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Digitally signed by Mannfred Mann DN: cn=Mannfred Mann, o=Giswog, c=DE Date: 2005.04.10 18:56:32 +01'00'
EINE HEYNE-ANTHOLOGIE
In gleich'er Ausstattung wte der vorliegende Band erschienen als Heyne'Anthologien Banil 2 20 SCIENCE FICTION-STORIES Band 3 21 WESTERN-STORIES
13 KRIMINAL STORIES E L L E R Y QUEEN'S KRIMINAL-ANTHOLOGIE
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE-ANTHOLOGIEN 1
Aus dem Amerikanischen übertragen von Hans P. Thomas
Copyright 1963 der deutsdien Ausgabe betet Wilhelm Heyne Verlag, München ßopyright © 1962 by Davis Pnbhcatlons, Inc., New YoA Printed in Germany 1963 Umschlag: Heinridis & Piloty Gesamtherstellung: Ebner, Ulm/Donaa
INHALT
REX STOUT
Der Doppelgänger Seite 7 RUFUS K I N G
Die y=förmige Narbe Seite 56 THOMAS WALSH
Cop Calhouns dienstfreie Nacht Seite 77 ANTHONY BOUCHER
Ein Fall für kluge Leute Seite 95 H U G H PENTECOST
Mord beim Golftumier Seite 96 JACK LONDON
Der weise Schamane Seite 147 MACKINLAY KANTOR
Der Anfänger Seite 161 ELLERY QUEEN
Die drei Witwen Seite 179
CHARLOTTE
ARMSTRONG
Die Hecke Seite 186 L E S L I E CHARTERIS
Der Mann mit den grünen Scheinchen Seite 220 G E O R G E HARMON C O X E
Die
Sterbeurkunde Seite 244
J O H N D. M A C D O N A L D
Immer diese ganz Schlauen Seite 266 J O H N D I C K S O N CARR
Das verschlossene Zimmer Seite 278
Rex Stout
Der Doppelgänger
Am Morgen des Tages, in dessen weiterem Verlauf ihn die tödliche Kugel traf, stattete er uns einen Besuch ab. Ben Jensen war Verleger, Politiker, und - meines Erachtens - ein Dummkopf. Ich hege noch heute den stillen Verdacht, er hätte das Armeegeheimnis, das CaptainRoot ihm seinerzeit zum Kauf anbot, eigentlich recht gerne gekauft — wäre er bloß imstande gewesen, sich einen Weg auszudenken, wie er es verwenden könnte, ohne da= bei Kopf und Kragen zu riskieren. Doch dann hatte er seinen Part bei dieser Sache auf ganz sicher ge= spielt und -- von Kopf bis Fuß loyaler Staatsbürger - brav und gewissenhaft mit Nero Wolfe zu» sammengearbeitet, der vom Penta° gon mit der Entlarvung des ver»
räterischen Captains beauftragt worden war. Root wurde überführt und von einem Militärgericht zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt. Das lag einige Monate zurück. Jetzt, an diesem Dienstagmorgen, rief Ben Jensen an und bat um eine Unterredung mit Wolfe. Als ich entgegnete, daß Wolfe, wie üblich, bis um elf Uhr im Gewächs» haus auf dem Dach mit den Orchideen beschäftigt sei, schien er zunächst leicht verstört, erklärte dann aber/erwerde also um Punkt elf Uhr bei uns sein. Er erschien jedoch fünf Minuten vor dieser Zeit. Ich empfing ihn im Büro und forderte ihn höflich auf, sein langes Knochengestell in einem der rotledernen Besuchersessel un« terzubringen. Sobald er saß, fixierte
Rex Stout er mich und sagte: »Ich kenne Sie trug in Blockbuchstaben die An" doch. Sind Sie nicht Major Goodschrift Ben Jensens. Der ziemlich win?« kleine Zettel war offenbar mit einer »Ja.« Schere oder einem scharfen Messer »Aber warum sind Sie nicht in aus einem Magazin geschnitten. Uniform?« Der gedruckte Text des Zettels lau» »Ich stelle fest«/ erwiderte ich, »daß tete: Sie werden sterben, und ich Sie sich eigentlich mal wieder die zverde Sie sterben sehen! Haare schneiden lassen sollten. In Wolfe wandte sich an Jensen: Ihrem Alter und bei grauem Haar »Und, Sir?« sieht es sauber geschnitten besser »Ich kann Ihnen«, warf ich ein, aus. Mindestens gepflegter... Wol= »kostenlos verraten, woher das len wir den Austausch persönlicher stammt.« Bemerkungen fortsetzen/ Sir?« »Sie meinen - wer das geschrieben Ehe Jensen antworten konnte, hat?« fragte Jensen. klappte draußen in der Halle die »Nein. Für eine derartige Auskunft Tür von Wolfes Privatlift. Einen würde ich Bezahlung verlangen Moment später trat Wolfe ein, müssen. Aber dieser Satz stammt wechselte einen kurzen Gruß mit aus einer Reklameseite für den dem Besucher und placierte seine Centuryfilm >Begegnung im Mor" zweihundertsechzig Pfund würde" gengrauem. Ich sah die Reklame» voll in seinen thronartigen Schreib" seite im >American Magazine< und sessel. denke -« Ben Jensen sagte: »Ich muß Ihnen Wolfe unterbrach mich mit einer etwas zeigen, Mr. Wolfe. Erhielt Handbewegung und wiederholte, es heute mit der Frühpost.« Er zog an Jensen gewandt, etwas unge= ein Briefkuvert aus der Tasche, duldig: »Und, Sir?« stand auf und überreichte es »Was soll ich tun, Mr. Wolfe?« Wolfe. fragte Jensen. Wolfe warf einen Blick auf das »Das weiß ich nicht. Haben Sie eine Kuvert und entnahm ihm einen Ahnung, wer der Absender ist?« Zettel, den er ebenfalls eines kur= »Nicht die geringste.« Jensens zen Blickes würdigte, ehe er beides Stimme klang bekümmert. »Ver= zu mir herübergab. Das Kuvert dämmt, die Sache gefällt mir nicht!
Der Doppelgänger lauben konnte, Jensens Ansuchen Das hier ist mehr als die übliche Warnung irgendeines anonymen abzulehnen. Jensen zeigte sich daraufhin be= Strolches! Es ist absolut unmißver» greiflicherweise verärgert, und ständlich, das werden Sie zugeben müssen! Ich denke, jemand beab» Wolfe riet ihm schließlich, er solle sichtigt mich umzubringen. Und doch versuchen, die Polizei für sei» ich weiß nicht, wer und warum und nen Fall zu interessieren oder eins wann und wie! Der Absender dürfs der größeren Detektivinstitute, die ihm zwei oder drei oder gar vier te kaum zu ermitteln sein. Was ich brauche, ist persönlicher Schutz! Mann als Leibwächter zur Verfü= gung stellen könnten, sofern er Von Ihnen, Mr. Wolfe!« Ich hob eine Hand, um mein Gäh" genug bezahle. Jensen erwiderte, nen zu verdecken. Ich wußte Be» selbst sechs Mann würden seinem scheid - kein Fall, kein Honorar, Bedürfnis nach Schutz nicht genü= aber auch keine Aufregung. Im gen, denn was er in erster Linie Lauf der Jahre, die ich als Chefs brauche, sei Wolfes Scharfsinn. assistent bei Nero Wolfe gearbeitet Wolfe zog ein Gesicht und schüt» hatte, waren gewiß an die fünfzig telte den Kopf. Nun wünschte Jen» Personen jeden Alters und Standes sen zu wissen, was denn mitGood» erschienen, jede behauptete, in un= win wäre. Wolfe sagte, Major mittelbarer Lebensgefahr zu sein, Goodwin sei Offizier der United und Nero Wolfe hatte ihnen allen States Army. geantwortet, daß, wenn jemand »Er ist nicht in Uniform«, grollte ihnen ernstlich nach dem Leben Jensen. trachte, dieser Jemand vermutlich Wolfe war geduldig. »Offiziere des Erfolg haben werde. Hin und wie» Military Intelligence Service«, er« der, wenn er dringend Einnahmen klärte er, »genießen bei Bearbeibenötigte, hatte sich Wolfe herbei' tung von Spezialfällen besondere gelassen, diesen oder jenen seiner Vorrechte. Major Goodwin wurde freien Mitarbeiter gegen einen um mir als Assistent zugeteilt, um hundert Prozent erhöhten Tages" mich bei der Aufklärung versdiie» satz als Leibwächter zu vermieten. dener Fälle zu unterstützen, die mir Doch zur Zeit war sein Bankkonto die Armee übertragen hat. Ich habe ansehnlich genug, daß er sich er» jetzt nur wenig Zeit, midi um pri=
Rex Stout vate Aufträge zu kümmern. Aber ich denke, Mr. Jensen, Sie sollten sich in den nächsten Wochen recht vorsichtig verhalten. Zum Beispiel beim Anlecken der Gummierung auf Briefkuverts. Nichts ist leich» ter, als solche Gumnüerung mit Gift zu versetzen. Und wenn Sie eine Tür öffnen - treten Sie zur Seite und stoßen oder ziehen Sie dann die Tür mit einem Ruck auf, ehe Sie die Schwelle überschreiten. Lauter solche Sachen - verstehen Sie?« »Gütiger Gott!« sagte Jensen. Wolfe nickte. »Ja, so ist das nun mal. Vergessen Sie nicht, daß die» ser Bursche sich eindeutig festge» legt hat. Er behauptet, er werde Sie sterben sehen. Das setzt ihm Gren» zen hinsichtlich der Methode und Technik - er muß dabei sein, wenn es geschieht. Deshalb rate ich Ihnen zu Vorsicht und erhöhter Wach» samkeit. Strengen Sie Ihren Ver" stand an und geben Sie den Ge= danken auf, sich den meinigen zu mieten. Sie haben keinen Grund zur Panik ... Archie, wie viele Menschen haben in den letzten zehn Jahren gedroht, mich zu be= seitigen?« Ich spitzte die Lippen. »Oh, etwa zweiundzwanzig.« 10
»Pfui!« Wolfe blickte mich finster an. »Mindestens hundert! Trotz» dem lebe ich noch, Mr. Jensen.« Jensen steckte Zeitungsausschnitt und Kuvert ein und verabschiedete sich. Außer dem Hinweis auf Gift in Briefkuvertgummierungen und auf Vorsicht beim Türenöffnen hatte ihm sein Besuch nichts ein» gebracht. Da er mir ein bißchen leid tat, wünschte ich ihm, wäh= rend ich ihn zur Haustür begleitete, viel Glück und riet ihm, falls er am Ende doch einen Leibwächter ha= ben wolle, sich an das Detektiv» Institut Comwall & Mayer in der 42. Straße zu wenden. Dann kehrte ich ins Büro zurück, nahm vor Wolfes Schreibtisch Auf» Stellung, straffte die Schultern und reckte die Brust heraus. Ich nahm diese Haltung ein, weil ich Wolfe einige Neuigkeiten beibringen wollte und mir dachte, es könne nützlich sein, wenn ich dabei mög» liehst offiziersmäßig aussähe. »Ich habe«, begann ich, »am Don= nerstag früh neun Uhr in Wa" shington eine Verabredung mit | General Carpenter.« Wolfes Augenbrauen hoben sich um einen Millimeter. »Wirklich?« »Jawohl, Sir. Auf mein Ersuchen. Ich beabsichtige, um Versetzung
Der Doppelgänger auf einen Posten des Military In= telligence Service in Europa zu bit» ten.« »Nonsens«,
entgegnete
starrte mich an. Der bloße Gedan» ke an Zucker in seinem Bier machte ihn sprachlos ,.,
Wolfe
milde. »Ihre drei bisherigen Ver» setzungsersuchen wurden abge» lehnt.« »Ich weiß, Sir.« Ich behielt meine stramme Haltung bei. »Doch das geschah durch alte Obersten. Ge° neral Carpenter wird mein Ver" langen verstehen. Ich gebe zu, daß Sie ein großer Detektiv, der beste Orchideenzüchter von New York, ein Champion im genußvollen Es= sen und Biertrinken und ein Genie sind. Aber ich habe nun jahrelang für Sie gearbeitet, und das ist in einer so turbulenten Epoche nicht der richtige Zeitvertreib für einen tatendurstigen Offizier der ameri= kanischen Armee. Das will ich Ge= neral Carpenter erklären. Natür= lieh wird er Sie antelefonieren. Ich appelliere nun an Ihre Vaterlands» liebe, Sir, an Ihre besseren Instink» te, an Ihre Abneigung gegen den Kommunismus! Wenn Sie Carpen» ter einreden wollen, daß Sie ohne mich nicht zurechtkommen können, dann werde ich Ihnen das Essen versalzen und Zucker ins Bier schütten!« Wolfe öffnete die Augen und
Das war am Dienstag. Am nächsten Morgen, Mittwoch, brachten die Zeitungen dicke Schlagzeilen über den Mord an Ben Jensen. Ich hatte den Bericht in der New Yorfc Times kaum zur Hälfte gelesen, als die Haustür» kimgel ertönte. Ich ging hin, fand auf der Schwelle unseren alten Freund, Inspektor Cramer vom Morddezernat Manhattan West, begrüßte ihn und ging mit ihm hinauf zu Wolfes Schlafzimmer im ersten Stock. Ihn sehen und sofort zu erklären »Weder interessiert noch beteiligt, noch neugierig«, war eins für Wol» fe. Er bot einen interessanten Anblick, als er da mit dem Frühstückstablett im Bett saß. Weisungsgemäß hatte ihm Fritz, der Dienerkoch, um acht Uhr das Frühstück ins Zimmer zu bringen. Jetzt, um 8 Uhr 15, waren bereits die Pfirsiche mit Sahne, der größere Teil des gebratenen Specks und zwei Drittel der Rühreier ver= tilgt, ganz zu schweigen vom Kaffee und der grünen Orangenmarme» lade. Übrigens bedurfte es schar» 11
Rex Stout fer Augen, um genau zu erkennen, Das werden Sie nicht abstreiten.« wo die gelbseidene Steppdecke auf= »Ich habe Ihnen bereits am Telefon hörte und der gelbseidene Pyjama gesagt, weshalb er kam«, erwiderte begann, mit dem Wolfe sich des Wolfe höflich. »Er hatte diesen Nachts umhüllte. Außer Fritz und Drohbrief bekommen und wollte zu mir hatte ihn bisher niemand in seinem Schutz meinen Scharfsinn dieser Aufmachung zu sehen be= engagieren. Ich lehnte ab, und er kommen. Inspektor Cramer hätte ging. Das war alles.« es sich als Ehre anrechnen dürfen, »Warum haben Sie abgelehnt, für eine Ausnahme zu sein. Doch dar» ihn zu arbeiten? Was hat er Ihnen an schien der Inspektor nicht zu getan?« »Nichts.« Wolfe schenkte sich Kaf° denken. »In den vergangenen zwölf Jahren, fee ein. »Ich befasse mich nicht mit Mr. Wolfe«, sagte er in seinen ge" derartigen Dingen. Ein Mann, der wohnten Knurrtönen, »haben Sie eine anonyme Todesdrohung er= mir, wie ich schätze, die runde Zahl hält, ist entweder überhaupt nicht von zehn Millionen Lügen aufge= gefährdet, oder die Gefahr ist so akut und so stark, daß seine Lage tischt.« Die Kommata wurden durch Kauen als hoffnungslos gelten muß. Im auf der unangezündeten Zigarre übrigen kannte ich Mr. Jensen nur markiert. Wie immer, wenn er eine flüchtig. Er hatte ganz am Rande Nacht durchgearbeitet hatte, wirkte mit dem Fall des Captains Root zu tun, den ich vor einigen Monaten Cramerverdrossenundaufgebracht, aber leidlich beherrscht, ausgenoms bearbeitete. Meine damalige Lei= men seine Haare, die sich gegen den stung imponierte ihm wohl. Ver= mutlich kam er deshalb zu mir, als Scheitel sträubten. Wolfe, der beim Frühstück kaum er jetzt Hilfe brauchte.« aus der Ruhe zu bringen ist, ver= »Dachte er denn, daß der Drohbrief zehrte einen Toast mit Marmelade, von jemandem kam, der mit Cap= nahm einige Schlucke Kaffee und tain Root in Zusammenhang stand?« »Nein. Root wurde nicht erwähnt. ignorierte die Beleidigung. Jensen sagte, er hätte keine Ahnung, »Jensen kam gestern vormittag zu Ihnen«, fuhr Cramer fort, »zwölf wer ihm nach dem Leben trachten Stunden bevor er ermordet wurde. könnte.« 12
Der Doppelgänger Cramer räusperte sich. »Genau das hat er auch zu Tim Comwall ge= sagt. Cornwall meint. Sie hätten die Sache abgelehnt, weil Sie wuß= ten oder ahnten, daß sie gefährlich werden würde. Cornwall ist jetzt natürlich sauer. Hat seinen besten Mann verloren.« »Wirklich?« äußerte Wolfe unge= rührt. »Wenn das sein bester Mann war...«
»Comwall sagt es«, beharrte Cra» mer. »Und der Mann ist tot. Hieß Doyie. War seit zwanzig Jahren im Fach und hatte sich stets bewährt. Nach unseren Feststellungen trifft ihn keine Schuld am tödlichen Ver° lauf der Sache. Jensen kam gestern gegen Mittag zu Cornwall & Mayer, und Cornwall gab ihm Doyie als Leibwächter mit. Wir haben jede ihrer Bewegungen zurückverfolgt nichts Besonderes. Abends warJen= sen mit Doyie im Midtown Klub. Sie verließen den Klub um elf Uhr zwanzig und begaben sich offenbar direkt, entweder mit der Unter' grundbahn oder mit dem Bus, zu Jensens Wohnhaus in der Dreiund» siebzigsten Straße. Um elf Uhr fünf« undvierzig wurden siebeide tot vor dem Hauseingang gefunden. Jeder mitHerzdurchschuß aus einem Acht= unddreißig^r - Doyie von hinten,
Jensen von vom. Keine Pulve spuren, nichts. Die Geschosse ha<> ben wir allerdings.« \ Wolfe murmelte ironisch: »Mr.! Comwalls bester Mann!« »Da gibt es nichts zu spotten«, knurrte Cramer. »Doyie wurde in den Rücken geschossen! Dicht ne» ben dem Tatort mündet ein schma» ler Durchgang, in dem sich der Tä° ter verborgen haben kann. Oder die Schüsse kamen aus einem vorüber' fahrenden Auto. Oder von der an= deren Straßenseite. Wir haben noch niemanden, der die Schüsse hörte. Der Portier war zur fraglichen Zeit im Keller mit der Zentralheizung beschäftigt. Der Liftmann fuhr einen anderen Mieter zum zehnten Stock hinauf. Die Leichen wurden von zwei Frauen entdeckt, die von einem Kinobesuch nach Hause ka= men. Die Sache mag sich nur eine oder zwei Minuten vor dem Er= scheinen der beiden Frauen zuge» tragen haben, aber sie waren eben erst an der Eckhaltestelle aus dem Bus gestiegen und haben natürlich nichts gesehen oder gehört.« Wolfe erhob sich aus dem Bett ein Schauspiel für Götter. Er warf einen demonstrativen Blick auf die Nachttischuhr; es war 8 Uhr 55. »Ich weiß, ich weiß«, knurrte Cra= 15
Rex Stout
per gereizt, »Ihr Stundenplan! Sie müssen jetzt Toilette machen und sich anziehen. Und dann müssen Sie hinauf in die Gewächshäuser zu den Orchideen! Aber hören Sie noch dies - der Mieter, der im Lift nach oben fuhr, ist ein angesehener Arzt, der Jensen kaum vom Sehen kann» te. Die beiden Frauen, die die Lei= chen entdeckten, sind Mannequins - sie hatten noch nie von Jensen gehört. Der Liftmann arbeitet seit zweiundzwanzig Jahren im Haus und gilt als unbedingt verläßlich. Jensen bedachte ihn übrigens im= mer reichlich mit Trinkgeldern. Der Portier ist ein fetter, gutmütiger Tölpel, der erst vor zwei Wochen eingestellt wurde und bisher nicht einmal die Namen der einzelnen Mieter kennt, weil er fast nur mit der Heizung zu tun hat. Über diese fünf Personen hinaus hätten wir gegebenenfalls noch die gesamte New Yorker Bevölkerung zuzüglich der Tag und Nacht hier eintreffen» gen Fremden! Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen, Mr. Wolfe! Ge= ben Sie mir um Himmels willen alle Informationen, die Sie haben! Sie sehen, wie dringend ich sie brau= ehe!« »Mr. Cramer -«, der Fleischberg in gelber Pyjamaseide setzte sich in 14
Bewegung, »ich wiederhole-ich bin weder interessiert noch beteiligt, noch neugierig.« Mit diesen Wor» ten näherte sich Wolfe der Bade» zimmertür. Cramer stürzte von dannen, kopf= los vor hilfloser Wut. Und ich be° gab mich ins Büro. Dort fand ich die Frühpost vor und sah fast den ganzen Stapel durch, ohne auf irgend etwas Interessan= tes zu stoßen. Doch dann schlitzte ich einen der letzten Briefe auf und da war es! Ich starrte es an. Ich nahm das Ku= vert nochmals zur Hand und starr= te es ebenfalls an. Ich spreche nicht oft mit mir selbst, aber dieses Mal sagte ich laut genug, daß ich es hören konnte: »Grundgütiger Gott!« Ich ließ die Frühpost liegen und rannte mit dem einen Brief in der Hand die drei Treppen zum Dach hinauf, wo die Gewächshäuser sind. Dort traf ich Wolfe, wie er mit Theodor Horstmann, seinem Or= chideenspezialgärtner, eine soeben eingetroffene Zuchtknollensendung begutachtete. »Was gibt's?« fragte er ohne jede Spur von Freundlichkeit. »Ich weiß, daß ich Sie hier nicht stören soll«, erwiderte ich. »Aber ich fand etwas in der Post, das
Der Doppelgänger Ihnen bestimmt Vergnügen berei» kann ich nicht. Ich bin mit einem ten wird.« Damit legte ich beides General verabredet. Und weshalb nebeneinander vor ihn auf den Ar= überhaupt?« Ich deutete auf das beitstisdi - das Kuvert mit Wolfes Kuvert und den Zeitungsausschnitt. Namen und Anschrift und den Zei= »Wegen dieses dummen Zettels tungsausschnitt mit dem fatalen etwa? Kein Grund zur Panik. Ich Satz: »Sie werden sterben, und ich bezweifle, daß Gefahr für Sie be= steht. Ein Mann, der einen Mord werde Sie sterben sehen!« »Sicher ein Zufall«, sagte ich und plant, verschwendet seine Energie wohl nicht auf das Zurechtschnip= grinste Wolfe ermutigend an. »Ich werde mir«, erklärte er völlig sein von Zeitungsausschnitten, unbeeindruckt, »die Post, wie üb= und -« »Sie fahren also nach Washings lieh, um elf Uhr ansehen.« Er erklärte es gelassen und sehr ton?« von oben herab. Ich erkannte, daß »Jawohl, Sir. Ich habe eine Verab» im Augenblick nichts mit ihm an= redung. Freilich könnte ich General zufangen war, nahm wortlos Ku= Carpenter anrufen und ihm sagen, vert und Zeitungsausschnitt wieder daß Ihre Nerven ein wenig an= an mich und kehrte ins Büro zu= gegriffen sind, weil Sie einen rück. anony —« Punkt elf Uhr kam Wolfe herunter »Wann fahren Sie?« und begann seine Routinearbeiten, »Ich habe mir im Sechs=Uhr=Zug ohne mich eines Blickes oder einer einen Platz reservieren lassen.« Ansprache zu würdigen. Erst nach» »Gut. Dann haben wir noch genug dem Fritz ihm das gewohnte Bier Zeit. Ihr Notizbuch.« serviert und er es zur Hälfte ge» Wolfe lehnte sich nach vorn, um ein trunken hatte, lehnte er sich in sei= Glas Bier einzugießen und zu trin» nem thronartigen Schreibtischsessel ken, dann lehnte er sich wieder zu= zurück und bemerkte, während er rück. »Ein kiemer Kommentar zu mich aus halb geschlossenen Augen Ihren Scherzen. Als Mr. Jensen ge= fixierte: »Archie, Sie werden Ihre stem kam und uns die Drohung Reise nach Washington verschie= zeigte, hatten wir keine Ahnung ben.« vom Charakter und dem wirklichen Ich markierte Überraschung. »Das Vorhaben des Absenders. Es hätte 15
Rex Stoul sich um das Werk eines geschmack» losen Spaßvogels handeln können. Daß es dies nicht war, ist uns nun bekannt. Der Absender des Droh" briefes hat nicht nur Mr. Jensen, sondern auch Mr. Doyie getötet, dessen Anwesenheit nicht vorher' zusehen war. Wir wissen jetzt, daß der Absender kaltblütig, rücksichts» los, schnell entschlossen im Denken wie im Handeln und krankhaft ego= zentrisch ist.« »Jawohl, Sir. Völlig Ihrer Meinung. Wenn Sie sich ins Bett legen und vor meiner Rückkehr aus Washing» ton außer Fritz keine Menschen' seele in Ihr Zimmer lassen, wird es mir zwar nicht gelingen, späterhin meine Zunge Ihnen gegenüber im Zaum zu halten. Dennoch würde ich Ihr Verhalten verstehen und niemand anders davon erzählen. Etwas Ruhe täte Ihnen ohnehin gut. Aber lecken Sie während die» ser Zeit keine Kuvertgummierun» gen an.« »Bah.« Wolfe machte eine indi» gnierte Handbewegung. »Nicht Sie haben diesen Brief erhalten. Ver= mutlich stehen Sie gar nicht auf der Vormerkliste des Absenders.« »Das hoffe ich, Sir.« »Der Kerl ist gefährlich und erfor= dert Beachtung.« 16
»Völlig Ihrer Meinung, Sir.« Wolfe schloß die Augen. »Scha Machen Sie ein paar Notizen... D| der Absender der Drohung mir ge genüber genauso vorzugehen beab sichtigt, wie er es gegenüber Mi Jensen getan hat, ist anzunehmen! daß er in irgendeiner Beziehung zi Captain Root steht. Denn nur in Fall Root bin ich mit Mr. Jensen ir Berührung gekommen ... Steller Sie fest, wo Captain Root sich zi Zeit befindet.« »Das Militärgericht verurteilte il zu fünf Jahren Gefängnis.« »Ich weiß. Aber in welchem Ge»| fängnis sitzt er? Und wie steht es| mit dieser jungen Lady, seiner Ver"| lobten, die sich damals so sehr üb< die Sache erregt hat? Sie hieß Jar Geer.« Wolfes Augen öffneten sie einen Moment. »Sie haben dockj die Gewohnheit, den Aufenthalt ort attraktiver junger Ladies unve züglich herauszubekommen. Sind Sie dieser hier in letzter Zeit nodi begegnet?« »Gewiß/ichhabe sie ein wenig kerfJ nengelernt«, antwortete ich besehe» den. »Und ich denke, ich kann mich wieder mit ihr in Verbindung se^ zen. Aber ich bezweifle —« 1 »Sie setzen sich mit ihr in Verbirg düng! Ich wünsche diese Miss G(
Der Doppelgänger zu sehen ... Entschuldigen Sie die Unterbrechung, aber Sie müssen ja den Sechs=Uhr=Zug erwischen... Informieren Sie Inspektor Cramer über die neueste Entwicklung der Dinge. Raten Sie ihm, sich für Cap= tain Roots Vergangenheit, seine Verwandten und seine intimen Freunde zu interessieren - ausge= nommen Miss Geer. Dieser Lady wünsche ich selbst auf den Zahn zu fühlen ... Rufen Sie General Fite an. Er wird Ihnen sagen, in welchem Gefängnis Captain Root unterge= bracht ist. Sorgen Sie dafür, daß er mir Root zur Befragung herbringen läßt... Wo ist der Zeitungsaus= schnitt, den Mr. Jensen gestern in seinem Brief erhielt? Fragen Sie Mr. Comwall und Inspektor Cra» mer danach. Vielleicht handelt es sich bei diesem hier nicht um einen zweiten, sondern um denselben Ausschnitt.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Sir. Dieser hier ist auf der rechten Seite etwas knapper ausgeschnitten.« »Das habe ich auch bemerkt. Fra= gen Sie trotzdem, der Ordnung hal= b e r . . . Überprüfen Sie die Sicher' heitsketten an den Haustüren und den Nachtgong in Ihrem Zimmer... Wann kommen Sie aus Washing» ton zurück?«
»Meine Verabredung ist um neun Uhr früh. Also sollte ich eigentlich den Mittagszug erreichen und um fünf Uhr nachmittags wieder hier sein können. Falls ich mit General Carpenter wegen meiner Verset= zung klarkomme, werde ich ihn bit= ten, mich zu Ihrer Verfügung zu belassen, bis der Zeitungsaus' schnittversender gefaßt ist.« »Von mir aus brauchen Sie sich we= der mit der Rückkehr zu beeilen noch Ihre Pläne zu ändern. Ihr Ge= halt wird ja von der Regierung be= zahlt.« Wolfes Ton war trocken, scharf und eisig. »Rufen Sie jetzt bei General Fife an. Wir wollen zunächst wissen, wie es mit Cap= tain Root steht...« Alles klappte wie am Schnürchen, bis auf die Sache mit Jane Geer. Wäre Jane Geer nicht gewesen, hätte ich meinen Zug ohne weiteres erreicht. General Fife telefonierte binnen zwanzig Minuten zurück und teilte mit, daß Captain Root genauer gesagt, Ex=Captain Root baldigst nach New York transpor» tiert würde, damit Wolfe ihn ver= nehmen könne. Cornwall erklärte, er habe den von Jensen erhaltenen Zeitungsausschnitt nebst Kuvert an Inspektor Cramer weitergegeben, 17
Rex Stoul
und Cramer wiederum bestätigte, beides zu besitzen. Nachdem ich Cramer die neue Situation erläutert hatte, ließ er ein leises Lachen hö= ren und äußerte anzüglich: »Mr. Wolfe ist ja weder interessiert, noch beteiligt, noch neugierig.« Ich wuß= te, daß Wolfe nunmehr wieder mit Cramers Besuch rechnen durfte. Und das war, wenigstens nach Wol= fes Gesichtspunkt, nicht erfreulich. Mit Jane Geer klappte es, wie ge= sagt, nicht so recht. Als ich gegen Mittag die Werbe» agentur anrief, für die sie tätig ist, wurde mir mitgeteilt, sie sei zur Zeit bei einem Kunden auf Long Island. Erst nach vier Uhr gelang es mir, sie zu erreichen. Sie zeigte sich geschmeichelt, weil ich seit Mittag ihretwegen fünfmal telefo= niert hatte, was sie als Offenbarung meiner wahren Gefühle zu bewer« ten schien, war aber zu einem Be» such in Wolfes Haus nur unter der Bedingung bereit, daß ich sie vor= her zu einem Cocktail einlud. Ich traf sie also kurz nach fünf Uhr im Stork Klub. Sie hatte ein anstrengendes Tage" werk hinter sich, doch wenn man sie ansah, konnte man meinen, sie wäre erst vor einem halben Stund» chen von einem ausgiebigen Nach" 18
mittagsschlaf aufgestanden. Sie blitzte mich aus ihren braunen Augen an und sagte: »Lassen Sie mich einen Blick auf die Spitze Ihres rechten Zeigefingers tun.« Ich hielt ihr den Finger hin. Sie be= fühlte ihn vorsichtig. »Ich wollte«/ sagte sie, »nur mal sehen, ob sich da keine Schwiele gebildet hat, weil Sie doch innerhalb von vier Stun= den fünfmal meine Nummer wäh= len mußten.« Dann nippte sie an ihrem Cocktail, und dabei rutschte ihr eine Locke über das rechte Auge. Ich langte hinüber, um den Haarkringel wie« der hochzuschieben. »Diese Frei» heit«, erläuterte ich, »nahm ich mir, um einen ungehinderten Blick auf Ihr hübsches Gesicht zu haben. Ich möchte nämlich sehen, ob Sie jetzt blaß werden.« »Wegen Ihrer Nähe?« »Nicht deshalb. Momentan dürfte ich sowieso nicht anziehend wirken. Denn ich bin wütend, weil ichihreb» wegen meinen Zug versäumen werde.« »Dieses Mal habe nicht ich Sie an» gerufen, sondern Sie mich.« »Stimmt.« Ich nahm einen Schluck. »Sie sagten mir am Telefon, daß Sie Nero Wolfe noch immer nicht leiden können und daß Sie nicht in
Der Doppelgänger sein Haus kämen, es sei denn. Sie wüßten vorher, weshalb, und viel» leicht selbst dann noch nicht. Hier ist der Grund: Nero Wolfe will Sie fragen, ob Sie die Absicht haben, ihn eigenhändig umzubringen, oder ob Sie sich der gleichen Bande be» dienen wollen, durch die Jensen und Doyie beseitigt wurden.« »Merci, Monsieur!« Sie betrach» tete mich nachdenklich. »Ihr Hu= mor läßt zu wünschen übrig.« Ich zuckte die Schultern. »Tut mir leid. Normalerweise wäre es mir ein Vergnügen, ein wenig mit Ihnen zu plänkeln. Aber ich kann Ihretwegen nicht alle Züge versau» men. Da Wolfe auf dieselbe Art bedroht wurde wie Jensen, ist an= zunehmen, daß es sich bei Jensens Ermordung um eine Rache für das handelt, was Jensen als Hauptbe» lastungszeuge mit Root gemacht hat. Und weil wir uns recht gut an Ihr Verhalten bei Roots Festnahme und während der Gerichtsverhand= hing erinnern, liegt es nahe, daß wir erfahren möchten, was Sie in letzter Zeit angestellt haben.« »Denkt denn dieser Nero Wolfe wirklich, ich hätte das getan?« »Das habe ich nicht gesagt. Wolfe will nichts, als mit Ihnen über die Sache sprechen.«
Ihre Augen funkelten, und ihre Stimme wurde scharf. »Ja, und. dann kommt die Polizei! Hat Wolfe es so vorbereitet, daß ich nach dem Gespräch mit ihm abgeführt wer= de?« »Oh, hören Sie, liebe Jane! Ich habe Ihnen die Situation erläutert. Ihr Name wurde bisher nicht er= wähnt, obwohl die Polizei bereits bei uns war. Doch da die Polizei nun einmal über die Zusammen' hänge im Fall Root unterrichtet ist, wird sie natürlich früher oder spä= ter auch bei Ihnen erscheinen. Und deshalb möchte Wolfe sich vorher vergewissern, daß Sie keiner Fliege etwas zuleide tun können.« »Und wie will Wolfe das ma= chen?« Sie schnaufte verächtlich. »Sicher wird er mich fragen, ob ich schon einmal einen Mord began= gen habe. Und wenn ich lächelnd verneine, wird er sich entschuldi= gen und mir eine Orchidee sehen» ken — wie?« »Nicht ganz. Er ist ein Genie. Er stellt Ihnen einfache Fragen - zum Beispiel, ob Sie beim Angeln den Köder eigenhändig auf den Haken spießen. Und mit der Antwort ent' hüllen Sie ihm Ihr ganzes Innen» leben, ohne es zu merken.« »Das klingt faszinierend.« Der 19
Rex Stout Ausdruck ihrer Augen und der Ton ihrer Stimme veränderten sich plötzlich. »Ja - ich überlege.« »Was denn? Sagen Sie es mir, und wir werden gemeinsam über» legen.« »Selbstverständlich.« Der Aus= druck ihrer Augen war noch sanf= ter geworden. »Sagen Sie - verfol= gen Sie bei dieser Sache vielleicht ein ganz persönliches Interesse? Sie haben/ wie es heißt, so viele Freun= dinnen, daß Sie einen präzisen Stundenplan führen müssen, und finden doch so viel Zeit für mich? Sollte etwa diese ganze idiotische Beschuldigung -« »Lassen Sie das«, unterbrach idi, »oder ich werde anfangen, auch meinerseits Verdacht gegen Sie zu schöpfen. Sie sind eine geschickte Werbeberaterin und haben mir da= zu verholten, meine Vorliebe für bestimmte Formen, Farben und so= gar Parfüms zu präzisieren. Dafür bin ich Ihnen dankbar - aber das ist alles.« »Ha, ha.« Sie stand auf; ihre Au= gen begannen wieder zu funkeln, und als sie sprach, hatte ihre Stim= me wieder den scharfen Ton von vorhin. »Ich werde also zu Nero Wolfe gehen. Ich begrüße die Ge= legenheit, diesem Genie mein In= 20
nenleben zu enthüllen. Muß ich alleine gehen, oder begleiten Sie mich?« Ich sagte, selbstverständlich würde ich sie begleiten. Ich zahlte; dann gingen wir hinaus und nahmen ein Taxi. Aber Jane Geer kam nicht dazu, Wolfe zu sprechen. Da Wolfe angeordnet hatte, die Haustür mit der Kette zu sichern, konnte ich sie mit dem Schlüssel nicht öffnen und mußte Fritz her= ausklingeln. Ich hatte eben auf den Klingelknopf gedrückt, als hinter uns kein anderer die Vortreppe her» aufkam, als jener Armeeoffizier, der von allen Rekrutierungsplaka= ten herablächelt und in jedem Be= trachter die Überzeugung festigt, daß das männlich hübsche Äußere der Soldaten viel dazu beiträgt, die United States Army unüberwind» lieh zu machen. Zugegeben-er war ein verdammt gut aussehender Bursche. Er wirkte etwas gedanken» verloren, doch das hinderte ihn nicht, Jane Geer mit einem recht intensiven Blick zu bedenken. Im nächsten Moment wurde die Haustür geöffnet. »Danke«, sagte ich zu Fritz. »Ist Mr. Wolfe im Büro?« »Nein. Er ist in seinem Zimmer.«
Der Doppelgänger Fritz verschwand in Richtung Kü° ehe. Ich betrat die Haustürschwelle und wandte mich an den Uniform' mannequin: »Bitte, Major? Hier wohnt Mr. Nero Wolfe.« »Das weiß ich.« Die Baritonstimme paßte zu seiner Erscheinung. »Ich möchte Mr. Wolfe sprechen. Mein Name ist Emil Jensen. Ich bin der Sohn von Ben Jensen, der gestern abend ermordet wurde.« »Oh.« Viel Ähnlichkeit mit sei= nem Vater hatte er nicht. »Mr. Wolfe hat eine Verabredung. Es wäre gut, wenn ich ihn über den Zweck Ihres Besuches informieren könnte.« »Ich - nun ja, das sagte ich schon - ich möchte ihn sprechen. Wenn Sie gestatten, würde ich vorziehen, ihm den Zweck meines Besuches persönlich zu erklären.« Er lächelte liebenswürdig, um es keinesfalls kränkend klingen zu lassen; an= scheinend war er auch in Psycholo° gie gedrillt. »Verstehe. Bitte, treten Sie ein.« Ich gab Jane den Eingang frei, und Emil Jensen folgte ihr. Nachdem ich die Tür zugemacht und die Kette wieder vorgelegt hatte, geleitete ich die beiden ins Büro, forderte sie zum Platznehmen auf, ergriff den Hörer des Telefons auf meinem
Schreibtisch und verband mich mit Wolfes Zimmer. »Ja?« knurrte es über die Leitung. »Archie Goodwin hier. Habe Miss Geer mitgebracht. Außerdem ist Major Emil Jensen soeben hier ein= getroffen. Er ist Ben Jensens Sohn und möchte Sie sprechen, zieht es aber vor. Sie über den Zweck sei= nes Besuches persönlich zu unter' richten.« »Sagen Sie den beiden, daß ich be= daure. Ich bin beschäftigt und kann niemanden empfangen.« »Wie lange werden Sie beschäftigt sein, Sir?« »Das ist nicht vorherzusehen. In dieser Woche kann ich keine Ver= abredungen mehr treffen.« »Aber vielleicht erinnern Sie sich -« »Archie! Sagen Sie ihnen das, bit= te.« Die Verbindung wurde abge= brochen. Also sagte ich es ihnen. Sie waren nicht entzückt. Insbesondere nicht Jane Geer, und wer weiß, was für eine Szene sie aufgeführt hätte, wäre sie nicht durch die Anwesen» heit eines Fremden genötigt gewe= sen, ihr Temperament zu zügeln. Bei der anschließenden kurzen Un= terhaltung, die natürlich zu gar nichts führte, bemerkte ich, daß sie sich gegenseitig mit immer freund» 21
Rex Stout lidler werdenden Blicken betrach" teten. Ich dachte, diese schnell entflammte Sympathie werde mir helfen, die beiden recht bald loszuwerden, und sagte mit effektvoller Betonung: »Miss Geer - das ist Major Jen" sen.« Jensen sprang auf, verbeugte sich wie ein Mann, der weiß, wie man sich zu verbeugen hat, und mur= melte: »Sehr erfreut, Miss Geer.« Nach einer zweiten, etwas geringe' ren Verbeugung fügte er weltmän» nisch hinzu: »Sieht leider aus, als wäre es hoffnungslos, wenigstens für heute. Vor dem Haus wartet ein Taxi auf mich, Miss Geer, und es würde mir ein Vergnügen sein, Sie heimzufahren.« Jane Geer willigte huldvoll ein, und sie verabschiedeten sich. Ich beglei» tete sie zur Haustür und bemerkte noch, wie er ihr auf der Vortreppe den Arm bot. Ging wirklich rasch mit den beiden. Schließlich war ich ja auch Major ... Ich zuckte resigniert die Schultern, machte die Tür hinter ihnen zu, stieg in den ersten Stock hinauf, klopfte an Wolfes Tür, hörte seinen brummigen Hereinruf, trat ein und fand ihn mit eingeseiftem Ge= sieht, das altmodische Rasiermesser 22
in der Hand, auf der Schwelle zum Badezimmer. Er blickte mich an und fragte barsch: »Wie spät ist es?«
»Sechs Uhr achtundzwanzig.« »Wann geht der nächste Zug?« »Punkt sieben Uhr. Aber zur Hölle mit der Reise nach Washington! Offensichtlich gibt es hier eine Menge Arbeit. Ich kann die Fahrt auf nächste Woche verschieben.« »Nein. Die Sache spukt Ihnen im Kopf herum. Sie fahren mit dem Sieben=Uhr=Zug.« Ich versuchte es noch einmal. »Mein Motiv ist selbstsüchtig, Sir. Wenn ich morgen früh bei General Car« penter sitze und wir die Nachricht von Ihrem Tode erhalten oder viel» leicht auch nur von einer mehr oder weniger schweren Verwundung, dann wird Carpenter mir die Schuld daran geben. Und das ertrüge ich nicht. Deshalb sind es rein selbst» süchtige Beweggründe, die mich veranlassen —« »Zum Teufel!« brüllte Nero Wol» fe. »Sie werden auch den Sieben» Uhr=Zug versäumen! Ich habe nicht die geringste Absicht, mich töten zu lassen! Und nun hinaus mit Ihnen!« Ich verschwand...
Der Doppelgänger Manchmal denke ich, die Mentalität der Generale sollte reformiert wer» den. Das, was mir mit General Car" penter passierte, passiert andau» emd unzähligen anderen Offizieren mit allzuvielen anderen Generalen. Ich bin ja bloß Major. Und saß also am Donnerstagmorgen stramm und unbequem auf der Kante des Be« suchersessels in General Carpen» ters Dienstzimmer, immer wieder Jawohl sagend, während der Gene» ral mir darlegte, er habe mir die Unterredung nur gewährt, weil er glaubte, ich wolle ihm etwas von besonderer Wichtigkeit unterbrei» ten, aber mein Versetzungsgesuch sei völlig indiskutabel, und ich hätte weiterhin dort Dienst zu tun, wo ich für die United States Army von größtem Nutzen sei. Zum Schluß bemerkte er, daß ich, da ich nun einmal in Washington wäre, mit einigen Offizieren seines Stabes über den Stand mehrerer bisher unerledigter Fälle sprechen und mich zu diesem Zweck zunächst bei Colonel Dickey melden solle. Das tat ich und geriet damit in einen Strudel. Ein Colonel reichte mich immer zum nächsten weiter. Die Gentlemen hielten mich mit ihren Besprechungen den ganzen Donnerstag und auch noch den
Freitagvormittag fest, und ich saß die ganze Zeit wie auf glühenden Kohlen. Infolgedessen wäre ich beinah ver= sucht gewesen, mit dem nächsten Flugzeug nach New York zurückzu» kehren, als ich am Donnerstag» abend im Hotel eine Anzeige im New York Star las: Hilfskraft gewünscht, männlich, Alter 50-55, Gewicht, 260-270 Pfund, Größe ca. 1.80, normale Gesichtsfarbe, sicheres Auftre= ten. Nur vorübergehend. Ge» fährliche Tätigkeit. 100 Dollar pro Tag, 'Bildojferten an Box 202 Star. Ich las die Anzeige viermal, dachte zwei Minuten lang darüber nach, ging zum Telefon und ließ mich mit New York verbinden. Fritz Bremer meldete sich und versicher» te, bei Wolfe sei alles in Ordnung. Nachher, beim Zubettgehen, über» legte ich, inwiefern mir, wenn ich den Plan gefaßt hätte, Wolfe um» zubringen, ein Mann von Nutzen sein könnte, der Wolfe in mancher» lei Hinsicht ähnlich war. Da mir keine befriedigende Lösung einfal» len wollte, streckte ich mich im Bett aus, löschte die Nachttischlampe und schaltete die Gedanken ab. 25
Rex Stout Im Laufe des nächsten Nachmittags beendete ich die Besprechungen in Washington und fuhr nach New York zurück. Kurz vor elf Uhr abends stand ich vor Wolfes Haus in der Fünfunddreißigsten Straße und gab das vereinbarte Klingel» zeichen - dreimal kurz. Fritz kam und ließ mich ein. Wolfe schien im Büro zu sein, denn durch den Tür= spalt schimmerte Licht. Ich eilte hin, stieß die Tür auf und trat ein. »Man hat mich also weiterhin zum Stubenhocken verdammt«, begann ich munter. Dann brach ich jäh wie= der ab. In Wolfes thronartigem Schreibtischsessel, der unter kei= nen Umständen von irgend jemand anders benutzt werden durfte, hockte ein fetter Fleischberg von quasi menschlicher Form, mit an= deren Worten - ein dicker, entfernt wolfeähnlicher Mann, aber nicht Wolfe selbst. Ich hatte diesen Mann noch nie gesehen. Fritz, der die Türkette vorgelegt hatte, folgte mir ins Büro. Der Mann im Sessel sprach nicht und rührte sich nicht, sondern starrte mich nur an. Fritz sagte mir, daß Mr. Wolfe in seinem Zimmer wäre. Dann hüstelte der Dicke im Sessel und bemerkte mit heiser krächzen= der Stimme: »Schätze, Sie sind 24
Goodwin. Archie. Hatten Sie eine gute Reise?« Ich glotzte ihn an. Teils wünschte ich, ich wäre noch in Washington, zum anderen wünschte ich, ich wäre früher zurückgekommen. Der Dicke sagte; »Fritz, bringen Sie mir noch einen Highball.« »Sehr woM, Sir«, erwiderte Fritz. Der Dicke blickte mich an undfrag= te abermals: »Hatten Sie eine gute Reise, Archie?« Das reichte mir. Ich machte kehrt, verließ das Büro, stieg zum ersten Stock hinauf, klopfte an Wolfes Zimmertür und rief: »Archie hier.« Wolfes Stimme forderte mich zum Eintreten auf. Der echte Wolfe saß im Klubsessel unter der Lampe und las ein Buch. Er war vollständig angekleidet, und nichts deutete darauf hin, daß er den Verstand verloren hätte. Natürlich gönnte ich ihm nicht die Genugtuung, mich verblüfft zu se= hen und sich darüber zu amüsieren. Daher sagte ich in beiläufigem Ton: »Nun bin ich wieder da. Aber wenn Sie schläfrig sind, können wir uns ja morgen früh unterhals ten.« »Ich bin nicht schläfrig.« Er legte einen Finger in das Buch und klappte es zu.
Der Doppelgänger Ich setzte mich und sagte: »Es war arbeitsloser Architekt namens H. recht interessant in Washington. H. Hackett, zur Zeit völlig mittel» Doch im Augenblick ist es mir eine los. Darüber hinaus ist er ein un° große Erleichterung, Sie wohlauf glaublicher Einfaltspinsel mit den zu finden.« Manieren eines Ochsenfrosches. Ich »Warum auch nicht? Haben Sie ins suchte ihn unter sechs Bewerbern Büro geschaut?« heraus, weil er äußerlich am besten »Ja. Demnach haben Sie selbst die» paßte. Außerdem war er der ein= se Anzeige im Neu? Yorfc Star aufs zige, der ohne alles Feilschen dar= gegeben. Hundert Dollar Tagessatz auf einging, für hundert Dollar am - noble Sache. Wie bezahlen Sie Tag sein Leben zu riskieren.« den krächzenden Fleischberg eigent= »Wenn er mich weiterhin Archie lieh - jeden Tag in bar? Haben Sie nennt, geht er ein zusätzliches Ri= auch Steuern, Versicherung und siko ein.« sonstige Abgaben genau ausge= »Bitte!« Wolfe hob einen mahnen' rechnet? Er gleicht Ihnen so weit» den Finger. »Meinen Sie, für mich gehend, daß ich zuerst dachte. Sie wäre es ein erhebender Gedanke, wären es wirklich. Ich setzte mich diesen Popanz in meinem Sessel an meinen Schreibtisch und begann sitzen zu haben? Vielleicht ist er zu berichten, bis er Fritz auftrug, morgen oder übermorgen schon tot ihm noch einen Highball zu brin= - das habe ich ihm gesagt. Heute gen. Da merkte ich, daß Sie es nicht nachmittag fuhr er in einem Taxi waren. Ich weiß doch, wie sehr Sie zu Ditsons Blumenhandlung, besah Highballs hassen. Eine delikate Si= sich dort einige Orchideen und tuation. Erinnert mich an den Tag, brachte der Echtheit halber dann als Ihre Tochter aus Jugoslawien gleich zwei Töpfe mit. Morgen eintraf.« nachmittag werden Sie ihn einige »Archie! Halten Sie den Mund!« Stunden spazierenfahren. Mit mei= Wolfe legte das Buch aus der Hand nem alten hellen Mantel, einen und rutschte im Sessel herum, bis meiner Hüte auf dem dummen er wieder bequem saß. Dann sagte Kopf, sieht er mir so ähnlich, daß er: »Nähere Einzelheiten über ihn er. Sie ausgenommen, sicherlich finden Sie auf einem Zettel in Ihrer alle Leute täuscht.« Schreibtischschublade. Er ist ein »Gewiß, Sir. Aber weshalb diese
Rex Stout
Umstände? Weshalb können Sie nicht einfach im Haus bleiben/ wie Sie es ohnehin meistens tun, und gut aufpassen, wer ins Haus zu kommen versucht? Bis -« »Bis was?« »Bis der Bursche geschnappt ist, der Jensen und Doyie auf dem Ge= wissen hat.« »Bah!« Wolfe bedachte mich mit einem mißbilligenden Blick. »Von wem geschnappt? Von Cramer? Was, meinen Sie, tut Cramer jetzt wohl? Major Jensen, Ben Jensens Sohn, ist vor fünf Tagen auf Ur= laub gekommen, aus Europa. Das erste, was er hier erfuhr, war, daß sein Vater sich von seiner Mutter scheiden lassen wollte. Das führte zu einem Streit zwischen Vater und Sohn - an sich nichts Außerge" wohnliches. Aber unser cleverer Mr. Cramer hat nun fünfzig Mann angesetzt, die Beweise aufstöbern sollen, damit Major Jensen des Mordes an seinem Vater überführt werden kann! Ein kompletter Blöd= sinn! Denn welches Motiv könnte Major Jensen haben, auch midi zu töten?« »Nun«, ich hob die Augenbrauen, »diese Idee würde ich nicht ohne weiteres verwerfen, Sir. Vielleicht setzt der Major voraus, daß, wenn 26
er Ihnen den gleichen Drohbrief schickte, jedermann fragen würde, welches Motiv er denn habe könn= te, auch Sie zu töten.« Wolfe schüttelte den Kopf. »Nein, das hat er nicht vorausgesetzt. Es . sei denn, er wäre ein ausgemachter Narr. Es würde ja nicht genügen, daß er mir den Drohbrief schickt. Nein - er müßte die Drohung auch verwirklichen! Und bisher hat er keinen Versuch unternommen, mir irgendwie nach dem Leben zu trach» ten. Ich bezweifle sehr/daß er diese Absicht überhaupt hegt. General Fife hat sich, auf meine Bitte hin, Major Jensens Unterlagen ange= sehen ~ danach ist Jensen ein ab= solut einwandfreier Mensch. In° spektor Cramer vergeudet also seine Zeit, die Energien seiner Män° ner und das Geld der New Yor= ker Steuerzahler. Meine Lage ist schwierig. Wie Sie recht gut wie" sen, steht mir zur Zeit keiner mei" ner bewährten Mitarbeiter zur Ver= fügung. Cather und Durkin werden nach ihrem verdammten Autoun° fall von voriger Woche noch min» destens zehn Tage im Hospital bleiben müssen. Panzer und Keems verfolgen in Honolulu die kompli= zierte Angelegenheit mit den ver= schobenen Allisonmillionen. Und
Der Doppelgänger Sie wollen mich verlassen, weil Sie nur an Ihre Karriere denken. So bin ich an dieses Zimmer gebun» den und meinen Grübeleien ausge» setzt, während draußen ein blut= durstiger Irrer herumschleicht und auf eine Gelegenheit lauert, mich umzubringen.« Vermutlich war dies wieder mal eine seiner beliebten Übertreibun= gen. Aber ich hütete mich, Zweifel zu äußern - ich hatte meine Erfah= rungen mit ihm und seiner Emp= findlichkeit. Außerdem übersah ich die Situation nicht genau genug, um zu erkennen, wie weit er eigent= lieh übertrieb. Deshalb fragte ich nur: »Wie steht es mit Captain Root? Hat man ihn hergebracht?« »Ja, man hat ihn mir gebracht. Heute vormittag. Und ich habe mich mit ihm unterhalten. Er sitzt seit seiner Verurteilung im Ge= fängnis und versichert, diese Sache könne unmöglich mit ihm zu tun haben. Von Miss Geer hat er an= geblich seit fast zwei Monaten nichts mehr gehört. Seine Mutter ist Lehrerin in Danforth, Ohio. Cramer stellte fest, daß sie seit Monaten den Ort nicht verlassen hat/da der Unterricht sie sehr stark beansprucht. Vater Root, der frü° her in Danforth eine Tankstelle
betrieb, hat Frau und Sohn vor zehn oder elf Jahren verlassen und soll jetzt irgendwo in Oklahoma leben. Frau und Sohn ziehen es vor, nicht über ihn zu sprechen. Geschwister sind nicht vorhanden. Wie Ex=Captain Root behauptet, gäbe es auf der ganzen Welt kei= nen Menschen, der ihm zuliebe einen Doppelmord verüben wür= de.« »Vielleicht stimmt das.« »Nonsens! Abgesehen von meiner Verbindung zu Root gab es für mich keinen weiteren Berührungs» punkt mit Jensen! Ich habe Gene» ralFife gebeten, Root ein paar Tage in New York zu behalten. Inzwi= sehen sieht sich der Gefängnisdi= rektor Roots persönliche Sachen ein wenig genauer an.« »Nun, wenn Sie sich einmal in eine Idee verrennen -« »Das tue ich nie! Nicht so/wie Sie es meinen. Aber ich passe mich den Umständen an. Und hierbleibt mir ohnehin keine andere Wahl. Der Mensch, der Jensen und Doyie er» schössen hat, ist verwegen. Wahr= scheinlich wird er sich veranlaßt sehen, sein Programm fortzuset» zen ...« Ich wünschte Gute Nacht und ging in mein Zimmer, wo ich den Nacht»
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gong einschaltete und mich von seinem Funktionieren überzeugte. Dieser Nachtgong ist ein unter meinem Bett angebrachter Apparat Nero Wolfescher Konstruktion, der mich alarmieren soll, wenn sich des Nachts jemand der Tür zuWol= fes Zimmer nähert. Er war vor drei Jahren nach einem Vorfall erson= nen und installiert worden, in des= sen Verlauf Wolf e mit einem Dolch angegriffen wurde, und bisher noch nie im Ernstfall erklungen. Und ich hatte oft genug Zweifel gehabt, ob er sich jemals als nützlich erweisen würde. Doch in dieser Nacht, mit dem wolfeähnlichen Fremden im Haus, war ich zufrieden, daß es ihn gab ... Am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, verbrachte ich eine Stunde bei Wolfe im Orchideen» gewächshaus auf dem Dach. Wir besprachen die Einzelheiten. Jane Geer schien zu einer Plage geworden zu sein. Jetzt verstand ich, weshalb Wolfe sich am Mitt= wochnachmittag geweigert hatte, sie zu empfangen. Denn nachdem er mich losgeschickt hatte, sie zu holen, war ihm der geniale Einfall mit dem Double gekommen, und nun wünschte er begreiflicherweise 28
nicht mehr/daß sieden echten Nero Wolfe noch einmal zu sehen be= käme, weil sie dann kaum noch auf das Double hereinfallen würde. Inzwischen hatte sie mehrmals an= telefoniert und war am Freitaga morgen sogar persönlich erschie= nen, um eine Unterredung mit Wolfe durchzusetzen; hierbei wa= ren volle fünf Minuten vergangen/ ehe es Fritz gelang, sie durch einen Spalt der kettengesicherten Haus= tür von der momentanen Aussichts= losigkeit ihres Bemühens zu über» zeugen. Doch jetzt hatte Wolfe wieder einen seiner brillanten Ein= fälle - ich sollte Jane Geer anrufen und sie auf sechs Uhr nachmittags zu Wolfe bestellen, um sie dann, wenn sie kam, ins Büro zu führen, wo das Double auf Wolf es Schreib» tischsessel thronen würde. Wolfe wollte Hackett auf diese Unterres düng vorbereiten. Ich zog ein skeptisches Gesicht. »Es mag ihr Gelegenheit geben, Mr. Hackett umzubringen«, sagte Wolfe. Ich schnaufte verächtlich. »Und meine Aufgabe wäre es dann wohl, ihr zu sagen, wann sie das Feuer einstellen kann?« »Zugegeben, es wäre nicht schön. Aber ich könnte sie dabei sehen
Der Doppelgänger und hören. Ich würde am Guck= loch sein.« Das also hatte er im Sinn! Er wür= de sich im Alkoven aufhalten und durch das Guckloch spähen, das im Büro durch ein von hinten durch= sichtiges Bild getarnt ist. Er liebte es, sich Vorwände für die Benut= zung des Guckloches auszudenken. Major Jensen, offenbar weit weni= ger hartnäckig als Jane Geer, hatte inzwischen nur einmal angerufen und dabei die Auskunft erhalten, daß Wolfe noch immer beschäftigt sei. Als ich ins Büro kam, saß Mr. H. H. Hackett in Wolfes Sessel, knab= berte Kekse und verstreute die Krümel über den ganzen Schreib= tisch. Ich setzte mich an meinen Schreib' tisch' und rief Jane Geer in ihrem Büro an. »Hier Archie«, meldete ich mich. Sie fauchte: »Welcher Archie-eh?« »Oh, seien Sie nicht gleich unge= mütlich! Immerhin haben wir Ihnen die Polizei nicht auf den Hals ge= hetzt. Nero Wolfe möchte Sie se= hen.« »Möchte er das? Ha, ha. Bisher benahm er sich aber nicht danach.« »Er hat es sich anders überlegt. Ich zeigte ihm ein Bild von Elsa Max=
well und sagte, das wären Sie. Jetzt will er nicht einmal mehr erlauben, daß ich Sie in einem Taxi abhole.« »Das erlaube ich auch nicht.« »Gut. Aber Sie kommen? Seien Sie um sechs Uhr da, und Sie werden bestimmt empfangen. In Ord° nung?« Sie sagte zu. Ich führte noch ein paar Telefon' gespräche und erledigte einige an» dere Arbeiten. Dabei fiel mir ein irritierendes Geräusch immer mehr auf die Nerven. Schließlich fragte ich den Mann in Wolfes Sessel: »Was für Kekse essen Sie denn da?« »Gingersnaps.« Anscheinend war das heisere Gekrächze seine nor= male Stimme. »Oh. Ich wußte gar nicht, daß wir Gingersnaps im Hause haben.« »Hatten wir auch nicht. Ich fragte Fritz. Er schien Gingersnaps über» haupt nicht zu kennen. Deshalb ging ich zur Neunten Avenue hin» über und kaufte mir welche.« »Wann? Heute früh?« »Ja. Eben vor einem Weilchen.« Ich nahm den Telefonhörer, ver= band mich mit dem Gewächshaus und sagte, nachdem Wolfe sich ge= meldet hatte: »Mr. H. H. Hackett knabbert Gingersnaps. Eben vor
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einem Weilchen ist er zur Neunten Avenue spaziert, um sich diese Gingersnaps zu kaufen. Wenn er das Haus ganz nach eigenem Be= lieben verläßt und wieder betritt welche Gegenleistung bekommen wir dann eigentlich für unsere hun= dert Dollar pro Tag?« Wolfe drückte sich sehr präzise aus. Ich hörte es mir an, legte auf und drückte mich ebenfalls sehr präzise aus. Hackett durfte verein» barungsgemäß das Haus nur ver« lassen/wenn er von Wolfe oder von mir die Genehmigung dazu erhal« ten hatte. Das brachte ich ihm in Erinnerung. Er schien nicht beson' ders beeindruckt. »Schon gut«, krächzte er, »wenn das so ist, werde ich die Abma» chung einhalten. Aber die Abma= chung hat zwei Seiten. Es ist ver» einbart, daß ich täglich im voraus bezahlt werde. Und für heute habe ich noch nichts bekommen. Hun= dert Dollar netto, bitte. «Er streckte eine unglaublich dicke Hand aus. Ich entrahm der Spesentasche fünf Zwanzigdollarnoten und gab sie ihm. »Ich muß gestehen«, bemerkte er, während er die Banknoten faltete und in seine Brieftasche schob, »daß dies eine großzügige Bezahlung für 50
so geringfügige Arbeit ist. Aller" dings ist mir klar, daß ich vielleicht einmal - äh - ganz plötzlich und unerwartet allerhand dafür leisten muß.« Er lehnte sich ein wenig nach vorn. »Aber ich möchte Ihnen anvertrauen, Archie, daß ich nicht damit rechne. Ich bin Sanguiniker von Natur.« »Sicher«, brummte ich. »Ich auch.« Dann öffnete ich die Schublade meines Schreibtisches, in der die Schußwaffen verwahrt werden, holte mein Schulterhalfter heraus und wählte von den drei Schieß» eisen meine eigene Pistole; die bei= den anderen Schießeisen gehören Wolfe. Im Magazin meiner Pistole steckten nur drei Patronen; ich zog die Schublade etwas weiter auf und entnahm der Patronenschachtel vier Patronen, um das Magazin zu füllen. Nachdem ich das Halfter angelegt und die Pistole darin untergebracht hatte, warf ich zufällig einen Blick auf Hackett und sah, daß er ein ganz verändertes Gesicht zeigte seine Lippen waren zusammenge= kniff en, in seinen Augen lag einun« mißverständlicher Ausdruck wach« samer Furcht. »Hab' das bisher nie bedacht«, krächzte er, und ich merkte, daß
Der Doppelgänger auch sein Tonfall verändert war. »Dieser Mr. Wolfe ist wohl eine große Nummer, und Sie sind sein Mann. Ich habe den Job in dem Glauben übernommen, daß plötz= lieh jemand auftauchen, mich für Mr. Wolfe halten und versuchen könnte, mich über den Haufen zu schießen. Aber ich habe nur Mr. Wolfes Wort, daß die Situation wirklich so ist. Sollten die Dinge anders liegen, vielleicht so, daß Sie die Absicht hegen, mich eigenhän= dig zu erschießen - dann möchte ich allerdings betonen, daß dies nicht fair wäre.« Ich lächelte ihm zu und erkannte, daß es ein Fehler gewesen war, in seiner Gegenwart mit der Pistole herumzuspielen. Der Anblick der Waffe und der Patronen hatte ihm Furcht eingeflößt. »Hören Sie«, sagte ich ernst, »vor wenigen Minuten erklärten Sie, daß Sie nichts Ernstliches befürch= ten. Vielleicht haben Sie recht. Ich bin eigentlich auch der Meinung, daß Ihnen keine Gefahr droht. Für den Fall aber, daß doch jemand eine Dummheit versuchen sollte, habe ich hier dieses nette kleine Ding bereit.« Ich klopfte mit der flachen rechten Hand vertrauener" weckend auf die Stelle, an der das
Schulterhalfter saß. »Und zwar zu doppeltem Zweck bereit! Erstens, um zu verhindern, daß Ihnen ein Leid geschieht. Zweitens, falls Ihnen doch ein Leid geschieht, detti Täter ein noch größeres Leid zuzufügen.« Dies schien ihn zu beruhigen, denn seine Züge entspannten sich wie» der. Mit den Gingersnaps beschär» tigte er sich allerdings nicht mehr. Soviel hatte ich immerhin ers reicht ... Um die Wahrheit zu sagen - als der Nachmittag vorüber war und ich H. H. Hackett nach unserer Spazierfahrt wieder glücklich im Hause hatte, bedurfte es solcher Kleinigkeiten wie der Gingersnaps und seiner Gewohnheit, mich Ar» chie zu nennen, um zu verhindern, daß ich eine Art Bewunderung für ihn empfand. Auf unserem ausgedehnten Trip hatten wir das Metropolitan Mu= seum, den Botanischen Garten und drei oder vier Geschäfte besucht. Im Auto hatte H. H. Hackett, ge= nau wie sonst Wolfe, wuchtig und pompös auf einem der Fondsitze gesessen, aber weit mehr Interesse für den Anblick aller möglichen Dinge gezeigt, als Wolfe dies zu 51
Rex Stout tun pflegte. Doch wenn wir irgend» wo anhielten, ausstiegen und den Gehsteig überquerten, war er groß= artig; er hastete nicht, und er trö= delte nicht, sondern schritt würde= voll, wie es einem reputierlichen Mann von zweihundertsechzig Pfund geziemt. Mit Wolfes Hut, Mantel und Spazierstock hätte er sogar mich täuschen können. Ich mußte zugeben, daß er sich tadellos verhielt. Dennoch wollte mir die Sache mit dem Double nicht gefal= len; ich hielt sie für den größten Blödsinn, den Wolfe bisher ausge= heckt hatte. Nach Hause zurückgekehrt, steuer= te ich H. H. Hackett ins Büro und ging in die Küche, wo Wolfe am großen Tisch saß und Bier trank. Ich markierte Haltung und be= richtete im Rapportton: »Ohne Zwischenfälle von befohlener Un= ternehmung zurück. Nichts Ver= dächtiges beobachtet. Versuchs» person hat sich an Drehtür bei Rustermans unbedeutende Prel= lung des linken Ellbogens zuge= zogen, ist aber sonst wohlauf.« Wolfe, der meine militärischen Mätzchen nicht schätzte, warf mir einen mißbilligenden Blick zu und brummte; »Wie hat er sich benom= men<« 32
»Recht brauchbar, Sir.« Wolfe überlegte. Dann sagte er: »Nach Eintritt der Dunkelheit soll» ten wir bessere Ergebnisse erwar= ten können ... Ich fasse nochmals zusammen: Sie beteiligen sich an der Unterhaltung mit Miss Geer, werden sich aber zurückhalten. Falls Sie einen Ihrer Scherze machen, ist nicht abzusehen, wie Mr. Hackett sich verhalten wird. Sie wissen, daß er von mir genau instruiert wurde, aber seine Disziplin ist zweifel= haft ... Sorgen Sie dafür, daß Miss Geer laut und deutlich spricht, da= mit ich hinter dem Guckloch alles mitbekomme. Setzen Sie sie mitten vor meinen Schreibtisch - dort kann ich sie am besten sehen.« »Sehr wohl, Sir. Sämtliche Anwei» sungen werden genauestens be= folgt!« Aber es ergab sich, daß ich, unge= achtet bester Vorsätze, die Anwei= sungen nicht befolgen konnte. Ich stand eben im Begriff, die Kü° ehe zu verlassen, als die Haustür» klingel anschlug; da es kurz vor sechs Uhr war, mochte es sich um Jane Geer handeln. Im Vorüberge= hen warf ich einen Blick ins Büro, um nachzusehen, ob Mr. Hackett auch nicht mit den Füßen auf dem Schreibtisch dasäße. Dann machte
Der Doppelgänger ich die Haustür auf und sah, daß Jane Geer sich nicht alleine durch die Straßen der großen Stadt ge= wagt hatte. Major Emil Jensen stand neben ihr. »Hallo«, sagte ich munter, »alle beide auf einmal?« Jensen grüßte militärisch, und Jane erläuterte: »Major Jensen bestand darauf, mich zu begleiten. Wir sa= ßen bei einem Cocktail.« Sie blickte mich etwas seltsam an, und ich merkte, daß ich noch immer den Eingang blockierte. »Dürfen wir hereinkommen?« Freilich hätte ich Jensen erklären können, wir hätten mit seinem Be= such nicht gerechnet, und er möge so nett sein, ein halbes Stündchen spazierenzugehen. Andererseits dachte ich, daß wir - wenn bei der Gegenüberstellung mit Hackett et= was herausspringen sollte - es ge= trost auch mit Jensen probieren könnten. Nun war aber Hackett nur auf Janes Besuch vorbereitet worden, und es ließ sich nicht vor= aussehen, wie er auf das zusätzli» ehe Erscheinen eines Majors inUni= form reagieren würde. Auf jeden Fall mußte ich nähere Anweisungen von Wolfe einholen. So kompli= montierte ich die beiden in das so= genannte Vorderzimmer, einen gro=
ßen, neben dem Büro gelegenen Raum, der uns als Wartezimmer oder Konferenzzimmer dient. Nachdem sie Platz genommen hat» ten und ich schon wieder hinaus' gehen wollte, bemerkte ich einen recht mißlichen Umstand - die Ver= bindungstür zwischen Vorderzim» mer und Büro stand weit offen. Wenn sie beim Umherschauen die Hälse ein wenig reckten, konnten sie einen Blick auf H. H. Hackett hinter dem Schreibtisch werfen. Doch dafür - beim Teufel! - war dieses Prachtstück eigentlich da. Ich eilte in die Halle hinaus, fand Wolfe im Alkoven am Guckloch und flüsterte ihm zu: »Sie hat einen Begleiter mitgebracht, Major Jen= sen. Sie sitzen im Vorderzimmer. Die Verbindungstür zum Büro steht ziemlich weit offen. Was jetzt?« Wolfe blickte mich stirnrunzelnd an und entgegnete, gleichfalls im Flüsterton: »Verwünscht. Gehen Sie durchs Büro ins Vorderzimmer zurück und machen Sie die Verbin= dungstür hinter sich zu. Bitten Sie Major Jensen, zu warten. Erklären Sie ihm, daß ich Miss Geer alleine sprechen möchte. Bringen Sie sie durch die Halle ins Büro. Und wenn Sie -« Da dröhnte ein Revolverschuß. 33
Rex Stout Wenigstens hörte es sich wie ein Revolverschuß an. Und der Knall war zweifellos aus dem Innern des Hauses gekommen - genauer ge= sagt, aus diesem Stockwerk! Mit zwei, drei Sätzen war ich im Büro. Hackett saß hinter dem Schreibtisch — erschrocken und sprachlos. Ich jagte ins Wartezim= mer. Dort standen Jensen und Jane und starrten sich an - gleichfalls erschrocken und sprachlos. Ihre Hände waren leer, Jane hielt ihre kleine Handtasche unter den rech= ten Oberarm gedrückt. Wäre dieser typische Geruch nicht gewesen, dann hätte ich gedacht, Mr. H. H. Hackett habe vielleicht allzu gierig auf einen seiner Gin= gersnaps gebissen. Aber ich kannte den Pulvergeruch nur zu gut. »Nun, Sir?« fauchte ich in Jensens Richtung. »Was - nun, Sir?« Er starrte jetzt nicht mehr Jane, sondern mich an. »Was, zum Teufel/ war das?« »Haben Sie geschossen?« »Nein! Sie?« Ich wandte mich an Jane. »Haben Sie geschossen?« »Sie-Sie Idiot«, stammelte sie und versuchte nicht zu zittern. »Wes= halb sollte ich schießen?« »Lassen Sie doch mal die Pistole in 34
Ihrer Hand anschauen, Sir!« ver» langte Jensen. Ich blickte auf meine Hand und war überrascht, meine Pistole darin zu sehen. Ich hatte sie auf dem Weg hierher automatisch aus dem Schul= terhalfter gezogen, ohne es zu mer» ken. »Diese hier ist nicht abge» feuert worden«, erklärte ich und hielt die Mündung unter Jensens Nase. »Oder?« Er schnupperte. »Nein.« »Aber in diesem Zimmer wurde ein Schuß abgefeuert!« beharrte ich. »Riechen Sie es nicht?« »Gewiß. Es riecht ganz deutlich nach Pulver. Aber —« »Gut«, unterbrach ich, »gehen wir ins Büro zu Mr. Wolfe und bespre= chen wir die Sache. Dort hinein, bitte.« Ich wies mit der Pistole zur Ver» bindungstür. Jane begann etwas von einem ab= gekarteten Spiel zu zetern. Ich machte nicht viel Federlesens und schob sie mit sanfter Gewalt ins Büro. Jensen folgte unter mildem Protest. »Das ist Mr. Wolfe«, erklärte ich mit einer Handbewegung auf den Mann hinter dem Schreibtisch. »Bitte, nehmen Sie Platz. Sie, Miss Geer, in diesem Sessel, wenn ich
Der Doppelgänger bitten darf. Und Sie, Major Jen= sen, in jenem.« Da der echte Wolfe draußen am Guckloch stand, hatte ich allein zu entscheiden, was mit den beiden Besuchern anzufangen wäre, bis ich die Waffe und viel» leicht auch das Geschoß entdecken konnte. Jane zeterte noch ein bißchen, hielt aber inne, als Jensen plötzlich rief: »Mr. Wolfe hat ja Blut am Kopf!« Ich warf einen Blick auf H. H. Hak» kett. Er stand hinter dem Schreib» tisch, eine Hand auf die Schreib» tischplatte gestützt, und glotzte uns an. Unter seinem linken Ohr sik« kerte etwas Blut den Hals hinab. Ich holte Luft und brüllte: »Fri»i» itz!« Fritz war im selben Augenblick zur Stelle; er schien sich direkt hinter der Tür aufgehalten zu haben. Ich gab ihm meine Pistole und sagte: »Wenn jemand sich rührt, und sei es auch nur, um das Taschentuch zu ziehen, schießen Sie sofort!« »Diese Anweisung«, erklärte Jen» sen scharf, »ist sehr riskant, falls er-«
»Keine Sorge! Fritz ist absolut in Ordnung.« »Ich wünsche, daß Sie mich durch» suchen«, verlangte Jensen und hob die Arme zur Zimmerdecke.
»So ist es schon besser«, entgegnete ich und trat zu ihm, um seinem Wunsch nachzukommen. Nachdem ich ihn gründlich abgeklopft hatte, bat ich ihn, wieder Platz zu nehmen und wandte mich an Jane. Sie warf den Kopf zurück und blickte midi verächtlich und herausfordernd an. »Seien Sie vernünftig, Miss Geer«, mahnte ich. »Wenn Sie eine Durch» suchung verweigern, kann es pas» sieren, daß Fritz Sie bei einer unbe« dachten Bewegung erschießt. Meine Schuld wäre es dann nicht.« Sie warf mir noch einen besonders verächtlichen und besonders her» ausfordemden Blick zu, ließ sich dann aber abklopfen. Ich tat es rücksichtsvoll und diskret und warf anschließend einen Blick in ihr Handtäschchen, entdeckte jedoch nichts. Dann trat ich hinter Wolfes Schreibtisch und besah mir Hackett. Nachdem Jensen das Blut an Mr. Wolfes Kopf erwähnt hatte, war sich Hackett mit der Hand hinters Ohr gefahren und glotzte seither auf seinen blutigen Zeigefinger. »Mein Kopf?« krächzte er. »Blutet mein Kopf?« Durch sein Verhalten trug er nicht dazu bei, Nero Wolfes Ruf absolu» ter Unerschütterlichkeit zu unter» mauern. 35
Rex Stout Nach kurzer Inspektion erklärte ich: »Nicht Ihr Kopf, Sir. Lediglich vom oberen Rand der Ohrmuschel fehlt ein winziges Stückchen.« »Ich - ich bin also nicht gefährlich verletzt?« Ich hätte ihn ermorden mögen/hielt jedoch an mich. Ich instruierte Fritz, der noch immer meine Pistole schußbereit hielt, daß Bewegungen nach wie vor verboten seien, gelei= tete Hackett ins Badezimmer un= mittelbar neben dem Büro und machte die Tür hinter uns zu. Nach" dem ich ihm das Ohr im Spiegel gezeigt und etwas Jod sowie ein kleines Pflaster daraufgetan hatte, befahl ich ihm, so lange im Bade= zimmer zu bleiben, bis seine Ner= ven sich beruhigt hätten. Ich fügte hinzu, wenn er dann wieder ins Büro käme, solle er versuchen, überlegene Ruhe zu zeigen, und im übrigen mich sprechen lassen. Bei meiner Rückkehr ins Büro fauchte Jane mich an: »Haben Sie ihn auch durchsucht?« Ich ignorierte es und widmete mich einer Inspektion der Lehne des Schreibtischsessels. Die Lederpol= sterung hatte etwa in Kopfhöhe ein Durchschußloch; an der dahin= tergelegenen Wand zeigte sich in entsprechender Höhe die Stelle, wo 36
das Geschoß eingeschlagen war. Mit Taschenmesser und Nagelfeile begann ich in der Wand herumzu» polken. Etwa anderthalb Minuten später, als H. H. Hackett eben wie= der eintrat, hielt ich einen kleinen Metallgegenstand zwischen Dau= men und Zeigefinger. »Geschoß«, rapportierte ich schnar= r-end, »Kaliber achtunddreißig. Durchbohrte Mr. Wolfes Ohr, ist dann durch Sessellehne in Wand geschlagen und hat ringsum Mör= tel abgebröckelt.« Jane jappte, Jensen starrte mich in= digniert an, und H. H. Hackett schüttelte sich. Dann sagte Jensen kühl: »Könnte doch sein, daß Mr. Wolfe den Schuß selbst abgefeuert hat.« »Ach nein?« entgegnete ich. »Möchten Sie Mr. Wolfes Gesicht nach Pulverspuren untersuchen?« »Die hat er sich im Badezimmer abgewaschen!« zeterte Jane. »Pulverspuren lassen sich nicht ein= fach abwaschen«, belehrte ich sie und wandte mich an Jensen: »Ich werde Ihnen ein Vergrößerungs» glas geben. Damit können Sie sich dann auch den Durchschuß in der Sessellehne ansehen.« Jensen besaß die Unverfrorenheit, diesen Vorschlag anzunehmen. Ich
Der Doppelgänger holte das größte der drei Vergröße» die Waffe bekämen - wir wollen rungsgläser aus Wolfes Schreib» ja ebenfalls objektiv sein. Vielleicht tisch und reichte es Jensen. Zuerst finden wir sie im Wartezimmer.« besah er den Durchschuß in der Ich nahm Hackett beim Ellbogen Sessellehne, dann untersuchte er und steuerte ihn auf die Verbin» Hacketts Gesichtshaut nahe dem dungstür zu. »Fritz - Sie passen Ohr. Hackett stand still wie ein auf, daß unsere Besucher keine Monument, die Lippen zusammen" Dummheiten machen.« gepreßt, die Augen starr geradeaus Jensen stand auf. »Ich möchte an gerichtet. Jensen gab mir das Ver= der Suche teilnehmen.« größerungsglas zurück und setzte »Den Teufel werden Sie das!« fuhr ich ihn an. »Bleiben Sie gefälligst sich wieder. Ich fragte ihn; »Hat Mr. Wolfe sich sitzen! Wessen Haus ist das hier selbst ins Ohr geschossen?« wohl - eh? Und wen geht es in er= »Nein. Es sei denn, er hatte die ster Linie an, wenn hier Geschosse Waffe umwickelt.« herumschwirren wie die Fliegen?« »Freilich!« Mein Ton war ironisch. Er machte wieder eine Gegenbe» »Er stülpte ein Kissen über die merkung und Jane natürlich auch, Mündung, hielt das Ganze auf aber ich ignorierte es, bugsierte Armlänge entfernt und drückte ab. Hackett vollends ins Wartezimmer Würden Sie uns das mal vorma» und machte die schalldichte Tür dien? Es wäre ein Wunder, wenn hinter uns zu. Sie dann den oberen Rand Ihrer »Kommt mir schier unfaßlich vor«, Ohrmuschel träfen.« murmelte Hackett, »daß einer von Jensen starrte mich an. »Ich versu= den beiden durch die offene Tür ehe objektiv zu sein, wenn es auch auf mich geschossen haben könnte, schwerfällt.« ohne daß ich wenigstens die Hand »Sofern ich das Geschehene richtig mit der Waffe gesehen hätte -« beurteile -«, wollte Hackett begin= »Das sagten Sie schon vorhin im nen. Badezimmer. Außerdem sagten Sie, Ich unterbrach ihn sofort: »Ent= Sie könnten sich nicht mehr erin» schuldigen Sie, Sir. Das Geschoß nern, ob Ihre Augen offen oder ge= ist bestimmt eine gewisse Hilfe. schlössen waren, als Sie den Schuß Aber es wäre besser, wenn wir auch hörten.« Ich packte ihn beim Jak= 37
Rex Stout kettaufschlag. »Jetzt geben Sie acht! zwischen den Fenstern kam und Falls Sie argwöhnen, Wolfe oder hineinschaute, sah ich darin etwas ich hätten auf Sie geschossen/ dann Weißliches schimmern. Ich schob müssen Sie Mehlwürmer im Ge= die rechte Hand in die Vase und hirn haben! Vergegenwärtigen Sie holte - einen taschentuchumwickeis sich die Geschoßbahn! Der Durch» ten Revolver heraus! schuß in der Sessellehne wie auch Dem Mündungsgeruch zufolge war der Einschlag in der Wand bewei» das Ding erst vor kurzem abge= sen, daß die Kugel aus der Rieh» feuert worden. Es handelte sich um tung der Wartezimmertür gekom= einen alten Granville, Kaliber 58, men sein muß, aber niemals von schon ein bißchen angerostet. Das der Tür zur Halle her! So, jetzt set° Taschentuch hatte ein Loch, durch zen Sie sich hin und sind still!« das der Lauf hindurchgeschoben Er gehorchte, allerdings leise mur» war. Behutsam prüfte ichdieTrom» rend. Meine Blicke überflogen den mel und fand, daß sie fünf Patro' Raum. Angenommen, der Schuß nen und eine leere Hülse enthielt. war hier im Wartezimmer abge= Hackett hatte sich erhoben, stand feuert worden, dann mußte sich die jetzt neben mir und setzte zu einer Waffe noch hier befinden, denn ich Äußerung an. Ich sagte unwirsch: war fünf Sekunden später herein" »Ja, verdammt, es ist eine Schuß» gekommen und hatte Jane und Jen= waffe! Erst vor kurzem abgefeuert. sen vorgefunden, wie sie sich reg= Gehört aber weder mir noch Wol= los anstarrten. Die von außen vor= fe. Ist es Ihre? Nein? Gut, bleiben gelegten Fensterläden machten es Sie still! Wir gehen jetzt ins Büro unmöglich, daß die Waffe aus dem zurück. Ich werde vollauf damit zu Fenster geworfen worden sein tun haben, eine Lösung für diese konnte. Ich begann zu suchen, hatte Situation zu finden. Klar, daß ich aber das seltsame Gefühl, daß ich mich nicht viel um Sie kümmern trotz sorgfältigsten Stöberns nichts kann. Versuchen Sie nicht, mir zu helfen. Drücken Sie Ihre Überle» finden würde. Falls das eine Ahnung war, schien genheit durch vielsagendes Schwei= heute ein schlechter Tag für Ahnun» gen aus! Wenn wir diese Sache in gen zu sein. Denn als ich an die Ordnung bringen, bekommen Sie große Blumenvase auf dem Tisch hundert Dollar extra. Klar?« 38
Der Doppelgänger »Zweihundert«, erwiderte er zu meiner Verblüffung. »Ich bin ver= wundet worden und nur um Haa= resbreite dem Tod entronnen.« Ich sagte ihm, die anderen Hundert müsse er versuchen Wolfe abzu= schwatzen, machte die Tür auf und schob ihn vor mir her ins Büro. Er ging an Jane Geer vorbei und um Wolfes Schreibtisch herum und setzte sich in den Sessel, in dem er beinah erschossen worden wäre. Ich nahm an meinem Schreibtisch Platz und blickte abwechselnd Jane und Jensen an. Jensen fragte: »Was haben Sie denn da in der Hand?« »Dies«, erwiderte ich zuvorkom» mend, »ist ein alter Revolver, ein Granville, Kaliber 58, erst vor kur= zem abgefeuert.« Ich legte den Re= volver vor mich auf den Schreib' tisch. »Fritz, geben Sie mir meine Pistole wieder.« Fritz tat es, und ich behielt die Pi= stole in der Hand. »Danke, Fritz ... Ja, und um auf den Revolver zurückzukommen ich fand ihn, umwickelt mit diesem Taschentuch, in der großen Blu» menvase im Wartezimmer. Die Trommel enthält fünf Patronen und eine leere Hülse. Dieses Schieß» eisen gehört nicht ins Haus, ich
habe es nie zuvor gesehen. Sieht aus, als verschärfe es die ohnehin recht kritische Situation noch mehr.« Jane explodierte. Sie nannte midi ein nichtswürdiges Stinktier. Sie sagte, sie wünsche einen Anwalt und werde sich unverzüglich auf den Weg dahin machen, zu einem besonders scharfen. Sie belegte Hackett mit drei oder vier recht er= lesenen Schimpfnamen und erklär» te, dieses hier sei ein infam abge* kartetes Spiel. »Jetzt weiß ich«, zischte sie Hackett an, »daß Sie auch mit Captain Root ein abge» kartetes Spiel getrieben haben. Die« sem Stinktier Goodwin ist es da» mals gelungen, mir das auszureden. Doch dieses Mal habt ihr kein Glück bei mir!« Hackett versuchte, einige Erwide» rungen vorzubringen. Seine Stim= me wurde dabei immer lauter und lauter, aber erst als Jane zum Atemholen innehielt, war er zu vernehmen: »... dulde das nicht! Kommen hierher und versuchen mich umzubringen! Um ein Haar gelingt Ihnen das! Dann beleidigen Sie mich und erzählen etwas von einem Captain Root. Dabei habe ich nie im Leben etwas von einem Captain Root gehört!« Er 39
Rex Stout
war wütend. Anscheinend bildete er sich in seiner Erregung ein/ sel= ber Nero Wolfe zu sein. Schnau» fend und krächzend fuhr er fort: »Hören Sie mir zu, junge Lady! Ich werde Ihnen —« Jane machte kehrt und ging zur Tür. Ich sprang auf und wollte ihr nacheilen, blieb aber wieder stehen, weil die Tür sich öffnete und von einer wuchtigen Gestalt blockiert wurde. Jane starrte die Erscheinung aus weit aufgerissenen Augen an und wich langsam zurück. Die wuchtige Gestalt trat über die Schwelle, blieb stehen und sagte: »Hallo, Miss Geer. Hallo, Mr. Jen= sen. Ich bin Nero Wolfe.« Das machte er großartig, und die Wirkung war demgemäß. Niemand gab einen Mucks von sich. Er kam noch etwas näher, und Jane wich immer weiter zurück. Neben seinem Schreibtisch blieb Wolfe stehen und winkte Hackett mit einem Finger aus dem thron» artigen Sessel. »Nehmen Sie einen anderen Stuhl, Sir, wenn ich bitten darf.« Wortlos stand Hackett auf, wort= los schlich er um die andere Seite des Schreibtisches herum, wortlos setzte er sich in einen der Besu= chersessel. Wolfe inspizierte den 40
Durchschuß in der Lehne und das Loch in der Wand, brummte miß= billigend und ließ sich in seinen Sessel fallen. »Dies«, sagte Jensen heiser, »macht nun alles zur Farce.« »Ich gehe!« schrie Jane und eilte wieder zur Tür. Ich hatte das er» wartet, sprang ihr nach und er» wischte sie beim Arm. Jensen offenbar bereits in einem Stadium, wo er nur noch rot sah, wenn je» mand seine Jane berührte - stürm" te mit geballten Fäusten auf mich los. »Halt!« Wolfes Stimme war wie ein Peitschenknall. Reglos wie ver» zauberte Gestalten standen wir da. »Miss Geer«, sagte Wolfe, »Sie werden mir erlauben, einige Wor= te mit Ihnen zu sprechen. Mr. Jen= sen, nehmen Sie wieder Platz. Ar» chie, kehren Sie an Ihren Schreibtisch zurück und behalten Sie die Pistole in der Hand... Miss Geer, Mr. Jensen - einer von Ihnen ist ein Mörder.« »Gemeine Lüge!« schrie Jensen. »Wer, zum Teufel, sind Sie eigent= lieh?« »Ich habe mich vor einer Minute vorgestellt, Sir. Dieser Gentleman dort drüben ist mein zeitweiliger Angestellter. Als mein Leben be=
Der Doppelgänger droht wurde, beauftragte ich ihn, mein Double zu spielen.« »Sie fetter Feigling!« zischte Jane. »Irrtum, Miss Geer.« Wolfe schüt= telte den Kopf. »Es ist zwar schwie= rig, kein Feigling zu sein, aber ich darf dies für mich in Anspruch nehmen. Mit Feigheit hatte meine Maßnahme nichts zu tun. Ich bin überzeugt, daß es nur mir gelingen kann, ein Individuum zu fassen, das es sich in den Kopf gesetzt hat, mich umzubringen. Und ich möchte erleben, daß es mir gelingt.« Er wandte sich an mich: »Archie - ru= fen Sie Inspektor Cramer an.« Jane und Jensen protestierten gleichzeitig. Wolfe unterbrach sie. »Bitte! Et= was später werde ich Sie vor die Wahl stellen - entweder ich oder die Polizei. Aber noch nicht jetzt. Zunächst bedürfen wir nur ein we= nig der technischen Unterstützung durch die Polizei.« Er blickte zu Hackett. »Wenn Sie aus diesem Durcheinander hinauswollen, kön= nen Sie in Ihr Zimmer gehen.« »Ich«, entgegnete Hackett, »ich möchte lieber bleiben. Bin ja selbst an der Sache interessiert, nachdem ich beinah erschossen wurde.« »Inspektor Cramer am Apparat«, meldete ich.
Wolfe nahm den Hörer seines Schreibtischtelefons. »Hallo, Sir... Bitte? ... Nein ... Nein, ich möch» te Sie bloß um einen Gefallen bit= ten. Schicken Sie einen Ihrer Man» ner zu mir. Ich will Ihnen einen Re= volver und ein Geschoß übermifc» teln. Lassen Sie den Revolver auf Fingerabdrücke untersuchen und teilen Sie mir das Ergebnis mit. Wenn möglich, versuchen Sie auch, die Herkunft der Waffe festzustel= len. Geben Sie einen Schuß daraus ab und vergleichen Sie die Kugel mit der, die ich Ihnen zugehen lasse, und auch mit denen, durch die Mr. Ben Jensen und Mr. Doyie erschossen wurden. Das wäre al» les . . . Nein . . . Nein . . . Ver= wünscht, nein! Wenn Sie selbst er= scheinen, bekommen Sie das Paket an der Haustür ausgehändigt und werden auf keinen Fall empfangen. Ich bin beschäftigt.« Als Wolfe aufgelegt hatte, fragte ich: »Kriegt Cramer auch das Ta» schentuch?« »Lassen Sie es mal ansehen.« Ich brachte ihm den Revolver, des= sen Lauf noch immer durch das Loch im Taschentuch geschoben war. Er runzelte die Stirn, als er sah, daß das Taschentuch keine be= sonderen Merkmale trug und von 41
Rex Stout einer Qualität war, die man in jedem beliebigen Kaufhaus be= kommt. »Das Taschentuch behalten wir hier«, entschied er. Jensen fragte: »Was, zum Teufel, ist denn damit los?« Wolfe lehnte sich zurück und schloß die Augen. In Gedanken analysierte er jetzt, wie ich wußte, Jensens Ausdruck, Tonfall und Haltung, um zu entscheiden, ob die Frage unschuldiger Neugier ent= sprang oder als Tarnung einer Schuld gedacht war. Er schloß im= mer die Augen, wenn er intensiv nachdachte. Nach anderthalb oder zwei Sekun» den machte er die Augen wieder auf und sagte: »Wenn ein Mann einen Revolver oder eine Pistole abgefeuert und nicht gleich Gele» genheit gefunden hat, sich die Hän= de zu waschen, ergibt eine Unter« suchung seiner Hände einen un= widerleglichen Beweis. Das wissen Sie wahrscheinlich selbst, Mr. Jen» sen. Auf jeden Fall weiß es der= jenige unter uns, der den Schuß abgefeuert hat. Das Taschentuch sollte dazu dienen, den Pulver» schleim aufzufangen. Daß es ein einfaches Männertaschentuch ist, bringt uns nicht weiter - Mr. Jen» 42
sen mag ein solches in der Tasche gehabt haben, Miss Geer hätte sich eins leihen oder kaufen können.« »Sie baten mich hierzubleiben, weil Sie mir etwas zu sagen hätten«, fauchte Jane; sie und Jensen hatten sich wieder gesetzt. »Bisher habe ich vergeblich gewartet... Wo wa" ren Sie eigentlich, als der Schuß fiel?« »Pfui!« Wolfe seufzte. Dann wand» te er sich an Fritz: »Fritz, legen Sie den Revolver und das Geschoß, je» des für sich in Seidenpapier ge» wickelt, in einen passenden Karton und geben Sie das Paket dem Poli* zisten, der bald erscheinen wird. Aber zuvor bringen Sie mir Bier... Wünscht jemand von Ihnen eben» falls Bier?« Niemand wünschte Bier. »Nun zu Ihrer Frage, Miss Geer«, fuhr Wolfe fort. »Jede Vermutung, der Schuß sei von mir oder einem meiner Leute abgefeuert worden, ist unsinnig. Im Augenblick, da der Schuß fiel, stand ich mit Mr. Good" win in der Halle, nahe der Küchen» tür. Wir unterhielten uns. Danach habe ich mich bis zu meinem Er» scheinen an einem Ort aufgehalten, von wo man dieses Zimmer übersehen und jedes Wort hören kann, das hier gesprochen wird.
Der Doppelgänger Und dort habe ich den Eindruck gewonnen, daß einer von Ihnen -«, sein Blick richtete sich auf Jensen und kehrte gleich wieder zu Jane zurück, »daß einer von Ihnen im Begriff ist, einen Fehler zu machen. Ich möchte versuchen, ihn davor zu bewahren. Bisher habe ich Sie nicht gefragt, wo Sie im Augenblick des Schusses waren und was Sie dort taten. Bevor ich danach frage, wol" len wir festhalten, daß der Schuß, wie eindeutig erwiesen ist, aus der Richtung der offenstehenden Ver» bindungstür zwischen Büro und Wartezimmer kam. Mr. Hackett kommt als Schütze nicht in Frage - davon haben Sie, Mr. Jensen, sich bereits überzeugt. Fritz hielt sich in der Küche auf. Mr. Good» win stand bei mir in der Halle. Ich muß Sie oder wenigstens einen von Ihnen -«, wieder ging sein Blick von Jane zu Jensen und von Jensen zu Jane, »ich muß also Sie oder wenigstens einen von Ihnen darauf aufmerksam machen, daß der erwähnte Sachverhalt ausrei» dien würde, die Geschworenen bei einem Mordprozeß zu einem Schuldspruch kommen zu lassen... Nun mag es sein, daß Sie beide aussagen würden. Sie seien im fraglichen Augenblick recht nahe
beieinander gewesen und hätten sich gegenseitig in die Augen ge» schaut. Das könnte den, der den Schuß abgegeben hat, vorüberge» hend entlasten. Doch am Ende würde es den anderen zum Mittäter stempeln, und die Situation wäre für beide schlimm ... Wie lange kennen Sie sich schon?« Jane biß sich auf die Unterlippe. »Ich traf ihn Mittwoch zum ersten Male. Hier.« »Wirklich? Stimmt das, Mr. Jensen?« »Ja.« Wolfe hob die Augenbrauen. »Kaum lange genug, um den Ge» danken an ein derartiges Opfer zu rechtfertigen... Ich hoffe. Sie ver" stehen, Miss Geer, daß wir hier le= diglich die Wahrheit suchen. Wo waren Sie und was taten Sie, als der Schuß fiel?« »Ich stand nebenan im Wartezim» mer am Klavier. Ich hatte mein Handtäschchen daraufgelegt und wollte es gerade öffnen.« »In welche Richtung blickten Sie?« »Zu den Fenstern.« »Nicht zu Mr. Jensen?« »Nein, in diesem Moment nicht.« »Danke, Miss Geer.« Wolfes Blick wanderte zu Jensen. »Und Sie, Mr. Jensen?« 45
Rex Stout
»Ich stand nahe der Tür zur Halle und überlegte unwillkürlich, wohin Mr. Goodwin gegangen sein moch= te. Miss Geer habe ich in diesem Augenblick nicht angesehen.« »Danke, Mr. Jensen.« Wolfe schenkte sich ein Glas von dem Bier ein, das Fritz ihm gebracht hatte. » G u t . . . Miss Geer, Sie sag» ten vorhin. Sie wünschten sich zu einem besonders scharren Anwalt zu begeben. Ich begreife das. Doch leider kann ich, wie die Dinge lie= gen, zur Zeit weder Sie noch Mr. Jensen gehen lassen, wohin Sie oder Mr. Jensen möchten. Da ich es war, dem der Schuß galt, muß ich mir jedes Entgegenkommen versa' gen und Sie beide noch für ein Weilchen hierbehalten. Anderer» seits kommen wir nicht weiter, ehe Inspektor Cramers Bericht vorliegt. Also müssen wir uns zunächst ge= dulden.« Er seufzte und wandte sich an mich: »Archie - begleiten Sie Miss Geer und Mr. Jensen ins Wartezimmer und leisten Sie ihnen dort Gesellschaft, bis Sie von mir hören. Fritz wird aufmachen, wenn es klingelt.« Zwei Stunden eisigen Schweigens sind eine ermüdende Angelegen» heit. 44
Ich war erleichtert, als ich es kurz vor neun Uhr an der Haustür klin" geln hörte. Kurz danach kam Fritz herein und sagte: »Mr. Goodwin, Sie möchten ins Büro kommen. In» spektor Cramer und Sergeant Steb» bins sind eingetroffen. Ich soll hier im Wartezimmer bleiben.« Hatte im Wartezimmer eine höchst fatale Stimmung geherrscht — im Büro war die Stimmung ausgespro" Aen grimmig. Ein einziger Blick auf Wolfe zeigte mir, daß er vor Wut kochte; er saß da und malte mit dem rechten Zeigefinger immer wieder denselben Kreis auf die Schreibtischplatte. Hackett war nicht anwesend. Sergeant Purley Stebbins stand in knochiger Länge gegen die Wand gelehnt und blick» te streng dienstlich drein. Inspeks tor Cramer saß in einem der rot» ledernen Besuchersessel; sein Ge" sieht sah ebenfalls rot aus. Wolfe warf ein Papier auf den Schreibtisch, daß es klatschte. »Archie - sehen Sie sich das mal an!« Ich besah mir das Dokument. Es war ein Haussuchungsbefehl. Verdammt! Es verblüffte mich, daß Cramer und Stebbins einerseits und Wolfe andererseits noch unbe= schädigt waren. Äußerlich wenig= stens.
Der Doppelgänger »Ich will versuchen«, knurrte Cra= mer mühsam beherrscht, »ich will versuchen zu vergessen, was Sie eben sagten, Sir. Zum Teufel, Sie haben mich oft genug an der Nase herumgeführt! Und nun die Sache mit diesem Re= volver! Das mitgeschickte Geschoß stimmt genau überein mit dem von mir abgefeuerten Vergleichsge= geschoß und mit den Geschossen, durch die Jensen und Doyie getötet wurden. Diese Waffe haben Sie mir zugesandt! Also haben Sie in diesem Fall einen Klienten, den Sie mir vorenthalten wollen! Ein Narr müßte ich sein, wenn ich noch hier= herkäme und Sie um irgend etwas bäte. Oft genug habe ich Sie ver= geblich um etwas gebeten. Jetzt wird gehandelt!« Er wollte aufste= hen. »Jetzt werden wir dieses Haus durchsuchen!« »Wenn Sie das tun, werden Sie den Mörder von Jensen und Doyie nie= mals fangen!« Cramer fiel in den Sessel zurück. »Nein?« »Nein.« »Wollen Sie mich daran hindern?« »Bah!« Wolfe war indigniert. »Nächstens werden Sie noch ver° suchen, mir klarzumachen, daß es ein Verbrechen sei, den Lauf der
Gerechtigkeit zu behindern - wie? Ich habe nicht behauptet, daß der Mörder nicht gefangen werden würde. Ich habe nur behauptet, daß Sie ihn nicht fangen würden. Weil ich ihn nämlich schon habe.« »Den Teufel haben Sie!« rief Cra» mer. »Doch, Sir. Ihr Bericht über den Revolver und die Geschosse macht die Sache klar. Ich bekenne aller» dings, daß der Fall recht kompli" ziert ist, und deshalb sage ich auch: Sie, Mr. Cramer, sind nicht in der Lage, das Rätsel zu lösen. Aber ich bin dazu in der Lage. «Wolfe schob den Haussuchungsbefehl über den Schreibtisch zu Cramer. »Zerreißen Sie dieses Ding.« Cramer schüttelte den Kopf. »Sir ich kenne Sie! Bei Gott, ich kenne Sie! Dennoch will ich mich ein we= mg mit Ihnen unterhalten, ehe ich mit der Hausdurchsuchung be= ginne.« »Irrtum, Sir.« Nun schüttelte Wol= fe den Kopf. »Ich werde mich kei= ner Zwangsmaßnahme beugen. Lieber wende ich mich direkt an Distriktsanwalt Skinner ... Also, Sir - entweder zerreißen Sie den Haussuchungsbefehl oder Sie füh= ren ihn durch.« Das durfte als fatale Alternative 45
Rex Stout
gelten. Denn Cramers Meinung über Skinner war einer der Mängel unserer demokratischen Gesell» schaftsordnung. Cramer dachte nach, starrte den Haussuchungsbea fehl an, starrte Wolfe an, dann mich und schließlich wieder den Haüssuchungsbefehl. Dann nahm er das Schriftstück und zerriß es. Wolfe nickte. »Ist die Herkunft des Revolvers feststellbar?« »Nein. Das Ding mag an die fünf" zig oder mehr Jahre alt sein. Die Nummer ist bereits verschwunden. Und die Fingerspuren taugen auch nichts, da sie verschmiert und ver= wischt sind.« »Natürlich.« Wolfe nickte aber" mals. »Eine viel einfachere Metho" de, als mit Handschuhen zu arbei" ten... Der Mörder befindet sich in diesem Haus.« »Das dachte ich mir! Ihr Klient nicht wahr?« Wolfe zuckte die Schultern. »Die besondere Komplikation ist fol= gende: Im Wartezimmer sitzen ein Mann und eine Frau. Einer von beiden ist der Mörder. Aber wer?« Cramer runzelte die Stirn. »Das erwähnten Sie bisher nicht. Sie sagten. Sie hätten den Mörder.« »Das stimmt insofern, als beide sich unter Bewachung im Warte» 46
zimmer befinden ... Aber ich sehe schon, daß ich Ihnen jetzt berichten muß, was überhaupt passiert ist, damit Sie sich entschließen. Ihre Armee von Leuten einzusetzen. Sieht nämlich so aus, als hätten wir sie nötig. Und mir steht keine Armee von Mitarbeitern zur Verfü» gung ... Es begann damit, daß ich den ominösen Drohbrief bekam. Und bald nachdem ich ihn bekommen hatte, engagierte ich einen Mann, der mir ähnlich sieht...« Wolfe berichtete ziemlich schnell; Purley Stebbins biß sich fast die Zunge ab bei dem Bemühen, alles mitzustenografieren. Als Wolfe geendet hatte, starrte Cramer ihn düster an. Wolfe lä=° dielte und sagte liebenswürdig: »Ja, Sir - so liegt die Sache. Recht zweifelhaft, ob wir sie klären kön» nen, so wie sie liegt. Sie werden alle Ihre Reserven mobilisieren müssen.« »Möchte nur wissen«, knurrte Cra» mer, »wieviel Sie daran herumfrisiert haben.« »Gar nichts, Sir. Ich bin nur an einem einzigen Punkt dieser Sache interessiert. Ich habe nichts hinzu" gefügt und nichts ausgelassen. Und im übrigen habe ich keinen Klienten.«
Der Doppelgänger »Soso«, brummte Cramer und er» hob sich tatendurstig. »Na schön, gehen wir zunächst mal von dieser Basis aus. Ich hätte da ein paar Fra= gen an die von Ihnen erwähnten Personen.« »Natürlich.« Wolfes Stimme klang plötzlich etwas ärgerlich; er liebt es nicht, still dabeizusitzen, während ein anderer die Fragen stellt. »Wen möchten Sie zuerst sprechen?« »Bevor ich die beiden befrage, will ich mir den Raum ansehen. Ein= schließlich Einrichtung. Besonders die Blumenvase!« Wir gingen hinüber ins Wartezim= mer. Jane saß auf der Klavierbank, Jensen auf dem Sofa; Fritz stand wachsam an eins der Fenster ge= lehnt. Jensen erhob sich. Wolfe sagte: »Miss Geer - dies ist Inspektor Cramer, und dies ist Ser» geant Stebbins.« Miss Geer schien nicht beeindruckt. Wolfe fuhr fort: »Sie, Mr. Jensen/ haben, glaube ich, den Inspektor und den Sergeanten bereits ken= nengelernt.« »Ja.« Infolge des langen Schweis gens war Jensens Stimme spröde; er räusperte sich und fügte hinzu: »Ihre Zusicherung, die Polizei nicht zu holen, war also auch eine Far° ce.« Er wirkte verbittert.
»Ich habe keine derartige Zusiche» rung gegeben, Mr. Jensen. Ich habe darauf verwiesen, daß wir Mr. Cramer auf die Dauer nicht aus» schalten können ... Das Geschoß, das auf mich - genauer gesagt, auf mein Double Mr. Hackett - abge» feuert wurde, kam aus der gleichen Waffe, die dort in der Vase gefun» den wurde. Und mit eben dersel" ben Waffe sind Ihr Vater und Mr. Doyie ermordet worden. Das macht, wie Sie zugeben werden, die Situation noch bedeutend kritischer.« »Ich bestehe«, rief Jane mit völlig fremder Stimme, »auf meinem Recht, mich mit einem Anwalt zu beraten!« »Moment, Moment«, sagte Cramer in einem Ton, den er offenbar für beruhigend hielt, »darüber werden wir noch sprechen. Warten Sie, bis ich mich hier umgesehen habe.« Assistiert von Stebbins ging er an die Arbeit. Sie schätzten Entfer» nungen/ prägten sich die Positionen gewisser Dinge ein und beschäftig' ten sich vor allem mit der Frage, von welcher Stelle des Raumes eine Kugel durch die offene Verbin' dungstür ins Büro und weiter durch das Loch in der Sessellehne bis in die hintere Bürowand geschickt worden sein konnte. 47
RexStout Mit diesem Problem waren sie noch beschäftigt, als Wolfe sich plötzlich an Fritz wandte und ihn fragte: »Wo ist das andere Kissen?« »Welches Kissen, Mr. Wolfe?« antwortete Fritz überrascht. »Auf das Sofa gehören sechs Kis= sen. Jetzt sind es nur fünf. Haben Sie eins entfernt?« »Nein, Mr. Wolfe.« Fritz sah zum Sofa und zählte die Kissen. »Wahr= haftig, nur fünf. Und sie sind an= ders hingelegt, damit die entstan» dene Lücke verdeckt ist. Das ver= stehe ich nicht. Heute früh waren bestimmt noch alle sechs da.« »Wissen Sie das genau?« »Ganz genau, Mr. Wolfe.« »Suchen Sie das fehlende. Archie — bitte helfen Sie ihm dabei.« Für einen Großalarm wegen eines fehlenden Kissens schien der Zeit» punkt nicht .recht geeignet. Doch da ich ansonsten nichts weiter zu tun hatte, gehorchte ich. »Nicht hier«, sagte ich nach einem Weilchen. »Das sehe ich selbst«, murmelte Wolfe. Ich starrte ihn an. Auf seinem Ge= sieht war ein Ausdruck erschienen, den ich gut kannte. Nicht eigentlich ein Ausdruck der Spannung, ob= schon er jedesmal Spannung in mir 48
hervorrief. Wolfe hielt das Genick steif, als wünsche er jede Erschüt= terung von seinem Verstand fern= zuhalten; seine Augen waren halb geschlossen und schienen nichts zu sehen; seine Lippen bewegten sich ohne einen Laut. Unvermittelt wandte er sich um und sagte: »Mr. Cramer - bitte, lassen Sie Mr. Stebbins hier bei Miss Geer und Mr. Jensen. Wenn Sie wollen, können Sie ebenfalls hierbleiben. Oder Sie können mit hinüberkommen, ganz nach Wunsch. Archie und Fritz - bitte, folgen Sie mir.« Er ging durch die Verbindungstür ins Büro. Cramer, der Wolfes verschiedene Reaktionen fast so gut kannte wie ich, kam mit uns und machte die Verbindungstür hinter sich zu. Wolfe/ auf seinem Sessel thro» nend, sagte zu Fritz und mir: »Wir müssen herausfinden, ob das sechs ste Kissen noch im Haus ist. Durchsucht das ganze Haus vom Keller bis zum Dach mit Ausnahme von Mr. Hacketts Zimmer, da Mr. Hackett bereits schlafen dürfte. Fritz, Sie nehmen sich zuerst den Keller vor. Archie, Sie fangen mit diesem Raum hier an.« Fritz ging hinaus. Cramer knurrte: »Was soll das nun wieder?«
Der Doppelgänger »Ich werde es Ihnen auseinander» setzen«, entgegnete Wolfe, »so= bald ich die Erklärung gefunden habe. Bis dahin will ich hier sitzen und nachdenken und nicht gestört werden.« Er lehnte sich zurück und schloß die Augen; seine Lippen begannen sich wieder zu bewegen. Cramer rutschte tiefer in den Be= suchersessel hinein, schlug die Beine übereinander, schob sich eine Zigarre zwischen die Zähne und kaute darauf herum. Ich war noch nicht weit gekom= men mit der gründlichen Suche im Büro, als ich hörte, daß Wolfe ein ganz bestimmtes Gebrumm von sich gab. Auf der kleinen Klappe leiter vor dem Bücherregal ste= hend, drehte ich mich so hastig zu ihm um, daß ich beinah von der Leiter gefallen wäre. Wolfe war in Bewegung. Er nahm den Papierkorb neben dem Schreib= tisch auf, inspizierte ihn und stellte ihn kopfschüttelnd wieder hin. Dann öffnete er nacheinander die einzelnen Schubladen seines Schreibtisches und griff in jede so weit wie möglich hinein. Zuerst ohne jeden Erfolg. Doch als er die unterste rechte Schublade offen hatte und sich bückte, um ganz
weit hineinzulangen, knurrte er plötzlich: »Ich habe es gefunden.« In diesen vier Worten lag tiefe Genugtuung. Cramer und ich starrten ihn an. Er bedachte mich mit einem kur= zen Blick und kommandierte: »Ar« chie, klettern Sie von der Leiter und sehen Sie in Ihrem Schreib= tisch nach, ob mit einer meiner Waffen geschossen worden ist.« Ich. tat es. Das erste Schießeisen, eine große Pistole, erwies sich als unberührt. Beim zweiten, einem Revolver, mußte ich melden: »Ja= wohl, Sir - von den sechs Patro» nen fehlt eine, genau wie bei den Kissen. Die leere Hülse ist da.« »Ha, dieser Esel! Archie, sagen Sie Miss Geer und Mr. Jensen, sie könnten hereinkommen, wenn sie die Lösung des Rätsels mitanhö= ren möchten. Meinetwegen können sie aber auch nach Hause gehen oder wohin sie sonst wollen, wir brauchen sie nicht mehr ... Neh= men Sie Mr. Stebbins und Fritz mit hinauf und bringen Sie Hak= kett her. Aber seien Sie vorsichtig. Durchsuchen Sie ihn sorgfältig. Er ist ein gefährlicher Mann.« Natürlich waren Jane und Jensen bereit, die Schlußphase des Falles im Büro mitzuerleben, und gingen 49
Rex Stout hinüber, während ich Purley Steh» bins über unseren gemeinsamen Job informierte und mich mit ihm zu Hacketts Zimmer begab. Fritz gesellte sich auf der Treppe zu uns. Etwa zehn Minuten mochten ver« gangen sein, als wir Mr. Hackett ins Büro schleppten. Obwohl er eine der überzeugendsten Demon» strationen von Widerspenstigkeit geliefert hatte, die mir je begegnet sind, brachten wir ihn in einein Stück, und keiner von uns hatte bei der recht gewalttätigen Unter= nehmung mehr abbekommen, als durch ein paar Pflaster und etwas Watte zu reparieren war. Wir pferchten ihn in einen Sessel und mußten uns halb und halb auf ihn setzen, um ihn dort zu halten. Außer Atem waren wir alle vier. Ich meldete; »Entgegenkommend war er nicht.« Eins muß ich Wolfe lassen - ich habe nie gesehen, daß er sich an der Ohnmacht eines Gefangenen weidet. Er betrachtete Hackett eher so, wie man ein interessantes Sam= melobjekl betrachtet. Mit dem nächsten Atem fügte ich hinzu: »Sergeant Stebbins glaubt ihn zu kennen.« 50
Stebbins keuchte in Cramers Rieh« tung: »Will drauf schwören. In» spektor, daß ich ihn schon gesehen habe. Erinnere mich nur nicht/wo.« Wolfe nickte. »Weil er damals Uni» form trug - wie?« »Uniform?« jappte Stebbins ver= wundert. »Armee?« »Nein. «Wolfe schüttelte den Kopf. »Mr. Cramer sagte mir neulich, der Portier des Appartementhauses, vor dessen Eingang Mr. Jensen und Mr. Doyie erschossen wurden, sei ein fetter, erst vor zwei Wo» dien eingestellter Tölpel, der noch nicht mal die Namen der einzelnen Mieter kenne und behaupte, zur Zeit des Mordes im Keller mit der Zentralheizung beschäftigt gewe" sen zu sein. Ein Telefonanruf wür= de uns informieren, ob dieser Por« tier noch dort arbeitet.« »Er ist nicht mehr dort«, knurrte Cramer. »Er hat seinen Arbeits» platz am Mittwochnachmittag ver= lassen, weil er nicht in einem Haus bleiben wollte, in dem Leute er« mordet würden. Ich habe ihn nie gesehen, aber Stebbins und noch einige meiner Männer sind ihmi begegnet.« »Richtig!« bestätigte Stebbins und starrte Hackett an. »Bei Gott, das ist er!«
Der Doppelgänger »Dieser Mensch ist«, erklärte Wol« fe, »eine bemerkenswerte Mi= schung von Narr und Genie. Er kam mit dem festen Entschluß nach New York, Mr. Jensen und mich umzubringen ... Mr. Hackett/ Sie sehen verwirrt aus. Können Sie meinen Ausführungen folgen?« Hackett gab keinen Laut von sich. »Ich schätze. Sie verstehen recht gut, was ich sage«, fuhr Wolfe fort. »Folgendes wird Sie interes= sieren: Auf mein Ersuchen hat man sich Ex'Captain Roots persönliche Sachen im Marylandgefängnis et° was genauer angesehen. Ich tele" fonierte vorhin mit dem Gefäng» nisdirektor. Root log, als er behauptete/er habe schon seit zehn Jahren keine Verbindung mehr zu seinem Vater gehabt. Man hat einige Briefe gefunden, die Daddy Thomas Root seinem lieben Sohn während der letzten Monate schrieb. Anscheinend sehr bemer= kenswerte Briefe. Denn Daddy Root ist derart stolz auf seinen Sprößling und dessen versuchten Verrat, daß es fast an Irrsinn grenzt.« Wolfe gestikulierte zu Hackett. »Was sagen Sie jetzt?« »Nur einen Tag länger«, krächzte Hackett, »nur einen einzigen Tag länger, und -«
»— Sie hätten mich umgebracht.«
Wolfe nickte. »Das ist klar. Und der Verdacht wäre dann infolge Ihrer heutigen Manipulation auf Miss Geer oder auf Mr. Jensen gea fallen, vielleicht auch auf beide. Aber Sie hätten sich unbehelligt davongemacht.« »Mr. Wolfe«, sagte Jensen, »wür" den Sie die erwähnten Manipu" lationen erläutern?« »Gleich, Mr. Jensen.« Wolfe lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Wir wollen uns eben nur noch mit den Ereignissen des Dienstagabend beschäftigen.« Sein Blick richtete sich wieder auf Hackett. »Das war ein Meisterstück, Sir! Ich kann von Glück sagen, daß Sie sich ent» schlössen haben, zuerst Mr. Jen" sen umzubringen! Dank des Man» gels an Arbeitskräften gelang es Ihnen, die Portierstelle des Hauses zu bekommen, in dem Mr. Jensen wohnte. Dann konnten Sie auf eine Gelegenheit warten, Mr. Jen» sen abzupassen, ohne daß Zeugen in der Nähe wären. Diese Gele" genheit bot sich schon einen Tag, nachdem Sie den Drohbrief an Mr. Jensen geschickt hatten - eine in jeder Hinsicht ideale Situation, aus» genommen nur, daß Mr. Doyie zu« gegen war, den Mr. Jensen sich zu
Rex Stout
seinem Schutz engagiert hatte. Der uniformierte Hausportier erregte bei Mr. Jensen und Mr. Doyie be= greiflicherweise keinen Verdacht. Wahrscheinlich hat Mr. Jensen Sie sogar freundlich begrüßt und ein paar Worte mit Ihnen gewechselt. Weit und breit war kein unera wünschter Zeuge zu sehen, der Liftmann fuhr einen anderen Haus» bewohner nach oben-eine so gün= stige Gelegenheit durfte natürlich nicht ungenützt vorübergehen. Ih= ren Revolver hatten Sie, um den Lärm zu dämpfen, mit einem Stück Stoff umwickelt. Sie schössen Mr. Doyie in den Rücken und Mr. Jen' sen, der sich erschrocken umge= wandt hatte, in die Brust. Dann eilten Sie in den Keller und mach= ten sich an der Zentralheizung zu schaffen, wobei Sie auch gleich den Stoffetzen verbrannten, der Ihnen als Schalldämpfer gedient hatte.« Wolfe wandte sich an Inspektor Cramer: »Klingt das einleuchtend, Mr. Cramer?« »Bis hierher, ja«, erwiderte Cra= mer. »Gut«, sagte Wolfe. »Denn nur wegen Doppelmordes können Sie Mr. Hackett - oder sollte ich lieber Mr. Root sagen? - vor Gericht bringen. Dafür, daß er sich selbst 52
eine kleine Verletzung am Ohr bei» gebracht hat, kann man ihn nicht belangen.« Wolfes Blick traf jetzt mich. »Archie - haben Sie in sei» nen Taschen irgendwelche Instru» mente gefunden?« »Nur ein Campingmesser, eins die» ser Dinger mit zwei Klingen, Sehe» re, Schraubenzieher, Nagelfeile, und so weiter.« »Übergeben Sie es Mr. Cramer zur Feststellung, ob es Blutspuren auf» weist.« Cramer winkte ab. »Hat Zeit. Die Angelegenheit von Dienstagabend ist nun geklärt. Kommen wir also zu den heutigen Ereignissen.« »Damit«, seufzte Wolfe, »würden wir einen der interessantesten Punkte des ganzen Falles überge= hen - Mr. Hacketts Bewerbung auf mein Zeitungsinserat ... War er clever genug, zu erkennen, daß die gegebene Beschreibung großenteils auf mich paßte? Daß vermutlich ich der Mann war, der das Inserat auf= gegeben hatte? Und daß er hier» durch eine einzigartige Gelegenheit finden könnte, in meine Nähe zu gelangen? Oder kam er nur, weil sein Geld zu Ende ging und er hier eine Möglichkeit sah, schnell ein paar hundert Dollar zu verdienen? Ich bin sicher, daß er ganz klar die
Der Doppelgänger Gelegenheit erkannte, die ich ihm bieten wollte - eine Gelegenheit, Nero Wolfe zu ermorden. Mein Inserat war alles andere als ein Schuß ins Dunkle. Ich wußte, daß wir es mit einem gefährlichen Menschen zu tun hatten. Als Archie am Mittwochnachmita tag fortging, um Miss Geer zu treffen, blickte ich aus dem Fenster und bemerkte draußen diesen Bur= sehen. Während der nächsten hals ben Stunde sah ich ihn noch einige» mal am Haus vorüberstreichen. Da kam mir der Gedanke, daß es si° cherer wäre, den Löwen im Käfig zu haben ~ auch, wenn man selbst bei ihm sein müßte. Das Inserat schien mir der geeignete Köder für einen Mann, der durch die Morde an Mr. Jensen und Mr. Doyie be° wiesen hatte, daß er vor keiner Gefahr zurückschreckt. Und er schluckte den Köder. Er war entzückt, als er bestätigt fand, daß das Inserat mit mir zusammen» hing, und doppelt entzückt, als ich ihn tatsächlich einstellte. Vom Augenblick an, da er dieses Haus betrat, sondierte er die Lage und entwickelte Pläne. Daß er beim Abfeuern des Revolvers ein Ta= schentuch benutzte, war zweifellos ein Teil dieser Pläne.
Heute früh' nun erfuhr er, 'daß Miss Geer für sechs Uhr nachmittagsherbestellt war und daß er ihr ge= genüber meine Rolle zu spielen hätte. Als er nach dem Lunch allein in diesem Zimmer war, holte er ein Sofakissen aus dem Wartezim" mer, stülpte es über seinen Revol» ver und feuerte durch die Sessel» lehne in die Wand. Dann stopfte er das Kissen ganz hinten in die rechte untere Schublade meines Schreibtisches, steckte den Revol» ver wieder ein, und -« »Wäre das Loch in der Sessellehne entdeckt worden«, unterbrach Cra» mer, »dann würden auch das Loch in der Wand und schließlich das Geschoß gefunden worden sem. Ziemliches Risiko, das er damit einging - finde ich.« »Ich sagte bereits«, entgegnete Wolfe indigniert, »daß er eine Mi= schung von Genie und Narr ist. Im übrigen wußte er, daß er den Nach» mittag zusammen mit Archie in der Stadt verbringen und ich indessen dieses Zimmer nicht betreten wür= de. Ich hatte ihm erklärt, daß ich meinen Platz in diesem Sessel erst wieder einnehmen werde, wenn er ihn endgültig verlassen hätte ... Zurück zur Sache. Um sechs Uhr traf Miss Geer ein, aber unerwar» 55
Rex Stoul
teterweise von Mr. Jensen beglei» tet. Miss Geer und Mr. Jensen wurden in das Wartezimmer ge= führt. Die Verbindungstür zwi= sehen Wartezimmer und Büro stand offen. Archie verließ das Warte" zimmer und kam in die Halle, um mich zu informieren, daß Miss Geer sich in Mr. Jensens Begleitung befände - ein Fall, den wir nicht vorausgesehen hatten. Mr. Hackett'Root handelte nun blitz» schnell. Er grabschte sich eine meiner Schußwaffen aus Archies Schreibtisch, kehrte zum Sessel zu= rück, öffnete die Schublade meines Schreibtisches, in der er das Kissen verborgen hatte, feuerte einen Schuß in das Kissen, schmiß die Waffe zu dem Kissen und machte die Schublade zu. Archie kam ins Büro gejagt, warf einen schnellen Blick auf den im Sessel sitzenden Pseudo=Wolfe und hetzte ins Wartezimmer. Mr. Hackett=Root nutzte die Gelegenheit, um zwei Dinge zu tun - er legte meine Waffe in Archies Schreibtisch zurück und brachte sich mit seinem Campingmesser eine kleine Verwundung am oberen Rand der linken Ohrmuschel bei. Das machte seine Situation sehr günstig. Sie wurde noch günstiger 54
durch die Chance, die er gleich da= nach bekam, als Archie ihn ins Ba« dezimmer führte und dort allein ließ. Das Badezimmer hat eine direkte Tür zum Wartezimmer. Hak= ket=Root schlich sich durch diese Tür ins Wartezimmer, steckte sei= nen Revolver mitsamt dem Ta" schentuch in die Blumenvase, kehrte ins Badezimmer zurück und erschien dann wieder hier im Büro. Hätte ich nicht das Fehlen des einen Sofakissens im Wartezim» mer bemerkt, dann wäre ihm die= ser Teil seines Planes geglückt. Denn so bald war nicht damit zu rechnen, daß eine Spur des Schus= ses entdeckt werden würde, den er in die Schreibtischschublade oder, genauer, in das dort verborgene Kissen gejagt hatte. Unwahrschein' lieh war auch, daß Archie bemer» ken würde, daß aus einer meiner Waffen, die er in seinem Schreib" tisch verwahrt, ein Schuß abgege» ben worden war. Und selbst wenn er es bemerkte-was hätte es schon zu bedeuten gehabt? Für Mr. Haks ket'Root so gut wie nichts. Er weiß nämlich, wie man mit Schußwaffen umgehen muß, ohne Fin° gerabdrücke zu hinterlassen ... Nun, Mr. Cramer - wie gefällt es Ihnen?«
Der Doppelgänger Cramer nickte bedächtig. »Ich neh= me es Ihnen ab. Dennoch werden Sie zugeben, daß Sie verschiedene Einzelheiten beschrieben haben, die Sie nicht beweisen können.« »Brauche ich auch nicht. Und Sie ebensowenig. Mr. Hackett'Root wird ja wegen der Morde an Mr. Jensen und Mr. Doyie vor Gericht gestellt und nicht wegen seiner Manipulationen in diesem Haus.« Cramer stand auf. »Gehen wir, Mr. Root. Stebbins - die Handschel» len.« Kurz danach saß Wolfe wieder in seinem thronartigen Sessel, dessen durchlöcherte Lehne leicht zu repa= rieren war, und bot mit den drei Flaschen Bier, die vor ihm auf dem Schreibtisch standen, das Bild eines Mannes, der mit sich und der Welt zufrieden ist.
»Archie«, murmelte er, »erinnern Sie mich bitte morgen früh daran, daß ich Mr. Viscardi wegen der Zuchtpflanzung anrufe.« »Sehr wohl, Sir.« Idi setzte mich ebenfalls. »Erlauben Sie mir eine Anregung. Lassen Sie uns inserieren, daß wir einen fast ausgewachsenen Tiger suchen, etwa drei Zentner schwer, sehr gesund und gefräßig. Wir würden ihn an einer festen Kette neben dem großen Aktenschrank stationieren, so daß er jedesmal, wenn Sie zur Tür hereinkommen, so tun könnte, als wolle er Sie von hinten anspringen.« Es machte keinerlei Eindruck auf ihn. Er lehnte zufrieden in seinem Sessel, und ich bezweifle heute noch, daß er meine etwas aufs sässigen Worte überhaupt gehört hat ...
Rufus King
Die yförmige Narbe
Felicity öffnete die Tür. Sie lächelte flüchtig und hielt ihre rechte Hand hin. Dr. Colin Starr fand sie nervös und irgendwie erregt, aber trotz» dem reizend anzusehen - so/ wie ihre Mutter, die Starr nicht gekannt hatte, nach den Erzählungen der Leute ausgesehen haben mußte. »Danke, Doktor«, sagte sie. »Ich danke Ihnen so sehr, daß Sie ge= kommen sind.« »Ich bin gerne gekommen, Felicity. Wie geht es ihr?« »Das ist es ja. Ich denke, körperlich fehlt ihr nichts. Vor dem Lunch kam sie aus ihrem Zimmer her= unter. Das hat sie seit Monaten nicht gemacht. Sie - nun, dann tat sie seltsame Dinge in der Küche. Ich denke, sie ist verängstigt, Dok» tor - halb zu Tode verängstigt.« »Keine Sorge, wir werden sehen.«
»Jetzt ist sie wieder oben. Ich weiß nicht, weshalb ich Sie bemühte. Ich fühlte eulfach, daß ich Sie rufen müßte.« »Sehr richtig von Ihnen,« Starr legte Hut und Handschuhe und seinen warmen Mantel auf ein Tischchen in der großen Halle. Der Tag war außergewöhnlich kühl für den März, und Starr hatte fast ver» meint, Schnee in der Luft zu wit= tem. Eine dicke Frau mit bleichem Ge= sieht und üppigem goldblondem Haar trat ins Zimmer. Drüsen, dachte Starr, als er sie mit einem beiläufigen Blick streifte und ihre Aufgeschwemmtheit bemerkte. Die Frau lächelte und blickte ihn aus feuchten, fragenden Augen an, und Felicity sagte: »Miss Vemon, Doktor Starr.«
Die yförmige Narbe
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Miss Vemon musterte seine hoch» »Oh, das würden Sie sch gewachsene, kräftige Gestalt und ausfinden, wenn Sie sie i sein liebenswürdiges kluges Ge» hätten. Sie examiniert jede sieht. Sie bot ihm die Hand. sackenden Stuhlsitz und »Ein Doktor?« Miss Vernons La» alle alten Schubladen und S Aeln verschwand, und sie blickte türen richten. Ihre Rede Felicity besorgt an. »Mrs. Dieter» und endet mit Möbelauf fris ling? Ist sie krank?« »Wie viele zahlende Gäst »Nicht wirklich krank. Ich dachte Sie sonst noch?« mir, es wäre besser, wenn ich Dok» »Zwei. Eine Miss Warbri tor Starr anriefe.« letzte Woche. Sie ist Schrift »Wie klug von Ihnen, Kleines. Im» und sammelte Material f merhin, bei Mrs. Dieterlings AI» historischen Roman aus de vom Anfang des vorigen J ter —« derts. Sie nimmt es furchtb »Bloß eben siebzig.« damit und möchte am liebs »Immerhin, Kleines, immerhin.« Miss Vernon lächelte wieder, die" hier jeder in Sackleinwand sesmal zu Dr. Starr. Dann ging sie det herumliefe wie zu weiter und die Treppe hinauf, eine Hubbards Zeiten. Sie hält für eine persönliche Kr träge dahinwandelnde Tonne. »Sie gehört zu den zahlenden wenn Großmutter die Kle Gästen?« fragte Starr, nachdem sie Putzwaren beschreibt, die unseres Jahrhunderts mit de außer Hörweite war. »Ja. Die Amerikanische Frauenver» schiff frisch aus Paris hie eirügung hat sie in unsere Stadt fen. Aber Miss Ashiand geschickt. Sie soll hier die Interes» wahre Heimsuchung.« sen der Aktion >Emeuere Dein »Ihre dritte?« Heim< vertreten - wie man alte »Ja. Sie ist geheimtuerisch.« Möbel auffrischt und solche Sa» »Sie sollten mal bei einer dien. Es ist beinah eine Plage mit Konsultationen Mäuschen ihr, Doktor.« da könnten Sie etwas an G Sie begannen die Treppe hinaufzu» tuerei erleben! Worüber steigen. denn so geheimtuerisch, die Ashiand?« »Eine Plage? Wieso?«
Rufus King Sie hatten das obere Ende der Spieldose auf dem Tischchen neben Treppe erreicht und gingen einen ihr erklang. breiten Etagenflur entlang, an des- Es war eine sehr schöne und kost» sen dunklen Wänden riesige öl» bare Spieldose, ein Geschenk, das gemälde hingen/ amerikanische Alphons, ihr längst verstorbener Landschaftsmalereien aus der Zeit Gatte, ihr in Genua gemacht hatte, der Jahrhundertwende, düster und als sie sich auf der Hochzeitsreise dramatisch mit drohend aufge" durch Europa befanden. Das kleine türmten Gewitterwolken und zuk» Instrument vermochte sechsund» kenden Blitzen/ aber als Kunst» dreißig verschiedene Melodien zu werke ohne Belang und materiell spielen, und jede einzelne machte wertlos. Erinnerungen an vergangene Tage »Ich weiß nicht. Es ist die ganze lebendig; deshalb pflegte Mrs. DieArt, wie sie sich benimmt, wie sie terling von jedermann respektvolle durch ihre dicken Brillengläser Aufmerksamkeit zu erwarten, so" guckt. Immer verstohlen. Und sie lange das sanfte Geklingel der sagt kaum ein Wort.« Spieldose ertönte. »Was tut sie denn?« Sie lächelte dem Doktor freundlich »Sie erwähnte irgend etwas, wo» zu. nach sie mit einem Arbeitsbüro in »Sie nehmen es doch nicht übel?« Verbindung steht. Sie war nicht »Keineswegs. Die Melodie war ent" zückend.« sehr mitteilsam.« Felicity öffnete eine Tür, und sie Sie reichten sich die Hände, und kamen in das private Wohnzimmer Starr wunderte sich, wie kalt Mrs. ihrer Großmutter. Mrs. Dieterling Dieterlings Finger waren. Als wä= saß in einem bequemen Stuhl beim ren sie beinah blutleer, dachte er. Erkerfenster, eine sehr schlanke, »Ich bin schuld daran, daß Doktor vornehme Gestalt in schwarzer Starr gekommen ist«, sagte Feli« Seide. Ihr weißes Haar stand sil° city. brig gegen die kalte graue Luft »Macht gar nichts. Liebes. Im Ge» jenseits des Fensters. Sie hob eine genteil... Ich bin nicht krank, elfenbeinern zarte Hand, um Stille Doktor, aber es ist ein Glück, Sie bis zum Ende einer klaren feinen hier zu haben. Ich möchte Sie etwas Melodie zu gebieten, die aus der fragen.« ?8
Die yförmige Narbe »Ich muß nun wieder gehen«, er» Dieterlings Tochter Anna - Anna klärte Felicity. Sie wandte sich an Mansard, Felicitys Mutter. Die we» Starr. »Ich fange an, furchtbar sentlichen Einzelheiten der Affäre hausmütterlich zu werden. Nun, hatte Starr noch deutlich im Geda der Lunch kaum vorbei ist, wol= dächtnis. len die Vorbereitungen für das Anna Mansard, damals seit zehn Dinner getroffen sein. Nehmen Sie oder elf Monaten verwitwet, lebte bloß niemals zahlende Gäste ins mit ihrem zweijährigen Töchter" Haus, Doktor.« chen Felicity in Mrs. Dieterlings Dr. Starr lächelte. »Wie sollte ich? Haus in Laurel Falls. Marcella Dorf» Ich kann Rühreier mit Speck bereis rey war ein junges Mädchen aus ten. Wildfleisch braten und ziem= der Stadt, von Mrs. Dieterling als lieh zähe Omeletts herstellen. Aber Nurse für Felicity engagiert. Anna, damit enden meine Kochkünste.« die eben das vierundzwanzigste Felicity ging; Dr. Starr zog einen Lebensjahr vollendet hatte, war Stuhl herbei und setzte sich. auf eine blumenhafte Art - außer" »Also, Mrs. Dieterling?« ordentlich hübsch, aber sie besaß »Ich möchte etwas über Narben leider eine Gemütsart, die nur noch wissen, Doktor.« als fortgeschritten neurotisch be» Er blickte sie fasziniert an. Er fühl» zeichnet werden konnte. te die nervöse Spannung, die sie zu Zu dieser Zeit hatte in Laurel Falls unterdrücken versuchte. Er glaubte eine Schauspieltruppe Station ge» zu erkennen, daß Felicity recht ge» macht, nicht besser und nicht habt hatte - es war Angst. schlechter als die meisten her" »Warum Narben?« umziehenden Schauspieltruppen. »Weil Marcella Dorfrey zurückge» Barton Fonslow, der Held dieser kommen ist. Sie ist hier im Haus.« Truppe, war ein typisches BühnenDieser Name wirkte auf Starr wie idol mit breiten Schultern, kräftiein kleiner Schock, denn er be" gen Schenkeln und einer Taille, die schwor Erinnerungen an eine Tra» nach Meinung skeptischer Geister gödie herauf, die sich vor etwa nur durch ein raffiniert gearbeite» zwanzig Jahren hier abgespielt tes Korsett zustande gekommen hatte. An einen Mord und den sein konnte. Er näherte sich den nachfolgenden Selbstmord von Mrs. Vierzigern und mochte wissen, daß 59
Rufus King der Höhepunkt seiner Theaterlauf' bahn bereits hinter ihm lag - ein Umstand, der ihn veranlaßte, sehn= süchtige Augen auf Anna Mansard und das Geld der Dieterlings zu richten, das sie einstmals erben würde. Die Reaktionen von Annas neurotischem Gemüt auf Barton Fons= lows theatralisch übersteigerte Werbung schwankten hin und her zwischen hitzigem Beglücktsein und noch hitzigerer Ablehnung; letztere basierte auf einer Art von ergebenem Pflichtgefühl gegenüber dem toten Gatten. Wie dies nun mal in der Natur solcher Dinge liegt, wurde über die Ablehnung nach außen hin weit mehr bekannt, als über das andere Extrem, was schließlich dazu beitrug, daß Anna vor einem Gericht des Staates Ohio beschuldigt wurde. Barton Fonslow ermordet zu haben. Der Fall stellte sich folgenderma» ßen dar: Barton Fonslow wohnte aus irgendwelchen persönlichen Gründen nicht wie seine Kollegen im Hotel, sondern in einem gemie» teten kleinen Blockhaus, das auf Mrs. Dieterlings weiträumigem Grundstück stand, zu Fuß etwa fünf Minuten vom Dieterlinghaus entfernt. Eine gewisse Mabel Wal= 60
lace, die täglich zum Aufräumen und wegen sonstiger Hausarbeiten in das Blockhaus kam, fand Barton Fonslow am Morgen des 12. April 1952 erschossen im Schlafzimmer des Blockhauses. Miss Wallace, dreiundsechzig Jahre alt und der Tat absolut unverdäch= tig, telefonierte erschrocken die Polizei an. Die Polizei kam, fand die Mordwaffe nahe der Schlafzimmertür auf dem Fußboden und identifizierte sie unschwer als einen Revolver aus Annas Besitz, der überdies Annas Fingerabdrücke trug. Auf einem kleinen Tischchen im Schlafzimmer lag außerdem eins von Annas Taschentüchern mit Monogramm. Es war zusammen» geknüllt und sogar noch etwas feucht von - wie die Polizei ent= schied — Annas Tränen. Nach dem Befund des Folizeiarztes hatte sich die Tat am frühen Abend des vorangegangenen Tages abge» spielt — übrigens dem einzigen Abend seit Wochen, an dem Fons= low nicht aufzutreten brauchte. Anna, die ihre Unschuld beteuerte, sooft sie sich aus einer hysterischen Neurose erholte, hatte kein an= nehmbares Alibi für die fragliche Zeit. Sie behauptete lediglich, sie
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habe das Grab ihres Gatten auf dem Friedhof von Laurel Falls be» sucht und dort ein Weilchen geses= sen, sei dann nach Hause zurück' gekehrt und zu Bett gegangen. Bc= gegnet war ihr niemand, weder auf den Wegen zum und vom Fried= hof noch auf dem Friedhof selbst. Vor Gericht befaßte sich der Di= striktsanwalt ausgiebig mit Annas neurotischer Verfassung. Als Mo» tiv unterstellte er ihr einen hefti= gen Reueanfall (Beweisstück B: das tränenfeuchte Taschentuch), bei dem sie schließlich, in einem Zu= stand manisch depressiver Zerrüt» tung, auf Barton Fonslow schoß und ihn tötete. Die Geschworenen schlössen sich dieser Darlegung an, und der Richter gab ihr zwanzig Jahre Gefängnis. Am dritten Tag ihres Gefängnisaufenthaltes er= hängte sich Anna an einem Strick, den sie aus Streifen ihrer Anstalts» kleidung geflochten hatte. Mrs. Dieteriing war durch die ganze schreckliche Angelegenheit so betäubt und erschüttert, daß sie nach Annas tragischem Selbstmord wochenlang wie in Trance dahin= lebte. Es war Felicity, ihre kleine Enkelin, durch die sie schließlich wieder zu sich selbst fand. Ihr wurde bewußt, wie sehr, um wie°
viel mehr denn je zuvor Felicity sie brauchen würde. Und während derÜbergangsperiode zwischen Trance und wiederkehrender Gesundheit geschah es, daß Marcella Dorfrey, die Nurse, ihre Stellung verließ. Dieses Aufgeben der Stellung hatte seltsame Begleitumstände, denn Marcella war nicht einfach davon» gegangen, sondern regelrecht ent= flohen. Eines Nachmittags ver= schwand sie, völlig unerwartet, nicht nur aus dem Dieterlinghaus, sondern überhaupt aus Laurel Falls und aus Ohio. Und wenn sie auch ihre Kleider und ihre sonstigen Sa» chen mitnahm, verzichtete sie doch auf das fällige Monatsgehalt. Sie hinterließ nichts als einen Notiz" zettel, auf dem in melodramati= sehen Floskeln zu lesen stand, sie könne weder im Hause einer ver= drehten alten Frau noch als Nurse bei einem Kind bleiben, dessen Mutter eine Mörderin sei. Niemand hatte - dessen erinnerte sich Dr. Starr - seit damals je wie= der von Marcella Dorfrey gehört, auch ihre einzige Verwandte nicht, eine Stiefschwester, die in Laurel Falls ein kleines Lebensmittelge= schäft betrieb und vor einem hal= ben Jahr gestorben war. Und jetzt, zwanzig Jahre später, machte Mrs. 6l
Rufus King Dieterling auf einmal die verblüf» fende Eröffnung, daß Marcella Dorfrey hier im Hause sei! Er wuß« te aus Erfahrung, daß die Jahre Mrs. Dieterling abweisend und ver» schlössen gemacht hatten und sehr behutsam in der Wahl ihrer Worte. Undenkbar, daß sie etwas derart Bedeutungsvolles behauptete, ohne einen gewichtigen Grund dafür zu haben - mochte sich dieser an» scheinend gewichtige Grund nach" her auch als Irrtum erweisen. Dr. Starr fragte: »Was möchten Sie über Narben wissen?« »Verschwinden sie? Können sie ausgelöscht werden?« »Nicht, wenn ein Teil des ur= sprünglichen Hautgewebes ver" nichtet war.«
»Um genau zu sein, Doktor - ich meine eine Schnittwunde am Hand= gelenk, verursacht durch zerbro» ebenes Glas.« »Wie wurde die Verletzung behan» delt?« »Ich kümmerte mich selbst darum - ein Verband natürlich, aber unter diesem Verband eine gewisse Men» ge des bevorzugten Blutstillers meiner eigenen Kinderzeit, Spinn" weben.« »Hat sich beim Abheilen so etwas wie eine Körnung gebildet?« 62
»Ja. Denn Marcella war schon bald mit meiner Behandlung nicht mehr zufrieden. Sie trieb im Laden ihrer Stiefschwester irgendeine billige Ichthyolsalbe auf. Ich erinnere mich, daß sie diese Salbe zum er» stenmal am Mordtag benutzte.« »Wenn sich eine Körnung gezeigt hat, wird die Narbe niemals völlig verschwinden.« »Auch in zwanzig Jahren nicht?« »Die Zahl der Jahre spielt keine Rolle.« »Ah!« Mrs. Dieterling, die nach eigener Behauptung halb invalide war-die Kniegelenke! -, legte ihre schmale Rechte um den goldenen Griff ihres Stockes. Es war kein gewöhnlicher Stock — sein Schaft barg ein Stilett; Alphons, ihr Gatte, hatte dieses Prachtstück seinerzeit in Paris er= werben und immer wieder unbän» dige Freude an der Verblüffung ahnungsloser Begleiter gehabt, wenn er auf einem Spaziergang plötzlich das verborgene Stilett her» vorzauberte. Dies war ein Brauch, den Mrs. Dieterling, als sie den Stock erbte, zwar nicht übernahm; aber sie führte den Stock stets bei sich, teils zur Entlastung ihrer schmerzenden Kniegelenke, teils, weil Alphons diesen Stock von al=
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len seinen einundzwanzig Spaziere aufgehört hatten zu fließen; da sei» Stöcken am liebsten gemocht hatte. nerzeit auch jene Wertpapiere von »Mein Plan muß gelingen«, sagte Alphons besonders geschätzt wor" , Mrs. Dieterling. »Ich kann nicht den waren, hing Mrs. Dieterling verstehen, weshalb sie erst jetzt voll sentimentaler Liebe an ihnen wieder aufgetaucht ist. Aber Sie, und hatte es bisher nur unter dem Doktor, sollen es ihr statt meiner Zwang grimmigster Notwendig» abnehmen.« keit vermocht, hin und wieder eins »Darf ich fragen, was ich ihr ab' von ihnen zu verkaufen. So stell» nehmen soll?« ten sie zwar noch immer ein klei» »Das lächerliche Chiffontüchlein, nes Vermögen dar, aber ein Ver» das sie immer um ihr rechtes Hand= mögen, das keine Zinsen mehr trug gelenk trägt. Ich kann mich nicht und auch nicht mehr angerührt dazu bringen, ihr das Tuch abzu» werden sollte, wenn es sich irgend reißen, oder ihr zu sagen, sie möge vermeiden ließ. es doch einmal abnehmen - haupt= »Ich muß gestehen«, sagte Dr. sächlich wegen des Dilemmas, das Starr, »daß ich ein wenig verwirrt sich aus ihren fünfzig Dollar in der bin.« Woche ergibt.« »Durchaus begreiflich, Doktor. Und So wunderlich dies klingen mochte, ich finde es schwierig, nach so lan» es ergab einen Sinn; die fünfzig gen Jahren über alle diese Dinge Dollar wöchentlich erhoben die zu sprechen. Manche Tragödien Frau mit dem Chiffontuch am vergehen niemals. So auch Annas Handgelenk in den Rang eines der Tragödie. Die Folgen leben weiter. drei zahlenden Gäste, Dr. Starr Ich würde mir aber nicht allzuviel wußte, daß diese an und für sich daraus machen, wenn ihre Sorgen nicht große Summe für Mrs. Die» und Gefahren ausschließlich auf teriing von lebenswichtiger Bedeu» mich überkommen wären.« tung war. Er wußte, daß Mrs. Die» »Gefahren?« teriing sich genötigt gesehen hatte, »Gefahren, gewiß! Mord schwelt drei zahlende Gäste in ihr Haus zu weiter - das ist eine erwiesene Tat» nehmen, nachdem die einst erheb» sache. Er schläft in ständiger Angst liehen Einkünfte aus den Zinsen vor Enthüllung, stets bereit, von gewisser Wertpapiere seit Jahren neuem zu zerstören. Sie sehen -
Rufus King auch Felicity ist davon betroffen.« »Ich sehe gar nichts, Mrs. Dieter« ling. Felicity ist ein reizendes Mäd= dien, ein völlig gesundes, gerad= sinniges und reines Mädchen. Ich habe nie die geringste Spur einer krankhaften Veranlagung bei ihr wahrgenommen.« »Das ist richtig. Aber der Schatten von Annas Tragödie mußte sie schließlich doch erreichen. Er hat sie bereits erreicht. Forrest Willeth hat Felicity gebeten, ihn zu heira= ten.« Dr. Starr kannte Forrest Willeth recht gut, da er ihn einst durch Ma= sern und Ziegenpeter und ähnli= ehe Kinderkrankheiten gebracht und dann später, vor anderthalb oder zwei Jahren erst, bei den Tauglichkeitsuntersuchungen für den Wehrdienst vor sich gehabt hatte, die ihn als voll verwendbar einstuften. Forrest war ein netter junger Mann, und seine Familie galt als eine der solidesten und wohlhabendsten in Laurel Falls. »Und«, fragte der Doktor, »wes= halb sollte sie nicht?« »Ist das nicht offensichtlich? Sie liebt Forrest so innig, wie er sie liebt. Sie liebt ihn so sehr, Doktor, daß sie ihm nie erlauben wird, die Tochter einer Mörderin zu heiraten. 64
Sie ist in diesem Punkt absolut lo= gisch. Die Eltern Willeth haben ihren einzigen Sohn für die diplo= matische Karriere vorgesehen - er soll in die Fußstapfen des alten Horace Willeth treten, der lange Jahre Botschafter in London gewe= sen ist. Sehen Sie jetzt, was ich meine?« »Ja, jetzt sehe ich es.« »Forrest ist bereit, für Felicity alles aufzugeben. Aber sie wird es nie» mals zulassen. Nicht, solange die Dinge nach außen hin unverändert sind. Dadurch ist mir eine schwere Verantwortung zugefallen.« »Das Problem zu lösen, gewiß. Aber wie wollen Sie das tun?« »Indem ich beweise, daß Anna un= schuldig war. Indem ich beweise, daß es Marcella Dorfrey war, die Barton Fenslow ermordete. Ich will feststellen, daß diese Frau mit Mär« cella identisch ist, und sie verhaf» ten lassen. Ich will durchsetzen, daß das Verfahren wieder eröffnet und daß sie vor Gericht gestellt wird.« »Aber Sie vermuten lediglich, daß diese Frau mit Marcella identisch ist?« »Ich bin dessen sicher.« »Wegen des Chiffontuchs am Handgelenk? Wäre das nicht eine
Die yförmige Narbe ziemlich unsichere Basis für einen solchen Verdacht? Sicher haben Sie noch andere Gründe?« »Ich habe andere Gründe. Um da= mit zu beginnen, diese Frau - sie nennt sich jetzt Miss Warbright und gibt vor, Schriftstellerin zu sein - ist im entsprechenden Alter und hat genau jenes Äußere, das zwanzig Jahre später bei Marcella zu erwarten war.« »Sie haben also eine Ähnlichkeit entdeckt?« »Eine ausreichende Ähnlichkeit, Doktor. Die Frau ist mager. Sie hat dieselbe Art fahlbraunen Haares wie Marcella. Ihr Gesicht zeigt ge= nau dieselben unbestimmten, ver= waschenen Züge, die Marcellas fad=hübsches Jungmädchengesicht nach zwanzig Jahren zu zeigen versprach.« »Wie alt war Marcella, als sie ver° schwand?« »Achtzehn. Und vor allem, Doktor, verlasse ich mich auf die Narbe. Ich bin sicher, daß sie unter dem Chif= fontuch jene Narbe verbirgt.« »War die Narbe von besonderer Form?« »Sie war wie ein kleines Ypsilon geformt, mit verlängertem Schaft. Scherben eines Glases lagen in einem Papierkorb, und Marcella
verletzte sich an ihnen, als sie nach einem Federhalter greifen wollte, der vom Schreibtisch in den Papier» korb gefallen war. Die Narbe ist auf der Oberseite ihres rechten Handgelenkes und höchstens zwei» einhalb Zentimeter lang. Sicher verhüllt das lächerliche Chiffontuch nichts anderes als diese Narbe!« »Erlauben Sie mir eine Frage? Selbst wenn Sie feststellen, daß Miss Warbright mit Marcella Dorfs rey identisch ist - wie, um alles auf der Welt, können Sie dann be= weisen, daß Ihre Tochter unschul= dig und Marcella Dorfrey schuldig war?« »Meine Überzeugung, daß Anna unschuldig war, ist niemals ins Schwanken geraten.« »Gewiß. Aber wie erklären Sie den Revolver? Wie das Taschentuch?« »Beides gehörte unzweifelhaft An= na. Der Revolver stammte von Henry, Annas Mann. Sie verwahr» te ihn mit anderen seiner persön= liehen Dinge in einer Zedernholz= Schatulle in ihrem Schlafzimmer. Natürlich hatte sie den Revolver berührt, mindestens, um ihn in die Schatulle zu legen - deshalb waren ihre Fingerabdrücke darauf. Und was das Taschentuch betrifft - für jedermann im Haus waren Annas
Rufus King Taschentücher genauso leicht er" reichbar wie der Revolver. Die Schatulle war nicht verschließbar, und die Schlüssel ihrer Schränke pflegte Anna stets steckenzulassen.« »Die Tränen im Taschentuch? Marcella Dorfreys?« »Entweder ihre Tränen oder sie hat das Taschentuch auf andere Art be« feuchtet.« »Warum wurden diese Punkte bei der Gerichtsverhandlung nicht erwähnt?« »Sie wurden erwähnt. Aber es gab zu dieser Zeit nichts, was auf ein anderes Tatmotiv verwiesen hätte, als das, welches man Anna unter» stellte. Man charakterisierte den Mord als eine Affekthandlung, begangen in einem von Annas Schwermutsanfällen. Man unter» stellte, Anna hätte beabsichtigt, nachher Selbstmord zu begehen, aber dann doch nicht die Kraft da= zu gehabt. Ihr späterer Selbstmord verstärkte diese Auffassung natür= lieh. Man weigerte sich, das Verfahren wieder aufzunehmen.« »Und Ihre Theorie, Mrs. Dieters ling?« »Der Mord war eine Affekthandlung. Aber es war Marcella Dorf» rey, die eine Liebschaft mit Barton 66
Fonslow hatte, nicht Anna. Es war Marcella, die ihn in wütender Eifersucht erschoß, als sie erfuhr, daß er nicht sie, sondern Anna heiraten wollte. Es war Marcella/ die den Revolver und das Taschen» tuch absichtlich am Tatort zurück» ließ, um Anna zu belasten.« »Haben Sie irgendwelche beweise dafür?« »Ja. Marcellas Flucht gab mir den ersten Argwohn gegen sie ein. Sie verließ nicht nur mein Haus, sie verschwand auch aus der Stadt. Sie verschwand spurlos. Selbst ihre Stiefschwester, mit der ich mich wegen des fälligen Monats» gehalts in Verbindung setzte, wußte nichts von ihrem Verbleib. Dabei war sie ein recht materiell gesonnenes Mädchen - es lag völlig außerhalb ihrer Art, ein Mo» natsgehalt im Stich zu lassen.« »Fanden Sie irgend etwas Greif» bares, was als Beweis verwendet werden könnte?« »Es war merkwürdig, Doktor. Es war beinah, als sei Annas Hand dabei im Spiel gewesen, die Hand der toten Anna —« »Ja?« »Ich will jetzt nicht von übematürliehen Kräften sprechen, und doch - wie können wir es wissen? Wie
Die yförmige Narbe können wir mit absoluter Sicherheit sagen, daß es nicht Annas Geist, nicht ihre tiefe Liebe zu ihrem Kind gewesen ist, die Feli" city zu jenem Brief führten?« »Ein Brief ist Ihr Beweis?« »Ja. Ich muß erwähnen, daß Feli» city damals etwas über zwei Jahre alt war. Sie konnte laufen und be» saß einen bescheidenen Wort» schätz, den sie eifrig gebrauchte. Dies geschah, als ich eben anfing, wieder zu mir selbst zu finden. In der Zeit meiner Verstörtheit war Marcella nachlässig geworden. Sie hatte Felicity immer mehr sich selbst überlassen. Eins der Haus» mädchen erzählte mir später, sie hätte es häufig unterlassen, das Gitter an Felicitys Kinderbettchen hochzuklappen. Marcellas Zimmer lag unmittelbar neben dem Kinderzimmer, und die Verbindungstür zwischen den beiden Räumen stand immer weit offen. Felicity hatte also völlige Bewegungsfreiheit in beiden Räumen, auch wenn Marcella unten im Haus beschäftigt oder ausgegangen war. Und sie besaß die Neugier eines Äff» Aens.« »Wie die meisten kleinen Kin= der.« »Wir wußten nie, was ihr Spaß
machen, nach welchen ausgefallenen Dingen sie verlangen würde. Ich erinnere mich deutlich der Er»' eignisse des Tages, an dem Mär» cella verschwand. Sie hatte im Lauf des Vormittags irgend etwas außer Haus zu erledigen und ließ Felicity allein. Felicity benutzte die Gelegenheit, um in Marcellas Zim» mer zu gehen, auf einen Stuhl zu klettern und Marcellas Tischschublade auszuräumen. Dann kehrte sie in ihr Bettchen zurück und schlief ein. Marcella fand sie schlafend, als sie wieder kam.« »Und die Tischschublade?« »Eben, die Tischschublade - Mär» cella glaubte, ich sei es gewesen und nicht Felicity, die in der Schubs lade herumgestöbert hätte. Sie entdeckte, daß der Brief fort war. Zwei" fellos glaubte sie, ich hätte diesen Brief an mich genommen, um ihn sofort der Polizei zu übergeben. Das muß sie geglaubt haben. Je= denfalls ist es die einzige vernünftige Erklärung für ihre überstürzte Flucht.« »Dieser Brief - er stammte natürlich von Barton Fonslow?« »Ja. Ich fand ihn in Felicitys Bettchen, einige Tage nachdem Marcella verschwunden war. Ich fand ihn, als ich die Bettwäsche wech67
Rufus King selte - Felicity hatte ihn unter das Laken geschoben. Ich komme im= mer wieder auf den Gedanken zu= rück, daß es Anna war, die Felicity an diesen Brief gelangen ließ.« »War das Äußere des Briefes ir= gendwie ungewöhnlich? War es auffallend genug, um das Interesse eines Kindes zu erregen?« »Ja. Und das ist wohl auch die ver= nünftigste Erklärung. Barton Fons= low verwendete ein ganz spezielles Briefpapier. Es war mit den beiden bekannten Masken der Tragödie und der Komödie und mit seinen Initialen geschmückt, alles in tie= fern Scharlachrot auf zart rosafar= benes Papier gedruckt. Daran fand Felicity anscheinend Gefallen.« »Was besagte der Brief?« »Barton Fonslow teilte Marcella darin mit, daß es zwischen ihm und ihr aus sei. Er bediente sich sehr beleidigender, überheblicherworte. Ich glaube, ich selbst hätte ihn ebenfalls umgebracht, wäre der Brief an mich gerichtet gewesen.« »Erwähnte er Anna?« »Ja. Er schrieb, er werde nichts und niemandem erlauben, seinen Hei= ratsplänen mit Anna im Wege zu stehen. Er ließ Marcella wissen, daß er ihr hundert Dollar geben werde, um sie los zu sein.« 68
»Was unternahmen Sie?« »Ich ging zum Distriktsanwalt.« »Zeigten Sie ihm den Brief?« »In meiner Aufregung hatte ich den Brief zu Hause gelassen. Aber ich erzählte seinen Inhalt. Der Di» striktsanwalt hörte sehr höflich zu, beinah aufregend höflich - so, wie man jemandem zuhört, den man nicht ernst nimmt. Er sagte, in einem von Fonslows Koffern seien viele Briefe gefunden worden.« »Liebesbriefe?« »Zumeist Liebesbriefe, sagte er. Jedenfalls Briefe, die zeigten, wie vielfältig die zarten Beziehungen dieses Mannes gewesen seien. Wenn das Verfahren wieder auf» genommen würde, sei ein Skandal zu erwarten, der die ganze Stadt durcheinanderwirbeln könne.« »Aber Ihr Brief war doch einer, den Fonslow selbst geschrieben, und nicht einer, den er empfangen hatte!« »Das erkannte der Distriktsanwalt an. Er sagte, trotzdem sei dieser Brief keine Ausnahme. Denn man= ehe der gefundenen Briefe seien Antwortbriefe auf ähnliche grau» same Mitteilungen, wie die, die Barton Fonslow an Marcella ge= richtet hatte.« »Sollte er nicht erkannt haben, daß
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Die yförmige Narbe unter den betroffenen Frauen aus= empfanden. Was sagte Her Dia schließlich Marcella eine Gelegen" striktsanwalt dazu, daß Sie seinen" heit hatte, an Annas Taschentuch Vorschlag ablehnten?« und den Revolver zu gelangen?« »Er nahm es gleichmütig hin. So" »Ich mußte ihn darauf hinweisen. weit es ihn betraf, hatten ein Ge» Er reagierte ausweichend. Immer" schworenengremium, der Richter hin war er es ja, der die Strafe ge= und die Tatsache, daß Anna ihr gen Anna gefordert hatte.« Leben durch Selbstmord endete, »Ja, das mag es gewesen sein.« den Fall abgeschlossen.« »Das war es, Doktor! Indessen Kalter Märzwind pfiff gegen die mußte ich bekennen, daß Anna von Fenster, und Mrs. Dieterling sagte schweren neurotischen Krisen er= etwas kläglich: »Würden Sie bitte schüttert worden war und daß es den Thermostat ein wenig weiter Momente gegeben hatte, in denen aufdrehen, Doktor?« sie Barton Fonslows Werbung Starr tat es. Nachdem er wieder durchaus wohlwollend betrachtete. Platz genommen hatte, erklärte er: Ich betonte allerdings, daß es nichts »Ich stehe völlig auf Ihrer Seite, Unschickliches gegeben hätte, wor= Mrs. Dieterling - das wissen Sie. auf der Distriktsanwalt ganz be= Aber ich sehe nicht, wieso dieser sonders höflich wurde und lä= Brief heute eine höhere Beweis» chelte.« kraft haben sollte als vor zwanzig Jahren.« »Und damit endete es?« »Nein, er schlug vor, ich möge ihm »Tatsache ist, daß Marcella nicht den Brief überlassen, damit er ihn nur durch ihre Flucht bestätigt hat, zusammen mit den zahlreichen an» welch tödliche Gefahr dieser Brief deren Briefen in die Akten dieses für sie darstellt. Sie hat es erneut Falles aufnehmen könne. Irgend bestätigt, indem sie jetzt, als ich etwas veranlaßte mich, diesen Vor= annoncierte, daß ich zahlende Gäste schlag abzulehnen. Ich glaube, ich aufnehmen wolle, sogleich die Ge= empfand, daß der Brief mir doch legenheit ergriff, unter der Maske irgendeine Macht geben würde, das einer Miss Warbright in dieses geschehene Unrecht wieder gutzu= Haus zurückzukehren. Das gibt ihr machen.« die sehnsüchtig erwartete Chance, »Ich glaube, ich verstehe, was Sie den verhängnisvollen Brief zu su» 69
Rufus King Aen. Sie vermutet ihn hier in die= sem Zimmer.« »Wie kommen Sie darauf?« »Weil sie die Gewohnheit ange= nommen hat, hier hereinzukom= men und mit mir zu sprechen. Als Vorwand benutzt sie ihr Interesse an meinen Anekdoten über die gute alte Zeit in Ohio, die sie für einen angeblich geplanten histori= sehen Roman verwenden möchte.« Mrs. Dieterling, beide Hände auf die goldene Krücke ihres Stockes gestützt, beugte sich nach vom. »Aber ihre Augen sind überall, Doktor. Sie suchen nach dem mög= liehen Versteck, während sie spricht oder zuhört. Ich bekenne, daß dies allein nicht genügte, sie mit Mär» cella in Verbindung zu bringen. Doch letzte Nacht wurde einer der Schlüssel zum Blockhaus gestoh» len. Da plötzlich kam mir die Er= leuchtung-ihre suchenden Augen, der gestohlene Schlüssel zum Block' haus, das lächerliche Chiffontüch= lein an ihrem rechten Handgelenk!« Hoffnung, dachte Dr. Starr, ist etwas Wunderbares und Unver= gängliches. Allein die Hoffnung ließ diese tragische Frau trotz ihrer Bürde an Jahren in den Kampf zie= hen, nicht mehr für sich selbst oder für das Gedenken der toten Anna, 70
sondern für die geliebte Enkelin, auf Strohhalme gestützt, blind ge" gen die mögliche Niederlage ... Er fragte: »Was kann ich tun?« Er fühlte, wie eine seltsame Kraft von ihr auf ihn übersprang. »Der gestohlene Schlüssel ist der Schlüssel zur Vordertür des Block» hauses. Den Schlüssel zur Hintera tür werden Sie in der linken obe» ren Schublade meines Schreibtisches finden.« Starr stand auf und ging an den Schreibtisch. »Ja, hier ist er - mit einem Schild" Aen Blockhaus, Hintertür.« Ob es nun an dem Schneeregen" sAauer lag, der draußen nieder" ging und dem ohnehin mattgrauen TagesliAt etwas vollends Unwirk» liches verlieh, oder nicht - als Starr sich umdrehte und Mrs. Dieterling wieder ansah, wirkte sie in ihrer zerbreAlichen Magerkeit beinah durchsiAtig wie ein Gespenst. Sie sagte; »Das Blockhaus ist seit der polizeiliAen DurAsuchung vor zwanzig Jahren niAt mehr betre" ten worden. Irgend etwas ist dort bestimmt noA zu finden. Ändern» falls wäre niAt Marcella letzte NaAt hier hereingekommen, um den Schlüssel zu stehlen. Sie müs= sen mein Auge sein, Doktor.« Ihre
Die yförmige Narbe Stimme erstarb und lebte plötzliA wieder auf. »Sie müssen Annas Auge sein.«
Bodendielen zeigte nur die Spuren seiner eigenen Schritte. Er inspia zierte das SAlafzimmer, in dem Fonslow erschossen worden war. Die Hintertür des Blockhauses Er fand niAts, was sein Interesse quietsAte klagend. Seit zwanzig erregt hätte. NiAt anders war es Jahren abgelagerter Staub wallte im Wohnzimmer, von dem eine auf, als der Wind durA die offene Tür in die kleine Küche führte. Tür pfiff. Die Fensterläden waren Auch hier fand er niAts, was ihm gesAlossen. bedeutungsvoll ersAienen wäre, Dr. Starr knipste das Licht neben bis er die Herdringe abhob und der Tür an und war glückliA, die die Asche bemerkte. Stromversorgung intakt zu finden Spätestens am frühen NaAmittag - offenbar hatte man sie niemals des ii. April 1952, so daAte er, unterbrochen. Große, verstaubte moAte Mabel Wallace mit ihrer Glühlampen leuAteten auf, um» Arbeit fertig gewesen sein und das geben von altmodisA geformten Blockhaus verlassen haben. Als seidenen LampensAirmen, und Fonslow, der stets in der Stadt zu zauberten die dämmerige Atmo= essen pflegte, gegen Abend nach Sphäre herbei, die Barton Fonslow Hause kam, dürfte das Herdfeuer, für seine privaten Untemehmun» das die alte Mabel zur Warmwas= gen bevorzugt hatte. serbereitung für den AbwasA oder Starr maAte die Tür hinter sich zu aus sonst einem Grund benötigt und begann langsam herumzuge» hatte, bereits erloschen oder am hen, voller Unbehagen, die zwan= ErlösAen gewesen sein. Am näA= zigjährige Abgeschlossenheit des sten Morgen, als sie Fonslows Lei» Blockhauses zu stören, die unbe= Ae fand, hatte Mabel noch keine droht geblieben war - bis gestern Zeit gehabt, ein neues Herdfeuer naAt irgendwer einen SAlüssel zu entfachen. aus Mrs. Dieterlings Schreibtisch Diese AsAe dort unten, daAte gestohlen hatte! Starr, war also dieselbe Asche, die War dieser Schlüssel inzwisAen sich an jenem Abend im Herd be= benutzt worden? Starr glaubte es funden hatte, als Fonslow getötet niAt. Die StaubschiAt auf den worden war.
Rufus King Und dies galt auch für das Stückchen zusammengeknüllten Stoff. Er nahm es aus dem Feuerloch und glättete es vorsichtig. Ein Stück= dien Verbandstoff, das mit einer Schere von einem schmalen Hand= gelenk geschnitten worden war. Vom Handgelenk einer Frau. Von Marcellas Handgelenk? Ein dunkler, erhärteter Fleck, fast genau gegenüber der Schnittstelle, behielt seine leicht nach innen ge° wölbte Form. Ausgetrocknete Ich= thyolsalbe, was leicht festzustellen wäre, dachte Starr. Ein merkwürdiges Schaudern durchrann ihn, als er inmitten des erhärteten Flecks den schwachen, aber deutlich erkennbaren Abdruck einer yförmigen Narbe bemerkte. Ja, Ichthyol hatte die Eigentümlich= keit, im Eintrocknen seine dunkel= braune Farbe zu bewahren, aus= genommen dort, wo die Wunde es absorbierte und ihren Abdruck hinterließ. Er dachte: Nach Mrs. Dieterlings Worten benutzte Marcella einen Verband mit Ichthyolsalbe zum erstenmal an jenem Tag, an dessen Abend Barton Fonslow erschossen wurde. Der gefundene Verband bewies also ihre Anwesenheit im Blockhaus am Abend der Tat. Das
mußte stimmen, weil die Asche be" reits kalt war, als der Verband in das Feuerloch geworfen wurde andernfalls wäre er verkohlt. Vom nächsten Morgen an stand das Blockhaus zunächst unter der Kon= trolle der Polizei; dann wurde und blieb es verschlossen. Starr überlegte: Barton Fonslow mochte ein äußerst wählerischer Mann gewesen sein - es hätte zu seinen sonstigen Eigenheiten ge» paßt. Marcella kam an jenem Abend, um ihn zu töten, aber wahrscheinlich wollte sie ihm vor» her eine letzte Chance geben. Lag es so fern, zu vermuten, daß sie ihn umarmt hatte, um seine er= loschenen Gefühle wieder zu ent» fachen? Ichthyol besitzt einen gar» stigen Fischgeruch. Fonslow könnte daraufhin irgendeine angewiderte Bemerkung über den schmutzigen, stinkenden Verband gemacht ha» ben, die Marcella veranlaßte, den Verband abzuschneiden und in den Küchenherd zu werfen. Dr. Starr steckte seinen Fund in die Manteltasche. Er drehte, eins nach dem anderen, die Lichter aus und schloß die Tür hinter sich zu. Draußen umfingen ihn die grauen Schatten der Abenddämmerung. Er dachte daran, wie die arme neu»
Die yformige Narbe rotische Anna nun endlich gerecht» fertigt und die alte Mrs. Dieter» ling wieder Frieden finden würde. Und daß Felicity ihren netten jun= gen Mann heiraten konnte ,,, Mrs. Dieterling erwartete ihn am oberen Ende der Treppe. Starr sagte: »Es besteht Hoffnung, Mrs. Dieterling. Große Hoffnung.« »Gott sei Dank.« »Wir haben genug, um uns mit Distriktsanwalt Hefferfield in Ver= bindung zu setzen. Ich kenne ihn sehr gut. Sie werden ihn um vieles zugänglicher finden als seinerzeit den Distriktsanwalt Johnson. Nun bleiben noch Miss Warbright und ihr Chiffontüchlein.« Mrs. Dieterling unterdrückte den Ansturm ihrer Gefühle. Schwer auf den Spazierstock ihres geliebten Alphons gestützt, stand sie da. »Gehen wir zu Marcellas Zimmer, Doktor? Bestimmt schläft sie jetzt fest. Ich nahm mir die Freiheit, in ihr Zimmer zu gehen, als sie im Speisesaal beim Lunch saß, und zwei von den wirksamen Schlaf' tabletten, die Sie mir verordneten, in das Glas Fruchtsaft zu werfen, das sie stets vor ihrem Nadimit= tagsschläfchen zu trinken pflegt.« »Ja«, sagte er in einer Art hilfloser
Bewunderung, »dann wird sie jetzt bestimmt sehr fest schlafen.« Er begleitete Mrs. Dieterling in ein großes, hübsches Schlafzimmer mit schweren, reichverzierten Mahago» nimöbeln. Die Frau auf dem Bett tat die tiefen, regelmäßigen Atem» züge festen Schlafes. Sie war, wie Mrs. Dieterling sie beschrieben hatte - eine magere Frau mit fahl» braunem Haar. Starr knipste das Nachttischlämp» dien an und löste behutsam das kleine Chiffontuch von ihrem rech» ten Handgelenk. Er betrachtete die entblößte Stelle genau und aus ziemlicher Nähe, dann massierte er sie eine halbe Minute lang mit sei» nem Handballen. Er sagte: »Da ist keine Narbe.« Mrs. Dieterling wandte sich ab und ging hinaus. Er folgte ihr, nachdem er das Chiffontuch wieder befestigt und das Nachttischlämpchen ge° löscht hatte, und machte die Tür hinter sich zu. Schweigend gingen sie den Flur entlang und in Mrs. Dieterlings Wohnzimmer. Miss Vernon, die fette Blondine mit den Drüsen» funktionsstörungen, saß neben der Spieldose am Erkerfenster - aus» gerechnet auf Mrs. Dieterlings Lieblingssessel. 73
Rufus King Miss Vernon stand auf, als sie ein" Sie sagte: »Setzen wir uns.« traten. »Liebe Mrs. Dieterling! Ich Sie setzte sich in ihren Lieblings» wunderte mich schon, wo Sie wä» sessel; Starr gestikulierte Miss ren. Wie geht es Ihnen?« Vemon auf den Stuhl, auf dem er Sie watschelte ihnen entgegen und vorhin gesessen hatte, und holte legte als Ausdruck überschwengs für sich selbst einen anderen Stuhl licher Zuneigung ihre plumpen herbei. Hände auf Mrs. Dieterlings Schule »Sie waren gerade nach Hause ge° tern. Starr empfand einen leisen kommen, Miss Vemon?« fragte Schock; Mrs. Dieterling, die es ver» Starr. abscheute, berührt zu werden, trat »Ja, vor kaum einer Minute.« einen halben Schritt zurück und »Sie fanden es draußen ziemlich sagte kühl: »Ich befinde mich wohl« kühl, nicht wahr?« auf, danke Ihnen, Miss Vernon. »Eigentlich sogar bitter kalt, Dok= Sind Sie Doktor Starr schon be= tor ... Vielleicht sagen Sie mir, was gegnet?« Ihr Problem ist?« »O ja, als er kam. Deshalb wollte ich mich nach Ihrem Befinden er» »Sie sind das Problem, Miss Ver» non.« kundigen. Ich habe angeklopft.« »Wir waren anderweitig beschäf» »Ich?« »Wann begannen Sie, Gewicht an= tigt.« »Ja - nun, ich denke, dann werde zusetzen? Vor zehn Jahren unge° fähr, nicht wahr?« ich wieder gehen.« »Miss Vernon -«, Dr. Starr fühlte »Wieso, wirklich - ich weiß nicht, eine eigentümliche Spannung, als was ich - ich meine, ich verstehe er ihr demonstrativ in den Weg nicht.« trat. »Mrs. Dieterling und ich wer» Starr sagte ruhig: »Das ist ein we» den von einem kleinen Problem ge° rüg mehr als bloße berufliche Neu» gier. Ich vermute, daß Sie an Drü= plagt. Möchten Sie uns helfen?« senfunktionsstörungen leiden. Ich »Oh - äh, natürlich.-« Mrs. Dieterling bedachte Starr mit kenne Fälle, in denen schlanke einem scharfen Blick; eine Spur Mädchen, die mit achtzehn oder von Farbe erschien in ihrem ver= zwanzig Jahren kaum mehr als fünfundneunzig Pfund wogen, zehn härmten weißen Gesicht. 74
Die yförmige Narbe Jahre später immer mehr Gewicht anzusetzen begannen, bis sie schließlich so schwer wurden wie Sie, Miss Vernon. Ihr Haar ist künstlich blondiert, nicht wahr?« »Ich - nein, wirklich!« »Nein, nein - bleiben Sie bitte sit« zen. Ich wundere mich noch über anderes bei Ihnen. Da ist, zum Bei» spiel, die bemerkenswerte Tatsache, daß Sie als kleine Mitarbeiterin der Frauenvereinigung wöchentlich fünfzig Dollar für Wohnung und Verpflegung ausgeben können.« »Das ist doch geradezu unver" schämt! Ich habe eigenes Geld!« »Ah. Und weshalb tun Sie dann die schlechtbezahlte Arbeit für die Frauenvereinigung? Nur wegen des geheuchelten Interesses für die Auf» frischung alter Möbel, das es Ihnen ermöglicht, alle Möbelstücke dieses Hauses nach jenem Brief zu durch» suchen - nicht wahr?« »Geheucheltes Interesse? Brief?« Mrs. Dieterling hatte sich auf ihrem Sessel nach vom gebeugt. Sie stu= dierte aus kaum einem halben Me= ter Abstand Miss Vemons rechtes Handgelenk, bis Miss Vernon es ärgerlich ihrem Blick entzog. Mrs. Dieterling schloß die Augen und seufzte, an Starr gewandt: »Sie irren sich. Da ist keine Narbe.«
Miss Vemon, nun vollends verärgert, hob das rechte Handgelenk vor die Augen und studierte es ihrerseits. »Narbe? Natürlich habe ich keine Narbe!« »Im Gegenteil«, sagte Starr. »Da, sehen Sie selbst!« fauchte Miss Vernon und hielt dem Doks tor das rechte Handgelenk hin. »Ich verlange eine befriedigende Erklärung für diesen unglaublichen Vorfall!« Starr nahm Miss Vemons ausge» streckte Hand und hielt sie mit sei» ner Linken. Mit den Fingern seiner Rechten massierte er die Haut über Miss Vernons rechtem Handge» lenk. »Narben, selbst wenn sie an und für sich untilgbar sind«, erklärte er, »können trotzdem im Lauf der Zeit und durch gewisse Umstände fast unsichtbar werden, zum Bei» spiel durch starken Fettansatz. Aber das Hautgewebe über einer Narbe bleibt stets verdickt und weiß und faserig, Miss Vernon.« Sie verfolgte in fast hypnotischer Erstarrung, wie seine Finger immer kräftiger massierten. »Über einer Narbe entwickelt sich keine echte Epidermis mehr, Miss Vernon. Deshalb bringt ein äußerer 75
Rufus King Einfluß/ wie etwa Kälte, sie wie» der zum Erscheinen. Die Haut rings» um rötet sich, die Narbe hingegen bleibt weiß. Sie waren gerade von draußen gekommen, aus der Kälte, und als Sie Ihre Hände zur Begrü= ßung auf Mrs. Dieterlings Schul= tem legten, hatte die Temperatur im Haus die Narbe noch nicht un= sichtbar machen können.« »Aber als ich hinsah -«, begann Mrs. Dieterling. »Ja, ganz recht - da war sie schon unsichtbar geworden. Doch nun ist es so, daß Reiben denselben Effekt erzielt wie Kälte - es rötet die Haut ringsum, während die Narbe weiß bleibt. Wie diese hier, Miss Dorf» rey - sehen Sie?« Die dicke Frau war blaß geworden. Sie starrte hinab auf ihr rechtes Handgelenk mit der yförmigen Narbe, die jetzt ganz deutlich zu erkennen war. In ihren weit auf= gerissenen Augen standen Schrek= ken und Angst, eine seit zwanzig Jahren aufgestaute Angst. Mrs. Dieterling löste den Handgriff
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von Alphons' Lieblingsspazier» stock. »Das Stilett habe ich schon vor Jahren entfernt«, sagte sie. »Seit» dem ist hier drinnen der Brief ver= borgen gewesen. Der Brief, Mar= cella, den Barton Fonslow Ihnen schrieb...« Eine Stunde später, nachdem Di» striktsanwalt Hefferfield mit seinen Leuten gekommen war und Mar= cella Dorfrey abgeholt hatte, kehr= te Dr. Starr zusammen mit Feli= city in Mrs. Dieterlings Wohnzim' mer zurück. Mrs. Dieterling, die elfenbeinern zarten Finger ihrer Rechten über die Lippen gelegt, gebot Schweigen, bis die letzten Töne der Spieldose verklungen waren. »Der Liebe altes, süßes Lied«, mur= melte sie. »Ich habe es für Anna gespielt. Sie mochte es so sehr. Sie fand es so - so wohltuend, so be= ruhigend, so tröstlich. Jetzt wird sie sagen, es habe ihr Frieden ge= schenkt...«
Thomas Waish
Cop Calhouns dienstfreie Nacht
Sie konnten kaum eine Stunde im Bett gewesen sein, als Calhoun be= nommen gewahr wurde, daß Ellen ihn am Arm schüttelte. Obwohl er ihre Worte hörte und ihre aufge= regten Atemzüge/ wurde er — wie immer - nur langsam wach, mit dem seltsamen Gefühl, daß sein Verstand in Stücke zerbröckelt sei, die er nun erst zusammenpassen müsse, damit der Verstand wieder für ihn arbeiten könne. Nachdem er die Telefonnummer der Taxigesellschaft gewählt und schlaftrunken gestammelt hatte, wohin sie das Taxi schicken sollten, gähnte er und wiegte, auf dem Bettrand sitzend, seinen großen ro= ten Kopf zwischen den ausgestütz= ten Händen hin und her. Dann stöhnte Ellen hinter ihm, und er sprang auf, hitzige Verwünschun»
gen über seine Schlaftrunkenheit murmelnd. Er machte das Fenster zu, knipste eine Tischlampe an und tappte auf bloßen Füßen in die Küche hinaus, um das Gas in der Bratröhre des Herdes anzuzünden, damit Ellen einen warmen Platz hätte, wo sie sich anziehen konnte. Dann kam er ins Schlafzimmer zurück, hob Ellen aus dem Bett, als habe sie so gut wie überhaupt kein Gewicht, und schaukelte sie behutsam auf seinen Armen. »Wie ist es?« fragte er heiser. »Soll ich Doktor Cotter anrufen? Soll ich ihn herkommen lassen?« Ellen drückte ihren Kopf an seine Schulter. Er glaubte zu spüren, wie sich ihr Körper verkrampfte. »Bring mich in die Küche zu mei= nen Kleidern«, sagte sie schließlich 77
Thomas Waish ziemlich leise. »Ruf ihn noch nicht weiter zu tun, als ihr in den Man= an, John. Das tun sie vom Hospi= tel zu helfen. »Na gut«, sagte er tal aus. Es ist schon gut. Es - ich atemlos, »dann können wir gehen.« bin froh, daß es angefangen hat. Der formlose alte Ulster, den er Ich denke, es wird bald vorüber lieber mochte als seinen anderen Mantel, weil er groß und dick war sein.« »Sicher«, murmelte Calhoun, »si° und weil er seinen Dienstrevolver eher.« Das Küchenlicht stach in darunter oder gar in einer der Sei» seine Augen. Er sah auf der Uhr tentaschen tragen konnte, ohne über dem Kühlschrank, daß es erst daß es auffiel, hing an einem Ha» vier Minuten nach Elf war. Er ken im Korridor. Calhoun nahm stammelte unzusammenhängende ihn im Vorübergehen mit. Sein Sätze, um ihr zu helfen. Er ver» Schießeisen und das Polizeiabzei» suchte sie zu überzeugen, daß es dien lagen auf dem Schreibtisch im nicht schlimm würde, daß sie heut» Wohnzimmer, aber er holte sie zutage allerlei hätten, um es ihr zu nicht. Calhoun war heute nacht erleichtem, und daß sie wahrschein- dienstfrei. lich gar nichts merken würde, bis Ellen schickte ihn noch einmal zu° rück, um das Küchenlicht auszualles vorüber war. »Ja«, flüsterte Ellen. »Reg dich nicht knipsen, und erlaubte ihm nicht, so auf, John. Mein Koffer steht im sie die Treppe hinunterzutragen. Korridorschrank, fertig gepackt. Im Hausflur sah er ihr ins Gesicht Stell ihn neben die Wohnungstür, und bemerkte die zitternde Starre damit wir ihn nicht vergessen, ihres Lächelns und die kleinen wenn wir gehen. Und nun geh und Schweißtropfen neben ihren Mund» zieh dich an, ich komme alleine zu" winkeln. Als er tröstend einen Arm recht. Wir müssen uns beeilen, um um sie legte und sie an sich zog, unten zu sein, wenn das Taxi fühlte er ihr Herz schlagen - ganz normal, wie es ihm schien. Sein kommt.« Calhounbeeilte sich, er schien imNu eigenes Herz klopfte viel stärker, mit dem Anziehen fertig zu sein, es schlug wie ein kleiner Dampf» schneller denn je. Doch Ellen war hammer gegen seine Rippen. vollständig bekleidet, als er wieder Im nächsten Moment fuhr das Taxi in die Küche kam; ihm blieb nichts vor. Er war mit Ellen schon dräu« 78
Cop Calhouns dienstfreie Nacht ßen auf der Vortreppe, ehe der Fahrer dazu kam, ein Hupsignal zu geben. Dann saßen sie im Taxi und fuh= ren los, und für Calhoun war es schlimmer als vorher, denn nun blieb ihm gar nichts mehr zu tun, bis sie dort waren, und Ellens Ge= sieht, weiß und wie erstarrt unter den dunklen Schatten um ihre Augen, erstickte ihm fast die Wor= te im Mund. »Ist es schlimm?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf, als wünsche sie nicht, daß er spräche, und dann plötzlich schien sie sich wieder ganz wohl zu fühlen. »Wer von uns kriegt eigentlich das Baby?« fragte sie und lächelte ihm zu. »Ich möchte nicht, daß du die ganze Nacht im Hospital herum" hockst. Geh nach Hause und sieh zu, daß du noch ein paar Stunden Schlaf findest. Sie werden dich an» rufen, wenn irgend etwas ist. Wenn du dableibst, würdest du mir bloß Kummer machen.« »Ich werde ein Weilchen warten«, murmelte Calhoun. Es war schwer zu ertragen/ wie deutlich sie ihm zu verstehen gab, daß er ihr jetzt gar nichts helfen konnte. Und plötzlich befiel ihn ein erschrecken» der Gedanke: Daß er jetzt vielleicht
zum letzten Male mit ihr in einem Taxi fuhr. Frauen sterben biswei« len bei der Entbindung. Nicht Ellen, dachte er einen Mo» ment später. Warum nicht, schoß es ihm durch den Sinn, warum aus» gerechnet sie nicht? Weil sie ein» fach nicht sterben darf, dachte er, weil ich sie einfach nicht sterben lasse. Aber er wußte, daß er hilflos war, und verworrene Erinnerungen an ihre erste Begegnung, an das erste Mal, da sie zusammen ausgegan» gen waren, erfüllten ihn mit jäher Wehmut. Er dachte daran, wie glücklich sie immer miteinander gewesen waren. Und dann - es ging natürlich schon seit Monaten, aber irgendwie so, als beträfe es nicht sie beide, son= dem irgendwelche anderen Leute. Und jetzt, in dieser Nacht - Cal= houn schluckte. Er dachte, sie wä= ren eigentlich verrückt gewesen, sich auf dieses Risiko einzulassen. Ja, verrückt! Alle diese Gedanken, so aufdring» lieh und unabweisbar, schienen ihn schon in die Zukunft zu führen, so daß er eigentlich gar nicht mehr hier im Taxi saß und Ellens Hand hielt; er war bereits eine Woche weiter, oder einen Monat, und 79
Thomas Waish dachte daran zurück, daß er es schon gewußt hatte, damals im Taxi. Es war das letztemal, daß sieIm Hospital ließ sich eine kleine dunkle Schwester seinen Namen sa= gen und bat sie dann, einen Mo= ment Platz zu nehmen, während sie sich wegen des Zimmers erkun= digte. Calhoun legte seinen Hut auf den Fußboden und versuchte, ganz hei» ter und zuversichtlich zu sein. »Wenn es ein Mädchen ist«, sagte er, »lassen wir sie später Polizistin werden. Ich wette, du hättest deine Freude daran.« Aber da war mit einemmal wieder der merkwürdige Ausdruck in El= lens Gesicht, und sie antwortete ihm nicht. Wo blieb bloß die Schwe= ster? Stunden schienen zu verge= hen, ehe sie zurückkam. »Die Entbindungsstation ist im sechsten Stock«, sagte sie, »und ich denke, wir werden Mrs. Calhoun lieber gleich hinaufbringen. Nein, danke, ich trage den Koffer. Sie müssen hierbleiben. Der Warte' räum ist dort drüben.« Ellen küßte ihn auf die Wange, und er berührte ihre Schulter. Dann sah er ihr nach, wie sie der Schwe= ster zum Aufzug folgte. Als sie den 80
Auf zug betrat, erhielt er noch einen ganz kurzen Blick von ihr, und er war sich nicht sicher, ob sie weinte oder ob es nur ein Lichtreflex ge° wesen war. Selbst wenn sie sich elend fühlte, würde sie es ihn nicht merken lassen. Ellen war nun mal so. Eine Weile stand er im Vestibül herum und versuchte sich etwas auszudenken, irgend etwas, womit er ihr helfen könnte. Aber es fiel ihm nichts ein, so daß er schließlich seinen Hut vom Boden aufhob und in den Warteraum ging. Dort hielt er es nicht aus, weil er einfach nicht stillsitzen konnte, und kehrte ins Vestibül zurück. Ein kleiner, aber sehr aufrechter junger Mann in weißem Arztkittel hatte sich auf einer Ecke von Miss Biddles Anmeldeschreibtisch nie» dergelassen. Calhoun war ihm während der vergangenen paar Monate einigemal dienstlich be= gegnet - das letztemal in einem winzigen Hotelzimmer, wo ein to= tes junges Mädchen friedlich auf dem Bett lag und nichts von der Tragödie erkennen ließ, durch die es zum Selbstmord getrieben wor= den war. Der junge Dr. Minacom - Windy Minac für das Hospital» personal - hatte ein scharf ge=
Cop Calhouns dienstfreie Nadit schnittenes, intellektuelles Gesicht und blondes, spitz aus der Stirn= mitte emporstrebendes Lockenhaar. Er begrüßte Calhoun mit einem Lächeln. »Fein, fein«, sagte er, »ein Baby! Und ich wußte nicht mal, daß Sie verheiratet sind.« »Keine Witze jetzt«, entgegnete Calhoun mit finsterem Blick. »Da» bei gibt es nichts zu scherzen.« »Oh, fassen Sie es nicht verkehrt auf«, beruhigte Dr. Minacorn. »Es sollte kein Scherz sein.« Calhoun wandte sich ab, ohne ihm zu antworten, und ging wieder in den Warteraum. Wenn es bloß irgend etwas gäbe, das er tun könnte... Ein fetter Mann schlief seelenruhig auf einem der unbequemen Warte' zimmerstühle und wachte nicht auf, bis eine knochendürre Schwester in weißer Tracht zur Tür kam und seinen Namen rief. »Ihre Frau hat ein Mädchen«, sagte sie. »Beiden geht es gut. In einer halben Stunde können Sie nach oben und sie sehen.« Gähnend setzte sich der Mann auf und dankte ihr. »Aber, du lieber Himmel«, äußerte er gleichmütig zu Calhoun/ nachdem die Schwe» ster gegangen war, »eigentlich
würde es doch genügen, wenn ich sie morgen sehe. Nach den ersten drei macht es nicht mehr viel Un= terschied. Ich muß ja noch etwas Schlaf kriegen. Werde der Anmeldung Bescheid sagen.« Er erhob sich und ging hinaus. Da fehlen einem die Worte, dachte Calhoun. Er wand seine Finger um» einander, daß die Knöchel knack= ten, trat ans Fenster, ging zu sei= nem Stuhl zurück und dann wieder ans Fenster. Er dachte unaufhörlich an Ellen. Jetzt, wenn er sie verlies ren sollte, würde er erst wirklich wissen/wie sehr er sie geliebt hatte, und er würde nie eine andere lie° ben können. Dreimal innerhalb einer halben Stunde ging er zu Miss Biddle. »Tut mir leid«, sagte sie jedesmal, »aber sie haben noch nicht herun= tertelefoniert. Sie geben erst dann Bescheid, wenn sie sie ins Entbin= dungszimmer bringen.« »Ja, ja«, murmelte Calhoun beim drittenmal ergeben und fuhr sich mit einer Hand bekümmert über den Kopf. »Ich weiß schon, daß ich eine Plage für Sie bin. Und ich habe früher im Kino oft über solche Sa= chen gelacht. Nur ist es gar nicht so komisch, wenn es einem selbst passiert.« 8l
Thomas Waish Dr. Minacom, der aus dem Hof zurückkam, wo er schnell eine Zi= garette geraucht hatte, bemerkte ihn, als er eben wieder im Warte= räum verschwand. »Na, wie hält unser Polizist durch?« fragte er Miss Biddle. »Wird er ein Beruhi» gungsmittel brauchen?« »Ich wünschte. Sie gäben ihm et» was«, seufzte Miss Biddle. »Viel» leicht eine starke Spritze, die ihn für den Rest der Nacht außer Be» trieb setzt. Alle fünf oder zehn Minuten kommt er an und fragt.« »Durchaus verständlich.« Dr. Mi° nacorn setzte sich wieder auf die Ecke des Schreibtisches. »Etwas wie dies verwirrt unseren Freund. Was kann er dabei tun? Für einen Mann wie Calhoun ist das Wartenmüss sen ein unerträglicher Zustand.« Jetzt, dachte Miss Biddle, jetzt kommt Windy Minac wieder mal in Fahrt. Sie murmelte bloß »uh huh«, um ihn nicht zu ermutigen, und beugte sich über ihre Papiere. Aber Dr.Minacorn rückte die Brille auf seiner schmalen Nase zurecht und dozierte weiter. Eines Tages würde er wirklich als Dozent im Hörsaal stehen; bis dahin konnte ständige Übung nicht schaden, selbst bei einem Auditorium von nur einer Person. 82
»Calhoun, sehen Sie, ist ein Mann der Tat, nicht des Gedankens. Hal= ten Sie ihn physisch beschäftigt, dann wird die empfindungsmäßige Seite der Dinge ihn nicht allzusehr berühren. Gerade jetzt, natürlich, ist er in äußerster Bedrängnis. Ich glaube sicher, daß er seine Frau liebt. Er scheint über alle Maßen besorgt um sie. Aber es gibt nichts, was er in dieser Situation für sie tun kann, und das nagt an seinem Gemüt. Ein Mann wie Calhoun/ insbesondere ein Polizist, ist an Aktivität in ihren primitivsten Er= scheinungsformen gewöhnt. Und wenn man darüber nachdenkt, ent« deckt man, daß der Platz des Poli» zisten in der modernen Welt äußerst interessant, wenn auch nicht ohne innere Widersprüche ist.« Diesesmal versuchte Miss Biddle überhaupt keine Bemerkung. Das Vestibül war leer, von nirgendwo nahte Hilfe. Sie schrieb weiter. »Äußerst interessant, wenn auch, wie gesagt, nicht ohne innere Wi= dersprüche«, wiederholte Dr. Mi» nacorn, offenbar selbst fasziniert von einer Idee, die ihm ganz un= Versehens durch den Sinn gefahren war. »Nehmen Sie den durch» schnittlichen sozialen Hintergrund
Cop Calhouns dienstfreie Nacht unserer Polizisten, und Sie stoßen gleich zu Anfang auf eine verblüf» fende Tatsache - nämlich, daß un= sere Verbrecher und Strolche und unsere, äh, Beschützer überwiegend dem gleichen sozialen Milieu enta stammen. Ziehen Sie überdies die immer mehr um sich greifenden Polizeimethoden in Betracht, so finden Sie in zweifacher Hinsicht bestätigt, daß viele, sehr viele un° serer Polizisten heutzutage lega= lisierte Gangster sind ... Jawohl, legalisierte Gangster! Weshalb glauben Sie, ist Calhoun Polizist geworden? Erstens, natürlich, weil er phantasielos ist und eine Obrig» keit braucht, für die er schuften kann. Und zweitens, weil ihm die« ser Job ein verhältnismäßig leichtes Dasein beschert, mit einer kleinen, billigen Autorität in seinem Wir» kungskreis, mit gesicherter Alters» Versorgung und anderen leicht begreiflichen Vorteilen, aber ohne die lästige Verpflichtung, nennenswer» te Gedankenarbeit leisten zu müs= sen. Wie die überwiegende Mehr» zahl seiner Kollegen wird er nur eben soviel von seinen Pflichten tun, wie er unbedingt muß, um da' mit durchzukommen. Die sozialen Probleme als Ganzes bedeuten ihm gar nichts.«
Als er innehielt, um Atem zu schöpfen, erkannte Miss Biddle, daß es jetzt oder nie sein mußte. Wenn Windy Minac erst richtig loslegte »Wen«, fragte sie, »wen werden Sie zum Alumnatstanz mitnehmen?« Im Wartezimmer hatte Calhoun das Gefühl, sein Mund sei trocken und heiß wie ein Ofen. Kein Laut auf der nächtlichen Straße dräu» ßen; Stille im Hospital. Calhoun dachte an die vielen Menschen auf der Welt; jede Sekunde wurden neue geboren, jede Sekunde ster= ben welche. Er dachte daran, wie glücklich Ellen und er gewesen wa= ren, und plötzlich erschreckte ihn die Erinnerung an ihr Glück, weil es doch hieß, daß gerade die Glück» liehen von plötzlichen Schicksals» schlagen getroffen würden. Viel= leicht, wenn er sie nicht so sehr liebte - und er liebte sie eigentlich gar nicht so sehr, wahrhaftig, nein —/ vielleicht geschähe ihr dann nichts. Nichts, lieber Gott, flüsterte Calhoun. Weil sie seine Frau war und er sie liebte, und wenn sie .starb, würde er auch tot sein. Wie» der kam Panik über ihn. Miss Biddle an ihrem Schreibtisch 85
Thomas Waish murmelte etwas, als sie ihn aus dem Warteraum auftauchen sah. Und Dr. Minacom, der in diesem Moment mit Hut und Mantel aus dem Nachtdienstzimmer trat, blieb bei Miss Biddles Schreibtisch ste» hen, um auf Calhoun zu warten. »Großartig«, sagte er, überwältigt von einer plötzlichen Eingebung dem Mann der Tat konnte etwas zu tun gegeben werden. »Was hal° ten Sie von einer kleinen Spazier» fahrt mit mir, Calhoun? Bekam eben einen Anruf durchgesagt. Muß einen Besuch machen.« Calhoun sah ihn an, als sei er nicht ganz sicher, wer da zu ihm spräche; dann starrte er fragend zu Miss Biddle hinab. »Wegen Ihrer Frau brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, er= klärte Dr. Minacorn zuversichtlich. »Bei ihr ist alles völlig in Ordnung. Aber das erste Baby läßt sich im= mer Zeit mit dem Kommen. Hat die Entbindungsstation von sich hören lassen, Miss Biddle?« Miss Biddle schüttelte den Kopf. »Noch nicht wieder. Der letzte An= ruf besagte, die Wehen verliefen normal.« »Dann haben Sie noch Zeit«, sagte Dr. Minacom und legte eine Hand auf Calhouns Arm, »Und wir wer» 84
den kaum zehn Minuten fortblei» ben. Kommen Sie, Mann. Es wird Ihnen gut tun.« Calhoun wußte, daß er nicht in den Warteraum gehen und einfach wev> ter da sitzen konnte. Er würde ir= gend etwas Verrücktes tun, wenn er wieder warten mußte. Nach kur= zem Zögern nahm er seinen Hut und folgte dem Doktor in den Hof hinaus, wo ein Ambulanzwagen wartete. »Mr. Calhoun kommt mit«, sagte Dr. Minacom beim Einsteigen zu dem Fahrer. »Fahren wir, Eddie.« Auf dem Vordersitz gegen den Doktor gedrängt, wurde es Cal= houn sofort klar, daß er lieber nicht hätte mitfahren sollen. An= genommen, sie telefonierten in diesem Moment, und er wäre nicht da. Angenommen, Ellen verlangte ihn zu sehen, und sie müßten ihr sagen, er sei fortgegangen, er habe — Die Fünfminutenfahrt schien kein Ende zu nehmen. Sobald Eddie den Wagen an der Bordschwelle stopp» te, war Calhoun als erster draußen - um diese Sache so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. »Dreiunddreißig«, sagte Minacom mit einem forschenden Blick auf die Reihe der billigen Wohnhäuser
Cop Calhouns dienstfreie Nacht vor ihnen, »das ist dieses zweite dort, mit den Mülltonnen davor. Sagten sie, was los ist?« »Nein«, erwiderte der Fahrer, »ich bekam nur die Adresse.« Es war eine düstere Straße, erfüllt von schweren Schatten. Calhoun folgte ihnen um die Mülltonnen herum in einen verwahrlosten Hausflur und eine hölzerne Treppe hinauf. Auf dem ersten Treppen» absatz schaute Minacorn umher. »Kein Name angegeben, Eddie? Diese Leute denken nie -« Kopf und Oberkörper eines Jun= gen erschienen an dem Geländer über ihnen. »Hier oben ist es«, sagte der Junge. »Noch eine Treppe, Mister.« Minacorn eilte mit flinken Beinen hinauf. »Und was ist los?« fragte er. »Wer ist krank?« »Pietro«, antwortete der Junge und blickte aus dunklen Augen zwi= sehen ihnen hin und her. »Er wohnt bei meiner Mutter. Er ist da drin= nen, hinter dieser Tür.« Eine grauhaarige Frau mit einen! Schal um die Schultern, die aus einer anderen Tür aufgetaucht war, sprach in ratterndem Italienisch auf den Jungen ein. Der Junge blickte zu ihnen empor und leckte sich die Lippen,
»Sie sagt, sie will ihn nicht mehr hier haben. Sie hat Angst vor ihm. Sie sagt. Sie müssen ihn fortbrin» gen.« »Zuerst sehen wir ihn uns mal an.« Minacorn näherte sich der Tür, die der Junge bezeichnet hatte. »Da drinnen ist er, sagtest du?« »Vorsicht, Mister!« warnte der Junge. Die Frau begann wieder auf italie» nisch zu rattern; ihre Stimme war schrill. »Schweigen Sie!« sagte Minacorn scharf und mit einer entsprechens den Handbewegung. »Wir tun ihm nicht weh.« Er riß die Tür auf. Über Minacorns Schulter hinweg sah Calhoun in der hellerleuchteten Küche einen Mann stehen, der ihnen entgegenstarrte - einen ma= geren, großen Mann mit wirrem schwarzem Haar und glitzernden schwarzen Augen, aus denen der Wahnsinn leuchtete. Er hielt ein Gewehr in den Händen. »Was, zum Teufel -«, keuchte Eddie, sprang zur Seite und warf die Tür zu, unmittelbar bevor der Mann feuerte. Dr. Minacorn, der bereits einen Schritt weit in der Küche war, hatte keine Chance, wieder herauszu= kommen. Er konnte sich nur noch 85
Thomas Waish vor der Kugel ducken, die dicht die Mutter gepreßt; sein kleines über seinem Kopf durch die Rauh» Gesicht war weiß wie Papier, glasscheibe der oberen Türhälfte Calhoun sah einen Moment zu ihm pfiff. Calhoun hatte Minacoms hinab, dann blickte er den Fahrer Schatten über die Rauhglasscheibe an. »Irgendwer muß da hineinge= huschen sehen; im nächsten Mo» hen«, knurrte er. ment erlosch das Licht in der »Ich nicht«, keuchte Eddie und ging Küdhe. rückwärts zwei oder drei Stufen die Flach gegen die Wand gedrückt, Treppe hinab. »Ich nicht. Für so starrte Eddie aus schreckgeweiteten etwas muß ein Überfallkommando Augen auf Calhoun. Der Junge und her. Ich habe sein Gewehr gese= seine Mutter standen zusammen» hen.« geduckt zwischen ihnen und hiel» Calhoun rieb sich das Kinn und ten sich umarmt. Die Stimme des schaute umher. Aus den meisten schwarzhaarigen Mannes kreischte Türen des Etagenflurs spähten ver° irr aus der dunklen Küche. ängstigte Gesichter, oben und un= »Er ist verrückt«, wisperte der ten auf den Treppenpodesten Junge. »Er war die ganze Woche drängten sich fluchtbereite Gestal= seltsam und zeigte mir Löcher in ten in Nachtgewändem. Aus der der hölzernen Balkonbrüstung - Küche ertönte noch immer die von den Kugeln, die seine Feinde Stimme des Verrückten. auf ihn geschossen hätten. Heute »Was sagt er jetzt?« fragte Cal" abend, als er plötzlich mit einem houn. Gewehr herumhantierte, bekam Der Junge lauschte zitternd. »Er Mama Angst. Ich mußte Sie anru» sagt, er weiß, wer er ist und er wird ihn umbringen. Er sagt, er fen.« Jenseits der Tür sagte Dr. Mina= soll sich hinknien.« corn etwas, aber seine Stimme war Calhoun sah zu der Tür, aus der so leise und unsicher, daß Calhoun die Frau gekommen war - sie führ« die Worte nicht verstand. Sofort te in ein neben der Küche gelegenes antwortete der andere Mann mit schmales Zimmer mit einem Tisch, auf dem eine Lampe brannte; am grellem Italienisch. »Jetzt sagt er, er wird ihn umbrin= Ende des Zimmers war eine halb gen«, flüsterte der Junge, eng an geöffnete Tür, die in einen unbe° 86
Cop Calhouns dienstfreie Nadit leuchteten Korridor zu münden tür passieren, und dabei würde die schien; gewiß gab es im Zimmer verwünschte Tischlampe seinen noch eine weitere Tür zur Küche, Schatten auf der Rauhglasscheibe aber das konnte Calhoun von dort, erscheinen lassen. Hinter der Lampe wo er stand, nicht erkennen. Ohne konnte er nicht vorbeigehen, denn einen klaren Plan zu haben, nä" der vermeintliche Tisch, auf dem sie stand, war in Wirklichkeit eine herte er sich der Zimmertür. »Machen Sie hier draußen Lärm, an die Wand gerückte Kommode. soviel Sie können, damit er mich Er hätte die Lampe ausschalten nicht hört«, raunte er über die können, gewiß. Doch das wäre dem Schulter zu Eddie. »Ich will versu" Wahnsinnigen in der Küche be» chen, von einer anderen Seite in stimmt nicht entgangen - ebenso» gut hätte er anklopfen und fragen die Küche zu kommen.« »Die Küche hat drei Türen«, jappte können, ob er eintreten dürfe. der Junge atemlos, »die zweite ist Nein, die Lampe konnte er nicht dort im Zimmer, die dritte hinten berühren; er mußte sie brennen lassen, wenn er in die Küche ge= im Korridor.« Eddie begann auf den Treppenstu» langen wollte, ehe der irrsinnige fen herumzustampfen, laut zu re- Pietro merkte, daß er kam. den und in die Hände zu klatschen. Auf Händen und Knien kroch er Calhoun erreichte das Zimmer und an der Lampe vorbei und erreichte fand bestätigt, was er nach den den Korridor jenseits des Zimmers. Worten des Jungen vermutet hatte Die Tür zwischen Korridor und - der Tisch mit der brennenden Küche, ebenfalls mit einer Rauh= Lampe befand sich genau gegen» glasscheibe versehen, die hinab bis über der zweiten Küchentür, und ins unterste Türdrittel reichte, war die Rauhglasscheibe dieser Tür nur angelehnt. reichte bis ins unterste Türdrittel Dicht hinter dieser Tür stehend, hinab. konnte Calhoun in der Küche nicht Er hatte sich für die Benutzung der viel mehr wahrnehmen als bläu= dritten Küchentür entschieden, der liehe Dunkelheit, geradeaus und Tür zwischen Küche und Korridor; auf der rechten Seite ein wenig auf= aber um dorthin zu kommen, muß» geheilt durch das matte Licht, das te er zunächst die zweite Küchen» durch die Türen zum Treppenflur 87
Thomas Waish und zum nebenanliegenden Zim» mer fiel. Von Doc Minacorn und Pietro war nichts zu sehen. Aber die Stimme des Wahnsinnigen verriet seinen ungefähren Stand» ort. Hätte man Calhoun in diesem Mo= ment gefragt, weshalb er eigentlich in die Küche wollte, wäre er wahr» scheinlich nicht imstande gewesen, eine logisch begründete Antwort zu geben. Irgend jemand, würde er vielleicht gesagt haben, mußte ja dort hineingehen. Und wer könnte es versuchen, wenn nicht er? Die» ser Eddie? Calhoun wußte, daß es an ihm war und an keinem ande» ren. Er versuchte in die Küche zu kommen, genauso wie Dr. Mina= corn nach dem Handgelenk eines Patienten gefaßt haben würde, um den Puls zu fühlen. Nicht nur des» wegen, weil er ein Cop war, und ganz bestimmt nicht deswegen, weil es sich um Dr. Minacorn han= delte, der da drinnen in Nöten war - Calhoun hätte es auch für einen völlig fremden Mann versucht. Das einzige, worüber er sich im Moment Gedanken machte, war die Frage, ob der wahnsinnige Pietro nicht etwa doch ahnte oder gemerkt hatte, daß er kam, und nun versuchte, ihn in eine Falle zu 88
locken. Aber die Antwort auf diese Frage konnte er nur finden, indem er weiterging. Behutsam machte er sich daran, die angelehnte Tür zu öffnen. Seine Augen, inzwischen an die Dunkel= heit gewöhnt, begannen Gegen= stände in der Küche zu unterschei= den - einen Stuhl, einen Tisch, dann eine Gestalt mit einem Köf= ferchen in der Hand. Und die wei= ßen Hosenbeine unter dem dünke len Mantel verrieten, daß es Dr. Minacorn war. Aus der Art, wie Minacorn den Kopf hielt, konnte Calhoun schlie= ßen, wo der Wahnsinnige stand irgendwo rechts neben der Tür zum Durchgangszimmer, wahr= scheinlich bis in die äußerste Ecke der Küche zurückgezogen. Da wür» den also drei bis dreieinhalb Me= ter zu überwinden sein, und es müßte verdammt schnell geschehen; aber Calhoun glaubte, er könnte es scharfen. Selbst Minacorn hatte ihn noch nicht bemerkt; Minacorn stand neben dem Tisch, steif und reglos, als wäre er zu Stein er= starrt. »Nun hören Sie doch«, sagte er mit einer Stimme, die sich trotz al° ler Anstrengung nicht ruhig halten ließ, »ich bin gekommen, um Ihnen
Cop Calhouns dienstfreie Nacht zu helfen. Ich bin Arzt. Versuchen Sie, das zu verstehen - ja? Ich bin nicht Ihr Feind. Ich will Ihnen nichts zuleide tun. Wenn Sie nur einfach versuchen wollten zu ver= stehen -« Seine Worte erreichten den Wahn= sinnigen nicht. Dr. Minacorn sah das und empfand furchtbare Angst; seine bleichen Wangen hoben sich deutlich aus der Dunkelheit ab, deutlicher beinah, als die schwa= chenLichtreflexe auf seinen Brillen= gläsern. Oft zuvor hatte er den Tod gesehen, ohne ihn jemals für etwas allzu Wichtiges oder beson= ders Schreckliches zu halten. Wenn Männer oder Frauen, deren Namen er kaum kannte, in dieser oder je= ner Station des Hospitals starben, taten sie ihm natürlich leid. Aber was hatte das mit ihm zu tun, dem jungen kerngesunden Dr. med. Kevin S. Minacorn, der eben am Anfang einer erfolgverheißenden Laufbahn stand und den besten Teil des Lebens noch vor sich hatte? Was ging es ihn an? Irgendwann, in weit entfernter Zukunft, würde allerdings auch seine Stunde schla= gen - das war unvermeidlich, selbst für ihn. Na und, hatte er gedacht, der junge Dr. Minacorn mit seiner verheißungsvollen Zukunft, bis da»
hin bleibt noch eine halbe Ewig= keit, und was macht es mir dann? Doch jetzt, da die halbe Ewigkeit so erschreckend zusammenge» schrumpft schien, machte es einen großen Unterschied. Hinten, in der dunkelsten Ecke der Küche, konnte er das Gesicht des Wahnsinnigen sehen, der ihn belauerte wie ein mörderisches Tier - er konnte die Umrisse dieses Gesichtes sehen, lang und fahl, und die Augen, die selbst in dieser Finsternis noch glitzerten. Aber am klarsten von allem, am schärfsten von allem, konnte er das Gewehr sehen. Und er, der junge Dr. Minacorn, wünschte nicht auf solche Art zu sterben - blöd und närrisch, ohne den geringsten Sinn; es gab so viele Dinge, die er noch zu erledi» gen hatte. Irgendwann, natürlich, irgendwann einmal mußte der Tod kommen. Aber nicht jetzt, nicht jetzt! Weshalb überhaupt gerade jetzt? Er war doch dieses Mannes Freund, er wollte ihm doch helfen. »Nun hören Sie doch, versuchen Sie doch zu verstehen -« Er wagte nicht, sich zu bewegen, nicht einmal seine Arme; er wußte, daß der Wahnsinnige sofort auf ihn schießen würde, wenn er nur die geringste Bewegung machte.
Thomas Waish Vielleicht bloß noch ein paar Se= zuständige Streifenpolizist oder künden/ und er wäre tot. Niemand sonst jemand, der ihm wenigstens würde ihm helfen - weder Eddie ein bißchen helfen würde? Ja, ver» noch Calhoun, noch sonst irgend" dämmt -• warum sollte er nicht ein" wer. Weshalb sollten sie? Wenn er fach abwarten, wie sich Minacom draußen wäre/ würde er auch nicht aus der Affäre zöge? Was ging es hereinkommen. Aber Schmach und ihn überhaupt an? Nicht mal leiden Schande über sie, weil sie ihn im konnte er diesen Burschen. Stich ließen, dachte er unlogisch; Aber diese Gedanken schlugen oh, Schmach und Schande über sie! keine Wurzeln in seinem Sinn. Er war der gutgläubige Narr gewe" Hier durfte keine Zeit mehr ver» sen; er war als erster hineingegane schwendet werden; er mußte sich gen und in die Falle geraten. beeilen, daß er ins Hospital zurückCalhoun sah ihn dastehen und käme. Vielleicht war das Kind jetzt lautlos die Lippen bewegen. Was schon da - sein Kind. versuchte er zu sagen? Calhoun Sein Kind. Eine merkwürdige Vor° Stellung. Irgendwie unbegreiflich. konnte es nicht ausmachen. Calhoun bereitete sich auf den An« Calhoun fuhr mit der Zungenspitze griff vor, einen sehr vehementen über seine trockenen Lippen und Ansturm über zwei oder dreiein» schob sich wieder einen Zentimeter halb Meter Distanz, den er übri= weiter durch die offene Tür. Sein gens nicht als eine Sache empfand, Kind! für die er bezahlt wurde. Nicht weil Vielleicht war es dieser Gedanke, er ein Cop war, würde er sich auf der ihn zurückgehalten hatte, aber den Wahnsinnigen stürzen, son= nur für einen Moment. In Wirk" dem weil es von Jugend auf irgend lichkeit wußte er die ganze Zeit, etwas in ihm gab, das ihn dazu was er zu tun hatte. Da hinten in zwang, anderen zu helfen - das= der Küchenecke war ein verrückter selbe Gefühl vielleicht, das ihn ver= Mann, der vielleicht schon in der nächsten Sekunde einen anderen anlaßt hatte, ein Cop zu werden. Doch etwas hielt ihn zurück. Er Mann töten konnte. Calhoun mußte fragte sich, warum er nicht stehen» ihn aufhalten. bleiben könne, wo er stand, bis das So sprang er vollends durch die Überfallkommando käme oder der Tür und vergewisserte sich im 90
Cop Calhouns dienstfreie Nacht Sprung, wo Pietro tatsächlich stand. Minacorn sah ihn, und Pietro sah ihn auch. Das Gewehr schwang zu Calhoun herum, als er herange= stürzt kam, geduckt und mit halb ausgebreiteten Armen wie ein Rug= byspieler, der sich ins Gedränge stürzen will. Aber der Wahnsinnige schwenkte das Gewehr nur ein kleines Stück herum, und dann drückte er zwei= mal auf den Abzug. Fast im selben Sekundenbruchteil war Minacorn neben ihm, schlug ihn mit seinem wild geschwunge= nen Köfferchen nieder, riß das Ge= wehr an sich und schmetterte ihm den Gewehrkolben mehrmals ge= gen den Kopf. »Eddie«, schrie er mit einer Stimme, so schrill wie die Stimme einer hysterischen Frau, »Eddie.« Der Wahnsinnige war zusammen' gebrochen und rührte sich nicht. Nach einem Weilchen kam Eddie sehr vorsichtig herein und knipste das Licht an. Dr. Minacorn saß auf einem Stuhl, und die Muskeln sei= ner Beine zuckten und hüpften, als wären sie auf eigene Art lebendig geworden. Calhoun lag reglos da, ausgelöscht wie von einem letzten stillen Zau= ber, mit friedlichem Gesicht.
»Ist er -«, fragte Eddie heiser. »Tot«, sagte Dr. Minacorn. Seine Stimme klang jetzt wieder forsch, und er wußte, daß er sich in einer Minute vollständig erholt haben würde. Denn es war nicht jetzt, sondern irgendwann in femer Zu» kunft, in so ferner Zukunft, daß es ein ganz anderer Minacorn sein würde, dem die Einsicht käme - ein alter Minacorn, philosophisch und müde geworden. Er saß da und starrte auf den reg= losen Calhoun. Er war so glücklich, noch zu leben, daß er sich nicht be» wegen konnte. Der Tod war wie= der fern, unpersönlich. Morgen würde er nie Angst gehabt haben. Sogar jetzt schon fing er an zu den» ken, daß es gar nicht mal so schlimm gewesen wäre. Calhoun konnte nicht das geringste gespürt haben. NurAls die knochendürre Schwester sah, daß der Warteraum leer war, ging sie hinüber zu Miss Biddles Schreibtisch. »Wo ist dieser große Bursche?« fragte sie. »Calhoun?« Miss Biddle stand auf und streckte sich; es versprach eine lange Nacht zu werden. »Sie meinen den Cop, den legali= 91
Thomas Waish gierten Gangster? Er ist mit Windy Minac weggefahren.« »Ah, ein Cop ist er«, sagte die kno= chendürre Schwester. »Wissen Sie - eigentlich sieht er auch so aus.« »Ja, groß und dumm«, gähnte Miss Biddle, »und doch irgendwie ganz nett. Sie hätten den Vortrag hören sollen, den Windy mir über Cops gehalten hat. Kann mich kaum
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noch zur Hälfte daran erinnern.« »Wer kann das schon bei Windys Vorträgen?« äußerte die knochen= dürre Schwester. »Ach so, ja - ]'e= derzeit nach drei Uhr können Sie diesen Calhoun hinaufschicken. Seine Frau hat einen Jungen. Ich glaube, er wird ihn sehen wollen.« »Das glaube ich auch«, sagte Miss Biddle...
Anthony Boudier
Ein Fall für kluge Leute
»Kein Gelehrter kann Anspruch auf absolute Vollkommenheit erheben; aber jede wissenschaftliche Arbeit muß so vollkommen wie möglich sein; jegliche Auslassung verfüg' barer Tatsachen, sei es durch man' gelnde Sorgfalt, durch unzuläng' liehe Forschung oder (am verdam' menswerlesten von allem!) aus per' sonlichen Gründen — zum Beispiel, weil diese oder jene Talsache im Widerspruch zur eigenen Theorie stehen würde - ist schmählichste Sünde gegen das Prinzip der Wis" senschaft...« Solcher Art waren meine Gedan= ken, als ich an der vorvorletzten Fassung meines Werkes Mörde= rische Neigungen bei außergewöhn' lieh Begabten - eine Studie über Mordtaten, begangen von Künst= lern und Gelehrten feilte.
Man schrieb den 21. Oktober 1951; der Schauplatz war mein Studiers zimmer im Universitätsgelände von Wortley Hall. Meine Gedankengänge schienen un= widerleglich: Morde waren verübt worden von überragenden Gelehr= ten (man braucht nur an den Har= vard=Professor Webster zu den» ken) und von bewunderungswür» digen Künstlern (Francois Villon kommt einem als erster in den Sinn). In keinem der zahllosen Fälle jedoch war bislang der Anlaß zur Tat mit der außergewöhnlichen Begabung des Täters in Beziehung gesetzt worden; meine Studie über die Beziehungen mörderischer Nei= gungen zu außerordentlichen Fä= higkeiten wissenschaftlicher oder künstlerischer Art legte, hierbei be= sten wissenschaftlichen Traditionen 95
Anthony Boudier folgend, auf annähernd zweihun= dertfünfzig Schreibmaschinenseiten eindeutig dar, daß de facto keine derartigen Beziehungen bestanden. Punktum.,. Nun geschah es, daß ein gewisser Stuart Danvers mein Studierzim» mer betrat. »Professor Jordan?« fragteer. Seine Aussprache war verwaschen; ich bemerkte befremdet, daß er leicht hin und her schwankte. »Las da im Atlantik Monthly Ihren Beitrag über Villon -«, es klang wie Vil= lain, »und sagte zu mir selbst: >Das ist der Bursche, der dir helfen wird, Stuart Danvers !<« Ehe ich etwas erwidern konnte, warf er mir ein dickes, masdune= geschriebenes Manuskript auf den Schreibtisch. »Müssen wissen«, fuhr er fort, »bin auf diesem Gebiet kein Anfänger. Bin ein Profi. Habe Tatsachenbe« richte über prominente Mordfälle und andere Kapitalverbrechen dut» zendweise an alle großen Herausgeber verkauft. Magazine und so natürlich.« Er stieß auf, keineswegs diskret, »'tschuldigung ... Scheint mir nun aber, daß es Zeit wäre für ein bißchen Ganzleinenprestige.« Ich starrte auf den Titel des Ma" nuskripts - Genies im Blutrausch. 94
Ich begann das Manuskript durch= zublättern. Das Thema war mein eigenes. Der Stil war journalistisch seicht, die Dokumentation unzu= länglich. Der Autor hatte - wer weiß, auf Grund welcher Seelenver» wandtschaft - sich eingehend über solche Hochstapler wie Aran und Ruiloff ausgelassen; eine derart be= deutende Gestalt wie den Kompo= nisten Gesualdo da Venöse jedoch hatte er einfach übergangen. Wenige Stichproben ließen mich, der ich ein profundes Urteil auf diesem Gebiet zu besitzen glaube, eindeutig erkennen, daß dieses ab° scheuliche Machwerk auf reine Sensation und billige Verkäuflich" keit in Massenauflage zugeschnit» ten war. Der Autor, zweifellos mit Geschmack und Gepflogenheiten gewisser Verlegerkreise vertraut, würde keine Schwierigkeiten ha= ben, im Handumdrehen einen Her» ausgeber zu finden; und mein eige= nes Werk war in den Fachzeit» schritten, soweit vorhersehbar, für die zweite Jahreshälfte 1955 ange» kündigt worden. »Schlückchen gefällig?« fragte er und hielt mir seine voluminöse Ta= schenflasche hin. »Guter Brandy.« Da ich den Kopf schüttelte, nahm er selber einen Schluck, steckte die
Ein Fall für kluge Leute Flasche weg und kam wieder zur Sache. »Gefällt's Ihnen? Dachte, Sie könnten vielleicht helfen - na ja, der übliche Schmus mit einigen wissenschaftlichen Fußnoten und so. Sie kennen das ja.« Ich starrte ihn an, diesen betrun» kenen, ungebildeten Lümmel. Ich sah mich selbst in seinen Schatten gerückt, als bloßen Epigonen sei= nes rüpelhaften Einbruchs in mein erwähltes Fachgebiet, auf dem ich seit Jahrzehnten zu Hause bin. Und dann sagte er; »Natürlich ist das hier - hick - nur die ungefeilte erste Fassung, wissen Sie.« »Haben Sie«, fragte ich, »einen Durchschlag von dieser ersten Fas= sung?« Und als ich sah, daß er seinen be= nebelten Schädel schüttelte, schlug ich ihm mit aller Kraft meinen bron= zenen Briefbeschwerer gegen die Stim. Er taumelte zwei, drei Schrit= te zurück, prallte gegen die Wand, taumelte wieder vorwärts und brach zusammen. Im Fallen schlug er mit der Stirn gegen meinen Schreibtisch. Ich versteckte sein unflätiges Ma= nuskript zwischen eigenen alten Manuskripten, wickelte den Brief»
beschwerer in ein Taschentuch, ging damit in meinen Waschraum, wusch ihn gründlich ab, spülte das Taschentuch im WC fort, kehrte in mein Studierzimmer zurück und - rief die Polizei. .,. ein Fremder war betrunken in mein Studierzimmer gekommen, war gestolpert und bedauerlicher» weise mit dem Kopf gegen den Schreibtisch gefallen... Das Verbrechen - soweit diese be= scheidene Begebenheit es verdient, wirklich als ein solches bewertet zu werden - war perfekt wie jedes perfekte Verbrechen, von dem ich bislang Kenntnis besitze. Darüber hinaus jedoch hätte es als Unikum zu gelten, denn es ist das einzige bekannte Beispiel eines von einem Gelehrten begangenen und in der Gelehrsamkeit des Täters motivier» ten Verbrechens ... Textstelle aus: MÖRDERISCHE NEIGUNGEN BEI AUSSERGE» WOHNLICH BEGABTEN (Uni= versity Press 1955); Beweisstück A der Distriktsanwalt' schaft im Mordprozeß gegen den Professor Rodney Jordan, vormals Dozent in Wortley Hall
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Hugh Pentecost
Mord beim Golfturnier
Sie kamen über den unebenen Feld» weg herangerumpelt - zehn, zwölf Wagen, deren Scheinwerferkegel die Dunkelheit des Sommerabends durchschnitten. Als sie das achte Grün am äußersten Rand des Golf= platzes erreichten, scherten sie aus der Reihe und formierten sich in einer Art von unregelmäßigem Halbkreis um das Grün. Männer in weißen Dinnerjacketts und Frauen in Abendkleidern stiegen aus und näherten sich unter aufgeregtem Stimmengewirr einer Stelle der Sandfläche neben dem Grün. Plötz= lieh verstummte jeder Laut, als hätte ein unsichtbarer Dirigent ein Zei° chen gegeben. Das Ganze wirkte wie von einem Hollywood=Regisseur inszeniert. Zwei Dutzend Scheinwerferkegel bestrahlten die Sandfläche, auf der 96
eine menschliche Gestalt mit bizarr verdrehten Gliedern lag. Die Ge= stalt war mit blauen Slacks, fraise» farbenem Hemd und schwarz=wei= ßen Golfschuhen bekleidet. Neben ihr lag ein Golfschläger, dessen Schlagende mit Blut besudelt war. Am Rand der Sandfläche kauerten zwei Männer. Der eine, alt und grauhaarig, in einem ausgebeulten Tweedanzug, starrte fassungslos auf die Gestalt am Boden; aus sei= nen hellblauen Augen sickerten Tränen über die runzligen, wetter= gegerbten Wangen hinab. Der an= dere Mann, jung, in Flanellslacks und kurzem Sportsakko, hatte ein leichenblasses Gesicht; die Mus= kein seiner Wangen= und Kinnpar» tie wirkten verkrampft. Er mur= melte Verwünschungen; anschei» nend hatte er weder das Eintreffen
Mord beim Golfturnier der Wagen bemerkt noch dachte er daran, daß jemand ihn hören könnte. Einer der Männer im weißen Jackett trat an den Alten heran und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Hier können Sie nichts mehr hei" fen, Bob«, sagte er. Der Alte rührte sich nicht. »Er war mir wie ein Sohn«, murmelte er traurig. Der jüngere Mann stand auf und wandte sich der Gruppe zu. Er schrie: »Seid ihr gekommen, um ihn anzustarren wie die Aasgeier?« Der Mann im Dinnerjackett sagte: »Beruhigen Sie sich, Johnny.« »Sehen Sie nicht, daß er ermordet worden ist? Warum haben Sie die Polizei noch nicht gerufen?« »Die Cops sind verständigt, John= ny. Sie und Bob haben doch nichts berührt — oder?« »Muß man ein Arzt sein, um zu sehen, daß es zwecklos ist?« Ein Mädchen, klein und zierlich, Sommersprossen im Gesicht, löste sich aus der Gruppe. Sie trug ein trägerloses Abendkleid und eine hastig über die Schultern gewor= fene kurze Samtjacke. Sie langte mit der Hand nach dem jungen Mann, der Johnny genannt wurde. Sie sagte; »Kommen Sie, Johnny.«
Er schrie sie an: »Lassen Sie mich in Ruhe!« Dann stolperte er aus dem Lichtkreis der Scheinwerfer in die Dunkelheit. Gleich darauf war ein gequältes Schluchzen zu hören. Das Mädchen zögerte einen Mo= ment und lief hinter ihm her. Ir= gendwer aus der Gruppe rief ihr nach: »Midge!« Sie lief weiter. »Ihr Name ist Johnny Yale?« Aus rotumrandeten Augen starrte der junge Mann auf den Verneh= mungsbeamten der Distriktsan= waltschaft. »Warum sind Sie nicht draußen auf dem Golfplatz und unternehmen etwas, statt uns hier auszufragen? Wir haben ihn nicht umgebracht!« Neben ihm saß der alte Mann. Sein Gesicht war unbewegt, aber ab und zu" zwinkerten ihm Tränen über die Wangen. »Sie beide haben ihn gefunden. Es ist mein Job, Ihre Geschichte anzu= hören.« »Wir waren hinausgegangen, um ihn zu suchen«, sagte Johnny Yale. »Er wurde fürdieCalcutta=Auktion gebraucht. Aber er trainierte dräu» ßen -« »In der Dunkelheit?« »Er hatte seinen Wagen mit. Die Scheinwerfer -« 97
Hugh Pentecost »Warum trainierte er in der Dunkelheit?« Der alte Mann antwortete: »Heute nachmittag verpatzte er an dieser Stelle einen Schlag. So war er - er trainierte einen Schlag hundertmal, bis er saß.« »Er war ein berühmter Golfspieler, nicht wahr?« Johnny Yale starrte den Fragenden an, als traue er seinen Ohren nicht. »Das wissen Sie nicht?« »Nun, das war er doch — oder?« Johnny holte tief Luft. »Duke Merritt war der größte - der größte aller Golfspieler... Und der feinste Kerl, den es gab ... Wollen Sie mehr über Duke Merritt erfah» ren?« »Das gehört zu meinem Job.« Johnny schüttelte den Kopf. »Wo haben Sie Ihr Leben lang gesteckt, Mister?«
hohen Geldpreise austrugen, die von großen Firmen, wohlhabenden Geschäftsleuten und den örtlichen Handelskammern ausgesetzt wur" den. Duke Merritt, der große Duke, hatte sich mit ihm, dem unbekann» ten jungen und wenig erfahrenen Golfspieler angefreundet. Schließ" lieh waren sie nachMountainGrove gekommen, einem weiteren Tür" nierort, wo sie anläßlich der Er» Öffnung des neuen Golfplatzes spielten. Und an diesem Abend ge= gen halb zehn Uhr Knapp und präzise. Eigentlich war es keine Geschichte. Allenfalls die Geschichte eines einsamen, vom Leben hart angepackten Jungen, der sein einziges Talent nutzen wollte, um sich seinen Lebensunterhalt als Golfprofi zu verdienen, aber die Feststellung machen muß" te, daß er der rücksichtslosen Konkurrenz nicht gewachsen war. Johnny Yales Angaben gegenüber Johnny war sich jetzt bewußt, daß dem Vemehmungsbeamten waren er mit der Wahl seiner Laufbahn knapp und präzise. Er war Golf» begonnen hatte, einem Phantom Professional und hatte Duke Mer» nachzujagen, indem er damals mit ritt vor etwa sechs Monaten in einem klapprigen Wagen, knapp Tucson, Arizona, getroffen. Er ge- zweihundert Dollar in der Tasche hörte zu einer Gruppe von Berufs- und einem Satz Golfschläger losge» golfem, die in Kalifornien, Texas, zogen war, um auf Turnieren ge= Arizona, Florida und anderen Staa» gen Leute wie Duke Merritt und ten regelmäßig Turniere um die Hai Hamner zu bestehen.
Mord beim Golfturnier Diese Männer hatten Rückhalt durch ihre Verträge mit Hersteller» firmen von Sportgeräten und Sport" bekleidung und durch die festen Gehälter von den Golfklubs, für die sie auf den einzelnen Turnie= ren spielten. Auch wenn sie auf diesem oder jenem Turnier keinen Preis gewannen, hatten sie zu es» sen und fuhren einfach zum näch= sten Turnierort weiter - ihre Na» men standen nach wie vor in den Sportzeitungen, und an ihren fe° sten Bezügen änderte sich nichts. Aber niemand hatte je von Johnny Yale gehört, dem ehemaligen Cad° die und gegenwärtig ganz auf sich allein gestellten jungen Golfprofi, und niemand kümmerte sich dar» um, was aus ihm werden sollte. Die Serie der Saisonturniere hatte kaum begonnen -- die Spielergrups pe war gerade in Tucson eingetroffen -, als Johnny einsah, daß sein Wunschtraum, zu den ersten Golf» Spielern der Nation zu gehören, sich niemals erfüllen würde. Aber sein Wagen - er pflegte übrigens des Nachts in diesem Wagen zu schlafen, um die Hotelrechnung zu sparen - mußte unbedingt repa= riert werden und brauchte neue Reifen, während Johnny kaum noch Geld genug hatte, um sich
einen Satz neuer Golfbälle zu lei= sten. Falls es ihm nicht gelang, in Tucson irgendeinen Preis zu ge= winnen, würde er restlos erledigt sein. Und zu allem Überfluß wurde, ausgerechnet in diesem kritischen Zeitpunkt, sein Spiel schwächer. An jenem Morgen in Tucson, als er auf dem Golfplatz trainierte und das Rätsel zu lösen versuchte, wes» halb seine Bälle immer wieder nach rechts abtrieben, lernte Johnny das bittere Gefühl hoffnungsloser Ver° zweiflung kennen. Er hatte über ein Dutzend Bälle vom Mal abgeschlagen, alle mit dem gleichen Fehlkurs. Jetzt stand er da, den Blick zu Boden gerichtet und versuchte sich zu konzentrie= ren. Oberkörper langsam nach rechts zurückdrehen, linken Arm strecken, beide Handgelenke fest an den Schlägerschaft gelegt, den Schläger mit der linken Hand in Hüfthöhe bringen, beide Handge= lenke noch immer fest neben dem Schlägerschaft, mit der rechten Hand Schwung geben und zuschlagen Johnny fühlte sich beobachtet, hielt inne und wandte den Kopf. Die Gestalt, die dort stand und ihm zulächelte, war ihm vertraut Duke Merritt, der brillante Golf» 99
Hugh Pentecost Spieler, der Mann mit der schlecht' »Danken Sie nicht mir«,entgegnete hin vollendeten Technik! Duke Duke, »danken Sie Bob Christie, war übrigens nicht nur als Golf= hier. Er hat Ihren Fehler bemerkt.« Spieler, sondern auch wegen seiner Johnnys Blick ging von Duke Mer= etwas extravaganten modischen ritts sportlicher Gestalt zu dem al= Eleganz berühmt; er stand unter ten, grauhaarigen Mann, der den Vertrag bei einer der größten Sport' schweren Beutel mit Dukes Golf= bekleidungsfirmen des Landes und schlägem trug. bekam viel Geld dafür, daß er sich »Bob hat von diesem Spiel schon bei jeder Gelegenheit in deren wieder mehr vergessen, als die neuesten Modellen zeigte. Momen= meisten von uns je lernen werden«, tan war er mit orangefarbenen fuhr Duke Merritt fort. »Übrigens Slacks, jadegrünem Golfhemd, handhaben Sie den Schläger wie grünkarierter Mütze und grau» ein früherer Caddie. Waren Sie Caddie?« grünen Golfschuhen bekleidet. Sein Lächeln war von gewinnen» Johnny nickte. der Freundlichkeit, als er zuJohnny Duke Merritts Lächeln wurde noch sagte: »Sie arbeiten zu stark mit herzlicher. »Auch ich habe als Cad= den Handgelenken. Daher trifft Ihr die angefangen. Bob Christie war Schläger leicht verkantet auf den damals der beste Profigolfer des Ball. Sie müssen lernen, ihn unver= betreffenden Klubs und hat mir kantet gegen den Ball zu bringen. alles beigebracht, was ich von die= sem Sport verstehe. Nun ist er Versuchen Sie es noch einmal.« Johnny setzte einen neuen Ball auf, schon seit Jahren bei mir und be= beherzigte das Gehörte, schlug zu, gleitet mich durch das ganze Land. und der Ball zog in schnurgerader Ich könnte mir nicht vorstellen, Linie über den Platz. Johnny, einen was ich ohne ihn täte ... Sie sind Ausdruck ungeheurer Erleichterung Johnny Yale, nicht wahr?« auf dem Gesicht, wandte sich zu »Ja, der bin ich.« Johnny war ge= schmeichelt, daß der große Duke Duke Merritt um. »Drei Tage lang habe ich mich ver° seinen Namen wußte. gebens um diesen Schlag bemüht«, »Dann also alles Gute für Sie, murmelte er. »Ich weiß nicht, wie Johnny«, sagte Duke. »Ich will jetzt noch ein wenig trainieren. ich Ihnen danken soll.« s 100
Mord beim Golfturnier Aber ich werde dort hinübergehen, »Ihr Spiel ist an und für sich recht damit ich Sie nicht störe.« Er nickte gut, mein Junge«, sagte Bob. »Sie" Johnny zu und ging, von dem alten sind zum Golfer geboren. Die Mann gefolgt, zu einer anderen Schwierigkeit liegt anderswo Stelle des Geländes. Tumierfieber.« In der Tat war Johnnys Spiel an »Und an dem, was in meiner Geld= diesem Tag zunächst besser. Doch börse fehlt.« Johnny lachte bitter der auf ihm lastende Druck, ge= auf. winnen zu müssen, um wieder »Niemand gewinnt gleich zu An» Geld zum Leben zu bekommen, fang«, tröstete Bob. raubte ihm die Nerven. Auf dem »Das hätte ich bedenken sollen. Ich letzten Drittel des Kurses machte hätte warten müssen, bis ich mehr er Fehler über Fehler und fiel rück= Geld hatte.« sichtslos zurück. Als er am Abend Old Bob blickte Johnny in die Au= des ersten Turniertages den Rest gen und fragte: »Trinken wir drü= seiner Barschaft zählte, wurde ihm ben im Erfrischungszelt eine Tasse klar, daß mit dem Ende des Tuc= Kaffee? Ich lade Sie ein.« son=Turniers auch seine Betätigung »Nett von Ihnen, aber -«, Johnny als Turniergolfer zu Ende sein zuckte die Schultern. würde. Er hatte versagt, und nun »Es bringt nichts ein, wenn man zu war es unmöglich für ihn, noch stolz ist, Johnnyboy.« Old Bobs länger dabeizubleiben. schwielige Rechte legte sich auf Er murkste auf dem Parkplatz ne= Johnnys Arm. ben dem Klubgebäude an seinem Sie gingen zu dem großen Zelt, in alten Wagen herum, als Bob Chri= dem Kaffee, Sandwiches und an= stie zu ihm trat. dere Erfrischungen verkauft wur= »Wie ist's denn gegangen, Johnny» den. Bob Christie erzählte von den boy?« Tagen der Walter Haagen, Bob »Schlecht.« Johnny versuchte ein Jones, Gene Sarazen, MacDonald Lächeln. »Nun ist es aus. Das Smith, Long Jim Barnes und ande= Schiff sinkt, und ich muß an Land rer berühmter Golfer. »Jeder von schwimmen. Verrückt von mir, zu ihnen hatte einen schwierigen glauben, ich könnte gegen diese Start. Ich erinnere mich sogar der Spieler bestehen.« Zeit, da es uns Profigolfern verbo= 101
Hugh Pentecost
ten war, die Klubhäuser durch den Vordereingang zu betreten. Halten Sie noch ein bißchen durch, Johnny boy. Golf ist ein wunderbares Spiel. Sie dürfen sich nicht so leicht geschlagen geben.« »Pleite ist Pleite«, seufzte Johnny. Sie erreichten das Zelt und gingen auf die Theke zu. Dabei kamen sie in die Nähe eines Tisches, an dem Duke Merritt mit einem Mann saß, den Johnny als einen bekannten Sportjournalisten erkannte. Duke Merritt winkte Johnny zu. »Nun, wie ist es gegangen?« Johnny deutete durch einen ab« wärts gewandten Daumen an, daß er sich geschlagen gab, und Old Bob erläuterte: »Er denkt leider daran, uns zu verlassen.« »Kein Geld mehr?« fragte Duke. Johnny nickte. »Dagegen ließe sich etwas tun«, meinte Duke mit leicht zusammen" gekniffenen Augen. »Ach, ich sollte meinen Verstand untersuchen lassen«, sagte Johnny &chulterzuckend. »Wie konnte ich nur auf die Idee kommen, unter Profigolfem etwas zu erreichen? Eine klare Vermessenheit!« »Das ist der Junge, von dem ich Ihnen erzählte, daß er auf den Fondsitzen seines Wagens über» 102
nachtet«, erklärte Duke dem Sport« Journalisten. Dann wandte er sich an Johnny; »Bleiben Sie noch ein Weilchen bei uns, Mr. Yale. Wir werden Ihnen ein wenig unter die Arme greifen. Der Glückliche soll dem weniger Glücklichen helfen.« Er lächelte. »Man kann nie wis« sen, ob man nicht eines Tages selbst in eine solche Lage gerät.« »Eine hübsche Idee«, murmelte Johnny, »und ich danke Ihnen sehr, Mr. Merritt. Aber es hat doch keinen Sinn. Ich -«. »Keine Widerrede, Johnnyboy«, unterbrach Duke Merritt. »Bob du kümmerst dich um ihn.« Ja, und so war es. Old Bob bestand darauf, daß Johnny von ihm ein paar Dollar annahm - leihweise natürlich. Und am nächsten Tag stand im Tucson Herald eine sehr hübsch aufgemachte Story über den jungen Profigolfer, der auf den Fondsitzen seines Wagens zu über" nachten pflegte, um die Hoteiko» sten zu sparen - den Schützling von Duke Merritt. In Wirklichkeit war es ja eine Geschichte über Duke Merritt, und was für ein fa» belhafter Kerl er wäre. Aber im= merhin wurde Johnny dadurch be" kannt. Bald gehörte er zur ständi"
Mord beim Golfturnier gen Umgebung des großen Duke. Zwar gewann er noch immer keine Preise, doch der materielle Druck hatte nachgelassen. Duke wollte von Geldangelegenheiten nichts wissen, das überließ er Bob. Und Old Bob hatte immer ein paar Dollar oder etwas mehr für Johnny übrig; er schrieb es in sein Notizbuch und sagte immer wieder, mit dem Zurückzahlen habe es Zeit, bis Johnny genug verdiene. Es gab nichts, was Johnny für Duke und Old Bob nicht getan hätte. Eines Tages kam Old Bob, der im» mer ein wenig abgerissen gekleidet war, mit unmutigem Stimrunzeln zu Johnny. »Mag nicht gern in meinem Aufzug zur Klubhauster= rasse gehen. Würdest du nicht eben hinüberspringen, Johnnyboy, und Duke bestellen, daß ich ihn in einer wichtigen Angelegenheit sprechen muß? Er unterhält sich dort mit Mrs. Hamner.« Sue Hamner war eine der reizvoll» sten Erscheinungen der Golftur" niere. Vor einigen Jahren Siegerm in einem Schönheitswettbewerb, hatte sie einen Hollywoodvertrag erhalten, den sie nach einigen klei" nen Filmrollen zurückgab, um den
Profigolfer Hai Hamner zu heiraten, einen großen dunklen, mann« lieh hübschen Burschen mit riesigen Händen und sehr kräftigen Hand" gelenken. Er konnte einen Golfball weiter schlagen als sonst jemand und war ein ruhiger, verbissener Spieler. Das Überraschende an dieser Heirat lag in der Tatsache, daß Hai ein ungebildeter, wortkarger Hinterwäldler aus Tennessee war, ohne gesellschaftliche Talente und ohne jeden Sinn für Humor. Sue schien sich regelrecht in sein hüb» sches Aussehen verknallt zu ha» ben. Charme besaß er jedenfalls nicht, dieser Hai Hamner. Statt dessen war er berüchtigt wegen seines Jähzorns. Johnny lief also zur Terrasse und trat an den bunten Gartenschirm, unter dem, in ein angeregtes Ge= sprach vertieft, Sue Hamner und Duke Merritt saßen. »Tut mir leid, daß ich stören muß«, murmelte er mit einer kleinen Ver" beugung zu Sue und wandte sich an Duke: »Bob Christie sagte, er hätte Sie in einer wichtigen Ange^ legenheit zu sprechen, Duke.« »Hat Bob dich wirklich geschickt?« Duke blickte Johnny aus zusam= mengekniffenen Augen an und stand auf. »Wenn das etwa ein 105
Hugh Penteeost dummer Scherz sein soll...« Da» mit entfernte er sich. Johnny wußte nicht recht, wie er es anstellen sollte, nun auch wieder zu gehen. Er machte abermals eine kleine Verbeugung zu Sue und wiederholte: »Tut mir leid, daß ich stören mußte.« »Oh, das ist nicht der Rede wert.« Mit ihren manikürten Fingern strich sich Sue das goldblonde Haar aus der Stirn. »Sie sind Johnny Yale, nicht wahr?« »Ja, Madam.« »Hai sagt. Sie spielen recht gut und sauber.« »Oh, wenn Hai Hamner das sagt, bedeutet es allerhand.« »Machen Sie nur so weiter, John= ny.« Sue Hamner nickte ermun= ternd und lächelte. »Übrigens sehe ich, daß Sie Lederaufsätze für die Ellbogen Ihrer Sportjacke brau= chen. Bringen Sie mir die Jacke ge= legentlich. Ich habe ein paar Leder= stücke da, die ich Ihnen aufnähen kann.« Johnny wollte ein paar Worte des Dankes murmeln, doch da fiel ein Schatten über Sues Gesicht. Er schaute auf und sah Hai Hamner neben sich. »Wünschen Sie etwas, Yale?« fragte Hamner; seine Stimme war 104
merkwürdig weich und ausdrucks" los. »Ich habe ihm nur erzählt, daß dir sein Spiel gefällt, Hai«, sagte Sue Hamner schnell. Hai Hamner sah sich langsam um, als suche er jemanden. »Gut, Yale - gehen Sie jetzt. Ich habe mit meiner Frau zu sprechen.« Johnny machte wieder eine kleine Verbeugung in Sues Richtung und ging wortlos fort. Bald danach traf er Bob Christie und erzählte ihm von dem Vorfall. »Sie haben mich bloß hinübergeschickt/ um Duke zu holen, weil Sie wußten, daß Hamner gleich kommen würde nicht wahr, Bob?« Der Alte lächelte verschmitzt. »Bist mir also auf die Schliche ge° kommen, Johnnyboy - wie?« »Nach der Art, wie Duke sich ver= hielt -« »Das Leben ist manchmal recht sonderbar, Johnnyboy.« Der Alte hatte seine Pfeife aus der Tasche geholt und begonnen, den Pfeifen= köpf mit seinem Taschenmesser auszuschaben. »Sieh mal - wir bleiben überall nur kurze Zeit. Duke Merritt ist ein sehr anzie= hender Mann. Und ein feiner Mann. Die Frauen mögen ihn. Und er hat Frauen sehr gerne. Hat sie
Mord beim Golfturnier gerne und - läßt sie sitzen. Wie ein Matrose - in jedem Hafen eine.« »Aber mit Mrs. Hamner muß es doch etwas anderes sein.« Bob nickte bedächtig. »Es geht ihr nicht allzugut bei ihrem Mann. Hai ist furchtbar eifersüchtig und kann sehr brutal sein.« Johnny erinnerte sich, eines Tages einen blauen Fleck auf ihrer lin= ken Wange gesehen zu haben, den selbst ihr sorgfältig aufgetragenes Make=up nicht verdecken konnte. »Duke empfindet eine Art Mitleid für Sue«, fuhr Bob Christie fort. »Deshalb kümmert er sich um sie. Doch das kann die Sache nur ver= schlimmem. Ich habe versucht, es ihm auszureden. Wenn Hamner sich einfallen läßt, irgend etwas gegen ihn zu unternehmen, wür= den wir allerhand Durcheinander erleben.« Johnny verdiente nun mit seinem Spiel hin und wieder ein paar Dol= lar; er spielte jetzt merklich siehe» rer und verbesserte sich von Tur= nier zu Turnier. Was er verdiente, langte aber noch nicht hin und nicht her, und er hatte Sorgen we° gen der Beträge, die sich in Bobs Notizbuch summierten; Bob wollte
allerdings nichts davon Kören, und Duke Merritt erst recht nicht. »Ein einziger guter Preis, Johnny» boy«, sagte Bob ermutigend, »und du kannst auf einen Schlag alles zurückzahlen.« Als sie auf ihrer Tumierreise nach Pinehurst kamen, erschien Midge Roper auf der Bildfläche. Noch nie war Johnny einem Mädel wie Midge begegnet - sie lachte viel und war immer lustig. Aber ir= gendwie schien ihre Fröhlichkeit forciert. Old Bob wußte eine Erklärung: »Kummer verwandelt sich bei manchen Menschen ins Extrem, Johnnyboy. Die kleine Midge ver= sucht ihren Bruder zu vergessen.« Midges Bruder Ed Roper war vor Jahresfrist für zwei, drei Tage in den Schlagzeilen aller Zeitungen genannt worden - ein bekannter Baseballspieler, den man verdäch» tigte, er hätte sich bestechen las" sen, um ein Meisterschaftsspiel zu verschieben. Kurz vor der drohens den Verhaftung sprang er aus dem Fenster seines Hotelzimmers in den Tod — ein offenbares Einge= ständnis seiner Schuld. Midge aber hatte den Nacken steifgehalten und ihr gewohntes Leben fortgesetzt ... 105
Hugh Pentecort
Bald nachdem sie in Pinehurst zu den Golfspielern gestoßen war, merkten alle, daß sie bis über beide Ohren in Duke Merritt ver« liebt schien. Duke seinerseits sah sie auch sehr gem. Sie waren viel zusammen, lachten über die glei« dien Scherze und sahen das ganze Leben humorvoll an. Johnny wurde von ihr wie ein lieber Spiel" gefährte aus der Jugendzeit be» handelt, aber nach Duke war sie offenbar ganz verrückt. Johnny gab sich alle Mühe, Augen, Herz und Sinne zu verschließen. Denn Midge Roper war das Mädel, von dem er, nachdem er es einmal getroffen hatte, unaufhörlich träumte. Es quälte ihn, daß Midge über das Pinehurst"Turnier hinaus bei der Gesellschaft blieb. Sie hatte Geld und ihren eigenen Wagen und tauchte bei allen neuen Turnieren auf. Schließlich auch in Mountain Grove. Hier stand ein großes Turnier bevor, und Johnny witterte seine Chance. Ein Unternehmer namens Victor Sayies hatte eine neue An« läge erbauen lassen, mit Golfplatz, Swimmingpools, Pferderennbahn, Go=cart=Gelände und allen mög° liehen anderen Attraktionen. Zum 106
Eröffnungsrurnier der Golfer hatte Sayie» Preise von insgesamt fünf« zehntausend Dollar ausgesetzt, allerdings zu etwas veränderten Bedingungen. Auf seinem Turnier sollte jeder gegen jeden spielen, bis die sechzehn Teilnehmer des Finales ermittelt waren, von de" nen jeder einzelne fünfhundert Dollar bekäme. Die restlichen sie» bentausend Dollar aber sollten zu fünfzig Prozent an den Finalsie» ger, zu dreißig Prozent an den Zweiten und zu je zehn Prozent an die unterliegenden Spieler der beiden Semifinales fallen. Johnny rechnete sich eine reelle Chance aus, unter den sechzehn Finalteil" nehmern zu sein; mit fünfhundert Dollar könnte er dann seine Schuld bei Duke begleichen und würde noch einiges übrigbehalten. Johnny bekam den Veranstalter Victor Sayies, einen eleganten Vierziger mit grauen Schläfen, gleich nach der Ankunft zu sehen. Er half Bob Christie, Dukes Ge= pack in die Halle des Gästehauses zu tragen, und stellte gerade einige Gepäckstücke hinter der Eingangs" tür ab, als er Sue Hamner im Hin" tergrund der Halle entdeckte. Sayies, der an der Rezeption ge=
Mord beim Golfturnier standen hatte, erblickte sie gleich" falls. »Sue!« rief er und wollte zu ihr gehen. Zu Johnnys Verwunderung ver« suchte Sue, Sayies durch eine Handbewegung zurückzuhalten. Im nächsten Moment betrat Hai Hamner die Halle, ging zu Sayies, stellte sich vor und wies dann auf Sue: »Das ist meine Frau, Mr. Sayies.« Sayies' Gesicht blieb ausdruckslos; er verbeugte sich. »Hallo, Mr. Sayies«, sagte Sue, als hätte sie Sayies noch nie im Le= ben gesehen. Johnny wunderte sich über die Szene, aber er hatte so viele Dinge im Kopf, daß er nicht weiter daran dachte. Das Mountain"Grove=Turnier soll" te die endgültige Entscheidung über seine Zukunft bringen, und das erste Training ließ sich hoff» nungsvoll an. Johnny verfügte zwar nicht über die weiten Schläge eines Hai Hamner oder Ted MC" Grath oder Duke Merritt, aber er hatte ein ausgezeichnetes Schät" zungsvermögen, und das machte ihn um so zuversichtlicher, als seine Spielsicherheit von Turnier zu Turnier größer geworden war. Am Nachmittag des Ankunftsta»
ges erinnerte sicH Sue Hamner ihres Versprechens und bat Johnny, ihr sein Jackett zu geben, damit sie die Lederflecken auf die Ellbo» gen nähen könne. Johnny gab ihr das Jackett, ehe er zum Trainieren auf den Platz ging. Dort setzte er sich auf eine Bank und wartete, bis die Reihe an ihn käme. Nach einem Weilchen setzte sich Ted McGrath zu ihm. »Wollen Sie unbedingt Kopf und Kragen riskieren, Yale?« fragte McGrath. »Wieso? Ich verstehe nicht, was Sie meinen.« »Jungens wie Sie verschlingt er ohne Salz«, sagte McGrath. »IA meine Hai Hamner.« »Warum sollte er das?« »Schauen Sie nur mal dorthin«, antwortete McGrath und wies mit dem Kopf zum Vorplatz des Klub» hauses. Dort saß Hai Hamner und sprach auf Sue ein; trotz der Ente femung war zu erkennen, daß er sich über irgend etwas aufregte. »Da Sie nun«, fügte McGrath hin« zu, »schon ein gutes Weilchen ""t diesem Zirkus herumziehen/ soll» ten Sie allmählich gemerkt haben, was hier gespielt wird. Ich aO Ihrer Stelle würde mir meine Näharbei» ten lieber alleine machen.« 107
Hugh Pentecost Der Gedanke an das Gehörte be= unruhigte Johnny, minderte aber seine Trainingsleistung nicht. Zweieinhalb Stunden später, als Johnny sein Training beendet und sich geduscht hatte, ging er zum Vorplatz des Klubhauses/ um sein Jackett abzuholen. Er sah Sue Hamner dort sitzen und merkte, daß sie einen ermüdeten Eindruck machte. Auf dem Stuhl neben ihr saß Hai Hamner, den Blick zu den fernen Bergen gerichtet. Johnnys Jackett lag auf einem Tischchen vor den beiden. Hai Hamner schien zunächst nichts von Johnnys Kommen zu merken. Doch in dem Augenblick, da Johnny bei dem Tischchen stehen» blieb und überlegte, was nun zu sagen wäre, wandte er den Kopf und knurrte: »Meine Frau hat Ihre Jacke repariert, Yale.« »Ich bin Mrs. Hamner sehr dank» bar dafür«, antwortete Johnny. »Wissen Sie, was in meiner Hei= mat mit einem Burschen geschieht, der sich mit einer verheirateten Frau abgibt?« fragte Hamner. Johnny spürte, daß sein Gesicht rot wurde, und sah, wie die ande= ren Leute auf dem Vorplatz sich umwandten und herüberstarrten »Ich habe mich nicht mit Mrs. 108
Hamner abgegeben«, entgegnete er. »Mrs. Hamner hat mir freund= licherweise angeboten -« »Mrs. Hamner scheint den Leuten aus Merritts Umgebung freundlicherweise alles mögliche anzubie' ten«, sagte Hamner etwas lauter. »Hai, bitte!« flüsterte Sue. »Mrs. Hamner scheint ganz ver= rückt nach allem, was irgendwie mit Merritt zu tun hat«, sagte Hamner noch lauter. Johnnys Mund war wie ausge-' trocknet, und in seinen Schläfen hämmerte jähe Wut. Aber er wußte nicht, was er hätte tun kön= nen, ohne die Lage für Sue zu ver» schlimmem. Schließlich sagte er: »Ich möchte Mrs. Hamner nodh= mals danken und dann meine Jacke nehmen und gehen.« »Sie bleiben hier und hören mir zu«, knurrte Hamner. »Leider ver= steht meine Frau es nicht, Merritts Leuten gegenüber nein zu sagen. Daher muß ich es tun. Merken Sie sich, Yale - wenn ich von Ihnen noch ein einziges Mal höre, wenn ich Sie noch ein einziges Mal in der Nähe meiner Frau sehe -« »Stimmt hier etwas nicht?« er= tönte eine ruhige Stimme hinter Johnnys Rücken; es war Duke Merritts Stimme.
Mord beim Golfturnier Hamner sprang auf und rief: »Ich habe Sie gewarnt, Merritt -« »Und ich warne Sie«, unterbrach Duke Merritt gelassen. »Niemand hat das Recht, sich in Ihre Pri= vatangelegenheiten einzumischen, Hamner. Doch kein anständiger Mensch wird es dulden, daß Sie Ihre Privatangelegenheiten an die Öffentlichkeit zerren!« Hamner wollte sich auf Duke Merritt stürzen, kam aber nicht an ihn heran, denn sechs, acht an= dere Männer sprangen dazwi° sehen. Johnny stand kaum einen Schritt von Hamner entfernt und konnte seinen Blick nicht von ihm abwenden - noch nie hatte er einen derart mörderischen Haß im Gesicht eines Menschen gesehen. Am nächsten Tag begann das Tur= nier. Fast hundert Meldungen waren abgegeben worden. Und Johnny wußte, daß er unter den letzten Sechzehn sein müßte, wenn er seine Geldnöte überwinden wollte. Das Wetter war sonnig und warm, kaum ein Lüftchen regte sich - ideal für ein Golftur= nier. Bei der Auslosung ergab es sich, daß Johnny zunächst gegen einen lokalen Profigolfer zu spielen
hatte, den er nicht kannte. Das war nicht ungünstig; er brauchte sich über die Stärke des Gegners keine Sorgen zu machen und konnte sich ganz auf sein Spiel konzentrieren. Und seine beiden nächsten Gegner würden Ama= teurspieler sein, die erst recht keine Probleme darstellten. Am Ende des Tages würde sich jedenfalls erweisen, ob und um wieviel Johnny der Verwirklichung seiner Träume nähergekommen war. Er spielte den ganzen Vormittag hindurch und hatte dabei das sichere Gefühl, gut zu spielen. Als er mittags an die Registriertafel trat, sah er, daß er eine reelle Chance hatte, unter die letzten Sechzehn zu kommen. Sein Nachmittagsstart war so spät angesetzt, daß er den Wettkampf als einer der letzten beenden würde. Das war ein Nachteil. Denn wenn er bei den letzten drei oder vier Löchern angelangt wäre, würde sich bereits herumgespro= chen haben, wie viele Schläge er sich noch leisten durfte, um das Semifinale zu erreichen. So geschah es auch. Als er beim drittletzten Grün war, wurde sein Caddie von einem Zuschauer an= gesprochen und kam gleich danach 109
Hugh Pentecost zu ihm heran. »Sie dürfen Hun« dertvierzig nicht überschreiten, wenn Sie es schaffen wollen, Mr. Yale«, berichtete er. »Der vorige hatte Hunderteinund vierzig.« Hundertvierunddreißig Schläge hatte Johnny bisher gebraucht; sechs Schläge blieben ihm also noch. Das war knapp, hätte sich aber schaffen lassen müssen. In= dessen war der nächste Kurs einer der schwierigsten, die Johnny je gesehen hatte. Die Anspielstrecke war schmal und dehnte sich über die ganze Weite eines kräftigen Schlages, und selbst wenn man hier den Ball gerade hielt, blieb noch immer das verdammt kom» plizierte Loch. Das betreffende Grün lag erhöht und war nur aus nächster Nähe einzusehen; aus mehr als fünf oder sechs Schritt Entfernung konnte man lediglich das rote Fähnchen anvisieren. Johnny konzentrierte sich auf den nächsten Schlag, führte den Schlä» ger ein paarmal versuchsweise durch die Luft und trat schließlich hinter den Ball. Langsam schwang er den Schläger zurück; die Hände fest am Griff und die Handgelenke gegen den Schaft gepreßt, nahm er Maß und schlug wuchtig zu. Er ließ seinen Blick zu Boden gerich« ItO
tet und sah dem Ball nicht nach, aber sein Caddie rief: »Wunder» barer Schlag, Mr. Yale! Vollkommen!« Weit voraus im grünen Gras schimmerte der weiße Ball. Als Johnny langsam darauf zuging, wünschte er, Old Bob wäre da, um ihm einen Rat zu geben. Die ent» scheidende Frage war, ob er den nächsten Schlag kräftig oder be» hutsam ansetzen sollte. Überall im Grün verstreut lagen weiße Kie» seisteine, an denen manche Hoff« nung scheitern konnte. Hinter dem durch das rote Fähnchen ge= kennzeichneten Loch fiel das Ge« lande wieder ab - kam hier der Schlag ein wenig zu stark, dann würde der Ball unweigerlich über den Abhang davonlaufen. Kam aber der Schlag zu schwach, so wäre bei dem letzten verbleiben« den Ansatz infolge der kieseldurchsetzten Grasfläche nicht mehr viel zu gewinnen. Johnny wählte sorgsam den rich= tigen Schläger, nahm Maß, kon» zentrierte sich, schlug fest und kurz zu, und der Ball sauste los, während Johnny den Caddie fia xierte. Der Caddie fuhr sich mit der Zun= genspitze über die Lippen. »Viel«
Mord beim Golfturnier leicht eine Kleinigkeit zu kurz, Mr. Yale.« Johnny schaute hin und fand, daß die Kleinigkeit etwa fünfzehn Schritt betrug. Schlug er jetzt nochmals zu kurz, dann würde der Ball in dem hohen Gras hängen bleiben. Schlug er kräftig, dann bestand die Gefahr, daß der Ball das Loch übersprang und auf den Abhang geriet. Als er mit dem Schläger versuchsweise über die hohen Grasspitzen fuhr, merkte er, daß seine Hände nicht ganz sicher waren. Aber jetzt kam es darauf an! Er nahm den richtigen Abstand zum Ball und schlug zu. Die kleine weiße Kugel zischte davon. Johnny sah ihr nach und dachte einen Moment lang, sie würde noch eben an der richtigen Stelle neben dem Loch liegenbleiben. Dann aber begann sie doch den Abhang hinunterzu» rollen und hielt erst etwa zwanzig Schritt jenseits des Loches wieder an. Nun stellte dieser Schuß über zwanzig Schritt Distanz Johnnys vorletzte Chance dar. Wenn er zu Geld kommen wollte, mußte ihm der nächste Schlag gelingen. Einige Zuschauer hatten sich in der Nähe versammelt. Jeder wußte, daß
Johnny mit diesem Schuß ins Semifinale vordringen konnte; denn das letzte Grün bot keine Schwierigkeiten mehr und war bis» her von den schwächsten Spielern mit zwei Schlägen erreicht worden. Auch Midge Roper war da. Sie saß auf einem Klappstühlchen; ihre fest zusammengeballten Hände ruhten auf den Knien. Johnny duckte sich hinter den Ball und visierte die Strecke an. Er glaubte zu erkennen, daß die Fla» ehe ein wenig nach rechts hinge ein Umstand, der die Aufgabe noch schwieriger machte. Der Ball brauchte eine Art Linkseffet und genau das richtige Maß an Schwung, denn wenn er auf dem ansteigenden Gelände den Schwung verlor, würde er sehr bald liegen» bleiben, während er bei zu großem Schwung abermals am Loch vor» beigehen konnte. Johnny richtete sich auf. Bei den Zuschauem entdeckte er jetzt auch Bob Christie, der mit ausdrucks» losem Gesicht zu ihm herübersah. Er warf abermals einen Blick über das Gelände, trat neben den Ball, holte tief Luft und schlug zu. Eine Sekunde lautlose Stille, dann Beifallsrufe der Zuschauer! Johnny hatte es geschafft. in
Hugh Pentecost Thm war nach diesem entscheiden» müde und niedergeschlagen vor den Schlag, als versagten ihm die ihren Schränken, einige wenige wa= Füße - so taumelig bewegte er sich ren um den runden Tisch gruppiert dahin. Zwei Mädchenarme legten und unterhielten sich lachend. sich um seinen Hals, und Midge Auch Duke Merritt war da. Als er Johnny bemerkte, winkte er ihm Roper küßte ihn auf den Mund. »Johnny«, rief sie, »das war der zu. Johnny trat an den Tisch und feinste Schlag, den ich je gesehen sagte: »Ich hab's geschafft.« »Fein.« Duke klopfte ihm auf die habe! Ich bin sehr stolz auf Sie!« Schulter. »Ich auch, aber nur um Die Zuschauer wanderten dem nachfolgenden Spieler entgegen. Haaresbreite. Hättest mich beim Nur Bob Christie kam zu Johnny achten Grün sehen sollen, und der und Midge herüber. »War ein bril= Respekt wäre dir vergangen. Wie lanter Schlag, Johnnyboy«, mur° ein lausiger Anfänger habe ich melte er. »Wirst allmählich zum dort gespielt. Nachher mußte ich mich höllisch zusammenreißen, um Mann, wie's mir scheint.« »Wie ist es mit Duke Merritt ge° mit ganzen zwei Schlägen Vor» Sprung gegen einen Tierarzt zu sie= gangen?« fragte Johnny. »Geschafft hat er's«, brummte Bob gen.« mürrisch, »aber gerade noch mit Johnny war zu müde, um am Tisch einer Differenz von zwei Schlägen zu bleiben. Er nickte Duke zu und ging in den Duschraum. Als er gegen einen Sonntagsspieler.« Midge berichtete: Beim achten einen Blick in den Wandspiegel Grün war Duke in Schwierigkeit warf, sah er die tiefen Schatten ten geraten, weil ihm eine ganze unter seinen Augen und um seinen Reihe von Schlägen mißglückte. Mund ein paar Linien, die von ab= Danach mußte er sich gewaltig soluter Erschöpfung sprachen. Die strecken, um die Qualifikation zu roten Flecken an seinem Mund erreichen. Aber er hatte es ge= stammten von Midges Lippenstift. Was Midge betraf, so kam dem In= schafft. termezzo mit dem Kuß von ihrer In den Garderoben herrschte teils Seite her wohl keine besondere Be= Fröhlichkeit, teils bedrückte Stirn' deutung zu. Aber - es hatte statt' mung. Die meisten Spieler saßen gefunden... 112
Mord beim Golftumier Wäre es nach Johnnys Wünschen weniger als fünfzigtausend Dolgegangen - er hätte den Abend am lar. liebsten allein verbracht, auf den Johnny fuhr in die Stadt, um sidi Fondsitzen seines Wagens schla= ein paar Sandwiches zu kaufen, fend. Die zehn Dollar Umlage, die und kehrte dann zum Klubhaus Victor Sayies für die Teilnahme an zurück. Das festliche Supper war dem Bankett für Spieler und Zu= inzwischen vorüber, und die im schauer erhob, konnte er sowieso großen Saal versammelten zweis nicht erschwingen. Aber alle Spie' hundert bis zweihundertfünfzig ler, die die Qualifikation erreicht Personen tanzten zu den Klängen hatten, waren gebeten worden, zu einer flotten Kapelle. Alle Anwe= der nach dem Essen stattfindenden senden waren elegant gekleidet. Calcutta=Auktion zu erscheinen. In den Saal wagte Johnny sich Eine Calcutta=Auktion ist eine Sa= nicht. Er fand einen einsamen ehe für Leute mit Geld. Hierbei Platz auf der Terrasse und fühlte wird nämlich jeder der sechzehn sich unsagbar traurig, trotz des Spieler, die sich für die Endrunde heute errungenen Erfolges. Eins qualifiziert haben, meistbietend mal erhaschte er einen kurzen versteigert, und die erzielten Sum= Blick auf Midge, die mit einem men kommen in die Auktions= hübschen, gut angezogenen jun= kasse. Derjenige, der sich den end= gen Mann hinter den offenen Fen« gültigen Sieger ersteigert hat, er= stern vorübertanzte. Danach wuchs hält nachher die Hälfte der Kasse, seine Traurigkeit noch mehr. der Ersteigerer des Zweiten erhält Eine halbe Stunde verging, dann dreißig Prozent, und die Ersteige» kam der Augenblick, vor dem rer der verlierenden Finalespieler Johnny sich gefürchtet hatte. Ein müssen sich mit je zehn Prozent Tusch erklang, von Trommelwir» zufriedengeben. Spieler wie Hai beln untermalt, und die joviale Hamner, Duke Merritt oder Ted Stimme eines dicken Mannes ver" McGrath erzielten bei solchen Auk= kündete: »Ladies und Gentlemen, tionen zumeist Beträge von sechs= jetzt ist es soweit - die Caicutta" bis achttausend Dollar, und der In= Auktion beginnt! Versammeln Sie halt der Auktionskasse belief sich sich hier vor dem Podium und hal= bei großen Turnieren selten auf ten Sie Ihre Geldbörsen bereit! 115
Hugh Pentecost Wir fangen, wie immer, von un= ten an, um uns die fetten Brocken für den Schluß aufzuheben. Wir beginnen also mit dem Spieler, der den sechzehnten Platz errang, mit Johnny Yale ... Hallo, Johnny, wo stecken Sie?« Johnny wäre am liebsten davon» gelaufen. Widerstrebend betrat er den Saal. Er schämte sich seiner alten Hose und des abgetragenen Sportjacketts. »Kommen Sie zu mir aufs Podium, Johnny, damit vor allem die La» dies einen Blick auf Sie werfen können«, rief der Versteigerer. Johnny schob sich durch die Menge und erstieg das Podium. »Nicht schlecht, dieser junge Mann wie?« Der Versteigerer strahlte. Allgemeines Lachen ertönte, da= zwischen war etwas Applaus zu vernehmen. Johnny, der sich schrecklich genierte, trat von einem Bein auf das andere und wartete. »Ladies und Gentlemen - hier ha= ben wir also Johnny Yale, einen gefährlichen Außenseiter dieses Turniers, einen waghalsigen und vielversprechenden Spieler ... Was wird auf diesen zukunftsrei' chen jungen Mann geboten?« Kein Angebot kam. Johnny stieg das Blut in die Wangen. 114
»Ladies und Gentlemen, wir dür= fen keine Zeit verschwenden. Ich frage - was wird für Johnny Yale geboten? Ich bitte um Angebote für Johnny Yale! Entschließen Sie sich, Ladies und Gentlemen!« , Johnny wollte es scheinen, als währe die Stille endlos. Dann plötzlich erklang eine kleine Stirn" me, die er unter Tausenden er» kannt hätte. »Hundert Dollar!« rief Midge Ro= per. Tapfere Midge! Sie hatte Johnnys Verlegenheit bemerkt und war in die Bresche gesprungen. »Hundertfünf zig!« rief eine Man" nerstimme. »... fünfundsiebzig!« rief Midge. »Zweihundert!« »... und fünfzig!« Midge blieb hartnäckig. »Drei ...« Die Angebote von Midge und dem Mann kamen kurz und knapp. »Dreihundertfünfzig« rief Midge. »Vierhundert!« Die Spielfolge des nächsten Tages war bereits ausgelost; Johnny hatte gegen Hai Hamner anzutre= ten. Der Mann, der gegen Midge bot, mußte ein Hamner°Fan sein. Bestimmt wollte er nachher viel auf Hamner bieten, aber außer«
Mord beim Golfturnier dem eine Rückversicherung für die winzige Chance haben, daß Johnny durch eine Art Wunder über Hai Hamner erfolgreich wäre. »Vierhundertfünfzig!« rief Midge. »Fünfhundert!« »... undfünfzig!« Der Mann bedachte Midge mit einem forschenden Blick »Wollen Sie ihn unbedingt haben, junge Miss?« »Ich kenne sein Spiel«, entgegnete Midge. »Sechshundert!« rief der Mann. » Sechshundertf ünfzig!« Der Versteigerer grinste. »Ich stehe einfach da und höre es mir an, und es ist Musik in meinen Ohren. Machen Sie nur weiter!« Aber der Mann schien die Lust verloren zu haben. »Höre ich sieben?« rief der Ver= steigerer. »Sieben? Höre ich sieben? Was denn - nicht mehr als sechshundertfünfzig Dollar für einen Endrundenteilnehmer an diesem großartigen Turnier? Höre ich sieben? Nein? Das tut mir fast weh, aber nun muß ich ihn Miss Roper zusprechen, für sechshun= dertfünfzig Dollar ... Zum ersten, zum zweiten und zum dritten! Johnny Yale - ersteigert von Miss Roper für sechshundertfünfzig
Dollar ... Dank für Ihre Geduld; Johnny ... Und nun zum nächsten Teilnehmer ...« Johnny sprang vom Podium und drängte sich zur Terrassentür. Er wagte einen Seitenblick auf Midge und sah, wie sie ihm zuwinkte. Er winkte nicht zurück. Er wünschte, sie hätte nicht auf ihn geboten. Nun würde morgen der auf ihm lastende Druck noch höher sein. Die Versteigerung des nächsten Spielers begann. Johnny wollte stillschweigend verschwinden, er hatte aber kaum ein paar Schritte über die Terrasse gemacht, als er plötzlich Victor Sayies gegenüber" stand. »Hatte noch keine Gelegenheit, Ihnen zu gratulieren, Johnny«, sagte der Veranstalter. »Sie müs= sen sehr gut gespielt haben. Freue mich. Sie bei meinem Turnier da« bei zu haben.« »Danke sehr, Mr. Sayies.« »Ja, freue mich wirklich ... Aber da wir uns gerade treffen - haben Sie Duke Merritt irgendwo gese= hen? Ich wollte ihn zur Versteiges rung holen und finde ihn nin» gends.« »Oh, tut mir leid, Mr. Sayies. Ich habe ihn nicht gesehen. Vielleicht weiß Bob Christie, wo er steckt.« 115
Hugh Pentecost »Richtig - Bob Christie. Sagen Sie, Johnny - würde es Ihnen etwas ausmadien, Bob Christie zu fra= gen?« »Nicht das geringste, Mr. Sayies. Ich werde zu ihm gehen.« Johnny lief zu dem Nebenge' bäude, in dem die Hilfskräfte un= tergebracht waren. Falls Old Bob sich noch nicht schlafen gelegt hatte, würde er gewiß den Caddies vom glanzvollen Golfspiel vergan= gener Tage erzählen. Und so war es. Der Alte saß, von einem hal= ben Dutzend junger Leute um= ringt, auf dem Rasen vor dem Ge° bäude und erzählte. »Wissen Sie, wo Duke steckt?« fragte Johnny. »Er wird für die Auktion benotigt.« »Jetzt schon? Er ist draußen auf dem Platz und trainiert beim ach= ten Grün.« »Im Dunklen?« Bob nickte. »Er ist mit seinem Wa= gen dort und nimmt das Licht der Scheinwerfer zu Hilfe.« »Wir sollten ihn holen«, sagte Johnny. »Mr. Sayie schien bereits unruhig zu sein.« »Ja, dann müssen wir ihn holen«, entgegnete Bob und stand auf. Einer der Jungens zupfte Johnny am Ärmel. Es war sein Caddie. 116
»Kann ich mitkommen, Mr. Yale?« »Warum nicht?« gab Johnny lä» chelnd zurück. »Wir fahren mit meinem Auto. Es steht auf dem Parkplatz.« Ein unebener Weg, ausgefahren von den Lastwagen und Trakte» ren, die beim Bau der Anlage be= nötigt worden waren, zog sich ne= ben dem Golfgelände hin. Als Johnny sein altes Auto eine kleine Anhöhe hinaufgesteuert hatte, sa= hen sie in einiger Entfernung die Scheinwerfer von Dukes Wagen, die die Umgebung des achten Grüns beleuchteten. Bob Christie lachte. »Ein großar" tiger Kerl, dieser Duke! Golf ist sein Lebensinhalt, und er nimmt das Spiel verdammt ernst. Er weiß, was geschehen könnte, wenn er morgen wieder an diesem Loch versagt. Deshalb trainiert er es durch, bis es ihm in Fleisch und Blut übergegangen ist.« »Sogar in der Dunkelheit!« sagte der junge Caddie begeistert. »Die Dunkelheit macht ihm nicht viel, wenn er seinen Wagen dabei hat«, erwiderte Bob. »Vielleicht hat er sich inzwischen einen be= sonders feinen Schlag ausgedacht und ist gleich hingefahren, um ihn
Mord beim Golfturnier zu erproben. Kein Wunder, wenn er dann die Auktion vergißt.« Das alte Auto stoppte neben dem chromglänzenden Straßenkreuzer. Johnny sah nichts von Duke. Er stieg aus. Bob Christie und der Junge folgten ihm. »He, Duke!« rief Johnny. Keine Antwort kam. Nachdem sie ein paar Dutzend Schritte gegangen waren, konnten sie auch die abgekehrte Seite des Grüns übersehen. Und dort lag Duke, das fraisefarbene Hemd und die blauen Slacks mit Blut be= sudelt. Bob wollte zu der reglosen Gestalt stürzen, aber Johnny hielt ihn zu= rück. Die schreckliche Wunde an Dukes Hinterkopf, offenbar mit einem Golfschläger verursacht, der dicht neben Duke lag, ließ erken= nen, daß hier nicht mehr zu helfen war. Bob versuchte Johnny abzu» schütteln. »Vielleicht lebt er noch, so schlimm es auch aussieht!« Johnny schüttelte stumm den Kopf. Er trat an Duke heran und griff nach seinem abgestreckten rechten Arm. Der Arm war kalt, vom Puls° schlag ließ sich nichts mehr spüren. Johnny hatte Mühe, eine jäh auf= kommende Übelkeit zu unterdrük= ken.
Er wankte zurück. Old Bob ver= stand, setzte sich an den Rand des Grüns und begann den Oberkör» per hin und her zu wiegen. Er sagte kein Wort, und dann kamen die Tränen, die über die verwitter» ten Wangen sickerten. »Kannst du mein altes Auto fah= ren?« fragte Johnny den Caddie, der wie erstarrt dastand. Der Junge nickte. »Dann fahr hinüber zum Klubhaus und sag Mr. Sayies, was hier pas= siert ist. Er wird schon wissen, was er tun muß.« »Ist er - ist er tot?« flüsterte der Junge. »Ermordet«, knurrte Johnny. Der Junge stolperte zu Johnnys Auto und fuhr los. Ein Weilchen später kam Sayies, und mit ihm kamen die anderen — zehn, zwölf Wagen voller Men= sehen. Und Johnny schlich sich von dannen. Er war am Ende seiner Kräfte und wollte allein sein. Des= halb schrie er Midge an, sie solle ihn in Ruhe lassen. Sie folgte ihm trotzdem. Die arme Midge. Auch für sie war es schwer. Man wußte ja, daß sie Duke geliebt hatte...
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Hugh Pentecost Johnny ließ sich auf eine Bank beim zwölften Grün fallen. Midge setzte sich zu ihm und griff nach seinen Händen. Minutenlang saßen sie schweigend da. Schließlich riß Johnny sich zusammen. »Mein Vater starb, als ich Siebzehn war«, murmelte er. »Er hatte im= mer so schwer zu arbeiten, daß er sich kaum um mich kümmern konnte. Bis ich Duke traf, hat sich keiner um mich gekümmert.« Midge schwieg und drückte John= nys Hände. Er streifte sie mit einem Seitenblick und sah, daß sie vor sich hin in die Dunkelheit starrte. Aber sie weinte nicht. »Wer immer es getan hat«, knurrs te Johnny, »er wird es zu büßen haben.« Der Druck von Midges Fingern verstärkte sich. »Ich weiß, wie Sie fühlen«, mur» melte Johnny nach einem Weil' dien. »Ich wünschte nur, ich könn= te es Ihnen ein wenig erleichtern.« »Johnny -«, flüsterte Midge. »Es gibt nur einen Menschen, von dem ich je ein böses Wort über Duke gehört habe«, fügte Johnny hinzu, »und das ist Hai Hamner. Er ist der einzige, bei dem ich je ein feindseliges Verhalten gegen Duke bemerkte.« 118
Aus der Feme vernahmen sie Sire° nengeheul. Bald danach kam das Polizeiauto mit dem roten Dreh» licht auf dem Dach über den Traktorenweg heran. Ein Ambulanz» wagen folgte. »Johnny, Sie müssen jetzt hinüber« gehen«, sagte Midge. Er nickte. »Es wird allerlei zu tun geben. Duke hatte ja niemanden außer Bob und mir - und Ihnen.« Er stand auf. »Ich hätte Bob nicht allein lassen sollen. Für ihn ist eine ganze Welt zusammengebrochen.« Als Johnny und Midge sich dem achten Grün näherten, fuhren die meisten Wagen schon wieder in Richtung Klubhaus davon. Ver« mutlich war den Herumstehenden beigebracht worden, daß die Poli= zei keine unnützen Zuschauer brauchen könne. »Auch Sie sollten lieber zum Klub» haus gehen«, sagte Johnny zu Midge.' Sie nickte. »Ich werde dort auf Sie warten. Viel Glück, Johnny.« Johrmy blickte ihr nach, bis sie in der Dunkelheit verschwunden war. Dann trat er an die von Scheinwer" fern beleuchtete Stelle heran, wo einige Männer neben dem Toten standen. Old Bob hockte noch im» mer am Rand des Grüns.
Mord beim Golfturniar In diesem Moment bemerkte Johnny einen Mann und eine Frau, die dicht nebeneinander hinter einem der Wagen standen und sich leise, aber lebhaft unterhielten. Die Frau war Sue Hamner. Doch der Mann - als das Licht eines wendenden Wagens das Paar streifte, erkannte Johnny, daß der Mann nicht Hai Hamner war, wie er zuerst geglaubt hatte. Der Mann, der seinen rechten Arm um Sue Hamner gelegt hatte, als müsse er sie stützen, war Victor Sayies, der Veranstalter. Distriktsanwalt George Franks gab sich kühl und geschäftsmäßig. Ne= ben dem Toten stehend, erteilte er den uniformierten Polizisten und den beiden Beamten in Zivil knappe Anweisungen. Einer der Beamten machte Blitzlichtaufnahmen. Der andere hielt den verhängnisvollen Golfschläger in der Hand, als wäre es eine mit Dynamit geladene Geheimwaffe. Er blickte zu Franks. »Kaum Aussicht, irgendwelche verwertbaren Fingerabdrücke auf dem Ding zu finden«, erklärte er. »Das hätte ich auch nicht erwartet«, gab Franks trocken zurück. »Wo steckt eigentlich der Bursche, der ihn gefunden hat?« Johnny trat vor. »Hier, Sir.«
Franks musterte ihn aus s ^ . Augen. »Sie sind mit den\ arren Mann hierhergekommen, i i 8 " zu suchen?« ^ ihn »In meinem Auto«, er^> rte Johnny. »Bei uns war au^ 61 Bill Everett, mein Caddie. Ih^ » ich dann zum Klubhaus ges, ha e um Hilfe zu holen.« "ickt/ »Sie sind Johnny Yale?« »Jawohl, Sir.« »Sie haben ihn in der gleicher ^ gefunden, in der er sich jet^. a^'e be findet?« ' »Ja.« »Sie haben ihn nicht bewegte »Ich bin an ihn herangetr^ sagte Johnny. »Ich - ich iv, n< . • i. vergewissern.« • •<ßte mich »Haben Sie ihn berührt?« »Nur sein rechtes Handgelen^ . Haut war kalt, und vom Puls^ le war nichts mehr zu spüren. By ^ schrecklichen Wunde am H„. er iköpfr -« '^er»Verstehe.« Franks warf y kurzen Blick zu Bob Chi^ »Scheint den alten Mann sA, e' _-.—rr' ^er getroffen zu .haben? »Für ihn muß es sein, als hät^ den eigenen Sohn verloren«, g r gegnete Johnny. »Übrigens kai^ Ihnen nichts von Belang bericL r soweit es die Tat betrifft. Ich L"'
Hugh Pentecost ihn bei der Unterkunft der Caddie ab und kam mit ihm und Bill Eve= rett in meinem alten Auto hierher, um Duke Merritt zu suchen, der im Klubhaus benötigt wurde. Wir fanden Duke, und ich schickte Bill zum Klubhaus zurück. Dann habe ich mit Bob hier gewartet.« Franks nickte. »Sie werden nachher einem meiner Beamten ausführliche Aussagen machen. Inzwischen kön= nen Sie mit dem alten Mann zum Klubhaus fahren und dort warten, bis Sie benötigt werden.« »Jawohl, Sir«, sagte Johnny. Er wandte sich ab und wollte gehen, machte aber plötzlich wieder halt, weil er ganz in der Nähe Duke Merritts ledernen Schlägerbeutel liegen sah. »Mr. Franks!« rief er scharf. »Ja?« »Dort sind Dukes Schläger. Haben Sie sie angesehen?« »Nein. Wir interessieren uns nur für den einen Schläger, der neben dem Toten lag.« »Eben, das ist es ja!« sagte Johnny. »Dukes sämtliche vierzehn Schläger stecken in diesem Beutel!« »Vielleicht besaß er einen fünf= zehnten?« »Ausgeschlossen, Mr. Franks.« Johnny schüttelte den Kopf. »Jeder 120
Turnierteilnehmer darf nur vier» zehn Schläger mit sich führen. Wird man mit mehr als vierzehn Schlä» gern erwischt, hat es die Disqualifi= kation zur Folge.« »Und?« »Natürlich besaß Duke Merritt mehrere Sätze von Golfschlägern. Aber jeder Satz steckt in einem besonderen Beutel. Und niemals hätte Duke außer dem kompletten Satz einen weiteren Schläger mit= genommen. Vor Jahren wurde er deswegen mal disqualifiziert und verlor dadurch mehrere tausend Dollar.« »Nun ja. Aber vielleicht hat er zum Training einen weiteren Schläger mitgenommen, um ihn nachher wieder zum Originalsatz zu stek= ken?« Johnny schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Das wäre bei Duke völlig ausgeschlossen gewesen. Nie hätte er einen zusätzlichen Schläger in den Satz gesteckt, und wäre es auch nur gewesen, um damit die Straße zu überqueren!« Franks ließ sich den verhängnisvol= len Schläger geben und ging damit zu Old Bob. »Mr. Christie - ist das hier Duke Merritts Schläger?« Old Bob schien wie aus weiter
Mord beim Golfturnier Feme zurückzukehren. Seine hellen Augen richteten sich langsam auf den Schläger. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, Sir - das ?st kei= ner von Dukes Schlägern.« »Woher wissen Sie das so genau?« »Dukes Schläger wurden von einer bestimmten Firma hergestellt. Un= ter der Marke Duke=MerrittsSchlä= ger. Natürlich hat Duke nur diese Schläger benutzt. Und das hier ist ein einfacher Nichols=Schläger.« »Vielleicht hatte er einen Nichols= Schläger in irgendeinem seiner Re= servesätze?« »Das würde ich wissen, Sir. Und weshalb sollte er wohl nebenher einen anderen als seine Duke=Mer= ritt'Schläger benutzt haben?« Franks blickte zu Johnny. »Gibt es eine Möglichkeit, festzustellen, wem dieser Schläger gehört?« »Gewiß. Lassen Sie im Gästehaus und in den Garderoberäumen der Spieler nach einem Beutel mit Ni= chols=Schlägern suchen. Sehen Sie die Nummer auf diesem Schläger? Er gehört zu einem registrierten Satz.« Franks nickte. »Danke, Mr. Yale. Das dürfte für den Augenblick ge= nügen. Bringen Sie nun den alten Mann zum Klubhaus und warten Sie dort auf mich.«
»Sir, ich glaube, Bob möchte bleie ben, bis die Leiche weggefahren wird.« Franks dachte einen Moment lang nach. »Gut, ich habe nichts dage= gen. Lange wird es sowieso nichtmehr dauern. Aber dann fahren Sie mit ihm zum Klubhaus, nicht wahr?« Johnny versprach es und ging ein Stück beiseite. Er wollte allein sein und nachdenken. Nichols=SAläger! Er versuchte sich zu erinnern, wer Nichols=Schläger benutzte. Da tippte ihm jemand auf den Arm. Als er den Kopf wandte, sah er in Sue Hamners bleiches Ge= sieht. »Kann ich Sie einen Augen» blick sprechen, Johnny?« fragte sie fast unhörbar. Johnny blickte über die Schulter — Distriktsanwalt Franks war mit sei» nen Leuten beschäftigt. Johnny ging mit Sue einige Schritte weiter ins Dunkel. »Ich kann mir vorstellen, was Sie denken«, sagte sie. Johnny murmelte: »Duke wurde hinterrücks erschlagen.« »Und Sie denken an Hai.« Sue Hamner wirkte erschöpft. »Es ist ja kein Geheimnis, wie Hai zu Duke Merritt stand.« »Warum stand er so zu Duke?« 121
Hugh Pentecost »Er war eifersüchtig auf ihn, Johnny. Völlig grundlos, aber er war eifersüchtig.« »Grundlos?« Johnny fragte es bit« ter. »Früher dachte ich das auch. Jetzt denke ich anders.« »Aber, Johnny -« »Sie und Sayies«, sagte Johnny. »Am Tag unserer Ankunft hier — ich habe gesehen, daß Sie Sayies kannten. Sogar gut kannten. Vor Ihrem Mann haben Sie es verheim» licht. Vielleicht hat Hai allen Grund, eifersüchtig zu sein. Vielleicht ha» ben Sie ihn dazu getrieben, Duke zu erschlagen.« Sue Hamner hielt sich die Hände vors Gesicht, als hätte Johnny sie geschlagen. »Überlassen Sie alles der Polizei, Johnny«, flüsterte sie. »Geben Sie ihr keine Andeutungen über Hai. Bitte, Johnny!« Ehe er etwas erwidern konnte, sah er Sayies herankommen. »Stimmt etwas nicht, Mrs. Hamner?« fragte Sayies ruhig. »Nein ... Nein, ich sagte Johnny gerade, wie furchtbar leid mir das alles tut. Ich -« »Wahrhaftig ein schwerer Schlag für Sie, Johnny«, bestätigte Sayies. An Sue gewandt fügte er hinzu: »Darf ich Sie zum Klubhaus zu= rückbringen, Mrs. Hamner?« 122
Sue warf Johnny einen beschwö" renden Blick zu. »Ja, danke«, sagte sie dann zu Sayies. Johnny sah ihnen nach, wie sie zu Sayies' Wagen gingen. Old Bob rührte sich nicht von der Stelle, bis der Ambulanzwagen mit der Leiche davonfuhr. Als die Rücklichter der Ambulanz außer Sicht gekommen waren, stand er auf und ging mit langsamen Schritten zu Johnnys Auto. Während der Fahrt zum Klubhaus sagte er kein Wort. Auch Johnny schwieg. Als sie den Parkplatz neben dem Klubhaus erreichten, blieben sie zunächst im Auto sitzen. Johnny war an Gedanken über Sue Harn» ner verloren; er konnte nicht be° greifen, daß sie zu ihrem Mann hielt und ihn zu schützen versuch» te, obwohl er sie so schlecht behan" delte. Old Bob stieß einen schweren Seufzer aus. Tröstend legte ihm Johnny eine Hand auf die Schulter und murmelte: »Ich weiß nicht/was ich Ihnen sagen soll, Bob.« »Schon gut, Johnnyboy. Wir beide wissen, wie wir fühlen.« Johnny dachte noch immer an Sue Hamner. »Aber es gibt Leute, die ihn nicht leiden mochten.«
Mord beim Gotftumier »Duke war eben Duke«, sagte Bob Christie. »Er war ein beständiger Sieger, und deshalb konnten ihn Leute, die hin und wieder verloren, nicht leiden. So ist die menschliche Natur nun mal. Man neidete ihm seine Siege. Und seine Persönlich' keit.« »Aber daß man ihn deshalb um« bringen konnte!« »Er besaß auch eine Schwäche, Johnnyboy. Wir beide kennen diese Schwäche. Der Grund für die Tat dürfte etwas mit einer Frau zu tun haben.« »Nie werde ich Hamners Ausdruck vergessen, als er sich gestern auf Duke stürzen wollte«, bemerkte Johnny. Old Bob gab keine Antwort. »Es war kein Zufall«, fügte Johnny hinzu. »Jemand hat genau gewußt, daß Duke draußen trainierte. Und dieser Jemand ging mit dem Golf' schläger hinaus - zu allem enti» schlössen!« Old Bob gab noch immer keine Antwort. Eine Minute verstrich, ehe er murmelte: »Laß uns hinein' gehen, Johnnyboy. Es gibt eine Menge zu tun, ehe die Nacht vor» über ist.« Sie ließen das Auto und gingen durch einen Seiteneingang des
Klubgebäudes zu Sayies' Büro. Sayies war dort und machte die Platte seines Schreibtisches frei. »Distriktsanwalt Franks wird diesen Raum übernehmen«, sagte er. »Wollen Sie hier auf ihn warten?« »Wenn Sie erlauben, ja«, antwors tete Johnny. »Im Saal sind zu viele Menschen.« »Gut, daß Sie vor Franks gekom" men sind«, äußerte Sayies, noch immer mit dem Aufräumen der Schreibtischplatte und dem Ver« stauen der Sachen beschäftigt. »Er hat nämlich entschieden, daß das Turnier fortgesetzt wird. Er muß die Teilnehmer ohnehin bis zur Aufklärung des Mordes hierbehal" ten und meint, es wäre leichter, wenn sie etwas zu tun hätten. Duke muß ja nun gestrichen wer= den. Aber mich interessiert die Frage, ob Sie weiterspielen werden, Johnny.« Johnny war ratlos; an diese Mög= lichkeit hatte er noch nicht gedacht. Nach allem Vorgefallenen Golf spielen? Und in der nächsten Run» de ausgerechnet Hai Hamner ge» genübertreten? »Ich kann es nicht«, sagte er nach kurzem Überlegen. »Er wird weiterspielen«, erklärte Bob Christie unbeirrt. An Johnny gewandt, fügte er hinzu: »Du bist 123
Hugh Pentecost Profigolfer/ mein Junge. Das Golfs spielen ist dein Beruf. Heute hast du dich als Spieler von Klasse ge= zeigt. Wenn du erst in mein Alter kommst, dann wirst du verstehen, daß jeder - so oder so - sterben muß. Du wirst auf jeden Fall wei= terspielen. Duke Merritt hätte ge= nau dasselbe von dir verlangt.« Sayies räumte die letzten Papiere von der Schreibtischplatte. »Nun gut, Johnny, Sie werden sich noch entscheiden«, sagte er. »Ich würde es begrüßen, wenn Sie weiterspiel= ten. Falls Sie sich dazu entschlie= ßen, hätten Sie Ihr Spiel gegen Hamner morgen früh um neun Uhr fünfzehn zu beginnen.« »Johnny wird spielen«, versicherte Bob Christie. Johnny ging ans Fenster und starr' te in die Dunkelheit hinaus. Old Bob trat hinter ihn und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Johnnyboy - ohne Duke sind wir beide verloren. Ich noch mehr als du. Ich habe Duke Merritt sozu= sagen großgezogen. War ein guter Tag für mich, als wir dich fanden, Johnnyboy. Ohne dich hätte ich jetzt gar nichts mehr.« »Sie werden sich noch entscheiden, Johnny«, wiederholte Sayies. Er trat an die Tür, zögerte und drehte 124
sich zu Bob Christie um. »Sie kannten Duke Merritt doch beinah sein ganzes Leben lang, Mr. Chri= stie - nicht wahr?« »Seit seinem zwölften Jahr«, be= stätigte Bob. Sayies zündete sich eine Zigarette an. »Hat Duke mich jemals er= wähnt?« Old Bob legte die Stirn in nach» denkliche Falten. »Kann mich nicht erinnern, Mr. Sayies. Haben Sie ihn denn von früher her gekannt?« »Persönlich nicht. Natürlich habe ich ihn oft spielen sehen - als Zu= schauer. Und ich habe auch an die= sem oder jenem Bankett teilgenom= men, bei dem er anwesend war. Aber immer nur als Zuschauer.« »Dann dürfte er sich kaum an Sie erinnert haben, Mr. Sayies. Bei solchen Banketts mußte er ja mit so vielen Menschen sprechen.« »Nun, ich dachte nur, es wäre ihm anläßlich dieses Turniers vielleicht doch vorgekommen, als hätte er mich schon einmal gesehen.« Bob schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Mr. Sayies. Zu mir hat er nichts davon gesagt. Und was mich betrifft, so denke ich, daß ich Sie zum erstenmal gesehen habe, als wir uns gestern hier eintrugen.« »Es wäre immerhin möglich gewe»
Mord beim Golftumier sen«, sagte Sayies schulterzuckend. »Wenn ich irgend etwas für Sie beide tun kann — Sie finden mich in meiner kleinen Privatwohnung im zweiten Stock dieses Hauses, solange Mr. Franks mein Büro be° nötigt.« Er nickte Johnny und Bob zu und ging hinaus. Johnny mußte daran denken, daß er vorhin Sayies und Sue Hamner im Licht eines wendenden Wagens nahe beieinander gesehen hatte. Warum hätte Duke diesen Sayies erwähnen sollen, wenn er ihn gar nicht kannte? Noch ehe er sich über diesen Punkt zu Bob äußern konnte, kam einer von Franks Assistenten herein und bat sie, in den beiden Sesseln vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich hinter den Schreibtisch, legte Schreibblock und Bleistift zurecht und fragte: »Ihr Name ist Johnny Yale?« »Warum sind Sie nicht draußen auf dem Golfplatz und unterneh= men etwas, statt uns hier auszu= fragen? Wir haben ihn nicht um= gebracht!« gab Johnny gereizt zu= rück. »Sie beide haben ihn gefunden«, sagt der Vernehmungsbeamte. »Es ist mein Job, Ihre Geschichte anzu» hören.«
So erzählten sie, was sie zu erzäh= len hatten. Es dauerte ungefähr fünfzehn Minuten. Johnny war eben dabei, seine Unterschrift ne= ben die von Old Bob zu setzen, als Distriktsanwalt Franks eintrat. Er wirkte recht zufrieden. »Wir haben festgestellt, wem die» ser Schläger gehört«, sagte er und hielt die Mordwaffe hoch. »Wem gehört er?« fragte Johnny schnell. »Töricht von mir, nicht gleich zu erkennen, daß es sich um einen leichten Schläger handelt«, sagte Franks, »um einen Frauenschlä» ger.«
»Eine Frau? Sie glauben, eine Frau -?« »Der Schläger gehört einem Mäd= chen namens Midge Roper«, er» klärte Franks. Johnny fuhr auf. »Das ist doch sinnlos!« rief er. »Midge hat ihn ja geliebt!« Franks bedachte ihn mit einem leicht amüsierten Blick. »Ich habe auch nicht behauptet, daß sie es ge= tan hätte. Ich habe lediglich festge» stellt, daß ihr der Schläger gehört. Kennen Sie sie?« »Selbstverständlich. Sie ist uns während der letzten vier oder fünf Turniere gefolgt. War völlig ver= 125
Hugh Pentecost narrt in Duke! Hätte ihm nie etwas zuleide tun können!« »Gut«, sagte Franks. »Regen Sie sich bloß nicht auf. Ich sagte nur, daß ihr der Schläger gehört.« »Mister«, meldete sich Old Bob, »hier im Haus und in den Gardero' ben und in den Caddieunterkünfs ten gibt es mindestens zweihundert Schlägersätze. Ich habe heute nach» mittag Midges Schlägersatz ver= staut. Sie hatte ein bißchen trai» niert. Dann wollte sie sichJohnnys Spiel ansehen und bat mich, ihre Schläger zur Garderobe zu bringen. Ein reiner Zufall, daß der Mörder ihren Schläger nahm.« »In Ordnung«, sagte Franks, »kein Grund zur Aurregung. Wir versue chen doch bloß, ein paar Tatsachen herauszufinden.« »Ich kann Ihnen ein paar Tatsa= chen geben, Sir«, erklärte Johnny. »Ich kann -« Er wurde unterbrochen. Die Tür ging auf, und ein umformierter Po° lizist schob Midge ins Zimmer. Sie warf Johnny einen ängstlichen Blick zu und wandte sich an Franks. Ihr Gesicht war blaß. Franks lächelte ihr liebenswürdig entgegen. »Ah, Miss Roper.« Er wies auF den Golfschläger. »Er= kennen Sie das?« 126
»Ist das - ist das der Schläger, mit dem -?« »Ja.« »Sieht aus, als sei es einer von mei° nen«, murmelte Midge. »Können Sie ihn nicht nach der Nummer identifizieren, Miss Ro» per?« »Nach der Nummer?« »Er gehört zu einem registrierten Satz und trägt demzufolge eine Nummer.« »Das - das ist mir nie aufgefallen«, stammelte Midge. »Und wenn ich Ihnen sage, daß der Schläger tatsächlich aus Ihrem Satz stammt, Miss Roper?« »Dann wird es wohl stimmen. Er sieht auch genauso aus, als sei er einer von meinen Schlägern.« Franks lehnte sich leicht über den Schreibtisch und blickte Midge an. »Was wollen Sie von mir?« fragte Midge nervös. »Johnny Yale deutete an. Sie seien mit Duke Merritt verlobt gewesen - wenn man so sagen darf.« »Das ist nicht wahr!« rief Midge und sah Franks voll in die Augen. »Aber Sie liebten ihn, nicht wahr?« »Nein!« »Nein?« wiederholte Franks etwas weniger liebenswürdig. »Wie standen Sie denn zu ihm?«
Mord beim Golfturnier »Und wenn ich mich weigere, diese Frage zu beantworten?« Franks lächelte schon wieder. »War= um sollten Sie das, Miss Roper?« Nicht eine Sekunde lang wandte Midge die Augen von Franks Ge= sieht. »Weil - wie heißt doch diese hübsche Formulierung? - ich mich selbst nicht belasten möchte. So heißt es doch, nicht wahr?« »Midge!« rief Johnny. »Ruhig, Johnny«, sagte sie, ohne sich umzusehen. Franks holte eine Zigarette heraus und klopfte sie auf seinem Hand= rücken fest. »Sie sind nicht verhaf= tet, Miss Roper. Sie können tun oder lassen, was Ihnen beliebt — vorläufig noch.« »Wissen Sie«, sagte Midge leise, »es hätte wohl anders sein sollen.« »Inwiefern anders?« »An seiner Stelle hätte ich dort draußen liegen sollen«, erklärte Midge. Franks machte eine beschwörende Handbewegung. »Fahren Sie fort, Miss Roper — bitte!« »Ich — ich war darauf aus, es ihm zu besorgen«, sagte Midge. »Wenn er das gewußt hätte -« »Es wem zu besorgen?« »Duke Merritt!« rief Midge. »Er war ein gemeiner Schuft, Mr.
Franks! Ein schmutziger Erpresser!« »Midge!« keuchte Johnny, der sei» nen Ohren nicht trauen wollte - es war unfaßbar. Und als dann die ganze Geschichte von ihren Lippen sprudelte, erschien ihm Midge vöL» lig fremd. Unglaublich, wie sie über den lachenden, immer liebens" würdigen, zu jedermann hilfsberei» ten Duke Merritt sprach! Sie erwähnte ihren Bruder, und als der Name Ed Roper fiel, wurde es plötzlich still im Raum. »Eine knappe Stunde vor seinem Tod war ich bei Ed«, berichtete Midge; ihre Stimme klang aus= druckslos vor lauter mühsamer Selbstbeherrschung. »Er hatte mir telegrafiert, daß er in Schwierig» keiten sei, und ich flog mit der nächsten Maschine zu ihm hinüber. Da er noch so jung war und sich schämte, hatte er zu lange gezö» gert, sich mit mir in Verbindung zu setzen. Ich kam zu spät, um ihn zu retten. Er hatte in einem Spiel» klub von Las Vegas viel Geld ver= loren. Wieder und wieder war er aufgefordert worden, seine Schuld zu begleichen. Er stand am Rande der Verzweiflung, als ihm jemand ein Angebot machte - er sollte sich verpflichten, nach seinem bevor" 127
Hugh Pentecost stehenden Abgang von der High= school, in deren Baseballmamis schaft er dreimal hintereinander mitgeholfen hatte, die Nationale Schulmeisterschaft zu erringen, als Berufsspieler in einen bestimmten Baseballklub einzutreten. Täte er dies, so würde er auf der Stelle Geld genug bekommen, um seine Schulden zu bezahlen. Eddie ging in seiner Not auf dieses Angebot ein, obwohl es einen Haken ent= hielt - er sollte nämlich dafür sor= gen, daß der Klub, dem er beitre» ten würde, die nächste Meister» schaft nicht gewänne. Er unter= schrieb ein entsprechendes Schrift= stück, obwohl er wußte, daß es ihn bei Bekanntwerden unweigerlich ins Gefängnis bringen würde. Und der Mann, der ihn zu dieser schmutzigen Sache überredete -«, Midge holte tief Atem, »dieser Mann war kein anderer als Duke Merritt!« »Unmöglich!« raunte Old Bob hei» ser. »Sie wollen einen Beweis, Mr. Christie? Zugegeben - ich besitze keinen. Besäße ich einen, dann wäre ich längst zum Gericht gegan= gen. Ed war mit Merritt in einem öffentlichen Lokal zusammenge= troffen - ohne Zeugen. Ich hatte 128
nur Eds Wort, und ich glaubte ihm. Mein Bruder hat sich lieber selbst gerichtet, als einen derart schmut= zigen Verrat zu begehen. Aber die Verantwortung für seinen Selbst» mord trug Duke Merritt! Es war, als hätte er meinen Bruder eigen= händig aus dem Fenster gestoßen!« Midge schwieg ein paar Sekunden lang. Im Zimmer herrschte tiefe Stille. »Nach dem Tod meines Bruders wurde mir klar, daß ich meines Le= bens nie mehr froh sein könnte, wenn es mir nicht gelänge, Duke Merritt als den Lumpen zu entlar» ven, der er in Wirklichkeit war. Ich dachte mir einen Plan aus, und es dauerte einige Zeit, bis ich mich zu meinem Entschluß durchringen konnte. Aber dann machte ich mich auf den Weg zu Duke Merritt. In Pinehurst begegnete ich ihm. Und seitdem spielte ich die Rolle der bis über beide Ohren in ihn verliebten Närrin.« Ein verächtliches Lächeln lag aufMidges Lippen. »Da er sehr von sich eingenommen war, fand er es durchaus in Ordnung, daß ich mich in ihn verliebt hatte. Er sonnte sich in dem Bewußtsein, ein um= schwärmter Mann zu sein, und ahnte nicht, daß ich ihn entlarven wollte. Doch ich wußte, daß er
Mord beim Golfturnier eines Tages irgendeinen Fehler ma= chen und mir die erforderlichen Be° weise in die Hand geben würde ... Es ist gut, daß Sie hier sind, Johnny. Zu Ihnen und zu Bob Chri= stie hatte ich von Anfang an Ver= trauen. Nicht eine Sekunde lang dachte ich daran, daß einer von Ihnen Duke Merritts Komplize sein könnte. Meine Freundschaft zu Ihnen beiden war immer ehrlich gemeint. Das sollen Sie wissen.« Sie wandte sich wieder an Franks. »Sie dürfen nicht glauben, Mr. Franks, das Mordmotiv sei viel= leicht in einer Golfrivalität zu su° chen. Duke Merritt war ein Verbre= eher, ein grausamer, rücksichtsloser Erpresser! Er wurde von jemandem umgebracht, der den Druck nicht länger ertrug!« »Davon bin ich überzeugt, Miss Roper«, entgegnete Franks. »Se= hen Sie - nachdem ich herausfand, daß dieser Schläger Ihnen gehörte, habe ich weitere Ermittlungen an= gestellt.« »Oh?« Midges Stimme klang ver= zagt. »Und diesen Ermittlungen zufolge saß Merritt mit Ihnen auf der Ter= rasse des Klubhauses, als er sich entschloß, zum achten Grün hin= auszufahren und dort zu trainie»
ren. Er sagte Ihnen, daß er hinaus? fahren würde - nicht wahr?« »Ja, er sagte es mir.« »Gut. Es wäre auch zwecklos ge° wesen, wenn Sie es bestritten häts ten, Miss Roper, denn die Unter" haltung wurde von mehreren Leu» ten gehört. Weiterhin wäre es zwecklos, wenn Sie bestreiten wür" den, daß Sie sich etwas später eben« falls auf den Golfplatz begeben ha= ben. GUS Talbot/ der junge Mann, mit dem Sie am Tisch saßen, sah Sie, als Sie vom Platz zurückkamen - wo Sie mit Merritt zusammenge» wesen waren.« »Ich war auf dem Platz, das stimmt«, antwortete Midge. »Aber nicht mit Merritt.« »Sondern?« »Ich ging hinaus, weil Merritt mich gebeten hatte hinauszukommen. Meine Rolle schrieb mir ja vor, ihm stets gefällig zu sein. Als ich zum achten Grün kam, war Merritt be= reits tot.« Der Distriktsanwalt war einen Mo» ment lang verblüfft. »Und Sie hiel= ten es nicht für nötig, das sofort zu melden?« Midge warf den Kopf in den Nak= ken und erwiderte ruhig; »Ich habe es bewußt unterlassen. Wenn Duke Merritts Mörder Zeit brauchte, um 129
Hugh Pentecost seine Spuren zu verwischen, so wollte ich ihn nicht daran hindern.« »Midge!« schrie Johnny; er war außer sich. »Midge — Sie müssen sich irren! Ihr Bruder hat Ihnen nicht die Wahrheit gesagt! Ich kannte doch Duke! Und Bob kann" te ihn noch viel besser! Es ist aus= geschlossen/ daß Duke jemals so gesprochen und gehandelt hat, wie Sie es behaupten!« »Sie kannten ihn eben nicht, John" ny«, gab Midge zurück. »Schauen Sie sich die Zeitungsausschnitte noch einmal an — die Zeitungsaus" schnitte über Johnny Yale. Alle diese hübschen Stories sprechen hauptsächlich davon, welch ein prächtiger Bursche der große Duke Merritt sei. Denken Sie denn, Johnny, er hätte Ihnen auch nur einen Cent geliehen oder eine ein» zige Minute seiner Zeit für Sie ge= opfert, wenn es nicht zu seinem eigenen Vorteil gewesen wäre?« »Er - er hätte mir doch überhaupt nicht zu helfen brauchen«, stam= melte Johnny. »Oh, er besaß eine gute Nase für Dinge, die ihm nützlich waren! Old Bob war auch nützlich für ihn! Wie viele ergreifende Stories waren doch in den Sportzeitungen über Duke Merritt und sein gutes Herz 130
zu lesen! Dieses edle Herz, das es nicht zulassen wollte, daß ein alt" gewordener Golfer, den das Glück verlassen hatte, Not und Hunger litt!« »Hören Sie auf, Midge«, ächzte Johnny. »Schweigen Sie doch end" lieh!« »Zu viele Leute haben allzu lange geschwiegen, Johnny.« »Yale«, sagte der Distriktsanwalt in scharfem Ton, »Sie und der alte Mann gehen jetzt hinaus. Diese Unterhaltung ist nicht mehr infor» mell. Miss Roper scheint eine wichtige Zeugin zu werden.« »Aber Sie wollen doch nicht sagen, daß Miss Roper -« i »Bitte, gehen Sie!« wiederholte Franks. Johnny spürte Bobs Hand auf der Schulter; er schüttelte sie ab. »Das alles ist doch verrückt, Mr. Franks! Midge Roper täuscht sich! Darauf will ich schwören! Wie hätte ich monatelang Tag für Tag mit Duke Merritt Zusammensein können, ohne ihn genau kennenzulernen? Aber das ist auch nicht das Schlimm» ste. Das Schlimmste ist, daß Sie dem Mörder Zeit lassen, sich eine gute Geschichte auszudenken!« »Und wer ist. Ihrer Meinung nach, der Mörder?«
Mord beim Golfturnier »Hamner! Hai Hamner! Er hätte Duke schon gestern nachmittag um= zubringen versucht, wären nicht zu viele Leute in der Nähe gewesen! Dafür gibt es Zeugen genug!« »Duke hat wohlweislich eine Zeit gewählt, den Helden zu spielen, als genug andere Leute in der Nähe waren«, warf Midge ein. »Stimmt das nicht, Johnny?« »Midge«, stöhnte Johnny, »Sie ha= ben sich von irgendeiner dummen Lüge völlig durcheinanderbringen lassen!« »Meinen Sie, mein Bruder hätte den Namen Duke Merritt aus der Luft gegriffen?« »Er hat Sie beschwindelt. Er -« »Genug davon!« unterbrach Franks und gab dem an der Tür lehnenden Uniformierten einen Wink. Der Polizist trat auf Johnny zu. »Sie müssen jetzt hinausgehen.« »Warum lassen Sie ihn nicht hier, Mr. Franks?« fragte Midge. »Frü= her oder später muß er die Wahr» heit über sein Idol ja doch erfah= ren.« »Lassen Sie Hamner holen, Mr. Franks!« rief Johnny. »Fragen Sie ihn, wo er zur Tatzeit war und was er trieb. Mehr ist nicht nötig. Mit Midge können Sie sich später be° fassen. Dukes Leben wäre nicht
mehr zu retten gewesen, auch wenn Sie den Mord sofort gemeldet hat» te. Falls dadurch jemand eine Flucht» chance erhielt, werden Sie es schnell herausfinden. Und das wäre dann so gut wie ein Geständnis - nicht wahr?« Franks zögerte. »Wenn Midges Geschichte an die Öffentlichkeit dringt, ist sie nie mehr aus der Welt zu schaffen«, fügte Johnny erregt hinzu. »Duke Merritt kann sich nicht mehr ver= leidigen. Aber Bob Christie und ich — wir können das für ihn besor» gen, wenn Sie uns eine Chance geben. Finden Sie den Mörder, Mr. Franks! Midges Angelegenheit kann warten.« Franks wandte sich an den Poli» zisten. »Holen Sie Hamner.« Johnny kam sich vor wie ein Mann, der an einem Klippenrand hängt und sich haltsuchend an ein paar kleine Sträucher klammert, obwohl er weiß, daß sie nachgeben werden. Bei jedem anderen Menschen hätte er die Geschichte mit einem Schul" terzucken abgetan, aber Midge ge= genüber war das unmöglich. Midge log nicht, sie irrte sich nur. Da Franks bis zu Hamners Eintreffen offenbar nichts weiter unterneh» 131
Hugh Pentecost men wollte, ging Johnny zu Midge hinüber. »Hören Sie, Midge«, sagte er, »kommt es Ihnen nicht selber sinn» los vor? Sinnlos und voller Wider» Sprüche? Wenn Duke irgend etwas mit Ihrem Bruder zu schaffen ge" habt hätte - müßte ihm dann nicht Ihr Name aufgefallen sein? Hätte er sich schuldig gefühlt, dann wäre er Ihnen doch ausgewichen!« Midge schüttelte müde den Kopf. »Er wußte, wer ich war. Wir un= terhielten uns sogar über Ed. Er setzte einfach voraus, daß ich kei= nen Verdacht gegen ihn hätte. Und genauso setzte er voraus, daß er unwiderstehlich wäre. Überdies hielt er sich für unfehlbar. Jeman= den, der ihm einen Fehler nachzu= weisen versuchte, hätte er ausge= lacht.« Bob Christie kam herbei. »Du soll= test mit Midge nicht streiten, Johnny. Sie glaubt an das, was sie dir erzählt. Und du glaubst an das, was du ihr erzählst. Die Wahrheit wird noch ans Licht kommen.« »Bob«, bat Johnny bedrückt, »er= zählen Sie ihr von Duke.« Der alte Mann zuckte die Schultern. »Hätte momentan nicht viel Sinn, Johnny. Sie kann nur noch durch Tatsachen überzeugt werden.« 152
»Aber -« »Keine Sorge. Wenn der Mörder gefunden ist, werden wir uns um die Tatsachen kümmern.« Ehe Johnny etwas erwidern konn» te, flog die Tür auf, und Sue Harns ner kam herein, bleich und atem» los. »Mr. Franks?« »Der bin ich«, sagte der Distrikts» anwalt. »Ich bin Sue Hamner - Mrs. Hai Hamner. Ich hörte, daß Sie meinen Mann suchen lassen.« »Das stimmt. Wissen Sie, wo er ist?« »In der Spielergarderobe, bei den anderen. Ich muß Ihnen etwas sä» gen, ehe Sie mit ihm sprechen.« »Bitte, Mrs. Hamner?« »Hai haßte Duke Merritt. Aber das war mein Fehler. Merritt schenkte mir auf allen Turnieren dieser Sai» son seine besondere Aufmerksam» keit. Und Hai war eifersüchtig. Er glaubte, wirklichen Grund zur Eifersucht zu haben. Ich - ich hätte einen Weg finden müssen, Merritt abzuweisen. Da ich es nicht tat, hatte Hai ein Recht, zornig zu sein.« »Sie lieben Ihren Mann, Mrs. Hamner?« Sue atmete schwer. »Von ganzem Herzen«, flüsterte sie.
Mord beim Golfturnier Johnny/ der sich des blauen Flecks auf ihrer Wange erinnerte, war er= staunt. Wie konnte diese Frau einen Mann lieben, der sie mißhandelte? »Warum ließen Sie Merritts Aufs merksamkeiten dann nicht einfach unbeachtet, Mrs. Hamner?« »Das - das konnte ich nicht.« »Soll das heißen, Mrs. Hamner, daß er Sie irgendwie überredete?« »N^'a, er überredete mich.« »Ach. Und nun kommen Sie, um uns zu erzählen, daß alles Ihr Fehs ler gewesen ist.« »Ich konnte Merritt nicht entrnu» tigen«, flüsterte Sue. »Mochten Sie ihn denn so gern?« »Ich haßte ihn!« erklärte Sue heftig. »Ich haßte ihn, wie ich nie zu» vor einen Menschen gehaßt habe!« »Das verstehe ich nicht«, sagte Franks und schüttelte den Kopf. »Sie haßten Merritt, aber Sie lie= ßen sich von ihm hofieren?« »Die Gründe dafür kann ich hier nicht nennen, Mr. Franks, Aber Sie müssen verstehen, daß Hai keine Schuld trifft. Ich habe ihn dazu getrieben!« »Zu was getrieben, Mrs. Hamner?« »Daß er Merritt haßte.« Während sie es sagte, erkannte Sue den eigentlichen Sinn von Franks' Frage und zuckte zusammen. »Hai haßte
Merritt«, fügte sie schnell hinzu, »aber er hat ihn nicht umgebracht.« »Woher wissen Sie das, Mrs. Hamner? Können Sie ihm für die fragliche Zeit ein Alibi geben?« »Nein«, antwortete sie tonlos, »aber ich kenne Hai. Er hätte Mer= rit mit den bloßen Fäusten zusam» mengeschlagen. Nie hätte er ihn mit einem Golf Schläger angegriffen und noch dazu von hinten. Für Hai bestand gar keine Notwendigkeit, Merritt zu töten. Er wollte ihn mix von mir fernhalten.« »Und obwohl Sie behaupten. Ihren Mann von ganzem Herzen zu lie» ben, konnten Sie ihm dabei nicht helfen?« »Nein, ich konnte ihm dabei nicht helfen«, bestätigte Sue so leise, daß es kaum zu hören war. Franks wollte etwas erwidern, doch da ging die Tür auf, und der Poli» zist führte Hai Hamner herein. Der langaufgeschossene Südstaatler warf einen kurzen Blick auf seine Frau und senkte die Augen. Sue trat schnell auf ihn zu. »Hai!« Er schaute nicht auf und schwieg. »Mr. Hamner, ich denke. Sie wis» sen, weshalb ich Sie holen ließ«, begann Franks. Hamner antwortete nicht und starrte weiterhin zu Boden. 155
Hugh Pentecost Franks fuhr fort: »Sie haßten Duke Merritt. Sie waren eifersüchtig auf ihn. Gestern nachmittag verhinder» ten andere Leute/ daß Sie ihn tat» lieh angriffen. Aber wenn Sie uns ein Alibi für Ihr Tun und Lassen am heutigen Abend zwischen sie» ben und halb neun Uhr bringen können, brauchen wir uns nicht damit zu befassen.« Hamner schaute auf; sein Blick war verschleiert. »Merritt wollte Sue nicht in Frieden lassen«, murmelte er. »Und Sue schien ihm nichts ab= schlagen zu können.« »Die Zeit zwischen sieben und halb neun, Mr. Hamner«, mahnte Franks, doch seine Worte waren verschwendet. »Ich ging zu ihm«, fuhr Hamner fort, »ich bat ihn, sie in Ruhe zu lassen.« Sein Murmeln klang hei" ser, aber seine Augen waren wie die Augen eines traurigen Kindes. »Sue bedeutet mir alles. Nie zu= vor hatte ich mich verliebt. Nie hatte ich gedacht, daß mich jemand lieben würde, daß es einen Men» sehen geben könnte, von dem ich sagen dürfte, er wäre mein.« »Hai!« flüsterte Sue. »Ich sagte ihm, es gäbe doch Frauen genug, die nicht so benötigt wür» den wie Sue von mir. Aber ich 154
glaube jetzt, da war ich ein bißchen verdreht. Wie darf man eine Frau benötigen, die einen gar nicht mag? Wenigstens schien es mir so. Ja, so schien es mir.« Johnny beobachtete Sue. Ihre Fin" ger zerknüllten ein Taschentuch. Als Hamner einen Moment lang schwieg, war Sues unterdrücktes Schluchzen zu hören. Hamner räusperte sich. »Ich ging auch zu ihr. Aber da war irgend etwas. Ich weiß nicht, was es war. Ich glaube, sie konnte ihn einfach nicht aufgeben.« »Hai!« »Und dann begann es in mir zu kochen. Ich - ich ging nochmals zu ihm. Wiederum bat ich ihn, ganz ruhig und höflich, so schwer es mir fiel. Ich bat ihn, sie doch endlich in Ruhe zu lassen. Und er erwiderte lachend: >Sagen Sie ihr doch mal, sie möge mich bitten, sie in Ruhe zu lassen. Wenn sie mich darum bittet, will ich es gerne tun.< Ge» nau das sagte er. Und ich ging hin und erzählte es ihr. Sie fing an zu weinen. Und da wußte ich - wußte ich, daß sie es nicht konnte ... Das war heute abend gegen halb sie= ben... Und ich - ich ging noch» mals zu ihm und bat ihn wieder. Und er gab mir dieselbe Antwort
Mord beim Golftumisr wie vorher. Er war gerade in der Garderobe und zog sich die Golfschuhe an. Er wollte noch trainie» ren.« Das Ende schien sich abzuzeichnen. Franks fragte nüchtern: »Und was taten Sie dann?« »Ich ging zurück zu Sue und sag» te es ihr. Und sie - sie weinte wie= der. Das war in unserem Zimmer. Sie zog sich eben um, für das Bankett.« »Und dann?« Hai Hamner schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich verließ das Zimmer und wanderte ruhelos um» her. Bekannte trafen mich und gra» tulierten mir zu meinem heutigen Spiel. Aber ich wollte allein sein und ging weiter. Ich weiß nicht, wohin ich ging.« »Vielleicht auf den Golfplatz?« »Verstehen Sie mich nicht falsch, Mister. Ich sage nicht, daß ich mich nicht daran erinnere - daß ich vielleicht auf dem Platz mit ihm gesprochen hätte und mich nicht erinnern könnte. Nein, ganz und gar nicht. Denn auf dem Golfplatz war ich nicht. Ich lief einfach um» her. Und schließlich ging ich zur Auktion. Ich hatte einen verdreh» ten Plan. Ich wollte mich selbst er» steigern und dann das Turnier ge»
winnen. Ich dachte, das könnte mir Geld genug bringen, um den Zirkus für eine Zeit zu verlassen. Ich dachte, vielleicht könnte ich Sue auf diese Art zurückgewinnen.« »Und haben Sie sich dann selbst ersteigert, Mr. Hamner?« Hamner schüttelte den Kopf. »Der Preis ging zu hoch - sechstausend Dollar. Spielt ja auch keine Rolle mehr. Duke Merritts junger Mann hier —«, er streifte Johnny mit einem Seitenblick, »Duke Merritts junger Mann hätte sich in seinem Kampf gegen mich wahrscheinlich besonders angestrengt. Merritt hatte ja immer ein Mittel, mich zu schlagen oder schlagen zu lassen. Und dieses Mal hätte er es auch wieder geschafft. Ich hoffte immer, ich fände mal Gelegenheit, an ihn heranzukommen. Ich dachte, die Zeit würde für mich arbeiten. Ich dachte, vielleicht würde er meiner Frau mal überdrüssig werden oder sie seiner. Doch jetzt, nach seinem Tod, wird er für Sue immer das bedeuten, was er ihr gewesen ist. Nichts dagegen zu machen. Für immer wird dieser Mann zwischen uns stehen. Immer wird er gut aus» sehen und ich schlecht.« Hai Hamner schwieg und senkte wieder den Blick. Tiefe Stille folg» 135
Hugh Pentecost te. Schließlich brach Midge das Schweigen. Sie ging zu Hamner und sagte: »Ihre Frau hat Duke Merritt nicht geliebt! Sie haßte ihn! Fragen Sie sie doch. Vielleicht verrät sie Ihnen jetzt, weshalb sie Merritt nicht abweisen konnte.« Aller Augen waren auf Sue ge= richtet, nur Hamner blickte zu Bo= den. Sue musterte die Anwesenden mit ängstlichen Blicken, wandte sich plötzlich um und floh aus dem Zimmer. Hamner murmelte, ohne Midge an» zusehen: »Danke, Miss Roper.« Johnny wünschte nichts, als hinaus» gehen zu können. Er hatte Hai Ham= ner verachtet. Und jetzt kannte er sich nicht mehr aus. Hamners un= beholfene Geschichte hatte so über» zeugend geklungen, daß Franks, wenn er Hamners Angaben nach= prüfte, gewiß feststellen würde, daß Hamner tatsächlich nicht auf den Golfplatz gegangen war. Irgend et= was an Hamners Geschichte und an Sues Verhalten ließ Johnny inner» lieh frösteln. Wie hatte es nun wirklich um Duke Merritt gestan» den? Franks gab Anweisung, Hamners Angaben sofort nachzuprüfen. Midge bat den Distriktsanwalt, er möge ihr erlauben, Sue Hamner zu 136
suchen. Franks, offenbar der Mei= nung, es werde ihm gelingen, von Sue doch noch einiges zu erfahren, war einverstanden. Er fügte hinzu: »Die anderen brauchen hier nicht länger zu warten. Aber bleiben Sie bitte in der Nähe, damit ich Sie jederzeit erreichen kann.« Johnny spürte Bobs Hand an sei= nem Ellbogen und ließ sich von Bob hinausführen. Sie durchquer» ten die Halle und traten auf die menschenleere Terrasse. Hier blieb Bob stehen und blickte Johnny an, einen grimmig entschlossenen Aus= druck auf dem Gesicht. »Da ist manches, was du dir genau einprägen mußt, mein Junge«, sagte er. »Gewiß. Sie kannten ihn. Sie wis= sen, daß alle diese Dinge nicht wahr sein können. Es hörte sich zwar so an, als spräche Hai Ham= ner die Wahrheit, aber -« »Erst muß der Mörder gefunden sein«, unterbrach Bob, »alles an= dere hat Zeit bis später.« »Den Mörder zu finden, ist Franks' Aufgabe. Wir müssen -« »Halt, mein Junge. Wie die Dinge liegen, können wir im Augenblick nichts unternehmen. Wir haben weder Bargeld noch irgendwelche Gegenstände, die wir zu Bargeld
Mord beim Golftumier machen könnten. Duke hatte eine Prachtkerl, Bob«, sagte er begei. Anzahl Freunde, die telefonisch zu stert. »Ich dachte. Sie würden den erreichen sind. Überdies müßten Kopf hängenlassen. Aber in Wirk» wir uns mit seinem Rechtsanwalt lichkeit sind Sie viel tatkräftiger als in Verbindung setzen. Doch zu ich. Gehen wir also zu Sayies.« alledem brauchen wir Geld. Duke Als sie seine Privatwohnung betra= hatte allerlei Geld bei sich, aber das ten, hatte Sayies das Dinnerjackett ist von der Polizei beschlagnahmt abgelegt und trug eine bequeme worden. Ich dachte -« Cordjacke. »Ich muß warten, bis mir der Preis »Mr. Sayies«, begann Bob, »Sie ausgezahlt wird«, erklärte Johnny sagten vorhin, wir sollten'uns an verlegen. »Was ich bei mir habe, Sie wenden, wenn wir Hilfe brauch» ten.« langt nicht hin und nicht her.« »Auch das habe ich bedacht«, sagte »Selbstverständlich.« Sayies nickte Bob. »Dir steht Geld zu, genau wie und machte eine einladende Hand» Duke. Und deshalb würde uns Mr. bewegung. »Treten Sie näher.« Sayies vielleicht eine Art Vorschuß Sayies' Appartement bestand aus geben.« einem Wohnzimmer und einem »Ja, wir sollten ihn fragen«, stimm= Schlafzimmer. Die breite Schiebe" te Johnny zu. »Sie haben ganz tür zwischen den Räumen stand recht, Bob. Die Leute, zu denen weit offen. Alles war sehr hübsch Duke in Beziehung stand — die eingerichtet, an den Wänden hin° Bekleidungsfirma, die Sportartikel= gen die Fotos vieler Sportler — fabrik, sein Klub in Kalifornien —, Golfspieler, Boxer, Baseballspieler, sie alle würden uns bestimmt hel= Skiläufer, Hockeyspieler und so fen, seinen Namen von jedem Ver= weiter -, jedes mit Widmung und dacht zu reinigen. Schließlich steckt Unterschrift. ihr Geld in seinem Namen.« »Würde mich nicht überraschen, »Gewiß, Johnnyboy, sie würden wenn es euch jetzt erst mal nach uns helfen. Und wir könnten die einem Drink verlangte«, sagte Sache mit ein paar Telefongesprä" Sayies und trat an die in einer chen ins Rollen bringen.« Ecke des Wohnzimmers stehende Johnny legte dem Alten einen Arm Hausbar. um die Schultern. »Sie sind ein »Ich nehme gerne einen«, entgeg= 137
Hugh Pentecost nete Old Bob. »Aber Johnny darf nicht. Er muß morgen in Form sein.« »Auch kein Ingwerbier, Johnny?« »Nein, danke, lieber nicht.« Sayies schenkte ein, brachte zwei altmodische Likörgläser herüber, drückte Bob eins davon in die Hand und hob sein eigenes Glas. »Gibt nicht viel, worauf wir heute trin» ken könnten, Bob. Höchstens auf die Hoffnung, daß wir nie wieder einen solchen Tag erleben.« »Trinken wir auf diese Hoffnung«, murmelte der alte Mann. Sie tranken. Dann fragte Sayies: »Nun, und wo drückt der Schuh?« »Es handelt sich um Geld«, erwi» derte Bob. »Wir hätten einige Te» lefongespräche zu führen - Dukes Geschäftspartner müssen benachrichtigt werden, ebenso sein Rechts« anwalt. Johnny hat kein Geld, und ich habe auch nichts. Da dachten wir, daß Sie uns Vorschüsse auf die Preise von Johnny und Duke geben würden.« »Aber sicher.« Sayies nickte nach" drücklich. »Franks hat einstweilen das Geld beschlagnahmt, das Duke bei sich hatte, nicht wahr? Doch deshalb brauche ich Dukes Preis nicht zurückzuhalten, Bob. Und Johnny s Preis ist sowieso fällig.« 158
»Nett von Ihnen, Mr. Sayies«, murmelte Old Bob. »Ich habe genug hier im Privat» safe«, meinte Sayies. Er trat an eine bestimmte Stelle der Wand und verrückte ein dort hängendes Bild. Hinter dem Bild war ein Safe in die Wand eingelassen. Sayies öffnete es, holte eine grüne Metall» kassette heraus und brachte sie zum Tisch. Bob sah interessiert zu, wie Sayies die Kassette etwas umständlich öffnete. Sie enthielt eini» ge Packen Geldscheine. Sayies nahm einen davon in die Hand und begann abzuzählen. »... sechshundert, siebenhundert, achthundert, neunhundert, tausend Dollar.« Er blickte lächelnd auf. »In Ordnung?« »Fünfhundert erhält Johnny«, sagte Old Bob. »Und Dukes Preis?« »Ebenfalls fünfhundert«, erklärte Sayies. »Genau wie Johnny — für die Qualifikation.« Old Bob stellte sein Glas auf den Tisch. »Aber das ist bestimmt nicht der Betrag, den Sie an Duke zäh» len wollten.« Johnny blickte überrascht zu Bob. Der Alte stand da und musterte Sayies mit einem kleinen seltsa» men Lächeln, das Johnny noch nie an ihm bemerkt hatte.
Mord beim Golftumier Sayies, das angerissene Geldschein» bündel in der Hand, rührte sich nicht. Sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert. »Ich glaube, ich verstehe Sie nicht recht, Bob«, sagte er ruhig. »Oh, Mr. Sayies, wir brauchen uns doch nichts vorzumachen!« Johnny begriff nicht, wovon die Rede sein mochte. Sayies' Blick streifte ihn, kehrte aber sofort zu Bob zurück. »Wäre es nicht besser, wenn Sie mir ganz klar sagen, was Sie auf dem Herzen haben, Bob?« »Nun, Mr. Sayies«, Old Bob zuck» te die Schultern, »es handelt sich um nicht mehr und nicht weniger als einen kleinen Mord.« Sayies lachte auf, kurz und durch» aus nicht belustigt. »Sie phantasie» ren wohl, Bob. Der Distriktsan» walt hat mein Alibi überprüft. Ich habe dieses Gebäude erst verlas" sen, als Yales Caddie die Nachricht von dem Ereignis brachte.« Old Bob nickte; es sah beängsti» gend aus — wie das Nicken eines Menschen, der das innere und das äußere Gleichgewicht verloren hat. Erschrocken streckte Johnny eine Hand aus und murmelte: »Bob!« Der Alte beachtete es nicht. »Ge» wiß, Mr. Sayies«, sagte er, »in sol"
chen Dingen sind Sie vorsichtig. Aber ich meine jetzt nicht den Mord an Duke. Noch nicht.« Sayies klappte den Deckel der Geldkassette zu. »Johnny«, äußer» te er obenhin, »Sie sollten Old Bob hinausbringen. Die Sache ist ihm wohl auf den Verstand geschlagen. Das Geld auf dem Tisch gehört Ihnen.« Damit wandte er sich ab, um die Kassette zum Safe zurück"» zubringen. »Stellen Sie das Geld nicht weg!« verlangte Old Bob in entschiede» nem Ton. »Kommen Sie, Bob«, raunte John" ny, »gehen wir.« »Noch nicht, mein Junge. Halte du dich hier heraus. Mr. Sayies weiß recht gut, wovon ich spreche.« Ein heiseres Lachen kam über seine verzerrten Lippen. »Glauben Sie etwa, Mr. Sayies, Duke wäre so närrisch gewesen, das Geheimnis für sich zu behalten? Er mußte sich doch sichern, und deshalb hat er mich eingeweiht. Sie sollten es also verstehen, wenn ich sage, daß fünfhundert Dollar auch nicht an= nähernd reichen!« Sayies, der inzwischen zum Safe gelangt war und die Kassette hin» eingestellt hatte, fuhr herum. Seine rechte Hand hielt eine Pistole. Er 139
Hugh Pentecost zischte: »So, hat Duke Ihnen von der Roper=Sadie erzählt - eh?« »Roper!« rief Johnny. »Midge Ro= per?«
Die beiden nahmen keine Notiz von ihm; es schien, als wäre er gar nicht anwesend. Sayies, kühl und beherrscht, und der alte Bob, nur noch ein Zerrbild seiner selbst, waren völlig von ihrer Angelegen" heit beansprucht. Old Bob ging langsam auf Sayies zu, ohne die Waffe zu beachten. »Sie sollten jetzt lieber eine vernünftige Summe nennen, Mr. Say= les«, knurrte er dabei, »dann brau= dien Sie und die Lady nicht ins Gefängnis. Was halten Sie davon, wenn ich selbst ans Safe trete und mir einen angemessenen Betrag herausnehme?« Inzwischen war er dicht vor Say= les angelangt und griff plötzlich nach der Pistole. Aber Sayies war schneller und schlug den Pistolen' lauf quer über Bobs Gesicht. Der Alte taumelte zurück und hielt sich eine Hand über die Augen. Sayies folgte ihm und schlug die nun um= gedrehte Waffe zweimal mit voller Kraft gegen Bobs Schädel. Johnny stand wie erstarrt dabei. Bob kipp= te um. Nun stürzte sich Johnny auf Sayies. 140
Es wurde ein recht einseitiger Kampf. Johnny war viel zu leicht für den massigen Sayies, der über= dies manche Erfahrungen in der» artigen Dingen hatte. Er handhabs te die ziemlich große Pistole, wie ein Fechter seinen Degen hand= habt. Johnny konnte keinen richti» gen Schlag anbringen, aber der Pi= stolenkolben knallte zweimal voll gegen seinen Kopf. Im Fallen ver= suchte Johnny, mit seinem Körper den alten Bob zu decken. Dann hörte er eine heisere, zornige Stim= me. Und als er aufblickte, sah er, wie Hai Hainner den massiven Sayies zu Boden brachte und mit ungeheurer Kraft Sayies' rechten Arm, dessen Hand die Pistole um° klammert hielt, über einem seiner Knie brach, als wäre dieser Arm ein dürrer Ast. Johnny richtete sich etwas auf. »Ein Glück, daß Sie gekommen sind, Hamner«, ächzte er. »Sayies hätte uns beide umgebracht.« Hamner hatte sich rittlings auf Sayies gesetzt, der sich am Boden vor Schmerzen krümmte und sei" nen gebrochenen Arm zu halten versuchte. »Dreckiger Erpresser«, knurrte Hamner und stieß mit einem Fuß nach Johnny. Johnny konnte ausweidhen. »Harn»
Mord beim Gotfturnier ner«, rief er, »was ist los mit Ihnen? Was -« »Hai!« tönte eine Stimme dazwi= sehen - Midge Roper war unbe= merkt ins Zimmer gekommen. »Hai, hören Sie auf!« Hamner hielt mitten in einem zweiten Fußtritt inne, ließ aber Johnny nicht aus den Augen. »Sie schulden mir einen Gefallen, Hai!« rief Midge. »Tun Sie diesen beiden nichts!« Sie kniete sich zu Old Bob. »Telefonieren Sie nach einem Arzt, Hai. Schnell! Bob ist schwer verletzt.« Hamner stand auf, setzte einen Fuß auf den ächzenden Sayies und griff nach dem Telefon. »Und rufen Sie auch Mr. Franks her«, fuhr Midge fort. An Johnny gewandt, fügte sie hinzu: »Holen Sie geschwind eine Decke. Er muß warm gehalten werden.« Johnny eilte in Sayies' Schlafzim» mer, riß eine Decke vom Bett und brachte sie Midge/ die den alten Bob damit umhüllte und sich dann erhob. Hamner stand breitbeinig da, einen Fuß auf Sayies gesetzt, und warf zornige Blicke auf Old Bob und Johnny. »Sie wollten es fort= setzen«, sagte er zu Midge. »Ha= ben versucht, Sayies zu erpressen.
Fortsetzen wollten sie es!« »Das glaube ich nicht«, erwiderte Midge bestimmt. »Ich habe es doch gehört!« rief Hamner. »Ich habe gehört, wie der alte Mann Geld verlangte!« Midge blickte fragend zu Johnny. Johnny zuckte müde die Schultern. »Es stimmt«, sagte er. »Bob hat von Sayies Geld verlangt. Ich konnte es nicht begreifen. Er - er nannte dabei den Namen Roper.« Midge legte eine Hand aufJohnnys Arm. »Ich habe Sue Hamner gebe» ten, Hai die Wahrheit zu sagen. Mein Bruder hat nicht Selbstmord begangen. Er ist ermordet wor= den! Und zwar von Victor Sayies!« Da Hamner den Fuß zurückzog, rappelte Sayies sich mühsam auf. Sein rechter Arm hing in einem seltsamen Winkel zur Seite. Sein Gesicht war schweißüberströmt. Er lehnte sich kraftlos gegen den Schreibtisch. Hai Hamner stieg über den alten Bob hinweg und baute sich vor Sayies auf. »Sue wird als Bela= stungszeugin auftreten«, knurrte er. »Ganz gleich, was es sie ko= stet.« Midge trat neben Hamner. »Er« zählen Sie Johnny die Wahrheit!« rief sie Sayies zu. 141
Hugh Pentecost »Geben Sie mir einen Drink«, flehte Sayies. »Der Schmerz im Arm macht mich wahnsinnig.« »Erst sprechen!« befahl Hamner. Sayies knirschte mit den Zähnen. »Ich - ich hatte einen Spielsalon in Las Vegas. Ed Roper kam dort' hin und verlor fortwährend. Er konnte nicht zahlen - ein High= schoolboy, der den Lebemann spielte/ ohne die Mittel zu haben. Ich wollte ihm eine Lehre erteilen. Ließ ihm durch zwei meiner Leute eine Drohung zukommen. Gab ihm eine Woche Zeit, seine Schul» den zu bezahlen. Wenn nicht, dann — aber ich wollte ihm nur Angst einjagen.« »Sparen Sie sich das!« knurrte Hamner. »Dann hörte ich von zuverlässiger Seite, er hätte sich bestechen lassen, seinen Baseballklub bei den kommenden Meisterschaften aus° zuschmieren. Ich hatte in diese Meisterschaften Geld investiert. Eine Menge Geld. Deshalb ging ich zu dem Jungen. Sue kam mit.« »Sie mußten sie in die Sache hin» einziehen!« knurrte Hamner. »Erzählen Sie Johnny, wie das zu» sammenhing«, verlangte Midge von dem leichenblassen Sayies. Sayies blickte zu Johnny. »Vor 142
einiger Zeit, noch ehe Sue bei einem Schönheitswettbewerb Sie= gerin wurde und einen Holly« woodvertrag bekam, bin ich mit ihr verheiratet gewesen.« Hamner stöhnte leise, rührte sich aber nicht. »Wir kamen nicht gut miteinan» der aus und wurden bald wieder geschieden«, fuhr Sayies fort. »Das alles verlief ruhig und fried» lieh. Dann verliebte sich Sue in Hamner, kam zu mir in den Spiel» salon und bat mich, niemals zu verraten, daß wir miteinander ver= heiratet gewesen wären. Sie furch» tete, Hamner würde sie nicht hei= raten, wenn er erführe, daß sie eine geschiedene Frau war. Ich versprach ihr, die Sache zu ver* schweigen und bot ihr an, sie in meinem Wagen nach Los Angeles zurückzubringen. Unterwegs woll° te ich Ed Roper einen Besuch ab= statten. Bei diesem Besuch rech" nete ich mit keinerlei Schwierigkeiten, sonst hätte ich Sue nicht mitgenommen. Wir gingen zusam» men in Ropers Hotelzimmer. Der junge Mann war furchtbar erregt. Er stand ja zwischen zwei Feuern - einerseits ich, andererseits der Bursche mit der Bestechung. Er wollte sich auf mich stürzen. Ich
Mord beim GolfturnieiT schlug ihn nieder, und beim Fallen sauste er mit dem Kopf gegen die Tischkante.« »Nur ein Unfall!« murmelte Harnner verächtlich. »Wahrhaftig, nur ein Unfall«, versicherte Sayies matt. »Aber der junge Mann war auf der Stelle tot. Das brachte mich in eine schreckliche Lage. Ich war einschlägig vorbestraft. Niemand hätte mir meine Darstellung geglaubt. Und Sue konnte ich als Zeugin nicht benennen, wahrscheinlich hätte auch ihr niemand geglaubt. So hob ich die Leiche auf und warf sie aus dem Fenster.« Midge wandte das Gesicht ab; Johnny spürte, wie ihre Finger sich in seinen Arm krallten. Sayies sprach weiter. »Wir, Sue und ich, verließen Hals über Kopf das Zimmer. Vor der Tür begeg» neten wir einem Mann. Auf dem Etagenflur war es ziemlich dunkel. Wir konnten den Mann nicht er= kennen, und ich dachte, er hätte uns auch nicht erkannt. So schnell wie möglich verließen wir das Ho« tel.« Er machte eine Pause. »Bitte, den Drink.« »Erst, wenn Sie mit dem Bericht zu Ende sind«, knurrte Hamner. »Sue hatte entsetzliche Angst. Wir
warteten den weiteren Verlauf der Dinge ab. Dann wurde bekannt" gegeben, daß Ed Roper Selbst" mord begangen hätte. Der Mann, dem wir vor der Tür begegnet waren, hatte sich also nicht gep meldet.« »Aber Sie hielten es für nötig, Sue unter Druck zu setzen!« fauchte Hamner. »Es sah zwar aus, als könne uns nichts passieren«, murmelte Say" les, »und Sue war damit einverstanden, über den Vorfall zu schweigen, weil sie fürchtete, ein Skandal würde ihre Verbindung zu Ihnen zerstören. Aber ich glaube, ich habe sie bei alledem wirklich ein bißchen unter Druck gesetzt.« »Sie glauben!« »Dann hat Sue Sie geheiratet, Hamner. Das geschah kurz nachdem sie Merritt getroffen hatte, der ihr sofort die Daumenschrau» ben ansetzte. Der Mann, den wir vor der Hotelzimmertür getroffen hatten, war nämlich kein anderer als Duke Merritt! Er erkannte sie und wollte von ihr erfahren, wer der Mann wäre, in dessen Beglei" tung sie damals gewesen war. Sie, Hamner, waren ihm als Beute zu klein. Sue aber nannte meinen Namen nicht. Sie fürchtete sich 145
Hügh Pentecost vor mir. Genauso, wie sie sich fürchtete. Ihnen zu sagen, daß sie schon einmal verheiratet war, weil Ihr Jähzorn zum Ausbruch kommt, wenn ein anderer Mann im Spiel ist.« Sayies rang sich ein gering' schätziges Lächeln ab. »Aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund schien Sue Sie zu lieben.« »Weiter!« befahl Hamner. »Merritt ließ Sue nicht aus den Fingern. Und als er hierherkam, erkannte er auch mich! Er schickte Sue zu mir und verlangte durch sif^ eine hohe Geldsumme.« »Und deshalb haben Sie ihn er= mordet?« »Ich habe ihn nicht ermordet!« Sayies brachte es mit verblüffen' der Bestimmtheit über die Lippen. »Sie haben ihn ermordet!« fauchte Hamner. »Und dann kamen diese beiden Stinktiere und versuchten Sie zu erpressen.« »Hören Sie auf, Hai!« rief Midge. »Nein, fahren Sie fort, Mr. Ham= ner«, sagte eine Stimme an der Tür. Die Anwesenden fuhren herum und sahen den Distriktsanwalt mit seinen Beamten eintreten. »Fahren Sie fort, Mr. Hamner«, wiederholte Franks. »Was Sayies auch immer auf dem Gewissen ha= 144
ben mag - an Duke Merritts Tod ist er unschuldig. Er hat ein ein= wandfreies Alibi.« Hamner wies auf Old Bob und Johnny. »Diese zwei haben ver= sucht, Geld von Sayies zu erpres» sen.« Johnny konnte nicht sprechen. Denn genau das hatte Bob tatsäch= lieh versucht. »Johnnyboy!« hörte er den Alten raunen. Schnell kniete er sich zu ihm. »Nicht aufregen, Bob. Der Arzt ist unterwegs.« »Spielt keine Rolle mehr«, ächzte der alte Mann; seine Stimme war so schwach, daß Johnny sie kaum vernahm. »Aber - Mr. Franks hat recht. Sayies ist unschuldig an Dukes Tod.« Er schloß die Au= gen. »Ich habe Duke erschlagen, Johnnyboy.« Nach der Untersuchung durch den Arzt legte man den alten Bob auf das Bett in Sayies' Schlafzimmer. Der Arzt hatte ihm das Sprechen verboten, aber Old Bob kümmerte sich nicht darum. Johnny saß auf der Bettkante, kaum fähig zu fas= sen, was Bob ihm gesagt hatte. Midge stand neben Johnny, eine Hand auf seine Schulter gelegt. Franks und der Assistent mit dem
Mord beim Golfturnier Notizbuch saßen auf Stühlen an der anderen Seite des Bettes. »Ich habe es nicht gewußt, habe nie an so etwas gedacht«, flüsterte der alte Mann. »Als wir herkamen, hörte ich ihn mit Mrs. Hamner sprechen: >Geh zu ihm, er ist hier. Er ist reich... Hol das Geld von ihm, oder ihr beide müßt wegen dar Roper=Sache ins Gefängnis.< Das sagte Duke, mein Duke!« Er schwieg und schloß die Augen, und die Anwesenden dachten, er könne nicht weitersprechen. Aber nach einem Weilchen machte er die Augen wieder auf und fuhr fort: »Aus der Art, wie Duke mit Mrs. Hamner sprach, erkannte ich, daß er das Golfspiel zur Tarnung seiner wahren Tätigkeit miß° brauchte. In Wirklichkeit war er professioneller Erpresser! Nun wurde mir plötzlich manches klar, was ich bisher nicht begriffen hat= te ... Ich habe ihn groß gemacht. Ich dachte, er wäre ein Mensch, wie ich immer gewünscht hatte, selbst einer zu sein. Und jetzt jetzt kam heraus, daß er ein ge» meiner Lump war, ein Erpresser! Das mußte ich ihm ins Gesicht sa° gen. Und wenn er es nicht eitt= kräften konnte, wollte ich ihn er» schlagen.«
Er fuhr sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen. »Ich ging zu den Garderobenräu» men. Es war schon dunkel. Ich nahm aus irgendeinem Beutel einen Schläger. Reiner Zufall, daß es einer von Midges Schlägern war. Reiner Zufall... Dann ging ich hinaus zu ihm und hielt es ihm vor. Er lachte mich aus. Fragte mich, was ich wohl dächte, woher das viele Geld immer gekommen sei. Er nannte mich einen alten I larren. Dann beugte er sich nieder und packte seine Schläger ein. Und als er sich wieder aufrichten wollte, erschlug ich ihn.« »Bob«, raunte Johnny. »Old Bob-« »Wollte midi selbst stellen«, fuhr der alte Mann fort, »Doch dann fiel mir ein, daß es hier noch einen anderen Mörder gab. Ich wußte seinen Namen nicht. Duke hatte zu Mrs. Hamner immer nur >er< gesagt. >Er< ist hier, >er< ist reich. Das konnte keiner von denen sein, die mit uns umherzogen. Ich mußte herausfinden, wer es war. Mußte es herausfinden und beweisen... Dann sah ich draußen Mrs. Harn» ner mit Sayies, als die Polizei schon da war. Irgend etwas kam mir seltsam vor, sehr seltsam. Ich dach» te nach. Erkannte es. Suchte einen
Hugh Pentecost Weg.« Er blickte zu Johnny. »Tut mir leid. Junge, daß ich dich mit hineinziehen mußte. Ich brauchte einen Zeugen. Ich gab vor, alles zu wissen, und verlangte Geld von Sayies. Durch seine Reaktion ist seine Schuld bewiesen.« Niemand sprach ein Wort. Old Bobs Blick blieb auf Johnny gerich= tet. »Golf ist ein feines Spiel, Johnny boy. Man darf stolz sein, wenn man es beherrscht. Du hast das Zeug, alles das zu werden, was ich in Duke zu sehen vermeinte — ein großartiger Golfer, ein ritterlicher Gegner und ein wahrer Gentle= man ... Ich wünschte, ich könnte mein Teil dazu beitragen, dich ganz nach oben zubringen, Johnny» boy.« Ein schwaches Lächeln spiel= te um den Mund des alten Mannes. »Du wirst weiterspielen, morgen schon, trotz allem, was heute war ... Versprich mir das, Johnny» boy. Außer dir ist mir nichts mehr geblieben.« Der Arzt, der sich inzwischen um Sayies gekümmert hatte, kam wie» der herein und sagte: »Er muß jetzt endlich Ruhe haben. Gehen Sie alle hinaus. Wenn er über» haupt eine Chance haben soll, muß er jetzt ausruhen.« 146
Als sie wieder im Wohnzimmer waren, hörte Johnny, wie Hamner den Distriktsanwalt fragte: »Was wird mit Sue geschehen?« Franks blickte Hamner in die Au» gen. »Sie wird als Zeugin gegen Sayies auftreten. Sie wurde in die Sache hineingezogen und mußte gegen ihren Willen schweigen. Sie wird aussagen müssen, Mr. Harn" ner, aber mehr nicht.« »Dank, Mr. Franks«, murmelte Hamner mit eigentümlich erstickter Stimme und rannte hinaus. Eine Hand legte sich auf Johnnys Schulter. »Sie sind nicht allein, Johnny«, sagte Midge, und die Hand glitt von seiner Schulter an seine Wan= ge. »Der Duke, den Sie liebten und verehrten, hat in Wirklichkeit nie existiert. Sie haben also nichts ver° loren. Aber Sie sind im Begriff, einiges zu gewinnen ... Erinnern Sie sich, daß Sie momentan eigent= lieh mir gehören?« Johnny nickte. »Ich habe Sie bei der Auktion nicht nur ersteigert, weil ich Sie für einen guten Golfer halte«, erklärte Midge, »sondern weil ich glaube, daß Sie das Herz am rechten Fleck tragen. Und deshalb will ich nun ganz und gar zu Ihnen halten, Johnnyboy ...«
Jack London
Der weise Schamane
Unsicherheit herrschte im Dorf. kieloben am Strand lag und ihm Die Frauen schnatterten mit schril» als Zuflucht diente. len, hohen Stimmen. Die Männer Und was die Sache noch schlimmer waren mürrisch und argwöhnisch, machte - Scundoo, der Schamane, und selbst die Hunde schlichen war in Ungnade gefallen, so daß mißtrauisch umher, alarmiert durch man seine magischen Kräfte nicht die allgemeine Unruhe und bereit, in Anspruch nehmen konnte, um beim ersten Ausbruch offenen den Übeltäter ausfindig zu machen. Streites in die Wälder zu ent= Denn wahrlich - vor einem Monat wischen. etwa hatte er einen netten Süd= Die Luft war mit Argwohn gela» wind verheißen und gesagt, an den. Keiner traute dem Nachbarn, dem und dem Tag könne der und jeder war sich bewußt, daß der Stamm gut und sicher zu dem gro» Nachbar ihm nicht traute. Auch die ßen Treffen nach Tonkin fahren, Kinder waren scheu und bedrückt, wo Taku Jim, der chinesische und der kleine Di Ya, die Ursache Händler, der in seine Heimat zu" der ganzen Misere, hatte gehörige rückkehren wollte, alles zu ver° Prügel bezogen, zuerst von Hoo= schleudern gedachte, was sich in niah, seiner Mutter, dann von zwanzig Jahren an unverkäuflichen Bawn, seinem Vater, und lugte nun Dingen bei ihm aufgestaut hatte. schluchzend und trübselig unter Doch als der Tag kam - siehe da! -, einem großen Kajak hervor, das blies ein grimmiger Nordwind, und 147
Jack London von den ersten drei Kajaks, die sich hinauswagten, wurde eins auf die offene See getrieben, zwei zer= schellten an den Klippen, und ein Kind ertrank. Oh, er habe wohl an der Schnur des falschen Beutels ge= zogen, erklärte Scundoo - ein Irr= turn! Doch die Dorfbewohner woll= ten nichts mehr von ihm wissen; die Gaben an Fleisch und Fisch und Pelz hörten auf, sich vor seiner Tür zu häufen, und nun hockte er, wie die Leute dachten, traurig in seiner Hütte, fastend und büßend; in Wirklichkeit aß er üppig von sei= nen wohlversteckten Vorräten und sinnierte über den Wankelmut des Volkes... Und jetzt waren Hooniahs Decken verschwunden! Gute Decken von bewundernswerter Dicke und Wärme! Und Hooniahs Stolz auf diesen Besitz war um so größer gewesen, weil sie die Decken so billig bekommen hatte. Ty Kwan aus dem übernächsten Dorf mußte ein Narr sein, da er sich so leicht von ihnen getrennt hatte! Aber Hooniah wußte noch nicht, daß es die Decken des ermordeten Engländers waren, um dessentwil= len bald danach ein Kriegsschiff der Vereinigten Staaten vor der 148
Küste kreuzen sollte, während seine puffenden kleinen Barkassen in den versteckten Buchten herum= stöberten. Da also Hooniah noch nicht wußte, daß Ty Kwan sich der Decken in aller Hast entledigt hatte, damit seine Sippe der Regierung nicht Rechenschaft geben müsse, war ihr Stolz unerschüttert. Und weil die Frauen sie beneideten, wuchs ihr Stolz gar ins Uferlose, bis er das ganze Dorf erfüllte und selbst auf die Küste von Alaska übergriff, von Dutch Harbor bis St. Mary. Hooniahs Totem wurde darob be= greiflicherweise hoch geehrt, und ihr Name war auf aller Lippen, wo immer Männer fischten und Feste feierten, und die Decken wurden gerühmt ob ihrer bewundernswer= ten Dicke und Wärme. Doch die Art, wie sie dann ver= schwanden, grenzte an böse Zau= berei. »Ich hängte sie nur eben an der Seitenwand des Hauses in die Sonne«, klagte Hooniah zum tau= sendsten Male den anderen Frauen des Dorfes. »Ich habe sie nur hin= gehängt und dann den Kopf ge= wendet, weil mein Sohn Di Ya, ein Teigdieb und Mehlfresser, mit dem ganzen Oberkörper in den
Der weise Schamane
großen Eisentopf gekrochen und darin steckengeblieben war, die Beine in der Luft wie die Äste eines Baumes, wenn der Wind sie schüttelt! Und ich habe weiter nichts getan, als ihn herausgezo= gen und mit dem dummen Kopf ein wenig gegen die Tür gestoßen, damit er leichter versteht, was er darf und was nicht, und - siehe die Decken waren nicht mehr da!« »Die Decken waren nicht mehr da!« wiederholten die Frauen in ehrfürchtigem Flüstern. »Ein großer Verlust«, fügte eine hinzu. Eine zweite: »Nie hat es solche Decken gegeben.« Und eine dritte: »Wir trauern mit dir, Hoo= niah, um deine verlorene Habe.« Doch alle Frauen waren von Her= zen froh, daß die neiderregenden, zwietrachtstiftenden Decken ver= schwunden waren. »Ich hängte sie nur eben in die Sonne«, begann Hooniah von neuem. »Jaa, jaa«, ließ Bawn, ihr Mann, sich mit müder Stimme verneh= men. »Aber kein Fremder war im Dorf. Weswegen anzunehmen ist, daß einer aus unserem eigenen Stamm seine unbefugte Hand an diese Decken gelegt hat.« »Wie könnte das sein, o Bawn?«
schnatterte der Chor der Frauen entrüstet. »Wer sollte so etwas getan haben?« »Oder es war Zauberei im Spiel«/ fuhr Bawn in scheinbarer Einfalt fort, während er die Gesichter der Frauen durch halb geschlossene Li» der beobachtete. »Zauberei?« Sie wiederholten das gefürchtete Wort mit leisen Stirn» men und sahen einander furcht» sam an. »Ja, Zauberei!« bekräftigte Hoo= niah, und die in ihr wohnende Bosheit entflammte sich an der Er» regung des Augenblicks. »Und deshalb wurde durch schnelle Ka= jaks Botschaft zu Klok=No=Ton gesandt! Gewiß wird die NaA= mittagsflut ihn an den Strand tra= gen!« Die kleine Gruppe zerstob, und Furcht breitete sich über das Dorf. Von allen schlimmen Möglichkeiten war Zauberei die schlimmste. Nur der Schamane konnte mit den ungreifbaren und unsichtbaren Dingen umgehen. Und weder Mann noch Weib noch Kind wußte bis zum Augenblick des Gottesurteils, ob Dämonen von seiner Seele Besitz ergriffen hat« ten oder nicht. Und von allen Schamanen war Klok=No=Ton, der i49
Jack London in einem anderen Dorf wohnte, der furchtbarste. Keiner entdeckte mehr böse Geister als er, keiner peinigte seine Opfer mit gräßliche» ren Torturen. Einmal fand er, daß im Körper eines drei Monate alten Kindes ein Dämon wohne, ein äußerst hartnäckiger Dämon, der nur ausgetrieben werden könne, wenn das Kind eine Woche lang auf Dornen und stachligen Sträu" chem läge; die kleine Leiche wurde danach ins Meer geworfen, aber die Wellen stießen sie wieder und wieder ans Ufer - gemäß Klok= No=Ton ein Zeichen, daß ein Fluch auf dem Dorf ruhe; und dieser Fluch löste sich dann auch erst, als zwei kräftige Männer bei Ebbe an Marterpfähle gebunden wurden und im wieder steigenden Wasser ertranken. Und nun hatte Hooniah nach die= sem Klok=No=Ton geschickt! Weit besser wäre es gewesen, hätte man Scundoo, den Schama= nen des eigenen Dorfes, aus der Ungnade befreit. Denn Scundoos Methoden waren sanfter, und man wußte, daß er einmal gar zwei Dä= monen bei einem Manne ausge' trieben hatte, der später noch sie= ben gesunde Kinder zeugte. Aber Klok'NoaTon! Alle erschau' 150
derten in furchtbaren Vorahnunc gen, wenn sie nur an ihn dachten. Jeder einzelne fühlte sich bereits als Ziel beschuldigender Blicke und betrachtete seinerseits die an= deren mit beschuldigenden Blik» ken. Jeder einzelne - ausgenom» men Sime. Doch Sime war ein Spötter, dem gewiß ein schlimmes Ende bevor" stand, ungeachtet seiner Groß» tuerei! »Höh! Höh!« lachte Sime. »Da« monen und Klok=No«Ton! In ganz Thinkletland ist kein größerer Dä= mon daheim als Klok=No»Ton!« »Sime, du Narr - Klok=No°Ton ist unterwegs zu uns mit Zaube» rei und Dämonenkraft! Drum wahre deine Zunge, damit dich kein Übel befalle und deine Tage gezählt seien!« So sprach La=Lah, den man den Schwindler nannte, und Sime lachte zornig. »Ich bin Sime, nicht gewohnt, mich zu fürchten, und ohne Angst vor der Finsternis! Ich bin ein starker Mann, wie mein Vater ein starker Mann gewesen ist, und mein Kopf ist klar! We= der du noch ich haben je mit eige= nen Augen das unsichtbare Böse gesehen -« »Aber Scundoo hat es gesehen!«
Der weise Schamane rief La=Lah. »Und Klok»No»Ton ebenfalls! Das wissen wir!« »Wie kannst du es wissen, Sohn eines Tölpels?« donnerte Sime, und das cholerische Blut rötete ihm den starken Nacken. »Durch das Wort ihres Mundes. Sie sagen es - Scundoo und Klok= No=Ton.« Sime schnaufte verächtlich. »Ein Schamane ist auch nur ein Mensch. Können daher seine Worte nicht krumm sein, wie deine und manch= mal auch meine? Bah! Bah! Und noch einmal bah! Und das für dei= ne Schamanen und die Dämonen deiner Schamanen! Und das! Und das!« Und Sime schnippte seine Finger nach rechts und nach links. Als Klok=No=Ton mit der Nachmittagsnut eintraf, verzichtete Sime weder auf sein herausfor= demdes Gelächter noch konnte er sich einiger höhnender Worte ent= halten, als er den Schamanen auf dem unebenen Strand des Lande= platzes stolpern sah. Klok=No=Ton schaute böse zu ihm hin und stelzte ohne Gruß mitten durch die Menge der Wartenden direkt zu Scundoos Haus. Zeugen seiner Begegnung mit Scundoo wurden die Dorfbewoh=
ner nicht; sie hielten sich ehrfurchtsvoll in angemessener Ent». fernung und wagten nur im Flü= sterton miteinander zu sprechen, während die Meister der Magie zusammen waren. »Ich grüße dich, o Scundoo!« dröhnte Klok=No=Ton ein wenig unsicher, da er nicht wußte, wie der Empfang ausfallen würde. Er war ein Riese von Gestalt und überragte massig den kleinen Scundoo, dessen dünne Stimme wie das feine Zirpen einer Grille zu ihm aufstieg. »Ich grüße dich, Klok=No=Ton«, erwiderte Scundoo. »Der Tag wird mir verschönt durch dein Kommen.« »Dennoch sieht es so aus ...« Klok=No°Ton zögerte. »Ja, ja, ja«, bestätigte der kleine Schamane leicht gereizt, »es sieht so aus, als seien schlechte Zeiten über mich hereingebrochen. Stün= de es anders, so würde ich dir kei= nen Dank dafür wissen, daß du gekommen bist, um eine Arbeit zu tun, die rechtens meine Arbeit wäre.« »Es schmerzt mich, Freund Scun= doo -« »Nicht doch! Ich preise mich glück" lieh, Klok=No»Ton.« 151
Jack London »Scundoo, ich werde dir die Hälfte dessen geben/ was mir gegeben wird.« »Nein, guter Klok=No=Ton«, mur= melte Scundoo und machte eine ab= wehrende Handbewegung. »Es ist an mir, dein Diener zu sein, und meine Tage sind erfüllt von dem Bestreben, dir meine Freundschaft zu erweisen.« »So, wie jetzt ich -« »So, wie jetzt du mir deine Freund» schaft erweisest.« »Da dem so ist — was meinst du, wird die Sache mit den Decken je» nes Weibes Hooniah ein schwieri» ges Geschäft sein?« Mit dieser Frage beging der riesige Schamane einen bösen Fehler, und Scundoo lächelte ein mattes graues Lächeln. Er war es gewöhnt, in den Gedanken der Menschen zu lesen, und die meisten Menschen kamen ihm sehr klein vor. »Dein Zauber«, sagte er, »war im= mer stark. Zweifellos wirst du den Übeltäter rasch erkennen.« »Oh, ich werde ihn erkennen, so= bald mein Blick ihn trifft.« Wieder zögerte Klok=No=Ton. Dann frag= te er: »Sprechen Gerüchte von an° deren Orten?« Scundoo schüttelte den Kopf. »Schau her - sind das nicht Pracht' 152
stücke?« Er hielt seine Schuhe aus Seehundsfell und Walroßhaut in die Höhe, und der Besucher be= trachtete sie interessiert. »Ich be» kam sie von dem Manne La=Lah«, fügte Scundoo hinzu. »Ein ver= schwiegener Handel. La=Lah ist ein bemerkenswerter Mann, und ich habe oft gedacht -« »So?« fragte Klok=No=Ton unge° duldig dazwischen. »Ja, ich habe oft gedacht«, schloß Scundoo/ ohne den Satz zu be= enden, und es entstand eine kleine Pause. Dann sagte er: »Wir haben einen schönen Tag, und dein Zau= ber ist stark, Klok=No=Ton.« Klok=No=Tons Gesicht erhellte sich. »Du bist ein großer Mann, Scun= doo, der Schamane aller Schama= nen! Jetzt gehe ich. Stets werde ich deiner gedenken... Und der Mann La=Lah ist, wie du sagst, bemers kenswert.« Scundoo lächelte noch ein wenig matter und grauer, schloß die Tür hinter seinem entschreitenden Be= sucher und machte sich daran, sie doppelt und dreifach zu verriegeln und zu verbarrikadieren. Sime war an seinem Kajak beschäf» tigt, als Klok=No=Ton zum Strand hinunterkam, und unterbrach seine
Der weise Schamane
Arbeit nur eben lange genug, um demonstrativ sein Gewehr zu laden und neben sich zu legen. Der Schamane bemerkte es, über= legte sekundenlang und rief dann mit Donnerstimme aus: »Laßt alles Volk hier an dieser Stelle zusam= menkommen! Klok=No=Ton be= fiehlt es, der Dämonenbeschwörer und Teufelsaustreiber!« Eigentlich hatte er beabsichtigt, sie alle bei Hooniahs Haus zu versam= mein. Aber es war nötig, daß alle kamen, und Klok=No=Ton zwei" feite daran, daß Sime kommen würde. Er wollte Schwierigkeiten vermeiden; nach seinem Eindruck war Sime ein guter Mann, solange man ihn in Ruhe ließ, und ein schlechter, wo es um das Ansehen eines Schamanen ging. »Bring mir das Weib Hooniah her= bei!« befahl Klok=No=Ton wild umherblickend und jagte denen, die er ansah, Schauer über den Rücken. Hooniah schlich heran, den Kopf gesenkt und den Blick abgewendet. »Wo sind deine Decken, Weib?« »Ich habe sie nur eben in die Sonne gehängt, und siehe, sie waren nicht mehr da«, wimmerte Hoo= niah. »So?«
»Di Ya war schuld.« »So?«
»Ich habe ihn verprügelt und werde ihn wieder und noch oft verprügeln, weil er Jammer über uns gebracht hat, die wir so arm sind.« »Die Decken!« schrie Klok=No= Ton heiser; er durchschaute Hoo° niahs Absicht, den Preis zu drük= ken, der ihm zu zahlen war. »Die Decken, Weib! Dein Wohlstand ist bekannt!« »Ich habe sie nur eben in die Son= ne gehängt«, schluchzte Hooniah, »und wir sind arme Leute, wir ha» ben nichts.« Klok=No=Ton richtete sich plötzlich zu voller Größe auf, mit furch» terlich verzerrtem Gesicht, und Hooniah wich zurück. Aber er sprang ihr so vehement nach und war dabei dermaßen schrecklich anzusehen, daß sie stolperte und platt zu Boden fiel. Mit wilden Gebärden schwang er die Arme durch die Luft. Sein riesiger Kör= per wand und verrenkte sich wie im Krampf. Schaum trat auf seine Lippen, seine Glieder zuckten. Die Freuen brachen in wehklagen» des Heulen aus, ihre Oberkörper pendelten hin und her. Wenig später erlagen auch die Männer, i?3
Jack London einer nach dem anderen, der Ek= stase. Nur Sime nicht. Sime saß rittlings auf seinem Kajak und sah mit spöttischer Miene zu; aber das Erbe seiner Ahnen, das er in sich trug, quälte ihn, und er mußte seine stärksten Eide schwören, daß sein Mut noch gefeiert werden solle. Klok=No=Ton war furchtbar anzu= sehen. Er hatte seinen Schulterum" hang weggeworfen und seine Klei« der heruntergerissen, so daß er nackt war bis auf einen Gürtel aus Adlerfedern, den er um die Len= den trug. Er heulte und schrie, und sein langes schwarzes Haar flog wie der Fetzen einer nächtlichen Sturmwolke um seinen Kopf, wäh» rend er besessen im Kreis herum» sprang. Seine Bewegungen hatten einen bestimmten Rhythmus, und als alle diesem Rhythmus erlegen waren, gleichmäßig hin und her pendelten und ihre Schreie gemein» sam ausstießen, da setzte er sich kerzengerade hin, einen Arm ausgestreckt, vier der gespreizten Fin= ger wie Krallen gekrümmt, nur den Zeigefinger gereckt. Ein leises Stöhnen der Menge, schaurig wie ein Todesseufzer, antwortete dar» auf, und die Anwesenden kauerten sich mit zitternden Knien nieder, i?4
während der schicksalhafte Zeige» finger langsam über sie hinwan» derte. Mit diesem Finger wanderte der Tod; denen, die ihn weiter' wandern sahen, war das Leben neu geschenkt. Mit einem furchtbaren Schrei des Schamanen blieb der Verhängnisvolle Finger schließlich auf La=Lah gerichtet. La'Lah, wie Espenlaub zitternd, sah sich schon tot, seinen Besitz aufgeteilt, seine Witwe mit seinem Bruder verheiratet. Er wollte re= den, sich rechtfertigen, aber die Zunge klebte ihm am Gaumen, und seine Kehle war ausgedörrt wie von übermächtigem Durst. Jetzt, nachdem sein Werk getan war, wirkte Klok=No=Ton halb bewußtlos. Doch in Wirklichkeit saß er nur mit geschlossenen Au» gen da und erwartete das Aufgel= len des großen Racheschreies, der ihm aus vielen Beschwörungen vertraut war, wenn der Stamm sich wie ein Rudel blutdürstiger Wölfe auf das Opfer stürzte. Er wartete. Aber hier herrschte nur Schweigen. Dann ertönte sogar unterdrücktes Kichern, ein Kichern, das immer unverhohlener wurde und schließlich zu schallendem Ge= lächter anwuchs.
Dm weise Schamane
Klok=No=Ton schlug die Augen auf und brüllte erbittert: »Was habt ihr?« »Ha! Ha!« lachte das Volk. »Dein Zauber ist schlecht, Klok=No=Ton!« »Alle wissen«, ließ La°Lah sich vernehmen, »daß ich acht Monate lang mit den Robbenfängem der Siwash draußen war und erst heute zurückgekommen bin. Seit einigen Stunden erst weiß ich, was hier geschah, als ich fort war.« »Er sagt die Wahrheit«, schrien die anderen im Chor. »Die Dek" ken waren fort, ehe er heimkam!« »Und du, Klok=No=Ton, be« kommst nichts für deinen Zauber bezahlt, weil er unnütz ist!« rief Hooniah, die nun wieder aufge= standen war und von der Scham gepeinigt wurde, sich lächerlich gemacht zu haben. Klok=No=Ton saß da wie verstei« nert. Er sah nur Scundoos Gesicht mit dem matten grauen Lächeln und hörte das feine Grillenzirpen seiner Stimme: >La=Lah ist ein be» merkenswerter Mann, und ich habe oft gedacht.. .< Plötzlich sprang er auf und stürme te an Hooniah vorbei, und der Kreis der Umstehenden öffnete sich, um ihn durchzulassen. Sime höhnte, die Frauen lachten, Spott"
rufe flogen ihm nach, aber er achtete nicht darauf, sondern rannte zu Scundoos Haus. Dort rüttelte er an der Tür, häm. merte mit den Fäusten dagegen und schrie gräßliche Verwünsdiun» gen. Doch die Tür blieb geschlossen, und aus dem Innern des Hau« ses war Scundoos Stimme zu ver" nehmen, die sich zu unheimlichen Beschwörungsformeln erhob. Klok»No«Ton wütete wie ein Ver" rückter, und als er gar Anstalten machte, die Tür mit einem großen Stein einzuschlagen, erhob sich ein gefährliches Murmeln unter den herbeigekommenen Männern und Frauen. Da besann sich KlokeNoTon, daß er bei einem fremden Stamm weilte. Schon sah er einen Mann, der einen Stein aufnahm, dann sah er einen zweiten und einen dritten Mann, die dasselbe taten, und eine höchst menschliche Furcht kam über ihn. »Du darfst Scundoo, unserem Schamanen, kein Leid antun!« schrie eine Frau. »Kehre schleunigst in dein eige» nes Dorf zurück!« erscholl es dro» hend aus einer Gruppe Männer. Klok=No=Ton kehrte auf der Stelle um und ging durch die Menge hin= durch zurück zum Strand, im Her» 155
Jack London zen bitteren Zorn und die pein= liebsten Befürchtungen für seinen ungeschützten Rücken. Aber es flogen keine Steine. Wohl hüpften die Kinder spottend hin» ter ihm drein, und die Luft war von Gelächter und Schmährufen erfüllt, doch weiter geschah nichts. Dennoch konnte er erst wieder leichter atmen, als sein Kajak weit draußen auf dem Wasser war. Dann aber erhob er sich und be= legte das Dorf nebst seinen Be= wohnern mit einem scheußlichen Fluch, wobei er nicht vergaß, Scundoo besonders zu verfluchen. Denn Scundoo/ dieses Schlitzohr, hatte ihn zum Gespött gemacht! An der Küste wurden unterdes Rufe nach Scundoo laut, und der ganze Stamm drängte sich in wil= dem Durcheinander vor seiner Tür, flehend und schmeichelnd, bis der kleine Schamane zum Vor= schein kam und durch ein Heben der Hand Stillschweigen gebot. »Da ich euch alle als meine Kinder ansehe, will ich euch noch einmal verzeihen«, sagte er. »Doch nur noch dieses eine Mal! Es ist das letzte Mal, daß eure Torheit un= gestraft bleiben kann ... Was ihr verlangt, soll euch gewährt wer= den. Mir ward es bereits offenbar. 156
Diese Nacht, wenn der Mond hin» ter dem Rand der Welt verschwun» den ist, um nach unseren Toten zu sehen, möge sich der ganze Stamm vor Hooniahs Haus versammeln. Dann soll der Übeltäter entlarvt werden und seine Strafe erhalten. Ich habe gesprochen. Und nun hin» weg mit euch von meiner Tür!« »Der Übeltäter soll sterben«, schrie Bawn, »denn er hat Kum= mer und Schande über uns alle gebracht!« »So sei es«, erwiderte Scundoo und schloß seine Tür. Die Menge fing an, sich zu verlaufen. »Nun wird alles offenbar wer= den«, orakelte La=Lah. »Ruhe und Zufriedenheit werden in unser Dorf zurückkehren.« »Dank Scundoos, des kleinen Mannes«, sagte Sime hämisch grinsend. »Dank des Zaubers, über den Scundoo, der kleine Mann, ver= fügt«, berichtigte La=Lah. »Kinder der Dummheit, dieses Thinkletvolk!« Sime schlug sich klatschend auf die Hüfte. »Unfaß= bar, daß erwachsene Frauen und starke Männer sich vor Traumge= bilden und angeblichen Wundern in den Staub werfen!« »Ich bin ein weitgereister Mann«,
Der weise Schamane antwortete La=Lah. »Ich bin über die tiefen Meere gefahren und in fernen Ländern gewesen. Ich habe Zeichen und Wunder gesehen/und ich weiß, daß es solche Dinge gibt. Ich bin La=Lah —« »Der Schwindler!« »So sagen manche, die es nicht besser wissen. Aber mein wahrer Name ist La=Lah, der Weitge= reiste.« »Ich bin zwar kein Weitgereister«, begann Sime. »Dann halt deinen Mund!« misch= te Bawn sich ein, und sie schieden im Zorn. Als der letzte Schimmer des Mon= des hinter dem Rand der Welt verschwunden war, trat Scundoo zu dem Volk, das sich vor Hoo= niahs Haus drängte. Er kam mit schnellen, leichten Schritten, und die, die ihn kommen sahen, be= merkten, daß er mit leeren Hän= den kam - ohne Masken und Ras= sein und die übliche Ausstattung eines Schamanen. Nur unter dem Arm trug er etwas - einen großen, schläfrigen Raben. »Ist Holz genug vorhanden, um ein Feuer zu entfachen, damit nachher, wenn das Werk getan ist, alle sehen können?« fragte er.
»Ja«, antwortete Bawn, »Holz ist genug da.« »So lauschet meinen Worten, deren ich nur wenige sprechen werde ... Ich habe Jelchs, meinen Raben, mitgebracht, den unfehlbaren Wahrsager. Ihn, den schwarzen Vogel, werde ich in der schwärze= sten Ecke des Hauses unter Hoo= niahs großen schwarzen Eisentopf setzen. Die Öllampe wird gelöscht werden, und alles wird in tiefe Dunkelheit gehüllt sein. Was dann folgt, ist ganz einfach. Einer nach dem anderen sollt ihr in das Haus gehen, die Hand für die Dauer eines tiefen Atemzuges fest auf den Topf legen und wieder her= auskommen. Zweifellos wird Jelchs einen Schrei ausstoßen oder sein Wissen auf irgendeine andere Art kundtun, wenn er die Hand des Übeltäters in seiner Nähe spürt... Seid ihr bereit?« »Wir sind bereit«, tönte die viel= stimmige Antwort. »Nun werde ich die Namen ver= künden, einen nach dem anderen, bis auch der letzte aufgerufen ist.« La=Lah war der erste, und er ging ohne Zögern hinein. Aller Ohren lauschten gespannt. In der lautlosen Stille konnten ^fes 157
Jade London
die Bodenbretter unter seinen Schritten knarren hören, aber das war alles. Jelchs krächzte nicht und gab auch sonst kein Zeichen. Bawn war der nächste, denn es konnte möglich sein, daß ein Mann seine eigenen Decken stahl, um Sehaden über die Nachbarn zu bringen. Wieder kein Zeichen von Jelchs. Hooniah folgte, ebenso andere Frauen und Kinder und Männer, und Jelchs blieb stumm. »Sime!« rief Scundoo. Keine Antwort. »Sime!« wiederholte er. Sime, obwohl anwesend, rührte sich nicht.
La=Lah, dessen Schuldlosigkeit be° reits feststand, fragte ungestüm: »Fürchtest du dich vielleicht vor der Dunkelheit, tapferer Sime? Du betonst doch gerne, wie stark du bist! Und wie mutig!« Sime lachte und erwiderte: »Ich lache, weil es nichts als eine große Narrheit ist. Trotzdem werde ich hineingehen. Nicht, weil ich an Wunder glaube, sondern um zu zeigen/ daß ich keine Furcht kenne.« Er ging hinein und kam nach einem angemessenen Weilchen, immer noch spottend, wieder heraus. x?8
Jelchs hatte sich nicht gemeldet. La=Lah, über Simes Spott empört, flüsterte; »Mögest du einst eines jähen Todes sterben!« »Das werde ich wohl«, flüsterte der Spötter zurück. »Nur wenige von uns Männern sterben daheim auf ihrem Lager - dank der tiefen See und dank der Schamanen, die bisweilen an der Schnur des fal» sehen Beutels ziehen ...« Als die Hälfte der Dorfbewohner das Orakel unbeschadet passiert hatte, wuchs die Spannung ins beinah Unerträgliche. Nachdem zwei Drittel durch die Prüfung ge» gangen waren, brach eine junge Frau zusammen, die eben ihr er= stes Kindbett hinter sich hatte. Die überreizte Stimmung äußerte sich in nervösem Geschrei und Geläch" ter. Schließlich kam die Reihe an den letzten, und bis jetzt war nicht das geringste geschehen. Der Knabe Di Ya, Hooniahs und Bawns Sohn, war dieser Letzte. Kein Zweifel möglich, daß er der Schuldige war! Hooniah sandte ein Jammergeheul zu den Sternen em= por, die anderen zogen sich scheu von dem unglücklichen Jungen zu" rück.
Der weise Schamane
Di Ya war halb tot vor Angst, und die Beine versagten ihm, so daß er über die Schwelle stolperte und beinah hingefallen wäre. Scundoo schob ihn vollends hinein und machte die Tür von außen zu. Ein ganzes Weilchen lang hörte man von drinnen nur das Weinen des Jungen.. Dann folgte, ganz lang» sam, das Geräusch seiner Schritte, die über den knarrenden Fußboden zur entfernten Ecke schlichen. Eine Pause, und die Schritte kamen zu" rück zur Tür. Die Tür öffnete sich, und Di Ya trat ins Freie. Nichts war geschehen, und Di Ya war der letzte gewesen! »Jetzt zündet das Feuer an!« be= fahl Scundoo. »Auch sein Zauber hat versagt«, raunte Hooniah heiser. »Nun ja«, erwiderte Bawn ge= mächlich, »der gute Scundoo wird eben alt. Wir werden uns nach einem neuen Schamanen umsehen müssen.« Sime straffte die Schultern und baute sich vor dem kleinen Mann Scundoo auf. »Höh! Höh!« lachte er. »Wie ich mir dachte - nichts ist dabei herausgekommen!« »So scheint es, ja, ja, so scheint
es«, murmelte Scundoo beschei= den. »Jedenfalls scheint es denen
so, die mit dieser Materie nicht vertraut sind.« »Aber du vermagst es anders zu sehen?« fragte Sime ironisch. »Ja, ich vermag es anders zu se«= hen.« Scundoo sprach sehr milde, und während er sprach, sanken seine Augenlider langsam herab, tiefer und immer tiefer, bis seine Augen völlig verborgen waren. »Ich werde nun eine weitere Probe vornehmen müssen. Schüre das Feuer zu lodernder Glut, Bawn ... Ja, so ist es recht \.. Und nun hebt jede?, Mann und Weib und Kind, hier und sofort, seine bei« den Hände über den Kopf, die Handflächen hübsch nach vorne!« Der Befehl kam ganz unerwartet und wurde mit solcher Autorität gegeben, daß jeder ohne Wider" rede gehorchte. »Ein jeder sehe sich die Hände der anderen an«, fügte Scundoo hinzu. »Jeder zeige allen anderen seine Hände, damit -« Aber seine Stimme ging unter im Lärm des Gelächters, eines zorni» gen Gelächters. Aller Augen waren auf Sime gerichtet. Hatte sonst je» der eine rußschwarze Handfläche Simes beide Handflächen waren rein und zeigten keine Spüren von Hooniahs schmierigem Topf!
Jack London Ein Stein schwirrte herbei und traf Sime an der Wange. »Eine Lüge!« schrie Sime. »Es ist nicht wahr! Ich weiß nichts von Hooniahs Decken!« Ein zweiter Stein streifte Simes Stirn und riß sie auf, ein dritter/ ziemlich großer/ pfiff dicht an sei= nem Kopf vorbei. Der große Ra° cheschrei des Stammes gellte zum nächtlichen Himmel empor/ und überall bückten sich die Leute nach Steinen und schweren Kieseln. Wie ein Messer schnitt Scundoos schrille/ scharfe Stimme durch den Tumult: »Wo hast du die Decken?« »In - in dem großen Fellballen am Mittelpfeiler meines Hauses«/ tön= te die klägliche Antwort. »Aber glaubt mir - es war nur ein Scherz! Glaubt es mir doch!« Scundoo hob die rechte Hand/ und im Nu war die Luft ^on heransausenden Steinen erfüllt. Simes Frau weinte/ doch sein kiemer Sohn warf lachend und johlend Steine wie alle übrigen.
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Hooniah kam mit den wiedergewonnenen Decken aus Simes Haus zurück. Scundoo winkte sie zu sich heran. »Wir sind arme Leute und haben nur wenig«/ jammerte Hooniah. »Drum sei gnädig mit uns/ o Scun= doo.« Das Volk wandte sich ab von dem Steinhaufen/ den es errichtet hatte/ und schaute herüber. »Das war stets meine Art/ gute Hooniah«/ erwiderte Scundoo mil= de und griff nach den Decken. »Zum Zeichen/ daß ich gnädig bin/ werde ich von dir nichts nehmen als diese Decken... Bin ich nicht wahrhaft gnädig und weise/ meine Kinder?« »In der Tat/ du bist wahrhaft gnä= dig und weise/ o Scundoo!« er° klang es im Chor. Und Scundoo, der große Schamane, entschwand in die Dunkelheit, die Decken über die Schultern gehängt und Jelchs/ den schläfrigen Raben/ unter dem Arm...
MacKinlay Kantor
Der Anfänger
Drüben in der Acola Street stan= den zwei Männer vor der Tür einer billigen Wohnung im zweiten Stock und drückten auf den Klin= gelknopf. Beide hatten Schießeisen. Drei Blocks entfernt/ in der Imbiß= stube Ecke Lead Street und Bell= man Street/ trat Streifenpolizist Nick Glennan mit seinen blitzblan° ken schwarzen Stiefeln an den Ta= bakwarenstand und kaufte sich ein Päckchen Kaugummi. »Schöner Tag heute«/ sagte Nick Glennan zu der Kassiererin. »Wunderschöner Tag«, pflichtete sie bei. »Weil man nämlich«, erklärte Glennan mit seiner sanften Stim= me/ »an einem Tag wie heute den Frühling in der Luft spürt. Jetzt kann es nicht mehr lange dauern.«
Er steckte das Kaugummipäckchen in eine Innentasche und zupfte seine Uniformjacke glatt. »Piep/ piep«/ ertönte eine Stimme hinter ihm. »Und was wäre so seltsam dabei an einem Märztag?« fragte eine zweite Stimme. Glennans Gesicht wurde rot vor Ärger. Er kannte diese Stimmen. Beide. Er drehte sich um und warf einen hitzigen Blick auf die zwei athleti= sehen Männer/die an einem Wand» tischchen standen/ jeder an einem beachtlichen Kotelettknochen na= gend. »Wie geht's denn unserem kleinen Zoopolizisten?« fragte der größere von ihnen. Er war Nicks Bruder/ Sergeant Dave Glennan von der Detektivabteilung. Er war fünf= 161
MacKinlay Kantor zehn Jahre älter als Nick und min= destens vierzig Pfund schwerer und sah aus wie ein verhaltnismä« ßig gutmütiger Pavian. »Der Zoopolizist«, sagte Nick ziem= lieh betont, »fühlt sich mindestens so wohl wie ein Detektivsergeant, der überweite Zweireiher trägt, um seinen Bauch zu kaschieren, und seine dicke Kehrseite in einen noch dickeren Dienstwagen zu pflanzen pflegt. Ja, und mit seinen Hessen ist er mindestens genauso ge» schickt.« Dave lachte still vor sich hin. Sein Begleiter, Detektivsergeant Pete McMahon, grinste Nick an. »Nimmst Dave immer zu ernst, junge.« »Dann soll er das Gerede vom Zoopolizisten lassen. Immerhin hat er früher auch Uniform getragen.« »Aber nicht im Zoo«, brummte Dave. »Und was ist so schlecht am Zoo? Glaubst du, da wäre kein polizei» lieber Schutz nötig?« »Und ob da Schutz nötig ist!« lach» te der Bruder. »Zum Beispiel kann man nie wissen, was die Bären sich einfallen lassen. Vielleicht brechen sie eines Tages aus und beißen wen oder fressen ihm das Schinken» sandwich weg. Und eine alte Lady 162
fällt kopfüber in den Ententeich. Schon längst wird befürchtet, daß mal einer das Bronzestandbild General Shermans vor dem Aqua° rium maust - jeden Tag kann das passieren. Und wenn dir ein klei= ner Junge mit schmutziger Nase begegnet - vergiß nicht, sie ihm zu putzen. Das steht in den Dienst» Vorschriften - praktisch also ein Befehl, Nick.« Drüben in der Acola Street öffnete jemand die Tür jener billigen Wohnung, und einer der beiden Männer hob sein umgedrehtes Schießeisen und ließ es niedersau» sen, schnell und sehr hart. Nick straffte die Schultern unter seiner hübschen Uniformjacke. »Eines Tages, mein witziger gro» ßer Bruder, hoffe ich dir zu zeigen, daß ein junger Streifenpolizist, der seine Dienstgänge im Zoo absol» vieren muß, genauso hart ist wie mancher Detektivsergeant.« »Jederzeit willkommen«, lachte Dave gemütlich. Er gähnte und klopfte sich den Bauch. Nick muß» te an die Menge Narben denken, die den mächtigen Körper seines Bruders schmückten, und fühlte sich irgendwie beschämt. Dave war
Der Anfänger schon ein Kerl, daran gab es kei» nen Zweifel. Er war ein Bruder, auf. den man stolz sein durfte. Wenn er es bloß hätte lassen wol" len, ihn - Nick - fortwährend als Anfällger zu hänseln. Nick war erst seit sechs Monaten bei der Polizei. Und bestimmt wür« de er nicht sein Leben lang Strei= fendienst im Zoologischen Garten machen. Dave hätte das wissen können. Daß er seit zwölf Jahren Cop und unzählige Male ange= schössen, dekoriert und befördert und in den Zeitungen als uner= schrockener Kämpfer für Recht und Ordnung gefeiert worden war, hätte ihm keinen Grund geben sol= len, sich über einen Anfänger lustig zu machen. »Fertig zum Aufbruch, Dave?« McMahon sah auf seine große, un» moderne Taschenuhr. Sie bezahlten ihre Rechnung und stampften zur Tür. Nick setzte sich seine Schirmmütze auf, schnippte ein mikroskopisch kleines Stäub= Aen von seiner Uniformjacke und folgte ihnen. »Wann beginnt denn dein Strei» fendienst. Nick?« fragte McMahon. »In anderthalb Stunden.« Daves breiter Mund verzog sich zu einem belustigten Grinsen. »Was
für ein Diensteifer! Könntest doch noch hübsch zu Hause bei Alice sitzen. Junge.« »Alice mag es, wenn ich meinen Dienst ernst nehme«, entgegnete Nick erhaben. »Wir alle nehmen unseren Dienst ernst. Deshalb braucht man doch nicht gleich anderthalb Stunden früher anzufangen.« Dave biß das Ende einer Zigarre ab und klopfte Nick wohlwollend auf die Schulter. »Bist ein schmucker Polizist, mein Junge. Guck dir bloß seine Stiefel an, Pete! Blank wie ein Spiegel.« Der jüngere Glennan versuchte sei= nen Ärger über das ironische Lob zu unterdrücken. »Und was habt ihr beiden hier in der Gegend zu tun?« fragte er sachlich. »Verdächtige Wohnung ansehen... Aber warte ab, bis du Achtund» dreißig bist. Junge. Dann wirst du nicht mehr so gerne laufen, son» dem lieber im Dienstwagen fah» ren. Alle Glennans setzen Fleisch an, um ihre Knochen warm zu hal» ten, sobald sie trocken hinter den Ohren geworden sind.« »Dieser hier nicht«, versicherte Nick und deutete auf sich. Die beiden Detektive stiegen in ihr Auto. Nick wandte sich der ent» gegengesetzten Richtung zu, wo, 165
MacKinlay Kantor ©inen Block entfernt, die kahlen wenn man ihn von hinten davon" Bäume und Büsche des Zoologi» watscheln sah? Wie ein Plumeau sehen Gartens in der Mittagssonne mit Armen und Beinen! Jawohl, genauso sah er aus! lagen. »Grüß Alice von mir«, rief Dave. Nick schritt dem Zoologischen Gar» »Ich komme demnächst mal wieder, ten entgegen, die Mütze ein biß» um ein paar Gläschen nüt euch zu chen schräg auf dem Kopf, mit leicht und locker schwingenden trinken.« »Tu das nur«, antwortete Nick, Armen und ruhigen, elastischen »aber gib acht, daß sie dir dann Schritten, wie es die Dienstvor» kein Rizinusöl in den Brandy schritt befahl. Wenn er an gepark» schüttet. Bis bald, McMahon. Bis ten Autos vorüberkam, warf er ihnen einen aufmerksamen Blick bald, Fetty.« »Laß die Seelöwen nicht raus«, zu. Man konnte nie wissen. Moch» te ja ein gestohlenes Auto darunter warnte McMahon. »Und verlauf dich nicht im Ge= sein. Er wußte die jüngste Liste gestohlener Autos auswendig. wächshaus. Zoopolizist.« Nick Glennan würdigte diese Scher» Obgleich er seinen Streifengang ze keiner Beachtung. Er ging die durch den Zoo erst um zwei Uhr Straße hinab, innerlich siedend vor anzutreten brauchte, woran tat» Ärger und verletztem Stolz. Zoo» sächlich noch immer achtundachtzig polizist! Oh, diese zwei Fettsäcke! Minuten fehlten, hatte ihn sein Er sagte sich, daß er jede Einzelheit Diensteifer wieder vorzeitig aus ihrer verunstalteten Anatomie ver= der kleinen Wohnung getrieben, in abscheue, angefangen von den un= der er und Alice nun das zweite geheuren Plattfüßen bis hinauf zu Jahr ihrer Ehe verbrachten. Jeden den lächerlichen Haarsträhnen auf Tag verließ er die Wohnung vor» ihren kahl werdenden, dampfen» zeitig. Er liebte es, in Uniform zu sein. Er liebte es, seinen Job vor den Köpfen. Nur weil Dave Sergeant war und der Zeit zu beginnen. Die Glen» Zivilkleidung trug und immer mal nans waren so, eine richtige Poli» wieder in der Zeitung stand, zistenfamilie. Da hatte es einen rot» brauchte er längst nicht so über= gesichtigen/ backenbärtigen Groß» legen zu tun. Wie sah er denn aus, vater gegeben, der vor langen, 164
Der Anfänger langen Jahren, nur mit seinem sam nach hinten, als sie sich weh» Knüppel bewaffnet, eine Horde ^Ken wollte. »Binde sie auf diesen grölender Anarchisten in Schach Stuhl, Jack. Und stopf ihr einen gehalten hatte. Der Vater von Nick Knebel in den Mund. Dann wer» und Dave war nun auch schon seit den wir die ganze Bude durchhar" einigen Jahren pensioniert, aber ken wie mit einem Staubkamm.« irgend etwas, das mehr war als »Ihr könnt mich ebensogut töten«, bloße Gewohnheit, hatte ihn die schluchzte die Frau gegen die gro" Uniform eines privaten Bankwach» ben Finger, die ihr den Mund mannes anziehen lassen, und trotz zuhielten. »Ihr habt ihn getötet, seiner eisgrauen Haare machte er ihr könnt auch mich töten!« weiterhin seine fünfundvierzig Stunden Dienst in der Woche. Pete McMahon und Dave Glen= Nick streckte sein Kinn heraus. nan erreichten die Kreuzung Bell" Seine Augen sahen alles - den har= man Street und Acola Street und ten blauen Spätwinterhimmel, den schwenkten nach rechts in die ersten warmen Sonnenschein auf Acola Street ein. den sauberen Ziegelhäusern und »Welche Nummer, Dave?« der leider nicht ganz so sauberen »Einsneunzehn.« Straße, die von den beiseite ge= »Was ist dort los?« schobenen Resten schmelzenden »Captain Apperson sagte, wir Schnees gesäumt wurde, die klei= sollten es uns mal ansehen. Woh» nen Karawanen der Kinder, die nung Zwölf. Jemand telefonierte sich allein oder in Begleitung von und erzählte, in dieser Wohnung Kindermädchen dem Zoologischen scheine es neuerdings nicht mehr Garten näherten. Mit einer knap» so ganz zu stimmen.« pen Handbewegung brachte er »Stool?« sein leicht verrutschtes ledernes Pi« »Nein. Irgendein anonymer Nach" stolenfutteral wieder in den rich- bar. Vermutlich nicht viel dran, tigen Sitz ... Zoopolizist, was? Er sonst hätte der Captain die Sache würde ihnen schon zeigen, wie dringlicher gemacht. Aber er sagte nur, wenn wir morgen oder über» Der Mann mit dem braunen Man» morgen mal in die Gegend kämen, tel drehte die Arme der Frau grau" sollten wir nachsehen. Nun, heute 165
MacKinlay Kantor ist übermorgen, und wir sind in der Gegend.« McMahon spuckte einen naßge= kauten Zigarrenstummel aus. »Die zuständigen Reviere sollten sich um solche Sachen kümmern.« »Ja. Aber seit die Uniformierten vom Achtzehnten Revier vorige Woche die Wohnung von Hefty Lewis durchsuchten und Hefty in seinem Versteck im Wäschekorb nicht entdeckten, wünscht der Chef, daß sich die Detektivabtei« lung der Zentrale um verdächtige Wohnungen kümmert. Eine Men= ge Arbeit um nichts.« »Du hast recht«, pflichtete Pete bei. »Da sind wir. Das schäbig aussehende Haus auf der anderen Straßenseite.« Sie fuhren ein Stückchen weiter, kamen — zwei harmlose Passanten - auf der richtigen Straßenseite zu Fuß zurück und näherten sich dem Eingang von Nr. 119, Acola Street. Es war ein vernachlässigtes, schmutzig aussehendes Ge* bäude, noch keine zehn Jahre alt, aber überall stockfleckig und mit langen Rissen im Putz; die bunten Glasscheiben der zweiflügligen Eingangstür waren teilweise zer» brochen. Dave Glennan stellte beim Eintreten fest, daß der Ge» 166
ruch im Hausflur eine Mischung aus Gin, Blumenkohl und feuch" ten Windeln war. Halb Apparte» menthotel, halb Familienwohn» haus, verdarb dieses Gebäude die ganze Reihe nüchterner kleiner und sauberer Häuser, in der es stand. »Sieht aus wie ein Pesthaus«, murmelte McMahon. »Riecht auch so«, knurrte Dave. »Atmet sich auch so. Ist auch eins.« Im Hausflur schoben sie einen schmutzigen Kinderwagen und ein altes Fahrrad beiseite und prüften die Namensschilder an der Reihe schmieriger Hausbriefkästen. »Wohnung Zwölf«, las Glennan, »Frank R. Johnson.« »Sollte Jones oder Smith sein«, bemerkte McMahon. »Die John= sons werden neuerdings zu allge» mein.« »Dieser«, sagte Dave, »ist wahr» scheinlich ein arbeitsloser Schwede, der seine Frau verprügelt, oder irgend so etwas.« Sein dicker Dau» men näherte sich der Klingel un» ter dem Briefkasten. »Nachbarn nehmen immer Anstoß, wenn sie einen Familienstreit hören«, medi= tierte er. »Wahrscheinlich war das der Grund für den Tip. Aber mir
Der Anfänger gefällt die Atmosphäre dieses^ Hauses nicht. Versuch mal die Tür zum Treppenhaus.« Pete versuchte die bezeichnete Tür zu öffnen. »Abgeschlossen.« »Ich werde nicht klingeln«, brummte Dave, verwundert über den eigenen Starrsinn. »Laß uns zum Hintereingang -« »Da kommt jemand.« McMahon trat einen Schritt zurück, als eine ältere Frau mit Einkaufskorb die Tür zum Treppenhaus von innen öffnete; sie zuckte zusammen und stieß ein erschrockenes Gemurmel aus. »Polizei«, sagte McMahon und zeigte sein Detektivabzeichen. Die Frau erwiderte irgend etwas Italienisches und schüttelte den Kopf, »Gehen Sie nur, Lady«, grinste Dave. Er machte die vordere Hause tür auf, und die Frau huschte hin" aus. »Nichts mit ihr?« »Ach wo. Italienische Großmama. Will darauf wetten, daß ihr Name nicht Johnson ist.« »Schön«, sagte Pete, der einen Fuß in die Tür zum Treppenhaus gesetzt hatte. »Hier können wir nun durch.« Glennan brummte: »Ich werde die
Hintertür versuchen.« Ein böser Argwohn braute sich in ihm zu* sammen. Er glaubte nicht an Vorahnungen; er wußte nichts von ihnen. Aber er war seit mehr als zwölf Jahren ein Hüter der öffent" liehen Ordnung, und dieses Ge» bäude machte ihm keinen guten Eindruck. Ebensowenig der Name Frank R. Johnson am Briefkasten. Er wußte, daß ein belagerter Ver" brecher, von einem Klingeln an der Vordertür erschreckt, gewöhn» lieh durch die Hintertür zu entwi« sehen versucht. Und wie es seiner Art entsprach, wählte er den ge« fährlichen Posten für sich selbst. »Du hinten, ich vorne«, bestätigte McMahon. »Wie lange?« »Ich muß die Hintertreppe Bnden und die richtige Tür erreichen«, sagte Dave. »Gib mir mindestens fünf Minuten Zeit. Sieben wären besser. Sagen wir also sieben Mi= nuten. Dann klingelst du oben an der Vordertür.« »Sieht mir so aus, als machtest du ziemliche Umstände für einen ar" beitslosen Schweden.« Glennan zuckte die Schultern und sah auf seine Armbanduhr. »Das wäre dann zehn Minuten vor eins. Genau zehn Minuten vor eins kimgeist du an der Vordertür.« l6y
MacKinlay Kante» Die Frau mit dem wirren stroh= blonden Haar saß kerzengerade auf einem Stuhl festgebunden; in ihrem Mund steckte ein Knebel, ihre Augen waren weit aufgerissen und starr. Wenn sie sich über» haupt bewegten, wurden sie für Sekundenbruchteile auf die reglose Gestalt gerichtet, die eigentümlich verrenkt dicht bei der Vordertür am Boden lag. Jack kippte die Schublade des Schreibtisches mitten auf demTep" pich aus und durchwühlte den Haufen mit schnellen Fingern. »Hölle und Teufel«, sagte er, »sie haben es irgendwo anders vera steckt, Spando.« Der Mann in dem braunen Mantel kam zur Küchentür; um seinen ver= kniffenen Mund standen harte, häßliche Linien. »Dann wird sie singen. Wir werden sie schon so weit bringen. Ich wünschte trotz= dem, ich wüßte, wo der Bengel steckt.« »Ich hörte die Küchentür gehen, eben bevor sie hereinkam.« »Quatsch, das war sie. Sie warf die Küchentür hinter sich zu/ gerade als wir AI umlegten.« »Als du ihn umlegtest, willst du sagen. Du hättest nicht so hart zu= schlagen sollen.« 168
»Wie konnte ich wissen, daß er einen solchen Glaskopf hat?« »Kleine Spazierfahrt wäre besser gewesen. Jetzt haben wir eine Lei» ehe am Hals.« Spando sagte: »Hier werden zwei Leichen sein, wenn sie nicht singt, und zwar rasch -« Streifenpolizist Nick Glennan ging die breite Promenade entlang, die ins Zentrum des Zoologischen Gar" tens führte. Ging ist ein armseliges Wort. Streifenpolizist Nick Glen» nan marschierte in verhaltenem Schritt; er stolzierte; er benahm sich wie auf einer Parade, aber de» zent und gemessen, nicht auffällig und geziert. Er war jung und nett anzusehen und wurde allmählich gesetzt und dachte oft daran, daß Gott es gut gemeint hatte, da er ihm erlaubt hatte zu leben und ein Polizist zu sein. Ja, selbst ein Zoo" polizist. Dave, der große, fette bah. Überall wimmelten Kinder herum. Scharen etwas größerer Kinder, Jungens, die sich jagten und dabei über die matschigen Pfützen auf den Nebenwegen sprangen, Mäd= chen in hellen Mänteln, ballspie» lend oder reifentrudelnd. Und viele, viele Babys, warm und behaglich
Der Anfänger in ihre mehr oder weniger komfor» \Das Dienstzimmer der Streifen» tablen Kinderwagen verstaut. Als polizisten, die durch den Zoo pa= Nick diese Kinder sah, war noch trouillierten, lag bei den Verwaletwas anderes in seinem Gesicht. tungsgebäuden im Norden des Etwas Nachdenkliches und leicht Gartens, aber Nick Glennan beweg» Bekümmertes. te sich in südlicher Richtung. Er Er und Alice hatten sich ein Kind plante, in weitem Bogen durch den gewünscht. Eigentlich mehr als nur ganzen Zoo zu gehen und sich eins. Aber nun waren sie fast zwei pünktlich auf die Minute zur AbJahre verheiratet, und noch kein lösung im Dienstzimmer einzufin» Baby hatte sich eingestellt... Alice den. weinte manchmal. Sie hatte einen Beim Freigehege der Bären herrsdr kleinen Jungen gewollt, den sie te natürlich wieder der gewohnte Nicky nennen würde — von allen Andrang, unten vor dem Gehege Dingen der Welt hatte sie sich und oben auf den künstlichen Aus= nichts sehnlicher gewünscht als sichtsfelsen. Nick bog in einen Sei» den kleinen Nicky. Nun, zwei Jahre tenweg ein und kam zu dem Ge= waren noch keine Ewigkeit; viel» hege mit den Käfigen der Wölfe leicht würde sich ihr Wunsch doch und Füchse; hier hing stets ein noch erfüllen. durchdringender Geruch in der Nick tröstete sich mit dieser vagen Luft, den das Publikum lieber Hoffnung, aber es war ein schwa» mied. eher Trost. Denn er konnte nicht Der kleine Junge hockte trübselig vergessen, daß der alte Dr. Fogarty in einem der Randgebüsche, als ihm erzählt hatte, wahrscheinlich Nick ihn entdeckte. Es war ein sehr würde Alice niemals Mutter wer= kleiner Junge in blauem Overall den ... Das Leben war schon selt= und billigem grauem Sweater; er sam; kein Grund, weshalb ausge» hatte keine Mütze, und allem An= rechnet Alice und ihm dieser Kum° schein nach war das Leben keines» mer beschert werden mußte ... wegs nett zu ihm gewesen. Er Und Dave war Junggeselle. Viel' weinte leise vor sich hin. leicht würde es keine weiteren Nicks lange Arme griffen in das Glennans geben, die Polizisten Gebüsch und holten den Jungen heraus. »He, Buddy«, sagte Nick. werden konnten. 169
MacKinlay Kantor Die tränenfeuchten Augen blinzeis ten in ehrfurchtsvoller Scheu. Nick nahm das Kind auf die Arme. »Wie kannst du meinen Namen wissen, Cop?« fragte die zitternde kleine Stimme. »Ehrlich gesagt — ich wußte ihn nicht. Ist das dein Name? Buddy? Ein schöner Name - Buddy. Hast du dich verlaufen?« »Ich - ich kam in den Zoo«, sagte Buddy. Er schluchzte auf. »Möchte wetten, deine Mama weiß nichts davon«, grinste Nick. Buddy nickte ernst. »Ja. Sie ist fort, weit fort. Die Männer trugen sie in einem großen schwarzen Kasten fort.« »Oh«, brummte Nick; er fühlte sich verlegen. »Nun«, sagte er, jetzt wieder lächelnd, »ich wette aber, auch dein Dad weiß nichts davon.« »Ich habe keinen Dad. Ich habe aber eine große Puppe. Sie heißt Glotzauge, die Puppe.« »Ja«, sagte Nick, »und mächtig kalte Hände hast du auch. Wo wohnst du denn, Buddy?« Der Junge zeigte in die Richtung, wo die Bellman Street an das Zoo" gelände grenzte. »Da drüben, hundert Meilen weit weg, schätze ich, oder vielleicht fünf. Ich sah einen 170
Mann, der Onkel AI auf den Kopf schlug, deshalb bin ich in den Zoo gelaufen.« Diese kleine Information brachte Nick aus dem Gleichgewicht. Er vergaß, daß - laut Vorschrift - alle verlaufenen Kinder unverzüglich zum Polizeidienstzimmer zu brin» gen seien; er vergaß, daß er noch nicht im Dienst war - falls es dar» auf angekommen wäre. Er vergaß sogar Buddys kalte Hände. »Was?« fragte er heiser. »Du sahst einen Mann, der Onkel AI auf den Kopf schlug? Und wer ist Onkel AI?« »Er ist gemein«, sagte das Kind. »Er haut mich immer. Hier.« Ne" ben dem kleinen dünnen Kinn war eine blaue Stelle zu sehen. »Oh, ja?« fragte Nick vorsichtig. »Er haut dich? Oft?« »Gestern und heute sicher sechs" mal. Oder zehn oder vier. Tante Ida weinte. Ich mag Tante Ida. Aber den alten Onkel AI mag ich nicht. Ich wünschte, Mama käme aus dem großen schwarzen Kasten zurück.« Nick murmelte, mehr zu sich selbst: »Darauf will ich wetten.« Er raus" perte sich und grinste und schaukelte Buddy auf den Armen. »Gib acht«, sagte er. »Kaugummi!« Mit einiger Mühe holte er das Päckchen
Der Anfänger aus der Innentasche seiner Uni" formjacke und drückte es in Buddy s schmutzige kleine Hand. »Nun höre. Big Boy«, sagte er ernst, »du weißt, daß Cops gerne mehr über Männer herausfinden möchten, die andere Männer auf den Kopf schlagen. Was ist mit dem Burschen, der deinen Onkel AI schlug? Wer ist er?« »Ein großer Mann. Er hat einen braunen Mantel. Ich mag ihn nicht. Aber Kaugummi mag ich.« Den fröstelnden Jungen auf den Armen strebte Nick der nächsten Straße zu, die das Zoogelände begrenzte, und versuchte dabei, mög" liehst viel über die Geschichte zu erfahren. Buddy, schien es, wohnte in einem großen Haus, irgendwo da hinten. Er hatte mit der Puppe Glotzauge auf der Treppe gespielt, einen halben Stock höher, und war dabei ganz still gewesen und hatte zwei Männer gesehen, die an On= kel Als Wohnungstür klingelten, und als Onkel AI die Tür aufmachs te, schlug ihn der Mann mit dem braunen Mantel auf den Kopf und Onkel AI fiel gleich hin. Buddy war nicht geblieben, nach" dem sich die Tür geschlossen hatte. Ohne an die Puppe Glotzauge zu denken, war er voller Angst die
Treppe hinuntergeschlichen und in den Zoo gelaufen. Den Weg kann" te er, Tante Ida war mal mit ihm im Zoo gewesen. Hundert Meilen weit war es, meinte er, oder viel» leicht fünf. Und er mochte Kaugummi. »Ja, sicher«, pflichtete Sfcreifenpoli» zist Nick Glennan abwesend bei, »Kaugummi ist eine feine Sache.« Sie standen jetzt an der Borda schwelle des Fulton Boulevards, und als Streifenpolizist Glennan eine Hand hob, kam ein leeres Taxi zu schlidderndem Haifa Nick schob das Kind durch die Tür. »Hören Sie, Cop«, wehklagte der Taxifahrer, »ich habe eben eine Order gekriegt -« »Sicher«, sagte Glennan, »und das ist sie. Drehen Sie um und fahren Sie die Bellman Street hinauf. Fah» ren Sie nicht zu schnell und nicht zu langsam.« Er stieg ein und setz» te sich neben seinen Schützling. »Das ist mal ein verdammt hüb" sches Taxi«, erklärte Buddy. »Keine Kraftausdrücke, du vorlau' ter Zwerg«, mahnte Nick. Er hob den Jungen aufs Knie. »Nun wol» len wir sehen, ob wir das große Haus finden können, in dem du wohnst. Hast du eine Straße mit Trambahnschienen überquert?« 171
MacKinlay Kantor »Ja«/ nickte Buddy, »aber ich war vorsichtig, ich habe nach beiden Seiten geguckt. Wirklich.« Nick Glennan wies den Fahrer an: »Weiter geradeaus. Überqueren Sie die Lead Street.« »Das ist der richtige Weg«, ver= kündete Buddy stolz. »Ich weiß doch den Weg zum Zoo, nicht wahr?« Die grauen Augen richte" ten sich nachdenklich auf Nick. »Aber wenn du mich jetzt nach Hause bringst - werden wir dann später wieder mal in den Zoo ge= hen? Zusammen?« »Bestimmt werden wir das ... Bist du auch an dieser Ecke vorbeige= kommen, Buddy? Ja? Und wo wohnt nun dein Onkel AI?« »Da, um die nächste Ecke herum.« Der schmutzige Zeigefinger deutete zur Acola Street. »Aber ich mag ihn nicht. Ich mag dich besser.« Glennan nickte. »Ja. Und Kau= gummi.« »Ja«, bestätigte Buddy, heftig kau= end, »und Kaugummi.« Spando stand da und starrte hinab auf Ida Carrier, alias Irene McCoy, alias Ida Johnson. Sein Mund ver= zog sich verächtlich, als er den Kopf wandte, um einen Bilck auf die reg= los und seltsam verrenkt am Bo= 172
den liegende Gestalt zu werfen Albert Carrier, alias Luther Mc° Coy, alias Frank R. Johnson. Sein Blick kehrte zu der gefesselten Frau auf dem Stuhl zurück. »Ausgepustet wie eine Kerze«, sagte er. »Tot. Verstehst du? Wir haben ihn umgelegt. Bei Gott sein Schädel muß dünn gewesen sein wie eine Eierschale. Und du rettest dir keinen Cent, wenn du schweigst. Du sagst uns jetzt, wo ihr den Zaster versteckt habt, und zwar schnell. Dreckige Betrüger, ihr zwei -« Jack Novack zog den Knebel aus Idas verschwollenem Mund. Ihre Antwort kam gequält und voller Haß. »Eher könnt ihr beiden Rat» ten auch mich erschlagen!« stieß sie heraus. »Vielleicht«, grinste Spando. Zu Novack sagte er: »Zieh ihr die Schuhe aus, Jack. Wollen mal se= hen, wie ihr eine glühende Ziga» rette zwischen den Zehen gefällt.« Er zündete eine Zigarette an und beugte sich nieder. Er hatte nicht geblufft, er würde es tun; sein Ge= sieht war brutal wie das Gesicht eines Folterknechtes in einem mit= telalterlichen Kerker. Die Frau schluchzte. »O Gott, es hat keinen Zweck...« Mit einem
Der Anfänger ihrer gefesselten Ellbogen versuch» te sie eine Bewegung. »Da drüben, der Heizkörper-nur eine Attrappe. AI hat ihn am Boden festge= schraubt. Nehmt die Diele dahinter hoch, und ihr habt es, noch im Transportbeutel.« »Alles? Sechsundzwanzigtausend müssen in dem Beutel gewesen sein.« »AI hat Zweitausend rausgenom» men. Und ich nahm mir einen Fünf= ziger oder zwei, als ich knapp war. Der Rest ist noch da.« Sie begann hemmungslos zu schluchzen, heiser und mißtönend. Spando lachte leise, ging in die Küche, kam mit einem großen Schraubenzieher zurück und be= gann die Schrauben zu lockern, während Jack den Heizkörper an= hob. Der Heizkörper löste sich mit einem kreischenden Geräusch vom Boden, und Spando begann mit dem Schraubenzieher die Boden» diele dahinter loszuhebeln. Im Treppenhaus, seine große alte Taschenuhr in der einen Hand, hörte Pete McMahon das Murmeln von Stimmen. Da war nur dieses Gemurmel, Worte konnte er nicht verstehen. Der Minutenzeiger sei= ner Uhr berührte eben die Zehn,
als jenseits der Tür das kreischende Geräusch ertönte, mit dem Novack' die Schrauben des Heizkörpers vom Boden losriß. Pete steckte seine Taschenuhr weg und drückte auf den Klingelknopf neben der Tür. Rrrrrr. Mit drei oder vier langen, lautlosen Schritten war Spando neben Ida. Durch die Tasche seines braunen Mantels hindurch drückte er die Pistolenmündung gegen Idas Kopf. »Frag, wer da ist«, zischte er. »Wer ist da?« rief eine Stimme, die kaum noch Ähnlichkeit mit Idas normaler Stimme hatte. »Polizei«, sagte Pete McMahon. Spandos kleine Augen schienen zu lachen. »Sag ihm, daß du ihn einlassen wirst«, flüsterte er. »Ich - ich werde Sie einlassen ...« Jack Novack zog seinen Revolver und richtete ihn aus einiger Ent« femung auf Ida. Eine Hand an der Pistole in seiner Manteltasche, nä° herte sich Spando lautlos der Tür, löste die Sicherheitskette und riß die Tür auf. McMahon gaffte ihn an. Er kannte diese Visage. Er hätte sagen kön» neu, wem sie gehörte, wäre ihm nur die Zeit geblieben/ sich zu er° innern. 175
MacKinlay Kantor Spando ließ ihm nicht genug Zeit. Er feuerte zwei, drei schnelle SAüs= se durch die Manteltasche. Pete taumelte zurück gegen die Tür auf der anderen Seite des Etagenflurs, und Spando feuerte wieder, er feuerte das ganze Magazin leer. Pete war ein zäher Kerl, mochte er auch fett geworden sein, und er nahm sich Zeit mit dem Sterben. Seine Knie begannen einzuknicken, und das Blut kam ihm aus Mund und Nase, aber irgendwie kriegte er seine Polizeipistole hoch und drückte einmal auf den Abzug, ehe er vornüber aufs Gesicht fiel. Seine Kugel durchbohrte Spandos linke Hand, und Ida Carrier auf ihrem Stuhl war genau dahinter. Sie wußte nicht, was geschah. Alles geschah sehr plötzlich und über= raschend - ihr Kopf kippte nach vorn, und sie gab einen einzigen kleinen Seufzer von sich, schwach und klagend. Die Tür knallte zu. Spando schwenkte seine schmer" zende Hand und fluchte wild. Seine Augen verdrehten sich aufwärts, bis fast nur noch das Weiße zu sehen war. »Er hat sie erwischt«, keuchte No» vack. »Er hat sie erwischt, als er dich anschoß -« •'-74
»Gut«, zischte Spando. »Ich sage dir, das ist gut. Jetzt kann sie uns nicht mehr verpfeifen. Nimm den Beutel mit dem Geld, du -«, er lehnte sich schwer gegen den Tisch, zog das leergeschossene Magazin aus seiner Pistole und schob ein neues hinein. Seine verletzte Hand blutete stark und besudelte seinen Mantel. Wumm. Wumm. Wumm. Dave Glennan schlug wütend geigen die Haustür. Das tat er nicht erst seit diesem Augenblick, aber sie hatten es bisher nicht bemerkt, weil die Schüsse in ihren Ohren nachdröhnten. Dave hatte irgend» wo eine schwere kleine Mülltonne aufgesammelt und schwang sie mit dem rechten Arm gegen die Haus= für, während seine linke Hand die Polizeipistole in Anschlag hielt. Dave war Linkshänder. Das Schloß der Hintertür riß aus dem Holz, die Tür flog auf, und Dave wurde sichtbar. Von der anderen Küchentür her feuerte Novack auf ihn, kühl und überlegt. Er hatte jetzt den Leder» beutel mit dem Geld und wünschte dieses peinliche Hindernis aus Fleisch und Blut zu beseitigen, da= mit er und Spando über die Hinter" treppe entwischen könnten. Denn
Der Anfänger vorne stand vielleicht noch ein Cop oder sogar eine ganze Streifen« wagenbesatzung ^ Klong. Die Kugel durchschlug die Mülltonne und streifte Daves Rip" penpartie. »Schmeißt eure Schießeisen hin«, brüllte Dave, »oder wir werden euch -« Klang. Klong. Dave Glennans erster Schuß riß ein dickes Bündel Splitter aus der Türfüllung neben Novacks Kopf. Novack zog sich zurück. Dave, mit der Mülltonne als nicht sehr zweck» mäßigem Schutzschild, folgte und jagte einen weiteren Schuß in No» vacks Richtung. Der Schuß ging daneben. Die ruinierte Tür hielt Dave einen Moment lang auf, und dadurch bekam Spando eine Chance. N0= vack hatte, noch einmal schießend, beinah die Vordertür erreicht, aber Spando war in einen Alkoven zwischen Zimmer und Küche ge= schlüpft. Da gab es ein winzig klei» nes Fenster genau in Daves Schuls terhöhe, und Spando hatte es leicht, einen Schuß schräg zwischen Daves breite Schultern zu schicken. Dave, mit der Mülltonne und allem, kipp» te über der Türschwelle um. »Vorne«, keuchte Novack seinem
verwundeten Komplicen zu. »Un* ser Auto steht da. Wären vome noch mehr Cops gewesen, hätten wir sie schon am Hals -« »Hab ich's nicht gewußt?« schnarr« te Spando, als er im Etagenflur über Petes Leiche stolperte. Irgendwo im Haus kreischte eine Frau. Angstvolle Schritte irrten hin und her. »Mrs. Franchetti«, schrie ein Mäd= chen, »rufen Sie die Polizei! Mrs. Franchetti -« Novack brüllte: »Aus dem Weg mit euch!« Sein wütender Faust* schlag ließ ein Kind beiseite tau» mein. Spandos Weg war durch Blutflecke markiert; der brutale Mann winselte vor Schmerz, als er die Treppe hinunterrannte. Sie erreichten den Hausflur, als draußen Streifenpolizist Nick Glen= nan aus einem gelben Taxi sprang. Er hatte Schreie gehört, als das Taxi in die Acola Street eingebo= gen war: Mrs. Franchetti hing mit dem Oberkörper aus einem Fen" ster im dritten Stock und verkün» dete der Welt, vorwiegend in gel« lenden Schreien, was geschehen war. Nick war nur ein Zoopolizist und ein Anfänger obendrein. Die Sache war sehr plötzlich über ihn ge= 175
MacKinlay Karttor kommen, aber sein Gesicht war inzwischen hart und grau gewor= den. Auch seine Augen waren hart und grau geworden. »Hinunter mit dir auf den Wagenboden«, rief er Buddy zu, als er aus dem Taxi sprang und die Tür hinter sich zu= schmetterte. Der Taxifahrer hob beide Arme über den Kopf und machte sich ganz klein hinter dem Lenkrad. Spando und Novack platzten aus der Haustür beinah in Nicks Reich= weite. Sie sahen die verhaßte Uni= form mit dem schimmernden Stern und bemerkten, daß der Cop eben sein Schießeisen zog. »Leg ihn um«/ heulte Spando. Novack begann zu schießen, aber Nick stürmte sehr schnell heran. Novack zielte auf die Körpermitte - eine sehr gefährliche Gewohnheit von ihm. Ein Fetzen Stoff wurde aus dem Rand der Uniformjacke gerissen, doch dann sauste Nicks linke Faust schwer auf Novacks Kinn. Novack fiel mit vehemen= tem Schwung, Spando stolperte über ihn, und die für Nick Glen= nans Herz bestimmte Kugel traf einen Pfeiler des Vorgartenzaunes. Der Mann in dem blutbesudelten braunen Mantel quakte irgend et» was zwischen Schluchzen und Fluch. 176
Er und Nick Glennan standen kaum sechs Fuß voneinander ent= fernt, und ihre Schießeisen bellten im Takt. Nick dachte, jemand hätte sich unbemerkt herangeschlichen und ihm einen Knüppelschlag auf die linke Hüfte versetzt, und je« mand anders hätte ihm einen Zie= gelstein gegen die linke Schulter geworfen. Aber er war so eifrig damit beschäftigt, acht wohlgezielte Klümpchen Blei in Spandos Körper zu pumpen, daß er nicht umkippte, ehe das Werk vollendet war. Und als er schließlich umfiel, zwang er sich gleich wieder in eine sitzen= de Haltung, schob ein neues Ma= gazin in seine Pistole und hielt dann die Mündung auf Jack N0= vacks bewußtlosen Kopf gerichtet, bis ein Cop vom Überfallkom» mando ihm ins Ohr schrie: »Okay, Kamerad! Alles okay jetzt -« Da fühlte er sich ganz leicht im Kopf und wollte lachen und wünschte sich nur, daß sie Alice nicht erschrecken möchten, wenn sie sie antelefonierten. Und dann lag er plötzlich auf einer Decke im Hausflur, während ein ferner Am= bulanzwagen heulte. Sie schleppten etwas Großes und Dickes herbei, das tröpfelte und knurrte und fluchte. Er drehte den
Der Anfänger Kopf zur Seite und erblickte seinen Bruder Dave. »Ich werd' verrückt«, schrie er heiser. Dann: »Wo ist Fete?« »Sie haben ihn erwischt«, flüsterte Sergeant Dave Glennan. »Ja. Er ist - tot... Die Leute sagen, du hät= test sie umgelegt -« »Nur den einen«, erwiderte Nick schmerzlich. »Aber den anderen habe ich k. o. gehauen, und er wird ebenfalls schmoren. Wer waren sie?« »Jack Novack war der eine«, keuch» te sein Bruder. »Schätze, der an» dere muß Micky Spando gewesen sein. Wir dachten schon immer, sie hätten damals den Lohngeldraub bei der Konservenfabrik gefin= gert... Ein Mann und eine Frau liegen oben tot. Ich glaube, das war die ganze Bande.« »Einer von ihnen trug einen gro= ßen Lederbeutel.« »Vielleicht hatten der Mann und die Frau die beiden anderen übers Ohr gehauen. Vielleicht hatten sie Krach um die Beute.« Eine Frau beugte sich zu Nick Glennan hinab und flüsterte: »Mi° ster, der kleine Junge im Taxi - es sind seine Tante und sein Onkel. Sie sind tot, oben in Nummer zwölf.«
»Was war das?« fragte Dave. Die Ärzte und ihre Helfer kamen und machten sich an ihnen zu schaffen. Draußen auf der Straße heulten die Sirenen der Ambulanz» wagen. Nick drehte den Kopf, so daß er zu Dave hinübersehen konnte. »Ein Junge, der sich verlaufen hat» te. Erzählte mir eine Geschichte, drüben im Zoo, und ich kam hier» her, um mir die Sache anzusehen, und rannte in diese Bescherung -« »Zoopolizist«, gurgelte Dave und machte die Augen zu. »Zoopoli» zist . . . Verlaufener Junge im Zoo ... Mein Gott...« Dann: »Wie steht's, Doc? Muß ich dran glauben?« »Hölle, nein«, polterte der Arzt. »Steckschuß zwischen den Schul" tern, das ist alles. Das Herz hätten die Ihnen rausschneiden müssen, um Sie zu töten, Dave.« Eine Frau hielt Buddy in die Höhe, als Dave und Nick auf ihren Tra= gen hinausgebracht wurden. »He, Dave.« Nick wies auf den Jungen. »Das ist der Kleine ... Hallo, Buddy.« »Ich hörte die Schießeisen«, schrie Buddy. »Sie machten einen lauten Radau.« Die Nachbarn umdrängten ihn 177
MacKinlay Kantor jammernd. »Ach, das arme Kind. Der arme kleine Kerl - jetzt hat er keinen mehr, der sich um ihn küm" mert.« »Ihr werdet überrascht sein«, ließ Streifenpolizist Nick Glennan sich vernehmen. »Wartet nur, bis ich wieder auf den Füßen bin. Wir werden - in den Zoo gehen. Oft. Nicht wahr, Buddy?«
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Dave hörte es und schüttelte matt den Kopf. »Zoo«, murmelte er. »Donnerwetter. Ein Zoopolizist -« »Und genauso hart wie du, du mo» torisierter Detektiv«, grinste Nick. Ihre Hände suchten und fanden sich, eine kleine Brücke von Trage zu Trage. Dann fuhren die Ambulanzen uns ter Sirenengeheul mit ihnen davon.
Ellery Queen
Die drei Witwen
Mord ist für den normalen Gau" men von höchst unerfreulichem Geschmack. Aber Ellery, in diesen Dingen ein Epikuräer, ist der Mei« nung, daß gewisse seiner Fälle einen goüt piquant besitzen, der noch lange auf der Zunge nach» wirkt. Und der Fall der drei Wit* wen wird unter diesen gefährlichen Delikatessen von ihm recht hoch eingeschätzt... Zwei der Witwen waren Schwe» stern - Penelope, der das Geld nichts, und Lyra, der es alles be» deutete; infolgedessen benötigten natürlich beide beträchtliche Men» gen davon. Noch jung an Jahren, hatte jede von ihnen ihren ver» schwenderischen Ehemann beerdigt und war sodann nach Murray Hill Mansion zurückgekehrt, dem Hau« se ihres verwitweten Vaters - recht
erleichtert, wie die Eingeweihten annahmen, denn der alte Theodore Hood war reichlich mit Geldmitteln versehen und hatte sich seinen Töchtern gegenüber stets außer" ordentlich großzügig gezeigt. Indessen - kurz nachdem Penelope und Lyra wieder in ihren Jungmäd» chenbetten heimisch geworden wa" ren, ehelichte Old Theodore eine zweite Frau, ein wahrhaft kathe" dralisches Weib von hoher Tugend und großer Charakterstärke. Beunruhigt entfachten die beiden Schwestern eine Art Familien» fehde, die von der Stiefmama grimmig entschlossen beantwortet wurde. Der arme Theodore, in ihrem Kreuzfeuer gefangen, lechzte nach nichts als Frieden und ent» wich daher alsbald in ein stilleres Jenseits, wodurch in Murray Hill 179
EIlery Queen Mansion ein aussAließlidi von Witwen bewohnter Haushalt zu° rückblieb. Eines Abends, nicht allzulange nach ihres Vaters Tod, wurden Penelope, die mollige, und Lyra, die magere, durch ein Dienstmäds chen in den Salon des Hauses ge= beten. Dort wartete Mr. Strake auf sie, der Familienanwalt. Mr. Strakes einfachste Äußerun= gen pflegten sich ohnehin anzuhö= ren wie der Urteilsspruch von den Lippen eines gestrengen Richters. Doch als er nun sagte »Bitte Platz z
Dr. Benedict räusperte sich und begann: »Letzte Woche kam Ihre Stiefmutter zur gewohnten Halb» jahresuntersuchung in meine Prä» xis. Ich untersuchte sie gründlich und konstatierte einen in Anbetracht ihres Alters außergewöhn» lieh guten Gesundheitszustand. Dodh am nächsten Tag war sie plötzlich krank, nebenbei bemerkt zum erstenmal seit acht Jahren. Ich glaubte zunächst, sie habe sich einen Darmvirus eingefangen. Aber Mrs. Hood gab eine durchaus an» dersartige Diagnose, die mir an» fangs recht phantastisch vorkam. Indes bestand sie auf gewissen Tests. Ich führte die gewünschten Tests durch, und es erwies sich, daß Mrs. Hood recht hatte. Sie war vergiftet worden!« Penelopes rundliche Wangen färb° ten sich langsam rot, und Lyras magere Wangen wurden langsam blaß. »Ich bin sicher«, fügte Dr. Bene= dict hinzu und richtete hierbei Blick und Stimme auf einen genau zwischen den Schwestern gelege= nen Punkt, »daß Sie verstehen, weshalb ich Ihre Stiefmutter von jetzt ab jeden Tag untersuche.« »Mr. Strake, bitte«, lächelte die alte Mrs. Hood.
Die drei Witwen »Gemäß Ihres Vaters Testament«, bellte Mr. Strake, ebenfalls an den imaginären Punkt gewandt, »erhält jede von Ihnen kleine re° gelmäßige Bezüge aus den Ertrag' nissen des Kapitals. Der Haupt= anteil aus diesen Erträgnissen geht, solange sie lebt, an Ihre Stiefmutter. Nach Mrs. Hoods Hinscheiden jedoch wird das Ka= pital von mehr als zwei Millio= nen Dollar zu gleichen Teilen an Sie beide fallen. Mit anderen Wor= ten - Sie beide sind die einzigen Personen auf der Welt, die vom Tod Ihrer Stiefmutter Nutzen hät= ten. Ich habe sowohl Mrs. Hood wie auch Doktor Benedict wissen lassen, daß ich bei der geringsten Wiederholung jenes abscheulichen Vorfalles auf Hinzuziehung der Polizei bestehen werde.« »Ziehen Sie sie sofort hinzu«, rief Penelope. Lyra saß reglos da und äußerte nichts. »Ich könnte die Polizei sofort hin= zuziehen, Penny«, bemerkte Mrs. Hood mit mattem Lächeln, »aber ihr zwei seid ja so schlau, daß wohl nichts dabei herauskommen würde. Am besten wäre meine Si= cherheit gewährleistet, wenn ich euch beide aus diesem Hause jagte.
Unglücklicherweise verbietet eures Vaters Testament mir das ... Oh, ich verstehe eure Ungeduld, mich loszuwerden. Ihr habt verschwen= dorische Bedürfnisse, die durch meinen einfachen Lebensstil nicht befriedigt werden. Ihr beide mödi» tet wieder heiraten, und mit dem Geld könntet ihr euch neue Ehe° männer kaufen.« Mrs. Hood er= hob sich. »Aber ich habe schlechte Kunde für euch. Meine Mutter starb mit neunundneunzig, mein Vater mit hundertunddrei Jahren. Doktor Benedict sagte mir, daß ich gut und gerne noch dreißig Jahre zu leben hätte, und ich habe die ernstliche Absicht, dies zu tun.« Ihr Lächeln vertiefte sich. »Ich werde nun bestimmte Vorsichts= maßnahmen treffen, um midi vor neuen tückischen Anschlägen auf mein Leben zu sichern«, sagte sie noch. Dann ging sie hinaus, von Dr. Benedict und Mr. Strake be= gleitet ... Genau zwei Wochen später saß EIlery, gespannt und besorgt be= obachtet von Dr. Benedict und Mr. Strake, neben Mrs. Hoods impo= santem zweischläfrigem Maha= gonibett. Die alte Lady war abermals ver= 181
EUery Queen giftet worden, aber zum Glück hatte Dr. Benedict die Symptome frühzeitig erkannt und das Schlimmste verhindert. Ellery beugte sich hinab zu ihr, deren Gesicht so weiß war, daß es eher aus Gips, als aus Fleisch zu bestehen schien. »Jene Vorsichts" maßnahmen, die Sie ergriffen hat" ten, Mrs. Hood -« »Ich versichere Ihnen«, flüsterte sie, »es war eigentlich unmöglich.« »Dennoch ist es geschehen«, erwi» derte Ellery. »Rekapitulieren wir - Sie haben die Fenster Ihrer Räume vergittern, alle in den Kor» ridor mündenden Türen durch Pa= tentriegel sichern und die einzige zum Eine und Ausgehen benutzte Tür, nämlich die dieses Zimmers, mit einem neuen Schloß versehen lassen, dessen einzigen Schlüssel Sie stets bei sich tragen. Sie ha« ben Ihr Essen selbst eingekauft, haben es auf dem kleinen Elektro' herd im Alkoven eigenhändig zu" bereitet und haben allein in die= sem Zimmer gespeist. Da sie die benötigten Eßwaren überdies stets in anderen Geschäften einkauften, ist es also ausgeschlossen, daß das Gift dem Essen vor, während oder nach der Zubereitung beigegeben worden sein kann. Des weiteren 182
haben Sie sich Teller, Kochtöpfe, Gläser, Tassen und alles sonstige Zubehör neu gekauft und in einem anderen Alkoven verwahrt, wo= durch feststeht, daß nur Sie selbst mit diesen Dingen in Berührung kamen. Demnach kann sich das Gift auch nicht an einem der Tel= ler, Töpfe, Bestecks, Gläser oder sonstigen Utensilien befunden ha" ben... Wie aber ist es Ihnen dann beigebracht worden, Mrs. Hood?« »Eben dies ist unser Problem!« rief Dr. Benedict. »Ein Problem, Mr. Queen«, bellte Mr. Strake, »von dem ich meine, und Doktor Benedict schloß sich dieser meiner Auffassung an, daß es mehr auf Ihrer Linie liegt als auf jener der Polizei.« »Nun«, erwiderte Ellery, »die Dinge, die auf meiner Linie liegen, sind meistens höchst einfach — vorausgesetzt allerdings, daß man nicht vor lauter Bäumen den Wald übersieht ... Mrs. Hood, ich hätte Ihnen da noch eine ganze Menge Fragen zu stellen, falls Doktor Be= nedict es erlaubt.« Dr. Benedict befühlte den Puls der alten Lady und nickte. Ellery begann zu fragen. Mrs. Hood antwortete flüsternd, aber mit großer Entschiedenheit.
Die drei Witwen Ja, sie habe sich eine neue Zahnbürste und eine neue Tube Zahn« pasta gekauft. Ja, die Zähne seien noch ihre eige« nen. Nein, sie habe eine Abneigung ge« gen Medikamente und gebrauche weder Pillen noch Pülverchen noch Tinkturen irgendwelcher Art. Nein, sie trinke nichts als Wasser. Und, in Maßen, Maxwell=Kaffee mit Dosensahne. Nein, sie rauche nicht, esse keine Süßigkeiten, kaue keinen Gummi und verwende keinerlei kosmeti« sehe Mittel. Die Befragung dauerte fort und fort. Ellery fragte, was ihm nur einfallen wollte, und strengte sei= nen Verstand an, um sich immer mehr einfallen zu lassen. Schließlich dankte er Mrs. Hood, tätschelte ihr ermutigend die Hand und ging mit Dr. Benedict und Mr. Strake hinaus. »Welche Diagnose stellen Sie, Mr. Queen?« fragte der Doktor. »Ihren Urteilsspruch, bitte?« bell= te Mr. Strake. »Gentlemen«, sagte Ellery, »nach» dem ich nun, da Mrs. Hood nur Wasser beziehungsweise ein we= nig Maxwell'Kaffee trinkt, die Wasserleitungen in ihrem Bade«
zimmer untersucht habe und dabei zu dem Ergebnis gekommen bin, daß an ihnen nicht herumge» fingert wurde, ist auch die letzte Möglichkeit einer Einwirkung von außen abgetan.« »Und doch wurde ihr das Gift durch den Mund beigebracht!« schnappte Dr. Benedict. »Das ist mein Befund! Ein absolut eindeu« tiger und wissenschaftlich erhärte« ter Befund!« »Wenn dem so ist, Doktor«, seufzte Ellery, »bleibt nur eine einzige Erklärung.« »Und die wäre?« »Daß Mrs. Hood sich selbst ver= giftet. Ich an Ihrer Stelle würde einen Psychiater hinzuziehen. Gu« ten Tag, meine Herren!« Anderthalb Wochen später hielt sich Ellery wieder in Sarah Hoods Schlafzimmer auf. Die alte Lady lebte nicht mehr, sie war einer abermaligen Vergiftung erlegen. Als er hiervon erfuhr, hatte Ellery zu Inspektor Queen, seinem Vater, sofort gesagt: »Na» türlich Selbstmord!« Aber es war kein Selbstmord. Die denkbar gründlichsten Untersu» chungen durch erfahrene Spezia» listen der New Yorker Polizei, die 185
Ellery Queen sich auf die modernsten Hilfsmit» tel der kriminologischen Wissen» schaft stützen konnten, vermoch= ten nicht die leiseste Spur des Gif= tes oder eines irgendwie gearteten Giftbehälters in Mrs. Hoods Räu= men ausfindig zu machen. Überlegen lächelnd erschien Ellery persönlich am Ort des Geschehens. Sein Lächeln verging. Er fand nichts, was im Widerspruch zu den seinerzeitigen Angaben der alten Lady oder zu den Festste!' lungen der Polizeiexperten gestan= den hätte. Er ließ die Dienstboten schmoren. Mit erbarmungsloser Härte verhörte er Penelope, wel= ehe fortfuhr zu schluchzen, und Lyra, welche fortfuhr zu fauchen. Alles vergebens. Er ging, und das Geheimnis blieb. Es war ein Problem jener Art, die Ellerys Denkapparat einfach nicht auf sich beruhen lassen kann, un= geachtet aller Proteste seines Kör= pers. Sechsundvierzig Stunden ver» brachte er so, rastend und schlaf» los, ununterbrochen bald in die» sem, bald in jenem Zimmer der Queenschen Wohnung hin und her marschierend. In der sieben' undvierzigsten Stunde packte In= spektor Queen ihn am Arm, steckte ihn ins Bett und holte das 184
Fieberthermometer, um seine Tem= peratur zu messen. »Dachte ich's mir doch!« knurrte der Inspektor, als er zehn Minu= ten später finster auf das Thermo= meter schielte. »Beinah neunund= dreißig! Was quält dich. Junge?« »Mein gesamtes Dasein, solange es derart nutzlos scheint«, mur= melte Ellery und fügte sich der vä= terlichen Therapie, die auf Aspi= rintabletten, einem Eisbeutel und einem großen, mageren, in Butter gebratenen Kalbssteak beruhte. Mitten beim Verzehren des Steaks brüllte er auf, als sei er plötzlich verrückt geworden, und langte zum Telefon. »Mr. Strake? Ellery Queen! Tref= fen Sie mich in zwanzig Minuten im Hoodhaus! Benachrichtigen Sie auch Doktor Benedict ... Ja, ich weiß jetzt, wie Mrs. Hood vergif» tet wurde!« (Lieber Leser, geneigte Leserin - Sie haben alle Tatsachen. Bitte, unterbrechen Sie die Lek= türe für ein paar Minuten und denken Sie nach: Wie wurde Mrs. Hood vergiftet?) Und als sie im Salon des Hood= hauses versammelt waren, mu=
Die drei Witwen sterte Ellery zuerst Penelope, dann Lyra und fragte rauh: »Welche von Ihnen beabsichtigt Doktor Benedict zu heiraten?« In normalem Ton fügte er hinzu: »Ja, das muß es sein! Nur Pene= lope und Lyra haben Nutzen an der Ermordung ihrer Stiefmutter. Doch der einzige Mensch, der physisch in der Lage war, den Mord zu begehen, ist Doktor Be= nedict ... Doktor, fragten Sie, wie?« erkundigte sich Ellery. »Nun, ganz einfach ... Mrs. Hood erkrankte zum erstenmal an Ver=
giftungserscheinungen, nachdem die übliche Halbjahresuntersu» chung erfolgt war - durch Sie, Doktor. Und hiernach verkünde= ten Sie, nunmehr würden Sie Mrs. Hood jeden Tag untersuchen ... Es gibt eine klassische Einleitung zu jeder routinemäßigen ärztlichen Untersuchung. Und ich vermute, Doktor -«, Ellery lächelte, »daß Sie das Gift mit eben jenem Fie= berthermometer in Mrs. Hoods Mund einführten, mit dem Sie ihr die Temperatur zu messen pflegs ten ...«
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Charlotte Armstrong
Die Hecke
Der Mann namens Russell, von Beruf Rechtsanwalt, saß im vollen Licht einer Stehlampe, deren Schein auf das braun gebundene Tagebuch in seinen Händen fiel. Ein Mann namens John Selby, Kaufmann in der kleinen Stadt, kauerte in einem niedrigen Sessel; sein Kopf war nach vorn geneigt und sein Gesicht also verborgen, aber das Lampenlicht traf seine nervös ineinander verschlungenen Hände. Tom Barker, der Polizei= chef der Stadt, saß halb im Schat' ten. Dr. Coles, der Arzt, stand an der Wand neben einer angelehn= ten Tür. Es war ein Uhr nachts. Arzt, Anwalt, Kaufmann, Polizei' chef ... »Also?« knurrte der Polizeichef. »Wir wissen ja, Russell, daß Sie, wie John Selby sagte, ein kluger 186
Mann sind. Kommen mitten in der Nacht, da man Sie ruft, hören sich fünf Minuten lang an, was wir Ihnen über die Göre erzählen, und sind sicher, daß da irgendwo ein Tagebuch sein muß. Sie stö= bern ein bißchen herum und fin= den es. Weshalb wollen Sie jetzt nicht nachsehen, was darin steht?« »Ich warte auf eine Autorisation«, entgegnete der Anwalt milde. »Es ist nicht an mir, aus eigener Macht' Vollkommenheit darin zu blättern. Sehen Sie hier die Aufschrift: Me= redith Lee, persönlich und privat! Wie dürfte ich unerlaubt in ihre Geheimnisse eindringen? Aber John Selby ist ihr Onkel, und Co» les ist ihr Arzt. Und Sie, Barker, verkörpern Gesetz und Ordnung in dieser Stadt.« Dr. Coles wandte plötzlich den
DieHeAe Kopf zur Seit«? und spähte durch den Türspalt. »Irgendeine Änderung?« fragte der Polizeichef gespannt. »Nein«, sagte der Doktor. »Sie ist nach wie vor bewußtlos ... Nun machen Sie schon, Russell. Seien Sie nicht allzu pedantisch. Immer= hin ist sie nur ein Kind.« »Ja - los, Russell«/ bekräftigte der Polizeichef. »Sehen Sie nach, ob irgend etwas darin steht, was uns nützen kann. Sehen Sie nach, ob das Tagebuch erklärt -« »Erklärt«, brummte der Anwalt, »wie ein fünzehnjähriges Mäd= dien binnen vier Tagen ein sieben Jahre zurückliegendes Mordge= heimnis löst.« »Gelöst hat sie es keineswegs«, schnappte der Polizeichef. Der Anwalt ignorierte ihn. »Was sagen Sie, Selby7 Sie ist Ihre Nichte. Sollen wir ihr privates und persönliches Tagebuch lesen?« Selby machte eine Ungewisse Handbewegung und blieb stumm. »Lesen Sie es, Russell«, verlangte der Polizeidie- »Wenn Sie nicht mögen, mache ich es. Die festge. nommene Person redet ja nicht.« »Wie die Dinge liegen«, sagte der Arzt, »kann das Mädchen nichts dagegen haber»-"
»Ich bin genauso neugierig wie Sie alle«, erklärte Russell, schlug das Tagebuch auf und begann laut zu lesen. Meredith Lee - Notizen und Anmerkungen. 25. Juli Bin nach langer Zeit wieder hier bei Onkel John. Meine Eltern wollen mich für zwei Wochen los sein, weil sie nach New York fahren. Habe keinen Grund, mich zu beklagen. Ist mir uns möglich, gelangweilt oder ge° kränkt zu sein. Die menschliche Natur kann ich überall Studie» ren. Onkel John sieht noch fast ge" nauso aus. Fängt an, graue Haare zu kriegen. Ist jetzt Sie» benunddreißig. Warum hat er nicht geheiratet? Mama sagt (nicht zu mir, aber ich habe es erlauscht), er hegt seinen Hage= stolz (lies: Junggesellendünkel). Er spielte ganz guter Onkel und tat sehr erfreut, als ich gestern abend ankam. Aber in Wirk= lichkeit hat er keine Ahnung, was er mit mir soll, ausgenom» men nur, daß er der Haushalte» rin sagte, sie müßte mich satt und sauber halten. Ganz gut, daß ich eigene Interessen habe! 187
Charlotte Armstrong Russell blickte auf. Der Polizei' chef kaute an einem seiner Schnurrbartenden. Der Doktor grinste unverhohlen. John Selby murmelte geniert: »Sie hat völlig recht. Narr, der ich war ... Ich wußte wahrhaftig nicht/ was ich mit ihr soll.« Er stützte den Kopf in die Hände. »Weiter«, verlangte der Polizei» chef. Russell setzte das Vorlesen fort. Ging heute früh als erstes zu Crowfields Drugstore; kaum verändert seit damals, sehr maß= voll modernisiert. Guckte mir alle Läden auf der Hauptstraße an. Hatte es vergessen, aber meine Güte! - es ist typisch. Alles sehr gesetzt. Kein Prunk, andererseits auch keine Dürf= tigkeit. Sehr mittelprächtig. (NB: Keine Logik in dieser Phrase; nichts kann sehr mittelprächtig sein, aber das Wort sagt genau, was ich fühle.) Auf dem Heimweg: eine Ent= deckung! Zwischen Onkel Johns Haus und dem Nachbarhaus wuchert eine hohe dichte Hecke. Die Nachbarin war an ihren Blu= menbeeten beschäftigt. (Be= Schreibung: klein und ganz 188
hübsdi rundlich, vorne und hin» ten. Dunkles Haar mit einigen Silberfäden. Kunstvoll zurecht= gemacht. Effekt: einigermaßen jugendlich.) Erfüllt von Neugier/ blieb ich an ihrem Straßenzaun stehen und stellte mich vor. Sie ist eine Ent= deckung! Sie gilt als femme fa= tale (lies hier; Verderbte Witwe) und wurde mir prompt verbo= ten! Das hatte ich nicht geahnt. (NB: Übe das präzise Erinnern an Dialoge!) V. W.: Mr. Seibys Nichte, na= türlich. Ich entsinne mich deiner, meine Liebe. Du bist als kleines Mädchen öfter hier gewesen, nicht wahr? Das letztemal-war es nicht vor ungefähr sieben Jahren? Ich: Ja, so lange ist es her. Aber ich entsinne mich Ihrer nicht, Madame. V. W.: Nein? Ich bin Josephine Corcoran. Wie alt warst du da» mals, Meredith? Ich: Erst acht Jahre. V. W.: Erst acht Jahre? Damit war ein toter Punkt er» reicht. Ich gedachte nicht, es nochmals zu wiederholen (ein gräßlicher Sprachgebrauch, diese Art von überflüssiger Bestätig
Die Hecke gung; man verschwendet nur Zeit damit). Ich blickte also um" her und erinnerte mich an etwas. Ich: Oh, ich sehe, mein Baum» haus ist mittlerweile verschwur»» den. V. W.: Dein Baumhaus? (NB: Sie wiederholte alles, was ich sagte, und zwar als Frage. Dum» me Angewohnheit? Oder Tak= tik, um nachzudenken?) Ach ja, ich erinnere mich. In dem großen Ahombaum, nicht wahr? Ich: Mr. Jewell - Sie kennen On= kel Johns Gärtner? - baute es damals für mich. Ich hatte eine Decke dort oben und Kissen und wollte niemals herabkommen. V. W.: Wolltest niemals herab" kommen? Ja, ich erinnere mich. Acht Jahre alt, und dein Onkel erlaubte dir, manche Nacht dort oben zu verbringen! (NB: Sie sagte es in besorgtem Ton und zog ein entsprechendes Gesicht. Weshalb? Wäre ich damals her» untergefallen und dabei ums Le= ben gekommen, würde ich jetzt nicht mit ihr sprechen. Erwach" sene machen sich immer noch nachträglich Sorgen.) Ich: Oh, Onkel John hatte wenig damit zu tun. Mama denkt ver= nünftig - sie kannte mein Baum=
haus und wußte, daß ich dort si° eher war. Es hatte ein Geländer ringsum. Und ich zog immer meine Strickleiter hinauf. Nie» mand konnte midi ohne große Mühe herunterholen. Ich war da» mals ein Wildfang. V. W.: Ein Wildfang? Ja, ja sieben Jahre sind eine lange Zeit. (NB: Kein billiger Scherz; sie blickte ernst und nachdenklich drein und lächelte überhaupt nicht. In diesem Moment hatte ich das Gefühl, ich könnte mich mit ihr anfreunden, und das ist sehr ungewöhnlich. Sie muß etwa Dreißig sein. Ich habe die» ses Gefühl sonst nur bei wirk» lieh alten Leuten und manchmal bei Leuten bis zu Achtzehn. Aber die Leute dazwischen, besonders die in den Dreißigern, sind hol» zem und unzugänglich, wie On° kelJohn.) Nun, der Dialog der V. W. war nicht gerade brillant, aber er ließ auf ein gewisses Verständnis schließen. Ob ich viele Freunde in meinem Alter hätte? Ich sagte nein. Und sie sagte, sie hoffe, daß ich nicht einsam wäre. Ich sagte, daß ich die Absicht habe, Schriftstellerin zu werden, und daß ich dann wahrscheinlich im» 189
Charlotte Armstrong mer recht einsam sein würde. Und sie sagte/ ja/ sie nähme an/ das sei wahr. Mir gefiel diese Unterhaltung; es passiert nicht oft, daß mir ein Erwachsener ernsthaft zuhört und auf das eingeht, was ich sä' ge. Und wenn die V. W. auch manchmal von einem neuen Ge= danken überrascht schien - sie wirkte niemals amüsiert. Meine Absicht im Leben ist nicht, zu amüsieren, und es gibt eine Art von amüsiertem Erwachsenenlä= cheln, die mich anödet. Ich fing an, die V. W. zu mögen. Doch dann, beim Dinner, sobald ich gesagt hatte, ich hätte sie ge= troffen, wurde sie mir verboten! Onkel John (nach zweimaligem Räuspern): Meredith, ich fürch= te, du solltest lieber, äh ... (Er blieb stecken; das tut er häufig.) Ich: Lieber was? 0. J.: Äh ... Mrs. Corcoran und ich, äh/ wir stehen nicht beson» ders gut miteinander/ äh, äh, und ich meine, du solltest, äh, soll» test lieber nicht, äh ... (Er blieb wieder stecken.) Ich: Warum nicht? Hast du Streit mit ihr? 0. J.: Nein, nein. Ich, äh, ich denke bloß, äh...
Ich: Was? Ich finde, sie ist sehr nett. O.J.:Äh...Äh... (Sehr steif) Du bist kaum in der Lage, mein liebes Kind, irgend etwas dar« über zu wissen. Aber ich fürchte, äh, sie ist keine Frau, die deine Mutter, äh, die deine Mutter als geeigneten Umgang, äh... Ich: Was für eine Frau ist sie denn? (NB: Aus Onkel John muß man es regelrecht heraus« quälen.) 0. J. (entschieden): Sie ist ge« sellschaftlich nicht tragbar. Ich: Was? Um Himmels willen, Onkel John! Dies ist doch das dümmste Zeug, das ich je gehört habe! Wieso nicht tragbar? 0. J. (sehr steif): Dies ist kein dummes Zeug. Und es ist nicht leicht zu erklären, wieso. (Er sah mich an, als zweifle er, ob ich überhaupt imstande sei, so et= was schon zu verstehen.) Viel= leicht, äh, wenn du erfährst, daß es da vor Jahren, äh, eine sehr befremdliche Angelegenheit ge= geben hat... Nun gut, also ihr Mann wurde, äh, unter recht merkwürdigen Umständen er= schössen... Ich: Erschossen? Du meinst er" mordet? Oh, Boy! Wie? Wann?
DieHeAe Warum wirkte Onkel John so verkniffen? Dachte er, es würde mich ängstigen? Erinnern sich Leute über Dreißig nicht daran, daß sie von interessanten Din« gen alles andere als geängstigt wurden? Aber er war ein Weil» chen so steif, daß er kein Wort mehr über die Lippen brachte. Immerhin quälte ich es nach und nach aus ihm heraus. Und ich denke, es ist einfach mit" leiderregend. Ich begreife nicht, warum Onkel John nicht sieht, wie mitleiderregend es ist. Die arme Mrs. Corcoran! Ihr Mann kam eines Abends spät nach Hause, und als er vor seiner eigenen Haustür stand, traf ihn von hinten ein tödlicher Schuß. Sie fanden den Revolver, aber sonst nichts. Mr. Corcoran wur= de nicht beraubt. Es ist ein» fach ein Rätsel. Und weil es ein Rätsel blieb und niemand etwas herausbekam, hat man die arme Mrs. Corcoran behandelt, als wäre sie eine Mörderin! Ich schäme mich für Onkel John. Weiß Gott - er hegt seinen Hagestolz! Er läßt die Grenz= hecke immer höher und immer dichter wachsen und hält es mit den selbstgerechten Spießbür»
gern dieser Stadt! Scheint so, als hätte seit damals niemand mehr sie für gesellschaftlich tragbar erachtet! Wunderbar! Man be= handelt sie als femme fatale (bzw. verderbte Witwe), einfach, weil ihr Mann von jemandem umgebracht wurde, den man nicht ermitteln konnte! Wahr» scheinlich denken die selbstge« rechten Spießbürger, einer re" spektablen Person könne so et° was nicht passieren. Und ob es das kann! Sie tut mir sehr leid, die arme Mrs. Corcoran. Aber nun kommt der Knüller ich habe ihn für den Schluß der heutigen Eintragung aufgehe« ben: Es ist mein Mord! Ich habe es aus Onkel John her" ausgequält. Oh, Boy - es ist eine Sensation! Ich war in jener Nacht oben in meinem Baum' haus! Ich erinnere mich nur ganz unklar, daß und mit welcher Über" stürzung ich damals mitten in der Nacht aus meinem Baum= haus geholt wurde und daß ich gleich am nächsten Morgen ab= reisen mußte, obwohl die Ferien doch noch längst nicht vorbei 191
Charlotte Armstrong waren. Ich habe bis auf den heu= tigen Tag nie erfahren/ weshalb. Grundgütiger Himmel! Acht Jahre alt. Ich schlafe in meinem Baumhaus, und beinah direkt unter mir ereignet sich ein Mord! Und ich erfahre nichts davon! Sie haben mir einfach nichts er= zählt! Nicht mal eine einzige Frage haben sie mir gestellt! Wunderbar! Ein richtiger Mord in meinem Leben, und ich weiß nicht das geringste davon! Der Anwalt hielt inne. Der Doktor bewegte sich und spähte wieder durch die Tür. Drei fragende Ge= sichter starrten ihn an. Er sagte: »Nichts Neues. Es kann noch eine gute Weile dauern, ehe sie wieder zu Bewußtsein kommt. Sorgen brauchen wir uns aber nicht zu machen.« John Selby, den Blick ins Leere ge= richtet, murmelte: »Meine Schwe= ster hätte, äh, hätte sie nie wieder zu mir schicken sollen. Ich weiß ja wirklich nicht, wie man mit einem solchen Kind umgehen muß. Ein unverzeihlicher Fehler, daß ich ihr davon erzählte. Aber ich habe ernstlich geglaubt -« »Daß sie daraufhin die Witwe meiden würde?« fragte der An» walt nicht ohne Ironie. 192
»Ja/ das habe ich geglaubt. Ich Narr!« »Moment mal«, ließ sich der Poli= zeichef vernehmen. »In ihrem Tagebuch schreibt sie, daß sie nicht das geringste davon weiß. Das gibt doch gar keinen Sinn!« »Wir kennen bisher nur die Ein= tragung vom dreiundzwanzigsten Juli«, sagte der Anwalt. »Jetzt kommt der fünfundzwanzigste Juli. Sehen wir, was wir dort finden.« Ich konnte es nicht aushallen. Ich vermag einfach an nichts an° deres zu denken als an meinen Mord. Ich mußte mehr darüber herausfinden. Heute nachmittag war'ich zum Tee bei der Witwe. Ich glaube nicht, daß sie verderbt ist. Trau= rig ist sie, sehr traurig. Sie war wieder im Garten. Ich konnte mir denken, daß sie mich auch gestern den ganzen Tag lang auf der anderen Seite der Hecke ge= sehen hat. Aber heute sprach sie mit mir. So ging ich hinüber, voller Hoffnung, sie ein wenig auszufragen. Sie begrüßte mich nervös: »Hof= fentlich wird dein Onkel nicht böse, wenn er erfährt, daß du bei mir warst?« Ich versuchte zu erröten und
Die Hecke
antwortete: »Oh, Mrs. Corco» ran, Onkel John erzählte mir von der schrecklichen Sache, die mit Ihrem Mann passiert ist. Und zu denken, daß ich zu dieser Zeit oben in meinem Baumhaus war! Ich kann überhaupt nicht auf= hören, daran zu denken!« »Denk lieber nicht daran«, sagte sie ziemlich bedrückt. »Es ist so lange her. Dein Onkel hätte es dir nicht erzählen sollen.« »Oh«, rief ich, »ich habe ihn da° zu veranlaßt! Und da ich es nun weiß, denke ich immerzu daran, daß ich eigentlich genau hätte hören und sehen müssen, was geschah! Das Schlimmste ist nur - ich war damals noch so klein, ich kann mich nicht erinnern, und das macht mich ganz wild!« Sie sah mich so komisch an, daß ich dachte/siewürde sagen: »Oh, wenn du dich doch nur erinnern könntest ...« Tatsächlich aber sagte sie: »Wenn du noch mehr Kekse möchtest - bitte, nimm. dir nur.« »Zu schlimm, daß es ein Rätsel ist«, sagte ich. »Warum konnte man es nicht lösen? Sie wün= sehen doch sicher, es wäre ge= löst worden. Aber vielleicht ist es noch nicht zu spät.«
Sie schien verstört. (NB: Warum reißen die Menschen, wenn sie erschrecken, die Augen so weit auf, daß viel mehr Weißes zu sehen ist? In der Schule beim Biologielehrer danach fragen.) »Ich wünschte. Sie würden mir die Einzelheiten erzählen«, sagte ich. »Fand man überhaupt nichts heraus?« »Nein, nein ... Mein liebes Kind, ich denke, es ist besser, wir sprechen nicht davon. Das ist keine Sache, über die ein net" tes junges Mädchen nachdenken sollte.« Ich war sehr enttäuscht. »Mrs. Corcoran, vorgestern dachte ich besser über Sie. Zum Beispiel, weil Sie nicht lachten, als ich erwähnte, daß ich damals ein Wildfang war. Die meisten Er= wachsenen hätten gelacht — wes= halb, das werde ich allerdings nie verstehen. Natürlich bin ich jetzt ganz anders, denn sieben Jahre machen einen großen Un° terschied. Aber ich kann einfach nicht eingehen, warum ich es nicht wissen sollte.« Sie lehnte sich zurück und wirkte über= rascht. »Also enttäuschen Sie mich jetzt nicht, indem Sie mich noch als achtjähriges Kind be= 195
Charlotte Armstrong trachten«, fügte ich hinzu, »ob= wohl ich wahrscheinlich einer der vorurteilslosesten und auf= geschlossensten Menschen hier in der Gegend bin.« Sie nagte an ihren Lippen und starrte mich an. Gekränkt war sie nicht. Ich glaube, sie ist sehr intelligent und verständig. »Ich werde über diese Sache nachgrübeln, und Sie können mich nicht daran hindern«, sagte ich. »Ich wünschte nur, ich könnte helfen. Ich habe mir schon gedacht-vielleicht kann ich mich doch erinnern, wenn ich es ganz fest versuche.« »O nein«, sagte sie schnell/ »nein, liebes Kind. Ich danke dir. Ich weiß, daß du helfen möchtest. Aber du warst damals erst acht. Ich nehme nicht an, daß jemand dir glauben würde.« »Und jetzt bin ich erst fünf» zehn«, erwiderte ich, »und nie= mand wird es mir erzählen.« »Oh, meine Liebe«, sagte sie süß, »du bist eine ganz außer» gewöhnliche Fünfzehnjährige... Wenn ich dir nun davon erzähle, Meredith, und du siehst, wie hoffnungslos es ist - denkst du, daß du es dann vielleicht auf sich beruhen lassen kannst?«
Ich versicherte, ja, das dächte ich. (Welch eine Lüge!) »Harry, mein Mann, kam häufig spät nach Haus, so auch in jener Nacht«, sagte sie. »Ich war nicht beunruhigt darüber, ich legte midi zur gewohnten Zeit ins Bett und schlief. Dann wurde ich durch irgend etwas aufgeweckt. Ich weiß nicht, wodurch. Das Schlafzimmerfenster stand offen. Es war sehr warm, hochsommer= lieh. Ich lag in meinem Bett und lauschte. Damals stand im Vor= garten eine große Ulme. Sie ist jetzt nicht mehr da - sie bekam die Ulmenkrankheit und mußte gefällt werden. Aber in jener Nacht konnte ich die Schatten ihrer Blätter sehen, die der Voll= mond auf die Zimmerwand rechts neben dem Fenster warf. Die Blätter bewegten sich ein wenig und raschelten ganz leise. Es war eine zauberhaft stille Sommernacht.« (NB: Sie ist ziemlich gut in Stimmungsschil= derungen.) »Ich war also wach geworden«, fuhr sie fort. »Aber außer dem Blätterrascheln hörte ich nichts, bis plötzlich - ein Schuß ertönte. Ich erschrak furchtbar. Reglos und voller Angst lag ich da wie
Die Hecke gelähmt ... Harry schrie nicht. Auch kein anderes Geräusch war zu hören, nur das leise Rascheln der Blätter. Dann, auf einmal, war mir, als hörte ich ein kräf= tigeres Rascheln. Ich zwang mich, aus dem Bett zu springen und ans Fenster zu eilen. Da sah ich deinen Onkel John.« Sie stockte, und ich hatte einige Mühe, sie zum Weiterreden zu bewegen. »Nein, dein Onkel John war nicht in unserem Vorgarten. Er zwängte sich von seinem Grunds stück her gerade durch die Grenz" hecke, die damals kaum halb so hoch und so dicht war wie heute. Und dann sah ich auch Harry. Er lag auf der flachen Stufe vor unserer Haustür. Ich lief zur Schlafzimmertür. Im Korridor, am oberen Ende der Treppe, stand meine Köchin, bleich und entsetzt. Wir rannten hinunter und machten die Haustür auf. Dein Onkel stand neben Harry und sagte mir, daß Harry ... nicht mehr lebe. (NB: Bemer= kenswert dezent formuliert.) Dann eilte er an mein Telefon, um den Doktor und den Polizei» Aef herbeizurufen. Mir war ganz elend, und meine Beine
zitterten so sehr, daß idi midi auf einen Stuhl in der Halle setzen mußte ... Aber ich erin» nere mich jetzt, daß deinem On» kel, nachdem er die Telefonate erledigt hatte, plötzlich einzu= fallen schien, wo du stecktest jedenfalls rannte er zu seiner Garage nach einer Leiter, um dich aus deinem Baumhaus zu holen.« »Verwünscht!« murmelte ich. Sie wußte, was ich meinte, denn sie sagte sofort: »Natürlich kannst du dich an nichts erin= nern. Du mußt geschlafen ha= ben. Die meisten Kinder haben einen sehr festen Schlaf. Wahr= scheinlich bist du auch beim Herunterholen gar nicht richtig aufgewacht.« »Ich nehme es an«, pflichtete ich ärgerlich bei. »Wie ging die Sa= ehe weiter?« »Nun, die Polizei kam sehr schnell - Chef Barker persön= lieh. Ebenso Doktor Coles. Sie fanden den Revolver in der Hecke. Sie konnten nichts über ihn ermitteln. Er war ohne Fin= gerabdfückc. Es gab auch keine Fußspuren bei dem trockenen Wetter, das damals herrschte. So konnten sie die Sache niemals 195
Charlotte Armstrong
aufklären. Und das, liebes Kind«, sie zuckte die Schultern, »das ist alles.« Sie trank von ihrem Tee und wirkte sehr streng. Ich fragte: »Gab es keine Ge= richtsverhandlung?« »Es gab niemanden, gegen den verhandelt werden konnte.« »Nicht Sie, Mrs. Corcoran?« »Niemand klagte mich an«, sag» te sie mit mattem Lächeln. Aber ihre Augen waren so traurig. »Und doch tat man es!« rief ich hitzig. »Man verurteilte Sie so= gar!« »Liebes Kind«, entgegnete sie sehr ernst, »du darfst nicht ver= suchen, eine Heldin aus mir zu machen. Chef Barker und Dok= tor Coles und gewiß auch dein Onkel John taten alles, was in ihrer Macht stand, um die Sache aufzuklären. Aber sie konnten nkht herausfinden, wer es ge= wesen war, oder auch nur wes= halb. Verstehst du? So . . . « Sie seufzte und war auf einmal sehr nervös. »So begann sich alles gegen Sie zu wenden!« rief ich wütend. »Oder^ woher käme sonst die un= durchdringliche Hecke? Warum würde Onkel John mir sonst verbieten, mit Ihnen zu spre»
chen? Weshalb glaubt er. Sie wären so verderbt?« »Glaubt er, ich wäre verderbt? Nun, Meredith - ich bin weder verderbt, noch bin ich eine Hei= lige. Ich bin einfach ein Mensch.« Ich habe immer gedacht und denke es auch jetzt noch, daß dies eine billige Phrase ist. Aber sie ist nützlich! Sie bringt einen dazu, für jeden, der sie ge= braucht, so zu empfinden, als hätte er eben etwas ganz Unge= heuerliches bekannt - etwas, das man selbst nicht so leicht beken= nen würde (es sei denn, man würde ertappt). »Harry und ich«, sagte sie, »wir kamen nicht immer gut miteins ander aus, aber das ist bei den meisten Ehepaaren so. Er trank ziemlich stark. Viele Männer tun das. Natürlich bemerkten unsere Nachbarn, daß bei uns nicht alles stimmte. Einige von ihnen, das weiß ich, bedauerten mich. Aber ich«, ihr Ausdruck war jetzt wirklich bitter, »ich sollte dir so etwas nicht erzäh= len. Warum vergesse ich, daß du noch so jung bist? Wahrhaf» tig - ich hätte es dir nicht er= zählen sollen! Vergib mir. Und laß dich durch das, was ich dir
Die Hecke erzählte, nicht aus der Fassung bringen.« »Ich doch nicht!« behauptete ich kühn. »Ich bin ziemlich unemp= findlich. Und vergessen Sie nicht - ich habe einen wachen Verstand und wache Augen. Ich sehe die Schwierigkeiten ... Es ist niemand anders da, den man verdächtigen könnte. Was Sie brauchen, ist -« »Nein, nein, mein Kind! Nichts mehr davon! Ich hatte kein Recht, darüber mit dir zu reden. Ein großer Fehler, daß ich es tat. Du solltest lieber nicht mehr zu mir kommen. Nicht, daß ich es nicht wollte. Ich mag dich sehr gern und würde midi freuen, dich recht oft zu sehen. Aber -« Ich unterbrach: »Onkel John ist ein Spießbürger, denke ich! Er hängt sein Mäntelchen nach dem Wind. Aber ich brauche das nicht! Ich -« »Doch, auch du mußt es tun«, sagte sie eindringlich und starrte mich an. »Glaube mir - es ist nicht hübsch, auf dieser Seite der Hecke zu leben, Meredith. Aber man gewöhnt sich daran. Und nun, bitte, bezweifle nie mehr deines Onkels Verhalten.« Sie war erregt und wurde im=
mer erregter. »Du mußt ... wirklich, du mußt ... mir glau= ben ... wenn ich sage ... daß ich denke, er meinte ... gewiß sehr freundlich zu sein ... da' mals.« Sie sagte es mit diesen kleinen Unterbrechungen und holte dabei jedesmal Luft, ganz schnell und flach. »Aber die gemeine alte Hecke, die alle sehen können!« rief ich empört. »Sie macht mich ver° rückt!« Wieder starrte sie mich an. Dann sagte sie so leise, daß es fast ein Flüstern war: »Vielleicht, Mere= dith, bin ich es gewesen, die die Hecke wuchern ließ.« Natürlich klappte mir vor Ver= blüffung der Mund auf, und ehe ich etwas herausbringen konnte, sagte sie, dieses Mal laut: »Es war das Beste so. Und nun hör mir mal zu, mein Kind ...« (NB: Jetzt War ich bodenlos enttäuscht. Wie ich es hasse, wenn Erwachsene zu mir sa= gen: »Und nun hör mir mal zu, mein Kind!« Täuschen damit vor, eine Million Dinge mehr zu wissen als ich, und geben mir zu verstehen, ich hätte hübsch bescheiden zu sein! Ich werde 197
Charlotte Armstrong dadurch bloß immer gereizt. Denn es bedeutet, daß sie es leid sind, mit mir zu sprechen, und daß sie sich auf die billigste Art einen überlegenen Ab= gang verschaffen wollen!) »Das alles ist so lange her«, fuhr sie in diesen süßlichen To» nen fort, mit denen man kleine Kinder zu besänftigen versucht, »und nichts kann es ändern. Laß es ruhen, Meredith. Ich danke dir für dein Kommen und da» für, daß du so aufgeschlossen warst. Aber jetzt geh und ver» sprich mir, daß du nie wieder darüber nachdenken wirst.« Ich starrte sie an, wie sie vor= hin mich angestarrt hatte, und sagte sehr höflich: »Und ich danke Ihnen für den Tee und die feinen Kekse, Madame.« Dann machte ich einen Knicks und ging ... Aber ich bin ihr nicht böse. Sie tut mir zu leid. Nebenbei bemerkt hatte sie ge= nug Andeutungen gemacht, bei denen ich hätte einhaken kön" nen. Nun, ich tat es nicht. Aber nach der Unterredung, die ich inzwischen mit Onkel John hatte ... Manche sind eben ein= fach vernagelt! 198
Wir hatten das Dinner beendet, als ich beschloß, zu versuchen, was ich aus ihm noch heraus» quälen könnte. Ich sagte: »Wenn Harry Corcoran so viel trank, dann war er vermutlich betrunken in der Nacht, als er erschossen wurde.« Onkel John hätte beinah seine Kaffeetasse umgestoßen. »Wo= her weißt du, daß er so viel trank?« fauchte er. »Hast mit Mrs. Jewell getratscht, wie?« (Mrs. Jewell, die Frau des Gärt= nerchauffeurs, ist die Haushäl" terin; Wortschatz ungefähr hun" dert Einzelworte und drei Dut» zend Redensarten.) »O nein, das habe ich nicht. War er?« »Wer?« »Harry Corcoran.« »Was?« »Betrunken.« »So hieß es«, fauchte Onkel John durch die zusammengebis= senen Zähne, »Und nun, Mere= dith -« »Wo warst du zur Zeit des Mor= des?« zirpte ich unschuldig. »Meredith, ich wünsche ~« »Ich weiß, was du wünschst. Aber ich wäre so froh, wenn du es mir erzählen würdest. Komm,
DieHedce
sei so lieÜ, Onkel JoHn! Mein eigener Mord! Wenn ich alle Tatsachen wüßte, könnte ich vielleicht aufhören, dauernd darüber nachzudenken. Verstehst du das nicht?« (NB: Unlogisch. Je mehr man über etwas erfährt, um so mehr reizt es, noch mehr zu erfahren, bis man alles weiß. Aber er merkte den Lapsus nicht.) »Ich habe dir, äh, die Tatsachen erzählt«, sagte er, »und ich wünschte, ich hätte, äh, meinen Mund gehalten. Deine Mutter wird mir die Haut vom Leibe ziehen. Wie, zum Teufel, bin ich da, äh, bloß hineingesdüits tert?« (NB: Ich dachte, letzteres wäre ein Fortschritt - für seine Ver« hältnisse jedenfalls; er ist sonst immer so verdammt steif, wenn er mit mir spricht.) »Du hast mir keinerlei Einzel= heiten erzählt. Bitte, bitte, On= kel John .,.« Jetzt quengelte ich ihm richtig die Ohren voll. Ich glaube nicht, daß er viel Er= fahrung darin hat, sich zu ver= leidigen. Jedenfalls hatte ich ihn nach wenigen Minuten so weit, daß er, hölzern wie immer, zu reden begann.
»Nun gut. Idi werde dir also die, äh, die Einzelheiten erzäh= len. Das heißt, soweit ich sie weiß. Aber dann erwarte ich, äh, nichts mehr über dieses Thema zu hören.« »Ich weiß«, sagte ich. Das war die lautere Wahrheit. Ich wußte was er erwartete. Wirklich ver« sprechen tat ich nichts. Aber er ist nicht sehr scharfsinnig. »Schön«, fuhr ich fort, »nimm an, du befändest dich im Zeu« genstand ... Wo warst du zur fraglichen Zeit?« »Ich war, als es geschah... (NB: Überflüssige Phrase; natürlich geschah es.)... in der Bibliothek mit einigen Abrechnungen be= schäftigt. Es war fast ein Uhr früh, ich glaube... (NB: Natur" lieh glaubt er es, sonst würde er es nicht sagen.) ... als ich Harry Corcoran pfeifend die Straße entlangkommen hörte.« »Welche Melodie?« »Was?« (Ich schickte mich an, es zu wiederholen, aber das war nicht nötig. Viele Leute lassen einen eine Frage wiederholen, die sie recht gut verstanden ha= ben, damit sie Zeit gewinnen, sich die Antwort zu überlegen.) »Oh, diese Danny"Boy=Melo° 199
Charlotte Armstrong die. Seine Lieblingsmelodie. Da« her wußte ich sofort, wer da die Straße entlangkam. Er kam vom entgegengesetzten Ende der Stadt, an diesem Haus vor= bei -« »War das ungewöhnlich?« »Es war, äh, weder ungewöhn« lieh noch nicht ungewöhnlich.« Onkel John schien leicht gereizt. »Es war einfach, äh, eine Tat= sache.«
»Gut. Und weiter?« »Dann hörte ich den Schuß.« »Warst du wie vor Schreck ge« lahmt?« »Was?« Er starrte midi an. »Ja, natürlich - einen Moment lang. Dann rannte ich durch die Sei= tentür hinaus, äh, und zwängte mich durch die Hecke, äh, und fand ihn auf der flachen Stufe vor seiner eigenen Haustür lie= gen, äh ...« »Nicht mehr lebend«, warf ich diskret ein. Er warf mir einen unfreundli= dien Blick zu. »Ja, nicht mehr lebend. Und das, äh, ist alles.« »Das ist nicht alles! Was tatest du? Sahst du dich nicht nadi dem Mörder um?« »Ich, äh, ich sah mich um, aber da war weit und breit niemand.
Natürlich dachte idi daran, daß, äh, irgendwo jemand versteckt sein könnte. Nicht meine Sache, ihn, äh, ihn in diesem Moment aufzustöbern. Ich bückte mich nach Corcorans Schlüssel, der, äh, auf die flache Stufe gefallen war -« »Die Haustür war versdilos» sen?« »Sie war verschlossen, und ich schloß sie auf, äh, und lief zum Telefon in der Halle. Das heißt, äh, als ich sie aufschließen wollte, machte Mrs. Corcoran oder Mrs. Corcorans Ködiin die Tür von innen auf - die beiden, äh, waren eben aus dem Ober» geschoß herabgeeilt, wie es schien. Ich, äh, rief Polizeichef Barker und Doktor Coles an.« »Ja, ich weiß. Und dann rann= test du zu deiner Garage, we= gen einer Leiter, und holtest mich aus meinem Baumhaus herunter ... Gut. Aber du läßt gewisse Dinge aus, Onkel John. Deine Schilderung war absolut nüchtern, du hast ihr überhaupt keine Atmosphäre gegeben. Wie, zum Beispiel, war Mrs. Corcorans Gemütsverfassung?« »Davon, äh, habe ich nicht die geringste Ahnung«, sagte On=
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Die Hecke kel John mit verächtlich ge= rümpf ter Nase, »und wenn ich eine hätte, wäre es, äh, keine Tatsache.« Ich riskierte es, »Du denkst, sie hat es getan?« Er zog sein Kinn beinah bis in den Hals zurück. »Idi, äh, idi wünschte, du würdest so etwas nicht sagen. Ich habe wenig Recht, äh, Erwägungen anzus stellen, und, äh, gar kein Recht, mir ein Urteil zu erlauben ... Es gab keinerlei Beweise.« »Aber du hast dir ein Urteil ge= bildet. Du sagtest mir, sie wäre —« »Meredith, eines weiß ich si= eher! Deine Mutter würde dies alles, äh, durchaus nicht schät' zen! Auf keinen Fall gedenke ich, äh, über Mrs. Corcorans Charakter mit dir zu diskutie" ren. Ich muß darauf bestehen, daß du, äh, meinem Wort glaubst! Es wäre äußerst unge= hörig von dir -« »Onkel John, wer ließ die Hecke wuchern?« »Was? Die Hecke? Die Hecke gehört mir.« »So? Das habe ich aber bisher anders gehört.« Jetzt legte er los. »Wo hast du
etwas gehört? Wer hat dir er" zählt, Harry Corcoran wäre, äh, ein Trinker gewesen? Mit wem hast du getratsdit, Meredith?« Ich gestand es ihm. Hätte wenig Zweck, haargenau den Krach aufzuschreiben, den er mir servierte. Der übliche Unsinn - Verpfliditung, mich vor Schaden zu bewahren, vor Dingen, die ich doch noch nicht begriffe, enorme Verantwor° tung seinerseits und so weiter. Lauter tönende Phrasen. Wes= halb, zum Kuckuck, konnte er mir nicht geradeheraus sagen, daß es mich einen Dreck an' geht? Ich glaube aber nicht, daß es Heuchelei bei ihm ist. Ich denke, es ist Einfalt. Ich denke, Onkel John ist zu hölzern und zu kon= ventionell (und glaubt wahr= scheinlich außerdem, ich hätte noch nie von Sex gehört), um mir zu gestehen, daß er hin" sichtlich der hübschen Lady im Nachbarhaus einst einigerma= ßen romantische Gefühle emp= fand. Gewiß sah er allerlei von Harrys betrunkenem Nachhausekom» men, gewiß vernahm er aller» lei von den Auseinandersetzun» 201
Charlotte Armstrong gen der beiden. Gewiß gehörte er zu den Nachbarn, denen sie leid tat. Gewiß spürte sie die teilnahmsvolle Sympathie, und gewiß erwiderte sie sie (Frauen sind so - selbst ich weiß das schon). Frage mich, ob die beiden je ein Wort darüber verloren, daß sie eigentlich ein bißchen (und ganz ehrsam) meinander verliebt wa« ren? Bezweifle es. Bedachten sich wahrscheinlich bloß mit verstohlenen Blicken über die Hecke und sagten nichts. Mindestens zu Onkel John würde das passen. Nun geschieht der Mord. Irgend» wie kommt sie auf die Idee, Onkel John hätte es getan. Im» merhin hörte sie Dinge - Ra= schein der Blätter (oder der Hecke?) -, sah hinaus, und da war er! Aber natürlich hat Onkel John es nicht getan. Er denkt, sie war es. Er weiß, daß sie mit Harry unglücklich war. Beide denken also, der andere hätte es getan. Und was tun sie daraufhin, diese Narren? Sie haben »kein Recht«, Erwägun» gen anzustellen oder jemanden zu beschuldigen. Sie ziehen sich, 202
wie die Schnecken, ]e3.es in sein Haus und in sich selbst zurück, mit der immer größer werden" den Hecke dazwischen, und le» ben all die Jahre mit dem Ver« dacht, niemand als der andere könne es getan haben! Hätten sie Verstand genug gehabt, sich auszusprechen, sich richtig die Meinung zu sagen, dann wären sie wahrscheinlich schon lange verheiratet 'und glücklich mit» einander ... Oh, wie lächerlich! Wie mitleid« erregend! Und oh, daß ich ge= boren ward, der anderen Fehler gutzumachen! (NB: Wer sagte das? Keats? Shelley? Byron? Muß nachsehen, wenn ich wie« der daheim bin.) Der Anwalt ließ das TagebuA sinken. John Selby stöhnte: »Hatte keine Ahnung, nicht die geringste Ahnung, was, äh, ihr im Sinn lag. Ich wußte, daß sie aufgeweckt ist -« »Nicht nur das«, brummte Dr. Coles. »Unerträglich herablassend ist diese Göre!« »Einen harten Lebensweg hat sie vor sich«, bemerkte der Anwalt nachdenklich. »Sie wird recht ein' sam sein.« »Hält sich für verdammt smart,
Die Hecke die junge Miss«, grollte der Poli= zeichef, »und ist längst nicht so smart, wie sie annimmt. Selby kann uns bestätigen, daß sie sich selbstverständlich geirrt hat - eh?« John Selby antwortete nicht. Er tat, als hätte er es nicht gehört und hielt seinen Blick auf Anwalt Russell gerichtet. »Man sollte sie für ihren Irrtum nicht tadeln«, sagte Russell. »Sie ist eben noch nicht reif genug, um gewisse Dinge zu verstehen. Aber sie spürt den inneren Zwang, es zu versuchen. Ihre wißbegierige Intelligenz will sich den Weg durch das Dickicht der Klischees erkämpfen. Und das -« »Ich sehe immer noch nicht, was geschah«, unterbrach der Polizei" chef. »Lesen Sie weiter, Russell falls da noch mehr steht.« »Ja, da steht noch mehr. Wir körn» men jetzt zum sechsundzwanzig» sten Juli - gestern.« Ich habe mir etwas ausgedacht! Jetzt weiß ich genau, wie ich es mache! Ich sage einfach, ich kann mich erinnern! Ich werde ihnen erzählen, daß mich da" mals der Schuß oder sonst ir= gend etwas aufgeweckt hat und daß ich einen Fremden davon» laufen sah ...
»Ein Märchen erzählt ~ das also hat sie getan!« PoUzeichef Barker, schlug sich ärgerlich mit der Hand auf die Hüfte. »Aber, Moment mal - Sie glaubten ihr, Selby?« »Ich glaubte ihr«, seufzte der On« kel. »Weiter«, brummte der Doktor. »Lesen Sie weiter, Russell.« Ich weiß auch, wie ich es ma= dien kann, daß sie mir glauben. Oh, das wird hübsch! Ich werde zuerst mit Onkel John sprechen und in die Gea schichte, die ich ihm erzähle, alle die Kleinigkeiten mischen, die sie mir erzählt hat und von denen er nicht weiß, daß sie mir bekannt sind. Da diese Kleinigs keiten wahr sind, wird er sich täuschen lassen und glauben, daß ich mich wirklich erinnere! Dann werde ich zu ihr gehen und in die Geschichte, die ich ihr erzähle, alle die Kleinigkeiten mischen, die ich von Onkel John habe und von denen sie nicht weiß, daß ich sie kenne. Das muß klappen! Sie werden meinen Trick nicht erkennen und mir glauben! Und dann können sie zueinander finden, wenn sie immer noch wollen! Ich mache mir keine Gewissens" 20?
Charlotte Armstrong
bisse, solche Lügen zu erzählen. Und wenn irgend jemand Offi= zielles anfängt, mir Fragen zu stellen, kann ich jederzeit ein bißchen erbeben, auf einmal doch noch zu jung und zu emp= findsam sein und scheinbar ver= stört schweigen. Muß es sehr sorgfältig vorbe= reiten. Muß mir Listen anlegen. Russell blickte auf. »Meredith ist gut in Mathematik, nehme ich an?« »Die Beste in ihrer Klasse«, ächzte der Onkel. »Verwünscht, dieses Mädchen macht mir Angst.« Russell nickte und las weiter. Liste Nr. i. Für Onkel John. Dinge, die sie mir erzählte. 1. Warme Nacht. Vollmond. 2. Die Ulme, die damals noch in ihrem Vorgarten stand. 5. Der Revolver wurde in der Hecke gefunden. 4. Harry schrie nicht. Und nun baue diese Punkte ein! Bevorstehender Dialog: Ich: Oh, Onkel John, jetzt erin= nere ich mich! O.J.: An was? (Falsch! Da dies in der Zukunft liegt, sollte ich seinen Part lie= ber nicht aufschreiben. Es könn= te mich verwirren.) 204
Ich: Ach, ich war oben in mei= nem Zimmer und dachte nach und fing ganz unversehens an, diese Melodie zu summen — Danny Boy. Und auf einmal kam mir die ganze Sache wie= der ins Gedächtnis zurück wie ein Traum. Auf einmal erin= nerte ich mich, daß ich in mei= nem Baumhaus aufwachte und hörte, wie jemand diese Melo» die pfiff. Ich spähte über das Ge= länder. Der Vollmond machte die Nacht ganz hell. Es war sehr warm, richtig hochsommerlich. Ich konnte die Ulme im Vorgar= ten der Corcorans sehen ... (Stocken, verstört dreinblicken.) Welche Ulme, Onkel John? Da ist doch gar keine Ulme. War dort vor sieben Jahren eine Ulme? (Ha, ha - das wird den Nagel auf den Kopf treffen!) Ich sah einen Mann den Zugang der Corcorans entlangkommen. Ich muß den Schuß gehört ha= ben - ich dachte, jemand hätte vom vierten Juli einen Knall» frosch übrigbehalten. Ich sah den Mann hinfallen. Aber weil er keinen Schrei von sich gab und überhaupt kein Geräusch machte, dachte ich nicht, daß er
Die Hecke
verletzt wäre. Ich dachte, er wäre übermüdet und plötzlich eingeschlafen. (Hui, wenn das kein Gag ist.) Dann sah ich, daß noch ein an» derer Mann da war, draußen, vor dem Straßenzaun. Er warf irgend etwas in die Hecke, und die Hecke raschelte, als es hin= einfiel. Der Mann rannte fort, und dann kamst du aus deinem Haus ... (Bis dahin müßten Onkel John die Augen übergegangen sein, nehme ich an.) Ich werde sagen, daß ich nicht weiß, wer der Fremde war. »Aber du warst es auf keinen Fall, Onkel John«, werde ich sa= gen, »und die Witwe Corcoran denkt seit sieben Jahren, du wärst es gewesen, und jetzt laufe ich gleich hin, um es ihr zu erzählen ...« Dann werde ich aus dem Haus rennen, so schnell ich kann. Und er wird mir folgen, er kann gar nicht anders! Anwalt Russell ließ das Tagebuch sinken. »War es ungefähr so?« »Fast genauso«, seufzte John Seiby. »Und ich folgte ihr. Sie hatte absolut recht - ich konnte gar nicht anders.«
»Geschickt, wie sie sich das ausge= heckt hat«, sagte der Polizeichef. »Zu geschickt, für meinen Ge° schmack«, brummte der Doktor. Dann wandte er den Kopf. »Ja, Schwester? Was gibt's?« Er ging durch die weiße Tür. John Selby richtete sich in seinem Sessel auf. »Merediths Mutter wird mich bei lebendigem Leibe abhäuten«, murmelte er. »Die Göre hat mich wahrhaftig nach ihrer Pfeife tanzen lassen. Aber wie soll ich mit ihresgleichen zu= rechtkommen? Sieht mich mit die= sen großen braunen Augen an. Man weiß nie, ob man zu einer Frau oder zu einem Baby spricht. Alles, was ich machte, war falsch. Nie hatte ich die leiseste Ahnung, was ihr im Sinn lag ... Sie sind ein kluger Mann, Russell - des= halb brauche ich Sie. Ich komme mir vor wie durch die Mangel ge= dreht. Helfen Sie mir mit Mere= dith. Ich fühle mich furchtbar bei dieser ganzen Sache. Wenn sie ernstlich verletzt ist, und ich trage die Verantwortung ...« »Sie sagten vorhin«, begann Rus= seil, »Sie verständen junge Leute nicht. Aber selbst wenn Sie es tä= ten, bei dieser phantasiebegabten fünfzehnjährigen Person -« 205
Charlotte Armstrong »Sie nehmen es zu schwer, John«, warf der PolizeiAef ungeduldig ein. »Der Doktor denkt nicht, daß sie ernstlich verletzt ist. Außer" dem hat sie es sich selbst einge» brockt. Lesen Sie weiter, Russell. Was sagte sie zu der Witwe? Das ist es, was ich wissen muß. Steht es da?« »Es muß dastehen«, sagte Russell, »sie machte ja noch eine Liste ...« Liste Nr. 2. Für die Witwe. Dinge, die Onkel John mir er» zählte. 1. Harry pfiff Danny Boy. 2. Er kam an Onkel Johns Haus vorbei. 5. Er war betrunken. 4. Er ließ seinen Schlüssel fallen. Nicht so gut. Doch, beim zwei' ten Überlegen auch ganz gut. Was weckte sie auf? Sie weiß es nicht, aber ich weiß es! Bevorstehender Dialog: Ich: Oh, Mrs. Corcoran, Mrs. Corcoran - ich denke, ich fange an, mich zu erinnern! Ja, wirk" lieh! Hören Sie - ich glaube, ich hörte einen Mann pfeifen. Es war die Danny^ßoy'Melodie. Und der Mann kam vom anderen Ende der Stadt her, an Onkel Johns Haus vorüber. Kann das Ihr Mann gewesen sein? 206
(Ha! Sie muß einfach sagen, ja!) Ich; Und er - es scheint mir, er ging nicht richtig. Er torkelte. Er torkelte Ihren Zugang entlang. Kurz vor dem Haus ließ er eta was fallen. Vielleicht einen Schlüssel. Es muß ein Schlüssel gewesen sein, denn ich sah, wie er stehenblieb und sich danach bückte, aber... (Kleine Kunstpause an dieser Stelle? Ich denke, ja.) Ich: Oh, jetzt erinnere ich mich! Er richtete sich auf. Er kann nicht gefunden haben, was er fallen gelassen hatte, denn er rief et= was. Es war ein Name! Es muß ... oh, Mrs. Corcoran, kann es Ihr Name gewesen sein? Kann es nicht das gewesen sein, wo° durch Sie aufwachten - weil er Ihren Namen rief? (Ein todsicherer Gag! Darauf nehme ich Gift!) Nun, und der Rest ihrer Ge= schichte geht weiter, wie bei On= kel John gehabt. Der Fremde auf der Straße. Wirft den Revol= ver in die Hecke. Rennt weg. Fast im selben Moment kommt 0. J. aus seinem Haus. »Also waren nicht Sie es«, wer» de ich sagen, »und ich kann das beweisen! Aber der arme Onkel
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John glaubte. Sie wären es gewesen.« Was dann? Zu dieser Zeit dürf" te Onkel John schon recht nahe sein, auch wenn er sich den Schlips erst wieder umbinden mußte. Ich denke, ich sollte dann an« fangen zu weinen. Ja, so werde ich es machen. Ich denke, das ist recht gut. Sie müssen mir ja glauben. Natürlich stimmen die beiden Ge» schichten nicht haargenau über» ein, aber die zwei werden den Trick nie bemerken. Sie werden einfach überzeugt sein, daß keiner von ihnen beiden auf Harry Corcoran schoß. Und darauf kommt es an! Ich kann kaum abwarten, was dann geschieht. Was werden sie tun? Was werden sie sagen? Besser, ich schluchze ziemlich verhalten, damit ich alles hören und beobachten und mir merken kann. Wann soll ich es versuchen? Ich kann nicht warten. Jetzt wäre eine günstige Zeit! Onkel John ist in der Bibliothek. Und sie ist daheim - ich sehe Licht oben in ihrem Zimmer. Also ans Werk!
(NB: Sollte ich vielleicht Beb6r Schauspielerin statt Schriftstelle" rin werden? Oder beides? Wäre zu überlegen.) Der Anwalt klappte das Buch zu. »Das ist alles.« Er senkte den Kopf und legte eine Hand über die Aus gen, aber es war zu sehen, daß sein Mund sich zu einem leisen Lächeln verzog. »Wenn da bloß irgendein Sehe" ma zu erkennen wäre«, stöhnte der Polizeichef. »Macht sich eine Menge Mühe, die ganze Sache aus" zuhecken -« »Sie hatte ein starkes Motiv«, er= innerte Russell. »Meine Romanze«, murmelte Sei" by bitter. »Nein.« Russell grinste. »Die un» bändige Wißbegier einer höchst bemerkenswerten Fünfzehnjährigen.« »Welches Motiv sie auch immer gehabt haben mag«, grollte der Polizeichef, »diese höchst bemerkenswerte Fünfzehnjährige erfand Märchen und bekam die Quittung dafür. Aber irgend etwas muß sie völlig richtig erfaßt haben. Ist das klar?« Er beugte sich nach vorn. »Selby - soweit es Sie betraf, ha» ben Sie ihr das Märchen geglaubt. Sie dachten, sie erinnere sich der 207
Charlotte Armstrong Mordnacht und Habe einen Frern» den gesehen - nicht wahr?« »Ja, das dachte ich«, sagte John Selby entschieden. »Und ich war einigermaßen beeindruckt. Ich hat= te aus ganz persönlichen Gründen immer Josephine Corcoran ver= dächtigt.« »Viele von uns haben Josephine Corcoran aus mehr oder weniger guten Gründen verdächtigt«, be= merkte der Polizeichef trocken. »Aber niemand vermochte sich vorzustellen, wie sie es fertigge» bracht haben könnte - die Köchin stand im Etagenflur, und Sie waren so schnell am Tatort erschienen, Selby.« »Welches waren Ihre Gründe, John?« fragte Russell. »Insbesondere ein gewisses, äh, zweideutiges Gespräch, das im Verlauf eines, äh, eines von mir aus ganz harmlos gemeinten Gar= tenflirts stattfand. Es schien mir damals, daß ihr, äh, der Tod ihres Mannes recht erwünscht wäre und sich ihrer Meinung nach auch ganz leicht arrangieren ließe. Ich kann ihre Rede natürlich nicht mehr wörtlich zitieren, zumal sie sich sehr vorsichtig ausdrückte. Aber die Andeutung war da. Sie hielt ihn für, äh, dumm und grausam 208
und unerträglich und gab zu ver= stehen, daß ihr Leben erst wieder nett und angenehm werden könn= te, wenn er, äh, daraus entfernt wäre - so, als sei er, äh, eine Art lästiger Warze an ihrer Hand!« Selby schüttelte den Kopf. »Wie soll, unter solchen Voraussetzung gen, ein Mann seiner fünfzehnjäh» rigen Nichte erklären, was ihn, äh, annehmen läßt, diese Frau sei ver= derbt? Wie soll er ihr Eindrücke und Empfindungen erläutern, die er, äh, nicht einmal vor sich selbst scharf umreißen kann?« Er seufzte. »Die erwähnte Unterhaltung zer= störte meine, äh, unschuldige kleine Schwäche für diese Lady glauben Sie mir. Seit dieser Zeit verhielt ich mich reserviert und ließ die Hecke wachsen. Wenn Sie sich, äh, vergegenwärtigen, daß Harry Corcoran wenige Wochen später tatsächlich starb, werden Sie verstehen, daß ich sieben Jahre lang mit der Erinnerung an jene Unterhaltung gelebt habe. Hatte ich recht in bezug auf die Absichten, die ich, äh, aus ihren Worten gehört zu haben glaubte? War ich vielleicht nicht betont genug, äh, zurückgeprallt? Hatte ich mich nicht hinreichend von der bloßen Idee distanziert? Hätte ich mich,
Die Hecke äh, vor mir selbst schärfer von die= »Wenn es in ihrem Tagebuch steht, ser Idee distanzieren müssen? ist es mir nicht bewußt geworden.« Oder hatte ich mich durch meinen Der Polizeichef fuhr sich mit der Argwohn zu einem, äh, Fehlurteil Hand über die Stirn. »Und dann, verführen lassen? Es gab keinerlei plötzlich, sagen Sie - während Me= Beweise, es gab überhaupt nichts!« redith eifrig beim Reden war -, Er seufzte wieder und veränderte schrie die Witwe etwas, das Sie seine Haltung im Sessel. »Als ich verstehen konnten?« nun dachte, das Kind hätte damals »Sie schrie: >Ich sagte dir, du sollst tatsächlich, äh, einen Fremden mit dich da heraushalten, du vorlautes einem Revolver gesehen, war ich Balg!< Und dann stieß sie Meredith bestürzt und zunächst wie ge= so heftig, daß das Kind die ganze lahmt. Doch sobald ich begriff, wo= Treppe hinabfiel.« Selby begann hin Meredith, äh, gelaufen war —« schwer zu atmen. »- banden Sie sich den Schlips um »Und Sie eilten in die Halle?« und folgten ihr«, ergänzte der Po= »Bis ich mich, äh, von meinem er» lizeichef. »Und Sie sahen die bei° sten Schreck erholt hatte und in den durch die Glasscheibe der Cor= die Halle kam, war sie schon die coranschen Haustür, nicht wahr?« Treppe herabgerast und wollte Diese Frage war überflüssig gewe= sich, äh, wie eine Furie auf Mere= sen, denn John Selby hatte es be= dith stürzen. Es war ganz klar, daß reits zu Protokoll gegeben, aber sie das Kind am liebsten umge= Barker liebte Wiederholungen. bracht hätte.« »Ja«, sagte Selby, »ich sah sie am »Aber Sie rissen sie beiseite und oberen Ende der Treppe. Mrs. telefonierten uns herbei«, sagte Corcoran, äh, stand am Geländer, Anwalt Russell. »Versuchte Mrs. und Meredith, eine Stufe unter ihr, Corcoran, ehe wir kamen. Ihnen sprach ernsthaft auf sie ein.« irgend etwas zu erklären?« »Verstanden Sie, was sie sagte?« »Sie stieß hysterische Schreie aus: »Unglücklicherweise nicht. Aber >Armes Kind! Arme Kleine - so da Meredith es vorbereitet hatte, unglücklich zu fallen!< Sie wollte müßten wir es doch in ihrem Tage» es so erscheinen lassen, als sei Me= buch finden - falls sie sich, äh, an redith, äh, zufällig die Treppe ihre Niederschrift hielt.« hinabgestürzt. Doch das stimmt 209
Charlotte Armstrong nicht! Sie hat Meredith gestoßen! Sie tat es in der Absicht, Meredith umzubringen! Das habe ich gehört, das habe ich gesehen, das weiß ich! Und sie weiß, daß ich es weiß!« »Bei Gott«, bestätigte Russell, »die Witwe hat sich selbst entlarvt. Sie ist wirklich eine verderbte Frau.« »Wegen des Angriffs auf Mere« dith haben wir sie jetzt«, knurrte der Polizeichef. »Und wir wissen verdammt genau, daß sie damals ihren Mann erschoß. Aber bewei= sen können wir es nicht, und sie will nicht reden. Was ich brauche, ist die Erleuchtung, wodurch sie auf einmal so außer sich geriet. Was kann das Kind gesagt haben, daß ihr die Nerven durchgingen? Ich finde es nicht, ich finde es ein» fach nicht!« Der Doktor, der ruhig neben der Tür gestanden hatte, räusperte sich. »Vielleicht kann Meredith uns dabei helfen. Sie ist wieder bei Bewußtsein und ziemlich fidel, würde ich sagen.« John Selby kam auf die Füße. Der Polizeichef ebenfalls. »Selby, Sie gehen zuerst«, riet der Doktor. »Und keine Fragen wäh" rend der ersten zwei oder drei Mi« nuten.« Selby schlich auf Zehenspitzen 210
durch die weiße Tür. Der Doktor folgte ihm. »Eins müssen wir festhalten«, sag» te Russell, der nun auch aufstand, zu dem Polizeichef. »Harry Corcos ran hat in jener Nacht nicht den Namen seiner Frau gerufen. Selby, der das Pfeifen hörte, würde auch das Rufen gehört haben.« »Verstehe, worauf Sie damit hin= auswollen«, entgegnete der Poli» zeichet. »Es zeigt, daß Meredith mit ihrer Geschichte nicht bis da= hin gekommen ist - oder die Wit= we hätte gewußt, daß ihr ein Mär= chen erzählt wurde.« »Sie ist bestimmt nicht mal bis zu dem ominösen Fremden gekom= men - oder die Witwe wäre ent= zückt gewesen, statt sie die Treppe hinabzustoßen.« »Aber irgend etwas muß doch den Funken geschlagen haben!« »Danny Boy? Nein, das war be° kannt - Selby hat es damals schon erwähnt, und die Witwe wußte es. Harrys Betrunkenheit? Auch nicht, denn davon sprach schon der da» malige ärztliche Befund. Dies bei= des kann es also nicht gewesen sein.« »In Gottes Namen - fragen wir das Mädchen selbst«, ächzte der Poli» zeichef.
Die Hecke Sie folgten den beiden anderen durch die Tür. Die Krankenschwester hatte sich wachsam in eine Ecke zurückgezo" gen. Vier Männer standen um das Bett - Arzt, Rechtsanwalt, Kauf» mann. Polizeichef ... Meredith Lee sah sehr klein und sehr jung aus, wie sie da unter ihrer Decke lag, auf dem mächtis gen weißen Kopfkissen, in dem ihr schmaler Kopf mit den von der Bandage zurückgepreßten braunen Haaren fast verschwand. Die Bläs= se ihres Gesichtes ließ die Sommers sprossen stärker hervortreten. Die großen dunkelbraunen Augen blickten der Reihe nach zu jedem der vier Männer empor — voll kindlicher Demut, wie es schien. Nur Anwalt Russell glaubte ein" mal einen winzigen Schimmer selbstzufriedener Belustigung dar= in zu bemerken. »Na, junge Miss, wie fühlst du dich?« rumpelte der Polizeichef jovial. »Sie stieß mich die Treppe hinab.« Merediths Stimme war ein klein» mädchenhaftes Wimmern. Onkel John klopfte auf das Bett und sagte mahnend: »Jetzt hör aber mal zu, Meredith -« »Vorsicht, Selby«, unterbrach der
Polizeichef mit leisem Lachen, »ge-> brauchen Sie bloß nicht diese Redensart! Sie wird dadurch gereizt.« Meredith sah ihr Tagebuch in Russells Händen. Sie zuckte zusam= men. Für einen Sekundenbruchteil verengten sich ihre Augen, und et» was in ihrem kindlichen Gesicht ließ erkennen, wie sehr sie sich be= mühte, die neue Situation abzu= schätzen. »Miss Lee«, sagte der Anwalt freundlich und in einem Ton, als spräche er zu einer Erwachsenen, »mein Name ist Russell. Ich bin ein Freund Ihres Onkels und Rechtsanwalt in dieser Stadt. Ich bin derjenige, der Ihr Tagebuch suchte und fand. Ich hoffe. Sie können uns verzeihen, daß wir es, durch die Situation genötigt, gele= sen haben. Dank Ihrer Eintragun» gen wissen wir jetzt, wie schlecht diese Witwe vor sieben Jahren handelte.« »Ich - ich habe es doch nur vorge» geben«, erklärte Meredith in klag" lichem Diskant. »Ich war damals erst acht. In Wirklichkeit erinnere ich mich an gar nichts.« Sie erbebte ein wenig und sank noch tiefer in ihr Kopfkissen zurück - sehr jung, sehr empfindsam und scheinbar verstört. 211
Charlotte Amisteong »Ja, ja, Meredith«, sagte Onkel John liebenswürdig, »wir wissen, was du vorgegeben hast. Ich, äh, ich hatte ja keine Ahnung, daß du so geschickt bist.« »Das war mal ein richtiger Knül» ler«, sagte der Doktor. »Sehr gut, Miss Lee«, sagte der Anwalt, »wirklich sehr gut, diese zwei Geschichten, die Sie sich da ausgedacht haben.« »Bist schon eine richtige Schrift» stellerin mit Ideen, junge Miss«, lobte der Polizeichef honigsüß. Meredith warf den vier Männern einen einzigen blitzschnellen und tief verletzten Blick zu, und ihr Gesicht wurde zur weinerlichen Grimasse. »Ein ganz dummes Ding bin ich«, schluchzte sie. »Alles ha= be ich verkehrt gemacht! Die Handlung habe ich falsch geplant, die Charaktere habe ich falsch ein= geschätzt! Jetzt sehe ich, daß ich gar nichts weiß und gar nichts kann! Sollte das Ganze lieber aufs geben ...« Sie verbarg das Gesicht im Kissen und begann bitterlich zu weinen. Der Polizeichef wandte sich be= sorgt an den Arzt: »Sie fühlt sich doch hoffentlich wohl, wie? Hat doch nicht etwa plötzliche Schmer' zen, was?« 212
»Schock«, war aus dem Hinter» grund die Stimme der Kranken» Schwester zu vernehmen. »Nun mach schon, Meredith«, sagte der Doktor ermunternd und nicht im geringsten beeindruckt, »das wird dir gar nichts helfen.« »Sehen Sie«, murmelte Selby köpf = schüttelnd zu den anderen, »so ist das mit ihr. Sie ist acht, und sie ist achtzig. Sie kann einen Höllen» zauber zusammenbrauen wie die= sen und dann weinen wie ein klei» nes Kind. Ich gebe auf! Ich weiß nicht, was ich mit ihr machen soll. Ich habe an ihre Mutter telegra= fiert. Sie kommt und wird uns bei= den die Haut vom Leibe ziehen! Meredith, ich bitte dich ...« Meredith fuhr fort, in das Kissen zu weinen. »Völlig recht haben Sie, Miss Lee«, sagte der Anwalt scharf. »Sie soll» ten es lieber aufgeben, eine Schrift» stellerin werden zu wollen, wenn Sie derart über Ihren ersten Fehler jammern, anstatt sich Mühe zu ge= ben, aus ihm zu lernen! Wollen Sie jetzt bitte für eine Minute er= wachsen sein und mir zuhören? Wir bedürfen ernstlich Ihrer Hilfe bei der Überführung einer Mordes rin.«»Das - das kann nicht wahr sein«,
Die Hecke wimmerte Meredith. »Ich bin doch f viel zu dumm.« »Spielen Sie nicht die Heuchlerin!« schnappte der Anwalt. »Sie sind nicht dumm, durchaus nicht. Aber Sie sind ein bißchen zu sehr in sich selbst verliebt - wie dieses Tage= buch beweist und Ihr augenblick= liches Verhalten erst recht!« Meredith unterdrückte ihr Schluch= zen sehr schnell. Sie wandte ein wenig den Kopf und öffnete zö= gernd das eine Auge. »Der durchschnittliche junge Mensch«, dozierte der Anwalt, »hat wenig oder gar keinen Re= spekt für die Erfahrungen älterer Personen. Nichts kann ihn dazu bewegen, den Wert solcher Erfah= rungen anzuerkennen, bis er selbst einige Erfahrungen macht. Aber eine werdende Schriftstellerin soll= te in diesen Dingen einen weniger überheblichen Standpunkt haben. Daher -« »Nun warten Sie einen Augen= blick!« fiel ihm John Selby mit un= gewohnter Entschlossenheit ins Wort. »Schelten Sie sie nicht! Sie hat ein, äh, ein schreckliches Erleb= nis gehabt. Immerhin meinte sie es gut.« Meredith setzte sich aufundwisch= te die Tränen fort. Die braunen
Augen waren mißbilligend auf den Onkel gerichtet. »Langsam, Onkel John«, mahnte sie diskret. John Selby hob den Kopf und reckte die Schultern. »Gut.« Er rang sich ein Lächeln ab. »Viel» leicht bin ich, äh, noch nicht zu alt zum Lernen. Du wünschst mich zu berichtigen? Schön - du hast es also nicht gut gemeint. Du warst, äh, absolut eitel und selbstsüchtig. Du wolltest, äh, mein Leben und Josephine Corcorans Leben in0rd= nung bringen - eine kleine Ferien= übung für, äh, deine überlegene Weisheit ... Ist es so besser?« »Mindestens ist es vernünftig«, er= klärte Meredith kühl. Ihre Stimme war j etzt durchaus nicht mehr klein» mädchenhaft. »Alle diese Gentle= men hier sind also der Meinung, daß die Witwe eine Mörderin ist?« »Nun, junge Miss«/ sagte der Po= lizeichef, »etwas Ähnliches haben wir uns schon seit sieben Jahren gedacht.« »Wer sind Sie eigentlich?« fragte Meredith. Er erzählte es ihr. »Und ich bin hier, um einem Verbrechen auf den Grund zu kommen. Sie, junge Miss«, sein Ton war jetzt nicht mehr ganz so jovial, »sind zu einer falschen Schlußfolgerung gelangt. 213
Charlotte Armstrong Die Witwe war schuldig!« »Ich verstehe bloß nicht, weshalb Sie das schon die ganzen sieben Jahre lang meinten«, entgegnete Meredith aufsässig. »Das kann ich mir denken«, sagte der Polizeichef. »Es ist nämlich eine Sache der Erfahrung und vie= ler anderer Dinge. Erstens weiß ich, was meine Routineermittlun= gen aufdecken können und was nicht. Wenn sich nicht die geringste Spur von der Anwesenheit eines Fremden finden läßt, dann neige ich zu der Annahme, daß kein Fremder dagewesen ist.« Der Polizeichef stellte seine respekt« einflößendste Miene zur Schau, mit der er schon manchen hartgesot» tenen Übeltäter eingeschüchtert hatte. Aber Meredith zuckte nicht zusammen. Sie sah es mit einer gewissen Bewunderung und lausche te ernsthaft. »Zweitens«, fuhr der Polizeichef fort, »und das hast du selbst be= merkt, junge Miss, gibt es hier nie= mand anders, der verdächtigt wer= den könnte. Drittens ist in neun von zehn Fällen dieser Art nur die Ehefrau dem Mann nahe genug, um ein starkes Motiv zu haben.« »In neun von zehn Fällen«, mur" melte Meredith verächtlich. 214
»Ja, das ist ein Erfahrungssatz«, bestätigte der Polizeichef. »Und du mokierst dich, weil du denkst, wir vergessen grundsätzlich, daß es einen zehnten Fall geben kann. Das ist ein Irrtum, junge Miss ... Nun gut, irgend jemand erschoß Harry Corcoran -« »Warum verdächtigen Sie nicht Onkel John?« warf Meredith ein. »Kein Motiv«, schnappte der Poli= zeichef. »Meredith«, begann der Onkel in= digniert, »ich fürchte, du, äh —« »Ich weiß, es ist überflüssig«, sagte der Anwalt schnell, »aber sprechen Sie aus, was Sie sagen wollten, Seiby.« »Ja, gut.« John Selby räusperte sich. »Also höre, Meredith. Ich würde eher, äh, zum Mond sprin= gen, als irgendeiner Nachbarin zu= liebe einen Mann erschießen. Deine Idee - daß Josephine Corcoran dachte, ich hätte es getan - ist lä» cherlich. Was immer sie sonst sein mag - für einen solchen Irrtum wäre sie, äh, zu reif. Ganz abge= sehen davon, daß sie, äh, vermut= lieh recht gut weiß, wer es getan hat. Schließlich hatte ich nie die leiseste Absicht, sie zu heiraten. Und selbst wenn ich diese Absicht gehabt hätte - alle meine Freunde
Die Hecke wissen, daß mir, äh, in einem sol= Aen Fall erinnerlich gewesen wäre, daß es so etwas wie Ehescheidung gibt. Ein mindestens so gebrauch» lieber Weg, einen Ehepartner los= zuwerden und, äh, wesentlich si= cherer als Mord.« Meredith, anscheinend verlegen, leckte sich die Lippen. »Was nun, äh, ihr Motiv betrifft, so haßte sie ihren Mann abgrün= dig. Sie ist, äh, sie ist eben ver= derbt. Das zu erkennen, ist eine Sache der Erfahrung. Man spürt es - irgend etwas, äh, irgend etwas Kaltes, Selbstsüchtiges, Rücksichts» loses. So, und das war alles, was ich, äh, darüber sagen kann.« »Nicht schlecht«, bemerkte Mere» dith auffallend demütig. »Ich mei= ne - ich möchte dir danken, Onkel John ... Wo ist sie jetzt?« »Im Hospital«, sagte der Polizei' chef. »Einige meiner Leute passen auf sie auf.« »Wurde sie — verletzt?« Dr. Coles hüstelte. »Sie gebärdete sich hysterisch. Sie beging in ihrer Panik einen schrecklichen Fehler, indem sie dich die Treppe hinab= stieß, liebes Kind. Danach blieb ihr kein Ausweg als Hysterie zu mar= kieren. Aber es ist klare Simula" tion. Ich weiß nicht recht, wie ich
dir erklären soll, woran ich das erkenne —« " »Vermutlich ist es Erfahrungssa= ehe«, äußerte Meredith ernst. Sie schien noch etwas tief er in ihrriesi" ges Kopfkissen zu versinken. »Ich habe die Witwe völlig falsch ein« geschätzt. Die Stadt hatte recht.« Nachdem sie sich dieses Bekenntnis abgerungen hatte, zog sie ein Ge= sieht, als werde sie sogleich wieder weinen. »Das genügt nicht«, erklärte Rus" seil. »Nein, Miss Lee, es genügt nicht, zu sagen. Sie hätten sie falsch eingeschätzt. Sie müssen begreifen, was Ihnen zugestoßen ist und wie Sie dazu - verführt wurden.« »Verführt?« wiederholte Meredith ungläubig. »Die Witwe war schuldig, um da= mit anzufangen«, sagte Russell. »Denken Sie jetzt daran, wie Sie das erstemal bei ihrem Zaun stehenblieben. Sie konnten nicht wis« sen, daß sie schuldig war. Sie konnten es nicht einmal argwöh" nen, da Sie bisher nichts von dem Mord gehört hatten. Wie hätten Sie also ahnen sollen, welche Furcht über die Witwe kam, als sie sich auf einmal des kleinen Mädchens im Ahornbaum erinnerte? Sie dach= ten, es wäre eine nachträgliche Be= 215
Charlotte Armstrong sorgnis, daß Sie hätten vom Baum fallen können. Denn das ist die übliche Art von Besorgnis, mit der Sie Ihre Erfahrungen haben. Aber begreifen Sie jetzt, daß - als Sie auftauchten, so voller Tatkraft und Intelligenz - die Witwe wahrhaf= tig keinen Grund zum Lächeln hatte? Natürlich nahm sie Sie ernst. Und Sie waren entzückt.« »Natürlich«, murmelte Meredith. »Mir ist es klar, und Sie sollten jetzt ebenfalls imstande sein, es einzusehen, daß die Witwe ver= suchte. Ihre impulsive Zuneigung zu nützen. Vielleicht hoffte sie wenn Sie sich jener Nacht doch noch erinnerten -, daß Ihre Erin= nerungen zu ihren Gunsten beein= flußt werden könnten?« »Ja, vielleicht war es das«, gab Meredith tonlos zu. »Aber nehmen Sie es sich nicht zu Herzen«, schloß der Anwalt mit ermutigendem Lächeln. »Ich an Ihrer Stelle hätte mich wahrschein' lieh auch täuschen lassen. Und hin= terher ist es immer leicht, klug zu reden.« »Qh, vielleicht hätten Sie sich doch nicht täuschen lassen«, murmelte Meredith. »Erfahrungen - eh?« »Nun ja-mir sind immerhin schon einige Mörder begegnet.« 216
»Und ich habe meine erste Mordes rin getroffen«, seufzte Meredith. »Himmel, was war ich dumm.« »Na, junge Miss«, erkundigte sich der Polizeichef, jetzt wieder ganz jovial, »was wirst du aber sagen, wenn wir den Punkt finden, bei dem du sehr klug warst? Was hat dazu geführt, daß die Witwe plötz» lieh die Nerven verlor? Wollen wir uns nicht darüber unterhalten?« »Klug?« hauchte Meredith. »Sehr klug?« »Weshalb verlor sie plötzlich die Nerven? Das ist unsere Frage an dich, junge Miss. Wo warst du in deiner Geschichte, als sie auf ein= mal wild wurde und dich die' Trep= pe hinabstieß?« Meredith lag reglos da und starrte zur Zimmerdecke. »Siehst du, liebes Kind«, begann der Doktor, »da -« »Sie sieht!« sagte Onkel John hit" zig. Meredith bedachte ihn mit einem dankbaren Seitenblick. »Nun, ich hatte eben die Sache mit dem Schlüssel erwähnt«, berichtete sie und zog nachdenklich die Stirn kraus, »ja, ich hatte eben die Sache mit dem Schlüssel erwähnt. Da schrie sie wütend auf und stieß mich. Ich -«
Die Hecke »Wie waren die genauen Worte?« fragte der Polizeichef. »Russell, lesen Sie doch diesen Teil noch einmal.« Aber der Anwalt tat, als hätte er es nicht gehört, und wiederholte, zu Meredith gewandt: »Sie hatten also eben die Sache mit demSchlüs« sei erwähnt?« »Und ich dachte, sie würde darüber glücklich sein«, sagte Meredith. »Aber sie schrie und stieß mich die Treppe hinab. Ich habe wohl irgend etwas falsch gemacht?« Sie blickte fragend zu Russell empor. »Sie haben es ganz richtig gemacht, Miss Lee«, erklärte Russell. »Hö= ren Sie bitte gut zu. Harry Corco= ran wurde in den Rücken gesdios= sen.« »Stimmt«, brummte der Polizei» chef. »Der Schlüssel lag auf der flachen Stufe vor der Haustür.« Russell sprach ausschließlich zu Meredith. »Von dort langte ich ihn auf«, ließ sich John Selby vernehmen. »Die ganze Zeit haben wir ver= mutet, daß Harry Corcoran den Schlüssel fallen ließ, weil der Schuß ihn traf. Aber das ist es nicht, was Sie sagten, Miss Lee. Sie sagten, er hätte den Schlüssel fallen lassen, weil er betrunken war. Wir haben
die ganze Zeit vermutet, der Schuß wäre von hinten auf ihn abge» feuert worden, von der Straße aus. Aber wenn Sie es richtig erfaßt haben, Miss Lee - daß er sich nie» derbeugte, um den Schlüssel auf» zuheben/ und dabei in den Rücken geschossen wurde ...« Russell wartete. Er brauchte nicht lange za warten. »Sie schoß von oben auf ihn!« rief Meredith. »Sie war oben am Fen= ster!« Russell nickte. »Von oben!« knurrte der Polizei» chef und fing an, sich die Hände zu reiben. »Von oben! Und sieben Jahre lang hat die Witwe den klu" gen Verstand gefürchtet, der eines Tages auf diesen Gedanken kom= men würde! Ja, weiß Gott! Sie schoß aus ihrem offenen Schlaf= zimmerfenster, warf den Revolver hinunter in die Hecke, machte die Schlafzimmertür auf, sah im Korri= dor die schreckensbleiche Köchin, eilte mit ihr nach unten - ziemlich kaltblütig, ziemlich smart!« Er lä= dielte Meredith wohlwollend zu. »Und du hast sie erwischt, junge Miss! Zwar gibt es keine neuen sachlichen Beweise, aber ich bin schon mit noch weniger zurecht» gekommen! Zum Kuckuck - jetzt 217
Charlotte Armstrong weiß ich ihre Methode, und damit werde ich sie zum Geständnis brin» gen! Und verlaß dich darauf, junge Miss - sie wird mir auch verraten, weshalb sie dich die Treppe hinab» gestoßen hat!« »Ist doch jetzt klar«, murmelte Meredith. »Sie denkt wirklich, ich hätte gesehen, wie er den Schlüssel fallen ließ und sich dann danach bückte.« Mit überraschend kräfti= ger Stimme fügte sie hinzu: »Kann ich nicht mitkommen zum Hospi= tal? Um sie zu überführen? Ich könnte es gut schauspielern! Ich -« Ihre Stimme erstarb. Sie hatte es schon an ihren Gesichtern gesehen — sie würden ihr nicht erlauben, ins Hospital mitzukommen, die vier erwachsenen Männer. »Ich werde gehen«, sagte John Selby ingrimmig. »Ich werde sie überführen!« »Bleib schön im Bett, liebes Kind«, sagte der Doktor zur gleichen Zeit. »Die Krankenschwester wird bei dir wachen. Ich dürfte im Hospital benötigt werden.« »Ich auch«, sagte Russell. Aber er machte keine Anstalten, zu gehen. »Miss Lee«, wandte er sich an Me= redith, »erlauben Sie mir eine klei» ne Prophezeiung? Sie werden die Welt und das Leben weiter Studie» 218
ren. Sie werden Erfahrungen sam= mein und Einsichten gewinnen, und Sie werden nicht aufgeben, bis Sie eine Schriftstellerin geworden sind.« Er sah die großen braunen Augen klar zu seinen eigenen Au» gen emporblicken. »Sie haben es nicht nötig, zum Hospital mitzu» kommen, Miss Lee«, fügte er freundlich hinzu, »denn Sie be= sitzen Phantasie und Intelligenz genug, um es sich vorzustellen.« Er legte das Tagebuch auf die Bett« decke und hielt Meredith einen Bleistift hin. »Vielleicht möchten Sie die Inspiration dieser Stunde nützen, um einen Schluß hinzuzu" fügen?« Meredith blickte ihn nachdenklich an. Sie kaute auf ihrem linken Daumen. Aber ihre rechte Hand griff nach dem Bleistift. »Meredith«, sagte Onkel John, »da ist noch etwas, das du mit hinein» schreiben kannst. Du hast mich, äh, von einer ganzen Menge see= lischer Korsettstangen befreit. Und es ist mir ziemlich egal, was deine Mutter sagen wird.« »Wann kommt Mama?« fragte Meredith wie im Traum. »Morgen vormittag. Ich wünschte, äh, ich hätte ihr nicht telegrafiert, Jetzt haben wir es auszubaden.«
Die Hecke »Oh, ich weiß nicht, Onkel John«, murmelte Meredith. Für den Bruch' teil einer Sekunde wirkte ihr Ge= sieht elfenhaft verklärt. Dann war es wieder ganz sachlich. Sie kaute auf dem Bleistift und starrte nach= denklich vor sich hin. Die Krankenschwester trat behufr» sam näher. Die vier Männer raus» perten sich diskret. Nichts geschah. Meredith war mit= ten beim Nachdenken plötzlich ein° geschlafen. Die vier Männer lä= dielten sich zu und gingen auf Zehenspitzen hinaus. 27. Juli Heute ganz früh zu Bett. Wegen heftiger Übermüdung. War ge= spielt, aber glaubwürdig. (Viel= leicht doch lieber Schauspieles rin?)
Alle halfen, Mama zu beschwich= tigen. Polizeichef Barker und Mr. Russell holten sie vom Zug ab und erzählten ihr verheis ßungsvolle Dinge, daß die Wit= we bald gestehen würde und so weiter. Dr. Coles nahm mir
die häßliche Bandage ab und schmückte mein leicht lädiertes Haupt mit einem netten rosa= farbenen Seidenband. Aber Mama hatte natürlich aller» lei aufgespeichert, was sie uns bekanntzugeben gedachte, nach» dem der Polizeichef und Mr. Russell wieder gegangen waren. Sie wollte gerade anfangen, On= kel John zu zerfetzen, als ich sagte: »Sei nicht so unwirsch mit ihm, Mama. Er ist ein Held! Er hat mir das Leben gerettet!« Das hielt sie zurück. Nun wollte sie mit mir anfans gen, aber Onkel John sprang ein. »Meredith ist eine Heldin, Schwester! Sie hat den Fall gelöst!« Mama wurde abgelenkt und ver" gaß, mit uns böse zu sein. »Was ist das plötzlich für eine Har= monie zwischen euch?« fragte sie milde. Nun, ich schätze, sie konnte sehen, daß wir uns ge« genseitig von einigen seelischen Korsettstangen befreit hatten. (NB: Männer sind interessant. M. L.)
219
Leslie Charteris
Der Mann mit den grünen Scheinchen
»Das Geheimnis der Zufriedens heit«, orakelte Simon Templar, welcher bei seinen Freunden »der Heilige« heißt, »liegt darin, die Dinge zu nehmen, wie sie kom= men. Dies gilt genauso für das routinemäßige Tagewerk eines Bü= roangestellten, dessen große Stun= de schlägt, wenn er gelegentlich aushilfsweise die Post abzeichnen darf, wie für die kleinen Helden= taten eines Freibeuters unserer wurmstichigen Gesellschaftsord= nung im Vergleich zu seinen wirk» lieh bemerkenswerten Abenteuern. Jedenfalls erlebt man nicht immer» zu tollkühne Gefangennahmen und noch tollkühnere Fluchtversuche mit Revolvergeknalle aus allen Richtungen. Aber immerzu begeg= net man Leuten, die förmlich dar» auf versessen sind, anderen Leu= 220
tenGeld zu schenken. Man braucht sie nicht einmal zu suchen. Man braucht sich nur ein Monokel und den richtigen Gesichtsausdruck auf= zusetzen, und schon kommen sie angelaufen, um einem ihre Geld= börsen in den Schoß zu werfen.« Er verschwendete diese Gedanken» perlen an sein gewohntes Audi= torium, und es darf als bedauer= liehe Tatsache gelten, daß keiner der beiden Zuhörer geneigt war, hierüber zu diskutieren. Patricia Holm kannte ihn zu gut; und selbst Peter Quentin war den Gedanken» gangen des »Heiligen« inzwischen oft genug gefolgt, um zu wissen, daß eine solche Ankündigung un= vermeidlich zu einem weiteren der erwähnten kleinen Freibeuterstück' dien führen würde. Nun war es freilich nicht so, daß Simon Temp»
Der Mann mit den grünen Schemchen lar um Lebensnotwendiges, Brot und Butter, verlegen gewesen wäre, aber er schätzte dazu auch Oran= genikonfitüre, mageren Speck und ähnliche Dinge, und eine großzü= gige Welt pflegte ihn stets mit alledem zu versorgen ... Infolge ungünstig gewordener Marktlage war Benny Lucek aus New York herübergekommen, um sein Glück in der Alten Welt zu versuchen. Er besaß ein halbes Dutzend pik= feiner Anzüge, die ihm so phan= tastisch angemessen waren, daß es immer aussah, als werde er un= weigerlich aus den Nähten platzen, sobald sich sein Blutdruck auch nur um zwei Strich erhöhen sollte. Er hatte eine entsprechende Auswahl an mauvefarbenen und zartrosa Seidenhemden nebst einem Sorti= ment passender Krawatten in sei= nem Schrankkoffer, ferner eine genügende Anzahl modisch spitzer und wunderbar polierter Schuhe. Überdies gehörten ihm eine gol° dene Krawattennadel mit großer Perle und nicht weniger als drei sehr eindrucksvolle Fingerringe. Seine Züge strahlten Ehrlichkeit, Offenheit und gute Laune aus. Alles in allem entsprachen diese
Dinge als moralisches Betriebska« pital dem Gegenwert einer fünf» stelligen Summe. Daneben hatte er natürlich noch eine gewisse Menge richtiges Barkapital. Denn ohne eine gewisse Menge richtiges Bar» kapital vermag kein Falschgeld» gauner zu operieren. Benny Lucek war einer der letzten großen Repräsentanten dieser sanf= ten Gaunerei. Und obwohl man ihm in New York gesagt hatte, daß das Spiel wirklich nicht mehr lohne, hegte er die rosige Hoffnung, neuen Boden für eine Erfolgsernte unter den zurückgebliebenen Bür= gern des alten Europa zu finden. Soviel er wußte, war seine spezielle Art der Beutelschneiderei östlich des Atlantik bisher noch nicht exer= ziert worden, und so hatte er sich auf den Weg gemacht, um diesem Mangel abzuhelfen. Er etablierte sich zunächst in einer kleinen, aber sehr vornehmen Zim= merflucht im dritten Stock des Lon» doner Park=Lane=Hotels, wechselte sein Barkapital in englische Bank= noten um und streckte seine Füh= ler aus ... Immer wieder erscheinen in den Anzeigenspalten der Zeitungen verlockend abgefaßte Kleinanzei= 221
Le&lie Charteris gen. Aber diese eine, die Simon Templar entzückte, schien ein be= sonders reizvolles Exemplar zu sein: Ladies und Gentlemen in be' engten Verhältnissen, die an einem Unternehmen interessiert sind, welches großen Gewinn bei geringfügigem Risiko bietet, schreiben streng vertraulich un' ter Beifügung einiger persönli= eher Angaben an Chiffre No. 10 101.
Benny Lucek wußte alles, was man über Antwortbriefe auf eine der« artige Anzeige wissen kann. Er war ein Graphologe von großem Scharfsinn und ein klug folgernder Psychologe mit weitreichender Erfahrung. Aus einem zweiseitigen Handschreiben, das einige vage Angaben über den Absender ent» hielt, vermochte er ein Charakters bild mit vollständigem Hinter» grund zu entwickeln, welches in neunundneunzig von hundert Fäl» len haargenau auf den Schreiber paßte. Und wenn das Charakterbild, das er sich von einem gewissen Mr. Tombs formte, dessen Antwort auf die kleine Anzeige zusammen mit vielen, vielen anderen bei ihm eingegangen war, nun eben das 222
fatale Eine von Hundert werden sollte, so war dies nicht ausschließ" lieh Bennys Fehler. Denn auch Simon Templar war ein Spezialist in Briefen, wenngleich seine diesbezüglichen Künste eher auf schöpferischem Gebiet lagen als auf dem der kritischen Analy se .., Als Patricia am nächsten Morgen zu Templar kam, traf sie ihn bei der Ausführung einer anderen schöpferischen Tat, in der er sich nicht weniger geschickt erwies. »Was, um alles in der Welt, tust du in dieser Kleidung?« fragte sie, nachdem sie ihn verdutzt gemu« stert hatte. Templar betrachtete sich wohlge« fällig im Spiegel. Sein dunkelblauer Anzug war sauber, aber recht be» scheiden, und hatte ein leicht abge» tragenes Aussehen - ganz so, als sei es der einzige und mit verzwei" feltem Stolz gepflegte gute Anzug eines Mannes in beengten Ver= hältnissen. Seine Schuhe waren alt, jedoch makellos geputzt, seine Soks ken aus grauer Wolle und sorg' fältig gestopft. Er trug ein billiges weißes, mit dünnen grünen Strei= fen verziertes Popelinehemd und einen reinen, leider etwas unmo«
Der Mann mit den grünen Schemchen
dem geschnittenen weißen Kragen. Sein Schlips war dunkelblau, wie sein Anzug, und schon ziemlich ab» genutzt. Über seine Weste spannte sich eine altmodische silberne Uhr" kette. Das Gesamtbild zeigte so gut wie nichts von dem Simon Templar normaler Zeiten, der den eleganten Maßanzügen aus der Savile Row immer so etwas wie den Stempel seiner eigenen Per= sönlichkeit verlieh und dessen Hemden, Schlipse und Strümpfe den Neid aller gutgekleideten jun= gen Männer erweckten, die ihm in den drei oder vier exklusiven Klubs begegneten, denen er ange= hörte. Eine schier unbegreifliche Verwandlung! »Ich bin jetzt ein hart arbeitender Büroangestellter bei einer Versi= cherung. Ich habe ein Jahresgehalt von dreihundert Pfund und die trübselige Aussicht, in weiteren fünf zehn Dienstjahren bis aufdrei» hundertfünfzig Pfund zu kommen. Zur Zeit um die Vierzig, bin ich mit einer anämischen Ehefrau und sieben schulpflichtigen Kindern ge= segnet und leiste noch immer Ab" Zahlungen auf die Hälfte eines Zweifamilienhauses in Streatham, das mir in etwas über acht Jahren endlich ganz gehören wird.« Tem=
plar kontrollierte sein Gesicht i» Spiegel. »Noch immer etwas zu schön für die gegenwärtige Rolle, denke ich. Aber das werden wir gleich haben.« Er begann sein Gesicht mit jenen schnellen, sicheren Bewegungen zu bearbeiten, die für ihn typisch wahren. Seine Augenbrauen, leicht ge" gen den Strich gebürstet, waren auf einmal grau und buschig; sein Haar erhielt ebenfalls einen grauen Schimmer und wurde so straff über die Schädeldecke gestriegelt, daß jeder Friseur, zu dem er gekommen wäre, unweigerlich konstatiert hat» te, er werde schon ein wenig licht in der Mitte. Unter dem Spiel seiner raschen Finger erschienen kleine Schatten an den Seiten sei« ner Stirn, unter seinen Augen und rings um sein Kinn - kleine Schats ten, so zart, daß sie selbst auf Schrittnähe nicht als künstlich identifiziert werden konnten, und so klug placiert, daß sie dennoch den ganzen Umriß und Ausdruck seines Gesichtes veränderten. Und während er an der Maske arbeitete, sprach er. »Falls du je ein Buch gelesen haben solltest, Pat, in dem sich jemand so vollkommen verwandelt, daß seine nächsten Freunde und seine 225
Leslie Charteris eigenen Dienstboten dadurch ge= täuscht werden, dann weißt du, daß der Verfasser dir etwas vor» flunkert. Auf der Bühne sind der= artige Verwandlungen bis zu einem, gewissen Grad möglich. Im wirk= liehen Leben, wo jede Veränderung auch aus nächster Nähe betrachtet und bei grellem Sonnenlicht zu be= stehen hätte, sind sie es nicht ... Ich«, fügte er hinzu, ohne bei den folgenden Worten zu erröten, »ich bin der größte Charakterdarsteller, der nie auf die Bühne trat, und ich weiß um diese Dinge. Aber wenn es darum geht, eine neue Variation der eigenen Persönlichkeit zu schaffen, eine Variation, die nicht Freunde, sondern einen Fremden täuschen soll - dann kann man Leistungen vollbringen!« Er wandte sich plötzlich um, und Patricia hielt verblüfft die Luft an. Er war ein völlig anderer Mensch geworden. Seine Schultern hingen ein wenig nach vorn. Leicht nach vom und gleichzeitig etwas zur Seite war auch sein Kopf geneigt - ein typisches Berufsattribut klei= ner Büroangestellter. Er blickte Pat an mit dem einfältigen, leiden' schaftslosen Ausdruck seiner Rolle - ein unterernährter, geistig und gefühlsmäßig etwas unterentwik» 224
kelter Mann mittlerer Jahre, ohne Hoffnung, ohne Ehrgeiz, ständig bedrückt und bekümmert, von den wahren Freuden des Lebens aus" geschlossen durch seine beengten Verhältnisse, zutiefst resigniert über die öde Zwecklosigkeit seines Daseins, fünfzig Wochen im Jahr emsig knapsend und sparend, um während der vierzehntägigen Fe= rien an der See im August um so gründlicher von Zimmervermietem und Kellnern ausgenommen zu werden, mit seinesgleichen ernst» haft die Possen der Politiker disa kutierend und ehrlich überzeugt/ daß die leeren Phrasen der Paria» mentarier dazu beitrügen, seine persönliche Bürde zu erleichtern, und bei alledem ein zerbröckelndes Staatsgebilde stützend mit seinem Stoizismus und dem Stoizismus von Millionen seiner Art. »Soll ich es tun?« fragte er. Von Benny Luceks Standpunkt aus gesehen, hätte er es kaum bes= ser machen können. Bennys schar= fe Augen erfaßten seine Gestalt und sein ganzes Milieu mit einem einzigen Blick, dem kein Detail. entging, angefangen von dem er» grauenden Haar, das in der Mitte etwas licht zu werden begann, bis
Der Mann mit den grünen Scheindien hinunter zu den peinlich sauber ge= bürsteten Schuhen. »Erfreut, Sie kennenzulernen, Mr. Tombs. Gehen wir auf einen Cock= tail in die Bar. Ich nehme an, es würde Ihnen nicht schaden.« Er geleitete seinen Gast in die kleine, nobel ausgestattete Hotel» bar, und Mr. Tombs ließ sich be» hutsam auf der Kante eines Stuh= les nieder. Es ist unmöglich, von diesem Manne Templarscher Prä= gung anders als von »Mr. Tombs« zu sprechen; für den Simon Tem= plar, wie ihn zum Beispiel Patri= cia kannte, wäre körperlich und geistig einfach kein Platz gewesen in jener Gestalt mit den Hänge" schultern und dem schlichten Ge= müt. »Äh - ein Gläschen Sherry viel= leicht«, sagte er und hüstelte ver= legen. Benny bestellte Amontillado. Er wußte, daß der einzige Sherry, den Mr. Tombs bisher gekostet hatte, beim nächsten Lebensmit» telhändler gekauft und in irgend' einer kleinen Südweinvertriebs= firma zurechtgepanscht war. Benny war sehr erfahren darin, den Fremden, mit denen er ins Geschäft zu kommen wünschte, Behaglichkeit zu vermitteln. Und
der Simon Templar, der unsidits bar hinter Mr. Tombs' Stuhl stand, konnte nicht umhin, Bennys Technik zu bewundem. Benny plauderte mit einem so entwaffa nenden Mangel an Herablassung, daß Mr. Tombs alsbald etwas ge= löster auf seinem Stuhl saß und mit dem Gastgeber lachte und dann sogar in einem Gefühl, als habe er nun endlich einen erfolgs reichen Mann getroffen, der ihn verstand und anerkannte, die nächsten Amontillados selbst be= stellte. Nach den dritten Amontillados, bei denen Benny sich halb tot ge= lacht hatte über eine uralte Bors senanekdote, die Mr. Tombs nicht eben wortgewandt zum Besten gab, gingen sie zum Lunch in den Speisesalon hinüber. »Geräucherter Lachs, Mr. Tombs? Oder ein wenig Kaviar? ... Da= nach sollten wir vielleicht oeufs en cocotte Rossini nehmen, in Sahne mit foie gras und Trüffeln. Und als Hauptgericht gebratene Täubchen mit Pilzen und rotem Johannisbeergelee. Ich bevorzuge immer eine leichte Mahlzeit um die Mitte des Tages - man wird dann am Nachmittag nicht so schläfrig, ha, ha, ha ... Ja, und 225
Leslie Charteris als Getränk eine Flasche Lieb» frauenmilch?« Er wählte die Speisen und den Wein mit einer angenehm unauf= dringlichen Erfahrenheit, die Mr. Tombs irgendwie zum gleichwer" tigen Partner in kulinarischer Vir« tuosität erhob. Und Mr. Tombs, dessen diesbezügliche Erfahrung in der Tat nicht über Roastbeef, Yorkshirepudding und australi" sehen Burgunder hinausreichten, wurde immer gelöster und erin» nerte sich peu ä peu noch einiger Börsenanekdoten, mit denen er seinerzeit Lachstürme bei seinen Kollegen hervorgerufen hatte. Benny verstand seine Sache so gut, daß die geschäftlichen Aspekte ihres Zusammenseins während der Mahlzeit keine Chance fanden, sich irgendwie bemerkbar zu ma" chen; und doch bekam er es fer" tig, nach und nach alles herauszu" finden, was er über das Privatle" ben und die Ansichten seines Ga= stes zu erfahren wünschte. Hilflos zerschmelzend in der behaglichen Wärme von Bennys Gastfreund' schaft wurde Mr. Tombs beinah menschlich, und Benny holte ihn mit gelassener Kunstfertigkeit aus. »Ich habe mir immer gedacht, das 226
Versicherungswesen müsse ein außerordentlich interessanter Be= ruf sein. Gewiß muß man dabei immer wachsam bleiben. Ich stelle mir jedenfalls vor, daß es eine ganze Menge Kunden gibt, die der Versicherung mehr abnehmen möchten, als ihnen zusteht.« Mr. Tombs, der seinen Job noch niemals interessant gefunden hatte, und einen versuchten Be= trug höchstens dann bemerkte, wenn ein Kollege ihn ausdrücklich darauf hinwies, lächelte unver= bindlich und nickte. »Jene Art von doppelter Moral hat mich immer verwundert«, sagte Benny in einem Ton, als habe er diesem Komplex schon eine Men= ge besorgter Gedanken gewidmet. »Ein Mann, der keinen Sixpence von einem anderen stehlen würde, dem er auf der Straße begegnet, hat keine Bedenken, der Obrigkeit fünf oder zehn Shilling zu steh» len, indem er eine oder zwei Fla« sehen Kognak ins Land schmug" gelt, wenn er aus Frankreich zu» rückkehrt, oder gar mehrere hun= dert Shilling, indem er seine Steuererklärung frisiert. Wenn er einen Geschäftspartner sucht, wür« de es ihm nicht im Traum einfals len, mit unrichtigen Wertangaben
Der Mann mit den grünen Scheinehen zu operieren, aber wenn Einbre° Templar hinter seinem Stuhl eher sein Haus bestehlen, dann wußte, daß dies die Frage war, an macht er sich kein Gewissen dar" der Benny Luceks Zukunft hing; aus, der Versicherung gegenüber jetzt war der Moment gekommen, den Wert der gestohlenen Dinge den Benny so beiläufig und geheraufzusetzen.« schickt angesteuert hatte, der Mo« Mr. Tombs zuckte die Schultern. ment, da sich endgültig offenbaren »Ich nehme an«, entgegnete er auf würde, ob »Mr. Tombs« der Mann gut Glück, »die Leute, die so etwas war, den Benny suchte, oder nicht. tun, sind der Meinung, daß die Dennoch war keine Spur von Obrigkeit und die wohlhabenden Spannung oder Wachsamkeit in Versicherungsgesellschaften ohnee Bennys jovialem Gesicht zu ent= decken. Benny goß den letzten hin auf ihre Kosten kommen.« »Ja, ja, das mag sein«, gab Benny Rest Liebfrauenmilch in Mr. zu. »Und wahrscheinlich steckt ein Tombs' Glas, und Mr. Tombs gewisses Maß an Gesetzlosigkeit blickte auf. auch in den Besten von uns. Ich »Ich glaube«, sagte er und raus» habe oft darüber nachgedacht, was perte sich, »ja, ich glaube, ich ich selbst unter bestimmten Um= würde ihn behalten. Ich habe eben ständen täte. Angenommen, zum probiert, mich in die Lage eines Beispiel, Sie fahren eines Abends Menschen zu versetzen, der von m einem Taxi nach Hause und einer solchen Verlockung überfal» finden auf dem Sitz eine Briefs len wird - darüber zu theoretisie= tasche mit tausend Pfund in klei= ren hätte ja keinen Sinn, man muß neren Banknoten, die sich unauf» versuchen, es zu fühlen. Auge in fällig ausgeben ließen. Die Brief» Auge mit tausend Pfund Bargeld, tasche enthielt nichts, was darauf dazu das Bewußtsein, daß ich viel hinweist, wer der Verlierer ist ... Geld nötig hätte, um meiner kran= Nun frage ich mich - sollte man ken Frau die Erholung zu ermögli= unter diesen Umständen nicht ver= chen, die sie braucht - nun, da sucht sein, den Fund zu behalten?« würde ich wahrscheinlich erliegen. Mr. Tombs spielte mit der Gabel Nicht, daß ich -« herum und zögerte eine oder zwei »Mein lieber Freund, ich denke Sekunden lang. Aber der Simon nicht daran. Sie zu tadeln«, er= 227
Leslie Charteris klärte Benny herzlich. »Ich selber würde es genauso machen. Ich würde mir sagen, daß ein Mann, der tausend Pfund in bar mit sich herumträgt, auf der Bank gewiß noch viel mehr hat ... Es ist die alte Geschichte mit der Redlich» keit - wir werden durch unsere Gesetze dazu angehalten. Aber so= bald wir nicht zu fürchten brau= dien, daß wir erwischt werden, zeigt es sich, daß unser Gewissen in Wirklichkeit doch noch recht primitiv ist.« Auf diesen bemerkenswerten Aus= Spruch folgte Schweigen. Mr. Tombs verspeiste unterdes den letzten Bissen seines gebratenen Täubchens, säuberte seinen Teller mit dem letzten Eckchen Toast und nahm schließlich eine türki= sehe Zigarette aus Bennys Platin» etui entgegen. Überdies fand er Gelegenheit, sich zu erinnern, daß er den sympathischen Mr. Lucek eigentlich getroffen hatte, um von ihm einen geschäftlichen Vorschlag zu hören - falls Benny jetzt noch dazu gewillt war. Als der Kellner sich mit der Rechnung näherte, murmelte Mr. Tombs diskret ge= niert: »Ja, und wegen - äh - Ihres Inserates -« Benny schrieb seinen Namenszug 228
auf die Rechnung und schob sei= nen Stuhl zurück. »Kommen Sie mit in meine be= scheidene Suite, Mr. Tombs, und wir werden uns dort weiter un= terhalten.« Sie fuhren, ihre Zigaretten rau= chend, mit dem Lift zum dritten Stock hinauf und gingen dort den teppichbelegten Korridor entlang. Benny hatte einen sicheren In= stinkt für dramatische Akzente. Ohne irgend etwas zu sagen, aber auch ohne den Eindruck zu erwek» ken, als sei er jetzt absichtlich so schweigsam, machte er die Tür der Suite auf und gestikulierte Mr. Tombs hinein. Das Wohnzimmer, in das Mr. Tombs trat, war verhältnismäßig klein, dafür aber geschmackvoll und anheimelnd eingerichtet. Ein ziemlich großes, von braunem Papier umhülltes und sorglos halb geöffnetes Paket lag auf dem Tisch in der Mitte des Raumes. Drei ähnliche Pakete, ebenfalls halb geöffnet, nahmen einen der Ses= sei für sich in Anspruch. Benny nahm die Pakete auf, eins nach dem anderen, jedesmal beide Hän= de gebrauchend, und warf sie gleichmütig in die nächste Zim» merecke.
Der Mann mit den grünen Scheinchen »Wissen Sie, was für Zeug das ist?« fragte er still amüsiert. Er nahm eine Handvoll des Zeugs aus dem Paket, das auf dem Tisch lag, und hielt es Mr. Tombs hin. Es war von überwiegend grünli= eher Farbe. Als Mr. Tombs es an= starrte, begannen Worte, Zahlen und Formen Gestalt anzunehmen, und Mr. Tombs verschlug es den Atem. »Pfundnoten«, sagte Benny. Er wies auf die drei Pakete, die er in die Zimmerecke geworfen hatte. »Mehr davon.« Er klappte das Packpapier des halb geöffneten Paketes auf dem Tisch vollends beiseite, wodurch acht sauber ne= ben= und hintereinander errichtete Stapel dicker Banknotenbündel sichtbar wurden. »Jede Menge da= von. Überzeugen Sie sich.« Mr. Tombs blaue Augen wurden größer und größer, und ihre Li= der blinzelten schneller undsdinel= ler, als wollten sie eine Halluzina= tion verscheuchen. »Sind das - sind das wirklich alles Pfundnoten?« »Jede einzelne davon.« »Alles Ihre?« »Ja, das nehme ich an. Jedenfalls habe ich sie gemacht.« »Das müssen ja Tausende sein.
Zehntausende! Oder noch mehr!« Benny warf sich in den freige= machten Sessel. »Ich bin wohl der reichste Mann der Welt, Mr. Tombs«, sagte er ohne besondere Betonung. »Ich schätze, ich müßte wohl der reich» ste sein. Denn ich vermag so schnell Geld zu machen, wie sich ein Schalterhebel herumlegen läßt. Ich meine das wörtlich. IA habe diese Banknoten gemacht.« Mr. Tombs berührte einen der Stapel auf dem Tisch vorsichtig mit den Fingerspitzen, als erwarte er insgeheim, von ihm gebissen zu werden. Seine Augen waren run= der und größer denn je. »Sie meinen doch nicht - äh - Fäl= schungen?« flüsterte er. »Gott behüte«, sagte Benny. »Bringen Sie diese Scheinchen zur nächsten Bank, erzählen Sie dem Kassierer, Sie hätten Zweifel dar= an, und bitten Sie ihn, sie zu prüfen. Bringen Sie sie meinetwe» gen zur Bank von England. In allem, was hier auf dem Tisch und dort in der Ecke liegt, ist nicht eine einzige Fälschung. Aber ich habe diese Banknoten gemacht! Setzen Sie sich, und ich werde es Ihnen erzählen.« Mr. Tombs setzte sich steif auf 229
Leslie Charteris den zweiten Sessel. Seine Blicke wanderten hin und her zwischen den Banknotenstapeln auf dem Tisch und den Banknotenpaketen in der Zimmerecke. Er zeigte da= bei einen Ausdruck, als hätte es ihn eher erleichtert denn verwundert, wären sie mit einemmal ver" schwunden gewesen wie ein Spuk. »Die Sache ist so, Mr. Tombs ich ziehe Sie ins Vertrauen, weil ich glaube. Sie gut genug kennen' gelernt zu haben. Ich habe mir meine Meinung über Sie gebildet. Ich mag Sie ... Diese Banknoten, Mr. Tombs, sind mit Versuchs« platten gedruckt, die von einem Burschen, der dort arbeitete, aus der Bank von England gestohlen wurden. Er war in der Gravierab» teilung. Und als dort neue Druck" platten für Pfundnoten gemacht wurden, stellte man versehentlich einen Satz zuviel her. Dieser Satz, aus je einer Platte für die Vorder= seite und die Rückseite bestehend, wurde ihm zur Zerstörung über" geben. Aber er zerstörte die Plat= ten nicht. Er war wie der Mann, über den wir sprachen - der Mann im Taxi. Er hatte zwei echte Plat" ten, mit denen sich echte Pfundno» ten drucken ließen, und wenn er es wollte, konnte er diese beiden 250
Platten für sich behalten. In dies sem Fall brauchte er nichts weiter zu tun, als zwei gleichgroße Imita» tionen herzustellen, die sich nie» mand genau ansehen würde, und eine Anzahl Linien kreuz und quer über ihre Druckflächen zu ziehen. Diese beiden Platten wür» den dann in irgendein Panzerge= wölbe gesperrt und wahrschein' lieh nie mehr beachtet werden, und er hätte die beiden echten. Er wußte noch nicht, was er eigent« lieh damit machen sollte, als er sie an sich nahm, aber nun hatte er sie ... Und bald danach bekam er Angst, daß die Sache doch noch entdeckt werden könnte, und rückte aus. Er fuhr nach Amerika und blieb in New York, woher ich komme. Zufällig nahm er ein Zimmer in dem gleichen Haus in Brooklyn, in dem auch ich wohnte. Ich kannte ihn nur wenig, denn er war immer sehr still und zurückgezogen und schien durch irgend etwas bedrückt zu sein. Da wir uns nur oberfläch" lieh kannten, hätte ich keinen An= laß gehabt, ihn zu fragen, was es wäre, und ich kümmerte mich auch nicht weiter darum. Aber dann be= kam er Lungenentzündung. Da ich der einzige im Hause war,
Der Mann mit den grünen Scheinehen
mit dem er hin und wieder ein den Platten. >Du nimmst diese paar Worte gesprochen hatte, Platten an dich, Benny<, sagte er. schien es ganz natürlich, daß ich > Vielleicht können sie dir nützen.< mich seiner annahm. Ich tat für Wenige Minuten später war er tot. ihn, was ich tun konnte. Viel war Und am Morgen, kaum daß die es nicht, aber er wußte mir Dank Leiche aus dem Haus war, ver" dafür. Ich bezahlte seinen Miet» langte die Wirtin, ich solle zuse« rückstand und kaufte ihm einiges hen, daß ich seine Sachen schleus zu essen. Der Arzt stellte nämlich lügst aus dem Wege brächte - sie fest, daß er halb verhungert war bekäme einen neuen Mieter. Nun, - er hatte bei der Ankunft in New ich brachte seine Sachen in mein York nur ein paar Pfund in der eigenes Zimmer. Es war nicht viel, Tasche gehabt, und als sie ver« aber ich fand die Platten. braucht waren, hatte er buchstäb» Vielleicht können Sie sich vorstel» lieh von den Abfällen gelebt, die len, was mir die Platten bedeute» er sich bei einigen Metzgereien ten, nachdem ich gründlich über erbetteln konnte. Er hungerte sich die ganze Sache nachgedacht hatte. halb zu Tode und hätte eine Mils Mein damaliger Job in einer Ga= lion Pfund in Reichweite gehabt! rage brachte mir nur ein paar Dol" Doch davon wußte ich zunächst lar in der Woche ein. Ich war wie noch nichts. der Mann im Taxi, von dem wir Die Lungenentzündung gab ihm sprachen. den Rest. Ausgemergelt wie er Zum Glück besaß ich etwas Er» war, nützte weder das bißchen spartes. Nun mußte ich das rich= Essen, das ich ihm nun kaufte, tige Papier auftreiben und jeman' noch die Hilfe, die der Arzt ihm zu den finden, der mir die Banknoten leisten versuchte. Eines Nachts druckte. Alles sehr schwierig, ging es mit ihm zu Ende. Ich saß denn ich verstand nichts von der an seinem Bett, als seine letzte technischen Seite der Sache, und Stunde kam. Er sah mich auf ein» ziemlich riskant obendrein. Es mal mit ganz großen Augen an würde mich meine gesamten Er« und sagte: >Dank für alles, sparnisse und - wenn es daneben» Benny.< Und dann erzählte er mir ging - vermutlich einige Jahre Ge« von sich und von der Sache mit fängnis kosten. Doch wenn es ge« 231
Leslie Charteris lang, dann würde mich die Hinter» lassenschaft des armen Kerls zum Millionär machen. Er war zu= gründe gegangen, weil er zu viel Angst hatte, es zu versuchen. Aber - wie stand es mit meinem Mut?« Benny Lucek schloß sekundenlang die Augen, als durchlebe er noch einmal alle die furchtbaren Zwei» fei und Gewissensnöte. »Sie sehen, für welchen Weg ich mich schließlich entschied«, fuhr er fort. »Es kostete viel Zeit und viel Geduld. Dennoch blieb es der schnellste Weg, eine Million zu machen, von dem ich je gehört habe . , . Das liegt nun sechs Jahre zurück. Ich weiß nicht genau, wie= viel Geld ich heute bei verschiede" nen Banken liegen habe. Aber ich weiß, daß es mehr ist, als ich je= mals ausgeben kann. Und so war es auch schon vor drei Jahren. Damals, als ich alles besaß, was ich mir nur wünschen konnte, be= gann ich über die anderen Leute nachzudenken, die Geld brauch» ten, und beschloß, ihnen zu hel= fen. Da ich ja in den USA lebte, mußte ich natürlich mein englis sches Geld bei immer anderen Banken des Landes in Dollar um= wechseln, eh' ich es ausgeben oder 252
an andere fortgeben konnte - für Wohltätigkeit, für verschämte Arme, für strebsame bedürftige Leute und viele, viele andere gute Zwecke. Das alles war sehr richtig und schön und befriedigte mich. Doch eines Tages fiel mir ein, daß der Bursche, dem ich die Platten verdankte, Engländer war. Und ich dachte mir, daß einiges von diesem Geld nun endlich auch an Leute in England gelangen sollte, die es nötig hätten. Das ist der Grund, weshalb icK über den Ozean kam ... Erzählte ich Ihnen eigentlich/daß jener Bur= sehe, als er ausrückte, eine Frau hinterließ? Es kostete mich zwei Monate emsiger Arbeit unter Mit» Wirkung der besten Londoner De= tektivagentur, um sie als Bediene» rin in einem billigen Edinburgher Teesalon ausfindig zu machen. Jetzt ist ihr Dasein auf Lebenszeit gesichert. Und sie glaubt glückli» cherweise an das Märchen, das ich ihr erzählte - irgendein entfernter Verwandter, den es in Wirklichs keit niemals gab, sei in Australien als wohlhabender Mann gestor» ben und habe ihr sein Vermögen hinterlassen. Selten habe ich so= viel innere Befriedigung empfun= den, wie bei diesem hübschen Ar=
Der Mann mit den grünen Schemchen rangement ... Ja, aber wenn ich - irgendeinen anderen Burschen fin= den kann, dessen Frau einiges Geld braucht«, fügte Benny nobel hinzu, »Geld, das er nicht für sie verdienen kann - dann will ich selbstverständlich ebenfalls hel= fen.« Mr. Tombs schluckte vernehmlich. Benny Lucek hatte sich, neben all seinen sonstigen Talenten, nun auch als ein Meister der Vortrags= kunst erwiesen, und die Art seiner Darlegungen war darauf berech= net, den bekannten Kloß in die Kehle eines beeindruckten Zuhö= rers zu zaubern. »Würden Sie vielleicht einiges Geld haben mögen, Mr. Tombs?« fragte er mit taktvoller Diskre= tion. Mr. Tombs hüstelte. »Ich - äh — nun, ich kann die Ge= schichte noch gar nicht fassen, die Sie mir da erzählt haben, Mr. Lu= cek.« Mr. Tombs nahm einige der Bank= notenbündel auf, betrachtete sie verlangend, ließ sich die einzelnen Banknoten eines Bündels durch die Finger gleiten und legte plötzlich das Ganze wieder auf den Stapel, als wünsche er festzustellen, ob ihn das Zurückweisen der Versu=
chung mit irgendwelchen wohl= tuend tugendhaften Empfindun= gen beglücken würde, die als eine Art Entschädigung für den mate° riellen Verzicht bewertet werden könnten. Anscheinend fiel das Experiment nicht ganz befriedigend aus. Mr. Tombs' Mund zuckte. »Sie haben mir alles über sich er» zählt«, murmelte Benny teil= nahmsvoll, »und über Ihre Frau, deren zarte Gesundheit am ehe= sten durch eine lange Seereise ge= kräftigt werden könnte. Ich neh= me an, daß es Ihnen Schwierigkei= ten machen wird. Ihren Kindern eine gute Ausbildung zu geben ein Umstand, den Sie von sich aus nicht einmal erwähnten ... Ich möchte Ihnen helfen, dies alles in Ordnung zu bringen, Mr. Tombs. Sie können von meinen Bankno» ten kaufen, so viele Sie wollen. Der Preis, den ich Ihnen machen würde, betrüge zwanzig Prozent des Nennwertes. Soviel kostet es mich selbst, das Papier und die Druckfarben zu beschaffen und die Noten gedruckt zu bekommen der Mann, der sie für mich druckt, erhält begreiflicherweise den Hauptanteil der Kosten. Vier Shil= ling für eine Pfundnote, das ist
Leslie Charteris der reine Selbstkostenpreis. Und Sie können sich zum Millionär ma= chen, wenn Sie wollen.« Mr. Tombs schluckte abermals. »Sie treiben - Sie treiben«, stam= melte er mitleiderregend, »Sie trei= ben doch wohl keinen Scherz mit mir?« »Aber ich bitte Sie, Mr. Tombs ich bin glücklich, einem Mann wie Ihnen helfen zu können.« Benny erhob sich und legte freundschart' lieh eine Hand auf Mr. Tombs' Schulter. »Sehen Sie - ich verstehe ja, daß dies alles ein Schock für Sie gewesen sein muß. Sie brauchen sich nicht gleich zu entscheiden. Warum gehen Sie nicht nach Hause, um in aller Ruhe noch ein» mal darüber nachzudenken? Kom= menSie morgen wieder zum Lunch zu mir, falls Sie sich entschließen, eine gewisse Anzahl dieser Bank' noten zu erwerben, und bringen Sie dann das entsprechende Geld mit. Rufen Sie mich heute abend um sieben Uhr an und lassen Sie mich wissen, ob ich Sie erwarten darf.« Er zog eine kleine Handvoll Banknoten aus einem der obersten Bündel und stopfte sie Mr. Tombs in die Tasche. »Hier - nehmen Sie ein paar Muster mit und legen Sie sie bei einer Bank vor, nur für den 254
Fall, daß Sie es immer noch nicht glauben können.« Mr. Tombs nickte mechanisch und blinzelte dabei gedankenverloren vor sich hin. »Jetzt bin ich der Mann im Taxi«, sagte er mit schwacher Stimme. »Wenn man wirklich jene Brief« tasche findet -« »Wer verliert dadurch?« fragte Benny. »Die Bank von England vielleicht. Ich weiß über die natio" naiökonomischen Zusammenhänge nicht genau Bescheid, aber ich neh° me an, sie hat letzten Endes die Rechnung zu bezahlen. Doch wird sie ärmer durch die paar tausend Pfund, um die Sie dann reicher sind? Ich denke, es wird ihr kaum mehr ausmachen, als Ihnen ein Penny, den Sie aus der Tasche verlieren ... Also, Mr. Tombs, denken Sie in aller Ruhe darüber nach.« »Ja, ja, das werde ich«, murmelte Mr. Tombs mit einem letzten ver= langenden Blick auf den Tisch mit den Banknotenstapeln. »Da wäre natürlich noch eins«, sagte Benny und legte einen Fin« ger über seine Lippen. »Kein Wort von dem, was ich Ihnen erzählte, zu irgendeiner lebenden Seele nicht einmal zu Ihrer Frau! Ich
Der Mann mit den grünen SAeinAea
vertraue Ihnen, daß Sie die Sache mit derselben Verschwiegenheit behandeln wie Ihre Versiehe" rungsangelegenheiten. Sie verste= hen, weshalb - nicht wahr? Eine Geschichte wie die, die ich Ihnen erzählte, würde sich wie ein Lauf" teuer verbreiten. Und sobald sie der Bank von England zu Ohren käme, wäre es aus und vorbei mit unseren schönen grünen Schein» chen - man würde neue Bankno" ten mit verändertem Dekor her» ausgeben und die alten einziehen, so schnell sich das nur machen ließe.« »Gewiß, Mr. Lucek«, murmelte Mr. Tombs, »ich verstehe.« Er verstand es vollkommen, so vollkommen, daß die vergnügliche Geschichte, die er Patricia nach sei» ner Heimkehr erzählte, infolge sei" ner Begeisterung beinah ein wenig zusammenhanglos wurde. Er erzählte sie ihr, während er sein Make=up entfernte und die äußere Hülle des bescheidenen Versiehe» rungsangestellten mit der gewohn" ten Kleidung Simon Tempiars vertauschte; als er damit fertig war, sah er wieder so untadelig nobel aus, daß Patricia sich irgend» wie erleichtert fühlte.
Schließlich glättete er die Banknoten, die »Mr. Tombs« zum Ab« schied von Benny in die Tasche ge» steckt bekommen hatte, und brachte sie in seiner Brieftasche unter. Dann blickte er auf die Uhr. »Laß uns gehen und eine Nonstop» Show bewundem, Darling«, sagte er. »Danach werden wir ein Kilo Kaviar zwischen uns teilen und mit einigen Flaschen Cordon Rou» ge hinunterspülen. Freund Benny bezahlt!« »Bist du denn sicher, daß diese Banknoten echt sind?« fragte Patricia, und Simon lachte. »Sweetheart - keine dieser Bank» noten ist irgendwo anders als in der Bank von England gedruckt worden. Diese Schemchen sind. wie Gold! Das ist eine der festen Regeln des Falschgeldgaunerspiels im allgemeinen und bei Freund Benny im besonderen, obschon ich mich frage, warum er eigentlich nicht — oh, mon dieu!« Simon sprang mit einem Schrei des Entzückens mindestens einen halben Meter in die Höhe. Die verblüffte Patricia starrte ihn an. »Was, in aller Welt -« »Oh, nur eine kleine Idee«, erklärte er. »Manche solcher kleinen 255
Leslie Charteris Ideen reißen mich buchstäblich in die Luft. Und diese hier ist eine wahre Pracht!« Er schwenkte Patricia gutgelaunt durch die verheißenen Vergnügun= gen, ohne ihr zu erzählen, daß die Idee, die ihn hatte hüpfen lassen wie ein Zicklein - und dies oben» drein unter Gebrauch eines fran= zösischen Ausrufs -, mit einer sehr nützlichen Verwendung von Falsch' geld zusammenhing. Aber um Punkt sieben Uhr fand er Zeit, das Park=Lane=Hotel anzurufen. »Ich habe mich entschlossen zu tun, was der Mann im Taxi tun würde, Mr. Lucek«, sagte er. »Nun, Mr. Tombs, das ist eine erfreuliche Nachricht«, entgegnete Benny. »Ich erwarte Sie also mor= gen um ein Uhr zum Lunch. Wie= viel übrigens gedenken Sie zu er= werben?« »Ich fürchte, ich kann nicht mehr als - äh - dreihundert Pfund flüs= sig machen. Das würde dann einem Gegenwert von fünfzehnhundert entsprechen - nicht wahr, Mr. Lucek?« »Für Sie, Mr. Tombs, werden es ausnahmsweise sogar zweitausend sein«, erklärte Benny großzügig. »Wenn Sie kommen, habe ich alles für Sie bereit. Also, Mr. Tombs 256
bis morgen ein Uhr im Hotel= foyer...« Mr. Tombs stellte sich drei Minu= ten vor der Zeit ein. Obwohl er dieselbe Kleidung anhatte wie am vergangenen Tag, umgab ihn ein festliches Air. Das brandneue Paar weißer Glacehandschuhe und eine rosa Nelke im Knopfloch trugen das ihre dazu bei. »Ich habe heute früh im Büro ge= kündigt«, sagte er. »Und ich hoffe, ich brauche diesen Platz nie wie= derzusehen.« Benny murmelte Glückwünsche, aber sein Ton war etwas pressiert und entschuldigungheischend. »Ich fürchte, Mr. Tombs, wir müs» sen unseren Lunch verschieben«, fügte er hinzu. »Ich habe da vor= hin von einem meiner Rechercheu» re eine Nachricht über eine alte Lady erhalten - eine arme Witwe in Derbyshire. Ihr Mann hat sie vor zwanzig Jahren verlassen, und ihr einziger Sohn, der bisher für sie sorgte, wurde vorgestern bei einem Autounglück getötet. Auch sie hatte auf mein Inserat geant= wertet. Es scheint, daß sie jetzt sehr dringend eines unverhofften Wohltäters bedarf. Daher will ich mit dem Zwei=Uhr=Zug nach Der»
Der Mann mit den grünen Scheinchen byshire hinauf und zusehen, was ster stehenden Sessel und ließ sich ich für sie tun kann.« in einem Sessel an der gegenüber' Mr. Tombs gab vor, eine Träne liegenden Seite des Tisches nieder. des Mitgefühls zu unterdrücken, »Zweitausend Empfundnoten wä= die vermutlich doch nicht geflossen ren schlecht in Ihren Anzugtaschen wäre, und begleitete Benny zu des= unterzubringen, Mr. Tombs«, be= sen Suite. Einige vielbenutzte, aber merkte er leutselig. »Ich sollte lie= noch recht ansehnliche lederne ber ein kleines Paket für Sie ma= Koffer und ein wahres Monstrum chen.« von Schrankkoffer/ die im Wohn= Unter Mr. Tombs' verlangenden zimmer herumstanden, bereits mit Blicken nahm er vier Banknoten' Gepäckzetteln versehen und alle bündel vom Stapel und warf sie bis auf einen Handkoffer auch seinem Gast in den Schoß. Mr. schon verschlossen, bekräftigten Tombs ergriff sie und prüfte sie Bennys mitgeteilte Absichten. Nur gierig und in aller Hast, indem er noch eins der Banknotenpakete war sie mit der linken Hand hielt und sichtbar, achtlos auf das eine Ende ihre oberen Ecken unter seinem des Tisches gelegt. rechten Daumen hindurchlaufen »Haben Sie das Geld mitgebracht, ließ, so daß es vor seinen Augen Mr. Tombs?« nur so schwirrte von schönen grün« Mr. Tombs nickte, brachte seine liehen Einpfundnoten. abgewetzte Brieftasche zum Vor» »Sie können sie natürlich durch" schein und entnahm ihr mit etwas zählen, wenn Sie das möchten«, unsicheren Händen ein Bündel kni= sagte Benny, »so viel Zeit haben sternd neuer Fünfpfundnoten. wir noch. In jedem Bündel müssen Benny empfing das Bündel, warf fünfhundert sein.« einen beiläufigen Blick auf die Ban= Aber Mr. Tombs schüttelte den derole, die mit dem Aufdruck »300 Kopf. »Ich nehme Ihr Wort dafür, Pfund« und einem doppelt signier' Mr. Lucek. Ich habe gesehen, daß ten Bankstempel versehen war, es alles Einpfundnoten sind. Eine und legte es mit der Achtlosigkeit große Menge Einpfundnoten, zu= eines echten Millionärs auf den sammen bestimmt zweitausend.« Tisch. Dann winkte er Mr. Tombs Benny lächelte, schob geschäftig in einen mit dem Rücken zum Fen= das große Banknotenpaket zur Sei= 257
Leslie Charteris te und streckte seine offene Rechte zu Mr. Tombs hinüber. Mr. Tombs gab ihm die vier Bündel zurück. Und Benny packte sie zu zwei und zwei übereinander auf einen be" reitgelegten Bogen braunes Eins wickelpapier, schlug das Papier von hinten und von vome sauber über ihnen zusammen, kniffte dann die offenen Enden und legte sie so rasch und geschickt wie ein geübter Ladengehilfe über das ent» standene rechteckige Päckchen. Und Mr. Tombs' gierige Augen verfolgten jede seiner Bewegun» gen mit der Intensität eines ein= fältigen, aber ernsthaften Zuschau« ers, der ein Zauberkunststückchen zu ergründen versucht. »Meinen Sie nicht, daß es eine furchtbare Tragödie für eine arme Witwe sein müßte, die alle ihre Ersparnisse in solche Banknoten steckt und dann findet, daß. sie äh - begaunert worden ist?« frag" te Mr. Tombs. Bennys dunkle Augen blickten in jäher Bestürzung zu ihm auf. »Eh - was war das?« Aber Mr. Tombs' sorgenzerknit» tertes Gesicht hatte die Unschuld einer Schafsphysiognomie. »Ach, das -«, murmelte er, »das ging mir nur so durch den Kopf.« 238
Erleichtert lächelnd stellte Benny über zwei Drittel seines teuren Kunstgebisses zur Schau und fuhr mit der Arbeit an seinem Päckchen fort. Mr. Tombs' Blicke hingegen konzentrierten sich mit wahrhaft hypnotischer Intensität auf Bennys Tun. Aber Benny war nicht beunruhigt. Er hatte an diesem Vormittag bei» nah eine Stunde damit verbracht, seine Vorbereitungen zu treffen und zu erproben. Das obere Kabel des offenen Schiebefensters hinter Mr. Tombs' Sessel war bis auf eine einzige Drahtfaser durchgefeilt, und das Gewicht des Fensters wur« de von einem kleinen, leicht in den Fensterrahmen getriebenen Stahl» nagel getragen. Von diesem Stahls nagel führte ein dünner, jedodi sehr fester dunkelfarbiger Nylon» faden zum Boden hinab und hier durch eine unter der Heizkörpers Verkleidung verborgene Schraub" Öse hindurch unter den Teppich. Am anderen Ende des paßrecht ge" legten Teppichs kam er durch eine zweite, dort direkt in den Boden geschraubte kleine Öse wieder zum Vorschein und endete, bequem und ganz unauffällig zu ergreifen, am Knauf der Tischschublade. Nun war Benny auch mit dem
Der Mann mit den grünen Schemchen kunstgerechten Binden der Schnur seines Päckchens fertig und suchte in seinen Taschen nach einem Mes= ser, um das überschüssige Bind= fadenende zu stutzen. »Gleich haben wir es, Mr. Tombs«, sagte er verheißend und dehnte seine Sucherei auf die Schublade aus. Dies ermöglichte es ihm, un= bemerkt den Nylonfaden zu paks ken und kräftig daran zu ziehen. Die Sache funktionierte - das Schiebefenster sauste mit lautem Knall herunter. Aber Mr. Tombs sah sich - nicht um! Es war die verblüffendste Sache, die sich je in Benny Luceks Laufbahn ereignet hatte. Es war un" glaublich, beinah übernatürlich. Es war ein so stupendes Phänomen, daß Bennys Mund unwillkürlich aufklappte, während sich in seiner Magengegend fassungslose Be= stürzung aufblähte wie ein kleiner Ballon und ihm die Lungen ein= engte. Ein Gefühl verqueren Ge" kränktseins kam über ihn, wie es ein geübter Busspringer empfin" den würde, wenn der nahende Bus im Augenblick, da er aufspringen will, sich senkrecht in die Luft er» höbe und über die Hausdächer ents schwände. Es war eine jener Sa=
Aen, die einfach nicht vorkom" men. Doch bei dieser phantastischen Ge" legenheit war es vorgekommen! In der halb offenen Tischschublade, deren Vorderseite nun gegen Ben" nys Bauch drückte, eben außerhalb des Sichtwinkels von Mr. Tombs' Augen, befand sich ein zweites in braunes Papier gewickeltes Pack» chen, das dem, welches Benny so" eben angefertigt hatte, zum Vers wechseln ähnlich sah. Äußerlich jedenfalls. Der Unterschied lag in» nen. Denn während das Päckchen, das Benny unter Mr. Tombs' Blik» ken hergestellt hatte, Unzweifel« haft mit zweitausend echten Ein» pfundnoten gefüllt war, enthielt das zweite Päckchen nichts als paß= recht geschnittenes Zeitungspapier. Und nie zuvor in Bennys Laufs bahn, seit der erste Fisch nach dem Köder geschnappt hatte, war der Austausch der beiden Päckchen mißlungen! Nur um dieses Austauschs willen war der bewährte Trick mit dem herabsausenden Schiebefenster in» szeniert worden - ein sonst una fehlbarer Trick, der eins der wesentlichsten Geheimnisse in, Ben» nys Betrügerspiel darstellte. Das Opfer, wenn es zu Hause sein 259
Leslie Charteris Päckchen öffnete und sich betrogen fand, konnte nicht gut zur Polizei gehen, ohne sich selbst der Mit= Wirkung an einer gesetzwidrigen Tat zu beschuldigen; es pflegte den Verlust hinzunehmen und zu schweigen. Welch bewundernswert einfaches und nützliches System! Und doch konnte, wie sich nun erstmals zeigte, das ganze unfehl= bare Schema durch die über' menschliche Apathie eines Opfers gefährdet werden, das einfach nicht auf den lauten Knall eines plötzlich herabfallenden Schiebe" fensters reagierte! Einer ähnlichen Panne bei künftigen Fällen mußte irgendwie vorgebeugt werden, un« bedingt vorgebeugt werden! »Das - das Fenster scheint herab= gefallen zu sein«, bemerkte Benny heiser und kam sich vor wie der Held eines Melodrams, der eben, gegen Ende des dritten Aktes, auf den Schurken geschossen hat, ihn getroffen zu Boden sinken sieht und nun, gemäß Rollenbuch, über= flüssigerweise ausrufen muß >Ha, mir scheint, ich habe ihn getroff en<, damit es auch der dümmste Zu= schauer begreift. »O ja«, pflichtete Mr. Tombs freundlich bei, »ich hörte es.« 240
»Das - das Haltekabel muß geris» sen sein.« »Ja, vermutlich. Anders wäre es kaum zu erklären.« »Merkwürdig, wie solche Sachen passieren können. So - so plötz= lieh, nicht wahr?« »Gewiß, sehr merkwürdig«, bestä= tigte Mr. Tombs in höflichem Kon= versationston, ohne den Blick von Benny zu wenden. Benny begann zu schwitzen. Das Pseudopäckchen in der Schublade war kaum eine Spanne weit von seinen aktionsbereiten Händen entfernt. Wenn es ihm nur für zwei Sekunden gelänge, den star= ren Blick dieser verwünschten Au= gen von sich abzulenken, dann wäre der Austausch so leicht und schnell durchgeführt wie das öff° nen eines Jackettknopfes. Aber die Chance kam nicht. Es war ein toter Punkt, von dem Ben° ny bisher nicht einmal geträumt hatte. Und die zwingende Not= wendigkeit, sich sofort etwas aus» zudenken, um die Situation zu meistern, trieb ihn an den Rand der Panik. »Hätten Sie wohl zufällig ein Ta= schenmesser bei sich, Mr. Tombs?« fragte er mit schwitzender Bieder» keit. »Oder eine kleine Schere?
Der Mann mit den grünen Schemchen Irgend etwas, um das Bindfaden» ende abzuschneiden?« »Oh, ich kann das auf andere Art machen«, sagte Mr. Tombs. Er stand auf, beugte sich über den Tisch und wollte nach dem Päck= dien greifen. Benny scheute wie ein erschrockenes Pferd. »Machen Sie sich keine Mühe, Mr. Tombs«, japste er. »Ich werde ich werde —« »Aber ich bitte Sie - das ist doch keine Mühe«, sagte Mr. Tombs und versuchte abermals, nach dem Päckchen zu greifen. Benny, in höchster Not, stieß es mit einer anscheinend Ungeschick» ten Handbewegung vom Tisch. Er war alles mögliche, aber kein Mann der Gewalt - sonst hätte er jetzt versucht sein können, anders zu handeln. Die anscheinend un= geschickte Handbewegung nebst Hinabstoßen des Päckchens - dies war das vorletzte Kunststück, das er sich hatte ausdenken können, um die Sache doch noch zu retten. Jetzt schob er hastig seinen Stuhl zurück und beugte sich hinab. Mit der einen Hand tastete er nach dem gefallenen Päckchen, mit der anderen versuchte er nach dem Pseudopäckchen zu greifen. Beim Aufheben des gefallenen Päck=
diens, gedeckt durch den Tisch, mußte es ihm doch möglich sein, den Austausch zu bewerkstelligen! Seine linke Hand fand das Pack» chen auf dem Boden. Seine rechte Hand fuhr fort, nervös in der Schublade herumzusuchen. Sie ta° stete hierhin und dorthin, behut» sam zuerst, dann immer hitziger, bis weit in die Schublade hinein. Nichts! Verzweifelt kehrte sie zu= rück in das vordere Drittel. Ihre Fingernägel schrappten hastig über das Holz. Das verwünschte Pseu» dopäckchen hatte doch eben noch ziemlich weit vorn in der Schub= lade gelegen! Er wurde gewahr, daß er nicht ewig in gebückter Haltung bleiben konnte, und begann sich aufzu» richten, langsam, das Herz wie von einer eisigen Faust umkrampft. Und als seine Augen in gleiche Höhe mit der Schublade kamen, sah er zu seinem Entsetzen, daß das Pseudopäckchen irgendwie bis an das rückwärtige Ende der Schublade geraten war! Bei aller Bedeutung, die es für ihn besaß, war es nun praktisch unerreichbar; ebensogut hätte es mitten in der Sahara liegen können. Mr. Tombs lächelte milde. »Die Sache ist wirklich ganz ein= 241
Leslie Charteris fach«, sagte er, offenbar noch im" mer mit Bezug auf das Kappen des Bindfadenendchens. Er nahm das echte Päckchen aus Bennys kraftloser Hand, legte es auf den Tisch, wickelte sich das lose Bindfadenende um den rech» ten Zeigefinger und gab ihm einen kurzen Ruck. Der Bindfaden riß durch wie abgeschnitten, sauber und knapp über dem Knoten. »Ein kleiner Trick von mir«, be= merkte Mr. Tombs schalkhaft. Er nahm das Päckchen auf, klemmte es sich unter den linken Arm und streckte Benny die rechte Hand entgegen. »Nun, Mr. Lucek - Sie wissen, wie dankbar ich Ihnen bin. Aber jetzt darf ich Sie nicht länger davon abhalten, sich jener - äh armen alten Witwe zu widmen. Le= ben Sie wohl, Mr. Lucek.« Er drückte überschwenglich Ben= nys Hand und begab sich zur Tür. Da war auf einmal irgend etwas beinah Beschwingtes in seinem Gang, ein bisher nicht vorbände» nes Blitzen in seinen blauen Au= gen, eine Art verklärter Seligkeit in seinem Lächeln - Erscheinun» gen, die Benny zugleich heiß und kalt machten. Sie gehörten einfach nicht zu Mr. Tombs aus dem Ver" sicherungsbüro ... 242
»He, Sie - Moment mal!« japste Benny, doch die Tür hatte sich be" reits geschlossen. Benny sprang auf. »He, Sie -« Er riß die Tür auf und - starrte in das rötliche Vollmondgesicht eines sehr großen Gentlemans mit Re= genmantel und Melone, der auf der Türschwelle stand. »'n Tag, Mr. Lucek«, sagte der große Gentleman gelassen. »Darf ich eintreten?« Er schien die Erlaubnis für gege» ben zu halten, jedenfalls kam er ungeniert ins Wohnzimmer. Als erstes erregte das Paket auf dem Tisch seine Aufmerksamkeit. Er langte sich einige der Bündel von den Stapeln und sah sie durch. Im Gegensatz zu den vier Bündeln echter Pfundnoten, mit denen Mr. Tombs sich entfernt hatte, lag bei jedem der übrigen Bündel nur oben auf eine echte Pfundnote, während der Rest des Inhalts aus grünli" chen Papierstücken derselben Dik= ke und Größe bestand. ' »Ziemlich interessant«, bemerkte der große Gentleman. »Wer, zum Teufel, sind Sie?« brauste Benny auf, und das röt= liehe Vollmondgesicht wandte sich mit sehr plötzlicher und gebieteri» scher Direktheit zu ihm hin.
Der Mann mit den grünen Schemchen »Ich bin Chefinspektor Teal von Scotland Yard. Unseren Informa» tionen zufolge sind Sie im Besitz erheblicher Mengen falscher Bank» noten.« Benny holte recht beklommen Luft. »Das ist absurd, Mr. Teal«, sagte er schrill. »Sie werden hier nicht eine einzige falsche Banknote fin= den.«
Der Blick des Detektivs fiel auf das Bündelchen Fünfpfundnoten, mit denen Mr. Tombs seinen Kauf be= zahlt hatte. Er nahm es auf und prüfte die Noten sorgfältig, eine nach der anderen. »Hmm, und nicht einmal sehr gu= te Fälschungen«, brummte er und rief den Sergeanten, der draußen im Korridor wartete ...
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George Harmon Coxe
Die Sterbeurkunde
In den zwei Jahren/seit er der Stadt als Polizeiarzt zur Verfügung stand, war Dr. Paul Standish mit vielen Arten gewaltsamen Todes in Be= rührung gekommen. Doch erst in der Nacht, da man Dr. Edward Cheney ermordet fand, wurde ihm bewußt, daß die Wahrnehmung seiner amtlichen Pflichten zu einer ganz persönlichen Angelegenheit werden konnte. Der Anruf der Polizeizentrale weckte ihn kurz nach zwei Uhr dreißig in jener Nacht. Bis er sich angezogen hatte, wartete schon ein Polizeiauto unten vor dem Haus, um ihn in eine nördliche Gegend der Stadt nahe dem Fluß zu brin= gen. Hier, in einer Straße mit dürf» tigen Wohngebäuden und schmut= zigen Lagerhäusern, wartete ein zweites Polizeiauto. Es stand so, 244
daß seine Scheinwerfer eine schma= le Zufahrt zwischen zwei Lager» häusem beleuchteten. Einer der anwesenden Polizeibe" amten informierte Standish, und Standish nahm es mehr oder weni= ger routinemäßig zur Kenntnis. Er ahnte noch nicht, worauf erschließ» lieh stoßen würde, obwohl er mit dem ersten flüchtigen Blick erkannt hatte, daß der Mann, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Kopf» Steinpflaster der Zufahrt lag, er= mordet worden war. Der Hinter' köpf war zertrümmert und blutig. Standish/ der daran gewöhnt war, sich jedem Fall als Diagnostiker zu nähern und ihn mit klinisch er= fahrenen Augen anzusehen, be= merkte den abgetragenen Zustand der Kleidung des Ermordeten. Da= von war übrigens schon im Anruf
Die Sterbeurkunde der Polizeizentrale die Rede gewe= sen; ein ärmlich gekleideter, noch nicht identifizierter Mann, hatte es geheißen, und Standish war nicht darauf gefaßt, etwas Besonderes zu finden, bis er die Leiche um= drehte und erkannte, daß dieser Mann einst sein Freund gewesen war. Das Erkennen geschah sehr schnell und völlig unverhofft; es erschuf terte ihn und machte ihn innerlich elend. Die Nachtluft war plötzlich kühl und so feucht, daß sie das At= men erschwerte. Obwohl Standish wahrnahm, daß einer der Polizei» beamten ihn ansprach und auch die Worte verstand, brauchte er einige Sekunden, um den ersten Schock zu überwinden und wieder klar zu denken. »Wir haben seine Taschen durch» sucht, so gut wir das konnten, ohne ihn zu bewegen«, hatte der Polizei» beamte gesagt. »Scheint, daß er völlig ausgeplündert ist. Wir neh= men an, ein paar Strolche erschlu= gen ihn irgendwo auf der Straße und brachten ihn hier außer Sicht.« Standish zwang sich zur Konzen» tration. Während er, um die Tat= zeit zu bestimmen, seine Tests über das Stadium der Leichenstarre vornahm, überzeugte er sich, daß
die Taschen des Ermordeten tat= sächlich leer waren. Danach hätte es hier eigentlich nichts mehr für ihn zu tun gege= ben; sein dienstlicher Job, die Fest= Stellung der Todesursache und die Bestimmung der Tatzeit, war be= endet. Gleichzeitig aber - da seine Gedanken zurückgingen zu dem Dr. Cheney, den er vor zehn Jah= ren gekannt hatte, als er selber ein junger Assistenzarzt im Städti= sehen Hospital gewesen war und Cheney der Chefarzt -, gleichzeitig aber wußte er, daß es nicht genü= gen konnte, einen Bericht zu schrei= ben, der einfach besagen würde, daß benannter Dr. Cheney durch mehrere Schläge mit einem stumps fen Gegenstand ermordet worden sei. Er wandte sich zu den Polizisten um und fragte, welcher von ihnen der zuständige Streifenpolizist wäre.
»Ich, Sir«, antwortete einer der Uniformierten. »Sah ihn hier lie° gen, als ich um zwei Uhr fünfzehn auf meinem Streifengang draußen vorbeikam und routinemäßig in die Durchfahrt hineinleuchtete.« »Sie sind vorher schon einmal vor» beigekommen?« »Jawohl, Sir. Um ein Uhr fünf» 245
George Harmon Coxe zehn. Da war noch nichts von ihm zu sehen.« Standish richtete sich auf - ein etwa mittelgroßer Mann mit gera= den, kräftigen Schultern und einem klar geschnittenen Gesicht, das j etzt, im Licht der Autoscheinwerfer, ha= ger und eckig aussah. Seine Augen verdüsterten sich, und sein Mund wurde zu einer schmalen, grimmi= gen Linie, als er noch einmal se» kundenlang auf die Leiche hinab» starrte. Dann hob er den Blick und erkundigte sich, ob jemand vom Morddezernat hier sei. »Ja, ich«, sagte eine Stimme, »Ser" geant Wargo.« Standish erkannte den Mann als einen Assistenten von Leutnant Ballard. Er hatte gehofft, Tom Bai« lard würde selbst hier sein; er war mit Ballard befreundet und brauch« te ihn jetzt. Aber er fragte nicht nach ihm. Er nickte bloß. Und als er gleich danach draußen auf der Straße die Ambulanz anhalten hör» te, bat er den Sergeanten, zu war« ten. Wenige Minuten später, nachdem die Ambulanz mit der Leiche da» vongefahren war, standen sie auf dem Gehsteig, und Wargo, ein junger Mann mit Verstand und Talent, der bisher weder eine Frage 246
gestellt noch eine Meinung geäu» ßert hatte, sagte: »Wir sind ziem' lieh sicher, daß er schon tot in die Durchfahrt geschleppt wurde/ Doktor.« »Unbedingt«, bestätigte Standish. »Aber er ist nicht hier irgendwo in der Nähe erschlagen worden. Als ich ihn untersuchte, war er schon mindestens drei Stunden tot.« Wargo pfiff überrascht vor sich hin. Dann, als wäre etwas in Stan= dishs Art, was er nicht verstand, fragte er: »Kennen Sie ihn, Dok» tor?« Standish nickte und nahm sich Zeit, seine Gedanken zu ordnen; er wußte, daß er jetzt nicht wieder zu Bett gehen konnte und daß er Hilfe brauchen würde. »Ballard macht heute nacht keinen Dienst?« fragte er. »Nein, heute nacht nicht«, erwi= derte Wargo. »Der Captain sagte, er solle zusehen, daß er ein paar Stunden Schlaf bekäme. Der Leut= nant war seit vorgestern früh un= unterbrochen auf den Beinen, wie beinah jeder in der Polizeizentrale, auch beim Morddezernat. Hängt damit zusammen, daß Frankie Montanari aus der Untersuchungs" haft entwischt ist.« Wargo lachte freudlos. »Wenn man Frankie
Die Sterbeurkunde
findet, wird es vermutlich für das Morddezernat Arbeit geben.« Standish hatte wenig Interesse an Montanari/ der wegen einer Glücksspielaffäre, versuchter Bestechung und Beteiligung an Wettschwinde« leien in Untersuchungshaft gewe» sen war; die Zeitungen hatten an» gedeutet, daß sein Strafmaß davon abhängen würde, ob er den wirk' liehen Boß des Glücksspielsyndikas tes verriete, für das er tätig war. Standish empfand nichts als Grimm, weil er jetzt wegen eines solchen Falles auf Leutnant Ballards Hilfe verzichten mußte. »Ich fahre noch zum Leichenschau» haus«, sagte er. Und dann, neben dem Polizeiauto stehend, erläuterte er dem Sergeanten, was dieser in« zwischen für ihn erledigen könne. Dr. Cheneys Praxis und Wohnung lagen im Erdgeschoß eines Zwei" familienhauses irgendwo im Osten der Stadt; die Umgebung war nur um wenige Grade besser als ein Slum. Als Standish dort eintraf, stand ein Polizeiauto vor dem Haus, und auf den Verandastufen saß Sergeant Wargo. »Das Haus gehört dem Burschen, der im Obergeschoß wohnt«, be° richtete Wargo. »Ich bekam den
Schlüssel von ihm. Dieses Coupe -«, er wies auf einen alten Che" vrolet, der vor dem Polizeiauto stand, »ist Doktor Cheneys Wa« gen. Die Wagenpapiere sind da, aber kein Arztkoffer. Auch in der Praxis und in der Wohnung habe ich den Arztkoffer nicht gefunden. Überzeugen Sie sich selbst.« Standish betrat, von Wargo ge» folgt, das ärmlich möblierte Warte" zimmer, das unmittelbar hinter der Veranda lag. Er inspizierte den anschließenden Praxisraum und die nach hinten hinaus gelegenen Wohnräume und fand bestätigt, daß der kleine Koffer, ohne den Cheney niemals einen Kranken« besuch gemacht hätte, tatsächlich nicht vorhanden war. Da er dies vorerst nicht besser begriff als die entleerten Taschen des toten Man" nes, wandte er sich dem Termin« buch auf dem Schreibtisch zu. »Er machte seinen letzten Kran" kenbesuch um fünf Uhr.« »Der Bursche im Obergeschoß sah ihn gegen sechs zurückkommen«, sagte Wargo. »Er glaubt, Cheney ging gegen neun noch einmal fort.« »Weshalb glaubt er das?« »Er hörte die Türklingel läuten und hörte, daß der Doktor auf" machte. Er glaubt, gleich danach sei 247
George Harmon Coxe der Doktor noch einmal fortge« gangen.« Es war fast sechs Uhr, als Paul Standish in seine Wohnung zu= rückkehrte. Er zog sich aus, ging aber nicht zu Bett, sondern unter die Brause. Danach saß er grübelnd am Schreibtisch und versuchte, einen Grund für diesen Mord zu finden, der von außen her so ab» solut sinnlos schien. Daß es nicht seine Arbeit war, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, wurde ihm erst dadurch bewußt, daß Leutnant Ballard es ihm sagte, als Standish ihn um acht Uhr drei» ßig in der Polizeiwache aufsuchte. Sie hatten oft zusammengearbeis tet, diese zwei, wobei es im allge= meinen Ballard war, der nach Hilfe schrie, während Dr. Standish im= mer wieder zu betonen pflegte, daß er eigentlich andere Aufgaben hät= te, als Detektivarbeit zu tun. Aber dieses Mal war die Sache umge» kehrt. Und obwohl der Leutnant sich aufmerksam anhörte, was Standish zu erzählen hatte, kam von ihm kein Wort der Ermutigung oder auch nur die geringste Aner» kennung der vorgetragenen Theo= rie. »Sergeant Wargo denkt, es war 248
ein Raubüberfall«, sagte er, »und mir scheint es auch so. Ein paar Halbstarke fielen Cheney an, wahr" scheinlich leistete er Widerstand, und sie schmetterten ihm eins über den Kopf.« »Drei Stunden, bevor er gefunden wurde?« »Na und? Vielleicht passierte es in ihrer Nachbarschaft. Zuerst ver= drückten sie sich. Nach einer Weile kriegten sie Angst, kamen zurück und brachten ihn fort. Bei Gott — ich könnte mir ein Dutzend Er» klärungen denken, Paul.« Standish versuchte geduldig zu sein. »Jemand kam gegen neun Uhr zu Cheney und holte ihn ab mit einem Auto. Andernfalls hätte Cheney seinen eigenen Wagen be= nutzt. Er muß seinen Konsulta» tionskoffer mitgenommen haben. Erstens hätte er sich ohne den Kof= fer niemals auf einen Krankenbe= such begeben. Zweitens ist der Koffer, wie du von Wargo erfah= ren haben dürftest, weder in seiner Praxis oder in seiner Wohnung, noch in seinem Auto oder sonstwo zu finden. Cheney wurde erst drei Stunden nach dem Tod gefunden - ohne den Koffer, aber mit völlig ausgeräumten Taschen. Er hatte nichts bei sich, was ihn hätte iden»
Die Sterbeurkunde tifizieren können. Wäre er mir nicht bekannt gewesen, dann hätte er vermutlich tagelang im Leichen» schauhaus gelegen, ehe wir heraus" fanden, wer er war. Und ich sage dir, Tom - das alles paßt nicht zu einem Raubüberfall mit zufällig tödlichem Ausgang.« Ballard fuhr sich mit den Fingern durchs Haar; seine klugen grauen Augen wirkten irritiert. Er pflegte vernünftige Begründungen anzu= erkennen, wenn sie ihm vorgetra' gen wurden. Aber er war zur Zeit ein sehr gehetzter Mann, belastet durch den Druck von oben, der von ihm und jedem anderen Polizei= beamten der Stadt verlangte, koste es was es wolle, den entsprunge' nen Untersuchungshäftling Frankie Montanari zu finden - eine Auf= gäbe, die eigentlich etwas außer» halb seiner Linie lag. »Hör zu, Paul«, sagte er, »dieses Mal kann ich dir nicht beipflichten. Ich bin überzeugt, daß es ein paar ganz gewöhnliche Strolche sind, die Cheneys Tod auf dem Gewis» sen haben. Und du weißt, wie wir solche Burschen fangen — wir ver= stärken das betreffende Revier um einige bewährte Männer, die ihre Augen und Ohren offenhalten, und beim zweiten» oder drittenmal,
wenn die Strolche ihren Trick wie= der abzuziehen versuchen, haben wir sie. Und dann finden wir auch sehr schnell heraus, was sonst noch auf ihre Rechnung kommt. Dabei werden wir sicher entdecken, daß die Sache mit Cheney ebenfalls da= zugehört.« Er hielt inne, um Atem zu holen, und fügte hinzu; »Doch gesetzt den Fall, ich hätte unrecht - was erwartest du, was ich tun soll?« Paul Standish wollte antworten, erkannte aber, daß seine Antwort doch unpassend ausgefallen wäre, und hielt sie lieber zurück. Er war sich bewußt, daß - falls Ballard recht hatte - in dieser Sache wirk» lieh nichts mehr getan werden konnte. Falls Ballard jedoch un= recht hatte, dann war nur eine einzige Erklärung möglich; und zwar - daß Cheney vorsätzlich und aus einem ganz bestimmten Grund getötet worden sein mußte. Und Standish, der nach wie vor an die Richtigkeit seiner Theorie , glaubte, wollte erfahren, was dies ser Grund war. Wie jeder gute Diagnostiker wünschte er das War» um zu erfahren. Doch als er davon sprach, klang es albem - sogar für ihn selbst. »Ich will wissen, warum.« 249
George Harmon Coxe Ballard seufzte und warf die Hände empor. »Hilf mir, Montanari finden/ Paul! Sobald wir ihn haben/ setze ich zwanzig Männer auf die Sache Cheney an. Vielleicht können sie dir deine Frage dann beantworten. Ich kann es nicht/ Paul. Im Augenblick nicht.« Er blickte Standish an/ die grauen Augen halb geschlossen. »Wer war dieser Cheney eigentlich - ein Freund von dir/ oder so etwas?« Mary Hayward stellte Paul Standish eine einzige Frage - gegen elf Uhr dreißig/ nachdem für diesen Vormittag der letzte seiner Spredi" stundenpatienten abgefertigt war. Mary/ seine Praxishilfe und Laborantin und Sekretärin und Telefonistin und Buchhalterin/ mit einem Wort sein Mädchen für alles/ hatte mittelblondes Haar/ grüne Augen und eine wohlgestaltete Figur. Sie machte sich Sorgen über Standishs Zeiteinteilung und nicht minder über einige seiner Neigungen/ die ihr zu wenig nutzbringend schienen. Sie glaubte, daß er als Polizeiarzt sein Talent verschwende und weit besser daran tun würde/ sich mehr um seine Privatpraxis zu kümmern. Und da sie jung und geradeheraus war/ sprach sie 250
nicht allzu freundlich über Dr. Cheney. »Ich kann nicht verstehen/ weshalb Sie sich so sehr mit dieser Sache befassen«/ sagte sie. »Nach allem/ was Sie mir früher von ihm erzählten/ dachte ich/ er wäre ein ziemlich heruntergekommenes Subjekt.« »Er war kein heruntergekommenes Subjekt/ Mary. Er ist Chefarzt im Städtischen Hospital gewesen/ als ich dort assistierte/ ein hochanständiger Mann -« »Ja/ vor zehn Jahren.« »Er war es bis zu seinem letzten Atemzug. Nicht hart genug vielleicht. Doch das ist das Schlechteste/ was über ihn zu sagen wäre. Manche Leute mokierten sich darüber/ daß er am Leben gescheitert sei - ein billiger Irrtum! Er war immer ein guter Arzt. Und ich glaube nicht/ daß er je in seinem Leben etwas Unehrenhaftes oder ethisch nicht Vertretbares getan hat.« Standish hielt inne; seine Gedanken schweiften zurück in die Vergangenheit. Mehr zu sich selbst als zu Mary sprechend/ erzählte er dann/ wie Dr. Cheney seine gute Stellung im Hospital aufgegeben hatte/ um sich ganz seiner Privat-
Die Sterbeurkunde praxis zu widmen/ und wie im fol- Worten beeindruckte Mary; ihr genden Winter ein schleudernder Blick wurde in sich gekehrt. Sie Lastwagen seine Frau und seinen sagte/ daß es ihr leid täte und daß zweijährigen Sohn beim Überque- sie bisher irgend etwas mißverren der vereisten Straße getötet standen haben müsse/und sieblieb hatte. in den folgenden zehn Minuten »Manche Menschen können solche auffallend ruhig. Aber als StanSchicksalsschläge überwinden. An- dish dann auf seine Uhr sah/ sich dere können es nicht. Cheney erhob und erklärte/ er fahre jetzt konnte es nicht. Es brach ihm das zum Leichenschauhaus und von Herz. Er schloß seine große Praxis dort zur Distriktsanwaltschaft/ im Westen der Stadt/ er verkaufte wurde sie unversehens wieder die sein Wohnhaus in der vornehmen alte und rief: »Vergessen Sie bloß Straße/ vor dem sich das Unglück nicht Ihre Verabredung mit Mr. ereignet hatte. Ein Jahr lang war Lane um zwei Uhr!« er für uns alle verschollen. Nie» Standish runzelte die Stirn. »Sagen mand wußte/ was er während die- Sie sie ab. Rufen Sie Mr. Lane an ser Zeit tat, auch ich wußte es nicht. und -« Aber ich weiß/ daß es das Beste Mary unterbrach ihn mit erschreckwar/ was den Bewohnern jenes tem Gesicht und vorwurfsvoller Viertels im Osten der Stadt ge- Stimme. Sie erinnerte daran/ daß schehen konnte, als er schließlich Mr. Lane reich sei und daß die verdort eine neue Praxis eröffnete/ einbarte gründliche Untersuchung eine richtige Armeleutepraxis. Er dieses Mannes der Praxis noch verdiente gerade genug/ um be- mehr solcher zahlungskräftigen scheiden davon zu leben - sein Patienten zu bringen verspräche/ früheres Vermögen hatte er einem und Waisenhaus geschenkt/ das haupt- Standish blieb unerschütterlich. Er sächlich Kinder von Verkehrsop- sagte/ morgen oder übermorgen fern aufnimmt -/ und wer zu ihm sei auch noch früh genug/ und Mr. kam/ erhielt ärztliche Behandlung/ Lane würde es schon verstehen/ ganz gleich, wer er war und ob er wenn Mary ihm klarmache/ der bezahlen konnte oder nicht.« Doktor sei wegen eines dringlichen Die stille Hochachtung in Standishs Falles abgerufen worden. 251
George Harmon Coxe »Das nennen Sie dringlich? «M ary s Stimme klang noch immer sehr vorwurfsvoll. Sie hätte weiter zu rechten versucht, wäre Standish nicht einfach hinausgegangen. Auch die Übersendung einer Durchschrift jedes Obduktionsbe» fundes an das Büro des Distrikts" anwalts gehörte zu den Pflichten eines Polizeiarztes. Im Fall Cheney lieferte Paul Standish diese Durch» schrift persönlich ab. John Quinn, der Distriktsanwalt, hatte eine Besprechung, als Stan= dish eintraf. Fast eine halbe Stunde lang mußte Standish im Vorzim= mer warten, ehe die gepolsterte Tür aufging und ein dicker, hart= gesotten aussehender Mann er» schien. Er hieß Mike Darrow und sprach noch, während er heraus' kam. »Na, daran habe ich erst mal ein Weilchen zu kauen«, sagte er zu Quinn, der bei der offenen Tür stehengeblieben war. »Wenn Sie mich wiederzusehen wünschen, sollten Sie mir lieber eine Vorla= düng schicken ... He, Doktor. Wie geht's, wie steht's?« Standish erhob sich, ohne zu ant= Worten, und ging zu Quinn hinein. Quinn, offensichtlich verärgert, 252
fluchte einen Moment lang leise vor sich hin, ehe er Standish be= grüßte und zum Platznehmen auf= forderte. Dann nahm er die Durch» schrift des Obduktionsbefundes entgegen und lauschte dem Kom= mentar des Doktors. Standish wußte, noch ehe er seine Ausführungen beendet hatte, daß die Aussichten ungünstig waren; er konnte es Quinn vom Gesicht ablesen und fand es bestätigt, als der Distriktsanwalt von einem Budget zu sprechen begann, wel= dies ihm nicht viel Bewegungsfrei« heit ließe. Dann fragte er: »Was ist nun Ihre genaue Ansicht, Doktor?« »Ich glaube nicht, daß Cheney das Zufallsopfer eines simplen Raub= Überfalles wurde«, sagte Standish. »Und wenn ich recht habe, gab es einen ganz bestimmten Grund für den Mord. Ich dachte. Sie wüßten vielleicht einige Tatsachen, von denen ich noch nichts weiß, und könnten sich einen entsprechenden Grund vorstellen.« Quinn erwiderte, es täte ihm leid, aber er könne sich beim besten Willen keinen Grund für einen vorsätzlichen Mordanschlag auf Dr. Cheney vorstellen. Er machte eine kleine Pause und fügte dann
Die Sterbeurkunde hinzu, vielleicht könne Standish ihm in einer anderen Frage helfen. »Wo wäre«, sagte er, »ein guter Platz, um eine Leiche zu verstek» ken?« Standish horchte auf. »Montanaris Leiche?« erkundigte er sich nach= denklich. »Wie können Sie wissen, daß er Ihnen nicht einfach durch» gegangen ist?« »Ich werde es Ihnen erzählen«, sagte Quinn und begann mit Mike Darrow, der in den letzten Jahren der Prohibition, als noch ziemlich junger Mann, ein übler Schläger und Allround= Verbrecher gewesen war. Er erwähnte eine Reihe von Verhaftungen, deren Gründe von Autodiebstahl und Versicherungs= betrug bis zu Erpressung und Tot» schlag reichten, ohne daß es je zu einer Verurteilung kam - stets aus Mangel an Beweisen, und dies ganz offensichtlich, weil regelmäßig alle Belastungszeugen unter Druck gesetzt worden waren und ihre an= fänglichen Aussagen vor Gericht widerriefen. Dann kam er auf Dar= rows geheimes Glücksspielsyndi= kat zu sprechen, das anscheinend nun auch anfangen wolle, Einfluß auf gewisse sportliche Ereignisse zu nehmen und Nutzen daraus zu ziehen. Und hierbei war Darrow
ein böser Fehler unterlaufen, in» dem er versuchte, das Baskettball« team einer High School zu beste' dien. »Als diese jungen Kerle empört zu uns kamen und ihre Geschichte er= zählten«, sagte Quinn, »stießen wir natürlich nach. Dabei kamen wir auf einige Boxer und ein paar Turnierreiter, die dasselbe Lied sangen. Montanari ist zwar der Bursche, der die Bestechungsange» böte machte. Aber der Boß im Hin= tergrund ist bestimmt kein anderer als Darrow, obwohl wir das noch nicht beweisen können. Und Mon" tanari wußte, um was es ging - im allgemeinen und für ihn im be= sonderen. Ich hatte seine Frau hier. Ich sagte ihr, daß er nur zwei Jahre bekommen würde, wenn er ver= nünftig wäre und uns Mittel gegen Darrow in die Hand gäbe. Ich versprach ihr sogar, daß ich midi schon nadi einem Jahr für seine Begnadigung einsetzen würde. Idi machte ihr klar, daß er wahrschein« lieh mit fünfzehn Jahren zu rech« nen hätte, wenn er sich weigern würde, die Wahrheit über Darrow zu sagen. Sie begriff und erklärte sich bereit, mit ihm zu reden. Und dann verriet sie mir etwas. «Quinn beugte sich bedeutungsvoll über 255
George Harmon Coxe den Schreibtisch. »Sie verriet mir, daß sie in ungefähr sechs Monaten ein Baby bekommen wird. Bis da" hin hatte sie es ihrem Mann noch nicht gesagt. Aber sie sagte es ihm nach der Unterredung mit mir. Das weiß ich. Denn vorgestern, am Tag nach seinem Verschwinden aus der Untersuchungshaft, kam sie wieder zu mir, völlig gebrochen und ver= zweifelt, und erzählte, Frankie sei ganz vernünftig und zu jeder Zu° sammenarbeit mit uns bereit ge» wesen und habe ihr geschworen, die Wahrheit zu sagen. Sie konnte sich seine Flucht nicht erklären und flehte mich an, alles zu tun, um ihn wiederzufinden. Sie fühle ganz deutlich, daß er in schrecklicher Ge" fahr sei, sagte sie. Und ich denke nun, Montanari ist nach der Flucht irgendwie auf Darrow gestoßen und hat den Fehler gemacht, ihm zu drohen, daß er singen würde.« Quinn lehnte sich wieder in seinen Sessel zurück und fügte hinzu: »Deshalb suchen wir eine Leiche. Das ist die Art, wie Darrow solche Sache regeln würde. Er weiß ja/daß Montanaris Aussage ihn für den Rest seines Lebens hinter Gitter gebracht hätte.« Quinn stand auf und zuckte die Schultern. »Tut mir leid, Doktor. Aber ich sehe nicht, 254
wie ich Ihnen helfen soll. Bis wir Montanari haben, werde ich nicht imstande sein, an etwas anderes auch nur zu denken.« Es war fast fünf Uhr, als Paul Standish in seine Praxis zurück» kehrte. Mary Hayward, die an ihrem Schreibtisch saß und Kran= kenblätter durchsah, warf einen Blick auf sein Gesicht und enthielt sich klugerweise jeder Bemerkung, als er in sein eigenes Zimmer ging und die Tür hinter sich zumachte. Es war ein Fehler gewesen, Zeit bei Quinn zu verschwenden, sagte sich Standish, während er Hut und Mantel ablegte. Und weil er sich erschöpft und geschlagen fühlte, erschien es ihm jetzt auch als Feh» ler, daß er sich überhaupt über das Maß seiner dienstlichen Pflichten hinaus mit Cheneys Tod befaßt hatte. Er hatte Stunden um Stun» den darauf verschwendet, ohne je» den Sinn und Zweck, und das sollte ihm eine Lehre sein - in Zukunft würde er sich streng an seine Vor« schritten halten. Das jedenfalls dachte er, als er die Post durchsah, die Mary ihm auf den Schreibtisch gelegt hatte. Als hinderlich für seine Vorsätze sollte sich indessen wieder einmal
Die Sterbeurkunde die Tatsache erweisen, daß er ein Er stand auf, das dunkle Haar wirr hartnäckiger Mann war, dessen und deutliche Anzeichen von Era Verstand — vor ein medizinisches Schöpfung im Gesicht. Er ging ein oder sonstiges Problem gestellt - paar Schritte hin und her und setz» dieses Problem unaufhörlich um» te sich wieder, zündete eine Ziga" kreiste, abtastete und an Hand der rette an und spielte zerstreut mit vorliegenden Informationen erwog. dem Feuerzeug. Was ihn dabei an Und schließlich dachte er, ohne Dr. Cheneys verschwundenes Köf» recht zu wissen, weshalb, an den ferchen denken ließ, wußte er nicht. alten Doktor Frederic Lathrop zu» Aber plötzlich hatte er eine Idee, rück, seinen Lehrer an der Colum« und Standish langte nach seinem bia University. Als er sich der vie= eigenen Konsultationskoffer. Der len guten Ratschläge erinnerte, die Inhalt aller dieser Koffer war ja der große alte Mann ihm gegeben weitgehend der gleiche, und Stan= hatte, kam ihm auch ein häufig dish fragte sich, ob der Mord viel" wiederholter Leitsatz in den Sinn: leicht durch irgend etwas zu ent« Die Wahrheit klingt immer wahr... rätseln wäre, was Cheney bei sich Das war es, was Lathrop, damals getragen hatte. zugleich einer der bedeutendsten Er holte, einen nach dem anderen, Gerichtsmediziner der Vereinigten die vertrauten Gegenstände aus Staaten, zu sagen pflegte, wenn er seinem Koffer und legte sie auf den vor einem besonders schwierigen Schreibtisch - das Stethoskop, das Problem stand. Und Standish er« Kästchen mit den Spritzen, ein kannte jetzt, obwohl ihm jene anderes Kästchen mit dem Gerät These manchmal ein bißchen ab" zum Blutdruckmessen, das Fiebergeschmackt geklungen hatte, was thermometer, einige Verbandsa er brauchte: Die Wahrheit. päckchen, ein Etui mit Tinktur« Wenn Cheney — wie Ballard be" fläschchen, mehrere Schachteln mit hauptete - durch die Hände ge" Medikamenten, ein kleines chirurwohnlicher Strolche gefallen war, gisches Besteck und so weiter. Aus dann konnte er sich zufriedenge» einer Seitentasche brachte er ben; wenn nicht, dann mußte er schließlich seinen Rezeptblock zum herausfinden, warum. Er mußte die Vorschein und dann einen anderen, Wahrheit wissen! größeren, nicht so häufig benutz" 255
George Harmon Coxe ten Formularblock. Als er diesen Formularblock sah, blitzte es plötz= lieh in seinen Augen auf. Eine Minute lang saß er reglos da, während sein Verstand arbei= tete. Dann — ohne recht zu hof= fen, daß er eine Antwort bekäme, aber verzweifelt wie ein Mann, der am Ende nach einem Stroh= halm greift - hob er den Telefon' hörer ab und wählte eine Num= mer. Er bekam die Verbindung, sprach mit schnellen, dringlichen Worten, lauschte auf die Entgegnung und sagte: »Gut, ich komme sofort hin= über.« Als er den Hörer auflegte, war ein neuer Glanz in seinen Augen. Und dieser Glanz zeigte sich auch noch, als Standish zehn Minuten später im City Hall Building eine Tür mit der Aufschrift Gesundheitsamt öffnete. Der junge Sekretär, mit dem Stan= dish telefoniert hatte, stand war= tend hinter der hölzernen Schran= ke, die den Raum in zwei Hälften teilte. Als Standish ihm dafür dankte, daß er seinetwegen länger geblieben sei/legte der junge Mann ein Formular auf die Schranke ein Formular von derselben Art, wie Standish sie zuletzt aus seinem 256
Konsultationskoffer geholt hatte. Am Kopf des Formulars standen die Worte gedruckt: Ärztliche Be= scheinigung eines Sterbefalles, und dieses hier war ausgefüllt und un= terschrieben von Dr. Edward Che= ney. »Stimmt da etwas nicht?« fragte der Sekretär, stutzig geworden durch die Aufmerksamkeit, mit der Standish die Bescheinigung stu= dierte. Standish verneinte, notierte sich aber die Todesursache, die Dr. Cheney niedergeschrieben hatte. Magengeschwüre, chronisch, und hierdurch verursachte Blutungen im Magen==Darm=Bereich, spontan - so hatte Cheney es formuliert. Der Verstorbene war ein gewisser Charles Judson; die Bescheinigung trug das gestrige Datum. Ehe er wieder ging, stellte Standish dem Sekretär einige weitere Fra= gen und erhielt bereitwillig Ant= wort. Dann fuhr er mit seinem Auto auf kürzestem Weg hinüber in den Osten der Stadt und zu Dr. Cheneys Praxis. Bei Tageslicht wirkte das Zwei" familienhaus noch unerfreulicher als bei Nacht. Standish fand die Tür zu den Praxisräumen unver=
Die Sterbeurkunde schlössen. Cheneys Sprechstunden» hilfe, eine Frau mittlerer Jahre, war anwesend. Sie beantwortete Stan= dishs Frage nach Charles Judson, indem sie prompt erklärte, nie von einem Patienten dieses Namens gehört zu haben, und erlaubte es Standish, selbst in Cheneys Pa» tientenkartei nachzusehen. Als Standish festgestellt hatte, daß tatsächlich keinerlei Unteria» gen für Judson vorhanden waren, bat er, telefonieren zu dürfen, und rief Leutnant Ballard in der Poli= zeizentrale an. »Ich habe eine Spur im Mord an Cheney«, sagte er. »Ich beabsich= tige, einen Burschen namens Earle Jennings aufzusuchen.« Er nannte eine Adresse und fügte hinzu: »Kannst du mich in einer Viertel' stunde dort treffen, Tom?« »Nein.« »Warum nicht?« fragte Standish, überrascht und etwas verärgert durch Ballards lapidare Antwort. »Weil ich bis über beide Ohren in der Montanarisadie stecke. Ich muß gleich zu einer Besprechung mit dem Captain und dem Com= missioner und weiß nicht, wie lange das dauert. Ruf mich in einer Stunde wieder an, Paul.« »In einer Stunde?« wiederholte
Standish aufgebracht. »In einer Stunde?« Dann taten Spannung und Über» müdung das ihre; er verlor den gewohnten Gleichmut, und seine Stimme wurde schroff. Er sagte, daß er sich seit halb drei Uhr nachts um die Aufklärung eines Mordfalles bemühe, was eigent" lieh nicht seine Sache wäre, und daß er jetzt endlich eine Spur ge= funden habe. Aber wenn Ballard nichts darüber zu hören wünsche, dann sei ihm das auch recht. Er jedenfalls habe nicht die Absicht, eine Stunde ungenutzt verstrei= chen zu lassen, nicht einmal zehn Minuten. Er werde dann eben auf eigene Faust handeln. Und wie Ballard darüber denke? »Immer mit der Ruhe«, sagte Bai» lard, »immer hübsch eins nach dem anderen. Wieso ist dieser Bursche Jennings denn so wichtig? Wer ist er überhaupt?« »Er ist ein Leichenbestatter«, sagte Standish und legte auf. Zu der Zeit, da er sein Auto auf der anderen Seite der Straße ge= parkt hatte und sich dem schwarz drapierten Schaufenster näherte, das in etwas schäbig gewordenen Goldbuchstaben die Aufschrift 257
George Harmon Coxe Earle lennings - Bestattungen" ternehmer trug, war Paul Stan" dish beschämt über seinen Aus" bruch und nicht mehr ganz sicher, ob sein Verdacht zu Recht bestand. Er betrachtete das Schaufenster, das ihm nicht viel verriet, stellte fest, daß das Bestattungsunter« nehmen auf der linken Seite einen Bäckerladen, auf der rechten ein kleines Schreibwarengeschäft als Nachbarn hatte und daß die ganze Umgebung einen recht herunter« gekommenen Eindruck machte. Einen Moment lang fühlte er sich versucht, es einstweilen dabei be° wenden zu lassen und etwas spä« ter zusammen mit Ballard noch einmal herzukommen; daß er dies dann doch nicht tat, geschah nicht nur aus Stolz und angeborenem Starrsinn, sondern vor allem aus dem immer wachen Verlangen, die Wahrheit zu erfahren. Nachdem er so weit gekommen war, konnte er nicht einfach wie= der umkehren und eine Stunde vertrödeln, während er auf Ver= Stärkung wartete. Also öffnete er die Tür und betrat einen langen, schmalen Raum mit dunkel ge" tünchten Wänden, einigen schwarz" gestrichenen Korbstühlen und abe genutztem dunklem Fußbodenbe" 258
lag. Am rückwärtigen Ende, neben einem dunkel drapierten Durch» gang, stand ein alter schwarzer Schreibtisch. Da niemand zu sehen war, ging Standish an dem Schreibtisch vor= bei, schob die Draperie vor dem Durchgang beiseite und kam in einen kurzen Korridor, der in den Aufbewahrungsraum führte. Als er den Aufbewahrungsraum be= trat, hörte ihn der Mann, der dort an einem Sarg beschäftigt war, und fuhr herum - ein dunkel ge" kleideter Mann mit schlauen, un= steten Augen, ungefähr so groß wie Standish, aber schmaler. Er hatte eine Art Schraubenschlüssel mittlerer Größe in der Hand. »Was wollen Sie?« fragte er. »Sind Sie Earle Jennings?« »Nja. Wieso?« »Das Gesundheitsamt erteilte Ihnen eine Beisetzungsgenehmigung für einen gewissen Charles Judson.« »Nja, stimmt.« Die Stimme des Mannes klang mißtrauisch, aber der Ausdruck seiner Augen an» derte sich nicht. »Und wir haben ihn heute nachmittag begraben.« »So?« Standish blickte umher, be" merkte im Hintergrund den offes nen Durchgang zu einer Art Ar"
Üie SterbeurkuniilB beitsraum, wo sich niemand wei" ter zu befinden schien, trat lang« sam an das niedrige Podest mit dem Sarg heran und versuchte einen der Handgriffe des Sarges, um das Gewicht zu prüfen. »Ich bezweifle das«, sagte er. »öffnen Sie diesen Sarg und lassen Sie se" hen, wer darin liegt.« Jennings fluchte lästerlich. Dann verlangte er zu wissen, wer Stan= dish sei, und als er das Wort Poli« zeiarzt hörte, trat Angst in seinen Blick. Dennoch versuchte er den wilden Mann zu spielen, aber als Standish entschlossen auf ihn los" ging, wich er zurück, und sein Verhalten änderte sich. »Na schön, Doktor«, sagte er. »Sie sind schief gewickelt. Doch wenn Sie unbedingt reingucken müssen - bitte.« Er ging an die andere Seite des Sarges, schraubte die Verschlüsse los und klappte den Deckel hoch. Als er beiseite trat, warf Standish einen schnellen Blick in den Sarg und zuckte zu» sammen. Denn der tote Mann in dem bil« ligen, flachen Sarg — ein magerer, nicht einmal mittelgroßer Mann mit spitzem Gesicht und dünnem Schnurrbärtchen - war Frankie Montanari, dessen Foto Standish
erst gestern in den Zeitungen ge" sehen hatte. Nach dem ersten Schock schaute Standish genauer hin und ent" deckte das Bnschußloch dicht hinter der linken Schläfe. Im Moment, da er es entdeckte, wußte er, daß er einen-Fehler ge" macht hatte. Seine Überraschung hatte ihm anderthalb oder zwei le« benswichtige Sekunden geraubt, und nun war es zu spät. Die jähe Bewegung hinter seinem Rücken mehr ahnend als hörend, wollte er sich zur Seite werfen. Aber da traf ihn auch schon ein wuchtiger Schlag auf den Hinterkopf, und rasender Schmerz explodierte in seinem Gehirn. Der Fußboden schien sich aufzubäumen, der ganze Raum drehte sich wie ein Karussell. Standish sackte betäubt zusammen; er ging in die Knie. Dann war Jennings über ihm und schleifte ihn davon, und er hatte keine Kraft, sich da= gegen zu wehren. Eine Tür knallte zu, schwärzeste Dunkelheit hielt ihn umfangen. Ohne das Bewußtsein auch einen Moment lang völlig zu lieren, brauchte Paul Standish Weile, ehe er die Kraft fand,
nur ver" eine sich 259
George Harmon Coxe aufzurichten. Er erkannte, daß er in irgendeinep engen Abstellkam= mer eingesperrt war - einer so en= gen Kammer, daß ihm der Platz fehlte, sich mit genügendem Schwung gegen die Tür zu wer= fen, um sie aufzusprengen. Als er begriff, daß er sich nicht allein befreien konnte, begann er zu überlegen und fand beinah augenblicklich das Schema für den Mord an Cheney. Jetzt, auf ein= mal, wußte er, was geschehen war und weshalb es geschehen war. Er wußte auch, was er selbst zu er= warten hatte, und war bereit da= für, als einige Minuten später die Tür geöffnet wurde. Er trat hinaus und fand Darrow draußen stehen, eine Pistole in der Hand. Halb ne= ben und halb hinter Darrow stand Jennings. Darrows breites Gesicht war grim= mig und erbarmungslos. »Mußten unbedingt Ihre Nase hineinstek= ken - huh?« fauchte er. Standish starrte die beiden an und erwog seine Chancen. Die Aussichten gefielen ihm nicht; er wußte jetzt, wie recht der Distrikts' anwalt gehabt hatte, als er sagte, Montanari habe einen Fehler ge= macht, als er Darrow bedrohte. »Frankie ist Ihnen also nach der 260
Flucht in die Hände gelaufen«/ sagte er zu Darrow. »Und er drohte Ihnen, daß er singen würde - nicht wahr?« »Ja. Er fühlte sich so stark mit einem Schießeisen in der Tasche, der kleine Mann. Mit diesem Schießeisen.« Darrow gestikulierte mit der Pistole in seiner Hand und lachte auf - ein häßliches Geräusch. »Aber ich nahm es ihm einfach weg.« »Gewiß, Sie nahmen es ihm ein= fach weg. Und nachdem Sie ihn außerdem einfach erschossen hat» ten, saßen Sie auf einmal in der Klemme. Das war ein unvorher» gesehener Mord, ein Mord, den Sie nicht hatten planen können. Sie besaßen kein Alibi. Statt des= sen besaßen Sie eine Leiche, die Sie schleunigst verschwinden lassen mußten. Und dafür dachten Sie sich eine famose Methode aus.« Standish hielt einen Moment lang inne; seine Erbitterung über Dar= rows verderbte Schlauheit war so groß, daß sie seine Angst vor der Gefahr erstickte, die ihm selber drohte. »Sie brauchten eine Sterbe» bescheinigung. Und um diese Sterbebescheinigung zu kriegen, brauchten Sie einen Arzt. Einen Arzt ohne Familie, arm und, wenn
Die Sterbeurkunde möglich, ein bißchen vertrottelt wie zum Beispiel Cheney.« Er holte Atem und fügte hinzu: »Aber Cheney war nicht vertrot= telt. Als Sie das erkannten, wuß= ten Sie, daß Sie auch ihn töten mußten. Es machte Ihnen nicht viel aus - Blut hatten Sie sowieso schon an den Händen, und auch für mehrere Morde kann man ja nur einmal gehängt werden. Ich denke, Cheney wußte ebenfalls, um was das Spiel ging.« Wieder hielt er inne, und seine Er» bitterung wuchs ins Unerträgliche, als er sich vergegenwärtigte, was mit dem Mann geschehen sein mußte, der einst sein Freund ge= wesen war. Cheney hatte zu wäh= len gehabt zwischen Herausgabe der Bescheinigung und dem Tod. Und er mußte erkannt haben, wie winzig seine Chance war zu über» leben, selbst wenn er das Papier hergab. Aber er hatte die Chance ergriffen, weil es seine einzige Chance war. Und indem er es tat, hatte er zugleich eine Spur hinter» lassen - für irgendwen, der neu= gierig genug sein würde, diese Spur zu verfolgen. »Die erste Bescheinigung, die er ausschrieb«, brummte Darrow, »enthielt mir zu viele merkwür»
dige Worte über die Todesursache. Ich dachte, er versuchte damit dem Gesundheitsamt einen Tip zu geben, und ließ ihn eine zweite Be» scheinigung mit Worten ausschrei« ben, die ich verstehen konnte. War doch sehr schön, das mit den Magengeschwüren und den Blu= tungen. Ganz unverdächtig. Wo" durch sind Sie stutzig geworden?« »Welchen Unterschied macht das jetzt noch?« »Keinen, da haben Sie recht, Dots= tor.« Darrow verzog den Mund ZH einem spöttischen Grinsen; seine kleinen Augen waren unversöhn= lieh. »Tja, morgen früh also wird Frankie als Charles Judson begra= ben, und niemand außer mir und Jennings wird wissen, was mit ihm geschehen ist. Allerdings werden wir nun einen größeren Sarg neh= men. Sie müssen nämlich auch noch hineinpassen, Doktor.« Er wandte den Kopf zu Jennings und murmelte etwas. Aber Stan= dish hörte es nicht; Schweißtrop» fen standen ihm auf der Stirn, während er seinen Verstand zer= marterte, um einen Ausweg zu finden. Er sah Jennings hinausge» hen und gleich darauf mit zwei Sägeböcken zurückkommen; dann dirigierte ihn Darrow mit dem 261
George HannonCoxe Schießeisen in einen Lagerraum, hoben, er und Jennings, und Dar» wo er das eine Ende eines umfang» row als unbeteiligter Zuschauer reichen Sarges anheben mußte, neben der rechten Längsseite des während Jennings das andere Sarges stand, war er plötzlich eis= nahm. kalt und konzentriert und wußte, Er spürte kaum das Gewicht der was er zu tun hatte. Last, er dachte an Ballard. Er war Er schob - während Jennings am sicher, daß Darrow mit seinem anderen Ende bemüht war, den Plan nicht davonkommen würde — nicht ganz richtig stehenden Säge" Ballard wußte, daß er sich zu Jen» bock mit einem Fuß zurechtzurük= nings begeben hatte, und wenn er ken, und dabei den Sarg mühsam nicht bald wieder auftauchte, wür" in der Schwebe hielt - seine linke de Ballard in Aktion treten und Hüfte unter die linke Ecke des herausfinden, was geschehen war. Sarges, half mit beiden Händen Daran gab es keinen Zweifel. nach und brachte in jäher Krafta Aber er durfte nicht erwarten, daß anstrengung den Sarg aus dem Darrow ihm diese Geschichte ab" Gleichgewicht. nehmen würde. Was dann geschah, vollzog sich Dennoch versuchte er es. Wäh= binnen einer halben Sekunde. rend sie den Sarg in den Aufbah» Aber für Standish war es eine ra= rungsraum schleppten, sagte er pide Folge klar und deutlich gesein Sprüchlein auf. Darrow, der geneinander abgegrenzter Einzels nebenher ging und ihn nicht aus heiten. Er hörte Jennings schreien, den Augen ließ, lachte ihn einfach als der Sarg kippte und zu fallen aus. begann. Er sah das Mündungs« Nun wußte er, daß er zu kämpfen teuer der Pistole aufblitzen und hätte - egal, was dabei heraus' hörte die Detonationen, als Dar" kommen würde. Und er wußte, row blindwütend zweimal schoß daß er sich beeilen und handeln und gleichzeitig versuchte, sich müsse, ehe die Zeit für ihn aus» durch eine unbeholfene Rück» rann. Da er nichts mehr zu verlie- wärtsbewegung vor dem stürzen" ren hatte, lag das Problem nur den Sarg in Sicherheit zu bringen. noch in der Wahl der Methode. Dann krachte der Sarg zu Boden, Als sie den Sarg auf die Sägeböcke daß der ganze Raum erzitterte. 262
Die Sterbeurkunde
Mitten durch das Getöse gellte Darrows Schmerzensschrei - der schwere Sarg hatte ihn noch er" wischt und ihm ein Bein gebro* chen. Danach überstürzten sich die Ein= drücke für Paul Standish. Er sah die Pistole aus Darrows Hand fal» len und ein Stück über den Boden rutschen; er sah, daß Jennings nach der Pistole greifen wollte, und warf sich über den Sarg, um ihm zuvorzukommen. Aber Jen= nings hatte den kürzeren Weg und erwischte die Pistole. Standish sah, wie Jennings sich wieder aufrichtete und die Pistole gegen ihn hob. Dann dröhnte ein Schuß. Jennings zuckte zusammen und taumelte/und Standish glaube te zu begreifen, daß der Schuß nicht aus dieser Pistole gekommen sein konnte. Während er dem fal= lenden Jennings die Waffe entriß, wurde ihm mit seltsamer Ein" dringlichkeit bewußt, daß Darrow stöhnte wie ein verwundetes Tier. Ungläubig den Kopf wendend, sah er Sergeant Wargo mit einem Polizeirevolver in der Hand neben dem Durchgang zum Laden stehen. Im selben Sekundenbruchteil lan" dete Jennings endgültig auf dem
Boden. Darrow hörte auf zu stöh» nen, und plötzlich war es ganz still im Raum. Wargo kam in Zeit» lupentempo herbei und blickte auf Darrow, der ohnmächtig gewors den war, und dann in Montanaris Sarg. Standish, irgendwie verwundert, daß er noch lebte und sich bewe« gen konnte, kam in die Höhe und stieß den angehaltenen Atem aus. Er versuchte etwas zu sagen, muß" te sich aber erst räuspern, ehe die Worte kommen wollten. Als er Wargo die Pistole reichte, sah er, daß seine Hände zitterten, und spürte eine seltsame Schwäche in seinen Beinen emporkriechen. »Woher sind Sie denn gekommen?« fragte er schließlich. »Ich war draußen.« Wargo bedeu« tete Standish durch eine Handbe« wegung, mit ihm zusammen den Sarg von Darrows Bein zu heben. »Der liebe Mike wird also mit einem kürzeren Bein auf den Elektrischen Stuhl klettern müssen«, sagte er; zur Vervollständigung der Antwort auf Standishs Frage fügte er hinzu: »Leutnant Ballard sagte, nach der Art, wie Sie am Telefon mit ihm sprachen, wäre alles möglich, und ich sollte lieber hinfahren, um ein Auge auf Sie 265
George Harmon Coxe zu haben. Als ich Mike Darrow in den Laden gehen sah, wurde mir klar, daß ich bald nachschauen müßte.« Leutnant Ballard bekam den Rest der Geschichte eine halbe Stunde später zu hören; Darrow war in= zwischen zum Polizeihospital ge° bracht worden und Jennings zum Leichenschauhaus. Da ihm noch immer der Schock über das in den Gliedern saß, was seinem Freund Standish hätte widerfahren kön= nen, waren seine Kommentare ans fangs recht knapp und kritisch. Dann fiel ihm etwas anderes ein, und er zuckte die Schultern. »Weshalb, zum Kuckuck, meckere ich eigentlich herum?« sagte er. »Wir haben Montanari, und wir haben Darrow, und wir wissen, daß du in bezug auf Doktor Che= ney recht hattest. Du hast ganz schöne Angst ausstehen müssen, und das geschah dir recht. Hättest mir ja am Telefon die ganze Ge° schichte erzählen können.« »Ich wußte es zu dieser Zeit selbst noch nicht«, antwortete Standish. »Wie sollte ich wissen, daß ich Montanari in dem Sarg finden würde? Alles, was ich wußte, war, daß Cheney jene Sterbebescheinis 264
gung niemals 'freiwillig ausgestellt hätte.« Ballard runzelte die Stirn, er ver= stand es nicht und wollte wissen, weshalb. »Sterben nicht viele Leu« te an Magengeschwüren und an Blutungen im Magen= und Darm= bereich?« »Doch, natürlich. An der Formu= lierung als solcher war nichts ver» kehrt.« »Was sonst hat dich stutzig ge° macht?« Standish nahm sich Zeit, weil er die Dinge klarzumachen wünschte. »Hör zu«, sagte er. »Die gesetzs liehen Bestimmungen verlangen, daß, wenn jemand plötzlich stirbt, die Sterbebescheinigung von einem Amtsarzt ausgestellt werden muß - es sei denn, es wäre ein behan= delnder Arzt da', der mit dem Fall vertraut ist. Wörtlich heißt es: Be» handelnde Ärzte dürfen lediglich den Tod solcher Personen bescher nigen, denen sie während der zum Tode führenden Krankheit ärzt' liehen Beistand geleistet haben, und so weiter.« »Ich begreife immer noch nicht«, murmelte Ballard. »Judsons Sterbebescheinigung be= sagte, die Blutungen seien spontan und eine Folge der chronischen
Die Sterbeurkunde Magengeschwüre gewesen. Ein Arzt aber, der eben herbeigerufen worden war, konnte dies aus eige= ner Feststellung nicht wissen. Er hätte mit dem Krankheitsfall ver= traut sein müssen, um eine solche Diagnose zu stellen.« »Demnach -« »Demnach fuhr ich, als ich diese Diagnose gelesen hatte, zu Che= neys Praxis und durchforschte sei= ne Patientenkartei. Cheney hat niemals einen Patienten namens Judson gehabt und ist niemals ordnungsgemäß zu einem Judson gerufen worden. Wäre er an je= nem Abend zu einem Mann namens Judson gerufen worden und hätte er diesen im Sterben liegend gefunden, dann würde er niemals eine Sterbebescheinigung ausgestellt, sondern den zuständi= gen Amtsarzt informiert haben. Alles andere wäre ein Verstoß ge= gen die ärztliche Berufsethik und gesetzwidrig gewesen.« Standish machte eine entschiedene Handbe= wegung. »Und daher wußte ich, daß Cheney nur durch Gewalt zur Ausstellung dieser Bescheinigung gezwungen worden sein konnte. Cheney war nun einmal so. Nie im Leben hätte er etwas Unehren=
haftes getan. Aber er tat immer sein Bestes, um die Wahrheit wahr kimgen zu lassen.« Ballard blickte Paul Standish an; Respekt und noch einiges mehr lag in seinem Blick. Er berührte den Doktor beim Arm. »Wenn du einem Burschen ver= traust«, murmelte er, »dann gehst du für ihn in die Hölle - nicht wahr, Paul?« Standish hörte nur einen Teil von Ballards Worten und war zu er= schöpft, um dem Gehörten viel Aufmerksamkeit zu schenken. Was er sich im Augenblick am meisten wünschte, waren ein Drink und etwas zu essen. »Was sagtest du da?« fragte er. »Nichts«, erwiderte Ballard. »Aber weißt du, Paul - laß uns gehen und deine hübsche Sprechstunden» hilfe treffen, die immer so viel an dir herumnörgeln mußte. Ich könn= te mir denken, daß sie in Zukunft ziemlich stolz auf dich sein wird... Wie ist das - spendierst du heute die Drinks, oder soll ich es tun?« Standish sagte, das sei ihm gleich' gültig. Aber das erste Glas müßten sie auf Dr. Edward Cheney leeren ,.,
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John D. MacDonald
Immer diese ganz Schlauen
Gestern gab er mir wieder einmal unverhofft die Ehre - mein Freund Keegan, Detektivleutnant von der Des'Moines'Polizei. Er brachte einen fühlbaren Hauch des frostigen Iowa=November= abends mit ins Zimmer, pflanzte sich breitbeinig vor dem Kamin= teuer auf, den Mantel offen, den Hut ins Gesicht geschoben, rieb sich die großen, knochigen Hände über den Flammen, grinste mich zwinkernd an und sagte: »Fertig für diesmal, Doc. War ein saube= res Päckchen. Wirklich - ein sau= beres Päckchen ...« »Bourbon, Keegan?« fragte ich. »Nur, falls kein Brandy mehr da ist, Doc. Richtiges Brandywetter heute.« Als ich mit der Flasche und zwei Gläsern zurückkam, hatte er sei' 266
nen Mantel ausgezogen und über die Couch geworfen; sein Hut lag daneben am Boden. Er selbst saß vor dem Feuer, die langen Beine gegen die Flammen gestreckt, und seine Schuhsohlen dampften. Ich goß Brandy ein, rückte den kleinen Kamintisch zurecht, setzte mich an das andere Ende und war= tete. Ich wußte, was Keegan be" wegte. Er hat das Haus voll halb« erwachsener Töchter, die jeden Raum mit ihrem Gekicher und Ge« hopse füllen; dort findet er keine Gelegenheit, von seinen düsteren Triumphen zu sprechen. Also pflegt er mich, unter anderem, stets mit seinem Bericht über den je» weils neuesten Fall heimzusuchen. Immer erst, wenn er den Fall ab= geschlossen hat. Doch dann brand" frisch ...
Immer diese ganz Schlauen Er guckte mich von der Seite an und fragte: »Doc, haben Sie je versucht, einen Autohändler hin= ters Licht zu führen?« »Sicher. Damit er das alte Auto zu höherem Preis in Zahlung nimmt. Aber geglückt ist es nie.« »Wie sollte es auch? Wissen Sie, was mir mal einer von diesen Brüdern gesagt hat? >Leutnant<, hat er gesagt, »Sie verkaufen viel" leicht alle zwei Jahre mal ein Auto. Aber ich verkauf zehn am Tag. Welche Chance bleibt Ihnen da gegen mich?<« Das war die Art, wie Keegan seine Berichte zu beginnen pflegte; ich wurde aufmerksam. »Und genauso ist's mit den ganz Schlauen, Doc«, fuhr er grinsend fort. »Mit diesen Laien, die sich einbilden, sie brachten ein fehler» loses Verbrechen zustande ... Gebt mir ein Dutzend von diesen ganz Schlauen, und ich vertilge sie zum Frühstück ohne Pfeffer und Salz! Die Berufsverbrecher sind unsere Plage, 'die können einem zu schaffen machen. Aber diesen ganz Schlauen passieren Dinge! Na, ich sage Ihnen, Doc - die lassen Ma= sehen im Netz, daß ein Walfisch durchschlüpfen kann! Da war doch die Sache mit jener Frau in
dem Wochenendhaus am Bären» tatzensee/ auf dem halben Weg nach Omaha— jetzt, vor zwei Wo= Aen, Ende Oktober. Erinnern Sie sich, Doc?« »So ungefähr. Hieß es nicht, sie wäre von einem Landstreicher er= mordet und beraubt worden? Ihr Mann kam doch von einer Ge» schäftsreise zurück und fand sie ermordet - stimmt's? Und da schien sie schon zwei Wochen oder noch länger tot gewesen zu sein nicht wahr? Niemand hatte sie vermißt, infolge der fortgeschrit" tenen Jahreszeit waren die Nach» bam schon in die Stadt zurückge« kehrt, und die Leute im nahen Dorf hatten geglaubt, auch sie wäre bereits wieder in der Stadt. Sie war erdrosselt worden, soweit ich mich erinnere.« »Ja, so stand's damals in der Zei" tung. Aber nun will ich's Ihnen mal genau erzählen, damit Sie se= hen, welches Problem zu lösen war ... Grosswalk heißen die Leute, Cynthia und Harold Gross= walk. Hatten sich vor zehn Jäh" ren kennengelernt. Damals stu= dierte er noch Medizin und war Vierundzwanzig. Sie war Dreißig und hatte allerlei Geld. Er heira= tete sie, gab das Studium auf und 267
John D. MacDonald tat die nächsten fünf oder sechs Jahre lang gar nichts. Dann über= nahm er eine Vertretung - ärzt= liehe Instrumente, Verbandszeug, Sprechstundenbedarf ... Wissen Sie, Doc — wenn eine verheiratete Frau umgebracht wird, kümmere ich mich immer erst mal darum, wie's in der Ehe ausgesehen hat. Können Sie verstehen - eh?« »Und ob«, bestätigte ich. »Na schön, ich forsche also nach. Natürlich haben sie nicht nur das Wochenendhaus, sondern auch ein hübsches Haus hier in der Stadt. Besitzen kaum Freunde, dafür aber Nachbarn mit Ohren. Haben sich oft und heftig gestritten wahrscheinlich um Geld, wie die Leute vermuten. Das Geld gehört nämlich ihr. Gehörte nämlich ihr, muß ich wohl sagen. Schön. Ich nehme mir diesen Grosswalk vor. Na und, meint er, was wäre denn schon dabei, wenn sie sich manchmal nicht so recht vertragen hätten? Ich sollte mal gefälligst versuchen, zusammen mit der Staatspolizei herauszufin" den, wer seine Frau umgebracht hätte, statt in seinen häuslichen Angelegenheiten herumzuschnüf= fein. Daraufhin erzähle ich ihm, daß er eigentlich ganz hübsch ver» 2.08
dächtig ist. Dies sei ihm längst be= kannt, sagt er, aber er hätte sie nun mal nicht umgebracht. Im sel= ben Atemzug behauptet er ein bißchen zu viel - er könne sie nämlich gar nicht umgebracht ha» ben, und mehr wolle er nicht sa= gen ... Spielte eben auf ganz schlau, der gute Harold. Aber ich vertilge ja diese ganz Schlauen zum Frühstück ohne Pfeffer und Salz ...« Keegan schwieg und betrachtete gedankenverloren sein leeres Glas. Ich beugte mich hinüber und goß es wieder voll. »Sie merken, Doc, worauf er hin= auswollte. Er überließ es mir, zu beweisen, wieso er sie gar nicht umgebracht haben könnte. Genau umgekehrt also! Ganz schlau! Na schön - ich gehe erst mal zu dem Verkaufsmanager der Firma; für die er arbeitet. Richtig - die Vertreter müssen genaue Rappor= te liefern. Und Harold Grosswalk hat genaue Rapporte geliefert. Er hatte eine westliche Tour gehabt - Kalifornien. Bißchen weit weg, Und doch nicht ganz ausgeschlos= sen, daß er zwischendurch mal herübergeflogen wäre/um sich in das Wochenendhaus am Bärentat= zensee zu schleichen, seine Frau
Immer diese ganz Schlauen umzubringen, ein bißchen Geld und anderen Krims einzustecken, damit die Sache echt aussieht, dann schnell wieder zurückzuflie= gen und da weiterzumachen, wo er aufgehört hat. Hätte anderthalb Nächte und einen Tag oder an= derthalb Tage und eine Nacht be= ansprucht. Nach polizeiärztlicher Feststellung ist die Frau ungefähr am 10. Oktober ermordet worden, und erst am 25. Oktober hat Grosswalk sie gefunden. Aber was ich von dem Verkaufsmanager höre, fügt sich gar nicht in meine Theorie! Der Verkaufsmanager erzählt mir nämlich, daß Grosswalk am 8. Ok= tober drüben in Los Angeles krank geworden ist und sich in ein Hos= pital begeben hat und daß er vom 8. bis zum 15. Oktober in diesem Hospital gewesen ist, also eine volle Woche. Ich bekomme Na° men und Adresse des Hospitals, und insoweit wäre eigentlich alles in schönster Ordnung. Doch jetzt, Doc, werden Sie sehen, welchen fundamentalen Fehler unser ganz schlauer Harold Grosswalk ge= macht hat! Weshalb nämlich hat er mir jenen simplen und klaren Sachverhalt nicht selbst erzählen können? Wäre er unschuldig, dann
hätte er es erzählt. Aber er, unser ganz Schlauer, war ja so stolz auf jede Schwierigkeit, die er mir in den Weg legen konnte!« »Und daraufhin mußten Sie per= sönlich nach Los Angeles?« fragte ich und schenkte die Gläser aber» mals voll. »Freilich mußte ich das«, erwiderte er und grinste grimmig. »Aber es hat ein ganz schönes Gerede ge= kostet - sie geben ja nicht gerne Geld aus für derartige Reisen. Wollten mir einreden, das alles ließe sich auch durch Telefon und Fernschreiber klären. Schließlich rückten sie wenigstens die Spesen für eine Eisenbahnfahrt heraus und sagten, wenn ich partout flies gen wollte, dann müßte ich die Differenz aus eigener Tasche zu= zahlen - aber das machen Sie mal als Vater von vier Teenagern! Gut, ich fuhr also mit der Eisen" bahn, kam hin und besuchte den Arzt - das heißt, die Ärzte, denn Grosswalk hatte sich ja in ein ridi= tiges Hospital begeben ... Ja, na» türlich - der Fall Grosswalk! Ist ihnen noch ganz geläufig. Nach den Symptomen, die der Patient zeigte, schien es sich um das An° fangsstadium eines Nervenzusam= menbruches zu handeln - nicht 269
lohn D. MacDonald ganz einfach zu diagnostizieren. Sie drehten ihn durch alle mögli» dien Tests, Untersuchungen, Be« obachtungen, sie gaben ihm be» ruhigende Medikamente und In» jektionen. Versicherten mir, daß er die ganze Zeit ununterbrochen dort gewesen wäre - er hätte überhaupt nicht verschwinden können, nicht mal für eine Vier= telstunde. Sie zeigten mir die Un= tersuchungsbefunde und die Be» handlungsrapporte - lückenlos, wirklich jede halbe Stunde ge» deckt. Was ihm eigentlich gefehlt hat, darüber sind sie sich allers dings nicht ganz klar geworden. Dem Abschlußbefund zufolge war er jedenfalls nachher wieder ziem" lieh okay, die sieben Tage im Ho= spital mit allem Drum und Dran hatten ihm gut getan. Am Spät" nachmittag des 15. Oktober ent= ließen sie ihn und gaben ihm ein Rezept für ein leichtes Schlafmit= tel mit ... Sie sehen, Doc - wer selber medizinische Kenntnisse hat, kann ein ganzes Ärztekolle" gium an der Nase herumführen!« »Demnach war Ihre Reise um» sonst?« fragte ich. »Ach wo, keineswegs.« Keegan lachte trocken. »Ganz nebenbei hatte ich ja auch nach Besuchern 270
gefragt. Sie zeigten mir eine Re= gistrierkarte. Ein Mädchen hatte unseren guten Harold besucht, so oft es erlaubt war - immer das" selbe Mädchen. Ich notierte mir Namen und Adresse und fuhr hin. Ein nettes hübsches Ding, neun» zehn Jahre alt, lebt bei den Eltern. Die Eltern halten Grosswalk durchaus nicht für den geeigneten Mann, das Mädchen dafür um so mehr. Liebt ihn heiß und innig. Ich kriege heraus, daß Grosswalk der Kleinen allerhand vorgeschwatzt hat. Seine Frau wäre leidend, un° heilbar krank und hätte nicht mehr lange zu leben. Deshalb wäre es unnütz und sinnlos, sie noch mit einer Scheidung zu quälen. Man könne doch warten. Und natürlich wäre es für das Mädchen sowieso besser, einen Witwer zu heiraten, statt einen geschiedenen Mann. Selbstverständlich hatte sie inzwi» sehen Nachricht von Grosswalk bekommen - er habe seine Frau ermordet aufgefunden und werde so bald wie möglich kommen, um die neue Situation mit ihr und ihren Eltern zu besprechen. Daß wir ihm einstweilen strikt verbo° ten hatten, die Stadt zu verlassen, teilte er ihr allerdings nicht mit. Na schön - ich versuche der Klei»
Immer diese ganz Schlauen nen klarzumachen, daß sie lieber keine allzu üppigen Hoffnungen hegen möge, denn leider hätten wir Grosswalk in Verdacht, seine Frau ermordet zu haben. Das gibt natürlich Geschrei und Tränen. Die Mutter kommt herbeigelau« fen - ja, sie sei gar nicht über» rascht, so etwas hätte sie sich längst gedacht, und so weiter. Beim Weggehen höre ich noch bis auf die Straße hinaus, wie die Mutter mit dem Mädchen schimpft ...« »Hallo, die Gläser sind leer«, warf ich ein und behob den Mangel. Keegan quittierte es mit breitem Grinsen, nahm einen Schluck und fuhr fort: »Hierher zurückgekehrt, ging ich sofort zu Mrs. Gross« walks Arzt, und der erzählte mir, sie wäre gesund gewesen wie ein Pferd. Anders hatte ich es kaum erwartet. Gut. Dann fuhr ich zum Bärentatzensee hinaus und sah mir das Häuschen noch einmal an. Reizend, sage ich Ihnen, Doc. Fest genug gebaut, daß man auch den härtesten Winter dort verbringen kann. Ganz moderne ölheizan" läge, reizende kleine Küche, dito Bad, zwei hübsch eingerichtete Zimmerchen. Alles besser gelüftet als bei meinem ersten Besuch, aber
an dem Geruch von damals war natürlich die Leiche schuld. Gross» walk hatte seinerzeit übrigens an« gegeben, er hätte nichts berührt, nur die Leiche, und das Häuschen wäre nicht abgeschlossen gewesen. Na schön - ich schnüffelte herum. Ließ mir dabei verdammt viel Zeit. Mrs. Grosswalk hatte alles sauber und hübsch instandgehalten. Im sogenannten Schlafzimmer gab es zwei Klappbetten. Nur eins davon war heruntergeklappt. Ein Nachthemdchen lag darauf, durchsichtig und modisch, und das kam mir seltsam vor. Ich sah mir den Wand« schrank mit der Wäsche an. Rieh« tig - da hatte Mrs. Grosswalk ein halbes Dutzend Flanellpyjamas, die natürlich viel besser zu den rauhen Oktobernächten dort dräu" ßen paßten. Hier in der Stadt hatte ich schon genug herumgefragt. Ich wußte, daß 'Mrs. Grosswalk alles andere als leicht und flatterhaft gewesen war - keine Frau von der Sorte, die sich einen Freund kommen läßt, wenn der Mann mal fort ist. Was mag einer solchen Frau Anlaß geben, sich an einem bestimm» ten Abend mal nicht praktisch, sondern hübsch mit Reizwäsche ausstaffiert ins Bett legen zu wol" 271
John D. MacDonald len? Klare Sache, Doc - der Gatte ist von der Reise zurückgekehrt! Aber verdammt - er konnte zu dieser Zeit doch gar nicht von der Reise zurückgekehrt sein! Oder? Jedenfalls merkte ich mir die Sa= ehe mit dem Nachthemdchen und beschloß, darüber noch nachzu= denken. Dann schnüffelte ich weiter herum und fand etwas anderes. Nämlich Spuren, die erkennen ließen, daß ein Auto tief in das Gebüsch ne= ben dem Grundstück hineingefah= ren war. Damals, als ich wegen der Leiche das erstemal dort drau= ßen gewesen bin, hatte Mrs. Grosswalks Auto hinter dem Häuschen geparkt gestanden. Nun überlegte ich - wenn der Wagen tief ins Gebüsch gefahren wurde, konnte man ihn nicht sehen, we= der vom Weg her noch vom Grundstück aus. Und wenn kein Wagen zu sehen war, mußte doch automatisch der Eindruck entste= hen, es wäre niemand zu Hause, und daraufhin würde dann auch niemand anklopfen. Das wun= derte mich ein bißchen, aber viel= leicht hatte Mrs. Grosswalk es so gemacht, wenn sie gar keinen Wert auf Besuch legte - es gibt solche Menschen, und zu Mrs. 272
Grosswalk schien es zu passen. Na gut, ich schnüffelte weiter. Guckte auch mal in den Kühlschrank, und der war bis oben voll mit guten Sachen, Mrs. Grosswalk hätte für längere Zeit nichts einzukaufen brauchen. Hmm ...« Keegan hielt inne, lehnte sich zurück und sah mich erwartungsvoll an. »Na, Keegan«, sagte ich, weil ichi wußte, daß er dies von mir erwar= tete, »ich bin aber sicher. Sie ha= ben noch etwas mehr entdeckt.« »Na eben - den Widersinn, die glatte Unmöglichkeit! Hier pas= siert ein Mord, und zur gleichen Zeit befindet sich der Mörder meh= rere tausend Meilen weit weg in Los Angeles! Das habe ich ent= deckt! Und doch kriegte ich ihn weil er ja einer von den ganz Schlauen war! Können Sie raten, wie er die Sache angestellt hat?« Natürlich hatte ich nicht die ge= ringste Ahnung. Aber ich mußte es versuchen, das war ich Keegan schuldig. »Nun, vielleicht hat er sich irgendeiner raffinierten Vor= richtung bedient?« »Femgesteuerte mechanische Hän= de, um seine Frau zu erdrosseln? Nein, Doc - danebengeraten!« »Dann hat er eben irgendwen ge° dungen.«
Immer diese ganz Schlauen »Freilich gibt es Kerle, die man für so etwas dingen kann. Doch die er= ledigen ihren Job mit dem Schieß' eisen. Oder mit dem Messer. Oder mit einem Stück Bleirohr. Von einem gedungenen Würger habe ich noch nie gehört. Nein, nein, Doc - er hat es wahrhaftig selbst getan!« »Ehrlich, Keegan - ich kann mir nicht vorstellen/ wie er das gemacht haben sollte.« »Hätte mich auch verdammt ge= wundert, wenn Sie sich das vor= stellen könnten, Doc! Schön, ich werd's Ihnen erzählen ... Ich über» legte mir alles noch einmal, ganz genau. Und da kam mir eine Er" leuchtung. Simple Cop=Logik, Doc - was durch die geographischen Gegebenheiten unmöglich schien, mußte anderweitig zu erklären sein. Vielleicht durch den Zeit» punkt. Gut. Ich gehe also zu dem Polizei» arzt, der damals die Leiche unter» sucht hatte, und frage ihn einiges. Nein, sagte er, als er diese Frau untersuchte, wäre sie bestimmt schon zwölf bis fünfzehn Tage tot gewesen. Wodurch er das wüßte, frage ich. Durch den Zustand der Leiche, sagt er, durch die Art, wie die Verwesung fortgeschritten ist.
Ich frage ihn, ob es da feste Regeln gibt. Nein, sagt er, keine absolut' festen Regeln, man müßte es schätzen - unter Berücksichtigung der Todesursache, der herrschen' den Temperatur, der etwa vorhan' denen Raumfeuchtigkeit, der Kör= perkonstitution des Toten, der Art seiner Kleidung, des Umstandes, ob Insekten an ihn konnten oder nicht und welche Art von Insekten, und so weiter. Da hatte ich plötz= lieh eine ganz klare Idee!« Ich goß die Gläser wieder voll. Keegan nahm einen kleinen Schluck, nickte mir zu und sprach weiter: »Ich fuhr noch einmal hin= aus zu dem Häuschen und schnüfs feite von neuem herum. Dauerte eine ganze Weile, bis ich den ersten Hinweis entdeckte - die Kerzen! Es gibt kein Wochenendhaus, in dem nicht auch Kerzen verwahrt würden. Die Grosswalks verwahr" ten ihre in der Küche, auf einem besonderen Brettchen im Küchen» schrank. Ganz seltsam aussehende Kerzen — das muß ich schon sagen, Doc! Irgendwie halb zerschmolzen und dann wieder fest geworden, mit flachen Unterseiten und dauer» haft aneinandergeklebt - so lagen sie da. Ich sah es, wunderte mich und 273
John D. MacDonald Katte einen neuen Einfall. Ich ging hin und inspizierte die Brenner der Ölheizung. Unter den Heizele» menten fand ich ein paar regel" recht ausgeglühte, mürbe gewor" dene und heruntergefallene Me= tallstückchen. Das genügte mir. Und der Rest war ganz einfach. Ich ließ Grosswalk ins Headquar» ter holen und für einige Stunden in eine Haftzelle sperren. Inzwi= sehen nahm ich mir einen unserer jungen Polizisten vor, steckte ihn in ein buntes Baumwollhemd, eine ausgebeulte Arbeitshose und eine schäbige Lederjacke und bläute ihm ein, was er nachher in Grosswalks Gegenwart erzählen sollte. Er kriegte es prachtvoll hin - ein biß" chen fahrig und stockend und gar nicht wie auswendig gelernt. >Ja<, sagte er und hatte sogar eine rumplige Stimme, >ja, Leutnant vorchtes Jahr, da hab' ich mir doch so 'ne kleine Motorsäge jekauft. Un mit der bin ich nu immer rum zu den Camps. Sind doch ville Leute da, wo Feuerholz jeschnitten haben wollen. War auch bei Missis Jrosswalk jewesen. Die brauchte kein Schnittholz. War aber freund" lieh und nett und brachte mir was zum Trinken raus.< Ich warf die Frage ein, wann das gewesen 274
wäre. >Na<, sagte er, >so irjend» wann um den Siebzehnten nun, jlaube ich - irjendwann um den Siebzehnten rum.< Das war nämlich ein Punkt, bei dem wir vorsichtig zu sein hatten - wir durften das Datum nicht auf den Tag genau festlegen lassen. >Was denn, um den Siebzehnten rum?< sagte ich zu dem vermeint« liehen Motorsägenbesitzer. >Da muß sie doch schon eine Woche oder noch länger tot gewesen sein! Irren Sie sich da nicht mit dem Datum, Boy?< Er schüttelte bedächtig den Kopf und erklärte: >Nein, Leutnant - es war um den Siebzehnten rum! Und von wejen tot — da war sie nicht tot! Höchst lebendig war sie da! Und ich hab ihr nich etwa verkannt. Ich kannte ihr doch, hatte ihr früher schon im Dorf jesehen - so 'ne rundliche, freundliche Frau mit blondem Haar. Nein, nein, das war um den Siebzehnten rum, und da lebte sie noch! Aber wissen Sie was, Leutnant - ich kann ja mal jehen und mein Rech» nungsbuch holen. Da steht's drin, wann ich im Camp beim Bären» tatzensee jewesen bin. Und das war um den Siebzehnten rum!<« Vor meinem geistigen Auge war
Immer diese ganz Schlauen ein deutliches Bild des biederen Motorsägenmannes entstanden ich mußte lächern. Keegan sah es und sagte grinsend: »Komischer Trick — wie? Haute aber hin... Na, ich schicke also den Sägenbesitzer los, damit er sein Rechnungsbuch holt. »Dauert aber 'n Weilchen<, sagt er noch, >ich muß ja erst janz weit raus<, und poltert davon ... Ich hatte na» türlich die ganze Zeitlang unseren Schlaukopf genau im Auge behal= ten und merke jetzt, daß er weich wird. Noch ein paar freundliche Fragen von mir, und er fängt an zu gestehen. Am Sechzehnten hat er sie um= gebracht - am Tag, nachdem sie ihn aus dem Hospital entlassen hatten. War natürlich mit dem Flugzeug herübergekommen. Aber nicht hierher, sondern nach Oma« ha, wo er vorsorglich schon seit anderthalb Monaten ein altes Auto für die letzten fünfzig Meilen be= reitstehen hatte. Er erzählt die ganze Sache, als spräche er zu sich selbst, den Blick starr zu Boden gerichtet. Hätte den Mord nicht riskiert, wenn seine Frau die letzten sieben Tage da» vor mal in der Stadt oder im Dorf gewesen wäre. Immerhin kannte
er ihre Gewohnheiten - war sie erst mal draußen, dann verließ sie das Grundstück am liebsten über« haupt nicht mehr, und diesesmal hatte sie es seit zehn, elf Tagen nicht verlassen. Sie war etwas überrascht, ihn früher als erwartet wiederzusehen, und wunderte sich über das alte Auto. Aber er erzählte ihr, die Firma hätte umdisponiert und das eigene Auto hätte er unterwegs in Reparatur geben müssen - jetzt wäre er vier, fünf Tage frei, und nun wollten sie es sich mal wieder nett und gemütlich machen, wie in alten Zeiten. Darüber freute sie -sich sehr. Und nach einer Stunde, kurz bevor sie zu Bett gehen woll" ten, riskierte er es. Er faßte sie von hinten mit einem Arm um den Hals und drückte, bis sie tot war. Er sagte, es hätte endlos gedau" e r t . . . Das geschah gegen neun Uhr abends. Als nächstes machte er sämtliche Fenster fest zu und schloß die Vor» hänge, wusch sein Geschirr, sein Besteck und sein Glas ab, überzeugte sich, daß der Tank der 01° heizung noch fast voll war, und stellte den Thermostat auf die höchste Stufe ein. Außerdem pack" te er so viel Brennholz wie möglich 275
John D. MacDonald in den Kamin und machte auch kehrte am Vormittag des Fünf und» dort Feuer - er wußte, daß es bin» zwanzigsten zum Häuschen am nen weniger Stunden wegbrennen Bärentatzensee zurück. Er betrat würde. Dann setzte er zwei ble« das Häuschen und konnte unter eherne Waschwannen voll Wasser Aufbietung aller Energie gerade auf den ölfeuerungsofen, nahm noch sämtliche Fenster aufreißen. alles Geld, das er finden konnte, Dann rannte er eiligst in die frische und auch etwas von ihrem Luft hinaus, denn ihm war hunde» Schmuck, knipste das Licht aus, elend geworden. schloß die Tür hinter sich zu und Er ließ über eine Stunde vergehen, fuhr ihren Wagen neben dem ehe er sich wieder hineinwagte. Bis Grundstück so tief ins Gebüsch, dahin war die Temperatur schon daß er nicht mehr zu sehen war. annähernd normal geworden. Er Er sagt, als er das Haus verließ, sah sich im Haus um und bemerkte, wäre es dort schon so heiß gewe= was ihm damals entgangen war sen wie in einem Ofen ... Hmm, nämlich, daß sie 'beide Betten her" wenn man sich das vorstellt, wird untergeklappt hatte. Er klappte man ganz durstig - finden Sie sein Bett hoch. Aus den Wannen auf dem Heizkessel war natürlich nicht, Doc?« »O doch«, bestätigte ich und füllte das Wasser verdampft, und die Wannenböden waren durchge" die Gläser nach. »Tja, und dann«, sagte Keegan, brannt. Er nahm die Wannen und nachdem er einen Schluck genom= schmiß sie in den See. men hatte, »dann raste er mit dem Seine Frau wollte er begreiflicher» alten Auto nach Omaha zurück, weise am liebsten nicht betrachten, ließ es dort irgendwo stehen und aber er sagt, er hätte sie einfach erwischte tatsächlich noch das Elf» betrachten müssen, und sie hätte uhrflugzeug nach Los Angeles. In ausgesehen wie eine zwei Wochen Los Angeles telefonierte er am alte Leiche - die furchtbare Hitze nächsten Morgen herum und im Haus hatte also den beabsich» machte Kundenbesuche über Kun= tigten Erfolg gehabt. Bei dieser denbesuche, um sein Alibi zu si= Feststellung sei ihm abermals ehern. Anschließend absolvierte er schlecht geworden. den Rest seiner Geschäftstour und Danach hat er ihren Wagen aus 276
Immer diese ganz Schlauen dem Gebüsch geholt und zum ge° wohnten Platz hinter dem Haus zurückgefahren. Dann ist er wie= der hinein, hat sich alles noch mal genau angesehen und für gut be= funden, hat die meisten Fenster zugemacht und sich schließlich ins Dorf begeben, um die Polizei zu alarmieren... Tja — ein ganz Schlauer, Doc! Und diese Sorte vertilge ich zum Frühstück ohne Pfeffer und Salz, wie Sie sehen.« Zufrieden seufzend leerte er sein Glas. Als ich es von neuem füllen wollte, machte er eine abwehrende Handbewegung. »Immer diese ganz Schlauen!« sagte er und schüttelte milde den Kopf. »Kommen sich wunder wer weiß wie gerissen vor und lassen in Wirklichkeit Löcher im Netz, daß ein Walfisch hindurchschlüp»
fen kann ... Wenn sidi die räum= liehe Entfernung nicht zwingen läßt, nimmt so ein starrsinniger Cop eben den Zeitfaktor unter die Lupe - an irgend etwas muß es ja hapern, und zaubern kann auch der Schlaueste dieser ganz Schlauen nicht,.. Ouuaah -«, er gähnte laut. »Können es morgen in aller Ruhe in den Zeitungen lesen, Doc. Dachte mir aber. Sie hätten Spaß daran, es glekh aus der Quelle zu genießen.« Damit erhob er sich. Ich half ihm in den Mantel. B" knallte sich den Hut auf den Kopf, als gelte es, einen Grundstein zu setzen. In der offenen Tür blieb er stehen und grinste mir zu. »Immer diese ganz Schlauen, Doc«, murmelte er. »Immer diese ganz Schlauen...«
2.77
John Dickson Carr
Das verschlossene Zimmer
Vielleicht haben Sie die Tatsachen in der Zeitung gelesen: Francis Seton wurde hinter seinem Schreibtisch am Boden liegend gefunden, dem Tode nahe durch einen kom» plizierten Schädelbruch. Er war mit einem bleigefüllten Besenstiel mehrmals über den Hinterkopf ge« schlagen worden. Sein Safe war beraubt worden. Die Leute, die ihn fanden, waren seine Sekretärin, Iris Lane, und sein Bibliothekar, Harold Mills; die beiden waren wie es im höflichen Sprachge' -brauch der Zeitungen heißt - hier» . zu von der Polizei befragt wor" den. Insoweit scheint es recht alltäglich. Nichts zeigt an, weshalb Superin" tendent Hadley von Scotland Yard wegen dieser Angelegenheit fast von Sinnen geriet und weshalb er 278
gegen zehn Uhr an einem straha lenden Junimorgen sich Dr. Gi" deons Fells Haus in Chelsea nä» herte und an der Tür läutete. Die Frühsommersonne verlieh den alten Häusern am Themseufer ganz eigene Reize; ein leicht dun» stiges Glitzern lag über dem Fluß und den blumenverzierten Ufergärten. Und oben, im sonnen" durchfluteten Studio mit den gro= ßen Fenstern, fand Hadley den ge= lehrten Doktor zigarrenrauchend mit der Lektüre eines Magazins beschäftigt. Dr. Fells mächtige Gestalt ragte aus dem übergroßen Sessel empor, der seinen eigenen Dimensionen annähernd entsprach. Sein rundes rosiges Gesicht strahlte ein freund" liches Begrüßungslächeln aus, wäh--» r
Das verschlossene Zimmer über den Rand seiner Brille entge= genblickte. Doch schon bei Had» leys ersten Worten zog ein beküm= merter Ausdruck die Ecken seines Schnurrbartes herab. »Seton ist wieder bei Bewußt« sein«, verkündete Hadley. »Ich habe eben mit ihm gesprochen.« Dr. Fell brummte. Widerstrebend legte er das Magazin aus der Hand. »Ah«, sagte er, »und Seton be= streitet natürlich die Geschichte, die seine Sekretärin und sein Bi= bliöthekar erzählen?« »Nein. Er bestätigt sie.« »In jeder Einzelheit?« »Ja, in jeder Einzelheit.« Dr. Fell blähte seine Wangen auf, blies einige dicke Wolken Zigar» renrauch in die Luft und blickte ihnen versonnen nach. Seine Baßstimme war gedämpft. »Wissen Sie, Hadley«/ brummte er, »das habe ich beinah erwar» tet.« »Ich nicht«, schnappte der Super= intendent. »Und ich akzeptiere es auch nicht ohne weiteres. Deshalb bin ich hier. Sie werden sich doch irgendeine Theorie über diesen unmöglichen Einbrecher gebildet haben, der einem Mann die Schä» deldecke einschlug und den Safe
plünderte und dann einfach in der Luft verschwand. Meine Theorie ist nach wie vor, daß Miss Lane und Harold Mills lügen. Wenn...« Er hielt inne und starrte, am Fen" ster stehend, auf die Straße hinab. Seine Handbewegung war so dringlich, daß Dr. Fell sich ächzend und mit einiger Mühe aus dem Sessel erhob und ans Fenster trat. Unten, auf dem gegenüberliegen» den Gehsteig, war ein nett und sommerlich gekleidetes Mädchen zu sehen, das nachdenklich zu den Fenstern heraufschaute. Als Dr. Fell den Vorhang beiseiteschob, wodurch er und der Superinten" dent sichtbar wurden, schien es, als blicke sie ihnen kühn in die Augen, Sie war das, was man einen sport° liehen Typ nennt, mit wohlgeform" ter, mittelschlanker Figur und em» stem, aber sehr sympathischem Gesicht. Ihr halblanges braunes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengefaßt. Ihr Teint zeigte eine angenehme Sonnenbräune. Sie war nicht auffallend hübsch, aber Gesundheit, Lebenskraft und offensichtliche Charakterstärke verliehen ihr einen weit größeren Reiz, als bloße Hübschheit dies vermocht hätte. 279
John Dickson Caxf »Iris Lane«, sagte Hadley mit ver= haltener Stimme. Dr. Fell war auf leicht zerstreute Art verwundert. Er hatte sich Francis Setons Sekretärin viel älter und ausgesprochen mäusisch vor= gestellt. Als Iris Lane die beiden Männer am Fenster sah, zeigte ihr aus» drucksvolles Gesicht eine ganze Skala von Gefühlen - zuerst Überraschung/ dann Enttäuschung, danach leichter Ärger und schließ» lieh sogar Furcht. Ihr rechtes Knie bewegte sich unter dem Rock, als wolle sie im nächsten Moment är= gerlich mit dem Fuß aufstampfen. Dr. Fell und Hadley dachten eine Sekunde lang, gleich werde sie kehrtmachen und davonlaufen. Doch dann schien sie einen Ent= Schluß zu fassen. Sie blickte schnell nach rechts und nach links und kam mit raschen, energischen Schritten quer über den Fahr= dämm auf das Haus zu. »Was soll denn das bedeuten —?« überlegte Hadley laut, alsderDok= tor ihn unterbrach. »Sie will mich sprechen, verlassen Sie sich darauf«, dröhnte er mit seinem ungeheuren Baß, »und ich bin froh, daß Ihr Anblick sie nicht doch noch verscheucht hat.« 280
Miss Lane bestätigte es wenige Augenblicke später. Trotz all ihrer Mühe, unbefangen und kühl zu wirken, kehrten ihre Augen im» mer wieder zu Hadley zurück, »Es scheint«, sagte sie und ver= suchte ein kleines Lächeln, »daß ich den Superintendenten gerade" zu verfolge. Oder er mich. Ich. weiß nicht, welches von beiden zu= trifft.« Hadley nickte. »Scheint mir auch so«, äußerte er unverbindlich, »Führt Sie etwas Besonderes her?« »Ja. Ich — ich wünsche Doktor Fell zu sprechen. Allein.« »Oh. Weshalb?« »Weil es meine letzte Hoffnung ist«, antwortete Iris Lane mit er» hobenem Kopf. »Weil es heißt, daß niemand, nicht einmal ein streunender Hund, von hier weg= geschickt wird.« »Nonsens!« brummte Dr. Fell, daß es klang wie ein ferner Don» ner; er war dennoch über diese Worte entzückt und versuchte seine Gefühle durch allerlei miß= billigende Geräusche und das An» bieten einer Erfrischung zu ka= schieren. Hadley glaubte zu er= kennen, daß der gelehrte Mann bereits halb am Haken zappelte, und wollte schier verzweifeln.
Das verschlossene Zimmer Doch es war unmöglich, Miss La= nes Aufrichtigkeit mit Argwohn anzusehen. »Es ist ganz einfach«, erklärte sie, kerzengerade auf einem Stuhl sit= zend, während ihre Finger den Verschluß ihres weißen Hand= täschchens abwechselnd öffneten und schlössen. »Harold Mills und ich waren mit Mr. Seton allein im Haus. Und in Mr. Setons Safe be= fanden sich dreitausend Pfund.« Dr. Fell runzelte fragend die Stirn, »So? Warum so viel bares Geld?« »Mr. Seton beabsichtigte zu ver= reisen«, sagte Iris Lane mit merk= lieber Anstrengung. »Er wollte nach Amerika, um ein Jahr in Ka= lifomien zu verbringen. Er traf seine Entscheidungen immer ganz plötzlich - geradeso.« Sie schnipps te mit den Fingern. »Wir hatten nicht die geringste Ahnung davon, Harold Mills und ich, bis er uns am Morgen jenes Tages mit der Neuigkeit überraschte. Zwei Bank= boten brachten das Geld. Mr. Se= ton legte es in ein Safe und er= zählte uns, weshalb er sich so viel bares Geld habe bringen lassen. Und das besagte gleichzeitig, daß wir unsere Stellungen los waren.« Und sie begann die ganze Ge= schichte zu erzählen.
Natürlich waren, das bekannte sie unumwunden, ihre Nerven an je» nem Abend überreizt. Das hing teils mit dem völlig unerwarteten Verlust ihrer Stellung zusammen, teils mit dem schwülen, gewitter= drohenden Wetter, das seit dem frühen Vormittag über dem alten Haus in Kensington gehangen hat= te, und teils auch mit Mr. Setons Persönlichkeit. Francis Seton war ein Bücher= Sammler. Als Iris sich seinerzeit auf ein Inserat hin bei ihm um die Stellung als Sekretärin bewarb, hatte sie erwartet, ein dürres, ver= staubtes Männlein mit dicken Bril= lengläsern zu finden. Statt dessen fand sie einen untersetzten, breit' schultrigen Mann mit graublon» dem Haar, rotem Gesicht und arg= losen blauen Augen. Seine Energie war ungeheuerlich. Er belebte das alte Haus wie ein Brummkreisel. Er hatte die Leidenschaft des ech= ten Sammlers; er war großzügig und konnte auch sehr rücksichts» voll sein, falls es ihm nicht gerade ungelegen kam. Aber er wirbelte völlig neue und keineswegs erfreuliche Dinge auf, als er an jenem drückend schwülen Vormittag Iris Lane und Harold Mills in sein Arbeitszimmer rief. 281
John Dickson Carr Sie hatten in dem großen Biblio" theksaal gearbeitet, der vor seinem Arbeitszimmer lag. Dieses Arbeits» zimmer, ebenfalls ein ziemlich gro° ßer Raum, war nur durch den Bi" bliotheksaal zu erreichen und hatte zwei Fenster, die auf einen verwilderten Hintergarten hinausgingen. Bibliotheksaal und Arbeitszimmer lagen im Obergeschoß des geräu° migen Privathauses. Als Iris Lane und Harold Mills das Arbeitszimmer betraten, stand Se° ton an seinem Schreibtisch in der Mitte des Raumes und entnahm einem Leinwandbeutel dicke Bank' notenbündel/ von denen ihm eins versehentlich in den Papierkorb fiel. »Hören Sie«, sagte er mit der um= werfenden Offenheit eines Kindes, »ich fahre nach Amerika. Auf min° destens ein Jahr.« Er schien sich insgeheim über die Art zu amüsieren, wie Iris Lane und Harold Mills bei dieser Eröff= nung zusammenzuckten. »Aber, Sir -«, wollte Harold Mills beginnen. »Krise!« rief Seton und wies auf die Schlagzeile einer Zeitung. »Krise!« rief er und wies auf die Schlagzeile einer zweiten Zeitung. »Diese ewigen Krisen machen mich 282
krank! Kalifornien ist der richtige Platz für mich! Orangenhaine und Ozeanbrisen - wenigstens steht es so in den Broschüren. Nebenbei bemerkt will ich den alten Bücher» narren Isaacson in Beverly Hills mit zwei Folianten vom Ende des fünfzehnten Jahrhunderts ver" rückt machen vor Neid.« Sein Ausdruck wurde bedauernd. »Ich muß Sie beide gehen lassen«, brummte er. »Würde Sie natürlich gerne mitnehmen. Kann es mir aber nicht leisten. Bedauerlich. Nichts dagegen zu machen. Werde Ihnen noch je ein Monatsgehalt auszahlen. Nein, verdammt - zwei Monatsgehälter! Wie gefällt Ihnen das?« Strahlend vor Erleichterung, daß er dies vom Herzen hatte, ließ er das Thema fallen. Er raffte die Banknotenbündel zusammen. Er bückte sich nach dem Bündel, das versehentlich in den Papierkorb geraten war - eine Übung, die sein Gesicht purpurrot anlaufen ließ. Dr. Woodhall, sein Arzt, hatte ihn wegen zu hohen Blutdrucks ge= warnt, aber er war wieder einmal ganz Tatkraft. Der kleine eiserne Safe stand rechts hinter dem Schreibtisch an der Wand. Seton öffnete ihn mit
Das verschlossene Zimmer einem Schlüssel, packte die Bank" notenbündel in eine grüne Geld» kassette, klappte den Kassetten» deckel zu und schloß den Safe wie» der ab. Iris hatte den Vorgang halb benommen und wie im Traum verfolgt. Vermutlich nicht nur wegen der drückenden Schwüle standen Schweißtropfen auf Harold Mills Stirn. »Und wann werden Sie abreisen, Sir?« fragte er. »Abreisen: Oh ...«, Seton über» legte, »übermorgen, denke ich.« »Übermorgen schon?« »Samstag«, erklärte Seton. »Im« mer ein guter Tag zum Antritt einer Seereise. Miss Lane, Sie er= ledigen das. Stellen Sie fest, wel» dies Schiff am Samstag nach New York abfährt und aus welchem Hafen, und lassen Sie eine Einzel« kabine für mich buchen.« »Aber Ihr Paß —«, wandte Iris ein. »Völlig in Ordnung«, entgegnete Seton kühl. »Habe die Gültigkeit verlängern lassen.« Das Wort, das Iris nun durch den Sinn schoß, war »Raub«. Sie konn" te nichts dafür. Es hing nicht mit dem vielen Geld zusammen, das sie eben gesehen hatte - ein An= blick, der manchen Menschen die
Finger jucken macht und phanta« stische Träume hervorruft, was al" les sich mit so vielem Geld anfangen ließe. Nein, damit hing es nicht zusam» men - wie sie übrigens später auch der Polizei erklärte. Es hing mit der bedrückenden Entscheidung zusammen, von der sie betroffen worden war. Noch gestern hatte sie sich völlig sicher gefühlt. Erst vor einer Woche war sie von einem vierzehntägigen Urlaub aus Corn« wall zurückgekehrt, wo es wenig anderes zu tun gab, als in einem zitronengelben Badeanzug auf dem gleichfalls zitronengelben Sand am Strand zu liegen oder den Kon" trast zwischen den warmen Son= nenstrahlen und dem frischen Salzwasser auf der immer brau» ner werdenden Haut zu spüren die Zukunft würde sich schon ganz von selber regeln. Und mehr. Da war ein nett aussehender Mann gewesen - nicht zu jung, nicht zu alt, sondern gerade in den richtigen Jahren -/ der an den Strand kam und Aquarellbil» der malte. So schlechte Bilder üb» rigens, daß Iris erleichtert war, als sie erfuhr, daß er von Beruf nicht Maler, sondern praktischer Arzt in London sei. 285
John Dickson Carr Zufällig entführte ein Windstoß eins seiner Aquarelle in ihre Nähe; sie fing es ein und brachte es ihm zurück. Dadurch kamen sie ins Gespräch, und bei diesem Gespräch ergab es sich, daß der Name des Mannes Charles Woodhall und der Mann selbst Francis Setons Arzt war. Dies berührte Iris; sie sah darin ein gutes Omen. Sie mochte diesen Dr. Woodhall. Er war min= destens so unterhaltsam wie Mr. Seton, aber ohne Setons unermüd= liehe Bravour - er wußte, wann es besser war, zu schweigen. Er pflegte auf einem Klappstühl= chen zu sitzen, bekleidet mit einer alten, bequemen Flanellhose, Ten= nisschuhen und einem leichten Hemd, und um immer wieder neue Skizzen von Iris zu machen. Dabei hing ihm stets eine Zigarette im Mundwinkel, und wenn ihm Rauch in die Augen kam, fing er an zu blinzeln, und wenn er blinzelte, verlängerten sich die Lachfältdien neben seinen Augen bis beinah hin zu seinen Schläfen, die schon ein bißchen grau wurden. Zwischen" durch erzählte er. Er erzählte glück» selig von allen möglichen Dingen auf Erden und am Himmel und im Meer. Und gegen Ende eines jeden Tages entschuldigte er sich. ganz 284
ernsthaft, daß die Skizzen wieder so schlecht gelungen seien. Aber Iris, obwohl sie insgeheim mit sei= nem Urteil übereinstimmte, sam= melte sie alle. Und so vergingen die Ferien. Sie würden sich in London wieder sehen. Und Iris hatte einen guten Job, zu dem sie zurückkehrte. Die ganze Zukunft sah erfreulich aus - bis Francis Seton an jenem Morgen alles zerstörte. Das Gewitter, das seit den Morgen' stunden in der Luft gehangen hat= te, brach am späten Nachmittag los. Es brachte wenig Erleichterung für Iris. Sie und Harold Mills setz= ten ihre Arbeit fort. Noch lange nach dem Dinner saßen sie arbei= tend beim gedämpften Licht ihrer Schreibtischlampen in der Biblio= thek, einem saalartig großen und sehr langen Raum mit bis zur Decke aufragenden Bücherregalen an den Wänden, reich ausgestattet und mit dicken Teppichen versehen wie jedes andere Zimmer im Haus, aber jetzt, nach dem schweren Gewitterregen, von unerträglich feuchtwarmer Luft erfüllt. Iris' Kopf schmerzte. Sie hatte zwei
Das verschlossene Zimmer Dutzend Briefe fortgeschickt und alle Detaills für Setons Reise ar= rangiert - Mr. Seton brauchte jetzt nur noch die Koffer zu packen. Zur Zeit saß er übrigens nebenan in seinem Arbeitszimmer und räumte seinen Schreibtisch auf. Die Tür zwischen den beiden Räumen war geschlossen. Harold Mills legte den Kugel» Schreiber beiseite. »Iris?« fragte er leise. »Ja?« Harold Mills blickte zu der ge= schlossenen Verbindungstür und räusperte sich. »Ich möchte Sie etwas fragen, Iris«, raunte er. »Bitte.« Sie war verwundert über seinen Ton. Er saß an seinem eigenen Schreibtisch, etwa vier oder fünf Schritte von dem ihren entfernt, mit der abgeschirmten Schreibtisch' lampe neben sich. Das Licht der Lampe fiel auf sein glattes fahl= blondes, straff an den Kopf gebür= stetes Haar und sein wachsbleiches Gesicht mit dem altmodischen, ir= gendwie lächerlich wirkenden Knei= fer. Da er recht jung war, meinte er wohl, durch den Kneifer gesetzt und verläßlich auszusehen. Die nächsten Worte brachte er,
nach einem abermaligen Blick auf die Verbindungstür/ mit beinah gehetzter, seltsam heiserer Stimme heraus: »Was ich fragen möchte, ist - geht es Ihnen leidlich? Finan» ziell, meine ich?« »Oh, gewiß.« Natürlich stimmte das nicht ganz. Aber sie war im Moment durchaus nicht geneigt, sich in eine Erörte= rung ihrer wirtschaftlichen Lage nach dem Verlust ihrer Stellung einzulassen. Sie dachte an etwas ganz anderes. Dr. Woodhall hatte versprochen, im Lauf des Abends hereinzukommen, um nach Seton zu sehen. Es war jetzt schon bei= nah elf Uhr. Seton, der darauf schwor, daß seine ungeheure Vita= lität ausschließlich auf die strikte Einhaltung seiner Gewohnheiten zurückzuführen sei, war in allen diesen Dingen präzise wie die se= kundengenaue Uhr auf dem Ka= minsims. Schlag elf würde er die letzte der zehn Zigaretten anzün= den, die ihm am Tag erlaubt waren, den einen Whiskysoda trinken, den er sich allabendlich gönnte, und auf die Minute genau um halb zwölf im Bett liegen. Wenn Dr. Woodhall sich nicht beeilte ... Iris' Kopfschmerzen hatten sich verstärkt. Mills redete weiter, aber
John Dickson Carr sie hörte es nicht/bis ihr mit einemmal die Unhöflichkeit ihres Ver= haltens bewußt wurde. »Oh, entschuldigen Sie. Ich fürchte, ich habe nicht verstanden, was Sie da eben sagten -« »Ich sagte«, wiederholte Mills, jetzt übrigens mit seiner normalen Stimme, »daß es mir aus mehr als einem Grund leid tut, daß wir unsere Stellungen verlieren.« »Mir auch, Harold. Das dürfen Sie glauben.« »Wahrscheinlich verstehen Sie es doch nicht ganz. Meine Tätigkeit ist von recht spezieller Art. Es wird mir nicht leicht sein, einen neuen Posten zu finden.« Eine sanfte Röte stieg in seinen Wan= gen empor. »Doch das ist es nicht, was ich eigentlich meine. Ich be° klage mich nicht. Es ist sehr anständig von Mr. Seton, uns mit zwei Monatsgehältern abzufinden. Aber ich hatte insgeheim gehofft, den Job bei Mr. Seton mehr oder weniger für immer zu behalten. Hätte es sich so entwickelt, dann wollte ich etwas ganz Bestimmtes tun.« »Was denn?« »Ich wollte Sie bitten, mich zu hei» raten«, sagte Mills. Tiefe Stille folgte. 286
Iris starrte ihn an. Nie hatte sie an Mills einen persönlichen Gedan» ken verschwendet, an den Mann, der nun linkisch und schüchtern dasaß und vor lauter Verlegenheit mit den Fingerknöcheln knackte. Sein Gesicht zeigte, daß er dies wußte. »Bitte, sagen Sie nichts.« Er stand auf. »Ich möchte nicht, daß Sie sich verpflichtet fühlen, jetzt irgend etwas zu sagen.« Er begann mit kleinen, kurzen Schrit» ten hin und her zu gehen. »Ich gebe zu, daß ich bisher so gut wie nichts erkennen ließ.« »Sie haben niemals die geringste Andeutung —« Er gestikulierte. »Ja, ich weiß. Das ist nicht meine Art. Ich kann so etwas nicht. Ich wünschte, ich könnte es.« Er blieb stehen. »Aber dieser Doktor Woodhall, zum Bei» spiel •-« »Was ist mit Doktor Woodhall?« Mills fand keine Gelegenheit, es zu sagen. Denn nun folgte der Moment, da sie, sehr deutlich, das Geräusch im Arbeitszimmer vernahmen. Als sie es später zu beschreiben versuchten, waren weder Iris Lane noch Harold Mills imstande, genau zu sagen, ob es sich um einen un" terdrückten Schrei oder ein Stöh"
Das verschlossene Zimmer nen oder den Anfang eines jähen Wortwechsels gehandelt hatte. Es konnte dies oder das oder jenes oder sogar eine Kombination aller drei Möglichkeiten gewesen sein. Dann folgten einige Verhältnis" mäßig sanfte Geräusche, etwa so, als werde ein Stück Fleisch zurecht« geklopft. Hiernach war nichts wei» ter zu hören als das Rieseln des nachlassenden Regens ... Das war die Geschichte, die Iris Lane in Dr. Fells Studio erzählte. Beide, Dr. Fell und Superintendent Hadley, lauschten mit gespannter Aufmerksamkeit, obwohl sie die Geschichte bereits mehrmals ge= hört hatten - Hadley direkt von Iris Lane, und Dr. Fell auf dem Umweg über Hadley. »Wir wußten nicht, was passiert sein mochte«, fuhr Iris fort. »Wir riefen Mr. Seton beim Namen, aber er antwortete nicht. Harold Mills versuchte die Tür zu öffnen, doch vergeblich.« »War sie verschlossen?« »Nein, verklemmt. Die regen« feuchte Luft hatte das Holz aufquellen lassen. Harold Mills versuchte es mehrmals auf normale Art, aber sie ging erst auf, als er einen Anlauf nahm und sich mit der Schulter dagegen warf.«
»Und dann?« »Dann gingen wir natürlich hin« ein. Im Arbeitszimmer war nie» mand außer Mr. Seton. Das weiß ich genau, denn ich hatte gefürch« tet, wir würden noch jemand an» ders sehen. Das Zimmer war hell erleuchtet. Der große bronzene Kronleuchter war voll eingeschala tet. Selbst hinter der halboffenen Tür des kleinen Alkovens, der als Waschraum dient, brannte Licht. Praktisch war alles auf den ersten Blick zu übersehen. Niemand konn° te sich irgendwo versteckt haben.« Sie hielt inne, um die Szene vor ihren geistigen Augen wiederer" stehen zu lassen. Francis Seton lag jenseits des Schreibtisches, zwischen dem Schreibtisch und den Fenstern. Er war bewußtlos; aus seinen Nasen« löchern sickerte Blut. Seine Zigarette auf der Kante des Schreibtischs versengte unter bei» ßendem Geruch das polierte Ma» hagonieholz. Der Schreibtischstuhl und das kleine Ablegetischchen neben dem Schreibtisch waren um» gekippt. Ein Fleck auf dem dicken grauen Teppich zeigte an, wohin Setons Glas gefallen war, zusam" men mit einer verkorkten, unver» sehrt gebliebenen Whiskyflasche 287
John Dickson Carr und einem großen, mit Metalldräh= ten umwirkten Sodawassersiphon. Seton stöhnte. Als sie ihn herum» drehten, fand Harold Mills die Waffe. »Es war ein Stück von einem aus» gehöhlten und mit Blei gefüllten Besenstiel«/ sagte Iris; sie sah die= ses fatale Ding noch immer ganz deutlich vor sich. »Es war nicht viel länger als meine ausgestreckte Hand, wog aber mindestens ein Pfund oder mehr. Harold Mills, der ursprünglich angefangen hatte, Medizin zu studieren, betastete vorsichtig Mr. Setons Kopf. Dann sagte er bestürzt, ich solle lieber eilen und einen richtigen Arzt her= beirufen. Ich war gegen die Fenster zurück" gewichen - dessen erinnere ich \rnich genau. Die Vorhänge waren nicht-ganz zusammengezogen. Ich wollte dahinterschauen, weil ich fürchtete, vielleicht wäre dort je= mand verborgen. Wir schoben also die Vorhänge ganz zurück. Und dann sahen wir das obere Ende der Leiter. Sie war vom Garten aus gegen das Sims des rechten Fen= sters gelehnt. Und ich bemerkte noch etwas, das ich immer wieder beschwören werde, bis Sie es mir glauben. Doch lassen wir im Au» 288
genblick außer acht, was dies war. Ich lief hinaus, um Doktor Wood= hall anzurufen, aber ich brauchte nicht zu telefonieren. Ich traf ihn, als er von der Eingangshalle her die Treppe heraufkam.« Es gab verschiedene Dinge, die sie hier nicht erzählte. Sie sagte nicht, wie ermutigend es für sie war, Dr. Woodhalls klu= ges, humorvolles Gesicht zu sehen, das ihr unter der Krempe eines durchnäßten Hutes entgegenlächel» te. Dr. Woodhall trug einen trie» f endnassen Regenmantel mit hoch= gestelltem Kragen und hatte sein schwarzes Köfferchen in der Hand. »Ich wußte zuerst nicht, wie er hereingekommen war«, fuhr Iris fort. »Mr. Seton hatte dem Dienst» mädchen und der Köchin erlaubt, nach dem Dinner zu irgendeiner Veranstaltung zu gehen, von der sie erst kurz vor Mitternacht heim= kehrten. Aber die Haustür war nicht abgeschlossen gewesen, wie mir Doktor Woodhall später er= zählte. Im Augenblick allerdings sagte er: >Hallo, stimmt irgend et= was nicht?< Ich glaube, ich antwor= tete:>KommenSie nur ganz schnell herauf. Etwas Schreckliches ist pas= siert.< Er erwiderte nichts, sondern
Das verschlossene Zimmer eilte an mir vorbei die Treppe hin= auf und durch die Bibliothek ins Arbeitszimmer. Ich folgte ihm auf den Fersen. Nachdem er Mr. Seton untersucht hatte, erklärte er, es handle sich um einen mehrfachen Schädelbruch, hervorgerufen durch einige wuchtige Schläge. Ich fragte, ob ich nach einer Ambulanz tele» fonieren solle. Aber er sagte, Mr. Seton dürfe nicht viel bewegt wer= den und wir müßten sehen, daß wir ihn hier im Haus in sein eige= nes Bett schafften. Als wir ihn zu seinem Schlafzim» mer trugen, fielen ihm einige Sa= chen aus den Taschen. Der Schlüs= sei zum Safe, den er stets an der anderen Seite seiner Uhrkette trug, war nicht vorhanden. Den Rest kennen Sie. Der Safe war beraubt worden. Nicht nur das Geld fehlte, sondern auch die bei» den wertvollen Folianten, mit de= nen er jenen alten Büchersammler in Beverly Hills neidisch machen wollte. Anscheinend ein ganz kla= rer Fall - die Leiter vor dem einen Fenster, verregnete Fußspuren in dem Blumenbeet am unteren Ende der Leiter. Ein Einbruch. Es mußte ein Einbruch gewesen sein. Nur-«, Iris hielt inne und räusperte sich, »nur, daß merkwürdigerweise beide
Fenster von innen verriegelt wa= ren.« Dr. Fell brummte. Irgend etwas an dieser Geschichte interessierte ihn sehr. Er hob den Kopf und wechselte einen Blick mit Superintendent Hadley. »Beide Fenster«, knurrte er, »wa= ren also von innen verriegelt. Des» sen sind Sie sicher - eh?« »Absolut.« »Sie könnten sich nicht geirrt ha° ben?« »Ich wünschte nur, es wäre so«, sagte Iris hilflos. »Und Sie wissen ja, was man bei Scotland Yard denkt. Man denkt, Harold Mills und ich hätten Mr. Seton über» fallen und ihm den Schädel ein= geschlagen . . . Es ist so furcht' bar einfach, diese Vorstellung. Harold Mills und ich waren mit Mr. Seton allein im Haus. Wir saßen vor der einzigen Tür zu seinem Arbeitszimmer. Beide Fenster des Arbeitszimmers waren von innen verriegelt. Abgesehen von der Leiter vor einem dieser Fenster gab es keinerlei Anzeichen für einen möglichen Eindringling, und wie hätte ein Eindringling durch diese Fenster entkommen sollen, die sich nur von innen ver= riegeln lassen? Nun, demnach 289
John Dickson Carr konnte es einfach niemand anders gewesen sein als wir beide. Nur waren wir es nicht. Mehr kann ich nicht sagen.« Dr. Fell machte die Augen auf. »Aber, meine werte junge Lady«, widersprach er und pustete dabei Funken aus seiner Zigarre wie ein kleiner Vulkan, »was immer man bei Scotland Yard von Ihnen den= ken mag — ich nehme an, man glaubt nicht, daß Sie verrückt spie= len? Gesetzt den Fall, Sie und Mills hätten diesen Einbruch vor» getäuscht? Gesetzt den Fall, Sie beide hätten die Leiter unter das Fenster gestellt? Würden Sie und Mills dann beschwören wollen, die Fenster seien von innen verriegelt gewesen? Wenn Sie dies täten, würden Sie nur beweisen, daß der andere Teil Ihrer Geschichte nicht wahr sein kann.« »Ich sagte vorhin«, entgegnete Iris mit fester Stimme, »daß ich etwas bemerkt habe, was ich immer wie» der beschwören würde, bis Sie es mir glauben. Und dieses Etwas war -« »Einen Moment bitte«, unterbrach Superintendent Hadley; er war ge= schlagen und wußte es, aber er war fair. »Ich will offen zu Ihnen sein, Miss Lane«, fuhr er fort. »Kurz 290
bevor Sie kamen, erzählte iADok« tor Fell, daß Mr. Seton wieder bei Bewußtsein ist. Er hat zu mir ge° sprechen. Und -« »Und?« »Mr. Seton bestätigt Ihre Ge" schichte in jeder Einzelheit«, sagte Hadley. »Er hat Sie und Harold Mills von jeglichem Verdacht be= freit, in das Verbrechen verwickelt zu sein.« Iris schwieg; ihr Gesicht wurde bleich unter der sonnengebräunten Haut. »Er sagt«, fügte Hadley nach kur= zem Schweigen hinzu, »daß er an seinem Schreibtisch saß, mit dem Gesicht zur Verbindungstür. Er schwört, daß er Sie und Mills in der Bibliothek miteinander reden hörte, obwohl er nicht verstand, was Sie redeten. Er bestätigt, daß die Fenster von innen verriegelt waren - er selbst hatte sie kurz zuvor verriegelt. Einige Minuten nach Elf glaubte er das Geräusch eines Schrittes hinter sich zu hören - eines verstohlenen Schrittes, wie er sagt. Gerade als er sich erheben wollte, traf ihn ein richtiger Schlag über den Schädel, und das war das letzte, dessen er sich erinnert. Demnach scheint es, daß Sie uns die Wahrheit gesagt haben.«
Das verschlossene Ammer »Hummff«, machte Dr. Fell. »Die Zeit ist bald vorbei«, warnte Iris starrte Hadley an. »Dann wer» Dr. Charles Woodhall, der neben de ich also nicht - werden Sie midi dem Bett stand. Die Finger seiner also nicht verhaften?« Rechten lagen an Setons Handge» »Nein, ich werde Sie nicht verhaf= lenk, aber Seton zog die Hand zu» ten«, schnappte der Superinten= rück. dent. »Tut mir leid, sagen zu müs» Hadley war geduldig. »Was ich sen, daß ich nicht sehe, wie ich noch wissen möchte, Mr. Seton/ ist überhaupt irgendwen verhaften folgendes — wann verriegelten Sie kann. Die Fenster waren von innen die beiden Fenster?« verriegelt. Die einzige Tür war be= »Sagte ich Ihnen bereits«, knurrte wacht. Niemand war im Arbeitszim= Seton. »Ungefähr zehn Minuten mer versteckt. Und doch muß, nach bevor dieser Bursche heranschlich Setons eigener Aussage, irgend je» und mich niederschlug.« mand eingedrungen sein und ihn »Aber Sie konnten keinen Blick niedergeschlagenhaben. .. Enver= auf die Person werfen, die Sie nie" flixtes Rätsel, das uns da irgend« derschlug?« wer eingebrockt hat! Ein dreimal »Nein, leider. Sonst würde ich —« verflixtes Rätsel! Und wenn Sie »Ja. Doch weshalb verriegelten Sie mir nicht glauben, kommen Sie mit die Fenster?« und sprechen Sie selbst mit Seton.« »Weil ich die Leiter vor dem redi° ten Fenster entdeckte. Konnte doch Francis Seton lebte - und starb nicht einfach Einbrecher hereinlas» beinah-mit einem gewissen Pomp. sen, nicht wahr?« Sein Schlafzimmer war im schwe- »Sie versuchten nicht herauszufin" ren, dunklen, verschnörkelten Stil den, wer die Leiter dort angelegt des Zweiten Französischen Kaiser" hatte?« reidis gehalten, mit einem gewal' »Nein, dazu hatte ich keine Zeit.« tigen Himmelbett als beherrschen' »Dennoch waren Sie ein bißchen dem Möbelstück. Er lag mit Kopf nervös?« und Schultern auf einem Berg von Während der vorangegangenen Kissen, und sein rotes, rundes Ge= Unterhaltung hatte Iris manchmal sieht glühte aus einer Art Ritter» den Eindruck gehabt, daß Seton heim von Bandagen hervor. wären nicht seine Verletzungen 291
John Dickson Carr gewesen - sich am liebsten auf die Seite gerollt, sein Gesicht in den Kissen versteckt und vor Unge= duld gestöhnt hätte. Aber die letzte Frage entfachte seinen Zorn. »Wer sagt, daß ich nervös war? Nervös! Ich, und nervös! Ich werde niemals nervös! Ich habe keine Nerven im Leib!« Er wandte sich an Dr.Woodhall undHarold Mills. »Habe ich welche?« »Sie haben eine außergewöhnlich starke Konstitution«, entgegnete Dr. Woodhall liebenswürdig. Seton schien eine Ausflucht zu wit° tern. Seine blutunterlaufenen Au= gen wanderten, ohne daß er dabei den Kopf bewegte, von Woodhall zu Mills, kehrten dann aber wie= der zu Hadley zurück. »Nun? Sonst noch etwas, das Sie wissen wollen?« »Nur noch eine Frage, Mr. Seton. Sind Sie absolut sicher, daß nie» mand im Arbeitszimmer oder im Alkoven verborgen war, ehe Sie überfallen wurden?« »Absolut sicher.« »Dann wäre es alles, Sir. Niemand verborgen, weder vorher noch nach= her. Fenster verriegelt, vorher und nachher. Ich glaube nicht an Gei= ster, und deshalb ist die Sache un= möglich.« Hadley sprach sehr ru= 292
hig. »Entschuldigen Sie, Mr. Seton, aber sind Sie sicher, daß Sie wirk» lieh überfallen wurden?« »Und entschuldigen Sie mich«, un» terbrach eine neue Stimme, droh" nend und doch irgendwie entschula digend. Dr. Fell, dessen Gegenwart nur um ein geringes weniger auffal= lend war, als die eines mittelgroßen Fesselballons, hatte seinen unbe= schreiblich verbogenen Filzhut nicht abgenommen — ein Verstoß gegen gute Sitten, der ihm normalerweise nicht unterlaufen wäre. Aber sein Wiederauftreten erfolgte mit einer Vehemenz, die unwillkürlich an den Reitenden Boten des Königs in einer Opernpersiflage denken ließ. Iris Lane konnte sich nicht er° innern, ihn während der letzten acht oder zehn Minuten gesehen zu haben. Er kam durch die offene Tür hereingestapft, in der einen Hand seinen Krückstock, in der anderen einen mit Zeitungspapier umwickelten Gegenstand. »Sir«, begann er, an Francis Setoa gewandt, »ich würde es sehr be= dauern, wenn mein Freund Hadley Sie mit seiner letzten Frage an den Rand eines Schlaganfalls gebracht haben sollte. Daher ist es nur fair, Ihnen mit aller Bestimmtheit zu
Das verschlossene Zimmer bestätigen, daß Sie überfallen wur» den und wuchtige Schläge auf den Kopf erhielten - und zwar von einer hier im Zimmer anwesenden Person. Im übrigen bin ich erfreut darüber, daß die Polizei Ihr Ar= beitszimmer seit jenem Abend ver= schlössen gehalten hat.« Tiefe Stille entstand. Dr. Fell entnahm dem Zeitungs» papier einen Sodawassersiphon und setzte ihn mit einigem Nach= druck auf den Tisch in der Mitte des Zimmers. Es war ein großer, rings mit Metallfäden umwirkter Siphon. Und Dr. Fell trat einen Schritt zu= rück. »Verwünscht, Hadley«, brummte er, »warum haben Sie mir nichts von diesem Siphon erzählt? Zehn Tage in einem geistigen Abgrund, und alles nur, weil Sie mir nichts von diesem Siphon erzählten! Da mußte erst eine junge Lady kom= men und ihn erwähnen!« »Aber ich habe Ihnen von einem Siphon erzählt«, widersprach Had= ley. »Ein dutzendmal habe ich Ihnen davon erzählt!« »Nein, nein, nein«, beharrte Dr. Fell. »Sie sagten ein Siphon. Ein Siphon ist für mich eben nichts als einer jener ganz gewöhnlichen
gläsernen Siphons, unabdingbares Attribut aller englischen Kneipen. Sie sagten nicht, daß es sich um diese besondere Art von Siphon handle.« »Aber was, zum Kuckuck, hat der Siphon überhaupt mit der Sache zu tun?« fragte Hadley. »Mr. Seton wurde nicht mit einem Siphon be= wußtlos geschlagen.« »O doch, das wurde erl« verkün= dete Dr. Fell. Es war plötzlich so sttll, daß man eine Fliege vor einem der offenen Fenster summen hörte. »Sehen Sie«, fuhr Dr. Fell emst= haft und eifrig fort, »die gewöhn» liehen Siphons bestehen aus ein= fächern Glas. Sie sind weder mit solchen über Kreuz gelegten Me» tallfäden umwirkt, noch haben sie solch ein pompös vernickeltes Kopf= teil, das sich abschrauben läßt. Mit anderen Worten - dieses hier ist ein sogenannter Heimsiphon, den man selbst mit klarem Wasser fül= len kann. Die erforderliche Koh° lensäure wird dem Wasser dann aus einer kleinen Metallkapsel zu= geführt, die Sie hier oben im Kopfs teil des Apparates sehen.« Erleuchtung zeigte sich auf Hads leys Zügen. »Ah!« schnaufte Dr. Fell. »Jetzt 295
John Dickson Carr daß die Mickey Firn genannte Be» täubungsdroge bei dem Opfer ge= nau dieselben Empfindungen her= vorruft wie ein heftiger Schlag über den Kopf - den vehementen Schmerz, das Dröhnen in den Oh" ren, die beinah sofortige Bewußt" losigkeit. Mills hatte an jenem Tag ein Dut" zend Gelegenheiten, die Droge in den Heimsiphon zu manipulie" ren. Er wußte, genauso wie Sie es wußten, Miss Lane, daß Mr. Se= ton seinen Whiskysoda, den ein" zigen des Tages, kurz nach elf Uhr abends trinken würde. Das Geld und die beiden wertvollen Folian» ten hatte er sich bereits aus dem Safe geholt, als Mr. Seton sein Nachmittagsschläfchen hielt. Die Leiter, die der Sache den Anschein verleihen sollte, als sei ein Ein= bredier am Werk gewesen, lehnte er kurz nach zehn Uhr abends un" ter das zu dieser Zeit noch offene Fenster, als er angeblich zum Hän° Dr. Fell lachte still in sich hinein, dewaschen hinuntergegangen war. als er wieder in seinem Studio saß. Dabei vergaß er übrigens die »Und Sie sehen immer noch nicht Haustür abzusperren, die Sie, Doktor Woodhall, nachher unver» klar?« fragte er. schlössen fanden. Dann brauchte »Doch«, erklärte Dr. Woodhall. er nur noch zu warten, daß es elf »Nein«, rief Iris Lane. »Der ganze Trick«, fuhr Dr. Fell Uhr würde. fort, »beruht auf der Tatsache, Kurz nach elf Uhr trank Mr. Seton
haben Sie es, Hadley - nicht wahr? Die Polizei wird routinemäßig den Restinhalt jedes Glases, jeder Fla» sehe, jeder Karaffe analysieren, die sie am Tatort findet. Einem Siphon jedoch wird sie kaum einen zweiten Gedanken schen= ken, weil am Inhalt eines norma« len Sodawassersiphons einfach nicht herummanipuliert werden kann. Am Inhalt dieses Siphons aber konnte herummanipuliert werden!« Dr. Fell ging zu dem Tischchen neben dem Bett, nahm ein dort stehendes Wasserglas, brachte es zu dem anderen Tisch, spritzte Sodawasser aus dem Siphon hin= ein, hob das Glas an seinen Mund und berührte den Inhalt vorsieh» tig mit der Zungenspitze. »Ich denke, Mr. Harold Mills«, sagte er, »Sie sollten sich lieber selbst stellen, wegen Diebstahls und versuchten Mordes.«
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Das verschlossene Zimmer
den präparierten Whiskysoda, verspürte jenen furchtbaren Kopf= schmerz, den er für einen Schlag über den Schädel hielt, stieß einen unterdrückten Schrei aus, wollte von seinem Sessel aufspringen, stürzte aber zu Boden und riß da= bei verschiedene Gegenstände mit. Da die Wirkung der Droge auf einem jähen Blutandrang zum Kopf beruht, führt sie bei einem Mann, der sowieso an zu hohem Blut" druck leidet, fast unweigerlich zu Nasenbluten, was der Sache einen realistischen Anstrich verlieh.« Dr. Fell hielt inne, um seine erlo° schene Zigarre wieder anzuzün" den. Dann blickte er zu Iris. »Mills tat nur so, als wäre die Tür verklemmt. In Wirklichkeit war sie es nicht. Durch dieses Manö= ver wollte er dem angeblichen Einbrecher Zeit verschaffen, den Safe zu plündern und zu ver= schwinden. Schließlich bekam er die Tür auf und lief mit Ihnen hin° ein. Als er Mr. Seton herumdrehte, ließ er das bleigefüllte Stück Be= senstiel aus seinem Ärmel gleiten, schob es mit dem Fuß unter Se= tons Körper und lenkte dann durch dramatische Gesten Ihre Aufmerksamkeit auf diesen Ge» genstand.
Danach befühlte er, wie Sie sich erinnern, Mr. Setons Kopf, heu» chelte Entsetzen und schickte Sie fort, um einen Arzt herbeizurue fen. Dies gab ihm Gelegenheit, für einige Minuten allein im Arbeits" zimmer zu sein und -« »Sie meinen«, unterbrach Iris, »daß er diese Gelegenheit be« nutzte, um -«, sie machte einige heftige Armbewegungen. »Ja«, bestätigte Dr. Fell. »Diese Gelegenheit benutzte er zu meh= reren wuchtigen Schlägen auf den Kopf des bewußtlosen Mannes und zu einigen anderen Dingen. Zum Beispiel nahm er den Safe» Schlüssel von Mr. Setons Uhr= kette. Ferner spülte er - für den wahrscheinlichen Fall, daß die Po= lizei sich damit befassen würde das heruntergefallene Whiskyglas im Waschraum sorgfältig ab und goß aus der unversehrt gebliebe» nen Flasche einige Tropfen härm« losen Whisky hinein. Aber er fand keine Zeit mehr, den Inhalt des Siphons zu erneuern, ehe Sie mit Doktor Woodhall ins Arbeitszim» mer zurückkehrten. Er ließ also den Siphon unberührt und sagte sich - nicht ganz zu Unrecht, wie wir wissen, daß ein Sodawasser» siphon wohl kaum das Interesse a.95
John Dickson Cass der Polizei erregen würde. Ein Taschentuch um seine Hand ver» hütete Fingerabdrücke. Aber ein unvorhersehbares Mißgeschick machte ihm einen Strich durch die schlaue Rechnung.« Dr. Woodhall nickte. »Sie meinen den Umstand«, sagte er, »daß Seton die Leiter bemerkte und daraufhin die Fenster verrie= gelte?« »Ja. Und der unselige Mr. Mills entdeckte die verriegelten Fenster erst, als es zu spät war. Miss Lane hingegen ist, wie Sie bemerkt ha= ben dürften, eine sehr umsichtige junge Lady. Sie schaute zu den Fenstern. Sie wußte, daß die Fen= ster von innen verriegelt waren. Sie war bereit, dies vor jedem Ge= rieht zu beschwören. So mußte Mills - ein schwacher, wankelmü= tiger Mensch, der höchstens dann Entschlossenheit zeigt, wenn es um das Aneignen fremden Eigen= tums geht - stillhalten und ab= warten, wie sich die Dinge ent= wickeln würden. Er konnte nicht einmal mehr an jenen verräteri= sehen Siphon gelangen, da die Po= lizei das Arbeitszimmer unter Verschluß hielt. Dennoch hatte er zunächst ein bißchen Glück. Natürlich hat 296
Francis Seton unmittelbar vor dem Überfall niemals das Geräusch eines verstohlenen Schrittes hin» ter sich gehört. Davon kann sich jeder durch einen Blick auf den dicken Teppich des Arbeitszim» mers überzeugen. Ich habe mich manchmal gefragt, ob der gute Mr. Seton in diesem Punkt viel' leicht vorsätzlich geschwindelt hat. Aber unsere kleine Unterhaltung mit ihm zeigte den wahren Grund. Seine vielgerühmte Vitalität wird diesen Mann noch umbringen sie hat ihn in einen Nervenzu» stand versetzt, der ein Jahr Erho= lung in Kalifornien wirklich wün= sehenswert macht. Sobald er die Leiter vor dem Fenster entdeckte und an Einbrecher zu denken be= gann, war er bereit, sich alles ein» zubilden.« Iris blickte aus den Augenwinkeln zu Dr. Woodhall. Woodhall, die unvermeidliche Zigarette zwischen den Lippen, sah sie an. »Ich - ich bringe es nicht eben gern zur Sprache«, sagte Iris. »Aber -« »Mills Vorschlag?« fragte Dr. FeM. liebenswürdig. »Nun, ja.« »Meine liebe junge Lady«, erklärte Dr. Fell mit ähnlich zarter Rucks
Das verschlossene Zimmer sichtnahme, wie sie eine Ladung mehr oder weniger unkritische Ziegelsteine entwickelt, die unver= Stimmung versetzt, die ihm gütige sehens durch ein Oberlichtfenster Nachsicht verschafft, falls ihm gepoltert kommt, »da erwähnen dann doch noch ein Fehler unter» Sie den einzigen Punkt, bei dem läuft. Aber können Sie wirklich Mills wirklich Geschmack bewies. sagen, es täte Ihnen leid, daß man Scharfblick. Raffinement. Ganz Harold Mills in der Grünen Minna nebenher dürfte er allerdings auch fortbrachte?« gemeint haben, daß ein Verbre» Aber Iris und Dr. Woodhall hör= eher, der Heiratsvorschläge macht, ten schon gar nicht mehr auf Dr. die betreffende Lady in eine milde, Fells Worte...
Copyright -Vermerke Rex Stout, Help Wanled, Male Copyright 1946 by Rex Stout, reprinted by pennission of the author John Dickson Carr, The Locked Room Copyright 1945 by The Anierican Mercury, Inc., reprinted by permission of A.« author George Harmon Coxe, Death Certificate Copyright 1947 by George Harmon Coxe, reprinted by permission of Brandt & Brandt Leslie Charteris, The Green Goods Man from the book »The Brighter Buccaneer«, Copyright 1953 by Leslie Charteris, renewed, reprinted by pennission of the author Anthony Boucher, A Matter of Sdiolarship Copyright 1955 by Anthony Boudier, reprinted by permission of Willis Kingslay Wtog Charlotte Armstrong, The Hedge Between Copyright 1955 by Charlotte Armstrong, included in the book »The Albatros« (Coward-McCann, Inc.), reprinted by permission of Brandt & Brandt Thomas Waish, The Night Calhoun Was Off Duty Copyright 1958 by Thomas Waish, reprinted by permission of Littauer & Wilkinson Jack London, The Master of Mystery Copyright 1902 by The Macmillan Company, renewed by Charmian K. London, reprinted by permission of Irving Shepard Hugh Pentecost, Murder Plays Through Copyright 1952 by Judson Philips, reprinted by permission of Brandt & Brandt MacKinlay Kantor, Sparrow Cop Copyright 1955 by MacKinlay Kantor, Copyright © renewed 1961 by MacKinlay Kantor, reprinted by permission of The Worid Publishing Company Rufus King, The Y-Shaped Scar Copyright 1959,1940,1941 by Rufus King, reprinted by permission of Rogers Terrill Literary Agency John D. MacDonald, I Always Get the Cuties Copyright 1954 by Mercury Publications, Inc., reprinted by permission of the author and Littauer & Wilkinson Ellery Queen, The Three Widows Copyright 1950 by Ellery Queen, reprinted by permission of the author
In gleicher Ausstattung wie der vorliegende Band erschien in der Reihe HEYNE-ANTHOLOGIEN:
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SCIENCE F1CTION STOR1ES
THE BEST FROM FANTASY AND SCIENCE F1CTION, Anthony Bouchers große Science Fiction Anthologie, hier erstmals in deutscher Sprache. Die besten Stories aus dem führenden amerikanischen SF Magazin „The Magazin of Fantasy and Science Fiction" l C. M. Kornblut Frederik Pohl Alfred Bester Theodore Sturgeon Arthur Porges Chad Oliver und Charles Beaumont Arthur C. Clarke IsaacAsimov Richard Matheson Ray Bradbury Robert Sheckley Charles Beaumont Daniel F. Galouye Ron Smith Paul Andersen Jay Williams Will Stanton P.M.Hubbard Robert Abernathy C. S. Lewis
Bestseller Die Volkszähler Geliebtes Fahrenheit Es folgen die Nachrichten
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Das letzte Wort Seine Majestät der König Mondglocken Modell zum überleben Icarus Montgolfier Wright Der Kontorist Unsichtbar Zuflucht Das stört mich nicht Der Mann, der zu früh kam Das Gesetz der Asa Das Geburtstagsgeschenk Sehnsucht Die rechtmäßigen Erben Trugwelt
304 Seiten, DM 4.80 Erhältlich überall im Buchhandel und Bahnhofsbuchhandel
WILHELM HEYNE V E R L A G , MÜNCHEN 2