18. Mai 2003 um 22.45 Uhr
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18. Mai 2003 um 22.45 Uhr
Europäische Erzähler: Existenzbeweise Die polnische Schriftstellerin Hanna Krall Ein Film von Klaus Hensel
Hanna Krall, die am 20. Mai 66 Jahre alt wird, ist eine der prominentesten Autorinnen aus dem Nachbarland Polen. Ihr Bericht »Dem Herrgott zuvorkommen« über Marek Edelman, den Kommandeur des Aufstandes im Warschauer Ghetto, ist mittlerweile in 14 Sprachen übersetzt und an den polnischen Gymnasien Pflichtlektüre. Die literarischen Reportagen und Erzählungen der Autorin sind in den neunziger Jahren auch auf Deutsch erschienen. Was an ihnen am meisten beeindruckt, ist die lakonische Art, mit der sie die Lebensläufe von Überlebenden des Holocaust vor dem Leser ausbreitet. Hanna Krall war Reporterin, bevor sie Schriftstellerin wurde. Das ist ihren Erzählungen bis heute anzumerken: klare Sätze, nüchterne Erzählweise, spärlicher Kommentar. Fast herausfordernd bezieht sie auch als Schriftstellerin die Position einer distanzierten, scheinbar unbeteiligten Beobachterin. Kommentarlos, nüchtern und exakt lesen sich diese Geschichten zwar wie Reportagen, sind aber in Wirk1
lichkeit kleine literarische Meisterwerke. Recherche und Zeugenbefragung gehören zu ihren literarischen Arbeitsmethoden, ebenso wie das Auswerten von Archivmaterial aus jüdischen Nachlässen. Ihre Arbeit vergleicht Hanna Krall mit der eines Archäologen. In der polnischen Provinz, in Deutschland und Israel, aber auch in Brasilien und Kanada sammelt sie Bruchstücke jüdischer Existenzen wie seltene Bodenfunde. Diese ordnet sie behutsam zu einer möglichst genauen Komposition: Dabei verbietet sie sich, Lücken, die nicht mehr recherchierbar sind, durch literarische Ergänzungen zu schließen. Diese Lücken sind Bestandteil des Textes und somit von gleicher Wertigkeit wie das bewahrte Erinnerungsmaterial, aus dem ihre Geschichten entstehen. Hanna Kralls nüchterne Erzählweise war lange Zeit umstritten, weil sie sich gegen ideologische Vereinnahmung und politisch korrekte Betrachtungsweise oft sperren. Die Geschichte dient nur als Folie – in Wirklichkeit geht es ihr immer um zeitlos Menschliches: um Tod, um Liebe, um Verrat, um Zweifel, um Opferbereitschaft, um Feigheit. Wer weiß, fragt sie, wie wir uns in einer solchen Extremsituation verhalten hätten? Filmautor Klaus Hensel hat Hanna Krall bei ihrer Arbeit in Warschau sowie nach Lodz und Umgebung begleitet. 2
Zitat: »Was ich schreibe, ist wahr. Es sind so viele Geschichten hier, in jedem Hof, hinter jedem Fenster. Ich bekam sie zu hören – in Toronto, in Iowa, in Rio de Janeiro. Sie erinnern an Menschen, an Orte in Polen, an bestimmte Ecken in Warschau. In Polen waren die Orte, in der weiten Welt waren die Menschen mit ihrer Erinnerung. Sie erzählten Geschichten, die jeden was angehen: über Liebe, Hass, über Angst und Verrat, über Mut, über Feigheit. Oft das überlieferte Schicksal von Menschen, die nicht überlebt haben. Diese Geschichten sind der Beweis ihrer Existenz.« Ein Ferienhaus in Rozan, nordöstlich von Warschau. Wir haben die Übersetzerin Roswitha MatwinBuschmann begleitet, die sich mit der Schriftstellerin Hanna Krall verabredet hat. Arbeit steht an, die neuen Erzählungen von Hanna Krall soll ihren letzten Schliff bekommen: Details werden auf Polnisch und Deutsch miteinander verglichen. Klar und genau – so sollen ihre Geschichten klingen. Und es muss eine gewisse Musikalität in der Sprache sein – auch in der deutschen Fassung. Eine Arbeitsprobe: Hanna Krall: »Ich habe vor mir das zweite Kapitel an dem ich sehr hänge und ich möchte hören, wie dieses zweite Kapitel klingt. Erst lese ich vor und dann du, damit wir den Rhythmus vergleichen können.« Dann liest Hanna Krall und fragt: »Wie klingt das bei Dir?« 3
Roswitha Matwin-Buschmann: »Du hast Glück, denn dieser Teil ist gerade fertig. Auf Deutsch klingt das so.« Es folgt die Lesung auf Deutsch. Hanna Krall: »Gut, sehr schön. Ich lese jetzt weiter.« Genauigkeit bedeutet Hanna Krall sehr viel. Vielleicht auch deshalb, weil sie lange Zeit Reporterin war, bevor sie Schriftstellerin wurde. Beim Schreiben ihrer Reportagen hat Hanna Krall gelernt, wie wichtig eine einfache und schlichte Sprache dabei ist. Diese Qualität hat Hanna Krall in ihrer dokumentarischen Prosa zur Meisterschaft ausgebaut. Dank ihrer Übersetzerin Roswitha MatwinBuschmann darf auch der deutsche Leser an dieser außerordentlichen Sprachleistung Hanna Kralls teilhaben.
Roswitha Matwin-Buschmann: »Ich werde Dir gleich sagen, wie das auf deutsch klingt. Ich mag diese Szene sehr. Sie hat etwas ganz Märchenhaftes.« Hanna Krall: »Ist dieser Satz tatsächlich so lang? Meine Sätze können gar nicht so lang sein! Du bist wirklich phantastisch!« Roswitha Matwin-Buschmann: »Ich habe Dir schon so viele Male erklärt, dass jede Übersetzung aus dem Polnischen im Deutschen immer etwas länger ist, – wenn sie von einer guten Übersetzerin stammt …« 4
Hanna Krall: »Dieser Ort hier, Rozan, das ist für mich ein Ort zum Leben. Ich kann wirklich sagen, dass ich mich hier wohl fühle. Wenn ich einen Ort nennen sollte, wo ich mich am besten fühle, dann ist es dieses Haus an der Narew. Das ist nämlich so ein Platz, um den es im Leben eigentlich geht. Das bedeutet, ich kann hier gut arbeiten, gut schlafen. Hier verbringe ich jedes Jahr die Ferien mit meinem Enkel aus Kanada, der diesen Ort auch sehr mag. Hier darf ich sein – das ist für mich die Quintessenz des Lebens. Außerdem haben wir diesen Weinberg, mein Mann und ich, in dem ich selbst sehr schwer, aber auch gern arbeite.«
Viele der Geschichten Hanna Kralls sind an der Narew entstanden. Genauer gesagt, hier hat sie sie aufgeschrieben. Mit der eigentlichen Arbeit daran beginnt sie sehr viel früher und meistens ganz anderswo. In Warschau zum Beispiel, der Stadt in der sie lebt, wo sie 1937 geboren wurde und den Krieg überlebt hat. Ihr Vater, weitere aus ihrer Familie wurden deportiert und umgebracht. Hanna Krall spricht nicht gern darüber. Viel lieber erzählt sie vom Schicksal anderer, das sie recherchiert hat. Fotos, Briefe sind oft der Anlass für ihr Schreiben. Ihre Geschichten spielen oft in Warschau, doch es ist eine andere Stadt als die von heute. Bis zur Ausrufung des Kriegszustands am 13. Dezember 1981, als sie aus der Redaktion der »Polityka« austrat, waren 5
es vor allem kritische Reportagen, für die Hanna Krall in ganz Polen bekannt war. Danach fand sie zu ihrem eigentlichen Thema: Sie spürte Überlebende der Shoah auf, ließ sich von ihnen ihre Geschichte erzählen und schrieb sie auf. Die Welt ist voll von solchen Überlebensgeschichten. Adam Bielecki, Bibliothekar im Archiv des Jüdischen Historischen Instituts, selbst ein Überlebender, hat Hanna Krall auf die Spur so mancher unglaublichen Erzählung bringen können, die man nicht erfinden konnte. Mehr als einmal wurde ihr Reporterinstinkt geweckt, als sie in den Ausgaben der »Gazeta Zydowska« las, der Zeitung, die zwei Jahre lang im Warschauer Ghetto erscheinen konnte.
Hanna Krall: »Hier ist wieder so eine Geschichte: Ein Mädchen, fünfzehn Jahre alt, beschreibt seinen Traum von der Zukunft: 'Ich weiß es: Sicher werde ich etwas ganz Bedeutendes machen. Egal was. Vielleicht entdecke ich den Weg zu den Sternen oder ich zeige den Menschen neue Lebenswege. Ich werde ein Buch schreiben oder eine wunderschöne Melodie komponieren. Schon spüre ich dieses berauschend süße Aroma des Ruhms. Izabella Rakowska, 15 Jahre, Warschau'.« Adam Bielecki: »Wahrscheinlich hatte auch sie das traurige Schicksal der vielen Menschen im Ghetto.« 6
Hanna Krall: »Wir haben nichts von einer Izabella Rakowaska gehört. Wenn sie überlebt hätte, dann hätten wir wahrscheinlich von ihr gehört.« Adam Bielecki: »Ja, ganz bestimmt, ganz bestimmt.«
Geschichten, die sich wirklich zugetragen haben – darum geht es Hanna Krall. Diese Stimmen lässt sie in ihren Büchern zu Wort kommen. Oft sind es nur Bruchstücke, Details, die sich nicht zusammenfügen lassen. Hanna Krall versucht erst gar nicht, die Widersprüche zu verdecken. Sie verknüpft die Erinnerung an Schicksale und Zeiten, ohne etwas hinzuzufügen. Das macht die Wahrhaftigkeit ihrer Erzählungen aus. – Wahrhaftigkeit bis ins Detail – das ist ihr poetisches Credo. Hanna Krall: »Das sind Fotos von Leuten, über die ich geschrieben habe. Manche Geschichten kennen Sie schon aus meinen Büchern, andere werden Sie erst kennen lernen. Diese Geschichte kennen Sie schon, über die Puppe, die Marysia Ejsen gehörte. Sie steht in meinem letzten Buch, ›Da ist kein Fluss mehr‹. Das ist eine Geschichte über eine Puppe aus dem Ghetto, die Marysia als Glücksbringer von ihrem Vater bekommen hat. Sie wurde im Warschauer Ghetto gemacht. Als die Gedenkstätte Jad Vashen davon erfuhr, bat man Marysia Ejsen die Puppe dem Museum zu schenken. Marysia gab die Puppe her. Sechs Wochen später starb sie. Das war ihr Schutzengel gewesen: Diese Puppe hatte ihr das 7
Leben gerettet. Sie hat den ganzen Krieg hindurch, die ganze Zeit im Ghetto, die ganze Zeit, in der sie sich verstecken musste, diese Puppe bei sich gehabt. Und als sie sich von ihr trennte, kam Marysia zu dem Schluss, dass sich nun keiner mehr um sie kümmert. Dass sie keinen Beschützer mehr hat. Die Puppe war schon sehr mitgenommen: ohne Beine, ohne einen Arm, – aber sie war ihre treue Beschützerin. Marysia kam sich vor, als hätte sie ihre Puppe verraten. Die Puppe der Marysia Ejsen aus dem Warschauer Ghetto – das ist ihre Geschichte. Das ist Frau Maria Ostrowska-Ruszczyñska. Das ist eine der Geschichten, die häufig in meinen Büchern vorkommen. Die Geschichte einer Frau, die mit ihrer Tochter auf das Polizei-Kommissariat gebracht wurde. Ein Schmalzowiak, ein Pole, der versteckte Juden aufspürte, hatte die Frau verraten. Die Polizisten wollten herausfinden, ob sie eine Christin sei und ließen sie ein Gebet sprechen, den ›Engel des Herrn‹. Die Mutter konnte nicht beten, das Mädchen jedoch kannte das Gebet. Die Polizisten sagten, sie sollten selber entscheiden, wer von ihnen Polin sei und wer Jüdin. Die Jüdin müsse dann bleiben und wird zur Gestapo gebracht. Mutter und Tochter beschlossen, dass sie beide bleiben. Am nächsten Morgen kam Frau Ostrowska, genau diese hier, und sagte: Was, meine Schwester soll Jüdin sein? Sie brachte Papiere mit, machte viel Lärm; vielleicht glaubten ihr die Polizisten, dass es tatsächlich ihre Schwester ist. Oder es lag am Gebet. Vielleicht ist das Gebet erhört worden, jedenfalls sind beide gerettet worden. Auf jeden Fall ist ihnen Frau Maria Ostrowska so etwas wie ein 8
›Engel des Herrn‹ gewesen, ein Schutzengel.« Geschichten über Leute, die wider alle Wahrscheinlichkeit überlebt haben. Über Menschen, die in den Tod geschickt wurden – und über die Leere, mit der ihr Tod die Erinnerung der Überlebenden angefüllt hat. Solchen Schicksalen in unserem Gedächtnis wieder Platz zu schaffen – darum geht es Hanna Krall. Doch es gelingt ihr mehr: Sie ist nicht nur die polnische Erzählerin der Shoah, als die man sie hierzulande lange Zeit wahrgenommen hat. Durch ihren minimalistischen Stil, die Reduktion auf das Wesentliche, haben ihre Geschichten den Charakter von Gleichnissen. Es geht ihr nicht in erster Linie um das spezifisch Jüdische an den oft tragischen Geschichten, sondern um das Allgemein-Menschliche. Gut und Böse sind oft nicht so eindeutig von einander zu trennen, wie man es gern hätte. Und um eine politisch-korrekte Betrachtung kümmert sie sich nicht: Unbestechlich schreibt sie auf, was ist. Und was sie schreibt, steht oft quer zu aller ideologischen Vereinfachung. Und das ist das Bestechende: sie glättet nicht. Sie weiß, dass logische Geschichten, die keine Lücken haben, in denen alles verständlich ist, unecht sind. Andererseits ereignen sich Dinge, die man nicht richtig erklären kann. Und Geschichten solcher Art findet man in den Büchern von Hanna Krall. Und noch etwas fällt auf: Hanna Krall erzählt nie über sich selbst, über ihr eigenes Überleben. Sicher 9
gibt es da und dort autobiographische Elemente. Etwa bei den beiden Mädchen Marta und Maria, deren Leben im Roman ›Die Untermieterin‹ erzählt wird. Versteckt in einer Wohnung hat Marta, die Jüdin, den Krieg überlebt. Doch auch in Marias Geschichte hat Hanna Krall Autobiographisches projiziert. Auch in ihrer Erzählungen kommt dergleichen vor. Doch verfällt sie nie in subjektive Geschwätzigkeit. Im Gegenteil.
Hanna Krall: »Mein Schreiben hat sich verändert. Wenn Sie meine letzten Bücher lesen, ›Tanz auf fremder Hochzeit‹, ›Existenzbeweise‹ und ›Da ist kein Fluss mehr‹, werden sie merken, dass die Texte immer mehr reduziert sind. Ich habe früher einmal meine Arbeit mit der eines Archäologen verglichen. Am Anfang habe ich große Fundstücke gehabt, in denen ich nur wenige Teile ergänzen musste, um ein großes Gefäß zu erhalten. Später fand ich immer kleinere Bruchstücke von Geschichten, in denen nur noch wenig konkrete Information enthalten war. Inzwischen bin ich ein Archäologe geworden, wenn ich bei diesem Bild bleiben darf, der aus winzigen Bruchstücken, aus wenigen Fragmenten, auf die ganze Geschichte schließen muss. Der Informationsgehalt der Geschichten ist immer geringer geworden. Häufig habe ich den Eindruck, dass meine Geschichten keinen Anfang und kein Ende haben. Was sagt es uns, wenn wir in Erfahrung bringen, wo oder wann jemand getötet wurde? Nicht viel. Außerdem muss ich sagen, empfinde ich einen im10
mer größeren Ekel oder Widerwillen oder Abneigung gegen Wörter. Es gibt in der Welt so viel Wortmüll, so viel Lärm und Geschrei. Das Wesentliche muss sparsam ausgedrückt werden. Deshalb wurden meine Texte mit der Zeit immer kürzer – auf die allernotwendigsten Worte reduziert.«
Hanna Krall bewertet nicht: sie sammelt Fakten, Namen, Begebenheiten. Da ist zum Beispiel die Geschichte des Hauswarts Marian Ronga, der eine jüdische Familie versteckt hatte. Irgendwo in einem Hinterhof während der deutschen Besetzung. Im Frühjahr 1943, während des Aufstands im Warschauer Ghetto, flüchteten zwei Juden in diesen Hof. Eine Frau half ihnen, gab ihnen Wasser und zeigte ihnen einen Platz, wo sie sich verstecken konnten. Doch der Hauswart hatte bemerkt, dass eine Volksdeutsche diese Aktion beobachtet und sich schon auf den Weg zur Gestapo gemacht hatte. Er rannte los und und kam ihr mit der Anzeige zuvor. Hätte er das nicht getan, wäre das ganze Haus von Deutschen durchsucht worden, wären alle dort versteckten Juden aufgeflogen. Die beiden wurden abgeholt, die andern überlebten. Eine Untergrundorganisation verurteilte den Hauswart zum Tode, er wurde aber nur verwundet und musste sich nun ebenfalls verstecken. Eben vor jener Organisation des Untergrunds. Er versteckte sich im Keller – bei jener Familie, die sich bei ihm versteckt hatte.
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Ein wesentlicher Teil von Hanna Kralls schriftstellerischer Arbeit besteht im Protokollieren von Lebensgeschichten. Wir waren dabei, als sie den Schauspieler Mariusz Bonaszewski befragte, der in einem Stück nach ihrer Erzählung »Hamlet« spielt. Bonaszewskis eigene Biographie das Interesse der Schriftstellerin geweckt: Jetzt will sie eine Geschichte über ihn schreiben, über sein Verhältnis zu Deutschen, zu Juden.
Mariusz Bonaszewski: »Sie wollen mich also fragen, wie das mit den Juden ist.« Hanna Krall: »Ich würde nie so fragen, wie ist das mit den Juden, niemals. Ich würde Sie eher etwas über Andrzej fragen, nicht über Juden.« Mariusz Bonaszewski: »Nun, gut. Ich habe Ihnen schon erzählt, dass ich ein halber Deutscher bin, dass meine Großmutter nur deutsch spricht. Ich habe Ihnen auch erzählt, dass das Haus, in das ich nach Warschau kam, ein bedeutendes Haus, dass das ein jüdisches Haus war. Ich kam aus Slupsk, einer Stadt, die früher mal deutsch war, aus der Provinz nach Warschau an die Schauspielschule. Plötzlich befinde ich mich in der Jagiellonenstraße in einem Haus, wo ich erfahre, dass in Polen Juden leben. Ich hatte keine Ahnung, dass sie noch da sind. Dass sie leben. Da habe ich eine Jüdin getroffen, das erste mal in meinem Leben. Ich machte mit ihr und einer Gruppe von Leuten eine Reise zu jüdi12
schen Friedhöfen im Osten Polens. Ich war vorher nie dort gewesen. Ich wusste nichts über jüdische Traditionen. Plötzlich sehe ich mich mit dem Schicksal der Juden konfrontiert. Wissen sie, wenn man in Slupsk in den 70er Jahren aufwächst, weiß man nicht einmal, wer in Treblinka umgekommen ist.« Hanna Krall: »Sie wussten wirklich nichts?« Mariusz Bonaszewski: »Nein, das kann ich erklären: In den polnischen Büchern der 70er Jahre konnte man von einigen Millionen Polen lesen, die in KZs umgekommen sind. Das Wort Juden kam nicht vor. Die Juden wurden höchstens zusammen mit Zigeunern als eine der Nationen erwähnt, die neben Millionen von Polen umgebracht worden sind. Also stellen Sie sich vor, ich erfahre irgendwann, dass das ganz anders war. Und nicht genug damit, ich komme in Warschau an und jemand nimmt mich mit ins Ghetto und hält mir dort eine Geschichtsvorlesung, über das, was wirklich passiert ist. Das muss beeindrucken. Und da trifft es mich wie aus heiterem Himmel, dass mein Opa Walter Schiech heißt. Dass er ein Deutscher ist. Dass er teilgenommen hat am Zweiten Weltkrieg, dass er in der Wehrmacht war, und mit dieser Wehrmacht zurückgekehrt ist. Und mir wird klar: Auch ich bin irgendwie in all das involviert.« Hanna Krall: »Also, Ihr Opa hieß Walter Schiech, war ein Soldat der Wehrmacht. Und dann hatten Sie die Theaterschule beendet und wollten nach 13
Deutschland ausreisen, um Deutscher zu werden. Warum sind sie geblieben?« Mariusz Bonaszewski: »All das hat mich sehr beunruhigt. Ich war in Deutschland, stand vor Goethes Denkmal und war zutiefst beunruhigt von all den Fragen, die in mir aufkamen. Wie hätte ich gehandelt , wenn ich 1942 ein Deutscher gewesen wäre. Was, wenn ich in einem KZ hätte arbeiten müssen. Hätte ich mich damit beruhigt, dass ich ja nur Befehle auszuführen hatte?« Hanna Krall: »Nicht nur Sie stellen sich solche Fragen. Auch ich habe solche Fragen, die ich mir stelle. Eigentlich immer, wenn mir Leute ihre Geschichte erzählen, frage ich mich, was ich an ihrer Stelle getan hätte. Wenn ich z.B. in Kock gelebt hätte, als Polas Nachbarin, die auf der Flucht vor den Deutschen war und für sich und ihre Kinder ein Versteck suchte. Hätte ich Pola in mein Haus genommen? Wohl wissend, dass die Deutschen sie bei mir finden könnten? Natürlich wäre es schön zu sagen, dass ich das getan hätte. Aber so ist das eben nicht. Ich weiß doch gar nicht, was ich getan hätte. Man sollte für den Fall des Falles nicht zu gut von sich denken. Vielleicht ist es besser, wenn man die Antwort nicht kennt.«
Zitat: »Die Geschichte der Juden von Kock unweit von Lublin. Im November '42 wurden sie auf Pferdewagen verladen. 20 auf einen Wagen, und dann 14
noch die Bündel, die Kissen, der Zwieback. Die Wagen fuhren vom Morgengrauen bis in die Nacht. Am nächsten Tag wurden die Juden aus Kock in den Güterzug verladen. Und nach Treblinka deportiert. Und Pola Machczinska, die selbst drei Kinder hatte, versteckte mehrere jüdische Familien in ihrem Keller.«
Hanna Krall: »Pola wohnte in der Nähe von Kock, sie versteckte 25 Juden. Alle sind umgekommen. Die Juden sind umgekommen und Pola ist umgekommen. Ermordet von deutschen Polizisten, den Polizisten des Reserve-Bataillons 101 aus Hamburg. Über dieses Bataillon haben sowohl Christopher Browning als auch Goldhagen geschrieben. Alles ganz normale Leute, zu alt für die Front. Ganz normale Leute.«
Zitat: »Vor dem Krieg hatten sie in den Docks, in Werkstätten, Läden, in der Landwirtschaft gearbeitet. Sie glaubten an Gott. 1942 waren sie nach Polen gekommen, in die Gegend von Lublin … Früh am Morgen trafen sie in dem Städtchen ein. Sie stellten sich im Halbkreis auf, und der Kommandeur teilte ihnen mit, dass sie Juden erschießen sollten … Er fragte, ob sie sich der Aufgabe gewachsen fühlten. Einer der Polizisten fühlte sich der Aufgabe nicht gewachsen und trat vor. Ihm folgten noch elf andere.« 15
Ein Polizist verständigte Pola, dass die Deutschen von dem Versteck wüssten. Sie hob die Falltür an, schrie hinunter: Die Deutschen kommen. Pola, das einjährige Töchterchen auf dem Arm, und die kleinen Jungen klopften an jede Tür. Die Einwohner von Kock beobachteten sie hinter vorgezogenen Gardinen. Pola ging langsamer, an einem Schuh hatte sich der Schnürsenkel gelöst und schleifte durch den Schnee. Sie kehrte um nach Hause, die Deutschen waren noch nicht da. Sie spannte an und fuhr nach Plebanki.
Zitat: »Pola nahm den kürzeren Weg. Sie kamen nur mit Mühe durch. Im Haus mit den roten Dachziegeln, sagte Pola: Sie sind hinter uns her. Und Henryk Machczynski, der Vater, brachte sie fort. Sie hielten auf der Lichtung, vor der Hütte. Pola zog den Schafspelz aus. Das Kleid spannte über ihrem Bauch, Pola war schwanger. Sie zog das Kleid aus und legte sich ins Bett. Die Deutschen kamen in die Hütte, Pola stand aus dem Bett auf und zog den Schafspelz über. Die Deutschen befahlen ihr, in der Stube zu bleiben, und es begann ein Verhör. Sie betraten die Stube der Reihe nach: Henryk Machczynski, Polas Vater, Ksawera, die Kinderfrau, und Wojtek, der ältere, siebenjährige Sohn. Der Offizier fragte: Wer hat die Juden versteckt? Der Vater schwieg.« Hanna Krall: »Das also ist Polas Sohn. Und das ist Polas Enkelin. Sie sieht ihr sehr ähnlich. Ein sehr 16
schönes Mädchen. Und hier ist die Hütte. Das ist die Hütte, in der ein Polizeioffizier namens Brandt Pola verhörte. Sie sagte, dass sie die einzige war, die davon wusste. Niemand sonst wusste davon, dass sie Juden versteckt hat. Nur sie ist erschossen worden. Ihr Vater und ihre Kinder wurden verschont.« Zitat: »Als sie die Juden getötet hatten und nur noch Pola blieb, die zu töten war, wandte sich dieser Leutnant Brandt an den Polizisten, der mit Pola befreundet war – vielleicht hatte er sie geliebt: Schieß, befahl er. Ich kann nicht. Und kannst du jetzt? fragte der Offizier und drückte ihm die Pistole an die Schläfe. Beim dritten Mal – so erzählen es die Leute – hat er es geschafft.«
Hanna Krall: »Das ist mein liebster deutscher Held: Axel von dem Bussche. Das ist ein Buch über Axel. Axel von dem Bussche ist ein deutscher Baron, der zusehen musste, wie Juden umgebracht wurden, bei der Exekution von Juden in Dubno, einer kleinen Stadt. Danach beschloss er für sich, Hitler umzubringen. Er nahm Kontakt zu Staufenberg auf, schloss sich Staufenbergs Gruppe an. Er konnte allerdings seinen Entschluss, nicht in die Tat umsetzen. Man kennt diese Geschichte, mit der Bombe in der Tasche, die Hitler umbringen sollte. Ich habe darüber eine Geschichte geschrieben, sie heißt ›Phantomschmerz‹.«
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Hanna Krall: »Diese Geschichte ist eine der rätselhaftesten in meinem Leben. Auf einem Empfang in Breslau hörte ich von einem Artikel, den die Gräfin Dönhoff für die ›Zeit‹ geschrieben hatte. Darin war von deutschen Offizieren die Rede, die an der Front vor Leningrad auf ein Bild von Hitler geschossen hatten. Einer hatte zuerst geschossen und darauf sagte von Weizsäcker, der spätere Bundespräsident, angeblich: ›Nachdenken werden wir hinterher. Jetzt tun wir alle das gleiche.‹ Und alle schossen. Diese Geschichte ist höchst interessant, dachte ich, ich habe noch nie über deutsche Offiziere geschrieben, weder von der ersten, noch von der zweiten Frontlinie. Es reizte mich mehr darüber zu erfahren. Ich schrieb an Bundespräsident von Weizsäcker, der mich nicht kannte, – denn ich persönlich kenne nur wenige Präsidenten –, und bat ihn, wenn die Geschichte wahr sei, mir die Adresse eines Offiziers zu schicken, der daran beteiligt war. Nach zwei Wochen kam die Antwort: Ja, das stimmt, hier ist die Adresse, Axel Freiherr von dem Bussche usw. und so bekam ich die Adresse. Ich traf also Axel von dem Bussche. Und aus dessen Erzählungen entstand vor meinem Auge das Bild eines eleganten, jungen, gut aussehenden Offiziers der Wehrmacht, der in Dubno auf seinem Pferd sitzt. Und sieht eine fast endlose Kolonne von nackten jüdischen Männern und Frauen und Kindern an sich vorüberziehen, die alle zu einem Massengrab gebracht werden. Er mit Namen – und die Menschen, die an ihm vorbeigehen, ohne Namen und ohne Gesicht: Eine anonyme Masse, die zur Er18
schießung geführt wird. In dem Augenblick, als ich mir das vergegenwärtigte, sagte ich mir: Das kann ich nicht schreiben. Ich will nicht, dass diese jüdischen Menschen namen- und gesichtslos bleiben, während dieser Offizier ein Gesicht und einen Namen hat. Ich ging zu meiner Verlegerin, Dorothea Rein, und sagte ihr, ich könne diese Geschichte unmöglich schreiben. Und dann geschah etwas noch Seltsameres. Nachdem ich ihr das alles erzählt hatte, brachte sie mir aus der Stadtbibliothek in Frankurt ein Buch mit. Dieses Buch hatte den Titel ›Dubno‹. Von diesem Buch existieren nur 800 Exemplare, wovon sich eines in der Stadtbibliothek in Frankfurt am Main befand. Das war ein Buch der Erinnerung und dort gab es Namen, Photos und Listen über das, was geschehen war. Auf einmal hatten diese Menschen Gesichter, sie hatten Namen und erst dann, konnte ich diese Geschichte schreiben. Sie werden zugeben: Das ist eine sehr merkwürdige Geschichte. Von dem Empfang, von den Offizieren, dieser Liste in Frankfurt. Merkwürdig, nicht?«
Um Schicksal von Juden, Deutschen und Polen geht es Hanna Krall. Doch nicht um die große Geschichte, sondern um Einzelschicksale, bei denen Recht und Unrecht, Schuld und Moral, Gut und Böse unmittelbar nebeneinander liegen. Einfache Lösungen halt das Leben meist nicht bereit. Vieles spielt ineinander und aus den überraschenden Querverbindungen entsteht so etwas wie ein Mikrokosmos, 19
etwa eines Hauses oder einer Straße, der immer auch eine Projektion der großen Welt ist.
Hanna Krall: »Das ist die Umgebung, in der viele meiner Geschichten stattfinden. Dort in der Nähe war Marek Edelman, dort fanden die Kämpfe statt, dort ist jetzt die chinesische Botschaft. Das ist die Walowa Straße. Hier wohnte meine Heldin Dorka. Hier waren Geschäfte, das Leben brodelte auf der Walowa-Straße. Dort weiter befand einer der schönsten Hinterhöfe in Warschau, da, wo Dorka wohnte. Und alle diese Häuser sind von Geistern der früheren Bewohner bevölkert. Dort wohnen wirklich Geister. In meinem letzten Buch habe ich darüber geschrieben. Dass sie in einer dieser Wohnungen wohnen. Ich kann nicht sagen, in welcher. Die Bewohner und Häuser von früher gibt es nicht mehr. Nur ihre Geister. Die Bäume, denk ich, sind die gleichen geblieben. Bestimmt auch die Wurzeln dieser Bäume und darüber, der Himmel – sicherlich auch.«
Zitat: »Die Walowa-Straße hatte dreizehn Nummern, in jeder gab es Geschäfte mit Pelzen. In der Nalewki-Straße handelten sie mit Galanteriewaren, in der Franciszkanska mit Leder, in der Gesia-Straße mit Weißwaren, in der Walowa-Straße waren es Pelze. Die meisten Pelzgeschäfte gehörten unserer Familie. Dem Großvater, seinen drei Söhnen, den fünf Töchtern mit den Schwiegersöhnen und den erwachsenen Enkeln. 20
Die Frauen aus dem Vorderhaus hatten platinblondes Haar, Gouvernanten für die Kinder und geschorene Pudel. Extremly reiche Leute wohnten im Vorderhaus. Die Frauen aus den Souterrains waren arm und nahmen Wäsche zum Waschen an. Die Frauen aus den Seitenflügeln halfen ihren Männern bei den Geschäften. Am Samstag gingen die Frauen aus unserem Haus, feingemacht, in den Krasinski-Garten. Der Garten lag dem Hof gegenüber. Auf dem Wasser schwammen Schwäne, am Wasser standen Stühle. Für die Stühle zahlte man, aber die Bänke in den Alleen waren gratis. Die Frauen aus dem Vorderhaus und die aus den Seitenflügeln zogen die Stühle vor. Mit Handschuhen aus Seide oder aus hauchdünnem Leder, mit Hüten und Schleier, saßen sie unter Bäumen, am Wasser und lasen Bücher. Wie wunderschön das war. Die weißen Handschuhe, die Schwäne mit ihren weißen Hälsen, die Frauen, die die Augen gesenkt hielten über einem Roman oder einem Bändchen poetry. Von Mamas und Papas ganzer Familie, aus allen Pelzgeschäften in der Walowa-Straße, haben nur wir beide überlebt, ich und Hadasa. Ich überlebte durch Hoessler, einen SS-Mann in Auschwitz. Er wählte ein paar Mädchen von vierzehn, fünfzehn Jahren und schickte ihnen Milch. Tag für Tag eine Flasche Milch mit Zucker. Ich war ein hübsches, reinliches Mädchen. Er mochte die Hübschen und Reinlichen. Er kam, betrachtete uns, und wenn eine einen Pickel hatte oder, Gott bewahre, ein Geschwür, schickte er sie ins Gas. Über mei21
ne Haut hielt der Herrgott seine schützende Hand bis zum Schluss. Die Leute glauben, der Teufel sei boshaft und mager. Das ist nicht wahr. Der Teufel hat eine sanfte Stimme und zärtliche Worte. ›Mein liebes Kind‹, sagt der Teufel und lächelt freundlich. Eines Tages sagte Hoessler: ›Ich habe eine gute Nachricht, meine Lieben. Heute müsst ihr nicht zur Arbeit …‹ Die Mädchen freuten sich und blieben in der Baracke. Ich ging und verstreute Knochen aus dem Krematorium auf dem Feld. Als ich zurückkam, waren die Mädchen weg. Ich sah sie nie mehr wieder.«
Hanna Krall: »Mein Schreiben wird oft mit der Ausrottung der jüdischen Welt in Verbindung gebracht. Das ärgert mich in gewisser Weise, weil ich finde, dass die Ausrottung der Juden keine innerjüdische Angelegenheit ist. Oft wird so getan, als ob diese Geschichte irgendwann irgendjemandem vor langer Zeit zugestoßen wäre. Irrtum, das betrifft alle – auch heute. Das sind keine Dinge, die uns nicht angehen, nur weil sie lange Zeit zurückliegen. Darum erzähle ich davon. Das ist eine Angelegenheit, die die ganze Menschheit betrifft. Nicht nur die Juden.«
Das schließt nicht aus, dass die Vernichtung der Juden im schriftstellerischen Werk von Hanna Krall zum zentralen Thema geworden ist. Das liegt vor allem daran, dass sie – strenggenommen – auch 22
wenn sie über die Gegenwart schreibt, fast immer auch über Vergangenes reportiert – auf ihre besondere Weise: Denn die Menschen, über die sie schreibt, und deren Geschichten sie weitererzählt, sind gleichsam auch Mitautoren ihrer Bücher. Zum ersten mal wandte sie dieses stilistische Prinzip in ihrer großen literarischen Reportage über den Herzchirurgen Marek Edelman an, der 1943 einer der Kommandanten des Aufstandes im Warschauer Ghetto war. Mit diesem Buch wurde Hanna Krall über die Grenzen Polens hinaus bekannt aber auch kritisiert, weil sie darin den jüdischen Widerstand nicht idealisierte, sondern ein realistisches Bild zeichnete – so wie sie es in den Gesprächen mit Edelman erfahren hatte.
Hanna Krall: »Vor allem faszinierte mich an Marek Edelman, die Art, wie er erzählte. Er erzählte fast beiläufig, auf eine Weise, dass einem die große Geschichte, also der Aufstand im Warschauer Ghetto, in vielen menschlichen Einzelheiten näherrückte. Er erzählte von den Leuten, die mit ihm zusammen gelitten haben und von den Namen, die man aus Geschichtsbüchern kennt, als von seinen Freunden. Konkrete Einzelheiten. Von einem Stasiek, der Angst hat und ihn fragt: Weißt du nicht eine Adresse auf der arischen Seite. Es muss doch irgendwo etwas geben, wo ich mich verstecken kann. Oder von einem Mädchen mit wunderbarem Pfirsichteint, und das, als es sich umbrachte, erst sechs der wertvollen, weil seltenen, Patronen vergeudete, bevor es sich 23
dann mit der siebten tötete. Das waren Menschen, die ich plötzlich vor mir sehen konnte. Es war als hätten sie mir ihre Geschichte selbst erzählt. Auf diese Weise wurde die große Geschichte plötzlich fassbar.«
Marek Edelman und Hanna Krall verbindet seitdem eine anhaltende Freundschaft und ein stets eingehaltenes Ritual: Am 19. April eines jeden Jahres gedenken sie gemeinsam der Opfer des Warschauer Ghettoaufstandes von 1943 vor dem Denkmal, das daran erinnert. Hanna Krall zu Besuch in der Filmstadt Lodz bei Jan Jakub Kolski. Der Regisseur hat gerade seinen Film ›Far from the Window‹ nach einer Erzählung Hanna Kralls fertiggestellt und die Autorin ist natürlich gespannt auf die Verfilmung. Vorlage war ihre Geschichte ›Die aus Hamburg‹, in der es auch um polnisch-jüdisch-deutsche Schicksale geht. Die Geschichte spielt in den fünfziger Jahren als eine polnische Familie von Ereignissen aus dem Krieg eingeholt wird. Damals hatten Jan und Barbara eine junge Jüdin in ihrer Wohnung versteckt. Es entwikkelte sich eine dramatische Dreiecksgeschichte von der Hanna Krall nur die Fakten nennt: Regina, die Jüdin wurde schwanger. Um sie nicht aufzufliegen zu lassen, täuschte Barbara vor den Nachbarn eine Schwangerschaft vor, und das Mädchen, das geboren wurde, galt fortan als ihre Tochter. Hanna Krall wollte von Jan Jakub Kolski wissen, wie die jungen Schauspieler auf diese Geschichte reagiert haben. 24
Jan Jakub Kolski: »Die Illusion der Realität ging bei unseren Dreharbeiten sehr weit. Die Schauspieler z.B. hielten sich von den Fenstern fern, um von außen nicht gesehen zu werden. Wie damals im Krieg.« Hanna Krall: »Sie spielten also in dem Bewusstsein, dass diese Menschen wirklich existierten. Die hat es ja gegeben.« Jan Jakub Kolski: »Und so haben die Schauspieler auch gespielt, als ob sie das alles auch wirklich erleben würden. Der ganze technische Apparat hat dabei mitgespielt. Die Beleuchter, alle. Sie waren wie in eine andere Zeit versetzt.« Hanna Krall: »Wirklich? Aber die kannten das ja gar nicht, die haben das gar nicht erlebt, das sind alles junge Menschen.« Jan Jakub Kolski: »Das war ja das Erstaunliche: Diese jungen Leute beschäftigen sonst sich mit modischen Dingen, mit Werbung, mit Internet, mit der virtuellen Realität. Und plötzlich befinden sie sich in einer kleinen Stadt, die zur Filmkulisse umdekoriert wurde. Und die Kulisse wird auf einmal zur Realität. Die Straße, in der wir drehten, wurde zur Straße von damals, während der Okkupation. Die Menschen, die jetzt in diesen Häusern leben, erinnerten sich plötzlich an die Namen der Juden, die früher dort gewohnt hatten und verboten uns, jüdische Schilder aufzuhängen. Die Bewohner reagierten mit 25
einer Art antisemitischem Reflex. Wir wurden sogar bedroht. Das war alles sehr real. Die Wirklichkeit der damaligen Zeit war plötzlich wieder da.« Hanna Krall: »Vielleicht hatten sie Angst, wenn das mit den jüdischen Schildern anfängt, dass danach die Besitzer wiederkommen. das ist sehr unerfreulich, wie lange diese alten Geschichten doch nachwirken.«
Vergangenes, das nachwirkt. Darum geht es auch in dieser Geschichte, als Jahre später ein Paket mit Orangen aus Hamburg eintrifft. Plötzlich bricht eine Lebenslüge zusammen, mit der sich die Familie arrangiert hatte. Nach dem Krieg war Regina, die jüdische Geliebte, fortgegangen. Nach Hamburg, wie es sich herausstellte. Hela, das Mädchen, möchte wissen, wer die Absenderin dieses wunderbaren Pakets ist. Zunächst lässt man sie in dem Glauben, es sei von einer Tante. Später wird sie die Wahrheit erfahren: Dass ihre Mutter in Wirklichkeit nicht ihre Mutter ist; dass der Vater damals verzweifelt versucht hatte, Regina, ihre leibliche Mutter, zu finden; dass diese lieber auf ihr Kind verzichtete, als die Familie der Frau zu zerstören, der sie ihr Überleben zu verdanken hatte. Hanna Krall trägt die Bruchstücke dieser unglaublichen Geschichte Teil für Teil zusammen. Am Ende steht das Mädchen, inzwischen eine junge Frau, mit einer zerstörten Identität allein da. Wie so andere 26
viele Kinder der Kriegsgeneration, die überlebt haben, um den Preis einer Lebenslüge.
Hanna Krall: »Es ist seltsam mit den Geschichten, die mich aufsuchen. Jedesmal rührt mich daran etwas anderes an. Ich hörte die Geschichten von Menschen an den verschiedensten Orten der Welt. In Jerusalem, in Toronto, in Rio de Janeiro. Wovon sie erzählen, gibt es nur noch in ihrem Gedächtnis. Hier gibt, bei uns, gibt es die Orte, die schweigen. Und in manchen meiner Geschichten verbindet sich das – die Orte, die Menschen, die Erinnerung.
Dies sind ihre wahren Geschichten. Von Menschen die an unserem Jahrhundert zugrunde gegangen sind. Ihre Geschichten sind übriggeblieben – als Beweis ihrer Existenz. Hanna Krall legt sie uns vor. © hr 2003
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