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Angel : Jäger der Finsternis. - Köln : vgs (ProSieben-Edition) Der Preis der Unsterblichkeit / Jeff Mariotte. Aus dem Amerikan. von Antje Görnig. - 2001 ISBN 3-8025-2851-4
Das Buch »Angel -Jäger der Finsternis. Der Preis der Unsterblichkeit« entstand nach der gleichnamigen Fernsehserie (Orig.: Angel) von Joss Whedon und David Greenwalt, ausgestrahlt bei ProSieben. © des ProSieben-Titel-Logos mit freundlicher Genehmigung der ProSieben Televisions GmbH Erstveröffentlichung bei Pocket Books, New York 2001. Titel der amerikanischen Originalausgabe: Angel. Hollywood Noir.
™ und © 2001 by Twentieth Century Fox Film Corporation. All Rights Reserved. © der deutschsprachigen Ausgabe: Egmont vgs Verlagsgesellschaft, Köln 2001 Alle Rechte vorbehalten. Lektorat. Beate Sauer Produktion: Wolfgang Arntz Umschlaggestaltung: Sens, Köln Titelfoto: © Twentieth Century Fox Film Corporation 2001 Satz: Kalle Giese, Overath Druck: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-8025-2851-4 Besuchen Sie unsere Homepage im WWW: www.vgs.de
Prolog
Das Haus stand auf der Argyle Avenue südlich des Hollywood Boulevards fast genau in der Mitte zwischen Hollywood und Sunset Boulevard. Seit es im Jahr 1921 erbaut worden war, hatte es als Hotel gedient, als Schneiderei, über der Wohnungen lagen, als Bürogebäude und schließlich als Zufluchtsstätte für Obdachlose und Ausreißer. Zuletzt hatte es jedoch vier Jahre lang leer gestanden. Die Sperrholzplatten vor den Fenstern waren über und über mit Graffitis verziert, die Türen vernagelt und die Klinken längst abmontiert. Die meisten Menschen gingen vorüber, ohne Notiz von dem verfallenden Bau zu nehmen. Natürlich erzählten sich die Kids gelegentlich – wie dies wohl bei leer stehenden Gebäuden so üblich ist – es spuke darin. Aber niemand glaubte das wirklich. Ein hoher Maschendrahtzaun umgab das Grundstück und versperrte auch den Gehweg. Auf den Schildern, die am Zaun hingen, stand: »Gehsteig gesperrt! Bitte andere Seite benutzen!«, »Betreten ohne Schutzkleidung verboten!«, »Handys verboten!« und »Hunde fern halten!«. Die Presslufthämmer, die im Innern des Gebäudes ertönten, zerlegten das Haus Mauer um Mauer, Stein um Stein. Staubwolken stiegen aus den Fensterhöhlen. Da das alte sechsstöckige Bauwerk zu dicht an der Straße und den Nachbargebäuden stand, durfte es nicht gesprengt werden. Eine schmale Gasse führte zu seiner Rückseite. Auf einem Parkplatz, wo früher die Menschen, die im Haus gearbeitet hatten, ihre Autos abgestellt hatten, türmte sich nun der Bauschutt. Sobald das Geröll zur Müllkippe transportiert worden war, würde an diesem Ort eine kleine Einkaufspassage entstehen: Ein Kaufhaus, eine Reinigung, ein PizzaImbiss. Stadtbild-Erneuerung à la Hollywood. »Hören Sie«, sagte Barry Fetzer. »Ich muss ins Haus!« Randy Blake kaute auf einem Zahnstocher und musterte Fetzer kritisch durch den Maschendraht. Seine Schutzbrille hatte er auf die Stirn geschoben. Der Staub, den die Abbrucharbeiten verursachten, flimmerte in der Luft und sank nur langsam zu Boden. Randy trug ein kariertes Flanellhemd über seinem fleckigen grauen T-Shirt, Jeans, die mit 5
unzähligen Farbspritzern übersät waren, Arbeitsstiefel und einen Schutzhelm. Barry Fetzer dagegen war in einen Anzug gekleidet, der vermutlich so viel gekostet hatte, wie Randy in einer Woche verdiente – dabei war Randy nicht nur Gewerkschaftsmitglied, sondern auch Vorarbeiter. »Das geht aber nicht!«, rief Randy über den Baustellenlärm hinweg. »Ich glaube, Sie verstehen nicht. Ich bin ...« »Das spielt keine Rolle! Selbst wenn Sie der Gouverneur persönlich wären, kämen Sie nicht ohne Schutzhelm und Arbeitsstiefel auf diese Baustelle. Haben Sie einen Schutzhelm?« »Sie könnten mir Ihren leihen.« Randy nahm den Helm ab und zeigte ihn Fetzer. Auf die Oberseite des Helms hatte er sorgfältig mit großen schwarzen Buchstaben den Namen »Blake« geschrieben. »Heißen Sie Blake?«, fragte er. »Nein, ich sagte doch, ich heiße Fetzer. Barry Fetzer.« Randy setzte seinen Helm wieder auf. »Dann können Sie diesen Helm nicht haben.« »Hören Sie«, drängte Barry und fuhr mit den Fingern durch sein silbermeliertes Haar. »Warum machen Sie es mir so schwer, Mister Blake?« Randy kaute auf seinem Zahnstocher und überdachte die Frage. »Vielleicht, weil ich hier ein Gebäude habe, das im Begriff ist auseinander zu fallen«, antwortete er schließlich. »Und Sie tanzen hier ohne Papiere an, mit keinem anderen Ausweis als Ihrem Führerschein und erzählen mir, Sie kämen vom Amt für Wasser- und Energieversorgung und müssten unbedingt dieses Gebäude betreten. Also, erstens gibt es da drin kein Wasser, und zweitens ist es dort sehr gefährlich – und Sie, Mister Setzer, sehen mir ehrlich gesagt nicht nach einem Mann aus, der Erfahrung im Umgang mit gefährlichen Situationen hat.« »Ich verlange ja gar nicht, dass Sie die Verantwortung übernehmen«, entgegnete Barry entrüstet. »Außerdem heiße ich Fetzer.« »Das hier ist meine Baustelle«, erklärte Randy. »Ich bin der Vorarbeiter. Und daher liegt hier alles in meiner Verantwortung. Wenn Sie keine amtliche Bestätigung oder etwas Ähnliches anbringen, kommen Sie auch nicht in dieses Gebäude. Warten Sie noch ein paar Tage. Falls Sie nach irgendetwas suchen, können Sie dann meinetwegen auf der Müllkippe den Schutt durchkämmen.« Fetzer hob verärgert die Arme. Randy beobachtete ihn amüsiert und wartete gespannt, ob der Kerl nun auch noch wie ein kleines Kind mit 6
dem Fuß aufstampfen würde. »Wie war noch Ihr Name?«, fragte Fetzer schließlich. Randy wies auf die Beschriftung seines Schutzhelms. Fetzer hatte mittlerweile ein kleines Notizbuch aus der Tasche seines italienischen Seidenanzugs gezogen und kritzelte gewissenhaft etwas hinein. Sichtlich verärgert klickte er mit dem Kugelschreiber, klappte das Notizbuch zu und steckte es wieder weg. »Also, Mister Blake, Sie können sicher sein, dass Ihre Vorgesetzten davon erfahren!« »Das hoffe ich«, entgegnete Randy. »Eine Lohnerhöhung könnte ich gut gebrauchen.« Fetzer machte auf dem Absatz seiner Bruno Magis kehrt, boxte wütend gegen das blaue Plastikgehäuse der Baustellen-Toilette und stürmte davon. Randy sah ihm nach, wie er Richtung Sunset Boulevard verschwand. In diesem Augenblick kam Jimmy Socolich auf ihn zugeeilt. Der Bauarbeiter machte einen völlig verschreckten Eindruck. »Boss!«, rief er. Da Jimmy fast jeden mit »Boss« ansprach, war diese Anrede nicht unbedingt ein Zeichen von Respekt. »Was ist los, Jimmy?« »Müssen Sie sich ansehen, Boss! Sofort!« Jimmys Stimme zitterte leicht – vor Aufregung oder vielleicht auch vor Angst. Er war noch nicht sehr lange im Land und sprach mit schwerem Akzent. »Was? Was ist denn?« »Kommen Sie, Boss! Werden schon sehen!« Randy setzte die Schutzbrille auf und folgte dem kompakten, drahtigen Socolich die Treppe hinauf in den vierten Stock. Dort wurde er durch eine erstaunlich gut erhaltene Holztür geführt, deren Glaseinsatz – ebenfalls erstaunlicherweise – nicht zerbrochen war. In einem Raum, der einmal als Büro gedient hatte, standen drei Arbeiter vor einer Wand. Randy drängte sich zwischen sie. »Was ist los?«, fragte er. »Schauen Sie mal, Randy!«, sagte Crystal Stiles. Sie zeigte auf eine Art Wandschrank. »Da ist eine Backsteinmauer.« »Ja und?«, fragte Randy. In diesem Gebäude gab es viele Backsteinmauern. Ziegel gehörten zwar in Los Angeles nicht zu den gebräuchlichsten Baumaterialien, aber gänzlich ungewöhnlich waren sie nun auch wieder nicht. »Die Mauer befindet sich an der falschen Stelle«, sagte Crystal. »Schauen Sie doch nur! Sie steht ungefähr einen halben Meter vor der eigentlichen Wand.« Randy sah sich die Wand genauer an. Crystal hatte Recht: Der Wandschrank war im Innern nicht so tief wie er von außen aussah, denn 7
eine zweite Mauer stand gut einen halben Meter vor der eigentlichen Rückwand. Die Backsteinmauer war offenbar nachträglich eingebaut worden, was bedeutete, dass sich dahinter unter Umständen ein Versteck befand. »Und wie die Wand gemauert ist!«, fuhr Crystal fort. »Ist ja schrecklich!« Randy sah sich die Fugen an. Eine schlampige, amateurhaft ausgeführte Arbeit. Diese Mauer hätte wohl nicht sehr lange gehalten, wenn sie nicht durch den Wandschrank gestützt und breiter als ein, zwei Meter gewesen wäre. »Na, worauf wartet ihr?«, fragte er. »Legt los!« »Jawoll, Sir«, entgegnete Crystal enthusiastisch. Sie hob ihren Hammer, nahm das Ziel ins Visier und schlug zu. Ein Teil der Mauer zerfiel zu Schutt und Staub. »Gut getroffen!«, sagte Randy und klopfte Crystal auf die Schulter. »Jetzt wollen wir mal Licht da drin machen. Wer hat die Lampe?« Jimmy Socolich reichte Randy eine Taschenlampe, mit der er in das Loch leuchtete, das Crystal geschlagen hatte. Er ließ den Lichtstrahl durch den schwarzen Innenraum gleiten. In der Tat war diese Mauer nachträglich eingebaut worden! In diesem Moment fiel sein Blick auf etwas sehr Seltsames. Erschrocken hielt er inne und betrachtete, was er gefunden hatte. Als ihm übel wurde, reichte er die Taschenlampe nach hinten weiter. »Seht euch das mal an!«, sagte er. Crystal schnappte sich die Lampe und leuchtete ebenfalls in das Loch. Randy konnte einfach nicht wegsehen. Er quetschte sich neben Crystal und spähte mit ihr durch die Öffnung. In dem Hohlraum zwischen den beiden Mauern lag eine Leiche. Sie war Jahrzehnte alt. Bis auf vereinzelte Hautfetzen, an denen noch ein paar Haarsträhnen klebten, hatten Insekten den knochigen Schädel sauber freigelegt. Überbleibsel eines Anzugs hingen an dem vertrockneten Körper. Als der Lichtkegel über die leeren Augenhöhlen und die grinsenden Zähne glitt, schien sich die Leiche zu bewegen, als erwachte sie zu neuem Leben. Randy spürte, wie Crystal zu zittern begann. Dann spürte er noch etwas anderes. Einen kalten, übel riechenden Lufthauch, der aus der Öffnung drang und durch ihn hindurch blies. Randy zitterte nun ebenfalls heftig. Ihm schien, als hätte etwas Unreines seinen Körper gestreift. So musste es sich anfühlen, wenn tausende Kakerlaken über einen herfielen, dachte er. Es juckte ihn überall. 8
Hinter ihm zitterte auch Jimmy Socolich und fiel zum Gebet auf die Knie. Die übrigen Arbeiter vermieden es, sich anzusehen; plötzlich war jedem von ihnen die Anwesenheit der anderen unangenehm. »Randy...«, setzte Crystal an. »Ja?«, fragte er. »Ach, ist egal.« Er sah auf seine Stiefel. »Nichts anfassen!«, sagte er, während er den Blick auf die abgewetzten Kappen seiner Schuhe gerichtet hielt. »Ich rufe die Polizei.« »Ja, tun Sie das!«, entgegnete Crystal. Als Randy nach unten ging, um sein Handy zu suchen, kniete Jimmy Socolich immer noch auf dem Boden.
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1
Angel fand keine Ruhe. Er saß hinter seinem Schreibtisch und starrte ins Leere. Im vorderen Büroraum schwatzten und lachten Cordelia und Doyle miteinander. Angel nahm ihr Geplänkel nur am Rande wahr. Cordy, ein begnadeter Ex-Cheerleader, war von Sunnydale nach Los Angeles gezogen und hatte sich in Angels Detektei unabkömmlich gemacht. Doyle, zur Hälfte Dämon und zur Hälfte Mensch, empfing Botschaften von den Mächten der Ewigkeit. Angel schätzte sowohl Cordy als auch Doyle sehr. Aber in diesem Augenblick war ihm nicht unbedingt nach ihrer Gesellschaft zu Mute. Er überlegte, ob er doch aufstehen und sich zu ihnen gesellen sollte. Gleichzeitig dachte er, dass er sich wieder einmal informieren musste, ob irgendetwas in der Stadt vorging, von dem er wissen sollte. Aber jeder neue Gedanke löste nur den vorangegangenen ab. Letztlich verwarf er sie allesamt und tat gar nichts. Während Angel weiterhin ins Leere starrte, fragte er sich, was nur mit ihm los war. »Was hat Angel für ein Problem?«, wandte sich Cordelia an Doyle. »Ich habe vor ein paar Minuten meinen Kopf reingesteckt, um zu prüfen, ob unser Chef überhaupt noch atmet. Ich wollte nur nachsehen, ob er noch ... ähm, du weißt schon, was ich meine. Aber dann fiel mir wieder ein, dass es bei ihm ja kein Kriterium ist, ob er atmet oder nicht. Letztendlich habe ich dann doch ein Blinzeln bemerkt, also brauchen wir vermutlich keinen Rettungswagen für Vampire ...« »Ich glaube, er langweilt sich«, sagte Doyle und fuhr sich mit dem Fingern durch sein schwarzes Haar. »Gestern abend haben wir miteinander geredet, und er meinte, es wäre wieder mal so weit. Er kriegt anscheinend einen depressiven Schub.« »Das hat Angel gesagt?« »Na ja, also, ich musste schon ein wenig zwischen den Zeilen lesen.« »Nun, wir alle haben unsere Depressionen und Launen, aber manche von uns helfen sich damit, shoppen zu gehen oder 'ne Tablette zu 10
nehmen oder so. Hat ihm noch niemand erklärt, wie man so etwas überwindet?« »Du kennst ihn länger als ich, Cordy«, entgegnete Doyle. »Aber du musst bedenken, dass er jetzt schon an die zweihundertfünfzig Jahre gelebt hat. Ich würde ihn lieber nicht fragen wollen, ob es vielleicht irgendetwas gibt, was er noch nicht erlebt hat, besonders, was die ersten hundert Jahre, seine vergeudete Jugend, anbelangt. Er sagte, manchmal könne er sich nicht gegen das übermächtige Gefühl wehren, schon alles gesehen und erlebt zu haben.« Cordelia stand von ihrem Schreibtisch auf und kam zur Couch, auf der Doyle sich lümmelte. Im Zusammenspiel mit seinem knallblauen Hemd schienen seine strahlend blauen Augen noch mehr zu leuchten als gewöhnlich. Er trug eine dunkle Lederjacke und dunkle Hosen. Eigentlich sah er gar nicht schlecht aus. Cordy war nicht abgeneigt, sich irgendwann einmal von ihm ausführen zu lassen – irgendwann, wenn er ausnahmsweise einmal nicht pleite war. »Klingt ja, als hättet ihr ein echtes Männer-Gespräch geführt.« In Cordelias Stimme lag, unüberhörbar, ein gewisser Sarkasmus. »Ja, ein echtes Männer-Gespräch!«, entgegnete Doyle mit seinem unverkennbaren irischen Akzent. »Ganz ernsthaft, mit viel gegenseitigem Schulterklopfen. Außerdem haben wir einiges getrunken. Angel zwar Schweineblut, aber immerhin ...Wir haben nur darauf verzichtet, uns am Ende brüderlich um den Hals zu fallen.« Cordelia verdrehte die Augen. »Muss ja ein echtes Ereignis gewesen sein. Wart ihr in einem öffentlichen Lokal? Vermutlich ja nicht, wenn Angel Blut getrunken hat...« »Mein Getränk kam aus einer Flasche, nicht vom Metzger.« »Stimmt, versteht sich von selbst!« Cordelia setzte sich neben Doyle und fuhr im Flüsterton fort: »Warum ist Angel aber trotz eurer MännerGespräche und -Getränke immer noch so gelangweilt? Ich sage es ja nur ungern, weil ich nicht eingeladen war, aber ihr scheint einen wirklich lustigen Abend miteinander verbracht zu haben.« »Einen Abend lang mit den Kumpeln zu zechen – mit einem Kumpel besser gesagt – wiegt nicht unbedingt ein paar hundert Jahre Eintönigkeit auf. Angel sagte, die Eröffnung der Detektei...« »Wozu ich ihn gedrängt habe ...«, bemerkte Cordelia stolz. »Genau! Jedenfalls sagte Angel, er habe gehofft, die Detektei würde ihn bei Laune halten. Er hatte sich vorgestellt, jeder neue Klient käme mit einem ungewöhnlichen, spannenden Fall zu ihm. Von seinem Sessel aus würde er alle Dimensionen der menschlichen Existenz kennen lernen...« 11
»Von seinem Sessel aus?« »Mein Gott, nimm doch nicht immer alles so wörtlich!«, entgegnete Doyle genervt. »Was jedoch seine letzten drei Fälle angeht, die waren mehr als ... na was schon!« Cordelia dachte einen Augenblick nach. »Ich verstehe«, sagte sie leise. »Erstens, der entlaufene Kater Mister Stripey. Zweitens der Typ mit dem Eisenwarengeschäft, der den Verdacht hatte, von seinen Lieferanten betrogen zu werden – großes Gähnen! Oh ja, und dann ist Mister Stripey nochmal weggelaufen.« Sie spähte durch das Fenster, das die beiden Zimmer verband, zu Angel hinüber, der mit glasigem Blick immer noch genauso da saß wie zuvor. »Okay, diese Frustration kann ich nachvollziehen. Vielleicht sollten wir Mrs. Finnegan ein Kärtchen mit einer fiktiven Adressänderung schicken, damit sie uns nicht findet, wenn Mister Stripey das nächste Mal wegläuft.« »Das gefällt mir so an dir, Cordy«, bemerkte Doyle kichernd. »Du hast überhaupt kein Gewissen!« »Ich habe sehr wohl ein Gewissen«, protestierte sie gekränkt. »Na ja, zumindest dann, wenn ich eines haben will. Außerdem wird dem Gewissen sowieso meistens zu viel Bedeutung zugemessen, im realen Leben jedenfalls. Ich meine, sieh dir doch Angel an! Meinst du, er würde da in seinem Büro verstauben, wenn er kein Gewissen hätte? Nein, dann würde der alte Angelus losziehen und beißen, töten und verstümmeln und sich wunderbar amüsieren.« »Korrekt«, pflichtete Doyle ihr bei. »Und er würde mit denen anfangen, die ihm am nächsten stehen – mit uns zum Beispiel.« »Das stimmt! Dann sind wir so vielleicht besser dran. Lieber ein gelangweilter Angel als einer, der Amok läuft. Aber ich finde trotzdem, wir sollten uns etwas ausdenken, um ihn ein wenig aufzumuntern, ihm...« Sie hielt mitten im Satz inne. Doyle hatte sich plötzlich kerzengerade aufgesetzt. Er presste seine Hände gegen den Kopf. »Was ist, Doyle? Hast du eine Idee?« Doyle schüttelte nur den Kopf und wand sich. Offenbar litt er starke Schmerzen. Cordelia begriff, dass es um Größeres ging: Er hatte eine Vision. Doyles Visionen, die ihm von den Mächten der Ewigkeit geschickt wurden, handelten immer von jemandem, der sich in Schwierigkeiten befand. Was wiederum bedeutete, dass es etwas für Angel zu tun gab. Etwas, das ihn aus seinem Stimmungstief befreien konnte. »Eine Vision?«,fragte sie hoffnungsvoll. »Aberbitte eine gute, Doyle!« 12
Einen Augenblick später war die Vision schon wieder vorbei, und Doyle ließ stöhnend seinen Kopf los. »Au Mann, das tut echt weh«, beschwerte er sich. »Ja, aber es hätte zu keinem günstigeren Zeitpunkt kommen können, nicht wahr?« Angel stand plötzlich im Türrahmen und blickte die beiden fragend an. »Wow, es tut sich etwas!«, bemerkte Cordelia im Flüsterton. »Doyle, hattest du eine Vision?«, fragte Angel knapp. »Eine sehr verschwommene. Nicht viele Details. Stattdessen Unmengen von Schmerzen.« »Er hat selten so elend ausgesehen«, fügte Cordelia fröhlich hinzu. »Um was ging es denn?« »Ich weiß es gar nicht genau.« Doyle massierte sich den Nacken. »Eigentlich habe ich nur einen Namen und eine Adresse bekommen: Betty McCoy, 20047 Sunset Boulevard Nummer 819.« »Was für ein Problem sie hat, weißt du nicht?«, hakte Angel nach. »Keine Ahnung«, antwortete Doyle. Angel sah aus dem Fenster. Draußen wurde es bereits dunkel. »Dann werde ich es wohl herausfinden müssen.« Er notierte sich die Adresse auf einem Zettel und steckte ihn in die Tasche. »Können wir irgendetwas tun?«, fragte Doyle. »Bevor wir genauer wissen, was mit Betty McCoy los ist, nicht«, erklärte Angel. »Wartet einfach hier! Es wird nicht lange dauern.« Durch seine Wohnung, die unter dem Büro gelegen war, ging Angel direkt in die Tiefgarage. Dort wartete sein 1968er Belvedere GTX Kabrio. Er kletterte in den offenen Wagen, ohne die Tür zu öffnen. »Endlich!«, dachte er. »Ein Ziel! Eine echte Aufgabe!« In letzter Zeit war wenig zu tun gewesen, und er fühlte sich innerlich zerrissen: Einerseits wollte er der armen Betty McCoy – wer auch immer sie war – nichts Schlechtes wünschen, andererseits hoffte er jedoch auf einen spannenden Fall. So spannend, dass er ihn eine Weile ablenkte. Doyle und Cordy nahmen an, er sei gelangweilt. Aber das war nicht sein wirkliches Problem. Angel ließ die beiden in diesem Glauben, weil es zu kompliziert war, ihnen zu erklären, was ihm tatsächlich fehlte. Sicherlich war er das immer gleiche Einerlei leid. Es gab nicht viel, was man nach über zweihundertfünfzig Jahren auf der Erde noch nicht erlebt oder gesehen hatte. Die Namen und Gesichter wechselten zwar im Laufe der Zeit und gelegentlich sorgte eine technische Neuerung für Aufregung, aber im Großen und Ganzen änderte sich kaum etwas. Die Menschen verhielten sich mehr oder weniger immer gleich. Hatten sie sich früher am Feuer Geschichten erzählt, saßen sie nun mit der Familie 13
vor dem Fernseher. Und die Chatrooms im Internet waren nur ein modernes Spiegelbild der Kneipen und Cafes, die es schon seit Jahrhunderten gab. Äußerlich mochte sich im menschlichen Miteinander so manches geändert haben, das eigentliche Wesen der Dinge jedoch blieb davon unberührt. Aber Angels momentanes Stimmungstief hatte noch einen ganz anderen Beweggrund, von dem er Doyle nichts erzählt hatte: Er fing allmählich an zu glauben, dass er gar nichts bewirkte. Während der vergangenen einhundert Jahre hatte er versucht, die Gräueltaten wieder gutzumachen, die er in den hundertfünfzig Jahren zuvor begangen hatte. Aber je mehr er sich bemühte, desto weniger war er überzeugt, dass ihm dies jemals wirklich gelingen würde. Er hatte bereits unzählige Leben gerettet – aber vielleicht lag genau darin das Problem. Natürlich war es eine gute Sache, dass er schon vielen Menschen das Leben hatte retten können. Aber umso größer war die Menge der Menschen, von denen er niemals auch nur ahnen würde, dass etwas Grauenhaftes sie bedrohte. Die Zahl derer, dachte Angel, denen er hatte helfen können, war vergleichsweise gering. Wenn er seine Zeit auf Erden betrachtete, hatte er immer noch den Eindruck, als überwöge das Böse, das er getan hatte, das Gute. Zusätzlich peinigte ihn die Vorstellung, dass er im Grunde ganz unwichtig war. Er befürchtete, eigentlich gar nichts erreicht und weder positive noch negative Spuren hinterlassen zu haben, wenn er von der Erde verschwand und die, die ihn kannten, erst einmal gestorben waren. Diese entmutigende Vorstellung war weitaus mehr für seinen Verdruss verantwortlich als die Langeweile, wie Doyle annahm. Der Langeweile konnte man mit Taten Abhilfe schaffen, aber wie sollte er dem eigentlichen Übel zu Leibe rücken? Wie konnte er dieser Welt etwas Bleibendes hinterlassen? Aber nun war nicht die richtige Zeit, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Er musste sich um Betty McCoy kümmern. In Hollywood angekommen, bog Angel nach rechts auf den Sunset Boulevard ab. Der Verkehr floss gleichmäßig dahin. Aber an der breiten Straße folgte eine Ampel auf die andere. Er schien in eine rote Welle geraten zu sein. Hoffentlich gab es bei Bettys Problem keinen Zeitdruck! Als Angel die Adresse erreichte, die Doyle ihm gegeben hatte, zog er das Stück Papier aus der Tasche und überprüfte die Angaben noch einmal. Kein Zweifel: Er war am richtigen Ort – Sunset Boulevard, wie er aufgeschrieben hatte. Er zuckte mit den Schultern, kletterte aus dem Kabrio und blieb auf dem Gehsteig vor den schmiedeeisernen Toren des Friedhofs von 14
Hollywood stehen. Die Angaben aus Doyles Vision konnten nicht falsch sein. So etwas gab es bei den Mächten der Ewigkeit nicht. Vielleicht hatte Doyle die Adresse fehlerhaft wiedergegeben, vielleicht ein paar Zahlen vertauscht, aber sehr wahrscheinlich war das nicht. Die Vision hatte ja überhaupt nur aus dem Namen und der Adresse bestanden, und alles war Doyle noch ganz unmittelbar in Erinnerung gewesen. Nein, er hatte bestimmt nichts durcheinander gebracht. Angel drückte versuchsweise gegen das Tor. Es war nicht verschlossen und öffnete sich mit einem Quietschen, das aus einem altmodischen Horrorfilm hätte stammen können. Als er den Friedhof betrat, bemerkte er das kleine Wachhäuschen am Eingang, das leer zu sein schien. Endlose Reihen von Grabsteinen standen auf einer weiten Rasenfläche, die in einiger Entfernung zu einem sanften Hügel anstieg. Da und dort erhoben sich größere Tafeln oder Skulpturen über die einfachen Grabsteine. Dazwischen ragten einzelne Mausoleen auf. Nur der Mond und die Straßenlaternen auf der anderen Seite des hohen Zauns warfen ein wenig Licht auf das Friedhofsgelände. Angel sah niemanden, der wie Betty McCoy aussah. Er sah überhaupt keine Menschenseele. Also ging er langsam los. Nach einigen Minuten kam jemand auf ihn zu. Aber das konnte Betty McCoy nicht sein, falls es sich bei ihr nicht um einen fünfzigjährigen Wachmann handelte, dem der Bauch über die Gürtelschnalle hing. Der Mann hatte eine Taschenlampe dabei, und an seinem Sam-BrowneGürtel baumelte ein Schlagstock. »Entschuldigen Sie«, sagte Angel zögernd, als der Wachmann näherkam. »Ist der Friedhof geöffnet?« »Man soll die Leute nicht daran hindern, ihre Lieben zu besuchen«, entgegnete der Wachmann. »Wir haben bis neun Uhr geöffnet. Aber bewacht wird die Anlage rund um die Uhr.« Angel sah auf die Uhr. Kurz nach halb acht. »Suchen Sie jemand Bestimmtes?«, fragte ihn der Wächter. »Betty McCoy«, sagte Angel. »Nummer 819.« »Oh, Betty«, entgegnete der Wachmann lächelnd. »Das ist gleich da hinten!« »Er kennt sie!«, dachte Angel. Das vereinfachte die Sache merklich. Ein seltsamer Ort, um nach einer Frau zu suchen, die in Schwierigkeiten steckte – aber an Merkwürdigkeiten war Angel im Umgang mit Leuten, die Probleme hatten, ja gewohnt. Er folgte dem Wachmann den Hügel hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter. Drei Gräberreihen weiter bog der Uniformierte vom 15
Hauptweg ab, und sie betraten die Rasenfläche. Der Wachmann blieb vor einem Stein stehen, knipste die Taschenlampe an und richtete sie auf den Grabstein. Dieser war nur klein. Kein Wort zu viel stand darauf. Elizabeth McCoy, 1939-1964 – mehr nicht. »Hier ist Betty«, erklärte der Mann. »Grab Nummer 819. Ein Gast des Staates. Ich lasse Sie jetzt allein. Sie finden mich am Tor, wenn Sie etwas brauchen.« »Danke«, entgegnete Angel. Der Wachmann ging davon. Angel blieb einige Minuten vor dem Grabstein stehen und wünschte, Doyles Vision wäre nur dies eine Mal ganz klar und verständlich gewesen. Schließlich beugte er sich vor und strich über den kalten Stein. »Lass mich wissen, was ich für dich tun kann, Betty«, sagte er sanft. »Ich bin immer für dich da.« Als er keine Antwort erhielt, verließ er den Friedhof und fuhr wieder nach Hause.
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2
Manche Lokale führten einen Namen, der ihnen entsprach. Bei anderen wiederum war er bewusstes Understatement. Und dann gab es noch Namen wie »Rialto Lounge«, die erheblich großartiger klangen, als für das Lokal angemessen war. Früher einmal war die Rialto Lounge ihres schicken Namens würdig gewesen – und das war mehr, als man von manch anderem Laden sagen konnte. In den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren, in der Glanzzeit der Martini-Kultur, wie Joe Gagliardi die Ära gern bezeichnete, hatte die Bar sowohl Berühmtheiten als auch einfache Leute angelockt. Die Rat Pack-Leute – Frankie, Dean, Joey, Sammy und all die anderen – hatten von Zeit zu Zeit hereingeschaut, um Jazz zu hören und Highballs zu trinken und sich dabei von den Bürgerlichen zusehen zu lassen. Die Garderobieren und die Mädchen mit den Zigarettenbauchläden hatten Uniformen getragen, bei denen es eher aufs Dekolletee als auf die Zweckmäßigkeit ankam, und davon geträumt, von einem Schauspieler, Produzenten oder Sänger auf die Sonnenseite des Lebens entführt zu werden. Das hatte Joe durch die Zeitungsausschnitte und Fotos erfahren, die an der Wand hinter der Bar klebten; nicht aus persönlicher Kenntnis. Seit jenen Tagen hatte man die Bar immer weiter verkleinert. Die nach und nach abgetrennten Räumlichkeiten wurden an Buchläden und Massagesalons, einen Perückenladen und ein Tattoo-Studio vermietet. Das Innere der Rialto Lounge hatte mittlerweile eine merkwürdige Form erhalten: eng im Eingangsbereich und geräumig hinten an der Bar. Joe Gagliardi arbeitete dort nun schon seit dreizehn Jahren als Spätschicht-Barkeeper. Weder liebte er seine Tätigkeit besonders, noch hasste er sie. Es war ein Job. Er arbeitete fünf Tage die Woche, hatte eine Woche Urlaub pro Jahr und konnte sich krank melden, wenn es nötig war. Er verdiente nicht besonders viel Geld, aber es genügte, um die Miete für sein Apartment vier Blocks weiter zu bezahlen, seinen 1977erToyotaTercel aufzutanken, die Gefriertruhe mit Tiefkühlgerichten und den Kühlschrank mit Bier und Soda zu füllen. Im Urlaub fuhr er mit dem Tercel an einen Strand an der Golfküste von Mexiko, saß in der Sonne, angelte und trank, während seine Haut rot wurde und verbrannte. 17
Das Anstrengendste an seinem Job war, fand er, dass er sich immer wieder dieselben alten Geschichten anhören musste. Betrunkene hatten die Angewohnheit, sich ständig zu wiederholen – außer Betrunkenen kehrte in die Rialto Lounge niemand mehr ein. Joes Leben verlief recht eintönig. Er stand gegen elf Uhr auf, rasierte sich und duschte, sah ein bisschen fern und kam dann um ein Uhr mittags zur Arbeit. Zu diesem Zeitpunkt war die Hardcore-Sauferei längst in vollem Gange – im Grunde ging sie los, wenn Lew die Bar um sechs Uhr morgens öffnete – aber es war immer noch ruhig im Vergleich zu fünf oder sechs Uhr abends, wenn die Leute von der Arbeit hereinströmten. Den ganzen Abend zapfte Joe Bier vom Fass, schenkte Whisky aus, wischte Wasserkränze und verschüttete Getränke von der blank geriebenen Holztheke, spülte Gläser und hörte sich traurige Geschichten an von gescheiterten Beziehungen, erwachsen gewordenen Kindern und weggelaufenen Geliebten. Um neun Uhr warf er Handtuch und Schürze in den Korb für schmutzige Wäsche und ging nach Hause, um sich ein Tiefkühlgericht heiß zu machen und vor dem Fernseher zu sitzen, bis es Zeit war, schlafen zu gehen und wieder von vorn anzufangen. Der Abend, an dem der Fremde die Bar betrat, war - bis zu diesem Augenblick - nicht anders als alle anderen Abende verlaufen. Aber nun versprach er doch eine Abwechslung. Schon als der Kerl hereinkam, spürte Joe, dass an ihm etwas merkwürdig war. Das lag nicht nur an seiner Kleidung. Das Revers der Anzugjacke war schmal, die Hose weit, die dunkle, schmale Krawatte mit drei Querstreifen verziert. Komplettiert wurde das Ganze von einem braunen Filzhut mit breiter Krempe, wie er Humphrey Bogart zur Ehre gereicht hätte. Wenn man jedoch in Hollywood die Leute nach ihrer Kleidung beurteilte, konnte man schnell einmal den kommenden DiCaprio, Ribisi oder Prinze brüskieren – oder den derzeitigen. Aber das Outfit war nicht das einzig Seltsame an dem Mann, obwohl es einen ersten Hinweis lieferte. Auffällig war auch seine Haltung und seine Art, sich zu bewegen. Er kam zur Tür hereinstolziert, als gehörte ihm das Lokal, und drehte sich abrupt in die Richtung, wo früher einmal die Garderobe gewesen war. So etwas hatte Joe noch nicht gesehen. Die Leute schlichen in der Regel in die Rialto Lounge, sie schlüpften verschämt herein – oder kamen bereits betrunken angetorkelt und konnten sich kaum noch auf den Beinen halten. In dieses Lokal kam man nicht, um gesehen zu werden; man kam, um seinem Leben zu entfliehen und das Bewusstsein in Alkohol zu ertränken. 18
Der Mann mochte Mitte dreißig sein. Er war fit und gesund, und er war nüchtern. Mit seinen klaren hellblauen Augen schien er jedes Detail im Lokal zu prüfen und zu registrieren. Seine Nase musste ein, zwei Mal gebrochen sein, denn sie war ein bisschen krumm. Eine Zigarette klemmte zwischen seinen Lippen. Verblüfft betrachtete der Fremde die Wand, wo einmal die Garderobe gewesen war, drehte sich um und kam zielstrebig auf Joe zu, der gerade dabei war, Gläser abzutrocknen. »Sie sind aber nicht Bert!«, sagte der Mann, als hätte er fest damit gerechnet, diesen hinter der Theke anzutreffen. »Stimmt, bin ich nicht.« »Wo ist Bert denn?« »Hier arbeitet niemand, der Bert heißt. Ich glaube, ich kenne nicht einmal einen Bert, um ehrlich zu sein.« »Das ist doch die Rialto Lounge, oder?« »Ja, sicher.« »Bert hat abends hier gearbeitet, als ich zuletzt vorbeigeschaut habe.« »Tja, jetzt arbeitet er aber nicht hier.« Der Typ sah sich wiederum und inspizierte den Bereich hinter der Theke, als hätte sich Bert irgendwo versteckt. »Tut er also nicht. Wo ist denn die Zigarettenverkäuferin?« Joe blinzelte erstaunt. »Die Zigarettenverkäuferin?«, wiederholte er kichernd. »Kumpel, man darf hier nicht mal rauchen! Im Ernst...« Er knallte einen Aschenbecher auf die Theke. »Machen Sie ihre Kippe aus, bevor ich 'ne Anzeige kriege.« Der Typ blickte verwirrt drein, drückte aber die Zigarette aus. Joe leerte den Aschenbecher und räumte ihn sofort wieder weg. Die meisten der Stammkunden waren zu sehr mit Trinken beschäftigt, um das Gespräch überhaupt mitzubekommen, geschweige denn, sich über den Rauch zu beschweren. »Man kann hier nicht rauchen?«, fragte der Typ völlig perplex. »Was ist das denn für ein Laden?« »Die Rialto Lounge, wie Sie sagten.« »Sieht mir aber nicht danach aus«, entgegnete der Typ. »Keine Garderobe, keine Zigarettenverkäuferin, keine Bühne für Musik. Wissen Sie überhaupt, wie man einen Martini oder einen Tom Collins mixt?« »Wenn Sie ein Bier und einen Whisky wollen, Kumpel, kann ich Ihnen helfen. Wenn Sie etwas Komplizierteres wollen, stehen Sie dumm da. Und erzählen Sie mir nichts von Weinkühlern oder süffigen Chardonnays, sonst muss ich Sie mit raus nehmen und zusammenschlagen.« 19
Der Typ betrachtete ihn aus seinen blassblauen Augen. »Ich glaube, mir hat Bert besser gefallen«, sagte er. »Was ist mit Hal? War Hal letzte Zeit hier?« »Hal wer? Noch jemand, der hier nicht arbeitet?« »Wechsler heißt er. »Hal Wechsler. Kommt ständig hierher.« »Ich kenne niemanden, der Wechsler heißt«, sagte Joe. Der Typ griff in die Tasche und zog eine goldene Klammer hervor, in der zusammengefaltete Geldscheine steckten. Er zog eine Fünf-DollarNote heraus und legte sie auf die Theke, Gesicht nach oben. Joe grinste auf Abe Lincoln herab, als er den Schein mit der Hand von der Theke wischte und in seiner Tasche verschwinden ließ. »Kennen Sie Hal immer noch nicht?«, fragte der Typ. »Ich habe immer noch nicht von ihm gehört.« Blitzschnell streckte der Mann die Hände aus und packte Joe am Hemdkragen. Er riss seinen Kopf nach unten, und Joes Kinn krachte auf die Theke. In dieser Position hielt ihn der Typ fest und kam ihm mit seinem Gesicht ganz nah. »Kumpel, ich glaube ich mag Sie nicht«, knurrte er durch die zusammengebissenen Zähne. »Ich glaube, Sie sind nicht ehrlich zu mir. Ich gebe Ihnen jetzt ein paar Sekunden, damit Sie ihre Meinung ändern können und aufhören, Unsinn zu reden. Können Sie mir folgen?« »Ich ... kann Ihnen folgen«, keuchte Joe. Er bekam fast keine Luft mehr. »Aber ich kenne diese Leute nicht, von denen Sie reden. Vielleicht ist es der falsche Laden, oder so. Ich weiß es nicht. Wenn ich etwas wüsste, würde ich es Ihnen sagen.« Mit einem energischen Stoß ließ der Mann Joe los. »Das klingt schon besser«, sagte er. Er zog eine Visitenkarte aus der Tasche und legte sie auf die Theke. »Wenn Ihnen etwas einfällt, rufen Sie mich an! Verstanden?« »Okay«, antwortete Joe. »Verstanden.« Der Mann drehte sich um und ging hinaus. Joe sah ihm hinterher, bis die Tür hinter ihm zugefallen war. Dann nahm er die Visitenkarte und betrachtete sie. In der Mitte war ein großes stilisiertes Auge gezeichnet. Darüber stand der Name Mike Slade, darunter »Privatdetektiv« und eine Telefonnummer mit nur fünf Zahlen. Joe rieb sich den Hals und beobachtete die umstehenden Trinker. Niemand blickte zu ihm hinüber. Wenn jemand den Zwischenfall überhaupt bemerkt hatte, gab er sich jedenfalls größte Mühe, so zu tun, als hätte er nichts gesehen. Mike Slade blieb auf dem Gehsteig stehen und blinzelte in das Licht der hohen Laterne auf der anderen Straßenseite. Natürlich war es ein 20
wenig optimistisch gewesen anzunehmen, dass sie immer noch in der Bar arbeitete. Zu viele Jahre waren inzwischen vergangen, wie er mit einem Blick auf das Datum der Zeitungen festgestellt hatte, die auf der Straße verkauft wurden. Aber manche Menschen blieben Jahrzehnte am gleichen Ort, ohne ihr Leben großartig zu verändern. Und da das Lokal seine heißeste Spur war, hatte er gehofft, auch Betty wäre nicht fortgegangen. Er wandte den Kopf und blickte zu dem verwitterten Schild mit dem Schriftzug »Rialto Lounge«. Es sah genau so aus, wie er es im Gedächtnis hatte: Es ragte in Form eines Saxophons schräg in die Straße hinaus und war verziert mit verschnörkelten Leuchtbuchstaben. Allerdings hatte das Schild früher Tag und Nacht geblinkt, und man hatte den zuckenden Neonschriftzug schon von weitem erkennen können. Nun waren nur noch die Neonröhren zu sehen, die schon lange nicht mehr leuchteten. Alles war anders als früher. Mike Slade gefiel dies gar nicht. Zum Beispiel die Autos, die auf der Straße vorbeifuhren. Sie waren klein und kastenförmig und boten einen merkwürdigen Anblick. Manche Marken erkannte er – Ford und Chevrolet und gelegentlich einen Dodge – aber nicht die Modelle. Manche sahen nicht einmal wie Autos aus; sie wirkten eher wie Lieferwagen; allerdings waren sie schnittiger und hatten mehr Fenster als diese. Auch das Benehmen der Insassen hatte sich verändert. Sie spähten argwöhnisch durch fest verschlossene Scheiben aus ihren Autos. Slade war es gewöhnt, dass die Leute mit offenem Fenster fuhren, den linken Ellbogen heraushängen ließen, rauchten, Handzeichen gaben und gelegentlich Nachbarn zuwinkten. Alles war anders, wurde ihm klar. Nicht besser, nur anders. Alles bis auf ihn selbst. Mike fühlte sich wie immer. Vielleicht waren seine Methoden mittlerweile veraltet, aber er musste die Dinge nehmen, wie sie waren. Die Welt hatte sich weitergedreht, während er schlief. Nur er war immer noch der Alte, weil er von all dem nichts mitbekommen hatte. Daran konnte er nichts ändern. Er hatte begriffen, was geschehen war. Wie und warum, wusste er zwar noch nicht, aber er würde es herausfinden. Fragen zu beantworten war schließlich die Aufgabe eines Privatdetektivs. Und das genau war er. Ein Schnüffler. Ein Spion. Ein privater Ermittler. Wenigstens war er das bis zu dem Tag gewesen, an dem er ermordet worden war. An diesen Tag erinnerte er sich noch sehr gut; an jede einzelne Sekunde. Der zwölfte November 1961 war ein frischer Herbsttag 21
gewesen. Während der Nacht zuvor hatte es geregnet. Die Stadt war wie reingewaschen gewesen und hatte in der Sonne geglänzt, als er von seinem Apartment oben am Hollywood Boulevard zu seinem Büro auf der Argyle Avenue unterwegs gewesen war. »Take Five«, wie er sich erinnerte. Als er Lamont zugewinkt hatte, der den Zeitungskiosk an der Ecke betrieben hatte, und das Bürogebäude betreten hatte, war er zu Bobby Darins »Lazy River« übergegangen. Elvis Presley hatte damals gerade ein paar Schallplatten herausgebracht, aber aus seiner Musik hatte sich Slade nicht viel gemacht. Unglücklicherweise schien dieser Rock 'n' Roll jedoch damals ziemlich gut anzukommen. Und dann ... In der Empfangshalle begrüßte er Philip, den Liftboy, der ihn mit in den vierten Stock nahm. Als er den Schlüssel ins Schloss der Tür von Suite Nummer 411 steckte, bemerkte er, wie leicht er sich drehen ließ – zu leicht. Slade war sofort mit der Hand an seiner Pistole, aber bevor er sie ziehen konnte, riss jemand die Tür von innen auf. Er wurde von hinten angerempelt und in sein Büro geschubst. Als er wieder auf die Beine kam, war die Tür bereits verschlossen und verriegelt. Erblickte in die Läufe von zwei stupsnäsigen 38ern. »Du hast die freundlichen Warnungen ignoriert, Kumpel«, drohte ihm einer der Kerle, ein Blonder mit Igelfrisur, der zu seinem schwarzen Nadelstreifen-Anzug abgewetzte braune Halbschuhe trug. Der andere Typ, dunkelhaarig, die lange Mähne mit Pomade zurückgekämmt, hatte einen grauen, ausgebeulten Anzug getragen, dazu aber glänzend polierte schwarze Schuhe. »Ich höre nicht auf Warnungen von Ganoven wie Wechsler«, erklärte Slade. »Und ihr könnt ihm sagen, wenn er eine Nachricht für mich hat, soll er selbst kommen.« »Er hat keine Nachrichten mehr für dich«, antwortete der Blonde. »Genau«, ergänzte der Dunkle fröhlich. »Außer der Letzten: Er bat uns, dir Good-bye zu sagen.« Dann eröffnete er das Feuer. Slade erinnerte sich an die ersten Blitze aus dem Pistolenlauf. Er erinnerte sich auch daran, einen Blick auf Wechsler erhascht zu haben, der aus einem Versteck in der Ecke trat. Er war merkwürdig gekleidet gewesen, hatte einen flatternden schwarzen Umhang oder etwas Ähnliches getragen. Aber Slade hatte ihn nicht gut erkennen können. Und dann hatte er gar nichts mehr gesehen. Die Schüsse selbst hatte er nicht mehr gehört. 22
Danach war nichts mehr gewesen. Keine Dunkelheit, keine Stille, keine Leere. Als sein Schlaf gestört worden war, und er das Bewusstsein wiedererlangt hatte, war es ihm erschienen, als wäre überhaupt keine Zeit vergangen. Aber das stimmte natürlich nicht, wie ihm gleich in dem Augenblick klar geworden war, in dem das Abrisskommando die Wand durchbrochen hatte, die ihn gefangen gehalten hatte. Zuerst hatte ihn diese Erkenntnis erschreckt. Slade hatte begriffen, dass er tot gewesen war, nun aber wieder lebte. Er wusste, dass er auf irgendeine Weise die Gesetze der Natur verletzt hatte. Eigentlich sollte er nicht mehr auf dieser Welt sein. Er hatte in einem anderen leer stehenden Gebäude in der Nähe Zuflucht gesucht und dort zusammengekauert verharrt und auf die – ebenso fremdartigen wie wohlbekannten – Geräusche von Los Angeles gelauscht. Es mussten einige Stunden vergangen sein, bis er bemerkte, dass er die Kälte des Betonbodens tatsächlich spürte, die durch seine Kleidung drang. Er fuhr mit den Fingern über die Steinmauer und fühlte, wie rau die Oberfläche war. Dann leckte er über die Steine und genoss den staubigen Geschmack auf seiner Zunge. Offenbar funktionierten alle seine Sinne wieder. Den Rest des Tages blieb er in seinem Versteck, bevor er schließlich den Mut hatte, es zu verlassen. Er verbrachte einige Zeit damit, sich neu zu orientieren. Wo früher die Garage gewesen war, in der er seinen 58er Plymouth Valiant abgestellt hatte, befand sich nun eine Art chinesischer Donut-Laden. Deshalb ging er davon aus, dass sein Auto längst verschwunden war. Letztendlich war es der Gedanke an Wechsler, der ihn aus seinem Versteck trieb. Er hatte keine Ahnung, wie lange er tot gewesen war oder welches Jahr man nun schrieb. Aber wenn Wechsler in dieser fremden Zukunftswelt noch lebte, dann sollte er für seine Verbrechen bezahlen. Dieser Fall war noch nicht abgeschlossen. Und Mike Slade gab erst auf, wenn ein Fall gelöst war, und er den Schuldigen gestellt hatte. So wollte er es auch weiterhin halten. Aber er brauchte einen Ausgangspunkt. Die Fährte war natürlich mittlerweile kalt. Wenn sogar die einst so noble Rialto Lounge vergammelt war, musste sich vieles verändert haben. Veronica war in der Lage, ihn auf den neuesten Stand zu bringen; dessen war er sich gewiss. Seit Veronica Chatsworth im Alter von achtzehn mit dem Bus aus Indianola, Iowa, gekommen war, war sie fast sieben Jahre lang seine Sekretärin gewesen. Mike entdeckte eine 23
Telefonzelle an der nächsten Ecke, ging darauf zu und kramte ein Fünfcentstück aus der Tasche. Die Telefonzelle hätte gut aus einem Flash-Gordon-Film stammen können, dachte er. Immerhin waren jedoch noch Nummern auf dem Apparat – auf einem Tastenblock, nicht auf einer Wählscheibe, aber das war leicht zu durchschauen – und es gab einen Schlitz für Münzen. Der Hinweis über dem Schlitz besagte allerdings, dass ein Ortsgespräch fünfunddreißig Cents kostete. Das war" glatter Wucher! Ein Mittagessen für fünfunddreißig Cents, das mochte ja noch angehen, aber ein Anruf sollte nun wirklich nicht mehr als fünf Cents kosten! Eine andere Münze besaß er nicht. Er hatte immer eine Münze in der Tasche gehabt, falls er dringend telefonieren musste. Eine Münze und die Scheine in seiner Geldklammer. Empört verließ er die Telefonzelle und wartete auf dem Hollywood Boulevard, bis ein Taxi vorbeikam. Er winkte und pfiff und stieg hinten ein, als der Wagen anhielt. Der Fahrer schien Ausländer zu sein, jedenfalls war sein Name so lang wie Slades Arm. Aber als er ihm die Adresse von Veronica Chatsworth in Silver Lake gab, nickte der Fahrer, lächelte und trat aufs Gaspedal. Slade lehnte sich zurück und sah sich die merkwürdige neue Welt an, die am Fenster vorbeizog.
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3
Detective Kate Lockley stand in dem Abrissgebäude auf der Argyle Avenue in Hollywood und sah zu, wie ein paar Beamte vom Dezernat für ungeklärte Todesfälle die Überreste eines zerfallenen Skeletts in einen Leichensack scharrten. Wahrlich kein schöner Anblick! Charles Frezzano, der mit dem Fall betraute Spurensicherungsexperte des LAPD, hatte stundenlang den Fundort untersucht. Nachdem der Bautrupp den Fund gemeldet hatte, war das Gebäude von den ersten Beamten vor Ort abgesperrt worden. Wenige Minuten später hatte man Kate informiert, und Frezzano war etwa eine halbe Stunde nach ihr eingetroffen. Es gab viele Orte, an denen Kate den Abend lieber verbracht hätte. In diesem Gebäude gab es fast keine Fenster mehr und nur noch wenige Wände. Unten brüllten die Generatoren und große Scheinwerfer auf Stativen tauchten das Gebäude in Licht. Aber da Frezzano den Leichenfundort in einem möglichst unveränderten Zustand brauchte, verbreiteten die Lampen im vierten Stock nur ein sehr schwaches Licht. Heizgeräte gab es überhaupt nicht. Kate zog den Reißverschluss ihrer weichen Lederjacke zu, nahm sich ein Paar Handschuhe und beobachtete Frezzano, während er den Raum langsam und systematisch durchsuchte. Nach einer Stunde streifte er frustriert seine Latexhandschuhe ab und schob sie in die Tasche. »Das Verbrechen liegt Jahrzehnte zurück, Kate. Ich würde sagen, plus/ minus vierzig Jahre. Und seitdem sind ständig Leute in diesem Gebäude ein- und ausgegangen.« »Also gibt es keine Spuren mehr?« »Sag niemals nie«, entgegnete er nachdenklich. Er war um die fünfzig und gewissermaßen schon seit Ewigkeiten bei der Spurensicherung. Eine Schildpattbrille mit dicken Gläsern dominierte sein schmales Gesicht. Seine dichten Haare waren weiß. »Jedoch findet hier das Gesetz von der abnehmenden Wahrscheinlichkeit Anwendung. Ich werde mal genauer hinter diese Mauer schauen, denn der Raum auf der Rückseite war so lange von der Welt abgeschnitten, wie der Tote sich dort befand. Sobald sie die Leiche aus dem Weg geschafft haben, sehe ich mir dieses Verließ mal an. Vielleicht gibt es noch Spuren an der Mauer.« 25
»Ist einen Versuch wert. Und was können Sie anhand der Leiche noch herausfinden?« Frezzano sah sie über den Rand seiner dicken Brille an. »Also, bestimmt die Todesursache. Auf den ersten Blick würde ich sagen, wir werden Schusswunden finden. Hoffentlich gibt es in diesem Rattenloch weitere Hinweise.« »Das wäre hilfreich«, pflichtete ihm Kate bei. »Zweifelsohne. Aber auf viel würde ich nicht hoffen.« »Glauben Sie, man kann das Opfer identifizieren?«, fragte sie. Frezzano strich sich mit seinen langen, dünnen Fingern übers Kinn. »Möglich«, entgegnete er ohne viel Enthusiasmus. »Es gibt keine Haut mehr an den Fingern, von der man Abdrücke nehmen könnte. Zahnarztunterlagen aus den Fünfzigern und Sechzigern sind keine so zuverlässige Quelle wie heutzutage. In dieser Zeit hat sich der Mord ereignet, vermute ich. Aber den Zeitraum werden wir bald einengen können und dann sehen wir, wo wir stehen.« Kate drehte sich langsam um die eigene Achse und taxierte den Raum, als wollte sie ihn zwingen, sein Wissen zu offenbaren. »Sie wollen mir also sagen, Charles, dass wir im Grunde gar nichts haben.« Er kicherte. »Kate, niemand erwartet von Ihnen, dass Sie alle Fälle lösen. Und schon gar keine, die vierzig Jahre zurückliegen!« »Das sagen Sie!« »Ich werde Sie anrufen und wissen lassen, was ich herausfinden konnte. Sie brauchen nicht länger hier zu warten.« »Danke, Charles!« Kate verabschiedete sich und stieg die Treppen hinab. Unterwegs nickte sie einigen Beamten zu, die das Gebäude absicherten. Sogar zu dieser frühen Morgenstunde hatte sich eine kleine Zuschauermenge versammelt, und ein Team von den Fernsehnachrichten war mit Kameras, Lichtern und einem Reporter aufgetaucht. In Hollywood drehte sich einfach alles ums Showbiz! Die Beamten hatten die Mitarbeiter der Abrissfirma versammelt, um sie zu befragen. Diese Männer und Frauen wurden nun schon Stunden über ihre Arbeitszeit hinaus auf der Baustelle festgehalten. Sie hatten ihre Familie anrufen und die Abendpläne absagen können, aber bevor sie nicht ihre Aussage gemacht hatten, saßen sie in Hollywood fest. Mittlerweile waren fast alle verhört worden. Einer der Letzten war ein kräftiger Mann namens Blake. Er war der Vorarbeiter und hatte die Polizei verständigt. Officer Johannsen sprach gerade mit ihm, und Kate trat dazu. »Sind Sie Mister Blake?«, fragte sie. »Bin ich«, antwortete der Mann müde. 26
»Ich weiß, es war ein ungeheuer langer Tag für Sie, Mister Blake«, sagte Kate mitfühlend. »Dafür entschuldige ich mich.« »Sie können ja nichts dafür!« »Nein, kann ich nicht. Aber ich habe vor herauszufinden, wer dafür verantwortlich ist. Die Tat liegt nach ersten Erkenntnissen an die vierzig Jahre zurück. Der Tote, den Sie oben gefunden haben, war definitiv das Opfer eines Mordes.« »Tut mir Leid zu hören, Madam.« Blake hatte vor Müdigkeit schwere Augenlider und Ringe unter den Augen, aber es war immer noch ein Funkeln in ihnen. Sein buschiger Schnurrbart zuckte, als er lächelte. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, aber ich muss Ihnen sagen, dass ich vor vierzig Jahren noch nicht auf dieser Baustelle gearbeitet habe.« »So lange sind Sie ja wohl auch noch gar nicht auf der Welt!«, entgegnete Kate. »Aber es wäre schön, wenn Sie sich daran erinnern könnten, ob Ihnen während der Abrissarbeiten irgendetwas aufgefallen ist. Rufen Sie mich an, wann immer Ihnen etwas einfällt! Auch, wenn es etwas ist, das Ihnen völlig unwichtig erscheint. Bei der Lösung eines so alten Falls kann für uns jedes noch so kleine Detail von Bedeutung sein.« »Was meinen Sie denn mit >etwas«, fragte Blake. »Na ja, etwas eben«, entgegnete Kate. Sie wusste, das war zu vage, aber sie konnte wirklich unmöglich sagen, was in einem Fall wie diesem bedeutsam sein konnte. Sie suchte nach konkreten Beispielen. »Eine Visitenkarte, die irgendwo an einem Türpfosten klemmt. Ein Fußabdruck im Mörtel dieser gemauerten Wand. Einfach alles, was uns Hinweise auf jemanden liefern könnte, der sich damals in diesen Räumen aufgehalten hat.« Blake schüttelte nachdenklich den Kopf. »Tut mir Leid, Madam«, sagte er. Es klang ehrlich. »Mir ist nichts dergleichen aufgefallen. Wir sind ja damit beschäftigt, das Ding abzureißen und nicht damit, nach Dingen zu suchen, an die wir uns vielleicht später erinnern können.« »Ja, ich verstehe«, sagte Kate und reichte ihm ihre Karte. »Wenn Ihnen etwas einfällt, zögern sie nicht mich anzurufen. Irgendetwas!« Er nahm die Karte und schob sie in die Brusttasche seines Flanellhemdes. »Das werde ich tun, Madam.« »Lassen Sie ihn gehen«, wies Kate Officer Johannsen an. »Lassen Sie alle gehen. Aber das Gelände wird weiterhin streng bewacht!« »Wird gemacht, Detective«, versprach der Officer. Kate sah sich ein letztes Mal um und ging zu ihrem Wagen. Wie gern hätte sie eine Runde geschlafen. Aber sie würde noch stundenlang mit Schreibtischarbeit beschäftigt sein, bevor sie daran überhaupt nur denken konnte. 27
Sie wollte ins Büro fahren, um die Vermisstenakten aus der von Frezzano eingekreisten Zeitspanne durchzusehen. Auch die Protokolle von allen erdenklichen Polizei-Einsätzen in diesem Gebäude musste sie sich besorgen. Vielleicht erhielt sie ja durch den Vergleich der Unterlagen einen Hinweis darauf, wer das Opfer war und warum es hatte sterben müssen. Cordelia sah von ihrem Computermonitor auf, als Angel ins Büro kam. Doyle faltete die Zeitung zusammen, in der er gelesen hatte, und legte sie auf die Couch. »Ich habe über Betty McCoy recherchiert«, verkündete Cordelia. »Was gefunden?«, fragte Angel. Er hatte sich kurz von unterwegs gemeldet, um von Bettys merkwürdiger Adresse zu berichten. »Zuerst mal kann ich nur Igitt zu der ganzen Friedhofsgeschichte sagen. Ich meine, was für eine gruselige Art, einen Fall zu beginnen! Vielleicht ist ja Doyles Visionsmaschine kaputt!« »Mit mir ist alles in Ordnung«, protestierte Doyle. »Ich sehe, was ich sehen soll. Nicht mehr und nicht weniger.« »Sicher, wie auch immer«, entgegnete Cordelia. »Aber das, was du siehst, ist manchmal nicht so furchtbar hilfreich.« »Cordy«, unterbrach Angel. »Betty McCoy?« »Richtig.« Cordelia nickte heftig. »Betty. Viel gibt es nicht über sie, aber ich konnte ein bisschen was im Archiv der L.A. Times finden. Also, wenn man es wörtlich nimmt, haben die bei den Zeitungen ja wirklich einige Leichen im Keller...« »Cordy! Was ist mit Betty McCoy?«, unterbrach Angel ihren Redefluss. »Sorry! Also ... es stand nicht oft etwas über sie in der Zeitung, aber es gab einen kurzen Artikel, als sie starb.« »1964.« »Korrekt. Sie war, wie in dem Artikel steht, arbeitslos und drogenabhängig. Und es wurde wohl nur über sie berichtet, weil sie vier Tage lang in einem Hotelzimmer gelegen war, bevor sie jemand fand.« »Das Reinigungspersonal ist nicht ins Zimmer gegangen?«, fragte Angel ungläubig. »War bestimmt kein besonders nobles Hotel! Aber das Zimmer wurde schließlich geöffnet, weil sie ein paar Wochen mit der Miete im Rückstand war, und man vermutete, sie wäre abgehauen.« »Aber das war sie nicht.« »Nein ...« 28
»Also suchen wir nach einer mittellosen Drogenabhängigen«, sagte Doyle. »Ja, ganz toll! Bevor sie starb, hat sie in einer Bar namens Rialto Lounge gearbeitet.« »Hey, die kenne ich«, sagte Doyle. »Ist nicht weit vom Sunset Boulevard.« »Stimmt. Aber ich habe das Gefühl, der Laden ist nicht mehr das, was er zu seinen Glanzzeiten war.« »Und zu seinen Glanzzeiten hat Betty McCoy dort gearbeitet?«, fragte Angel. »Das ist richtig«, entgegnete Cordelia aufgeregt. »Stell dir vor, es kamen richtige Hollywoodstars in den Laden – Dean Martin, Frank Sinatra, Ava Gardner und so weiter. Das stand jedenfalls in einem anderen Artikel, den ich gefunden habe. Sie waren zwar keine Stammgäste, aber sie schauten immer wieder rein. Die anderen Gäste kamen gern in diese Bar, um einen Martini zu trinken, coolen Jazz zu hören und nach Berühmtheiten Ausschau zu halten.« »Das ist nicht die Rialto Lounge, die ich kenne!«, warf Doyle ein. »Nein, dem Artikel zufolge ging der Laden ab Mitte der Sechziger allmählich den Bach runter.« »Und Betty verlor ihren Job?« »Da war sie bestimmt nicht die Einzige! In dem Artikel steht, das Lokal wurde einige Male verkleinert. Betty arbeitete als Zigarettenmädchen. Du weißt doch – in einem sexy Outfit mit so einem kleinen Tablett vor dem Bauch!« »Wie ungemein glamourös!«, bemerkte Doyle. Die Ironie in seinen Worten entging Cordelia, und sie antwortete mit entrücktem Blick: »Allerdings! Bloß dachte ich, das alles wäre schon seit den Vierzigern vorbei. Die Fünfziger gaben, soviel ich gehört habe, glamourmäßig nicht sonderlich viel her.« »Das stimmt«, erklärte Angel. »Es war eine recht konservative Zeit. Aber Ende der Fünfziger, Anfang der Sechziger änderte sich einiges. Mit der Wahl von John F. Kennedy zum Präsidenten und dem Ende der Eisenhower-Ära kam im ganzen Land Party-Laune auf. Das Nachtleben wurde wieder wichtig, und man beschäftigte sich plötzlich wieder mit Musik und Tanz und machte sich schick. In gewisser Hinsicht war das wie eine Rückkehr zu der Zeit, die du im Kopf hast.« »Also bestanden die Sechziger nicht nur aus Hippies und Protest und Friedensdemos?« »Ganz und gar nicht, das kam erst später«, entgegnete Angel. »Anfang der Sechziger konnte man noch ein letztes Aufblühen des altmodischen 29
Glamours erleben.« »Klingt toll«, sagte Cordelia. »Männer im Smoking, Frauen mit Perlenketten und Futteralkleidern ...« »Fassen wir also zusammen, was wir über Betty McCoy wissen ...«, unterbrach Angel sie. »Nicht viel, würde ich sagen«, bemerkte Doyle. »Das ist richtig«, fuhr Angel fort. »Sie arbeitete in diesem Nachtclub. Sie verlor ihren Job. Irgendwann wurde sie drogenabhängig. Sie starb einsam und arm in einem Hotelzimmer.« »Das ist so ziemlich alles«, pflichtete ihm Cordelia bei. »Ich verstehe das nicht«, sagte Angel. »Sicher, sie hatte einen elenden Tod, aber was können wir jetzt noch für sie tun? Warum hat Doyle eine Vision von einer Frau, die schon seit über dreißig Jahren tot ist?« »Das, mein Freund, ist die Frage, die wir uns stellen müssen«, sagte Doyle. »Wenn ich schon solche Schmerzen aushalten muss, würde ich es lieber für Leute tun, denen man noch helfen kann.« »Da hast du Recht«, stimmte ihm Angel zu. »Aber wir sollten diese Frau nicht so schnell abschreiben. Jemand muss noch mal zum Friedhof fahren und das Grab beobachten.« Er sah Cordelia und Doyle an. Als keiner von beiden reagierte, nahm er Doyle streng ins Visier. »Okay, okay, ich mach's! Aber ich hasse Friedhöfe, Angel.« »Glaubst du, mir gefallen sie?« »Na ja, du kennst dich doch mit dem ganzen untoten Kram viel besser aus!« »Das ist etwas anderes«, widersprach ihm Angel. »Cordy, wie wäre es, wenn du weiter in Bettys Leben herumsuchst? Vielleicht kannst du ja noch mehr über sie oder über diesen Nachtclub herausfinden.« »Verstanden, Boss! Und was wirst du tun?« »Ich werde mich unter die Stars in der Rialto Lounge mischen.« Mit Entsetzen beobachtete Mike Slade die Zahlen auf dem Taxameter. Silver Lake war doch nicht so weit von Hollywood entfernt – im Grunde war der Ort gleich in der Nachbarschaft gelegen! Er hatte einen Dollar für die Fahrt gerechnet und einen weiteren als großzügiges Trinkgeld. Als der Fahrer vor Veronica Chatsworth Bungalow anhielt – im Schein der Straßenlaternen sah das Haus kaum verändert aus, außer, dass es vielleicht einen neuen Anstrich benötigte – und das Taxameter bei elf Dollar und etwas stehenblieb, kochte Slade vor Wut. »Das ist doch Straßenraub!«, knurrte er. »Nee, bloß die gesetzlich festgelegten Gebühren«, entgegnete der Taxifahrer mit schwerem Akzent. »Da kann ich gar nichts für!« 30
»Dann ist bestimmt das Taxameter kaputt.« »Nein, das ist es ganz sicher nicht«, widersprach der Fahrer. »Okay, schon gut«, lenkte Slade ein, nahm zwölf Dollar aus seiner Geldklammer und reichte sie dem Fahrer. »Der Rest ist für dich. Und komm mir nicht noch mal unter die Augen!« Der Fahrer steckte das Geld ein und fuhr davon. Slade sah wieder zu dem Haus hinüber. Der Weg, der die vertrocknete Rasenfläche genau in der Mitte teilte, endete vor vier Stufen, die auf eine kleine Veranda führten. Dort stand eine rostige Schaukel. Slade erinnerte sich, wie er früher darauf gesessen und geschaukelt hatte. Sie war noch ganz neu gewesen, als er Veronica geholfen hatte, sie aufzuhängen. Er ging die Stufen hinauf und legte mit gewohnter Geste den Finger auf den Klingelknopf, der sich beruhigenderweise genau an der Stelle befand, wo er immer gewesen war. Er klingelte. Nach einigen Minuten ging das Verandalicht an und hinter dem Türspion wurde es dunkel, weil jemand hindurchsah. Er lächelte hinein. »Wer ist da?«, fragte eine Frauenstimme beklommen. »Mach keine Witze, Veronica«, sagte er. »Ich bin es, Slade! Mach auf!« »Slade?«, wiederholte die Stimme. »Ja, genau! Hör mal, ich weiß, es gibt viel zu erklären, also lass mich rein.« »Slade wer?« »Mike Slade. Komm schon, Puppe!« Er hörte das Klicken mehrerer Schlösser und die Tür ging auf. Er griff nach dem Türknauf. »Lassen Sie Ihre Hände dort, wo ich sie sehen kann, Mister Slade!«, sagte die Frau. Er sah sie an. Das war nicht Veronica! Veronica war eine blonde, klassische Schönheit gewesen und hatte grüne Augen gehabt. Diese Frau war kompakter und hatte dunkelbraunes schulterlanges Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Von dem fragenden Blick ihrer braunen Augen fühlte er sich regelrecht aufgespießt. Noch dazu hielt sie eine 38er Spezial auf seinen Bauch gerichtet. »Möchten Sie nicht hereinkommen?«, fragte sie.
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Die Rialto Lounge erinnerte Angel an eine Kneipe, die er damals in Irland als junger Mann häufig aufgesucht hatte. Er konnte sich nicht an den Namen erinnern – wahrscheinlich hatte sie überhaupt keinen gehabt und auch kein Neonschild vor der Tür. Es war mehr oder weniger nur ein Raum in einem Gebäude gewesen, das in einer Seitenstraße gelegen war. Entweder hatte man gewusst, was sich hinter der Tür verbarg, oder nicht. Bei seinem ersten Besuch hatte sich Angel positiv überrascht und begeistert gezeigt. Im Innern der Kneipe war es kalt und feucht gewesen, und das kleine Feuer, das im Kamin flackerte, hatte die Kälte nicht vertreiben können. Es gab viele Männer und eine Hand voll Frauen. Große Biergläser hatten überall herumgestanden. Lautes Lachen und derbe Sprüche waren zu hören gewesen, und gelegentlich war ein Lied gegrölt worden. Hinten an der Bar jedoch – nur ein Brett auf zwei leeren Fässern – hatte Verzweiflung in der Luft gehangen. Dort hatten die Leute nicht aus Geselligkeit oder um sich zu amüsieren getrunken, sondern um das Elend der eigenen Existenz zu vergessen. Diese Leute, hatte Angel damals gedacht, soffen sich wahrhaftig zu Tode. In der Rialto Lounge herrschte dieselbe Atmosphäre. In diesem Lokal tranken Leute, die sich ohne Umwege ins Grab soffen, und keinen Gedanken daran verschwendeten, dass sie sich geradewegs in die Selbstzerstörung manövrierten. Angel packte das kalte Grausen – dabei war er nicht eben leicht zu erschüttern. Es war früh, als er hereinkam, noch vor neun. Der schwere Kerl hinter der Theke beäugte ihn misstrauisch. Er trug eine gestärkte weiße Schürze über einem weißen Hemd, dessen Ärmel er hochgekrempelt hatte. Darunter kamen dicke, behaarte Arme zum Vorschein. Ein Pflaster am Kinn verdeckte nur unzureichend einen frischen Bluterguss. Bis Angel vor ihm an der Theke stand, behielt der Barkeeper ihn mit zusammengekniffenen Augen im Visier. Reichlich ungastlich und humorlos fragte er nur: »Wollen Sie was?« »Informationen«, entgegnete Angel. Freundliches Kerlchen, dachte er. Er fand, der Typ hätte auch gut in die Kfz-Zulassungsstelle beim Straßenverkehrsamt gepasst. 32
»Da sind Sie hier falsch«, sagte der Barkeeper eiskalt. »Das ist eine Bar. Hierher kommt man, um zu trinken. Wenn Sie Informationen wollen, kaufen Sie sich eine Zeitung!« »Okay, dann geben Sie mir ein Bier«, lenkte Angel ein. Er wollte es zwar nicht trinken, aber wenn er es bezahlte und obendrein ein Trinkgeld gab, taute der Kerl vielleicht ein wenig auf. Der Barkeeper drehte sich um, nahm ein Glas und hielt es unter den Zapfhahn, um es mit bernsteinfarbenem Gerstensaft zu füllen. Dann knallte er es auf die Theke. Angel schob einen Zehn-Dollar-Schein über das polierte Holz. »Behalten Sie den Rest«, sagte er. Der Barkeeper legte den Schein in die Kasse, nahm sich das Wechselgeld heraus und steckte es in die Hosentasche. »Viel zu tun heute?«, fragte Angel. »Sie haben für das Bier bezahlt, nicht für meine ungeteilte Aufmerksamkeit«, entgegnete der Barkeeper. Freundlich und hilfsbereit!, dachte Angel. »Ich denke, ich habe für etwas mehr bezahlt als nur ein Bier.« Der Barkeeper sah ihn kalt an. »Was die Leute so alles denken!« »Ich versuche etwas über eine Frau herauszufinden, die einmal hier gearbeitet hat«, sagte Angel. »Sie heißt Betty McCoy. Ich glaube, sie war Zigarettenverkäuferin.« Der Blick des Barkeepers verfinsterte sich. Er bückte sich. Als er sich wieder aufrichtete, hielt er schwarzes Metall in seinen dicken Fingern. Eine Pistole. »Warten Sie mal«, sagte Angel ruhig und hielt die Hände hoch, um dem Typen zu zeigen, dass er nicht bewaffnet war. »Kein Grund, nervös zu werden!« Der Barkeeper richtete die Pistole auf ihn. Angel selbst konnte er zwar nicht viel damit anhaben, aber den anderen im Raum schon. Angel hörte, wie hinter ihm hastig Stühle zurückgeschoben wurden, und die Leute zur Tür flohen. Er wollte nicht, dass jemand von den Gästen verletzt wurde. Sie gingen zwar nicht besonders sorgsam mit ihrem Leben um, aber eine Kugel beendete es in jedem Fall schneller und schmerzhafter. Angel reagierte schnell. Zur Ablenkung schlug er mit einer Hand auf die Theke, griff mit der anderen nach der Pistole und schob die Hand des Mannes zur Seite – in eine Richtung, wo die Kugel keinen Schaden anrichten konnte, falls sich ein Schuss löste. Dann riss er dem erstaunten Barkeeper die Pistole einfach aus der Hand. 33
»Keine Waffen!«, zischte Angel ihn an und legte die Pistole vorsichtig auf den Boden. »Sie machen mich nervös«, bemerkte er mit einem raschen Lächeln. »Sie sind aber schnell!«, sagte der Mann. Angels Reaktionsgeschwindigkeit hatte ihn ehrlich verblüfft. »Merken Sie sich das! Also, was ist hier los? Warum bedrohen Sie mich mit einer Waffe?« »Ich weiß nicht, was ihr heute alle von mir wollt«, fuhr der Barkeeper auf. »Der letzte Typ, der mich nach Betty McCoy gefragt hat, ist ziemlich grob mit mir umgegangen, und das lasse ich nicht noch mal mit mir machen.« »Jemand anderes hat schon nach Betty McCoy gefragt?«, meinte Angel erstaunt. »Ich erinnere mich nicht, dass er ihren Namen erwähnt hat«, entgegnete der Barkeeper. »Aber er fragte nach dem Zigarettenmädchen.« »Heute?« »Ja, genau.« »Erzählen Sie mir davon!« Der Barkeeper blinzelte irritiert und sah zur Decke, als könnte er dort seine Erinnerung abrufen. »Früh, zu Schichtbeginn, kam ein Typ rein, der merkwürdige Klamotten trug; Klamotten wie aus einem alten Film«, sagte er. »Was für Klamotten?« »Er trug einen Anzug, wissen Sie, aber einen altmodischen. Und er hatte so einen großen Hut, wie ihn heute keiner mehr aufsetzt.« »Großer Hut«, wiederholte Angel. Der Barkeeper bewegte die Hände rings um den Kopf, um zu beschreiben, was er meinte. »Wie in den alten Gangsterfilmen«, erklärte er, »da haben doch alle solche Hüte getragen. Die sind ihnen nicht mal bei den Boxkämpfen vom Kopf gefallen.« »Einen Fedora mit breiter Krempe?«, fragte Angel. »Ja, kann schon sein.« »Okay, dieser aus einem alten Gangsterfilm Entlaufene kam also einfach herein und fragte nach der Zigarettenverkäuferin, die in den frühen Sechzigern hier gearbeitet hat?« »Nun ja ...« Der Barkeeper hielt inne und überlegte. »Zuerst hat er nach einem anderen Barkeeper namens Bert gefragt. Aber ich bin seit dreizehn Jahren hier, und solange ich mich erinnern kann, hat hier nie ein Bert gearbeitet.« »War der Mann vielleicht im falschen Laden?« 34
»Seiner Meinung nach nicht. Er sagte, als er das letzte Mal da war, hätte Bert hier gearbeitet.« »Das muss vor langer Zeit gewesen sein«, bemerkte Angel. »Aber wie er aussah und sich verhielt«, sagte der Barkeeper fast zögernd, »hatte man den Eindruck, es sei erst gestern gewesen. Wenigstens für ihn ...« »Wie meinen Sie das?« »Na ja, wenn man ein paar Jahrzehnte nicht in einer Kneipe war, geht man doch normalerweise davon aus, dass inzwischen das Personal gewechselt hat. Meist sind die Leute überrascht, dass ich immer noch hier arbeite. Ich selbst ehrlich gesagt auch. Aber hereinzukommen und selbstverständlich damit zu rechnen, dass der Typ, der vor fünfzehn oder zwanzig Jahren oder wie viel auch immer hinter der Theke gearbeitet hat, immer noch da ist... das ist schon ein bisschen verrückt, oder?« »Hört sich so an«, pflichtete ihm Angel bei. »Und die Zigarettenverkäuferin ... Seit ich hier arbeite, gab es nie eine. Ich bezweifle, dass es in den letzten zwanzig Jahren überhaupt noch eine einzige in ganz Los Angeles gegeben hat. Und mal davon abgesehen – sie wäre heute doch gar nicht mehr dieselbe.« »Ich verstehe, was sie meinen«, sagte Angel. »Sie wird wohl heute nicht mehr die Jüngste sein.« Der Barkeeper nickte. »Die ganze Sache war ziemlich merkwürdig. Und als ich versuchte, ihm zu erklären, dass diese Leute hier nicht mehr arbeiten, wurde er grob. Er packte mich am Kragen und knallte meinen Kopf auf die Theke. Das hat mir ziemlich gestunken, kann ich Ihnen sagen. Ich habe die Pistole immer unter der Theke, aber so, wie er mich festhielt, kam ich nicht dran.« »Also können Sie mir nichts über Betty McCoy sagen?«, hakte Angel nach. »Noch nie von ihr gehört! Wenn sie diejenige ist, nach der dieser Clown sucht, wünsche ich ihr viel Glück. Aber ich hoffe, ich höre nie wieder von ihr!« »Was ist mit den Personalakten?« »So schlau war ich auch schon«, erklärte der Barkeeper herablassend. »Ich hab den Ordner hinten im Büro durchgesehen. Aber die Unterlagen reichen nur bis 1986 zurück. In diesem Jahr gab es ein Feuer, fiel mir dann ein. Die meisten Akten verbrannten.« »Können Sie mir sonst noch etwas sagen?«, drängte Angel. »Wollen Sie den Namen von dem toughen Kerl?« »Er hat Ihnen seinen Namen genannt?« »Er hat mir sogar seine Karte dagelassen!« 35
»Her damit!« Der Barkeeper durchsuchte seine Taschen, schüttelte den Kopf und ging an die Kasse. Darauf lag eine Visitenkarte, die er Angel brachte. »Hier ist sie!«, sagte er. »Mike Slade, Privatdetektiv.« Die Telefonnummer, die darauf angegeben war, bestand aus fünf Ziffern. Davor stand nur »Hollywood«, keine Vorwahl. So kurze Nummern gab es in Los Angeles schon seit dreißig Jahren nicht mehr! Angel nahm die Karte trotzdem. »Ich behalte sie«, sagte er. »Und tausche sie ein.« Er legte seine eigene Visitenkarte auf die Theke. »Wenn er zurückkommt oder wenn sonst noch jemand nach Betty fragt, lassen Sie es mich bitte sofort wissen!« Er hob die Pistole vom Boden auf, entnahm die Patronen und legte alles auf die Theke. »Ach, übrigens – eine Pistole in diesem Laden? Das ist keine gute Idee!« Dann ging er hinaus in die Nacht von Hollywood. »Friedhöfe sind echt krass«, dachte Doyle. »Wenn man an die ganzen Toten denkt, die um einen herum begraben sind!« Er gab sich Mühe, auf den gepflasterten Wegen zu bleiben, denn darunter befanden sich wohl keine Gräber. Allerdings waren die Wege nicht besonders zahlreich, und so musste er doch immer wieder ein großes Stück Rasenfläche überqueren. Dabei stellte er sich vor, wie Skeletthände aus der Erde schnellten und nach seinen Beinen griffen. Obschon ihm gar nicht kalt war, fing Doyle an zu zittern. Als er einmal einen Militärfriedhof besucht hatte, war ihm die strukturierte Ordnung des Geländes irgendwie tröstlich erschienen, obwohl ihn die vielen Toten betrübt hatten. Die gleich großen Steine waren alle in geraden Reihen gestanden. Der Rasen war kurz geschnitten gewesen, und es hatte viele Blumen gegeben. Die roten, gelben und pinkfarbenen Farbkleckse zwischen den weißen Grabsteinen hatten den Eindruck entstehen lassen, dass sich jemand um die Gräber kümmerte. Das war natürlich bei Tag gewesen. Der Friedhof, auf dem er nun stand, war geschlossen, und es war dunkel. Die Geisterstunde war zwar verstrichen. Aber bis zum Sonnenaufgang würden noch Stunden vergehen. Die dämonische Seite seines Wesens bot, wie Doyle feststellen musste, keinen Schutz vor Gruselgefühlen. Seit er mit Angel zusammenarbeitete, war er so manchem begegnet, was er nie zuvor gesehen hatte. Und das war beileibe nicht immer angenehm gewesen. Viele dieser Erlebnisse hatten mit Kreaturen zu tun, die aus Gräbern kriechen konnten ... aus Gräbern wie auf diesem Friedhof... 36
Doyle bemühte sich, seiner Aufgabe gerecht zu werden und das Grab von Betty McCoy im Auge zu behalten. Aber er konnte sich nicht dazu überwinden, auf einer Stelle stehen zu bleiben und es zu beobachten. Dabei fühlte er sich irgendwie ... zu angreifbar. Er wollte lieber in Bewegung bleiben. »Falls ich weglaufen muss«, dachte er. Der Friedhof von Hollywood war beunruhigender als viele andere, die er schon besucht hatte. Vielleicht lag es an der Unordnung. Grabsteine aller Größen und Formen ragten aus der Erde. Das Gras war dort, wo man mit dem Mäher nicht nah genug an die Gräber herankam, hoch gewachsen. Die Halme raschelten in der Nachtbrise. Tiefe Dunkelheit herrschte. Außerdem mochte auch ein wenig die Tatsache, dass Doyle das Gelände unbefugt betreten und damit das Gesetz gebrochen hatte, seine Stimmung trüben. Wie auch immer – je mehr Zeit verstrich, desto unruhiger wurde er. Doyle wanderte die Reihen ab, las Namen und Daten und Epitaphe - die letzten sichtbaren Spuren von hunderten von Leben. Alle paar Minuten sah er zu Bettys Grab hinüber und wartete auf... ja, auf was eigentlich? Dies nicht zu wissen war schrecklich. Er erinnerte sich an die Vision und die Kopfschmerzen, die mit ihr einhergegangen waren, aber vor allem daran, dass die Vision einen bemerkenswerten Mangel an Details aufgewiesen hatte. Nicht einmal ein Bild von der Frau hatte er gesehen. Nur ihren Namen und die Adresse. Angel schien der Friedhof nicht so beunruhigt zu haben, aber er war schließlich ein Vampir. Und er war während der regulären Öffnungszeiten an diesem Ort gewesen. Falls Doyle jedoch nun einem Wächter in die Arme rannte, stand er dumm da. Bislang hatte er nur einen Wachmann in der Nähe des Eingangs gesehen, der vor seinem tragbaren Fernseher schnarchte. Was natürlich keineswegs bedeutete, dass er nicht plötzlich aufwachen konnte oder von den Werbespots geweckt wurde, die immer viel lauter waren als das restliche Programm. Doyle lauschte angespannt nach einem klappernden Schlüsselbund oder Schritten auf dem Weg. Es war eine schizophrene Situation: Einerseits wollte er nicht, dass der Wächter wach wurde, andererseits aber hätte er sich gefreut, einen anderen lebendigen Menschen auf diesem Friedhof zu sehen. Tapfer drehte er eine weitere Runde um die Gräber in der Nähe von Bettys letzter Ruhestätte und sehnte den Sonnenaufgang herbei.
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»Sie heißen also Mike Slade?« Slade saß auf dem überraschend bequemen Sofa der Frau. Im Inneren sah der Bungalow ganz anders aus als bei seinem letzten Besuch. Aber da diese Frau eindeutig nicht Veronica war, überraschte ihn dieser Umstand nur wenig. Lediglich ein Möbelstück kam ihm bekannt vor – ein schwerer Ledersessel, den er selbst gekauft hatte, um bei seinen Besuchen darin zu sitzen. Der Rest der Einrichtung war modern und sah ungemütlich aus. Ein schwarzer Kaffeetisch mit Glasplatte stand vor der Couch, ein mit Büchern voll gepacktes Regal an der Wand. Es gab auch einen Schreibtisch und darauf stand etwas, das wie ein kleiner Fernseher aussah; ein weißes Gehäuse mit einem dunklen Bildschirm. Neben dem Schreibtisch stapelten sich die Zeitungen von einigen Wochen. Die dunkelhaarige Frau saß in Slades Ledersessel, aber er hielt es für nicht besonders diplomatisch, seinen alten Platz einzufordern. Besonders, da sie immer noch die Waffe in der Hand hielt. Nach der Art zu urteilen, wie sie mit ihr umging, wusste sie sehr gut, wie man von ihr Gebrauch machte. Slade war schon einmal gestorben, und das hatte ihm nicht gefallen. Ob er noch einmal sterben konnte, wusste er nicht. Aber er konnte fühlen. Und er hatte im Laufe des Abends die kühle Härte von Beton, die Glätte von Glas und die scharfe Kante einer Mauer gespürt. Eine Kugel würde also auf alle Fälle wehtun, ob er nun daran sterben konnte oder nicht. »Ja, ich bin Mike Slade«, sagte er. »Und die Frau, die früher hier wohnte, hat für mich gearbeitet. Sie heißt Veronica Chatsworth.« Die Brünette lächelte. »Da müssen Sie sich aber was Besseres ausdenken!«, sagte sie. »Obwohl mir der Anzug gefällt. Netter Stil!« »Was soll das heißen?«, fragte er. »Ich weiß, wer Veronica Chatsworth ist«, sagte sie. »Und ich weiß sogar, wer Mike Slade ist. Oder, besser gesagt, war. Aber erstens ist er tot, und zweitens sähe er bestimmt vierzig Jahre älter aus als Sie, wenn er nicht schon tot wäre!« 38
»Sie kennen Veronica?«, fragte er. Was für eine glückliche Wende! »Sie kann für mich bürgen.« »Ich kannte sie sehr gut«, entgegnete die Frau kühl. »Sie war meine Mutter. Sie ist auch tot.« Slade suchte nach den richtigen Worten. »Es tut mir wirklich Leid, das zu hören«, sagte er schließlich. »Sie war eine wunderbare Lady.« »Danke. Sie hätte vielleicht eine bessere Mutter sein können, aber ich habe sie trotzdem geliebt.« »Da sind Sie nicht die Einzige«, warf Slade sanft ein. »Also kommen Sie mir bitte nicht mit dem Märchen, dass Sie jemand sind, der Sie gar nicht sein können«, fuhr Barbara fort. Ihre Stimme war schrill vor Ärger. »So etwas höre ich mir nicht an. Wirklich nicht!« »Bitte hören Sie mir zu«, bat Slade eindringlich. »Bitte!« »Sie haben fünf Minuten«, entgegnete sie. »Vergeuden Sie die Zeit nicht, denn es gibt keine Verlängerung.« Slade kam sofort zur Sache. »Ich weiß nicht, wie ich Sie davon überzeugen soll, dass es wahr ist, was ich Ihnen erzählen werde. Aber es ist wahr! Jedes einzelne Wort. Bevor ich jedoch anfange, darf ich Sie vielleicht nach Ihrem Namen fragen? Ich weiß gern, mit wem ich es zu tun habe.« »Ich bin Barbara Morris«, sagte sie. »Vom LAPD. Wollen Sie meinen Dienstausweis sehen?« »Ich glaube Ihnen«, antwortete er, war jedoch äußerst erstaunt, dass es in dieser merkwürdigen Zukunft Frauen bei der Polizei gab. Aber da schoss ihm plötzlich ein anderer Gedanke durch den Kopf, dessen Tragweite ihn erschreckte. »Es hört sich bestimmt merkwürdig an – aber was für ein Jahr ist jetzt, Barbara?« »Was für ein Jahr? Haben Sie vielleicht Ihre Medikamente vergessen?« »Spotten Sie nur!«, sagte er. Barbara nannte ihm das Jahr. Diese Angabe deckte sich mit den Daten, die er auf einer Zeitung gesehen hatte, und er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Sie war zu jung! Hätte er eine Tochter, müsste sie fast vierzig sein. Diese junge Dame war nicht älter als fünfundzwanzig. »Ich bin Mike Slade. Ich kannte Ihre Mutter. Und jetzt kommt der Teil, den Sie nicht glauben werden – ich habe ja selbst meine Probleme damit! Ich war tot. Ich wurde 1961 umgebracht. Aber jetzt bin ich wieder hier, und kann es nicht erklären.« »Habe ich fünf Minuten gesagt?«, fragte Barbara Morris. »Ich meinte fünf Sekunden. Raus mit Ihnen!« 39
»Bitte«, sagte Slade schnell. »Veronica hatte einen kleinen Leberfleck im Nacken, den sie manchmal mit Make-up abgedeckt hat.« Er zeigte auf die Tür zum Wohnzimmer. »Das Zimmer dort war ihr Schlafzimmer. Die Vorhänge waren rot-weiß kariert wie die Tischdecken in italienischen Restaurants. Sie hatte eine große Truhe aus Zedernholz am Fuß des Betts stehen, auf die sie sich immer gesetzt hat, um sich die Schuhe auszuziehen. Sie hat sie immer ganz ordentlich daneben aufgestellt.« »Okay, Sie kannten Sie. Oder Sie haben ein bisschen recherchiert. Und was wollen Sie damit anfangen?«, fragte Barbara. »Wo soll ich denn so etwas recherchieren?«, gab Slade zurück. »Wo könnte ich erfahren, dass sie es hasste, gekitzelt zu werden, oder dass sie ihre Beine zu dick fand? Sie sah großartig aus, aber sie hat damals immer lange Kleider oder Hosen getragen.« Barbara Morris sah ihn wütend an. »Ich weiß ja nicht, wo sie dieses Zeug herhaben, aber...« »Es stimmt doch, oder?« »Und wenn schon? Das bedeutet noch lange nicht, dass Sie ...« »Nein, sie ... das müsste sie nicht.« »Ich meine ... es gibt ein Foto. Warten Sie hier!« Sie richtete die Waffe auf ihn. »Das ist mein Ernst. Bewegen Sie sich nicht vom Fleck!« Er hob beschwichtigend die Hände. »Ich werde mich nicht rühren!« Sie verschwand durch die Tür, die einst in Veronicas Schlafzimmer geführt hatte. Er hörte, wie sie in einem Schrank rumorte und Kistendeckel auf- und zuklappte. Nach ein paar Minuten kam sie zurück. In der einen Hand hielt sie ein schwarz gerahmtes Foto und in der anderen immer noch die 38er. »Ach, dieses Foto!«, dachte er. Daran erinnerte er sich. Es war 1957 oder 58 im Pacific Ocean Park aufgenommen worden. Sie hatten den Tag in der Sonne genossen, waren spazieren gegangen und hatten Zuckerwatte genascht. Später, als die Sonne im Meer untergegangen war und ihre Schatten sich lang gen Osten erstreckt hatten, waren sie an einer Bude vorbeigekommen, wo man sich in alberner Verkleidung fotografieren lassen konnte – in alten Westernklamotten, in 20er-JahreFummeln und dergleichen. Er hatte sich ein Scheichskostüm ausgesucht und Veronica das einer Haremsdame. Auf dem Foto, das er eine Woche später hatte abholen müssen, saß er in einem großen Korbstuhl und Veronica stand hinter ihm und hatte die Hände auf seine Schultern gelegt. »Das ist schon ein paar Jahre her«, bemerkte er. »Mehr als nur ein paar«, entgegnete sie. »Aber ich muss sagen, Sie sehen wirklich so aus wie er.« 40
»Weil ich es bin! Ich war mit Veronica im Pacific Ocean Park. Am Pier in Santa Monica.« »Sie behaupten also, Sie sind Mike Slade, der Privatdetektiv, für den meine Mutter gearbeitet hat. Und Ihre Geliebte war sie auch? Und dann wurden Sie umgebracht, aber nun sind Sie zurück.« »Ich weiß, wie das klingt, Pferdeschwänzchen, glauben Sie mir.« »Da bin ich mir nicht so sicher!« »Natürlich klingt es völlig verrückt«, entgegnete er. »Das weiß ich. Für mich ja auch, das müssen Sie mir glauben! Ich meine, als ich Los Angeles zum letzten Mal sah, schrieb man das Jahr 1961. Kennedy war Präsident, Kuba gehörte den Roten, und alle sind ins Kino gegangen, um sich die West Side Story anzusehen. Ich bekam ein Buch geschenkt, das hieß Feuerball, und handelte von einem Agenten namens James Bond. Kennen Sie es?« »Ian Fleming ist der Autor. Der ist auch schon tot.« »Ich bekomme noch Depressionen, wenn Sie mir weiter aufzählen, wer schon alles tot ist!« »Ich vermute, Sie haben das mit Kennedy noch nicht gehört?«, fragte sie. »Er etwa auch?« Barbara nickte. »Ein Attentat. Am einundzwanzigsten November 1963.« Slade schüttelte traurig den Kopf. »Dann ist L.B. Johnson doch noch ins Weiße Haus gekommen?« »Für eine Weile.« »Die Geschichte klingt irre, ich weiß«, erklärte Slade. »Aber ich schwöre, jedes Wort ist wahr. Ich kann Ihnen meine Lizenz zeigen.« »Ist da ein Foto drauf?« »Nein.« »Zeigen Sie trotzdem mal her!«, forderte sie misstrauisch. »Aber Vorsicht mit den Händen! Wenn Sie etwas anderes als die Brieftasche oder das Lizenzmäppchen aus Ihrer Tasche holen, schieße ich. Und ich habe schon einige Medaillen für meine Treffsicherheit bekommen.« »Ich wusste gar nicht, dass Frauen überhaupt zielen können!« Sie lachte kurz auf. »Jetzt haben Sie zum ersten Mal etwas gesagt, das klingt wie Mike Slade. Ich meine wie das, was Mom mir über ihn erzählt hat.« Er griff in die Innentasche seiner Jacke und zog mit zwei Fingern die Lederhülle heraus, in der er seine Lizenz aufbewahrte. Er reichte sie Barbara Morris, und sie studierte die Lizenz aufmerksam. »Sieht echt aus«, sagte sie. 41
»Ist sie ja auch. Nun haben Sie die Lizenz gesehen und Sie haben das Foto. Ich weiß nicht, wie ich Sie sonst noch überzeugen soll.« »Ich auch nicht, denn es ist einfach viel zu verrückt. Ich soll glauben, dass ich hier sitze und mit einem toten Mann rede?« »Ja, das würde ich auch niemandem abkaufen.« »Dann verraten Sie mir mal eins, Sie guter Geist: Was führt Sie hierher? Was wollten Sie denn von meiner Mutter?« »Mir ist es auch irgendwie unheimlich, von den Toten erwacht zu sein. Alles ist so anders. Wissen Sie, was mittlerweile ein Anruf aus der Telefonzelle kostet?« »Ja.« »Natürlich wissen Sie das! Aber für mich war es ein Schock, kann ich Ihnen sagen! Also dachte ich, Veronica könne mir vielleicht helfen, alles zu verstehen. Darin war sie immer sehr gut. Wenn ich mit meinem Latein am Ende war, habe ich alles mit ihr durchgesprochen, und dann hat sie mir gezeigt, wo mein Denkfehler war.« »Das klingt nach Mom.« »Sie ist die Beste! Sie konnte auch einen verdammt guten Martini mixen. Ich frage mich, ob Sie vielleicht dieses Talent geerbt haben.« Barbara Morris sah ihn nur kurz von der Seite an, also fuhr er eilig fort: »Jedenfalls arbeitete ich an einem Fall, als ich erschossen wurde. Ich bin sicher, mein Tod hat mit diesem Fall zu tun, und ich glaube, ich bin deshalb zurückgekehrt, weil ich ihn nicht gelöst habe. Ich habe den Typen nie gestellt, obwohl ich wusste, wer er war. Ich habe ihn einfach nicht zu fassen bekommen. Aber dann hat er mich gekriegt. Ich denke, ich bin wieder hier, damit ich ihn erledigen kann.« »Wie nobel«, bemerkte Barbara spitz. »Da ist gar nichts Nobles dran. Es ist mein Job, und was wäre ich für ein Mann, wenn ich meinen Job nicht ordentlich machen würde?« »So war mein Vater auch«, sagte Barbara. »Ihr Vater war Privatdetektiv?« Sie schüttelte den Kopf. »Cop.« Slade kicherte. »Veronica hat einen Polypen geheiratet! Sieh mal einer an! Sind Sie deshalb bei den Bullen?« »Ich bin es noch nicht ganz. Ich bin erst auf der Academy.« »Da wundere ich mich, dass Frauen im Fernsehen Hosen tragen, und Sie sind auf der Academy!«, bemerkte er ungläubig. Sie legte den Kopf in die Hände und richtete dabei die 38er auf die Zimmerdecke. »Ich krieg es einfach nicht in den Schädel«, sagte sie. Dann ließ sie die Hände wieder sinken und sah ihn an. Studierte ihn wie einen aufgespießten Schmetterling. »Ich meine, Sie wirken echt. Sie 42
klingen echt. Als wären Sie wirklich furchtbar überrascht, dass Frauen bei der Polizei arbeiten.« »Mich überrascht noch viel mehr, dass Frauen sich mit Bullen verabreden!«, entgegnete er. »Die Cops, die ich gekannt habe ...« »Also, wenn Sie der sind, der Sie vorgeben zu sein, dann werden Sie herausfinden, dass sich viele Dinge geändert haben. Sehr viele sogar.« »Das scheint mir auch so. Haben Sie je von einer Musikrichtung namens Rock 'n' Roll gehört?« »Sicher.« »Sie ist mittlerweile passee, oder?« »Haben Sie das gehofft?« »Ich war überzeugt davon. Warum?« »Dann habe ich leider schlechte Nachrichten für Sie.« Eine Stunde später saßen sie im Esszimmer an einem Holztisch. Slade nahm an, er habe Barbara überzeugt -endlich. Jedenfalls, soweit er es beurteilen konnte, denn er selbst war ja nicht einmal hundertprozentig überzeugt Aber er hatte ihr Geschichten von ihrer Mutter erzählt, und sie hatten zusammen gelacht. Ein bisschen hatte Barbara auch geweint. Sie hatte schließlich die Pistole weggelegt und ein Fotoalbum hervorgeholt, das Veronica in den frühen Sechzigern angefangen hatte. Darin waren noch mehr Fotos von Slade und viele von Vic Morris gewesen, dem Mann, den sie schließlich geheiratet hatte. Nachdem Barbara das Album zugeklappt hatte, saßen sie eine Weile schweigend am Tisch. Hauptsächlich, um das Schweigen zu brechen, ergriff Slade das Wort. »Also hat sie das Büro geschlossen, nachdem ich umgebracht wurde?« »Soviel ich weiß, hat sie das nicht getan«, sagte Barbara. »Wissen Sie, ich habe meine Mutter einige Jahre lang nicht gesehen. Aber sie hat mir die ganze Geschichte erzählt. Sie hat noch ein paar Wochen weitergearbeitet, weil sie sicher war, Sie seien nur irgendwo undercover unterwegs und würden sich melden. Aber das haben Sie nicht getan. Die Miete wurde fällig, und sie bezahlte sie von ihren Ersparnissen. Aber immer noch gab es keine Nachricht von Ihnen. Als der nächste Monatserste kam, musste sie von ihren Ersparnissen leben, weil sie kein Gehalt mehr bekam. Schließlich fand sie sich damit ab, dass Sie entweder tot waren – oder fünf Jahre später mit einer unglaublichen Story auftauchen würden. Aber das haben Sie nie getan, und so hat sie irgendwann dieses Kapitel ihres Lebens abgeschlossen und weitergemacht.« »Hat sie je den Namen Betty McCoy erwähnt?« »Kann ich mich nicht dran erinnern. Warum? Wer ist sie?« 43
»Meine letzte Klientin. Ich wurde umgebracht, als ich versuchte, ihr zu helfen.« Barbara sah ihn eine Weile an, und er vermochte ihren Gesichtsausdruck nicht zu deuten. »Was ist?«, fragte er dann. »Sie sagen das so sachlich.« »Dass ich umgebracht wurde? Glauben Sie mir, es ist nicht einfach, sich an diese Vorstellung zu gewöhnen. Aber zu leugnen ist es auch nicht, wenn Sie verstehen, was ich meine. Es ist ja nicht so, als wäre ich 1961 einfach eingeschlafen und nun wieder wach geworden.« »Nein, das wohl nicht«, pflichtete sie ihm bei. »Also haben Sie vor, den Fall zu Ende zu bringen, an dem Sie gearbeitet haben? Und was dann?« »Ich schätze, wenn ich Wechsler erst einmal erledigt habe, gehe ich wohl für ewig. Dann werde ich ruhen, wie ich es eigentlich tun sollte.« »Wechsler? Ist das der Mann, der Sie drangekriegt hat?« »Wenn Sie damit ›erschossen‹ meinen, ja. Hal Wechsler heißt er.« Barbara starrte einen Augenblick ins Nichts. »Hal wie Harold?«, fragte sie. »Könnte sein. Ja, ich denke schon. Sie kennen ihn?« »Ich glaube, ich habe etwas über einen Harold Wechsler gelesen. Warten Sie hier!« Sie ging ins Wohnzimmer und kam mit einer Zeitung zurück. Sie schlug einige der großen Seiten um und reichte sie Slade. »Sieht er so aus?«, fragte sie. Er studierte das Foto. Es war eine grobkörnige Schwarz-WeißAufnahme von zwei Männern, die sich vor einem großen Banner der Stadtverwaltung die Hände schütteln. Der eine hatte eine schmale, spitze Nase, hohe Wangenknochen und weit auseinander liegende Augen. Genau so hatte Hal Wechsler ausgesehen! Schlanker allerdings und mit mehr Haaren auf dem Kopf. Aber seit Slade Hal Wechsler zuletzt gesehen hatte, war viel Zeit verstrichen. Für Wechsler jedenfalls. Slade hatte den Eindruck, es wäre nicht mal eine Woche vergangen – als hätte er Wechsler erst am Vortag gesehen. »Das ist er«, sagte er. »Was tut er da?« »Der andere Mann ist der Bürgermeister von Los Angeles«, erklärte Barbara. Er hat Ihren Freund gerade zum Leiter des Amts für Wasserund Energieversorgung ernannt.« »Sie meinen, Wechsler hat den Saft für die ganze Stadt unter sich?« Slade war entgeistert. »Er ist doch nur ein mieser kleiner Gauner!« 44
»Energie und Wasser. Das ist keine leichte Aufgabe in einer Stadt, die ausgetrocknet ist wie die Wüste. Wie es aussieht, ist Wechsler gar nicht mehr so mies und klein.« »Aber ein Gauner ist er immer noch«, schimpfte Slade. »Menschen ändern sich. Vierzig Jahre sind eine lange Zeit, Mister Slade. Vielleicht hat er ein neues Leben angefangen und ist ein ehrlicher Geschäftsmann geworden.« »War Wasser in L.A. je ein ehrliches Geschäft?«, fragte Slade. Sie lächelte. »Eins zu null für Sie!« »Darf ich dieses Bild haben?« »Bitte, gern«, entgegnete sie. Slade riss das Foto aus der Zeitung, faltete es einmal und schob es in die Innentasche seiner Jacke. »Ich muss jetzt gehen«, verkündete er. »Hören Sie, Mister Slade. Ich glaube Ihnen allmählich Ihre Geschichte, so bizarr sie auch klingen mag, denn sie ähneln dem Mann sehr, von dem mir meine Mutter erzählte.« »Schön, dass sie von mir gesprochen hat.« »Sie wären überrascht! Jedenfalls möchte ich, dass Sie da draußen gut aufpassen. Ich weiß, Sie sind schon tot – oder glauben es jedenfalls. Aber trotzdem ... Ich weiß auch nicht... Seien Sie einfach vorsichtig! Und tun Sie nichts Unüberlegtes!« »Zum Beispiel?« »Einen Rachefeldzug starten oder etwas Ähnliches. Sie können nicht einfach losziehen und diesen Wechsler erschießen. Es würde mir nicht gefallen, wenn Sie mit dem Gesetz in Konflikt gerieten.« »Pferdeschwänzchen, Privatdetektive haben immer Probleme mit den Cops. Das liegt in der Natur der Dinge.« »Vielleicht war das früher so. Aber es hat sich vieles geändert. Sogar das.« »Das glaube ich erst, wenn ich es sehe.« Slade erhob sich und ging zur Tür. Barbara folgte ihm. »Es ist wirklich komisch«, sagte sie ein wenig wehmütig. »Ich habe fast das Gefühl, Sie zu kennen.« »Ich wünschte, ich hätte die Gelegenheit, Sie kennen zu lernen«, entgegnete er. »Vielleicht, wenn das alles vorbei ist, wenn ich dann noch da bin ...« »Ja, vielleicht. Passen Sie auf sich auf, Mike Slade!« »Versprochen!«, rief er ihr zu, ehe er die Tür hinter sich ins Schloss zog.
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Barry Fetzer und Harold Wechsler stiegen vor dem Abrissgebäude auf der Argyle Avenue aus Wechslers Limousine. Ein gelangweilt wirkender Cop, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte, stand vor dem Zaun. Er sah die beiden neugierig an, als sie sich näherten. »Wir würden gern in das Gebäude gehen«, erklärte ihm Wechsler. »Sorry, Sir. Wir haben das ganze Gelände abgeriegelt. Leichenfundort. Kein Zutritt!« Wechsler zog seine Brieftasche heraus und zeigte dem Officer seinen Ausweis. »Ich bin Harold Wechsler«, sagte er. »Ich bin der neue Leiter des Amts für Wasser- und Energieversorgung von Los Angeles.« »In diesem Gebäude gibt es meines Wissens weder Wasser noch Strom«, erklärte der Cop. »Aber in dem Neubau wird es Wasser und Strom geben. Ich muss mich nur rasch ein wenig umsehen.« Der Polizist hieß Deke Johannsen. Er war seit sieben Monaten bei der Truppe und angetreten, um Gesetzesbrecher zu fangen und die Stadt vor Kriminellen zu schützen. Vor einer Baustelle Wache zu schieben, hatte für seinen Geschmack wenig mit seinem Job zu tun. Da er wusste, dass es besser war, sich mit hohen Tieren aus der Politik gut zu stellen, öffnete er das Tor. Barry Fetzer knipste seine Taschenlampe an und führte Wechsler die Treppe hinauf. Als sie im vierten Stock ankamen, nahm Wechsler die Lampe und ging den Korridor hinunter. Trotz der Dunkelheit ging er zielstrebig, so als würde er sich bestens auskennen. Fetzer folgte ihm. Kurz darauf standen sie auch schon vor der doppelten Mauer, die größtenteils abgebrochen war. Wechsler ließ den Lichtstrahl der Taschenlampe durch den Innenraum wandern. Fetzer versuchte, die Körpersprache seines Chefs zu deuten. Er machte einen wütenden und angespannten Eindruck. Die Schultern hatte er hochgezogen, seine Arme waren steif. »Es ist zu spät«, sagte Wechsler schließlich. »Viel zu spät. »Hören Sie, Hal«, setzte Barry an. »Es tut mir Leid. Die haben mich nicht...« »Ich will keine Entschuldigungen hören, Barry«, knurrte Wechsler. »Ich habe dich losgeschickt, damit du das Problem aus der Welt schaffst, bevor es überhaupt eins wird. Wir hatten die Möglichkeit zu verhindern, dass die Sache zum Problem wird.« »Ich weiß. Ich war ja auch gut vorbereitet. Ich hatte das Wasser, das Sie mir gegeben haben. Das Wasser, das ich auf die Wand spritzen musste. Ich wusste die Formel, die ich sprechen sollte. Aber ich konnte nicht hinein.« 46
»Ich hätte es besser selbst erledigt«, sagte Wechsler genervt. »Ich hätte es besser wissen sollen. Es ist meine Schuld, Barry.« »Ja, also, aber es tut mir wirklich Leid. Ich habe mich bemüht.« Sie gingen wieder zur Treppe; Wechsler hielt immer noch die Taschenlampe in der Hand. »Ich weiß, Barry«, sagte er fast traurig. »Und hör mal, wenn ich in der Limousine sitze ...« »Ja, Boss?« »Dann bringst du diesen Cop um! Wir können keine Zeugen gebrauchen.«
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Das Rathaus von Los Angeles ragte achtundzwanzig Stockwerke hoch in den Himmel über der Main Street. Als es 1926 erbaut worden war, hatte die Bauordnung nur Gebäude bis zu zwölf Geschossen erlaubt, und so hatte man eigens für die City Hall eine Sonderregelung in Kraft setzen müssen, damit das imposante Gebäude alle seine Nachbarn überragen konnte. Aber für diejenigen, die wie Franklin Griffith jeden Tag dort arbeiteten, war es schon nach kurzer Zeit nichts Besonderes mehr. Griffith hatte bereits neun Jahre Dienstzeit bei der Polizei hinter sich und versah in der Empfangshalle des Rathauses den Sicherheitsdienst. Es war im Grunde derselbe Job wie ihn die Typen am Flughafen hatten, die den Passagieren Schlüssel und Uhren abnahmen und beobachteten, wie das Handgepäck durch die Röntgenmaschine fuhr. Griffith war an einem Metalldetektor postiert, durch den im Zeitalter der Überwachung und des Misstrauens alle Besucher des Gebäudes gehen mussten. Überwiegend arbeitete er mit Mark Barrow zusammen, einem anderen lang gedienten Cop. Barrow war ganz in Ordnung, allerdings war er ständig ein wenig gereizt und beschwerte sich über alles und nichts. Aber als Cop begegnete man bei der Arbeit allen möglichen Menschen. Franklin hatte schon mit Kollegen gearbeitet, mit denen er nichts gemein hatte, und mit anderen, die ihm nahestanden wie Familienmitglieder, aber nach einer gewissen Zeit waren für ihn alle gleich geworden. Es war nun einmal so, dass ein Polizeibeamter seinen Waffenbrüdern in jedem Fall mehr vertraute als Zivilisten. Umgeben von den Kollegen und Kolleginnen in Uniform fühlte sich Franklin einfach am wohlsten. Besonderen Schutz brauchte er allerdings bei seiner derzeitigen Aufgabe nicht. Manchmal musste er eine Brieftasche öffnen oder eine Handtasche, weil ein Zigarettenetui aus Metall oder eine Dose Pfefferminzbonbons den Alarm ausgelöst hatte. In der Regel waren die Leute, bei denen er diese Dinge fand, nicht gefährlicher als seine Großmutter, die keiner Fliege etwas zu Leide tun konnte. Es war ein zweischneidiges Schwert: Einerseits war dieser Job absolut ungefährlich und gemütlich, andererseits konnte er mit ihm keine Frau 48
beeindrucken, und er führte weder zu einem interessanten Gespräch noch zu einer Beförderung. Franklin bezog seinen Posten neben dem Metalldetektor und nickte Barrow zu, der gerade den Laptop eines Stadtangestellten untersuchte. Ein neuer Arbeitstag begann. Mike Slade betrachtete das Rathausgebäude. Es hatte sich kaum verändert – ganz im Gegensatz den Bauten, die es umgaben. Wolkenkratzer waren höher in den Himmel hinaufgeschossen, als er an der Westküste jemals für möglich gehalten hätte. Slade war vor Jahren einmal in New York gewesen – aber mittlerweile lag ja alles, was er je getan hatte, Jahre zurück. Allmählich fing es ihn an zu nerven, immer wieder seine zeitliche Perspektive berichtigen zu müssen. In New York war er sehr beeindruckt von der Höhe des Crysler Building und des Empire State Building gewesen. Er erinnerte sich daran, wie er auf der Fifth Avenue gestanden war und zu dem riesigen Empire State Building, einem Turm aus Stahl und Glas, aufgeschaut hatte. Es hatte den Eindruck erweckt, als könne es wirklich an einer vorbeiziehenden Wolke kratzen. Slade war damals überzeugt gewesen, dem Gipfel menschlicher Genialität gegenüberzustehen: Kein zukünftiges Bauwerk würde je dieser Konstruktion das Wasser reichen können! In Los Angeles hatte man, was hohe Gebäude anbelangte, immer Zurückhaltung geübt. Kalifornien war erdbebengefährdet, und dieser Tatsache mussten sich die Architekten beugen. Daher erreichten die Bauten im Zentrum von L.A. längst nicht die Höhe des Empire State Building. Aber im Vergleich zu früher, fand Slade, wirkten die neuen Gebäude im Zentrum der Stadt gigantisch hoch. Er kam sich wie ein richtiges Landei vor, als er so auf dem Gehsteig stand und sich den Hals verrenkte, um all die Hochhäuser zu bestaunen. Abgesehen davon versteckte sich der Kerl, hinter dem er her war, irgendwo in diesem Rathaus. Slade klopfte auf die 38er in seiner Tasche, spürte das vertraute Gewicht, und ging auf den Eingang zu. Er zog seinen Anzug zurecht und gab sich Mühe, so auszusehen wie die Angestellten der Stadtverwaltung, die in das Gebäude eilten. Direkt hinter dem Eingang verengte sich der Menschenstrom zu einer Schlange. Die Leute gingen hintereinander durch etwas hindurch, das wie ein Plastiktürrahmen aussah, allerdings ohne Tür darin. Daneben lief ein Fließband in ein großes Gehäuse und auf der anderen Seite wieder hinaus. Es wurde von einer kleinen Frau bedient, die nicht so aussah, als gehörte Lächeln zu ihren Hobbys. Neben ihr stand ein Cop und ein weiterer bewachte diesen merkwürdigen Türrahmen. 49
Slade stellte sich in die Schlange und trat nach wenigen Augenblicken durch den Rahmen. Der Rahmen fing laut an zu piepen. »Sir«, sagte einer der Cops. »Bitte gehen Sie zurück und kommen Sie noch mal durch.« »Was ist das für ein Ding?«, fragte Slade. »Ein Metalldetektor, Sir. Bitte gehen Sie zurück und versuchen Sie es noch einmal.« Der Cop sah aus, als wäre ihm schon die Geduld ausgegangen, bevor er morgens zur Arbeit gekommen war. Als Slade aus dem Türrahmen trat, hörte das Piepen auf. Eine kleine Menschenmenge hatte sich bereits versammelt, die ihn neugierig beobachtete. Erneut ging er durch den Türrahmen. Wieder piepte es. Der Cop nahm etwas zur Hand, das wie ein Zauberstab aussah und zeigte auf ihn. »Wenn Sie bitte kurz herüberkommen würden, Sir«, sagte er. Slade knöpfte sein Jackett auf. »Wenn es ein Metalldetektor ist, reagiert er wahrscheinlich nur auf meine Knarre«, sagte er und griff in die Innentasche, um seine Pistole herauszuholen. »Er hat eine Waffe!«, rief jemand hinter ihm. Schreie ertönten und hektische Schritte. »Fallenlassen!«, rief der Cop und zog seine Waffe. »Ist schon okay«, sagte Slade. »Ich bin Privatdetektiv. Ich habe eine Lizenz dafür.« »Fallen lassen!«, wiederholte der Cop wütend. Slade richtete seine Pistole auf den Cop. »Sie lassen Ihre fallen«, sagte er. »Lassen Sie die Waffe fallen!«, rief jemand hinter Slade. Zweifelsohne der zweite Bulle, der wahrscheinlich auf seinen Kopf zielte. Vermutlich gab es zwei Möglichkeiten, dachte Slade. Da er bereits tot war, ging die Kugel vielleicht einfach durch ihn hindurch und traf den Cop, der ihm gegenüberstand. Darin lag ein gewisser Reiz: Privatdetektive und Cops waren ewige Rivalen. Slade hatte schon genügend schlechte Erfahrungen mit korrupten Cops gemacht, um der Vorstellung, ein Bulle könne eine Kugel abbekommen, die für ihn, Slade, bestimmt war, etwas abzugewinnen. Aber es war auch möglich, dass er nun wieder richtig lebte, mit allen Konsequenzen. In diesem Fall würde eine Kugel, die in seinen Schädel eindrang, unglaubliche Schmerzen verursachen, bevor er wieder tot umfiel. 50
Um seine Möglichkeiten abzuwägen, brauchte Slade weniger als eine Sekunde. Eine weitere für die Entscheidung, wie er reagieren sollte: Wenn er seine Knarre fallen ließ, stand er schutzlos zwei bewaffneten Cops gegenüber. Und darüber machte er sich keine Illusionen: Ihnen war ein toter Privatdetektiv lieber als ein lebendiger. Also beschloss er, die Waffe nicht rauszurücken, sondern zu verschwinden. Er musste einen anderen Weg finden, Wechsler zu stellen. »Ich befürchte, es wird nicht helfen, wenn ich Ihnen erkläre, dass ich einen Mörder festnehmen will«, sagte er. »Fallen lassen! Sofort!«, befahl der erste Cop. »Hab' schon verstanden, Kumpel«, entgegnete Slade leise und gelassen. Er beugte sich vor und tat so, als wolle er die Waffe auf den Boden legen. Tatsächlich aber machte er sich nur klein. Gleichzeitig bewegte er sich ein wenig zur Seite, um die Wahrscheinlichkeit zu vergrößern, dass die Cops ihn verfehlten und sich gegenseitig trafen, wenn das Feuerwerk begann. Als er bemerkte, wie der Cop vor ihm ausatmete und anfing sich zu entspannen, feuerte er. Er zielte auf den Arm – und was er ins Visier nahm, das traf er auch. Die 38er gab ein lautes Krachen von sich, das durch die Empfangshalle echote. Die Leute schrien. Ebenso der Cop, aus dessen Unterarm, in den Slades Kugel eingedrungen war, Blut spritzte. Die Knarre des Cops segelte durch die Luft, landete ein paar Meter weiter auf den Bodenfliesen und schlidderte gegen die Wand. Slade machte auf dem Absatz kehrt und rannte zum Ausgang. Er hörte, wie jemand – wahrscheinlich der zweite Cop – rief: »Stehen bleiben!« Was er natürlich nicht tat. Er lief nur noch schnellerund griff dabei nach den Leuten, an denen er vorbeirannte. Sie wichen vor ihm zurück, aber der Eingangsbereich war zu voll, und nicht alle konnten entfliehen. Er berührte die Zivilisten nur kurz im Vorbeilaufen, um den Cops zu zeigen, dass er in ständigem Kontakt mit den Menschen war. So konnten sie unmöglich auf ihn schießen. Dann war er draußen im herrlichen Sonnenschein. Aus allen Richtungen ertönte das Geräusch von Sirenen. »Natürlich!«, dachte er. »Das Präsidium ist ja nur einen Block entfernt. Ein kurzer Anruf, und sämtliche Polypen aus der ganzen Stadt sind unterwegs!« Er drehte sich um und lief die West Temple Street hinunter. Durch das Geklapper seiner Schritte auf dem Gehsteig und das Rauschen des Bluts in seinen Ohren hörte er, wie die Sirenen immer näher kamen. Die 51
meisten Streifenwagen bogen jedoch auf die Main Street ab und nahmen Kurs auf den Rathauseingang. Aber nicht alle. Slade legte noch einen Zahn zu. Obwohl viele Leute unterwegs waren, gelang es ihm, sich zwischen den Fußgängern hindurchzuschlängeln. Zwei Blocks weiter gelangte er auf den Broadway und bog scharf nach rechts ab. Dort war immer viel los. Er konnte, wie er vermutet hatte, gut in der Menschenmenge untertauchen. Auf den Gehsteigen drängten sich die unterschiedlichsten Menschen aller Hautfarben. Um ein Haar wäre er mit zwei älteren Frauen zusammengestoßen, die mit Einkaufstüten bepackt aus einem Laden traten. In letzter Sekunde wich er ihnen aus und hörte noch, wie sie ihn auf Spanisch beschimpften. Die Sirenen kreischten weiter die West Temple Street hinauf. Er war in Sicherheit! Sofort verlangsamte Slade sein Tempo, betrat ein Geschäft und sah sich eine Weile um. Er betrachtete die Auslagen der Süßwarenhandlung und staunte nicht schlecht über die Riesenauswahl. Und über die Preise. Einen Dollar für eine Tafel Schokolade? Es hatte ein paar gehörige Nachteile, zu dieser Zeit wieder wach geworden zu sein! Vielleicht waren die anderen Menschen mittlerweile alle Millionäre geworden. Aber Mike besaß nur das, was er in der Tasche hatte. Lange würde er damit nicht durchkommen. Andererseits ging er davon aus, nur kurzfristig finanzielle Mittel zu benötigen. Nur so viel, um sich über Wasser halten zu können, bis er Hal Wechsler erledigt hatte. Danach würde er endgültig der Vergangenheit angehören. Drei Stunden später saß Franklin Griffith in einem Besprechungsraum im Polizeipräsidium. Sein verbundener Arm ruhte in einer Schlinge. Die Kugel hatte sein Handgelenk zertrümmert, und es war noch nicht klar, ob er den Arm je wieder richtig würde benutzen können. Aber der Ganove, der ihm die Kugel verpasst hatte, lief noch frei herum. Sie konnten ihn nur kriegen, wenn er und Mark Barrow möglichst detaillierte Angaben machten, nach denen ein Phantombild angefertigt werden konnte. Das würde man dann an die Kollegen auf der Straße verteilen. Franklin saß an einem Tisch und hielt seinen gesunden Arm schützend vor den lädierten. Ein Detektive namens Benny Shimoto saß ihm gegenüber und sah ihn mitfühlend an. »Tut's sehr weh?«, fragte er. »Wie verrückt.« Franklin versuchte ein Lächeln, das ihm aber sofort wieder verging. 52
»Das ist echt Scheiße, Mann«, sagte Benny. »Wem sagen Sie das!« »Sind Sie sicher, dass Sie jetzt in der Lage sind, Ihre Angaben zu machen? Wir haben ja schon die Aussage von Barrow.« »Ich glaube, ich habe den Kerl besser gesehen als er«, entgegnete Franklin. »Er stand mir direkt gegenüber, als er feuerte.« »Gutes Argument«, pflichtete ihm Benny bei. Er nahm einen Schluck aus seiner weißen Tasse, an der ringsherum Kaffeetropfen heruntergelaufen waren wie Farbe aus einem Eimer. Franklin spülte ein paar Aspirin mit einem Saft hinunter. »Also dann, was können Sie mir über den Täter sagen?« Franklin versuchte, sich genau zu erinnern. »Mitte dreißig, würde ich sagen. Kaukasischer Typ. Braunes Haar, blaue Augen. Schätzungsweise einsachtzig groß.« »So sehen viele aus.« »Ja, ich weiß. Es gab überhaupt nichts Besonderes an ihm. Außer seiner Kleidung.« »Was war damit?«, fragte Benny neugierig. »Sah aus wie die Kleidung vor vierzig Jahren«, erklärte Franklin. »Er trug einen weiten Anzug, aber gerade geschnitten, wissen Sie. Anders als die Baggy-Hosen von heute. Der Anzug war mausgrau, wie man es jetzt nicht mehr sieht. Und er trug einen Hut wie Humphrey Bogart oder so. Richtig altmodisch.« »Was ist mit seiner Waffe?« Franklin schlug sich mit der gesunden Hand vor die Stirn. »Daran hätte ich denken sollen«, sagte er. »Sie war alt. Richtig alt. Sah wie eine Browning aus, eine kurze 38er. Ich wusste doch, dass mir etwas Merkwürdiges aufgefallen war, aber dann wurde ich ja angeschossen und habe nicht weiter darüber nachgedacht. Hat man die Kugel schon gefunden?« »Leider nein. Und sie steckt nach Angaben der Ärzte auch nicht in Ihrem Arm.« »Das haben sie mir auch gesagt«, bestätigte Franklin. Wäre es nicht so schmerzhaft gewesen, hätte er mit den Schultern gezuckt. »Und die Patronenhülse?« »Ebenfalls Fehlanzeige«, entgegnete Benny. Das fand Franklin merkwürdig, aber er sagte nichts. Wahrscheinlich hatte sich der Detective auch schon Gedanken darüber gemacht. Der Schütze hatte doch gar keine Zeit gehabt, seine Kugel oder die Hülse einzusammeln. Bestimmt hatte ein Zivilist sie eingesteckt. Ein Sou53
venirjäger, der gar nicht begriff, dass er nun ein wichtiges Beweisstück mit sich herumtrug. »Schaffen Sie das Phantombild noch?«, fragte Benny. »Ich muss es machen, solange mir alles frisch in Erinnerung ist«, entgegnete Franklin. »Ich will, dass wir diesen Typen kriegen!« »Er hat mitten im Rathaus auf einen LAPD-Officer geschossen, einen Block vom Präsidium entfernt«, meinte Benny. »Wir kriegen ihn! Machen Sie sich darüber keine Gedanken.« »Ich weiß, dass wir ihn kriegen«, sagte Franklin. »Mit ein bisschen Glück bin ich vielleicht sogar selbst bei den Leuten, die ihn schnappen.« Benny schüttelte den Kopf. »Sie sind doch erst mal eine ganze Weile krank geschrieben«, erklärte er. »Aber Sie werden beim Prozess Ihre Zeugenaussage machen.« Nun brachte Franklin doch ein Lächeln zu Stande. »Damit bin ich einverstanden«, sagte er. »Kommen Sie, gehen wir ein bisschen malen!«
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Kate Lockley saß an ihrem Schreibtisch und starrte auf das vom Computer erstellte Phantombild, das links von ihr auf dem Schreibtisch lag. »Das kann doch gar nicht wahr sein!«, dachte sie. »Einfach unmöglich!« Obwohl ihr der Kopf wehtat, ließ ihr die Geschichte keine Ruhe. Das Phantombild war nach den Angaben zweier Polizeibeamter erstellt worden. Es zeigte den Schützen, von dem einer der Kollegen im Rathaus angeschossen worden war. Ihren Aussagen zufolge hatte der Täter Kleidung getragen, die seit ungefähr vierzig Jahren passee war. Zu ihrer Rechten lag ein altes Aktenfoto eines Privatdetektivs namens Mike Slade, der in den frühen Sechzigern verschwunden war. Er hatte Büroräume in dem Gebäude auf der Argyle Avenue in Hollywood gemietet gehabt, wo die Leiche gefunden worden war. Der Pathologe hatte festgestellt, dass der Tote, dem Alter entsprechend, gut Slade sein könnte. Kate blickte wieder auf den Computerausdruck. Als sie die beiden Bilder verglich, kam sie zu dem Schluss, dass auf beiden derselbe Mann abgebildet war. Aber das war doch Blödsinn! Wie konnte ein Kerl, der 1961 verschwunden war, wieder auftauchen – ohne auch nur um einen Tag gealtert zu sein? Und noch ein Problem machte ihr zu schaffen. Sie war an diesem Morgen von einem dringenden Anruf geweckt worden – sehr früh am Morgen, nachdem sie nur wenig geschlafen hatte. Sie hatte sofort noch einmal zu dem Abrissgelände auf der Argyle Avenue fahren müssen: Es gab eine weitere Leiche. Es war ein Cop. Ein Cop, der ein paar Stunden zuvor noch am Leben gewesen war. Genau der, den Kate angewiesen hatte, den Fundort abzuriegeln. Sein Name war Deke Johannsen. Am Tatort hatte Kate die Leiche identifiziert und zugeschaut, wie sie in einen schwarzen Plastiksack gepackt und abtransportiert worden war. 55
Danach hatte sie Deke Johannsens Captain zu Dekes Elternhaus in Alhambra begleitet, um die Familie – seine Eltern und den jüngeren Bruder – von seinem Tod zu unterrichten. Deke war nicht verheiratet gewesen. Die Johannsens lebten in einem einstöckigen pinkfarbenen Bungalow. Dekes Vater war ein kräftiger Mann. Der ehemalige Marineinfanterist arbeitete nun als Busmechaniker bei den Stadtwerken von Los Angeles. Dekes Mutter war halbtags als Zimmermädchen in einem Motel beschäftigt. Die russische Emigrantin sprach Englisch mit einem schweren Akzent. Während der Captain erklärte, was Deke widerfahren war, liefen dem Vater Tränen über die Wangen. Die Mutter saß völlig reglos da und verriet keinerlei Anzeichen von Schmerz. Nach einer Weile legte sie ihrem Mann tröstend die Hand auf die breite Schulter. Kate hatte das schon oft erlebt. Entgegen der landläufigen Meinung zeigten sich Männer oft weicher und empfindsamer als Frauen. Eigentlich waren es die Frauen, die für das stabile Fundament sorgten, auf dem Familien begründet waren. Auch in dieser Familie war die Mutter die eigentlich starke Persönlichkeit. Nach einer halben Stunde bei den Johannsens war Kate mit dem Captain wieder zurück zum Parker Center gefahren. Unterwegs hatten sie kein Wort gewechselt. Das war es, was sie an ihrem Job am meisten hasste, hatte sie gedacht. Natürlich war ihr klar, dass der Job bei der Polizei ein gewisses Risiko barg, und dass die Wahrscheinlichkeit, eines unnatürlichen Todes zu sterben, für Polizisten viel höher war als für gewöhnliche Zivilisten. Auch hatte Kate schon längst die Tatsache akzeptiert, dass sie irgendwann bei der Ausübung ihres Berufs sterben konnte. Aber es schmerzte sie, wenn ein Kollege umkam. Besonders wenn sie ihn, wie in diesem Fall, selbst in die Schusslinie gebracht hatte. Es war wie ein Schlag in die Eingeweide und ging ihr sehr nah. Aber das musste wohl so sein, sonst war man einfach kein guter Cop. Das war es auch, was sie im Morddezernat hielt: Die Absicht, Mörder zu fangen und sie hinter Schloss und Riegel zu bringen, damit sie nicht noch einmal töten konnten. Im besten Fall machte sie sich also irgendwann selbst überflüssig und arbeitslos. Es war ihr Ehrgeiz, die Stadt so sicher zu machen, dass das Morddezernat nicht mehr nötig war. Allerdings, dessen war Kate sich klar, würde es so weit wohl nie kommen. Aber dieses Ideal motivierte sie und hielt sie am Ball. Selbst wenn sie sich einem so unmöglichen Fall wie dem des toten Schnüfflers gegenübersah. 56
Mike Slade war vermutlich seit 1961 tot. Und heute hatte er einen Cop angeschossen. Warum hatte er ihn nicht gleich getötet? Mit Absicht oder weil er einfach ein lausiger Schütze war, sogar auf kurze Entfernung? Hatte er auch Deke Johannsen umgebracht? Der Aktenlage zufolge, ja. Aber irgendwie passte das alles noch nicht zusammen. So war es meistens am Anfang eines Falls. Johannsen war mit einem einzigen Schuss aus einer 9mm in den Hinterkopf getötet worden. Franklin Griffith hatte der Täter, den Aussagen zufolge, mit einer mindestens dreißig Jahre alten Waffe angeschossen. Das sprach für den toten Privatdetektiv Slade als Täter. Beweise gab es jedoch nicht; weder Kugel noch Patronenhülse waren gefunden worden. Nach Angaben der Ärzte entsprach die Größe von Griffiths Schusswunde einem 38er Kaliber. Besaß Slade also zwei Waffen? Warum sollte er, wenn er ein Schnüffler aus den Sechzigern war – oder sich als solcher verkleidete, was wahrscheinlicher anmutete – zusätzlich eine 9mm bei sich haben? So viele Fragen und nur wenige Antworten! Kate sah sich erneut die Informationen an, die sie über Mike Slade ausgedruckt hatte. Zum Zeitpunkt seines Todes hatte er das Büro seit zehn Jahren angemietet. Seine langjährige Sekretärin hieß Veronica Chatsworth. Er hatte nie geheiratet. In den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern zählte man Slade in der Hollywood-Szene praktisch zürn Inventar, und er hatte gelegentlich für Studios und unbekanntere Schauspieler gearbeitet. Er hatte sogar eine Weile als technischer Berater an einer Fernsehserie namens 77 Sunset Strip mitgewirkt. Seine Spezialität war es gewesen, im Auftrag von Schauspielerinnen zu ermitteln, die sich scheiden lassen wollten. Er hatte schmutzige Geschichten über ihre Männer ausgegraben, denn damals in den Sechzigern hatte es noch keine Scheidung in gegenseitigem Einvernehmen gegeben. Slade hatte als tough, gefährlich und sehr fähig gegolten. Ihm war die Lösung einiger großer Fälle gelungen, die das LAPD nicht hatte knacken können, zum Beispiel den spektakulären Mord an dem Zeitungsverleger Oswald Sternwood 1956. Aber er hatte nie eine gute Beziehung zur Polizei gehabt. Er war in den frühen Fünfzigern eine Zeit lang selbst Cop gewesen und anlässlich eines Korruptionsskandals gefeuert worden. Wie der Akte zu entnehmen war, schien er selbst nicht in die Korruption verwickelt gewesen zu sein. Vielmehr hatte er Beweise gefunden, die seine Vorgesetzten betrafen, und sie hatten ihn suspendiert, um die eigene Haut zu retten. Als man sie schließlich doch verurteilte, bot man Slade an, zur Polizei zurückzukehren. Aber zu diesem Zeitpunkt besaß er bereits seine Lizenz als Privatdetektiv und baute sich seinen 57
Kundenstamm auf. Offenbar trauerte er Vergangenem nicht nach, aber er vergaß auch nicht, wie man ihn bei der Polizei behandelt hatte. Ansonsten gab die Akte nicht viel her. Kate beschloss, einige von Slades früheren Klienten zu überprüfen. Vielleicht konnte sie auch etwas über Veronica Chatsworth herausfinden. Zuerst wollte sie den Fall allerdings noch mit jemandem besprechen. Mit jemandem, der sich mit Privatdetektiven, vor allem aber hervorragend mit seltsamen Phänomenen auskannte. »Was haben wir also bislang über Betty McCoy erfahren?«, fragte Angel. Cordelia saß an ihrem Schreibtisch und blätterte in einem Modemagazin, das eindeutig nichts mit dem Fall zu tun hatte. Sie trug ein enges rotes T-Shirt mit V-Ausschnitt und schwarze Hosen. Doyle hatte seinen Stammplatz auf der Couch besetzt, und Angel lehnte neben der Tür an der Wand. »Zusätzlich zu dem, was wir schon wissen?«, entgegnete Cordelia. »Überhaupt nichts.« »Sie liegt immer noch in ihrem Grab, soweit ich das beurteilen kann«, fügte Doyle hinzu und fuhr sich mit den Fingern durch sein dunkles Haar. »Letzte Nacht zumindest hat sie niemand gestört oder besucht.« »Ich bin in der Rialto Lounge auch nicht besonders weit gekommen«, gestand Angel. »Ich habe lediglich herausgefunden, dass wir nicht die Einzigen sind, die plötzlich an Betty interessiert sind.« »Wenn sich schon so viele für sie interessiert hätten, als sie noch lebte, dann wäre sie vielleicht immer noch unter uns«, bemerkte Cordelia. »Möglich«, sagte Angel. »Wenn man voraussetzt, dass jeder, der nach ihr sucht, nur ihr Bestes will.« »Das wäre aber eine sehr mutige Annahme«, sagte Doyle. »Und ihr wisst ja, was dabei herauskommt, wenn man etwas annimmt. Man macht...« »Ja, ja, ja«, unterbrach ihn Cordelia. »Jetzt ist wirklich nicht die Zeit für deine philosophischen Betrachtungen!« »Schon gut«, entgegnete Doyle. »Nichts Neues im Internet, Cordy?«, fragte Angel, um das Gespräch wieder zurück zum Thema zu lenken. »Was könnte es Neues über eine Frau geben, die vor über dreißig Jahren gestorben ist? Sie war ja keine Berühmtheit, oder so. Nach ihrem Tod hat die Welt sie vergessen. Das ist wirklich traurig. Der Preis dafür, sich keinen Namen gemacht zu haben.« »Kommt mir bekannt vor«, dachte Angel und erinnerte sich an seine Gefühle am Vorabend, als er sich gefragt hatte, ob er selbst der Welt 58
wohl irgendetwas hinterlassen würde. Aber vielleicht hatte sich Betty McCoy vor ihrem Tod eine solche Frage gar nicht gestellt. »Ich weiß nicht, ob Berühmtheit wirklich alles ist, Cord«, bemerkte Doyle. »Die Leute weigern sich nicht nur, dich nach deinem Tod in Ruhe zu lassen – du hast sie ja auch ständig auf den Fersen, solange du noch lebst!« »Hältst du mich für Greta Garbo oder was? Vielleicht will ich gar nicht in Ruhe gelassen werden, außer von diesen Leuten, die ständig anrufen, um mich zu überreden, die Telefongesellschaft zu wechseln.« Wie aufs Stichwort klingelte das Telefon auf Cordelias Schreibtisch. Sie starrte es an, als wäre es eine bissige Klapperschlange. »Willst du nicht rangehen, Cordy?«, fragte Doyle schließlich. »Die werden auch immer raffinierter!«, schimpfte Cordelia. »Jetzt wissen die sogar schon, wann man über sie redet!« »Könnte auch jemand anderes sein als die Telefongesellschaft«, bemerkte Angel. Cordelia lachte kurz auf. »Ja, ein Klient zum Beispiel! Dass ich nicht lache!« Das Telefon klingelte weiter. Angel sah Cordelia in die Augen, zog eine Augenbraue hoch und wies mit dem Kopf in Richtung Apparat. »Ja, ja, schon gut«, sagte Cordelia und griff zum Hörer. »Angel Investigations.« Sie lauschte einen Augenblick und reichte dann den Hörer an Angel weiter. »Für dich! Es ist Cagney. Oder Lacey? Ich kann es mir einfach nicht merken.« Angel nahm ihr den Hörer ab. »Hallo.« »Hallo Angel«, sagte Kate Lockley. »Kate! Was gibt's?« »Ich wollte dich nur wissen lassen, dass es einen neuen Privatschnüffler in der Stadt gibt, der eine noch größere Nervensäge ist als du«, sagte Kate. »Lass mich raten! Heißt er zufällig Mike Slade?« »So heißt er. Du kennst ihn?« »Ich habe den Herrn nie persönlich getroffen. Aber ich gehe auch nicht zu Schnüfflertagungen – falls es so etwas überhaupt gibt.« »Aber du hast schon von ihm gehört?«, fragte Kate. »Letzte Nacht erst«, antwortete Angel. »Slade muss ja letzte Nacht sehr beschäftigt gewesen sein. Wo bist du auf ihn getroffen?« »Er war in einer Kneipe in Hollywood, die heißt Rialto Lounge. Er hat den Barkeeper ausgeknockt. Offenbar suchte er nach einem Mädchen, das dort in den frühen Sechzigern gearbeitet hat.« 59
»Das ist er!« »Was weißt du über ihn?«, fragte Angel. »Also erst mal glauben wir, dass er 1961 ermordet wurde.« »Sagtest du nicht, er sei neu in der Stadt?« »Das macht die Sache ja so interessant. Heute hat er einen Polizisten angeschossen. Außerdem glauben wir, dass er vergangene Nacht einen anderen Polizisten umgebracht hat.« »Klingt, als wäre er ein Privatdetektiv mit einem ziemlich unsozialen Verhalten«, meinte Angel. »Ach, als wärt ihr alle so unheimlich sozial!«, gab Kate zurück. »Hör mal, Angel. Ich weiß, du bist manchmal in merkwürdige Fälle verwickelt. Wenn du diesem Typen begegnest oder mehr Informationen über ihn bekommst, möchte ich sofort davon erfahren – wenn nicht eher. Okay?« »Sicher, Kate. Hast du eine Beschreibung oder etwas Ähnliches?« »Ich habe ein Foto von ihm, aus der Zeit, als er noch lebte; außerdem ein Phantombild, das auf der Grundlage von Zeugenaussagen heute Morgen erstellt wurde. Auf beiden derselbe Typ. Und er trägt Klamotten, die vor vierzig Jahren modern waren. Könnten glatt aus der Kleidersammlung stammen.« »Altmodischer Anzug, Hut mit breiter Krempe?«, fragte Angel. »Du hast ihn also doch gesehen?« »Nein«, entgegnete Angel. »So hat ihn der Barkeeper beschrieben.« Kate sprach langsam, als wäre sie nicht sicher, ob sie ihm glauben sollte. »Also gut, Angel. Ich will diesen Kerl haben, bevor er weitere Kollegen angreift. Du meldest dich bei mir, wenn du irgendwas herausfindest, ja?« »Das werde ich, Kate.« Sie verabschiedete sich, und Angel legte nachdenklich auf. Cordelia sah ihn eine Weile an. »Was ist?«, fragte sie schließlich. »Du siehst aus, als wärest du auf etwas völlig Unerwartetes gestoßen.« »So ungefähr«, sagte Angel. »Erinnert ihr euch? Ich habe doch erzählt, dass noch jemand in der Rialto Lounge nach Betty McCoy gesucht hat.« »Sicher«, entgegnete Doyle. »Das ist doch höchstens fünf Minuten her!« »Jedenfalls«, fuhr Angel fort, »sucht Kate nach exakt demselben Typen. Sein Name ist Mike Slade. Er ist Privatdetektiv. Er wird gesucht, weil er einen Cop erschossen haben soll. Oh, und er wurde wahrscheinlich 1961 ermordet.« »Derselbe Typ?«, fragte Doyle ungläubig. »Das ist aber ein Zufall!« 60
»Wenn du eine Vision von Betty McCoy gehabt hast, die von den Mächten der Ewigkeit geschickt wurde«, meinte Angel, »dann muss sie in Schwierigkeiten sein. Allerdings ist sie tot.« »Richtig«, bestätigte Doyle. »Wir können also keineswegs selbstverständlich davon ausgehen, dass Tote nicht einem Verbrechen zum Opfer fallen können; ebenso wenig, dass sie nicht selbst welche begehen.« Er wies mit dem Daumen auf sich selbst. »Wir liegen längst nicht alle friedlich im Grab!« »Glaubst du, dieser Slade ist ein Vampir?«, fragte Cordelia. »Oder Betty McCoy vielleicht?« »Das habe ich nicht gesagt«, entgegnete Angel. »Aber es ist eine Möglichkeit. Wir müssen für alles offen sein und uns noch stärker bemühen herauszufinden, was hier los ist. Keine Ahnung, ob dieser Mike Slade tatsächlich tot ist oder nicht. Aber gefährlich ist er auf jeden Fall.« »Was tun wir als Nächstes?« »Wir müssen mehr über Betty McCoy in Erfahrung bringen«, sagte Angel. »Sie muss eine Spur hinterlassen haben, als sie starb. Finden wir sie! Was ist mit ihrer persönlichen Habe geschehen? Hatte sie Familie oder Freunde, die sich an sie erinnern? Ich werde versuchen, mehr über unseren geheimnisvollen Killer herauszufinden, und ihr beiden vergrabt euch in diese Betty-Geschichte.« »Alles klar, Boss«, antwortete Doyle. »Wir graben.« »Oh«, machte Cordelia und schlug sich die Hand vor den Mund. Doyle und Angel sahen sie an. »Doch nicht wirklich?« Angel sah sie verständnislos an. »Was nicht wirklich?« »Muss Doyle Betty McCoy ausgraben?« »Das ersparen wir uns erst mal«, entgegnete Angel, »und hoffen, dass es nicht nötig sein wird.« »Aber im Ernst!«, sagte Doyle schnell. »Auch wenn es nötig werden sollte, denken wir erst noch drei-, viermal darüber nach, bevor wir es tun.« »Manche Leute sind echt empfindlich«, bemerkte Cordelia. »Hast du dich immer noch nicht an den Umgang mit Toten gewöhnt?« »Hey, es ist ein großer Unterschied, ob man sich mit einem Vampir abgibt oder einem Haufen Leichen.« Angel ignorierte das Geplänkel. »Ihr kümmert euch also um Betty McCoy! Und ich sehe mir jetzt mal den neuen Kollegen an, diesen Mike Slade.« »Das kann unmöglich sein echter Name sein!«, bemerkte Doyle. »Wieso? Ist auch nicht schlimmer als Francis Doyle«, meinte Cordelia. »Doch! Viel schlimmer!«, widersprach Doyle zutiefst gekränkt. 61
»Wir wissen nicht, ob er wirklich so heißt oder nicht«, erklärte Angel. »Aber wir werden es herausfinden. Man muss diesem Typen mal zeigen, wo's langgeht.« »Zeigen wir's ihm!«, rief Doyle. »Worauf warten wir noch?« »Worauf du wartest, weiß ich nicht, aber ich für meinen Teil warte darauf, dass jemand hereinkommt und uns ein dickes Buch mit der Lebensgeschichte von Betty McCoy auf den Tisch knallt«, sagte Cordelia. »Dieses Buch müsst ihr wohl selbst schreiben«, bemerkte Angel. »Scheint so, als könnte Betty jemanden gebrauchen, der ihre Geschichte zusammenträgt.« »Ich liebe Geschichten!«, rief Cordelia. »Ich bin dabei! Gehen wir, Doyle!« »Wohin denn?« »Wir fangen mit der Bibliothek an. Vielleicht stoßen wir dort auf etwas, das es im Internet nicht gab.« »Wir gehen nicht zum Friedhof?«, fragte Doyle hoffnungsvoll. »Nein, tun wir nicht«, bestätigte Angel. »Wenigstens nicht vor Sonnenuntergang.«
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Mike Slade stand in einer Telefonzelle und blätterte im Telefonbuch, das darin angekettet war. Es gab einige Wechslers, aber keinen Harold oder Hal. Überhaupt keinen, der mit H anfing. Also hatte der Kerl seine Nummer nicht eintragen lassen. Eigentlich nicht sonderlich überraschend bei jemandem, der nun ein großes Tier war. Die meisten Politiker und Ganoven standen nicht im Telefonbuch, und das war keineswegs ihre einzige Gemeinsamkeit. In den alten Zeiten hätte Mike Charlie Wilson angerufen, einen Kontaktmann beim LAPD, und der hätte ihm Wechslers Adresse beschafft. Aber wenn ihn der vergangene Tag irgendetwas gelehrt hatte, dann die Einsicht, dass nichts mehr wie früher war. Die meisten Leute, die Slade gekannt hatte, schienen tot zu sein. Und wenn Charlie nicht gestorben war, lebte er wahrscheinlich irgendwo in einem Wohnwagen, angelte und bezog seine Rente, und saß ganz gewiss nicht mehr an einem Schreibtisch im Polizeipräsidium. Nein, Mike musste davon ausgehen, dass er bei den Cops keine Verbündeten mehr hatte. Aber deshalb war er noch lange nicht am Ende. Er schlug die Adresse der Telefongesellschaft nach. Die Hollywood Zweigstelle war nicht sehr weit entfernt. Wenn er persönlich vorsprach, konnte er den Leuten bestimmt Wechslers Adresse entlocken. Taxis waren zu teuer, und es war auch schwierig, eins zu erwischen. Die Leute schienen nun alle mit dem eigenen Wagen zu fahren – meist waren es große Fahrzeuge, die wie Trucks aussahen und hoch über der Straße thronten. Das war vermutlich bei dem gesteigerten Verkehrsaufkommen die richtige Methode: Sehen und gesehen werden. Slade beschloss, zu Fuß zu gehen. Detektivarbeit war im Grunde größtenteils Laufarbeit. Als Schnüffler musste man von Angesicht zu Angesicht mit den Leuten sprechen, denn am Telefon konnte man leicht belogen werden. Man sah das Gesicht seines Gesprächspartners nicht und konnte nicht beurteilen, ob er log oder die Wahrheit sagte. Während Slade die Straße entlang ging, schauderte es ihn bei dem Gedanken, selbst durch den dichten Verkehr steuern zu müssen. Er hatte es geliebt, im Wagen mit heruntergelassenen Scheiben die Küste 63
hochzufahren, den Wind im Gesicht zu spüren und die salzige Meeresluft zu riechen. Aber damals waren die Straßen längst nicht so verstopft gewesen wie heute. Es hatte auch etwas für sich gehabt, tot zu sein. Denn da hatte er nichts gespürt, sich um nichts gesorgt. Nun, da er ins Leben zurückgekehrt war, fühlte er eine tiefe Traurigkeit, weil er sich plötzlich der vielen Dinge bewusst war, die er wohl nie mehr erleben würde. So viele Annehmlichkeiten, die er nie wieder genießen konnte! Die Verwaltung der Telefongesellschaft, ein großes Gebäude, das aus nacktem, grauen Stein erbaut war, lag an einer Ecke. Die zweiflügelige Eingangstür bestand aus Glas, die Griffe aus Metall. Auf einem Schild standen die Öffnungszeiten. Das Gebäude wirkte zwar wenig einladend, aber weniger offiziell und unfreundlich als das Rathaus. Erleichtert vermerkte Slade, dass nirgends einer von diesen Türrahmen zu sehen war, mit denen verdeckt getragene Waffen ausfindig gemacht wurden. Er ging hinein. Die Halle war groß, hätte zu einer Bank gehören können. Hinter zahlreichen Schaltern, die wie Kassenhäuschen aussahen, saßen die Angestellten. Die Menschen warteten in Schlangen, um ihren Telefonanschluss anzumelden oder sich zu beschweren oder vielleicht ihren Anschluss zu kündigen – falls es sich heutzutage überhaupt jemand leisten konnte, kein Telefon zu haben. Wenn man bedachte, wie schwierig es war, sich in der Stadt zu bewegen, und wie viel ein Anruf aus der Telefonzelle kostete, war ein eigener Telefonanschluss offenbar wichtiger denn je – andernfalls lief man Gefahr, völlig vom Rest der Welt abgeschnitten zu sein. Slade wählte eine Schlange aus und stellte sich an. Die Frau vor ihm hielt ein Telefon im Arm. Sie war klein, hatte rote Wangen, trug ein kariertes Tuch auf dem Kopf und, obwohl es recht warm war, einen dicken Mantel. Irgendwie erinnerte sie Slade an eine Immigrantin aus Europa. Die Frau wiegte das Telefon wie ein Baby; als wäre es sehr kostbar. Er wartete, bis sie ihr Anliegen erledigt hatte und vom Schalter wegtrat. Lächelnd ging er auf die Frau zu, die hinter der Scheibe saß, eine hübsche junge Latina namens Luisa, wie auf dem Schild an ihrem Schalter zu lesen war. »Hallo Luisa«, sagte er. »Mein Name ist Slade. Mike Slade.« Sie erwiderte sein Lächeln. »Guten Tag, Mister Slade«, begrüßte sie ihn. »Womit kann ich Ihnen behilflich sein?« 64
Er lehnte sich ein bisschen vor und schob seine Visitenkarte über die Theke. »Ich bin Privatdetektiv, verstehen Sie?« »Ich verstehe.« »Also, ich bin hinter einem Ganoven her, einem ganz üblen Kerl. Er ist ein Killer, wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Und wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie fast verschwörerisch. »Seine Nummer steht nicht im Telefonbuch«, erklärte Slade. »Aber die Nummer interessiert mich auch nicht, ich brauche nur seine Adresse. Ich muss ihn festnehmen und dafür sorgen, dass er seine Strafe absitzt.« »Ist dafür nicht die Polizei zuständig?« »Sie wissen doch, wie die sind! Die handeln erst dann, wenn sie sicher sein können, vor Gericht eine Verurteilung zu erreichen. Und dieser Typ ist einer von ihnen, ein großes Tier. Er hat mit dem Bürgermeister und seinen Leuten zu tun.« »Er ist ein Politiker?« »Das ist richtig.« Sie lachte. »In einer anderen Stadt wäre das vielleicht eine Überraschung.« »Können Sie mir helfen? Der Name des Mannes ist Wechsler. Harold Wechsler.« »Es tut mir Leid, Mister Slade«, sagte sie und linste auf seine Karte. »Ich darf keine Geheimnummern rausgeben. Und Adressen ebenfalls nicht.« »Aber Sie haben doch verstanden, was ich meine, nicht wahr? Die Cops werden ihn niemals einsperren. Er ist zu mächtig.« »Mister Slade, ich kann nichts für Sie tun. Wenn Sie bitte den Schalter freimachen, damit jemand an die Reihe kommt, dem ich wirklich helfen kann!« »Nur die Adresse!«, bat Slade und hob leicht die Stimme. »Mister Slade, vielleicht wollen Sie mit jemandem vom Management sprechen? Dort wird man Ihnen bestimmt dasselbe sagen. Wenn ein Teilnehmer nicht verzeichnet sein möchte, dann wird seine Nummer auch nicht weitergegeben – an niemanden.« »Luisa, dieser Typ hat Leute umgebracht. Er hat einen Kerl getötet, den ich kenne. Der war nicht viel älter als Sie!« »Dann sollten Sie mit der Sache zur Polizei gehen. Bitte, ich möchte nicht die Security rufen müssen!« »Hey, Kumpel, beweg dich!«, rief jemand hinter Slade. »Ja, genau!«, ertönte eine andere Stimme. Slade drehte sich um. Die Leute, die hinter ihm in der Schlange gestanden waren, hatten sich im Halbkreis aufgestellt. Mit finsteren 65
Mienen bezogen sie gegen ihn Stellung. »Sie hat doch schon gesagt, Sie kann Ihnen nicht helfen. Jetzt ist der Nächste dran!«, fauchte der Mann am Kopf der Schlange. Slade griff in seine Jacke und zog die Browning heraus. Er zeigte sie dem Typen. »Bleiben Sie einfach zurück!«, wies er ihn an. »Luisa, ich sagte doch, ich will diese Adresse!« Aber Luisa antwortete nicht. Als Slade sich wieder zum Schalter umdrehte, war sie verschwunden. Stattdessen kamen Männer auf ihn zu. Angestellte des Sicherheitsdienstes, die graue Uniformen und schwarze Krawatten trugen. Sie hielten schwere Kanonen in der Hand. Zwei von ihnen bezogen Position. »Waffe fallen lassen!«, rief einer von ihnen. »Das höre ich heute schon zum zweiten Mal«, dachte Slade, hob die 38er und gab einen einzigen Schuss ab. Einer der Wachmänner wirbelte herum und ging zu Boden. Slade rannte los. Zwanzig Minuten später ließ er sich keuchend auf eine Bank an einer Bushaltestelle fallen. Schießen und Rennen. Es fing allmählich an zu nerven, fand er. Warum regten sich die Leute dieser Tage nur so furchtbar auf, wenn sie eine Waffe sahen? Es machte wirklich keinen Spaß mehr, in dieser Stadt Privatdetektiv zu sein. In den alten Zeiten hatte man sich problemlos Respekt und Informationen verschaffen können, wenn man seine Knarre zeigte. Mit der Waffe nahmen einen die Leute einfach ernster. Mit seiner Lizenz als Privatdetektiv hatte er auch das Recht gehabt, sie verdeckt zu tragen. Heutzutage rief sofort jemand »Fallen lassen«, sobald man eine Pistole zog. Niemals die Waffe rausrücken! Diese Devise hatte sich Slade in seiner kurzen Zeit bei der Polizei ins Gehirn gebrannt, und auch als Privatdetektiv hatte er sich immer daran gehalten. Jemand, der einen aufforderte, die Waffe fallenzulassen, führte seiner Meinung nach nichts Gutes im Schilde. Wahrscheinlich fing er an zu feuern, sobald sie auf dem Boden lag. Slade selbst gab keine tödlichen Schüsse ab. Er schoss seine Widersacher nur an. Anders als viele Schnüffler, die er kannte, hatte er noch nie jemanden umgebracht. Er war ein begnadeter Schütze und wusste, wo die Kugel einschlug, wenn er abdrückte. Die Jahre im Grab hatten diesem Talent keinen Abbruch getan. 66
Aber die Leute verhielten sich, als ließe er unendlich viele Leichen zurück. Kaum hatte er auf diesen Wachmann geschossen – dabei hatte der Typ selbst die Knarre gezückt und so ausgesehen, als wolle er Gebrauch von ihr machen – heulten überall die Alarmsirenen und die Uniformierten kamen aus allen Richtungen angerast. Nachdem Slade sich in einem kleinen Laden eine unanständig teure Tafel Schokolade gekauft hatte, tauchte er in eine Gasse ab und schlüpfte durch die Hintertür in ein Kino. Wenn alles andere schon so teuer war, wollte er erst gar nicht wissen, wie viel eine Eintrittskarte kostete. Der Film hatte schon angefangen, als er sich auf einen Sitz fallen ließ, und war ein höchst merkwürdiger Streifen. Die Kameraführung war sehr holprig, der Schnitt schlampig; alle paar Sekunden ein Cut. Auch das Licht wirkte sehr unnatürlich. Es gab mehr Explosionen als im ganzen Koreakrieg, dachte er, aber die Gäste schienen das zu genießen und bejubelten jede einzelne. Slade fand den Streifen entsetzlich und schlüpfte nach zehn Minuten wieder zur Hintertür hinaus. Er schlich zurück durch die Gasse und verschwand aus dem Viertel. Er war Wechsler immer noch keinen Schritt nähergekommen. Aber er hatte eine Idee. Er suchte eine Telefonzelle, schlug eine Nummer nach und steckte fünfunddreißig Cents – ein Teil seines Wechselgeldes aus dem Süßwarenladen – in den Apparat. Als er ein Freizeichen bekam, wählte er die Nummer des Rathauses und fragte, sobald sich eine Stimme meldete, nach Harold Wechslers Büro. Ein paar Sekunden später sagte eine jung wirkende männliche Stimme »Wasser und Energie.« »Ist das Harold Wechslers Büro?«, fragte Slade. »Ja, das ist es.« »Hören Sie, Sie müssen Mister Wechsler wahrscheinlich gar nicht stören. Vielleicht können auch Sie mir bei meinem Problem helfen.« »Um was geht es denn?«, fragte der junge Mann. »Ich soll diesen Billardtisch ausliefern, den Mister Wechsler bestellt hat. Er hat dringend darum gebeten, dass der Tisch heute geliefert wird – er feiert eine Party oder so etwas. Wegen seinem neuen Job, seiner Beförderung oder so ... ich weiß auch nicht genau.« »Und wo liegt das Problem?« »Das Problem ist, dass ich die Adresse nicht lesen kann, die man mir in der Firma gegeben hat. Das, was auf meinem Zettel steht, könnte Benedict Canyon oder Coldwater Canyon oder Camino Real oder was auch immer heißen. Der Lieferschein ist ganz verschmiert, als hätte ihn jemand wochenlang in der Tasche rumgetragen.« 67
»Können Sie nicht einfach in ihrem Laden anrufen und denjenigen fragen, der die Adresse geschrieben hat?« »Das würde ich ja, aber die Dame ist gestern in die Flitterwochen gefahren. Sonst konnte mir niemand sagen, wie die Adresse lautet, und ich kann nicht mal ein paar Buchstaben lesen, um wenigstens einen Anhaltspunkt zu haben. Hören Sie, ich möchte ihn ja nur ungern belästigen, aber vielleicht könnten Sie Mister Wechsler eben mal fragen. Ich will zwar nicht zur Schnecke gemacht werden, aber meinen Job will ich auch nicht verlieren.« »Warten Sie, ich werde fragen - nein, Moment, er ist in einer Besprechung.« »Ich kann es später noch einmal versuchen. Dann beliefere ich erst einige andere Kunden und stelle Mister Wechsler zurück. Ich habe ihn ja nur heute noch reingenommen, weil er den Tisch unbedingt für die Party haben wollte. Sie sind bestimmt eingeladen, hm? Der Tisch ist ein Knaller! Versuchen Sie, eine Partie drauf zu spielen!« »Vielleicht wäre es wirklich am besten, wenn Sie später noch mal anrufen würden.« »Allerdings ist es möglich, dass ich es bei dem dichten Verkehr nicht pünktlich schaffe, bei Wechsler zu sein, wenn ich zuerst auf der anderen Seite der Stadt anfange.« »Okay, also gut... Es wird schon in Ordnung sein«, sagte der junge Mann schließlich. »Wechsler wohnt in der Leona Street. Das ist in der Nähe vom Coldwater Canyon, vielleicht sind Sie deshalb durcheinander gekommen.« »Das könnte sein«, sagte Slade und hoffte, die Erleichterung in seiner Stimme klang echt. Er kannte die Leona Street. Es war eine kurze Straße, die sich in die Berge schlängelte. »Die Nummer, die hier steht, sieht aus wie 1711.« »Nein, nein, es ist die 109«, sagte der junge Mann. »Vielleicht wäre es besser für Sie, wenn diese Frau nie mehr aus ihren Flitterwochen zurückkehrt!« »Da könnten Sie Recht haben, Bruder«, sagte Slade. »Danke für Ihre Hilfe. Und viel Spaß mit dem Tisch!« Er legte auf. Was für eine glückliche Fügung. Wäre der Knabe tatsächlich zu so einer Party eingeladen gewesen, hätte er die Adresse niemals herausgerückt! Außerdem schien tatsächlich eine Party zu steigen, wie Slade ganz dreist behauptet hatte. Es wurde Zeit, dass er sich ein Auto besorgte. 68
Hollywood und Las Vegas hatten eine Gemeinsamkeit, dachte Slade: In beiden Städten ging den Menschen des Öfteren das Geld aus. Und das bedeutete, dass sie alles verkaufen mussten, was Wert hatte, Autos zum Beispiel. Sie verkauften sie zu billig, weil sie nicht in der Lage waren, auf das beste Angebot zu warten. Und es gab immer andere Leute, die gerade genug Geld hatten, um diese Autos zum Niedrigpreis zu kaufen. Man musste nach Händlern mit einem Neonschild vor der Tür suchen, dort gab es die billigsten Wagen. Slade fand seinen Traumwagen schon beim zweiten Versuch, in einem Laden, der den nicht sehr glaubwürdigen Namen Reputable Motors hatte. Der Wagen war ein Wunderwerk aus Detroit, ein 1959er Plymouth Sport Fury Kabrio. Mit dem Chrom des Kühlergrills hätte man ein ganzes Schlachtschiff bestücken können, und die Heckflossen ragten steil in den Himmel. Der Wagen war blassgelb, mit einem metallicgrauen Streifen an der Seite. Er besaß einen 260 PS starken V-8Motor mit Vier-Kammer-Vergaser. So eine großartige Kiste hatte Slade noch nie zuvor besessen. Er hatte einmal ein Auge auf einen paradiesapfelroten 58er Fury geworfen, aber der 59er war diesem Wagen weit überlegen. Allerdings hatte er sich den Sport Fury Kabrio früher niemals leisten können. Das wollte er jetzt ändern. Er wanderte über den Parkplatz und sah sich die Wagen an, bis ein Verkäufer auf ihn zukam. Manche Dinge hatten sich offenbar nicht geändert, zum Beispiel das Verhalten von Autohändlern. Dieser trug ein weißes Hemd, eine dunkle Krawatte und blaue Hosen mit dunklem Karomuster. Das Haar hatte er mit Gel zurückgekämmt. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn. Er strich über seinen dunklen Schnurrbart, als er näherkam. »Haben Sie schon einen Wagen gefunden, der Ihnen gefällt?«, fragte er. »Sind einige ganz gute Wagen hier«, entgegnete Slade cool. »Aber nichts Besonderes.« »Alle unsere Wagen werden sorgfältig von unseren Mechanikern überholt. Wir haben eine Hundert-Punkte-Inspektion, die wir mit jedem Gebrauchtwagen durchführen. Der Wagen ist also wie fabrikneu, wenn Sie ihn von uns bekommen.« »Tatsache?« »Tatsache«, entgegnete der Verkäufer und streckte die Hand aus. »Ich heiße Daryl«, sagte er herzlich. »Daryl Needham.« Mike schlug ein und schüttelte die dargebotene Hand kräftig. »Mike Slade.« »Also, Mike«, fuhr Daryl fort, »Ich würde Sie gern am Steuer eines 69
dieser hübschen Autos sehen.« »Mal schauen«, sagte Slade und drehte sich langsam im Kreis. »Wenn ich etwas wirklich Interessantes finde.« »Darf ich Sie etwas fragen?«, sagte Daryl. »Meinen Sie, wir kommen heute miteinander ins Geschäft, wenn ich Sie in ein Auto setze, das Ihnen gefällt, und Ihnen einen Preis mache, den Sie sich leisten können?« Slade kratzte sich am Kinn und dachte nach. »Ich denke schon«, sagte er. »Nun, damit ist der erste Schritt getan. Sie würden sich wundern, wie viele hier jeden Tag nur mal gucken wollen! Es ist schön, einen Mann zu treffen, der weiß was er will und zu einem Geschäft bereit ist. Ich garantiere Ihnen, Sie werden froh sein, bei uns hereingeschaut zu haben!« »Da könnten Sie Recht haben«, entgegnete Slade. Der Verkäufer hatte den Köder geschluckt! Nun war es Zeit, die Schnur einzuholen. Fünfzehn Minuten später fuhr Slade am Steuer seines Traumwagens die Straße hinunter. Daryl hatte darauf bestanden, das Auto selbst vom Parkplatz zu fahren und dann erst das Steuer an Slade zu übergeben. Er hatte ihm erklärt, das Gesetz wolle es so, obwohl er selbst nicht richtig zu wissen schien, warum es so war. Dann hatten sie vor einem Teppichgeschäft auf dem Cahuenga Boulevard angehalten. Daryl war ausgestiegen und auf die Beifahrerseite gekommen. Der Schlüssel steckte, und Slade war hinters Steuer gerutscht. »Es wird Ihnen Spaß machen, diesen Wagen zu fahren«, hatte Daryl mit einem schleimigen Lächeln gesagt. »Ganz bestimmt«, hatte Slade entgegnet. Dann hatte er seine Browning aus der Jackentasche geholt und sie auf den Verkäufer gerichtet. »Fahr per Anhalter weiter!« »Sir, das wollen Sie doch nicht tun!« Daryls Stimme hatte vor Angst gezittert, aber das Verkäufer-Grinsen war nicht aus seinem Gesicht gewichen. »Wieso nicht? Verpiss dich!« »Sie sind der Boss«, hatte Daryl so ergeben wie immer gesagt. Im nächsten Moment war Slade davongefahren und hatte im Rückspiegel gesehen, wie Daryl wütend die Fäuste geschüttelt hatte. Er bog um ein paar Ecken, fuhr in ein anderes Viertel und machte dann Halt, weil er unbedingt das Verdeck herunterklappen wollte. Schließlich war es ein herrlicher Tag in Los Angeles. Und vielleicht war der Küstentrip doch noch für ihr drin! 70
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Kate blätterte die Akte über Officer Deke Johannsen durch. Zu jedem Tötungsdelikt gab es eine Mappe. Sie füllte sich rasch mit allen möglichen Papieren: Zeugenaussagen, dem Bericht des Pathologen und dem der Spurensicherung, Fotos von Beweisstücken und andere Notizen. Meist war die Mappe schon nach kurzer Zeit prallvoll, und bei manchen Mordfällen musste sogar eine zweite und dritte angelegt werden. Ganz große Fälle kamen auf ein Dutzend Mappen und mehr. Kate hatte zwei Akten auf ihrem Schreibtisch liegen, die von Johannsen und die von John Doe. Diesen Namen hatte man der Leiche gegeben, die in dem früheren Büro des Privatdetektivs Mike Slade gefunden worden war. Kate war überzeugt, dass es eine Verbindung zwischen den beiden Fällen gab, wusste allerdings noch nicht welche. Aber sie hatte sich bereits eine Theorie zurechtgelegt und blätterte konzentriert in den beiden Akten, um konkretere Hinweise zu finden. Mittlerweile glaubte sie, dass der Typ, der in dem Wandschrank gefunden worden war, nicht Mike Slade war. Bestimmt hatte Slade jemanden in seinem Büro umgebracht und die Leiche dort versteckt – obwohl es, zugegeben, seltsam war, warum er so etwas tun sollte. Dann war er verschwunden, um nicht mit dem Mord in Verbindung gebracht zu werden. Nun war er zurückgekehrt, um weitere Morde zu begehen. Vielleicht wollte er auf diese Weise Spuren beseitigen, die zu ihm führten. Offenbar war er nachts in das Abrissgebäude gekommen, weil ihn irgendetwas in diesem Gebäude nach all den Jahren noch belasten konnte. Officer Johannsen hatte ihn erwischt und war von ihm umgebracht worden. Slade musste nun bereits um die siebzig sein, was die ganze Geschichte ein wenig unglaubwürdig erscheinen ließ. Aber er war offenbar geistesgestört. Ein Mörder, der seit Jahrzehnten von seinem Verbrechen gehetzt wurde, und irgendwie immer noch in den Sechzigern lebte. Der Mord damals hatte ihn wohl durchdrehen lassen. Nun glaubte er, er wäre immer noch so jung wie früher - wahrscheinlich hatte er sich liften lassen und färbte sich das Haar, um jünger zu wirken. Außerdem kleidete er sich nach der Mode der Sechziger. Kate erschien das alles völlig plausibel. 71
Sollte ihre Theorie zutreffen, war Slade völlig verrückt. Er würde erst aufhören zu morden, wenn er gefasst oder getötet worden war. Über die Jahrzehnte hatte er Spuren hinterlassen und nun würde er versuchen, diese Spuren zu verwischen, indem er alle umbrachte, mit denen er je Kontakt gehabt hatte. Die Frau, nach der er in jener Bar gesucht hatte, die Angel erwähnt hatte – die Rialto Lounge – war vermutlich das nächste Opfer auf seiner Liste. Kate beschloss, sich die Vermisstenakten aus den Monaten Ende 1961 anzusehen. Eine davon würde auf die gefundene Leiche passen. Es würde sich herausstellen, dass der Vermisste starke Ähnlichkeit mit Mike Slade hatte. Der Pathologe war zwar der Meinung, es sei Slades Leiche, aber zu dieser Ansicht war er ohne DNS-Analyse oder zahnärztliche Unterlagen gelangt. Allein das Alter, die Größe und eine teilweise Rekonstruktion des Gesichts auf der Grundlage des Schädels hatten ihn zu dieser Schlussfolgerung veranlasst. Als Nächstes musste Kate Leute finden, die Slade gekannt hatten, denn er würde sie verfolgen. Kate konnte ihm vielleicht eine Falle stellen, wenn sie einen alten Bekannten von ihm fand. Außerdem suchte sie eine Erklärung dafür, wie die Schüsse im Rathaus und im Gebäude der Telefongesellschaft in die ganze Geschichte passten. Wie dem Bericht zu entnehmen war, den sie kopiert und in die Mappe gelegt hatte, war Slade bei der Telefongesellschaft aufgekreuzt, um die Nummer oder Adresse von einem Harold Wechsler herauszubekommen. Er hatte behauptet, Wechsler sei ein hohes Tier, also musste es sich um den neuen Leiter des Amtes für Wasser- und Energieversorgung handeln. Wechsler war alt genug, um auch zu Slades Glanzzeit aktiv gewesen zu sein. Es lohnte sich bestimmt, mit ihm zu reden. Plötzlich kam Kate etwas in den Sinn, das sie in der Mappe zum Fall John Doe gelesen hatte. Rasch schob sie die Johannsen-Mappe beiseite und suchte in der anderen nach Zeugenaussagen. Die umfassendste stammte von Blake, dem Vorarbeiter auf dem Abrissgelände. Er hatte sie tatsächlich am Morgen nach dem Leichenfund angerufen und war bereit gewesen, ins Präsidium zu kommen. Hier hatte man ihn stundenlang verhört. Er war zu jedem Mitarbeiter befragt worden, der je auf der Baustelle gearbeitet hatte, außerdem zu allen Menschen, die das Gelände aufgesucht hatten. Einer von diesen Besuchern war, wie er sich erinnert hatte, ein Mann namens Fetzer gewesen. Den Vornamen wusste er nicht mehr. Fetzer hatte behauptet, für das Amt für Wasser- und Energieversorgung zu arbeiten und das Gebäude dringend betreten zu müssen. Blake hatte aus72
gesagt, er habe den Mann abgewiesen, weil er kein Dokument hatte vorweisen können, das ihm den Zutritt erlaubt hätte, und die Abrissarbeiten bereits in vollem Gange waren. Was hatte Fetzer in dem Gebäude gewollt?, fragte sich Kate. Arbeitete er tatsächlich für Wechsler? Hatte diese Sache etwas damit zu tun, warum Slade hinter Wechsler her war? Aus zwei verschiedenen Richtungen auf den Namen Wechsler zu stoßen, konnte kein Zufall sein. Es war ein Hinweis, der erste richtige Hinweis, den sie in der Hand hatte. Sie musste der Sache nachgehen. Kate stand auf, streckte sich und sah auf die Uhr an der Wand. Schon nach sieben! Sie hatte den ganzen Tag am Schreibtisch gesessen, hatte gelesen, telefoniert, sich Notizen gemacht und wieder gelesen. Ihre Muskeln waren verspannt, und ihr tat der Rücken weh. Nachdenklich massierte sie sich Schultern und Nacken. Dann legte sie die beiden Akten zurück in die Schublade, zog ihre Jacke über, nahm ihre Tasche und ging zur Tiefgarage. Sie musste Wechsler persönlich aufsuchen, dachte sie, und Fetzer ebenfalls – wer immer er sein mochte. Das Gespräch war möglicherweise zu wichtig, um es am Telefon zu führen. Sie wollte den beiden ins Gesicht sehen, wenn sie mit ihnen sprach. Es war nicht besonders wahrscheinlich, dass sie so spät noch im Büro waren. Aber es konnte nicht schaden, wenn sie auf dem Nachhauseweg kurz dort vorbeischaute. In der Tiefgarage war es ruhig, und Kates Schritte hallten laut durch die Halle. Sie stellte ihren Wagen normalerweise nicht in der Nähe des Aufzugs ab, damit sie – besonders an Tagen wie diesen, an denen sie nicht genug Bewegung hatte – wenigstens ein paar Schritte zu Fuß gehen musste. Sie dachte kurz daran, später noch ein Fitness-Studio aufzusuchen. Aber ob sie das schaffte, hing davon ab, ob sie Wechsler und seinen Kumpel Fetzer fand und wie viel Zeit sie im Rathaus verbringen würde. Eine Runde auf dem Stepper oder eine Runde Spinning halfen bestimmt, die Verspannung abzubauen! Sie erschrak fast zu Tode, als sie plötzlich angesprochen wurde. »Hallo Kate!« Überrascht schnappte sie nach Luft. »Angel! Du hast mich aber erschreckt!« Er war aus dem Nichts aufgetaucht und stand nun einfach neben ihr. Sie hätte geschworen, allein in der Garage zu sein. Aber vor ihrem Wagen gab es eine dunkle Ecke, in der er sich versteckt haben musste. 73
»Tut mir Leid.« »Was willst du überhaupt hier?« »Mit dir reden«, antwortete er. »Du weißt doch, dass ich es hasse, so erschreckt zu werden! Über was willst du mit mir reden?« »Über diesen Slade, den Privatdetektiv.« »Hast du schon etwas Neues in Erfahrung gebracht?«, fragte sie. »Nein, aber ich denke, er steht mit einem Fall in Verbindung, an dem ich arbeite. Ich habe gehofft, du hättest schon etwas mehr in der Hand.« Sie schüttelte den Kopf. »Angel, das ist ein ungeklärter Mordfall. Außerdem gibt es einen toten Polizeibeamten. Steck bloß deine Nase nicht in diese Sache!« Angel tippte sich auf die Nasenspitze. »Ist schon drin, Kate. Aber ich kann euch vielleicht helfen. Ich muss nur wissen, was ihr schon herausgefunden habt.« Sie warf einen raschen Blick über die Schulter, um zu kontrollieren, ob sie beobachtet wurden. »Willst du ein Stück mitfahren?« »Ich dachte schon, du fragst nie!« Angel stieg an der Beifahrerseite ein und Kate setzte sich ans Steuer. Sie fuhr rückwärts aus der Parklücke, verließ die Garage und bog nach rechts ab. Nach wenigen Minuten waren sie draußen auf den Straßen von L. A. und fuhren ziellos umher. Denn Kate wollte nicht dabei gesehen werden, wie sie mit Angel über den Fall sprach. »Ich meine das ernst, Angel«, fing sie an. »Wenn du dich in die Ermittlungen einmischst, nimmt das ein schlimmes Ende. Das ganze Präsidium ist unglaublich nervös wegen dieses Falls. Vielleicht nicht so nervös wie ich selbst bin. Denn ich bin ja diejenige, die ihn auf dem Tisch hat, und bislang auch die Einzige, die weiß, wie merkwürdig die Geschichte ist. Aber da ein Cop im Dienst erschossen wurde und dieser Slade das Rathaus aufgesucht hat, erwarte ich, dass schon morgen früh eine Sondereinheit gebildet wird, Überstunden angeordnet werden und so weiter, damit wir ihn möglichst schnell schnappen.« »Das ist mir klar«, versicherte ihr Angel. »Ich bleibe im Hintergrund. Ich bin nur an meinem eigenen Fall interessiert. Allerdings denke ich, die beiden Fälle stehen irgendwie miteinander in Verbindung.« »Willst du mir nicht erzählen, um was für einen Fall es sich handelt?«, fragte sie, obwohl sie sich wenig Hoffnung auf eine Antwort machte. »Wer ist dein Klient?« Angel überraschte sie mit einem Lächeln. »Du würdest es mir nicht glauben, wenn ich es dir sagte.« »Jemand den ich kenne?« 74
»Ganz bestimmt nicht.« Kate bog noch einmal nach rechts ab, und sie kamen auf den Olympic, der bis nach Santa Monica ans Meer führte. Allerdings entfernte sie sich so nur noch weiter vom Rathaus und Harold Wechsler. Also machte Kate verkehrswidrig eine Kehrtwendung, um wieder Richtung Innenstadt fahren zu können. »Okay«, sagte sie. »Ich verrate dir, was wir haben. Aber ich bringe mich dadurch in eine prekäre Lage, Angel. Ich hoffe, du weißt das zu schätzen! Ich tue das auch nur, weil ich von dir im Gegenzug informiert werden möchte, wenn du etwas herausfindest, das zur Ergreifung dieses Typen fuhren kann.« »Selbstverständlich«, versprach Angel. »Gut. Also dann: Wir haben eine Leiche in Slades altem Büro gefunden. Männlich, Mitte dreißig. Wir konnten sie noch nicht eindeutig identifizieren. Der Pathologe sagt, es ist Slades Leiche, aber ich bin da nicht so sicher.« »Weil Slade immer noch die Stadt unsicher zu machen scheint?« »Ja, zum Teil auch deshalb. Und auch, weil Officer Deke Johannsen letzte Nacht vor ebendiesem Haus erschossen wurde. Er sollte das Gelände bewachen. Ich denke, Slade hat ihn erschossen, weil er ins Innere des Gebäudes wollte, um Beweise für den früheren Mord zu vertuschen.« »Macht Sinn.« »Allerdings müsste Slade mittlerweile um die siebzig sein. Durchgeknallte Mörder in diesem Alter gibt es kaum. Aber nichts ist unmöglich, oder?« Da Angel nicht reagierte, redete Kate weiter. »Da ist noch etwas. Hast du je von Harold Wechsler gehört?« »Der Name kommt mir bekannt vor, aber ich weiß nicht woher.« »Er ist der neue Leiter des Amts für Wasser- und Energieversorgung. Ist letzte Woche erst vom Bürgermeister ernannt worden. Offenbar wollte einer seiner Angestellten in das Gebäude, kurz bevor die Leiche entdeckt wurde. Und als Slade gestern bei der Telefongesellschaft rumballerte, wollte er Wechslers Adresse erfahren.« »Also suchen sich die beiden Kerle gegenseitig«, bemerkte Angel. »Sieht so aus«, sagte Kate. »Ich weiß nur nicht, was Wechsler von Slade will. Aber wenn man sich ansieht, was Slade alles auf dem Kerbholz hat, kann man davon ausgehen, dass Kugeln fliegen, wenn er Wechsler findet.« Sie hielt einen Augenblick inne. »Es gibt da nur ein Problem. Bislang wissen wir von zwei Schüssen, die er abgegeben hat. Auf einen Polizeibeamten im Rathaus und einen Mann vom 75
Sicherheitsdienst bei der Telefongesellschaft. Dafür gibt es Zeugen. In beiden Fällen wurden die Opfer verwundet, aber man hat weder Kugeln noch Patronenhülsen gefunden.« »Das ist doch merkwürdig.« »Ja«, meinte Kate. »Sehr merkwürdig.« »Wohin willst du jetzt fahren?«, fragte Angel. »Das geht dich nichts an«, entgegnete Kate. »Kann ich dich irgendwo absetzen?« »Setz mich ab, wo es dir am besten passt«, sagte Angel. »Mein Auto steht bei dir vor dem Büro, aber ich komme schon dorthin.« »Das ist kein großer Umweg«, bot Kate an. »Frag mich nur nichts mehr zu dem Fall. Und vergiss nicht, was ich dir gesagt habe. Halte dich aus unseren Ermittlungen raus!« »Das tue ich«, versicherte ihr Angel. Eine reichlich unpräzise Antwort, wie ihm auffiel. Ob sie sich auf das »nicht vergessen« oder auf das »raushalten« bezog, hatte er nicht eindeutig gesagt. Kate setzte Angel bei seinem Wagen ab und fuhr zum Rathaus. Es ärgerte sie, nichts über seinen Fall erfahren zu haben, aber sie war daran gewöhnt, dass Privatdetektive sich nicht in die Karten schauen ließen. Sie mussten ihre Klienten schützen und manchmal machten sie sich auch Sorgen um ihre Bezahlung, falls jemand anderes ihnen zuvorkam und den Fall löste. Manche Kunden engagierten ihren Privatdetektiv sogar über einen Anwalt, damit alles, was mit ihrem Fall zu tun hatte, unter die anwaltliche Schweigepflicht fiel. Kate müsste einfach darauf vertrauen, dass Angel sich bei ihr meldete, wenn er etwas Hilfreiches in die Hände bekam. In der Empfangshalle des Rathauses wies sie sich bei dem Nachtwächter aus, einem stämmigen schwarzen Mann, dessen kurzes Haar grau meliert war. Er prüfte ihre Plakette. Als sie nach Wechsler fragte, bat er sie zu warten und rief in Wechslers Büro an. Nach einer Weile sagte er: »Sorry, Detective. Es geht niemand an den Apparat. Der Anrufbeantworter ist eingeschaltet. Sieht so aus, als hätte Mister Wechsler sein Büro schon verlassen.« »Darf ich kurz selbst nachsehen?«, fragte sie. »Nein, Madam. Nichts gegen Sie persönlich, aber wir sind, seit der Polizist angeschossen wurde, in höchster Alarmbereitschaft. Das verstehen Sie doch?« »Ja, das verstehe ich.« 76
»Wenn jemand in dem Büro wäre, der sie hereinlassen würde, dann würde ich sie hochschicken. Aber ich kann sie einfach nicht allein nach oben lassen.« »Okay, danke«, sagte Kate enttäuscht. Sie hatte nicht wirklich erwartet, noch jemanden anzutreffen, aber trotzdem ärgerte sie sich, dass sie nicht weitergekommen war. Als sie zu ihrem Auto lief, fiel ihr etwas ein, und sie fuhr zurück ins Büro und nicht zum Fitness-Studio. Wenn Slade wirklich hinter Wechsler her war, hatte er sich vielleicht schon eine neue Methode ausgedacht, wie er ihn erwischen konnte. Vielleicht war er Wechsler vom Rathaus nach Hause gefolgt. Es wurde Zeit, den städtischen Funktionär rund um die Uhr zu bewachen. Slade sollte sein blaues Wunder erleben, wenn er es tatsächlich wagte, sich an Wechsler heranzumachen.
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Angel saß wieder in seinem Belvedere GTX und raste Richtung Hollywood. Da es bei diesem Fall noch zu viele ungeklärte Aspekte gab – falls es tatsächlich ein einziger Fall war und keine Serie zusammenhangloser Zufälle – war Angel nicht völlig mit Kates Theorien einverstanden. Aber sie hatte ihn mit neuen Informationen versorgt, und als er diese mit seinem spärlichen Wissen über Betty McCoy zusammenlegte, war er umso überzeugter, dass die ganze Sache die Kapazitäten des LAPD bei weitem überstieg. Kate war ein guter Cop, aber sie war nur ein Mensch. Sie wusste doch gar nicht, was in der übernatürlichen Welt vor sich ging. Aber von dort herrührten definitiv die Geschehnisse, mit denen sie es in diesem Fall zu tun hatten. Während er durch die Nacht brauste, schössen die Lichter von Straßenlaternen und Neonschildern an ihm vorbei. Was immer auch vor sich ging, dachte Angel, der Fall musste abgeschlossen werden, bevor noch mehr Leute umkamen. Mit etwas Glück konnte er das erledigen, ehe Kate sich mit einigen knallharten Fragen über Leben und Tod konfrontiert sah. Er verspürte einen merkwürdigen Beschützerinstinkt ihr gegenüber. Andererseits wollte er jedoch auch verhindern, dass die Geheimnisse der Nacht ans Tageslicht gezerrt wurden. Aber genau das konnte der Tod eines Polizeibeamten zur Folge haben; denn ein derartiges Verbrechen würde mit Sicherheit nicht ungesühnt bleiben. Falls Angel den Fall nicht vor den Cops löste und mit einer Erklärung aufwartete, die für die menschliche Welt vernünftig klang. Als Erstes musste er die Argyle Avenue aufsuchen. Da er mit einer bedeutenden Polizeipräsenz rechnete, parkte Angel zwei Blocks von dem Abrissgebäude entfernt. Für den Fall, dass der Mörder von Officer Johannsen noch einmal an den Tatort zurückkehrte, bewachten die Cops das Gelände bestimmt von der Straße her, und vielleicht versteckten sie sich auch in den umliegenden Apartments oder sondierten die Lage von den Dächern aus. Angel stellte den GTX am Straßenrand ab und ging zu Fuß um die Ecke zur Argyle Avenue. Vor einem Schuhgeschäft schlief eine 78
Obdachlose zusammengerollt unter einer dünnen Decke. Angel war jedoch überzeugt, dass es sich um eine getarnte Polizistin handelte und schlenderte lässig und möglichst unauffällig an ihr vorbei. An der nächsten Ecke, nunmehr einen Block von der Baustelle entfernt, verließ er die Argyle Avenue wieder und bog nach rechts ab. Da er davon ausging, beobachtet zu werden, tat er so, als interessiere ihn das Gebäude gar nicht. Er ging bis zur nächsten Ecke, bog nach links ab und überquerte die Straße. Nun stand er am anderen Ende des Blocks, auf dem sich auch das Abrissgelände befand. An dieser Straßenfront reihten sich ein Zigarettenladen, ein Bücherantiquariat, ein Laden für Klempnerbedarf und ein Wohnhotel aneinander. Angel entschied sich für das Hotel. Im Foyer saß der Portier hinter einem Fenster mit kugelsicherer Scheibe. Der Mann sah fern. Kampfgeräusche drangen durch die Sprechschlitze in der Scheibe. Der Portier war offenbar ganz in den Film vertieft, vielleicht schlief er auch. Jedenfalls sah er nicht auf, als Angel hereinkam. Wahrscheinlich herrschte hier zu jeder Tagesund Nachtzeit ein reges Kommen und Gehen – das Hotel wirkte nicht gerade wie eine Sicherheitshochburg. Eher wie ein Ort, an dem Leute wohnten, die auf dem Weg nach unten in die Gosse waren oder die versuchten, von dort aus wieder nach oben zu klettern. Leute, die nicht genug Geld hatten, um die ganze Monatsmiete für eine Wohnung zu bezahlen, und stattdessen immer wieder den Betrag für eine Woche in einem solchen Hotel zusammenkratzten. Darüber kamen sie nie hinaus und machten weiter, bis aus den Wochen Monate wurden und aus den Monaten Jahre. Hinter dem Empfang entdeckte Angel eine Treppe und einen Aufzug. Der Aufzug sah aus, als wäre er in den zwanziger Jahren eingebaut und ungefähr um diese Zeit auch zum letzten Mal benutzt worden. Angel entschied sich für die Treppe. Die Stufen knarrten. Aber das Geräusch entging dem Mann am Empfang, da die vielen Kanonensalven aus seinem kleinen Fernseher das Geräusch übertönten. Das Treppenhaus roch, als sei dort seit fünfzig Jahren nicht geputzt worden, und über die Ursprünge der Gerüche wollte Angel lieber keine Vermutungen anstellen. Das Hotel verfügte über sieben Stockwerke, aber die Treppe führte, wie er erwartet hatte, noch weiter. Eine Etage höher endete sie vor einer Tür mit Vorhängeschloss, auf der in verblichener schwarzer Schrift »Dach« stand. Angel griff nach dem Vorhängeschloss und zog kräftig daran. Der Riegel riss aus dem alten morschen Holz, und die Tür ging auf. Angel trat hinaus in die Nacht. 79
Auf dem Dach wehte eine frische Brise. Der Gestank der Straßen drang nicht bis in diese Höhe. Vielmehr wurden die Gerüche aus den umliegenden Bergen hierhergetragen, und Angel hielt das Gesicht in den Wind, um sich von dem strengen, muffigen Gestank des schmuddeligen Treppenhauses zu befreien. Dann überquerte er das kiesbestreute Dach. Das angrenzende Nachbarhaus war ein wenig niedriger. Angel blickte auf einen Dschungel aus Klimaanlagen und Röhren. Er ließ sich an der Dachkante herunter und sprang auf das benachbarte Gebäude. Dort arbeitete er sich durch das Labyrinth aus Röhren auf die gegenüberliegende Seite. Von dort aus konnte er das Dach des Abrissgebäudes überblicken, das nun direkt vor ihm lag. Es war noch weitgehend intakt. Zunächst war das Innere des alten Gebäudes abgebrochen worden. Die tragenden Wände, die Außenmauern und das Dach kamen erst ganz zum Schluss an die Reihe. Angel riskierte einen vorsichtigen Blick auf die Straße. Direkt vor dem Abrissgebäude stand ein Streifenwagen. Den hatte er zuvor schon von der Straße aus gesehen und wusste, dass zwei Cops darin saßen. Zwei weitere Polizisten bewachten das Tor des Geländes. Angel erspähte nun auch ein offenes Fenster in einem Mietshaus auf der anderen Seite, in dem eine auf die Straße gerichtete Kamera montiert war – dahinter verbargen sich gewiss ebenfalls Polizisten. Außerdem gab es noch die Obdachlose auf dem Gehsteig, die er für eine getarnte Polizistin hielt. Wahrscheinlich versteckten sich weitere Cops im Innern des Abrissgebäudes, aber die konnte er von seinem Posten aus nicht sehen. Angel stand ganz ruhig da, strengte alle seine Sinne an – auch seine Sinne als Vampir – und lauschte auf die Geräusche von Menschen. Sie verrieten sich durch ihre Atmung, ihr klopfendes Herz; sie bewegten sich fortwährend - hielten einfach nie richtig still. Angel konnte zwei in dem tiefer liegenden Gebäude wahrnehmen. Vielleicht waren es auch mehr – manche Menschen verfügten über eine bessere Selbstbeherrschung als andere – aber zwei hielten sich dort ganz sicher auf. Angel wusste, wie er sich bewegen musste. Schließlich war er jahrhundertelang eins mit den Schatten der Nacht gewesen. Lautlos sprang er auf das Dach des Abrissgebäudes und hielt inne. Er kauerte sich auf den Kies und drückte sein Ohr auf den Boden. Außer den Bewegungen, die er bereits im Innern registriert hatte, konnte er nichts ausmachen. Vorsichtig erhob er sich und ging gebückt zur Dachluke. Sie war, wie er angenommen hatte, unverschlossen. Eine Abbruchtruppe ließ sich höchst ungern durch abgesperrte Türen von der Arbeit abhalten. 80
Angel öffnete die Luke und spähte in die düstere Etage darunter, die nur von dem schwachen Licht erhellt wurde, das von der Straße durch die zerstörten Fenster und die teilweise schon eingerissenen Wände fiel. Als er kein Geräusch wahrnahm, ging er vorsichtig die Treppe hinunter. Alle paar Schritte blieb er stehen und lauschte wieder. Er vermutete, die Polizisten hielten sich im Erdgeschoss auf, weil sie einen möglichen Eindringling nur von unten erwarteten. Seine leisen Schritte auf der Treppe schienen nicht entdeckt zu werden. Am Treppenabsatz hielt er wieder inne, lauschte und schob sich dann an der Wand entlang zu den nächsten Stufen. Leise und vorsichtig arbeitete sich Angel nach unten in den vierten Stock, wo sich Slades Büro befunden hatte. Einige Minuten später stand er auch schon in dem Büroraum, von dem nur noch Schutt- und Steinhaufen, Bretter und Staub übrig waren. Der Wandschrank, in dem die Leiche gefunden worden war, existierte noch, und die Tür war aufgeklappt wie ein Sargdeckel. Angel betrat den kleinen Raum, in dem Slade – oder wer auch immer – so viele Jahre gelegen hatte. Er schnupperte und zog die Nase kraus. Der süße, lang anhaltende Geruch des Todes lag in der Luft. Und noch etwas, das schwer einzuordnen war. Ein durchdringender, elektrisierender Geruch, den Angel immer mit dem Übernatürlichen in Verbindung brachte. Mit dem Leben nach dem Tod. Hier war etwas Merkwürdiges geschehen, so viel war klar. Es ging nicht nur um die Leiche, die man gefunden hatte. Es ging um mehr als das. Was genau, konnte Angel noch nicht sagen. Aber er hatte bereits ein paar Ideen. »Hände hoch!« Angel fuhr herum und wurde von einer Taschenlampe geblendet. Ein Cop stand vor ihm und richtete seine Waffe auf ihn. Offenbar verstand er es genauso gut wie Angel, sich geräuschlos zu bewegen. Vielleicht sogar besser. Aber es hatte einige große Vorteile, Vampir zu sein. Zwei davon waren Stärke und Schnelligkeit. Angel entschied sich für die Schnelligkeit. Denn er wollte weder den Polizeibeamten verletzen, noch eine Nacht in der Zelle verbringen. Es stand zu viel auf dem Spiel. Slade musste gefunden und gestoppt werden, bevor er wieder jemanden umbrachte. Schneller als der Cop reagieren konnte, warf sich Angel zu Boden und verschwand aus dem Lichtkegel. Er machte zwei Rollen vorwärts, direkt 81
auf den Cop zu, der Mühe damit hatte, ihn erneut mit dem Licht zu erfassen. In demselben Moment, als der Schein der Taschenlampe auf ihn fiel, sprang Angel in die Luft und rammte dem Cop die Schulter in den Solarplexus. Gerade heftig genug, um ihm ein wenig den Wind aus den Segeln zu nehmen und ihn davon abzuhalten loszuschreien, aber nicht heftig genug, um ihn ernsthaft zu verletzen. Gleichzeitig schlug er ihm die Taschenlampe aus der Hand, die durch die Luft segelte und irgendwo klirrend zu Boden fiel. Unten im Gebäude waren nun die anderen Polizisten zu hören, die die Kampfgeräusche von oben bemerkt hatten. Scheinwerfer durchbohrten die Finsternis. Angel spurtete zur Treppe und floh zurück aufs Dach. Die Polizisten nahmen die Verfolgung auf. Doch bis die Cops sich durch das halb zerstörte Gebäude zur Dachluke hochgearbeitet hatten, war Angel bereits wieder auf dem Nachbargebäude angelangt. Und als sie das Dach betraten, eilte er schon die stinkende Treppe des Wohnhotels hinunter. Er stürmte ins Foyer und bemerkte, dass der Nachtwächter mit leerem Blick ins Nichts starrte, als wäre er mit offenen Augen eingeschlafen. Angel winkte ihm im Vorbeilaufen zu. Der Mann fing an, hinter ihm her zu keifen, aber da war der Vampir schon zur Tür hinaus und auf der Straße. Weil inzwischen einige Polizeisirenen durch die Nacht schrillten, nahm er nicht den direkten Weg zu seinem Wagen, sondern lief zunächst mehrere Blocks weit in Gegenrichtung. Von dort näherte er sich dann gemächlichen Schrittes seinem Fahrzeug. Zwei Streifenwagen rasten an ihm vorbei. »Was für eine Zeitverschwendung!«, dachte er, als er den Motor seines Plymouth Belvedere anließ. Aber eigentlich stimmte das nicht ganz. Zwar hatte er nichts Konkretes über Mike Slade erfahren, aber eine Tatsache stand nun unleugbar fest: Wer immer tot in Slades Wandschrank gelegen hatte, war inzwischen von den Toten auferstanden. Als Angel losfuhr, tippte er eine Nummer in sein Handy. »Angel Investigations«, meldete sich Cordelia. »Hallo Cordy«, sagte Angel. »Oh, du bist es!«, entgegnete sie. »Hast du einen netten Abend? Ich hoffe, du genießt das Nachtleben, während wir Recherche-Drohnen rund um die Uhr auf unsere Computermonitore glotzen!« »Es ist klasse«, entgegnete Angel nur. »Hör mal, Cordy, es gibt eine Planänderung.« 82
»Tatsächlich?«, fragte sie erfreut. »Ja, Betty McCoy kannst du für den Moment mal vernachlässigen.« »Das wird nicht schwer sein, denn es scheint absolut keine Informationen über sie zu geben.« »Ist schon in Ordnung. Mach lieber mit Mike Slade weiter. Sieh zu, was du über ihn herausfinden kannst!« »Das ist doch der tote Privatdetektiv, oder?« »Ganz genau der«, entgegnete Angel. »Im Grunde geht es um dasselbe: Er muss persönliches Eigentum besessen haben, bestimmt mehr als Betty, denn er hatte ein Büro, hat Steuern bezahlt und so weiter. Im Gegensatz zu Betty hat er bestimmt Spuren hinterlassen. Und diesen Spuren müssen wir nachgehen.« »Im Grunde willst du also damit sagen, dass es noch mehr Computerarbeit gibt. Ich glaube, ich habe schon viereckige Augen.« »Lass dir von Doyle dabei helfen!« »Vielleicht ist es dir noch nicht aufgefallen, aber das ist so eine Sache mit ihm. Wenn er im Internet surft, kommen nur Seiten auf den Bildschirm, die mit Online-Wetten oder nackten Mädchen zu tun haben.« »Dann tu es doch lieber selbst«, pflichtete ihr Angel bei. »Das hab ich mir gedacht. Aber vielleicht gibt es ja eine Agentur für Streber, die an so was Spaß haben. Soll ich mal im Telefonbuch nachsehen?« »Cordelia...« »Schon gut, ich mach's«, stöhnte sie. »Und morgen früh gehst du dann zum Archiv der Stadtverwaltung«, schlug Angel vor. »Wie soll ich eigentlich morgens wach werden, wenn ich schon die ganze Nacht vor dem Computer sitze!«, beschwerte sich Cordelia. »Wir müssen alle Opfer bringen«, tröstete sie Angel. »Ach, noch etwas!« »Oh ja, natürlich, als wäre ich nicht schon komplett ausgelastet!« Angel ignorierte ihren Tonfall. »Ich brauche die Adresse von Harold Wechsler. Das ist dringend, also mach dich auf die Suche und ruf mich an, sobald du sie hast.« »Ja, Sir«, entgegnete Cordelia. »Wie Sie wünschen, Sir!« Angel bedankte sich und beendete das Gespräch. Er steckte das Handy weg und fuhr weiter, ohne ein bestimmtes Ziel im Auge zu haben. Da zu befürchten stand, dass Slade seine Jagd auf Wechsler fortsetzte, musste Angel an diesem Mann dranbleiben, bis der tote Privatdetektiv gefunden war. 83
Kreuz und quer fuhr er durch das dunkle Los Angeles und zermarterte sich das Hirn über den Fall, kam aber der Lösung keinen Schritt näher.
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Harold Wechsler wohnte in der Leona Street, die vom Benedict Canyon abging. Die prestigeträchtige Adresse kündete von großem Wohlstand. Reichtum und Einfluss, danach hatte Wechsler sein ganzes Leben lang gestrebt, aber sie waren eigentlich nur Etappensiege auf dem Weg zu seinem wirklichen Ziel. Reichtum und Einfluss halfen ihm, dieses Ziel zu erreichen, und waren daher so erstrebenswert für ihn. Denn reiche, berühmte Leute hatten meist einen besseren Zugang zur Macht als arme, unbedeutende Nullen. Und sein wirkliches Ziel war die Macht. Er hatte eine lange Reise hinter sich. Aber nun war es fast so weit. Das Ziel rückte in greifbare Nähe. Er saß in seinem riesigen Wohnzimmer und erfreute sich an dem luxuriösen Mobiliar und dem dicken, kostbaren Teppich. Seine Heimkino-Anlage stand an der Stirnwand des Raumes. Kaufund Installation hatten ihn zwanzigtausend Dollar gekostet, und er hatte cash bezahlt. Er wusste, das war viel Geld für manche Leute. Es bereitete ihm ein großes Vergnügen, in der Lage zu sein, so große Summen nach Laune auszugeben. Er hatte einmal sechzigtausend Dollar für eine einzige Party gezahlt, die drei Stunden gedauert hatte. Aber am meisten Geld auf einen Schlag hatte er vor elf Jahren ausgegeben. Er hatte es in einem Koffer, einem großen grünen Samsonite, in den Konferenzraum einer Anwaltskanzlei in der Innenstadt gebracht: 125.000 Dollar. Damit hatte er das Leben eines Mannes gekauft. Genauer gesagt: seinen Tod. Wechsler hatte deswegen kein schlechtes Gewissen. Der Mann war ihm im Weg gewesen. Hatte seine Pläne durchkreuzt. Mit seinem Tod wurde ein weiteres Hindernis aus dem Weg geräumt. Eigentlich kostete es meist viel weniger, jemanden umbringen zu lassen, aber Wechsler war bereit, den Preis zu zahlen. Das Mordopfer war in diesem Fall gut und gerne das Doppelte der Hundertfünfundzwanzig wert. Aber nun, da sein ultimatives Ziel in Reichweite rückte, war wieder ein Hindernis aufgetaucht. Was immer es kostete, es musste ebenfalls aus dem Weg geräumt werden! 85
Wechsler wandte sich den drei Männern zu, die auf dem weichen braunen Ledersofa saßen: Barry Fetzer, Ryan Laine und Luis Reyes. Diese drei getreuen Vasallen begleiteten ihn seit sehr langer Zeit. Sie wussten – wörtlich und im übertragenen Sinne –, wo seine Leichen begraben waren. Einige davon hatten sie selbst verschwinden lassen. Sie waren noch Kids gewesen, als Wechsler seinen Aufstieg begonnen hatte – er selbst war damals erst Mitte zwanzig gewesen. Er hatte klein angefangen, als mieser Ganove, der sich einen Namen in der großen Stadt machen wollte, und Los Angeles war eine Stadt, in der man sich selbst neu erfinden konnte. Dort zählte nicht, wer man gestern noch gewesen war, solange man eine überzeugende Show hinlegte, gute Sprüche drauf hatte und die Illusion von Erfolg vermitteln konnte. Hal Wechsler stammte aus Kansas City, wo auch der Aufstieg in der kriminellen Gesellschaft nach festen Mustern verlief. Man kam nur nach oben, wenn man sich durch die Hierarchie arbeitete, wobei jederzeit vorgegeben war, wer der nächste Boss sein würde und wer der übernächste. Das hatte Wechsler nicht gepasst. Er wollte sich von niemandem Grenzen setzen lassen. Also hatte er sich Richtung Westen aufgemacht und war erst stehen geblieben, als ihm die Meeresbrandung um die Füße spülte und ihm ein Paar Schuhe ruinierte. Ihm war das gleichgültig gewesen. Denn er hatte die feste Überzeugung gehabt, dass er sich schon bald viele Paar Schuhe – teure Schuhe – würde leisten können. Auch in L.A. existierte bereits ein festes Bandennetz, aber es gab erheblich mehr Neueinsteiger als in Kansas. Dadurch waren die Strukturen viel weniger festgefahren, noch nicht so etabliert. Und so gelang es Wechsler, sich ein eigenes Revier zu schaffen. Dann war er interessanten Leuten begegnet. Leuten, von denen er in Kansas City noch nie gehört hatte. Manchmal trugen sie dunkle Umhänge mit Kapuzen und verbrannten Kerzen und Weihrauch und sangen Lieder, die schwachsinnig klangen. Aber manchmal hatten sie damit Erfolg. Und sie waren bereit, ihr Wissen weiterzugeben. Wechsler hatte sofort die Möglichkeit gesehen, seine beiden Leidenschaften zu kombinieren. Damals hatte die Unterwelt von Los Angeles noch nichts mit der Welt der Magie zu tun gehabt. Sobald Wechsler beides verband, begann sein Aufstieg. In nur wenigen Jahren machte er sich einen respektablen Namen in der Stadt. 86
Und darauf baute er weiter auf, knüpfte Bündnisse und pflegte die richtigen Freundschaften. Die drei Männer – Fetzer, Laine und Reyes – hatte er mit nach oben genommen. Sie waren nun alle reicher, als sie je zu hoffen gewagt hätten. Wechsler strich über seinen seidenen Hausmantel und ließ den glatten Stoff durch die Finger gleiten. Dann knöpfte er sich die Männer vor. »Du hast es versaut!«, schrie er zur Eröffnung und sah Fetzer in die Augen. »Das haben wir doch schon besprochen, Boss«, protestierte Fetzer. »Sie wollten mich nicht...« »Ich weiß. Ich kann das nicht mehr hören.« »Was wollen Sie dann?« Wechsler streckte die Hände aus. »Was ich will? Ich will Slade! Du solltest die Bannformel sprechen, bevor die Leiche rausgeholt wurde. Du hast es nicht getan, also ist er draußen. Und wie es aussieht, ist er hinter mir her. Ich weiß nicht, ob er meine Pläne wirklich durchkreuzen kann, aber ich will kein Risiko eingehen.« »Wie sollen wir ihn denn finden?«, fragte Reyes. »Wir sind von Cops umzingelt.« »Und wessen Fehler ist das?«, fragte Wechsler wütend. »Ich will, dass ihr ihn findet! Bevor er mich findet. Verstanden?« »Verstanden«, entgegnete Ryan Laine. »Was sitzt ihr dann noch hier rum?«, fragte Wechsler und wedelte mit den Händen, als wolle er Laine und Reyes verscheuchen. »Ihr nehmt nur Platz weg. Macht euch raus! Holt euch Verstärkung, wenn nötig, aber findet Slade!« Sie alle wussten, was Verstärkung bedeutete. Dämonen. Eine ganze Reihe von ihnen stand in Wechslers Diensten. Er setzte sie nicht ein, wenn es um eine Sache ging, die Diplomatie oder Raffinesse erforderte, aber wenn ganz banale Muskelmasse gefragt war, gab es nichts Besseres. Laine und Reyes erhoben sich wie ein Mann von der Couch und gingen zur Tür. Noch bevor sie draußen waren, wandte sich Wechsler an Fetzer. »Du bist mir dafür verantwortlich!«, zischte er. »Wenn sie versagen, bist du dran!« »Verstanden, Hal«, versicherte ihm Fetzer eifrig nickend. »Dann sieh zu, dass du es nicht wieder vergisst!« Angel hatte Position in dem hohen Gras bezogen, das die Hügel hinter Wechslers Haus überwucherte. Mindestens ein halbes Dutzend Streifenwagen standen vor dem Anwesen, und es waren so viele Cops 87
am Fahrbahnrand aufgereiht wie bei einer Parade. Angel war lässig an ihnen vorbeigefahren und hatte ein paar Kilometer weiter geparkt. Er war zurückgejoggt und um das Nachbargrundstück herumgelaufen, um zur Rückseite von Wechslers Haus zu gelangen. Von dort aus hatte er einen guten Blick über das Anwesen. Es war ein hübsches Haus, weiß verputzt, sehr modern, mit großen Glasfenstern in Richtung der Berge. Drinnen war trotz der späten Stunde alles hell erleuchtet. In einem Raum sah Angel vier Männer, die miteinander redeten – wie es aussah, stritten sie. Angel fragte sich, ob Wechsler möglicherweise an Schlaflosigkeit litt. Vielleicht saß er aber auch mit seinen Pokerfreunden zusammen. Oder es gab irgendein Problem. Angel beschloss, sich die Männer aus der Nähe anzusehen. Mit geübtem Blick erkundete er das Gelände und suchte nach einem sicheren Weg, wie er dem Gebäude näher kommen konnte, ohne durch die großen Fenster gesehen zu werden. Hundert Meter weiter unten war alles in Flutlicht getaucht: der Berg und die weitläufige Rasenfläche, in die eine geflieste Terrasse mit einem von innen beleuchteten, strahlend blauen Pool eingelassen war. Oben am Hang in der Dunkelheit war Angel in Sicherheit, aber wenn er hinunter zum Haus gelangen wollte, musste er irgendwann die hell erleuchtete Rasenfläche überqueren. Plötzlich fiel ihm eine Bewegung im Gras auf. Tiere? Vögel vielleicht? Oder etwas anderes? Er beobachtete die Stelle aufmerksam und erwartete fast, einen Kojoten aus dem Gräserdickicht ausbrechen zu sehen. Stattdessen tauchte ein Hut auf. Ein grauer Fedora. Darunter ein großer Kopf und breite Schultern, die in einem grauen Jackett steckten. Mike Slade! Dicht entlang der von Licht überfluteten gepflegten Rasenfläche bewegte sich der Schnüffler den Hang hinunter. Immer weiter rückte er vor, wobei er den Blick starr auf das Haus gerichtet hielt. Als er seine Hand aus dem hohen Gras streckte, erkannte Angel die Pistole. Slade hatte seinen Zug gemacht. Nun war Angel an der Reihe. Er verwandelte sich und spürte, wie er von Kraft durchströmt wurde, während sich sein Äußeres veränderte. Besonders menschlich sah er nun nicht mehr aus, aber das war zu diesem Zeitpunkt auch gar nicht nötig und vollkommen unwichtig. Der Vampirtrick war manchmal hilfreich, um den Gegner abzulenken oder zu überraschen. Deshalb zog er diesen Trumpf aus dem Ärmel, wann immer er es für angebracht hielt. Angel knurrte tief und kehlig und rannte den Berg hinunter. Mit energischen Schritten bahnte er sich seinen Weg durch das hohe Gras, 88
das sich um seine Beine legte. Leider verriet ihn das Rascheln, und seine Beute wurde aufmerksam. Slade drehte sich um – er wirkte erstaunt, aber nicht ängstlich – zielte Richtung Berg und feuerte dreimal. Angel hatte sich bereits ins Gras geworfen und hörte, wie die Kugeln über seinen Kopf hinweg pfiffen. Dann erst drang der Knall an seine Ohren. »Zeige dich, Dämon!«, rief Slade. »Trau dich doch! Du hast keine Chance!« Dämon? Wie viele Leute würden automatisch annehmen, dass er ein Dämon war? Doch wohl nur solche, die schon einschlägige Erfahrungen gesammelt hatten, fand Angel. Natürlich konnte man darüber, was Slade alles erlebt hatte, während er tot gewesen war, nur Vermutungen anstellen. Oder über das, was zu seinem Tode geführt hatte. »Das wird ja immer sonderbarer!«, dachte Angel. Er arbeitete sich gebückt durch das Gras und versuchte, seine Position nicht durch Rascheln zu verraten. Kugeln konnten ihm nichts anhaben. Normale Kugeln jedenfalls. Aber er wusste ja nicht, was Slade abfeuerte. Wenn der Mann tatsächlich aus dem Grab gestiegen war – und seine Pistole mitgebracht hatte – konnte man nicht davon ausgehen, dass er echte Kugeln geladen hatte. Vielleicht war seine Waffe eine übernatürliche Konstruktion mit Phantomkugeln. Das würde auch erklären, warum weder Kugeln noch Hülsen an den Tatorten gefunden worden waren. Dass eine übernatürliche Waffe Angel keinen Schaden zufügen konnte, musste erst noch bewiesen werden. Wenn er Slade nur sehen könnte! Wahrscheinlich wünschte sich Slade umgekehrt dasselbe. Er befand sich in einer gefährlichen Lage – seine Schüsse mussten die Polizei und das ganze Haus alarmiert haben. Was bedeutete, dass er zwischen diesen Männern und Angel in der Falle saß. Angel hörte einen weiteren lauten Knall. Eine Kugel schlug direkt vor ihm im Gras ein. Rasch warf er sich wieder auf den Boden und ging in Deckung. Vom Haus drangen laute Stimmen herüber. Viele Stimmen. Wenn Slade nicht verrückt war – noch verrückter als Angel ohnehin vermutete – rannte er nun nicht auf die Stimmen zu. Er musste vor ihnen weglaufen. In diesem Fall kam er direkt auf Angel zu. 89
Angel ging in die Hocke, stützte sich mit den Händen ab und balancierte sein Gewicht auf den Fußballen. Mit gespannten Muskeln wartete er wie ein Sprinter am Startblock auf Slades Erscheinen. Als die Stimmen näher kamen, hörte er ein Rascheln im Gras. Er hob leicht den Kopf und sah Slade, wie er vor der Polizei zurückwich und den Berg heraufkam. Die Beamten benutzten nun starke Scheinwerfer, mit denen sie kreuz und quer über den Hügel leuchteten. Slade war zwischen dem Haus, den tanzenden Lichtstrahlen und Angel gefangen. Angel wartete ab. Rückwärts gehend kam Slade langsam weiter auf ihn zu und stolperte plötzlich. Als er aus dem Gleichgewicht geriet, stürzte sich Angel auf ihn. Er rammte Slade, der sich kein bisschen tot anfühlte, sondern sehr stramm und muskulös, die Schulter in den Bauch. Slade ächzte. Angel hatte so viel Schwung, dass sie beide den Hügel hinunterfielen. Slade traf zuerst auf dem Boden auf. Angel stürzte über ihn hinweg, hielt sich aber an seinem Jackett fest. Er machte eine Rolle vorwärts, landete auf dem Rücken und zog Slade weiter mit sich, der schließlich von Angel abprallte und weiter den Berg hinunterrollte. Sein Jackett riss, und Angel blieb mit einem Stück Stoff in der Hand auf dem Rücken liegen. Er wälzte sich auf den Bauch und sah, wie Slade von einem Dutzend Lichtstrahlen verfolgt wurde. »Da ist er!«, rief jemand. »Stehen bleiben!«, rief ein anderer. Aber Slade machte keine Anstalten aufzugeben. Er hob die Pistole und feuerte zweimal auf die Polizisten. Beide Kugeln trafen ihr Ziel, und zwei Beamte gingen zu Boden. Die Cops erwiderten das Feuer. Ein wahrer Kugelhagel ergoss sich über den Hügel. Angel drückte sich flach auf den Boden. Dutzende Kugeln pfiffen über seinen Kopf hinweg wie vorbeizischende Moskitos. Allerdings handelte es sich hier um Moskitos aus Blei, und die konnten mehr Schaden anrichten als nur stechen. Natürlich würden die Kugeln ihn nicht töten, aber sie konnten ihn verletzen und aufhalten – und ihn daran hindern, Mike Slade zu erledigen, bevor er weitere Cops verletzte oder gar tötete. Aber wenn er weiter in Deckung blieb, um dem Kugelhagel zu entgehen, erreichte er natürlich auch nicht besonders viel. Slade feuerte noch einige Schüsse ab. Durch ihre Lautstärke unterschieden sie sich deutlich von denen der Polizei. Angel riskierte einen Blick. Die Cops hatten Wechslers Haus umstellt. Sie waren 90
überall: hinter den Säulen, hinter dem großen Steingrill und hinter dem kleinen Steinmäuerchen, das die Poolterrasse von der Rasenfläche trennte. Aber Slade gab nicht auf. Noch immer stand er da und hielt seine Pistole in der Hand. Angel konnte seine schwarze Silhouette deutlich vor dem hell erleuchteten Haus erkennen. »Gib auf, Slade!«, zischte er. Slade wirbelte herum. »Wer sind Sie?« »Ich will nur helfen«, erklärte Angel. »Ich möchte nicht, dass jemand verletzt wird.« »Dafür ist es ein bisschen spät, Kumpel«, sagte Slade. »Es hat schon viele Verletzte gegeben, verstehen Sie, und es wird noch mehr geben, wenn ich Wechsler nicht bald zwischen die Finger kriege.« »Hören Sie, jetzt ist nicht die richtige Zeit zum Reden«, meinte Angel. »Lassen Sie einfach die Waffe fallen und ergeben Sie sich mir. Ich habe ein paar Freunde bei den Uniformierten. Wir kümmern uns um die Sache.« »Auf keinen Fall, Dämon! Hier gibt's nichts zu kümmern«, entgegnete Slade. »Ich weiß, ich hab mir einen Haufen Probleme eingehandelt, indem ich auf die Bullen geschossen habe. Aber Wechsler...« Dämon, schon wieder, dachte Angel. »Sie kriegen Wechsler nicht. Geben Sie auf!«, sagte er. »Sie sehen doch, wie gut er bewacht wird.« »Vielleicht kriege ich ihn heute nicht«, gab Slade zurück, »aber morgen ist auch noch ein Tag.« »Falls Sie hier lebend rauskommen.« »Darüber mache ich mir keine großen Sorgen, um ehrlich zu sein«, sagte Slade. Es lag etwas in seiner Stimme, das Angel nicht richtig einordnen konnte. War es Bedauern? »Dann haben wir etwas gemeinsam«, sagte Angel. »Kommen Sie, legen Sie die Waffe ab!« »Im Leben nicht, Kumpel!« Slade richtete seine Browning auf Angel und drückte ab. Angel versuchte, dem Schuss auszuweichen, aber in diesem Moment traf die Kugel auch schon seine Schulter, und er ging zu Boden. Erneut hagelten Kugeln über den Berg. Angel bekam Staub in die Augen, kniff sie zusammen und hielt sich mit einer Hand die vor Schmerz brennende Schulter. Er hörte, wie Slade auf der Flucht vor seinen Verfolgern an ihm vorbei den Berg hochstapfte. 91
Angel wagte nicht aufzustehen, solange noch Kugeln durch die Luft pfiffen. Als es einen Augenblick still wurde, schaute er vorsichtig hinter Slade her. Aber der Mann war verschwunden, irgendwo abgetaucht in den dunklen Bergen und Schluchten. Plötzlich erschienen Hubschrauber am Himmel, mit deren Hilfe die Polizei Slade vielleicht in den Bergen schnappen konnte. Es war höchste Zeit für Angel zu verschwinden. Mühsam kam er auf die Beine, wobei er sich immer noch die Schulter hielt. Die Wunde verheilte bereits, schmerzte aber noch heftig. Angel hatte das sichere Gefühl, dass die Kugel nicht mehr in seinem Fleisch steckte, obwohl es kein glatter Durchschuss gewesen war. Er hatte gerade begonnen, nach einem Fluchtweg zu suchen, als direkt über ihm ein Hubschrauber auftauchte und ihn mit seinen starken Suchscheinwerfern erfasste. Die Lichter blieben auf ihn gerichtet, während der Hubschrauber vorbeiflog, wendete und wieder zurückkehrte. Mit ihren Gewehren und Pistolen im Anschlag stürmten die Polizisten den Berg. Eine Stimme ertönte aus dem Hubschrauber: »Keiner Bewegung! Sie sind umzingelt! Heben Sie die Hände über den Kopf!« »Umzingelt? Nicht nach meiner Definition!«, dachte Angel. Möglicherweise jedoch nach der, die in diesem Augenblick ausschlaggebend war. Die Cops umstellten ihn zwar nicht auf allen Seiten, aber sie waren ihm zahlen- und waffenmäßig weit überlegen. Sie hatten den falschen Mann erwischt. Aber das wussten sie ja nicht. Angel hob die Hände über den Kopf, nahm wieder menschliche Züge an und wartete auf die Polizisten. Sekunden später waren die ersten Officer schon bei ihm. Einer von ihnen, ein großer Mann mit einem dicken roten Schnurrbart und Sommersprossen auf der Nase, bedachte ihn mit einem Lächeln, das alles andere war als freundlich. »Sie sind festgenommen, Partner!«, sagte er. »Hände auf den Rücken!« Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Aber Angel tat, wie ihm geheißen. Mit einem Klicken schlossen sich die Handschellen um seine Handgelenke. Weitere Polizisten trafen ein, und sie führten ihn den Berg hinunter. Angel sagte kein Wort, denn er wusste, sie würden ihm ohnehin kein Gehör schenken. Nicht hier. Nicht, nachdem mindestens einer von ihnen unterwegs ins Krankenhaus war – oder ihm noch Schlimmeres zugestoßen war. 92
»Sie haben das Recht zu schweigen«, fing der Rotschopf an und las Angels Rechte von einem kleinen Kärtchen ab, das er aus der Uniformtasche gezogen hatte. Angel beschloss, von diesem Recht Gebrauch zu machen.
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Doyle begriff einfach nicht, warum es ihn an diesem Ort so verdammt gruselte. Sicher, dieser Ort war voller toter Leute. Das hatten Friedhöfe nun mal so an sich. Sie waren Gedenkstätten für die Toten, mit denen die Lebenden an diejenigen erinnerten, die von ihnen gegangen waren. Aber Doyle hatte in seinem Leben schon viele Friedhöfe besucht, und obwohl sie nicht seine erklärten Lieblingsplätze waren, konnte er sich nicht daran erinnern, sich je so unwohl gefühlt zu haben wie hier. Erwartete darauf, dass etwas geschah. Was, das wusste er selbst nicht genau, aber er würde es schon merken, wenn es so weit war. In der Zwischenzeit wanderte er zwischen den Grabsteinreihen hindurch. Dabei versuchte er, sich möglichst geduckt zu halten, falls das, was auch immer kommen mochte, ihn von oben angriff statt von unten. Wegen der Kühle der Nacht hatte er seine Lederjacke zugeknöpft und grub die Hände tief in die Taschen. Ein beinahe voller Mond stand tief am Himmel. Sein Licht fiel auf die Friedhofsmauer und die Bäume, die den Park umgaben, und zeichnete ihre Umrisse auf dem Gelände nach. Um sich die Zeit zu vertreiben, begann Doyle, die Namen und Daten auf den Grabsteinen zu lesen. Bei seinem ersten Besuch war er zu beschäftigt gewesen, Betty McCoys Grab zu beobachten, und hatte kaum etwas anderes wahrgenommen. Da er nun jedoch davon ausging, dass von ihrem Grab nichts zu befürchten war, machte er einen kleinen Spaziergang. Chester Morgan, 1976. Henry Fitts, 1924. Suzannah Burstrom, 1958. Harris Stetko, 1999. Einige Familiennamen traten gehäuft auf, bemerkte er, als er die Reihen auf und ab wanderte. Zuerst fiel es ihm bei den Villareals auf. Dann waren da noch die Doans. Unzählige Doans. Es gab diverse Morgans, einige Riddlers und viele Stetkos. Je mehr Namenshäufungen er entdeckte, umso mehr standen ihm die Nackenhaare zu Berge. Denn ihm wurde klar, dass er einige der Namen auf den Steinen kannte. Die Villareals und die Doans und die Riddles ... Doyle brauchte eine ganze Weile, um sie einzuordnen, aber dann dämmerte ihm, dass es keine Namen von Menschen waren, die er einmal gekannt hatte. 94
Es waren Namen von Dämonen! Die Dämonen hatten sich schon seit langem mit mehr oder weniger großem Erfolg unter die Menschen gemischt. Manche schlugen sich ganz gut durch. Doyle selbst war so weit gegangen, eine Menschenfrau zu heiraten. Die Ehe hatte nicht lange gehalten, und von Zeit zu Zeit bedauerte er ihr Scheitern. Andere Dämonen bevorzugten das Leben im Verborgenen, in den Abwasserkanälen und dunklen Seitengassen, und suchten die Nähe der Menschen nur, um ihnen die Kopfe abzureißen und ihr Gehirn zu fressen. Aber diese Sippen, die Doans und die Riddles und die Villareals, waren ebenso wie die Barnetts und die Chongs, deren Namen Doyle inzwischen auch entdeckt hatte, allesamt Dämonenfamilien, die als Menschen getarnt lebten. Er wäre nie darauf gekommen, wenn er nur ein, zwei ihm bekannte Namen gesehen hätte – aber so gehäuft an einem Ort... Das war ein Friedhof für Dämonen! Sicher, ein paar Menschen waren auch darunter, aber Doyle hatte noch nie in seinem Leben einen Friedhof gesehen, an dem so viele Dämonen begraben waren. Kein Wunder, dass er innerlich so ausflippte! Das war ja das reinste Familientreffen – abgesehen von der Tatsache, dass es nicht Doyles Familie war, von der im Übrigen auch niemand mehr lebte, mit dem er ein solches Treffen hätte abhalten können. Er erinnerte sich an eine Party, zu der die Morgans einmal eingeladen hatten. Sie waren Mogranth-Dämonen und hatten normalerweise rote Haut und viele Tentakeln, aber sie konnten sich – wie Doyle – verwandeln und bei Bedarf völlig menschlich erscheinen. Die Morgans wollten den Kauf eines Hauses in einem Vorortviertel feiern und hatten auch die Nachbarn eingeladen. Es kamen über hundert Menschen und Dämonen. Je länger die Party fortschritt, desto lauter ging es zu. Schließlich hatte ein Nachbar die Polizei gerufen. Sie kam und löste die Versammlung auf. Allerdings hatte einer der jüngeren Morgans, als sich die bewaffneten Officer mit Sirenengeheul und Blaulicht vor dem Haus einfanden, Panik bekommen. Seine Tarnung fiel für einen Augenblick von ihm ab. Einer der Gäste hatte das mitbekommen und losgeschrien. Mit Mühe hatten die älteren Morgans den Gast überzeugen können, dass auf der Party zu viel Alkohol getrunken worden sei und – obwohl erst Mitte Juli – die Halloween-Vorbereitungen bereits im Gange seien. Aber die Dämonenfamilie ärgerte sich darüber, dass ihr wahres Wesen um ein Haar enttarnt worden wäre. Und das, nachdem sie erst kurz zuvor in das neue Haus eingezogen waren. Die Morgans warteten ein Jahr, 95
verkauften es wieder und siedelten sich in einem anderen ruhigen Vorortviertel an. Eine Party hatten sie nie wieder gegeben. Doyle glaubte, ein Geräusch zu hören, und wirbelte herum. Aber nur ein paar Zweige hatten im leichten Wind geraschelt. Offenbar war er drauf und dran, die Nerven zu verlieren! Er musste sich ein bisschen am Riemen reißen. Er grub die Hände noch tiefer in die Jackentaschen und stiefelte wieder zurück zu Betty McCoys Grab. Soviel er wusste, war wenigstens sie ein Mensch gewesen. Und das empfand er irgendwie als tröstlich. Letztendlich war der ganze Computerkram doch zu etwas nütze, dachte Cordelia. Sie hatte fast die ganze Nacht vor dem Monitor gesessen, aber allmählich fing sie an, eine gewisse Befriedigung dabei zu verspüren, wie eine Information zur nächsten führte und wieder zur nächsten und so fort. Es war wie bei einem Puzzle, dachte sie. Man konnte ein bestimmtes Teil erst finden, wenn man die umliegenden hatte, aber wenn man einmal so weit war, fügte sich alles ganz selbstverständlich zusammen. Allerdings fragte sie sich, ob ihr Leben allen Ernstes schon so erbärmlich geworden war, dass ihr so etwas Spaß machte. Sie war immer noch damit beschäftigt, wie ihr Angel aufgetragen hatte, nach Informationen über Mike Slade zu suchen. Er galt seit den frühen Sechzigern als vermisst, aber er war – im Gegensatz zu Betty – eine Art Hollywood-Größe gewesen. Es gab einige Artikel über ihn, die meisten davon bejubelten seine Erfolge bei einigen höchst spektakulären Fällen, die mit eher mittelspektakulären Berühmtheiten zu tun hatten. Obwohl es interessant war zu erfahren, wie er in Not geratenen Starlets geholfen und Drogendealer geschnappt hatte, die Dope auf Studiogelände verkauften, führten diese Geschichten nicht viel weiter. Cordelia beschloss eine Quelle zu testen, von der Willow damals in Sunnydale öfter gesprochen hatte: das Archiv der Stadtverwaltung. In einem derartigen Archiv waren über die meisten gesetzestreuen Bürger viele Informationen abgelegt. Geburts- und Todesdaten, Heirat, An- und Abmeldung eines Gewerbes, Sozialversicherungsnummer, Passund Visa-Anträge ... und so weiter und so fort. Natürlich konnte nicht jeder x-Beliebige einfach so auf diese Daten zugreifen. Aber Willow kannte ein paar Tricks, um sich Zugang zu verschaffen, und Cordelia hatte offenbar einiges bei ihr aufgeschnappt. Sie war überrascht und erfreut zugleich, als tatsächlich nach einigem 96
Ausprobieren die Steuerdaten des ganzen Bezirks von Los Angeles aus dem Jahre 1961 auf ihrem Monitor erschienen. Slade war 1961 verschwunden. Es gab keine Todesurkunde, aber die Eintragungen zu seiner Person endeten abrupt in diesem Jahr. Da er eine Privatdetektei geführt hatte, existierten Steuerunterlagen von ihm. Sein Verdienst war nicht berauschend gewesen, aber beileibe auch nicht schlecht. Und er hatte für eine Vollzeitangestellte Steuern gezahlt, deren Sozialversicherungsnummer aufgeführt war. Cordelia klickte sich eilig aus dem Verwaltungsarchiv der Stadt und hinein in das Bundesarchiv. Sie fand heraus, dass sich hinter der Nummer eine Frau namens Veronica Chatsworth verbarg. Nun hatte sie eine neue Fährte. Wenn Chatsworth ihren Arbeitgeber überlebt hatte, konnte sie vielleicht über Betty McCoy Auskunft geben. Also fing Cordelia noch einmal von vorn an und versuchte, so viel wie möglich über diese Frau herauszufinden. Nachdem sie stundenlang in den Datenbanken herumgesucht und eine Tasse Kaffee getrunken hatte, damit ihr die Augen nicht zufielen, wusste sie, dass Veronica 1936 in Indianola, Iowa, geboren worden war. Sie hatte dort den High-School-Abschluss gemacht und in einem Drive-InRestaurant gearbeitet, bevor sie sich eines Tages in den Bus gesetzt hatte, der sie in drei Tagen und zwei Nächten nach Los Angeles brachte. Sie war noch nicht lange in der Stadt gewesen, als sie und Slade sich begegnet waren, und sie hatte in den Jahren 1955 bis 1961 bei ihm gearbeitet. Danach hatte sie viele andere Jobs gehabt. 1967 hatte sie einen gewissen Vic Morris geheiratet. Cordelia notierte den Namen, um ihn zu checken, wenn sie mit Veronica Chatsworth fertig war. 1977 hatte sie eine Tochter, Barbara Morris, zur Welt gebracht. 1990 war sie an Lungenkrebs gestorben. Cordelia stand vom Schreibtisch auf und reckte sich. Sie hatte das Gefühl ihre Kochen seien vom langen Sitzen schon ganz steif. Sie ging ein paar Mal durchs Büro und schenkte sich ein Glas Wasser aus dem Spender ein. In dem einsamen Büro erschienen ihr die eigenen Schritte sehr laut und die frühmorgendlichen Stadtgeräusche leise und entfernt. Cordelia erinnerte sich noch sehr gut an Zeiten, in denen es Spaß gemacht hatte, die ganze Nacht aufzubleiben – zu tanzen, Party zu machen und das Leben ohne Sorgen und Verpflichtungen zu genießen. Diese Zeit schien ihr plötzlich in sehr weite Ferne gerückt. Sie verschränkte die Finger, drückte die Arme durch und setzte sich wieder an den Computer. 97
Auf einem Zettel hatte sie die Namen Vic Morris und Barbara Morris notiert, also tauchte sie zuerst in Vics Leben ein. Der Mann war eigentlich nur insofern interessant, als er mit Veronica Chatsworth in Verbindung stand. Sie erfuhr, dass er Polizist gewesen und Mitte der Neunziger gestorben war. Also widmete sie sich Barbara Morris, die, wie sich herausstellte, noch lebte, Steuern zahlte und die Polizeiakademie von Los Angeles besuchte. Bingo! Eine quicklebendige Verbindung zu Mike Slade und Betty McCoy! Um ein paar Ecken zwar, aber besser als nichts. Die Eine-Million-Dollar-Frage war natürlich, ob die Eltern Barbara Morris je von den alten Zeiten erzählt hatten. Cordelia fand eine Telefonnummer – die meisten Menschen wären entsetzt, wenn sie wüssten, wie viele Informationen man sich online über sie beschaffen konnte – und wählte. »Nie von ihm gehört«, entgegnete eine groggy klingende Barbara Morris nach Cordelias einleitenden, entschuldigenden Bemerkungen ä la »Tut mir leid, Sie zu wecken, aber es ist dringend«. »Ist das ihr letztes Wort?«, fragte Cordelia. »Ja, und wenn Sie nichts dagegen haben ...« »Aber Ihre Mutter hat doch ein paar Jahre für Mike Slade gearbeitet«, drängte Cordelia. »Vielleicht hat sie ja irgendwo die Akten von seinen alten Fällen aufbewahrt, in der Garage oder auf dem Dachboden oder so?« Es tut mir wirklich Leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen. Ich weiß nichts von solchen Akten, und ich habe noch nie von diesem Mann gehört. Bitte lassen Sie mich in Ruhe und rufen Sie nicht wieder an!« Cordelia hörte ein Klicken und dann das Tuten in der Leitung. Aufgelegt! So etwas hasste sie wirklich. Denn wenn überhaupt irgendjemand zuerst auflegte, dann tat sie das gern selbst. Barbara Morris war keine große Hilfe gewesen. Wäre sie nicht ein Cop in Ausbildung, hätte sie sich vielleicht nicht so misstrauisch und zögernd verhalten. Andererseits hatte Cordelia die Frau wahrscheinlich aus dem Tiefschlaf gerissen, um sie zu jemandem zu befragen, der schon lange vor ihrer Geburt gestorben war. Vielleicht war es unter diesen Umständen gar nicht so unnormal, dass sie nicht über ihn hatte reden wollen. Aber damit war Cordelia auch am Ende ihrer Suche angekommen. Sie nahm an, dass sie nun endlich zu Bett gehen konnte. Es gab diverse zwingende Gründe, das zu tun, und der geringste unter ihnen war, dass es ihr immer schwerer fiel, die Augen offen zu halten. Langfristig 98
betrachtet nützte Schlafen jedoch nicht viel. Wenn Angel nach Hause kam und sie zu ihren Recherche-Ergebnissen befragte, zeigte er sich bestimmt nicht sonderlich begeistert darüber, dass sie nur bis zu diesem Punkt gelangt war und dann aufgegeben hatte. Also holte sie die Gelben Seiten hervor und blätterte in der Hoffnung auf eine zündende Idee darin herum. Und die Idee kam. Cordelia war überzeugt, dass irgendwo noch Akten von Slade existierten. Der Mann hatte ein kleines Unternehmen geführt, er hatte Steuern bezahlt, und er hatte bestimmt über seine Fälle Buch geführt. All diese Unterlagen konnten natürlich nach seinem Verschwinden auf der Müllkippe gelandet sein, aber das schien Cordelia unwahrscheinlich, denn schließlich enthielten diese Papiere vertrauliche Informationen. Wenn diese Veronica Chatsworth eine gute Angestellte gewesen war, hatte sie dafür Sorge getragen, dass die Lebensgeschichten der Klienten nicht in unrechte Hände gelangten. Und wenn sie angenommen hatte, dass Slade irgendwann wieder auftauchen würde und zurückkehrte, dann hatte sie die Akten bestimmt aufbewahrt. Wenn nicht zu Hause, dann eben an einem anderen Ort. Cordelia schlug die Rubrik »Lagerhallen« in den Gelben Seiten auf und begann, die Nummern der Reihe nach anzurufen. Als sie bei »Valley U-STOR – rund um die Uhr geöffnet« angekommen war, hatte sie das Gefühl, ihr fielen bald die Finger ab. Erst die endlose Tipperei auf der Computertastatur und nun auch noch die Telefonnummern! »Valley U-STOR«, sagte eine männliche Stimme, angesichts der Uhrzeit beunruhigend munter. Cordelia bemühte sich, verführerisch zu klingen. »Guten Morgen«, hauchte sie. »Ich heiße Cordelia, und ich versuche, ein paar Sachen wiederzufinden, die in den frühen Sechzigern gelagert wurden. Gab es Ihre Firma damals schon?« »Also, so lange bin ich noch nicht auf der Welt«, antwortete der Mann. »Aber die Firma gibt es schon ewig. Seit dem Zweiten Weltkrieg, glaube ich.« »Und Sie sind der Chef?«, fragte Cordelia. »Ich? Nein, ich bin nur der Typ, der hier die Nachtschicht macht.« »Das ist aber eine wichtige Aufgabe! Wie heißen Sie denn?« »Ich bin Doug.« »Hallo Doug, Sie dürfen mich Cordy nennen.« »Hallo Cordy.« »Gehen denn die Firmenunterlagen so weit zurück?« 99
»Wir sind mittlerweile völlig computerisiert«, erklärte er und klang ein wenig stolz. »Wenn Sie 1950 hier etwas gelagert haben und wissen wollen, an welchem Datum genau Sie das Lager gemietet haben, könnte ich es Ihnen sagen.« »Das ist aber beeindruckend«, flötete Cordelia. »Ja. Der Besitzer, der ist ein ziemlich guter Typ. Echt clever. Er kümmert sich gern um seine Kunden.« »Das ist großartig«, sagte Cordelia. Sie hatte in der letzten Stunde schon diverse ähnliche Gespräche geführt und machte sich auch diesmal nicht viel Hoffnung, aber sie musste es versuchen. »Wenn ich Ihnen also einen Namen nenne, könnten Sie mir sagen, ob diese Person 1961 oder 1962 etwas bei Ihnen eingelagert hat?« »Das könnte ich, sicher. Aber der Boss würde das nicht wollen. Das fällt doch unter Datenschutz, oder?« Doug klang unsicher. »Nein, nicht wirklich«, versicherte ihm Cordelia. »Ich' will ja nicht wissen, was gelagert wurde, und ich will die Sachen auch gar nicht haben. Mich interessiert nur, ob in einem bestimmten Jahr etwas gelagert wurde. Ich weiß, das ist eine Entscheidung für die Geschäftsführung, aber ich finde, Sie klingen ganz wie ein Mann, der in der Lage ist, Entscheidungen zu treffen.« »Also, ich vermute, das geht in Ordnung.« »Oh, prima. Der Name ist Veronica Chatsworth. Wie ich sagte, weiß ich nicht, ob es 1961 oder 62 war, wahrscheinlich eher 1962.« »Chatsworth? Bleiben Sie kurz dran!« Cordelia hörte, wie er auf der Tastatur herumklapperte. »Der Computer sucht«, erklärte Doug. »Und ich warte«, sagte sie neckend. »Treiben Sie Sport? Ihre Stimme klingt, als wären Sie muskulös!« »Ach, ich spiele ein bisschen Basketball, und ich gehe surfen.« »Hab ich's doch geahnt!« Sie lächelte. Er würde ihr alles sagen, was sie wissen wollte. »Da haben wir es!«, rief Doug plötzlich. »Chatsworth, Veronica. Lager angemietet am 18. Juni 1962. Die Rechnung geht nun an B. Morris in Silver Lake.« Barbara Morris, diese Lügnerin! »Danke, Doug«, sagte Cordelia. »Wie lange arbeiten Sie noch?« »Ich bin noch bis acht hier«, sagte er. »Ich hoffe, wir sehen uns bald!« »Ähm, cool«, entgegnete er. Cordelia verabschiedete sich und legte auf. 100
Gab es etwas Schrecklicheres als mitten in der Nacht ins Valley zu fahren?, fragte sich Cordelia. Außer tagsüber hinzufahren, fiel ihr nichts ein. Aber das spielte keine Rolle. Sie hatte nun eine konkrete Fährte und die musste sie verfolgen. Wenigstens kam sie so vom Computer und Telefon weg, und das war eine prima Sache. So leid sie das Telefonieren auch war, wählte sie noch einmal eine Nummer. Aber entweder war Angels Handy abgeschaltet oder der Akku war leer. Da lebte er nun schon zweihundertfünfzig Jahre auf dieser Erde und kam immer noch nicht mit einem einfachen technischen Gerät klar! Cordelia verließ kopfschüttelnd die Wohnung und ging zu ihrem Wagen.
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Mike Slade kam mit quietschenden Reifen vor Barbaras Haus in Silver Lake zum Stehen und kletterte aus seinem Fury. In der Stadt wurde es für ihn zu heiß. Er brauchte einen Ort, an dem er untertauchen konnte, bis er sich eine neue Methode ausgedacht hatte, wie er Wechsler zwischen die Finger kriegen konnte. Der Kerl war von einer ganzen Armee Cops umgeben und stand sich gut mit dem Bürgermeister – da genügte das Wort eines seit langem toten Privatdetektivs nicht, um ihn einzubuchten. Slade brauchte einen zwingenden Beweis dafür, dass der Typ ein mieser Verbrecher war. Mit Barbara besaß er eine Insiderin bei der Polizei. Zu seiner Zeit hatten die Cops noch die natürlichen Feinde der Privatdetektive dargestellt. Die Ordnungshüter von Los Angeles waren weit und breit dafür bekannt gewesen, völlig korrupt zu sein. Sie waren brutal, arbeiteten mit erpresserischen Methoden und kooperierten mit Mafia-Gangstern wie Mickey Cohen. Sie hassten die Privatdetektive, da diese nicht wichtig genug waren, um von der Mafia geschmiert zu werden, und ihre Interessen jederzeit kollidieren konnten. Andererseits – falls die Cops einmal ihre Arbeit erfolgreich verrichteten, gab es einen Fall weniger, der bei einem Privatdetektiv landete. Daher freundete sich jeder Schnüffler, den Slade kannte, mit ein, zwei Cops an, um sie von Zeit zu Zeit auszuhorchen. Aber im Allgemeinen mieden Privatdetektive die Bullen wie die Pest. Slade beschlich das Gefühl, dass sich die Verhältnisse beträchtlich geändert hatten. Zum Beispiel gab es mittlerweile Frauen bei der Polizei. Und er konnte sich nicht vorstellen, dass die Tochter von Veronica krumme Dinge drehte, auch wenn ihr Vater Cop gewesen war. Er musste ihr einfach vertrauen. Abgesehen davon hatte er sonst niemanden. Alle Leute, die er je gekannt hatte, schienen tot zu sein. Seine einzige Verbindung zu den alten Zeiten waren Barbara Morris, die er unter seine Fittiche nehmen, und Hal Wechsler, den er lieber heute als morgen tot sehen wollte. Es war schon spät, und es tat ihm Leid, Barbara zu wecken, aber trotzdem klopfte er an ihre Tür. 102
Nach einigen Minuten öffnete die junge Frau. Wieder hielt sie die Dienstwaffe in der Hand. Ihr braunes Haar war zerzaust, und sie hatte ganz kleine Augen. »Oh, Sie sind es! Der freundliche Geisterdetektiv!« »Darf ich reinkommen, Barbara?« »Wenn ich nein sage, verwandeln Sie sich wahrscheinlich in Nebel und schweben einfach durch die Tür, oder?« Sie klang völlig verschlafen. »Tja, ob ich so etwas kann?«, entgegnete er. »Ich glaube nicht, dass ich so ein Geist bin ... also, ich weiß gar nicht, wie ich es nennen soll.« Plötzlich erinnerte er sich an den Dämon, dem er auf dem Berg hinter Wechslers Haus begegnet war – vielleicht hatte jemand wie er den Trick mit dem Nebel drauf. Er kniff sich in den Arm. »Fühlt sich ziemlich fest an.« »Kommen Sie rein«, sagte sie. »Erwarten Sie nur keine Amüsierlaune von mir. Oder einen wachen Verstand.« Er folgte ihr und schloss die Tür hinter sich. »Tut mir Leid, dass ich Sie geweckt habe«, sagte er. »Das haben Sie nicht«, versicherte sie ihm. »Ich habe eine Schlaftablette eingenommen. Es sieht nur so aus, als stünde ich hier. In Wirklichkeit schlafe ich tief und fest in meinem Bett.« »Eine Schlaftablette? Was ist denn los?« »Ich stehe im Moment unter einem enormen Druck«, erklärte sie. »Gute Noten in der Academy schaffen und trotzdem alle Rechnungen bezahlen und überhaupt... Manchmal schlafe ich eben nicht so gut. Aber weil ich am nächsten Tag funktionieren muss, brauche ich ein wenig chemische Unterstützung.« »Bekommen Sie die Tabletten vom Arzt verschrieben?« »Nein, Mike, sie sind frei käuflich. Ohne Rezept. Aber offenbar schädigen sie das Gehirn, denn sonst würde ich Ihnen das alles gar nicht erzählen.« Mike schüttelte den Kopf. Erstaunliche neue Welt! Er merkte, dass er sich um Barbara sorgte. In ihrer Gegenwart war er irgendwie ein anderer Mensch. Früher wäre er viel ruppiger mit ihr umgegangen, viel respektloser. Auf seltsame Weise hegte er väterliche Gefühle für sie. Wahrscheinlich, weil er ihre Mutter so gut gekannt hatte. Weil er ihre Mutter geliebt hatte. Rasch wollte er diesen Gedanken, der sich ungebeten in sein Bewusstsein geschlichen hatte, verdrängen. Aber es war zu spät. Wie in dem Fall, wenn man gesagt bekam, man solle versuchen, nicht an einen grünen Elefanten zu denken, konnte er plötzlich nur noch daran denken. 103
Denn es war die Wahrheit. Anfangs war Veronica nur irgendein Teenager gewesen, einfach nur seine Angestellte. Jung, aber clever und tüchtig, und so hatte sie seine geschäftlichen Angelegenheiten im Nu geregelt. Und sie war ganz schön scharf gewesen. Slade erinnerte sich noch gut, wie sie sich in ihrem engen Pullover und dem ebenso engen Rock über die unterste Aktenschublade gebückt hatte, um etwas wegzuräumen. Bald begannen sie, die Mittagspause gemeinsam zu verbringen und bei der Arbeit miteinander zu reden. Er hatte sich sehr beeindruckt von ihren Gedanken, Hoffnungen und Träumen gezeigt. Aus den Mittagessen wurden Dinner und daraus Verabredungen – Kino, Nachtclubs, Drinks. Bevor er sich versah, hatte sich Slade hoffnungslos in seine Sekretärin verknallt. Sie hatte seine Gefühle erwidert. Unzählige, wunderbare Nächte hatte er in diesem Haus verbracht, das Bett mit ihr geteilt und war morgens mit ihr in seinen Armen aufgewacht – warm, weich und behaglich. Barbara war nicht das Ergebnis dieser Beziehung gewesen, die durch Slades Ermordung ein so jähes Ende gefunden hatte. Aber sie hätte es fast sein können. Sie war Veronica in einigem sehr ähnlich. Da Slade ihren Vater nie kennen gelernt hatte, erkannte er in ihr nur die Frau wieder, die er geliebt hatte. Er hatte nicht erlebt, wie die Jahre vergangen waren, und so schien es ihm, als sei seit damals überhaupt keine Zeit verstrichen. Die Welt war gleichsam mit einem Blitzschlag älter geworden. Sein Blick folgte Barbara wie der eines Vaters, der seine geliebte Tochter betrachtet. Es war ein merkwürdiges Gefühl und traf ihn sehr unerwartet. Aber es war gar nicht Barbara taxierte den kräftigen Mann, der in ihrem Wohnzimmer saß. Es war schwer zu glauben, dass er tot war, nur eine Fleisch gewordene Erinnerung war, denn er hatte Gewicht, produzierte Geräusche und verströmte seinen eigenen Geruch. Bestimmt schmeckte er nach Salz und Moschus wie jeder andere lebendige Mann. Sie hatte nie an übernatürliche Phänomene geglaubt. Geister, Vampire, Werwölfe – das waren doch nur Hirngespinste! Figuren aus Filmen, an denen sie kein Interesse hatte. Sie war nie ein Fan von Gruselromanen oder Horrorfilmen gewesen. Die Wirklichkeit war doch schon gruselig genug! Sie bevorzugte Selbsthilfebücher und Biographien von bedeutenden Menschen, und wenn sie sich einen Film im Kino ansah, handelte es sich in der Regel um einen historischen Film oder eine melodramatische Romanze oder beides in einem. Sie wusste nicht, wie sie auf Mike Slades unmögliches Erscheinen in ihrem Leben reagieren sollte. Eigentlich hätte sie sich furchten müssen, 104
aber das tat sie nicht. Er war kein furchterregender Mensch. Sie erkannte sehr wohl, dass er furchterregend sein konnte, wenn er wollte, aber ihr gegenüber gab er sich immer sehr freundlich und besorgt. Er machte ihr keine Angst. Wäre er lebendig gewesen, hätte er sie nicht geängstigt, und die Tatsache, dass er es nicht war, änderte daran nichts. Er war für sie eher eine Mischung aus verschiedenen Eigenschaften: braunes Haar, blaue Augen, breitschultrig, tot. Viel kurioser und interessanter fand Barbara die Tatsache, dass er ihrer Mutter wichtig gewesen war. Sie hatte Fotos von ihm aufbewahrt, sogar noch nach der Heirat, und sie hatte liebevoll von ihm geredet, obwohl er schon lange tot gewesen war, als Barbara geboren wurde. Das sprach Bände. Ihre Mutter musste ihn wirklich geliebt haben. Barbara stellte sich vor, wie ihre Mutter sich in Slades starke Arme schmiegte, um Geborgenheit und Sicherheit zu finden. Sie fragte sich, ob ihre Mutter länger gelebt hätte, wenn dieser Mann nicht gestorben wäre. Hätte er gestattet, dass der Krebs von ihr Besitz ergriff? Oder hätte er sich gewappnet und wäre sogar gegen die Krankheit in den Kampf gezogen? Wäre Veronica jedoch nicht Vic Morris über den Weg gelaufen, gäbe es Barbara nicht. Sie hatte ihren Vater geliebt und war froh, dass er und ihre Mutter sich ineinander verliebt hatten und sie das Resultat dieser Beziehung war. Aber Mike Slade hatte so etwas an sich ... Barbara beschlich das Gefühl, ihr Vater sei vielleicht ein Schatten von Slade gewesen, eine Art kleinere Ausgabe dieses Mannes, und ihre Mutter habe sich deshalb in ihn verliebt. Er und Slade ähnelten sich ein wenig – beide waren groß und dunkel und stark. Barbara erinnerte sich an ihren Vater als kräftig gebauten Mann, der ein offenes Wort schätzte und gern lachte. Das schien auch auf Slade zuzutreffen. Die feinen Linien um seinen Mund deuteten darauf hin. Sie wurden tiefer, wenn er einmal sein seltenes Lächeln zeigte. In diesem Augenblick wirkte er jedoch sehr müde. »Ist etwas passiert?«, fragte sie ihn. Er blinzelte einige Male geistesabwesend und sah sie an. »Man hat auf mich geschossen«, sagte er. »Ich sollte es Ihnen gar nicht erzählen – denn dann müssen Sie mich wahrscheinlich ihren Kollegen auf der Wache ausliefern.« »Wenn ich das tun wollte, hätte ich es schon lange getan, oder?« Sie klang verletzt. »Wahrscheinlich. Kann ich Ihnen vertrauen, Barbara?« »Sieht ganz so aus«, entgegnete sie. »Ich weiß auch nicht warum, aber so ist es nun mal.« Er nickte. »Ich war hinter Wechsler her.« 105
»Was?« »Ich konnte nicht zu ihm ins Büro gelangen. Also habe ich herausgefunden, wo er wohnt, und bin hingefahren. Aber ich wurde bereits erwartet. Überall waren Cops, und sie haben mich erwischt... Nun, im Grunde nicht die Cops ...« Er verstummte, denn er wollte Barbara nicht erzählen, dass es sich bei dem Angreifer ganz sicher um einen Dämon gehandelt hatte. Es war schon schlimm genug für sie, mit seiner Anwesenheit klarzukommen. Schließlich fuhr er fort: »Der Mann, der mich erwischt hat, sah nicht wie ein Cop aus. Trotzdem war er da draußen hinter Wechslers Haus. Er griff mich an, und ich habe auf ihn geschossen. Das haben die anderen, also die richtigen Cops, gehört, und sie verfolgten mich mit Scheinwerfern und Knarren. Ich musste schnell von dort verschwinden.« »Dann weiß Wechsler jetzt, dass jemand hinter ihm her ist.« »Scheint so.« »Weiß er auch warum?« »Sie meinen, ob er weiß, dass ich es bin? Keine Ahnung. Aber ich kann es mir nicht vorstellen. Allerdings weiß er. dass irgendjemand hinter ihm her ist.« »Was wollen Sie jetzt tun?«, fragte Barbara. Slade rieb sich mit den Daumen die Schläfen, als habe er Kopfschmerzen. Barbara fragte sich, ob Tote überhaupt Schmerz empfinden konnten. »Ich weiß es nicht«, sagte Slade. »Deshalb bin ich hier. Ich brauche einen Ort zum Nachdenken. Ich muss mir einen Plan zurechtlegen, wie ich weiter vorgehe, statt mich einfach nur ins Geschehen zu stürzen und über meine großen Füße zu stolpern, wie ich es sonst tue.« »Brauchen Sie vielleicht ein bisschen Schlaf?«, fragte Barbara und unterdrückte ein Gähnen. »Denn offen gesagt brauche ich den jetzt auf jeden Fall.« »Ich weiß nicht. Ich fühle mich irgendwie müde. Aber ob ich schlafen kann? Und wenn ich es kann, werde ich dann auch wieder wach?« »Wollen Sie es riskieren?« Er dachte einen Augenblick darüber nach. »Unter einer Bedingung.« »Und die wäre?« »Falls ich nicht wach werde – wenn Sie hier raus kommen, und ich bin nur eine schimmelige alte Leiche oder einfach verschwunden –, machen Sie Jagd auf Wechsler!« »Ich werde ihn aber nicht umbringen.«
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»So meine ich das auch nicht. Auf Ihre Art. Legal und korrekt. Sie wissen, was er getan hat. Beweisen Sie es und bringen Sie ihn in den Knast!« »Ich werde es versuchen. Das verspreche ich.« Barbara war von ihren eigenen Worten überrascht. Aber sie meinte es ehrlich. »Dann mache ich jetzt wirklich ein kleines Nickerchen. Ist es in Ordnung, wenn ich mich auf die Couch lege?« Er zog sein Jackett aus und faltete es zu einem Kissen zusammen. »Sicher, machen Sie nur! Ich bin in meinem Zimmer, falls Sie etwas brauchen.« Barbara gähnte wieder, ging ins Schlafzimmer und schloss leise die Tür. Eigentlich war es ziemlich verrückt, sich schlafen zu legen, wenn ein Fremder im Nebenzimmer war, und dass er behauptete, von den Toten auferstanden zu sein, machte die Sache auch nicht besser. Aber sie fühlte sich sicher, solange er dort vor ihrer Tür lag, als sei er eine Art Schutzengel, der über sie wachte. Außerdem konnte sie sich ohnehin nicht länger wach halten. Denn die Schlaftablette tat ihre Wirkung. Barbara schlüpfte unter die Decke und schloss die Augen. Fast augenblicklich spürte sie, wie der Schlaf sie in seine Arme schloss. Aber ihr Kopf war noch nicht willens, sich ihm hinzugeben. Etwas nagte an ihr – etwas, das sie Slade hatte sagen wollen ... Dann schlief sie ein. Sie fing an zu träumen. In ihrem Traum gab es ein Schloss mit hohen Türmen und einem Graben, der mit geifernden Krokodilen gefüllt war. Das Schloss wurde von hunderten von Rittern bewacht, die kunstvolle Rüstungen, schwere Schilde und lange Lanzen trugen. Vor dem Schloss stand ein einzelner Mann, der mit einem kurzen Schwert, dessen Klinge zerbrochen war, und mit einem Schild aus Holz bewaffnet war. Aber er besaß, wie sie auf den ersten Blick erkennen konnte, Mut, Weisheit und Leidenschaft. Er wollte sich den Kreaturen im Graben stellen und gegen die Überzahl Soldaten kämpfen, obwohl sie die besseren Waffen hatten. Und dann verschaffte er sich Zugang zum Schloss und vertrieb den bösen König von seinem Thron. Wenigstens glaubte Barbara das in ihrem Traum. Dann tauchte ein neues Bild auf, und das Schloss auf der großen Wiese verschwand. An seine Stelle trat ein Stapel brauner Kartons, allesamt verschnürt und voller Staub und Spinnweben. Barbara schlug die Augen auf. Sie war plötzlich hellwach. 107
Sie hatte schreckliche Angst. Wenn sie nun ins Nebenzimmer ging und er nicht mehr da war, was dann? Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie die Tür öffnete. Als sie das leise Schnarchen eines schlafenden Mannes hörte, entspannte sich ein wenig. Slade lag auf der Couch. Seine Brust hob und senkte sich beim Atmen. Er sah höchst lebendig aus. Sie fasste ihn an der Schulter, und er schreckte aus dem Schlaf hoch. »Was ist?«, fragte er sofort. »Sorry«, sagte sie. »Ich wecke Sie nicht gern. Sie haben so tief geschlafen.« Er lächelte. »Aber ich bin immer noch da.« »Scheint so«, entgegnete sie. »Hören Sie, ich habe vergessen, Ihnen etwas zu sagen.« »Was?« »Ich war so verschlafen, dass ich gar nicht mehr wusste, ob ich es geträumt hatte oder ob es real gewesen war«, sagte sie. »Bevor Sie gekommen sind, rief mich jemand an. Eine junge Frau. Sie hat nach Mom gefragt und danach, ob Mom alte Akten von Ihnen aufbewahrt habe.« »Was haben Sie ihr gesagt?«, fragte er und setzte sich kerzengerade auf. »Ich habe ihr gesagt, ich wisse nichts von solchen Akten. Und dann habe ich aufgelegt. Es war mitten in der Nacht. Ich habe keine Ahnung, wer sie war.« »Oh, vielleicht wäre es hilfreich, wenn Veronica die Akten tatsächlich aufbewahrt hätte. Vielleicht würde sich etwas über Bettys Fall oder Wechsler darin finden, womit ich seine Schuld beweisen könnte.« »Mutter hat sie aufbewahrt«, entgegnete Barbara. »Ich habe gelogen.« »Sie hat die Akten aufbewahrt? Sind Sie sicher?« »Ich bezahle jeden Monat die Lagerrechnung, da will ich doch hoffen, dass die Akten noch existieren!« »Geben Sie mir die Adresse«, verlangte Slade. »Ich muss das überprüfen. Sofort!« Barbara suchte eine Rechnung heraus und schrieb die Adresse auf einen Zettel, den er eilig in die Jackentasche stopfte. Rasch ging er zur Tür. »Viel Glück«, rief sie ihm hinterher. Sie meinte es ehrlich.
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Angel hasste es, im Gefängnis zu sitzen. Aber daran hatte wohl niemand Vergnügen. Ganz gewiss nicht die anderen Leute, die mit ihm in der Zelle saßen. Sie waren allesamt kräftig, schmutzig und möglicherweise auch wahnsinnig. Der ganze Raum stank. Einige Gefangene klagten über die Kälte, andere verlangten etwas zu essen. Danach stand Angel nicht der Sinn. Falls in diesem Laden je etwas serviert werden würde, stand wohl nichts auf dem Speiseplan, was ihn ernsthaft interessieren konnte. Die Schmerzen in seiner Schulter ließen allmählich nach. Er hatte den diensthabenden Polizisten überzeugen können, dass es sich nur um eine Schürfwunde von der unsanften Landung auf dem Boden handelte. Da die Stelle bereits begonnen hatte zu heilen, als der Beamte sie sich ansah, glaubte er die Geschichte. Angel blieb mehrere Stunden in Gewahrsam. Als er in die Zelle geführt worden war, hatte er darum gebeten, Kate Lockley zu verständigen. Man hatte ihm versprochen, dies zu tun. Seither wartete er. Und wartete. Und wartete ... Irgendwann hatte einer seiner Zellengenossen die Idee, die Bank, auf der Angel saß, für sich zu beanspruchen. Er trat näher, beugte sich vor und kam Angel mit seinem zahnlosen Gesicht ganz nah. »Weg da!«, sagte er tonlos und rau. »Nein, danke«, entgegnete Angel ruhig. Der Mann legte ihm drohend seine riesige Pranke auf die Schulter. »Ich sagte: Schieb ab!« »Nein«, entgegnete Angel. »Sie sagten: ›Weg da!‹« »Du sollst verschwinden, hab ich gemeint!« Angel packte den Mann am Arm, legte die Finger um sein Handgelenk und drückte fest zu. Der Mann wurde blass und sein Mund klappte auf. Er versuchte, sich aus dem eisernen Griff zu befreien, aber es gelang ihm nicht. Angel ließ von ihm ab, bevor er die Knochen des Gelenks zermalmt hatte. 109
»Suchen Sie sich einen anderen Platz!«, sagte er. »Dieser hier ist schon besetzt.« Natürlich hätte Angel unter anderen Umständen jederzeit die Bank geräumt. Aber es sollte niemand annehmen, man könne ihn dazu zwingen. In einer solchen Situation durfte man auf gar keinen Fall Schwäche zeigen. Wenn er das tat, erklärten ihn die Verbrecher, von denen er umgeben war, sofort zu ihrer Beute. Angel selbst war einmal ein Raubtier gewesen, und zu erleben, wie die Kehrseite der Medaille aussah, reizte ihn nicht besonders. Doch der breitschultrige Mann hielt sich den Arm, der ihm fast gebrochen worden war, und trat den Rückzug in seine Ecke an. Und so wurde Angel auch von den anderen Zelleninsassen in Ruhe gelassen. Was exakt seinen Bedürfnissen entsprach. Er hatte nicht das geringste Interesse daran, sich mit diesen Männern anzufreunden. Nach drei Stunden, die ihm wie drei Jahre vorkamen, trat ein Wachmann an die Gittertür und winkte ihn heran. Angel durfte die Zelle verlassen und wurde vor seiner Freilassung noch an einen Schalter geführt, wo er ein paar Formulare unterschreiben musste. Wie man ihm sagte, würde keine Anklage gegen ihn erhoben werden, und er konnte gehen. Seine Sachen gab man ihm in einer Kiste wieder. Er öffnete sie, nahm seinen sorgsam gefalteten schwarzen Ledermantel heraus und zog ihn über. Den Inhalt seiner Taschen hatte man in einem versiegelten Umschlag aufbewahrt. Er riss ihn auf, räumte alles an seinen Platz, warf den Umschlag in den Müll und trat durch die schwere Eisentür hinaus in die Finsternis. »Ich hab' dir doch gesagt, du sollst vorsichtig sein!«, wurde er sogleich von Kate Lockley angeraunzt. Sie stand vor der Polizeiwache und wartete neben ihrem Auto. Ihr blondes Haar schimmerte im Licht der Straßenlaterne. Sie lächelte und zeigte ihre ebenmäßigen weißen Zähne. »War's schön da drin?« »Jetzt sehe ich Zoos mit ganz anderen Augen«, sagte Angel. »Das glaube ich!« Sie sah ihn merkwürdig an, und er wusste ihren Blick nicht recht zu deuten. »Also?«, fragte sie. »Was?« »Willst du es nicht sagen? Dass ich Recht hatte?« »Oh, du meinst das mit dem Vorsichtigsein? Ich war vorsichtig, allerdings nicht vorsichtig genug. Danke, dass du mich rausgeholt hast.« »Wer sagt denn, dass ich das war?« »Wer denn sonst?« 110
Sie schenkte ihm ein rasches Lächeln. »Okay, ich war's. Frag mich nicht warum! Ein Teil von mir – ein ziemlich großer – wünschte, dich eine ganze Zeit lang da drin eingesperrt zu sehen. Du missachtest das Gesetz manchmal mit atemberaubender Dreistigkeit.« »Warum hast du mich dann nicht drin gelassen?«, fragte er. »Ich weiß auch nicht«, entgegnete sie und wies mit dem Kopf auf ihr Auto. »Soll ich dich mitnehmen? Dein Wagen steht inzwischen wieder bei dir vor der Tür.« »Sehr freundlich, danke.« Kate schloss auf und rutschte hinters Steuer. Angel ging zur Beifahrerseite und stieg ebenfalls ein. »Ich habe über die Sache nachgedacht«, sagte Kate, als sie den Gang einlegte und losfuhr. »Wer immer dieser Kerl ist, er hat es definitiv auf Mister Wechsler abgesehen. Es würde mich interessieren, ob es einen Grund dafür gibt – und wie diese Geschichte in Verbindung mit dem Tod meines Kollegen steht.« »Mich auch«, pflichtete ihr Angel bei. »Eine Verbindung gibt es nämlich definitiv. Ich habe sie nur noch nicht herstellen können.« »Dann halt weiter die Augen auf!«, verlangte Kate. Sie klang fast, als erteile sie einem Untergebenen Befehle. Dann sah sie ihn von der Seite an. »Aber... sei diesmal vorsichtig. Noch vorsichtiger!« Angel grinste. »Verstanden.« Kate schwieg und konzentrierte sich aufs Fahren. Aber Angel vermutete, dass sie sich in Gedanken intensiv mit dem Fall beschäftigte. Es gab viele Faktoren, die zu bedenken waren. Besonders beunruhigend fand Angel die Tatsache, dass der Mann, der auf ihn geschossen hatte, ihn »Dämon« genannt hatte. Warum? Angel schätzte es nicht, so bezeichnet zu werden, aber viele Leute verwechselten Dämonen und Vampire. Allerdings hätten doch wohl die meisten Menschen, wenn ihnen seine wenig menschlichen Züge in der Dunkelheit aufgefallen wären, eher an einen Vampir und nicht an einen Dämon gedacht. Warum nicht auch Slade? Der Punkt war, dass Slade – falls er es wirklich gewesen war – Angels wahre Natur erkannt hatte. Und das bedeutete, der mysteriöse Privatdetektiv war definitiv kein normaler Mensch. Slade war etwas anderes. Davon musste man ausgehen. Es passte auf jeden Fall zur bisherigen Faktenlage. Ein vor langem gestorbener Privatdetektiv tauchte plötzlich wieder auf und machte Jagd auf einen städtischen Funktionär, der zu der Zeit gelebt hatte, als der Schnüffler getötet worden war. Die Möglichkeit, dass es sich nur um 111
einen Spinner handelte, der sich für Slade ausgab, erschien immer unwahrscheinlicher. Ein echter Geist jedoch verfügte unter Umständen über ein Zweites Gesicht und konnte so Angels wahre Natur erkennen. »Wechsler«, sagte Angel aus heiterem Himmel, weil der Name ihm unversehens durch den Kopf schoss. »Was ist mit ihm?«, fragte Kate. »Als Slade getötet wurde, im Jahre 1961,was hat Wechsler da gemacht? War er damals schon in der Politik oder Geschäftsmann oder was auch immer?« Kate überlegte eine Weile. »Ich weiß es nicht genau.« »Es könnte von Bedeutung sein«, meinte Angel. »Wenn Slade hinter ihm her ist, gibt es wohl auch einen Grund dafür. Und dieser Grund muss in den Sechzigern liegen.« »Slade ist tot.« »Das ist eine Tatsache«, stimmte ihr Angel zu. »Trotzdem läuft da draußen ein Kerl rum, der ihm gleicht. Will er Wechsler für etwas zur Strecke bringen, das damals geschehen ist?« »Ich habe wirklich keine Ahnung. Leider bin ich nicht alt genug, um zu wissen, was all die Leute damals so in Los Angeles gemacht haben. Aber es mag die Mühe wert sein, es zu recherchieren. »Allerdings.« »Glaubst du, Wechsler hat Dreck am Stecken?« »Er hat bestimmt eine schneeweiße Weste«, sagte Angel lächelnd. »Aber schließlich sind wir hier in Los Angeles, und unsere Stadtverwaltung hat ihren Ruf weg – und der ist nicht gerade der beste, nicht wahr?« »Das ist noch höflich ausgedrückt«, schnaubte Kate. »Wenn du anfängst, in der Stadtpolitik herumzustochern, dann zieh dir lieber hüfthohe Stiefel an! Die wirst du brauchen. Und noch etwas ...« »Ja?« »Du musst wirklich übervorsichtig an die Sache herangehen. Unsere Stadt ist bekannt dafür, schon viele Reformer aufgefressen und wieder ausgespuckt zu haben.« Sie hielten vor Angels Büro an, wo sein Plymouth Belvedere GTX abgestellt war. »Der Schlüssel müsste in deinem Büro sein«, sagte Kate. Angel bedankte sich bei ihr und ging ins Haus. Alles war ganz still. Natürlich war Doyle nicht da, denn er bewachte das Grab von Betty McCoy. Aber Angel hatte erwartet, Cordelia im Büro vorzufinden. Es kam öfter vor, dass sie, wenn sie bis in die Nacht am Computer recherchierte, auf der Couch einschlief oder sich in Angels Bett legte, woraufhin er dann die Couch nahm. 112
Cordelia war jedoch nirgends zu sehen. Angel machte sich Sorgen. Möglicherweise hatte ihn Slade bei ihrer Begegnung gar nicht spontan als das erkannt, was er war. Vielleicht hatte er ganz einfach gewusst, wer Angel war, und war im Büro vorbeigekommen, um das zu Ende zu führen, was er in den Bergen hinter Wechslers Haus begonnen hatte! Ob er Cordy entführt hatte? Aber nirgendwo waren Spuren eines Kampfes zu erkennen. Die Tür war abgeschlossen gewesen. Der Schlüssel für den GTX hatte, wie von Kate angekündigt, auf Cordys Schreibtisch gelegen. Alles schien an seinem gewohnten Platz zu sein. Wenn Slade wirklich hergekommen war, dann ganz als Gentleman, und Cordelia war freiwillig mitgegangen. Natürlich konnte eine vorgehaltene Pistole Leute zu Dingen bewegen, die sie normalerweise nicht taten. Der Computer auf Cordelias Schreibtisch lief noch, aber auf dem Monitor war nur der bunte Bildschirmschoner zu sehen, den sie von irgendeiner Website runtergeladen hatte. Neben der Tastatur lag ein Notizblock. Ein abgerissener Zettel lag verkehrt herum auf dem Tisch. Angel drehte ihn um. Zwei Namen standen in Cordelias Handschrift darauf: Barbara Morris und Vic Morris. Keiner von beiden sagte ihm etwas. Dann entdeckte er, dass ein weiteres Blatt abgerissen worden sein müsste. Er verglich den Rand des Zettels, auf dem die Namen standen, mit dem kleinen Fetzen, der beim Abreißen am Block hängengeblieben war. Cordelia hatte zuerst die Namen notiert, dann das Blatt abgerissen und auf das nächste eine weitere Notiz gemacht. Diesen Zettel hatte sie offenbar abgerissen und mitgenommen. Angel versuchte es mit einem der ältesten Tricks der Welt. »Das funktioniert doch nie«, sagte er zu sich selbst und rieb vorsichtig mit einem Bleistift über das oberste Blatt auf dem Block. Tatsächlich tauchten ein Name und eine Adresse auf. »Na ja, vielleicht klappt es manchmal doch«, dachte Angel. »Valley U-STOR«, las er. Darunter stand die Adresse des Lagers in der Nähe des Ventura Boulevard in Sherman Oaks. Cordelia war offenbar in großer Eile gewesen und hatte beim Schreiben sehr fest aufgedrückt. Es bestand die minimale Chance, dass sie einfach nach Hause gefahren war, um ein wenig zu schlafen. Am besten, er rief kurz bei ihr an und checkte die Lage. Aber es erschien ihm nicht sehr wahrscheinlich, sie in ihrer Wohnung anzutreffen. 113
Wozu hätte sie die Adresse eines Lagerhauses mit nach Hause nehmen sollen? Das passte nicht zu Cordelia. Offenbar hatte sie die Information für so wichtig gehalten, dass sie mitten in der Nacht allein aufgebrochen war, um der Sache nachzugehen. Es war zu befürchten, dass es wohl noch ein Weilchen dauern würde, bis Angel endlich schlafen konnte. Eilig holte er den Schlüssel für den GTX vom Schreibtisch.
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Harold Wechsler wartete in seiner für drei Autos errichteten Garage darauf, dass Barry Fetzer den Dienstwagen brachte. Die Polizei würde diesem Wagen hoffentlich keine besondere Aufmerksamkeit schenken, da bereits den ganzen Abend über Autos angekommen und abgefahren waren. Obwohl jedes Fahrzeug bei der Einfahrt kontrolliert wurde, würde der Dienstwagen ungehindert passieren können, denn die Polizisten kannten Barry mittlerweile. Bei der Fahrt aus der Garage wollte Wechsler sich auf dem Rücksitz unter einer Decke verstecken. Es passte ihm gar nicht, ausgerechnet in dieser Nacht im eigenen Haus gefangen zu sein. Offenbar hatte dieser wahnsinnige Slade beschlossen, ihn zu Hause anzugreifen. Und das rief natürlich so ziemlich jeden Cop in der Stadt auf den Plan. Er musste das Haus verlassen! Niemals war es wichtiger für ihn gewesen, sich frei bewegen zu können als in dieser Nacht. In seiner bereits Jahrzehnte währenden kriminellen Karriere hatte er noch keinen einzigen Tag im Gefängnis verbracht. Er hatte einfach das Talent, nicht geschnappt zu werden. Und sobald es ihm möglich gewesen war, hatte er seinen Wohlstand und seine Macht in ganz legale Geschäftsbereiche verlagert. Im Gegensatz zu vielen anderen Verbrechern hatte er sich weder geweigert, Steuern zu zahlen, noch versucht, Gesetzeshüter und Richter zu bestechen. Für ihn war die Kriminalität nur ein Mittel zum Zweck gewesen – ein Weg, rasch zu Reichtum zu gelangen. Als er erst einmal ein kleines Vermögen angesammelt hatte, war es ihm auf wunderbare Weise gelungen, daraus mit völlig korrekten Methoden ein großes zu machen. Reichtum hatte sich schon immer besonders gut dort vermehrt, wo bereits gewisse Mittel vorhanden waren. Endlich ging das Garagenlicht an, und das Tor öffnete sich. Barry fuhr den großen Wagen herein. Wechsler trat hinter ein paar Kisten, um nicht von Cops entdeckt zu werden, die zufällig in die Garage blickten. Sobald Barry den Lincoln in der Garage abgestellt hatte, betätigte Wechsler erneut die Automatik, und das Tor schloss sich wieder. Als er 115
die hintere Wagentür öffnete und hineinkletterte, drehte sich Barry um und lächelte seinen Arbeitgeber an. »Da ist die Decke, Hal«, sagte er. »Ich sehe sie.« »Die große Nacht, endlich!« »Allerdings. Haben wir Probleme zu erwarten?« »Gar keine. Einer der Cops hat mich komisch angesehen, weil ich erst vor kurzem mit einem anderen Wagen weggefahren bin, aber dann hat er mich durchgewinkt.« »Gut. Fahr los!« Wechsler versteckte sich vor der Rückbank auf dem Boden – wie gut, dass der Lincoln so geräumig war! – und zog die dunkle Decke über sich. Die Scheiben waren getönt, sodass man schon sehr genau hinsehen musste, um etwas oder jemanden dahinter zu erkennen. Er spürte, wie der Wagen langsam aus der Garage und auf die breite Einfahrt rollte. Barry fuhr gemächlich an den Polizisten vorbei, die das Haus bewachten, und beschleunigte, sobald sie auf der Hauptstraße waren. Beim Abbiegen nach links wurde Wechsler ein wenig durchgeschüttelt, aber zu diesem Zeitpunkt waren sie bereits außer Sichtweite, und er konnte die Decke abwerfen und auf dem Rücksitz Platz nehmen. »Neuigkeiten von Laine oder Reyes? Haben sie Slade schon gefunden?« »Nein, noch nicht. Sie suchen nach ihm. Das ist eine große Stadt.« »Natürlich ist L.A. eine große Stadt, aber er ist ein toter Privatdetektiv. Er muss doch zu finden sein!« »Sie suchen ja, Hal!« »Hoffentlich schnappen sie ihn, bevor er mich noch einmal kriegt.« »Niemand wird Sie kriegen, Hal! Sie sind frei und in Sicherheit.« »Wollen wir es hoffen.« »Wir haben zu lange dafür gearbeitet. Sie vor allem.« »Wie lange ich dafür gearbeitet habe, weiß ich selbst!«, entgegnete Wechsler, lehnte sich in das bequeme Leder zurück und schloss die Augen. Er erinnerte sich an das Buch. Im Jahre 1956 war er von Kansas City nach Los Angeles gekommen, einer ganz und gar neuen Welt. Hier schien die Sonne jeden Tag von einem strahlend blauen Himmel herab. Die Wellen brandeten an den Strand, und ein paar junge Leute widmeten sich einem neuen Trend, der von Hawaii gekommen war: Sie begannen zu surfen. Andere Paradierten mit ihren Autos den Hollywood und Sunset Boulevard entlang. Alle 116
Jungs hatten kurzes Haar und trugen Blousons mit einem Schriftzug auf dem Rücken, und alle Mädchen waren blond, sportlich und hübsch. Hal Wechsler hatte sie alle gehasst. Er selbst war ein dunkler, kurzgewachsener, dürrer Typ gewesen. Surfen schien ihm ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, das eine Menge Gleichgewicht, Koordinationsvermögen und Kraft benötigte. Da er sich kein Auto leisten konnte, hatte er einem Jungen aus der Nachbarschaft das Fahrrad gestohlen. Er kam sich albern und jungenhaft darauf vor. Die Mädchen schenkten ihm keine Aufmerksamkeit. Er kaufte sich eine Lederjacke, kämmte sein Haar mit Pomade zurück und versuchte, sich mit zwielichtigen Ganoven anzufreunden. Aber auch sie wiesen ihn ab, weil er nicht stark genug war und nicht gut genug kämpfen konnte. Er wurde nicht einmal von den anderen Dämonen akzeptiert, die er kennen lernte. Seine Familie hatte immer versucht, sich dem Leben der Menschen anzupassen. Alle Mitglieder gingen tagsüber nach draußen und trugen ihre menschlichen Gesichter mit großem Stolz zur Schau. Sie hatten der eigenen Gattung den Rücken gekehrt. Sie benahmen sich wie Menschen und redeten wie sie, als fänden sie das edler als sich zu ihrem wahren Wesen zu bekennen. Hal war anderer Meinung und verzehrte sich danach, seinen inneren Dämon freizulassen und Chaos über die Welt der Menschen zu bringen – aber die wenigen Dämonen, mit denen er in Kontakt kam, glaubten ihm das nicht. Er war es nicht gewöhnt, seine dämonische Natur zu leben. Zwar hatte ersieh am Rande der kriminellen Gesellschaft von Kansas City bewegt, aber immer in menschlicher Tarnung. Nachdem er mit dem Zug aus dem mittleren Westen in L.A. eingetroffen war, mietete er ein Häuschen mit einem kleinen kiesbedeckten Hof an der Alvarado Street. Um die Miete bezahlen zu können, stahl er in Geschäften, klaute Portemonnees an Bushaltestellen und prügelte aus Schülern ihr Geld für das Mittagessen heraus. Er war allein in der Stadt des Sonnenscheins und der zweiten Chance. In der Stadt, wo die Menschen sich nach ihren eigenen Vorstellungen neu erfinden konnten. Er war wild entschlossen, sich neu zu erfinden. Wenn ihm das gelang, würden ihm die Leute Beachtung schenken. Sie würden es tun müssen. Er fing an, die Bücherantiquariate am Hollywood Boulevard zu durchstöbern und entfloh in andere Welten und andere Zeiten. Er las Heiniein, Asimov, Bradbury. Nach einer Weile ödeten ihn deren glorreiche Zukunftsphantasien an, und er wandte sich anderen Büchern zu – dunkleren, härteren: Fantasy von Robert E. Howard und Clark 117
Ashton Smith, Horrorromane von H.P. Lovecraft, Arthur Machen und August Derleth. Diese Bücher berichteten von seltsamer Magie und finsteren alten Göttern und faszinierten den jungen Hal Wechsler. Er fand sie glaubhafter als alles, was er zuvor gelesen hatte. Also suchte er nach anderen Geschäften ... und fand sie. Geschäfte, in denen die Bücher über Magie und dunkle Zauberei nicht unter Fiction eingeordnet wurden. Er klaute sie, wenn er musste, lieh sie aus, wenn er konnte, und kaufte sie, wenn es absolut notwendig war. Aber welche magischen Beschwörungen und Zaubersprüche er auch versuchte – nichts gelang ihm. Er vertiefte sich in Crowley, Bacon, Agrippa, Eliphas Levi und bemühte sich, ihren Anweisungen zu folgen. Wieder geschah nichts. Er konnte es nicht begreifen. Denn er war überzeugt, dass diese Leute keine Betrüger oder Scharlatane waren. Sie waren Magier. Mächtige Magier. Was sie vollbrachten, lag weit über dem, was die Gesellschaft zu glauben bereit war. Aber Hal Wechsler gelang immer noch nichts. Bis er das Buch fand. Es trug den Titel »Der Weg zur Macht«. Jules Lefler war der Autor, ein Frankokanadier, der die Lehren anderer Magier zusammengetragen hatte, die lange vor ihm in die kalte kanadische Einöde gekommen waren und dort neue Dinge erfahren hatten. Dinge, die niemand zuvor entdeckt hatte. Wechsler nahm das Buch mit nach Hause und las es vier Tage lang von Anfang bis Ende. Dabei legte er es nur kurz aus der Hand, um in die Küche zu gehen und etwas zu essen. Er konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken – über die Aussichten, die es verhieß. Über die dunklen Kräfte, die er mobilisieren konnte, wenn diese Versprechungen wahr wurden. Nach vier Tagen, in denen er wenig geschlafen und noch weniger gegessen hatte, machte er einen einfachen Versuch. Im Wohnzimmer seines kleinen Häuschens folgte er Schritt für Schritt den Anweisungen zu einer der Beschwörungsformeln. Er mischte ein paar Zutaten in einer Kupferschüssel, stellte im ganzen Raum Kerzen auf und sprach die erforderlichen Worte. Rauch stieg aus der Schüssel auf und nahm die Gestalt einer schönen Frau an. Sie hatte strahlende große Augen, in denen ganze Galaxien funkelten. Und sie verriet ihm ein Geheimnis. Also machte er sich daran, alles, was in dem Buch stand, zu erproben. Indem er das tat, erfuhr er von Welten, von denen er bisher nur hinter 118
vorgehaltener Hand gehört hatte. Niemals hätte er zu hoffen gewagt, dass sie wirklich existierten. Plötzlich machte er neue Bekanntschaften. Er bewegte sich in anderen Kreisen. Die Magie-Kundigen, die in der Stadt ansässig waren, öffneten ihm ihre Türen. Und während er Macht ansammelte, öffneten sich weitere Türen – die Türen zu den kriminellen Kreisen. Und der Außenseiter, der junge Mann ohne Freunde, der die Buchläden auf seinem gestohlenen Rad abgeklappert hatte, hatte begonnen, seinen ganzen Ehrgeiz auf eine einzige Sache zu konzentrieren ... Harold Wechsler fing auf dem bequemen Rücksitz des Lincoln an zu schnarchen. »Sie müssen Doug sein«, sagte Cordelia. Der junge Mann saß im Büro des Lagerhauses an seinem Schreibtisch, hatte die Füße hochgelegt und las in einer Zeitschrift für Truck-Fans. Seine Arme waren muskulös, die Brust männlich und die Schultern sehr breit. Er sah wirklich sportlich aus, fand Cordelia und spürte, wie sich der Cheerleader in ihr bemerkbar machte. Dieser Typ könnte gut irgendein Champion sein – und fristete sein Dasein in diesem Lagerhaus. Was für eine Verschwendung! Und sie musste ihn nun um ihren kleinen Finger wickeln ... Doug zuckte zusammen, schwang die Beine auf den Boden und knallte die Zeitschrift auf die Schreibtischplatte. Dann sah er Cordelia an. Ihr gelbes Top mit V-Ausschnitt und die schwarzen DKNY-Hosen mit Tunnelzug taten ihre Wirkung. Der junge Mann musste zweimal hinsehen und starrte sie mit halb geöffnetem Mund an. Wie Cordelia vermutete, kamen für gewöhnlich mitten in der Nacht keine Frauen in dieses Lagerhaus – besonders keine, die so gut aussahen wie sie! »Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn ich mich vorher noch extra zurechtgemacht hätte!«, dachte sie. Sie schenkte ihm ein breites Lächeln, das er verdattert erwiderte. Er hatte ein freundliches Gesicht und langes braunes Haar. Der Pony hing ihm in die Augen und alle paar Sekunden schüttelte er sich die Strähnen aus dem Gesicht. Er tat das einige Male, während er Cordelia anstarrte. Schließlich fiel ihm wieder ein, dass er so etwas wie Stimmbänder besaß. »Ja, ich bin Doug«, brachte er heraus. »Ich bin Cordelia. Wir haben miteinander telefoniert.« »J-ja, das stimmt«, stotterte er. »Ich habe doch gesagt, dass ich vielleicht vorbeikomme, oder nicht?«, fragte sie unschuldig. Das hatte sie natürlich nicht getan. 119
»Ähm, vielleicht. Kann schon sein.« »Ist doch okay, oder?«, fragte sie. »Sicher«, entgegnete er. »Wir haben über die Sachen von meiner Mom gesprochen. Veronica Chatsworth. Erinnern Sie sich?« Er blickte einen Moment verwirrt drein. »Oh, sie ist Ihre Mutter?« »War sie.« Cordelia ließ ihre Unterlippe leicht erzittern. »Sie ist gestorben. Tante Barbara zahlt nun die Lagerrechnung.« »Barbara«, wiederholte der junge Mann. »Barbara Morris.« »Das stimmt«, sagte Doug. Allmählich schien es ihm zu dämmern. »Ich erinnere mich.« »Wusste ich's doch!«, sagte Cordelia. Sie trat langsam an den Schreibtisch und setzte sich auf die Kante. »Aber es gibt ein kleines Problem.« Er richtete sich auf, als erfordere die Lösung dieses Problems einen sehr starken, männlichen Mann mit militärischer Haltung. »Was für ein Problem?«, fragte er. Cordelia sprach mit piepsiger und hilfloser Stimme, die sogar ihr selbst auf die Nerven ging. Erstaunlich, dass Jungs auf solche Tricks hereinfielen! »Tante Barbara kann offenbar den Schlüssel nicht finden. Sie ist irgendwie ... Sie wissen schon – blond. Wir haben das ganze Haus auf den Kopf gestellt, aber der Schlüssel ist nirgends aufgetaucht.« »Das ist kein Problem«, sagte Doug. »Sie braucht nur mit ihrem Ausweis hier vorbeizukommen. Dann lassen wir den Lagerraum aufbrechen, und sie kann ein neues Schloss dranmachen.« »Das ist ja großartig«, rief Cordelia enthusiastisch. »Außer, ähm ... dass es noch ein Problem gibt.« »Was denn noch?« »Na ja, sie ist in New York. Für einen Monat. Und jetzt braucht sie etwas aus dem Lager. Ich soll es ihr per Kurier schicken, sobald ich es habe. Deshalb habe ich ja auch nach ihrem Schlüssel gesucht.« »Nur die Person, deren Name im Mietvertrag steht, darf in das Lager«, sagte Doug ganz offiziell. »Ich weiß, Doug, natürlich! Und wenn es nicht ein absolut dringender Notfall wäre, würde ich nicht einmal fragen. Ich will ja nicht, dass Sie Schwierigkeiten mit ihrem Boss kriegen. Wie ich bereits am Telefon sagte: Das ist eine Entscheidung für die Geschäftsführung.« »Aber wenn Sie den Schlüssel nicht haben, kann ich wirklich nicht viel für Sie tun. Ich kann einen Schlüsseldienst rufen, aber der berechnet Ihnen um diese Uhrzeit ein Vermögen!« 120
»Ich kann ohnehin nicht so lange warten«, seufzte Cordelia. »Gibt es denn keine andere Möglichkeit?« »Also, wir könnten das Vorhängeschloss knacken. Wir haben einen Bolzenschneider. Aber dann müssten Sie es durch ein neues ersetzen.« »Sie haben doch hier bestimmt ein paar Ersatzschlösser«, fragte Cordelia hoffnungsvoll. Er zog eine Schublade auf. »Ja, hier sind ein paar«, sagte er und holte ein dickes Messingschloss heraus, in dem ein Schlüssel steckte. »Sie sind ein wahrer Held!«, sagte Cordelia. »Wissen Sie denn die Lagernummer?«, fragte Doug. »Nein, die hat mir Tante Barbara nicht gesagt, und Sie haben auch nicht danach gefragt, als wir miteinander telefoniert haben. Die können Sie doch nachsehen, oder?« »Sicher, kein Thema«, entgegnete er und gab etwas in den Computer ein. »Vierzehn-zwölf«, sagte er nach einer Weile. »Können Sie mir nicht zeigen, wo das ist?«, bat Cordelia. Doug erhob sich vom Schreibtisch, ging zu einem mausgrauen Stahlspind und öffnete ihn. Er nahm einen großen Profi-Bolzenschneider mit roten Griffen heraus. »Den werden wir brauchen«, verkündete er. »Es ist doch in Ordnung, wenn Sie Ihren Schreibtisch für ein paar Minuten verlassen?«, fragte Cordelia mit vor Besorgnis triefender Stimme. »Ich möchte auf gar keinen Fall, dass Sie Schwierigkeiten bekommen.« »Ich darf nicht lange wegbleiben, aber ein paar Minuten sind schon in Ordnung«, sagte Doug. »Nachts kommt sowieso niemand hierher.« Er sah sie kurz an. »Na ja, kaum jemand.« »Ist wohl meine Glücksnacht heute«, sagte Cordelia. Deine Glücksnacht, dachte sie. »Ja«, pflichtete ihr Doug bei und führte sie aus dem Büro. Die Lagerräume waren in großen Gebäuden mit kahlen Fassaden untergebracht, zwischen denen Gassen hindurchführten, die gerade breit genug für zwei Autos waren. Nackte Glühbirnen hoch oben an den Mauern beleuchteten das Gelände. Doug ging mit Cordelia zu Gebäude Nummer vierzehn, dem dritten Lager hinter dem Büro. Lagerraum zwölf lag in der Mitte des Blocks und war mit einem Wellblechtor auf Rollen verschlossen, das wie eine Garageneinfahrt wirkte. »Ein Zahlenschloss«, sagte er, nachdem er sich das Schloss angesehen hatte. »Hat ja gar keinen Schlüssel!« »Na, kein Wunder, dass sie nicht wusste, wo der Schlüssel ist«, bemerkte Cordelia kichernd. »Wie ich sagte: blond.« 121
»Glauben Sie, Sie könnten Ihre Tante anrufen und die Kombination erfragen?« »Das ist unmöglich! In New York ist es doch schon drei Stunden später als bei uns. Sie würde ausflippen, wenn sie erfährt, dass die Sachen noch nicht zu ihr unterwegs sind.« »Okay«, sagte Doug, »war ja nur 'ne Frage.« Er packte den U-förmigen Bügel des Vorhängeschlosses mit dem Bolzenschneider. Wieder schüttelte er sich die Haare aus den Augen, sah Cordelia an und lächelte. Als er die große Zange zusammendrückte, ließ er seine starken Armmuskeln mehr spielen, als unbedingt erforderlich gewesen wäre, und Cordelia bewunderte wieder, wie gut er gebaut war. Das Schloss ging mit einem Knacken auf. »Schon passiert!«, sagte er. »Jetzt können Sie rein.« »Vielen Dank, Doug«, sagte Cordelia und fasste ihn an der Schulter. »Ich weiß nicht, was ich ohne Sie getan hätte.« »Kein Problem«, sagte er und reichte ihr das neue Schloss. »Machen Sie das dran, wenn Sie wieder rauskommen.« »Ja, das mache ich«, sagte Cordelia. »Ganz bestimmt mache ich das.« Plötzlich wurde sie nervös. Der Plan, den sie sich zurechtgelegt hatte, reichte genau bis zu diesem Punkt. Was sie in dem Lager erwartete, hatte sie sich nicht überlegt. Eine Leiche? Ein abgetrennter Schädel? Kisten mit staubigen alten Papieren, von denen sie Niesanfälle bekommen würde? Ungeziefer? »Ich gehe jetzt besser wieder ins Büro«, sagte Doug. »Okay«, meinte Cordelia und strich ihm mit dem Finger über den Arm. »Ich komme noch bei Ihnen vorbei, bevor ich gehe.« »Super!« Cordelia wartete noch einen Augenblick. Als Doug außer Sichtweite war, nahm sie das aufgebrochene Schloss von dem Riegel, holte tief Luft und schob das Rolltor hoch. Doug ging widerstrebend zum Büro zurück. »Was für eine scharfe Braut!«, dachte er. Gern wäre er noch bei ihr geblieben. Er hätte ihr helfen können, Kisten hin und her zu tragen, bis sie gefunden hatte, wonach sie suchte. Vielleicht hätte sie ihn auch noch einmal angefasst. Aber wenn das Telefon klingelte oder jemand auftauchte und er saß nicht an seinem Schreibtisch, dann bekäme er morgen etwas zu hören. »Rund um die Uhr heißt rund um die Uhr«, pflegte sein Boss immer zu sagen. Den Manfreds hatte das Lagerhaus schon gehört, seit es im Bauboom der Nachkriegsjahre errichtet worden war, und Owenn Manfred, der Enkel 122
des ersten Besitzers, nahm alles peinlich genau. Der Mann hatte in seinem ganzen Leben noch nichts anderes getan als das Familienunternehmen zu führen – und bestimmt auch noch nie an etwas anderes gedacht. So etwas war, wie Doug erkannt hatte, der Flexibilität nicht besonders zuträglich. Regeln waren für Owenn eben Regeln und dazu da, fraglos befolgt zu werden. Ausnahmen gab es nicht. Aber Doug hatte Ausnahmen gemacht, seit das Mädchen ins Büro gekommen war, und er wusste, er würde es jederzeit wieder tun. Er hatte nicht vor, ewig im Lagergeschäft zu bleiben. Eigentlich war er Sportler, und er verstand sich darauf, Kleintransporter aufzumotzen. Er würde es zu etwas bringen. Als er am Schreibtisch ankam, nahm er die Zeitschrift zur Hand, in der er gelesen hatte, und schlug den Artikel über die nachträgliche Montage von Seilwinden auf, den er schon zur Hälfte gelesen hatte. Er überlegte nämlich, eine derartige Winde auf seinen Frontier zu montieren. Doug sah den Mann nicht, der in der Ecke lauerte. Der Mann bewegte sich schnell und leise und zog einen schwarzen ledernen Totschläger aus der Tasche, während er sich von hinten an den jungen Mann heranschlich. Doug war so in seine Zeitschrift vertieft, dass er sich erst umdrehte, als der Stock bereits durch die Luft pfiff. Als er am Kopf getroffen wurde, stöhnte er laut auf und fiel vornüber auf seine Auto-Zeitschrift. Mike Slade prüfte den Puls des jungen Mannes an der Halsschlagader. Er würde sich schon wieder aufrappeln. Natürlich wachte er bestimmt mit Kopfschmerzen und einer hübschen Beule auf. Aber ihm würde nichts Ernstes fehlen, und er hatte auf jeden Fall eine Geschichte zu erzählen. Aber wer auch immer in Mike Slades Vergangenheit herumwühlte, sollte nicht so glimpflich davonkommen.
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»Ist wohl keine Überraschung«, dachte Cordelia, »dass ein Haufen Krempel, der vor Jahrzehnten eingelagert wurde, verstaubt und voller Spinnweben ist und so riecht wie der Spind des Mädchens, mit dem niemand reden wollte, weil seine Mutter es zwang, Schuhe mit dicken Sohlen und merkwürdige Sweater zu tragen, und das nie mit den anderen gemeinsam unter die Dusche ging.« Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als den Lagerraum so schnell wie möglich wieder verlassen zu können. Leider kam das nicht in Frage. Schließlich war sie mitten in der Nacht in das Lager gefahren, hatte Doug umgarnt, was eigentlich gar nicht so schwer gewesen war, und hatte sich Zugang zu dem Lagerraum verschafft, weil sie prüfen wollte, ob sich unter Mike Slades persönlichen Hinterlassenschaften eine heiße Spur finden ließ. Eigentlich, so dachte sie, würde es ja Spaß machen, wie Nancy Drew herumzuspionieren – wenn es am Ort der Ermittlungen nur besser riechen würde. Und die Arbeitszeiten könnten besser sein! Da sie nicht den Rest der Nacht in diesem Lager verbringen wollte, machte sie sich an die Arbeit. Das Lager war zwei Stockwerke hoch, und in die zweite Etage, die Ähnlichkeiten mit einer Galerie hatte, führte eine einfache Holztreppe. Unten waren, bedeckt mit Laken und Spinnweben, alle Möbel eingelagert, die wohl aus Slades Büro und Wohnung stammten. Es gab ein paar alte braune Holzschreibtische, einige Lampen, ein Doppelbett, dessen Matratze mit einer vergilbten, ausgefransten Schnur an das Gestell gebunden war. Aktenschränke, ebenfalls aus Holz, befanden sich an der hinteren Wand. In einer Ecke waren ein Sofa, zwei Sessel und ein nierenförmiger Kaffeetisch angeordnet – Möbel, die, vermutete Cordelia, in Slades Wohnzimmer gestanden haben konnten. Motten zerfressene weiße Laken bedeckten alles. Niemand hatte seit Jahrzehnten in diesen Sesseln gesessen! Die Lagergebühr wurde zwar regelmäßig von »Tante Barbara« bezahlt, aber es kam niemand hierher. Cordelia stieg einige Stufen auf der Treppe nach oben und warf einen Blick auf die zweite Etage. Hier schienen nur große Kartons gelagert zu sein, die in wackeligen Stapeln aufgereiht waren. Wahrscheinlich seine 124
persönlichen Sachen – Kleider, Geschirr und so weiter. Als Slade verschwand, hatte wohl niemand gewusst, ob er je noch einmal wiederkommen würde, und so war alles in Kisten gepackt und eingelagert worden. Hätte es eine Leiche gegeben, wäre der ganze Krempel bestimmt verramscht worden. Aber so war alles noch da, mehr oder weniger unberührt, wenn man einmal von den diversen Insekten absah, die sich überall zu schaffen machten. Cordelia beschloss, mit den Aktenschränken anzufangen. Im günstigsten Fall hatte Slade die Unterlagen hübsch in alphabetischer Reihenfolge abgelegt, und sie konnte einfach die Schublade mit M aufziehen, die Akte von Betty McCoy herausnehmen, und schon war sie fertig. Aber die Schränke waren leer. Cordelia zog jede einzelne Schublade auf. Nichts. Veronica Chatsworth – oder wer auch immer – war bei der Räumung des Büros sehr gründlich vorgegangen. Rasch sah Cordelia in den Schubladen der Schreibtische nach. Wieder nichts. Also mussten sich die Akten in den Kisten in der oberen Etage befinden. Rasch kletterte Cordelia hinauf. Oben war es, so schien es ihr, mindestens zehn Grad wärmer als unten. Außerdem eng und stickig. Es roch auch anders; nicht muffig, sondern nach trockenem und verstaubtem altem Karton. Die meisten Kisten hatten ungefähr die gleiche Größe und Form, vermutlich stammten sie von einer Umzugsfirma. Braune Pappkartons. Ohne Beschriftung. Cordelia griff in ihre Handtasche und holte den Autoschlüssel heraus. Sie hatte zwar kein Messer dabei, aber der Schlüssel war scharfkantig genug, um damit die alten, spröden Seile zu zerschneiden, mit denen die Kisten verschnürt waren. Sie fing auf der rechten Seite an, riss den ersten Karton auf und schlug die Deckelklappen zurück. Socken: weiße, schwarze, puderblaue, braune, ein Paar karierte, die nun wieder modern waren. Und Unterwäsche. Slade war ein Boxershorts-Typ. Nicht wirklich ein Hinweis, aber trotzdem speicherte Cordelia die Information ab. Sie verschloss den Deckel wieder, hob die Kiste vom Stapel und öffnete die nächste: Hemden. Und zwar solche, für die man in einem Second-Hand-Laden auf dem Melrose Place ein Vermögen bekommen würde. 125
Nicht, dass sie je auf die Idee käme, die Klamotten eines Toten zu verkaufen! Cordelia machte weiter. Im nächsten Karton war noch mehr Bekleidung. Viele braune Hosen, ordentlich zusammengefaltet. Es schien wirklich System hinter der Anordnung der Kartons zu stecken, und so beschloss Cordelia, nicht weiter in diesem Stapel zu suchen. Leider ließ sich nicht von außen beurteilen, was in den Kartons steckte – sie musste sie alle öffnen, um es herauszufinden. Für den Fall, dass der Bürokram am anderen Ende des Raumes gelagert wurde, separat von den Sachen aus Slades Wohnung, wählte Cordelia den von ihr am weitesten entfernten Stapel und machte sich daran, die oberste Kiste zu öffnen. Töpfe und Pfannen eines Junggesellen. Jemand hatte sie zwar vor dem Einpacken geschrubbt, aber sie waren rostig und die Kupferböden schwarz angelaufen. »Igitt!«, rief Cordelia und klappte schnell den Deckel zu Sie setzte die sehr schwere Kiste auf dem Boden ab und öffnete die nächste. Darin befand sich ein wahrhaftig abscheuliches Geschirr in Orange, Gelb und Weiß. Auch diese Kiste stellte Cordelia zur Seite. »Da Kleider, dort Geschirr«, dachte sie. »Gibt es hier überhaupt Büroakten?« Irgendwo mussten sie sein, denn einige der Möbelstücke in der unteren Etage stammten definitiv aus einem Büro. Und alle waren leer. Also befanden sich die Akten entweder hier oben oder... Oder sie waren irgendwo anders. In Veronicas Garage vielleicht? Sie konnten überall sein. Schließlich hatten sie fast vierzig Jahre Zeit gehabt, um sich auf der ganzen Welt auszubreiten. Oder um vernichtet zu werden. Cordelia wählte nach dem Zufallsprinzip einen anderen Stapel aus und öffnete die oberste Kiste. Zuerst stieß sie auf einen kleinen Karton voller Kugelschreiber und Bleistifte. Darunter lag feste braune Pappe. Aktendeckel. Cordelia stellte die Schachtel mit den Stiften zur Seite. Die Aktenmappen waren gebündelt und verschnürt mit demselben alten Seil wie die Kisten. Cordelia sah die Inhaltsetiketten durch. Darauf standen in sauberer, weiblicher Handschrift Familiennamen, die Cordelia allesamt nichts sagten. Offenbar hatte sie das Bündel mit den Namen von A bis D in der Hand. Vermutlich Klientenakten, aber da dieser Stoß sie nicht weiterbrachte, setzte sie ihn ungeöffnet ab und nahm das nächste Bündel. 126
Darin fand sie nur den Buchstaben I. Und damit war der Karton auch schon leer. Sie warf ihn zur Seite und stürzte sich auf den nächsten. Bingo! Das zweite Bündel in dieser Kiste enthielt die Namen mit M. Cordelia riss das Seil herunter. »McCoy, Betty« stand auf dem vierten Ordner von unten. Cordelia öffnete ihn. Er war leer. »Legen Sie das weg, Schwester!«, befahl plötzlich eine Männerstimme. Cordelia sah auf. Da stand er, oben an der Treppe! Sein Anzug war alt und zerknautscht, das Hemd fleckig und die Krawatte hing ihm lose um den Hals. Er trug einen breitkrempigen Filzhut und sah ganz so aus, als träfe man ihn kaum je ohne diese Kopfbedeckung. Er musste größer als einsachtzig sein, hatte ein energisches Kinn, einen kräftigen Nacken und breite Schultern. Seinen Mund hatte er zu einer dünnen, grimmigen Linie zusammengepresst. Seine Augen waren blassblau, ruhten unter schweren Lidern und waren von Falten umgeben. Bohrend starrte er sie an. In seiner Hand hielt er eine große Pistole. Cordelia legte den leeren Ordner zur Seite. »Sicher. Ich meine, da ist sowieso nichts drin. Er ist leer, also warum nicht? Ähm, Mister Slade, wie ich vermute?« Sie setzte ihr strahlendstes Lächeln auf. Das er nicht erwiderte. »Was machen Sie hier, Puppe?«, fragte er. »Ich suche nach ... Also, das sollten Sie doch selbst wissen! Sie sind ja schließlich Detektiv! Ich habe nach Hinweisen gesucht.« Er stieß ein Schnauben aus, das Cordelia als Lachen interpretierte. »Hinweise? Auf was?« Cordelia war schon Vampiren begegnet und Dämonen und Monstern, damals mit den Scoobs in Sunnydale, mit Angel und Doyle und auch allein. Aber dieser Kerl, der sie so durchdringend anstarrte, war etwas anderes. Er sah zwar menschlich aus und klang auch menschlich, aber sie hatte allen Grund zu glauben, dass es sich bei ihm eher um eine Art Geist oder Zombie handelte. Andererseits konnte er gut und gerne einfach ein Verrückter sein. Jemand, der in die Rolle des lange verstorbenen Privatdetektivs geschlüpft war. Was auch immer er war – mit der Pistole in der Hand machte er ihr Angst. »Hinweise auf Sie, denke ich. Wenn Sie tatsächlich Mike Slade sind. Wir haben nach Ihnen gesucht.« 127
»Sie haben mich gefunden«, entgegnete er. Er sprach in knappen abgehackten Worten. »Und jetzt?« »Ähm, tja, da haben Sie mich erwischt. So weit voraus habe ich nicht geplant, wenn Sie die Wahrheit wissen wollen. So bin ich eben: Ich lasse mich zu sehr von meinen spontanen Regungen leiten. Ich denke einfach nicht nach, bevor ich losrenne, Sie wissen schon!« »Und Sie reden zu viel. Zählt das auch zu Ihren Problemen?« »Das wird noch schlimmer, wenn ich nervös bin«, entgegnete sie und nickte. »Wenn ich Angst habe, fange ich einfach an zu ... nun, vermutlich würden Sie es plappern nennen. Ja, Plappern ist wohl das richtige Wort. Man könnte sogar sagen, ich plätschere wie ein Bach.« »Ich verstehe«, sagte Slade nur. »Und jetzt können Sie damit aufhören.« »Aufhören, einfach so? Glauben Sie, das kann ich?« Er vollführte eine Bewegung mit der Pistole, als wolle er sie erinnern, dass er die Waffe immer noch in der Hand hielt. Cordelia klappte den Mund zu und tat so, als verschließe sie ihn mit einem Reißverschluss – das allgemein verständliche Zeichen für »Ich halte jetzt die Klappe«. »Ihr seid also hinter mir her? Und Sie wollen mir wohl nicht verraten warum? Steckt ihr mit Wechsler unter einer Decke?« Cordelia zuckte mit den Schultern und sah ihn mit großen Augen an. »Was ist?«, fragte Slade verärgert. Cordelia zeigte auf ihren Mund. »Sie dürfen reden«, knurrte er, »aber bleiben Sie bei der Sache!« »Oh«, machte Cordelia. »Okay, Also gut. Ähm, ich habe keine Ahnung, wer Wechsler ist.« »Ehrlich?« »Ganz ehrlich! Ich meine, es ist möglich, dass Angel den Namen schon einmal erwähnt hat. Er kommt mir irgendwie bekannt vor, nun, da sie ihn nennen. Aber ich könnte nicht sagen woher. Klingt wie einer dieser Namen, die wie viele andere Namen klingen, wissen Sie? Wie Dexter zum Beispiel. Oder Hexler. Oder auch Shecky.« »Mir gefallen Sie besser, wenn Sie nicht reden«, bemerkte Slade. »Nun, Sie haben ja gefragt! Jedenfalls kann ich ja gar nicht mit ihm unter einer Decke stecken, da ich ihn nicht einmal kenne. Und jetzt ist mir der Name sogar schon wieder entfallen. Haben Sie Jeckle oder Heckle gesagt?« »Wechsler. Harold Wechsler.« »Nein, kenne ich nicht!« »Und wer ist dieser Angel, den Sie erwähnten?« 128
»Oh, er... er ist sozusagen mein Partner. Oder mein Boss. Eher mein Boss, glaube ich. Sie würden ihn mögen. Er ist auch Privatdetektiv, genau wie Sie. Falls Sie wirklich Slade sind, denn das haben Sie mir immer noch nicht verraten!« »Ich bin Slade.« »Na, dann hätten wir das ja auch geklärt. Und ich bin Cordelia. Cordelia Chase von Angel Investigations.« Sie streckte ihre Hand aus. Er sah sie an, bewegte sich aber keinen Zentimeter und zielte weiter mit der Pistole auf sie. Nach einem Augenblick ließ Cordelia verlegen die Hand wieder sinken. »Er ist also ein Schnüffler, hm?«, fragte Slade. »Warum steckt er seine Nase in meine Angelegenheiten? Für wen schnüffelt er denn?« »Wie Sie sicher wissen, müssen wir die Namen unserer Klienten streng vertraulich behandeln und ...« »Und wie Sie sicher wissen, ist das hier eine Pistole, und die feuert Kugeln ab. Besonders, wenn ich zum Narren gehalten werde oder man meine Fragen nicht beantwortet.« »Sehen Sie, wenn Angel mal so energisch wäre, hätte er bestimmt mehr Erfolg. Besonders beim Eintreiben der Honorare. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie für Klienten arbeiten, die nicht zahlen können oder wollen, Mister Slade.« »Nicht sehr lange«, entgegnete Slade. »Und auch nur einmal.« »Das habe ich mir gedacht.« »Aber Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet, Puppe. Für wen arbeitet dieser Angel?« »Das ist wirklich schwer zu erklären, wenn man die ganzen Hintergründe nicht kennt«, sagte Cordelia. Sie spürte, dass sie kurz davor war, einem weiteren Redeflash zum Opfer zu fallen. Die Pistole machte sie nervös und der Kerl, der sie hielt, versetzte sie in Angst und Schrecken. »Aber ich vermute, kurz gesagt, die Antwort lautet: für Betty McCoy.« Slade machte einen Schritt auf sie zu und hob die Hand, als wolle er sie schlagen. Er beherrschte sich, blickte sie aber finster und wütend an. »Seien Sie ehrlich!« »Das bin ich. Alles, was wir haben, ist ihr Name.« »Betty McCoy ist seit Jahrzehnten tot!« »Ja, das wissen wir bereits.« »Wie kann sie dann seine Klientin sein?« »Wie ich bereits sagte, das ist eine lange Geschichte.« »Mir geht allmählich die Geduld aus, Puppe«, drohte Slade. Seiner Stimme nach zu urteilen, hatte er sie bereits seit langem verloren. 129
»Cordelia heiße ich«, rief sie ihm in Erinnerung. »Und unser dritter Partner – Doyle ist sein Name – der bekommt Visionen. Von den Mächten der Ewigkeit. In der Regel bekommt er einen Namen oder eine Adresse genannt oder sieht ein Gesicht, eine bestimmte Situation. Er sieht jemanden, der Hilfe braucht. Und Angel versucht dann, diesem Menschen zu helfen. Aber in dieser Vision erhielt Doyle nur den Namen und die Adresse. Der Name war Betty McCoy, und die Adresse ist der Friedhof. Da haben wir uns natürlich schon gedacht, dass sie tot ist.« »Begnadete Detektive!« »Hey, tödlicher Sarkasmus ist hier wirklich nicht gefragt! Wir leben nämlich noch«, gab Cordelia zurück. »Na ja, wenn man von Angel einmal absieht.« »Angel ist tot?« »Sehen Sie, ich sagte doch, es ist eine lange Geschichte. Wenn ich sie nicht auf meine Art erzählen darf, sollten wir vielleicht zu einem anderen Zeitpunkt darauf zurückkommen.« »Ist ja auch egal«, bellte er. »Was für einen Ordner hatten Sie in der Hand, als ich hereinkam?« »Den mit M wie Betty McCoy«, antwortete Cordelia. »Und er ist leer?« »Total«, entgegnete sie. Sie hob ihn mit zwei Fingern hoch und ließ ihn aufklappen. »Sie haben doch schon lange genug da gestanden, um zu beobachten, wie ich ihn fand. Dann wissen Sie auch, dass ich nichts herausgenommen habe.« »Das stimmt. Haben Sie nicht«, pflichtete ihr Slade bei. »Wo sind also die Unterlagen Ihrer Meinung nach? Als ich diesen Aktendeckel zum letzten Mal sah, waren die Papiere nämlich noch drin.« »Und wann war das?« Slade schnippte mit den Fingern. »Das ist es! Wechsler! Nachdem er mich erschossen hat. Er muss die Akten haben!« »Dann sind Sie also tot?« »Natürlich bin ich das«, sagte Slade ungeduldig. »Was glauben Sie denn?« »Nun, ich nahm es an, aber ich war nicht sicher.« »Klingt ja, als verbrächten Sie eine Menge Zeit mit toten Kerlen.« »Da sagen Sie etwas! Vielleicht habe ich deshalb so viele Probleme mit meinem Privatleben.« »Wenn ich rauskriege, dass Sie doch für Wechsler arbeiten, Schwester, dann wird Ihr Privatleben noch Ihre kleinste Sorge sein!« »Wie mir scheint, hören Sie nicht besonders gut zu. Ich kenne Wechsler nicht. Es gibt niemanden mit diesem Namen, den ich kenne. 130
Keine Menschenseele.« »Aber Sie kennen Wechsler, nicht wahr, Slade?«, fragte plötzlich eine andere Stimme. Eine Stimme, die Cordelia bekannt vorkam. Angel! »Sie haben heute Nacht versucht, ihn zu töten«, versetzte Angel. »Und Sie haben auf mich geschossen!« Er war auf das Geländer der Galerie gesprungen, da er die knarrende Holztreppe hatte umgehen wollen. Slade wirbelte herum und richtete seine Knarre auf Angel, der ihm als Vampir entgegentrat. »Das werde ich auch noch mal tun, Dämon!«, sagte Slade. »Ich bin schon tot.« Slade wandte sich von Angel ab und richtete die Waffe auf Cordelia. »Das mag sein«, sagte er. »Aber sie ist es bestimmt nicht.« Cordelia blickte in den Lauf der gefährlichen Waffe. Darin war es so schwarz wie im Grab. »Ähm, Angel? Ich glaube, er meint das ernst.« »Das glaube ich auch«, zischte Angel. Und sprang. In diesem Augenblick feuerte Slade.
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Angel stürzte sich auf Cordelia und riss sie zu Boden. Sie hörte, wie über ihr die Kugel durch die Luft pfiff – auf der Höhe, wo ihr Kopf gewesen war, bevor Angel sie mit der Schulter gerammt und ihr ein paar Rippen gebrochen hatte. Mit den blauen Flecken, die sie bekommen würde, konnte sie sich knappe Tops für die nächsten Wochen abschminken! Angel landete auf ihr und sein Gesicht - mit der vorgewölbten Stirn, den hellen Augen und den langen spitzen Zähnen – war nur Zentimeter von ihrem entfernt. »Der hat auch schon mal besser ausgesehen«, dachte sie. »Bleib am Boden!«, zischte Angel ihr zu. Im nächsten Augenblick war sie bereits wieder von seinem Gewicht befreit, und er machte einen Riesensatz auf Slade zu. Ein weiterer Schuss hallte durch den Raum, und Cordelia hörte, wie beim Einschlag der Kugel die Dachsparren splitterten. Sie blieb am Boden. Angel stürzte sich auf Slade. Der Kerl mochte zwar tot sein – offenbar war er es tatsächlich – hatte sich aber bei ihrer ersten Begegnung als recht handfest erwiesen. Seine Kugel ebenfalls, auch wenn Angel sie nicht mehr in seinem Fleisch spürte. Er war Slade noch etwas schuldig. Mit Schwung rannte er in ihn hinein und trieb ihn rückwärts in einen Kistenstapel. Der Stapel brach zusammen, und Slade landete mit großem Getöse zwischen den Kartons. Er gab einen weiteren Schuss ab, der wieder ins Leere ging, und versuchte, sich hochzustemmen. Angel ließ ihn fast auf die Beine kommen, bevor er ihm aus der Drehung heraus einen Tritt verpasste. Sein Fuß landete im Solarplexus des Privatdetektivs. Der Mann klappte zusammen, und die Pistole flog ihm aus der Hand. Als Angel ihm mit dem anderen Fuß einen Tritt gegen das Kinn verpasste, ging der Privatdetektiv erneut zu Boden. Aber genauso schnell war er auch wieder auf den Beinen. Viele andere Männer – sterbliche Männer – hätte Angel mit seinen kräftigen Tritten 132
erledigt gehabt. An diesem Kerl jedoch schienen sie abzuprallen. Immer wieder kam er hoch. Dann war er also tatsächlich tot, wie Angel angenommen hatte. Das Problem war nur: Wie bekämpfte man ihn? Pfählen funktionierte bei ihm wahrscheinlich nicht. Deshalb beschloss Angel, so lange weiter auf ihn einzudreschen, bis er Erfolge verbuchen konnte. Aber er hatte nicht mit der Schnelligkeit des Privatdetektivs gerechnet. Er kam rasch auf die Beine und warf sich auf Angel. Er hämmerte mit den Fäusten in seinen Leib und landete einen vernichtenden Schlag nach dem anderen. Angel gelang es schließlich, Slade bei den Schultern zu packen und von sich wegzuschubsen, aber da hatte er bereits einiges einstecken müssen. Nun waren sie beide angeschlagen. Slade kam wieder auf ihn zu. Seine Fäuste wirbelten durch die Luft, und einmal traf er Angel direkt unter dem linken Auge. Angel sah einen roten Blitz und spürte, wie die Haut aufplatzte. Er schlug zurück und traf Slade mit einer Hand am Ohr. Der strauchelte, und Angel nutzte das aus, um gnadenlos auf in einzuprügeln. Slade fühlte sich zwar an, als sei er aus Fleisch und Blut, aber Angel hatte nicht das Gefühl, ihm wirklich Schaden zuzufügen. Slade schien der Angriff nicht viel auszumachen. Er ächzte zwar, und ihm schien ab und zu die Puste auszugehen, aber nicht lange. Nach kurzer Zeit meldete er sich stets wieder zurück. Angel konnte sich nicht erinnern, je einen so harten Kampf erlebt zu haben. Er gab alles. Er versuchte es mit Karate, Kung Fu und den guten alten Straßenkampftechniken – mit allen Tricks aus über zweihundert Jahren, in denen er sich rund um den Globus geprügelt hatte. An Slade ging all das spurlos vorüber, und er teilte weiter aus. Je mehr Treffer er landete, desto mehr befürchtete Angel, dass er nun doch jemandem begegnet war, den er nicht besiegen konnte. Und das war kein schönes Gefühl. Slade nahm seine Fäuste zusammen und holte aus. Angel bekam nicht schnell genug die Hände nach oben, um ihn abzublocken, und kassierte einen donnernden Schlag ans Kinn. Er ging zu Boden. »Läuft nicht gut für ihn, was?« Cordelia wirbelte herum. Eine Frau sah von der Treppe zu ihr hinüber. Sie war schlank und sportlich und hatte 133
glänzendes braunes Haar, das zu einem Pferdeschwanz gebunden war. Sie trug T-Shirt und Jeans und eine dunkelblaue Windjacke. »Machen Sie sich keine Sorgen um ihn«, entgegnete Cordelia. »Er kann ganz gut auf sich aufpassen.« »Mag sein«, sagte die Frau. »Allerdings sieht es von hier nicht danach aus.« »Hören Sie, ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie hier wollen, aber das ist eine Privatangelegenheit«, sagte Cordelia. »Sie sollten sich besser ihre Ansichten unter den Arm klemmen und nach jemandem suchen, der sich dafür interessiert.« »Ich habe dasselbe Recht, mich in diesem Lager aufzuhalten, wie jeder andere«, sagte die Frau. »Vor allem, wenn man bedenkt, dass ich diejenige bin, die für die Miete aufkommt!« Cordelia sah sie mit großen Augen an. »Oh, mein Gott«, rief sie. »Sie sind Tante Barbara?« »Was?«, fragte die Frau. »Egal«, entgegnete Cordelia rasch. »Sie sind Barbara Morris?« »Das ist richtig«, antwortete Barbara. »Woher kennen Sie meinen Namen? Wer sind Sie? Und wer ist das da?« »Immer eins nach dem anderen!«,bat Cordelia. »Ich rede zwar sehr schnell, aber alles auf einmal geht nun wirklich nicht. Und abgesehen davon beobachte ich den Kampf.« »Warum? Sehen Sie gern zu, wenn Ihrem Freund der Kopf abgerissen wird?« »Er ist nicht mein Freund«, entgegnete Cordelia. »Ich sehe auch warum«, sagte Barbara. »Scheint ja ganz gut gebaut zu sein, aber diese Verunstaltungen im Gesicht verderben alles.« »Zu Ihrer Information«, entgegnete Cordelia patzig, »er ist ein ... Ach, ist auch egal, was er ist. Warum interessiert Sie das überhaupt? Sind Sie mit dem anderen Kerl zusammen?« »Natürlich nicht!«, gab Barbara zurück. »Vom Alter her könnte er glatt mein Großvater sein!« »Sieht gar nicht so aus.« »Das ist, weil...« »Stimmt ja, er ist eine Leiche.« »Das wissen Sie?« »Halten Sie mich etwa für blöd, oder was?«, fragte Cordelia. »Das war übrigens eine rhetorische Frage, also denken Sie nicht mal dran, sie zu beantworten! Und jetzt fällt es mir auch wieder ein. Ihre Mutter hat für Slade gearbeitet, nicht wahr? War sie in ihn verknallt? Wissen Sie, ich glaube, die hatten was miteinander!« 134
»Kann schon sein, aber das war lange, bevor ich geboren wurde«, sagte Barbara. »Woher wissen Sie das alles?« »Ich habe ein wenig recherchiert«, antwortete Cordelia und beobachtete, wie Angel Slade mit ein paar Schwingern bearbeitete. Slade ächzte zwar, ging aber nicht zu Boden. »Über mich oder über ihn?«, fragte Barbara. »Und was ist mit diesem Typen los? Er sieht nicht aus wie ein Mensch, wenn Sie mich fragen. Diese Zähne ...« »Okay, er ist ein Vampir. In Ordnung?«, meinte Cordelia. Barbara sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Ach, tun Sie doch nicht so!«, ereiferte sich Cordelia. »Als hätten Sie nicht selbst mit einem toten Kerl zu tun.« »Das haben wir wohl gemeinsam«, sagte Barbara. »Tote Kerle.« »Ältere tote Kerle, wenn man es genau nimmt«, bemerkte Cordelia. »Aber Sie sind nicht mit ihm ...« Cordelia zog eine Grimasse. »Natürlich nicht! Ich meine, er ist schon ein scharfer Typ. Aber trotzdem nicht.« »Ich verstehe, was Sie meinen«, pflichtete Barbara ihr bei. Angel hob eine Kiste über seinen Kopf und schleuderte sie auf Slade. Da sie höchstens fünfzehn Kilo wog, konnte er kaum etwas mit ihr ausrichten, aber ihm gingen allmählich die Ideen aus. Slade trat ein paar Schritte zurück. Angel täuschte eine Rechte an, und als Slade seine Hände hochnahm, um ihn abzuwehren, versuchte es Angel mit einem linken Haken. Slade wich wieder zurück. Angel ließ eine Kombination folgen – links, links, rechts – und dann zwei rechte Haken in schneller Folge. Slade zog sich weiter zurück. Solange der Mann nicht ahnte, was Angel im Schilde führte, konnte er ihn vielleicht doch noch erledigen. Er griff weiter an und drängte Slade Schritt für Schritt zurück, Zentimeter um Zentimeter. Ohne Unterlass trommelte er mit den Fäusten auf ihn ein. Mit jedem Schlag kam er seinem Ziel näher. Schließlich hatte er es erreicht. Slade war nur noch Zentimeter von dem Geländer entfernt, mit dem die Galerie gesichert war. Es bestand aus fünf Zentimeter breiten Latten, die an etwas dickere Pfosten genagelt waren. Es sah nicht besonders stabil aus, und darauf zählte Angel. Obwohl absolut erschöpft, verdoppelte er seine Anstrengungen noch einmal und deckte Slade mit Schlägen ein. Der Privatdetektiv trat einen weiteren Schritt zurück und stand nun mit dem Rücken am Geländer. 135
Angel sprang in die Luft, hielt sich mit beiden Händen an einem Dachsparren fest und trat mit den Füßen aus. Slade brach durch das Geländer und stürzte in die Tiefe. Mit einem lauten Krachen schlug er am Boden auf. »Ich sagte ja, er kann auf sich aufpassen«, bemerkte Cordelia. »Wohl wahr. Vorher sah es allerdings so aus, als wäre er der Verlierer«, sagte Barbara leichthin. »Machen Sie sich denn keine Sorgen um Slade?« »Warum sollte ich? Er ist ja schon tot. Ihm kann doch gar nichts mehr passieren.« »Gutes Argument!« Wäre er ein Vampir, könnte man ihn pfählen, aber diesen Gedanken wollte Cordelia lieber nicht laut äußern, denn sonst gab sie Slade vielleicht einen heißen Tipp für den Kampf. Ob Angel im umgekehrten Fall etwas tun konnte, um Slade ein für alle Mal auszuschalten, wusste sie nämlich nicht. »Was ist eigentlich mit Slade los?«, fragte Cordelia. Sie hatte das Bedürfnis zu helfen, aber Angel konnte auf sich selbst aufpassen, und sie wäre ihm nur im Weg. Abgesehen davon musste sie, falls Barbara sich einschaltete ... Nun, dann würde sie sich etwas einfallen lassen. »Er wirkt so unkontrolliert in seiner Wut.« »Das hat wohl damit zu tun, dass er ermordet wurde«, sagte Barbara. »Ich kenne ihn noch nicht so lange, aber wie mir scheint, macht ihm diese alte Geschichte sehr zu schaffen.« »Das kann ich nachvollziehen.« »Er nimmt an, dass er nun zurückgekehrt ist, weil er den Fall beenden muss. Den Fall, an dem er arbeitete, als er getötet wurde.« Plötzlich ging Cordelia ein Licht auf. »Betty McCoy war seine Klientin?« »Richtig«, antwortete Barbara. »Jetzt verstehe ich«, sagte Cordelia. »Angel!«, rief sie. »Wir müssen reden.« . »Gleich!«, rief Angel. Ein völlig zerknautschter und verstaubter Mike Slade kletterte mit schweren Schritten die Treppe hinauf. Cordelia ließ nicht locker. »Nein, ich glaube sofort!« »Cordy...«, setzte Angel an. »Slade ist auf unserer Seite, Angel! Er arbeitet für Betty McCoy!« »Das stimmt«, bemerkte Slade. »Und was ist mit Betty?« »Okay, reden wir!«, sagte Angel. 136
Ein paar Minuten später saßen sie unten auf Sofa und Sesseln um den altmodischen nierenförmigen Kaffeetisch. Sie hatten die Laken von den Möbeln genommen und sie in eine Ecke geworfen. Mike Slade erzählte aufgeregt und lebhaft gestikulierend seine Geschichte. Schließlich hatte er zum ersten Mal seit vierzig Jahren – auch wenn die Zeit für ihn im Nu verstrichen war – eine richtige Zuhörerschaft. »Ich wurde von dieser Lady engagiert, von Betty McCoy«, erzählte er. In der Erinnerung sah er sie, wie sie ihre Augen mit einem Taschentuch abtupfte und ihr kesses kleines Naschen kraus zog. »Ein süßes junges Ding. Sie hatte kurzes dunkles Haar, eine Art Bubikopffrisur und einen sehr langen Hals, wie Audrey Hepburn. Und sie steckte in großen Schwierigkeiten, wie sie sagte. Sie saß da im Gästesessel in meinem Büro und weinte.« »Warum war sie gekommen?« »Sie sei ausgeraubt worden, erzählte sie mir anfangs«, antwortete Slade. »Hinterher stellte sich heraus, dass die Geschichte noch um einiges komplizierter war. Hal Wechsler sei der Täter gewesen, sagte sie. Ich fragte, warum sie das so genau wisse. Und da fing sie an zu weinen. Ich gab ihr ein Taschentuch und ein paar Minuten, um sich zu beruhigen, und fing noch mal von vorne an. ›Erzählen Sie es mir von Anfang an, meine Liebe‹, sagte ich. ›Und lassen Sie nichts aus. Nichts, was Sie sagen, kann mich überraschen. ‹ - Und damit lag ich ganz schön falsch!« »Wie meinen Sie das?«, fragte Cordelia. »Ich dachte, ich hätte schon alles gesehen«, erklärte Slade. »Aber die Geschichte, die sie mir erzählte, erschütterte mich bis ins Mark. Ich hatte offenbar in einer Traumwelt gelebt. Ich vermute, ihr Leute wisst alles darüber, aber ich hatte damals keine Ahnung. Allerdings erzählte sie mir zunächst wieder nur Bruchstücke des Ganzen, obwohl ich sie gebeten hatte, mir alles zu sagen. Wie sie berichtete, hatte sie Wechsler in dieser Bar kennen gelernt, wo sie als Zigarettenverkäuferin arbeitete.« »In der Rialto Lounge«, bemerkte Angel. »Das ist richtig«, sagte Slade überrascht. »Sie beherrschen das Detektivspiel recht gut, nicht wahr?« »Ich schlage mich ganz tapfer«, entgegnete Angel. »Sie arbeitete im Rialto, und er besuchte das Lokal häufig. Damals war Wechsler nur ein kleiner Fisch, aber er gab viel Kohle aus und spendierte hohe Trinkgelder. Er erzählte ihr, er sei ein Ganove auf dem Weg nach oben. Er hatte diesen schmierigen Charme, und sie war jung und offenbar dumm genug, um ihn interessant zu finden. Also fingen sie an, 137
samstags Nachmittag auf ein paar Drinks auszugehen, und bevor sie sichs versah, war er auch schon bei ihr eingezogen. Sie bezahlte die gesamte Miete und kaufte die Lebensmittel. Er war die ganze Zeit unterwegs und wickelte seine krummen Geschäfte ab. Wie er ihr versicherte, war er kurz davor, den großen Wurf zu landen, der sie beide auf die Sonnenseite des Lebens brächte. Details erfuhr sie nicht von ihm, selbst wenn er mehrere Tage unterwegs war. Sie fragte auch nicht danach. Und dann machte er sie drogenabhängig.« »Netter Freund«, bemerkte Cordelia. »Ja. Er sagte, sie sei zu verkrampft. Er redete ihr ein, mit dem Stoff könne sie sich gut entspannen und fühle sich besser. Wie immer wickelte er sie um den kleinen Finger und sie ließ sich darauf ein. Schon bald brauchte sie das Zeug, sobald sie morgens wach wurde, außerdem jeden Abend vor dem Zubettgehen und ein paar Mal während des Tags.« »Was für eine Droge war das?«, fragte Barbara. »Er nannte es Flux«, entgegnete Slade. »Unter einem anderen Namen kannte sie es nicht. Er hatte ihr erzählt, er habe das Mittel selbst erfunden. Sie stellte keine Fragen. Die Droge gab ihr ein so gutes Gefühl, dass sie nichts weiter wissen wollte. Sie war verträumt und friedlich. Und entspannt. Schließlich hat er sie ausgeraubt.« »Was hat er denn mitgenommen?«, fragte Angel. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie viel besaß.« »Zunächst war das wirklich merkwürdig«, sagte Slade. »Ihr gehörte eine Stereoanlage, ein Fernseher, und sie hatte ein bisschen Geld gespart. All das hat er nicht angerührt. Wechsler stahl Betty etwas, das ihr die Großmutter hinterlassen hatte – Bettys Mutter war sehr früh verstorben. Persönliche Dinge, wie sie sagte. Ich wollte es genau wissen. Schließlich erzählte sie mir, dabei handele es sich um einen kleinen Korb voller Dinge. In dem Korb befanden sich ein paar Kerzen, ein Weihrauchgefäß mit etwas Weihrauch, ein Dolch und eine Schriftrolle. Am wichtigsten war Betty die Schriftrolle. Denn sie war sehr alt und schön und hatte ihrer Großmutter viel bedeutet. Den Grund dafür wusste Betty allerdings nicht. Also habe ich angefangen, hinter Wechsler herzuspionieren. Habe in seiner Vergangenheit herumgestöbert und Leute gesucht, die ihn kannten. Sie wissen ja, wie das geht.« Angel nickte. »Aber alles, was ich herausfand, machte den Fall nur noch seltsamer«, fuhr Slade fort. »Die Leute, die Wechsler kannte, waren einfach nicht in Ordnung. Je tiefer ich grub, umso seltsamer wurde es. Ich fand heraus, dass Wechsler nicht einmal ein Mensch war – und Sie müssen verstehen, 138
dass ich das kaum glauben konnte. Aber ein paar von seinen Kumpanen haben mir eines Tages einen Besuch abgestattet. Als ich sah, dass sie Hörner und Hufe und Schwänze hatten, begann mir zu dämmern, worauf ich mich eingelassen hatte. Ich ging wieder zu Betty, und sie bat mich, das Ganze einfach zu vergessen und mit meinen Ermittlungen aufzuhören. Aber dafür war es schon zu spät. Schließlich gestand sie mir, dass auch sie ein Dämon sei wie Wechsler und viele andere ihrer Freunde. Ich verlangte einen Beweis dafür, aber den konnte sie nicht erbringen. Denn seit sie das Flux benutzte, war sie nicht mehr im Stande, ihre menschliche Tarnung abzulegen. Wie sich herausstellte, hatte Wechsler schon viele Dämonen von dem Zeug abhängig gemacht, und sie alle blieben in ihrer menschlichen Gestalt gefangen. Ihr dämonisches Wesen wurde schwächer und schwächer, und sie lebten wie richtige Menschen. Einige von ihnen wollten das ohnehin, aber die meisten hätten doch weiterhin gern die Möglichkeit zur Verwandlung gehabt. Sie brauchten immer häufiger ihre Dosis Flux und bald brachte es sie um. Sie starben.« Slade schluckte. Er hatte Betty in seinem Apartment wohnen lassen, damit sie eine Entziehungskur machen konnte. Veronica war gekommen, um ihr beizustehen. Sie verbrachten eine schreckliche Woche, in der Betty abwechselnd krank, wütend, traurig oder ängstlich war. Nach dieser Woche sah es jedoch so aus, als habe sie das Schlimmste überstanden. Am Ende dieser Horrorwoche wünschte sich Slade nichts sehnlicher, als Wechsler den Hals umzudrehen. »Betty wurde wieder clean«, sagte er. »Da ich das mit dem Dämonenkram bereits wusste, erzählte sie mir mehr von ihrer Großmutter. Die alte Dame schien eine mächtige Zauberin gewesen zu sein. Die Sachen in dem Korb, den sie Betty vermacht hatte, gehörten zu ihrer Ausrüstung. Auf der Schriftrolle war eine Art Ritual beschrieben. Ein sehr gefährliches, wie sie sagte. Betty hatte nicht genau gewusst, wozu es gut war, Wechsler hingegen schon, sonst wäre er nicht so scharf darauf gewesen, sie in seine Hände zu bekommen. Je mehr ich erfuhr, umso dringlicher erschien es mir, Wechsler zu stoppen. Er hatte die Droge in der ganzen Dämonengesellschaft verbreitet, die viel größer war als die Menschen für möglich gehalten hätten. Das Mittel hatte auf alle Dämonen dieselbe Wirkung – es unterdrückte ihre eigentliche Natur, sie waren gezwungen, als Menschen zu leben, und schließlich starben sie. Hunderte Dämonen waren abhängig. 139
Sie konnten nicht davon loskommen, denn durch das Zeug fühlten sie sich so gut, dass ihnen die negativen Auswirkungen egal waren.« »So ist es wohl mit den meisten Drogen, nicht wahr?«, bemerkte Cordelia. »Wenn die Leute begreifen würden, was das Zeug wirklich mit ihnen macht, würden sie erst gar nicht damit anfangen.« »Das ist wohl wahr«, entgegnete Slade. »Zuerst kannte ich die Droge ja nur aus Bettys Schilderungen, aber dann lernte ich viele andere Dämonen kennen. Dieses Flux war das reinste Gift, wenn Sie mich fragen. Wechsler hat reihenweise Leute damit umgebracht, ob sie nun ursprünglich Dämonen waren oder nicht.« »Und wie ging es weiter?«, fragte Cordelia. Slade holte tief Luft. »Dann hat Wechsler auch mich umgebracht.«
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»Wechsler ist derjenige, der Sie auf dem Gewissen hat?«, fragte Angel erstaunt. »Das ist richtig«, entgegnete Slade. »Er hatte sich mit zweien seiner Handlanger in meinem Büro versteckt und verpasste mir eine, als ich hereinkam. Ich hatte nicht einmal die Gelegenheit, meine Waffe zu ziehen. Bang, bang, bang! Einfach so erschossen. Dann haben sie mich in meinem eigenen Wandschrank eingemauert, während Wechsler eine Art Zauberbann sprach, um mich dort festzusetzen. Er wusste nicht, wie weit meine Kontakte zu den Dämonen reichten, und befürchtete wohl, dass ich für den Fall meines Todes Vorkehrungen getroffen hätte, um wiederbelebt zu werden. Um die Wahrheit zu sagen: Mir war das nicht einmal in den Sinn gekommen. Ich wusste doch gar nicht, dass diese Möglichkeit bestand. Aber als mein Büro abgerissen wurde, wurde ich wohl ganz automatisch wiederbelebt. Ich kann nur Vermutungen anstellen, aber ich denke, ich kam zurück ins Leben, weil ich Wechsler so unbedingt kriegen wollte. Nicht nur wegen Betty und auch nicht, weil er mich getötet hatte. Er hat einfach schon viel zu viel auf dem Gewissen. Und nun halten ihn die Leute für total okay, und er hat einen guten Job bei der Stadt. Er muss gestoppt werden.« »Sie wissen, dass Betty 1964 starb?«, fragte Angel sanft. Er wollte Slade keinen Kummer bereiten, aber der Mann hatte das Recht, es zu erfahren. »Das habe ich angenommen«, sagte Slade. Er wirkte entmutigt. »Es ist zu lange her. Ich hoffe, sie ist friedlich gegangen.« »Soweit wir wissen ja«, entgegnete Cordelia. Sie wollte Slade nicht erzählen, dass Betty wieder angefangen hatte, Drogen zu nehmen, denn das würde ihn nur schmerzen. »Allerdings hat ihre Seele, wie ich vermute, noch keine Ruhe gefunden. Sonst hätte unser Freund Doyle ja nicht diese Vision von ihr gehabt. Als Sie von dem Bann freikamen, hat Betty dies offenbar auf irgendeine Weise bemerkt. Denn sie wusste, dass Sie zurückkommen, um ihr Frieden zu schenken.« »Das versuche ich«, sagte Slade. »Seit ich wieder zurück bin, mache ich Jagd auf Wechsler.« Er sah Angel scharf an. »Wenn Sie nicht 141
aufgekreuzt wären, hätte ich ihn vielleicht schon erwischt.« »Es waren zu viele Polizisten dort«, widersprach Angel. »Ich wollte nicht, dass jemand von ihnen verletzt wird. Oder Sie selbst. Oder Wechsler. Allerdings mache ich mir nach allem, was ich jetzt erfahren habe, nicht mehr so große Sorgen um ihn.« »Kommen Sie mir nächstes Mal nicht wieder in die Quere, wenn ich ihn vor der Flinte habe!«, forderte Slade. »Wissen Sie, auch etwas anderes ergibt nun Sinn«, sagte Angel. »Kate Lockley – das ist eine Polizistin, die ich kenne – hat mir erzählt, dass am Tag des Leichenfunds jemand versuchte, in das Gebäude zu kommen. Dieser Jemand arbeitet offenbar für Wechsler.« »Der wollte vielleicht eine Bannformel sprechen, irgendwas, um mich weiter in Schach zu halten.« »Das denke ich auch«, pflichtete Angel Slade bei. »Wenn Wechsler weiß, dass ich zurück bin, ist er bestimmt mächtig beunruhigt«, sagte Slade. »Was glauben Sie? War er von jeher darauf aus, sich eine Position in der Politik zu verschaffen - mit Geld und Macht? Ist das sein Ziel?« »Klingt für mich einleuchtend«, warf Cordelia ein. »Ich weiß nicht«, meinte Slade. »Das kann noch nicht alles gewesen sein. Er hat Hunderte seiner eigenen Leute abhängig gemacht und getötet. Warum sollte er so etwas tun, wenn er nur auf Geld und Macht aus war? Da gibt es doch einfachere Methoden!« »Auf was war er dann aus?«, wunderte sich Angel. »Das habe ich leider nie herausgefunden. Vermutlich war ich dicht dran, sonst hätte er mich nicht umgebracht.« »Gutes Argument«, schaltete sich Barbara ein. »Sie müssen ihn sehr beunruhigt haben.« »Das denke ich auch«, entgegnete Slade. »Wenn wir nur wüssten, was auf der Schriftrolle von Bettys Großmutter stand«, sagte Angel. »Haben Sie die denn wiederbeschaffen können?« Slade erhob sich von seinem Sessel. »Die echte nicht«, sagte er. Er ging zu einem der leeren Aktenschränke, zog eine Schublade aus ihrem Fach und drehte sie um. Unter dem Boden war mit Klebeband ein zusammengefaltetes Stück Papier befestigt. Er riss es ab und brachte es an den Tisch. »Betty hat eine Kopie gemacht«, fuhr er fort. »Sie kannte zwar nicht den wahren Nutzen der Schriftrolle, aber dass sie wertvoll und sehr kunstvoll war, wusste sie. Sie wollte die Kopie an die Wand hängen und 142
das Original irgendwo an einem sicheren Ort unterbringen. Irgendwann ließ ich mir die Kopie von ihr geben. Hier ist sie!« Angel nahm das vergilbte Papier in die Hand und betrachtete es. »Melechianisch«, sagte er. »So sieht es wenigstens aus. Ich muss es genauer betrachten ...« »Hey! Sie da!« Doyle fuhr erschrocken herum. Das Licht einer Taschenlampe blendete ihn. Erwischt! »Was machen Sie hier?«, fragte der Mann, der die Taschenlampe in der Hand hielt. Doyle schirmte seine Augen mit den Händen vor dem grellen Licht ab. Ein Wächter, der Uniform trug, kam mit klimpernden Schlüsseln auf ihn zu. Um die zwanzig Kilo Übergewicht und um die zwanzig Jahre älter als er selbst, schätzte Doyle. Aber am Gürtel des Wächters befand sich ein Pistolenhalfter, und der Mann griff danach. »Hey, hören Sie«, sagte Doyle beschwichtigend. »Ich habe nur den teuren Verschiedenen meine Aufwartung gemacht.« »Der Friedhof ist jetzt geschlossen«, antwortete der Wächter. »Onkel Bob hat das Tageslicht nie besonders gemocht«, erklärte Doyle. »Er hat immer nachts gearbeitet und tagsüber geschlafen. Er hasste die Sonne. Es schien mir einfach nicht passend, ihn tagsüber zu besuchen. Da würde ich ihn ja wecken!« »Sie sind mutwillig außerhalb der Öffnungszeiten hier eingedrungen«, sagte der Wächter. »Wenn Sie ins Gefängnis wandern, müssen Sie sich über die Sonne eine Weile keine Gedanken machen. Ist es das, was Sie wollen?« Doyle wich mit erhobenen Händen zurück. Er bemühte sich, einen unschuldigen Eindruck zu erwecken. »Nein, nein, keineswegs! Ich persönlich, ich liebe die Sonne. Den Strand, wissen Sie, Kabrio fahren, all das. Das bin ich! Am liebsten wäre ich noch brauner als George Hamilton. Das Problem ist nur, ich werde nicht braun, ich bleibe immer blass. Aber ansonsten bin ich ein wahrer Sonnenanbeter. Nur Onkel John hasste die Sonne.« »Ich dachte, Onkel Bob«,bemerkte der Wächter und zog seinen Revolver. »Beide, Bob und John«, versuchte Doyle sich herauszureden. »Zwillinge. Sie haben beide in der Fabrik immer Nachtschicht gearbeitet. Witzig, finden Sie nicht?« 143
»Ich finde, Sie Spaßvogel sollten sich jetzt mal ganz zügig entscheiden. Ich habe Sie beobachtet und glaube, außer sich hier herumzutreiben haben Sie nichts angestellt. Deshalb können sie jetzt abhauen. Sie können aber auch da stehenbleiben und weiter rumblödeln und dann rufe ich die Cops und lasse sie wegen Vandalismus, Landstreicherei und unbefugtem Betreten verhaften und wegen einer Menge anderer Delikte, die ich mir noch ausdenke, während wir auf die Polizei warten.« Doyle musste nicht zweimal überlegen. Wenn er im Knast landete, half das Angel bei seinen Nachforschungen über Betty McCoy nur wenig. Er wollte seinen Posten nur ungern verlassen, aber es sah nicht so aus, als ließe ihm der Mann die Möglichkeit, weiter auf dem Friedhof herumzustreunen. »Wissen Sie was? Von den beiden Möglichkeiten gefällt mir die erste am besten. Ich möchte doch lieber sofort verschwinden.« »Leider habe ich da ein Problem: Ich ändere sehr schnell meine Meinung«, drohte der Wächter. »Ich zähle jetzt bis zwanzig. Wenn Sie bis dahin nicht draußen vor dem Tor sind, könnte ich es mir noch mal anders überlegen.« »Ich verschwinde ja schon«, versicherte ihm Doyle.»Ich bin schon weg, Sie sehen mich hier nie wieder.« An den Gräberreihen entlang rannte er zum Haupttor und blieb erst stehen, als er draußen war. Nervös spähte er zurück und sah, dass der Wächter, der gerade seine Pistole zurück ins Halfter schob, ihn immer noch beobachtete. Er musste Angel rasch informieren, dass er erwischt worden war. »Ich spreche zwar nicht fließend Melechianisch«, sagte Angel, »aber ich kann ein bisschen was erraten.« »So geht mir das mit Spanisch«, sagte Cordelia. »Ich kann eine Quesadilla bestellen, aber wenn es komplizierter wird, bin ich ziemlich hilflos.« »Ein bisschen komplizierter als eine Speisekarte ist das hier schon«, meinte Angel. »Und wohl auch ein wenig gefährlicher, wenn ich es richtig deute.« »Was steht auf der Schriftrolle?«, fragte Slade. »Wenn ich es richtig interpretiere ... Sie sagten doch, der Kerl ist der Leiter des Amts für Wasser- und Energieversorgung?« »Das stimmt«, antwortete Barbara. »Erst seit ungefähr einer Woche.« »Dann könnte es Probleme geben«, erklärte Angel. »Ich glaube, wir wissen jetzt, was Wechsler schon die ganze Zeit im Schilde führte.« 144
»Was meinen Sie?«, fragte Slade. »Wasser«, antwortete Angel nur. »Wir müssen uns beeilen!« Und schon lief er zur Tür. Die anderen erhoben sich rasch und folgten ihm. Er trat durch das Rolltor in die enge Gasse, die nun mehrere Autos verstellten. »Wir nehmen meinen Wagen«, sagte Angel. »Er sitzt gern selbst am Steuer«, erklärte Cordelia Barbara und Slade. »Ist so'n Männerding.« Die beiden Frauen kletterten hinten in den Plymouth Belvedere, und Slade sah den Wagen bewundernd an, bevor er auf den Beifahrersitz rutschte. »Ein Plymouth, Mann! Sie sind ein Glückspilz! Das Beste, was Detroit zu bieten hat. Da vorn steht meiner!« Er zeigte auf den Fury. »Ein Klassiker«, sagte Angel lässig und sah gar nicht richtig hin. »Das können Sie laut sagen«, entgegnete Slade. »Aber dieser hier ist auch schön. Nicht so viel Chrom, aber sonst gar nicht schlecht.« »Wir müssen an einen Ort, an dem es viel Wasser gibt«, sagte Angel, der an Slades Fachsimpelei über Autos kein Interesse hatte. »Dorthin, wo das Wasser in das städtische Versorgungssystem eingespeist wird.« »Es gibt eine große Aufbereitungsanlage, in der das Wasser aus der Stadt gereinigt wird, bevor es wieder in den Trinkwasserkreislauf gelangt«, erklärte Barbara. »Diese Anlage befindet sich auf der anderen Seite von West Covina, in den Ausläufern des San Gabriel Gebirges.« »Da fahren wir hin! Dort muss es sein!« »Wie sieht's bei Ihnen mit einer Knarre aus?«, fragte Slade Angel. »Wie bitte?«, entgegnete Angel. Er bog nach links auf die Ventura ab, um zum Freeway 134 zu gelangen, der über Glendale und Pasadena auf den 210 führte, Richtung West Covina. Zu dieser nachtschlafenden Zeit war der Verkehr ausnahmsweise einmal nicht sehr dicht, und die Fahrt würde nicht allzu lange dauern. »Eine Knarre, eine Kanone! Ich habe eine 38er Browning. Ein schönes Stück.« »Er meint eine Waffe«, übersetzte Barbara. »Was ist damit?« »Was haben Sie für eine?« Angel schüttelte den Kopf. »Gar keine.« »Und Sie wollen ein Privatdetektiv sein?« »In dieser Hinsicht wohl nicht.« »Was tun Sie denn, wenn Sie jemandem eine verplätten müssen?« »Ich ... ähm ... das kommt nicht so oft vor«, sagte Angel. Slade schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, wie Sie ohne Knarre überhaupt etwas zu Wege bringen. Dann können Sie ja nicht einmal 145
einem Kanarienvogel, der sich weigert zu singen, ein paar mit der Pistole überziehen.« Angel dachte kurz an seine Waffensammlung – Äxte, Schwerter, Pfeile und natürlich Holzpflöcke. Schusswaffen waren gegen die Art von Feinden, mit denen er in der Regel zu tun hatte, nicht besonders hilfreich und schadeten seiner Erfahrung nach oft mehr als sie nützten. »Ich habe nicht oft die Gelegenheit, jemandem mit der Pistole ein paar überzuziehen«, sagte er zu Slade. »Und so toll sind Schusswaffen auch wieder nicht. Ihre hat gegen mich ja nicht viel ausrichten können, oder?« »Das hat mich auch gewundert«, räumte Slade ein. »Aber dann wurde mir klar, dass Sie ein Vampir sind.« »Verraten Sie mir eines«, sagte Angel. »Wann haben Sie die Waffe zum letzten Mal nachgeladen?« Slade griff sich ans Kinn und überlegte. Verdutzt blickte er Angel dann aus seinen blauen Augen an. »Ich glaube, seit ich zurück ins Leben gekommen bin, gar nicht.« »Das dachte ich mir«, sagte Angel. »Es wurden nämlich an den Tatorten, wo Sie auf Leute geschossen haben – unter anderem auch auf mich –, weder Kugeln gefunden noch Patronenhülsen. Keine Beweise, dass wirklich Schüsse mit Munition abgegeben wurden.« Plötzlich ging Slade ein Licht auf. »Sie wollen sagen, das hier ist eine Phantom-Pistole?« »Denken Sie doch mal darüber nach«, meinte Angel. »Sie waren etwa vierzig Jahre lang tot. Ich sage es nur ungern, aber Ihr Fleisch müsste verwest sein, Ihre Kleidung zerfallen. Die Pistole müsste verrostet sein. Und doch waren Sie, wie ich vermute, vollständig bekleidet, als Sie zurückkehrten und haben diese Kleider nicht in einem Ramschladen auf dem Hollywood Boulevard gekauft. Sie hatten Geld in der Tasche, Fleisch auf den Knochen und besaßen eine funktionierende Waffe. Das mit dem Geld kann ich ja noch verstehen, aber ich glaube nicht, dass die Pistole unter normalen Umständen noch funktionieren würde. Ich vermute, es ist eine magische Waffe. Sie ist nicht real und verletzt nur Leute, die Sie beim Abdrücken sehen und die daran glauben, dass sie eine Kugel abbekommen werden. Das Denken hat große Macht, Slade. Es kann dem Körper Krankheiten oder Verletzungen zufügen - und ihn vielleicht sogar töten, wenn es stark genug ist. Aber es kann keine kleinen Kugeln aus Blei oder Messing fabrizieren, die als Beweise zurückbleiben.« Slade stieß einen langen Pfiff aus. »Ich vermute, Sie haben Recht, Angel«, sagte er dann ein wenig traurig. »Wenn man es so sieht, bin wahrscheinlich nicht einmal ich wirklich hier.« 146
»Sie sind hier«, sagte Cordelia. »Ihretwegen rennen wir ja alle durch die Gegend. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viel lieber ich in meinem Bett liegen und schlafen würde, als in Ihren alten verstaubten Akten zu wühlen.« »Hier und gleichzeitig nicht hier«, verbesserte Slade. »Für wie lange wohl?« Barbara klopfte ihm begütigend auf die Schulter. »Wie lange es auch sein mag, wir machen das Beste daraus«, tröstete sie ihn. Slade legte seine große Hand auf Barbaras und drückte sie. Doyle stand vor einem Geschäft gegenüber dem Friedhof. Ab und zu fuhr ein Auto vorbei, aber ansonsten war die Straße verlassen und ruhig. Vor dem Geschäft stand eine Telefonzelle. Doyle kramte ein paar Münzen aus der Hosentasche und steckte sie in den Schlitz. Er wählte Angels Nummer und hoffte, dass er sein Handy eingeschaltet hatte. »Ja«, antwortete Angel nach dem zweiten Klingeln. »Angel!«, rief Doyle atemlos. »Hey, Mann, ich wurde vom Friedhof gejagt!« »Vom Friedhof gejagt?«, wiederholte Angel. »Ja, ich rufe aus einer Telefonzelle an. Der Wächter hat mich erwischt und rausgeschmissen.« »Kannst du Bettys Grab von draußen sehen?« »Nicht wirklich«, entgegnete Doyle. »Es liegt in einer kleinen Mulde. Man muss dicht davor stehen, damit man es sieht.« »Dann musst du wieder reingehen!«, sagte Angel. »Ich weiß noch nicht ganz genau, was hier vorgeht, aber die Sache steigt heute Nacht, da bin ich ziemlich sicher.« »Das ist gut, denn ich glaube nicht, dass ich noch so eine Nacht durchstehe«, entgegnete Doyle. »Auf diesem Friedhof sind nämlich Dämonen begraben, Angel! Familien, die ich kannte. Und um dir die Wahrheit zu sagen, war ich gar nicht so unglücklich darüber, dass ich rausgeworfen wurde.« »Geh wieder rein!«, wiederholte Angel. »Es dauert doch nur noch ein paar Stunden, bis die Sonne aufgeht.« »Verstanden, Angel«, antwortete Doyle. »Bin schon unterwegs!« Er legte den Hörer in die Gabel. Bestimmt beobachtete ihn der Wächter noch misstrauisch. Jedenfalls hätte Doyle das getan, wäre er an seiner Stelle gewesen. Er musste also eine Möglichkeit finden, wie er den Wächter umgehen konnte und – durch den Zaun oder darüber – wieder auf den Friedhof gelangte, ohne entdeckt zu werden. Dann musste er sich so nah wie 147
möglich an Bettys Grab schleichen, ein Versteck finden und dort bis zum Sonnenaufgang ausharren. Wie er mit einem raschen Blick auf seine Uhr feststellte, vergingen bis dahin noch über zwei Stunden. Was für eine lange Nacht! Und sie war noch nicht vorbei. Er bog in die kleine Straße neben dem Laden ein und ging vom Friedhofweg. Als er außer Sichtweite des Wächters war, fing er an zu laufen – um die nächste Ecke und zwei Blocks weiter. Dann kehrte er auf den Sunset Boulevard zurück. Als er an der Kreuzung ankam, blieb er vor einem Gebäude stehen, drückte sich flach an die Wand und beobachtete den Friedhof. Nichts zu sehen. Irgendwo auf der anderen Seite des Zauns lauerte der Wächter. Doyle hatte angenommen, dass er die ganze Nacht in seinem kleinen Wachhäuschen am Haupteingang verbringen würde. Aber das war offenbar nicht der Fall. Vielleicht saß er mittlerweile wieder im Häuschen, aber sicher war das nicht. Jedenfalls musste Doyle erst einmal die vier Fahrspuren des Boulevards überqueren. Der Verkehr war nicht das Problem, sondern die Breite der Straße, wo er keinerlei Deckung hatte. Falls der Wächter immer noch die Straße beobachtete, würde er ihn natürlich sofort entdecken. Aber ihm blieb keine andere Wahl. Also ging Doyle rasch noch einen Block weiter weg vom Friedhof, bis er die dunkelste Stelle zwischen zwei Straßenlaternen erreicht hatte. Nicht wirklich dunkel, aber so dunkel wie es in der Nähe von Straßenlaternen überhaupt möglich war. Doyle verließ den Gehsteig und flitzte geduckt – als nutzte das etwas! – über die Straße. Auf der anderen Seite sprang er über die Kante des Gehwegs, rannte den Bürgersteig hinauf und drückte sich an den Friedhofszaun. Offenbar hatte er Glück gehabt: Weder leuchtete ihm eine Taschenlampe ins Gesicht, noch schoss jemand auf ihn oder kam mit dem Schlagstock hinter ihm her. Er drehte sich um und sah den Sunset Boulevard hinunter. Ein großer alter Lincoln Continental mit widerlich erbsengrüner Lackierung, in den sich fünf oder sechs Kids quetschten, kam vorbei. Aber ansonsten war alles ruhig. Doyle drehte sich wieder zum Friedhof um. Soweit er es beurteilen konnte, regte sich dort immer noch nichts. »Regelrechte Grabesstille«, sagte er zu sich, aber das war nur ein halber Witz. Er wusste besser als 148
die meisten, dass Gräber keineswegs immer so still waren wie man gemeinhin annahm. Den Friedhof noch einmal durch den Haupteingang zu betreten, konnte Doyle nicht wagen. Das Pförtnerhäuschen stand gleich daneben und der Wächter hatte das Tor mit Sicherheit im Visier. Das bedeutete, Doyle musste über den Zaun klettern. Die drei Zentimeter dicken Gitterstäbe, die im Abstand von fünfzehn Zentimetern angebracht waren, waren oben und unten mit Querstreben verbunden. Oben auf den Stäben, die zu dicht nebeneinander standen, als dass Doyle hätte hindurchschlüpfen können, ragten Speerspitzen in den Himmel. Er sah kurz über die Straße – niemand in Sicht. Rasch hielt er sich an zwei Stäben fest, setzte einen Fuß auf die untere Verstrebung und zog sich hinauf. Gleichzeitig musste er sich mit den Füßen von den Stangen abstoßen, stellte aber fest, dass es gar nicht so schwierig war. Oben angekommen, stemmte er sich hoch, setzte einen Fuß auf die obere Verstrebung und schwang sich auf die andere Seite. Dann ließ er sich ins Gras fallen und ging bei der Landung in die Knie, um den Sprung abzufedern. Eine Weile verharrte er regungslos in der Hocke und befürchtete, gleich die Stimme des Wächters zu hören oder sogar von einem Kugelhagel empfangen zu werden. Als nichts dergleichen geschah, erhob er sich vorsichtig. Er war zurück auf dem Friedhof – genau da, wo er am wenigsten sein wollte. Ganz große Klasse!
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Die Wasseruhr von Los Angeles war längst abgelaufen. Seit die Stadt existierte, hatte es Probleme mit der Wasserversorgung gegeben. Los Angeles lag zwar am Pazifik, aber Meerwasser war nun einmal nicht trinkbar, und Entsalzungsanlagen waren sehr teuer und technisch unausgereift. Angesichts der zahlreichen Golfplätze, der unendlichen Meilen von Häusern mit Rasenflächen und Palmen davor, der Geschäftshäuser und der Parkplätze der Gebrauchtwagenhändler, auf denen jeden Morgen die Fahrzeuge mit Wasser abgespritzt und von Smog und Staub gereinigt wurden, war es kaum zu glauben – aber im Grunde war Los Angeles eine Wüste. Deshalb musste die Stadt ihr Wasser kaufen. Früher hatte man versucht, es zu stehlen. In den zwanziger Jahren begann man, es aus dem Owens Valley im Herzen Kaliforniens zu holen. Denn man ging einfach davon aus, dass dort niemand lebte und man es so auch niemandem wegnahm. Aber es wohnten Leute im Valley, die versuchten, Landwirtschaft zu betreiben. Viele Vogelarten, die über die Pazifik-Route im Winter nach Süden und im Sommer nach Norden zogen, benutzten den Mono Lake als Rastplatz. Los Angeles hatte dem See das Wasser abgezapft. Erst vor kurzem waren die Verantwortlichen gezwungen worden, damit aufzuhören. Außerdem gab es noch den Colorado River, der auf seinem Weg in den Golf von Mexiko durch mehrere westliche Staaten floss – genauer gesagt, früher einmal den Golf erreichte. Weil man sein Wasser ableitete, verkümmerte der breite Strom zu einem Rinnsal und versiegte dann endgültig irgendwo in Baja California in Mexiko. Los Angeles holte sich sein Wasser, wo immer es welches gab. Bei einer so großen Einwohnerzahl war Wasser kostbarer als Gold. Durchschnittlich wurden in L.A. täglich 492 Liter Wasser pro Kopf verbraucht. In dieser Unmenge war das Abspritzen der Autos nicht einmal eingerechnet. Das Wasser musste natürlich noch aufbereitet werden, bevor es ins städtische Versorgungssystem eingespeist wurde. Das Amt für Wasser150
und Energieversorgung betrieb eine hochmoderne Wasseraufbereitungsanlage in den Ausläufern der San Gabriel Mountains im Norden der Stadt. Dort gewann man aus schmutzigem Wasser mithilfe von Filterprozessen sowie der Anreicherung mit Chlor und Ozon Trinkwasser, das alle Anforderungen des Staates und des Bundes an Sauberkeit und Qualität erfüllte und sogar übertraf. Diese Mega-Anlage war in der Lage, über zwei Milliarden Liter Wasser pro Tag aufzubereiten. Harold Wechsler stand auf dem Scheitel des Staudamms und ließ seinen Blick über das Reservoir schweifen. Das Staubecken war fast randvoll mit Wasser gefüllt, das schon bald die Reinigungsprozedur durchlaufen und durch ein kompliziertes System von Wasserleitungen und Rohren in die Stadt gelangen würde. Über den Damm zogen sich eine schmale Straße und ein Fußweg. Wechsler beugte sich über die niedrige Stützmauer und schaute den Betonabhang hinunter, der ins Wasser führte. Am Fuße der Mauer wurde das Wasser in ein ausgeklügeltes Filtersystem eingespeist. Mit lautem Getöse wirbelte es herum. Ein Anblick, der dem einer riesigen Waschmaschine glich. Auf dieser Seite des gewaltigen Beckens roch das Wasser ranzig und schmutzig. Wenn es die Anlage verließ, war es frisch und rein. Barry Fetzer hockte neben Wechsler auf dem Fußweg und holte diverse Utensilien aus einer Sporttasche. »Hier ist die Schriftrolle, Hal«, rief er und hielt das alte Dokument in die Höhe. Wechsler nahm es ihm ab, rollte es auseinander und hielt es an den goldenen Stäben fest, die am oberen und unteren Ende angebracht waren. Die tausende Jahre alte Rolle bestand aus einem dünnen, lederartigen gelblichen Material und war mit der Hand beschrieben. Es wurde zwar behauptet, das Material sei Menschenhaut, aber das glaubte Wechsler nicht. Denn das hätte man an der Beschaffenheit der Oberfläche erkannt. Aber es gab verschiedene Dämonenarten, die als »Spender« in Frage kamen, und von einer dieser Spezies stammte das Leder nach Wechslers Ansicht ganz gewiss. Der Text war in etwa ein Zentimeter großen Buchstaben abgefasst. Der erste war als Initial reich mit Schnörkeln und Ornamenten verziert und dreimal so groß wie die übrige Schrift. An den Seiten und oben schmückten weitere Ornamente den alten Bogen. Am Ende des Textes befand sich eine unheimlich realistische Abbildung eines – nicht menschlichen – Schädels, aus dem drei Hörner ragten. Durch eine der Augenhöhlen glitt eine Schlange. 151
Für Wechsler war der Schädel mittlerweile ein alter Bekannter. Er legte die Schriftrolle auf den Boden und ließ seinen Blick noch einmal über das Wasser schweifen, das schwach im Licht des verblassenden Mondes glitzerte. Dann sah er zu Fetzer hinüber, der ihn erwartungsvoll anschaute, und begann, seine menschlichen Kleider auszuziehen. Während er das tat, verwandelte er sich Stück für Stück in einen Dämon. Seine Haut wurde dunkler und nahm die Farbe einer Aubergine an. Ihm wuchs ein dicker Schwanz von fast einem Meter Länge mit einer Dornenkugel am Ende. Auch seine Finger, zwischen denen sich nun sehnige Häute bildeten, wuchsen, wurden dicker, spreizten sich und bekamen lange scharfe Krallen. Seine Brust wölbte sich mächtig vor und die Schultern wurden breiter je muskulöser der Körper wurde. Als Mensch war Wechsler weder besonders schwach noch besonders stark gewesen. Als Dämon jedoch war er stark und gewaltig. Nun besaß er die Kraft, die ihm in jungen Jahren gefehlt hatte. Es war fantastisch! Er fuhr sich mit der Hand über seinen von Beulen übersäten Kopf. Ein massiver Panzer schützte seine Augen und das Gehirn. Er öffnete den Mund und fuhr mit der Zunge, die einem Greifwerkzeug ähnelte, über seine beeindruckend spitzen Vampirzähne. Sogar seine Stimme hatte sich verändert. Sie klang rau und heiser, als er auf die Dinge deutete, die Fetzer an der Mauer ausgebreitet hatte, und fragte: »Ist das alles?«. »Das ist alles, Hal!«, brüllte Barry über das Getöse des Wassers hinweg. »Alles, was Sie eingepackt haben.« Vier unterschiedliche Pulver lagen auf dem Boden, jedes hatte eine grelle, fast fluoreszierende Farbe: Orange, Magenta, Cyanblau und Smaragdgrün. Ein Glasgefäß enthielt die Augäpfel von unterschiedlichen Kreaturen – nicht nur von Wassermolchen wie in den Legenden, obwohl davon bestimmt auch ein paar dabei waren. Die Augen symbolisierten im Ritual die Klarheit des Denkens und des Zielbewusstseins. Eine kleine filigrane Dose umschloss das Herz eines Vogels. Es war sehr klein, aber es symbolisierte die verwehrte Freiheit und das Gefangensein – mit anderen Worten die vertane Chance. Außerdem lag die Schriftrolle zu Wechslers Füßen. Er hatte sie so oft gelesen, dass sich ihm der Text tief ins Bewusstsein gebrannt hatte. Aber das spielte keine Rolle, denn wenn es so weit war, musste er die Formeln ohnehin von der Rolle vorlesen. Es kam nämlich nicht allein auf die Worte an. Es war der Akt des Vorlesens selbst, der magische Bedeutung hatte. In der Magie gab es nichts Zufälliges oder Willkürliches. Alles musste auf die richtige Weise getan werden, sonst hatte es keinen 152
Zweck, überhaupt damit anzufangen. Das hatte ihn Jules Lefler gelehrt. Und die Erfahrung hatte es bestätigt. Wechsler gestattete sich einen Moment des Nachdenkens, bevor er mit der Zeremonie begann. Er erinnerte sich an den Weg, der hinter ihm lag. An die unglückliche Kindheit und Jugend, seine Opfermentalität, die geringfügigen Verbrechen, die er begangen hatte. Er dachte an die Jahre auf der Straße, in denen er alles getan hatte, um durchzukommen. Dann hatte er Leflers Buch entdeckt, und sein Aufstieg zur Macht hatte begonnen. Er war reicher und reicher geworden. Mit dem Wohlstand waren auch die richtigen Connections gekommen. Die Macht war wie ein Samenkorn gekeimt. Sie war rasch größer geworden und hatte sich fast von allein in hundert verschiedene Richtungen gleichzeitig ausgebreitet. Hatte er sich einst kein Auto leisten können, wurde er schließlich in Limousinen durch die Gegend gefahren, die alle ihm gehörten. Dem jungen Mann, der keine Freundin fand, warfen sich nun wunderschöne Frauen an den Hals. Der Loser, der von den großen Jungs an der Ecke nicht ernst genommen worden war, bekam den Topjob im landesgrößten städtischen Versorgungsbetrieb, denn er hatte dem Bürgermeister zur Wahl verholfen. Wechsler hatte – und dass wusste nicht einmal der Bürgermeister – seinen derzeitigen Job bereits seit den Sechzigern im Auge gehabt. Denn dieser Job öffnete ihm die richtigen Türen. Wer sonst konnte um vier Uhr morgens am Tor der wichtigsten Wasseraufbereitungsanlage der Stadt vorfahren und wurde ohne das kleinste Zögern oder Nachfragen eingelassen? Wer außer ihm durfte allein auf dem Damm spazieren gehen, nachdem er seine eigenen Wachen an den Toren postierte hatte, um nicht gestört zu werden? – Niemand. Selbst dem Präsidenten der Vereinigten Staaten wäre das nicht möglich gewesen! Aber der Leiter des Amtes für Wasser- und Energieversorgung konnte genau dies tun. Wechsler nahm das alte Schriftstück in die Hände und rollte es auf. Barry Fetzer kannte seinen Part als Assistent. Wechsler war die Sache wieder und wieder mit ihm durchgegangen. Wenn Wechsler nickte, sollte Barry die Dinge ins Wasser schütten. Wenn Fetzer versagte, landete auch er im Wasser. Und er würde nie wieder herauskommen. »Ia! Ia!«, fing Wechsler an. Seine Stimme war zunächst leise, wurde dann aber immer lauter, während er in Fahrt kam. Zum ersten Mal in seinem Leben las er diese Passagen laut vor. »Gog sutthok olt slivgen du brialt!Ia!Ia! Wisler friou kakaroth!« 153
Mit einem Nicken wies er auf die bunten Pulver. Barry öffnete das erste Gefäß und schüttete den cyanblauen Inhalt mit ausgestrecktem Arm ins Wasser. Der Wind erfasste das Pulver und streute es über das gesamte Reservoir – eine metallicblaue Spur im Mondlicht, die langsam im dunklen Wasser versank. Das Werk war begonnen. Angel bremste vor dem großen Tor der Wasseraufbereitungsanlage von San Gabriel. Neben dem Tor stand ein Wärterhäuschen, aber niemand kam heraus, um die Besucher zu begrüßen. Angel kletterte aus seinem Plymouth, lief zum Tor und rüttelte daran. »Abgeschlossen!« Slade, der ebenfalls ausgestiegen war, zog seine 38er und richtete sie auf das Tor. »Das hilft auch nicht«, erklärte ihm Angel. »Es handelt sich eine elektronische Schließanlage. Da gibt es kein Schloss, das man einfach kaputtschießen könnte. Und vermutlich glaubt so ein Tor auch nicht an Ihre Existenz.« »Das stimmt wahrscheinlich.« »Ich habe eine echte Waffe, falls das hilft«, rief Barbara. Angel schüttelte den Kopf, stellte sich in die Mitte der beiden Torflügel und versuchte, sie auseinander zu stemmen. Nichts rührte sich. Er versuchte es noch einmal, mobilisierte all seine Kräfte. Seine Armund Rückenmuskeln schwollen an und spannten sich unter seinem Hemd. Vor Anstrengung traten die Adern an seinem Hals hervor. Er stellte sich breitbeinig hin, um einen festen Stand zu haben und drückte die Torflügel so fest auseinander wie er nur konnte. Langsam gaben sie nach. Er drückte weiter. Es ging immer leichter, je mehr die Flügel sich öffneten. Als erden elektronischen Schließmechanismus erst einmal überwunden hatte, der sie zusammenhielt, wichen die Torflügel fast von selbst zur Seite. Angel lächelte den anderen über die Schulter zu. »Gehen wir!«, sagte er. »Ähm, Angel«, bemerkte Cordelia zögernd. »Sind das Freunde von dir?« Überrascht wirbelte er herum. Drei Dämonen näherten sich dem Tor. »Wenigstens haben sie Waffen dabei, mit denen ich mich auskenne!«, dachte Angel. Der Erste hielt eine riesige Streitaxt mit einer Klinge von gut einem Meter Länge, die an einem zwei Meter langen Griff befestigt 154
war. Der Zweite schwang einen schweren Streitkolben mit zwanzig Zentimeter langen Dornen, und der Dritte führte ein doppelschneidiges scharfes Schwert. Die Dämonen waren über zwei Meter groß und hatten breite Schultern. Ihre Gesichterwaren weitgehend hinter langen fleischigen Tentakeln verborgen. Ihre »Bekleidung« bestand aus dunklen Stoffstreifen, die sie sich wie Lumpen um den Körper gewickelt hatten. Angel ließ sein vampirisches Wesen zum Vorschein kommen und machte sich bereit zum Kampf. Barbara trat aus dem Pförtnerhaus und meldete: »Vor vierzig Minuten sind laut Dienstbuch Besucher mit Zugangsberechtigung eingetroffen. Es gab keinen Alarm, also waren sie wohl okay. Außerdem liegen zwei Wachmänner da drin. Zwei Köpfe jedenfalls. Die anderen Teile habe ich nicht gezählt.« Ein echtes Gemetzel!, dachte Angel. »Igitt«, bemerkte Cordelia. »Aber Sie sind richtig gut!« »Wie meinen Sie das?«, fragte Barbara. »Ich meine, wenn ich reingegangen wäre, hätte ich vor lauter Körperteilen wahrscheinlich gar nichts anderes mehr gesehen.« »Sie hat Recht«, sagte Slade. »Sie werden ein guter Cop. Pferdeschwänzchen!« Angel verfolgte das Gespräch hinter ihm nicht weiter, denn die Dämonen kamen näher. Plötzlich trat Slade mit der Browning in der Hand neben ihn. »Vielleicht glauben die ja auch nicht an mich«, sagte er. »Aber da wir nicht wissen, mit welchen Mitteln man eine solche Freakshow in die Knie zwingt, ist meine Geisterknarre genauso gut wie jede andere Waffe.« »Da könnten Sie Recht haben«, sagte Angel. Er registrierte aus den Augenwinkeln eine Bewegung und sah, wie Barbara mit der Dienstwaffe im Anschlag vom Pförtnerhäuschen herüberkam. »Ich bleibe einfach hier hinten und passe auf das Auto auf!«, rief Cordelia. »Sehr gut, Cord!«, entgegnete Angel. »Genau da will ich dich haben.« »Sollen wir losfeuern?«, fragte Barbara. »Einen Moment noch, vielleicht sind sie ja nur das Begrüßungskommando«, meinte Slade. Die Dämonen kamen noch ein paar Schritte näher. »Jetzt?«, hakte Barbara nach.
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»Jetzt!«, bestätigte Slade. Beide fingen an zu feuern. In der stillen Bergwelt klangen die Schüsse sehr laut. Der beißende Geruch von verbranntem Schießpulver stach Angel in die Nase. Die Kugeln trafen ins Ziel und die Körper der Dämonen zuckten. Dabei knurrten sie wie Hunde, die ihr Futter verteidigten. Aber sie gingen nicht zu Boden. Unbeeindruckt rückten sie weiter vor. »Das habe ich befürchtet«, sagte Angel. »Zielen wir auf das Gehirn!«, schlug Slade vor. »Falls sie so was überhaupt haben.« »Wo es sich bei diesen Kreaturen befindet, ist eine ganz andere Frage. Theoretisch können sie es auch in den Füßen haben«, erklärte Angel. »Aber vielleicht wissen Sie ja mehr über den Körperbau von Dämonen als ich!« Slade und Barbara ließen sich nicht abhalten und feuerten wieder los. Erneut hielten die Dämonen kurz inne, um sich von den Schmerzen, die sie vielleicht empfanden, zu erholen, setzten dann aber ihren Marsch fort. Sie wogen die Waffen in ihren Händen und begannen dann, sie langsam in immer größer werdenden Kreisen zu schwingen. »Darum werde ich mich wohl besser kümmern«, sagte Angel und schritt den anderen voran. Normalerweise hätte er sich zuerst den Gegner vorgeknöpft, der am gefährlichsten aussah, aber in diesem Fall waren alle drei gleichermaßen furchterregend. Also entschied er sich für den Keulenschwinger, der in der Mitte ging. Als Angel ihn angriff, hob der Dämon den Streitkolben und schwang ihn im hohen Bogen wie einen Baseball-Schläger. Angel duckte sich. Der Dämon musste wegen des Schwungs, den er genommen hatte, den Bogen zu Ende führen. Die halbe Sekunde genügte Angel, um ganz nah an seinen Widersacher heranzukommen. Übelriechender Atem schlug ihm ins Gesicht. Ein Geruch wie auf einem Fischmarkt, stellte sich Angel vor, wo seit fünf Jahren die Kühlung nicht mehr funktionierte. Er ignorierte den Gestank und legte los. Er verpasste dem Dämon zwei kurze rechte Gerade in den Leib, dann einen linken Haken mitten ins Gesicht. Einige der Tentakeln wickelten sich sofort um sein Handgelenk und hielten es fest. Da es Angel nicht gleich gelang, sich loszureißen, wich er etwas zurück und trat dem Dämon mit dem rechten Fuß in den Bauch. Dann wechselte er das Bein und trat mit dem linken noch einmal nach. Unter diesem Ansturm stolperte der Dämon einen Schritt rückwärts, und Angel konnte seinen Arm befreien. »Halten Sie sich von diesen Rankendingern fern!«, rief ihm Slade zu. 156
Schlauer Tipp!, dachte Angel. Als der Dämon sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, holte er erneut mit der Keule aus. Angel war immer noch dicht an ihm dran, hatte aber keinen Schimmer, wie er ihm ernsthaften Schaden zufügen konnte. Die anderen beiden Dämonen waren an ihm vorbeimarschiert. Aus dem Augenwinkel sah er, wie der mit dem Schwert Barbara und Slade immer näher kam. Er musste der Sache ein rasches Ende bereiten. Deshalb beschloss er, sich den Dämon mit der Keule vorzunehmen. Denn über eine Eigenart von Dämonen wusste er Bescheid: Grundlos führten sie in der Regel keine Waffen bei sich. Dämonen dieser Größe konnten, wenn sie wollten, einen Menschen zerfetzen wie eine Puppe, so, wie sie es mit den Wächtern im Pförtnerhaus gemacht hatten. Die Tatsache, dass sie sich bewaffnet hatten, gab also nicht nur auf ihre Stärken Hinweise, sondern auch auf ihre Schwächen. Angel täuschte nach links an und kam dann von rechts um den großen Dämonen herum, der gerade die Keule über den Kopf gehoben, aber noch nicht Schwung geholt hatte. Rasch packte Angel ihn bei den Handgelenken. Der Dämon verrenkte sich den Hals und sah ihn fragend aus kleinen schwarzen Augen an. Mit einer schnellen Bewegung brach ihm Angel beide Handgelenke. Diesmal stieß der Dämon ein langes Heulen aus – der erste Laut, den sie von den drei Kreaturen zu hören bekamen. Sein Mund tat sich wie eine schwarze Höhle zwischen den Tentakeln auf. Deutlich geschwächt von den Schmerzen ließ er die Keule fallen. Als Angel den Dämon zur Seite stieß, taumelte er ein paar Schritte weiter. Angel schnappte sich die Keule, die sich als überraschend schwer erwies, und schwang sie genau wie der Dämon zuvor von unten nach oben wie beim Baseball. Der dornenübersäte Kopf der Keule zerschmetterte die Brust das Dämons. Wieder schrie er und brach zusammen. Die anderen beiden Dämonen wandten sich nun von Slade und Barbara Morris ab und kamen auf Angel zu. Denn sie hatten ihn als die größere Bedrohung erkannt. Der eine von links, der andere von rechts. Eine gute Strategie! Angel wäre eine schlechte lieber gewesen ... Der Schwertträger erreichte ihn zuerst. Die scharfe Klinge zischte durch die Luft, und Angel parierte den Schlag mit der Keule. 157
Von der anderen Seite schnellte die Streitaxt auf ihn zu, der er jedoch geschickt auswich. Aber so kam er dem Dämon mit dem Schwert näher, der gerade zum zweiten Streich ausholte. Angel drehte sich zur Seite, um eine kleinere Angriffsfläche zu bieten, konnte aber nicht verhindern, dass ihm die scharfe Klinge einen Schnitt auf der Brust zufügte. Er biss die Zähne zusammen und schwang die Keule. Der Dämon parierte mit dem Schwert. Trat einen Schritt zurück. Täuschte ein, zwei Mal an. Stieß wieder zu. Als Angel gerade dem Schwert ausgewichen war, wirbelte auch schon die Streitaxt auf ihn zu. Er warf die Keule zur Seite und ließ sich flach auf den Boden fallen. Direkt über ihm stießen die Streitaxt und das Schwert klirrend zusammen. Die Klinge zersprang, und es regnete Stahlsplitter. Schützend bedeckte Angel seinen Kopf mit den Händen. Der Dämon mit dem Schwert knurrte den anderen wütend an. Sein Gegenüber reagierte zunächst defensiv und riss die Streitaxt zurück, streckte dann aber trotzig den Kopf vor. Offenbar stritten sie miteinander. Angel angelte nach der Keule und erhob sich wieder. Der Dämon mit der Streitaxt ruckte mit dem Kinn hin und her, während er den anderen Dämon angeiferte, dessen Schwert zerbrochen war. Angel traf mit der Keule ebendieses Kinn. Der Kopf des Dämons klappte nach hinten und sein Genick brach. Ein Blutstrahl schoss in den Nachthimmel. Angel nahm sich nicht die Zeit, den Dämon fallen zu sehen. Sobald klar war, dass er ihn erledigt hatte, startete er den Angriff auf den noch verbleibenden Gegner. Der versuchte zwar, die Keulenschläge mit dem Klingenstummel zu parieren, der ihm geblieben war, konnte jedoch nicht mehr viel ausrichten. Einen Augenblick später atmete Angel tief durch. Drei Leichen lagen auf der Straße. Er selbst war über und über mit ihrem Blut beschmiert. Auch mit seinem eigenen, wie ihm nun wieder bewusst wurde. Die Schnittwunde auf seiner Brust schmerzte. Hoffentlich hatten die Dämonen nicht mit magischen Waffen gekämpft! Waren sie nur aus Stahl, dann würden seine Wunden schnell heilen. Waren sie aus Silber, würde es länger dauern. 158
Aber wenn es sich um magische Waffen handelte, heilte die Wunde vielleicht nie und er starb möglicherweise sogar an dieser Verletzung. Gelang es ihm jedoch nicht, Wechsler zu stoppen, spielte es keine Rolle mehr, ob er lebte oder starb. Dann war es für alle zu spät. »Los, laufen wir!«, sagte Angel zu Slade. »Solange ich noch laufen kann«, fügte er im Geiste hinzu.
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Sie rannten den Hügel hinter dem Haupttor hinauf. Für den Fall, dass ihnen ein Gegner in die Quere kam, den sie tatsächlich erschießen konnten, hielten Barbara und Slade ihre Waffen im Anschlag. Angel keuchte mit zusammengebissenen Zähnen und versuchte, die Schmerzen in seiner Brust zu ignorieren. Cordelia folgte den dreien und hielt die Armbrust umklammert, die Angel für sie aus dem Kofferraum geholt hatte. Oben auf dem Hügel stand ein langgestrecktes, niedriges Gebäude – das Kontrollzentrum für die ganze Anlage, wie Angel annahm. Die Straße führte an diesem Gebäude vorbei und schlängelte sich auf der anderen Seite wieder hinunter. Dort befand sich ein großes Wasserreservoir, das von oben kaum zu erkennen war – ein dunkler Fleck vor dunklen Bergen –, aber hier und da glitzerte der Widerschein des untergehenden Mondes und der letzten Sterne auf der Oberfläche. Angel wurde klar, dass sich ihm ein weiteres Problem stellte: Bald ging die Sonne auf. Er musste diese Geschichte rasch zu Ende bringen. Denn sonst spielte es keine Rolle mehr, ob er verwundet war oder nicht. Das Wasser wurde hinter einem hohen Damm gestaut und floss auf seinem Weg in das Aufbereitungssystem durch große Röhren. Hier, auf dem Gipfel des Hügels, konnten sie es ganz deutlich riechen und hören. Das Rauschen war nun viel lauter – es klang wie Donnergrollen. Aber außer dem tosenden Wasser hörte Angel noch etwas anderes. Und dann sah er sie auch schon auf der Mauer: einen großen dunklen Dämon und einen Mann. Der Dämon hielt eine Schriftrolle in den Händen und schrie in einer unverständlichen Sprache etwas über das Wasser. Angel nahm an, dass es sich um Melechianisch handelte. Der Dämon war Wechsler. Er las den Text von Betty McCoys Schriftrolle ab. Angel zögerte nicht. So schnell ihn seine Beine trugen, rannte er an dem Kontrollgebäude vorbei und auf den Damm zu. Die anderen versuchten, mit ihm Schritt zu halten, aber nur Slade gelang es halbwegs, ihm zu folgen. 160
»Wo wollen Sie denn hin?«, fragte Cordelia Barbara. »Angel läuft doch da den Berg runter!« »Sie können ihm hinterherlaufen, wenn Sie wollen«, sagte Barbara. »Oder bei mir bleiben. Aber kommen Sie mir nicht in die Quere!« Sie war vor dem großen Gebäude auf dem Hügel stehengeblieben. An der Tür hing ein Schild: San Gabriel Wasseraufbereitungsanlage – Verwaltungsgebäude 102L. Barbara sah Angel und Slade hinterher, die rasch verschwanden, und rüttelte an der Tür. Sie war fest verschlossen. Cordelia traf ihre Entscheidung. »Ich bleibe bei Ihnen«, sagte sie. »Sie werden meine Hilfe eher brauchen als Angel.« »Wer weiß?«, entgegnete Barbara und grinste Cordelia an. »Sie haben doch bestimmt schon gesehen, wie die im Fernsehen immer mit der Schulter Türen einrennen? Das ist absoluter Quatsch! Wenn man gerade keinen Rammbock dabei hat, ist es nämlich viel leichter, sich einfach den Weg freizuschießen.« Sie hob ihre Dienstwaffe, zielte auf das Schloss der schweren Stahltür und drückte zweimal ab. Cordelia klemmte die Armbrust unter den Ellbogen und steckte sich nach dem ersten lauten Knall die Finger in die Ohren, aber zu spät. Barbara führte einen gezielten Tritt unterhalb des Schlosses aus, und die Tür sprang auf. »Haben Sie das auf der Academy gelernt?«, fragte Cordelia. Barbara schüttelte den Kopf. »Das habe ich von Mom gelernt«, entgegnete sie. »Und sie hat es von Mike Slade gelernt, wie sie sagte.« Die beiden Frauen betraten das Gebäude. Fluoreszierendes Licht fiel aus den Lampen in der Eingangshalle. Offenbar war niemand dort. »Was wollen wir eigentlich hier?«, fragte Cordelia. Ihr gefiel es nicht in diesem Gebäude, ihr gefiel es nicht, von Angel getrennt zu sein, und ihr gefiel es nicht, dass sie keine Ahnung hatte, was los war. »Das werden wir vermutlich erst wissen, wenn wir es sehen«, entgegnete Barbara. Sie ging durch den Korridor voran und hielt den Revolver mit beiden Händen, wie es Cordelia aus dem Fernsehen kannte. Alles hatte Barbaras Mutter anscheinend doch nicht von Mike Slade übernommen, dachte sie. Slade hielt seine Waffe nämlich immer nur einhändig. Das war männlicher. »Fothoris cren bisrilat!«, las Wechsler von der Schriftrolle ab. Auf sein Zeichen schüttete Barry die toten Augen aus dem Glasgefäß in das strudelnde und tosende Wasser. Nur die kleine Dose, die das Vogelherz enthielt, war noch übrig. 161
Wechslers Sinne waren hellwach: Er konnte das Wasser riechen, sah es in seiner Zusammensetzung aus unendlich vielen kleinen Tropfen und hörte, wie es ihm über das wütende Donnern hinweg zuflüsterte. Er bemerkte sofort, als jemand die Straße am Ende des Damms betrat. Er wusste, wer sich ihm näherte. Slade. Aber nun konnte er das Ritual nicht mehr abbrechen, denn einmal angefangen, musste es zu Ende geführt werden. Zudem war er fast am Schluss des Textes angelangt. Er las weiter. »Bobispat snarletz krre greong«, intonierte er. »Wechsler!«, rief Slade so laut er konnte über das tosende Wasser hinweg. »Gog visithoth magog bylend«, fuhr Wechsler unbeirrt fort. »Cuow shilleptor saffold. Ia! Ia!« Wechsler nickte Barry erneut zu. Der hatte schon darauf gewartet, öffnete die kleine Dose und warf das Vogelherz in die dunkle Tiefe. Sofort war es den Blicken entschwunden. Es war vollbracht! Wechsler rollte die alte Schriftrolle wieder zusammen und wandte sich seinen Besuchern zu. Slade war nicht allein. Ein großer Mann war bei ihm, der recht kräftig wirkte, dunkle Kleidung trug und kurzes dunkles Haar hatte. Als dieser Mann näher kam, musste Wechsler seinen ersten Eindruck korrigieren. Es handelte sich keineswegs um einen Menschen, sondern um einen Vampir. »Das wird ja immer seltsamer«, dachte er. Ausgerechnet in der wichtigsten Nacht seines Lebens machten ein Geist und ein Vampir auf ihn Jagd. Aber sie verschwendeten nur ihre Zeit, und seine dazu. Wechsler lächelte. Angel gefiel dieses Lächeln überhaupt nicht. Es war für seinen Geschmack viel zu selbstgefällig. Geradezu süffisant. Der ganze Mann missfiel ihm. Natürlich sah der Wechsler, den sie nun vor sich hatten, ganz anders aus als der, den sie ein paar Tage zuvor in seinem Haus beobachtet hatten. Jener Wechsler war ein Mensch gewesen, doch nun stand ein Dämon vor ihnen – ein Dämon, dessen Haut violettfarben war, der einen kräftigen Schwanz hatte und hörnerähnliche Beulen auf dem Kopf. Dennoch waren Wechslers Gesichtszüge zu erkennen. 162
»Wenn ihr mich aufhalten wollt«, rief Wechsler, »seid ihr zu spät gekommen!« Die Worte waren aus seinem dämonischen Mund kaum zu verstehen. »Es ist nie zu spät, dich hinter Schloss und Riegel zu bringen«, knurrte Slade. Er hielt die Pistole auf Hüfthöhe und nahm abwechselnd Wechsler und seinen Handlanger ins Visier. Fetzer war vor Angst erstarrt. »Ach, da irrst du dich«, gab Wechsler zurück. »Egal, in welches Gefängnis du mich steckst, ich werde nicht einmal die Nacht darin verbringen.« »Sie sind aber ziemlich von sich überzeugt«, bemerkte Angel. »Dazu habe ich auch allen Grund.« »Vielleicht«, entgegnete Angel. »Vielleicht aber auch nicht.« »Wovon redet er, Angel?«, fragte Slade verwirrt. »Was hat er getan?« »Er wird mich sicherlich korrigieren, wenn ich etwas Falsches sage«, meinte Angel. »Aber ich habe mir mithilfe der vereinzelten Brocken, die ich von dem Text auf der Schriftrolle verstanden habe, Folgendes zusammengereimt. Sie sagten doch, dass Wechsler damals alle Dämonen von dieser Droge, Flux, abhängig machte, nicht wahr?« »Das ist richtig«, bestätigte Slade. Wechsler sah interessiert zu Angel herüber, als gefalle es ihm, die eigene Geschichte von jemand anderem zu hören. »Durch die Drogen konnten sich die Dämonen nicht mehr von ihrer menschlichen Erscheinung lösen und starben schließlich. So haben Sie es mir doch erzählt?« »Ja«, antwortete Slade. »Aber die Drogen haben die Dämonen gar nicht richtig getötet«, fuhr Angel fort. »Nicht auf die Weise, wie Sie und ich den Tod verstehen. Sie sind im Grunde genommen tot, aber nicht so tot, dass sie nicht zurückkehren können.« »Zurückkehren?« »Ja, richtig! Die Schriftrolle beschreibt ein Ritual zur Wiederbelebung. Und das hat etwas mit dem Wasser hier zu tun. Ich denke, Wechsler hat es mit irgendeinem Zusatz versehen, damit es als Wiederbelebungsmittel funktioniert. Wenn das Wasser auf irgendeine Weise in Kontakt mit den Gräbern der scheintoten Dämonen kommt, kehren sie wieder in eine Art irdische Existenz zurück.« Angel wandte sich an Wechsler. »Stimmt das so weit?« »Sehr gut«, sagte Wechsler. »Sie haben nur einen sehr wichtigen Punkt vergessen.«
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»Richtig«, Angel nickte. »Wenn die Dämonen zurückkommen, gehören sie Wechsler. Sie werden vollkommen seiner Kontrolle unterstehen.« »Wie viele Dämonen sind davon betroffen? Hunderte?«, wollte Slade wissen. »Es sind Tausende«, sagte Wechsler. »Ich mache keine halben Sachen. Abertausende Dämonen, die alle meinem Kommando gehorchen müssen. Die Dämonen waren noch nie in der Lage, effektiv zusammenzuarbeiten. Wären sie es, würde ihnen heute die Welt gehören. Aber nun werden sie zusammenarbeiten, denn sie werden ihre Befehle von mir erhalten.« »Gut zu wissen«, knurrte Slade. »Dann habe ich jetzt noch einen Grund mehr, dich zu erschießen!« Er ging auf Wechsler zu, aber der wich nicht zurück. Als der Privatdetektiv ihm nahe genug gekommen war, schwang er seine Hüften. Der Schwanz mit der Dornenkugel schnellte vor und traf Slade in den Magen. Rückwärts torkelnd hielt er sich den Bauch. »Verdammt!«, rief er. »Das hat wehgetan. Ich wusste gar nicht, dass man mir überhaupt noch wehtun kann.« »Ich bin derjenige, der dich einschläferte«, erinnerte ihn Wechsler. »Und ich bin derjenige, der deine Leiche mit einem Bann belegte. Ich habe mehr Macht über dich als du denkst.« Slade straffte die Schultern. »Mag sein«, räumte er ein. »Aber das wird mich nicht davon abhalten, dich zu töten.« »Slade«, setzte Angel an. »Vielleicht...« Aber Slade zielte und feuerte voll blanker Wut siebenmal auf Wechslers Kopf. Wechsler ignorierte die Schüsse einfach. Sie hatten keinerlei Wirkung auf ihn. Slade schleuderte seine Pistole auf Wechsler, richtete aber auch damit nicht das Geringste aus. »Lassen Sie mich ...«, sagte Angel. Aber Slade knurrte ihn nur böse an. »Er gehört mir!« Erneut stürzte er sich auf Wechsler. Diesmal gelang es ihm, seinen Feind ein paar Schritte zurückzudrängen. Slade verstärkte seinen Angriff und trommelte so fest er konnte mit den Fäusten auf Wechslers Oberkörper ein. Weil er zu dicht vor ihm stand, konnte der Dämon seinen Schwanz nicht wirkungsvoll einsetzen, zerrte aber mit seinen Krallen an Slade und schnappte mit seinen scharfen Zähnen nach ihm. Slade ignorierte die Schmerzen. 164
Er drosch weiter auf Wechsler ein und drängte ihn stetig zurück. Wechsler heulte wie ein Tier. Schaum stand ihm vor dem Mund. Seine Faustschläge prasselten auf Slades Rücken und Kopf nieder, aber in seinem Blutrausch bemerkte der Privatdetektiv die Verletzungen nicht, die ihm zugefügt wurden. Barry Fetzer fing an zu laufen. Angel ließ ihn entkommen. Um Fetzer ging es nicht, und falls Slade im Kampf gegen Wechsler unterlag, würde er einspringen müssen. Wechsler zielte mit dem Daumen auf das Auge seines Gegners. Slade wich aus und stieß Wechsler von unten mit dem Kopf unters Kinn. Dann sprang er Wechsler direkt an den Hals. Er drückte fest zu und drehte. Vor Wut und Schmerz heulte Wechsler erneut auf. Angel hatte den Eindruck, dass Slade versuchte, Wechsler das Genick zu brechen. Im nächsten Moment hörte er bereits das Knacken der splitternden Knochen. Wechslers Körper wurde schlaff. Erschöpft ließ Slade ihn los. Doch plötzlich stieß Wechsler ein wütendes, unverständliches Gebrüll aus. Mit großer Wucht ließ er beide Fäuste auf Slades Kopf niederfahren, trat ihn und bearbeitete ihn mit seinem dornenbestückten Schwanz. Slade stöhnte. Angel kam näher. Slade winkte ihn fort. »Er gehört mir«, presste er hervor. Angel konnte ihn kaum verstehen. Das Gesicht des Privatdetektivs war aufgerissen und blutverschmiert. Sein Kiefer bewegte sich nicht richtig, und Angel erkannte, dass er gebrochen war; offenbar auch sein Arm, der unnatürlich verrenkt herumpendelte. »Slade«, drängte Angel erneut. »Mir!«, wiederholte Slade nur. Wechsler bearbeitete ihn weiter und versetzte ihm Schlag um Schlag. Irgendwie gelang es Slade, seine letzten Kräfte zu sammeln und seine Beine auszustrecken. Er legte sie wie eine Zange um Wechslers Unterschenkel und brachte ihn ruckartig zu Fall. Zerschlagen und blutverschmiert zwang sich Slade auf die Beine. Er führte seine Fäuste zusammen, holte aus und schlug Wechsler wie mit einem Hammer ins Gesicht. Der Kopf des Dämons flog ruckartig nach hinten.
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Als Wechsler anfing zu schreien, mischten sich Todesangst, Wut und Frustration zu einem unmenschlichen Laut, der in den Ohren schmerzte. Schwankend griff er sich mit beiden Händen an den Kopf. Die niedrige Stützmauer befand sich direkt hinter ihm. Wechsler taumelte dagegen, verlor das Gleichgewicht, kippte nach hinten und stürzte ab. Angel und Slade rannten zur Mauer und sahen gerade noch, wie Wechsler den Betonabhang hinabfiel und in der strudelnden Gischt verschwand. Sein Schrei verlor sich im wilden Brausen des Wassers. Slade konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Er sackte in sich zusammen. Angel fing ihn auf und hielt ihn fest. »Ist schon okay«, versuchte er ihn zu beruhigen. »Wechsler ist erledigt. Es ist vorbei.« »Nein, das ist es nicht«, zischte Slade durch seine zerschlagenen Lippen. Blut tropfte ihm aus Mund und Nase. »Es ist ganz und gar nicht vorbei.«
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Doyle hatte sich einen Platz auf einem Hügel gesucht, von wo aus er Betty McCoys Grab beobachten konnte. Damit ihn der Wächter nicht auf einem seiner Rundgänge entdeckte, setzte er sich auf den Boden, obwohl der Rasen taufeucht war. Um Doyle dort sehen zu können, hätte der Wächter schon den Hügel hinaufsteigen müssen. In spätestens einer Stunde ging die Sonne auf. Dann konnte er endlich verschwinden. Doyle hoffte, die anderen hatten es genauso ruhig wie er. Es würde ihm ganz und gar nicht gefallen, wenn sie sich in Schwierigkeiten oder Gefahr befanden, während er nur dasaß und ein friedliches Grab observierte. Natürlich hatte er nichts dagegen, persönlich nicht in Gefahr zu schweben. Und dasselbe wünschte er Angel und Cordy, denn er hatte die beiden sehr gern. »Wenn etwas los wäre, hätte mich Angel doch schon informiert«, tröstete er sich. Plötzlich hörte Doyle ein Geräusch, eine Art Platschen, und nahm eine Bewegung wahr. Er kauerte sich tiefer ins nasse Gras und versuchte zu ergründen, was vor sich ging. Er lauschte angestrengt und spähte in die Dunkelheit. Obwohl ihm das Geräusch nicht unbekannt vorkam, fühlte er sich bedroht. Da war es wieder! Eher ein Zischen, gefolgt von einem tschk-tschktschk-tschk. Auf einmal regnete es. Die Sprinkleranlage! Das hatte Doyle gerade noch gefehlt! Die Berieselungsanlage für die Rasenflächen war so eingestellt, dass sie vor Sonnenaufgang arbeitete. In Kalifornien war es sinnvoll, den Rasen zu sprengen, ehe die Sonne aufging. Denn ihre sengenden Strahlen verstärkten sich, wenn sie durch Wassertropfen fielen. Das Wasser hatte nämlich dieselbe Wirkung wie ein Vergrößerungsglas, das über trockenes Gras gehalten wurde. Beides konnte unter Umständen einen Flächenbrand auslösen. Deshalb bewässerte man die Anlagen vor Sonnenaufgang, damit das Wasser vom Boden aufgenommen werden konnte, bevor es heiß wurde. 167
Das erschien Doyle völlig logisch. Trotzdem verwünschte er die Berieselungsanlage. Jedes Mal, wenn der rotierende Sprinkler wieder tschk-tschk-tschk auf ihn zukam, ergoss sich das Wasser über ihn. Innerhalb kürzester Zeit, dachte er, würde er nass bis auf die Knochen sein. Sollte er seinen Posten noch einmal verlassen? Oder sollte er dableiben und aushaken? Auch wenn es lästig war - großen Schaden konnte das Wasser ja wohl nicht anrichten ... Doyle beschloss zu bleiben. Barbara und Cordy erforschten das scheinbar verlassene Gebäude und öffneten, während sie einen langen Korridor entlang gingen, wahllos einige Türen. Im Erdgeschoss fanden sie niemanden. Auch nicht im ersten Stock. Aber es gab ja noch einen Keller. Also rannten sie – Barbara mit wippendem Pferdeschwanz vorneweg im Eiltempo die Treppe wieder hinunter. Eine der Türen im Keller war mit einem kleinen Plastikschild versehen, auf dem Kontrollraum stand. Barbara überlegte, dass das, was sich hinter dieser Tür befand, möglicherweise interessant sein konnte, und versuchte, sie zu öffnen. Aber die Tür war verschlossen, und so trommelte Barbara mit den Fäusten dagegen. »LAPD!«, rief sie. »Aufmachen!« »Warum schießen Sie nicht einfach das Schloss kaputt?«, fragte Cordelia. »Vielleicht sind da Leute drin, deren Hilfe wir noch brauchen. Manchmal ist es besser, erst zu reden und dann zu schießen«, erklärte Barbara. Als niemand öffnete, klopfte Barbara wieder. »Polizei!«, rief sie. »Können Sie das beweisen?«, fragte plötzlich eine ängstliche Stimme von drinnen. Da es keinen Türspion gab, und es auch nicht möglich war, etwas unter der Tür hindurchzuschieben, rief Barbara: »Ich kann Ihnen meinen Dienstausweis zeigen, aber dann müssen Sie die Tür aufmachen. Das ist ein Notfall! Bitte öffnen Sie!« »Da waren Schüsse«, sagte der Mann hinter der Tür. Seine Stimme klang ein wenig hoch. Das lag bestimmt an der Anspannung, dachte Cordelia. Man konnte es ihm nicht verübeln, wenn er ein bisschen nervös war – schließlich hatte 168
er gehört, wie sich jemand mitten in der Nacht seinen Weg ins Gebäude freischoss. »Wir haben nicht auf Menschen geschossen, nur auf das Schloss«, rief sie spontan. »Leute erschießen gehört definitiv nicht zu unseren Aufgaben.« Als Barbara sie böse ansah, zuckte sie mit den Schultern. »Ich wollte nur helfen«, sagte sie. »Ich bin gut im Umgang mit Menschen.« »Überlassen Sie mir das Reden!«, zischte ihr Barbara zu und wandte sich wieder zur Tür. »Bitte, Sir, öffnen Sie die Tür! Wenn nicht, kann ich mir den Weg auch freischießen. Aber darauf würde ich lieber verzichten. Ich will niemanden beunruhigen, aber dies ist ein Notfall, und ich bitte Sie um Kooperation.« Das Schloss klickte, und der Knauf drehte sich. Ein kleiner Mann öffnete die Tür einen Spalt breit. Er hatte schütteres rötliches Haar. Seine strahlend blauen Augen blickten durch eine dicke Brille. Er trug ein weißes Hemd mit einer schmalen schwarzen Krawatte darüber. Ein Plastiketui mit Stiften steckte in seiner Brusttasche. Barbara hielt ihm ein Ledermäppchen vor die Nase. »Hier, mein Ausweis!«, sagte sie. Der Mann sah sie mit großen Augen an, und sein Blick wanderte zwischen der Armbrust, die Cordelia trug und Barbaras Ausweis hin und her. »Ich bin in der Ausbildung und noch keine richtige Polizistin«, erklärte ihm Barbara. »Aber ich ermittle in einer Mordsache. Bei diesem Einsatz handelt es sich um einen Notfall. Bitte öffnen Sie die Tür ganz!« »O-okay«, stammelte der kleine Mann und fügte sich. »Wie heißen Sie?«, fragte ihn Barbara. »Daly«, sagte der Mann. »John Daly.« »Ist sonst noch jemand da drin, Mister Daly?« »Ja, wir sind zu dritt. Die anderen beiden sind George Coxe und Freddie Nebel.« »Wir kommen rein«, sagte Barbara und betrat gemeinsam mit Cordelia den Raum. Zunächst kamen sie in eine Art Vorzimmer. Dort stand ein Schreibtisch mit einem Computer darauf. An der dahinter liegenden Wand befand sich eine weitere Tür. »Wo sind Ihre Kollegen?«, wollte Barbara wissen. »Sie sind da drin«, antwortete Daly und zeigte auf die Tür. »Das ist die Zentrale. Hier regeln wir alles.« »Perfekt«, sagte Barbara. »Gehen wir!«
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Doyle hatte sich damit abgefunden, nass zu werden. Alle dreißig Sekunden wurde er von dem Sprinkler berieselt. Aber so schlimm war das auch wieder nicht - er fror zwar, aber das würde vorübergehen. Er hatte sowieso schon die ganze Nacht gefroren, und sein Rücken war vom Tau durchnässt, also machte es nichts, wenn er noch nasser wurde und noch mehr fror. Fast wäre er eingedöst, als er sich vorstellte, wie schön es jetzt wäre, mit einem heißen Kaffee in der Hand vor einem knisternden Kaminfeuer zu sitzen. Plötzlich fing die feuchte Erde an, sich zu bewegen. Von seinem Platz auf dem Hügel hatte Doyle, außer dem Grab von Betty McCoy, noch zwei Dutzend andere Gräber im Blick. Auf welchen davon Namen von Dämonenfamilien standen, war jedoch aus der Ferne nicht zu erkennen. Deshalb konnte Doyle, als die Grasdecke auf einem der Gräber aufplatzte, nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es sich um ein Dämonengrab handelte. Der Vorfall als solcher missfiel ihm jedoch sofort. Rasen war dazu gemacht liegenzubleiben. Normalerweise wallte er nicht derart auf. Dann schoss eine Hand aus dem Grab. Keine menschliche, wie Doyle sogar von seinem Posten aus erkennen konnte. Dafür war sie viel zu groß und gespenstisch. Die Finger waren knorrig und gebogen. Die ganze Hand erinnerte Doyle, was Form und Größe anging, an das Rost in einem Grillbackofen, nur war sie noch robuster. Fast augenblicklich folgte ihr der ganze Arm. Die Hand fuchtelte eine Weile herum und stützte sich dann im Gras ab, als versuche jemand, sich aus dem Grab herauszustemmen. Und genau das war offenbar auch der Fall. Doyle verspürte das spontane Bedürfnis zu helfen, unterdrückte es aber schleunigst. Hier ging es schließlich nicht darum, einem Unschuldigen das Leben zu retten. Dort unten versuchte ein Dämon, sich aus seinem Grab zu befreien! Auf dem Friedhof ging definitiv etwas Übles vor. Doyle wollte nur noch weglaufen. Aber es war seine Aufgabe, das Grab von Betty McCoy zu bewachen. Umso mehr, da sie nun vielleicht in Gefahr war. Er musste bleiben. Und das passte ihm überhaupt nicht. 170
Aber Befehl war Befehl. Bislang hatte ihm Angel noch nie etwas aufgetragen, das sich hinterher als falsch herausgestellt hätte. Sicher, gefährlich ging es bei seinen Missionen schon zu, und das missbilligte Doyle auch, aber er kannte das Geschäft. Angel und er arbeiteten im Grunde für dieselbe Sache – für die Mächte der Ewigkeit, für Gerechtigkeit in einer ungerechten Welt. Sie hatten das Ziel, Menschen zu helfen, die in Not waren. Sie versuchten einfach, den großen Schaden, den ihre Artgenossen den Menschen zugefügt hatten und immer noch zufügten, ein wenig wieder gutzumachen. Das predigte sich Doyle jedenfalls, während er beobachtete, wie der Dämon aus seinem Grab kletterte. Eigentlich hatte er erwartet, eine verweste, faulende Dämonenleiche zu sehen. Aber dieser Dämon sah so frisch aus, als wäre er am Tag zuvor erst beerdigt worden. Als er mit dem Kopf durch die Erde stieß, schüttelte er sich, um den Dreck loszuwerden, der an ihm klebte. Seine rosafarbene Haut war mit grünen Punkten übersät und sein buschiger Haarschopf leuchtete grellpink. Ein Bejreggan-Dämon also. Die Spezies sah nicht gefährlich aus, aber auf das Äußere verließ man sich besser nicht - und schon gar nicht in diesem Fall. Bei den Bejreggan-Dämonen handelte es sich um fiese brutale Kreaturen. Dieser war ein Spross der Parsons -jetzt fiel Doyle der Familienname wieder ein, den er auf dem Grabstein gelesen hatte. Den Parsons war es gelungen, sich mit großem Erfolg in die menschliche Gesellschaft einzugliedern. Die anderen Bejreggan jedoch, die sich nicht den Menschen angepasst hatten, gehörten zu den gewalttätigsten und brutalsten Dämonen der Stadt. Doyle hoffte, der Abkömmling der Parsons entdeckte ihn nicht. Über die Laune eines Bejreggan-Dämons, der sich gerade aus seinem Grab geschaufelt hatte, konnte er nur Vermutungen anstellen, aber es war bestimmt noch reichlich untertrieben, sie mit »schlecht« zu bezeichnen. Doyle war so auf den Bejreggan konzentriert, dass er die beiden Dämonen, die hinter ihm auftauchten, fast nicht bemerkt hätte. Ein knackender Ast erregte jedoch seine Aufmerksamkeit, und er drehte sich um. Zwei Dämonen liefen direkt hinter ihm vorbei. Ein männlicher und ein weiblicher. Erde klebte ihnen noch in den Haaren, im Gesicht und am Totenhemd. Sie waren fast schon an Doyle vorbeigegangen, als der männliche Dämon, der seinen Kopf beim Gehen ganz langsam nach links und rechts drehte, ihn doch noch entdeckte. »Sieh mal!«, sagte er schleppend und mit tiefer Stimme. Der weibliche Dämon neben ihm wandte sich um. 171
Doyle sprang hastig auf und machte sich bereit zu kämpfen oder wegzulaufen. Beide Dämonen kamen einen Schritt auf ihn zu. In diesem Augenblick ließ der Bejreggan unten am Grab ein Grunzen ertönen und stapfte mit schwerfälligen Bewegungen den Berg hoch. Im Stehen konnte Doyle mehr Gräber überblicken als vorher. Überall sah er Dämonen, die sich aus ihren Gräbern schaufelten. Aus allen Richtungen kamen sie herbei, langsam noch, als wären sie gerade aus einem langen Schlaf erwacht und noch nicht wieder richtig bei sich. Aber sie starrten ihn gierig an. »Hey, ich bin auch ein Dämon!«, sagte Doyle und ließ sein dämonisches Äußeres zum Vorschein kommen. Aber als die blauen Stacheln aus seiner Haut traten, begriff er, dass die Dämonen gar nicht mal so sehr von seinem menschlichen Erscheinungsbild angelockt wurden als vielmehr von der Tatsache, dass er nicht frisch aus dem Grab gestiegen war. Anscheinend verübelten sie ihm, nicht gestorben und wiedergekehrt zu sein. Wenigstens sah es für Doyle so aus. Und wenn seine Theorie zutraf, dann hatte er ein wirkliches Problem. Denn die Dämonen umzingelten ihn und waren ihm zahlenmäßig haushoch überlegen. Doyle drehte sich langsam um die eigene Achse und versuchte, sie im Blick zu behalten. Aber sie kamen nun von allen Seiten. Sie hatten begonnen, sich leise und in einer tiefen Tonlage zu unterhalten, die klang wie das Brummen von Automotoren hinter einer Mauer. Doyle hörte nur dieses Geräusch; einzelne Worte konnte er nicht verstehen. Dass ihm die Dämonen nicht freundlich gesonnen waren, spürte er jedoch deutlich. »Jetzt bin ich einer von euch!«, rief er. »Lasst uns Freunde werden! Da spricht doch nichts dagegen, oder? Reden wir mal in aller Ruhe drüber!« In diesem Augenblick ergriff ihn der Bejreggan-Dämon von hinten. Der Raum, in den John Daly sie geführt hatte, sah für Cordelia aus wie das Raumfahrt-Kontrollzentrum in Houston. Auf der Stirnseite stand ein riesiger Bildschirm, auf dem allerdings keine Astronauten oder eine Rakete auf der Abschussrampe zu sehen waren, sondern ein gigantisches beleuchtetes Schaubild in grellen Farben. Sie erkannte nichts darauf, nahm aber an, dass es sich um eine Darstellung des Wasserversorgungssystems von Los Angeles handelte. Das wäre jedenfalls logisch gewesen. 172
Vor dem Bildschirm standen reihenweise Computer, von denen einige dasselbe Schaubild auf dem Monitor hatten, andere wiederum Zahlenoder Wörterkolonnen. Cordelia kam nicht nahe genug an sie heran, um erkennen zu können, um was genau es sich handelte. Daly hatte sie und Barbara inzwischen mit Coxe und Nebel bekanntgemacht. Coxe war ein Ingenieur, der sich, wie Cordelia fand, äußerlich kaum von Daly unterschied – abgesehen von dem noch dickeren Bauch und den vielen Flecken auf seiner Krawatte, die offenbar von dutzenden Mahlzeiten stammten, bei denen Taco-Sauce im Spiel gewesen war. Freddie Nebel war eine Frau – Mitte dreißig, wie Cordelia vermutete -, die im Grunde das weibliche Pendant zu diesen beiden Männern darstellte. Die Leute, die in so einer Wasseraufbereitungsanlage arbeiteten, waren bestimmt alle ganz nett, dachte Cordelia, aber sie wäre nie auf die Idee gekommen, freiwillig mit ihnen ihre Freizeit zu verbringen. Aber bisher hatte sie ja keiner von ihnen um ein Date gebeten oder ihr überhaupt mehr als einen flüchtigen Blick geschenkt - also dachten sie vielleicht dasselbe über sie. Das war zwar eigentlich kaum vorstellbar, lag aber dennoch im Bereich der ganz entfernten Möglichkeiten. Wie Daly erklärte, bestand die Aufgabe des Teams darin, die Anlage über Nacht in Betrieb zu halten. Tagsüber, wenn auch noch all die Verwaltungsangestellten hinzukamen, war die Belegschaft natürlich viel größer. Nachts war nur wenig los. Das Wasser wurde jedoch weiterhin gefiltert und gereinigt, denn Los Angeles verlangte rund um die Uhr danach. Ansonsten gab es nichts zu tun. Der Großteil der Aufgaben war reine Routine und dafür reichten drei Leute aus. »Ist es schwierig, das Wasser abzudrehen?«, fragte Barbara. Daly blinzelte einige Male verdutzt, was in der Vergrößerung durch seine dicken Brillengläser sehr komisch aussah. »Wie meinen Sie das?«, gab er zurück. »Das Wasser abdrehen. Ausmachen. Abstellen.« »Die Filteranlage abstellen?« »Das Wasser komplett abstellen. Es nicht mehr in die Stadt fließen zu lassen.« »Das ist unmöglich!«, warf Freddie ein. »Wirklich unmöglich?« »Nein, so hat sie das nicht gemeint«, beeilte sich Daly zu versichern. Barbara hatte fast den Eindruck, er sehe sie und Cordelia als seine persönlichen Gäste an, weil er sie hereingelassen hatte, und stehe eher hinter ihnen als hinter seinen Kollegen. »Es ist nicht einfach, aber 173
selbstverständlich können wir es. Freddie wollte nur sagen, dass es nicht in unseren Kompetenzbereich fällt.« »Ja, natürlich«, sagte Freddie. »Um die Anlage zu schließen, brauchen wir eine Anordnung vom Amt für Wasser- und Energieversorgung. Und die bekommt man nicht so leicht. Schließlich werden dann dreieinhalb Millionen Menschen von der Wasserversorgung abgeschnitten. Es gäbe einen unglaublichen Aufruhr.« »Und wenn ich Ihnen sagen würde, dass Sie es sofort tun müssen ...« »Dann würden wir Ihnen raten, den Dienstweg einzuhalten und in zwei Wochen mit den entsprechenden Papieren wiederzukommen«, beendete Freddie den Satz. »Zwei Wochen habe ich nicht«, sagte Barbara. »Das Wasser muss sofort abgestellt werden. In dieser Minute.« »In ebendieser Sekunde«, fügte Cordelia eilfertig hinzu. »Sie ist Polizistin, also müssen Sie ihr gehorchen!« Sie drehte sich zu Barbara um und flüsterte: »Warum eigentlich abstellen?« »Ich weiß es nicht«, entgegnete Barbara ebenfalls im Flüsterton. »Keine Ahnung, was Wechsler auf dem Damm macht und was da draußen vorgeht. Aber nach allem, was wir über den Kerl wissen – das mit den Drogen und so weiter – führt er bestimmt nichts Gutes im Schilde, wenn er sich hier mitten in der Nacht herumtreibt. Wahrscheinlich macht er sich an der Wasserversorgung zu schaffen. Deshalb will ich, dass sie abgestellt wird. Wenn wir herausgefunden haben, was er hier treibt, können wir das Wasser wieder aufdrehen.« Sie sah wieder zu den Ingenieuren hinüber. »Also?« »Und wenn nicht? Wollen Sie uns dann einen Strafzettel verpassen?«, fragte Freddie Nebel patzig. »Ich kann nur an Sie als Bürger appellieren, mit der Polizei zu kooperieren«, erklärte Barbara. »Wenn Sie sich weigern, stelle ich Sie unter Arrest und befehle Ihnen, es zu tun. Wenn Sie sich dann immer noch weigern, werde ich mich selbst darum kümmern. Ab er wenn ich etwas kaputtmache, stehen Sie in der Verantwortung!« Nebel, Coxe und Daly sahen sich sorgenvoll reihum an. »Ich meine, wir sollten es tun«, sagte Daly mutig. »Bist du verrückt?«, fuhr Nebel auf. »Vielleicht fängt sie sonst wieder an zu schießen«, bemerkte Coxe ängstlich. »Ich werde nicht schießen«, versicherte Barbara, »wenn ich nicht muss.« »Ich werde Ihnen zeigen, wie es geht«, bot Daly an. 174
»Mir ist ganz egal, wie es geht«, fuhr Barbara auf.»Stellen Sie es einfach ab!« »Schon gut, ich mach's«, entgegnete Daly. »Kommt Leute! Helfen wir der Polizei!«
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Angel trat das Gaspedal fest durch, und Cordelia, Barbara Morris und Mike Slade wurden tüchtig in den Sitzen des GTX hin- und hergeschaukelt. Sie fuhren vom Freeway 210 auf den Freeway 10 in Richtung Zentrum, dann auf dem 101 nach Hollywood. Da die Morgendämmerung näherrückte, wurde der Verkehr auf den Straßen von Los Angeles immer dichter, und Angel sah sich genötigt, ständig die Fahrspur zu wechseln und sich zwischen den anderen Fahrzeugen hindurchzuschlängeln. Er musste sich eingestehen, dass er sich allmählich zu einem der Fahrer entwickelte, die er so sehr hasste. Aber die Sache war von äußerster Dringlichkeit. Da Barbara so clever gewesen war, im Kontrollgebäude die Wasserversorgung abstellen zu lassen, blieb der Großteil des Wassers, das Wechsler mit seinem Ritual verzaubert hatte, im Reservoir, bis Angel mit einem Gegenzauber aufwarten konnte. Eine gewisse Wassermenge war natürlich zuvor ins städtische Leitungssystem gelangt. Man durfte wohl bezweifeln, dass der Prozess, mit dem aus Flusswasser gechlortes Trinkwasser gewonnen wurde, auch eine reinigende Wirkung auf verzaubertes Wasser hatte. Also bestand die Möglichkeit, dass auf zahllosen Friedhöfen in der ganzen Stadt »tote« Dämonen wieder zurück ins Leben kamen, wenn die jeweiligen Sprinkleranlagen Wasser verspritzten, das mit dem Wasser in Berührung gekommen war, das Wechsler verzaubert hatte. Auf einem dieser Friedhöfe befanden sich Doyle und Betty McCoy. Während Angel noch stärker auf das Gaspedal drückte, hoffte er sehr, nicht zu spät zu kommen. Doyle jaulte laut auf, als ihn der Bejreggan-Dämon mit seinen pinkfarbenen, knochigen Fingern am Arm packte. Er riss sich los, wirbelte herum und holte zu einem Karateschlag aus, den der Bejreggan amüsiert kichernd einsteckte. Doyle schlug ihm zweimal ins Gesicht. Der Dämon versuchte, ihn mit den Händen abzuwehren, bewegte sich aber immer noch sehr langsam, weil ihm, wie Doyle vermutete, noch immer die Kälte des Grabs in den Knochen saß. Die beiden Schläge 176
zeigten Wirkung - der Bejreggan ging in die Knie. Doyle legte gleich noch einen Tritt gegen sein Kinn nach und brach ihm das Genick. »Hey!«, dachte er grinsend. »Wenn die so transusig sind, bin ich vielleicht doch nicht ganz chancenlos!« Die beiden Dämonen, die hinter ihm aufgetaucht waren, steuerten nun auf ihn zu. Ihnen folgten mindestens ein Dutzend weitere den Hang hinauf. Sie bewegten sich allesamt im Zeitlupentempo, wie Statisten in Nacht der lebenden Toten. Aber sie waren viele. Da spielte es auch keine Rolle, dass sie langsam waren. Es war Zeit, sich an die Arbeit zu machen. Doyle stürzte sich als Erstes auf den männlichen Dämon, der ihm am nächsten war. Der hob zwar verteidigend die Hände, aber Doyle schlug sie zur Seite und schlang seine Arme um den Hals des Dämons. Ruckartig drückte er ihm den Kopf nach hinten und hörte voller Befriedigung das Knacken, mit dem das Genick brach – die einzige ihm bekannte Methode, mit der man Dämonen Einhalt gebieten konnte, die bereits tot waren. Rasch warf Doyle den leblosen Körper auf den des Bejreggan-Dämons, und beide rollten ein Stück den Hang hinunter. Dem nächsten Dämon, der auf ihn zukam, wich Doyle aus und spurtete Richtung Ausgang. Er würde mit Verstärkung zurückkehren. Oder mit einer Waffe. Oder noch besser: Er würde bewaffnete Verstärkung auf den Friedhof schicken. Nach ein paar Minuten hatte er einen Hügel erreicht, von dem aus er das große Tor sehen konnte. Leider auch den Wachmann, der ihn vorher rausgeworfen hatte. Der Mann kniete auf dem Boden. Ihm liefen Tränen über die Wangen. Seine Pistole lag ein paar Meter entfernt im Gras. Hilflos hielt er seinen Schlagstock in die Höhe. Es sah aus, als hätte er vergessen, dass er ihn überhaupt in der Hand hatte. Neun Dämonen umzingelten den Mann und schlössen den Kreis um ihn immer enger. Wieder war das merkwürdige, unverständliche Brummen zu hören, das zu ihrer Kommunikation gehörte. Das Tor war nicht mehr weit entfernt. In etwa einer Minute konnte Doyle draußen vor dem Friedhof sein. Und all die Dämonen, die ihn an seiner Flucht hätten hindern können, waren mit dem Wächter beschäftigt. »Oh, Mann«, dachte er, »ist ja wieder mal echt ätzend!« Dann lief er den Hügel hinunter, um dem Wächter beizustehen. »Du bist auch schon mal besser gefahren!«, rief Cordelia vom Rücksitz. 177
Angel ignorierte sie. Den Freeway 101 hatten sie bereits hinter sich gelassen und fuhren nun über den Sunset Boulevard auf den Friedhof zu. Angel scherte sich nicht um die Fahrbahnmarkierungen. Nicht einmal um die doppelte gelbe Linie, die den Fahrzeugstrom Richtung Osten, in dem sich der GTX bewegte, von dem in Richtung Westen trennte. Wann immer es dem Vorwärtskommen diente, scherte er auf die Gegenfahrbahn aus. »Die Puppe hat Recht«, meldete sich Mike Slade vom Beifahrersitz. »Wenn ich nicht schon tot wäre, wäre diese Fahrt definitiv mein Ende.« Slade hatte sich ernste Verletzungen im Kampf mit Wechsler zugezogen. Sein Blut klebte ihm an den Klamotten, im Gesicht hatte er Prellungen und der Unterkiefer war gebrochen. Die Schäden waren, wie Angel annahm, wohl nicht von Dauer, aber so schnell wie bei ihm heilten Slades Wunden nicht. Die Schnittwunde von der Dämonenklinge auf Angels Brust war mittlerweile fast nicht mehr zu sehen. Angel war beeindruckt, dass es Barbara, die mit Cordelia hinten saß, gelungen war, die Wasserversorgung zu unterbinden. Bestimmt wurde aus der jungen Dame eines Tages eine gute Polizistin. Davon konnte die Stadt definitiv einige mehr gebrauchen. Obwohl Angel in Anbetracht seines Fahrstils ganz zufrieden war, dass in diesem Augenblick weit und breit keine Cops auf den Straßen zu sehen waren. Dann tauchte links von ihnen der Friedhof von Hollywood auf. Angel riss abrupt das Lenkrad herum, wobei der Wagen hinten leicht ausbrach. Gleichzeitig trat er auf die Bremse, und der GTX rutschte auf den Gehsteig vor dem Friedhofstor. Sie sprangen aus dem Wagen. Angel stürzte sich sofort auf das Tor und öffnete es mit einem Ruck. Auf dem Friedhofsweg blieb er kurz stehen und lauschte. Dann rannte er in die Richtung, aus der die Schreie kamen. Slade, Barbara und Cordelia liefen ihm hinterher. In einer großen Mulde standen Doyle und ein anderer Mann – der Uniform nach ein Wächter – Rücken an Rücken. Sie waren von einigen dutzend Dämonen umringt, die knurrten und brummten und in einer Vielzahl von Dämonensprachen miteinander redeten. Sie sahen ganz so aus, als hätten sie ernste Tötungsabsichten. Der Wächter wedelte erfolglos mit seinem Schlagstock, als wäre er eine Fackel, mit der er die Dämonen verjagen konnte. Doyle hatte seine Hände zu Fäusten geballt und wartete darauf, dass einer der Dämonen den ersten Schritt machte. 178
Im nächsten Moment trat ein recht kleiner Unhold vor – höchstens einsfünfzig groß, aber sehr muskulös. Er hatte den breiten Rücken eines Gewichthebers, vier starke Arme und riesige rot geäderte Hände. Als er mit einer dieser Hände ausholte, duckte Doyle sich weg und trat nach dem Dämon. Dessen zweite Hand fuhr aus und hielt Doyle am Bein fest, schleuderte ihn in die Luft und ließ ihn auf den Rücken krachen. Sogar oben auf dem Hügel hörte Angel den Aufprall, verzog mitfühlend das Gesicht und raste den Hügel hinunter. Unten angekommen, verpasste er dem vierarmigen Dämon eine Linksrechts-links-Kombination aus Tritten, gefolgt von zwei schnellen Karateschlägen gegen den Hals. Sofort klappte der Dämon mit gebrochenem Genick zusammen. »Mann, bin ich froh, dich zu sehen!«, rief Doyle und rappelte sich auf. »Die werden einfach immer mehr! Wir haben sie abgewehrt, so gut wir konnten.« »Verstärkung ist schon da!«, sagte Angel. »Es ist, als kämen sie grundlos einfach so aus ihren Gräbern«, erklärte Doyle japsend. »Überall, auf dem ganzen verdammten Acker.« »Es geschieht nicht ohne Grund.« »Ganz bestimmt nicht! Aber klär mich bitte nicht auf, denn ich glaube, ich will es gar nicht wissen.« »Doyle!«, sagte Angel. »Ja?« »Halt die Klappe und kämpf!« Beide schwiegen und kämpften. Slade und Barbara stürmten, aus ihren Pistolen feuernd, den Hang hinunter. Innerhalb von wenigen Minuten war die unmittelbare Gefahr gebannt. Keuchend betrachteten sie die unzähligen Leichen. Mit dem Leben war auch das dämonische Äußere von den Toten gewichen. Die Leichen sahen völlig menschlich aus. »Gehen Sie zurück in ihr Wachhaus«, sagte Angel dem arg mitgenommenen Wächter. »Wir kümmern uns um das Übrige.« Der Wächter nickte nur stumm und huschte davon. Doyle, Slade und Barbara versammelten sich um Angel, der die drei einander vorstellte. »Doyle«, sagte er. »Mike Slade. Barbara Morris.« »Hallo«, sagte Doyle. »Hallo«, entgegnete Slade. »Prima Arbeit«, führ Doyle fort und sah Slade neugierig an. »Sie sind gut!« »Danke«, antwortete der Privatdetektiv. 179
Cordelia war oben auf dem Hügel stehen geblieben, weit weg vom Kampfgetümmel. Sie hatte die Armbrust im Auto gelassen, hielt aber einen kurzen, gefährlich spitzen Holzspeer in der Hand. Mit zittriger Stimme rief sie: »Ähm, Leute? Wenn ihr mit dem Haufen da unten fertig seid, kommt hier noch ein bisschen Nachschub.« »Danke, Puppe«, rief Slade. »Wie ich sagte«, bemerkte Doyle. »Die werden einfach immer mehr.« »Ihre Anzahl ist jedoch mit Sicherheit begrenzt«, sagte Angel. »Aber viele sind es trotzdem«, wandte Slade ein. »Wechsler war fleißig. Und auf diesem Friedhof sind zahlreiche Dämonenfamilien beigesetzt. Nicht alle, aber einige.« »Hier ist übrigens auch Betty McCoy begraben«, klärte ihn Angel auf. »Doyle hat ihr Grab bewacht.« »Allerdings nur, bis es hier drunter und drüber ging«, sagte Doyle. Slade war erstaunt. »Betty ist hier?« In diesem Augenblick begriffen sie alle, was das bedeuten konnte. Doyle rannte sofort los. »Hier entlang!«, rief er und die anderen folgten ihm. Da er als Einziger den Weg kannte, war er als Erster am Grab. Es war ebenfalls aufgerissen. In der Rasenfläche gähnte ein schwarzes Loch. Sie war weg! Doyle wirbelte herum und blickte suchend in alle Richtungen. Überall stolperten Dämonen herum, auf dem Rasen, zwischen den Grabsteinen und manche sogar schon am Zaun. Aber es war niemand dabei, der aussah wie Betty McCoy. Allerdings wusste er auch gar nicht, wie sie aussah, fiel ihm ein. Er hatte in seiner Vision nur den Namen und die Adresse gesehen, nicht die Frau selbst. Angel trat neben ihn und blieb vor dem leeren Grab stehen. »Sind wir zu spät?«, fragte er. »Leider, ja«, entgegnete Doyle. Mike Slade hatte in den letzten Tagen einiges durchgemacht. Besonders, da seinem Zeitgefühl nach auch sein Mord erst ein paar Tage zurücklag. Er war von den Toten auferstanden, vor den Cops quer durch die Stadt geflohen, hatte Veronicas Tochter kennen gelernt und feststellen müssen, dass seine Sekretärin und seine Klientin beide tot waren. »Okay«, dachte er, »Zeit, mit dem Selbstbetrug aufzuhören!« Veronica war nicht nur seine Sekretärin gewesen, sondern die Frau, die er geliebt hatte. Die Einzige in dieser riesigen Stadt, die in ihm den Wunsch geweckt hatte, zu heiraten und ein geregeltes Leben zu führen, ein Haus 180
irgendwo in einem Vorort zu kaufen und vielleicht sogar die Knarre hinzuwerfen und eine ehrliche Arbeit zu suchen. Sie war in der Lage gewesen, einem Kerl mit einem Nicken, einem Hüftschwung oder einem Augenzwinkern solche Flausen in den Kopf zu setzen. Jahrelang hatte er sich eingeredet, er empfinde nur so, weil er zu viele Schläge aufs Hirn abbekommen hatte. Aber er hörte nicht auf, daran zu denken, es wurde sogar immer schlimmer. Bis er ihr schließlich seine Gefühle gestand. Er war überzeugt gewesen, sie würde sofort ihre Sachen packen und zur Tür hinausmarschieren. Sie hatte ihn jedoch angelächelt, die Beine übereinander geschlagen und gesagt: »Das hat ja lange gedauert, du Idiot!« Aber nun war nicht die richtige Zeit, über Veronica nachzudenken. Auf dem Friedhof wimmelte es nur so vor wiedererweckten Dämonen, die nach Führung suchten, aber keine fanden, weil Slade den Typen eigenhändig umgebracht hatte, der für sie zuständig war. Die Dämonen würden einfach ziellos umherwandern und alles verwüsten, bis sie jemand stoppte. Sie noch einmal zu töten, war die einzige Methode, mit der sie aufgehalten werden konnten. Denn nur so wurden ihre Körper daran gehindert, die Befehle auszuführen, die ihnen die Reste ihres Hirns erteilten. All diese Gedanken gingen Slade durch den Kopf, als er vor dem leeren Grab stand, in dem Betty McCoy während vieler Jahre unruhig gelegen hatte. Es war ihm gelungen, Wechsler aufzuspüren und zu töten. Dennoch war er zu spät gekommen. Er hatte nicht unterbinden können, was Betty ihn schon vor so vielen Jahren zu verhindern gebeten hatte. Also hatte Wechsler letztendlich gewonnen und Slade verloren, denn Bettys Geist war immer noch keine Ruhe vergönnt. Slade blickte über den Friedhof und beobachtete die Dämonen, wie sie über den Zaun in die Freiheit ausbrachen. Auf der anderen Seite ist das Gras auch nicht grüner, hätte er ihnen am liebsten zugerufen. Die Stadt hatte sich verändert, und zwar zu ihrem Nachteil. Sie war größer geworden und lauter und schmutziger und gefährlicher – aber laut und schmutzig und gefährlich war Los Angeles eigentlich schon immer gewesen, musste er einräumen. Dann entdeckte er sie plötzlich am Zaun. Er hätte sie überall wiedererkannt, jederzeit. Ihre Frisur, ihren langen Hals, wie sie beim Gehen mit den Hüften wackelte. Nur attraktive Frauen arbeiteten als Zigarettenverkäuferinnen, besonders in einem Lokal wie der Rialto Lounge, das den Ehrgeiz hatte, mehr als nur ein 181
Lokal zu sein – ein Ort der Bestimmung gewissermaßen. Und Betty war verdammt attraktiv. »Betty!«, rief er. Sie reagierte nicht. Aber er erkannte sie genau – auch auf diese Entfernung und in dem schummrigen Licht vor Beginn der Morgendämmerung. Er rannte auf sie zu. »Betty!« Immer wieder rief er ihren Namen. Schließlich hörte sie ihn, blieb stehen und drehte sich um. Nicht das kleinste Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Nicht eine Spur des Erkennens in ihren toten Augen. Ihre Hände bewegten sich, als wolle sie etwas zerreißen. Sie hatte den Mund leicht geöffnet, und Slade sah, dass zwischen ihren Zähnen Erde klebte. »Betty«, sagte er und blieb ein paar Meter vor ihr stehen. »Ich bin es, Mike! Mike Slade.« Immer noch konnte er nicht beurteilen, ob sie ihn wiedererkannte. Oder in ihm nur ihr Frühstück sah. Sie leckte sich über die dreckverschmierten Lippen. Speichel tropfte aus ihren Mundwinkeln. Ihr lief im wahrsten Sinne des Wortes das Wasser im Mund zusammen. Sie sah völlig ausgehungert aus. Im nächsten Augenblick stürzte sie sich auf ihn. »Betty!«, rief er und schubste sie weg. Ihre einzige Reaktion war, erneut auf ihn zuzukommen. Diesmal packte sie ihn am Arm, als er sie zurückstoßen wollte, und ihre Fingernägel gruben sich in sein Fleisch. Mit den Zähnen schnappte sie nach seinem Hals. »Mich willst du doch gar nicht fressen!«, sagte Slade. »An mir ist nichts dran! Das wäre doch nur ein kleines Häppchen und in einer Stunde hättest du wieder Hunger.« Ohne zu antworten zerrte sie weiter an ihm herum. Sie wollte ihn töten. Es war das Einzige, was diese Dämonen konnten. Darauf waren sie von Harold Wechsler programmiert worden. Zu töten und zu töten und zu töten. »Betty, es tut mir Leid«, sagte Slade, und seine Stimme brach. »Ich habe dich im Stich gelassen. Ich hätte ihn schon Vorjahren töten sollen, bevor er mich erwischte. Ich habe versagt, Süße. Ich hab es vermasselt.« 182
Betty schnappte nach ihm und zog ihn mit ihren starken Armen noch dichter an ihren Mund. Auch in Dämonengestalt wirkte sie immer noch sehr menschlich. Sie war nur übernatürlich stark, und ihre ehemals geraden weißen Zähne waren länger geworden. Slade wusste, er hatte nur eine Wahl. Streng genommen eigentlich gar keine. Er konnte nur eines tun, um Bettys Seele Frieden zu schenken. Er musste sie töten. Sein Blick verschleierte sich, und er spürte, dass ihm Tränen in die Augen stiegen. Aber Privatdetektive heulten nicht. Privatdetektive waren die toughsten Kerle in der Stadt. Sie konnten alles aushaken. Gefühle waren ihnen niemals im Weg. Sie kümmerten sich nur um ihren Fall, um den Übeltäter und nach Erledigung des Jobs um die Bezahlung. Manche trachteten auch nach Gerechtigkeit. Dieser Angel schien so einer zu sein. Auf jeden Fall aber taten Privatdetektive immer, was getan werden musste. »Denk nicht darüber nach!«, redete sich Slade zu. »Tu es einfach!« Er tat es. Als er es hinter sich gebracht hatte, nahm er Betty McCoy in die Arme und kniete sich ins Gras. Ihr künstlich wiedergegebenes Leben erstarb. Slade selbst hatte das Gefühl, allmählich zu verlöschen. Er war nur wegen Betty zurückgekehrt. Um diesen Fall ein für alle Mal abzuschließen. Das hatte er nun getan. Wechsler war tot. Und Betty konnte endlich in Frieden ruhen. Er blickte auf ihre ebenmäßigen Züge hinab, ihre milchweiße Haut, die schönen blauen Augen. Diese Augen sahen ihn plötzlich an. Gleichzeitig verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln. »Mike«, sagte sie. Dann fielen ihr die Augen zu, und sie war tot. Slade merkte, wie ihm erneut die Tränen in die Augen stiegen. Er konnte sie nicht zurückhalten. Sie liefen ihm über die Wangen und tropften auf Bettys weiße Haut. »Wir machen das schon, Mann«, sagte Doyle. Slade sah überrascht auf. Hinter ihm standen Doyle und Angel. Sie nahmen ihm Betty aus den Armen und legten sie vorsichtig wieder zurück in ihr Grab. 183
»Ich bin wirklich froh, dass du noch einmal ins Leben zurückgekehrt bist, Mike«, sagte Barbara. Sie kniete sich neben ihm ins nasse Gras und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich auch, Pferdeschwänzchen«, sagte er. »Es ist... als wärst du irgendwie mein Vater. Mein richtiger Vater. Mein geistiger Vater, meine ich.« »Ich weiß, das empfinde ich auch so.« Er schnalzte mit der Zunge. »Natürlich umgekehrt.« »Das habe ich schon verstanden.« Sie umarmte ihn und schmiegte sich zärtlich an ihn. Er spürte, dass auch ihre Wangen nass waren, aber er konnte sie nicht mehr sehr deutlich sehen. Alles verblasste langsam. Der Friedhof, Angel, Doyle, Cordelia und Barbara – sie waren nur noch verschwommene Gestalten, als würde er sie durch einen Schleier betrachten. »Ich habe meine Pläne geändert«, fuhr Barbara fort. »Ich werde die Academy beenden und eine Weile bei der Polizei arbeiten. Aber dann höre ich auf und mache mich als Privatdetektivin selbständig!« »Du musst dich von Angel schulen lassen«, sagte Mike mit ersterbender Stimme. »Ich habe schon viele Pfeifen in meinem Job gesehen und muss sagen, er ist einer der Besten, die ich je kennen gelernt habe. Vielleicht einer der Besten, die es je gab.« Barbaras Antwort konnte Slade nicht mehr verstehen. Die Worte wurden von einem Rauschen in seinen Ohren fortgerissen – von einem lauten Wind. Er konnte sie auch nicht mehr sehen. Vor seinen Augen erstrahlte ein helles weißes Licht. Er hatte den Eindruck, kurz noch einmal den Friedhof zu sehen, von oben, wie durch eine Wolke hindurch, aber dann war das Bild verschwunden, und alles war nur noch weiß. Nur noch Wind und Ruhe gab es. Nur noch Ruhe ...
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Epilog
Im Büro von Angel Investigations fiel das Licht der Nachmittagssonne schräg durch die Fenster. Angel hielt sich davon fern und lehnte am Türpfosten seines Büros. Die Arme hatte er vor der Brust verschränkt. Cordelia saß an ihrem Schreibtisch, Doyle auf der Couch und Barbara Morris in dem großen braunen Sessel. »Barry Fetzer ist vor etwa einer Stunde zusammen mit ein paar anderen Handlangern von Wechsler vor dem Bun Boy-Restaurant, diesem legendären Hamburger-Laden mitten im Death Valley, festgenommen worden. Sie waren nach Nevada unterwegs«, sagte Barbara. »Jetzt werden sie in die Stadt zurückgebracht.« »Was wird mit ihnen geschehen?«, wollte Cordelia wissen. »Sie werden als Mittäter bei den Morden an den Wachmännern in der Anlage von San Gabriel angeklagt«, erklärte Barbara. »Außerdem fahndet die Polizei nach weiterem Belastungsmaterial.« »Was ist mit den anderen Vergehen?«, fragte Angel. »Das, was mit den Friedhöfen geschehen ist, zum Beispiel?« Als sie mit den Dämonen auf dem Friedhof von Hollywood fertig gewesen waren, hatten sie einige andere städtische Friedhöfe aufgesucht. Überall, wo die Sprinkleranlagen arbeiteten, gab es ein paar Dämonen, um die sie sich kümmern mussten. Aber nirgends waren sie so zahlreich gewesen wie auf dem Friedhof von Hollywood. Kurz vor Sonnenaufgang waren sie ins Büro zurückgekehrt. Nach einer langen Nacht hatten Angel und Cordelia die Gelegenheit beim Schöpf gepackt, um sich endlich auszuruhen. Aber Doyle hatte noch etwas erledigen müssen, und Barbara war zur Academy gefahren. Sie war ein paar Stunden weggewesen und nun mit den Neuigkeiten zurückgekehrt. »Die Stadt kann nur eine begrenzte Menge von Merkwürdigkeiten auf einmal ertragen«, sagte Barbara. »Ich habe gehört, die Leute erzählen sich, dass Harold Wechsler im Reservoir der Anlage von San Gabriel ertrunken ist. Man vermutet einen gewaltsamen Tod, und die Polizei verdächtigt Fetzer, etwas damit zu tun zu haben – zusammen mit den anderen, die mit ihm nach Nevada abhauen wollten. Aber über die Friedhöfe war gar nichts zu hören.« 185
»Wie ist das möglich?«, fragte Cordelia. »Jemand muss doch bemerkt haben, dass die Hälfte der Gräber in Hollywood offen ist und überall Leichen herumliegen?« »Ganz gewiss sind sie inzwischen schon gefunden worden«, erklärte Barbara. »Aber irgendjemand hält die Geschichte streng unter Verschluss.« »Das überrascht mich nicht«, bemerkte Angel. »So etwas ist schwer zu erklären.« »Und die Presse ist völlig damit beschäftigt herauszufinden, warum die Wasserversorgung der Stadt mehrere Stunden lang unterbrochen war. Etwas anderes kriegen die Journalisten gar nicht mit.« In diesem Augenblick ging die Tür auf und Detective Kate Lockley betrat das Büro. Sie trug ein weißes Hemd, Jeans und hatte ihr Haar zum Pferdeschwanz gebunden. Sie sah alles andere als fröhlich aus. Sie ließ die anderen links liegen und kam direkt auf Angel zu, den sie mit ihrem Blick durchbohrte. »Du«, sagte sie ernst. »Ich muss mit dir reden!« Angel ging in sein Büro und Kate folgte ihm. »Was ist los, Kate?«, fragte er, nachdem er die Tür geschlossen hatte, und setzte sich an seinen Schreibtisch. »Was weißt du über Harold Wechsler?« Angel zuckte mit den Schultern. »Was du mir über ihn gesagt hast. Er ist der Chef vom Amt für Wasser- und Energieversorgung, nicht wahr?« »Das war er«, sagte Kate. »Vergangenheit!« »Wie meinst du das?« »Er ist heute Nacht in der Wasseraufbereitungsanlage ertrunken.« »Tut mir Leid zu hören«, entgegnete Angel. »Oh ja, sicher. Ich darf wohl davon ausgehen, dass die Leute von der Spurensicherung dort keine Spuren von dir finden werden?« »Warum sollten sie? Kate, wie kommst du überhaupt auf die Idee ...« »Ich weiß auch nicht, warum, Angel. Es ist nur so: Wann immer in der Stadt etwas geschieht, das ich nicht erklären kann, scheinst du in der Geschichte mit drin zu hängen. Diesmal war es dieser Privatdetektiv Mike Slade, der hinter Wechsler her war. Und du hast nach Slade gesucht. Du wurdest bei Wechslers Haus festgenommen. Und wenn ich zwei und zwei zusammenzähle, dann ergibt das immer noch vier.« »In Mathe war ich nie besonders gut.« »Na gut«, entgegnete Kate patzig. »Dann machen wir es eben anders. Ich werde dir sagen, was ich weiß. Und wenn du die eine oder andere Lücke schließen kannst, dann zögere nicht!« Angel nickte. 186
»Harold Wechsler war, wie sich herausstellte, der Besitzer des Gebäudes an der Argyle Avenue, in dem sich Mike Slades Büro befand«, fing Kate an. »Jenem Bau, in dem wir neulich Slades Leiche entdeckten. Wechsler hat es vor ein paar Monaten verkauft. Und zwar, nachdem er in das neue Amt berufen worden war und bevor er es tatsächlich antrat. Er verkaufte es an eine Baugesellschaft, die es abreißen wollte, um Raum für Ladenlokale zu schaffen.« »Klingt ja fürs Erste ganz normal«, bemerkte Angel. »Erzähl weiter!« Kate setzte sich auf die Schreibtischkante. »Von dem Vorarbeiter der Firma erfuhren wir, dass einer von Wechslers Leuten – ein Mann namens Barry Fetzer, den wir zufällig heute festgenommen haben – an dem Tag, als Slades Leiche gefunden wurde, zu dem Abrissgebäude kam. Er wollte es unbedingt betreten.« »Vielleicht hatte Wechsler dort etwas vergessen.« »Eine Leiche zum Beispiel?« »Vielleicht«, meinte Angel. »Heute in den frühen Morgenstunden ist Wechsler jedenfalls zu der Wasseraufbereitungsanlage in San Gabriel gefahren, wo er dann gegen vier Uhr ertrunken ist. Und zufällig hat jemand die diensthabenden Wachmänner der Anlage auseinander genommen, nachdem sie Wechsler und seine Leute hereingelassen hatten. Und ebenso zufällig sperrten die drei Ingenieure, die in der Anlage arbeiteten, die Wasserzufuhr zur Stadt ab. Sie behaupten, es sei ihnen von einer Polizistin mit einem braunen Pferdeschwanz befohlen worden. Wer, sagtest du, war noch die junge Dame, die da draußen bei Doyle und Cordelia sitzt?« »Ich hab gar nichts gesagt«, entgegnete Angel. »Sie heißt Barbara Morris.« »Okay«, fuhr Kate fort. »Dann ist nach Aussage dieser drei Ingenieure ein Mann aufs Gelände gekommen. Er lief auf den Damm hinaus und kehrte nach einer Weile wieder zurück und sagte den Ingenieuren, sie sollten den Wasserhahn wieder aufdrehen. Was sie auch taten. Ihrer Personenbeschreibung zufolge hatte dieser Mann dunkles Haar und strahlend blaue Augen.« Sie warf erneut einen Blick in das vordere Büro, diesmal in Doyles Richtung. »Kannst du immer noch nichts zu der Geschichte beisteuern?« »Nein, aber ich muss sagen, sie ist außerordentlich faszinierend, Kate.« »Die Leiche in dem Gebäude an der Argyle Avenue wurde eindeutig identifiziert. Es handelt sich definitiv um Mike Slade«, fuhr Kate fort. »Wir haben Zahnarztunterlagen und Röntgenaufnahmen von einem Armbruch gefunden. Es passt alles zusammen. Zahlreiche Augenzeugen 187
haben Slade allerdings auch als den Mann identifiziert, der in unterschiedlichen Situationen hinter Wechsler her war. Der echte Mike Slade starb 1961.« »Wechsler ist derjenige, der ihn umgebracht hat«, erklärte Angel. »Ist das eine Tatsache?« »Ja.« »Kannst du das beweisen?« »Nicht vor Gericht. Aber ich versichere dir, es ist die Wahrheit.« »Wechsler kann sowieso nicht mehr vor Gericht gestellt werden«, sagte Kate. »Aber habe ich, wenn ich weitergrabe, eine Chance, den Mordfall ein für alle Mal zu lösen?« »Das bezweifle ich«, sagte Angel. »Möglicherweise nicht. Das alles ist vor langer Zeit geschehen. Zu viele Leute sind inzwischen verstorben. Du könntest Fetzer bearbeiten und hören, ob er etwas weiß.« »Das werde ich tun.« »Und wenn der Fall für immer ungelöst bleibt, hat Slade – glaube ich – auch nichts dagegen.« »Glaubst du, ja?«, gab Kate spitz zurück. »Das glaube ich.« »Warum?« »Was Slade meiner Meinung nach wirklich wollte, war die Bestätigung, dass er jemandem wichtig gewesen ist«, sagte Angel nachdenklich. »Dass er nicht umsonst gelebt hat – ohne etwas hinterlassen zu haben. Er wollte wissen, ob es Leute gibt, die sich an ihn erinnern und ihn schätzen. Es gibt sie tatsächlich. Und das ist im Grunde das Einzige, worauf es ankommt.« Kate verschränkte die Arme vor der Brust und drehte sich zu Angel um. Mit steinerner Miene sah sie ihm eine ganze Weile in die Augen, bis es ihm fast unangenehm wurde. Er zuckte jedoch nicht mit der Wimper. »Dann war es das also«, sagte sie. »Okay, belassen wir es dabei.« Noch einmal sah sie ihn lange an. »Eines muss ich dir allerdings noch sagen, Angel. Seit du nach Los Angeles gekommen bist, ist es mit der Ruhe endgültig vorbei.« »Ich wusste gar nicht, dass dir so sehr an Ruhe gelegen ist, Kate.« »Das habe ich auch nicht gesagt. Dir etwa?« Angel legte die Hände auf den Tisch. »Manchmal glaube ich, ich kann Ruhe überhaupt nicht aushaken«, entgegnete er. »Aber dann, wenn es mal wieder nicht so ruhig zugeht, sehne ich sie doch wieder herbei.« Kate lachte. »Ich weiß, was du meinst, Angel.« »Es erstaunt mich zwar, Kate«, sagte er und musste ebenfalls lachen, »aber vielleicht tust du das wirklich.« 188