Gruselspannung pur!
Horror-Kid Sarah
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann »Bringen Sie mir mein Kind zurück«, ha...
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Gruselspannung pur!
Horror-Kid Sarah
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann »Bringen Sie mir mein Kind zurück«, hauchte die Frau. »Ich flehe Sie an!« »Glauben Sie im Ernst, ich könnte sie wieder lebendig machen?« polterte der Schwarzgekleidete und verengte die Augen. »Ihre Tochter ist tot und begraben.« Sie starrte ihn an. »Ich weiß, daß Sie es können, und Sie haben es schon einmal getan.« Der Mann hob abwehrend die Hände. »Es ist nur ein Gerücht«, behauptete er. »Kein Mensch kann Tote wieder zum Leben erwecken.« »Auch nicht für hunderttausend?« Der Mann in Schwarz schwieg lange. Doch dann fällte er seine Entscheidung… Mark Hellmann - die Gruselserie, die Maßstäbe setzt!
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Tessa war zum Umfallen müde. Sie gähnte am laufenden Band, fingerte schläfrig an ihrem Drink und schüttelte jedesmal energisch den Kopf, wenn ich vorschlug, nach Hause zu gehen. »Kommt nicht in die Tüte, Mark«, sagte sie dann. »Mir gefällt's hier. Wenn du down bist, kannst du ja abzittern. Ich fühle mich prächtig.« Typisch Tessa! Sie gab vor, putzmunter zu sein, während ich befürchtete, daß sie jede Sekunde vom Stuhl kippte, auf dem sie zusammengesunken kauerte. Wir befanden uns in der Stage-Coach, einem perfekt nachempfundenen Western-Saloon in Weimar. Die Kneipe war gerammelt voll, bis unters Dach. An der klobigen Theke drängte sich jung und alt. Gegenüber, auf dem Holzpodium, klimperte eine Band einen Country-Song nach dem anderen. Manchmal hob der Bartender, ein rotbärtiger Typ mit breitkrempeltem Stetson, seinen Peacemaker aus einer Whiskylache und ballerte einige Schüsse Richtung Decke. Mit Platzpatronen, versteht sich. Die Gäste waren begeistert. Sie johlten, pfiffen und tobten wie eine Herde Bisons bei einer Stampede über das Tanzparkett. Nur Tessa und ich hockten vor unseren Highballs und blickten trübe drein. Meine Freundin hatte aufreibende Arbeitstage hinter sich, mit großen Strapazen und wenig Schlaf. Tessa war Fahnderin bei der Weimarer Kripo, und derzeit hatte sie alle Hände voll zu tun. Ein Mistkerl, der sich an kleinen Mädchen verging, sorgte für Dauerstreß. Tessa gehörte der SOKO an, die den Fall bearbeitete. Eines der Opfer hatte die brutale Vergewaltigung nicht überstanden. Vor zwei Wochen war die Kleine gestorben… Als die Band Islands In The Stream spielte, fiepte mein Handy. »Ja, hallo?« seufzte ich trocken. Ein kratziges Lachen dröhnte an mein Ohr. Auf der Stelle schnellte mein Blutdruck in die Höhe. Momentan stand mir der Sinn weiß Gott nicht nach platten Albernheiten. »Wer ist da?« blaffte ich. »Dreimal darfst du raten, alter Fliegenschreck!« Ich stutzte. Fliegenschreck? Von meinem Abenteuer mit der Bestie vom Alten Strom (Siehe MH 29!) wußten nur wenige. »Berti Latotzki?« tippte ich. 3
»Wow! Du bist reif für Ulla Kock am Brink!« lärmte der Anrufer. »Ich bin's tatsächlich. Dein alter Schulkumpel Berti. Bist ein ausgeschlafenes Kerlchen, Mark. Das muß der Neid dir lassen. Wo treibste dich denn gerade herum?« »Tessa und ich sind auf Derby«, übertrieb ich. »Wir machen gerade einen drauf, in 'ner Westerndisco. Oberweimar, Nähe Umspannwerk.« » Stage-Coach?« »Du kennst den Laden?« »Klaro!« krakeelte Berti. »In einer Viertelstunde rück ich dir auf die Pelle, Alter.« »Was machst du in Weimar, Berti?« fragte ich. »Haben sie dir in Rostock den Stuhl vor die Tür gesetzt?« »Keine Angst«, tönte mein Schulkumpel. »Einen Versicherungsvertreter wie mich kriegt meine Firma nie wieder. Und das wissen die. Nein, du, wir sind wegen dem Großen Marinello in Weimar. Du weißt schon, dieser Siegfried & RoyVerschnitt, der den Damen die Unterleiber verschwinden läßt. Er tritt morgen in Weimar auf.« »Seit wann stehst du auf Damen ohne Ende?« feixte ich. »Um mich geht's da weniger«, klärte mich Berti auf. »Vielmehr um Pia. Sie hat einen Narren an Magiern gefressen. Und der Große Marinello ist ihr Favorit Number one. - Hm, nach mir natürlich«, fügte er eilig hinzu. »Berti?« Zu spät. Er hatte bereits aufgelegt. Tessa packte, mich aufgeregt am Arm. »Hab ich eben richtig verstanden? Berti und Pia kommen?« Ich nickte. »In einer Viertelstunde.« Tessa sprang auf, schnappte sich ihr Handtäschchen und umrundete den Tisch. »Ich geh mir bloß ein bißchen Farbe ins Gesicht werfen«, teilte sie mir mit. Wie ein Sandsturm fegte sie davon. Ich nippte gedankenverloren an meinem Drink. Vor meinem inneren Auge erschien die hochgewachsene Gestalt des teuflischen Rostocker Professors Zacharias. Es war noch nicht lange her, da hätte uns der Kerl mit seinem Höllenserum um ein Haar um die Ecke gebracht. Tessa, Berti, seine Freundin Pia und mich. Wir waren auf winzige zwei Zentimeter geschrumpft. Aber 4
im letzten Augenblick konnte ich dem ausgeflippten Zacharias seinen Zaubertrank selbst unters Hemd jubeln. Im Reich der Insekten hatten wir tagelang verzweifelt um unser Leben kämpfen müssen. Zum Glück war das Serum des Professors noch nicht völlig ausgereift gewesen, und nach und nach erhielten wir unsere normale Größe zurück. Seitdem hatte ich Berti und Pia nicht mehr gesehen. Die Zeit verging, und ich nuckelte grübelnd meinen Highball aus. Plötzlich wieherte irgendwo ein Pferd. Ich fuhr auf und reckte den Hals. Hatte ein Spaßvogel etwa seinen Klepper mit in die Kneipe gebracht? Nein, keine Spur. Es war kein Pferd, das eben gewiehert hatte, sondern mein Schulkumpel Berti Latotzki. In seiner unnachahmlichen Weise bahnte sich der bärenstarke Bodybuilder eine Gasse durch die ihm Zujubelnden. Abermals stieß er ein verblüffend echt anmutendes Wiehern aus. Pia, die er am Arm hinter sich herzerrte, trug ein frivol dekolletiertes Mini-Kleidchen. Den Männern ringsum fielen fast die Augen aus dem Kopf. Sichtlich erfreut genoß die perfekt gebaute Blondine die Anerkennung, die ihr zuteil wurde. Ich sah, wie sie anzüglich ihr Rückgrat durchbog. Die dünnen Träger ihres enganliegenden Oberteiles leisteten Schwerstarbeit. Pia tippelte auf mich zu. Das letzte Stück flog sie mir wie ein Tomahawk entgegen. Freudestrahlend wickelte sie sich um meinen Hals. »Mark!« lispelte sie. »Find ich echt toll, daß wir uns mal wiedersehen!« »Ganz meinerseits«, meinte ich, wobei ich mich bemühte, den anheimelnden Druck ihrer ausladenden Zwillinge nicht allzu sehr zu genießen. Wie aus dem Boden gestampft, tauchte Tessa auf. Mit einer geschickten Körperbewegung befreite sie mich von Pias süßer Last. Plötzlich wirkte Tessa lebhaft wie ein Goldhamster im Laufrad. »Nett von euch, mal reinzuschneien«, behauptete sie. Weiter kam Tessa Hayden nicht. Berti Latotzki breitete quietschvergnügt seine muskelbepackten Arme aus und drückte die Polizistin an seinen gigantischen Brustkorb. 5
Tessa japste nach Luft, als hätte sie gerade fünf Minuten schnorchellos unter Wasser zugebracht. »Wirst von Mal zu Mal hübscher, Tess«, schmeichelte ihr Berti, als er sie wieder auf beide Beine gestellt hatte. »Wüßte ich nicht, daß du bis über beide Ohren in meinen Kumpel Mark verknallt bist, würde ich dir glattweg einen… Aua!« »Bestellst du mir einen Drink, Berti?« Pia lächelte honigsüß, und Berti rieb verblüfft seinen schmerzenden Arm, in den ihn seine Freundin heimlich gekniffen hatte. Aber flugs fing er sich wieder. »Klaro!« Berti war in seinem Element. »Wir gießen ordentlich einen auf die Lampe. Unser Wiedersehen muß doch zünftig gefeiert werden.« Schon winkte der Hüne dem Mann am Tresen. »He, Salooner! Eine Pulle Rotkäppchen, wenn da ist, halbtrocken, und vier blitzsaubere Gläschen. Okay?« »Allright, old boy.« Der Rotbärtige tippte grinsend an seinen Stetson. Wir setzten uns, der Sekt kam, die Band spielte Take Me Home Country Roads, und im Nu war eine angeregte Unterhaltung im Gange, denn es gab viel zu erzählen. Es versprach, ein verdammt amüsanter Abend zu werden. Dann kreuzte der verwahrloste Typ mit der rotkarierten Jacke auf, und mein untrüglicher Instinkt kündigte Unheil an. * Alma Schlegel war überglücklich. »Möchtest du noch einen Keks, Sarah?« fragte sie. Das Mädchen schaute auf. »Die Dinger schmecken eklig. Du kannst sie behalten, Alma.« Die Neunjährige saß ihrer Mutter gegenüber am Fenster des Zugabteils. Sie hauchte an die Scheibe. Mit steifen Fingern malte sie Strichmännchen darauf. »Du nennst mich beim Vornamen?« fragte die Frau. »Wieso nicht?« sagte die Kleine, ohne den Blick von der Scheibe zu wenden. »Du tust das ja auch. Und jetzt sei still und stör mich nicht immerzu. Das lenkt ab. Ich male ein Bild, wie du siehst.« »Jaja«, kommentierte die Mutter eilig. »Wie du möchtest, mein kleiner Schatz.« 6
Alma Schlegel lehnte sich zurück. Gedankenverloren beobachtete sie ihre Tochter. Sarah war nicht mehr das liebe, anhängliche Mädchen, das sie noch vor zwei Wochen war. Jetzt war sie frech, anmaßend, hinterhältig. Sie log, daß sich die Balken bogen. Zudem schien sie neuerdings diebische Freude an Grausamkeiten zu haben. Am Morgen hatte die Mutter durch den Türspalt ins Kinderzimmer geblickt. Sarah war gerade dabei, ihrer Barbiepuppe den Kopf abzuscheiden. Mit dem scharfen Tranchiermesser, das sie aus der Küche stibitzt hatte. Dabei hatte ein verzücktes Lächeln ihre Lippen umspielt. Aber das werde ich schon wieder hinkriegen, redete sich die Mutter ein. Immerhin hatte Sarah unsagbar furchtbare Erlebnisse gehabt. Man hatte ihr scheußliche Gewalt angetan, und schließlich befand sie sich eine Zeitlang im Totenreich… Nur der unerhört starken Magie des Großen Marinello war es zu verdanken, daß Alma Schlegel ihr einziges Kind wiederbekommen hatte. Der InterCity verlangsamte deutlich sein Tempo. »Gleich sind wir in Mainz«, sagte die Mutter. »Von dort ist es nicht mehr allzu weit bis Koblenz.« Sarah beäugte kritisch die Strichmännchen, die sie gemalt hatte. »Wie findest du mein Bild, Alma?« fragte sie. »Sehr schön.« »Ehrlich?« »Ja, du hast dir sehr viel Mühe gegeben.« »Und wie gefällt dir der Mann, den sie aufgehängt haben?« Alma Schlegel fuhr der Schreck in die Glieder. Statt Sarahs Strichmännchen zu begutachten, hatte sie die ganze Zeit ihre Tochter angeschaut. Erst jetzt betrachtete sie Sarahs Kritzelei genauer. Das Kind hatte ein Szenario des Grauens dargestellt. Über die ganze Scheibe verstreut waren dünnbeinige Strichmännchen damit beschäftigt, andere dünnbeinige Strichmännchen zu töten. Die Opfer wurden enthauptet, gevierteilt, schmorten in Kesseln über zuckenden Flammen und hingen an Stricken von hohen Galgen herab. Sämtlichen Henkern hatte das Mädchen einen lachenden Mund gemalt. Die Mutter rang um Fassung. »Hübsch«, murmelte sie verlegen. »Wirklich sehr hübsch.« »Wenn wir in unserer neuen Wohnung sind, werde ich noch mehr malen. Richtige, große Bilder. Die hänge ich mir an die 7
Wand. Dann kann ich sie immerzu angucken.« »Schön«, hauchte die Mutter. Zum ersten Mal fragte sich Alma Schlegel, ob es tatsächlich die richtige Entscheidung war, ihr Kind durch magische Kräfte von den Toten wiederauferstehen zu lassen. Würde sich Sarah wie ein normales Kind entwickeln? Würde sie irgendwann wieder die Schule besuchen können? Oder würden sie sich weiterhin versteckt halten müssen, unter falschem Namen? In Koblenz, einer fremden Stadt, wo sie keiner kannte? Und wie würde Achim, ihr Mann, reagieren, wenn er spitzkriegte, daß nun auch sie, seine Frau, über alle Berge war? Fragen über Fragen, und Alma Schlegel kannte keine Antwort. Sie wußte nur, daß sie ihre Tochter liebte. »Ich will doch einen Keks«, sagte Sarah. Die Mutter kramte in ihrer Handtasche, und das Mädchen begann, lustlos an dem Kleingebäck zu knabbern. In Mainz ging die Abteiltür auf, und eine dicke Frau mit ausgekämmter Dauerwelle kam herein. Sie trug eine Reisetasche, eine Plastiktüte und hatte einen schwarzbraunen DrahthaarTerrier an der Leine. »Noch frei bei Ihnen?« schnarrte sie. »Ja«, antwortete Alma Schlegel. »Bei uns ist noch genügend Platz.« Die Frau quetschte ihre Reisetasche ins Gepäcknetz. Dann plumpste sie neben Sarah auf die Bank. Sie kraulte dem Hund die Ohren, rückte den Maulkorb zurecht und sah sich stirnrunzelnd um. »Hier riecht's aber komisch«, meinte sie naserümpfend. Sarahs Mutter blinzelte nervös. »Wie bitte?« »Ich sagte, im Abteil riecht es komisch. Sogar abscheulich. Als würde ein verwester Tierkadaver unter der Bank liegen. Ist Ihnen noch nichts aufgefallen?« »Bisher nicht.« Die Dicke schüttelte ungläubig den Kopf, stand auf, öffnete den Reißverschluß ihrer Reisetasche und zog einen Flakon mit Kölnisch Wasser heraus. »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich ein bißchen sprühe. Es ist ja nicht zum Aushalten hier drin.« »Sprühen Sie nur.« Alma Schlegel wurde puterrot. »Wahrscheinlich rieche ich nichts, weil ich erkältet bin. Meine 8
Nase, na ja, sie ist verstopft.« Die Dicke sprühte in jede Ecke. Als sie in Sarahs Nähe kam, verzog sie angewidert das Gesicht. Sie öffnete den Mund, wollte etwas sagen, überlegte es sich jedoch und setzte sich, so weit es ging, ans andere Ende der Sitzbank. Der Hund legte sich artig vor ihre Füße. Er schien zu dösen. Aber seine schwarzen Knopfaugen schielten wachsam zu Sarah. Er knurrte leise. Der IC Pfälzer Wald fuhr los, und die dicke Frau holte ein Stullenpaket aus der Plastiktüte. Sie wickelte ein Wurstbrot und ein gekochtes Ei aus. Doch statt zu essen, wanderten ihre Augen immer wieder suchend durchs Abteil. Schließlich packte sie ihren Proviant wieder ein. »Keinen Hunger?« fragte Sarah. »Nein«, krächzte die Frau kurzangebunden. »Der Appetit ist mir vergangen, und zwar gründlich.« Sarah beugte sich zur Bank, auf der die Mutter saß, und nahm sich einen Keks aus der aufgerissenen Packung. Dann stand sie auf, hockte sich vor den Hund und hielt dem aufblickenden Terrier den Keks dicht vor die Schnauze. »Willst du?« lockte sie das Tier. Der Hund legte den Kopf auf den Boden und winselte ängstlich. »Fritzi nimmt nichts von Fremden«, sagte die dicke Frau. »Er ist ein sehr gut erzogener Hund. Außerdem trägt er einen Maulkorb.« »Aber Hunde mögen Süßigkeiten«, beharrte Sarah. »Nehmen Sie ihm doch das Lederding ab!« Die Frau sah Sarahs Mutter an. »Würden Sie Ihrer Tochter bitte sagen, Sie soll aufhören, Fritzi zu füttern.« »Aber ich hab ihn doch noch gar nicht gefüttert!« begehrte die Neunjährige resolut auf. Sie legte den Keks auf den Boden. Der Hund schnüffelte neugierig daran, und Sarah machte sich am Verschluß des Maulkorbes zu schaffen. Als wäre es die normalste Sache der Welt. Der Einwand der Hundebesitzerin schien ihr überhaupt nichts auszumachen. Sie tat, was ihr in den Sinn kam. Der dicken Frau verschlug es glattweg die Sprache. »Sarah!« Alma Schlegels Stimme zitterte. »Würdest du bitte damit aufhören! Du hast doch gehört, was die Dame gesagt hat!« 9
Das Mädchen hob langsam den Blick, und als Alma Schlegel in die kalten, abgrundtief bösen Augen ihrer Tochter schaute, ahnte sie, daß sie den Fehler ihres Lebens begangen hatte. »Halt die Klappe, Alma!« fauchte Sarah. Die Mutter prallte erschüttert zurück. Das Mädchen packte den Hund beim Genick. Behende öffnete sie die Schnalle des Maulkorbes. Weder die Mutter noch Fritzis Frauchen hinderten sie daran. Die beiden saßen wie in Wachs gegossen. Der Terrier zog den Schwanz ein. Mit den Pfoten stemmte er sich gegen den festen Griff des Mädchens. Sein ängstliches Winseln erstarb, als Sarah sein Maul aufriß und ihm den Keks tief in den Rachen schob. Der Hund röchelte. Seine Knopfaugen weiteten sich. Während er fast an dem Brocken erstickte, wollte sich Sarah ausschütten vor Lachen. * Prompt bestätigte sich meine unterbewußte Wahrnehmung. Der Wuschelkopf in der schäbigen, rotkarierten Jacke schien tatsächlich auf Stunk aus zu sein. Er war ein massiger Kerl, um die Dreißig; seine Jeans starrten vor Dreck, und seine Boots schien er von einer Müllkippe geholt zu haben. Er stänkerte mit dem Barkeeper. »Mark, du alter Witwentröster!« trompetete Berti Latotzki. »Weshalb schielst du zur Theke? Ich finde, die steilen Zähne an unserem Tisch reichen allemal.« »Natürlich«, sagte ich abwesend. Tessa und Pia kicherten. Berti hob sein Sektglas, stieß damit an meines und goß sich den Schaumwein mit einem Ruck hinter die Binde. Während ihn Pia verliebt anhimmelte, ließ er seine Bizeps unter seinem Oberhemd hüpfen. Als er merkte, daß er die Blicke aller Frauen, die ringsum saßen, auf sich gezogen hatte, rülpste er zufrieden. Seine Bewunderinnen schauten pikiert weg, und Berti krauste sekundenlang die Stirn. »Kennt ihr den, wie Erich Honecker zur Unzeit auf sein Gehöft 10
nach Wandlitz kommt?« »Nein. Erzähl!« Tessa und Pia schüttelten amüsiert ihre hübschen Köpfchen. »Also«, Berti räusperte sich gewichtig. »Erich macht im Politbüro Überstunden. Es geht um die miserable Versorgung der DDR-Bürger mit Konsumgütern. Er ruft seine Margot an und sagt, er käme erst am nächsten Tag. Aber dann sticht ihn der Hafer, und er beschließt, seine Frau nachts zu überraschen. Er schwingt sich in seinen Volvo, und ab die Post! Kurz nach Mitternacht trudelt er zu Hause ein. Da trifft er im Flur vor seinem Schlafzimmer einen Russen in Unterhosen. Erich ist schockiert und fragt entrüstet: Was geht denn hier vor, Towarisch? Der Russe erkennt den Staatsratsvorsitzenden nicht und poltert: Nix vor. Zuerst Aljoscha und Sergej, dann ich, dann du. Ponemaju?« Berti Latotzki lachte, bis ihm die Tränen kamen. »Entschuldigt, Kinder.« Er japste nach Luft. »Wenn ich diesen Witz höre, haut es mich immer wieder vom Sockel.« Während Berti einen neuen Joke auftischte, wanderten meine Blicke mechanisch zur Theke. Die Rotjacke sagte gerade etwas zu einem Mann in Kochkleidung, der sich neben den Salooner gestellt hatte. Dann drehte er sich um, spähte in die Runde und beobachtete mit verbissenem Gesichtsausdruck die Tanzenden. Die Band spielte Banks Of The Ohio. Ungefähr zwei Dutzend Pärchen tanzten eng umschlungen. Die Frauen schmiegten sich zärtlich an ihre Partner. Einige küßten sich. Andere summten die Melodie des Schmachtfetzens mit. Die Rotjacke starrte und starrte. Mein Gespür für bevorstehende Unannehmlichkeiten verstärkte sich. Obwohl der Verdächtige reglos dastand, scheinbar geistesabwesend, die Tanzenden anglotzte und wie die Harmlosigkeit in Person wirkte, wurde ich immer unruhiger. Legte sich der Fremde einen Plan zurecht? Mir war, als säße ich auf einem Pulverfaß, dessen Zündschnur bereits lichterloh brannte. »Tess?« »Ja, Mark?« Sie sah mich an. »Hast du deine Waffe dabei?« Tessa war baff. »Nein, wieso sollte ich?« »Sieh dich mal unauffällig um!« raunte ich. »Der Typ, der an der Theke steht und so stumpfsinnig vor sich hingafft. Was hältst 11
du von dem?« Tessa Hayden folgte meinem Blick. Ich wartete auf ihr Urteil. Als Polizistin verfügte sie über umfangreiche psychologische Kenntnisse. Zudem hatte sie in ihrer Laufbahn schon viele Übeltäter hinter Schloß und Riegel gebracht. Vielleicht kannte sie die Rotjacke sogar irgendwoher. »Er sieht sehr mitgenommen aus«, meinte Tessa, als sie sich wieder umgedreht hatte. »Irgendwas scheint ihn aus der Bahn geworfen zu haben. Hm, er könnte gerade seinen Job verloren haben.« »Oder sein Liebling hat ihm die Hacken gezeigt«, gab Berti seinen Senf dazu. »Seht euch bloß seine Klamotten an, Kinder. Eine anständige Frau läßt ihren Mann bestimmt nicht in einem solchen Aufzug unter die Leute.« Ich nickte beeindruckt. »Nicht schlecht, Berti.« Sofort streichelte Pia Bertis kugelige Bizeps. »Nicht wahr?« hauchte sie. »Mein Berti ist schon eine Wucht.« »Und wozu brauchst du jetzt 'ne Knarre?« fragte er mich. »Willst du einen abknallen?« »Quatsch. Ich hab bloß so eine Ahnung.« Ich überlegte, ob ich zur Theke gehen sollte, um ein paar Worte mit dem Salooner zu reden. Immerhin hatte der Mann in der rotkarierten Jacke den Wirt ziemlich in Harnisch gebracht. Möglicherweise täuschte mich diesmal mein Instinkt, und alles erwies sich als Luftnummer. Ausnahmen bestätigten die Regel. Auch ich war nicht unfehlbar. Berti und Pia steckten geheimnisvoll die Köpfe zusammen. Sie tuschelten leise. Tessa nippelte an ihrem Sekt. Die Band sagte den nächsten Titel an. Sweet Hitch Hiker. Ein paar Gäste quittierten die Ankündigung mit begeistertem Applaus. Der Verdächtige nestelte an seiner Jacke. Ich stand auf. Zu spät. Da brach die Hölle bereits los! Rotjacke lief Amok! Aus heiterem Himmel stieß er eine Frau, die einen blauen Stretchrock trug, brutal beiseite. Sie war eine schmales Persönchen, sein Stoß aber so kraftvoll, daß sie abhob wie ein Skispringer auf dem Schanzentisch. Die Frau krachte mit dem Kopf an einen Raumteiler, mit voller Wucht! Sie sackte zusammen, als bestünden ihre Gelenke aus 12
Weichlakritz. Die Ärmste hatte nicht mal Zeit gehabt, einen Schrei auszustoßen. Rotjackes Attacke war katzenhaft flink gewesen. Sein Opfer flog noch durch die Luft, als er seine Jacke aufriß und eine kurzläufige MPi vorzog. »Alle hinlegen!« schrie ich. »Er hat eine Waffe!« Die Musik brach abrupt ab. Die Mitglieder der Band ließen erschrocken ihre Instrumente fallen. Die purzelten kunterbunt durcheinander. Einer aus der Band riß den Verstärker vom Tisch. Polternd fiel das Teil auf den Boden. Gleichzeitig splitterte der Korpus des Kontrabasses. Als ein paar Saiten des Banjos rissen, bohrte sich der schrille Summton wie ein glühender Spitzmeißel in mein Trommelfell. Die Gäste auf der Tanzfläche gerieten in Panik. Frauen schrien vor namenloser Angst. Manche Leute rutschten auf dem Hosenboden über die Tanzfläche. Wie Lämmer drängten sie sich schutzsuchend aneinander. Menschen, die noch nie ein Wort miteinander gesprochen hatten, packten sich plötzlich gegenseitig an den Ärmeln. Dann pfiffen die ersten Kugeln durch die Stage-Coach. Tische schurrten. Stühle kippten um. Scherben von Gläsern und Geschirr flogen durch den Saal. Drei, vier Schüsse zerfetzten das Furnier der rotbraunen Holztäfelung. Und immer wieder die Schreckenslaute der völlig überraschten Leute. »Ich mach euch alle kalt!« brüllte der Amokläufer. »Wer zur Tür rennt, den kille ich als ersten!« Um seine Worte zu bekräftigen, gab er einen kurzen Feuerstoß ab. Ich lag auf dem Bauch, unter unserem Tisch. Neben mir Pia, die verängstigt ihr Handtäschchen an sich gepreßt hielt. Berti hatte sich in Richtung Fenster gehechtet. Er sah besorgt zu mir herüber. Ich verstand seine Blicke. Paß auf Pia auf! Er selbst hatte sich vor Tessa gewälzt. Den Bruchteil einer Sekunde bewunderte ich seine selbstlose Opferbereitschaft. Dann wurde ich von einem umherfliegenden Glassplitter getroffen. Die Scherbe fetzte mir die Wange auf. Ich spürte, wie Blut über mein Gesicht lief. Gehetzt sah ich auf. Die Rotjacke visierte gerade die lebensgroße Wachsfigur eines Cowboys an. Enthemmt zog er den Drigger durch. Der Kopf der 13
Figur zerplatzte. Nur ein gezacktes Stück seiner braungefleckten Bandanna blieb von ihm übrig. Die Gedanken knisterten wie Kaminholzscheite durch meinen Schädel. Noch schien der Bursche wahllos um sich zu ballern. Aber was, wenn er seine Schüsse plötzlich gezielt auf Menschen abgab? Im Saal befanden sich grob geschätzt hundert Personen. Und der Kerl schien zu allem fähig. Möglicherweise jagte er sich die letzte Kugel in den eigenen Schädel. Jäh spürte ich etwas Kaltes an meiner Hand und zuckte zurück. »Mark«, wisperte Pia. »Vielleicht kannst du das brauchen.« Erneut spürte ich das Kalte. Verblüfft starrte ich auf Pia. Ihr Make-up war völlig hinüber. Die blutrote Farbe ihres Lippenstifts fand sich überall, nur nicht mehr auf den Lippen. Die Träger ihres Kleides hingen zerfetzt herab. Pia sah mich beschwörend an. »Du hast 'nen Ballermann?« hauchte ich. Sie nickte. »Präsent von Berti. Ist eine Remington Elliot. 22er, Liebhabermodell, fünfschüssig. Spürst du den Ring? Das ist der Abzug. Der Bügel dahinter steht fest. Abzugsstopp. Alles kapiert?« »Könnte dich umarmen«, seufzte ich. »Bist eine Klassefrau.« »Ich weiß.« Sie schlug die Augen nieder. Ich ertastete den kleinen Kolben der Pistole. Als ich meine Hand um ihn legte, bekam ich neues Selbstvertrauen. Jetzt besaß ich eine Waffe. Unsere Lage war zwar immer noch ernst, aber nicht mehr hoffnungslos. Ich spähte in Richtung Tresen. Mittlerweile war es sehr ruhig im Saal geworden. Mit angehaltenem Atem verfolgte man, was der Kerl mit der MPi weiter vorhatte. Gerade winkte er den Wirt der Stage-Coach zu sich heran. »Whiskey!« krächzte er. »Zwei Daumen breit.« Der Salooner tat, was ihm gesagt wurde. Während er einschenkte, wirbelte die Rotjacke seine Maschinenpistole herum. Wieder peitschte eine Garbe durch den Saal. Irgendwo schrie jemand auf. »Getroffen!« Der Verrückte lachte. Ich sah, wie sich eine Frau über einen Mann beugte, dem Blut aus einer Halswunde sickerte. Derweil machte Rotjacke einen auf arrogant. Womöglich hielt er 14
sich für einen knallharten Gunfighter vom Schlag eines Butch Cassidy. Schwungvoll riß er den Whiskey-Tumbler vom Tresen. Er hob das Glas gegen das Licht und fluchte laut. Dann schüttete er dem Barmann den Schnaps ins Gesicht. »Der ist gepanscht!« fuhr er den Wirt an. »Ich fresse einen Besen, wenn das echter Bourbon ist. Du Mistkerl willst mich vergiften, was?« »Nein, ich…« Der Salooner zitterte. Er wagte es nicht, sich die Flüssigkeit aus dem Gesicht zu wischen. Drohend preßte die Rotjacke ihm die Mündung der MPi unter das Kinn. »Lust zu sterben?« »Ich gebe Ihnen eine andere Marke. Warten Sie!« Ein grausames Spiel, das der Verrückte mit dem verängstigten Mann an der Theke trieb. Der Wirt kämpfte um sein Leben. Der Lauf der MPi tanzte dicht vor seiner Stirn. Nur eine einzige, winzige Bewegung, und die Stage-Coach würde einen neuen Wirt brauchen. Sein Leben hing am seidenen Faden. Die Hände des Gastwirts zitterten wie verrückt, als er ein sauberes Glas aus dem Rückbüfett nahm und es halbvoll goß. »Hier«, sagte er tonlos. »Der beste Bourbon, den ich habe.« Ich schob meinen Arm vor, brachte Pias Remington in Stellung. Ich kniff ein Auge zu, und zwischen Kimme und Korn tauchten Schulterbereich und Kopf des Amokläufers auf. Aber der Lauf der Pistole war verdammt kurz! Wenn ich danebenschoß, würde es ein Blutbad geben. Die Remington war eine klassische Nahkampfwaffe aus der Zeit des amerikanischen Bürgerkrieges. Doch die Entfernung zur Rotjacke betrug mindestens sechs Meter. Ob ich ihn vorher anrief? Schnell verwarf ich diese selbstmörderische Idee. Hände hoch, hier spricht Mark Hellmann - freiberuflicher Mitarbeiter bei der Weimarer Rundschau und Mitglied der Kämpfer des Rings - puah! Nein, so durfte man keinem Amokläufer kommen. Es sei denn, man hatte Lust, auf dem nächsten Friedhof zu landen. Den Mann töten durfte ich ja auch nicht. Es widerstrebte mir zudem, jemandem hinterrücks eine blaue Bohne in den Leib zu jagen. Andererseits… 15
Ich war in Gewissensnot. Wäre dieser Typ ein Dämon, eine blutrünstige Kreatur aus dem Höllenschlund, dann hätte ich keine Sekunde gezögert. Aber er war ein Mensch. Pia stupste mich an. »Worauf wartest du, Mark?« Sie klimperte nervös mit ihren künstlichen Wimpern. »Daß er uns alle umbringt?« »Immer ruhig Blut, Mädchen«, raunte ich. »Der Typ ist so gut wie erle…« Die Maschinenpistole knatterte erneut. Diesmal hatte es den Sänger der Band erwischt. Stöhnend wälzte sich der Mann auf dem Boden. Ich sah, wie sich sein T-Shirt rot färbte. Also gut, dachte ich. Du hast es so gewollt! Ich tarnte meine Schußhand mit dem anderen Arm, zielte auf den MPi-Schützen und hielt den Atem an. Gefühlvoll zog ich den Ring durch… * Der IC Pfälzer Wald fuhr in den Koblenzer Hauptbahnhof ein. Alma Schlegel riß die Waggontür auf, kletterte hinaus und hob erst Sarah, dann ihr Reisegepäck von der Plattform auf den Bahnsteig. Hinter ihnen kreischte die hysterische Stimme der dicken Hundebesitzerin im Duett mit Fritzi. Der Terrier jaulte die Tonleiter hoch und runter. Gehetzt drehte sich Alma Schlegel um. Kurzerhand zerrte sie Sarah zur Rolltreppe, die in den unterirdischen Tunnel führte. Von da aus ging es, vorbei an Einkaufsständen, Imbißbuden, Fahrkartenautomaten und Presseshops, zum Bahnhofsvorplatz. Hier wollte Alma Schlegel ein Taxi nach Koblenz-Güls nehmen. In der Gullsastraße Nummer fünf, einem rekonstruierten Pfarrhaus, hatte sie eine Wohnung angemietet. Auf dem Bahnhofsvorplatz angekommen, der glich zur Zeit eher einem Tagebau, machte sich Sarah plötzlich steif. »Ich will ein Eis!« forderte sie. »Wie?« Die Mutter pustete. Das enorme Tempo, in dem sie bis zu dieser riesigen Baustelle gejagt war, hatte sie kurzatmig gemacht. »Was hast du eben gesagt, Liebes?« Sarah stampfte mit einem Fuß auf. »Eis!« zischte sie. »Kauf mir 16
sofort ein Eis!« »Aber…« Die Neunjährige ballte ihre kleinen Fäuste. Ihr niedliches Puppengesicht verwandelte sich in eine Maske des Grauens. Es wurde totenbleich, die Flügel des Stupsnäschens zitterten, und über die Lippen ihres Schmollmündchens sickerten Speichelfäden. »Hörst du schlecht, Alma?« schrie sie die Mutter an. Schon blieben einige Reisende stehen. Mit unverhohlenem Interesse verfolgten sie den nicht alltäglichen Mutter-TochterKonflikt. Alma Schlegel stand wie auf Treibsand. Ich muß nachgeben, dachte sie. Wir dürfen kein weiteres Aufsehen erregen. Niemand darf Verdacht schöpfen. Man könnte uns erkennen. Unter Aufbietung all ihrer Kräfte gelang es ihr, schwach zu lächeln. »Klar bekommst du ein Eis«, sagte sie. Sarah nickte. »Aber ich will zehn Kugeln!« Ein Mann in langem Trenchcoat, der unmittelbar neben ihnen halt gemacht hatte, um sich eine Zigarette anzustecken, bekam prompt einen Hustenanfall. Verwirrt starrte er Mutter und Tochter an. Sie gingen zum Eisstand. Sarah bekam, was sie wollte, und Alma Schlegel hoffte inständig, daß ihr wenigstens so lange, wie Sarah am Eis schleckte, weitere Überraschungen erspart blieben. Sie hatte sich getäuscht. Bereits am Taxistand, der war zur Zeit links von der Baustelle, gab es den nächsten Zoff. Der Fahrer weigerte sich strikt, sie mitzunehmen. »Schokoladeneis gibt verdammt häßliche Flecken auf den Sitzpolstern«, sagte er. »Glauben Sie mir, junge Frau. Ich weiß, wovon ich rede.« »Aber es fängt an zu regnen«, sagte Wilma Schlegel, »und wir haben keinen Schirm. Sie können uns doch nicht einfach hier stehen lassen.« Der Fahrer zuckte die Achseln. Er war um die Fünfzig, hatte eine blankpolierte Vollglatze und trug einen buschigen Oberlippenbart, deren Enden bis ans Kinn reichten. »Stellen Sie sich irgendwo unter«, schlug er vor. »Wenn die Kleine das Eis auf hat, können Sie gern wiederkommen.« 17
Sarah hatte dem Gespräch aufmerksam gelauscht. Jetzt hielt sie die Zeit für gekommen, selbst einzugreifen. Ohne mit der Wimper zu zucken, trat sie an die hintere Tür des Mercedes und öffnete sie. »Komm, Alma«, sagte sie, während sie sich auf die Rückbank schob. »Steig ein! Worauf wartest du?« Der Taxifahrer war baff. »Ich glaub, ich spinne!« krächzte er. »Fahren Sie uns nach Güls, Guiisastraße fünf. Und das 'n bißchen fix. Ich bin nämlich müde und will ins Bett.« Der Mann klinkte seinen Sicherheitsgurt auf. Er drehte sich um, zeigte auf das Eis, das Sarah in der Hand hielt, und schüttelte den Kopf. »Du scheinst schwer von Kapee zu sein, Mädel. Sobald du das Eis draußen aufgeleckt hast, fahren wir los.« Er hob drohend seine Stimme. »Steig aus, sag ich. Ich hab meine Polster gerade vorige Woche reinigen lassen.« Sarah beäugte ihn zornig. »Du willst uns nicht nach Güls fahren?« Der Taxifahrer schnappte nach Luft. Seine Zornadern schwollen an. »Ich will, daß du kleine, freche Göre aus meinem Auto verschwindest!« Er wandte sich an die Mutter. »Würden Sie Ihrem Prinzeßchen bitte umgehend mitteilen, daß es auf der Stelle aussteigt! Ich bin ein herzensguter Mensch. Ich liebe Kinder, mag Tiere und habe nichts gegen Eis. Doch was zu viel ist, ist zu viel!« Alma Schlegel bemerkte, daß der Mann einen knallroten Kopf bekam. Er schien nur einen Schritt davor, seine Beherrschung endgültig zu verlieren. Schon hob er einen Arm, um Sarah das Eis wegzunehmen. »Sarah, Liebes, könntest du bitte…?« »Einen Dreck kann ich!« schrie die Neunjährige. Sie stieß die Hand des Taxifahrers, der wütend nach ihrer Eistüte langte, grob beiseite. Als er ein zweites Mal zugriff, schnellte Sarahs Kopf vor. Sie riß den Mund auf, fletschte die Zähne und hackte sie dem Mann ins Handgelenk. Der Taxifahrer schrie vor Schmerz. Er wollte seinen Arm zurückziehen, doch er schaffte es nicht. Sarah hatte sich wie eine Zecke in seinem Fleisch verbissen. 18
»Allmächtiger Gott!« heulte der Mann und rief seine Kollegen um Hilfe. Da ließ Sarah los. Angst flackerte für einen Moment in ihren Augen. Sie wischte sich das Blut von den Lippen und starrte den Wimmernden haßerfüllt an. Dann quetschte sie die Eistüte dem Mann in sein flammendrotes Gesicht. Bevor sich der Taxifahrer von dem erneuten Schock erholt hatte, hatte sie bereits den Fonds des Mercedes verlassen. »Los, Alma!« raunte sie, als sie neben der schreckensstarren Mutter stand. »Verduften wir! Da hinten sind Haltestellen. Fahren wir eben mit dem Bus.« * Der Hahn der Remington Elliot klackte. Aber das war der einzige Ton, den Pias Pistole von sich gab. Das Ding funktionierte nicht! Rasch verbarg ich die Waffe im Ärmel, denn der Mann mit der MPi glotzte gerade in unsere Richtung. Seinen Ballermann im Anschlag, stolzierte er am Tresen entlang. Die Barhocker, an denen er vorbeikam, warf er kurzerhand über den Haufen. Ich sah, wie Rauch aus der Mündung seiner Maschinenpistole züngelte. Jeden Augenblick konnte ihm sein krankes Hirn erneut den Befehl erteilen, einen Feuerstoß auf uns abzugeben. Auf Gedeih und Verderb waren wir diesem Psychopathen ausgeliefert. »Tut mir leid, Mark«, hörte ich Pia verlegen murmeln. Ich grunzte ärgerlich. Jetzt befand sich die Rotjacke noch höchstens drei Meter von dem Tisch entfernt, unter dem wir Zuflucht gesucht hatten. Ich verfolgte jede seiner Bewegungen. Aber ich mußte aufpassen, daß er meine spähenden Blicke nicht bemerkte. Dann würde er sich bedroht fühlen und mich als ersten umlegen. Er schritt den Tresen ab wie seinerzeit Erich Honecker das angetretene Ehrenbataillon anläßlich des 8. Mais. Er kam immer näher. Ich wandte meinen Blick ab, damit er nicht auf mein Starren aufmerksam wurde. Ich schaute zu den anderen. Pia war voll damit beschäftigt, ihren Ausschnitt samt Inhalt zu ordnen. Berti lag in der stabilen 19
Seitenlage, auf einen Ellbogen gestützt, die Muskeln bis zum Zerreißen gespannt. Von Tessa war nur ein Stück Fuß zu erkennen. Sie zappelte, wollte sich seinem Griff entziehen. Doch Muskel-Berti erwies sich als unüberwindliches Bollwerk. Es polterte. Wieder hatte Rotjacke einen Barhocker zur Seite geschleudert. Das Teil sauste haarscharf an meinem Schädel vorbei. Ich zuckte zurück und blickte auf - genau in die drohende, schwarze Mündung der Maschinenpistole. Der Amokläufer hielt die Waffe auf meine Stirn gerichtet. Sein Finger nestelte am Abzugsbügel. Unter meiner Schädeldecke schien ein Buntspecht zu hämmern. Der entrückte, haßerfüllte Blick meines Gegenübers ließ mein Herz ein paar Takte schneller schlagen. Ich hatte diesen Menschen noch nie gesehen, geschweige denn, ein Wort mit ihm gewechselt. Trotzdem wollte er mein Leben auslöschen. Einfach so, weil es ihm danach gelüstete. Und ich lag da, hilflos, und hoffend, daß irgend etwas passierte. Der Mann zögerte den Bruchteil einer Sekunde. Da heulte im hinteren Teil des Saales eine Frau verzweifelt auf. »Lassen Sie uns gehen!« rief sie. Ihre Stimme überschlug sich. »Mein Mann - er ist schwer verletzt. Sind Sie denn kein Mensch? Reinhard wird verbluten, wenn…« Der Lauf der MPi schwang herum, zielte nun in die Richtung, aus der die Frau um Gnade gebettelt hatte. Jetzt! Ich stieß mich vom Boden ab, mit Händen und Füßen zugleich. Dabei rammte ich mit einer Schulter den Tisch. Das klobige Teil flog beiseite wie ein Wattebausch. Der Wahnsinnige, im Begriff, einen Feuerstoß abzugeben, wirbelte alarmiert herum. Ich krallte mich in seine Jackenschöße. Mit aller Kraft zog ich ihn zu Boden. Ich hing wie ein Fels an ihm. Er stieß einen Schrei aus, streckte instinktiv die Hände aus, um seinen Fall nicht mit dem Kopf zu bremsen. Dabei geriet er irgendwie an den Abzugsbügel der Maschinenpistole. Und die Mündung war auf mich gerichtet! Mit letztem Einsatz schlug ich den Lauf zur Seite. Vier, fünf Schüsse peitschten auf. Eines der Fenster, die hinter dicken Samtvorhängen versteckt waren, ging zu Bruch. Das ohrenbetäubende Getöse 20
herabprasselnder Scherben zerriß einem fast die Trommelfelle. Aber so leicht gab mein Kontrahent nicht auf. Während ich an seiner Waffe zerrte, donnerte er mir eine rechte Gerade mitten ins Gesicht. Der Kerl hatte Kraft wie ein Pferd. Jäh fühlte ich mich in die Gondel einer Loopingbahn versetzt. Vor meinen Augen tanzten Stars und Stripes. Blitzschnell änderte ich meine Tactik. Statt weiter an seiner Knarre zu hängen, ließ ich das Ding unvermittelt los. Damit hatte die Rotjacke nicht gerechnet. Sein massiger Körper, der sich mit herkulischer Kraft meinem Zugriff entgegengestemmt hatte, flog, plötzlich federleicht geworden, zurück und klatschte gegen die Theke. »Verfluchter Hund!« knurrte er. Ich stürzte mich auf ihn, aber der Kerl schien aus Quecksilber zu sein. Bevor ich ihn packen konnte, glitt er unter meinen Armen hindurch und rappelte sich auf. Die Rotjacke hatte die Reaktionsfähigkeit eines hakenschlagenden Feldhasen. Schon riß er die MPi hoch, richtete sie auf mich, um mir eine Ladung Blei zu verpassen. Da geriet er ins Straucheln. Kein Wunder, denn der Boden war von matschigen Fleischresten, Mayonnaise und zerlatschten Pommes Frites in eine Schlitterbahn verwandelt worden. Die Kugeln peitschten dicht vor meinen Füßen in die Holzbohlen. Und dann hörte ich ein charakteristisches Geräusch, das mir sehr bekannt vorkam. Der Hammer der Maschinenpistole klackte, aber kein Schuß löste sich. Das Magazin war leer! Verdutzt starrte er mich an. »Bleib hier, Tessa!« Das war Berti. Aber, wie fast immer, hörte Tessa nur auf sich selbst. Sie tauchte unter dem Tisch empor wie Phönix aus der Asche. Mit ein, zwei Sprüngen war sie neben mir. Ihre grünen Kontaktlinsen funkelten kampflustig. »Machen wir ihn fertig!« keuchte sie. Doch Rotjacke wartete nicht, bis er zwei Gegnern gegenüberstand. Mit affenartiger Geschwindigkeit wälzte er sich rücklings über den Thekentisch, sprang wieselflink auf die Beine und verschwand durch eine Pendeltür, die offenbar in einen der Wirtschaftsräume der Stage-Coach führte. Alles geschah in solch atemberaubenden Tempo, daß ich mir wie in einem Film vorkam, der versehentlich zu schnell gezeigt 21
wurde. Der Salooner stand, weiß wie eine Wand, an seiner Zapfsäule. »Er ist in der Küche«, murmelte er, als Tessa und ich an ihm vorbeistürmten. Es war eine braun lackierte Pendeltür, an der ein farbiges Plakat mit Wildwest-Motiv gepinnt war. Ich rammte einen Fuß dagegen, und die Tür schwang auf. Tessa hielt mich fest. »Was, wenn dieser Teufel inzwischen wieder nachgeladen hat?« Ich zögerte. Die Tür pendelte hin und her. Der Mistkerl konnte dort drinnen schon auf uns lauern. Setzten Tessa oder ich einen Fuß in die Küche, würde er uns einen heißen Empfang bereiten. Und ohne Schußwaffe schien dem Rasenden ohnedies nur schwer beizukommen. »Wie viele Leute sind in der Küche?« fragte ich den Wirt. »Meine Frau und mein Bruder.« »Also zwei.« Der Wirt nickte. Der arme Kerl wirkte völlig apathisch. Daß zwei seiner Familienangehörigen in akuter Lebensgefahr schwebten, schien ihm nicht bewußt zu sein. Sicher hatte er einen Schock. »Kümmere dich um ihn!« sagte ich zu Tessa. Plötzlich erscholl ein kurzer, erstickter Schrei aus der Küche, und ein Gegenstand fiel krachend zu Boden. Bevor Tessa Hayden etwas erwidern konnte, versetzte ich der Tür einen Tritt. Geduckt schlüpfte ich hindurch. Wallender, weißlicher Dampf schlug mir entgegen. Nur schemenhaft nahm ich die Arbeitstische, Kochherde, Hängeschränke, Fritiergeräte und Grillöfen wahr. Jemand mußte absichtlich die Abzugshauben ausgeschaltet haben. Ich versuchte, mich zu orientieren. Da löste sich eine Gestalt aus dem Nebel. Pepitahosen, bunt bekleckerte Jacke und ein blau-weißes Tuch um den Bauch. Die Kochmütze hing ihr schief auf einem Ohr. Das mußte der Bruder des Barmannes sein. Auch er trug einen roten Backenbart und er trug einen blutigen Fleischklopfer in der Hand. Scheu sah er zu mir auf. »Ich glaub, ich hab 'n bissel zu doll zugehauen«, sagte er leise. »Der Kerl ist umgekippt wie ein Sack Kartoffeln.« »Wo liegt er?« 22
»Unter der Mikrowelle, gleich neben dem Fleischkutter. - Jetzt krieg ich wohl Ärger, he?« * Es war fast Mitternacht, als sie in die Guiisastraße einbogen. Neben der Gülser Pfarrkirche gab es eine Auffahrt, die in einen gepflasterten Parkplatz mündete. Hinter dem Pfarrhaus, in dem Alma Schlegel die Wohnung gemietet hatte, befand sich ein großes Hinterhaus mit einer Arztpraxis darin. Als Mutter und Tochter den düsteren Hof betraten, flammte bernsteinfarbenes Licht auf. Ein Bewegungsmelder. Sarah kniff geblendet die Augen zusammen. »Hast du überhaupt Schlüssel?« fragte sie schroff. Die Mutter hielt die geöffnete Handtasche ins Licht. »Hier ist er!« sagte sie und zog ein kleines Bund hervor. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Kleines. Ich hab alles bestens vorbereitet. Die Wohnung ist nett eingerichtet. Dein Zimmer wird dir gefallen. Und eingekauft hab ich auch. Alles Sachen, die du gern ißt.« »Da bin ich aber gespannt.« Sarahs Stimme klang gepreßt, und jedes Wort versetzte der Mutter einen Stich ins Herz. Seit den ungeheuerlichen Vorkommnissen, die sie an diesem Tag mit Sarah hatte erleben müssen, verspürte sie nunmehr eine beklemmende Furcht vor der Neunjährigen. Während der Busfahrt war es glücklicherweise nicht zu einem neuerlichen Eklat gekommen. Sarah war eingenickt. Kurz, bevor sie aussteigen mußten, war sie erst wieder aufgewacht. Alma Schlegel hatte Zeit gehabt, über alles ausgiebig nachzudenken. Und seltsamerweise nahmen die Gedanken an ihren verlassenen Mann darin gehörigen Raum ein. Mit keinem Sterbenswörtchen hatte sie ihm gegenüber erwähnt, was sie vorhatte. Er wäre sowieso dagegen gewesen, ihre ermordete Tochter mit Hilfe eines zwielichtigen Magiers wieder zum Leben zu erwecken. Das schlechte Gewissen begann immer heftiger an ihr zu nagen. Aber es war nun mal passiert! Sie hatte Achim bei Nacht und Nebel verlassen. Sie hatte das gemeinsame Konto geplündert. Sie hatte hunderttausend Mark für Sarahs Wiederauferstehung gezahlt. 23
Und jetzt war sie auf der Flucht… »Schließ endlich auf, Alma!« drängte das Mädchen. »Oder sollen wir die ganze Nacht vor der Tür stehen?« »Nein. Natürlich nicht, Liebes.« Der Schlüssel ratschte ins Schloß. Die Mutter schob die schwere Tür auf und knipste das Treppenlicht an. »Wir wohnen im zweiten Stock«, sagte sie. »Es gibt sogar einen Balkon. Im Sommer kannst du dich darauf sonnen. Ich werde dir den schönsten Liegestuhl kaufen, den es gibt.« »Ich hasse Sonne«, sagte Sarah und schmetterte die Tür ins Schloß. Die Mutter blickte sich erschrocken um. »Nicht so laut, mein Schatz. Die Leute, die Parterre wohnen, haben ein kleines Baby. Ein süßer Fratz, sag ich dir.« Als sie in die Wohnung traten, war Alma Schlegel irgendwie erleichtert. Flink schloß sie die Tür, machte Licht und ließ das Gepäck auf die flauschige Auslegeware sinken. »Na? Ist es hier nicht toll, Sarah?« Das Mädchen sah sich um. Im Flur stand eine große, altertümliche Truhe, rechts und links gingen zwei Türen aus geriffeltem, undurchsichtigem Glas ab. Sie standen offen. Sarah spähte in die sich dahinter befindenden Zimmer. Das größere von beiden war die Wohnstube. An den hineingestellten Möbeln erkannte Sarah, daß das kleinere ihr zugedacht war. Ihre Miene verfinsterte sich. Aufgebracht wirbelte sie herum. »Was hast du, Liebes?« Die Mutter sah sie an. »Ich will das große Zimmer«, verlangte Sarah. »Wie? Ich verstehe nicht? Was meinst du?« »Ich will das große Zimmer. Das meine ich.« Geringschätzig deutete Sarah auf den kleineren Raum. »Was soll ich mit solch einem popeligen Kabuff? Das große, hörst du? Das will ich.« »Aber zum Spielen und Schlafen reicht doch das kleine. Wenn du fernsehen willst oder essen, kannst du gern das Wohnzimmer benutzen. Ich hätte nichts dagegen.« »Nein!« Sarah wandte sich brüsk ab. Wild entschlossen marschierte sie in das große Zimmer, zwängte sich aus den Schnallen ihres Rucksacks und knallte das Teil auf die karminrote Ledercouch. Dann kauerte sie sich daneben, verschränkte bockig die Arme und starrte die hilflos dastehende Mutter drohend an. 24
»Jetzt hab ich Hunger«, schmollte Sarah. Eine Welle eiskalter Angst rieselte durch Alma Schlegels Körper. Sie spürte, wenn sie jetzt nicht Sarahs Wunsch nachkam, würde das Mädchen völlig ausflippen. Die artige, sanfte Neunjährige hatte sich in ein unausstehliches Monstrum verwandelt. Nie hätte ich Gott spielen dürfen! schrie es in der Mutter auf. Zu spät. Folgsam ging sie in die Küche. »Pizza!« gellte Sarahs Stimme aus der Wohnstube. »Ich will eine riesengroße Pizza. Mit Pilzen, Salami, Paprika und viel Käse. Und dazu Cola, ein großes Glas voll. Du hast doch Cola, Alma?« Die Mutter wagte nicht, das Mädchen anzusehen. Ein Kloß von der Größe eines Pingpongballes klemmte in ihrem Hals. Schon spürte sie, wie heiße Tränen über ihre Wangen liefen. Alma Schlegel schauderte. Sie kam sich auf einmal so schrecklich verletzlich vor. »Ich hab alles falsch gemacht«, schluchzte sie, kaum hörbar. Weinend klickte sie die Kühlschranktür auf und nahm eine große Plastikflasche heraus. Mit zittriger Hand drehte sie am Verschluß, bis es knackte. Zischend entwich ein Teil der Kohlensäure. »Ich hab solchen Durst!!!« »Gleich, Liebes«, seufzte die Mutter. »Gleich kriegst du deine Cola.« * »Können Sie mal Dampf ablassen?« fragte ich den Koch. »Okay.« Zögernd legte er den Fleischklopfer beiseite und quetschte seinen Daumen auf einen roten Kippschalter. Mit einem aufheulenden Summton sprang der Entlüfter an. Im Nu wurden die wabernden Dunstschwaden zerrissen und kraftvoll aus der stickigen Luft gesaugt. Ich kniete mich neben den überwältigten Amokläufer. Der Mann lag mit blutigem Kopf auf den naßglänzenden Bodenfliesen. Seine Zunge quoll aus dem Mund, und eine Hand umkrallte noch den Schaft der Maschinenpistole. Während Tessa Hayden ihn entwaffnete, unterzog ich den Mann einer kurzen Untersuchung. Sein Atem ging flach, und seinen Puls 25
spürte ich kaum. Doch die Kopfwunde sah anscheinend gefährlicher aus, als sie tatsächlich war. In ein paar Minuten würde die durchgeknallte Rotjacke mit einem deftigen Brummschädel aufwachen. Ich hoffte, das geschah bald. Denn ich wollte ein paar Takte mit ihm plaudern. Bevor das Überfallkommando anrückte und ich nur noch Zaungast war. »Kommt er durch?« fragte mich der Koch. Er war neben mir in die Hocke gegangen, biß nervös auf seinen Lippen herum und wirkte, als er hätte er dem schießwütigen Amokläufer fürchterliches Unrecht zugefügt. Ich beschloß, den zappligen Mann ein bißchen aufzupäppeln. Schließlich hatte er Zivilcourage bewiesen. Das war selten heutzutage. Die meisten Menschen sahen einfach weg, wenn sie am nötigsten gebraucht wurden. »Wie ist Ihr Name?« fragte ich. »Rosenthal. Thomas Rosenthal.« »Also, Herr Rosenthal«, begann ich. »In ein paar Minuten ist unser Freund hier wieder auf dem Damm. Er hält nur ein kleines Nickerchen.« Ich klopfte Rosenthal auf die Schulter. »Alle Achtung! Sie müssen äußerst geistesgegenwärtig reagiert haben. Immerhin war die Type schnell wie ein Eichhörnchen. Und machen Sie sich keine unnötigen Gedanken. Sie haben sehr mutig gehandelt.« »Ehrlich?« Sein Atem rasselte. »Wenn ich's Ihnen doch sage. Nicht Sie sollten Gewissensbisse haben, sondern er. Es hätte nicht viel gefehlt, und einige Frauen wären als Witwe nach Hause gegangen.« Rosenthal sah mich dankbar an. Aufatmend nahm er seine Kochmütze ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ruft schon jemand Polizei und Rettungswagen?« erkundigte ich mich. »Ich kümmere mich darum.« Der Koch sprang auf und flitzte los. An der Tür prallte er mit Berti Latotzki zusammen, der neugierig in die Küche spähte. Hinter dem breiten Kreuz meines Schulfreundes lugte Pias rot gesprenkeltes Puppengesicht hervor. Ich mußte grinsen, als ich sah, daß sie die zerrissenen Träger ihres Kleides kurzerhand auf den Schultern zusammengeknotet hatte. Als mich Berti ausgemacht hatte, kam er zügig auf mich 26
zu. Das Handtäschchen unterm Arm, tippelte ihm Pia hinterher. Ihre eisenbesetzten Absätze klapperten, als hätte jemand eine Tüte Murmeln über den Boden geschüttet. Ich schraubte mich in die Höhe. Kaum stand Pia neben mir, schwenkte sie ein durchsichtiges Zellophantütchen, in dem es metallisch klimperte. Die Patronen für die Remington Elliot! schoß es mir durch den Kopf. Die Dinger waren sogar noch eingeschweißt… Verlegen knuffte sie mich. »Da hab ich wohl einen schönen Bock geschossen, wie?« lispelte sie geknickt. »Schummel dir 'n Schießeisen zu, das nicht mal geladen ist. Mark, verzeihst du mir noch mal?« »Schon vergessen«, winkte ich großmütig ab. »Ist ja zum Glück alles gutgegangen, Pia.« »Huih! Da bin ich aber froh!« Jetzt knuffte sie ihren Berti in die Rippen. »Siehst du, alter Zausel! Ich hab dir doch gesagt, Mark hat sich nicht so.« Aber Pias Frohsinn war ein wenig verfrüht, wie sich sofort herausstellte. Für Tessa Hayden war die Angelegenheit noch lange nicht zu den Akten gelegt. Sie baute sich vor Pia auf, stemmte die Arme in die Seiten und musterte die Blondine feindselig. »Um ein Haar hätte deine irrsinnige Schusseligkeit Mark das Leben gekostet!« fauchte sie. »Wozu hast du eigentlich deinen Kopf? Damit du deine Haare nicht in der Hand zu tragen brauchst?« Pia wich verschüchtert zurück. »Tess, so kenne ich dich ja gar nicht…« »Dann wird es höchste Eisenbahn, daß du mich endlich so kennenlernst!« Tessa spuckte Gift und Galle. »Ich raff es einfach nicht. Wie kann man so blond sein, und jemandem eine ungeladene Waffe unters Hemd jubeln? Mensch, Pia! Mark hätte jetzt tot sein können! Und du?« Tessa äffte Pias hohe Fistelstimme nach: »Ach, Mark. Verzeihst du mir noch mal?« Pia war am Boden zerstört. Niedergeschlagen ließ sie den Kopf hängen. »Ich mach's schon mal wieder gut, Tess.« Den Bruchteil einer Sekunde heftete sich Tessas stechender Blick auf den fraulichen Körper der anderen. Tessa schluckte irritiert. Dann wandte sie sich an Berti, der seine Pia tröstend 27
unter seine Fittiche nahm. Tessa wollte etwas sagen, aber dann winkte sie ab und sackte neben mir in die Hocke. »Mark, ich glaub, der Kerl hat eben geblinzelt«, sagte sie. Das stimmte genau. Ich legte dem Mann eine Hand auf die Brust und fühlte, wie er tief durchatmete. Schon klappte er seine Augendeckel hoch. Als traute er seinen Augen nicht, starrte er mich verblüfft an. »Hellmann«, quäkte er. »Was wollen Sie denn von mir?« »Sie kennen mich?« Der Verletzte nickte kaum merklich. »Kenne Ihr Foto aus der Zeitung. Da war mal irgendwas mit zwei Jungs, die ihren Erzeuger aus dem Grab buddelten. Der Alte hatte einen Lottoschein im Sakko… Auah!« (Siehe MH30!) Er stöhnte schmerzvoll auf, griff sich an den Kopf, betastete vorsichtig die Wunde und bestaunte das Blut, das von seinen Fingern tropfte. Verdattert flirrten seinen Augen herum. »Wo bin ich?« stöhnte er. »In der Küche der Stage-Coach«, sagte ich. »Wie?« »Petersilie in den Ohren?« zischte Berti ihn an. »Vor einer halben Stunde kamst du mit 'ner Knarre rein, hast den dicken Wilhelm markiert und ein Haufen Leute umgelegt. Hätt' nich viel gefehlt, und wir wären auch über den Jordan gegangen. Sag jetzt nicht, davon weißt du nichts!« »Aber genauso ist es!« versicherte der Mann. »Die letzten Stunden fehlen mir irgendwie.« »Wie heißen Sie?« fragte ich scharf. »Schlegel«, antwortete er. »Achim Schlegel.« Tessa runzelte die Stirn. »Schlegel? Sind Sie aus Weimar?« »Ja. Ich wohne in der Cranachstraße, Ecke Theodor-HagenWeg, in der Nähe des historischen Friedhofs.« Tessa schlug sich an die Stirn. »Jetzt geht mir ein Licht auf!« rief sie. »Du kennst ihn?« fragte ich verwirrt. Tessa Hayden machte ein geheimnisvolles Gesicht. Am Ohrläppchen zog sie mich an ihren Mund. Ich erfuhr, daß Achim Schlegel der Vater des kürzlich ermordeten Mädchens war. Tessa bearbeitete den Fall. Also daher wehte der Wind! Dem Mann waren die Sicherungen durchgebrannt, weil seine Tochter umgebracht worden war. Das war weiß Gott keine 28
Entschuldigung, aber zumindest eine einleuchtende Erklärung. Er wurde mit dem Verlust seines Kindes nicht fertig, nahm Verbindungen mit der Unterwelt auf und besorgte sich die Maschinenpistole. Damit wollte er sich an der ganzen Welt rächen. Schlegel versuchte, sich aufzurappeln. Sacht drückte ich ihn zurück. »Warten Sie, bis die Rettung da ist.« »Vielleicht sollten wir seine Frau informieren?« schlug Pia hilfsbereit vor. Die Wirkung ihrer Worte war phänomenal. Schlegel zuckte zusammen, als hätte man einen Kessel kochendes Wassers über ihn ausgegossen. Er fuhr hoch, wand sich wie eine Schlange, ließ seinen Hals herumschnellen, daß ich befürchtete, er würde sich das Genick brechen. Seine Augen rollten wild, und aus seiner Kehle drangen abgehackte, qualvolle Laute, die sich zu einem irrsinnigen Aufjaulen steigerten. Schockiert wichen wir zurück. »Alma!« schrie er. »Alma!« Fragend sahen wir uns an. »Was ist mit Ihrer Frau?« erkundigte sich Pia naiv. »Ist sie nicht zu Hause?« Schlegel starrte Pia glotzäugig an, und ängstlich kuschelte sie sich an Bertis breiten Brustkasten. »Heut scheint nicht mein Tag zu sein«, hauchte sie. »Ich hab doch nur nach seiner Frau gefragt.« Schlegels merkwürdiges Verhalten aktivierte mein inneres Alarmsystem. Ein unerhörtes Ereignis warf seine gespenstischen Schatten voraus. Meine Gedanken wurden unterbrochen, als von draußen die Sirenen der Rettungswagen ertönten. Aber bevor die Sanitäter eintrafen und alle Verletzten einsammelten, brannte mir noch eine Frage auf der Zunge. »Schlegel? Wo ist Ihre Frau?« Schlagartig brach sein Gejaule ab. Sein Blick zuckte hektisch über den Boden und blieb in einer Ecke hängen. »Wo ist Alma?« wiederholte ich. »Sie, sie ist fort«, hauchte er. »Alma hat Sie also verlassen?« bohrte ich. »Sie hat all unser Geld mitgenommen.« »Aber warum?« 29
»Er hat ihr einen Floh ins Ohr gesetzt.« Ich horchte auf. »Wer ist er? Und was hat er Ihrer Frau gesagt?« Schlegels Mundwinkel zitterten. Bevor ich es verhindern konnte, krallte er sich in meinen Blazer. »Ich stand hinter der Tür, als Alma ihn anrief«, hechelte er. »Sie sprachen von Auferstehung…« Ich kriegte eine Gänsehaut. »Ihre Tochter?« »Ja. Alma liebte Sarah abgöttisch. Die beiden waren ein Herz und eine Seele. In ihrer Verzweiflung muß sie sich an einen Scharlatan gewandt haben.« »Ohne vorher mit Ihnen zu sprechen?« »Ja, leider. Alma war geradezu besessen von dem Gedanken. Als sie meine Ablehnung spürte, herrschten Ton- und Bildstörung zwischen uns.« »Und? Kennen Sie diesen - Scharlatan?« Schlegel schüttelte den Kopf. »Nein. Alma schwieg wie ein Grab. Sie hatte sich entschieden. Von nun an betrachtete sie mich als ihren Feind.« »Haben Sie zumindest einen Verdacht, wer dieser Unbekannte sein könnte?« Schlegel sah mich an. »Eben ein Scharlatan. Ein Gaukler. Ein schwarzer Magier.« Die Sanitäter kamen hereingestürzt, und Tessa, Pia, Berti und ich verließen die Küche. Draußen, im Gastraum, sagte Tessa: »Ein mysteriöser, schwarzer Magier also! Tja, Mark Hellmann, ich denke, du hast einen neuen Fall!« Ich nickte wortlos. »Und wir werden dich unterstützen!« ließ Pia die Katze aus dem Sack. »Stimmt's, Berti? Immerhin haben wir etwas gutzumachen.« Berti nickte finster. »Dieser Wiederauferstehungs-Fuzzi kann sich schon mal einen guten Chirurgen bestellen.« Mir blieb die Spucke weg. Mit Berti und Pia auf den Spuren eines verbrecherischen Magiers!? Ich brauchte unbedingt einen Drink, und zwar sofort. Tessa hakte sich bei mir unter. »Mark«, meinte sie grinsend, »du siehst ja auf einmal so angegriffen aus.«
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* Alma Schlegel erwachte im Kinderzimmer. Eine furchtbare Nacht lag hinter ihr. Gräßliche Alpträume hatten sie gepeinigt. Geisterhafte Wesen, in schwarzen Gewändern und mit widerwärtigen Teufelsfratzen, hatten schaurige Tänze aufgeführt. Die beängstigend dumpfen Laute, die die Kreaturen dabei ausgestoßen hatten, hallten noch immer in ihrem Schädel wider. Was hab ich nur getan? fragte sie sich. Ihr Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Als wäre es ein Daunenkissen, in das unaufhörlich angespitzte Holzpflöcke getrieben wurden. Eine tiefe Mutlosigkeit befiel sie. Seufzend schaute sie auf den Wecker. Halb neun. Sarah schien noch zu schlafen. Alma Schlegel stand auf, warf das Bettzeug beiseite und öffnete das Fenster. Die frische Luft tat ihr gut. Nur ein paar Steinwürfe entfernt floß die Mosel. Vom Fluß her drang ein tiefer Brummton. Ein Schiff fuhr vorüber. Sie schloß die Augen und stand eine Zeitlang regungslos. Nur atmen, an nichts denken… Dann ging sie, um nach Sarah zu sehen. Das Mädchen hatte darauf bestanden, auf der roten Ledercouch im Wohnzimmer zu nächtigen. Um des lieben Friedens willen hatte die Mutter eingewilligt. Ihr blieb auch gar nichts weiter übrig. Sarah blieb stur wie ein Maulesel, bis sie ihren Willen durchgesetzt hatte. Wie sollte es nur weitergehen? Hatten sie überhaupt eine Zukunft? Alma Schlegel wußte es nicht. Barfuß tappte sie über den Flur zur Glastür, die ins Wohnzimmer führte. Ehe sie die Tür aufklinkte, legte sie lauschend ein Ohr an das Riffelglas. Totenstille. Behutsam drückte sie die Tür auf und spähte in den verdunkelten Raum. »Sarah?« Die verwuschelte Decke war von der Couch gerutscht. Es lag halb auf dem Teppich. Auch das Kopfkissen lag nicht dort, wo es die Mutter in der Nacht plaziert hatte. Es klemmte zwischen den Sesseln. 31
»Sarah!« Die Mutter trat näher. »Steh auf, Liebes. Wir wollen gleich frühstücken.« Als sie wieder keine Antwort erhielt, nahm Alma Schlegel die Decke hoch und fuhr verblüfft zurück. Sarahs Schlafplatz war leer. Die Mutter wirbelte herum, ließ die Decke fallen und hastete ins Badezimmer. Leer. In die Küche. Leer. Auf den Balkon. Keine Spur von Sarah. Das Mädchen hatte die Wohnung verlassen. Alma Schlegel geriet in Panik. Obwohl sie nur ein dünnes Nachthemd anhatte, stürzte sie aus der Wohnung. Sie hetzte die Treppe hinunter, riß die Tür zum Hof auf und spähte in jeden Winkel, hinter jedes Gebüsch. Ohne Resultat. Sarah war nirgends zu sehen. Wie ein Wirbelwind rannte die Frau zurück in die Wohnung. Ich muß Sarah suchen! knatterte es in ihrem Kopf. Ich muß sie finden, bevor etwas Schreckliches geschieht! Mit fliegenden Händen pellte sie sich aus dem Nachthemd. Sie schlüpfte in Jeans und T-Shirt und fegte ins Bad. Sie warf sich ein paar Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht. Und nibbelte sich anschließend trocken. Sie warf ihre struppigen Haare zurück, riß das Bund mit den Schlüsseln vom Tisch und jagte aus dem Haus. Sarah! Alma Schlegel verging fast vor Angst. Sicher, sie hatte auch Angst um ihre Tochter, aber größtenteils hatte sie Angst um diejenigen, denen Sarah begegnete. * Auf sein Äußeres hatte mein Vater nie sonderlich geachtet. Hätte Mutter nicht von Zeit zu Zeit ein Machtwort gesprochen, würde er noch immer in Präsent-Hosen stecken, wie sie zu DDRZeiten in waren. Als ich in Landfried ankam, fand ich ihn im Arbeitszimmer. Ulrich hockte am antiken Sekretär, bis über beide Ohren in ein 32
Buch vertieft. Geistesabwesend fingerte er mit der gesunden, rechten Hand am Bügel seiner Hornbrille. Seine linke lag steif auf der Schreibplatte. »Grüß dich, Vater«, sagte ich. Er blickte sich um. »Nanu? Bist du mit dem Hubschrauber gekommen, Junge? Es ist kaum zehn Minuten her, daß wir miteinander telefoniert haben.« »Nein«, flachste ich. »Hab Michael Schumacher getroffen. Hab mir seinen Ferrari geliehen.« Ulrich grinste, stand auf, und wir schüttelten uns die Hände. Ulrich und Lydia Hellmann waren nicht meine leiblichen Eltern. Sie hatten mich adoptiert, nachdem man mich 1980 nackt in der Bechsteingasse aufgegabelt hatte. Es war am 1. Mai, dem Tag nach der Walpurgisnacht, gewesen. Ich war ungefähr zehn, stand unter Schock und schien geradewegs vom Himmel gefallen zu sein. Um den Hals trug ich eine Kordel, an der ein Silberreif hing. Auf dem Ring waren die Initialen M und N gestanzt. Daraus bastelten meine Adoptiveltern damals meinen Namen: Markus Nikolaus… »Sieh dir bloß mal an, wie ich aussehe, Mark!« Mit gekräuselter Stirn blickte Ulrich an sich hinunter. »Lydia hat mir eine Jeans aufs Auge drückt. Echte Markenware. Dabei bin ich doch kein junger Hüpfer mehr.« »Ich weiß nicht, was du hast, Ulrich.« Ich musterte meinen bejeansten Vater. »Die Büxen sehen doch astrein aus. Und praktisch sind sie allemal. Ich trage selbst welche, sitzen wie eine zweite Haut. Und wenn der Dreck nicht mehr abperlt, werden sie einfach gewaschen. Ist doch umweltfreundlich.« »Ernsthaft?« Die Rillen auf seiner Stirn verschwanden. Ich hob eine Hand. »Darauf schwöre ich jeden - Meineid.« »Naja, ich hab nicht gesagt, daß ich sie schlecht finde. Aber du kennst mich ja. Ich brauche immer einige Zeit, um mich an neues zu gewöhnen. - Mark?« »Ja? Hast du schon einen Anhaltspunkt?« Per Handy hatte ich Ulrich in kurzen Zügen die Situation umrissen. Er war voll im Bilde. Garantiert hatte er schon Nachforschungen angestellt. »Wir haben es einmal mehr mit Schwarzer Magie zu tun«, sagte er. »Da bin ich mir völlig sicher. Diese Alma Schlegel scheint mit jemandem Kontakt aufgenommen zu haben. Dieser Jemand muß 33
ihr vorgegaukelt haben, er könne ihr ermordetes Kind wieder zum Leben erwecken.« »Könnte es ein Werk unseres speziellen Freundes sein?« »Mephisto?« »Er ist der unübertroffene Meister darin.« Ulrich wackelte zweifelnd mit dem Kopf. »Möglich ist alles. Aber ich werde das Gefühl nicht los, daß diesmal jemand anders seine Griffel im Spiel hat.« Ich zögerte. »Du glaubst, die Frau hat bekommen, was sie wollte?« Schweigen. Meine Frage hing eine Zeitlang unbeantwortet im Raum. »Ja, Mark«, sagte Ulrich dann. »Ich bin mir fast sicher: Der große Unbekannte hat, ich weiß nicht wie, das tote Kind auferstehen lassen. Dafür spricht, daß diese Alma Schlegel untergetaucht ist, ohne eine Spur zu hinterlassen. Sie ist eine liebende Mutter. Und sie hat sich in den Gedanken, ihre Tochter wiederzubekommen, total verrannt.« »Ich muß diesen Magier finden«, sinnierte ich. Ulrich pflichtete mir bei. »Und unschädlich machen! Denn wenn es in Mode kommt, für harte Euro geliebte Verstorbene aus der Versenkung zu holen…« »… werden wir bald in einer Welt der Zombies leben«, vollendete ich. »Hm, was mag dieser Magier bloß für ein Mensch sein?« »Fakt ist, seine phänomenalen Gaben sind nur einem ausgesuchten Menschenkreis bekannt. Leute, die sein gepfeffertes Honorar für seine teuflischen Dienste zahlen können. Deshalb denke ich, er ist tatsächlich ein normaler Mensch. Wozu sollte ein Schwarzblüter ein dickes Portemonnaie haben? Um sich einen Mercedes zu kaufen? Oder um nach Miami in die Ferien zu jetten?« »Hm«, überlegte ich. »Ein fast normaler Zeitgenosse also. Ich frage mich, als was er sich tarnt. Ist er Immobilienmakler, Archäologe, Lehrer, Ladenbesitzer…« »Oder Zauberkünstler?« »Wie?« Ulrich zwinkerte. »Das wäre die ideale Tarnung. Alle wissen, Zaubertricks, in welcher Form auch immer, sind geschickt gemachte Illusionen. Auch Sorcas Horrorshow, Houdinis 34
Entfesselungstricks oder Horace Goldins weltberühmte Illusion der zersägten Dame sind nicht mehr als perfekt ausgetüftelte Tricks. Aber!« Ulrich hob die Stimme. »Der Magier, mit dem wir es zu tun haben, besitzt in der Tat übernatürliche Kräfte. Auf den Punkt gebracht: Er kann wirklich zaubern.« Ich verdaute den Brocken, den mir Ulrich vorgeworfen hatte. »Uff! Klingt unglaublich«, meinte ich nach einer Weile. »Aber logisch.« Ich nickte. »Ja. Warum eigentlich nicht? Wenn ich da an diesen Jupp Haarmann denke, der im Cafe Frankenstein sein Unwesen getrieben hat. Buaah! Nicht mal im Traum hätte ich gedacht, daß eine derartig abscheuliche Kreatur in einer Restaurantküche werkeln könnte.« (Siehe MH 23!) Ulrich nahm einen mit Schreibmaschine getippten Bogen Papier vom Sekretär. Mit verschmitztem Gesicht wedelte er mir mit dem Blatt unter der Nase herum. »Was hast du da?« »Die erste Sprosse der Leiter, die wir erklimmen müssen«, erwiderte Ulrich. »Wenn mein Verdacht begründet ist, werden wir uns bald in den Kreisen von Magiern, Spiritisten und selbsternannten Propheten bewegen. Sie alle haben etwas gemeinsam.« Ich verstand. »Sie brauchen Requisiten.« Ulrich grinste und gab mir das Blatt. »Darauf findest du die Anschriften und Rufnummern aller einschlägigen Händler der internationalen Zauberszene.« Ich überflog die sorgfältig getippten Adressen. Discomagic, Magic Joker, Zauber Butike, Sphinx Magic Institut, Tricky Business, House of Magic. Es waren über hundert Adressen. Ulrich hatte gute Arbeit geleistet. Scherzhaft boxte ich ihn auf den gesunden Arm. »Bist eben ein alter Fuchs«, freute ich mich. »Von wegen alt!« protestierte er. »Immerhin trage ich megacoole Markenjeans.« Gutgelaunt gingen wir nach unten, denn der Duft von Lydias Rührkuchen war nun wirklich nicht länger zu ignorieren. *
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Die Musikabteilung befand sich im untersten Geschoß des Koblenzer Löhr-Centers. Als Sarah Schlegel hier ankam, stand Eric Brickwedde gerade an der Infotheke. Er fachsimpelte mit einer Kundin über Songs aus den Siebzigern. Eric war fünfundzwanzig, einsachtzig groß und wirkte wie ein Dressman aus dem Katalog. Er verbrachte einen Großteil seiner Freizeit damit, seinem Körper Gutes zu tun. Sonnenbank, Stretching, Jogging, Friseur, Maniküre, Pediküre. Eric ließ nichts aus. Zudem fand er, daß er der mit Abstand am besten gekleidete Mitarbeiter des Löhr-Centers war. »Die beste Scheibe, die in den Siebzigern erschienen ist, dürfte Rumours sein«, sagte Eric. »Für Fleetwood Mac ein bombastisches Comeback, nachdem der Bandleader Peter Green ausgeschieden ist.« Die Dame, mit der Eric sprach, war Ende Vierzig, brünett und Brillenträgerin. Sie nickte zu seinen Worten. »Könnte sein«, gab sie zu. »Aber nach Rumours kommt gleich Breakfast in America von Supertramp.« Eric neigte leicht seinen Kopf. Er tat gewichtig, so, als hätte die Dame eine unerhört kühne Behauptung aufgestellt, die er, der Profi auf dem Gebiet, erst einmal überdenken mußte. Als er so in die Gegend schaute, wurde er plötzlich auf ein kleines Mädchen aufmerksam. Es war knapp zehn, trug eine gefütterte, blaue Kutte und stand vor den Regalen mit den MaxiCds. Als der Verkäufer in den Korb des Mädchens spähte, sah er, daß darin bereits ungefähr zwanzig Scheiben lagen. Und fortwährend purzelten neue Cds hinzu. Eric war außer sich. Wie das Mädchen mit der Ware umging, versetzte ihm einen Stich ins Herz. Und seit wann kauft eine Zehnjährige Cds gleich zu Dutzenden? Sekundenlang stand der Verkäufer wie angewurzelt. Dann gab er Gas. »Verzeihen Sie«, sagte er zu der Dame und setzte sich in Bewegung. »Natürlich.« Sie sah ihm stirnrunzelnd nach. Flink eilte der gutaussehende Verkäufer über den blitzsauberen Teppichboden. Die Arme demonstrativ in die Hüften gestemmt, baute er sich neben dem Einkaufskorb des Mädchens auf. Er hielt es für seine Spezialität, solche unangenehmen Zwischenfälle 36
diplomatisch zu beenden. »Geht es auch ein bißchen vorsichtiger?« fragte er höflich. »Compact Discs sind keine Teddybären.« Sarah Schlegel tat, als wäre er Luft. Sie reckte sich auf die Zehenspitzen. Nacheinander ergriff sie die in der obersten Reihe plazierten Cds. Cher, Oli R, Sasha, die Kelly Family, Madonna, Emilia. Laut polternd klapperten die Teile in den Korb. »He, ich spreche mit dir!« Keine Antwort. Statt dessen schob Sarah den Korb ein Stück weiter. Sie krauste ihre Stupsnase und beäugte interessiert die reißerischen Cover weiterer Cds. Wieder nahm sie eine Handvoll davon aus dem Regal und warf sie zu den anderen. Eric sah, wie eine der Kunststoffhüllen zerbrach. »Jetzt reicht's mir aber, du kleine Hexe!« Er packte den Caddie des Mädchens und riß ihn herum. Die Cds darin schepperten. Sarah drehte sich langsam zu ihm um, und Eric erschrak, als er ihr ins Gesicht schaute. Sarah war leichenblaß, hatte tief umschattete Augen und knirschte laut mit den Zähnen. Aus einem Mundwinkel lief ein klebriger Speichelfaden. Jäh zog ein abstoßender Verwesungsgeruch in Erics parfümverwöhnte Nase. Er hielt die Luft an, weil ihm übel wurde. Mit einemmal grinste Sarah. »Haben Sie auch Verpiß dich! von Tic Tac Toe?« Erics Augenlider zitterten vor Erregung. Es war das erste Mal in seinem Leben, daß es ihm die Sprache verschlug. Krampfhaft rang er um Fassung. Ungerührt ergriff Sarah ihren Caddie und rollte weiter. »Halt!« Eric Brickwedde kochte vor Wut. Als Sarah erneut den Tophit der Girlie-Band zitierte, gingen dem Verkäufer die Nerven durch. Einen kehligen Schrei ausstoßend, sprang er auf Sarah zu. »Dir wird ich helfen, du kleines Monster!« Eric riß den Einkaufswagen an sich und wollte Sarah am Kragen ihres Mäntelchens packen. Doch seine Hände faßten ins Leere. Mit einem ansatzlosen Schlenker war Sarah zur Seite gewirbelt. Geduckt wartete sie, was der Mann vorhatte. Eric Brickwedde kam sich vor wie ein Statist in einem Joke mit 37
Mr. Bean. Seine guten Manieren lösten sich in Luft auf. »Warte, du Biest!« grollte er. »Wenn ich dich erwische, schmeiße ich dich achtkantig aus dem Laden!« Drohend richtete er den Nagel seines manikürten Zeigefingers auf das Mädchen - und zuckte zurück. Zu spät! Mit insektenhafter Geschwindigkeit war Sarahs Kopf vorgeschnellt. Krachend schlug sie ihre scharfen Zähne in die ausgestreckte Fingerkuppe ihres Kontrahenten. Der Verkäufer jaulte auf. Er riß die Hand hoch und starrte sie an. Die Fingerkuppe fehlte… Mit einem gurgelnden Ton spuckte Sarah das Fleischstückchen auf den Fußboden. »Verschwinden Sie jetzt!« fauchte sie. Als wäre alles rechtens, schob sie den Einkaufswagen um die Ecke, um nach den neuesten Longplays Ausschau zu halten. In der Mitte des Ganges hingen zwei Fernseher von der Decke. Beide waren eingeschaltet. Ein Musiksender brachte den Clip Believe von Cher. Sarah mochte den Song. Die Finger um den Griff des Caddies gekrallt, blieb sie stehen, sah hinauf und pfiff die Melodie leise vor sich hin. Die wilden Schreckenslaute, die der verstümmelte Mann hinter ihr ausstieß, ließen sie völlig kalt. Doch dann erstarrte sie plötzlich. Der Verkäufer schien sich gefangen zu haben. Wutentbrannt stürzte er auf sie zu. Hinter ihm zwei seiner Kolleginnen, die den Vorfall beobachtet haben mußten. Junge, hübsche Frauen, eine hatte einen Igelschnitt, die andere trug kunstvoll geflochtene Rasta-Zöpfe. Ohne hinzusehen, griff Sarah in den Korb, riß eine CD in die Höhe und warf die Hülle achtlos beiseite. Die silbrig glänzende Scheibe in der Hand des Mädchens sauste mit mörderischem Schwung durch die Luft. »Laßt mich in Ruhe!« schrie sie. »Kommt ja nicht näher!« Die beiden Frauen gehorchten. Der wilde Ausdruck in Sarahs Gesicht jagten ihnen panische Angst ein. Aber Eric Brickwedde lechzte nach Vergeltung. Dieses HorrorKid darf nicht entkommen! jagte es durch seinen Schädel. Ich werde seine Eltern verklagen, bis sie schwarz werden! Eric verbiß sich den gräßlich pochenden Schmerz in seinem 38
verstümmelten Finger. Mit der gesunden Hand holte er aus, um Sarah zu packen. Aber wiederum war er nicht schnell genug. Sarah rammte ihm den Caddie vor die Füße und sprang leichtfüßig beiseite. Der Einkaufswagen kippte um, der Inhalt fiel heraus, und Eric Brickwedde hörte unter seinen Sohlen Plastik zerbersten. »Ich kriege dich!« heulte er. »Wart's nur ab!« Irgendwo rief die gellende Stimme einer Frau nach dem Security-Mann. Time to say goodbye, dachte Sarah und rannte zu den Waschmaschinen auf der anderen Seite des Ganges. Ich muß verschwinden, sonst wird es brenzlig. Aber Eric Brickwedde ließ sich nicht so einfach abschütteln. Jemand hatte seinen Body verunstaltet, für ihn das schlimmste Verbrechen der Welt. Er schnitt Sarah den Weg zu den gläsernen Schiebetüren ab, die hinaus ins Foyer führten. Steifbeinig kam er auf Sarah zu. Er ging ganz langsam. Immer, wenn sich Sarah irgendwohin wandte, versperrte er ihr den Fluchtweg. Um hier herauszukommen, mußte sie an dem Verkäufer vorbei. Doch der hielt die Arme ausgebreitet und rückte Zentimeter für Zentimeter näher. Sarah wich rückwärts zurück - bis sie eine Wand an ihrem Rücken spürte. In Eric Brickweddes Augen glitzerte es. »Du kommst hier nicht raus«, drohte er. »Nur über meine Leiche!« »Leiche?« gurrte Sarah kaum hörbar. Sie glitt ein Stück zur Seite. Sie rammte mit der Schulter gegen eine Vitrine, in der Kaffeemaschinen ausgestellt waren. Der Stoß war ziemlich kräftig, und ein Gerät fiel aus dem Regal. Die Glaskanne stieß gegen die Tischkante, zersplitterte, und die Scherben breiteten sich auf dem Boden aus. Gleichzeitig erklang vom anderen Ende des Geschäfts hysterisches Gebrüll. »Bist du der Teufel?« Eric Brickwedde starrte Sarah ungläubig an. Nur noch eine einzige Armlänge trennte ihn von dem Mädchen. »Leiche!« hauchte Sarah. Pfeilschnell zuckte die Hand, in der sie die CD hielt, durch die Luft. Der schrille Summton verklang, als der scharfe Rand des 39
Musikträgers auf Widerstand stieß. Im Kehlkopf des Verkäufers… Eric Brickwedde ließ die Arme sinken, sackte auf die Knie und schlug der Länge nach hin. Jetzt war der Fluchtweg frei! Sarah zögerte keine Sekunde. Mit einem Satz sprang sie über den Sterbenden hinweg, jagte über Glassplitter, Pfützen aus Blut und zerberstende Plastikteile zum Ausgang. Wie ein Wirbelwind fegte sie die Rolltreppe hinauf. Niemand hielt sie auf. Nur Augenblicke nach seiner entsetzlichen Bluttat war das Zombiekind im Getümmel der Kauflustigen verschwunden. * Das Hotelzimmer war klein, die Gardinen gelb, und die Tapeten sahen aus, als bestünden sie aus Papyrus. Vor dem Fenster stand eine wurmstichige Kommode mit einem Minifernseher drauf. Berti Latotzki lag in Turnhemd und Shorts vor der altersschwachen Eisenbettstelle. Er machte einarmige Liegestütze. Pia saß in der Naßzelle auf dem zugeklappten Klobecken und fönte ihr frischgewaschenes Blondhaar. Als Berti die ersten drei Serien Liegestütze beendet hatte, rappelte er sich auf und setzte sich auf die Bettkante. Schnaufend betrachtete er seine Bizeps. »Müßte wieder einmal eine Diät machen«, meinte er. »Die Adern auf meinen Armen sind fast gar nicht mehr zu sehen.« »Was hast du gesagt?« Pia hielt den Haartrockner von ihrem Ohr weg. »Diät!« brüllte Berti. »Am besten, ich fange heute gleich damit an. Was hältst du davon, Pia?« »Ungünstig«, antwortete sie. »Hat Mark nicht gesagt, wir sollen ihn heute abend in der Florian-Geyer-Straße besuchen? Ich glaube kaum, daß dein Schulkumpel auf Bodybuilder-Diät eingerichtet ist.« »Heute abend?« Berti wackelte mit dem Kopf. »Da mußt du irgendwas in den falschen Hals gekriegt haben, Pia.« »Was hast du gesagt?« rief Pia. »Für heute abend haben wir doch die Karten fürs 40
Nationaltheater, Süße. Der Große Marinello! Schon vergessen? Deswegen sind wir doch extra nach Weimar gekommen.« Der Fön ging aus. Für einen kurzen Moment herrschte tiefe Stille in dem spärlich möblierten Hotelzimmer. Dann trat Pia Severin aus dem Bad, durchquerte den Raum und blieb vor dem Bett stehen, auf dem Berti nach Luft japste. »Bist du sicher?« fragte sie ihren Freund. »Todsicher.« Pia seufzte. »Ich hab's verbockt. Schuld daran ist bloß diese Tessa. Sie hat mich völlig konfus gemacht, als sie in der StageCoach so auf mich losgegangen ist. Naja, da muß ich wohl was verwechselt haben.« »Verdenken kann man es der Tessa nicht.« Berti zog Pia am Arm zu sich herunter und gab ihr einen schmatzenden Kuß auf die Wange. »Immerhin scheint sie ganz gehörig in Mark verliebt zu sein.« Pia lächelte. Außer einem fast unsichtbaren Slip und einem BH hatte sie nichts weiter an. Obwohl ihr Haar erst halb gefönt war, sank sie auf Bertis Schoß und ließ es zu, daß seine Lippen zärtlich über ihren Hals glitten. Pia Severin war sechsundzwanzig und arbeitete im Rostocker Hotel Warnow an der Rezeption. 1992, drei Jahre nach der Wende, war sie zur Miss Mecklenburg-Vorpommern gekürt worden. Die Veranstaltung war von einer Versicherungsfirma gesponsort worden. Und zufällig saß jemand in der Jury, der Herbert Latotzki hieß. Im Handumdrehen kamen sich die beiden näher. Schon am nächsten Morgen nach ihrer Auszeichnung war Herbert Latotzki nur noch Pias Berti… Als Bertis Hände zu keß wurden, entzog sich die hübsche Blondine seinem Griff. Sie stand auf, gab ihm einen leichten Katzenkopf und hob einen Zeigefinger. »Pia!« maulte Berti. »So kenne ich dich ja gar nicht.« »Ich hab eine Idee!« feixte sie. »Weil es gemein wäre, Marks Einladung abzusagen und ebenso schade, die Vorstellung des Großen Marinello zu verpassen, werden wir das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.« »Und wie?« Pia zog einen Flunsch. »Kommst du wirklich nicht drauf? Manometer, Berti, manchmal bist du echt begriffsstutzig.« »Na los! Sag schon!« forderte der Hüne. »Laß deinen Lieblings41
Berti doch nicht dumm sterben.« »Wir werden Mark einfach zur Vorstellung mitnehmen«, ließ Pia die Katze aus dem Sack. »Und danach können wir immer noch gemütlich zusammensitzen.« »Und Tessa?« »Dienstlich verhindert«, informierte Pia kichernd. »Sie jagt diesen Sittenstrolch.« Berti wog unschlüssig seinen Kopf. »Tja, die Frage ist, woher bekommen wir noch ein Billett für Mark? Die Karten sind sozusagen Goldstaub, und hier, in Weimar, hab ich keine Beziehungen mehr…« Pia kniff schlau ein Auge zu. »Du vielleicht nicht, alter Brummbär. Aber wozu hast du deine süße Piamaus mit? Zeige mir den Mann, der mir widerstehen kann!« Pia begann, gespielt aufreizend im Zimmer auf- und abzuschreiten. Berti verfolgte jede Bewegung seiner attraktiven Freundin mit leuchtenden Augen. »Hast gewonnen«, hauchte er gutmütig. Dann sprang der muskulöse Mann so heftig auf, daß die Bettfedern protestierend quietschten. »Aber nun ist endlich Schluß mit der Ziererei!« Prustend vor Lachen gab Pia Severin klein bei. Als ihr BH zu Boden fiel, schloß sie entrückt die Augen… * Durch das Dachfenster meines Wohnzimmers sah ich ein Stück des bleigrauen Himmels. Draußen war es regnerisch und windig. Von Sonne keine Spur. Gewissenhaft arbeitete ich die Zauberhändler-Liste ab, die mir Ulrich gegeben hatte. Gerade ließ ich es bei der Magischen Schatztruhe in Wiedergeltingen klingeln. Bisher hatte ich fünfzehn Telefonate geführt. Leider ohne einen entscheidenden Hinweis auf ein schwarzes Schaf in der Zunft zu bekommen. Man gab sich sehr reserviert und wortkarg. Kein Wunder, denn ich war ein Außenstehender. In keiner Branche hielt man sich mit Informationen so bedeckt wie in der Zunft der Illusionisten. Endlich nahm jemand ab. 42
»Magische Schatztruhe, Pamela Fredrich.« Eine Frau! Ich legte all meinen feurigen Charme in den Klang meiner Stimme, blieb aber wiederum erfolglos. Zwar entspann sich eine nette Plauderei, doch jedes Mal, wenn ich konkret wurde, schaltete die Dame am anderen Ende auf Durchzug. Ich räusperte mich enttäuscht. »Tut mir aufrichtig leid«, sagte die Frau, die Fredrich hieß. »Aber sehen Sie, Herr Hellmann, die meisten unserer Kunden sind Profis, mit Leib und Seele. Die Zauberkunst ist ein hartes Brot. Die Konkurrenz gewaltig. Aber sie haben sich trotzdem für dieses Geschäft entschieden. Wissen Sie, warum?« »Vielleicht, weil es ihnen Macht gibt?« »Volltreffer«, versetzte Pamela Fredrich anerkennend. »Die Magier haben ihre Mitmenschen sozusagen in der Hand. Manche verkaufen ihre Illusionen als wirkliche Wunder. Schwer fällt das nicht, denn die Tricks sind perfekt.« »Aber draußen, vor dem Theater, werden sie doch wieder normale Bürger. Sie könnten…« Die Frau lachte. »Sie sind sehr hartnäckig, Herr Hellmann. Sicher, auf der Straße sind auch Zauberer keine Wundermänner mehr. Sie sind Spezialisten auf ihrem Gebiet, nicht mehr.« »Ich könnte mir vorstellen, daß einige von ihnen die durch ihre Show errungene okkulte Aura in ihren Alltag mitnehmen.« »Nun ja«, druckste Pamela Fredrich. »Genau einen solchen Illusionisten suche ich«, legte ich nach. »Eine Art Faust der Zauberkünstler. Er sonnt sich in dem Gefühl, sehr mächtig zu sein. Und«, ich hob meine Stimme, »ihm gefällt das Gefühl der Macht über andere so sehr, daß er beginnt, gewisse Grenzen zu überschreiten.« »Sie meinen, mit Hilfe überirdischer Phänomene?« »Möglich ist alles«, antwortete ich. Gedankenvoll drehte ich mit dem Daumen an meinem magischen Ring. »Oder halten Sie solche Dinge für überholten Aberglauben?« Pamela Fredrich kicherte, aber es klang gekünstelt. Ich wurde das Gefühl nicht los, die Frau wußte wesentlich mehr, als sie sagte. Aber wie sollte ich das Wissen aus ihr herauskitzeln? Ich beschloß, es mit totaler Offenheit zu probieren. »Hören Sie gut zu, Frau Fredrich. Ich werde Ihnen mal sagen, woher mein Interesse rührt. Sie werden erkennen, daß es nicht nur blanke 43
Neugierde ist, die mich plagt.« »Meinetwegen. Dann schießen Sie los!« Am anderen Ende der Leitung klickte es. Frau Fredrich schien sich erst mal eine Zigarette angesteckt zu haben. Ohne Umschweife begann ich, meiner Zuhörerin zu erläutern, was Sache war. Als ich meinen Bericht beendet hatte, wirkte Frau Fredrich hochgradig erschrocken. »Ich, ich kann's nicht glauben«, stammelte sie. »Kein normaler Mensch kann Verstorbene reanimieren. Ebensowenig kann dies ein Illusionist, so gut er auch sein mag. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.« »Vorsicht!« warnte ich. »Sie könnten sich verbrennen.« Pamela Fredrich schwieg. »Sie sagten vorhin, Sie kämen aus Weimar?« fragte sie dann. Ein lauernder Unterton lag in ihren Worten, und ich spitzte die Ohren. »Ja, warum?« »Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, sagte sie. »Wie ich weiß, tritt heute abend im Weimarer Nationaltheater der Große Marinello auf. Schauen Sie sich die Vorstellung an!« »Glauben Sie, er ist mein Mann?« bohrte ich atemlos. »Ich glaube, gar nichts«, erwiderte sie sofort. »Ich habe Ihnen lediglich einen Vorschlag unterbreitet.« »Danke«, sagte ich artig. »Viel Glück.« Sie legte auf. Grübelnd schaltete ich mein Handy ab. Das Gespräch mit Pamela Fredrich spukte in meinem Kopf herum. Ich soll mir also den Großen Marinello zu Gemüte führen, dachte ich. Weiter kam ich nicht. Mein Handy fiepte, und zähneknirschend ging ich auf Empfang. »Mark, alter Haudegen!« röhrte Berti Latotzki. »Was treibst du bloß den ganzen Vormittag? Ich hab schon Schwielen an den Fingerkuppen vom Wählen.« »Was gibt es?« erkundigte ich mich. »Ich dachte, wir treffen uns heute abend bei mir.« »Genau deswegen rufe ich an«, erklärte Berti. »Durch diesen verflixten Amoklauf in der Stage-Coach haben Pia und ich einiges durcheinandergewürfelt. Mark, wir können dir heute nicht auf die Bude rücken.« Hm, dachte ich, das kommt mir sehr zupaß. Da kann ich mich 44
um meinen Fall kümmern. Berti riß mich aus meinen Gedanken. »Aber das ist kein Grund, den Kopf hängen zu lassen. Pia und ich haben eine tolle Überraschung für dich.« »Und die wäre?« »Schmeiß dich in Schale, Mark, denn heute abend marschieren wir ins Theater. Ins Nationaltheater, um genau zu sein.« Plötzlich fielen mir alle meine Sünden ein. »Der Große Marinello! Pia und du wolltet seine Vorstellung besuchen. Wie konnte ich das bloß vergessen?« »Mach dir nichts draus«, tröstete mich Berti. »Du hast ja mich.« * Sarah knurrte der Magen. Sie saß auf einer Bank auf dem Koblenzer Jesuitenplatz und warf den Vorübergehenden wütende Blicke hinterher. Hinter ihr stand das Hotel am Schängel. Hin und wieder, wenn dort ein Fenster geöffnet wurde, duftete es appetitlich nach den köstlichsten Leckereien. Aber Sarah hatte kein Geld. Als sie am frühen Morgen ihre neue Gülser Wohnung verließ, hatte sie vergessen, das Portemonnaie der Mutter einzustecken. Also mußte sie sich ohne Geld etwas Eßbares verschaffen. Bloß wie? Ihr Auftritt im Löhr-Center wäre um Haaresbreite in die Hose gegangen. Nachdem Sarah den Verkäufer getötet hatte, war eine Zeitlang eine Schar wütender Verfolger hinter ihr hergewesen. Beinahe hätte man Sarah geschnappt. Erst als sie einen Mann über den Haufen rannte, der eine Rollkarre mit hoch aufgetürmten Pappkartons schob, konnte sie durch ein Schnellrestaurant unbemerkt in die Löhrstraße entwischen. Über Sarah ertönte ein Flattern. Sie sah auf. Ein halbes Dutzend Tauben flogen dicht über ihrem Kopf. Zutraulich ließen sich die Tiere vor einem Denkmal nieder. Sie tippelten umher und pickten Krümel aus den Rillen des Straßenpflasters. Sarah ließ die Tauben nicht aus den Augen. Sie saß regungslos 45
da, wie eine Puppe aus Holz. Den Blick starr auf die munteren Krümelsammler geheftet. Die Vögel näherten sich pickend der Bank, worauf Sarah sie belauerte. Sie schienen an das Zusammenleben mit Menschen gewöhnt. Sie schöpften keinen Verdacht. Wenn sich jemand zu nahe an sie heranwagte, flogen sie gurrend auf und landeten ein paar Meter weiter. Schon leckte sich Sarah genießerisch die spröden, blauen Lippen. Die Tauben sahen kräftig und wohlgenährt aus. Schlaraffenland, dachte sie. Man reißt den Mund auf und schwupps! fliegen einem die gebratenen Täubchen in den Hals. Aber die Tauben auf dem Jesuitenplatz waren nicht gebraten. Sie lebten. Dennoch verspürte Sarah den mörderischen Drang, eines der Tiere zu packen, es zu zerpflücken und kurzerhand zu verschlingen. Jemand lachte. Sarah hob den Blick. Ein Mann, der einen Ledermantel mit Pelzkragen trug, hielt gerade einen Fotoapparat vors Gesicht und knipste sie. Neben dem Mann stand ein Junge in Sarahs Alter. Er war es, der gelacht hatte. Sarahs Augen wurden zu Schlitzen. Der Junge hielt den Zeigefinger auf Sarah gerichtet, bleckte seine Zähne und fing an, erneut zu kichern. »Vati«, gluckste er. »Wieso fotografierst du das Mädchen da? Sag bloß, du findest die schick?« Der Mann ließ den Apparat sinken, juckte sich verlegen am Kinn und strich dem Jungen eine Haartolle aus der Stirn. »Ich finde das Motiv prima«, sagte er. »Ein kleines Mädchen, von pickenden Tauben umringt. - Wie wär's, Tommy? Setz dich doch mal zu ihr, dann knipse ich euch beide zusammen. Natürlich nur, wenn die Kleine nichts dagegen hat.« »Wieso sollte sie was dagegen haben?« tönte Tommy selbstbewußt und setzte sich neben Sarah. Sofort rümpfte er die Nase und starrte sie an. »Äh, wie riechst du denn?« Sarah preßte die Lippen zusammen. Sie spannte ihre Muskeln, bis sie zitterten. Und wieder grollte ein dumpfer Ton aus ihrer Magengegend. Der Appetit, den sie empfand, wich immer mehr einem Bärenhunger. Ich muß unbedingt etwas essen, dachte sie. 46
»Die stinkt«, sagte der Junge zu seinem Vater. Der Mann wurde ungeduldig. »Nun übertreib mal nicht, Tommy. Und hör gefälligst auf, so herumzuzappeln. Du verwackelst sonst die ganze Aufnahme.« Der Junge rückte angewidert ein Stück von Sarah ab; Sein Vater sagte »Bitte recht freundlich!« und grinste zufrieden, als er die Aufnahme gemacht hatte. »Danke, Kleine. Nett von dir.« Wie elektrisiert sprang der Junge auf und stellte sich neben ihn. In seinen Augen flackerte Angst. »Sie ist so - anders, Vati«, murmelte er leise. Erneut setzte Sarahs Magenknurren ein. »Ich habe Hunger«, sagte sie. »Die spinnt.« Der Junge packte verängstigt den Ärmel des Vaters. »Sieh nur, Vati, was für unheimlich spitze Zähne sie hat.« Doch der Mann ging nicht auf Tommys Bemerkung ein. Er griff in die Manteltasche. Gönnerhaft drückte er Sarah ein Fünfmarkstück in die Hand. »Hier, deine Gage«, sagte er. »Kauf dir eine Bratwurst!« Dann entfernten sich Vater und Sohn. Sie ahnten nicht, daß sie soeben einer tödlichen Gefahr entronnen waren. Sarah blieb noch eine Weile sitzen. Sie überlegte, was sie mit dem Geld anfangen sollte. Fünf Mark, sagte sie sich. Nicht gerade viel, aber ein Anfang. Ich werde zu den Leuten gehen und sie fragen, ob sie mir noch mehr Geld geben. Davon werde ich mir ein schönes Essen kaufen. Pah - von wegen Bratwurst! Die konnte sich der Typ ans Knie nageln. Von der Idee berauscht, sprang sie auf und lief ein Stück die Firmungstraße entlang. Von dort bog sie in die Kornpfortstraße ab und gelangte kurz darauf an das Moselufer. Eine innere Triebfeder peitschte sie voran. Es war, als ob eine unsichtbare Macht sie steuerte. Als die Neunjährige an die Danziger Freiheit kam, hielt gerade ein hypermoderner Luxusbus auf dem angrenzenden Parkplatz. Der Bus war pinkfarben wie ein Marzipanschweinchen und hatte ein ausländisches Kennzeichen. Sarah rannte zum Parkplatz. Dort stellte sie sich neben den blauen Metallpfeiler eines verriegelten Eisstandes und wartete. Still sah sie zu, wie die elektrischen Türen des Reisebusses aufgingen. Einige gutgekleidete Businsassen stiegen aus. Sie bildeten 47
kleine Grüppchen, sahen sich bewundernd um und unterhielten sich in einer Sprache, die Sarah nicht verstand. Aber das störte die Neunjährige nicht. Sie würde ihnen schon begreiflich machen, was sie wollte. Los. Sarah gab sich einen Ruck. Die schmalen Schultern hochgezogen, stapfte sie auf den erstbesten Reisenden zu. * Das Vorprogramm neigte sich dem Ende zu. Ein Nachwuchs-Magier, der einen silbrig glitzernden Frack trug, fädelte gerade ein Stoffband mit Hilfe einer Nadel durch einen kürbisgroßen Luftballon. Berti, Pia und ich saßen in der ersten Reihe. Der Saal des Nationaltheaters war bis zum letzten Platz gefüllt. Spannung knisterte in der Luft. Alle warteten auf den Auftritt des Großen Marinello. Berti hatte mir erzählt, der Magier stammte aus Samtens, einem kleinen Ort auf Rügen. Er wäre als völlig normaler Junge aufgewachsen, bis er eines Tages sein Talent für die Zauberkunst entdeckt hatte. Mit banaler Partyzauberei hatte er begonnen. Kartentricks, das klassische Zaubergerät Fantastica, Netzillusionen, verschiedene Liköre aus einer Flasche, schwebende Kugeln, Ringspiele, chinesische Schnurstäbe. Nichts Weltbewegendes also. Doch dann geschah das Sensationelle! Ende 1998 überraschte der Große Marinello seine atemlosen Zuschauer mit einem schier unglaublichen Kunststück: Ähnlich wie Miss Aimee, die menschliche Fliege, konnte er an der Decke laufen, mit dem Kopf nach unten! Erfunden hatte den Trick ein Amerikaner, der Sands hieß, um 1840. Sands studierte die Füße von Fliegen und ließ sich Pneumatik-Stiefel anfertigen. Die Sohlen saugten sich beim Aufsetzen auf dem Laufsteg an der Decke fest. Leider erwies sich der Erfinder des Deckenlaufens als zu vorwitzig. Er nahm die Herausforderung an, vor einer riesigen Menschenmenge an der Decke eines Saales entlangzuspazieren, den er nicht kannte. Das Schicksal nahm seinen Lauf. Großspurig verzichtete Sands auf ein 48
Fangnetz. Die Decke stürzte ein. Sands fiel wie ein Stein in die Tiefe und brach sich das Genick. Dagegen schien der Große Marinello den Stein der Weisen gefunden zu haben: Er marschierte an der Decke entlang, ohne Schuhe und Strümpfe an den Füßen - barfuß! Die Fachwelt stand Kopf. Niemand konnte sich erklären, wie dieser Trick funktionierte. Es grenzte an ein Wunder. Zaghafter Applaus erscholl. Der Nachwuchs-Zauberer grinste höflich. Er verbeugte sich tief vor dem Publikum. Im Laufschritt verschwand von der Bühne. »Jetzt kommt er«, schwärmte Pia. Ich sah, wie Bertis hübsche Freundin vor Erregung den Henkel ihres Täschchens drückte. Die Augen weit aufgerissen, verfolgte sie jeden Schritt des Moderators, der soeben aus den Kulissen aufgetaucht war und sichtlich bewegt den Großen Marinello ankündigte. Von einer Sekunde zur anderen brandete tosender Applaus auf. Der Star des Abends erschien. Ich hatte sein Konterfei bereits auf dem Plakat, das im Foyer aushing, gesehen. Doch es war eine farbige Zeichnung gewesen. Als der Mann nun in natura vor mir stand, war ich fast enttäuscht. Der Große Marinello war eher klein, maß höchstens einssiebzig. Bis auf den roten Zylinder, den er sich tief in die Stirn gezogen hatte, trug er Schwarz. Irgendwie schien alles an ihm düster und mystisch. Sein Gesicht wurde von einer vorspringenden Adlernase beherrscht. Ein schwarzer Vollbart umrahmte knochige, eingefallene Wangen. Die Augen wurden durch die breite Hutkrempe beschattet. Im Zeitlupentempo legte er seine Rechte auf sein Herz und senkte sekundenlang den Kopf, als würde er meditieren. Reglos wie ein Fels wartete er, bis das Klatschen der ungezählten Hände verebbte. Als es soweit war, ertönten aus dem Orchestergraben dumpfe Töne aus einer Oboe. Der Meister legte los. Auf seinen Wink hin erschien eine Assistentin. Sie ähnelte einer Fleisch gewordenen Barbiepuppe. Ihre spärliche Bekleidung hätte bequem in jede Zigarettenpackung gepaßt. Ein aufgesetztes Lächeln auf den Lippen, rollte die Schöne ein Tischchen auf die Bühne. Darauf lag ein schwarzes Tuch mit langen Fransen dran. 49
Sonst nichts. Berti stieß mir seinen Ellbogen in die Rippen. »Ich wette meine letzte Hantel«, zischte er, »daß auf der uns abgekehrten Seite ein Behälter hängt, in den er gleich Gegenstände verschwinden läßt.« »Eine Servante«, bestätigte ich. »Fast jeder Zauberkünstler arbeitet damit.« »Pst!« Pia sah uns böse an. Berti und ich nickten stumm. Im Begriff, den Kunststücken des Großen Marinello meine uneingeschränkte Aufmerksamkeit zu widmen, fuhr mir jäh der Schreck in die Glieder. Mein Ring! Spürbar erwärmte er sich. Das vibrierende Prickeln, das er aussandte, zog hoch bis unter meine Achselhöhle. Zugleich begann der Ring hektisch zu flimmern. Mit diesem magischen Ring, der mir an der Kordel um den Hals hing, als man mich 1980 aufgriff, hatte es eine besondere Bewandtnis. Er zeigte dämonische Aktivitäten an. Wenn ich es wollte, erschien ein dünner, laserartiger Strahl, der mir die Stelle zeigte, wo die Konzentration des Dämonischen am höchsten war. Ebenso konnte ich mit dem Strahl Runen des altgermanischen Futhark-Alphabetes auf den Boden malen - und Reisen in die Vergangenheit unternehmen! Meine erste Zeitreise hatte mich an den Berliner Alexanderplatz geführt, glatte achthundert Jahre zurück… (Siehe MH 2) Bevor jemand merkte, daß mein Ring verrückt spielte, legte ich schnell mein Programmheft darauf. Es lag klar auf der Hand, der Große Marinello spielte mit gezinkten Karten. Ulrichs Worte fielen mir ein: Der Mann, mit dem wir es zu tun haben, verfügt in der Tat über übernatürliche Kräfte. Er kann wirklich zaubern. Auch Pamela Fredrich, die Dame von der Magischen Schatztruhe, schien Verdacht geschöpft zu haben. Jedenfalls hatte der merkwürdige Klang ihrer Stimme darauf hingewiesen. Irgendwie paßte alles schlüssig zusammen. Die heftige Reaktion meines Siegelringes war der letzte Beweis. Der Große Marinello war der Mann, dem es offenbar gelungen war, einen Menschen zu reanimieren. Womöglich sogar mehrere? Plötzlich saß ich wie auf glühenden Kohlen. Fünf, sechs Meter 50
von mir entfernt, auf der Bühne des Nationaltheaters, vor den Augen vieler hundert Zuschauer, führte ein Mensch Kunststücke vor, die keine waren - sondern wahrscheinlich Zauberei! Woher hatte er seine übernatürlichen Kräfte? Etwa vom Antichristen höchstpersönlich? Als Belohnung für einen Dienst, den er Mephisto geleistet hatte? Meine Gedanken überschlugen sich. Unruhig rutschte ich auf meinem Sitz hin und her. Mein Fall begann, Konturen anzunehmen. Wie gebannt fixierte ich den Schwarzgekleideten. Gerade verblüffte er sein Publikum, indem er seine Assistentin frei im Raum schweben ließ. Ich kannte den Trick. Die angeblich frei Schwebende lag auf einer Unterlage, die an für den Zuschauer unsichtbaren Drahtseilen festgehalten und bewegt wurde. Der Hintergrund der Bühne mußte hierbei so gestaltet sein, daß das Publikum die Drähte nicht wahrnehmen konnte. Der Große Marinello näherte sich dem Höhepunkt dieser vermeintlichen Illusion. Mit einem Ring, den er aus dem Nichts ergriff, streifte er in Längsrichtung über den schwebenden Körper seiner Assistentin. Damit wollte er beweisen, daß das Mädchen nirgendwo befestigt war. Natürlich eine Finte, denn der Körper war nicht in der Mitte mit dem Drahtzug verbunden, sondern mit einer Metallstange, die in S-Form parallel zum Körper verlief. Die Zuschauer applaudierten entzückt. »Er ist großartig, nicht wahr?« Pia hakte sich glücklich bei ihrem Berti unter. »Klaro«, nickte mein Schulfreund gutmütig. »Der Fuzzi hat seine Lektion gelernt.« Ich ballte die Fäuste unter dem Programmheft. Während meine Nachbarn noch angeregt miteinander tuschelten, ließ der Große Marinello ein neues Kunststück vom Stapel. »Liebes Publikum!« rief seine Assistentin durchs Mikrophon. »Erleben Sie jetzt, wie ein Mensch durch die Wand geht. Der unvergessene Houdini führte diese Sensation erstmalig vor fünfundachtzig Jahren auf. Im New Yorker Victoria Theater, und zwar am 6. Juli 1914. Aber!« Sie hob die Stimme. »Der Große Marinello hat dieses Wunder perfektioniert. Sehr verehrte Damen, geehrte Herren, Sie werden Ihren Augen nicht trauen. - Der Große Marinello!« 51
Ohrenbetäubender Applaus. Zwei Kulissenschieber rollten eine Mauer aus backsteinroten Ziegeln auf die Bühne. Die Kapelle im Orchestergraben spielte einen Tusch. Der Applaus verebbte. Die barbiehafte Assistentin stolzierte von einem Ende der Bühne zum anderen. Der Meister senkte seinen Kopf, konzentrierte sich. Bald herrschte atemlose Stille im Saal. Da ertönte eine leise Stimme in meinem Kopf, geisterhaft, dumpf, aus einer anderen Welt. Sie flüsterte: »Hilf mir, Mark Hellmann!« Ich saß wie betäubt. Jemand hatte sich in meine Gedanken eingeloggt… * Am Rande ihres Gesichtsfeldes bemerkte Sarah eine Bewegung. Ein großer, dunkler Körper huschte auf die Businsassin zu, der das Mädchen gerade ein paar Mark abknöpfen wollte. Narrte sie ein Trugbild? Sarah riß ihren Kopf herum, blieb stehen. Es war ein Pitbull-Terrier, der rasend schnell näher kam. Vor seinem plattgedrückten Maul stand Schaum. Von seinem dicken Hals hing ein Stück zerbissener Leine. Die Augen unverwandt auf den tizianroten Mantel der Frau gerichtet, hetzte er geradewegs auf sie zu. Außer Sarah schien niemand den heranpreschenden Kampfhund zu bemerken. Zu sehr zeigten sich die Ausländer von den Sehenswürdigkeiten am Deutschen Eck beeindruckt. Sarah kniff die Augen zusammen. Sie spürte Wut in sich aufsteigen. »Hau ab, du blöder Köter!« fauchte sie. Es hatte so haßerfüllt geklungen, daß die Frau im roten Mantel erschrocken herumfuhr. Im selben Atemzug sprang sie der Hund an. Dann ging alles entsetzlich schnell. Die Frau schrie vor Angst. Die Krallen des Pitbulls schabten über ihren Mantel. Er knurrte, fletschte die Zähne, machte den Hals lang, um nach der Kehle zu schnappen. Verzweifelt versuchte die Angefallene, den drahtigen Hundeleib abzuschütteln. Doch das Tier strotzte vor Kraft. Sie strauchelte; 52
jeden Moment konnte sie das Gleichgewicht verlieren und lang auf die Straße schlagen. Die Umstehenden wichen zurück. Offenbar standen sie unter einem Schock, der sie bis in die Zehenspitzen gelähmt hatte. »Help me!« kreischte die Frau in Todesangst. Allmählich kam Leben unter die Zuschauer. Aufgeregt brüllten sie durcheinander, gestikulierten wild. Dann sprang ein Mann hinzu. Tollkühn packte er das rasende Tier an den Flanken, wollte es wegreißen von seinem Opfer. Blitzschnell drehte der Pitbull den Kopf. Sein Maul klaffte auf, und er biß den Angreifer in die Hand. Der Mann jaulte los. Er stolperte über einen Koffer, der im Weg stand, und fiel vor Sarahs Füße. Aus einer tiefen Fleischwunde tropfte Blut. Er bemerkte das Mädchen. »Run away, little girl!« schrie er Sarah an. Die Neunjährige achtete nicht auf ihn. Sie stand wie ein Fels. Dann packte sie den Hund. Der Pitbull war außergewöhnlich stark. Aber als Sarah in den Kampf eingriff, sanken seine Chancen auf Null. Unter dem Gebrüll der Umstehenden begann Sarah, den muskulösen Hals des Pitbulls zu würgen. Wutschnaubend versuchte das überraschte Tier, seinen Kopf einzuziehen und den neuen Gegner zu beißen. Dabei verkrallte es sich tief im Gewebe des Mantels, an dem es jetzt hing. Der Stoff gab nach, zerriß, und der Hund verlor die Balance. Mit einer Pfote wollte er sich an anderer Stelle festhaken. Seine Hinterläufe tasteten nach Halt. Sarah ließ von seinem Hals ab, schnappte sich eines der zappelnden Hundebeine, vereinigte all ihre überirdische Kraft und brach das Bein kurz über der Pfote mittendurch. Das Tier winselte die Tonleiter hoch und runter. Die Pfote pendelte an einer Sehne, schwang auf und ab. Aber der Pitbull gab nicht auf. Er versuchte weiter, nach Sarah zu schnappen. Da brach die Frau zusammen. Zuerst sackte sie auf die Knie, dann kippte sie zur Seite, gegen den Rinnstein. Vor Schmerzen verzog sie das Gesicht. Schon witterte der Hund Oberwasser. Mit einer ruckartigen Drehung schlüpfte er aus Sarahs Griff, wollte der Frau erneut an die Kehle. Aber die Neunjährige war einen Tick schneller. Sie raffte einen losen Pflasterstein auf, holte mörderischen 53
Schwung und knallte ihn auf den Kopf des Hundes. Es gab ein berstendes Geräusch, den Umstehenden lief ein kalter Schauer über den Rücken. Sie konnten nicht fassen, was sie da sahen. Ein kleines Mädchen kämpfte gegen einen blutrünstigen Pitbull! Erst jetzt fiel der Hund von der Frau ab. Seinen bulligen Körper auf drei Beinen balancierend, widmete er nun Sarah seine volle Aufmerksamkeit. Oberhalb seines linken Auges klaffte ein Loch, aus dem Blut sickerte. Aus seiner Kehle kam ein gurgelnder Laut. Er schien benommen, die gräßliche Kopfwunde forderte ihren Tribut. Mit jeder Sekunde, die verging, schienen seine Kräfte zu schwinden. Sarah stand geduckt. Sie ahnte, daß sich das Tier verstellte. Es gab vor, seine Waffen zu strecken, um dann, vielleicht ein letztes Mal, seiner kleinen Gegnerin die Fangzähne in den Hals zu schlagen. Scheinbar unbeeindruckt erwartete Sarah sein finales Aufbäumen. Der Pitbull würde eher sterben, als Verlierer den Kampfplatz zu räumen. Doch mit einemmal hatte Sarah keine Lust mehr, ihre Kräfte mit dem schwer verletzten Tier zu messen. Sie war ohnehin die Stärkere. Wozu das Gefecht unnötig in die Länge ziehen? Wenn dieses dumme Schlappohr nicht checkte, daß all sein Bemühen vergebens war, dann hatte es den Tod verdient. Sarah griff an. Bevor der Kampfhund einen Laut von sich geben konnte, hatte sie ihn kurz hinter dem Schädel gepackt. Sein Nacken war zäh wie Elefantenleder, aber jetzt hatte Sarah den Turbo eingelegt. Ihre Finger gruben sich in das Fleisch, dicht hinter dem Kopf. So fest sie konnte, drückte sie zu. Der Hund winselte vor Schmerz. Er stemmte seine Beine gegen die Bordsteinkante, versuchte, seinen Kopf aus dem knallharten Würgegriff zu befreien. Es war aussichtslos Wie die Stahlsaiten einer Plektrumgitarre schnürten Sarahs Finger in den Hals des dreibeinigen Pitbulls. Der Hund röchelte. Hellrotes Blut sickerte zwischen seinem kurzen Fell hervor und lief seitlich hinunter, vereinigte sich an seinem Bauch und tropfte auf die Straße. Rasch bildete sich eine Pfütze. Sarah spürte, daß der zuckende Hundeleib, den sie unbeirrt gepackt hielt, immer schlaffer wurde. Das Tier war am Ende. Es hatte nichts mehr entgegenzusetzen. Aber Sarah ließ nicht locker. 54
Mittlerweile hatten sich ihre Finger so weit in sein Fleisch eingegraben, daß man sie gar nicht mehr sehen konnte. Dann fiel der Hund um. Den Kopf seitlich auf das Straßenpflaster gelegt, schielte er seufzend nach seiner erbarmungslosen Bezwingerin. Er schien fassungslos, schnaufte noch einmal und blieb dann regungslos liegen. Der Kampf war entschieden. Sarah richtete sich auf. Sie war ins Schwitzen geraten. Der Schweiß lief ihr in Strömen übers Gesicht. Sie wischte ihn weg, und ihr wachsbleiches Kindsgesicht wurde zur blutverschmierten Maske. Plötzlich fühlte sie sich unendlich müde. Als die Businsassen einen Kreis um sie bildeten, um sie staunend anzustarren, genoß sie die Aufmerksamkeit in vollen Zügen. Ihr fiel ein, weswegen sie hier war. Sie streckte der Frau im roten Mantel ihre blutige Hand entgegen und sagte: »Ich habe Hunger. Geben Sie mir fünf Mark!« * Alma Schlegel irrte kopflos durch die Koblenzer Innenstadt. Verzweifelt suchte sie nach Sarah. Der Wind zerrte in ihrem Haar, blies ihr die Strähnen ins Gesicht. Ihr Herz wummerte wie verrückt, und der Atem fuhr ihr siedendheiß durch die Kehle. Seit Stunden litt Sarahs Mutter unter Seitenstechen. Auch die Füße, die in engen Pumps steckten, schmerzten. Aber was war all das gegen die Tatsache, daß Sarah fort war. Hin und wieder hatte man die niedergeschmetterte Frau angesprochen. Besorgt hatten Passanten gefragt, ob ihr etwas fehle. Ja! hätte sie schreien können. Mir fehlt etwas. Mein Verstand! Ich habe meinen Verstand verloren. Obendrein habe ich hunderttausend Mark eingebüßt! Und meinen Mann… Am Rathausplatz, vor einer Platane, standen einige Bänke. Alma Schlegel war völlig außer Puste, und sie beschloß, sich einen Moment auszuruhen. Nur ein paar Minuten, dann würde sie Sarah weitersuchen. 55
Keuchend sank sie auf eine Bank und blickte sich um. Einige Meter weiter befand sich der berühmte Schängelbrunnen. Über dem achteckigen zinkverkleideten Wasserbecken erhob sich die Figur des legendären Koblenzer Gassenbuben. Von seinem Vater an den Händchen gehalten, tappte ein kleines Mädchen auf das Denkmal zu. Alma Schlegel traten die Tränen in die Augen. Die Kleine erinnerte sie an ihre Tochter, die sie nun ein zweites Mal verloren hatte, diesmal vielleicht für immer. Das fremde Kind kreischte. Es war zu nahe an den Brunnen getreten, und aus vier schnauzenförmigen Röhren spritzte Wasser. Der Vater schleuderte die Tochter lachend durch die Luft. Alma Schlegel hielt sich die Ohren zu. Nichts hören, nichts sehen, am besten auch nicht mehr atmen. »Kann ich Ihnen helfen?« Die wohlklingende Stimme eines Mannes, mitleidig, mit rheinländischem Dialekt. Vor Schreck stieß sie einen leisen Überraschungsschrei aus. Dann sah sie auf und wisperte kaum hörbar: »Sie ist fort.« Aber der Mann schien sie dennoch verstanden zu haben. Er war bedeutend älter als Alma Schlegel, so um die Fünfzig, hatte graumelierte Schläfen, streng gescheiteltes Haar und freundlich dreinblickende Augen. Obwohl es regnerisch war, trug er lediglich einen hellgrauen Anzug, mit Weste und korrekt gebundener Krawatte. Wahrscheinlich lief er nur über die Straße, von einem Haus ins andere. »Wer ist fort?« fragte er. »Sarah.« »Ihre Tochter?« hakte er nach. Alma Schlegel nickte schweigend. Gern hätte sie sich jemandem anvertraut. Frei von der Leber weg über die Dinge geredet, die sie bedrückten. Aber das war ein Ding der Unmöglichkeit. Niemand hätte ihr Glauben geschenkt. Auch dieser Herr nicht, der da vor ihr stand und sie aufmerksam fixierte. »In der Nähe ist das Polizeipräsidium«, sagte der Mann. »Wenn Sie möchten, werde ich Sie hinbegleiten. Es ist nur ein Katzensprung. Dort wird man alles veranlassen, daß sie Ihre Tochter wiederfinden, so schnell es geht.« Seine warmherzigen Worte versprühten Hoffnung und Optimismus. Sarahs Mutter schenkte ihm einen dankbaren Augenaufschlag. »Nett von Ihnen«, sagte sie. »Aber das ist wirklich nicht nötig. 56
Ich werde allein…« »Wie alt ist Ihre Tochter?« wollte er wissen. »Neun.« »Und wo haben Sie sie zuletzt gesehen?« Alma Schlegel schluckte. »Ich weiß nicht«, hauchte sie. »Ich weiß nicht mehr, wo ich sie zuletzt gesehen habe.« »Überlegen Sie! Vielleicht ist Ihre Sarah wieder an den Ort zurückgekehrt, wo sie sich verloren haben.« Verloren! dachte sie. Ja, ich habe Sarah verloren. Weil ich eine Närrin bin, zu blauäugig, zu naiv, schlichtweg zu dumm, mir vorab die Folgen meines Tuns auszumalen. Jetzt sitze ich in der Tinte. »Ich weiß es wirklich nicht«, wiederholte sie leise. »Oh, pardon«, sagte der Mann plötzlich. »Ich habe mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Lawrenz. Hauptkommissar Lawrenz.« Ungläubig starrte Alma Schlegel ihn an. Dann schoß sie von der Bank auf, zitterte und blickte sich gehetzt um. »Was haben Sie? Ich…« Sarahs Mutter rannte davon, ohne sich anzuhören, was er noch zu sagen hatte. Sie lief durch einen Torbogen, in dem ein Münzer stand, wandte sich nach links, überquerte den Jesuitenplatz und jagte einen Boulevard entlang. Mehrere Male sah sie über die Schulter zurück, aber der Hauptkommissar folgte ihr nicht. Sie hatte ihn abgeschüttelt. Benommen machte sie halt, direkt vor dem Eingang eines Lokals, das Motz-Eck hieß. Um Luft ringend, preßte sie sich an die Fassade. Schwindel erfaßte sie. Vor ihren Augen flimmerten silbrig glitzernde Sterne, vor einem samtschwarzen Himmel. Ich darf jetzt nicht schlappmachen! ermutigte sie sich. Ich muß Sarah finden. Zwei Männer gingen schwatzend an ihr vorbei, stiegen die Stufen zur Gaststätte hinauf und betrachteten sekundenlang die draußen ausgestellte Speisekarte. Der Jüngere sagte: »Ich brauche jetzt unbedingt ein gepflegtes Kölsch. Menschenskind, Kalle, du hättest sehen sollen, wie der Dreikäsehoch den Pitbull fertiggemacht hat. Hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, würde ich sagen, so etwas gibt es nicht.« 57
Der Ältere schüttelte zweifelnd den Kopf. »Und es war ein kleines Mädel, nicht älter als zehn?« »Wenn sie überhaupt schon zehn war. Sie wirkte eher jünger. Als sie das Tier erledigt hatte, war sie plötzlich wie vom Erdboden verschwunden. Wie ein Gespenst, sag ich dir. Aber ich glaube, sie rannte in Richtung Deutsches Eck.« »Vielleicht will sie es besichtigen?« flachste der Ältere. »Mit Pitbulls kämpfen, ist sicher anstrengend. Da muß man sich anschließend ein bißchen ablenken.« »Du bist ein Idiot«, schimpfte der andere beleidigt. Die Männer traten ins Lokal, die Tür klappte, Biergeruch strömte heraus, und Alma Schlegel dachte angestrengt darüber nach, was die Männer eben gesagt hatten. Ohne Zweifel, sie meinten Sarah. Aber wieso legte sich Sarah mit Pitbulls an? Das waren doch gefährliche Kampfhunde! Schnell verscheuchte sie die Gedanken. Sie durfte nicht grübeln und zögern schon gar nicht. Sie mußte Sarah finden, bevor es zu spät war. Das Deutsche Eck. Alma Schlegel drückte sich von der Fassade ab. Sie hastete über die Straße, lief beinahe vor ein Auto, und hörte kurz darauf, wie der Wind leise säuselnd über die sanften Wellen der Mosel strich. * Es verging einige Zeit, ehe sich meine Überraschung gelegt hatte und ich ruhiger wurde. Am Anfang hatte ich geglaubt, die geheimnisvolle Stimme käme aus meiner Umgebung. Möglicherweise trieb jemand seinen Schabernack mit mir. Dann sah ich zu Berti und Pia. Aber meine beiden Begleiter hielten die Köpfe zusammengesteckt und verfolgten mit angehaltenem Atem die Vorstellung. Unauffällig drehte ich mich um. Vor Aufregung aufgerissene Augenpaare blickten an mir vorbei auf die Bühne. Einige Schaulustige ließen ihr Kinn hängen, als könnten sie nicht glauben, was ihnen da vorgeführt wurde. Andere knabberten nervös an ihren Fingernägeln. Eine auf jung getrimmte Sechzigjährige blinzelte erregt, als ich sie ansah. 58
Kaum hatte ich mich umgedreht, hörte ich die Stimme ein zweites Mal: »Hilf mir, Mark Hellmann!« Es klang sehr leise, aber deutlich vernehmbar. Ich konnte die Richtung, aus der die Stimme kam, nicht ausmachen. Und niemand, außer mir, schien die Worte sonst gehört zu haben. Infolgedessen gab es nur eine plausible Erklärung dafür: Jemand kommunizierte mit mir, indem er seine Worte direkt in meine Gedankenwelt katapultierte, und zwar ohne den Umweg der Sprache. Telepathie! Möglicherweise hatte ich es mit einem Dämonen zu tun. Immerhin deutete das charakteristische Verhalten meines Ringes darauf hin. Ich beschloß, auf den mysteriösen Hilferuf auf angemessene Weise zu antworten. Ohne die Lippen zu bewegen, murmelte ich stumm: »Wer bist du? Und woher kennst du mich?« Schweigen. Der Große Marinello ging gerade durch die Wand, und im Zuschauerraum ertönte ein kollektives »Aaah!« Berti Latotzki zupfte mich am Ärmel. »Hast du das gesehen, Mark? Der Typ marschiert durch Wände, als wären die aus Watte, und nicht aus Stein.« »Ja, wirklich großartig«, versetzte ich interesselos. Berti sah mich komisch an und schüttelte irritiert seinen massigen Kopf. Dann flüsterte er mit Pia. Daraufhin beugte sie sich vor, grinste mich an und winkte schelmisch. Geistesabwesend winkte ich zurück. Das Papier, das ich auf dem Schoß hatte, raschelte. Fast wäre es runtergerutscht. Dieser Abend hat es in sich, dachte ich. Er steckt voller Überraschungen. Wieso meldet sich die Stimme nicht mehr? Und wieso prickelt mein Ring? Die Antwort folgte auf dem Fuße. »Geh ins Foyer, Mark Hellmann!« pochte es in meinem Kopf. »Und zaudere nicht unnötig!« »Wer bist du?« forschte ich stumm. »Foyer!« kam es zurück. Die letzte Silbe zerschmolz im aufbrausenden Applaus. Der Große Marinello hatte sein Kunststück beendet. Ich stand auf, drängte mich durch die Sitzreihe und ging den schrägen Gang in Richtung Ausgang hinab. Ich hatte ein 59
Stelldichein mit einem Phantom. Behutsam nahm ich den Samtvorhang, der vor der Flügeltür hing, zur Seite und trat in den Vorraum. Die Halle war leer, bis auf einen Wachmann, der vor einem Schaukasten stand und eine Zigarette rauchte. Als er meine nahenden Schritte hörte, drehte er sich kurz um. Gelassen schlenderte ich an ihm vorbei. Ich wartete auf ein neues Zeichen, bekam aber keines. Ich stoppte vor einem Plakat und betrachtete das Abbild des Großen Marinello. Wieso meldete sich die Stimme nicht? Ich kam mir vor wie ein Depp. Stand da und glotzte das Plakat an, obwohl der Meister persönlich nebenan seine Show abzog. Schon betrachtete mich der Wachmann mißtrauisch. »Für Herren ist da hinten.« Er dachte, ich müsse auf den Lokus. »Danke«, sagte ich und blieb, wo ich war. Der Wachmann hüstelte verlegen. Endlich meldete sich die Stimme. »Ich grüße dich, Mark Hellmann«, tönte sie. »Wir haben uns lange nicht mehr gesehen, nicht wahr? Wie geht es Ulrich und Lydia? Und wo steckt Tessa Hayden? Ich hoffe, du bist noch mit ihr befreundet?« Zutiefst überrascht, versuchte ich so cool wie möglich zu bleiben, denn der Wachmann schielte heimlich nach mir. Dabei tat er, als müsse er jedes Wort, das im Schaukasten stand, auswendig lernen. »Wer bist du?« Die Stimme klang mit einemmal traurig. »Seit wann erkennst du deinen Freunde nicht mehr? - Mark Hellmann - ich bin der Lurjahn.« »Wie bitte?« preßte ich laut hervor, und der Wachmann räusperte sich unbehaglich. Wahrscheinlich dachte er, ich hätte eine Schraube locker. Eine Zeitlang war ich wie versteinert. Mir war, als hätte mir jemand eine Zaunlatte über den Scheitel gezogen. Meine Gedanken summten wie ein aufgescheuchtes Bienenvölkchen. Natürlich kannte ich den Lurjahn. Er galt als Hüter des Verborgenen. Das Geschöpf der Finsternis war ein Unterirdischer, ein Zaubertroll, der die Schätze und Relikte aus der Vergangenheit vor dem unbefugten Zugriff der Menschheit bewahrte. Denn manchmal geschah es, daß ein magisches Teil 60
zufällig einem ahnungslosen Zeitgenossen in die Hände fiel. Dann erschien der Lurjahn auf der Bildfläche. Der Troll gab nicht eher Ruhe, bis er dem Finder das Teil abgeknöpft hatte. Anschließend löste er sich buchstäblich in Luft auf. Das erste Mal half mir der Kobold, als Mine Glaubach, ein phantasiebegabtes Mädchen aus Heringsdorf, das Medaillon der Sehnsüchte auf einem Friedhof fand und damit viel Unheil anrichtete. »Was tust du hier, in Weimar?« fragte ich, ohne einen Laut von mir zu geben. »Bist du hinter etwas her?« »Nein, diesmal nicht. Eher ist das Gegenteil der Fall. Böse Menschen haben mich in eine Falle gelockt. Ich bin eben manchmal zu gutmütig. Durch einen üblen Gaunertrick haben sie es geschafft, meine Zauberkraft anzuzapfen. Jetzt nutzen sie meine Fähigkeiten schamlos aus. Und ich kann nur tatenlos zuschauen. - Mark, du mußt mich von der Geißel dieses Marinello befreien!« »Jetzt wird mir so manches klar.« »Was meinst du?« »Du steckst hinter den irrwitzigen Zaubertricks dieses Kerls, nicht wahr?« »Ich kann nichts dagegen tun«, kam es kläglich zurück. »Marinello macht, was er will. Irgendein Scheusal hat ihm einen Bannspruch verraten. Immer, wenn er ausgesprochen wird, meist in Verbindung mit einem anderen Befehl, muß ich ausführen, was er will. Das liegt in meinem Wesen. Verstehst du, Mark? Ich muß!« »Und wir müssen dem Kerl das Handwerk legen. Ich bin auch hinter ihm her. Er hat sein Talent in der Auferstehungsbranche entdeckt. Womöglich fühlt er sich bereits als gottähnliches Geschöpf.« Schritte nahten. Der Wachmann hatte seinen Posten vor dem Schaukasten aufgegeben. Er steuerte geradewegs auf mich zu. Sein Gesichtsausdruck war eine Kreuzung von Staunen und Mitleid. Er mußte mich die ganze Zeit beobachtet haben. Und an meiner Mimik auf die Worte des Lurjahns schien er zu schließen, daß ich wohl ziemliche Probleme hatte. Rasch setzte ich ein harmloses Grinsen auf. »Marinellos Illusionen sind wirklich einzigartig«, sagte ich leichthin. »Ich würde gern einmal mit dem Meister sprechen. Könnten Sie mir 61
einen Tip geben?« Der Wachmann war verblüfft. Nicht wegen meiner Äußerung, sondern wegen meines Ringes, der strahlend an meinem Finger funkelte. »Äh, nein«, meinte er. »Vielleicht versuchen Sie es mal in seiner Garderobe, nach der Vorstellung.« »Gute Idee. Probieren geht über studieren.« Der Wachmann nickte beifällig. Er war ungefähr sechzig, einsfünfundsiebzig und hatte ein vertrauenerweckendes, breites Gesicht, aus dem mich zwei freundliche Augen anschauten. An dem Revers seines Jacketts trug er ein Messingschild mit seinem Namen. R. Danglars. »Ich habe mir auch schon ein Autogramm von ihm geholt«, vertraute er mir an. »Für meinen Enkel. Marco ist sieben, und zu Weihnachten hat er seinen ersten Zauberkasten bekommen. Ein Prachtkerl, sag ich Ihnen. Wenn ich ihn besuche, dann verkleidet er sich und führt Kunststückchen vor. Sogar vor seiner Klasse ist Marco schon aufgetreten.« Seine Augen leuchteten voller Stolz. Mir wurde warm uns Herz. Ich spürte, ich hatte einen Menschen vor mir, der die Wörter Egoismus, Neid und Habsucht nur als abstrakte Begriffe kannte. Ein Großvater, wie er im Buche stand. Aber alsbald sollte ich ihm ein zweites Mal begegnen, und dieses Zusammentreffen würde völlig anders verlaufen… Ich sagte Danglars noch ein paar Nettigkeiten. Dann verließ ich gemessenen Schrittes die Vorhalle. Als ich in den Saal kam, lief der Große Marinello gerade kopfunter an der Bühnendecke. Still setzte ich mich auf meinen Platz. Niemand schenkte mir Beachtung. Aller Augen waren auf den barfüßigen Illusionisten gerichtet, der ursprünglich gar keiner war. Höchstwahrscheinlich war ich der einzige Mensch im Saal, der wußte, woher dieser Mann seine haarsträubenden Fähigkeiten hatte. Die Frage war, wie kam ich an ihn heran, ohne ihn mißtrauisch zu machen? Mit den magischen Kräften des sagenhaften Lurjahns ausgerüstet, war dieser Marinello gefährlicher als Plastiksprengstoff. Ich mußte ganz tief in meine Trickkiste greifen. Falls ich versagte, könnte das ungeheuerliche Konsequenzen haben. Nicht nur für die Weimarer. Wenn ich Marinello nicht umgehend ausbremste, würden seine teuflischen Ränkespiele immer dreister werden. Leute wie er neigten dazu, dem Größenwahn zu verfallen. 62
In diesem Augenblick ahnte ich noch nicht, wie nahe meine Befürchtungen der Realität entsprechen sollten. * Nach seinem bombastischen Erfolg im Nationaltheater war der Große Marinello gleich ins Quartier gefahren. Er bewohnte eine luxuriöse Suite im Weimarer Hotel Elephant, Wand an Wand mit dem Zimmer seiner beiden Leibwächter. Der Zauberer war ein mächtiger Mann, dennoch lebte er in ständiger Furcht, jemand könne ihm sein Geheimnis entreißen. Wer Erfolg hat, hat auch Neider. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Marinello saß an einem flachen Tisch und dachte nach. Der großzügig ausgestattete Raum lag im matten Schein einer antiken Stehlampe. Er hatte den Fernseher angestellt. Eine Folge der Twilight-Zone lief. Aber Marinello blickte nur selten zum Bildschirm. Irgendwas beunruhigte ihn. Vor ihm, auf dem Tisch, stand ein silbrig glänzender Sektkühler. Der Hals einer Champagnerflasche, von einer blendendweißen Serviette umwickelt, lugte heraus. Hin und wieder unterbrach Marinello seine Überlegungen. Dann ergriff er den hochstieligen Kristallpokal und trank einen Schluck. Er liebte Champagner, und er konnte ihn sich leisten. Früher dagegen, als er noch auf Rügen wohnte und gezwungen war, zu Betriebsfesten von sozialistischen Brigaden aufzutreten, hatte sein Geld nur für ein Glas Bier, ein paar Doppelkümmel und ein warmes Essen gelangt. Der Staat paßte auf, daß man immer hübsch klein und brav blieb. Marinellos bürgerliche Name lautete Harald Schaumäker. Er war zweiundvierzig und unverheiratet. Zu seiner Familie, die noch immer in Samtens lebte, hatte er jeglichen Kontakt abgebrochen. Er hatte sich in den Gedanken verrannt, sie wollten nur an sein Geld. Als Anfang des Jahres seine Mutter an Krebs starb, hatte er nur einen Kranz geschickt, die Beileidskarte enthielt nicht mal seinen Namenszug. Es ging auf Mitternacht. Schaumäkers Unruhe verstärkte sich. Er trank sein Glas leer 63
und schenkte sich erneut ein. Dann stand er auf, ging zum Telefon und tippte, ohne hinzusehen, die Zimmernummer seiner Leibwächter ein. »Alles ruhig?« fragte er. »Keine Vorkommnisse«, bestätigte eine energische Stimme. »Horwitz macht gerade seinen Rundgang. Bis auf eine Handvoll Teenies, die unten in der Lobby nach Autogrammen schreien, nichts Verdächtiges.« »Trotzdem. Ich hab ein ungutes Gefühl«, sagte Schaumäker. »Haltet die Augen auf, Jungs.« »Worauf Sie einen… äh, ich meine, worauf Sie sich verlassen können, Chef.« Angewidert legte der Magier auf. Ordinäre Menschen waren ihm suspekt. Aber Teske und Horwitz waren knallharte Burschen, schweigsam und loyal. Wenn ihm einmal jemand dämlich kam, brauchte er nur mit den Fingern zu schnippen. Teske und Horwitz griffen sich den Kerl, entfernten ihn oder schlugen ihn windelweich, wenn er sich nicht trollte. Manchmal stürzte ihr Opfer auch mal versehentlich aus dem Fenster oder fiel auf die Straße, wenn ein Lastwagen heranbrauste. Die Palette seiner Leibwächter zeichnete sich durch ungemeinen Einfallsreichtum aus. Dennoch grollte ein dumpfes Gefühl in Schaumäkers Magengegend. Es kündigte Unannehmlichkeiten an. Er beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen. Vorher fand er keinen Schlaf. Nachdem er den Ton des Fernsehers abgestellt hatte, trat er an den Tisch, trank von dem Champagner und setzte sich im Schneidersitz mitten ins Zimmer. Die schwere Standuhr tickte leise. Sonst herrschte gespenstische Stille. Schaumäker konzentrierte sich. Feierlich legte er die Spitzen seiner kurzen, blassen Finger gegeneinander und starrte auf einen Punkt des Teppichs, auf dem er saß. Dann begann er lautlos zu murmeln. Seine Gesichtshaut nahm die Farbe eines faltigen Leichentuchs an. Eine tiefe, senkrechte Falte furchte seine Stirn. Plötzlich sah er auf. Seine Augen, von den buschigen, schwarzen Brauen überschattet, rollten in den düsteren Höhlen. Dann formten seine Lippen das Wort »Erscheine!« Er wartete geduldig, seiner Macht bewußt. 64
Da passierte es! Aus dem Halbdunkel des Raumes schälte sich eine kleine, verhutzelte Gestalt. Sie kam buchstäblich aus dem Nichts. Zuerst nur schemenhaft wahrzunehmen, bildeten sich langsam feste Umrisse. Ein langhaariger Zwerg materialisierte sich. Er war kniehoch, trug einen struppigen Bart, der über sein dunkelgraues Wams bis zum Gürtel reichte, und hatte ein lederartiges, tief zerklüftetes Gesicht. Auf seinen winzigen, knotigen Händen sprossen lange, schwarze Haare. Die Füße des Schattenwesens steckten in altertümlichen Pantinen; den Fußspann zierten schmale Lederstreifen. Der flammende Blick des Zwerges war auf Schaumäker gerichtet. »Was willst du von mir?« krächzte der Kobold voller Zorn. Schaumäker entspannte sich. Er grinste überlegen. »Du könntest deinem Meister gegenüber einen höflicheren Ton anschlagen«, sagte er zynisch. »Oder hast du keine Manieren, kleiner Freund?« »Du bist nicht mein Meister«, schleuderte ihm der Lurjahn haßerfüllt entgegen. »Vielmehr bist du ein…« Schaumäker riß einen Arm hoch. Schnell murmelte er einen erneuten Bannspruch. Der Zwerg schrie auf. Er griff sich an den Hals und gurgelte wie ein Ertrinkender. Wie von Sinnen trampelte er mit seinen Füßen. Der dicke Teppich dämpfte die Geräusche. Der winzige Körper des Lurjahns zitterte unter unsagbarem Schmerz. Über seine schwarzen Lippen quoll Speichel, und seine haarige Zunge glitt hervor, wurde immer länger und hing schließlich wie ein alter Lappen bis über sein Kinn. »Ich könnte dich töten!« Schaumäker lachte. »Und du weißt das, kleiner Freund. Es würde mich nur ein Lächeln kosten. Zwischen meinen Fingern könnte ich dich zerquetschen, wie ein lästiges Insekt. - Soll ich dich töten?« Der Lurjahn brach zusammen. Er wand sich in schaurigen Krämpfen. Seine Glieder zuckten, und sein Speichelfluß vermehrte sich. Auf dem Teppich bildete sich ein unschöner, nasser Fleck. Schaumäker genehmigte sich ein Schlückchen Champagner. Er ließ den Lurjahn nicht aus den Augen. Es tat ihm gut, zu sehen, wie hoch er über diesem Zaubertroll stand. 65
Eine Zeitlang weidete er sich an dessen Qualen. Dann hob er seinen Bann auf. Der Lurjahn rappelte sich hoch. Sein Atem ging rasselnd, und sein kleiner Brustkorb vibrierte wie der Deckel auf einem Topf kochender Kartoffeln. Er starrte seinen Peiniger furchtsam an. »Wenn du das öfter tust, werde ich tatsächlich sterben«, wisperte er. »Und wenn«, sagte Schaumäker geringschätzig. »Wer bist du schon? Ein Zwerg, der mir zu Diensten steht. Nicht mehr.« Der Lurjahn erholte sich allmählich. »Jedem Hoch folgt ein Tief, du Ausgeburt der Hölle. Auch deine Tage sind gezählt.« Schaumäker grinste höhnisch. »Papperlapp. Du hast nichts in der Hand. Aber ich hab dich nicht gerufen, um mir dein Gejammer anzuhören. Ich will, daß du mir einen kleinen Gefallen tust.« »Daß dich der Satan hole!« zischte der Lurjahn. »Nachschlag gefällig?« Im Zeitlupentempo hob Schaumäker einen Arm. »Tu's nicht!« Der Zwerg gab seinen Widerstand auf. »Was verlangst du von mir? Willst du wieder einen Menschen von den Toten auferstehen lassen?« »Diesmal nicht. Ich spüre, daß mir jemand auf den Fersen ist. Ich weiß aber nicht, wer. Du wirst es mir sagen, nicht wahr?« Ein drohender Unterton schwang in der Frage mit. Der Lurjahn wechselte seine Farbe. Das Schwarzbraun seines Gesichtes bekam helle Flecken. Er preßte seine Lippen aufeinander, ballte seine haarigen Fäuste. »Spuck's schon aus!« »Ich bin mir nicht sicher«, begann der Zwerg. »Überlege jetzt gut, was du sagst.« Schaumäker griff nach dem Kristallkelch, hielt ihn gegen das schummrige Licht und starrte den Kobold durchdringend an. »Lügst du, hat soeben die letzte Minute deines Lebens angefangen. Und das wäre doch schade. Immerhin bist du über tausend Jahre alt. Hab ich recht?« Der Zwerg schnaufte. Eine dicke Träne lief ihm über die verrunzelte Wange. »Sprich!« Der Lurjahn sprach nur eine Minute lang. Aber das reichte Schaumäker. Jetzt wußte er, wen er bekämpfen mußte. Mark Hellmann hieß der Mann, der hinter ihm her war. Für einen 66
Augenblick dachte Schaumäker daran, Teske und Horwitz zu beauftragen, diesen Schnüffler zu erledigen. Doch dann kam ihm ein anderer Gedanke. Wozu hob ich diesen Kobold an der Angel? fragte er sich. Soll er mir diesen Hellmann vom Hals schaffen. Das wird ihn ein für allemal lehren, seinem Meister mit Respekt und Ehrerbietung gegenüberzutreten. Plötzlich war Harald Schaumäker alias Marinello blendender Laune. Bereits in dieser Nacht würde sein Problem gelöst sein. Mark Hellmann war schon so gut wie tot. Drohend reckte er einen Arm in die Höhe. Der Lurjahn zuckte verängstigt zusammen. Mit knirschenden Zähnen hörte er zu, wie sein selbst ernannter Meister einen grauenhaften Plan entwarf. »Hast du alles kapiert?« fragte der abschließend. Der Zwerg nickte. »Dann befolge meinen Befehl!« Schaumäker murmelte eine Beschwörung, und die traurige Gestalt des Lurjahns verblaßte allmählich. Leichten Schrittes marschierte der Große Marinello ins Badezimmer. Er hatte Lust auf ein heißes Bad. Als er Wasser in die Wanne laufen ließ, hatte sich sein Gesicht zu einem bösartigen Grinsen verzogen. * Die Fenster des Lokals, in dem die Reisegruppe aus Liverpool zu Abend aß, waren groß, blitzblank gewienert und unverhangen. Mrs. Amanda Watson saß in einer Fensternische. Sie süffelte an einer Ingwerlimonade und blickte grübelnd auf die Straße. Es dämmerte, und die Autos fuhren mit Licht. Die Fünfzigjährige aus der englischen Beatles-Stadt mußte fortwährend an das sonderbare, kleine Mädchen denken, das sie vor knapp drei Stunden vor dem angriffswütigen Pitbull gerettet hatte. Mrs. Watson seufzte. Die drei Mitreisenden, die an ihrem Tisch saßen, waren Männer. Sie unterhielten sich über Fußball, Kricket und Windhundrennen, ohne ihr Beachtung zu schenken. Aber das störte Mrs. Watson keineswegs. Seit Joe, ihr Mann, verstorben 67
war, mochte sie es, mit ihren Gedanken allein zu sein. Ihr Blick schweifte aus dem Fenster. Da hörte sie, daß draußen, auf der Straße, ein Kind schrie. Mrs. Watson verstand nur bruchstückhaft die deutsche Sprache. Aber sie wußte, was »Laß mich los!« und »Geh weg, Alma!« bedeutete. Die Touristin aus Liverpool sah genauer hin. Eine verweinte Frau mit zerzaustem Haar bemühte sich gerade verzweifelt, ein kleines Mädchen, wahrscheinlich ihre Tochter, zur Räson zu bringen. Die Frau hielt das Kind am Ärmel gepackt und versuchte, es fortzuzerren. Das Kind schrie. Einige neugierige Passanten blieben stehen und gafften. Mrs. Watson fuhr der Schreck in die Glieder. Eben hatte das Kind die Frau ins Gesicht geschlagen. Der Schlag war hart, und die Frau blutete aus der Nase. Die Touristin erstarrte. Die Kleine kannte sie doch! Es war ihre kleine Retterin. Das Mädchen mit den übermenschlichen Kräften, das so überstürzt weggerannt war, nachdem es die ZwanzigPfund-Note bekommen hatte. Was ging da vor? Amanda Watson lehnte sich vor. Eine Kellnerin brachte den Herren am Tisch drei frische Bier und fragte Mrs. Watson, ob sie noch etwas wünschte, bis das Essen serviert wurde. Als diese nicht reagierte, verschwand die Kellnerin diskret. Der Mutter-Tochter-Konflikt eskalierte. Das Kind versetzte der Mutter einen Stoß und sprang aus ihrer Reichweite. Die Frau ging zu Boden. Im Liegen brüllte sie dem Kind Worte hinterher, die die Engländerin nicht verstand. Das Mädchen sah sich gehetzt um. Für eine Sekunde glaubte Mrs. Watson, ihre Blicke kreuzten sich. Dann geschah das Ungeheuerliche. Die Frau auf der Straße rappelte sich auf, stürzte erneut auf das Kind zu. Gleichzeitig bog ein schnittiger, chromblitzender Sportwagen um die Ecke. Die Frau bekam das Kind am Kragen zu packen. Das Mädchen riß sich los, wandte sich um, jagte, ohne nachzudenken, über die Fahrbahn. Mrs. Watson krallte sich am Tischtuch fest. Ein Motor heulte wimmernd auf. Reifen quietschten. Der Fahrer 68
des Flitzers bremste. Der Wagen geriet ins Schleudern, schoß mit der Breitseite dem Mädchen entgegen. Die Kleine wollte ausweichen, doch wie ein Magnet schlitterte das rote Gefährt auf sie zu. Mrs. Watson sprang vor Entsetzen auf. Mit einer eckigen Bewegung kippte sie ihr Glas um. Die Ginger Ale verteilte sich über das Tischtuch. Die drei Herren starrten sie verwirrt an. Die Liverpoolerin sah, wie der Körper des Kindes gegen die Kühlerhaube prallte. Ein kurzes, dumpfes Geräusch erklang, fast wie ein Glockenschlag unter Wasser. Der Wagen rutschte weiter, drehte sich wie ein Kreisel. Das Kind segelte durch die Luft, auf die andere Straßenseite. Von dort rauschte ein Lastwagen heran. Obwohl der Fahrer wie verrückt gegenlenkte, erfaßten die Vorderreifen seines Trucks den schmächtigen Mädchenkörper. Der schwerfällige Lastwagen krachte gegen einen Laternenpfahl. Und plötzlich sah Mrs. Watson nichts mehr. Es gab einen Knall. Irgendwas wurde gegen die Fensterscheibe des Lokals geschleudert und versperrte ihr die Sicht. Etwas, das von rötlicher Farbe war, formlos und schleimig. Langsam folgte die mysteriöse Masse der Erdanziehungskraft, perlte die Scheibe hinunter. Schemenhaft wurden einige Details sichtbar. Ein Stück Schädel, mit den Augenhöhlen darin, die eine leer. Ein Fetzen Haut, an dem lose ein kleines Ohr hing. Und die zerquetschten Lippen, qualvoll aufgerissen, als wollten sie schreien. Ein Schrei aus Blut. Der grauenhafte Anblick war zuviel für Mrs. Watson. Sie fiel in Ohnmacht, geradewegs vor die Füße der Kellnerin, die das Essen brachte… * »Berti, du guckst mich an wie ein belegtes Brötchen«, sagte Pia Severin vorwurfsvoll. »Überlege lieber, wie wir Mark aus der Klemme helfen können, du Held.« Mein Schulkumpel riß den Blick von seiner hübschen Gespielin. »Tut mir leid, nach dem Essen finde ich dich immer besonders anziehend, Piamaus. - Also gut!« Er wandte sich mir zu. »Leg los, Mark, alter Schwede. Was können wir für dich tun?« 69
Wir saßen in meiner Dachstube in der Florian-Geyer-Straße. Es war zehn nach eins, nachts. Das Essen, zu dem ich Pia und Berti kurzfristig eingeladen hatte, war einsame Spitze gewesen. Natürlich war das Menü nicht auf meinem Mist gewachsen. Ich hatte es nur aufzuwärmen brauchen. Gekocht hatte es Lydia, meine Adoptivmutter. Ich selbst verstehe vom Kochen soviel wie ein Wildschwein vom Stabhochsprung. »Als erstes müssen wir den Lurjahn befreien«, sagte ich. »Er ist der Schlüssel zum Erfolg.« Pia betupfte ihr Schmollmündchen mit einer Serviette. »Aber wie?« lispelte sie. »Dieser Magier ist schlau wie ein Fuchs. Man munkelt, er hätte zwei Leibwärter, eiskalte Typen. Sie lassen keinen Menschen näher als fünf Schritte an ihn heran.« Muskel-Berti donnerte seine Faust auf den Tisch. »Ich werde diesen Heinis einen Besuch abstatten«, schlug er vor. »Ich prügle sie windelweich, Mark. Danach kann sich Marinello neue Gorillas suchen.« Ich schüttelte den Kopf. »Eine Rauferei würde zuviel Aufsehen erregen. Marinello wäre gewarnt.« Wir schwiegen. Dann fragte Pia: »Kann dieser ulkige Gnom tatsächlich zaubern?« »Wird zum Oktoberfest Bier getrunken?« Berti grinste breit. Prompt bekam er einen Rippenstoß. »Sei nicht immer so frech«, maßregelte sie ihn. »Nimm dir ein Beispiel an Mark. Er ist viel höflicher zu seiner Tess.« Meine Tess! Ich hatte gerade einen Schluck Rotwein im Mund und mußte husten. Pia sah mich mit gespielter Neugier an. Kokett nestelte sie am Anhänger ihrer Halskette. Ihre großen Brüste bebten. Manchmal wurde ich nicht schlau aus dieser Frau. Obwohl sie nach außen ein bißchen einfältig wirkte, schien sie es faustdick hinter den Ohren zu haben. »Und dein Ring?« fragte Berti nachdenklich. »Er besitzt magische Kräfte. Und was für welche! Sogar zu Zeitreisen verhilft er dir.« »In diesem Fall wäre eine Zeitreise fehl am Platze. Sagen wir, ich treffe diesen Marinello als Steppke. Wie soll ich ihn unschädlich machen? Ich bin doch kein Kindermörder.« »Stimmt.« Berti trug ein ärmelloses Shirt und beäugte grimmig 70
seine hüpfenden Bizeps. »Du verwamst höchstens aufgeblasene Studienräte.« »Der Lurjahn«, hakte Pia nach. »Du könntest Kontakt mit ihm aufnehmen, Mark.« »Zwecklos. Hab's versucht, aber Marinellos Bann ist zu stark. Der Lurjahn ist aus dem Rennen.« Plötzlich kniff Pia Severin die Augen zusammen, zerknüllte ihre Serviette und warf sie auf den Tisch. Berti und ich sahen sie erstaunt an. »Ich hab's«, sagte Pia gedehnt. »Wast hast du?« Berti runzelte die Stirn. »Was schon? Die Lösung.« »Und die wäre?« Pia gestikulierte. »Marinello wohnt im Elephant. Ich arbeite selbst in einem Firstclass-Hotel, wie ihr wißt. Also werde ich mich als Kellnerin ausstaffieren. Schon mal was von Etagenservice gehört? Ich werde Marinello auf den Zahn fühlen. Er ist ein Mann…« Berti schwoll der Kamm. »Das werde ich nicht zulassen. Du allein mit diesem Mistkerl? Pia, das ist viel zu gefährlich. Der hat sie doch nicht mehr alle.« Pia machte eine Bewegung, als würde sie eine lästige Fliege verscheuchen. In ihrem hübschen Gesicht arbeitete es fieberhaft. Berti startete einen neuen Überredungsversuch. »Was soll das denn bringen? Du bist auf seinem Zimmer, na und? Willst du über ihn herfallen? Ihn zwingen, Farbe zu bekennen? - Pah, dieser Irre wird dich in ein Monster verwandeln.« »Berti hat recht.« Ich schüttelte den Kopf. »Schlag dir das aus dem Kopf, Pia. Marinello kennt keine Skrupel. Sobald er Gefahr wittert, geht er über Leichen.« Die gutgebaute Blondine lächelte dünn, sagte aber nichts. Statt dessen stand sie auf und gab Berti ein Zeichen. »Es wird Zeit für uns. Komm, Berti. Laßt uns Marks kulinarischen Tempel verlassen.« Ich begleitete meine Besucher bis zur Haustür. Die Nacht war sternklar und frisch. Der Halbmond spendete fahles Licht. Der Wind strich unheilverkündend über die Straßen. Pia reichte mir die Hand. »Danke für das fabelhafte Essen, Mark. Und grüß deine Mutter von uns. Vielleicht lernen wir uns mal kennen. Würde mich freuen.« 71
»Ließe sich einrichten.« Unversehens hörte ich ein Geräusch hinter mir. Ungeölte Türangeln quietschten leise. Ich drehte mich um. Artur Stubenrauch, mein Hauswirt, hatte seine Wohnungstür einen Spaltbreit geöffnet. Lauernd spähte er hinaus. »Guten Morgen, Herr Stubenrauch«, begrüßte ich ihn spöttisch. »So früh schon ausgeschlafen?« »Von wegen«, knurrte er. »Bei dem Krawall, den Sie veranstalten, kriegt ein rechtschaffener Bürger ja kein Auge zu. Es ist, als hätte man seine Matratze mitten auf dem Jahrmarkt aufgestellt.« Bevor ich etwas erwidern konnte, griff Pia Severin ins Geschehen ein. Bertis Freundin stellte sich neben mich, schenkte dem bärbeißigen Sachsen ein zuckersüßes Lächeln und lispelte: »Das tut mir ausgesprochen leid, mein Herr. Ich selbst schlafe auch sehr schlecht ein und kann es nachfühlen.« Mir klappte der Mund auf. Potz Blitz! Was war denn in Pia gefahren? Stubenrauchs Miene hellte sich auf. Obwohl barfuß und im längsgestreiften Schlafanzug, trat er behende hinter der Tür hervor und musterte Pia hingerissen. »Nun ja, ich, äh…« Er geriet ins Stocken und begann neu. »Ich meinte ja bloß wegen der Nachbarn, junge Dame. Alle Mieter sollen sich wohl fühlen. Man muß aufeinander Rücksicht nehmen. Das war schon bei Erich Honecker so.« Pia nickte zustimmend. »Sie haben völlig recht, mein Herr. Möglicherweise sind wir ein klitzekleines Bißchen zu keß gewesen.« Stubenrauchs Augen krochen gierig über Pias Körper. Er war puterrot und schwitzte mit einemmal. »Ich bitte Sie, das war doch kaum der Rede wert. Hätte meine Hilde nicht geschnarcht, wäre ich überhaupt nicht wach geworden.« Todernst ließ Pia ihr Handtäschchen aufschnappen, griff hinein und holte eine einzelne, in Silberfolie eingeschweißte Tablette heraus. »Hier, ein Patentmittel«, sagte sie. »Mein Berti neigt auch zum Schnarchen. Ich könnte dann die Wände hochgehen. Aber diese Pille besitzt Zauberkräfte. Nehmen Sie sie, und Sie werden sich eine Nacht lang fühlen wie in Abrahams Schoß.« 72
»Danke schön.« Mein Hauswirt errötete vor Freude, als er Pias Gabe annahm. Freundlich nickte er uns zu, wünschte uns eine gute Nacht und schloß die Tür hinter sich. Berti und ich starrten Pia Severin an, als käme sie aus einem anderen Sonnensystem. »Hast du heute deinen sozialen Tag?« fragte Berti sie. »Was kümmert es dich, wie dieser Zausel schläft?« Pia gluckste, sie schien sich totlachen zu wollen und trat rasch hinaus ins Freie. »Wieso schläft? Seit wann schläft ein Mann, wenn er eine Potenzpille eingenommen hat?« Ich war baff. »Du hast ihm doch nicht etwa…?« »Doch«, bestätigte Pia. »Ich hab ihm eine Viagra unters Hemd gejubelt. Ich schätze, er wirft sie gerade ein. In ein paar Minuten wird sich dein ordnungsliebender Hauswirt vor Wollust den Pyjama vom Leib reißen.« Doch anstatt Wollust war etwas ganz anderes unterwegs. Das Grauen. * »Hast du diesem Hellmann ordentlich die Leviten gelesen, Artur?« fragte Mathilde Stubenrauch, als ihr Gatte ins Schlafzimmer tappte. »Und wie!« behauptete er und hielt Daumen und Zeigefinger gegeneinander. »So klein mit Hut war der Bursche, als ich ihn abgekanzelt hatte.« Die Frau wälzte sich auf die andere Seite. »Dann komm wieder in die Federn. Und schalte das Licht aus. Hörst du?« Der kleine Sachse kicherte vergnügt. Er kam geradewegs aus dem Bad. Dort hatte er sich frisch gemacht, die Zähne geputzt, Parfüm unter die Achselhöhlen gesprüht - und die Pille genommen, die ihm die schicke Blondine gegeben hatte. Bei allem, was mir heilig ist, dachte er. Dieses Weib da eben im Treppenhaus ist ein Knüller. Schon beim bloßen Angucken wird einem heiß. Im Begriff, das Licht auszuknipsen, stutzte er. Seine Hand blieb in der Luft hängen. Was war denn das? Er stand da, schluckte und überlegte, ob er etwas Falsches 73
gegessen hatte. Eine Welle glühender Hitze breitete sich in Windeseile in seinen Gedärmen aus. Stumm betrachtete er das Bett, in dem seine Frau gerade wieder einzuschlafen versuchte. Unvermittelt fragte er sich, was Hilde anhatte. Vielleicht das schwarze Nachthemd, das er ihr Weihnachten geschenkt hatte? Das Teil hatte seitlich einen langen Schlitz, bis hoch zu den Hüften. Dazu ein großzügiges Dekollete und Träger, so dünn wie Schnürsenkel. Er fand, Hilde sah darin sehr sexy aus. Stubenrauch beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen. Er knipste das Oberlicht aus, ging zu seinem Nachtschränkchen und schaltete die kleine Leselampe ein. Als er unter die Decke kroch, spürte er die Veränderung, die ihn gepackt hielt. Und jeder hätte sie ihm auch deutlich angesehen, wenn er mal einen Blick unter die Decke geworfen hätte. Plötzlich war er in Stimmung, seiner Mathilde das Bettzeug wegzureißen und sich auf sie zu werfen. Doch er war auf der Hut. Seine Frau hatte ihren eigenen Kopf. Also die zärtliche Masche, sagte er sich und schlüpfte aus der Pyjamahose. Heimlich schob er sie aus dem Bett. Dann begann er, die Knöpfe seiner Jacke zu öffnen. »Was treibst du denn da immerzu?« murmelte Hilde barsch. »Ich will schlafen, und du zappelst herum wie ein Aal.« »Aal ist fast richtig«, flüsterte er, ohne daß seine Holde es mitkriegte. Auch die Jacke fiel vor das Bett. Stubenrauch überlegte, wie er vorgehen sollte, ohne Hilde in Panik zu versetzen. Er grübelte, seine Augen flirrten nervös durchs Zimmer. Da wurde er auf eine Bewegung aufmerksam. Die Tapete neben dem Kleiderschrank wölbte sich plötzlich. Stubenrauch hielt den Atem an. Mit einer Hand fuhr er sich übers Gesicht. Hatte er Halluzinationen? Die Tapete wölbte sich stärker. Es sah aus, als schöbe sich eine große, unförmige Gestalt durch die Wand. Vor Schreck wie betäubt, sah Stubenrauch, wie sich ein Gesicht auf der Wand abzeichnete. Es war totenbleich, mit geschlossenen Augen, zusammengepreßten Lippen und überaus plastisch. Eine Maske des Schreckens, die immer greifbarer wurde. Dann zuckten Gliedmaßen aus der Wand, auf ihnen der Rumpf, massig und von grellweißer Farbe. 74
»Ein Gespenst«, wimmerte Stubenrauch leise. Die weiße Gestalt gab keinen Laut von sich. Als wäre es die normalste Sache der Welt, löste sie sich nun vollständig aus der Wand, schritt durch das Zimmer und verschwand, ohne die Stubenrauchs im Bett eines Blickes zu würdigen, durch die gegenüberliegende Zimmerwand. Erst als der Spuk vorüber war, fand Artur Stubenrauch die Kraft zu einem herzhaften Schrei. Mit einem Satz hüpfte er aus dem Bett. Er flitzte zum Schrank. Fassungslos betastete er die tapezierten Wände. Seine Zähne klapperten, als würde jemand eine Tüte getrockneter Erbsen in einen Steintopf schütten. »Hilde!« schrie er. »Hilde. Es ist unglaublich.« Mürrisch richtete sich Hilde Stubenrauch auf. Sie sah, daß ihr Mann völlig unbekleidet war. »Artur«, schimpfte sie. »Wenn du nicht gleich Ruhe gibst, haue ich dir eine runter. - Sag mal, wieso bist du eigentlich nackig?« Stubenrauch beschloß, seine unheimliche Beobachtung für sich zu behalten. Vielleicht hatte er sich wirklich getäuscht? Aber daß Hilde das schwarze Nachthemd anhatte, war keine Täuschung. Er leckte über seine Lippen. Geduckt wie ein Panther zum Sprung pirschte er sich an. Seine Frau zog verschreckt die Decke hoch. »Artur! -Ach, Artur… Huh, das hätte ich ja nicht für möglich gehalten. Mensch, Artur…!« * Es war zwei Uhr nachts, als ein Schlüssel im Türschloß knirschte. Ich lag im Bett, mit offenen Augen, und wartete darauf, daß Tessa Hayden auftauchte. Jetzt war sie da. Ich hörte, wie sie in die Diele kam, ihre Jacke an die Garderobe hängte und aus ihren Schuhen stieg. Dann ging sie in die Küche. Es klapperte leise. Ein kohlensäurehaltiges Getränk sprudelte in ein Glas. Zehn Sekunden später stand Tessa im Türrahmen. »Schläfst du?« wisperte sie. »Ich habe auf dich gewartet«, antwortete ich. »Du fehlst mir, Tess.« 75
Sie hob ihre Nase und schnupperte. »Ich rieche Pias Parfüm. Habt ihr euch gut amüsiert?« Tessa klang niedergeschlagen. Sie lehnte am Türpfosten und wirkte irgendwie verletzlich. Alles andere als eine knallharte Fahnderin. Der fahle Mondschein, der durch das Dachfenster fiel, ließ ihren Kopf im Dunkeln. Es sah unheimlich aus, als wäre ihr Körper am Halsansatz zu Ende. Ich warf meine Decke ans Fußende. »Hast du Hunger?« fragte ich, während ich auf sie zuging. »Lydia hat uns ein astreines Menü gezaubert. Wenn du willst, mache ich dir etwas warm.« »Nett von dir.« Sie drehte mir eine Wange zu, als ich ihr einen Kuß gab. »Aber essen ist das Letzte, wozu ich jetzt Lust habe.« »Was bedrückt dich?« wollte ich wissen. »So einiges.« »Red Klartext, Tess. Ist es dieser Kinderschänder? Hat er wieder zugeschlagen?« Tessa nickte stumm. Jetzt wußte ich, woher der Wind wehte. Ich drückte ihre kalten Hände, ging an ihr vorbei in die Küche, holte ein Glas Rotwein und zwängte den Stiel zwischen ihre klammen Finger. Mechanisch griff sie zu, hielt es fest, aber sie trank nicht. »Wir haben die Leiche eines Mädchens gefunden«, hauchte sie. »In einem Fliederstrauch, nur einen Steinwurf von ihrer Schule entfernt. Mark, es war grauenerregend!« »War Pit auch dabei?« forschte ich. Pit Langenbach war Hauptkommissar bei der Weimarer Kripo. Er war mein bester Freund. »Ja, und er ist fix und fertig, Mark. Das Mädchen, das wir fanden, ging in die Parallelklasse seiner Tochter.« »O Shit!« Tessa nuckelte am Rotwein. Dann holte sie tief Luft und fragte: »Bist du wenigstens einen Schritt vorwärts gekommen?« »Leider nicht. Ich zerbreche mir noch den Kopf, wie ich an Marinello herankommen soll.« »Du könntest vorgeben, ihn interviewen zu wollen.« »Fehlanzeige. Der Typ gibt keine Interviews.« »Und eine offizielle Befragung?« schlug Tessa vor. »Wir laden ihn vor und quetschen ihn auf dem Revier aus.« 76
»Zu gefährlich. Der Kerl hat die Macht, Wunder zu vollbringen. Er würde kurzen Prozeß mit uns machen, wenn er sich bedroht fühlt. Ein Menschenleben bedeutet ihm ungefähr soviel wie der Nagellack auf deinen Fingernägeln.« »Aber ich trage gar keinen Nagellack.« »Eben.« Tessa stellte das Weinglas ab. »Schlaf mit mir, Mark!« flüsterte sie. »Bring mich auf andere Gedanken. Ich weiß, daß du das kannst.« »Danke für das Kompliment. Glaubst du wirklich, Sex wäre jetzt das Richtige für dich?« »Ja.« »Ich weiß ja nicht…« Tessa streichelte meine Wange. »Wenn du störrisch bist, werde ich dich ans Bett binden.« »Das ist Nötigung«, frozzelte ich. »Eine strafbare Handlung. Ich könnte dich…« Tessa stülpte ihre warmen Lippen über meine. Sie schlang ihre Arme um meinen Hals und drängte mich in Richtung meines Futon-Bettes. Rücklings plumpste ich auf das Laken, Tessa über mir. Kurzerhand schälte sie sich aus Jeans und Pulli. Ich hakte ihren BH auf. Es war ein erhebendes Gefühl. Wie immer. Ich streichelte sie. Tessa seufzte, und ich spielte das Baby. Ja, das Nuckeln verlernt man nie… »Ja, das ist gut«, stöhnte sie. »Laß nicht nach, Mark.« Klar. Wer hätte mich jetzt noch bremsen können? Plötzlich wurde ich vom Aufflackern meines Ringes geblendet! Ich war irritiert. »Was ist los?« keifte Tessa. »Geht man so mit einer liebesbedürftigen Dame um?« »Leise!« Tessa setzte sich auf. Sie schmollte eine Sekunde. Doch schnell merkte sie, was Sache war. Ich jagte zum Stuhl, über den ich meine Sachen gehängt hatte. Hastig schlüpfte ich in die Hose. Dann riß ich meine SIG Sauer aus dem Halfter. Blitzschnell überprüfte ich, ob die Waffe geladen war. Noch einmal wollte ich nicht mit einer ungeladenen Waffe antreten. Die Pistole im Anschlag, schlich ich in die Diele. 77
Ich baute mich vor der Wohnungstür auf und behielt die Türklinke im Auge. Nichts rührte sich. Mein Ring funkelte. Ich spürte seine Wärme. Leise öffnete ich die Tür. Das Treppenhaus lag in völliger Dunkelheit. Ich drückte auf den Zeitschalter. Weißliches Neonlicht ergoß sich über die Stufen. Von der Plattform spähte ich hinunter. Totenstille. Keiner zu sehen. Alles schien zu schlafen. »Mark!« Auf dem Absatz machte ich kehrt. Ohne die Tür zu schließen, rannte ich zurück. Ich fand Tessa neben dem Bett stehend. »Sieh mal!« Sie zeigte auf eine Stelle an der Wand. »Mir ist, als hätte sich da eben was bewegt. Gleich neben dem Schrank. Es sah aus, als käme mir die Tapete entgegen.« Marinello kann durch Mauern gehen! Mein Finger spielte am Abzug der Pistole, Verdammt! Er hat mitbekommen, daß ich einen Feldzug gegen ihn plante. Da erschien der Abdruck eines Gesichts auf der Wand. Geisterhaft starr wölbte es sich hervor. Ich hob meine Waffe. Die Züge des Gesichts wurden deutlicher. Ich kannte das Gesicht. Es gehörte Rolf Danglars, dem Wachmann aus dem Nationaltheater. Es war erst wenige Stunden her, seit er mir voller Stolz von seinem Enkel erzählt hatte. Jetzt suchte mich sein Abbild in meinen eigenen vier Wänden heim, durch die Wand! »Bleib, wo du bist!« raunte ich. Nun schälten sich Beine, Arme und Rumpf aus der Wand. Das Danglars-Wesen gab keinen Laut von sich. Es löste sich aus dem Mauerwerk, hob tastend wie ein Blinder beide Arme und kam auf mich zu. Es wollte mir an den Kragen. Ich zielte auf seinen Kopf. »Noch einen Schritt, dann kracht es!« drohte ich. Der Eindringling blieb unbeeindruckt. Er tat einen weiteren Schritt. »Mark!« keuchte Tessa. »Dein Einsatzkoffer? Wo ist er?« »Im Schrank. Aber dieses Monstrum steht direkt davor. Wir kommen nicht heran!« Vorsichtshalber wich ich zurück. Je länger ich diese Kreatur anschaute, desto unwirklicher kam sie mir vor. Vielleicht war sie körperlos, nur ein Hologramm, mit 78
dem mich Marinello erschrecken wollte? Du darfst es nicht anfassen! tönte es in meinem Schädel. Um Himmels willen! Fasse es nicht an! Vertraue mir, Mark Hellmann! Überrascht ließ ich die Pistole sinken. »Lurjahn?« fragte ich. »Bist du dem Magier entwischt?« Nein, klang es wehmütig. Ich habe den Befehl, dich zu töten. Und mir bleibt nur die Wahl, selber zu sterben oder Marinellos Anweisung auszuführen! »Du willst dich für mich opfern?« Wieder mußte ich weichen, das Danglars-Ding war bereits in Reichweite. Du bist mein Freund. Ich biß die Zähne zusammen. Der Hüter des Verborgenen saß in der Patsche. Er schien alle Hoffnung, das Blatt noch zu wenden, aufgegeben zu haben. Für einen Moment spürte ich mein Herz vor Erregung flattern. Nicht berühren… Plötzlich klaffte der Mund des unheimlichen Besuchers auf. Auch die Augenlider hoben sich. Ein Paar weißer Augäpfel wurde sichtbar, glanzlos und ohne Pupillen. Sie wirkten wie runde, tote Betonkugeln. »Greif mich an!« brummte das Danglars-Ding. »Man sagt, du wärst ein guter Faustkämpfer. Oder ist das nur dummes Geschwätz?« Nicht berühren! Wild entschlossen zog ich den Abzugsbügel durch. Ein Schuß peitschte durchs Zimmer. Das Ding stand wie angeleimt. Die Kugel war in die rechte Augenhöhle gedrungen und aus dem Hinterkopf wieder ausgetreten. Jetzt steckte sie in der Mauer. »Greif mich an!« wiederholte das Ding. Ich rannte über das Bett in die gegenüberliegende Seite des Zimmers. Am Hexenmal auf meiner Brust aktivierte ich meinen Ring und schrieb mit dem Lichtstrahl meinen Wunsch auf die Pistole. Im Nu funkelte die schwarzglänzende SIG Sauer bläulich auf. Ich wirbelte die Waffe herum. Pfeilschnell peilte ich ein zweites Mal den Kopf des kampfwütigen Wesens an und gab Feuer. Die Danglars-Kreatur riß den Mund auf. Sie wurde zurückgeschleudert, gegen die Wand, aus der sie gekommen war. Dort sackte sie in sich zusammen, wie ein Ballon, dessen Ventil 79
undicht war. Schließlich verschmolzen die Überreste mit der Wand. Zehn Sekunden später war der Spuk verschwunden. Nichts deutete mehr darauf hin, daß Tessa und ich in höchster Gefahr geschwebt hatten. »Lurjahn!« rief ich. »Lurjahn, du darfst nicht sterben!« Ich erhielt keine Antwort. Der Hüter des Verborgenen hüllte sich in Schweigen. Offensichtlich bereitete er sich auf sein schmachvolles Ende vor. Stumm starrte ich die Wand an, bis Tessa Hayden die drückende Stille unterbrach: »Diese Runde geht an dich, Mark. Marinello wird vor Wut platzen. Und gerade verletzte Eitelkeit ist ein schlechter Ratgeber. Vielleicht unterläuft ihm jetzt ein Fehler.« »Er wird sich am Lurjahn rächen«, überlegte ich laut. »Ich muß wenigstens versuchen, den kleinen Kerl rauszuboxen. Ich stehe in seiner Schuld. Deswegen werde ich keine Sekunde mehr verlieren. Marinello wohnt im Elephant.« »Warte. Ich komme mit!« Tessa Hayden raffte ihre Kleidungsstücke vom Fußboden. Ich sah sie an. »Falls du deinen BH suchst, er liegt unter dem Bett.« »Ich werde ihn heute nicht mehr brauchen. - Also los!« * Alma Schlegel war mit ihren Nerven am Ende. Sie stand nur einen winzigen Schritt vor dem körperlichen Zusammenbruch. Ein grauenerregendes Bild hatte sich in ihr festgefressen. Immer wieder tauchte Sarahs durch die Luft fliegender Körper auf. Immer wieder hörte sie das Geräusch, als Sarah gegen die Panzerscheibe des Restaurants krachte. Alma Schlegel lag auf einer Pritsche in der Notaufnahme. Der Arzt hatte ihr ein starkes Beruhigungsmittel gegeben. Eine Schwester schaute hin und wieder nach ihr. Gegenüber der Pritsche stand ein Arzneischrank mit gläsernen Türen. Als Sarahs Mutter den Kopf zur Seite drehte, sah sie, daß der Schlüssel steckte. 80
Ich kann nicht mehr, dachte sie. Es ist besser, tot zu sein, so wie Sarah. Dann bin ich wieder bei ihr. Einem inneren Impuls folgend hob sie einen Arm. Die Bewegung kostete viel Mühe. Ihr Körper war schlaff wie ein leeres Einkaufsnetz. Der Arm sank zurück auf die Pritsche. Aber sie probierte es erneut. Der Gedanke, an den Schrank zu gelangen, verlieh ihr neue Kräfte. Bald gelang es ihr, sich aufzurichten und die Beine anzuwinkeln. Da wußte sie, daß sie es schaffen würde. Sie würde ein Röhrchen Tabletten aus dem Schrank nehmen, sie allesamt hinunterschlucken und sich wieder hinlegen, um friedlich zu sterben. Die Tür ging auf. Alma Schlegel tat, als schliefe sie. Die Schwester hantierte mit medizinischen Instrumenten. Es klapperte metallisch. Dann war es wieder ruhig. Die Schwester war hinausgegangen. Sofort schnellten Alma Schlegels Augenlider in die Höhe. Stöhnend richtete sie sich auf, schob sich von der Liege und tappte zum Schrank. Ihre Hände zitterten, als sie die Tür öffnete. Sie studierte die Aufschriften der Medikamente. Dann nahm sie ein Röhrchen heraus. Ein starkes Sedativum. Wenn sie die ganze Ladung schluckte, würde sie langsam einschlafen, für immer. Das Röhrchen in der Faust, tappte die Lebensmüde zurück zur Liege. Schwer atmend legte sie sich nieder. Draußen, auf dem Gang der Notaufnahme, herrschte Hochbetrieb. Eilige Schritte hallten von den Wänden wider. Sterben…. Alma löste die Kapsel von dem Deckel. Sie spürte, wie die Tabletten in ihre Handfläche glitten. Sie seufzte, ließ ihren Blick ein letztes Mal durch die kleine Kammer schweifen. Auf einem Tischchen lag eine Zeitung. Alma Schlegel reckte den Hals. Was mochte die Schlagzeile sein, am Tag, an dem sie sterben würde? Ihre Augen füllten sich mit Tränen, während sie die schwarzen Druckbuchstaben entzifferte. Plötzlich stutzte sie. Sie strengte sich an und versuchte den 81
Inhalt des Aufmachers zu begreifen: »Amoklauf in Weimarer Wildwest-Kneipe! Wie durch ein Wunder wurde niemand getötet!« Daneben ein Foto von ihrem Mann. Er trug eine Zwangsjacke… Alma Schlegel schrie leise auf. Ihre Hand öffnete sich, die Tabletten klackerten auf den Fußboden. Aber das war nicht mehr wichtig. Mit einem Schlag wurde der Frau klar, daß sie weiterleben mußte. Es gab jemanden, der sie jetzt brauchte… * Brutal rammte Berti Latotzki die Tür zum Foyer des Elephant auf. Der bärenstarke Bodybuilder hielt nach allen Seiten Ausschau, bevor er die Rezeption ansteuerte. Es war zehn nach sieben, morgens. In der Hotelhalle duftete es nach frischgebrühtem Kaffee. Ein livrierter Page lümmelte an der Hallenbar und schwatzte mit einer Fußbodenmasseuse. Aus dem Aufzug traten zwei aufgedonnerte Frauen um die Siebzig. Um ihre runzlige Hälse baumelten schwere Goldgeschmeide. Den Baum von einem Mann neugierig musternd, tippelten sie ins Restaurant, um ihr Müsli zu verspeisen. »Guten Morgen, mein Herr«, gurrte der Mann vom Empfang. »Kann ich Ihnen helfen?« »Ja.« Berti trug eine legere Lederjacke. Aus der Innentasche holte er ein Foto und knallte es auf den Tresen. »Kennen Sie diese Frau?« Es war eine Aufnahme von Pia Severin. Als Berti aufwachte, fand er das Bett neben sich leer. Pia war über alle Berge. Klammheimlich hatte sie sich verdrückt. Kein Brief, kein Zettel, nichts. Nur ein Kußmund auf dem Spiegel in der Naßzelle. Er ahnte nur zu gut, was sie vorhatte. Er kannte seine Pia. Sie spionierte dem Zauberer hinterher. Sie wollte ihre Scharte mit der ungeladenen Remington auswetzen… Und Berti wurde fast irre vor Angst. Finster musterte er den Hotelmitarbeiter. Der Mann war Mitte Zwanzig, semmelblond, hatte eine Fönfrisur und roch, als würde er sein Rasierwasser kanisterweise 82
verwenden. Auf seiner Namenspange stand M. Retzlaff. Berti krauste die Nase. »Und?« »Ich bin mir nicht sicher.« Retzlaff hob gewichtig sein Kinn. »Es könnte sein, daß ich diese Dame vom Anschauen kenne.« »Haben Sie sie heute morgen gesehen?« »Sie meinen, hier im Hotel?« »Genau. Auf der Etage, im Restaurant, im Fahrstuhl, in der Küche, im Kellneroffice, irgendwo.« »Könnte schon sein.« Berti ließ seine Bizeps unter der Jacke hüpfen. Je mehr Zeit verstrich, desto unruhiger und unbeherrschter wurde er. »Versuchen Sie, sich zu erinnern!« blaffte er. Schritte näherten sich, und der Hotelangestellte machte Anstalten, sich einem anderen Gast zuzuwenden. »O, Herr Professor Ditzenbach. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen. Darf ich…« Aber Berti Latotzki war nicht der Typ, den man ungeschoren ignorierte. Katzengleich schoß seine Hand über den Tresen. Er packte Tetzlaffs Arm und preßte ihn. »Wir sind noch nicht fertig«, schnaubte er. Der Rasierwasser-Fetischist stieß einen dünnen Schrei aus. »Ich weiß, daß diese Frau im Hause ist.« Drohend senkte Berti die Stimme. »Wenn Sie nicht wissen, wo sie steckt, sagen Sie mir, wer mir Auskunft geben könnte.« Statt der Bitte des Muskelmannes zu entsprechen, drückte Tetzlaff auf ein Knöpfchen. Dabei verzog er sein Gesicht, als täte man ihm bitterböses Unrecht. Eine Tür ging auf, und zwei überernährte Männer traten hinter die Rezeption. Sie trugen dunkle Anzüge und sorgfältig gebundene Schlipse. Krampfhaft bemühten sie sich, bärbeißig auszusehen. Der Jüngere hatte einen Ohrring. Der Ältere unterdrückte ein Gähnen. »Gibt es Probleme, Martin?« fragte der Ohrring-Träger. Tetzlaff deutete auf seinen Arm. »Dieser Herr will mich nicht loslassen«, jammerte er. »Quatsch mit Soße«, grollte Berti und ließ den Arm los. »Ich hab dem Spargel-Tarzan doch nur eine Frage gestellt.« »Aber der Herr Professor…«, säuselte Tetzlaff affektiert. »Erst bin ich an der Reihe!« beharrte Berti, dem langsam der Kragen platzte. »Als Angestellter im ersten Haus am Platz müßten 83
Sie doch fähig sein, Gästen auf konkret formulierte Fragen zu antworten. Oder?« Tetzlaff wandte sich hilfesuchend an die Gorillas. »Aber er ist ja gar kein Gast. Unternehmt doch endlich was, Jungs.« Berti wurde es zu bunt. Er nahm das Foto von der Theke und steckte es ein. Dann wurde er auf den Pagen aufmerksam, der gerade betont unauffällig herüberschielte. Frage ich ihn, dachte Berti und stiefelte los. Er kam nur zehn Meter weit. Die beiden Männer, die Tetzlaff gerufen hatte, umrundeten ihn und verbauten ihm den Weg. »Bitte gehen Sie jetzt!« sagte der Ältere. Der Jüngere nickte. »Ja, hauen Sie endlich ab!« »Aus dem Weg!« Berti stand kurz vor einem Vulkanausbruch. Irgendwo im Haus geisterte seine Pia herum, und er stand unten, im Foyer, und wurde wie ein räudiger Straßenköter behandelt. »Gehen Sie endlich!« Der Ältere starrte Berti an. »Wir wollen kein Aufsehen. Verstehen Sie das nicht?« »Ich werde gehen, wenn ich erledigt habe, weshalb ich gekommen bin. So einfach ist das, Leute!« Sein jüngerer Kontrahent grinste dümmlich. »Nein. Sie werden jetzt gehen. Nicht irgendwann nachher.« Er hob einen Arm, um Berti am Ärmel zu packen. Der Bodybuilder trat zur Seite. Die Hand griff ins Leere. Plötzlich erschien ein Bild in Bertis Gedächtnis. Er als Kind - auf dem Schulhof. Er war dünn wie eine Speiche, kränklich und schlapp. Alle nannten ihn Hering und veräppelten ihn. Sogar manche Lehrer verspotteten ihn. Bis Mark Hellmann sich einmischte und seine Peiniger zur Sau machte. Aber die Zeit war endgültig vorbei. Er war erwachsen geworden und hatte jahrelang wie ein Besessener trainiert. Bis er im Bankdrücken fünf Zentner schaffte. Es gab in Deutschland nur eine Handvoll Männer, die ein derartiges Gewicht zur Hochstrecke brachten. Dann hatte er weitergemacht, Karate, Thaiboxen… Bis niemand mehr gegen ihn antreten wollte. Und jetzt wollten zwei Großmäuler verhindern, daß er seine Pia rettete? Niemals! Plötzlich sah Berti Latotzki, wie es in den Augen des Jüngeren 84
gefährlich aufblitzte. Alarmiert spannte der Bodybuilder seine Muskeln. Der ältere Rausschmeißer ging einen Schritt zur Seite, blieb aber in Reichweite. Sie wollen mich in die Mitte nehmen, dachte Berti. Er zog den Kopf ein und erwartete die erste Attacke. In diesem Moment schwang die Eingangstür auf, und er hörte eine resolute Frauenstimme. Sie sagte: »Stopp! Polizei! - Keine Dummheiten, wenn ich bitten darf!« * Tessa Hayden zeigte ihre Dienstmarke, und das Duo in den dunklen Anzügen trollte sich. »Ich brauch keine Babysitter.« Berti pumpte wie ein Blasebalg. Ich klopfte seine Schulter. »Immer ruhig Blut, alter Junge.« Er sah mich an. »Schon gut, Mark. Es ist bloß wegen Pia. Mein Prinzeßchen hat sich dünnegemacht. Schätze, sie stöbert hier irgendwo auf eigene Faust herum.« »Keine Bange«, sagte ich. »Das haben wir gleich. Tessa erkundigt sich gerade nach Marinellos Zimmernummer. Wir gehen rauf, greifen uns Pia und bringen sie in Sicherheit. Dann werden wir weitersehen.« »Aber wir wissen doch gar nicht genau, wo sie ist!« Berti wirkte wie ein ABC-Schütze, dessen Schultüte bis obenhin mit Pferdeäpfeln gefüllt war. Da bimmelte der Fahrstuhl. Ein grimmig aussehender Mann mit den Schultern eines Wrestlers trat heraus. Er schaute sich prüfend um. Als er uns bemerkte, runzelte er die Stirn. Dann marschierte das Kraftpaket zur Rezeption. Leise tuschelte er mit dem Mann vom Empfang. Ich spürte, daß irgendwas in der Luft lag. Da tauchte Tessa auf. »Ich weiß jetzt, wo unser Mann zu finden ist. Gehen wir vor wie geplant, Mark?« Auf dem Weg zum Elephant hatten wir uns eine Taktik zurechtgelegt. Aber da wußten wir noch nicht, daß Pia irgendwo im Hotel herumschwirrte. Das machte die Sache nicht einfacher. Wir mußten damit rechnen, daß Bertis Freundin bereits in Marinellos Gewalt war. Damit besaß der Magier ein weiteres 85
Druckmittel. Also äußerste Vorsicht! »Pias Sicherheit geht vor, Tess«, sagte ich. »Am besten, du kümmerst dich um sie! Geh mit Berti hinauf, durchkämmt die Etagen und schafft sie aus der Gefahrenzone, wenn ihr sie gefunden habt. Wenn's sein muß, mit Gewalt.« »Okay«, sagte Tessa zerknirscht. »Mark, ich fühle mich verdammt mies. Ich hätte Pia nicht so anfahren sollen, gestern in der Stage-Coach.« »Darüber unterhalten wir uns später.« Ich rückte mein Halfter zurecht. »Also, auf in den Kampf!« Wir ließen den Aufzug links liegen und gingen zu den Treppen. Marinello logierte in der zweiten Etage. Als wir dort ankamen, huschte gerade ein Zimmermädchen über den Gang. Sie schob einen Etagenwagen, der mit Bettwäsche, Handtüchern, Waschutensilien, Betthupferln und anderem Kleinkram bestückt war. Tessa und Berti folgten der Angestellten in ein offenstehendes Zimmer und nahmen sie in die Mangel. Ein Sprichwort fiel mir ein. Versuch macht klug, sagte der Teufel und setzte sich in die heiße Bratpfanne. Jetzt saß ich in der heißen Bratpfanne. Es war sehr still. Wahrscheinlich schliefen die meisten Hotelgäste noch. Eine Tür ging auf. Aber niemand erschien. Ich ging weiter. Das Zimmer des Magiers lag am Ende des Ganges. Nur noch ein paar Schritte, wenn es gutging. Es ging nicht gut. Ein bulliger Mann trat mir in den Weg. Lässig hob er eine Hand. Eine Pistole mit Schalldämpfer lag darin. Marinellos Leibwächter sah aus wie Hulk Hogans kleinerer Bruder. Bloß viel brutaler. Ein unerbittlicher Killertyp. »Bis hierher und nicht weiter, Freundchen!« grunzte er. »Kehrt marsch, Jungchen!« Die Zeit lief. Ich probierte es mit einer Handkante. Der Koloß reagierte schneller, als es seine Leibesfülle vermuten ließ. Sein Arm zuckte zur Seite. Er riß seine Pistole hoch, und ein dumpfer Ton erklang. Die Kugel traf eine antike Wandlampe. Krachend zerplatzte der Schirm. 86
»Ich mach dich kalt!« raunte er, ohne die Miene zu verziehen. Aber ich wartete nicht darauf, daß er seinen unfrommen Wunsch in die Tat umsetze. Mit Wucht explodierte meine Gerade auf seiner Brust. Der Donnerschlag hätte einen Ochsen umgehauen. Gleich würde er in die Knie gehen… Aber der Kerl schien aus Schmiedeeisen. Er wich nicht einen Millimeter. Statt dessen schoß er auf mich. Streifschuß am Arm. Ich wurde zurückgeschleudert. Stechender Schmerz wallte in mir auf. Marinellos Leibwächter verzog sein Bulldoggengesicht. »Der nächste Schuß bläst dir das Lebenslicht aus!« Ich starrte in die kreisrunde, schwarze Mündung seiner Pistole. Aus! Alles aus! Dachte ich. Diese Mörderbestie brachte es fertig und legte mich kaltblütig um. Nie hätte ich gedacht, daß ich mal im Weimarer Elephant enden würde. Schon fingerte er am Abzug. Er grinste breit, und ich sah Gold zwischen seinen falschen Zähnen funkeln. Dieser Ganove gehörte doch hinter Gitter! Er zögerte noch einen Atemzug lang und kostete die Situation aus, in der er Herr über Leben und Tod war. Diese perverse Anwandlung rettete mein Leben. Berti Latotzki hatte sich auf leisen Sohlen angepirscht. Der Schlag, dem er Marinellos Leibgardist versetzte, kam aus einer anderen Dimension. Bertis Kracher landete auf dem Hals des menschlichen Monstrums. Der Kopf des Unholds knickte zur Seite wie ein gefalteter Briefbogen. Mein Schulkumpel mußte all seinen aufgestauten Frust in diesen Schlag gelegt haben. Das Gesicht ungläubig verzerrt, sackte der Getroffene lautlos in sich zusammen. Berti wirkte kalt wie eine Hundeschnauze. Er bückte sich und griff nach der Kanone des Leibwächters. »Pia!« sagte er dumpf. »Die Zimmerfrau hat uns geflüstert, wo sie steckt.« »Und wo?« »Bei dem Zauber-Fuzzi. Also hat der Misthaken Lunte gerochen.« Meine Schußverletzung tuckerte wie verrückt. Ich umklammerte meinen linken Arm. Auf meiner Jacke breitete sich ein Blutfleck aus. 87
Aber die Zeit lief. Noch war mein magisches Experiment aktiv. »Komm!« Ich zog Berti am Ärmel. »Eine Minute haben wir noch.« »Wieso? Was meinst du?« »Ich erkläre es dir später.« Im gestreckten Galopp jagten wir zum Ende des Ganges. Ich wagte nicht an das zu denken, was passierte, wenn mein Plan die Hosen ging. * Pia Severin spürte, wie der Angstschweiß ihre Stirn näßte. Reglos kauerte sie in einem Rokoko-Sessel, den Blick starr auf ein widerwärtiges Höllenspektakel gerichtet. Marinello war dabei, den Lurjahn zu töten. Der Kobold lag in der Mitte des Raumes, eingeringelt wie eine getretene Blindschleiche. Sein schmächtiger Leib wurde von ungeheuerlichen Krämpfen geschüttelt. Dunkelrotes Blut quoll ihm aus Mund, Nase und Ohren. Seine dunkelbraunen, knotigen Finger krallten sich in die Fasern des Teppichs. Er röchelte. Zuerst hatte Pia einen höllischen Schreck bekommen, als Marinello den Zwerg erscheinen ließ. Der kleine, verhutzelte Troll wirkte unaussprechlich abstoßend auf sie. Aber sie wußte, daß der Lurjahn kein böses Wesen war. Sie fühlte tiefes Mitleid mit dem Unterirdischen. Der Magier hatte sofort bemerkt, was Pia beabsichtigte, als sie an die Tür klopfte, trotz des Kellnerkostüms, das sie trug. Mit einem hastig gemurmelten Bann hatte er sie bewegungsunfähig gemacht. In vollen Zügen genoß Schaumäker-Marinello ihre Angst. Er stand da, die Arme theatralisch ausgebreitet, den Kopf gesenkt, und schien sich wie der Allmächtige vorzukommen. Der Herr über Leben und Tod. Der Körper des Lurjahns streckte sich noch einmal. Der Zwerg hob seinen Kopf, richtete seine schwarzen Pupillen auf Pia. Als wolle er Lebewohl sagen. Pia las abgrundtiefe Trauer in seinen Augen. Sie wollte aufspringen, zu ihm stürzen, ihn trösten. Es blieb bei dem Gedanken. Ihr Körper schien aus totem Gestein. 88
Der Kopf des Lurjahns fiel zurück. Seine Augenlider bedeckten die Pupillen. Da riß der Kronleuchter aus der Verankerung und knallte auf den Tisch. »Zum Henker! Was ist denn…?« fluchte der Magier. Die Fenster schlugen auf. Eine Orkanbö peitschte herein. Die Stores flatterten. Die Tür, die zum Bad führte, wurde aus den Angeln gerissen. Schrauben, Holzsplitter, Gipsstücke und Glas flogen durch die Luft. Der Sessel, auf dem Pia saß, schurrte hin und her. Der Magier schrie auf. Er wich einem ellbogenlangen Glassplitter aus, der ihm entgegenbrauste und sich daraufhin wie ein Dartpfeil in die gegenüberliegende Wand bohrte. Eisige Kälte breitete sich aus. Pia spürte, wie ihr Schweiß knisternd gefror. Die unsichtbare Gewalt fetzte die Schubladen aus den altertümlichen Möbelstücken, zerstreute den Inhalt wie Konfetti durchs Zimmer. Die schweren Seidentapeten rollten bahnweise von der Wand. Putz spritzte durch die Gegend. Die Ecken des Teppichs kräuselten sich, wurden jäh emporgewirbelt und flatterten wie riesige Wimpel. Der Magier sprang zurück, drückte sich rücklings an die Wand, das Gesicht eine Fratze des ungläubigen Entsetzens. Dann zersplitterte die schwere Zimmertür. Wie ein leichtgewichtiger Pappkamerad donnerte die zertrümmerte Tür auf den Boden. Marinello löste seine Handflächen von der Wand, wollte sich in den Nebenraum retten, doch eine heranpeitschende Sturmbö erfaßte ihn und schmetterte ihn auf den Diwan. Pia sah noch, wie drei Schatten ins Zimmer stürzen. Und ein Schatten gehörte ihrem Berti… * So schnell, wie die Urgewalt erschienen war, so schnell verschwand sie auch wieder. Als Berti, Tessa und ich ins Zimmer hetzten, empfing uns lähmende Stille. Aber jeder von uns wußte genau, was er zu tun 89
hatte. Berti quetschte seiner Pia vor Freude die Seele aus dem Leib. Tessa warf sich auf den Magier, bog gekonnt seinen Kopf ins Genick und klickte ihm Handschellen über. Meine größte Sorge galt dem Hüter des Verborgenen. Der Lurjahn war in denkbar schlechter Verfassung. Gott sei Dank lebte er. Ich sank auf die Knie, hob vorsichtig seinen blutenden Kopf und zupfte sacht an seinem Bart. »Aufgewacht! Schlafen kannst du, wenn du wieder in deinem Heim bist.« Der Zwerg rappelte sich auf. Als er sah, daß Tessa den Magier überwältigt hatte, glitzerten seine schwarzen Augen vor Freude. Wie ein Gummiball sprang er auf seine dünnen Beine. »Mark Hellmann!« Er wischte das Blut aus seinem Gesicht. »Du hast etwas gut bei mir!« Ehe ich mich versah, wuselte der kleine Kerl an mir vorbei. Er zog sich am Überwurf des Diwans, auf dem Marinello lag, empor und kletterte wieselflink auf dessen Brustkorb. »Was hast du vor?« fragte ihn Tessa. »Halte seinen Kopf!« befahl der Zwerg. Tessa Hayden tat, wie ihr geheißen. Der Hüter des Verborgenen beugte sich über Marinellos Mund. Der Magier tobte. Er strampelte mit den Beinen. Er versuchte, sich auf den Bauch zu wälzen. Er wollte die Polizistin abschütteln. Er warf seinen Kopf hin und her. Aber Tessa hielt ihn unbarmherzig gepackt. Ich sah, wie der schwarze Kobold den Atem des Zappelnden ansaugte, die ausgestoßene Luft tief inhalierte und dann wieder ausspie. Das ging eine ganze Weile so. Als der Lurjahn von ihm abließ, hatte der Teint des Magiers die Farbe einer verfaulten Zitrone. »Du hast ihm seine Zauberkraft genommen, nicht wahr?« Mein kleiner Kampfgefährte blinzelte mich listig an. »Gut aufgepaßt, Mark Hellmann. Ich hätte diesem Auswurf auch den Kopf abschneiden können…« Er sah zu Tessa auf. »Aber immerhin befinden sich Damen im Zimmer.« Tessa grinste. »Danke. Du bist ein wirklicher Gentleman.« »Also dann, lebt wohl!« Der Zwerg hob beide Arme zum Gruß. Da löste sich Pia Severin aus Bertis Umklammerung. »Ich möchte dir noch einmal die Hand drücken, kleiner Freund«, sagte sie. »Du tatest mir so leid, als du so jämmerlich am Boden 90
gelegen hast, dem Tode nah. Und ich konnte nichts für dich tun.« Der Lurjahn nickte bewegt. »Und ob du etwas für mich getan hast«, krächzte er. »Pia Severin, wenn ich gestorben wäre, wäre das Letzte, was ich gesehen habe, die schönste Frau der Welt gewesen. Welcher Sterbende hat schon solch ein Glück?« Pia errötete. »Danke«, hauchte sie. Während sie behutsam die Hand des Zwerges drückte, verschmolz dessen Gestalt im Nichts. Pias Hand hing in der Luft, und Tessa Hayden ergriff sie rasch. »Bist 'n tapferes Girl, Pia«, sagte sie rauh. »Schwamm drüber?« »Schwamm drüber!« echote Pia lächelnd. Wir schwiegen eine Zeitlang. Plötzlich räusperte sich Berti Latotzki, er deutete auf das Chaos ringsherum und fragte: »Wie hast du es bloß angestellt, aus dieser Suite eine solche Würfelbude zu machen, Mark?« »Ein Poltergeist«, lüftete ich mein Geheimnis. »Ich habe einen Poltergeist aktiviert.« »Wie bitte?« »Poltergeister sind an für sich harmlos. Sie fügen niemandem körperlichen Schaden zu. Ich habe mir ihre mächtigen Energien nutzbar gemacht. Sie sind dermaßen stark, daß jede andere magische Kraft überdeckt wird, wenigstens für kurze Zeit.« Berti nickte beeindruckt. Mein Handy fiepte. Pit Langenbach rief an. »Ist Tessa in der Nähe?« keuchte er erregt. »Ja, wieso?« »Sag ihr - wir haben ihn!« »Den Kindermörder?« Der Hauptkommissar schnaufte zufrieden. »Bingo. Der Schuft wird gerade ins Präsidium nach Erfurt überführt. Mark?« »Ja?« »Was hältst du davon, wenn wir alle heute abend einen draufmachen? Am besten im Elephant. Wenn schon, denn schon! Lassen wir mal 'ne rosarote Kuh über Weimar fliegen.« »Hm, ich weiß nicht«, druckste ich, während ich meinen Blick durch die völlig ruinierte Suite schweifen ließ. »Ich glaube, im Elephant ist man derzeit nicht gut auf uns zu sprechen.« »Wieso das?« alberte Pit. »Du tust ja gerade so, als hättest du einen Poltergeist losgelassen…«
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ENDE Odin, der König aller germanischen Götter, saß auf seinem Lieblingsplatz und lachte. Mitten in Asgard, seiner mythischen Heimstätte. Hier lebten auch die anderen Aspen, wie die alten Götter des Nordens genannt wurden. Weit entfernt von der Welt der Menschen. Wenn sich der mächtige Odin amüsierte, wackelte sogar die Weltesche. Jetzt hatte er es sich auf seinem Hochsitz bequem gemacht und blickte in die Vergangenheit und die Zukunft. Pas war für ihn so leicht, als würden wir uns durch die Fernsehprogramme zappen. Odin amüsierte sich über die Dummheit der Menschen und über ihre Leichtgläubigkeit. Es juckte ihn in den Fingern, mal wieder in der Gestalt eines einfachen Mannes unter sie zu treten. Und ihnen ein paar Streiche zu spielen. In seinem Heidenspaß übersah er beinahe die tödliche Gefahr…
Die Rache des gehenkten Riesen so heißt auch C.W. Bachs 43. Hellmann-Roman.
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