.« »Du hast mich nicht geängstigt! Kein bißchen! Nein, wirklich nicht!« verteidigte er sich sofort. »Du hast mich nur erschreckt. Ich dachte, ich wäre allein hier draußen. Hatte ja auch allen Grund, das anzunehmen. Niemand kommt jemals hier in diese Wälder, weißt du. Sag, wer bist du überhaupt?« Sie zögerte. »Misty«, sagte sie, obgleich sie den Namen noch immer genausowenig mochte wie früher, aber die Vorsicht siegte über ihren Stolz. »Und du?« »Poggwydd. Ist der niedliche kleine Kerl hinter dir dein Haustier?« Seine Augen spähten plötzlich schärfer zu Haltwhistle hin. »Was ist er?« Sie kam näher zu ihm heran und blickte auf ihn hinunter. Haltwhistle folgte ihr. »Was ißt du denn da?« stellte sie eine Gegenfrage. »Was ich esse? Oh, äh, ein Kaninchen, ja, ein Kaninchen. Ich habe es selbst gefangen.« 227
»Es hat einen ziemlich langen Schwanz für ein Kaninchen, nicht wahr?« Sie deutete auf die Überreste seiner Mahlzeit, die neben ihm zu einem unordentlichen Haufen aufgetürmt waren. Poggwydd runzelte verdrießlich die Stirn. »Na ja, ich habe es vergessen. Vielleicht war es doch kein Kaninchen. Vielleicht war es irgend etwas anderes. Aber was macht das schon für einen Unterschied?« »Es sieht aus wie eine Katze.« »Könnte sein. Na und?« Mistaya zuckte mit den Schultern und setzte sich ihm gegenüber. »Ich wollte bloß nicht, daß du wegen Haltwhistle auf irgendwelche Gedanken kommst, das ist alles.« Sie deutete auf den Sumpfmoppel, der am Boden schnüffelte. »Du bist ein G’heim-Gnom, nicht wahr?« »Und stolz darauf«, verkündete er mit einem für das Mitglied eines der verachtetsten Völker Landovers ungewöhnlichen Selbstbewußtsein. »Nun, jeder weiß, daß G’heim-Gnome Haustiere essen.« Poggwydd warf voller Abscheu seinen Knochen hin. »Das ist eine Lüge! Eine absolute Lüge! G’heim-Gnome essen Wesen der Natur und der Wildnis, nicht jene von Haus und Herd! Ab und zu essen wir schon mal ein herumirrendes, streunendes Haustier, aber das ist seine eigene Schuld! Schau mal, kleines Mädchen, wenn wir uns weiter unterhalten wollen, müssen wir zu einer Übereinkunft kommen. Ich lasse mich nicht verleumden und nicht beschimpfen. Ich habe keine Lust, hier zu sitzen und mich verteidigen zu müssen. Ich war zuerst hier – wenn du also den Drang verspürst, die Würde und den Charakter der G’heimGnome zu beschmutzen, dann gehst du besser wieder!« Mistaya legte ihre Stirn in Falten. »Du scheinst ziemlich empfindlich zu sein.« »Du wärst auch empfindlich, wenn du dein ganzes Leben lang unter den Beschimpfungen anderer leiden müßtest. G’heimGnome wurden seit Anbeginn der Zeit fälschlich beschuldigt, Verbrechen begangen zu haben, derer sie sich nicht schuldig 228
gemacht haben. Man hat sie verspottet und lächerlich gemacht, ohne auch nur einen Gedanken an den Schaden zu verschwenden, den man ihnen damit zufügte. Unschuldige, kleine Mädchen wie du sollten es besser wissen, als in die Fußstapfen eurer ignoranten, vorurteilsbeladenen Erwachsenen zu treten. Es ist nicht alles wahr, was du hörst, mußt du wissen.« »Schon gut«, lenkte Mistaya ein. »Es tut mir leid, daß ich so mißtrauisch war. Aber es gibt eine Menge Geschichten über euch.« Poggwydd verzog angewidert sein schnauzbärtiges Gesicht. »Humpf! Geschichten, also wirklich!« Er blickte erneut zu Haltwhistle hinüber. »Also, was ist er denn nun?« »Ein Sumpfmoppel.« »Hab ich noch nie von gehört.« Poggwydd streckte eine schmutzige Hand aus. »Komm her, Haltwhistle. Komm zu mir, mein Junge. Laß dich vom alten Poggwydd streicheln.« »Man darf Sumpfmoppel nicht streicheln«, erklärte Mistaya schnell. »Man darf sie niemals berühren.« Poggwydd schaute sie mißtrauisch an. »Warum nicht?« »Man tut es einfach nicht. Es ist gefährlich.« »Gefährlich?« Poggwydd sah wieder zu dem Sumpfmoppel. »Er sieht nicht gefährlich aus. Er sieht eher lächerlich aus.« »Nun, jedenfalls darfst du ihn nicht berühren.« »Wie du willst.« Der G’heim-Gnom zuckte die Achseln. Er blickte zu den Knochen hinunter, die in seinem Schoß angehäuft waren. »Möchtest du etwas zu essen?« Mistaya schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Was machst du eigentlich hier draußen?« Poggwydd knabberte einen Fetzen Fleisch von einem Knochen ab. Seine Zähne waren scharf. »Ich bin auf der Reise.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich genieße es, eine Weile allein zu sein, einmal von dem ganzen Krach und der Hektik zu Hause fort zu sein.« »Bist du in Schwierigkeiten?« 229
»Nein , ich bin nicht in Schwierigkeiten!« Er warf ihr einen mürrischen Blick zu. »Sehe ich etwa so aus, als sei ich in Schwierigkeiten? Ja? Sag mal, was ist denn mit dir? Ein kleines Mädchen, das aus dem Nichts hier auftaucht. Bist du denn in Schwierigkeiten?« Sie dachte einen Augenblick lang darüber nach. Vermutlich war sie tatsächlich in Schwierigkeiten. Aber das würde sie ihm nicht erzählen. »Nein«, log sie. »Nicht? Was tust du dann ganz allein hier draußen? Machst du vielleicht einen langen Spaziergang? Hast du dich verlaufen?« Ihr Kinn schob sich trotzig vor. »Ich habe mich nicht verlaufen, ich besuche jemanden.« »Ha!« Poggwydd zog eine Grimasse. »Wen besuchst du denn? Die Hexe vielleicht? Besuchst du sie etwa?« Ihr Gesichtsausdruck ließ ihn innehalten. »Halli, hallo, ich wollte dich doch nur etwas aufziehen; du brauchst keine Angst zu bekommen«, versicherte er ihr hastig, da er ihren Blick falsch deutete. »Aber sie ist gleich da drüben, mußt du wissen. Nur eine Meile oder so entfernt im Tiefen Schlund. Da solltest du besser nicht hingehen. Denk nur immer daran.« Er räusperte sich und warf seine letzten Knochen weg. »Also, wen besuchst du denn nun hier draußen?« Sie lächelte schüchtern: »Dich.« »Mich? Ho, ho! Das ist gut! Mich besuchst du, was?« Er schüttelte sich vor Lachen. »Dann hast du ja wohl keine große Auswahl gehabt. Mich besuchen! Als ob das etwas wäre, das ein kleines Mädchen tun würde!« »Nun, ich tue es.« »Du tust was?« »Dich besuchen. Hier zu sitzen und dieses Gespräch zu führen ist doch ein Besuch, oder etwa nicht?« Er warf ihr einen scharfen Blick zu. »Du bist mir ein bißchen zu pfiffig, kleines Mädchen. Misty, nicht wahr? Sag mir doch jetzt, wenn wir wirklich Freunde sind: Wer bist du?« Sie tat ihr Bestes, um verwirrt auszusehen. »Das habe ich dir doch schon gesagt.« 230
»Ja, das hast du allerdings: Misty, die mitten im Nirgendwo einen Spaziergang macht. Die einen neuen Freund besucht, von dem sie bis jetzt noch gar nicht wußte, daß sie ihn überhaupt hat.« Poggwydd schüttelte seinen schnauzbärtigen Kopf über sie. »Nun, du siehst für mich irgendwie nach Ärger aus, also glaube ich, daß ich nicht weiter mit dir reden möchte. Ich brauche nicht noch mehr Ärger in meinem Leben. G’heim-Gnome haben davon sowieso schon genug. Leb wohl.« Er stand auf und klopfte sich ab, wodurch er Staub und Krümel aufwirbelte. Sie starrte ihn ungläubig an. Er meinte das wirklich ernst. Sie erhob sich ebenfalls. »Ich kann nicht erkennen, was es für einen Unterschied macht, wer ich bin«, erklärte sie wütend. »Warum können wir uns nicht einfach unterhalten?« Er zuckte die Achseln. »Weil ich keine kleinen Mädchen mag, die Spiele spielen, und du spielst eines mit mir, nicht wahr? Du weißt, wer ich bin, aber ich weiß nicht, wer du bist. Das gefällt mir nicht. Es ist nicht gerecht.« »Nicht gerecht?« rief sie aus. »Kein bißchen.« Sie sah zu, wie er begann, seine paar Habseligkeiten aufzulesen. »Aber ich weiß auch nicht wirklich, wer du bist«, argumentierte sie schnell. »Ich weiß auch nicht mehr über dich als du über mich. Außer deinem Name n. Und du kennst meinen, also sind wir quitt.« Er hielt inne und blickte sie an. »Na ja, ich nehme an, das stimmt. Ja, ich glaube, das tut es.« Er legte seinen Rucksack mit einem leichten Scheppern des Inhalts hin und setzte sich wieder. Mistaya setzte sic h zu ihm. »Ich schlage dir einen Handel vor«, sagte er und hob zur Bekräftigung einen seiner schmutzigen Finger. »Du erzählst mir etwas über dich, und ich erzähle dir etwas über mich. Wie findest du das?« Sie streckte ihren Finger aus und berührte seinen, um den Handel abzuschließen. »Du zuerst.« 231
Poggwydd runzelte die Stirn, zuckte mit den Schultern und wiegte sich ein wenig hin und her. »Humpf. Laß mal sehen.« Er überlegte kurz. »Also gut. Ich werde dir sagen, was ich hier tue. Ich bin ein Schatzsucher des Königs. Im Auftrag seiner Hoheit selbst.« Er warf ihr einen verschwörerischen Blick zu. »Ich habe einen Spezialauftrag und suche nach einer sehr wertvollen Goldtruhe, die hier irgendwo in den Wäldern verborgen ist.« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Das tust du nicht.« »Das tue ich wohl!« Er war sofort eingeschnappt. »Woher willst du denn etwas darüber wissen?« »Weil ich es einfach tue.« Sie grinste, ohne es zu wollen. Poggwydd brachte sie fast ebenso zum Lachen wie Abernathy. »Nun, du weißt eben auch nicht alles!« Er tat ihre Worte mit einer Handbewegung ab. »Ich bin schon seit Jahren Schatzsucher im Dienste des Königs! Ich habe schon eine Menge wertvoller Sachen auf meinen Reisen gefunden, das kann ich dir sagen! Ich weiß mehr über Schatzsuche als jeder andere, und Seine Hoheit schätzt das. Darum beschäftigt er mich auch.« »Ich wette, er kennt dich nicht einmal«, beharrte sie. Sie genoß das Spiel. Es war der größte Spaß, den sie seit langer Zeit hatte. »Ich wette, er hat dich in seinem ganzen Leben noch nie gesehen.« Poggwydd war außer sich. »Aber natürlich hat er das! Ich kenne ihn sogar recht gut! Und ich kenne sogar seine Familie. Ich kenne die Königin! Und das kleine Mädchen, das vermißt wird! Vielleicht finde ich sie ja sogar, während ich nach der Schatztruhe suche!« Sie starrte ihn an. Vermißt? Sie preßte ihre Lippen fest zusammen. »Du kennst sie gar nicht. Du denkst dir das alles nur aus.« »Das tue ich nicht! Ich werde dir etwas sagen, weil du ja darauf bestehst, so grob zu sein. Die Tochter des Königs si t viel, viel netter als du!« »Ist sie nicht!« »Ha! Heckmeck! Woher willst du das denn wissen?« »Weil ich sie bin!« 232
Es war ihr herausgerutscht, bevor sie sich bremsen konnte. Sie sagte es in einem Strudel des Stolzes und der Entrüstung, aber sie nahm an, daß sie es so oder so gesagt hätte, da dies hier ein Spiel war und er nicht wissen konnte, ob sie die Wahrheit sprach oder nicht. Außerdem wollte sie seinen Gesichtsausdruck sehen, wenn sie es sagte. Der Anblick war es wert. Er schnappte erstaunt nach Luft, gab unverständliche Laute von sich und endete dann mit einem monströsen Schnauben. »Pah! Was für ein Unsinn! Was für ein Haufen von Pferdeäpfeln! Wer erzählt denn hier wohl Märchen?« »Und ich werde auch nicht vermißt!« fügte sie bestimmt hinzu. »Ich bin genau hier, bei dir!« »Du bist nicht die Tochter des Königs!« rief er heftig aus. »Das kannst du gar nicht sein!« »Woher willst du das denn wissen?« ahmte sie ihn nach. Dann schlug sie in gespieltem Schreck die Hände vors Gesicht. »Oh, entschuldige, ich vergaß! Du bist ja der persönliche Schatzsucher des Königs und kennst die ganze Familie!« Poggwydd schnitt ein finsteres Gesicht. Er beugte sich vor, wobei sein runder Leib auf seinen kurzen, knorrigen Beinen gefährlich hin und her schwankte, als würde er jeden Moment Übergewicht bekommen und vornüberkippen. »Schau«, sagte er bedächtig. »Genug des Blödsinns. Es ist eine Sache, sich für jemanden auszugeben, wenn es ein harmloses Spiel ist, aber es ist etwas ganz anderes, sich über das Unglück anderer lustig zu machen. Ich weiß, daß du nur ein kleines Mädchen bist, aber du bist ein kluges kleines Mädchen und alt genug, um den Unterschied zu erkennen.« »Wovon sprichst du?« herrschte sie ihn an und war wütend, so belehrt zu werden. »Von der Tochter des Königs!« schnauzte er zurück. »Von ihr spreche ich! Und erzähl mir ja nicht, du weißt nichts davon.« Er brach ab. »Nun, na ja, vielleicht tust du das wirklich nicht – ein kleines Mädchen, das so ganz allein hier in den Wäldern ist und über so einen Kerl wie mich stolpert. Wer bist du nun überhaupt? 233
Das hast du mir noch immer nicht gesagt. Bist du eine von diesen Elfen und für einen kurzen Besuch aus den Nebeln gekommen? Bist du ein Schrat oder so was aus dem Seenland? Wir sehen hier oben nicht viele von denen. Jedenfalls wir G’heim-Gnome nicht.« Er machte eine Pause, um seine Gedanken zu sammeln. »Also gut, das folgende ist passiert, wenn du es nicht bereits weißt: Die Tochter des Königs wird vermißt, und alle sind auf der Suche nach ihr. Sie wird schon seit Tagen vermißt, vielleicht sogar schon seit Wochen, aber auf jeden Fall ist sie verschwunden, und es gab Suchtrupps, die Landover von einem Ende bis zum anderen durchkämmt haben.« Er beugte sich zu ihr vor und senkte die Stimme, als befürchtete er, belauscht zu werden. »Es heißt, daß König Rydall sie gefangenhält. Er stammt aus einem Ort namens Marnhull. Er hat sie in seiner Gewalt. Und er wird sie auch nicht zurückgeben. Er läßt den Kämpen des Königs gegen irgendwelche Monster antreten. Ich weiß nicht genau, ob das stimmt, aber so habe ich es gehört. Auf jeden Fall wird sie vermißt, und du solltest dich nicht über sie lustig machen.« Mistaya war sprachlos. »Aber ich bin sie!« beharrte sie und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich bin es wirklich!« In den Bäumen auf der einen Seite bewegte sich etwas. Sie nahm es gerade noch aus den Augenwinkeln wahr und wirbelte herum, bereit zu fliehen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, und ihr Magen hatte sich zu Eis verwandelt. Die Bewegung verwandelte sich in Farbe, in einen Wirbel aus giftgrünem Licht, das die schattigen Freiräume zwischen den Stämmen und Zweigen ausfüllte. Die Farbe wurde dichter und nahm Form an. Sie sammelte sich zu einer menschlichen Gestalt, die hager, dunkel und stolz war. Nightshade war zurückgekehrt. Die Hexe trat, lautlos wie ein Geist, aus dem Schatten heraus. Ihre blutroten Augen richteten sich fest auf Mistaya. »Ich hatte dir gesagt, daß du den Tiefen Schlund nicht verlassen darfst«, sagte sie leise. 234
Mistaya erstarrte. Einen Augenblick lang flogen ihre Gedanken derart durcheinander, daß sie nicht denken konnte. Dann brachte sie ein leichtes Nicken als Antwort zustande. »Es tut mir leid«, flüsterte sie. »Ich wollte die Sonne wiedersehen.« »Komm her zu mir«, befahl die Hexe. »Und stell dich neben mich.« »Es war nur für diesen einen Tag«, versuchte Mistaya ihr zu erklären, die sich jetzt davor zu fürchten begann, was mit ihr geschehen würde, da sie die Miene der Hexe erschreckte. »Ich war ganz allein, und ich dachte nicht...« »Komm gefälligst sofort her, Mistaya!« herrschte Nightshade sie an und schnitt ihr das Wort ab. Mistaya ging langsam mit gesenktem Kopf über die Lichtung. Sie warf Poggwydd einen verstohlenen Blick zu. Er stand mit weit aufgerissenen Augen vor seinem Feuer und starrte zu ihnen herüber. Er tat Mistaya leid. Dies war ganz allein ihre Schuld. »Ich warte, Mistaya«, warnte Nightshade sie. Mistayas Blick schwenkte wieder zu der Hexe zurück. Sie bemerkte plötzlich, daß Haltwhistle fehlte. Er war direkt neben ihr gestanden, als sie mit Poggwydd gesprochen hatte. Wo war er hingegangen? Sie erreichte die Hexe und blieb stehen. Mit einem mulmigen Gefühl wartete sie darauf, was jetzt geschehen würde. Nightshade zwang sich zu einem Lächeln, aber es war ohne Wärme. »Ich bin sehr enttäuscht von dir«, flüsterte sie. Mistaya nickte. Sie war beschämt, ohne so recht zu wissen, warum. »Ich werde es nicht wieder tun«, versprach sie. Sie erinnerte sich an Poggwydd. »Es ist nicht seine Schuld«, sagte sie schnell und blickte über die Schulter zu dem unglücklichen G’heim-Gnom zurück. »Ich bin schuld. Er wollte überhaupt nicht mit mir reden.« Sie zögerte. »Du wirst ihm doch nichts zuleide tun, nicht wahr?« Nightshade streckte ihre Hände aus und legte sie dem Mädchen auf die Schultern. Sanft, aber bestimmt schob sie es zur Seite.
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»Natürlich nicht. Er ist doch nur ein dummer Gnom. Ich werde ihn nur etwas schneller auf den Weg schicken.« »Entschuldigung«, warf Poggwydd mit leiser, brüchiger Stimme ein. »Ich brauche dann doch nicht mehr hierzubleiben, oder? Ich meine, nicht mehr länger? Ich... ich werde nur schnell meine Sachen nehmen, und ich werde...« Nightshades Hände flogen hoch, und grünes Feuer loderte aus ihren Fingerspitzen heraus. Poggwydd quiekte auf und wich entsetzt zurück. Nightshade ließ das Feuer hochflammen, dann sammelte sie es in ihren Handflächen und strich zärtlich darüber, während sie den Gnom im Blick behielt. Mistaya versuchte zu sprechen, stellte aber fest, daß sie es nicht konnte. Sie wandte sich mit flehendem Blick an Nightshade, plötzlich sicher, daß die Hexe Poggwydd doch etwas antun würde. Dann sah sie Haltwhistle. Der Sumpfmoppel kauerte am Rand der Bäume, gerade außerhalb von Nightshades Blickfeld. Seine Nackenhaare waren aufgerichtet, und sein Kopf war nach vorn gebeugt, als würde er sich konzentrieren. Etwas Weißes und frostig Aussehendes stieg von seinem Rücken auf. Was tat er da? Abrupt schoß Nightshade das Feuer auf Poggwydd ab. Haltwhistles Mondfrost erreichte ihn jedoch zuerst. Mistaya schrie bei dem Geräusch des Aufpralls auf. Das Feuer und der Frost explodierten gemeinsam, und Poggwydd verschwand. Alles, was übrigblieb, war der zurückgelassene Rucksack des Gnoms und der Geruch nach Asche und Rauch. »Was war das?« rief Nightshade augenblicklich aus und ließ ihren Blick vom einen Ende der Lichtung bis zum anderen schweifen. Sie drehte sich zu Mistaya um. »Hast du das gesehen? Hast du?« Mistaya blinzelte. Ihr Atem kam in kurzen Japsern. Der Mondfrost. Natürlich hatte sie ihn gesehen. Aber das würde sie der Hexe niemals sagen. Nicht nach dem, was mit Poggwydd geschehen war. Zumindest war Haltwhistle entkommen. Es war keine Spur von ihm zu entdecken. 236
Sie blickte Nightshade an, und ihre Stimme bebte. »Was hast du mit Poggwydd gemacht? Ich habe dich gebeten, ihm nichts anzutun!« Die Hexe war von der Heftigkeit des Tonfalls verdutzt. »Beruhige dich«, sagte sie besänftigend. Ihre Augen huschten noch immer unruhig hin und her. »Nichts ist mit ihm geschehen. Ich habe ihn nur nach Hause geschickt, zurück zu seinen Leuten, weg von hier, wo er nicht hingehört.« Mistaya wollte sich nicht besänftigen lassen. »Ich glaube dir nicht! Ich glaube dir niemals wieder irgend etwas! Ich will nach Hause, jetzt sofort!« Nightshade sah sie mit einem kühlen, leidenschaftslosen Blick an. »In Ordnung, Mistaya«, sagte sie ruhig. »Aber hör dir erst an, was ich dir zu sagen habe. Den Gefallen kannst du mir doch noch tun, oder?« Mistaya nickte mit zusammengepreßten Lippen. »Deinem Freund ist nichts geschehen«, betonte die Hexe. »Aber er konnte nicht länger hierbleiben. Was er dir erzählt hat, war die Wahrheit, soweit er sie kannte. Jeder glaubt, daß Rydall dich gefangenhält. Dein Vater hat dafür gesorgt, daß sie das denken. Er hat dieses Gerücht in die Welt gesetzt, als Rydall versuchte, dich zu entführen. Er hat sogar eine Suche organisiert, damit die Behauptung glaubwürdig klang. Er tat das, um Rydall zu verwirren und jeden anderen, der versuchen könnte, dich auf sein Geheiß zu suchen. Auf diese Weise sah es so aus, als wüßte niemand, wo du bist.« Sie lächelte Mistaya mitfühlend an. »Aber jetzt kennt der kleine Gnom die Wahrheit. Stell dir einmal vor, er erzählt jemandem, was du ihm gesagt hast. Stell dir vor, er sagt jemandem, wo er dich gesehen hat. Was ist, wenn Rydalls Spione davon erfahren? Das Risiko ist zu groß. Also habe ich ihn dahin zurückbefördert, wo er hergekommen ist, und mit meiner Magie seine Erinnerung an diesen Vorfall gelöscht. Das geschah zu euerm beiderseitigen Schutz.« »Er wird sich an nichts erinnern?« fragte Mistaya besorgt. 237
»An nichts. Also ist doch kein Schaden entstanden, oder?« Nightshade beugte sich näher zu ihr heran. »Was deine Heimreise anbelangt, so kannst du sofort gehen, wenn du willst.« Sie machte eine Pause. »Oder du kannst noch drei Tage bei mir bleiben und dann gehen. Wenn du dich entscheidest hierzubleiben, werde ich dir etwas versprechen: Ich werde keine Monster mehr von dir verlangen. Ich weiß, daß wir genügend von ihnen gemacht haben. Du warst mehr als geduldig, und ich habe dir sehr viel abverlangt. Wir werden etwas Neues ausprobieren. Was hältst du davon?« Mistaya starrte sie an. Diese unerwartete Wendung der Ereignisse überraschte sie. Die Augen der Hexe waren wieder silbern, sanft und unwiderstehlich. Mistaya erinnerte sich daran, wie es am Anfang gewesen war, als sie sich das erste Mal begegnet waren: wie gerne Nightshade sie unterrichtet hatte und wie begierig sie selbst gelernt hatte. Sie entsann sich, wie aufgeregt sie gewesen war, als sie das erste Mal ihre Magie benutzt hatte. Sie spürte, wie ein Teil des Ärgers und des Mißtrauens dahinschwand. Sie würde den Unterricht gerne fortsetzen. Sie würde gerne bleiben. Sie müßte nicht sofort nach Hause gehen – nicht, wenn Poggwydd wirklich in Sicherheit war und sie nicht noch mehr Monster machen mußte. »Ist mit meinen Eltern alles in Ordnung?« fragte sie plötzlich. Nightshade sah schockiert aus. »Aber natürlich. Was glaubst du, wo ich heute morgen gewesen bin? Ich habe meine Gestalt verändert und bin nach Sterling Silver geflogen, um mich mit eigenen Augen davon zu überzeugen. Alles ist in bester Ordnung. Deinen Eltern geht es gut. Questor Thews beschützt sie vor Rydall, so daß wir Zeit genug haben, deine Ausbildung in der Magie zu beenden. Dann wirst du in der Lage sein, ihnen beizustehen.« Mistaya blickte die Hexe schweigend an. Nightshade schien die Wahrheit zu sagen. Und Poggwydd hatte nichts davon erwähnt, daß ihre Eltern in Gefahr wären oder daß ihnen etwas zugestoßen sei. Natürlich war es schwer zu entscheiden, ob irgend etwas von
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dem, was der Gnom gesagt hatte, der Wahrheit entsprach, überlegte sie. Sie war plötzlich sehr verwirrt. Seufzend wandte sie ihren Blick von der Hexe ab. Die Lichtung lag still und verlassen da. Über ihnen erhellte die Sonne den Himmel und ließ ihr Licht zwischen den Bäumen hindurchströmen. Mistaya war beinahe versucht zu glauben, daß Poggwydd niemals hier gewesen war. »Na ja«, sagte sie schließlich. »Ich schätze, ich könnte noch drei Tage länger bleiben.« »Das wäre sehr klug von dir«, ermutigte Nightshade sie. Mistaya nahm weder den harten Klang in ihrem Tonfall wahr, noch, wie Nightshades Rücken einen Teil seiner Steifheit verlor. »Aber du darfst den Tiefen Schlund nicht noch einmal verlassen.« Mistaya nickte. »Das werde ich nicht.« Sie blickte zögerlich wieder zu der Hexe. »Was werden wir jetzt lernen?« Nightshade kräuselte die Lippen. »Medizin«, antwortete sie. »Heilung durch Magie.« Sie legte den Arm um Mistaya und begann, mit ihr zurück zur Senke zu gehen. »Mistaya«, sagte sie sanft, »würdest du gern lernen, wie du deine Magie dazu benutzen kannst, etwas Totes wieder zum Leben zu erwecken?« Sie lächelte das Mädchen an, und ihre Augen strahlten vor Vergnügen.
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DIE SUCHE
Nach drei Tagen vergeblicher Suche in Graum Wythe kam Questor Thews zu dem Schluß, daß sie es übersehen haben mußten. »Wir tragen offensichtlich Scheuklappen«, verkündet er unvermittelt. Er setzte sich auf eine Umzugskiste, stützte das Kinn auf die Hände und runzelte so heftig die Stirn, daß sich seine buschigen, weißen Augenbrauen verzogen. »Es ist hier, was immer es auch ist, aber wir sehen es einfach nicht!« Elizabeth und Abernathy blickten ihn in stummer Nachdenklichkeit an. Sie befanden sich in der Abgeschiedenheit eines der vielen Lagerräume von Graum Wythe. Es war ein kleiner, fensterloser Raum, der tief im Inneren der Burg lag und in den niemals das Licht der Sonne drang. Die Luft in ihm war drückend und muffig. Sie hatten den Raum bereits einmal durchsucht und waren gerade damit beschäftigt, dies ein zweites Mal zu tun. Sie wurden immer entmutigter. »Es dürfte nicht so lange dauern«, erklärte der Zauberer energisch. »Wenn es das ist, was wir finden sollen, wenn es das ist, weswegen wir hierher gebracht worden sind, dann hätten wir schon darüber stolpern müssen.« »Es würde enorm helfen, wenn wir wüßten, wonach wir suchen«, stellte Abernathy verdrießlich fest und ließ sich mit einem müden Seufzer auf einer zweiten Kiste nieder. Er war es leid, in alten Schachteln und staubigen Ecken herumzukramen. Er wollte nach draußen, wo die Sonne schien und die Luft frisch war. Er wollte es genießen, wieder der zu sein, der er früher gewesen war, nachdem er jetzt wieder ein Mensch war. All die Hundejahre waren von ihm abgefallen wie Laub von einem Baum im ersten Sturm des Winters, so als wäre alles nur ein böser Traum gewesen, aus dem er endlich erwacht war. Elizabeth spitzte ihren Mund, wodurch sich ihre Knopfnase runzelte. »Ich nehme nicht an, daß du dich darin irren könntest, 240
was euren Zweck hier anbelangt?« fragte sie Questor Thews vorsichtig. »Ist es nicht möglich, daß euer Erscheinen hier nur ein glücklicher Zufall war?« Sie setzte sich neben Abernathy. »Oder daß ihr aus irgendeinem anderen Grund hergeschickt wurdet?« »Ja, das ist durchaus möglich«, gestand der Zauberer großzügig ein, »aber unwahrscheinlich. Die Auswirkungen von Magie sind nur selten zufällig. Es gibt fast immer einen Grund dafür, warum sie gerade so ausfallen und nicht anders. Nightshade hätte nicht den Fehler begangen, uns am Leben zu lassen, wenn sie geplant hätte, daß wir sterben. Nein, die Schlußfolgerung ist unausweichlich. Eine zweite Magie hat eingegriffen und uns gerettet. Wir wurden aus einem bestimmten Grund hierhergesandt, und ich kann mir keinen anderen Grund vorstellen als die Rettung von Mistaya.« »Kann es sein, daß du dich darin irrst, daß die Magie in Graum Wythe verborgen ist?« bohrte Elizabeth nach. »Könnte sie nicht woanders sein?« Questor Thews verzog das Gesicht. »Nein. Sie muß hier sein. Es muß eine Magie sein, die ursprünglich aus Landover stammt. Etwas anderes würde keinen Sinn ergeben!« Sie starrten einander einen Moment lang wortlos an, dann schauten sie sich in dem Raum um. »Könnte es ein zweites Medaillon sein?« fragte Abernathy plötzlich. »So eines, wie der König es trägt?« Questor hob nachdenklich eine gewölbte Augenbraue. Das war eine Möglichkeit, die er nicht bedacht hatte. Aber nein; Michel Ard Rhi hätte ein solches Medaillon schnell gefunden und sich dann nicht solche Mühe gegeben, Abernathy dazu zu zwingen, ihm das des Königs auszuhändigen, als der Schreiber vor einigen Jahren als Gefangener in Graum Wythe gewesen war. Der Zauberer schüttelte den Kopf. »Nein, es ist etwas anderes, etwas, das Michel nicht erkannt hätte. Zumindest etwas, das er nicht benutzen konnte.« Er rieb sich nachdenklich sein bärtiges Kinn. »Das ist wirklich außerordentlich frustrie rend.«
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»Vielleicht sollten wir erst einmal etwas zu Mittag essen«, schlug Elizabeth vor und stieß Abernathy spielerisch in die Rippen. »Mit vollem Magen können wir bestimmt besser nachdenken.« »Bestimmt können wir nach einem kleinen Nickerchen besser nachdenken«, meinte Abernathy und stieß sie ebenfalls an. Questor Thews betrachtete sie schweigend. Ihm gefiel nicht, was er da sah. Abernathy begann, sich in seinem neuen Leben wohl zu fühlen. Er war schon jetzt viel zu zufrieden mit sich selbst, so als bedeute ihm jetzt, nachdem er wieder ein Mann geworden war, die Rückkehr nach Landover überhaupt nichts mehr. Er vergaß seine Verpflichtungen. Der König und seine Familie waren immer noch auf sie beide angewiesen, aber Questor fürchtete, daß Abernathy dies aus den Augen verlor. Er wußte, daß er sich nicht zum Richter aufspielen sollte, aber es war so offensichtlich. Abernathy war dabei, sich selbst wiederzuentdecken, und paßte sein Leben den neuen Umständen an. Es war ein gefährliches Sichgehenlassen. Questor räusperte sich so heftig, daß beide zusammenzuckten. »Bevor wir essen oder ein Nickerchen machen, sollten wir vielleicht die Angelegenheit noch einmal durchgehen.« Er lächelte, um seinen Worten die Schärfe zu nehmen. »Es dauert auch nur ein paar Minuten. Ich gestehe, daß ich im Augenblick ziemlich verzweifelt bin.« Elizabeth lächelte ihn aufmunternd an. »Mach dir keine Sorgen, Questor. Du wirst es früher oder später schon finden, was immer es auch sein mag.« Sie fuhr sich mit den Fingern durch ihr krauses Haar. »Und selbst wenn du es nicht finden solltest, ist dies hier doch nicht der schlechteste Ort zum Verweilen, oder?« Sie klang allzu hoffnungsvoll. Questor wagte nicht, auszusprechen, was er dachte. »Wir müssen nach Landover zurück«, beharrte er ruhig. »Und wir müssen unbedingt die Magie finden, die uns dies ermöglicht.« Elizabeth seufzte. »Ich weiß.« Sie klang nicht überzeugt. »Diese Magie, welche das auch immer sein mag, muß doch etwas sein, 242
das du erkennst, wenn du es siehst, oder nicht? Wenn sie wirklich hier sein sollte?« »Wir haben alles schon mindestens einmal gesehen«, wandte Abernathy ein und schob seine Brille die Nase hoch. »Vielleicht suchen wir nicht auf die richtige Weise danach«, überlegte Questor laut. Elizabeth schwenkte ihre Beine von der Kiste weg und betrachtete ihre Turnschuhe. Sie schwiegen wieder und dachten nach. »Wartet«, sagte Abernathy plötzlich. »Vielleicht ist das, wonach wir suchen, überhaupt kein Gegenstand. Vielleicht sehen wir es deshalb nicht. Es war ein Zauber, der uns hierhergebracht hat, Magie, die durch Worte beschworen wurde. Was ist, wenn es ein Zauberspruch ist, der uns zurückbringen kann?« Questors Augen wurden ganz groß, und er sprang von der Umzugskiste auf. »Abernathy, du bist ein Genie! Natürlich, das ist es! Ein Zauberspruch! Wir suchen gar nicht nach einem Talisman! Wir suchen nach einem Buch mit Zaubersprüchen!« Abernathy und Elizabeth erhoben sich ebenfalls; sie sahen entschieden weniger überzeugt von diesem Gedanken aus. »Aber hätte Michel ein solches Buch nicht erkannt?« fragte Abernathy zweifelnd. »Hätte er es nicht dazu benutzt, nach Landover zurückzukehren, als er den Thron zurückgewinnen wollte? Oder hätte es nicht dein Bruder herausgesucht, als Holiday ihm trotzte? Ich weiß; es war meine Idee, aber wenn ich länger darüber nachdenke, ergibt es nicht besonders viel Sinn. Wenn es einen Zauberspruch gibt, der es erlaubt, nach Landover zurückzukehren, warum hat ihn dann keiner von ihnen benutzt?« »Vielleicht, weil sie es nicht konnten«, meinte der Zauberer und lief erregt zur einen Seite des mit Gerumpel angefüllten Raumes und dann wieder zur anderen. Sein Kopf war dabei gesenkt, und seine Hände schwangen nervös hin und her. »Weil der Zauber bei ihnen vielleicht nicht wirkte. Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, daß du da auf jeden Fall über etwas gestolpert bist. Ein Zauber243
spruch hat uns hergebracht. Es würde Sinn ergeben, wenn uns auch ein Zauber wieder zurückbrächte. Eine Umkehrung der Magie, die uns hier erscheinen ließ. Eine Umformulierung der Worte...« Ein häßlicher Verdacht fuhr ihm durch den Kopf; er war ihm schon früher gekommen, als sie in Elizabeths Küche die Gründe dafür diskutiert hatten, was mit ihnen geschehen war. Er hatte den Verdacht damals verworfen, hatte sich geweigert, ihn ernsthaft zu überdenken, da er es nicht über sich gebracht hatte, diese Möglichkeit zu erwägen. Jetzt war der Gedanke wieder da, und die Möglichkeit war zu groß, als daß er sie ignorieren konnte. Er beendete sein Auf- und Abwandern und blickte Abernathy mit sorgenvollen Augen an. »Abernathy, es fällt mir schwer, das zu sagen, aber was ist, wenn...« Er beendete den Satz nie. In der gegenüberliegenden dunklen Ecke des Lagerraums flammte mit einem Mal Licht auf, und die drei drehten sich überrascht dorthin um. Das Licht leuchtete strahlend hell auf, dann verschwand es und ließ einen zerlumpten und verängstigten G’heim-Gnom zurück, der benommen und zitternd auf dem Betonboden saß. Als er sah, daß sie ihn anstarrten, keuchte er und warf abwehrend seine Hände hoch. »Tut mir nicht weh!« flehte er, zwinkerte rasch und versuchte, sich zu einem Ball zusammenzurollen. »Ich will einfach nur nach Hause!« Questor Thews tauschte einen erstaunten Blick mit Abernathy aus. Ein G’heim-Gnom? Hier? Was sollte das bedeuten? »Schon gut, keiner tut dir etwas«, beruhigte Questor den Gnom und machte ein paar Schritte auf ihn zu. Er blieb jedoch wieder stehen, als der Gnom begann, nach Luft zu schnappen. »Ist alles in Ordnung mit dir?« Der Gnom nickte unsicher. »Wenn man es ›in Ordnung‹ nennen kann, in Hexenfeuer getaucht zu werden, dann ja.« Hexenfeuer? Questor und Abernathy wechselten einen zweiten Blick. »Wie heißt du?« fragte Questor. Der schmutzige, kleine Kerl hatte sich zu einer unmöglichen Stellung 244
zusammengekrümmt. »Na, komm schon. Wir wollen dir doch nichts Böses. Wir sind alles Freunde.« Der Gnom schniefte unsicher und lugte unter seinen gekreuzten Armen hindurch. »G’heim-Gnome haben nur ziemlich wenige Freunde«, meinte er bekümmert. Er hob seinen Kopf. Er war unglaublich heruntergekommen, zerlumpt und hatte ein Bad dringend nötig. »Sagt mir zuerst, wer ihr seid.« Questor seufzte. »Ich bin Questor Thews. Das ist Abernathy. Und das ist Elizabeth.« Er deutete nacheinander auf die Genannten. »So, und wer bist du?« »Poggwydd«, sagte der G’heim-Gnom. Er schien stolz auf diesen Umstand zu sein. Er senkte seine Arme und richtete sich ein wenig auf. »Questor Thews, der Hofzauberer? Ich habe gehört, du wärst Rydalls Gefangener. Du und der Hund. Sind wir etwa dort, in Rydalls Gefängnis? Hat mich die Hexe dorthin geschickt?« »Warte mal einen Moment.« Diesmal kam Questor dicht zu ihm heran und zog den Gnom auf die Beine. »Die Hexe, sagst du? Meinst du Nightshade?« Poggwydd nickte. »Wen sonst?« Er war jetzt ein klein wenig selbstbewußter. »Sie hat mir das angetan. Sie hat mich hierhergeschickt, wo immer ich jetzt auch bin. Hat ihr Hexenfeuer dafür benutzt. Sag mal, du hast mir noch nicht geantwortet. Befinden wir uns in Rydalls Gefängnis? Was geht hier eigentlich vor?« Questor Thews nahm Poggwydd am Ellbogen, ging mit ihm zu einer der Umzugskisten hinüber und setzte ihn dort hin. Der Gnom rieb sich die feuchte Nase und versuchte vergeblich, tapfer auszusehen. Er hielt seinen Blick ununterbrochen auf Questor gerichtet, als könnte er so vermeiden, daß ihm etwas Schlimmes widerfuhr. »Poggwydd«, sprach ihn der Zauberer ernst an. »Ich möchte, daß du uns alles erzählst, was mit dir geschehen ist, alles, woran du dich erinnern kannst, vor allem alles über Nightshade.«
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»Gut, das kann ich tun«, erklärte der Gnom. Er hielt plötzlich mißtrauisch inne. »Aber du versprichst mir, daß ihr keine Freunde von ihr seid?« »Ich verspreche es«, erwiderte Questor. Poggwydd nickte. Er dachte kurz darüber nach, dann räusperte er sich wichtig. »Nun, ich dachte, sie würde mir etwas antun – die Hexe, meine ich. Sie hatte so einen Blick in ihren Augen. Sie war wegen des kleinen Mädchens wütend auf mich. Hat mich erwischt, wie ich etwa eine Meile außerhalb des Tiefen Schlundes mit ihr auf einer Lichtung gesprochen habe. Wirklich lächerlich. Ich kannte sie nicht einmal; sie tauchte einfach aus dem Nichts auf, direkt aus dem Wald, und wollte mit mir reden. Also taten wir das, und dann kam die Hexe, und das kleine Mädchen bat sie, mir nichts zu tun, sägte, es sei nicht meine Schuld gewesen, aber die Hexe sah nicht so aus, als würde sie das glauben, und deshalb...« »Warte! Stopp! Einen Moment!« Questor hob bittend die Hände. Seine Stirn war in tiefe Falten gelegt. »Von welchem kleinen Mädchen sprichst du? Wie sah sie aus? Hat sie dir ihren Namen gesagt?« Poggwydd starrte ihn, von seinem Gesichtsausdruck erschreckt, an. Er schaute an dem Zauberer vorbei zu den beiden anderen, fand aber auch dort keine Hilfe und blickte wieder Questor an. »Ich weiß nicht, wie sie ausgesehen hat. Wer kann sich an so etwas schon so genau erinnern. Sie war... klein. Nicht sehr alt, vielleicht zehn. Sie hatte Sommersprossen und blonde Haare.« Er runzelte die Stirn. »Sie war sehr schlau. Hat irgendwelche Spielchen mit mir gespielt, während wir uns unterhalten haben. Sie hat behauptet... Sie hat gesagt, sie wäre die Tochter des...« Er brach ab, plötzlich nicht mehr sicher, wie er fortfahren sollte. »Sie sagte, ihr Name wäre Misty.« »Mistaya«, hauchte Questor und wich zurück. »Also hat Nightshade sie in ihrer Gewalt. Oder hatte sie jedenfalls. Ist sie entkommen, Poggwydd? Ist es das, was geschehen ist?« Der G’heim-Gnom starrte ihn verständnislos an. »Entkommen? Ich weiß nicht, ob sie das getan hat oder nicht. Ich weiß nicht, wo 246
sie hergekommen ist. Ich weiß noch nicht einmal genau, wer sie war. Das einzige, was ich weiß, ist, daß die Hexe wütend wurde, als sie uns fand, als wir uns miteinander unterhielten, und das ist auch der Grund, warum ich hier bin!« Er brach ab und rieb sich sein stoppeliges Kinn. Kleine Stückchen getrockneten Drecks blätterten ab. »Obwohl auch das vielleicht nicht ganz richtig ist. Wißt ihr, sie, das kleine Mädchen, bat die Hexe, mir nichts anzutun. Aber ich glaube nicht, daß die Hexe ihr irgendeine Beachtung geschenkt hat, sondern vorhatte, mich wie ein Stück altes Fleisch zu rösten.« »Aber sie hat es nicht getan«, unterbrach ihn Questor, der versuchte, die Geschichte zu beschleunigen, da er begierig darauf war, seinen Verdacht zu überprüfen. Poggwydd schüttelte den Kopf. »Nun, da war noch dieser Sumpfmoppel, müßt ihr wissen. Ich glaube, daß er es vielleicht verhindert hat.« Er blickte die anderen verwirrt an. »Ist das nicht möglich?« Es dauerte zwar eine ganze Weile, aber am Ende holten sie die ganze Geschichte aus ihm heraus. Sie erfuhren, wie Mistaya plötzlich an seinem Lagerfeuer aufgetaucht war, das nicht weit vom Tiefen Schlund entfernt gewesen war, und wie sie ins Gespräch gekommen waren. Sie hörten von Haltwhistle und daß er anscheinend der Begleiter des Mädchens war. Schließlich erfuhren sie von Nightshades unerwartetem Auftauchen, von ihrem Zorn darüber, daß Mistaya den Tiefen Schlund verlassen hatte, und von ihrem Angriff auf Poggwydd, der anscheinend zum Teil durch die Magie Sumpfmoppels vereitelt worden war, so daß der Gnom in Graum Wythe aufgetaucht war. »Genau wie wir!« rief Abernathy aus, als der Gnom seinen Bericht beendet hatte. Er stand mittlerweile neben Questor Thews und sah echt erregt aus. »Questor, genau dasselbe muß auch mit uns passiert sein! Der Sumpfmoppel hat eingegriffen, Nightshades Magie verändert und uns hierhergesandt! Es klingt genau wie bei uns!«
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»In der Tat«, stimmte Questor ihm zu, spitzte die Lippen und dachte scharf nach. »Wo ist hier?« fragte Poggwydd noch einmal. »Das habt ihr mir immer noch nicht gesagt.« »Gleich«, erwiderte Questor. Er wandte sich kurz von den anderen ab und dann wieder zu. »Aber wer hat den Sumpfmoppel zu Mistaya gesandt? Es muß in jener Nacht, als die Hexe erschien, geschehen sein, während wir geschlafen haben. Wir waren im Seenland, also könnte es der Flußherr gewesen sein. Aber der einzige Sumpfmoppel, von dem ich jemals außerhalb der Elfennebel gehört habe, ist jener, der der Erdmutter dient.« »Was macht das für einen Unterschied?« schnitt ihm Abernathy das Wort ab. »Was zählt, ist, daß die Hexe Mistaya in ihrer Gewalt hat und sie dazu benutzt, dem König Schaden zuzufügen, genau wie sie es uns angekündigt hat. Du hattest recht, Questor Thews. Wir sind aus einem besonderen Grund hier, und es hat damit zu tun, daß wir Ben Holiday helfen müssen. Wir müssen nur herausfinden, wie.« »Ein Buch mit Zaubersprüchen«, erinnerte Questor ihn und kam damit wieder auf den Ausgangspunkt ihrer Diskussion zurück. »Na schön.« Er wirbelte herum, lief zu Poggwydd und legte beide Hände fest auf die schmalen Schultern des Gnoms. »Wo du bist, ist unwichtig, Poggwydd. Entscheidend ist nur, daß du dich nicht in unmittelbarer Gefahr befindest. Aber das kleine Mädchen, Misty, ist in Gefahr. Wir müssen hier heraus und wieder dorthin, wo sie sich aufhält. Hier, an diesem Ort, gibt es etwas, das uns dabei helfen kann, dies zu tun – wenn wir es finden können. Und das wollten wir gerade versuchen. Ich möchte, daß du hier auf uns wartest, während wir suchen.« Poggwydd blickte sich zweifelnd um. »Warum sollte ich das tun? Warum kann ich nicht einfach nach Hause gehen? Ich werde den Weg schon finden, wenn ich erst wieder im Freien bin.« Questor schaute ihn mitfühlend an. »Du wirst ihn nicht finden, nicht von hier. Das mußt du mir einfach glauben.« Er machte eine Pause und dachte nach. »Wenn du es versuchst, bekommt dich 248
Nightshade möglicherweise ein zweites Mal in ihre Hände, Poggwydd. Verstehst du mich?« Der Gnom nickte schnell. Das verstand er sehr gut. »Ich werde tun, was du mir sagst«, stimmte er widerstrebend zu. »Wie lange werde ich warten müssen?« »Ich weiß es nicht. Möglicherweise eine ganze Weile. Du mußt Geduld haben.« Poggwydd schniefte. »Ich habe überhaupt nichts zu essen. Ich bin hungrig.« Abernathy rollte mit den Augen. Questor drückte die Schultern des Gnoms, dann ließ er ihn los. »Ich weiß. Du mußt jetzt tapfer sein. Wir werden versuchen, etwas zu essen für dich zu finden und dir herunterzubringen. Aber du mußt hier bleiben, was immer auch geschehen mag. Das ist sehr wichtig, Poggwydd. Du darfst diesen Raum auf keinen Fall verlassen. In Ordnung?« Der Gnom rieb sich die Nase und zuckte die Achseln. »In Ordnung. Ich werde warten. Aber versucht euch zu beeilen.« »Wir werden so schnell machen, wie wir können.« Questor trat zurück und schaute wieder zu Abernathy und Elizabeth hinüber. »Wir müssen von vorn beginnen, ob nun Touristen da sind oder nicht. Zuerst die Ausstellungszimmer und dann wieder die Lagerräume. Aber ich könnte darauf wetten, daß das Buch, das wir brauchen, irgendwo ist, wo wir es sehen können.« »Wißt ihr«, sagte Elizabeth nachdenklich, »ich glaube, da waren ein paar Bücher, die getrennt von den anderen aufbewahrt worden ind. Sie sind in einer Sprache verfaßt, die niemand hier lesen kann. Mein Vater hat sie einmal erwähnt.« »Jetzt nimmt die Sache endlich Gestalt an!« rief Questor mit unverhohlener Freude aus. »Bücher, die in der Sprache von Landover geschrieben sind und die Michel oder mein Bruder mit herübergebracht haben! Das müssen sie sein, nicht wahr?« Und damit waren sie auch schon aus der Tür und machten sich auf den Weg durch die Burg, nachdem Questor Poggwydd noch ein letztes, aufmunterndes Lächeln zugeworfen hatte.
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Die Suche dauerte länger, als sie erwartet hatten; sie erstreckte sich bis weit in den Nachmittag hinein, als die letzten Touristen zurück in ihre Autos und Busse strömten und nach Hause fuhren. Sie mußten die Räume der Burg zweimal durchkämmen, bevor sie endlich fanden, was sie suchten. Es befanden sich in jedem Raum Bücher, aber die meisten von ihnen waren unter Verschluß. Das bedeutete, daß jemand Wache halten und Touristen und Führer ablenken mußte, während die Schlösser geöffnet und der Inhalt der Regale eilig darauf überprüft wurde, ob sich unter den Büchern das gesuchte befand. Questor öffnete die Schlösser mit Magie, was den Vorgang beschleunigte, aber die Sichtung der Bücher kostete dennoch übermäßig viel Zeit und führte den größten Teil des Tages über zu absolut keinem Ergebnis. Bis sich Elizabeth schließlich, als ihnen die Zeit bereits davonrannte und das Schloß sich der Schließung näherte, an einen massiven, alten Schrank mit Glastüren in einem Salon im Obergeschoß erinnerte. Er war in einem Erker verborgen und dadurch von der Türöffnung aus, die mit einem Seil abgesperrt war, nicht zu sehen. Sie glaubte, daß sich darin einige Bücher befanden. Nur ein paar, aber sie erinnerte sich an sie, weil ihr Vater einmal eine Bemerkung über ihre Einbände gemacht hatte. Sie folgten Elizabeths Eingebung und eilten die Treppe hinauf. Unten in der Haupthalle läutete schon eine Klingel, um anzuzeigen, daß die Burg nun geschlossen wurde. Während das Mädchen und Abernathy Wache hielten, stieg Questor über das Seil und schlängelte sich in einem Hindernislauf an Möbelstücken vorbei bis zum Schrank. Er spähte hinein. Ja wirklich, es standen Bücher darin, ein Dutzend insgesamt, und alle waren in dunkle Schutzumschläge aus Leinen gehüllt, die die Titel verbargen. Die Schranktür war verriegelt, aber ein geflüstertes Wort der Magie genügte, um ihn ans Ziel zu bringen. Questor griff aufgeregt an der Sammlung von Glaswaren aus Amethyst vorbei, die vor den Büchern standen, und zog das erste heraus. Zu seiner größten Enttäuschung war es in englisch geschrieben und hatte nichts mit Landover zu tun. Er überprüfte zwei weitere. Bei ihnen war es das gleiche. Wieder eine 250
Sackgasse, wie es aussah. Mit schwindender Hoffnung machte Questor schneller weiter. Bücher über Gartenarbeit, Reisen und Geschichte. »Questor Thews, beeil dich!« zischelte Abernathy von der Türöffnung her, als sich vom anderen Ende des Ganges Stimmen rasch näherten. Questor öffnete das achte Buch der Sammlung, und seine Augenbrauen schossen in die Höhe. Es war in der altlandoveranischen Schrift verfaßt worden, in einer Sprache, welche die alten Zauberer gewöhnlich verwendet hatten. Er blätterte das Buch hastig durch, um sicherzugehen, daß es das richtige war. Die Stimmen wurden immer deutlicher: Lachen, ein kurzer Gruß an Elizabeth, ihre Erwiderung. Fieberhaft preßte sich Questor zwischen die Wand und den Schrank, so daß er von der Türöffnung aus nicht mehr zu sehen war. »Noch immer am Herumstöbern, Elizabeth?« fragte jemand und stellte sich direkt vor das Seil. »Bist du denn noch gar nicht hungrig?« »Ach, wir sind schon fast fertig«, erwiderte sie mit einem nervösen Lachen. »Ist es in Ordnung, wenn wir noch ein wenig bleiben?« »Eine Stunde«, sagte eine zweite Stimme. »Dann gehen wir nämlich. Ruf uns, wenn du etwas brauchst.« Die Stimmen entfernten sich wieder und verklangen schließlich. »Questor!« warnte Abernathy ein zweites Mal. Seine Geduld war offenkundig am Ende. Questor schob sich aus seinem Versteck und besah sich seine Entdeckung. Vorsichtig entfernte er den Umschlag aus Leinen. In den Ledereinband waren mit Blattgold Symbole eingeprägt, die Torweg-Mythologien bedeuteten. »Verflixt!« murmelte er, ste llte das Buch wieder an seinen Platz zurück und zog das nächste heraus. Grünland-Historien. Er griff nach dem dritten. Theorien der Magie und ihrer Anwendung. »Ja, ja, ja!« flüsterte der Zauberer erleichtert. 251
Er wußte, daß er sich nicht die Zeit nehmen konnte, es an Ort und Stelle durchzulesen. Er überprüfte schnell noch die restlichen Bände, fand aber nichts mehr. Er mußte hoffen, daß das Buch in seinen Händen enthielt, wonach er suchte. Eilig ging er durch den Raum zurück zur Tür. »Ich habe es!« verkündete er triumphierend, als er Elizabeth und Abernathy erreichte. Plötzlich heulte Alarm auf. Sie zuckten zusammen, und Elizabeth schrie kurz auf. Hastig ließ Questor das Buch in die Tragetasche verschwinden, die er mitgebracht hatte. »Was ist passiert?« keuchte er. Sein weißes Haar und sein Bart flogen in alle Richtungen. »Was habe ich gemacht?« »Ich glaube nicht, daß du den Alarm ausgelöst hast!« Elizabeth packte ihn am Arm, als er nervös hin und her wirbelte, um nach imaginären Angreifern Ausschau zu halten. »Das ist ein Feueralarm! Aber ich habe keine Ahnung, was ihn ausgelöst haben könnte!« Questor Thews und Abernathy blickten sich gleichzeitig an. »Poggwydd!« riefen sie aus. Sie rannten den Korridor entlang zur Treppe und hasteten hinunter, wobei sie sich anrempelten, stolperten und alle durcheinanderredeten. »Wir hätten ihn nicht allein lassen sollen!« stöhnte Questor, während er die Tragetasche mit ihrem wertvollen Inhalt fest an seine Brust preßte. »Wir hätten ihn fesseln und knebeln sollen!« fauchte Abernathy. Von unten waren Schreie und Rufe zu hören. »Vielleicht ist er es ja gar nicht!« hoffte Elizabeth. Aber natürlich war er es. Zwei Leute vom Sicherheitsdienst zerrten Poggwydd gerade in ihr Blickfeld, als sie den Fuß der Treppe erreichten. Der Gnom war ganz zerzaust und von Kopf bis Fuß mit einer Schicht Asche bedeckt. Er wehrte sich und stöhnte erbarmenswürdig, während die Wärter ihn auf Armeslänge entfernt zwischen sich festhielten. Sie waren unsicher, was sie da erwischt hatten. 252
»Oh, Junge, jetzt habe ich aber wirklich alles gesehen!« murmelte der eine von ihnen. »Sei ruhig und halt ihn fest!« knurrte der andere ärgerlich. Als Poggwydd Questor Thews erblickte, begann er, um Hilfe zu rufen, aber der Zauberer machte eine schnelle Bewegung mit der Hand, und der erschreckte G’heim-Gnom hatte plötzlich keine Stimme mehr. Sein Mund bewegte sich in vergeblicher Verzweiflung, aber es kam kein Ton heraus. »Bleibt zurück, Leute«, wies sie einer der Wärter an, während sie den strampelnden Gnom an ihnen vorbeitrugen. »Was haben Sie denn da?« fragte Questor in gespieltem Unwissen. »Weiß ich auch nicht.« Die Aufmerksamkeit des Wachmanns wurde kurzzeitig abgelenkt, da Poggwydd versuchte, ihn zu beißen. »Irgend so eine Affenart, nehme ich an. Schmutzig wie ein Schwein und doppelt so häßlich. Ich habe ihn in der Küche gefunden, wo er versucht hat, Feuer zu machen. Es sah fast so aus, als wollte er sich was von dem Essen kochen, das er gestohlen hatte, aber was red’ ich, er ist schließlich ein Affe, nicht? Jedenfalls ging der Feueralarm los, sonst hätte er womöglich noch das ganze Haus niedergebrannt. Sehen Sie nur, wie er kämpft! Ein übler kleiner Teufel. Muß aus einem Zoo ausgebrochen sein oder so was. Wir werden wohl nie erfahren, wie er hierhergefunden hat.« »Seien Sie aber bitte vorsichtig mit ihm«, meinte Questor und bemühte sich, Poggwydds zornigem Blick auszuweichen. »So vorsichtig, wie es nur geht.« Der Wärter lachte. »Na, na, kleiner Kerl!« rief Questor dem sich sträubenden Gnom nach. »Es wird sicher bald jemand kommen, der dich abholt!« »Kann gar nicht früh genug sein!« rief die andere Wache zurück, und der unglückliche Poggwydd wurde trotz seiner wütenden Gegenwehr durch die Vordertür und davongetragen. Questor, Abernathy und Elizabeth blickten dem Gnom einen Moment lang schweigend nach. Dann sagte Questor: »Das ist meine Schuld. Ich habe ihn vollkommen vergessen.« 253
»Du hast ihn aber ermahnt, sich nicht von seinem Platz wegzubewegen«, erinnerte ihn Abernathy und zeigte damit deutlich, daß es ihm an Mitgefühl für den Gnom mangelte. »Er hätte besser zuhören sollen.« »Questor, wie hast du ihn eigentlich am Sprechen gehindert?« fragte Elizabeth. Der Zauberer seufzte. »Durch einen kleinen Zauber. Ich konnte ihn doch nicht gut erzählen lassen, wer wir sind, und genau das wollte er gerade tun. Außerdem würde alles noch viel schlimmer für Poggwydd werden, wenn sie herausfänden, daß er sprechen kann. Er ist besser dran, wenn sie ihn für ein Tier halten, glaub es mir.« »Er ist ein Tier«, murmelte Abernathy. »Dummer Gnom.« »Dumm oder nicht, wir müssen ihm helfen«, erwiderte Elizabeth. »Was wir tun müssen«, schaltete sich Questor rasch ein, »ist, nach Hause zu gehen, wo ich das Buch studieren und herausfinden kann, ob es das ist, nach dem wir suchen.« »Es wäre besser, wenn es das ist«, grollte Abernathy. »Ich habe inzwischen mehr als genug von Graum Wythe gesehen.« »Was glaubt ihr, wo sie ihn hinbringen werden?« fragte Elizabeth, und ihre Stirn legte sich in Sorgenfalten. »Dahin, wo er ihrer Meinung nach hergekommen ist, nehme ich an«, erwiderte Questor abwesend. Er spähte in die Tragetasche zu dem Buch. »Ich will bloß nicht, daß wir ihn ein zweites Mal vergessen«, beharrte Elizabeth. Sie blickten alle drei zu der Tür. »Er sah so hilflos aus.« »Glaub mir, er ist alles andere als das«, schnaufte Abernathy. Er dachte an die Vorliebe der Gnome, herumstreunende Haustiere zu essen. »Sie verdienen kein einziges Gramm deines Mitgefühls. Sie sind eine Plage, schlicht und einfach.« Elizabeth nahm seine Hand und drückte sie. »Du bist ungerecht, Abernathy. Es ist nicht seine Schuld, daß er hier ist.« 254
»Es ist aber auch nicht unsere Schuld. Und auch nicht unsere Verantwortung.« »Sie hat recht, Abernathy«, meinte Questor Thews. Abernathy warf seinem Freund einen vernichtenden Blick zu. »Ich weiß , daß sie recht hat. Das brauchst du mir nicht zu sagen.« »Ich habe nur versucht, deutlich zu machen...« »Verdammt, Questor Thews, warum mußt du mich ständig...« Vergeblich versuchte Elizabeth, einen gewissen Frieden wiederherzustellen. Doch die beiden stritten noch immer, als sie zur Vordertür gingen und ins schwindende Licht hinaustraten. Vor ihnen fuhr gerade ein Wagen der Polizei von King County davon. Nach ihrer Rückkehr in Elizabeths Haus blieb Questor Thews die ganze Nacht wach und las in dem entwendeten Buch. Er saß zusammengekuschelt in einem Sessel in der hinteren Ecke seines Schlafzimmers. Nur ein einzelnes Licht erhellte die Seiten, während er sie eine nach der anderen umblätterte. Er war sich schon sehr früh sicher, daß dies das gesuchte Buch war und daß in seinen Seiten die Antwort zu dem Rätsel verborgen lag, wie sie unglaublicherweise Nightshade entkommen waren. Theorien der Magie und ihrer Anwendung. Sie standen alle drin: alle Entdeckungen aller Zauberer seit dem Anbeginn Landovers, niederge legt als Postulate und Grundsätze, als bewiesene Theorien. Es fehlten nur die Rezepte und Zutaten für jeden einzelnen Eintopf. Es waren Theorien, keine Formeln, aber sie genügten, um das Wesen der Dinge zu erkennen. Questor wußte, wonach er suchen mußte. Er haßte sich dafür, aber die Offensichtlichkeit der Wahrheit, der er sich gegenübersah, war unvermeidlich, sobald er ihre Möglichkeit akzeptiert hatte. Unermüdlich arbeitete er sich durch das Buch, ignorierte seine Erschöpfung, widerstand seiner wachsende n Furcht. Auf der anderen Seite des Raumes schlief Abernathy mit vom Licht abgewandtem Gesicht. Das war auch ganz gut so. Questor hätte ihm in diesem Moment nur ungern ins Gesicht gesehen.
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Irgendwann während der langen, langsam verstreichenden Stunden nach Mitternacht entdeckte Questor Thews, wonach er suchte. Er las dennoch weiter, da er nichts für gegeben hinnehmen wollte, seine Suche nach einer besseren Lösung noch nicht aufgab, obgleich er bereits wußte, daß er keine andere Lösung finden würde. Er las das Buch komplett durch und dann noch einmal. Er studierte einzelne Abschnitte und erwog alternative Möglichkeiten, bis sein Kopf weh tat. Dann kehrte er wieder zu dem Abschnitt zurück, den er bereits früher entdeckt hatte, und las ihn langsam und sorgfält ig noch einmal durch. Er hatte sich nicht geirrt. Dies war, wonach er gesucht hatte. Es war die Antwort, nach der er Ausschau gehalten hatte. Er seufzte und ließ das Buch in seinen Schoß sinken. Er blickte erneut zu Abernathy hinüber. Tränen traten in seine Augen. Sein Gesicht schrumpelte zusammen, und seine Brust schmerzte vor Kummer. Das Leben war manchmal so ungerecht. Er wünschte, die Dinge lägen anders. Er wünschte, es würde jemand anderem passieren. Seine stockartige Gestalt verzerrte sich zu einem Haufen alter Knochen und faltiger Haut, und sein Herz verknotete sich in seiner Brust. Von seinen Gefühlen erschöpft, griff er schließlich zum Lichtschalter, knipste das Licht aus und wartete dann regungslos im Dunkeln auf den Morgen.
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DER GEIST
»Der Titel des Buches lautet Monster aus Mythen & Literatur«, erzählte Ben Willow. Er sagte es ihr direkt ins Ohr. Sie saßen zu zweit auf dem noch immer nervösen Jurisdiktion, Willow vorn und Ben hinter ihr. Bunion hatte das Pferd nach einer längeren Jagd eingefangen, und jetzt waren sie wieder unterwegs nach Westen, in Richtung des Grünlandes. Vor ihnen erhob sich die schwarze Wand eines heranziehenden Gewitters. Hinter ihnen lagen die Überreste des Wyrms und der Schwefelgestank der Asche und Gase der Feuerquellen. Die Sonne über ihnen brannte erbarmungslos, eine blendende, weißglühende Flamme, die die trockene Leere des Ödlands in einen Backofen verwandelte. Der Regen wird eine willkommene Erleichterung sein, dachte Ben müde und versuchte, seinen wachsenden Durst zu ignorieren. »Und Rydalls Kreaturen waren in diesem Buch?« fragte Willow und wandte sich halb um, um einen Blick auf sein Gesicht zu erhäschen. Er nickte in ihr smaragdfarbenes Haar und atmete seinen staubigen Geruch ein. »Ein Riese, der seine Stärke aus dem Kontakt mit der Erde bezog, ein Dämon, der das Aussehen und die Fähigkeiten jedes Feindes imitieren konnte, dem er gegenübertrat, und ein robotischer Maschinenmensch, der gepanzert und unzerstörbar war.« Er blickte in die schwelende Weite, um die Landschaft gegen die Schwärze des Sturmes zu erkennen. »Ich erinnere mich an die einzelnen Geschichten nicht so genau wie an das Bild von dem Roboter. Es war das Titelbild. Er sah genauso aus wie der Roboter von Rydall. Es ist, als hätte Rydall das Buch gelesen.« »Aber das ist doch nicht möglich, oder?« Ben seufzte. »Das sollte man jedenfalls annehmen.« Willow schaute wieder nach vorn. Das Land waberte vor Hitze und Staub. Bunion war irgendwo weiter vorn und hielt Ausschau nach neuen Gefahren. Wenn er auf eine stoßen sollte, würde er 257
einen Weg um die Gefahr herum suchen. Ein weiterer Kampf in ihrem gegenwärtigen Zustand war undenkbar. »Wo ist das Buch?« fragte Willow. »In der Bibliothek, bei den anderen«, antwortete Ben. »Es ist eines von vielen, die ich aus meinem alten Leben mit herübergebracht habe. Ich hatte geglaubt, daß ich sie gerne um mich haben würde. Ich erinnere mich auch, warum ich dieses spezielle ausgewählt habe. Ich hatte es seit meiner Kindheit besessen, und es sollte wohl etwas von dem repräsentieren, was ich mir von Landover erhoffte – so als könnte das, was in meinem alten Leben nicht real gewesen war, hier Wirklichkeit werden.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe meinen Wunsch erfüllt bekommen, nicht wahr?« Willow schwieg einen Augenblick lang. »Aber wie konnte Rydall davon wissen?« Ben zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung. Es ergibt keinen Sinn. Warum sollte er gerade von diesem und keinem anderen Buch wissen? Hat er meine gesamte Bibliothek gelesen? Erlaubt ihm seine Magie, jedes be liebige Buch durchzulesen, ohne dort anwesend zu sein?« Er schluckte, da seine Kehle trocken war, und versuchte, seine Gereiztheit im Zaum zu halten. »Ich komme immer wieder darauf zurück, wie persönlich dies alles ist, Willow. Rydall benutzt meine eigenen Dinge gegen mich; er geht gegen meine Familie und meine Freunde vor; er entführt Mistaya, Questor und Abernathy; er greift dich und mich an, jagt uns durch die Gegend, indem er Monster gegen den Paladin antreten läßt – ich verstehe es einfach nicht. Angeblich dreht sich alles darum, daß ich ihm den Thron von Landover überlassen soll, aber es hat nicht den Anschein, als hätte Landover viel damit zu tun.« Willow nickte, ohne ihn anzusehen. »Nein«, stimmte sie ihm zu, bevor sie erneut in Schweigen verfiel. Sie ritten den ganzen Nachmittag, bis das Gewitter sie schließlich erreichte, als sie sich gerade dem Rand des Grünlandes näherten. Schwarze Wolken trieben heran und verdeckten die 258
Sonne und den blauen Himmel. Strömender Regen hüllte sie ein und durchnäßte sie innerhalb weniger Sekunden bis auf die Haut. Der Staub und Schmutz ihrer Reise wurde von ihren Körpern abgewaschen, und die sie umgebende Luft kühlte sich ab. Jurisdiktion senkte den Kopf, um sich vor dem strömenden Regen und dem brausenden Wind zu schützen, und stapfte weiter. Kurz darauf tauchte Bunion auf. Er führte sie zu einem Ahorngehölz, das guten Schutz vor der Nässe bot. Sie stiegen ab, zogen ihre Kleider aus, wrangen sie aus und hingen sie zum Trocknen über ein Feuer, das Bunion hatte entzünde n können. Nachdem sie sich mit gekreuzten Beinen auf einem weichen Grasfleck unter dem Dach der Bäume niedergelassen hatten, sahen sie zu, wie das Gewitter um sie herum wütete und dann weiterzog. Die Dunkelheit brach herein, und die Welt jenseits ihres Lagers verschwand in ihr. Sie kleideten sich wieder an, kauten halbherzig auf Blaubonniestengeln herum, wickelten sich in ihre Reisemäntel und schliefen schnell ein. Als sie erwachten, hatte es erneut zu regnen begonnen. Es war ein langsames, beständiges Nieseln, das aus einem tiefen, bleiernen Himmel herabfiel. Das ganze Land sah im Licht des frühen Morgens grau und neblig aus. Sie bestiegen Jurisdiktion und ritten wieder in das Wetter hinaus. Bunion ging voraus – eine kleine, spinnendürre Gestalt, die in das Dämmerlicht hinauslief, bis sie aus ihrem Blickfeld verschwand. Der Sommertag war warm und erfüllt vom Geruch nach feuchter Erde. Vor ihnen erstreckte sich das Grünland in einem Flickenteppich aus Grün und Braun, aus bestellten Feldern und Wiesen, aus ausgewachsenen Wäldern und heranreifenden Pflanzenbeeten. Es war durchzogen von Seen und Flüssen, die in der Diesigkeit des Regens das Aussehen von geschmolzenem Metall angenommen hatten und deren Oberflächen von schwachen Brisen in Bewegung versetzt wurden, die über die Ebene strichen. Gegen Mittag kehrte Bunion mit einem zweiten Pferd zurück. Er erzählte ihnen nicht, woher er das Pferd hatte, und Ben und Willow fragten auch nicht danach. Es war kein Ackergaul; es war ein geschultes Reitpferd. Willow stellte sich vor das Pferd, eine 259
braune Stute, und sprach einen Moment lang beruhigend auf es ein, dann stieg sie gewandt auf und ritt zu Ben hinüber. Sie lächelte Bunion augenzwinkernd zu, dann war der Kobold auch schon wieder verschwunden. Sie ritten den ganzen Tag und den Großteil des nächsten. Die ganze Zeit über regnete es. Sie waren ständig naß, mit Ausnahme der kurzen Zeiten, wenn sie lagerten und mit Hilfe eines Feuers, das Bunion unter jeder Bedingung entfachen zu können schien, in der Lage waren, die Feuc htigkeit zu vertreiben. Sie passierten Rhyndweir und mehrere andere Burgen der Herren des Grünlandes, hielten dort aber nicht an, um Obdach zu suchen. Ben hatte kein Interesse daran, jemanden zu sehen. Er wollte das Risiko eines neuen Angriffs von Rydalls Seite lieber so klein wie möglich halten. Überraschenderweise gab es auch keinen. Da Rydall sie sogar im östlichen Ödland mit dem Wyrm aufgespürt hatte, hatte Ben angenommen, daß er imstande war, sie überall zu finden. Wenn man die Regelmäßigkeit und Beharrlichkeit neuer Angriffe bedachte, so hatte Ben bereits den nächsten erwartet. Andererseits hatte Rydall bereits vier seiner versprochenen sieben Kämpfe aufgebraucht, so daß er vielleicht erst einmal seine Strategie überdachte. Ben hielt es nicht für nötig, weiter darüber nachzugrübeln. Er war froh über die Verschnaufpause. Er benutzte die Zeit, um nachzudenken. Mit seinem Reiseumhang als Schild gegen die Elemente, Willow als schweigendem Geist an seiner Seite und dem Regen als Vorhang, der alles in feuchte, graue Stille hüllte, löste er sich von seinem Unbehagen und seiner Langeweile und konzentrierte sich auf das Rätsel von Rydall von Marnhull. Er begann, auch Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, die ihm zuvor noch nicht eingefallen waren. Das war ausgelöst durch das wachsende Gefühl der Verzweiflung in ihm. Er spürte, wie ihm die Zeit davonlief. Früher oder später würde ihm Rydall ein Monster schicken, vor dem ihn niemand beschützen konnte – nicht der Paladin, nicht Strabo, niemand. Früher oder später würde seine Verteidigung nicht stark genug sein, und der Kampf ums Überleben wäre zu Ende. Das einzige, was dies verhindern konnte, war die Aufdeckung des Geheimnisses hinter 260
Rydall. Ben schien diesem Ziel jedoch noch überhaupt nicht näher gekommen zu sein. Folgerichtig beschloß er, nicht mehr in vorhersehbaren Bahnen zu denken, sondern einfallsreicher, mutiger vorzugehen. Er mußte damit aufhören, sich von Rydall leiten zu lassen. Er mußte sich weigern, den Wegen zu folgen, die ihm der König von Marnhull vorgab und statt dessen lieber ein paar eigene öffnen. Es wurde ein Netz um Ben Holiday gewoben, und er konnte spüren, wie es sich mit jedem neuen Faden enger um ihn schloß. Er mußte einen Weg finden, dieses Netz zu durchtrennen. Seine Gedankengänge wurden jedoch nicht so sehr von seiner Verzweiflung bestimmt als dadurch, daß ihm ein paar lose Fäden in Rydalls sorgfältig gesponnenem Netz aufgefallen waren. Als erstes war da Bens steigende Überzeugung, daß Rydalls Aussendung von Monstern, die mit dem Paladin kämpfen sollten, ein Teil eines Spieles war, das weit mehr mit Ben als mit dem Thron von Landover zu tun hatte. Zweitens war da Bens Erkenntnis, daß drei der vier Monster aus den Geschichten in seinem Buch Monster aus Mythen & Literatur stammten. Drei Wesen, die mit äußerster Genauigkeit nach den Beschreibungen des Autors erschaffen worden waren, so als hätte Rydall die Kreaturen direkt aus dem Buch kopiert. Drei, aber das vierte nicht. Nein, das vierte, der Wyrm, war anderen Ursprungs. Eine bevorzugte Magie von Hexen, hatte ihn Strabo informiert. In Landover hieß das: Nightshade. Er hatte es zuvor nie ernsthaft in Erwägung gezogen, daß Nightshade etwas mit der Sache zu tun haben könnte. Warum hätte er das auch tun sollen? Rydall war ein Ausländer, ein Eroberer, ein Eindringling, dessen Ziele denen von Nightshade absolut zuwiderliefen. Andererseits gab es niemanden, der Ben Holiday und seine Familie so sehr haßte wie die Hexe. Ließ man Rydalls Anwesenheit einmal beiseite, sah die ganze Sache ganz nach ihrem Werk aus. Der Gebrauch von Schwarzer Magie, die Angriffe auf die Familie und Freunde und die eindeutige Bemühung, ihn zu vernichten, rochen alle geradezu nach 261
Nightshade. Obwohl er seit mehr als zwei Jahren nichts von der Hexe gehört hatte, erwartete er nicht, daß sie ihr Versprechen vergessen hatte: daß sie ihm niemals verzeihen würde, was in dem Wirrkästchen geschehen war. Die Gefühle, die sie für ihn empfunden hatte, als sie beide ihrer Identität beraubt worden waren. Und daß sie ihre Würde verloren hatte, wie sie es sah. Wenn es nun gar keinen Rydall gab? Oh ja, es mochte schon jemanden geben, der sich als König von Marnhull ausgab, aber was, wenn Rydall selbst gar nicht existierte? Niemand hatte jemals von Rydall oder von Marnhull gehört – weder der Flußherr noch Kallendbor und nicht einmal Strabo, der schon überallhin gereist war. Niemand konnte Rydall oder Marnhull finden. Es gab keine Spur von Mistaya, Questor Thews oder Abernathy. Es gab keine Anzeichen für eine Invasionsarmee. Der einzige Beweis dafür, daß Rydall existierte, war in dieser ganzen Episode nur das Auftauchen des Königs von Marnhull und seines schwarzverhüllten Begleiters vor den Toren von Sterling Silver gewesen. Also, grübelte Ben, was ist, wenn die ganze Sache nichts weiter ist als ein riesiger Mummenschanz? Welcher Ort war schließlich der einzige in ganz Landover, an dem er nicht nach Mistaya gesucht hatte, nachdem seine Tochter verschwunden war? Welchen Ort hatte er als einzigen ignoriert, weil er ihm nicht so einfach zugänglich war und weil es ihm nicht nötig erschienen war, dort nachzuschauen? Um welchen Ort hatte sich keiner von ihnen gekümmert? Um den Tiefen Schlund, wo Nightshade hauste. Ben Holidys Verdacht verdichtete sich. Was als Abwägung der unterschiedlichen Möglichkeiten begonnen hatte, entwickelte sich rasch zu einer sorgfältigen Sichtung der Fakten. Nightshade als Rydall; das ergab ebensoviel Sinn wie alle anderen Überlegungen, die er angestellt hatte. Oder Nightshade als Rydalls schwarzverhüllter Begleiter, ergänzte er. Er erinnerte sich daran, wie ihn der unter einer Kapuze verborgene Reiter gemustert hatte, als er auf die Brücke hinausgetreten war, um den Handschuh 262
aufzuheben, an die Intensität des verhüllten Blickes. Er entsann sich, wie beide Reiter Mistaya angeschaut hatten, als sie an die Zinnen getreten war. Seine Brust schnürte sich zusammen, und sein Magen verwandelte sich zu Eis. Es war spät am dritten Tag ihrer Reise, als sie endlich in Sichtweite von Sterling Silver kamen. Das Schloß tauchte aus der Dämmerung auf wie eine Vision, die aus der dunklen Vorstellungskraft eines Kindes zum Leben erweckt worden war: eine schimmernde, regenbenetzte Ansammlung von Türmchen und Giebeln, die sich, als sie sich der Insel näherten, zu Stein und Mörtel verhärteten, zu Holz und Metall, zu Wimpeln und Fahnen. Sie überquerten den Burggraben durch einen Nebelvorhang und ritten unter dem hochgezogenen Fallgitter durch. Bedienstete eilten herbei, um ihnen die Pferde abzunehmen und sie eilig aus dem Regenwetter ins Innere zu bringen. Ben und Willow gingen ohne ein Wort in ihre Schlafkammer, zogen ihre durchweichten Kleider aus, stiegen in eine Wanne mit dampfendem Wasser und lehnten sich zurück, um richtig einzuweichen. Als ein Teil der Beschwerlichkeit und Unannehmlichkeiten ihrer Reise von ihnen abgefallen war, stiegen sie wieder aus dem Wasser, trockneten sich ab und zogen frische Kleider an. Dann führte Ben Willow in die Bibliothek, um sich Monster aus Mythen & Literatur genauer anzusehen. Er brauchte nur einen Augenblick, um es zu finden. Es stand genau dort auf dem Regal, wo er sich erinnerte, es hingestellt zu haben. Er zog es heraus und sah sich das Titelbild an. Ganz richtig, da war Rydalls Roboter. Er blätterte ein wenig in dem Band und fand schnell eine Zeichnung des Riesen. Dann las er die Beschreibung des Autors über den Dämon, der jeden Feind imitieren konnte. Er zeigte Willow das Buch. »Siehst du? Genau wie Rydalls Monster.« Sie nickte. »Aber wie hat er das bewerkstelligt? Wie konnte er etwas von diesem Buch und diesen spezie llen Monstern wissen? Nicht einmal ich kannte dieses Buch, Ben. Ich wußte nicht einmal, 263
daß es sich hier befindet. Wir haben niemals über es gesprochen, kein einziges Mal. Woher hat dann Rydall davon gewußt?« Es stimmte. Er hatte das Buch niemals aus dem Regal genommen und ihr gezeigt. Und sie hatten nie über es gesprochen. Es hatte nie einen Grund dafür gegeben. Er hatte es durch den Nebel mitgebracht, es ausgepackt, in die Bibliothek gestellt und vergessen. Bis jetzt. Er stand dicht neben der Sylphe und blickte schweigend auf das Buch. Draußen regnete es in ermüdender, unveränderter Eintönigkeit weiter, das Geräusch der aufprallenden Tropfen bildete einen sanften Rhythmus auf dem Stein. Ben fühlte sich seltsam eingelullt, so als könnte er jeden Moment einschlafen. Er war viel müder, als er zugeben wollte, aber er konnte es sich nicht leisten, einzuschlafen, bevor er nicht das Rätsel von Rydall und seinen Monstern gelöst hatte. Nicht bevor er einen Weg gefunden hatte, wie er Mistaya nach Hause holen konnte. Mistaya. Er starrte Willow überrascht an. »Du sagst, du wußtest nichts von diesem Buch. Aber weißt du, wer es kannte? Mistaya. Ich habe sie einmal dabei ertappt, wie sie darin gelesen hat. Ich habe nichts gesagt, um sie nicht zu stören. Ich glaube nicht, daß sie mich überhaupt bemerkt hat. Sie war noch so klein, daher habe ich angenommen, daß sie es nicht verstehen würde...« Er brach ab. Seine Gedanken rasten. »Willow«, sagte er leise. »Ich möchte, daß du dir etwas anhörst. Ich möchte, daß du mir sagst, was du davon hältst.« Dann erzählte er ihr von seinem Verdacht, daß Nightshade Rydalls Schöpfer sein könnte und daß die Hexe vom Tiefen Schlund vielleicht hinter allem steckte, was ihnen zugestoßen war. Er breitete all seine Argumente vor ihr aus, wies auf alle Möglichkeiten hm und listete alles auf, was seine Vermutung untermauerte. Willow hörte ihm aufmerksam zu. Sie unterbrach ihn keinmal, bis er fertig war. »Die Sache ist«, schloß er besorgt, »Mistaya hätte Nightshade von dem Buch erzählen können. Sie hätte ihr die Monster 264
beschreiben oder sogar aufzeichnen können. Sie ist klug genug, um sich an sie zu erinnern. Sie hat wahrscheinlich viel mehr verstanden, als ich geglaubt habe.« »Aber warum hätte sie das tun sollen?« wollte Willow sofort wissen. »Warum sollte sie irgend etwas tun, das der Hexe helfen könnte?« Ben schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich rate bei dieser ganzen Sache nur herum. Aber sie kennt das Buch, und wenn Nightshade Rydall ist, dann hat Nightshade sie entführt. Und jetzt in ihrer Gewalt.« Willow blickte ihn lange und fest an, während sie über diese Möglichkeit nachdachte. »Erinnerst du dich, als wir darüber sprachen, wer noch von der Verbindung zwischen dem Medaillon und dem Paladin weiß? Nur du und ich, sagtest du. Aber Nightshade weiß ebenfalls von der Verbindung. Sie war mit dir im Wirrkästchen, als du das Medaillon benutzt hast.« Ben holte tief Luft. »Du hast recht. Das hatte ich ganz vergessen.« »Du hast gesagt, du glaubst, daß Magie benutzt wurde, um das Medaillon zu verbergen, als der Roboter in Rhyndweir angriff. Nightshade verfügt über solche Magie.« Willow sah bedrückt aus. »Ben, wir müssen zum Tiefen Schlund.« Ben stellte das Buch wieder an seinen Platz im Regal. »Ich weiß. Wir werden gleich morgen früh abreisen. Es ist schon zu spät, um heute noch loszureiten. Wir sind erschöpft. Wir brauchen wenigstens eine Nacht in einem trockenen Bett.« Er trat zu ihr und legte ihr die Arme um die Hüfte. »Aber wir werden auf jeden Fall hingehen«, versprach er. »Und wenn das der Ort ist, an dem sich Mistaya befindet, werden wir sie zurückholen.« Willow umarmte ihn ebenfalls und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Schweigend hielten sie einander fest, zogen Beruhigung und Wärme aus ihrer Verbundenheit, stählten sich gegen das Gefühl der Furcht und des Zweifels, das in ihnen nagte.
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Draußen wurden die Schatten im aufziehenden Zwielicht länger, und der Regen fiel heftiger. Sie aßen allein in der dunklen Stille des Speisesaals ihr Abendbrot, zwei einzelne Gestalten, die im Kerzenlicht, das die Dunkelheit zurückdrängte, dicht beieinandersaßen. Sie sprachen nicht viel. Sie waren zu müde, um eine Unterhaltung zu versuchen und zu sehr in ihre eigenen Gedanken vertieft. Als sie fertig waren, zogen sie sich in ihre Schlafkammer zurück, krochen unter die Decken und schliefen schnell ein. Es war Mitternacht, als Ben erwachte. Er lag einen Augenblick lang still da und bemühte sich, seine Gedanken zu sammeln. Er spürte ein leichtes Brennen an der Stelle, wo das Medaillon auf seiner Brust ruhte, eine Warnung, daß etwas nicht in Ordnung war. Er setzte sich langsam auf und strengte seine Ohren an, um Geräusche in der Dunkelheit wahrzunehmen. Der Regen hatte endlich aufgehört, aber die Wolken hingen wie ein Leichentuch am Himmel und verdeckten das Licht der Monde und der Sterne. Er konnte hören, wie Wasser von den Dachrinnen und Zinnen tropfte, sanfte, leise Platscher in der tintenschwarzen Nacht. Neben ihm atmete Willow entspannt und regelmäßig. Dann hörte er plötzlich, wie etwas außerhalb seines Fensters über den Steinboden schabte. Es war ein kaum wahrnehmbarer Laut, der eine sich nähernde Bedrohung ankündigte. Ben schlüpfte eilig und geräuschlos aus dem Bett. Das Medaillon brannte ihm jetzt schmerzhaft auf der Haut. Panik durchflutete ihn. Er wußte, was da kam, und er war nicht bereit dafür. Es war zu früh. Er hatte sich selbst davon überzeugt, daß Rydall nicht so bald schon wieder zuschlagen würde, daß er erst eine Denkpause einlegen würde, bevor er sein fünftes Monster aussandte. Ben sah sich im Raum nach Hilfe um. Wo war Bunion? Er hatte den Kobold seit ihrer Rückkehr nicht mehr gesehen. War er irgendwo in der Nähe? Ben drehte sich zu dem Bett und zu Willow um. Er mußte sie hier herausbringen. Er mußte sie in
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Sicherheit bringen, weg von dem, was als nächstes geschehen würde. Er schüttelte sie sanft an ihrer Schulter. »Willow« zischte er. »Wach auf!« Ihre Augen öffneten sich sofort, sie waren selbst in dieser fast vollständigen Schwärze von einem strahlenden Smaragdgrün, weit und tief von Verständnis erfüllt. »Ben«, sagte sie. Dann veränderte sich das Licht in dem Raum. Ein Schatten füllte das Fenster, und Ben wirbelt zu ihm herum. Der Schatten erhob sich in der Öffnung, hockte hager, sehnig und irgendwie schrecklich vertraut vor der helleren Dunkelheit der Nacht. Ben konnte die Augen des Wesens nicht sehen, aber er spürte, wie sie auf ihm ruhten. Er konnte fühlen, wie die Augen ihn musterten. Er rührte sich nicht. Er wußte, wenn er das täte, wäre er tot, bevor er ausgeführt hätte, was immer er tun wollte. Seine Hand hatte sich bereits instinktiv um das Medaillon geschlossen, als hätte sie aus eigenem Willen nach der einzigen Hilfe gegriffen, die ihm blieb. Er hielt das Medaillon fest in den Fingern und spürte das eingravierte Bild des Ritters, der bei Sonnenaufgang aus dem Schloß ritt, der Paladin, der aus Sterlin Silver auszog, um einen Kampf für seinen König auszufechten. Er spürte das Bild und starrte auf den Schatten im Fenster. Er sah jetzt, daß er nicht völlig glatt und straff war, wie er zuerst geglaubt hatte, sondern an vielen Stellen zerfetzt und zerbrochen, eine Kreatur, der ein katastrophales Unglück widerfahren war und die die Verletzungen davon noch immer trug, weil es keine Heilung geben konnte. Stücke und Fetzen des Wesens hingen lose herab, als wären Hautschichten zerfetzt worden. Knochen ragten in zersplitterten Bruchstücken aus Gelenken, die nicht mehr ganz waren. Es machte kein Geräusch, aber Ben konnte das lautlose Klagen seiner unausweichlichen Pein und Verzweiflung hören. Dann bewegte das Wesen leicht den Kopf, neigte ihn ein wenig zu einer Seite, noch ein wenig mehr, und silberne Augen leuchteten aus der Schwärze. Ben stockte der Atem in der Kehle. 267
Es war das Ardsheal, das von den Toten zurückgekehrt war. Er hatte keine Zeit, darüber nachzugrübeln, wie das möglich war, keine Chance herauszufinden, was das bedeuten sollte. Seine Reaktion war instinktiv und hatte nichts mit Vernunft oder Hoffnung zu tun. Seine Finger legten sich fester um das Medaillon, und Licht flammte in Speeren weißer Helligkeit heraus. Willow schrie auf. Das Ardsheal schoß gedankenschnell auf Ben zu, wie ein schwarzer Panther auf sein Opfer. Doch der Paladin war sofort da, erschien in einer plötzlichen, unglaublich hellen Explosion aus Licht, die in den Dutzend Metern zwischen König und Attentäter stattfand. Der Ritter erhob sich in einer Woge aus glänzender Silberrüstung und Bewaffnung, fing das Ardsheal mitten im Flug ab und warf es zur Seite. Die Gewalt des Zusammenstoßes schmetterte das Ardsheal gegen die Steinwand und ließ den Paladin zurücktaumeln und gegen Ben prallen. Ein metallbedeckter Ellbogen stieß gegen Bens Kopf, und er fiel neben Willow auf das Bett, so benommen, daß er kaum in der Lage war, das Medaillon umklammert zu halten. Das Ardsheal war in Windeseile wieder auf den Füßen, es erhob sich mit der Geschmeidigkeit einer Schlange. Die Leichtigkeit seiner Erholung sprach seinem zerschmetterten Aussehen Hohn. Durch einen Wirbel aus Schmerz und Benommenheit sah Ben, wie es sich aufrichtete. Dann verschwamm sein Blick. Sein Kopf schmerzte von dem Schlag. Doch er fühlte den Schmerz und die Benommenheit aus der Rüstung des Paladins her, wo sein Bewußtsein jetzt unwiderruflich festsaß, um dort zu bleiben, bis er siegte oder starb. Er sah, wie Willow seinen Körper umarmte und ihm aufgeregt etwas ins Ohr flüsterte. Er fragte sich einen winzigen Moment lang, was sie sagte, dann erinnerte er sich, daß er sie aus dem Raum hatte schaffen wollen, bevor der Kampf begann. Er erhaschte einen plötzlichen Blick auf das Gesicht des Ardsheal in der Düsternis, sah, daß ein Auge zerstört war, daß ein langer Riß von der Stirn bis zum Kinn verlief und die Haut mit Schnitten und Blessuren überzogen war. Er rief sich in Erinnerung, wie es in Rhyndweir aus dem Fenster getaumelt war und an den Roboter geklammert auf die Felsen herab- und in den sicheren 268
Tod gestürzt war. Er fragte sich, wie es den Sturz hatte überleben können. Dann fuhr das Bewußtsein des Paladin über ihm herab wie ein Visier, und alles, was er noch wußte, waren die Erinnerungen des Ritters an lange vergangene Schlachten, die er gekämpft und gewonnen hatte. Er ging über in sein anderes Selbst, das härter als Eisen war, das ein kampferprobter Veteran Tausender Schlachten war, aus denen er als einziger siegreich hervorgegangen war. Er zog sich in seine Rüstung und seine Erfahrung zurück, schloß das Leben weg, das jenseits davon lag, sperrte den Mann und die Frau aus, die hinter ihm auf dem Bett lagen, das Schloß, in dem er nun kämpfte, die Welt, die außerhalb davon lag, die Vergangenheit und die Zukunft – alles, außer dem Hier und Jetzt und dem Feind, der danach trachtete, ihn zu vernichten. Das Ardsheal machte Scheinangriffe nach links und nach rechts, um ihn zu testen. Es war tot, wenn man nach dem Aussehen seiner flachen, silbernen Augen urteilte, nach der gebrochenen Vermengung von Haut und Knochen, nach den klaffenden Wunden, die seinen Körper zeichneten. Aber es lebte nach dem Tode weiter, angetrieben von Magie, die durch sein einst lebloses Gewebe strömte und von ihm verlangte, daß es noch eine weitere Aufgabe erfüllte, bevor es in Frieden ruhen durfte. Der Paladin spürte das. Er kannte seinen Feind aus eigenem Wissen und von einem Funken von Bens Verstand und Gedächtnis. Er beobachtete, wie das Ungetüm sich vor ihm schlangengleich hin und her bewegte und auf eine Öffnung lauerte. Er erkannte es als die Gefahr, die es war: eine Kreatur, die aus Magie erschaffen worden war, um einem einzigen Zweck zu dienen – zu jagen und zu vernichten. Er erkannte es als ebenbürtig an. Das Ardsheal stürzte sich blitzschnell auf ihn. Es zielte so tief, daß es schwer sein würde, die Beine aus seiner Reichweite zu ziehen. Der Paladin ließ sich auf die Kreatur fallen, um sie festzunageln. Sein Dolch grub sich vergebens in den Steinboden, als sich das Ardsheal zur Seite rollte, nach dem Visier des Ritters griff und bösartig daran riß. Der Paladin schüttelte den Schlag ab und erhob sich, um sich dem Feind erneut zu stellen. Schnelligkeit 269
und Stärke, Schlauheit und Erfahrung – das Ardsheal besaß all das und spürte doch nur die Magie, die es antrieb. Es würde nicht stoppen; es würde nicht aufgeben. Es würde so lange angreifen, bis es nicht mehr konnte. Ein Ardsheal kann es mit allem, was lebt, aufnehmen. Es gibt nichts Gefährlicheres. Das waren die Worte des Flußherrn gewesen. In der Dunkelheit krümmte sich das Ardsheal zusammen. Der Paladin dachte kurz daran, sein Breitschwert zu ziehen, aber die Waffe war zu sperrig und unhandlich für diesen Gegner. Kleinere Waffen waren wirkungsvoller, bis sich ihm eine andere Gelegenheit darbieten würde – und das mußte geschehen, wenn er überleben wollte. Er nahm den Dolch in die linke Hand und griff mit der rechten nach seinem langen Messer. Doch das Ardsheal war wie der Blitz über ihm, riß und zerrte und krallte an Rüstung und Gliedern. Der Paladin stolperte unter der Wildheit des Angriffs zurück. Er hörte das Kreischen der Verschlüsse, die losgerissen wurden, spürte, wie Metallplatten drohten nachzugeben. Er ließ den Dolch fallen, rammte beide gepanzerten Fäuste gege n die Brust der Kreatur und schleuderte sie von sich. Sie warf sich sofort wieder mit tierischer Wildheit auf ihn, wahnsinnig vor Wut und völlig bar jeden Verstandes. Sie war unglaublich stark. Ihre Stärke wurde durch das Fehlen jeglichen Gefühls und durch den Strom der Magie, die sie antrieb, um so größer. Sie kämpfte, ohne von Verstand oder Gefühl behindert zu werden. Ihre Handlungen waren unvermischt uneingeschränkt, ihr Kampf absolut zielstrebig. Sie würde gewinnen oder verlieren, aber so oder so wäre sie tot. Das dritte Mal schleuderte der Paladin das Ardsheal von sich, und diesmal riß er das lange Messer heraus, bevor es sich erholen konnte. Wenn es wieder angriff, würde er es auf der Klinge aufspießen und in zwei Teile zerschlitzen. Sein Atem ging rauh und regelmäßig. Obgleich er es nicht zugeben würde, weil er es sich nicht gestatten durfte, war seine Kraft bereits am Schwinden. Er wußte nicht, ob es die Vielzahl der Kämpfe war, die er in so 270
kurzer Zeit bestreiten mußte, oder ob es an der geschwächten Verfassung des Königs lag, dem er diente, denn beides konnte eine Rolle dabei spielen, ob er überlebte. Er verließ sich auf sich selbst, aber er war unabänderlich mit dem Mann verbunden, der seine Dienste beanspruchte und ihm seine Willenskraft verlieh. Wenn der König in seiner Entschlossenheit nachließ, so würde er dies ebenfalls tun. Doch solche Gedanken waren nicht erlaubt. So sagte er sich nur, daß er den Kampf schnell beenden und nicht weiter spekulieren sollte. Das Ardsheal umkreiste ihn in der Düsternis der Schlafkammer. Es versuchte keinen weiteren Angriff von vorn; es war auf der Suche nach einer anderen Möglichkeit. Der Paladin folgte den Bewegungen seines Gegners, ohne dabei seinen Platz vor dem König und der Königin aufzugeben. Seine Rüstung hin g an mehreren Stellen lose von den Bindungen herab. Er ähnelte immer stärker dem zerlumpten, kaputten Aussehen seines Angreifers. Er konnte spüren, wie ihn die Augen des anderen musterten, wie sie nach einer Schwachstelle suchten. Unter der Rüstung war der Paladin verwundbar. Das spürte das Ardsheal. Ein Hieb war alles, was nötig war, wenn dieser Hieb nur tief genug ging. Es täuschte einen schnellen Ausfall vor und zog sich sofort wieder zurück. Es startete noch eine Scheinattacke. Der Paladin behielt seine Position bei und gestattete sich nicht, sich aus der Reserve locken zu lassen. Dann erkannte er auf einmal, was das Ardsheal vorhatte. Es versuchte, ihn so weit von König und Königin wegzutreiben, daß sie schutzlos wären. Es würde sie töten, da es spürte, vielleicht sogar wußte, daß dies auch die Niederlage des Paladins bedeuten würde. Als ob es seine Gedanken gelesen hätte, griff das Ardsheal von neuem an. Es stürmte in einer wilden, peitschenden Attacke heran, so schnell, daß es schon fast am Paladin vor bei war, bevor dieser handeln konnte. Es gelang ihm gerade noch, den Arm des Ardsheals zu packen, als dieser nach der Königin griff. Er riß die Kreatur zurück und schleuderte sie fort. Dieses Mal setzte er ihm nach, wollte den Kampf endlich beenden, aber erneut war er zu 271
langsam. Das Ardsheal war schon wieder auf den Beinen und in der Finsternis verschwunden. Noch zweimal versuchte das Elementarwesen, an ihm vorbeizukommen, und beide Male gelang es ihm beinahe. Nur die Erfahrung des Paladins und seine Entschlossenheit hielten es in Schach. Hinter ihm auf dem Bett weinte die Königin. Es waren nur leise Laute, fast unhörbar in ihrem Kummer und ihrer Verzweiflung. Sie war stark, aber ihre Furcht war riesig und unmöglich zu verbergen. Sie hatte furchtbare Angst vor dem Ardsheal. Der König war wieder wach. Er hatte sich vor sie platziert und hielt das Medaillon wie einen Talisman vor sich. Der Paladin wußte, daß beide zu zerbrechlich waren, um zu überleben, wenn er versagen sollte. Der Gedanke war wie ein Stachel in seinem Geist, den er schnell herausriß und von sich schleuderte. Das Ardsheal verblaßte ins Leere. Hektisch suchte der Paladin es in der Dunkelheit. Dann tauchte es plötzlich aus dem Nichts direkt vor ihm auf, stürzte sich auf ihn und schmetterte ihn zu Boden. Es versuchte, an ihm vorbeizukommen, aber der Paladin konnte sich, obgleich er kurzfristig geblendet war und auf dem Boden lag, an einem seiner Beine festhalten und es zurückziehen. Das Ardsheal zerrte an dem Griff, trat nach dem Kämpen, schlug ihn und riß an seiner geschwächten Rüstung. Der Paladin verspürte Schmerz. Voller Verzweiflung richtete er sich unter dem Hagel von Schlägen mit einer kraftvollen Anstrengung, die hauptsächlich aus dem Herzen kam, auf die Knie auf und schleuderte das Ardsheal ein letztes Mal zurück. Als das Ardsheal diesmal wieder auf die Füße kam, hing ein Arm schlaff herab. Doch auch der Paladin war nur noch ein Häufchen zerbrochener Rüstung, zerrissener Bindungen, schmerzender Muskeln und müder Glieder. Ihn hielt nur noch die schiere Willenskraft auf den Beinen. In seinem Mund und auf seinem Körper war Blut. Er hielt noch immer das lange Messer umklammert und wartete auf eine Chance, es zu benutzen. Aber die Zeit verstrich schnell. Sie raste ihm davon. 272
Das Ardsheal bewegte sich auf ihn zu wie eine unerbittliche, unaufhaltsame Kraft. Auf einmal wurde die Zimmertür aufgerissen, und ein kleines, struppiges Bündel Wildheit stürzte sich in den Kampf. Es prallte gegen das Ardsheal und trieb es an die Wand zurück. Bunion schien nur noch aus Klauen und Zähnen zu bestehen und zum Berserker geworden zu sein. Das Ardsheal wurde von ihm völlig unvorbereitet getroffen und durch die Wucht des Angriffs ins Wanken gebracht. Es wand sich wild hin und her und versuchte, seinen Angreifer abzuschütteln. Der Paladin sprang vor. Hier war endlich die Chance, auf die er gewartet hatte. Er trieb den Dolch mit solcher Wucht durch den Schädel des Ardsheals, daß er bis zum Heft eindrang. Das Ardsheal bäumte sich auf, und seine silbernen Augen füllten sich mit Blut. Es befreite sich von Bunion und wirbelte zum Paladin herum. Aber der Ritter hatte sein großes Breitschwert gezückt und schwang das Schwert mit jedem Rest der ihm noch verbliebenen Kraft kreuzweise und von oben gegen seinen Feind. Die Klinge traf das Ardsheal zwischen Hals und Schulter und fuhr säuberlich durch es hindurch. Sie schnitt tief in den Körper hinein bis zum Herz der Kreatur. Das Ardsheal brach unter dem Hieb zusammen. Es wand sich krampfartig, und in seinen schrecklichen Augen spiegelte sich eine uralte Erkenntnis, der nicht einmal die finsterste Magie widerstehen kann. Die Augen wurden starr, und die Magie verging. Der Tod holte sich das Ardsheal zurück. Der Paladin war nur noch eine zerschlagene, zerlumpte Karikatur des silbernen Ritters, der er zu Kampfbeginn gewesen war, als er jetzt sein Breitschwert aus dem Leichnam zog und sich dem König von Landover zuwandte. Ihre Augen trafen sich und senkten sich ineinander. Er hatte das seltsame Gefühl, sich selbst anzusehen. Er begann, auf ein Knie hinabzusinken, wurde aber von dem Licht des Medaillons erfaßt, das der König in der ausgestreckten Hand hielt, und fort in den heilenden Schlaf getragen.
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In der Stille, die jetzt eintrat, konnten Ben und Willow hören, wie der Regen von neuem einsetzte. Die königlichen Wachen wurden gerufen und die Überreste des Ardsheals entfernt. Die Geräusche des Kampfes waren nirgends gehört worden, was sich nur durch den Einsatz von Magie erklä ren ließ. Nachdem die Soldaten gegangen waren und der Raum wieder gesäubert und aufgeräumt war, bezog Bunion vor der Tür seinen Wachposten. Der Kobold gab sich die Schuld für das, was geschehen war. Er war wieder einmal auf Erkundung gewesen, nur gerade außerhalb der Burgmauern, aber irgendwie hatte der Feind, nach dem er Ausschau gehalten hatte, an ihm vorbeischlüpfen können und das Schloß ungesehen betreten. Es wurde kein Wort darüber verloren, aber Bunions Abbitte war am Zucken seiner Augen und am Blitzen seiner Zähne abzulesen. Als Ben und Willow wieder allein waren, klammerten sie sich aneinander, als wäre der andere der letzte feste Halt an einem abbröckelnden Felsen. Sie sprachen nicht. Sie standen aneinandergeschmiegt in der Dunkelheit und zogen Trost aus ihrer Nähe. Willow zitterte in der Sommerhitze. Ben war, obgleich er nach außen hin gefestigt wirkte, innerlich gebrochen. Sie stiegen wieder in ihr Bett. Die Dunkelheit war nicht länger beruhigend. Ihre Augen wanderten durch den Raum, und sie lauschten auf die leisesten Geräusche. Sie konnten nicht schlafen, und sie versuchten es auch erst gar nicht. Ben beruhigte Willows Zittern, verjagte wenigstens kurzzeitig ihre Angst vor dem Wesen, das gekommen war, um sie beide zu töten. Er hielt sie ganz fest an sich gedrückt und versuchte, Worte für das zu finden, was er sagen wollte, für das Geständnis, das er jetzt ablegen mußte, wenn er jemals wieder Frieden finden wollte. Draußen platschte der Regen auf den Steinboden und tropfte in steigendem Rhythmus von den Wandvorsprüngen. »Ich muß dir etwas über den Paladin erzählen«, sagte er schließlich und sprudelte die Worte heraus, die er nicht besser formulieren konnte. »Es ist nicht leicht zu erklären, aber ich muß 274
es versuchen. Wir sind ein und dieselbe Person, Willow. Jetzt, in diesem Moment, fühle ich allen Schmerz, den er erlitten hat. Ich kann spüren, wie weh ihm seine Glieder und sein Körper tun, wie erschöpft seine Seele ist, und ich fühle die Pein, die droht, ihn zu zerbrechen. Ich fühle es, wenn er kämpft, aber ich fühle es ebenso auch jetzt.« Er holte tief Luft. »Ich kann es kaum ertragen. Es ist, als würde es mich zerreißen, mir alle Knochen brechen und mich in die Erde stampfen. Selbst jetzt noch. Er ist fort, aber das macht keinen Unterschied.« Er spürte, wie sich ihr Kopf von seiner Schulter hob, damit sie sein Gesicht sehen konnte. Er spürte, wie sich ihre Finger suchend über seine Brust bewegten. »Er ist ein Teil von mir, Willow. Das ist es, was ich sagen will. Er ist ein Teil von mir und war es schon immer, seit ich nach Landover gekommen bin und das Medaillon der Königswürde an mich genommen habe. Das Medaillon verbindet uns miteinander, vereint uns, wenn ich ihn von dort herbeibeschwöre, wo immer er wartet.« Er sah sie an, schaute aber gleich wieder weg. »Wenn das Medaillon ihn herruft, trägt die Magie einen Teil von mir in seine Rüstung. Nicht meinen Körper oder meinen Geist, sondern mein Herz, meinen Willen und meine Entschlußkraft – sie sind es, die er benötigt. Auf gewisse Weise sind der König und der Kämpe des Königs ein und dasselbe. Das ist das wahre Geheimnis des Medaillons. Es ist ein Geheimnis, das ich dir bislang verschwiegen habe.« Ihre smaragdgrünen Augen blickten ihn fest an. »Warum konntest du es mir denn nicht erzählen?« fragte sie ruhig. »Weil ich Angst davor hatte, was das für dich bedeuten würde.« Er zwang sich dazu, ihr in die Augen zu sehen und ihrem Blick standzuhalten. »Ich wollte es dir sagen. Ich habe gefühlt, daß ich es tun muß, daß es falsch ist, es nicht zu tun, aber ich hatte Angst. Was würde es für dich bedeuten, wenn du wüßtest, daß immer, wenn der Paladin beschworen wurde, ich es war – oder zumindest ein wichtiger, notwendiger Teil von mir –, der den Kampf bestritt.
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Was würde es dir antun zu wissen, daß der Tod des Paladins auch der meine sein würde?« Er schüttelte den Kopf. Er hatte das Gefühl, ins Schwimmen geraten zu sein. »Aber das ist noch nicht alles. Jedesmal, wenn ich in den Paladin gezogen und eins mit ihm werde, spüre ich, wie ich mich weiter von dem entferne, der ich eigentlich bin. Ich werde er, und jedesmal fällt es mir schwerer, wieder zurückzufahren. Ich lebe in der ständigen Angst, daß ich eines Tages nicht mehr in der Lage sein werde, zurückzukehren, weil ich vergessen habe, wer ich bin, und weil ich mag, zu wem ich geworden bin. Die Macht der Magie ist so verführerisch! Wenn ich der Paladin bin, dann ist er alles, was ich sein möchte. Würde das Medaillon mich nicht wieder zu mir selbst zurückbringen, dann glaube ich nicht, daß ich jemals aus eigenem Willen zurückkehren würde. Ich glaube, dann könnte ich auf immer verlorengehen.« Der Schmerz in ihren Augen war schrecklich anzusehen. »Du hättest es mir erzählen müssen«, sagte sie ruhig. Er nickte, er hatte keine Worte mehr. »Verstehst du das denn nicht, Ben? Als ich dich im Irrylyn gefunden habe, da habe ich mich dir ohne jede Bedingung hingegeben. Ich gehöre zu dir, und nichts könnte mich dazu bringen, dich zu verlassen. Nichts!« »Ich weiß«, bestätigte er ihr. »Nein, das tust du nicht, denn sonst hättest du nicht gezögert, es mir zu erzählen.« Ihre Stimme war sanft, aber sie enthielt einen eisernen Kern. »Es gibt nichts, was du mir nicht erzählen könntest, Ben. Niemals. Wir werden für immer zusammenbleiben, bis zum Ende. Du weißt, daß es vorhergesagt worden ist. Du kennst die Prophezeiung. Du solltest niemals die Stärke ihrer Wahrhaftigkeit bezweifeln.« »Ich hatte Angst...«, begann er, aber sie brachte ihn schnell zum Schweigen. »Nein, laß es für jetzt gut sein. Laß es gut sein.« Sie berührte ihn zärtlich. »Erzähl es mir noch einmal. All sein Schmerz geht auf dich über? Alles, was er bei deiner Verteidigung erleidet?«
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Er schloß die Augen. »Ich fühle mich, als würde ich auseinanderfallen. Ich fühle mich, als würde ich sterben, und kann die Wunde nicht finden, die mich umbringt. Sie ist überall, innen und außen. Ich bin zu Bruc hstücken zerfallen, die hier im ganzen Raum verstreut sind – in der Luft, im Geräusch des Regens, in meinem eigenen Atmen. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Der Paladin hat gewonnen, aber ich scheine verloren zu haben. Ihn so bald schon wieder zu rufen war mehr, als ich ertragen konnte. Es hat mich zuviel gekostet, Willow. Ich habe nicht das Herz dafür!« »Pschhht, nicht mehr«, beruhigte sie ihn und schmiegte sich an ihn. Sie küßte ihn. »Du hast Herz genug für uns alle, Ben Holiday. Das war immer deine größte Stärke. Du hast einen schrecklichen Kampf überlebt. Kein gewöhnlicher Mann hätte geschafft, was du vollbracht hast. Mach dich nicht selber schlecht. Mache nicht kleiner, was du erreicht hast. Hör mir zu. Das Geheimnis des Paladins hüten wir nun beide, nicht mehr nur du allein. Sein Gewicht kann von zweien besser getragen werden. Ich werde dir helfen. Ich werde dir Halt geben, wenn du ausgelaugt und herzkrank bist wie jetzt. Ich werde versuchen, dich von deinem Schmerz abzuschirmen. Wenn du um unsertwillen zum Paladin werden mußt, dann werde ich schon einen Weg finden, dich zurückzubringen. Immer. Auf ewig. Ich liebe dich.« »Daran habe ich nie gezweifelt«, erwiderte er sanft. »Hätte ich das getan, so hätte ich schon längst aufgegeben.« Sie streichelte zärtlich seine Stirn und küßte ihn noch einmal. Allmählich spürte er, wie er sich entspannte und begann, sich treiben zu lassen. »Schlaf jetzt«, flüsterte sie. Er nickte, und sein Atem wurde langsamer und tiefer. Ein Teil des Schmerzes schwand. Ein Teil der Pein ließ nach. Die Erinnerungen an seinen Kampf als Paladin verloren ihre harten Kanten, verschwanden unter Willows liebevollen Berührungen. Der Schlaf würde ihm seine Kraft zurückbringen. Am Morgen würde er wieder imstande sein, weiterzumachen. Es würde nur das unausweichliche Wissen zurückbleiben, daß es ihm mit jeder
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neuen Verwandlung wieder so ergehen würde – eine herbe Gewißheit. Aber sogar das konnte er jetzt akzeptieren. Sogar das. Er beruhigte sich, drängte Angst und Verzweiflung zurück. Ich muß Mistaya finden, dachte er. Ich muß sie gesund und wohlbehalten wiederfinden. Dann hätte sich alle Mühe gelohnt. Ich muß Questor Thews und Abernathy zurückbringen. Ich muß Rydall von Marnhull und seinen heimtückischen Spielen unbedingt ein Ende bereiten. In der Stille der pechschwarzen Nacht klangen die Worte wie ein hoffnungsvolles Wispern. Ich muß Nightshade im Tiefen Schlund aufsuchen und dort nach der Wahrheit suchen. Dann war er auch schon eingeschlafen.
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HUNDETRÄUME
Als Abernathy am nächsten Morgen erwachte, nachdem er ungewöhnlich gut geschlafen hatte, wenn man das Trauma der gestrigen Ereignisse bedachte, saß Questor Thews gegenüber seinem Bett in einem Sessel und starrte ihn an wie der personifizierte Tod. Es war höchst beunruhigend. Abernathy blinzelte, griff nach seiner Brille und fixierte den Zauberer mit einem langen, abschätzenden Blick. »Ist irgend etwas?« fragte er. Der Zauberer nickte, dann schüttelte er den Kopf. Er war nicht in der Lage, sich zu entscheiden. »Wir müssen etwas besprechen, alter Freund«, verkündete er müde. Abernathy mußte über die Ernsthaftigkeit dieser Ankündigung fast lachen. Dann sah er jedoch den Ausdruck in den Augen des anderen und spürte, wie sich etwas Kaltes in seinem Magen ausbreitete. Irgend etwas schien Questor Thews tief zu beunruhigen. »Nun«, erwiderte er und verstummte dann wieder, als hätte dieses einzelne Wort die Angelegenheit geklärt, so daß kein weiteres Gespräch mehr nötig war. Er setzte sich auf und bewunderte, ohne es zu wollen, einen Moment lang die gla tte Linie seiner Arme und Beine, bevor er dann das Aussehen seiner Finger und Zehen einer kritischen Musterung unterzog. Seine Finger waren lang und dünn, aber seine Zehen waren zerdrückt wie die Gummidinger, auf die er in letzter Zeit so großen Appetit entwickelt hatte. Elizabeth bewahrte eine Tüte von ihnen unten in der Küche auf und bot ihm ständig davon an. Ihm gefiel der Gedanke nicht besonders, daß sie ihn an seine Zehen erinnerten. Er räusperte sich. »Worüber möchtest du denn sprechen?« fragte er und hoffte, daß es sich dabei nicht um Poggwydd handelte. Questor rappelte sich aus seinem Sessel auf und ging ans Fenster. Er sah aus wie eine große, gebeugte Vogelscheuche, 279
deren Füllung an den Nähten herausquoll. Er zog den Vorhang auseinander, blinzelte ni das Licht und blickte hinaus. Der Tag war sonnig und warm, der Himmel wolkenlos, und die Welt begann allmählich zu erwachen. »Gehen wir doch in den Garten hinunter und setzen uns in den Schatten der Bäume«, schlug er vor, aber sein fröhlicher Tonfall kla ng ein wenig gezwungen. Abernathy seufzte. »In Ordnung.« Er duschte, rasierte sich und kleidete sich an. Mit einem Mal fiel ihm ein, worüber Questor Thews vermutlich mit ihm sprechen wollte: über das Buch Theorien der Magie und ihrer Anwendung. Abernathy hatte es ganz vergessen, sosehr hatten ihn Poggwydds unerwartetes Auftauchen im Graum Wythe und seine spätere Festnahme abgelenkt. Der G’heim-Gnom war jetzt ebenso ein Ausgestoßener aus Landover wie er, nur mit dem einen Unterschied, daß Poggwydd wirklich nichts mit dieser Welt zu tun haben wollte, während Abernathy sich immer behaglicher in seinem Exil zu fühlen begann. Was bedeute, folgerte er, daß das Buch Questor etwas über die Heimreise verraten hatte. Das war auch der Grund, warum der Zauberer noch immer wach war: Er hatte die Antwort gefunden, nach der er gesucht hatte. Und jetzt überlegte er, wie er es Abernathy beibringen sollte, da er wußte, daß es diesen längst nicht so sehr drängte, zurückzukehren. Obwohl es ihn natürlich drängte, argumentierte er mit sich selbst, da er ebensogut wie Questor wußte, daß der König sie brauchte. Mistaya war in den Händen von Nightshade, und es würde etwas Schreckliches geschehen, wenn sie nicht rechtzeitig genug zurückkehrten, um es zu verhindern. Aber was würde geschehen? Er wünschte, er wüßte es. Ein wenig mehr Gewißheit würde wahrhaftig nichts schaden. Er zog sich seine Schuhe an und verließ das Badezimmer, um zu Questor zu gehen. Der Zauberer blickte ihn an, dann wandte er sich anscheinend erschreckt schnell ab.
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»Na toll, vielen Dank auch!« knurrte Abernathy. »Habe ich etwa meine Hose verkehrt herum an? Oder haben meine Schuhe die falsche Farbe?« »Nein, nein.« Questor legte sich gequält eine Hand an die Stirn. »Du siehst sogar ziemlich elegant aus.« Der Zauberer wedelte mit der Hand. »Es tut mir leid, daß ich so ungehobelt bin. Aber ich war die ganze Nacht wach und habe gelesen, und mir gefällt das Ende der Geschichte nicht besonders.« Abernathy nickte, obwohl er nicht die geringste Ahnung hatte, wovon der Zauberer sprach. »Warum gehen wir nicht hinunter und beginnen mit dem Gespräch«, drängte er, begierig darauf, es hinter sich zu bringen. »Wir könnten nachsehen, ob Elizabeth schon wach ist, und sie fragen, ob sie sich uns anschließen möchte.« Aber Questor schüttelte rasch den Kopf. »Nein, mir wäre lieber, wenn diese Diskussion nur zwischen dir und mir stattfände.« Er blickte zu Boden und biß sich dann auf die Unterlippe. »Tu mir bitte den Gefallen.« Und Abernathy tat ihm den Gefallen. Sie traten aus ihrem Schlafzimmer, gingen den kurzen Gang entlang und stiegen die Stufen hinunter. Als sie an Elizabeths geschlossener Tür vorbeikamen, hörten sie sie in ihrem Zimmer singen. Zumindest eine Person war fröhlich. Sie gingen vom Wohnzimmer in die Küche, wo sie auf Mrs. Ambaum stießen. Sie stand vor dem Herd und bereitete gerade Tee zu. Als sie sich zu ihnen umdrehte, sah sie schroff, hart, wachsam und eindeutig triumphierend aus. »Ich habe gestern abend mit Elizabeths Vater gesprochen. Er erinnert sich nicht daran, einen Onke l Abernathy zu haben. Er kann sich an überhaupt niemanden dieses Namens entsinnen. Was haben Sie dazu zu sagen?« Mit der einen Hand umklammerte sie das Teesieb, sie wäre jedenfalls bewaffnet und gefährlich, falls die beiden Männer irgend etwas Dummes versuchen würden.
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Abernathy setzte sein entwaffnendstes Lächeln auf. »Wir haben uns schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Das letzte Mal waren wir noch Kinder.« Ihr Mundwinkel zuckte. »Er hat gesagt, ich soll Elizabeth mitteilen, daß er heute abend zurückfliegt. Er möchte Sie in Augenschein nehmen.« Blinzelnd versuchte Abernathy sich eine Vorstellung von diesem Treffen zu machen. Mrs. Ambaum legte den Kopf schief, als würde sie versuchen, in ihn hineinzusehen. Hastig mischte sich Questor Thews ein. »Denk nur, wie schön!« rief er. Er nahm Abernathy bei der Hand und schob ihn an der erstaunten Haushälterin vorbei durch die Hintertür hinaus. »Machen Sie sich keine Sorgen!« rief er über die Schulter zurück. »Bevor Sie sich versehen, wird sich alles aufklären!« Sie gingen die Verandastufen hinab und traten in den Garten, wobei Abernathy sich sehr darum bemühen mußte, nicht über die Schulter zurückzublicken, ob Mrs. Ambaum ihnen nachschaute. »Ich mag diese Frau nicht besonders«, murmelte er. Questor Thews zog eine Grimasse. »Das ist nur fair. Sie mag dich nämlich auch nicht.« Sie gingen ein ganzes Stück weit vom Haus fort in den Hintergarten, wo keine neugierigen Ohren ihr Gespräch belauschen konnten. Abernathy schaute in den Himmel und nahm den Anblick seiner riesigen, blauen Kuppel in sich auf. Er sog den Geruch von Blumen und Gras und schwindender Feuchtigkeit ein. Mrs. Ambaum war vergessen. Sie kamen zu einer alten Bank, die als Schutz vor der Witterung in einem glänzenden Weiß angestrichen worden war, und setzten sich. Von hier aus hatten sie einen Ausblick über weite, einsame Felder, hinter denen sich die Cascade Mountains mit ihren schneebedeckten Gipfeln vor dem blauen Himmel abzeichneten. Nach einem Moment des Schweigens blickte Abernathy Questor an. »Nun?« sagte er.
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Der Zauberer seufzte, faltete seine Hände im Schoß, rutschte ein wenig hin und her und seufzte erneut. »Wir haben da ein Problem«, sagte er. Abernathy wartete, bis ihm klar war, daß Questor nicht wußte, wie er fortfahren sollte. »Könntest du vielleicht mehr als einen Satz am Stück sprechen, Questor Thews? Auf die Art würden wir nicht den ganzen Tag verschwenden.« »Ja, schon gut.« Der Zauberer war nervös. »Das Buch. Theorien der Magie und ihrer Anwendung. Ich habe es letzte Nacht gelesen. Tatsächlich habe ich es sogar zweimal gelesen. Ich habe seinen Inhalt äußerst gründlich studiert. Ich glaube, es ist, wonach wir suchen.« Abernathy nickte. »Du glaubst? Das ist nicht sehr ermutigend für all jene unter uns, die ein eindeutiges Ja oder Nein erwarten.« »Na ja, es handelt schließlich von Magie – das Buch, meine ich natürlich –, und Magie ist niemals exakt. Wie du sehr wohl weißt. Und dieses Buch befaßt sich mit Theorien. Es enthält eine allgemeine Beschreibung darüber, wie verschiedene Magieformen arbeiten, was ihre Prinzipien sind und wie sie wirken. Es steht dort also, zum Beispiel, nicht: ›Nimm das Auge eines Molches, vermenge es mit einem Froschbein, und drehe dich dreimal links herum‹ oder so etwas.« »Das will ich aber auch hoffen.« »Na ja, das ist natür lich sowieso kein wirklicher Zauber gewesen. Aber es ist ein Beispiel für einen Zauber, im Gegensatz zu einer allgemeinen Theorie. Es geht in diesem Buch also, wie ich bereits sagte, um Theorien, darum kann man sich einer Sache nicht sicher sein, bevor man sie nicht ausprobiert hat. Man kann nur die Theorie auf eine bestimmte Situation anwenden und sich des Ausgangs verhältnismäßig sicher sein.« Abernathy runzelte die Stirn. »Ich frage mich, warum ich das alles nicht besonders ermutigend finde. Warum weckt das in mir wohl Erinnerungen an frühere Situationen?« Questor Thews warf die Hände in die Höhe. »Verflixt, Abernathy, das ist wirklich ernst! Deine schnippischen 283
Bemerkungen sind dabei nicht mehr hilfreich! Würdest du bitte alle weiteren Späße unterlassen und mir einfach nur ruhig zuhören?« Sie blickten sich eine Zeitlang betroffen schweigend an. Das Lächeln schwand von Abernathys Gesicht. »Entschuldige«, sagte er, überrascht, daß er das Wort überhaupt aussprechen konnte. Questor nickte rasch und wischte die Entschuldigung mit der Hand beiseite. Das war unter Freunden nicht nötig, wollte er damit sagen. »Theorie«, fuhr er fort und nahm den Faden des Gespräches wieder auf. »Das Buch beschreibt eine Theorie, an die ich mich aus jenen Tagen erinnere, als ich zu der Zeit des alten Königs, unter der Anleitung meines Bruders studiert habe. Sie lautet etwa wie folgt: Wenn eine Magie in eine andere eingreift, um deren Auswirkung zu verändern und sie auf entscheidende Weise zu beeinflussen, dann benötigt man eine dritte Magie, um die Auswirkung der zweiten unwirksam zu machen und alles wieder so herzustellen, wie es am Anfang gewesen ist. Also: Magie eins wird angewendet, Magie zwei verändert das Ergebnis, und Magie drei stellt wieder den ursprünglichen Zustand her, bevor Magie zwei ins Spiel gekommen war.« Abernathy starrte ihn an. »Was ist mit den Auswirkungen von Magie eins, wenn Magie zwei unwirksam gemacht wurde?« »Nein, nein, die hat keinen Einfluß auf die Angelegenheit! Magie eins wurde ja schon abgehandelt!« Questors dünne Lippen wurden noch schmaler, und seine buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen. »Kannst du mir soweit folgen?« »Nightshade hat versucht, uns mit ihrer Magie zu töten. Sie hat versagt, weil eine andere Magie eingegriffen hat, und zwar, wie wir annehmen, die des Sumpfmoppels. Jetzt müssen wir eine dritte Magie einsetzen, um die Dinge wieder in ihren ursprünglichen Zustand zu versetzen. An diesem Punkt bin ich ausgestiegen. Was genau wird zurückversetzt?« Questors Augen verschleierten sich. »Warte, da ist noch etwas. Um die erste Magie zu überwinden, muß die zweite Magie einen Katalysator benutzen, einen wirkungsvollen Ansatzpunkt, eine 284
Nebenerscheinung, die für nichts anderes gehalten werden kann als ebendieses. Sie bewirkt erst die Dominanz der zweiten Magie über die erste. Stell sie dir als eine Art Opfer vor. In manchen Fällen ist sie das wirklich. Ein Leben, das gegeben wird, um andere zu schützen, zum Beispiel. Normalerweise hat die Nebenwirkung keinen Einfluß auf den Lauf der Dinge, außer einen klaren Hinweis darauf zu liefern, was wieder zurückverwandelt werden muß.« Er holte tief Luft. »Es tut mir leid. Ich weiß, das ist verwirrend.« Aber Abernathy schüttelte langsam den Kopf; sein Gesicht war plötzlich sehr bleich geworden. »Du sprichst von mir, nicht wahr, Questor Thews? Du sprichst davon, mich wieder von einem Mann in einen Hund verwandeln zu müssen. Darum geht es doch, oder?« Sein Freund nickte seufzend. »Ja.« »Du glaubst, wenn Magie benutzt wird, um mich zurück in einen Hund zu verwande ln, dann werden die Auswirkungen der zweiten Magie aufgehoben, und wir werden alle wieder nach Landover geschickt. Ist es so?« »Ja.« »Das ist lächerlich.« Aber er klang nicht so, als ob er das wirklich fand. Ein Teil von ihm flüsterte ihm bereits zu, daß stimmte, was Questor ihm erzählt hatte. Ein Teil von ihm hatte es bereits seit dem ersten Moment erwartet, als er sein Glück entdeckt hatte. Es war offenbar unvermeidbar gewesen, daß er sein Glück nicht ohne Konsequenzen genießen konnte, daß er seinem Schicksal nicht so einfach entkommen konnte. Er haßte sich selbst dafür, daß er so dachte, aber er konnte es nicht ändern. Vom Schicksal verdammt. Für das Fegefeuer bestimmt. Er hatte nur einen Urlaub von der Wirklichkeit gewährt bekommen, mehr nicht. »Du könntest dich irren«, drängte er und versuchte ruhig zu bleiben, da er bereits spürte, wie sich die Verzweiflung in ihm aufbaute, wie sich ihre Hitze seinen Hals hinauf und über sein Gesicht ausbreitete. 285
»Das ist möglich«, gab Questor Thews zu. »Aber ich gla ube es nicht. Wir sind uns einig, daß wir in die alte Welt Seiner Hoheit geschleudert worden sind, um uns das Leben zu retten und weil hier etwas verborgen ist, das uns dabei helfen kann, unseren Heimweg zu finden. Die Magie, die uns hergeschickt hat, hat uns zugleich mit dem Schlüssel zu unserem Gefängnis versehen. Alles paßt zusammen, bis auf deine Verwandlung – außer deine Verwandlung ist selbst dieser Schlüssel. Es gibt keinen anderen Grund, warum sie stattgefunden haben könnte. Sie ist eine zu dramatische Auswirkung, als daß es sich bei ihr um eine einfache Nebenerscheinung handeln könnte. Es muß mehr mit ihr auf sich haben, und was könnte sie sonst für einen Grund haben?« Abernathy sprang auf die Füße – seine menschlichen Füße – und schritt davon. Als er sich weit genug von dem Zauberer entfernt hatte, daß er sich allein fühlen konnte, blieb er stehen und starrte ins Nichts. »Ich werde es nicht tun!« rief er. »Ich bitte dich auch gar nicht darum!« erwiderte der andere. Abernathy warf angewidert die Arme hoch. »Mach dich nicht lächerlich! Natürlich tust du das!« Er wirbelte herausfordernd herum. Questor Thews sah alt und zerbrechlich aus. »Nein, Abernathy, das tue ich wirklich nicht. Wie könnte ich auch? Ich war es, der dich überhaupt erst verwandelt hat. Ein Unfall, ja, aber das entschuldigt nicht, was geschehen ist. Ich habe dich von einem Menschen in einen Hund verwandelt, und dann konnte ich dich nicht mehr zurückverwandeln. Ich habe mit diesem Versagen, mit dieser Dummheit jeden Tag meines Lebens seit jenem Ereignis gelebt. Und jetzt finde ich mich in einer Situation wieder, wo von mir erwartet wird, daß ich dich ein zweites Mal verwandle. Ich muß den schlimmsten Moment meines Lebens noch einmal durchleben, und das in dem Wissen, wohlgemerkt, daß ich die Auswirkungen der Magie noch immer nicht beheben kann, sobald sie sich einmal festgesetzt haben.« Es standen Tränen in den Augen des alten Mannes. Er wischte sie schnell fort. »Ich muß dir sagen, daß dieser Gedanke fast unerträglich für mich ist.« 286
Für uns beide, dachte Abernathy elend. Er blickte an sich hinunter, an seinem wirklichen Selbst, seinem wiederhergestellten Selbst, und dachte einen Moment lang daran, was es bedeuten würde, wieder ein Hund zu sein. Er beschwor das Bild der zottelhaarigen, unbeholfenen, lachhaften Kreatur herauf, die er gewesen war. Er stellte sich vor, wie es gewesen war, in ihrem fremden Körper gefangen zu sein, darum kämpfen zu müssen, seine Würde nicht zu verlieren und jeden Tag seines Lebens damit zu verbringen, den Leuten in seiner Umgebung zu beweisen, daß er ebenso menschlich war wie sie. Wie könnte irgend jemand von ihm erwarten, ein solches Opfer zu bringen? Das war also der Preis dafür, nach Landover zurückkehren zu können? Aber er wußte, daß es mehr war. Es war auch der Preis dafür, daß er noch am Leben war. Hätte die geheimnisvolle Magie nicht eingegriffen, wäre er jetzt tot. Nightshade hätte ihn umgebracht. Sie beide. Questor Thews hatte zweifellos recht, sosehr es ihn auch schmerzte, das zuzugeben. Seine Verwandlung von einem Hund in einen Mann hatte einen Grund gehabt, und der einzige Grund, der einen Sinn ergab, war jener, den der Zauberer gerade verkündet hatte. Folglich konnte er bleiben, oder er konnte gehen. Die Entscheidung lag bei ihm. Questor würde nicht versuchen, ihn in eine Richtung zu beeinflussen. Der Zauberer mußte in dieser Sache mit seinen eigenen Dämonen leben. Es blieb Abernathy überlassen, die Wahl zu treffen. Wenn er die Verwandlung ablehnte, steckte er hier fest. Das hatte sein Gutes und sein Schlechtes. Er brauchte dabei nicht ins Detail zu gehen. Natürlich steckte auch König Ben Holiday fest; er würde von ihnen keine Hilfe bekommen. Wenn Abernathy andererseits Questor Thews gestattete, die Magie zu beschwören, würde er wahrscheinlich noch rechtzeitig zurückkehren, um dem König helfen zu können. Aber konnte er das wirklich? Gab es wirklich einen Grund, zurückzukehren, oder würden die Dinge so oder so ihren Lauf nehmen, ob er nun zurückging oder nicht? Es war eine Sache, wenn er durch seine Rückkehr helfen konnte, den König und seine Familie vor Rydall und Nightshade zu retten; es war aber eine 287
ganz andere, wenn seine Heimkehr überhaupt keinen Unterschied machen würde. Er warf einen Blick zum Haus hinüber. Mrs. Ambaum beobachtete sie durch das Fenster, während sie zufrieden an ihrem Tee nippte und an die Abrechnung bei Einbruch der Nacht dachte. Noch immer kein Zeichen von Elizabeth. Jenseits des Hauses, wo die Straße hinter einer Anhöhe verschwand, fiel der Sonnenschein wie durch einen sanften Vorhang zwischen den Bäumen hindurch. Abernathy ging zu Questor Thews zurück und blieb mit fest auf sein verwittertes, altes Gesicht gerichteten Augen vor ihm stehen. »Ich glaube, ich bringe es wirklich nicht über mich«, sagte er leise. Der Zauberer nic kte. Sein Gesicht hatte sich zu einer einzigen Masse von Falten zusammengezogen. »Ich kann es dir nicht verdenken.« Abernathy streckte seine Hände aus und sah sie an. Er schüttelte den Kopf. »Erinnerst du dich überhaupt noch an den Zauber, den du verwendet hast, um mich damals zu verwandeln?« Questor blickte nicht auf, zeigte aber durch ein Nicken an, daß er das tat. »Nach so vielen Jahren. Ist das nicht enorm?« Abernathy sah an sich hinunter. Er war noch vor gar nicht allzulanger Zeit erst zurückverwandelt worden, und doch fühlte er sich schon wieder völlig vertraut in seiner alten Haut. »Ich mag mich so, wie ich bin«, flüsterte er. Elizabeth erschien auf der Türschwlle. »Frühstück!« Keiner von ihnen rührte sich. Dann winkte Questor ihr. »Wir kommen gleich!« rief er. Er blickte Abernathy an. »Es tut mir wirklich sehr leid.« Abernathy lächelte traurig. »Ich weiß.« »Ich würde alles darum geben, wenn ich dir das nicht hätte sagen müssen und wenn überhaupt alles anders wäre.« Er biß sich auf die Lippe.
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»Wenn es nicht so wäre, nur mal um der Diskussion willen«, meinte Abernathy, »dann werde ich weiter hier gefangen sein, aber als Hund und nicht als Mann.« Questor Thews nickte, aber diesmal sah er ihn dabei an. »Aber es ist so. Du bist dir sicher. So sicher, wie du dir nur sein kannst, nicht wahr?« Der Zauberer nickte erneut, ohne etwas zu sagen. »Ich muß mich jetzt entscheiden, nicht wahr? Jetzt gleich?« hakte Abernathy zögernd nach. »Wenn wir dem König und Mistaya helfen wollen, müssen wir schnell zurückkehren. Es bleibt keine Zeit, lange über diese Sache nachzudenken.« »Nein, ich fürchte, die bleibt nicht.« »Warum diskutierst du die Angelegenheit dann nicht mir mir?« »Mit dir diskutieren?« »Überzeuge mich von der einen oder der anderen Seite. Führe für beide Seiten Argumente auf, wenn du willst. Aber gib mir etwas, womit ich mich auseinandersetzen kann. Gib mir eine Stimme, auf die ich außer meiner eigenen hören kann!« »Ich habe dir doch schon erklärt...« »Hör auf, mir irgend etwas zu erklären!« Abernathy war plötzlich wütend. »Hör auf, so vernünftig zu sein! Hör auf, so passiv zu sein! Hör auf, herumzustehen und darauf zu warten, daß ich diese Entscheidung allein treffe!« »Aber es ist deine Entscheidung, Abernathy – nicht meine. Das weißt du.« »Ich weiß nichts! Ich weiß gar nichts! Ich bin es absolut leid, nichts darüber zu wissen, was mit meinem Leben passiert! Alles, was ich will, ist, wieder zu dem ursprünglichen Zustand der Dinge zurückzukehren, und genau das wird mir verwehrt! Ich soll noch immer eine Vorstellung abliefern, genau wie damals, als wir auf diesem Bumbel-Dingsda-Festival aufgetaucht sind, nur daß das Publikum jetzt unsichtbar ist! Warum sollte ich damit weitermachen? Vielleicht wäre es besser, sich einfach hinzusetzen und sich zu weigern, überhaupt noch irgend etwas zu tun!« 289
»Nichts zu tun ist dasselbe wie etwas zu tun!« Questor erhitzte sich selber allmählich ein wenig. »Beides bedeutet, daß du eine Wahl triffst!« Abernathy ballte wütend die Hände zu Fäusten. »Also kommt es auf dasselbe heraus, nicht wahr? Es muß eine Wahl getroffen werden, selbst wenn diese Wahl überhaupt keine Wahl ist?« »Du redest wirr!« »Ich versuche, Sinn in die Sache zu bringen!« Questor Thews seufzte. »Warum essen wir nicht erst mal Frühstück, und vielleicht sieht dann...« »Oh, vergiß es! Ich gehe zurück!« »...alles schon einfacher aus.« Der Zauberer sog scharf die Luft ein. »Was hast du gesagt?« Abernathy mußte darum kämpfen, daß seine Stimme nicht brach. »Ich habe gesagt, daß ich zurückgehe! Ich will, daß du den Zauber beschwörst, der mich zurückverwandelt!« Er zog eine Grimasse, als er den Ausdruck auf dem gefurchten Gesicht des anderen sah, und war plötzlich ganz ruhig. »Es ist eigentlich gar keine so schwierige Entsche idung, Questor Thews. Wenn diese ganze Sache vorüber ist, muß ich mir selbst noch in die Augen schauen können. Wenn ich mich damit abfinden muß, wieder ein Hund zu sein, kann ich mich daran anpassen. Ich kann es akzeptieren, wenn ich weiß, daß ich alles in meiner Macht Stehende getan habe, um dem König und seiner Familie zu helfen. Aber wenn ich ein Mensch bleibe und später erfahre, daß ich ihnen das Leben hätte retten können, indem ich mich in einen Hund verwandelt hätte... nun, du kannst es dir vorstellen.« Er räusperte sich. »Außerdem habe ich einen Eid geleistet.« Einen Augenblick lang sah er aus wie der traurigste Mensch, der jemals gelebt hatte. »Ich bin der Hofschreiber des Throns von Landover und habe gelobt, dem König zu dienen. Ich bin verpflichtet, ihm auf jede Art zu dienen, die mir möglich ist. Ich mag mir das jetzt im Augenblick vielleicht anders wünschen, aber ich kann diese Tatsache nun einmal nicht ändern.«
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Questor Thews starrte ihn an. Seine alten Augen loderten heftig. »Du bist wirklich sehr bemerkenswert«, sagte der Zauberer leise. »Wirklich.« Impulsiv warf er die Arme um seinen Freund und drückte ihn an sich, so daß sich seine Barthaare rauh an Abernathys glatter Haut rieben. »Na ja«, erwiderte Abernathy, der von der Reaktion des anderen überwältigt war. Er versuchte, die Sache mit einem Schulterzucken abzutun. »Du auch, wirklich.« Sie gingen ins Haus, um mit Elizabeth das Frühstück einzunehmen. Die drei saßen an dem kleinen Küchentisch, auf dem sich Schüsseln mit Frühstücksflocken und Milch türmten. Mrs. Ambaum hantierte noch ein paar Minuten lang geschäftig herum, als wollte sie sie überwachen, dann gab sie es auf und verschwand durch die Vordertür, nachdem sie versprochen hatte, mittags wieder zurück zu sein. Sobald sie gegangen war, sagte Elizabeth: »Dad kommt heute abend von New York zurückgeflogen.« »Das hat uns Mrs. Ambaum bereits mitgeteilt«, meinte Questor. Er schaute Abernathy nicht an. Sein Freund hatte den Kopf beim Essen tief über die Schüssel gebeugt und hielt eine Hand so, daß sie vor seiner Stirn hing. »Wir müssen uns eine neue Geschichte ausdenken«, fuhr Elizabeth fort. Ihr krauses Haar war noch vom Waschen feucht, und ihr Gesicht war ebenfalls frisch gewaschen. »Das wird nicht schwer werden. Wir sagen einfach, daß Mrs. Ambaum es falsch verstanden hat und daß ihr...« Aber Questor schüttelte bereits den Kopf. »Nein, Elizabeth. Das wird nicht nötig sein. Abernathy und ich werden gehen.« »Gehen? Wann?« Questor lächelte traurig. »Jetzt sofort. Sobald wir mit dem Essen fertig sind.« Ihre Enttäuschung war unverkennbar. »Du hast einen Weg zurück gefunden, nicht wahr?« Questor nickte. »Letzte Nacht.« 291
Sie biß sich auf die Lippe. Stirnrunzelnd wandte sie sich an Abernathy. »Aber ihr seid doch gerade erst gekommen. Könnt ihr nicht noch ein oder zwei Tage bleiben? Vielleicht kann ich...« »Nein, Elizabeth.« Abernathy richtete sich auf und blickte sanft in ihre verzweifelten Augen. »Der König braucht uns. Mistaya braucht uns. Jede weitere Verzögerung wäre gefährlich. Wir können unmöglich bleiben.« Elizabeth blickte auf ihre Frühstücksflocken hinunter und rührte sie ein wenig mit ihrem Löffel um. »Das klingt nicht ganz fair. Ich möchte ja nicht selbstsüchtig sein, und ich weiß, daß es wichtig ist, daß du zurückgehst. Aber du bist doch gerade erst angekommen.« Sie sah hoch, senkte den Blick aber schnell wieder. »Ich habe vier Jahre darauf gewartet, dich wiederzusehen.« Abernathy konnte nicht sprechen. Er sah bedrückt aus. Eine kurze Zeit lang herrschte Schweigen. »Was ist mit Poggwydd?« fragte sie schließlich. Questor räusperte sich. »Poggwydd wird mit uns zurückkehren. Abernathy und ich werden uns um seine Freilassung kümmern, sobald wir hier aufgebrochen sind.« »Ich werde mit euch mitkommen«, verkündete Elizabeth sofort. »Nein«, sagte Abernathy rasch. Er fand es schon schlimm genug, daß sie selbst gehen und sich der Unausweichlichkeit dieser Angelegenheit ergeben mußten. »Was er meint«, sagte Questor und sprang in die Bresche, »ist, daß wir in dem Augenblic k, in dem wir Poggwydd befreien, auch schon auf dem Weg nach Hause sein werden. Puh!« Er versuchte ein Lächeln, aber es mißlang ihm. »Wenn wir auf irgendwelchen Ärger stoßen, wollen wir nicht, daß du darin verwickelt wirst. Ist es nicht so, Abernathy?« »Aber ihr braucht vielleicht meine Hilfe!« Elizabeth wartete nicht darauf, was Abernathy dazu zu sagen hatte. »Ihr kennt euch in Seattle überhaupt nicht aus! Wie wollt ihr irgendwo hinfinden? Wie wollt ihr zum Beispiel Poggwydd suchen?« »Nun, vielleicht könntest du uns wirklich bei diesem letzten Punkt helfen«, schlug der Zauberer beruhigend vor. 292
»Elizabeth.« Abernathy faltete seufzend seine Hände auf dem Tisch. »Wenn es die Möglichkeit gäbe zu bleiben, würden wir es tun. Wenn wir auch nur ein wenig mehr Zeit mit dir verbringen könnten, würden wir das nur zu gerne tun. Du bist unsere Freundin. Vor allem meine. Und das jetzt schon zum zweiten Mal. Aber wir können dir nicht erlauben, ein zu hohes Risiko einzugehen. Es wird schon schwer genug werden, uns deinem Vater zu erklären.« »Um ihn mache ich mir keine Sorgen! Mich kümmert weder Mrs. Ambaum noch sonst irgend jemand!« Sie blieb hart wie Stahl. »Ich weiß«, erwiderte er sanft. »Du hast dich nie von irgend jemandem aufhalten lassen. Wenn das der Fall wäre, säße ich jetzt nicht hier.« Er lächelte traurig. »Aber wir machen uns Sorgen um dich. Wir machen uns Sorgen, daß dir etwas zustoßen könnte. Erinnerst du dich noch, was mit Michel Ard Rhi geschehen ist? Erinnerst du dich, wie wenig gefehlt hat, daß man dir weh getan hätte? Ich stand damals Todesängste um dich aus! Ich kann nicht das Risiko auf mich nehmen, daß so etwas noch einmal geschehen könnte. Wir müssen dir jetzt leider Lebewohl sagen. Hier, in deinem Haus, wo du in Sicherheit bist. Bitte, Elizabeth.« Sie nahm sich einen Moment Zeit, um darüber nachzudenken, dann nickte sie. »Gut, Abernathy.« Aber sie war noch immer aufgebracht, kämpferisch und wütend. »Es muß ja wohl sein.« Sie seufzte. »Na ja, wenigstens bist du wieder ein Mensch, nicht wahr? Zumindest bist du kein Hund mehr.« Abernathy lächelte tapfer. »Ja, zumindest bin ich kein Hund mehr.« Schweigend beendeten sie ihr Frühstück. Um herauszufinden, was mit Poggwydd geschehen war, rief Elizabeth die Polizei von King County an. Von dort wurde sie an die Tierbehörde verwiesen, die sie schließlich zum King County Tierheim schickte. Da niemand sicher gewesen war, um welche Tierart es sich bei Poggwydd handelte und was man mit ihm tun 293
sollte, war der G’heim-Gnom wie ein alter Schuh von Hand zu Hand weitergereicht worden. Die Unterbringung im Tierheim war jedoch ebenfalls nur eine vorläufige Lösung, wie sie im Gespräch mit einem Angestellten des Tierheims erfuhr. Später an diesem Vormittag wollten ein Zoologe vom Woodland Park und ein Anthropologe von der University of Washington vorbeikommen. Die Ansprüche würden geklärt werden und Poggwydd für weitere Untersuchungen zu dem einen oder dem anderen Ort geschickt werden. Elizabeth legte auf. Sie berichtete, was sie erfahren hatte, und sagte: »Ihr beeilt euch besser.« Sie rief ein Taxi, das Abernathy und Questor zu ihrem Ziel, dem Tierheim, bringen sollte. Elizabeth gab ihnen Geld mit, damit sie das Taxi bezahlen konnten. Während sie mit ihnen am Ende des Fußwegs auf den Wagen wartete, gab sie ihnen noch ein paar Worte der Vorsicht und der Ermunterung mit auf den Weg und schrieb ihnen ihre Telefonnummer für den Fall auf, daß irgend etwas fürchterlich schiefging und sie ihre Hilfe benötigten. Insgeheim hoffte sie, daß dies passieren würde, sie hoffte, daß sie eine Weg finden würden, zu ihr zurückzukehren, aber sie wußte, daß dies nicht geschehen würde. Als das Taxi schließlich kam, umarmte sie beide und wünschte ihnen eine gute Reise. Sie küßte Abernathy auf die Wange und sagte ihm, daß er ihr bester Freund sei, auch wenn er aus einer anderen Welt käme, und daß sie immer auf ihn warten würde, weil sie wisse, daß er eines Tages zurückkommen würde. Abernathy versprach, es zu versuchen. Er sagte, er würde sie niemals vergessen. Sie weinte, obwohl sie gesagt hatte, sie würde nicht weinen, und Abernathy mußte sich sehr beherrschen, um nicht mit ihr zusammen zu weinen. Dann waren Questor und Abernathy fort. Sie sausten vier- und fünfspurige Autobahnen entlang, kurvten um andere Fahrzeuge herum und verfehlten alle möglichen Hindernisse und Barrieren nur um Haaresbreite. Sie überquerten eine Brücke, fuhren eine Rampe hinab, rasten mit geringfügig verminderter Geschwindigkeit über eine zweispurige Straße und hielten endlich auf einem Parkplatz neben einem braunen Backsteingebäude, das 294
durch ein Schild als das »King County Tierheim« ausgewiesen wurde. Sie gaben dem Taxifahrer Elizabeths Geld, setzten mit einem Gefühl äußerster Erleichterung ihre Füße wieder auf festen Grund und gingen hinein. Der Weg teilte sich, und an beiden Enden waren Eingangstüren. Sie wandten sich nach links und gelangten durch eine Tür zu einem Schreibtisch, wo sie ein gelangweilter Angestellter wieder hinaus und zu der anderen Tür schickte. Am zweiten Schreibtisch blickte eine junge Frau in Uniform erwartungsvoll auf, als sie eintraten. »Professor Adkins? Mr. Drozkin?« begrüßte sie die beiden. Questor erkannte die günstige Gelegenheit. Er nickte lächelnd. Die junge Frau sah erleichtert aus. »Haben Sie schon irgendeine Idee, was dieses Wesen ist?« fragte sie. »Niemand hier hat schon jemals zuvor etwas Ähnliches gesehen. Es macht uns noch wahnsinnig! Ich habe alles mögliche versucht – wir alle haben das –, aber wir schaffen es nicht einmal, in seine Nähe zu kommen. Nachdem die Polizei es hergebracht hat, habe ich seine Fesseln entfernt, und da hat es versucht, mir die Hand abzureißen. Und es frißt wirklich alles! Wissen Sie, um was es sich bei ihm handelt?« »Ich habe da eine sehr starke Vermutung«, sagte Questor Thews. »Könnten wir vie lleicht einen Blick auf es werfen?« »Natürlich; hier entlang bitte.« Sie war ihnen gern behilflich, wenn sie sich dadurch von der Bürde befreien konnte, die Poggwydd darstellte. Abernathy verstand sie nur zu gut. Sie führte sie um den Schalter herum zu einer schweren Metalltür, die sie aufschloß und öffnete. Von dort gingen sie einen Gang entlang zu einer Ansammlung von Käfigen. Am hinteren Ende des Raumes saß Poggwydd zusammengesunken an der Rückwand des größten Käfigs. Seine Kleidung war zerrissen, und sein Fell war mit Schmutz und Schweiß überzogen. Er war von Kopf bis Fuß mit Schnittwunden und Kratzern bedeckt, und die Zunge hing ihm heraus. Er sah selbst für einen G’heim-Gnom äußerst übel aus.
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Als er sie erblickte, sprang er auf die Beine und attackierte den Käfig mit einer erstaunlichen Wut. Er schüttelte, riß und biß wie wild an dem starken Draht und versuchte, zu ihnen zu gelangen. »Es ist noch schlimmer mit ihm geworden!« erklärte die junge Frau höchst erstaunt. »Ich werde ihm besser sofort ein Beruhigungsmittel geben!« »Nein, lassen Sie uns damit bitte noch warten«, unterbrach Questor sie rasch. »Ich möchte ihn erst einmal nur beobachten. Ich möchte nicht, daß er betäubt wird. Könnten Sie uns wohl ein paar Minuten allein mit ihm lassen... entschuldigen Sie, ich weiß Ihren Namen gar nicht.« »Beckendall. Lucy Beckendall.« Sie streckte ihre Hand aus, und er schüttelte sie herzlich, ohne sich die Mühe zu machen, sich seinerseits vorzustellen, da er bereits wieder vergessen hatte, wer er angeblich war. »Ein paar Minuten?« wiederholte er hilfreich. »Wir möchten einfach nur hier stehenbleiben und ihn in Ruhe betrachten.« Poggwydd raste das Gitter hoch und runter, bleckte all seine Zähne, schüttelte seine Faust und versuchte verzweifelt zu sprechen. »Natürlich«, stimmte sie ihm zu. »Ich warte dann draußen. Rufen Sie einfach, wenn Sie mich brauchen.« Sie warteten, bis sie wieder durch die schwere Tür getreten war und diese sicher verschlossen war. Questor warf Abernathy einen Blick zu und trat dann dicht an den Käfig heran. »Hör auf damit!« herrschte er Poggwydd an. »Benimm dich gefälligst, und hör mir zu! Willst du da raus oder nicht?« Poggwydd, der ohnehin erschöpft war, sprang wieder auf den Boden und funkelte ihn böse an. Es war sehr eng und antiseptisch in dem Raum. Abernathy stellte sich vor, er wäre selbst einen ganzen Tag lang hier eingeschlossen. Plötzlich verspürte er, ohne es zu wollen, Mitleid mit dem Gnom. »Jetzt hör zu!« wies Questor Poggwydd mit fester Stimme an. »Es besteht überhaupt kein Grund dafür, sich derart aufzuführen!
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Wir sind so schnell hergekommen, wie es ging, sobald wir erfahren hatten, wo du bist!« Poggwydd gestikulierte wild in Richtung seines Mundes. »Ach so, natürlich, du willst etwas sagen.« Questor runzelte ernst die Stirn. »Sei aber bloß leise, wenn du sprichst, so daß man dich draußen nicht hören kann, sonst werde ich dich wieder zum Schweigen bringen. Verstanden?« Der G’heim-Gnom nickte finster. Questor sprach leise ein paar Worte, machte eine Geste, und Poggwydds Stimme kehrte mit einem Keuchen zurück. »Ihr habt euch ja reichlich Zeit gelassen!« sagte er. »Ich hätte hier drin sterben können! Diese Leute sind Tiere!« Questor neigte bestätigend seinen Kopf. »Entschuldige bitte. Aber jetzt sind wir ja hier. Wir wollten dich abholen und mit zurück nach Landover nehmen.« Das Gesicht des Gnoms verzog sich zu einer Masse wütender Falten. »Aber vielleicht will ich gar nicht mitkommen! Vielleicht habe ich genug von dir, Questor Thews! Und von deinem Freund!« »Mach dich nicht lächerlich! Willst du etwa da drinnen bleiben?« »Nein, ich will nicht hier drinnen bleiben! Ich will raus! Aber sobald ich hier raus bin, kümmere ich mich wieder nur um mich selbst. Ich wette, daß ich besser und schneller zurückfinde als ihr!« »Du würdest doch nicht einmal den Weg aus einem offenen Feld heraus finden, geschweige denn aus einer fremden Welt! Du weißt ja nicht, wovon du sprichst!« »Laß ihn, Questor Thews«, knurrte Abernathy. »Wir haben schon genug Zeit mit ihm verschwendet!« Die drei begannen erregt miteinander zu streiten. Sie waren noch voll in Fahrt, als sich plötzlich abrupt die Metalltür öffnete und Lucy Beckendall hereintrat. Alle drei verstummten augenblicklich. Die Frau starrte von einem zum anderen. Sie war 297
sich fast sicher, daß sie die Kreatur im Käfig sprechen gehört hatte. »Es scheint hier ein kleines Mißverständnis zu geben«, verkündete sie. Sie wirkte verlegen und unsicher. »Ich habe zwei Herren am Empfangsschalter, die sich als Professor Adkins von der University of Washington und Mr. Drozkin vom Woodland Park vorgestellt haben. Sie haben mir ihre Pässe gezeigt. Können Sie sich ebenfalls ausweisen?« »Aber natürlich« erklärte Abernathy schnell und nickte lächelnd. Verflixt! Er kam rasch auf sie zu, während er in seinen Taschen herumwühlte und dabei fortwährend den Kopf schüttelte. Als er Lucy Beckendall an der Tür erreichte, legte er ihr fest die Hände auf die Schultern, schob sie wieder über die Schwelle und warf schnell die Tür ins Schloß. »Questor Thews!« schrie er, während er sich gegen die Tür stemmte. Von der anderen Seite wurde sofort heftiges Klopfen laut. »Hilf mir!« Der Zauberer schob die Ärmel hoch, hob seine dürren Arme und ließ eine blaue Kugel aus Magie in das Schloß schießen. Türschloß und Klinke schmolzen und wurden fest miteinander verschweißt. »So, da werden sie nicht durchkommen«, erklärte er zufrieden. »Aber wir können auch nicht mehr hinauskommen!« Abernathy ging zu ihm zurück. »Du solltest also besser wissen, was du jetzt tust!« Questor Thews wandte sich wieder Poggwydd zu. »Es gibt nur einen einzigen Weg hier heraus, Herr Poggwydd – indem du mit uns nach Landover kommst. Wenn wir dich hierlassen, werden sie dich innerhalb von Minuten wieder in diesen Käfig stecken. Wer wird dir dann helfen? Es tut mir wirklich leid wegen des ganzen Ärgers, aber es ist nicht unsere Schuld. Und wir haben keine Zeit, die Sache groß zu diskutieren.« Das Klopfen war in ein heftiges Hämmern von Metall auf Metall übergegangen und konzentrierte sich auf die Stelle, wo das Schloß zusammengeschmolzen war. Questors Mund wurde hart; sein knochiger Finger stieß auf den 298
Gnom zu. »Denk nur einmal daran, was sie alles mit dir anstellen werden! Experimente! Poggwydd? Landover und die Freiheit oder ein Käfig für den Rest deines Lebens?« Poggwydd leckte sich die schmutzigen Lippen. Seine Augen glänzten vor Angst. »Holt mich hier raus! Ich werde mit euch mitkommen! Ich werde keinen Ärger mehr machen! Ich verspreche es!« »Eine gute Entscheidung«, murmelte Questor. »Tritt von der Tür zurück.« Der G’heim-Gnom eilte in eine entfernte Ecke. Questor gestikulierte und verdrehte seine Hände, und die Tür sprang auf. »Raus!« knurrte der Zauberer. Poggwydd kroch demütig und zusammengekauert wie ein geprügelter Hund heraus. »Hör auf damit!« befahl Questor. »Es ist alles in Ordnung mit dir! Steh schon auf!« Poggwydd richtete sich mit bebender Unterlippe auf. »Ich will das kleine Mädchen nie wiedersehen! Und auch ihren Sumpfmoppel nicht! Niemals wieder!« Questor ignorierte ihn, er war bereits damit beschäftigt, mit dem Absatz seines Stiefels einen Kreis auf dem Betonboden zu ziehen. Als er damit fertig war, bedeutete er dem Gnom und Abernathy hineinzutreten. Sie standen in der Hitze und Stille dicht zusammen, während der Zauberer tief Atem holte, seine Augen schloß und sich zu konzentrieren begann. »Ich hoffe, du weißt, was du tust«, konnte sich Abernathy nicht enthalten, leise anzumerken. »Psst!« zischte der Zauberer. Draußen war das Hämmern durch Stimmengewirr ersetzt worden. Verstärkung, dachte Abernathy düster. Dann rammte etwas Schweres gegen die Tür. Sie versuchten, sie aufzubrechen! Der Rahmen und die Angeln erzitterten unter der Gewalt der Schläge. Mörtel platzte auf und rieselte zu Boden. Wer immer dort draußen war, würde schon sehr bald drinnen sein. Questor fing an, langsam, deutlich und bestimmt die Worte des Zaubers zu sprechen. Er hatte sich tief in sich selbst zurück299
gezogen, um sich zu konzentrieren. Er schien das Hämmern und Rufen überha upt nicht wahrzunehmen. Das war wohl auch ganz gut so, dachte Abernathy. Es würde ganz zu dem Zauberer passen, sich ablenken zu lassen und dadurch den Zauberspruch durcheinanderzubringen. Und was würde dann wohl aus ihm werden? Ein Radieschen? Er blickte zu Poggwydd. Der G’heimGnom hatte den Kopf gesenkt und die Augen fest geschlossen. Seine Arme hatte er um den Körper geschlungen. Na ja, natürlich, dachte Abernathy. Wir haben alle Angst. Questor fuhr mit seiner Litanei fort, Schweiß perlte auf seiner Stirn, und Abernathy konnte die Anspannung in seinem Gesicht sehen. Er verwandelt mich wieder zurück, dachte er. Und er haßt jeden Moment davon. Der plötzliche Drang, aufzuschreien und ihn davon abzuhalten, ihn etwas anderes tun zu lassen, wallte in Abernathy hoch. Aber er unterdrückte diesen Drang; er hatte seine Entscheidung getroffen und sein Schicksal akzeptiert. Er sah an sich hinunter, um sich jede Einzelheit von sich einzuprägen; er wollte sich später nie wieder fragen müssen, wie er als Mensch ausgesehen hatte. Aber es war schließlich gar nicht so schlimm gewesen, ein Hund zu sein. Nicht so schlimm. Licht brandete um sie herum hoch, erfüllte den Kreis vom Boden bis zur Decke und hüllte sie in seinen leuchtenden Zylinder ein. Questors Stimme hob sich, seine Worte knallten wie Laken im Wind. Poggwydd wimmerte. Abernathy dachte an Elizabeth. Er war froh, daß sie nicht hier war und dies mit ansah. Es war besser, daß sie sich so an ihn erinnerte, wie er ausgesehen hatte. Das Licht wurde heller; es blendete jetzt. Abernathy spürte, wie er dahinschmolz. Das Gefühl kam nicht unerwartet. Er hatte es schon einmal erlebt, vor über zwanzig Jahren. Er schloß die Augen und ließ es geschehen.
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DAS GIFT
Ben und Willow brauchten fast zwei volle Tage, bis sie den Tiefen Schlund erreichten. Sie brachen bei Sonnenaufgang des ersten Tages in Begleitung von Bunion und einer Eskorte aus zwei Dutzend königlichen Wachen auf und ritten nach Nordosten, auf den Rand des Grünlandes zu. Dort wandten sie sich direkt nach Norden und folgten den bewaldeten Hügeln immer weiter auf den Schlupfwinkel der Hexe zu. Die Sommerhitze dauerte noch immer an und legte sich klebrig und feucht auf ihre Haut; sie schimmerte wie Zellophan in der gleißenden Sonne. Es wehte nur selten eine erleichternde Brise, und es gab nur wenig Schatten. Sie kamen langsam, aber stetig voran; sie ruhten ihre Tiere und sich selbst häufig aus. Überall um sie herum war die Landschaft schwül und still. Sie schlugen ihr Lager an der Stelle auf, wo der Anhalt aus dem Hügelland austrat. Sie ließen sich auf einer niedrigen Klippe über dem Fluß nieder, den sie vor Sonnenuntergang überquert hatten, und sahen zu, wie das verblassende Licht purpurn rosa wurde. Im Osten flogen Reiher und Kraniche tief über das träge Wasser und fischten sich ihr Abendessen heraus. »Wir werden morgen gegen Mittag ankommen«, unterbrach Ben das lange Schweigen in dem Versuch, die ungewöhnlich stille Willow in ein Gespräch zu verwickeln. »Dann werden wir endlich Bescheid wissen.« Die Stimme der Sylphe war ein leises, resigniertes Seufzen. »Ich weiß es bereits. Sie ist bei Nightshade. Ich kann es fühlen. Sie wollte Mistaya von Anfang an für sich haben, und schließlich hat sie doch noch einen Weg gefunden, sie sich zu holen.« Ihre Schultern berührten sich, während sie beide in die herannahende Dunkelheit starrten, aber die Distanz zwischen ihnen war beunruhigend. Den ganzen Tag lang hatte sich Willow in sich zurückgezogen und allem verschlossen. Ben hatte geduldig darauf gewartet, daß sie mit der Angelegenheit ins reine kam, die 301
sie offensichtlich verstörte, und gehofft, daß es sich dabei nicht um ihn handelte. Er räusperte sich. »Sie sieht Mistaya wahrscheinlich als ihr Eigentum an – als Bezahlung für das, was man ihr ihrer Meinung nach für die Ereignisse im Wirrkästchen schuldet.« Willow schwieg einen Moment lang. »Wenn es nur eine Frage der Schuld oder eines Besitzanspruches wäre, hätte sie Mistaya einfach entführt. Sie hätte Lösegeld für sie verlangt oder sie getötet, um sich an uns zu rächen. Statt dessen hat sie aber diese komplizierten Ränke mit Rydall von Marnhull und seinen Monstern geschmiedet. Mistaya ist der Preis, der gewonnen oder verloren werden soll, aber irgendwie steckt noch mehr dahinter. Ich glaube, Nightshade hat noch etwas anderes mit ihr vor.« Ben sah sie an. »Was denn noch?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Vielleicht hat es mit Mistayas Magie zu tun. Sie wurde im Tiefen Schlund geboren, also verbindet sie möglicherweise von daher etwas. Oder vielleicht ist es auch etwas Schlimmeres. Vielleicht versucht sie, Mistayas Denken so zu verändern, daß es ihrem eigenen gleicht.« »Nein, das würde Mistaya niemals zulassen.« Ben überlief es am ganzen Körper kalt. »Sie ist zu stark dafür.« »Niemand ist stärker als Nightshade. Ihr Haß treibt sie an.« Ben wurde still. Bei dem Gedanken, daß Mistaya so werden könnte wie Nightshade, brandete eine Welle des Grauens in ihm hoch. Sein gesunder Menschenverstand versicherte ihm, daß das niemals geschehen würde. Doch seine Gefühle sagten ihm etwas anderes. Die beiden widersprüchlichen Haltungen kämpften in ihm miteinander, während er zusah, wie die Schatten immer länger wurden und den Fluß und die Hügel in Dunkelheit tauchten. »Ja, Nightshade würde das wirklich tun, wenn sie uns dadurch Leid zufügen kann, nicht wahr?« sagte er schließlich. Er holte tief Luft. »Aber wie erklärt das Rydalls Spiel?«
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»Rydall verschafft ihr die Zeit, Mistaya zu bearbeiten. Rydall beschäftigt uns, hält uns auf Abstand und ständig in Atem. Wir sollen die Wahrheit erst erkennen, wenn es schon zu spät ist.« Als er ihr in die Augen schaute, war ihr Blick leer und verloren. »Darüber denkst du schon den ganzen Tag nach, nicht wahr?« fragte er ruhig. »Darum warst du so weit weg von mir.« Sie blickte ihn an. Ihr Lächeln war sehr schwach. »Nein, Ben. Ich habe mich auf morgen vorbereitet. Es besteht immerhin die Möglichkeit, daß ich Mistaya verlieren werde. Oder dich. Oder sogar euch beide. Es ist nicht einfach, diese Möglichkeit zu akzeptieren, aber sie ist nun einmal vorhanden.« »Du wirst keinen von uns verlieren«, versprach er ihr, legte seinen Arm um sie und zog sie dicht zu sich heran. Gleichzeitig wurde ihm bewußt, daß er gerade ein Versprechen abgegeben hatte, das er möglicherweise nicht würde halten können. Sie schliefen in dieser Nacht schlecht. Die Vorahnungen dessen, was sie erwartete, machte sie beide ruhelos. Sie standen bei Sonnenaufgang auf, nahmen ein schnelles Frühstück zu sich und waren bereits auf dem Weg, bevor die Sonne noch ganz über den Horizont der östlichen Berge aufgestiegen war. Dieser Tag war ebenfalls dunstig und drückend, und sie bewegten sich durch ihn hindurch wie Schwimmer durch einen trägen Strom. Bunion war ihnen vorausgeeilt, um zu erkunden, ob irgendwo weitere Monster von Rydall lauerten. Zwei waren noch übrig, und es war gut möglich, daß Nightshade sie jetzt auf sie hetzen würde. Falls die Hexe wirklich Rydall war. Eine Spur von Zweifel war noch immer in Ben verblieben, auch wenn Willow fest davon überzeugt war, daß ihre Vermutung stimmte. Aber mittlerweile zweifelte Ben bereits an allem. Vor ihnen erstreckte sich das Land wie ein zerlumpter Teppich aus verdorrtem Gras und einem Flickwerk aus Waldesgrün. Die Grenze zwischen den Vorbergen und der Ebene verschwamm in der Hitze. Ben lauschte auf die Geräusche von Leder und Geschirr, die die Pferde durch ihr beständiges Voranschreiten verursachten. Was würde er tun, wenn sie den Tiefen Schlund 303
erreicht hatten? Würde er in die Senke hinabsteigen? Würde er den Paladin vorschicken? Wie würde er der Hexe gegenübertreten? Und wie würde er die Wahrheit über Mistaya erfahren? Er blickte zu Willow hinüber, die schweigend an seiner Seite ritt. Was er in ihrem Gesicht las, legte ihm nahe, daß er die Antworten auf seine Fragen besser schnell finden sollte. Nightshade wußte von ihrem Kommen, lange bevor sie in Sichtweite gelangten. Sie hatte schon fast von dem Augenblick an davon gewußt, als sie von Sterling Silver losgeritten waren, und seither hatte Nightshade die Gruppe sorgsam im Auge behalten. Die Konfrontation, die sie von Anfang an geplant hatte, würde jetzt endlich stattfinden. Irgendwie hatte Holiday es herausgefunden. Sie wußte zwar nicht, wie ihm das gelungen war, aber auf jeden Fall hatte er es getan. Er kam zum Tiefen Schlund, und das würde er nicht tun, wenn er nicht die Wahrheit herausgefunden hätte. Ihr war klar, daß die Konfrontation mit Holiday unvermeidlich war. Das Ardsheal hatte ebenso versagt wie all die anderen Kreaturen, die sie zuvor ausgesandt hatte. Gemäß Rydalls Forderung hatte sie noch zwei Monster übrig, die sie auf ihn hetzen konnte, aber die Zeit für dieses Spiel war abgelaufen, und ihr blieb nur noch eine einzige Chance. Sie hatte es genossen, mit Holiday zu spielen, zuzusehen, wie er sich abmühte. Es hatte ihr Spaß gemacht, ihn zu beobachten, wie er erschöpft gegen ein Monster nach dem anderen gekämpft hatte, um lange genug am Leben zu bleiben, daß er seine geliebte Tochter retten konnte. Es hatte ihr gefallen, ihn Stück für Stück niederzuringen und ihn körperlich und emotional durch Kräfte auszulaugen, die er nicht verstand. Wie hätte er auch ahnen können, daß es Mistayas Magie war, die gegen ihn arbeitete? Es war sehr befriedigend gewesen, aber die größte Befriedigung würde erst noch kommen. Die Vorfreude darauf hielt ihren Verdruß und ihre Frustration im Zaum, denn obgleich sie es nicht einmal vor sich selbst 304
zugegeben hätte, war sie verärgert darüber, daß Holiday noch immer lebte. Sie hatte schließlich viel Zeit und Mühe, ihre Magie und Macht auf die Angelegenheit verwendet. Das konnte nicht so einfach abgetan werden, auch nicht mit dem Argument, daß es nicht anders zu erwarten gewesen war. Nightshade haßte es, zu verlieren, sie haßte es, wenn ihr irgend etwas versagt wurde, selbst wenn sie es damit rechtfertigen konnte, daß alles notwendigerweise so hatte kommen müssen. Sie wollte Holiday tot sehen, und jeder Aufschub dieses Ereignisses, wie er sich auch immer rechtfertigen ließ, war nur schwer zu ertragen. Aber dennoch: Sie hatte ihren Plan geschmiedet und hielt ihn für narrensicher. Mistaya gehörte noch immer ihr, war ihr unwissentliches Werkzeug, und sie würde sie wie geplant einsetzen. Es war vielleicht sogar besser, daß es so bald geschah, bevor noch mehr Zeit verstrich. Denn Mistaya wurde immer widerspenstiger. Sie war immer unwilliger, sich mit jener Art von Magie zu beschäftigen, die Nightshade anordnete, und sie betrachtete die Rolle, in die sie gepreßt wurde, immer skeptischer. Es war schon schlimm genug, daß sie sich geweigert hatte, bei der Erschaffung eines weiteren Monsters zu helfen, nachdem der Roboter versagt hatte. Es war jedoch unerträglich, daß sie es gewagt hatte, die Senke zu verlassen. Trotzdem hatte sich Nightshade durchgesetzt. Ein weiteres Mal hatte sie einen Weg gefunden, Mistaya zu benutzen: Sie hatte die Magie des Mädchens mit ihrer eigenen verbunden, um das Ardsheal von den Toten zurückkehren zu lassen, damit es gegen Holiday ausgesandt werden konnte. Doch es hatte die Hexe große Gerissenheit und viele Ausflüchte gekostet, die Wahrheit vor Mistaya zu verbergen. Es würde schwierig werden, Mistaya noch einmal zu täuschen. Und doch würde sie sie wieder täuschen können, versprach sich Nightshade selbst. Ein letztes Mal. Am ersten Tag von Holidays Reise zum Tiefen Schlund ließ sie Mistaya in ihrem Unterricht tun, was ihr beliebte. Sie ließ sie üben, was sie wollte, ermutigte sie, lobte sie und machte es ihr angenehm. Es blieb ihr nur noch ein einziger Tag, hatte sie 305
Mistaya gesagt. Einer – und dann würde sie nach Hause zurückkehren. Nightshade streifte ruhelos durch die Senke. Sie war kaum in der Lage, sich auf etwas anderes zu konzentrieren als auf das Herannahen jenes Ereignisses, auf das sie zwei Jahre lang hingearbeitet hatte. Während sie in die Nebel lief, ließ sie den entscheidenden Augenblick wieder und wieder vor ihrem geistigen Auge ablaufen. Sie stellte sich vor, wie es sein würde und welche Freude sie dabei empfinden würde. Holiday tot. Holiday endlich vernichtet. Das war ihr einziges Lebensziel geworden, der entscheidende Grund, für den sie existierte. Es war für sie so notwendig geworden wie die Luft, die sie einatmete. In der Nacht flog sie in Gestalt einer Krähe zu der Stelle, wo der Möchtegern-König in Begleitung der Sylphe und seiner Wachen schlief. Am liebsten wäre sie auf seinem Gesicht gelandet und hätte seine Augen ausgehackt, so groß war ihr Haß. Aber sie hatte nicht vor, jetzt ein Risiko einzugehen, nachdem sie soviel Mühe aufgewendet hatte. Sie würde sich nicht im letzten Moment um das Ende betrügen, das sie für ihn vorbereitet hatte. Nachdem sie festgestellt hatte, wie weit er noch vom Tiefen Schlund entfernt war und wie lange sie brauchen würde, um sich vorzubereiten, flog sie zurück. Am folgenden Morgen wartete sie, bis Mistaya ihr Frühstück gegessen hatte, bevor sie sich ihr näherte. Mit honigsüßem Lächeln, hinter dem sich eine unbestimmte Bedrohlichkeit verbarg, trat sie auf das Mädchen zu und strich ihr leicht über die Wange. »Dein Vater kommt heute her«, verkündete sie mit ihrer unwiderstehlichsten Stimme. Mistaya blickte freudig auf. »Er wird wohl vermutlich gegen Mittag eintreffen. Freust du dich, ihn zu sehen?« »Ja«, antwortete das Mädchen. Die unverhüllte Vorfreude in ihrer Stimme versetzte der Hexe einen Stich.
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»Er wird dich zurück nach Sterling Silver bringen, zurück zu deinem Zuhause. Aber du wirst mich nicht vergessen, nicht wahr?« »Nein«, sagte das Mädchen sanft. »Wir haben viel gelernt, du und ich.« Nightshades Blick verlor sich in den Bäumen. Seit sie wieder in den Tiefen Schlund gekommen war, hatte sich Mistaya von ihr zurückgezogen. Sie hatte sich in einer Weise abgesondert, wie es nur Kinder vermögen, indem sie sie nur gerade so toleriert hatte, während sie unverkennbar darauf wartete, daß die verbleibende Zeit verstrich. Dies war eine bittere Erkenntnis für die Hexe. Sie hatte Besseres erwartet. »Es gibt noch immer viele Geheimnisse zu ergründen, Mistaya«, teilte sie ihr mit. Sie wollte ein Stück von dem zurückgewinnen, das sie verloren hatte. »Ich werde sie dich eines Tages lehren, wenn du das möchtest. Ich werde dir alles zeigen. Du brauchst mich nur zu fragen.« Sie wandte sich mit feuchten Augen wieder Mistaya zu. »Dies kann auch dein Zuhause sein. Vielleicht entscheidest du dich ja eines Tages dafür, hier bei mir zu leben. Vielleicht fühlst du eines Tages, daß du hierhergehörst. Wir sind uns sehr ähnlich. Das muß dir doch auch bewußt sein. Wir unterscheiden uns von den anderen. Wir sind Hexen, und wir werden immer die besten Freundinnen sein.« Das meinte sie sogar beinahe ernst. Es steckte jedenfalls genug Wahrheit hinter den Worten, daß es so gemeint sein konnte. Doch das Schicksal hatte schon vor langer Zeit entschieden, daß es nie so sein würde. Nightshades Haß auf Holiday, von dem sie geradezu besessen war und der ihre stärkste Triebfeder darstellte, würde für immer zwischen ihnen stehen. Mistaya senkte zögernd den Blick. »Ich werde dich besuchen. Wenn es gefahrlos möglich ist.« Nightshades Lächeln war kühl und starr. »Diese Zeit mag früher kommen, als du denkst. Ich habe dafür gesorgt, daß Rydall seine Forderung an deinen Vater zurücknimmt. Er wird hiersein, wenn dein Vater eintrifft. Sobald er aus Landover verschwunden ist, werden wir keine Vorsicht mehr walten lassen müssen. Es werden 307
keine Barrieren mehr zwischen uns nötig sein. Dein Vater und deine Mutter werden dem sicher beipflichten.« Mistaya runzelte die Stirn. »Rydall wird sich zurückziehen? Einfach so? Er hat vollständig aufgegeben?« »Ich habe ihn davon überzeugt, daß es so am besten für alle Beteiligten ist.« Nightshades Augen wurden schmal. »Mit Magie kann man alles erreichen. Das ist es, was ich auch versucht habe, dir beizubringen.« Mistaya betrachtete prüfend ihre Kleidung und klopfte sie ab, während sie sprach. »Ich habe eine Menge von dir gelernt«, sagte sie leise. »Du warst eine gute Schülerin«, lobte Nightshade sie. »Du hast großes Talent. Vergiß nicht, daß ich dir das als erste gesagt habe; daß ich dir offenbart habe, was kein anderer dir sagen wollte, und geholfen habe, zu ergründen, wer du wirklich bist. Niemand anders hätte das für dich getan. Nur ich.« Es folgte ein Moment unbehaglichen Schweigens. Nightshade konnte spüren, wie sich das Gleichgewicht zu ihren Gunsten verschob. »Ich habe etwas für dich«, sagte sie zu dem Mädchen. Mistayas Augen hoben sich. Nightshade griff in ihr Gewand und zog eine silberne Kette mit einem Anhänger heraus. Der Anhänger hatte die Form einer Rose; die Blütenblätter waren detailliert ziseliert, Stengel und Dornen kunstfertig aus dem Metall gearbeitet. Sie legte die Kette Mistaya um den Hals. »So«, sagte sie und trat zurück. »Dieses Geschenk soll dich an mich erinnern. Solange du es trägst, wirst du niemals die Zeit vergessen, die wir miteinander verbracht haben.« Mistaya hob den Anhänger von ihrer Brust und hielt ihn liebevoll in ihren Fingern. In ihren grünen Augen standen Überraschung und Dankbarkeit. Ihr kindliches Gesicht strahlte. »Er ist wunderschön, Nightshade. Vielen, vielen Dank. Ich werde ihn immer tragen, das verspreche ich dir.« Ein paar Stunden werden schon genügen, dachte die Hexe bei sich, während sie darauf achtete, ihr Lächeln beizubehalten. Lange genug, um deinen dich liebenden Vater ein letztes Mal zu 308
umarmen. Lange genug, daß die verborgene Magie des Anhängers dafür sor gen kann, daß die Dornen der Rose die Haut des Möchtegern-Königs durchbohren und ihr tödliches Gift in seinen Körper eindringen kann. Danach kannst du mit meinem Geschenk tun und lassen, was du willst. Nachdem es seine Bestimmung erfüllt hat. Nachdem du die deinige erfüllt hast. Questor Thews tauchte in einer Woge von Schwindelgefühlen, die ihn fast zu Boden gehen ließen, aus der Helligkeit seines Zaubers auf. Taumelnd versuchte er, sein Gleichgewicht wiederzuerlangen, während das Licht allmählich verblaßte. Als er das Gefühl hatte, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, wurde er ruhig, schüttelte den letzten Rest von Unbehagen ab und musterte rasch seine Umgebung. Zu seiner Erleichterung stellte er fest, daß er sich wieder in Landover befand. Ein paar verstreute Monde standen am mittäglichen Himmel; sie waren durch den dichten Vorhang aus Zweigen über ihm sichtbar. Blaubonniestengel ragten aus dem Gebüsch und zwischen den moosbedeckten Baumstämmen hervor. Vertraute Gerüche umgaben ihn. Das alles war nicht zu verkennen. Aber auch wenn er wieder in Landover war, so befand er sich doch nicht im Seenland. Dort sah es anders aus. Er war irgendwo anders, irgendwo weiter nördlich... »Beim hüpfenden Holunder, jetzt reicht es aber langsam!« knurrte ein verärgerter Poggwydd und packte Questor mit festem Griff am Ärmel. Der Zauberer zuckte bei der unerwarteten Berührung heftig zusammen. »Ich weiß nicht, was du getan hast, um uns hierher zurückzubringen, aber das nächste Mal gehe ich lieber zu Fuß! Das nächste Mal, habe ich gesagt? Ich beiße mir lieber auf die Zunge! Das nächste Mal? Schlag mich mit einem Knüppel, wenn es ein nächstes Mal geben sollte! Ha! Sehr unwahrscheinlich! Nicht für mich!« Er zog sein Gesicht so sehr zusammen, als wollte er seine Züge vollständig verschwinden lassen, dann ließ er Questor los und drehte sich mit einem verächtlichen Zischen weg. »Schönen Tag 309
noch, mein Herr! Schönen Tag, schönen Tag!« Plötzlich erstarrte er mitten in der Bewegung. »Gütiger Himmel und Gnade uns allen, was ist denn mit dem da geschehen?« Er blickte Abernathy an. Landovers Schreiber saß neben einem alten Hickorybaum auf dem Boden und starrte an sich hinunter. Er war wieder ein Hund, ein flauschiger Wheaten Terrier, der ungekämmt und zottelig unter seiner Kle idung war. Überall quoll Fell hervor, und seine Brille hing schief auf der langen Nase. Seine feuchten braunen Augen schienen sowohl erstaunt als auch traurig zu blicken, während er seine menschlichen Finger betrachtete, die alles waren, was von seinem alten Körper übriggeblieben war. Dann zuckte er die Achseln, blickte zu Poggwydd auf und seufzte. »Was ist los mit dir, Poggwydd? Hast du etwa noch nie einen sprechenden Hund gesehen?« Poggwydds faltiges, pelziges Gesicht durchlief eine Reihe bizarrer Verrenkungen, während er in der Bemühung, etwas zu sagen, spuckte und grunzte. »Nun, ich... Na ja, natürlich habe ich... Humpf! Murmel, murmel! Nun, früher warst du jedenfalls kein Hund!« Abernathy stand langsam auf und bürstete sich ab. »Wieviel früher meinst du!« »Noch vor ganz kurzem! Direkt, bevor wir von der Magie des Zauberers verschluckt worden sind! Du warst ein Mann, verflixt noch eins!« Abernathys Lächeln war kläglich, selbst für einen Hund. »Das war nur eine Verkleidung. Dies hier bin ich wirklich. Sieht man das nicht?« Wieder seufzte er, und seine Augen richteten sich fest auf Questor. »Nun, du hattest recht, Questor Thews. Ich gratuliere.« Questor nickte leicht als Erwiderung. »Ja, es scheint so, vielen Dank. Ich muß noch einmal betonen, daß ich wünschte, es wäre anders.« »Wir wünschen uns alle, daß die Dinge anders wären, aber dies ist die wirkliche Welt, nicht wahr? Oder jedenfalls so wirklich, 310
wie sie für uns sein kann.« Abernathy blickte sich verwundert um. »Wo sind wir eigentlich?« »Das wollte ich gerade unseren Freund hier fragen«, erwiderte der Zauberer und blickte Poggwydd an. Der G’heim-Gnom schien von der Frage überrascht. Er sah sich kurz nach links und rechts um, als wolle er einen Verdacht bestätigen, dann räusperte er sich wichtig. »Wir sind wieder genau da, wo alles angefangen hat, jawohl, da sind wir. Nun, zumindest, wo es für mich angefangen hat. Hier war es, wo das kleine Mädchen mich gefunden hat, als ich mich um meine eigenen Angelegenheiten gekümmert habe und niemandem in die Quere...« Er brach schnell ab, als er sah, wie sich Questors Miene verfinsterte. »Ahem! Was ihr vermutlich wissen wollt, ist, daß wir uns nur etwa eine Meile vom Tiefen Schlund entfernt befinden.« »Das verstehe ich nicht«, behauptete Abernathy und gesellte sich zu den beiden dazu. »Was tun wir dann hier? Warum sind wir nicht wieder im Seenland?« Questor Thews rieb sich heftig das Kinn und zwirbelte seinen Schnurrbart zu Rattenschwänzen, während er darüber nachdachte. »Wir sind hier, alter Freund, weil Mistaya hier ist – unten im Tiefen Schlund bei der Hexe. Hier hat Poggwydd sie das letzte Mal gesehen. Nightshade hat sie wieder mit zurück in den Tiefen Schlund genommen, und es gibt keinen Grund anzunehmen, daß sie nicht immer noch dort ist. Ich glaube, daß wir hierhergebracht worden sind, um sie zu retten.« »Ich verstehe kein Wort von dem Ganzen!« erklärte der G’heimGnom abrupt. »Aber das ist in Ordnung, völlig in Ordnung, weil ich auch überhaupt nichts verstehen will! Ich will nur eins: mich wieder auf den Weg machen. Also lebt wohl, ihr beiden, und viel Glück!« Erneut ging er los, diesmal in Richtung Osten, weg von dem Schlupfwinkel der Hexe. »Willst du denn gar nicht wissen, was mit Nightshade passiert?« rief Questor Thews hinter ihm her.
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»Ich will überhaupt nichts von dieser ganzen Sache wissen!« Der Gnom wurde nicht langsamer. »Ich weiß schon mehr als genug davon! Viel zuviel!« Er schlurfte aufgebracht über den Boden und wirbelte dabei mit seinen Füßen reichlich Staub auf. »Tut mir bitte einen Gefallen: Wenn ihr das kleine Mädchen findet, richtet ihr bitte meine besten Empfehlungen aus und sagt ihr, daß ich sie nie wiedersehen will. Es ist nichts Persönliches, aber so ist es nun einmal.« Er hob drohend seine Stimme. »Ich hoffe, sie ist die Tochter des Königs! Ich hoffe, sie wird einmal Königin! Ich hoffe, wenn sie jemals wieder einen Spaziergang macht, so tut sie das woanders! Einen schönen Tag noch!« Er verschwand zwischen den Bäumen und war fort, eine gebückte, zerlumpte kleine Gestalt, die beim Gehen wild gestikulierte und Unverständliches vor sich hin murmelte. Questor ließ ihn ziehen und wandte sich statt dessen Abernathy zu. »Du weißt, was wir zu tun haben, nicht wahr?« Abernathy blickte ihn an, als wäre Questor ein kleines Kind. »Natürlich. Wahrscheinlich sogar besser als du.« »Dann sollten wir uns besser beeilen. Ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache.« Und das hatte er wirklich. Es war schwer zu beschreiben, aber unmöglich abzuschütteln. Das Gefühl hatte ihn die ganze Zeit in der alten Welt des Königs begleitet: ein Drang zur Eile, dazu, so schnell wie möglich nach Landover zurückzukehren, damit sie verhindern konnten, was immer Nightshade vorhatte. Jetzt war dieses Gefühl noch viel stärker geworden, es wuchs zur Gewißheit, daß sich die Falle um Holiday und seine Familie zu schließen begann und daß nur sie beide dies verhindern konnten. Es war vielleicht ein wenig überheblich und überdramatisierend, dafür die Verantwortlichkeit zu übernehmen, aber Questor Thews brauchte den Glauben daran, daß es einen Grund für Abernathys Opfer gab und daß damit einem größeren Ziel gedient wurde. Seine Magie mochte Abernathy dessen menschliche Gestalt gekostet haben, aber sie hatte sie auch zurück nach Landover gebracht, dorthin, wo Mistaya zuletzt gesehen worden war und wo 312
sie wahrscheinlich noch immer gefangengehalten wurde, und das mußte doch auch etwas zählen. Nightshade hatte ihnen gesagt, daß Rydall ihre Kreatur war, daß sie eine Ereigniskette in Gang gesetzt hatte, die Holiday zerschmettern würde, und daß Mistaya das Instrument für seine Vernichtung sein würde. Auf irgendeine Art benutzte die Hexe das kleine Mädchen dazu, an den König heranzukommen. Wenn es ihnen also gelänge, Mistaya noch rechtzeitig zu erreichen, konnten sie vielleicht das Schlimmste verhüten. Sie eilten in der mittäglichen Hitze durch den Wald. Stechmücken umschwärmten sie, die durch ihren Schweiß angezogen und durch ihr Vorbeilaufen aufgestört worden waren. In Gedanken versunken, wedelte Questor die Mücken beiseite. Ein Pferd hätte jetzt einen willkommenen Anblick geboten, aber Abernathy mochte keine Pferde, darum war es vielleicht ganz gut, daß sie zu Fuß unterwegs waren. Sie überquerten einen Fluß und liefen durch ein Tal, das von Wildblumen blutrot und ge lb gesprenkelt war. Finken schossen aus ihren Verstecken und segelten in den blauen Himmel davon. Abernathy atmete schwer, dennoch verringerte Questor sein Tempo um keinen Deut. Er hatte selbst Schmerzen, aber er trieb seine alten Knochen nur um so härter an und ignorierte seine schmerzenden Gelenke. Er zwang sich dazu, noch schneller zu gehen. Er raffte sein Gewand, kletterte Abhänge hinunter, eilte auf Trampelpfaden durch das hohe Gras und an dornigen Sträuchern entlang. »Langsamer, Questor Thews!« hörte er Abernathy keuchen, denn der Schreiber fiel jetzt immer weiter hinter ihm zurück. Aber der Zauberer dachte gar nicht daran, seinen Schritt zu verlangsamen. Vor ihm waren bereits der Nebel und die Düsternis des Tiefen Schlundes zu sehen.
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DAS HOLIDAY-HERZ
Mistaya saß mit Nightshade auf einer grasbedeckten kleinen Erhebung am Südende des Tiefen Schlundes, als ihr Vater und ihre Mutter in Sicht kamen. Bunion ging ihnen voran. Er tauchte aus der Mittagshitze auf wie eine Spinne, die aus ihrem Loch krabbelt. Mißtrauisch duckte er sich gegen die von der Sonne ausgedörrte Erde. Königliche Wachen, die mit Lanzen und Schwertern bewaffnet waren, flankierten ihre Eltern und folgten ihnen; das Metall blitzte in der Helligkeit. Die Gruppe wurde langsamer, als sie sie sahen. Sie zügelten ihre Pferde und hielten an. Mistaya konnte die Anspannung erkennen, die in das Gesicht ihres Vaters eingegraben war. Sie sah, wie seine Augen über den leeren Grasstreifen schweiften, der ihn von seiner Tochter trennte, und sich schließlich auf Rydall richteten. Der König von Marnhull saß ein Stück entfernt zu ihrer Rechten auf seinem schwarzen Schlachtroß. Er war unter seiner schwarzen Rüstung und seinem Umhang verborgen. Sein Visier war geschlossen. Bewegungslos verharrte er so im Schatten einer ausladenden Kastanie. Er hatte bereits dort gewartet, als Nightshade und Mistaya zum Rand der Senke hinaufgestiegen waren. Er hatte sie mit keiner Geste gegrüßt. Er hatte sich die ganze Zeit über nicht bewegt und kein einziges Wort gesagt. Er rührte sich auch jetzt nicht. Er war so reglos wie ein Stein und blickte direkt in die Richtung des Königs von Landover. Nightshade erhob sich, und Mistaya stand mit ihr auf. Sofort sprang Ben Holidays Blick wieder zu seiner Tochter. Mistaya wollte am liebsten zu ihm laufen, ihn rufen oder irgend etwas sagen, aber Nightshade hatte es ihr verboten. Laß mich zuerst reden, hatte sie gesagt. Die Verhandlungen zwischen deinem Vater und Rydall befinden sich in einem kritischen Stadium. Wir müssen vorsichtig vorgehen, um sie nicht zu gefährden. Mistaya verstand das. Sie wollte nichts tun, was ihrem Vater schaden konnte. Sie wollte nur eins: nach Hause. Sie hatte daran gedacht, 314
seit sie nach der Begegnung mit Poggwydd wieder in den Tiefen Schlund zurückgekehrt war. Sie hatte sich seither immer stärker danach gesehnt, aufgeregt von der Aussicht, ihre Eltern nach so vielen Wochen wiederzusehen. Zugleich fürchtete sie sich aber auch ein wenig davor. Jetzt fühlte sie eine Woge von Gefühlen in ihrer Brust aufwalle n, die ihr die Kehle zuschnürten und ihr die Tränen in die Augen trieben. Sie mußte feststellen, daß sie gar nicht gemerkt hatte, wie sehr sie sie vermißt hatte. Sie hatte nicht gewußt, wie sehr sie sich danach sehnte, nach Hause zurückzukehren. »Hoheit!« rief Nightshade plötzlich. »Deine Tochter ist hier bei mir, gesund und munter. Sie ist bereit, nach Hause zurückzukehren. Ich habe von König Rydall das Versprechen erhalten, daß dem nichts mehr im Wege steht. Er hat eingewilligt, sich aus Landover zurückzuziehen. Es wird keine weiteren Drohungen und keine Überfälle mehr geben. Du mußt nur versprechen, keine Vergeltung an ihm zu üben.« Mistaya wartete gespannt. Es folgte ein langes Schweigen, als wüßte ihr Vater nicht, wie er darauf reagieren sollte, so als wäre das Gehörte vollkommen unerwartet für ihn. Sie sah, wie er ihre Mutter anblickte und wie ihre Mutter daraufhin leise etwas zu ihm sagte. Bunion bewegte sich ruhelos zwischen ihnen hin und her. Seine Zähne schimmerten, und seine Augen waren unablässig auf die Hexe gerichtet. »Was ist mit Questor Thews und Abernathy?« rief Ben Holiday zurück. »Auch sie werden zurückkehren!« anwortete Nightshade. Abernathy und Questor? Mistaya warf der Hexe einen fragenden Blick zu. Wovon sprach sie? War mit dem Zauberer und dem Schreiber etwas geschehen? Waren sie etwa nicht in Sicherheit in Sterling Silver? Hatte die Hexe ihr das nicht versichert? Nightshade lächelte sie an. Ihre Miene war verschlossen, ihr Gesicht unter der Kapuze ihrer schwarzen Robe fast verborgen. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, sagte ihr Lächeln. Du brauchst dich nicht zu beunruhigen. 315
»Wenn es allen gutgeht, werde ich keine Vergeltung suchen«, hörte sie ihren Vater sagen, aber ihr entging nicht der besorgte Ton in seiner Stimme. Sie schaute wieder über den Landstrich, der sie voneinander trennte und der bis zu der schattigen Senke des Schlundes reichte. Ihr Vater schien sehr weit weg zu sein. Nightshade legte ihr eine schmale, weiße Hand auf die Schulter. »Du mußt jetzt zu deinem Vater gehen«, wies sie das Mädchen an. »Wenn ich es dir sage, gehst du zu ihm hinüber. Aber weiche auf keinen Fall von deinem Weg ab. Gehe direkt zu ihm. Verstehst du mich?« Mistaya nickte. Sie wurde sich plötzlich bewußt, daß hier irgend etwas vorging, was sie nicht verstand, etwas Verborgenes, das möglicherweise gefährlich war. Sie konnte es aus Nightshades Worten heraushören, auf die gleiche Art, wie sie soviel von der Hexe wahrnahm. Sie zögerte und fragte sich, was sie tun sollte. Doch sie wußte, daß es nichts gab, was sie tun konnte. Nichts, außer der Hexe zuzustimmen. Schweigend nickte sie. »Hoheit!« rief Nightshade wieder. »Deine Tochter kommt jetzt zu dir! Steig ab und geh ihr entgegen. Aber komm allein! Das ist die Vereinbarung, die ich getroffen habe.« Erneut sah Mistaya, wie ihr Vater zögerte und darüber nachdachte. Er war sich unsicher, was er tun sollte, das konnte sie erkennen. Irgend etwas beunruhigte ihn; er schien irgend etwas nicht ganz zu verstehen. Sie überlegte, ob sie etwas sage n sollte, was ihn beruhigen würde, aber dann wurde ihr bewußt, daß sie sich selbst nicht ganz sicher war und ebenfalls eine gewisse Unruhe verspürte. Ihre grünen Augen schweiften zu Rydall hinüber. Der König von Marnhull hatte sich nicht bewegt. Sie schaute schnell zu Nightshade. Die Hexe stand still und ausdruckslos da. Ihr Vater stieg langsam ab und begann, auf sie zuzugehen. Bunion schickte sich an, ihn zu begleiten, aber ihr Vater sandte den Kobold mit einer Handbewegung zurück. »Geh jetzt!« wisperte ihr Nightshade schnell ins Ohr. »Und umarme ihn auch von mir!« 316
Mistaya ging widerstrebend los, während sie noch immer über ihre Verwirrung nachgrübelte und sich fragte, was hier nicht stimmte. Sie schlurfte mit kleinen Schritten durch das trockene Gras und beobachtete, wie sich ihr Vater näherte, wie er beständig näher kam. Sie warf einen Blick zu Nightshade zurück, aber die Hexe reagierte nicht auf sie; sie hob sich nur als große, dunkle Gestalt vor dem feuchten Nebel der Senke ab. Mistaya strich sic h das Haar zurück, das ihr über das Gesicht gefallen war, und ihr Blick wanderte unruhig nach links und rechts. Ihr Vater kam wachsam und festen Schrittes auf sie zu. Sie sah, wie sich ein sorgenvolles, unsicheres Lächeln auf seinen Lippen bildete. In seinen Augen spiegelte sich Erleichterung, als sei sie verschwunden gewesen und als hätte er nicht erwartet, sie jemals wiederzusehen. Verwirrung stieg in ihr auf. Warum sah er sie so an? Plötzlich verspürte sie Lust, das zu tun, was Nightshade ihr gesagt hatte; sie wollte ihren Vater so fest umarmen, wie sie nur konnte, ihn ganz eng an sich drücken, um die Stärke seines Körpers zu spüren. Sie wollte, daß er sie in die Arme nahm und ihr Schutz und Mut gab. Sie mußte ihm unbedingt sagen, wie sehr sie ihn vermißt hatte. Sie sehnte sich nach seiner Liebe. Der Tag war still und heiß. Die Brise, die an ihrem Gesicht vorbeistrich, war so trocken wie die Flügel von Fliegen. »Vater«, hauchte sie leise und eilte auf ihn zu. Auf einmal zerriß ein verzweifelter Ruf die Stille. »Hoheit! Mistaya! Wartet!« Questor Thews stürzte auf der linken Seite zwischen den Bäumen hervor, stolperte aus dem Schatten ins Sonnenlicht. Er war völlig aufgelöst, ungekämmt, und seine Kleider flogen in langen Fetzen hinter ihm her. Einige der bunten Schärpen hatten sich losgerissen, und Säume waren aufgeplatzt. So rannte er mit fuchtelnden Armen auf sie zu. Sein weißes Haar und sein Bart flatterten im Wind, und seine Augen blickten so wild und verängstigt wie ein Tier, das von Jägern verfolgt wird. Mistaya und ihr Vater wirbelten überrascht zu ihm herum. Sie sahen, wie die zerlumpte Gestalt auf sie zuschoß. Hinter ihm erschien, mit 317
mehr als dreißig Meter Abstand, Abernathy zwischen den Bäumen. Er schnaufte, keuchte und versuchte vergebens, aufzuholen. Dann vernahm Mistaya Nightshades wütendes Fauchen. Die Hexe hatte sich zusammengekauert wie eine Katze, die zum Sprung ansetzt; ihre Arme hatte sie von sich gestreckt, als wollte sie etwas Fürchterliches abwehren. Ihre Augen, die rot wie Blut waren, hatten sich fest in Mistayas gebohrt. »Geh zu deinem Vater!« kreischte sie voller Wut. Mistaya setzte sich daraufhin wieder in Bewegung, ohne jedoch so recht wahrzunehmen, was sie tat. Aber Questor Thews rannte immer noch auf sie zu. Mit wild kreisenden Armen und Beinen kam er durch die Hitze und den Staub gelaufen. Ein zweites Mal hielt Mistaya wie versteinert an. »Mistaya, tu’s nicht!« rief Questor Thews. »Es ist eine Falle!« Plötzlich versuchte jeder, sie zu erreichen: Ihre Mutter stürmte auf ihrem Pferd heran, dicht gefolgt von den königlichen Wachen und schnell überholt von Bunion; Nightshade hob die Arme und breitete ihre dunkle Robe aus wie ein großer Raubvogel; Rydall kämpfte darum, sein sich aufbäumendes, panisches, schwarzes Pferd unter Kontrolle zu bekommen; Abernathy stolperte und rollte Hals über Kopf durch das vertrocknete Gras auf sie zu; und ihr Vater begann plötzlich, ebenfalls zu rennen. Doch es war Questor Thews, der sie als erster erreichte. Er stürzte über die kurze Distanz hinweg, die sie noch trennte, zu ihr, iß sie an sich, als wäre sie eine Stoffpuppe, und preßte sie an seine Brust. »Mistaya«, flüsterte er erleichtert. Mit einem Mal flammte ein bösartiges, grünes Licht zwischen ihnen auf, das wie zerspringendes Glas von dem Anhänger aus in alle Richtungen sprühte. Questor Thews ächzte und wurde plötzlich bleich. Sein Griff um Mistaya wurde schwächer, und er fiel auf die Knie, kaum noch in der Lage, sich an sie zu klammern. »Questor!« schrie sie, von Grauen erfüllt, auf.
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Sie wich zurück, als sie erkannte, woher das Licht kam, und sah schnell an sich hinunter. Die Dornen am Stiel der Rose waren gewachsen und ragten wie Stachel aus der Brust des alten Mannes heraus. Blut strömte aus den Wunden und durchnäßte seine zerlumpte Kleidung. Questor zitterte, und seine Finger hatten sich zu Krallen verkrümmt. Er schnappte röchelnd nach Luft. Mistaya zog die Dornen aus seinem Körper, riß den Anhänger ab und warf ihn weg. Questors Augen lagen fest auf ihr, ohne sie zu sehen, dann sackte er zu Boden und blieb reglos liegen. »Questor!« keuchte Mistaya. »Questor, steh auf! Bitte!« Doch Questor Thews rührte sich nicht. Er hatte aufgehört zu atmen. Mistaya sprang auf die Füße. Sie schluchzte vor Wut und Verzweiflung. »Nightshade!« schrie sie. »Tu etwas!« Ihr Vater lief eilig auf sie zu und griff nach ihr, aber sie schob ihn fort. Sie stürzte zu der Stelle, wo der Anhänger lag, sah auf ihn hinunter und blinzelte dann über das verdorrte Gras hinweg zu der Hexe. »Nightshade!« Die Hexe stand erstarrt an ihrem Platz. Ihr bleiches, glattes Gesicht war ausdruckslos, aber ihre Augen waren von einer schrecklichen Wut erfüllt. Sie senkte ihre Arme und warf die Magie fort, die sie gesammelt hatte. »Du hast mir diesen Anhänger gegeben!« schrie Mistaya. »Du hast das angerichtet!« Nightshades Hand wedelte durch die Luft. »Dafür bin ich nicht verantwortlich! Questor Thews hätte sich nicht einmischen sollen! Er war ein Narr!« »Ich habe dir vertraut!« schrie Mistaya. Jetzt war auch ihre Mutter da, stieg ab und eilte herbei, während die königlichen Wachen hinter ihnen ihre Pferde zugehen und Bunion Nightshade warnend anzischte. »Mistaya, schau mich an«, befahl Willow. Doch Mistaya wehrte sie mit einer Handbewegung ab, hob den Anhänger an seiner Kette auf und streckte ihn anklagend
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Nightshade entgegen. »Das hattest du für meinen Vater bestimmt, nicht wahr? Das sollte ihm zustoßen!« »Ich wollte nicht... « »Lüg mich nicht mehr an!« »Ja!« Die Hexe schrie es heraus. »Ja, ich hatte es für de inen Vater bestimmt! Ihn sollte das Gift töten, nicht diesen alten Narren!« Mistaya zitterte vor Wut. Ihr kleiner Körper war so steif wie der hölzerne Schaft eines Speers, vollkommen gerade und bereit, loszufliegen. Ihre Hände hatte sie zu Fäusten geballt, und über ihr Gesicht strömten Tränen. »Ich hasse dich!« schrie sie. Sie warf den Anhänger zu Boden. Ihre kleinen Hände fuhren hoch, und Feuer zuckte aus ihnen hervor, zerstörte das auf der Erde liegende Schmuckstück und verwandelte das Metall zu Staub. Ben und Willow wichen, ohne es zu wollen, zurück, so sehr erschreckte sie Mistayas Macht. Endlich kam auch Abernathy schwer keuchend und mit heraushängender Zunge an. Er beugte sich rasch über Questor Thews und legte sein Hundeohr auf die Brust des alten Mannes. »Das Herz schlägt nicht mehr!« flüsterte er. Es war nicht zu erkennen, ob Mistaya ihn gehört hatte. Sie schritt jetzt entschlossen und mit eisernem Willen auf Nightshade zu. »Du wirst ihm helfen, oder sonst passiert was!« zischte sie. »Hast du mich verstanden, Nightshade?« Die Hexe trat einen Schritt zurück, dann richtete sie sich gerade auf. »Wage es ja nicht, mir zu drohen, du kleine Närrin! Ich bin noch immer deine Herrin und dir überlegen!« »Du warst nie etwas anderes als eine hinterhältige Lügnerin!« fuhr das kleine Mädchen sie an. »Du hast mich betrogen! Du hast mich benutzt! Wofür hast du mich sonst noch mißbraucht? Was ist mit diesen Monstern, die ich dir zu erschaffen geholfen habe, Nightshade? Der Erdriese, der Metallmann und die anderen? Wozu hast du sie verwendet?« »Sie wurden ausgesandt, um deinen Vater zu töten«, hörte sie ihre Mutter hinter ihr sagen. »Frag sie, ob sie es leugnet!« 320
»Rydall!« Nightshade wirbelte zu dem König von Marnhull herum. »Du wolltest deine Chance gege n Holiday! Nun, hier hast du sie! Töte ihn!« Rydall kämpfte noch immer mit seinem Streitroß. Er war kaum in der Lage, das verängstigte Tier unter Kontrolle zu bekommen. Bei Nightshades Worten drehte er sich zu ihr um, und von seinem schwarz gepanzerten Körper ging eine Aura der Bedrohlichkeit aus. Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde er statt dessen sie angreifen. Dann griff er nach seinem Schwert, stieß einen Kampfschrei aus, spornte sein Roß an und galoppierte auf Holiday zu. Doch Bunion war schneller. Der Kobold stürzte mit gefletschten Zähnen auf den König von Marnhull zu und sprang vor die Augen des Pferdes. Das Tier scheute, bäumte sich auf, bockte und warf Rydall aus dem Sattel. Der rechte Fuß des Mannes verfing sich im Steigbügel, als er fiel. Wegen der Last seiner Rüstung konnte er sich nicht befreien. Er stürzte zu Boden und geriet unter das sich aufbäumende, stampfende Pferd. Die eisenbeschlagenen Hufe hämmerten auf ihn nieder. Das Pferd ging durch und schleifte seinen hilflosen Reiter über die Ebene. Teile der Rüstung lösten sich, und Blut befleckte den Boden. Einige der Wachen trieben ihre Pferde an, um das erschreckte Tier einzufangen, aber als sie es endlich zügeln konnten, war Rydall von Marnhull nur noch eine leblose Hülle. Mista ya lief noch immer auf Nightshade zu. »Nein!« schrie die sichtlich erschreckte Hexe. »Wir sind jetzt quitt! Ein Leben gegen ein anderes Leben! Rydall kehrt dahin zurück, wo er hergekommen ist, und du und ich tun das gleiche, kleines Mädchen!« Doch Mistaya wurde nicht langsamer. Auch ihr Vater und ihre Mutter näherten sich jetzt mit grimmigen Gesichtern der Hexe. Bunion glitt wie Quecksilber durch das braune Gras. Die königlichen Wachen schwärmten ebenfalls aus. Ben Holiday hatte das Medaillon herausgeholt und hielt es ins Licht. Ein Schatten der Furcht überzog Nightshades Gesicht. Sie wirbelte mit einem wilden Ausdruck im Gesicht herum, um sich der Bedrohung zu stellen, und von ihren Fingern sprühten kleine Flammen grünen 321
Feuers weg. Sofort schrie Mistaya auf und deutete auf sie. Magie schoß aus ihren kleinen Fingern und schleuderte Nightshade zurück. Die Hexe keuchte entsetzt und taumelte zurück. Dann richtete sie sich wütend wieder auf. »Nein! Du kannst mir nichts anhaben! Du hast kein Recht dazu!« Sie wirbelte zu Mistaya herum. Ihr bleiches Gesicht war verzerrt und häßlich. Ihre Selbstbeherrschung war dahin. »Ich werde dich dahin schicken, wo du hingehörst!« Sie hob ihre Hände, und bösartige, grüne Flammen züngelten aus ihren Fingerspitzen heraus. Mistaya verschränkte ihre Arme schützend vor sich. Auf einmal war Haltwhistle bei ihnen. Er materialisierte sich am Rand des Tiefen Schlundes und stürmte herbei. Von seinen Nackenhaaren stieg Frost auf, der sich in Fäden aus Dampf verwandelte. Nightshade nahm ihn einen Augenblick zu spät wahr. Als sie sich zu ihm umwandte, rannte der Sumpfmoppel bereits in sie hinein und riß sie von den Beinen. Wild um sich schlagend, fiel sie zu Boden. Dadurch geriet ihre Beschwörung außer Kontrolle, und ihre Magie fiel wie Regen auf sie nieder. Haltwhistles Magie vereinigte sich mit der ihrigen; Frost traf auf Feuer, Eis auf Dampf. Nightshade wurde darin eingehüllt. Die seltsame Mischung umgab sie und verschlang sie in der Dauer eines Augenzwinkerns. Sie hatte gerade noch Zeit für einen einzigen, schnellen Schrei, dann war sie fort. Einen Moment lang wagte sich niemand zu bewegen. Alle standen wie angewurzelt an ihrem Platz und erwarteten halb, daß die Hexe vom Tiefen Schlund wieder auftauchen würde. Aber sie tat es nicht. Haltwhistle stellte sich zu Mistaya, die wie versteinert vor dem rauchenden Fleck stand, an dem sich die Hexe eben noch befunden hatte. Berühre niemals einen Sumpfmoppel, hatte die Erdmutter gesagt. Sei davor gewarnt. Haltwhistle sah das kleine Mädchen mit seelenvollen Augen an und wedelte langsam mit dem Schweif. Mistaya brach in Tränen aus. 322
Ihr Vater kam herbei, kniete sich hin und legte die Hände auf ihre schmalen Schultern. Er drehte sie zu sich herum und blickte ihr in die Augen. »Es ist alles in Ordnung, Mistaya«, sagte er. »Es ist alles in Ordnung.« Und dann zog er sie an sich und drückte sie fest. Dann nahm Willow sie in die Arme, hielt sie ebenfalls fest umschlungen, wiegte sie in den Armen und sagte ihr, daß jetzt alles vorbei sei und sie in Sicherheit wäre. Währenddessen erhob sich Ben und ging zu Rydall, der, umringt von königlichen Wachen, als armseliger Haufen auf dem ausgedörrten Boden lag. Ben ließ sich neben dem gefallenen König auf ein Knie herab und öffnete das schwarze Visier, um auf das Gesicht zu blicken, das dahinter verborgen war. Blutgefüllte Augen blinzelten ihn unter einem Schopf roter Haare an. Ben Holiday schüttelte niedergedrückt den Kopf. »Kallendbor«, flüsterte er. Der Fürst des Grünlandes hustete schwach. Blut befleckte sein Gesicht und seinen Bart und rann ihm in einem stetigen Strom aus dem Mund. »Ich hätte... dich gleich am ersten Tag... töten sollen... auf der Zugbrücke. Ich... hätte niemals... auf die Hexe... hören dürfen.« Er holte ein letztes Mal Luft, seufzte und lag dann reglos da. Seine Augen starrten blicklos in den Himmel. Ben schloß das Visier wieder. Es hatte den Anschein, daß Kallenbor niemals hatte akzeptieren können, wie sich alles entwickelt hatte. Nur Bens Tod hätte ihn zufriedengestellt. Er mußte wirklich verzweifelt gewesen sein, daß er sich mit Nightshade verbündet hatte. Jetzt wußte Ben, wie der Roboter in Rhyndweir ihm so nahe kommen konnte, ohne entdeckt zu werden. Jetzt wußte er auch, wie die Hexe ihre Magie dazu hatte einsetzen können, ihn glauben zu machen, er habe sein Medaillon verloren. Kallendbor hatte das alles arrangiert. Nightshade mußte ihm mitgeteilt haben, daß Ben kommen würde, und er hatte seine Falle für den König von Landover aufgestellt und darauf gewartet, daß er darin umkommen würde. Jetzt war der Fürst aus dem Grünland selbst tot, und es würde wohl niemals 323
vollkommen geklärt werden können, wie der ganze Wahnsinn abgelaufen war, der auf diese Weise enden mußte. Ben erhob sich und ging zu seiner Familie zurück. Mistaya kauerte bereits über Questor Thews. Die anderen standen um sie herum. Das kleine Gesicht des Mädchens war vor Konzentration angespannt. »Er darf nicht sterben«, sagte sie, als Ben herankam und neben ihr auf die Knie sank. »Es ist meine Schuld. Alles meine Schuld. Ich muß es wieder in Ordnung bringen. Ich muß es schaffen.« Ben schaute zu Willow, die ihre schmerzerfüllten Augen hob und ihn anblickte. Questor Thews atmete nicht. Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen. Es gab nichts, das man noch für ihn tun konnte. »Mistaya, er ist aus Liebe zu dir hergekommen«, sagte Abernathy sanft und berührte sie an der Schulter. »Wir alle sind das.« Aber Mistaya hörte ihn kaum. Sie streckte impulsiv die Hand aus und ergriff Questors schlaffe Hand. »Ich habe etwas von Nightshade gelernt, das mir vielleicht helfen kann«, murmelte sie entschlossen. »Sie hat mich gelehrt, wie man heilen kann; manchmal sogar die Toten. Vielleicht kann ich Questor heilen. Ich kann es zumindest versuchen. Ich muß es versuchen.« Sie setzte sich auf ihre Unterschenkel und schloß die Augen. Ben, Willow, Abernathy und Bunion tauschten zögernde, wachsame Blicke aus. Mistaya beschwor die Magie, die ihr Nightshade offenbart hatte, und aus dieser war noch nie etwas Gutes hervorgegangen. Mach keinen Gebrauch von ihr, wollte Ben sagen, aber er wußte, daß er das nicht durfte. Die Sonne brannte auf sie nieder; ihre Hitze hatte die Luft dick und feucht werden lassen. Überall um sie herum war das Grasland still, als ob es hier nichts Lebendiges gäbe, oder als ob die wenigen Lebewesen, die es gab, ebenso wie sie darauf warteten, was als nächstes geschehen würde. Mistaya schauderte, und ein leuchtender Schimmer floß ihren Körper entlang, ihren Arm hinab und in Questor Thews hinein. Der Zauberer lag reglos und ohne eine Reaktion zu zeigen da. Noch zweimal floß der Lichtschimmer aus 324
Mistayas Körper in den von Questor hinüber. Die Augenlider des kleinen Mädchens flatterten heftig, und ihr Kopf senkte sich nach vorn, so daß ihr das Haar über das Gesicht fiel. Wieder wollte Ben eingreifen, aber wieder hielt er sich zurück. Sie hatte ein Recht darauf, alles zu tun, was sie vermochte, dachte er. Sie hatte das Recht, es zu versuchen. Plötzlich zuckte Questor Thews zusammen. Die Bewegung erschreckte Mistaya, so daß sie einen kleinen Schrei ausstieß und seine Hand fallen ließ. Einen Moment lang bewegte sich niemand. Dann beugte sich Abernathy rasch über seinen alten Freund, horchte einen Augenblick lang und blickte überrascht auf. »Ich kann sein Herz schlagen hören!« rief er aus. »Ich kann ihn atmen hören! Er lebt!« »Mistaya!« flüsterte Ben und umarmte seine Tochter. »Ich wußte, daß ich es kann, Vater«, sagte sie. Sie zitterte, und er spürte, daß eine unglaubliche Hitze von ihrem Körper ausging. »Ich wußte, daß ich es kann. Ich habe Magie in mir.« »Das hast du wirklich«, stimmte Ben ihr, ein wenig beunruhigt, zu und rief sofort nach kaltem Wasser und Kleidern. Auch die anderen umarmten Mistaya, mit Ausnahme von Bunion, der ihr nur ein vielzahniges Lächeln zuwarf. Man zog ihr neue Kleider an, gab ihr Wasser zu trinken, und ihre Temperatur fiel wieder. Sie schien sich zu erholen. Aber der Kampf um Questors Rettung war noch nicht vorüber. Sein Herzschlag war schwach, sein Atem ging flach, und er blieb weiterhin bewußtlos. Das Gift war noch immer in seinem Körper, und auch wenn Mistaya es geschafft hatte, einige seiner Auswirkungen zu beseitigen, so hatte sie es doch nicht völlig unschädlich machen können. Ben sandte daher einige der Wachen auf die Suche nach einem Wagen, während er andere anwies, unterdessen eine Bahre zu bauen. Sie banden Questor auf ihr fest, so daß er nicht herunterfallen konnte, befestigten die Bahre an Jurisdiktion und begaben sich dann auf den langsamen Heimweg. Mistaya bestand darauf, neben Questor auf der Bahre zu sitzen. Als ein Wagen aufgetrieben worden war, fuhr sie auch auf ihm 325
neben Questor mit. Sie hielt den ganzen Weg über seine Hand. Sie weigerte sich, ihn loszulassen.
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EIN SELTENES EXEMPLAR
Nach ihrer Rückkehr nach Sterling Silver saß Mistaya sechs Tage lang an Questor Thews Seite, während dieser schlief. Sie hielt fast die ganze Zeit über seine Hand und verließ ihn nur, wenn es unbedingt nötig war, und dann auch nur für sehr kurze Momente. Sie nahm ihre Mahlzeiten auf einem Tablett ein, das auf dem Bett abgestellt werden konnte, und schlief auf einem Strohsack auf dem Fußboden. Hin und wieder tauchte Haltwhistle auf, nahm aus dem Nichts heraus Gestalt an, um sie wissen zu lassen, daß er in ihrer Nähe war, bevor er wieder verschwand. Mehr als einmal schlüpfte Ben Holiday um Mitternacht in die Schlafkammer, um seine Tochter mit einer Decke zuzudecken und ihr das zerwühlte Haar glattzustreichen. Jedesmal dachte er daran, sie in ihr eigenes Bett zu tragen, aber sie hatte sehr deutlich gezeigt, daß sie vorhatte, die Angelegenheit bis zum Ende durchzustehen. Questor würde sich erholen oder sterben, aber auf jeden Fall wollte sie dabeisein, wenn es geschah. Stück für Stück setzte Ben die ganze Geschichte zusammen, wie Nightshade versucht hatte, ihn zu vernichten. Sie entlockten Mistaya, welche Rolle die Erdmutter bei dem Ganzen gespielt hatte, indem sie Haltwhistle zur Verfügung gestellt hatte. Daraus konnten sie sich dann selbst ableiten, daß der Sumpfmoppel sicherstellen sollte, daß sie einen Weg zurück zueinander und zur Wahrheit finden würden, selbst wenn sie einzeln getäuscht wurden. Abernathy erzählte ihnen jenen Teil, der ihn betraf, und versuchte dabei zu überspielen, was es für ihn bedeutete, von einem Hund in einen Mann und dann wieder zurück in einen Hund verwandelt worden zu sein; ebenso versuchte er, seine Rolle bei der Rettung von Bens Leben herunterzuspielen. Doch Ben wußte nur zu gut, was es seinen Schreiber gekostet hatte, seine menschliche Gestalt erneut aufzugeben, und er war sich schmerzlich bewußt, daß Abernathy vielleicht niemals wieder zu dem zurückverwandelt werden konnte, was er einmal gewesen 327
war. Sie sprachen ruhig von Questor Thews und seiner Entschlossenheit, Mistaya zu retten. Sie machten sich gemeinsam Sorgen darum, was es für das kleine Mädchen bedeuten würde, wenn Questor sterben sollte. Willow verbrachte viele Abende damit, offen mit Mistaya über Nightshade und ihre Erlebnisse im Tiefen Schlund zu sprechen, und es gelang ihr, einen Teil des Schmerzes und der Schuld von ihrer Tochter zu nehmen. Es war nicht Mistayas Schuld, daß die Hexe sie benutzt hatte, um ihrem Vater zu schaden, erklärte sie ihr. Es war nicht ihre Schuld, daß sie nicht erkannt hatte, was vorging. Sie hatte nicht gewollt, daß ihrem Vater Böses widerfuhr, und sie hatte auch nicht vorgehabt, der Hexe dabei zu helfen. An ihrer Stelle hätte ihre Mutter das gleiche getan. Sie alle waren von der Hexe getäuscht worden, und das nicht zum ersten Mal. Nightshades Bosheit war alles durchdringend und hinterhältig, und sie hätte jeden vernichtet, der über weniger Charakter und Mut verfügt hätte. Das mußte Mistaya wissen. Sie mußte den Gedanken akzeptieren, daß sie ihr Bestes getan hatte. Als ihr Vater einmal mit ihr allein sprach, sagte er ihr: »Du mußt dir selbst verzeihen, was du für deine Schuld hältst. Du hast einen Fehler gemacht, aber das gehört zum Erwachsenwerden dazu. Für jedes Kind ist es schmerzlich, erwachsen zu werden, und für dich besonders. Erinnerst du dich noch an die Worte der Erdmutter?« Mistaya nickte. Sie hielt Questors Hand fest; ein Finger lag auf seinem Puls, der leise in seinem Handgelenk pochte. »Erwachsen zu werden wird für dich schwerer werden als für die meisten. Das liegt daran, wer du bist und woher du kommst. Es liegt an deinen Eltern. Es liegt an deiner Magie. Ich wünschte, es wäre anders. Ich wünschte, ich könnte es ändern. Aber das kann ich nicht. Wir müssen akzeptieren, wer wir in diesem Leben sind, und das Beste daraus machen. Einige Dinge können wir nicht ändern. Alles, was wir tun können, ist, einander zu helfen, wenn wir sehen, daß Hilfe nötig ist.« »Das weiß ich«, sagte sie leise. »Aber dadurch fühle ich mich auch nicht besser.« 328
»Nein, vermutlich nicht.« Er zog sie sanft an sich. »Weißt du, Mistaya, ich darf von dir nicht mehr als von einem Kind denken. Zumindest nicht als von einem Kind von zwei Jahren. Du bist schon längst viel älter, und ich glaube, ich bin der einzige, der es bis jetzt noch nicht bemerkt hat.« Sie schüttelte den Kopf, blickte aber nicht auf. »Vielleicht bin ich gar nicht soviel erwachsener geworden, wie alle denken. Ich war mir meiner selbst so sicher, aber das alles wäre nicht geschehen, wenn ich ein wenig vorsichtiger gewesen wäre.« Er drückte sie kurz an sich. »Wenn du dich dieser Worte das nächste Mal, wenn du deine Magie benutzt, erinnerst, bist du für mich erwachsen genug.« Ben sandte dem Flußherrn die Nachricht, daß seine Enkeltochter in Sicherheit war und ihn bald besuchen würde. Dann ging er wieder daran, seine Regierungsgeschäfte zu erledigen, aber ein Teil von ihm war stets bei Mistaya in der Schlafkammer und bei Questor Thews. Er aß und schlief nur, wenn es unbedingt notwendig war, und er fand es schwer, sich zu konzentrieren. Willow sprach mit ihm, wenn sie allein waren. Sie erzählte ihm ihre Gedanken, ihre Zweifel, und sie gaben einander jede Aufmunterung, die sie konnten. Noch einige Male benutzte Mistaya ihre Magie in dem Versuch, Questor Thews zu kräftigen. Sie erzählte ihren Eltern, was sie vorhatte, so daß sie dabeisein konnten, um sie zu unterstützen. Die Magie floß schimmernd ihren Arm hinab und in den Körper des alten Mannes, ohne anscheinend irgendeine Wirkung zu haben. Mistaya sagte, sie könnte spüren, wie die Magie gegen das Gift der Hexe kämpfte und wie eine Schlacht im Körper des alten Mannes geschlagen wurde. Doch es gab keine Veränderung im Zustand des Zauberers. Sein Herzschlag blieb langsam, sein Atem war weiterhin unregelmäßig, und er erwachte nicht. Sie versuchten, ihm Suppe und Wasser einzuflößen, und eine kleine Menge dessen, was seine Lippen berührte, wurde von ihm auch verzehrt. Aber er war nur noch Haut und Knochen, ganz wächsern und 329
ausgemergelt, ein Skelett, das unter der Bettdecke lag und kaum noch am Leben war. Mistaya versuchte, ihn mit anderen Arte n von Magie zu kräftigen. Sie flüsterte ihm Ermutigungen zu und ließ ihn die Tiefe ihrer Liebe spüren. Sie weigerte sich aufzugeben. Sie wollte mit aller Kraft, daß er aufwachte. Sie betete darum, daß er lebte. Ihre Eltern und Abernathy verloren allmählich die Hoffnung. Mistaya konnte es in ihren Augen lesen. Sie wollten daran glauben, daß er wieder aufwachte, aber sie wußten nur zu gut, wie die Chancen für sein Überleben standen. Ihr Mitgefühl ließ nicht nach, aber der Blick in ihren Augen wurde zu dem eines Akzeptierens. Sie bereiteten sich innerlich auf das vor, was sie für unvermeidlich hielten. Abernathy konnte mit ihr nicht mehr in Questors Gegenwart sprechen. Jeder von ihnen zog sich zurück, durchtrennte seine Verbindung, schnitt seine Gefühle ab, verhärtete sich. Mistaya begann zu verzweifeln. Sie befürchtete allmählich, daß der alte Mann für immer so daliegen würde, gefangen zwischen Leben und Tod. Doch dann, am siebten Tag ihrer Wache, als sie im frühen Morgenlicht bei ihm in der Schlafkammer saß und durch das Fenster beobachtete, wie der Sonnenaufgang den Himmel verfärbte, spürte sie, wie sich seine Hand unerwarteterweise um ihre eigene schloß. »Mistaya?« wisperte er schwach, und seine Augen öffneten sich blinzelnd. Sie wagte kaum zu atmen. »Ich bin hier«, flüsterte sie, und Tränen begannen zu rollen. »Ich werde nicht weggehen.« Sie rief laut nach ihrer Mutter und ihrem Vater und wartet ungeduldig darauf, daß sie endlich kamen, während sie die zerbrechliche Hand des alten Mannes fest in ihrer eigenen hielt. Vince hatte seine Schicht im Woodland Park Zoo von Seattle beendet und war auf dem Weg zu seinem Auto, als er aus einem plötzlichen Impuls heraus die Richtung änderte und noch einmal zum Vogelhaus ging. Er wollte einen letzten Blick auf die Krähe 330
werfen. Das verdammte Tier faszinierte ihn. Es war noch genau dort, wo es gewesen war, als er es verlassen hatte. Es saß ganz allein auf einem Zweig nahe der oberen Begrenzung des Geheges. Die anderen Vögel mieden das Tier; sie wollten nichts mit ihm zu tun haben. Man konnte es ihnen nicht verdenken. Es sah schon ziemlich gemein aus. Vince mochte es auch nicht. Aber er konnte nicht aufhören, über es nachzudenken. Eine Krähe mit roten Augen. Niemand hatte schon jemals von einer Krähe dieser Art gehört. Niemand und nirgendwo. Sie war mit einem Mal aus dem Nichts aufgetaucht. Im wahrsten Sinn des Wortes. Am gleichen Tag, an dem sich im Tierheim des Countys zwei Idioten als Drozkin und als irgend so ein Typ von der Universität ausgegeben hatten und diesen Affen, oder was das auch gewesen war, gestohlen hatten. Niemand wußte, was mit ihnen geschehen war. Sie hatten sich einfach in Luft aufgelöst, wenn man dem Tratsch glauben mochte, der überall herumschwirrte. Keine zwei Stunden später war dann dieser Vogel aufgetaucht – an derselben Stelle, direkt in dem Käfig, aus dem der Affe verschwunden war. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, daß so etwas passierte? Natürlich konnte es keiner erklären. Es war wie eine von diesen UFO-Geschichten, bei denen unheimliche Dinge mit Leuten geschahen, die darin verwickelt waren, aber hinterher niemand beweisen konnte, daß es passiert war. Vince glaubte an UFOs. Vince war überhaupt der Ansicht, daß viele Dinge in der Welt geschahen, die man nicht erklären konnte, aber der Umstand, daß man sie nicht erklären konnte, machte sie nicht weniger wirklich. Mit diesem Vogel war es genau dasselbe. Jedenfalls hatte der Vogel, die Krähe mit den roten Augen, plötzlich betäubt in diesem Käfig gelegen. Die Leute vom Tierheim waren keine Trottel. Sie erkannten ein seltenes Exemplar, wenn sie eines sahen, selbst wenn sie nicht genau wußten, zu welcher Spezies das Exemplar gehörte. Deshalb fingen sie es ein und brachten es zur Untersuchung hierher. Es war ein exotischer Vogel, also gehörte er in den Zoo. Jetzt war es die Aufgabe des Woodland Parks, herauszufinden, welche Vogelart es 331
genau war. Niemand wußte, wie lange das dauern würde. Monate, nahm er an. Vielleicht sogar Jahre. Vince lehnte sich gegen das Gitter und versuchte, den Vogel dazu zu bringen, ihn anzuschauen. Doch er tat es nicht. Er sah niemals jemanden an. Aber man spürte immer, daß er einen trotzdem beobachtete. Aus dem Augenwinkel oder so. Vince wünschte, er kenne seine Geschichte. Er wettete, daß es eine gute war. Er war sich sicher, daß sie besser war als jede UFOGeschichte. Es war eine Menge mehr an diesem Vogel, als es den äußeren Anschein hatte. Man konnte das daran erkennen, wie er sich benahm. Wie er sich verächtlich absonderte und von einer inneren Wut auf das Leben erfüllt zu sein schien. Er wollte dort raus. Er wollte dorthin zurück, wo er hergekommen war. Man konnte es in seinen roten Augen lesen, wenn man nur lange genug hinsah. Aber Vince blickte nicht gern allzulange in die Augen der Krähe. Denn wenn er das tat, konnte er fast darauf schwören, daß sie menschlich waren.
ENDE
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