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DER AUTOR R. L Stine wurde 1943 in einem kleinen Vorort von Columbus/Ohio geboren. Bereits mit neun Jahren entdeckte er seine Liebe zum Schreiben. Seit 1965 lebt er in New York City, wo er zunächst als Lektor tätig wurde. Seine ersten Bücher waren im Bereich Humor angesiedelt. Seit 1986 hat er sich jedoch ganz den Gruselgeschichten verschrieben. DIE SERIE Der Autor selbst sagt: »Das Lesen eines Gruselbuchs ist wie eine Fahrt mit der Achterbahn: Kinder haben gerne Angst, wenn sie wissen, was sie erwartet; sie wissen, dass sie unterwegs fürchterlich schreien werden, aber sie wissen auch, dass sie am Ende der Fahrt wieder sicher am Boden ankommen werden.« Seit 1992 der erste Band von GÄNSEHAUT (GOOSEBUMPS) in Amerika erschienen ist, hat sich die Serie binnen kürzester Zeit zu dem Renner entwickelt. Durch GÄNSEHAUT sind - das belegen zahlreiche Briefe an den Autor - viele Kinder, die sich bis dato nicht sonderlich für Bücher interessiert haben, zu Lesern geworden.
R. L Stine
Hühnerzauber Aus dem Amerikanischen von Günter W. Kienitz
Der Taschenbuchverlag für Kinder und Jugendliche von Bertelsmann
Band 20539 Siehe Anzeigenteil am Ende des Buches für eine Aufstellung der bei OMNIBUS erschienenen Titel der Serie.
Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Deutsche Erstausgabe Januar 1999 Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Goosebumps # 53: Chicken Chicken« bei Scholastic, Inc., New York © 1997 by The Parachute Press, Inc. All rights reserved. Published by arrangement with Scholastic, Inc., 555 Broadway, New York, NY 10012, USA. 1 »Goosebumps«™ and »Gänsehaut« " and its logos are registered trademarks of The Parachute Press, Inc. © 1999 für die deutsche Übersetzung C. Bertelsmann Jugendbuch Verlag, München in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH Alle deutschsprachigen Rechte, insbesondere auch am Serientitel »Gänsehaut«, vorbehalten durch C. Bertelsmann Jugendbuch Verlag Übersetzung: Günter W. Kienitz Lektorat: Janka Panskus Umschlagkonzeption: Klaus Renner bm Herstellung: Stefan Hansen Satz: Uhl +Massopust, Aalen Druck: Presse-Druck Augsburg ISBN 3-570-20539-8 Printed in Germany
10 987654321
Ich kann Hühner nicht ausstehen. Es sind schmutzige Tiere und sie miefen wie... wie ... Hühner. »Harriet, du bist mit Hühnerfüttern dran«, sagte meine Mom. Das ist so ziemlich das Letzte, was ich hören mag. Ich schleppe den Futtereimer in den Hof hinterm Haus und da kommen sie auch schon angesaust, gackern und glucken und schlagen mit ihren schmierigen Flügeln. Ich hasse es, wenn sie beim Körnerpicken meine Beine streifen. Ihre Federn sind so hart und kratzig. Harold, mein Bruder, und ich versuchen ständig unsere Eltern dazu zu bringen, die Hühner endlich abzuschaffen. »Nur weil wir auf einer Farm leben, heißt das doch noch lange nicht, dass wir uns unbedingt Hühner halten müssen«, sage ich immer. »Stimmt! Wir sind keine Farmer!«, pflichtet Harold mir dann bei. »Wieso müssen wir also diese stinkenden Hühner haben?« »Weil das schon immer unser Traum war«, antwortet Mom jedes Mal darauf. Bla, bla, bla. Harold und ich-kennen diese Traumgeschichte in-und auswendig. Wir haben bestimmt schon tausendmal zu hören bekommen, wie Mom und Dad in der Bronx in New York City aufgewachsen sind. Wie sehr sie den Lärm und den Dreck und den Beton verabscheuten. Wie sie davon träumten, die Großstadt für immer zu verlassen und auf einer Farm in der Nähe eines kleinen Ortes zu leben. Tja, und als Harold zwei und ich vier war, zogen wir
nach Goshen Falls. Was für ein Glück für uns! Der ganze Ort erstreckt sich über nur drei Straßenblocks. Wir haben eine nette kleine Farm mit einem netten kleinen Farmhaus. Und obwohl Mom und Dad Computerprogrammierer - und nicht etwa Farmer - sind, haben wir den Hof hinterm Haus voller Hühner. Gacker. Gacker. Das also ist ihr Traum. Mein Traum ist, dass Harold für seine große Klappe, die er ständig weit aufreißt, bestraft wird. Und als Strafe stelle ich mir vor, dass er den Rest seines Lebens die Hühner füttern muss. Jeder Mensch braucht schließlich einen Traum, stimmt's? »AUU!« Ein Huhn hatte mich in den Knöchel gepickt. Das tat weh! Ihre Schnäbel sind schrecklich spitz. Ich streute eine letzte Hand voll Körner auf die Erde und machte dann einen Satz rückwärts, weg von diesen schauderhaften, gackernden Ungeheuern. Ihre kleinen schwarzen Augen glitzerten im Sonnenschein, während sie im Gras hin und her stolzierten, sich gegenseitig pickten, einander wegstießen. Die dürren Köpfe ruckten auf der Suche nach Futter auf und ab. Hinten in der kleinen Scheune, die wir als Garage benutzen, warf ich den Eimer hin. Dann wusch ich mir die Hände unter dem Hahn an der Scheunenwand mit kaltem Wasser. Plötzlich ertönte ein lautes Dröhnen und ein Schatten strich über die Scheune. Als ich aufschaute, sah ich ein kleines Flugzeug unter den Schäfchenwolken am Nachmittagshimmel hindurchtauchen. Ich atmete tief ein. Der strenge Geruch von Kartoffeln hing in der Luft. Das ist es, was die Farmer hier in der Gegend
hauptsächlich anbauen: Kartoffeln und Mais. Ich trocknete mir die Hände an den Hosenbeinen ab und eilte los, um meinen Bruder zu suchen. Es war ein sonniger Samstagnachmittag. Die meisten meiner Schulfreunde waren auf einem Clubausflug. Mom hatte mich gebeten, ein Auge auf Harold zu haben. Er ist zehn, zwei Jahre jünger als ich. Aber manchmal benimmt er sich wie ein Vierjähriger. Irgendwie findet er immer neue Möglichkeiten, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Ich streifte durch den Ort, fand aber keine Spur von ihm. Ich fragte Mrs. Wagner in der Bäckerei, ob sie ihn gesehen hätte. Harold schaut gerne bei ihr vorbei und fragt, ob sie ihm einen Donut schenkt. Mrs. Wagner sagte, sie habe beobachtet, wie Harold und sein Freund den Ort verlassen und in Richtung Pullmans Weiher gegangen waren. Oje, dachte ich. Was haben die beiden denn am Weiher vor? Ich ging zur Tür. »Ich bin einfach hingerissen von deinem Haar, Harriet«, rief Mrs. Wagner. »Es hat so einen wunderschönen, satten roten Farbton. Du solltest Model werden. Wirklich. Du bist so groß und schlank.« »Danke, Mrs. Wagner!«, rief ich zurück, als sich die Tür hinter mir schloss. Im Augenblick verschwendete ich keinen Gedanken an mein Haar oder daran, ob ich ein Model werden wollte. Ich hatte nur Harold und Anthony und den Weiher im Kopf. Ich trabte durch den Ort und winkte Mr. Porter zu, der am Fenster seines Ladens stand. Schließlich bog ich von der Straße ab und folgte dem Feldweg, der zum Pullman-Weiher führte. Weit musste ich nicht gehen, um Harold und Anthony zu finden. Sie versteckten sich hinter der langen Hecke, die
Vanessas Grundstück umgibt. Ich schaute über die Hecke hinweg auf das baufällige alte Farmhaus, in dem Vanessa lebt. Wer Vanessa ist? Ich glaube, man kann getrost sagen, dass sie die interessanteste Person von ganz Goshen Falls ist. Und die unheimlichste obendrein. Vanessa wirkt, als wäre sie einem Horrorfilm entsprungen. Mit ihrem langen, glatten schwarzen Haar und ihrem bleichen, weißen Gesicht ist sie irgendwie hübsch. Sie kleidet sich immer ganz in schwarz, sie trägt sogar schwarzen Lippenstift und schwarzen Nagellack. Vanessa ist sehr geheimnisvoll. Niemand weiß, ob sie jung oder alt ist. Sie lebt sehr zurückgezogen. Ich habe sie nur selten in der Stadt gesehen. Sie wohnt mit ihrer schwarzen Katze in ihrem alten Farmhaus, am Ortsrand. Natürlich sagt jeder, sie wäre eine Art Hexe. Ich habe alle möglichen Geschichten über Vanessa gehört. Schreckliche Schauergeschichten. Die meisten Kinder in Goshen Falls haben Angst vor ihr. Doch das hält sie natürlich nicht davon ab, Vanessa Streiche zu spielen. Immer wieder fordern sich die Kinder als Mutprobe gegenseitig dazu heraus, sich zu Vanessas Haus zu schleichen. Das ist so eine Art Spiel, das alle mitmachen. Sie klopfen an ihr Fenster und bringen ihre Katze zum Kreischen. Und dann rennen sie schnell davon, bevor sie von Vanessa gesehen werden. »He - Harold!«-, rief ich gedämpft und lief mit eingezogenem Kopf an der Hecke entlang. Falls Vanessa zu Hause war, wollte ich nicht von ihr gesehen werden. »He, Harold, was macht ihr hier?« Im Näherkommen sah ich, dass Harold und Anthony nicht alleine waren. Zwei weitere Kinder hockten neben ihnen
hinter der Hecke: Fanny Jowett und Jeremy Garth. Harold legte den Finger an die Lippen. »Pssttt! Vanessa ist im Haus.« »Was treibt ihr hier?«, wollte ich wissen. Ich sah, dass Fanny und Jeremy Wasserflaschen in den Händen hielten. »Habt ihr da Limonade drin?« Feierlich schüttelten sie den Kopf. »Ein paar Kinder haben sie dazu herausgefordert, Wasser in Vanessas Briefkasten zu schütten«, erklärte mir Harold. »Wie bitte?«, sagte ich entsetzt. Ich starrte Fanny und Jeremy mit großen Augen an. »Ihr werdet das doch nicht wirklich tun, oder?« »Sie müssen«, antwortete Harold für sie. »Eine Mutprobe ist eine Mutprobe.« »Aber das ist echt fies!«, protestierte ich. Mein Bruder kicherte. »Der Briefkasten steht direkt neben der Haustür. Unmöglich, dass sie nicht dabei erwischt werden.« Fanny und Jeremy sind blond und hellhäutig. Jetzt sahen sie noch blasser als gewöhnlich aus. Jeremy gab ein leises, ersticktes Geräusch von sich. Fanny umklammerte ihre Flasche fester und spähte über die Hecke zu dem schwarzen metallenen Briefkasten, der windschief auf einer Stange hockte. »Ihr habt die Mutprobe angenommen. Wollt ihr euch jetzt etwa drücken?«, fragte Harold. Fanny und Jeremy schauten sich nervös an und antworteten nicht. »Tut es nicht«, mischte sich Anthony plötzlich ein. Wir wandten uns alle zu Anthony um. Er ist klein und pummelig, hat ein rundes Gesicht und sehr kurz geschnittenes
schwarzes Haar. Er trägt eine Brille mit rotem Gestell, die ihm ständig über die kleine Mopsnase herunterrutscht. »Tut es nicht«, wiederholte Anthony. »Wieso ni-nicht?«, stotterte Fanny. »Habt ihr denn nicht gehört, was passiert ist, als Vanessa Tommy Pottridge erwischt hat?«, fragte Anthony im Flüsterton. »Wisst ihr nicht, was sie mit ihm gemacht hat?« »Nein!«, riefen Fanny und Jeremy wie aus einem Mund. Ich fühlte, wie mir eine Gänsehaut über den Rücken lief. »Was hat Vanessa denn mit Tommy gemacht?«, wollte ich wissen. .
Ich spähte über die hohe Hecke. Bewegte sich da etwas am vorderen Fenster von Vanessas Haus? Nein. Es war nur ein Reflex des Sonnenlichts auf der Fensterscheibe. Wir drängten uns dichter um Anthony. Obwohl es ein warmer Frühlingstag war, fröstelte es mich plötzlich. »Was hat Vanessa mit Tommy gemacht?«, wiederholte ich flüsternd. »Sie hat ihn dabei erwischt, wie er sich zu ihrem Haus schlich«, berichtete Anthony. »Sie hat ihn irgendwie verhext. Sie hat bewirkt, dass sein Kopf wie ein Ballon anschwoll.« »Ach, nun komm aber!«, rief ich und verdrehte die Augen. »Nein, wirklich!«, beharrte Anthony. »Sein Kopf wurde riesengroß und ganz weich und matschig. Wie ein Schwamm.« Harold lachte. Anthony hielt ihm den Mund zu. »Das ist wahr!«, sagte
er mit Nachdruck. »Vanessa hat ihm einen aufgeblähten, schwammigen Kopf verpasst. Das ist der Grund, wieso man Tommy nicht mehr zu sehen bekommt! « »Aber die Familie Pottridge ist doch weggezogen!«, rief Fanny. »Sie sind genau deshalb weggezogen«, antwortete Anthony. »Wegen Tommys Kopf.« Für einen Augenblick erstarrten wir alle und dachten über Anthonys Geschichte nach. Ich versuchte mir Tommy mit einem riesigen, schwammigen Kopf vorzustellen. Harold brach als Erster das Schweigen. »Gib sie mir!«, rief er und riss Jeremy die Wasserflasche aus den Händen. »Ich werde das Wasser in ihren Briefkasten kippen. Ich habe keine Angst.« »Kommt nicht in die Tüte!«, widersprach Jeremy und holte sich entschlossen die Flasche von meinem Bruder zurück. Dann wandte er sich an Fanny. »Wir tun's doch, stimmt's? Wir haben uns auf die Mutprobe eingelassen, also müssen wir's tun, richtig?« Fanny schluckte schwer. »Ja, ich schätze schon«, antwortete sie mit belegter Stimme. »Na klasse!«, meinte Harold fröhlich und schlug den beiden auf den Rücken. Beinahe hätte Fanny die Flasche fallen lassen. »Ihr könnt es schaffen! Eine Menge Kinder spielen Vanessa Streiche und bekommen keinen schwammigen Kopf deswegen.« »Ich finde es trotzdem fies, jemandem Wasser in den Briefkasten zu gießen«, wandte ich ein. »Und außerdem ist es das Risiko nicht wert.« Aber niemand wollte auf meine Warnung hören. Fanny und Jeremy huschten auf Zehenspitzen zum Ende der Hecke und schlichen von dort durch den verwilderten, unkrautüberwucherten Vorgarten. Sie hielten
die Wasserflaschen mit beiden Händen vor sich und schauten starr auf den Briefkasten neben Vanessas Haustür. Harold, Anthony und ich schlichen ebenfalls hinter der Hecke hervor, um ihnen zuzuschauen. Ich starrte mit angehaltenem Atem auf das Fenster an der Hausfront, ob dort Vanessa auftauchte. Doch in der Glasscheibe spiegelte sich das gelbe Sonnenlicht, sodass ich nichts erkennen konnte. Fanny und Jeremy schienen sich in Zeitlupentempo zu bewegen. Sie brauchten ewig, um den Rasen zu überqueren und zum Briefkasten zu kommen! Eine Million winziger heller Mücken schwirrten über dem hohen Gras, wirbelten und tanzten umher. Sie funkelten im Sonnenlicht wie Diamanten. Fanny und Jeremy gingen geradewegs durch die Wolke von Mücken hindurch, ohne den Briefkasten auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Die beiden Jungen und ich gingen ein Stück näher heran, begierig darauf, alles genau zu sehen. Im Haus war noch immer niemand zu entdecken. Wir wagten uns noch ein Stück näher heran. Schließlich öffnete Jeremy die Klappe des Briefkastens. Er und Fanny hoben ihre Wasserflaschen und kippten sie aus. Leise plätschernd traf das Wasser auf dem Bodenblech des Briefkastens auf. Fanny leerte ihre Flasche aus. Jeremy war mit seiner bereits fast fertig. Da wurde die Haustür aufgerissen - und Vanessa kam herausgestürmt. Sie trug ein wehendes schwarzes Kleid. Ihr schwarzes Haar flatterte hinter ihr drein und ihre schwarz bemalten Lippen waren zu einem wütenden Schrei geöffnet. Irgendwo drinnen im Haus maunzte schrill die Katze. Fanny ließ vor Schreck die Flasche fallen und bückte
sich, um sie aufzuheben. Doch dann überlegte sie es sich anders und rannte los. Jeremy sprang bereits an der anderen Seite des Hauses ins Gebüsch. Fanny folgte ihm dicht auf den Fersen. Harold, Anthony und ich hatten uns nicht von der Stelle gerührt. Wie angewurzelt standen wir im Gras und beobachteten Vanessa. Ich keuchte auf, als sich Vanessas wutentbrannter Blick auf uns richtete. Ich wandte mich zu Harold und Anthony. »Wieso starrt sie uns so bitterböse an?«, sagte ich halb erstickt. »Denkt sie etwa, wir hätten es getan?«
Mein ganzer Körper versteifte sich. Als würden Vanessas Augen so etwas wie einen Laserstrahl aussenden. Ich zwang mich dazu, mich abzuwenden, und floh. Harold und Anthony waren neben mir. Mit dröhnenden Schritten sausten wir den Feldweg entlang und wirbelten beim Laufen Staubwolken auf. Die Felder rechts und links schienen zu kippen und zu schwanken, verschwammen vor meinen Augen zu unscharfem Grün und Braun. Wir rannten durch den Ort, ohne ein einziges Mal anzuhalten, ohne ein Wort zu sprechen und ohne uns auch nur gegenseitig anzusehen!. Mrs. Wagner trat aus der Bäckerei und setzte an, Hallo zu uns zu sagen. Ich erhaschte einen Seitenblick auf ihre bestürzte Miene, als wir drei an ihr vorbeisausten, ohne langsamer zu werden. Wir liefen und liefen, bis wir bei mir zu Hause
ankamen. Wir stießen das Tor so heftig auf, dass der ganze Zaun wackelte, und stürmten hindurch. Ich drückte die Haustür mit der Schulter auf und wir torkelten alle drei ins Wohnzimmer. Schnaufend ließ ich mich auf dem Teppich auf die Knie fallen. Harold und Anthony warfen sich erschöpft auf die Couch. Wir schnappten nach Luft. Ich strich mir das Haar aus der schweißbedeckten Stirn. Die Uhr auf dem Kaminsims schlug drei Uhr. Plötzlich lachten Harold und Anthony schallend los. Ich funkelte sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Was ist so komisch?«, fragte ich atemlos. Das ließ sie nur noch ausgelassener lachen. »Was ist so komisch, Jungs?«, wiederholte ich, stand auf und stemmte die Hände in die Hüften, während ich auf eine Antwort wartete. »Wieso lacht ihr so?« »Keine Ahnung!«, antwortete Harold schließlich. »Ich weiß es auch nicht!«, echote Anthony. Und dann brachen die beiden aufs Neue in schallendes Gelächter aus. »Ihr seid verrückt«, murmelte ich kopfschüttelnd. »Das war überhaupt nicht komisch. Das war zum Fürchten!« Harold setzte sich auf. Seine Miene wurde ernst. »Habt ihr gesehen, wie Vanessa uns angestarrt hat?« »Fanny und Jeremy hat sie gar nicht entdeckt«, sagte Anthony. »Sie hat nur uns gesehen.« Er nahm die Brille ab und putzte sie mit dem Ärmel seines T-Shirts. Das kurz geschnittene schwarze Haar auf seinem Kopf glänzte schweißnass. Mich überrieselte ein Schauer. »Was ist, wenn Vanessa beschließt, uns etwas Schreckliches anzutun?«, wollte ich wissen.
Harold richtete sich kerzengerade auf und fuhr sich mit der Hand durch das gewellte blonde Haar. Harold ist größer und noch dünner als ich. Manchmal gleicht er einem Grashüpfer. »Harriet, wie meinst du das?«, fragte er leise. »Ich meine, falls Vanessa denkt, dass wir diejenigen sind, die ihr Wasser in den Briefkasten geschüttet haben, dann kann es doch sein, dass sie es uns heimzahlen wird. Du weißt schon. Vielleicht lässt sie unsere Köpfe anschwellen oder so.« »Aber wir haben doch gar nichts getan!«, rief Anthony empört. »Wir müssen ihr sagen, dass Fanny und Jeremy es gewesen sind.« »Petze«, meckerte Harold und grinste seinen Freund an. »Vielleicht gibt sie uns ja gar keine Chance, es ihr zu erklären«, sagte ich. »Vielleicht tut sie uns einfach etwas Grauenhaftes an.« Ich ging in die Küche. »Will jemand von euch etwas zu trinken, Jungs?«, rief ich. Ich erhielt keine Antwort. Ich öffnete den Kühlschrank und holte eine Flasche Eistee heraus. Eine Sekunde später öffnete ich den Mund und schrie laut vor Schmerz.
»Harriet, was ist passiert?« Harold kam in die Küche gerannt. Mir wurde heiß und kalt vor Schmerz. »Ohhhh!« »Was ist passiert?«, rief er. Ich wedelte mit der Hand, um den pochenden Schmerz
abzuschütteln. »Die Kühlschranktür«, sagte ich erstickt. »Ich ich hab sie mir auf die Hand geknallt. « Ich schüttelte meine Hand weiter. Dann testete ich jeden einzelnen Finger. Ich konnte sie bewegen. Nichts gebrochen. Ich richtete den Blick auf Harold. »Wieso grinst du?«, herrschte ich ihn an. »Du hast dir die Hand nicht eingeklemmt«, antwortete er. »Das war Vanessa!« »Harold, das ist nicht komisch!«, kreischte ich. Ich legte ihm die Finger um den dürren Hals und tat so, als wollte ich ihn erwürgen. Aber mir tat die Hand noch immer weh. Deshalb musste ich ihn loslassen. »Vanessa hat dich verhext«, nahm Anthony Harolds Faden auf. »Jetzt wird deine Hand wahrscheinlich anschwellen, bis sie so groß wie eine Honigmelone ist.« »Und sie wird so weich und schwammig werden wie Tommys Kopf«, setzte Harold hämisch hinzu. »So weich und schwammig wie dein Gehirn!« »Das ist nicht komisch. Überhaupt nicht komisch!«, wiederholte ich verbissen. Ich gebe es zu. Mir war ein bisschen mulmig zu Mute. Mit solchen Dingen alberte ich nicht gern herum. Meine Hand schmerzte und brannte. Ich öffnete den Gefrierschrank und steckte die Hand hinein. »Was ist, wenn Vanessa wirklich über Zauberkräfte verfügt?«, fragte ich die beiden. »Was ist, wenn sie schuld daran ist, dass ich mir die Finger eingeklemmt habe?« Harold und Anthony fuchtelten mit den Händen in der Luft herum, als wollten sie mich verhexen. »Jetzt bist du ein Schwammkopf«, rief Harold und senkte die Stimme, bemüht, wie ein echter Hexenmeister zu klingen. »Du wirst das Geschirr vom Abendessen mit deinem Kopf spülen!«
In dem Moment kamen Mom und Dad herein. »Was um alles in der Welt...?«, rief Mom. »Harriet, wieso hast du die Hand im Gefrierschrank?« »Oh. Ahm...« Ich holte die Hand heraus und schloss die Tür. »Ich kühle sie nur«, sagte ich. Mom fixierte mich mit zusammengekniffenen Augen. »Du kühlst dir die Hand?« »Wenn du's genau wissen willst, ich habe mir eine Tür draufgeknallt«, erklärte ich. »Vanessa hat ihr die Tür draufgeknallt«, verbesserte mich Harold. »Vanessa?«, fragte Dad, der auf dem Weg zum Spülbecken war. »Du meinst diese schrullige Frau, die vor dem Ort wohnt?« »Habt ihr die arme Frau schon wieder geärgert?«, wollte Mom wissen. »Habt ihr Kinder denn nichts Besseres zu tun, als da draußen herumzuschleichen und ihr Streiche zu spielen?« »Wir haben nichts getan«, sagte Harold. »Ehrenwort.« »Das ist die Wahrheit«, meldete sich Anthony zu Wort. »Und wieso habt ihr Vanessa dann erwähnt?«, fragte Mom Harold. Ich hielt es für besser, das Thema zu wechseln. »Wo wart ihr beiden denn?«, fragte ich meine Eltern. »Draußen hinterm Haus. Wir haben überlegt, wo der Zaun für den Gemüsegarten hinkommt«, antwortete Dad. Er wusch sich die Hände im Küchenspülbecken, etwas, wofür Mom ihn immer schimpft. »Wenn wir keine Hühner hätten, brauchten wir keinen Zaun«, brummelte ich. »Ich finde, ihr solltet sie abschaffen...« »Dabei fällt mir etwas ein«, unterbrach mich Mom. »Harold, einige Hühner sind bis ganz nach hinten gelaufen. Würdest du bitte rausgehen und sie zusammentreiben?«
»Hühner hüten!«, rief ich schadenfroh. »Gratuliere! Dein Lieblingsjob!« »Aber das ist nicht gerecht! Ich habe die Hühner schon das letzte Mal zusammentreiben müssen!«, jammerte Harold. »Jetzt ist Harriet an der Reihe!« »Ich habe sie heute früh gefüttert«, erklärte ich. »Und das, obwohl ich gar nicht dran war. Außerdem ist es für dich viel leichter, sie zusammenzutreiben. Weil du wie ein großer Gockel aussiehst!« Alle lachten, außer Harold. Er schüttelte knurrend den Kopf. Dann packte er Anthony und zog ihn nach draußen, damit er ihm beim Hühnertreiben half. Einige Sekunden später konnte ich von hinten lautes Gackern hören. Und das Geschrei und Geschimpfe der Jungs. Hast du je versucht Hühner zusammenzutreiben? Das ist nicht einfach. Die Hand, die ich mir in der Kühlschranktür eingeklemmt hatte, tat mir den ganzen Tag weh. Und jedes Mal, wenn sie schmerzte, musste ich an Vanessa denken. Und dann sah ich wieder ihre kalten Augen vor mir, mit denen sie die Jungs und mich angestarrt hatte. Sie wird uns nichts tun, redete ich mir ein. Sie kann uns nichts tun. Die Schauergeschichten über Vanessa können unmöglich wahr sein. Das sagte ich mir wieder und wieder. Trotzdem hatte ich an diesem Abend Probleme damit einzuschlafen. Ständig sah ich einen Schatten, der sich über die Zimmerwand bewegte. Den Schatten einer Katze. Ich stieg aus dem Bett und ließ die Jalousie herunter. Nun war das Zimmer in völlige Dunkelheit gehüllt. Es gab keine Schatten mehr an den Wänden. Doch einschlafen konnte ich noch immer nicht.
Ich starrte mit weit offenen Augen in die Finsternis. »Harriet, schlaf ein«, befahl ich mir. »Du machst dir wegen nichts und wieder nichts ins Hemd.« Ein Knarren ließ mich zusammenfahren. Als ich mich erschreckt umsah, entdeckte ich einen grauen Lichtstreifen an der Zimmertür. Wieder knarrte es - und der Lichtstreifen wurde breiter. Ich schluckte und beobachtete, wie die Tür sich langsam öffnete. Während ich schweigend hinsah, wurde mir klar, dass sich jemand in mein Zimmer schlich. Und dieser Jemand trug einen schwarzen Schleier und ein langes schwarzes Kleid. Vanessa!
Ich öffnete den Mund, um zu schreien. Doch ich brachte nur ein schwaches Ächzen heraus. Ich war drauf und dran, aus dem Bett zu springen. Aber wo hätte ich hinlaufen können? Die Gestalt glitt mit ausgestreckten Armen auf mich zu, als wollte sie mich packen. Ihr Gesicht war unter dem schwarzen Schleier verborgen. Wie war sie ins Haus gekommen? Was hatte sie mit mir vor? Diese Furcht erregenden Fragen gingen mir durch den Sinn. Die schwarze Gestalt beugte sich über das Bett und griff langsam nach meinem Hals. »Nein!«, würgte ich hervor. Blitzschnell drückte ich ihre
Hände weg, packte den Schleier und riss ihn herunter. Harold. Im dämmrigen Licht, das durch die offene Tür vom Gang hereinfiel, konnte ich sein Grinsen sehen. »Harold, du Vollidiot!«, schrie ich. Ich warf den Schleier fort und stürzte mich auf Harold, um ihn zu Boden zu ringen. Doch ich verfehlte ihn - und purzelte aus dem Bett. »Harold, du miese Ratte! Du hast mich zu Tode erschreckt!« Ich glaube nicht, dass er mich überhaupt hörte, so laut lachte er. Ich rappelte mich auf und er duckte sich weg von mir und wich, noch immer kichernd, zur Tür zurück. »Du dachtest, es wäre wirklich Vanessa!«, rief er. »Dachte ich nicht!«, log ich. »Du hast mich nur erschreckt, das ist alles.« »Dachtest du doch!« Er ließ nicht locker. »Du dachtest, es wäre Vanessa. Du hast wirklich gedacht, sie wäre gekommen, um sich an dir zu rächen!« »Dachte ich nicht! Dachte ich nicht!«, schrie ich wütend. Er machte eine Handbewegung, als wollte er mich mit einem Zauberbann belegen. »Abrakadabra! Du bist ein Schwammkopf!« Wieder brach er in Lachen aus. Er fand sich anscheinend sehr komisch. »Das zahl ich dir heim!«, versprach ich ihm. »Wirklich. Das zahle ich dir heim!« Der lange schwarze Rock schleifte hinter ihm über den Boden, als er kopfschüttelnd das Zimmer verließ. Mit einem wütenden Knurren hob ich den Schleier auf und warf ihn ihm hinterher. Zornig drosch ich auf mein Kopfkissen ein. Wieso hatte
ich mich von ihm so zum Narren halten lassen? Nun würde er jedem in der Schule erzählen, dass ich gedacht hatte, Vanessa hätte sich in mein Zimmer geschlichen. Mein Herz hämmerte noch immer, als ich schließlich wieder ins Bett stieg. Ich war so wütend, dass es Stunden dauerte, bis ich einschlafen konnte. Und als ich endlich in Schlaf fiel, träumte ich von einer Katze. Von einer hässlichen schwarzen Katze mit leuchtend gelben Augen und einer blutroten Zunge. Die Katze stand in einem völlig weißen Raum und machte einen Buckel. Und dann wurde der Raum auf einmal zu meinem Zimmer. Im Traum kam die Katze auf mein Bett zu. Sie riss das Maul weit auf und die leuchtend rote Zunge zuckte über die gelben Zähne. Und dann begann die Katze zu kreischen. Es war ein durchdringender Laut, der in den Ohren schmerzte - wie von Fingernägeln, die über eine Schiefertafel kratzen. Sie kreischte und kreischte. Sie öffnete das Maul noch weiter. Die gelben Augen glühten. Ich konnte das Geräusch nicht ertragen. Im Traum hielt ich mir die Ohren zu. Doch der schrille Schrei schwoll noch lauter an. Die Katze schwebte näher und riss das Maul weit auf, als ob sie mich verschlingen wollte. In dem Moment wachte ich auf und war verblüfft über die plötzliche Stille. Der Traum war so real gewesen. Ich erwartete, die fauchende Katze auf der Bettdecke stehen zu sehen. Helles Sonnenlicht fiel in Streifen durch die Lamellen der Jalousie auf den Boden. Ich sah den verknautschten schwarzen Schleier neben der Tür liegen. Aber keine Katze.
Ich rekelte mich und stieg aus dem Bett. Gähnend zog ich mich für die Schule an. Mom stellte einen Teller Cornflakes und ein Glas Orangensaft für mich auf den Tisch, als ich in die Küche trat. »Gut geschlafen?«, fragte sie. »Ganz und gar nicht«, brummte ich. Ich ließ mich auf meinen Platz am Frühstückstisch fallen. »Zuerst konnte ich nicht einschlafen. Und dann hatte ich einen nervenden Alptraum.« »Tss-tss«, machte Mom. Sie ging zum Spülbecken und füllte Wasser in die Kaffeemaschine. Ich überlegte, ob ich ihr von Harolds blödem Streich erzählen sollte. Doch ich ließ es lieber bleiben. Mom hätte uns nur wieder ausgefragt, was wir am Tag zuvor bei Vanessas Haus zu suchen hatten. »Was machst du nach der Schule, Harriet?«, fragte sie, während sie die Kaffeemaschine einschaltete. »Vielleicht solltest du gleich nach Hause kommen und den fehlenden Schlaf nachholen.« »Unmöglich«, antwortete ich und schluckte einen Mund voll Cornflakes hinunter. »Ich habe Basketballtraining. Die Trainerin hat mir versprochen, mir heute eine Extraspielzeit einzuräumen. Ich habe ihr gesagt, ich hätte es satt, das sechste Mädchen zu sein. Ich möchte gern gleich am Anfang eines Spiels eingesetzt werden. Aber ich habe nie genug Zeit, um zu zeigen, wie gut ich bin.« Mom wandte sich zu mir um und blies eine Strähne ihres braunen Haars aus der Stirn. »Vielleicht ist das der Grund dafür, dass du gestern Abend nicht einschlafen konntest«, sagte sie. »Vielleicht bist du aufgeregt wegen des Basketballtrainings.« Ich zuckte die Achseln. Ich hatte keine Lust, ihr den wahren Grund zu verraten.
Ich hörte Harold die Treppe heruntertrampeln. »Wann wirst du das Geburtstagsgeschenk für LucyAnn besorgen?«, fragte mich Mom. »Du weißt doch noch, dass ihre Geburtstagsparty am Samstag stattfindet?« Lucy-Ann ist eine meiner besten Freundinnen. Schon seit Wochen redet sie ständig von ihrem Geburtstag - ihrem dreizehnten! Sie ist total aus dem Häuschen, dass sie nun ein Teenager wird. »Vielleicht gehe ich morgen nach der Schule etwas für sie kaufen«, antwortete ich. »Was willst du denn für sie holen?« Ich öffnete den Mund, um zu antworten, doch da stürmte Harold in den Raum. Ein Blick auf sein Gesicht - und Mom und ich schnappten beide nach Luft. »Harold!«, rief Mom. »Mein Ge-gesicht...«, stotterte er. Seine Wangen und die Stirn waren mit großen Flecken übersät. Mit hässlichen roten Pusteln. »Es ... tut weh ...«, stöhnte er. Er sah mich an. »Vanessa«, murmelte er. »Das war Vanessa.«
Mit einem Mal sank Harold auf die Knie und schlug die Hände vors Gesicht. Ich sprang vom Stuhl auf. »Harold ...?« »Ich rufe den Arzt an!«, rief Mom. »Oder soll ich besser den Notruf wählen?« Sie beugte sich über Harold. »Tut es sehr weh? Hast du starke Schmerzen?« Langsam ließ Harold die Hände sinken und ich sah das
breite Grinsen auf seinem Gesicht. Und ich sah, dass er die roten Flecken auf den Wangen mit den Händen verschmiert hatte. »Harold!«, schrie ich zornig. Mom stand vor Überraschung der Mund offen. Sie hatte die Hand schon am Telefon, um den Arzt anzurufen. »Roter Filzstift«, sagte Harold grinsend und dann lachte er schallend los. »Aaaaarrggh!« Ich stieß einen wütenden Schrei aus und warf meinen Löffel nach ihm. Er prallte an Harolds Brust ab und schlitterte klappernd über den Linoleumboden. »Das ist nicht witzig«, brüllte ich. Mom schüttelte den Kopf. »Harold, du hast mir wirklich einen Schrecken eingejagt.« Sie seufzte. Harold stand auf und deutete auf mich. »Harriet, du hast wirklich geglaubt, dass Vanessa mir das angetan hat«, warf er mir vor. »Deine Streiche sind doch nur noch blöd!«, schrie ich. »Ich werde dir nie wieder etwas glauben. Selbst wenn du unter einen Lastwagen kommst, glaube ich dir das nicht!« Ich fuhr herum und stürmte aufgebracht aus der Küche hinaus. Hinter mir konnte ich hören, wie Mom zu Harold sagte: »Du musst wirklich aufhören deiner Schwester dauernd Angst einzujagen.« »Wieso?«, fragte Harold. Ich schnappte mir meinen Schulranzen, rauschte aus dem Haus und knallte die Tür hinter mir zu. Ich verbannte Vanessa aus meinen Gedanken. Den ganzen Tag dachte ich kein einziges Mal an sie. Sie fiel mir erst wieder ein, als ich sie das nächste Mal sah. Und von da an passierten Dinge, die wirklich zum
Fürchten waren.
»Ist das Lucy-Anns Torte?«, fragte Harold. »Na ja, es steht ALLES GUTE ZUM GEBURTSTAG, LUCY-ANN darauf«, antwortete ich. »Also, was schätzt du, für wen sie ist, du Genie?« Harold, Anthony und ich drückten uns die Nasen am Schaufenster der Bäckerei platt. In der Auslage standen mehrere Geburtstagstorten mit weißem Zuckerguss. Die von Lucy-Ann stand in der Mitte der Auslage und wartete darauf, für die Party am Samstag abgeholt zu werden. Ich sah Mrs. Wagner, die hinter der Theke im Laden stand und uns zuwinkte. Ich winkte zurück. Dann guckte ich auf die Uhr. »He - ich bin spät dran«, erklärte ich den Jungs. »Ich muss das Geschenk für Lucy-Ann besorgen und danach muss ich nach Hause und Mathe büffeln.« Eilig lief ich zu dem kleinen Supermarkt an der Ecke, gleich neben dem Lebensmittelgeschäft. Ich wollte Lucy-Ann eine neue CD kaufen. Am Ende des Blocks lag Mr. Horace' alter Hund mitten auf der Hauptstraße, kratzte sich mit der Hinterpfote lässig das räudige Ohr und sah so aus, als gehörte ihm der ganze Ort. Hinter mir hörte ich Harold und Anthony kichern. Ich drehte mich um und machte mit beiden Händen eine scheuchende Bewegung. »Macht die Sause, Jungs. Ihr braucht mir nicht an den Fersen zu kleben.« Wie gewöhnlich beachteten sie mich nicht. Harold zog mit spitzbübisch blitzenden Augen ein Ei
aus der Tasche. »Fang!«, rief er und warf Anthony das Ei zu. Anthony legte die Hände zusammen und fing das Ei auf. Ohne zu zögern, ließ er es zu meinem Bruder zurückfliegen. »Oh, bitte«, sagte ich beschwörend. »Nicht dieses doofe Spiel!« Harold musste sich strecken - erwischte das Ei aber mit einer Hand. Das ist eines ihrer Spielchen, die mich wahnsinnig machen. Sie werfen beim Gehen ein Ei hin und her und bei jedem Wurf stehen sie ein Stückchen weiter voneinander entfernt. Der Witz bei der Sache ist, zu sehen, wie weit sie das Ei schleudern können, ohne es zu zerbrechen. Normalerweise nicht allzu weit. Die Geschichte endet jedes Mal damit, dass einer der beiden mit Ei voll gematscht ist. Einmal habe ich den Fehler gemacht, zwischen die beiden zu springen und zu versuchen, das Ei abzufangen. Nur leider habe ich es mit der Stirn abgefangen. »Bitte, Jungs«, bat ich die beiden. »Geht und veranstaltet euer Eierwerfen woanders - okay?« Harold ging rückwärts zur Straßenmitte. Einige Schritte entfernt gähnte Mr. Horace' alter Hund und rollte sich auf den Rücken. Ich sah zwei Männer in Overalls, die riesige Leinensäcke mit Futter aus dem Futtermittelgeschäft auf der anderen Straßenseite schleppten. »Hopp!«, rief Harold und warf das Ei hoch in die Luft. Anthony hob eine Hand, um die Augen vor der Sonne abzuschirmen und wich immer weiter zurück - fast bis zum Lebensmittelgeschäft. Und dann knallte ihm das Ei mitten auf den Kopf. Es gab ein grässliches knackendes Geräusch. Wirklich
widerlich. »Hä?« Verdattert stieß Anthony einen Schrei aus, als ihm die gelbe Pampe über die Stirn und zu beiden Seiten übers Haar herabzulaufen begann. »Tut mir Leid. Es ist mir ausgekommen!«, rief Harold. Aber es gelang ihm nicht, keine Miene zu verziehen. Er lachte schallend los. Anthony knurrte wütend und stürmte auf Harold los. Harold wich ihm aus und rannte auf den Bürgersteig. »Hört auf! Hört auf damit!«, schrie ich. Brüllend wie ein wild gewordener Löwe stürzte sich Anthony auf meinen Bruder und drückte ihn gegen das Schaufenster des Lebensmittelladens. »Das hast du mit Absicht gemacht!«, fauchte er. »Bestimmt nicht! Es war ein Unfall!«, erwiderte Harold lachend. Anthony senkte den eiverschmierten Kopf und rammte ihn Harold in die Brust. »Uuuff!« Mein Bruder stöhnte laut auf. Anthony zog den Kopf zurück und schickte sich an, noch einmal zuzustoßen. Harold schaute auf sein T-Shirt hinunter. Es war mit klebrigem Dotter besudelt. »Hört auf damit! Hört auf!«, schrie ich und drängte mich zwischen die beiden. Ich packte Anthony an den Schultern und versuchte ihn von Harold wegzuzerren. Vanessa, die aus dem Lebensmittelgeschäft trat, sah ich nicht. Keiner von uns sah sie. »Lass los!«, verlangte ich von Anthony und zerrte ihn mit einem kräftigen Ruck von meinem Bruder fort. Und da stießen wir alle heftig mit Vanessa zusammen. Zuerst bemerkte ich nur ihr schwarzes Kleid. Als
Nächstes sah ich ihr bleiches Gesicht und ihre dunklen Augen, die sie verdattert weit aufriss. Ihr Mund öffnete sich und sie riss die Hände in die Höhe. Und zwei Taschen voller Lebensmittel landeten auf dem Bürgersteig. Ich hörte, wie eine der Taschen aufriss. Lauter Dosen und Flaschen rollten klappernd und klirrend auf die Straße. Beim Geräusch von zersplitterndem Glas drehte ich mich zur Straße um. Mein Blick fiel auf eine Pfütze aus dunkelrotem Ketchup, das aus einer zerbrochenen Glasflasche sickerte. Eine Schachtel Eier lag offen im Rinnstein, die Eier zerbrochen. Noch immer hielt ich Anthonys Schultern mit beiden Händen fest. Ein Schauder überlief seinen Körper und er riss sich mit einem kräftigen Ruck von mir los. »Entschuldigung!«, rief er Vanessa zu. »Es tut mir wirklich Leid!« Dann sprang er rasch über einige Lebensmittel und lief auf die Straße. »Ah!«, schrie Anthony, als er über den Hund stolperte. Er fiel mit der Nase voran auf den Asphalt und landete auf dem Hund. Der Hund machte keinen Mucks. Er rührte sich kaum. Anthony rappelte sich schnell auf und verschwand, ohne sich auch nur einmal umzuschauen, hinter dem Futtermittelgeschäft. »Oh, wow«, murmelte ich, während ich auf die ruinierten Lebensmittel, die überall auf der Straße lagen, hinabstarrte. »Wow.« Neben mir schüttelte Harold entsetzt den Kopf und atmete geräuschvoll ein und aus. Der Hund trottete langsam und auf einem Bein hinkend herbei. Er senkte den Kopf und begann Dotter von der Straße zu schlabbern. Ich wandte mich zu Vanessa um und mir blieb fast die
Luft weg, als ich die bitterböse Miene auf ihrem bleichen Gesicht sah. Als sie ihre Augen auf mich richtete, hatte ich das Gefühl, durchbohrt zu werden - von einem Eiszapfen. Ein Angstschauer durchfuhr mich und ich wich einen Schritt zurück. Ich packte Harold am Arm und begann ihn fortzuziehen. Doch da trat Vanessa einen Schritt vor und ihr langes schwarzes Kleid schleifte über den Bürgersteig. Mit ihrem dünnen Finger, dessen Nagel schwarz lackiert war, deutete sie erst auf Harold und dann auf mich. Und dabei flüsterte sie: »Hühnchen, Hühnchen.«
Ihre schwarz bemalten Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, als sie diese Worte krächzte: »Hühnchen, Hühnchen.« Ich keuchte auf, als wäre ich geschlagen worden. Die Straße vor mir neigte sich und begann sich zu drehen. Was um alles in der Welt meinte sie damit? Wieso sagte sie das? Aber Harold und ich hielten uns nicht damit auf, sie danach zu fragen. Wir nahmen die Beine in die Hand und rannten so schnell wir konnten davon. Im Vorbeilaufen sah ich, dass der alte Hund noch immer Dotter von der Straße schlabberte. Und ich erhaschte einen kurzen Blick auf Vanessas wutverzerrtes Gesicht. Und schon fegten Harold und ich um die Ecke, sausten am Postamt und der chemischen Reinigung vorbei und rannten den ganzen Weg nach Hause. Ich blickte mich nicht
um. Und ich sagte kein Wort, bevor wir zu Hause in der Küche in Sicherheit waren. Erschöpft plumpste ich auf einen Küchenstuhl. Harold ließ kaltes Wasser ins Spülbecken laufen und spritzte es sich über Gesicht und Haar. Wir keuchten und schnauften beide pfeifend, zu sehr außer Atem, um sprechen zu können. Ich wischte mir mit dem Arm den Schweiß von der Stirn. Dann ging ich zum Kühlschrank und holte eine kleine Flasche Wasser heraus. Ich schraubte den Deckel ab, führte sie an den Mund und stürzte den Inhalt hinunter. »Wir hätten bleiben sollen«, brachte ich schließlich mit Mühe hervor. »Was sagst du?« Harold drehte sich zu mir um. Von seinem roten Gesicht tropfte Wasser. Sein T-Shirt war vorne klatschnass. »Wir hätten bleiben und Vanessa beim Einsammeln ihrer Lebensmittel helfen sollen«, erklärte ich ihm. »Von wegen!«, empörte sich Harold. »Sie ist verrückt! Hast du ihren Gesichtsausdruck gesehen?« »Na ja ... immerhin haben wir ihr die Lebensmittel aus den Händen gestoßen«, sagte ich. »Und wenn schon? Es war ein Missgeschick«, meinte mein Bruder starrköpfig. »So etwas passiert andauernd, oder? Aber sie ... sie wollte uns vernichten!« Ich hielt mir die kalte Flasche an die erhitzte Stirn. »Wieso hat sie das zu uns gesagt?«, fragte ich laut denkend. »Warum hat sie so seltsam geflüstert?« Harolds Miene änderte sich. Er zeigte auf mich, krächzte wie Vanessa »Hühnchen, Hühnchen!« und drohte mir dazu mit dem Finger. »Hör auf damit!«, fuhr ich ihn an. »Das meine ich ernst. Hör auf damit, Harold. Ich bekomme eine Gänsehaut davon.«
»Hühnchen, Hühnchen«, flüsterte er noch einmal. »Nun komm schon. Lass mich in Ruhe«, bat ich ihn. Ich zerdrückte die Plastikflasche in der Hand. »Die Sache ist auch so schon unheimlich genug«, murmelte ich. »Wieso hat sie das gesagt? Wieso?« Harold zuckte die Achseln. »Weil sie verrückt ist?« Beunruhigt schüttelte ich den Kopf. »Sie ist nicht verrückt. Sie ist böse«, sagte ich und schlang die Arme um mich. »Ich habe das ungute Gefühl, dass etwas Schreckliches passieren wird.« Harold verdrehte die Augen. »Harriet, was soll schon passieren?«
»Hast du ein Geschenk für Lucy-Ann gekauft?«, fragte Mom mich nach dem Abendessen. Ich schluckte eine Gabel voll Spagetti. »Also... genau genommen... nein.« Sie blickte mich überrascht an. »Aber ich dachte, du wärst in den Ort gegangen, um eine CD für sie zu kaufen.« »Reich mir bitte mal den Parmesankäse«, unterbrach uns Dad. Das war das Erste, was er an diesem Abend sagte. Ich schätze, er hatte einen harten Arbeitstag hinter sich. »Das verstehe ich nicht.« Mom ließ nicht locker. »Was hast du denn dann nach der Schule gemacht, Harriet?« »Nichts, Mom.« Ich seufzte. »Könnten wir vielleicht das Thema wechseln?« »Du hast das Kinn voller Spagettisauce«, sagte mir Harold. Ich schnitt ihm eine Grimasse. »Wie aufmerksam«,
maulte ich. »Anscheinend sitze ich dir schon zu lange am Tisch gegenüber. Ich nehme ja schon deine Gewohnheiten an.« Er streckte mir seine Zunge heraus, auf der ein halbes Fleischklößchen klebte. Wie kindisch! »Ich habe ganz vergessen, dich nach deinem gestrigen Basketballtraining zu fragen«, meldete sich Dad zu Wort. »Wie ist es denn gelaufen ...?« »Kein gutes Thema!«, entgegnete ich rasch. Mom ließ die Gabel sinken und blies sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Heute Abend scheint dir aber jedes Thema gegen den Strich zu gehen, hm?« »Schon möglich«, brummelte ich und senkte den Blick auf den Teller. Ich schüttelte den Kopf. »Das Training war schrecklich. Die Trainerin hat mir endlich eine Chance gegeben und ich habe wie ein Holzhacker gespielt.« »Niemand ist perfekt«, gab Harold seinen Senf dazu. »Harold, sei still«, schimpfte Mom. »Will denn niemand was von meinem verstauchten Daumen hören?«, jammerte Harold. »Nein«, erwiderte Mom trocken. »Sei still.« Sie wandte sich wieder mir zu. »Du hast nicht gut gespielt?« »I-ich bin beim Dribbeln über meine eigenen Füße gestolpert. Zweimal«, stotterte ich. »Und ich habe einen einfachen Wurf vermasselt. Der Ball hat nicht einmal den Korbring berührt.« »Na ja ... beim nächsten Mal...«, begann Dad. »Aber das war meine große Chance zu zeigen, dass ich gut genug bin, um gleich zu Anfang des Spiels eingesetzt zu werden!«, sagte ich unglücklich. »Und jetzt habe ich es vermasselt. Ich war so müde. Ich habe in der Nacht davor nicht richtig geschlafen. Und... und...« »Du bist immer noch die sechste Spielerin«, sagte Mom tröstend. »Du wirst irgendwann eine neue Chance
bekommen.« »Hast du morgen Mannschaftstraining?«, fragte Dad, während er sich noch etwas Salat nahm. Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Morgen Nachmittag habe ich eine Chorprobe. Harold ebenfalls. Du weißt schon. Der Chor tritt bei der Abschlussfeier der Schulabgänger im nächsten Monat auf.« »Ich singe zwei Solos«, prahlte Harold. »Ich bin der einzige Fünftklässler im Chor - und ich bin der Einzige, der den Ton perfekt trifft.« »Niemand ist perfekt«, erinnerte ich ihn. Ja, ich weiß. Das war ein echt lahmer Witz und keiner lachte. Mom senkte den Blick auf Harolds Hand. »Wie hast du dir den Daumen denn verstaucht?«, fragte sie. »Hab ich gar nicht«, antwortete Harold. »Ich habe nur versucht ins Gespräch zu kommen.« Mrs. Mellon, die Musiklehrerin, war eine winzige Frau, die Ähnlichkeit mit einem Vogel besaß. Sie trug immer graue Pullover und graue Röcke oder Hosen. Mit ihrem fedrigen grauen Haar und ihrer spitzen, schnabelförmigen Nase erinnerte sie mich an einen Sperling. Oder vielleicht auch an eine tschilpende Meise. Die Green-County-Mittelschule war nicht groß genug, um über einen eigenen Musikraum zu verfügen. Deshalb traf sich der Chor nach der Schule in der Aula auf der Bühne. Der Chor bestand aus acht Kindern, vier Jungen und vier Mädchen. Hauptsächlich waren wir Sechstklässler, aber auch einige jüngere Kinder wie Harold gehörten dazu. In einer so kleinen Schule war es schwierig, einen Chor zusammenzustellen. Mrs. Mellon kam zu spät. Während wir auf sie warteten, beschossen sich die Jungen unter Einsatz von
Gummibändern gegenseitig mit Büroklammern. Und die Mädchen unterhielten sich darüber, wie doof die Jungen doch waren. Als Mrs. Mellon schließlich eintraf, ordnete sie nervös ihr fedriges Haar und wollte sofort mit der Probe beginnen. »Unser Auftritt ist heute in zwei Wochen«, verkündete sie hektisch. »Und wir sind noch in keinster Weise dafür bereit oder?« Wir gaben ihr alle Recht darin, dass wir noch einige Proben nötig hatten. Lucy-Ann, unsere einzige Sopranstimme, hob die Hand. »Vielleicht sollten wir einige Lieder Playback singen«, schlug sie vor. »Sie wissen schon, zu Schallplatten.« Alle lachten. Ich musterte Lucy-Ann. Ich war mir nicht sicher, ob sie wirklich scherzte. »Heute Nachmittag wird nicht herumgeblödelt«, sagte Mrs. Mellon streng. »Wir wollen sehen, wie viel wir schaffen, wenn wir ernst bleiben.« Wir sangen zum Aufwärmen Tonleitern, wurden aber unterbrochen, als sich eine riesige schwarze Spinne von den Deckenbalken herab auf Lucy-Anns blonden Lockenkopf abseilte. Lucy taumelte kreischend rückwärts, schüttelte wie wild den Kopf und zerrte mit beiden Händen an ihren Locken. Schließlich fiel die Spinne auf die Bühne und Harold zertrampelte sie. »Bringt das nicht Pech oder so was?«, rief ein Junge namens Larry meinem Bruder zu. Harold zuckte die Achseln und streifte die Schuhsohle am Bühnenboden ab. »Lasst uns mit ›Beautiful Ohio‹ beginnen«, schlug Mrs. Mellon vor, die die ganze Spinnengeschichte einfach überging. Sie blätterte einen Stapel Notenblätter auf ihrem Notenständer durch. »Das ist das Lied, mit dem wir letztes Mal solche
Schwierigkeiten hatten.« »Das Problem liegt an der hohen Passage«, bemerkte Lucy-Ann. »Das Problem ist deine Stimm!«, hänselte Harold LucyAnn. Ich glaube, er steht auf sie. Jedenfalls zieht er sie ständig auf. Mrs. Mellon räusperte sich. »Bitte, Kinder. Wir wollen ernst bleiben.« Sie wandte sich Harold zu. »Hast du dein Solo geübt?« »Aber klar«, log mein Bruder. »Dann wollen wir es versuchen«, schlug Mrs. Mellon vor. »Denk dran, Harold: Du wartest drei Takte, bevor du einsetzt.« »Kein Problem«, erklärte ihr Harold. Bei der letzten Chorprobe hatte er es nicht ein einziges Mal richtig gemacht. Mrs. Mellon hob die Arme, lächelte und winkte mit den Händen, das war ihr Zeichen, dass wir loslegen sollten. Wie begannen »Beautiful Ohio« zu singen. Das ist ein ziemlich schmalziges Lied, aber es macht mir Spaß, den hohen Part zu singen. »Sehr gut, sehr gut«, ermutigte uns Mrs. Mellon mit einem verkniffenen Lächeln im Gesicht, während wir sangen. Es klang wirklich ganz gut. Bis Harolds Solo begann. Ich sah, wie er tief einatmete, vortrat, drei Takte abwartete und den Mund öffnete. Und dann sang er: »GACK, GACK, GACK, GAACK, GACK.« Mrs. Mellon schnappte entsetzt nach Luft. Wir hörten alle zu singen auf. Ich starrte meinen Bruder durchdringend an. Er schaute entgeistert drein und räusperte sich ein paar
Mal.
»Sing den Text, Harold«, sagte Mrs. Mellon streng zu ihm. »Du kennst den Text doch, oder?« Harold nickte. »Wir beginnen noch einmal an der Stelle kurz vor Harolds Solo«, sagte sie zu uns. Wir fingen noch einmal an. Beim Singen ließ ich meinen Bruder nicht aus den Augen. Ich sah, wie er die drei Takte mitzählte. Dann setzte er ein: »GACK, GACK, GACK, GAACK, GACK!« Was wollte er damit beweisen? Larry lachte, aber keiner schloss sich ihm an. Harold rieb sich den Hals und räusperte sich. Sein Gesicht war knallrot angelaufen. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte ich ihn stumm, nur mit den Lippen. Er gab mir keine Antwort. »Harold, bitte!«, sagte Mrs. Mellon beschwörend. »Hör auf herumzukaspern. Dafür haben wir wirklich keine Zeit.« Sie schaute ihn stirnrunzelnd an. »Du hast eine wunderschöne Stimme. Ich weiß, dass du das singen kannst. Würdest du jetzt also bitte deinen Beitrag leisten?« Sie hob die Hände. »Auf drei fängst du an«, sagte sie zu ihm. »Eins - zwei - drei« Sie dirigierte mit einer Hand. »Nun lass uns hören, wie du dein Bestes gibst.« »GACK, GACK, GACK, GAACK, GACK!«, gackerte mein Bruder mit lächerlich hoher Stimme. Ich ließ die anderen Mädchen stehen und stiefelte zu ihm. »Harold, was soll der Mist?«, schrie ich ihn wütend an. »Warum tust du das?« »GACK, GACK, GACK, GAACK, GACK«, entgegnete er.
Später am Tag war ich oben in meinem Zimmer und packte Lucy-Anns Geburtstagsgeschenk ein. Als ich aufblickte, sah ich Harold nervös in der Tür stehen. Das blonde Haar stand ihm vom Kopf ab. Er wischte sich die verschwitzten Hände am T-Shirt ab. »Was willst du?«, fragte ich ihn mit schneidender Stimme. »Ich hab zu tun.« Ich legte eine Ecke des Geschenkpapiers über die CD-Box und klebte sie fest. Harold räusperte sich, antwortete aber nicht. Ich sah ihn kopfschüttelnd an. »Du hast die ganze Probe verpatzt«, erklärte ich ihm. »Das war nicht meine Schuld!«, rief er schrill. »Ach nein!« Ich knallte wütend die Schere auf den Schreibtisch. »Du hast dich geweigert zu singen und hast stattdessen dagestanden und wie ein Huhn gegackert! Wessen Schuld war das denn dann!« »Du verstehst nicht...«, krächzte Harold und rieb sich sacht den Hals. »Nein, ich versteh dich tatsächlich nicht«, schnitt ich ihm verärgert das Wort ab. »Weißt du, wir haben deine doofen Scherze alle gründlich satt. Ich ganz besonders. Du hältst dich wohl für schrecklich witzig, Harold. Aber in Wirklichkeit bist du ein Nervtöter. « »Aber ich habe gar nicht versucht komisch zu sein!«, protestierte er, während er ins Zimmer trat. Er ging zum Schreibtisch und spielte nervös mit der Tesafilmrolle herum. »Ich wollte nicht so gackern. Ich - ich konnte nichts dagegen tun.« Ich verdrehte die Augen. »Aber klar doch«, sagte ich
gereizt. »Nein - wirklich, Harriet. Ich glaube, Vanessa ist dran schuld! Sie hat dafür gesorgt, dass ich so gegackert habe!« Ich lachte. »Ich bin nicht doof, weißt du«, erwiderte ich. »Schon möglich, dass ich dir bei demselben Streich zweimal auf den Leim gehe, aber ein drittes Mal falle ich nicht darauf herein.« »Aber Harriet...« »Das war nicht witzig«, wiederholte ich. »Und es war nicht fair von dir, allen die Probe zu verderben.« »Du verstehst nicht!«, brauste Harold auf. »Das war kein Streich. Ich musste gackern. Ich ...« »Raus jetzt!«, schrie ich und scheuchte ihn mit den Händen fort. »Raus aus meinem Zimmer - dalli!« Sein Gesicht lief knallrot an. Er setzte zu einer Erwiderung an, überlegte es sich aber anders und gab sich mit einem Seufzer geschlagen. Er drehte sich um und rannte aus dem Zimmer. »Für einen Streich nimmst du wohl alles in Kauf, was, Harold«, murmelte ich vor mich hin. Normalerweise bin ich nicht gemein zu meinem Bruder, aber diesmal hatte er wirklich eine Lektion verdient. Ich packte das Geschenk fertig ein und machte anschließend Hausaufgaben, bis es Schlafenszeit war. Als ich schließlich das Licht ausschaltete und in die Falle stieg, hörte ich mit einem Mal ein Huhn gackern. Das ist ja merkwürdig, dachte ich. Abends habe ich die Hühner noch nie gehört. Sie sind doch alle im Hühnerstall eingesperrt. »Gaaaack, blaaaaack.« Ich setzte mich auf und schaute zum offenen Fenster. Die Vorhänge bewegten sich in einer leichten Brise und das Mondlicht warf ein bleiches Dreieck auf den Teppich.
War die Tür des Hühnerstalls aufgegangen?, fragte ich mich. Waren die Hühner irgendwie ausgebüchst? »Blaack, blaack, gaack.« Das Gackern schien ganz nahe am Haus zu ertönen, direkt unter meinem Fenster. Den Blick auf die wehenden Gardinen gerichtet, stieg ich aus dem Bett und ging auf das Fenster zu. Das Mondlicht erfasste mich, kalt und silbern. »Black, gack, gack.« Ich stützte mich auf das Fensterbrett, schaute nach unten zum Boden hinab - und gab einen erschrockenen Laut von mir.
Da unten war nichts. Kein Huhn. Ich starrte ungläubig auf den silbern beschienenen Boden hinab. Dann ließ ich den Blick zu dem lang gestreckten Hühnerstall neben der Garage wandern. Er sah wie eine große, niedrige hölzerne Hundehütte aus. Die Tür war geschlossen. Nichts bewegte sich hinter den kleinen runden Fenstern. »Gaaaack, gaaaack.« Verwirrt zog ich den Kopf ins Zimmer zurück. Woher kam das Gackern? Von innerhalb des Hauses? »Gaack, gaaack.« Ja. Ich konnte es durch die Wand hören. Durch die Wand, hinter der das Zimmer meines Bruders lag. Wieso macht er das?, fragte ich mich, während ich
wieder ins Bett kletterte. Warum gackert er mitten in der Nacht in seinem Zimmer? Was will er damit beweisen? Mir war klar, dass Lucy-Anns Geburtstagsparty toll werden würde. Ihre Feste sind immer toll. Sie lebt in einer großen Farmerfamilie. Sie hat sieben Brüder und Schwestern. In ihrem Haus duftet es immer lecker - nach gegrilltem Hühnchen, nach frisch gebackenen Pasteten. Lucy-Anns Eltern sind die erfolgreichsten Farmer in Goshen Falls. Und außerdem sind sie richtig nette Leute. Lucy-Ann hatte die ganze Klasse zu ihrer Party eingeladen und etwa zwei Dutzend Verwandte. Es war ein wunderschöner Frühlingsnachmittag und eine Menge Leute bevölkerten bereits den Garten vor dem großen weißen Farmhaus, als ich dort eintraf. Lucy-Ann hat eine ganze Reihe junger Cousins und Kusinen. Als ich die gekieste Einfahrt hinaufeilte, sah ich eine Gruppe von ihnen neben dem Geräteschuppen stehen. LucyAnns Dad drehte Runden mit dem Traktor und ließ sie einen nach dem anderen mitfahren. Die kleinen Kinder sprangen auf und ab, rangelten aufgeregt miteinander und warteten darauf, an die Reihe zu kommen. Ich traf Lucy-Ann am oberen Ende der Zufahrt und reichte ihr die in Geschenkpapier verpackte CD. Sie musterte die quadratische Box und grinste. »Wow. Ich kann unmöglich erraten, was das ist!«, scherzte sie. »Okay, okay. Besonders originell ist es nicht gerade«, antwortete ich achselzuckend. »Du hast ja keine Ahnung, was für ein perfektes Geschenk das ist«, sagte sie, als wir über den Rasen auf die anderen zuschlenderten. »Mom und Dad haben mir zum
Geburtstag einen Discman geschenkt - aber keine CDs.« Ich lachte. »Na ja, dann hast du jetzt ja wenigstens eine«, sagte ich. »Und zumindest kann ich sicher sein, dass du sie nicht schon hast!« Lucy-Anns Miene wurde ernst. »Gehst du morgen Vormittag zur Chorprobe?« Ich nickte. »Klar. Wir haben sie dringend nötig.« »Ich werde etwas später kommen«, sagte Lucy-Ann. »Normalerweise kommen wir nicht vor halb zwölf aus der Kirche zurück.« Sie runzelte die Stirn. »Hast du mit deinem Bruder geredet? Wieso hat er sich gestern wie ein Vollidiot benommen? Was sollte das blöde Gegacker? Fand er das witzig oder was?« Ich zuckte die Achseln. »Ja, vermutlich.« Dann setzte ich mit einem Seufzen hinzu: »Keine Ahnung, was mit meinem Bruder los ist. Manchmal denke ich, er kommt vom Mars.« Lucy-Ann lachte. »Was Brüder betrifft, kenne ich mich aus«, seufzte sie. »Ich habe schließlich vier davon!« Ich winkte einigen Mädchen aus meiner Klasse zu, die am breiten Stamm eines alten Ahornbaumes lehnten. Ich ging zu ihnen, um mich mit ihnen zu unterhalten. Ich kann viele Kinder aus meiner Klasse gut leiden, obwohl ich einige von ihnen nie außerhalb der Schule sehe. Goshen Falls ist sehr klein, musst du wissen, und die Mittelschule am Ort ist die einzige im Umkreis von Meilen. Deshalb werden die Kinder aus der ganzen Umgebung mit Bussen zu unserer Schule gebracht. Das hat zur Folge, dass einige meiner Freunde bis zu fünfzig Kilometer entfernt wohnen. Wenn ich einen von ihnen abends anrufen will, dann ist das ein Ferngespräch! Es war eine gelungene Party. Wir hielten uns die ganze Zeit im Freien auf. Lucy-Ann drehte ihren Kassettenrecorder
bis zum Anschlag auf und wir tanzten alle. Ich meine, alle Mädchen tanzten. Ein paar Jungs machten mit, aber die meisten standen nur auf dem Rasen herum und rissen Witze über die, die tanzten. Ich hatte viel Spaß - bis die Geburtstagstorte aufgetischt wurde. Denn dann hörte der Spaß auf, und der Horror begann.
Als die Nachmittagssonne hinter dem Farmhaus versank, brachte Lucy-Anns Mom die Geburtstagstorte heraus. Genau genommen waren es zwei - eine Vanilletorte aus der Bäckerei und eine Schokoladentorte, die sie selbst gebacken hatte. »Bei einer so großen Familie wie unserer«, erklärte mir Lucy-Ann, »lässt sich unmöglich genau sagen, was für eine Torte allen am liebsten ist. Deshalb muss Mom zu jedem Geburtstag eine zusätzliche backen!« Wir schnappten uns alle Teller und versammelten uns um den langen, weiß gedeckten Tisch, um für Lucy-Ann »Happy Birthday« zu singen. Neben den beiden Torten stand ein Blaubeerkuchen, so groß wie eine Pizza! Die Kerzen auf beiden Torten anzuzünden dauerte eine ganze Weile. Ein böiger Wind wehte und blies immer wieder einige der Kerzen aus. Schließlich hatten Lucy-Anns Eltern es geschafft, sie alle anzuzünden, und wir sangen »Happy Birthday«. Lucy-Ann sah richtig hübsch aus, wie sie da hinter den Torten stand und der flackernde Schein des Kerzenlichts über ihr Gesicht und die blonden Locken tanzte. Sie schien mich anzustarren, während wir sangen.
klang. mir!
Und plötzlich fiel mir auf, dass irgendetwas falsch Das klackende Geräusch, das ich hörte - es kam von
Meine Lippen stießen beim Singen laut klickend aufeinander. Sobald das Lied zu Ende war, strich ich mit dem Finger über die Lippen. Sie fühlten sich sehr trocken an. Rissig und trocken. »Harriet, welche Torte magst du?«, fragte Lucy-Ann. Ich schaute auf und sah, dass sie und ihre Mutter dabei waren, die Torten anzuschneiden. Ich streckte ihnen meinen Teller entgegen. »Ein bisschen von beiden?« Ich konnte mich nicht zwischen den zwei Torten entscheiden. Teller und Gabel in einer Hand balancierend, zog ich los, um mich zu Freunden dazuzustellen. »Sieht gut aus«, sagte ich. Ich meine, das wollte ich sagen. Heraus kam allerdings nur: »Tcccck, tccccck.« Eine Art metallisches Klicken. Ich strich mir mit der Zunge über die Lippen. Sie waren wirklich schrecklich trocken. »Tcccck tcccccck.« Ich versuchte ein Stück Torte zu essen, doch jede einzelne Kaubewegung verursachte dasselbe laute Klickgeräusch. Ich leckte mir erneut die Lippen und versuchte es wieder. Langsam hatte ich das Gefühl zu ersticken. Ich konnte die Torte nicht kauen. »Ckkkkkkk, tccccck.« Einige Kinder starrten mich an. »Harriet, alles in Ordnung mit dir?«, fragte mich jemand.
Ich klickte zur Antwort und eilte zu Lucy-Ann an den Tisch. »Hast du einen Fettstift für die Lippen?«, wollte ich mit schriller Stimme wissen. Meine Lippen klickten beim Sprechen. Sie hatte Mühe, mich zu verstehen. »Fettstift?«, wiederholte ich. »Chftttstfft?« Sie nickte und musterte mich mit zusammengekniffenen Augen. »Im Arzneischränkchen. Im Badezimmer, im Erdgeschoss auf der linken Seite.« Sie deutete zum Haus. Ich stellte meinen Kuchenteller ab und sauste über den Rasen. Eilig zog ich die Fliegengittertür auf und flitzte ins Haus, wo es süßlich roch, nach Torten und frisch gebackenem Kuchen. Ich wandte mich im Flur nach links. Ich kannte den Weg. Ich hatte Lucy-Ann schon oft besucht. Die Badezimmertür stand offen. Ich trat hinein, schaltete das Licht ein und schloss die Tür hinter mir. Dann stürzte ich zum Arzneischränkchen und schaute in den Spiegel. Es dauerte einige Sekunden, bis sich meine Augen an das Licht gewöhnt hatten. Doch als ich meine Lippen endlich richtig sehen konnte - riss ich den Mund auf und stieß einen Entsetzensschrei aus.
Meine Lippen standen leuchtend rot aus meinem Gesicht hervor! Ich strich mit dem Finger darüber. Beide Lippen fühlten sich hubbelig an. Hart und hubbelig.
Ich klopfte mit dem Finger an die Lippen. Es gab ein leises Klackgeräusch. Meine Lippen waren hart. Sie fühlten sich überhaupt nicht mehr wie Haut an! Sie waren so hart wie Fingernägel! »Tccckk, tccckk.« Ich ließ sie aufeinander klicken. Öffnete und schloss den Mund, starrte entgeistert auf mein Spiegelbild. War auf meinen Lippen eine Art Kruste gewachsen? Steckten meine richtigen Lippen darunter? Ich versuchte die Kruste mit beiden Händen abzuziehen. Aber nein. Das war keine Kruste. Die harten Lippen saßen fest in meinem Gesicht. »Auu!«, heulte ich auf. Meine Lippen schlossen sich klickend. »Was geschieht mit mir? Das - das sieht ja wie ein Vogelschnabel aus! So kann ich mich unmöglich sehen lassen!«, rief ich laut. Ich hämmerte mit beiden Fäusten gegen den Spiegel. Das kann doch nicht wirklich passieren!, dachte ich voller Panik. Das kann einfach nicht sein! Noch einmal versuchte ich, die harten Schnabellippen abzuziehen. »Harriet, beruhige dich. Beruhige dich!«, redete ich mir selbst gut zu. Ich holte tief Luft und zwang mich dazu, mich vom Spiegel abzuwenden. Das ist eine allergische Reaktion, sagte ich mir. Das ist alles. Ich habe etwas gegessen, auf das ich allergisch reagiere. In ein paar Stunden wird es verschwinden. Und falls es nicht verschwinden sollte, weiß Dr. Macy sicher, was zu tun ist, damit die Lippen auf ihre normale Größe schrumpfen und wieder weich werden. Erneut atmete ich tief ein. Ich zitterte am ganzen Leib.
Ich zitterte so heftig, dass meine Lippen laut aufeinander schlugen. Ich schloss die Augen und wandte mich wieder dem Spiegel zu. Langsam schlug ich die Augen auf und betete darum, dass ich meine normalen Lippen wiederhätte. Aber nein. »Ein Vogelschnabel«, murmelte ich mit bebender Flüsterstimme. »Es sieht aus wie ein Vogelschnabel.« Klick, klick. Ich ließ die Zunge über die vorstehenden Lippen gleiten. Au! Die harten Lippen kratzten an der Zunge. Ich kann nicht zulassen, dass mich jemand so sieht!, entschied ich. Ich schleiche mich zur Vordertür hinaus und laufe nach Hause. Lucy-Ann werde ich es später erklären. Ich schaltete das Licht aus und öffnete vorsichtig die Badezimmertür einen Spalt breit. Ich sah, dass niemand im Haus war. Sie waren alle noch draußen hinterm Haus und futterten Torte und Kuchen. Werde ich jemals wieder Kuchen essen können?, fragte ich mich. Oder werde ich Würmer aus dem Boden picken und sie mit meinen Vogellippen aufsaugen müssen? Bei dieser Vorstellung wurde mir übel. Ich schlich mich am Wohnzimmer vorbei, riss die Haustür auf - und rannte davon. Während ich den kleinen Weg zur Straße lief, konnte ich die fröhlichen Stimmen aus dem hinteren Garten hören. Das Lachen und die Rufe der Kinder übertönten die dröhnende Tanzmusik. Ich bog in die Straße ein und rannte in einem Affenzahn heimwärts. Dabei hoffte ich inständig, dass mich niemand sah. Die Sonne war hinter den Bäumen versunken.
Abendliche Schatten krochen über die Erde auf mich zu. Meine Lippen schlugen beim Laufen klickend aufeinander. Mein Herz klopfte. Ich rannte den ganzen Weg nach Hause, ohne auch nur einmal langsamer zu werden. Zum Glück begegnete ich auf der Straße niemandem, den ich kannte. Unser Auto war fort. Ich flitzte die Einfahrt hinauf und durch die Küchentür ins Haus. Harold, der an der Spüle stand, drehte sich zitternd um. »Harriet...!«, rief er. Mir war sofort klar, dass etwas nicht stimmte. Ich wandte das Gesicht ab. Ich wollte nicht, dass er meinen hässlichen Mund sah. Doch er kam hastig zu mir, packte mich am Arm und drehte mich um. »Mom und Dad sind nicht zu Hause«, murmelte er. »Ich - ich muss dir etwas zeigen.« »Harold, was ist los?«, wollte ich wissen. Beim Sprechen klickten meine Lippen. »Wieso - klick, klick -trägst du ein Handtuch um den Hals?« »Ich... brauche Hilfe«, antwortete er und senkte den Blick. Bedächtig löste er das blaue Handtuch von seinem Hals. »Sieh nur«, sagte er eindringlich. Ich schnappte nach Luft. Federn! Aus seinem Hals und den Schultern sprossen weiße Federn hervor.
»Harold, wann ist das passiert?«, kreischte ich. »GAAACK, GAAACK, GAAAACK«, gackerte er, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen. »Hör auf damit!«, rief ich wütend. »Jetzt ist nicht der richtige Moment für dein dämliches Gegackere!« Und dann wurde mir plötzlich klar, dass er mich schon wieder hereingelegt hatte. Die Federn wuchsen gar nicht aus seinem Körper. Er hatte sie sich nur angeklebt. »GAAACK. Ich... kann nichts... gegen das Gackern ... tun!«, würgte er hervor und rieb sich den Hals. »Klar, aber sicher«, antwortete ich spöttisch, streckte die Hand aus und zupfte ihm eine weiße Feder vom Nacken aus. Ich hatte erwartet, dass die falsche Feder leicht abging. Doch mein Bruder riss die Hände in die Höhe und brüllte: »AUTSCH!« Der Kiel der Feder hinterließ ein kleines Loch in seiner Haut. Ich packte eine große Feder an seiner Schulter - und zog daran. »He - Vorsicht!«, schrie Harold und wich vor mir zurück. »GAAACK, GAAACK. Das tut echt weh!« »O nein!«, keuchte ich. »Sie sind echt! Dir... wachsen wirklich - klick, klick - Federn!« »Ah ... ah ... ah ...«, heulte Harold und seine federbesetzten Schultern zuckten auf und ab. »Mach dir keine Sorgen«, sagte ich zu ihm und führte ihn behutsam in sein Zimmer. »Ich zupfe sie dir aus. Ich werde ganz vorsichtig sein. Du kommst wieder in Ordnung.« Ich ließ ihn sich auf die Bettkante setzen, beugte mich über ihn und begann die weißen Federn auszurupfen. Ich gab mir Mühe, so sanft wie möglich vorzugehen. Trotzdem hüpfte
er jedes Mal hoch, wenn ich eine ausriss. »Wir müssen es Mom und Dad erzählen«, sagte er leise, die Augen zu Boden gesenkt. »Autsch!« »Ich habe fast alle ausgerupft«, erklärte ich ihm. Ich zog an einer langen Feder in seinem Nacken und er machte wieder einen Satz. »Kein Problem. Gleich siehst du wieder ganz normal aus.« »Trotzdem müssen wir es Mom und Dad erzählen«, meinte er hartnäckig. »Denkst du, sie würden uns glauben?«, fragte ich. Meine harten Lippen klickten bei jedem Wort. Harold schaute zu mir auf. »He - was ist denn mit deinen Lippen los?« »Oh... ich... ahm...« Ich bedeckte sie mit der Hand. »Sie sind einfach nur trocken«, sagte ich. »Ziemlich trocken.« Ich weiß nicht, warum, aber ich wollte ihn nicht wissen lassen, dass auch mit mir unheimliche Dinge vor sich gingen. »Du siehst grausig aus!«, rief Harold aus. »Igitt!« Es schien ihn erheblich aufzumuntern. Ich riss ihm die beiden letzten Federn so grob ich konnte aus. »He...!«, schrie er ärgerlich und rieb sich den Nacken. Ich trat zurück. Weiße Federn bedeckten Bett und Boden. »Du sammelst sie besser auf«, sagte ich klickend. Er gackerte zur Antwort. Ich hielt mir noch immer die Hand vor den Mund. Ich hatte keine Lust, mir noch mehr Bemerkungen darüber anzuhören, wie eklig meine Lippen ausahen. Ich eilte ins Badezimmer, um eine Creme für die Lippen zu suchen. Mom und Dad blieben sehr lange aus. Harold und ich versuchten wach zu bleiben, weil wir mit ihnen reden wollten. Doch schließlich gaben wir auf und gingen ins Bett.
Am Sonntagmorgen wachte ich spät auf. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel. Das Zimmer war in oranges Sonnenlicht getaucht, das durchs offene Fenster hereinfiel. Eine sanfte Brise zauste meine Federn. Wie bitte? Federn? »Ohhhh.« Mit einem Stöhnen setzte ich mich auf. Mein Nacken juckte wie verrückt, meine Arme ebenfalls. Ich blinzelte, um wach zu werden, und schaute ungläubig die weißen Federn an, die überall auf meinen Armen sprossen. Ich öffnete den Mund, um zu schreien. Doch alles was ich herausbekam, war ein ersticktes »gack, gack, gack«. Wie das Gackern einer Henne. Eilig sprang ich aus dem Bett und huschte zum Spiegel über der Kommode. Ich zog das Oberteil meines Nachthemds herunter und schnappte nach Luft. Schultern und Arme waren mit flaumigen Daunen und weißen und braunen Federn bedeckt. Ich strich mit der Hand über die Lippen. Sie waren noch härter geworden. Knochenhart. Plötzlich nahm ich eine Bewegung im Spiegel wahr. Als ich herumwirbelte, sah ich Harold in der Tür stehen. »Harriet...«, gluckte er und trat schwankend ins Zimmer. Auf seinen Schultern und dem Kinn sträubten sich weiße Federn. Sie waren ihm nachgewachsen. »Sieh mich an!«, klickte ich. »GAACK, GAAAACK«, antwortete Harold. Ich wandte mich wieder dem Spiegel zu und begann wild entschlossen, meine Federn auszurupfen. Es schmerzte bei jeder einzelnen Feder. Doch das war mir egal. Ich wollte sie unbedingt loswerden! Es dauerte nicht lange, bis ich sie alle ausgerissen hatte.
Dann sammelte ich sie auf und warf sie in den Abfallkorb. Anschließend half ich Harold dabei, seine Federn zu rupfen. Seine Lippen waren über Nacht ebenfalls hart geworden und seine Fingernägel waren gewachsen. Seine Hände ähnelten mit einem Mal Krallen. »Vanessa«, murmelte er. Ich glotzte ihn an. Mir war sofort klar, was er meinte. Die ganze Zeit über hatte ich denselben Gedanken gehegt. Der schreckliche Augenblick, als wir Vanessas Lebensmittel auf der Straße verstreut hatten, war mir noch lebhaft in Erinnerung. »Ja«, pflichtete ich ihm bei. »Ich wollte es mir nicht eingestehen. Ich habe mich geweigert, es zu glauben. Aber es stimmt: Vanessa hat uns das angetan. Vanessa -GAAAAACK, GAAACK - verwandelt uns in Hühner.« »Hühnchen, Hühnchen«, gluckte Harold. Aus der Küche unten hörte ich klappernde Geräusche. Mom und Dad! »Wir müssen es - BLAAAACK - ihnen sagen!«, rief ich. »Wir müssen ihnen alles erzählen!« Harold und ich sausten gleichzeitig zur Zimmertür, drängten uns gemeinsam hindurch und rannten nebeneinander den Flur entlang. Aus der Küche konnte ich Moms Stimme hören. Während wir die Treppe hinabhasteten, riefen Harold und ich ihr bereits entgegen. »Mom, wir brauchen - GAAAACK - Hilfe!«, schrie ich. »Es geht um Vanessa. Sie hat wirklich -BLAAAACK, GAACK Hexenkräfte!« »Sie verwandelt uns in Hühner!«, rief Harold Mom zu, als wir das Erdgeschoss erreichten und zur Küche weiterrannten. »Uns wachsen sogar Federn!« »Das ist wahr!«, schrie ich. »Du musst uns helfen.
Harold und ich - BLAAACK - wir verwandeln uns in Hühner!« »Das trifft sich gut«, sagte Mom seelenruhig. »Ich brauche noch zwei Hühnchen für das Grillfest heute Nachmittag.«
«Wie? Was?« »Du willst uns grillen?« Harold und ich keuchten. Machte Mom Scherze? Als wir in die Küche stürmten, stellte ich fest, dass Mom gar nicht mit uns sprach. Sie war am Telefon, kehrte uns den Rücken zu und trommelte mit den Fingerkuppen auf die Arbeitsfläche. Ich ließ den Blick durch die Küche gleiten. Was hier alles herumstand: Pfannen und Servierschüsseln, geschnittener Salat und Tomaten, ein kleiner Sack Kartoffeln, Flaschen mit Grillsaucen und ein Berg Hühnerteile auf einem Tablett neben der Spüle. Was für ein Durcheinander! »Mom - wir ... wir - GAAACK, BLAAACK - müssen mit dir reden!«, stotterte ich. Sie drehte sich, immer noch redend, um und winkte uns zu. Nach ein paar weiteren Worten legte sie den Hörer auf. »Ihr habt lange geschlafen«, meinte sie mit einem stirnrunzelnden Blick auf die Wanduhr. »Es ist fast Mittag und in ein oder zwei Stunden werden unsere Gäste eintreffen.« »Mom...«, begann ich. Sie wischte sich mit dem Handrücken die Stirn ab und trat an die Spüle. »Habt ihr vergessen, dass wir heute
Nachmittag ein großes Grillfest veranstalten? Wir werden mindestens zwanzig Gäste haben und... und...« Sie deutete auf den Haufen Hühnerteile. Bei dem Anblick drehte sich mir der Magen um. »Gaaaack, blaaack«, murmelte Harold. Ich ging zur Spüle. »Wir müssen mit dir reden«, sagte ich und legte Mom die Hand auf den Arm. »Harold und ich, wir haben ein Problem. Ein echtes Problem. « »Weil ihr heute Vormittag die Chorprobe verschwitzt habt?«, fiel mir Mom ins Wort. Sie nahm einen kleinen Pinsel zur Hand und begann die Hühnerteile mit Grillsauce zu bestreichen. Die fertigen Stücke warf sie in eine große Porzellanschüssel. »Nein, Mom. Ich...« »Ich hatte gerade Mrs. Mellon am Telefon«, fuhr Mom fort. »Sie hat gefragt, wo ihr steckt. Sie wollte wissen, ob mit euch alles in Ordnung ist.« »Mit uns ist nicht alles in Ordnung«, sagte ich ernst. »Sie ist so eine nette Frau. Sie bringt heute Nachmittag zwei gegrillte Hühnchen mit, für die Leute, die Hühnchen nicht gern so scharf gewürzt essen, wie ich sie mache.« Sie wandte sich mir zu. »Harriet, du kannst mir helfen, die Paprikaschoten zu schneiden.« »Mom, bitte!«, rief Harold. »Hör auf über Hühnchen zu reden!« »Wir müssen dir etwas erzählen«, sagte ich. »Euer Dad ist hinterm Haus und bereitet die Grills vor«, sagte Mom, während sie einen Hühnerflügel mit roter Sauce einpinselte. »Oh! Eis! Wir dürfen nicht vergessen, Eis zu kaufen!« »Mom - Harold und ich verwandeln uns in Hühner«, erklärte ich ihr. Sie lachte. »Eis und Pappteller«, murmelte sie. »Ich will
keine normalen Teller benützen. Das macht zu viel Arbeit.« »Nein, wirklich!« Ich packte sie am Arm, worauf ihr der Pinsel in die Schüssel mit den Hühnerteilen fiel. »Harriet, ich habe jetzt wirklich keine Zeit«, seufzte Mom. Sie blies sich eine Haarsträhne aus der Stirn und fischte den Pinsel aus der Schüssel. »Du und Harold, ihr solltet euch Frühstück machen - oder Mittagessen. Danach fragt ihr euren Dad, ob ihr ihm zur Hand gehen könnt.« »BLAAAACK!«, rief Harold. »Jetzt hör mir doch mal zu, Mom«, bettelte ich. »Hörst du, wie Harold gackert?« »Ja, er gackert ganz nett«, murmelte sie und ließ ein Hühnerbein in die Schüssel fallen. »Siehst du meine Lippen?«, wollte ich wissen. »Dafür ist Vanessa verantwortlich. Wir sind mit Vanessa zusammengestoßen, und da sind ihre Lebensmittel auf die Straße gefallen. Deshalb verwandelt sie uns -GAAAACK - in Hühner.« »Also bitte, ihr zwei«, stöhnte Mom. »Seht ihr denn nicht, dass ich nicht mehr weiß, wo mir der Kopf steht? Ich habe jetzt wirklich keine Zeit für ...« Sie hielt inne, als ihr Blick auf meine Lippen fiel. »Oje! Die sind aber schrecklich ausgetrocknet.« »Sie sind nicht ausgetrocknet!«, schrie ich verzweifelt. »Mir wächst ein Schnabel!« »GAAACK, BLAAACK«, setzte Harold hinzu. Mom schlug die Hände zusammen. »Geh und schmier dir Creme auf die Lippen, Harriet. Und lauft mir bitte nicht zwischen den Beinen herum, okay? Ich habe heute keine Zeit für Scherze. Wenn ihr schon nicht mithelfen wollt, dann haltet mich wenigstens nicht von der Arbeit ab.« Ich blickte zu Harold, der betrübt den Kopf schüttelte. Wir marschierten aus der Küche. »Glaubst du, Dad
wird zuhören?«, fragte Harold kleinlaut. Ich klickte mit den Lippen. »Kann ich mir nicht vorstellen«, murmelte ich. »Er ist bestimmt genauso beschäftigt wie Mom.« »Was können wir dann tun?«, fragte Harold. Er kratzte sich im Nacken. Wuchsen die Federn bereits wieder nach? Da schoss mir eine Idee durch den Kopf. »Anthony!«, rief ich. »Und? Was ist mit ihm?«, wollte Harold wissen. »Anthony war mit uns zusammen!«, erklärte ich. »Wahrscheinlich passiert ihm gerade dasselbe. Wahrscheinlich verwandelt er sich ebenfalls in ein Huhn.« Harold rieb sich nachdenklich das Kinn. »Gaaaack. Blaaaack. Tja. Das ist gut möglich.« »Also, wenn wir alle drei Mom und Dad unsere Geschichte erzählen, dann werden sie uns vielleicht glauben!«, rief ich. »Einen Versuch ist es wert«, stimmte Harold mir aufgeregt zu. »Dann nichts wie los zu Anthony!« Wir schnappten uns je ein Glas Orangensaft und eine Scheibe Toastbrot, die wir ungetoastet futterten. Kaum hatten wir den letzten Bissen im Mund, rannten wir zur Tür hinaus und machten uns auf den Weg zu Anthony. Wir waren noch keinen Straßenblock weit gelaufen, als wir mit Vanessa zusammenstießen.
Na ja. Diesmal stießen wir nicht richtig mit ihr zusammen. Ich sah sie, bevor Harold sie entdeckte. Sie kam uns auf der anderen Straßenseite mit schnellen Schritten entgegen.
Trotz der Hitze war sie ganz in Schwarz gekleidet. Sie trug ein schwarzes Kleid und um die Schultern einen schwarzen Baumwollschal, der hinter ihr herflatterte, während sie den Bürgersteig entlangeilte. »Oh, da ist sie!«, flüsterte Harold und stieß mich in die Seite. Wir blieben beide auf dem Bürgersteig stehen und glotzten ihr mit offenem Mund entgegen. Würde sie etwas zu uns sagen? Würde ich den Mut aufbringen, etwas zu ihr zu sagen? Mein Herz hämmerte und meine Lippen klickten nervös. Harolds Kopf ruckte auf und ab. Wie bei einem Huhn. Dazu stieß er ein verängstigtes Glucken aus. Mein armer Bruder. Ihn so zu sehen, ließ mich meine eigene Angst vergessen. »Vanessa...!«, rief ich. Sie ging ohne zu zögern weiter, mit ihren typischen langen, gleitenden Schritten. Ihr Schal wehte hinter ihr drein. »Vanessa ...!« Noch einmal rief ich ihren Namen. Ihr Gesicht zeigte einen fast feierlichen, konzentrierten Ausdruck. Ich glaube, dass sie Harold und mich noch gar nicht wahrgenommen hatte. Schließlich blieb sie stehen und schaute uns über die Straße hinweg an, so als ob sie uns nicht erkennen würde. »BLAAAACK, BLAAACK!«, gackerte mein Bruder zornig. Das brachte sie dazu, die schwarz bemalten Lippen zu einem Lächeln zu verziehen. Sie lachte und ihre dunklen Augen blitzten. Sie strich sich das glatte, schwarze Haar zurück. »Ich wünsche dir auch black, black!«, rief sie. »Hühnchen, Hühnchen!« Damit wandte sie sich ab und eilte weiter.
»Blaaack - warten Sie!«, rief Harold ihr nach. Sein Kopf ruckte wild auf und ab. »Sie müssen uns helfen!«, schrie ich mit klickenden Lippen. Doch Vanessa ging nur noch schneller. Ihr schwarzes Haar wehte hinter ihr her und sie schaute nicht zurück. Wir fanden Anthony im Vorgarten vor seinem Haus, mit einem Golfschläger in der Hand. Er hatte sich diesen so genannten Putter von seinem Dad ausgeliehen und in der Mitte des Rasens ein Loch gegraben. Während wir über das Gras liefen, sahen wir ihm dabei zu, wie er einen Ball in weitem Bogen schlug und versenkte. Triumphierend reckte er beide Daumen in die Höhe. »Irre, was? Ich habe geübt.« »Irre«, murmelte ich. Ich hatte noch immer Vanessa im Kopf, war völlig durcheinander und hatte Angst. »Blaack, gaack«, sagte Harold. Anthony starrte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Was ist los, Leute? Meine Eltern kommen zu eurer Grillparty. Aber ich muss zum Fußballtraining. « Anthony holte den Ball aus dem Loch und entfernte sich ein paar Schritte vom Ziel. Er legte den Ball auf den Boden, beugte sich über den Putter und setzte zu einem neuen Schlag an. »Anthony, ist dir irgendetwas Sonderbares passiert?«, platzte ich heraus. »Ja«, schaltete Harold sich ein. »In den letzten beiden Tagen - irgendetwas echt Unheimliches?« Anthony schwang den Golfschläger. Es gab ein lautes Flop, als der Schläger den Ball traf. Der Ball flog übers Gras und landete nur wenige Zentimeter vom Loch entfernt. Anthony richtete den Blick auf uns. »Ja «, antwortete er.
»Es ist tatsächlich etwas Seltsames passiert. Woher wisst ihr das?« »Weil - BLAAACK - uns dieselbe unheimliche Sache passiert ist«, erklärte ich ihm. Verblüfft starrte er mich an. »Was?« Harold und ich nickten. Anthony verzog das Gesicht. Er tat so, als ob er den Golfschläger eingehend betrachtete. »Ihr meint, ihr habt auch plötzlich angefangen, unheimlich gut zu putten?«, fragte er. Nun waren wir an der Reihe, überrascht zu sein. »Zu putten? Du meinst, das Loch zu treffen? Was hat denn das damit zu tun?«, rief ich. »Nun, das ist ja das Merkwürdige«, antwortete Anthony. »Bis zu diesem Wochenende war ich lausig im Putten. Eine Katastrophe. Ich konnte nicht mal Minigolf spielen!« »Und weiter?«, fragte Harold. »Und dieses Wochenende bin ich plötzlich echt gut darin«, fuhr Anthony fort und ließ den Schläger in der Hand wirbeln. »Findet ihr das nicht auch merkwürdig?« »Aber... aber... aber...«, stammelte ich. »Was ist mit sprießenden Federn?«, wollte Harold wissen. »Und was ist mit deinen Lippen?« Auf Anthonys Gesicht machte sich Ratlosigkeit breit. Er wandte sich mir zu. »Was ist denn mit deinem Bruder los? Dreht er jetzt völlig durch oder was?« »Gackerst du andauernd?«, fragte Harold Anthony. Anthony lachte, aber er unterbrach sich jäh. »Ich kapier's nicht. Soll das ein Witz sein oder so was?« Ich zog meinen Bruder mit mir zur Einfahrt. »Er hat keine Ahnung, wovon wir reden«, flüsterte ich. »Aus irgendeinem Grund ist ihm das alles nicht passiert.« Harolds Kopf ruckte auf und ab. Er stieß ein leises
Gackern aus. »Lass uns gehen«, sagte ich. »Anthony ist uns keine Hilfe.« »Ich komme bei dem Witz nicht mit«, wiederholte Anthony. »Man - BLAAACK - sieht sich!«, rief ich ihm zu und schob Harold in Richtung Straße. »Wir müssen beim Grillen helfen.« »Vielleicht komme ich nach dem Fußballtraining vorbei«, rief Anthony. »Hebt mir ein Hühnchen auf!« »Klar, machen wir«, murmelte ich niedergeschlagen. Die ersten Gäste der Grillparty trafen bereits ein. Ich erkannte Tante Normas roten Honda in der Einfahrt. Und ich sah Familie Walker, die in derselben Straße wohnte wie wir, um das Haus herum nach hinten gehen. Verstohlen huschte ich ins Haus und rannte hinauf in mein Zimmer. Ich hätte Mom gern erzählt, was mit Harold und mir vor sich ging. Aber mir war klar, dass sie zu beschäftigt war. Sie würde mir nicht zuhören. Behutsam schloss ich die Tür hinter mir. Ich wollte nicht, dass mich irgendjemand sah, bevor ich mich nicht selbst betrachtet hatte. Natürlich entdeckte ich am Hals und auf den Schultern den Ansatz weißer und brauner Federn. Sie ragten nur ein kleines Stück aus der Haut hervor. Deshalb war es ziemlich schwierig, sie auszurupfen. Für die kleineren musste ich eine Pinzette zu Hilfe nehmen. Rupf. Rupf. Rupf... Au. Tat das weh! Ich hörte Stimmen aus dem Garten hinterm Haus. Und
durch das Fenster konnte ich den wirbelenden Rauch der Holzkohlengrills sehen. Igitt. Ich hatte den Duft von gegrillten Hähnchen immer geliebt, doch jetzt wurde mir schlecht davon. Ich fühlte, wie sich mir der Magen umdrehte. Ich würgte. Ich hielt mir die Hand vor den Mund - den Schnabel! -und wartete darauf, dass die Übelkeit nachließ. Ich bleibe in meinem Zimmer, beschloss ich. Ich werde nicht hinuntergehen. Doch dann hörte ich meine Mom, die aus der Küche nach mir rief. »Ich komme!«, schrie ich. Mir blieb keine Wahl. Ich musste hinuntergehen. Ich drückte mir selbst beide Daumen. Meine Finger fühlten sich auf einmal schrecklich knochig und dürr an. Die Fingernägel waren lang und spitz. Vielleicht bemerkt ja niemand, was mit mir vorgeht, hoffte ich inständig. Zögerlich ging ich hinunter in die Küche. Mom hatte ihr Haar zu einem Knoten gebunden. Sie trug eine lange weiße Schürze, die mit Grillsaucenflecken übersät war. Sie mischte Salat in einer großen Schüssel. Doch sie hielt inne, als ich in die Küche geschlichen kam. »Harriet, wo hast du gesteckt? Die Gäste trudeln ein. Du musst rausgehen und mich als Gastgeberin vertreten, bis ich hier drin fertig bin.« »Okay, Mom. Kein Problem«, antwortete ich und gackerte ein paar Mal leise. »Sieh nach, ob genug Eiswürfel da sind«, wies Mom mich an. »Und sag deinem Dad, dass er vielleicht mehr Holzkohle braucht. Wir...« Plötzlich unterbrach sie sich und schnappte nach Luft. Sie starrte zum Fenster hinaus. »Harriet, was um alles in der Welt macht dein Bruder da draußen?« Ich trat neben sie und schaute aus dem Fenster. »O nein!«, rief
ich. Ich konnte einfach nicht glauben, was ich da sah.
Harold war in den abgezäunten Hühnerhof geklettert und hockte auf Ellenbogen und Knien, ringsherum umgeben von Hühnern. »Was tut er da?«, wiederholte Mom und legte erschreckt eine Hand an die Wange. Mir war klar, was er da machte. Ich wusste aber auch, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war, Mom alles zu erzählen. Nicht jetzt, wo zwanzig Gäste auf ihr Essen warteten. Ich schaute aus dem Fenster. Harold pickte Körner von der Erde auf. Ich sah zu, wie er den Kopf auf den Kies senkte, wie seine Lippen sich öffneten und wie die Zunge hervorglitt. Ich beobachtete, wie er Hühnerfutter aufpickte. Sein Kopf ruckte in die Höhe, als er es schluckte. »Wieso benimmt sich dein Bruder vor allen Leuten so dämlich?«, fragte Mom kopfschüttelnd. »Findet er das etwa witzig?« »Keine Ahnung, Mom«, antwortete ich. Harold senkte erneut den Kopf und pickte mehr Körner aus dem Kies. Einige Leute lachten über ihn. Andere starrten ihn entgeistert an. »Geh bitte raus und sag ihm, er soll damit aufhören«, wies Mom mich an und wandte sich wieder der Salatschüssel zu. »Hol ihn ins Haus, Harriet. Ich erwarte eine Erklärung von ihm.« »Okay, Mom«, murmelte ich.
Einige Sekunden lang sah ich Harold noch dabei zu, wie er Körner aufpickte. Dann ging ich zur Küchentür hinaus und steuerte über den Rasen hinterm Haus auf den Hühnerhof zu. »Harold?«, rief ich leise und stieg über den Maschendrahtzaun. »Gaaack, gaaack - Harold?« Ich hatte wirklich vor, ihn ins Haus und zu Mom zu bringen. Ich hatte wirklich vor, ihn von den Hühnern wegzuholen. Aber die Körner sahen so lecker aus! Ich scheuchte ein paar Hühner aus dem Weg, ließ mich auf die Knie fallen, senkte den Kopf - und pickte drauflos. Ich glaube, dass ich am nächsten Tag in der Schule nicht ein Wort von dem mitbekam, was irgendjemand sagte. Ich musste ständig an das Grillfest denken. Natürlich hatten all unsere Gäste gedacht, dass das, was Harold und ich machten, so etwas wie ein Scherz sein sollte. Sie verstanden den Witz dabei zwar nicht, aber sie waren sich sicher, dass es ein Scherz sein musste. Mom und Dad waren ernsthaft sauer. Sie hätten unsere Hilfe gebraucht, aber wir waren zu eifrig damit beschäftigt, Körner aufzupicken, als dass wir ihnen zur Hand hätten gehen können. Mom verstand die Welt nicht mehr, als Harold und ich uns später weigerten, auch nur ein Häppchen gegrilltes Huhn zu essen. »Das war doch immer eure Leibspeise!«, rief sie. Jetzt nicht mehr, dachte ich betrübt. Beim bloßen Gedanken daran, Hühnerfleisch zu essen, hatte ich das Gefühl, meine Innereien würden nach außen gestülpt werden! Am nächsten Morgen benötigte ich Harolds Hilfe, um alle Federn an meinem Hals und auf den Schultern
auszurupfen. Ein paar große weiße Federn sprossen auf meinem Rücken, wo ich sie nicht selbst erreichen konnte. Wir brauchten volle zwanzig Minuten, um alle Federn auszureißen, die über Nacht gewachsen waren. Wir versteckten sie unter meinen Pullovern in einer Kommodenschublade. Wir wollten nicht, dass Mom und Dad sie sahen, bevor wir Gelegenheit hatten, ihnen alles zu erklären. Der Schultag verstrich. Ständig juckten mein Nacken und der Rücken. Ich betete im Stillen darum, dass die Federn nicht nachwuchsen, solange ich in der Schule war. Und ich betete darum, dass mich kein Lehrer im Unterricht aufrief. Ich gackerte zunehmend. Das Sprechen wurde richtig anstrengend für mich. Nach der Schule stand für meine Mannschaft ein Spiel gegen eine Mädchenmannschaft aus dem Nachbarbezirk auf dem Plan. Schon die ganze Woche lang hatte ich mich darauf gefreut. Doch nun wollte ich nur schleunigst nach Hause, bevor mich irgendein Kind dabei ertappte, wie ich gackerte oder auf dem Sportplatz nach Körnern pickte. Ich verstaute meine Bücher im Schließfach und wollte mich gerade zur Schultür hinausstehlen, als Mrs. Clay, die Trainerin, um die Ecke bog. »Harriet, ich habe dich gesucht!«, rief sie. »Gack?«, antwortete ich. »Hilary hat sich eine böse Erkältung eingefangen. Deshalb setze ich dich bei dem Spiel heute gleich von Anfang an ein«, erklärte sie mir. »Gack ...«, setzte ich zu einer Antwort an. Doch sie ließ mich nicht zu Wort kommen. Sie legte mir die Hände auf die Schultern, drehte mich herum und schob mich zum Umkleideraum. »Ich bin sicher, du wirst großartig spielen«, sagte sie. »Geh und zieh dich um.«
»Gack«, sagte ich. Normalerweise wäre ich völlig aus dem Häuschen gewesen! Ich würde von Anfang an spielen als Stürmerin. Davon hatte ich das ganze Jahr über geträumt! Während ich in meinen Sportdress schlüpfte, kamen die anderen Mädchen zu mir, klopften mir auf die Schulter und wünschten mir viel Glück. Vielleicht schaffe ich es, sagte ich mir. Vielleicht kann ich ihnen wirklich zeigen, was für eine glänzende Spielerin ich bin. Doch kaum hatte das Spiel begonnen, da wusste ich, dass ich in Schwierigkeiten steckte. In gewaltigen Schwierigkeiten.
Unsere Mannschaft holte sich den Ball beim Eröffnungssprung. Ich drehte mich um und lief zum Korb der gegnerischen Mannschaft. Beim Laufen beugte ich mich nach vorne und mein Kopf ruckte auf und ab. Auf und ab. Auf und ab. Aus meiner Kehle ertönte ein leises Gackern. Ich versuchte mich aufzurichten, aber das konnte ich nicht. Unsere Mittelfeldspielerin platzierte einen Wurf, verfehlte aber leider den Korb. Sofort rannten wir alle zurück zum anderen Korb. »Neeeiin«, stöhnte ich. Zu meinem Entsetzen stellte ich fest, dass ich nicht laufen konnte, ohne mit dem Kopf zu nicken. Ich schielte zur Seitenlinie hinüber - und sah, dass mich
die Trainerin anstarrte. »Harriet, was machst du da?«, rief sie. Ich hörte, dass einige Kinder über mich lachten. »Harriet, hör auf herumzublödeln«, schimpfte Gina, die andere Stürmerin. Das Spielgeschehen bewegte sich auf den Korb der gegnerischen Mannschaft zu und ich rannte darauf zu. Mein Kopf wippte auf und ab. Mir fiel auf, dass ich steifbeinig lief. Meine Knie ließen sich nicht mehr abbiegen! Plötzlich kam der Ball auf mich zugeflogen. Ich konnte ihn nicht fangen. Meine Hände steckten in den Achselhöhlen fest und die Ellenbogen standen seitlich wie Flügel ab. Ich stieß ein lautes Gackern aus, als der Ball an meiner Schulter abprallte, und mein Kopf ruckte aufgeregt auf und ab. Die anderen Mädchen aus meiner Mannschaft schrien mich wütend an. Ich sah, wie Mrs. Clay an der Seitenlinie den Kopf schüttelte. Mädchen aus der anderen Mannschaft lachten. Ich rannte über das Spielfeld und versuchte beim Laufen die Hände unter den Achseln hervorzuziehen. Mein Kopf nickte, die Lippen klickten, aber ich war machtlos dagegen. Ich schaute nach unten - und blieb mit einem Ruck stehen. Nein! Meine Beine. An meinen Beinen wuchsen von oben bis unten weiße Federn. Und alle konnten sie sehen. Ich hörte eine Pfeife trillern. Der Schiedsrichter unterbrach das Spiel. Meine Mannschaftskameradinnen liefen zu unserer
Bank, aber ich sauste in die entgegengesetzte Richtung davon. Ich rannte aus der Turnhalle und zur Schule hinaus. Am liebsten wäre ich immer weitergerannt und hätte nie wieder angehalten. Während des Abendessens versteckte ich mich in meinem Zimmer. Ich war schrecklich niedergeschlagen -und voller Angst. Ich hätte Mom und Dad gern alles erzählt, aber was war, wenn sie mir nicht glaubten? Wenn sie das Ganze für einen Scherz hielten? Nach dem Abendessen mussten Mom und Dad in die Schule zu einem Treffen des Elternbeirates. Harold und ich warteten, bis wir den Wagen abfahren hörten, dann watschelten wir hinunter ins Wohnzimmer. Schon lagen wir auf den Knien und pickten Krümel aus dem Teppich. Mein ganzer Körper war mit weißen und braunen Federn bedeckt. Es würde Stunden dauern, sie auszurupfen. »Ich - gaaaack - ich habe solche Angst«, stotterte Harold. »Ich auch«, gestand ich ihm und pickte eine große Fluse auf. »Harriet, was machen wir jetzt nur?«, fragte Harold leise. »Ich weiß es nicht«, wollte ich gerade sagen. Doch dann war mir plötzlich sonnenklar, was wir zu tun hatten.
Wir schlichen uns hinaus in die kalte, windige Nacht. Meine Federn sträubten sich im böigen Wind. Der bleiche Halbmond
über uns verschwand immer wieder hinter Wolkenfetzen. Harold und ich gingen die Straße entlang, die in den Ort führte. Wir gaben uns Mühe, rasch voranzukommen. Unsere Beine waren steif und die Knie ließen sich kaum abbiegen. Als die Scheinwerferstrahlen eines Autos uns entgegenkamen, huschten wir schnell hinter eine niedrige Hecke und versteckten uns leise gackernd. Wir wollten nicht, dass uns irgendjemand so sah. Und wir wollten auch nicht, dass uns jemand fragte, wohin wir unterwegs waren. Wir schlichen uns an den Rückseiten der Läden entlang und durchquerten den Ort. Bäume wisperten und schwankten, als der Wind zunahm. Die Luft wurde drückend und feucht. Ich spürte ein paar Regentropfen auf der Stirn. Ein süßer Duft ließ mich tief einatmen. Er kam aus der Bäckerei. Mrs. Wagner bäckt bereits die Donuts für morgen früh, stellte ich fest. Ein trauriger Aufschrei entfuhr meinem Schnabel. Würde ich jemals wieder in der Lage sein, Donuts zu essen? Oder würde ich für den Rest meines Lebens Nahrung vom Boden aufpicken? Harold und ich bogen in den Feldweg ab, der zu Vanessas altem Farmhaus führte. Kaum hatten wir der Stadt den Rücken gekehrt, wurde die Nacht dunkler -und kälter. Unsere Schritte dröhnten laut auf dem harten Untergrund, als wir den Weg entlangtrotteten. Minuten später konnte ich den schwarzen Umriss von Vanessas Haus ausmachen, der sich vor dem grauen Himmel abhob. »Was werden wir - GAAACK - ihr sagen?«, wollte Harold mit leiser Stimme wissen. Ich wischte mir einen Regentropfen aus der Augenbraue. Meine Hand fühlte sich rau und kratzig an, meine Finger waren hart wie Knochen.
»Ich werde ihr - BLAAACK - sagen, wie sehr es uns Leid tut«, antwortete ich. »Ich werde ihr sagen, dass wir ihr die Lebensmittel nicht mit Absicht aus der Hand gestoßen haben, dass es aus Versehen passiert ist. Und wie Leid es uns tut, dass wir nicht stehen geblieben sind und ihr dabei geholfen haben, die Sachen einzusammeln. GAAAACK.« Wir erreichten Vanessas Holzzaun. Das Tor stand offen und schlug im Wind auf und zu. Ich richtete die Augen auf das Haus. Es schien wie ein geducktes, dunkles Ungeheuer im hohen Gras zu hocken. Nirgends war Licht zu sehen. War sie bereits schlafen gegangen? »Ich - ich - blaaack - glaube, sie ist nicht zu Hause«, wisperte Harold. »Natürlich ist sie daheim«, erwiderte ich giftig. »Wo sollte sie - gaaaack- denn sonst sein? In Goshen Falls gibt es nichts, wo man nachts hingehen könnte.« Wir traten durch das Tor. Ich versuchte, es hinter uns zu verriegeln, damit es nicht mehr laut zuschlug, aber der Riegel war abgebrochen. »Was sagen wir, wenn wir uns entschuldigt haben?«, fragte Harold zaudernd. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter und führte ihn mit mir zur Haustür. »Dann bitten wir sie, den Zauberbann von uns zu nehmen«, gackerte ich. »Wir bitten sie, uns so zurückzuverwandeln, dass wir wieder wie vorher sind.« »Glaubst du, dass sie das tun wird?«, fragte er mit kläglicher Stimme. »Ich weiß es nicht«, entgegnete ich. »Aber wir werden es bald herausfinden.« Ich klopfte an die Haustür.
Nichts geschah. Das Tor hinter uns fiel mit einem Knall zu. Erschrocken fuhren Harold und ich zusammen. Ich holte tief Luft und schlug mit meiner dürren Faust noch einmal an die Tür. Wir warteten, den Blick erwartungsvoll auf die Haustür gerichtet, und lauschten dem rauen Wispern der Bäume und dem Klappern des Tors. Im Haus herrschte Stille. Enttäuscht seufzte ich und wandte mich meinem Bruder zu. »Du hattest Recht. Vanessa ist nicht zu Hause.« Wir gingen rückwärts vom Haus weg. Wolken zogen vor dem Mond vorbei. Das Fenster an der Hausfront glänzte im silbernen Mondlicht. »Komm, wir werfen einen Blick hinein«, sagte ich entschlossen. Wir schlichen zum Fenster und spähten, auf Zehenspitzen stehend, ins Wohnzimmer hinein. Im weißen Mondschein konnte ich die dunklen Schemen von Möbeln ausmachen. Altmodische Sessel mit hohen Rückenlehnen. Eine lange, mit Kissen bedeckte Couch. Bücherregale, die vom Boden bis zur Decke reichten. Alles sah sehr alt aus. Aber ich konnte nichts Merkwürdiges oder gar Furcht erregendes entdecken. Da fiel mein Blick auf einen Stoß Bücher. Sie lagen aufeinander gestapelt auf einem kleinen quadratischen Tisch neben der Couch. Die Bücher waren groß und dick und selbst im fahlen Licht konnte ich sehen, dass ihre Einbände alt und
verwittert waren. Als ich mich blinzelnd im Raum umsah, entdeckte ich zwei weitere Bücher, die aufgeschlagen auf dem Tischchen vor der Couch lagen. »Harold...«, flüsterte ich, während mein Herz zu hämmern begann. »Siehst du diese alten Bücher? Glaubst du, das sind Zauberbücher?« »Was?« Er drückte das Gesicht gegen die Fensterscheibe. »Was meinst du?« »Du weißt schon. GAAACK. Bücher mit Zaubersprüchen. Die sehen doch so aus, als könnten sie alte Zauberbücher sein - findest du nicht?« Er nickte. »Ja, schon möglich.« Ich zupfte ihm unter dem Kinn eine Feder aus. »Auuu«, jaulte er. »Wieso hast du das gemacht?« Ich zuckte mit den Achseln. »Entschuldige. Sie hat mich gestört.« Ich wandte das Gesicht wieder dem Fenster zu und starrte auf die alten Bücher. »Lass uns gehen«, drängte Harold und zog mich am Arm. »Sie ist nicht da.« »Aber die Bücher sind da«, entgegnete ich und riss mich von ihm los. »Und wenn das wirklich Zauberbücher sind, könnten wir vielleicht das richtige Buch finden. Du weißt schon, blaaaack, mit dem richtigen Zauberspruch. Und dann könnten wir uns selbst in unsere normale Gestalt zurückverwandeln!« Harold rollte mit den Augen und klickte mit dem Schnabel. »Na klar. Und ich schlage gleich mit den Armen und lege ein Ei!« »Sei nicht so gemein«, maulte ich. »Vielleicht ist es wirklich keine gute Idee, aber es ist wenigstens überhaupt eine Idee.« Ich zog ihn mit zur Haustür, drehte den Türknauf und
drückte. Die schwere Tür öffnete sich knarrend. »Blaaaack. Lass uns nur rasch einen Blick auf die Bücher werfen«, sagte ich zu meinem Bruder, während ich in die kühle Dunkelheit des Hauses trat. »Was haben wir schon zu verlieren?« Ich zog Harold in den Flur. Das Haus roch nach Kaffee und pfefferartigen Gewürzen, irgendwie süß und scharf zugleich. Ich schlich voran ins Wohnzimmer. Silbriges Licht fiel durch das Fenster, das nach vorne hinausging, herein. Die Dielen ächzten bei jedem unserer Schritte. Neben der Couch blieb ich stehen und starrte auf den Bücherstapel. Ich streckte die Hand nach dem obersten Buch aus -als mich plötzlich ein wütendes Kreischen erstarren ließ. »Ohhh!« Ich zog die Hand zurück. »Vanessa...!«, rief Harold.
Mir stockte der Atem, und mein Herz setzte einen Schlag lang aus. Ich fuhr herum - und sah Vanessas Katze auf die hohe Lehne eines alten Sessels springen. Die Augen der Katze blitzten golden im fahlen Licht. Sie bleckte die Zähne und fauchte noch einmal zornig. »Ich - ich dachte schon, es wäre Vanessa«, murmelte Harold mit erstickter Stimme. »Diese Katze -gaaaack - will uns hier nicht haben.« »Keine Angst, wir bleiben nicht lange«, erklärte ich der Katze und winkte Harold zur Couch herüber. »Hilf mir die Bücher durchzusehen. Wenn wir das richtige finden ...«
Als Harold an dem Sessel vorbeikam, streckte ihm die Katze die Krallen entgegen. »He ...!« Harold wich ihr aus. »Katzen mögen Hühner nicht«, flüsterte ich. Ich nahm eines der aufgeschlagenen Bücher vom Couchtisch, hielt es mir dicht vors Gesicht und versuchte im trüben Licht den Titel zu entziffern. Die Schrift war fleckig. Der schwere Einband war vom Alter verwittert und mit einer dicken Staubschicht überzogen. »Ich kann es nicht lesen«, sagte ich zu Harold. Ich sah, wie er auf die Wand zusteuerte. »Ich schalte das Licht an«, schlug er vor. Wieder fauchte die Katze. »Nein, tu das nicht!«, rief ich. »Kein Licht. Falls Vanessa zurückkommt, wollen wir doch nicht, dass sie uns sieht.« Ich rieb mit dem Finger über den Titel und versuchte angestrengt, ihn zu entziffern. »He, das glaube ich nicht!«, rief ich freudestrahlend. »Was ist los, Harriet?«, rief Harold. »Hast du etwas gefunden ...« Bevor ich antworten konnte, ging das Licht an. »Ohhh!«, schrie ich auf, als ich Vanessa an der Wand stehen sah.
Ich wich taumelnd zurück und das Buch fiel mir aus der Hand. Es knallte vor meinen Füßen auf den Boden. »Vanessa, ich...« Ich schluckte schwer. Und da erst stellte ich fest, dass ich ein Gemälde
anstarrte. Ein riesiges Ölporträt von Vanessa, das an der Wand hing. »Oh, wow!«, rief ich. »Dieses Gemälde - es ist beinahe lebensgroß. Ich dachte...« Ich wandte mich zu Harold um. Er stand neben dem Lichtschalter und starrte auf das riesige Porträt. »Hast du das Licht eingeschaltet?«, wollte ich wissen. »Ja«, antwortete er. »Tut mir Leid. Ich wollte dich nicht - BLAAACK, GAAAACK - erschrecken. Ich dachte, du könntest dann besser den Buchtitel lesen.« Der Buchtitel! »Harold, ich glaube, ich habe das richtige Buch gefunden!«, rief ich. »Es war gleich das allererste Buch, das ich in die Hand genommen habe.« Ich bückte mich und hob das alte Buch aufgeregt vom Boden auf. Ja! »Harold, sieh mal!«, rief ich aus und hielt das Buch in die Höhe. »Es heißt: Hühnchen, Hühnchen, Hühnchen. Das muss es sein! Wenn ich in dem Buch die Formel finden kann, die Vanessa benutzt hat...« »Dann können wir den Zauber vielleicht rückgängig machen!«, vollendete Harold begeistert den Satz. Ein lauter Knall von draußen ließ uns beide zusammenfahren. Die schwarze Katze sprang maunzend von der Sessellehne hinunter und huschte geräuschlos aus dem Zimmer. »War das das Tor - oder war es Vanessa?«, rief ich. Harold schaltete das Licht aus und wir lauschten wie erstarrt. Ich presste das alte Buch fest an die Brust. Nun herrschte Stille. Aber nach ein paar Sekunden ertönte wieder ein lauter Knall. Es war nur das Gartentor, das im Wind schlug.
»Lass uns von hier verschwinden«, flüsterte ich und schaute zur Zimmertür. »GAAAACK«, antwortete Harold, drehte sich um und stakste steifbeinig auf die Tür zu. Trotz des schwachen Lichtes konnte ich sehen, dass ihm im Nacken ein dichtes Büschel Federn gewachsen war. Im Flur stand Vanessas Katze und machte einen Buckel, als wollte sie uns angreifen. Wir drückten uns vorsichtig an ihr vorbei. »Braves Kätzchen, braves Kätzchen«, murmelte ich, aber ihr zorniger Ausdruck änderte sich nicht. Ich öffnete die Tür. Eine kräftige Windbö blies herein und hätte mir die Klinke beinahe aus der Hand gerissen. Harold und ich traten hinaus und ich zog die Tür zu. Auf dem Nachhauseweg schleppte ich das schwere Buch fest an die Brust gedrückt. Wir stemmten uns gegen den Wind. Mein Haar flatterte wie ein Wimpel hinter mir her. Goshen Falls lag in Dunkelheit gehüllt. Die Läden schlossen alle früh. Nur die Tankstelle an der ersten Ecke war hell erleuchtet. Im Laufschritt eilten Harold und ich in der Mitte der Straße unseres Weges. Ich konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen und die Zauberformel zu finden, mit der Vanessa uns verhext hatte. Endlich kam unser Haus in Sicht. Die Einfahrt war noch immer leer. Mom und Dad waren von ihrem Elternabend in der Schule noch nicht zurück. Gut!, dachte ich. Vielleicht kann ich den Spruch finden und Harold und mich zurückverwandeln, bevor sie nach Hause kommen. Das Buch noch immer an die Brust gepresst, ging ich die Treppe hinauf in mein Zimmer. Harold folgte mir und schloß die Tür hinter uns.
Ich ließ mich auf der Bettkante nieder und legte das große Buch auf meinen Schoß. Harold stellte sich leise gackernd neben mich und schaute mir dabei zu, wie ich, die Augen wegen der winzigen Schrift zusammengekniffen, die vergilbten Seiten rasch durchblätterte. »Und?«, wollte Harold ungeduldig wissen. »Ist er drin? Ist der Zauberspruch in dem Buch?« Ich antwortete nicht. Wild entschlossen blätterte ich weiter und überflog hastig jede Spalte. Schneller und schneller. Mein Herz hämmerte, während ich Seite für Seite umwendete. »Na?«, fragte mein Bruder. »Was ist nun?« Angewidert schlug ich das Buch zu. »Neeeiiin!«, heulte ich und warf das Buch aufs Bett. »Harold«, schrie ich und schüttelte niedergeschmettert den Kopf, »wir haben einen schrecklichen Fehler gemacht!«
Harold stieß ein entsetztes Glucksen aus. Die weißen und braunen Federn im Nacken standen ihm zu Berge. »Harriet, was ist los?«, fragte er keuchend. »Es ist das falsche Buch!«, schrie ich und sprang vom Bett auf. Ich hinterließ einen Haufen Federn an der Stelle, wo ich gesessen hatte. »Das ist ein Kochbuch! Das ganze Buch ist voller Rezepte für Hühnchengerichte!« »Igitt!«, rief Harold. Beim bloßen Gedanken daran stieg eine Welle von Übelkeit in mir hoch. Plötzlich juckten meine Arme. Als ich darauf hinunterschaute, sah ich, dass sich auf meiner Haut weiße Federn sträubten. »Wir müssen noch mal zu Vanessa gehen«, erklärte ich
meinem Bruder. Dabei klickte mein Schnabel laut. Mittlerweile überragte er bereits das Kinn. Meine Zähne zogen sich ins Zahnfleisch zurück und würden bald völlig verschwunden sein. Ich hatte die größte Mühe, überhaupt noch Wörter zu bilden. Harold schluckte. »Wir sollen zurückgehen?« »Ja, bevor es zu spät ist«, wisperte ich. »Bevor wir uns vollständig in Hühnchen verwandelt und gar nichts Menschliches mehr an uns haben.« Er schluckte wieder geräuschvoll, antwortete aber nicht. Ich hievte das Buch hoch und stakste zur Zimmertür. Doch als ich einen Blick auf mein Abbild im Spiegel über der Kommode erhaschte, blieb ich erschrocken stehen. Meine Augen! Mein Kopf! Meine Augen waren klein und rund geworden und die Form meines Kopfes veränderte sich ebenfalls. Er wurde schmäler. Die Augen lagen nun weit auseinander und verschoben sich zu den Seiten des Kopfes hin. »Nein! O neeeiiin!« Ich öffnete den Schnabel und stieß ein jämmerliches Heulen aus. »Komm schon, wir müssen uns beeilen!«, drängte Harold und nahm mich bei der Hand. Federn streiften Federn. Auf unseren Handrücken spross eine dichte Schicht kurzer weißer Federn. »Ja, Beeilung!«, wiederholte ich mit ruckendem Kopf. Wir liefen die Treppe hinunter und zur Tür hinaus. Hinaus in die stürmische dunkle Nacht. Ich verspürte den heftigen Drang, mich zu bücken und ein paar Kieselsteinchen von der Einfahrt aufzupicken. Aber ich unterdrückte ihn und lief zur Straße hinunter. Wir mussten uns beeilen zurückzukommen. Zurück zu Vanessas Haus.
Würden wir es rechtzeitig schaffen? Normalerweise legte man die Strecke in zehn Minuten zurück. Doch diesmal brauchten Harold und ich viel länger. Das lag zum einen daran, dass unsere Hühnerbeine so steif waren, und zum anderen ist das Sehen viel schwieriger, wenn sich die Augen auf verschiedenen Seiten des Kopfes befinden! Der starke Wind ließ etwas nach, als wir schließlich Vanessas Farmhaus erreichten. Das fahle Mondlicht warf Schatten auf das Dach aus brüchigen Schindeln. Die Fenster waren noch immer dunkel. Wir lehnten uns an den Zaun, rangen nach Luft und beobachteten das Haus. Es gab kein Anzeichen dafür, dass Vanessa zurückgekehrt war. Das schwere Kochbuch an die Brust gedrückt, trat ich durch das Tor und ging auf die Haustür zu. Auch diesmal ließ sie sich mühelos öffnen. Harold und ich traten ins Haus und atmeten den sonderbaren, würzigen Geruch ein, der es erfüllte. »GAAAACK, Vanessa?«, rief ich. »Hallo? Jemand zu Hause?« Ein gelbes Augenpaar funkelte uns vom Treppengeländer aus entgegen. Die schwarze Katze gähnte. Sie schien überhaupt nicht überrascht, uns wieder zu sehen, aber danach zu schließen, wie sie uns anstarrte, war sie ganz und gar nicht begeistert davon, dass erneut jemand in ihr Zuhause eindrang. »Sie ist nicht da«, flüsterte Harold. »Wir sollten -BLAAACK, BLAAACK - schnell machen.« Ich legte das Kochbuch auf den Couchtisch und wandte mich dem Bücherstapel neben der Couch zu. Aber während ich mich umdrehte, stach mir eine Schüssel auf dem Couchtisch ins Auge. Sonnenblumenkerne! Ich konnte nicht widerstehen. Ich steckte den Kopf in
die Schüssel und begann, die leckeren Körner mit den Schnabel aufzupicken. »Harriet, was tust du?«, rief Harold in heiserem Flüsterton. »Geh weg da!« Er schnappte sich ein Buch vom Stapel und blätterte es wie ein Wilder durch. Ich pickte schnell noch ein paar Körner auf, ehe ich ebenfalls ein Buch zur Hand nahm. Harold stieß ein triumphierendes Gackern aus. »Diese Bücher sind alles Zauberbücher!«, verkündete er. »Du - BLAAACK - hast Recht«, pflichtete ich ihm bei. »Hunderte und aberhunderte von Zaubersprüchen.« Flink blätterte Harold die Seiten seines Buches durch. Seine Augen rotierten buchstäblich! »Wie sollen wir jemals den richtigen finden?«, fragte er. »Ich glaube, ich habe ihn gerade entdeckt«, erklärte ich ihm. Ich schleppte das Buch ans Fenster und hielt es ins Mondlicht, um besser sehen zu können. Ja! »Was steht darin?«, fragte Harold aufgeregt. Er ließ sein Buch fallen und kam durch das Zimmer zu mir. »Hier ist eine ganze - GAAAACK - Seite mit Zaubersprüchen zu Hühnern«, antwortete ich und hielt das Buch noch dichter ans Fenster. »Dieser hier heißt: ›Menschen in Hühner verwandeln‹ Das klingt doch genau richtig, oder etwa nicht?« »Nein. Such: ›Hühner in Menschen verwandeln‹«, rief Harold. Ich ließ die Augen über die Seite wandern. »So einen Zauberspruch gibt es hier nicht«, erklärte ich ihm. »Wir werden die Formel ›Menschen in Hühner verwandeln‹ einfach umdrehen.« »Gut, dann los!«, rief Harold. Sein gefiederter Kopf ruckte erregt auf und ab. »Dreh ihn um! Mach schon. Was
müssen wir tun?« Ich sah, dass er kaum ruhig stehen konnte, so aus dem Häuschen war er. Er klemmte die Hände unter die Achselhöhlen, drehte die Ellenbogen nach außen, als wären es Flügel - und lief gackernd im Kreis herum. »Harold, BLAAACK, GAACK, GAAACK!«, schimpfte ich ihn. Doch er kümmerte sich nicht um mich und gackerte unverdrossen weiter, schlug mit den Armen wie mit Flügeln und drehte auf dem Boden kleine Kreise. Ich wandte mich wieder dem Buch zu und las die Zauberformel sorgfältig durch. Sie sah nicht besonders kompliziert aus und man brauchte keine besonderen Zutaten dafür. Es war nur eine Reihe von Wörtern, die man rasch hintereinander aufsagen musste. Und zwischendurch musste man eine Menge gackern und einen einfachen Tanz aufführen. Als Letztes musste man dem Buch zufolge auf die armen Opfer deuten und »Hühnchen, Hühnchen!« flüstern, genauso wie Vanessa es bei uns gemacht hatte. »Es sieht ziemlich einfach aus«, sagte ich zu Harold. »Hör auf herumzutanzen, dann versuche ich es.« Er blieb stehen und schaute mich an. »Vergiss nicht, zu GAAACK, BLAACK«, rief er. Ich wusste sofort, was er meinte. Er erinnerte mich daran, den Zauberspruch rückwärts aufzusagen. Hmmm... ich überflog die Formel. Das würde nicht so einfach werden, aber ich hatte keine Wahl. Ich musste es versuchen. Das schwere Buch in der einen Hand haltend, deutete ich mit der anderen Hand auf Harold und dann auf mich. »Hühnchen, Hühnchen«, flüsterte ich. Ich sah zum unteren Rand der Seite und fing an die Worte von rechts nach links und unten nach oben zu lesen:
»GACK, GACK, GLUCK. GLUCK, GACK, GACK, GLUCK.« Die Formel schrieb vor, dass ich drei Schritte nach vorn und zwei nach rechts machte. Also ging ich zwei Schritte nach links und drei zurück. Ich bewegte meinen dürren Hühnerfinger über die Worte und achtete gewissenhaft darauf, sie rückwärts zu lesen. »GLUCK, GACK, GLUCK, GACK. GACK, GACK, GLUCK.« Dann trat ich, den Anweisungen umgekehrt folgend, zwei Riesenschritte vor und drei normale Schritte nach rechts. Ich schlug mit den Armen und gackerte viermal. Schließlich las ich die ersten Wörter der Zauberformel oben auf der Seite: »GACK, GACK, GLUCK, GACK. GACK, GLUCK, GACK.« Das war alles. Das war die ganze Zauberformel. Ich war sie vollständig in umgekehrter Reihenfolge durchgegangen. Würde sie wirken? Würde der umgedrehte Zauberspruch Harold und mich in unsere normale Gestalt zurückverwandeln ? Würde er überhaupt etwas bewirken? Ja. Plötzlich fühlte ich mich seltsam. Meine Arme und Beine fingen wie verrückt zu jucken an, und überall an meinen Armen schossen Federn heraus. Das Buch fiel mir aus der Hand und knallte lärmend auf den Boden. Vor meinen Augen funkelten eiförmige Flecke. Dann verblassten die Flecke, das Zimmer färbte sich violett und begann sich zu neigen. »He - irgendetwas geht vor sich!«, schrie Harold mit dünner Stimme. Er klang weit, weit weg. Ja, irgendetwas geht hier vor sich, stimmte ich ihm zu, während ich mich am Fensterbrett festklammerte, um nicht
umzufallen. Irgendetwas geschieht hier. Aber was?
Mir war schrecklich schwindlig. Das ganze Zimmer schaukelte und schwankte. Plötzlich schien der Boden weit entfernt. Ich blinzelte. Einmal, zweimal. Aber noch immer schien der Boden eine Meile weit unter mir zu liegen. »GACK, GACK, Harold...!« Ich drehte mich zu meinem Bruder um und stieß vor Schreck ein schrilles Gackern aus. Nun war mir klar, wieso der Boden so tief unten lag. Harold und ich waren GEWACHSEN! Wir waren keine Hühnchen mehr. Wir waren riiiiiiesengroße Hühner! »Ich - ich bin so groß wie ein Pferd!«, schrie ich. Ich sah nach oben. Die Zimmerdecke befand sich nur drei, vier Zentimeter über meinem Kopf. Harold stöhnte entgeistert auf. Er zitterte am ganzen Leib, wodurch sich große Federn lösten und zu Boden segelten. Er schlug aufgeregt mit den Armen, und da fielen noch mehr Federn von ihm ab. Ich sah, wie Vanessas schwarze Katze in den Flur zurückwich. Ihre gelben Augen waren vor Angst weit aufgerissen. Sie machte einen Buckel, stellte den Schwanz in die Höhe und fauchte uns wütend an. Ich trat einen Schritt auf Harold zu. Dabei wippte mein gewaltiger gefiederter Körper vor mir auf und ab. »Ich - ich muss - BLAAAAACK - etwas falsch gemacht haben!«, erklärte
ich meinem Bruder. Harold hüpfte auf und ab und klickte mit dem Schnabel, brachte aber keinen Ton heraus. Schließlich keuchte er halb erstickt: »Harriet, probier es noch einmal.« Ja, er hatte Recht. Ich musste noch einmal versuchen, die Zauberformel umzukehren. Möglicherweise konnte ich uns ja nicht in Menschen zurückverwandeln. Aber vielleicht konnte ich uns wenigstens zu unserer normalen Größe schrumpfen. Ich bückte mich, um das Buch auf dem Boden zu suchen. Es war schwer zu finden. Ich war so groß, dass mir das Buch so klein wie eine CD-Hülle vorkam! Es war auch nicht einfach, es aufzuheben. Es rutschte mir ständig zwischen den dünnen Hühnerfingern hindurch. Mir kam es vor, als dauerte es Stunden, bis ich die Zauberformel endlich wieder gefunden hatte. Ich hielt mir das kleine Buch dicht vor das rechte Auge und begann, die Zauberformel erneut rückwärts durchzugehen. Bitte, bitte, flehte ich im Stillen. Lass es mich diesmal richtig machen. Bitte lass es mich schaffen, Vanessas Zauberbann rückgängig zu machen. Ich beendete die Formel mit dem Schlusssatz: »GACK, GACK, GLUCK, GACK. GACK, GLUCK, GACK.« Würde es funktionieren? Ich hörte, wie Harold am anderen Ende des Zimmers ein unterdrücktes Gackern ausstieß. Wieder begann ich mich seltsam zu fühlen. Die eiförmigen Flecken blitzten vor meinen Augen auf, blendeten mich mit ihrer Helligkeit. Ich schloss die Augen und konnte fühlen, wie der Raum kippte und schwankte. Ich versuchte mich an irgendetwas festzuklammern, doch meine Hände griffen nur ins Leere. »Ooooh!«, stöhnte ich leise, als ich fühlte, dass ich zu
fallen begann. Ja, ich fiel... und fiel... Als ich die Augen öffnete, wusste ich nicht, wo ich mich befand. Das Zimmer war verschwunden. Ich war von Dunkelheit eingeschlossen. Umgeben von... Oje! Ich schaute zu dem Buch auf. Das Zauberbuch - es lag neben mir auf dem Boden. Doch es war gewachsen! Das Buch überragte mich! »Tschiep, tschiep!«, schrie ich. »Tschiep, tschiep, tschiep«, hörte ich Harolds klägliche Antwort. Ich fuhr herum und schaute mich nach ihm um. »Tschiep?« »Tschiep, tschiep!« Er war ein kleines gelbes Küken! Ich schluckte. Mir war klar, was das bedeutete. Es bedeutete, dass ich auch ein winziges Küken war! Ich hatte den Zauber rückgängig gemacht - aber zu sehr! Ich versuchte zu sprechen - aber ich brachte nur ein klägliches tschiep, tschiep zu Stande. Meine winzigen Füße tappten über den Holzboden. »Tschiep, tschiep?«, fragte Harold. Der arme kleine Kerl hörte sich schrecklich verängstigt an. Mein winziges Herz schlug heftig in meiner gefiederten gelben Brust. Auf einmal packte mich eine fürchterliche Wut. Warum musste uns das passieren? Wieso dachte Vanessa, sie hätte das Recht, uns das anzutun? Wie von Sinnen klopfte ich mit meinem kleinen Schnabel auf den Boden. Ich hatte keine andere Möglichkeit, meinen Ärger herauszulassen. Doch mir blieb nicht viel Zeit, wütend zu sein, denn plötzlich ließ mich eine dunkle, schemenhafte Bewegung den
Blick heben. Ich sah einen riesigen Schatten. Nein, keinen Schatten. Es war Vanessas Katze. Die Katze hockte neben einer altmodisch aussehenden Schreibmaschine auf dem Schreibtisch. Dann sprang sie auf den Boden, wobei ihr Schwanz gegen die Schreibmaschine peitschte. Rasch und lautlos durchquerte die Katze den Raum und ragte über mir auf. Ihre Augen glühten vor Erregung. Sie zog die Lippen zurück und bleckte gewaltige Zähne. »Tschiep, tschiep!«, piepste ich. Ich erstarrte vor Angst. Die Katze sprang los. Ich spürte, wie sich ihre Pfoten um meinen winzigen, weichen Körper legten. Und dann drückten die Pfoten zu.
Ich versuchte zu strampeln und mit den Armen um mich zu schlagen, um mich loszureißen. Doch ich war der riesigen Katze hilflos ausgeliefert. Sie drückte mich mit ihren gewaltigen Pfoten, bis ich kaum mehr atmen konnte. Dann nahm sie meinen Kopf zwischen die Pfoten und hob mich hoch. Immer höher und höher. Ein paar Sekunden lang ließ mich die Katze in der Luft hängen. Ich wollte schreien, wollte mich losreißen. Aber ich war hilflos. Zu schwach und zu klein, um irgendetwas ausrichten zu können. Die Augen der Katze blitzten, als sie mich vor ihrem Gesicht hin- und herbaumeln ließ. Schließlich riss sie das Maul weit auf - und stopfte mich hinein.
Ohhh, der heiße Atem der Katze fegte über mich hinweg. Im Inneren des Mauls war es schrecklich heiß und ekelhaft klebrig und nass. »Tschiep, tschiep, tschiep!«, quiekte ich. Die Katze rollte mich mit der Zunge im Maul herum. Und dann - zu meiner Verblüffung - spuckte sie mich aus. Ich fiel auf den Boden und landete hart auf der Seite. Hinter mir konnte ich Harold kläglich piepsen hören. Ich rappelte mich auf. Ich wollte Reißaus nehmen. Aber die Katze packte mich wieder und hob mich mit ihren groben Pfoten vom Boden hoch. Sie hatte den Kopf ein wenig zur Seite geneigt. Ich sah an ihren Zähnen Speichel glänzen, fühlte, wie ihr heißer, übel riechender Atem erneut über mich hinweg blies. Wird sie mich diesmal verschlingen?, fragte ich mich. Wird sie mich ins Maul schieben und hinunterschlucken? Nein. Das schnurrende Ungeheuer ließ mich wieder auf den Boden plumpsen. Ich landete auf dem Rücken. Meine winzigen Beinchen strampelten in der Luft. Bevor ich mich aufrappeln konnte, packte mich die Katze wieder - dieses Mal bei den Beinen, und ließ mich vor ihrem aufgerissenen Maul hin- und herpendeln. Sie spielt mit mir, dämmerte es mir. Die Katze spielt mit ihrem Futter! Und wenn sie mit Spielen fertig ist... dann wird sie mich fressen! Ich konnte Harold unten auf dem Boden piepsen hören. Die Katze hielt mich mit einer Pfote fest und ließ mich vor ihrem Gesicht baumeln. Dann stieß sie mich mit der anderen Pfote an, sodass ich mich drehte. Vom Kreiseln wurde mir schwindelig. Ich schloss die Augen und wieder ließ mich die Katze auf den Boden fallen. Ich landete auf der Seite und blieb liegen. Ich fühlte
mich schrecklich schwach und verängstigt. Ich versuchte noch nicht einmal, mich zu bewegen. Stoßweise atmend wartete ich darauf, dass die Katze wieder auf mich losging. Wartete darauf, zu fühlen, wie mich ihre Pfoten packten. Wartete darauf, erneut in die Luft gehoben zu werden. Wartete... Als sie nicht wieder angriff, hob ich den Kopf. Ich strengte mich an, klar zu sehen. Wo war sie? Ich konnte meinen Bruder entsetzt piepsen hören. Langsam rappelte ich mich auf. Ich sträubte die Federn, die von meinem Aufenthalt im Katzenmaul feucht und klebrig waren. Wo war die Katze? Wieso hatte sie aufgehört, mich zu quälen? Da ging das Licht an. »Iieeep!« Ich quiekte schrill, als sich ein riesiges Gesicht zu mir herabsenkte. Vanessa! »So, so!«, dröhnte ihre Stimme in meinen kleinen Ohren. »Was haben wir denn hier?« Ihre Hand ergriff mich und hob mich vom Boden auf.
Sie packte erst mich, dann schnappte sie sich auch Harold. Sie setzte uns auf ihre Handfläche und hielt uns dicht vor ihr bleiches Gesicht. Ihre schwarz bemalten Lippen verzogen sich zu einem zufriedenen Lächeln. »Wie ich sehe, habt ihr kleinen Küken mein Zauberbuch
gefunden«, höhnte sie. »Lasst mich raten. Ihr müsst Harriet und Harold sein.« Aufgebracht hopsten wir auf und ab. Vanessa lachte. »Ihr beiden seid ja so süß!«, rief sie. »Was für ein Jammer, dass ich euch eine Lektion erteilen musste.« Sie schüttelte den Kopf. »Tss, tss.« »Tschiep, tschiep!«, sagte ich. Ich wollte sie fragen, warum sie Harold und mir das angetan hatte. Ich wollte ihr versprechen, dass wir -was auch immer es war, was ihren Zorn erregt hatte - es nie wieder tun würden. Ich wollte von ihr verlangen, dass sie uns auf der Stelle zurückverwandelte. Doch alles, was ich herausbrachte, war ein Tschiep! »Was mache ich bloß mit euch beiden?«, fragte Vanessa. Ihre dunklen Augen funkelten. »Soll ich euch auf die Straße setzen? Es ist ein langer Weg von hier bis zu euch nach Hause. Wahrscheinlich würdet ihr unterwegs gefressen werden!« »Tschiiieep!«, bettelten Harold und ich. Wie konnten wir uns ihr verständlich machen? Wie konnten wir mit ihr reden? Plötzlich kam mir eine Idee. Die alte Schreibmaschine auf dem Schreibtisch! Vanessa hielt Harold und mich genau darüber. Ich schaute hinunter. Ein leerer Bogen Papier war in die Maschine eingespannt. Ja!, dachte ich. Unsere letzte Chance. Ich überlegte keine Sekunde länger. Ich sprang Vanessa aus der Hand und landete mit einem lautem Plop auf dem Schreibtisch. »He, Küken ...!«, hörte ich Vanessa verdattert rufen. Sie senkte die Hand, um mich wieder zu packen. Doch ich hüpfte rasch auf die Tasten der Schreibmaschine, senkte den Kopf und begann mit meinem harten Schnabel drauflos zu picken.
Ich pickte ein V, hopste dann nach links und pickte auf das A. Als Vanessas Hand auf mich zukam, um mich zu schnappen, glitt ich zurück zur unteren Reihe und tippte ein N. Vanessas Hand hielt nur Zentimeter über mir inne. Verstand sie, was ich da tat? War ihr klar, dass ich eine Botschaft an sie verfasste? Das E lag fast ganz oben auf der Tastatur. Ich stolperte über die Tasten und hätte beinahe den falschen Buchstaben angeschlagen. Doch dann tippte ich das E, hopste zurück und pickte zweimal das S. Ich blickte auf. Ja! Sie schaute zu. Harold saß ruhig auf ihrer Hand. Sie beugte sich über den Schreibtisch und starrte mit ihren dunklen Augen auf das Blatt Papier. Als ich schließlich fertig war, rang ich nach Atem. Mein kleines Herz hämmerte. Das war wirklich harte Arbeit gewesen! Aber ich hatte die Botschaft vollständig getippt: VANESSA, ES TUT UNS LEID. WIR WOLLTEN DIE LEBENSMITTEL NICHT AUSSCHÜTTEN. WIR SIND GEKOMMEN, UM UNS ZU ENTSCHULDIGEN. Erschöpft ließ ich mich auf den Schreibtisch fallen. Ich war so ausgepumpt, dass ich mich kaum noch rühren konnte. Ich drehte mich um und hob den Blick zu Vanessa. Würde sie uns helfen? Würde sie unsere Entschuldigung annehmen? Würde sie uns unsere normale Gestalt zurückgeben? Vanessa brachte das Gesicht ganz nahe an mich heran. »Eure Entschuldigung kommt ein bisschen zu spät«, sagte sie kalt. »Es gibt nichts, was ich für euch tun kann.«
Harold stieß ein herzzerreißendes Tschiep aus. Ich erhob mich mit einem Seufzer und stolperte müde zurück auf die Tasten der Schreibmaschine. BITT, tippte ich, mit dem Schnabel pickend. Ich war so überanstrengt, dass ich nicht mehr die Kraft hatte, das E am Ende anzuschlagen. Hoffnungsvoll schaute ich zu Vanessa auf. Sie blickte auf das Wort hinab, das ich getippt hatte, und klopfte sich mit den schwarzen Fingernägeln ans Kinn. »Nun ...«, sagte sie schließlich. »Mir gefällt die Art, wie du Bitte sagst.« Sie hob mich behutsam hoch und setzte mich neben Harold auf ihre Handfläche. »Höflichkeit ist so wichtig«, sagte Vanessa, während sie sich uns vors Gesicht hielt. »Besonders bei jungen Menschen. Das ist mir wichtiger als alles andere auf der Welt: gute Manieren.« Ihre dunklen Augen, mit denen sie uns fixierte, verengten sich. »An diesem Tag vor dem Lebensmittelladen«, schimpfte sie, »habt ihr euch nicht dafür entschuldigt, dass ihr in mich hineingerannt seid. Also blieb mir gar keine andere Wahl. Ich musste euch bestrafen.« Sie musterte uns. »Tss, tss.« Also deshalb war Anthony nicht auch in ein Huhn verwandelt worden! Bevor er davonlief, hatte Anthony Vanessa zugerufen, dass es ihm Leid täte. Hätten Harold und ich uns damals doch nur entschuldigt! Dann wären wir heute keine piepsenden kleinen Küken. Aber woher hätten wir denn wissen sollen, dass Vanessa so versessen auf gute Manieren war? Sie trug uns zu einem hohen Bücherregal und hielt uns dicht vor die Bücher. »Seht ihr meine Sammlung?«, fragte sie.
»Das sind alles Benimmbücher. Dutzende und aberdutzende von Büchern über Manieren. Ich habe mein Leben guten Manieren gewidmet.« Sie schaute uns mit strengem Blick an. »Wenn die Kinder heutzutage doch bloß nicht so rüpelhaft wären! Ich wünschte, ich könnte euch beiden helfen. Das würde ich wirklich gern. Aber eure Entschuldigung kam zu spät. Viel zu spät.« Sie setzte uns beide auf dem Schreibtisch ab. Ich schätze, ihre Hand wurde langsam müde. Sie rieb sie sanft mit der anderen Hand. Was nun?, fragte ich mich. Würde sie uns so, wie wir waren, nach Hause schicken? Vanessa hatte Recht. Harold und ich würden nie dort ankommen. Irgendein Hund oder eine Katze oder ein Waschbär würde uns zum Abendessen verputzen, bevor wir auch nur ein oder zwei Straßenblocks weit gekommen waren. Ich piepste voller Panik. Die winzigen Federn standen mir zu Berge. Was konnten wir tun? Da kam mir eine letzte, verzweifelte Idee. Noch einmal kletterte ich auf die Tastatur der Schreibmaschine und fing zu tippen an... DANKE FÜR DIE ERKLÄRUNG UND DANKE, DASS SIE SICH BEMÜHT HABEN UNS BEIZUBRINGEN, HÖFLICH ZU SEIN. MIT FREUNDLICHEN GRÜSSEN, IHRE HAROLD UND HARRIET. Ich sagte doch, es war eine verzweifelte Idee. So verzweifelt, wie das einem Hühnchen überhaupt möglich ist. Trotzdem schaute ich zu Vanessa auf und beobachtete sie dabei, wie sie es las. Hoffte... hoffte ... »Das glaub ich nicht!«, rief Vanessa aus. Sie zog das Blatt aus der Schreibmaschine und las es noch einmal. »Ein Dankeschön!«, rief sie. »Du hast mir ein Dankeschön
geschrieben!« Sie schaute uns mit einem strahlenden Lächeln an. »Kein Kind schreibt heute jemals ein Dankeschön!«, sagte sie begeistert. »Das ist die höflichste Geste, die ich je erlebt habe!« Sie tanzte damit herum. »Ein Dankeschön! Das ist tatsächlich ein Dankeschön!« Und dann wandte sie sich zu uns um, zeigte mit dem Finger erst auf Harold, dann auf mich. Sie murmelte ein paar Worte und deutete wieder auf uns. »Aaah!«, schrie ich, als ich spürte, wie ich wuchs. Ich fühlte mich wie ein Ballon, der aufgeblasen wurde. All mein gelber Flaum fiel von mir ab. Mein Haar wuchs wieder. Meine Arme ... meine Hände! »Jippie!«, rief ich. Harold fiel in mein Jubelgeschrei ein. Wir waren wieder ganz die Alten! Vanessa hatte uns in unsere normalen Gestalten zurückverwandelt! Wir zwickten uns gegenseitig, um uns zu vergewissern, dass wir nicht träumten. Dann warfen wir den Kopf zurück und lachten überglücklich! Vanessa lachte ebenfalls. Wir lachten alle ausgelassen miteinander. Schließlich drehte Vanessa sich um und marschierte in die Küche. »Ich hole euch beiden etwas zu trinken«, erbot sie sich. »Ich weiß, wie durstig so ein Zauberbann einen machen kann.« »Danke!«, rief ich, weil ich nur zu gut wusste, wie wichtig es war, höflich zu Vanessa zu sein. »Ja - danke!«, setzte Harold laut hinzu. Wir grinsten uns gegenseitig an. Noch einmal zwickten wir uns. Haut! Richtige Haut - ganz ohne Federn! Ich bewegte die Lippen, leckte mit der Zunge darüber. Es waren weiche menschliche Lippen, die nicht klickten. Vanessa kehrte mit zwei Gläsern Limonade zurück.
»Ich weiß, dass Kinder gern Cola trinken«, sagte sie. Sie reichte ein Glas mir und eines Harold. »Trinkt es aus«, drängte sie uns. »Ihr habt eine Menge durchgemacht.« Ich war wirklich schrecklich durstig. Dankbar trank ich ein paar große Schlucke Cola. Es war kühl und prickelte auf der Zunge. Wunderbar! Viel besser als Krümel vom Teppichboden. Wow. Ich war so glücklich, wieder ich selbst zu sein! Als ich den Blick hob, sah ich, wie Harold das Glas an den Mund setzte und die Cola hinunterkippte. Er hatte ebenfalls großen Durst. Als er ausgetrunken hatte, ließ er das Glas sinken -und ließ den lautesten Rülpser los, den ich je gehört hatte! Harold lachte schallend los. Ich konnte nicht anders - der Rülpser war so komisch gewesen, dass ich ebenfalls losprustete. Ich lachte noch immer, als Vanessa vor mich trat. Was hat sie denn jetzt schon wieder?, fragte ich mich. Da streckte sie den Finger aus und zeigte erst auf Harold, dann auf mich. Und flüsterte: »Ferkel, Ferkel.«
ENDE