Marc Tannous
Himmel ohne Sterne Bad Earth Band 11
ZAUBERMOND VERLAG
Es ist die Zeit nach Darnoks wütender Geißelung...
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Marc Tannous
Himmel ohne Sterne Bad Earth Band 11
ZAUBERMOND VERLAG
Es ist die Zeit nach Darnoks wütender Geißelung der gesamten Milchstraße, die dazu führte, dass sie völlig abgeschottet vom Rest des Universums in ihrer Eigenzeit existierte. In einer Sphäre, die sämtliche Hochtechnik zerstörte und, als sie endlich abgeschaltet wird, dafür sorgte, dass in der Milchstraße Jahrzehntausende vergingen, während außerhalb gerade mal zwei Jahrhunderte verstrichen. Das Bild der heimatlichen Galaxie hat sich durch Darnoks Eingriff radikal und irreparabel gewandelt. Um die Folgen insbesondere im Heimatsektor der Menschheit zu ergründen, bricht die RUBIKON zum irdischen Sonnensystem auf – wo sie ein Schock erwartet: Alles ist noch viel schlimmer als befürchtet, Erde und Mond existieren nicht mehr, an ihrer Stelle umkreist ein atmosphäreloser, öder Planetenkoloss die Sonne …
Was bisher geschah … Auf der Suche nach Saskana, der Heimatwelt des verstorbenen Gefährten Boreguir, wird die RUBIKON-Crew um John Cloud im Zentrumsgebiet der heimatlichen Milchstraße Zeuge eines Raumgefechts. Eine golden schimmernde Kugel wird von fremden Raumschiffen angegriffen und vernichtet. Fontarayn, Angehöriger des geheimnisvollen Volks der Gloriden, wird als einziger Überlebender geborgen. Er stammt aus Andromeda und führt die RUBIKON hinter den Ereignishorizont des zentralen Milchstraßen-Black-Holes, wo sich eine sogenannte CHARDHIN-Perle befindet. Die Perle gehört zu einem universellen Netz von Perma-Stationen, die zu jeder Zeit existieren – bis in die tiefste Vergangenheit und fernste Zukunft, wie Fontarayn beteuert. Gleichzeitig räumt er ein, die Erbauer nicht zu kennen, obwohl sein Volk die Perlen wartet und verwaltet. Mit Mühe kann die RUBIKON-Crew den Gefahren der Station trotzen. Wieder heil zurück im Normalraum, begegnen sie einem weiteren Gloriden namens Ovayran. Zum ersten Mal erfahren sie etwas über die Treymor, die für die Vernichtung von Fontarayns Schiff verantwortlich sind. Um der Treymor-Gefahr Herr zu werden, beschließt man den Aufbruch zur Andromeda-Perle. Dort will Fontarayn nötigenfalls eine Zeitkorrektur herbeiführen lassen, die verhindert, dass die Treymor in den Besitz von Erbauer-Technik gelangen. Dadurch könnte diese Gefahr ein für alle Mal gebannt werden – aber es drohen auch Zeitparadoxa unbekannten Ausmaßes. Unter Clouds Kommando bricht die RUBIKON nach Andromeda auf – und erreicht die Nachbargalaxis schneller als je erwartet. Bei der Transition wird sie jedoch über zweihundert Jahre in die Zukunft geschleudert und findet Andromeda völlig anders vor, als von Fontarayn beschrieben. Es häufen sich die Anzeichen, dass die Sato-
ga, die vor zwei Jahrhunderten nach Andromeda aufbrachen, um sich eigenem Bekunden nach friedlich dort anzusiedeln, verheerende Kriege gegen die hier beheimateten Völker geführt haben. Aber es kommt noch schlimmer. Die Andro-Perle steht kurz vor der Aufgabe durch die Gloriden und ihren Perlenweisesten. Als letzten Gefallen will er die RUBIKON in die Vergangenheit versetzen und ihr so die Möglichkeit geben, die Hintergründe des rasanten Verfalls des universellen Netzwerks aufzudecken. Scobee, Mitglied der Crew aus ersten Tagen, will diesen Transfer nicht mitmachen, sondern bricht stattdessen mit dem Gloriden Ovayran in dessen Schiff Richtung Milchstraße auf, um die dortigen veränderten Verhältnisse zu erkunden. Das Gloridenschiff erreicht die Milchstraße jedoch nicht. Stattdessen kommt es im Leerraum zwischen den Galaxien zur unerwarteten Begegnung mit der Foronin Siroona, dem Jay'nac Porlac … und Tormeister Felvert, dem Angehörigen des rätselhaften Volkes der Felorer. Während die Gloriden von Porlac und seinen Verbündeten »versteinert« werden, erfährt Scobee Dramatisches über die heimatliche Milchstraße, in der nach Porlacs Worten »alles im Sterben« liegen soll. Kurz darauf bricht der Jay'nac mit ihr und Siroona als Gefangenen genau dorthin auf, in die sterbende Galaxis. John Cloud und die Besatzung der RUBIKON passieren indes die Portalschleuse der Andromeda-Perle und erreichen ebenfalls die Milchstraße, jedoch in einer anderen Zeit und noch von ihr abgeschottet durch den sonderbaren Bereich hinter dem Ereignishorizont des Milchstraßen-Black-Holes. Wo alles anders geworden zu sein scheint als noch beim letzten Besuch. Bizarre, nicht identifizierbare Objekte umschwärmen die Milchstraßen-Perle. Cloud und Jarvis wagen einen Vorstoß in die Station – und begegnen mannigfachem Leben, wo zuletzt noch völlige Verlassenheit herrschte. Das vermeintliche Leben aber entpuppt sich am Ende als Täuschung, als Teil einer Prüfung. Cloud und Jarvis sehen sich schließlich mit einem der legendären ERBAUER konfrontiert. Er nennt sich Kargor und übernimmt die volle Befehlsgewalt über die RUBIKON, die erzwungenermaßen zu einer Mission
in die Milchstraße aufbricht, von der laut Kargor der Fortbestand des ganzen Universums abhängen könnte. Prosper Mérimée, der Mann mit der Zeitanomalie, die auch schon den Fehlsprung der RUBIKON in eine zweihundert Jahre entfernte Zukunft verursachte, wird von Kargor »zweckentfremdet«, um überhaupt in die Milchstraße vorstoßen zu können die zur Brutstätte des Chaos geworden ist. Galaxisweit ist die Zeit entartet – und die Quelle, der Verursacher dieser Entartung, ist erklärtes Ziel der Kargor-Mission. Im System Butterfly-M2 wird man schließlich fündig. Dort residiert der »Zeitverbrecher«, umgeben von Jay'nac-Technologie und ganz in seinem Streben nach Rache aufgehend: Darnok, der einstige Freund und Weggefährte, der in die Gefangenschaft Arabims geriet und später sogar mit diesem »verschmolzen« wurde. Ein absonderliches Schicksal hat Darnok wieder von seinem dunklen Gegenpol befreit. John Cloud und die übrige Besatzung der RUBIKON erfahren die Zusammenhänge, die zu Darnoks Entartung führten. Aber schlimmer noch als die Erkenntnis, was der einstige Freund an Untaten beging (unter anderem löschte er sämtliche Master der Erde aus), wiegt das Bewusstsein, wie viel Zeit aufgrund der Manipulation in der Milchstraße vergangen ist – und nur dort –, nachdem die Zeitbeschleunigung abgeschaltet wurde. Es sind Jahrzehntausende. Jahrzehntausende, in denen sich die Menschen auf der Erde und sämtliche anderen bekannten Hochzivilisationen, vom Rest der Galaxie abgeschnitten, fortentwickelt haben. Enttechnisiert, wenn man so will. Wie mag das neue Bild der Erde aussehen? Die Besatzung der RUBIKON erfährt es auf dramatische und so nie erhoffte Weise: Denn dort, wo sich einst Erde und Mond um die Heimatsonne drehten, zieht nun ein wahrer Gigant seine Bahn zwischen Venus und Mars – ein öder, atmosphäreloser Koloss, von dem die RUBIKON-Crew nicht weiß, woher er kam und wer oder was ihn dort platzierte. Klar ist nur: In der Milchstraße sind rund 30.000 Jahre verstrichen, seit John Cloud und seine Gefährten diesen Raumsektor zum letzten Mal besuchten. Doch was ist aus der Menschheit geworden, den Erinjij? Ist das ir-
dische Sonnensystem nach all den Katastrophen und Heimsuchungen bar jeden Lebens, und wiegt Darnoks Schuld in Wahrheit noch viel schwerer als vermutet?
Prolog »Du hast … was getan …?« Die Fassungslosigkeit in Ayleas Stimme und der anklagende Blick aus ihren teichgroßen Augen versetzten Cloud einen stechenden Schmerz in seiner ohnehin schon eng gewordenen Brust. »Du hast SESHA befohlen, Darnok zu töten …?« John Cloud wollte antworten, doch die Worte schienen auf halbem Wege in seiner Kehle stecken zu bleiben. Er räusperte sich, startete dann einen zweiten Versuch. »Ich habe die KI aufgefordert, alle lebenserhaltenden Maßnahmen einzustellen, ja.« Er zwang eine Härte in seine Stimme, die seinem eigentlichen Wesen widersprach und die Fassungslosigkeit bei den Anwesenden noch verstärkte. Die Wut, die ihn beim Anblick von Darnoks Werk, beim Verstehen des ganzen Ausmaßes seines furchtbaren Racheplans, erfasst hatte und die noch immer in ihm glomm, half ihm dabei. Die Erde existierte nicht mehr. Und die Milchstraße war zu einem Ort des Todes geworden! Diese Erkenntnis wog schwerer als alles andere. Sie sorgte für eine entsetzliche Leere und Taubheit und dafür, dass Hass alle anderen Gefühle verdrängt hatte. »Ich musste es tun«, fügte er mit eisigem Blick hinzu. »Wenn jemand den Tod verdient hat, dann er.« Cloud bemühte sich, jene Autorität auszustrahlen, die ihm von Sekunde zu Sekunde abhanden zu kommen drohte. Nicht nur Aylea, auch Jarvis, sein ältester Freund, musterte ihn mit einer Mischung aus Erstaunen und … Abscheu? Vor allem bei Jarvis war dies ein ungewohnter Anblick. Lange Zeit war es dem ehemaligen GenTec nicht möglich gewesen, wahre Gefühle zu zeigen, nur, sie zu imitieren. Erst der geheimnisvolle Kristall, den er vor Kurzem von dem ERBAUER Kargor verliehen be-
kommen hatte, gab seinem Nanokörper ein menschliches Antlitz. »Du hast recht.« Ayleas Blick wechselte ruckartig von Cloud zu Jarvis, ohne dass sich der Ausdruck in ihren Augen veränderte. Sie wollte einen Einwand erheben, doch eine kaum merkliche Geste von Jarvis ließ sie verstummen. »Wer verdient den Tod mehr als ein Wesen, das wissentlich den Tod von Millionen von Menschen herbeigeführt hat? Aber was sage ich? Der eine ganze Galaxie zugrunde gerichtet hat!« Cloud räusperte sich erneut. Seltsamerweise führten gerade Jarvis' Worte dazu, dass er sich in seiner Rolle als eiskalter Vollstrecker zunehmend unbehaglicher fühlte. Was habe ich getan?, blitzte es in ihm auf. Nur kurz, dann drängte er den Gedanken zurück. »Du sagst es«, erwiderte er stattdessen mit belegter Stimme. Sein Blick wanderte in eine Richtung, die er bisher zu vermeiden versucht hatte. Zu dem Tank in der Medostation, in den der Keelon, jenes molluskenartige Wesen, das die Zeit beeinflussen konnte, zum Zwecke seiner Genesung verbracht worden war – bevor Cloud seinen grausamen Befehl ausgesprochen hatte … »Und dennoch«, fiel Jarvis ihm ins Wort, »sollte es dich nicht dazu verleiten, die Konsequenzen deines eigenen Handelns aus den Augen zu verlieren.« Cloud verengte die Augen zu Schlitzen. Seine Wangenknochen mahlten. Es ärgerte ihn, dass Jarvis' anfänglicher Beistand doch nur eine Strategie gewesen war, um damit einen weiteren Dolchstoß vorzubereiten. »Die Konsequenzen liegen klar auf der Hand«, entgegnete er deshalb mit unverhohlenem Trotz. »Dieser Wahnsinnige wird nie wieder in der Lage sein, seine Fähigkeiten auf solch schändliche Art und Weise zu missbrauchen.« »Ich habe nicht die Konsequenzen in Bezug auf Darnok gemeint«, entgegnete Jarvis. In seiner Stimme schwang eine Ruhe, die nicht zu der Dringlichkeit seines Anliegens passte. Darnok lag im Sterben.
Mehr als ein paar Minuten würden ihm ohne die lebenserhaltenden Maßnahmen nicht bleiben. »Ich habe von den Konsequenzen für dich gesprochen. Davon, was es aus dir macht, wenn du beschließt, das Leben eines einstigen Weggefährten einfach so auszulöschen. Jetzt erscheint es dir als gerecht. Aber denkst du, du kannst auch noch damit leben, wenn erst der Zorn verraucht ist?« Cloud ballte die Fäuste, atmete tief ein und aus. Trotz seiner Aufgebrachtheit wollte er vermeiden, irgendetwas zu sagen, das ihm später leidtun würde. Er versuchte, seinen Ärger hinunterzuschlucken, spürte jedoch, wie er erneut in ihm aufwallte und die Oberhand über sein Denken gewann. »Wir reden hier doch nicht von einem Strafzettel, Herrgott! Hier geht es um millionenfachen Genozid! Wie kann sich ein Mensch mit solch einem Wahnsinn konfrontiert sehen und glauben, jemals darüber hinwegzukommen? Aber vielleicht habe ich mich ja doch in dir getäuscht und du bist gar kein –« Cloud stoppte, doch der Vorwurf hing bereits unausgesprochen im Raum. Schwer und drückend, wie eine Gewitterwolke. Cloud bemerkte ein Zucken, das Jarvis' vorgegaukelte Gesichtsmuskulatur erfasste. Eine Wellenbewegung, wie Tausende kleiner, sich schnell hintereinander öffnender Lamellen, die für den Bruchteil einer Sekunde offenbarten, was dem Auge des Betrachters normalerweise verborgen blieb. Cloud atmete tief durch und fuhr sich in einer hilflos anmutenden Geste durch sein nass geschwitztes Haar. »Jarvis. Ich …« Er rang förmlich nach den passenden Worten. »Du weißt, was ich meine.« »Ich weiß, John«, erwiderte der Angesprochene nur. »Und ich weiß auch, was in dir vorgeht. Dasselbe, was auch ich empfinde. Du fühlst dich entwurzelt, heimatlos, weißt nicht, wo du noch hingehörst. Und du hast das Gefühl, dass du den Schuldigen zur Verantwortung ziehen musst. Aber was ist danach? Ändert sich deine eigene Situation dadurch in irgendeiner Art zum Besseren? Oder die seiner Opfer?« Clouds Blick fiel erneut auf das Geschöpf im Tank. Es sah bereits
aus wie tot. Vor wenigen Minuten hätte er es nicht für möglich gehalten, aber der Anblick und der Gedanke, Darnok könnte nicht mehr sein, rührte ihn fast zu Tränen. »Sesha, wie ist sein Zustand?«, wandte er sich an die Schiffs-KI. Seine Stimme war ruhig und fest, doch sein Herz hämmerte wie eine Faust gegen die Innenseite seines Brustkorbs. »Der Keelon-Organismus hat seine lebenserhaltenden Funktionen eingestellt«, hallte es emotionslos zurück. »Heißt das, er ist tot?«, rief Aylea ungläubig aus. »Positiv. Der klinische Exitus ist vor 32 Sekunden eingetreten.« Die Augen der Zwölfjährigen schimmerten feucht, als sie Cloud mit einem Blick musterte, der ihm das Blut in den Adern gerinnen ließ. Er wandte sich ab. Ein wenig zu schnell, wie er selbst fand. »Kannst du noch irgendetwas tun, um ihm zu helfen?«, wandte er sich erneut an die Schiffsinstanz. »Ich verstehe den Zweck deiner Frage nicht«, gab diese unmittelbar zurück. »Sie steht im direkten Gegensatz zu deinem vorherigen Befehl.« »Vergiss den Befehl! Hier ist ein neuer: Tu, was du kannst, um das Leben des Keelon zu retten!« Der ohnmächtige Zorn wich aus Ayleas tränenverschleiertem Blick, doch die Anspannung blieb. »Befehl ausgeführt. Maßnahmen zur Reanimation eingeleitet.« Cloud atmete erleichtert aus. Jetzt hieß es abwarten. Er konnte seinen Blick nicht von dem molluskenartigen, herzförmigen Wesen nehmen, dessen Tod er sich noch vor wenigen Minuten herbeigesehnt, und für dessen Rettung er jetzt fast alles getan hätte. Kaum zu glauben, dass dieses unscheinbare, so harmlos aussehende Geschöpf im Alleingang die gesamte Galaxie in einen Zustand ungebremster Entropie gestürzt hatte. Das, dachte Cloud bei allem Bangen und Hoffen, vergebe ich dir nie. Aber ebenso wenig kann ich es zulassen, dass dein Blut an meinen Händen klebt und dein Geist mich für immer verfolgt. Du wirst büßen, für alles, was du getan hast. Aber nicht so. Nicht auf diese Weise …
»Erster Reanimationsversuch gescheitert«, meldete die KI, als wollte sie seinen Gedanken Hohn sprechen. Clouds entsetzter Blick begegnete dem seiner Gefährten. »Nein …« Er las das Wort mehr von Ayleas Lippen ab, als dass er es akustisch auffing. Was habe ich getan? »Versuch es weiter!«, befahl er sofort. »So lange, bis du einen Erfolg vermelden kannst!« Stille kehrte ein. Cloud vermochte nicht zu sagen, wie viel Zeit vergangen war, als die KI sich endlich wieder meldete. »Reanimation erfolgreich. Die lebenserhaltenden Maßnahmen wurden wieder aufgenommen.« Die Anspannung fiel spürbar von den Anwesenden ab. Doch trotz der guten Nachricht brach keiner von ihnen das Schweigen. Keinem wollte es so recht gelingen, seiner Erleichterung Ausdruck zu verleihen. Doch zumindest in Cloud festigte sich in diesem Moment die Erkenntnis, dass es erst dann vorbei war, wenn auch der letzte Funken Hoffnung verglüht war. »Kommt!«, meinte er einsilbig und ging auf den Ausgang der Medostation zu. »Es gibt viel zu tun.«
1. Kapitel – Aufbruch Cloud hörte die Schritte, lange bevor er die Stimme vernahm. Jarvis gab sich keine Mühe, leise zu sein, während er den Raum gemessenen Schrittes durchquerte. »Was hast du jetzt vor?«, fragte er, als er nur noch eine Armlänge von ihm entfernt war. Cloud sah, ohne sich umzudrehen, über seine Schulter. Er stand in der Zentrale. Vor der Holosäule, die eine 3D-Ansicht jenes gigantischen Felsbrockens zeigte, der anstelle der Erde auf deren früherer Umlaufbahn kreiste. Jarvis' Frage ignorierend, fuhr er sich über das Kinn und wandte sich wieder dem absonderlichen Himmelskörper zu. »Etwas stimmt nicht«, murmelte er gedankenverloren und mehr zu sich selbst. »Wäre mir gar nicht aufgefallen«, gab der ehemalige GenTec mit gequältem Grinsen zurück. »Aber schön, dass du deinen Humor wiedergefunden hast.« »Nein, ich meine, es kann nicht sein! Selbst wenn wir den beschleunigten Zeitfluss mit einbeziehen, ist es unmöglich, dass sich innerhalb so relativ kurzer Zeit, erdgeschichtlich betrachtet, solch bedeutende Veränderungen vollzogen haben. Ein Planet verschwindet nicht einfach spurlos. Und dann dieser … Riesenbrocken da, der seinen Platz eingenommen hat …« Cloud schüttelte den Kopf um seiner Ratlosigkeit Ausdruck zu verleihen. Jarvis verstand. Mit allem hatten sie gerechnet. Mit einer gänzlich veränderten Menschheit. Mit neuen Machtverhältnissen. Einer in Zehntausenden von Jahren bizarr veränderten Menschheit. Aber das … »Eine natürliche Ursache für dieses Phänomen können wir mit ziemlicher Sicherheit ausschließen. Allerdings kann ich mir auch
nicht vorstellen, welche Macht in der Lage sein sollte, ein solches Vorhaben zu stemmen. Und weshalb …? Was wäre der Sinn einer solchen Aktion?« Cloud nickte gedankenverloren. »Ich habe schon die ganze Zeit das Gefühl, dass wir nur einen Teil der Wahrheit zu sehen bekommen.« Jarvis verstand, worauf Cloud hinauswollte. »Du denkst an einen neuen, abgewandelten ›Schattenschirm‹?«, fragte Jarvis. »Möglich …«, meinte Cloud gedehnt. »Das würde bedeuten, dass dieser öde Gigant zusätzlich in gleichem Abstand und in exakt gleicher Eklipse die Sonne umläuft?« Cloud dachte darüber nach. Es klang abenteuerlich, doch angesichts der Alternativen war es eine Möglichkeit, die in Betracht gezogen werden musste. Zu viel hatten sie auf ihren bisherigen Reisen gesehen und erlebt, um irgendeine Theorie, und sei sie auch noch so absonderlich, von vorneherein auszuschließen. Er gab Sesha den Befehl, weitere Ortungen durchzuführen und daraus den Wahrscheinlichkeitsgrad einer solchen Option zu berechnen. »Lass uns das Ergebnis noch abwarten«, beschloss Cloud. »Und danach unsere weitere Strategie ausrichten.« Jarvis war einverstanden. Gemäß der an Bord geltenden irdischen Zeitrechnung dauerte es erstaunlicherweise fast einen Tag, bis Seshas Berechnungen vorlagen. Die KI teilte sie ihm mit, nachdem sie ihn – wie zuvor ausdrücklich von ihm verlangt – in seiner Kabine aus dem Tiefschlaf gerissen hatte, in den er nach stundenlangem An-die-Decke-Starren schließlich gefallen war. »Den Ortungsergebnissen zufolge tendiert die Wahrscheinlichkeit der Existenz eines Schattenschirms gegen null.« »Demnach«, meinte Cloud, auf einmal hellwach, »existiert die Erde tatsächlich nicht mehr?« »Exakt. An ihrer Stelle kreist nun ein anderer Himmelskörper.«
»Verflucht … danke.« Cloud wälzte sich stöhnend aus seiner perfekt an seine Physis angepassten Schlafstätte. Dann stellte er eine Sprechverbindung zu Jarvis her, den er ohne große Umschweife über das Ortungsergebnis informierte. »Tja, dann müssen wir wohl ran«, gab der GenTec zurück. Er und Cloud hatten bereits über ihre weitere Vorgehensweise im Falle der von beiden insgeheim erwarteten Widerlegung ihrer Theorie gesprochen und waren dabei zu einem übereinstimmenden Ergebnis gelangt. »Ich mach mich bereit«, kündigte Jarvis an. »Sagst du unserem Flattermann Bescheid?« »Ich habe Sesha gebeten, ihn zu kontaktieren. Er … befindet sich gerade auf einem Erkundungsflug …«
Jiim breitete die Schwingen aus und ließ sich minutenlang ohne einen Schlag durch die Lüfte tragen. Unter ihm lag Kalser mitsamt dem Schrund. Seine Heimat, in der der Narge zur Welt gekommen war und einen Großteil seines Lebens verbracht hatte. Auf seinem Rücken kauerte ein Geschöpf, das nur ein Fünftel so groß war wie er selbst. Yael, Jiims Junges, das er in einem anstrengend verlaufenen Geburtsprozess zur Welt gebracht hatte. Und dessen Elter er jetzt war. Seinetwegen hatte Jiim seinen Freund, Guma Tschonk, darum ersucht, ihm einen Ort an Bord des Rochenraumers zur Verfügung zu stellen, den die KI nach seinen Vorgaben umgestalten konnte. Einen Ort, an dem er ungestört brüten und später sein Junges aufziehen konnte, so wie die Natur es für beide vorgesehen hatte. Die Illusion war perfekt. So weit das Auge reichte, sah Jiim nur weites, felsiges oder eisüberzogenes Nargenland. Im Prinzip konnte er mehrere Tagesflüge reisen, ohne an eine seiner Grenzen zu stoßen. Doch das wäre zu weit gewesen. Noch. Yael, den er zur Vorsicht mit einer speziellen Halterung an seinem
Nabiss befestigt hatte, klammerte sich noch immer etwas unsicher an ihn, auch wenn sie bereits die ersten Flugversuche unternommen hatten. Er würde noch etwas Zeit benötigen. Jiim steuerte eine besonders hohe Felsenspitze an, die sich weit über die anderen in ihrer Umgebung erhob, und die an ihrem Ende nach vorne hin wegknickte, als säße dort eine gewaltige Hakennase. Jiim ging in den Anflug, setzte dann so weich und federnd wie möglich auf dem harten Untergrund auf. Sofort nahm er Yael von seinem Rücken. Der Kleine warf einen mulmigen Blick in die Tiefe, die um sie herum klaffte und sie von drei Seiten umgab. Jiim beugte sich zu ihm hinab und sah ihn aufmunternd an. »Du musst keine Angst haben. Ich bin immer bei dir.« Yael schien nun etwas beruhigt. Er näherte sich dem Abgrund, warf kurz davor einen weiteren Blick über seine Schulter. Dann stieß er sich ab und begann gleichzeitig, heftig mit den Flügeln zu flattern. Es klappte eigentlich schon ganz gut. Zunächst geriet er ein wenig ins Trudeln und bekam einen leichten Linksdrall, als eine stärkere Böe ihn erfasste. Doch schon kurz darauf hatte er wieder die Kontrolle erlangt, ohne dass Jiim auch nur ansatzweise gezwungen gewesen war, einzugreifen und die Übung zu beenden. Yael flog eine kleine Schleife, die ihn sogleich zurück zum Felsen führte, wo er, purzelnd und sich mehrmals überschlagend, direkt vor Jiims Füßen landete. Jiim musste lächeln. Die Landung war mit das Schwerste. Es würde noch eine Weile dauern, bis Yael diese so mühelos beherrschte wie er selbst. Dennoch war es hervorragend für den Anfang. Er wollte gerade ein Lob aussprechen, als sich völlig unvermittelt die Bord-KI zu Wort meldete. »Verzeih die Störung. Der Commander hat mir aufgetragen, dir Bescheid zu geben. Du wirst für eine wichtige Mission benötigt.« Die KI musste ihm nicht erklären, was es mit dieser Mission auf
sich hatte. Es konnte nur mit dem Felsriesen zusammenhängen, der auf seltsame, für alle unverständliche Weise den Platz von John Clouds Heimatplaneten eingenommen hatte. Plötzlich hatte Jiim das Gefühl, als würde etwas in seinem Innern absacken. Gerade hatte er damit begonnen, es sich mit seinem Jungen im Pseudo-Schrund gemütlich einzurichten, da sollte er schon wieder von Bord? Auf eine Mission mit ungewissem Ausgang? Eine Mission, auf der wahrscheinlich unzählige Gefahren auf ihn lauerten? Jiim erkannte sich selbst nicht wieder. Früher hätte er nie so gedacht. Im Gegenteil. Er war kaum einer Gefahr aus dem Wege gegangen, hatte sich sogar mit regelrechter Begeisterung in jedes Abenteuer gestürzt. Und er war immer dankbar gewesen, wenn John es ihm ermöglicht hatte, sein Talent und seine Fähigkeiten im Außeneinsatz unter Beweis zu stellen. Wie oft war ihm an Bord des Schiffes die Decke auf den Kopf gefallen? Nicht zuletzt deshalb, weil es keine Möglichkeit gegeben hatte, die Schwingen auszubreiten und sich im freien Flug einfach dahintreiben zu lassen. Doch jetzt war vieles anders. Jetzt war er ein Elter. Sein Handeln betraf nicht mehr nur ihn allein. Er hatte die Verantwortung für ein kleines Geschöpf übernommen. Yael brauchte ihn. Nur er konnte ihm all das beibringen, was ihn zu einen guten und überlebensfähigen Nargen machen würde. Er … »Yael!« Jiim rief den Namen noch im selben Moment, in dem er bemerkte, dass der Kleine nicht mehr auf der Klippe stand! Seine Herzen setzten für einen kurzen Moment aus. Der Dialog mit der KI und seine eigenen düsteren Gedanken hatten ihn nur für einen winzigen Moment unachtsam werden lassen! Wenn Yael deshalb etwas passiert war, würde er sich das niemals im Leben verzeihen können. Einen Atemzug später stand Jiim bereits am Rande der Klippe und ließ seinen Blick hastig schweifen.
Zunächst ohne Erfolg. Von Yael fehlte jede Spur. Doch dann entdeckte Jiim weit unter sich einen winzigen schwarzen Punkt – der mit irrsinniger Geschwindigkeit dem Abgrund entgegenraste …! Yael musste, durch sein vorheriges Erfolgserlebnis übermütig geworden, zu einem weiteren Flugmanöver angesetzt haben, ohne dass Jiim es gemerkt hatte. Dabei war er ins Trudeln geraten und versuchte nun vergeblich, die Kontrolle wiederzuerlangen. Jiim zögerte keine Sekunde, sondern stürzte sich mit dem Kopf voran in den Abgrund. Kaum in der Luft, legte er seine Schwingen dicht an seinen Körper, machte sich so windschnittig wie möglich und versuchte, so schnell es irgend ging, Geschwindigkeit aufzunehmen. Tatsächlich wurde Yael in seinem Blickfeld rasend schnell größer. Bald war er nur noch halb so weit entfernt wie Sekunden zuvor. Doch auch der Abgrund kam immer näher. Nicht mehr lange, dann würde er ihn erreicht haben. Und Yael war noch ein ganzes Stück entfernt. Jetzt hörte Jiim auch seine aufgeregten Rufe, die zuvor, oben auf dem Felsen, der Wind verweht haben musste. Sie klangen schrill und angsterfüllt. Auch im Flug konnte Jiim erkennen, dass Yael immer wieder versuchte, sich umzudrehen und den Wind unter seine kleinen Schwingen zu bekommen. Doch es war aussichtslos. Er hatte schon zu viel Fahrt aufgenommen. Die Kräfte, die auf ihn einwirkten, waren zu gewaltig für den kleinen, noch viel zu leichten Körper. Jiim hatte das Gefühl, in diesen Minuten über sich hinauszuwachsen. Er sammelte noch einmal alle Kräfte, war trotz seiner Angst hoch konzentriert. Und dann hatte er Yael erreicht. Die Distanz zum Erdboden betrug jetzt nur noch wenige Meter. Doch auch davon ließ Jiim sich nicht aus der Ruhe bringen. Er streckte seine Schwingen aus, bekam Yael im Flug zu fassen und
pflückte ihn regelrecht aus der Luft. Kaum hatte er das getan, steuerte er gegen die Schwerkraft an, um wieder in die Höhe zu steigen. Nur knapp schrammte er am felsigen Boden vorbei, schoss dann schnell wie ein Pfeil wieder gen Himmel. Es war geschafft! Jiim entspannte sich, hielt nach einem geeigneten Landeplatz Ausschau und ging dort zu Boden. Erschöpft kamen Elter und Junges auf der von dünnem Gras bewachsenen Talsohle zur Ruhe. Yael wollte ihn gar nicht mehr loslassen, klammerte sich an ihn, als wollte er den Rest seines Lebens an seinen Elter geschmiegt verbringen. Für Jiim trübte sich die Erleichterung über die geglückte Rettungsaktion sofort, als er daran dachte, dass es Zeit für ihn war, aufzubrechen. Die anderen warteten bestimmt schon auf ihn. Für einen kurzen Moment spielte er mit dem Gedanken, sich gegen den Gemeinschaftswillen aufzulehnen. Die Bitte einfach abzulehnen. Sollte ein anderer an seiner Stelle gehen. Doch dann fiel ihm ein, dass er und Jarvis die Einzigen waren, die durch ihre spezielle Konstitution vor den größten Gefahren geschützt waren. Er durch sein vom Körper auf rätselhafte Weise absorbiertes Nabiss, Jarvis durch seinen Nanokörper. Wenn er es zuließ, dass ein anderer an seiner Stelle an der Mission teilnahm und diesem etwas zustieß, würde er sich das nicht verzeihen. Dann lieber für einige Stunden von Yael getrennt sein. Viel länger, so dachte er, würde es ohnehin nicht dauern. Sein Entschluss stand damit fest. Jetzt musste er sich nur noch überlegen, wie er ihn Yael verklickern sollte, der glucksend und noch immer zitternd an seiner Brust hing.
Keiner machte ihm einen Vorwurf, als er deutlich später als angefordert in der Zentrale erschien.
Im Gegenteil. Er hatte vielmehr den Eindruck, als seien John und Jarvis diejenigen, die von einem schlechten Gewissen geplagt wurden. Besorgt sahen sie ihn an, während er den Türtransmitter hinter sich ließ und auf die Kameraden zutrat. »Entschuldigt«, meinte er, als er neben den beiden stehen blieb. »Es gab … nun ja … Komplikationen.« Der Schreck, der ihm noch immer in den Knochen saß, musste sich wohl deutlich auf dem Gesicht des Nargen abzeichnen, denn John sagte: »Ist mit Yael alles in Ordnung?« »Alles bestens.« Jiim war gerührt von der Anteilnahme, die Guma Tschonk ihm entgegenbrachte, obwohl er wahrlich mit eigenen Problemen zu kämpfen hatte. Fast schämte Jiim sich dafür, dass er zuvor mit dem Gedanken gespielt hatte, ihn im Stich zu lassen. Schon deshalb vermied er es, dem Freund einen zusätzlichen Schrecken zu bereiten, indem er ihm von dem außer Kontrolle geratenen Flugtraining erzählte. Außerdem war Yael jetzt gut versorgt. Sesha und ein paar Spinnenroboter, auf die Yael mit regelrechter Begeisterung reagierte, kümmerten sich um ihn – außerdem gab es ja noch die holografischen Gestalten seiner Freunde von Kalser, die lebensecht den Schrund bevölkerten. John nickte, doch die Sorge wich nicht aus seinem Blick. »Du weißt, dass du das hier nicht tun musst. Wenn du willst, entsende ich einen anderen. Oder gehe selbst …« Jiim lächelte dankbar und legte dem Freund die Schwinge auf die Schulter. »Du weißt, dass das nicht möglich ist. Sesha hört nur auf dich. Deine Anwesenheit ist daher dringend erforderlich. Außerdem habe ich es mir gut überlegt. Wer sonst außer mir sollte gehen? Ich bringe nun mal die besten Voraussetzungen mit.« John spürte, dass Jiims Worte ernst gemeint waren und kein nur dahergesagter Spruch, der ihn von seinem schlechten Gewissen befreien sollte.
»Nun gut«, sagte er, wandte sich jetzt abwechselnd Jarvis und Jiim zu. »Die KI hat ihre Messungen inzwischen abgeschlossen. Die Erkundungsdrohnen sind zwar noch unterwegs, doch es sieht wohl so aus, als wüssten wir alles, was es zu wissen gibt.« John deutete mit einem Kopfnicken in die Richtung der Holosäule, in der sich der Planet in einer dreidimensionalen Darstellung um die eigene Achse drehte – wie ein zu groß geratener runder, atmosphäreloser Stein. »Viel ist das allerdings nicht. Der Gigant weist äußerlich keine nennenswerten Besonderheiten auf. Die Oberfläche ist karg und setzt sich aus verschiedenen Gesteinsarten zusammen. Anzeichen auf irgendeine Art von Leben gibt es nicht. Allerdings hat die KI an einem bestimmten Punkt auf der Nordhalbkugel eine hochkonzentrierte, eigenartige Strahlung gemessen. Eine Analyse derselben schlug bislang fehl. Deshalb möchte ich euch bitten, in der Nähe zu landen und die Region in Augenschein zu nehmen. Nehmt einige Gesteinsproben und bringt sie mit an Bord! Und vielleicht fällt euch ja sonst noch irgendetwas auf, das den Augen der Drohnen aus irgendeinem Grunde entgangen ist. Ich kalkuliere für die gesamte Mission etwa einen Erdentag.« Der letzte Satz war an Jiim gerichtet. John wollte ihm die Zuversicht geben, schon bald wieder zurück an Bord zu sein, sich bald selbst weiter um Yael kümmern zu können. Er hoffte, dass ihm dies dabei half, seine Sorgen zurückzulassen und sich ganz auf die Mission zu konzentrieren. Von ihrem Ausgang hing sehr viel ab. Genau genommen waren die beiden Kundschafter der letzte Strohhalm, an den John sich noch klammern konnte. Alle anderen Versuche, etwas über den Verbleib der Erde in Erfahrung zu bringen, waren gescheitert. Sollte diese Mission auch noch in die Hose gehen, waren ihre Möglichkeiten erschöpft. John versuchte, diesen Gedanken nicht zuzulassen. Denn das, so glaubte er, hätte ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit in den Wahnsinn getrieben.
2. Kapitel – Ankunft Sie landeten den Gleiter nahe einer kleineren Senke, die aus der Vogelperspektive an die Nase in einem lustigen Clownsgesicht erinnerte. Bereits beim Anflug bestätigte sich, was Sesha ihnen im Vorfeld über den atmosphärelosen Riesen mitgeteilt hatte. Die Oberfläche war trauriges Ödland, bestehend aus nichts anderem als Stein und Staub. Zahlreiche Krater von Meteoriteneinschlägen vernarbten die Oberfläche und waren die einzigen Anhaltspunkte, anhand derer eine Orientierung möglich war. In vielfacher Hinsicht erinnerte der Planet an den einstigen irdischen Mond, aufgebläht zu vielfacher Größe und auf wundersame Weise in die ehemalige Position der Erde verpflanzt. Bereits vor und auch während des Fluges hatte Jarvis sich die Frage gestellt, was sie sich eigentlich von dieser Mission erhofften. Jetzt, da sie gelandet waren, den Gleiter verlassen hatten und über das Antlitz des steinernen Riesen schritten, drängte sie sich ihm umso mehr auf. Sie würden Gesteinsproben entnehmen, an Ort und Stelle Messungen durchführen, die die Berechnungen der Bord-KI vermutlich bis ins Detail bestätigen würden. Und dann? »Ein geisterhafter Ort«, bemerkte Jiim, der sich mithilfe seines immer mysteriöser werdenden Nabiss kurz zuvor in die Lüfte geschwungen hatte und jetzt am Rand der Senke zum Landemanöver ansetzte. Spielerisch sah es aus, wie der Narge in elegantem Gleitflug nach unten ging, kurz über dem Boden, wie auf Luftkissen gebettet, abbremste und dann sanft zur Landung kam. Jarvis war nicht entgangen, dass er während des Fluges kaum gesprochen hatte. Seine Gedanken waren zurückgeblieben. Im imitier-
ten Schrund. Bei Yael, dessen Aufzucht für die nächste Zeit seine vornehmliche Aufgabe sein würde. Es war vielleicht falsch, ihn mitzunehmen, dachte Jarvis, während er den Nargen dabei beobachtete, wie er sich um die eigene Achse drehte, seine Umgebung dabei mit verlorenem Blicken analysierte. Er hatte nun eine Aufgabe, die ihm seine genetische Programmierung aufbürdete. Sich ihr zu widersetzen, hieß, der Natur ein Schnippchen zu schlagen. Das konnte nicht gut sein. Nicht für Jiim und auch nicht für Yael. Andererseits waren der Narge mit dem ihn auch jetzt – obwohl teilabsorbierten – schützenden Nabiss und der GenTec mit seinem Nanokörper, der jederzeit jede nur erdenkliche Form annehmen konnte, für eine derartige Mission prädestiniert. Auch wenn Jarvis sich selbst nicht gerne als unverwundbar bezeichnete. Ihm war klar, dass dieser Terminus in seiner Absolutheit nicht aufrechtzuerhalten war. Es hatte Gefahrensituationen gegeben, in denen ihm die Eigenschaften seines Kunstkörpers nicht besonders hilfreich gewesen waren. Zu wenig wusste er selbst über diese amorphe Masse, die einst dem Foronen Mont als Rüstung gedient hatte und die seit dessen Tod seinen Geist beherbergte. Auch wenn er mit der Zeit gelernt hatte, damit umzugehen, ihn zu steuern und ihm seinen Willen aufzuzwingen, gab es doch noch viele offene Fragen, und Jarvis hoffte, dass er nicht irgendwann eine böse Überraschung erleben würde. Jarvis, der seine Blicke in den letzten Minuten hatte schweifen lassen, hielt plötzlich verwundert inne, als er in die Richtung sah, in der eben noch Jiim gestanden hatte. Zumindest war er sich vollkommen sicher, dass er genau dort gestanden hatte. Oder täuschte er sich doch? In dieser Umgebung sah alles so verflucht gleich aus. Er drehte sich um die eigene Achse. In einer Entfernung von knapp hundert Metern stand der Gleiter und wartete auf ihre Rückkehr. Wenn er sich in einem 90-Grad-Winkel nach rechts drehte, konnte
er eine Erhebung sehen, die sich wie ein spitzer Finger in den nachtschwarzen Himmel reckte. Und links davon hatte bis eben noch der Narge gestanden … Jarvis drehte sich weiter um sich selbst, immer schneller. Schließlich suchte er den Himmel mit seinen körpereigenen Modulen ab. Doch auch dort war nichts von dem Vogelartigen zu erkennen. Jiim war und blieb … verschwunden!
Kurz zuvor … Federnd setzte Jiim auf dem harten Boden auf und sah in Jarvis' Richtung. Der GenTec machte einen ähnlich verlorenen Eindruck wie er selbst. Zwei hilflose Gestalten in der Weite einer lebensfeindlichen Ödnis. Was mache ich hier?, ging es dem Nargen kurz durch den Kopf. Im nächsten Moment schalt er sich dafür, dass er diesen Gedanken überhaupt zugelassen hatte. Ihm selbst wurde es zunehmend zur Last, dass es ihm dieser Tage kaum gelang, sich auf etwas anderes als auf sein eigenes Schicksal zu konzentrieren. Und das im Angesicht der unglaublichen, kaum in Worte zu fassenden Tragödie, die, das hatte er trotz allem gespürt, den menschlichen Teil der RUBIKON-Besatzung für eine Weile fast gelähmt und zur Tatenlosigkeit verdammt hatte. Sieh ihn dir an, dachte Jiim, während er beobachtete, wie Jarvis den Blick von ihm abwandte und, sich langsam um sich selbst drehend, den Horizont sondierte. Er fühlte sich entwurzelt. Heimatlos. So wie er selbst lange Zeit. Doch er hatte jetzt zumindest den Schrund. Auch wenn dieser nur eine perfekte Nachbildung an Bord der RUBIKON war, so bot er doch eine nahezu perfekte Illusion, die Jiims Leben in der Fremde
erträglicher machte. Der Narge wandte sich von Jarvis ab und der Senke zu, an deren Rand er soeben gelandet war. Sie rührte wohl von einem Meteoriteneinschlag her und beinhaltete ebenfalls nichts als nackten Fels, Geröll und … Jiims Gedankenfluss stoppte abrupt, als er einen seltsamen Lichtreflex inmitten des steinigen Bodens bemerkte. Es war nicht weit von ihm entfernt, knapp unterhalb vom Rand der Senke. Erst glaubte er an eine Täuschung seiner Sinne, doch als er die Stelle fixierte, blitzte es erneut für den Bruchteil einer Sekunde auf. Kein Zweifel. Da war etwas. Etwas, das nicht dorthin gehörte. Er sah sich nach Jarvis um, doch dieser blickte immer noch gedankenverloren in die andere Richtung. Jiim wandte sich von ihm ab, trat einige Schritte vor und machte sich behutsam an den Abstieg. Als er glaubte, die betreffende Stelle erreicht zu haben, sank er davor in die Knie, um sie genauer inspizieren zu können. Doch da war nichts. Nichts als steiniger Boden. Jiim begann, das Geröll, das den Boden bedeckte, beiseitezuschieben, in der Hoffnung, auf etwas zu stoßen, das sich darunter verbarg. Als auch dies ergebnislos blieb, erhob Jiim sich wieder, sah sich verwirrt und unschlüssig um. Hatte er sich in der Stelle geirrt? Oder hatte er sich am Ende ganz getäuscht? Hatte dieses Blitzen gar nicht existiert, sondern hatten ihm lediglich seine Sinne einen Streich gespielt? Gerade als er die Senke wieder erklimmen wollte, bemerkte er eine schwache Bewegung zu seinen Füßen. Er drehte sich um, ging in die Knie … und da entdeckte er eine winzige Öffnung, die jetzt im Fels aufklaffte und die – dessen war er sich vollkommen sicher – bis vor wenigen Augenblicken noch nicht existiert hatte. Ein Lichtstrahl sickerte daraus hervor. Dünn wie ein menschlicher Finger und dabei so hell wie tausend Sonnen. Jiim wandte sich von dem Licht ab. Er hatte das Gefühl, erblinden
zu müssen, wenn er noch länger darauf starrte. Aufgeregt versuchte er, eine Funkmeldung an Jarvis abzugeben, erhielt jedoch keine Antwort. Die Verbindung schien aus irgendeinem Grund unterbrochen. Sekundenlang haderte der Narge mit sich selbst. Sollte er erst Jarvis Bescheid sagen, oder …? Auf seltsame Weise fühlte er sich wie magisch angezogen von diesem seltsamen Licht, das da aus der Felsspalte sickerte. Es war, als würde es seine Sinne benebeln, ihn trunken machen und ihn alle Vorsicht vergessen lassen. Erneut sank er davor in die Knie, diesmal ohne seine Bewegungen bewusst zu steuern. Er war wie hypnotisiert. Zwar bekam er mit, was um ihn her geschah, doch fühlte er sich unfähig, selbst in das Geschehen einzugreifen. Und dann, ganz plötzlich, stürmte es auf ihn zu! Wie aus einer Laserwaffe abgefeuert, bündelte sich das Licht zu einem scharfen Strahl, der mit immenser Geschwindigkeit aus der Öffnung schoss, den Nargen umfloss, ihn dabei umhüllte wie ein Kokon aus gleißendem Licht. Jiims Blickfeld änderte sich. Die Felsenwüste, der Krater … alles verschwand hinter einem grellweißen Vorhang. Dabei hatte er das Gefühl, dass das Licht ihn nicht nur durchfloss, sondern durchdrang, ihn von innen heraus abtastete, um ihm seine geheimsten Gedanken zu entreißen. Dann, urplötzlich, wurde es dunkel.
Jarvis war wie in Trance. Augenblicklich hatte er die Beine seines Nanokörpers zu Kufen ausgebildet, mit denen er nun in immensem Tempo über den steinigen Untergrund glitt. Die Senke!, schoss es ihm durch den Kopf. Jiim musste auf ihren Grund hinabgestiegen sein. Aber warum meldete er sich nicht von dort? Weshalb war die Funkverbindung
abgebrochen? Als er den Rand des Troges erreichte und seine Blicke über den Untergrund irrlichterten, verfestigte sich seine klamme Furcht. Auch hier war der Boden kahl und öd. Keine Pflanze, kein Strauch. Kein Hinweis auf eine auch nur entfernt als solche zu erkennende Art von Leben. Erst recht kein geflügelter Narge. Jiim war tatsächlich verschwunden! Jarvis versuchte es noch einmal, rief mehrmals über Funk seinen Namen, als sein Blick zu Boden glitt. Augenblicklich verstummte er. Dort auf dem Boden waren Spuren zu erkennen. Aus dem Geröll hoben sich Vertiefungen ab. Irgendjemand war hier gegangen. Jiim? Also doch. Oder? An dieser Stelle musste er sich dem Rand der Senke genähert haben. Jarvis hob den Kopf, blickte nach vorne. Tatsächlich. Wie ein schmaler Pfad setzten sich die schwach erkennbaren Abdrücke über den Rand der Senke hinweg fort. Jarvis folgte der Spur knappe zehn Meter, dann brach sie urplötzlich ab. Er hob den Kopf. Hatte sich Jiim an dieser Stelle erneut seiner nabissverstärkten Schwingen bedient, mit denen er selbst im Vakuum agieren konnte? Erneut suchte er den finsteren Himmel ab. Wieder vergeblich. Mit wachsender Furcht sank Jarvis genau dort, wo die Spur endete, zu Boden. Da bemerkte er einen kleinen Geröllhaufen, der nicht aussah, als sei er auf natürliche Weise entstanden. Jemand hatte das Geröll achtlos beiseitegeschoben, es dabei vermutlich eher unbewusst aufgehäuft. Er hat gegraben, dachte Jarvis. Er muss nach irgendetwas gesucht haben. Aber nach was? Eilig machte er sich selbst daran, den Boden in einem Radius von gut einem Meter um die Stelle freizulegen, bis er auf den nackten Untergrund stieß. Plötzlich hielt er erschrocken inne. Sein Blick fiel auf ein Loch. Eine winzige Öffnung mitten im Fels!
Gerade so breit wie sein Finger. Unwillkürlich streckte er die Hand danach aus. Und so, als würde es genau das bemerken, als sei es auf eine absonderliche Weise intelligent, wurde das Loch abrupt kleiner, schloss sich vor seinen Augen. Zurück blieb nackter, massiver Stein. Verdammt! Jarvis konzentrierte sich darauf, die Struktur seines Nanokörpers zu verändern. Seine Hand verformte sich, wurde schmaler, veränderte gleichzeitig ihre Konsistenz und bildete eine dünne, stahlharte Spitze aus, die er sogleich wuchtig in den Untergrund stieß. Wenn hier irgendwo ein Einstieg war, dann musste er doch auch irgendwie zu öffnen sein. Oder war dies nur von der anderen Seite aus möglich? Wie ein Wahnsinniger hämmerte er die Spitze immer und immer wieder in den Boden, mit dem Ergebnis, dass der Fels an einigen Stellen zwar zu splittern begann, sich aber nicht einmal ansatzweise so etwas wie eine Öffnung auftat. Irgendwann ließ Jarvis sich frustriert auf die Seite sinken und starrte verloren in den nachtschwarzen Himmel. Er musste die RUBIKON verständigen. Musste die anderen von seinem Versagen in Kenntnis setzen. Auch wenn John es vermutlich anders interpretieren würde, so war Jarvis sich sicher, dass es zu einem großen Teil seine Schuld war. Hätte er nur besser auf ihn aufgepasst. Jetzt aber war Jiim verschwunden. Ausgerechnet Jiim! Als hätte sich der Erboden aufgetan und ihn mit Haut und Gefieder verschlungen – und irgendwie hatte Jarvis das unbestimmte Gefühl, dass dies mehr war als nur eine abstrakte Metapher.
»Kannst du noch einmal erzählen, was passiert ist?«, fragte Algorian abgehetzt. Er und Cy waren gerade erst in der Zentrale eingetroffen, wo Cloud, Jarvis, Aylea und Jelto bereits auf sie warteten.
»Wir haben gehört, dass Jiim nicht zurückgekehrt ist«, fügte Cy, das Pflanzenwesen, hinzu und rieb besorgt seine Blätter gegeneinander. »Ist er …?« »Wir wissen nicht, was mit ihm passiert ist«, beendete Cloud jede weitere Spekulation bereits im Ansatz. Mit einem Nicken forderte er Jarvis auf zu berichten, was er ihm bereits nach seiner Rückkehr in einem Vieraugengespräch erzählt hatte. Der GenTec gab die Ereignisse nüchtern und ohne Ausschweifungen wieder, während er bemerkte, wie die Gesichter um ihn her zunehmend sorgenvoller wurden. »Das ist ja schrecklich!«, entfuhr es Aylea, als er schließlich geendet hatte. Algorian blieb pragmatisch. »Was genau war denn das für eine Öffnung im Fels?« Jarvis machte eine Geste der Ratlosigkeit. »Öffnung ist zu viel gesagt. Es war mehr ein Loch. Etwa …« Er hielt dem Aorii seinen kleinen Finger entgegen. »… so groß.« Jetzt meldete sich auch Jelto zu Wort. »Du hast gesagt, dass sich das Loch wie von allein … geschlossen hat.« Jarvis nickte abwartend. »Wäre es denn dann nicht denkbar«, fuhr der Pflanzenhüter fort, »dass es theoretisch auch in der Lage ist, sich zu vergrößern.« Cloud und Jarvis tauschten einen kurzen Blick. Diese Möglichkeit hatten sie zuvor selbst schon in Betracht gezogen und auch ausgiebig erörtert. Zu einem abschließenden Ergebnis waren sie nicht gekommen, sondern hatten sich darauf geeinigt, ihre Kameraden in die Diskussion mit einzubeziehen. Cloud ergriff an Jarvis' Stelle das Wort. »Diese Vermutung liegt nahe. Wenn dem so ist, stellt sich die Frage, womit wir es dann zu tun haben. Und welche Konsequenz wir daraus für unser weiteres Vorgehen ableiten …« Die Anwesenden sahen sich schweigend an. Allen war klar, was Cloud damit andeuten wollte. Sich selbst öffnende und wieder verschließende nargenverschlingende Löcher hatten vermutlich keinen natürlichen Ursprung. Dahinter musste eine Intelligenz stehen.
Jemand, der einen Nutzen mit einer solchen Vorrichtung verband. Aylea war die Erste, die es offen aussprach und dabei auf die Holosäule mit der dreidimensionalen Draufsicht deutete. »Der olle Felsen ist wohl doch nicht so einsam und verlassen, wie es den Anschein hat.« »Es könnte sich dabei um eine Art Zugang handeln«, bot Cy an. »Eine Schleuse. Ins Innere …« Cloud registrierte erfreut, dass die Gefährten dieselben Gedankengänge verfolgten wie zuvor schon er und Jarvis. Doch was hatte das zu bedeuten? Hatten sie es am Ende mit einer gigantischen Hohlwelt zu tun? Und wenn ja, wer waren ihre Herren und Schöpfer? War es eine ihnen freundlich gesinnte Rasse? Hatten sie Jarvis zu sich geholt, um sich von seinen Absichten zu überzeugen? Oder war er eine Geisel, eine Art Faustpfand? »Ist doch piepegal, wer oder was dahintersteckt«, versetzte Aylea und offenbarte einmal mehr ihr kindliches Ungestüm, das sich trotz ihrer hohen Intelligenz und ihrem für Cloud immer wieder verblüffenden Verständnis von Astrophysik immer wieder zu Wort meldete. »Wir müssen ihn da rausholen! Und zwar schnell! Wer weiß, was die mit ihm anstellen! Vielleicht schneiden sie ihn auf. Missbrauchen ihn für irgendwelche kranken Experimente …« Jelto, der neben ihr stand, verzog das Gesicht. Der Klon war von den früheren irdischen Machthabern dazu gezüchtet worden, sich um die Pflanzenwelt in der Umgebung des Erdgettos zu kümmern. Er war ein sensibler Schöngeist, der nicht aus seiner Haut konnte. Schreckensszenarien wie das, welches seine beste Freundin gerade beschrieben hatte, belasteten ihn stärker als jedes andere Bordmitglied. »Du hast recht«, stimmte Cloud der Zwölfjährigen zu, um sie im nächsten Atemzug gleich wieder zu bremsen: »Wir sollten jedoch nicht voreilig handeln. Zumindest bis wir wissen, mit wem wir es hier zu tun haben.« »Vielleicht sollten wir versuchen, mit ihnen zu kommunizieren«, schlug Cy vor, doch Jarvis nahm ihm sogleich den Wind aus den Segeln.
»Cloud und ich haben Sesha bereits gebeten, einen breit gestreuten Funkruf abzugeben. Bisher ohne Ergebnis. Und ich fürchte, dabei wird es auch bleiben. Wenn sie an einem Austausch mit uns interessiert wären, hätten sie längst Kontakt zu uns aufgenommen. Stattdessen haben sie einen der unseren entführt. Und wenn sie auch nur annähernd mit den Gepflogenheiten der meisten intelligenten Rassen vertraut sind, müssen sie damit rechnen, dass wir das nicht gerade als freundschaftlichen Akt einstufen.« »Und? Was tun wir nun?« Das leise Raunen, das sich nach Jarvis' Worten unter den Anwesenden ausgebreitet hatte, erstarb, wich einer gespannten Erwartung. Die Blicke fielen zunächst auf Aylea, die die Frage gestellt hatte, wanderten dann weiter zu ihrem Kommandanten. Dieser ließ seine zu Schlitzen verengten Augen durch die Runde wandern und entschied schließlich: »Wir holen unseren Nargen-Freund da raus …!«
3. Kapitel – Die andere Seite Als Jiim erwachte, fühlte er sich wie durch den sprichwörtlichen Fleischwolf gedreht. Jeder Knochen in seinem Leib schmerzte, und sein Schädel brummte, als hätte er die Felskruste mit dem Kopf durchbrochen. Was war passiert? Verschwommen erinnerte er sich an den gleißenden Lichtstrahl, der ihn durch dieses Loch gesaugt hatte wie eine Erbse durch einen Strohhalm. Aber wohin? Auf die andere Seite? Befand er sich demnach wirklich und wahrhaftig im Innern des felsigen Giganten? Hatte er einen geheimen Zugang entdeckt? Egal. Zunächst musste er zurück an die Oberfläche, musste Jarvis darüber informieren, dass alles in Ordnung war. War es das wirklich? Jiim fiel ein, dass er nicht einmal wusste, wie viel Zeit seit seinem unfreiwilligen Abstieg vergangen war. Waren es Minuten, Stunden? Hatte Jarvis gar die Suche nach ihm aufgegeben und die anderen bereits von seinem Verschwinden informiert? Mühsam stemmte er sich auf die Beine und sah sich um. Nach und nach gewöhnte er sich an die Dunkelheit und erkannte, dass sie doch nicht so undurchdringlich war, wie er im ersten Moment geglaubt hatte. Irgendwo gab es eine Lichtquelle. Sie war schwach, doch ihr Schein reichte aus, um ihm die Grenzen seiner Umgebung aufzuzeigen. Andeutungsweise erkannte er zerklüftete Wände, die ihn in großzügigem Abstand umgaben und die das Licht wie mit einer matten Glasur überzog. Er legte den Kopf in den Nacken. Weit über sich entdeckte er einen schmalen Durchgang, durch den etwas Helligkeit sickerte. War dort das Loch, durch das er gerade eingesaugt worden war? Es war unförmig, mit rissigen, zerklüfteten Rändern und sah aus wie … wie der Zugang zu einer Höhle.
Nein. Wenn er darüber nachdachte, war er sich ziemlich sicher, dass ihn dieser Durchgang nicht zurück an die Oberfläche führen würde. Auf seiner Außenseite war der Planet finster, kalt und öd. Das Licht hingegen, das durch das Loch in die Höhle drang, war warm und von purem Leben erfüllt. Eine Energie, die sich wie Balsam um seine Seele legte, seinen Lebensmut neu entfachte. Auf seltsame Weise fühlte sich Jiim zu diesem Licht hingezogen. Es war kein Sog, keine übermächtige Anziehungskraft. Er hätte sich ihr widersetzen können, wenn er dies denn gewollt hätte. Und einen kurzen Moment lang spielte er sogar mit dem Gedanken, stattdessen lieber nach einem Weg zurück an die Oberfläche zu suchen. Schließlich musste er die anderen informieren, dass alles in Ordnung war. Unwillig wischte er den Gedanken beiseite. Dergleichen konnte er später auch noch tun. Welchen Unterschied machten ein paar Minuten? Als Jiim sich umsah, bemerkte er, dass es keinerlei Aufstieg zu dem Loch dort oben gab. Ein Geschöpf ohne Jiims technische Möglichkeiten hätte seine liebe Mühe gehabt, den Ausstieg zu erreichen. Zum Glück betrifft mich das nicht, dachte der Narge mit neu erwachtem Übermut. Dann stieß er sich vom Erdboden ab und schoss in die Höhe. Zunächst schnell, dann immer langsamer werdend, näherte er sich dem Durchgang. Trotz des drängenden Wunsches, dem eigentümlichen Licht so schnell wie irgend möglich näher zu kommen, ging der Narge mit äußerster Vorsicht vor. Noch immer wusste er nicht, mit welcher Art von Phänomen er es hier zu tun hatte. Welche Macht hinter den Absonderlichkeiten stand, mit denen sie seit ihrer Rückkehr konfrontiert worden waren. Beinahe in Zeitlupe schwebte er durch die zerklüftete Öffnung, die weitaus größer war, als es aus der Entfernung, vom Boden aus, den Anschein gehabt hatte. Und je näher er ihr kam, desto übermächtiger wurde das Gefühl, dass dieses Licht mit purer Lebensenergie be-
seelt war. Einen kurzen Moment lang blendete es ihn, als er den Kopf nach draußen (oder war es drinnen?) schob. Dann klärte sich sein Blickfeld. Und Jiim erstarrte.
Tausend Gedanken schossen Cloud durch den Kopf, während er, im geschlossenen Sarkophag sitzend, beobachtete, wie sich die RUBIKON langsam auf den Planetenkoloss hinabsenkte. Das Rochenschiff, so gewaltig seine Ausmaße auch waren, nahm sich in Gegenwart des steinernen Riesen mikroskopisch winzig, zerbrechlich und unbedeutend aus. Hoffentlich begehen wir keinen Fehler. Wer konnte schon sagen, welche immense Macht hinter all dem steckte, welche Ziele sie verfolgte – und welche Mittel sie besaß, einer wenn auch nur vermeintlichen Bedrohung von außen zu begegnen? Die Risiken waren unkalkulierbar. Allzu leicht konnte diese Mission zu einem Himmelfahrtskommando werden. Und doch waren sich alle einig gewesen. Sie hatten abgestimmt, wie immer, wenn es um Maßnahmen ging, die weitreichende Konsequenzen für alle nach sich ziehen konnten. Das Ergebnis war einstimmig ausgefallen. Sie durften keine Zeit verlieren, wollten sie nicht riskieren, Jiim für immer zu verlieren. Ein Außenstehender hätte das Bemühen um einen Einzelnen vielleicht als rührig empfunden, die Wahl der Mittel als unangemessen, angesichts des millionenfachen Leids, in das diese Galaxie gestürzt worden war. Cloud indes glaubte, dass es gerade die schiere Ausweglosigkeit ihrer Lage war, die diese bunt zusammengewürfelte Gruppe noch enger zusammenschweißte. Ihnen das Leben jedes Einzelnen umso wertvoller machte. Wie immer, wenn sich der Sarkophag geschlossen hatte, sah und fühlte John Cloud mit den Sinnen des Schiffs, als dieses die Plane-
tenoberfläche nach einem geeigneten Eintrittspunkt scannte. Dieser durfte nicht zu weit von der Stelle entfernt sein, an der Jiim verschwunden war. Andererseits durfte sie ihr auch nicht zu nahe sein. Schließlich durften sie nicht Gefahr laufen, Jiim durch ein unbedachtes Vorgehen erst recht in die Bredouille zu bringen, ihn zu verletzen oder gar zu töten. Wenn sie es hier tatsächlich mit einer Hohlwelt zu tun hatten, und davon war Cloud mittlerweile überzeugt, dann befand Jiim sich innerhalb der Schale – oder auf ihrer anderen Seite, jedoch vermutlich nicht allzu weit von ihr entfernt. Als die KI die Berechnungen abgeschlossen hatte, markierte sie einen Tausende Kilometer von besagter Stelle entfernten Krater als geeignetsten Eintrittspunkt, erbat sich dann weitere Instruktionen. Am liebsten hätte Cloud den Befehl gegeben, sofort das Feuer zu eröffnen, doch dann entsann er sich der Vereinbarung, die er zuvor mit den anderen getroffen hatte. Und obwohl – oder gerade weil – keiner der Anwesenden seine alleinige Befehlsgewalt in Zweifel gezogen hatte, fühlte er sich daran gebunden. So befahl er der KI, zunächst weiter zu beobachten und bei der geringsten Veränderung Meldung zu erstatten. Gleichzeitig sollte sie in einer Endlosschleife weitere, an die Unbekannten gerichtete Funksprüche abgeben. Cloud glaubte zwar längst nicht mehr daran, aber vielleicht kam ja doch noch ein wie auch immer gearteter Kontakt zustande. Mehr zur Bestätigung für sich selbst, denn als einen an die KI gerichteten Befehl, fügte er hinzu: »Wenn sich innerhalb der nächsten Stunde nichts tut, schlagen wir los …«
Jiim wusste nicht, wohin er seine Blicke zuerst richten sollte. Die Wucht der Eindrücke, die auf einmal auf ihn einstürmten, drohte ihn zu überwältigen. Für einen kurzen Moment kam ihm der beunruhigende Gedanke, dass die Minuten seit seinem Erwachen vielleicht nur Einbildung gewesen waren. Dass er in Wahrheit noch auf dem Grund der Höhle
lag und alles Anschließende nur in seiner Fantasie stattgefunden hatte. Eine Halluzination, hervorgerufen von den Strapazen seiner unfreiwilligen Versetzung auf die andere Seite. Diese Furcht währte nicht lange. Zu real waren die Farben, Gerüche und Geräusche, die ihn umgaben. Entfernt fühlte er sich an Jeltos hydroponischen Garten an Bord der RUBIKON erinnert, der bescheiden begonnen hatte, jedoch im Laufe der Zeit zu beachtlicher Größe angewachsen war. Da waren eigenartige, riesenhafte Gewächse, die sich ins Endlose zu erstrecken schienen. Gewaltige Blätter, dreimal so groß wie er selbst. Riesige Blütenkelche, wie Mäuler exotischer Urzeitkreaturen, und armdicke Schlingpflanzen, die sich bis weit in den Himmel erstreckten. Himmel?, ging es ihm unwillkürlich durch den Kopf. Als er nach oben sah, erblickte er nur jenes Dickicht, das auch jeden Quadratmeter um ihn her bedeckte, so dicht wie eine Wand und ebenso undurchdringlich. Begriffe wie oben oder unten schienen jede Bedeutung verloren zu haben. Dennoch war alles von jener warmen, schwer zu definierenden Helligkeit erfüllt, die ihn zuvor magisch angezogen hatte. Sie schien keinen konkreten Ursprung zu haben. War einfach da, überall, als würde jedes einzelne Luftmolekül aus sich selbst heraus leuchten. Luft …? Erst jetzt wurde ihm jene Unmöglichkeit bewusst, an die er bis zu diesem Moment keinen Gedanken verschwendet hatte – was dank seiner Rüstung auch gar nicht nötig war. Es gab keine atembare Luft. Keinen Sauerstoff. Keine wie auch immer geartete Atmosphäre! Die Informationen, die über sein Nabiss auf ihn übergingen, als er sich diese erbat, waren eindeutig: Auf dieser Seite des Felsenriesens herrschte ein vollkommenes Vakuum. Aber wie war das möglich? Wie konnte eine Vegetation in vollständiger Leere derart gedeihen, ja überhaupt existieren? Das Licht …, gab Jiim sich die Antwort selbst. Offenbar sorgte es nicht nur für Helligkeit und Wärme, sondern versorgte zudem die hiesige Pflanzenwelt mit allem, was sie zum Überleben brauchte.
Jiim befreite sich aus dem Wirrwarr seiner Gedanken, in das er sich vorübergehend verstrickt hatte. Er musste den anderen Bescheid sagen. Sie auf dieses Phänomen, das nur künstlichen Ursprungs sein konnte, aufmerksam machen. Rasch wandte er sich dem Boden zu, suchte den Eingang zur Höhle, durch den er gerade gekommen war. Er war nirgends zu sehen … Unwillkürlich verspürte Jiim ein klammes Gefühl in der Brust. Er musste sich unbewusst von seinem Ausgangspunkt entfernt haben. Das war die einzig mögliche Antwort auf die Frage, warum unter ihm nichts war als nackter Fels. Doch während seine Blicke hektisch umherschweiften, wurde ihm klar, dass er sich nicht von der Stelle bewegt hatte. Ungläubig ließ er sich auf die Knie fallen, um den Untergrund aus nächster Nähe unter die Lupe zu nehmen. Als er sich schließlich eingestehen musste, dass alles Klopfen, Scharren und Kratzen nichts half, dass es keinen Eingang zur Höhle mehr gab, ließ er sich erschöpft auf die Seite sinken. Mutlosigkeit breitete sich in ihm aus wie ein schleichendes Gift. Was, dachte er, wenn es kein Zurück mehr gibt? Wenn mir der Fluchtweg aus dieser bizarren Dschungelwelt für alle Zeiten verwehrt bleibt? Doch dann dachte er an Yael, und dieser Gedanke riss ihn abrupt aus seiner Lethargie. Vielleicht gab es ja doch noch einen anderen Ausgang. Er war hierher gelangt, also musste es auch einen Weg zurück auf die andere Seite geben. Wenn es ihm erst gelang, sich durch das Dickicht zu kämpfen, würde er ihn auch irgendwann finden. Er stemmte sich in die Höhe, sondierte ein weiteres Mal seine Umgebung, entschied sich dann für eine Richtung, die ihm – aus welchem Grund auch immer – gefühlsmäßig richtig erschien. Doch noch bevor er den ersten Schritt tun konnte, geschah es. Ein stechender Schmerz stürmte auf ihn ein, grell und gleißend wie tausend Sonnen. Er währte nicht länger als den Bruchteil einer Sekunde, ebbte dann schlagartig ab. Im selben Moment verlor Jiim das Bewusstsein …
Es wacht auf …! Was ist das für ein Wesen …? Es hat Flügel … und eine … Rüstung …! Es ist kein Vogel … Seine Gehirnströme deuten auf eine höher entwickelte Intelligenz hin … Die Stimmen waren in seinem Kopf. Wie ein Mückenschwarm wirbelten sie in seinen Gedanken umher, sodass es ihm schwerfiel, sie auseinanderzuhalten, geschweige denn in ihren Worten einen Sinn zu erkennen. Nur langsam klärte sich sein Blickfeld, schälten sich schattenhafte Formen aus dem Dickicht aus Schleiern und blitzenden Lichtern, das sein Denken vernebelte. Jiim glaubte, vier Gestalten zu zählen, die sich abwechselnd über ihn beugten, ihn beäugten wie ein seltenes Insekt unter einem Mikroskop. Je mehr Einzelheiten er gewahrte, desto mehr erinnerten sie ihn an Guma Tschonk und seinesgleichen. Von einigen Unterschieden abgesehen. Während das Haupt des Commanders fast gleichmäßig von einer dichten Flaumschicht bedeckt war, waren diese Wesen völlig kahl. Jiim glaubte, eine plötzliche Verwunderung in ihren Gedanken wahrzunehmen. Und kurz darauf folgten die Worte, die dieser Verwunderung Ausdruck verliehen: Es kann uns hören …! Es … Mit einem Mal verstummten die Worte. Es war, als würden sie an einer unvermittelt errichteten Barriere abprallen. Auch wenn es Jiim einerseits Unbehagen bereitete, dass er nun nicht mehr mitbekam, was die anderen über ihn dachten, welche Schlussfolgerungen und welche Pläne sich in ihren kahlen Häuptern zusammenbrauten, so war er andererseits doch erleichtert über die wohltuende Stille, die mit einem Mal Einzug hielt. Und über die Tatsache, dass sein Bewusstsein nur noch von seinen eigenen Gedanken bevölkert wurde.
Plötzlich fragte er sich, wieso er überhaupt in der Lage gewesen war, an den Gedanken der anderen teilzunehmen. Bewusst hatten sie ihm diese Ehre offensichtlich nicht zuteilwerden lassen. Vielleicht, mutmaßte er, lag es am Nabiss. Diese Überlegung erschien keineswegs abwegig. Er wusste ja nicht, wie diese Wesen miteinander kommunizierten. Abgesehen davon, dass es offenkundig auf telepathischen Wegen vonstattenging. Vielleicht hatte die Rüstung als eine Art Receiver fungiert, bestimmte Schwingungen aufgenommen, sie in Worte übersetzt und direkt in seine Gedanken gepflanzt. Für einen kurzen Moment spielte Jiim mit dem Gedanken, sich tot zu stellen, um irgendwann einen unbeobachteten Moment zur Flucht zu nutzen. Er verwarf den Plan jedoch gleich wieder. Selbst wenn ihm dieses Vorhaben gelungen wäre – wohin hätte er flüchten sollen? Siedend heiß fiel ihm ein, dass ihm noch immer der Ausgang versperrt war. Davon abgesehen, schienen ihm diese Wesen nicht feindlich gesinnt zu sein. Das wenige, das er in ihren Gedanken gelesen hatte, legte gar die Vermutung nahe, dass sie ebenso ratlos waren wie er. Vielleicht konnten sie ihm ja dabei helfen, zurück an die Oberfläche zu gelangen. Wenn sie diese sonderbare Welt bevölkerten, mussten sie auch mit ihren Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten vertraut sein. Möglicherweise hatten sie sogar die Vorrichtung, die Jiim ins Innere des Felsenriesens gesaugt hatte, erschaffen. In diesem Fall war es sogar ratsam, sie für sich zu gewinnen. Sie von seinen guten Absichten zu überzeugen, anstatt sie mit einem überhasteten Fluchtversuch glauben zu machen, er habe etwas zu verbergen. So sammelte er all seine Kraft, setzte sich angestrengt auf und begann zu sprechen. »Jiim … Mein Name ist … J…« Es kann sprechen, hörte er einen von ihnen auf mentalem Weg sagen. Wo kommst du her?, richtete ein anderer seine Worte direkt an ihn. »Ich komme von …«, setzte Jiim an, war sich dann aber nicht si-
cher, in welche Richtung er deuten sollte. Wenn er sich tatsächlich auf der Innenseite des Planeten befand, dann lag die Oberfläche des Planeten, durch die dieses Licht ihn gesaugt hatte, nicht über, sondern unter ihm. »… von einer weit entfernten Welt«, beendete er deshalb seinen Satz. »Ich landete auf der Oberfläche dieses Planeten. Dann erschien mir dieses … sonderbare Licht, und als ich wieder erwachte, fand ich mich in eurer Welt wieder.« Die Wesen sahen sich an, tauschten verwunderte, ja, besorgte Blicke. Jiim war davon überzeugt, dass sie sich auf telepathischem Wege austauschten, eine stumme Zwiesprache führten und sich darüber berieten, ob sie seinen Worten Glauben schenken konnten. Während er sie beobachtete, fiel ihm auf, dass sie nur mit schlichten Gewändern bekleidet waren, keine Raumanzüge und erst recht keine Helme trugen. Dennoch schien ihnen das Vakuum genauso wenig anzuhaben wie der sie umgebenden Pflanzenwelt. Plötzlich und fast synchron wandten sich ihre Blicke wieder dem Nargen zu. Etwas darin beunruhigte Jiim. Waren sie zuvor noch von Neugier geprägt gewesen, so spiegelte sich jetzt eine Unruhe darin wider, die Jiim gefährlich werden konnte, wenn es ihm nicht gelang, sie auszuräumen. Du kommst von jenseits des Walls, sagst du?, fragte einer von ihnen. Wer genau, wusste Jiim nicht zu sagen. »Von jenseits des Walls«, bestätigte er, »und von weit darüber hinaus. Von jenseits des Himmels und der Sterne.« Er machte eine ausladende Bewegung, die seine Beobachter unwillkürlich zurückweichen ließ. Erneut sahen sie sich an, wobei ihre Sorge nur noch größer zu werden schien. Habe ich etwas Falsches gesagt?, überlegte Jiim, kurz bevor einer der Kahlköpfigen das Wort erneut an ihn richtete. Du bist ein Gesandter der Stummen Götter? Jiim zögerte. Verunsicherung machte sich in ihm breit. Der »Tonfall«, in dem die Frage gestellt worden war, deutete darauf hin, dass
es eine richtige und eine falsche Antwort darauf gab. Doch welche war die richtige? Egal. Solange er einfach bei der Wahrheit blieb, konnte ihm nicht viel passieren. Oder? »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, entgegnete er deshalb. »Ich kenne keine Stummen Götter, habe nie von ihnen gehört.« Er gab sich Mühe, dabei auch seine Gedanken so weit wie möglich zu öffnen, um seinem Gegenüber die Gelegenheit zu bieten, sich vom Wahrheitsgehalt seiner Aussage zu überzeugen. Es schien zu funktionieren. Die Kahlen tauschten hastige Blicke, nickten sich dabei kaum merklich zu. Du scheinst die Wahrheit zu sagen, meinte der Sprecher schließlich. Und doch musst du ihnen begegnet sein auf deiner Reise hierher. Jiim vollführte eine Geste der Ratlosigkeit und hoffte, dass sein Gegenüber sie auch verstand. Könnte es sein, sagte ein anderer, dass ihre Herrschaft beendet ist? Noch einmal ein anderer nickte. Viel Zeit ist vergangen seit damals. Seit sie Unheil über uns und unsere Vorfahren brachten … Jiim horchte auf. Möglicherweise lag hierin die Erklärung des sonderbaren Phänomens, das zu erkunden er und Jarvis sich aufgemacht hatten. War die Menschheit mit irgendeiner überlegenen Macht konfrontiert worden, nachdem Darnoks Zeitbeschleunigungsfeld jegliche Technik zerstört und sie zurück auf das technologische Niveau des Mittelalters katapultiert hatte? Jiim hatte das Gefühl, dass die Antworten auf die meisten Fragen, die seit ihrer Rückkehr in die Milchstraße aufgeworfen worden waren, nur noch eine Flügelbreite entfernt lagen. »Wer brachte das Unheil über euch?«, fragte er aufgeregt. »Und wer seid ihr überhaupt?« Erneut hielten die Kahlen stumme Zwiesprache. Vermutlich, um dabei auszuloten, was und wie viel davon sie dem geflügelten Wesen preisgeben konnten. Das Ergebnis schien einstimmig auszufallen, denn die Antwort erfolgte relativ schnell:
Wir selbst nennen uns Farmer, erklärte einer von ihnen, der, das fiel Jiim erst jetzt auf, der Größte der Gruppe war. Wir sind die Hüter der fruchtbaren Zone, Auserwählte der Nokturnen und verantwortlich für das Wohlergehens unseres Volkes. Obwohl Jiim so gut wie kein Wort verstanden hatte, nickte er. »Und wer sind diese Stummen Götter, vor denen ihr euch so sehr fürchtet?« Wir selbst kennen sie nur aus den Erzählungen der Ältesten unseres Volkes. Und diese kennen sie ebenfalls allein aus Erzählungen ihrer Vorfahren. Und diese … Schon gut, ich habe es kapiert, ging es Jiim durch den Kopf. Der andere schien es geespert zu haben, denn er verstummte abrupt – was dem Nargen etwas unangenehm war. Schließlich wollte er nicht unhöflich erscheinen. »Und was genau«, fragte er deshalb schnell, »erzählt man sich?« Die Kahlen tauschten sich ein weiteres Mal aus. Dann begannen sie zu erzählen.
4. Kapitel – Götterdämmerung Metrop Washington im Jahre Null Ankunft der Stummen Götter Die Nacht lag wie ein schwarzes Tuch über der Metrop. Branca, die rücklings auf dem Boden kauerte, ließ ihr Geschichtsbuch sinken und schaute durch das Fenster in der Decke ihres Zimmers. Minutenlang verlor sich ihr Blick in der lichtlosen Schwärze des Himmels, während sie über das gerade Gelesene nachdachte. Sie hatte bisher nie einen Gedanken daran verloren, doch mit einem Mal wurde ihr klar, dass sie zweifellos in der besten aller möglichen Welten lebte. In grauer Vorzeit, so hatte sie soeben erfahren, war die Erde dramatisch überbevölkert gewesen. Zu Spitzenzeiten hatten Milliarden von Menschen auf ihr gelebt. Kein Wunder, dass es nicht genug Nahrung für alle gegeben hatte. Dass viele Menschen Hunger hatten leiden müssen. Außerdem hatte es Krankheiten gegeben, gegen die kein Gegenmittel existiert hatte. Tödliche Krankheiten, die sich manchmal rasend schnell ausbreiteten. Ganz davon zu schweigen, dass die Menschen schutzlos dem Willen der Natur ausgeliefert gewesen waren, da Wetter und Jahreszeiten sich ihrem Einfluss entzogen hatten. »Schlafenszeit, Branca.« Die Stimme der KI des Hauses, die weich und klar aus den versteckten Lautsprechern perlte, holte ihre Gedanken zurück in die Gegenwart. Selten war sie darüber so erleichtert gewesen wie jetzt. Sie richtete sich auf, klappte das Buch zu und warf einen strengen
Blick auf den Einband, als wollte sie so die finsteren Erkenntnisse bannen, die zwischen den Deckeln nur darauf lauerten, ihr die kindliche Unbeschwertheit zu rauben und den Weg in ihre Träume zu finden. »Branca. Zeit, zu Bett zu gehen«, ertönte erneut die Stimme des guten Hausgeists, diesmal drängender, ja, barscher. Obwohl Branca wusste, dass diese Modulation in Wahrheit kein Ausdruck wahrer Emotionalität, sondern lediglich das Ergebnis der Programmierung war, hörte es sich so an, als stünde die KI tatsächlich kurz davor, die Geduld zu verlieren. »Ich hab's gehört«, erwiderte Branca mit unverhohlenem Unwillen, den sie sich ihren Eltern gegenüber nicht zu zeigen gewagt hätte. Mit pochendem Herzen zwang sie sich auf die Beine. Schlafen gehen … »Du hast gut reden«, murrte sie vor sich hin, während sie das Buch in den Händen drehte, dann zur Schublade ging und es sicher darin verstaute. Aufgewühlt, wie sie war, würde sie wahrscheinlich kein Auge zutun. Und wenn, würde sie sich schweißgebadet im Bett herumwälzen, während sich kranke und hungernde Menschen auf der Flucht vor Sturmfluten und Gewitterfronten durch ihre Träume schleppten. Widerwillig sank sie auf die federweiche Matratze. Fast im selben Moment begann die KI damit, das Licht zu dimmen. Bis zu dem Moment jedenfalls, in dem Branca laut und vernehmlich »Stopp!« rief. Die KI reagierte augenblicklich. Zaghaft linste Branca über den Rand ihrer Bettdecke und stellte fest, dass ihr das Dämmerlicht fast noch mehr Unbehagen bereitete, als die vollständige Dunkelheit es vermocht hätte. Das lag wohl an den Schattennestern, die sich um sie her ausgebreitet hatten wie amöbenartige Wesen, die langsam, aber unaufhörlich auf sie zugekrochen kamen. Noch vor Stunden hatte Branca darauf bestanden, dass ihre Eltern, die beide als wissenschaftliche Mitarbeiter bei dem Konzern arbeite-
ten, der auch dieses Haus entwickelt hatte, sie für die Dauer ihres zweitägigen Kongresses getrost allein lassen konnten. Doch in diesem Moment wünschte sie sich nichts mehr, als dass ihre Mutter noch einen letzten Blick in ihr Zimmer geworfen hätte, um ihr einen Gutenachtkuss auf die Stirn zu drücken. Ob sie versuchen sollte, sie über COM zu erreichen? Unsinn!, schalt sie sich in Gedanken selbst. Diese Blöße konnte sie sich unmöglich geben, nachdem sie seit Monaten darauf bestand, nicht mehr wie ein kleines Kind behandelt zu werden. »Etwas heller!«, bat sie die KI mit belegter Stimme. Sie wusste selbst nicht, warum sie die Bitte so zaghaft äußerte. Ihr Ansprechpartner war nur eine verfluchte Software. Unfähig, ihr Verhalten zu beurteilen, geschweige denn, sich darüber zu mokieren. Die Instanz gehorchte. Das Licht wurde heller, die Schatten zogen sich zurück, schmolzen zusammen wie Eisstücke in der Sonne. Augenblicklich verlangsamte sich Brancas Herzschlag. »Genug!«, sagte sie, nachdem die ursprünglichen Lichtverhältnisse fast vollständig wiederhergestellt waren. Die KI reagierte nicht. Langsam, aber doch merklich nahm die Helligkeit weiter zu. »Stopp! Es ist hell genug!«, versuchte Branca es ein weiteres Mal. Eine Reaktion auf ihre Bitte blieb aus. Stattdessen beschleunigte sich die Helligkeitszunahme sogar noch. Das Licht wurde in rasender Geschwindigkeit immer greller, bis Branca die Hände vor ihre Augen reißen und sich unter die Bettdecke flüchten musste, aus Angst, sie müsste erblinden, wenn sie ihre Netzhäute diesem Licht auch nur eine Sekunde schutzlos aussetzte. Sekunden später tat es einen donnernden Schlag, wie von einer kleinen Explosion. Zaghaft öffnete Branca die Augen unter der Decke. Obwohl noch immer Sterne vor ihren Augen tanzten, stellte sie fest, dass um sie her stockdunkle Finsternis herrschte. Noch während sie sich fragte, ob sie die Augen doch nicht schnell genug geschlossen hatte und wirklich erblindet war, bemerkte sie einen beißenden Geruch, wie
wenn Metall und Plastik in großer Hitze verschmorten und schmolzen. Alarmiert riss sie die Bettdecke vom Gesicht und sah sich um. Tatsächlich war es stockfinster im Raum. Und spätestens jetzt wusste sie, dass irgendetwas grandios schief gelaufen sein musste. Mit belegter Stimme versuchte sie, Kontakt zur KI aufzunehmen, doch die künstliche Intelligenz blieb stumm, als wollte sie ihre vorherige Aufmüpfigkeit mit Verachtung strafen. Brancas Herzschlag beschleunigte sich. Etwas in ihr weigerte sich, an einen normalen technischen Defekt zu glauben. Hektisch wälzte sie sich aus dem Bett, riss dabei die Decke mit sich, die sich um ihre Beine schlang und sie zu Fall brachte. Rücklings schlug sie auf dem Boden auf, wollte sich trotz des Schmerzes, der sie heiß durchzuckte, schon im nächsten Moment wieder auf die Beine stemmen, hielt dann jedoch mit angehaltenem Atem inne … Dumpf drang das Geräusch durch die schallisolierten Wände ihres Zimmers und ließ nur erahnen, wie laut es in Wirklichkeit sein musste. Ein donnernder Schlag, wie von einer gewaltigen Explosion. Und dann noch einer … Zaghaft fiel Brancas Blick auf das schräge Deckenfenster, durch das sie noch vor wenigen Minuten den nächtlichen Himmel bestaunt hatte. Die Dunkelheit war einem feurigen Widerschein gewichen, der sich wie eine unheimliche Glocke über die Stadt gelegt hatte. Wieder gab es eine gewaltige Explosion. Sie musste in unmittelbarer Nähe stattgefunden haben. Branca konnte die Erschütterung deutlich unter sich spüren. Und dann sah sie ihn: einen gewaltigen Feuerball, der in großer Höhe unmittelbar über ihrem Fenster explodierte. Und dann noch einen, nicht weit vom ersten entfernt. Brancas Mund stand offen, während sie beobachtete, wie die Feuerblumen in sich zusammenfielen. In der Ferne waren weitere Detonationen zu vernehmen. Obwohl
das Mädchen sie nur wie durch einen Schleier wahrnahm, der ihre Sinne vernebelte, vertrieben sie die Lethargie, die sie sekundenlang an den Fleck gebannt hatte. Schwer atmend zwang sie sich auf die Beine und wandte sich dem Türschott zu. Der rötlich flackernde Schein, der durch das Deckenfenster drang und der in diesen Momenten die einzige Lichtquelle darstellte, schuf eine eigenartige Atmosphäre. Brancas Blick fiel auf das Türschott am anderen Ende des Zimmers. Was auch immer zu einem Versagen der Lichtsteuerung geführt hatte, schien das gesamte System infiziert zu haben. Das Schott glitt in einem fort vor und zurück, stand offen, schloss sich kurz darauf wieder … Branca näherte sich ihm mit allem gebotenen Respekt und blieb kurz davor stehen, obwohl es sie drängte, dieses Zimmer, das ganze Haus so schnell wie möglich zu verlassen. Unter »normalen Umständen« hätte ein knapper, verbaler Befehl genügt, um den Öffnungsmechanismus zu kontrollieren. Auch wenn Branca nicht einmal ansatzweise ahnen konnte, was um sie her passierte, so spürte sie doch, dass die Umstände, in denen sie sich befand, alles andere als normal waren. Es half alles nichts. Sie musste den Moment nutzen, der ihr blieb, während das Schott offen stand. Und sie musste schnell sein, wollte sie nicht zwischen ihm und dem Türrahmen zermalmt werden. Mit angehaltenem Atem wartete sie, bis das Schott ein weiteres Mal zurückwich, dann stürmte sie vor, hechtete durch die Tür. Sie glaubte, bereits den Luftzug der wieder heranrasenden Tür zu spüren, doch dies, davon war sie schon im nächsten Moment überzeugt, musste pure Einbildung gewesen sein. Sie hatte sich bereits einige Schritte von der Tür entfernt, als sie über ihre Schulter blickte und sah, wie das Schott auf den Türrahmen zuraste. Oder tat es das schon zum zweiten Mal? War sie knapper dem Tod oder einer schlimmen Verletzung entronnen, als sie es in diesem Moment ahnte?
Plötzlich wurde das Haus von einer weiteren, diesmal wesentlich heftigeren Erschütterung erfasst. Und dann ging alles ganz schnell. Irgendetwas brach dicht neben ihr durch die Decke. Funken sprühten, Qualm breitete sich aus und raubte ihr die Luft zum Atmen. Branca schrie auf, drehte sich um und begann zu laufen. Immer nur nach vorne, den Flur entlang, der ihr in der bizarren Beleuchtung vorkam wie der Schlund einer gewaltigen Kreatur. Fast wie in Trance nahm sie die Stufen, die ins Erdgeschoss führten. Wie sie den Ausgang fand, konnte sie im Nachhinein gar nicht sicher sagen. Alles, was sie wusste, war, dass sie irgendwann auf der Straße vor dem elterlichen Grundstücks zu sich kam. Aus dem Haus loderten Flammen, und ringsum tobte ein mörderisches Inferno. Rauch und der giftige Gestank brennender Materialen, lag in der Luft. Und noch immer kam es in regelmäßigen Abständen zu Explosionen. Nicht weit entfernt, im Garten eines der Nachbargrundstücke, entdeckte Branca das lichterloh brennende Wrack eines abgestürzten Transportgleiters. Menschen stürmten schreiend die Straße entlang. Einer – Branca erkannte ihn als einen Nachbarn, der ein Stück weit die Straße hinunter wohnte – kam direkt auf sie zu. Branca sah, dass er stark blutete. Irgendetwas musste ihn am Kopf getroffen haben. Ein zähes, rotes Rinnsal floss über seine Schläfe und verteilte sich auf seinem Gesicht wie die Kriegsbemalung einer primitiven, fremdartigen Kultur. Branca wich erschrocken vor ihm zurück, doch er streckte die Hand nach ihr aus, versuchte sie mit sich zu zerren. Ihr Mund öffnete sich, doch heraus kamen keine Worte, sondern krächzende Laute. »Du kannst hier nicht bleiben!«, beharrte der Mann, dessen Namen sie vergessen hatte, obwohl er mehr als nur einmal an ihrem Gartenzaun innegehalten hatte, um mit ihrem Vater ein kurzes Schwätzchen zu halten. »Wir müssen irgendwohin, wo es sicher ist. Am besten in einen der Bunker. Wir …«
Urplötzlich hielt der Mann inne, als er die Veränderung um sich her bemerkte. Von einem Moment auf den anderen war es so leise geworden wie seit Stunden nicht mehr. Menschen, die eben noch schreiend durcheinandergerannt waren, blieben stehen, wie von einer unsichtbaren Macht in der Bewegung einzementiert. Sie hatten die Köpfe in den Nacken gelegt, starrten gebannt gen Himmel wie Besucher einer altertümlichen Kathedrale, die ein an die Decke gemaltes Fresko bewunderten. Dieser Eindruck war gar nicht einmal so falsch, wie Branca bemerkte, als sie der Blickrichtung Hunderter Augenpaare folgte und jenen Anblick gewahrte, der sich für den Rest ihres Lebens tief in ihr Gedächtnis einprägte. Und der alle folgenden Generationen nachhaltig beeinflussen würde.
Jiim öffnete übergangslos die Augen. Ihm war, als hätte man ihn mit einem Fingerschnippen aus tiefer Hypnose geweckt. Es gab keine Übergangsphase, keine Benommenheit. Er wusste sofort, wo er war. Wusste sofort, wer sie waren. »Was ist mit Branca passiert?«, fragte er die Umstehenden, die noch immer auf ihn herabblickten wie Fischer auf einen üppigen Fang. Es dauerte nur Sekunden, dann konnte er sich die Antwort selbst geben. Er glaubte, sie klar und deutlich in den sezierenden Blicken der anderen zu lesen. »Gab es nie eine Branca?« Er spürte einen Hauch von Enttäuschung, während er diese Worte sprach. In den vergangenen Minuten hatte er sich so stark mit dem Erdenkind identifiziert, mit ihm gelitten, gebangt und gehofft. Zu seiner Überraschung ließ der Widerspruch nicht lange auf sich warten: Doch, es gab sie. Es gab viele Brancas. Multipliziere ihr Schicksal millionenfach, und du hast einen ungefähren Eindruck von dem Leid, das an jenem Tag über unsere Vorfahren hereinbrach.
Jiim verstand. Bei der Katastrophe, die die Kahlköpfigen ihm gezeigt hatten, handelte es sich zweifellos um die Auswirkung von Darnoks teuflischem Racheplan. Demnach, dessen war sich der Narge jetzt ganz sicher, war er tatsächlich auf (oder in?) der Erde gestrandet. Und bei den Kahlköpfigen handelte es sich um die Nachfahren der Menschen von damals. Doch das erklärte noch nicht das Erscheinungsbild, das der ehemals blaue Planet heute abgab – beziehungsweise, was es mit dem gewaltigen Felsriesen auf sich hatte, der an seine Stelle gerückt war. Was war geschehen, nachdem die Katastrophe die Menschheit in die Knie gezwungen hatte? Welche Veränderungen waren in der Folge vonstattengegangen? Die Stummen Götter … Jiim fiel ein, dass die wichtigste aller Fragen ungeklärt geblieben war. »Was haben eure Vorfahren am nächtlichen Himmel gesehen?«, erkundigte der Narge sich mit nahezu kindlicher Neugier. Die Kahlköpfigen tauschten hastige Blicke. Erst dachte Jiim, dass sie in stummer Zwiesprache über seine Frage berieten. Dass er vielleicht etwas Falsches gesagt hatte. Doch dann wurde ihm klar, dass ihr Verhalten eine gänzlich andere Ursache haben musste. Sie schienen einen Gedankenimpuls von außerhalb ihrer Gruppe empfangen zu haben. Schließlich beugte sich einer der Kahlköpfigen zu ihm hinab, sah ihm dabei tief in die Augen. Für den Moment müssen wir dich dir selbst überlassen. Weitreichende Veränderungen werfen ihre Schatten voraus. Das Gefüge gerät in Aufruhr … Jiim wollte noch eine Frage stellen, doch da sackte sein Bewusstsein erneut ab. In einen tiefen, traumreichen Schlaf.
Metrop Washington 14 Stunden danach
Das Chaos war noch immer allgegenwärtig. Wie eine Woge waren Tod und Verderben in nur einer einzigen Nacht über die Metrop hereingebrochen. Überall, an den unzähligen Absturzstellen der Gleiter, die zum Zeitpunkt der Katastrophe in der Luft gewesen waren, loderten Brände. Noch tagelang würde der Himmel über der Stadt von dichtem schwarzem Rauch bedeckt sein. Noch immer irrten Menschen ziellos umher, über die Toten und Verletzten hinweg, die den Boden übersäten. Von Panik erfüllte Schreie – die aufgeregten Stimmen der Einwohner – waren die einzigen Geräusche, die noch in der Luft lagen. Ansonsten war alles still. Totenstill. Mittlerweile stand fest, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt in jener Nacht jedwede auf Stromquellen basierende Technik mit einem Schlag ausgefallen war. Für die Menschen der Metrop, deren Alltag zu einem Großteil auf Technik basierte, war dies der größte anzunehmende Unfall, mit dessen Eintreten wohl nicht einmal die größten Pessimisten unter ihnen jemals gerechnet hatten. Und doch war es mehr als nur ein technisches Problem. Branca wusste das seit jenem Moment, als sie die funkelnden Lichter am Himmel erblickt hatte. Ihr Erscheinen musste eine tiefer gehende Bedeutung haben. Die Welt war dabei, aus den Fugen zu geraten. Und sie, Branca, befand sich genau auf einer dieser Fugen. Dass sie noch lebte, empfand sie als Wunder. Ihren Nachbarn, der sie in der Nacht angesprochen hatte, hatte sie später im allgemeinen Chaos aus den Augen verloren. Seitdem hatte sie mehr als nur einen Passanten angesprochen, ihn um Hilfe ersucht. Die meisten ignorierten sie schlichtweg. Andere rieten ihr, sich in eine der Notunterkünfte zu begeben, die provisorisch eingerichtet worden waren. Eigentlich widerstrebte es Branca, sich zu weit von ihrem elterlichen Haus, das mittlerweile wie so viele andere bis auf die Grundmauern niedergebrannt war, zu entfernen. Sie war sich sicher, dass ihre Eltern auf dem Weg hierher waren, um sie zu suchen. Sie muss-
te bleiben, musste auf sie warten. Doch sie kamen nicht. Nicht in der ersten Nacht. Und auch nicht am darauffolgenden Tag. Das Kongresszentrum, in dem sie sich zum Zeitpunkt der Katastrophe aufgehalten hatten, stand nicht mehr, wie sie später erfuhr. Es war in einem riesigen Feuerball explodiert. Eine Träne rann über Brancas Wange, als sie sich die Bedeutung dieser Nachricht vergegenwärtigte. Sie wischte sie beiseite. Vielleicht lag es am Schock, dass sich das Maß ihrer Betroffenheit zumindest nach außen hin in deutlichen Grenzen hielt. Vielleicht auch daran, dass ihr Unterbewusstsein das tausendfache Leid um sie her in Relation setzte zu ihrem eigenen. Und dass es dabei einsehen musste, dass es ihr noch vergleichsweise gut ging. In nur wenigen Stunden hatte sie schreckliche Dinge gesehen. Menschen, die blutend am Straßenrand gelegen, die stundenlang gelitten hatten, ohne letzten Endes das Glück zu haben, den Sonnenaufgang zu erleben. Irgendwann, nachdem Branca eingesehen hatte, dass sie nicht bis in alle Ewigkeit in der Nähe der Ruine ihres Elternhauses ausharren konnte, hatte auch sie sich langsam auf den Weg zur nächstgelegenen Notunterkunft gemacht. Mit starrem Blick, wie in Trance, und immer ein Bein vor das andere setzend, bis sie nach einem langen Marsch endlich am Ziel war. Dort angekommen, hätte sie am liebsten auf der Stelle kehrtgemacht. Die Unterkunft war heillos überfüllt, und die wenigen Helfer kamen nicht einmal mit der Versorgung der Schwerstverletzten nach. Alle anderen drückten sich bibbernd und mit leeren, nach innen gekehrten Blicken aneinander. Zu essen gab es ebenfalls nicht genug für alle. Branca hatte Glück und bekam eine Scheibe Brot, die sie sich mit einer jungen Frau teilte, die hochschwanger war. Mehr als einmal fragte sie sich, wo die Master geblieben waren und warum sie nichts taten, um die Not zu lindern.
Oder hatte sie das Schicksal am Ende genauso hart getroffen wie ihre Untertanen? Waren sie überhaupt noch am Leben? Lange hielt Branca es nicht in der Unterkunft aus. Genau eine Nacht, um genau zu sein. Nach einem unruhigen, immer wieder vom Wimmern und den Schreien der anderen unterbrochenen und von ihren eigenen schlimmen Träumen bevölkerten Schlaf stand sie auf, sobald die ersten Sonnenstrahlen den Weg durch die matten Scheiben fanden. Bei Licht betrachtet, war das Elend noch viel schwerer zu ertragen. Deshalb warf sie auch keinen Blick zurück, als sie durch die Tür einem neuen Tag entgegentrat. Ihr einziger Trost bestand darin, dass von nun an alles eigentlich nur noch besser werden konnte.
Wie selbstverständlich hatten sie sich nach Ablauf der Stundenfrist wieder in der Zentrale des Rochenraumers eingefunden. Jarvis, Aylea, Jelto, Cy und Algorian. Sie hatten einen Halbkreis um ihren Commander gebildet, sahen ihn stumm und erwartungsvoll an. John Cloud wiederum sah in Gesichter, die von äußerster Anspannung und Unsicherheit gezeichnet waren. Aber auch von der Sorge um ihren Kameraden. Ein Widerstreit, der auch in Johns Brust tobte. Doch weil er wusste, dass seine Crew in Momenten wie diesen auf ihn als moralische Stütze angewiesen war, bemühte er sich, nichts von dem Zweifel, der in ihm nagte, nach außen dringen zu lassen. »Die Frist ist verstrichen«, verkündete er in die Stille hinein, als wäre dies nicht bereits jedem von ihnen klar. »Wir gehen vor, wie wir es besprochen haben. Wenn einer von euch einen Einwand hat, sollte er nicht zögern, diesen zu äußern.« Die Crewmitglieder sahen sich an, doch keiner gab eine Antwort. Lediglich Jarvis ließ ein leichtes Räuspern vernehmen, das John nicht richtig einzuschätzen vermochte. »Jarvis?«, sprach er den Freund an, doch dieser schüttelte nur den Kopf. Cloud nickte.
Fast schon beiläufig gab er der KI den Befehl, die besprochenen Schritte in die Wege zu leiten.
Er beobachtete es aus dem Innern des geschlossenen Sarkophags heraus. So kam es ihm zumindest vor, auch wenn beobachten ein zu schwaches Wort war angesichts der Tatsache, dass er in solchen Momenten eins mit dem Schiff wurde, mit ihm verschmolz und alles um sich her mit dessen Sinnen wahrnahm. Und doch fühlte er sich in diesen Minuten in die Rolle des Beobachters zurückgedrängt. Alles, was es jetzt noch zu tun gab, leitete die KI von sich aus in die Wege. Freilich nach einem zuvor erteilten Befehl und einem in Gemeinschaft mit der KI entworfenen Plan, dessen Ausführung jederzeit gestoppt werden konnte, sollte Cloud auf einmal das Gefühl bekommen, einen Fehler begangen zu haben. Doch bisher lief alles nach Plan. Unnachgiebig nahm der Rochenraumer den zuvor als am geeignetsten ausgemachten Punkt ins Visier. Dann eröffnete er das Feuer. Mit der Wucht kleiner Atomexplosionen hämmerten die Strahlengeschosse auf die Planetenoberfläche ein, sprengten so den Fels beiseite. Wolken aus pulverisiertem Gestein stoben in die Höhe und verwehrten den Beobachtern eine ganze Weile die Sicht. Es war eine drastische Maßnahme, dessen war Cloud sich bewusst. Allerdings war es auch eine drastische Situation. Solange sie nicht sicher wussten, womit sie es hier zu tun hatten, durften sie kein weiteres Risiko eingehen. Schon die bemannte Mission zur Planetenoberfläche war leichtsinnig gewesen, auch wenn Jarvis und Jiim dank ihrer Konstitution und ihrer speziellen Ausrüstung weniger gefahrenanfällig waren als der Rest der Besatzung. Dass es jedoch keine hundertprozentige Sicherheit gab, hatten sie wieder einmal schmerzlich erfahren müssen. Cloud dachte an Jiim, an die vielen Abenteuer, die sie gemeinsam überstanden hatten. Und er dachte an Yael, den geflügelten Winz-
ling, der im Pseudo-Schrund auf die Rückkehr seines Elters wartete, nicht um die Gefahren wissend, die außerhalb seiner künstlich geschaffenen Umgebung lauerten. Gedanken, die Clouds Entschlossenheit neue Nahrung gegeben hatten. Ihm die Gewissheit schenkten, das Richtige getan zu haben. Doch da war noch ein anderer Gedanke. Einer, den Cloud von Anfang an in mentale Ketten gelegt und in den hintersten Winkeln seines Bewusstseins sicher verstaut hatte. Der Gedanke, dass ohnehin alles keine Rolle mehr spielte. Dass sie ihre Heimat ein für alle Mal verloren hatten, die Menschheit ausgestorben war und sie die letzten Überlebenden in einer durch und durch lebensfeindlichen Welt waren. Ein Gedanke, der ihm den Tod als eine Erlösung erscheinen, ihn sich sogar herbeisehnen ließ. Noch konnte John ihm Einhalt gebieten, aber er wusste nicht, wie viele Rückschläge er noch verkraften würde. Es dauerte eine Weile, bis sich der Staub verzogen hatte, doch als es so weit war, offenbarte sich ihnen ein Kraterloch von solch gewaltigen Ausmaßen, dass es in seiner Gesamtheit kaum zu überblicken war. Phase 1 der Aktion war damit abgeschlossen. Phase 2 musste durch einen weiteren Befehl des Kommandanten eingeleitet werden. Cloud zögerte keine Sekunde, ihn zu erteilen. Von nun an musste alles schnell gehen, wenn sie das Überraschungsmoment weiter ausnutzen wollten. Sie hatten ohnehin schon zu viel Zeit verloren. Wer konnte schon sagen, welche Gegenmaßnahmen die andere Seite bereits eingeleitet hatte? Und so gab John Cloud der RUBIKON den Befehl zum Einflug in den soeben erschaffenen Krater. Und in ein ungewisses Schicksal.
5. Kapitel – Freund oder Feind Unweit der ehemaligen Metrop Washington, im Jahr 22 ZSG (Zeitalter der Stummen Götter) Wie fast jeden Abend lag sie auch heute wieder wach und starrte stumm gen Himmel. Dabei dachte sie zurück an die Nacht vor 22 Jahren, in der sie ihre Eltern verloren hatte. In der fast jeder irgendeinen geliebten Menschen verloren hat, also hör auf zu flennen! Branca erschrak vor der eigenen inneren Stimme, so wie sie in letzter Zeit immer häufiger vor sich selbst erschrak. Die langen, entbehrungsreichen Jahre hatten sie hart werden lassen. Hart sowohl gegen sich als auch gegen andere. Es war eine Zeit, in der die lange gegoltene Grundordnung eines gemeinschaftlichen Miteinanders dem Recht des Stärkeren gewichen war. Auch Jahre unmittelbar nach der großen Katastrophe waren geprägt gewesen von Tod und Zerstörung. Die Ereignisse jener Nacht hatten sich als weitreichender herausgestellt, als sie es damals hatte ahnen können. Obgleich die Katastrophe an sich schon verheerender als alles gewesen war, was Branca sich bis dahin hatte ausmalen können, war das Schlimmste erst in den Tagen, Wochen und Monaten danach über die Überlebenden hereingebrochen. Das Versagen jeglicher höherdimensionaler Technik von einer Sekunde zur anderen hatte die Welt ins Chaos gestürzt. In der ersten Zeit hatten sich die besten und klügsten Wissenschaftler (zumindest jene, die das Unglück überlebt hatten) darangemacht, eine Lösung für das Problem zu finden. Viele gingen damals von einer zeitlich begrenzten Störung aus, die beseitigt werden konnte, sobald das Problem lokalisiert war.
Das zumindest hatte Neeto ihr erzählt. Der heute fast 60-jährige Kernphysiker war Mitglied einer jener Task Forces gewesen, die sich um eine rasche Lösung bemüht hatten. Menschen, die dazu etwas beitragen konnten, gab es mehr als genug. Schließlich war die Menschheit vor der Katastrophe am Höhepunkt ihrer evolutionären Entwicklung angekommen. Nie zuvor hatte es eine solche Dichte an Wissenschaftlern und Hochbegabten gegeben. Doch die Mittel, die ihnen jetzt zur Verfügung standen, waren begrenzt. Im wahrsten Sinne des Wortes vorsintflutlich. Wahrscheinlich war das der Grund, dass es bisher zu keinen nennenswerten Ergebnissen gekommen war. Zumindest soweit Branca bisher wusste. Wahrscheinlich hatten sich Leute wie Neeto und seine Mitstreiter überall auf der Welt in ähnlichen Gruppen zusammengefunden. Zumindest glaubte Branca das. Auch wenn es bis heute schwer zu sagen war, was in anderen Teilen der Welt wirklich geschehen war und ob es vielleicht sogar Regionen gab, die von dem Phänomen verschont geblieben waren. Nur mühsam waren in den vergangen Jahren erste Kontakte zu weiter entfernten Städten des nordamerikanischen Kontinents zustande gekommen. Was jenseits des Atlantiks vonstattenging, vermochte keiner zu sagen. Nicht einmal Neeto, der sonst fast alles wusste. In den letzten Jahren hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Katastrophe tatsächlich weitreichender war, als zunächst angenommen. Lange Zeit davor war nicht nur Branca davon überzeugt gewesen, es mit einem regional begrenzten Phänomen zu tun zu haben, das lediglich die Metrop Washington, vielleicht noch einige ihrer Außenbezirke, betraf. Irgendwann, sagten sie sich in der ersten Zeit nach der Katastrophe, würden die ersten Hilfstrupps aus den anderen Metrops eintreffen, um sich der Überlebenden anzunehmen. Doch es war niemals Hilfe gekommen. Nicht im ersten, nicht im
zweiten und auch nicht im zwanzigsten Jahr danach. Und was noch erstaunlicher war: Von den Mastern, deren Macht ihnen einst so groß, fast unendlich, erschienen war, fehlte jede Spur. Es schien, als sei diese Macht in nur einer Nacht vollständig gebrochen worden. Branca setzte sich auf. Neeto lag neben ihr, zusammengerollt, halb auf dem Bauch, halb auf seiner rechten Schulter. Verwegen sah er aus in seiner einfachen Fellkleidung und dem ledernen Wams, den er sich um den Bauch gebunden hatte und den er auch zum Schlafen niemals abnahm. So gar nicht mehr wie der angesehene, seriöse Wissenschaftler, der er in seinem früheren Leben gewesen war. Als Branca zu ihm hinübersah, erkannte sie, dass seine Hand auf dem Griff des selbst angefertigten Langdolchs lag, der ihm wie immer selbst im Schlaf zum Schutz diente. Man musste auf der Hut sein. Vor allem, wenn man wie sie auf Wanderschaft in unbekannten Gebieten war. Branca hatte Neeto kennengelernt, als er und zwei seiner Mitstreiter Zuflucht auf der Farm gefunden hatten, auf der Branca zusammen mit anderen Überlebenden die ersten Jahre nach der Katastrophe verbracht hatte. Branca war es nicht leichtgefallen, die Farm vor den Toren der Metrop zu verlassen. Aus dem knappen Dutzend Menschen unterschiedlichsten Alters und unterschiedlichster Herkunft war im Laufe der Jahre eine eingeschworene Schicksalsgemeinschaft herangereift. Gemeinsam hatten sie gelernt, den Boden zu bestellen und Vieh zu züchten, so wie es für ihre Vorfahren einst selbstverständlich gewesen war. Für Branca waren die Farmbewohner zu einer zweiten Familie geworden, auch wenn sie freilich ihre Eltern nie würden ersetzen können, wie ihr in den langen Nächten, in denen sie sich in den Schlaf geweint hatte, immer wieder bewusst geworden war. Und so war die Zeit vergangen. Wochen waren zu Jahren geworden, Jahre zu fast zwei Jahrzehnten. Menschen waren gestorben, an-
dere geboren worden. Mit Grausen erinnerte sich Branca an die mysteriöse Seuche zurück, die mehrere ihrer Mitbewohner heimgesucht hatte. Es lag eine ganze Weile zurück, musste relativ kurz nach ihrem Einzug gewesen sein. Keiner wusste, worum es sich bei dieser Krankheit handelte und woher sie kam. Krankheiten und Seuchen hatte es in der Zeit vor der großen Katastrophe kaum gegeben. Und wenn, waren sie meist unkompliziert verlaufen und problemlos heilbar gewesen. Nicht so in diesem Fall. Die Betroffenen waren von heftigen Schüttelanfällen heimgesucht worden, begleitet von Erbrechen und blutigem Ausfluss. Nachdem sich die Seuche trotz Isolation weiter ausgebreitet hatte, hatten sich die Bewohner beraten und waren in einer geheimen Abstimmung zu der Übereinkunft gekommen, dass es für alle das Beste war, wenn die bereits Erkrankten der Farm verwiesen wurden. Interessanterweise war der Beschluss mit zwei Gegenstimmen weniger, als es Erkrankte gegeben hatte, angenommen worden. Dennoch war es ein furchtbarer Moment gewesen. Wahrscheinlich der erste, in dem Branca klar geworden war, wie sehr sich ihre Welt tatsächlich verändert hatte. Beachtlich war jedoch auch die Erkenntnis, wie rasch eine gänzlich neue Situation zur Selbstverständlichkeit werden konnte, wenn man sich erst einmal mit ihr arrangierte. Vielleicht war es Brancas damals noch geringem Alter zu verdanken, das ihre Adaption an die veränderten Verhältnisse begünstigt hatte. Fest stand, dass es ihr bis zu ihrem Eintritt in die Pubertät so vorkam, als hätte sie nie ein anderes Leben geführt. Weitere Jahre zogen ins Land, geprägt von immer häufiger werdenden Angriffen marodierender Banden. Bösartige, wenn auch hochintelligente Zeitgenossen, die ihr Schicksal auf ihre ganz eigene Art in die Hand nahmen und dabei in die Barbarei abgedriftet waren. Plündernd und brandschatzend streiften sie durch die Trümmer der Zivilisation und machten dabei auch vor Frauen und Kindern nicht halt.
Auch das war eine relativ neue Situation gewesen, mit der sich die Schicksalsgemeinschaft der Farmbewohner erst einmal hatte arrangieren müssen. Verbrechen hatte es vor der Katastrophe so gut wie keine gegeben. Weshalb auch? Jeder hatte genug von allem gehabt. Niemand hatte sich in der Situation befunden, einem anderen etwas gewaltsam wegnehmen zu müssen. Umso erschreckender war diese rohe, archaische Form der Gewalt, die sich auszubreiten schien wie ein Virus. Bald war jedem klar, dass sich die Jahre relativer Sicherheit dem Ende zuneigten und es vonnöten wurde, gewisse Vorkehrungen zu treffen. In der ersten Zeit hatten sich die Banditen noch damit zufriedengegeben, sich das, was sie wollten, zu nehmen und wieder von dannen zu ziehen. Lange hätte es jedoch nicht mehr gedauert, bis den Farmbewohnern Schlimmeres widerfahren wäre. Darauf hatte man auf jeden Fall vorbereitet sein wollen. Waffen wurden geschmiedet. Genug, um keinen von ihnen schutzlos zurückzulassen. Wer die Farm verließ, und sei es nur für einen kurzen Abstecher aufs Feld oder in den nahe gelegenen Wald, hatte fortan die Pflicht, für seine eigene Verteidigung vorzusorgen. Tatsächlich wurden die Angriffe daraufhin weniger. Offenbar hatte es in gewissen Kreisen die Runde gemacht, dass die Bewohner der kleinen Farm nicht mehr so schutzlos waren, wie der äußere Schein es vermuten ließ. Und dann waren Neeto und seine Mannen erschienen. Branca erinnerte sich noch genau an jenen Tag. Sie war allein unterwegs gewesen, hatte die nahe gelegenen Wälder durchstreift, wie sie es früher schon häufig getan hatte. Sie brauchte diese Momente der Einsamkeit, in denen sie über ihr Leben, die Vergangenheit und die Zukunft nachdenken konnte. Sie hatte das Leben auf der Farm geliebt, doch zuweilen hatte sie sich dort auch wie eingesperrt gefühlt. So zog es sie fast täglich auf »ihre« Lichtung, eine Anhöhe jenseits eines kleinen Wäldchens, von wo aus man auf einen Fluss hinabbli-
cken konnte, der sich mäandernd durch das kleine Tal schlängelte, bis weit über den Horizont hinaus. Oft hatte sie sich vorgestellt, wie es wohl wäre, sich einfach an einen vorbeitreibenden Baumstamm zu klammern, sich mitreißen zu lassen und abzuwarten, wohin die Gewässer sie treiben würden. Auch an dem Tag, an dem sie Neeto kennenlernte, saß sie auf ihrer Lichtung. Josh, einer der Farmbewohner, der, wie Branca wusste, ein Auge auf sie geworfen hatte, hatte ihr davon abgeraten, die Farm an diesem Tag zu verlassen. Ceyla, eine Frau, die erst kürzlich zu ihnen gestoßen war, wollte am Abend davor mehrere abgerissene Gestalten am Waldrand gesehen haben. Zu dieser Zeit hatte es kaum noch Übergriffe durch Banditen gegeben, deshalb hatte Branca sich relativ sicher gefühlt. Außerdem war sie nicht schutzlos gewesen. Der lange, schwertartige Dolch, der in ihrem Gürtel aus Hanffaser steckte, bot ihr zumindest ansatzweise ein Gefühl von Sicherheit. Auch wenn sie wusste, dass sie gegen eine Bande mehrerer wilder Kerle damit kaum etwas würde ausrichten können. Dennoch musste sie raus, musste die Farm für ein paar Stunden hinter sich lassen, weil ihr sonst die Decke auf den Kopf gefallen wäre. Seit Tagen hatte sie das Haus nicht verlassen. Schwere Regenfälle waren auf die Region niedergeprasselt, hatten dabei große Teile der Ernte zerstört. Wie viel genau, würde sich in den nächsten Tagen herausstellen, doch schon jetzt sah es so aus, als würden sie den Gürtel in der nächsten Zeit enger schnallen müssen. Entsprechend dick war die Luft in der Gemeinschaft. Und so hatte sie im noch feuchten Gras ihrer Lichtung gesessen, hatte ihren Gedanken nachgehangen … als sie plötzlich ein Geräusch hinter sich vernahm. Es war nur ein leises Knacken, wie von einem Ast, auf den jemand versehentlich getreten war. Doch in der Stille, die ihr nach dem Regen intensiver vorkam als davor, wirkte es wie ein Peitschenknall. Augenblicklich war sie hellwach gewesen, war herumgewirbelt, hatte dabei den Dolch aus der Scheide gezogen. Der Anblick des verwegen aussehenden, in Felle gekleideten Mannes, der direkt hin-
ter ihr stand, hatte genügt – und Branca hatte ohne Warnung zugestoßen. Tief, fast bis zur Hälfte, hatte sich die Klinge in seinen Oberschenkel gebohrt. Der Kerl hatte sie für eine Sekunde fassungslos angesehen, war dann mit einem schmerzerfüllten Aufschrei in die Knie gesunken. Heute musste Branca schmunzeln, wenn sie an Neetos Blick zurückdachte, als dieser verstand, dass die junge, harmlos wirkende Frau mit den kleinmädchenhaften Zöpfen ihn gerade angestochen hatte. Damals jedoch war ihr nicht nach Schmunzeln gewesen. Das Messer vor sich haltend, war sie einige Schritte zurückgewichen, hatte den Fremden davor gewarnt, sich ihr auch nur einen weiteren Schritt zu nähern (was vermutlich das Letzte gewesen war, was Neeto in diesem Moment vorgehabt hatte), und war dann in großem Abstand an ihm vorbeigestürmt. Weit war sie nicht gekommen. Noch bevor sie den Waldrand erreichte, waren zwei weitere Männer daraus hervorgebrochen. Beide waren ähnlich gekleidet gewesen wie der Erste und mit mehreren Stichwaffen verschiedener Länge ausgerüstet, die sie mit ledernen Riemen an ihren Körpern befestigt hatten. Trotz ihres martialischen Auftretens waren alle drei von eher schmächtiger Statur, wie Branca auf den zweiten Blick feststellte. Doch davon hätte sie sich nie und nimmer täuschen lassen. Mit wedelndem Schwert hatte sie versucht, die beiden auf Abstand zu halten, sie dabei angebrüllt und mit wüsten Drohungen überschüttet. Es hatte eine Weile gedauert, bis es den Männern gelungen war, sich Gehör zu verschaffen. Mit beinahe flehenden Stimmen hatten sie ihr versichert, dass sie harmlose Wanderer seien und es weder auf ihren Besitz noch auf sonst irgendwas abgesehen hätten, was sie ihnen nicht freiwillig geben wolle. Irgendwie hatten sie aufrichtig geklungen. Aufrichtig genug jedenfalls, um Branca irgendwann dazu zu bewegen, die Stichwaffe zu senken und einem der beiden zu erlauben, sich um seinen ver-
wundeten Kameraden zu kümmern. Dieser lag mit schmerzverzerrtem Gesicht im Gras, das sich durch das aus der Wunde quellende Blut rot gefärbt hatte. Je länger sie die drei Männer betrachtet hatte, desto weniger waren sie ihr wie verwegene Banditen vorgekommen. Vielleicht war sie damals noch zu vertrauensselig gewesen, aber nachdem sie ihr mehrfach versichert hatten, ihr nichts Böses zu wollen, hatte sie ihnen angeboten, sie auf die Farm zu bringen, um den Verletzten dort versorgen zu können. Erst dort hatte sich herausgestellt, dass ihre Entscheidung richtig gewesen war. Neeto, Hanta und Londan, wie die Männer hießen, erwiesen sich als Wissenschaftler, die sich nach langem Zögern aufgemacht hatten, dem Ursprung der Katastrophe auf den Grund zu gehen, nachdem ihre jahrelange theoretische Forschung zu keinem Ergebnis geführt hatte. Wie viele ihrer Kollegen waren auch sie zunächst von einer Art elektromagnetischem Impuls unbekannten Ursprungs und mit regional beschränkter Wirkung ausgegangen. Auch wenn keiner es offen aussprach, so war doch einigen Menschen bekannt, dass es Gegner des Systems gegeben hatte, die im Verborgenen an einem Sturz der Master gearbeitet hatten. Niemand wusste Genaueres, doch munkelte man hinter vorgehaltener Hand von einer verbotenen Zone, in die die Feinde des Regimes gebracht wurden. Weder Neeto noch einer seiner Kollegen hatte je in Erfahrung bringen können, wo diese Zone lag und was genau es damit auf sich hatte. Sicher war nur, dass die Theorie eines terroristischen Anschlags auf die Metrop Washington lange als wahrscheinlichste Ursache der Katastrophe gegolten hatte. Da sich im Laufe der Jahre jedoch die Anzeichen mehrten, es mit einem überregionalen, ja möglicherweise gar globalen Phänomen zu tun zu haben, wurde diese Theorie allmählich fallen gelassen. Keiner konnte sich vorstellen, wie ein Anschlag derartigen Ausmaßes von einer im Verborgenen agierenden Rebellenbewegung geplant und ausgeführt hätte werden können. Die Master hatten ihre Augen und Ohren überall, und kaum etwas geschah ohne ihr Wissen.
Es war diese schließlich auch in Neeto und seinen Kollegen gereifte Erkenntnis, die sie dazu bewegt hatte, ihre ursprüngliche Basis, eine alte Wellblechhütte am Rande der Stadt, zu verlassen und sich aktiv auf die Suche nach Faktoren zu machen, die sie innerhalb ihres bis dahin eingeschränkten Bewegungsspielraums möglicherweise übersehen hatten. Rund ein Jahr waren sie unterwegs gewesen, hatten sich dabei auf einen relativ kleinen Radius rund um die Metrop beschränkt, waren dabei jedoch zu der Erkenntnis gelangt, dass das Ausmaß der Katastrophe weitreichender sein musste als angenommen. Branca, der ihre Messerattacke noch lange unangenehm war, hatte gebannt den Worten der drei Wissenschaftler gelauscht. In ihrem Beisein trafen sie die Entscheidung, die Suche auf den gesamten Kontinent auszuweiten. Ihre Basis würden sie wohl oder übel aufgeben müssen. Sie würden Jahre unterwegs sein, vermutlich nie zurückkehren. Branca fragte sich, ob das eine gute Idee war, wenn sie sich die Männer so ansah. Ihr martialisches Auftreten und ihre zur Schau gestellte Bewaffnung dienten wohl mehr der präventiven Abschreckung, als dass sie einen wirklichen Schutz darstellten. Sie hatte nicht das Gefühl, dass auch nur einer der drei wirklich damit umgehen konnte. Für Branca stellten sie sich im Laufe der acht Tage, die sie auf der Farm weilten, als eine Gruppe von Theoretikern dar, die die besten Jahre ihres Lebens in irgendwelchen Labors verbracht hatten und denen die Abenteuerlust nicht gerade in die Wiege gelegt worden war. Doch dann fiel ihr ein, woher sie selbst kam und dass ihr das Leben, das sie heute führte, vor zwanzig Jahren undenkbar erschienen wäre. Das Schicksal hatte sie über sich hinauswachsen lassen, und vielleicht tat sie den drei liebenswerten Eierköpfen Unrecht, wenn sie ihnen eine ähnliche Anpassungsfähigkeit von vorneherein absprach. Es war in der Nacht vor ihrem Aufbruch, als Branca den Entschluss fasste, sich ihnen anzuschließen. Genau genommen hatte sie sich die halbe Nacht auf ihrem Lager, das sie mit zwei weiteren Be-
wohnern geteilt hatte, herumgewälzt, war schließlich aufgestanden und hatte ihre spärlichen Besitztümer gepackt, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen. Das war vor zwei Jahren gewesen, und bisher hatte sie diesen Entschluss nicht bereut. Auch wenn sie mittlerweile nur noch zu zweit waren. Hanta, so hatte sich bald herausgestellt, besaß weder die physische Konstitution noch die psychische Belastbarkeit, um den Strapazen eines solchen Vorhabens lange standzuhalten. Schon nach wenigen Wochen der Wanderschaft hatte er seine Mitstreiter gebeten, ihn in einer der zahlreichen Siedlungen zurückzulassen, die in den letzten 20 Jahren rund um die Metrops aus dem Boden geschossen waren und die den Menschen Zuflucht vor den chaotischen Zuständen in den Städten gewährten. Londan hatte es länger bei ihnen ausgehalten. Bis zu jener Nacht vor knapp einer Woche, in der er verschwunden war. Einfach so. Am Abend hatte er noch wenige Meter von Neeto entfernt gelegen, und am nächsten Morgen hatte jede Spur von ihm gefehlt. Weshalb er sie verlassen hatte, ob freiwillig oder unter Zwang, hatten sie nie herausgefunden, obwohl sie tagelang die Gegend nach ihm abgesucht hatten. Fest stand nur, dass ein Großteil des Proviants fehlte, mit dem sie sich erst Tage zuvor eingedeckt hatten. Spuren eines Kampfes gab es ebenfalls keine, und so mussten sie davon ausgehen, dass er sich heimlich, still und leise aus dem Staub gemacht hatte. Vielleicht hatte er ganz einfach begonnen, an ihrem Unterfangen zu zweifeln. Auch jetzt, zwei Jahre später, war das Ziel ihrer Reise so weit entfernt wie in der Nacht ihres Aufbruchs. Das meiste, was sie wussten – und das war nicht viel –, hatten sie aus den Erzählungen anderer Reisender erfahren. Und diese wussten es meist auch nur vom Hörensagen. Ob die Geschichten, die man sich über die ehemalige Metrop Chicago erzählte, der Wirklichkeit entsprachen, hatten sie nie vollständig geklärt, da sie es nicht gewagt hatten, sie an Ort und Stelle zu
überprüfen. Wenn sie stimmten, war eine schreckliche Seuche über die Enklave hereingebrochen und hatte – 15 Jahre nach der großen Katastrophe – noch einmal einen Großteil der Überlebenden dahingerafft. Neeto hatte beschlossen, einen weiten Bogen um dieses Gebiet zu machen. Wo sie jetzt waren, dessen war Branca sich allerdings nicht hundertprozentig sicher. Ging sie nach ihrer Landkarte, eines der Besitztümer, die Neeto aus seinem früheren Leben in sein jetziges gerettet hatte, befanden sie sich gut 500 Kilometer von Chicago entfernt. Sofern sie sich nicht verlaufen hatten. Starke Unwetter hatten in den letzten Tagen die Orientierung und das Vorankommen erschwert. Neeto hatte trotzdem darauf bestanden, weiterzumarschieren. Kurz zuvor hatten sie die Kunde vernommen, dass in der Nähe eine Enklave ehemaliger Wissenschaftler existierte, die in geradezu mönchischer Klausur an einer Lösung des Problems tüftelten und angeblich bereits erstaunliche Ergebnisse vorweisen konnten. Die angeblichen Wissenschaftler hatten sich bei näherer Betrachtung als eine Gruppe von Maulhelden entpuppt, die den gutgläubigen Bewohnern einer nahe gelegenen Siedlung das Blaue vom Himmel erzählt hatten, um sich von den Früchten ihrer Feldarbeit ein angenehmes Leben zu machen. Wenigstens hatten die Dörfler die Wahrheit erfahren und das arbeitsscheue Gesindel davongejagt. Damit hatte die Sache immerhin etwas Gutes gehabt. Doch Neeto hatte dieses Erlebnis so demotiviert, dass Branca sich ernsthaft um ihn zu sorgen begann. Er sprach kaum noch, aß immer weniger, war fahrig und unkonzentriert und schien auf dem besten Wege, jene Zielstrebigkeit zu verlieren, die ihn charakterisiert hatte, seit sie ihn kannte. Wenigstens hatte der Regen inzwischen aufgehört, und die Welt sah wieder ein Stück weit freundlicher aus. Branca erhob sich und sah sich unbehaglich um. Erneut hatte sie das unbestimmte Gefühl, dass sie von ihrer ge-
planten Route abgekommen waren. Dass sie aus Angst, dem Militärstützpunkt zu nahe zu kommen, zu weit nach Norden abgedriftet waren. Wenn dem so war, dann hatten sie jetzt möglicherweise ein ganz anderes Problem. Im Norden lag eines der Naturreservate, in denen die Menschen im Auftrag der Master fremdartige Pflanzen und Tiere gezüchtet hatten, zum Teil außerirdischer Herkunft. Was dort alles im Verborgenen lauern mochte, wagten sie sich nicht auszumalen. Sie hatten Geschichten gehört von gewaltigen, fleischfressenden Pflanzen, die einen Menschen zur Gänze verschlingen konnten oder giftige Pfeile verschossen, mit denen sie ihre Opfer lähmten. Ein Geräusch in ihrer unmittelbaren Nähe ließ Branca zusammenzucken. Sie drehte sich um, langte dabei nach dem Griff ihres Dolchs und riss ihn in einer geübten Bewegung aus der Scheide. Angespannt blieb sie stehen und starrte in das Buschwerk, das wie eine massive Wand vor ihr in den Himmel ragte. Für einen kurzen Moment spielte sie mit dem Gedanken, Neeto zu wecken, verwarf ihn jedoch gleich wieder. Wenn er keinen ausreichenden Schlaf bekam, würde sich sein psychischer Zustand möglicherweise wieder verschlechtern. Langsam trat Branca nach vorne, den Dolch vor sich haltend. Im Dunkeln sah er aus wie eine gewaltige Kralle, die direkt aus ihrem Unterarm wuchs. Wenn mir das keinen Respekt verschafft, weiß ich 's auch nicht … Wieder war ein aufgeregtes Rascheln zu vernehmen. Lauter diesmal. Und anhaltender. Branca entspannte sich etwas. Wer auch immer da durchs Unterholz huschte, gab sich keine besondere Mühe, leise zu sein. Demnach hatte er wahrscheinlich auch nichts zu verbergen. Dennoch … Irgendetwas lag in der Luft. Ein atmosphärisches Knistern, wie die Vorhut eines sich ankündigenden Unheils. Oder war es das erste Anzeichen eines nahenden Gewitters? Branca hatte nicht zum ersten Mal das Gefühl, dass das lange Le-
ben in der Wildnis ihre Sinne geschärft hatte. Sie hielt den Atem an. Für einen kurzen Moment war nichts mehr zu hören. Dann, ganz plötzlich, brach es aus dem Dickicht heraus. Branca stieß einen leisen Schrei aus, wich zurück, umklammerte den Dolch dabei nur noch fester. Sie kannte den Mann, der plötzlich vor ihr stand. »Londan …??« Der Name drang krächzend über ihre Lippen. Sie wollte den Dolch bereits sinken lassen, wollte dem verloren geglaubten Kameraden entgegengehen. Doch etwas ließ sie in letzter Sekunde innehalten. Es war der seltsame Ausdruck in seinen Augen. Er war leer und in weite Ferne gerichtet. Der Wissenschaftler schien sie nicht zu erkennen, obwohl sie genau vor ihm stand. »Londan …? Ich bin's! Branca!« Tatsächlich trat eine Spur von Erkennen in seinen Blick. Nur ganz kurz, dann war sie wieder weg. Stattdessen setzte er sich erneut in Bewegung, kam jetzt genau auf sie zu. Branca wich erschrocken zurück, riss ihren Dolch in die Höhe. Im selben Moment zischte etwas dicht an ihrem Ohr vorbei, bohrte sich in Londans Stirn, der abrupt stehen blieb, dann taumelnd zu Boden sackte. Fassungslos sah Branca sich um, suchte verzweifelt nach einer Erklärung für das, was soeben passiert war. Sie fand sie in Gestalt jener schattenhaften Erscheinung, die aus dem Dunkel auf sie zutrat, dabei den Bogen senkte, von dessen Sehne soeben der Pfeil geschnellt war. Abrupt hob sie den Dolch in seine Richtung, doch der Fremde ließ nur ein leises Lachen vernehmen. »Hab keine Angst! Du solltest eher froh sein, dass ich ein Auge auf dich und deinen Begleiter gehabt habe. Die Gegend hier ist nicht gerade für ein Nachtlager geeignet.« So leicht ließ Branca sich nicht beirren. »Was hast du mit Londan gemacht?«, fragte sie mit bebender Stimme. »Er war mein Freund.«
»Früher vielleicht einmal«, meinte der Mann belustigt, ohne sich von Brancas aggressiver Haltung beeinflussen zu lassen. »Bevor er ein Opfer der Jumquats wurde.« »Der Jumquats?« Jetzt ließ Branca die Klinge langsam sinken. Nicht, weil sie dem Fremden vertraute, sondern weil seine Worte sie zu sehr beschäftigten, als dass sie noch einen Gedanken daran verschwenden konnte, ihre Defensive aufrechtzuerhalten. »Das ist eine Pflanze, die früher einmal ganz in der Nähe gezüchtet wurde«, erklärte der Fremde, der aus Brancas Blickwinkel nur ein Scherenschnitt in der Dunkelheit war. »Sie sondert ein spezielles Gift ab. Wer damit in Berührung kommt, driftet in einen tranceähnlichen Zustand ab. In einen ewigen Traum, aus dem es kein Erwachen mehr gibt.« »Du meinst …?« »Dein Freund hatte keine Chance. Ein Gegengift gibt es nicht. Die Bewohner des Ursprungsplaneten nutzten es in geringeren Dosen als Rauschmittel. In höheren, um unliebsame Gegenspieler gefügig zu machen. Ich muss gestehen, dass es letzterer Nutzen war, der uns dazu veranlasste, mit ihm zu experimentieren.« »Wir?«, fragte Branca verständnislos. Etwas gefiel ihr nicht an der Art, wie dieser Fremde zu ihr sprach. Er klang, als würde er über den Dingen stehen. Als wüsste er mehr als die meisten anderen Wanderer, die ihnen auf ihrer Reise bisher begegnet waren. »Entschuldige. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt«, sagte der Fremde und trat im nächsten Moment aus dem Schatten. Brancas Blick fiel auf ein scharf geschnittenes Gesicht, das fast vollständig hinter einem dichten Vollbart verschwand. Zwei stechende Augen fixierten sie daraus lauernd. »Mein Name ist Reuben …«
Jiim schrak hoch, als würde er aus einem Albtraum erwachen. Was war das gewesen, das man ihm da gezeigt hatte? Die Vergangenheit? Eine alternative Vergangenheit, exemplarisch
für Tausende von Schicksalen in den Zeiten nach der Katastrophe? Jiim richtete sich auf. Seine Herzen wummerten so heftig in seiner Brust, dass er meinte, sie würden ihm gleich den Brustkorb sprengen. Er kannte den Mann, den er zuletzt gesehen hatte. Wusste um seine Bedeutung für Guma Tschonk und dessen vertrauteste Gefährtin. Jiim selbst wusste nicht viel über ihn. Nur, dass er böse war. Böse und unredlich. Was hatte ein Mann wie er in seinen Träumen zu suchen? Und weshalb war Jiim ausgerechnet in dem Moment erwacht, als Reuben Cronenberg auf der Bildfläche erschienen war? Was hatte das alles zu bedeuten? Irritiert sah Jiim sich um. Die Kahlköpfigen waren verschwunden. Er war ganz allein, lag jedoch noch immer auf jener Lichtung, auf der er sich bereits bei seinem ersten Erwachen wiedergefunden hatte. Jiim wollte sich gerade aufrichten, als er die Erschütterung bemerkte, die den Boden unter ihm erzittern ließ. Sofort sank er zurück, suchte verzweifelt nach Halt. Die Erschütterungen wurden mit jeder Sekunde stärker. Es fühlte sich an, als würde irgendetwas aus dem Erdreich an die Oberfläche drängen. Als würden dort immense Kräfte freigesetzt, die unmöglich natürlichen Ursprungs sein konnten. Jiim wusste nicht, wie lange er sich flach auf den Boden gepresst hatte. Irgendwann erreichten die Beben ihren Höhepunkt. Und entluden sich in einer gewaltigen Explosion …
Cloud befand sich noch immer im Sarkophag, als die RUBIKON ihren gewaltigen Körper bereits zu zwei Dritteln in den Krater hinabgesenkt hatte. Was er dort sah, war schwer in Worte zu fassen. Eines jedoch wurde ihm sehr rasch klar. Nämlich, dass sie es bei dem Felsgiganten, wie vermutet, tatsächlich mit einer Hohlwelt zu tun hatten. Die Kruste war etwa einen halben Kilometer dick, die
Welt darunter atmosphärelos und von einem bizarren, überirdischen Leuchten erfüllt, das auch der KI Rätsel aufgab. Es gelang ihr auch nach mehreren Berechnungen nicht, seinen Ursprung und seine Zusammensetzung zu bestimmen. Doch das war nicht das Einzige, das sonderbar war. Trotz des unter der Kruste herrschenden Vakuums war die Welt dort keineswegs öde und leer, sondern voll mit sprießendem Leben. Erst nach kurzer Zwiesprache mit der KI wurde ihm klar, dass ihn seine Sinne nicht trogen und es sich bei der grünen Masse, die sich unterhalb der einen halben Kilometer dicken Kruste erstreckte, tatsächlich um ein Pflanzendickicht handelte. Was, zur Hölle, ist hier geschehen? Die KI hatte die Fahrt mittlerweile gedrosselt und war bereits zu Phase 3 übergegangen, die da hieß, den Nargen zu lokalisieren und einen Plan zu dessen Bergung auszuarbeiten. Oh, bitte, lass ihn noch am Leben sein, betete John zu einem Gott, an den er längst nicht mehr glaubte, während er mit den Sensoren des Schiffes fühlerartig die Gegend absuchte. Tatsächlich war das Vakuum unter der Felsschale von myriadenfachem Leben erfüllt. Es war ein Urwald aus bekannten und fremdartigen Gewächsen. Cloud kam sich dabei vor, als würde er sich mit bloßen Händen durch diesen Dschungel kämpfen, wobei er immer wieder das Gefühl hatte, etwas wickelte sich um seine Arme und Beine, um ihn davon abzuhalten, weiter in das unüberschaubare Dickicht vorzudringen. Es dauerte nicht lange, bis die Sensoren die Anwesenheit einer intelligenten Lebensform ausgemacht hatten. Noch weniger Zeit verging, bis sie dieses Wesen erst als schematischen Umriss, kurz darauf als dreidimensionales Bild für aller Augen sichtbar in die Holosäule der Zentrale projizierten. Es war tatsächlich Jiim. Und einen kurzen, einen wirklich kurzen, aber ebenso erschreckenden Moment war John sich sicher, dass der Narge nicht mehr am Leben war.
Er lag flach auf dem Rücken, von seinem teilabsorbierten Nabiss geschützt. Aber er war völlig regungslos. Nicht das geringste Zittern ging durch seinen Leib. Er lag einfach nur da, ruhig und friedlich, fast wie aufgebahrt. Die Schrecksekunde verging, als Jiim sich plötzlich aufrichtete. Er sah sich um, als wüsste er nicht, wo er gerade war. Cloud atmete erleichtert aus, betätigte noch im selben Moment den Öffnungsmechanismus des Sarkophagdeckels, der auch sofort geschmeidig aufglitt. Erschöpft wie stets, wenn er sein Bewusstsein mit dem Schiff verschmolzen hatte, stemmte er sich aus dem Kommandositz. Die anderen waren noch immer in der Zentrale. Cloud sah in angespannte, aber erleichterte Gesichter. Bisher hatte sich die Mission als Erfolg erwiesen. Viel Zeit für Jiims Bergung durften sie sich dennoch nicht lassen. Keiner hatte eine Erklärung für das Phänomen, mit dem sie es hier zu tun hatten. »Ist das ein Garten?«, fragte Aylea mit Blick auf eines der Holofenster, die das grüne Dickicht abbildeten. »Es ist wunderschön«, ließ Jelto vernehmen. Sein Blick war versonnen und wie in weite Fernen gerichtet. Er spürt die Nähe der Pflanzen, wurde es Cloud bewusst. Jelto war als Klon zu Zeiten der Master speziell darauf konditioniert worden, mit pflanzlichen Lebensformen auf mentaler Ebene zu kommunizieren. Das war mehr, deutlich mehr, als der sprichwörtliche grüne Daumen, den manche Menschen angeblich besaßen. Jelto konnte wirklich und wahrhaftig mit den Pflanzen »sprechen«, auf eine so unmittelbare Art, die Cloud auch nach so langer Zeit noch verblüffte. Deshalb hatte er ihm auch erlaubt, sich an Bord der RUBIKON einen hydroponischen Garten anzulegen. Dort blühten und gediehen mittlerweile zahlreiche Exemplare der verschiedensten pflanzlichen Lebensformen, die er auf ihren Reisen der jeweiligen Vegetation entnommen hatte. Und inzwischen hatte auch John eingesehen, dass diese Sammelleidenschaft mehr als nur ein Spleen war. Hier wuchs ein grünes Reservoir heran, das ihnen irgendwann noch einmal sehr nützlich werden konnte.
»Mir gefällt das nicht«, ließ Algorian ungewohnt grimmig vernehmen und erntete sogleich einen bösen Seitenblick des Florenhüters. »Nichts für ungut, aber normal finde ich das auch nicht«, kam Jarvis ihm zu Hilfe. Trotz der unverkennbaren Freude um den wiedergefundenen Kameraden zeichnete sich eine unterschwellige Sorge in seinen für Cloud noch immer ungewohnt menschlichen Gesichtszügen ab. »Wer weiß, was hier in den letzten Jahrzehntausenden geschehen ist. Wer oder was hinter diesem Phänomen steckt.« »Du hast recht«, entgegnete Cloud. »Ich habe die KI bereits angewiesen, ein geeignetes Bodenfahrzeug startklar zu machen. Jarvis, Algorian … Es wäre mir recht, wenn ihr die Bergung gemeinsam durchführen könntet.« Die beiden Gefährten nickten sich zu, sichtlich erleichtert, dass die Zeit des Wartens vorbei war und es endlich wieder etwas für sie zu tun gab.
Bei dem »Fahrzeug«, das die KI extra auf die hiesigen Bedingungen abgestimmt hatte, handelte es sich vom Prinzip her um eine Art Planierraupe, jedoch wesentlich wendiger, schneller und leichter in der Handhabung. So war es ihnen mühelos möglich, das Dickicht zügig zu durchqueren, zumal Jiim sich in einem deutlich lichteren Bereich des Waldes befand als die RUBIKON. Sie fanden ihn an genau der Stelle, an der die KI ihn zuvor geortet hatte. Er kniete auf dem Boden und suchte ihn nach irgendetwas ab. Nach einem Weg zurück an die Oberfläche, wie Jarvis vermutete. Jiim wich erst mit angsterfülltem Blick zurück, als er das seltsame Gefährt gewahrte, das plötzlich vor ihm durch das Dickicht brach. Doch als die Türen aufglitten und er die beiden Freunde erkannte, entspannte er sich auf einen Schlag. »Den Göttern sei's gedankt. Ich dachte schon, sie seien zurückgekehrt.« »Sie?« Jarvis runzelte die Stirn. »Heißt das, du hattest Kontakt mit irgendeiner Lebensform?« »Sie nennen sich Vaku-Farmer«, sprudelte es unwillkürlich aus Jiim
heraus, als hätte er nur auf Jarvis' Frage gewartet. »Sie sind die Nachfahren der Menschen von damals. Telepathen … Sie sind in meinen Kopf eingedrungen. Da war dieses Mädchen und ihr Begleiter und dann …« Jiim hielt urplötzlich inne. Entsetzen zeichnete sich auf seinen Zügen ab, als würde er sich an ein schreckliches Erlebnis erinnern. »Der Mann, den ihr Cronenberg nennt«, sprach er es leise aus. Jarvis erschrak, als er den Namen hörte. Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. »Wo? Wo hast du ihn gesehen?«, herrschte er den Nargen an. Als dieser bemerkte, wie sehr Jarvis die Erwähnung des Namens in inneren Aufruhr versetzte, bemühte er sich um eine beschwichtigende Geste, ohne dabei seine wirkliche Sorge übertünchen zu können. »In meinen Träumen«, gab er leise zurück. »Nur in meinen Träumen …«
John Cloud konnte seine Sorge schwer vor den anderen verbergen. Auch wenn sie an Bord stets über den Verbleib der Bergungsmission informiert waren, so blieb bis zur Rückkehr der Kameraden ein nicht zu unterschätzendes Risiko. Wer auch immer in dieser bizarren Welt das Sagen hatte, war wahrscheinlich längst über ihr gewaltsames Eindringen informiert. Erneut kreisten Clouds Gedanken um den Felsriesen, seine ungewöhnliche Beschaffenheit und vor allem seine Herkunft. Ein Objekt wie dieses konnte unmöglich natürlichen Ursprungs sein. Dessen war er sich mittlerweile so sicher wie selten. Jemand hatte es erschaffen. Aber wozu, zu welchem Zweck? Und was war mit der Erde passiert, die vor Tausenden von Jahren noch auf dieser Umlaufbahn rotierte? Und den Menschen, die sie bevölkerten …?, ging es ihm mit neu erwachendem Wehmut durch den Kopf. Längst hatte er sich damit abgefunden, dass die Menschheit nie wieder jene sein würde, die er während der Invasion der Master
einst hinter dem schwarzen Loch in der Vergangenheit zurückgelassen hatte. Doch dass er sie einmal in ihrer Gesamtheit buchstäblich zu Grabe tragen würde, das hätte er sich bisher weder vorstellen können noch wollen. Wie fühlt es sich an, einer der letzen seiner Art zu sein?, blitzte es in den Tiefen seines eigenen Unterbewusstseins auf. Der Angehörige einer ausgestorbenen Rasse? Ein Relikt aus Urzeiten …? »Schluss!« Es verging ein Moment, bis John merkte, dass er das letzte Wort laut ausgesprochen hatte. Die verwunderten Blicke der anderen, die von Aylea, Jelto und Cy, legten diese Vermutung zumindest nahe. »Wird schon alles gut gehen«, meinte Aylea. John musste lächeln. Eigentlich sollte er es sein, der den anderen Trost spendete, und nicht umgekehrt. Und doch gab es immer wieder Momente wie diesen, in denen er spürte, dass er auch nur aus Fleisch und Blut war. Keiner jener Superhelden aus den Comics, die er in seiner Kindheit verschlungen hatte. Wenn er so darüber nachdachte, was er in den vergangenen Jahren alles erlebt und gesehen hatte, welche unmöglichen Situationen er überstanden, in welche Gefahren er sich dabei begeben hatte, schien es wie ein Wunder, dass er noch nicht komplett den Verstand verloren hatte. Sicher, er war einst darauf konditioniert worden, auch Phasen höchster psychischer Belastung zu überstehen. Zwar nicht ganz so extrem wie Scobee, Jarvis und Resnick, die als »in vitro«-geborene GenTecs speziell zu diesem Zweck »gezüchtet« worden waren, ihr Leben bis kurz vor ihrer großen Mission im Labor verbracht hatten. Dennoch hatte keiner der damals für sein Wohlbefinden verantwortlichen Ärzte und Wissenschaftler auch nur ansatzweise daran gezweifelt, dass er dem zu erwartenden Druck standhalten würde. Doch genau darin lag das Problem. Den tatsächlichen Druck, der irgendwann in einer fernen und aus irdischer Sicht völlig fremdartigen Zukunft auf ihm lasten würde, hatte kein noch so abenteuerliches Gedankenspiel vorhersehen können. »Die Mission ist zurück!«
Völlig unerwartet drängte sich die Stimme der KI in sein Bewusstsein. Er war so in Gedanken versunken gewesen, dass er für einen kurzen Moment tatsächlich alles um sich her vergessen hatte. »Sie haben den Geborgenen bei sich«, fügte die Schiffsinstanz noch hinzu, ohne dass John nachfragen musste. Sie war nur eine künstliche Intelligenz, ein besserer Rechner, dennoch hatte er oft den Eindruck, als kannte sie ihn inzwischen besser als jeder Lebende an Bord. »Sie bringen ihn gleich zur Untersuchung in die Medostation.« »Ich danke dir. Sorge dafür, dass …« Johns Worte gerieten ins Stocken. Sein Blick war auf Jelto gerichtet. Schon in den Minuten zuvor war ihm aufgefallen, dass den Florenhüter irgendetwas plagte. John hatte ihn darauf angesprochen, doch der Klon hatte nur mit einem Kopfschütteln geantwortet. Jetzt stand Jelto mit glasigem Blick auf – um sich sogleich mit einem erschöpften Stöhnen auf die Knie sinken zu lassen. »Jelto? Was hast du?« Auch Aylea hatte sich ihm jetzt zugewandt, musterte ihn mit halb überraschtem, halb sorgenvollem Blick. »Jelto?« Clouds Stimme vibrierte laut und vernehmlich durch die Zentrale, schien dennoch nicht bis zu dem verstört wirkenden Florenhüter vorzudringen. Jeltos Augen flackerten, und seine schmalen Lippen bebten wie unter dem Einfluss eisiger Kälte. John wollte auf ihn zugehen, als Jelto dann doch noch völlig unerwartet zu sprechen begann. »Sie sind in Aufruhr. Es ist nicht gut. Wir sollten auf der Stelle starten.« »Nichts anderes hatte ich vor«, entgegnete John. In seine Verwunderung mischte sich allmählich auch ein gewisses Unbehagen. »Könntest du dich vielleicht trotzdem etwas genauer äußern?« Jelto kam nicht mehr dazu. Noch während er um die passenden Worten rang, schlug die KI Alarm …
Sie waren zu zweit an jenen herangetreten, der sich niemandem zeigte. Niemals. Niemandem jedenfalls, der danach noch hätte darüber berichten können … Keiner der beiden hatte den Mann jemals zu Gesicht bekommen. Nur seine Stimme kannten sie. Manche munkelten, dass er an einer seltsamen Krankheit litt, die ihn davon Abstand nehmen ließ, sich anderen zu zeigen. Das wiederum hielten beide Männer für ein Ammenmärchen. »Ihr habt also das Flügelwesen gefunden?«, fragte der Unsichtbare mit leiser, geschmeidiger Stimme, deren Klang jedoch keinen Zweifel daran ließ, dass sie jederzeit und ansatzlos zu einem Donnerschlag anschwellen konnte. »Wir waren nicht allein. Wir …« »Langweilt mich nicht mit Details«, fuhr der Mann ihnen ins Wort. »Wohin habt ihr das Wesen gebracht?« Die beiden Männer sahen sich an, als wollten sie dem jeweils anderen den Vortritt lassen. »Wir … mussten ihn zurücklassen«, wagte sich der Kleinere von beiden schließlich vor, duckte sich gleichzeitig in Erwartung des zweifellos gleich über ihn hereinbrechenden Wutausbruchs. Nichts dergleichen geschah. Der Mann – seine Stimme – blieb ruhig und gefasst. »Wir sahen uns gezwungen, seine Befragung abzubrechen«, meinte der andere mit neu gefasstem Mut. »Etwas ist in die Zone eingedrungen.« »Ich hörte davon«, kam es aus dem Halbdunkel. »Konnte die Identität dieses Objekts inzwischen geklärt werden?« »Es handelt sich um ein Fluggerät«, erwiderte der Kleinere. »Offenbar gehört es Freunden des Geflügelten. Wir haben ziemlich konkrete Hinweise darauf, dass sie ihn geborgen und zu sich geholt haben.« »Demnach«, meinte der Zweite, »dürfte es sich bei dem Vorstoß in unser Territorium um eine Rettungsaktion gehandelt haben und nicht um einen kriegerischen Akt.«
»Das wird sich zeigen«, murmelte der Unsichtbare, hob gleich darauf wieder die Stimme. »Dieses Fluggerät … Könnt ihr es mir beschreiben? Wie sieht es aus?« »Es ist riesig«, ließ der Größere vernehmen. »Und hat die Form eines Rochens.« Beide glaubten zu hören, wie der Mann laut und vernehmlich ausatmete. Überrascht sahen sie sich an. Ein derartiges Geräusch hatten sie noch nie von ihm vernommen. Fast wären sie tiefer in den Kontaktraum getreten, um nachzusehen, ob er leibhaftig darin weilte. Doch schon im nächsten Moment klang der Mann so ruhig und gelassen wie eh und je, sodass sie zurückschreckten. »Das ist alles. Ihr dürft abtreten.« Das ließ sich keiner der beiden Boten zweimal sagen.
6. Kapitel – Gefangen! Der plötzlich aufgeklungene Alarm sorgte dafür, dass ein spürbarer Ruck durch die Anwesenden ging. John Cloud verlor keine Sekunde, wandte sich sofort an die KI und erkundigte sich, was passiert war. »Ich habe Mühe, den Startvorgang einzuleiten«, vermeldete die Schiffsinstanz mit der für sie charakteristischen Nüchternheit. »Das verstehe ich nicht«, gab Cloud mit grimmiger Miene zurück. »Was soll das heißen?« »Etwas hält uns am Fleck.« »Verdammt …«, murmelte Cloud. Aus Angst, seine Sorge nicht glaubhaft genug vor den anderen verbergen zu können, wandte er sich von ihnen ab. Was er die ganze Zeit befürchtet hatte, schien nun eingetreten zu sein. Ihr gewaltsames Eindringen war nicht unbemerkt geblieben. Es würde schwer werden, den hiesigen Herrschern den Grund für ihren augenscheinlichen Akt der Aggression verständlich zu machen. »Was hält uns fest? Ein Magnetfeld? Ein Traktorstrahl …?« »Weder, noch«, gab die KI zu Clouds Überraschung zurück. »Sie sind es …« Die Worte waren nur ein Hauch von Jeltos Lippen, dennoch waren sie auch an Clouds Standort laut und deutlich zu verstehen. John drehte sich zu ihm um, folgte dann Jeltos glasigem Blick bis zur Holosäule, in der noch immer eine plastische Ansicht der eigenartigen Vakuumsvegetation abgebildet war. »Du redest doch nicht etwa von diesem verfluchten Grünzeug?«, entfuhr es ihm in einer Schärfe, mit der er sich einen strengen Blick von Jeltos kleiner Fürsprecherin Aylea einhandelte. »Wenn es um seine grünen Freunde geht, macht ihm niemand etwas vor«, nahm sie ihn in Schutz. »Das weißt du genau.« John Cloud nickte entschuldigend, wandte sich dabei wieder an
die KI. »Sesha, kannst du bestätigen, was Jelto sagt?« »Positiv«, vermeldete die KI. »Wir haben uns in der Vegetation verfangen.« »Wie ist das möglich?« Cloud dachte sofort an die Größe des einst vom Volk der Foronen gebauten und durch eine Verkettung von Umständen in ihren Besitz gefallenen Schiffs. Welche gewaltigen Kräfte mussten aufgeboten werden, um einen solchen Giganten an einen bestimmten Fleck zu bannen? »Ich bin gerade dabei, eine genaue Analyse zu erstellen.«, antwortete die KI. Noch während sie sprach, bemerkte Cloud, dass die Beleuchtung in der Zentrale für einen kurzen Moment schwächer wurde und dass die Holodarstellung leicht zu flackern begann. Ganz kurz nur, dann hatten sich die Bilder in der Säule wieder stabilisiert. In der ersten Sekunde glaubte John Cloud an eine Täuschung seiner Sinne. Das Ergebnis einer Übermüdung, dem Umstand geschuldet, dass er seit etwa 26 Stunden kein Auge mehr zugetan hatte. Doch der Blick von Aylea verriet, dass auch sie es wahrgenommen hatte. »Was war das?« Cloud zuckte mit den Achseln, gab die Frage an die KI weiter. »Wir verlieren Energie«, lautete die lapidare Antwort. »Etwas entzieht sie uns.« »Das reicht«, murmelte Cloud, ballte die Hände zu Fäusten und ging zielstrebig auf den mittleren der sieben Kommandositze zu. »Ich werde mir selbst ein Bild der Situation verschaffen.« »Und was tun wir so lange?«, fragte Aylea und streifte dabei Jelto mit einem kurzen Blick; der Gärtnerklon hatte sich wieder leidlich beruhigt. »Du tust erst einmal gar nichts. Und: Jelto …« Der Florenhüter blickte fragend zu ihm auf. Wenigstens etwas … »Glaubst du, du schaffst es, mit dieser grünen Pest in Kontakt zu treten?«
»Ich … kann es versuchen«, entgegnete der Klon zögernd und deutlich verunsichert. Cloud konnte sehen, dass ihm nicht wohl bei der ganzen Sache war. »Es sind zu viele«, warf Aylea ein. »Und sie sind zu stark. Das machen seine Kräfte nicht mit.« »Lass nur, Aylea«, entgegnete Jelto und legte die Hand auf ihre Schulter. »Lass es mich ruhig versuchen.« John Cloud nickte ihm dankend zu. Dann drehte er sich um, bestieg den Kommandosessel und ging, wie schon so oft, eine perfekte Symbiose mit der foronischen Hochtechnik ein. Sofort zuckte ein brennender Schmerz durch seinen Körper. John Cloud fühlte sich wie auf eine Streckbank gefesselt. Als hätten sich armdicke Seile um seine Extremitäten gewickelt, die nun mit der Kraft mehrerer Hünen in vier verschiedene Richtungen gezerrt wurden. Es ist nicht normal, ging es ihm durch den Sinn. Diese Vegetation mitten im Vakuum. Das seltsame Licht. Diese ganze verfluchte Hohlwelt. Was zur Hölle geht hier vor …? Cloud brüllte auf. Zumindest mental. Ob ein tatsächlicher Laut seine Lippen verließ, wusste er nicht. Und es kümmerte ihn auch nicht weiter. Er wusste nicht, was es war, aber es fühlte sich an, als hätte etwas seine Schädeldecke durchbohrt und sich mit brutaler Unnachgiebigkeit in sein Gehirn gefräst. Es dauerte Sekunden, bis der Schmerz einem brennenden Ziehen wich, das auch nicht gerade angenehm, aber doch leichter zu ertragen war. Gleichzeitig spürte er eine lähmende Müdigkeit in seinen Knochen. Er merkte, wie er rapide erschlaffte. Wie er kaum noch die Kraft fand, den Arm zu heben. So, als habe ihm jemand ein schnell wirkendes Nervengift injiziert. Stimmt nicht!, wurde ihm klar, als er in sein Innerstes horchte. Ihm wurde nichts injiziert. Das Gegenteil war der Fall. Etwas wurde ihm genommen. Geradezu herausgesaugt … Die KI hatte recht. Jemand/etwas stahl der RUBIKON die Energie.
Im Gegensatz zu John Cloud, der in diesem Moment eins mit dem Schiff war, war die KI selbst nicht in der Lage, Schmerz zu empfinden. Und das, fand John, war wirklich ein Segen. Andernfalls hätte sie wahrscheinlich kaum noch die Kraft aufgebracht, Ursachenforschung zu betreiben. Cloud versuchte, den Schmerz zurückzudrängen und sich zu konzentrieren. Er sah sich um, fixierte seine Umgebung, lenkte seine Blicke auf den gewaltigen mantarochenförmigen Leib des Schiffes. Es stimmte. Die Vegetation hatte einen Wust aus Schlingpflanzen, Lianen, Farnen und Sträuchern gebildet, das Schiff damit regelrecht eingesponnen wie in einen Kokon. Wie eine Spinne ihre Beute … Es war, als seien die Bestandteile des Gespinsts innerhalb weniger Stunden stetig gewachsen. Dabei hatten sie die ehemalige foronische Arche komplett eingeschlossen. Gerade so, als wollten sie sie gezielt an ihrem geplanten Aufbruch hindern. John Cloud fühlte sich unwillkürlich an das Märchen von Dornröschen erinnert, in dem eine Dornenhecke die schlafende Schöne und das gesamte Schloss umwuchert hatte. So ähnlich war es hier auch. Nur dass sie wach und bei vollem Bewusstsein waren. Und kein stolzer Prinz vorbeikommen würde, um den Bann von ihnen zu nehmen. Trotz des anhaltenden Schmerzes befahl er der KI, es zu versuchen. Einen weiteren Versuch zu wagen, sich aus eigener Kraft aus dem Klammergriff dieser bizarren, im Vakuum lebensfähigen Vegetation zu befreien. Plötzlich nahm der Schmerz noch einmal an Heftigkeit zu. Cloud kam es so vor, als würden immense Kräfte auf jede Zelle seines Körpers gleichzeitig einwirken, um sie ihm einzeln zu entreißen. Ansonsten passierte nichts. Das Schiff verharrte fast regungslos am Fleck – wie ein riesiger, eingesponnener Falter. Frustriert betätigte John den Öffnungsmechanismus des Kommandosessels. Er zeigte keine Reaktion! Mit einem wachsenden Gefühl der Beunruhigung versuchte er es
erneut, wieder ohne Ergebnis. Gleichzeitig blieb der Schmerz, der ihn wie mit tausend Widerhaken malträtierte, auf einem konstanten und auf Dauer immer schwerer zu ertragenden Niveau. John spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. So musste sich jemand fühlen, der lebendig begraben war – zusammen mit tausend Wespen als makabre Grabbeigabe. In Gedanken suchte er den Kontakt zur KI, bekam jedoch keine Verbindung. John befürchtete schon, nun auch noch den leistungsstarken Bordrechner verloren zu haben. In neu aufkeimender Panik stemmte er sich in die Höhe und konnte sich gerade noch davon abhalten, mit den bloßen Fäusten gegen die Innenwand des Sarkophaggehäuses zu hämmern. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren … Wenn er jetzt ausrastete, machte er alles nur noch schlimmer. Er bemühte sich, seine Atmung unter Kontrolle zu bekommen, atmete nur noch flach und in kontrollierten Zügen und lehnte sich dabei zurück. Es gelang ihm, den Schmerz für kurze Zeit so weit zurückzudrängen, dass er zu einem nur noch schwachen Widerhall am Rande seines Bewusstseins wurde. Doch schon in dem Moment, in dem er sich dessen bewusst wurde, kehrte die Qual zurück. Und schien Verstärkung mitgebracht zu haben. Ein gleißender Stich durchraste seinen Körper wie ein Stromstoß, angefangen von den Fußspitzen bis tief ins Gehirn hinein. Cloud bäumte sich erneut wie unter einem heftigen Stromstoß auf. SEHSA! Es war ein mentaler, spontaner Aufschrei, hinein in die gleißende Helligkeit, die ihn mit der Energie einer Sonne durchtoste. Und tatsächlich tat der Schrei seine Wirkung. Die weiche Stimme der KI meldete sich zurück. Sie klang wie immer. Der Kräfteschwund schien sie unberührt gelassen zu haben. Ich musste dich kurz allein lassen, erklärte sie nüchtern. Der Verlust
zahlreicher Systemfunktionen hatte meine Kapazitäten zeitweise überlastet. Lass mich hier raus!, brüllte John ihr im Geiste entgegen. Seine Wut war freilich nicht gegen die KI gerichtet, sondern gegen den brennenden Schmerz, der seine Nervenbahnen noch immer unter loderndes Feuer setzte, auch wenn er bereits wieder abklang – oder vielmehr: sich gleichmäßig in seinem ganzen Körper verteilte, statt wie zuvor in punktuellen Explosionen auf ihn einzuprasseln. Cloud kam es vor, als würde es eine weitere Ewigkeit dauern, bis der Deckel schließlich geöffnet wurde – auch wenn es sich in Wahrheit wahrscheinlich nur um Sekunden gehandelt hatte. Erleichtert nahm er wahr, wie die Kontakte sich lösten, ihn aus ihrem Klammergriff entließen. Erschöpft und schweißgebadet wollte er sich aufrichten, als er das bleiche Gesicht sah, das über ihm schwebte. Aylea. Sie wirkte besorgt. Ihre Augenlider flatterten, und ihre Mundwinkel zuckten. »Es ist alles gut«, versuchte Cloud sie zu beschwichtigen. »Alles in Ordnung. Es war nur ein zeitweiliges technisches Versagen. Es …« Er verstummte, als er in ihre Augen sah und erkannte, dass nicht er es war, dem ihre Sorge galt. »Es ist Jelto«, meinte sie und trat beiseite, sodass John sich vollständig aufrichten konnte und freie Sicht auf den Florenhüter bekam, der in der Mitte der Zentrale auf dem Boden lag. Seine Augen waren geschlossen, und sein hagerer, bleicher Körper wurde in regelmäßigen Abständen von konvulsivischen Zuckungen geschüttelt. »Ich habe versucht, ihn zu wecken«, erklärte sie. »Er reagiert nicht.« »Sehen wir ihn uns mal an«, entgegnete Cloud. Er wollte sich gerade aus dem Kommandosessel schwingen, als sich erneut die Stimme der KI zu Wort meldete und höchste Alarmstufe ausrief! Cloud und Aylea tauschten einen mehr als nur besorgten Blick. »Sesha, was ist los?« »Schlechte Neuigkeiten, Commander. Wir sind nicht mehr allein. Jemand hat die Bordschleusen überwunden und sich Zugang ins Schiffsinnere verschafft …«
Spätestens in dem Moment, in dem Jelto mit seiner Kontaktaufnahme begann, spürte er, dass etwas nicht stimmte. Ganz und gar nicht stimmte … Er hatte es schon zuvor gespürt. Im Laufe seines Lebens hatte er mit Gewächsen aus den unterschiedlichsten Winkeln der Milchstraße kommuniziert. Doch diese bizarre Vegetation hier war anders als alles, womit er es je zu tun bekommen hatte. Jelto wäre nicht so weit gegangen, sie bösartig zu nennen. Unnatürlich war das Wort, das ihm dazu spontan in den Sinn kam. Ja, das traf es ziemlich genau. Die Kraft, die diese Pflanzen beseelte, war keines natürlichen Ursprungs. Und er war selbst ein wenig überrascht darüber, dass er es erst jetzt bemerkte. Denn schon die Tatsache, dass sie im Vakuum existierten, gänzlich ohne Sauerstoff auskam, hätte ihm diese Erkenntnis nahelegen müssen. Es war dieses seltsame Licht, das über allem lag. Ein wohltuendes, labendes Leuchten, das pure Lebensenergie zu beinhalten schien. Und dabei dennoch geradezu gespenstisch auf ihn wirkte. Jelto hatte versucht, sich mental langsam an das Phänomen, an den Quell der Kraft heranzutasten. Sich nicht als Fremder zu gebärden, der sich ungebeten in ihren Einflussbereich begab. Er hatte sich bemüht, das Vertrauen der Flora zu gewinnen. Ihr zu zeigen, dass er verstand, was sie bewegte. Doch so weit kam es nicht. Die Fremdheit, die diese Pflanzenwelt beherrschte, machte eine Kommunikation so schwer wie die zwischen zwei Wesen, die ohne Kommunikationschip darauf angewiesen waren, in völlig unterschiedlichen Sprachen miteinander zu kommunizieren. Ganz davon abgesehen, dass es zunächst so gut wie unmöglich erschien, sich in dem Chor aus Tausenden von Stimmen überhaupt Gehör zu verschaffen. Jelto tat es behutsam, konzentrierte sich auf ihre Anwesenheit, öffnete seine mentalen Kanäle und stellte den Kontakt her. Es war vergleichbar mit einem Empfänger, der sich auf eine bestimmte Frequenz einstellt.
Und spätestens da wurde ihm klar, dass sie ihn nie als einen der ihren anerkennen würden. Es war unmöglich. Die Kluft zwischen der Kraft, auf die er konditioniert war, und jene, die diese Pflanzen beherrschte, war schlichtweg zu groß. Und dass er es dennoch versuchte, stellte sich rasch als großer Fehler heraus …
»Was geschieht nur mit ihm?« Ayleas Stimme schraubte sich in eine unangenehme Tonlage, die John in den Ohren schmerzte. Vermutlich auch deshalb, weil seine Sinne so kurz nach dem gerade Erlebten noch immer übersensibilisiert waren. Der Zustand des Klons war in den letzten Minuten bedenklicher geworden. Die Zuckungen waren zu regelrechten Stößen geworden. Jetzt bäumte er sich auf, als würde etwas in seinem Innern nach außen drängen. Schaum war auf seine Lippen getreten. Seine Aura reagierte mit pulsierendem Leuchten. »Ich weiß es nicht«, erwiderte er ehrlich und immer noch entsetzt über die Alarmmeldung, die die KI ihnen gerade gegeben hatte. Die Probleme wurden nicht weniger, drohten ihm über den Kopf zu wachsen. Jeltos Wohlbefinden war wichtig, durfte ihn aber nicht davon ablenken, die Identität der Eindringlinge in Erfahrung bringen zu müssen – und auf ihre Aggression zu reagieren. Zumindest dieses Problem löste sich in der nächsten Sekunde wie von selbst. Und brachte ein weiteres, wesentlich ernsteres mit sich. Als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, strömten die Fremden auch schon in die Bordzentrale. Ihr Anblick überraschte John. Er hatte Soldaten erwartet oder zumindest Personen, die aussahen, als könnten sie sich Respekt verschaffen. Die drei Gestalten, die ihm nun gegenübertraten, waren jedoch hager und bleich und in seltsame Gewänder gehüllt, die aus irgendeiner Naturfaser zu bestehen schien. Soweit John es feststellen konnte, waren sie unbewaffnet. Und zweifellos Angehörige der menschlichen Rasse.
Allein diese Erkenntnis erfüllte ihn mit einer gewissen Erleichterung. Es gab also noch Überlebende! Nicht alle waren der unbekannten Katastrophe zum Opfer gefallen. Die Menschheit existierte vielleicht noch! Fast wäre er den dreien um den Hals gefallen, so sehr erfreute es ihn. Schon der ernste, wenn auch emotionslose Ausdruck in ihren Gesichtern hielt ihn jedoch davon ab. Die Tatsache, dass sie unbewaffnet gekommen waren, stimmte ihn aber auch weiterhin zuversichtlich. Vielleicht ließen diese Leute ja mit sich reden, wenn er ihnen freundlich und offen entgegentrat. Andererseits bewahrte er sich jedoch auch ein gesundes Misstrauen. Sie hatten nicht wissen können, auf wen sie an Bord der RUBIKON treffen würden. Doch das unerlaubte Eindringen in ihr territoriales Gebiet konnte ihnen nur wie ein kriegerischer Akt erschienen sein. Gerade deshalb hielt John es für angebracht, von Anfang an seinen guten Willen, seine friedlichen Absichten zu bekunden. Mit einem freundlichen, aber keineswegs demutsvollen Lächeln trat er ihnen entgegen. Die Männer hatten ihn bisher ignoriert. Ihre Aufmerksamkeit hatte sich ganz auf Jelto konzentriert, der noch immer zuckend auf dem Boden kauerte, auch wenn sein Zustand sich inzwischen einigermaßen stabilisiert hatte. Aylea kniete neben ihm, hielt seine Hand. Ihre Blicke huschten ratlos zwischen den Eindringlingen und ihrem besten Freund hin und her. Dass sie mit der Situation restlos überfordert war, war offensichtlich. Und auch kein Wunder. Die Männer nahmen indes ihre Blicke von Jelto und sahen einander an. Seltsamerweise hatte Cloud das Gefühl, dass sie in eifrige Zwiesprache vertieft waren, obwohl kein Laut über ihre Lippen drang. Er hatte das oft genug bei den Foronen, den Erbauern dieses Schiffes, erlebt. Diese waren jedoch der Telepathie mächtig gewesen, hatten sich auf mentalem Wege verständigt und …
O mein Gott … Clouds Misstrauen wuchs. Gleichzeitig tat er sein Bestes, sich nichts anmerken zu lassen, sondern ergriff das Wort. »Ich möchte Sie an Bord willkommen heißen. Mein Name ist John Cloud. Ich bin der Kommandant dieses Schiffes und …« SCHWEIG!!! Die mentale Kraft, die mit diesem einen Wort auf ihn einstürmte, versetzte Cloud einen derartigen Schlag, dass er unwillkürlich das Gleichgewicht verlor, zurücktaumelte und rücklings zu Boden ging. Mit verzerrtem Gesicht griff er sich an seinen Kopf, in dem der Nachhall eines Schmerzes tobte, der wesentlich heftiger war als jener, der bei dem Aufprall durch seinen Steiß gezuckt war. »John!« Es war Aylea, die von irgendwoher seinen Namen rief. Cloud hatte keine Zeit, sich ihr zuzuwenden. Er hatte genug mit der Erkenntnis zu tun, dass aus seinem anfänglichen Verdacht nun Gewissheit geworden war. Diese Gestalten, die wie Menschen aussahen und sich auch wie solche verhielten, waren zweifelsohne telepathisch begabt. Und nicht nur das. So, wie sie ihre Kräfte eingesetzt hatten, um ihn mit einem einzigen mentalen Schlag zu Boden zu strecken, wunderte es ihn nicht mehr, dass sie »unbewaffnet« gekommen waren. Denn sie selbst waren … Waffen. Cloud mochte sich nicht ausmalen, wozu sie durch eine Bündelung ihrer Kräfte fähig waren. Er verdrängte den Schmerz und versuchte, sich langsam aufzurichten, als ihn ein weiterer mentaler Schlag niederstreckte. Wieder war es Aylea, die laut aufschrie. Doch diesmal hielt sie nichts mehr an ihrem Platz neben Jelto. Sie sprang auf, wollte John entgegenstürmen. Sie kam jedoch nicht weit. Irgendetwas griff nach ihr. Es war, als würden unsichtbare Hände nach ihren Armen und Beinen greifen, sie rasend schnell mit sich ziehen und sie mit unnachgiebiger Härte gegen die Wand der Zentrale pressen. Sie stieß ein ungläubiges Keuchen aus. Zu mehr war sie angesichts ihrer Überraschung offenbar nicht mehr in der Lage. Mit ausgestreckten Armen und gespreizten Beinen klebte sie an der Wand wie
ein Insekt auf einem Streifen Fliegenpapier. »Lasst sie in Ruhe!«, stieß John angestrengt aus, nur langsam wieder zur Besinnung kommend. »Sie ist doch nur ein …« SCHWEIG, HABE ICH GESAGT!! Diese dritte Attacke war zu viel für Johns bereits geschwächten Körper. Wie vom Hieb einer Elektropeitsche getroffen und paralysiert, stürzte er zurück zu Boden und blieb dort regungslos liegen. Aylea beobachtete das absonderliche Geschehen aus der Entfernung. Stumm und zu keiner Regung mehr fähig. Es war ein seltsames Bild, wie die drei Männer John wie einen nassen Sack erst auf die Beine und dann zum Schott der Zentrale zerrten. Vorbei an Jelto, der als zuckendes Bündel am Boden lag und dessen Zustand sich wieder zu verschlechtern schien. Ihr müsst ihm helfen!, wollte Aylea ihnen zurufen, doch ihr war, als wäre ihre Zunge verknotet und ihre Kehle zugeschnürt. Hilflos sah sie den Unbekannten dabei zu, wie sie den Commander der RUBIKON durch das Türschott schleiften.
Die Stimmung war feindselig. Jelto spürte sofort, dass er in ihrer Mitte nicht willkommen war. Ihm war, als würden sie ihn zurückstoßen, nach Art zweier gegenpoliger Magnete. Der Florenhüter versuchte, sich nicht beirren zu lassen. Unermüdlich kämpfte er gegen den Widerstand an, bis es ihm nach einer Weile wahrhaftig gelang, Boden gutzumachen. Tatsächlich sah es zunächst so aus, als würde es ihm doch allmählich gelingen, ihnen seinen Willen aufzuzwingen. Sie zu beherrschen. Er spürte, wie er mental in sie eindrang, spürte jede einzelne Pflanzenfaser, als wäre sie ein Teil seiner selbst. Und just, als er zu einem verzweifelten Kraftakt ansetzen wollte, um endgültig die Kontrolle zu übernehmen, schnappte die Falle zu …
Langsam erlangte Cloud das Bewusstsein zurück, während sie ihn durch die langen, kargen Gänge der RUBIKON schleiften. Mit einigem Befremden stellte er fest, dass sie sich an Bord verstörend gut auszukennen schienen. Fast unglaublich, wenn man bedachte, dass das gigantische Schiff über Bereiche verfügte, in die selbst John noch nie einen Fuß gesetzt hatte. Doch diese … Wesen (etwas in ihm sträubte sich allmählich, sie länger als Menschen zu bezeichnen, auch wenn sie das dem Äußeren nach offenbar waren) schienen genau zu wissen, wohin sie sich zu wenden, welche Abzweigung sie zu nehmen hatten. Gerade so, als würden sie von einem Kundigen ferngesteuert. Doch das war nicht das Einzige, was sonderbar war. Erst jetzt, da er Zeit hatte, darüber nachzudenken, fiel ihm auf, dass sie keine Raumanzüge, nicht einmal Sauerstoffmasken trugen. Irgendwie mussten sie aber an Bord gekommen sein. Wie war es ihnen möglich gewesen, so im Vakuum zu agieren? Wahrscheinlich auf dieselbe Art, wie es den Pflanzen möglich ist, ohne Atmosphäre zu leben und zu gedeihen … Während er so darüber nachdachte, erlangten die Neugier und der Wunsch, mehr über die Hintergründe dieser seltsamen Vorkommnisse herauszufinden, die Oberhand über seine Sorge. Hoffentlich, dachte Cloud, während er erneut der Bewusstlosigkeit entgegentrudelte, bleibe ich lange genug am Leben, um ihr Geheimnis zu lüften …
Es war, als hätte sich eine Schlinge um seine Kehle gelegt, ihn erst sanft gestreichelt und damit in Sicherheit gewiegt, um sich dann mit einem Ruck zusammenzuziehen. Jelto bäumte sich innerlich auf. Trotz der offenen Feindseligkeit, die er spürte, hatte er mit derartiger Gegenwehr nicht gerechnet. Immerhin hatte er sein Möglichstes getan, um seine friedlichen Absichten zu demonstrieren. Der Florenhüter verlor den Halt. Es fühlte sich an, als würde sein
Bewusstsein in eine lichtlose, bodenlose Tiefe trudeln. Vor seinem inneren Auge formte sich das Bild eines Tunnels, dessen glatte Wände an ihm vorbeijagten, während er kopfüber weiterstürzte. Ohne zu wissen, was genau passiert war, versuchte er erneut, seine Konzentration zu sammeln, seine geistigen Kräfte zu bündeln und auf einen bestimmten Punkt zu fokussieren. Es funktionierte. Der freie Fall wurde gestoppt. Sekundenlang fühlte er sich, als würde er in der Luft hängen. Gefangen zwischen zwei Welten. Bis es aus ihm herausbrach. Und er zurück an die Oberfläche stürmte …
Stöhnend öffnete John die Augen – und schloss sie sofort wieder, weil grelles Licht sich in seine Netzhäute fraß. Die Quelle des Lichts war nicht zu erkennen. Sie musste direkt auf ihn gerichtet sein. Irgendwo hinter dieser grellweißen Wand, die ihm jede Möglichkeit raubte, sich mit seiner neuen Umgebung vertraut zu machen. Er erkannte noch nicht einmal, ob er allein war oder ob noch jemand bei ihm weilte. Trotz geschlossener Augen senkte er den Blick und schirmte die Lider zusätzlich mit den Händen ab. »Name?«, fragte plötzlich eine neutral klingende Stimme. Der Sprecher musste sich irgendwo hinter der Lichtquelle aufhalten. John versuchte, durch seine Finger zu spähen, doch das Licht war noch immer zu grell, um sich ihm unbeschadet auszusetzen. »John Cloud«, gab John wahrheitsgemäß zurück. Er sah keinen Sinn in einem Versteckspiel. Vielmehr hoffte er nach wie vor, die trotz aller Absonderlichkeiten noch immer menschlich wirkenden Bewohner dieser seltsamen Hohlwelt auf seine Seite ziehen zu können, wenn er ihnen seine Absichten nur glaubhaft machen konnte. Ganz davon abgesehen, dass sie als Telepathiebegabte jedes Täuschungsmanöver vermutlich ohnehin durchschaut hätten. »Herkunft?« »Planet Erde!« Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.
Die Reaktion darauf ließ einen Moment auf sich warten. Seine Befrager (oder war es nur einer?) schienen sich nicht ganz sicher zu sein, wie sie seine Antwort bewerten mussten. Cloud vernahm ein leichtes Vibrieren unter seiner Schädeldecke und bäumte sich bereits in Erwartung eines weiteren mentalen Peitschenhiebs auf. Doch dieser blieb aus. Und als er die Antwort seines Gegenübers vernahm, ahnte er auch, warum: »Du sprichst offenbar die Wahrheit.« Damit war klar, dass sie, wie zuvor schon befürchtet, in seinen Gedanken gestöbert hatten. Das, was sie dort gefunden hatten, schien sie sowohl zu besänftigen als auch zu irritieren. Diesen Schluss erlaubte zumindest der Tonfall, in dem die Feststellung getroffen worden war. »Wie ist das möglich? Ein Fluggerät wie das deine ist keinem von uns bekannt. Wie wird es betrieben? Wo kommst du damit her?« »Aus der Zukunft …«, fiel Cloud ihm ins Wort, bevor er weitere Fragen stellen konnte. »Na ja …, eigentlich aus der Vergangenheit … Glaubt mir: Das ist alles sehr kompliziert.« John Cloud versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Wie sollte er diesen Leuten in der Kürze der Zeit verständlich darlegen, was es mit ihm, seinen Gefährten und der RUBIKON auf sich hatte? »Ihr müsst mir glauben«, sagte er schließlich. »Wir wollen euch wirklich nichts Böses. Wir sind hier, um euch nötigenfalls zu helfen. Wir wissen von dem ungefähren Schicksal, das euch und eure Vorfahren ereilt hat. Wir kennen sogar den, der es verursacht hat …« »Du kennst die Stummen Götter?«, fragte einer von ihnen verwundert. Cloud konnte nicht sagen, ob es der erste oder der zweite Sprecher war. Bis auf winzige Nuancen unterschieden sie sich in Tonfall und Tonlage kaum voneinander. »Die stummen …?« Cloud hielt inne, bevor er noch etwas Falsches sagte, machte sich jedoch im selben Moment bewusst, dass sie ohnehin in seinen Gedanken lasen, dass ihm der Begriff nichts sagte. »Sie brachten einst das Unheil über unsere Vorfahren. Straften sie für ihre Dekadenz und zwangen sie zu einem Leben in Armut und Demut.«
»Ich muss gestehen«, entgegnete Cloud, »dass ich noch nie etwas von ihnen gehört habe.« »Das ist schwer vorstellbar. Jeder auf der Welt weiß von ihnen.« »Sagen wir's mal so: Ich war schon lange nicht mehr in der Gegend«, gab Cloud zurück – ein wenig zu flapsig, wie er selbst bemerkte. »Ich habe euch doch erklärt, dass ich ursprünglich aus der Vergangenheit komme. Ich habe keine Ahnung, was seit der großen Katastrophe auf der Erde passiert ist. Seht doch in meinem Kopf nach, wenn ihr meinen Worten nicht glaubt.« Dabei tippte er sich demonstrativ an die Stirn. Sekundenlang herrschte völlige Stille. Die anderen schienen sich zu beraten. Anscheinend waren sie zu einer Entscheidung gekommen, denn einer von ihnen sagte: »Du scheinst erneut die Wahrheit zu sagen. Außerdem scheinst du tatsächlich mehr über die Ereignisse von damals zu wissen. Wir spüren, dass du über Informationen verfügst, die uns Aufschluss geben können über das, was unser Volk ins Unglück stürzte.« »Ich will euch gerne weiterhelfen, so gut ich kann«, bot Cloud an. »Das ist gar kein Thema.« Erleichtert stellte er fest, dass er gerade dabei war, Oberwasser zu bekommen. Dass sie anfingen, ihm zu vertrauen. Und genau darin, so viel war ihm schon lange klar, bestand der einzige Ausweg aus dieser Misere. »Wir danken dir für dein Angebot«, gab der unsichtbare Sprecher zurück. »Doch höre zunächst, was wir dir zu berichten haben. Vielleicht gelingt es dir dann besser, die Lücken in deinem Wissen, die vorhanden zu sein scheinen, zu schließen.« Kein schlechter Vorschlag, ging es Cloud durch den Kopf. Sein Puls beschleunigte sich, seine Hände wurden feucht. Sollte er in den nächsten Minuten tatsächlich erfahren, was in den letzten Jahrzehntausenden geschehen war, die auf der Erde objektiv verstrichen waren? Wenn dem so war, dann hatte es sich in der Tat gelohnt, sich hierher verschleppen zu lassen, bemerkte er in einem Anflug von Sarkasmus und neu erwachtem Übermut.
»Dann schießt mal los!« Er wollte sich gerade zurücklehnen, als er spürte, wie etwas in sein Bewusstsein eindrang und es mit Gedanken füllte, die nicht seine eigenen waren. Cloud stöhnte auf, überwältigt von dem Sturm der Bilder, der mit einem Mal über ihn hereinbrach, ihm Dinge offenbarte, die er in seinen kühnsten Träumen nicht für möglich gehalten hätte. Als es vorbei war, klärte sich sein Blick. Zu seiner Erleichterung stellte er fest, dass die Lichtquelle – worum es sich dabei auch immer gehandelt haben mochte – nun abgeschaltet war und er in die Gesichter der beiden Männer blicken konnte, die vor ihm saßen. Sie waren schwer zu definieren. Irgendwie wirkten sie glatt und leer und ohne jede Besonderheit, an der man sich hätte festhalten können. Hätte Cloud die beiden später zwecks der Erstellung eines Phantombilds beschreiben sollen, er hätte es nicht gekonnt. Hektisch huschten seine fassungslosen Blicke zwischen den beiden hin und her. Er war von der Flut der Informationen noch immer überwältigt und sekundenlang unfähig, auch nur einen Gedanken zu fassen, bis ihm wenigstens ein einziger klarer Satz über die Lippen kam: »Das ist nicht euer Ernst …?«
Jelto war zurück, und zum ersten Mal spürte er, dass er es schaffen konnte. Er hatte sich nicht nur aus dem mentalen Klammergriff befreit. Seine erste, verlorene Schlacht hatte ihm offenbart, welche Strategie er anwenden musste, um die Oberhand zu gewinnen. Er durfte sie weder als Gleichgesinnte und Verbündete noch als Gegner betrachten. Die Kraft, die sie beseelte, war keines natürlichen Ursprungs, deshalb konnte er nicht dieselben Maßstäbe anlegen wie bei anderen Gewächsen, mit denen er in früheren Zeiten zu tun hatte. Auf diese Energie friedvoll einzuwirken, hatte von vorneherein keinen Zweck. Es entsprach schlichtweg nicht seiner genetischen Konditionierung.
Aber er konnte ihr seinen Willen aufzwingen. Und er spürte, dass er die Macht dazu besaß. Ohne noch mehr Zeit zu verlieren, entfesselte er seine mentalen Kräfte, die wie ein Buschfeuer über sie kamen, sie mit seinem Willen infizierten … bis sie sich schließlich von ihm steuern ließen …
Noch während Jelto die Augen öffnete, verzogen sich seine Lippen zu einem zufriedenen Lächeln. Dann gewahrte er die Gesichter der Kameraden, die über ihm schwebten. Aylea, Jarvis, Algorian, Cy, Jiim. Sie alle waren wieder vereint. Doch etwas war seltsam. Kam es ihm nur so vor, oder lag tatsächlich tiefe Sorge in ihren Blicken? Anscheinend hatten sie noch immer nicht verstanden, dass es ihm gut ging. Er richtete sich auf, lächelte dabei erneut, um seiner Freude Ausdruck zu verleihen. »Es ist geschafft! Ich habe das Pflanzendickicht zurückgedrängt! Wir können aufbrechen! Wir …« Er hielt inne. Erst jetzt bemerkte er, dass einer von ihnen fehlte. Und sofort erahnte er auch den Grund für die Sorge der Anwesenden. Deshalb wagte er kaum, die Frage zu stellen, die ihm drängend wie keine andere auf der Zunge brannte: »Wo – ist John …?«
7. Kapitel – Das Tribunal aus den Aufzeichnungen des Reuben Cronenberg Die junge Frau musterte mich wie einen bösen Geist mit ihren teichgroßen Augen, in denen sich das Mondlicht spiegelte. Den Dolch hatte sie gesenkt. Mir entging jedoch nicht, dass ihre Unterarmsehnen gespannt blieben. Bereit, mir das scharfe Mordinstrument jederzeit entgegenzuschleudern, sollte ich eine falsche Bewegung machen. Offenbar hielt sie mich für einen mordlüsternen Unhold. Nicht ganz zu Unrecht, wie ich mir selbst eingestehen musste. Immerhin hatte ich sie über das Schicksal ihres Gefährten belogen. Selbstverständlich gab es ein Gegenmittel zu dem Gift des Jumquats. Man gewann es aus der Rinde eines Baumes, der auf demselben Planeten beheimatet war. Und wenn man es ganz genau nahm, hätte ich sogar eine Ampulle dieses Gegengifts bei mir gehabt. Doch hätte ich sie dem armen Teufel verabreicht, ihn damit geheilt, hätte er der jungen Frau und ihrem anderen Begleiter vermutlich so einiges erzählt, was mich in die prekäre Lage gebracht hätte, alle drei töten zu müssen. So wusste er zum Beispiel, wie ich den dreien zuvor seit der letzten Siedlung gefolgt war, wo ich von der Identität der beiden Männer erfahren hatte. Oder dass ich nach zwei Tagen den Entschluss gefasst hatte, einen der Männer in meine Gewalt zu bringen. Dass ich ihn nachts, als alle schliefen, mit einer gezielten Injektion des Jumquats-Giftes gefügig gemacht und dazu gebracht hatte, mir in die Nacht zu folgen. Hätte ich gewusst, dass der gute Londan ebenso planlos war wie jeder andere sogenannte Wissenschaftler, der mir auf meiner Wanderschaft begegnet war, hätte ich ihn verschont. Das hätte ich wirk-
lich. Um auf meine nicht ganz ernst gemeinte Bemerkung zurückzukommen: Ich bin kein mordlüsterner Unhold. Das Töten macht mir keinen Spaß, auch wenn ich feststelle, dass es mir zunehmend leichter fällt. Eigentlich bin ich ein ziemlicher Pragmatiker und weiß als solcher, wann es sich lohnt, ein Ei zu zerbrechen. Für gewöhnlich jedenfalls. Dummerweise konnte ich Londan nicht einfach so gehen lassen. Ich verabreichte ihm einen weiteren Schuss. Eine erhöhte Dosis diesmal, und setzte ihn in der Nähe des Lagers seiner beiden Gefährten aus, die ich während der ganzen Zeit stets im Auge behalten hatte. Wie erwartet, gab Londan mir die Möglichkeit, mich als edler Ritter zu präsentieren, der die in Not geratene Jungfrau vor dem bösen Monster beschützt. Zugegeben, zunächst sah sie mich an wie das böse Monster. Doch das sollte sich ändern. Gegen meinen Willen musste ich schmunzeln, wie sie neben der Leiche ihres Kameraden stand, ihr immer wieder schnelle Blicke zuwarf und es doch nie wagte, mir vollständig den Rücken zu kehren. »Ich habe dir meinen Namen genannt. Verrätst du mir deinen?« Natürlich wusste ich ihn längst. Hauptsächlich wollte ich die Begrüßungsarie so schnell wie möglich hinter mich bringen, damit ich ihr offiziell vorgestellt war und nicht Gefahr lief, mich in einem unaufmerksamen Moment zu verplappern, indem ich sie mit ihrem Namen ansprach. Habe ich erwähnt, dass ich stets alle Eventualitäten im Auge behalte? Nachdem wir das geklärt hatten, dauerte es nicht lange, und ihr Begleiter erwachte. Ich hatte mich sowieso schon gewundert, wie er es fertiggebracht hatte, den ganzen Trubel ringsum zu verschlafen. Was für ein Abenteurer! Später sah ich mich gezwungen, meinen ersten Eindruck zu revidieren. Neeto war gerissener, als es zunächst den Anschein hatte. Bei unserer ersten Begegnung hätte ich ihn mir, mit seinem Haarkranz und der ständig geröteten Knubbelnase, sehr gut in irgendeinem Labor
vorstellen können, nicht jedoch in der freien Natur. Labore gab es keine mehr, seit die Katastrophe über uns gekommen war. Jedenfalls keine, mit denen noch etwas anzufangen gewesen wäre. Die Katastrophe hatte jede auf moderne Stromquellen basierende Technik zerstört. Und ich hatte mir in den Kopf gesetzt, herauszufinden, was die Ursache dafür war. Zumal ich eine dunkle, eine sehr dunkle Ahnung hatte, die ich bestätigt sehen musste, um sie glauben zu können. So war ich aufgebrochen. Zugegeben, in den ersten Jahren unmittelbar nach der Katastrophe hatte ich genauso ums nackte Überleben zu kämpfen gehabt wie jeder andere Sterbliche auf Erden. Ich müsste lügen, würde ich behaupten, dass mich die Ereignisse nicht ebenso kalt erwischt hätten wie alle anderen. Dabei befand ich mich zu jenem Zeitpunkt eigentlich in einer Position, von der ich geglaubt hatte, dass mir in ihr nichts mehr, was sich auf Erden ereignete, entgehen konnte. Ich hatte die absolute Macht. War der Herrscher der Welt. Und das ist nicht nur so dahingesagt. Darabim, der Keelon, hatte mich nach der Ermordung der Master und vor seinem Weggang mit der uneingeschränkten Verfügungsgewalt über ein ganzes Imperium ausgestattet. Und je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu dem Schluss, dass dieser elende Wicht genau gewusst hat, was bald darauf über die Menschheit hereinbrechen würde! Wie gesagt, ich brauchte Gewissheit. Doch nicht nur das. Ich brauchte etwas, an das ich mich klammern, etwas, dessen Erforschung ich mich mit ganzer Kraft widmen konnte. Sonst wäre ich unweigerlich zugrunde gegangen. Ich bin nicht dazu bestimmt, ziellos dahinzuvegetieren und mich nur dem Erhalt meiner eigenen Körperfunktionen zu widmen. Schon deshalb waren die ersten Jahre schlimm. Nachdem es mir in letzter Sekunde gelungen war, mich aus der zur Falle verkommenen Master-Residenz zu retten, war ich zunächst tagelang ziellos durch das Chaos einer brennenden Stadt ge-
streift und hatte mich schließlich dem Tross der Heimatlosen angeschlossen, der sich auf den Weg in die unbesiedelten Außenbezirke machte. Zusammen mit Menschen, die den bescheidenen Rest ihrer Habseligkeiten auf den Rücken geschnallt hatten, die schreiende Kinder auf den Armen vor sich hertrugen und sich immer noch fragten, was zur Hölle da über sie hereingebrochen war. Man musste sich diese Situation erst einmal vergegenwärtigen: Zur Zeit der Katastrophe hatten nur noch etwa 150 Millionen Menschen auf der Erde gelebt, verteilt auf wenige Metrops. Der Rest der Welt war zu einem gigantischen Reservat geworden, das nicht nur irdischer Flora und Fauna Lebensraum bot, sondern mit außerirdischen Lebensformen vermischt worden war, die man nach und nach von fremden Planeten importiert hatte. Auf einmal aber lagen die einzelnen Metrops unendlich weit voneinander entfernt, die Wege dazwischen waren voller Gefahren. Auch ich war zunächst von einem provisorischen Lager zum nächsten gewandert, rastlos und dabei immerfort auf der Suche nach einem Menschen, der bereits eine Theorie über die Ursache der Katastrophe entwickelt hatte. Unnötig zu sagen, dass meine Suche in den Flüchtlingsgebieten erfolglos geblieben war. Die Menschen hatten andere Sorgen. Auch und gerade die Gescheitesten unter ihnen. Je mehr Tage ins Land zogen, desto mehr wurde den Leuten klar, dass es sich bei dem völlig abrupt eingetreten Technikversagen um kein zeitweiliges Problem handelte und dass sich die Zivilisation, wie sie sie gekannt hatten, nicht mehr nur am Abgrund befand, sondern längst einen Schritt darüber hinaus. Aus Wochen wurden Jahre. Dabei konnte ich beobachten, dass es den Menschen beständig leichter fiel, mit den veränderten Gegebenheiten zurechtzukommen. Ich muss gestehen, ich war durchaus beeindruckt. Auch wenn es lange keine Gewissheit gab, ahnten wir natürlich infolge ausbleibender Hilfe irgendwann, dass sich die Katastrophe nicht nur auf unsere eigene Metrop beschränkte. Sicher, wenn es irgendetwas gab, das unsere Technik unbrauchbar
machte, würden auch eventuelle Rettungsmannschaften eine Weile benötigen, um ins Katastrophengebiet vorzudringen. Doch als auch nach einigen Jahren immer noch keine Hilfe eingetroffen war, mussten wir uns mit dem Gedanken abfinden, dass das Problem weitreichender war als befürchtet. In mir wuchs immer mehr der Wunsch, meine Suche nach der Wahrheit auf weiter entfernte Gebiete auszuweiten. Eine bloße Vermutung reichte mir nicht. Ich musste wissen, was in den anderen Metrops geschehen war. Vielleicht hatte es sie ja nicht ganz so schlimm getroffen wie die unsere. Vielleicht war Washington tatsächlich das Epizentrum gewesen. Und wenn dem so war, dann war anderswo vielleicht noch etwas zu retten. Ich dachte sehr irrational seinerzeit. Denn klar war auch: Die Erinjij-Einheiten hätten längst ihre Aufklärer schicken und nach dem Rechten sehen müssen – wenn es sie denn noch gegeben hätte! Es dauerte wiederum Jahre, bis ich mich in die Lage versetzt sah, meinen immer dringlicher werdenden Reisewunsch in die Tat umzusetzen. Lange Zeit war die Lage einfach zu gefährlich, um allein und zu Fuß die Wildnis zu durchstreifen. Die Gefahren waren vielfältig, reichten von unsicheren Witterungsverhältnissen über marodierende Banden und anderes lichtscheues Gesindel bis hin zu einer nicht zu unterschätzenden, fremdartigen Vegetation, die bis vor der Katastrophe in Reservaten gehegt, danach jedoch außer Kontrolle geraten war und sich über deren Grenzen hinweg ausgebreitet hatte. Der konkrete Entschluss, es dennoch zu wagen, reifte in mir, nachdem ich im Laufe der letzten Jahre immer mehr Wanderer getroffen hatte, die aus entlegeneren Gebieten gekommen waren und von ihren Erfahrungen berichten konnten. Allmählich bekam ich einen einigermaßen genauen Eindruck von der Situation in den Regionen rund um die Metrop. Ich fing an, die Informationen zusammenzutragen, sie genauestens zu analysieren und mir auf Basis dieser Daten einen Plan zurechtzulegen. Dieser sah so aus, dass ich versuchte, mich über einen offenbar relativ sicheren Korridor entlang mehrerer provisorischer Siedlungen
ins Landesinnere und von dort aus weiter bis zur gegenübergelegenen Küste durchzuschlagen. So weit war noch keiner, mit dem ich bis dato gesprochen hatte, gekommen. Das Risiko war deshalb nach wie vor nicht zu unterschätzen. Meine Hoffnung bestand vor allem darin, mir aus weiteren Informationen, die ich unterwegs aufschnappte, ein noch genaueres Bild zu formen. Je näher ich meinem Ziel kam, so meine Vermutung, desto wahrscheinlicher war es, auf Leute zu treffen, die mehr über die Verhältnisse in entlegeneren Teilen des Kontinents wussten. In die beiden Wissenschaftler hatte ich meine bis dahin größten Hoffnungen gesetzt. Sie schienen zu wissen, was sie taten, und weiter herumgekommen zu sein als jeder andere, mit dem ich bisher zu tun gehabt hatte. Umso enttäuschter war ich, als ich herausfand, dass diese im Grunde noch weniger wussten als ich. Dass sie die letzten Jahre damit verbracht hatten, in einem immer größeren Radius das Gebiet rund um Washington zu durchstreifen. Den Entschluss, sich weiter davon zu entfernen, hatten sie etwa zur selben Zeit getroffen, als auch ich meine Wanderschaft begonnen hatte. Damit hatten wir in etwa denselben Wissensstand, denselben Erfahrungsschatz. Das war nicht viel, aber besser als nichts. Ich beschloss, mich den beiden verbliebenen Teilnehmern der Expedition eine Zeit lang anzuschließen. Wenn sie mich denn in ihrer Mitte duldeten. Aber diesbezüglich hatte ich keine wirklichen Bedenken.
Ihre Ratlosigkeit stand den Zurückgelassenen deutlich ins Gesicht geschrieben. Stunden hatten sie jetzt schon diskutiert, ohne zu einem zufriedenstellenden Ergebnis gekommen zu sein. Jarvis hatte darauf bestanden, auf eigene Faust loszuziehen, um John aus der Gewalt seiner Entführer zu befreien. Nur die Überzeugungskraft von Aylea, die die Macht des Gegners am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte, konnte Jarvis davon abhalten, auf der Stelle nach draußen zu stürmen und Johns Spur aufzunehmen.
Ihre Argumente hallten in Jarvis' Gedanken nach. Wenn es sich bei diesen … Menschen tatsächlich um paranormal begabte Overheads handelte, war in der Tat überlegtes Handeln angesagt. Mit dem Kopf durch die Wand zu gehen, wie Jarvis es gerne tat, konnte ihnen in diesem Fall größere Probleme bescheren, als es ihnen half. Außerdem hatten sie nicht einmal ansatzweise einen Hinweis darauf, wohin die Entführer ihren Commander verschleppt hatten. Wenn Jarvis nur an die bizarre, stellenweise schier undurchdringliche Dschungelwelt da draußen dachte, wurde ihm ganz anders zumute. Aber einfach nur abwarten und nichts tun …? Jarvis nutzte den Moment des allgemeinen Schweigens dazu, seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Einer davon beherrschte ihn besonders intensiv: Was würde John tun? Die Antwort lag auf der Hand. Jarvis musste sich nur vor Augen führen, was John getan hatte, als Jiim verschwunden gewesen war. Er hatte nicht lange gezögert und dann eine Entscheidung getroffen, die unter anderen Umständen nur als »absolut irrsinnig« zu bezeichnen gewesen wäre. Gut, sie hatten die Entscheidung gemeinsam getroffen, wie sie es immer taten. Doch zweifelsohne war John der Motor gewesen. Ohne seine Entschlusskraft hätten sich auch die anderen zu keiner Entscheidung durchringen können. Auch wenn diese Entschlusskraft häufig nur Fassade war, wie Jarvis aus vielen persönlichen Gesprächen mit seinem Freund wusste. Wer ihn gut kannte, hätte auch bei der Entscheidung über Jiims Befreiung gemerkt, dass er seine Zweifel nicht ausgeräumt, sondern nur gut genug unter Kontrolle gehalten hatte, um sie daran zu hindern, ihre Saat in die Köpfe der Kameraden zu streuen. So und nicht anders verhielt sich ein wahrer Führer. Und obwohl Jarvis die Befehlsgewalt nach Johns Entführung nie offiziell für sich beansprucht hatte – und dies auch nie tun würde –, so spürte er doch, dass die anderen sie ihm zuerkannten. Ob be-
wusst oder unbewusst, weil er nun mal Johns engster Vertrauter war, blieb dahingestellt. Jedenfalls blickten sie zu ihm auf und erwarteten eine Antwort von ihm. »Ich bin dafür, es dennoch zu versuchen!«, sagte er mit fester Stimme. Jelto und vor allem Aylea blickten überrascht zu ihm auf. Algorian ließ dagegen keine Regung vernehmen, während Cy, das Pflanzenwesen, nervös mit seinen Blättern raschelte. Jiim fehlte als Einziger. Auch wenn er gerne dabei gewesen wäre und sich seine Gedanken mit Sicherheit in diesen Momenten ebenfalls um Johns Schicksal drehten, so hatte er etwas zu erledigen, das keinen Aufschub erlaubte. Er musste sich um Yael kümmern, der während der ganzen letzten Zeit erkennbar unter der Abwesenheit seines Elters gelitten hatte. Dass Jiim sich fürs Erste zu ihm in den Pseudo-Schrund zurückgezogen hatte, dafür hatte jeder von ihnen Verständnis. »Wir hatten uns doch gerade darauf geeinigt, dass wir …« »Wir haben uns überhaupt nicht geeinigt«, unterbrach er die Zwölfjährige. »Wir haben lediglich beschlossen, mit unserer Entscheidung noch abzuwarten.« Jarvis hätte sich am liebsten selbst auf die Zunge gebissen. John war ihnen nie ins Wort gefallen, wenn es darum ging, ein wichtiges Problem zu erörtern. Er hatte jedem von ihnen stumm zugehört und gewartet, bis der andere geendet hatte, bevor er seine Einwände vorgebracht hatte. Jarvis wurde sich bewusst, dass er noch viel zu lernen hatte, wenn er den anderen ein würdiger Anführer sein wollte. »Das war vor nicht mal zehn Minuten!«, empörte sich Aylea, nicht ganz zu Unrecht, wie Jarvis sich eingestehen musste. »Wie kommst du dazu, eine Entscheidung zu treffen, ohne noch mal Rücksprache zu halten?« »Warum stimmen wir nicht ganz einfach ab?«, entgegnete Jarvis und hob gleich als Erster die Hand. »Ich bin dafür, dass wir eine Expedition losschicken.« Er schaute in die Runde, warf einem nach dem anderen auffordernde Blicke mithilfe seiner perfekten Maske zu. Es dauerte einen Moment, doch dann hob auch Algorian zögernd
die Hand. »Na gut«, versetzte Aylea trotzig. »Ich bin dagegen. Wer noch?« Auch Jelto zögerte, doch dann schloss er sich seiner Freundin an. Alle Blicke wanderten zu Cy, der sich noch gar nicht zu Wort gemeldet hatte. Dem Aurigen war die allgemeine Aufmerksamkeit, die ihm auf einmal zuteilwurde, sichtlich unangenehm. Schließlich verkündete er, dass er sich außerstande fühle, zum jetzigen Zeitpunkt eine so weitreichende Entscheidung zu treffen, und er sich deshalb lieber enthalten würde. Aylea warf Jarvis einen triumphierenden Blick zu. »Damit steht es zwei zu zwei.« »Einer fehlt noch«, wandte Jarvis ein und musste niemandem erklären, wen er damit im Sinn hatte. »Jiim hat zurzeit ganz andere Sorgen«, meinte Algorian. »Du solltest ihn jetzt nicht damit unter Druck setzen.« »Er würde mir zustimmen«, behauptete Jarvis mit felsenfester Stimme. »Schließlich hat John erst kürzlich dasselbe für ihn getan.« »Untersteh dich, Jiim moralisch unter Druck zu setzen«, warnte Aylea mit bitterböser Miene. »Ich bezweifle, dass er bereits in der Lage ist, eine objektive Entscheidung zu treffen. Er ist …« »Ich bin dafür!« Alle wandten sich Jiim zu, der unbemerkt die Zentrale betreten und die Diskussion wohl schon eine Weile verfolgt hatte. »Jiim …«, setzte Aylea zögernd an. »Du hast sie doch erlebt, diese komischen Typen.« »Eben deshalb«, meinte der Narge. »Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie uns feindlich gesinnt sind.« »Dann frag mich mal!« Aylea rollte mit den Augen. »Sie haben dich nur außer Gefecht gesetzt«, widersprach Jiim. »Sie haben dir jedoch kein Leid zugefügt.« »Toll. Ich schreib bei Gelegenheit 'ne Dankeskarte.« Jarvis warf ihr einen strafenden Blick zu, dann wandte er sich an den Nargen. »Jiim, vielleicht erklärst du uns mal in aller Deutlichkeit, was du damit meinst.«
»Wie schon gesagt«, holte der Narge aus. »Ich glaube nicht, dass sie uns Böses wollen. Ich hatte mehr den Eindruck, dass sie nicht viel mit uns anfangen können. Sie wissen nicht, wie sie uns einordnen sollen. Immerhin sind wir gewaltsam in ihr Reich eingedrungen. Ich glaube, wir sind ihnen ein ebenso großes Rätsel wie sie uns.« Er machte eine Pause, ließ dabei seine Blicke über die Zuhörer wandern, die nachdenklich ihren Gedanken nachhingen. »Überlegt doch mal: Warum haben sie nur John mitgenommen, den Rest von uns jedoch verschont? Sie wollen uns nichts tun, sie wollen Antworten. Diese erhoffen sie am ehesten von unserem Anführer. Wir sollten versuchen, Kontakt aufzunehmen. Sie von unseren guten Absichten überzeugen. Ein erster Schritt ist bereits getan. Ich glaube, ich habe ihr Vertrauen gewonnen. Wieso sonst hätten sie ihr Wissen mit mir geteilt?« »Ja, aber«, hielt Aylea dagegen, »wäre es dann nicht erst recht besser, einfach abzuwarten, bis sie John freilassen?« »Ich bin mir nicht sicher, ob sie das in absehbarer Zeit tun werden.« »Aber du hast doch gerade gesagt …« »Ich habe gesagt, dass ich nicht glaube, dass sie uns etwas tun wollen. Dazu sind wir zu wertvoll für sie. Wir verfügen über Informationen, die ihnen dabei helfen, ihren eigenen Kenntnisstand aufzufrischen. Es sieht nämlich nicht so aus, als wüssten diese Wesen, was vor etwa dreißigtausend Jahren wirklich über sie hereingebrochen ist.« »Du meinst …?« »Wir sind ihnen eine zu wichtige Informationsquelle, um uns etwas anzutun. Zu wichtig allerdings auch, um uns so einfach ziehen zu lassen. Ich fürchte, wir müssen uns auf einen längeren Aufenthalt einstellen.« »Den wir genauso gut nutzen können, um unsere Umgebung zu erkunden«, meinte Jarvis mit einem zufriedenen Blick in die Runde. »Exakt«, schloss Jiim sich ihm an. »Wieso sollen wir nur tatenlos herumsitzen. Vielleicht gelingt es uns ja, Kontakte zu knüpfen, die
mit einem Nutzen für beide Seiten verbunden sind. Vielleicht können wir sie davon überzeugen, dass wir mehr sind als nur ein Untersuchungsobjekt.« Dem konnte selbst Aylea nicht widersprechen. Sie einigten sich darauf, dass Jarvis und Algorian den Aufbruch wagten, während die anderen an Bord der RUBIKON auf eine mögliche, wenn auch kurzfristig unwahrscheinliche Rückkehr John Clouds warten sollten. Jarvis versprach außerdem, stets mit der RUBIKON in Kontakt zu bleiben, um beim Auftreten einer wie auch immer gearteten Ausnahmesituation schnell reagieren zu können. Ein Entschluss, der zu Jarvis' Erleichterung einhellig akzeptiert wurde.
8. Kapitel – Erste Veränderungen Nahe der ehemaligen Metrop Moskau im Jahre 836 ZSG Jolanda lief immer schneller durch das noch feuchte Gras, das den Saum ihres Faltenrocks durchnässte, sodass er wie ein nasser Lappen um ihre Beine schlug. Die Nacht war noch nicht angebrochen, hatte jedoch bereits ihren Boten als Vorhut geschickt. Stumm und bleich stand er am Himmel und blickte tadelnd auf das Mädchen hinab, das aus dieser Höhe inmitten der Weite des Landes so verloren aussehen musste wie ein Staubkorn im Wind. Jolanda wusste, dass sie längst hätte zu Hause sein sollen, doch sie hatte die Zeit schlichtweg vergessen. Eigentlich, fiel ihr mit schlechtem Gewissen ein, hätte sie gar nicht allein umherstreifen dürfen. Ihre Eltern hatten ihr den Ausgang nur erlaubt, weil sie glaubten, dass sie mit ihrer Freundin Elena und deren Vater Sergej, einem Holzfäller aus der Gegend, unterwegs war. So war es ursprünglich auch geplant gewesen. Doch anstelle der beiden war Illja, Elenas älterer Bruder, auf dem Hof erschienen, um ihr mitzuteilen, dass Elena über Nacht am Fieber erkrankt war. Jolanda hatte Illja gebeten, sie trotzdem mitzunehmen, damit sie ihrer Freundin einen Besuch abstatten konnte. Illja hatte das abgelehnt mit der Begründung, dass Elenas Krankheit vermutlich ansteckend sei und sie bis zur Ankunft des Heilers von den anderen isoliert werden musste. Jolandas Eltern waren beide in der nächsten Siedlung, um dort ihren wöchentlichen Tauschgeschäften nachzugehen. Jolanda hatte deshalb gewartet, bis Illja den Hof verlassen hatte und außer Sichtweite war, dann war sie aus dem Haus geschlichen und allein zu Jo-
landas Hütte aufgebrochen. Der direkte Weg zum Haus des Holzfällers führte durch ein kleines Waldstück, zu dem sie bisher immer respektvollen Abstand gehalten hatte. Dieser Respekt war nicht unbegründet. Es gab wilde Tiere, die die Gegend unsicher machten. Wolfsartige Kreaturen, die nur darauf warteten, dass ihnen so ein Happen zartes Mädchenfleisch vor die Zähne kam. Lange hatte sie diese Geschichten für Ammenmärchen gehalten. Erfunden zu dem Zweck, kleine Kinder zum Gehorsam zu erziehen. Doch dann hatte ihr Vater, zusammen mit drei weiteren Männern, eine ebensolche Kreatur von einem Jagdausflug mit nach Hause gebracht. Sie war freilich tot gewesen und mit den Pfoten an einen dicken Ast gebunden, den die Männer voller Stolz durchs Dorf getragen hatten. Trotzdem hatte Elena nur einen kurzen, respektvollen Blick riskiert. Die Kreatur war gut dreimal so groß wie sie selbst gewesen. Und furchterregend, auch noch im Tod, mit grimmigen gelben Augen, einem struppigen, grau-schwarz gepunkteten Fell und einem Maul, aus dem zwei lange, gebogene Zähne hervorragten. In letzter Zeit waren diese Monster zahlreicher in der Gegend erschienen als jemals zuvor. Früher hatten sie sich angeblich nicht in die Dörfer getraut. Das jedenfalls hatte sie ihre Großmutter sagen hören, als sie sie und ihre Mutter beim Wäschewaschen belauscht hatte. Anscheinend hatten die Menschen in grauer Vorzeit diese Tiere in streng bewachten Parzellen gehalten, auch wenn Jolanda sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, welchen Zweck es haben sollte, solch scheußliche Kreaturen aufzuziehen. Yuri, ein Junge, der auf einem der benachbarten Höfe lebte, hatte ihr etwas weitaus Seltsameres über diese Geschöpfe erzählt. Und der wiederum hatte er von seinem Vater. Angeblich lag die wahre Heimat dieser Ungetüme nicht hier unten auf der Erde, sondern … Er war an dieser Stelle verstummt und hatte mit wichtigtuerischem Blick in den Himmel gedeutet.
Jolanda hatte ihm den Vogel gezeigt. Dass sein Vater ihm einen derartigen Unsinn erzählte, war wohl eher dem Umstand zu verdanken, dass er dem Beerenschnaps, den er im Keller seiner Behausung selbst brannte, häufiger zusprach, als es gut für ihn sein konnte. Doch jetzt, als Jolanda in den dunkler werdenden Himmel blickte, konnte sie sich durchaus vorstellen, dass diese Kreaturen eine weitere Plage der Stummen Götter waren. Gesandt, um ihnen das Leben hier unten nur noch schwerer zu machen. Es wäre nicht die erste ihrer Heimsuchungen gewesen. Wiederum von ihrer Großmutter hatte Jolanda gelernt, dass die Menschen einst ein wesentlich angenehmeres Leben geführt hatten, als sie es heute taten. Sie hatten in Häusern gelebt, die ihnen jede Arbeit abnahmen, waren in wie von Zauberhand bewegten Flugmaschinen durch die Lüfte gedüst und sogar in der Lage gewesen, das Wetter zu kontrollieren. Alle hatten genug zu essen gehabt. Es hatte keine Krankheiten und keine Hungersnöte gegeben. Dann waren sie erschienen – die Stummen Götter – und hatten ihre Plage geschickt, die die Menschheit mit einem Schlag ins Verderben gestürzt hatte. Alle Annehmlichkeiten waren ihnen genommen worden, und sie waren fortan gezwungen gewesen, auf die Jagd zu gehen, Vieh zu züchten und den Boden zu bestellen, um sich von den in diesen Breitengraden meist kargen Früchten ihrer Arbeit wenigstens notdürftig zu ernähren. Die Stummen Götter blickten von oben auf sie herab. Überwachten sie, auf dass sie keine weiteren Dummheiten machten und sich gehorsam in das Schicksal fügten, das sie ihnen aufgebürdet hatten. Kein Wunder, dass Jolandas Eltern – wie auch die Eltern all ihrer Freunde – großen Wert darauf legten, dass keines der Kinder das Haus verließ, sobald draußen die Herrschaft der Götter angebrochen war. Jolanda hatte auch fest vorgehabt, lange vor Anbruch der Dunkelheit wieder zu Hause zu sein. Doch, wie schon gesagt, der kürzeste Weg zu Elenas Hütte führte nun einmal durch jenes Waldstück, das zu betreten ihr schon im Beisein eines Erwachsenen Angstzustände
bereitete. So hatte sie sich entschieden, den weiten Umweg zu gehen und dabei die Tatsache ignoriert, dass sie ihn noch nie allein gegangen war. Sie wusste nicht, wie viele falsche Abzweigungen sie genommen hatte, bis ihr klar wurde, dass sie sich auf dem entgegengesetzten Weg in eine der nahe gelegenen Siedlungen befand. Sie hatte auf dem Absatz kehrtgemacht und war ein ziemlich weites Stück zurückgegangen, bis sie wieder auf den Weg getroffen war, der tatsächlich zur Hütte ihrer Freundin führte. Dort angekommen, war ihr schlagartig klar geworden, dass sie hier nicht so einfach aufkreuzen konnte. Elenas Vater würde sofort wissen, dass sie von zu Hause ausgerissen und den ganzen Weg allein gekommen war. Er würde es ihrem Vater erzählen. Und der wiederum würde ein Donnerwetter über sie hereinbrechen lassen, dass sie sich gewünscht hätte, die Götter würden eine weitere Plage schicken, um dem Ganzen ein Ende zu bereiten. So hatte sie die Hütte eine Weile aus der Ferne und aus der Deckung eines Baumstammes heraus beobachtet. Hatte Elenas Mutter und eines ihrer jüngeren Geschwister gesehen, die draußen Felle gerbten, während ihr Großvater Holz hackte. Später waren dann Elenas Vater und ihr älterer Bruder von der Jagd zurückgekehrt, die an diesem Tag reichlich spärlich ausgefallen war. Elena konnte sich jedenfalls nicht vorstellen, wie eine achtköpfige Familie von drei ausgemergelten Feldhasen, die selbst aussahen, als seien sie an Unterernährung gestorben, satt werden sollte. So waren Stunden vergangen, bis die Luft rein und sie in der Lage gewesen war, sich dem Haus zu nähern und es gefahrlos zu umrunden. Zum Glück wusste sie, wo Elenas Zimmer lag, und so hatte es nicht lange gedauert, bis sie das richtige Fenster gefunden hatte. Auf einem Nachttisch hatte eine Kerze gebrannt. Und in dem Bett, die Decke fast bis zum Kinn hochgezogen, hatte Elena gelegen. Erschöpft hatte sie ausgesehen. Müde und ausgelaugt. Und just in dem Moment, in dem sie an die Scheibe hatte klopfen wollen, um auf sich aufmerksam zu machen, war die Tür aufgegangen und der
Heiler hatte das Zimmer betreten. Er war ein großer, stattlicher Mann, der stets zu Scherzen aufgelegt war. Jolanda kannte ihn gut. Er hatte auch sie bereits einige Male behandelt. Im letzten Sommer etwa, als sie sich den Knöchel verknackst hatte und sie fast ein halbes Jahr lang gezwungen war, auf Krücken zu gehen. Er hatte Elena untersucht, ihr kalte Kompressen aus irgendwelchen Blättern aufgelegt. Jolanda hatte sich wieder etwas aus ihrer Deckung herausgewagt, hatte sich den Hals verrenkt, als ausgerechnet in diesem Moment der Heiler zu ihr aufgeblickt hatte. Für die Dauer eines Wimpernschlags hatten sich ihre Blicke getroffen. Der seine war von äußerster Überraschung, der ihre von nacktem Entsetzen geprägt gewesen. Rasch war das Mädchen abgetaucht und davongerannt. Sie war nicht erst ums Haus herumgelaufen, sondern querfeldein. Zunächst ohne zu wissen, wohin. Irgendwann, als sie das Gefühl hatte, weit genug weg zu sein, hatte sie innegehalten und zu ihrer Erleichterung festgestellt, dass sie unbewusst die Richtung eingeschlagen hatte, die sie auf direktem Wege zurück zum elterlichen Hof führen würde. Dummerweise führte der durch jenes unheimliche Waldstück, um das sie lieber einen weiten Bogen gemacht hätte. Doch als sie die länger werdenden Schatten bemerkte, wurde ihr klar, dass sie es niemals nach Hause schaffen würde, bevor die Regentschaft der Stummen Götter anbrechen würde. Und noch mehr Angst als vor den klauenbewehrten Monstern hatte Jolanda vor den stechenden Blicken der Götter. Sie würden sehen, dass sie ungehorsam gewesen war. Dass sie sich trotz ausdrücklichen Verbots aus dem Haus geschlichen hatte. Und dann würden sie sie bestrafen, so wie sie es einst mit der gesamten Menschheit getan hatten. Jolanda musste nicht lange überlegen. Sie rannte los, mitten durch den Wald, der vor ihr lag wie eine dunkle, lichtlose Höhle. Sie rannte und rannte, bis sie den Wald hinter sich ließ und eine
Wiese erreichte. Und selbst da hielt sie noch nicht inne. Das tat sie erst, als sie bemerkte, dass ihr die Umgebung auf einmal völlig fremdartig vorkam. Zunächst schob sie es auf die Lichtverhältnisse. Nach Einbruch der Dunkelheit war sie hier schließlich noch nie gewesen. Doch nachdem sie sich ein weiteres Mal umgesehen hatte, wurde ihr klar, dass sie sich nur selbst etwas vormachte. Sie hatte sich verlaufen, wie schon zuvor, als sie nach Elenas Hütte gesucht hatte. Was tun? Am sinnvollsten erschien es ihr, den Weg, den sie gekommen war, zurückzugehen, bei Elenas Eltern vorstellig zu werden und ihren Ungehorsam zu beichten. Was ihr vor Minuten noch undenkbar erschienen war, stellte sich ihr jetzt als der einzig gangbare Ausweg dar. Das Donnerwetter, das ihr bevorstand, war eben doch nichts im Vergleich zu der Aussicht, sich zu verlaufen und vielleicht elend zu verhungern. Oder einer jener Kreaturen vor die Fänge zu kommen. Allein dieser Gedanke riss sie aus ihrer Tatenlosigkeit. Sie drehte sich um und rannte. Rannte, was das Zeug hielt. Immer wieder glaubte sie, im Augenwinkel einen langen Schatten zu bemerken, der sich mit gelb glühenden Augen an ihre Fersen heftete. Ab und zu hörte sie raschelnde Geräusche, im Zwielicht jenseits des ausgetretenen Pfades, bis sie erkannte, dass es ihre Kleidung war, die im Vorbeilaufen Zweige und Äste des Buschwerks streifte, die teilweise weit in den Weg hineinreichten. Jolanda wusste nicht, wie lange sie gelaufen war, als sie erneut innehielt. Innehalten musste – weil ihr schlichtweg die Kräfte versagten, ihre Kehle brannte und sie ein unerträgliches Stechen in der Seite verspürte. Sie fragte sich, welchen Weg sie wohl zurückgelegt hatte. Es kam ihr viel weiter vor, als der Weg zurück zur Hütte eigentlich sein konnte. Vorhin war sie deutlich langsamer gelaufen und hatte dennoch weniger Zeit benötigt. Oder kam ihr auch das nur so vor? Jolanda sah sich um, konnte jedoch nicht einmal sagen, ob sie auf
dem Hinweg an dieser Stelle vorbeigekommen war. Alles sah so gleich aus. Auch wenn ihre Augen sich an die fortschreitende Dunkelheit gewöhnt hatten, war es dennoch so gut wie unmöglich, irgendwelche Einzelheiten auszumachen. Das Blätterdach über ihr war so dicht, dass ein Großteil des Lichts dahinter zurückblieb. Wenigstens, dachte sie japsend, während sie einen einzelnen, funkelnden Stern durch eine Lücke im Geäst erspähte, bleibe ich ihren Blicken verborgen. Fröstelnd senkte sie den Kopf und sah sich erneut um. Es half alles nichts. Hier stehen bleiben, bis der Morgen anbrach, konnte sie nicht. Sie musste sich für eine Richtung entscheiden. Vor oder zurück …? Sie entschied, weiterzugehen, und tat es diesmal langsamer, ihre Schritte behutsam setzend, während sie versuchte, irgendein Detail auszumachen, an das sie sich noch erinnern konnte. Es war aussichtslos. Und es sollte noch schlimmer kommen. Urplötzlich kam sie an einer Weggabelung an. Und während ihre ratlosen Blicke zwischen den beiden möglichen Richtungen hin- und herpendelten, war sie sich fast sicher, hier noch nie gewesen zu sein. War es nicht doch vielleicht besser, umzukehren? Nein! Es hatte keinen Sinn. Sie konnte nicht die ganze Nacht vorund zurücklaufen. Vielleicht musste sie ganz einfach ihre Strategie ändern. Sie sah nach oben, suchte den Mond, ließ den Blick dann erneut über ihre finstere Umgebung schweifen und versuchte sich daran zu erinnern, in welcher Himmelsrichtung Elenas Hütte lag. Diesmal musste sie nicht lange überlegen. Sie entschied sich für den Weg zu ihrer Linken. Aus dieser Richtung war sie schließlich gekommen, war eine ganze Weile gerannt, bis zu ihrer Rechten der Weg durch den Wald aufgetaucht war. Überzeugt, die richtige Route eingeschlagen zu haben, beschleunigte sie nun wieder ihre Schritte. Weit kam sie nicht. Sie merkte es erst, als ein Schatten direkt vor ihr aus dem Boden wuchs. Sie hielt ihn zunächst für eine Gestalt, schrie auf, trat gar danach
… bis sie verstand, dass es nur der Stamm eines Baumes war, der vor ihr in den Himmel ragte. Überrascht drehte sie sich im Kreis. Und da stellte sie fest, dass sie sich auf gar keinem Weg mehr befand. Um sie her war nichts als dichtes Blattwerk, und es sah nicht so aus, als ob hier schon einmal jemand gegangen wäre. Panik übermannte sie. Tränen der Wut schossen in ihre Augen. Sie fühlte sich wie ein Insekt, das im Netz einer Spinne gefangen war und sich mit jeder weiteren Bewegung nur noch weiter darin verhedderte. Wäre sie doch nur nicht weggerannt. Hätte sie es doch nur zugelassen, dass der Heiler sie entdeckt und zurück zu ihren Eltern gebracht hätte. Um wenigstens einen Orientierungspunkt zu haben, hob sie wieder den Kopf und sah erneut gen Himmel. Die Götter!, zuckte es schlagartig durch ihre Gedanken. Die Stummen Götter hatten ihren Ungehorsam beobachtet und straften sie jetzt dafür, ganz so, wie sie es zuvor befürchtet hatte. Sie hatten mit unsichtbaren Fingern die natürliche Struktur des Waldes verändert. Hatten Wege gesperrt und neue erschaffen, wo ursprünglich gar keine gewesen waren. So ein Unsinn!, schalt sie sich selbst und hätte sich für diesen Gedanken am liebsten geohrfeigt. Stattdessen wischte sie ihre Tränen von den Wangen und rannte los. Hinein ins Dickicht, das wie mit unsichtbaren Fingern an ihr zerrte, als wollte es sie davon abhalten, eine derartige Dummheit zu begehen. Fast wäre sie gestürzt. Der Abhang tauchte unvermittelt vor ihr auf. Sie konnte von Glück sagen, dass sie kurz zuvor ihre Schritte verlangsamt hatte. Schlichtweg, weil ihr erneut die Puste ausgegangen war. So rutschte sie lediglich an der Kante aus, taumelte zu Boden und rollte, sich dabei mehrmals überschlagend, den Abhang hinunter. Steine und spitz aus dem Boden ragende Äste stachen ihr in Arme und Beine, schürften sie auf und hinterließen brennende Wunden. Mittlerweile war es ihr fast schon egal. Hatte sie sich beinahe mit
ihrem Schicksal abgefunden. Damit, dass sie nie den Weg zurück finden und elendig verhungern würde. Sie hatte die Götter erzürnt, und das war der Preis, den sie dafür zu zahlen hatte. Was war ihr Schicksal im Vergleich zu dem der gesamten Menschheit, die viel Schlimmeres hatte erdulden müssen? Und während sie noch überlegte, ob es besser war, einfach liegen zu bleiben und auf den Tod zu warten oder sich erneut den Strapazen eines Dauerlaufs durch unberührte Wildnis auszusetzen, fiel ihr Blick auf das massige Gebilde, das am Grund der Senke in die Höhe wuchs. Es war halb in der Erde vergraben und halb von Buschwerk und Schlingpflanzen überwuchert, sodass man buchstäblich mit der Nase darauf gestoßen werden musste, um es überhaupt zu bemerken. Erst recht im Dunkeln. Jolanda sah es nur, weil sie ein Funkeln im Augenwinkel bemerkte. Die Reflexion der Götter, die durch Lücken im Blätterdach linsten und ihr Licht in schwachen Flecken über dem Waldboden verteilten. Jolanda erhob sich mit offenem Mund und ungläubig starrenden Augen. Langsam trat sie näher, ging mit ausgestreckten Händen auf das Ungetüm zu und schob dabei einige Äste beiseite, die ihr den Zugang verwehrten. Sie streckte einen Finger danach aus und strich die schmierige Patina, die wie eine zweite Hülle auf seiner Außenhaut lag, beiseite. Darunter schimmerte es wie nichts, das Jolanda bislang in ihrem jungen Leben gesehen hatte. Wie etwas, das nicht von dieser Welt war. Und während sie das Ding umrundete, es von allen Seiten betrachtete, dämmerte ihr, womit sie es hier zu tun hatte. Dies musste eines jener Fluggeräte sein, von denen ihre Großmutter ihr erzählt hatte. Vermutlich hatte es gerade den Wald überflogen, als die Katastrophe über die Welt hereingebrochen war. Es war abgestürzt, hatte das Blätterdach durchbrochen und sich danach tief in den Boden gebohrt. Jolanda war sprachlos und wie vom Donner gerührt. Das Ding sah schwer aus. Wie war es möglich, dass sich ein solch
massiges Gerät in die Lüfte erhob? Welche magischen Kräfte mussten hier am Werk gewesen sein? Jetzt fand sie es fast schon verständlich, dass die Götter die Menschheit gestraft hatten, so wie diese sich zweifelsohne gegen die Gesetze der Natur aufgelehnt hatte … Und dann kam ihr ein weiterer Gedanke. Ein viel erschreckenderer, weil er sie in diesem Moment viel unmittelbarer betraf: Wenn diese Flugmaschine hier abgestürzt und nie gefunden worden war, dann musste sie davon ausgehen, dass sich die Insassen noch immer im Innern befanden. Jolanda mochte sich nicht vorstellen, wie ein Toter nach so langer Zeit aussehen würde. Ein Junge von einem der Nachbarhöfe war dabei gewesen, als vor etwa einem Jahr die Leiche eines Mannes aus dem Dorf gefunden worden war, der auf der Jagd in ein Erdloch gestürzt und nicht in der Lage gewesen war, sich aus eigener Kraft zu befreien. Der Junge war natürlich nicht als offizielles Mitglied des Suchtrupps dabei gewesen. Vielmehr war er den Männern hinterhergeschlichen und hatte das Geschehen aus einem Versteck heraus beobachtet. Obwohl Jolanda es gar nicht hatte hören wollen, hatte er ihr in allen Einzelheiten erzählt, wie dieser Mann ausgesehen hatte, der tagelang tot in der Sonne gelegen hatte. Jolanda schüttelte sich bei dem Gedanken und trat unwillkürlich einen Schritt von der Flugmaschine zurück. Sei nicht dumm!, rief sie sich sogleich zur Ordnung. Tote können dir nichts tun. Und diese hier sind wahrscheinlich schon längst zu Staub zerfallen. Sie … Jolanda konnte den Gedanken nicht zu Ende führen. Urplötzlich löste sich etwas aus dem Innern der Flugmaschine, raste mit unwahrscheinlicher Geschwindigkeit auf sie zu und legte sich wie ein Strick um ihren Hals. Die Toten!, zuckte es durch ihre Gedanken. Sie sind wieder zum Leben erwacht. Die Stummen Götter haben es ihnen befohlen … Da wurde sie auch schon nach vorne gerissen, direkt auf ein riesiges, im fahlen Licht schleimig glänzendes Etwas zu, das sich bisher
unterhalb des Fluggeräts versteckt gehalten hatte. Jolanda starrte in ein weit aufgerissenes … Maul. Und da wurde ihr klar, dass es die Zunge des Wesens war, die sich um ihren Hals gelegt hatte und die sie jetzt unnachgiebig auf den Schlund zuzog. Jolanda schrie, trat dabei unkontrolliert um sich. Tatsächlich gelang ihr ein Treffer an einer wohl empfindlichen Stelle. Das Wesen schrie auf. Kurzzeitig sah es so aus, als würde es die Oberhand verlieren. Die Zunge löste sich von Jolandas Hals, und das Mädchen rollte haltlos zu Boden. Sie fiel äußerst unsanft. Irgendetwas durchbohrte ihr Kleid und stach in ihren Oberschenkel. Ein spitzer Ast! Sie griff danach, zog ihn heraus, als das schleimige Wesen bereits seinen nächsten Angriff startete. Erneut glitt die meterlange Zunge auf Jolanda zu, wickelte sich um ihre Hüfte und drohte sie in die Höhe zu katapultieren. Mit Entsetzen starrte Jolanda sekundenlang in ein tellergroßes, teichschwarzes Etwas, das nur eine Armlänge von ihr entfernt war. Ein Auge!, wurde es ihr bewusst. Im nächsten Moment stach sie zu. Das Wesen ließ von ihr ab und stieß einen solch markerschütternden Schrei aus, wie Jolanda ihn noch nie gehört hatte. Sie versuchte, sich davon nicht beeindrucken zu lassen, wirbelte herum und rannte los. Weit kam sie nicht. Fünf unachtsam gesetzte Schritte später verfing sich ihr Fuß in einer Felsspalte. Ein stechender Schmerz zuckte durch ihren Knöchel, und er wurde nur noch umso schlimmer, je angestrengter sie versuchte, sich aus der Falle zu befreien. Sterne explodierten vor Jolandas Augen. Ihr wurde schwindelig, sie taumelte zu Boden und sah, wie die Kreatur sich nun ganz aus ihrem Versteck löste und auf sie zustapfte. Der Ast steckte noch immer in ihrem Auge, was sie erst so richtig rasend zu machen schien. Jolanda ruderte mit den Armen und suchte ihre Umgebung verzweifelt nach etwas ab, das sie als Waffe einsetzen konnte. In diesem Moment hörte sie Schritte am Rande des Abhangs und
eine laute Stimme, die ihren Namen rief. Elenas Vater!, wurde es Jolanda schlagartig bewusst. Das war seine Stimme. Vermutlich hatte der Heiler sie doch am Fenster erkannt. Vermutlich hatte er ihre Eltern benachrichtigt, und als sie nicht nach Hause gekommen war, hatten die Männer damit begonnen, die Gegend nach ihr abzusuchen. »Hier unten!«, rief Jolanda mit schwacher Stimme, während ihr Blick weiter auf die Kreatur gerichtet war. Diese hatte innegehalten, schien misstrauisch zu sein. Wahrscheinlich hatte sie ebenfalls den Ruf vernommen. Jolanda hörte, wie einzelne Geröllbrocken den Abhang herunterprasselten, fühlte sich von einem von ihnen im Rücken getroffen. Wahrscheinlich hatte Elenas Vater den Rand des Abhangs erreicht und ebenso unvermittelt davor gestoppt, wie sie selbst vor wenigen Minuten. In diesem Moment wurde ihr klar, dass sie ihn warnen musste. »Vorsichtig! Hier ist ein …!« Weiter kam sie nicht. Die Zunge des Wesens schoss aus dem Maul und über ihren Kopf hinweg. Sie schien ihr Ziel nicht verfehlt zu haben. Jolanda hörte einen Aufschrei aus dem Munde von Elenas Vater und erlebte dann mit, wie der Mann den Halt verlor und kopfüber den Abhang herabstürzte. Jolanda riss die Hand vor den Mund. Der Mann war nur wenige Schritte von ihr entfernt und mit dem Gesicht nach unten liegen geblieben. Aus einer Wunde unterhalb seines Haaransatzes sickerte Blut, das im fahlen Licht des Erdtrabanten schwarz glänzte. Jolanda sprach ihn an, erst vorsichtig, dann immer lauter, bis ihre Worte zu einem hysterischen Kreischen anschwollen. Die Zunge der Kreatur ließ indes von dem Holzfäller ab. Ihr Interesse schien mehr dem kleinen Mädchen zu gelten, dessen Fuß noch immer in einer Felsspalte gefangen war. Und selbst wenn das nicht der Fall gewesen wäre, fühlte sich Jolanda so in ihrer Schockstarre gefangen, dass es ihr wahrscheinlich
ohnehin unmöglich gewesen wäre, aus eigener Kraft die Flucht zu ergreifen. Plötzlich nahm sie im Augenwinkel ein Blitzen wahr. Es kam aus der Richtung des bewusstlosen Holzfällers. Jolanda sah genau hin. Und da bemerkte sie die Klinge eines Beils, dessen Stiel noch immer in der jetzt halb geöffneten Hand des Mannes lag. Jolanda warf sich auf die Seite und streckte die Hand danach aus. Ihre Enttäuschung war grenzenlos, als sie einsehen musste, dass ihre Arme zur kurz waren, um die Distanz zu überbrücken. Verzweifelt streckte sie sich, konzentrierte sich förmlich darauf, größer zu werden, um dem Beil so nah wie möglich zu kommen. Da stieß die Zunge erneut vor, wickelte sich blitzschnell um ihren Hals und zog sie zu sich heran. »Jolanda!« Eine weitere Stimme klang auf. Jolanda hörte sie wie aus weiter Ferne, wusste jedoch sofort, dass es die des Heilers war. Auch er musste den Abhang erreicht haben. Und was er da sah, musste ihm das Blut in den Adern gefrieren lassen. Doch was er auch tat, er würde zu spät kommen. Das Wesen war bereit, Jolanda zu verschlingen, als diese sich noch einmal nach der Axt ausstreckte, während sie bereits zur Hälfte im Maul der Kreatur verschwunden war. Doch dann geschah das, worüber sich nicht nur Jolanda im Nachhinein viele Gedanken machte. Auch der Heiler sah es, und er dachte gar nicht daran, seine Beobachtung für sich zu behalten. Die meisten, die davon hörten, taten es ab. Als optische Täuschung. Als einen Streich ihrer Sinne, zurückzuführen auf die bescheidenen Lichtverhältnisse. Doch Jolanda bekam ganz genau mit, was passierte. Die Axt, die soeben noch starr auf dem Boden gelegen hatte, löste sich auf einmal davon, schoss wie von Geisterhand bewegt in die Höhe und schwebte für die Dauer von ein, zwei Sekunden über dem Kopf der Kreatur – bevor sie auf sie einschlug und ihren gewaltigen
Schädel mit einem einzigen, gezielten Hieb in zwei Hälften spaltete. Jolanda spürte, wie der Griff der Zunge erschlaffte, während die Kreatur zu Boden ging. »Jolanda!« Es war der Heiler, der nach ihr rief, während er den Abhang hinunterrutschte, dann neben Jolanda, die noch immer halb im Maul des Ungeheuers steckte, in die Hocke ging. Er griff nach ihren Armen, zerrte sie heraus. Dann zog er seinen Mantel aus und hüllte sie darin ein. Über die Sache mit der Axt verlor an diesem Abend keiner von beiden mehr ein Wort. Und doch war es genau das, was beide am meisten beschäftigte, während sie Stunden später bereits auf ihren Matratzen lagen und auf den Schlaf warteten.
Aus den Aufzeichnungen des Reuben Cronenberg Zum ersten Mal das Gefühl, dass weitreichende Veränderungen ihre Schatten vorauswarfen, hatte ich lange nach der Begegnung mit Branca und ihrem Begleiter Neeto, die mir rückwirkend wie eine Fußnote erscheint, obwohl ich mehrere Jahre an ihrer Seite blieb, bevor ich ihnen die Erinnerung an mich nahm. Einmal mehr war mir das Gift des Jumquats ein nützlicher Helfer … Oh, keine Sorge. Ich ließ sie auf einem Gehöft zurück, wo man sich aufopferungsvoll um sie kümmerte. Und so lebten sie glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage, wie es so schön heißt. Auch wenn ich ihre Gesellschaft anfangs genoss, waren sie mir nach einiger Zeit doch ein ziemlicher Klotz am Bein. Ich hatte nicht das Gefühl, dass wir wirkliche Fortschritte machten auf unserer Suche nach der Wahrheit. Nicht zuletzt deshalb, weil ich, was die Wahl meiner Mittel betraf, im Beisein der beiden gewisse Skrupel nach außen kehren musste, was sich nicht gerade als förderlich erwies. Der Informationsgewinn war zu jener Zeit ohnehin spärlich, gemessen an den Fortschritten, die ich später machen sollte, auch wenn mir damals so manches wie ein Quantensprung erschien.
Erst später, sehr viel später wurde es zu erschütternder Gewissheit, dass tatsächlich nicht nur unsere, sondern auch die benachbarten Metrops von der Katastrophe betroffen waren; der gesamte Erdball war ins Chaos gestürzt worden. Jedenfalls entschloss ich mich, meine Reise allein fortzuführen. Da ich es noch immer vorzog, auf sicheren Pfaden zu reisen, über bereits ausreichend erforschte Routen, von denen ich durch andere Reisende erfuhr, hatte mein Weg mich im Zickzackkurs quer über den Kontinent bis nahe an die frühere kanadische Grenze geführt. Die kleine Hüttensiedlung stand inmitten einer idyllisch gelegenen Hügellandschaft. Ich bemerkte sie schon von weitem durch den Schein der Lichter, die hinter den Fenstern flackerten. Derartige Siedlungen waren noch lange nach der Katastrophe äußerst spärlich gesät. Die meisten Menschen hatten sich in unmittelbarer Nähe der Metrops niedergelassen. Nur wenige hatten die Strapazen einer weiteren Reise auf sich genommen und waren in Trecks in weiter entfernte Gegenden aufgebrochen. Diese Züge waren durchaus vergleichbar mit jenen, mit denen sich die ersten Siedler auf dem Kontinent ausgebreitet und ihn in Beschlag genommen hatten. Und ganz wie die Trecks von damals sahen sich auch die heutigen mit zahlreichen Gefahren konfrontiert, die allen Beteiligten das Äußerste abverlangten. Die Geschichte wiederholte sich. Jedenfalls konnte ich es mir kaum leisten, selbst jene Siedlungen, die in großer, sehr großer Entfernung meinen Weg kreuzten, auszulassen. Waren sie doch meine einzige Möglichkeit, meine Vorräte aufzufrischen und mich mit allem, was ich für meine weitere Reise benötigte, auszurüsten. Fast wichtiger noch als materielle Güter waren die Informationen, die ich in den Kommunen aufschnappte. Informationen, die mir dabei halfen, die nächste Etappe meiner Reise noch besser zu planen. Mehr als nur einmal war ich dadurch größerem Unheil entgangen – oder hatte es zumindest vermieden, einen zeit- und kräfteraubenden Umweg machen zu müssen. An diesem Tag kam hinzu, dass mir das Wetter einen Strich durch
die Rechnung machte. Es hatte den ganzen Tag wie aus Kübeln gegossen. Der Regen schien auch auf absehbare Zeit nicht aufhören zu wollen. Zu allem Überfluss war die Nacht bereits dabei, ihre schwarzen Netze über das Land zu werfen, und ich hatte noch immer keinen geeigneten Platz für die Nacht gefunden. So musste ich nicht lange überlegen, als ich die Häuser von einer Anhöhe aus erspähte. Es war ein Fußmarsch von etwa einer halben Stunde, bis ich die Hütten schließlich erreichte, was auch daran lag, dass der Untergrund durch den Dauerregen schlammig geworden war und ich mich nur mit äußerster Vorsicht den Abhang hinabbewegen konnte. Das Dorf war winzig. Es bestand aus knapp einem Dutzend Behausungen. Hinter den meisten von ihnen flackerte der helle Schein einer Öllampe. Im Freien hielt sich keiner der Bewohner auf, was ich ihnen angesichts der Witterungsverhältnisse auch nicht verdenken konnte. Zielstrebig steuerte ich die größte der Hütten an, bei der es sich um mehr als nur um eine einfache Behausung handeln musste. Ich vermutete, es hierbei mit einer Art Gemeinschaftszentrum zu tun zu haben. Und tatsächlich. Als ich anklopfte und, ohne auf eine Antwort zu warten, die Tür geöffnet hatte, blickte ich in gut ein Dutzend Gesichter, zu gleichen Teilen Männer wie Frauen, deren Gespräche bei meinem Eintreten sofort verstummten. Ich schien in eine Art Dorfversammlung geplatzt zu sein. Nun war ich es gewohnt, in Siedlungen wie dieser mit offenen Armen empfangen zu werden. Die Bewohner waren meist hocherfreut, einen Wandersmann in ihren Reihen willkommen zu heißen, der ihnen Neuigkeiten aus der Welt, der sie entflohen waren, zutrug. Nicht selten entwickelten sich daraus höchst anregende Diskussionen. In diesem Fall spürte ich sofort, dass ich unerwünscht war. In den Blicken, die sich mir zuwandten, stand offene Ablehnung. Erst später verstand ich, dass zu einem guten Teil Angst mit im Spiel gewesen sein musste.
Ich versuchte, die Stimmung zu ignorieren, stellte mein Bündel ab und erkundigte mich in aller Freundlichkeit nach einem Lager für die Nacht. »Draußen regnet es in Strömen«, fügte ich hinzu, nachdem eisiges Schweigen lange die einzige Antwort blieb. Endlich stand einer der Männer auf, während die anderen weiterhin betreten zu Boden starrten. »Du kommst von weit her.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Jeder, den es in diese Einöde verschlug, musste von weit her gekommen sein. Dennoch bejahte ich mit aller Freundlichkeit, die ich nach einem Tagesmarsch im strömenden Regen noch abrufen konnte. Der Mann, ein kräftiger Hüne, mit von der Sonne gegerbter Haut, die sich farblich kaum von seinem ledernen Wamst unterschied, nickte bedächtig. »Es kommen nicht viele Fremde hierher.« Er bemühte sich um einen jovialen Tonfall, doch ich merkte, dass es ihm schwerfiel, den Unbekümmerten zu mimen. Irgendetwas lag schwer auf seiner Seele. »Warum setzt du dich nicht?«, fügte er hinzu, erntete dafür ein strenges Räuspern von einer schon etwas älteren, verhärmt und abgemagert wirkenden Frau. Der Mann ignorierte es, stellte sich selbst als Yon vor und erklärte mir, dass er es war, der diese Siedlung gegründet und den Treck hierher organisiert hatte. So, als wollte er die anderen daran erinnern, wer hier das eigentliche Sagen hatte. Die Frau schien es ebenso aufzufassen, denn sie ließ ein verächtliches Schnauben vernehmen. »Wir können dir auch gerne etwas zu essen anbieten«, meinte Yon sogleich. »Wir haben nicht viel, aber …« »Eigentlich«, unterbrach ich ihn, »würde ich ganz gerne aus den nassen Sachen herauskommen.« »Natürlich«, antwortete Yon. »Komm mit nach draußen! Du kannst heute in meiner Hütte übernachten.« Er kam auf mich zu, und ich machte ihm Platz, damit er die Tür öffnen und vorangehen konnte. Noch während ich mich umdrehte, um ihm zu folgen, bemerkte ich erneut die eisigen Blicke, die über meinen Rücken krochen und
die sich sogleich wieder abwandten, sobald ich sie zu entgegnen versuchte. Ein seltsames Völkchen, dachte ich, während Yon bereits die Tür öffnete. Ich wollte gerade meine Kapuze raffen und wieder ins Freie hinaustreten, als ich, wie vor eine Mauer gelaufen, stehen blieb. In der Tür stand eine Gestalt. Sie sah im ersten Moment aus wie eine Gespenstererscheinung. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich, dass es ein kleiner, blonder Junge war, der mich mit großen, interessierten Augen musterte. Er war nur mit einem Nachthemd bekleidet, das vom Regen bereits völlig durchnässt war und wie eine zweite Haut an seinem schmächtigen Leib klebte. Mir war, als würde leises Entsetzen die anderen erfassen, als auch sie erkannten, wer der nächtliche Besucher war. Aber vielleicht täuschte ich mich. »Vauhyn!«, sprach Yon den Jungen an, den ich auf etwa neun oder zehn Jahre schätzte. »Was machst du denn hier, mitten in der Nacht und bei strömendem Regen?« Vauhyn antwortete nicht. Stattdessen wandte er sich mir zu, und sein Blick aus den eigentlich strahlend blauen Augen durchdrang mich wie ein Seziermesser. »Wir haben einen Gast«, erklärte Yon, sich um Geduld bemühend. »Er ist auf der Wanderschaft und …« »Ich will, dass er geht!« Die Augen des Jungen verengten sich zu Schlitzen, und seine dünnen blonden Brauen berührten sich über der Nasenwurzel. Wenigstens weiß ich, dachte ich, woher der Junge seine Manieren hat – und dachte an die Dörfler in meinem Rücken. Einer von ihnen, die Frau, die vorhin so eifrig protestiert hatte, stand auf und ging auf den Jungen zu. »Das wird er«, beeilte sie sich zu versichern, als wollte sie das Kind um jeden Preis beruhigen. »Er wird sich etwas zu essen einpacken lassen, und dann wird er noch heute von hier verschwinden!« Die Worte waren wohl indirekt an mich gerichtet, denn sie musterte mich unverhohlen feindselig, während sie sprach. Ich fühlte
mich zunehmend unbehaglicher und wusste immer weniger, wie ich mit dieser Situation umgehen sollte. Etwas Seltsames ging hier vor. Und jetzt pflichtete auch noch Yon der Frau bei: »Ich glaube, es ist wirklich besser, wenn du gehst. Ich zeige dir eine Höhle, ganz in der Nähe, wo du dein Lager aufschlagen kannst.« Ich zuckte nur mit den Achseln. Wie sollte ich auch sonst reagieren, wo man mich hier doch offenkundig nicht haben wollte. Fast glaubte ich, einen kollektiven Seufzer der Erleichterung zu vernehmen. Aber das, glaube ich, war wirklich nur Einbildung. Der Junge, Vauhyn, schien sich wieder etwas beruhigt zu haben. »Wie wär's«, meinte die Frau, »wenn ich dich jetzt zurück ins Bett bringe und dir eine Geschichte erzähle?« Der Junge nickte und ließ sich von der Frau bei der Hand nehmen. Während sie ihn aus der Hütte führte, streifte mich ein weiterer missbilligender Blick aus seinen wasserblauen Augen. Yon sah mich entschuldigend an. Gemeinsam verließen auch wir die Hütte, schlugen jedoch eine andere Richtung ein als die Frau und das Kind. »Wie weit ist es bis zu dieser Höhle?«, rief ich, um das Prasseln des Regens zu übertönen. »Vergiss die Höhle«, gab Yon zu meiner Überraschung zurück. »Ich bringe dich, wie versprochen, in meine Hütte.« Er warf einen vorsichtigen Blick über seine Schulter, während er dies sagte. Jetzt war ich wirklich perplex, beschloss jedoch, mein Glück nicht überzustrapazieren und zunächst keine weiteren Fragen zu stellen. Wir steuerten eine Hütte am Rande der Siedlung an. In der Dunkelheit und dem Regen war sie nur als dunkler Klotz zu erkennen. Yon öffnete die Tür und ließ mich eintreten. Ich sah mich interessiert um. Die Behausung war einfach, aber behaglich eingerichtet. Eine Schlafstätte, ein großer Schrank, ein Tisch, mehrere Stühle … Freilich alles selbst gezimmert. Eine Öllampe brannte auf einem Nachttisch. Yon beeilte sich, die Tür wieder zu schließen, sobald er selbst eingetreten war. Ich hatte das leise Gefühl, dies hatte nicht nur mit dem
Unwetter zu tun. »Du kannst dein Lager im Nebenzimmer aufschlagen«, erklärte er. »Dort kannst du auch deine nassen Sachen ausziehen. Pass nur auf, dass keiner dich sieht. Ich werde noch eine Weile hierbleiben. Bis zur Höhle, zu der ich dich angeblich bringe, ist es ein Fußmarsch von einer Viertelstunde. Bei dem Wetter etwas länger.« Ich nickte, dankbar, aber noch immer verwirrt. Yon lächelte gequält. »Dir wird einiges von dem, was du heute hier gesehen oder gehört hast, merkwürdig vorgekommen sein. Aber glaub mir: Die Leute hier sind in Ordnung. Sie machen nur eine schwere Zeit durch.« Ich nickte erneut. »Dieser Junge …« »Vauhyn. Sein Vater ist noch vor seiner Geburt an Diphtherie gestoben. Seine Mutter, damals erneut hochschwanger, hat die Strapazen der Reise nicht überstanden. Sie hatte eine Frühgeburt und verstarb in den Tagen darauf. Erst glaubten wir, der Junge würde es auch nicht viel länger machen. Doch er hat sich als ein zäher kleiner Bursche erwiesen.« »Das habe ich gemerkt«, gab ich zurück. Yon nickte nur, wollte das Thema offensichtlich nicht weiter vertiefen. Ich schulterte mein Bündel und begab mich in den Nebenraum, der mich eher an eine Art Abstellkammer erinnerte, die voll mit allerlei Werkzeug war. Yon half mir dabei, mir etwas Platz zu verschaffen, dann verabschiedete er sich und verließ die Hütte. Ich machte es mir indes bequem, lauschte dem auf das Hüttendach prasselnden Regen und hing meinen Gedanken nach. Der heutige Abend gehörte zu den merkwürdigsten, die ich seit Langem erlebt hatte. Mit dieser Erkenntnis döste ich irgendwann ein. Ich wusste nicht, wann ich erwachte, doch viel Zeit konnte seit meinem Einschlafen nicht vergangen sein. Der Regen hatte etwas nachgelassen, doch es herrschte noch immer stockfinstere Nacht. Ich richtete mich auf. Irgendwo, nicht allzu weit entfernt, vernahm
ich Stimmen. Sie klangen wie die von Leuten, die sich darauf geeinigt hatten, leise zu sein, aber zu aufgeregt waren, um sich wirklich daran zu halten. Ich richtete mich auf und taumelte, noch immer leicht schlaftrunken zum Fenster. Und da entdeckte ich mehrere nachtschwarze Gestalten, die zwischen den Hütten umherschlichen. Erst dachte ich, dass es sich dabei möglicherweise um Banditen handelte, die einen nächtlichen Überfall auf die braven Dörfler vorbereiteten. Doch dann erkannte ich zumindest einen von ihnen an seiner Statur wieder. Es war Yon, der die anderen anzuführen schien. Sie schienen ein bestimmtes Ziel zu haben, da sie sich trotz ihrer Vorsicht zielstrebig in eine bestimmte Richtung bewegten. Eigentlich ging es mich ja nichts an, was diese ohnehin seltsamen Leute des Nachts in ihrem eigenen Dorf so alles trieben. Dennoch überwog einmal mehr die Neugier, und so zog ich mich so schnell ich konnte an und eilte dann zum Ausgang der Hütte. Im Vorbeigehen fiel mir auf, dass Yon tatsächlich nicht in seinem Bett lag. Ich hatte mich also nicht getäuscht. So verließ ich eiligen Schrittes die Hütte, achtete darauf, dass niemand mich sah, und schlug dann die Richtung ein, die auch die Dörfler genommen hatten. Ich sah gerade noch, wie die Tür einer anderen Hütte geschlossen wurde und folgerte daraus, dass die Männer ihr Ziel erreicht hatten. Jetzt, da ich wusste, wo sie waren, bestand keine große Eile mehr. Deshalb verlangsamte ich meine Schritte und schlich mich, so vorsichtig es eben ging – und jede sich mir bietende Deckung ausnutzend –, an die Hütte heran. Niemand außer Yon ahnte, dass ich noch im Dorf war. Ich wusste zwar nicht, was passieren würde, wenn mich jemand entdeckte, aber ich wollte Yon keinen Ärger bereiten, wo er doch im Vergleich zu den anderen so zuvorkommend gewesen war. So näherte ich mich der Hütte von hinten, schlich dabei geradewegs auf ein Fenster zu, hinter dem ein trübes Licht flackerte. Als ich es erreichte, beugte ich mich behutsam über den Sims und
spähte hinein. Es dauerte eine Weile, bis ich das, was ich dann sah, vollständig und in all seiner Konsequenz begriff. Das Innere der Hütte ähnelte fast exakt Yons Behausung. Es waren sogar dieselben Möbel vorhanden, nur etwas anders gestellt. Das Bett stand an der gegenüberliegenden Seite des Raumes, doch der Blick darauf wurde mir zunächst verwehrt. Fünf Männer standen darum herum. Alle hatte ich zuvor bereits in der Gemeinschaftshütte gesehen. Einer von ihnen hatte sich unmittelbar über das Lager gebeugt gehabt und trat jetzt zurück. In der Hand hielt er ein Fläschchen aus einem undefinierbaren Material, in der anderen einen Stofffetzen. Diesen ließ er in seiner Tasche verschwinden. Yon sah ihn fragend an. »Ist er …?« »Er schläft«, bestätigte der andere. »Die Wirkung müsste eine Weile anhalten. Dennoch sollten wir uns beeilen.« Yon nickte, blickte dann in die Runde. »Wer flößt es ihm ein?« »Wir waren uns doch einig, dass du es tust«, sagte ein schmächtiger Bursche zu seiner Linken. Wieder nickte Yon. Mit einem Blick, aus dem tiefe Trauer sprach, ging er zu dem Mann mit dem Fläschchen und nahm es ihm aus der Hand. Die anderen traten einen Schritt zurück, um Yon vorbeizulassen. Und da fiel mein Blick für einen kurzen Moment auf das Bett und die Gestalt, die wie ein lebloses Bündel auf den Laken lag. Es war Vauhyn, der Junge, der mir so feindselig gegenübergetreten war. Ich beugte mich etwas weiter vor. Was hatten diese Leute im Sinn? Weshalb hatten sie sich zu fünft in seinem Zimmer versammelt? Und weshalb beugte Yon sich nun über ihn und setzte ihm den Rand des Gefäßes an die Lippen? Ich musste bei all meiner Überraschung zu unvorsichtig geworden sein. Urplötzlich zeigte einer der Männer in meine Richtung und ließ einen alarmierenden Laut vernehmen.
Ich wollte mich noch wegducken, doch da war es auch schon zu spät. Vier weitere Gesichter ruckten in meine Richtung. Eines von ihnen gehörte Yon. Und aus seinem Blick sprach deutliche Reue darüber, dass er mich nicht doch aus dem Dorf gejagt hatte, wie von den anderen verlangt. Zuerst dachte ich daran, wegzulaufen. Aber was wäre damit gewonnen gewesen? Ich war nur notdürftig bekleidet, und alle meine Sachen befanden sich noch in Yons Hütte. Wohin hätte ich außerdem rennen sollen in finsterer Nacht und in einer mir völlig unbekannten Umgebung? So blieb ich stehen, wo ich war, und hielt den Blicken der Männer stand. Diese schienen unschlüssig, wie nun weiter zu verfahren wäre. Obwohl ich es war, der beim Spionieren erwischt worden war, schienen sie das schlechtere Gewissen zu haben. Ich versuchte derweil, das Gesehene einzuordnen. Hatte ich die Dörfler wirklich dabei überrascht, wie sie den Jungen hatten vergiften wollen? Und war Yon der Urheber und Vollstrecker des sinistren Plans? Ich konnte mir das kaum vorstellen, nachdem er mir zuvor erst noch sichtlich bewegt vom Schicksal des Kindes erzählt hatte. Was, um alles in der Welt, sollte ihn dazu verleiten, so etwas zu tun? Plötzlich setzte sich Yon in Bewegung und trat an das Fenster heran. Im selben Moment bemerkte ich, wie sich hinter ihm der Junge auf seinem Bett zu bewegen begann. Er richtete sich auf, rieb sich verschlafen die Augen und sah sich um. Anscheinend war das Betäubungsmittel doch nicht so stark gewesen wie angenommen. Die anderen hatten noch nichts davon mitbekommen. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, mich mit ihren halb anklagenden, halb schuldbewussten Blicken zu durchbohren. Und dann, nach einem kurzen Moment der Irritation, schien Vauhyn zu verstehen, was die Männer von ihm wollten. Was sie vorgehabt hatten, während er friedlich schlief. Es war derselbe Moment, da Yon sich mit ernster Miene zu mir
herabbeugte, als wollte er mir etwas zuflüstern. Vauhyn Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse der Wut, schlimmer noch als jene, die er zuvor in der Gemeinschaftshütte herausgekehrt hatte. Auch aus der Entfernung konnte ich deutlich sehen, wie auf seiner Stirn blau und pulsierend eine Ader hervortrat. Gerade wollte ich Yon darauf aufmerksam machen, als ein schriller, ohrenbetäubender Schrei aus Vauhyns Kehle mir das abnahm. Die Männer drehten sich zu ihm um. Ich sah ihnen an, dass sie am liebsten einen Schritt zurückgetreten wären, doch nacktes Entsetzen lähmte ihre Glieder. Erst Yons aufgeregter Ruf löste sie aus ihrer Erstarrung. »Raus! Ihr müsst alle raus!« Doch da war es längst zu spät. Hatte ich bis dahin geglaubt, dass die Abstrusitäten dieser Nacht nicht mehr zu übertreffen waren, so wurde ich alsbald eines Besseren belehrt. Verständnislos beobachtete ich, wie der Schrank, der in der Ecke neben dem Bett stand und so schwer und wuchtig war, dass er normalerweise von mindestens zwei ausgewachsenen Männern hätte bewegt werden müssen, wie von Geisterhand bewegt über den Boden rutschte und direkten Kurs auf die Tür nahm. Die Männer wichen zurück, suchten die gegenseitige Nähe und hätten sich, furchtsam wie sie waren, wohl am liebsten schutzsuchend aneinandergeklammert. Ihre Blicke huschten durch das Zimmer, suchten nach einem anderen Ausgang und blieben an dem Fenster hängen, vor dem ich stand und den Ereignissen verständnislos beiwohnte. Yon, der am nächsten stand, öffnete es, während die anderen darauf zugingen, dabei dem Jungen, der jetzt mit geschlossenen Augen und im Schneidersitz auf dem Bett kauerte, immer wieder respektvolle Blicke zuwarfen. Dabei vergaßen sie, den Schrank im Auge zu behalten, der auf einmal bedrohlich zu kippen begann. »Achtung!« Diesmal war ich es, der die Warnung rief. Doch zu spät. Der Schrank verlor jeglichen Kontakt mit der Tür, kippte nach
vorne und nahm Kurs auf die beiden Männer, die ihm am nächsten standen. Sie hatten keine Chance. Der Schrank erwischte sie mit voller Wucht und begrub beide unter sich. Die verbliebenen beiden schienen sich davon nicht aufhalten lassen zu wollen. Ohne auch nur daran zu denken, ihren Kameraden zu Hilfe zu eilen, drängten sie sich am Schrank vorbei und auf das offen stehende Fenster zu. Ich trat unwillkürlich beiseite, um beide passieren zu lassen. Unbeholfen plumpsten sie wie zwei nasse Säcke neben mir ins Gras. Yon gelang ein wesentlich eleganterer Ausstieg. Besonders glücklich wirkte er dennoch nicht. Er bedachte mich mit einem grimmigen Blick, während er sich neben mir aufrichtete. »Du solltest sehen, dass du hier schleunigst wegkommst«, herrschte er mich an. »Hier wirst du deines Lebens nicht mehr froh.« Er hatte recht. Im Vergleich zu dem, was nun geschah, war alles andere nur ein laues Vorgeplänkel gewesen. Ich traute meinen Augen nicht. Der Regen, der in den letzten Minuten wieder deutlich stärker geworden war, veränderte mit einem Mal seine Struktur. Innerhalb weniger Sekunden nahm das Wasser an Dichte zu. Die Tropfen wurden zu Eis, vereinigten sich dabei erst zu murmel-, dann faustgroßen Hagelkörnern, die auf uns niederhämmerten. Ein Hagelkorn traf mich mit voller Wucht an der Stirn, und ich spürte schon kurz darauf die hornartige Beule, die daraus erwuchs. Yon rief seinen beiden Begleitern zu, den anderen Bescheid zu sagen. Doch das war schon gar nicht mehr nötig. Die übrigen Dorfbewohner, die in der Gemeinschaftshütte offenbar auf die Rückkehr der fünf Männer gewartet hatten, standen, wohl durch den Hagel alarmiert, bereits in der Tür und starrten mit ungläubigen Blicken gen Himmel, ohne sich jedoch ins Freie zu wagen. Yon deutete in die Richtung seiner Hütte. »Komm mit!« Ich folgte ihm. Der Weg zur schützenden Behausung war nicht
weit. Und doch war ich, als wir sie erreicht hatten, von blauen Flecken übersät. »Los! Pack deine Sachen zusammen«, herrschte Yon mich an, noch während er hinter mir die Tür ins Schloss drückte. »Sieh zu, dass du hier fortkommst. Und zwar möglichst weit! Der Himmel stehe uns bei!« Ich blieb nur stehen und sah ihn an. So leicht wollte ich mich nicht abspeisen lassen. Zwar war ich mir der mit jeder Minute ansteigenden Gefahr durchaus bewusst, jedoch gleichzeitig auch dickköpfig genug, um das Dorf nicht zu verlassen ohne einige Antworten im Gepäck. Diese waren schließlich der Grund, weshalb ich die Strapazen einer solchen Reise überhaupt auf mich nahm. Yon spürte, dass er mich anders nicht loswerden würde, deshalb gab er meinem Drängen schließlich nach. »Wir merkten es, dass er anders ist, als Vauhyn fünf Jahre alt war. Er war immer ein stilles, in sich gekehrtes Kind gewesen, doch fast über Nacht entwickelte er einen Jähzorn, der uns alle erschaudern ließ. Nach einiger Zeit begannen wir zu merken, dass jeder seiner Wutausbrüche von seltsamen Ereignissen begleitet wurde. Als er einmal seinen Willen nicht bekam und in einen Schreikrampf ausbrach, wurde einer unserer Männer um ein Haar von einem herabstürzenden Balken getroffen. Wir redeten uns zunächst ein, dass der Balken vermutlich locker gewesen sei und der heftigen Brise, die an diesem Tag herrschte, nicht standgehalten habe. Doch der nächste Zwischenfall ereignete sich nur wenige Tage später. Vauhyn weigerte sich, ins Bett gebracht zu werden, und reagierte auf sämtliche Versuche seiner Aufpasserin, ihn dazu zu zwingen, mit unkontrollierten Schlägen und Tritten. Plötzlich lösten sich mehrere Messer verschiedener Größen aus einer Halterung an der Wand und schossen auf die Frau zu. Eines von ihnen traf sie in den Bauch und verletzte sie so schwer, dass sie am Blutverlust fast starb. Obwohl die Messer senkrecht in ihren Halterungen gesteckt hatten, schwor die Frau später Stein und Bein, sie hätten sich in der Luft aufgerichtet und wären mit den Spitzen voran genau auf sie zugerast. Viele im Dorf hielten sie für verrückt, doch jene, die sie gut kannten und sie
für absolut zurechnungsfähig hielten, wurden nachdenklich. Irgendwann häuften sich derartige Vorfälle im Zusammenhang mit Vauhyns Wutausbrüchen so sehr, dass es auch den größten Skeptikern immer schwerer fiel, den Zusammenhang zu ignorieren. Irgendwann mussten wir uns eingestehen, dass Vauhyn …« Yon zögerte kurz, sprach dann weiter: »… nun ja, etwas Besonderes ist.« Ich nickte verstehend. So ähnlich hatte ich es mir in den wenigen Minuten, die mir geblieben waren, um über das Erlebte nachzudenken, ebenfalls zusammengereimt. »Und irgendwann«, schloss ich, »wurde er für euch zu einer tödlichen Bedrohung.« »Wir hofften zunächst, die gefährliche Begabung würde irgendwann nachlassen, wenn Vauhyn älter und vernünftiger wurde – und seine Wutausbrüche seltener. Doch das genaue Gegenteil war der Fall. Vauhyn entwickelte sich regelrecht zu einem kleinen Tyrannen. Sicherlich begünstigt durch die Tatsache, dass keiner es mehr wagte, ihm irgendeinen Wunsch abzuschlagen. Es dauerte nicht lange, bis die ersten das Dorf freiwillig verließen, weil sie sich mit der Situation nicht abfinden konnten. Es brauchte ganze vier Jahre, bis auch der übrig gebliebene Rest von uns merkte, dass Vauhyn uns alle beherrscht, wir regelrecht in seinem Dienste stehen, wie rechtlose Sklaven. Nur dazu da, uns seinem Willen zu unterwerfen … Was sollten wir tun? Sollten wir diese Situation akzeptieren und uns unserem Schicksal bis ans Ende unserer Tage fügen. Wir waren hierhergekommen, um frei zu sein. Frei von den Umständen, die uns das Schicksal bescherte. Zu lange hatten wir uns von Skrupeln abhalten lassen, uns mit dem Unvermeidlichen zu beschäftigen. Doch dann, vor drei Tagen …« Yon schluckte betroffen. »… hatten wir den ersten Todesfall zu beklagen. Einer aus unserer Mitte, der es gewagt hatte, Vauhyn Widerworte zu geben, wurde von einem Felsbrocken erschlagen, der wie von selbst in die Luft stieg und den braven Mann unter sich zermalmte. Nachdem wir ihn beerdigt hatten, wurde uns klar, dass es so auf keinen Fall weitergehen konnte. In aller Heimlichkeit beriefen wir eine Versammlung ein, peinlich darauf bedacht, dass Vauhyn nicht Wind davon bekam,
und stimmten ab. Die Abstimmung fiel einhellig aus. Zu unserem eigenen Schutz mussten wir uns des Jungens entledigen. Die Wahl fiel auf mich, der ich stets von allen als ungekröntes Oberhaupt der Gemeinschaft angesehen wurde. Es widerstrebte mir zutiefst, aber ich konnte, nein, wollte mich meiner Verantwortung nicht entziehen. Ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst. Ob überhaupt jemand, der nicht die letzten Jahre unter Vauhyns Einfluss gelebt hat, es verstehen kann …« Es fiel mir nicht leicht, meine Amüsiertheit zu verbergen. Yon wusste so gut wie nichts über mich, sonst hätte er sich den letzten Kommentar wohl verkniffen. Ich persönlich hätte dem grantigen Balg schon den Hals umgedreht, hätte es nur nach mir getreten. Yon sagte ich das freilich nicht. Stattdessen setzte ich meine verständnisvollste Miene auf und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. »Ich kann nicht beurteilen, was ihr durchgemacht habt. Wer gibt mir das Recht, über euch und euer Verhalten zu urteilen?« Mann, war ich gut … Ein donnernder Schlag ließ uns auf der Stelle verstummen. Erschrocken spritzten wir auseinander, starrten dann ungläubig auf den wassermelonengroßen Eisbrocken, der soeben das Dach der Hütte durchschlagen hatte. Wir tauschten alarmierte Blicke. »Los, raus hier!«, herrschte mein Gegenüber mich an. »Wir können nicht länger warten!« Dem konnte ich nur zustimmen. Ich eilte in den Nebenraum und packte in aller Eile meine Sachen zusammen, während die Einschläge der Hagelbrocken zu einem regelrechten Trommelfeuer anschwollen. Von draußen drangen die Schreie einiger Frauen zu mir herein. Die Dörfler schienen inzwischen verstanden zu haben, dass es sich bei diesem Vorfall nicht etwa um eine Laune der Natur handelte, sondern um die eines kleinen, bockigen und bösartigen Jungen. Angesichts der Erfahrungen, die sie in der Vergangenheit mit Vauhyn gemacht hatten, hatten sie sich vermutlich ohnehin schon längst etwas in dieser Richtung gedacht.
Mit meinem Bündel über der Schulter stürmte ich zurück ins Nebenzimmer. Das Prasseln des Hagels hatte inzwischen etwas nachgelassen. Es dauerte weitere fünf Minuten, bis es so weit abgeebbt war, dass wir uns unbeschadet ins Freie wagen konnten. Vor der Tür wandte sich Yon kurz an mich, deutete gen Osten und beschrieb mir den Weg, der mich direkt auf einen ausgetretenen Pfad führen würde, über den ich mich sicher ins Unterholz schlagen konnte. Ich bedankte mich, gab ihm die Hand und sah ihm nach, bis er hinter einer der Hütten verschwunden war. Irgendwo musste ein Feuer ausgebrochen sein. Der Geruch von Rauch lag in der Luft. Für einen kurzen Moment regte sich in mir die Versuchung, hierzubleiben. Nachzusehen, was passiert war. Der Junge und sein außergewöhnliches Talent hatten einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen. Dann besann ich mich eines Besseren, machte kehrt und schlug den Weg ein, den Yon mir beschrieben hatte. Noch aus großer Entfernung sah ich die schwarze Rauchsäule, das rötliche Glühen. Wie eine Manifestation des Bösen schwebte beides über dem Ort. Darunter tobte noch immer eine Welle der Gewalt, wie ich den Schreien der Dörfler entnehmen konnte. Froh, in dieser Nacht einem schlimmeren Schicksal entkommen zu sein, aber auch zutiefst bewegt von den Dingen, die ich gesehen hatte, setzte ich meinen Weg fort.
9. Kapitel – Die Nokturnen John Cloud sah die Männer fragend an. Zwar hatte er in den letzten Minuten einiges über die Umstände erfahren, die zu dieser neuen Zivilisation geführt hatten. Doch fiel es ihm noch immer schwer, alle Informationen so zu sortieren und in einen Bezug zueinander zu bringen, dass sich daraus ein klares und vollständiges Bild ergab. Die telepathische Übermittlung der Ereignisse hatte darüber hinaus zur Folge, dass er sich benommen und ausgelaugt fühlte. Er vermutete, dass die geistigen Fähigkeiten eines Menschen aus dem 21. Jahrhundert für eine derartige Form der Datenaufnahme einfach nicht geschaffen waren. Er hatte noch so viele Fragen, die ihm auf der Zunge brannten, es gab so viele Unklarheiten, die es auszuräumen galt. Aufgrund ihrer Menge und seinem eigenen Zustand fiel es ihm schwer, auch nur eine von ihnen zu formulieren. Das war auch gar nicht nötig. Seine Gegenüber bemerkten sein Dilemma. »Du hast einen ersten Eindruck bekommen, kennst die Stützpfeiler, auf denen unsere Zivilisation errichtet wurde. Bestimmt hast du jetzt noch viele Fragen, die wir gerne beantworten. Doch zunächst bist erst einmal du an der Reihe. Erzähle uns von dir. Wer du bist, woher du kommst. Was dich zu uns verschlagen hat.« Und so begann Cloud zu erzählen, angefangen bei der legendären zweiten Marsmission, an der er teilgenommen hatte, nachdem die erste, die sein Vater geleitet hatte, verschollen ging, über seine Reisen in Zukunft und Vergangenheit. Und er erzählte von seinen Kameraden, davon, wie er sie kennengelernt hatte und was sie heute für ihn bedeuteten. Seine Gegenüber hörten ruhig und bedächtig zu. Immer wieder versuchte John, eine Reaktion von ihren Gesichtern abzulesen, doch diese blieben maskenhaft starr, als würden sie nie auch nur vom An-
satz einer Gefühlsregung gestreift. Als er an den entscheidenden Punkt kam, jenen, als er erfahren hatte, was die gesamte Galaxie in einen Zustand vollständiger Entropie gestürzt hatte, hielt John inne und lehnte sich zurück. Die beiden Männer tauschten einen kurzen Blick, wandten sich dann gleich wieder ihrem Gast zu. »Was du erzählst, ist unerhört. Es stellt vieles, nein, fast alles auf den Kopf, woran wir bisher glaubten.« »Was denkt ihr, wie's mir gegangen ist?« Cloud lächelte matt. »Aber keine Sorge: Wenn man diese Dinge erst einmal akzeptiert hat, gewöhnt man sich daran.« Der Mann auf der linken Seite nickte bedächtig wie jemand, der den Sinn eines Kommentars zwar nicht verstanden hatte, sich aber auch nicht motiviert genug fühlte, um noch einmal nachzufragen. »Mir scheint jedoch«, meinte er, »dass du das Wichtigste außer Acht gelassen hast.« Clouds Lächeln wurde noch eine Spur breiter. »Quid pro quo, wie wir Juristen sagen«, gab er zurück und genoss fast ein wenig die Ratlosigkeit, die sich jetzt auf den beiden Gesichtern abzeichnete. »Ich habe mir die ganze Zeit den Mund fusselig geredet. Ich finde, dass ich es mir verdient habe, dass ihr mir jetzt einige meiner Fragen beantwortet.« Die Männer hielten stumme Zwiesprache, dann nickten sie wieder, beinahe synchron. »Was willst du wissen?« Diesmal musste Cloud nicht lange überlegen. Die Rekonstruktion seiner eigenen Erlebnisse hatte ihm dabei geholfen, seine Gedanken zu sortieren, was sich auch auf die Flut der Eindrücke ausgewirkt hatte, die er auf telepathischem Wege mitgeteilt bekommen hatte. Er hatte jetzt eine ungefähre Timeline im Kopf, die kurz nach der Katastrophe begann und im Hier und Jetzt endete. Dazwischen klafften große Lücken, die es zu füllen galt. »Wenn ich es richtig verstanden habe, dann sind die ersten Fälle von Psi-Begabung bereits im ersten Jahrhundert nach der Katastrophe aufgetreten.«
Die Männer nickten. »Nur sehr vereinzelt«, relativierte einer von ihnen. »Und nur bei Kindern, die lange nach der Katastrophe geboren wurden.« John nickte und dachte nach. Es schien, als hätte der vollständige Verlust jedweder Technik besondere Fähigkeiten, die zuvor brachgelegen hatten, hervorgerufen. »Zunächst sah es so aus«, fügte sein Gegenüber hinzu, »als handele es sich dabei um Launen einer außer Kontrolle geratenen Natur. Andere glaubten, es sei die Folge irgendeiner Art von Strahlung, die auch für die Katastrophe verantwortlich war. Es dauerte weitere Jahrtausende, bis dieser Evolutionsschritt so weit vollzogen war, dass er einen Großteil der Menschheit umfasste.« Die Ersten von ihnen hatten es zunächst bestimmt nicht einfach gehabt, vermutete Cloud. Wahrscheinlich waren nicht wenige von ihnen verfolgt worden. Die Menschen fürchteten, was sie nicht verstanden. Das war zu keiner Zeit anders gewesen. Der Aberglaube, der aus einer ehemals zur Gänze von Rationalität bestimmten Welt fast vollständig getilgt war, hatte wahrscheinlich eine Renaissance erlebt. Nur so ließen sich bestimmte Dinge erklären, die Cloud in dem Bildersturm wahrgenommen hatte. Die Stummen Götter … Allein dieses immer wiederkehrende Motiv schien die Menschen zutiefst verunsichert und ihr Handeln über eine lange Spanne bestimmt zu haben. Zumindest glaubte Cloud, verstanden zu haben, was es damit auf sich hatte. In dem Moment, da die Technik versagt hatte, war natürlich auch der Schattenschirm ausgefallen, der jahrhundertelang den Sternenhimmel verborgen, die Nacht verdunkelt hatte. Zeitgleich mit dem Chaos, das auf der Erde ausgebrochen war, musste ein wahres Lichtermeer am Himmel aufgetaucht sein. Dieser Moment hatte sich offenbar so tief ins Bewusstsein der Menschen eingegraben, dass sie ihn über die Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg religiös verbrämt hatten. Dazu beigetragen hatte sicherlich auch der Umstand, dass lange Zeit keine Kommunikation zwischen den einzelnen Metrops mög-
lich gewesen war. Obwohl die Erde zum Zeitpunkt der Katastrophe nur noch von einer genetischen Elite bevölkert gewesen war, hatte der Moment des vollständigen Kontrollverlusts den Startschuss für ein wahrhaft archaisches Zeitalter gegeben. »Die Menschheit besann sich auf ihre Spiritualität zurück«, bestätigte der Mann, der rechts von ihm saß. »Technikversessenheit, der Glaube an die falschen Propheten hatte ihnen lange den Blick auf das Wesentliche verbaut. Nun, da diese Hürde genommen war, bot sich die Chance für einen Neuanfang. Dieser vollzog sich freilich über einen Zeitraum von mehreren Jahrtausenden.« Cloud nickte und besann sich wieder auf das zuvor Gesehene. Und auf einen Begriff, der sich aus der Flut der Bilder und Eindrücke in ihm festgesetzt hatte. »Die Loge der Nokturnen«, ließ er ihn auf seiner Zunge zergehen und lauschte dem Klang der eigenen Worte. »Was genau hat es damit auf sich …?«
Östlich der ehemaligen Metrop Paris im Jahr 9267 ZSG Karo duckte sich unter den Blicken derer am Himmel, die ihren Weg begleitet hatten, seit sie aus der einfachen Kutsche, die sie an diesen Ort gebracht hatte, ausgestiegen war. Die 28-Jährige hasste klare Nächte wie diese, in denen sich ihre Macht so uneingeschränkt präsentierte. Ohne den dünnsten Wolkenschleier, der ihnen wenigstens symbolisch etwas entgegensetzte. Kara war dazu erzogen worden, die Götter, die einst großes Unheil über die Menschheit gebracht hatten, zu fürchten. Doch Furcht war nicht der richtige Ausdruck für das, was sie empfand. Sie hasste jene, die sich anschickten, ein ganzes Volk zu unterjochen, es in seine Knie zu zwingen und stumm dabei zuzusehen, wie es sich unter größter Anstrengung langsam wieder auf die Beine
stemmte. Viel hatte sie gehört von der großen Katastrophe, die mittlerweile so lange zurücklag, dass keiner sich noch so recht etwas darunter vorstellen konnte. Auch nicht die Ältesten, die die Geschichten jeweils an die nachfolgenden Generationen weitertrugen. Die Menschheit hatte im Paradies gelebt. Bis zum Sündenfall. Danach war sie aus dem Paradies verbannt worden und musste lernen, sich aus eigener Kraft zu behaupten. So oder ähnlich lauteten die alten Überlieferungen, auf den Punkt gebracht. Zeitgenössische Aufzeichnungen, die genauere Rückschlüsse über die Ereignisse erlaubt hätten, gab es so gut wie keine. Und wenn es sie je gegeben hatte, dann waren sie dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen und so gut wie unbrauchbar. Die Menschen von damals hatten vermutlich ohnehin Besseres zu tun gehabt, als sich darum zu sorgen, dass die Nachwelt mit ausreichenden Informationen über ihr Schicksal versorgt wurde. So war Kara nie mehr übrig geblieben, als sich auf die Erzählungen von Leuten zu verlassen, die selbst erst Jahrtausende nach der Katastrophe das Licht der Welt erblickt hatten. So wusste sie um ihr Schicksal und dessen Ursprung. Fügen wollte sie sich ihm jedoch nicht. Deshalb war sie hierhergekommen. An einen Ort, von dem sie hoffte, auf Gleichgesinnte zu treffen. Auf Menschen, die wie sie entschlossen waren, die Dinge in die eigene Hand zu nehmen, anstatt sich in irgendein angeblich vorgezeichnetes Schicksal zu fügen. Im zarten Alter von fünf, sechs Jahren hatte sie zum ersten Mal gespürt, dass sie anders war als die anderen. Dass die Menschen in ihrer Umgebung sie mit seltsamen Blicken bedachten, ihr geradezu aus dem Weg gingen. Es hatte Jahre gedauert, bis Kara verstand, warum dem so war. Als Kind hatte sie ihre Fähigkeit als völlig normal angesehen, sich deshalb auch nie die Mühe gegeben, sie vor anderen zu verbergen. Sie kannte es gar nicht anders, war es von klein auf gewohnt gewesen, den Worten ihrer Eltern zu lauschen, auch dann, wenn kein
Laut ihre Lippen verließ. Sie hatte sich nichts dabei gedacht, es wohl lediglich als eine andere Art der Kommunikation empfunden. Dass etwas nicht stimmte, hatte sie erst an den konsternierten Reaktionen ihrer Eltern gemerkt, wenn sie mal wieder auf eine Frage geantwortet hatte, die gar nicht gestellt worden, sondern ihrem Gegenüber lediglich durch den Kopf gegangen war. Irgendwann hatten ihre Eltern sie beiseite genommen und versucht, ihr kindgerecht zu erklären, warum es besser war, mit diesem Talent nicht hausieren zu gehen. Dass sie etwas Besonderes war und die Menschen das Besondere verabscheuten, weil es ihnen ihre eigene Gewöhnlichkeit vor Augen führte. Kara hatte versprochen, sich daran zu halten, und sich auch ernsthaft bemüht, ihr Versprechen einzuhalten. Sie merkte jedoch, dass es ihr zuweilen schwerfiel, zwischen Gesagtem und Gedachtem zu unterscheiden. Irgendwann gewöhnte sie es sich an, den Menschen buchstäblich an den Lippen zu hängen, genau darauf zu achten, ob diese sich bei einer Äußerung bewegten oder auch nicht. Schwierig wurde es, wenn ihr jemand den Rücken zuwandte. Sie hatte Leute erlebt, die ihre halbe Lebensgeschichte erzählt hatten, um am Ende festzustellen, dass ihr vermeintlicher Gesprächspartner während der ganzen Zeit völlig stumm gewesen war. Je älter Kara wurde, desto leichter fiel es ihr, ihr Talent zu kontrollieren, es bewusst einzusetzen, erwünschten Gedanken den Zugang zu erlauben, ihn unerwünschten aber zu verwehren. Außerdem merkte sie im Laufe der Jahre, dass sie nicht allein war. Dass es andere gab wie sie. Die erste Bekanntschaft mit einem »speziell Begabten« hatte sie auf dem Markt in ihrem Ort gemacht, wo sie jeden zweiten Tag im Auftrag ihrer Eltern deren Tauschgeschäfte erledigte. Sie hatte die selbst hergestellten Waren, die sie zu tauschen gedachte, gerade ausgelegt, als sich ein Junge von vielleicht 12 oder 13 Jahren verstohlen dem Stand näherte. Kara war sofort wachsam gewesen. Sie hatte mehr als nur einmal mit Langfingern zu tun gehabt, die dein und mein nicht unterscheiden konnten und sich einfach nahmen, was sie zum Leben brauch-
ten. Sicher, die meisten handelten aus der Not heraus, und Kara hatte schon häufiger dem einen oder anderen etwas zugesteckt, wenn dieser höflich um eine milde Gabe bat. Oder wenn sie in dessen Gedanken gelesen hatte und darin von einem solch schweren Schicksal erfahren hatte, dass es ihr schier das Herz zerriss. Ihre Eltern machten ihr in solchen Fällen dann immer die Hölle heiß. Nicht ganz zu Unrecht. Die Zeiten waren schwer. Für alle. Auch sie und ihre Familie hatten jeden Monat hart zu kämpfen, um sich mit dem Nötigsten zu versorgen. Sie züchteten Schweine und betrieben nebenher Gemüseanbau im kleinen, sehr kleinen Rahmen. Jedenfalls war Kara, als sie den Jungen in den abgerissenen Klamotten von Weitem erspähte, bereits klar gewesen, dass es ratsam war, ihm nicht den Rücken zu kehren. Sie öffnete ihre »Empfangskanäle«, versuchte zu erlauschen, was in ihm vorging. Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass ihr dies nicht gelang. Das war überaus selten, aber es kam vor. Immer wieder gab es Menschen, die ihre Gedanken aus irgendeinem Grund vor ihr verbergen konnten. Deshalb dachte sie sich zunächst nichts weiter dabei. Sie hatte sich dann um einen Kunden gekümmert, der ihr ein halbes Dutzend Eier im Tausch gegen ein Stück Schinken angeboten hatte. Kara hatte angenommen, die Waren hatten ihre Besitzer gewechselt. Den Jungen hatte sie dabei stets im Auge behalten. Doch dieser hatte sich während der ganzen Zeit nicht vom Fleck bewegt. Er stand nur da, gut 15 Schritte vom Stand entfernt, und starrte zu ihr hinüber, als versuchte er, ihr irgendetwas mitzuteilen. Ein anderer Kunde trat an den Stand. Kara wollte sich ihm gerade zuwenden, als es passierte: Ein großer Bund Karotten purzelte wie von selbst von der Auslage auf die Erde und rollte, wie von einem Windstoß erfasst, auf den wartenden Jungen zu, direkt vor dessen Füße.
Dieser musste sich nur noch danach bücken, was er auch sogleich tat, bevor er sich eiligen Schrittes durch die Menschenmenge entfernte. Kara rief ihm hinterher, spielte gar kurz mit dem Gedanken, ihm nachzulaufen, machte sich dann aber bewusst, dass ihr wesentlich mehr abhanden kommen würde als ein paar Karotten, wenn sie den Stand auch nur für eine Minute unbeaufsichtigt ließ. Sie empfand das als überaus ärgerlich. Nicht wegen dem gestohlenen Gemüse, sondern deshalb, weil sie gerne ein paar Worte mit dem Jungen gewechselt hätte, um herauszufinden, wie er das gemacht hatte. Ihre Eltern, denen sie später davon erzählte, waren zwar der festen Überzeugung gewesen, dass es sich dabei um eine Art Trick gehandelt hatte. Doch Kara war sich sicher, zum ersten Mal einem Menschen begegnet zu sein, der wie sie mit einer speziellen Gabe gesegnet war. Von da an hatte sie ganz bewusst darauf geachtet, wenn sie jemandem begegnete, ob dieser sich vielleicht irgendwie seltsam benahm. So, als wollte er irgendetwas verbergen. Und dann versuchte sie, in seinen Gedanken zu stöbern. Immer wieder hatte sie das Gefühl, einem solchen Menschen gegenüberzustehen. Allein, es gelang ihr nie, den entsprechenden Beweis für eine außergewöhnliche Begabung zu finden. Nie hätte sie es in Erwägung gezogen, dass ihre Suche im Grunde genommen völlig unnötig war. Dass sie die Beweise, die sie wollte, eines Tages ganz ohne ihr Zutun erlangen würde.
Es war an einem windigen Tag im Herbst. Kara bemerkte den Mann erst, als er direkt vor ihr stehen blieb. Tatsächlich waren seine Erscheinung und sein Auftreten derart unscheinbar, dass er in der Masse der Menschen, die sich durch die engen Gassen des Marktes zwängten, vollkommen untergegangen war. Sie fragte ihn nach seinem Begehr. Er lächelte sie tiefgründig an und fragte sie, ob sie Lust hätte, mit ihm zusammen die Welt zu ver-
ändern. Kara hatte nicht gewusst, was sie darauf entgegnen sollte. Sie hatte ihn nur angesehen, ihm dabei tief in die Augen geblickt. Und mit einem Mal hatte sie das Gefühl gehabt, dass alles, was sie bisher durchgestanden hatte, ihr gesamtes Leben, nur eine Art Vorbereitung auf eine Bestimmung war, deren Erfüllung in diesem Moment begonnen hatte. Der Mann, der sich nicht mit Namen vorstellte, öffnete nur für einen kurzen Moment seine Bewusstseinspforten, um sie teilhaben zu lassen an seinem Masterplan. Damit hatte er sie stehen gelassen. War einfach weitergegangen, ohne sich um ihre Rufe zu scheren. Kara war ihm hinterhergelaufen, hatte versucht, sich einen Weg durch die Massen zu bahnen, und blieb am Ende enttäuscht zurück. So wie sich der Mann wie aus dem Nichts herauskristallisiert hatte, so war er auch wieder verschwunden, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Doch das Wissen, das er mit diesem einen Blick in Karas Bewusstsein gepflanzt hatte, war geblieben. Es lebte darin fort und breitete sich aus mit jedem weiteren Tag, der ins Land zog. Nach einem Monat war sie so weit, ihren Eltern zu eröffnen, dass sie sie für einige Wochen verlassen musste. Die Fragen, die auf sie einstürmten – etwa, wohin sie wollte, wie sie dort hinzukommen gedachte und was sie dort tun wollte – blockte sie ab. Schon deshalb, weil sie selbst keine eindeutige Antwort gewusst hätte. Tatsächlich hatte Kara bis zur letzten Minute nicht die leiseste Ahnung, wie sie ans Ziel gelangen sollte. Sie wusste nur, dass jene, die sie zu sich gerufen hatten, schon dafür Sorge tragen würden, dass alles glatt über die Bühne ging. Und tatsächlich. Kaum hatte sie den einzigen befestigten Weg erreicht, der am elterlichen Hof vorbeiführte, tauchte auch schon eine Kutsche auf, gezogen von zwei klapprigen Pferden, die direkt neben ihr hielt und sie einsteigen ließ. Und jetzt, nach einer Reise von anderthalb Tagen, hatte sie ihr Ziel erreicht. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussah.
Das Licht der Götter ergoss sich über eine Hügellandschaft, wie sie verlassener kaum sein konnte. Nirgendwo war auch nur das geringste Anzeichen menschlicher Zivilisation auszumachen. Und obwohl Kara zum ersten Mal an diesem Ort war, hätte ein heimlicher Beobachter keine Sekunde daran gezweifelt, es mit einer Ortskundigen zu tun zu haben. Sicher und wie an unsichtbaren Fäden gezogen bewegte sich Kara über den unwegsamen Parcours, steuerte dabei jene Stelle an, von der sie sich seit ihrer Ankunft magisch angezogen fühlte. Als sie sie erreichte, ging sie auf die Knie. Sie musste nicht lange suchen. Die Luke öffnete sich wie von selbst, und ein schwacher Streifen Licht sickerte hinaus in die Nacht. Kara erkannte sogleich das Gesicht des Mannes, der sie auf dem Markt aufgesucht hatte. Sie ließ es geschehen, dass er ihr wortlos ihr Bündel abnahm, dann drehte er sich um und machte sich an den Abstieg. Der Schacht reichte etwa vier Meter in die Tiefe und mündete in einen knapp zwei Meter breiten Stollen, der von der blakenden Fackel in der Hand ihres Gastgebers in zuckendes Licht getaucht wurde. »Ich freue mich, dass du meiner Einladung gefolgt bist«, sagte der Mann mit sonorer, fast schon hypnotischer Stimme. Seine dunklen Augen glänzten im Schein des Feuers und verliehen seinem Gesicht ein geradezu ätherisches Aussehen. »Wer bist du?«, fragte Kara entrückt und kaum in der Lage, den eigenen Blick von seinem zu lösen. »Du kannst mich Kaamad nennen«, entgegnete der Mann, dessen unscheinbare Physis in einem kaum auflösbaren Widerspruch stand zu dem Charisma, das er mit jeder Pore ausströmte. »Komm mit! Die anderen warten bereits auf uns!« Die anderen?, wollte Kara fragen. Doch da hatte Kaamad sich bereits umgedreht und winkte sie hinter sich her, den Stollen entlang. Sie gingen etwa zwanzig Meter, bis sie an eine hölzerne, schief in den Angeln hängende Tür kamen.
Kaamad öffnete sie, trat dann beiseite und gab den Blick frei. »Willkommen bei den Nokturnen …!« Kara trat auf die Tür zu, blieb vor der Schwelle stehen und richtete ihren Blick in den Raum dahinter. Dieser war nicht besonders groß, wirkte jedoch durch die geschickt im Raum verteilten Fackeln und das dadurch entstehende Spiel von Licht und Schatten wesentlich größer. Wie Kaamad schon angedeutet hatte, waren sie nicht länger allein. Im Raum saß ein halbes Dutzend Menschen, zwei Frauen, vier Männer, im Schneidersitz auf dem Boden. Als Kara ihre geistigen Fühler ausstreckte, nahm sie sofort die Anwesenheit von Gleichartigen war. Diese Leute, jeder von ihnen, waren »speziell Begabte« so wie sie. Und dann hörte sie die Stimmen, die auf sie einstürmten wie ein Chor. Sei willkommen …! Setz dich zu uns …! Komm in unsere Mitte …! Die lautlosen Rufe klangen gleichzeitig auf, wiederholten sich teils und waren kaum auseinanderzuhalten. Kara verspürte ein leichtes Schwindelgefühl in sich aufsteigen und fasste sich an die Schläfe. Eine Geste, die Kaamad, der sogleich den Arm auf ihre Schulter legte, mit einem beschwichtigenden Lächeln quittierte. »Es ist zunächst noch ungewohnt. Du wirst lernen, damit umzugehen. Dazu bist du ja hier.« Kara nickte, konzentrierte sich und entgegnete die Grußbotschaften mit einer mentalen Antwort, die sie in den Raum sandte. Ich danke euch. Danke euch allen! Es war nicht ganz einfach. Bisher war sie nur Adressatin, niemals Absenderin gewesen. Es war ungewohnt. So, als müsste sie in ihrem Kopf jedes Wort einzeln modulieren, bevor sie es auf die Reise schickte. Und dennoch behagte es ihr auf eine schwer zu beschreibende Weise. Es kam ihr vor, als sei dies die ihr von der Natur bestimmte Art und Weise zu kommunizieren.
Das kollektive Nicken war Beweis genug, dass ihr Versuch einer Kontaktaufnahme geglückt war. Sie versuchte es gleich noch einmal. Mein. Name. Ist. Kara. Hallo Kara! Diesmal erfolgte die Antwort wie aus einem Munde. Es war nicht zu übersehen, dass sie es hier mit einem bereits aufeinander eingestimmten Team zu tun hatte. Kara trat über die Schwelle, begab sich zu einem freien Platz und ließ sich dort nieder. »Und wieder«, meinte Kaamad, der ihr folgte, »sind wir unserem Ziel einen kleinen Schritt näher gekommen.« Kara nickte. Sie wusste um den Masterplan der Nokturnen. Kaamad hatte ihn an jenem Tag auf dem Markt in ihr Bewusstsein gepflanzt. Seitdem war er dort verankert, als wäre er ein Teil ihrer selbst und schon immer dort gewesen. Das mittelfristige Ziel der Gruppe bestand darin, die Kräfte so vieler speziell Begabter wie möglich miteinander zu vernetzen. Wenn Kara den Erzählungen der Ältesten Glauben schenken konnte, dann waren die Menschen vor Tausenden von Jahren in der Lage gewesen, mittels spezieller Vorrichtungen über weite, sehr weite Strecken zu kommunizieren. Sogar bis ans andere Ende der Welt. Nach der Katastrophe war den Menschen diese Fähigkeit genommen worden. Konnte es sein, dass die Natur diesen Verlust nun kompensierte, indem sie ihnen die Fähigkeit verlieh, sich eigenständig – und ohne jene, den Göttern so verhassten Hilfsmittel – wieder miteinander in Verbindung zu setzen? Welch unglaublichen Fortschritt würde es bedeuten, wenn Strecken, die unüberwindbar schienen, allein kraft des eigenen Geistes überwunden werden konnten? Welchen unglaublichen Erkenntnisgewinn würde dies zur Folge haben? Darüber hinaus hatte Kaamad noch ein weiteres, ein ultimatives Ziel. Wurde dieses erreicht, dann würde sich das Leben der Menschen in einem Maße verändern, wie keiner es bisher für möglich
gehalten hätte. Kaamad begab sich in die Mitte der Anwesenden, die sich nun die Hände reichten, die Augen schlossen und ihre Blicke auf einen bestimmten Punkt in ihrem Innern konzentrierten. Kara wurde mit einem Mal schwindelig. Es kam ihr vor, als würde sie den Halt verlieren und in einen lichtlosen Tunnel taumeln. Ganz deutlich spürte sie, wie ihre mentale Kraft sich mit der der anderen vereinte. Wie sich ein Netzwerk bildete, das es jedem von ihnen ermöglichte, auf die Kräfte des jeweils anderen zuzugreifen. Eine solche Vereinigung erforderte ein hohes Maß an Vertrauen. Kara erkannte, dass es ihr ohne Weiteres möglich gewesen wäre, sich in den Kopf ihres Gegenübers zu projizieren und diesen ungehemmt zu durchforsten. Die geheimsten Wünsche und Gedanken ihrer Mitstreiter lagen ausgebreitet vor ihr wie ein aufgeschlagenes Tagebuch. Und es erforderte ein nicht geringes Maß an Willenskraft, um der Versuchung, darin zu blättern, zu widerstehen. Gleichzeitig spürte Kara, wie ihre mentale Kraft in nie gekannter Blüte erstrahlte. Wie sich ihre mentalen Fühler ausbreiteten, die Grenzen des unterirdischen Bunkers weit hinter sich ließen und sich hinauf in den nächtlichen Himmel erhoben. Vor ihrem geistigen Auge sah sie die Erde auf einmal so klein und so weit entfernt wie aus der Perspektive eines Adlers. Und sie stieg immer noch weiter auf. Schließlich erkannte sie, dass es stimmte, was sie in der Theorie bereits wusste, was sie sich in der Praxis jedoch nie hatte vorstellen können. Nämlich, dass die Erde tatsächlich eine Kugel war. Ein blauer Ball, wie eine übergroße Murmel. Nie hätte sie es für möglich gehalten, sie einmal aus dieser Höhe erleben zu dürfen. Menschen waren nun mal nicht zum Fliegen bestimmt. Doch jetzt, dank der Kraft ihres Geistes, hatte sie das scheinbar Unmögliche möglich gemacht. Plötzlich spürte sie, wie etwas an ihr zog, sie zurück auf die Erde zerrte. Kara ließ es geschehen. Sie merkte, dass es in Ordnung war. Dass dies dem geplanten Verlauf des Experiments entsprach. Vor ihrem geistigen Auge sah Kara, wie sie auf die Erde zurück-
fiel. Es sah aus, als würde sie aus großer Höhe in die Tiefe stürzen, dabei immer schneller werden, bis der Boden in ihrem Blickfeld zu immenser Größe anschwoll. Und dann … Kara brauchte eine Weile, um sich zu orientieren. Sie wusste zunächst nicht, wo sie sich befand. Alles um sie her war schwarz und dunkel. Und dann, urplötzlich, hörte sie eine leise Stimme aus dieser Dunkelheit. Sie sprach zu ihr, zunächst leise und zögernd, dann immer aufgeregter und alarmierter. Wer seid ihr? Was wollt ihr von mir? So sagt doch etwas! Es dauerte einen Moment, bis Kara verstand, dass sie sich in einem fremden Bewusstsein befand. Sie und die anderen hatten Kontakt aufgenommen. Kontakt zu einer Person, die weit entfernt wohnte, vielleicht sogar am anderen Ende der Welt. Sie war sich dessen gerade bewusst geworden, als sich die Verankerung löste, sie zurückstürzte und … Abrupt öffnete sie die Augen und fand sich inmitten ihrer neuen Mitstreiter wieder. Im Stollen, meterweit unter der Erde. Den Blicken der anderen konnte sie entnehmen, dass dies das erste Mal war, dass sie derartige Fortschritte gemacht hatten. Selbst Kaamad, der ansonsten die Ruhe selbst zu sein schien, wirkte aufgewühlt und zutiefst ergriffen. »Es hat geklappt«, murmelte er und wischte sich mit einem schmutzigen Tuch den Schweiß von der Stirn. »Wir haben eine Vernetzung zustande gebracht.« Mit einem Mal fiel die Anspannung von ihm ab, und er blickte mit einem Lächeln in die Runde. »Das ist euer Erfolg«, sagte er. »Gemeinsam haben wir Großes vollbracht. Zumindest für heute. Denn morgen schon … werden wir die Welt verändern.«
»Es dauerte aber weitere Jahrhunderte, bis die Loge ihr Endziel erreichte«, relativierte einer seiner beiden Bewacher Kaamads Aussage. »Das Wissen der Nokturnen wurde von Generation zu Generation weitergegeben.
Dem ersten Schritt, der ersten Kontaktaufnahme folgten bald weitere. Und während sich die gesamte Menschheit veränderte, es zu immer mehr Fällen von Psi-Begabten kam, gesellten sich auch immer mehr Mitstreiter zu ihnen. Die Gruppe wuchs beständig an. Und bald erlaubten es die äußeren Umstände, dass sie offen agieren konnten und sich nicht mehr in den Untergrund zurückziehen mussten.« »Das Besondere wurde zum Normalen«, murmelte Cloud nachdenklich vor sich hin. »Ganz genau«, bestätigte der zweite der Männer. »Die Evolution schritt mit schnellen Schritten voran.« Erstaunlich, ging es John durch den Kopf. Gleichzeitig fragte er sich, was die Ursache für solch einen Wandel gewesen sein mochte. Vielleicht war es ja wirklich so, wie es schon andere vor ihm vermutet hatten: dass die Natur den Technologieverlust einer jahrhundertelang von moderner Technik völlig abhängigen Menschheit durch die Ausbildung besonderer geistiger Fähigkeiten ausgeglichen hatte. Hundertprozentig erfahren würde er die Gründe dafür wohl nie. Auch die Menschen der heutigen Zeit schienen sie nicht zu kennen. Zumindest hatte er in dem Gedankensturm, den sie ihm ins Hirn gepflanzt hatten, nicht den geringsten Hinweis darauf gefunden. »Wir haben unser Versprechen gehalten und dir deine Fragen beantwortet«, riss Johns Gegenüber ihn aus seinen Gedanken. »Nun ist es wieder an dir, die unseren zu beantworten.« John nickte. Er hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Noch immer hatte er nicht die geringste Ahnung, wie seine Entführer mit ihm verfahren würden, wenn sie alles erfahren hatten, was sie wissen wollten. Trotz aller Jovialität, die sie während der letzten Stunden an den Tag gelegt hatten, war er noch immer mehr ein Gefangener als ein Gast. Ein wenig fühlte er sich wie Scheherazade, jene Prinzessin aus 1001 Nacht, die den Kalifen mit immer neuen Erzählungen so lange bei Laune gehalten hatte, bis dieser ihr Leben verschonte. Doch das Leben war kein Märchen. Er musste sich wohl überraschen lassen und darauf hoffen, dass auch diese veränderte Mensch-
heit, Jahrzehntausende nach der Katastrophe, ein noch immer ausreichendes Maß an Moral in sich trug. Auch wenn sie sich mit Gefühlen offenbar schwertat, wie er bereits festgestellt hatte. John seufzte. Es half ja nichts. Also machte er sich daran, das letzte Kapitel seiner Geschichte zu erzählen. Von Darnoks Rachefeldzug, seinem Zeitbeschleuniger und den katastrophalen Auswirkungen, von denen nicht nur die Erde, sondern die gesamte Milchstraße betroffen war. Aus den Blicken der beiden ging hervor, dass sie zunehmend Schwierigkeiten hatten, ihm zu glauben oder auch nur zu folgen. Doch glauben würden sie ihm wohl müssen, wollten sie ihren eigenen übernatürlichen Sinnen, die eine Lüge sofort durchschaut hätten, nicht misstrauen. John konnte nichts anderes tun, als darauf zu bauen. Schließlich hing sein eigenes Leben davon ab. Zu seiner Überraschung verzichteten die Männer auf jedweden weiteren Kommentar. »Wir werden deine Erklärung in angemessener Weise berücksichtigen.« Sie wollten aufstehen, doch Cloud hielt sie mit einer Handbewegung zurück. »Und was ist mit mir?«, fragte er, ein wenig zu fordernd, wie er kurz darauf selbst einräumen musste. Seine »Wärter« schienen es nicht so zu empfinden. Aus irgendeinem Grund musste ihnen sowohl der Tonfall als auch die Bitte vollkommen legitim vorkommen. Vielleicht, weil sie es gar nicht anders kannten. »In Ordnung.« Beide nickten, setzten sich wieder. »Stell deine Fragen …!«
Jarvis bereute inzwischen, dass er Algorian überhaupt mitgenommen hatte. Anders als er benötigte der Aorii einen Raumanzug, um sich im Vakuum bewegen zu können. Sesha hatte diesen zwar speziell auf ihn und seine Bedürfnisse zugeschnitten, dennoch kam er in
dem grünen Dickicht wesentlich langsamer voran, als der GenTec, der dank seiner Körpereigenschaften jedes Hindernis geschickt umging. Jarvis musste immer wieder warten, um zu vermeiden, dass der Aorii zu weit zurückfiel. Wenn eines nicht passieren durfte, dann, dass sie voneinander getrennt wurden. Wer konnte schon sagen, welche Gefahren außer dieser unkontrolliert wuchernden Vegetation noch auf sie lauerten? Jarvis nutzte die Zeit, um sich immer wieder seiner Umgebung zu widmen. Ihm fiel auf, dass er einige der Gewächse um ihn her noch von der Erde kannte. Das eine oder andere glaubte er gar in Jeltos hydroponischem Garten gesehen zu haben. Andere dagegen waren ihm gänzlich unbekannt. Er konnte auch keine richtige Ordnung erkennen. Alles wuchs völlig unkontrolliert in alle Himmelsrichtungen. Das Vakuum selbst schien ihr Nährboden zu sein. Oder dieses sonderbare Licht … Es erfüllte alles um ihn her wie winzige, dicht aneinandergedrängte Staubpartikel, die aus sich selbst heraus leuchteten, dabei mehr als nur Licht und Wärme absonderten. Jarvis fehlte jede Erklärung für dieses Phänomen. Vergleichbares hatte er nie zuvor gesehen. War es möglich, dass ihm eine Kraft innewohnte, die alles andere ersetzte, was Pflanzen normalerweise zum Überleben benötigten? Der Odem des Lebens, spukte es ihm durch den Geist. Im nächsten Moment stand auch schon Algorian neben ihm und sah ihn voller Tatendurst an. »Du wirst doch nicht schon schlappmachen?«, witzelte er. Jarvis grinste. »Wäre kein Wunder, so wie du mich durch die Gegend scheuchst.« »Wenn ich dir eine Last bin, brauchst du es nur zu sagen.« Jarvis machte eine abwehrende Geste. »Denkst wohl, du kannst dir einen faulen Tag machen. So leicht kommst du mir nicht davon.« Er erzählte Algorian von seinen Überlegungen, die er über das seltsame Leuchten angestellt hatte.
»Kommt mir auch so vor«, bestätigte der Aorii seine Schlussfolgerung. »Dieses Licht hat etwas Anziehendes an sich. So, als wolle es einen dazu einladen, sich von ihm umschmeicheln zu lassen.« Jarvis nickte. Auch Jiim hatte davon erzählt. Er selbst spürte es ebenfalls, jedoch wesentlich schwächer als die beiden Kameraden. Vielleicht lag es daran, dass der Lebensfunke, der in ihm glomm, von einem künstlichen Körper umschlossen war, die Wirkung damit gedämpft wurde. Jarvis fragte sich außerdem, wie weit diese Vegetation ins Vakuum hineinreichte. Und was sich dahinter befand. Bisher hatten sie sich dicht an der Innenseite der Kruste gehalten. Anders hätten sie es kaum vermocht, sich zu orientieren. Jetzt fragte er sich, ob es ihrem Ziel nicht vielleicht doch dienlicher war, weiter ins Vakuum vorzudringen. Er wollte dem Aorii seine Überlegung gerade mitteilen, als dieser die Hand hob, als wollte er den GenTec auf irgendetwas aufmerksam machen. »Hörst du das?«, fragte er mit gedämpfter Stimme. Jarvis lauschte in die Stille. Und tatsächlich: Da war ein Geräusch, das keines sein konnte – weil Vakuum keine Laute zuließ. Dennoch ähnelte es einem hohen Summen, war mehr zu spüren als wirklich zu »hören«. Die beiden Kameraden sahen einander an. Jarvis deutete über Algorians Kopf. »Es kommt von da drüben.« Algorian nickte. »Dann sollten wir da mal nachsehen …« Während sie gingen, hielt Jarvis immer wieder inne, um dem Summen erneut zu lauschen. Mehrmals sahen sie sich gezwungen, ihre Richtung zu korrigieren. Wie sich herausstellte, war der genaue Ursprung doch nicht so eindeutig zu bestimmen, wie Jarvis zunächst geglaubt hatte. Ab einem gewissen Moment hatte er sogar das Gefühl, den Laut aus mehreren Richtungen gleichzeitig wahrzunehmen – obwohl nach wie vor das Übertragungsmedium für irgendei-
ne Art von Schall fehlte. Auch schien er weder lauter noch leiser zu werden, egal, wie weit sie sich in die jeweilige Richtung fortbewegten. Er war schon versucht, aufzugeben, als Algorian innehielt und nach links deutete. Und tatsächlich. Von dort war ein starkes Glühen zu erkennen, stärker noch als jenes Leuchten, welches das gesamte Vakuum erhellte. Das Buschwerk dort sah so aus wie mit einer Goldschicht überzogen. Die Kameraden verständigten sich mit Blicken. Diesmal war es Algorian, der voranging und die Vorhut bildete. Weit mussten sie nicht gehen. Der Aorii bog lediglich das Buschwerk beiseite. Dahinter befand sich eine kreisrunde Lichtung mit einem Radius von knapp zwanzig Metern. Interessant war das, was sich in der Mitte der Lichtung befand. Interessant und außergewöhnlich … Algorian wandte sich mit einem Ausdruck höchsten Erstaunens seinem Kameraden zu. »Ist es das, was ich denke, das es ist?« »Denke schon …«
Östlich der ehemaligen Metrop Peking im Jahr 12476 ZSG Xin-Hui huschte die Stufen des Turms hinauf, wobei sein Umhang im Luftzug aufgeregt flatterte. Er war zu spät, und er wusste es. Er hatte die Schwingungen der anderen bereits empfangen, noch während er sich dem Turm genähert hatte. Wie eine dunkle Gewitterwolke hatte sich die schlechte Stimmung über der Burg manifestiert und war nun regelrecht greifbar. Ich muss es schaffen, trieb er sich in Gedanken an. Wenn sie ohne ihn begannen, würde er sich das nie verzeihen. Was konnte wichtiger sein, als einem so historischen Moment beizuwohnen?
Zwar wussten die anderen, dass er bereits unterwegs war und jede Sekunde eintreffen musste. Nur nützte ihnen das nichts, weil sich das, was an diesem Abend weltweit in Bewegung geriet, ihrer direkten Einflussnahme entzog. Auch sie waren nur ein winziger Teil eines großen Ganzen. Das Bruchstück eines Mosaiks, das nur in seiner Gesamtheit ein wirkliches Kunstwerk ergab. Als er die Tür des Turmzimmers aufriss, blickte er in verärgerte Gesichter. Jun-Siu, der alte Meister des Ordens, musterte ihn gar strafend, als wollte er ihn gleich für seinen Ungehorsam züchtigen. Xin-Hui nahm an, dass er das auch getan hätte, wäre dafür noch Zeit gewesen. So gesehen hatte seine Unpünktlichkeit wenigstens etwas Gutes. Dabei wäre es auf seine Mitwirkung am Ende kaum angekommen. 22 Personen hatten außer ihm und Meister Jun-Siu den Weg in den alten Wehrturm gefunden, der dem Orden seit jeher als Ausbildungsstätte gedient hatte. Zumindest, solange Xin-Hui zurückdenken konnte. Dennoch … es ging hier nicht nur um das Endergebnis, sondern darum, diesem wichtigen Einschnitt in der Menschheitsgeschichte vollzählig beizuwohnen. Alles andere hätte Meister Jun-Siu als persönliche Niederlage empfunden. Schließlich hatten sich Menschen auf der ganzen Welt zur selben Zeit an den verschiedensten Orten versammelt, um das Experiment durchzuführen. Das war umso beeindruckender, wenn man bedachte, dass in den letzten Jahrtausenden die Kommunikation der Menschen an räumliche Nähe gebunden und die Entfernungen zwischen den Kontinenten fast unüberbrückbar gewesen waren. Ein rapider Wandel hatte sich vor allem in der jüngsten Vergangenheit vollzogen. Die Menschheit hatte ihren vorläufigen evolutionären Höhepunkt erreicht. Zu keinem Zeitpunkt der Evolutionsgeschichte hatte ihre Rasse über derartige Fähigkeiten verfügt. Auch wenn es Zeitgenossen gab, bei denen sich dieser Schritt aus irgendeinem Grund noch immer nicht vollzogen hatte. Diese wurden immer seltener, aber Xin-Hui schätzte, dass auf hundert Personen
durchaus vier bis fünf kamen, deren Sinne noch nicht ausreichend ausgeprägt waren, dass sie an einem Experiment wie dem heutigen teilnehmen konnten. Xin-Hui kannte drei von ihnen persönlich, und er wusste, dass sie sehr darunter litten. Sie fühlten sich minderwertig, ein wenig wie Ausgestoßene, auch wenn ihre Umwelt sich in der Regel durchaus bemühte, ihnen dieses Gefühl zu nehmen. Von wirklichen Diskriminierungen hatte Xin-Hui noch nichts mitbekommen. Auf Zehenspitzen, als könnte er sein Zuspätkommen durch besonders leises Auftreten kompensieren, nahm der 18-Jährige seinen Platz auf dem steinigen Boden ein und reichte seinen beiden Nachbarn die Hände, die diese widerwillig ergriffen. Jetzt waren alle Blicke auf den Meister gerichtet, der im Schneidersitz vor ihnen saß und die Augen geschlossen hatte. Es verging einige Zeit, die Xin-Hui wie eine halbe Ewigkeit vorkam. Die mentalen Fühler des Meisters waren in weite Ferne gerichtet, wo sie sich mit denen der anderen Logenmeister vereinigten. Die Loge der Nokturnen, einst auf dem europäischen Festland ins Leben gerufen, hatte im letzten Jahrtausend ein weit verzweigtes Netz aufgebaut, mit Mitstreitern auf der ganzen Welt. Persönlich getroffen hatten sich die meisten Mitglieder der einzelnen Logen nie. Die Entfernungen waren noch immer zu immens, um räumlich so einfach überbrückt zu werden, auch wenn es natürlich immer wieder Versuche gegeben hatte. Doch in demselben Maße, in dem Entfernungen durch geistige Vernetzung überbrückt werden konnten, waren diese Versuche allmählich weniger geworden. Wie müßig war es doch, sich auf eine jahrelange Wanderschaft zu begeben, wenn man den Weg in einem Wimpernschlag und allein kraft seines Geistes zurücklegen konnte. Kaamad, der Gründer der legendären Loge hatte den Überlieferungen zufolge von Anfang an einen genauen Plan im Kopf gehabt, um die versprengte Menschheit wieder zu vereinen. Dies war ihm zum Teil noch zu Lebzeiten gelungen. Er und seine Mitstreiter hatten nach und nach den Kontakt zu ähnlich Begabten in aller Welt aufgenommen, diese von ihren Plänen unterrichtet und
Anhänger gewonnen. Damals, hatte Meister Jun-Siu ihnen erzählt, sei das noch nicht so einfach gewesen wie heute. Es hatte nur wenige Begabte gegeben. Und diese sahen sich meist gezwungen, ihre Begabung vor ihren Mitmenschen zu verbergen, um keine Ausgrenzung – oder gar Schlimmeres – zu erfahren. Erstaunlich, wie die Zeiten sich änderten. Jedenfalls waren so über die Jahrhunderte immer neue Logen entstanden, die fest entschlossen waren, Kaamads Masterplan in die Tat umzusetzen. Nachdem die fast vollständige geistige Vernetzung der Menschheit gelungen war, reifte in ihrem kollektiven Bewusstsein der Wunsch, die gebündelte Kraft einzusetzen, um etwas wahrhaft Großartiges zu vollbringen. Etwas, wovon bereits Kaamad geträumt hatte, wohl wissend, dass es Generationen dauern würde, bis es sinnvoll war, ein derartiges Projekt anzugehen. Doch heute, so hatten sie sich fest vorgenommen, wollten sie den ersten Schritt wagen. Der Meister öffnete die Augen, blickte in die Runde, sprach jedoch kein Wort. Er benötigte lediglich ein leichtes Nicken, um zu signalisieren, dass die Zeit gekommen war. Der Moment, auf den sie viele Jahre hingearbeitet hatten. Ehrfurcht erfasste die Angehörigen der Loge, während sie die Augen schlossen, sich konzentrierten und ihre geistigen Fühler ausstreckten. Xin-Hui spürte, wie sein Bewusstsein eins wurde mit denen der anderen. Wie diese sich rasend schnell verbanden, erst mit denen in ihrer unmittelbaren Umgebung, dann mit anderen, weiter entfernten, bis sie schließlich ein weit verästeltes Netzwerk gebildet hatten. Ein kollektives Bewusstsein, das den ganzen Globus umspannte. Nachdem sich die Vereinigung vollzogen hatte, begannen sie, sich in die Höhe zu tasten. Hinaufzugreifen in den Himmel, wo die Stummen Götter seit Jahrtausenden walteten und ihre strengen Blicke auf die Menschheit warfen. Seit Xin-Hui denken konnte, hatten die Menschen sie gefürchtet.
Schenkte man den Überlieferungen aus alten Zeiten Glauben, so hatten sie einst großes Unheil über ihre Vorfahren gebracht. Die Angst war groß, dass dies jederzeit wieder geschehen könnte. Als Kind hatte Xin-Hui kaum gewagt, des Nachts gen Himmel zu blicken. Selbst heute beeilte er sich, vor Anbruch der Nacht nach Hause zu kommen. Und geschah irgendwo ein Unglück, für das es keine Erklärung gab, so wurden auch dafür meist die Götter verantwortlich gemacht. Doch die Zeit der Angst war vorbei. Mit der allmählichen Schaffung eines kollektiven Bewusstseins hatte die Menschheit einen Zustand erreicht, in dem sie es sich zutraute, den Kampf aufzunehmen und die Götter für immer, für alle Zeit, aus ihren Nächten zu verbannen. Und so stiegen ihre geistigen Fühler immer weiter auf und hielten auch dann noch nicht inne, als sie die Erde weit unter sich zurückgelassen hatten. Ihr Ziel war eine Ansammlung versprengter Materie, die das solare System schalenförmig in unermesslich großer Entfernung umgab. Wie alle anderen ereilte auch Xin-Hui der Befehl, sich auf einen bestimmten dieser Materiebrocken zu konzentrieren. Er tat es, griff förmlich in Gedanken danach und spürte dabei die tonnenschwere Last auf seinen Schultern. Schweiß brach ihm aus allen Poren, und sein Gesicht rötete sich. Doch das interessierte ihn nicht. Vielmehr erhöhte er den Druck noch, setzte alle Kraft frei, die er hatte … Und siehe da: Der Brocken löste sich aus seiner ursprünglichen Position! Und dann, ganz plötzlich, brach die Verbindung ab. Xin-Hui öffnete die Augen und sah sich benommen um. Nicht nur ihm, auch den Menschen um ihn her war die Anstrengung deutlich anzusehen. Dieser mentale Kraftakt hatte sichtlich an ihnen gezehrt. Dennoch herrschte ein allgemeines Gefühl der Freude und der Erleichterung. Noch wagte keiner, etwas zu sagen. Alle Blicke waren auf den Meister gerichtet. Ihm allein gebührte die Ehre, die ersten Worte zu
sprechen und das soeben Geleistete zu kommentieren. Und das tat er dann auch. »Der erste Schritt ist getan!«, sagte er mit ruhiger, kontrollierter Stimme. »Bald schon gehören die Nächte uns allein …«
Cloud lauschte dem Gehörten nach, versuchte dabei, es einzuordnen. Die Oortsche Wolke …, wurde es ihm sogleich bewusst. Bei der Materieansammlung, an die sich die Menschen mit ihren geistigen Fühlern herangetastet hatten, konnte es sich nur um die Oortsche Wolke handeln, die das irdische Sonnensystem zu früheren Zeiten schalenförmig umgeben hatte. Das erklärte auch, warum die RUBIKON sie bei ihrem Anflug auf das heimatliche System nicht mehr vorgefunden hatte – was John als ersten Hinweis dafür verstanden hatte, dass sich in den letzten Jahrzehntausenden viel, sehr viel verändert hatte. Sie war einfach nicht mehr da gewesen, wie von einem riesigen Schaufelbagger beiseitegeräumt. Zu diesem Zeitpunkt hatte John noch nicht geahnt, wie nahe er der Wahrheit mit dieser Vermutung bereits gekommen war. Nur, dass es kein Schaufelbagger gewesen war, sondern … … das kollektive Psi-Bewusstsein einer vernetzten Menschheit. Vereint durch den Wunsch, die unheilkündenden Sterne wieder aus ihren Nächten zu verbannen, wie es zu Zeiten des Schattenschirms gewesen war. »Dem ersten Versuch folgten viele weitere«, erklärte sein Gegenüber. »Wieder vergingen Jahrtausende, bis das Projekt Gestalt annahm und sich erkennbare Ergebnisse abzuzeichnen begannen. Die jedoch neue Probleme aufwarfen.« Cloud musste nicht großartig seine Fantasie bemühen, um sich vorzustellen, welche das gewesen sein mussten. Wenn man eine Gesteinsschale um Erde und Mond legte, um damit das Licht der Sterne auszusperren, waren unerwünschte Nebenwirkungen kaum zu vermeiden. Die weitreichendste Folge war die Abschottung gegen die eigene Systemsonne …
»Zum Glück hatten Menschen ihre Fähigkeiten so weit perfektioniert, dass es ihnen möglich war, auch diese Probleme zu lösen …« Wenn John alles in Betracht zog, was er bisher gehört hatte, dann kam ihm mehr als nur ein leiser Verdacht, wie diese Lösungen ausgesehen haben mochten …
10. Kapitel – Die Schläfer Brasilianisches Tiefland im Jahr 15146 ZSG Sclater eilte über den harten Boden, zurrte seinen Umhang dabei noch ein wenig fester. Trotz seines schnellen Laufs, und obwohl es mitten am Nachmittag war, fröstelte der junge Mann. Irgendwo über ihm stand jener Glutball, der der Erde über Jahrmilliarden hinweg Wärme gespendet hatte, hoch am Himmel. Zu erkennen war nur ein verwaschener Fleck, der viel von seiner Strahlkraft verloren hatte. Die Folgen waren auf dem gesamten Globus deutlich sichtbar. Sclater brauchte sich nur umzusehen. Die einst blühende Vegetation verwandelte sich nach und nach in karges Ödland. Und dieser Prozess würde immer schneller fortschreiten, falls nicht bald etwas geschah. Hier ging es den Menschen aber noch relativ gut. Eine Kälteperiode hielt weite Teile der Erdkugel in ihrem eisigen Würgegriff. Große Bereiche des Europäischen Kontinents drohten unter eisigen Schneemassen zu versinken. Zum Teil hatten bereits Massenfluchten eingesetzt. Die Menschen drängten in den Süden, den schon bald ein ähnliches Schicksal ereilen würde, falls dem nicht entgegengewirkt wurde. Und dass etwas geschah, dafür wollte Sclater seinen Beitrag leisten. Es war ein hoher Preis, den er zu zahlen hatte, dessen war er sich bewusst. Aber wo wäre die Welt heute, hätte es nicht immer wieder Märtyrer gegeben, die sich für das Wohl der Allgemeinheit geopfert hatten? Sclater erwartete keinen Dank und keinen Lohn für seine Opferbereitschaft. Er hoffte nur, dass sich sein Engagement auch auszahlte. Dass am Ende nicht alles vergebens war. So eilte er zielstrebig den
Abhang hinab, geradewegs auf die kleine Behausung zu, in der sich sein Schicksal entscheiden würde. Der Ruf hatte ihn schon vor einem Monat ereilt. So lange hatte er gebraucht, um hierher zu gelangen. Warum der Mann, der ihn auf mentalem Wege kontaktiert und zu sich gerufen hatte, seine Wirkungsstätte mehrere Tagesmärsche von der nächsten Siedlung entfernt errichtet hatte, wusste er nicht. Vermutlich bevorzugte er die Einsamkeit, um in Ruhe seinen Experimenten nachzugehen. Sclater wusste über ihn nur, dass er in der Tradition einer Gruppe stand, die vor Jahrtausenden den Grundstein für die heutige Misere, in der die Welt sich befand, gelegt hatte. Einerseits stand Sclater, ebenso wie der Rest der vernetzten Menschheit, zu hundert Prozent hinter dem Plan, die Stummen Götter aus ihren Nächten zu verbannen. Andererseits war er der Meinung, dass man sich der Probleme, die daraus resultierten, durchaus früher hätte bewusst sein können. Bislang war das Projekt nicht besonders weit fortgeschritten. Es bedurfte weiterer Jahrtausende vereinter Kraftanstrengung, um das gewünschte Ergebnis zu erreichen. Zwar waren die Grenzen, auf denen dieser Schutzwall irgendwann einmal verlaufen würde, bereits deutlich erkennbar. Doch der Wall selbst war noch äußerst lückenhaft und durchlässig und weit vom gewünschten Ergebnis entfernt. In letzter Zeit ging es nur noch schleppend voran. Es mehrten sich die Stimmen derer, die nach einer Aussetzung des Vorhabens verlangten. Zumindest so lange, bis eine Lösung gegen die neue Eiszeit gefunden wurde, die bereits jetzt über sie hereingebrochen war. Sclater lief schneller, als käme es auf jede Sekunde an. Fast wäre er gestolpert und die letzten hundert Meter bis zur Hütte hinabgerollt. Zum Glück konnte er sich gerade noch abfangen. Es wäre wahrlich eine Ironie des Schicksals gewesen, wenn er sich nach einem mehrwöchigen Marsch nur wenige Meter von seinem Ziel entfernt das Genick gebrochen hätte … Sclater musste nicht klopfen, als er die Hütte erreichte. Seine An-
kunft war nicht unbemerkt geblieben. Ein untersetzter Mann mit einem dünnen Haarkranz auf dem Kopf und dunklen, in einem fort blinzelnden Augen sah ihn erwartungsfroh an. »Wie schön, dass du dem Ruf gefolgt bist.« Er öffnete die Tür so weit, dass Sclater eintreten konnte. Sein Blick huschte durch das Innere der Hütte, die von einem regelrechten Chaos beherrscht wurde. Überall lagen Apparaturen und Werkzeuge verstreut, bei denen sich Sclater nicht den geringsten Reim machen konnte, welchem Zweck sie wohl dienten. »Nichts anfassen!«, herrschte der Mann ihn an, nachdem er die Tür geschlossen hatte und auf ihn zukam. »Auch wenn es nicht so aussieht, hier hat alles seinen Platz.« Er kicherte leise und rückte Sclater einen Stuhl zurecht. Dieser nahm eilig darauf Platz und stellte fest, dass er sitzend etwa so groß war wie der andere im Stehen und dass sie sich jetzt auf Augenhöhe zueinander befanden. Als sein Blick auf die Aufzeichnungen fiel, die an den Wänden der seltsamen Behausung hingen, bestätigte sich sein Verdacht, dass er es hier mit irgendeinem verschrobenen Tüftler oder Wissenschaftler zu tun hatte. »Mein Name ist Carlyle«, stellte er sich vor und reichte Sclater seine verschwitzte Hand, die sich anfühlte wie ein nasser Fisch. »Du weißt, weshalb ich dich zu mir gerufen habe?« »Du hast eine Lösung für das Kälteproblem erarbeitet«, antwortete der junge Mann pflichtschuldig. »In der Tat, ja …« Carlyle wirkte fahrig, hielt einen Moment inne und starrte in die Luft, als hätte er den Faden verloren. Sclater begann sich zu fragen, ob er es hier nicht nur mit einem halb verrückten Spinner zu tun hatte, der in der Einsamkeit seinen gesunden Menschenverstand eingebüßt hatte. Ein Ruck ging durch Carlyle. Ihm schien wieder eingefallen zu sein, was er gerade hatte sagen wollen. »Und du bist dir bewusst, dass dein Leben, wie du es kennst, endet, sollte sich meine Theorie als richtig erweisen?« Sclater nickte. Ganz leicht fiel es ihm nicht.
»Meine Wahl ist auf dich gefallen, weil du alle Voraussetzungen erfüllst. Du bist jung, kräftig und gesund, hast darüber hinaus keine Familie, die du zurücklässt.« Sclater nickte erneut. Seine Mutter war bei seiner Geburt gestorben, seinen Vater hatte er nie gekannt. Geschwister hatte er nie gehabt. Die letzten Jahre war er ziellos durch die Lande gezogen, immer auf der Suche nach einer Bestimmung. Nach etwas Großem, das er vollbringen konnte. Jetzt sah es so aus, als habe er es hier, am Ende der Welt, gefunden. Denn was konnte bedeutsamer sein als die Rettung der Menschheit? »Werde ich Schmerzen haben?«, fragte er, mehr interessiert als angstvoll. Carlyle lachte leise auf. »Aber nein, im Gegenteil. Es wird dir vorkommen, als würdest du schlafen. Für immer gefangen in einem wundervollen Traum.« Ein Lächeln legte sich auf Sclaters Lippen. Das klang ja schon fast nach dem Paradies. Nicht nur im Vergleich zu seinem jetzigen Leben. Carlyle trat an einen Vorhang heran, den Sclater erst jetzt bemerkte und der einen Teil des Raumes abtrennte. Er zog ihn mit einer theatralischen Geste beiseite. Zu Sclaters großer Überraschung befand sich dahinter – eine Pflanze. Etwas Derartiges hatte er noch nie gesehen, obwohl er einen Großteil seines Lebens in der freien Natur verbracht hatte. Sie bestand fast nur aus einem immensen Blütenkelch, zweimal so groß wie ein ausgewachsener Mensch. Er war weiß und durchscheinend wie dünnes Pergament. Als Nächstes wanderte Sclaters Blick zu einem Käfig, der neben dem eigentümlichen Gewächs stand. In ihm saß eine kleine Spitzmaus, die gerade eifrig dabei war, sich zu putzen. Sclater sah Carlyle fragend an. Der Forscher bückte sich nach dem Käfig, öffnete ihn und packte den Nager am Schwanz. Dieser quiekte auf, trat zappelnd mit Vorder- und Hinterbeinen und versuchte, seine Zähne in Carlyles Handgelenk zu schlagen.
Carlyle zeigte sich gänzlich unbeeindruckt, hielt das Tier über die Pflanze und ließ es in den Kelch fallen. Dieser schloss sich sogleich. Die Maus huschte umher, suchte aufgeregt nach einem Ausgang. Doch auf einmal wurden ihre Bewegungen langsamer. Sie geriet ins Torkeln, wirkte desorientiert und sank schließlich leblos auf den Kelchboden. Sclater sah Carlyle erschrocken an. »Ist sie …?« Der Forscher drehte sich nur zu ihm um, legte den Zeigefinger auf die Lippen und machte laut und vernehmlich: »Pssst!« Sclater nickte schuldbewusst und presste sich die flache Hand auf den Mund. Er wandte sich wieder dem Pflanzenkelch zu. Und dort – geschah jetzt etwas höchst Eigenartiges. Die Luft begann zu flimmern. Es war, als würde sich feiner leuchtender Staub im Innern des Kelchs ausbreiten. Und dann erkannte Sclater, dass dieses Flimmern direkt aus dem Körper der Maus strömte. Mit einem überlegenen Lächeln auf den Lippen wandte sich Carlyle wieder seinem Besucher zu. »Hat dir meine Demonstration gefallen?« Sclater überlegte. Gefallen war sicher zu viel gesagt … »Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, was das alles zu bedeuten hat.« Carlyle, der genau diese Antwort erwartet zu haben schien, blieb direkt vor ihm stehen und meinte: »Dann erkläre ich es dir. Auf diese Pflanzenart stieß ich jüngst durch Zufall. Sie scheint nur an einer bestimmten Stelle hier in der Gegend zu wachsen. Zuvor habe ich sie noch nie gesehen, was sicher auch daran lag, dass die Vegetation an dieser Stelle noch bis vor Kurzem fast undurchdringlich war. Inzwischen wächst dort kaum noch etwas. Bis auf diese seltsame Pflanze. Und damit war auch schon meine Neugier geweckt. Ich musste wissen, wieso.« »Hast du es herausgefunden?«, fragte Sclater gebannt. »Nun, ja …«, zögerte der Forscher die Antwort noch hinaus. »Als ich mich ihr näherte, stellte ich fest, dass in ihrem Kelch ein kleineres Tier gefangen war, ähnlich dieser Maus, die du hier siehst. Außerdem bemerkte ich das eigenartige Leuchten, das den Kelch erfüll-
te. Zunächst ging ich davon aus, dass das Tier tot war und das Leuchten von der Pflanze abgesondert wurde. Vielleicht war es eine Art Betäubungsmittel oder etwas, das ihr beim Verdauen half. Doch als ich genauer hinsah, bemerkte ich, dass das Leuchten von dem eingesperrten Tier ausging.« »Und was hast du dann gemacht?« »Ich schnitt die Pflanze auf. Das Tier holte ich heraus und untersuchte es. Zu meiner Überraschung lebte es noch, war aber stark geschwächt. Es dauerte einige Tage, bis ich es wieder aufgepäppelt hatte. Derweil machte ich mich daran, dieses Gewächs zu untersuchen. Ich grub ein kleineres Exemplar aus und brachte es zu mir nach Hause. Dort wiederholte ich das Experiment, das mir zuvor die Natur vorgeführt hatte, mit einer Maus, die ich in den Kelch warf. Und siehe da: Es geschah dasselbe wie beim ersten Mal. In regelmäßigen Abständen holte ich das Tier heraus und untersuchte es. Auch nach Wochen war es noch am Leben, aber mittlerweile so stark geschwächt, dass es aus seiner Bewusstlosigkeit nicht mehr erwachte. Ich fragte mich, was diese Schwäche verursachte. Äußerlich war nichts zu erkennen, also schnitt ich das Tier auf. Doch auch in seinem Innern war alles intakt. Welchen Zweck verfolgte die Pflanze damit, dieses Tier wochenlang in seinem Kelch gefangen zu halten, ohne es zu töten oder gar zu verdauen? Und noch wichtiger war: Wie gelang es der Pflanze, sich von ihm zu ernähren? Oder tat sie das gar nicht? Was war dann aber der Sinn und Zweck ihres Verhaltens? Ich machte ein weiteres Experiment, nahm der Pflanze alles, was sie normalerweise zum Überleben brauchte. Sie bekam kein Wasser, kein Licht. Ich entzog ihr sogar den Nährboden. Dafür versenkte ich ein weiteres Tier in ihrem Kelch. Was soll ich sagen? Die Pflanze gedieh prächtig, auch noch nach einem Monat. Dafür war das Tier alsbald in derselben Verfassung wie seine Vorgänger. Irgendetwas schien das Gewächs ihm zu entziehen. Wie es das tat, wusste ich nicht, aber offenbar benötigte es dafür einen völlig luftleeren Raum. Die Luft im Innern des Kelchs wurde jedes Mal, nachdem er sich geschlossen hatte, nach draußen gepumpt, wie ich beobachtete.«
»Und was ist es? Was entzieht sie der Maus?« Die Antwort enttäuschte Sclater: »Das weiß ich bis heute nicht. Ich nehme aber an, dass es sich dabei um eine mentale Kraft handelt, die diese Pflanze für sich in pure Lebensenergie umzusetzen vermag.« Sclater verstand. »Die Pflanze überlebt dadurch, dass sie anderen Lebewesen die Lebenskraft entzieht. Sie aus ihnen heraussaugt …« »Korrekt!« Carlyle war sichtlich darüber erfreut, dass Sclater verstanden hatte. »Dieser Erkenntnis folgten viele weitere Fragen. War es möglich, dem Pflanzenkelch die freigesetzte Energie wieder zu entnehmen, um damit andere Geschöpfe am Leben zu erhalten? Geschöpfe, denen es sonst an allem Lebensnotwendigen mangelt?« »Und? Ist es möglich?« Carlyle zuckte mit den Schultern. »Ich habe versucht, die freigesetzte Energie mithilfe einer mechanischen Pumpe aus dem Kelch heraus nach draußen zu leiten. Es ist mir nicht gelungen. Die Energie ist verpufft. Ich nahm also an, dass diese Energie tatsächlich das Vakuum benötigt, um zu bestehen. Also begann ich mit einem neuen Experiment.« Bevor Sclater eine weitere Frage stellen konnte, griff der Forscher nach seiner Hand. Ein greller Blitz durchzuckte Sclaters Bewusstsein. Lass dich fallen!, erklang die Stimme des Forschers in seinem Kopf. Offne deine mentalen Kanäle und komm mit mir. Ich möchte dir etwas zeigen. Sclater spürte, wie sein Bewusstsein mit dem des Forschers verschmolz, wie beide rasend schnell aufstiegen. Erneut explodierte ein grelles Licht. Als es abgeklungen war, erkannte Sclater, dass sie bis tief in die Weiten des Alls vorgedrungen waren. In jenen Bereich, wo der Schutzwall gegen den Einfluss der Stummen Götter allmählich Gestalt annahm, auch wenn es noch lange, sehr lange dauern würde, bis er zur Gänze geschlossen sein würde. Was wolltest du mir zeigen?, fragte Sclater, für den der Wall an sich im Grunde nichts Besonderes darstellte.
Sieh her …! Sclater folgte der Blickrichtung, die Carlyle ihm mental andeutete. Sein Blick fiel auf einen tonnenschweren Gesteinsbrocken, der sich im Verbund der anderen, jedoch weit von seinen nächsten Nachbarn entfernt befand, und der sich äußerlich drastisch von allen anderen unterschied. Zum einen erstrahlte er in einem diffusen, sonderbaren Licht. Und darüber hinaus erkannte Sclater, dass in einem winzigen Bereich an seiner Unterseite … blühendes Leben gedieh! Gräser, Farne, Büsche und Blumen aller Art. Und das, obwohl ihnen alles fehlte, was sie normalerweise zum Leben benötigt hätten. Zu guter Letzt erkannte der junge Sclater auch den Grund dafür: Aus ihrer Mitte spross jene eigentümliche Pflanze, deren Wirken der Forscher ihm in seiner Hütte demonstriert hatte. An der Außenseite ihres Kelchs war eine kleine Apparatur angebracht. Eine winzige, mechanisch Pumpe, aus der das eigenartige Licht strömte, das die nähere Umgebung des Gesteinsbrockens erhellte. Es funktioniert!, meinte Sclater erfreut. Ja, es funktioniert, bestätigte der Forscher. Wieder blitzte ein grelles Licht vor Sclaters Bewusstsein auf, und im nächsten Moment befand er sich zurück in Carlyles Hütte. Schlaftrunken sah er sich um, dann lächelte er. »Du hast es geschafft! Du hast das Problem gelöst!« Der Forscher sah ihn aus wachen, blitzenden Augen an. »Nicht einmal annähernd«, gab er überraschenderweise zurück. »Aber ich bin einen erheblichen Schritt weiter. Das Problem besteht nach wie vor darin, dass die geistigen Reserven eines Tieres, oder auch mehrerer, bei Weitem nicht ausreichen, um einen wirklich relevanten Bereich des Vakuums mit Licht und Leben zu erfüllen. Ich habe auch schon mit größeren Lebewesen experimentiert, aber die Wirkung hat sich nur unwesentlich verstärkt. Die Antwort scheint mir tatsächlich die Geisteskraft zu sein, die bei niederen Lebewesen nun einmal sehr schwach ausgeprägt ist. Sie reicht gerade einmal aus, um die Pflanze selbst zu ernähren.« Sclater nickte verständnisvoll. »Du benötigst ein Wesen, dessen
Geisteskraft die eines Tieres bei Weitem übersteigt«, schlussfolgerte er. »Genau so ist es.« Der Forscher machte eine kurze Pause, in der er den jungen Mann bedächtig musterte. »Ich weiß, es ist ein großes Opfer, das ich von dir erbitte, aber …« »Ich tu es!«, antwortete Sclater, ohne auch nur einen Moment zu zögern. »Aber du weißt doch noch gar nicht …« »Du brauchst ein Versuchsobjekt, mit dessen Hilfe du weitere Experimente durchführen kannst. Wenn du am Ende Erfolg hast, bedeutet das die Lösung für all unsere Probleme.« Carlyle nickte. Zwar war er sich sicher gewesen, den jungen Mann, den er ganz bewusst ausgewählt hatte, überzeugen zu können. Doch dass es ihm so leicht fallen würde, hatte er nicht erwartet. »Ich weiß natürlich selbst nicht genau, wie es sich anfühlt«, gab er zu. »Ich nehme an, das Gift der Pflanze versetzt dich in einen Zustand zwischen Leben und Tod. Deine Gehirnaktivitäten werden nicht unterbrochen. Wie schon angedeutet, wirst du wahrscheinlich intensive Träume erleben, die dich glauben machen, sie seien die Realität. Eines wirst du jedoch möglicherweise nie wieder: aufwachen.« Sclater lauschte den Worten des Forschers hinterher, nickte dann erneut und bekräftigte seine Entscheidung. »Ich stelle mich zur Verfügung.«
Sie machten es, wie besprochen. Sclater nahm im weit geöffneten Blütenkelch der Pflanze Platz, der sich sogleich über ihm schloss. Er spürte, wie etwas seine Sinne umnebelte. Der Kelch schien über seine Kapillaren, die den Boden bedeckten, irgendeine Art Betäubungsgift abzusondern. Sclater wurde schwummrig. Er sank in sich zusammen. Noch während er zwischen Bewusstsein und Ohnmacht trudelte, merkte er, wie die Luft in dem Kelch vollständig abgepumpt wurde. Dann wurde es Nacht.
Zufrieden beobachtete Carlyle, dass die Pflanze Sclaters Organismus akzeptiert hatte. Noch verlief alles nach Plan. Er konnte nur hoffen, dass die mentale Kraft eines Geistesriesen, wie der Mensch dieser Zeit es war, nicht am Ende zu viel war, und das Gewächs daran einging – wie in einem Fall von Überdüngung oder Überwässerung. Sein Blick ruhte weiter auf dem jungen Mann, der durch die pergamentartige, halb durchsichtige Außenhülle des Kelchs gut zu erkennen war. Er begann zu zucken, sich heftig zu schütteln. Für einen kurzen Moment geriet der Forscher in Alarmbereitschaft. Doch dann stabilisierte sich der Zustand des Jungen, und er schlief sachte weiter. Auf die Seite gerollt, wie ein Fötus im Mutterleib.
Auf die Dunkelheit folgte helles Licht, das Sclater auf einmal umgab. Alles um ihn herum war grün und saftig. Die Sonne stand hoch am Himmel. Das Zwitschern von Vögeln erfüllte die Luft. Direkt neben ihm wand sich ein Fluss durch die Landschaft. Überwältigt von diesen Eindrücken, drehte Sclater sich um seine eigene Achse, um alles auf sich wirken zu lassen. Plötzlich jedoch zuckte er erschrocken zurück. Vor ihm stand eine junge Frau mit langem, dunklem Haar und lächelte ihn verführerisch an. Ohne dass ein Wort seine Lippen verließ, reichte er ihr die Hand. Sie ergriff sie und nahm ihn mit sich. Gemeinsam schritten sie über die Wiese und in den Tag hinein.
Carlyle beobachtete, wie die Kammer des Kelchs mit einem Mal in einem grellen Licht erstrahlte. Es war im Grunde dasselbe Extrakt, das die Pflanze bereits aus den Tieren gewonnen hatte. In diesem Fall aber war es zehntausendfach stärker und intensiver. Der Forscher lächelte. Das Experiment schien geglückt.
Verständnislos traten Jarvis und Algorian auf das mysteriöse Objekt zu, das sich inmitten der Lichtung befand. Es leuchtete grell. So grell, dass zumindest Algorian nicht lange hinsehen konnte, ohne Angst um sein Augenlicht haben zu müssen. Jarvis fiel es da schon leichter, da er die Lichtaufnahme über seine künstlichen Sehnerven zu kontrollieren vermochte. So konnte er das Objekt, bei dem es sich um einen gewaltigen Pflanzenkelch handelte, genauer begutachten. Und da erkannte er, dass in dem Kelch, hinter dem grellen Licht, jemand lag. Eine Gestalt, die wie leblos auf der Seite kauerte. Vielleicht schlief sie auch nur. Ja, so musste es sein, denn sie war es auch, die diesen Singsang von sich gab. Erst relativ spät merkte Jarvis, dass dieses Geräusch gar nicht laut zu hören war, sondern dass er es auf mentalem Wege empfangen hatte. »Was ist das?«, fragte Algorian, der immer nur einen kurzen Blick riskieren konnte. »Wahrscheinlich die Antwort«, entgegnete der GenTec lakonisch. »Zumindest auf die Frage, was der Ursprung dieses Lichts ist.« »Ist er tot«, fragte der Aorii besorgt. Jarvis sah noch einmal genauer hin, schüttelte dann den Kopf. »Nein. Er bewegt sich. Ich glaube, er träumt …« »Wie überaus bizarr.« Jarvis musste schmunzeln. Algorians Bemerkung war zweifellos die Untertreibung des Monats. »Was machen wir?«, fragte der Aorii nach einer Weile. »Sollen wir ihn befreien?«. »Das halte ich für keine gute Idee. Ich würde vorschlagen, wir sehen uns weiter um. Vielleicht finden wir ja doch noch einen Hinweis darauf, wohin John verbracht wurde.« Und nur in Gedanken fügte er hinzu: Wenn er, wie ich hoffe, noch lebt …
John Cloud war fassungslos. »Ihr benutzt eure Mitmenschen als eine Art … Wärmebatterie?« Die Männer sahen ihn verständnislos an. Sie schienen nicht einmal ansatzweise zu verstehen, worauf er hinauswollte. »Die Schläfer sorgen dafür, dass im Vakuum Leben gedeiht«, erklärte einer von ihnen völlig sachlich. »Dadurch garantieren sie das Überleben der Menschheit.« »Das Leben, das ihr durch euren irrsinnigen Plan, die Sterne auszusperren, erst in Gefahr gebracht habt«, herrschte er seine Wärter an, verstummte jedoch sogleich wieder. Es hatte keinen Sinn, ihnen das zu erklären. Diese Leute schienen mit einer völlig anderen Art von Logik an die Dinge heranzugehen als die Menschen in früheren Zeiten. Allerdings hatten sie auch eine zwanzig- oder dreißigtausendjährige Entwicklung hinter sich. Jahrzehntausende, die aufgrund Darnoks Zeitbeschleuniger seit der Katastrophe auf der Erde vergangen waren. »Woher nehmt ihr diese … Schläfer?« »Sie werden nur zu diesem Zweck geboren«, erklärte ein weiterer seiner Ankläger. »Sie befinden sich vom Anbeginn ihres Daseins in einem Traumzustand und verbringen ihr ganzes Leben darin.« Cloud verkniff es sich, die Worte zu kommentieren. »Wie viele benötigt ihr, um diesen Effekt zu erzielen?«, fragte er stattdessen. »Nicht sehr viele«, war die Antwort. »Die Leistungskraft eines geistig so hoch entwickelten Lebewesens ist enorm. Der legendäre Forscher Carlyle fand heraus, dass die Pflanze nach einer Weile tatsächlich daran zugrunde ging, weil die Energie zu viel für sie war. Doch als er den Versuch im Vakuum wiederholte, erzielte er einen weiteren bedeutenden Erfolg.« »Es stellte sich heraus«, meinte ein anderer, »dass es den Pflanzen dort möglich war, von sich aus überschüssige Energie an ihre Umgebung abzugeben. Eine einzige dieser Pflanzen und ein einzelner Schläfer reichen aus, um einen gewaltigen Bereich mit Energie zu versorgen.« »Dies funktioniert also nach wie vor nur im Vakuum«, schloss Cloud aus ihren Worten. »Also oberhalb der irdischen Atmosphäre.
Was ist mit der Erde selbst? Den Menschen, die auf ihr leben?« »Wir haben uns den Bedingungen angepasst«, kam es zurück. Was immer das auch heißen mochte. »Die Vegetation des Vakuums versorgt uns mit allem, was wir zum Überleben brauchen.« »Na gut«, murmelte Cloud mehr zu sich selbst. »Aber eins verstehe ich immer noch nicht. Wie könnt ihr euch im Vakuum bewegen? Dass eine niedere Lebensform wie eine Pflanze allein von diesem seltsamen Licht gedeiht, kann ich ja noch hinnehmen. Aber ein Mensch …« »Nur wenige von uns haben diese Gabe«, bestätigte sein direktes Gegenüber. »Wir nennen sie Vaku-Farmer.« »Vaku-Farmer?« Cloud erinnerte sich an den Begriff. Er glaubte, ihn während der mentalen Informationsvermittlung, die sie ihm aufgezwungen hatten, aufgeschnappt zu haben. Und jetzt, wo er genauer darüber nachdachte, merkte er, dass er ganz genau wusste, was es damit auf sich hatte. Es war, als sei die Information tief in seinem Unterbewusstsein vergraben, als könnte er sie jedoch daraus hervorholen, wenn er sich nur ein wenig konzentrierte. Und tatsächlich. Zuerst ganz langsam, dann immer schneller sickerten die verschütteten Informationen zurück in sein Bewusstsein …
11. Kapitel – Die Vaku-Farmer Noch lange musste Jarvis an den Mann im Blütenkelch denken. Nach allem, was er gesehen hatte, verhielt es sich wohl so, dass dieses Licht, das rings um sie her herrschte und die Vegetation mit der lebensnotwendigen Energie versorgte, ein Extrakt aus der geistigen Energie dieses Menschen war. Pflanzlichen Lebensformen war es offenbar möglich, dieses Extrakt in sich aufzunehmen, es umzuwandeln und damit das Fehlen von Wärme, Sauerstoff und Wasser auszugleichen. Es war absonderlich, völlig abstrus. Und dennoch konnte sich Jarvis keinen anderen Reim machen. Doch wie verhielt es sich mit höher entwickelten Lebewesen? Die Analyse, die Algorians Anzug in regelmäßigen Abständen selbsttätig durchführte, besagte weiterhin, dass die äußeren Gegebenheiten nicht geeignet waren, um ohne Sauerstoffzufuhr zu überleben. Doch Jiim hatte davon erzählt, dass diese Menschen, die ihn gefunden hatten, keine Anzüge getragen und sich völlig frei bewegt hatten. War es denn möglich, dass sich der menschliche Organismus in der langen Zeit, die vergangen war, auf die Bedingungen im luftleeren Raum eingestellt hatte? Jarvis beschloss, die Beantwortung dieser Frage auf später zu vertagen. Ihm fiel auf, dass die Vegetation spärlicher geworden war, an einigen Stellen völlig fehlte, als sei sie ganz bewusst aus dem Weg geräumt worden. Nachdem sie ein ganzes Stück gegangen waren, öffnete sich das Buschwerk zur Gänze. Jarvis musste abrupt abbremsen, sonst wäre er über die Klippe gestürzt, die unvermittelt vor ihm auftauchte. »Das war knapp«, meinte Algorian, der ihm die Hand reichte und
ihn sanft zurückzog. Nach dem ersten Schreck wagten sich beide näher an die Klippe heran und blickten hinunter in ein riesiges Tal. Es befand sich in gut einhundert Metern Tiefe und war in seinen Ausmaßen kaum zu überblicken. Und doch war es nicht leer, sondern von zahlreichen Menschen bevölkert. Jarvis konnte sie nicht zählen, aber es mussten weit über hundert sein. Diese waren so sehr in ihre Arbeit vertieft, dass sie nichts um sich mitbekamen. Auch wenn es auf dem ersten Blick nicht nach Arbeit aussah. Jarvis erkannte riesige Felder, auf denen alle nur erdenklichen Getreide- und Gemüsearten wuchsen. Sie wurden immer wieder unterbrochen von Obstplantagen, die ein überreiches Sortiment an Früchten hervorbrachten. Und die Menschen, die sich dort – zu seinem wiederholten Erstaunen – ohne Raumanzüge oder Sauerstoffmasken bewegten, waren damit beschäftigt, die Felder abzuernten. Sie taten es freilich nicht mit ihren Händen, sondern ihren mentalen Kräften, mit denen sie die Früchte des Feldes aus der Erde zogen. Wie von Geisterhand schwebten sie dann auf große, bereitgestellte Behälter zu, die sich ihrerseits völlig selbstständig in die Lüfte erhoben und sich, im wahrsten Sinne des Wortes, vom Acker machten. »Diese Leute wissen wenigstens, wie man Kräfte spart«, bemerkte Algorian, der das bunte Treiben mit offenem Mund bestaunte. Jarvis fiel auf, dass die Erntehelfer alle dieselben Umhänge trugen, als würden diese sie als Angehörige einer bestimmten Gruppe oder Kaste auszeichnen. Sie waren außerdem alle kahl geschoren, was es umso schwerer machte, sie auseinanderzuhalten. »Ich denke, wir sollten uns lieber zurückziehen«, sagte Jarvis, nachdem sie das Geschehen eine ganze Weile stumm beobachtet hatten. Zwar waren sie in dieser Höhe und im Schutze des Buschwerks gut versteckt, doch befürchtete er, dass die Telepathen ihre Anwesenheit irgendwann auf mentalem Wege bemerken wür-
den. Überrascht hätte ihn das nicht, nach allem, was er heute schon erlebt hatte.
An der japanischen Küste – im Jahr 17379 ZSG Mit der Wendigkeit eines Fisches schwamm Rage durch die dunklen Fluten. Dabei waren Fische selten geworden in diesem Teil des Meeres. Über sich erkannte Rage die Oberfläche, die sich nur schwach von der ihn umgebenden Dunkelheit abhob. Er schwamm ihr entgegen, durchbrach sie, tauchte auf. Über sich sah er den Himmel. Er erstrahlte in einem diffusen Licht, dessen Ursprung zwischen der obersten Schicht der irdischen Atmosphäre und jener Kugelschale zu suchen war, die langsam, aber sicher Gestalt annahm. Das Mammutprojekt der Menschheit schritt voran, auch wenn es weit von seiner Vollendung entfernt war und es noch die vereinten Kräfte vieler weiterer Generationen benötigen würde. All das war Rage egal. Er gehörte zu den wenigen, die versucht hatten, sich aus dem Kollektivbewusstsein, das sich allmählich entwickelt hatte, auszuklinken. Aus diesem Grunde hatte er sich hierher zurückgezogen. Auf diese Insel, fern aller menschlicher Aktivitäten. Als er sich aus dem Wassert stemmen wollte, wurde ihm klar, dass er nicht weit genug geflohen war. Er wusste es, als er die beiden Männer sah, die dort am Ufer standen, wo er seine Sachen ausgebreitet hatte, und die mit nichtssagenden Blicken aufs Meer hinausstarrten. Beide trugen dunkle Umhänge, die aus einem tierischen Material gefertigt sein mussten. Dazu Fellmützen, die ihnen Schutz boten vor dem brausenden Wind, der hier an der Küste wehte.
Rage spielte zunächst mit dem Gedanken, sich wieder in die Fluten zu stürzen und an einer anderen Stelle an Land zu gehen, doch dann besann er sich eines Besseren. Er hatte keine Lust mehr, vor allem nur immer wegzulaufen. Die Zivilisation, die um ihn her Gestalt annahm, wuchs immer schneller, kreiste ihn ein und würde ihn irgendwann zerquetschen, wenn er sich ihr nicht stellte. Er stemmte sich aus dem Wasser und ging tropfnass über den felsigen Untergrund auf seine Besucher zu. Diese musterten ihn mit abschätzigen Blicken. Rage spürte, wie sie ihre mentalen Fühler nach ihm ausstreckten, ihn durchleuchteten und dabei sein Innerstes nach außen kehrten. Du warst lange unter Wasser, teilte ihm der eine wortlos mit, als verriete er ihm damit eine Neuigkeit. Fast einen halben Tag, fügte der zweite hinzu. »Mir scheint, ihr habt zu viel Zeit«, entgegnete Rage mit sarkastischem Unterton, griff nach seinem wollenen Tuch und begann sich abzutrocknen. Es erscheint dir nicht ungewöhnlich, dass du so lange ohne Sauerstoff existieren kannst? Ich kenne es nicht anders, antwortete Rage, diesmal ebenfalls auf mentale Weise. Das entsprach der Wahrheit. Bemerkt hatte er sein Talent erstmals als Kind, als er sich beim Schwimmen an einem Felsen gestoßen hatte, bewusstlos geworden war und tagelang unter Wasser gelegen hatte, bis er schließlich gefunden worden war. Seine Retter hatten zunächst gedacht, er sei tot. Wie überrascht waren sie, als er plötzlich die Augen aufschlug und sie ansah, als sei nichts geschehen. Dein Talent ist außergewöhnlich. Diesmal konnte Rage nicht sagen, wer von beiden »gesprochen« hatte. Derartiges ist uns noch nicht allzu häufig begegnet. So gut wie nie, möchte ich hinzufügen. Wir brauchen Menschen wie dich.
»Wer ist wir?«, entgegnete Rage ungerührt, während er sich anzog. Ein ungewohnter Ausdruck von Spott schien über die Lippen des Linken zu huschen. Deine Mitmenschen … Jetzt war es an Rage, spöttisch zu lächeln. »Richtet ihnen aus, dass ich dankend abl…« Die letzten Worte brachte er schon nicht mehr über die Lippen. Eine Woge des Schmerzes rollte über ihn hinweg, nebelte ihn ein und zwang ihn in die Knie. Sie entsprang zweifelsohne den mentalen Kräften seiner beiden Besucher. Rage versuchte, sich dagegen zu wehren, seine eigenen Geisteskräfte einzusetzen, was er sonst nur in äußersten Notfällen tat. Das rächte sich nun. Es war ihm fast unmöglich, der Gewalt der beiden Umhangträger etwas entgegenzusetzen. Nach einigen Minuten verzweifelten Kampfes kam, was von Anfang an unvermeidlich gewesen war. Er unterlag. Und verlor das Bewusstsein …
Als er wieder erwachte, schwebte er im luftleeren Raum. Oder hatte er nur geträumt, dass er erwacht war? Schlief er in Wahrheit noch, und war dies nur ein weiterer Traum? Es fühlte sich real an. Dennoch … Als er dich umsah, war er der festen Überzeugung, dass dies nur ein Traum sein konnte. Weit über sich – oder war es unter ihm? – erblickte er einen Dschungel. Inmitten der Weite des Alls! Er wuchs direkt aus dem Wall, der zumindest an dieser Stelle bereits völlig undurchlässig, gleichzeitig von einer so dichten Pflanzendecke bewachsen war, dass der felsige Grund ganz hinter ihr verschwand. Rage wusste um die Schläfer. Um die Experimente, die die Kaste der Nokturnen hier draußen, weit entfernt von der Erde, durchführte. Es war kein Geheimnis, sondern Teil des kollektiven Wissens ei-
ner im Geiste vereinten Menschheit. Und obwohl Rage alles getan hatte, um sich dieser Gemeinschaft, so weit es ging, zu entziehen, so war er doch ein Teil von ihr und würde es immer sein. Und jetzt sah er ihn auch. Den Schläfer. Gefangen im Kelch einer sagenumwobenen Pflanze, von der man sich erzählte, sie käme direkt aus dem Reich der Stummen Götter. Welche Ironie, dass ausgerechnet sie es ermöglichen sollte, sich aus deren Bann zu lösen. Der Schläfer wirkte zufrieden. Er schien zu träumen. Darauf deuteten zumindest die zuckenden Bewegungen hin, mit denen er sich wand. Und die Strahlkraft, die er dabei freisetzte, reichte aus, um ein riesiges Areal mit Energie zu versorgen. Eine Ordnung beim Wuchs der Pflanzen konnte Rage nicht erkennen. Alles wucherte wild durcheinander, buchstäblich wie Kraut und Rüben. Es schien niemanden zu geben, der sich um diesen künstlich geschaffenen Garten kümmerte. Das wird die Aufgabe der Deinigen sein, erklang eine Stimme in seinem Kopf. Er schrak hoch, schlug die Augen auf und fand sich im nächsten Moment in einer völlig anderen Umgebung wieder. Ein Traum!, wurde ihm bewusst. Nichts weiter als ein Traum! Mitnichten, meinte die geistige Stimme, die sich gerade schon zu Wort gemeldet hatte. Was du gesehen hast, ist die Realität. Wir haben uns erlaubt, dein Bewusstsein auf Wanderschaft zu schicken. Dorthin, wo in Zukunft die Wirkungsstätte der Deinigen sein wird. Rage sah sich um. Er befand sich in einem fensterlosen Raum. Möglicherweise tief unter der Erde. Er versuchte, seine geistigen Fühler auszustrecken, um sich hinter die Mauern seines Gefängnisses vorzutasten, doch es gelang ihm nicht. Irgendetwas, eine Barriere, hielt ihn davon ab, die Sperre zu durchdringen. »Nichts werde ich für euch tun!«, blaffte Rage zurück, während er sich um die eigene Achse drehte und nach dem unbekannten Sprecher umsah. Plötzlich bemerkte er ein Flirren in der Luft. Etwas materialisierte
sich nur wenige Schritte von ihm entfernt. Rage wich zurück, starrte dann auf den kleinen, untersetzten Mann, der jetzt vor ihm stand. Rage hatte von ihnen gehört. Den Teleportern, denen es möglich war, sich kraft ihrer Gedanken auch körperlich durch den Raum zu bewegen. Damit waren Entfernungen endgültig bedeutungslos geworden. Allerdings verfügte nur ein äußerst geringer Prozentsatz der Weltbevölkerung über diese Gabe. So wie Rage auch niemanden kannte, der wie er längere Zeit gänzlich ohne Sauerstoff auskommen konnte. In einer Welt, in der Telekinese und Gedankenlesen völlig normale Sinneseigenschaften waren, galten Menschen wie er – oder der Mann, der sich vor ihm materialisiert hatte – als hochbegabt. Sie besaßen Fähigkeiten, die weit über das Normalmaß hinausgingen. »Wer seid ihr? Wollt ihr mir das wenigstens sagen?« Rage stellte die Frage, obwohl er die Antwort bereits kannte. Sowohl der Teleporter als auch die beiden Männer, die ihn gekidnappt hatten, gehörten zu den Nokturnen, die sich im Laufe des letzten Jahrhunderts von einem zunächst losen Interessenverband zu einer Art Weltregierung aufgeschwungen hatten. Diese hatte mittlerweile überall ihre Vertreter sitzen, die sorgsam ausgewählt und ihrerseits streng überwacht wurden. Die Legitimation ihrer Macht galt allgemein als unumstritten. Schließlich waren sie es gewesen, die die mentale Vernetzung der Menschheit von Anfang an vorangetrieben hatten. Rage bezweifelte nicht, dass ihre Vorgänger, die vor Jahrtausenden mit bescheidenen Mitteln ihre ersten Kontaktversuche gewagt hatten, von guten Absichten geleitet gewesen waren. Ob das auf ihre heutigen Vertreter auch noch zutraf, vermochte Rage nicht sicher zu sagen. Machtverkrustete Strukturen, vor allem wenn sie sich über einen solch langen Zeitraum verfestigte. Vieles von dem, was er gehört und gesehen hatte, ließ ihn erschaudern. Die zunehmende Gefühlskälte, die nicht nur die Oberen der
Kaste, sondern einen Großteil der Menschheit befallen hatte, war Rage zunehmend unheimlich geworden. Es war, als hätte ein bis an die Grenzen der Menschlichkeit gehender Pragmatismus jene Grundwerte weggewischt, die über Jahrtausende das Leben der Menschen bestimmt hatten und die er selbst noch von seinen Eltern vermittelt bekommen hatte. Einfache Leute, die von ihrer Grundeinstellung her noch fast so lebten wie vor Tausenden von Jahren und die sich mit den Neuerungen dieses Zeitalters nur schweren Herzens hatten anfreunden können. Nun war er hier, in einem der Zentren ihrer Macht, ohne sich aus eigener Kraft befreien zu können. Ich glaube, du weißt genau, wer wir sind, sagte der Teleporter, der Rage natürlich durchschaut hatte. Die Frage, die du dir eigentlich stellen solltest, lautet: Was wollen wir von dir? Rage schwieg. Schon aus Trotz. Außerdem ging er davon aus, dass der Teleporter die Frage von sich aus beantworten würde. Als dem nicht so war, seufzte er und brach sein Schweigen. »Ihr habt es mir doch schon verraten. Ihr wollt mich da raufschicken, damit ich mich um euer Grünzeug kümmern kann. Weil ich keinen Sauerstoff benötige, um zu überleben.« Zu seiner Überraschung verneinte der Teleporter. »Ganz so leicht ist es leider nicht. Es bedarf etwas mehr als nur der Gabe, längere Zeit ohne Sauerstoff auszukommen, um sich im Vakuum frei zu bewegen.« »Was, zur Hölle, wollt ihr dann?« »Wie du gesehen hast, waren die ersten Versuche, eine Vegetation an der Innenseite der stetig wachsenden Kugelschale zu züchten, ein voller Erfolg. Auf lange Sicht wird es uns gelingen, den fortschreitenden Mangel hier auf Erden auszugleichen. Die Nokturnen sind der Überzeugung, dass es dafür einiger Auserwählter bedarf, die diese Entwicklung an Ort und Stelle betreiben.« Rage wusste, weshalb. Auch wenn es der vernetzten Menschheit mit vereinten Kräften gelungen war, Gesteinsbrocken aus jener löchrigen, weit entfernten Materieschale zu einer steinernen, absolut dichten Kugelschale anzuordnen, so erforderte dies im Grunde nicht
mehr als mentale Grobmotorik. Davon abgesehen, war es noch immer schwer, auf solch große Distanz und mit reiner Gedankenkraft komplexere Handlungsweisen auszuführen. Wir wollen dich ausbilden, mit dir experimentieren und hoffen, dass du deine erlernten Fähigkeiten an deine Nachkommen weitergeben wirst. Nachkommen?, erkundigte sich Rage verwirrt. Welche Nachkommen? Jene, die du zeugen wirst, kam es wie selbstverständlich zurück. Mit einer Teleporterin, die wir für dich ausgewählt haben. Mach die keine Sorgen, sie ist sehr … ansehnlich. Rage war wie vor den Kopf gestoßen. Er ballte die Fäuste und wäre am liebsten auf sein Gegenüber losgegangen. »Ihr wollt mich als Zuchthengst missbrauchen, sehe ich das richtig?« Du solltest stolz sein, erwiderte der Teleporter und meinte es vollkommen ernst. Du wirst zum Begründer einer Ahnenreihe, die für die nächsten Jahrtausende in aller Munde und hoch geschätzt sein wird. Und das nicht ohne Grund, sichert sie doch nicht weniger als das Überleben der Menschheit. Wenn man es genau nimmt, wirst du unsterblich werden. »Ich pfeife auf eure Unsterblichkeit«, knurrte Rage, hob seine Faust und hechtete auf den anderen zu. Als er die Stelle erreichte, an der dieser bis eben noch gestanden hatte, war er auch schon wieder verschwunden. Rages Faust schlug ins Leere. Er musste gegensteuern, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Aber, aber!« Die Stimme war hinter ihm aufgeklungen. Rage musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass sie dem Teleporter gehörte, der ihn nun akustisch ansprach. »Was ist denn das für ein ungebührliches Verhalten – für den ersten Vaku-Farmer …?«
Die folgenden Jahre und Jahrzehnte standen für die neue Weltregierung ganz im Zeichen des Farmer-Projekts. Ein Scheitern wäre verhängnisvoll gewesen für eine Menschheit, die auf dem besten Wege war, die letzten Fesseln ihrer Unterdrücker abzuschütteln, jedoch auch, ihren eigenen Lebensraum zu zerstören.
Während die ihm zugewiesene Teleporterin damit beschäftigt war, Rages Nachkommen zu gebären, die von Geburt an auf ein Leben im Vakuum herangeführt wurden, gelang es den Handlangern der Nokturnen, vier weitere Männer und eine Frau zu finden, die so waren wie er. Das Projekt wurde mehrfach dupliziert, auf drei verschiedenen Kontinenten. Weite Reisen wurden in Kauf genommen, um die fünf Linien miteinander zu kreuzen. Rages Kinder bekamen Kinder, die ihrerseits wieder Nachwuchs zeugten. Zu diesem Zeitpunkt war Rage bereits tot. Er starb in hohem Alter an Herzversagen. Bis dahin hatte er 23 Nachkommen gezeugt. Der gewünschte Erfolg, den sich die Nokturnen erhofft hatten, blieb jedoch lange Zeit aus. Es zeigte sich, dass den Nachkommen der Hochbegabten allerhöchstens eine besondere Fähigkeit vererbt wurde. Entweder die des Vaters oder die der Mutter. Wobei Mädchen eher dazu neigten, das Teleporter-Gen in sich zu tragen. Die Jahrhunderte zogen ins Land. Und während fast pausenlos weiter an einer Stabilisierung der Kugelschale gearbeitet wurde und gleichzeitig immer neue Schläfer im Vakuum ansässig wurden, reifte auf Erden bereits die achte Generation von Rages Nachkommen heran. Und siehe da, es zeigten sich erste Erfolge. Es begann mit einem Mädchen namens Tirtes, das in demselben unterirdischen Labor großgezogen wurde, in dem bereits ihr Vater gefangen gehalten worden war. Sah es zunächst noch so aus, als sei auch sie lediglich des Teleportierens mächtig, bewies sie bereits im zarten Alter von sechs Jahren das Gegenteil. Man fand sie in der Wanne, mit dem Gesicht im Wasser. Diejenigen, die sie entdeckten, waren der festen Überzeugung, sie sei ertrunken. Doch noch bevor sie eine Rettungsaktion durchführen konnten, tauchte Tirtes aus dem Wasser und erklärte mit stolzer Miene, dass sie »ganz lange« die Luft anhalten könne. Wie lange?, wollten die alarmierten Forscher wissen. Und Tirtes, anstatt zu antworten, zeigte es ihnen. Als sie nach über einer Stunde noch immer im Wasser lag, hatten
die Forscher genug gesehen. Allen war klar, dass ihnen in dieser Stunde der Durchbruch gelungen war, auf den ihre Vorfahren jahrhundertelang hingearbeitet hatten. Tirtes blieb nicht die Einzige. Schon bald folgten weitere, die ähnliche Fähigkeiten besaßen. Die Nokturnen hatten einen weiteren Etappensieg errungen. Und es sollte nicht der letzte sein.
Am Ende der Welt – im Jahr 20112 ZSG Sie teleportierten gemeinsam. Tallôn, der Nokturne, genau wie Oda ein gebürtiger Teleporter, hatte der 16-Jährigen vor dem Sprung die Hand gereicht. Jetzt ließ er sie wieder los und gab ihr ausreichend Gelegenheit, sich umzusehen. Oda gefiel, was sie sah, auch wenn man es ihr äußerlich kaum ansah. Unter ihresgleichen – den Menschen, nicht den Farmern – war es zunehmend verpönt, sich von seinen Gefühlen leiten zu lassen. Rationalität bestimmte das Handeln. Und was für einen »normalen« Menschen galt, das galt für einen Farmer umso mehr. So begleitete nur ein anerkennendes Nicken Odas Blicke, die über den blühenden Garten schweiften. Jenen Garten am Ende der Welt, den Tallôn und die Nokturnen ihr und ihresgleichen zu Füßen gelegt hatten. Viel hatte sich getan im letzten Jahrtausend. Die Kruste war geschlossen und weitestgehend stabilisiert, auch wenn permanent an ihr gewerkelt, sie an einigen Stellen ausgebessert, an anderen noch verstärkt wurde. Die Stummen Götter waren für immer in ihr Reich verbannt worden. Der dicke Wall, der ihre Welt von der der Menschen trennte, würde selbst ihren gestrengen Blicken standhalten. Davon war Oda
überzeugt, als sie ihre mentalen Fühler nach ihr ausstreckte. Sie versuchte, sie zu durchdringen. Es misslang. Und das war gut so, denn es bewies ihre Stabilität. Die Nächte über der Erde waren wieder finster. Dass ihr Bann gebrochen war, zeigte sich schon darin, dass eine neue Zeit des Wohlstands auf Erden angebrochen war. Durch ihre geistigen Fähigkeiten waren räumliche Distanzen bedeutungslos geworden. Und hier oben, an der Innenseite der Kruste, am Ende der Welt, wuchs alles, was das Herz begehrte. Das Licht der Schläfer, das nur im Vakuum wirken konnte, versorgte alles mit der nötigen Lebensenergie. So gab es für alle genug, und niemand auf Erden musste Hunger leiden. In ihrem kollektiven Bewusstsein hatte die Menschheit nie vergessen, dass es andere Zeiten gegeben hatte. Jahrtausendelang war das Leben ihrer Vorfahren geprägt gewesen von einem ständigen Kampf ums Überleben. Niemand, den Oda kannte, wünschte sich diese Zeit zurück. Es war gut so, wie es war. Und dennoch war Oda froh, hier oben, im Vakuum, ihre Arbeit verrichten zu dürfen. Hier, wo es immer warm war und hell und wo alle nur erdenklichen Pflanzen wuchsen. Die letzten 16 Jahre hatte sie in einem Labor tief unter der Erde verbracht, wo sie von Geburt an auf ihre spätere Aufgabe vorbereitet worden war. Erst mit der Weihe, die sie vor zwei Tagen erhalten hatte, war sie zu einer echten Vaku-Farmerin geworden. Jetzt war es ihr auch erlaubt, die fruchtbare Zone zu betreten. Nur ausgereifte Farmer durften das. Sie und die höchste Kaste der Nokturnen natürlich. Auch wenn die wenigsten von ihnen die nötige Konstitution besaßen, um im Vakuum überleben zu können. Im Gegensatz zur Teleportation, einer Gabe, die sich vor allem im letzten Jahrhundert rasend schnell, fast schon wie eine Epidemie, vermehrt hatte, war das Talent des großen Rage, des Urvaters der Farmer, noch immer eine Seltenheit. Oda verehrte, wie alle Farmer und Farmerinnen, Rage, den großartigen Gründer ihrer Kaste. Er hatte vieles geopfert – eigentlich fast alles –, damit sie, nach Tausenden von Jahren, die Weihe hatte emp-
fangen dürfen. Dafür und für vieles andere mehr würde sie ihm bis ans Ende ihrer Tage huldigen. »Komm mit!«, sagte Tallôn. »Ich zeige dir deine Behausung.« Oda nickte und folgte ihm. Sie hatte nichts von zu Hause mitgebracht. Als Novizin der Vaku-Farmer waren ihr ohnehin alle privaten Besitztümer strengstens untersagt gewesen. Und alles, was sie von nun an hier, in ihrer neuen Heimat benötigte, fand sie in ihrer neuen Behausung vor. Diese glich der der anderen Anwärter bis ins Detail. Es handelte sich um einen tropfenförmigen Stock aus einer Naturfaser, der an einem Pfahl befestigt war und dadurch an eine Frucht erinnerte, die am Ast eines Baumes baumelte. In schier endlos langen Reihen waren die Behausungen quadratisch angeordnet, wobei jedes Feld mehrere hundert solcher Nester umfasste. Von hier aus würden sie jeden Tag gemeinsam zu den Feldern und Plantagen aufbrechen, die nur darauf warteten, abgeerntet zu werden. Und die dennoch laufend neue Früchte trugen. Oda folgte Tallôn die hölzernen Stufen bis zum Eingang ihres Heims hinauf. Bevor sie im Innern verschwand, drehte sie sich noch einmal um und ließ ihren Blick erneut über die Weite des Landes schweifen. Und obwohl sie noch nie im Leben hier gewesen war, fühlte es sich an, als wäre sie endlich nach Hause gekommen.
»Ich nehme an, das Experiment ist geglückt«, sagte Cloud, nachdem er die künstlich implantierte Erinnerung aus den Tiefen seines Unterbewusstseins an die Oberfläche geholt hatte. Seine Gegenüber gaben keine Antwort. Sie schienen Clouds Worte nicht als Frage verstanden zu haben, sondern mehr als eine Feststellung. Was ja auch stimmte. »Die Farmer sind also Menschen, die sich dank ihrer genetischen Anpassung im Vakuum bewegen und dort leben können.« »Sie betreiben Anbau«, ergänzte der Mann zu seiner Rechten.
»Und versorgen den Großteil der weiterhin erdgebunden Menschheit mit Gütern, die nur noch dort, an der Innenseite der Kugelschale gedeihen. Sie genießen in der Tat hohes Ansehen und nehmen in unserer Gesellschaft einen besonderen Stellenwert ein.« »Du solltest wissen, dass eine Zerstörung ihres Lebensraumes nach unseren Gesetzen hart geahndet wird.« »Es war nicht unsere Absicht, in ihren Lebensraum einzudringen«, beeilte sich John zu versichern. »Ich habe es euch doch erklärt. Wie mussten davon ausgehen, dass unser Kamerad, der Geflügelte, einer uns feindlich gesinnten Macht in die Hände gefallen war. Wir mussten handeln.« »Deine Worte ergeben für uns keinerlei Sinn«, lautete die Antwort. »Du hast die Leben von vielen in die Waagschale geworfen, um das Leben eines Einzelnen zu retten.« »So würde kein vernunftbegabtes Wesen handeln«, sagte der andere. »Und dass du vernunftbegabt bist, erkenne ich an deinen Gedanken.« John seufzte. Er bezweifelte inzwischen, dass es ihm noch gelingen würde, seine Ankläger von der Lauterkeit seiner tatsächlichen Absichten zu überzeugen. »Hört zu«, sagte er deshalb. »Ich bin bereit, den angerichteten Schaden, soweit es geht, wiedergutzumachen. Ich verfüge über Möglichkeiten, die …« »DAS IST NICHT NÖTIG«, hallte ihm eine Stimme entgegen, die von überall her zu kommen schien. Cloud sah sich um. Und selbst die Männer, die ihm gegenübersaßen, schienen sich kurz unter der Wucht dieser Worte zu ducken. Für John Cloud hingegen brach in diesem Moment eine Welt zusammen. Ihm war, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. John kannte die Stimme. Kannte den Menschen, dem sie gehörte. Besser, als ihm lieb war … Und doch hatte er lange keinen Gedanken mehr an ihn verschwendet. Weil er der festen Überzeugung gewesen war, ihn endgültig und für immer losgeworden zu sein. Unkraut vergeht nicht, hieß es. Doch in diesem Fall bekam das
Sprichwort eine völlig neue, erschütternde Dimension. Davon abgesehen, dass er ihn ohnehin längst für tot gehalten hatte … Dieser Mann hätte inzwischen mindestens zwanzig- oder gar dreißigtausend Jahre alt sein müssen. Denn sein Name war – Reuben Cronenberg. Und noch während John diese Erkenntnis verdaute, folgte auch schon der nächste verbale Faustschlag. »DU HAST WISSENTLICH GEGEN DAS WICHTIGSTE UNSERER GESETZE VERSTOSSEN. DIE UNANTASTBARKEIT DES WALLS. DARAUF GIBT ES NUR EINE ANTWORT: JOHN CLOUD, ICH VERURTEILE DICH HIERMIT UND UNWIDERRUFLICH ZUM TODE …!«
Epilog – Heute – am Ende der Welt Hecto erschien buchstäblich aus dem Nichts, nur wenige Schritte von Sanja entfernt. Diese bedachte ihn nur eines kurzen Blickes, wandte sich dann wieder den scharfkantigen Gesteinsbrocken zu, die wie eine Wand vor ihr in die Höhe wuchsen. Wie schlimm ist es?, fragte der junge Mann. Trotz ihres unterschiedlichen Geschlechts glichen sich beide fast wie ein Ei dem anderen. Beide waren völlig kahl und in das gleiche schlichte Gewand gekleidet, das ihren Körpern ein etwas unförmiges Aussehen verlieh. Eitelkeit war ihnen fremd. Sie entsprach schlichtweg nicht ihrer Konditionierung. Ihre ganze Existenz verdankten sie einem ganz bestimmten Zweck, und diesen hatten sie bedingungslos zu erfüllen. Im Gegenzug verehrte man sie auf Erden wie Götter. Nicht gut, entgegnete Sanja auf Hectos Frage. Die Kruste wurde großflächig beschädigt. Es wird Jahre dauern, sie vollständig wiederherzustellen. Yonka meinte, dass die Zerstörung mit dem Auftauchen des Flügelwesens zusammenhängt, das er und die anderen im Wald gefunden haben. Das Wesen schien seiner Einschätzung nach harmlos zu sein. Dieser Eindruck musste inzwischen revidiert werden. Es kommt von da oben, fügte er hinzu und deutete auf das gewaltige, scharfkantige Loch, das unmittelbar über ihnen aufklaffte. Wie das Tor zu einer anderen Welt … Wie mochte es dahinter wohl aussehen? Sanja hatte sich das schon oft gefragt. Ihr war immer klar gewesen, dass ihre Welt nicht an den Grenzen des Walls endete. Doch der Bereich dahinter war für die Farmer stets tabu gewesen. Zu ihrem eigenen Schutz, wie man ihnen seit jeher erklärt hatte. Es ist ein Gesandter der Stummen Götter, meinte Hecto. So wie die an-
deren, die ihm gefolgt sind. Von dort ist noch nie etwas Gutes gekommen. Was geschieht nun mit ihnen? Das ist Sache des Tribunals. Es ist gerade dabei, ihren Anführer zu verhören. Seine Aussagen werden über ihrer aller Schicksal entscheiden. Das ist gut, entgegnete Sanja. Der Anblick der zerstörten Kruste erfüllte sie mit einem Gefühl tiefster Betroffenheit. Auch die Vegetation hatte durch das Eindringen des gewaltigen Flugkörpers Schaden genommen. Sie zu hegen und zu pflegen, war die vordringlichste Aufgabe der Farmer, die sie mit großer Gewissheit erledigten. Sie werden dafür teuer bezahlen, meinte Hecto. Sanjas Blick wanderte durch das Loch hinaus in den nachtschwarzen Himmel. Dorthin, wo sich das Refugium der Stummen Götter befand. Und von wo aus sie ihre glitzernden Blicke auf die Sterblichen warfen. Das werden sie, pflichtete sie ihrem Gefährten bei. Das werden sie ganz gewiss! ENDE
Glossar John Cloud
Jarvis
Kargor
28 Jahre alt, 1,84 m groß, schlank, durchtrainiert. Sohn von Nathan Cloud, der an der ersten Marsmission teilnahm. Dunkelblond, mittellanges Haar, blaugraue Augen, markante Gesichtszüge, ausgeprägte Wangenknochen. Nach dem Fund und der Inbesitznahme der RUBIKON – eines Raumschiffs der Foronen, das von diesen SESHA genannt wurde – ist Cloud der Kommandant des Schiffes. Ehemaliger Klon. Nach dem Tod des ursprünglichen Körpers wechselte sein Bewusstsein in die Rüstung eines Foronenführers, die aus Nanoteilen besteht. Sie ist wandelbar und kann von Jarvis beliebige Gestalt verliehen bekommen, er bevorzugt aber ein Erscheinungsbild, das an seinen ursprünglichen Körper erinnert und dessen Mimik er immer besser zu beherrschen lernt. Er ist ca. 1,85 m groß, hat ein schmales, energisches Gesicht und angedeutete streichholzkurze »Haare«. Rätselhafte Entität mit dem Erscheinungsbild einer riesigen Gottesanbeterin; jedoch aus kristallinen Strukturen bestehend, die in allen Farben des Regenbogens leuchten. Bei Kargor scheint es sich um einen Angehörigen jenes Volkes zu handeln, das einst die CHARDHIN-Perlen erbaute … und dann von der kosmischen Bühne verschwand. Erst die Gefahr, die Darnok über der Milchstraße heraufbeschwor, rief die ERBAUER offenbar wieder auf den Plan, Kargor besitzt Kräfte und Macht, die ihn jedem anderen bekannten Wesen überlegen machen.
Die Perle CHARDHIN So benannt vom Gloriden Fontarayn: Eine golden schimmernde, kugelförmige Station, die hinter dem Ereignishorizont des Milchstraßen-Super-Black-Holes verankert ist. Ihr Durchmesser beträgt gigantische hundert Kilometer. Fontarayns Volk, die Gloriden, sind quasi das »Wartungspersonal« dieser Perlen – von denen es unzählige in unzähligen Galaxien gibt. Der Clou jedoch ist dass diese Stationen, deren Erbauer nicht einmal die Gloriden zu kennen scheinen, permanent existieren – vom Anbeginn der Zeiten bis … ans Ende aller Zeiten? Vieles, was diese Hinterlassenschaft eines uralten Volkes betrifft, ist ungeklärt. Sicher ist: Die Milchstraßen-Perle scheint aus dem Netz der übrigen Chardhin-Stationen herausgefallen zu sein und wurde von Unbekannten, die spezielle »Gloriden-Fallen« hinterließen, offenbar gezielt ausgeschlachtet und entvölkert. Florenhüter Jelto Ein Klon mit »Kirlianhaut«, genetisch prädestiniert, um mit jedweder Pflanze – ganz gleich, ob auf der Erde ansässig oder auf einem fremden Planeten – mentale Verbindung aufzunehmen. Jelto ist eine Art lebendiger »grüner Daumen«: er besitzt eine nicht mehr zu übertreffende Affinität zu Pflanzen und vermag sich optimal um ihre Bedürfnisse zu kümmern. Jelto hütete eine gewaltige Parzelle Wald, der das »Getto« umgibt und – wie sich herausstellt – offenbar nur dazu dient, jeden Fluchtversuch aus der früheren Metrop Peking zu vereiteln. Denn dieser Wald besteht zur Hauptsache aus außerirdischer Vegetation, die durchaus fleischliche Gelüste kennt … Mittlerweile ist Jelto vollwertiges Mitglied der RUBIKON-Crew, kümmert sich dort um den Hydroponischen Garten. Aylea Im »Paradies« einer irdischen Metrop (Metropole)
aufgewachsene 12-Jährige – die unversehens die Schattenseite der Gesellschaft kennenlernte und ins sogenannte »Getto« abgeschoben wurde, wo die Rechtlosen der neuen Menschheit ihr Dasein fristen. Dort traf sie auf John Cloud und gelangte auf Umwegen an Bord der RUBIKON, wo sie seither das Nesthäkchen ist. Besonders angefreundet hat sie sich dort mit Jelto. Jiim Geflügelter, einstiger Bewohner des Planeten Kalser, die sich selbst Nargen nennen. Jiim ist ein Freund der Menschen und im Besitz einer fast metaphysischen goldenen Rüstung namens Nabiss, die seit einiger Zeit förmlich mit seinem Körper verschmolzen ist, von diesem absorbiert wurde. Seine Befindlichkeit hat darunter nicht gelitten, im Gegenteil: Jüngst brachte Jiim ein Kind namens Yael zur Welt, für das er nun als »alleinerziehender Elter« die volle Verantwortung übernommen hat. Die RUBIKON Ein mantarochenförmiges Raumschiff, das John Cloud in der Ewigen Stätte des Aqua-Kubus fand und in Besitz nahm. Der »gute Geist« des Schiffes ist die künstliche Intelligenz Sesha. Die Ausmaße sind gewaltig, können jedoch hinter sogenannten Dimensionswällen verborgen werden, sodass das Schiff für externe Beobachter sehr viel kleiner wirkt. Die RUBIKON bedient sich der Dunklen Energie, um überlichtschnell durch den Raum zu reisen. Dabei bewegen sich die Schwingen wie bei einem tatsächlichen Mantarochen, der durch die Tiefen eines Ozeans pflügt.
Vorschau Perlen der Schöpfung von Manfred Weinland Wer sind die ERBAUER wirklich, und woher stammen sie? Was ließ sie das Erste Reich gründen … und wie viele Reiche folgten noch? Welchen Sinn und Zweck haben die Tridentischen Kugeln, mit denen das Universum übersät ist? Die Besatzung der RUBIKON sieht sich mit Antworten konfrontiert, die sie an den Rand des Begreifbaren treiben. Die Crew begegnet einer für immer verloren Geglaubten – doch im Gegenzug wartet auf den Angk-Welten keiner mehr von denen, die dort von Kargor ausgesetzt wurden …