Martin Eisele/Hans Sommer
Highlander Die Rückkehr des Unsterblichen
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Martin Eisele/Hans Sommer
Highlander Die Rückkehr des Unsterblichen
Das Buch »Highlander Die Rückkehr des Unsterblichen« entstand auf Grundlage zweier Drehbücher von Dan Jordon und Robert McCullough zu der 22teiligen Fernsehserie »Highlander«, produziert von Gaumont Television, Paris, in Zusammenarbeit mit RTL Television.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Eisele, Martin:
Highlander: die Rückkehr des Unsterblichen/Martin Eisele; Hans Sommer. - 1. Aufl. - Köln : vgs, 1994 ISBN 3-8025-2260-5 NE: Sommer, Hans:
© RTL/Marketing/Vertrieb © der Buchfassung: vgs Verlagsgesellschaft, Köln 1994 Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Dorothée Haentjes Titelfoto: © RTL Marketing/Vertrieb Umschlaggestaltung: Papen Werbeagentur, Köln Satz: Fotosatz Froitzheim, Bonn Druck: Freiburger Graphische Betriebe Printed in Germany ISBN 3-8025-2260-5
Denn tausend Jahre sind vor dir wie der gestrige Tag, der verging, einer Nachtwache gleich. Psalm 90,4
1 Der Fluch des dai-katana
Es war schlimmer als jemals zuvor: Die Stimmen der Nacht flüsterten hinter Mauern aus dunklem Rauschen, und Duncan MacLeod begriff vage, daß er nach stundenlangem ziellosen Herumfahren nun vornübergebeugt hinter dem Steuer seines schwarzen 68er Thunderbird kauerte, die Augen starr nach unten gerichtet. Das, was er schon eine unbestimmbar lange Zeit wie gebannt betrachtete, war möglicherweise Teil eines seiner wirren, fiebrigen Alpträume von ewiger Flucht und Verdammnis, von Wahnsinn und Tod. Das heilige Schwert... das tödliche Schwert... das Herz und die Seele des Samurai. Die Klinge blinkte matt im schwachen Licht des Armaturenbretts. Gesichtslose Gestalten, die aus allen Epochen und Regionen der Weltgeschichte emporgestiegen zu sein schienen, tanzten einen wilden Reigen auf dem silbrigen -4-
Stahl, hieben mit mörderischem Ingrimm aufeinander ein, stießen unhörbare Triumphschreie aus, starben mit lautlosem Stöhnen - Sieger und Besiegte, Täter und Opfer. Aber es war kein Traum - natürlich nicht. Dies hier war die Wirklichkeit, seine Wirklichkeit, und er durchlebte sie schon seit vierhundert Jahren mit ständig wachsendem Grauen; seit jenem Tag, einem wahrhaft magischen Tag in den schottischen Highlands, als er im Verlauf eines dieser lächerlichen Clan-Scharmützel getötet worden, aber nach wenigen Tagen wieder ins Leben zurückgekehrt war und seitdem nicht mehr hatte sterben können. Zuviel Blut, dachte er benommen und konnte den Blick trotzdem nicht abwenden von dem, was er in der leicht gekrümmten, etwas mehr als einen Yard langen rasiermesserscharfen Klinge des dai-katana zu sehen glaubte. Mit solchen Nichtigkeiten Zeit zu vergeuden, war in einer solchen Situation gefährlich; trotzdem gelang es ihm nicht, den Bann dieser Nichtigkeiten zu brechen. Zu lange schon war er auf der Flucht, und es gab von allem zuviel; vor allem zu viele Erinnerungen. Und zu viele Kämpfe, dachte er. Zu viele Namen. Zu viele Gesichter von zu vielen Toten. Und von lebenden Toten. Slan. Kiem Sun. Felicia Martins. Walter Reinhardt. Caleb Cole. Und Crowley und Pilar Vasquez und... Und Tessa und Richie. MacLeod wollte nicht: an sie denken, nicht ausgerechnet jetzt, da er endgültig mit allem abschließen wollte. Aber Gedanken dieser Art waren gefährliche Gegner. Sie kratzten alte, noch immer schwärende Wunden rücksichtslos -5-
auf, und darunter kam unweigerlich die schmerzhafte Wahrheit zum Vorschein. Wie auch die Tatsache, daß es dieses Mal schon nach ein paar lächerlichen Jahren von neuem begonnen hatte. Und daß er in den tiefsten Abgründen seines Bewußtseins auch ganz genau wußte, warum. Zu viele Fragen stellten sich nach dem Sinn dieses Lebens. Sein Bewußtsein, seine Erinnerungen und das Grauen alles kehrte nun in einem wirbelnden Aufruhr zurück, wie Scherben und Splitter eines zertrümmerten alten Spiegels, ein Panoptikum verzerrter, gleißender BILDER. Der Tod von Pilar Vasquez, seine rasende Irrfahrt kreuz und quer durch Vancouver. Dann hinauf, nach Whistler, Pemberton, Lillooet und weiter, Richtung Prince George. Schließlich, ganz unvermittelt, die Umkehr. Und jetzt war er hier, an der Nordspitze von Vancouver Island; knapp fünfzig Yards oberhalb der Felsenklippen von Port Hardy, von dessen Fischerhafen aus im Sommer jeden zweiten Tag die großen, majestätischen Autofähren der B.C. Ferry Corporation die Inseln der Inside Passage nordwärts, bis Prince Rupert hinauf anfuhren. Wenn er die Augen schloß, glaubte er die Einsamkeit und die Macht dieses Ortes fühlen zu können, ebenso wie die Brandung jenseits der steil abfallenden Klippen. Dazu die Möwenschwärme, die trotz Nacht, Sturmwind und Regen in halsbrecherischen Manövern darüber kreisten und den Naturgewalten mit unbändiger Lebensenergie die Stirn boten.
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Und mit einem Mal war es ganz einfach, überzuwechseln in jene andere, fremdartige Perspektive. Die Laterna magica drehte sich in rastloser Geschwindigkeit. Irgendwo zitterte hohler Donner. Der Spiegel - dieser zertrümmerte Spiegel. Noch mehr Scherben, noch mehr Bilder, alle in seinem Kopf - rasend und von bezwingender Macht. Die großen Wälder des Nordens, die Jagd nach Tessas Entführern. Der Sturz in jene Schlucht, dann der Aufschlag. Blut in seinem Mund. Jene schattenhafte Grenze, die er erneut überschritten hatte, wie schon so oft zuvor, in der einen und auch der anderen Richtung. Der Kampf Mann gegen Mann... Sonnenreflexe auf der schartigen Schneide der Kriegs-Axt... Calebs Schreien. Der Geruch von Schweiß, Erwartung und Angst. Und dann, ganz plötzlich, erschien Walter Reinhardt, und MacLeod dachte: Er gehört nicht hierher, gehört nicht in diesen Bilderreigen. Es war Silvester 1989. Mächtige Schwerthiebe klirrten, Stahl auf Stahl. Das dunkelhäutige Gesicht einer schönen Frau. Er erinnerte sich an ihren Namen, so, wie er sich stets viel zu gut erinnerte: Rebecca Lord. Er hörte Reinhardt sagen: »Frauen sind austauschbar.« Er sah sie sterben, in diesem unglaublich luxuriösen und teuren Trainingsraum, den sie sich für den Tag ihrer Rache geschaffen hatte. Aber dies war noch längst nicht das Ende gewesen. Reinhardt... Reinhardts verdammtes Schwert... Und sein eigener Tod. Immer wieder sein eigener Tod. Dann eine Dunkelheit wie vom Schatten einer toten Sonne. -7-
Unsagbare Schmerzen, Schreie. Und noch mehr Bilder: ein Sturm, eine Jahrhundertflut, die Hunderte von Yards hoch heranraste, tobend und brüllend und... Brian Slade und die anderen im Vancouver Courthouse. Der donnernde Widerhall von Schüssen. Das durchdringende Heulen der Alarmsirenen. Schreie sterbender oder in Panik flüchtender Menschen. So viele Geiseln. Tessa und Richie. Das kleine Mädchen, Belinda, in ihrem eigenen kleinen Refugium: Der Raum des Hausmeisters. MacLeod hörte sich selbst zu ihr sagen: »Du mußt dich verstecken.« Und sie schüttelte den Kopf, so bestimmt und doch verletzlich, wie das nur Kinder vermögen: »Erst mußt du mir eine Geschichte erzählen, aber keine gruselige, lieber ein Märchen.« Also erzählte er ihr von Wesen, die niemals sterben konnten, die gut waren und kleine Kinder beschützten, während er zugleich unablässig daran dachte, Brian Slade zu töten, und dann... Bilder von Connor MacLeod, wie er selbst ein Mitglied des Clans der MacLeods. Connors Lachen. Dieses unvergleichliche Lachen. Und seine Erinnerungen rasten weiter... schneller... schneller. Die Heilige Insel. Connor, der einen weiten Abhang hinab zu seinem Kanu ging. Und Tessas verunsichertes Lächeln: »Ihr habt euch nicht verabschiedet.« Und er selbst, lakonisch: »Das tun wir nie.« Dann China, 1792. Kiem Suns Tempel. Und Alexeij Voshin, 1947. Die Dissidenten. Die See-Hexe. Stahl, der auf Stahl -8-
trifft und gleißende Funken erzeugt. Felicia und Sheriff Crowley. Stahl, der auf Stahl trifft und Menschen tötet. Und schließlich Pilar Vasquez. Sie hatte ihn aufgespürt, hatte ihn belauert und verfolgt wie eine Tigerin, die sich ihrer Beute sicher ist, aber noch ein wenig mit dem Opfer spielen will, bevor sie es reißt. Er hatte sie gespürt, wieder und wieder, mit kurzen, grellen Flashs, die wie Funken einer vagen Erkenntnis aufleuchteten und schon verglühten, bevor sie sich fassen ließen. O ja, sie war geschickt gewesen, hatte es verstanden, in den Schatten der diesseitigen und jenseitigen Welt unterzutauchen und sich ihm zu entziehen, wenn er nahe daran war, sie zu finden. Und dann plötzlich, so unerwartet wie ein Meteor, der als Fanal kommenden Unheils am Nachthimmel aufleuchtet, war sie in der Dunkelheit des Parkplatzes über ihn hergefallen - wahrhaft eine Tigerin, jedoch mit Mordlust und Blutgier ausgestattet, die weit über die animalischen Triebe einer räuberischen Großkatze hinausgingen. Er hatte sich ihrer erwehren müssen, hatte seine ganze Kraft und Geschicklichkeit aufbieten müssen, um ihren höllischen Attacken widerstehen und sie letztendlich besiegen zu können. Und dann, als sie entseelt auf dem staubigen Asphalt lag und nachdem unter Qualen ihre Kraft in ihn übergegangen war, hatte er sie zum erstenmal richtig gesehen. Sie war ein Kind, dem äußeren Anschein nach vielleicht sechzehn Jahre alt. Sweet Little Sixteen - die Melodie des Rocksongs war durch seinen Kopf geschossen und hatte ihm Tränen -9-
in die Augen getrieben. Er war sich völlig im klaren darüber gewesen, daß ihr jugendliches Aussehen täuschte, daß dieses Mädchen möglicherweise zweihundert oder dreihundert Jahre alt war und vielleicht sein eigenes Alter übertraf. Aber dies war eine Realisation des Verstands gewesen. Seine Gefühle, seine Empfindungen als Mensch, als den er sich trotz allem noch immer sah, hatten ihm gesagt, daß sie ein Kind war. Und er hatte sie getötet. Der Tod. Immer wieder der Tod. Aber diesmal... ein Tod zuviel. Vielleicht versuchte er mit dieser selbstquälerischen Prozedur nur Zeit zu gewinnen. Oder das Schwert wollte es. Im Bewußtsein dieser Gefahr, die von seinem eigenen Schwert ausging, blieb er dennoch scheinbar völlig ruhig sitzen, während es draußen wetterleuchtete und der Regen wie in Sturzbächen auf den Wagen herunterprasselte. MacLeod starrte auf seine Hände, die die Klinge des dai-katana wie eine Opfergabe umfaßt hielten, und jetzt ihren Griff noch festigten. Geschliffener Stahl schnitt tief in das sehnige Fleisch seiner Handflächen und Finger. Noch mehr Blut floß. Aber MacLeod spürte den Schmerz nicht. Zumindest nicht diesen Schmerz. In seinem scharfgeschnittenen Gesicht zuckte kein Muskel. Der alles verzehrende Strudel in seinem Schädel war wie glühende Lava, und er verlor mit jeder verstreichenden Sekunde mehr an Intensität. Vergiß nicht, weshalb du hier bist. - 10 -
MacLeod schüttelte den Kopf, um die Bilder endgültig zu verscheuchen. Er glaubte sich übergeben zu müssen. Das Blut auf der Klinge des dai-katana - sein Blut - schien düster und bösartig aufzuglühen. Kein Krieger berührt jemals den geschliffenen und geheiligten Stahl seiner Klinge. Es ist ein Frevel. Es ist, als fordere er die darin gebannte Bestie auf, ihn selbst zu verschlingen. Und plötzlich wußte er, daß er selbst sein gefährlichster Gegner war. Er war dem Teufelskreis des Ewigen Kampfes nicht entkommen. Er wußte es, und es brachte ihn beinahe an den Rand des Wahnsinns und schürte diesen namenlosen Zorn, aber auch die Verzweiflung tief in ihm. Letzten Endes war er allein aus diesem Grund hierher gekommen, obwohl er sich unablässig einzureden versucht hatte, er fahre nur ziellos herum. Ruhe finden. Frieden. Was für ein lächerliches Unterfangen für einen Mann, eine Kreatur wie ihn. Der Tod war seit Jahrhunderten Bestandteil seines Lebens. Aber dieser Tod war kein knöcherner Sensenmann, sondern ein Netzwerk aus magischen Abhängigkeiten und Traditionen, von Nabelschnüren aus purer kosmischer Schwärze und wie ein schwindelnder Abgrund jenseits der Zeiten. Er war allgegenwärtig und erstickend, gerade so, wie es ein allgegenwärtiger, niemals endender Kampf des Bösen gegen das Gute vorschreiben mochte. Solchen Gespenstern konnte man nicht davonfahren. Trotzdem mußte es einmal ein Ende haben. - 11 -
Er haßte es noch immer, zu töten. Er haßte es, dem Ritual unterworfen zu sein. Es gab Tage wie heute, da verzweifelte er an der Last der Jahrhunderte, an seinem ewig unveränderten Gesicht und daran, daß all jene, die er liebte und die menschlich und sterblich waren, für ihn nichts anderes sein konnten als Kometen: ein Aufblitzen von Helligkeit und Wärme in seinem Leben - und gleich darauf folgte stets nichts als Leere und Dunkelheit. Ein Jahrhundert in seinem Refugium auf jener namenlosen Heiligen Insel hatte nicht ausgereicht, die anderen vergessen zu lassen, daß es ihn gab. Und es hatte erst recht nicht ausgereicht, um ihn zu einem der ihren zu machen, oder ihn Spaß oder gar Lust an dieser pervertierten Art des Daseins empfinden zu lassen. Der Ewige Kampf, das Blut, der Schweiß, die Tränen und der Wirbelsturm und Pestgestank des Todes blieben ehernes Gesetz und Fluch für alle seiner Art, mochte der Tag der Großen Zusammenkunft noch so fern sein - oder bereits nahe. Es war nicht vorbei. Es würde niemals vorbei sein. Nicht, solange er oder einer der anderen seinen Kopf behielt. Und doch! Es mußte ein Ende haben, für Tessa und für Richie. Es mußte ein Ende haben - um ihretwillen. MacLeod dachte es immer und immer wieder, zuerst nur mit einem leisen Anflug von Entsetzen; es war kaum mehr als eine flüchtige Berührung, ein Etwas mit vielen haarigen Beinen, das über seine Seele huschte und schon wieder - 12 -
verschwunden war, sich schließlich jedoch zitternd vor Haß in etwas wandelte, das viel, viel schlimmer war. Vergiß nicht, weshalb du Donnergrollen trieb mit unnatürlicher Geschwindigkeit näher und stürzte wie ein Gebirge aus Fels über ihn herein. Das Gewitter aus Blitzen hatte er nicht wahrgenommen, doch es mußte für einen winzigen Lidschlag selbst den letzten Rest Schwärze aus dem Wageninnern fortgebrannt haben. MacLeod blinzelte. Es war, als erwache er aus einem völlig widernatürlichen schlaflosen Schlaf. Doch mit der Schwärze war auch dieser alles lähmende Bann zerrissen: Er fühlte sich mißbraucht und elend - es war, als habe er tausend gute Träume verschenkt, um sich an die schlechten erinnern zu können. Aber da war auch Entschlossenheit. Kraft. Er würde ausführen, wozu er hierher gekommen war. Ein blau-weißes Irrlicht züngelte wie ein bizarres, geisterhaftes Abbild der Blitze über die rasiermesserscharfe Klinge des dai-katana, ließ das Blut darauf wie zum Spott glühen und funkeln. Tu es. JETZT. Vielleicht war es die Stimme seines unversöhnlichen Gottes, die er gehört hatte. Er wußte es nicht. Er hatte die Wagentür aufgestoßen und war mit einer einzigen kraftvoll-gleitenden Bewegung ausgestiegen, bevor sich der lähmende Bann erneut festigen konnte. MacLeod tauchte ein in ein tobendes, winselndes Inferno. Der Sturm schleuderte ihn beinahe von den Füßen, fauchte ihm eine eisige Kälte ins Gesicht, die ihn nach Atem ringen - 13 -
ließ, bauschte den langen Mantel und ließ ihn im Wind flattern. Der Regen fiel jetzt in langen, silbrigen Kaskaden und durchnäßte ihn bis auf die Haut. Die Luft schien bis zum Bersten angereichert mit Schwefel und Elektrizität, und das grelle Zucken der Blitze, das Krachen und der Nachhall immer neuer Donnerschläge ließen die Erde erbeben und verwandelten MacLeods Schritte in ein orientierungsloses Taumeln. Schon nach wenigen Sekundenbruchteilen schien der Wagen hinter ihm wie von einer riesigen Bestie verschluckt. Die Scheinwerferstrahlen, die ihm anfangs den Weg gewiesen hatten, waren nur mehr lächerlich fahle Kegel, die sich wie unter einer schwarzen Säure zersetzten. Und der Himmel selbst veränderte sich im Schutz des Sturmwinds und des Regens in einen entsetzlichen Mahlstrom, in dessen Zentrum sich etwas zu materialisieren suchte, das hoffentlich niemals Wirklichkeit wurde: Etwas Großes, Schwarzes, Furchtbares, mit feucht schillernden Tentakeln, die möglicherweise die ganze Welt zu umspannen vermochten. MacLeod umfaßte den langen Elfenbeingriff des dai-katana, der noch immer von seinem Blut schlüpfrig war, fester. Er verbannte endgültig alle störenden Gedanken aus seinem Hirn und konzentrierte sich völlig auf den Schattenriß der Klippen, an dem sich Himmel und Erde trafen, vor einem Abgrund von annähernd dreißig Yards brodelnder Tiefe. Mit jedem Schritt fiel ihm das Vorankommen nun leichter, es war, als gebe es eine mystische Übereinkunft zwischen den mächtigen Prankenhieben der Naturgewalten - 14 -
und ihm selbst. Zudem meinte er tatsächlich, etwas von der ungestümen Wildheit und Freude der Möwen in sich erwachen zu spüren. Die Dunkelheit war nicht mehr länger nur um ihn herum, sondern drang durch jede seiner Poren in ihn ein, breitete sich tastend und suchend in ihm aus und erkannte ihn als ihren Verbündeten: ein Sohn der Nacht, ein Schattenkrieger; ein Wesen ihrer eigenen Art. Später konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wie er die letzten Yards über die vor Nässe glitschigen Felsen und Schrunde zurückgelegt hatte. Doch als sein Denken und seine Wahrnehmung wieder in sein Bewußtsein zurückkehrten, stand er hoch aufgerichtet wenige Zollbreit von dem Steilabhang entfernt - ein leichtes Opfer für jede neuerliche Sturmbö. Er versuchte nicht einmal, sich vor den gewaltigen Stößen und Schüben zu schützen, und fast schien es, als werde dem Respekt gezollt. Er wurde nicht in den Abgrund geschleudert. Regen peitschte in sein Gesicht, und aus der Tiefe vor ihm erhob sich ein Brüllen wie von urweltlichen Ausgeburten. Ganz kurz glaubte er das bleiche Wüten des Pazifiks zu sehen, weit, unendlich weit unten. Im grellen, fast weißen Zucken immer neuer Blitze warf sich die Brandung wie von Zeitlupenschüben verfremdet gegen die Felsen, und ein ständig stärker werdendes Vibrieren pflanzte sich bis in seine Fußsohlen fort. MacLeod lächelte, blinzelte Regentropfen von seinen Augenlidern und warf mit dem Handrücken seiner Linken das lange, wirr ins Gesicht fallende Haar zurück. Die Entscheidung war gefallen, und gleichzeitig fühlte er ein überwältigendes Gefühl von... vielleicht Freiheit. Hinter - 15 -
der Elektrizität und dem Schwefelgeruch schmeckte er jetzt mit jeder Faser seines Ichs den salzigen Atem des Meeres, und keinerlei Furcht noch Beklemmung mehr. Die Blitze zuckten in immer rascherer Folge rings um ihn auf, nur wenige Armlängen von ihm entfernt, und umgaben ihn wie ein gewaltiger Dom aus eisigem Licht. MacLeod wußte, sie würden ihm nichts anhaben, genausowenig, wie ihm die Energiestürme während der Belebung etwas anzuhaben vermochten. Die Macht dieses Ortes, dieser Nacht und seines Entschlusses durchströmten ihn in wilden, pulsierenden Schüben. Sie erfüllten und beschützten ihn. Er war Teil dieser Nacht und dieses Sturms geworden. Er wollte es nicht mehr länger hinauszögern. Mit einem Ruck seiner Rechten hob er das Samurai-Schwert hoch über den Kopf, bot dem Mahlstrom im Herzen des Nachthimmels das dai-katana als Opfergabe an und glaubte, für einen zeitlosen Moment hinter der sichtbaren Realität das Auflodern eines ungeheuerlichen Zorns zu fühlen. Du wagst es »Sicht so aus«, flüsterte MacLeod ironisch gegen das Kreischen des Sturmes an und lächelte noch immer. Währenddessen bewegte er sich bereits mit der Schnelligkeit einer angreifenden Schlange: Seine Linke stieg hoch und schloß sich ebenfalls um den Griff des dai-katana. Es war, als pariere er einen letzten Angriff: die linke Schulter vorgereckt, Muskeln angespannt, die Lippen leicht geöffnet, der Atem in jenem Hauch ausgestoßen, den Musashi einst im »Go Rin No Sho« als Todeshauch für den Feind beschrieben hatte. - 16 -
Dann endlich schleuderte MacLeod das dai-katana in den Aufruhr aus purer Schwärze über dem Pazifik. Er dachte an die Opfer - ausschließlich schuldige Opfer - und sah der Klinge hinterher, wie sie davonwirbelte und die Dunkelheit zerteilte. Im grellen Licht der Blitze war sie binnen eines Augenblicks selbst zu einer Art sichelförmigem Blitz geworden. Dann war sie verschwunden - wie zufällig -, und gleichzeitig schien auch die Intensität der Blitze nachzulassen. Trotzdem hatte MacLeod nicht das Gefühl, aus einem Alptraum zu erwachen. Für die Dauer mehrerer Herzschläge verharrte er in absoluter Dunkelheit. Er empfand Erleichterung und stellte fest, daß die Wundmale an seinen Händen bereits wieder verheilt waren. Das neue Fleisch, die neue Haut prickelte. Ungeheuerlich. Es war wie immer. Aber das sollte nun anders werden, ganz anders. Fröstelnd barg er die Hände in den Manteltaschen, wandte sich vom Steilabhang ab und ging mit genau derselben traumwandlerischen Sicherheit, mit der er hierher gelangt war, den Weg zurück über die Felsen und Klüfte und den weitgespannten, mit Felstrümmern übersäten Abhang empor. Das Flackerlicht der Blitze entfernte sich. Der Donner war nur mehr ein ganz normaler Donner. Selbst der Sturm schien sich zu legen, und die bis dahin tosenden Regenfluten gingen über in ein ruhiges, gelassenes silberhelles Strömen. Die Zeit lief wieder normal: so rasend schnell wie ein Tausendfüßler. Er empfand noch immer keinen Schmerz - 17 -
nicht einmal ein Gefühl des Verlusts. Zumindest gestand er es sich nicht ein, noch nicht. Aber der Schmerz würde kommen. O ja, das würde er. Sein Wagen stand noch an Ort und Stelle, wie ein Bollwerk gegen den unheimlichen Zauber dieser Nacht. MacLeod fühlte die letzten Reste der Benommenheit verwehen und bemühte sich, seinen Verstand mit Nebensächlichkeiten in Bewegung zu halten. Er überlegte, ob es sinnvoll wäre, einen bedeutsamen wissenschaftlichen Kommentar zu formulieren. Aber gleich darauf, während er die Wagentür öffnete, einstieg und den Zündschlüssel drehte, hielt er dieses Ansinnen nur noch für lächerlich. Besser, er hielt es mit einem dieser banalen Sprichwörter der Sterblichen: Essen hält Leib und Seele zusammen. Es war so gut - oder schlecht - wie alles andere in dieser Nacht. Aber er hatte so ein ganz normales Ziel, bevor er ganz normal zu Tessa und Richie nach Hause zurückkehren würde. Er würde eine ganze Menge italienischer Köstlichkeiten einkaufen. Und dann würde er Tessa bitten, sie zusammen mit ihm zuzubereiten einfach so, zur Feier des Tages, weil er nach zwei Tagen, an denen er ganz gewaltig abgeirrt war, nun in jeder Hinsicht wieder auf dem richtigen Kurs lag. Ein kleines, ganz privates Festmahl. Wie es ein ganz normales Paar dann und wann machte. Zum Beispiel Fettucine mit frischem Lachs. Tessa würde ihn für völlig übergeschnappt halten, aber das Risiko wollte er eingehen.
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»Also zu Antonios Gourmet Italian Market.« MacLeod sagte es halblaut, um gleich darauf den Kopf zu schütteln. Er konnte dieser Heraufbeschwörung von Normalität gar nicht vertrauen, so sehr er dies auch wollte. Der Motor des Thunderbirds erwachte mit einem satten Rumoren zum Leben. MacLeod kuppelte, trat das Gaspedal durch und zog den Wagen so heftig herum, daß das Heck wie von einem Riesen getreten hin- und herschlingerte. Er erreichte den Highway 17 A, beschleunigte und fuhr ihn zügig in südlicher Richtung entlang. Er fand, daß er zu Recht das Gefühl hatte, Zeit aufholen zu müssen. Von der Nordspitze Vancouver Islands bis zum Fährhafen Swartz Bay waren es rund vierhundert Meilen. Dann die Überfahrt nach Tsawwassen - weitere eineinhalb Stunden. Sein hübsches kleines Festmahl würde ein Frühstück werden. Aber es war ein gutes Gefühl, unterwegs zu sein und das Singen der Reifen auf dem nassen Asphalt zu hören. Nachtvögel flogen vom Straßenrand auf, wie lautlose Schatten. Auf den nächsten achtzig Meilen begegnete ihm kein einziges anderes Fahrzeug. Der Regen versiegte in einem halbherzigen Tröpfeln. Die Scheibenwischer flirrten mit häßlichen Scharrgeräuschen hin und her. Am Horizont, weit hinter ihm, wetterleuchtete es vereinzelt. Blau-schwarze Wolkenberge und riesenhafte Lebensbäume und Douglasien schoben sich wie erhobene Fäuste und Finger in sein Blickfeld - Symbole einer fernen, vagen Drohung.
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Wenn er auch nur eine Sekunde lang die Augen schloß, würde er das dai-katana von neuem sehen, wie es sich durch explosionsartig herabprasselnden Regen und durch Sturmböen in einem weiten Bogen fallend drehte und drehte und schließlich in die kochende See stürzte. Wie Voshins Schwert, damals, als es tiefersank; ein silberner Reflex im Wechselschein aus grünem und blauem Wasser, aus hell und dunkel. Wie es von der Strömung aufgegriffen und herumgewirbelt und in die Tiefe gedrückt wurde. Und wie es schließlich zwischen schädelförmigen Felsblöcken eingekeilt zur Ruhe kam. Die Botschaft war klar und deutlich: Du wirst mich jederzeit wiederfinden, Highlander. Jederzeit. Und du wirst kommen, um mich zurückzuholen. Bald. MacLeod riß die Augen weit auf, konzentrierte sich mit aller Macht auf das Steuer des Thunderbird, auf die Gischt der Regentropfen und auf die schlüpfrige Fahrbahn - auf das reale Jetzt des Augenblicks. Er wollte diese Einflüsterungen, die aus jener Welt kamen, die er hinter sich zu lassen gedachte, nicht hören. Aber selbst wenn er sich die Ohren in verzweifelter Abwehr zugehalten hätte, wäre es ihm nicht möglich gewesen, sie von sich fernzuhalten. Die geheimnisvolle Macht des dai-katana, das mit ihm wie durch eine Nabelschnur aus purer kosmischer Schwärze verbunden war, erwies sich als stärker. Es gibt keine Normalität für dich, Highlander. Dein Versuch, vor dir selbst zu fliehen, ist zum Scheitern verurteilt. Gib auf! Kehr um und hol mich zurück!
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Mit einem heftigen, ruckartigen Tritt stemmte MacLeod seinen rechten Fuß auf das Gaspedal. Der Wagen, ohnehin schon schneller, als es den Verhältnissen angemessen war, machte einen spürbaren Satz nach vorne, geriet ins Schlingern. Und während sich MacLeod von Adrenalinstößen aufgepeitscht, mit alles andere ausschließender Anspannung abmühte, einen überstürzten Kontakt mit der Straßenböschung zu vermeiden, verblaßten die schimärenhaften Konturen des Schwerts vor seinen Augen, und die gleichzeitig lockende und drohende Stimme verhallte.
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Die schattenhafte Grenze
Die Skyline der großen Stadt empfing MacLeod mit Kaskaden von Neonlichtern hinter Nebelschleiern - Elmsfeuer nach einem gleißenden Zeitlupenfeuerwerk. Er wußte, es war ein falscher Glanz, der nur aus der Ferne sichtbar war eine Fassade für die Menschen. Bereits wenige Zollbreit hinter dieser Fassade klaffte der Abgrund, und darin schlug ein Dämonenherz aus purer Finsternis einen mörderischen Takt. Vancouver war eine junge Stadt, dreihundert Jahre jünger als er, doch ihr Pulsschlag unterschied sich nur geringfügig von dem anderer urbaner Krebsgeschwüre - New York City, Chicago, Miami und wie sie alle hießen. MacLeod spürte den Rhythmus und paßte sich ihm an, als wäre er nie fortgewesen. Er war ein Schatten unter Schatten. Ohne erkennbare Hast fuhr er in die Downtown und drehte ein paar Runden, um sicherzustellen, daß sich ihm keine anderen Schatten an die Fersen geheftet hatten. Vorerst war es nur wie immer: Er mußte Instinkt beweisen, wachsam sein, am Leben bleiben, den Kopf behalten. Als er das Seitenfenster herunterkurbelte und den ins Innere strömenden Fahrtwind roch, wurde dieses Gefühl stärker: er spürte einen Druck in der Atmosphäre, fast wie Verwesungsgeruch, etwas, das dafür sorgte, daß sich seine Nackenhärchen aufstellten. Gefahr.
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Er dachte an Tessa, in ihrem Loft über dem Antiquitätenladen, drüben, in den North Vancouver Heights, und bremste sich: Es war noch zu früh. Er mußte es erst ganz sicher wissen. Also fuhr er mitten hinein ins Herz der Stadt - und weiter, Richtung Downtown. Es hatte auch hier geregnet: Glänzende Reflexe durchzuckten die Dunkelheit. Der dunkle Plymouth, der ihm bereits auf der Granville Bridge aufgefallen war, hielt sich weiterhin konsequent zurück, blieb drei, vier Wagenlängen hinter ihm im ausgedünnten Verkehrsstrom. MacLeod behielt ihn über den Innenspiegel im Auge, bis er ohne zu blinken abbog. So etwas nennt man Verfolgungswahn, Mac, schalt er sich selbst - und blieb doch wachsam. Auf der Südseite des Robson Square, der sich von der Nelson bis zur Georgia Street zog, glitzerte der siebenstöckige Glaspalast des Vancouver Courthouse unter tastenden Flutlichtstrahlen. Nebelfetzen, dick und träge, trieben von der English Bay im Westen und vom Burrard Inlet im Osten über die Stadt. Als MacLeod tiefer in Straßenschluchten eintauchte, die niemals auf Postkarten abgebildet werden, Richtung Hafen, Burrard Inlet und Fräser River, gab es kaum mehr einen überschüssigen Strahl Helligkeit. Es war nicht mehr richtig Nacht und noch nicht richtig Morgen, dennoch erschien es offensichtlich, daß die Stadt hier keine Sekunde lang zur Ruhe gekommen war. Nachtschattenleben: Hafenarbeiter, die in kleinen Gruppen
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vom Schichtdienst kamen und die paar hundert Yards nach Hause zu Fuß zurücklegten. Der Verkehr wurde jetzt stärker. Werkssirenen heulten. Ein paar Stadtstreicher starrten triefäugig und ergriffen in magere Flammen, die aus einer rostigen Tonne schlugen, und ließen eine Flasche kreisen: eine Zombie-Versammlung, die den neuen Tag begrüßte. Prostituierte und Strichjungen, an Jahren viel zu jung und an Erfahrung viel zu alt, trippelten schmalspurig von ihrer nächtlichen Arbeit nach Hause. Ein metallicgrauer Lincoln Continental zog schon zum zweiten Mal an den Prostituierten vorbei. Sein Fahrer war offensichtlich solo auf Menschenjagd ausgesandt worden. Vielleicht auch nur, um für seinen Boß zu kassieren. Aus der Ferne wehten die Geräusche der riesigen Hafenanlagen heran. Startende und ankommende Trucks, Schiffe, die im Schichtbetrieb rund um die Uhr be- und entladen wurden: Vor allem Weizen, aber auch Erze, Schwefel, Zellulose für den asiatischen Markt; im Gegenzug Autos aus Japan, Kleidung aus Hongkong. Vancouver war der größte Hafen an der gesamten nordamerikanischen Pazifikküste. MacLeod hatte genug gesehen. Es gab keine Verfolger keinen Flash, der die Nähe eines anderen unsterblichen Schattenkriegers verriet. Er investierte weitere fünfzehn Minuten darauf, auf Umwegen über die Chinatown zu Antonio's Gourmet Italian Market zu fahren. Er dachte an Kiem Sun, schon wieder, und, um sich von diesem Schatten der Vergangenheit zu befreien, an die Ruhe des Sun Yat-Sen Classical Chinese Garden in der Carrall Street. - 24 -
Es war Zeit, einmal wieder dorthin zurückzukehren. Trotz Kiem Sun. Antonio's Gourmet Italian Market stand inmitten einer vergessenen Kreuzung; eine häßliche Bude im Bodega-Stil, die jeden Nicht-Eingeweihten abstoßen mußte. Sowohl im Laden als auch in Antonios Hinterzimmer brannte noch Licht. Auf den gegenüberliegenden Straßenseiten befanden sich jeweils an den Ecken ein längst aufgegebener Friseursalon mit eingeworfenen Schaufenstern und, als Kontrast, eine Billardhalle mit pinkfarbener Fassade, ein Schnapsladen, der angeblich rund um die Uhr geöffnet war, momentan aber dunkel und verlassen aussah, und ein ebenfalls unbeleuchteter chinesischer Waschsalon, obwohl Chinatown weit genug entfernt lag. In der Billardhalle wurden gerade sämtliche Lichter gelöscht. MacLeod schaltete das Abblendlicht aus. Dann ließ er den T-Bird lautlos ausrollen und parkte vor dem Schnapsladen. Er sicherte in die Runde und wartete. Zu lange Jäger und Gejagter. Es war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Straßenlaternen schaukelten im Morgenwind. Der Großteil von ihnen war mit Kleinkalibergewehren zerschossen worden. Streunende Katzen durchforschten auf leisen Sohlen die Mülltonnen der Seitengassen. MacLeod stieg aus und schickte sich an, die Straße zu überqueren. Irgendwo rechts von ihm, dort, wo vorhin die Katzen in der Seitengasse neben der Billardhalle verschwunden war- 25 -
en, entstanden aufgeregte Laute und schließlich Schreie, die absolut nichts mit Katzen zu tun hatten. Dann ein dumpfer Schlag, noch einer. Stahlrohr. Das Geräusch eines berstenden Schädelknochens und spritzenden Blutes. Das Rascheln von Kleidern. Ein Körper stürzte schwer zu Boden, und irgend jemand trat oder schlug noch immer auf ihn ein - wie von Sinnen. MacLeod war bereits auf dem Weg, mit raumgreifenden, fast lautlosen Schritten. Er wünschte sich, schneller zu sein, tierhaftere Instinkte zu haben, im Dunkeln sehen zu können und ein noch besseres, schärferes Gehör zu besitzen. Er vernahm nervös zischelnde Stimmen. Eine Blechdose kullerte. Hastige Schritte, dann das Aufheulen eines Motors. Alles ging rasend schnell. Aber vielleicht gelang es ihm doch, die Zeit zu überholen. Der Wagen kam auf ihn zugeschossen wie eine Dampflok. Fernlicht wurde aufgeblendet. Die geöffnete Fahrertür schrammte kreischend und funkenschlagend an der Hauswand entlang. Es war unmöglich, in der Enge dieser Gasse auszuweichen. MacLeod versuchte es trotzdem und hechtete hoch, um dem unvermeidlichen Aufprall die größte Wucht zu nehmen. Seine Bewegungsabläufe waren zuverlässig wie immer, rasend schnell und fließend, kaum wahrnehmbar. Eine Sekunde lang glaubte er noch, es zu schaffen. Aber der Wagen war bereits da, und mit ihm unerträgliches weißes Feuer. Ein Atombrand, der ihn ergriff und wie ein Blatt hoch wirbelte. Rasende Schmerzen brachen in ihm auf, an drei, vier Stellen zugleich: Hüfte, linker Arm und Schädel. Gleichzeitig vernahm er die nur in seinem - 26 -
Kopf hörbaren Geräusche splitternder Knochen und reißender Muskelstränge. MacLeod krachte schwer auf die Motorhaube des Wagens, wurde herumgeschmettert, höhergedroschen, schlug hart gegen die Windschutzscheibe. Ein weiterer Aufprall, und sein Schädel wurde herumgerissen. Er sah die Gesichter der beiden Freaks im Innern des Wagens wie bleiche Luftballons im Universum treiben, dann zertrümmerte seine Stirn das Sicherheitsglas der Windschutzscheibe. Das Schreien der Freaks drang zu ihm durch. »Gerry... Gerry, um Gottes willen - nicht - « »Halt's Maul, du - « Plötzlich Zeitlupe. Nichts paßte mehr zusammen: ein Traum, in dem alles zugleich geschah, und überall war Blut. Ein rotes Spinnennetzmuster zog sich direkt vor ihm über das Glas. Er bekam einen der Scheibenwischer zu fassen und riß ihn ab. Dann war das Bild weg. Und er war weg. Er wischte über das Wagendach, mit verzweifelt nach Halt tastenden Händen. Endlos andauerndes Schreien begleitete ihn, und das schrille Durchdrehen des Motors, das Kreischen der Reifen, als der Wagen aus der Gasse hinausschleuderte. MacLeod glaubte noch immer, über das Wagendach hinwegzurutschen. Abrollen, dachte er apathisch, weil die Schmerzen rasend schnell unerträglich geworden waren und die Finsternis, die noch immer in ihm war, über sein bewußtes Denken und Wahrnehmen wie ein Tonnengewicht hereinbrach. Der Schatten einer toten Sonne. Er hatte diesen Gedanken schon einmal gedacht - irgend- 27 -
wann, vielleicht vor ein, zwei Menschenleben. Noch immer im Fallen begriffen, krümmte er sich zusammen, prallte seitlich auf dem nassen Asphalt auf und wurde von unsichtbaren Fäusten weitergestoßen, immer um die eigene Achse herum. Und erst jetzt, wie es ihm in seiner Benommenheit vorkam, krachte auch sein Schädel auf den Asphalt. Ein Wagen hielt. MacLeod vernahm das hauchfeine Quietschen der Stoßdämpfer. Stimmen schwebten zu ihm hinunter. Die unvermeidlichen Gaffer rückten an, eine schattenhafte Front. »Hast du gesehen, wie das passiert ist?« »Nein, jedenfalls nicht genau, es ging alles so schnell, da war plötzlich dieser Wagen und dieser Mann. Ich glaube, die haben ihn absichtlich überfahren - « »Jemand muß einen Krankenwagen rufen! Schnell! Gott all das Blut! Schau dir seinen Kopf an!« »Das überlebt er nie.« Daraufhin, fast andächtig, das Flüstern einer jungen Frau: »Er sieht aus wie der junge Sean Connery...« »Nicht anfassen, nicht bewegen. Das ist Sache der Ärzte!« MacLeod wußte, was das bedeutete. Ärzte konnten einem Wesen wie ihm sehr gefährlich werden. Zu viele neugierige Fragen: »Sie waren so gut wie tot, und jetzt leben Sie plötzlich wieder. Könnten Sie mir bitte verraten, wie Sie das anstellen?« Aus den Stimmen wurde ein verwehendes
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Dröhnen. Sie entkommen, dachte MecLeod, bereits ganz fern. Die Freaks entkommen. Und: Jemand muß sich um ihr Opfer kümmern. Dunkle Echos hallten in ihm wider. Er versuchte, sich hochzustemmen und den Mund zu bewegen. Aber seine Muskeln gehorchten ihm nicht. Der Schock und eine gigantische Schmerzwelle lähmten seinen Herzschlag, und er wußte, daß er sterben würde. Es war nicht das erste Mal, und es würde nicht das letzte Mal sein. Es war nicht angenehm, kein sanftes, friedfertiges Hinüberdämmern in eine unbekannte Dimension, die von den einen Himmel, von den anderen Nirwana genannt wird. Es war qualvoll, physisch und psychisch. Nur zu gut erinnerte er sich noch an das letzte Mal und an das davor: an dieses Gefühl absoluter Einsamkeit und Verlassenheit. Daran, wie es war, sich in diesem Behältnis, das die Sterblichen Körper nannten, unentrinnbar eingeschlossen zu finden, in einem Verlies aus Fleisch und Knochen. Das Absterben von Zellen zu fühlen, den Schlag des eigenen Herzens nicht mehr wahrnehmen zu können. Keinen Atem mehr zu haben. Die Empfindung, von dieser abgrundtiefen Dunkelheit wie von einer gierigen Bestie verschlungen zu werden... Und dann das Aussetzen des gegenwärtigen Bewußtseins, das Verschwimmen der Realitäten, der Übergang vom Jetzt ins Gestern oder Vorgestern. Es heißt, daß ein Mensch, der dem Tod unmittelbar gegenübersteht, sein gesamtes Leben wie im Zeitraffer vor sich ablaufen sieht, vom Unterbewußtsein auf eine holographische - 29 -
Leinwand gebannt. MacLeod bezweifelte, daß es so war - es hatte noch keinen Toten gegeben, der ins Leben zurückgekehrt war, um darüber berichten zu können. Jedenfalls keinen normalen Verstorbenen, keinen Angehörigen der Menschheit, deren irdisches Dasein einen Anfang und ein Ende hatte. Die Unsterblichen wie er jedoch, die immer wieder aufs neue Geborenen, konnten darüber berichten, wie es war, wenn der Lebensfunke scheinbar - erlosch. Wenn der Geist, die Seele, das Ich in ein unfaßbares Etwas eintrat, das Einsteins Relativitätstheorie nicht erfassen konnte, aber vielleicht in Ansätzen erahnen ließ. Tausend Jahre wie ein Tag, wie eine Minute, wie eine Sekunde, wie ein nicht meßbarer Moment? Zeit existierte nicht in diesem Etwas, konnte nicht existieren. Aber es ließ in der Tat den Erinnerungen freien Raum. Sie erschienen nicht gerafft und wie ein Sturzbach aus den Splittern und Fragmenten alles Gewesenen, sondern episodenhaft auf jene Ereignisse und Erlebnisse beschränkt, die sich besonders nachdrücklich in die Psyche eingegraben hatten. Die Ereignisse spielten sich erneut ab, um ein Vielfaches verstärkt, da bereits erlebt, und mit dem furchtbaren Wissen, daß sie unveränderbar waren, daß der freie Wille keine Rolle spielte, daß alles so vonstatten ging, wie es vorgezeichnet war. Das Bewußtsein der absoluten Hilflosigkeit, des völligen Ausgeliefertseins war mehr, als ein Individuum eigentüch ertragen konnte. Aber MacLeod wußte, daß er es ertragen müßte. - 30 -
Als die Stimmen um ihn herum immer leiser und tonloser wurden, als die Gestalten, die sich schemenhaft an der Peripherie seines Wahrnehmungsvermögens bewegten, immer mehr an Kontur verloren, als die Prozesse seines Denkens der Konfusion entgegentrieben, erkannte er mit seinem letzten klaren Gedanken, daß er es wieder einmal auf sich nehmen mußte. Jetzt...
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Unüberwindliches Gestern
Löwenzahnsamen schwebten wie Ascheflocken eines fernen Feuersturms auf ihn hinab. Tessa lachte übermütig und klatschte in die Hände, begeistert wie ein Kind. Nackt, wie sie war, wand sie sich aus seinen Armen, zupfte behutsam einen zweiten Löwenzahn aus der Vase neben dem Bett und pustete gegen den grauen Flaum, in den sich auch diese Blüte verwandelt hatte. Inmitten eines neuen Gestöbers hauchzarter Sporen - jede von ihnen ein winziger Fallschirmspringer - ließ sie sich wieder nach hinten fallen und schmiegte sich an ihn, den Kopf in seiner Armbeuge. Ihre langen, zerzausten blonden Haare reflektierten einzelne Lichtstrahlen. »Schau sie dir an, Mac«, flüsterte sie ganz atemlos und nickte zu den Löwenzahn-Fallschirmspringern hin, »sind sie nicht wunderschön? Wie magische Wesen. Und ich liebe magische Wesen.« Weil er - wie sie - ein vollkommenes Glücksgefühl empfand, konnte und wollte er nur nicken. Gewisse Momente waren mehr als flüchtig, ein einziges Wort mochte schon zuviel sein und ausreichen, um sie zu zerstören. So lagen sie Seite an Seite nebeneinander, noch immer erhitzt, erschöpft und außer Atem, und sahen dem Löwenzahnflaum zu, wie er sich überall auf ihnen und im Bett ringsum niederließ. Es war Abend geworden, doch die Luft in dem großen, lichten Schlafzimmer des Lofts über dem Antiquitätenladen war noch immer erfüllt, wie Dunst, bei- 32 -
nahe silbern. Ein zärtlicher kleiner Verrat dessen, was hier geschehen war: daß sie sich geliebt hatten, zärtlich zuerst, mit Necken und Streicheln und Küssen und gemeinsamem Lachen, dann mit größerer Intensität und Wildheit - ein Kräftemessen, um die Weite des gegenseitigen Gebens und Nehmens darzulegen. Er hatte sie festgehalten, hatte sie fühlen und schmecken wollen bis zur Besinnungslosigkeit. Und sie hatte ihn angefeuert, kleine Seufzer, direkt an seinem Ohr, die in einem gekeuchten »Ja - ja!« abgerissen waren. Sie hatte sich ihm entzogen, hatte ihn zugleich heftiger geküßt als jemals zuvor, und dann war sie wieder dagewesen, über ihm, ihr Körper ein heller Schemen in der Weite des Zimmers, etwas Gleitendes, Schwebendes, Forderndes, ihre Haut und ihre Haare eine goldfarbene Kaskade über ihm, so daß er sich dem Puls ihrer Raserei anpaßte, wieder und wieder, während sie sich noch immer küßten und ihr Stöhnen der Mund des jeweils anderen auffing. Wortlose, keuchende Trance. Eine Art bujutsu: Eins mit sich, dem Partner und der gemeinsamen Umgebung. Konzentration, Anteilnahme und Reinheit. Kraft und Reflexe, und der Schatten des Todes - das Wissen um Tessas Sterblichkeit so fern. MacLeod wandte Tessa das Gesicht zu. Er lächelte. Vielleicht hatte sie in diesen Momenten dieselben Gedanken, dieselbe Sehnsucht nach mehr. Sie küßte seinen Hals, glitt erneut auf ihn, und ihre smaragdgrünen Augen waren wie die eines Raubtiers: Anmut und Wildheit funkelten miteinander um die Wette. Der Schock, plötzlich zu spüren - zu wittern daß sie nicht mehr allein miteinander waren, daß irgendwo draußen je- 33 -
mand... etwas... lauerte, zerteilte alle Empfindungen wie der Hieb einer Damaszener Klinge. Es war, als löse er sich auf. Es war, als sei er nicht mehr allein in seinem Geist: Der Flash. Ein anderer Schattenkrieger. Nach mehr als hundert Jahren und unzähligen Tricks, um seine Spuren zu verwischen und ein »normales« Leben zu führen, hatten sie ihn letzten Endes also doch wieder aufgespürt. Er wußte es, und Haß und Verzweiflung drohten ihn fast zu überwältigen, noch während sich der emotionale Teil seines Selbst exakt gegen dieses Wissen sträubte und die Reflexe des Kriegers ihn bereits handeln ließen. Mit Sinnen, denen nichts Menschliches anhaftete, die zu dem Dunkel tief in ihm gehörten, tastete er hinaus, sprach, ohne sprechen zu wollen: »Ich - spüre etwas.« »Hey, das hoffe ich!« »Nein... Ich meine: Es ist... Jemand ist hier. Draußen. Nahe. Gefährlich.« MacLeod sah, wie sich Tessas Augen verdunkelten: ein Schatten über dem Mond. Er versuchte nicht, es ihr zu erklären. Diese Art raubtierhafter Wahrnehmung würde sie nicht einmal ansatzweise verstehen können. Alles in ihm erkaltete, wurde zu Stein. Mit einem Ruck kam er hoch, lauschte, schob sie zärtlich beiseite, wollte plötzlich Abstand, da er sie nur so schützen konnte. Schweiß kühlte auf seiner nackten Haut und ließ ihn frösteln. Der letzte Kampf lag Jahre zurück, er war ungeübt in diesem Spiel des Wahnsinns. Er verließ das Bett, fuhr in seine Hosen und löschte die Jugendstillampe. Ein Phantom im lavendelfarbenen Zwie- 34 -
licht des Raumes, völlig lautlos. Es war, als sei er unvermittelt in einen Sog geraten. Seine Rechte fand den kunstvoll geschnitzten Elfenbein-Doppelhandgriff des dai-katana und umschloß ihn fast zärtlich: Herz und Seele des Samurai. Verlängerung seines Armes, seines Atems und vertraut. Auch in der langen Zeit des Fliehens und sich Verkriechens hatte er es niemals versäumt, diesen Gefährten stets in Griffweite bei sich zu haben. MacLeod glitt aus dem Raum, ging, von einer Dunkelheit umgeben, die tiefer und vollkommener war, als jede irdische Dunkelheit hätte sein können, den Korridor entlang, den Oberkörper halb seitlich gedreht und das gesamte Körpergewicht in hara ausbalanciert, dem Zentrum aller menschlichen Energie. Das dai-katana hielt er stoß- und abwehrbereit in Brusthöhe: ein silbernes Schimmern. Die Präsenz des anderen nahm scheinbar von überallher zu, ein Hagelschauer entsetzlicher Fremdheit. Dazwischen oberflächliche, verkrüppelte Empfindungen: kreatürliche, jedoch bis zur Besessenheit überspielte Angst, fiebernde Vorfreude und Haß. Er ging weiter, folgte seinem eigenen Schatten die Empore entlang und die Treppe zu den weitläufigen Verkaufsräumen hinab. Es war, als könne er die unmerklichen Deformierungsvorgänge des wurmstichigen Geländers wider jede Normalität spüren. Keine Bewegungen in der Finsternis, nur Lauern. Atemanhaltender Stillstand. MacLeod fühlte es. Seine Sinne spannten sich bis zum Äußersten. Dann hörte er das Kreischen, im rückwärtig gelegenen, amphitheaterähnlichen Raum. Ein Diamant schnitt durch Glas. - 35 -
Er ist bereits im Haus. Schritte. Geräusche, Poltern, wie von etwas Schwerem, Unhandlichem in einem Sack. Eine Flüsterstimme: »Bescherung, Bescherung! Das ist dein Glückstag, Mann!« Der Flash wurde stärker, paarte sich mit tobenden Schmerzen und explodierte gleich darauf in Sekundenabständen in MacLeods Schädel, immer und immer wieder, zwang ihn aus seinem inneren Gleichgewicht und ließ ihn die letzten drei, vier Schritte taumeln, halb besinnungsund orientierungslos. Er schnappte nach Luft, bezwang den in seinen Geist prasselnden Wahnsinn des anderen, war für Sekunden, vielleicht Minuten stärker. Aber eine unsichtbare Kraft peitschte ihn vorwärts, auf den milchweiß herumgeisternden Lichtstrahl einer Taschenlampe zu. »Stell dich endlich, Feigling!« MacLeods Linke hieb auf den Lichtschalter. Helligkeit flammte auf, zerfetzte den Ruf und hüllte den sich umwendenden anderen und ihn selbst ein. Die Zeit beschleunigte, es war, als löse sich ein Trugbild in Millionen Einzelpunkte auf: Ein Wesen seiner Art - trügerisch unscheinbar. Das Äußere jung, vorgeblich viel zu jung, und überrascht und verunsichert: Lederne Kleidung, schwarz und grün. Ein blasses, harmloses Gesicht, die rotbraunen Haare unter einem Kopftuch gebändigt. Sie tarnen sich alle, dachte MacLeod, verbesserte sich aber gleich: Wir tarnen uns alle. Und sein Gegenüber hielt die Nachbildung des Richard-Löwenherz-Schwertes drohend erhoben - bereit für das Ritual. - 36 -
MacLeod nickte, schob sich einen weiteren Schritt näher, suchte den sich explosionsartig mehrenden Schwall der Gedankenimpulse zu ignorieren und sich gegen diese Beeinflussung abzuschotten. »Ich bin«, sagte er, wie es die Regeln vorschrieben, »Duncan MacLeod vom Clan der MacLeods, und ich bin bereit.« »He, Mann, was soll das?« Das Schattenwesen wich zurück. Eisige Funken tanzten auf der breiten, vorgereckten Klinge des Löwenherz-Schwertes. »Gut, ich meine, ich hab 'n bißchen was von Ihrem Silberkrempel geklaut, aber hey, das kommt nicht wieder vor, okay? Sie können das Zeug wiederhaben. Ist alles in der Tasche da. Und ich bezahle auch das Fenster... und verschwinde, okay?« Perfekte Gesten von Angst und Panik. So geschickt. Noch mehr Gedanken, Irritationen in MacLeods Schädel: Ein Trugbild... Nur ein Köder... aber warum dann diese Schmerzen, diese Witterung - er muß es sein - er NEIN. MacLeod schüttelte den Bann ab, lächelte, um das Begreifen zu tarnen, ein eisiges Lächeln, sagte: »Du redest zuviel, und du wirst deinen Kopf dennoch verlieren, mein Freund.« »Kopf verlieren? He, nur weil ich hier eingestiegen bin?« Der Junge geriet vollends in eine Art ungläubige Panik. Er ließ die Klinge fallen, als sei sie plötzlich lebendig geworden und hob beide Hände. Sein Blick flatterte zu dem Fenster, durch das er eingestiegen war - es war zu weit entfernt -, und er redete, redete sich halb um den Verstand. - 37 -
»Hören Sie, wir können das doch alles friedlicher... äh... regeln. Wozu gibt's Versicherungen? Wissen Sie was? Rufen Sie doch einfach die Cops. Ich bin fast noch ein Kind, noch nicht mal 18, Mann, die werden Ihnen das bestätigen. Sie haben doch Telefon? Halt, ich glaube, ich hab noch ne viel bessere Idee: Ich werde die Bullen selbst anrufen. Okay?« Dann Tessas unnatürlich ruhige Stimme, von der Treppe her: »Mac, er ist harmlos.« Keine Zeit, darauf zu reagieren und den Bluff für sie und den Jungen durchschaubar zu machen. Es war noch jemand anwesend. Zeit für den Tanz. MacLeod war dort, wo er hatte sein wollen, und spürte das neuerliche Brodeln in seinem Verstand. Eine Eruption wie von zähflüssigem Schlamm. Dieses Mal war es eine Warnung. Er warf sich vorwärts - eine Bewegung wie ein Flirren -, versetzte dem Jungen mit der freien Linken einen Stoß vor die Brust, der seinen Redeschwall verstummen und ihn weit genug davontorkeln und zu Boden gehen ließ. Dann fuhr er herum, wie von einer unsichtbaren Kraft gestoßen, und seine Rechte beschrieb mit dem dai-katana einen blitzenden Halbkreis, schneller als das Licht selbst. Es war keine Sekunde zu früh. Der Schatten des Feindes war direkt über ihm aufgetaucht - an dem Oberlicht in der Decke zwei Stockwerke höher. Und er blieb in Bewegung. Die Milchglasscheibe zerbarst. Das Geräusch zerriß die unnatürliche Stille wie eine Explosion. Scherben und Splitter segelten in einem funkelnden Orkan herunter, in ihrer Mitte schien die Finsternis der Nacht selbst Gestalt ange- 38 -
nommen zu haben. Ein brüllender schwarzer Fleischberg federte geschmeidig hoch, geduckt, kampfbereit, umgeben vom Prasseln und Spritzen des Glases. Er war nur zwei Armlängen entfernt - viel zu nahe. MacLeod wich zurück, achtete aber darauf, Tessa und den Jungen zu schützen, der dümmliche Kommentare plapperte und noch immer nicht begriff, daß er zur falschen Zeit am allerfalschesten Ort der Welt auf Raubzug gegangen war. »Highlander...« , dröhnte es aus dem Schlund des Kolosses, und noch bevor MacLeod reagieren konnte, raste ihm sengende Helligkeit entgegen, wie zerlaufendes und sogleich wieder gerinnendes Licht. Er parierte den Schlag der zollbreiten Klinge mit dem dai-katana, ebenso den nächsten und den darauf folgenden. Die Wucht dieses Aufpralls zertrümmerte ihm fast das Handgelenk und ließ tausend neue Schmerzen in ihm losbrüllen. Der Schwertstahl des Feindes schrammte an der zierlicheren, jedoch tausendfach gehärteten Klinge des dai-katana entlang. Funken wirbelten erlöschend zu Boden. MacLeod war in einen Schatten verwandelt, drehte sich in einem einzigen gleitenden Bewegungsablauf um die eigene Achse und versetzte der Fleischmasse einen Fußtritt, die sie weit zurückschleuderte - gegen eine der Glas Vitrinen, in denen Tessa ihre kostbarsten Antiquitäten vor Staub und allzu neugierigem Berühren schützte. Erneut splitterte Glas. MacLeod hatte einen ausreichend festen Stand und damit Kraft, den nächsten Angriff selbst zu führen. Doch er wartete und bot dem Koloß seine Seite: die linke Schulter vor- 39 -
gereckt, linke Hand ausgestreckt, bereit, falls nötig, mit ihr das namenlose Schwert zu führen. Noch nicht. Er zögerte es genauso hinaus wie der Feind. Es war nichts als eine Probe gewesen, ein Einschüchterungsversuch... und, wie sich MacLeod eingestand, ein verdammt imposanter. Er bedeutete Tessa mit einem Wink, zu verschwinden doch sie reagierte nicht, sondern war wie gelähmt. Und dann blieb keine Zeit mehr. »Wie schön Sie sind, Lady«, röchelte der Fleischberg. »Oh, wir wurden einander noch nicht vorgestellt. Doch das wird nachgeholt werden müssen, ich schwöre es, und dann...« MacLeod unterbrach ihn. »Nennst du das kämpfen, Maskenmann?« Das ungeheuerliche Ding ihm gegenüber richtete sich auf. Es schien auch jetzt, ohne den Schock des ersten Moments, nur entfernt menschenähnlich: ein riesenhafter, in einen eisenbeschlagenen Ledermantel gehüllter Körper. Eine Eisenfratze über Monsteraugen. Arme, Beine, riesige Fänge wie aus Stahl. Erst auf den zweiten ungläubigen Blick begriff MacLeod, daß es eine stählerne Maske war. Hinter engen Sichtschlitzen loderten Augen in einem solch wahnsinnigen Feuer, wie er es noch niemals zuvor bei einem seiner Art gesehen hatte - und sie waren alle irgendwie wahnsinnig. Er bemerkte, daß seine Handflächen feucht wurden.
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Aber letzten Endes hielt sich der Fleischberg doch noch an das Ritual, das einer jeden Zusammenkunft vorauszugehen hatte: »MacLeod«, grollte er. »Ich bin Slan Quince, ich bin seit mehr als vierzehn Jahren auf deiner Fährte. Jetzt endlich habe ich dich aufgespürt, und ich komme, um mir deinen Kopf zu holen!« MacLeod antwortete mit einem Nicken. Er lächelte und wechselte das dai-katana von der Rechten in die Linke - eine spielerische Geste. Ein weiterer Bluff, der Slan Quince nicht aufhalten würde. Aber der Junge störte das Ritual: »He, Leute, eine coole Show, echt cool, wirklich! Ihr macht hier so 'n Ding, so 'ne Art >Versteckte Kamera<, hab' ich recht?« Niemand antwortete ihm. Quince griff an, mit einer Behendigkeit, die kein normal denkendes Wesen in einem solchen Monsterkörper vermuten würde. Ein Schemen blitzte auf - das Schwert. MacLeod wich aus, hörte den Stahl mit einem häßlichen Pfeifen um Haaresbreite an sich vorbeiflirren. Gleich darauf spürte er einen ungeheuerlichen Handkantenschlag an seiner Brust, flog zurück und balancierte wieder aus. Den unmittelbar folgenden Schwerthieb fing er mit dem dai-katana ab und verwandelte ihn: Ein klassischer Körperstreich, exakt nach dem »Go Rin No Sho«. Slan Quinces Ledermantel klaffte plötzlich auseinander, aber es floß kein Blut - noch nicht. Ein Gefühl wie bei einem rasenden Sturzflug. Tessa schrie etwas, vielleicht eine Warnung. Plötzlich ein Luftzug hinter ihm. - 41 -
»Ihr seid krank, ihr seid so was von krank!«, brüllte der Junge. MacLeod schüttelte nur den Kopf, ignorierte die Worte und blieb bereit für die Zusammenkunft. Keine Flucht mehr, dachte er, und Kraft durchströmte jetzt seinen Körper, wie eine ungeheuerliche Explosion aus dem Dunkel tief in ihm. Es war stärker als Sonnen, ergriff von ihm Besitz, schärfte seine Instinkte und machte ihn noch hundertmal schneller, als er ohnehin schon war. Die Zusammenkunft. Es war, als empfinde er eine bestialische neue Art von Zorn, einen Zorn, der von seinem ganzen Körper Besitz ergriff. Dann verstand er plötzlich, daß es etwas ganz anderes war: Ein Verteidigungsmechanismus, um ihn vor dem Abgleiten in völlige Angst und Verzweiflung zu bewahren. Sein Schädel drohte zu platzen. Quinces Lachen war plötzlich auch überall in ihm, und dann war der Koloß selbst wieder da, schneller als jemals zuvor. Es war wie Zauberei, wie ein Traum, der aus dem Gehirn des Träumers in die Realität überwechselte, Gestalt annahm und handelte, jetzt abgrundtief böse und gewalttätig. Quince rammte ihm den Ellbogen in den Leib, schleuderte ihn wie ein Insekt zurück, riß seine Klinge beidhändig hoch und ließ sie auf ihn heruntersausen. Unmöglich, auszuweichen. Jede Reaktion war zu schwerfällig, mußte unweigerlich zu spät erfolgen. Duncan MacLeod versuchte es trotzdem, stieß sich nach hinten weg und... Da war eine Hand mit Fingern, so kraftvoll wie eherne Klauen. Ein Kampfschrei gellte. MacLeod wurde zurückge- 42 -
rissen, ein Tritt fegte ihn vollends aus dem Todesbereich von Quinces Schwert. Der Stahl fraß sich in den Boden, wurde von einer dai-katana-Klinge zurückgedroschen, die nicht seine eigene war, und jetzt erst, viel zu spät, begriff Duncan MacLeod. Es gab nur einen außer ihm, der ein solches Schwert führte... Connor MacLeod setzte mit einem Sprung über ihn hinweg und stellte sich Slan Quince breitbeinig in den Weg. Er trieb ihn mit drei, vier Hieben zurück in die dunstige Weite des Raumes; unspektakulär, gelassen und wendig wie immer, ein schlaksiger, altersloser Mann in Jeans und Trenchcoat, die Haare kurzgeschoren. Nichts wies mehr auf seine Zugehörigkeit zu jenem barbarischen schottischen Highland-Clan hin, der ihn vor vierhundertfünfzig Jahren nach seiner Auferstehung als Ausgeburt des Teufels verstoßen hatte. MacLeod war bereits wieder auf den Füßen, das dai-katana quer vor der Brust. Die Augenwinkel verzeichneten flackernde Momentaufnahmen: Tessa war noch immer da, oder schon wieder. Nur der Junge stahl sich Schritt für Schritt davon. Mit der Tasche. Offenbar hatte er Sinn für praktisches Handeln. Die Zeit stand still... raste... stand wieder still. Connor schüttelte den Kopf. »Man kann dich nicht allein lassen, Duncan«, rügte er sanft, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Slan Quince mochte vielleicht irritiert sein aber auch irritiert war er noch gefährlich. Die Spitze seines Beidhandschwertes pendelte wie der Schädel einer Schlange hin und her. - 43 -
MacLeod glitt zur Seite weg, blockierte den Weg zu Tessa und gab Connor genügend Bewegungsfreiheit. Erst jetzt antwortete er ironisch, trotz aller Überraschung: »Connor? Was suchst du denn hier? Verdammt, ich hatte alles unter Kontrolle.« Connor beachtete es gar nicht. »Eine kleine Kopfjagd«, flüsterte er. »Der Jäger des Jägers. Irgend jemand muß auf dich achtgeben.« Ein kleines harmloses Treffen unter Gleichen. Es war ihre Art, mit dem Grauen umzugehen und mit der Unsterblichkeit. Quince wurde nervöser - exakt der Sinn dieser Sache. »Wer immer du bist, Mann, du störst das Ritual. Es ist gegen die Regeln des Kampfes. Ein Krieger gegen den anderen.« »Du wolltest kämpfen, Slan?« spottete Connor und fuhr dann, halb über die Schulter sprechend wieder an MacLeod gewandt, fort. »Glaub ihm kein Wort, Duncan. Er wird nicht mit dir kämpfen, nicht richtig. Noch nicht. Nicht, solange er noch ein wenig mit dir spielen kann...« Etwas änderte sich, als würde eine unsichtbare Grenze überschritten. Sowohl Slan Quince als auch Connor setzten sich völlig synchron in Bewegung, umrundeten sich lauernd, die Klingen erhoben: ein Geistertanz, mystisch wie der Wellenschlag des Meeres. »Es ist mein Kampf, Connor«, flüsterte Duncan mahnend. Er war bereit. Das ungestüme Hämmern seines Herzschlags beruhigte sich. Es wurde Zeit. Es dauerte bereits viel zu lange. - 44 -
Connor sprach ungerührt weiter, monoton und verächtlich. Jedes einzelne Wort war eine Provokation des Feindes, aber auch eine Klarstellung dessen, daß er in dieser Angelegenheit die älteren Rechte innehatte. »Er wird alles zerstören, was du auf dieser Welt liebst. Er wird dich zu brechen versuchen, und wenn er das vollbracht hat, wird er immer noch weitermachen und weitermachen, bis du nicht mehr weißt, ob du leben oder sterben willst. Erst dann wird er mit dir kämpfen.« Das Lodern in den Augen des Monstrums explodierte vollends zu animalischem Haß, und seine Stimme war nur mehr wie ein dumpfer Hauch. »Ich wollte Duncan MacLeods Kopf, nicht den deinen - wer immer du bist, aber...« »Connor MacLeod! Derselbe Clan, nur ein etwas anderer Jahrgang.« Hinter den Stahlfängen der Gesichtsmaske erschien ein böses, zähnefletschendes Lächeln. »Ah ja. Du also.« »Ich bin bereit, Slan. Nur wir beide. Jetzt.« Connor ließ dem Koloß keine Zeit mehr, alles zu begreifen. Er griff an, und Duncan spürte den gewaltigen Ausstoß mentaler Energie wie das unvorhersehbare Hereinbrechen eines Wintergewitters. Es traf ihn ein Blizzard voll unbändiger Wildheit. Er war endgültig aus diesem Tanz ausgesperrt, aber nach wie vor bereit: den Oberkörper vornübergebeugt, alle Muskeln gelockert und dennoch angespannt wie die Stahlfeder eines gewaltigen Uhrwerks. Es mochte das Recht des älteren Clanbruders sein, zuerst zu sterben, für eine Absolution aber war es noch Äonen zu früh. - 45 -
Connors Hieb kam ohne Vorwarnung schnell, rasend schnell. Etwas brannte einen silbern blitzenden, waagerechten Halbkreis in die Luft. Das dai-katana schrammte über Quince's Eisenmaske und ließ ihn torkelnd zurückweichen. Connor setzte hinterher, parierte einen lächerlich kraftlos scheinenden Schwertstoß des Monstrums und stieß nach. Er trieb Quince einen weiteren Schritt zurück, wurde mit Schwert- und Fausthieben eingedeckt und begriff zu spät, daß alles nur Teil einer Finte gewesen war. Mit einem Grunzen erholte sich Quince vollends, schüttelte Schmerz und Schock ab und reagierte mit einem Gewitter blindlings geführter, kraftvoller Schläge. Er erreichte die nächste Vitrine, ein gewaltiges, stahlgerahmtes, mannshohes Ding, das er Connor entgegenschleuderte, als sei es nur ein Karton. Die Welt innerhalb des Raumes zersplitterte in Einzelbilder. Ein Inferno aus Glas und Porzellan begrub Connor unter sich. Quince trat ihm ins Gesicht, stieß das dai-katana beiseite - und floh. Katz und Maus. Duncan MacLeod durchzuckte es erst heiß, dann eisig kalt. Er zögerte einen einzigen, entscheidenden Sekundenbruchteil. Dann erlosch das Licht. Connors Schrei brach in einem gurgelnden Würgen ab, doch Duncan sah ihn sich bereits durch den Aufruhr von Scherben und Staub emporwühlen und das Blut aus dem Gesicht wischen. Irgendwo draußen, in den Straßen, wurde Sirenengeheul laut und näherte sich rasch. Tessa war verschwunden, also durfte er annehmen, daß sie die Cops gerufen hatte. Das machte es auch nicht besser. - 46 -
Das Monstrum hatte vier, fünf Schritte Vorsprung. Es hetzte die Stufen empor, zerschlug wahllos Statuen und Ausstellungsgegenstände und ließ den Amphitheaterraum hinter sich. Sein Riesenschatten geisterte zu den Schaufenstern hin, wie geballte Schwärze vor öligem Blau. MacLeod setzte ihm fluchend hinterher, folgte seiner Spur der Verwüstung und bekam nur halb besinnungslos vor Zorn mit, daß irgend jemand - vielleicht Tessa - wieder Licht gemacht hatte. Slan Quince verwandelte sich in eine Art Luftspiegelung, etwas Großes, Flatterndes, das immer noch schneller zu werden schien, durch die Auslagen des größeren Schaufensters stapfte, sich schließlich abstieß und - sein Schwert beidhändig vorgereckt - sprang. Etwas wie ein Erdbeben zertrümmerte die Scheibe aus Sicherheitsglas. Elektrische Entladungen züngelten um Quinces Klinge. Noch während die Scheibe wie ein gefrorener Wasserfall in sich zusammenfiel, war das Monstrum bereits draußen und wie ein Spuk verschwunden. MacLeod folgte ihm mit einem kraftvollen Satz hinaus. Er orientierte sich nur kurz und verließ sich ganz auf seinen Instinkt. Dann rannte er die menschenleeren Arkaden entlang bis zur Sunset Avenue. Als er um die Ecke fegte, hörte er nur mehr stampfende, rasend schnelle Schritte verhallen. Wagen verlangsamten ihre Fahrt, hinter den Scheiben wandten sich ihm Gesichter neugierig zu. In benachbarten Häusern flammte Licht auf. Erste Fenster wurden geöffnet. Er war nur mit einer schwarzen Hose bekleidet, und er hielt noch immer das dai-katana in der Rechten, in seinem Schädel pochte, rauschte und dröhnte es, ein tierhafter - 47 -
Zorn, Haß und Blutrausch. Und durch all das hindurch erreichte ihn fordernd die Botschaft: Weg hier. Verdammt, du fällst auf. MacLeod benötigte einen weiteren Moment, um wieder klar denken zu können, und wurde, gerade als er Quince gegen jede Vernunft doch folgen wollte, von Connor in die Schatten der Arkaden zurückgerissen. »Nicht!« Connors Stimme war nur ein heiseres Flüstern, seine Berührung jedoch von zwingender Stärke. »Nicht du. Das ist genau das, was er will. Er spielt nur mit uns. Jedenfalls vorerst noch. Er will Tessa. Er nimmt sich immer zuerst die Frau vor...« Duncan MacLeod erwiderte den Blick seines Clanbruders und sensei - immer noch schwer atmend und ohne etwas zu sagen. Er war noch für alle Empfindungen taub. Kalter Nachtwind fegte heran, und auch ihn spürte er kaum. Connor sagte, eindringlicher jetzt: »Ich folge ihm. Du hältst die Cops aus dieser Sache heraus, und auch Tessa. Es ist unser Kampf, unser Sterben.« Er überlegte kurz, zögerte, dann: ein Lächeln, wie nur er es zustande brachte. Es war voller Ironie und so unermeßlich tief schmerzlich, daß es MacLeod schauderte. »Und vor allem«, beendete es Connor mit dem ihm eigenen Humor, »ist es unser Spiel.« Die Sirenen kamen sehr nahe. Das Jaulen brach von drei, vier Seiten über sie herein, ein beängstigender, adrenalinpeitschender Aufruhr. Kreisendes Blaulicht färbte die Nacht. Nicht mehr viel Zeit für Connor. - 48 -
Duncan MacLeod senkte das dai-katana und schloß die Augen. Er atmete tief durch, spürte das Blut in seinen Schläfen hämmern. Noch immer sah er das in sich zusammenstürzende Glas des Schaufensters - wie ein Sinnbild für sein ganzes Leben, das unter Slan Quinces Auftauchen genauso in Scherben zerbrach. Und er spürte Connors Präsenz - den immer noch unbeirrbar auf sein Gesicht gerichteten Blick des Clanbruders. Das gab den Ausschlag: Es war ein blitzartiges Austauschen dunkler Energie und Einsamkeit, ein gegenseitiges Verstehen ohne Worte wie immer, wenn sie sich trafen. Ein Erneuern des Bundes, eine Bruderschaft unsterblicher Krieger. »Unser Spiel«, murmelte MacLeod mit einem müden Atemstoß. Und dann, endlich, nickte er, während jenseits der Arkaden die ersten Polizeifahrzeuge stoppten und die Schatten von Cops umhergeisterten. Irgendwer rief durchdringend: »Polizei, Polizei!« »Besser, du verschwindest ebenfalls«, riet Duncan lakonisch, da sie für Gefühlsduseleien ohnehin niemals Zeit verschwendeten. »Der Jäger des Jägers«, wiederholte Connor, und sein Lächeln wurde breiter. Die Obsession und Entschlossenheit in seinen Augen erloschen für einen kaum meßbaren Moment und ließen Heiterkeit, Zuneigung und noch mehr Ironie aufblitzen. Duncan MacLeod wandte sich bereits ab, um zurückzugehen - zu Tessa, zu den Trümmern seines Lebens mit ihr. »Ich habe dich damals gewarnt, Duncan«, erinnerte ihn Connor, jetzt wieder sehr ernst. »Es wird niemals vorüber - 49 -
sein, ganz gleich, wie lange du dich versteckt hältst, und wo.« »Das war vor mehr als einem Leben.« »Manchmal«, rief ihm Connor ohne jeden Spott hinterher, »braucht man mehr als ein Leben, um zu begreifen.« Auch sechzehn Stunden später, während denen MacLeod nonstop auf den Füßen gewesen war und wie besessen gearbeitet hatte, um der Verwüstung Herr zu werden und alles wieder normal erscheinen zu lassen, fühlte er sich noch immer wie in eine Zentrifuge gesperrt. Und sie beschleunigte und beschleunigte. Die Cops hatten noch in der Nacht zuerst Tessa und dann ihn vernommen. Obwohl sie beide völlig übereinstimmend die Unwahrheit gesagt, sich herausgeredet und falsche Spuren gelegt hatten, um das Geheimnis im Schatten zu belassen, war offensichtlich, daß man ihnen die Geschichte von dem Amokläufer nur bedingt abkaufte - trotz einer Bestätigung der Spezialisten von der Spurensicherung. Letzten Endes jedoch war es einfacher, damit zurechtzukommen, als er angenommen hatte. Die Cops auf sich aufmerksam gemacht zu wissen, war nur ein untergeordneter Aspekt der eigentlichen Bedrohung: Wesen seiner eigenen Art, Schattenkrieger, die seine Fährte verfolgten. Slan Quince war irgendwo dort draußen, eine Bestie in Menschengestalt, ein Monstrum, unsterblich und abgrundtief überdrüssig und deshalb um so begieriger darauf, das Spiel zu spielen, zu töten, Blut zu schmecken und eine - 50 -
neuerliche Belebung durch die Ewige Kraft zu erlangen. Er war da, wie ein Pestgestank - nicht fern, doch stets gerade außerhalb einer bewußten, zielgerichteten Wahrnehmbarkeit. Er war da, trotz Connor, und er beobachtete und lauerte, und er wollte Tessa und dann ihn. Niemals würde er aufgeben. Jetzt, nachdem er Duncan aufgespürt hatte, blieb ihm alle Zeit der Welt, und er würde sie nutzen - auf seine ganz eigene, pervertierte Art. MacLeods riß seine Gedanken verzweifelt aus diesem Abgrund zurück, verbannte die Visionen von Tessas Tod und Verstümmelung in einen Winkel seines Unterbewußtseins, dorthin, wo die Alpträume darauf warteten, freizukommen, und zwang seinen Geist zu anderweitiger Beschäftigung. Nicht Tessa. Doch dieser Gedanke allein genügte bereits, zum eine ganze Meute weiterer wohlbekannter Gespenster heraufzubeschwören. Erinnerungen an die letzten Lebensmomente seiner indianischen Gefährtin Aylea machten sich breit: Ein brennender Himmel über der von einem Feuersturm gepeitschten Prärie. Geschützdonner, der rasende Galopp zahlloser Pferde und, dazwischen, seltsam arhythmisch, Pistolenschüsse und das Gellen menschlicher Schmerzens- und Tödesschreie. Amerika, 1892, vor lächerlichen hundert Jahren. Obwohl er die Augen nicht schloß, sah er wie in Zeitlupe alles wieder und wieder: den erbarmungslosen Zangenangriff der berittenen Soldaten, wie sie Frauen, Kinder und Hunde in einer Welle überrollten, sie niederritten und feuerten, wo auch immer sich noch etwas bewegte; wie sie in ihrem Siegesrausch grölend die Tipis niederrissen und anzündeten; - 51 -
wie eine zweite Woge heranbrauste, die von den Kriegern, zu denen auch er gehörte, mit nichts als Pfeilen und Speeren empfangen wurde doch viel zu spät. Es war ein aussichtsloser, völlig sinnloser Kampf, so, wie Töten und gewaltsames Sterben immer völlig sinnlos waren. Aylea hatte das erbärmliche Weinen eines Kleinkindes gehört, irgendwo unter den Trümmern eines der Zelte. Sie war losgelaufen - mitten hinein in den Weltuntergang, den die Kanonen der weißen Soldaten über das kleine Dorf verhängten. MacLeod hörte sich selbst schreien, endlos, ein Schrei voller Verbitterung und Grauen, daß er alle Zeiten überdauern mußte. Er war zu ihr gestürzt, zu dem, was von Aylea übrig war - ein zerfetztes, blutiges Bündel, das auf den ersten wie auf den zweiten Blick nichts Menschliches mehr aufwies. Doch irgendwo in diesem zerschmetterten, zuckenden, blutenden Etwas war noch Leben. Diese jähe Gewißheit durchraste ihn wie eine Heuschreckenplage und erweckte ein völlig neues Grauen zum Leben. Nicht, bitte. NICHT. O Gott! Er hatte Sie an sich gezogen, ganz sanft, um ihren Schmerz nicht unnötig zu vergrößern. Er hatte sich über sie gebeugt und sein Gesicht dorthin gebracht, wo ihr Gesicht gewesen war, bevor diese Wahnsinnigen es ausgelöscht hatten. Er hatte irgendwelche sinnlosen Zärtlichkeiten geflüstert, sie getröstet, während ihr Blut überall an ihm herabfloß, während ihre Brüder gekämpft hatten und gestorben waren und immer neuer Kanonendonner über sie hereingetobt war, der die Welt in Stücke riß. Aylea konnte nicht mehr sprechen. Sie konnte nicht mehr sehen, und vermutlich konnte sie auch nichts von dem verstehen, was er ihr in seiner Hilflosigkeit zuflüsterte. - 52 -
Aber da war ihre Hand, ihre rechte Hand - blutüberströmt, aber völlig unversehrt. Vielleicht fühlte sie seine Nähe. Sie streichelte über seinen Arm, schaffte es irgendwie, ihre Hand anzuheben, sein Gesicht zu berühren und Abschied zu nehmen. Endlich gelang es MacLeod, sich aus seiner Erstarrung zu lösen und aus der Erinnerung zurückzukehren. Er zwang seinen Geist endgültig in ungefährlichere Bahnen. Die Cops, dachte er. Denk an die Cops. Sie ahnen etwas. Deine Tarnung. Wenn sie energisch genug nachforschen... Slan weiß es, er weiß es, darauf basiert sein Plan. Nicht Tessa, dachte er wieder. Er würde bereit sein und kämpfen. Es würde anders sein als damals, bei Aylea. Und plötzlich, in diesem Moment, begriff er, daß er Tessa liebte, sie wirklich liebte. Aber das machte es vollends schwierig: Er mußte mit ihr reden. Er mußte ihr so vieles sagen, zu erklären versuchen. Die Zusammenkunft - das Ritual, und wie es sie alle zu Sklaven degradierte. Sie wußte längst genug über ihn, um es - zumindest ansatzweise - zu ahnen. Sie war ihm aus dem Weg gegangen, schon seit gestern abend, sie hatte keine unnötigen Fragen gestellt, und sie war bereit gewesen, den Cops ein harmloses Märchen zu erzählen. Er war ihr dankbar für all das, doch die notwendigen Fragen würden kommen. Es war nur fair, ihr Antworten zu geben. Aber MacLeod zögerte es hinaus, wich ihr seinerseits aus, zwang sie, ihm Zeit zu lassen. Wir reden darüber. Später. Ein hübsches kleines Geburtstagsgeschenk. - 53 -
Die Angst, sie zu verlieren, ganz gleich, ob durch Slan Quince oder den Fluch des ewigen Lebens, durchschnitt rasiermesserscharf alles, was er in seinem rasenden Beschäftigungswahn bewerkstelligte: Aufräumarbeiten, Gespräche mit Handwerkern, einem Vertreter für Sicherheitsanlagen und dem Versicherungsmakler. Am Nachmittag waren das neue Oberlicht sowie die neue Schaufensterscheibe eingesetzt, die Alarmanlage installiert, und die Cops riefen ein weiteres Mal an: Sergeant Powell ließ ihm ausrichten, er möge im Vancouver Police Department zu einer Gegenüberstellung vorbeikommen. MacLeod wußte sofort: Sie haben den Jungen, aber nicht Quince. Das bedeutete noch mehr Komplikationen. Trotzdem war es wie eine Erlösung: Gut, etwas tun zu können. In Bewegung zu sein. Tessa weigerte sich, mitzukommen, und da MacLeod neben dem Monstrum auch Connor in der Nähe wußte, fuhr er einigermaßen beruhigt hin und nahm die Dunkelheit und den Aufruhr in sich mit. Während der Fahrt hörte er im Radio Musik von Nat King Cole, danach Muddy Waters - den Live-Mitschnitt eines Clubauftritts in Chicago, irgendwann in den fünfziger Jahren. Und danach wiederum spielte ein namenloser Saxophonist, der Wehmut und Kraft perfekt auf den Punkt brachte. Wehmut und Kraft... MacLeod war sich völlig im klaren, daß er sich nicht von der Wehmut übermannen lassen durfte. Wehmut, Trauer und Melancholie waren keine guten Weggenossen in Zeiten der Gefahr. Wenn Unheil drohte, wenn Tod und Verderben - 54 -
lauerten, waren Kraft, Einsatzbereitschaft und unbedingte Wachsamkeit gefragt. Er würde diese Eigenschaften in naher, und vielleicht auch ferner Zukunft bitterlich brauchen. Allein um Tessa zu schützen.
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Vancouver Docklands Hospital
Seltsam irritiert und zögerlich wie ein Insekt, das mit zitternden Fühlern unbekanntes Gelände ertastet, kehrte MacLeod in die Realität der Gegenwart zurück. Das Gefühl der Irritation rührte nicht so sehr von dem milden Schock des Wiedererwachens her. Er kannte diesen, hatte ihn schon öfter erlebt, so daß er ihn mit der Arroganz des Unsterblichen beinahe als Routine betrachten konnte. Was ihn tatsächlich verstörte, war die Erinnerung an die Erinnerung. Warum gerade jetzt diese überlebensstarken Bilder von Slan Quince? Der bloße Gedanke an das Ungeheuer in Menschengestalt ließ im gleichen Augenblick das Bedürfnis in ihm aufsteigen, seine Hand auf den Griff des dai-katana zu legen, um bereit zu sein zur Verteidigung der eigenen Person und der Frau, die er liebte. Aber das Schwert lag auf dem Grund des Pazifik, von seiner eigenen Hand bewußt dorthin geschleudert. Sollte ihm die Erinnerung an das Monstrum sagen, daß es ein Fehler gewesen war, sich Freiheit und Frieden auf diese Weise erkaufen zu wollen? MacLeod konnte nicht mit völliger Gewißheit von der Hand weisen, daß ein tieferer Sinn in den Träumen der Todesphase lag, aber er weigerte sich, daran zu glauben. Genausogut hätte er glauben können, daß es irgendeine verborgene Macht gab, die an unsichtbaren Fäden gezogen - 56 -
hatte, um seinen Tod herbeizuführen und ihn zielgerecht in eben diese Erinnerung eintauchen zu lassen. Wütend auf sich selbst verbannte er die nagenden Gedanken an Slan Quince und das dai-katana. Es wurde Zeit, sich auf den realen Augenblick zu konzentrieren, auf das, was um ihn herum vor sich ging. Wach auf, Highlander, du bist wieder im Geschäft! Er nahm hektische Schritte wahr, dann den Geruch aseptischer Sauberkeit; Krankenhausatmosphäre. Eine Stichflamme, in der sich Feuer und Eis paarten, loderte in seinem Inneren hoch. Krankenhaus, Ärzte, eingehende Untersuchungen für einen wie ihn verkörperte all dies keine Hilfe, sondern das genaue Gegenteil. Offensichtlich hatten sie an der Unfallstelle und später während des Transports ins Hospital gar nicht gemerkt, daß er eigentlich längst gestorben war. Die Biologie eines Unsterblichen mußte der Schulmedizin zwangsläufig Rätsel aufgeben. Und Neugier wecken - bohrende, forschende Neugier, die nur allzu schnell zu unbezähmbarem, vor nichts haltmachendem Wissensdrang ausarten mochte. MacLeod bemühte sich, die Augen zu öffnen. Aber das Bemühen scheiterte, denn die Lidmuskeln reagierten noch nicht wieder. Er befand sich ganz am Anfang der wie ferngesteuerten Erholungsphase, die die Mediziner falsch deuten würden. Was tatsächlich das langsame Aufflackern neuer Lebensgeister war, mußte für sie aussehen wie die letzten Zuckungen eines Menschen, der ohnmächtig dem Tod entgegenstrebte.
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Erste Erkenntnisse machten sich in MacLeods Gehirn breit: Der widernatürlich saubere Geruch kam von einer Sauerstoffmaske auf Mund und Nase. Er spürte das unregelmäßige Hämmern seines Herzens, den Puls, die Atmung. Der Druck in seinen Venen - eine Infusionsnadel. Sie brachten ihn auf einer fahrbaren Liege in den OP-Vorraum. Er wußte, sie würden ihn zu operieren versuchen und den Schock ihres Lebens erleiden. Und dein Geheimnis entdecken, Unsterblicher, wisperte eine böse, besserwisserische Stimme in seinem Kopf. Neue, andere Stimmen umgaben ihn, folgten ihm einen langen, mit Linoleum ausgelegten Krankenhauskorridor hinab. Professionelle Stimmen kreisten in professioneller Sachlichkeit durcheinander. »Ein Notfall... muß sofort in die...« »Ich bin Dr. Wilder - was ist passiert?« »Er wurde vor zwanzig Minuten von zwei Irren über den Haufen gefahren. Reanimation ist teilweise geglückt. Atmung noch destabil. Verdacht auf schwere Kopfverletzungen.« »Ich brauche Röntgenaufnahmen, und ein EKG Schwester Barbara!« »Schon erledigt, ich habe veranlaßt, daß Ihnen die Aufnahmen umgehend gebracht werden, Dr. Wilder.« »Das ist nicht schnell genug, verdammt. Der Mann stirbt!« »Ich rufe an!« Noch mehr Stimmen. »Hier, die Infusion.« - 58 -
Hilfreiche Hände hoben ihn an, betteten ihn auf eine andere Liege um, breiteten ein Tuch über ihn. Er spürte den Luftzug, als es wie etwas Lebendiges auf ihn herunterflatterte. »Ganz vorsichtig, Jeff!« Die Durchsage einer gefühllosen Roboterstimme: »Dr. Forster, bitte melden Sie sich umgehend in der Chirurgie! Dr. Forster bitte.« Dr. Wilder war zurückgekehrt: »Hatte er irgendwelche Papiere bei sich?« »Ich habe sie bereits in die Aufnahme bringen lassen.« »Okay, Barbara, okay.« Er sprach jetzt sanft, wie begütigend. Jener Teil MacLeods, der noch - oder wieder - bei seinen Gedanken ausharrte, glaubte, innerlich wie ein Tier vor dem Herannahen eines Schneesturms zu zittern. Eisige Kälte breitete sich unvermutet in ihm aus. Seine Augen waren noch immer geschlossen, und er meinte, blutige Dinge auf den Innenseiten der Lider erkennen zu können. Draußen, um ihn herum, rotteten sich immer noch mehr Menschen zusammen - er konnte sie fühlen, wittern. Sanitäter und Krankenschwestern. Jener dunkle, magische Teil seines Ichs, über den nachzudenken er sich beständig weigerte, war stets genauestens darauf bedacht, ihm einen möglichst kompletten Überblick zu verschaffen. Er wußte, die Zeit lief gegen ihn. Sie lief ihm davon. Etwas geschah mit ihm, in ihm. Sie schlossen ihn an Geräte an. Er spürte kühle Berührungen auf seiner Brust, an seinem Kopf. Meßgeräte begannen zu arbeiten. Erneut erklang das Ticken - Sekunden, die rasend schnell ver- 59 -
strichen. Eine stählerne Klammer spannte sich um seine Brust, neue, reißende Schmerzen brachen auf, als machten sich Krallenhände erneut an seinem Körper zu schaffen. Barbaras Stimme, voller Besorgnis: »Herzrhythmusstörungen. Atmung immer noch destabil.« Ein Orkan weiterer Mitteilungen brandete um ihn herum: »Sauerstoff vorbereiten!« »Zustand kritisch, Doktor.« »Reflexe?« »Negativ! - Nein, großer Gott... Da! Die Pupillen reagieren noch.« »Puls unregelmäßig...« »Defibrillator vorbereiten, Beeilung!« MacLeod dachte nur eins, immer und immer wieder: Ich muß hier raus, ich muß hier raus, ich muß... Er spürte seinen Körper nicht mehr. Nur noch mehr Dunkelheit. Es war, als treibe er davon. »Kein Puls mehr!« »Sauerstoff - was ist mit der Atemmaske!« »Kein Puls. Keine Atmung, Dr. Wilder!« »Ich reanimiere!« Eine Feuerexplosion in seiner Brust schüttelte ihn durch, ließ ihn sich aufbäumen und schleuderte ihn auf die OP-Liege zurück. Dr. Wilders Stimme wurde zu einem dämonischen Kreischen: »Komm schon, Mann, komm schon!« Verschiedene Zeitabläufe vollzogen sich in MacLeods Schädel: Bruchstückempfindungen. Dann ein zweiter - 60 -
Stromstoß, härter noch als der erste. Er ruckte hoch, glaubte, alle Muskeln in sich reißen zu spüren, er rang verzweifelt nach Atem, doch da war kein Atem, nichts - nur Leere; keine Reaktionen. Das Feuer verging, glühte aus, erlosch. Warum ist es dieses Mal so anders, warum? Ich war bereits zurück, ich war... Er wußte die Antwort im nächsten Moment: zu viele Medikamente. Zuviel Chemie. Die Sterblichen hatten es zu gut mit ihm gemeint. Zum ersten Mal bemerkte er das Pulsieren leiser Angst, es dieses Mal nicht mehr zu schaffen oder, schlimmer noch, für alle Zeiten in diesem Zwischenzustand verharren zu müssen. Es war wie ein rasender Zwang: Er wollte schreien, wollte sich aufbäumen, das Grauen hinausschreien und... »Null-Linie!« Nicht das. Nicht so. Seine Gedanken waren schwer wie Mühlsteine. »Beatmen!« Sauerstoff strömte zischend in ihn hinein, füllte seine Lungen und blähte seine Brust. Fäuste schlugen auf seinen Oberkörper ein, rhythmisch, verzweifelt und doch entschlossen, diesen Kampf zu gewinnen. »Der Defibrillator, Doktor!« »Kein Herzschlag, keine Atmung...« Schwärze. Ticken. Zeit, die vergeht. Viel Zeit. Funken in der Unendlichkeit, winzigklein, Stecknadelköpfe. Etwas, das den Weg weist. Den Weg zurück. Das nächste: überwechseln. Keine Erinnerungen. Noch nicht. - 61 -
Dann: Seine Umgebung war verändert. Weniger Hektik. Nicht mehr so viele Menschen. Die Besserwisser-Stimme in seinem Verstand verriet ihm: Du bist unbeobachtet. Für die nächsten zwei, drei Minuten. Warum auch immer. Seine Augen waren wie unter Schock weit aufgerissen, dennoch nahm er erst Sekunden später verzerrte Einzelheiten wahr: Es schien, als habe Dali die Realität neu gemalt - da waren nur zerlaufende, verzogene Formen. Es blieb nicht viel Zeit. MacLeod zwang sich zur Ruhe, schloß die Augen, stellte sich einen einzelnen roten Punkt vor, auf einen Spiegel gemalt. Er sah sich selbst, in Lotos-Haltung, sammelte seine Gedanken und zentrierte sie auf diesen einen roten Punkt, um die Mitte seines Selbst darin zu erkennen. Nicht viel Zeit... »Drei Stunden! Großer Gott, wir haben ihn da noch mal herausgeholt, aber so, wie's aussieht, wird er es nicht überleben. Nicht mit diesen Verletzungen.« Stimmen, weit entfernt. MacLeod öffnete ruckartig die Augen und ignorierte die Schmerzen, die wie Feuer an seinen Sehnerven entlang in seinen Kopf hineintobten und nur Schwäche und Verzweiflung hinterließen. Aber dieses Mal konnte er einige Details wahrnehmen. Er benannte sie in Gedanken, animierte sein Erinnerungsvermögen: OP-Lampe, ein blitzendes und blinkendes Instrumentarium auf den Edelstahltischen, Computer, summende, tickende Gerätschaften, zahllose Schläuche, wie ein Spinnennetz. Das Licht war viel zu grell. Die Schmerzen in seiner Hüfte und seinem Arm reduzierten sich auf ein Prickeln. Doch in seinem Kopf - 62 -
herrschte ein Inferno, ein Mahlstrom wie an jenem Himmel über Vancouver Island vor... wann? Einem ganzen Leben? Das Ticken, das seinen Herzschlag auch außerhalb seines Körpers hörbar machte, kam von rechts. Links verlief eine Glasfront. MacLeod riß sich die Sauerstoffmaske vom Gesicht, blinzelte desorientiert, dann haßerfüllt: Er ahnte die Schockwellenfront neuer Schmerzen voraus und wappnete sich dagegen. Raus hier, bevor Hinter der Glasfront, in einem kleineren, angrenzenden Raum, waren Menschen: Ein Mann im weißen Kittel: Dr. Wilder. Er war mittelgroß, schmächtig, mit kurzgeschnittenen, brünetten Haaren; ein blasses Durchschnittsgesicht hinter einer überdimensionalen Brille. Aber MacLeod erinnerte sich an die Autorität in der Stimme des Arztes, an die Besessenheit, mit der er um seine Rückkehr ins Leben gekämpft hatte. Er dachte unwillkürlich: Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Neben Wilder stand eine Frau in Schwesterntracht: schlank, hübsch, die Haare zurückgebunden. Barbara. Ihre Körpersprache war eindeutig: Sie bewunderte und liebte Wilder, sie würde alles für ihn tun, immer und immer wieder, und sie wollte wiedergeliebt werden dafür um jeden Preis. Es waren ihre Stimmen - vorhin. Erinnere dich, erinnere dich... und beeil dich! Wilder stand halb abgewandt von ihm, Kopf und Oberkörper vorgereckt, und betrachtete angespannt zwei auf - 63 -
dem Leucht-Board befestigte Röntgenaufnahmen. Als er sprach, war es, als habe er die Anwesenheit der Frau völlig vergessen. »Unglaublich! Massive Blutungen in den Frontal-Gehirnlappen. Hämorrhagie, ein vollständiges Ödem der gesamten Hirnsubstanz. Ich frage mich, wie kann der Mann überhaupt noch leben?« MacLeod ignorierte die Schmerzen, die jetzt in großen, wilden Schüben kamen. Und er ignorierte sein Spiegelbild in der Glaswand: seine langen Haare zerzaust, der Bartschatten tiefer. In seinen Augen ein loderndes Feuer, das ihm noch niemals zuvor so intensiv vorgekommen war zugleich eisige Kälte und Vülkanhitze, wie bei einem Raubtier. Der Hauch eines ganz persönlichen Wahnsinns, korrigierte er sich schließlich selbst. Sie hatten sein Hemd aufgeknöpft. Seine Bauchmuskulatur trat knotig und hart hervor, während er sich nun, ein Stöhnen unterdrückend, in eine vornübergebeugte Haltung hochmühte, bereit, weitere Schmerzattacken abzumildern und zu reagieren, falls sie ihn bemerken sollten. Er legte die Sauerstoffmaske ganz behutsam auf einen der Edelstahltische, zog die mit Klebstreifen befestigten Infusionsspritzen aus seinen Armen und wälzte sich von der Liege. Es war, als versinke er mit jedem neuen Schritt ein wenig tiefer in einem Boden, der normalerweise aus purem Beton hätte bestehen 'müssen. Die Anstrengung, dennoch weiterzugehen, trieb MacLeod den Schweiß auf die Stirn. Aus betäubendem Schmerz wurde reißende Übelkeit, er glaubte - 64 -
sich übergeben zu müssen, er glaubte festzuhängen, stürzen und schreien zu müssen... und stellte ungläubig fest, daß er bereits an der Tür war. Er erinnerte sich der Belanglosigkeiten, die plötzlich wichtig waren, wenn er nicht auffallen wollte: Er knöpfte sein Hemd zu, nahm von irgendwo sein Jackett und streifte es über. Dalis surreale Krankenhausrealität brach in grellen Farbkaskaden erneut über ihn herein und drohte ihn unter sich zu begraben. In seinem Kopf tönte das Klirren von Stahl auf Stahl, kreisten Gedanken, scheinbar von jemand anderem gedacht: Der Ewige Kampf... Der schlimmste Feind von allen... Bitte... Das dai-katana. Du hättest es nicht tun dürfen. Und im selben Augenblick: Doch! Mußt raus. Schnell. Ihm gelangen weitere Schritte. Noch immer unbemerkt. Noch immer keine gebrüllten Befehle, um ihn aufzuhalten und zurückzubringen. Es war, als würde das Krankenhaus von Dämonen auf die Seite gekippt, als krieche er wie ein unbeholfenes Spinnenmonstrum über die Wände und Decken. Aber er war noch immer auf den Füßen, noch immer unterwegs. Fast draußen. Er glaubte, das Zusammenwachsen seines Fleisches hören zu können, wie sich die Wunden unter züngelnden Blitzen schlossen und... Geh weiter, geh weiter. Wilders und Barbaras fassungslos diskutierende Stimmen klangen weit entfernt. Hinter ihm. Unwichtig.
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MacLeod sah nicht zurück. Er verbannte sie aus seinen Gedanken, verbannte sich selbst aus seinen Gedanken und ging wie selbstverständlich weiter, trotz aller Widrigkeiten. Eine Lichtreflexion in der sterilen Helligkeit. Er tastete sich an der Wand entlang, spürte der Beschaffenheit dieser Wand nach, ermutigte sich zu weiteren Schritten und dem Einsinken zu trotzen... ... und witterte die geysirhaft hochpuffende neue Aktivität in dem Raum hinter sich, den er vor Minuten oder nur Sekunden verlassen hatte. Menschen kamen ihm entgegen, trieben wie eine große, bunte Flut heran und teilten sich vor ihm. Noch immer hielt ihn niemand auf. Er glaubte, Wilders aufgeregte Stimme zu hören: »Wo ist er? Wer hat angeordnet, ihn zu verlegen? Ich bin der behandelnde Arzt, ich habe...« »Aber das ist unmöglich! Er kann nicht weg sein! Keiner der anderen Ärzte war hier. Sehen Sie, die Infusion tropft noch...« MacLeod vermochte nicht mit Sicherheit zu sagen, ob er sich ihre Stimmen einbildete, doch er war entschlossen, auch jetzt nicht zurückzublicken. Er ging schneller, erreichte die Aufzüge und mischte sich unter die hier zusammenströmenden Patienten, Pfleger und Besucher. Er ließ sich von ihnen tarnen, während er wie sie alle darauf wartete, in die nächste ankommende Aufzugskabine treten zu können, und ignorierte das gleichmütige, auf Distanz bedachte kurze Tasten ihrer Blicke. Vielleicht spürten einige von ihnen jene dunkle Aura des Todes, die ihm zweifellos noch anhaftete. Doch selbst wenn dies tatsächlich - 66 -
zutraf, so zwang sie eine unbestimmbare Scheu, sich davon und von ihm - abzuwenden und sich um ihre eigenen Belange zu kümmern. Sie wollten keinen Ärger machen und erst recht niemand provozieren, indem sie zu neugierig erschienen. Zweimal kamen Krankenschwestern vorüber, ohne die Gruppe eines Blickes zu würdigen verstrickt in Tagespläne und Termine und dem festen Willen, vor der Unmenge an menschlichem Leid nicht zu kapitulieren. Wilder stürzte noch immer nicht mit schrillen Alarmrufen aus dem OP-Vorraum am Ende des Korridors. Ganz im Gegenteil: Die Stille, die dort herrschte, hatte die Qualität eines perfekten Alptraumes. MacLeod ertappte sich dabei, daß er immer öfter dorthin zurückstarrte, mit brennenden Augen, Augen wie Kameras. Sekundenlang war er in diesem Eindruck völlig eindimensionalen surrealen Sehens völlig gefangen. Die Schmerzen in ihm loderten höher, fraßen sich an haarfeinen Nervenbahnen entlang in sein Gehirn und umhüllten es mit einem Feuer, wie es noch keines in der realen Welt gegeben hatte. Noch immer tönte Wilders fassungslose Stimme, als Echo der prasselnden Flammen: »Massive Blutungen in den Frontal-Gehirnlappen. Ein vollständiges Ödem der gesamten Hirnsubstanz. Ich frage mich, wie kann der Mann überhaupt noch leben?« Als der Lift mit einem hellen Glockenton endlich kam, reagierte MacLeod in letzter Sekunde. Die Menschenmenge um ihn herum wälzte sich wie ein von einem einzigen kollektiven Geist beseeltes Wesen in die Enge der Kabine und drängte und stieß ihn mit sich. Die Türen schlossen sich, - 67 -
sperrten ihn ein. Die Kabine trug sie alle nach unten - sehr schnell, doch für eine normale Flucht viel zu langsam. Das Licht kam ihm erst jetzt unnatürlich grell vor. Seine Augen begannen in genau demselben Takt zu schmerzen wie sein Gehirn. Ein-aus-ein. Helldunkel-hell Es fiel ihm noch immer schwer, präzise zu denken. Wie sollte er reagieren, wenn sie ihn unten gewaltsam aufzuhalten versuchten? Kämpfen? Er hatte noch niemals einen von ihnen getötet, er beschützte sie, zumindest jene, die guten Willens waren. Die Lämmer, kommentierte Alexeij Voshins Stimme abfällig in seinen Gedanken. Die Nähe der vielen anderen Menschen, ihr Körpergeruch, ihre Ausdünstungen, selbst die winzigsten Bewegungen erdrückten ihn fast. Dann waren sie unten. Ihm fiel ein, daß sie ihm die Papiere abgenommen hatten: Er dachte: Noch etwas zu erledigen. In Bewegung bleiben. Nicht auffallen. Keine Spuren, keinen Hinweis auf die Identität hinterlassen. Er ließ sich in dem Strom der Menschen mittreiben, durch eine domartig hohe, altehrwürdige Halle, und zwang sich zu genau bemessenen Bewegungsabläufen, die mehr waren als nur ein Taumeln. Er mußte an Winterlandschaften denken, an schneeüberzuckerte Bäume und Vögel im Wind. Mit einiger Verspätung erkannte er, wo sie ihn hingebracht hatten. In das Vancouver Docklands Hospital, ein Unfallkrankenhaus. Vor einem halben Jahr war er zusammen mit Richie hierhergekommen, um nach Gary, einem Freund von Richie, zu sehen; der Junge, ein Sport- und Gesundheits-Fanatiker, hatte einen Diamantenhändler über- 68 -
fallen, eine Frau als Geisel genommen, war Amok gelaufen und schließlich zusammengebrochen. Er hatte seltsame, blutergußähnliche Male an den Schläfen. Zerebrale Blutung; ein schneller, grausamer Tod. Der einzige Hinweis auf Kiem Sun und dessen Jahrhunderte währenden Forschungen, damals. Vergangenheit. MacLeod schüttelte die Erinnerung ab, schritt durch Streifen hellen Sonnenscheins und dunkelster Schatten. Das Wüten der Schmerzen in ihm verklang nur zögernd. Sie waren noch immer heftig, ein Orkan, doch im Gegensatz zu vorhin kontrollierbarer. Er registrierte den Puls seiner Umgebung wie mit neuen Sinnen. Sein Gesichtsfeld schien sich zu vergrößern, das Surreale vereinigte sich mit der Wirklichkeit, sein Sehen gewann an Dimension. Die Aufnahme war, unter dem überwältigenden Eindruck der Halle, ein erstaunlich kleiner Glaskasten direkt gegenüber dem Doppelflügelportal. Nur eine bildhübsche dunkelhäutige junge Frau in Schwesterntracht hielt, trotz ununterbrochenen Telefonläutens sichtlich in sich selbst ruhend, die Stellung. Er ging zu ihr hinüber, während er seine Notlügen bereithielt. Er fing ihren Blick und erwiderte ihn wie ein freundlicher Bursche ohne böse Absichten. Doch er war nach wie vor darauf gefaßt, daß dieser Dr. Jekyll oder Mr. Hyde Alarm geschlagen und angeordnet hatte, gerade an den Ausgängen besonders wachsam zu sein. Er gab sich zwei Minuten und erzählte ihr, daß er völlig in Ordnung sei, daß sein Bruder da sei, um ihn abzuholen und nach Hause zu bringen. - 69 -
»Sie haben mich«, sagte er ihr und beugte sich ein wenig über die Theke, »wegen einer Kleinigkeit eingeliefert und die ganze Nacht hierbehalten. Und eine Nacht hier reicht wirklich.« Sie himmelte ihn verständnisvoll an, und er lächelte ihr noch breiter zu und freute sich an ihrem Lächeln: winzige Sterne in ihren kohlschwarzen Augen. »Wenn das so ist, Sir.« Sie verglich sein Foto mit seinem Gesicht, händigte ihm schließlich seine Papiere aus und ließ ihn das Formular unterschreiben, mit dem er bestätigte, das Hospital auf eigenen Wunsch und eigenes Risiko verlassen zu haben. Dann war sie durch ein neuerliches Klingeln des Telefons bereits wieder abgelenkt. Die Distanz bis zu dem beeindruckenden Doppelportal erschien ihm größer als die Entfernung zwischen Erde und Mond. Er ahnte, daß sie ihm hinterhersah, in letzter Sekunde doch noch skeptisch geworden, und bemühte sich um einen unbeschwerten Gang. Das geschäftige Summen des Krankenhausbetriebes ringsumher gewann eine völlig neue, irritierende Intensität, doch MacLeod blieb äußerlich völlig gefaßt. Er barg den Terror der in ihm wütenden Schmerzen der Regenerierung hinter eine Maske aus Gleichmut und scheinbar vollkommener Gedankenabwesenheit. Sie waren für ihn etwas äußerst Kostbares: Schmerzen bedeuteten Leben, bedeuteten, daß er aus jenem Schattenreich zurückgekehrt war, das die Sterblichen Tod nannten und mit einem ewigen Frieden gleichsetzten, den es nicht gab, nirgends, und am allerwenigsten dort. Dann öffneten sich die in Eichenholz gefaßten Glasportale vor ihm. Eine Windbö fauchte ihm entgegen, und mit - 70 -
ihr das Sirenengeheul eines vorbeirasenden Notarztwagens. Es wurde bereits wieder Abend. Sein Zeitempfinden geriet darüber erneut völlig außer sich. Nervosität ließ MacLeods Augen tränen, als er zu der langen Reihe wartender Taxis hinüberging und währenddessen immer wieder »Draußen, draußen« murmelte. Aber ein Gefühl der Erleichterung stellte sich noch immer nicht ein. Anstelle dessen traten erneut verworrene Bilder: Viel zu viele scheinbar sinnlos durcheinander hastende Menschen. Als er die Augen schloß, sah er ein Krankenhaus-Labyrinth, in dem er selbst alptraumhaft lange umherirrte. Es ist noch nicht vorbei. Besucherströme. Dazwischen eine alte Frau im Rollstuhl, die traurig nach jemandem Ausschau hielt, der vielleicht niemals kommen würde. Tief im Osten stand der Mond als eine fahle, rasch heller werdende Sichel im dunkelnden Blau des Abends. Wolken trieben wie gejagt am Himmel dahin. Fast schien es ihm, als suchten sie das Weite, weil sie ahnten, was noch geschehen sollte. Es ist noch nicht vorbei.
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Vergebliche Flucht
Die Nachtwolken hatten den Mond verschluckt, und mit der neuen Dunkelheit war auch der Regen zurückgekommen und hatte den Taxifahrer gezwungen, die Geschwindigkeitsbegrenzungen einzuhalten. MacLeod hatte den entsprechenden bedauernden Hinweis des grobschlächtigen Mannes lediglich mit einem Nicken kommentiert und weiterhin in das Dunkel hinausgestarrt, das wie in Streifen geschnitten an ihnen vorbeiflog. Er vermißte die Lichter der Stadt, doch irgendwann begriff er, daß es an seinen Augen lag. Irgend etwas stimmte noch immer nicht mit ihnen. Er war nach wie vor nicht richtig in seinen Kopf, in seinen Körper zurückgekehrt. Dann dachte er an Tessa und Richie. Sie würden sich Sorgen machen. Drei Tage waren für sterbliche Wesen eine lange Zeit. Eine Viertelmeile von Antonio's Gourmet Italian Market und seinem gegenüber geparkten Thunderbird entfernt ließ sich MacLeod absetzen, zahlte und ging den Rest des Weges zu Fuß. Da seine Muskeln wie von Rost zerfressen waren, benötigte er eine halbe Stunde dafür. Aber er empfand den Regen und die Kälte als erfrischend. Die Farben der Stadt kehrten zurück. Er war dankbar dafür, und dieses Gefühl beherrschte ihn noch immer, als er in der Gasse neben der Billardhalle nach dem Opfer der beiden Freaks Ausschau hielt. Aber außer zwei großen Blutflecken und einem gelben, in Fetzen hängenden Trassierband der Poli- 72 -
zei entdeckte er nichts. Also hatten sie den Mann oder die Frau gefunden und mitgenommen. MacLeod atmete tief durch, ging zu seinem Wagen, stieg ein und fuhr in die North Vancouver Heights hinüber. Es hörte gerade auf zu regnen, als er den Thunderbird vor dem winklig gebauten Haus abstellte, das wie eine alte Renaissance-Festung wirkte. Alle Fenster waren bereits dunkel. Die Schwäche war nun zurückgekehrt, und es kostete MacLeod unsagbare Mühe, auszusteigen und die paar Schritte bis zum Vordereingang zurückzulegen. Zu Hause. Er nahm an, daß dieses Wort nach all den langen Jahren eine Bedeutung erlangt haben mußte. Allerdings wagte er nicht abzuschätzen, für wie lange es diese Bedeutung beibehalten würde. Die Ewigkeit, dachte er, ist verdammt lang. Den Schlüssel fand er erst nach mehrminütigem Herumkramen in seiner linken Hosentasche, obwohl er davon überzeugt war, sie nach dem Verlassen des Wagens gar nicht erst eingesteckt zu haben. Mit einem ärgerlichen Laut beugte er sich vor, um aufzuschließen. Sein Schattenbild schimmerte in der gläsernen Tür mit den Goldbuchstaben: TESSA NOEL & DUNCAN MACLEOD - ANTIQUITÄTEN. Plötzlich wurde die Dunkelheit lebendig: Ein straff gespannter Kokon zerplatzte wie unter Klauenhieben und spie ein herantobendes Etwas aus. Schon war es da, schnell wie schwarzes Licht, kaum daß er es bemerkt hatte. Dann spiegelte sich ein zweiter Schatten in der Tür. MacLeod wirbelte noch halb herum, um einen eventuellen Schwerthieb mit dem hochgerissenen rechten Arm und dem darüber hängenden Mantel abzuwehren, aber er war zu lang- 73 -
sam. Seine Reaktion, seine Gegenwehr erfolgte hundert Jahre zu spät, und er wußte es, noch während er die Bewegung schwerfällig ausführte und sich an seinen letzten Gedanken erinnerte, mit dem er das Vancouver Docklands Hospital verlassen hatte: Es ist noch nicht vorbei. Der erste Schlag traf ihn in Nierenhöhe und schleuderte ihn gegen die gläserne Tür. Er wurde herumgezerrt. Er fühlte einen eisernen Griff an seinem Handgelenk, sein Arm wurde nach hinten und oben gerissen. Er ging in die Knie. Hechelnder Atem drang an seine Kehle. MacLeod glaubte das Wesen zu erkennen. Es hatte menschliche Konturen - schmächtig und fast zierlich - kein ernstzunehmender Gegner für ihn, jedenfalls normalerweise. Weitere Blitz-Bewegungen folgten. Ein blasses Gesicht tauchte kurz über ihm auf, verzerrt, Lichtfunken blitzten auf dicken Brillengläsern. Das Schimmern von Zähnen, die in einem Eisberglächeln gebleckt waren. Die nächste rasende Bewegung ahnte er mehr, als daß er sie sah. Er versuchte sich zusammenzukrümmen, darunter wegzutauchen. Eine Spritze. Ein stählernes Schimmern, und die Nadel der Spritze fuhr ihm in den Hals. Der Inhalt entleerte sich mit einem mörderischen Druck in ihn hinein. Noch mehr Chemie. »Es muß sein, Monstermann«, hechelte der Atem ganz dicht über seinem Gesicht, »es muß sein, das Wort lautet Hingabe, es geht um deine und um meine Erlösung.« Plötzlich flog er, plötzlich war die Welt unter ihm, und der Zorn in ihm explodierte in feurigen Spiralen. Er schlug um sich. Was auch immer ihm injiziert worden war, es - 74 -
wirkte bereits, und so wurde er mühelos mitgeschleift, auf die Füße gestellt, weggezerrt. Er sah nur noch durcheinanderwirbelnde Puzzleteilchen. Seine Gedanken prasselten stückchenweise auf ihn ein. Er konnte nicht mehr denken, nichts war mehr richtig. Er war tot gewesen und ins Leben zurückgekehrt, doch jetzt kam eine völlig andere Nacht. Da war sein Wagen, der Thunderbird. Eine fremde Hand schloß auf, öffnete die Wagentür und stieß ihn hinein. MacLeod schrie auf und stürzte eine Ewigkeit lang durch diese grauenerregende Finsternis. Dieses Mal verlor er sein Bewußtsein nicht völlig. Es war kein Sterben, sondern viel, viel schlimmer: ein Delirium nach endlosen in Angst und Grauen durchwachten Nächten. Er glaubte sich im klammen Bettzeug von einer Seite zur anderen zu wälzen, immer und immer wieder - ohne Rücksicht auf die Feuerschmerzen, die ihn dabei durchfuhren - und gleichzeitig dauerte sein Stürzen an und gewann noch an Schnelligkeit und Wucht. Und jetzt schrie er, wie er noch niemals zuvor geschrien hatte. Noch mehr Beschleunigung. »Was... was...?« Verzweifelte instinktive Versuche, sich zu erinnern, zu denken, überlagerten seine kreatürliche Angst: Jemand etwas - hatte ihn mitgenommen. Er wußte nicht, von wo. Mitgenommen. Gefesselt. Angekettet. Ein winziger Teil seines Bewußtseins erkannte, daß sich die Kettenglieder mit jeder Bewegung tiefer in seine Haut, sein Fleisch hineingruben, Vernarbungen aufrissen und entsetzliche Fieberträume freisetzten. - 75 -
Noch mehr Beschleunigung. Und dann, ohne Übergang: plötzlich Stillstand. Das Echo seiner Schreie verstummte wie in einem geisterhaften Sturm, und diese jäh einsetzende Stille riß ihn endgültig auf die andere Seite zurück. Es war wie ein Sog, ein wirbelndes Überwechseln von einer Schattenwelt in die nächste, weit schrecklichere und gefährlichere. MacLeod war hellwach, noch bevor die alten Reflexe des Kriegers seine Muskeln straffen und ihn verraten konnten. Aber er wußte zugleich, daß es nichts ändern würde, daß dieser Wachzustand ohnehin nur Sekundenbruchteile andauern würde. Entsetzliche Schmerzen fraßen sich durch seinen Körper, durchdrungen von Visionen eines Krankenhaus-Labyrinths. Halb von Sinnen begriff er, daß er noch immer mehr tot als lebendig auf diesem Katafalk festgekettet war. Wie aus weiter Ferne hörte er das Tropfen seines eigenen Blutes, doch zugleich wußte er: Er würde nicht sterben, auch nicht an diesen Verletzungen, die er sich in seiner Raserei selbst beigefügt hatte. Und dann, ganz plötzlich, hörte er das Atmen. Außer ihm befand sich noch jemand in der Finsternis. Sein unheimlicher Gegner war da. Sehr nahe. Er witterte wie ein Tier. Dr. Jekyll oder Mr. Hyde? MacLeods Augen waren weit geöffnet. Eine Zornader auf seiner Stirn schwoll an - er warf sich gegen seine Ketten, spürte sie an Stirn, Hals, Händen und Beinen. Die Bahre ruckte unter diesem Ansturm von Aggression träge herum. Irgendwo klirrten metallene Gegenstände aneinander. - 76 -
»Es tut mir leid, wegen des Morphiums, Mr. MacLeod«, sagte der Schattenmann mit geschäftsmäßiger Freundlichkeit, und MacLeod glaubte, wie in einem Drogenrausch die Worte als moosüberzogene Flußsteine auf sich herunterpoltern zu sehen. »Aber in all diesen Jahren«, fuhr sein Gegenüber fort, »habe ich gelernt, daß meine Privatpatienten einer umfassenden Ruhigstellung bedürfen. Ich führe ein zurückgezogenes, beschauliches Leben, und dasselbe Recht billige ich meinen Nachbarn zu.« Dr. Jekyll oder Mr. Hyde? Eine Flut von Momenteindrücken prasselte auf MacLeod herab, die er erst noch verarbeiten mußte. Ein Kellerraum, ein Labor. Darin eine Holztreppe, verwinkelt, in sich selbst verdreht und verkeilt und scheinbar ohne Anfang und Ende, wie aus einem Bild von Escher. Ein menschliches Insekt krabbelte über die Decke, erreichte die Treppe und stieg ohne Schwierigkeiten über sie herab. Was...? dachte MacLeod. Warum...? Und wieder und wieder: Der Schattenmann. Dr. Jekyll oder Mr. Hyde? Vielleicht hätte er seinen richtigen Namen kennen müssen. Aber es war beinahe unwichtig, jetzt, da er gar nichts mehr richtig zu wissen und zu kennen schien. Er erinnerte sich an Träume und Wahrnehmungen. Es konnte nicht wahr sein. Unmöglich. Nicht schon wieder. So mußte sich eine Ratte im Laufkäfig fühlen - und schneller und schneller voranhasten, um zu jenem einzigen noch sinnvollen Ziel zu gelangen: dem Tod. - 77 -
MacLeod schüttelte den Kopf, als versuchte er, Schwäche und Benommenheit abzustreifen. Er griff mit jenen anderen, dunklen Sinnen nach der Schwärze tief in sich, nach der Ewigen Kraft: So viele getötete Schattenkrieger, Quelle neuen Lebens für den, der ihr Leben genommen hatte. Aber da war nur abgrundtiefe Leere. Und Schatten, kriechende, feucht glänzende Schatten. Er bemerkte die Hand des Schattenmannes, die ihm eine weitere Spritze gab. Der Stich pflanzte sich in Echos fort, tiefer und tiefer, bis ins Zentrum seines Seins. »Warum?« keuchte MacLeod. »Warum?« Der Schattenmann lächelte auf ihn herab. Hinter dicken, spiegelnden Brillengläsern, die seine Augen wie Spielmurmeln erscheinen ließen, feixte das Gesicht eines kindhaften, neunmalklugen Klassenprimus. »Ich hatte schon so viele Patienten, Mr. MacLeod. Aber keiner war jemals so vielversprechend wie Sie. Es war ein gottgegebenes Zeichen.« Schwingen wie von einem riesigen Adler tupften in MacLeods Gesicht, strichen über seine Augen und zwangen sie, sich zu schließen. Die Spritze begann bereits unaufhaltsam wieder zu wirken. Die Glut von Tausenden in ihm explodierenden Bomben loderte auf. Ferne Musik, wahrscheinlich Wagner. Die Gestalt des unheimlichen Arztes wurde groß wie ein Berg. Sie erschien bedrohlich wie etwas, das alles Leben zerschmetterte. Dann hantierte er an langen Labortischen. Seine Bewegungen waren abgehackt und unnatürlich, wie nicht von dieser Welt. - 78 -
»Es wird schnell gehen, Mr. MacLeod. Sie werden schlafen und nichts spüren, völlig schmerzfrei.« »Warum?« Es war nur noch ein erstickter Hauch. Seine Lungen hatten nicht mehr genügend Luft. Das Feuer brannte alles fort. Bilder tauchten auf, rollten sich an Ecken auf, wurden schwarz und vergingen. Asche tobte in einem Feuersturm vor blauem Himmel. Dazu die Edelstahleinrichtung des Kellerlabors: Metalltabletts, funkensprühende Sonden und Skalpelle. Neben unzähligen bereits aufgezogenen Spritzen lag ein elektrischer Huntington-Knochenbohrer. Dazu Wundtücher, manche blutbefleckt. Er selbst in Lotos-Haltung. Hara. Die Mitte so weit entfernt. MacLeod klammerte sich an diesen letzten Eindruck. Dabei hörte er das Dozieren des Schattenmannes - kaum noch verständlich, nichts als dämonische Schwingungen in der Luft, wie ein Rumpeln oder Donner. »Die moderne Medizin, Mr. MacLeod, leistet einen so winzigen Beitrag zur Heilung des Körpers. Sie ist eine Art Schadensbegrenzung, nicht mehr. Deshalb müssen wir den Körper anregen, sich vollständig selbst zu heilen. Die göttliche Kunst wird darin bestehen, diesen einmaligen Impuls zu geben, das Wunder beginnen zu lassen.« Der Schattenmann beugte sich geschäftig über ihn und begann, seinen Oberkörper zu entkleiden, ohne über seinem Vortrag seine Arbeit zu vernachlässigen. Er trug ein Antiseptikum auf. - 79 -
Kälte sickerte in MacLeods Poren. Noch mehr Kälte drang in ihn ein. Seine Lider flatterten. Die Stimme des Schattenmannes klang nur mehr wie jene Roboterstimme in... in... » . . . und inmitten all dieser Überlegungen und Forschungen wird ein Mann bei uns eingeliefert. Schädelbeinfraktur, Gehirntraumata, Kiefer zertrümmert, Gaumen zerfetzt, beide Schlüsselbeine mehrmals gebrochen, vier Rippen nur noch Stückwerk, die Lunge buchstäblich perforiert, das Rückgrat angestaucht, Becken gesplittert und das linke Bein gebrochen. Von den zahllosen inneren Verletzungen an Nieren, Leber und so weiter gar nicht zu sprechen. Kein Mensch mehr, nur noch ein Bündel aus zerschmetterten Knochen und zerfetzten Muskeln... Und in einem unbeobachteten Moment, nach einer Reanimation, die überhaupt nicht mehr hätte möglich sein dürfen, steht dieser Mann einfach auf - und verschwindet. Er geht einfach davon, verläßt das Hospital und fährt nach Hause. Verstehen Sie - ich muß einfach mehr über Sie wissen, ich muß - es ist meine und Ihre Bestimmung.« MacLeod stöhnte und versuchte sich erneut aufzurichten. Aber er war wie ein auf den Rücken gelegtes Insekt - ohne jede Chance. Sein ausgestoßener Atem verwehte als Nebelstreif in der Kühle des Laboratoriums. Der andere schüttelte mißbilligend den Kopf und setzte die hauchdünne Klinge seines Skalpells an. Dann zog er sie mit routinierten Bewegungen durch MacLeods Haut. »Ganz ruhig, Mr. MacLeod! Ich beginne nun meine erste Untersuchung. Es kann ein wenig unangenehm sein, aber der Lohn wird für alles entschädigen, das schwöre ich Ih- 80 -
nen. Uns beiden ist es vorbehalten, in die Medizingeschichte einzugehen...« MacLeod kämpfte nicht mehr dagegen an. Es wäre nur eine sinnlose Verschwendung von Energie gewesen. Statt dessen zog er sich in sich selbst zurück. Hara, die Mitte, jener Ort in der Tiefe, der noch immer vom Wellenschlag des Morphiums umspült wurde. »Die erste Untersuchung befaßt sich allein mit der Zusammensetzung Ihrer Zellen. Dafür benötige ich diese Gewebeprobe. Ich werde ein wenig schneiden müssen.« Und er tat es. MacLeod spürte es fern. Es war ein Gefühl sprudelnder Nässe, überdeckt von Metallgeruch und von Blut. Dann schrie er auf. Sein Peiniger schreckte auf, und MacLeod kehrte ein letztes Mal aus der Tiefe in sich zurück. Er zwang sich, die Lider zu öffnen, und sah das Flackern winziger Blitze über den blutenden Schnitten in seinem linken Arm. Die lächerliche Wunde schloß sich unter dem grellen Hauch der energetischen Entladungen bereits wieder. Fleisch- und Hautränder verschmolzen miteinander, ohne auch nur die Spur einer Narbe zu hinterlassen. Endgültig verloren, dachte MacLeod. Er hat es gesehen. Er weiß, daß er auf der richtigen Fährte hechelt, er... Der Schattenmann wischte sich Speichel von den Lippen. Dann schleuderte er das Skalpell und die entnommene Gewebeprobe achtlos in eine bereitstehende nierenförmige Schale. Er fuhr sich erneut wie benommen mit dem Handrücken über den Mund und starrte MacLeod an. Während - 81 -
er wieder herantaumelte, rang er nach den richtigen Worten. »Mr. MacLeod, ich denke, das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.« Was er sagte, meinte er ernst: Er war ihm tatsächlich dankbar, und gewiß empfand er eine große, reine Liebe zu ihm, dem vom Himmel gesandten Studienobjekt. Seine Augen waren größer denn je und schienen wie große Monde in einem vor Glückseligkeit verzerrten Gesicht. Und dann war auch dieses Gesicht nur mehr Teil eines weiteren Bildes in MacLeods Verstand: eine alte Fotografie, vergilbt und wellig, als sei sie vor langer Zeit einmal feucht geworden. Der Feuersturm, den ein losgelöster Teil seines Verstandes noch vage als ein vom Morphium hervorgerufenes Sinnbild erkannte, breitete sich nun über den gesamten Himmel aus. Er hatte diesen Himmel noch immer sehen können, einen wunderbaren, völlig blauen Himmel. Vereinzelte spiralförmig treibende Flammenzungen erfaßten nun auch die Fotografie und wirbelten sie spielerisch hoch. Sie trieben sie vor sich her, bis in ihrem Zentrum ein dunkler Punkt entstand, der rasch größer wurde, an den Rändern in sengendem Orange und Gelb aufleuchtete und zu einem Glutwirbel explodierte. Teile des Himmels selbst schienen aus dem Ganzen herauszubrechen und ebenfalls in kochender Hitze aufzulodern. Der Feuersturm breitete sich mit Urgewalt aus und wuchs scheinbar unermeßlich: Eine Supernova, deren schreckliche Energien das Licht einer ganzen Galaxie - seiner Galaxie überstrahlten und alles in ihrem immer weiter ausufernden Radius mit tödlichen Partikeln bombardierten. - 82 -
Und wenn einer Supernova auch nur eine relativ kurze Lebensdauer beschieden ist, reicht ihre Kraft dennoch aus, endlos zu vernichten. Der Schattenmann, berauscht und bis zur Besessenheit inspiriert, machte sich wieder und immer wieder an ihm zu schaffen. Mit Injektionsspritzen, Skalpellen und Knochensägen bearbeitete er seinen Körper, seinen Kopf und seine Glieder. Längst verwendete er kein Antiseptikum mehr. Er wollte nur noch eins: sich hineinschneiden, hineinbohren in das Geheimnis, das es zu entschleiern galt. MacLeod spürte den Schmerz, das Sengen, Reißen und Brechen, aber es bedeutete ihm wenig. Was Schmerzen betrifft, sind nur die Götter wahrhaft erfindungsreich. Mein Leben verbrennt, dachte er und empfand allenfalls Erstaunen darüber, daß der eine Tod dem anderen diesmal so schnell nachfolgte. Er wußte, er würde körperlich nicht vergehen. Dieses Feuer verbrannte allein die Gegenwart, und die Vergangenheit und die Zukunft würden übrigbleiben. Der Auflösungsprozeß stand unmittelbar bevor. Ihm war, als treibe er davon. Du hast zu tief geschnitten, Schattenmann, dachte er mit seinen letzten bewußten Gedanken. Du warst zu begierig darauf, zum Kern des Geheimnisses vorzudringen, und hattest nicht genug Geduld...
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Die Macht der Erinnerung Das Vancouver Police Department erhob sich an der Nordseite des Nelson Parks. Es war ein in Ehren gealterter, mächtiger sechsstöckiger Backsteinklotz, den MacLeod eher in einer Militärdiktatur vorzufinden erwartet hätte. Er stellte den T-Bird auf dem Parkplatz hinter dem Gebäude ab und ging hinein. Bei einem tatterigen Sergeant meldete er sich an und wurde augenblicklich in den vierten Stock des Hauses geschickt. Ein uralter Paternoster beförderte ihn rumpelnd und ruckelnd hinauf, vorbei an Stockwerken voller hektischer Betriebsamkeit. Oben roch der Linoleumbelag des Bodens weniger intensiv nach Bohnerwachs - was auch immer das zu bedeuten haben mochte. Sergeant Powell erwartete ihn bereits vor dem Paternoster und empfing ihn mit Handschlag, einem taxierenden Blick aus wasserhellen Augen und einem knappen »Kommen Sie mit«. Er war ein etwa fünfzigjähriger untersetzter, dunkelhäutiger Mann in viel zu schäbigen Kleidern und mit seltsam müden Bewegungen. Es schien fast, als hätten ihn die Jahrzehnte, die er im Dienst für die sogenannte gute Sache auf der Straße zugebracht hatte, um ein unnatürliches Maß schrumpfen lassen. Über der Stirn hatten sich seine Haare stark gelichtet und an den Schläfen waren sie bereits grau. Der Oberlippenbart erinnerte MacLeod allerdings an abwehrbereit aufgerichtete Igelstacheln, und vielleicht war es eine Botschaft: Der Kampf ist noch lange nicht zu Ende, und wenn, so gebe ich dennoch niemals auf. - 84 -
Sie schritten schweigend den langen Korridor entlang, bis Powell einsah, daß er die Initiative ergreifen mußte. »Unsere Leute haben den kleinen Bastard nur ein paar Straßen von Ihrem Geschäft entfernt aufgegriffen. Er hatte eine Menge Silberzeug dabei. An einem Kerzenhalter war sogar noch ein Etikett angebracht: MacLeod & Tessa Noel Antiquitäten. Na, klingelt's?« MacLeod lächelte sanft. »Kleiner Bastard?« »Dieser Junge. Richie Ryan.« »Der Kerl, der die Verwüstung angerichtet hat, die Sie gestern besichtigen konnten, war eher ein großer Bastard, Sergeant.« Der Polizist schien es gar nicht zu hören, sondern sprach halb an sich selbst gewandt weiter. »Wir hatten schon oft genug mit ihm zu tun. Er ist eine echte kleine Straßenratte, aber jetzt haben wir ihn geschnappt, und er hatte Ihr Zeug dabei. Und deshalb können wir ihn endlich festnageln.« »Ich werde auf eine Anzeige verzichten, Sergeant.« Der Polizist stoppte abrupt und fixierte MacLeod mit seinen hellen Augen. »Was?« »Keine Anzeige. Vielleicht braucht der Junge eine Chance.« »Der Junge verkauft uns für dumm, MacLeod. Für ihn ist alles ein Spiel. Er behauptet sogar, er sei nicht bei Ihnen eingestiegen, sondern wäre nur so vorbeigekommen. Angeblich hätte er nur durch das Fenster in den Laden geschaut und dabei drei Männer beobachtet, die mit riesigen Schwertern aufeinander losgegangen sind.«
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»Ach?« MacLeod erwiderte Powells Starren mit einem belustigten Blick. »Hatte einer dieser drei Männer vielleicht zufällig so ein Fledermauskostüm an wie Batman?« Powells Lippen verzogen sich zu etwas, das er selbst vermutlich für ein zustimmendes Lächeln hielt. »Okay, ich seh' das genauso wie Sie. Trotzdem...« Sie gingen weiter und bogen in einen nach rechts führenden schmaleren Flur ein. An den mit grüner Lackfarbe gestrichenen Wänden standen reihenweise alte, zerschrammte Bänke. »Der Kerl«, fuhr Powell halb belustigt und halb empört fort, »ist eine Plage: Einer meiner Leute erzählt ihm ganz ernsthaft und düster, wie sie beim FBI mit Typen wie ihm umspringen, und der erkundigt sich, wie man das buchstabiert.« »FBI?« »FBI«, bestätigte Powell. »Er ist jung, MacLeod, und ganz allein. Er hat nur sein freches Mundwerk, aber darauf bildet er sich noch was ein. Und er ist auf dem Weg nach ganz unten. Dabei gehört er nicht zur Sorte erfolgreicher Gangster. Sondern zur anderen Sorte, wenn Sie verstehen.« »Lassen Sie ihn laufen. Aber wenn es möglich ist, möchte ich vorher noch mit ihm reden.« Powell zuckte resignierend mit den Schultern. »Sie sind einer von diesen Weltverbesserer-Typen. Eine Art moderner Samariter. Hab' ich recht?« MacLeod hob abwehrend beide Hände. Er war ein harmloser Bürger, ohne irgendwelche Absichten. Er nahm an, daß er Powell damit beruhigen konnte. Als sie vor einer Tür mit der Aufschrift Verhörraum III/West ankamen, sagte der Polizist: »MacLeod, ich sag' - 86 -
Ihnen, was passiert, wenn Sie mit ihm reden. Er hört sich alles an. Dann verschwindet er. Weil er sich ja nicht aufdrängen will, wie er das nennt. Und er hat nichts dazugelernt. Aber ein paar Wochen Jugendgefängnis könnten ihn zur Besinnung bringen.« »Ein paar Wochen Jugendgefängnis«, widersprach MacLeod, jetzt ebenfalls sehr ernst, »könnten ihn vollends kaputt machen. Eine kleine willkommene Abwechslung auf der Tageskarte jener Elemente, die länger darin logieren. Ein Stück Frischfleisch. Geben Sie mir einfach zurück, was mir gestohlen worden ist. Der Preis für den Jungen wäre zu hoch. Meine Antwort ist nein, Powell.« Der Sergeant starrte ihn an, bis sein linkes Augenlid zu zucken begann. »Also gut.« Seine Stimme war völlig ausdruckslos, professionell höflich. Er hatte damit gerechnet, und er verachtete MacLeod dafür. Er öffnete die Tür und ließ dem anderen den Vortritt. Der Junge hatte sich am anderen Ende des kleinen quadratischen Raumes auf einen der drei unbequem wirkenden Stühle gelümmelt. Er hielt sein harmlosestes Milchbubi-Gesicht in das durch ein hohes, vergittertes Fenster schräg einfallende Sonnenücht. Die Luft im Raum war stickig heiß. Der Junge tat, als habe er das Eintreten der Männer nicht bemerkt. Seine Selbstsicherheit war so aufgesetzt und so leicht durchschaubar. MacLeod schmunzelte. Er witterte den Schweiß des Jungen und registrierte die unterschwellige Aura aus Furcht und Verzweiflung und einer fieberhaften Gedankensuche nach einem Ausweg. Währenddessen war er sich Powells exakt registrierender Kameraaugen sehr bewußt. - 87 -
Dann fegte Powell an ihm vorbei. Er zerrte Riqhie in eine ordentliche Sitzhaltung, funkelte ihn an und stieß, nur noch mühsam kontrolliert, heraus: »Dieser Gentleman hier möchte sich mit dir unterhalten. Nur unterhalten. Aber wenn mir irgendwas an dir sauer aufstößt, dann werde ich höchstpersönlich dafür sorgen, daß du die nächsten zehn Tage hier drin nie vergessen wirst. Ist das klar?« Der Junge blinzelte ihn an. »Oh... Ja, Sir. Natürlich, Sir, das war klar und deutlich, Sir«, antwortete er unbeeindruckt. Powells Rechte strich glättend über den Oberlippenbart. Im Hinausgehen sagte er gepreßt über die Schulter: »Er gehört Ihnen, MacLeod.« MacLeod nickte und wartete, bis Powell die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dann setzte er sich in Bewegung, fast lautlos wie ein Schemen, trotz der dunstigen Helligkeit in dem Raum. Er schien alle Helligkeit aufzusaugen und in gefährliche Schwärze zu verwandeln. Der Haß, der Zorn und das Hochpulsieren dunkler Energie - all das hatte ihn gestern nacht beinahe zur Gänze durchdrungen und war nach wie vor Teil von ihm - und dazu hellwach, trotz der Powell gegenüber an den Tag gelegten Maskerade. Der Junge zog den Naseninhalt hoch und wich seinem Blick aus. Dann räusperte er sich und versuchte es. »Ehrlich, Sir: Ich bin Ihnen dankbar, daß ich doch noch eine Chance bekomme, ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu werden.« Schluß mit den Spielchen. MacLeod war jetzt ganz nahe. Er beugte sich über ihn und zwang ihn, hochzusehen und seinen Blick zu erwidern. - 88 -
»Wenn«, sagte er ganz leise, und sein Atem war ein Feuerhauch, »wenn du hier wieder rauskommst, Freund, dann nur deshalb, weil ich nicht will, daß du anfängst, mit deinen Wahnvorstellungen hausieren zu gehen. Das ist der Deal.« Der Junge versuchte, den Blick loszureißen, freizukommen. Er begann zu schwitzen, als er es auch mit größter Willensanstrengung nicht schaffte. Seine Augen weiteten sich wie im Delirium. Eine Ader auf seiner Stirn färbte sich dunkelblau und sein Puls überschlug sich. Die blonden, gelockten Haare des Jungen schienen vor jäher Elektrizität zu knistern. Die nächsten Worte würgte er wie ein Sterbender heraus: »Ich... Oh... Sie... Sie meinen die Szene mit Ihnen und den beiden anderen... Rittern der Tafelrunde...« MacLeod stieß tiefer in ihn hinein. Seine Sinne und Mittel hatten nichts Menschliches, waren Tentakel aus Finsternis. Ein einzelner, fast bewundernder Gedanke durchfuhr ihn: Er ist stark. Dann: Er spielt es nur. Richie stieß ein meckerndes Lachen aus, aber es klang nicht befreiend. Der Raum selbst schien wie mit unsichtbarem, brackigem Wasser angefüllt zu sein; oder mit ebenso unsichtbarem Dampf. »Das... das hab' ich nie gesehen. Hab' ich nur erfunden.« Er hatte verstanden. »Ich lerne schnell, Mister MacLeod, jedenfalls dann, wenn's drauf ankommt. Das haben schon meine Lehrer gesagt: ein fixer Junge, nur leider viel zu faul.« - 89 -
Er blickte MacLeod triumphierend an. Als der aber weiterhin schwieg und den Jungen nur immer noch durchdringender fixierte, redete er weiter und sprudelte seinen Teil des Deals heraus, ohne jeden aufgesetzten Spott oder Mini-Gangster-Ironie: »Ich schweige wie ein Grab. Großes Ehrenwort. Außerdem: Wem sollte ich so was erzählen? Und wer würde es mir schon abnehmen?« MacLeod akzeptierte mit einem Nicken und besiegelte dadurch seinerseits den Deal. Dann richtete er sich auf, noch immer mit dem Gefühl, von dunklen Emotionen beherrscht zu werden. Nun war alles gesagt. Er ging zur Tür. Kurz davor wandte er sich noch einmal um und warnte Richie: »Ich kenne deine Alpträume.« Er fuhr nach Hause, stellte den Thunderbird in eine schattige Hofeinfahrt und wartete. Worauf? Er wußte es selbst nicht genau. Quince würde nicht so töricht sein, die Konfrontation ein zweites Mal hier zu suchen. Das fühlte er. Sein Instinkt sagte es ihm. Und nach allem, was geschehen war, war dieser aufmerksam genug. Eine Zeitlang beobachtete er eine Fliege, die über die Windschutzscheibe krabbelte. Dann dachte er über die Bedeutung dieses Begriffs nach: Zuhause. Welcher Anachronismus für ein Wesen seiner Art! Dieses ewig währende Leben zwang ihn seit Jahrhunderten, sich überall zuhause zu fühlen: in Schottland, Amerika, China, Rußland, ganz Europa, und wieder Amerika und Kanada. Er mußte sich immer wieder rasch einrichten und zurechtfinden können. Dabei nur nicht auffallen, nicht zu viele Gedanken verschwenden. Was waren schon zehn, zwanzig oder dreißig Jahre? - 90 -
Bleib niemals zu lange an einem Ort, bei einem Menschen; sie könnten sehr unvermittelt bemerken, daß du, im Gegensatz zu ihnen, nicht alterst. Er überdachte diesen Grundsatz noch einmal, lakonischer jetzt, und, da er an Tessa erinnert war, liebevoller. Er hatte seit mehr als zwölf Jahren nicht mehr daran gedacht. Es war nicht nötig gewesen. Und jetzt, heute? Zwölf Jahre waren... lächerlich. Für ihn. Aber nicht für Tessa. Vielleicht war es pure Verzweiflung, nicht zu intensiv darüber nachzudenken, um sich nicht eingestehen zu müssen, daß die Wanderschaft und der Kampf nicht beendet waren und in alle Ewigkeit nicht beendet sein würden. Vielleicht schützte er sich auf diese Weise vor dem Abgleiten in den Wahnsinn. »Es stirbt so viel im Menschen, während er noch lebt«, hatte ihm sein Freund Mark Twain einmal während eines ihrer ausgedehnten Spaziergänge über die staubigen Straßen entlang des Mississippi unvermittelt gesagt. MacLeod nahm mit einiger Verblüffung an, daß er erst jetzt wirklich verstand, was er damit gemeint hatte. Vielleicht erklärte es auch seine Vorliebe für Antiquitäten - es war mehr als nur eine Tarnung: Er liebte Dinge, die Bestand und dauerhaften Charakter hatten. Als sich die Dämmerung mit riesigen violetten Wolkenschleiern am Himmel ankündigte, stieg er aus dem Wagen. Nach nur kurzem Zögern warf er sich den leichten, dunklen Trenchcoat über, um das dai-katana zu tarnen, klappte das Cabrio-Verdeck hoch und nahm Tessas und seine nächste Umgebung in genauen Augenschein. Er streifte durch die sich leerenden Straßen und Gassen, vorbei an Geschäften, - 91 -
modernen Häuserfronten, Bungalows und älteren Gebäuden. Er besah Hinterhöfe und leerstehende Gebäude und fand schließlich, daß er so keine neuen Informationen über Quinces Verbleib gewinnen würde. Er spürte nichts, keinen Flash und auch nicht Connors Präsenz. MacLeod verzog das Gesicht. Nicht er würde Quince finden, sondern Quince würde ihn finden. Und bis es so weit war, hatte er einen einsamen Nervenkrieg auszufechten, das Merkmal jedes Psycho-Terrors. Das Zwielicht über den tiefhängenden Wolken verdunkelte sich. Vor einem koreanischen Ginseng-Shop diskutierte eine Gruppe bereits in die Jahre gekommener 68er Revolutionäre über genmanipulierte Nahrungsmittel. Ein Typ mit neonblauem Irokesenkamm fegte auf einem ebenso lackierten Skateboard vorüber und verteilte Werbung für irgendeine neu eröffnete sensationelle Disco. Keiner der Anwesenden trug einen verdächtig langen Mantel. Keiner interessierte sich auffällig für das Gebäude, das in den vergangenen zwölf Jahren Tessas und sein Zuhause geworden war. Als er die Glastür zum Antiquitätengeschäft aufdrückte, bemerkte er, daß seine Hand zitterte. Kumulative Streßreaktion. Du hast zu lange Verstecken gespielt. Er schloß hinter sich ab, ging nach oben und wartete, bis Tessa ebenfalls kam. Sie wich ihm aus und duschte schweigend. Sie zögerten es beide noch immer hinaus. - 92 -
Als sie nach einer kleinen Ewigkeit, nur in ein flauschiges weißes Badetuch gehüllt, ins Wohnzimmer kam und sich ihm gegenüber auf der Ledercouch niederließ, bedeutete sie ihm mit einem auf die Lippen gelegten Finger, nichts zu sagen, nur zuzuhören. »Er wird wiederkommen.« MacLeod nickte. »Werden wir es gemeinsam durchstehen, du und ich?« Er sah sie intensiver an und zögerte zu nicken. Sie schenkte sich ein Glas Wein ein. Dann wechselte sie das Thema, als sei alles gesagt. »Könnte es sein, daß du diesen Wein höchstpersönlich aus Napoleons kleinem Privatkeller in unsere Zeit herübergerettet hast?« Er schüttelte bedächtig den Kopf und beschloß, auf ihr Spiel einzugehen - zumindest an diesem Abend. »Er ist genauso alt wie du. Ein guter Jahrgang. Alles Gute zum Geburtstag!« Er gab ihr das liebevoll verpackte Etui. Während sie es schwungvoll auspackte, belächelte er wie so oft ihre kindhafte Begeisterung. Sie bestaunte das Kollier und fiel ihm um den Hals, scheinbar alles zugleich und scheinbar so, als habe es Quince niemals gegeben. »Mac - du bist verrückt!« »Ich bin«, korrigierte er sie lächelnd, »ein Dieb. Ich hab's beim Sturm auf die Bastille gefunden.« »Ab heute werde ich nur noch keine Geburtstage mehr feiern.« »Du bist wunderschön.« »Und ein ganzes Jahr älter!« »Und trotzdem wunderschön. Und klug und mutig.« - 93 -
»Als wir uns kennengelernt haben, warst du älter als ich.« »Viel älter«, bestätigte er mit einem schiefen Grinsen. »Ich meine, jetzt sieht man den Altersunterschied nicht einmal mehr. Und in Zukunft...« Er zog sie in seine Arme. Er war alarmiert und ahnte, was nun kam. Vielleicht hatte sie seine Gedanken gelesen, vorhin, als er an die hinter ihnen liegenden zwölf Jahre gedacht hatte. »Du bist die wunderbarste Frau, die ich in meinem ganzen Leben kennengelernt habe.« »He, du redest immerhin von vierhundert Jahren!« »Ich bin noch nicht ganz vierhundert. Vierhundert werde ich erst in... äh... vier Monaten.« Sie ließ den Scherz nicht gelten. Das Spiel entglitt in Ernsthaftigkeit. »Das Problem ist: Selbst wenn du vierhundert bist, oder sagen wir, vierhundertzwanzig, wirst du noch immer aussehen wie fünfunddreißig.« »In meiner Familie sehen alle jünger aus. Ich kann wirklich nichts dafür.« Er küßte sie und spürte, wie sie sich versteifte. Sie wollte darüber reden. Sie war stark genug. »Von jetzt an«, flüsterte sie, »wird es anders sein. Du wirst Jahr für Jahr bemerken, daß ich älter werde. Älter und älter. Und du nicht. Irgendwann wirst du...« Er schüttelte den Kopf und strich ihr zärtlich und wie tröstend über das Gesicht. »Ich will mit dir alt werden, Tessa.«
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Als er sprach, kam ihm jedes einzelne Wort ungeschickt und banal vor. Für sie waren seine Worte unwichtig, weil sie die Wahrheit fühlte. In ihren Augen tanzten winzige Eissplitter. Vielleicht würden sie schmelzen und zu Tränen werden. »Mac... Ich bin nicht deine erste Frau. Es gab andere, vor mir. Manchmal, nachts, wenn du diese Alpträume hast, dann sagst du Namen. Aylea...« »Tessa...« Sie ließ nicht zu, daß er sie unterbrach, und jetzt war ihre Stimme wieder kräftiger. »In all diesen Jahrhunderten hast du nicht gelernt, damit umzugehen?« »Mit dem Verlust?« MacLeod fühlte eine Woge gallebitterer Übelkeit in sich emporsteigen, und dann, gleich darauf, Ruhe. »Es spielt keine Rolle, wie viele Jahre vergehen oder wie oft man Lebewohl sagen muß, zu denen, die man liebt. Es ist, als sterbe man selbst, wenn sie einen verlassen... Wenn sie...« »Wenn sie sterben«, sprach sie es aus. Kometen. Ein Aufblitzen von Helligkeit und Wärme, - und gleich darauf nichts als die Schwärze und Kälte des Weltraums. »Ja«, murmelte er. »Wenn sie sterben.« In dieser Nacht wußte er, daß er träumte - und hatte dennoch das Gefühl, völlig wach zu sein. Er registrierte eine übersteigerte, absolut widernatürliche Klarheit allen Wahrnehmens: Rings um ihn schien alles in Blut getaucht zu sein - Tessas Blut. An Wänden, Fußboden und Decke - 95 -
überall glänzte, schimmerte und tropfte es. Das Schlafzimmer war in eine Opferstätte verwandelt. Es war brütend heiß, Fliegen summten in geschäftiger Emsigkeit umher. Und er hörte seinen eigenen unregelmäßigen Herzschlag, ein hartes, sehr dumpfes Dröhnen, das beständig lauter wurde und ihn bis in den letzten Winkel seines Seins ausfüllte. Dazu strömte sein Blut mit beständigem Rauschen durch seine Adern, vom Kopf zu den Füßen und wieder von den Füßen zum Kopf. Eine bizarre Variation von Ebbe und Flut. Den Mund zu einem lautlosen Schrei aufgerissen, fuhr MacLeod irgendwann im Morgengrauen hoch, schweißnaß und wie von einem Schüttelfrost gepackt, der unterhalb der körperlichen Oberfläche tobte. Tessa lag auf der Seite, in Embryostellung zusammengerollt, eine Hand wie um ein Gähnen - oder einen Schrei - zu unterdrücken an den Mund gelegt. Er stand auf, ohne sie zu wecken, nahm das dai-katana und geisterte durch die stickige Hitze des großen Hauses. Keine Eindringlinge zu sehen. Alle Fenster und Türen waren verschlossen. Die Alarmanlage war intakt. Jeder Schritt, jede Bewegung ermüdete ihn und zwang ihn zugleich, weiterzumachen, wachsam und bereit zu sein. Draußen war alles still, der Morgen kam friedlich über die große Stadt. Kein Flash. Quince ließ sich Zeit. Offenbar genoß er es. Ein, zwei Stunden später fand er sich selbst am Fenster stehend, in Gedanken verstrickt, voller Fragen. Er dachte an Aylea. Sie hatte die Seelen der Gräser und der wilden Blumen gekannt. Sie sang die alten Lieder, die erzählen, woher ihre - 96 -
Leute gekommen waren, wie sie gelebt und an was sie geglaubt hatten. Glaubst du, daß wir jemals so gelebt haben? Zusammen, als ein Stamm. Mit einer gemeinsamen Sprache, in der wir für jedes Wesen einen Namen hatten? Und daß es irgendwo einen Platz für uns gibt? An irgendeinem Ort, zu irgendeiner Zeit, wie kurz auch immer? Keine neuen Fragen, o nein. Er würde Connors Hilflosigkeit, die Traurigkeit in seinen Augen, als er ihm diese Fragen damals gestellt hatte, niemals vergessen. Genausowenig wie Connors Schweigen. Es konnte keine Antwort drauf geben. Mit einem Ruck riß er sich von seinen Gedanken los. Später wachte auch Tessa auf. Nach einem raschen Frühstück, das sie beide in einem angenehmen Schweigen verbrachten, hatte er all das wieder gut genug unter Kontrolle. Auch die kreatürliche Angst um Tessa. Sie selbst machte es ihm leicht: Morgens, bevor sie sich in ihrem Atelier ganz ihrer Arbeit als Künstlerin zuwandte, zog sie sich stets ganz in sich zurück, um sich auf jenen einen Punkt jenseits der Realität zu konzentrieren. Sie richtete ihre Gedanken und alle Gefühle bereits auf jene intensive künstlerische Vision aus, die es in die Realität umzusetzen galt. Plötzlich die Beschleunigung. Ganz unvermittelt sah er das Rot aus seinem Alptraum wieder vor sich. Es war wie ein Fußtritt ins Gesicht. Eine Schockwellenfront wie nach einer Explosion direkt in seinem Schädel raste über sein Rückgrat. Der Flash. Jemand von seiner Art war da, war nahe. Dieses Mal ertrug er es gut genug - und rasch genug: MacLeod hielt das dai-katana in der Rechten und war be- 97 -
reits unterwegs. In die Küche, die Treppe hinab, in Tessas Atelier. Ihre Stimme klang nur wie ein Hauch hinter ihm. »Mac, ist jemand hier?« »Jemand mit einer langen Lebenslinie«, stieß er heraus und war bereits an der hinteren Tür. Ein Schatten vor der im oberen Drittel eingelassenen Scheibe sendete einen Schwall Eiswasser in MacLeods Adern, als er die Tür aufriß und vortrat, das dai-katana in Abwehrhaltung. Connor grinste ihn an und rief: »Überraschung!« MacLeod atmete hörbar aus. Dann bat er ihn herein und stellte ihn Tessa vor. Connor sagte vieldeutig: »Ich bin ein Freund von Duncan. Wir kennen uns schon eine Ewigkeit.« Tessa hob eine Augenbraue - genauso vieldeutig - und verschwand in ihrem Atelier. »Sie macht keine großen Umstände.« »Tut sie nie, wenn Leute mit langen Mänteln vor der Hintertür stehen und behaupten, sie würden mich schon eine Ewigkeit kennen.« Die langgezogene Ruine des Fabrikgebäudes außerhalb der großen Stadt erinnerte an den zerschmetterten, halbherzig ausgeschlachteten Kadaver eines gigantischen Sauriers. Der Wind trug einen warmen, unangenehm süßlichen Gestank brennender Reifen und toter, faulender Dinge von der nahen Mülldeponie herüber. Er ließ Staubspiralen emporsteigen und trieb zerfetztes Zeitungspapier raschelnd vor - 98 -
sich her. Dabei winselte er wie sterbend in den Fensterhöhlen. MacLeod fühlte es mehr, als daß er es bewußt wahrnahm - der Kampf, den sie hier seit Tagen wiederholten, beanspruchte ihn über die Maßen. Ihm blieb kein Augenblick, sich ablenken zu lassen, oder dies selbst zu vollbringen. Sie waren beide in einem rasenden Tanz gefangen, einem mörderischen Irrlichtern von Stahl, einem um den Gegner Kreisen und Wirbeln. Blitzartige Ausfälle, Angreifen und Parieren wechselten einander ab. Die Luft zwischen ihnen war zum Schneiden dick, angefüllt mit ihren keuchenden Atemstößen und mit unterdrückten Lauten des Ärgers oder der Anstrengung. Die Beine waren locker gegenüber einer angespannten Arm- und Brustmuskulatur, die straff und federnd dem Stahl entgegenstand. Jedes hämmernde Aufeinanderprallen der Klingen übertrug sich in den Griff seiner Hände, hallte in seinen Armen und Schultern wider und wandelte sich in prickelnde Energie, Wildheit und Lebensfreude um. In diesem Kampf war er frei, völlig frei, und ein Gefühl unbändiger Erfüllung peitschte alle Niedergeschlagenheit und Zweifel aus ihm heraus. Die Energie reichte für zehn Quinces, dachte er vage und schmetterte Connor mühelos in einen torkelnden Rückzug. Er setzte nach, fand sich mit einer unerwarteten Finte konfrontiert und hörte Connors Stahl an seiner Nasenspitze vorbeiwischen. Im nächsten Moment rammte ihm der Freund die Schulter gegen die Brust und hieb die Klinge seines dai-katana mit einem spielerisch anmutenden Unterarmrucken nach oben. Dann warf er sich gegen ihn und - 99 -
schleuderte ihn seinerseits zurück. Damit dämpfte er MacLeods Enthusiasmus, sein Gefühl der Unbesiegbarkeit. »Wie ein blutiger Anfänger!« verhöhnte Connor ihn mit gutmütigem Spott. Duncan MacLeod schüttelte es einfach ab. Er ignorierte das schmerzhafte Brennen in seinen Muskeln, wodurch ihm - nicht zum ersten Mal während dieser Übungen - klar wurde, daß er zu lange nicht mehr richtig trainiert hatte. »Paß auf, Urahn!« zischte er, »daß du deinen Kopf nicht verlierst!« Unter Gelächter ließ er Connors neuen Ansturm ins Leere stoßen und fegte ihm mit einem wilden Tritt die Beine unter dem Körper weg. Connor stürzte, rollte sich wie etwas Knochenloses ab, und Duncan hetzte ihm stochernd, stoßend und schlagend hinterher - ohne ihm auch nur einen Kratzer beizubringen. Jetzt lachten sie beide, und der Kampf war endgültig unterbrochen. Die Realität umfing sie neu und ernüchterte sie. Er reichte Connor die Hand und zog ihn mit einem Ruck hoch. Dann suchte er seinen Blick, bevor er es ihm sagte: »Slans Kopf gehört mir. Er hat mich gefordert.« Connor schwitzte kaum. Er war eine bis zum Äußersten trainierte Kampfmaschine. »Kein Davonlaufen mehr? Kein Verstecken?« Duncan MacLeod schüttelte den Kopf und versuchte Connors kaum merkliches Lächeln zu ignorieren. »Ich muß Tessa schützen.« Connor wandte sich ab. Er senkte den Kopf, als sehe er Runenzeichen auf dem von Trümmern übersäten Hallenboden. Es war, als fülle sich das dunstige, scheinbar noch immer von Schwerterklirren widerhallende Innere des Fab- 100 -
rikgebäudes mit unsichtbarem Leben, als gebe es Augen in den Schatten hoch unter den rostenden Stahlträgern der Decke und in dem geborstenen Mauerwerk. Auch die Tauben schienen es zu spüren. Soeben waren sie noch trotz des Kampflärms ruhige und gelassene Zuschauer gewesen. Aber jetzt stiegen sie in einem riesigen Schwärm empor und kreisten mit lautem, panischem Flügelschlagen im Zwielicht unterhalb der Decke umher. Connor achtete nicht darauf. Er drehte sich um und nahm seinen Nachfahren in eine freundschaftliche Umarmung. »Schön, dich zu sehen«, sagte er. Duncan konnte nur schweigend nicken. Die Ahnung, beobachtet zu werden, wurde stärker.
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Im Bann der Vergangenheit
Als sie später schweigend nach North Vancouver zurückfuhren, waren sie eingehüllt von den überwältigenden Geräuschen der Stadt, der Hitze und den Smog wölken des nahenden Sommers. Das Thermometer zeigte achtundzwanzig Grad im Schatten. Sie hatten das Cabrio-Verdeck des T-Bird zurückgeklappt, aber weder das noch der Seewind, auf den normalerweise Verlaß war, brachten Kühlung. Das Gefühl, beobachtet und verfolgt zu werden, wuchs sich nach und nach zur Gewißheit aus und wurde zu einem noch größeren Druck als die Hitze. Aber sosehr MacLeod auch Rück- und Innenspiegel des Wagens im Auge behielt und jede geringfügige Unregelmäßigkeit im Verkehrsfluß hinter sich beachtete - es schien alles normal zu sein. Es war die Rush-hour vor der eigentlichen Feierabend-Rush-hour: Viel zu viele Autos auf der Straße, hier und da mit abenteuerlichen Motorradhelmen ausstaffierte Kids auf geländegängigen Maschinen, ein heilloses Chaos aus Stop and Go auf den City-Highways, Motorrad-Cops und Sirenen. Darüber gleißten Lichtreflexe auf Windschutzscheiben und in den Panoramafenstern der Wolkenkratzer. Je länger MacLeod sich darauf konzentrierte, desto zähflüssiger schien sich alles zu bewegen. Im Hitzeflirren der Luft sah die Welt aus wie in einem Zerrspiegel. MacLeod wünschte sich einen Knüppel, um seine Alpträume zu zertrümmern. Aber es gab keine guten Feen - 102 -
mehr, die solche Wünsche erfüllten. Er würde sich mit der Realität arrangieren müssen. Es war gestern dasselbe gewesen, und vorgestern und am Tag davor: unmöglich, der Angst und Besorgnis um Tessa zu entgehen, solange Slan Quince da war. Und er war da. Er lauerte auf seine Gelegenheit, Schmerzen zufügen zu können und Elend auszusäen. Gestern hatten sie Tessa in der Küche vorgefunden. Sie saß reglos im Halblicht des hereinbrechenden Abends. Als sie eintraten, schweißnaß und erschöpft vom stundenlangen, intensiven Kampftraining, sah sie auf. Ihr Blick klärte sich erst Sekunden später, wie nach viel zu langen Tagträumen, und MacLeods Haut hatte eisig zu kribbeln begonnen. Es war kein Träumen gewesen und erst recht nicht angenehm, er wußte es im gleichen Augenblick. »Er ist da draußen«, hatte Tessa gesagt. »Ich habe ihn kurz gesehen. Er ist wie Rauch, trotz seines riesigen Körpers. Gerade noch da, und im nächsten Moment schon wie in alle Winde verweht. Er hat gelächelt, als er erkannte, daß ich ihn bemerkt habe.« Connors Maske harmloser Unbeschwertheit und Freundlichkeit war wie unter Hieben zersplittert. Sein Trost klang hinfällig: »Er wollte, daß du ihn siehst. Es gehört zu seiner Taktik.« »Ich weiß. Trotzdem ist es unheimlich. Er ist sich seiner Sache so sicher.« »Es ist neu für dich, Tessa, aber...« Sie hatte ihm wutschnaubend widersprochen. »Bisher hatte ich es mit anderen Gegnern zu tun. Das Finanzamt, - 103 -
Banken und kleinkarierte Kunstkritiker. Harte Gegner, allesamt. Aber sie springen nicht in der Nacht durchs Fenster und stochern mit riesigen Schwertern in der Gegend herum. Wenigstens das nicht.« Duncan MacLeod hatte sie hochgezogen und in seine Arme genommen. »Connor steht auf unserer Seite.« »Schon gut, schon gut: Ich wollte allein zuhause bleiben und will das auch in Zukunft. Verdammt! Ich dachte, ich kann auf mich allein aufpassen. Nein: ich weiß, daß ich das kann, ich bin kein Kind mehr. Aber... Mist!« Sie ballte die Fäuste und hieb ihm damit auf den Rücken. »Hilflosigkeit ist so demütigend! Und dieser Quince legt es genau darauf an und...« Sie führte es nicht zu Ende, sondern hatte die Sinnlosigkeit längst selbst eingesehen. Sie löste sich sanft und doch entschlossen von ihm, ging zum Fenster hinüber und sprach erst nach einem scheuen Seitenblick auf Connor weiter. »Okay. Schon gut. Ich hab's ja begriffen. Wir sind Köder. Seine Köder für diesen Wahnsinnigen.« Erst nach dem gemeinsamen Abendessen hatte sie sich entschuldigt. »War nicht so gemeint, Connor. Tut mir leid. Reden wir über etwas anderes, okay?« Sie ließ ein verlegenes kleines Lächeln über ihr Gesicht huschen. »Ich hatte noch nie mit drei Unsterblichen gleichzeitig zu tun. Ihr beiden, ihr seid also verwandt?« Duncan seufzte. Er spürte, wie sich seine Sicht veränderte, sich verschleierte, als sei es seinen Augen nur unter großer Anstrengung möglich, in die alten Zeiten zurückzublicken. »Als ich noch ein Kind war, gab es im Clan der - 104 -
MacLeods eine Legende über einen unheimlichen Vorfahren. Er starb im Kampf, und plötzlich lebte er wieder.« »Sie hielten es für Hexerei«, hatte Connor mit einem ironischen Lächeln zugefügt. »Daher haben sie mich ausgestoßen. Dabei war es nur eine Art Magie. Niemand konnte etwas dafür. Und ich am allerwenigsten.« Sein Nachfahre stieß den lange angehaltenen Atem aus. Er wollte es nun vollends hinter sich bringen. »Für mich war es Altweibergeschwätz. Aber eines Tages...« » . . . wurdest auch du getötet. Und bist zurückgekehrt. Wie er.« Tessa hatte ihn aufmerksam beobachtet. Er spürte ihren Blick, spürte, daß sie begriffen hatte: Vielleicht würde es zwischen ihnen nie wieder so sein, wie es bisher gewesen war. Sie hatten niemals darüber gesprochen, und plötzlich wußte er, daß das der größte Fehler von allen gewesen war. Ihm hatte das Vertrauen gefehlt, das jetzt von der Angst abgelöst wurde, sie könne nun nur noch das Monstrum in ihm sehen. MacLeod hatte den Blick gesucht. Er kämpfte gegen diese Furcht an, während Connor an seiner Stelle weitersprach. »Sie haben ihn genauso davongejagt wie mich, vertrieben wie einen tollwütigen Hund. Er lebte in den Bergen und versuchte immer wieder, mit ihnen zu reden. Er stellte sich ihnen in den Weg, stellte sich sogar seinem Vater in den Weg, Ian MacLeod, und wurde niedergeritten. Aber er lebte dennoch weiter und immer weiter. Und dann habe ich ihn gefunden, genauso, wie vorher mich jemand gefunden hatte: Ramirez.«
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»Connor war es, der mir alles beibrachte, was man benötigt, um als Unsterblicher zu existieren und zu gewinnen.« »Gewinnen?« hatte Tessa hitzig hervorgestoßen. »Mac, was denn gewinnen?« Er ahnte Connors Erwiderung, vielleicht sogar Protest auf seine Antwort, und wischte beides mit einer Handbewegung beiseite. Er war sich bewußt gewesen, wie weit er gegangen war, und es war gut so. Die Entscheidung stand bevor. Er war Tessa Ehrlichkeit und umfassendes Vertrauen schuldig, und mit diesem Entschluß erfüllte ihn eine große innere Ruhe. »Es kann nur einen geben«, hatte er fast tonlos gesagt und den Kopf gehoben, um Tessas Blick nicht mehr länger auszuweichen. »Das ist die wichtigste Regel von allen.« »Nur einen?« hauchte sie. »Einen von euch? Nur ein Unsterblicher überlebt diesen ganzen Irrsinn? Und was bekommt der Sieger?« »Der letzte von uns wird die Kräfte aller Unsterblichen in sich vereinen. Er wird genügend Macht haben, um diesen Planeten bis in alle Ewigkeit zu beherrschen.« »Ein Gott also?« flüsterte Tessa. »Im Guten oder im Bösen.« Connor stieß ein kurzes Lachen aus. »Wenn ein Slan Quince unser kleines Spielchen gewinnt, werden die Menschen hier ein Reich der Finsternis zu ertragen haben, gegen das Dantes Inferno ein Vergnügen ist, salopp gesprochen.« »Salopp gesprochen«, hatte Tessa atemlos und kopfschüttelnd wiederholt.
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»Niemand kann sich aus diesem Spiel heraushalten. Duncan hat es schon einmal versucht, aber...« Es klang wie eine Entschuldigung, und es riß Duncan MacLeod in die Wirklichkeit zurück, in den Thunderbird inmitten des Staus und der Hupkonzerte. Er spürte Connors besorgten Blick und wußte, daß er ihn die ganze Zeit über beobachtet und seine Gedanken ohne jede Mühe erraten hatte. »Sie ist sehr nett, aber sie weiß viel zuviel«, stellte Connor fest. »Warum hast du ihr und dir selbst das angetan?« MacLeod lachte so wild auf, daß er glaubte, seine Brust müsse bersten. »Aus reinem Egoismus. Ein Versuch, zu leben. Zu leben, Connor, verstehst du?« Doch er wartete seine Antwort nicht ab. Vor ihnen löste sich der Verkehrsstau so überraschend auf, wie er entstanden war. Er trat das Gaspedal durch und überholte zwei Pick-ups, die, gewaltige Abgaswolken ausstoßend, vor ihm herzuckelten. Dann beschleunigte er weiter, bis der Fahrtwind als Barriere zwischen ihnen wirbelte und sie die Heights erreicht hatten. Aber dieses Mal funktionierte die Formel »Beschleunigung gleich Erlösung« nicht. Er fand einen Parkplatz gegenüber den Arkaden und hatte das völlig verrückte Empfinden, daß die Temperaturen jetzt von Sekunde zu Sekunde schneller anstiegen. Slan Quinces Präsenz war blitzartig spürbar: ein Fanal, das die Spinnweben in seinem Schädel endgültig zerriß. Er hatte die Straße bereits halb überquert, ohne zu wissen wie, jedoch unüberhörbar umgeben von einem Hupkonzert, als sein bewußtes Denken wieder in gewohnter Präzi- 107 -
sion zu arbeiten begann. Connor hatte den Flash ebenfalls gespürt. MacLeod sah ihn unter den Arkaden und in eine der Seitengassen eintauchen. Er begab sich zur Rückseite des Hauses. Die Jagd hatte begonnen. Blieb die Frage, wer das Wild, wer der Jäger war. Drei Schritte von der Ladentür entfernt wußte er, daß sie abgeschlossen sein würde. Quince war bereits bei Tessa war in ihrem Atelier in den obersten Stockwerken. Das Ganze war eine sorgfältig präparierte Falle - Köder und Fangeisen lagen bereit. Ohne den Schwung abzubremsen, beide Arme schützend vor das Gesicht hochgerissen, warf er sich durch die Glastür, prallte auf und hetzte weiter. Er durchquerte die weitläufigen Verkaufsräume, schoß die Treppe hoch, das dai-katana jetzt nicht mehr in seinen Mantel eingewickelt und getarnt, sondern blankgezogen in der Rechten. Die Alarmanlage funktionierte zuverlässig. Ein schrilles, ohrenbetäubendes Jaulen setzte ein. Gleichzeitig ergoß sich Slan Quinces Gedankeninhalt in seinen Geist: Haß und Triumph, atemlose Anspannung. Amüsement und Erstaunen - eine Flut öliger, scheinbar nur halb entwickelter Bilder... MacLeod stieß einen wilden Schrei aus; es war, als habe er übergangslos den Körper gewechselt. Jetzt sah er alles aus Quinces Perspektive, aus seinen Augen, begleitet von seinen Empfindungen. Ein brutaler Hieb mit der flachen Hand schleudert Tessa zurück, sie stürzt, wird von seiner Monsterpranke mühelos abgefangen und hochgezerrt, auf einen Stuhl gestoßen und - 108 -
gefesselt. Er ohrfeigt sie, verspottet sie: »Vielleicht sollten wir die Zeit bis zu MacLeods Eintreffen ein wenig nutzen? Vielleicht sollte ich dein hübsches Gesicht noch ein wenig... verschönern?« Und er zieht sein Schwert, dieses riesige Schwert und »Quince... Ich bin hier...!« Die Vision zerbarst. MacLeod war oben angelangt. Er sah alles in gleißendem Weiß, dann in flammendem Rot, und dieser furchtbare Schrei des Zorns und der Qual dauerte noch immer an, füllte seinen Schädel und seinen ganzen Körper und wurde lauter und lauter, während er den Flur entlanghetzte, um sein Ziel zu erreichen. Das Schloß zersplitterte unter seinen Ansturm. Die ganze Tür wurde aus den Angeln gerissen und nach innen gedrückt. Das rettete ihm das Leben. Quince hatte ihn bereits erwartet und schlug zu, sein Schwerthieb spaltete das gesamte obere Drittel der in das Atelier stürzenden Tür, und MacLeod schaffte es in letzter Sekunde irgendwie, sich im Fallen beiseitezukrümmen und auch dem nächsten Schlag noch zu entgehen. Er setzte seine Schnelligkeit gegen die Schnelligkeit des Monstrums, und es war, als steigere der gegenseitige Haß jede ihrer Bewegungen noch bis in kaum mehr wahrnehmbare Raserei. Der Schwung seines Abrollens trug ihn an Quince vorbei und annähernd zehn Yards weit in den lichtdurchfluteten Raum hinein, und da war Tessa, tatsächlich auf einen Stuhl gefesselt und geknebelt, die Augen unnatürlich geweitet. MacLeod kam hoch. Er blieb in Bewegung, war sich Quinces blitzartigen Heranstürmens intensiv bewußt und - 109 -
handelte ohne jedes Zögern. Seine Klinge wischte in einem flirrenden Halbkreis durch die Luft und zerschnitt Tessas Fesseln mit traumhafter Präzision. Ein Schrei jenseits allen normalen Empfindens vibrierte in der Luft. Er konnte sich nicht um sie kümmern, konnte sie nicht trösten, dazu war keine Zeit mehr übrig. Quince lachte hämisch. Er bremste seinen Vorwärtssturm ab und schlug seinen Ledermantel auseinander, um größere Bewegungsfreiheit zu haben. Dann folgte er MacLeod mit wuchtigen, jedoch nicht übermäßig eilig erscheinenden Schritten; ein Schlächter, der sich seines Opfers sicher war. Er hatte die Distanz überbrückt, ehe MacLeod auch nur mit den Wimpern zucken konnte. Die Bewegungen des Hünen waren so ruckartig und dennoch rasend schnell und präzise koordiniert, wie man es bei sehr großen Spinnen beobachten kann. »Du wirst den Kopf verlieren, Highlander. Du wirst sterben. Und diesmal wirst du nicht mehr auferstehen.« Quinces Klinge fraß sich in einem Feuerwerk neonblauer Blitze in den Fensterrahmen, verwandelte Holz und dahinter liegendes Mauerwerk in eine Wolke karmesinroter Splitter, bevor das Monstrum mit einem Fluch das Schwert wieder freiriß. MacLeod parierte auch diesen Hieb sowie das folgende Geprassel der Schläge und wurde zurückgeschleudert. Er prallte gegen die Wand, sah Tessa aufstehen und wie ein Gespenst lostaumeln. Ein Karatetritt schmetterte seine Rechte beiseite und verwandelte sie in einen gefühllosen Klumpen. Das - 110 -
dai-katana wirbelte blitzend davon, bevor es zu Boden klirrte. Quinces Augen glitzerten hinter den Schlitzen der Eisenmaske in triumphierendem Wahnsinn. Während er ihn umrundete und auf die eine, alles entscheidende Schwäche lauerte, hatte MacLeod den Eindruck, alles vergehe hinter blutroten Schleiern. Es war, als sei ihm eine neue Qualität der Wahrnehmung geschenkt worden, nur um die eigene Vernichtung detailliert registrieren zu können. Plötzlich waren ihrer aller Atemzüge innerhalb des Raumes so laut wie das Toben eines Wasserfalls. MacLeod folgte Quinces Bewegungen wie ein Schatten und dachte: die Entscheidung. Als sich der Koloß in einem affenartigen Satz gegen ihn warf, unterlief er den Hieb und fetzte die Schwertklinge mit einem Hochziehen seines Ellbogens weg, wie es ihm Connor beigebracht hatte. Dann versetzte er Quince einen Rammstoß in den Leib und wurde seinerseits wie von einem Hammerschlag im Genick getroffen, um gleich darauf an den Haaren gepackt und herumgerissen zu werden. »Zu langsam«, kommentierte Slan Quince fast mit Bedauern in der Stimme. »Und zu schwach. Und zu langweilig.« Dieses Mal war der Aufprall mörderisch. In einem Wirbel aus Armen und Beinen flog er über eine Werkbank, räumte Tessas Staffelei ab und zertrümmerte eines der großen Regale. Stechender Schmerz jagte durch seinen Körper. Es war, als atme er Feuer, als splittere zeitverzögert jeder einzelne Knochen in seinem Leib. Noch mehr Fausthiebe und Fußtritte folgten. Eine Reihe höllischer Laute, fast wie ein elektronisch verstärktes Lachen, erfüllten den Raum. - 111 -
Dunkelheit und rasend schnelle Bilder wechselten sich ab. MacLeod stieß sich weg, kam halb hoch und schnellte sich zur Seite weiter. Er tastete mit beiden Händen nach dem dai-katana und fand es nicht. Statt dessen hörte er hinter sich Quinces Klinge in die Trümmer fahren und dachte: Nicht jetzt, nicht jetzt... Verdammt, wo bleibt Connor? Der letzte, alles vernichtende Schlag blieb wieder aus. Als er, nach Ewigkeiten, wie ihm schien, wieder klar denken konnte, hechelte das Monstrum noch immer nicht heran. Es hatte sich Tessa in den Weg geworfen und ihre Flucht verhindert. Gegeneinanderprallende Körper bildeten einen konturlosen Klumpen, dann wirbelte Quince mit einem Kreischen herum. Seine linke Pranke umklammerte Tessas Kehlkopf, er stemmte sie wie eine Gliederpuppe empor, als wollte er seine Macht über ihr Atmen, ihr Leben demonstrieren. »Eine Bewegung, und ich drücke richtig zu, MacLeod!« Er richtete sich auf, schüttelte den Kopf und wischte sich schweißnasse Haare aus dem Gesicht. »Du bist meinetwegen gekommen, Slan meinetwegen!« hauchte er. »Ich bin gekommen, um ein wenig Spaß zu haben«, stellte Quince fest und begann Tessa zu würgen, ohne den Blick seiner toten Augen auch nur eine Sekunde von MacLeod abzuwenden. Eine letzte Herausforderung vor dem Ende. Tessas Körper war ein einziges zuckendes Nach-Luft-Ringen. Adrenalin peitschte sie in einen Wahnzustand zwischen Wachsein und Bewußtlosigkeit, ließ sie etwas röcheln, das MacLeod nicht verstand. Sie riß ihre - 112 -
Fäuste wie an unsichtbaren Schnüren hoch und mühte sich kraftlos, ihren Peiniger damit zu treffen. Als sich MacLeod abschnellte, schleuderte ihm das Monstrum seine Geisel entgegen. MacLeod reagierte wie eine genau darauf programmierte Maschine. Er fing Tessa präzise auf und glich den gewaltigen Aufprall aus. Dann schwang er in einer weichen Drehung mit ihr zusammen herum und setzte sie ab. Im selben Moment warf er sich auf sein dai-katana, umfaßte den Doppelgriff und war schon wieder auf den Füßen, um... Doch Quince war verschwunden. Er hörte ihn die Treppe hinabpoltern, hörte seine Donnerstimme: »Bis bald, Kinder!« Noch immer keine Spur von Connor. MacLeod registrierte alles schneller, als er es verarbeiten konnte. Begleitet von einem wahnsinnigen Sekundenticken in seinem Kopf, lief er zur Treppe, hörte, wie vor dem Haus ein PSstarker Motor gestartet und in jaulende Höhen beschleunigt wurde. Durchdrehende Reifen kreischten, während das immer noch andauernde Jaulen der Alarmanlage von Sirenengeheul eines rasch näherkommenden Streifenwagens der Vancouver-Cops unterstützt wurde. Er schüttelte wieder und wieder den Kopf, um vollends klarzukommen, umrundete das Haus auf der Suche nach Connor oder Quince. Aber er fand weder den einen noch den anderen und eilte zurück, zu Tessa. Zeitlupensequenzen wechselten ab mit halsbrecherisch schnellen Einzelwahrnehmungen, während sich das Licht des frühen Abends ungeheuerlich zu verdunkeln schien. - 113 -
Tessa sagte kaum hörbar: »Ich will sie nicht hier haben. Ich will sie nicht hier haben.« Er begriff, daß sie die Cops meinte. Er trat hinzu und schickte die Streife mit der erstbesten fadenscheinigen Erklärung weg. Dann schaltete er die Alarmanlage aus und zerrte das erst gestern installierte Stahlgitter vor die zertrümmerte Ladentür. Wie noch immer in einem irrwitzig durch den Projektor flatterndem Film gefangen, eilte er zu Tessa zurück. Und das Drehbuch für die Schlußszene des Films war noch nicht geschrieben...
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Das Labor
Zuerst spürte er nur den Schmerz - ein Meer von Schmerzen, dessen peitschende Wellen von allen Seiten auf ihn eindrangen, in jede Faser seines Körpers strömten und ihn mit einer solchen Agonie erfüllten, daß sich die Dämmerung in seinem Bewußtsein wieder in völliger Schwärze verlor. Aber die magischen Kräfte seines genetischen Codes initiierten Selbstheilungsprozesse, badeten die Nervenbahnen in linderndem Balsam und schirmten das protestierend aufschreiende Schmerzzentrum in seinem Gehirn ab. Die Morgenröte des neuen Lebens tastete sich wieder vor, zögernd zuerst und auf abermalige Schockwellen vorbereitet, letzten Endes jedoch unbeirrt und zielstrebig darauf programmiert, die Nacht hinter sich zu lassen. MacLeods Lider zitterten zuerst wie Blätter, die von einem milden Lufthauch umschmeichelt werden. Dann schnellten sie abrupt nach oben. Verschwommene Lichtmuster tanzten vor seinen Augen, bloße Farbtupfer, wie in die Luft gemalt. Er war nicht in der Lage, irgend etwas Konkretes wahrzunehmen - die getüpfelten, an den Rändern ausgefransten Lichtpunkte waren überall, tarnten alles, was sich hinter ihnen verbarg. Er bewegte die Lippen, die seltsam schwer und geschwollen erschienen, wie von den Schlägen einer riesigen Faust zerschmettert. »Tessa... Tessa... wo... bist du?« - 115 -
Er selbst verstand seine Worte nicht. Seine Stimme war nicht mehr als ein dumpfes, unartikuliertes Murmeln. Es erfolgte keine Reaktion. »Tessa!« Noch immer sprach er ihren Namen undeutlich und seltsam gepreßt, aber doch eindeutig lauter und auch einigermaßen verständlich. Dennoch kam wiederum keine Antwort ringsum nur lastendes, beängstigendes Schweigen, wie an einem geheiligten Ort, wo die Präsenz eines strengen Gottes selbst das kleinste Geräusch als Sakrileg erscheinen läßt. MacLeods kaum erwachtes und noch so unendlich träges Bewußtsein wurde in akute Alarmstimmung versetzt. Seine Denkprozesse kamen auf Touren, wie der Motor eines hochgezüchteten Sportwagens, dessen Gaspedal voll durchgetreten wird. Die schlaffen Muskeln spannten sich und wollten den Körper in Aktionsbereitschaft reißen. Aber sie stießen auf Widerstände, die diese jähe, aber doch noch viel zu schwache Energieentladung nicht überwinden konnte. Er fühlte etwas an seinen Beinen, an den Armen und unterhalb seiner Brust, das ihn festhielt wie die Fangarme eines monströsen Kraken, ebenso scheinbar nachgiebig und elastisch - und ebenso unerbittlich. Er lag flach auf dem Rücken und war gefesselt, festgeschnallt, unbeweglich und hilflos. Diese Erkenntnis schlug mit der Wucht einer Bombenexplosion in sein Bewußtsein ein. Quince! Er hat mich... hat Tessa... - 116 -
MacLeod kämpfte gegen die wild in ihm hochlodernde Panik an und zwang seine Gedanken in geordnete Bahnen. Er mußte logisch vorgehen, Ursache und Wirkung erkennen... Er bemerkte seinen Irrtum. Dies waren nicht die wiedergelebten Erinnerungen der Todesphase. Sie konnten es nicht sein. Er kannte diese Gefühle ganz genau, wußte, daß sich Quince und Tessa nach diesem Intermezzo im Loft nicht noch einmal begegnet waren. Sie befand sich nicht in Gefahr. Quince würde ihr nichts mehr antun... Die Erleichterung, die diese Erkenntnis mit sich brachte, erfüllte sein Inneres plötzlich mit tief empfundener Ruhe. Er lebte wieder im Jetzt, und in diesem Jetzt ging es nicht um Tessa oder sonst jemanden, für den er Verantwortung trug, sondern nur um ihn allein. Es bestand kein Grund zur Aufregung, schon gar nicht zur Panik, und kein Grund, irgend etwas zu überstürzen. Er versuchte, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren, auf die Umstände, die zu der Situation geführt hatten, in der er sich jetzt befand. Und er erkannte schnell, daß ihm dies nicht so recht gelingen wollte. Die Bilder der Vergangenheit, die Bilder von Tessa, Connor und Slan Quince, standen in grellen, schreienden Farben vor seinem geistigen Auge, waren ihm so gegenwärtig, daß er glaubte, sie greifen zu können, während sich die Gegenwart nur in verschiedenen Schwarzschattierungen darstellte und sich seinem Zugriff entzog. Er sah immer nur diese eine Gestalt, schwärzer noch als schwarz, die sich von allem anderen abhob, der Schatten eines Schattens. Schattenmann... - 117 -
Er konnte sich nicht an die Identität des Schattenmannes erinnern, und er war eigentlich auch gar nicht daran interessiert, sie zu kennen. Jedenfalls nicht im Moment. Er wollte sich nur dieser Ruhe hingeben, diesem inneren Frieden, den er empfand. Nichts hören, nichts sehen, nichts denken. Aus jahrhundertelanger Erfahrung wußte er, daß die Gegenwart im Grunde nie begehrenswerter war als die Vergangenheit. Sie bestand aus Ungewißheiten, aus vagen, bedrohlichen Ahnungen, aus Anforderungen, denen er sich in der Schwäche des Erwachens kaum gewachsen sah. Nur vergessen - die Gegenwart und die Vergangenheit! Er schloß die Augen, ließ die tanzenden Lichttupfen der Außenwelt mit den Schwarztönen seiner Innenwelt eins werden. Dabei wünschte er, daß sich beides verflüchtigen und dem puren Nichts weichen möge, in das er eintauchen wollte, um sich darin zu verlieren. Aber natürlich war dies nur ein Wunschtraum. Die Realität ließ sich nicht einfach ausschließen, sondern drängte sich mit einer Eindringlichkeit in Physis und Psyche, vor der es keine Flucht gab. Die Schmerzen überwanden jetzt wieder qualvoll die Dämme des körpereigenen Abwehrsystems und begannen mit neuerlicher, noch grausamerer Intensität in seinen Zellen zu wüten. Er mußte sich auf sie konzentrieren, um sie mit der Macht seines Willens auf ein erträgliches Maß zurückzuschrauben. Und seine Natur, seine ureigene Wesensart, verbot ihm, tatsächlich den Rückzug ins Nichts anzutreten. Schattenmann... Die dunkle Gestalt war der Fixpunkt im noch konturenund inhaltslosen Sumpf verdrängter oder betäubter Erinnerungen. MacLeod richtete seine ganze geistige Kraft auf - 118 -
den Schattenmann. Er versuchte, dem Scherenschnittmuster feste Form und Substanz zu geben, es aus der Schwärze herauszulösen und mit Licht zu erfüllen. Und es gelang ihm: Langsam, ganz langsam hellte sich der Schatten auf, nahm Gestalt an und bildete ein Gesicht. Es war ein Gesicht, wie es durchschnittlicher und alltäglicher kaum sein konnte. Aber der Eindruck, den es zur Schau stellte, war alles andere als alltäglich. Es war zu einer Grimasse verzerrt, die fast fern alles Menschlichen lag, zerfressen von Ehrgeiz und Besessenheit. Und in den Augen funkelte nackter Fanatismus. MacLeod schrak zurück. Dieser Mann war wahnsinnig, so wahnsinnig wie Slan Quince. Aber der Wahnsinn, der sich hier ausdrückte, war anders als der des Unsterblichen. Es war jener Wahnsinn, dem er während seines endlos langen Lebens schon viele Male begegnet war - der furchtbare Wahnsinn des fanatischen Idealisten und Weltverbesserers, der vor nichts zurückschreckte, um seine Ziele zu verwirklichen. Echter Wahnsinn mit Methode. Das lebhafte Bild des Schattenmannes erweckte in ihm weitere Assoziationen und Erinnerungen, zwar lückenhaft und ziemlich zusammenhanglos, aber doch ausreichend, um das Puzzle des Jetzt nach und nach zusammenzufügen. Der Wahnsinnige war Dr. Jekyll. Oder war er Mr. Hyde? Nein, Frankenstein paßte besser. Ein moderner Frankenstein, der versessen darauf war, ein Monster zu schaffen, nach seinem, Duncan MacLeods, Ebenbild. Er sah ihn jetzt deutlich vor sich: das Skalpell wie ein Schlachtermesser in der hoch erhobenen Faust, Blut an den Händen und an - 119 -
seinem weißen Arztkittel, den er wie das Gewand eines Opferpriesters trug. Sein Name war... MacLeod konnte sich nicht darauf besinnen. Vielleicht hatte er ihn auch nie gewußt. Und er konnte sich auch nicht erinnern, wie er in die Gewalt dieses Mannes geraten war. Er sah sich vor dem Antiquitätengeschäft stehen, gleich zu Hause, zu Hause bei Tessa. Dann geschah der Unfall. Ein Auto raste auf ihn zu. Nein, es war ein Überfall gewesen: Freaks, die mit Fäusten und Füßen... Anschließend das Krankenhaus, ein nackter, weißer Flur voller aufgeregter Leute und Geräusche. Er, bereits gestorben, auf einer Bahre liegend, auf dem Weg in den Operationssaal... Aber dies hier, der Ort, an dem er sich jetzt befand, war nicht der Operationssaal eines Krankenhauses. Er schlug die Augen abrupt wieder auf, zwang die immer noch umhertanzenden Lichtpunkte, ein Raster zu bilden und sich zu einem Abbild seiner Umgebung zusammenzufügen. Es war ein Operationssaal, zumindest das kleinere Äquivalent eines solchen. Medizinische Gerätschaften und Apparate standen vor kahlen, aseptischen Wänden, und in der Mitte des Raums stand tatsächlich ein Operationstisch. Auf diesem Tisch lag MacLeod, den Kopf leicht erhöht, so daß er an sich herabschauen konnte. Er war mit Bandagen festgeschnallt. Eine Kanüle steckte in seinem Hals, eine andere in der linken Armvene, ohne daß er an ein Aggregat oder eine Flasche angeschlossen war - offenkundig wurde er nicht mehr versorgt, war er aufgegeben und als moribund oder bereits »abgängig« abgehakt.
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MacLeod hob den Kopf, um sich eingehender betrachten zu können. Die Anstrengung rief einen Schwindelanfall hervor, der ihn sofort wieder in die Desorientierung abgleiten ließ. Er brauchte länger als eine Minute, um seiner Sinne wieder einigermaßen Herr zu werden. Was er dann sah, erfüllte ihn mit einem Gefühl der Erbitterung. Obwohl der Selbstheilungsprozeß bereits weiter fortgeschritten war, als er anfänglich gedacht hatte, zeigten sich die Spuren von Frankensteins Arbeit noch überall an seinem nackten Körper. Er hatte Vivisektionen an Tieren im sogenannten Dienste der Wissenschaft schon immer verabscheut. Vivisektionen an Menschen jedoch hielten dem grausigen Vergleich mit den Foltern der Inquisition, die er am eigenen Leib erduldet hatte, ohne weiteres stand. Er blinzelte zu der grellen Neonröhre an der Decke hinauf, deren Licht so schneidend und gnadenlos wie die Werkzeuge des Folterknechts erschien, lauschte dann, den Kopf leicht schräg gehalten, mit angestrengter Konzentration. Er hörte nur seinen eigenen schweren Atem und irgendwo im Hintergrund das monotone, in gleichen Abständen wiederkehrende Geräusch fallender Wassertropfen. Sie ließen ihn an das Ticken einer Uhr denken und daran, daß die Zeit seines Alleinseins in diesem Raum unweigerlich ablief. Der Schlächter würde zurückkommen, und wenn er sah, daß sein Opfer doch noch lebte, wieder lebte, dann würde er... Nur ein Gedanke beherrschte MacLeod jetzt noch: Er mußte raus aus dieser Folterkammer, raus aus diesem Haus des Schreckens, irgendwohin, wo er sich verkriechen, verstecken, in Sicherheit bringen konnte. - 121 -
Er ließ sich für einige Augenblicke wieder in die Waagerechte zurücksinken, bemühte sich, gleichmäßig und kontrolliert zu atmen und sammelte Kraft. Dann stemmte er sich ruckartig mit aller Energie, die er aufbringen konnte, gegen die Bandagen an seinen Armen und Beinen. Die plötzliche Kraftentladung erschöpfte seinen Körper wie eine Batterie, die zu stark beansprucht wird. Aber sie bewirkte doch etwas. Deutlich spürte er, wie die Binden leicht nachgaben und seine Hände und Füße ein bißchen Bewegungsspielraum bekamen. Er ruhte sich einige Sekunden lang aus, um erneut Kraft zu sammeln, und warf sich dann nochmals gegen die Bandagen. Sie lockerten sich weiter, fast schon so weit, daß er eine Hand hin und her drehen konnte. Noch ein kräftiger Ruck, allein auf das rechte Handgelenk ausgeübt, und die Hand war frei. Er konnte sie jetzt beinahe mühelos aus der elastischen Schlinge ziehen. Wenig später hatte er alle Fesseln abgestreift und das Pflaster, mit dem sein Mund zugeklebt war, entfernt. Als er sich aufsetzte, kehrte das Schwindelgefühl mit aller Macht zurück. Alles um ihn herum wurde wieder konturenlos. Der Raum kippte und schien ihn in einen Abgrund zu schleudern, dessen Boden in der Unendlichkeit lag. MacLeod ließ den Anfall über sich ergehen. Er kämpfte nicht dagegen an, sondern wartete darauf, daß sich der wilde Taumel von selbst legte. Schließlich hatte sich der Sturm erschöpft, und die Umgebung nahm wieder feste Formen an. Treppenstufen an der linken Seite der Stirnwand zogen seinen Blick wie ein Magnet an. Der Weg in die Freiheit... MacLeod erhob sich von der Liege, langsam und ohne Hektik, damit ihm das Blut nicht abermals in den Kopf - 122 -
stieg und neue Schwindelwellen auslöste. Als seine Füße den Betonboden berührten, hatte er das Gefühl, aus einem Raumschiff gestiegen zu sein und die Oberfläche eines fremden Planeten betreten zu haben - eines Planeten, dessen Schwerkraft die der Erde um ein Vielfaches übertraf. Die Beine knickten ihm weg, und er mußte sich an der Liege festhalten, um nicht zusammenzubrechen. Er brauchte länger als eine Minute, um endlich richtig stehen zu können, schwankend noch, aber doch ohne den Zwang, sich irgendwo festklammern zu müssen. Wie ein Betrunkener, der sich krampfhaft anstrengt, beim Alkoholtest ja nicht von der weißen Linie abzukommen, lenkte er seine Schritte auf die Treppe zu. Auf halbem Wege wurde er sich bewußt, daß er völlig nackt war und so nicht unbemerkt unter Menschen treten konnte. Der Gedanke war in einer Situation wie dieser natürlich absurd, aber hatte man nicht festgestellt, daß auch Menschen, die im Schlaf vom Feuer überrascht wurden, erst ein paar Kleidungsstücke überwarfen, bevor sie aus dem brennenden Haus stürzten? MacLeod blickte sich um. An der Treppenwand stand ein mannshoher Metallschrank. Vielleicht waren dort...? Aber er konnte sich die Mühe, nach etwas Anziebarem zu suchen, sparen. In der rechten Zimmerecke hingen, achtlos über einen Stuhl geworfen, wie etwas, für das es nie wieder Verwendung geben würde, seine Sachen. Er schlüpfte hinein, hatte dabei aber einige Mühe, das Gleichgewicht nicht zu verlieren - die Schwerkraft des fremden Planeten zog und zerrte weiterhin an seinem geschwächten Körper. - 123 -
Plötzlich hörte er Geräusche. Sie kamen von oben, vom Treppenabsatz. MacLeod erstarrte. Er hielt den Atem an. Das Geräusch einer Tür, die sich öffnete... Schritte... jemand kam die Treppe herunter. Ein Adrenalinstoß riß MacLeod aus seiner Erstarrung. Er war zwei, drei Meter von den Stufen entfernt, noch im toten Winkel. Aber nicht mehr lange. Er bewegte sich nach vorne, hin zur Treppe, ging neben ihr in die Knie, preßte sich eng gegen den kalten Beton. In diesem Moment wünschte er sich, kein Unsterblicher, sondern ein Unsichtbarer zu sein. Die Schrittgeräusche klangen jetzt unmittelbar über und neben ihm. Dann hörten sie abrupt auf. Der Erzeuger der Schritte war auf einer der unteren Stufen stehengeblieben. Jetzt mußte sein Blick auf die leere Bahre und die Bandagen gefallen sein, die wie weiße Schlangen auf dem Boden lagen. Eine Sekunde, die MacLeod länger erschien als sein ganzes Leben, verging, der Stillstand einer festgefrorenen Zeitlupe. Dann, ganz so, als ob ein gelangweilter Beobachter den Schnelldurchlauf eingeschaltet hätte, erwachte die Szenerie zu irrwitziger Aktion. Der Mann auf der Treppe sprang die letzten Stufen hinunter, stürmte auf einen kleinen Wandschrank zu, riß eine Schublade auf, griff hinein und wirbelte herum. Die Blicke von Schlächter und Opfer kreuzten sich. MacLeod bekam nur einen ganz flüchtigen Eindruck von seinem Gegenüber - ein mittelgroßer, fast schmächtiger Mann im Busineßanzug, dessen Gesichtszüge er nur als die - 124 -
schroffen Umrisse einer Karikatur wahrnahm. Klar und deutlich - überdeutlich - sah er jedoch den Revolver in seiner rechten Hand. Die Waffe hob sich, zielte auf ihn. Die Schwäche in seinem Körper ignorierend, fuhr er aus seiner geduckten Position neben der Treppe hoch, machte ein paar schnelle, taumelnde Schritte auf den anderen Mann zu und warf sich gegen ihn. Ein Schuß krachte. In dem nicht allzu großen und niedrigen Raum war die Detonation wie die Entladung mehrerer Donner. Sie fraß sich in seine Gehörgänge und brachte seinen Kopf beinahe zum Platzen. Aber die abgefeuerte Kugel ging fehl, schlug irgendwo in die Decke oder in eine Wand. MacLeod riß seinen Peiniger mit sich zu Boden. Der Revolver entglitt der Hand des anderen und schepperte klirrend auf den Beton. Ein Knäuel ineinander verschlungener Arme, Beine und Körper rollte durch den Raum. Es prallte von der Bahre gegen ein Instrumententischchen und ließ silbern flimmernde Scheren und Skalpelle nach unten regnen. Die Hand des Gegners streckte sich nach einem Skalpell aus, bekam es zu packen und stieß damit zu. Stechender, bohrender Schmerz, der alle anderen Schmerzen überstrahlte, explodierte unmittelbar über MacLeods rechtem Hüftknochen. Im gleichen Moment sprudelte Zorn wie das kochende Wasser eines Geysirs in ihm hoch. Wieder hatte der Unmensch seine mörderische Hand gegen ihn erhoben. Schluß damit, ein für allemal! Er befreite eine Hand aus dem Knäuel und ballte sie zur Faust. Ganz nah sah er das Gesicht des anderen vor sich, eine in Panik gepreßte Grimasse. Frankensteins Alptraum - 125 -
war wahr geworden: sein Monster hatte sich gegen ihn gewandt. Er war nicht länger der große Meister, der uneingeschränkte Herr über Leben und Tod seiner Kreatur. MacLeod schlug zu, mitten hinein in diese Fratze, die ihm hassenswerter erschien als Slan Quince und all die anderen Wahnsinnigen seiner Art, die es je auf seinen Kopf abgesehen hatten. Dieser eine Schlag genügte. Frankenstein war nur stark, wenn seine Opfer wehrlos vor ihm lagen, wenn sie ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren. Jetzt war er schwach, erbärmlich und ohne jede Widerstandskraft. MacLeod sah, wie er die Augen verdrehte, hörte, wie ein fast ergebenes Stöhnen aus seinem Mund drang, und spürte, wie sein schmächtiger Körper schlaff und reglos wurde. MacLeod stieß ihn von sich. Sein Zorn hatte sich so schnell verflüchtigt, wie er aufgewallt war. Im Augenblick empfand er nur Ekel, Ekel vor der Berührung dieses Menschen, Ekel vor diesem jetzt verwüsteten, aber immer noch sterilen Raum, der dennoch blutiger war als jeder Schlachthof. Er wollte nur noch raus hier, raus, raus, raus... Er torkelte auf die Füße und wandte sich wieder der Treppe zu. Die frische Wunde in seiner Seite schmerzte noch immer wie Feuer, aber er machte sich ihretwegen keine Gedanken. Sie würde ebenso heilen wie alle anderen Wunden, die ihm der Unmensch zugefügt hatte. Und er fühlte sich auch nicht stärker behindert, als das vorher der Fall gewesen war. Die allgemeine bleierne Mattigkeit in seinen Gliedern ließ sich ohnehin kaum steigern. Die Stufen wanden sich in der Form einer Wendeltreppe spiralförmig nach oben. Und obwohl er ein schmales Ei- 126 -
sengeländer zur Hilfe hatte, überkam ihn das Gefühl, einen Berg emporzusteigen, dessen Gipfel so hoch in den Wolken lag, daß er unerreichbar erschien. Aber er erreichte den Gipfel trotzdem. Die Treppe mündete in eine geräumige Diele, die offensichtlich im Erdgeschoß eines ganz normalen Wohnhauses lag. Das paßte zusammen: Folterkammern befanden sich traditionsgemäß im Keller. Gleich vor sich sah er eine Tür, deren oberer Teil aus ornamentverziertem Milchglas bestand. Mattes Licht schimmerte herein. Keine Frage: Diese Tür führte nach draußen in die Freiheit... endlich. MacLeod tastete nach der Klinke und drückte sie herunter. Die Tür ließ sich nicht öffnen, war verschlossen. Und obwohl der Schlüssel deutlich sichtbar im Schloß steckte, brauchte MacLeod mehrere Sekunden, das zu realisieren. Jetzt, da die unmittelbare Gefahr überwunden war und sein Körper die Produktion aufputschender Hormone weitgehend eingestellt hatte, legten sich auch über sein Bewußtsein wieder diffuse Schleier, die es ihm schwermachten, klar und zielgerichtet zu denken. Schließlich gelang es ihm, den Schlüssel herumzudrehen, die Tür zu öffnen und die Schwelle zu überschreiten. Nur mit Mühe konnte er einen Sturz vermeiden: Vom Hauseingang führten drei Treppenstufen nach unten, und er hatte sie erst im letzten Augenblick wahrgenommen. Eine nächtliche Straße lag vor ihm, erfüllt vom Licht merkwürdig schräg stehender Lampen und dem Rumoren unweiter Verkehrsgeräusche. Gerüche, die er im Normalfall kaum als irgendwie bemerkenswert aufgenommen hätte, drangen nach der aseptischen Toten hausatmosphäre des - 127 -
Laborkellers mit der Intensität eines orientalischen Basars auf ihn ein. Das Grün von blühenden Vorgartensträuchern, die Urinspuren umherstreifender Hunde, die flüchtigen Partikel von Benzindämpfen... Das alles roch nach Leben. Sein Wahrnehmungsvermögen schien auf unnatürliche Art gesteigert zu sein, wie inspiriert von den rauschähnlichen Nachwirkungen einer Droge, die das Bewußtsein einerseits benebelten, andererseits aber auch durchlässig machten für die Eindrücke einer übergeordneten Realität. MacLeod trat auf den Bürgersteig und begann seine Schritte in Richtung der Verkehrsgeräusche zu lenken. Dort würde er ein Taxi finden, das ihn hier wegbringen konnte, nach Hause zu Tessa... Der Weg war beschwerlich, denn die Straße wies ein eigenartiges Gefälle auf, führte mal befremdlich steil nach oben, mal schroff bergab. Die Straßenlampen standen nicht nur schräg, sie schwankten auch hin und her wie dünne Baumstämme, die im Wind zitterten. Die Häuser am Straßenrand sahen aus, als würden sie von einem gewaltigen Zerrspiegel reflektiert und bizarr verformt. MacLeod schien es, als wanderte er durch eine verzauberte Märchenlandschaft. Aber sein Bewußtsein war doch klar genug, um schnell zu begreifen, daß an der Straße und den Häusern nichts Fremdartiges war, daß vielmehr sein Wahrnehmungsvermögen ihm diese völlig verzerrte Perspektive vorgaukelte. Ganz offenbar geisterten tatsächlich noch die Restbestände irgendwelcher Medikamente, die ihm Frankenstein in den Leib gepumpt hatte, durch sein Gehirn. Dieser Umstand und die Tatsache, daß sich seine körperliche Schwäche jetzt immer stärker auszuwirken begann, - 128 -
machten es ihm unmöglich, einen Fuß gleichmäßig vor den anderen zu setzen. Er torkelte von links nach rechts und mußte immer wieder stehenbleiben, um sich in dieser Szenerie der schiefen Bahnen und aus dem Lot geratenen Fassaden halbwegs zu orientieren. Schließlich mündete die Straße in eine breitere Avenue. Und damit war MacLeod wirklich ins Leben zurückgekehrt. Passanten kreuzten seinen Weg, Autos flirrten über die mehrspurige Fahrbahn und Leuchtreklamen schleuderten ihm Lichtpfeile in die Augen. Ein Schwall Geräusche schlug wie eine alles unter sich begrabende Meereswoge über ihm zusammen. Es war zuviel für ihn - zu grell, zu laut, zu plötzlich. Er hatte nur noch den Wunsch, diesem Chaos zu entfliehen, Ruhe zu suchen und zu finden. Ein Taxi... MacLeod trat oder vielmehr schwankte an den Straßenrand und stieß dabei mit einem Mann zusammen. »Dreckiger Penner, kannst du nicht...« Die Stimme des Mannes gellte wie eine Sirene in seinen Ohren. MacLeod wollte eine Entschuldigung vorbringen, aber der andere war schon längst weitergegangen. Er interessierte sich nicht mehr für die Jammergestalt, die am Bordsteinrand stand und jetzt winkend eine unsichere Hand hob, als ein gelbes Cab vorbeikam. Beim Anblick des Winkenden beschleunigte es und dachte gar nicht daran, anzuhalten - genauso wie das folgende Taxi und das danach. MacLeod ertrug es nicht länger. Zuviel... zuviel...
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Drüben auf der anderen Straßenseite lag jenseits der Lichter wieder Dunkelheit, tröstende Dunkelheit und Ruhe, die ihn lockte, wie magnetisch anzog. Er betrat die Fahrbahn, torkelte zur anderen Seite hinüber, umtobt vom Lärm empörter Hupen, vom Aufkreischen malträtierter Reifen, von wüsten Flüchen und Beschimpfungen. Dann war er drüben und tauchte in die Dunkelheit ein.
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Unter Mordverdacht
Als MacLeod diesmal aufwachte, fühlte er sich so gesund und gut erholt wie nach einem wochenlangen Sanatoriumsaufenthalt. Die Selbstheilungskräfte seines Körpers hatten ganze Arbeit geleistet und alle Verstümmelungen, alle Wunden, alle Schmerzen so gründlich beseitigt, als habe es sie nie gegeben. Auch sein Denkvermögen war klar und ungetrübt - die Schwaden der chemischen Substanzen, die sein Bewußtsein umnebelt hatten, waren verschwunden. Nur mit der Erinnerung an die letzten Tage hatte er große Schwierigkeiten. Zweifellos lag das an den Drogen, die dafür gesorgt hatten, daß sich die Geschehnisse der jüngsten Zeit nur oberflächlich oder gar nicht in das Gedächtnis einbrennen konnten, Er erinnerte sich noch an seine wilde Fahrt in den Norden von Vancouver Island... das dai-katana, wie es zwischen den Klippen von Port Hardy im Pazifik versank. Dann die Rückkehr in die Stadt und die Schlägerei, nein, der Unfall... schließlich sein Sterben und der Aufenthalt im Krankenhaus... seine Flucht nach Hause... Von dem, was danach kam, hatte er nur vage Eindrücke behalten, keine klaren Bilder, die ein Wiedererkennen möglich machen würden. Immer wieder tauchte der Schattenmann auf, seine verzerrte Dämonenfratze und seine Folterkammer... wieder der Tod und das Erwachen... eine alptraumhafte Wanderung durch ein Chaos aus Licht und Lärm. Dann breitete sich der schützende Mantel aus - 131 -
Dunkelheit darüber, unter dem er endlich Ruhe gefunden hatte. Schräg einfallendes Licht hellte jetzt diese Dunkelheit auf. MacLeod brauchte nicht lange, um sich orientieren zu können. Er befand sich in irgendeinem Lagerraum, in einem Schuppen, der, abgesehen von ein paar zusammengeknautschten Pappkartons, völlig leer war. Zwischen diesen Kartons hatte er sich sein ganz privates, ureigenes Refugium geschaffen und in einem totenähnlichen Tief schlaf wieder zu sich selbst gefunden. Langsam stand er auf und schob das kleine Pappgebirge links und rechts von ihm zur Seite. Das Licht, das er gesehen hatte, war trübes, sonnenloses Tageslicht und drang durch die spaltbreit offenstehende Schuppentür nach innen. Leicht zögernd ging er auf die Tür zu - er spürte, daß tief in seiner Psyche noch immer gewisse Wahnvorstellungen nisteten, kämpfte aber energisch dagegen an. Mit einem Ruck riß er die Brettertür auf. Frische, leicht brackige Meeresluft schlug ihm entgegen. Er befand sich im Hafengelände. Ganz in der Nähe ragten die Aufbauten eines Ladekrans wie das Gerippe eines urzeitlichen Brontosauriers in die Höhe. Unweit davon lag ein liberianischer Frachter an der Kaimauer. Hafenarbeiter verrichteten gemächlich ihren Dienst. MacLeod verließ den Schuppen, ging mit schnellen Schritten zwischen anderen Lagergebäuden hindurch und erreichte die Uferstraße. Wenn ihn nicht alles täuschte, mußte das die Gegend um Silver Strand sein. Kein Problem, hier ein Taxi zu bekommen. Oder? - 132 -
Er bückte an sich herunter. Tatsächlich sah er alles andere als vertrauenerweckend aus: seine Lederjacke war dreckverschmiert und am linken Ärmel eingerissen, und an der Hose breitete sich vom Gürtel bis unterhalb des Knies ein großer rotschwarzer Fleck aus: Blut. Die Fratze des Schattenmanns materialisierte sich als verschwommene Momentaufnahme vor seinen Augen, seine krallenartige Hand, die ein Skalpell umklammert hielt... Er schüttelte ungeduldig den Kopf, wie um das Schreckensbild aus seinem Bewußtsein zu vertreiben. Nicht jetzt, nicht hier! Im Moment ging es allein darum, endlich nach Hause zu kommen. Wenn er sich allerdings in seinem gegenwärtigen Aufzug unter Menschen wagte, bestanden gute Aussichten, daß er binnen kürzester Zeit auf dem nächsten Polizeirevier landete. Nicht weit entfernt sah er eine Telefonzelle. Er wartete im Schutz eines Wellblechverschlags einen günstigen Augenblick ab, in dem kaum Passanten in der Nähe waren, huschte dann schnell über die Fahrbahn und quetschte sich in die Zelle. Erst jetzt merkte er, daß die Brieftasche nicht in seiner Jacke steckte - entweder war sie irgendwo verlorengegangen oder jemand hatte sie genommen. Und in keiner Tasche die kleinste Münze. Da blieb nur die Möglichkeit eines R-Gesprächs. Er wählte eine Null und die Nummer des Antiquitätenladens und sagte dem Operator, daß Mr. Noel mit Mrs. Noel sprechen wollte. Sekunden später hörte er Tessas aufgeregte Stimme. »Duncan! Bist du es wirklich?« »Ja, ja, ich bin es.« - 133 -
Er registrierte tiefe Atemzüge bei Tessa, gefolgt von sekundenlangem Schweigen. Dann wieder ihre Stimme: »Geht es dir gut? Wo, um Himmels willen, bist du gewesen?« »Ich...« Abermals sah er den Schattenmann mit dem blutroten Skalpell in der hoch erhobenen Faust. »Ich weiß es nicht genau.« »Wo bist du jetzt?« »Im Hafen... Silver Strand.« »Okay. Geh wieder runter zum Ufer, ich bin gleich da. Und versteck dich!« MacLeod runzelte die Stirn. Tessa kannte ihn gut, so gut, wie ein sterblicher Mensch einen Unsterblichen nur kennen konnte. Aber daß sie jetzt ahnte... »Warum?« fragte er. »Du wirst gesucht - wegen Mordes!« »Was?« »Du hast schon richtig gehört: Mord!« Wie um ihre Worte zu bestätigen und drohend zu unterstreichen, sah er in etwa hundert Meter Entfernung einen Streifenwagen, der langsam fahrend die Straße herunterkam - in seine Richtung. Jetzt hielt der Wagen an. Einer der Cops stieg aus und verschwand für einige Augenblicke aus seinem Sichtfeld. Aber schon tauchte er wieder auf und kam zu seinem Kollegen am Steuer zurück. »Ich gehe jetzt besser«, sagte er schnell zu Tessa, und bevor sie antworten konnte, legte er den Hörer auf und verließ die Telefonzelle. Er widerstand dem drängenden Instinkt, die Fahrbahn im Laufschritt zu überque- 134 -
ren. Statt dessen schlenderte er ganz gemächlich, so als habe er alle Zeit der Welt, zur Dockseite hinüber. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, daß sich der Streifenwagen wieder in Bewegung gesetzt hatte. Die Cops mußten ihn sehen, daran gab es kaum einen Zweifel. Aber ganz offensichtlich hatte er ihren Argwohn nicht geweckt. Der Wagen beschleunigte nicht und setzte seine Fahrt in beinahe aufreizendem Schneckentempo fort. Als die Cops seine Höhe erreichten, war er bereits wieder hinter dem Wellblechschuppen weggetaucht. Der Polizeiwagen fuhr vorüber und verlor sich schließlich irgendwo im spärlich fließenden Verkehr. MacLeod kauerte sich hinter dem Schuppen auf die rauhen Steine des Piers. Er selbst hatte die Fahrbahn im Auge, konnte aber von dort kaum gesehen werden. Auch die Hafenarbeiter nahmen keine Notiz von ihm. Die Ironie der Situation wurde ihm bewußt und provozierte in seinem Gesicht ein verkniffenes Lächeln. Er selbst war getötet worden - zweimal sogar -, und doch verdächtigte man ihn, irgend jemanden umgebracht zu haben. Das Opfer als Täter, die Hauptrolle eines grotesken oder besonders hintergründigen Films. Plötzlich wünschte er sich, sein Schwert bei sich zu haben. Er hatte die Waffe noch nie gegen eine Person eingesetzt, die nicht dem Kreis der Unsterblichen angehörte, aber er konnte nicht leugnen, daß sie ihm immer ein ganz besonderes Gefühl der Sicherheit und Unbesiegbarkeit eingeflößt hatte.
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Nein, nein, das war vorbei. Er hatte sich von dem dai-katana getrennt, um das Leben eines ganz normalen Menschen zu führen, eines Durchschnittsbürgers, der seiner alltäglichen Arbeit nachging, seine Frau liebte und... Er kämpfte noch immer gegen die nagenden Zweifel an, als er Tessas Mercedes näherkommen sah. Sie fuhr langsam, den Blick suchend auf die Dockanlagen gerichtet. Als er hinter dem Wellblechschuppen hervortrat und winkend den Arm hob, hielt sie so plötzlich an, daß das nachfolgende Fahrzeug beinahe aufgefahren wäre. Der Fahrer drehte das Seitenfenster herunter und setzte zu einer wüsten Schimpfkanonade an, die Tessa beendete, indem sie ausstieg, dem Mann den Finger zeigte und ihn veranlaßte, mit einem empörten »Bitch« weiterzufahren. Dann war sie bei ihm. »Duncan!« »Tessa!« Ihre Lippen trafen sich zu einem verzehrenden Kuß Rodin, nicht in Marmor gehauen, sondern aus Fleisch und Blut. Sie umschlangen einander wie Ertrinkende, die sich festklammerten, um gemeinsam in einem tosenden Meer der Gefühle unterzugehen und niemals wieder aufzutauchen in eine Welt, in der Trennung und Verlorensein allgegenwärtig waren. Schließüch jedoch riß sie sich von ihm los, schob ihn auf Armeslänge von sich und sah ihn an. »Du... lebst...« MacLeod lächelte. »Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.« - 136 -
»Es ist länger als einen Monat her. Wo, um alles in der Welt, bist du nur gewesen?« Ihre Worte trafen ihn wie die Schockwellen einer schrecklichen Detonation in unmittelbarer Nähe. Zeit war ein relativer Begriff, besonders für Angehörige seiner Art, dennoch verlief sie immer in meßbaren Bahnen. Jetzt aber schien die Meßschnur verlorengegangen zu sein oder mit Maßeinheiten zu operieren, die sich seinem Verständnis entzogen. »Einen Monat? Das ist unmöglich!« Tessa schüttelte so heftig den Kopf, daß ihre blonden Haare wegzufliegen schienen wie Ähren, die der Wind vom Halm riß. Hastig griff sie in die Innentasche ihrer Jacke und holte eine Tageszeitung hervor. »Hier, sieh dir das heutige Datum an.« Er nahm die Zeitung. Da stand es schwarz auf weiß, jeden Zweifel ausschließend und seine gerade wieder in Ordnung kommende Welt erneut an den Rand des Chaos treibend. »Unglaublich!« »Wo bist du gewesen? Sag es mir endlich!« Sie sah ihm in die Augen, drängend, fordernd, nicht gewillt, irgendwelche Ausreden oder Ausflüchte hinzunehmen. Aber er konnte nur die Achseln zucken. »Ich weiß es nicht. Und vielleicht will ich es auch gar nicht so genau wissen. Es ist vorbei.« Wieder flogen ihre blonden Haare. Ihr Gesicht spiegelte gleichzeitig Besorgnis, Furcht und auch eine Spur von Empörung.
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»Nein, es ist nicht vorbei. Es ist in vollem Gange. Warte...« Sie griff nach der Zeitung, riß sie ihm förmlich aus der Hand, blätterte darin und schlug die gesuchte Seite auf. »Sieh es dir an! Lies es! Und dann sag mir noch einmal, daß es vorbei ist.« Sie hielt ihm die Zeitung vors Gesicht, gab ihm keine Möglichkeit, den Blick abzuwenden und die Realität zu negieren. Er las, ungläubig und mit wachsendem Unverständnis, aber doch langsam begreifend, daß die klaffenden Lücken in seinem Gedächtnis noch viel größer waren, als er sie sich vorgestellt hatte. »Die Polizei glaubt, daß ich diese Frau hier umgebracht habe?« »Hast du?« »Nein, verdammt! Wie kannst du nur denken...« Er biß sich auf die Lippe, sprach nicht weiter. Sie hatte schon gesehen, wie er Menschen getötet hatte, wußte, daß es geradezu seine Berufung war, andere umzubringen. Er mußte ihnen den Kopf vom Hals trennen, um ihnen ihre Seele und ihre Kraft zu rauben und sich selbst einzuverleiben. Ganz so wie ein grausiger, Horrorstories entstiegener Vampir, der nur leben konnte, wenn er sich vom Blut Unschuldiger nährte. »Natürlich glaube ich es nicht«, sagte sie schnell. Sie spürte, wie tief ihn ihre Worte getroffen hatten. »Es ist nur... sie haben deine Brieftasche ganz in der Nähe ihrer Leiche gefunden.« »Wirklich.« »Ja. Und sie haben Zeugen, die schwören können, daß sie deinen Wagen am Tatort gesehen haben. Später hat - 138 -
man ihn ganz in der Nähe auf einem Parkplatz sichergestellt.« MacLeod blickte wieder in die Zeitung und überflog abermals die Zeilen des Artikels, die wie von einem bösen Geist in das Papier eingebrannt zu sein schienen. »Sie war Krankenschwester im Vancouver Docklands Hospital«, murmelte er. Sie nickte heftig. »Das ist das Krankenhaus, in dem du gewesen bist.« »Bin ich?« »Erinnerst du dich nicht?« Da war ein Foto neben dem Artikel, das Gesicht einer jungen, leidlich hübschen Frau. Das Bild verdoppelte sich plötzlich vor seinen Augen, wurde plastisch, nahm Form und Gestalt an. Er hörte eine ferne Stimme, die gleichzeitig hier im Hafen und an einem anderen, der Vergangenheit flüchtig entrissenen Ort erklang. Atmung noch destabil. Verdacht auf schwere Kopfverletzungen... »Duncan, was ist los? Dein Gesicht sieht auf einmal aus, als wärst du... War sie eine Unsterbliche?« Tessas Stimme riß ihn aus der Erinnerung. »Was... was hast du gesagt?« »Ob sie eine...« »Nein, nein, sie war keine von uns. Und selbst wenn sie es gewesen wäre, dann hätte ich sie nicht...« Er unterbrach sich. Dies war nicht der Ort und nicht die Zeit, um Tessa zu erzählen, daß er sein Schwert im Pazifik versenkt hatte und nicht länger ein Sklave des Rituals der Unsterblichen - 139 -
sein würde. »Ja, ich habe sie schon gesehen«, sprach er weiter. »Im Krankenhaus?« »Wenn es ein Krankenhaus war... ja.« Er blickte sie an. »Du scheinst mehr zu wissen als ich. Erzähl mir von diesem Krankenhaus - dem Docklands, richtig?« »Es gibt da eigentlich nicht viel zu erzählen. Du hattest einen Unfall, vor rund vier Wochen. Ein Auto hat dich überfahren, zwei verrückte Halbstarke, wie Zeugen ausgesagt haben. Du warst verletzt, und man hat dich ins Docklands gebracht und noch am selben Abend wieder entlassen. Seitdem fehlt jede Spur von dir.« »Was haben sie im Krankenhaus mit mir gemacht?« »Offenbar nicht viel. Es gibt jedenfalls keine Untersuchungs- und Behandlungsprotokolle, nicht einmal Röntgenbilder...« Sie hielt inne, war plötzlich nachdenklich. »Könnte es sein, daß du die Unterlagen an dich gebracht hast? Um zu verhindern, daß irgend etwas über... über deine besondere körperliche Beschaffenheit aktenkundig wird?« »Ich kann mich nicht daran erinnern, so etwas getan zu haben.« »War auch nur so ein Gedanke. Und außerdem - der behandelnde Arzt hätte ja auch gewußt, wenn irgendwelche Berichte angefertigt worden wären. Er konnte sich aber nur noch ganz flüchtig auf dich besinnen. Du warst für ihn nur ein simpler Routinefall - einer jener Leute, die man nach einem Unfall vorsorglich ins Krankenhaus bringt, obwohl das eigentlich gar nicht nötig gewesen wäre. Wahrschein- 140 -
lich war dein Selbstheilungsprozeß schon abgeschlossen, als er dich zu Gesicht bekam.« MacLeod nickte. »Dann sehe ich keinen Zusammenhang zwischen dem Krankenhaus und meinem spurlosen Verschwinden. Da wäre dann nur die Sache mit der Krankenschwester. Hier steht, daß sie im Hafen ermordet wurde.« »Genau. Auf dem Parkplatz hinter Clancy's Restaurant. Direkt am Pier.« MacLeod ließ den Blick über die Dockanlagen schweifen. »Nicht weit von hier entfernt, was?« »Nein, nicht weit.« Sie lächelte ihn an. »Trotzdem warst du es nicht.. Ich bin mir ganz sicher.« Er erwiderte das Lächeln. »Sei dir nicht zu sicher. Hier«, er zeigte auf den dunkelroten Fleck auf seiner Hose, »das könnte ihr Blut sein. Sie wurde erstochen, sagt die Zeitung.« Neues Erschrecken flackerte über ihr Gesicht, das er jedoch gleich wieder zerstreute. »Keine Bange«, sagte er, »es ist mein eigenes Blut.« Und nach einer kurzen Pause: »Ich sollte vielleicht die Kleidung wechseln und mich auch sonst ein bißchen aufpolieren. Ich muß schrecklich aussehen.« »Das ist kaum der richtige Ausdruck. Wenn du dich vor einen Spiegel stellst, zerspringt der glatt in tausend Stücke.« Er griff nach ihrem Arm. »Komm, fahren wir endlich nach Hause.« Sie gingen zum Wagen und stiegen ein. MacLeod nahm auf dem Beifahrersitz Platz, Tessa hinter dem Steuer. Aber sie machte keine Anstalten, den Motor anzulassen. - 141 -
»Was ist? Soll ich fahren?« Sie schüttelte den Kopf. Eine nachdenkliche, tiefe Falte erschien unter dem blonden Haaransatz. »Duncan, wir können jetzt nicht nach Hause fahren.« »Warum? Oh, ich verstehe. Die Polizei wartet, daß ich ihr in die Falle laufe.« Er sah sie scharf an, warf dann schnelle, gehetzte Blicke in alle Richtungen, wie ein Hase, der sich plötzlich von der jagenden Hundemeute eingekesselt wähnt. »Und wenn sie dir...« »Das sind sie nicht«, beruhigte sie ihn. »Richie hat ihnen ein paar hübsche Nägel unter die Reifen gelegt. Ich sehe die erbitterte Miene von Sergeant Herrald noch immer deutlich vor mir.« »Sehr umsichtig«, lobte er. Dann dachte er angestrengt nach. Die Seifenblase des normalen Lebens schien bereits geplatzt zu sein, kaum daß sie die Öffnung des Strohhalms verlassen hatte. Ob er nun von einem nach seinem Kopf gierenden Unsterblichen gejagt wurde oder von der Staatsgewalt, die ihm einen mysteriösen Mord unterstellte, machte nur einen geringen Unterschied. Aber so schnell wollte er nicht aufgeben. Es gab eine Möglichkeit, die Rolle des gejagten Wilds abzulegen: Er mußte seine Unschuld beweisen, mußte nur den wirklichen Mörder dieser Krankenschwester aus dem Vancouver Docklands Hospital finden. »Gib mir bitte noch einmal diese Zeitung«, sagte er zu Tessa. Sie reichte sie ihm, und er blätterte wieder die bewußte Seite auf. Voller Konzentration studierte er das Foto des ermordeten Mädchens und führte sich alles, was da ge- 142 -
schrieben stand, genau vor Augen. Schließlich ließ er das Blatt auf die Knie sinken und bückte hoch. »Hier heißt es, daß lediglich die Kamera der Frau gestohlen wurde.« »Na und?« »Wer würde ihre Kamera stehlen und das Portemonnaie in der Handtasche stecken lassen?« Tessa hob die Schultern, ließ sie dann aber wieder nach unten sacken, als lastete ein Zentnergewicht auf ihnen. »Die Polizei geht nicht von einem Raubmord aus. Das wäre auch kein einleuchtendes Tatmotiv für einen wohlsituierten Antiquitätenhändler, wie du es bist.« »Lassen wir die Überlegungen der Polizei beiseite. Gesetzeshüter neigen dazu, Indizien und Motive ihren Theorien anzupassen. Außerdem wollte ich auch auf etwas anderes hinaus. Wenn es, wie es in der Tat aussieht, kein Raubmord war - wo ist dann die Kamera geblieben? Die Polizei hat sie nicht am Tatort gefunden.« »Der Mörder hat sie wohl doch mitgenommen.« »Ja, vielleicht. Aber das ist doch eher unwahrscheinlich. Der Mord geschah unmittelbar am Ufer, richtig?« »Stimmt.« »Dann könnte die Kamera genausogut ins Wasser gefallen sein.« Tessa nickte langsam. »Das wäre möglich.« »Oder besser noch«, fuhr MacLeod fort, »der Mörder hat die Kamera absichtlich ins Wasser geworfen. Möglicherweise, weil er auf dem Film war. Na?« »Theorie«, seufzte Tessa, »graue Theorie. - 143 -
Wir werden die Polizei nie dazu veranlassen können, einen Taucher nach der Kamera suchen zu lassen.« »Das glaube ich auch nicht, aber...« Er deutete auf den Zündschlüssel. »Fahr los.« »Wohin?« »Zum nächsten Sportartikelladen. Wir kaufen eine Taucherausrüstung.« Einige Stunden später, als sich die dunkelgrauen Wolken des Spätnachmittags nahezu mit dem noch graueren Wasser der Hafenbucht vereinigten, waren sie wieder zurück am Silver Strand Beach. Der Zeitpunkt erschien ideal. Die Arbeiter in den Dockanlagen hatten ihr Tagewerk hinter sich gebracht, aber für den Feierabendbetrieb war es noch zu früh. Der große Parkplatz hinter Clancy's Restaurant lag weitgehend verlassen im Dämmerlicht, und die wenigen, die schon gekommen waren, schenkten dem hinteren Ende des Geländes keinerlei Aufmerksamkeit. Zu schneidend war der Südostwind, der vom Wasser aus seine frostige Hand nach dem Land ausstreckte, zu unfreundlich das Gespinst der Nebelschwaden, die auf die Kaimauer zukrochen. Tessa stand das Unbehagen mit großen Buchstaben ins Gesicht geschrieben. »Muß es wirklich sein, Duncan? Ich meine, vielleicht können wir die Polizei ja doch überzeugen...« MacLeod überprüfte noch einmal den festen Sitz des Schlauches an der Druckluftflasche, die wie ein Rucksack auf seinem Rücken geschnallt war. »Das hatten wir doch alles schon, Tessa. Wir wissen beide, daß Sergeant Herrald und die anderen den Teufel tun werden.« - 144 -
»Das Wasser ist eiskalt und dieser Taucheranzug da so lächerlich dünn. Die Ausrüstung taugt für tropische Gewässer, aber nicht für Kanada. Ganz bestimmt wirst du dir den Tod holen.« MacLeod lächelte. »Werde ich?« »Grins nicht so«, sagte sie ärgerlich. »Wenn schon nicht den Tod, dann... Auch Leute wie du sind nicht gegen eine schwere Lungenentzündung gefeit.« Ihre Besorgnis veranlaßte MacLeod, ihr begütigend die Hand auf die Schulter zu legen. »Laß es gut sein, Tessa. Das Wasser ist an dieser Stelle nicht tief. Wenn ich ein bißchen Glück habe, finde ich das verdammte Ding innerhalb von ein paar Minuten.« »Also dann...« Sie seufzte, wohl wissend, daß es tatsächlich kaum eine Alternative gab. MacLeod zog die Brille von der Stirn nach unten und schob sich den Schnorchel in den Mund. Dann watschelte er mit den breiten Schwimmflossen an den Rand des Piers. Der schmale Lichtkegel der Brillenlampe tanzte silbern auf der abweisend spiegelnden Wasseroberfläche. »Also dann«, wiederholte er dumpf und unverständlich, schwang sich über die hüfthohe Schutzmauer und ließ sich entschlossen ins Wasser gleiten. Kein Kälteschock - die Kunststoffhaut des Sporttaucheranzugs isolierte besser, als er selbst erwartet hatte. Und das Wasser war wirklieh eisig, wie er mehr als deutlich an den ungeschützten Stellen im Gesicht spürte. Er kraulte abwärts, dem Grund des Hafenbeckens entgegen. Im Geiste jedoch war er ganz woanders - zwischen den von gischtenden Brechern überspülten Klippen von Port - 145 -
Hardy. Jeden Augenblick, stellte er sich vor, würde die schimmernde Klinge des dai-katana vor ihm auftauchen, ein leuchtendes Fanal des gegenseitigen Wiederfindens, das nur von ihm allein wahrgenommen werden konnte und das ihm den Weg durch die Dunkelheit wies. In Wirklichkeit war da natürlich kein Leuchten, nur der milchige Strahl der Brillenlampe, der das trübe, schmutzige Grau des Hafenwassers kaum zu durchdringen vermochte. Aber diese Realität fand jetzt keinen Eingang in sein Bewußtsein. Sie blieb ausgesperrt wie hinter einer magischen Mauer, in deren innerem Kreis jetzt Geschehnisse anderer Wirklichkeiten abzulaufen begannen. Es war so, als hätte die Imagination des Schwertes die Wirkung eines Signalhorns gehabt, dessen schrillen Lockruf sich keiner von denen, die in der Lage waren, ihn zu hören, entziehen konnte. Und so waren sie plötzlich alle da - Pilar Vasquez, die jugendliche Diana und ihr generationsmäßiger Widerpart Darius, der Älteste von ihnen allen, der gnadenlose Crowley in seiner Maskerade als Sheriff und Alexeij Voshin, dessen größtes Vergnügen der Verrat war... ... und natürlich Slan Quince.
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Déjà-vu
Tessa war in seinen Armen eingeschlafen, wieder hochgeschreckt und erneut eingeschlafen, getröstet allein von den erstickten, feuchten Lauten, die ihr Mund unablässig formte. Minuten später fuhr sie endgültig hellwach auf und schluchzte tränenlos an seiner Brust los. MacLeod hielt sie fest, beugte sich zu ihr hinab und küßte sie ganz weich, bis ihre Tränen doch noch flössen und ihre Lippen naß und salzig davon wurden. Er nahm es kaum wahr: In Gedanken war er unterwegs, unter den Sternen, in den Schatten der Stadt, das dai-katana blankgezogen in der Faust. Auf der Jagd nach Quinces Kopf. Es war wie ein Zwang, eine dämonische Besessenheit; etwas, das in immer kürzeren Abständen Besitz von ihm ergriff und jedes normale Denken und Empfinden und alle Gegenwehr seines Verantwortungsgefühls für Tessa zermalmte. Es war purer Haß und die Gier nach dem Blut des Feindes: der blindwütige Trieb, diesen Gegner zu vernichten und dadurch selbst weiterleben zu können. Es war das dunkle, tierhafte Erbe seines Blutes und seiner uralten Rasse. Zeit, die Wahrheit zu akzeptieren. Vielleicht wußten sie in diesem Moment bereits beide, daß es ein Abschied für immer sein würde, und so fiel es ihnen leicht, das Rätsel um - 147 -
Connors Verschwinden einfach hinzunehmen und nicht darüber nachzugrübeln. Scheinwerferlicht tanzte draußen über die Straße, sandte seinen Widerschein zu ihnen in den dunklen Raum und erlosch. Doch im letzten möglichen Sekundenbruchteil des Lichtes hatte MacLeod noch Tessas Blick eingefangen. »Sollen wir reden?« Sie schüttelte trotzig den Kopf. Dann setzte sie sich im Schneidersitz auf, zerrte mit einer wütenden Geste die Decke um ihre Schultern, starrte ihn an und atmete tief durch. Beinahe verlegen und immer noch mit viel zu heiserer Stimme flüsterte sie jetzt: »Ich glaube, ich muß mir die Nase putzen.« Sie glitt aus dem Bett und eilte ins Bad. Als sie zurückkam, setzte sie sich nur mehr auf den Bettrand, wie sprungbereit. »Mac, ich möchte weg von hier.« »Das wäre für dich das Beste.« Es kam ihm vor, als müßten die Worte in seiner Kehle steckenbleiben. »Vierhundert Jahre Lebenserfahrung, und du hast noch immer nicht gelernt, richtig zuzuhören, verflixt!« »Du...« »Ich möchte weg von hier - aber nicht ohne dich. Mac, laß uns gehen. Wir könnten schon morgen früh in Paris sein. Alles könnte wieder so sein wie damals - vor zwölf Jahren. Paris ist unsere Stadt!« »Und du glaubst, dort sind wir sicher?« Er wollte sie festhalten, wollte ihr mit seiner Nähe, seiner Präsenz die Wahrheit begreiflich machen. Doch sie wich ihm aus und starrte ihn nur an. - 148 -
»Tessa, Slan wird niemals aufgeben...« »Und du kannst ihn nicht besiegen. Noch nicht. Also müssen wir weg. So einfach ist das.« »So einfach ist das«, wiederholte er beinahe tonlos. Aber dann sprach er auch auf die Gefahr hin, ihr weh zu tun, weiter, lauter und auch mit einer gewissen Schärfe. »Nein, Tessa, es ist nicht einfach. Was du vorschlägst, ist völlig sinnlos. Wir könnten nach Paris gehen, nach Rio oder auch nach Lhasa, in die verbotene Stadt. Quince würde uns überall aufspüren. Jetzt, nachdem er Blut geleckt hat, läßt er sich nicht mehr abschütteln. Es gibt nur eine einzige Lösung: Ein Kopf muß rollen.« »Dein Kopf?« »Vielleicht, ja. Du hast mich und Connor gehört: Es kann nur einen geben. Und um dir das zu ersparen, müssen wir uns trennen. Du mußt gehen, ohne mich. Wenn ich ginge, hätte das keinen Zweck. Bevor er mich verfolgt, würde er sich an dir rächen, und deshalb...« »Nein!« Ein Wort, eine einzige Silbe, die doch mehr sagte als ein ganzes Buch. »Tessa, sei vernünftig. Du hast keine Ahnung...« Sie funkelte ihn an. »Natürlich habe ich keine Ahnung! Wie sollte ich auch? Ich bin eine Blondine, und es ist allgemein bekannt, daß Blondinen sexy und dämlich sind. Okay, das mit dem Sex hat dir immer gefallen. Bleibt die Dämlichkeit. Habe ich zuviel davon? Geht dir das auf die Nerven? Willst du mich darum loswerden?« »Tessa, bitte.« - 149 -
Sie ließ sich nicht stoppen, sondern sprudelte weiter Anklagen hervor, von denen sie wahrscheinlich selbst wußte, daß sie ungerecht waren, und die sie vielleicht gerade deswegen um so drastischer formulierte: »Ich habe keine Ahnung? O doch, mein Liebling, ich habe. Wie sind diese zwölf vergangenen Jahre für dich gewesen? So wie ein kleiner Sommerurlaub? Entspannung und Erholung? Und jetzt: Tut mir leid, Darling, aber ich muß zurück in den Krieg, du verstehst schon... « Sie spreizte den Zeigefinger ihrer rechten Hand ab, stieß ihn gegen seine Brust, genau dort, wo das Herz saß, wieder und immer wieder. »Sei verdammt! Deine Zusammenkunft sei verdammt! Deine ganze Rasse sei verdammt!« Er hielt ihre Hand fest, blickte ihr in die Augen, sah, wie sich Tränen in ihnen sammelten und wie winzige Perlen auf ihre Wangen tropften. »Ich bin nicht dein Feind, Tessa«, sagte er sanft. »Du weißt das.« »Ja, ich weiß«, antwortete sie und begann zu schluchzen. »Kein Feind könnte einem so weh tun.« Er wollte den Arm um ihre Schultern schlingen, sie an sich drücken und dem unmöglichen Wunschtraum nachhängen, sie nie wieder loslassen zu müssen. Aber sie entzog sich ihm, sprang von der Bettkante hoch und rannte wie gehetzt zur Tür. Im Rahmen blieb sie noch einmal stehen und drehte sich zu ihm um. »Aber ich gehe trotzdem nicht, damit du es weißt!« Dann war sie draußen, und er blieb allein auf dem Bett zurück. - 150 -
Am nächsten Tag tauchte Connor wieder auf, so unvermutet und scheinbar selbstverständlich, wie er zuvor verschwunden war. »Hi, Clanbruder«, sagte er, als er den Antiquitätenladen betrat und die Tür hinter sich zuzog. MacLeod blickte nur flüchtig von der kleinen Statue der Schintogottheit hoch, mit der er sich gerade beschäftigte. Sie war bei den Verwüstungen, die Quince angerichtet hatte, zu Schaden gekommen - eine kleine Ecke der Mundpartie war herausgebrochen, so daß sie kein gütiges Lächeln mehr, sondern ein dämonisches Grinsen zur Schau stellte. Alles, was das Monster mit der Eisenmaske berührte, schien zum Bösen zu pervertieren. »Als Bodyguard würde ich dich nur bedingt empfehlen«, sagte er wie beiläufig. Connor zerquetschte einen uralten Fluch aus den schottischen Highlands zwischen den Lippen. »Er war wieder hier?« »Gestern. Ich will dich nicht fragen, wo du gewesen bist. Niemand sollte der Hüter seines Bruders sein.« »Sony, aber es gibt nicht nur Brüder, sondern auch Vettern.« Fast ruckartig stellte MacLeod den Schintogott auf eine Vitrine und blickte auf Connor, der betont gelassen zu ihm herüberkam. »Willst du damit sagen...« Connor blieb vor ihm stehen, nickte. »Erinnerst du dich an Francois Vanadin?«
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»Natürlich. Eine meiner bleibendsten Erinnerungen an die Französische Revolution. Er hätte mich damals um ein Haar erwischt.« »Nun, vielleicht wäre ihm das hier gelungen. So wie du gegenwärtig in Form bist...« Connor lachte kurz auf, aber es lag keine echte Heiterkeit in diesem Lachen. »Also habe ich dir lieber die Arbeit abgenommen.« MacLeod nagte an der Unterlippe. »Du glaubst, er hat mich gesucht? Wieso gerade jetzt - nach über einem Jahrzehnt? Quince und Vanadin...« »Wahrscheinlich war er nicht hinter dir her, sondern hinter Quince, der eine breite Blutspur durch die Welt zieht. Oder auch hinter mir.« »Irrsinn«, murmelte MacLeod leise. Der Jäger des Jägers des Jägers - eine Kette, die sich bis zum Tag der letzten Zusammenkunft hinzog. »Ich will es nicht mehr«, sprach er müde weiter. »Ich pfeife auf den Tag der letzten Zusammenkunft. Ich will raus aus dem Spiel.« Connor zuckte die Achseln. »Wen kümmert, was du willst?« fragte er fast grob. »Solange du lebst, bist du ein Teil des Spiels und untrennbar damit verbunden. Niemand kann aussteigen, logischerweise, denn sonst könnte es niemals zur letzten Zusammenkunft kommen. Du solltest es endlich akzeptieren, Duncan.« Ein Gefühl des Déjà-vu überkam MacLeod. Fast wörtlich erinnerte er sich an ein Gespräch, das er mit Connor auf »seiner« Insel geführt hatte, damals nach dem Tod seiner indianischen Lebensgefährtin.
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Connors Stimme: »Ich weiß, daß du sie geliebt hast. Aber du kannst nicht verhindern, daß sie sterben. Alle sterben. Menschen töten Menschen, wir töten uns.« Und er: »Es kümmert mich nicht, wer wen tötet. Ich bin es müde, ich bin der endlosen, sinnlosen Kämpfe müde. Ich bin des Todes müde.« »Du kannst nicht aussteigen.« »Ich habe dich nicht um Erlaubnis gebeten.« Connor schob das Moos auf der Stirnseite des großen Felsens weg und legte die uralten, schon verwitterten Hieroglyphen frei. »Ich weiß, warum du diesen Ort ausgewählt hast es ist heiliger Boden.« »Das ist richtig. Aber ich habe die Alten um die Erlaubnis gebeten, meine Hütte hier bauen zu dürfen.« Sie lächeln beide, und Connor sagt: »Kein Unsterblicher kann hier jemals kämpfen. Du wirst immer sicher sein.« »Es freut mich, daß du mir recht gibst. Die Schlacht zwischen Gut und Böse kann eine Weile ohne mich auskommen.« »Mag sein, aber du kannst dich nicht für immer raushalten.« »Nein, nicht für immer, aber für eine Weile.« »Sie werden dich finden.« »Irgendwann.« Und auch jetzt hatten sie ihn wiedergefunden. Das Spiel ging weiter, und ihm blieb nichts anderes übrig, als es hinzunehmen, ob er nun wollte oder nicht.
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»Okay, Connor«, sagte er und gab sich dabei Mühe, den Clanbruder seine Resignation nicht allzu deutlich spüren zu lassen, »ich akzeptiere es. Zufrieden?« Connor nickte langsam. »Ja, zufrieden. Aber nicht um meinetwillen, um deinetwillen.« Der tiefe, niederdrückende Ernst, der sich zwischen ihnen ausbreitete, trübte die an sich heitere Atmosphäre des Antiquitätenladens und schien einen einheitlichen Grauschleier über die exotisch-bunten Ausstellungsstücke zu legen. Der Eindruck, ganz plötzlich in eine Grabkammer versetzt worden zu sein, nahm MacLeod gefangen. Die antiken Truhen, Vitrinen und Schränke wirkten auf einmal wie Särge, und die Figur des kleinen Schintogottes war in die Rolle des Totenwächters geschlüpft. Er grinste verschlagener als je zuvor. Wieder einmal kehrten sie von ihrem Schwerttraining zurück, erhitzt, erschöpft, aber mit einem guten Gefühl. MacLeod war auf dem besten Weg, nach der freiwilligen, langjährigen Zwangspause zu seiner alten Meisterschaft zurückzufinden. Da er sich scheute, eine größere Entfernung zwischen sich und Tessa zu legen, als seine Fähigkeit der Früherkennung von Unsterblichen an Reichweite betrug, hatten sie ihren Übungsraum in ein leerstehendes, unmittelbar neben dem Loft gelegenes Lagerhaus verlegt. Und da waren sie nicht allein gewesen. »Hast du ihn gesehen, den Jungen, Duncan?«, fragte Connor, als sie Tessas Studio betraten.
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»Ja, ich habe ihn gesehen«, bestätigte MacLeod. »Er scheint ein Freund von Ritterspielen zu sein. Und er hat sich dazu einen richtig schönen Fensterplatz ausgesucht.« »Es stört dich nicht, daß er uns beobachtet? Über kurz oder lang wird er dir wieder die Flies ins Haus schicken.« »Cops«, verbesserte MacLeod, »hier in Amerika heißen sie Cops. Du warst lange nicht mehr hier, was?« »Lenk nicht vom Thema ab. Also dieser Junge... « »Mach dir wegen ihm keine Gedanken. Der Bogen, den er um jeden mit einer Uniform macht, kann gar nicht groß genug sein. Er ist nur ein bißchen neugierig. Ich werde mich um ihn kümmern, wenn...« Er unterbrach sich, als er Tessa bemerkte, die die Treppe von den Wohnräumen herunterkam. Ihr Mienenspiel war ihm vertraut genug, um ihn sofort erkennen zu lassen, daß irgend etwas nicht in Ordnung war. »Stimmt was nicht?« rief er ihr entgegen. Die stille Freude über seine Fortschritte beim Umgang mit dem Schwert hatte sich verflüchtigt und war irritierender Besorgnis gewichen. Tessa kam die Stufen ganz herunter, sah erst ihn, dann Connor, schließlich wieder ihn an. In ihren Augen lag ein Ausdruck, den selbst er im Augenblick nicht richtig deuten konnte. »Er hat angerufen«, sagte sie leise. »Wer, Quince?« »Slan Quince.« Erleichterung durchzuckte MacLeod. Wenn er angerufen hatte, dann war er nicht hier gewesen, hatte Tessa nicht
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mit seiner unerträgliehen Gegenwart in Angst und Schrecken versetzen können. »Was hat er gesagt?« Sie antwortete nicht sofort, ließ die Sekunden zu Ewigkeiten werden. Dann stockend: »Er wird... er wird heute abend auf der Soldier's Bridge sein.« »Heute abend?« »Nach Anbruch der Dämmerung.« Automatisch warf MacLeod einen Blick auf seine Uhr. »Nicht mehr lange. In einer guten halben Stunde... « Er fühlte sich wie von einer schweren Last befreit. Das Warten, die quälende Gewißheit, von einem unerbittlichen Feind belauert zu werden, ohne ihn sehen oder spüren zu können, die ständige Sorge um Tessas Wohlergehen - all dies hatte jetzt ein Ende. Die Stunde der Zusammenkunft, nicht der letzten, alles entscheidenden, aber doch einer bedeutsamen auf dem Weg zu dieser, stand endlich unmittelbar bevor. »Er hat noch etwas gesagt«, ergriff Tessa wieder das Wort. »Wenn er dich >erledigt< hat, dann...« »Dann?« »Dann kommt er zurück zu mir.« MacLeod knirschte mit den Zähnen, war aber nicht eigentlich überrascht. Es paßte zu einer Bestie wie Slan Quince, daß er sich nicht mit seinem Kopf begnügen würde. Seine sadistische Natur verlangte nach einem Extrakick, nach einem Finale, das seinem Opfer noch über den Tod hinaus eine letzte Demütigung und Bestrafung zufügte. Aber dazu würde er es nicht kommen lassen. Er würde Quince besiegen und ihn seinerseits zur endgültig kopflo- 156 -
sen Schattenexistenz verurteilen. Zuversichtlich legte er die Rechte auf den Griff es dai-katana. Tessa registrierte seine Bewegung und blickte sekundenlang auf seine Schwerthand, ohne ein Wort zu sagen. Ihr Gesicht war zu einer Maske erstarrt, die nicht zu erkennen gab, was hinter ihr vorging. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und kehrte zur Treppe zurück. »Ihr habt sicher noch einiges zu besprechen«, sagte sie, bereits auf den ersten Stufen. »Ich will dabei nicht stören.« Und bevor er dazu kam, irgend etwas zu erwidern, eilte sie die restlichen Treppenstufen hinauf und verschwand in den Wohnräumen. Connor, der die ganze Zeit über schweigend dabeigestanden hatte, beinahe so wie ein neutraler Beobachter, den dies alles nichts anging, räusperte sich. »Ich habe nachgedacht, weißt du«, sagte er schließlich. »Solange ich dich kenne...« »Oh, nein, nicht wieder dies«, unterbrach ihn MacLeod und machte dabei eine Handbewegung, die man in früheren Jahrhunderten angewandt hatte, wenn es galt, einen Teufel auszutreiben. »Was?« »Du hast gehört, was ich sagte.« »Du weißt doch gar nicht, was ich sagen wollte«, fuhr Connor fort. »Solange ich dich kenne, hast du immer den Spaß gehabt - und die meisten tollen Frauen.« »In jüngster Zeit?« »In jüngster Zeit. Ich kann mich da an dieses Mädchen in London erinnern. Diese Rothaarige...« - 157 -
MacLeod lachte. »Mach 'nen Punkt, Connor. Das ist hundertsechzig Jahre her.« »Sagte ich ja: in jüngster Zeit. Weißt du, was dein Problem ist? Du lebst in der Vergangenheit.« »Ich sehe dieses Problem nicht«, widersprach MacLeod mit Nachdruck. »Doch.« »Nein.« Der Wortwechsel wurde laut, immer noch freundschaftlich, aber doch auch schon mit einer gewissen Ernsthaftigkeit. Aufgeschreckt tauchte Tessa wieder oben auf dem Treppenabsatz auf. Weder Duncan noch Connor achteten auf sie - zu tief waren sie in ihren Disput verstrickt. »Hör auf, mit mir zu streiten«, sagte MacLeod. »Ich streite nicht.« »Doch, das tust du.« »Nein, das ist eine Unterhaltung.« »Ah, eine Unterhaltung?« wiederholte sein Nachfahre. »Schön, wenn es eine ist, dann ist sie hiermit beendet.« Connor lächelte, ein wölfisches Lächeln. »Oh, natürlich, der einfachste Ausweg. Wir machen es wie üblich, okay, Duncan?« »Was?« Bevor MacLeod eine Chance hatte, zu reagieren, bevor er auch nur begriff, was geschah, zuckte die Kante von Connors rechter Hand nach vorne und traf ihn mit der Wucht eines Keulenschlags seitlich am Hals. MacLeod sackte in sich zusammen, bei Bewußtsein, aber wie gelähmt und unfähig, einen Muskel zu bewegen.
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»Das ist das Ende der Unterhaltung«, sagte Connor und blickte zum Treppenabsatz hinauf. »Mach dir keine Sorgen um ihn, Tessa. Er ist völlig in Ordnung - nicht umsonst nennt man es in China die sanfte Kunst des Kämpfens. Er wird bald wieder auf den Beinen sein.« Tessa blickte auf ihn hinab, ihr Gesicht noch immer wie von maskenhafter Tünche überzogen. »Du mußt auch nicht gehen, Connor«, sagte sie ausdruckslos, fast monoton. »Keiner von euch muß gehen.« Connor überprüfte den Sitz seines Schwertes, das er seit dem Training noch immer am Gürtel trug. Dann sah er sich suchend im Studio um, entdeckte seinen Mantel, der über einer Stuhllehne hing, nahm ihn an sich und schlüpfte hinein. Sorgsam verbarg er das Schwert darunter und machte die Knöpfe zu. Ein letztes Mal blickte er zu Tessa hinauf. »Wir haben keine Wahl«, sagte er nüchtern. »Ich hoffe, ich sehe dich noch einmal wieder.« Dann ging er zur Tür.
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Es kann nur einen geben
Allmählich, ganz allmählich ließ die Lähmung nach, viel zu langsam für MacLeod, der sich darüber im klaren war, daß ihm die Zeit davonlief. Und das war ganz im Sinne Connors, der nur zu gut wußte, wo und wie hart man treffen mußte, um jemanden vorübergehend auszuschalten. Tessa hockte neben ihm auf dem Teppich und preßte ihm eine kalte Kompresse auf die Stirn. Die Maske vor ihrem Gesicht war zersprungen. Sie gab jetzt wieder ungeschminkt die Empfindungen zu erkennen, die sie beherrschten: Da war kein Zorn mehr, nur noch Angst, Sorge und Liebe. Schließlich hatte sich die Taubheit in seinen Gliedern soweit gelegt, daß er sich aufrichten konnte. Tessa war ihm dabei behilflich und stützte ihn wie einen Invaliden, der schon seit langem bettlägerig war. »Mac, geht es dir gut?« Er fand die Frage überflüssig, pure Zeitverschwendung, aber natürlich wollte er sie nicht kränken und noch mehr verletzen. Daher drückte er bestätigend und begütigend ihre Hand, während er sich - immer noch mit ihrer Hilfe auf die Füße stellte. Zuerst stand er noch etwas schwankend, gewann dann aber die Kontrolle über seinen Körper zurück. Und auch sprechen konnte er wieder. »Er ist weg, nicht wahr?« Er wußte selbst, daß es angebrachter gewesen wäre, wenn seine ersten Worte anders ge- 160 -
lautet hätten, aber er hoffte, daß Tessa verstand, wie sehr ihm die Zeit unter den Nägeln brannte. Sie nickte stumm, setzte mehrmals dazu an, etwas zu sagen, aber es schien, daß auch sie jetzt von einer Art Lähmung befallen war, die es ihr unmöglich machte, zu artikulieren, was sie eigentlich so laut wie nur möglich herausschreien wollte. Ihre Hilflosigkeit brachte ihn plötzlich zur Besinnung, zähmte seinen von einer tyrannischen Macht gesteuerten Instinkt, unverzüglich loszustürzen und sein blutiges Handwerk zu verrichten. Er wußte, daß dieser Trieb zwar in seinen Genen verankert war, aber mit seinem eigentlichen Denken und Fühlen im Grunde nicht im Einklang stand und wohl auch in den langen Jahrhunderten seines Lebens nie gestanden hatte. Gleichzeitig jedoch erkannte er wieder einmal mit unendlich schmerzender Eindringlichkeit, daß der Fluch, der seine Natur beherrschte, letzten Endes doch immer wieder den Sieg davontragen würde. So war es auch gewesen, als er nach einer schieren Ewigkeit, wie von Connor prophezeit, seine Insel schließlich doch verlassen hatte. Und wie jetzt... Aber er sollte sich wenigstens die Zeit lassen, nach der seine Gefühle verlangten... und die Tessa verdiente. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, daß es ohnehin zu spät war. Er würde den Vorsprung Connors nicht mehr aufholen und das Geschehen auf der Soldier's Bridge nicht mehr beeinflussen können. Was dort passieren mußte, würde passieren - ihm blieb fortan nichts anderes übrig, als sich mit den Konsequenzen auseinanderzusetzen, so oder so... - 161 -
Tessa hatte ihn die ganze Zeit über unverwandt angesehen. Abgrundtiefe Trauer stand in ihren Augen. Jetzt fand sie die Sprache wieder. »Du mußt auch gehen, nicht wahr?« »Ja, das muß ich.« Die Melancholie in ihren Augen war dunkel und tief, als sie ergeben nickte. »Aber warum nur, Duncan? Kannst du mir das sagen? Kann mir das irgend jemand sagen?« Er konnte nur mit den Achseln zucken, eine Geste der eigenen Hüflosigkeit, des eigenen Ausgeliefertseins. Alle Worte, die er hätte sagen können, wären in ihren Ohren nichts als Phrasen gewesen, sinnentleert und unverständlich. Darum verzichtete er darauf, eine Antwort auf ihre Frage zu geben, und sagte statt dessen mit bitterer Stimme: »Tessa, ich werde nicht zurückkommen. Selbst wenn Connor gesiegt hat - oder wenn ich gesiegt habe.« Sie war zu müde, um heftig zu reagieren, nur das Dunkel in ihren Augen wurde noch tiefer. »Nach zwölf Jahren? Ist es für dich so einfach?« »Du weißt, wie schwer es für mich ist. Aber es muß sein zu deinem Besten. Du konntest vor zwölf Jahren nicht wissen, was auf dich zukommt.« »Ich weiß es jetzt. Wenn ihr Quince... ich meine, wenn er nicht mehr da ist...« »Nach ihm würden andere kommen, wieder und immer wieder. Und die meisten von ihnen sind nicht viel anders als Slan Quince.« »Es macht mir nichts aus!« Jetzt doch wieder ein Anflug von Heftigkeit in ihrer Stimme und ihrer Miene. - 162 -
»Aber mir, Tessa«, sagte er, »mir macht es etwas aus.« Er schlang die Arme um sie, küßte sie auf die Stirn, die Augen, den Mund. »Ich liebe dich zu sehr, verstehst du?« Tessa weinte leise an seiner Schulter. MacLeod legte die Fahrt zur Soldier's Bridge wie in Trance zurück. Es waren nur automatische Reflexe, die den T-Bird die Straßen hinunterrollen, an Ampeln halten und wieder anfahren ließen. Mit seinen Gedanken war er bei Tessa und bei all den anderen Frauen, die er während seines langen Lebens geliebt hatte und die ihn geliebt hatten. Wie von den Gesetzen der antiken griechischen Tragödie diktiert, die ihre Gestalten unausweichlich dem vorbestimmten schrecklichen Ende entgegentaumeln ließ, strebte auch in seinem Dasein jede Liebe, die seinem ruhelosen Ich die Illusion vorgaukelte, endlich Ruhe, Frieden, ein Zuhause gefunden zu haben, auf den Tag der unvermeidbaren Trennung zu. Und nie hatte der Umstand, daß er vom natürlichen menschlichen Alterungsprozeß verschont blieb, während die geliebte Frau dem Vergehen ihrer Jugend und ihrer Schönheit Tribut zollen mußte, zur Trennung geführt. Fast immer hatte äußere Gewalt das Ende veranlaßt, die Gewalt anderer Menschen - oder anderer Unsterblicher. Auf jeder Beziehung, die er einging, lastete von vornherein ein Fluch, der, wie die Vergangenheit immer wieder bewiesen hatte, nicht ihm, sondern dem anderen Teil Tod und Verderben brachte. Du bist ein Unglücksbringer, Duncan MacLeod, ein Todesbringer. - 163 -
Aber wenigstens Tessa würde dem Schicksal, das eine böse Schicksalsgöttin für sie gesponnen haben mochte, entrinnen können, wenn er nicht zu ihr zurückkehrte. Und er würde nicht zu ihr zurückkehren! Vielleicht, überlegte er, sollte er zu nichts und niemandem mehr zurückkehren. Vielleicht sollte er den Fluch, der auf ihm lastete und den er auf andere übertrug, ein für allemal aus der Welt schaffen. Dieser Schritt wäre so einfach, einfacher als alles andere, was er jemals getan hatte. Er brauchte bei der nächsten Zusammenkunft einfach nur so dazustehen, das Schwert höchstens aus der Scheide ziehen, um dem Ritual Genüge zu tun, es aber nicht zur Verteidigung oder zum Angriff erheben. Er mußte einzig darauf warten, daß ihm sein Widersacher mit einem tödlichen Hieb den Kopf abschlug. Dann wäre die Welt von ihm befreit, und er würde vielleicht endlich erfahren, welchen Sinn sein Leben als Unsterblicher eigentlich gehabt hatte ob es überhaupt einen Sinn gehabt hatte. Die nächste Zusammenkunft - das würde, wenn sein Clanbruder nicht siegreich gewesen war, die Zusammenkunft mit Slan Quince sein. Wenn er dich erledigt hat, kommt er zurück zu mir! Tessas Worte hallten wie schneidende Peitschenschläge in seinem Bewußtsein wider und machten alle anderen Gedankenspielereien augenblicklich zunichte. Selbst sein Tod würde den Fluch nicht bannen. Tessas Schicksalsfaden würde doch genau an der Stelle reißen, die die böse Göttin vorherbestimmt hatte. Und wie er Quince kannte, würde er sehr langsam und qualvoll reißen. - 164 -
So als habe sich diese Erkenntnis auch seinem Fuß auf dem Gaspedal erschlossen und ihn zu höchster Eile angespornt, tauchte nun die Soldier's Bridge vor ihm auf. Die Brücke überspannte einen abgelegenen Wasserarm und lag abseits aller frequentierten Verkehrswege. Sie war wie geschaffen für eine Zusammenkunft. Die aufgeblendeten Scheinwerfer eines Wagens - Connors Wagens - schufen mitten auf der Brücke im Dunkel des Abends eine lichtüberflutete Bühne, auf der, wie MacLeod schon aus der Entfernung erkennen konnte, zwei Gestalten wie Schauspieler agierten - in einer jener Tragödien vielleicht, deren Ausgang nur Götter amüsieren konnte. Der Kampf mußte mit äußerster Verbissenheit geführt worden sein und war offenkundig noch immer nicht beendet. MacLeod war sich nicht sicher, ob er darüber erfreut sein sollte oder nicht. Connor lebte noch - aber auch Slan Quince. Er steuerte den T-Bird auf die Brücke und brachte ihn einige Meter hinter Connors Wagen zum Stehen. Wenn ihn die beiden Kämpfenden bemerkt hatten, dann ließen sie es sich nicht anmerken. Sie waren aufeinander fixiert und nahmen die Dinge, die sich außerhalb ihres Universums abspielten, nicht zur Kenntnis. MacLeod stellte den Motor ab und stieg aus dem Wagen. Jetzt konnte er Connor und Quince ganz deutlich erkennen. Er sah, wie sie mit ihren Schwertern aufeinander einschlugen, wuchtige Hiebe austeilten, die Klinge des Gegners parierten, verwirrende Finten vollführten und immer wieder kurz davor standen, den letzten, entscheidenden Treffer zu landen. Aber schon im nächsten Augenblick - 165 -
mußten sie selbst sich einer neuerlichen Attacke erwehren. MacLeod hörte das Keuchen der Männer, das Klirren des Stahls und das pfeifende Zischen in der Luft. Und er glaubte die Nähe des Todes wahrnehmen zu können, der für einen der beiden Kämpfer unausweichlich war. Ein Zwiespalt der Empfindungen tobte mit der Urgewalt eines brodelnden Vulkans in ihm. Einerseits drängte es ihn, in den Kampf einzugreifen, an Connors Seite zu treten und das Monster mit der eisernen Maske vor dem Gesicht zu vernichten. Andererseits verlangte das Ritual, daß immer nur einer gegen einen zu kämpfen hatte. Er versuchte sich zu vergegenwärtigen, daß dieses Gesetz nichts als eine Formel war, deren Ignorieren keinerlei Folgen haben würde. Aber er brachte es dennoch nicht fertig, sich darüber hinwegzusetzen. Zu tief war das Ritual in seiner Natur verwurzelt, zu fest war seine Existenz damit verbunden. Und so stand er nur da und beobachtete das Geschehen wie ein Zuschauer, zu dessen Ergötzen zwei begnadete Darsteller eine Sondervorstellung boten; ein Finale, nach dessen Ende er beifällig applaudieren sollte. Quince unternahm einen furiosen Angriff: ein angetäuschter Schwerthieb und ein krachender Faustschlag mit der anderen Hand in Connors Gesicht. Connor zurücktaumelnd und gegen das niedrige Geländer der Brücke prallend, aber Quinces Nachsetzen parierend. Dann wieder das Monster in der Defensive, ein sausender Streich, der Quinces Maske durchdringt... Ein tierhafter, entmenschlichter Aufschrei des Getroffenen, zurückspringend und sich die Maske vom Gesicht reißend... eine klaffende, Blut hervors- 166 -
prudelnde Schnittwunde von der Schläfe bis zu den Lippen... Dann geschah etwas, das MacLeods Einhalten der ungeschriebenen Gesetze der Lächerlichkeit preisgab. Quince hielt sein Schwert waagerecht von sich und zielte wie mit einer Pistole auf Connor. Die Schwertspitze löste sich von der Klinge, jagte silbern aufblitzend auf Connor zu und bohrte sich mit fetzender Schärfe in seine Brust. Connor, zuerst nur von dieser verräterischen Hinterlist überrascht, schwankte wie ein waidwundes Wild. Aber bevor ihn die Schwäche völlig übermannen konnte, stürzte er sich unter Aufbietung seiner letzten Kräfte auf das Monster, sein Schwert todversprechend erhoben. Quince duckte sich, ging in die Knie, und als Connor, dessen Koordinationsvermögen bereits gelitten hatte, bei ihm war, riß er eine Schulter hoch und stieß Connor über das Geländer. Wie eine weggeworfene Stoffpuppe stürzte der Clanbruder in die Tiefe. Quinces blutverschmiertes Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse des Triumphes. »Bye, bye, Connor MacLeod«, stieß er heiser hervor. Duncan MacLeods Rolle als untätiger Zuschauer war beendet. Mit einem Ruck setzte er sich in Bewegung und trat in den Lichtkreis der Autoscheinwerfer. »Das hättest du nicht tun sollen, Slan«, sagte er mit einer Stimme aus purem Eis. »Du hast die Gesetze des Rituals gebrochen.« Quince, in der einen Hand sein spitzenloses Schwert, in der anderen die Eisenmaske, blickte ihm entgegen. Das, was von seinem Gesicht noch zu erkennen war, zeigte keine - 167 -
Überraschung. Er zuckte nur mit den Achseln. »Es gilt immer nur das Gesetz des Stärkeren.« »Des Stärkeren?« wiederholte MacLeod. »Ich habe dich nicht als den Stärkeren gesehen. Und der wirst du auch jetzt nicht sein.« Er schlug seinen Mantel zurück, griff nach dem dai-katana und zog es aus der Scheide. »Wehr dich, Slan!« Quince lehnte sich weiterhin gegen das Brückengeländer und machte keine Anstalten, sich dem Kampf zu stellen. Mit einer aufreizend lässigen Handbewegung hob er sein Schwert leicht an. »Ich bin gehandicapt, siehst du? Läßt es sich mit dem Ritual in Einklang bringen, wenn du mit jemandem kämpfst, der so benachteiligt ist, Highlander?« Der unverhohlene Spott und scheinheilige Zynismus des Unmenschen erzielte keine Wirkung bei MacLeod und konnte ihn nicht einmal veranlassen, auf Quinces Worte überhaupt einzugehen. Wieder spürte er, daß er Slan Quince haßte, wirklich haßte, so wie er selten zuvor jemanden gehaßt hatte, Mensch oder Unsterblicher. Er wollte seinen Kopf, und das nicht nur, um Tessa vor ihm zu schützen. Er mußte sich selbst eingestehen, daß seine Natur als Unsterblicher diesmal mit seinem Denken und Fühlen vollkommen übereinstimmte. »Hast keinen Sinn für kleine Scherze, was?« kam Quinces Stimme zu ihm herüber. »Überhaupt keinen Sinn für Spaß? Dann kann das Leben für dich nicht sonderlich lebenswert sein. Zeit, es zu beenden!« - 168 -
Und damit verwandelte sich seine gerade noch so entspannte Haltung augenblicklich in tigerhafte Sprungbereitschaft. Sein jetzt hochgerissenes Schwert glitzerte sonnenhell im Scheinwerferlicht. Natürlich war es in keiner Weise beschädigt oder nur bedingt einsatzfähig. Statt einer Spitze in der Mitte hatte es jetzt zwei Spitzen an der Seite nur war Quince jetzt nicht mehr in der Lage, ein tückisches Projektil abzufeuern. Quince kam einige Schritte vor: eine schreckliche, riesenhafte Gestalt, ausgestattet mit der Geschmeidigkeit einer Schlange, die mit ihren Giftzähnen schneller zuschnappen konnte, als ein nicht Vorbereiteter auch nur erahnen konnte. MacLeod war jedoch vorbereitet, auch auf eine abermalige Hinterlist seines Gegners. Und diese ließ nicht lange auf sich warten: Quince ließ seine linke Hand in einem geschwungenen Bogen zur Seite und dann nach vorne schnellen und schleuderte ihm seine Eisenmaske mit der Wucht eines trainierten Diskuswerfers entgegen. Aber obgleich er perfekt gezielt hatte, verpuffte die Attacke wirkungslos an MacLeods schützend vor das Gesicht gehaltener Klinge, von der die Maske klirrend abprallte und über das Brückengeländer flog. MacLeod lachte. »Du kannst sie ruhig wegwerfen. Wirst sie sowieso nicht mehr benötigen.« Ein grollendes Knurren, daß aus den Tiefen seiner bösen Seele zu kommen schien, entrang sich der Kehle des Kolosses. Dann stürmte er nach vorne und deckte MacLeod mit einem wahren Schlaggewitter ein, bei dem die Blitze
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einander schneller folgten, als es das furchtbarste Unwetter jemals zuwege bringen konnte. MacLeod wehrte alle Schläge ab, wie ein Samurai, bei dem nicht die Hand das Schwert, sondern das Schwert die Hand führt. Sein Bewußtsein war völlig leer. Es bot Gedanken, die nur ablenken konnten, keinerlei Raum, gestattete keine geplanten Aktionen, die der Gegner durchschauen und mit geeigneten Gegenmaßnahmen beantworten konnte - allein der Instinkt regierte und bestimmte, was der Arm, die Beine, der ganze Körper zu tun hatten. Nach der Verteidigung kam der Angriff, ebenso bar aller Gedanken und Gefühle, ebenso von Automatismen gesteuert und ebenso wirkungsvoll. Und nach einer Zeitspanne, deren Dauer MacLeod nicht ermessen konnte, war es plötzlich vorbei. Ein Hieb des dai-katana überwand Slan Quinces Deckung, ließ die Klinge tief in seine plötzlich ungeschützte Brust eindringen und warf ihn auf die Knie. Und erst jetzt, als der Kampf beendet war und der Gegner keine Gefahr mehr verkörperte, erwachte MacLeods Bewußtsein wieder und löste die Herrschaft des Instinkts ab. Er blickte auf Quince hinab, der vor ihm auf den Knien lag, sein Schwert einen Meter neben sich, schmerzerfüllt, blutend, hilflos. Aber seine scheinbar demütige Haltung täuschte: Er bettelte nicht um Gnade, sondern zeigte, vielleicht zum ersten Mal in seinem langen, mörderischen Leben so etwas wie Größe. »Mach ein Ende, Highlander«, flüsterte er mit brechender Stimme. - 170 -
MacLeod nickte. In ihm war jetzt kein Haß mehr, nur noch der Gedanke, daß er ein Unsterblicher war, der einen anderen Unsterblichen besiegt hatte und nun den Lohn für seinen Sieg beanspruchen konnte, so wie es die ewig gültigen Gesetze bestimmten. »Es kann nur einen geben!« Und dann ließ er das Schwert sprechen und wartete auf die BELEBUNG. Es begann mit einem leisen, zarten Summton, der aus dem Nichts zu kommen schien. Der Ton gewann zunächst allmählich, dann schneller und schneller an Höhe, wurde schrill und schneidend, schraubte sich in noch höhere akustische Bereiche empor und wurde schließlich so absolut unerträglich, daß MacLeod nun selbst auf die Knie fiel. Er preßte die Hände verzweifelt gegen die Ohren und war dennoch nicht in der Lage, den Folterton von sich fernzuhalten, der sich gnadenlos in seinen Kopf bohrte. Und gleichzeitig kamen die Blitze. Sie nahmen ihren Ursprung aus Slan Quinces Körper, zuckten in grellem, die Augen blendenden Licht aus ihm hervor und breiteten sich strahlenförmig aus. Sie fuhren in die leuchtenden Scheinwerfer von Connors Wagen und brachten sie mit schepperndem Klirren zum Zerplatzen. Dann ließen sie die Scheiben bersten, geisterten über das Brückengeländer hinweg, das sie energetisch aufluden und mit knisternder Bläue überzogen, um sich dann zu sammeln und nun von allen Seiten auf MacLeod zuzuschießen und in seinen Körper einzudringen. Keine einzige Faser, keine einzige Zelle ließen sie aus und entfachten ein Feuer, das ihn gänzlich zu verbrennen schien. Die Qualen, die ihm die entfesselten Gewalten be- 171 -
reiteten, waren so entsetzlich, so unerträglich, daß er, obwohl vorbereitet und schon vorher fest die Zähne zusammenbeißend, laut und gellend aufschreien mußte, um ein Ventil für die ihn durchtobende Pein zu finden. Und als es dann vorbei war, als der Ton abbrach und die Blitze erstarben, als Slan Quinces Kraft in ihn übergegangen war, fühlte er sich nicht etwa gestärkt, sondern so schwach, daß er noch minutenlang danach in seiner knieenden Haltung verharren und warten mußte, bis sein Körper wieder funktionstüchtig war. Als er sich erhob, bemerkte er neben Connors Wagen eine dunkle Gestalt. Die Scheinwerfer waren erloschen, und nur das ferne Lampenlicht der Straße lockerte die Dunkelheit auf, doch er erkannte auf Anhieb, wen er da vor sich hatte: Es war der Junge, Richie Ryan. Ärger stieg in ihm auf. Der Junge hatte Dinge gesehen, die nicht für seine Augen und für die Augen keines sterblichen Menschen bestimmt waren. Drohend trat er auf ihn zu. Der Junge hob abwehrend die Hände. »He, Mann, ganz cool, okay? Tun Sie einfach so, als ob ich nicht da wäre, okay?« »Wie kommst du hierher?« »Rein zufällig, Mister, wirklich. Ich war gerade in der Gegend und...« »Du solltest mich nicht anlügen, sonst...« Erschrocken wich der Junge einen Schritt zurück. MacLeod sah ihm an, daß er am liebsten so schnell wie möglich - 172 -
davongelaufen wäre, aber dazu brachte er wohl nicht den rechten Mut auf. »Okay, Mann, bleiben Sie cool. Ich bin mit dem anderen Lancelot, der übers Geländer gegangen ist, gekommen. Bin in seinem Kofferraum mitgefahren, nur so, nur so zum Spaß.« MacLeods Ärger verflüchtigte sich wieder. Richie Ryan war nur ein dummer Junge, noch ein halbes Kind. Dennoch, er würde sich ein bißchen um ihn kümmern müssen. Allerdings nicht jetzt, denn in diesem Moment gab es Wichtigeres zu tun. »Neugier kann manchmal tödlich sein, Kid, weißt du das?« sagte er. Und dann wandte er sich ab und sprang über das Geländer in das Wasser, das tief unten auf ihn wartete. Das letzte, was er hörte, waren die Worte des Jungen: »He, Mann, echt geil, wirklich.« Wenn Connor ein ganz normaler Mensch gewesen wäre, hätte Duncan ihn in der abendlichen Schwärze des Pazifikwassers wahrscheinlich niemals gefunden. Aber da sein Clanbruder ein Unsterblicher war, zudem ein Unsterblicher, der seinen Kopf noch auf den Schultern trug und in dessen Herzen nur eine Stahlspitze steckte, hatte er wenig Mühe, seinen Körper tief unter der Oberfläche des Wasserarms aufzuspüren. Der Flash war wie ein Kompaß, der ihn mit alle Irrtümer ausschließender Genauigkeit zum Ziel führte.
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Jetzt zerrte er Connor, dessen Lebensgeister sich bereits wieder zu regen begannen, ans Ufer. Connor stöhnte leise vor sich hin. In der Erwachensphase, in der das Bewußtsein noch keinen lindernden Einfluß auf das Schmerzempfinden nehmen konnte, war die Qual am größten. Duncan legte den Clanbruder auf den Bauch, so daß das Wasser aus seinen Lungen herauslaufen konnte. Er achtete jedoch sorgfältig darauf, daß sich Quinces Schwertspitze, deren Ende wie ein abgebrochener Pfeil aus Connors Brust ragte, nicht noch tiefer in den Körper hineinbohrte. Dann hockte er sich neben ihm nieder und wartete darauf, daß Connor ganz in sein neues - das wie vielte? - Leben zurückkehrte. Im schwachen Licht eines kleinen Hausboots, das unweit vor Anker lag und vom Wind sanft geschaukelt wurde, sah er schließlich, wie sich Connors Augen mit zitternden Lidern öffneten. MacLeod beugte sich über ihn und schenkte ihm ein Willkommenslächeln. »Ich weiß, daß es keine Überraschung für dich ist«, sagte er heiter, »aber du wirst weiterleben müssen.« Connor wälzte sich mit verzerrtem Gesicht in eine aufrechte Position. Er spuckte einen Ozean von Wasser, bevor er das Lächeln erwidern konnte. »Ich hätte es wissen sollen: Du kommst niemals rechtzeitig. Und Slan?« »Ich habe ihm vor Augen geführt, daß auch Unsterbliche sterben müssen.«
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Das Lächeln Connors wurde breiter. »Wie ich schon sagte: Du hast immer den Spaß gehabt und die meisten tollen Frauen.« Seine rechte Hand tastete nach dem Stahl in seiner Brust. Er versuchte, ihn herauszuziehen, gab seine Bemühungen aber dann mit einem Ächzen auf. »Verdammt, macht es dir Spaß, mich wie am Spieß zu sehen?« »Oh, sorry, ich habe es nicht für wesentlich gehalten.« Duncan MacLeod beugte sich noch weiter vor, packte die Schwertspitze mit fester Hand, aber doch vorsichtig genug, um nicht von ihrer Rasiermesserschärfe verletzt zu werden, und riß sie mit einem heftigen Ruck aus dem Leib seines Lehrmeisters. Ein Schwall Blut und ein schmerzerfüllter Aufschrei Connors folgten. Die Wunde sah schrecklich und gefährlich aus, aber sie wußten beide, daß sie sich schnell von selbst schließen und spurenlos verheilen würde. Connor hielt das karmesinrote Stahlstück vor Duncans Augen. »Willst du es behalten - zur Erinnerung an Slan Quince?« »Das einzige Erinnerungsstück, das mich gereizt hätte, wäre Quinces Kopf gewesen!« Connor nickte, bedachte die Schwertspitze mit einem letzten verächtlichen Blick und schleuderte sie in hohem Bogen ins Wasser. Oben auf der Brücke, ein ganzes Stück entfernt, blinkten Blaulichter. Irgend jemand war vom Blitzgewitter der Belebung aufgeschreckt worden und hatte die Polizei gerufen.
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»Wir werden ein paar Schwierigkeiten überwinden müssen, wenn wir unsere Wagen wiederhaben wollen«, stellte Connor nüchtern fest. »Ich nehme an, Quince ist noch dort. Sie werden Fragen stellen.« MacLeod zuckte die Achseln. »Ich brauche meinen T-Bird nicht mehr.« Connor richtete sich noch weiter auf, blickte MacLeod scharf und prüfend an. »Soll das heißen...?« »Ja. Ich gehe nicht zu Tessa zurück. Ich will nicht, daß sie so etwas noch einmal durchmachen muß.« »Ich verstehe das«, sagte Connor. »Aber sie wird es nicht verstehen.« »Es ist besser so für sie.« »Ja, vielleicht. Aber ist es auch besser für dich?« Connors Blick ging in die Ferne, nicht hinüber zur Brücke, auf der jetzt mehr und mehr aufgeregte Bewegung entstand, sondern zu Schauplätzen, über die die Zeit längst hinweggegangen war. »Duncan, dies ist nicht das erste Mal...« MacLeod griff nach seiner Hand, umklammerte sie wie in einem Schraubstock. »Nicht schon wieder Belehrungen und gute Ratschläge, ja?« Sein Clanbruder ließ sich wieder zurücksinken. »Wie du willst - jeder ist sein eigenes Universum.« »So ist es.« Connor entzog sich der Umklammerung seiner Hand. »Du kannst gehen, Duncan. Ich komme jetzt schon allein zurecht.« MacLeod erhob sich. - 176 -
Im Sog der Zeit Wasser schien der Katalysator zu sein, der die länger zurückliegende Vergangenheit, die jüngste Vergangenheit und die Gegenwart miteinander verschmolz. Die Wasser der Soldier's Bridge, der Klippen vor Port Hardy und des Silver Strand Beach gingen fließend ineinander über, und MacLeod hatte einige Probleme gehabt, sie wieder zu trennen. Schließlich jedoch hatte er sich in der Hafenbay von Vancouver wiedergefunden, sich auf seine Aufgabe konzentriert und sie erfolgreich zum Abschluß gebracht. Jetzt tauchte er auf, zog sich an der kleinen Schutzmauer hoch und kletterte zurück auf den Parkplatz hinter Clancy's Restaurant. Als er die Tauchermaske abnahm und die Brille in die Stirn schob, hörte er Tessas Stimme, erfüllt von hektischer Erregung und soeben einsetzender Erleichterung. »Mein Gott, Duncan, wo bist du so lange gewesen? Du hattest nur Sauerstoff für eine halbe Stunde und bist viel länger da unten geblieben. Ich dachte wirklich, du seist erfroren oder ertrunken.« Ein neues kurzzeitiges Sterben zwischen den Erinnerungen, die auf ihn eingeströmt waren? MacLeod konnte es nicht mit Gewißheit sagen und gab sich auch keine Mühe, der Überlegung weiter nachzugehen. Es war vorbei, und er hatte das erreicht, was er erreichen wollte. Triumphierend hielt er die kleine 35mm-Kamera über die Wasseroberfläche. - 177 -
Tessa, zitternd vor Kälte und überstandener Angst, betrachtete sie ungläubig. »Du hast sie wirklich gefunden? Ich hätte es nicht für möglich gehalten.« »Warum nicht? Die Bucht ist gut geschützt, und um diese Jahreszeit hält sich die Gezeitenströmung in Grenzen.« »Aber der Film... selbst wenn etwas drauf sein sollte, womit wir etwas anfangen könnten... er hat im Salzwasser gelegen!« »Vertrau mir, Tessa. Wir gehen damit nicht zum nächsten Schnellfotoladen um die Ecke. Komm.« Sie gingen zum Wagen zurück, wo MacLeod seinen Taucheranzug abstreifte und in die Kleider schlüpfte, die Tessa vor der Fahrt zum Silver Strand Beach für ihn in einem Warenhaus gekauft hatte. Erst jetzt spürte er die Kälte, die unter Wasser in seine Knochen gefahren war und mit einem Firnis aus purem Eis überzogen zu haben schien. Sein Körper würde einige Zeit brauchen, um wieder aufzutauen. »Wohin?« wollte Tessa wissen. »Nach Gastown, in die Hornby Street.« »Und wen oder was finden wir da?« »Sam Thompson, einen alten Freund von mir. Er macht so dies und das.« »Verstehe schon. Nicht unbedingt ein Mann, den man einer Lady vorstellt.« Sie fuhr los. Im abendlichen Dunkel und eingereiht in den fließenden Verkehr, fühlte sich MacLeod sicher. Selbst wenn die Polizei nach ihm suchte und Fotos von ihm verteilt hatte, war die Gefahr der Entdeckung gering. Nur einmal, als sie ihrem Ziel schon ganz nahe waren und an der Kreuzung Davie und Burrard Street ewig lang vor einer - 178 -
roten Ampel warten mußten, beschleunigte sich auch sein Pulsschlag ein bißchen. Unmittelbar neben ihnen stand ein Streifenwagen. Tessa sagte nichts, aber das leichte Zucken ihrer Mundwinkel war beredter als alle Worte. Als der Polizeiwagen dann noch während der Gelbphase startete, ohne daß die beiden Cops ihnen auch nur einen einzigen Blick geschenkt hatten, atmete sie tief durch und hätte vor Aufregung beinahe den Motor abgewürgt. »Himmel, ich glaube, ich eigne mich noch immer nicht richtig für das Räuber- und Gendarmspiel.« »Fahr weiter«, mahnte MacLeod lächelnd. »Sonst nehmen sie uns doch noch fest - wegen Verkehrsbehinderung.« Wenig später bogen sie in die Hornby Street ein. Der abendliche Korso der Angeberschlitten konzentrierte sich in erster Linie auf die unweit gelegene Robson Street. Aber auch hier passierten die chromblitzend aufgemotzten und trotz der empfindlichen Kühle mit offenem Verdeck fahrenden Straßenkreuzer derer, die etwas darstellen wollten, mit aufreizender Gemächlichkeit am Bordstein entlang. »Wie ich diese Typen hasse«, murrte Tessa. »Ist es noch weit?« »Nur ein paar Häuser hinter der Vancouver Art Gallery, deinem zweiten Zuhause.« »Oh.« Tessa hatte ihre Werke schon mehrmals in der Kunstgalerie im Rahmen der dort ständig stattfindenden Ausstellungen dem Publikum präsentiert. Sie hatte es stets als große Ehre angesehen, ihre Produkte Wand an Wand
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mit denen Emily Cars, der wohl bedeutendsten Künstlerin British Columbias, zeigen zu dürfen. »Da, gleich neben der Boutique«, dirigierte MacLeod Tessa. »Und den freien Parkplatz davor haben uns die Götter beschert.« »Keineswegs«, widersprach Tessa grinsend, »der ist ständig für mich reserviert.« Wenig später öffnete ihnen Sam Thompson die Tür seiner unauffälligen Souterrainwohnung. Er war ein kleiner, unscheinbar wirkender Mann mittleren Alters, der es nicht als Beleidigung aufgefaßt hätte, wenn er mit der Bezeichnung »mausgrau« charakterisiert worden wäre. Mäuse waren pfiffig und flink und liebten die Verborgenheit, was auch voll und ganz auf Sam Thompson zutraf. »Oh, Duncan«, begrüßte er MacLeod, »das nenne ich eine Überraschung. Was darf es sein - ein deutscher Personalausweis, ein Visum nach Vietnam oder...« Erst jetzt bemerkte er Tessa, die zwei Meter hinter MacLeod stand, und unterbrach sich mitten im Satz. »Nur ein kleiner Scherz«, sprach er schnell weiter. »Duncan und ich tun immer so, als ob...« »Du brauchst kein Blatt vor den Mund zu nehmen, Sam«, fiel ihm MacLeod ins Wort. »Das ist Tessa Noel. Sie hat mein vollstes Vertrauen.« »Wenn du es sagst...« Thompson nickte Tessa zu und führte sie dann in sein geschmackvoll eingerichtetes Wohnzimmer. Rustikale Möbel mit anheimelnder Patina standen auf einem Teppich, an dem selbst Mullahs ihr
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Wohlgefallen gefunden hätten. Bilder der unterschiedlichsten Stilrichtungen hingen an den Wänden. Die Gemälde zogen Tessa wie magnetisch an. Besonders eins hatte es ihr angetan, ein abstraktes Motiv mit geometrischen Flächen und richtungsweisenden, pfeilartigen Linien. »Das ist ein Kandinsky«, staunte sie. »Er ist echt, nicht wahr?« »Aber natürlich, Miss«, bekräftigte Thompson. »Würde sich ein Mann mit Kultur Kopien ins Wohnzimmer hängen?« »Wenn sie sagt, daß das ein Kandinsky ist«, bemerkte MacLeod augenzwinkernd, »dann darfst du dich geschmeichelt fühlen. Sie ist Künstlerin, mußt du wissen, und versteht etwas von den Dingen.« Tessa errötete. »Heißt das, daß es doch kein...« »Doch, doch, es ist echt«, sagte er zu Tessa. »Ein echter Thompson.« Dann wandte er sich dem kleinen Mann zu. »Sam, weswegen wir gekommen sind: es geht um dieses Ding hier.« Er hielt die kleine Kamera hoch. Thompson musterte sie mit der professionellen Sachlichkeit eines Fleischbeschauers. »Gehen wir in meine Dunkelkammer.« Sam Thompson blickte mit zusammengekniffenen Lippen auf die Kamera, die vor ihm auf dem Tisch lag. Hier und da zeigten sich noch immer Restspuren von Nässe, und auf der Linse hatte sich sogar ein grünlicher Algenfleck festgesetzt. - 181 -
»Warum geht ihr damit nicht ganz einfach in einen Schnellfotoladen?« wollte er wissen, und die Ironie biß in seiner immer etwas heiseren Stimme. »Weil der nicht schnell genug wäre«, antwortete MacLeod trocken. »Und weil ich außerdem zufällig wegen Mordes gesucht werde.« Thompson drehte sich um, suchte Augenkontakt zu Tessa. »Er macht Scherze, nicht?« Und als sie nur stumm den Kopf schüttelte: »Natürlich, ich hatte vergessen, daß er keinen Sinn für Humor besitzt.« »Im Ernst jetzt«, sagte Tessa. »Was meinen Sie, besteht eine Chance?« »Wie tief unten lag sie, Duncan?« »Etwa sechs Meter, würde ich sagen. Sie war zwischen ein paar Felsbrocken eingeklemmt.« »Hm.« Thompson richtete sein Augenmerk wieder auf die Kamera. »Sieht ganz intakt aus. Das ist gut. Aber natürlich ist Salzwasser eingedrungen, das ist schlecht.« Ein Grinsen, ein Leuchten in den listigen Augen. »Aber was soll's - ich liebe Herausforderungen.« Er streckte die Hand nach einem Lichtschalter aus. »Ihr könnt solange ins Wohnzimmer gehen. Getränke findet ihr an der Bar. Ich rufe euch dann, wenn es soweit ist.« MacLeod und Tessa verließen die Dunkelkammer und überließen den kleinen Mann seiner Arbeit, von deren Erfolg so viel abhängen konnte. Vielleicht würde sie aber auch nur eine mit Hoffnung gefüllte Seifenblase mit einem lauten Knall zum Platzen bringen.
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Als er sie später wieder hereinrief in seine kleine, alchimistische Hexenküche, war er gerade dabei, den Film zu studieren, den er soeben entwickelt hatte. »Und?« fragten MacLeod und Tessa gleichzeitig. »Nicht schlecht, wenn man das Salzwasser bedenkt«, gab Thompson Auskunft und beugte sich dicht über den noch feuchten Filmstreifen. »Ich würde sagen, da ist eine Party im Gange.« MacLeod und Tessa traten an seine Seite und betrachteten ebenfalls die Fotos. Einige waren erstaunlich klar, andere mehr diffus und verschwommen. Aber alle zeigten dasselbe: lustige, feiernde Menschen in irgendeinem Lokal oder Restaurant. Enttäuschung senkte sich wie Blei auf ihre Hoffnungen. Mit diesen Schnappschüssen, die offenkundig rein privater Art waren, ließ sich nicht das geringste anfangen. Die Seifenblase schien geplatzt zu sein. »Sind das alle?« fragte MacLeod, doch noch nicht gewillt, seine Niederlage einzugestehen. »Leider ja, Duncan«, erwiderte der kleine Mann. »Ich habe nachgezählt: genau sechsunddreißig.« MacLeods Blick hatte sich an dem Streifen förmlich festgesaugt. Er stutzte. »Sag mal, was ist das da am Ende des Films? Sieht fast so aus, als hätte sie da noch einen weiteren Schuß rausgequetscht.« Thompson beugte sich wieder über den Film und stieß einen Laut der Verblüffung aus. »He, du hast recht. Ich weiß gar nicht, wieso ich das übersehen habe. Da ist wirklich noch etwas drauf.« - 183 -
»Ein letzter Schnappschuß?« Tessa wurde hektisch. »Könnte es nicht sein, daß sie den, vielleicht unbeabsichtigt, kurz vor ihrem Tod gemacht hat? Auf diesem Parkplatz, meine ich.« »Genau darauf wollte ich hinaus«, sagte MacLeod. »Von Anfang an.« »Ich fürchte, ich muß euch da enttäuschen«, warf Thompson ein, der noch immer über den Film gebeugt war. »Das Bild ist leider überbelichtet und völlig unscharf. Man kann nicht einmal ahnen, was es darstellt.« »Noch nicht«, sagte MacLeod gedehnt. »Aber man könnte es vielleicht mit dem Computer herausarbeiten.« Thompson stieß einen Pfiff aus. »Wäre durchaus einen Versuch wert.« »Du hast die Software?« »Was für eine Frage!« »Dann los!« Ein Kaleidoskop verwirrender Muster huschte über den Monitor. An dieser oder jener Stelle lösten sie sich auf, machten anderen Platz, traten deutlicher hervor oder verloren an Intensität. Sie fügten sich zu immer wieder neuen Rasterbildern zusammen, die aber auch nur für Sekunden Bestand hatten, bevor sie in sich zusammenfielen, um im selben Augenblick in veränderter Form aufzuerstehen. »Was macht der Computer da?« fragte Tessa fasziniert. Sie blickte über MacLeods Schulter, der vor Sam Thompsons Rechner saß und das Keyboard bediente.
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»Das Programm nimmt das, was auf dem Foto zu erkennen ist, und versucht, aus diesen Fragmenten das wahrscheinlichste Gesamtbild zu rekonstruieren«, erklärte Thompson. Der kleine Mann hatte ein Glas Whisky in der Hand und nahm von Zeit zu Zeit einen kleinen Schluck, ohne dabei jedoch seine Aufmerksamkeit auch nur eine Sekunde vom Bildschirm abzuwenden. MacLeod drückte auf die Stopptaste und brachte das Bild auf dem Monitor zum Stillstand. »Das ist doch schon was, oder? Für mich ist das ganz eindeutig ein Finger.« »Ja, würde ich auch meinen«, gab ihm Sam Thompson nickend recht. »Der Finger des Mörders!« sagte Tessa dramatisch. Und nach einer ebensolchen Pause: »Mein Gott, wie in einem schlechten Krimi.« »Das würde ich keineswegs behaupten«, meinte MacLeod gedankenvoll. »Es ist durchaus möglich, daß nicht die Krankenschwester, sondern der Mörder selbst den letzten Schnappschuß ausgelöst hat. Als er sie, na ja, du weißt schon, was ich meine.« »Als er sie erstochen hat!« »Ja.« »Vergrößere das mal«, sagte Thompson. »Da ist etwas am unteren Teil des Fingers.« MacLeod ließ seine Fingerkuppen über die Tastatur fliegen. Das untere Fingerglied füllte jetzt fast den gesamten Bildschirm aus. »Ein Ring!« rief Tessa. »Noch größer«, verlangte Thompson. - 185 -
Auf dem Bildschirm erschien ein ellipsenförmiges Zeichen, ein Symbol. »Ein >0<«, stellte Tessa fest. »Nein«, korrigierte MacLeod, »kein >0<, sondern ein >Omikron<, der griechische Buchstabe Omikron.« Er lehnte sich zurück, über alle Maßen zufrieden mit dem Erreichten. Der bunte Luftballon der Hoffnung war also doch nicht geplatzt, sondern hatte sich vielmehr zu praller Zuversicht aufgebläht. Sam Thompson konnte seine Befriedigung nicht nachvollziehen. »Ein Omikron, na schön. Und was soll uns das weiterhelfen?« drückte er seine Zweifel aus. »Abwarten, Sam. Wir klinken uns in die Dateien eines dieser Adressendienste ein und...« »Genau«, unterbrach ihn der kleine Mann. »Komm, laß mich das machen. Ich kenne mich mit meiner Hardware besser aus als du.« Er tauschte den Platz mit MacLeod und machte sich an die Arbeit. MacLeod sah ihm dabei zu, während er überlegte, daß die moderne Zeit in gewisser Beziehung auch ihre guten Seiten hatte. Heutzutage eine bestimmte Person aufzuspüren, von der man kaum etwas wußte, war im Zuge des weltweiten Kommunikationsnetzes, allen Datenschutzgesetzen zum Trotz, reine Schreibtischarbeit. Früher hingegen konnte man sich allein auf vages Hörensagen stützen und war gezwungen, sich per Pferd oder Postkutsche persönüch auf die Suche zu machen. Dennoch, er würde auch heute noch Pferd und Postkutsche den Vorzug geben. Vielleicht hatte sein Clanbruder Connor gar nicht so - 186 -
unrecht, wenn er ihm unterstellte, daß er in der Vergangenheit lebte. Aber natürlieh waren solche Gedankenspielereien müßig. Auch die Unsterblichen, mochten sie einer noch so goldenen Ära entstammen, mußten mit der Zeit gehen. Und die meisten von ihnen taten es gerne, denn auf diese Weise konnten sie ihresgleichen doch viel zielgerichteter und weitaus schneller jagen und sich ihre Köpfe holen. »Duncan«, meldete sich Thompson wieder zu Wort, »hier haben wir es. Es gibt exakt zweiundsiebzig Organisationen in diesem Land, die den griechischen Buchstaben Omikron verwenden.« Tessa stöhnte auf. »Zweiundsiebzig!« »Und wie viele davon benutzen das Omikron als ersten Buchstaben?« versuchte MacLeod den Kreis einzugrenzen. »Sehen wir mal...« Der kleine Mann gab einige neue Parameter in den Computer ein und schnippte dann mit den Fingern. »Eine einzige - Omikron Delta!« »Was ist das für ein Verein?« »Eine medizinische Bruderschaft von Schocktherapeuten, Notärzten...« »Okay, okay«, fiel ihm MacLeod ins Wort. »Mediziner also. Hast du Zugang zur Mitgliederliste dieser geheimnisvollen Bruderschaft?« »Warte mal.« Thompson bediente wieder das Keyboard »Ja, die gibt's. Diese Datei hier ist eine wahre Fundgrube.« Auf dem Monitor erschienen, in alphabetischer Reihenfolge, Namen über Namen. Aalborg, Addison, Adler. . .
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»Das ist wohl die komplette Mitgliederliste auf überregionaler Basis«, folgerte MacLeod. »Wie wäre es nur mit British Columbia? Oder besser noch, nur Vancouver?« Augenblicke später umfaßte die Liste nur noch zweiunddreißig Namen. Und diesmal war es Tessa, die den großen Treffer landete. »Wilder!« MacLeod sah sie an. »Wer ist Wilder?« »Der Notarzt, der dich im Vancouver Docklands Hospital behandelt hat. Das Krankenhaus, in dem die Ermordete gearbeitet hat.« Thompson klatschte in die Hände. »Na, dann ist doch wohl alles klar. Die kleine Krankenschwester war die Geliebte des Herrn Doktor. Sie wurde ihm lästig, und er hat sie abserviert. Kommt in den besten Familien vor.« Wilder, Wilder, Wilder... MacLeod schloß die Augen, versuchte sich zu besinnen und tief in seinem Gedächtnis begrabene Bilder sichtbar zu machen. Da war dieses Gesicht, verzerrt von Fanatismus und Besessenheit... die Dämonenfratze des Schattenmanns. Gehörte diese Fratze zu Dr. Wilder? War Dr. Wilder der Schattenmann? »Mac?« MacLeod öffnete die Augen. Tessas Blick ruhte auf ihm. »Ja?« »Was Sam sagt, klingt logisch. Wenn wir jetzt zur Polizei gehen und erzählen, was wir herausgefunden haben, werden sie sich Wilder vorknöpfen, diesen Ring mit dem Omikron finden und ihn verhaften. Deine Unschuld ist - 188 -
bewiesen, und du brauchst dich nicht länger zu verstecken.« »Wirklich? Und meine Brieftasche am Tatort? Der T-Bird, den Zeugen gesehen haben?« »Das war Wilder. Er wollte den Verdacht auf dich lenken. Brieftasche und Wagen - die hätte er sich aneignen können, als du im Krankenhaus warst...« »Klingt im Prinzip auch logisch«, warf Sam Thompson ein. »Aber wenn ich das alles richtig verstanden habe, dann hatte Duncan diesen Unfall vor vier Wochen. Das Mädchen ist jedoch erst gestern umgebracht worden. Verdammt umständliche Planung des perfekten Mords, wenn ihr mich fragt. Ich hätte es jedenfalls schon vor vier Wochen gemacht.« Angestrengtes Nachdenken spiegelte sich in Tessas Miene. »Und wenn Wilder während dieser vier Wochen...« »Alles nur Spekulationen«, fiel ihr MacLeod schnell ins Wort. Offenbar war Tessa zu ähnlichen Überlegungen gekommen wie er selbst. Er hatte ihr von seinen Erinnerungsfetzen, in denen der Schattenmann die beherrschende Rolle gespielt hatte, erzählt. Aber dieses Thema konnte in gefährliches Fahrwasser führen und war nicht für Sam Thompsons Ohren bestimmt. Thompson wußte nichts von den biologischen Besonderheiten seines Körpers, von seiner Unsterblichkeit. Nur Tessa und Richie, denen er unbedingt vertrauen konnte, wußten darüber Bescheid, sonst niemand.
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Tessa hatte seinen warnenden Bück aufgefangen und verstanden. Sie behielt ihre Mutmaßungen für sich und überließ ihm die Entscheidung über ihr weiteres Vorgehen. »Sam«, wandte sich MacLeod wieder an den kleinen Mann, »kann uns deine fantastisehe Datei auch die Adresse dieses Wilder verraten?« Thompson versuchte es, mußte jedoch passen. »Sony, so ins Detail geht das hier nicht. Aber es dürfte kein großes Problem sein, anderweitig...« »Laß nur, wir haben dich jetzt wirklich lange genug bemüht. Ich sehe auch keine Probleme, herauszufinden, wo der Mann wohnt. Wir müssen uns nur im Krankenhaus erkundigen.« Die Hilfsbereitschaft Thompsons ging dann aber doch noch so weit, daß er im Telefonbuch von Vancouver nachsah: Ein Dr. Wilder war nicht aufgeführt, was jedoch wenig besagen wollte. Viele verzichteten darauf, sich eintragen zu lassen. MacLeod und Tessa bedankten sich für seine Hilfe und gingen. Als sie im Wagen saßen, kam Tessa endlich dazu, ihre Überlegungen zu äußern. »Paß auf«, sagte sie, folgende Theorie: »Du hast diesen Unfall, bist ziemlich schwer verletzt und kommst ins Krankenhaus. Wilder untersucht dich und wird Zeuge deiner wundersamen Selbstheilung. Möglich?« »Sprich weiter.« - 190 -
»Okay. Wilder ist ein Mann der Wissenschaft. Er glaubt nicht an Wunder und will wissen, wie du das machst. Aber er kann dich nicht weiter untersuchen, denn du bist längst wieder kerngesund und verläßt das Krankenhaus. Auf eigenen Wunsch - das ist aktenkundig.« »Ich kann mich nicht erinnern. Aber wenn es aktenkundig ist, muß es wohl stimmen.« »Weiter: Wilders Wissensdrang ist ungebrochen. Er will, er muß dich eingehender untersuchen, muß herausfinden, wie du tickst. Er stellt dir nach, er lauert dir irgendwo auf und kidnappt dich - samt dem T-Bird. Er schleppt dich irgendwohin und experimentiert mit dir.« Sie schlug die Hand vor den Mund, schluckte. »Mein Gott, vier Wochen lang. Es muß furchtbar gewesen sein. Du Armer...« Sie umarmte ihn und küßte und streichelte ihn. »Vielleicht hat er irgendwas mit deinem Kopf gemacht; deshalb diese Gedächtnislücken, die du hast.« »Oder Drogen«, sagte MacLeod, »Medikamente, die mir nicht bekommen sind. Wie du schon sagtest: Experimente.« »Du stimmst meiner Theorie also zu?« »Ist sie schon vollständig? Da fehlt doch noch was.« »Die Krankenschwester, natürlich. Sie wußte zuviel. Entweder hat sie mitgemacht, oder sie ist ihm irgendwie auf die Schliche gekommen. Darum mußte sie sterben. Und damit für den Mord auch gleich ein Verdächtiger zur Hand ist, hat er deine Brieftasche am Tatort hinterlassen und dafür gesorgt, daß man den T-Bird sieht.« Sie lehnte sich auf - 191 -
dem Sitz zurück. »So, jetzt ist die Theorie vollständig. Was sagst du nun?« »Es könnte so gewesen sein, ja. Aber es besteht immer noch die Möglichkeit, daß der Mord überhaupt nichts mit mir zu tun hat. Daß es einfach so war, wie Sam gesagt hat: ein Mord aus rein privaten Motiven. Wenn nur die Brieftasche und der T-Bird nicht wären.« »Also wieder zurück zu meiner Theorie!« MacLeod nickte. »Meine Überlegungen gingen in dieselbe Richtung. Wenn ich ihn sehen könnte, sein Gesicht vor Augen hätte. Dann könnte ich wahrscheinlich sagen, ob er der Schattenmann ist.« »Warum fahren wir nicht einfach ins Krankenhaus? Oder, wenn er da nicht ist, zu ihm nach Hause?« »Das wäre nicht gut. Er wäre gewarnt. Ein Bild von ihm würde es auch tun, ein Foto.« Tessa dachte nach. »Warte mal, ich wüßte da jemanden, der uns helfen könnte. Erinnerst du dich an Randi MacFarland?« »Die Fernsehreporterin?« »Genau die.« »Ungern. Sie argwöhnt etwas. Sie ahnt, daß irgend etwas mit mir... nicht stimmt, und sie will es unbedingt herausbekommen. Aber warum - wieso sollte sie uns in dieser Sache helfen können?« »Sie war gestern am Tatort und hat für ihren Sender einen Bericht gemacht. Bestimmt ist sie der Sache inzwischen weiter nachgegangen und hat auch Dr. Wilder interviewt. Der Mann war schließlich Chef des Mordopfers. Ich - 192 -
wette, daß sie ihn hat - in Bild und Ton. Wäre doch geradezu ideal.« MacLeod schüttelte den Kopf. »Ich stehe immer noch unter Mordverdacht und kann mich in der Öffentlichkeit nicht blicken lassen.« »Aber ich! Ich könnte mit ihr reden. Sie ist an dem Mord und an dir interessiert. Wenn ich ihr ein späteres Exklusivinterview mit dir verspreche, ist sie bestimmt bereit, mir Bildmaterial von Wilder zur Verfügung zu stellen, meinst du nicht?« Nach kurzem Überlegen: »Warum nicht? Wenn sie mich nicht sieht, gehen wir kein Risiko ein. Okay, fahren wir also zum Sender.« Tessa drehte den Zündschlüssel. Während Tessa im Gebäude war, wartete MacLeod auf dem Parkplatz des Senders im Mercedes. Er spürte eine nervöse, nagende Unruhe in sich. Am liebsten wäre es ihm gewesen, die Episode mit dem Schattenmann und seinen Experimenten einfach vergessen zu können. Die Erinnerungen daran, so vage sie auch waren, störten seinen Vorsatz, zukünftig ein Leben als ganz normaler Mensch zu führen. Er hatte auch kein Interesse daran, seinen Peiniger für sein Tun zur Rechenschaft zu ziehen. Und damit, daß dieser abermals versuchen würde, ihm nachzustellen, war nach allem, was geschehen war, kaum zu rechnen. Andererseits bestand weiterhin der Mordverdacht, von dem er sich befreien mußte. Und wenn Schattenmann und Mörder identisch waren, wenn es, wie es aussah, wirklich - 193 -
Dr. Wilder war, dann mußte er überführt werden. Dies würde jedoch zwangsläufig zu einer gründlichen Überprüfung seiner Arbeit führen und die Versuchsprotokolle zutage fördern, die der Forscher mit allergrößter Wahrscheinlichkeit angelegt hatte. Wissenschaftler hatten die Manie, alles schriftlich festzuhalten, und dieser hier würde da vermutlich keine Ausnahme bilden. Es ließ sich also eigentlich nicht vermeiden, daß die Protokolle in die Hände der Polizei fielen und damit seine »biologische Besonderheit« bekannt wurde. Dies durfte unter keinen Umständen geschehen, was bedingte, daß er die Protokolle in seinen Besitz bringen mußte, bevor die Polizei auf den Plan trat. Falls Wilder der Schattenmann war... Tessa riß ihn aus seinen Überlegungen. Sie kam mit wehendem Mantel auf den Wagen zugerannt, riß die Fahrertür auf und warf sich auf den Sitz. »Wir haben noch genau sechs Minuten«, keuchte sie, nachdem sie einen hastigen Blick auf ihre Armbanduhr geworfen hatte. Schon ließ sie den Motor an und setzte so scharf zurück, daß Erdreich und kleine Steinchen wie Maschinengewehrgeschosse gegen die Karosserie prasselten. »Sechs Minuten für was?« »Bis zum nächsten Fernseher. Dann fängt die Nachrichtensendung von KLLA an. Mit Dr. Wilder - in Bild und Ton!« Sie bog auf die Fahrbahn ein, gab Gas. »Live?« »Nein, es ist eine Aufzeichnung. Ich habe übrigens gar nicht mit Randi MacFarland gesprochen. Sie ist gerade wieder unterwegs. Rate mal, wohin.« - 194 -
»Zu Wilder?« »Hundert Punkte für den Kandidaten.« »Aber warum?« wunderte sich MacLeod. »Wilder spielt in dem Fall bisher doch nur eine kleine Nebenrolle. Nur wir wissen, daß er wahrscheinlich der Mörder ist. Wieso hat sie ausgerechnet Interesse an Wilder?« »Genau wußte es der Redakteur, mit dem ich gesprochen habe, auch nicht. Sie glaubt, irgendwas gegen ihn in der Hand zu haben. Könnte eine große Sache werden, hat sie im Sender angekündigt.« Sie trat so unvermutet scharf auf die Bremse, daß MacLeod fast mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe geprallt wäre. Dann manövrierte sie den Mercedes geschickt in eine kleine Parklücke am Straßenrand. »Wohnt hier jemand, den du kennst?« »Nicht daß ich wüßte. Aber da drüben bei dem Chinesen soll man gut essen können.« Sie deutete zu dem Leuchtschild auf der anderen Straßenseite hinüber. »Komm, wir haben noch zwei Minuten.« MacLeod zögerte. »Ich werde wegen Mordverdachts gesucht. Und dann in ein öffentliches Lokal?« »Es hängen ja keine Steckbriefe von dir aus.« Sie öffnete bereits ihre Tür. »Mach schon, Duncan. Oder willst du Wilder verpassen?« »Nein, aber wenn ich nun selbst in dem Beitrag vorkomme?« »Du kommst drin vor - aber nicht im Bild. Ich habe mich genau erkundigt.« - 195 -
»Also gut.« Sie stiegen aus, überquerten wie Slalomläufer die Fahrbahn und betraten das Lokal. Es war ein typisches chinesisches Restaurant der unteren Preisklasse - viel ostasiatischer Schnickschnack, der aber das biedere Interieur nur kaschieren und nicht völlig vergessen lassen konnte. Da der Abend mittlerweile schon ziemlich weit vorgerückt war, befanden sich nur noch wenige Gäste an den Tischen. Einzelne Männer hockten an der breiten und nicht unbedingt appetitlich aussehenden Theke. Links von dieser stand ein Fernseher auf einem imitierten chinesischen Teetischchen. Über den Bildschirm flimmerte irgendeine Serie. »Bleiben wir gleich hier, Thelonius«, schlug Tessa vor und ließ sich gleichzeitig auf einen der Barhocker gleiten. »Aber gewiß doch, Thusnelda.« MacLeod schwang sich auf den Hocker neben ihr. Tessa warf wieder einen schnellen Blick auf ihre Uhr und winkte dann dem dicklichen Kellner, der den Sauberkeitsvergleich mit seiner Theke zweifellos verloren hätte. »Was soll's sein, Folks?« Es war kein Chinese, dem leichten Akzent nach eher Frankokanadier. »Bevor wir etwas bestellen: würde es Ihnen etwas ausmachen, KLLA einzuschalten? Da laufen jetzt Nachrichten.« Tessa blickte ihn treu an, was den Mann jedoch nicht sonderlich beeindruckte.
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»Nachrichten?« knurrte er. »Ist doch immer derselbe Shit. Da, die Serie, da gibt's doch wenigstens was zu lachen.« »Bitte, Sir!« Diesmal erweichte ihr Blick sein renitentes Herz doch. Er griff nach einer Fernbedienung und holte die News von KLLA auf den Schirm. »Danke, Sir.« Unwillkürlich mußte MacLeod lächeln. Tessa war immer eine Frau gewesen, die, wie man so schön sagte, mit beiden Beinen im Leben stand, aber niemals dokumentieren mußte, daß sie in ihrer Beziehung die Hosen anhatte. Heute jedoch hatte sie ganz eindeutig das Kommando übernommen. Das lag wohl daran, daß Männer unter Mordverdacht so schutzbedürftig wirkten, überlegte er. Die Wilder-Story war noch nicht an der Reihe. Die News begannen mit einem Bericht, in dem es um den beabsichtigten Abriß eines unter Denkmalschutz stehenden Hauses in der Water Street ging. »Was soll's jetzt sein?« wollte der Barkeeper wissen und sah MacLeod dabei an. Der schenkte Tessa ein devotes Lächeln. »Wenn du wählen möchtest, Thusnelda?« »Natürlich, Thelonius.« Und zum Barkeeper: »Zwei Frühlingsrollen.« »Sonst nichts?« »Und zwei Mineralwasser.« Angesichts dieser kargen Bestellung spielte der Keeper zweifellos mit dem Gedanken, wieder seine Serie einzu- 197 -
schalten, nahm dann aber doch davon Abstand. Er schlurfte Richtung Küche, um die Frühlingsrollen zu ordern. Auf dem Bildschirm erschien noch immer kein Dr. Wilder, sondern nur ein paar Schlägereien unter Jugendlichen auf dem Campingplatz im Capilano Park. Dann, endlich, Randi MacFarland, umgeben von Krankenhausatmosphäre. Die Journalistin, die eine entfernte Ähnlichkeit mit Tessa hatte, kam in ihrer Einleitung auf den gestrigen Mord zurück und erklärte anschließend, daß sie sich nun im Vancouver Docklands Hospital, der Arbeitsstätte der Toten, befand und ein Interview mit deren direktem Vorgesetzten, dem Notarzt Dr. Wilder, führen würde. Im nächsten Augenblick erschien Wilder auf dem Bildschirm. Während in MacLeods Bewußtsein ein Sturm losbrach, begann das Interview. »Doctor Wilder, möchten Sie einen Kommentar zu dem Mord an Barbara Madison abgeben?« »Ich habe erst heute morgen davon erfahren. Ich bin geschockt und sehr traurig. Wenn Sie mich nun entschuldigen wollen :..« »Einen Moment noch, Doctor Wilder. Sind Sie sich bewußt, daß der Hauptverdächtige für den Mord ein ehemaliger Patient ist?« »Sein Name ist Duncan MacLeod, glaube ich...« »Gibt es eine mögliche Verbindung zwischen seinem Aufenthalt in diesem Krankenhaus und den Geschehnissen der letzten Nacht?« »Ich überlasse solche Dinge der Polizei, und dasselbe empfehle ich auch Ihnen.« - 198 -
Dr. Wilder wurde ausgeblendet. Was danach kam, was Randi MacFarland dem Publikum noch mitzuteilen hatte, fand keinen Eingang mehr in MacLeods Bewußtsein. Er sah Bilder vor sich, die den Computersimulationen bei Sam Thompson ähnlich waren. Das Gesicht Wilders, so durchschnittlich und alltäglich, daß es sofort, wenn man den Blick ab wandte, wieder in Vergessenheit geriet, machte eine gespenstische Verwandlung durch. Die Haare, soeben noch glatt anliegend und sorgfältig gescheitelt, lösten sich in wilde Strähnen aus Vogelspinnenbeinen auf, die ihm wirr in die Stirn fielen. Die trüben Augen begannen zu glühen, fingen Feuer und verbrannten alles, worauf sie sich richteten. Die Lippen verzerrten sich zu einem satanischen Lächeln, in dem sich alle Grausamkeit und Tücke dieser Welt vereinigten. Schillernde Blutflecke zerflossen auf der Haut und gerannen zur Kriegsbemalung eines höllischen Priesters. Dazwischen klang eine Stimme, die trotz ihrer Sanftheit so unvergleichlich furchtbarer war als das Strafgericht eines unbarmherzigen Gottes. »Mr. MacLeod, ich denke, das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft!« »Duncan?« MacLeod brauchte eine ganze Weile, bis er erfaßte, daß es da noch eine andere Stimme gab, die ihn rief, ebenso sanft, aber im Gegensatz zu der anderen nicht strafeverkündend und unbarmherzig, sondern helfend und hebend. »Hast du ihn erkannt, Duncan?« »Ja«, sagte MacLeod, »er ist es. Dr. Wilder ist der Schattenmann.« - 199 -
Kein Schattenmann
Sie fühlten die Frühlingsrollen noch würgend im Halse, als sie das Restaurant verließen. MacLeod hatte das Gefühl, in eine feindlich gesinnte Nacht hinauszutreten. Der Himmel erschien dunkler als gewohnt, das Schwarz eines Leichenwagens, und die Straßenlampen wirkten wie böse Augen, die ihn beobachteten und belauerten. Er war froh, als sie im Mercedes saßen, den er mit seinem vertrauten Ledergeruch wie einen Schutzbunker empfand, in dem er sich einigermaßen sicher fühlen konnte. Angst vor dem Schattenmann? fragte eine spöttische Stimme in seinem Inneren. Dann gib acht, die Nacht ist die Zeit der Schatten. Er schüttelte die beängstigenden Gedanken ab und wandte sich an Tessa. »Also los, fahren wir zu Wilder.« Tessa biß sich auf die Lippe. »Du wirst mich erschlagen, aber ich habe seine Adresse nicht. In der Hektik, die News nicht zu verpassen, habe ich vergessen, im Sender danach zu fragen.« MacLeod war nicht einmal ärgerlich. »Okay, dann zuerst zum Krankenhaus.« Während Tessa den Weg zum Vancouver Docklands Hospital einschlug, zwang er sich, konzentriert und bewußt in die Nacht hinauszublicken. Allmählich verlor sie ihren Schrecken, und schließlich war sie für ihn wieder so normal wie jede Nacht, so daß er sich fragte, was ihm diese eigenartigen Empfindungen eingeflößt hatte. - 200 -
»Wir sind da.« Tessa lenkte den Wagen in eine der zahlreichen leeren Parktaschen des Krankenhauses. »Ich springe schnell rein und bin gleich wieder zurück.« Und sie hatte nicht zuviel versprochen, denn nach nicht einmal drei Minuten saß sie schon wieder neben ihm. »War überhaupt kein Problem. Die Frau in der Rezeption wollte mich nur schnell wieder loswerden, damit sie weiterdösen konnte. Highland 421.« Die Adresse brachte zunächst bei MacLeod keine Glocke zum Läuten, aber das änderte sich, als sie in die Straße einbogen. Erinnerungsfetzen zuckten wie die Eruptionen eines Vulkans in ihm hoch. Die Straßenbeleuchtung schien wie von einem Orkan geschüttelt. Der Asphalt hob und senkte sich wie ein Ritt auf Wellenbergen. Windschiefe Hexenhäuser säumten den Weg. »Ja«, sagte er beinahe flüsternd, »Hier war es. Jeder Zweifel ausgeschlossen.« Dann das Haus selbst, ein anderthalbgeschossiger, unauffälliger Bungalow, dessen Vorgarten nur aus einer nüchternen Grasfläche bestand. Keine Erinnerung - wahrscheinlich, weil er das Gebäude beim Verlassen nicht von vorne gesehen hatte. Tessa hielt unmittelbar davor, gleich hinter einem gelben Suzuki mit schwarzem Dach. MacLeod stutzte, als er den Japaner sah. »Diesen Wagen kenne ich. Er gehört der Reporterin.« »Warum nicht? Sie wollte ja zu ihm.« - 201 -
»Um diese Zeit noch? Es muß doch längst Mitternacht durch sein.« Tessa blickte auf ihre Uhr. »Gleich halb eins. Hast wohl recht - nachts um halb eins führt man normalerweise keine Interviews mehr.« »Außerdem ist im Haus alles stockdunkel.« Er deutete zum Bungalow hinüber. »Entweder ist er nicht da, oder er schläft. Aber böse Menschen schlafen nicht.« Er griff nach dem Türgriff. »Warte hier, ich sehe mich mal um.« »O nein«, protestierte Tessa. »Das machen wir schön zusammen.« Und bevor MacLeod Einwände erheben konnte, war sie bereits ausgestiegen. Er zuckte die Achseln und trat ebenfalls auf die Straße. Das Beklemmungsgefühl, das er vorhin gespürt hatte, war völlig verflogen und hatte eisiger Entschlossenheit Platz gemacht. Keine Angst vor dem Schattenmann... Die Vorgartentür aus naturbelassenen Holzbohlen Heß sich ohne Schwierigkeiten öffnen sie war nicht einmal abgeschlossen. Er hatte keine Erinnerung an das kleine Holztörchen, wohl aber an die etwa zehn Meter entfernte Haustür und die drei Treppenstufen davor. Noch bevor er die Tür im matten Licht einer Straßenlampe richtig sehen konnte, wußte er, daß sie aus Milchglas bestand, in das Ornamente eingearbeitet waren. Endloses Herumtasten an einer Tür, die unüberwindbarer erschien als ein massiver Wall. Plötzlich ein Abgrund vor seinen Füßen...
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MacLeod drückte die Klinke nach unten und zog daran, aber natürlich gab sie nicht nach. »Sehen wir mal, wie es von hinten aussieht.« Zwischen dem Bungalow und der Hecke zum Nachbargrundstück gab es einen Plattenweg, der zur Rückseite des Hauses führte. Bemüht, sich möglichst geräuschlos zu bewegen, schlichen MacLeod und Tessa über die Steinplatten. Dann standen sie auf der ebenso einförmigen Grasfläche des Gartens hinter dem Haus. Auch hier zeigte sich nirgendwo Licht, und da der Schein der Straßenlampe nicht bis hierher drang, lag die Rückfront fast völlig im Dunkeln. Mehrere Fenster und eine Tür waren nur durch Tasten ausfindig zu machen. Zugang zum Haus verschafften sie nicht. »Was tun wir jetzt.« flüsterte Tessa. »Vielleicht ist er wirklich nicht da.« »Auch gut«, sagte MacLeod. »Ich will vor allem seine Protokolle. Und wenn er nicht da ist Schluß jetzt mit der Leisetreterei.« Er winkelte den rechten Arm an und stieß den Ellenbogen wuchtig gegen eine der Fensterscheiben. Das Klirren war überraschend geräuscharm. Der überwiegende Teil der Scherben war nach innen gefallen und offenbar auf einem dämpfenden Teppichboden gelandet. Keine Alarmanlage schrillte los. »Scheint sich sehr sicher zu fühlen, unser Doktor Frankenstein«, knurrte MacLeod, während er eine Hand durch den Fensterrahmen steckte und den Knauf herumdrehte. Das Fenster öffnete sich. »Jetzt solltest du aber wirklich erst mal hier draußen warten«, flüsterte er Tessa zu.
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»Ich fürchte mich allein in der Dunkelheit«, wisperte Tessa und kletterte durch das Fenster ins Haus. MacLeod folgte ihr schnell. Sie war ihm ein bißchen zu mutig - übermotiviert, das war wohl die zutreffende Charakterisierung ihres Handelns. Sie hatte nicht einmal abgewartet, ob das Scheibenklirren nicht doch eine Reaktion im Haus hervorrief. Aber alles blieb still, totenstill. MacLeod übernahm jetzt wieder die Führung und bewegte sich mit vorgestreckten Händen in die Richtung, in der er eine Tür vermutete. Auf halbem Weg stieß er gegen irgendein Möbelstück, dessen Kante sich scharf gegen seine Kniescheibe stemmte. Er unterdrückte eine Verwünschung, umging das Hindernis und ertastete schließlich die anvisierte Tür. Tessa war unmittelbar hinter ihm. Nach kurzem Zögern öffnete er die Tür und stand wieder vor Dunkelheit. Aber diese war nicht so undurchdringlich wie in dem Zimmer, das sie gerade durchquert hatten. In einer Entfernung von etwa fünf Metern schimmerte eine Andeutung matten Lichts auf. »Wir machen Fortschritte«, sagte er leise. »Das da vorne muß die Haustür sein. Der Lichtschimmer kommt durch die Milchglasscheibe.« Bevor er den nächsten Schritt tat, zögerte MacLeod. Das Eis in seinem Bewußtsein bekam ein paar kleine Sprünge, als sich jetzt, dem Ort seiner Qualen unmittelbar nah, immer mehr Schwaden aus dem Nebelgespinst lösten, das seine Erinnerungen gefangen hielt. Dort neben der Tür befand sich die Wendeltreppe, die geradewegs in Wilders Schreckenswerkstatt führte. - 204 -
»Gehen wir nicht weiter?« Tessas Stimme drang ganz dicht an sein Ohr. »Doch!« Er schlich weiter und erreichte die Kellertür, er fühlte die Klinke, drückte sie nach unten, zog die Tür auf... und sah Licht. Hastig schob er die Tür wieder vor, so daß sie nur noch einen Spaltbreit offenstand. Er wandte sich zu Tessa um und flüsterte. »Er ist da... dort unten.« »Ja«, sagte Tessa nur. Und noch einmal: »Ja.« »Bitte, Tessa, du bleibst jetzt hier stehen. Dieser Mann ist gefährlich. Mir kann er nicht viel anhaben, dir aber sehr wohl. Okay?« Nach mehreren langen Sekunden: »Okay.« »Okay.« MacLeod öffnete die Tür wieder. Er schlüpfte hindurch und betrat die erste Stufe, die zweite, die dritte und noch einige weitere, bis er, mit vorgeschobenem Kopf, in den privaten Operationsraum des Arztes hineinblicken konnte. Dr. Frankenstein ging wieder seiner Arbeit nach. Auf der Liege lag bäuchlings eine nackte Frau. Sie hatte beide Arme seitlich von sich gestreckt, blonde Haare fielen über den Rand der Liege herunter. Über ihr der Chirurg, noch in makellosem Weiß, mit tentakelartigen Gummihandschuhen, blauschwarze Linien auf ihren Rücken zeichnend. Unwillkürlich hielt MacLeod die Luft an. Er war also nicht der einzige, an dem Wilder seinen wahnsinnigen Forscherdrang befriedigt hatte. Wie es aussah, nahm er seine Studienobjekte, wie sie kamen. Und nun war Randi MacFarland gekommen... - 205 -
Jetzt wandte Wilder sich zur Seite, streckte eine Tentakelhand nach dem kleinen Instrumententisch neben der Liege aus und griff nach einem Skalpell. MacLeod bewältigte mit zwei Sprüngen die letzten Stufen und stand dann am Fuß der Treppe. »Das Böse kennt keine Pause, was, Doktor?« Wilder zuckte zusammen und fuhr herum. Seine Augen weiteten sich, so daß das Weiß in ihnen sichtbar wurde. »Monstermann!« MacLeod lachte. »Das sagen Sie zu mir?« Sekundenlang stand Wilder wie hypnotisiert, die Statue eines großen Künstlers, dem es meisterhaft gelungen war, das Abscheuliche in seiner pursten Form darzustellen. Dann erwachte er wieder aus seiner Starre, schritt zurück zu Randi MacFarland und schwang das blitzende Skalpell über ihren Rücken. »Verschwinden Sie, oder ich bringe die Frau um«, schrie er. »Sie ist nicht wie Sie. Sie kann nicht zu neuem Leben erwachen.« Die Sprünge in MacLeods Eis hatten sich wieder spurenlos geschlossen. »Wenn Sie ihr auch nur einen kleinen Kratzer beibringen, werde ich Sie hier in Ihrer eigenen Hexenküche bei lebendigem Leib sezieren. Es würde mir sogar großes Vergnügen bereiten.« Mit langsamen Schritten ging er auf Wilder zu und brannte seinen Blick in den des Doktors. Der Arzt kam ihm mit einem wilden Satz entgegen und stieß mit dem Skalpell zu. MacLeod wich der Attacke tänzelnd aus, fing die zustoßende Hand ab, drehte sie herum und wischte Wilder wie eine Fliege auf dem Ärmel von sich. Das Skalpell klirrte - 206 -
auf den Fußboden, während der Arzt schwer gegen eine Wand prallte. Aber er gab noch nicht auf, sondern wehrte sich mit der Energie des wahrhaft Wahnsinnigen. Er griff nach einer brennenden kleinen Alkohollampe auf einem Beistelltisch und warf sie nach MacLeod. Der duckte sich jedoch und ließ die Lampe über sich hinwegfliegen, so daß sie auf einen Schreibtisch in der Ecke fiel und augenblicklich begann, die dort wild verstreuten Papiere in Feuer zu versetzen. Für einen Augenblick war MacLeod abgelenkt, als er zu den stichflammenähnlich hochpuffenden Feuerzungen hinüberblickte. Diesen verwirrenden Moment nutzte Wilder, hatte plötzlich seine Pistole in der Tentakelfaust und schoß und schoß und schoß. MacLeod spürte den Luftzug der Kugeln, die ihn verfehlten. Aber ein Geschoß bohrte sich mitten in seine Brust, dicht über dem Herzen, und ließ eine quirlende Fontäne Blut entspringen. Es war nur ein kurzer, brennender Schmerz, aber für Sekunden brach eine Schwäche über ihn herein, die ihn auf die Knie zwang und eine schwarze Wand vor seinen Augen entstehen ließ. Der Triumphschrei des Doktors gellte in seinem Kopf, und schon spürte er ihn über sich mit etwas Scharfem, Sägendem an seinem Hals. Aber die Selbstheilungskräfte in seinem Körper waren mächtiger als das Loch in seiner Brust, überwanden die Schwäche und räumten die Mauern vor seinen Augen beiseite. Er sah in Wilders Hand die Knochensäge, die sich in seine Kehle fressen wollte, und schlug sie dem Wahnsinnigen aus der Faust. Dann packte er ihn an seinem schon nicht mehr makellosen Weiß, wälzte sich mit ihm über den Boden, gegen den Instru- 207 -
mententisch, der Skalpelle, Scheren und Injektionsnadeln regnen ließ, und gegen die Liege, so daß die nackte Frau herunterrutschte. Und dann erschien auf einmal Tessa mit einer der Nadeln, die sich wie der Degen eines Toreros in den Nacken des Doktors senkte. Und MacLeod spürte, wie der Körper Wilders augenblicklich schlaff wurde, von ihm glitt und reglos auf dem Fußboden ausrollte. Danach war nur noch Feuer, überall säulenartig emporwachsend und umrahmt von beißendem grauen Rauch, der alles Sichtbare gierig zu verschlingen begann. Tessas schon von Atemnot gequälte Stimme überschlug sich: »Duncan, wir müssen hier raus!« Er tastete blind nach der Frau, bis er sie unter den Händen spürte, warf sie auf seine Schulter und wankte mit ihr zur Wendeltreppe, wo nackter Beton der heranrückenden Feuerwalze Einhalt gebot. »Okay, Mr. MacLeod«, sagte Sergeant Herrald, »das Kidnapping von Miss MacFarland und die Sache mit diesem Omikronring dürften dann wohl die Schlußglieder in der Beweiskette gegen Doktor Wilder sein. Schade, daß man ihn nicht mehr zur Verantwortung ziehen kann. In jedem Fall - Sie sind raus.« Er grinste. »Aber das waren Sie eigentlich schon vorher.« MacLeod blickte zu den Feuerwehrleuten hinüber, die bereits damit angefangen hatten, ihren in den Keller des Hauses führenden Schlauch wieder einzurollen. »Eins würde mich noch interessieren, Sergeant. Wie sind Sie ei- 208 -
gentlich darauf gekommen, meinen Thunderbird nach Spuren von Wilder zu untersuchen? Der Mann stand doch zunächst überhaupt nicht unter Verdacht.« »Das haben Sie Miss MacFarland zu verdanken. Sie hat herausgefunden, daß es im Umfeld des Herrn Doktor schon früher mysteriöse Todesfälle und verschwundene Leute gegeben hatte - seinerzeit, als er noch in Toronto tätig war. Wahrscheinlich hat er auch seine eigene Frau umgebracht.« »Verstehe«, sagte MacLeod. Seine Augen suchten die Reporterin, die im Ambulanzwagen, der gleich hinter dem Feuerwehrauto stand, behandelt wurde. Sie war notdürftig mit irgendeinem Krankenhauskittel bekleidet worden und hatte offenbar gerade das Bewußtsein wiedererlangt. Als sich ihre Blicke kreuzten, zuckte sie leicht zusammen. Wenig später kam sie, noch ziemlich unsicher auf den Beinen, herüber. »Wieder auf dem Damm, Miss?« empfing Herrald sie. »Sie werden noch einige Aussagen zu Protokoll geben müssen. Aber das hat Zeit. Erholen Sie sich erst richtig, und kommen Sie morgen ins Office. Sie auch, MacLeod.« Er wandte sich zum Gehen. »Oh, Sergeant«, rief ihm Randi MacFarland nach, »vielen Dank, daß Sie mich da rausgeholt haben!« Herrald blieb stehen. »Wir haben Sie nicht rausgeholt. Als wir kamen, lagen Sie auf dem Rasen des Vorgartens.« Randi fuhr zu MacLeod und Tessa herum. »Haben Sie...?« »Sie erinnern sich an nichts?« - 209 -
Ein tiefes Aufstöhnen: »Ich fürchte, ich habe die beste Story meines Lebens verschlafen. Können Sie mir...« »Wir?« MacLeod hob abwehrend beide Hände. »Wir sind nur rein zufällig hier vorbeigekommen.« »Das glaube ich Ihnen nicht. Zwischen Ihnen und diesem Doktor lief etwas ganz Besonderes - das sagt mir mein professioneller Instinkt.« »Auf Wiedersehen, Miss MacFarland«, sagte MacLeod. »Gehen wir, Tessa.« Als sie den Mercedes erreicht hatten, hörten sie noch einmal die Stimme der Reporterin. »MacLeod?« Er drehte sich um. »Danke, MacLeod. Trotzdem - eines Tages werde ich Ihre Story kriegen.« Tessa und MacLeod stiegen in den Wagen.
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Die Klippen von Port Hardy
»Du mußt vorsichtig sein, Duncan«, sagte Tessa, während sie den Mercedes in Richtung Heights lenkte. »Irgendwann wird Randi wirklich dahinterkommen, daß du unsterblich bist.« »Nein, das wird sie nicht«, widersprach ihr MacLeod entschieden. »Unterschätze sie nicht. Sie hat Phantasie und kann Puzzleteile zusammensetzen.« »Es wird keine Puzzleteile mehr geben, die sie zusammensetzen könnte.« Tessa blickte ihn von der Seite an. »Was willst du damit sagen?« »Ich bin kein Unsterblicher mehr. Ich spiele nicht mehr mit. Es kann nur einen geben? Ich will dieser eine nicht sein. Ich will ein ganz normaler Mensch sein, ein normales Leben führen mit dir.« »Duncan...« »Ist dir noch nicht aufgefallen, daß ich mein Schwert nicht mehr habe? Ich habe es weggeworfen.« Der Mercedes machte einen Schlenker, weil Tessa für einen Augenblick das Lenkrad losgelassen hatte. »Duncan, das kann doch nicht dein Ernst sein! Was tust du, wenn der nächste Unsterbliche kommt und deinen Kopf will?« MacLeod zuckte die Achseln. »Ich hoffe, daß er mich in Ruhe läßt, wenn er erkennt, daß ich nicht mehr mitspiele.« - 211 -
»Das kannst du nicht wirklich glauben! So wie ich deine Leute kennengelernt habe, wird er dich auslachen und als willkommenes Opfer einfach abschlachten!« Wieder ein Achselzucken. »Was geschehen muß, wird geschehen.« »Phrasen! Wem willst du damit nutzen - dir? Oder mir vielleicht?« »Die Unsterblichkeit ist ein Fluch. Ich will nicht mehr unter diesem Fluch leben.« »Sie muß kein Fluch sein«, widersprach Tessa heftig. »Sie kann auch ein Segen sein. Denk an den Kampf mit Wilder vorhin. Ein normaler Mensch wäre nach der Verletzung, die er dir beigebracht hatte, absolut kampfunfähig gewesen. Wilder wäre der Sieger gewesen und hätte sein schreckliches Handwerk fortsetzen können. So aber konntest du die Welt von einem Ungeheuer befreien.« MacLeod sagte nichts. »Fällt dir keine Antwort ein, Duncan?« »Ich glaube nicht, daß man es so sehen kann.« »Doch, man muß es so sehen.« Sie konzentrierte sich für einige Sekunden ganz auf die Straße, die zu dieser nächtlichen Stunde fast völlig verkehrsfrei war. Dann sagte sie: »Außerdem hast du schon einmal versucht, auszusteigen.« »Ich habe es sogar schon mehrmals versucht«, räumte MacLeod ein. »Ich weiß nur von dem einen Mal - nach der Auseinandersetzung mit Slan Quince.« Quince, immer wieder Quince - wie in seinen Erinnerungen während der Todesphasen... - 212 -
»Erinnerst du dich, Duncan?« Ja, er erinnerte sich, so als ob es gestern geschehen wäre... Er war wieder auf seiner Insel, fernab von allen Menschen, von allen Unsterblichen, allein mit sich. Keine Kämpfe mehr, nur noch Ruhe, nur noch Frieden. Und doch war da eine Leere in ihm, eine schreckliche Leere, die sich durch nichts, was er hier auf der Insel fand, füllen ließ. Und während er unter einem Baum saß und den Blick über sein Refugium schweifen ließ, wurde auf einmal eine Stimme hinter ihm laut. »Ich habe versucht, dich anzurufen, aber...« Und dann war Tessa bei ihm, ertränkte ihn in einem Meer von Küssen und stammelte immer wieder »Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich.« Und er erwiderte ihre Küsse und ihre Worte, und die Leere war plötzlich verschwunden, obgleich ihn irgend etwas zu sagen zwang: »Es ist nicht vorbei, du weißt das. Es wird nicht vorbei sein, bis...« Er sprach den Satz nicht zu Ende, denn da stand plötzlich Connor, an den Felsen mit den uralten Hieroglyphen gelehnt, und er sagte: »Wir wissen nicht, wann es vorbei ist. Wir wissen es nie.« Connor sah weise aus, das ganze Wissen von Jahrhunderten ruhte auf seinen Schultern, und doch war da ein Zwinkern in seinen Augenwinkeln, als er hinzufügte: »Aber solange wir leben, in dieser Zeit, in dieser Welt, gibt es immer welche, die den ganzen Spaß haben...« »... und die meisten tollen Frauen«, ergänzte er selbst, und sie lachten alle drei aus übervollem Herzen. Und dann sagte Connor, daß er gehen müsse. Er verabschiedete sich von Tessa, nickte ihm zu, und er nickte Connor zu. Der Clanbruder verschwand hinter dem Hieroglyphenstein. Und Tessa - 213 -
sagte: »Ihr habt euch nicht mal verabschiedet«, und er antwortete heiter: »Das tun wir nie.« Dann war er mit Tessa allein auf seiner Insel, bis auch sie sagte, daß sie nun gehen müsse und ihm alles Glück wünschte. Und er spürte wieder die Leere, diese schreckliche Leere, die er hier auf der Insel nicht ausfüllen konnte, und so ging er mit ihr... MacLeod kehrte zurück in die Gegenwart, auf die Straßen von Vancouver, auf den Beifahrersitz in Tessas Mercedes. »Es läßt sich nicht vergleichen«, sagte er. »Damals bin ich zu dir zurückgekehrt, aber diesmal ist es anders. Ich habe nicht vor, dich zu verlassen, ganz im Gegenteil.« »Es läßt sich sehr wohl vergleichen«, widersprach sie ihm. »Du bist auch damals nicht eigentlich von mir weggegangen, sondern vor dir selbst geflohen. Und genau das tust du jetzt auch, nur auf andere Art.« Während MacLeod überlegte, was er sagen sollte, um ihre Worte zu entkräften, wurde er sich bewußt, daß es nichts mehr zu sagen gab. Sie hatte alles gesagt, und er wußte, daß sie recht hatte. Ja, er war wieder auf der Flucht vor sich selbst, so wie er sein ganzes Leben lang auf der Flucht vor sich selbst gewesen war. Er hatte in all den Jahrhunderten nicht gelernt, seine Natur zu akzeptieren, sein Dasein so zu bewältigen, wie es ihm von seiner Natur diktiert wurde. Seine selbstgewählte Isolation auf der Insel war keine Lösung gewesen. Die Leere, die er dort verspürt hatte, war nicht nur darauf zurückzuführen gewesen, daß er Tessa vermißt hatte. Er hatte seine Natur und damit auch sich selbst geleugnet. Und was geleugnet wurde, war nicht existent... Leere. Auch die Trennung von seinem - 214 -
Schwert war keine Lösung, konnte keine Lösung sein. Das dai-katana war ein Teil von ihm, und indem er es weggeworfen hatte, hatte er das Schwert und wiederum sich selbst geleugnet... Leere. Konnte man mit einem Vakuum in seinem Innersten leben? Und das nicht nur für eine gewisse Zeit, sondern auf Dauer, was bei einem Unsterblichen eine halbe oder auch eine ganze Ewigkeit ausmachen konnte? Wenn es ihm gelang, diese Frage mit einem glatten Nein zu beantworten, hatte er seine Natur akzeptiert. Er mußte es versuchen... »Ähem«, machte er. »Ja, Duncan?« »Haben wir morgen irgend etwas Bestimmtes vor?« »Nicht daß ich wüßte.« »Was würdest du dann von einer kleinen Spritztour nach Vancouver Island halten? Die Klippen von Port Hardy sollen wunderschön sein...«
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