C.H.GUENTER
Hinter den
sieben Meeren
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT
Seinen älteren Brude...
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C.H.GUENTER
Hinter den
sieben Meeren
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT
Seinen älteren Bruder hatte Ferdinand Medici immer gehaßt. Deshalb ging er schon im Alter von vierzehn Jahren nach Rom, wo er sofort Kardinal wurde. Für Naturwissenschaften zeigte er wenig Interesse. Seine Leidenschaft war die Bildhauer kunst. Aber sein wirkliches Talent lag auf dem Gebiet der Politik und des Geldwesens. Als er nach dem Tode seines Bruders im Jahre 1587 dessen Nachfolge als Herzog von Toscana antrat, änderte er als erstes das alte Wappen der Medici. Er ersetzte die drei Falle durch die Biene, das Symbol praktischer Tätigkeit. Ferdinand I. regierte auf eine Weise, daß er bald der Beste der Großherzöge genannt wurde. Er mehrte den Besitz seines Bankhauses, aber auch den der Stadt Florenz, schuf eine Flotte, baute den Kriegshafen Livorno aus, ließ Künstler aus aller Welt kommen und prächtige Bauten errichten. Er förderte auch die Musik, was schließ lich zur Geburt der Oper führte. Trotz all seiner beträchtlichen Ausgaben brachte der Herzog die Staatsfinanzen in einen guten Zustand. Das Familienvermögen der Medici wurde in diesen Jahren auf fünf Millionen Gulden geschätzt. Dazu kamen noch erhebliche Summen an auslän discher Währung. Die ersten Medici ließen sich stets von dem Grundsatz leiten, daß das Geld im Umlauf bleiben müsse, was mitunter zu schweren Verlusten und leeren Kassen geführt hatte. Ferdinand hingegen war darauf aus, das Geld zu horten. In der Festung Belvedere, die in dieser Zeit als uneinnehmbar galt, ließ er einen gepanzerten
Raum, ähnlich einem Tresorgewölbe, anlegen. Der damals berühmte Ingenieur Buontalenti konstru ierte die Türen mit einem nicht aufzubrechenden Schließsystem. Nur der Herzog besaß einen Schlüssel. In diesen Raum ließ der Medici um das Jahr 1603 einen großen Teil seines Vermögens bringen. Nie mand wußte davon. Wenige Jahre später, kurz nach Ferdinands Tod, zerstörte ein Erdbeben weite Teile der Festung . . .
1. Sacco Syracusa bekam von seinem Vater hundert tausend Lire Taschengeld. Pro Woche. Eine Menge Kohle für einen Sechzehnjährigen. Trotzdem kam er nie damit aus und war immer auf dem Sprung, seine Finanzen zu verbessern. Wie immer nach der Schule hing Sacco in Lucios American-Bar herum. Sie war klimatisiert, also angenehm kühl, und der Mixer fragte nicht nach dem Alter der Gäste. Von ihm bekam jeder, was er wollte. Longdrinks, aber auch Whisky pur. Er hatte immer Marihuanazigaretten und für ganz müde auch mal einen Löffel Kokain. Sacco Syracusa leerte den zweiten Cuba Libre, Cola mit Rum, steckte sich eine Filterlose an und sagte im Gehen: „Zahle Montag." „Schon wieder pleite?"
Sacco hörte gar nicht hin. Wenn er zu zahlen vergaß, schickten sie die Rechnung der Baufirma seines Vaters. Der zeichnete sie ab, wie hundert andere Rechnungen, wie die seiner Mutter, seiner Geliebten, seiner Töchter. Der Vater merkte es meist nicht, und die Rechnung wurde bezahlt. Aber Sacco spürte gern Scheine in den Taschen seiner Jeans. Und die Taschen waren heute leer. Stämmig wie eine Salami trat er hinaus auf die Via Maquedo. Die Mittagssonne blendete ihn. Die Siesta-Ruhe schien das grelle Licht noch zu ver stärken. Im Schatten der Palmen schlenderte Sacco zur Piazza Verdi. Durch die Sohlen seiner Mokassins war die Hitze des Pflasters zu spüren. — August in Palermo. O Signore! O Madonna e Santa Clara! Kein Lüftchen wehte vom Meer durch diese Stein wüste. Das trieb einem den Schweiß aus den Poren. Der Asphalt fühlte sich an wie Gummi. Sacco blieb in der Kühle eines Torbogens stehen, hockte sich langsam auf die Fersen wie ein Mexi kaner, steckte sich eine Zigarette an und wartete. Kaum noch Verkehr. Weniger als um zwei Uhr morgens. Nicht einmal Busse fuhren. Erst in zwei Stunden kam die Stadt wieder auf Touren. Dann gingen die Rollos an den Läden hoch, machten die Büros wieder auf, kamen die Mädchen in den dünnen Sommerkleidchen aus den Häusern, um irgendwo ein Lemon Soda zu trinken oder ein Eis zu schlecken. Aber jetzt, 13.40 Uhr, herrschte null Leben. Drüben am Parkplatz kochten die Autos unter dem Blech wie Drucktöpfe. Wer jetzt einstieg, der
mußte erst durchlüften, oder der Hitzschlag traf ihn. Sacco krempelte die Jeans hoch, zog die ange schliffene Fahrradspeiche aus dem Strumpf und verbarg sie in der rechten Innenhand. Dann schlenderte er hinüber. Nahe dem Teatro Massimo stand er wieder, der dunkelblaue große Mercedes 300. Mit dem früh entwickelten Instinkt des gebore nen Verbrechers beobachtete Sacco die Umwelt und wartete den richtigen Moment ab. Dann trat er in Aktion. Er ging auf den Luxuswagen zu, als gehörte er ihm. Mit der flachgeschliffenen Speiche fummelte er durch die Gummidichtung des Fensters zum Sperrknopf. Er hebelte ihn hoch. Die Tür war auf. Es hatte nur unwesentlich länger gedauert als mit dem serienmäßigen Türschlüssel. Er atmete tief, stieg ein, griff in die Seitenta schen, holte den Koffer vom Rücksitz. Inhalt nur Akten. - Inzwischen waren weitere zwanzig Sekunden verstrichen. Sacco beugte sich nach rechts. Das Handschuhfach war verschlossen. Er brach es gewaltsam auf. Oben lag eine Waffe. Trommelrevolver, Kaliber 7,65. Den steckte er in den Hosenbund. Unter der Waffe eine flache Kassette. Sie hatte einen Druck verschluß. Der Deckel sprang auf. Zwischen Lagen von gelbem Waschleder vier Armbanduhren. Zwei Cartier und zwei Piaget. Gold mit Brillanten. Dem Gewicht nach keine Imitationen. Daß er kein Geld fand, machte ihn wütend. Nichts zu ändern. Er schob das Etui in die Hosentasche. 10
Jetzt raus aus dem Backofen. Tür zudrücken.
Inzwischen waren etwa eine Minute und zehn
Sekunden verstrichen.
Sacco Syracusa machte, daß er wegkam.
Die Familie von Troiano Marzotto wohnte draußen in einem Vorort Richtung San Pellegrino. Genaugenommen wohnten sie in der Armensied lung des Arbeiterviertels. Im Krieg waren hier eine Reihe Häuser zerbombt worden. Man hatte Barak ken aufgestellt, um die Leute notdürftig unterzu bringen. Ihr bekommt neue Häuser, hatte man ihnen versprochen. Inzwischen waren zwanzig Jahre ver gangen. Die Leute wohnten noch immer in den Baracken. Sieben Familien in einer, und ihre Kinder hatten schon wieder Kinder. Troianos Vater war Walzenfahrer beim Straßen bau - falls es dort etwas zu tun gab. Seine Mutter ging putzen, seine Schwester, so hübsch wie gescheit, lernte Strickerin. Troiano selbst arbeitete bei einem Anstreicher, meist von 16.00 Uhr bis in die Nacht. Vormittags ging er aufs Gymnasium, denn er war intelligent. Zwischendurch gab er auch Nachhilfeunterricht in Sprachen und Mathe matik. „Lang, dünn und weiß wie ein Spaghetto", pflegte seine Mutter zu sagen, „aber klug. Aus unserem Jungen wird mal was. Mindestens Pfarrer oder Lehrer - oder Anwalt bei der Behörde." Als Troiano an diesem Augusttag nach Hause radelte, fand er die Wohnung leer. Er schnitt kalte 11
Polenta in Streifen, röstete die Maisgrütze mit Margarine in der Pfanne, gab einen Löffel voll Tomatensoße darüber und machte sich mit Heiß hunger ans Essen. Da klopfte die Tochter von Giulio ans Fenster. „Troiano, ans Telefon!" Er schaute gar nicht hin. Damit legte sie ihn nicht mehr herein. Einmal war sie, als er die Tür öffnete, ins Zimmer gekommen und hatte gesagt: „Willst du mal was sehen?" „Nein", hatte er gesagt. „Muß lernen." „Ich zeig dir was." Sie hatte den Rock hochgehoben und sich breit beinig hingestellt. Sie trug nicht mal ein Höschen. Was für eine Schande. Und dann strich sie sich mit der Hand über ihre schwarzhaarige Pussi. „Schon mal so was gesehen, he?" hatte sie, in Hitze geratend, gerufen. „Jeden Tag." „Hast du 'ne Ahnung, was man damit machen kann, Troiano?" „Mach ich jeden Tag." „Ja, mit der Hand", sagte sie, warf sich aufs Bett und spreizte die Schenkel. Va bene und Madonna. Er hätte es ihr verdammt gern gegeben, aber er kannte die Sitten. Sie waren unerbittlich. Wer so ein Angebot annahm, der mußte es büßen. Den ganzen Rest seines Lebens lang, und seien es hundert Jahre. Und heiraten? Mamma mia, er wollte studieren, nach Amerika gehen und was Besseres werden. „Hau ab, kleiner Arsch", sagte er, „oder ich stecke es deinem Alten." Sie versuchte es immer wieder. Sie war darin 12
ungeheuer einfallsreich. Aber er beherrschte sich und fing an zu sparen, um sich die Liebe einer Stundenbraut im Puff zu holen. Jetzt trommelte sie an die Scheibe. „Troiano, Telefon!" Damit sie nicht wieder hereinkam, stieg er durchs Fenster. „Laß mich in Frieden, oder ich versohle dir den Hintern." „Ja bitte", sagte sie. „Aber erst geh ans Telefon, sonst wird mein Alter wütend und legt einfach auf." Gewöhnlich rief ihn nur einer an. Sein Freund Sacco. „Keine Zeit für Mathe", sagte Sacco. „Mit 'ner Sechs in Mathe fällst du durch", warnte Troiano Marzotto ihn. „Scheiß Mathe", erwiderte der andere. „Ich nehme keine Nachhilfe mehr bei dir. Mein Vater wird den Pauker unter Druck setzen." „So geht es auch", bemerkte Troiano. „Warum rufst du an?" „Wann gehen wir zu den Mädchen?" fragte Sacco. „Bis ich die fünfzigtausend zusammen habe, bin ich zwanzig, Mann." „Und wenn ich dich freihalte?" Marzotto zögerte. Soviel hatte er mit sechzehn Jahren schon kapiert, daß man von einem Mafioso nichts umsonst bekam. „Was willst du dafür?" „Nichts. Nur zugucken." „Du bist ein Schwein, Sacco." 13
„Nur ein bißchen größer als die anderen. Also was ist, Langer?" Da übermannte Troiano der Wunsch, eine Frau zu besitzen. „Wann?" fragte er. „Heute abend. Via Onoferei. Wenn es dunkel ist", sagte Sacco.
An diesem Tag versäumte Troiano Marzotto zum ersten Mal seit zehn Jahren den Schulunterricht. Er erwachte neben dem nackten, kaffeebraunen Körper der Tunesierin, die von Sacco für eine Nacht bezahlt war. „Ich schenke sie dir, als Zeichen unserer Freund schaft", hatte Sacco gesagt und soviel dafür hinge blättert, wie Troianos Alter nicht in zwei Wochen verdiente. Aber da war Troiano auf diese zierliche Afrikanerin schon so scharf gewesen, daß er keine Fragen mehr stellte. Die Vorsicht der seit Genera tionen Unterdrückten verließ seinen Kopf, und er war nur noch geil. Die kleine Nutte mit den winzigen Titten und dem engen Schoß lachte ihn nicht aus wegen seiner Ungeschicklichkeit. Sie fragte nur, ob sie die erste Frau sei, die er habe. Er sagte: „Ja, die allererste." Das schien sie so aufzuregen wie alte Männer, wenn sie ein Mädchen entjungferten. Sie entjung ferte ihn auf ihre Weise. Von Mitternacht bis zum Morgen brachte sie ihm ungefähr alles bei, was es beim Sex gab. Dann waren sie erschöpft einge schlafen. Aber die Gewohnheit, sechzehn Jahre lang um 14
sieben Uhr aufzustehen, weckte Troiano, auch wenn er halbtot war. Er lag neben ihr und dachte, daß man die erste Nacht mit einer Frau nicht beendete, indem man sich davonschlich. Er erinnerte sich, daß sie es am liebsten hatte, wenn er sie von hinten nahm. Also tat er ihr den Gefallen, und sie genoß es sogar im Halbschlaf. Aber dann kam der Moment, wo sie erwachte, ihn anlächelte und sagte: „Jetzt ist's aber genug." Er hatte mehr bekommen, als Sacco bezahlt hatte. - Molto grazie. Er duschte, zog sich an und ging. Den ganzen Vormittag trieb er sich in der Stadt herum. Er war völlig durcheinander. Das erstemal mit einer Frau, das war immerhin ein Fest wie Taufe, Kommunion und Schlaganfall in einem. Mit schlechtem Gewissen fuhr er mit dem Bus nach Hause. Und bei den Baracken dann das. Leute standen herum. Sein Vater, seine Mutter und sein Hund lagen auf der Straße. Blut war um sie herum. „Geh fort, Troiano", sagte die Nachbarin. „Sie kommen wieder." Wie erstarrt stand er da und schluckte und kämpfte gegen die Tränen. Da fühlte er eine Hand auf seiner Schulter. Er schüttelte sie ab. Aber die Hand kam wieder. Scharf bohrten sich spitze Nägel in den Stoff seiner Jacke und zogen ihn weg. Es war Marina, die Tochter des Kneipenwirts. Hinter der Garage sagte sie: „Es waren drei Männer." 15
„Sie sind feige und kommen immer in der Überzahl. Hast du ihre Gesichter gesehen?" „Nein", bedauerte Marina, „ihre Gesichter nicht, aber ihr Auto. Es ist der große graue Lancia, mit dem dein Freund Syracusa mal herfuhr." „Sacco?" fragte er entsetzt. „Bist du sicher? Was, zum Teufel, wollen Syracusas Leute von uns?" „Von dir", flüsterte das Mädchen aufgeregt. „Sie haben an die Tür gehämmert und deinen Namen gerufen, Ich stand zufällig in der Nähe. Dein Vater trat heraus und sagte, daß du nicht da seist. Dann schrien sie: Dein Sohn, Marzotto, ist ein Dieb. Er hat einen Freund unseres Freundes bestohlen. Gib die Uhren her." „Sacco muß die Uhren geklaut haben", sagte Troiano entsetzt. „Und er schob es dir in die Schuhe, das feige Schwein, als sie ihm dahinterkamen", kombinierte Marina. „Dein Vater ging hinein und kam mit einer Schrotflinte wieder. Es gab einen Wortwechsel. Mein Sohn ist kein Dieb, schrie er, oder etwas Ähnliches. Macht, daß ihr weiterkommt! Einer zog das Messer und wollte sich Eingang verschaffen. Das verhinderte dein Vater. Dann schössen sie. Hinter deinem Vater stand deine Mutter. Dein Vater hat nur sein Haus und deine Mutter vertei digt. Glaub mir." „Und mich", ergänzte Troiano Marzotto tonlos. „Dann waren sie beide tot. Am Schluß erschos sen sie noch den Hund." Sie atmete schwer, als sehe sie alles wieder vor sich. Und Troiano war so blaß wie ein Spaghetto, bei dem man mit den Eiern gespart hatte. „Du mußt weg", sagte Marina. „Wenn sie dich 16
kriegen, erpressen sie jedes Geständnis. Du kennst sie." „Aber es war Sacco." „Ich glaube dir, Troiano." „Meine Schwester", fiel ihm ein, „muß bald von der Arbeit kommen. Sie darf das nicht sehen." Ratlos blickte er Marina an. Sie umarmte ihn und küßte ihn. Er fühlte, wie sie weinte. „Wir sehen uns niemals wieder", jammerte sie. „Ich weiß es." „Dank dir, kleiner Arsch", sagte er. „Danke dir." „Faß mich nur einmal an, Troiano, nur einmal." Er tat es. Sie lächelte. Dann riß er sich los und verschwand für immer.
Zu seiner Schwester, die ein Jahr jünger war, sagte Troiano: „Du stellst keine Fragen und tust, was ich sage. Jetzt wartest du hier." Er ließ sie bei den Platanen zurück, überquerte die vornehme Villenstraße und hockte sich dort, wo sie die Kurve machte und anstieg, an die Mauer. Es dauerte lange. Um Mitternacht saß er noch da. Autos kamen vorbei. Meist die teuren Wagen der Villenbesitzer in diesem Luxusviertel von Palermo. Er erkannte die Autos, die Alfas und Lancias, die Fiats und Ferraris und all die auslän dischen am Klang des Motors. Wenn man gar nichts hörte, nur das Singen der Reifen, dann waren es Amerikaner oder ein Rolls. 17
Und endlich das helle Sägen eines Zweitakters, so als würde man eine Papierbahn durchreißen. Mit einem Knüppel in der Hand wartete Troiano Marzotto sprungbereit. Das Motorradlicht hüpfte näher. Der Fahrer ging vom Gas, bremste vor der Kurve leicht an und legte sich dann, erneut Gas gebend, in sie hinein. — In diesem Moment sprang Troiano aus dem Graben und drosch dem Fahrer den Ast mitten ins Gesicht. Das Tempo des Fahrers verstärkte die Wucht des Treffers. Er kam noch ein paar Meter, riß die Arme hoch, fuhr in einer Schlangenlinie und stürzte vom Motorrad. Er fiel auf die Straße. Das Motorrad wurde vom Gebüsch aufgefangen. Im Nu stand der Mafioso wieder auf den Beinen. Troiano Marzotto, blind vor Wut, schlug auf ihn ein, daß der Ast abbrach. Dann nahm er die blanke Faust. Er drosch Sacco nieder, wo er ihn erwischte, und wühlte ihm die Faust in den Bauch. „Das" schrie er, „ist nur der Anfang. Ich werde dich töten. Ich will dich liegen sehen wie meinen Vater und meine Mutter." Er spuckte aus, trat mit den Füßen nach ihm, und als der Sohn des Mafioso sich nicht mehr rührte, nahm Troiano das Motorrad, ließ es an und holte seine Schwester. In dieser Nacht fuhren sie bis Messina. Ein Fischer nahm sie mit über die Meerenge zum Festland. Troiano verkaufte das Motorrad. Mit dem Zug fuhren sie weiter nach Rom. Dort nahmen sie jede Arbeit an, die sie bekamen. Troiano erkundigte sich, wo die Schiffe nach 18
Amerika abgingen. Man sagte ihm, in Neapel. Aber die meisten liefen wohl von Genua aus. Also schlugen sie sich bis Genua durch. Troiano arbeitete im Hafen, seine Schwester Rebeca in einem Hotel. Im Herbst nahmen sie ein Schiff, das nach Baltimore fuhr. Es war ein ägyptischer Frachter, verlaust, ver dreckt und verrostet. Aber sie kamen in Amerika an. „Wir gehen überall hin", sagte Troiano zu Rebeca, „nur nicht nach New York. Dort ist die Mafia so mächtig wie zu Hause." „Wer sucht uns schon hier, und überhaupt?" sagte Rebeca. „Sie lassen niemals eine Rechnung offen", ant wortete ihr Bruder.
Neunzehn Jahre später kehrten Prof. Troiano Mar zotto und Dr. Rebeca Marzotto nach Italien zurück. Als Dozenten für Geschichte und Kunstge schichte der Universität von Kalifornien übernah men sie einen von der Morgan-Foundation finan zierten Forschungsauftrag. Sie reisten nach Florenz, um dort neuentdecktes Material über Menschen, die die Renaissance präg ten, zu sichten. Während Rebeca Marzotto sich besonders mit Macchiavelli befaßte, widmete ihr Bruder Troiano sich seinem Spezialgebiet, dem Aufstieg und Untergang der Medici.
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2.
Das letzte Land, das der Frühling in Europa erreichte, war Skandinavien. Deshalb hatte man die NATO-Tagung in Oslo auf Mitte Juni festge setzt. Neben einer Menge von Vortragen und Gesprächen gab es Arbeitsgruppen, Kommissionen und Unterkommissionen. Auch Weiterbildungsse minare fanden statt. Eines davon - es hatte Top-secret-Charakter — leitete der BND-Agent Oberst Robert Urban. Es ging darin um die objektive Einschätzung der Abrüstungsmaßnahmen bei den Warschauer-PaktStaaten unter Berücksichtigung des Anstiegs der Verteidigungsausgaben. Die Quintessenz war die, und damit beendete der Referent stets seine Vorträge, daß der Osten aufrü stete wie nie zuvor. Allerdings qualitativ. „Gentlemen", sagte Urban. „Nehmen wir nur seine Bomber, Panzer und U-Boote. Der Russe verschrottet das uralte Material. Er reduziert seine Bomber, Panzer, U-Boote und Raketen um zwei Drittel. Das sieht wunderbar friedfertig aus. Aber was stellt er denn außer Dienst? - Doch nur die erste Waffengeneration nach dem Weltkrieg. Es handelt sich um Gerät, das ohnehin mehr die eigenen Truppen gefährdet, als daß es noch zum Krieg taugt. Und wodurch ersetzt der Russe es? Durch Bomber, U-Boote, Panzer und Raketen von x-facher Leistungsfähigkeit. Er rüstet auf, indem er abrüstet. Gentlemen, das mag unlogisch klingen, aber es ist die Wahrheit." Urban schloß mit der abgewandelten Warnung Ciceros im römischen Senat: „Ceterum censeo, im übrigen bin ich der 20
Meinung: Auf den Osten ist zu achten. - Nicht einen Augenblick dürfen wir unsere Wachsamkeit vernachlässigen." In der üblichen Weise wurde verhalten applaudiert. Als Urban den Vortragssaal verließ, folgte ihm ein Kollege des norwegischen Geheimdienstes. „Kann ich dich eine Minute sprechen, Bob?" „Ich muß gleich rüber zum Planungsstab." „Nur eine Sekunde." Urban schaute auf die Rolex. Er war ohnehin zu spät dran. „Um was geht es, Olaf?" Der Norweger zog Urban in eine Nische und zitierte ihn. „Wir dürfen unsere Wachsamkeit nicht vernach lässigen." „Du weißt, wie es gemeint ist." „Ja, in Richtung Osten. Aber wir vernachlässigen sie bereits hier in Oslo bei dieser Tagung." Urbans angeborenes Lächeln begann ein wenig zu zucken, wie immer, ehe es sich verstärkte. „Ich kenne keine besser gesicherte Konferenz als diese." „Die Gefahr droht von innen", warnte der Nor weger. „ Gefahr?" fragte Urban mit dem Ausdruck berechtigten Zweifels. „Es sind dreimal gesiebte handverlesene Stabsoffiziere und Generäle. Jeder kennt jeden. Alle besitzen den höchsten Geheim grad. Du siehst Gespenster, Olaf." „Und diese merkwürdigen Gruppenbildungen, was ist damit?" „Gruppen gab es immer. Die gab es schon in der Schule, auf der Uni, im Sportverein, im Club. Es 21
gibt sie in der Wirtschaft, in der Politik. Von Interessengruppen, Zirkeln gehen oft die besten Anregungen aus." „Sie können aber auch gefährlich werden." Urban hatte wenig Zeit. Er war wirklich in Eile, aber der Norweger sprach aus, was auch ihm schon aufgefallen war. Einige NATO-Offiziere, zwei Amerikaner und zwei Briten, verhielten sich merk würdig. Sie isolierten sich zu einer Clique. „An wen denkst du?" fragte Urban. Der Norweger stellte den Wikingerkopf ein wenig schräg. „An dieselben, an die auch du denkst, Dynamit. Du bist Geheimdienstmann, und ich bin einer. Wir denken immer eine Drehung röter als rot." „Brigadier Donway?" fragte Urban gezielt.
„Und Brackwater", ergänzte der Norweger.
„Und Tibetty."
„Und General Sylvestre", fügte der Norweger
hinzu. „Verdammt", fluchte Urban. „Du hast es also auch gesehen." „Und noch etwas." „Später", entgegnete Urban. „Um einundzwan zig Uhr in der unteren Bar. Einverstanden?" „Ich bin da", versprach der Norweger. Im Weitergehen musterte Urban sich im Spiegel. Er sah aus wie immer. Nizzabraun, gesund, noch kein graues Haar, und der Winterspeck war auch weggeschmolzen. Er sah aber auch aus wie immer, wenn er nachdenklich war.
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Sie bildeten eine gute Kneipenmannschaft. Urban liebte die Drogen Nikotin und Alkohol, und der Norweger ebenfalls. „Als ich noch aktiver Offizier war", erzählte Olaf, „machte ich eine Reserveübung bei der Bundeswehr. Da lernte ich ein hübsches Lied singen: So leben wir alle Tage in der allerschö -hönsten Saufkompanie. - Würde es ja anstim men, wenn die Flasche leer ist, aber heute bin ich verdammt nicht in Stimmung." Ehe er dazu kam, sein Herz auszuschütten, betrat einer die Bar. Obwohl sie gut besetzt war, fiel er auf. Er war einsneunzig, hellblond und bewegte sich etwas eckig. Er suchte Olaf Sörgensen, sah ihn, kam heran, flüsterte dem Major etwas zu und ging sofort wieder. „Zahlen! " rief der Norweger. „Schreiben Sie es auf meine Rechnung", wandte Urban sich an den Barmixer. Der Norweger zog ihn vom Hocker. „Was ist passiert?" „Sie hauen ab. Das heißt, sie sind schon weg. Alle drei in Zivil." „Wer?" „Tibetty, Brackwater und Donway. Sie mar schierten getrennt los, weil es nicht auffallen sollte. Aber beim dritten Mann merkte es einer meiner Leute. Ich habe sie scharf gemacht." Sie fuhren mit dem Lift nach oben. „Wir haben hier die Sicherheit übernommen", sagte Olaf Sörgensen. „Dazu gehört auch, sich Sorgen zu machen, wenn drei NATO-Offiziere in Zivil nachts das Hotel verlassen." 23
„Sie wollen sich amüsieren." „Diese alten Knacker?" zweifelte der Norweger. „Wenn ja, dann doch nicht gleich per Gruppensex. Droben steht ein Wagen. Wir folgen ihnen. Alles schon an Bord. Kameras, Nachtsichtgerät. Natür lich wäre mir am liebsten, die Knaben gingen ins Bordell." Der Lift hielt. Sie eilten durch die Hotelhalle nach draußen. Der große Blonde sagte noch etwas, das Urban nicht verstand. Offenbar handelte es sich um die Richtung, wohin die drei sich hatten fahren lassen. Sie warfen sich in den Volvo. „Drammen!" rief Sörgensen, „Richtung Drammen!" Der Fahrer gab sofort volles Rohr. „Gute Leute", sagte der Norweger, „muß man haben." „Der Blonde", fragte Urban. „Warum bewegt er sich wie ein Roboter?" „Betriebsunfall. Terroristen legten eine Bombe in einem Kraftwerk oben bei Bergen. Er ent schärfte sie. Kaum hatte er sie aus der Turbine, ging sie hoch. Seitdem werden seine Gelenke von Platten und Schrauben zusammengehalten." „Ja, wir haben einen feinen Job", bemerkte Urban. „Du fängst als Jüngling an, und schon nach ein paar Jahren kommst du als Greis nach Hause." Der Norweger schien Urban zu mustern. „Das gilt nicht für jeden. Du hältst dich recht ordentlich." Urban lachte kurz auf. „Nur weil ich stur bin. Ich bin stur, weil ich gute 24
Nerven habe. Und ich habe gute Nerven, weil ich stur bin." Auf dem Autobahnstück nach Drammen fing es an zu regnen, und Wind kam auf, der den Regen von der Nordsee herüberpeitschte. Natur pur. Später erfolgte eine Funkdurchsage. „Sie sind zum Meer hin abgebogen." Es war der Mann im Wagen, der Brigadier Donway folgte.
Ob die Ufer flach waren oder steil, sie nannten hier alle Buchten Fjorde. Manche führten Namen, einige nicht. Ohne Namen waren sie meist unbe deutend und auch keine Naturwunder ersten Grades. Als sie von der Höhe herunterkamen, lag der ins Landesinnere ragende Meeresarm schwarz vor ihnen. Kein Licht war zu sehen. Nur das Wasser schimmerte unter dem Viertelmond. „Die Ufer sind unbewohnt", sagte der Norweger. „Wir haben ja genug und vor allem schönere Fjorde." Urban glaubte, einen Anleger zu sehen, Kräne und die Dächer von Fabrikhallen. „Früher", erklärte Sörgensen, „wurde hier mal Kalkstein gebrochen, gemahlen, gebrannt und ver schifft." „Und ganz früher?" „Versteckte die deutsche Kriegsmarine hier ihre U-Boote vor den Luftangriffen der Alliierten." „Und heute?" „Heute ist das ein Teil vom Arsch der Welt." 25
Olaf wandte sich an seinen Fahrer: „Licht aus, Sie Dussel!" Der Fahrer betätigte den Kippschalter und trat gleichzeitig auf die Bremse. Er rollte nur mit Radfahrertempo, denn die Straße war schmal und kurvig. Auf der Westseite ging es senkrecht hinun ter. Abgesehen davon, daß er seine Insassen heil ans Ziel bringen wollte, hatte er wohl auch keine Lust, hundert Meter in die Tiefe abzustürzen. Wie viele Serpentinen noch vor ihnen lagen, wußte Urban nicht. Jedenfalls befahl Sörgensen seinem Fahrer, in ein Gehölz abzubiegen und anzuhalten. Sie stiegen aus und hatten einen Panoramablick über den Fjord und den Kalkwerk-Anleger. Der Norweger reichte Urban ein Marine-Nacht glas, während er die Gegend mit dem monokularen Nachtsichtgerät absuchte. „Drei Wagen", zählte er. „Und ein Schiff." „Aber verdammt kein Kohlendampfer." „Eher eine Yacht." „Kannst du den Namen lesen, Dynamit?" „Nein. Aber sie führt die britische Flagge." Ob die Leute aus den Limousinen an Bord gegangen waren, ließ sich nicht erkennen. - Plötz lich vernahmen sie ein Motorgeräusch. Von der Straße nach Drammen her kam ein weiteres Fahrzeug. Es bewegte sich im kleinen Gang die steile Strecke herunter. Die Scheinwerfer schwenkten in den Kurven weit hinaus, aber ihr Volvo stand gut gedeckt hinter dichtem Haselnuß gestrüpp. Der Wagen fuhr weiter, rollte wenige Minuten 26
später unten am Anleger entlang und hielt hinter den Limousinen der NATO-Offiziere. Sörgensen hatte schon die Leica auf den Bajo nettverschluß des Nachtsichtgerätes geklemmt. „Ein bolzengerader Typ", sprach Urban sein Ziel an. „Zivil?" „Dem Mantel nach zu urteilen, hinkt er der Mode ziemlich hinterher." Es regnete noch. Der Major sorgte sich, das die Nässe seine Linsen unscharf machen könnte. „Und wie er den Hut trägt", fuhr Urban fort. „Wie trägt er den Hut?" „Schräg nach hinten, sozusagen stirnfrei, wie Russen ihre Uniformmützen." „Russen? Du bist ja wohl nicht ganz . . . " Der Kameramotor arbeitete. Surrend zog er den Film durch. Der Verschluß klickte. Der Norweger machte gut ein Dutzend Fotos. „Hochempfindlicher Nachtfilm plus Restlicht verstärker", sagte er. „Eines von zehn Bildern wird wohl was werden, oder?" Der Mann aus der letzten Limousine eilte an Bord der Yacht. Dort ging nicht eine einzige Lampe an. Sie hatten sie kriegsmäßig abgedunkelt. „Verstehst du das?" fragte Olaf. „Nicht, wenn es ein Russe ist, der sich mit unseren Generälen trifft", antwortete Urban. Sie überlegten, ob sie warten sollten oder ob sie schon genug im Kasten hatten. Urban, der sich nicht gern hinters Licht führen ließ, äußerte, daß er die Sache näher beäugen wolle. Er verschwand und kam nach gut einer Stunde wieder. 27
„Keine Chance", berichtete er. „Posten?" „Die Yacht hat abgelegt und treibt fünfzig Meter vom Ufer entfernt im Fjord." „Verdammt vorsichtig, diese Halunken." „Aber im letzten Wagen liegt die Prawda. Aus gabe von gestern." „Also doch ein Russe." „Vielleicht ein Sonderauftrag der obersten NATO-Führung", höhnte Urban. Der Norweger winkte ab. „Davon müßte uns in Andeutungen etwas bekannt sein." „Vielleicht pokern sie eine Runde", meinte Urban scherzhaft. Sie hatten eigentlich genug. Die Fotos, die Kenn zeichen der Limousinen, die Yacht, den Ort, Datum, Uhrzeit, das sollte genügen. Sie fuhren nach Oslo zurück. „Was läuft da?" fragte Sörgensen. „Da läuft doch was." „Eigentlich läuft immer was", sagte Urban. „Aber es läuft an uns vorbei, Mann." „Donway, Brackwater, Tibetty, alles loyale Leute. Was soll da laufen." Der Norweger gestand, daß er in dieser Bezie hung ein gebranntes Kind sei. Seitdem er im Gymnasium die Geschichte von Cäsars Ermordung durch Brutus und Cassius aus dem Lateinischen übersetzt habe, glaube er nichts und keinem, aber auch rein gar nichts mehr. „Machst du mit, Dynamit?" fragte er. „Ob ich mitmache", wich Urban aus, „wissen nur mein Gewissen, mein Boß und der Hebe Gott. 28
Und mit denen habe ich noch nicht darüber gesprochen." „Dann frag sie", drängte der Norweger. „Und beeil dich."
In den Tagen bis die NATO-Konferenz zu Ende ging, fühlte Urban vorsichtig bei den Kollegen anderer Dienste vor. Er fragte nur Männer, die er kannte und denen er vertraute. Sie hatten nichts bemerkt, nichts gesehen und absolut keine Ahnung. Sie verstanden gar nicht, worauf Urban anspielte. Die Fotos, die Major Olaf Sörgensen vom nor wegischen Geheimdienst geschossen hatte, waren nicht sonderlich scharf. Kein Wunder bei der Entfernung und den herrschenden Lichtverhältnis sen. Er behauptete aber steif und fest, er kenne den Mann aus der letzten Limousine. Er sei ein Russe. General Mikojan. Nach seinen Informationen han dele es sich um einen der ganz konservativen Männer der russischen Armeeführung. „Schick mir die Fotos nach München", bat Urban ihn. Eine Woche nach der Oslo-Tagung hatte Urban die Sache am Fjord fast schon vergessen. Da erreichte ihn ein Anruf aus Norwegen. „Major Sörgensen", übermittelte jemand, „hat mir hinterlassen, daß ich die Fjord-Fotos und alle anderen Unterlagen an Sie sende, Colonel Urban." „Was heißt hinterlassen?" fragte Urban. „Wo ist Olaf Sörgensen?" „Auf dem Friedhof", bekam Urban als Antwort. 29
„Wir haben ihn vor zwei Tagen zu Grabe getragen. Ein Unfall beim Segeln. Er kam wohl in schlechtes Wetter." „Ist er abgesoffen?" „Nein, der Großsegelbaum erschlug ihn beim Halsen." „War er ein so ungeübter Segler?" „Er wurde vor vier Jahren skandinavischer Mei ster im Star-Boot", erfuhr Urban. „Und wo passierte es?" fragte er geschockt. „Irgendwo an der Südküste in einem Seitenfjord des Oslofjords." „Wurde dort früher mal Kalkmehl verladen?" „Richtig. Warum fragen Sie, Colonel?" „Nur so", antwortete Urban. Er nahm an, daß der Norweger, der ihn angeru fen hatte, der Mann mit den verschraubten Gelen ken war. Seine Stimme klang so, wie er sich bewegte.
3.
Seit Tagen gingen die Londoner nur unter aufge spannten Regenschirmen. Es sei denn, sie fuhren in Autos, Taxis oder mit der U-Bahn. Chiefsuperintendent Billham Grey gehörte zu den wenigen, denen es nichts ausmachte, die paar Schritte vom Portal des Scotland-Yard bis zu seinem Dienstwagen ohne Schirm, Mantel und Hut zurückzulegen. „Zu den Docks!" rief er dem Fahrer zu. Sie nahmen den längeren Weg. Aber am Viktoria 30
Embankment hinunter und bei St. Paul über die London Bridge gab es um diese Zeit weniger Staus. Es regnete jetzt eher noch heftiger, und der Abend sank herein. „West- oder Ostdocks, Sir?" wollte der Fahrer wissen. „Nehmen Sie die Tooley-Street. Ich sag's Ihnen dann schon." Beide waren geborene Londoner. Aber der Chief superintendent war alter und hatte, als er noch Streife gegangen war - das lag ein halbes Leben zurück —, jeden Meter dieser Hafenecke unter seinen Schuhsohlen ausgemessen. Bei den rostbraunen Toren zwischen den back steinroten Mauern, wo früher der Zollhafen, begon nen hatte, ließ er den Jaguar abbiegen. Das Pfla ster war zum Teil abgesackt. Die schwere Limou sine wiegte sanft über die Bodenwellen und glitt zwischen den leeren Lagerhallen ohne Fenster und den Krangerippen durch. „Anhalten!" rief Grey. „Bei dem Auto dort, Sir?" „Ja, bei dem Mercedes." Der andere war offenbar schon da. Erstaunlich pünktlich für einen Italiener. Aber er ahnte wohl, um was es ging. Wissen konnte er es zwar nicht, aber er mußte einiges befürchten. Und Furcht trieb zu Pünktlichkeit an. - Vorausgesetzt, dieser Bursche kannte überhaupt so etwas wie Furcht. Zu sehen war er nicht. Der Chef der Abteilung zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens bei Scotland Yard ver ließ seinen Dienstwagen. 31
„Sie warten." „Irgendwelche Wünsche, Superintendent?" „Falls der Mercedes wegfahren sollte, und ich bin noch nicht zurück, dann lassen Sie über Funk die Docks sperren." „Oder soll ich ihn stoppen, Sir?" Das dürfte dir kaum gelingen, dachte der hohe Kriminalbeamte. „Nein, nur die Docks sperren lassen. Notfalls Verfolgung des Fahrzeugs aufnehmen. Das wäre alles." „Wird erledigt, Sir." Hoffentlich, dachte Billham Grey, ist es nicht notwendig.
Auf den wenigen Metern vom Jaguar in die leere Lagerhalle hatte der Regen ihn ganz schön er wischt. Grey steckte sich eine Zigarette an und schritt langsam quer hindurch, wobei er auf den Dreck und die Pfützen achtete. Aus einem Abfallhaufen wieselten dunkle Knäuel. Ratten suchten pfeifend das Weite. Aber, zum Teufel, wo steckte der Bursche, den er treffen wollte? — Es war dunkel, aber nicht so, daß ein Mann darin eintauchen konnte. Grey hatte noch scharfe Augen. „Hallo, Sir!" Grey fuhr herum. Hinter ihm war niemand. Vor ihm auch keiner. Wo dann? In einer Nische bewegte sich etwas. Ein heller Fleck, eine Hand. 32
„Sind Sie es, Don . . .?" „Keinen Namen, bitte." Der Mann löste sich aus der engen Nische. Er trug einen dunkelblauen Trenchcoat, den Gürtel eng geknotet. Dazu einen in Blau gehaltenen kleingemusterten Sporthut, eine graue Hose und schwarze Slipper. Das Hemd wurde von einem weißseidenen Schal verdeckt. Die Züge des Gesichts des Mannes wirkten wie mit einem Pickel aus Stangeneis gehämmert und waren jetzt deutlich zu erkennen. Grey verglich sie mit einem Foto. Offenbar zufrieden steckte er es wieder ein. „Danke, daß Sie gekommen sind", sagte der Beamte. „Es war reine Erpressung", äußerte der Italiener in nahezu akzentfreiem Englisch. Daß er es auf diese Weise beherrschte, war wohl Voraussetzung für eine internationale Tätigkeit. „Zu unser aller Besten", bemerkte der Beamte vom Yard. „Sie konnten mich auch verhaften lassen, oder?" „Sie wären uns wieder entschlüpft, Signore. Selbst, wenn wir Sie irgendwo aufgegriffen hätten. Was ist einem Mann wie Ihnen schon nachzuwei sen? Die besten Anwälte des vereinigten König reichs hätten unsere Beweise zertrümmert." „Beweise?" Der Italiener verbesserte Grey. „Ver mutungen, meinen Sie." Der Polizeibeamte wollte nicht diskutieren, son dern verhandeln. Also wurde er deutlicher. „Sie haben Fermi getötet", stellte er fest. „Man behauptet auch, ich hätte das Attentat auf den Papst verübt und das auf Indira Gandhi. In 33
allen Fällen habe ich ein Alibi und hielt mich tausend Meilen vom Tatort entfernt auf." „Alibis kann man kaufen", wandte Grey ein. Der etwa fünfunddreißigjährige Italiener lachte kehlig. „Das habe ich nicht nötig." „Richtig", korrigierte der Beamte sich. „Einem Mann wie Ihnen werden die Alibis angetragen. Um dem Rächer der Mafia zu gefallen, schwört jeder jeden Meineid." „Sagten Sie Mafia, Sir?" klang es erstaunt zu rück. „Oder Cosa Nostra, Camorra oder ehrenwerte Gesellschaft", ergänzte der Chiefsuperintendent. Er holte den letzten Zug aus seiner Zigarette und trat sie in den Betonstaub am Boden. „Sir", erklärte der Italiener nun. „Sie sprechen dieses Wort nie wieder aus, und ich verzichte darauf, Sie einen Bullen zu nennen. Va bene?" „Okay", räumte Grey ein. „Wir suchen Ihre Mitarbeit, Signore, wir brauchen Sie." „Wofür?" fragte der Italiener. „Für etwas, das Sie aus dem Effeff beherrschen." „Und das wäre?" Der Beamte ging, um die Distanz zu verkürzen, einige Schritte auf ihn zu. Nun konnte er leise sprechen. Niemand durfte hören, was sie sich zu sagen hatten. „Es gibt", setzte Grey an, „einen Mann zuviel auf dieser Erde." Der Mafioso hob die Brauen. „Sie verlangen, daß ich ihn tote?" „Ist das so ungewöhnlich?" „Sie halten mich also für einen Killer." 34
Billham Grey wußte, wie man mit Leuten wie diesem Italiener umging. Sie mochten Maßkleidung tragen und den teuersten Mercedes fahren, sie waren und blieben Verbrecher. „No, no, Signore", erwiderte er. „Nicht für einen Killer, sondern für den Killer schlechthin. Sie sind der gerissenste, raffinierteste, erfahrenste und bru talste aller Killer, die es derzeit gibt. Und es liegt im Aufgabenbereich des Scotland Yard, dies zu wissen." Auch das gehörte zu jenen Dingen, die der Italiener ebenso ungern hörte, wie als Mitglied der Mafia bezeichnet zu werden. Er preßte die Lippen aufeinander, machte eine sichtbare Schluckbewe gung und stieß die Hände in die Taschen. „Das ist eine bösartige Unterstellung, Sir", ent gegnete er scharf. „Wir haben uns nichts mehr zu sagen. Good bye." Er drehte sich um und ging weg. Was jetzt, überlegte Grey. Er hatte einen Fehler gemacht, er hatte zu deutlich gezeigt, wie er diesen Gangster haßte und welchen Ekel dieser Auftrag, den er übernommen hatte, in ihm erregte. Noch ein paar Schritte, und der Mafioso war außer Rufweite. Also rief er: „Hören Sie sich zumindest an, was wir zu bieten haben. Sie sind doch ein kluger Mann." Der Italiener ging weiter, aber mit einemmal langsamer. Dann blieb er stehen und wartete. Der Regen tropfte auf das Wellblechdach.
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„Ich höre", zischte der Mafioso. „Wir verlangen nie etwas ohne entsprechende Gegenleistung", bot Grey an. „Fassen Sie sich kurz, Intendent." Das versuchte nun der Beamte unter Vermeidung aller Begriffe, die den Mafioso offenbar belei digten. „Ihre Organisation", begann er, „Ihre Familie, ist weltweit mit dem Handel von Produkten befaßt, die auch im letzten aller zivilisierten Länder als verboten gelten." Er meinte den Rauschgifthandel, hütete sich aber, es beim Namen zu nennen. Der Italiener akzeptierte offenbar diese Um schreibung. „Und weiter, bitte?" „Die Geschäfte Ihrer Familie erstrecken sich außer auf England auch auf Kanada und andere Länder, auf die wir einen erheblichen Einfluß ausüben. Wir bieten Ihnen nun an, unsere Aktivi täten zur Bekämpfung Ihrer Geschäfte für eine gewisse Zeit ruhen zu lassen, wenn Sie uns zu Diensten sind." Plötzlich und unerwartet wurde der Italiener interessiert. „Sie behindern nicht mehr unsere Transporte von Kokain, Opium und Heroin, von Haschisch und Marihuana sowie deren Verarbeitung und Verteilung, wenn wir etwas dagegen bieten ..." „Sagen wir, Waffenstillstand für ein halbes Jahr." „Wofür?" Grey brachte nun die letzte Karte ins Spiel. „Sie töten einen Mann, den wir Ihnen nennen, in 36
einem Land, das wir Ihnen bezeichnen. Dafür geben wir uns ein halbes Jahr mit jenen Mengen an Rauschgift zufrieden, die Sie uns ohnehin in die Hände spielen." „Und danach?" „Wieder Kampf mit blanken Messern", sagte Grey. „Aber es läßt Ihnen Zeit, sich umzuorgani sieren, sich möglicherweise ohne große Verluste aus dem Geschäft zurückzuziehen oder was auch immer." „Ich soll also nur einen Mann töten?" „Nichts als dies." Der Mafioso streckte die Hand aus und schien Grey mit dem Zeigefinger durchbohren zu wollen. „Und warum übermittelt mir das nicht einer Ihrer Kameraden vom Geheimdienst oder von der Armee?" „Das ist aus bestimmten Gründen leider unmög lich." „Sie meinen, es darf nicht ans Licht kommen." „Zu viele Personen müßten ins Vertrauen gezo gen werden. So sind es nur einige wenige." „Sie, Chiefsuperintendent, ich und wer noch?" „Nicht mehr als sechs insgesamt." „Wo? Was für Leute? Politiker, Generäle, Wirt schaftsbosse, Wissenschaftler . . .?" Nun war es der Beamte, der den Italiener in seine Schranken verwies. „Nennen wir sie meine Freunde. Hier sind meine Freunde, dort sind Ihre Freunde." Der Italiener schüttelte zweifelnd den Kopf. „Was steckt dahinter, Sir. wenn Sie so viel dafür bezahlen?" 37
„Plus hunderttausend Dollar für Sie, Amico mio." Offenbar schien er den Italiener damit zu belei digen. „Ich nehme keine Trinkgelder." „Für Ihre Unkosten." „Ein Gewehr, eine Bombe, eine Sprengkapsel, was kostet das schon." „Sie kennen die Einzelheiten noch nicht, Signore. Es dürfte sich um einen der schwierigsten Kontrakte handeln, den Sie je übernahmen." „Ist der Mann so berühmt?" „Noch kennt ihn kaum einer." „Ist die Reise zu ihm etwa so teuer? Sitzt er auf dem Mond?" „Nun, er lebt, wie man so sagt, hinter den sieben Meeren." „Sie machen mich neugierig, Sir. Wann erhalte ich Einzelheiten, um mich entscheiden zu können?" Der Yardbeamte winkte ab. „Sie erfahren die Einzelheiten, wenn Sie sich entschieden haben." „Das ist er wieder, dieser arrogante erpresseri sche Ton, mit dem Sie mich auch zu diesem Gespräch zwangen." „Quatsch", entfuhr es Billham Grey. „Wir sind Profis und keine höheren Töchter." „Schmutzarbeit", tat der Mafioso den Vorschlag ab. „Ob nach dem Gesetz oder gegen das Gesetz", erklärte Grey. „Jede Arbeit an sich ist schmutzig, da mögen Sie recht haben. Also entscheiden Sie sich."
„Ich muß nachdenken", bat der Mafioso um Aufschub. „Tun Sie es bitte rasch." „Ich bin nicht allein. Noch andere Leute müssen darüber nachdenken." Grey wußte, daß es jetzt in der Organisation des Killers ebenso zu ernsten Debatten, Analysen und Diskussionen kommen würde, wie vorher zwischen seinen Freunden. Aber bekanntlich siegte meist die Vernunft. „Vierundzwanzig Stunden", schlug Grey vor.
„Eine Woche", forderte der Mafia-Killer.
„Drei Tage", gewährte der Yardbeamte, „oder
wir verhandeln anderweitig." „Sie hören von mir, Sir." Der Mafioso ging grußlos. Der Chiefsuperintendent blickte ihm nach. Ein kräftiger, stämmiger Bursche mit sicherem Schritt gebaut, wie eine Salami auf Beinen.
Von seinem Büro im Yard rief Superintendent Grey beim Verteidigungsministerium an. Er wollte Brigadier Donway sprechen. Der Brigadier, hieß es, sei unterwegs zu den Manövern der britischen Rheinarmee in Germany. Am späten Abend rief Donway zurück.
„Was gibt es, Billham?" fragte er den Superin tendent. „Ich habe wenig Zeit. Meine Maschine wartet schon mit laufenden Motoren." „Nur einen Zwischenbericht, Brigadier. Ich glaube, ich habe ihn." „Diesen Spaghetti?" 39
„Ja, Syracusa. Noch ziert er sich, aber der Freibrief für seine Familie dürfte ihm wohl eine Menge wert sein." „Wann ist es endgültig?" „Betrachten Sie das Problem als gelöst. Syracusa ist ein unangenehmer Bursche, aber er wird gar nicht anders können, als mitmachen." „Danke, Superintendent", sagte der Brigadier. „Das bringt uns viele Schritte weiter, um nicht zu sagen, es wälzt den größten Stein aus unserem Weg." „Ich war Ihnen einen Dienst schuldig, Briga dier." „Gar nichts waren Sie mir schuldig. Sie sind ein Patriot. Aber Sie stehen nicht in meiner Schuld." „Wir verdanken Ihnen das Leben unseres Soh nes", erwähnte der Polizeimanager, „indem er diesen blödsinnigen Falkland-Krieg nicht mitma chen mußte." „Wie geht es Billham junior?" „Nun, er ist Wing-Captain einer TornadoStaffel." „Tüchtiger Offizier. Zu schade zum Verheizen. Wir werden weiter ein Auge auf ihn haben. Well, nun Schluß, Billham. Melde mich, wenn ich aus dem Ruhrgebiet zurück bin." Man hörte das Aufheulen von Propellermotoren. Es machte klick in der Leitung. Das Gespräch war beendet. Der Superintendent trat ans Fenster seines Büros und blickte über die Themse. Freunde muß man haben, dachte er, Freunde sind wichtig. Ebenso wie Feinde. Aber es müssen die richtigen Freunde und Feinde sein. 40
4.
Sie waren schon zwei Wochen unterwegs. Nur der Energie des Chefreporters war es zuzuschreiben, daß das deutsche Fernsehteam nicht längst aufge geben hatte. Und Frank Wieland schöpfte seine Energie aus dem Wunsch, die sensationellste Reportage der letzten zehn Jahre zu liefern. Sein Ruf hatte in letzter Zeit schwer gelitten. Frauen und Alkohol trugen Schuld daran. Das wollte er mit dieser Expedition ändern. Die Welt sollte wieder wissen, wer Frank Wieland war. Er hatte sich die besten Leute besorgt. Kamera mann, Tontechniker, die Assistenten, alles sportli che Typen. Die ganze Unternehmung war professionell organisiert. Sie waren nach Faisabad in Nordin dien geflogen, hatten die Ausrüstung auf zwei Mercedes Geländewagen umgepackt, waren am Gandock entlang immer auf die Berge zugefahren. Als das Dunwo-Gebirge auftauchte und dahinter die weißen Gipfel des Himalaja, da wußten sie, daß sie der Grenze nahe waren. Sie reisten mit Sondergenehmigung in Nepal ein, verließen dort aber ihre vorgeschriebene Route in Richtung Tibet. Nur der Scout, ein einäugiger Mongole, kannte ihre wahren Absichten. Ganz schlau wurde Wie land aus ihm nicht. Möglicherweise war er chinesi scher Spion. Aber sie hatten ihn gut bezahlt, und er führte sie zielstrebig durch immer wildere Täler zum Hochland. Dabei erlitten sie einige Verluste. Auf einer Brücke, die nicht mehr hielt, verloren sie einen 41
Geländewagen. Ein Sherpa kam durch Steinschlag um. Und eines morgens fanden sie den Posten, der das Lager bewachen sollte, tot. Mit Kopfschuß. Sie begruben auch ihn, Doch weder durch Regen, Schnee, Hitze noch Kälte ließ Wieland sich entmutigen. Nach dreizehn Tagen erreichten sie auf nahezu dreitausend Meter Höhe ein einsames Hochtal. Eine Herde Yaks weidete um ein paar Jurten, den Zelten der Nomaden. Dort fanden sie tatsächlich einen, der den Heili gen kannte. Er beschrieb ihnen den Weg. Zwei Tage später fanden sie ihn in einem Zelt. Er hatte sie erwartet. Obwohl es weder Telefon noch Funk gab, wußte er, daß sie kamen. Sie bauten die Kameras auf, richteten das Licht ein, brachten Mikrofon und Tonbandgerät in Posi tion. „Macht schnell!" trieb Wieland seine Mitarbeiter an. „Jeden Augenblick können chinesische Patrouillen auftauchen. Oder er erhebt sich und geht einfach weg." „Was, zum Teufel, bildet er sich ein? Wer ist er schon?" maulte der Kameramann. Wieder einmal erklärte der Teamchef es ihnen. „Er ist der Mann des Jahrtausends. Ich würde sogar dafür sterben, dieses Interview mit ihm zu kriegen."
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Er saß vor ihnen, nackt, bis auf einen Lenden schurz, und das, obwohl Reif auf dem Zelt lag. Die Halogenlampen strahlten. Die Enge im Zelt war unvorstellbar. Das Team bestand aus fünf Personen. Dazu kam der heilige Mann auf seiner Matte. „Kamera ab! Ton ab!" befahl Wieland. „Kamera und Ton laufen." Wieland faßte sich ein Herz und begann auf englisch: „Sind Sie ein Gott?" fragte er forsch. Der Mann mit den glänzenden Bernsteinaugen im hageren Bauerngesicht wirkte so unbeweglich wie eine Wachsfigur seiner selbst. Nur das weiße Kopfhaar und die Strähnen seines weißen Bartes bewegten sich flimmernd. „Was ist ein Gott?" Seine Stimme war klar, freundlich und hell wie eine Glocke mit Nach klang. „Sie sind nackt", fuhr Wieland fort, „bei fünf Grad minus im Zelt." „Ich friere nie, und ich schwitze nie." „Und Sie altern offenbar auch nicht", machte Wieland weiter. „Vor vierzig Jahren gelang es einer Filmexpedition, Sie zu finden und zu sprechen. Wie alt waren Sie damals?" Es dauerte selten länger als eine Sekunde, bis der Mann antwortete. „So alt wie heute. Übrigens sind Sie schon das dritte Team, Mister Wieland, das zu mir findet. Im Jahre 1934, also vor dem großen Krieg, besuchte mich ein Gentleman der Fox-tönende-Wochen schau." Wieland ließ nicht locker. 43
„Und wie alt waren Sie damals, Sir?" „Zweihundert Jahre, dreihundert", sagte der nackte weißhaarige Mann. „Zeit, was ist das?" Die Männer an Kamera und Tongerät blinzelten sich zu. „Verscheißert der uns?" murmelte der Assistent. Offenbar hatte der Heilige Ohren wie ein Luchs. „Ich verscheißere Sie durchaus nicht, meine Herren", sagte der Heilige auf deutsch. „Sie dürfen übrigens in Ihrer Muttersprache mit mir reden, auch auf französisch, spanisch, dänisch, norwe gisch oder Suaheli. Ich nehme aber an, Sie bevor zugen Ihren Heimatdialekt." Er sprach das reinste Hannoveraner-Deutsch, das Wieland je gehört hatte. „Wie viele Sprachen sprechen Sie, Sir?" stieß er sofort nach. „Alle aus dieser und jener Welt." Der Heilige schien sich nun für die Technik zu interessieren, für die Arriflex-Kamera, die zweite Videokamera, das Tonbandgerät, die HalogenLampen. „Die Mitchell-Kamera ist die beste", sagte er, „aber wohl zu schwer für Reisende. Machen wir weiter, Gentlemen. Ich bin zum Tee in Afrika verabredet. Übrigens, dieser Sony Camcorder, arbeitet er schon mit Video-acht?" Der Kameramann nickte nur, denn es hatte ihm die Sprache verschlagen. „Woher kennen Sie diese Dinge?" fragte Wie land. „Es gibt nichts, was ich nicht weiß", antwortete der heilige Mann. „Fragen Sie mich. Los, fragen Sie, was immer Sie wollen." 44
Sie schauten sich um. Es gab nicht ein einziges Buch hier oben, keine Zeitschrift, kein Radio, nichts. Und es war ihnen nicht bekannt, daß dieser Mann je eine Schule besucht oder studiert hätte. „Dieser und jener Welt", nahm Wieland den Faden wieder auf. „Was ist jene Welt, Sir?" Der Guru deutete nach oben. „Die da." „Und wie ist es dort?" „Ein wenig anders, mein Freund." Wieland griff nach seinem Konzept und fing wieder bei Punkt eins an. „Sind Sie ein Gott?" „Man nennt mich zwar Hamedus, aber nicht ich gab mir den Namen. Er entstand irgendwann im Mittelalter. Es handelt sich wohl um die Endsilben von Mohammed, Buddha und Jesus, Ein Kunstwort also. Es gereicht mir zur Ehre, daß man mich für eine Inkarnation dieser drei Propheten hält, es trifft aber nicht das, was ich in Wahrheit bin." „Und was sind Sie, wenn nicht Hamedus?" wollte Wieland wissen. „Ich verbreite meine Lehre nicht durch fürchter liche Kriege. Im Gegenteil, ich möchte Kriege verhindern. Für ewig und immerdar." Auch so ein Spinner, dachte Wieland vorschnell. „Nein, ich bin kein Spinner, Mister Wieland, wie Sie mich soeben einzuschätzen glaubten", sagte Hamedus ernst. „Können Sie Gedanken lesen, Hamedus?" „Ich lese sie nicht, ich kenne sie." „Auch Vergangenheit und Zukunft?"
„Alles ist. Was war, ist, und was sein wird, ist wahrscheinlich auch schon." 45
Wieland schielte auf sein Konzept. „Wenn Sie eine Lehre haben, wie verbreiten Sie diese?" „Gar nicht. Sie verbreitet sich von selbst." „Und Sie glauben daran?" „Ja, solange ich bin, solange ich existiere, wird sie sich ausbreiten wie die Pest, wie das Feuer, wie der Wind, wie die Kälte des Winters und die Hitze des Sommers." „Und wenn Sie nicht mehr sind, Sir? Haben Sie Jünger?" „Nicht einen." „Warum nicht? Beabsichtigen Sie, allein alles Wissen für sich zu behalten?" „Und die Macht", ergänzte der Heilige. - Es klang trotzdem ungeheuer bescheiden. Zu diesem Punkt wollte Wieland erst später kommen. „Zunächst die Vergangenheit, Hamedus. Sie sag ten den großen Krieg voraus." „Auch die Atombombe." „Den Koreakrieg und Vietnam." „Ich sah Johanna von Orleans auf dem Scheiter haufen verglühen, ich sah Kennedy sterben zu einer Zeit, als er noch lebte, ebenso Martin Luther King. Ich weiß, daß der neue Mann im Kreml ähnlich zugrunde gehen wird wie der Präsident der Vereinigten Staaten." „Sie prophezeiten schon vor vierzig Jahren eine Weltkatastrophe. Sie traf nicht ein." Nun lächelte der heilige Mann zum ersten Mal. „Sie ist schon eingetreten", erklärte er. „Sie wissen es alle, sie nehmen es nur nicht zur Kenntnis. Die Tatsache, daß sie noch atmen kön 46
nen, sich ernähren, daß ihre primitiven körperli chen Funktionen noch vorhanden sind, verwirrt sie. Doch die Welt geht bereits unter." Es herrschte atemlose Stille, bis Wieland wieder zu vernehmen war. „Ist die Welt zu retten?" „Ja, sie ist zu retten", verkündete der Heilige, „aber nicht von den Menschen." „Von außerirdischen Wesen?" „Vom Übermenschen." „Sind Sie der Übermensch, Hamedus?" „Ich bin nur Hamedus. — Ich bin das Ende, nicht der Anfang." Der Heilige tastete nach einem Tuch. Wieland hatte die Berichte der Filmexpedition von 1948 studiert und wußte, wie der Alte seine Besucher zu verabschieden pflegte. Er legte sich ein Tuch übers Haupt und erstarrte in Trance. Deshalb versuchte Wieland, noch schnell seine wichtigsten Fragen loszuwerden. „Die Formel der Schwerkraft, wird sie je gefun den werden, Hamedus?" „Nein." „Kennen Sie sie, Hamedus?" „Ja." „Besitzen Sie eine Waffe, um die Menschheit zu zwingen, Ihre Lehre anzunehmen?" „Ich zwinge keinen", sagte er, „aber die Waffe besitze ich." „Was für eine Waffe?" „Nuklearsprengstoff", murmelte der Heilige, „ist dagegen wie ein Drachen gegen ein Düsenflug zeug." 47
„Ist es die letzte, die äußerste, die finalste aller Waffen?" Der Mann nickte.
„Was für eine Waffe, Hamedus?" Nun hob der Heilige die Hand und erklärte feierlich: „Meine Herren . . . " Er blickte sie an und nannte jeden einzelnen beim Namen. „Stellen Sie diese Frage nicht. Denn wenn Sie es tun, kommen Sie nie wieder nach Hause." „Wir sind bewaffnet", erklärte Wieland, „und werden von der Armee geschützt." „Die Frage oder den Tod", warnte sie der Heilige. Wieland blickte seine Männer an. Das war der Punkt, wo ein TV-Team in die Geschichte des Journalismus eingehen konnte. Sie nickten ihrem Chef aufmunternd zu. Sie waren aufgeklärt und glaubten nicht an Drohun gen dieser Art. Im Grunde hielten sie diesen Mann immer noch für einen falschen Propheten, für einen Spieler, Scharlatan, Zauberer, Blender, einen genialen Trickkünstler. „Sir", begann Frank Wieland. „Was ist das für eine Waffe?" Sie erhielten die Antwort, aber sie verstanden sie nicht, weder die Sprache noch die Formeln. Offen bar war es Mathematik und Physik von höchster Stufe. Aber sie hatten es auf Band. Vielleicht gelang es den Experten in München, Washington, London oder Tokio, sie zu analysieren. Kaum hatte Hamedus geendet, nahm er das weiße Tuch und bedeckte das Haupt damit. Seine Haut schien die Konsistenz von Gips anzunehmen. 48
„Verlaßt mein Zelt", flüsterte er noch. „An euch haftet der Geruch des Todes." Plötzlich überkam die Männer des deutschen TV-Teams ein Schauer, als berühre sie der Flügel schlag des Todesengels. In Eile bauten sie ihre Geräte ab, verstauten alles im Geländewagen. Es wurde dunkel, die Nacht kam, die Sterne blinkten am hohen, klaren Himmel. „Wird kalt. Jetzt schon zehn Grad minus", sagte der Kameramann. „Wo ist der Scout?" Sie suchten ihn, aber sie fanden ihn nicht. „Verflucht, der hat sich abgesetzt." „Es geht auch ohne ihn." Sie fuhren los. Über die weite Hochebene ging es auf den Paß zu. „Wir haben es im Kasten", frohlockte Wieland immer wieder. „Wir haben es." „Und nur noch tausend Kilometer bis Delhi", rechnete der Kameraassistent, der gerade den Wagen fuhr.
Zehn Tage später stieß ein Trupp der indischen Gebirgsarmee auf das deutsche TV-Team, nachdem ein Suchhubschrauber in einem wilden Flußtal, hundert Meilen von der Route entfernt, Spuren von ihm entdeckt hatte. Das Fahrzeug der Filmexpedition, ein weißer Mercedes G war, wie man befürchtete, in einer engen Kurve von der Straße abgekommen und senkrecht in die Tiefe gestürzt. Selbst ein so 49
stabiler Geländewagen hielt hundert Meter freien Fall nicht aus. Die indischen Soldaten seilten sich in die Schlucht ab und fanden fünf männliche Leichen. Die Toten waren zu Eisklumpen gefroren und wiesen Einschüsse auf, vorwiegend in den Ober körpern und Kopfpartien. „Von Maschinenpistolen", sagte der indische Truppführer. „Und der Wagen hat gebrannt." „Dann war es kein Unfall", stellte sein Sergeant fest, „da wurde nachgeholfen." „Man hat ihnen aufgelauert." „So weit von der Route entfernt?" zweifelte der Sergeant. „Man lockte sie wohl in die Irre, und hier schlug man zu." „Aber wer?" Sie untersuchten die Toten, dann den Wagen. Wie sich herausstellte, stammten die tödlichen Kugeln aus modernen Mac-10-Maschinenpistolen, wie sie von Straßenräubern im Himalaja nicht verwendet wurden. Die Vorderachse des Gelände wagens war auf eine Weise herausgerissen, wie es nur eine Panzermine schweren Kalibers zuwege brachte. „Hat man sie beraubt?" fragte der Offizier. „Ist etwas dergleichen festzustellen?" „Nein, sie haben alles bei sich. Pässe, Permits, Geld. Nur ein Koffer wurde geöffnet." Der Leutnant schaute sich diesen Koffer an. Es handelte sich um einen mit schwarzem Schaum stoff gefütterten Aluminiumbehälter. Der Schaum stoff hatte schmale Fächer, gerade breit genug zur Aufnahme von 16-Millimeter-Filmbüchsen und 50
Videokassetten. Außen am Koffer stand: Filme Belichtetes Material. Der Koffer war leer. „Das einzige, was man ihnen genommen hat", bemerkte der Sergeant. „Und das Leben", ergänzte der Offizier. Über Funk riefen sie einen Transporthubschrau ber, der die Toten und ihre Ausrüstung zur Garni son brachte. Dort würde man weitersehen. Der deutsche Botschafter sollte entscheiden, was mit den Leichen zu geschehen hatte. Ob man sie in die Heimat überführte oder in Indien begrub. Da man von deutscher Seite auf Nachforschun gen bestand, versuchte eine Abteilung der indi schen Armeepolizei, Spuren der Täter zu finden. Wie sich nach mühsamen Ermittlungen heraus stellte, waren sowohl in einer Karawanserei, wo das Team zuletzt Dieselkraftstoff getankt hatte, wie auch bei einem Nomadenstamm, zwei Männer gesehen worden. Der eine wurde als einäugiger Mongole beschrieben, der andere als hochgewach sen, schlank und rotblond. Angeblich hatte er das Aussehen eines britischen Offiziers gehabt und ein wenig an Sir Edmund Hillary, den berühmten Bezwinger des Mount Everest, erinnert. Beide hatten nach dem deutschen TV-Team gefragt und für Informationen mit Goldmünzen bezahlt, der einzigen Währung, die hier oben akzeptiert wurde.
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5.
Während der Professore mit dem Kleinbagger auf Belvedere herumgrub, wertete Rebeca, seine Schwester, das Material aus. Gegen 19.00 Uhr, als die Sonne in Richtung Pisa tiefer sank, beendete Troiano Marzotto seine Arbeit. Mit dem Seicento-Fiat fuhr er über die Arnobrücke und durch den Ostteil von Florenz. Sobald er die Eisenbahntrasse unterquert hatte, wurde der Verkehr ruhiger. Er bog auf die kurvige Via Domenica ab, die in die Berge führte. In Fiesole hatten sie ein kleines Haus gemietet. Vor dem Essen duschte der Professor, zog ein frisches Hemd an und setzte sich dann zu Rebeca unter die Weinlaubpergola. Er goß sich ein Glas Roten ein und musterte sie. „Du wirst jeden Tag schöner, cara mia." „Und älter." Vielleicht lag in dem Wort älter ein gewisses Bedauern darüber, daß sie noch unverheiratet war. „Nein, jünger", beharrte er. „Ich bin kein Naturwunder, sondern eine Frau", sagte sie. Woher kam es, daß sie keinen Mann, nicht einmal einen Liebhaber hatte? - Es lag daran, daß sie gebildet und schön war. Die meisten Männer fühlten sich solchen Frauen einfach nicht ge wachsen. Hinzu kam, daß sie kein Vermögen hatten. Ihre Jobs an der Universität waren mit vierzigtausend Dollar pro Jahr auch nicht gerade überbezahlt. — Und wann hatte Rebeca schon Gelegenheit gehabt, den richtigen Mann zu finden? Ihr Leben hatte 52
immer nur aus Arbeit bestanden. In Palermo, auf der Flucht, dann in den USA. Arbeit, lernen, Arbeit, Studium - der ewige Kampf, besser zu sein als die anderen. Ihm, Troiano, war es genauso ergangen. Viel leicht sogar noch ein wenig schlechter. Er hatte ein nettes jüdisches Mädchen kennengelernt. Doch die Familie hatte die Heirat verhindert. Irgendwann war das Gerücht aufgekommen, Troianos Vater sei Faschist gewesen. Er hatte versucht, es ihnen auszureden. Er war erst zehn Jahre nach der Kapitulation Italiens geboren worden. Es hatte nichts genützt. Sie wollten in Palermo Nachforschungen anstellen. Das hatte er ihnen verboten. Aus gutem Grund. „Was gibt es heute?" fragte er Rebeca. „Pasta, pollo, formaggio." Sie war keine gute Köchin. „Und bei dir?" „Nichts. Nur, daß ich bald durch bin." Sie trug die Vorspeise auf. Melone und dünn gehobelten Parmaschinken. „Vierhundert Jahre lang haben die Italiener danach gesucht und nichts gefunden. Nun kommt einer aus Amerika und glaubt, er sei schlauer als sie", bemerkte Rebeca ironisch. „Nicht schlauer", verbesserte er, „genauer." „Genauer als ein Grabräuber." Zum hundertsten Mal diskutierten sie darüber. Troiano nannte ihr seine Gründe. Sein Hauptargu ment war immer das gleiche. „Das Gold ist nie aufgetaucht." Rebeca lachte. Dabei zeigte sie ihre wundervol len Perlenzähne. 53
„Wenn du es findest, taucht es auch nicht auf. Oder?" „Kommt darauf an." „Auf was?" „Die Ruine vom alten Belvedere ist ein riesiger Schutthaufen und immer wieder durchsucht wor den. Kein Stein liegt noch so wie damals, als das Erdbeben die Festung zerstörte." „Und die Schatztruhe der Medici." Troiano Marzotto aß immer sehr langsam. Und wie er aß, so bedächtig erläuterte er seiner Schwe ster und Mitarbeiterin auch seine Ideen. „Ferdinand Medici ließ, und das ist dokumen tiert, mehrere Millionen Goldgulden — heutiger Wert das Fünffache — in das Tresorgewölbe brin gen, das Buontalenti für ihn gebaut hatte. Nie mand wußte damals davon. Die Dokumente wur den erst später, nach dem Erdbeben, gefunden. Natürlich machte man sich sofort an die Ausgra bung - und fand nichts. Nicht eine Münze." „Angeblich." „Also stimmt irgend etwas nicht", fuhr der Professor fort. „Entweder gab es diesen Tresor raum gar nicht. . . " „Dann versteckte Ferdinand auch sein Vermögen dort nicht." „Oder der Ort stimmt nicht." „Er heißt Belvedere." „Das ist das Problem", bemerkte Troiano Mar zotto nachdenklich. Sie speisten zu Ende. Als es dunkel wurde, steckten sie die Kerzen an. Sie saßen noch lange auf der Terrasse und spra chen über die Arbeit, über das Leben, über ihre 54
Zukunft, von der sie nicht wußten, wie sie weiter gehen würde. Hier in Italien, ihrer Heimat, oder drüben in den USA. Als der Professor seine letzte Zigarette geraucht hatte, fragte er: „Wann fährst du, Rebeca?" „Muß es denn sein?" „Es ist das Wichtigste von allem." „Schön. Wann du willst." „Montag." „Einverstanden", sagte sie. „Erst mit dem Zug nach Genua, dann mit der Fähre nach Palermo und mit dem Rapido zurück." „Nimm das Flugzeug." „Kommst du ohne mich zurecht?" „Die Nachbarin versorgt mich." „Du meinst, ihre Tochter", erwähnte Rebeca. „Sie gefällt dir." Er lachte. „Ein natürliches Kind vom Lande." „Na und?" „Ich bitte dich, Rebeca." „Du brauchst mich", sagte sie scherzhaft, „doch nicht lange um Erlaubnis zu bitten."
Dr. Rebeca Marzotto besuchte in Palermo das Grab ihrer Eltern und erledigte sonst noch einiges. Nach vier Tagen kehrte sie nach Fiesole zurück. Ihr Taxi kam an, als Troiano sein Abendessen unter der Pergola einnahm. Er sah aus, als sei irgend etwas vorgefallen. Rebeca dachte an die Tochter der Nachbarin, hütete sich aber zu fragen. 55
Sie machte sich frisch und setzte sich zu ihrem Bruder. „Wie war es?" fragte er neugierig. „Schwierig. Aber wie erwartet." „Wie sieht das Grab aus?" „Wie ein viereckiges Loch in einer Mauer mit einer Platte davor. Die Buchstaben sind verblaßt. Ich habe sie mit Farbe nachgemalt und die Grab stätte für weitere zehn Jahre bezahlt." „Hat man Fragen gestellt?" „Nein. Es sind alles neue Leute. Mich erkannte keiner." Er wollte wissen, wie es bei den Baracken aussah. „Sie haben sie weggerissen", berichtete Rebeca, „und durch zwei Hochhäuser ersetzt. Sie sind noch häßlicher als die alten Holzhütten." „Und die Bar?" „Die kleine schwarze Marina, die immer so scharf auf dich war", erzählte Rebeca, „ist fett geworden wie ein Plumpudding. Sie ist verheiratet und hat vier Kinder." Er zögerte erst, dann stellte er die entscheidende Frage. „Etwas von Syracusa gehört?" Er vermied es, den Vornamen auszusprechen. Rebeca wußte, wen er meinte. „Der Alte ist gestorben." „Im Bett?" „Leberkrebs." „Das ist ein guter Krebs", bedauerte Troiano. „Schade, ich hätte ihm gewünscht, daß er durch die Hölle muß. Hat Salami den Laden über nommen?" 56
Rebeca hob die Schultern. „Wurde wohl alles neu organisiert. Mehrere Familien haben sich zu einem Clan zusammenge schlossen. Das neue Geschäft erfordert größere Konzentrationen." „Also ist Salami nicht das Oberhaupt." „Nicht der Padre Patrone." „Was dann?" Sie nahm einen Schluck Wein, zerbröselte Weiß brot und formte aus dem Teig eine Kugel. „Offenbar der Esecutore." „Der Vollstrecker", stellte Troiano fest. „Kein Wunder." „Mafia-Gruppen dieser Größe brauchen Spezia listen. Für den Einkauf, die Vermarktung, die Finanzen, das Geldwaschen, für die Produktion, den Transport, einfach für alles. Und auch für die Dreckarbeit. Sie stehen immer im Krieg, und dazu brauchen sie einen Killer. Der wahre Job für diesen Hundesohn." Troiano fluchte. „Wo lebt er?" „Überall und nirgends. Er düst durch die Welt." „Also nicht in Palermo." „Manchmal ist er für ein paar Tage in Sizilien. Mehr weiß ich nicht." Sie legte die Hand auf die seine. „Vergiß ihn, Bruderherz." Er ließ seine Hand unter der ihren, sagte aber: „Niemals. Nie im Leben." Als wolle er seine Absichten besonders unter streichen, griff er in die Tasche des Hemdes und legte etwas Rundes, Schwarzes vor Rebecca auf 57
den Tisch. Unter dem dunklen Belag schimmerte es golden. Der Goldgulden war etwa so groß und schwer wie eine Unzenmünze. Wie ein Krüger Rand, wie ein Maple-Leaf oder ein Tscherwonez. Vorne zeigte die Münze den Kopf eines Mannes. „Das muß Cosimo Medici sein." „Ja, Ferdinand ließ den Kopf seines Vaters in die Gulden schlagen." „Wo hast du ihn her?" „Gefunden." Er erzählte ihr, wie es zugegangen war. Nachdem er beschlossen hatte, nicht weiter auf der Festung Belvedere herumzugraben, war er alle damaligen Besitzungen der Medici, die auf einem Belvedere lagen, also einem schönen Aussichts punkt, durchgegangen. Dabei hatte er das alte, heute verfallene Landgut, gefunden. Es gehörte einem Bauunternehmer, der verstorben war und dessen Familie sich nicht darum kümmerte. „Im Keller der Ruine des Haupthauses", sagte Troiano, „gibt es noch mehr davon." „Wie viele?" „Ein Lastwagen genügt eben, um das Geld wegzufahren." „Madonna!" stöhnte Rebeca. „Und nun?" „Das Landgut steht zum Verkauf." „Wie teuer?" „Dreihundert Millionen Lire." „Die haben wir nicht." Troiano nahm die Münze, ließ sie im Licht der Kerze schimmern und steckte sie ein. „Mit so vielen Unzen Gold", rechnete er, „wie sich in einer Einkaufstüte tragen lassen, umge 58
tauscht in Banknoten, kann man das Gut er werben." Sie schloß die Augen, weil sie das alles nicht fassen konnte. Es kam zu überraschend. „Und das willst du tun, Fratello?" „Ich habe es bereits getan", erklärte er. „Unser Konto auf der Risparmia di Firenze ist aufgestockt. Übermorgen treffen wir uns beim Notar. Du, ich und die Eigentümer des Landgutes." „Wahnsinn!" war alles, was Rebeca zustande brachte. Er trank ihr zu. „Der eigentliche Wahnsinn fängt erst an, Cara mia."
Der Mann wohnte in der Via Bufalini, in der Nähe des Doms. Er hieß Francesco Bruscoli, nannte sich aber kurz und einprägsam Cane. Cane, der Hund. Er war ungefähr achtundzwanzig Jahre alt, hatte es als Zehnkämpfer bis zur Olympiaausscheidung gebracht, hatte sich bei der Polizei ausbilden lassen, dann aber den Entschluß gefaßt, Detektiv zu werden, was einer Steigerung seines Einkom mens um etwa das Zehnfache entsprach. Er galt als der schärfste Detektiv der Provinz. Nicht nur reiche Privatleute nahmen seine Dienste in Anspruch, sogar die Staatsanwaltschaft beschäftigte ihn zuweilen. Genaugenommen hatte er gar keine Zeit. Er hörte sich die Wünsche des Professors ohne Interesse an. Aber dann legte Troiano Marzotto gebündelte Dollarnoten auf seinen Schreibtisch. 59
Ein Paket Fünfziger nach dem anderen. Dabei beobachtete er die Augen von Cane, dem Hund. Als es den Pupillen nicht mehr möglich war, sich noch stärker zu weiten, legte Marzotto die Hand auf die Dollarpakete und sagte: „Haben Sie nun Zeit für mich?"
Der Detektiv lehnte sich im Sessel zurück.
„Um was geht es, Professor?"
„Kleiner Fall", sagte Marzotto, „großes Geld. Ich
suche einen Mann." Der Detektiv machte den berufsüblichen Ein wand: „Das kann schnell gehen, kann aber auch eine Ewigkeit dauern." „Ich habe alles, nur nicht viel Zeit," „Name, Beruf, Alter, Wohnort des Objekts?" Marzotto sagte es ihm. „Sacco Syracusa. Geboren 1952 in Palermo. Wohnhaft dortselbst. Aufenthalt unbekannt." Der Detektiv rieb seine Brauen. „Ein Mafioso." „Ich will nur wissen, wo ich ihn finde." „Und dann?" „Sind Sie raus, Cane", versicherte der Kunsthi storiker. Der Detektiv notierte in klaren Druckbuchsta ben. Von Experten seines Formats konnte man nicht verlangen, daß sie auch noch Steno be herrschten. „Wird erledigt." Um die Sache zu beschleunigen, lobte der Pro fessor noch eine Lockspeise aus. „Für jeden Tag, den Sie es unter einer Woche schaffen, tausend Dollar extra." 60
Der Detektiv bellte wie eine Dogge, nur leiser. „Dann muß ich ja sofort los." „Worauf warten Sie noch?" fragte Marzotto erstaunt. Nach dem Besuch bei Francesco Bruscoli betrat der Professor ein Waffengeschäft. In Italien war der Erwerb von Schießgeräten aller Art frei. Er schaute sich die Revolver und Gewehre an, ließ sich beraten und kaufte dann eine handliche 7,65er Automatic-Pistole und eine 22er Büchse mit Zielfernrohr. Dazu die nötige Munition und zwei Rindslederbehälter. Er zahlte bar. „Ich hole die Sachen gelegentlich", sagte er. Seiner Schwester Rebeca gegenüber erwähnte er von all diesen Dingen kein Wort.
6.
Oberst im Generalstab außer Diensten, Wolf Seba stian, der nach Robert Urbans Meinung längst für die Sondermüll-Entsorgung fällig war. hielt sich erstaunlicherweise noch immer als Chef der Opera tionsabteilung. Vielleicht betrachtete der Bundes nachrichtendienst ihn auch als Denkmal aus längst vergangenen Zeiten. Der Alte war mehr aller Ehren wert als kompe tent. Trotzdem konnte Agent Nr. 18 ihn nicht ständig übergehen. Mit einem Telex in der Hand schlenderte Urban von seinem Büro hinüber in das des alten Dackel gesichts. Sebastian schluckte gerade eine Pille gegen die Schmerzen seiner nicht mehr vorhandenen Galle. 61
Dann nuckelte er weiter an der kalten Virginia und klemmte das Monokel ein. „Was sagen Sie dazu?" fragte er. „Schlimm." „Wenn sich schon mal eine öffentlich rechtliche Anstalt wie das Zet-de-ef an uns wendet." „Frank Wieland war ein guter Mann." „Nur wagte er sich in diesem Fall wohl ein wenig zu weit vor." Urban pflanzte sich unaufgefordert in die Sofa ecke, zog die Bügelfalten hoch, bevor er die Beine übereinanderschlug, und sagte dann: „Man hat Wieland immer vorgeworfen, er sitze nur noch in den Bars der Grandhotels in der Etappe herum, egal ob im Libanon, in Bagdad oder in Teheran. Er lasse sich dort von den Fronten erzählen und verkaufe dann seine Berichte, als stehe er in der vordersten Linie." „Alte Hunde werden feige", bemerkte der Alte. „Ein Naturgesetz." „Nur die Jungen stehen noch im Feuer", machte Urban weiter. „Die Vorwürfe trafen Wieland wohl schwer, und so wollte er es noch einmal wissen." „Wie nennt man das bei Journalisten?" „Einen Superhit landen." „Er landete im Jenseits." „Ja, er starb nicht auf dem Hocker einer Hotel bar", bemerkte Urban. „Alte Hunde sollten wohl besser in ihren komfortablen Hütten bleiben." Der Alte zuckte zusammen. Offenbar fühlte er sich angesprochen. Mit der Sturheit des ehemali gen Kommandanten eines Panzerregiments über ging er jedoch die Anspielung. Vielleicht verstand er sie auch gar nicht. 62
„Was halten Sie davon?" fragte er. Urban versuchte sich kürzest zu fassen. „Frank Wieland und sein Team suchten und fanden diesen geheimnisvollen Guru. Hamedus oder so ähnlich ist sein Name. Sie interviewten und filmten ihn. Auf der Rückfahrt wurden sie umge legt." „Und beraubt", ergänzte der Alte. „Nur die belichteten Filme kamen weg. Sonst nichts." „Also ging es um das Material." „Man verdächtigt einen einäugigen Mongolen und einen Engländer als Täter." „Indien, Nepal, Tibet", jammerte der Alte, „sind weiter entfernt als die Türkei. Sind wir Interpol? Was geht uns das Ganze an? Als ob wir nicht andere Sorgen hätten." „Wir haben andere Sorgen", bestätigte Urban. „Aber der Vorfall im Himalaja könnte möglicher weise unsere Probleme vervielfachen." Sebastian bekam seine verschwommenen Augen, was ihm ein wenig den Durchblick nahm. „Welche Probleme?" Urban zögerte. Ungern schnitt er ungekochte Eier in dünne Scheiben. „Die Oslo-Geschichte." Der Alte massierte jetzt eine Etage tiefer seine Dackelfalten, schniefte auf eine Weise, wie es nur mit verstopfter Nase möglich war, und winkte dann ab. „Ach, Unsinn." Zunächst las Urban ihm die Beschreibung jenes Mannes vor, dessen Spur die Inder aufgenommen hatten und den sie für den Mittäter hielten. 63
„Na schön. Lang, hager, rothaarig, Bergsteiger typ. Was soll's." Dann legte Urban ihm ein Foto vor. Es zeigte einen Offizier. Lang, hager, rothaarig, Bergsteigertyp. Dazu bemerkte Urban: „Aufgenommen bei der NATO-Tagung in Oslo." Der Alte erkannte ihn. „Das ist General Sylvestre." Urban schob ein weiteres Foto nach. „Der in der Mitte könnte ebenfalls Sylvestre sein." „Aufgenommen anläßlich des geheimnisvollen Treffs von NATO-Offizieren auf einer Yacht in einem norwegischen Fjord, bei dem auch ein Marschall der Roten Armee teilnahm." Sebastian blickte noch immer nicht durch. „Was, bitte, hat das eine mit dem anderen zu tun?" „Das war schon frage Nummer zwei. Frage eins lautet: Warum trafen sich die Gentlemen mit einem Russen heimlich in der Nacht?" „Und Frage zwei?" „Warum verhinderte General Sylvestre, voraus gesetzt er ist mit dem Mann im Himalaja identisch, die Rückkehr des deutschen TV-Teams?" „Und warum, bitte?" „Hängt der Tod der Deutschen im Himalaja mit dem Geheimgespräch in Oslo zusammen?" „Geht es nicht präziser?" reklamierte Sebastian. Urban faßte es konzentriert und verständlich zusammen. „Das Filmmaterial fehlt. Welches Interesse hat die mysteriöse Oslo-Gruppe daran, daß das Hame dus-Interview nicht publiziert wird?" 64
Der Alte schnaufte jetzt so heftig, daß es wie aus dem Loch an einem Schlauchboot pfiff. „Nein!" rief er dann. „Sie greifen wieder mal nach den Sternen." „Wohl eher in ein Schlangennest." Sebastian reichte Urban die Fotos und den Bericht zurück. „So geht es nicht", entschied er. „Ich kenne sie alle; Brigadier Donway, General Tibetty, Brackwa ter und auch Sylvestre. Alles so ehrenwerte Offi ziere, daß ich für sie beide Hände ins Ding lege, ins Feuer." „Um sie zu verbrennen?" fragte Urban. „Sie junger Spund", brauste der Alte auf. „Wel che Ahnung haben Sie schon von Loyalität, Offi ziersehre, Patriotismus, Treue . . . " „Und?" fragte Urban. „War das schon alles?" „Für uns sind das unumstößliche Werte. Aber Ihre Generation, mein Gott! Ihre Generation hat keine Achtung mehr, keinen Respekt." „Keine Ehrfurcht vor Göttern in Weiß, Schwarz oder Nato-oliv", ergänzte Urban, nahm seine Akten und ging. Da war noch etwas. — Aber das lief noch, und er wartete auf Einzelheiten.
Hauptmann Olaf Sörgensen war in Oslo auf unge wöhnliche Weise ums Leben gekommen. Ein Offizier der NATO-Kommando-Ebene, der sich nachts heimlich mit einem russischen Mar schall getroffen hatte, paßte zu dem Steckbrief jenes Unbekannten, der möglicherweise am Tod 65
der deutschen Fernsehleute beteiligt war. Und nun kam das noch hinzu. Urban trug es dem BND-Vizepräsidenten, einem aufgeschlossenen Mann, vor. „Im Etat der Bundesregierung", begann Urban, „gibt es den sogenannten Reptilien-Fond. Im Klar text ein Geheimkonto, mit dem der Kanzler Ein richtungen bezahlt, die in der Öffentlichkeit nicht bekannt werden sollen." „Unter anderem bezahlt er damit uns", sagte der Vize, „und die anderen Geheimdienste. - Was hat das mit der NATO zu tun?" „Auch bei der NATO gibt es eine Art Geheim fond", fuhr Urban fort, „nur heißt er dort anders. Er trägt eine Codenummer. Aus ihm werden Son deraufgaben finanziert." Der Vize faßte sich an die Krawatte, was nur vorkam, wenn er sich von deren ordnungsgemäßen Sitz überzeugen wollte oder wenn es galt, Verle genheit zu überspielen. „Wer hat zu diesem Fond Zugang?" Urban wußte es nicht genau. „Auf jeden Fall der Oberbefehlshaber, sein Stell vertreter, deren ausführende Organe wie Adjutan ten, Assistenten und Sekretäre." „Und fehlt da vielleicht etwas?" „Zumindest gibt es auffällige Abgänge in Millio nenhöhe." Der zweite Mann des BND drückte sein Mißfal len aus. „Woher . . . Mann, Urban . . . wissen Sie das?" Urban gab ungern seine Quellen preis und glaubte auch nicht, daß der Vize eine ernsthafte Antwort erwartete. 66
„Ich kenne einen, der kennt einen, der wiederum einen kennt, dessen Schwester ist Sekretärin bei der Euro-Bank." „Fürchtete schon, die Köchin des NATO-Schatz meisters wäre im Spiel", spottete der Vize. „Und es sind wirklich Millionenbeträge aus im Etat nicht näher definierten Positionen?" „Sie fließen von irgendwoher nach irgend wohin." „Aber irgendwer muß das doch veranlassen und dafür geradestehen." Urban legte Fotos vor. Der Vize kannte einige der Offiziere. „Tibetty", sagte er, „Donway, Brackwater. Das da dürfte Sylvestre sein und der da ein Russe, schätze ich." „Marschall Mikojan." „Bei ihm hat der Retoucheur aber tüchtig nach geholfen. " „Die Fotos wurden bei Nacht aufgenommen. Wir haben das Profil, die Stirn-, Nasen- und Kinnform mit einem Originalfoto verglichen, und zwar so sorgfältig, wie man Fingerabdrücke vergleicht. Es ist Mikojan." Der Vizepräsident blieb so voller Zweifel, daß er die Fotos wegschob und Daumen und Zeigefinger der rechten Hand auf die Augäpfel preßte. „Falls General Sylvestre nach der NATO-Tagung nach Nepal flog, was, zum Teufel, sollte er dort? Was hat er mit dem Überfall auf das deutsche TVTeam zu tun?" „Mit Hamedus, lautet die Frage. Was hat er mit Hamedus zu tun?" 67
„Wenn es wirklich Sylvestre war, der gesehen wurde." „Von einem Halbdutzend Zeugen", ergänzte Urban. „Wir schickten das aktuelle Foto über Telefax nach Neu Delhi. Die Inder haben es zusammen mit eigenen Archivaufnahmen den Zeu gen vorgelegt. Vier von ihnen wollen schwören, daß es Sylvestre war, der gemeinsam mit einem einäu gigen Mongolen den Deutschen folgte." Dem Gesicht des Vizepräsidenten war .anzuse hen, daß er jetzt Scheiße gesagt hätte, wenn es dafür ein einigermaßen vornehmeres Wort gegeben hätte. Statt dessen nannte er einen letzten Namen: „Marschall Mikojan." „Ja, was hat Mikojan damit zu tun?" fragte auch Urban sich. „Ein Kreis von Planeten und in ihrer Mitte ein Stern, von dem man so gut wie nichts weiß. Wer ist Hamedus?" Urban versuchte es einigermaßen zu deuten. „Uralt wie Stein, weise wie ein Gott. Von übermenschlicher hypnotischer und seherischer Kraft." „Wahrheit oder Legende?" zweifelte der Vize. „Ich sprach mit dem zuständigen Redakteur beim ZDF, der die Expedition Frank Wielands nach Nepal durchsetzte. Er erhoffte sich wichtige Aufschlüsse über diesen rätselhaften Hamedus. Es gibt vielerlei Gerüchte über ihn. Er kann alles, weiß alles, bis in die ferne Zukunft. - Immer wieder in den Jahrtausenden unserer Vergangen heit, soweit wir Aufzeichnungen besitzen, tauchten solche Gestalten auf." 68
„Und veränderten die Welt", ergänzte der Vize. „Ob jemand davor Angst hat?" „Oder seine letzte Hoffnung daran klammert." Da sie nicht weiterkamen, mußten Entscheidun gen gefällt werden. „Sie stecken schon einigermaßen da drin, in der Sache", sagte der Vize. „Machen Sie mal weiter. Dann werden wir schon sehen. Was gedachten Sie als nächsten Schritt zu unternehmen?" „Aufklärung über die Rolle der Generäle." „Auch über die Rolle Mikojans?" „Möglicherweise sitzen beim KGB in Moskau oder beim STASI in Ostberlin längst ein paar Männer, die sich die Köpfe ebenso zerbrechen wie wir." „Einverstanden", gab der Vize grünes Licht. „Lassen Sie Ihre dubiosen Verbindungen spielen."
Sie trafen sich auf dem Gebiet der DDR an der Interzonenautobahn Hof-Berlin in der Nähe der Ausfahrt Eisenberg. Ohne Licht wartete ein schwarzer Volvo an der Seite. Er lag tief in den Federn, was von der zusätzlichen Tonne an Panzerglas und MG-festem Stahl kam, mit dem er ausgerüstet war. Urban fuhr dicht auf, stellte den heißen Motor seines BMW-633-Coupés ab und stieg aus. Die linke hintere Tür des Volvos schwang ihm entgegen. Innen war das Licht angegangen. Im Fond saß Stasi-General Jo Hartmann, von den Lackschuhen bis zum handgenähten Seidenhemd mit runden 69
Kragenecken und Krawatte mit Windsorknoten überstylt wie immer. Im Gegensatz zu russischen Offizieren duftete er aber nicht nach Maiglöck chenparfum, sondern nach dem neuen Fahrenheit von Dior. Sie reichten sich nur die Hand, eine freund schaftlich distanzierte Begrüßung. „Gut durchgekommen?" fragte Hartmann. „Der Posten an der Grenze machte WinkeWinke. Er wollte nicht mal meinen Paß sehen." „Ich hatte sie informiert. BMW-CSi-Coupé, stahlblau, ein wenig angeschlagen, Münchner Nummer. Ich mußte dich bitten, daß wir uns hier treffen. Ich kam nicht früher aus der Sitzung." „Wurde der Fall schon besprochen?" Hartmann hob entsetzt die manikürte Hand. „Wo denkst du hin. Nichts darf den Ehrenschild des großen Bruders Sowjet-Union auch nur an kratzen. " Urban zeigte Hartmann einige ausgewählte Fotos. „Ja, das ist Marschall Mikojan." Urban fügte weiterhin Glied um Glied zu einer Kette. Von Oslo bis Nepal. Hartmanns Gesicht — für einen Vierzigjährigen sah er noch jungenhaft aus — verlor das, was man cool-lässige Heiterkeit nennen mochte. „Was vermutet ihr?" fragte er bedrückt. „Daß noch einiges auf uns zukommt, Kamerad." „NATO-Offiziere - Marschall Mikojan - ein Guru im Himalaja. Ist es Zufall oder wird etwas daraus?" „Bei allen Armeen dieser Welt gab es immer Cliquen", erwähnte Urban, „Gruppenbildungen." 70
„Es sei denn, es läge ein höchst geheimer Son derauftrag vor." „In der UdSSR mag so etwas möglich sein", erwiderte Urban, „bei uns wohl kaum. Hier müß ten zumindest Präsidenten, Kanzler, Premiermini ster, Verteidigungsminister, NATO-Oberkomman dierende etwas davon wissen." „Und sie wissen nichts?" „Noch haben wir sie nicht voll eingeweiht. Noch halten wir die Ratte erst am Schwanzende. Aber das zweite Glied, die Etage darunter, wäscht bereits die Hände in Unschuld." „Wann war Marschall Mikojan in Oslo?" „In der Nacht, drei Tage bevor die NATOKonferenz zu Ende ging." „Also um den Vierzehnten herum", zeigte Hart mann sich erstaunlich gut informiert. „Du wirst lachen, da war Mikojan in Berlin." „Die ganze Nacht?" äußerte Urban sich mißtrau isch. „Er hat ein Alibi." „Bis wann?"
„Zumindest bis dreiundzwanzig Uhr. Ein Essen beim Staatsrat der DDR. Zeugen sind ein Dutzend prominenter Genossen." Urban rechnete: „Berlin-Oslo, das macht ein Kurierjet in einer Stunde." „Wenn Mikojan das auf sich nahm, dann geht es um wahrhaft große Dinge." „General Sylvestre nahm auch einiges auf sich", erinnerte Urban. „Diese Hundesöhne." „Ja, wir werden wachsam sein müssen." 71
„Also ständiger Kontakt." „Zumindest für Faktenaustausch." „Kennwort?" „Hamedus", schlug Urban vor. „Gefällt mir nicht. Nicht alles muß Bezug auf diesen Scharlatan haben", wandte Hartmann ein. Urban begann, Lyrik zu zitieren: „Hinter den sieben Meeren Sind sieben Küsten, Liegen sieben Städte, Sind sieben Täler, Sieben Flüsse Und sieben Berge." „Sind sieben Dumme und sieben Kluge", fuhr Hartmann für ihn fort. „Und dann erst kommst du. - Siebenmal du." „Seit wann bist du gebildet", staunte Urban. „Also Codewort: Hinter den sieben Meeren." „Einverstanden", sagte Hartmann. Sie rauchten noch eine Zigarette, dann trennten sie sich.
Hartmann hatte Urban versichert, daß er das Tempolimit von hundert Stundenkilometern nach Belieben überschreiten dürfe. Er habe dafür gesorgt, daß er keine Schwierigkeiten bekäme. Urban legte gleich richtig los und ließ den zweihundertfünfzig PS freien Lauf. Mit lockeren Hundertachtzig auf dem Tacho, was die schadhafte DDR-Autobahn gerade noch zuließ, bretterte er in Richtung Bayrische Grenze. 72
Plötzlich sah er Rotlicht blitzen. Er ging vom Gas und bremste an der Polizeisperre. Vopos in Kosakenstiefeln, die Mützen schief wie besoffene Portiers, kamen auf ihn zu. Der Offizier leuchtete ihm mit der Lampe ins Gesicht. „Ausschdeigen! " befahl er auf gut sächsisch. „Was ist los?" „Fahrzeugbabiere, Genngarde oder Baß." Urban stand neben seinem Coupe wie ein Ver brecher. Der Vopo-Leutnant warf einen Blick in die Dokumente. „ Sie sind mit Hundertneunzsch gestobbt wordn." „Es waren zweihundert", sagte Urban. Offenbar hatte sich in der DDR einiges noch nicht herumgesprochen. Er wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, da machte ihm der Offizier eine einfache Rechnung auf. „Nu, Se warn doppeld so schnell wie zulassen. Das gostet Sie den Führerschein. Ich veranlasse hiermid den vorleifchn Endzuch der Fahrerlaub nis. Das Fahrzeuch wird beschlachnahmd. Die Strafe bedrächd fünfhunderd Mark Ost und zehn Dache Hafd." „Oder?" fragte Urban. „Nee, und." „Darf ich rauchen?" „Nee." „Haben Sie Autotelefon?" erkundigte Urban sich. „Mer sind ja nich in Afriga", lautete die Ant wort. Urban nannte eine Nummer. Der Offizier schien sie zu kennen. Er grinste unverschämt. „Mit Beziehungn gumm Se bei uns nich durch." 73
„Vielleicht mit einem Kennwort", bemerkte Urban. „Rufen Sie die Nummer an, und nennen Sie den Code: Sieben Meere. Ich vermute, daß hier eine verbindliche Order vorliegt, aber noch nicht wei tergegeben wurde." Der Offizier ging zu einem seiner Wartburgs, und Urban steckte sich eine Zigarette an. Er sah, wie hastig telefoniert wurde. Dann gab der Leutnant seinen Leuten ein Zeichen. Sie bau ten die Sperren ab und löschten die Drehlichter. Urban erhielt seine Papiere zurück. „Folchen Se uns", sagte der Leutnant. „Mer dun unser Bestes, daß Se die Verschbädung wieder einholn genn." Kein Wort der Entschuldigung. Aber die zwei Vopo-Wartburgs setzten sich vor Urban und holten aus ihren frisierten Zweitaktern heraus, was ging. Mit Hundertsechzig rasten die Wagen durch die Nacht. Am Grenzübergang „Töpen Juchhö" stan den die Schlagbäume schon offen. Der Posten salutierte. Drei Stunden später war Urban wieder in Mün chen.
7.
Die Wohnung im vierten Pariser Arrondissement verfügte über ein wesentliches Detail, nämlich einen Fernseher mit Videorecorder nach dem VHSSystem. Chiefsuperintendent Billham Grey schob die Kassette in den Schlitz. 74
„Ungeschnitten und mit Originalton", erklärte der Scotland-Yard-Beamte. Der Mafioso verfolgte interessiert das Interview mit dem weißhaarigen, nackten Mann im Jurtezelt. Dann aber, als das Gespräch ins Deutsche über wechselte, verstand er nicht mehr viel. Der Engländer reichte ihm ein Blatt mit der Übersetzung ins Italienische. Doch spontan erhob sich Sacco Syracusa und schaltete das Gerät ab. „Was soll das?" „Es ist gut, sich mit dem Gegner vertraut zu machen", meinte Grey. Mit der Geste eines Stierkämpfers — sie drückte Überlegenheit und Arroganz aus - deutete der Mafioso mitten auf den schwarzen Bildschirm. „Diesen Wicht nennen Sie Gegner?" „Unterschätzen Sie Hamedus nicht." „Eine lächerliche Aufgabe." „Gemach, gemach, mein Freund", riet der Eng länder. „Hamedus ist gefährlich." „Er trägt weder eine kugelfeste Weste noch eine Waffe." „Er besitzt die Waffen des Geistes." „Die haben noch keinen Angreifer getötet." „Mag sein", räumte der Brite ein, „daß er körperlich verletzbar ist. Das Problem besteht darin, seinen Körper zu finden." Der Italiener fläzte sich in den Sessel und nahm einen Schluck Brandy. „Sie amüsieren mich immer mehr. Für welchen Verein von Spaßvögeln arbeiten Sie eigentlich, Mister?" Sie hatten sich geeinigt, daß sie sich an diesem 75
Abend in Paris zum letzten Mal sehen würden. Syracusa erhielt das vorhandene Material, sein Honorar, und er sollte keine Fragen über dessen Herkunft stellen. „Möchten Sie nicht wissen, wo sich Hamedus aufhält?" Der Mafioso winkte ab. „Jeder Punkt dieser Erde ist heute, im JetZeitalter, binnen vierundzwanzig Stunden zu erreichen. Nord und Süd eingeschlossen." „Hamedus zieht mit einem Nomadenstamm über die Hochebenen von Nepal und Tibet." „Echt sensationell, Mister Grey, wirklich", spot tete Syracusa. Vermutlich sah man in dem Alter, in dem der Mafioso war, die Probleme kleiner. Der Chiefsuperintendent zog den Reißverschluß seiner Collegmappe auf und übergab dem Italiener einen Umschlag mit Material. „Studieren Sie das." Der Mafioso nahm die Karten, Tabellen, Fotos sowie Luftaufnahmen aus dem Umschlag. „Scheint ja alles generalstabsmäßig vorbereitet." „Studieren Sie es", wiederholte der Engländer. „Das dauert Stunden." „Sie haben Zeit." Grey erhob sich. „Wir waren uns einig", sagte er, „sonst hätten wir uns hier nicht noch einmal getroffen. Ich bin in einer Stunde, sagen wir bis zweiundzwanzig Uhr, wieder zurück." „Mit dem Honorar." „Mit der Hälfte des Honorars", schränkte Bill ham Grey ein. 76
„Nun weiß ich alles über das Objekt", erklärte der Mafioso, als der Engländer zurückkam, „nur nicht, wo Herr Hamedus gerade seinen Buttertee schlürft." „Wer ist dieser Hamedus Ihrer Meinung nach?" erkundigte der Engländer sich. Sacco Syracusa sprach gerne bildhaft oder in Vergleichen. Das war Sizilianerart. „Da ich bereit bin, diesen Auftrag zu überneh men, stellen Sie meiner Familie quasi einen Frei brief für ihre Geschäfte aus. Demnach muß Hame dus gefährlicher sein als Rauschgift." „Gefährlicher als die Vorstellung, man würde alle Menschen dieser Welt unter Drogen setzen", ergänzte Grey. „Ein alter, nackter Mann in einem Zelt", zwei felte Syracusa. „Ein Weltveränderer." „Nur das?" fragte der Mafioso listig. „Geht es vielleicht um diese ungeheure Waffe, die er beschrieben hat?" „Mit seiner Formel ist nichts anzufangen. So wenig wie mit den Erklärungen von Astronauten, die von einem fernen Stern kommen, der in seiner Entwicklung zehntausend Jahre weiter ist als die Erde." „Na schön", sagte Syracusa. „Ich werde ihn töten, wenn Sie mir ungefähr sagen, wo er sich befindet. Das Hochland von Nepal ist Tausende von Quadratmeilen groß." „Unsere Späher", erklärte der Brite, „folgen ihm. Sie sind ihm dicht auf den Fersen. Man wird Sie, sind Sie erst an Ort und Stelle eingetroffen, über jeden seiner Schritte unterrichten." 77
„Späher?" fragte der Mafioso. „Eingeborene, Tibetaner, Spitzel, was sind das für Leute? Sind sie in die Verschwörung eingeweiht?" „Jeder kennt nur seine Aufgabe, also nur einen Teil des Ganzen." Syracusa ließ seiner Neugier freien Lauf. „Und das Ganze, wie sieht das aus?" Der Brite antwortete, bemühte sich aber nicht um Schärfe des Bildes. „Die Erhaltung der Welt, so wie sie ist." „Die Machtverteilung", präzisierte der Ma fioso. Billham Grey zog einen Packen gebündelter Dollarnoten aus seiner College-Mappe, alles Hun derter, in Plastik verschweißt. Ohne nachzuzählen, warf Syracusa sie auf das Bett. „Die Sache beginnt mich zu faszinieren", gestand er. „Wer ist noch alles dabei? Wer sind Ihre Hintermänner? Die britische Regierung? Die EG? Die NATO? Etwa die Chinesen?" „Wann fliegen Sie los?" wich Billham Grey aus. „Binnen zweiundsiebzig Stunden. Ich muß noch den Transport des Materials und meiner Person organisieren. Natürlich ist es notwendig, daß ich von einem neutralen Ort aus starte. Also nicht vom Boden Englands oder Italiens." „Das ist Ihr Problem. Sie sind der Experte." „Sehen wir uns danach noch einmal?" fragte der Mafioso. „Der Rest des Honorars geht auf Ihr Konto bei der Banque de Suisse in Genf. Sobald die Nachricht vom Tode Hamedus bestätigt ist." 78
„Einverstanden", sagte der Italiener, „Ich ver traue Ihnen und Ihrer Gruppe." „Wie wir Ihnen, Signore . . ." Der Mafioso hob beide Hände. „Keine Namen, bitte. - Dann sehen wir uns also niemals wieder." „Wir kennen uns nicht", versicherte Grey. „Aber wir halten unsere Hand über Sie." „Wir sind uns nie begegnet", bestätigte der Mafioso. „In diesem Fall sagt man bei uns addio. Addio für immer, faccia bene, machen Sie's gut! Auguri, alle besten Wünsche, aber addio." „Good bye", sagte der Chiefsuperintendent. Noch von Paris aus rief er bei Brigadier Donway im Londoner Verteidigungsministerium an. „Es läuft", meldete er, „und ist nicht mehr aufzuhalten."
In der Stunde, bevor der Morgen graute, war es bitterkalt. Der Nachtfrost hatte das Gesicht von Graham Sylvestre gerötet und seinen rotblonden Bart weiß gepudert. Der General überwachte das Auftanken des einmotorigen Sportflugzeuges. Bei ihm war der Mongole, der aussah wie ein einäugiger Pirat aus dem Chinesischen Meer. Beide trugen die bei Hitze und Kälte bewährten Chinesen-Anzüge. Jacken und Hosen waren wat tiert und abgesteppt. 79
Über den Bergen begann es zu glühen. Die Gipfelketten bekamen einen rötlichen Rand. „Es wird Zeit, General", drängte der Mongole.
Das Tanken war beendet. Der General drehte den Motor am Propeller durch. Dann beugte er sich in das offene Cockpit des uralten Doppeldeckers, schaltete die Zündung ein, kam wieder herum und faßte ein Blatt des Propellers an. Vorsichtig bewegte er es auf die nächste Kompression des Sternmotors zu, federte damit ein wenig auf und ab und riß dann durch. Der Motor sprang an. Unwillig fauchend, wegen der Kälte, kam er nur langsam auf Touren. Der Mongole kletterte in den vorderen Sitz des offenen Doppeldeckers und verschwand bis zu den Augenbrauen darin. Ein wenig ängstlich befestigte er die Anschnallgurte. Graham Sylvestre betätigte das Gas. Im Gegen satz zu anderen Flugzeugen wurde hier das Gas nicht gedrückt, sondern gezogen, denn die Maschine war irgendwann einmal vor fünfzig Jah ren in Italien gebaut worden. Sylvestre zog den Holzknopf an der gebogenen Stange heran. Der Motor brüllte auf. Die Maschine zitterte und rollte. Trotz des Frostes staubte es tüchtig. Schon nach wenigen Metern hoben sie ab. Westlich von Darjeeling hörten die berühmten Teefelder auf. Das Land wurde unvermittelt hüge lig, bergig und kahl. Sie flogen bereits auf die Grenze zu. Über Nepal schlugen sie einen Haken nach Norden auf Tibet zu. Sie flogen dabei so tief wie möglich über Grund. - Die chinesischen Radarge räte waren zwar glücklicherweise so gut wie 80
unnütz, und der General kannte ihre Positionen, aber vielleicht waren Patrouillen unterwegs. Der Mongole, mit einem besseren Orientierungs vermögen als ein elektronischer Kursrechner aus gestattet, streckte den Arm aus der Tiefe seines Sitzloches und deutete nach Westen. Der General änderte ein wenig den Kurs. Er hielt jetzt direkt auf die weißen Gipfel des Himalaja zu. Er gab dem Motor Leistung. Aber das Land unter ihnen kam schneller heran, als das alte Flugzeug steigen konnte. Also folgte Sylvestre einem Tal, das nach der Karte auf das Kantschendschanga-Massiv zu führte. Aber der Achttausender war noch weit. Das Tal öffnete sich. Auf 3000 Meter Höhe überflogen sie weite ockerfarbene Ebenen. Nach einer Stunde vielleicht — Sylvestre hatte gerade auf den zweiten Flügeltank umgeschaltet erschien wieder die Hand des Mongolen. Er hatte den Daumen weggestreckt und deutete nach unten. Der Teufel wußte, wie er die Nomaden gesehen hatte. Vielleicht roch er ihre Yak-Dungfeuer. Der General nahm das Glas und suchte einen Landeplatz. Er kreiste, ging tiefer, schwebte ein und setzte auf. — Ungefähr eine Viertel-Wegstunde von den Jurten entfernt. Wortlos kletterte der Mongole aus dem Sitz und latschte in Richtung auf den Rauch der Feuer los. Als er zurückkam, war ihm warm geworden, aber General Sylvestre fror. „Hier war er nicht", meldete der Mongole. „Aber drüben im anderen Tal hat er bei Bauern die Nacht verbracht." 81
„Wohin ging er?" Eine überflüssige Frage. Es gab nur einen Weg. Den nach China. Aber den versperrte hier das Mount-Everest-Massiv. „Patan", sagte der Mongole. Noch hundert Meilen, rechnete der Pilot. Von Patan aus kam er mit dem Sprit gerade noch nach Indien zurück. Dies aber nicht, wenn es Hamedus eingefallen war, nach Katmandu zu gehen oder bis zu den Ufern des Brahmaputra. Sie starteten. Jetzt war es 9.00 Uhr indischer Sommerzeit. Noch stand die Sonne dem Horizont näher als ihrem Kulminationspunkt.
Der stoffbespannte Doppeldecker landete noch zweimal bei Nomadenzelten. Der Mongole, der den Dialekt der Bergstämme beherrschte, ging hin, verteilte Geschenke, redete mit den Leuten, trank Tee mit Yakbutter und kam wieder. Meist fluchte er. „Er war da, er war nicht da. Entweder sie lügen, oder sie schützen ihn." „War er da?" fragte der General. „Was nun?" „Natürlich war er da, Sir", sagte der Mongole. „Einer ist immer der Judas. Er begleitet dich ein Stück, nimmt eine Goldmünze und sagt dir die Wahrheit." „Wo, zum Teufel, steckt Hamedus?" wurde Syl vestre ungeduldig. „Die Spur verläuft nach Patan." 82
„Was will er in der Stadt?"
„Fliegen Sie hin, Sir. Ich werde es erfahren."
Es war früher Nachmittag. Graham Sylvestre,
der sich illegal in Nepal aufhielt, wußte, daß er es nicht wagen konnte, einfach auf dem Flugplatz herunterzugehen. Er holte den Schlafsack aus dem Cockpit, kroch hinein und schlief ein paar Stunden. Wegen dieser Fähigkeit, immer und überall schlafen zu können, bewunderte der Mongole ihn. Als die Sonne nicht mehr weit vom Westhorizont entfernt war und sich zu verfärben begann, flogen sie die sechzig Meilen bis zur Stadt. Sylvestre, ehemaliger Jagdflieger-Kommandeur und Kunst flugpilot mit vielen tausend Stunden am Knüppel, setzte mit dem Doppeldecker auf einer Wiese am Rande der Stadt auf. Es war dunkel. Drüben bei den lehmbraunen Häuserwürfeln gingen die Lichter an. Der Mongole machte sich auf den Weg, und der Engländer richtete sich auf längeres Warten ein. Bis der Mongole Kontakt hatte und herumfragte, konnte es viele Stunden dauern, vielleicht bis zum Morgen. Und es wurde schon wieder lausig kalt. Graham Sylvestre zog den Lederoverall aus, behielt aber die wattierte Hose an sowie die Stiefel und die Jacke mit dem Pelzkragen. So marschierte er auf das nächste Haus zu. Dort fand er einen Mann mit seinem Sohn. Vertrauenswürdige Leute, das sah er sofort. Er sprach ein wenig Nepalesisch. „Mein Flugzeug", sagte er, „steht in deinem Garten. Ich besorge nur Benzin. Hast du ein Gewehr?" 83
„Gewehre sind uns verboten", antwortete der Alte. „Aber wir haben Messer", sagte der Junge. „Dann nehmt die Messer und bewacht mein Flugzeug." Er gab ihnen eine Goldmünze und versprach ihnen noch eine, wenn er zurückkam.
Sie nahmen den Auftrag an. Er zahlte ihnen mehr, als drei Monate Arbeit einbrachten. General Sylvestre bewegte sich mit Marsch tempo siebzig auf das Zentrum zu. Die Häuser wurden größer, die Gärten kleiner. Manche Häuser hatten Balkone, waren mit Schnitzereien verziert oder bunt bemalt. Es gab eine Straßenbeleuchtung, und sogar ein Bus fuhr. Sylvestre betrat eine Teestube, setzte sich in eine Ecke und wartete. Automatisch fiel sein Blick a u f die schmutzig kahle Mauer bei der Tür. Dort hatten sie zwei Plakate angenagelt. Jedes Plakat zeigte den Kopf eines Mannes. Darunter stand die Beschreibung. Es handelte sich um Steckbriefe. Der Kopf links war der des einäugigen Mongo len. Sylvestre hingegen war schlecht getroffen. So mochte er als junger Fähnrich der britischen Indienarmee in Bombay ausgesehen haben. Mit dem Bart war er gewiß nicht zu erkennen. Anders der Mongole mit der Augenklappe. Sylvestre trank den Tee und machte, daß er wieder zu seiner Maschine kam. Wenn nur einer in der Stadt aufpaßte - und es gab immer Leute mit einem erstklassigen Personengedächtnis —, dann erkannte er den Mongolen und schleppte ihn zur Polizei. Die Gefahr war beachtlich.
An seinem Fiat-Doppeldecker kauerten der Bauer und sein Sohn. Sie fragten nicht, warum er schon zurück sei. Sie nahmen die Münze und die Zigaretten und trotteten davon. Von dem Mongolen war nichts zu sehen. Verdammt, dachte der General, wenn sie ihn kriegen, dann versucht er, seinen Kopf zu retten, indem er ihnen sagt, was sie hören wollen, das feige Schwein. Dann waren die bisherigen Bemühungen umsonst. Dann mußten sie alles auf Null schrauben und von neuem beginnen. Eine Situation, die möglicherweise die ganze Organisation gefährdete. Und wenn sie den Mongolen hier nicht bekamen, dann bekamen sie ihn anderswo. Graham Sylvestre kletterte in den Passagiersitz und fummelte irgend etwas an den Anschnallgur ten. Er konnte nichts sehen, er verließ sich auf seinen Tastsinn. Aber er wußte, wie die Gurte montiert waren, wie man sie anzog und lockerte und auch, wie man sie so manipulierte, daß man glaubte, sie wären festgezurrt,
Sylvestre war eingeschlafen. Der Mongole rüttelte ihn wach. Sylvestre schälte sich aus seinem Schlafsack. „Was gibt es?" „Hamedus ist hier." „Wo?" „Bei Freunden. Er hält sich versteckt. Offenbar hat ihm sein Siebenter Sinn geflüstert, daß er 85
verfolgt wird und daß es ihm bald an den Kragen geht." „Sehr gut", lobte der General seinen Mitarbeiter. „Was sind das für Freunde, bei denen er wohnt?" „Einflußreiche, schätze ich." „Einflußreich, wo? Bei den Chinesen?" „Beim Gouverneur." Der General dachte nach: Das bedeutete nichts. Er wußte, daß auch die Chinesen dem Propheten nicht geneigt waren. Gerade Kommunisten durften keine neue Heilslehre aufkommen lassen. „Hast du Namen und Adresse erfahren?" „Natürlich, Sir." „Fertige eine Skizze an, wie man zu dem Haus kommt." „Jetzt?" „Ja, jetzt, wo die Erinnerung noch frisch ist. Morgen früh hast du alles vergessen." Im Schein der Taschenlampe mußte der Mongole mit einem Kugelschreiber auf Sylvestres Notiz block alles aufzeichnen. Den Weg, die Straße, das Haus, wie lange man bis dorthin ging, ob das Haus eine Mauer hatte, ein flaches Dach, Zinnen, Bal kone, einen Garten - einfach alles. Der General schob den Block in seine Hemdta sche. „Los, starten wir." „Es ist zwei Stunden nach Mitternacht, Sir." „Na und? Bald geht die Sonne wieder auf." „Wohin jetzt, Sir?"
„Darbhanga." „In Indien suchen sie uns." „Hier etwa nicht?" „Nichts davon gesehen oder gehört, Sir." 86
Zum ersten Mal glaubte der General seinem Scout nicht. Er kannte den Mongolen. Er hatte nur noch ein Auge, das andere hatte ihm ein Aasgeier ausgepickt, als er nach einem Überfall halbtot dagelegen hatte. Aber mit diesem Auge sah er mehr als jeder andere. - Dazu kamen seine vorzüglichen Ohren und seine unglaublich gute Nase. Wenn er die Steckbriefe nicht gesehen hatte, dann hatte er sie gerochen oder davon gehört. Er verschwieg es, weil er fürchtete, dadurch zu einem Risiko zu werden. Er war bereits ein Risiko, nur wußte er es nicht. Auch nicht, wie der General es zu meistern gedachte. Weder durch ein Messer noch durch eine Kugel, denn das war nicht die sportliche Art britischer Generäle.
„Laß uns jetzt nach Hause fliegen", entschied der General. „Bald kommt der Mann, der uns die Drecksarbeit abnehmen und Hamedus beseitigen wird." Der Motor war wie festgefroren. Sie brachten ihn mühsam in Gang. Nachdem der General die Windrichtung ermittelt hatte, starteten sie nach Osten. Kreisend stiegen sie bis auf dreitausend Meter. Zwischen ihnen und Indien lagen hohe Berge. Dann ging der General auf Heimatkurs. Im Westen lag noch tiefe Dunkelheit über der Erde. Im Osten bekamen die Gipfel einen feinen Strich von Silberbronze. Es war ein ruhiger Flug in ruhiger Luft ohne Böen. Doch mit einemmal, ohne Ankündigung, riß der Pilot den Doppeldecker in eine Rolle. Er 87
beendete die Rolle nicht sofort, sondern behielt die Rückenlage bei. Er hörte, wie der Mongole schrie und sich festklammerte. Er glaubte auch zu hören, wie er an seinen Anschnallgurten rüttelte. Aber er hatte sich irgendwie festgeklemmt und fiel nicht heraus. Fluchend ging Sylvestre wieder in Normalflug, drückte den Vogel an, nahm Fahrt auf und zog ihn in den Loop, In dieser Fluglage nahm jeder Körper ein Vielfa ches seines Gewichtes an. Nach dem Loop blieb Sylvestre in Rückenlage und katapultierte seinen Passagier geradezu aus dem Sitz heraus wie David einst den Stein aus der Schleuder. Verzweifelt klemmte der Mongole sich fest, doch ungeheure Kräfte rissen ihn ins Unendliche. Ein schwarzer Punkt stürzte, sich überschla gend, in die Tiefe. Irgendwo, tausend Meter weiter unten, landete er auf einem Geröllfeld. General Sylvestre nahm an, daß kein Knochen seines Körpers noch ganz war. Go to the hell! dachte er. Eitrigen Auswurf spuckt man von sich und geht weiter. Mit den letzten Litern Benzin im Tank erreichte er Darbhanga. Dort kannte ihn niemand. Er hatte perfekt gefälschte Papiere. Und wer vermutete schon hin ter einem spleenigen Sportflieger mit Bart und gefärbten Haaren einen britischen General.
9.
Möglicherweise entsprach die Tätigkeit von Prof. Troiano Marzotto längst nicht mehr der eines Kunsthistorikers mit dem Fachgebiet Italienische Renaissance. Er mußte dringend nach Marseiile. Die Ermitt lungen des Privatdetektivs Cane deuteten dorthin. Zuerst hatte er Canes Angaben mißtraut. „In Marseiile sitzen die französischen Gangster, da hat die Mafia nichts zu bestellen", wandte er ein. „Syracusa ist nach Marseille abgefahren", erklärte der Detektiv. „Es sieht ganz so aus, als beabsichtige er, von dort aus eine Expedition anzutreten. Nach unseren Erkenntnissen steht in Marseiile ein Privatflugzeug für ihn bereit." Dieser Hundesohn, dachte Marzotto, plant eine Riesenschweinerei und wagt es nicht, von Italien aus loszugehen. „Fliegt er allein?" „Offensichtlich ja." „Und wohin?" „Das war nur ungenau zu erfahren. Scheint, als wolle er ziemlich weit in den Osten. Indien oder so." „Er ist Mafioso, Sie haben Interessen im Golde nen Dreieck, Vietnam, Kambodscha, Laos, dort liegt das Zentrum der Opiumproduktion." „Sieht aber aus", meinte der Detektiv, „als ginge es um etwas anderes. In Syracusas Gepäck befin det sich Survival-Ausrüstung. Zelt, Schlafsack, Jagdfeuerwaffen, Proviant — als wolle er zu Fuß den Himalaja durchqueren." 89
Das machte Marzotto ratlos. „Wann fliegt er?'' „Der Lear-Jet ist für morgen in einer Woche gechartert." Der Professor hatte das Gefühl, daß der Detektiv noch mehr wußte, als nur das. „Sie haben noch etwas, Cane." „Nur Vermutungen, Dottore Professore." „Besser als nichts. In meinem Beruf sind es die Vermutungen, die zu Ergebnissen führen." Der Detektiv erwähnte nicht, daß sie Syracu sas Telefon angezapft hatten. Das würde ein Detektiv niemals zugeben. Er formulierte es an ders: „Zwei Begriffe", sagte Cane, „kann ich Ihnen noch liefern. Die Wörter Nepal und Hamedus. Ich buchstabiere: H-a-m-e-d-u-s, was immer das bedeuten mag." Im Moment wußte Marzotto wenig damit anzu fangen. Er fragte noch, wo Syracusa in Marseiile wohne und von welchem Flughafen er starte. Nachdem er das erfahren hatte, war Canes Tätigkeit beendet. Der Professore bedankte sich für die erstklassige Arbeit. „Den Scheck erhalten Sie noch vor meiner Abreise", versprach er. Jetzt lag Marzotto im Hotel Conte, das auch der Mafioso vor seinem Abflug bezogen hatte, auf seinem Zimmer. Er beschloß, Rebeca anzurufen. Sie ängstigte sich um ihn. In den letzten Tagen war er sehr einsilbig, fast verschlossen gewesen. Das durfte er 90
ihr nicht antun, — Jetzt, wo alles lief und nicht mehr aufzuhalten war, sagte er ihr, was er vor hatte. * „Ich werde ihn töten", waren seine letzten Worte gewesen, bevor er aufgelegt hatte. In der Meinung, daß an diesem späten Abend nichts mehr passieren würde, ging er im Hotelre staurant essen. Er war gerade bei der Suppe, als er den Mann von der Rezeption auf seinen Tisch zukommen sah. Er hatte ihm dreihundert Francs zugeschoben, verbunden mit einer Bitte. Der Mann schien seine Schuld abtragen zu wollen. Er blieb vor Marzottos Einzeltisch stehen und beugte sich nur ein wenig zu ihm herunter. „Der Gast reist ab, Monsieur." „So spät?" ,.Er hat die Rechnung verlangt." „Mit allem Gepäck?" „Es ist schon im Taxi." „Merci." Troiano Marzotto verzichtete auf die restlichen vier Gänge des Menüs, Er eilte auf sein Zimmer. Dort holte er die dreiteilige Jagdwaffe im Leder etui aus dem Koffer, verbarg sie unter seinem Trenchcoat und ließ sich ein Taxi rufen. Vor dem Hotel wartete er auf den Mietwagen. Er oder ich, dachte er. Er ist ein Mafioso und obendrein ein Killer. Er versteht von dem Hand werk, Menschen zu töten, hundertmal mehr als ich. Aber ich habe das Überraschungsmoment für mich. Das Taxi kam. 91
Er stieg ein und rief dem Fahrer zu: „Marignane!" So hieß der Flugplatz von Marseiile. Aber er war kein gewöhnlicher Linienpassagier. „Zu den Charterflügen", sagte er. „Tor vier." „Sie kennen sich besser aus", vermutete Mar zotto. „Hundert extra, wenn man am Tor keine Fragen stellt." „Verstehe, Monsieur. Verlassen Sie sich auf mich." Für den Fall, daß man ihn trotzdem kontrol lierte, kippte er die Rücksitzlehne leicht vor und schob das Lederetui mit der Jagdwaffe nach hinten in den Kofferraum. Die Fahrt vom Zentrum bis hinaus zum Flug platz dauerte zwanzig Minuten. Anfangs hatte Marzotto sich wie ein Schauspieler vor der Vorstel lung gefühlt, nervös und vom Lampenfieber gequält. Jetzt war es vorbei. Gelassenheit überkam ihn. Er beherrschte seine Rolle. Der Vorhang hatte sich geöffnet. Er war aus der Kulisse auf die Bühne getreten und hatte nun seinen Satz zu sprechen. Es gab nur den einen: Sacco Syracusa muß sterben.
Troiano Marzotto hatte die Waffe nach der Anwei sung des Verkäufers zusammengesetzt. Sie war geladen, das Zielfernrohr war aufgesteckt und justiert. Vom Meer her kam Wind auf. 92
Er stand hinter dem Kerosinbehälter der Tank stelle für Privatflugzeuge. Im Fadenkreuz seines Zielfernrohrs lag der weiße Lear-Jet. Marzotto spannte, entsicherte und legte die Waffe auf den Erdtank. Es stank überall nach Flugbenzin. Dann wartete er. Es dauerte. Drüben bei den Hangars ging der Wachposten mit Hund schon zum zweitenmal vorbei. Etwa einen Kilometer entfernt, auf der anderen Seite des Rollfeldes, wo die Passagier- und Cargo-Jets abgefertigt wurden, herrschte reger Betrieb. Tankwagen, Busse und Vorfeldfahrzeuge fuhren emsig hin und her. Troiano Marzotto schob die Hände in die Taschen. Es fröstelte ihn. Nicht wegen der Kälte, sondern aufgrund der Spannung. Er wagte nicht, auf und ab zu gehen. Bloß keine Silhouette gegen den Westhorizont bilden. Er ver änderte seine mühsam gefundene Position nicht einen Schritt. Plötzlich flammte ein Hangarscheinwerfer auf. Eine Citroen-Limousine näherte sich dem Ge schäftsreiseflugzeug. Drei Männer stiegen aus. Zwei trugen dunkle Pilotenuniformen mit Ärmelstreifen. Der dritte war gekleidet, als würde er auf Großwildjagd gehen. Drellhosen, in Camel-Schnürstiefel gesteckt, Pullover, lange Lederjacke. Selbst ohne Zielfernrohr erkannte Marzotto sei nen Freund aus früheren Tagen. Das war Salami. Marzotto zog den Kolben in die Schulter ein. Er entsicherte, richtete das Visierkreuz auf Syracusas Rücken und ließ den Lauf mitwandern, bis er ihn,
ohne die anderen zu gefährden, frei im Schußfeld hatte. Er wußte, er würde ihn töten. Mit soviel Gefühl, wie man einen Moskito erschlug. Wenn der Schuß gefallen war, würde Syracusa tot am Boden liegen. Der Finger krümmte sich um den Abzug. Er fühlte den Druckpunkt. Der Schuß peitschte hin aus. Aber nicht, weil er abgezogen hatte, sondern weil sich der Lauf der Waffe auf unerklärliche Weise zu den Sternen bewegt hatte. Das Zielfernrohr bohrte sich in Marzottos Augenhöhle. Schmerz durchzuckte ihn. Das Auge tränte. Als er wieder sehen konnte, standen zwei Män ner hinter ihm. Der eine hatte das Gewehr, der andere drückte ihm den Revolver in die Hüfte. Zwei Wachpolizisten. Ein dritter mit Hund stand dabei. Sie legten ihm Handschellen an und warteten auf den Mann, der jetzt vom Lear-Jet herübereilte. „Das war gegen Sie gerichtet, Monsieur", sagte einer der Wachmänner. „Danke. Gute Arbeit, Leute." „Wir haben ihn beobachtet. Ist kein Profi." Sacco Syracusa musterte den Mann, der ihn hatte abschießen wollen. Er schien ihn zu kennen. „Leuchten Sie ihm ins Gesicht", befahl er. Geblendet schloß Marzotto die Augen. Einer tastete ihn ab, fand den Paß und blätterte ihn auf. „Dottore Troiano Marzotto. Amerikaner." „Sizilianer", verbesserte der Mafioso im Jagdan zug. „Aber ein ganz mieser, eine dreckige Drecks laus. Schafft ihn weg." 94
Mehr zu sagen, war er offenbar nicht in der Lage. Auch ihn hatte ein solches Zusammentreffen mit Marzotto nach zwanzig Jahren geschockt. Er schüttelte den Kopf, hielt jedoch mit der Bewegung plötzlich inne und starrte seinen Gegner noch einmal an. „Ja, bringt ihn weg. Aber verwahrt ihn gut. Ich rechne mit ihm ab, wenn ich zurückkomme." Der Lear-Jet startete kurz darauf. Später hoppelte ein Peugeot Kombi über das Vorfeld. Sie stießen Marzotto hinein. Wenn er angenommen hatte, daß man ihn zum Verhör in die Präfektur brachte, dann irrte er sich. Es ging in Richtung Toulon, dann in die Berge. Allem Anschein nach hatte Sacco Syracusa auch hier seine Lohnknechte.
10. Als Robert Urban, BND-Agent Nr. 18, erwachte, war es so früh, daß ihm nicht einmal sein Name einfiel. Vor dem Spiegel wußte er ihn dann wieder und auch, was an diesem Tag an Arbeit auf ihn wartete. Er frühstückte Kaffee und eine Zigarette. Dabei führte er noch ein Telefongespräch. Es war das letzte in einer langen Reihe, die ihm, Molekül für Molekül, ein wenig mehr Klarheit über die Struktur dieser geheimnisvollen Zelle ver schafft hatte. Einer lebenden, wachsenden, sich zu einem tödlichen Virus entwickelnden Zelle. Die Reisetasche stand gepackt in der Diele seines Penthouses. Er nahm sie auf, sperrte ab, schaltete 95
die Alarmanlage ein und fuhr mit dem Lift in die Tiefgarage. Der BMW, sein bayrisches Kampfroß, stand, betankt und gut geschmiert, in der Box. Er ließ an, rollte hinaus und bog in Richtung Leopoldstraße ab. An der Kreuzung hatte er Grün. Er nahm es als gutes Zeichen. Zwanzig Minuten später war er durch die Stadt und nahm die Autobahn Richtung Süden. Vor Kufstein tippte er eine Ziffer ins Autotele fon. Die Wählautomatic stellte die Verbindung her. „Hier Achtzehn", meldete er sich beim Vize. „Ich bin unterwegs. Haben Sie noch eine Information, nach der ich meine Uhr stellen kann?" „Nichts, was unsere logische Kette unterbrechen könnte", beruhigte ihn der zweite Mann im BND. Urban schaltete auf Lautsprecher und Mikro. So konnte er Tempo halten, ohne durch den Hörer behindert zu sein. Die Verständigung war etwas schlechter, aber sie verstanden sich ausreichend gut. „Zur Oslo-Verschwörung gehört also auch Chief superintendent Billham Grey von Scotland Yard. Ein Freund von Brigadier Donway", klopfte Urban noch einmal alle Glieder auf Festigkeit ab. „Ist das bestätigt?" „Die Spionageabwehr von MI-five beobachtete zwei Treffs. Einen in London bei den Docks und einen in Paris, viertes Arrondissement. Grey hatte dabei immer mit ein und demselben Mann zu tun." „Der bei Interpol als der Mafia-Killer Sacco aus der Familie Syracusa bekannt ist", ergänzte Urban. 96
„Er flog von Marseiile mit einem privaten LearJet nach Indien." „In Indien", tastete Urban sich weiter an der roten Schnur entlang, „wurde das deutsche TVTeam von Frank Wieland ermordet. Und zwar nach den Aufnahmen mit Hamedus. Als Täter wurden ein einäugiger Mongole und General Gra ham Sylvestre beschrieben." „Der wiederum zur Oslo-Connection gehört." „Alles deutet darauf hin, daß es den Mördern um das Filmmaterial ging. Also um Hamedus." „Und der Mafia-Killer, der zweifellos von der Gruppe angeheuert wurde, ist unterwegs nach Indien." „Um Hamedus zu töten", stellte Urban als These in den Raum. An dieser Stelle war der Kreis noch nicht geschlossen. Aber es lagen ein paar Glieder herum, die sich vielleicht in die Kette einfügen ließen. „Wie paßt nun dieser amerikanische Kunsthisto riker italienischer Herkunft dazu?" fragte der Vize. „Meine Informationen sind zuverlässig. Die MI five-Leute, die Brigadier Donways Kontakte zu Grey und dem Killer verfolgten, waren in Mar seiile, als Syracusa abflog. Minuten vorher kam es zu diesem Zwischenfall." Urban kannte die Fakten. Ein Mann, der auf Syracusa schießen wollte, war verhaftet worden. Zwar gab es keine Protokolle für diese Verhaftung, aber die MI-5 Leute hatten den Namen erfahren. Professor Dr. Troiano Marzotto. - Und deshalb war Urban jetzt unterwegs nach Florenz. Bei seinem letzten Anruf hatte er die Adresse der Schwester des spurlos verschwundenen Professors 97
erfahren. Freunde verholfen.
beim
FBI
hatten
ihm
dazu
Mit dem Namen Prof. Dr. Troiano Marzotto hatten sie ein ganzes Bündel von Informationen geliefert. Marzotto war vor zwanzig Jahren mit seiner Schwester nach den USA ausgewandert. Sie hatten gearbeitet, gedarbt, studiert, hatten Stellen als wissenschaftliche Assistenten, schließlich als Dozenten gefunden. Jetzt waren sie mit einem Forschungsauftrag der Universität von Kalifor nien, ausgestattet mit Mitteln der Morgan-Founda tion, in Florenz, um neues unbekanntes Material über die Medici auszugraben. Vom Büro der Uni versität hatte FBI sogar die genaue Adresse be schafft. Sie wohnten in Fiesole, einem kleinen Ort in den Hügeln nördlich von Florenz. Urban rechnete, daß, falls er glatt durchkam, er in vier Stunden dort sein konnte.
Von hinten sah sie aus wie ein zwanzigjähriges Modell für Badeanzüge. Sie trug ein T-Shirt, das nicht sehr weit über die Schulterblätter reichte, und über dem runden Hintern ein Höschen aus so dünnem Stoff, daß es sich in die Spalte ein klemmte. Urban war ihr um das Haus herum gefolgt. Auf der Terrasse rückte sie den Liegestuhl in den Schatten. Im Begriff, sich auszuziehen, erblickte sie ihn. Von vorn war sie anders. Eine erblühte siziliani 98
sche Schönheit. Im besten Frauenalter von Mitte Dreißig. Auch vorn reichte der T-Shirt nur knapp über die Brüste. Und das Höschen saß verdammt eng im Schritt. Urban hatte sich geräuspert, um sie nicht zu erschrecken. Er tat es noch einmal. „Rebeca Marzotto?" Sie stellte die Brauen eng. „Bei uns ist es Sitte, daß der Besucher seinen Namen nennt." Eine angenehme dunkle Stimme. Sie sprach American-English, das Urban eini germaßen beherrschte. Einen Lidschlag lang hatte sie ihn angesehen. Offenbar hatte das genügt, um zu erkennen, daß er kein Kretin war. „Roberto Urbano." Eine Handbewegung, die einem Hund das Bellen verbot, forderte ihn zum Sitzen auf. „Ihr Besuch wurde mir angekündigt", behauptete sie. „Das ist unmöglich, Professoressa", erklärte er. „Stimmt es, daß Sie von der Polizei sind?" „Polizei nicht gerade." „Interpol oder Geheimdienst vielleicht." „Schon eher." Sie ging ins Haus, brachte zwei Gläser und eine Karaffe mit rubinrotem Wein. „Dann wurden Sie mir angekündigt, und zwar durch die letzten Worte meines Bruders. Wenn ein Mann wie Troiano sich auf Illegales einläßt, geht das meist sehr schief." Sie goß sein Glas voll, das ihre nur halb. „Wegen Ihres Bruders bin ich hier", gab er zu. 99
Sie trank hastig und starrte zu Boden. Als sich ihre dunklen afrikanischen Augen mit Tränen füllten, schlug sie die Hände vors Gesicht, um ihre Fassungslosigkeit zu verbergen. „Er ist tot", hörte er sie flüstern. „Tot wie einer, der zum ersten Mal in seinem Leben etwas Unrechtes tut und alles falsch macht, weil er es nicht kann." Urban wartete, bis sie sich beruhigt hatte und seine Worte verstand. „Ihr Bruder", sagte er, „schlug sich tapfer. - Er traf nur nicht." „Was wissen Sie von Marseiile?" „Zu wenig für ein rundes Bild, Dottoressa", bedauerte er. „Wenn wir aber zusammenlegen, könnte daraus etwas werden." „Die Polizei sucht meine Hilfe? Ich weiß doch nichts", klang es verzweifelt, „Und ich bin nicht von der Polizei", erwähnte Urban noch einmal. „So ergänzen wir uns." Sie legte ihre Hand auf die seine. „Versprechen Sie mir, daß Sie sich nicht an die Polizei wenden werden?" „Das Rad, Signorina", antwortete er, „das hier gedreht wird, ist zu groß für die Polizeiorganisa tionen dieser Welt." „Madonna", stöhnte sie. „Er wollte es diesem Mafioso doch nur heimzahlen, weil er schuld ist am Tod unserer Eltern." „Nun mal von Anfang an", bat Urban. Er begann zu erzählen, um sie abzulenken, damit sie nicht wieder in Weinkrämpfe verfiel.
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Rebeca Marzotto war jetzt erstaunlich ruhig. Sie hörte mit wachsendem Interesse zu, was Urban ihr mit den dürren Worten eines Profiagenten mitteilte. Dann begann sie zu erzählen. Von ihrer Jugend in Palermo bis zum heutigen Tag. „Wie", fragte Urban, als sie geendet hatte, „lauteten die letzten Worte Ihres Bruders?" Sie dachte nach. „Ich werde ihn töten." „Er fand Syracusa demnach", kombinierte Urban. „Also weiß er mehr. Aber woher bezog er sein Wissen?" „Er weihte mich mit Absicht nicht ein. Er sagte immer, Wissen ist gefährlich. Je dümmer du bist, desto länger lebst du." „Er muß sich die Informationen erkauft haben." „Mit Sicherheit." „Das ist teuer." „Wir sind nicht unvermögend." Ihrem Tonfall nach wollte sie aber nicht darüber sprechen. Urban bemerkte nur: „Für Geld kriegt man alles." „Wenn er nicht tot ist und nicht bei der Polizei, wo ist er dann?" fragte Rebeca Marzotto, zuneh mend besorgt. „Sie lieben Ihren Bruder." „Er ist das einzige, was ich habe. Außer meiner Arbeit." „Ist da sonst niemand?" „Kein anderer Mann, wenn Sie das meinen." Auch hier bohrte Urban nicht tiefer. Daß eine so schöne und gebildete Frau keinen Ehemann oder Geliebten haben sollte, das wunderte ihn einigermaßen. Aber die Ereignisse in Palermo, als 101
sie flohen, um ihr Leben zu retten, hatten ihren weiteren Lebensweg wohl stark beeinträchtigt. „Offiziell weiß die Polizei in Marseiile nichts", sagte er. „Nun Marseiile ist Marseiile, und die Polizei verfolgt mal diese mal jene Taktik." „Die stecken doch alle unter einer Decke", brach es aus ihr heraus. „Nicht alle", schränkte Urban ein. „Aber über all gibt es das, was man Corpsgeist nennt." Der Weg, den er nehmen mußte, war nun vorge zeichnet. Wenn er hier nicht weiterkam, dann nur über den Professore. Jedes Detail war jetzt wich tig. Die Oslo-Connection war nur aufzubrechen, wenn man ihre Ziele kannte und alles mit Bewei sen untermauern konnte. Sie redeten noch lange an diesem Abend.
Es wurde spät und kühl. Rebeca Marzotto ging
hinein und zog eine Jacke über. „Bleiben Sie zum Essen?" Urban zögerte.
„Man sagt, die Wahrheit sei Gold. Mitunter ist sie kostbarer als Gold. Ich muß Ihren Bruder finden, Rebeca." Er hatte sie mit ihrem Vornamen angesprochen. Sie hatte nichts dagegen und nahm auch ihrerseits diese Form der Anrede in Anspruch. „Was haben Sie vor, Roberto?"
„Dort weiterzumachen, wo Ihr Bruder zum letz
ten Mal gesehen wurde." „Nehmen Sie mich mit nach Marseiile?" „Ungern", gestand er. „Natürlich. Wissen ist gefährlich. Dumm lebt man länger. Troiano und ich, wir haben das gleiche Blut. Für Sizilianer ist das wichtig." 102
„Meinetwegen", entschied er.
„Wann fahren wir? Meine Sachen sind schon
gepackt.,, „Jetzt." Sie blickte ihn an. „Seit wann sind Sie auf den Beinen, Roberto?" „Nur seit achtzehn Stunden." „Und wie lange fährt man bis Marseiile?" „Morgen früh können wir dort sein." „Genügt es nicht morgen mittag?" Aus Erfahrung wußte er, daß man in einen Zustand von Müdigkeit geraten konnte, indem man Fehler beging. Er stand auf und schaute sich um. „Ich habe Liegesitze im Wagen. Buona notte, Signorina dottoressa." „Darf ich Ihnen mein Bett anbieten?" fragte sie. Er wirkte überrascht. „Gern." „Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Nur das Bett natürlich." „Aber klar. Und Ihren Wecker." „Vier Uhr?" „Vier Uhr", sagte er. Sie war schon ein verdammt verführerisches Weib. Offenbar wußte sie es gar nicht wie verfüh rerisch. Er traute ihr sogar zu, daß sie noch Jungfrau war. Er warf sich aufs Bett, angezogen, und schlief, auf dem Rücken liegend, sofort ein.
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Wozu hatte der Mensch Freunde. - Wenn es die Internationale der Werktätigen gab, gab es auch Kumpaneien von Geheimagenten über alle Gren zen hinweg. Nur waren sie nicht gewerkschaftlich organisiert. Trotzdem wurden Beiträge eingezogen. Sie nannten es Dienste. Du schuldest mir einen Gefal len, bitte löse jetzt diese Schuld ein. Auf der Fahrt von Florenz über Pisa, Genua und Monaco hatte Urban zweimal getankt und zweimal telefoniert. Immer hatte er Rebeca erzählt, mit wem. „Diesmal mit Paris." „Und in Paris?" „Mit der Sûreté." „Und mit wem telefonierte die Sûreté?"
„Mit Marseille."
„Alles Komplizen, he?"
„Ohne die geht nichts, weder in der Politik noch
in der Wirtschaft, nicht einmal bei der Kirche." „Hauptsache, sie finden dadurch meinen Bruder." „Mal gucken", sagte er. „Ich habe jetzt den Namen eines Polizisten, der dabei war. Leider ist das nicht ganz sicher." „Und wie kriegen Sie es sicher hin?"
Urban nahm eine Hand vom Lenkrad und ballte
die Faust. „Damit." „Ich verabscheue Gewalt", gestand sie. „Ich auch, Madame." Er nannte sie jetzt Madame, denn sie waren auf französischem Boden. „Kann ich mich mal frisch machen?" fragte sie. 104
„Im Handschuhfach ist ein Parfumtuch." Sie suchte danach und stellte fest, daß es nicht ihre Sorte sei. „Außerdem muß ich mal für Mädchen." Er schaute auf die Uhr. „In einer halben Stunde erhalte ich die letzte Information." „Solange halte ich noch durch." Auf der Autoroute kamen sie schnell voran. An der Raststelle Aix-en-Provence fuhr er heraus. Sie trafen sich an der Theke und nahmen einen Kaffee. „Hatten Sie Erfolg?" wollte Rebeca wissen. „Der Name des Polizisten ist Marcel Corneaux. Rue Madrigale, Nummer vierundvierzig." Sie gab Sahne und Zucker in den Espresso, damit er sich ein wenig abkühlte. „Es geht Ihnen nicht nur um meinen Bruder. Stimmt's?" „Um Informationen." „Informationen sind wichtiger als Personen." „Mitunter ja. Dann etwa, wenn sie helfen, Kriege zu verhindern." „Würden Sie notfalls Troiano opfern?" „Er ist nicht mein Bruder, Madame." „Aber meiner." Er wollte sie nicht quälen. „Sie kriegen ihn heil zurück", versprach er. „Worte", flüsterte sie. „Nur Worte." „Damit beruhigen sich die Menschen gegen seitig." „Und mit Gefühlen, Monsieur." „Und mit Lügen", ergänzte er. „Oft unbewußt allerdings." 105
„Worte und Gefühle", sagte sie, „entsprechen selten der Wahrheit. Aber haben wir etwas an deres?" „Taten zum Beispiel." Mehr fiel ihm nicht ein. „Glauben Sie, daß Jeanne d'Arc mit Begeiste rung auf den Scheiterhaufen stieg?" „Sie konnte nicht anders", befürchtete Urban. „Wie mein Bruder. Ehre ist eine verdammte Scheiße und Haß eine dreimal verfluchte." „Da wären wir wieder bei den Gefühlen ange langt, Madame." „Sie sind das einzige, was uns von den Tieren unterscheidet", bemerkte sie bitter. „Bleibt noch die Liebe." „Was anderes fällt Ihnen nicht ein, Monsieur." „Nichts Besseres", gestand er. Sie tranken aus und fuhren weiter.
Der Polizeisergeant Marcel Corneaux wohnte in einem Reihenhaus in einem Öden Vorort von Mar seiile. Die Garage neben dem Haus war offen. Ein R-4 stand darin. Urban hatte seinen BMW unter den Platanen geparkt und wartete. „Was haben Sie vor?" fragte Rebeca Marzotto. „Keine Ahnung", äußerte er. Eine Frau verließ das Haus und fuhr mit dem Fahrrad weg. Später kam ein etwa elfjähriges Mädchen mit Schultasche. Es holte den Schlüssel unter der Fußmatte hervor, sperrte auf, ging hin 106
ein und erschien bald darauf im Jogginganzug und Tennisschuhen wieder. Die Kleine sperrte ab und versteckte den Schlüssel. Urban schaute auf die Uhr. Es dauerte nicht lange, dann kam die Mutter nach Hause. Der Einkaufskorb auf dem Gepäck träger war voll. Sie stellte das Rad in die Garage. Als sie wieder aus dem Haus kam, trug sie statt Hosen Rock und Jacke. „Was hat sie?" fragte Rebeca Marzotto. „Zahnschmerzen", vermutete Urban. Sie warteten. Urban rauchte und nahm einen Schluck Whisky aus der silbernen Reiseflasche. Er war jetzt eintausendachthundert Kilometer gefah ren, mit nur drei Stunden Schlaf dazwischen. Vom Haaransatz her kündigten sich Kopfschmerzen an. — Aber das hier mußte er noch durchstehen. Sein Informant, Gil Quatembre vom SDECE, der auch Namen und Adresse des Polizisten gelie fert hatte, war der Meinung, Marcel Corneaux habe entweder Früh- oder Spätschicht. Schicht wechsel war immer mittags. Die Dottoressa wurde schon nervös, da bog vorn bei der Kirche ein Wagen um die Ecke. Es han delte sich um einen blauen Peugeot, ein Streifen fahrzeug der Marseiller Polizei. Der Wagen hielt vor Corneauxs Haus. Der Ser geant stieg aus, rief dem Fahrer etwas zu und ging hinein. „Na also", stellte Urban fest. „Ziemlich pünkt lich." Von der Garage gab es einen Durchgang ins 107
Haus. Die Tür war nur zugeschnappt. Mit dem Nagelreiniger bekam Urban den Riegel auf. Drinnen pfiff ein Wasserkessel. Im Radio wurde Champs Elysees gespielt. Ein Mann sang dazu. Marcel war offenbar bester Laune. Urban befürchtete, daß er sie ihm verderben mußte. Er sah den Polizisten in der Küche hantieren, wo er gemahlenen Kaffee in eine Filtertüte schau felte. Einen Löffel, zwei, drei. Urban lehnte sich gegen die Türfüllung.
„Hallo Marcel!" grüßte er.
Der Polizist fuhr herum.
„Wer bist du, wie kommst du rein?"
Daß Urban unbewaffnet war, schien ihn zu
beruhigen. „Bin gleich wieder weg. Nur ein paar Worte, Marcel." Der Polizist, ein bulliger Kerl, schien abzuwä gen, verzichtete dann aber auf Gewalt. „Ich höre." Dabei goß er heißes Wasser in den Filter. Äußerlich wirkte er ruhig, aber seine Hand zit terte, als er den Kaffee brühte. Urban schaute ihm zu und lächelte. „Ich sagte, ich höre", drängte der Polizist. „Wo ist der Professeur?" Der Polizist tat erstaunt. „Kenne keinen Professeur. Hatte mal welche in der Schule. Aber mit denen pflege ich keinen Umgang." „Den Italiener meine ich. Vorgestern nacht. Flughafen Marignane." Corneaux blickte schief von unten her. „Was geht's dich an?" 108
„Deinen Vorgesetzten gewiß 'ne Menge, Marcel." Der Polizist grinste unverschämt wie einer, der sich im Unrecht fühlte. „War 'ne reine Privatsache," „Bewaffnet und in Uniform?" zweifelte Urban. „Das glaube ich nicht." „Wir waren in Zivil." „Du arbeitest nebenbei für ein Büro, das Perso nen- und Objektschutz verkauft. Als Miet- oder Leibwächter." „Das ist nicht verboten. Man kommt mit dem Polizistengehalt nicht durch. Das machen alle. Außerdem habe ich den Job gemeldet." „Aber so ein Job", wandte Urban ein, „und eine illegale Verhaftung plus Entführung eines Man nes, das sind zweierlei Dinge. Was hat euch dieser Mafioso bezahlt?" Der Polizist schien die Tragweite der Anschul digung zu kennen. Falls sie zu beweisen war. „Was faselst du da, Mann?" „Vorgestern nacht, Marignane, dreiundzwanzig Uhr, kurz vor dem Start des Lear-Jet. Ihr faßtet einen Mann mit Gewehr." „Einen Killer", betonte der Sergeant. „Wohin habt ihr ihn gebracht? Er ist in keinem Polizeigefängnis dieses Landes zu finden." Der Polizist lief zornrot an. „Verdufte endlich, Mann! " schrie er. „Nicht ehe ich eine Antwort habe." „Das ist Verleumdung. Ich weiß nichts. Wollt ihr mir was anhängen?" Urban gab psychischen Druck. „Das kostet dich deine Ärmelstreifen. Vermut 109
lieh jagt man dich mit Schimpf und Schande aus dem Polizeidienst, Corneaux." „Woher, zum Teufel. . . und wer bist du, Mann?" Der Polizist stand kurz vor einem Tobsuchtsan fall, zumindest vor einer unüberlegten Handlung. Er holte aus und warf die Kanne mit dem Kaffee nach Urban und den halbvollen Kessel mit kochendem Wasser hinterher. Urban duckte ab. Die Kanne schepperte in der Diele gegen die Tapete. Er bekam nur ein paar heiße Spritzer ab. Das Wasser ergoß sich über sein Glenchecksakko und die Hose. Aber da war er schon bei Marcel Corneaux und stieß ihm die Faust unter den Solarplexus. Der Polizist stieg auf die Zehen. Urban hämmerte ihm die andere Faust ans Kinn und drehte ihm das Hemd vorn zu einem Strick. „Mon ami", zischte er. „Unter Freunden: Du hast eine Chance, dein Leben in gewohnter Weise weiterzuführen, indem du sagst, wohin ihr den Professor gebracht habt. Und zwar jetzt sofort." „Wer weiß noch davon?" fragte der Polizist keuchend. „Der Mann, der mit dem Flugzeug abhob, wurde beobachtet. Der Beobachter wurde auch Zeuge, wie ihr den Italiener wegbrachtet. Ihr fuhrt in Richtung Toulon und dann in die Berge. Man kann ihn in einer Großaktion suchen lassen, aber das verursacht 'ne Menge Aufhebens. Bis zur Stunde wissen von der Entführung drei Leute. Der Agent, der Chef des SDECE in Paris und ich." Corneaux schloß die Augen und atmete schwer. 110
Aber seine Muskeln entspannten sich nicht. Lang sam zog er das Knie an. Offenbar rechnete er sich aus, daß er mit diesem Mann, der ihn fertigzuma chen versuchte, nicht anders klarkam. Mit aller Kraft trat er in Urbans Leib. Urban ließ ihn los, taumelte zum Kühlschrank. Der Polizist hatte eine Waffe in der Hand. „Du bist ein Idiot, Marcel", sagte Urban. „Schau zum Fenster raus, dann siehst du meinen Dienstwagen. Im Wagen sitzt meine Mitarbei terin. " Erst glaubte der Sergeant ihm nicht, dann drehte er sich doch zur Seite. Er wandte Urban nur für einen Augenblick den Rücken zu. Genug Zeit für Urban, um den Wasserkessel aus Alumi nium am Schädel des Gegners zu zerbeulen. Der Rest des heißen Wassers verdampfte. Als sich der Dampf verzogen hatte, stand Urban da, und der Polizist lag am Boden. „Wo, Marcel, ist der Gefangene?" „Wir machen dich fertig, Mann", drohte der Sergeant. „Und du machst dich und deine Familie un glücklich." Urban stieg ihm zwischen Kinn und Kragen auf den Adamsapfel. „Wo?" Corneaux traten die Augäpfel hervor. „In einem Haus bei Carnoule." „Beschreib den Weg." Der Polizist sah wohl keine andere Chance mehr und tat es. Jetzt erst trat Urban zurück und sagte: „Wehe, wenn ich ihn nicht unverletzt finde und 111
mit ihm morgen früh drüben in Italien bin, dann seid ihr dran. Du, deine Kumpel, der ganze Saft laden, für den ihr nebenbei arbeitet. Abgesehen von deiner verpfuschten Karriere, Sergeant Cor neaux." „Hauen Sie ab!" Corneaux fluchte und wischte sich Blut von der Lippe. „Sie . . . Sie Scheißbulle, Sie." Draußen im Wagen saß Urban, ehe er losfuhr, einen Moment benommen da. Das Hammerwerk in seinem Schädel begann zu arbeiten. Die hundert Treffer, die er im Laufe der Jahre abbekommen hatte, hatten ihn ein wenig sensibler gemacht als andere Köpfe. „Soll ich Sie massieren", fragte Rebeca, „die Verspannung der Nackenmuskeln lösen?" „Rumkneten hilft da nichts." Mit zwei Fingern griff er in die obere Sakkota sche, zog einen Tablettenstreifen heraus, unten Plastik, oben Folie, und drückte ein weißes Bon bon hervor. „Was ist das? Kokain?" „Danke, ich brauche keine geistige Anregung, eher eine Abregung." Er schluckte eine Thomapyrin. „Wir sind beide müde", befürchtete Rebeca, Er ließ an. „Wir sollten beide ein wenig schlafen, Roberto." Urban hob die Augenbrauen um zwei Millime ter, bei ihm der Ausdruck höchsten Staunens. „Später", sagte er. „Wie immer das gemeint sein mag." Dann fuhr er los. 112
11.
Der Lear-Jet der französischen Chartergesell schaft Globe Air landete zwischen Marseiile und seinem Ziel in Nordindien zweimal. In Tel Aviv und in Karatschi. Dort wurden jeweils die Tanks mit Kerosin gefüllt und die örtlichen Wetterbe richte eingeholt. Nach einer Gesamtflugzeit von vierzehn Stun den für die achttausend Kilometer landete der zweistrahlige Privatjet auf dem Flugplatz der Stadt Monghyr an den Ufern des Ganges. Es war 21.00 Uhr Ortszeit und schon dunkel, als der Lear-Jet zum Hangar der Privatmaschinen rollte. Der Fluggast Sacco Syracusa wurde von einem Mann mit einem Rover erwartet. Der Inder war groß und schlank wie ein Europäer, aber dunkel häutig. Sein dichter schwarzer Bart unter der Adlernase ließ nur wenig von seinen Gesichtszü gen erkennen. - Möglicherweise war seine Mutter Europäerin gewesen, denn er sprach ein außerge wöhnlich reines Englisch. „Ihr Gepäck, Sir?" „Nur ein Koffer. Wird bereits ausgeladen." Einer der Piloten brachte das Gepäckstück, warf es hinten in den Kofferraum der Limousine und klopfte auf das Dach. „Okay." „Zoll?" fragte Syracusa den Inder. „Hätten Sie Probleme damit, Sir?" „Nein. Meine Ausrüstung ist gut getarnt und in ihre kleinsten Einzelheiten zerlegt." „Kein Zoll, Sir", sagte der Mann, der ihn 113
abholte. „Alles ist nach Wunsch vorbereitet. Das nächste Flugzeug steht bereit." „Ich fliege also sofort weiter." „Sie legten Wert darauf, Sir." „Ja, ich muß die Arbeit hinter mich bringen." „Was immer Ihre Arbeit sein mag." Der Inder fuhr los. „Hier in dieser Kartentasche finden Sie die Dokumente, Sir. Die Genehmigung der Nepa lesischen Regierung für Einreise und die Bestei gung eines der Achttausender sowie für die Anmietung von Sherpas. Allerdings sind die Löhne vorgeschrieben." „Darauf kann ich verzichten", bemerkte Syra cusa grinsend. „Es gehört nun einmal dazu, Sir."
Der Wagen fuhr mit Standlicht quer über den Provinzflughafen. Der Tower, ein Türmchen auf einer Baracke, führte ein rotes Drehlicht. Er mochte gut einen Kilometer entfernt sein. „Wohin geht es?" „Nach Patan. Eine kleine Stadt südöstlich von Katmandu." „Wann werde ich dort sein?" „In ungefähr einer Stunde. Wir haben eine DCdrei für Sie besorgt. Älteres Flugzeug. Propeller maschine, aber zuverlässig." „Ist sie jederzeit zum Rückflug bereit?" „Der Pilot wartet auf Sie und hat Anweisung, das Cockpit nicht zu verlassen." „Und wo finde ich meinen . . . hm . . . Freund?" „In der Mappe ist eine Skizze, Sir. Sie beschreibt den genauen Weg vom Flugplatz in die Stadt und zu dem Haus." „Und das Haus ist eine Burg, he?" 114
„Das feste, solide, mit einer Mauer umgebene Haus einer einflußreichen und vornehmen Familie. Es gibt keine Hunde, aber einen Wächter. Sie haben den Namen der Familie und die Straße, Sir. Jeder wird Ihnen sagen, wie Sie hinkommen." „Was habe ich noch zu beachten?" „Der Mann am Flugplatz erwartet ein Geschenk, Sir." „Kugelschreiber, Feuerzeug, eine billige Quarz uhr", höhnte Syracusa. „Dreitausend Dollar, Sir", sagte der Inder. „Die habe ich bei mir." „In Gold." „Sechs Krüger Rand. Die werden doch akzep tiert, oder?" „Zweifellos, Sir."
Der Rover hoppelte über den Grasplatz. Bald
tauchten die Umrisse der zweimotorigen Douglas auf. Wie alle Maschinen dieser Generation hatte sie kein Bugrad und war vom Schwanz nach vorne schräg aufgerichtet. Der Inder hielt unter der Tragfläche. „Ich erwarte Sie hier", sagte er. „Sollte ich verhindert sein, schicke ich meinen Vertrauten. Wann darf ich Sie zurückerwarten, Sir?" „Sobald es erledigt ist." „Morgen." „Lieber früh als am Mittag." Ein Mann in beigen Hosen und brauner Leder jacke näherte sich der Limousine. Er nannte irgendeinen australisch klingenden Namen. „Ich bin der Pilot. Wo ist Ihr Gepäck, Sir?" „Nur ein Koffer", sagte Syracusa. „Und den nehme ich selbst." 115
Wenige Minuten später starteten sie. Die Pisten beleuchtung flammte nur kurz auf. Es war wie im Krieg, wenn man Angst hatte, der Feind könnte irgendwo lauern und zuschlagen.
Sacco Syracusa saß während des Fluges neben dem Piloten. Es war eine helle Nacht, nur die Wolken, durch die sie flogen, waren schwarz. „Wie kommt es, daß man hier so weit sehen kann?" fragte der Killer. „Die Luft, Sir." „Wann sind wir da?"
„Fünfzehn Minuten noch, Sir." „Müssen Sie tanken?" „Nein. Ich kann jederzeit starten, Sir." Der Killer ging nach achtern in die Kabine. Sie hatte nur vier Reihen zerschlissener Sessel. Der Rest war Frachtraum. Er öffnete den Koffer und schraubte seine Aus rüstung zusammen. Als er damit fertig war, stan den ihm ein Klappmesser, vier Handgranaten, eine automatische 45er, eine Scorpion-Maschinenpi stole mit zwei Magazinen und eine Bombe zur Verfügung. Klein wie ein Elektrorasierer, war sie innen voll Semtex, dem brisantesten der derzeit bekannten Sprengstoffe. Die Bombe verfügte über einen Zeitzünder, einstellbar von zehn bis zwei hundert Sekunden. An die richtige Stelle placiert, konnte sie ein Hochhaus zum Einsturz bringen. Das alles verbarg der Killer in den Taschen und unter seinem Trenchcoat. 116
Nun zwängte er sich wieder auf den Copiloten sitz und steckte sich eine Zigarette an. Noch war von einem Flugfeld nichts zu sehen. Aber der Pilot hatte schon die Klappen ausgefah ren und die Motoren gedrosselt. Sie flogen durch ein schlauchenges Tal. Beiderseits ragten Fels wände empor. Wolkenfetzen zogen vorbei. Bald weitete sich das Tal, und die Wolken waren über ihnen. Lichter schimmerten herauf. Es ging auf 23,00 Uhr. Wie ein Hund seine Hütte, so schien der Pilot den kleinen Flugplatz zu wittern. Er schwebte an, gab einen Gasstoß, setzte auf. Das Fahrwerk polterte. Die DC-3 rollte schwankend aus. Der Pilot öffnete die Schiebetür und klappte die Aluleiter nach unten. „Die Stadt liegt dort", sagte er und deutete talwärts, „wo die Lichter sind und wo der Gestank herkommt." „Was ist das für ein Geruch?" „Yakdung, Abfallholz, Altöl, Altgummi. Sie ver feuern alles, was brennt und was wärmt." „Halten Sie sich bereit", sagte der Mafioso. „Good luck, Sir", wünschte der Pilot. Wie aus der Erde gewachsen stand eine Gestalt vor dem Mafioso, in einem unförmigen Anzug aus steifen Stoffschichten, zwischen die man Watte gesteppt hatte. „Sind Sie empfangsberechtigt?" fragte Syra cusa. „Ich bin der Kontaktmann zur Armee, Sir." „Dreitausend Dollar." „In Gold, Sir", sagte der Mann. „Dafür werden 117
wir heute nacht nicht nur die Augen, sondern
auch die Ohren schließen."
Er nahm das halbpfündige Päckchen entgegen.
Syracusa hatte sich die Karte eingeprägt. Es war eine sehr gute Skizze von beinah militärischer Präzision. Am Rand des Flugplatzes lagen ein paar Felder und Gehöfte. Dann kamen Hütten mit kleinen Gemüsegärten und schon bald die ersten schmalen Gassen. Die ockerbraunen Ziegelhäuser standen eng und vornübergebeugt da. Oben waren sie meist flach. Zur Straße hin gab es kaum Fenster. Manchmal einen Balkon. Nach einem irrgartenartigen Gewinkel erreichte er einen Platz mit einem Brun nen, der kein Wasser gab. Links eine Teestube, ein paar Läden waren noch geöffnet und von Tranfunzeln beleuchtet. Von dem Platz weg führten viele Gassen. Der Pfeil auf der Karte deutete zu der Gasse neben dem hohen Gebäude, vielleicht der Amtssitz des Bürgermeisters oder wie er hier heißen mochte. Syracusa schlug den Kragen hoch und zog die Mütze tief ins Gesicht. Die Gasse führte bergauf. Es stank nach Pisse und saurer Milch, nach Abfall und Scheiße. Genauso wie in den Armenvierteln von Palermo. Und dazu stank es nach dem, was sie hier verfeu erten. Die Stadt war wie ausgestorben. Niemand war unterwegs. Stumme Häuser, leblose Mauern, ein 118
paar Bäume. Dann das große Gebäude, ohne Fen ster nach außen. Am Ende eine kleine Tür in einem doppelflügeligen Tor. Syracusa beschloß, über die Mauer zu gehen. Aus den Fugen bröckelte der Lehmputz. Er konnte den oberen Mauerrand greifen. Mit den Schuhspitzen nachfassend, zog er sich hoch. Oben orientierte er sich. Hinter dem verwilderten Garten war das Haus offen. Versetzt gefügte Ziegel bildeten eine Art Sonnenschutz. Er sprang ab und kam heil auf. Geduckt schlich er durch den Garten und blieb an der Ecke des Hauses stehen. Auf der Terrasse waren Ratanmöbel gruppiert. Eine Laterne schaukelte im Wind. Immerhin hatte sie eine elektrische Birne. Vielleicht dreißig Watt. Der Killer vernahm gedämpfte Stimmen. Es war eine Sprache, die ihm immer fremd sein würde. Nepalesisch, tibetisch, chinesisch, wußte der Teu fel was. Er schlich näher. Zwischen Garten und Haus gab es englische Fenstertüren. Viele Sprossen teil ten sie in kleine Viereckscheiben. Die Wohnhalle drinnen hatte eine niedrige Balkendecke. Im Kamin brannte Feuer. Um den achteckigen Tisch hockten nur Männer. Man hatte Syracusa versichert, Hamedus halte sich in diesem Haus versteckt. Also war der Mann mit dem schlohweißen Haar und dem Bart kein anderer als der Guru. Die anderen redeten, und er hörte zu. Danach sprach er, und die anderen hörten ihm zu. Zwi schendurch schlürften sie Tee aus kurzen Gläsern. 119
Syracusa kannte den Videofilm des deutschen TVTeams. Er hatte sich den Film mehrmals angese hen und zweifelte nicht, daß der Mann am Kopf ende des Tisches derjenige war, den er toten mußte. Er wollte es hinter sich bringen. Die Männer schienen so sehr in die Diskussion vertieft zu sein, daß sie wohl nicht auf die Ter rasse blickten. Plötzlich vernahm Syracusa ein Geräusch, leise, aber ganz nahe. Er fuhr herum. Hautnah hinter ihm stand ein Mann mit einem altertümlichen Gewehr. Sein Atem stank wie der eines Hundes. Gewiß ein tapferer Mann, deshalb wagte er sich auch zu nahe hinter ihn. Der Killer riß das Messer aus dem Gürtel und rammte es dem Wächter in den Leib. Der Mann versuchte, einen Warnschrei loszu werden, aber er brachte nicht mehr als das Kräch zen einer Eule zustande. Er taumelte rückwärts, wankte, fiel ins Unkraut und lag ohne Bewegung da. Syracusa trat nun auf die Terrasse und wählte als Waffe die Maschinenpistole, Er klemmte das Magazin an, riß den Spannhebel durch, visierte auf den Mann mit dem weißen Haar und betätigte den Abzug. Die moderne, leise arbeitende Waffe ratterte los. Ihre tödlichen Geschosse fetzten unaufhaltsam durch die Tür in die Wohnhalle hinein. Die Garben trafen erst den Weißhaarigen, dann die anderen. Der Guru warf die Arme hoch. Die anderen verhielten sich, als seien sie parallel geschaltet. 120
Der Killer bediente jedes seiner Opfer mit einer kreuzweise geführten Garbe. Die sicherste Me thode. Die Männer richteten sich alle noch einmal auf und streckten sich, ehe sie zusammenfielen. Der Killer wechselte das Magazin und feuerte erneut sechsunddreißig Schuß in die Runde. Jetzt erst stürzten Diener und ein paar Frauen herein. Der Mafioso schärfte die Handgranaten und schleuderte sie durch die zerborstenen Türschei ben. Als sie drinnen detonierten, war er schon auf dem Rückweg zur Mauer. Doch ehe er sie überstieg, warf er noch die Semtex-Bombe durch eines der beleuchteten Fen ster. Er hatte ihr sechzig Sekunden Vorlauf ge geben. Als sie explodierte und das Haus zum Bersten brachte, daß Steine und Balken in den Nachthim mel wirbelten, war er schon so weit entfernt, daß er nur noch die heiße Druckwelle im Nacken spürte. Er hastete den Weg zurück durch die Straßen, die Gassen, die Gärten, die Felder zum Flugplatz. Der Pilot stand an das Fahrwerk der DC-3 gelehnt und drehte sich eine Zigarette. „Es brennt in der Stadt, Sir", sagte er. „Schon möglich." „Ich hörte eine Explosion. Was mag da gesche hen sein, Sir? Ein Feuerwerk?" „Hat man Sie bezahlt?" fragte Syracusa abge hetzt nach Atem ringend. „Jawohl, Sir."
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„Dann stellen Sie keine Fragen, sondern starten Sie." „Gern, Sir." Der Pilot trat die Zigarette in die Erde. Offen bar war er froh, hier wegzukommen.
12. Der BND-Agent Robert Urban fand das Haus in Carnoule, und es gefiel ihm nicht. Es war wie eine Festung aus Feldsteinen, ummauert und von mindestens zwei bewaffneten Männern bewacht. „Wir müssen bis zur Dunkelheit warten", sagte er, als er zu seinem BMW zurückkehrte. „Warten wir", entschied Rebeca. Aber sie hatte zuviel Glanz in den Augen, um den Aufschub unangenehm zu finden. „Hauptsache mein Bruder lebt." „Sie haben ihn entführt und kaltgestellt. Aber sie werden sich hüten, ihm etwas anzutun." „Ja, das überlassen sie Syracusa." Urban schwieg eine Weile, klappte dann den Sitz an und blinzelte schräg hinauf in den blauen Himmel. „Es ist wie mit einem modernen Fernsehappa rat. Wenn er kaputt ist, muß man die Reparatur dem Experten überlassen. Wer selbst mit dem Schraubenzieher drangeht, der kriegt was auf die Finger." „Meinen Sie mit dem Experten sich oder den Killer?" 122
„Mit dem Hobbymonteur jedenfalls meine ich Ihren Bruder." „Haben Sie schon jemals im Leben gehaßt, Roberto?" „Ja", antwortete Urban. „Aber vielleicht nicht genug." „Nun, Sie sind kein Sizilianer." „Das fehlte mir noch." Sie kippte die Sitzlehne ebenfalls an. Es machte ihr nichts aus, daß sie die Sonne im Gesicht hatte. „Ein Sizilianer vergißt nie", fuhr sie fort. „Auch er vergißt mal." „Ja, aber erst mit seinem Tode." „Mit der Zeit", erklärte Urban. „Die Zeit ist der allergrößte Spezialist, den ich überhaupt kenne. Die Zeit repariert alles, bringt alles in Ordnung." Sie schaute auf die Uhr. „Wie lange haben wir noch?" „Paar Stunden", schätzte er. „Versuchen Sie zu schlafen, Rebeca." „Ich kann nicht." Selbst wenn Sonne auf ihre Haut fiel, sah man darin keine Unebenheit, obwohl sie kein Make up benutzte, nur wenig Lippenstift und etwas Parfüm. Sie trug einen zartgrünen Seidenpullover, einen geradegeschnittenen weißen Leinenrock und keine Strümpfe. Ihre Brüste waren nicht groß, standen aber wie Vulkankegel ab, am Ende so spitz, daß man nicht wußte, wo sie in die Brustwarzen übergingen. Sie bewegte sich unruhig und schlug die Beine einmal nach links, dann nach der anderen Seite 123
übereinander. Der Rocksaum lag hoch über dem Knie. Ihre Schenkel konnten sich sehen lassen. „Wenn ich daran denke, daß Troiano nur wenige hundert Meter da unten . . . vielleicht in Ketten, krank, verletzt, hungernd, frierend . . ." „Ich hole ihn raus", beruhigte Urban sie. „Weil Sie sich etwas davon versprechen", griff sie ihn an. „Richtig", gestand er. „Und weil er . . . " „Weil er was?" wollte sie wissen. „Weil er mein Bruder ist oder weil er unschuldig gefangen gehalten wird." „Es nützt uns beiden. Er wird frei sein, und ich kann mit dieser bösen Sache vielleicht zu Ende kommen." „Und dann?" bohrte sie tiefer. „Dann folgt die nächste böse Sache. Und so weiter und so fort, bis in alle Ewigkeit. - Und was werden Sie danach tun, Rebeca?" „Wir werden unseren Forschungsauftrag be enden." „Kehren Sie wieder in die USA zurück?" „Wir verfügen über erhebliche Geldmittel. Wir sind die neuen Medici von Florenz." „Warum arbeiten Sie dann für die Universität?" „Wir verfügen erst seit kurzem über das Ver mögen." „Geerbt?" „So kann man es nennen." „Ändert es Ihr Leben?" erkundigte er sich. „Vielleicht", deutete sie an. Er stieß eine MC aus dem Päckchen und nahm das Goldmundstück zwischen die Zähne. „Wandern Sie vielleicht aus, in die Südsee?" 124
„Warum nicht." Kopfschüttelnd setzte er die Zigarette in Brand. „Aber was machen Sie, wenn Sie dort angekom men sind?" „Ja, das wäre das Problem", gestand sie. „Was tut man in der Südsee, wenn man angekommen ist. Eine Frau ohne Mann." „Und keiner ruft an", scherzte er. Ein Vogel ließ sich auf dem Dach des Coupes nieder. Ein großer, schwarzer Vogel, eine Krähe. Man hörte, wie er mit seinen Krallen auf dem warmen Blech herumtanzte. - Ein einschläferndes Geräusch. Urban kehrte aus einem kurzen Traum in die Wirklichkeit zurück, als Rebeca ihm die bren nende Zigarette aus dem Mund nahm, ihn ansah und ihn unerwartet küßte. Ihr Mund war feucht und kühl. Es war wie die Berührung mit einer Rose aus dem Blumenkühl schrank. „He", rief er, „was fällt Ihnen ein, Mädchen. Angenommen, ich würde das falsch verstehen." „Warum sollten Sie es falsch verstehen?" „Und wenn ich dann loslege . . ." „Was ist dann?" Er richtete sich auf und küßte sie zurück. Sie genoß es. Es war ein nicht zu langer, aber herz hafter Männerkuß. Sie reagierte anders als erwartet. „Bitte nicht noch einmal so ein jämmerliches Ding-Dong. Ich bin eine erwachsene Frau." Gern tat er es richtig. Er faßte sie dort an, wo er sie gut im Griff hatte. Unter dem Pullover, wo sie 125
nackt war. Mit einer Hand bei ihren Brüsten und der anderen im Nacken. So entkam sie ihm nicht. Sie wollte aber auch gar nicht. „Warum", seufzte sie, „hier und nicht draußen im Schatten der Bäume. Kann uns jemand sehen?" „Nur ein Flugzeug." „Na und. Flugzeuge sind weit weg." Noch im Wagen streifte sie den Pullover über den Kopf und schlüpfte aus dem Rock. Urban griff nach hinten und nahm die Decke mit. Draußen fanden sie nicht einmal Zeit, die Decke auszubreiten. Urban warf sie einfach ins Gras. Sie waren so versessen aufeinander, als würden sie nichts anderes mehr wollen als das. Für Rebeca war es wie der Schluck Wasser vor dem Verdursten. Für Urban der Ritt in ein neues Land. Sie befreite sich mit solcher Hast von ihrem Slip, daß er irgendwo in Fetzen ging. Dann legte sie sich auf ihn, erkannte aber wohl mit weibli chem Instinkt, daß es anders besser sei. Also rollte sie mit ihm herum, grätschte die Beine, schloß die Augen und stöhnte. „Mach mit mir, was du willst." „Wie es sich gehört, Madame." Sofort öffnete sie die Augen wieder, als sei ihr eingefallen, daß sie alles sehen wolle, alles fühlen, hören und riechen wollte. Sie war keine Jungfrau mehr, was aber nicht bedeutete, daß sie schon mehrere Männer oder auch nur einen gehabt hatte. Jedenfalls genoß sie es wie ein Kind, das zum ersten Mal Schokoladen 126
creme bekam. Sie konnte nicht genug davon be kommen. „Und wenn ich daran sterbe", keuchte sie, „mach weiter. Hör nie auf . . . bitte . . . " „Daran stirbt man nicht", sagte er. Später, als sie dalag, mehr um ihn geschlungen als neben ihm, flüsterte sie: „Du weißt, was man in die Südsee mitnehmen sollte." „Und Whisky", ergänzte er, „und ein paar gute Havannas." „Und ein paar Bücher." „Und ein paar Schallplatten." „Und dich." „Und wenn wir angekommen sind, was machen wir dann?" fragte er lachend. „Ich weiß es", gestand sie, „denn ich habe soeben eine wunderbare Sache kennengelernt."
Als es so dunkel war, daß man zum Lesen einer Zeitung Licht brauchte, brach Urban auf. Hinter der Mauer im Obstgarten, der das Haus umgab, ging nur ein Posten Wache. Der andere war offenbar beim Abendessen. Den Hund hatte er ebenfalls im Haus gelassen. Also wartete Urban, auf der Mauer sitzend, bis er vorbeikam. Aber die Stelle war ungünstig. Im Garten gab es zuviele Felsbrocken. Als der Wächter außer Hörweite war, hangelte Urban sich über das Geäst eines Quittenbaumes zu Boden. Zwanzig Minuten später führte den Wächter 127
seine Runde wieder vorbei. Urban richtete sich vor ihm auf. Der Mann erschrak. Ganz ruhig sagte Urban: „Gruß von Marcel. Ihr sollt den Gefangenen rausgeben." „Warum kommt Marcel nicht selbst?" „Er ist verhindert. So wie auch du es sein wirst, wenn du weiter dumme Fragen stellst, Mann." Der Wächter aus der privaten Schutztruppe hatte sich wieder gefaßt und brachte blitzschnell seine Pistole in die Hand. Urban hatte es nicht gewollt, aber er mußte es tun. Mit einem satten Karateschlag auf das Gelenk hämmerte er ihm die Waffe aus der Hand, und mit einem Kniestoß unter die Rippen nahm er ihm die Luft. Da sie bei privaten Schutzorganisationen keine Pappkameraden oder Plastikfrösche einstellten, war damit zu rechnen, daß er bald wieder zu sich kam. Urban zog ihm den Gürtel aus der Hose und fesselte ihm die Arme nach hinten. Dann zog er ihm eine Socke aus, stopfte sie ihm zwischen die Zähne und band sie mit dem Taschentuch fest. „Marcel", sagte er, „war klüger als du." Der andere fluchte, und Urban ging zum Haus hinüber. Wo der zweite Mann sich aufhielt, war an dem beleuchteten Fenster zu erkennen. Hinter der Gardine sah Urban ein Viereck, das einmal hell, dann wieder grau oder schwarz wurde. Es wechselte ständig die Helligkeit. — Ein tragbarer Schwarz-Weiß-Fernseher also. Urban trat ein. Sofort winselte der Hund. Urban überlegte. Wenn er Troiano Marzotto 128
fand, konnte er mit ihm weggehen, ohne daß der andere Wächter etwas bemerkte. Zu spät. Die Tür wurde aufgerissen. Der Hund sprang mit einem Satz heraus und Urban an. Es war ein Dobermann, eine sehr scharfe Rasse. Urban kannte ein paar Griffe, wie man sich solcher Bestien erwehrte, aber es erwies sich als unnötig. Der Hund jaulte und begann, ihm das Gesicht zu lecken. „Was gibt's, Pierre?" fragte der zweite Wach mann, der die Reaktion des Hundes falsch deutete. Urban stand im Dunkeln, befreite sich von den Hundepfoten und trat dem anderen voll gegen beide Schienbeine. Doch der stand da wie ein Monolith. Langsam drehte er sich halb herum und griff einen Stuhl. Den benutzte er, mit den Beinen nach vorn, als Schild und als Waffe. Urban war im Hausflur gegen eine Bank gesto ßen. Die packte er nun, riß sie hoch, schwang sie empor und verwendete sie wie eine Fliegenpat sche. Der Wachmann sprang zur Seite. Dabei nahm er seine Waffe vom Tisch. Er schoß sofort. Die Kugel klatschte ins Holz. Urban benutzte nun die Bank wie eine Sense. In Nabelhöhe schwang er sie durch den Raum. Noch einmal versuchte der andere, zur Seite zu tänzeln. Er schoß, während er stürzte, und die Bank ihn am Schädel traf. „Diable, wie kommen Sie hierher?" „Marcel begriff schneller als Sie und Pierre." „Wer ist Marcel?" stöhnte er. „Und wo habt ihr den Italiener?" 129
„Welchen Italiener?" „Marzotto, Ihren Gefangenen." „Marzotto, Marcel." Der Wachmann lag am Boden, sein Kopf zuckte hin und her. „Nie gehört. Diese Namen kennt ja nicht mal der albanische Geheimdienst." Urban sah die Hundeleine hängen. Damit fes selte er den zweiten Wachmann. Auf einen Knebel verzichtete er. Dann stieg er, begleitet von dem Hund, in den Keller. Er brauchte nur dem schnüffelnden Dobermann zu folgen, und schon stand er an der richtigen Tür. Er schob die Riegel zur Seite und machte Licht. Drinnen kauerte ein Mann in der Ecke, ein wenig heruntergekommen, aber offenbar unver letzt, hellwach und geistig rege. „Egal wer Sie sind", raunte Marzotto, „es wurde allmählich Zeit." Urban schnitt ihm die Plastikfesselung auf. „Kommen Sie, Professor", sagte er. „Aber zie hen Sie sich was über. Die Nacht wird kühl.
Troiano und Rebeca Marzotto umarmten sich stumm. Als Troiano seiner Schwester danken wollte, erklärte sie, daß es nicht ihr Verdienst sei. Urban fuhr sofort los. „Wohin bringen Sie uns?" fragte der Professor. „Nach Hause." „Wo ist das?" Urban dachte, daß es fürs erste wohl in Fiesole 130
sei. Dort waren die beiden sicher, was immer sich in den nächsten Wochen auch ereignen würde. Er fuhr auf Nebenstraßen zur Autobahn, dann nach Osten. Es war spät, und an der Grenze wollte keiner irgendwelche Papiere sehen. Der Professor war recht schweigsam. Von sich aus erzählte er nichts. Also stellte Urban Fragen. „Sind Sie sicher, daß es Syracusa war, der den Lear-Jet gechartert hatte?" „Und damit nach Indien flog." „Woher wissen Sie das?" „Die Wachleute sprachen darüber. Sie glaubten wohl, ich verstünde kein Französisch." „Worüber sprachen sie sonst noch?" „Daß der Fluggast kaum Gepäck hatte, aber Wert darauf legte, daß das Gepäck nicht durch die Ausreisekontrolle ging." „Damit es nicht durchsucht wurde." „Es enthielt wohl etwas, das nicht ausgeführt werden darf", vermutete Marzotto. „Oder etwas, das auf dem Röntgenschirm als Waffe zu erkennen sein würde." „Er ist ein Killer", erinnerte der Professore, „der geborene Killer." „Er genießt eine gewisse internationale Berühmtheit", bestätigte Urban. „Vorwiegend ist er für die weitläufigen Interessen der Mafia tätig." „Was nicht ausschließt, daß er auch einen ande ren Kontrakt übernimmt." „Wenn dieser einträglich ist", kombinierte Urban. „Oder wenn man ihn unter Druck setzt." Er dachte an die Verbindung des Chiefsuperin tendent Billham Grey von Scotland Yard mit Syracusa. 131
„Was", fragte Rebeca, als es still geworden war, „erledigt er für einen Auftraggeber in Indien?" „Die Piloten hatten Flugkarten bis Nepal und Tibet, behaupteten die Wachmänner." „Und in Tibet oder Nepal", erklärte Urban, „lebt ein sogenannter Heiliger namens Hamedus. Schon mal von ihm gehört?" „O ja", sagten die Geschwister Marzotto fast gleichzeitig. „In den USA gibt es sogar Bücher über ihn. Man weiß allerdings nicht, was man von Hamedus halten soll. Ist er Fiktion oder Wirklich keit." „So sehr Wirklichkeit", befürchtete Urban, „daß es mächtige Gruppen gibt, die sich seiner bedie nen, um noch mehr Macht zu bekommen. Nun, wo sie offenbar erreichten, was sie wollten, lassen sie ihn töten." „Durch Syracusa." „Nur eine Vermutung", äußerte Urban vorsich tig. „Aber sie bestätigt sich immer mehr. Die Hintermänner sind nämlich so prominent, daß sie sich mit Mord nicht beschmutzen." „Und diese Leute wollen Sie finden?" zweifelte der Professor. „Ich kenne sie", erwiderte Urban. „Und warum hindert man sie nicht an ihrem schändlichen Tun?" „Noch kann man ihr schändliches Tun nicht beweisen", bedauerte Urban. „Dabei können Sie uns helfen, Professore, und uns sagen, was Sie wissen. Alles ist wichtig, das letzte Komma, der letzte Punkt." „Fragen Sie! " forderte Marzotto ihn auf. 132
Selten hatte Urban ein Verhör mit einem so aussagewilligen Mann geführt. Er fragte, bis ihm keine Fragen mehr einfielen. 13. Die routinemäßige vierwöchentliche Konferenz in Berlin, bei der sich monatlich die Besatzer trafen, wo Briten, Amerikaner, Russen und Franzosen an einem Tisch saßen, war diesmal hochkarätig be stückt. Der amerikanische General Tibetty war ange reist, aus London Brigadier Donway, aus Frank reich Generalleutnant Flanieur und aus der Sowjetunion Marschall Mikojan, Den Vorsitz führte der amerikanische General Brackwater. Es war aber praktisch unmöglich, daß während so einer Sitzung auch Vieraugengespräche geführt werden konnten. Deshalb hängte der Russe ein kommunales Thema, nämlich das Problem der Abfallentsor gung so hoch, bis sich die Fronten derart verhär teten, daß die Gentlemen erst einmal vertagten. Nun entsprach es völlig den Verhandlungsre geln, daß der Vorsitzende den störrischen Russen in seinem Hotel aufsuchte. „Unser Freund Tibetty", begann General Brack water, „ist der Meinung, daß Ihrer Ablehnung andere Motive zugrunde liegen." „Womit er recht hat", gestand der Russe. „Deshalb bin ich als offizieller Schlichter hier. Was steckt dahinter, Mikojan?" Der Russe schickte seinen Adjutanten hinaus. 133
Als sie allein waren und Wodka in den Gläsern hatten, sagte der Russe: „Es braut sich etwas zusammen, Brackwater." „Aber wir sind die Braumeister." „Noch", schränkte der Russe ein. „Aber wie lange noch. Ich fühle mich beobachtet." „Wir uns auch", gestand der Amerikaner. „Don way geht es ebenso. Doch wann wären wir das nicht gewesen." „Beobachtet, aber nicht nur von den Jüngeren, die unsere Positionen einnehmen möchten. Dies mal beobachten mich Agenten des Geheimdien stes." „Der Spionageabwehr?" fragte der Amerikaner mit gerunzelter Stirn. Der Russe beugte sich vor und senkte die Stimme noch um einige Phonstärken. „Wir danken Ihnen für die Kopien der Filme und Tonbänder dieses deutschen Teams. Wir wer ten sie gerade aus." „Das haben wir bereits." „Und?" Der Russe wurde neugierig. „Es geht nur noch um das eine, Mikojan", sagte Brackwater, „um diese Waffe. Wir wissen, daß Hamedus sie kennt und sie definieren kann. Mit dieser Waffe sind wir stark genug, um gemeinsam unsere Ziele durchzusetzen." „Gegen alle Mächte, gegen Parteien und Regie rungen, gegen alle Feinde, zum Wohle der Menschheit", ergänzte der Russe fast feierlich. „So war es einmal gedacht." „Mit Hamedus Hilfe. Bis sich dann heraus stellte, daß er uns niemals helfen würde." „Im Gegenteil", betonte der Amerikaner. „Seine 134
Lehre, erst einmal verbreitet, wäre unser größter Feind geworden. Deshalb mein Rat und unser gemeinsamer Beschluß, ihn zu töten. Nur einer der unseren durfte sich nicht dazu exponieren." „Nein, wir fanden ein Werkzeug", machte der Russe weiter, „und bekamen gratis die Zauberfor mel von Hamedus Superwaffe." Der Russe machte gern große Worte, und Brack water nahm sie ihm ab. Sie hatten ihm bis heute vertrauen müssen, denn ohne die Russen wären sie nicht weitergekommen. Nicht bis hierher. Aber jetzt begann zwischen ihnen ein Spiel. Der Ameri kaner machte den ersten Zug. „Well, Hamedus nannte den TV-Leuten zwar eine Formel, aber . . . " „Was aber?" „Wir versuchten, sie zu analysieren", sagte Brackwater bedrückt. „Und das Ergebnis?" „Wir ließen sie schnell laufen und in Zeitlupe. Wir dröselten sie auf, machten Graphiken daraus, stellten sie um, versuchten sie von hinten zu lesen, zu zergliedern, neu zusammenzufügen. Unser größter Computer befaßte sich tagelang mit nichts anderem. Aber ohne Ergebnis." „Bis jetzt." Der Russe zeigte Optimismus. „Wir werden das Rätsel dieser Formel lösen. Dieser Zukunftsformel." „Oder Hamedus gab uns ein unlösbares Rätsel auf, weil er weiß, was wir vorhaben." „Oder er ist auch nichts anderes als ein Schar latan. " „Die Formel ist der Schlüssel", sagte der Ameri 135
kaner entschieden. „Und deshalb haben wir auch . . . " Der Russe hob sein Glas und trank. „Ich weiß", sagte er. „Es gab ein Blutbad." Brackwater setzte an wie zu einer Grabrede. „Wir haben die Formel, und Hamedus ist tot, tot, tot. Er kann uns nicht mehr gefährlich werden." Nun setzte der Russe sein Wodkaglas hart auf die Marmorplatte des Tisches und schüttelte den Kopf. „Njet", sagte er auf Russisch. „Warum nein?" „Weil", Mikojan hob die schweren Augenlider, „Ihr Killer ihn nicht bekam." „Unmöglich", entgegnete Brackwater. „Ich weiß, ich hörte . . ." „Ja, es gab ein Massaker. Der Zivilgouverneur, seine ganze Familie, sein Anhang, seine Diener schaft, alle sind tot. Das Haus wurde mit Spreng stoff, der hundertmal stärker als TNT ist, in die Luft geblasen." „Und Hamedus? Ist er etwa unverletzbar?" „Das nicht", erklärte der Russe, „aber . . . um es kurz und schmerzhaft zu machen, Hamedus war gar nicht mehr in Patan." Daraufhin brauchte der Amerikaner eine Pause, Ruhe und viel Sauerstoff. Er atmete tief. Seine Hände umklammerten die Sessellehne. „Verdammt, verdammt, das ist nicht wahr." Mikojan vermied es, ihn anzusehen, als er fort fuhr: „Und Ihr Killer ist damit zum Sicherheitsrisiko geworden." 136
Dies schien für den Amerikaner zweitrangig zu
sein. Es ging ihm nur um Hamedus.
„Der Guru, wo ist er?"
„Das wissen noch nicht einmal unsere Freunde beim chinesischen Geheimdienst, die bisher bei allem, was wir taten, wegschauten." „Nein, ich glaube es nicht. Heutzutage kann ein Mann von unserer Welt nicht einfach ver schwinden." „Hamedus offenbar schon." „Er wurde immer wieder gefunden." „Das kann lange dauern. Und Zeit haben wir nicht." Das war auch dem Amerikaner klar. Er war jetzt ganz offen zu Mikojan. „Da ist uns noch eine Panne passiert, Marschall. Irgendein verrückter Sizilianer hatte es auf unse ren Profikiller abgesehen. Eine alte Familienfehde oder was. Wir konnten den Schuß verhindern und hatten den Mann in Isolation. - Er wurde be freit." Der Russe schien davon gehört zu haben, „Von einem NATO-Geheimdienst. Stimmt's?" „Von . . . sie nennen ihn Mister Dynamit." „BND München." Der Russe seufzte schwer. „Diese Leute werden ihre Schlüsse ziehen." „Als erster Schluß bietet sich der Mafioso an." Nach langer Diskussion kamen sie zu einem übereinstimmenden Ergebnis, Der Russe faßte es in einen kurzen Satz. „Der Killer muß zum Schweigen gebracht werden." „Löwen sind die Könige der Wüste", bemerkte 137
Brackwater, „und Killer sind die Löwen der menschlichen Gesellschaft." „Aber wir sind die Löwen der Löwen", ergänzte der Russe. Ihr Gespräch dauerte länger, als es den Umstän den und der Sachlage nach dauern durfte. Als der Amerikaner ging, wirkte der Russe bedrückt. „Ich werde Ihrer Forderung, was die Müllent sorgung der Stadt Berlin betrifft, morgen zu stimmen." „Und ich Ihrer Forderung, was die Entsorgung unserer Gruppe durch mögliche Verräter betrifft, Marschall Mikojan," Der Amerikaner fuhr in sein Hotel und organi sierte noch um Mitternacht ein Treffen. Anwesend waren die Freunde der Oslo-Connection, Donway und Tibetty. Nur einer fehlte, General Sylvestre. Er konnte nicht kommen. Er war zehntausend Kilometer von ihnen entfernt. Aber allein um ihn ging es bei dieser Nachtkonferenz.
Der britische Brigadier Donway übernahm den Auftrag, den gemeinsamen Entschluß weiterzu leiten. Dazu mußte er Berlin verlassen. Berlin war neben Wien die zweite Welthauptstadt der Spio nage und der Geheimdienste. Es gab kaum ein Telefon- oder Funkgespräch, das nicht von irgendeiner Seite mitgehört wurde. Außerdem galt es, die Beobachter abzuschütteln. „Sie können uns nichts beweisen", hatte Brack 138
water seine Freunde beruhigt. „Nichts läuft uns weg. Eines Tages, bald schon, werden wir Hame dus Formel auswerten. Wir sind noch voll auf dem Trip, Gentlemen. Aber wir müssen uns unserer Feinde erwehren. Sie wissen nichts, sammeln jedoch Beweise gegen uns. Die schwächste Stelle, von der man uns aufknacken kann, ist dieser Mafiakiller. — Natürlich war es von Anfang an ein Risiko, sich dieses Mannes zu bedienen. Wir taten es, um unseren Freund Sylvestre nicht zu exponie ren. - Es ist nun einmal geschehen. Lassen Sie uns diesen Fehler ausbügeln und dafür sorgen, daß wir nicht noch einen Fehler machen." Mit klarer Order flog Donway nach London zurück. Da möglicherweise auch sein Amtstelefon über wacht wurde, ebenso wie die Telefone in seiner Stadtwohnung, in seinem Landhaus in Essex und auch im Landhaus seiner Schwester, beschloß er, ganz sicher zu gehen. Zu den ganz sicheren Adressen gehörte die von Gwendolyn Mullinger. Sie war seit Jahren seine Freundin. Er vertraute ihr vollkommen. Dieses Vertrauen wurde dadurch gerechtfertigt, daß nie mand von der Existenz der Geliebten des Briga diers auch nur etwas ahnte. Zustatten kam diesem Verhältnis, daß Gwen im Nebenhaus ebenfalls das Dachgartenapartment bewohnte. Von seiner Wohnung zu der ihren hatte der Brigadier — immerhin kam er von den Pionieren - sich eine Art Notbrücke gebaut. Von seiner Terrasse führten Steigeisen am Kamin hoch. Der Kamin lehnte sich mit seiner 139
Rückwand an den Kamin des Nebenhauses. Auch ihn hatte man für den Schornsteinfeger besteigbar gemacht, und zwar durch eine Galerie, die in eine Klappleiter mündete. Über sie erreichte ein einiger maßen gewandter Mann mühelos das Penthouse dach. Dort hatte Donway die Strickleiter versteckt. Sie bestand aus Alurohren, die man in Stahlseile eingeflochten hatte. Er rollte sie aus und kletterte nach unten. Dann klopfte er sein Zeichen ans Fenster. Es dauerte nicht lange, und die Schauspielerin öffnete. „Bist du allein?" flüsterte er. „Was fragst du. Natürlich." Sie ließ ihn ein. Er setzte sich, bekam einen Skotch ohne Eis, ohne Wasser. Sie steckte zwei Zigaretten an, eine davon schob sie ihm zwischen die Lippen. „Ich war in Sorge", gestand sie. „In Berlin gab es Probleme." „Eine Woche habe ich nichts von dir gehört," „Das wird sich ändern, Darling. Ich versprech' es dir." „Was möchtest du? Etwas essen, oder, hm, nur mich?" „Telefonieren", erklärte er. Sie war nicht enttäuscht. Andere Männer hatten sie so oft enttäuscht, daß sie nicht mehr zu enttäuschen war. Sie liebte den Brigadier und wußte, daß er ein Mann war. Treu, verläßlich, loyal. Wenn er telefonieren mußte und es bei ihr tat, war es in seiner Wohnung nicht möglich, aber sehr wichtig für ihn. Das andere würde später 140
kommen oder auch nicht. Dann eben ein anderes Mal. Sie holte das Telefon an der langen Schnur und stellte es neben ihn auf den Chippendaletisch. Die Nummer, eine vierzehnstellige, hatte der Brigadier sich mit Kugelschreiber innen auf das Handgelenk geschrieben. Er begann zu wählen. Es dauerte lange, bis er durchkam. Dann war offenbar der Mann, den er sprechen wollte, nicht erreichbar. „Dort ist es jetzt früher Tag", sagte er. „Eigent lich müßte er da sein. Vielleicht treibt er Morgen sport. Er ist ein Mensch, der ohne stetes Training nicht leben kann." „In Amerika?"
„In Indien", murmelte Donway, in den Hörer
lauschend. „Ein Freund?" „Ein Kamerad", sagte der Brigadier.
Sie lagen in Gwens rundem Bett, das sie aus Hollywood mitgebracht hatte. Sie lagen beisam men, ohne sich zu lieben. Es begann schon zu dämmern. „Du hast nicht geschlafen", sagte Gwen. „Was quält dich?" „Ich muß nach Hause", antwortete Donway. Sie streichelte seine behaarte Brust. „Glaubst du, die sitzen mit Ferngläsern auf den Dächern und beobachten uns?" „Wer weiß." „Was hast du für Probleme, Darling?" 141
„Keine", antwortete er, „die du lösen könntest."
„Kann sie dieser Mann in Indien lösen?"
„Der schon."
Im selben Moment ging das Telefon. Es hörte
sich anders an als sonst. Es zirpte kurz und läutete dann mehrmals ungeduldig. So kündigen sich meist Transkontinental-Gespräche an. Nackt sprang der Brigadier aus dem Bett und rannte zum Apparat in die Wohnhalle. „Hallo!" meldete er sich. „Ist dort Metro?" Das war Donways Deckname. „Metro hier. Spricht dort Thirty-one?" Einunddreißig war Sylvestres Code. Sylvester war am 31. Dezember. „Was gibt's, Metro?" „Nur eines", sagte Donway. „Der Killer muß weg." „Wohin?" „Ins Jenseits. Größte Gefahr. Stufe rot. Ist er noch in Indien?" „Er fliegt heute abend zurück. Sein Jet wurde wegen schlechten Wetters im Arabischen Meer aufgehalten." „Kannst du das schaffen, Thirty-one?" „Ich werde mich mit ihm treffen — er vertraut mir —, und es dann tun." „Dann tu's." Donway flehte Sylvestre geradezu an. „Bitte, Thirty-one." „Sein Erfolg war durchschlagend." „Bis auf das Zielobjekt. Es befand sich längst auf Reisen." „O verdammt!" fluchte Sylvestre. Er fragte nicht nach dem Grund für die Order. 142
Wenn man es von ihm forderte, dann war es notwendig. „Okay", versprach er. „Heute im Laufe des Tages. Danach verschwinde ich." „Leb wohl", sagte der Brigadier in London. „Nein, auf Wiedersehen." „Leb wohl", sagte Donway noch einmal und legte dann auf. Er kleidete sich an. Die Einladung Gwens zum Frühstück lehnte er ab, denn es wurde schon hell. Er mußte zusehen, daß er nach Hause kam.
14.
Die wenigen mit der Oslo-Connection betrauten Geheimagenten erfaßte eine gewisse Ratlosigkeit. „Wir kennen sie alle", äußerte der BND-Chef im Gespräch mit Robert Urban, einem Top-Man von MI-5 London und einem CIA-Agenten namens John Push, genannt Jack, „aber wir können ihnen nichts anhaben. Sie stehen wie die Maginotlinie, wie schwerbestückte Betonbunker, die sich gegen seitig die Flanken decken." „Und", ergänzte der Amerikaner, „sie sind hochangesehen. Ein Wort in die Öffentlichkeit, und man wird jede Stimme als Verleumdung hinstellen, um verdiente Männer von hinten zu erdolchen." „No, Sir, es geht nur mit einem echten Volltref fer", ergänzte der Engländer. „Aber bringen Sie den mal an." Sie erörterten alle Möglichkeiten und kamen zu dem Ergebnis, daß man nur drei Dinge wirklich 143
tun konnte. Die Sache zu den Akten legen oder die Generäle weiter beobachten, was sie eines Tages bemerken würden und zu noch vorsichtige rem Verhalten zwang - aber nicht zur Aufgabe. „Und drittens können wir uns sinnlos besau fen", schlug Urban vor. Letzteres schien allgemeine Akzeptanz zu fin den, denn es war das Ergebnis von Resignation. Da summte einer der grauen Haustelefonappa rate im Büro des Vizepräsidenten. Er hob ab und übergab an Urban. „Für Sie." Urban vernahm die Stimme des Mädchens in der Zentrale. „Ich verstehe zwar nur Bahnhof", sagte sie, „aber es ist wohl Errol Flynn." „Wie, der Filmschauspieler?" „Ja, der." „Flynn ist längst tot." „Naja, nicht unbedingt Errol Flynn." „Was dann?" „Ich höre immer Herr der sieben Meere. Das ist doch wohl der Film, der Flynn weltberühmt machte, oder?" In Urban rotierte alles. „Stellen Sie sofort durch." Sieben Meere war der Code, mit dem sich nur einer melden konnte: General Jo Hartmann vom Staatssicherheitsdienst der DDR. Hartmann war sauer, weil er hatte warten müssen. „Erst kommt man nicht durch. Kommt man endlich durch, ist der Herr abwesend. Ist er anwesend, verbindet keiner." 144
„Sie hielten dich für Errol Flynn", erklärte Urban. „Wer ist das, und wer bin ich", entgegnete Jo. „Ich sitze auf glühenden Kohlen, Mann. Also, hör zu!" Hartmann machte selten Ankündigungen dieser Art. Urban war also vorgewarnt. „Ihr beobachtet doch diese Oslo-Bande." „Permanent." „Und unsere Freunde vom KGB beobachteten General Mikojan, den Ableger der Oslo-Bande in der UdSSR." „Ich habe ihn euch geliefert", erinnerte Urban. „Habt ihr ihn festgenagelt?" „Allerdings", gab Hartmann preis. „Was der KGB gegen ihn hatte, war ausreichend für lebens länglich Sibirien und zurück. Sie holten sich von ganz oben die Genehmigung und schlugen heute morgen zu." Urban hätte sich erleichtert gefühlt, wenn in Hartmanns Stimme nicht ein Klang nach Vorbe halt mitgeschwungen hätte. „Gibt Mikojan alles zu?" „Nein, er hat sich entleibt, als sie in seine Datscha eindrangen. Aber nicht nur einmal, son dern ungefähr siebzigmal. Er preßte sich eine PPSCH-41 vor den Bauch. Du kennst doch die alte Maschinenpistole mit dem Trommelmagazin und dem luftgekühlten Lauf. Er zog ab und ballerte sich alle siebzig Schuß in den Wanst, das feige Schwein." „Damit hat er gebüßt." „Aber nichts gestanden, keine Namen genannt, nichts hinterlassen. Doch einiges konnten wir 145
sicherstellen. Wir hörten sein Telefon ab. Es war da von einem Massaker in einer Stadt in Nepal die Rede. Nachforschungen ergaben, daß das Haus des Zivilgouverneurs in die Luft gesprengt wurde," „Das war Sacco Syracusa, der Killer", vermu tete Urban. „Er wurde von einer DC-drei in der Nacht nach Nepal und wieder zurück nach Indien geflogen. Aber jetzt kommt das allerhöchste. Der KGB gab an die indische Abwehr einen Tip, und sie fanden den Mafioso." „Durchsiebt von siebzig Kugeln." Hartmann hatte Verständnis für Zynismus. „Nur von einer, aber sie saß mitten im Kopf." „Na dann", bedauerte Urban, „bringt uns das auch nicht weiter, Genosse." „Willst du wissen, wer ihn umlegte?" „Nein." „Man vermutet, es könne nur ein Mann gewesen sein, der verdammt viel Ähnlichkeit mit General Graham Sylvestre hat. Leider kam man ein wenig zu spät dahinter." „Und wo ist Sylvestre jetzt?" „Unauffindbar." „Ohne Syracusa und ohne Sylvestre kriegen wir die Beweise nie zusammen." Es schien, als habe Hartmann noch etwas in der Hand. „Und jetzt das Allerhöchste", kündete der Stasi-General an: „Sie haben Hamedus in dem Haus in Patan vermutet, aber er war längst nicht mehr da." „Dann hatte er mächtiges Glück." 146
„Fragt sich nur. wie lange es anhält", meinte Hartmann. „Der heilige Hamedus ist nämlich auf Reisen." Diesmal fragte Urban allerdings wohin. „Wir fanden in General Mikojans Kamin einen nicht völlig verbrannten Notizzettel. Darauf zwei Worte; Hamedus und Genf." Urban saß gut und hielt sich obendrein noch fest. „Das darf . . . aber das darf nicht wahr sein." „Hamedus, der Allmächtige und Allwissende ist unterwegs in die Schweiz. Weiß der Teufel, was der dort will. Eine neue Partei gründen oder eine neue Religion ausrufen?" „Oder vor den Vereinten Nationen eine Rede halten", ergänzte Urban ahnungsvoll. „Dann ist er echt wahnsinnig." „Genie und Wahnsinn", murmelte Hartmann nur. „Den Rest überlasse ich euch." „Danke", sagte Urban zu dem Kuckucksei, das Hartmann ihm damit ins Nest gelegt hatte, „Mister Flynn." „Keine Ursache", verabschiedete der StasiGeneral sich. „Eine Krähe wäscht die andere." Als Urban zu der Runde zurückkehrte, war seine Nizzabräune abhanden gekommen, als hätte er mit Weißmacher geduscht.
Der Mann aus Nepal wohnte in einem unauffälli gen Hotel in der Genfer Altstadt. Vor zwei Tagen war er mutterseelenallein ange kommen. Als einziges Gepäckstück hatte er einen 147
alten Koffer. Bekleidet war er mit einer dunkel grauen kaftanähnlichen Jacke. Darunter trug er enge weiße Beinkleider und einen Turban von gleicher Farblosigkeit. Wortlos hatte er einen Paß vorgelegt. Ein ural tes Dokument des Königreichs Nepal. Er hatte im voraus bezahlt und sein Zimmer seitdem nicht mehr verlassen. Weder bekam er Besuch, noch telefonierte er. Deshalb war es außerordentlich schwierig gewe sen, ihn ausfindig zu machen. Als Urban an seine Zimmertür klopfte und hereingebeten wurde, hockte der heilige Mann am Boden und wirkte ziemlich weit weggetreten. Asiatische Religionen bezeichneten diesen Zustand, bei dem man durch Konzentrations übungen in Trance versetzt wurde, als Meditation. Der Mann, nackt, bis auf einen Lendenschurz, erwachte aus seiner andächtigen Vertiefung und blickte den Besucher an. „Sie kommen in guter Absicht, mein Sohn", sagte er auf deutsch. „Trotzdem ist es gefährlich, die Tür nicht abzu sperren, Sir." „Der Riegel", erklärte der Mann mit dem jetzt kurzgestutzten weißen Bart, „schließt sich von selbst, wenn ich fühle, daß sich Gefahr nähert, mein Sohn." „Sie sind Hamedus?" fragte Urban der Ordnung halber. „Und Sie sind Robert Urban", stellte der alte Mann fest, „genannt Mister Dynamit. Ich habe manches über Sie erfahren. Auch von Ihrem Ein satz vor Jahren in Sinkiang. Sie sind ein Mann, 148
der auf der Seite der Schwachen steht, der für das Gute kämpft, ohne das Schlechte immer besiegen zu können. Setzen Sie sich, mein Sohn." Daß er in seiner Jurte je von ihm gehört haben konnte, bezweifelte Urban. Man mochte ihn in aufgeklärten Häusern für einen Scharlatan halten, aber was Hamedus da von sich gab, versetzte Urban einigermaßen in Staunen. Von dem Geheimauftrag Urbans in Sinkiang existierten keinerlei Aufzeichnungen. „Es war schwer, Sie zu finden", gestand Urban. Der heilige Mann lächelte. „Anfangs ja, später habe ich Sie geführt. Ein unsichtbarer Stern hat Sie zu mir geleitet. Wer mich nicht treffen soll, der trifft mich nicht. Egal ob es ein Mensch ist, ein Tier, ein Stein oder eine Kugel." Urban war sicher, daß Hamedus wußte, um was es ging. Er brauchte es ihm nicht zu sagen. Er würde sich ohnehin nicht danach richten. Also konnte er besorgt wieder gehen. Hamedus legte seine Hand auf Urbans Arm. Sie war federleicht und doch spürbar. „Bleiben Sie trotzdem. Ich bin kein ganz aus sichtsloser Fall." Und als könne er Gedanken lesen: „Sie dürfen auch rauchen. Schlimmer als unser Yakdungfeuer stinkt keine Zigarette dieser Welt." Urban verzichtete auf die MC. Dieser Mann irritierte ihn. Von Hamedus ging etwas aus, Strahlung, ein hypnotischer Zwang, Magnetismus oder was auch immer, das sein Inneres wie eine Kompaßnadel zittern ließ. Er wollte sich diesem Einfluß entziehen. 149
„Sir", brachte er seine Botschaft an, egal ob Hamedus sie kannte oder nicht, „Sir, Sie wollen im Haus der Nationen sprechen." „Ja, heute nachmittag." „Man hat Ihnen eine Stunde Redezeit zugestan den, und das Palais wird voll sein von Menschen." „Ich hoffe und wünsche es. Ich bin sicher." „Sie haben den Menschen, heißt es, etwas Wich tiges zu sagen", fuhr Urban fort. „Aber Sie begeg nen nicht nur Freunden." „Auch das ist mir bekannt." „Man wird Sie zwar schützen . . . " Hamedus unterbrach seinen Besucher. „Man wird mich nur schützen als den Abge sandten des Königreichs Nepal, der im Namen von Millionen Hindus, Buddhisten, Moslems und Chri sten etwas verkünden wird." „Es gibt keinen Schutz gegen einen professio nellen Killer . . ." Urban zögerte, Sir zu sagen, und sagte „Exzellenz." Der alte Mann senkte den Blick. „Ich weiß." „Es gibt Gruppen, die wünschen, Sie seien nie geboren." „Weil sie jetzt haben, was sie wollen, und nicht zulassen, daß es auch in die Hände anderer gerät", ergänzte der weise alte Mann. „Aber ich werde sprechen. Es ist nicht mein Entschluß. Es wurde für mich beschlossen. In mir." „Es kann Sie töten, Exzellenz." Auf dem ledernen Gesicht des Hamedus stand mit einemmal helles Licht. Es kam nicht von der Sonne, nicht von einer Lampe. Es war einfach da. „Ja, ich werde heute sterben", sagte er. 150
So mußte einst im Garten von Gethsemane Jesus seine Jünger angesehen haben. Mit dem gleichen ergebenen Ausdruck. Ich gehe meinen Weg, obwohl ich weiß, daß er am Kreuze enden wird. „Und trotzdem . . .?" „Ich werde heute sterben", beharrte Hamedus, „Und Sie und alle Welt können es nicht verhin dern." „Sir", setzte Urban an. „Exzellenz . . ." Der Alte hob die Hand wie ein Fürst, der die Unterredung als beendet betrachtete. „Keiner entgeht seinem Schicksal", murmelte er. „Auch ich nicht, mein Sohn." Urban hätte nur noch eine Frage gehabt. Wann? hätte diese Frage gelautet. Aber Hamedus bedeckte sein Haupt und versank wieder in tiefe Meditation. Daraus war er wohl weder mit Eis noch mit glühenden Kohlen zu wecken. Urban verließ das Zimmer und das kleine Hotel hinter der Rue Rousseau. Er fuhr zu einem Kolle gen von der Schweizer Terrorabwehr und infor mierte ihn. Der Schweizer hörte sich alles in Ruhe an, dann sagte er: „Er hat auch Sie fasziniert." „Schwer, sich ihm zu entziehen." „Wir tun, was wir können. Leider haben wir keine Handhabe, ihn an seinem Auftritt zu hin dern. Er hat eine Mission und steht unter diplo matischer Immunität. Aber seien Sie sicher, Oberst Urban, der Aufwand an Sicherheitskräften 151
wird nicht kleiner sein, als damals beim Besuch des Regierungschefs der Sowjetunion. Eher grö ßer." * Hamedus ging den weiten Weg von der Altstadt bis hinaus zum Palais der Nationen zu Fuß. Es waren immerhin mehrere Kilometer. Während ihm die Wagen der Schweizer Sicher heitsbeamten folgten, marschierte Hamedus auf recht, ein leichtes Ziel für jeden Heckenschützen bietend. Aber es schien, als kenne er die Stunde seines Todes sehr genau. Ebenso den Ort. Und Ort und Stunde waren noch nicht gekommen. Im Park vor dem Palais der Nationen hatte sich eine unübersehbare Menschenmenge versammelt. Dazu Film- und TV-Teams, Fotografen, Reporter, Korrespondenten aller wichtigen Zeitungen. Die Menschen durchbrachen die Absperrungen. Sie umringten Hamedus, konnten sich ihm aber nicht nähern. Ein Kordon von Leibwächtern umgab ihn. Als Hamedus das Palais betreten hatte, schlös sen sich die Türen. Wo immer es eine Möglichkeit gab, das Gebäude zu betreten, standen Posten. Als Hamedus durch das Marmorfoyer ging, die Treppe zum Obergeschoß nahm und die große Versammlungshalle betrat, saßen dort mehr als tausend Menschen. Politiker, Diplomaten, Mili tärs, Wissenschaftler, Kirchenfürsten, Delegatio nen, geladene Gäste. Aber es war so still, daß man das Verstärkersummen der Lautsprecheranlage vernahm. Lautlos schwenkten die Scheinwerfer mit, als der Mann vom Himalaja den Mittelgang nach 152
vorne durchmaß, das Podium betrat und dort von einem hohen Staatsbeamten begrüßte wurde. Jetzt, in dieser Sekunde, sprengte die Masse die Fesseln. Applaus tobte durch den Raum. — Er wollte nicht enden. Hamedus stand nur da im gleißenden Licht von hunderttausend Watt und lächelte.
General Graham Sylvestre kam nicht mit der britischen Delegation, sondern etwas später. Er trug die normale Dienstuniform britischer Generalmajore, versehen mit den Bändern seiner Auszeichnungen links unterhalb der Klappe der Brusttasche. Er behielt seine Mütze auf, als er das Palais der Nationen betrat und nahm auch die getönte Gold randbrille nicht ab. Sein Ausweis und seine Einladung wurden überprüft. Obwohl sein Platz in der siebenten Reihe des Parketts war, begab er sich zum Rang und dort in eine der Seitenlogen. Sie war leer. Unter dem mittleren Sessel hatte er die Waffe deponiert. Zerlegt in vier Teile hatte sie sich zwischen Polster und Gurtbändern verstecken lassen. Sylvestre verriegelte die Loge von innen und setzte Kolben, Lauf, Kammer mit Abzugsmecha nik und das Zielfernrohr zusammen. Er lud die Waffe mit einer Spezialpatrone. Kern und Ummantelung dieser Patrone bestan den aus Materialien, die bei der geringsten Stö 153
rung der Flugbahn durch einen Fremdkörper sofort in höchste Vibration gerieten. Selbst wenn man nur den Finger eines Menschen traf, bestand die Wahrscheinlichkeit, ihn dadurch zu töten. Zunächst legte der General die Waffe zu Boden, riß den Spannteppich aus der Leiste und deckte die Waffe damit ab. Dann wartete er. Er war entschlossen, es zu tun. Es gab Dinge, die mußte man zu Ende bringen, wenn man sie übernommen hatte. Egal, was danach geschah. Egal, ob man überlebte oder nicht. Überlebte man aber, weil man es nicht getan hatte, kam man sich ewig wie ein Feigling vor. Im Parterre wie in den Rängen war kaum ein Platz nicht besetzt. Auf der Bühne stand Hamedus. Endloser Ap plaus umbrandete den Mann, der hier eine Rede angekündigt hatte, wie sie nie vorher gehalten worden war. Unbewegt stand er am Rednerpult und wartete, bis das letzte Klatschen im Saal verstummte, Das Licht versickerte in den Kronleuchtern und elek trischen Wandkerzen. Nur ein grelles Spotlight machte jede Pore im Antlitz des Hamedus sichtbar. Hamedus atmete tief ein, um seine Rede zu beginnen.
Urban war die Gästeliste durchgegangen. Bei dem Namen General Graham Sylvestre stutzte er. „Was ist?" fragte sein Schweizer Kollege. 154
„Sylvestre kann eigentlich gar nicht hier sein." „Warum?"
„Er weilt in Indien." „Es soll Flugzeuge geben." „Er war aber bis vor kurzem in Indien", erklärte Urban. „Und das ist sicher?" „Bestätigt." Sie begannen, ihn zu suchen. Erst im Parkett, dann oben. Das Wachpersonal am Eingang bestä tigte, daß der General das Palais betreten habe. Ohne Waffe, da seien sie ganz sicher. Mit einem Fernglas hinter dem Bühnenvorhang stehend, ging Urban die Reihen durch. Oben in der Proszeniumsloge links glaubte er etwas zu erkennen. Er nahm das Sprechfunkgerät und verständigte sich mit den Schweizer Kollegen. Dann eilte er durchs Bühnenhaus, herum und hinauf. Sie trafen sich auf dem Flur vor der Logentür. Es war der beklemmende Augenblick, als es nach dem Applausgewitter totenstill geworden war, der Präsident den Redner angekündigt hatte und die ser nun ans Mikrofon trat. Vorsichtig betätigten sie den Türgriff und flü sterten. „Zugesperrt. Von innen." Sie riefen einen Spezialisten. Der Mann fum melte am Schloß. Inzwischen betrat Urban die Loge links daneben. Leise ging er hinein, geduckt schielte er über die plüschige Trennwand. Er sah nur die eine Hälfte des Mannes. Das etwas zu hellrote Haar, die etwas zu untersetzte stämmige Figur. 155
Kein Zweifel, dort stand ein anderer, und zwar der Killer. Er hatte Graham Sylvestre in Bhagal pur getötet und spielte nun dessen Rolle. Der Killer beugte sich vor, hinunter zu seinen Füßen und holte etwas hervor. Ein Rohr mit einem kurzen Rohr obendrauf und einer hölzernen Verdickung am Ende. Er stellte das Visier scharf, stand auf, ging zur Rückwand der Loge und legte an. Im selben Moment flankte Urban in die Loge hinüber und entriß dem Killer die Waffe. Der Schuß ging hinaus, bohrte sich aber irgendwo in den Deckenputz nahe dem Kron leuchter. Der Killer hatte ein Messer in der Hand, kam jedoch nicht dazu, es zu benutzen. Hinter ihnen krachte die Logentür auf. Zwei riesenhafte Schweizer waren zur Stelle, sie packten den Killer und ließen ihm kaum noch Raum zum Atmen. Er bäumte sich gegen sie auf. Vergebens. Die Tortur war wie ein Guß Wasser in sein Gesicht. Dadurch wurde es zu dem, was es war: zu der Visage eines sizilianischen Mafioso. „Das war es dann, Syracusa", sagte Urban schweratmend. Im Gehen wandte Urban sich an die Schweizer. „Tun Sie ihm nichts zuleide", bat er sie. „Sor gen Sie aber auch dafür, daß er sich nicht selbst umbringt. Dieser Mann ist für uns mindestens so wichtig, wie der da unten." Urban wandte sich um, um auf Hamedus, den Heiligen, zu deuten. Aber der war nicht mehr da. Der Platz am Mikrofon war leer. Die tausend Menschen im Saal blickten ihm 156
stumm und fassungslos nach, als Hamedus, ohne ein Wort an sie gerichtet zu haben, das Palais der Nationen wieder verließ.
Nachdem die Schweizer Behörden den Mafioso Sacco Syracusa ohne Formalitäten an die NATO übergeben hatten — sie waren froh ihn loszuwer den -, wurde er mit einem Sonderflugzeug zum NATO-Hauptquartier Nord gebracht. Noch während des Fluges bestätigte er grund sätzlich, in wessen Auftrag er gehandelt hatte. Daß er in Indien, als General Sylvestre ihn wegen des Sicherheitsrisikos, das er darstellte, liquidie ren wollte, schneller gewesen war, führte er auf seine Erfahrung als Killer zurück. Um seinen Kopf zu retten, gab er alles preis, was er wußte. Er verschonte keinen seiner Auf traggeber. Er beschrieb den Chiefsuperintendent von Scotland Yard, Billham Grey, dem Vertrauten von Brigadier Donway und war bereit, das gesamte Material für seinen Einsatz zu übergeben. — Nur über seine Familie, den Clan der Syracusa, verlor er kein einziges Wort. Robert Urban war sicher, daß es mit diesen Aussagen gelingen mußte, die Oslo-Connection unschädlich zu machen. Nach der Landung in Brüssel, als die Wagenko lonne zum Hauptquartier fuhr, begann Robert Urban wieder, an Hamedus zu zweifeln. Er hatte seinen Tod vorhergesagt, und es war nicht dazu gekommen. ~ Warum er seine Rede nicht gehalten hatte, darüber konnte man nur 157
spekulieren. Vielleicht wollte er sie gar nicht halten, weil er damit rechnete, schon vorher ster ben zu müssen. Vielleicht hoffte er, sein Tod auf dem Podium vor den Augen der Weltöffentlichkeit sei weitaus ausdrucksvoller als alle Worte. Nun, die Kugel hatte ihn nicht getroffen, son dern die Decke des Palais der Nationen. Auf irgendeine Weise nährte das alles Urbans Zweifel an diesem Mann, bis sie dann das NATOHauptquartier erreichten und ein Nachrichtenoffi zier sich an Urban wandte. „Haben Sie schon gehört, Colonel?" „War zu beschäftigt in den letzten Stunden, um irgendwo hinzuhören." „Sie haben doch das Leben dieses Säulenheili gen gerettet." „Nicht allein. Noch ein paar andere halfen mit." „War ziemlich vergebens, Colonel." „Woraus folgern Sie das, Mann?" Urban schwante Schlimmes. „Kam eben im Radio durch." „Was?" Urban packte den Offizier bei den Schultern und war kaum in der Lage, sich zu artikulieren. „Was", keuchte er heraus, „kam im Radio durch?" Der Adjutant zuckte mit den Schultern. „Hamedus, Sonderbotschafter des Königreichs Nepal wurde heute abend in Genf von einem schleudernden Lastwagen erfaßt, zerquetscht und am Quai des Berges in die Rhone geschleudert. Seine Leiche wird noch gesucht."
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Die Leiche von Hamedus wurde nicht gefunden. In Genf behauptete man, daß die Rhone, wenn sie Hochwasser führte und zufällig Vollmond war, noch nie eine Leiche hergegeben hatte. Die Rhone führte Hochwasser, und es herrschte Vollmond. Aber vielleicht waren auch andere Kräfte im Spiel.
Irgendwann in einer Nacht rief Rebeca Marzotto an. Wußte der Kuckuck, woher sie Urbans Num mer hatte. „Bist du zufrieden?" fragte sie. „Nein." „Hast du genug?" „Ziemlich." „ Also kaputt und unzufrieden. Was für ein Leben." „Weißt du ein besseres?" fragte er, mit dem Geschmack von zuviel Zigaretten und zuviel Whisky auf der Zunge. „Ich biete dir ein neues an", sagte sie. „Ich mag dich, Roberto. Nicht nur für kurz. Es würde für ein ganzes Leben reichen. Und wir sind ziemlich vermögend. Mindestens wie die Medici. Wir haben sie beerbt." Er lachte bitter auf. „Lieben, High-life und dann?" „Ist das nichts?" „Es ist dieselbe Prozedur noch einmal. Kaputt und unzufrieden." „Komm zu mir und bleib da", flehte sie ihn an. 159
„Ich kann nicht." Sie versuchte es wieder und noch einmal. Mit immer verlockenderen Worten. Aber sie hatte kei nen Erfolg. Als sie merkte, daß es sinnlos war, gab sie auf.
„Du verdammter, dickfelliger Hundesohn, du."
„Ja", sagte er. „Stimmt."
Endlich begriff sie, daß nichts daraus werden
würde, und indem sie verzichtete, sagte sie: „Aber verdammt gut warst du schon, Roberto." „Du auch", sagte er und hängte ein. ENDE
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