Ich, Creanna Version: v1.0
Llandrinwyth, im Jahr des Herrn 1728 Das gefräßige Licht verschlang alles: Die entweihte Ki...
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Ich, Creanna Version: v1.0
Llandrinwyth, im Jahr des Herrn 1728 Das gefräßige Licht verschlang alles: Die entweihte Kirche. Das Dorf. Die Menschen. Und die Ratten. Die Ratten traf es zuerst. Denn sie waren nur erlöschende Trugbilder jenes furchtbaren Gefäßes, das mordend vorn auf dem steinernen Altar stand. Llandrinwyth wurde von allen künftigen Land karten getilgt, und selbst diejenige, die den Untergang ein geleitet hatte – die »schwefeläugige Hexe« –, konnte sich nur unter Aufbietung all ihrer Kraft aus dem entfesselten Infer no retten. Den gestohlenen Lilienkelch und das damit ge zeugte Kind nahm sie mit. Dies ist die Geschichte jenes Kin des …
Was bisher geschah In Sydney ist der Teufel los: Überall dort, wo sich Traumzeit-Relikte der australi schen Schöpferwesen, der Wondjinas, befinden, wuchert seit Liliths Erwachen eine mysteriöse, stoffliche Schwärze, die die Schöpferwesen mutieren läßt. Menschen dre hen unter ihrem Einfluß durch, bringen sich selbst oder andere um oder zerstören Dinge. Beth wird von ihrer Redaktion auf ein Pärchen angesetzt, das eine bevorste hende Apokalypse prophezeit – und verfällt beinahe deren Suggestivkraft. Sie folgt den beiden zu einem Hochhaus in der City und sieht sie in einen Lift steigen, der ganz nach oben fährt … Ein Botaniker-Paar, das im Bergland der tasmanischen Insel campiert, identifi ziert einen Wald aus Huon-Kiefern als einen einzigen, uralten Organismus. Ein Schöpferwesen wohnt darin, das die Forscher nach ihrer Entdeckung nicht mehr wegläßt. Die vom Vampirkeim befreiten Menschen versammeln sich am Treffpunkt, wo in fünf Tagen Lilith zu ihnen stoßen soll, als plötzlich ein von den guten Wondjinas er zeugtes Trugbild Warners auftaucht und sie zu dem tasmanischen »Kiefernwald« beordert. Fast gleichzeitig trifft dort aber ein Abgesandter der bösen Schöpferwesen ein und infiziert den Baum mit der magischen Seuche. Lilith beschließt, dem »Hochhaus der Endzeit-Propheten« einen Besuch abzustat ten. Und hat ihre erste Begegnung mit den Traumzeit-Dämonen. Sie erfährt, daß alle Menschen im weiten Umkreis von jener Schwärze angezogen und vereinnahmt werden. Lilith sucht die Helfer auf, die das Haus ihr versprochen hat – und erkennt, daß auch sie von der Seuche infiziert wurden. Trotzdem erhält sie Hilfe: Sie entdeckt in den Resten des Kiefernwaldes einen Zweig, in den sich der sterbende Wondjina zu rückzog, als die Seuche über ihn kam, und seinen Tod in der Pflanze konserviert hat. Sie nimmt den Zweig mit, als sie ein zweites Mal in das Hochhaus eindringt. Der konservierte Tod kommt über die Dämonen und … vernichtet sie? Lilith weiß es nicht; ihr genügt es, lebend aus dem Gebäude zu kommen. Ihr Symbiont dagegen hat schweren Schaden genommen und verfällt in einen Traum, den Lilith direkt miterlebt …
Die Hauptpersonen des Romans Lilith Eden – Tochter eines Menschen und einer Vampirin, dazu gezeugt, eine geheimnisvolle Bestimmung zu erfüllen. Für 98 Jahre lag sie schlafend in einem lebenden Haus in Sydney, doch sie ist zu früh erwacht – die Zeit ist noch nicht reif. Sie muß gegen die Vampire kämpfen, die in ihr einen Ba stard sehen, bis sich ihre Bestimmung erfüllt. Dabei hilft ihr ein Symbiont. Der Symbiont – ein geheimnisvolles Wesen, das Lilith als Kleid dient, obwohl es fast jede Form annehmen kann. Einst gehörte es Creanna und wurde von ihr an Lilith weitergereicht. Der Symbiont ernährt sich von schwarzem Vampirblut und verläßt seine Wirtin bis zu deren Tod nie mehr. Creanna – Liliths Mutter brach das eherne Gesetz der Vampire und gebar nach der Vereinigung mit einem sterblichen Menschen ein lebendiges Kind. Ihr Tod bei Liliths Geburt war unausweichlich, doch sie nahm ihn auf sich, um ihre Tochter jener geheimnisvollen Bestimmung zuzuführen. Landru – Mächtigster der alten Vampire und der Mörder von Liliths Va ter. Seit 267 Jahren jagt er dem verlorenen Lilienkelch nach, dem Unheilig tum der Vampire, ohne den es keinen Nachwuchs geben kann. Landru scheint irgendeine Schuld auf sich geladen zu haben – welche, ist noch un klar. Die »schwefeläugige Hexe« – Einst stahl sie den Lilienkelch und tauchte damit unter. In dem walisischen Dorf Llandrinwyth stahl sie ein Baby und taufte es mit dem Kelch auf den Namen Creanna. Sie ist eine Vampirin, doch ihre Identität ist weiterhin ungeklärt. Die Dienerkreaturen – Tötet ein Vampir einen Menschen mit seinem Biß, wird dieser kein vollwertiger Blutsauger, sondern eine Kreatur, die dem Vampir bedingungslos gehorcht. Seinerseits kann eine Dienerkreatur den Vampirkeim nicht weitergeben, benötigt aber Blut zum (ewigen) Leben und wird – anders als die Ur-Vampire – mit zunehmendem Alter immer lichtempfindlicher.
Ich erinnere mich an den Schmerz der ersten Tage. An das Ziehen in meinen Gliedmaßen und in den Knochen, die fühlbar wuchsen, Tag für Tag und Nacht für Nacht. An Schlaf war nicht zu denken. Mein Geist wehrte sich gegen das vermeintliche Kindsein, in dem er gefangen war. In einem Körper, dessen Unzulänglichkeiten mich um den Verstand zu bringen drohten, und es tröstete wenig, daß mein Wille ihn dennoch täglich ein Stück besser beherrschte. Ich erinnere mich an Orte von dumpfer Armut, durch die wir selbst wie Bettler zogen, um unerkannt zu bleiben. Als wir das Tal von Llandrinwyth in den Bergen von Snowdonia verließen, konnte ich kaum laufen, und das Sprechen fiel mir schwer, obwohl ich schon genau gewußt hätte, was ich sagen wollte. Von Anfang an sah ich die Welt, als wäre ich immer hier gewesen. Feindschaft ist eines der Wörter, deren Bedeutung ich nicht zu er lernen brauche, weil sie mir in die Wiege gelegt wurden. Feindschaft, Haß, Egoismus, Blut … Ich bin anders als diejenigen, denen wir täglich begegnen. Ich gehöre zu jenen, die geschaffen werden, den Menschen zu knechten. Die sich seiner bedienen nach Belieben, und ich sehne den Tag herbei, da ich endlich meinen ewigen Hunger selbst stillen darf. An diesem Tag – das spüre ich – werden meine Schmerzen schlag artig verstummen und wird mein Körper seine volle Reife erlangt haben. Dann werde ich ganz dem Bild einer Frau entsprechen, das jetzt schon in mir vorhandenen ist … »Wann, Mutter …?« frage ich jeden Tag unruhiger. »Wann ist es endlich soweit?« »Bald, meine Schöne«, antwortet sie stereotyp. »Bald, meine Häßli
che …«
* Viele Monde später, Deutschland Als wir Nürnberg erreichen, ist es Schlag Mitternacht. Ich brauche keine Uhr, um mir sicher zu sein. Ich bin eine Uhr. Ich bin so vieles, von dem ich selbst noch nichts ahne … Mutter hat erzählt, daß diese Stadt von einer riesigen Mauer um faßt würde. Aber als ich sie jetzt mit eigenen Augen vor mir auf wachsen sehe, spüre ich eine Beklemmung, wie ich sie nicht erwar tet hätte. Menschen sollen diese Feste gebaut haben? Gegen andere Men schen? »Haben Sie denn keinen Kodex?« frage ich. »Manche behaupten, einen zu haben«, erwidert sie ruhig und gelas sen. Ich habe noch keine Frau unter den Menschen gesehen, die Mutter an Schönheit und Ausstrahlung auch nur nahe käme. Ihr Haar im Mondlicht ist von betörend kupferfarbenem Glanz. Keine Sonne vermag es besser in Szene zu setzen. Ihre Lippen sind voll (sinnlich?), und ihre Augen sind die einer unbezwingbaren Raubkat ze. Ich habe Mutter einige Male nackt oder fast nackt gesehen. Sie hat große, schwere Brüste, deren Höfe fast so rot sind wie ihr Haar, nur von stumpferem Ton. Sie ist schlank und besitzt doch an den rechten Stellen die Üppigkeit des geborenen Weibes. Überall, wo wir hinkommen, entfacht ihr Anblick Bewunderung und Begehren. Wenn diese närrischen Menschen wüßten.
Wenn sie wüßten, in welche Kriegerin sich Mutter jederzeit ver wandeln kann …! Ich zügele den freien Lauf meiner Gedanken. Mutter fordert nicht zu Unrecht immer wieder Disziplin von mir. Disziplin … Ich verehre Mutter, aber ich hasse dieses Wort. Zwei Torwächter verstellen uns den Weg, als wir einen der vier Haupttürme inmitten der steinernen Stadtummantelung erreichen. »Heda, wer kommt so spät …?« Die Stimme klingt furchtlos. Der Mann, der spricht, ist jung und stark, und er hält jetzt seine Laterne hoch, um uns in die Gesichter zu leuchten. Unsere Pferde scharren nervös. Mutter und ich sehen auch ohne künstliches Licht. Uns genügen ein paar Sterne – und weniger. »Laßt uns durch, wir suchen Unterkunft. Ein langer Weg liegt hin ter uns.« Schon Mutters Stimme läßt beide zusammenzucken. Dabei ist dies ihre nette Art, etwas zu fordern. »Kennt ihr jemanden in der Stadt?« fragt der weniger attraktive Wächter, der sich im Hintergrund hält und dessen Knochen mit so feistem Fleisch umhüllt sind, daß es einem jegliche Lust nimmt, ihn in Stücke zu reißen. »Ja, und jetzt laßt uns durch!« »Wen?« Sein Ton wird trotziger. »Nennt mir den Namen!« Er hat schwarzes, widerspenstiges Haar. Es paßt zu ihm, aber es ändert nichts daran, daß er fett und unansehnlich ist. Vielleicht beschließt Mutter erst in diesem Moment, ihr Spiel mit beiden zu eröffnen. Rauchig sagt sie: »Er führt die Herberge am Tu gendbrunnen bei der St. Lorenz Kirche. Karl Ortlieb der Name …«
Er blickt immer noch zweifelnd, obwohl ihm der Name etwas zu sagen scheint. »Habt ihr Papiere?« Er ist bewaffnet mit einer Hellebarde. Ein lächerliches Spielzeug. Aber dies, sagt Mutter, soll auch die Stadt der Spielzeugmacher sein. »Steigt herab! Weist euch aus!« Geschmeidig gleitet Mutter aus dem Sattel. Ich verstehe nicht, warum sie sich dazu herabläßt, dem Fetten das Gefühl zu geben, wichtig zu sein. Als ich ihr folgen will, fange ich den Blick des anderen auf. Zum erstenmal sehe ich, daß jemand nicht allein gefangen ist von Mutters Erscheinung. Die Blicke dieses Jünglings haften an mir. Ein wohliger Schauder durchfährt mich. Hitze, die sich tief in mei nem Unterleib sammelt. Ich wußte nicht, daß ich schon soweit bin, obwohl die Schmerzen in meinen Knochen schon seit Würzburg nicht mehr rumoren. Nach kaum merklichem Zögern stehe auch ich neben meinem ras sigen Hengst. Mutters Stute tänzelt nervös. Die Nacht ist kalt. Weiße Nebelfah nen lösen sich von den Nüstern der Tiere. »Du willst also«, sagt Mutter zu dem Fetten, »daß wir uns auswei sen?« Sie trägt einen weiten Mantel über dem eng geschnürten Kleid. Ihr Haar ist hochgesteckt. Kleidung und Frisur ähneln der meinen. Dennoch komme ich mir plump ihr gegenüber vor. Sie hat eine unnachahmliche Grazie, sich zu bewegen, selbst wenn sie tötet. Der Fette nickt. »Es ist ungewöhnlieh, daß zwei schöne Frauen nächtens ohne Schutz reisen.«
Mutters schallendes Lachen irritiert ihn zutiefst. Röte zieht sich über das weiche, von Bier und Schnaps aufgedunsene Gesicht. »Was gibt es zu lachen?« fragt er wütend. »Wer sagt, daß wir schutzlos sind? Du armseliger Bastard! Komm her!« Er kommt. Seine Haltung ist schlagartig devot geworden. So unterwürfig, daß es dem Jüngling, der in meiner Nähe steht, auffallen muß. Mutter hält plötzlich einen Dolch in der Hand. Der Fette glotzt ihn an. Mutter faßt die Dolchklinge vorn zwischen Daumen und Zeigefin ger und hält dem Wächter den Schaft entgegen. »Nimm!« Er nimmt. Er stellt die Laterne auf den gepflasterten Boden. Seine schwieli gen Hände schließen sich um den Griff des Dolches. Neben mir stöhnt der zweite Wächter, als müßte er einen bösen Traum abschütteln. »Und jetzt«, befielt Mutter, ohne die Stimme zu heben, »zeig mir die Farbe deines Blutes.« Der Fette zögert keine Sekunde. Er hebt den Arm und stößt sich die Spitze des Dolches dicht neben dem Kehlkopf in den Hals. Als der Stahl eindringt, scheint ein dunkler Funke von einem Auge ins andere zu springen. Dann röchelt er und läßt die Hellebarde, die er mit der anderen Faust immer noch gehalten hat, fallen. Neben mir wandelt sich leises Stöhnen zum wilden Aufschrei. Ich sehe, wie sich Grauen ins Gesicht des Jünglings malt. Wie hübsch er ist! Ich fange Mutters Blick auf. In diesem Blick liegt ein Befehl an mich.
Ich begreife. Sie hat den Fetten aufgefangen, als wiege er nicht mehr als ein Sack Daunen. Nun preßt sie ihre Lippen gegen die Wunde, aus der das Blut wie aus einem Quell schießt. Der Wächter lebt noch, sonst würde der köstliche Saft nicht so machtvoll aus dem Gefäß gepumpt. Der Jüngling neben mir hebt erneut die Stimme. Diesmal – ich ahne es –, um Alarm zu schlagen. Zugleich bringt er die Hellebarde in Anschlag, um sie in Mutters Rücken zu stoßen. Ich aber fühle es. Fühle den Zwang, Mutter beizustehen. Ein dunkler Laut aus meiner Kehle läßt den Jüngling einhalten und zu mir blicken. Seine Augäpfel treten aus den Höhlen. Ich weiß nicht, was er sieht. Aber es lähmt ihn. Ich gleite auf ihn zu, ohne daß er die geringsten Anstalten macht, mir auszuweichen. Sein Mund klafft wie die von einer Axt in einen Baum gehauene Kerbe. Aus dem Spalt dringen Töne, die mich anfeuern. Die mich – zusammen mit dem Geruch des guten Blutes, das von dem Fetten herüberströmt – in einen Rausch der Sinneslust verfallen lassen. Meine Arme umschlingen den Hals, des Jünglings. Ich rieche die Ausdünstung, die sich in seinen Kleidern gesammelt hat. Ich rieche seine Angst und wage immer noch kaum zu glauben, daß Mutter mir erlaubt, es selbst zu tun. Das erste Mal kommt völlig unvorbereitet. Aber alles gelingt, als hätte ich es hundertmal getan. Sein Hals ist muskulös, aber meine Zähne finden den Weg. Das Klopfen der prallen Ader zieht mich an. Es ist der unwider stehliche Magnetismus des Blutes. Ich umklammere den Oberkörper meines Opfers, daß es keine
Möglichkeit der Gegenwehr gibt. Laterne und Hellebarde sind auch ihm entglitten. Er spürt nur noch mich in seinen Händen, und ich spüre ihn. Spüre die Härte seiner Muskeln und den herben Duft sei ner Haut. Noch fester presse ich meine knospenden Brüste gegen ihn. Er wird schwer und schwerer in meiner unüberwindlichen Um armung. Längst schon schweigt er. Ich aber trinke und trinke, als hätte Mutter mir nicht erst gestern reichlich von dem Elixier geschenkt. Mein Durst wird erst durch einen abgründigen Gedanken gestoppt. Ich flüstere ins Ohr des Jünglings und lasse ihn zu Boden gleiten. Mutter ist auch fertig. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie sie dem Fetten das Gesicht auf den Rücken dreht. Dann nimmt sie sei nen Hut und legt ihn dem Toten über die starren Züge. Rasch bücke ich mich und tue es ihr gleich. Unsere Pferde stehen noch dort, wo wir die Zügel losließen. In Mutters Augen funkelt es, als sie sagt: »Von nun an wirst du dir das, was dein Körper zum Leben braucht, selbst besorgen müssen. Du bist alt genug …« Ihre Worte bringen eine nie gehörte Saite in mir zum Klingen. Alt genug … Wie viele Wochen oder Monate sind das? Mein Körper ist in die ser kurzen Spanne voll erblüht. Mein Geist war es schon vorher. Mein Blick schweift zur Satteltasche von Mutters Stute. Ich weiß, was das matte Leder verbirgt und was es ausbeult. Ich weiß, was ich dem Kelch schulde … »Ist er tot?« fragt Mutter, ohne hinzusehen. »Ja.« Die Lüge geht mir glatt von der Zunge. Ich säubere meinen Mund. »Dann komm …«
* Hinter Tor und Graben liegt die Stadt in bleiernem Schlaf. Das Schlagen der Hufe auf dem naßglänzenden Pflaster ist weithin das einzige Geräusch. Wir reiten durch enge Gassen, und über allem hängt der Gestank von Unrat. Nur der Mond erhellt die Straßen und die armseligen Fassaden der Häuser. Neugierig wandern meine Bli cke über die Schilder der Gerber, Färber und Grobmetall verarbei tenden Handwerker. Schweigend erreichen wir die – ebenfalls dunkle – Herberge am Tugendbrunnen. Leises Plätschern lenkt meinen Blick auf steinerne Frauenbrüste, die Wasser in das runde Auffangbecken speien. Immer wieder hält Mutter kurz ein und lauscht in die Nacht, als könnte sie für mich unhörbare Schwingungen wahrnehmen. Ich weiß, daß wir vorsichtig sein müssen, denn schlimmer als die Menschen, die zu dieser Stunde in ihren Betten liegen, ist unsere Art. Sind jene, für die die Nacht zu den bevorzugten Zeiten der Jagd und der Ausschweifungen gehört … Mutter scheint einen siebten Sinn entwickelt zu haben, ihnen nicht zu begegnen. Mitunter glaube ich fast, sie steht in stummer Zwie sprache mit dem Kelch, der sie rechtzeitig vor Begegnungen mit Vampiren warnt. Das Herbergstor steht offen. Wir führen die Pferde in den verlasse nen Innenhof. Hier erst hebt Mutter wieder die Stimme: »Warte«, sagt sie. »Ich suche Karl.« Sie huscht eine steile Außentreppe hinauf und verschwindet in der ersten Etage des dreistöckigen Hauses. Ich zurre die Zügel beider Pferde an einen Balken und laufe unstet
durch den Hof. In der Nähe des Durchgangs, durch den wir gekom men sind, entdecke ich Vorrichtungen zum Besteigen und Entladen einer Kutsche. Überall züngelt Efeu die Fassade empor. Hühner ga ckern. Schritte signalisieren mir Mutters Rückkehr. In ihrer Begleitung ist ein gutgekleideter, etwa vierzigjähriger Mann mit markanten Zü gen, dessen saubere Erscheinung nicht unbedingt den Sitten der Zeit entspricht. Die meisten Menschen, denen ich bisher begegnet bin, kennen Wasser nur zum Trinken. Sich damit zu waschen käme den wenigsten in den Sinn … »Das ist Karl«, sagt Mutter und nickt in meine Richtung. »Und das ist meine Schöne, meine Häßliche: Creanna …« Er macht eine Verbeugung. Er gefällt mir. Ich ahne, daß ihn und Mutter mehr verbindet als eine flüchtige Be kanntschaft, der sie sich vorhin am Tor erinnert hat. Mit keinem Wort hat sie mir den Grund unserer Station in Nürn berg verraten. Aber ich brenne auch nicht gerade vor Neugier, es zu erfahren. Für mich ist alles, was ich sehe und erlebe, so unbeschreib lich neu und spannend, daß es mich fast erschlägt. »Ihre schöne Seite ist offensichtlich«, lächelt Karl und zwinkert mir zu. »Aber wo finde ich ihre häßliche…?« Auch Mutter lächelt. Es ist ein Lächeln, das jedem anderen Men schen das Blut in den Adern erfrieren lassen könnte. »Bete, daß du es nie herausfindest.« Karl lächelt ungerührt und führt uns nach oben. Er weist uns zwei getrennte Zimmer zu, die mich kaum mehr interessieren als ein La ger unter freiem Himmel. Für eine Herberge ist es auffallend still. Hinter keiner Tür dringt ein Geräusch zu uns.
»Sind wir die einzigen Gäste?« frage ich. Er bleibt kurz stehen und mustert mich, als wollte er sichergehen, ob ich wirklich nicht weiß, wie es um sein Haus bestellt ist. Schließlich entblößt er wieder seine hellen Zähne. Auch sie sind gepflegter als alle, die ich von seinesgleichen bisher erblickte. »Nein. Aber sie schlafen. Man schläft prächtig unter diesem Dach. Du wirst sehen …« Als er und Mutter gehen, zögere ich nicht, mich auf die harte Ma tratze des Bettes zu legen. Ich kleide mich nicht aus. Ich liege auf dem Rücken, verschränke die Arme hinter dem Kopf und lasse die Stationen unserer Reise von England hierher noch einmal Revue passieren. Darüber schlafe ich tatsächlich ein. Als ich die Augen aufschlage, ist es heller Morgen. Die Herberge ist erwacht.
* Nachdem ich noch eine Weile gelegen und den Geräuschen ge lauscht habe, stehe ich auf. Durch die Ritzen der Fensterläden fällt Licht. Ich beuge mich vor und stoße die Klappflügel auf. Morgen kühle fächert mein Gesicht. Ich fühle mich etwas benommen, und in meinem Mund schwelgt der Geschmack einer Blutmahlzeit, die bes ser mundete als jede zuvor. Die Straße und der Platz um den Brunnen sind voller Menschen, und einen Moment ist mir, als sei dieser Tisch nur für mich ganz al lein gedeckt. Laute Stimmen aus der Herberge lenken mich ab. Ich drehe mich um, gehe zur Tür und trete auf den düsteren, fens
terlosen Gang hinaus. Als ich die Treppe erreiche, die sich bis hinauf in den dritten Stock windet, halte ich verblüfft inne. Die Treppe ist belagert von aberwitzigen Gestalten. Die meisten stehen, einige sitzen auf den ausgetretenen Stufen – es sind solche, die sich ihrer Gebrechen wegen nicht mehr für längere Zeit auf den Beinen halten können. Niemand hockt da, der es nicht müßte, denn es herrscht rauher Ton und Umgang unter den Wartenden. Dauernd schreit jemand auf, weil ihm ein anderer zu dicht auf den Pelz ge rückt ist oder ihn getreten hat. Mein Unverständnis wächst, als einige der Gestalten meinen Blick erwidern. Eine besonders penetrante Musterung erfahre ich von ei nem dürren Tattergreis, bei dem abwechselnd das linke Augenlid und dann wieder der rechte Mundwinkel zuckt. Dieses Zucken muß ihn verrückt gemacht haben – so wie es mich nun binnen einer Mi nute nervös macht. Ich würde es besser ertragen, wenn nicht neben, hinter und über ihm andere stünden, die ebenfalls zuckten. Bei einem ist es das Bein, beim nächsten der Arm oder der ganze Kopf. Am ko mischsten wirkt ein schütterhaariger Mann, dessen beide ohnehin extrem abstehende Ohren ständig auf und ab hüpfen. Oder eine Frau, deren Kehlkopf dieselbe Bewegung vollführt … Erste boshafte Stimmen richten sich gegen mich. »Wo hat es dich erwischt, mein blondes Täubchen?« fragt der LidMund-Zuckende. »Heb das Kleidchen, damit wir es sehen können …!« Hinter mir taucht Mutter auf und zieht mich weg. Ich bin mehr fasziniert als abgestoßen. »Karl wartet«, sagt sie. Ich schweige, bis wir über die menschenleere Außentreppe den Hof erreichen. Karl Ortlieb lehnt gegen die überdachte Zahlstelle der Kutschstati
on. Er beißt auf einem Strohhalm und schleudert ihn von sich, als wir zu ihm treten. Ehe er das Wort erheben kann, frage ich: »Wer sind all die seltsamen Leute?« Er weiß sofort, wen ich meine. Sein Lächeln ist eine Spur zu arrogant. Dennoch gefällt er mir heu te fast noch besser als bei unserer späten Ankunft. Er nimmt eine Ta bakdose und tippt sich etwas von dem Inhalt auf den Handrücken. Geübt zieht er das Pulver durch die Nase ein und wiederholt den Vorgang, ehe er antwortet: »Im dritten Stock logiert derzeit ein Quacksalber, der sich auf Zuckungen spezialisiert hat.« Er lächelt nun vage, so daß nicht erkennbar ist, was er von solcher Wissen schaft hält. »Er bat mich um Erlaubnis, für die Dauer seines Aufent halts Kundschaft zu empfangen. Ich gab sie ihm.« »Hat er schon jemanden geheilt?« frage ich, Mutters stillen Tadel ignorierend. »Er heilt nicht. Er deutet – und gibt Ratschläge«, antwortet Karl Ortlieb. Dann löst er sich und tritt auf Mutter zu, deren Blicke sich von mir getrennt haben und nun über seinen in sauberes Tuch gehüllten Körper streicheln. Ich begreife, was die beiden auf jeden Fall verbindet. »Karl«, sagt Mutter in diesem Augenblick, »wird sich deiner an nehmen, solange ich fort bin.« Ihre Worte lösen klamme Leere in mir aus. Mit keinem Gedanken kam mir bislang in den Sinn, Mutter könnte mich je allein lassen. Und sei es auch nur vorübergehend. Sie scheint meine Reaktion vorausgesehen zu haben. »Es muß sein«, unterstreicht sie. »Gestern hast du bewiesen, daß du gut in der Lage bist, dich selbst zu versorgen. So lange habe ich abgewar tet. Nun erfordern Zwänge, über die ich nichts Näheres sagen kann, meine Anwesenheit an anderem Ort. Aber ich kehre so bald wie
möglich zurück. Karl –«, sie blinzelt ihm eine Spur zu vertraulich zu, »hat genaue Instruktionen. Er wird dir ein guter Lehrmeister sein. Nicht wahr, Karl?« Er wirkt sehr überzeugend in seiner Versicherung, nichts läge ihm mehr am Herzen. Nun, sein Herz interessiert mich. Besonders der Inhalt desselben … »Karl«, liest Mutter meine Gedanken, »ist ein Freund. Ein Verbün deter. Richte dich danach bis zu meiner Rückkehr!« Ich nicke. »Versprich es!« »Ich verspreche es«, sage ich – und weiß noch nicht, ob dies Wahr heit oder Lüge ist.
* Schon wenige Stunden später bin ich fast froh über Mutters Ab schied. Wie ein Lauffeuer hat sich verbreitet, was den beiden Torwa chen widerfuhr. »Mein« Wächter, heißt es, sei seinen schweren Ver letzungen nun auch erlegen. Dies ändert jedoch nichts daran, daß ich Mutter betrogen habe, als ich ihn am Leben ließ. In der Stadt wimmelt es mit einemmal von Polizisten und Solda ten, und ich frage mich, ob dem Sterbenden noch Zeit blieb, das Ziel unserer Reise zu verraten. Mutter gab, was das angeht, allzu bereit willig Auskunft. Karl bleibt die Ruhe selbst, auch als die Ermittler immer näher rücken. »Warum sollte ich mich sorgen?« erwidert er auf eine ent sprechende Bemerkung. »Du bist ja da.« Es klingt wie: Du wirst es schon richten!
Werde ich? Als gegen Abend Polizisten die Herberge betreten – der Ansturm auf den Quacksalber ist für heute abgeflaut –, werte ich dies als si cheres Zeichen, nun die Quittung für meine Unbesonnenheit zu er halten. Ich hätte mich nicht von den Untiefen meiner Seele leiten las sen dürfen. Die Gründe meines Handelns werden mir selbst immer unverständlicher. Hart klopft es gegen die Tür meiner Kemenate. Und wieder reitet mich der Teufel. In fliegender Hast schlüpfe ich aus meinem Kleid und reiße die Verschnürung des darunter befind lichen Korsetts auf, so daß mein Busen kaum noch verhüllt hervor quillt. Mit zerzauster Frisur renne ich zur Tür und öffne. Schade. Der Mann in dunkler Robe wirkt noch unappetitlicher als der feis te Torwächter. Ihm fallen fast die Augen aus dem Kopf, als er einen Blick auf die harten Spitzen meiner Brüste erhascht, ehe ich die Arme darüber verschränke. Enttäuschung beschattet seine Augen. Er verlangt, mit Hinweis auf die Verbrechen der letzten Nacht, meine Papiere zu sehen. Sehr viel mehr enttäuscht als er, zwinge ich ihm meinen Willen auf und befrage ihn, ob die Gerüchte über den Tod der zweiten Wache der Wahrheit entsprechen. Selbst in der Hypnose verkrampft sein Gesicht, seine Stimme zit tert, und erstmals erfahre ich den Namen meines Opfers: »Heinrich Bayer starb vor fünf Stunden. Der Blutverlust war zu groß.« »Sagte er noch etwas, bevor er starb …?« »Nein. Er erwachte nicht mehr aus seiner Bewußtlosigkeit.« »Gut …« Der Mann im dunklen Rock schweigt, und ich schicke ihn fort. Er
wird mich nicht mehr belästigen. Er wird mit seinen Kollegen fort gehen und sich zu Hause einen Strick um den Hals legen … Aaahhh. Ich liebe diese kleinen Explosionen des Bösen in mir. Gerade als er geht, taucht Karl hinter ihm auf. Sein Blick, mit dem er mein derangiertes Aussehen quittiert, läßt mir heiß und kalt zu gleich werden. Wortlos wendet er sich jedoch ab. Immer noch erhitzt, schließe ich die Tür (verriegele sie) und lege mich aufs Bett. Mit geschlossenen Augen stelle ich mir vor, die Hän de eines Galans berührten die süße Pforte zwischen meinen Beinen. Ich werde zwar feucht, vermag aber nie zu vergessen, daß es meine Finger sind, die mich reiben und trösten. Unbefriedigt erhebe ich mich und ordne meine Kleider. Vom Fens ter aus warte ich auf die Ankunft der Dunkelheit. Von Karl höre und sehe ich nichts mehr, bevor ich aufbreche. Ich bin ohne Furcht, obwohl Mutter mir noch einmal die eindring liche Warnung ans Herz legte, keine unnötigen Risiken einzugehen. Ich bin, sagt Mutter, die Letztgeborene. Als ich die Herberge am Tugendbrunnen verlasse, ist die Dunkel heit ein sehr viel bequemerer Mantel als jener, den ich über meinem Kleid trage. Ich habe mir einen von Karls Hüten geborgt und verges sen, mir vorher die Erlaubnis einzuholen. Dank Nacht, Hut und Mantel vermag man kaum zu unterscheiden, ob ich Mann bin oder Weib. Nur die, die sehen können wie ich, werden mich durchschau en, falls ich ihnen begegne. Der Drang, die Stadt zu erkunden, ist stärker als jede Vernunft, und mir schwant, daß es voreilig von Mutter gewesen sein könnte, mich hier allein zu lassen. Die Straßen sind noch nicht so leer wie bei unserer mitternächtli chen Ankunft in Nürnberg. Hinter den Fenstern brennen Lampen
und Kerzen. Ich kann die Armut der Leute förmlich riechen. Mir selbst bedeutet Materielles nichts. Aber ich bin dennoch nicht »mit tellos«. Wenn ich will, bekomme ich, was mein finster-kühles Herz begehrt. Mein Herz … Im Dunkel, das nicht dunkel ist, lausche ich dem langsamen Schlag der Uhr, die vom Kelch, als ich noch ein Menschenkind war, angehalten und dann in neuen Takt gebracht wurde. Auch das Herz eines Vampirs schlägt. Es schlägt langsam und sehr viel effektiver als das eines Men schen. Ich lebe wieder. Anders und intensiver als zu Zeiten meiner Geburt aus dem Bauch der Frau, die in Llandrinwyth gestorben ist. Damals jagte mein kleines Herz (die Erinnerung verschwimmt mehr und mehr); heute scheint es jeden Schlag zu genießen. Mutter sagt, Ausnahmen unter den Menschen, die von unserer Existenz wissen und überzeugt sind, würden unser Dasein als untot bezeichnen. Sie mögen es nennen, wie ihnen beliebt. Es ist verständ lich, daß es sie drängt, diejenigen, die ihnen himmelhoch überlegen sind und sie im geheimen knechten, zu diskriminieren. Ich weiß, daß ich lebe. Daß ich fühle. Auch wenn die wirklich tiefen Gefühle erst eines Anstoßes bedürfen, um geweckt zu werden. Ich bin in Monaten körperlich gereift, wie Menschen es erst nach vielen Jahren vermögen – und wie es bei ihnen nie zu einem Still stand kommt. Sie sind ihrem Altern ausgeliefert. Schwach und dumm wähnen sie sich dennoch als Beherrschende. Sie taumeln durch die Illusion, ihr Leben währe lange und könnte ausge schmückt werden mit einem Schatz an Erfahrung … Wie lächerlich! Mutter verschweigt ihr Alter. Aber aus den wenigen Andeutun gen, die sie über ihre Vergangenheit macht, kann man vage Schlüsse
ziehen. Sie lebte schon zu Zeiten, als auf dem Boden, wo ich heute stehe, ein König namens Chlodwig, aus dem Geschlecht der Mero winger, seiner Illusion der Regentschaft nachhing. Das ist lange her. Viele, viele Jahrhunderte. Und was ist ein Menschenalter dagegen? Auch Vampire altern. Aber sie tun es in einem Balanceakt, den sie weitestgehend selbst zu steuern vermögen. Solange ich Zugriff auf genügend Menschenblut habe, werde ich mich äußerlich kaum ver ändern. Meine Haut wird glatt und weich bleiben. Meine Augen nichts von ihrem Glanz einbüßen. Nur wenn ich äußerer Zwänge wegen für eine längere Spanne (schon Tage sind eine längere Span ne) auf das Lebenselixier unserer Rasse verzichten muß – oder frei willig verzichte –, wird sich dies auf Dauer auf meinen Körper über tragen. Doch davor muß ich keine Angst haben. Die Ewigkeit steht mir offen. Ich werde Generationen menschlichen Gewürms kommen und ge hen sehen. Ich werde Zeugin, wie sich das Bild der Welt nach unse ren Vorstellungen wandelt, und auch wenn ich spüre, daß Mutter und mich ein Geheimnis umrankt, das uns zu Außenseitern unserer eigenen Rasse macht, sehe ich zuversichtlich in die Zukunft. Ich brauche niemanden. Ich habe Mutter … Gedanken wie diese beschleichen mich immer öfter, seit ich den Kinderschuhen entwachsen bin. Manchmal träume ich nachts vom Sterben in Llandrinwyth. Von den Greueln, die der Kelch dort beging. Ich wünschte, diese Träume würden nie enden. Ich ziehe Kraft aus dem Leiden der vielen Namenlosen und besonders aus dem »unse
res Herrn Pfarrers«… Schon bald kehre ich in Karl Ortliebs Herberge zurück. Diesen ersten Ausflug ohne Mutter will ich nicht übertreiben, ob wohl die Spannung in mir genau weiß, was sie hier draußen sucht. Als ich in mein Zimmer zurückkehre, glaube ich von irgendwoher seltsame Töne zu vernehmen. Vielleicht stammen sie von dem Quacksalber, der sich auf die »Zuckungen« seiner Mitmenschen spe zialisiert und eine eigene Wissenschaft daraus gemacht hat. Um ih nen die Börse zu erleichtern – warum sonst? Die Menschen sind, was dies angeht, so närrisch! Bevor ich ins Bett steige, ziehe ich mich aus, bis ich vollkommen nackend bin. Wie gern würde ich meinen Körper in einem Spiegel betrachten. Komplett und von allen Seiten. Ich kenne ihn nur be dingt. Besonders mein Gesicht, von dem Mutter sagt, es sei wunder schön. Sie vermag es zu sehen – so wie ich ihres betrachte. Es ist der Fluch unserer Art, daß uns der Kelch bei unserer Wieder geburt nicht nur beschenkt. Geben und Nehmen scheint ein universelles Gesetz. Aber manchmal frage ich mich, wer diese Gesetze gemacht hat. Vielleicht ist dies der einzige Punkt, in dem die dummen Men schen uns überlegen sind: Sie besitzen eine irrationale Erklärung für den Weltenlauf. Sie haben einen Glauben, sagt Mutter (und wenn sie dies sagt, wirkt sie sehr ernst und nachdenklich). Dieser Glaube ist zugleich das einzige, was unseresgleichen wirk lich in Bedrängnis zu bringen vermag. Seltsam. Als ob die Geschicke von Mensch und Vampir weit über das Ver hältnis Jäger und Gejagte hinaus miteinander verflochten wären …
Ich schließe die Augen. Tuch reibt auf meiner Haut, weil ich mich darunter winde wie eine Schlange. Ich bin nicht müde noch hungrig. Und doch ist eine Sehn sucht in mir, die von Stunde zu Stunde unbezähmbarer anschwillt. Mein Schoß ist feucht. Mutter und der Kelch haben mich vieles gelehrt – aber dies nicht. Als ich Schritte auf dem engen Flur höre, ziehe ich meinen Finger aus der Wärme zurück. Meine Gedanken überschlagen sich, wäh rend ich gebannt innehalte. Mir wird bewußt, daß ich schon lange darauf warte, daß Karl … Die Klinke senkt sich leise knarrend. Ich halte die Augen geschlossen und warte ab. Ich deute jedes kleine Geräusch und weiß, daß ich nicht mehr allein im Raum bin. Ja, komm! denke ich. Ich werde mich nicht sträuben! Bestimmt wollte Mutter, daß du mich auch in diese Kunst einweist … Dielen knarren, als sich der schwere Körper darüber bewegt. Ich versuche, Karls Atem auszumachen. Es gelingt nicht. Er muß die Luft anhalten. Er ist erregt wie ich. Vielleicht fürchtet er, abge wiesen zu werden. Nur Mut, Karl! Ich wälze mich behutsam hin und her, gaukele Schlaf vor. Dabei richte ich es ein, die Decke von meinen Schenkeln zu streifen, denn auch wenn Karl des Sehens hier nicht mächtig ist, steigert es meine eigene Lust zu wissen, daß meine Beine gespreizt sind und ihn je derzeit empfangen können. Oh, Karl, worauf wartest du? Die Schritte sind verstummt. Er steht jetzt direkt neben mir. Ich stöhne leise, wie in einem anregenden Traum.
Endlich spüre ich den Luftzug einer Bewegung. Er … Aber die Berührung auf meinem Bauch ist kalt. Ist wahrhaft wie tot. Karl! Meine Lider schnellen, wie von einer Feder getrieben, nach oben. Ich starre in ein Gesicht, dessen Züge befremdlich an Magie verlo ren haben. Es gehört nicht Karl. Es gehört dem, dessen Blut ich bei unserer Ankunft in Nürnberg genossen habe. »Heinrich!?« rinnt es über meine Lippen. »Herrin …«, antwortet er devot.
* Ich habe Besuch von einem »Toten«. Er sieht mich an (ja, auch er scheint zu sehen), aber vergebens su che ich nach Spuren von Begehren. Ich frage mich, wie es dem Polizisten in Hypnose gelingen konnte, mich zu täuschen. Ich frage mich, wie Heinrich Bayer mich gefun den hat. Ich frage ihn. »Es zog mich zu dir, Herrin. Was darf ich tun?« Seine Lippen zu cken. Sein Gesicht ist bleich und teigig. Man hat ihn gewaschen. Er trägt nur ein weißes Hemd, keine richtige Kleidung, und er geht barfüßig. Und plötzlich begreife ich. Ich meine zu verstehen. Aber dann zweifele ich erneut, weil der Gedanke zu gewaltig ist. »Rühre dich nicht!« fauche ich ihn an. »Bleib, wo du bist!«
Es ist nicht Furcht, die mich aus dem Bett springen und diese Wor te rufen läßt. Es ist … Befremden. Heinrich gehorcht demütig. Sein Haupt ist nach vorn geneigt. Er steht da wie ein Büßer. Stumm. Und dennoch liegt ein Hauch von Entzücken um seine eingesunkenen Lippen. Was für eine Situation! Mein Blick haftet an einer bestimmten Stelle seines Körpers; dort, wo das knielange Linnen ein wenig ausbeult. Immer weniger will ich wahrhaben, was der Polizist behauptete. Erneut spüre ich die Wallungen meines rabenschwarzen Blutes. Ich erinnere mich, wobei ich unterbrochen wurde … »Du hast sie getäuscht«, sage ich und trete auf ihn zu. Ganz nah. »Sie dachten, du seist gestorben. Aber du wolltest nur unbehelligt zu mir finden …« Ich belüge mich selbst. Ich ahne es. Aber ich kann nicht anders. Diesmal berühre ich ihn. Streichle seine Wange. Er fühlt sich an ders an, als ich es in Erinnerung habe. Wo ist sein Stolz, wo seine Kraft geblieben? Ich finde Blut auch an seinem Hals. Dort, wo ich aus ihm trank und wo die Wunden mit ein paar Nadelstichen genäht wurden. Blut, keine Stunde alt … Ich bin erleichtert. Wer blutet, lebt. Die alte Verletzung scheint aufgebrochen. Erneut setze ich mich vor ihn auf die Bettkante. Ich rede mir ein, daß er immer noch im Bann meiner Hypnose steht und deshalb diese Unterwürfigkeit zeigt. Ich kann mich nicht mehr beherrschen und schiebe eine meiner Hände unter sein Hemd. Er läßt es zu und spornt mich zu noch
mehr Keckheit an. Ich berühre sein nacktes Glied. Schlaff liegt es in meiner Hand und – In diesem Moment wird die Tür meines Zimmers derb aufgesto ßen. Sie ist unverriegelt, und der, den ich schon früher erwartete, steht plötzlich im offenen Rahmen. Karl Ortlieb hält eine Lampe über den Kopf hinweg und leuchtet uns heim. Das Zimmer wird geflutet von armseliger Helle. Aber sie genügt, ihn meinen Arm erkennen zu lassen, der unter Heinrichs Hemd verschwunden ist. Die Überrumpelung ist gelungen. Sekundenlang bin ich unfähig, mich zu bewegen. Heinrich dreht den Kopf in Karls Richtung. »Soll ich – töten?« schnarrt er. Meine Verwirrung wächst. Ich lasse los. Karl nähert sich uns ohne Zeichen von Angst. »Ich hörte Ge räusche, Stimmen«, sagt er. »Aber ich dachte nicht …« Ich versuche, ihn – wie Heinrich – in meine Gewalt zu zwingen. Ich will nicht, daß er die Erinnerung an das behält, was er bei sei nem Eintritt gesehen hat. Aber es ist, wie ich schon unterschwellig befürchete: Karl ist im mun gegen meinen Einfluß. Widersteht er auch Mutter? Und ist ihr trotzdem ergeben …? Ich zügele die abschweifenden Gedanken. Mein Problem, das füh le ich auf einmal deutlich, heißt Heinrich, nicht Karl. »Warte!« zische ich, als die Torwache einen tumben Schritt in Richtung des Herbergsvaters macht. Heinrich gehorcht.
Mein treuer Heinrich … Ich muß mich zurechtweisen, um nicht doch noch Gefallen an die sem Diener zu finden. Auch Karl bleibt stehen und mustert mich intensiv. Obwohl ich splitternackt bin, fesseln ihn offenbar nur meine Augen. In ihnen liest er – und schüttelt endlich den Kopf, als könne er das, was er findet, nicht glauben. »Du weißt es nicht«, seufzt er. »Du weißt es ganz offenbar wirklich nicht …« »Was?« frage ich, voller Scham und Ungeduld. »Ich weiß was nicht?« Sein freudloses Lächeln scheint die Lage völlig zu überblicken. Meine Lage. Karl, das wird mir in diesem Moment geradezu niederschmet ternd klar, weiß mehr über mich als ich selbst! Oder einfach mehr über Vampire… »Deine Mutter sagte, ihr hättet beide Wachen nach dem Blutmahl unschädlich gemacht«, fährt er fort. Plötzlich lächelte er aus tiefem Herzen. »Sie wäre stolz, wenn sie wüßte, wie weit du schon bist …« »Sie würde mir die Lüge nicht verzeihen …«, setze ich an. Aber er fährt rätselhaft dazwischen: »Gerade die Lüge würde sie dir sofort verzeihen!« Sekundenlang kreuzen sich unsere Blicke wortlos. »Willst du ihn behalten?« fragt er schließlich. »Zumindest eine Weile?« Er kratzt sich am Kinn und fügt schulterzuckend hinzu: »Doch dafür –«, seine Augen streifen nun doch unmißverständlich über meine straffen Brüste bis hinab zu meinem von zartem, blon dem Flaum bedeckten Schoß, »ist er denkbar ungeeignet, das darfst du mir glauben.«
Ich glaube ihm. Karl, erkenne ich, würde ich alles glauben. Ist er nicht mein Vor mund? Hat Mutter ihm nicht aufgetragen, mein Lehrmeister zu sein, bis sie zurückkehrt? Ich möchte auch, daß er dies wird. Noch einmal weicht mein Blick zu Heinrich. Er steht da mit hän genden Armen und starrt zu Boden. Ich empfinde plötzlichen Ekel vor ihm. Zumindest aber bin ich seiner überdrüssig. Karl setzt sich neben mich und streicht einmal wie abwesend mit der Hand über die Innenseite meiner Schenkel. Ich wünschte, er würde nicht aufhören. Ganz gleich, ob Heinrich uns zusieht oder nicht. Aber er hört auf. Mit großem Ernst erklärt er mir, wen ich wirklich vor mir habe. Wer Einlaß in mein Zimmer gesucht hat und mich mit dem sicheren Instinkt eines Toten gefunden hat. Ich sehe ein, daß das frische Blut, das ich an Heinrich bemerkte, nicht von ihn, sondern von seinem ers ten Opfer rührt … Zum erstenmal höre ich von Dienerkreaturen. Erfahre, was ge schieht, wenn ich das Blut eines Menschen trinke und diesen Men schen nicht auf vorgeschriebene Weise töte. Eine Dienerkreatur ent steht, wenn mein Opfer stirbt und der Keim, den ich bei jedem Blut mahl übertrage, diesen toten Körper »neu beseelt«. Sauge ich nur wenig Blut und lasse meinen Spender am Leben, geschieht zunächst gar nichts. Erst nach seinem Ableben wird der Keim ihn zu einem Diener formen. »Um die unkontrollierte Vermehrung dieser Kreaturen zu verhin dern, die selbst Blut zum Weitervegetieren benötigen, aber keinen Keim weitergeben, gibt es nur einen Weg …«
Er demonstriert es mir gestenreich in der Theorie. Dann wiederholt er seine Frage: »Willst du ihn einstweilen behalten, oder …?« Ich will es schon der reinen Neugierde wegen nicht. Ich greife den Dolch, den Karl mir hinhält, und stoße ihn mitten in Heinrichs Herz. Heinrich stöhnt nicht einmal. Als ich die Klinge aus seinem Körper ziehe, strömt kein Blut. Nur geringfügig netzt etwas Dunkles, das an mein eigenes Blut erinnert, den Stahl. »Sage mir, was ich zu tun habe, Herrin«, bettelt er, als sei nichts geschehen. Ich trete hinter ihn. Ich fasse seinen Kopf und drehe sein Gesicht mit einem entschie denen Ruck um hundertachtzig Grad nach hinten – so wie ich es Mutter an der Stadtmauer tun sah. Der Knacks läßt mich kurz erzittern. Heinrich sinkt augenblicklich in sich zusammen und schlägt zu Boden, »Von nun an«, nickt Karl wie ein Lehrer, der zufrieden über eine begriffene Lektion seines Schülers ist, »wäge mit Sorgfalt ab, welche Anhängsel du dir leisten willst.« Dann schultert er die Leiche und schleppt sie fort. Obwohl ich lange auf Karl warte, kehrt er nicht mehr zu mir zu rück.
* Am nächsten Tag weicht Karl mir aus – zumindest habe ich das Ge fühl, daß er dies tut.
Ich treibe mich in Haus und Hof herum und ertappe mich dabei, daß meine Gedanken bei Mutter weilen und ihre Rückkehr erseh nen. Zum Zeitvertreib reihe ich mich in die Schlange jener ein, die – wie jeden Tag – beim Quacksalber oben unter dem Dach vorsprechen wollen. Persönlich habe ich ihn noch nicht getroffen. Es ist, als scheue er, der sich mit Besuchern umgibt, das Licht der Öffentlich keit. Andererseits scheint er nichts zu verbergen zu haben, sonst hät ten ihn die Polizisten wohl mitgenommen. Ich mache mir einen Spaß daraus, mich zwischen ein altes Mütter chen mit beidseitigem Lidzucken und einen frechen Kerl einzurei hen, der unverhohlen im offenen Latz herumspielt, als läge dort sei ne Zuckung verborgen. Der Kerl sabbert, daß es eine Wonne ist. Ich beuge mich unauffäl lig zu ihm und flüstere in sein Ohr. Kurz darauf rinnt der Speichel noch stärker, aber sein Gesicht färbt sich blau, als er die Finger wie einen Schraubstock um seine Hoden schließt und sie fortwährend rhythmisch zusammenquetscht und wieder losläßt, ganz wie ich es ihm befohlen habe … Nur langsam rücken wir voran. Aber mich drängt nichts zu über triebener Eile, und ich studiere ausführlich die Gebrechen der mit mir Wartenden. Ich selbst mime Zuckungen im linken Beine, was mir Gelegenheit gibt, nicht nur die unsägliche Alte auf der Stufe über mir, sondern auch – eine leichte Drehung genügt – den ohnehin Gebeutelten hin ter mir immer wieder hart zu treten. Nachdem das Mütterchen – mit leuchtenden Augen, aber immer noch unentwegt lidzuckend – aus dem Zimmer zurückkehrt, bin dann endlich ich an der Reihe. Ich verzichte darauf anzuklopfen. Das Zimmer ist viel größer als
jenes, das Karl mir zuwies. Die Wände sind der Dachschräge ange paßt, und durch Gaubenfenster fällt unangenehm grelles Sonnen licht. Hier unter den Dachpfannen staut sich die Schwüle als Vorbo te eines baldigen Gewitters. Schon seit den Morgenstunden hängen Dunst und flimmernde Hitze über der Stadt. Aus draußen aufgeschnappten Reden weiß ich, daß sich die Men schen gerade in einem Zustand relativen Friedens wähnen. Nir gendwo in der Nähe herrscht Krieg. Aber die Leute hier mokieren sich über einen »Preußenkönig« namens Friedrich Wilhelm I., und einer äffte einen Spruch dieses Regenten nach: »Die Seele ist für Gott, alles andere muß mein sein!« Danach ist sicher, daß es sich bei diesem Friedrich Wilhelm um keinen der meinen handeln kann. Niemand von uns würde dieses Wort in den Mund nehmen … »Nur herein, schönes –« Er stockt. Die Stimme von Doktor Mendel (dieser Name steht auf einem Zet tel an der Tür) reißt mich aus den Gedanken. Ich entdecke ihn hinter allerlei Topfgrün an einem Tisch sitzen, auf dem seine Instrumente und ein Stundenglas verteilt liegen. Doktor Mendel ist alt und schmächtig. Seine Koteletten reichen bis zu den unteren Rändern der Kiefer, und geschliffenes Glas, in ein Drahtgestell gezwängt, versucht die Schwäche seiner kleinen, dunklen Augen zu beheben. Als ich vor ihn trete, sehe ich das Zimmer in seinem Brillenglas wi derspiegeln. Dort, wo ich stehen müßte, ist Leere. Doktor Mendel trägt ein Wams, aus dem die Kette einer Taschen uhr hervorhängt. Seine Stimme ist leise, und ich begreife, warum man draußen immer nur den jeweiligen Patienten durch die Tür
hört. Er wirkt … verstört. »Wer bist du?« fragt er schließlich. »Du brauchst meine Hilfe nicht – hör auf, dich zu verstellen!« Mein Interesse für ihn steigt. Was mehr einer Laune entsprang, nimmt nun ernsthafte Konturen an. »Ich wollte nur sehen, wer die vielen Leute prellt. Ich dachte, ein solcher Tausendsassa müßte ganz nach meinem Gusto sein …« »Ich prelle niemanden!« Unmut legt sich um seinen Mund. »Wie redest du mit …?« Er bringt seinen Satz wieder nicht zu Ende, sondern erhebt sich ruckartig von seinem Stuhl. Ich bin größer als er. Stärker sowieso. Dennoch tritt er furchtlos vor mich und mustert mich von unten herauf. »Woher kommst du?« Ich zucke die Schultern. Ich fühle, daß ich ihn nicht zu beeinflus sen vermag. So wenig wie Karl. Offenbar gibt es Menschen, die mei ner Suggestion mühelos trotzen. Damit muß ich umzugehen lernen. Um nichts zu verraten, was ich nicht mehr aus ihm »löschen« kann, wende mich um und gehe auf die Tür zu. »Nein, bleib!« »Vielleicht komme ich wieder«, sage ich, ohne stehenzubleiben. »Aber ich glaube eigentlich nicht …« »Wer bist du?« Ich gehe schneller, reiße die Tür förmlich auf und flüchte auf den Gang. Am Klang seiner Stimme glaube ich zu erkennen, daß er be reits ahnt, wie sehr es mit meiner Menschlichkeit hapert. Aber ihn hier und jetzt zu zerreißen, würde viel zuviel Aufsehen erregen. Es ist besser, ich gehe.
Seine Schritte folgen mir bis zur Tür. Er scheint nicht zu wissen, daß wir unter demselben Dach woh nen. Um es ihm auch nicht zu verraten, dränge ich die Treppe hinab bis ins Erdgeschoß und verlasse die Herberge. Die nächsten Stunden treibe ich mich ziellos draußen herum. Ich begreife, wieviel ich noch lernen muß über diese Welt, die viel mehr Nuancen und Schattierungen besitzt, als der Kelch mir bei meiner Neugeburt Kenntnis verlieh. Es ist dunkel, als ich die Heimkehr beschließe. Erneut begegne ich keinem anderen Gast, obwohl Karl mir sagte, die Herberge sei bis auf das letzte Zimmer belegt. Bei Tag sehe ich manchmal den einen oder anderen. Ich unterscheide sie daran, daß sie nicht zucken und somit keine Klienten von Doktor Mendel sind. Üblicherweise empfängt mich nur Stille, wenn ich nächtens heim kehre. Heute ist es anders. Eine wehmütige Melodie lockt mich, noch ehe ich meine Kemena te erreiche, in jenen Teil des Hauses, wo Karl selbst lebt. Die glo ckenhelle, liebliche Frauenstimme steigert meine Neugier mit jedem Schritt. Im ersten Moment gibt es mir einen hoffnungsvollen Stich ins Herz, weil ich glaube, Mutter sei wieder da. Doch je näher ich dem Quell nächtlicher Erquickung komme, desto klarer wird mir, daß Mutter zu solcher Sentimentalität kaum fähig wäre. Sie ist viel zu stark und beherrscht, um sich auf diese Weise gehen zulassen. Und ganz sicher ist es auch nicht ihre Stimme. Lautlos bewege ich mich durch die Korridore des großen Hauses. Karls privates Reich liegt im linken Flügel des ersten Obergeschos ses. Wie überall, wo ich meine Umtriebigkeit bislang auskostete, ist auch hier nirgends eine Tür verschlossen.
Unbemerkt nähere ich mich dem Raum, aus dem der Gesang strömt. Vor der Tür knie ich nieder und presse mein rechtes Auge gegen das leere Schlüsselloch. Ich weiß nicht, was ich erwarte, aber was ich sehe, verschlägt mir den Atem (ja, ich atme, ich bin keine Kreatur!). Ich knie vor Karls Schlafgemach und blicke genau auf sein Bett, wo er es sich in Gesellschaft einer mir fremden Frau gemütlich ge macht hat. Das Bett ist von den meisten Kissen und Decken befreit. Karl und die Frau sitzen sich gegenüber, er im Schneidersitz, sie mit dem Rücken gegen das Kopfende des Bettrahmens gelehnt, ein Stützkissen im Kreuz und die Beine weit ausgestreckt. Karls Oberkörper ist nackt. Er trägt nur lange Beinkleider, und zum erstenmal sehe ich, wie durchtrainiert seine sehnige Figur ist. Die Frau trägt nur noch ihr locker geknöpftes Mieder. Sie hat schwere, gewaltige Brüste, breite, gebärfreudige Hüften und ver hältnismäßig dicke Schenkel. Dennoch ist sie ausgesprochen hübsch. Ihr rundes Gesicht und die fröhlichen Augen strahlen Frische und Temperament aus. Ihr Haar ist blondgelockt. Sie wirkt wie eine ge rade einem tiefen See entstiegene Nymphe, gekommen, einen Sterb lichen zu verzaubern. Es wird ihr gelingen. Ich habe Karl noch nie so aufgekratzt erlebt. So ungetrübt heiter. Um ihn herum stehen gefüllte Schalen, Krüge und Trinkbecher. Jede Bewegung bringt das Geschirr zum Schwanken, aber weder er noch sie lassen sich davon merklich stören. Die Frau stimmt jenen kehlig-sentimentalen Gesang an. Immer wieder unterbricht sie, weil Karl ihr eine Frucht, ein Stück Gebrate nes oder sonst etwas zwischen die sinnlich gewölbten, erwartungs voll offenen Lippen schiebt.
Ich bin so fasziniert von der Szene, daß ich alles andere um mich herum vergesse. Und auch sie scheinen alles außerhalb dieses Zimmers vergessen zu haben. Dennoch haftet der Idylle etwas Undefinierbares an, was mich zur Vorsicht mahnt. Ich kann das Gefühl nirgendwo einordnen und verdränge es wieder. Karl verwöhnt seine Auserwählte nach allen Regeln der Kunst. Ich gönne es ihr. Das einzige, was ich Karl nur schwer verzeihe, ist, daß ich nicht seine Gespielin bin. Gerade nimmt er eine Erdbeere zwischen die Zähne und nähert sich damit dem erwartungsvollen Mund der Holden. Ihre Zunge stößt zwischen seine Lippen, provoziert, zuckt zurück, und dann beißt sie eine Hälfte der süßen Frucht ab. Karl pflanzt weitere Erdbeeren zwischen ihre Brüste, drängt seine Angebetete, sich etwas flacher hinzulegen, und gießt klare, perlende Flüssigkeit aus einem der Krüge in ihren tiefen Nabel. Ich ahne, was nun kommt, und so geschieht es. Karl schlürft die Nässe aus ihrem Nabel und arbeitet sich genießerisch zu ihrem Bu sen vor, der bei allem Umfang so prall und verführerisch wirkt, daß selbst ich mich seiner Anziehung kaum zu entziehen vermag. Auch ich möchte ihn kneten, küssen, mal zart, mal fordernd liebkosen … Mir wird schwindelig vor unerfüllter Wonne. Ich begreife, daß ein Unglück geschieht, wenn ich hier noch länger zusehe. Aber es ist schwer, der Vernunft zu gehorchen. Zu gern würde ich noch Karls harte Männlichkeit sehen. Aber er macht auch jetzt kei nerlei Anstalten, sich ganz zu entkleiden. Es ist, als wäre diese spie lerische Erotik alles, wonach ihm begehrt … Verrückt. Ich kann es nicht glauben, daß er die Gelegenheit nicht bis zum
letzten ausschöpft. Aber die Minuten vergehen, und meine eigene Wollust entfacht tausend Feuer in meinem Zentrum, das noch kei nen Mann empfangen hat, obwohl ich ganz genau wüßte, wie ich ihn zu empfangen hätte. Ich reiße mich endgültig los. Entschlossen, Karl oder einen ande ren bei nächster Gelegenheit die Feuer, die er entzündet hat, löschen zu lassen. Mein Zimmer war noch nie so einsam wie in dieser Nacht.
* Als das Gezwitschere der Vögel durch das offene Fenster meines Zimmers dringt, stehe ich auf – hungriger denn je. Ich finde Karl, wie er allein beim Frühstück in der Küche sitzt. Er grüßt gutgelaunt. Ich wundere mich ein wenig, daß er die Dame seines Herzens be reits heimgeschickt hat – oder schläft sie noch, erschöpft vom Trei ben in der Nacht, dem ich nicht mehr beigewohnt habe? Ich setze mich zu ihm, und er mustert mich eine Weile, während seine Kiefer auf einer Brotrinde herumkauen. Schließlich sagt er: »Ich weiß, daß ich dich nicht anbinden kann. Aber mir wäre lieber, wenn du deine Ausflüge auf den Tag beschränken würdest. Deine Mutter bat mich darum. Du mußt vorsichtiger sein! Du weißt selbst, warum.« Ich verspreche es ihm. Warum auch nicht? Karl ist Karl, ich bin ich. Wir werden sehen, ob es sich ergibt, daß ich seinen Wunsch re spektieren kann. Ich glaube nicht. Nach dieser nun »offiziellen« Erlaubnis für den Tag überlege ich,
ob ich ihn noch auf sein amouröses Abenteuer ansprechen soll. Doch das halte ich für ungeschickt. Es würde nur das mühsam im Zaum gehaltene Feuer unter meiner Haut zu einem Flächenbrand hochpeitschen. Nein, ich bin seit dieser Nacht entschlossen, mich selbst um mein Wohl zu kümmern. In jeder Hinsicht. Es ist nun Zeit, daß ich frühstücke. Mit einem letzten Gruß an Karl verlasse ich die Herberge am Tu gendbrunnen. Marktleute haben ihre vollbeladenen Karren herangeführt und preisen ihre Güter nun mit lauten, derben Stimmen an. Bisweilen treiben sie ihren Schabernack mit den Kunden, besonders wenn es sich um matronenhafte Frauen handelt. Auch ich werde Zielscheibe einiger jüngerer Prahlhänse. Aber es ist weniger Spott, der mich trifft, als vielmehr versteckte Avancen. Leider ist kein Bursche dabei, der mir gefällt. Ich bin fasziniert vom bunten Treiben in den Straßen und verwin kelten Gassen der Reichsstadt. Es hilft mir vergessen, daß Mutter mich verlassen hat, ohne den Tag ihrer Rückkehr zu nennen. Es hilft mir, den dunklen Verdacht zu verdrängen, der seit letzter Nacht in mir keimt: Was, wenn Mutter nie mehr zurückkommt? Wenn sie mich hier ausgesetzt hat? Es ist undankbar, so zu denken, ich weiß. Dennoch, die Saat des Zweifels ist in mir aufgegangen … »Heda, Jungfer Magd! Wohin so allein …?« Hinter dem Stand eines Tuchmachers grinst mir ein gutgeschnitte nes Gesicht entgegen. Der Junge ist höchstens siebzehn oder acht zehn. Er hat Grübchen in beiden Wangen und Sommersprossen. Groß und sehnig ist er und erinnert ein wenig an Karl in jüngeren
Jahren. Es tut meiner Eitelkeit gut, daß ich selbst in den »Lumpen«, in die ich mich gehüllt habe, Aufsehen beim Mannsvolk errege. Sofort lasse ich alle Vorsicht außer acht und nähere mich dem Jüngling. »Heda, Meister Großmaul! Schenkst du mir etwas von deinem fei nen Webzeug? Du siehst, wo es bei mir im argen liegt …« Im ersten Moment wirkt er fast ein wenig erschrocken, daß ich auf seinen Zuruf eingehe. Doch dann zieht neben der Röte auch ein ver trautes Begehren über sein Gesicht. Er strafft sich, wirft sich regel recht in die Brust und tönt: »Ich werde dich in mein schönstes Tuch wickeln. Aber das hier –«, er weist auf die Auslage seines Unter stands, »ist alles billiger Tand. Du müßtest mit mir nach Hause kom men. Dort liegen die wirklich edlen Teile, die viel zu schade sind, um sie hier feilzubieten!« »So wirst du sie aber auch nie verkaufen.« »Laß das meine Sorge sein. Also?« Es ist soweit. Ich bebe vor Wollust und Freude auf das Kommen de. »Führe mich. Aber was wird aus deinen Waren hier?« »Kein Problem …« Er eilt kurz zum nächsten, etwa zwanzig Schritt entfernten Stand, dessen Besitzer ihn zu kennen scheint. Er tuschelt kurz mit ihm und blickt dabei immer wieder erhitzt und verstohlen zu mir herüber, als fürchte er, daß ich mich davonma chen könnte – oder mich als Fata Morgana erweise. Nichts dergleichen steht mir im Sinn. Wenig später hasten wir durch eine dunkle, enge Gasse – eine Ab kürzung, wie Ludwig (er hat mir seinen Namen verraten und den meinen erfahren) mir zusichert.
Schon nach kurzem Weg verliere ich die Geduld. Weit und breit ist niemand zu sehen. Ich bleibe stehen. »Was ist?« fragt er. »Du brauchst keine Angst zu haben. Gleich wird es heller …« Der dumme Kerl. Es ist hell genug, daß er sehen kann, wie ich meinen Busen entblö ße und ihm die Brüste keck entgegenrecke. »Komm schon her!« sage ich. Er zögert. Er scheint tatsächlich Angst vor der eigenen Courage zu bekommen. Vielleicht ist mein Entgegenkommen auch allzu forsch. Als ich aber meinen Mantel noch weiter auseinanderschlage, mein Kleid raffe und ihm zeige, daß ich nichts außer der Hitze meines Schoßes daruntertrage, ist es mit seiner Beherrschung vorbei. Er fällt buchstäblich über mich her. Sein keuchender Atem gleitet verlangend über meinen Busen, als er ihn küßt und unbeholfen kne tet. Allzu gern lasse ich mich zu Boden ziehen. Das schmutzige Pflaster beeinträchtigt das Vergnügen, das mir seine stürmischen Versuche bereiten, wenig. Er legt sich über mich und nestelt fahrig an seinem Gürtel. Es dauert eine Weile, bis er sich von seinen Hosen befreit hat, aber dann spüre ich ohne jede weitere Verzögerung, daß er den Weg in mich wie von selbst findet. Einen Moment verharrt Ludwig, als müßte er die Enge meines Schoßes erst still auskosten, um sicher sein zu dürfen, daß er dies al les nicht nur erträumt. Ich lasse ihn für Sekunden gewähren, aber dann gebe ich ihm durch leichte Klapse auf den Hintern zu verstehen, daß ich mehr von ihm erwarte, als sich einfach auf mich zu legen. Er zeigt sich einsichtig, und ich erlebe erstmals sexuelle Wonnen
mit einem Mann – auch wenn dies fast noch ein Junge ist. Unsere Körper passen phantastisch zusammen, und sein jugendliches Un gestüm beschert mir den ersten Orgasmus meines Lebens. Er gibt sich alle Mühe, nicht nur sich, sondern auch mich zu befriedigen. Seine Stöße erschüttern mich bis in den letzten Winkel meines Kör pers. Meine Brüste wogen hin und her. Ludwig hält sich daran fest, gräbt die Finger tief ins zarte Fleisch. Wenn jemand jetzt des Weges kommt … Niemand kommt. Nur wir. Wieder und wieder reite ich auf höchs ten Wellengraden. Seine Energie bleibt ungebrochen. Ich aber fühle nach dem Stillen brennendster Lust etwas anderes in mir erwachen. Ich lasse ihn noch ein paar Minuten gewähren, dann reicht es mir für dieses erste Mal. Ich packe Ludwig im Nacken und ziehe ihn mit beiden Händen zu mir herab. Meine Augen verschlingen ihn kurz und befehlen ihm absolutes Stillschweigen. Dann grabe ich meine Zähne in seinen Hals und sauge gierig jeden Tropfen seines erhitz ten Blutes auf. Ich kann förmlich verfolgen, wie es meine Kehle hin abrinnt und mich aufputscht. Ich vergesse Heinrich. Ludwig ist die bisherige Krönung meines Genusses. Dankbar erlöse ich ihn am Ende von drohendem Sklavendasein, wie Karl es mich gelehrt hat. Ohne mich einmal umzudrehen, kehre ich zur Herberge zurück. Ich fühle mich befreit von einem schrecklichen Druck. Erst als es Nacht wird, verlasse ich wieder das Haus. Karls Verbot schert mich nicht. Als ich spät nach Hause komme, schleiche ich zu Karls Gemach, finde es aber verlassen, obwohl ich seine Stimme zu hören glaube.
Ich finde ihn in einem Nebenraum. Durch das Schlüsselloch beob achte ich ihn mit seiner Holden an einer reich gedeckten Tafel. Er spielt gerade mit seiner Zunge in ihrem Ohr, und sie gibt leise Lust schreie von sich. Aber obwohl ich diesmal größere Ausdauer beweise, komme ich nicht in den Genuß, Karl und die Rubensdame richtig Liebe machen zu sehen. Sie begnügen sich auch heute mit Küssen und eindeutigen Berührungen. In den kommenden Nächten ändert sich daran nichts. Die Frau aber, scheint mir, wird immer dicker, ohne dabei ihren Liebreiz ein zubüßen. Karl hat einen eigenwilligen Geschmack, aber er hat wenigstens Geschmack. So ziehen die Tage und Wochen. Karl erneuert mein Verbot, mich nachts herumzutreiben. Er scheint etwas gemerkt zu haben. Ich erneuere mein Versprechen, gehorsam zu sein. So bleibt alles beim alten. Und Mutter ist weiterhin verschwunden.
* Eines Nachts wache ich aus einem wundervollen Traum auf, in dem ich von zwei starken, lüsternen Knaben gleichzeitig genommen wer de. Meine Brustspitzen sind steinhart vor Erregung, und es braucht eine Weile, bis sich die Geräusche, die mich geweckt haben, wieder holen. Ich schlüpfe in mein Kleid, verzichte aber auf ein Korsett, und ver lasse das Zimmer. Auf meinem Gang durch das Haus wird immer
klarer, daß die Geräusche aus der Küche kommen. Es ist Karl, der sich zu nachtschlafener Zeit am Herd zu schaffen macht und sich etwas auf großer Flamme köchelt. Der Tisch, an dem er zu frühstücken pflegt, ist hübsch gedeckt. Für eine Person. Ich ahne, daß ihn seine Holde für diese Nacht versetzt hat und er seinen Frust mit einem feudalen Mahl zu übertünchen versucht. Mehrere große Töpfe stehen auf dem Herd. Der Duft, der ihnen entströmt, ist selbst für mich verlockend. Karl scheint ein Genie zu sein, was das Zubereiten nicht nur eroti scher Mahlzeiten angeht. Als er mich sieht, fährt er aus seinem Tun hoch. Mit einem schar fen Messer tranchiert er gerade ein schönes Stück Fleisch von einem langen Knochen. »Ah, Creanna, meine Schöne, meine Häßliche«, empfängt er mich. »War ich zu laut? Habe ich dich geweckt? Wie lange stehst du schon da?« Gerade an einer Antwort auf die letzte Frage scheint ihm sehr ge legen. Er beäugt mich mit einem Mißtrauen, wie ich es von ihm noch nicht gewohnt bin. »Ich kam gerade eben erst«, sage ich. Mein Blick streift das Ge deck. »Und ich gehe auch gleich wieder. Ich wollte nicht stören.« »Du störst nicht.« Er scheint sich wieder gefangen zu haben. »Ich werde ein zweites Gedeck auflegen.« Als er mein verneinendes Lä cheln bemerkt, fügt er hinzu: »Ich verspreche dir ein Mahl, wie du es noch nie genossen hast …« Unweigerlich werde ich an seine Ausschweifungen mit der üppi gen Unbekannten erinnert. Die Aussicht, Karl könnte ähnliches mit mir im Schilde führen wie mit ihr, läßt mich ausharren. Dennoch be stehe ich darauf: »Du solltest wissen, daß ich eure Art zu essen nicht nachvollziehen kann. Auch wenn du es noch so verführerisch zube
reitest und auftischst. Aber wenn dir so viel daran liegt, leiste ich dir gern Gesellschaft. Wir können uns ein wenig unterhalten.« Er bittet um Verzeihung wegen seiner Gedankenlosigkeit, geht aber sofort auf mein Angebot ein. Ich setze mich an die Tafel, während er das Fleisch würzt und in einen der Töpfe gleiten läßt. Karl bewegt sich wie ein großer Küchenmeister. Jeder Handgriff scheint ihm über Jahre hinweg in Fleisch und Blut übergegangen zu sein. Zwischendurch unterhalten wir uns. »Du hast immer noch keine Nachricht von Mutter?« frage ich. »Nein. Aber sie hat sicher gute Gründe für ihr Fortbleiben.« »Sie nahm den Kelch mit. Kennst du seine Bewandtnis?« »Nein.« Diesmal lügt er. Aber ich lasse ihn gewähren. »Ich habe dich noch nie mit einer Frau gesehen«, lüge ich. »Wer aussieht wie du, müßte doch an jedem Finger eine Geliebte haben …« Er zuckt zusammen. Wieder dämpft Mißtrauen seinen Blick. Ich aber schaue ihn offen und unschuldsvoll an. Wenn ich eines beherr sche, dann dies … »Und du?« fragt er. »Wie sieht es mit dir aus?« »Danke, ich kann nicht klagen.« Diese Antwort irritiert ihn noch mehr. Seine Zurückhaltung weicht erst, als er sich bei mir am Tisch nie derläßt und beginnt, das zubereitete Mahl mit unglaublichem Ge nuß zu verschlingen. Seine Augen leuchten bei jedem Bissen, den er sich wohlschmecken läßt. Mir aber wird, während ich zusehe, ganz seltsam zumute.
Auch begreife ich, daß Karl nie vorhatte, mit mir zu praktizieren, was er mit dieser Sterblichen tat. Dreimal schade, aber nicht zu ändern. Vielleicht hat ihm Mutter aufgetragen, die Finger von mir zu lassen. Es sähe ihr ähnlich. Als ich eine Stunde später Müdigkeit vortäusche und Karl verlas se, ist er noch lange nicht mit seinem ausschweifenden Mahl fertig. Er entläßt mich mit einem Glanz in den Augen, der selbst mir, die ich doch das Böse bin, auf Ungewisse Weise Angst macht. Ich kehre in meine Kammer zurück und spüre plötzlich eine uner klärliche Distanz zu Karl Ortlieb. Es ist, als wollte mich ein Frösteln überrollen, wenn ich daran zurückdenke, wie er schnödes Essen zu einem Ritual aufwertete. Als ich die folgende Nacht bei ihm vorbeischleiche, sehe ich ihn bei vertrautem Spiel. Nur seine Herzdame hat gewechselt. Irgend et was muß vorgefallen sein, daß ihm die andere den Laufpaß gab. Oder er ihr. So genau weiß man das bei Karl nie. Auch diese Neue entspricht seiner offenkundigen Vorliebe für üp pige Schönheiten. Monate ziehen ins Land. Ich bekomme allmählich einen Überblick über die politischen Gegebenheiten im deutschen Reich. Nürnberg ist einer der Schmelztiegel dieser Zeit. Bisweilen mußte ich schon alle Register ziehen, um Vampiren, die hier im Hintergrund ihre Fä den ziehen, im letzten Moment aus dem Weg zu gehen. Von Mutter liegt immer noch kein Lebenszeichen vor. Alle paar Monate wechseln Karls Geliebte – sein Faible für dicke Frauen wird offensichtlich. Und auch ich lasse mich nicht lumpen. Immer wieder findet sich ein hübscher Bursche, der mir beides gibt, wonach mich verlangt.
Während der langen Zeit des Wartens finde ich schließlich einen Mann, bei dem ich mich bezähme, wenn es an das Trinken seines Blutes geht. Er ist der beste Liebhaber, den man sich denken kann. Ausdauernd und phantasievoll. Es wäre pure Verschwendung, ihn einfach zu töten. Hypnose verhindert, daß er meine dunklen Begier den öffentlich macht. Sein Name ist Konrad. Er hat kein besonderes Ansehen, aber ein passables Einkommen. Als Henker …
* Es ist ein grauer Spätnovember-Tag im Jahr 1737, als ich Konrads Turmwohnung an der Pegnitz verlasse. Österreich kämpft gegen die Türken, und die ferne Kriegsstim mung weht bis in Nürnbergs Mauern. Überall diskutieren Menschen über Sinn und Unsinn solcher Eroberungszüge, und mir ist, als täten sie es bereits in der Vorahnung, daß auch auf deutschem Boden bald wieder ein Krieg entbrennen könnte. Seit neun Jahren lebe ich in dieser Stadt, und jedes Viertel, jeder Winkel ist mir vertraut geworden. Es grenzt an ein Wunder, daß mich diejenigen, die ich aus guten Gründen zu meiden versuche, noch nicht aufgespürt haben. Vielleicht zeugt es aber auch nur von meinem übergroßen Geschick … Die Herberge am Tugendbrunnen hat sich in all den Jahren kaum verändert. Natürlich wohnt der Quacksalber nicht mehr darin – er war eines Tages verschwunden, ohne daß ich seine Abreise mitbe kam. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen in dem Haus, in dem ich immer noch lebe. Und das Verhältnis zu Karl ist an Absonder lichkeit kaum zu übertreffen. Ich habe akzeptiert, daß er sich nicht für mich interessiert, und es sieht aus, als hätte er auch gelernt, mei
ne Launen und riskanten Ausflüge zu tolerieren. Möglicherweise tut er dies aber einfach auch nur, weil er nicht mehr an Mutters Rückkehr glaubt. So wenig wie ich. Jahr für Jahr habe ich darauf gehofft, sie stünde plötzlich wieder vor mir. Meine Gefühle zu ihr wechselten häufig. Manchmal ver dammte ich sie für ihre Interesselosigkeit. Dann wieder suchte ich nach Entschuldigungen für ihr Verhalten. Ganz sicher aber werde ich mich bald entschließen müssen, ob ich hier in Nürnberg bleibe oder mich auf eigene Faust durch die Welt schlage, die viel zu groß und bunt ist, als daß ich ewig hier in dieser einen Stadt bleiben könnte. Wahrscheinlich werde ich mich nach England wenden, und vielleicht finde ich dort eine Spur zu Mutter, von der ein Gefühl mir sagt, daß sie nach ihrem Abschied auch dorthin gegangen ist. All diese Gedanken sind Makulatur, als ich den Innenhof der Her berge betrete. Dort steht ein fremdes Pferd, dessen Sattel mir jedoch vertraut ist. Ich spüre ein Ziehen in der Brust, als ich die Außentreppe nach oben renne, die Tür aufreiße und laut rufend durch die Gänge eile. Meine Stimme versagt, als sie plötzlich vor mir steht und hinter ihr Karl mit ausdrucksloser Miene auftaucht. »Mutter …!« Ich reiße mich zusammen. Aber ich zittere. Meine Beine sind weich, als hätte man sämtliche Muskeln und Sehnen daraus ent fernt. Sie tritt zu mir und streichelt mein Gesicht. Ganz sacht und ganz kurz. Sie sieht müde aus. Regelrecht erschöpft. Ich frage mich, was ihr widerfahren sein mag. »Wo – warst du so lange …?«
»Fort. Weit fort.« Sie lächelt angestrengt. »Aber nun bin ich wieder hier.« »Wirst du mich auch wieder verlassen?« Verdrängt geglaubte Ängste schwingen in meiner Frage mit. »Nein«, beruhigt sie mich. »Ich werde dich so bald nicht wieder verlassen.« Das klingt, als meinte sie, ich würde sie verlassen wollen. Dies werde ich nie tun! Oh, Mutter … Es ist ein seltsames Gefühl, sie nach all der Zeit wiederzuhaben – äußerlich kaum verändert – und doch nicht erfahren zu können, was sie in ihrer Abwesenheit vollbracht hat. Wenigstens, was mir geschehen ist, soll sie erfahren. Karl versucht mich zu bremsen, als die Sätze über meine Lippen sprudeln. Aber ein Wink von Mutter genügt, daß er uns allein läßt. Wir gehen in meine Kammer und setzen uns auf das Bett. Geduldig hört sie sich an, was ich erlebt habe. Freimütig berichte ich auch von meinen sexuellen Abenteuern. Es scheint ihr zu gefal len. Nur Konrad lasse ich vorerst unerwähnt. Warum, weiß ich nicht. »Ich wußte, daß du dich durchsetzen wirst«, sagt sie am Ende. »Du hast deine Stärken erkannt und weißt sie einzusetzen. Das ist wichtig. Und wird bald wichtiger denn je …« »Wie meinst du das?« Sie lächelt rätselhaft. Dann verläßt sie kurz den Raum und kehrt mit einer Tasche zu rück, die mir nur allzu bekannt ist. Ehe ich eine Frage stellen kann, entnimmt sie den Kelch und stellt ihn auf den Boden vor mir ab. Was danach geschieht, ist zu entsetzlich, um es in Worte zu klei
den. Der Kelch beginnt zu leuchten und sein Licht wie einen Pfeil auf mich abzuschießen. Ich tauche in ein Feuer, das mich warnungslos all dessen beraubt, was ich mir in Jahren so mühsam angeeignet ha be. Meine Persönlichkeit wird zugeschüttet von diesem Leuchten, das bis ins Innere meiner Knochen und in meine Seele dringt. Ich winde mich unter den Flammen, die in mir zehren, aber es gibt kein Entrinnen. Mutter steht im Hintergrund und beobachtet das, was geschieht, ohne einzugreifen. Vielleicht ist dies die schlimmste Erfahrung, die ich mit ins Verges sen nehme: Mutter liebt mich nicht. Mutter ist nicht meine Mutter. Der Kelch ist es. Und er tut mit mir, was ihm beliebt …
* »Wo bin ich …?« Die Frage rinnt über meine Lippen, aber es ist niemand da, der antworten könnte. Ich fühle mich seltsam. Ich sitze in einer Kutsche, die über holprige Wege fährt. Wie komme ich hierher? Wohin fahre ich? Ich erinnere mich nicht, eingestiegen zu sein. Ich erinnere mich nicht, von wo ich aufgebrochen bin. Draußen ist heller Tag. Die Rä der der Kutsche wirbeln Staub auf. Ich höre die Kommandos und den Peitschenschlag des Kutschers. Minutenlang sitze ich einfach nur da und blicke an mir herab. Ich trage ein wunderschönes weißes, rüschenbesetztes, in der Tail
le enggeschnürtes Kleid. Dieses Kleid ist mir fremd wie alles. Wie ich selbst. Wer bin ich? Ich spüre, ich müßte es wissen. Aber ich weiß es nicht. Es ist wie ein Traum, aus dem ich hoffentlich bald hervorkrieche wie ein schwarzer Schmetterling aus einer Larve … Die Kutsche macht keinen Halt, bis vor uns die Dächer einer Stadt auftauchen und bei einer Station die Pferde ausgewechselt werden. Ich bleibe in der Kutsche, unfähig, auszusteigen. Ich werde Zeuge, wie der Kutscher eine Frau mittleren Alters heranführt, ihr Gepäck auf dem Wagendach verstaut und ihr dann zu mir hereinhilft. Der Kutscher ist ein haariger Geselle. Er sieht überaus primitiv aus. Die Augen unter seinen buschigen Brauen glühen wie Kohle. Er nickt mir zu, als wüßte er über mich Bescheid, und dennoch vermag ich nicht, ihn nach mir zu befragen. Während sich die Passagierin mir gegenüber einrichtet, zieht er sich aus dem Kutschraum zurück, hält im Hinausgehen kurz inne und raunt mir boshaft flüsternd zu: »Euer Proviant, Fräulein. Ich hoffe, er mundet euch …« Ich starre ihm nach. Der Verschlag fällt zu. Ich bin allein mit ihr. Wir machen uns bekannt. Sie ist die Frau eines Lehrers, der eine neue Stelle in Prag angetre ten hat und dem sie nun nachreist. Ich gebe mich für die Tochter ei nes Pfaffen aus und wundere mich, wie leicht mir die falsche Identi tät von der Zunge geht. Auch wenn ich nicht viel über mich weiß, dies eine weiß ich si cher, daß ich keine Sterbliche bin. Kein Gewürm wie jenes, das mir
gegenübersitzt und ständig an der Frisur herumzupft oder sich die Aufregung von den Wangen pudert. »Wo sind wir hier?« frage ich und hoffe, daß es nicht allzuviel Argwohn weckt. »In Pilsen«, sagt sie. Prag … Pilsen … Die Namen der Städte hinterlassen kein Echo in mir, aber Prag scheint das Endziel der Reise zu sein. Ich bewege mich wie in einem Zustand der Schwerelosigkeit. Wir fahren die ganze Nacht durch, und als der narbengesichtige Mond durch die Baumwipfel eines Waldstücks scheint, kehrt endgültig das Wissen zurück, was ich bin. Die Frau des Lehrers schläft, obwohl es mir unbegreiflich ist, wie jemand in dieser rumpelnden Kiste auch nur an Schlaf zu denken vermag. Durch das Fenster spähe ich auf die bizarre Landschaft, wie sie sich dem Betrachter nur des Nachts darbietet. Bei Dunkelheit wirken Orte und Plätze, die man des Tags in- und auswendig zu glauben kennt, wunderbar verändert; wie die Täler und Berge eines fremden Planeten. Zu dieser Zeit enthüllen sie ihre Schrecken, die sich im Licht der Sonne tarnen und verstecken. Ich sehe sie alle, während die Kutsche durch die Finsternis jagt. Ich sehe die Schatten, die denen gehören, die die Nacht zu ihrem Revier gemacht haben, und je mehr Schatten ich sehe, desto mehr verwandele ich mich selbst in einen. Ich wundere mich nicht, daß ich sehen kann wie bei hellem Tag. Ich wundere mich, daß meine Blicke begehrlich über die bleiche Haut der Lehrersfrau wandern und daß meine Fingernägel wachsen und sich krumm biegen und meine Zähne gegen die Lippen pochen.
Ich lasse es geschehen. Ich lasse den Hunger groß und mächtig in mir werden und meine Instinkte tun, was sie tun müssen. Dabei sehe ich mir zu wie einer Fremden. Was ich sehe, gefällt mir. Im Schlaf durchtrenne ich mit meiner messerscharfen Klaue die Halsschlagader meines Opfers, das rö chelnd auffährt, die Augen aufreißt und doch kaum etwas sehen kann in diesen letzten Sekunden seines Lebens. Zappelnd versucht die Gute, mich abzuwehren. Aber ich bin un bezwingbar. Ich presse den Mund auf die offene Wunde und ent führe den beseelten Saft aus ihren Adern. Danach werfe ich den Leichnam während der rasenden Fahrt ins Gebüsch am Wegrand. Der Kutscher muß es bemerken, aber er hält nicht einmal an, und als der Tag anbricht, sind wir in Prag. Dort, wohin auch die Frau des Lehrers wollte. Ich aber weiß nun, was ich bin, jedoch immer noch nicht, wer …
* Da stehe ich nun zwischen Häusern, nicht weniger prächtig, nicht weniger zahlreich, als ich es erwartet habe, obwohl ich mich nicht entsinnen kann, je zuvor hier gewesen zu sein. Die Kutsche hat nur kurz angehalten, um mich aussteigen zu las sen, und ist dann sogleich weitergefahren im grauenden Morgen. Ich habe nichts außer dem Kleid, das ich trage. Kein noch so gerin ges Gepäck. Daß ich dennoch meine Füße in Bewegung setze, als wüßte ich, wohin ich will, erscheint mir weniger verrückt, als es soll te.
Als mir dennoch kurz Zweifel kommen, ob dies der rechte Weg ist, dem ich folge, und umkehren will, habe ich das beklemmende Gefühl, mein Mieder würde von einer Seilwinde zusammengezogen und mir das Herz abschnüren. Ich wanke, besinne mich und nehme die alte Richtung wieder auf. Sofort fällt der Druck von mir ab. Ich atme tief und begierig. Zu die ser frühen Stunde gehört die Stadt mir fast allein. Nach kurzer Strecke erreiche ich das Haus, das mein Ziel ist. Ich klopfe nicht an, sondern betrete es. Sofort höre ich das Wim mern einer Sterbenden, die mich an das Geplärre der Lehrersfrau er innert. Ich folge den Lauten und gelange über eine Treppe ein Stockwerk höher. Durch ein Schlüsselloch blicke ich in den dahinterliegenden Raum (woran erinnert mich dies bloß?) und beobachte Faszinierendes. Ich sehe einen Mann von unerwartetem Charisma. Er wendet mir sein edles Profil zu. Unter dem Auge pulsiert eine kreuzförmige Narbe wie rohes Fleisch, von dem man die Haut geschält hat. Das Alter dieses Mannes ist unbestimmbar. Die Reife, die von ihm aus strömt, läßt jedenfalls auf eine hohe Zahl von Jahren schließen. Sein graues Haar ist hinten von einer Spange zusammengeschlossen. Er trägt Wams, Rüschenhemd und Hosen. Lackschuhe, glänzend wie der Tod, bedecken seine Füße. Er hat schöne Hände. Er ist wie ich und dennoch ganz anders. Er trinkt das Blut seines Opfers, ohne es auch nur zu berühren! Ich weiß nicht, wer die Frau ist, die vor ihm auf dem Stuhl sitzt und ihn, von Grauen umpanzert, ansieht. Wie ich sieht auch sie das seltsame Gefäß, das über den offenen
Händen des Vampirs in der Luft schwebt. Für einen Sekundenbruchteil meine ich, diesen lilienförmigen Kelch zu kennen. Dann verschwimmt dieser Glaube, und ich beobachte nur noch. Ich sehe, wie die Frau unter Qualen die nackten Arme ausstreckt und wie durch Hexerei Schnitte längs der Pulsadern entstehen, aus der das Blut in stoßartigen Fontänen wie aus einem Wasserspeier hervortritt. Aber es verteilt sich nicht verschwenderisch im Raum, sondern findet auf geheimem Weg in das schwebende Gefäß! Als die Frau tot im Stuhl hängt, nicht einmal fähig zu fallen, führt der Vampir das Gefäß an die Lippen und trinkt es in ruhigen Zügen leer. Danach tut er, was ich endlich wieder als normal empfinde: Er dreht seinem Opfer das Gesicht auf den Rücken. Der Kelch ist verschwunden. Er war nicht echt. Nur sichtbar ge machte Magie. Ich bin bestürzt und will mich abwenden. Aber es gelingt mir nicht. Statt dessen hebe ich die Faust und klopfe gegen die Tür. Von drinnen dringen Geräusche, und dann öffnet er ohne jede Hast. So wie er benimmt sich nur, wer niemanden und schon gar nicht Verfolgung wegen der gerade begangenen Tat fürchtet. Er erkennt sofort, daß ich bin wie er (und doch ganz anders). Ohne Zögern befiehlt er mich zu sich herein. Ja, er befiehlt. Ich spüre sofort, daß er gewohnt ist, daß sich andere ihm unterordnen. Meine Faszination wächst. »Wer bist du?« fragt er. »Creanna. Und du?« »Landru. Was willst du von mir?« »Ich sah dich mit ihr –«, ich weise zu der Toten; er hat sich nicht
einmal bemüht, sie zu beseitigen, ehe er mir aufmachte, »im Gefolge in dieses Haus gehen. Darum folgte ich dir.« »Dann hast du mich belauscht?« Ich nicke. Es scheint ihn nicht zu beunruhigen. Warum auch? »Welchem Clan gehörst du an?« fragt er. »Ich weiß es nicht. Keinem …?« »Keinem?« Er schaut mich sekundenlang nachdenklich an. Dann fährt er fort: »Ich erkenne die Handschrift des Kelchs an jedem, den er zeugte. In dir vermag ich nicht zu lesen. Was ist mit dir? Du er scheinst mir so … jung. Wie alt bist du?« »Und was ist mit dir?« weiche ich aus. »Warum trinkst du das Blut nicht, wie es sich geziemt?« Seine Augen funkeln. »Es verstieße gegen mein Gelübde.« »Gelübde?« »Ich bin ein Verdammter. Aber mehr werde ich dir nicht sagen – auch wenn du, was ich immer noch nicht glauben kann, keiner Sip pe angehörst.« Er führt mich in einen anderen Raum und bietet mir, aus Gast freundschaft, an, mir ein eigenes Opfer zuzuführen. Ich lehne mit dem Hinweis ab, daß ich dazu selbst in der Lage und überdies ge sättigt bin. Er lauscht abwartend. Zugleich erkenne ich mit Befriedigung, daß ich sein Interesse geweckt habe. »Erzähle von dir!« fordert er mich auf, nachdem wir Plätze, Ge sicht an Gesicht, eingenommen haben. »Mich giert, mehr – alles – über dich zu erfahren. Woher kommst du? Was suchst du in Prag?« Wenn ich das wüßte. Wenn ich auch nur das Geringste wüßte, was mir widerfahren ist,
ehe ich in jener Kutsche zu mir kam. Ich erzähle freimütig, wie sich alles zugetragen hat, und spüre, daß ihn mein Gedächtnisverlust mit Mißtrauen erfüllt. Ich kann es ihm nicht verdenken. Mir erginge es in umgekehrtem Fall kaum anders. Als seine Fragen immer wieder ins Leere stoßen, wächst sein Un mut, so daß ich mich erhebe und mit den Worten verabschiede: »Ich kam aus Neugierde – und weil du mir vertraut inmitten großer Fremde deuchtest. Aber ich werde nicht um dein Vertrauen buhlen. Ich gehe!« Seine Stimme hält mich fest, noch ehe ich die Tür erreiche. »Du hast recht, wenn du mir Argwohn nachsagst, aber das hat seine Gründe. Ich bin ein gebranntes Kind. Und ich habe große Schuld auf mich geladen. In meiner Situation ist es unbedingt ratsam, allem und jedem zu mißtrauen. Ich bitte dich trotzdem zu bleiben. Wenn dich Neugierde hierher trieb, dann wirst du auch meine Neugier ver stehen. Vielleicht kann ich dir helfen, die Erinnerung zurückzuge winnen. Vielleicht können wir beide das Ereignis ergründen, das sie dir raubte …« Noch bevor ich mich umdrehe, weiß ich, daß ich nichts lieber tun werde, als in der Nähe dieses Mannes zu bleiben. Ich bin gefangen von seinem dunklen Wesen. Ich weiß, es klingt lächerlich, aber ich glaube, ich bin … Nun, lassen wir das.
* Noch am selben Tag schlafe ich mit Landru. Es gibt keine Hemm schwelle zwischen uns. Ich fühle nur den unwiderstehlichen Sog,
der von diesem Mann ausgeht, der atmet, redet und sich bewegt, als hätte er Jahrtausende kommen und gehen sehen. Wie nahe dieser Verdacht der Wahrheit kommt, ergründe ich erst nach und nach. Zunächst bin ich wie paralysiert vom Gift seiner Lei denschaft. Er nimmt mich, wie es ihm gefällt. Am besten gefällt es mir, wenn ich vor ihm knie und er mich mit seinem gewaltigen Speer von hinten durchbohrt. In dieser Stellung spüre ich ihn am tiefsten, und ich kann mich kaum auf allen vieren halten, weil die Schwäche des Höhepunkts mir Arme und Beine wegzuziehen droht. Manchmal heult er wie ein wölfisches Wesen hinter mir, und ich fühle, wie sich die Härchen in meinem Nacken aufrichten vor Lust. Er liebt mich bis zur völligen Erschöpfung. Bis ich – fast verzwei felt – um Gnade bettele. Das gefällt ihm. Später liegen wir zusammen, Schulter an Schulter. Mein Kleid, das ich nicht auszog, sondern nur raffte, ist weit weniger lädiert, als es nach diesem Sinnestaumel sein müßte, und er fragt: »Hättest du Muße für ein ganz besonderes Vergnügen?« Automatisch beziehe ich die Frage auf sexuelle Vorlieben. »Ich bin zu allem bereit«, antworte ich, obwohl mein Körper be reits wie im Fieber nachglüht. Er lächelt, und wieder dominiert das Wölfische, das mir so sehr behagt, seine Züge. »Du mißverstehst …« Und dann erklärt er mir, welche Art Vergnügen er tatsächlich meint. Ich bin sofort Feuer und Flamme. »Du begleitest mich?« fragt er. Es gibt kein Zögern. Ich bin ein Geschöpf ohne Identität. Ich kenne nur Landru und das Bedürfnis, nie wieder von seiner Seite zu wei
chen. »Ich begleite dich!« erwidere ich. Am nächsten Tag reisen wir ins verschneite Moskau.
* Der Empfang ist eisig wie die Luft draußen. Das Oberhaupt der Moskauer Vampirfamilie, Rasputin, ist ein grobschlächtiger Koloß mit eisgrauem, bis auf die Brust reichendem Bart. Seine tief in den Höhlen liegenden Augen glimmen tückisch und respektlos. Und doch erkenne ich an tausend Kleinigkeiten, daß er nicht nur Respekt, sondern Todesfurcht vor Landru empfindet. Landru läßt sich die harsche Begrüßung gefallen, ohne Rasputins Verhalten zu ahnden, und schon nach kurzer Zeit begreife ich: Es muß abgesprochen zwischen den beiden sein! Rasputin will sein Gesicht nicht vollends verlieren. Er ist allein mit seinem Problem nicht fertig geworden und hat nach Landru ge schickt. Landru soll schaffen, was kein Mitglied dieser Sippe voll brachte. »Er wütet wie ein Berserker!« höre ich Rasputins dunkles Organ, als wir mit ihm allein sind und ich meinen Verdacht bestätigt finde. Er hat sich augenblicklich in seiner aufgesetzten Arroganz zurück genommen und blickt nun fast flehend auf Landru herab, den er um einen ganzen Kopf überragt und dennoch nicht annähernd dessen Ausstrahlung erreicht. »Er ist der Weißen Magie kundiger als alle, mit denen wir es je zu tun hatten. Er nennt sich Marunde. Keiner weiß, woher er kam. Aber Moskau ist sein bevorzugtes Revier ge worden. Er dezimiert meine Sippe Monat um Monat. Fünf aus unse
ren Reihen wurden bereits in alle Winde verstreut. Wir konnten nicht einmal ihre Asche bergen und so wenigstens etwas Hoffnung aufrechterhalten …« Seine letzten Worte sind mir schleierhaft, aber Landru scheint ge nau zu verstehen. Ich sitze neben ihm auf einem harten Stuhl, der zur Kargheit des Raumes paßt. Wir befinden uns in einer entweihten Synode, ganz am südlichen Rand der Stadt. Rasputin hat mich bisher mit kaum ei nem Blick geachtet. Vielleicht gehört auch das zum Spiel seiner Ar roganz. Vielleicht mag er aber auch einfach keine Frauen. »Ihr seid so viele«, ergreift Landru das Wort, nachdem er Rasputin ausreden ließ. »Und du hast ein Alter erreicht, das deine Magie ge nug gestärkt haben müßte, um mit einem Menschen fertig zu wer den!« Er gibt dem Gewürm die Betonung, die ihm geziemt. Es klingt, als spreche er über eine notwendige Plage. Wie recht er hat. Wie notwendig sie mitunter sein können … »Er ist nicht allein«, rechtfertigt sich Rasputin mit vergrämter Mie ne. »Er findet immer wieder Gehilfen, obwohl wir gerade sie immer wieder vernichten konnten!« »Auch ein Erfolg«, erwidert Landru zynisch. Rasputin schweigt verkniffen, und Landru wendet sich an mich: »Was hältst du von dieser Bewährungsprobe?« »Bewährungsprobe?« »Du hilfst mir, Marunde zu töten, und ich habe eine Gefährtin ge wonnen, auf die ich mit Stolz blicken kann …«
*
Ich erinnere mich an Rasputins entgleisende Züge, als er die Worte vernahm. Er verdaute die damit verbundene Demütigung erst, als Landrus Blick ihn wie ein Bannstrahl traf. Für einen »Verdammten«, wie er sich selbst bezeichnete, genießt Landru einen geradezu phänomenalen Status. Wer ist er? Er gehört, obwohl er nicht darüber redet, ganz offensichtlich auch keiner Sippe an. Und dennoch bewegt er sich so selbstverständlich in den Reihen von Rasputins »Kindern«, als gehöre er nicht nur zu ihnen, sondern überstehe ihnen und ihrem Oberhaupt. Nicht zum erstenmal spüre ich, daß es gerade dieser Zwiespalt, diese Zerrissenheit an Landru ist, die mich an ihn kettet. Ich habe große Schuld auf mich geladen, sagte er. Wie groß muß diese Schuld bei einem Mächtigen wie ihm sein? Mir schaudert beim bloßen Gedanken. Rasputins Reaktion jedenfalls war es, die all meine Vorbehalte hin wegfegte und mich – wider alle Vernunft – in Landrus Vorschlag einwilligen ließ. Er soll mit Stolz auf mich blicken! Ich will ihm eine gute Gefährtin sein – die einzige, nach der ihm der Sinn steht! In den Tagen, da er die besprochenen Vorbereitungen trifft, bin ich viel allein. Ich nutze die Zeit, um mit mir und dem getroffenen Ent schluß ins reine zu kommen. Dabei mache ich eine besorgniserregende Entdeckung – obwohl »besorgniserregend« dafür vielleicht nicht das rechte Wort ist. Es geht um das Kleid, das ich seit meiner »Bewußtwerdung« in Pilsen trage. Dieses Kleid, das ich seither nicht mehr abgelegt habe,
ist etwas Absonderliches. Es … verändert sich. Seit heute weiß ich es sicher. Zuvor richtete ich es immer ein, daß es bei meinen Ausschweifungen mit Landru nicht hinderlich wurde. Als ich jedoch heute früh daran dachte, wie schön es sein müßte, mich endlich einmal völlig nackt hinzugeben, traf mich die Reaktion des Kleids zunächst wie ein Schock. Denn es löste sich unter meinen Fingern auf! Zunächst glaubte ich, es sei vollkommen verschwunden. Aber ge blieben war ein wulstförmiger »Gürtel« um meine schmale Hüfte, und von diesem »Gürtel« aus entfaltete sich wenig später ein neues, verändertes Gewand – verrucht und meine Rundungen betonend wie kein zweites Kleid, das ich je sah. Wenig später kehrte Landru von einer dringenden Verrichtung zurück, sah mich – und wurde sofort vom Zauber des sündhaften Teils eingefangen. Fast barbarisch fiel er über mich her, und bis ich mich in der Lage fühlte, über meine Entdeckung zu berichten, hatte er mich zweimal hart genommen. Erst danach fragte er, woher ich dieses ihn über die Maßen betö rende Teil habe. Ich wollte ihm antworten, als es geschah. Es war, als bohrte sich glühendes Eisen durch mein Rückgrat bis hinauf in mein Gehirn. Der Schmerz kam grell und bestienhaft. Ich wollte schreien und war nicht einmal fähig, den Mund zu öffnen. Landru wartete auf eine Antwort. Ich setzte erneut an. Wieder kam der Schmerz, stärker als beim erstenmal. Regelrecht vernichtend. Als würde mein Gehirn in Säure getaucht. Als ver dampfe mein Mark. Landru musterte mich befremdet. Er sah nichts von der wahren
Qual, in der ich badete. Ich aber versuchte es mit einer Ausflucht, sprach von einem klei nen Lederladen unweit unserer Behausung, wo es noch mehr Sin nesfreuden zu erstehen gäbe – und das »Kleid« gab Ruhe. Es hono rierte meine Lüge, indem es mich nicht länger schändete. Mir nicht das Innerste nach außen stülpte und mich gänzlich aushöhlte. Ich lernte meine Lektion, ohne zu begreifen, was hinter diesem Ge wand steckte. In der Folge war ich selbst bemüht, Landru nie Zeuge der Verän derungen werden zu lassen, die dieses merkwürdige »Ding« voll führte. Binnen eines Tages lernte ich, es zu steuern. Es gehorchte meinen Wünschen – bis zu dem Punkt, da ich über es reden oder es ablegen wollte. Dann – nur dann – badete es mich in Schmerz und Folter … Und nun, nach Abschluß der Vorbereitungen, ist der Augenblick gekommen, da es gegen Marunde geht. Da dieses »Kleid« zur Ne bensache wird, denn nun rückt etwas anderes in den Vordergrund. Das nackte Überleben.
* Sternfunkelnde Nacht liegt über Moskaus Dächern. Ich verberge mich hinter einer eingefallenen Mauer jener Ruine, zu der Marunde kommen wird. Das verfallene Haus steht auf einem Weiten, verwilderten Parkge lände, fernab der nächsten bewohnten Häuser. Nicht weit davon er hebt sich ein Totenacker, aber auch er scheint längst von den Leben den aufgegeben. Es ist kalt, aber das Kleid und der Mantel, den Rasputin mir über
ließ, halten die gröbste Kälte von mir fern. Ich denke nicht an den Tod, der mir noch nie so nah war. Ich denke nicht daran, daß ich dabei bin, mich aus purer Hörigkeit zu einem Mann zu opfern. Fünf Vampire, vielleicht stärker und gewiefter als ich, hat Marun de bereits auf dem Gewissen. Das sagt genug. Es sagt vor allen Din gen, daß er kein Anfänger mit Anfängerglück ist. Er weiß, was er tut. Er hat uns erkannt, wie wir uns unter die Menschen gemischt haben, uns unter ihnen bewegen in der Maske, die uns äußerlich nicht von ihnen unterscheidet. Aber, wie Rasputin sagt, Marunde weiß nicht alles. Er ahnt nicht die volle Wahrheit. Für ihn sind wir Menschen, die auch im Grab keine Ruhe fanden. Verlorene Seelen, die nicht wahrhaftig sterben können und die sich vom Blut der Lebenden nähren, um sich der Il lusion hinzugeben, selbst zu leben. Er sieht bedauernswerte Irrun gen der Natur in uns, die erlöst werden müssen. Vielleicht macht ihn gerade das so gefährlich. Er scheint ein Eiferer zu sein, der an seine Sache glaubt. Ich harre aus, bis ich Laternenschein herankommen sehe. Langsam nähert sich etwas der Ruine. Dieser Teil des Vorhabens scheint geglückt. Landru hat einen hyp notisierten Menschen zu Marunde geschickt und ihm zutragen las sen, daß in diesem alten Gemäuer eine gottlose Vampirin hause, die immer wieder Opfer hinab in ihre Kellergruft zöge … Diese Vampirin bin ich. Aber das Lachen vergeht mir, je näher die Laterne über die ver schneite Parklandschaft herankommt. Alle Fußspuren sind beseitigt. Nichts soll Marunde warnen, bevor er seinen Fuß in den Keller setzt …
Ich warte, bis es unabdingbar wird, mich zurückzuziehen. Ich kann gerade noch erkennen, daß Marunde nicht allein ist, sondern in Begleitung dreier Personen. Eine davon ist unser Lockvogel. Die anderen beiden die Gehilfen des Pfählers. Ich kann mich der Nervosität nicht ganz entledigen, als ich in die Tiefe steige. Dort ist alles arrangiert. Im Gewölbe steht ein hübscher Sarg, wirk lich bequem, ich habe es bereits getestet. Zu diesem auf einer kleinen Erhöhung stehenden Sarg führt ein al ter, modriger Teppich (Landru meinte, ein kostbarer würde das Mißtrauen hochschlagen lassen, und ich glaube, er hat recht), den ich meide, weil ich um seine Bewandtnis weiß. Der Plan ist simpel – aber ich hoffe, daß er gerade deshalb gelin gen mag. Ich verberge den Mantel in einer Öffnung unter dem Sarg und hebe den Deckel. Im Innern liegt ein frisches Ochsenherz. Ich gebe dem Kleid den Befehl, sich in einen leuchtend roten Um hang zu verwandeln. Trotz der Kälte bin ich darunter völlig nackt. Ich will alles tun, um Marunde im entscheidenden Moment zu becir cen. Mit dem Blut, das ich dem noch dampfenden Herzen entneh me, besudele ich meinen Hals. Landru meinte, es könne nicht scha den, Marunde vorzugaukeln, ich hätte gerade eine blutige Mahlzeit hinter mir. Marunde scheint gewisse Erwartungen zu hegen, die man erfüllen sollte. Als ich mit diesen Vorbereitungen fertig bin, lege ich mich der Länge nach hin und ziehe den Deckel über mir herab. Dann warte ich. Es dauert lange, bis ich Schritte höre. Die Sekunden dehnen sich, als hätte sich selbst die Zeit gegen mich verschworen.
Endlich kommt jemand schwer die Treppe herab. Ich zähle. Als ich überzeugt bin, daß die letzte Stufe erreicht ist, versuche ich, emotionslos meinen Plan abzuspulen. Das Knarren der Scharniere gehört dazu, als ich den Deckel fast zeitlupenhaft nach oben stemme. Der Vorgang soll Marunde zur Eile gemahnen. Er soll eine Hast entwickeln, die ihn gedankenlos über Details dieser Umgebung hin wegsehen läßt … Aber ich höre keinen Aufschrei. Der Deckel ist oben, und Marunde steht immer noch dort am Ende der Treppe. Er ist allein, von seinen Gehilfen keine Spur, und er blickt mit solch unerschütterlicher Gelassenheit zu mir herüber, wie ich mich aus dem Sarg erhebe, daß ich innerlich erbebe und das Ge fühl bekomme, winzige Eisplättchen schöben sich unter meine Haut. Marunde ist von eindrucksvoller Gestalt. Sein rundes Gesicht un ter dem Hut ist nicht frei von überstandenem Leid, und das Haar fällt ihm ins Gesicht, wie es bei Menschen großer Widerspenstigkeit manchmal der Fall ist. Dieser Mann ist es gewohnt, auf Widerstände nicht nur zu treffen, sondern auch zu reagieren. Vielleicht hätte ich mir vorher ein Bild von ihm machen sollen. Vielleicht hätte es mich nicht so närrisch glauben lassen, ihn so leicht überlisten zu können … Er steht ganz still, hebt die Laterne von sich und leuchtet mir ent gegen. Aber auch seine andere Hand ist nicht leer. Ich verharre und denke: Vorbei! Die Chance ist vertan … Ich kann mir nicht mehr vorstellen, daß er in die gestellte Falle tappt. Und tatsächlich schweift sein Blick jetzt von mir ab zum Bo den, wo er den Teppich mit unverkennbarem Mißfallen beäugt.
Ich frage mich, welches Selbstbewußtsein dieser Mann in sich trägt, daß er ohne seine Begleiter hier herabstieg. Und gebe mir selbst die Antwort: Das Selbstbewußtsein einer Handvoll »erlöster« Wie dergänger allein hier in Moskau! Davon läßt sich zehren. Was habe ich hingegen vorzuweisen? Ich erspare mir die Antwort. Er stellt die Laterne am Fuß der Treppe ab und setzt sich in Bewe gung. Den Teppich umgeht er in voller Breite. In seiner Hand schwingt etwas wie ein silberglänzendes Pendel. Ich weiß nicht viel über Magie. Aber die Aura, die diesen schreck lichen Jäger umgibt, kommt nicht von ihm allein. Er besitzt Hilfsmit tel. Ich sehe nur das Pendel, aber ich ahne, daß sich unter seinem to gaähnlichen Umhang weit mehr verbirgt. Er redet immer noch kein Wort. Meine üppige Weiblichkeit, die unter meinem Umhang hervorquillt, ist keine Fährnis für ihn. Er kommt daher wie in Trance. Als hätte er sich selbst hypnotisiert, um fremder Hypnose zu widerstehen. Ich frage mich, ob es Sinn macht, ihn mit Worten zu verunsichern. Er sieht nicht aus, als könnte solcher Versuch verfangen. Dennoch rufe ich: »Halte ein! Du wurdest betrogen!« Er bleibt nicht stehen. Meine Stimme prallt an ihm ab wie Regen vom Wachs einer Kerze. Ich greife das erkaltete Ochsenherz und schleudere es ihm entgegen. Es klatscht vor ihm auf den Steinboden, dort, wo kein Teppich mehr hinreicht. »Es war ein Streich! Hör mich an! Ich bin keine Vampirin! Ich habe einen Auftrag für dich und wollte zuvor deine Unerschrockenheit prüfen … Ich bin zufrieden. Genug!« Es ist billig.
Bei Cane, ist dieser Versuch billig und – was viel schlimmer wiegt – durchschaubar! Nein, durchzuckt es mich. Nicht so. Lieber sterben, als mich weiter selbst zu erniedrigen … Mir bleibt ohnehin keine Wahl. Marunde stockt nicht in seinem Vorwärtsdrang. Das Ochsenherz stößt er mit den Spitzen seiner Stiefel beiseite. Sein Blick haftet an meinem Gesicht. An den verräterischen Zähnen und meinen lohen den Augen. Wie dumm von mir. Ich bin froh, daß Landru mich nicht jammern hörte. Ich versinke vor Scham … Aber dann reiße ich mich zusammen. Mit geschmeidiger Bewegung entsteige ich dem Sarg und erwarte Marunde auf dem Sockel. Er setzt ein freudloses Lächeln auf, als er sich den Hut vom Kopf streift und mir entgegenschleudert. Gerade noch rechtzeitig erkenne ich, daß die Kopfbedeckung nur verbirgt, was mich schwächen soll. Irgend etwas darin greift nach mir … Ich werfe mich im letzten Moment zur Seite – mit gar nicht mehr eleganter Bewegung. Ich lande auf dem Teppich. Gerade noch im vertretbaren Bereich. Aus den Augenwinkeln sehe ich den Vampirjäger. Er schwingt das Pendel wie eine Schleuder, und in der anderen Hand erhebt sich ein Drudenfuß mit dem Abdruck ineinander ge schränkter Füße einer Drude. Ich weiß nicht, woher ich Kenntnis darüber habe. Aber ich erbebe unter dem Einfluß des Pentagramms.
Es nagelt mich auf der Stelle fest. Ich bin wie gelähmt. Der Boden unter meinen Füßen scheint Ankerwurzeln in mein Fleisch zu trei ben. Die Unterwelt scheint nach mir zu greifen, an mir zu zerren. Ich stöhne. Der Ton rollt dumpf aus meiner Kehle. Das Herz in meiner Brust zieht sich zusammen. Jetzt, denke ich. Jetzt müßte irgend jemand – irgend etwas eingreifen, sonst... Ich höre Schreie von draußen. Schreckliche Schreie. Auch Marunde muß sie hören, aber er ist von heiligem Wahn er faßt und läßt nicht mehr von mir ab. Ich bin ihm sicher als Opfer. Er preßt den Drudenfuß gegen meine Brust. Mein Fleisch brennt. Ich rieche, wie es verkohlt. Ich wanke und verliere kurz die Besinnung. Als sich mein Blick klärt, hebt Marunde Hammer und Pflock. Die Spitze des Pfahls ist oberhalb meiner linken Brust zwischen die Rip pen gepreßt. Er holt aus. Sein Ausdruck ist unverändert. Sein Schweigen auch. Ich will nicht sterben! Zum Teufel mit Landru, wenn er meiner Liebe ohne einen solchen Beweis mißtraut! Ich schließe die Augen. Die Lider sind das einzige, was mir noch gehorcht. Und dann geschieht es. Etwas stülpt sich über meinen Kopf. Marunde keucht plötzlich so laut, daß es wie einzelne abgehackte Schreie klingt. Ich versuche die Augen aufzureißen, um zu sehen, was ihm diese Angst einflößt.
Es mißlingt. Etwas umschließt meine Augen wie ein enges Band. Die Lähmung fällt von mir ab, aber ich wage es nicht, mich zu bewegen. Jeder Schritt kann ins Verderben führen, und der Versuch, das Band von meinem Kopf zu lösen, scheitert schmerzhaft. Die Pein ist dieselbe, die ich verspürte, als ich mein Kleid ablegen wollte. Blind, aber nicht taub stehe ich da. Die spürbaren Erschütterungen des Bodens zeigen, daß Marunde sich mit unsicheren Schritten von mir weg bewegt. Und dann … … wird der Zipfel des Teppichs, auf dem ich stehe, unter meinen Füßen fortgezogen. Ich schlage hart auf den Boden, während sich in meinen Ohren der markerschütternde Schrei festfrißt, mit dem Ma runde nach unten stürzt. Sein Aufprall ist ungleich folgenschwerer als der meine. Ich liege da und lausche, wie sein Geschrei erstirbt. Dann spüre ich, daß meine Augen wieder frei sind. Ich springe auf. Dort, wo der Teppich lag, ist nur noch das Grubenloch, das Land ru präpariert hat. Ich gehe langsam auf den Rand der Öffnung zu. Der Anblick versetzt mich schier in Euphorie. Der Jäger ist zum Opfer geworden. Marunde hängt aufgespießt über mehrere zugespitzte, aus der Grube ragende Pfähle verteilt. Er lebt noch, aber nicht mehr lange. Blut quillt aus seinem offenen Mund, und er scheint mich lautlos, mit geballten Fäusten, von dort unten herauf zu verfluchen, während die ersten Ratten an seiner Kleidung zerren. Landru hat an alles gedacht. Ich sauge das Bild in mir auf und vergesse darüber, wie wenig ich
bewußt zu diesem Sieg beigetragen habe. Langsam umrunde ich die Grube und steige die Treppe hinauf, wo sich mir ein weiteres Blutbad offenbart. Der »Lockvogel«, der Marunde und dessen Helfer in Hypnose hierher führte, hat ganze Arbeit geleistet. Er scheint leichtes Spiel mit den beiden Getreuen des Jägers gehabt zu haben. Sein Dolch trieft vor Blut. Der Schnee ist dunkel gefärbt unter den reglosen Lei bern. Ich lobe den Ahnungslosen. Dann befehle ich ihm, zu Marunde in die Grube zu springen, und gehe Landru entgegen, der am Ende des Parks auftaucht. Ich bin seiner wert. Er darf stolz auf mich sein. In dieser Nacht lieben wir uns wie nie zuvor und selten danach …
* Die Jahre vergehen. Es ist ein seltsam Ding mit der Liebe. Hat man den Richtigen gefunden, den Einzigen und Wahren, wird sie nicht weniger mit der Zeit, sondern wächst und wächst bis zur schieren Trunkenheit der Sinne … Ich gebe zu, dies stammt nicht von mir, und es entspricht auch nicht meinem Wesen, mich in lyrischem Überschwang zu verlieren. Aber irgendwo ist ein Körnchen Wahrheit darin, auch was mich an geht. Ich begleite Landru auf seinen Reisen, über deren Sinn und Zweck er mir nur vage Auskünfte gibt. Ab und zu fällt ein Begriff: der Lilienkelch.
Landru sucht nach diesem Kelch. Es ist jenes Gefäß, das auch mich einst geboren hat und das Land ru schon bei unserer allerersten Begegnung erwähnte, ohne daß ich damals wußte, welche Bedeutung ihm zukommt. Es wurde gestohlen. Landru sucht den Dieb – aber mehr verrät er nicht. Es tut weh zu begreifen, daß er mir immer noch nicht voll vertraut. Eines Tages, wir weilen gerade in einer kleinen Hafenstadt im Sü den Frankreichs, erscheint unangemeldet ein eigentümlicher Besu cher, den Landru nach kurzem Wortwechsel freundlich empfängt. Die ungewöhnlich behaarte Gestalt, weder Mensch noch Vampir, entpuppt sich als Bote, und zum erstenmal höre ich den Namen No na. Von ihr erhält Landru einen dermaßen intimen Gruß, daß ich kaum noch abwarten kann, bis der Bote wieder gegangen ist. Ich fahre meine Krallen aus und scheue nicht davor zurück, über mei nen Liebsten herzufallen. Daraus entwickelt sich, wie üblich, ein Gezänk, das damit endet, daß Landru mich mit Leidenschaft und Ausdauer zu besänftigen versucht. Doch diesmal – ich weiß selbst nicht, warum – verfängt sein Be mühen nicht. Kühl verlange ich am Ende, als er erhitzt von mir läßt, alles über jene rätselhafte Nona zu erfahren. Er weigert sich. Er wiegelt den Vorfall ab. »Nona ist eine gute alte Freundin«, wiegelt er ab. »Eine sehr, sehr alte …« »Was nicht heißt, daß sie alt sein muß!«
»Nein«, gesteht er zu. »Alt an Jahren, aber ihr Körper ist jung wie eine Blüte aus El Nabhals Garten …« Es gelingt ihm. Es gelingt ihm, mich noch tiefer zu kränken. Er scheint hocherfreut über das Lebenszeichen jener »alten Freundin«! Tagelang rede ich kaum ein Wort mit ihm und erwarte, daß er dem verheißungsvollen Ruf der Geliebten folgen wird. Hinüber nach Afrika, von wo auch der Bote kam. Aber dann überschlagen sich die Ereignisse. Landru spricht es nicht aus, aber er scheint aus geheimer Quelle einen Hinweis auf das Gefäß erhalten zu haben, dem er mehr nachjagt als jedem Frauen rock. Wir brauchen keine Koffer zu packen. Wir reisen seit je mit »leich tem Gepäck«, und ich erinnere mich an Landrus Verwunderung, als er mich bei unserer ersten Reise nach Rußland fragte: »Brauchst du keine Heimaterde, um Ruhe in fremdem Land zu finden?« Ich habe verneint. Danach schien ich für ihn noch mehr als zuvor den Status einer Exotin angenommen zu haben. Er bittet mich auch jetzt nicht um Verzeihung. Nona und ich, das scheinen zweierlei Paar Schuhe für ihn zu sein. Er kann mit beiden leben. Kann ich es auch? Ich verschiebe die Antwort auf diese Frage. Es dauert fast zwei Wochen, bis wir das Ziel, das Bergnest Bagoli no in den Brescianer Alpen im Norden Italiens, erreichen, und als wir ankommen, herrscht gerade der »santissimo carnavale«, der al lerheiligste Karneval, über den winzigen Ort. Es ist die Zeit der Masken, und obwohl ihn das Fieber der Kelch suche gepackt hat, scheint Landru gerade daran großen Gefallen zu finden. Er empfiehlt mir, mich unter die Leute des Dorfes zu mi schen, bis er seine »Geschäfte« hier erledigt hat.
Es gibt kein Hotel in Bagolino. Wir haben uns in das erstbeste Haus am Dorfrand »eingeschrieben«. Die Bewohner dulden uns mit großem Zuvorkommen. Wenn wir gehen, wird man sie begraben müssen. Zwei Tage, erfahre ich von den Hausbewohnern, herrscht turbu lentes, hemmungsloses Treiben auf der langgezogenen Hauptstraße, entlang der sich die Häuser gruppieren. Erst als Landru gegangen ist, locken mich Jauchzen und Musizie ren, das durch die Mauern dringt, ans Fenster. Die Männer des Dorfes tragen zur goldbestickten Festtagstracht weiße Gesichtsmasken mit geschwärzter Augenpartie und knallro ten Lippen. Die Frauen haben sich sämtlich als alte Hexen ver mummt, aber hinter mancher Alten kann ein feuriges junges Ding stecken – oder auch nicht. Vom Jüngsten unserer »Gastfamilie«, der neben mir steht, erfahre ich, daß ein jeder Mann seine Stimme zum Falsett verstellt, um ja nicht erkannt zu werden. Außer dieser kleinen Regel ist dem Ver gnügen keine Grenze gesetzt. Allmählich reißt mich das Geschehen draußen mit, und als die Dunkelheit mich zudem lockt, veranlasse ich mein »Kleid«, sich der Maskerade anzupassen. Ich gehe jedoch nicht als alte Hexe, sondern als weißmaskierter Mann hinaus. Regeln sind da, um gebrochen zu werden. In dieser Nacht habe ich meinen Spaß. Mancher Mann weniger, denn ich gehe derb zu Werke, als müßte ich jeden büßen lassen, was Landru mir zeitweise antut. Erst im Morgengrauen kehre ich in unseren Unterschlupf zurück. Landru wartet bereits. Er stellt keine Fragen, wie ich zu meiner Mas kierung kam, und nachdem ich mich rasch in einen Nebenraum zu rückzog, kehre ich wieder in gewohnter Aufmachung zurück.
Frustration hat sich in jede Kerbe seines Gesichts gegraben. Ich ahnte schon, bevor er ging, daß er wieder kein Glück haben würde. Und so ist es. Der »Kelch«, den er vor sich auf einem Tisch stehen hat, ist nichts weiter als eine Reliquie aus der örtlichen Kirche, die zufällig Ähnlichkeit mit dem verschollenen Lilienkelch besitzt. An Landrus Händen klebt Blut. »Dafür hat sich das Töten nicht gelohnt«, sage ich. Er wirft mir zornige Blicke zu, und irgendwo in seinen Augen glaube ich zu erkennen, daß er sich noch mehr von mir entfremdet hat. In der folgenden Zeit entwickelt sich eine Art Haßliebe zwischen uns. Von Bagolino führt uns die Suche – über die Landru nun noch we niger spricht – quer durch Italien. Mit einem Schiff setzen wir nach Sardinien und Korsika über. Aber wir nähern uns weder dem Kelch noch unseren beständig auseinanderdriftenden Leben. Dann erreichen wir ein Deutschland, wo in Teilen der Siebenjähri ge Krieg tobt. Landru läßt sich davon nicht schrecken. Wir schreiben das Jahr 1761. Als wir in Hannover ankommen, trennt sich Landru ohne Vorwarnung von mir, verspricht aber, in wenigen Wochen zu mir zurückzukehren. Ich bin erschüttert. Ich weiß, daß wir keine Zukunft haben, und dennoch kann ich mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Es werden furchtbare Wochen des Wartens, in denen ich mich in manchen Blutrausch flüchte. Als er eines Tages wieder vor mir steht, gibt er sich verändert. »Ich komme nur, um endgültig Lebewohl zu sagen«, eröffnet er
mir in meinem Quartier, das ich noch zusammen mit ihm aussuchte. »Es gibt kaum noch Zweifel: Der Kelch wurde gesehen. Hier in Deutschland. In Nürnberg. Ich fahre noch heute dorthin ab …« Weder er noch ich wissen, was er mit diesem Satz anrichtet. Ich gehe auf ihn zu, um ihn zu umarmen und – was mich angeht – vielleicht doch noch umzustimmen. In diesem Moment verwandelt sich das, was ich auf der Haut tra ge, in eine allesverschlingende Bestie.
* Es geht schnell. Und bestätigt den Verdacht, den ich unausgespro chen seit der Begegnung mit Marunde in mir trage: Das »Kleid« ist nicht nur Bekleidung. Es ist eine schreckliche Waffe, die mich im winterlichen Moskau wahrscheinlich vor dem sicheren Untergang rettete. Aber jetzt pervertiert sie. Jetzt wendet sie sich gegen meinen Liebsten … Landru ist im ersten Moment, wie ich ihn noch nie sah: schockiert! Noch während ich ihn ohne List und Tücke umarme, birst der Stoff meines wundersamen Kleides, löst sich von meinem Körper, bis nur noch dünne Bänder um Taille und Oberarme übrigbleiben, und fächert, wie vom Atem eines Riesen getrieben, über unser bei der Köpfe auseinander. Landru stößt mich von sich. Ich stürze rückwärts auf den Dielenboden des Zimmers und schla ge mit dem Hinterkopf auf. Für Sekunden verliere ich das Bewußt sein. Als sich die Schleier vor meinen Augen klären, werde ich Zeu gin eines furchtbaren, aber auch unwirklichen Kampfes.
Mein Kleid hat sich in ein schuppenhäutiges, graugrünes »Ding« verwandelt, das Landru zur Gänze umschlungen und umkapselt hat. Ich ahne seinen Körper mehr unter der flexiblen Hülle, in der er ums Überleben kämpft, als ich ihn zu sehen vermag. Aber ich spüre die Verzweiflung, mit der er gegen einen Feind angeht, wie selbst er ihm noch nicht begegnet zu sein scheint. Dumpfe Laute dringen durch die »Haut« des Ungeheuers, das im mer noch (ich fasse es nicht) über hauchdünne Fäden mit mir ver bunden ist. Als ich in meiner hilflosen Panik daran zerre, ist mir, als befänden sich die ankernden Widerborsten dieser haarfeinen Bänder in mei ner Gehirnmasse. Sofort lasse ich los. Landrus Bewegungen ermatten. »Nein!« schreie ich und springe auf. Meine Hände krallen sich in die zähe, schuppige Masse, die mir plötzlich wie ein atmendes Or gan vorkommt. Wie ein Magen, der Landru verschlungen hat und nun langsam, aber unaufhaltsam … verdaut. Ich halte ein, als neuer Schmerz mein Bewußtsein durchgrellt, und gehe zu Boden. Alle Kraft weicht aus mir, und ich kann nur noch zitternd zusehen, wie das Ungeheuer sein begonnenes Werk vollen det. Erinnerungsfetzen blitzen durch meinen Geist. Bilder aus der Zeit vor Pilsen, vor Prag … Ehe sie mit Macht über mich hereinbrechen können, zerreißt uner wartet der tödliche »Sack« drei Schritte von mir entfernt! Landrus Hände und Arme, von einem blauschwarzen Sekret be netzt, schieben sich ins Freie … Ich schreie auf.
Vor Glück? Nein, vor Angst! Ich erinnere mich plötzlich, warum ich in der Kutsche nach Prag saß. Warum ich so unvermeidbar mit Landru zusammentraf, und ich weiß nun auch, daß ich nicht einmal meinen Gefühlen zu ihm trauen darf. Ich liebe ihn nicht. Er ist der FEIND. Ich kann den Feind nicht lieben. Solche Gefühle waren nur Mimi kry, um sein Vertrauen zu erringen. Alles war geplant. Alles steuerte auf diesen Moment hin, wenn ich erkennen würde, daß er eine ernstzunehmende Spur auf seiner Suche nach dem Kelch gefunden hat … Er MUSS sterben! »Töte ihn!« schreie ich heiser und außer mir, als auch der Kopf nach draußen drängt. »Laß ihn nicht entkommen …!« Ich weiß nicht, ob es mich hört und versteht. Ich weiß nur, daß mein eigener Tod schrecklich wird, wenn Landru diesem feigen At tentat entrinnt. Was kann ich tun? Nichts. Sein Gesicht ist auch mit diesem grauen, nassen Film überzogen, von dem ich nicht weiß, um was es sich handelt. Landrus Augen starren mich an, und ich spüre den HASS, als er in meinen Augen liest. Sein Mund bleibt stumm. Er kämpft auf einer Ebene, die all seine Konzentration aufsaugt. Er kämpft nicht nur gegen das »Ding«, das aus meinem Kleid ge worden ist, sondern auch gegen das Versagen seiner Gefühle.
Über seinen Händen steht plötzlich das magische Replikat jenes Gefäßes, nach dem er mit jeder Faser seines Seins herjagt. Ich ahne, was nun kommen mag, und krümme mich zusammen. Aber noch wendet sich seine Magie nicht gegen mich. Ein unsicht bares Skalpell ritzt gewaltige Schnitte in die Schuppenhaut, die ihn zu töten versucht. Überall bilden sich Öffnungen. Aus manchen si ckert jenes Sekret, in das Landru von Kopf bis Fuß getaucht ist. Das seine Kleidung aufgelöst hat, ihn selber aber – noch – unversehrt läßt. »Hure!« keucht er plötzlich. Mehr nicht. Nur dieses eine Wort, das sich in meine dunkle Seele brennt. Er hat sich jetzt bis zu den Lenden aus dem Schuppenpanzer be freit. Aber seine Bewegungen erlahmen. Die Illusion des Kelchs hat sich aufgelöst. Kein weiterer Schnitt zerfetzt das »Ding«, das sich zuckend um ihn windet, auch jetzt noch stetig seine Form verändert, aber nicht mehr in der Lage scheint, ihn neu zu umschließen. Ich aber spüre eigene Schwäche, als würde ich aktiv den Kampf ge gen Landru bestreiten. Passiv tue ich dies vielleicht. Mir ist, als ziehe das »Ding« über sei ne Verbindungsfäden Kraft auch aus meinem Körper, um sich ge gen Landru zu behaupten. Es wird nicht gelingen. Mutter hat ihn unterschätzt … Mutter? Wieder hageln die Erinnerungsfragmente auf mich ein. Der Kelch, der mir in Karl Ortliebs Herberge das Gedächtnis zuschüttete … Die Aufgabe, die ich von ihm erhielt … Wieder wird mir schwarz vor Augen.
Als ich mich aus finsterem Strudel ans Licht zurückgekämpft habe, hüllt mich ein häßliches Kleid ein. Landru liegt mit geschlosse nen Augen und in eine gehärtete graue Kruste gehüllt, dort, wo ich ihn zuletzt sah. Ist er tot? Ich vermag mich kaum aufzurichten. An einem Bettpfosten stütze ich mich ab, und gerade als ich auf den Feind zugehen will, bewegt er leicht den Arm und dreht den Kopf auf die andere Seite. Ich fliehe in heller Panik. Was das »Kleid« nicht schaffte, vermag auch ich nicht zu vollen den. Von dunklen Visionen und Erinnerungen gepeinigt, fliehe ich durch das nächtliche Hannover, wo niemand mich aufzuhalten ver mag. Ich reiße ein Zufallsopfer und stärke mich aus purer Vernunft, nicht des Durstes oder der Lust wegen. Danach vermag ich wieder klarer zu denken. Ich verkrieche mich am anderen Ende der Stadt in einem Haus, dessen Bewohner ich in meinen Bann zwinge und die mir die nächsten Tage – während denen ich nicht auf die Straße trete – zur weiteren Rekonvaleszenz dienen. In der dritten Nacht klopft es mit Macht gegen die Tür. »Öffne!« höre ich eine Stimme. »Öffne mir, Creanna!« Ich erstarre in meinem Mahl. Ich bin entdeckt.
* Ich verwerfe den Gedanken an Flucht, aber ich begreife nicht, wie er mich finden konnte.
Als ich zur Tür trete, bin ich auf alles gefaßt – nur nicht auf Karl, dessen älter gewordene Augen mich aus einem älter gewordenen Gesicht anblicken. Doch dafür, daß ich ihn nun schon 33 Jahre kenne, hat er sich für einen Menschen geradezu unglaublich gut gehalten. Spätestens jetzt wird deutlich, daß auch Karl ein Geheimnis ver birgt. Aber diese Erkenntnis ist nur ein vager Impuls, der mich bei sei nem Anblick durchdringt. Ich bin viel zu erleichtert, ihn zu sehen. Er tritt ins Haus. Draußen sehe ich ein abgekämpftes Pferd stehen. »Wir haben keine Zeit zu verlieren«, sagt er, ebenfalls von Er schöpfung gezeichnet. »Sechsmal habe ich das Reittier unterwegs gewechselt. Seit drei Tagen bin ich pausenlos unterwegs …« Vor drei Tagen erwachte ich aus meiner Lüge. »Schickt … sie dich?« Er nickt ungeduldig. »Wie konntest du mich hier finden?« verlange ich zu wissen. Er zögert nicht, alles zu tun, um mich zur Eile anzumahnen. Des halb reißt er das Wams über seiner Brust auf und zeigt mir, was er darunter trägt. Meine Kehle wird trocken, als ich das Band sehe, das ihn wie graue Schuppenhaut umschlingt. Ich frage heiser, ob er dasselbe »Gewand« empfangen hat wie ich – und warum. Aber er treibt mich nur ausweichend an, nicht noch mehr Zeit zu verlieren. In dieser Nacht verlassen wir mit einer Kutsche, deren Fahrer nur für uns die Peitsche knallt, Hannover und fahren in mehreren Etap pen bis Holland. Nürnberg ist ein zu heißes Pflaster geworden. Trotz Kriegswirren passieren wir ungehindert die Grenzen.
In Amsterdam führt mich Karl mit Mutter zusammen; er selbst reist zurück in seine Heimatstadt. Die Zukunft wird weisen, ob wir uns noch einmal wiedersehen.
* Das Treffen mit Mutter steht unter keinem guten Stern. Ich finde sie auf einem der Hausboote, die die Grachten säumen. Und wieder ist es eine Begegnung, die zur Trennung führen wird. Vielleicht zur endgültigen Abnabelung. Schon ihre ersten kühlen Worte verraten dies, und sie machen mir endgültig klar, daß ich all die Jahre einem noch größeren Phantom nachjagte als Landru. Der Kelch ist wenigs tens real, aber Mutter ist nicht Mutter. Ich begreife es nun in aller Konsequenz. Ich bin ausschließlich das Produkt des Kelchs und eines getöteten Menschenkindes. Ich bin allein. Jeder Vampir ist allein, aber ich ganz besonders. Denn zu meinem Außenseitertum kommt auch noch, daß ich nie eigene Ziele entwi ckeln werde. Ich bin programmiert. Bei dieser Zusammenkunft in Amsterdam wird mir vieles klarer. Mutter (es ist die Angewohnheit, die mich sie weiter so nennen läßt) führt ein regelrechtes Verhör mit mir durch. Nicht zum ersten mal steht der leuchtende Kelch zwischen uns und durchdringt mich mit seinem Licht, das mehr ist als Helligkeit. So viel Macht, so viel Wissen und so viel Verpflichtung liegen darin. Und so viel Qual. Selbst das Kleid an meinem Körper, das während der ganzen Reise an mir lag, als müßte auch es sich von der erlittenen Niederlage er
holen, reagiert darauf. Wir leiden gemeinsam. Und sehnen beide den Abschied von der Schwefeläugigen und ih rem Diebesgut herbei. Mutters Worte treffen mich tief: »Ich bin enttäuscht von dir«, eröff net sie mir gleich zu Beginn. »Du hattest es in der Hand, uns den Feind vom Halse zu schaffen – eine bessere Gelegenheit wird sich nie wieder finden! Alles war genial vorbereitet …« Es gäbe genug darauf zu erwidern. Aber ich beschränke mich dar auf, sie die Quintessenz meines Lebens mit Landru im Lügengebäu de wissen zu lassen: »Das ist nicht wahr! Der Plan war von Anfang an zum Scheitern verurteilt! Du hast den Feind unterschätzt und suchst nun einen Sündenbock, Mutter!« »Hör auf, mich so zu nennen!« Ich habe sie nie aggressiver erlebt. »Dein Versagen zwingt mich, alternative Wege zu finden, um den Großen Plan zu seiner Vollendung zu führen!« »Ich habe nicht versagt. Ich habe überlebt. Mit Mühe.« »Du redest, als wüßtest du von der Bürde, die du einmal tragen sollst.« »Ich weiß, daß ich keinem trauen darf – nicht einmal dir. Und das ist Bürde genug.« »Du Schaf …« Eine schlimmere Beleidigung gibt es nicht. Ich fahre die Krallen aus. Der Kelch straft sofort. Ich krümme mich zu Mutters Füßen, und sie lacht nur kalt und mitleidlos. Nach einer Weile läßt die Folter nach. Im Sitzen richte ich meinen Oberkörper auf. »Also«, presse ich hervor. »Von welchem Plan und
welcher Bürde redest du?« »Ach!« macht sie wegwerfend. »Ich weiß nicht, ob es überhaupt noch Sinn macht, mich mit dir abzugeben …« Sie wandert unruhig auf den schwankenden Bootsplanken auf und ab. »Die Zeit drängt. Wir haben keine Ewigkeit zur Verfügung – nur noch hundertfünf unddreißig Erdenjahre … Bis dahin müssen die Weichen gestellt sein. Es ist ein magisches Datum …« Ich schaue sie an. Sie meint, was sie sagt. Dieses eine Mal steckt kein Kalkül in ihrer Rede. In 135 Jahren schreiben wir nach gregorianischem Kalender 1896. Ich verstehe nicht, was daran Besonderes sein soll. Aber ich sehe ein, daß ich es von Mutter auch nicht erfahren werde. Ein weiterer von ihr gesteuerter Impuls des Kelchs schleudert mich zu Boden. Fast erwarte ich, daß sie noch weiter geht und mich zu Staub zermahlen läßt. Sie hat den Glauben an mich verloren. Das zumindest spüre ich genau. Eine lautlose Explosion verschlingt mich, und als ich nach unbe stimmter Zeit wieder zu mir komme, bin ich allein. Mutter und der Kelch sind verschwunden. Ich werde nie erfahren, was in 135 Jahren geschehen soll. Vielleicht werde ich nicht einmal dieses Jahr überstehen. Ich habe alles verloren bis auf eines: meinen Feind. Den ärgsten, den man sich vorstellen kann. Sein Name ist Landru. Er lebt. Und er wird nie aufhören, mich zu hassen. Nie, mich zu verfolgen …
* Ich werde das Mysterium der Zeit nie durchschauen. Manchmal, wenn sie schnell vergehen soll, schleicht sie dahin. Und ein ander mal, wenn man den Augenblick nie loslassen möchte, zerrinnt er wie Sand zwischen den Fingern. Hin und wieder schrecke ich bei Tag oder Nacht aus dem Gift der Träume – und schon wieder sind Jahre verflogen. Jahre wie Blei. Und doch so vergänglich. Ich scheine Landru abgeschüttelt zu haben; etwas, was ich damals, als ich in der Kajüte des Hausboots erwachte, nie für möglich gehal ten hätte. Damals schien es mir geradezu zwingend, daß dieser Feind nicht eher Ruhe geben würde, bis er mir alles Leid der Welt zuge fügt hat. Aber vielleicht entkam ich ihm, gerade weil ich nicht damit rechne te. Mehr als ein halbes Jahrhundert – ein Menschenleben – ist seither vergangen. Aber ich habe nichts von dem, was »Mutter« sagte, ver gessen. Noch heute denke ich manchmal an das »magische Datum«, von dem sie sprach. Was mag sie mit den »Alternativen« gemeint haben, die sie nun finden müsse? Alternativen zu mir? Ich kenne ihren Großen Plan nicht. Aber je älter ich werde, desto mehr sehnt es mich, einen Sinn in meinem Dasein zu entdecken. Auch die Hoffnung darauf hat sie mir genommen. Warum? Habe ich damals, als es gegen Landru ging, wirklich versagt? Ist nicht vielmehr »Mutter«, die die Intrige sponn, gescheitert …?
Vielleicht werde ich es nie erfahren. In den vielen Jahren bin ich noch mehr in die Rolle einer Outlaw gewachsen. Ich stehe endgültig außerhalb des GESETZES meines Volkes, denn ich habe mehr als einmal gegen den Kodex verstoßen. Ich meine nicht das, was mit Landru geschah. Hin und wieder verlangt das Kleid an meinem Körper seinen Tri but. Es dient mir treu, aber alle paar Jahre spätestens verlangt auch es sein Recht, und es nährt sich nun einmal von nichts anderem als schwarzem Vampirblut. Anfangs lebte ich sogar in der Furcht, es könnte sich irgendwann unverhofft an mir gütlich halten. Aber sein Träger scheint tabu zu sein. Welch ein Glück … Nie wieder hatte es ähnliche Mühe mit einem Vampir wie bei Landru. Kein Schwarzblütler, der uns auf unseren Reisen ins Netz geht, vermag ihm zu widerstehen. Ich rede mir ein, daß es Zufall ist, als ich eines Tages von einer An höhe aus hinab auf die von einem hohen Wall ummantelte Stadt bli cke. Aber wer mag das glauben? Viel wahrscheinlicher ist es, daß mein »innerer Kompaß« mich hierher leitete. Nürnberg flimmert träge unter warmer Maiensonne. Als mich dieser Bilderbuch-Tag begrüßte, war ich noch uneins mit mir, ob ich das Schicksal wirklich auf diese Weise herausfordern sollte. So viele Erinnerungen kleben an diesen Mauern. Zum Bei spiel die an Konrad, den ich damals Hals über Kopf verließ, weil an dere über mich verfügten. Wenn er noch lebt, ist er heute ein sehr alter Mann, mit dem sich nichts mehr anfangen läßt. Nicht einmal sein Blut würde noch mun den.
Und Karl? Was ihn angeht, versuche ich mir überhaupt keine vorgefertigte Meinung zu bilden. Ich werde es ergründen. Um von Ort zu Ort zu gelangen, habe ich neue Möglichkeiten er schlossen. Nur selten bediene ich mich noch eines Pferds oder einer Kutsche. Eines Nachts habe ich mir den Traum vom Fliegen erfüllt. Es geschah wie von selbst. Die Gezeitenkräfte des Mondes lösten es aus. Seither verwandele ich mich nach Belieben und lasse mich von ledrigen Schwingen über nächtliche Täler, Wälder und Auen treiben. Oder zum offenen Fenster eines ausgewählten Opfers … Ich weiß inzwischen, daß ich »Mutter«, die ich einmal verehrte, an Schönheit in nichts nachstehe. Aber meist zwänge ich mein lang fal lendes, weizenblondes Haar unter eine Kopfbedekkung und »ent schärfe« meine anderen Reize mit einem weiten Übermantel, der nicht Bestandteil jenes Wechselkleides ist, das ich bis ans Ende mei ner Tage an mir dulden muß. Es gibt keine Möglichkeit, mich seiner zu entledigen. Ich habe es versucht – und bereut. Mehr gibt es dar über nicht zu sagen. Ich bin noch ein gutes Stück von einem der kleineren Stadttore am Ausfluß der Pegnitz entfernt, und Buschwerk verstellt mir die Sicht gen Nürnberg, als ich ein gar seltsames Gebrabbele höre. Es ist eine Jungmännerstimme, die mich vom bereits eingeschlage nen Weg abweichen und tiefer ins Gebüsch dringen läßt. Einer kleinen Abwechslung fühle ich mich nicht abgeneigt, und hier draußen sind wir gewiß unbeobachtet. Als der Junge vor mir auftaucht, bin ich sofort begeistert. Er hat et was von einem Schöngeist; sein Wuchs und seine Züge sind nicht so grob wie bei den meisten Zeitgenossen. Ich schätze ihn auf knapp sechzehn. Er trägt Bundhosen, Wams und ein Halstuch über dem
Hemd. Die Kleidung ist schmutzig und verwahrlost wie auch er selbst. Aber darüber würde ich hinwegsehen, und wenn ich ihn vor her eigenhändig in der Pegnitz schrubben müßte. Nein, es ist etwas anderes, was mich beunruhigt, als ich ihn schon fast erreicht habe. Er brabbelt immer wieder denselben Satz: »A söchtener Reuter möcht i wern, wie mei Voater gwen is … A söchtener Reuter …« Ich versuche ihn anzusprechen. Sein Blick ist glasig, und es scheint, er ist heute schon weiter gewandert als ich. Als er mich wahrnimmt, stockt seine Rede, und er beginnt wie Es penlaub zu zittern. Das genügt mir. Ich bin nicht auf das Blut eines Schwachsinnigen aus, und auch die Lust auf anderes ist mir vergangen. Ich ziehe mich aus seinem Blickfeld zurück, und nur die Neugier verleitet mich, ihm in gebührendem Abstand zur Stadt zu folgen und zu sehen, wohin er sich wendet. Bald nach unserer Ankunft zieht er schon einen Rattenschwanz von Schaulustigen hinter sich her. Am Unschlittplatz wird er schließlich umringt und von Gendarmen gestellt. Ich verliere das Interesse. Unaufhaltsam zieht es mich weiter dort hin, wo ich die vielleicht besten Jahre meines Lebens verbrachte …
* Der Tugendbrunnen mit den wasserspeienden Frauenbrüsten, der gotische Stil der umliegenden Häuser und zuguterletzt die Herberge jenes Karl Ortlieb … All das steht noch fast unverändert. Etwas mo derner, mit einem etwas besseren Straßenpflaster und ein wenig mehr Farbe an den Fassaden zwar – im großen und ganzen aber so,
daß mich das irrationale Gefühl einer Heimkehr befällt. Obwohl ich die Enttäuschung fürchte, die kommen muß, trete ich durch das offene Tor in den Innenhof. Auch die Kutschstation gibt es noch, und gerade steigen ein paar adrett gekleidete Gäste in den wartenden Vierspänner. Ich beobachte und lausche den alten Zeiten nach. Als ich von einem älteren, bärtigen Mann mit Stock und Zylinder angetippt werde, schrecke ich zusammen. »Ein Zimmer, meine Schöne? Vielleicht läßt sich etwas machen. Ich kenne den Besitzer …« Den Besitzer … Ich will abwinken, aber dann horche ich auf, denn er setzt erneut an: »Ein Zimmer, meine Häßliche…?« Es ist unentschuldbar, daß ich erst jetzt erkenne, mit wem ich es unter dem Bart zu tun habe. »Karl …!« Er lächelt ein fast wehmütiges, in jedem Fall aber willkommenes Lächeln. Als er mich aus Hannover heraus nach Holland führte, reichten die wenigen Tage aus, unser Verhältnis zu vertiefen. Bei unserer Trennung in Amsterdam waren wir, wenn auch unausge sprochen, Freunde geworden. Etwas, das ich einem Menschen ge genüber mir nie hätte erträumen lassen. Dennoch weiß ich auch jetzt um seine Loyalität »Mutter« gegen über. Er umarmt mich kurz und führt mich dann rasch aus dem Hof, wo uns jeder sehen kann, in seine Wohnung im linken Flügel des Ober geschosses. Ich folge voller Zurückhaltung. Was mag Karl von mir denken? Weiß er von »Mutters« Bruch mit mir? Hat sie ihn über ihre Gründe
eingeweiht? Wenig später sitzen wir uns gegenüber, und mein Hauptinteresse gilt unweigerlich seinem famosen Aussehen. Er ist gealtert. Aber wie bescheiden im Vergleich zu seinen Mit menschen, denen eine ähnliche Zahl von Jahren vergönnt ist. Hat »Mutter« ihre Hand im Spiel? Ist es ihr Lohn für getreue Dienste? Oder gar für … Freundschaft? Es mag ungerecht klingen, aber ich zweifele, daß sie zu solchem Gefühl fähig ist. Wäre sie es, hätte sie mich nicht so brutal verstoßen können … »Ich wußte immer«, beginnt Karl die Unterhaltung, »daß du hier her zurückkehren würdest. Eines Tages. Du hättest dir nicht so lan ge Zeit lassen müssen …« Nach seinem Plauderton zu schließen, dürfte er davon, wie mein Treffen in Amsterdam endete, nichts wissen. Aber ich bin vorsichtig geworden, was Karls Schläue und Beherrschungsvermögen angeht. »Kann ich eine Zeitlang Quartier bei dir nehmen?« Er nickt kaum merklich, als wollte er mir bedeuten, daß dies selbstverständlich ist. Um nicht ständig an »Mutter« zu denken, er zähle ich von meiner Begegnung vor den Toren der Stadt. Obwohl es ihn nicht sonderlich zu interessieren scheint, verspricht er mir, Erkundigungen über den seltsam-schönen Jungen einzuho len. Dieses Versprechen beendet er mit dem Satz: »Im übrigen habe ich dir etwas aufgehoben.« »Aufgehoben?« Ich wüßte nicht, daß ich etwas von Wert bei ihm vergessen hätte. Karls Gesicht wird etwas kantiger, als er nickt. »Später. Ich muß mich noch ein wenig um meine Geschäfte kümmern …« Er sieht mich forschend an, als erwarte er die unvermeidliche Frage nach
»Mutter«, aber ich beiße die Zähne zusammen. Auch dafür ist später noch Zeit. Denn daß ich nach ihr fragen muß, obwohl sie mich so schrecklich enttäuschte (und ich sie …), weiß ich längst. Blut, sagen die Menschen, ist dicker als Wasser. Alles andere wäre auch schlimm. Ich erhalte mein altes Zimmer. Nichts daran hat sich verändert, so als hätte es mit Karl all die Jahre auf meine Rückkehr gewartet und sei ständig saubergehalten worden. Es war ein guter Entschluß, hierher zu kommen.
* Die Menschen begehen den zweiten Pfingstfeiertag, und ich schlen dere bis Sonnenuntergang durch die Gassen. Vampiren begegne ich nicht. Dabei könnte auch mein Kleid wieder einmal eine Stärkung vertragen. Mein Weg führt erst zur Südseite des Unschlittplatzes, wo – beim »Bärleinhuter« – jener seltsame Knabe zuletzt von Menschen um ringt und von Gendarmen fortgebracht wurde. Sein Auftauchen ist immer noch Tagesgespräch. Die Leute wiederholen den einzigen Satz, den auch ich von ihm auffing: »A söchtener Reuter möcht i wern, wie mei Voater gwen is …« Unweigerlich lenke ich meine Schritte auch zur Turmwohnung an der Pegnitz, die Nürnbergs Mauern durchfließt. Nachdem ich eine Weile beobachtet habe, klopfe ich an die Tür. Eine fremde Frau mit dicklichem, gerötetem Gesicht öffnet mir. Ich verhöre sie gleich hier auf der Schwelle. »Weißt du, was aus Konrad dem Henker geworden ist?« Selbst in Hypnose ist ihr Ton mürrisch. Jahrelange Übung muß die
Stimmbänder geschädigt haben. »Mein Mann ist der Henker. Aber er heißt nicht Konrad …« »Von Konrad weißt du nichts?« »Sein Vorgänger ist lange tot.« Ich nicke und verlasse sie. Was habe ich erwartet? 57 Jahre sind vergangen, seit ich diesen Turm damals verließ und nichts von den verschlungenen Pfaden meines Schicksals ahnte. Ich möchte zum Friedhof gehen, aber dort gibt es Symbole, die ich hassen gelernt habe. Die Suche nach Konrad und meinen eigenen Spuren hier in Nürn berg ist etwas völlig Irrationales. Ich verstehe selbst nicht, warum ich dafür Zeit aufwende, aber letztlich brauche ich auch keine Grün de. Spät am Abend kehre ich zu Karl zurück. Er hat nun Zeit für mich. Mit glitzernden Augen führt er mich durch eine Tür, die ich nie zu vor bemerkte, hinab in einen Kellerbereich, von dessen Existenz nur er zu wissen scheint. Und nun ich. Was immer er mir aufgehoben hat, es muß eine gewisse Bedeu tung haben. Und dann stehe ich davor. Ungläubig. Hin und her gerissen zwischen reiner Verblüffung und … ja, was? Ich erkenne ihn schneller, als ich es bei Karl vermochte. Das mag daran liegen, daß er sich kaum verändert hat. »Konrad …« Karl hält Konrad in einem schweren Käfig gefangen. Ich bin fas sungslos. Noch fassungsloser aber bin ich über Konrads Reaktion, als er mich
sieht. Als ich ihn aus den Augen verlor, war er knapp dreißig – und knapp dreißig scheint er immer noch zu sein! »Herrin!« bricht es aus ihm hervor, und alles ist klar. Warum habe ich nie an diese zwingende Konsequenz meiner Lieb schaft mit ihm gedacht? Ich kralle mich in Karls Arm, der stumm neben mir steht. »Das – wollte ich nicht!« stammele ich. Karl nickt. »Du warst schon immer schrecklich gedankenlos, was dies angeht. Ich habe ihn dir auch nur aufgehoben, um dir noch ein mal ins Gewissen zu reden, daß du nicht wahllos Kreaturen schaffen kannst!« »Ich habe ihn nicht –« »Du hast es nicht verhindert«, fällt er mir ins Wort. »Du hast ir gendwann von seinem Blut getrunken und ihn danach nicht in vor geschriebener Weise getötet! Wieviel von ihm mögen noch deine Witterung aufgenommen haben?« »Niemand sonst. Er ist der einzige …« Ich erzähle, wie damals al les kam, und erfahre meinerseits: »Schon drei Jahre, nachdem du gen Prag und weiter gereist warst, starb dieser Unselige an einer der üblichen Krankheiten. Der Keim schützte ihn vor solcherlei Unge mach nicht – aber er trieb ihn noch während seiner Aufbahrung aus der Leichenhalle. In derselben Nacht stand er hier – wie einst der Torwächter – vor meiner Tür und verlangte nach seiner Herrin – nach dir. Ich mußte größeren Aufruhr befürchten, weil ich ihm sei nen Wunsch nicht erfüllen konnte. Glücklicherweise scheint dieser Konrad schon zu Lebzeiten die Intelligenz nicht mit dem Schöpflöf fel gefressen zu haben …« »Das war nie ein Kriterium«, werfe ich trotzig ein. »… und so konnte ich«, fährt Karl ungerührt fort, »ihn hier herun terlocken und einschließen. Ich ließ ihn so lange um Blut jammern,
bis er so entkräftet war, daß ich leichtes Spiel hatte. Seither halte ich ihn hier im Käfig.« »Seit fünfzig Jahren?« Karl nickt. »Ich kann nicht sagen, daß er mir in all der Zeit ans Herz gewachsen ist. Aber er war ein billiger Kostgänger …« Ich weiß nicht, was für ein Gefühl es ist, das Konrads glückselige Grimasse, mit der er mich anstiert, in mir auslöst. Benommen kehre ich mit Karl nach oben zurück. Konrads ent täuschte Schreie verfolgen mich, bis sich die Tür hinter mir schließt. »Keine Sorge«, beruhigt mich Karl. »Ich werde mich um ihn küm mern. Er hat seinen Zweck erfüllt.« Es ist klar, was er damit sagen will. »Nur, um mir diese Lektion zu erteilen, hast du ihn ein halbes Jahrhundert ›aufgehoben‹…?« »Ich war auch einmal dein Lehrmeister – das verpflichtet«, erwi dert er mit offenem Sarkasmus. Womit wir beim Thema wären. Bei »Mutter«. In Karls Wohnzimmer angekommen, frage ich: »Weißt du, wo sie sich aufhält? Weißt du …?« »Was zwischen euch vorgefallen ist?« Er nickt und zieht seine Schnupftabakdose. Es ist dieselbe, die er er schon bei unserer ersten Begegnung benutzte. Wie alt ist Karl? »Ich weiß nicht, ob es ihr gefällt, wenn ich Auskunft über sie gebe«, gibt er kurz zu bedenken. Doch dann verrät er: »Sie wollte, als sie mich zuletzt besuchte, nach Schottland.« »Nach Schottland? Wie lange ist das her?« »Eine Woche.«
Ich erzittere, als mir klar wird, wie knapp wir uns verfehlt haben. Was wäre geschehen, wenn wir uns hier bei Karl getroffen hätten …? Er scheint meine Gedanken zu kennen und lächelt nachsichtig-ver ständnisvoll. Plötzlich bricht es aus mir hervor: »Sagte sie dir, warum sie mir all das antat? Ich meine, nannte sie dir die Wahrheit?« Ich erhalte keine Antwort. Es ist, wie ich immer vermutete: Karl ist loyal. Ich beruhige mich mühsam. »Sagte sie auch, wohin genau sie in Schottland wollte?« Er schüttelt den Kopf. »Oder wann sie wieder zu dir kommt?« Erneut verneint er. Und dann sagt er etwas Bedrückendes. »Sie konnte es mir nicht sagen, weil es unser letztes Treffen war. Ich füh le den Tod in den Gliedern. Es geht nun rapide zu Ende …« Er hat noch nie mit solchen Dingen kokettiert. Und doch klingt es aus seinem Mund wie Hohn, denn er wirkt auf mich geradezu strot zend vor Gesundheit. Er steht als Mann noch voll im Saft; man könnte ihn höchstens auf fünfzig schätzen. Halb so alt, wie er im Mindestfalle ist … Alle Nachfragen, was ihn zu dieser für ihn fatalen Einschätzung kommen läßt, beantwortet er nur mit wissendem Lächeln. Neugierig schleiche ich in dieser Nacht zu seinen Gemächern, aber ich sehe nirgends, daß er immer noch seinen »Damen« huldigt. Der Schatten des Todes schwebt über allem. Am nächsten Morgen frischt er auf, was fast schon aus meinem Gedächtnis entrückt ist. »Der Knabe, den du sahst, erregt immer noch großes Aufsehen. Er
nennt sich selbst Kaspar Hauser, vermag aber mehr als diesen Na men über seine Herkunft nicht zu sagen. Ein Gymnasiallehrer setzt sich für ihn ein und will ihn aus der Untersuchungshaft zu sich ho len. Hinüber zur Kleinen Insel Schutt …« Ich höre kaum zu. Noch immer sinne ich über Karls Todesahnung, Konrads Diener schicksal und »Mutters« Aufenthalt in Schottland nach. Im Laufe des Tages besorge ich zwei gesattelte Pferde, stelle sie unweit der Herberge bereit und warte auf die Nacht. Ich bin nicht in der Lage, Karl persönlich Lebewohl zu sagen. Ihn mag sein angekündigter Tod nicht weiter rühren. Mich aber befällt es wie ein lähmendes Kraut, wenn ich Karl nur in die Augen sehe. In einem kurzen Brief danke ich ihm noch einmal für alles, was er je für mich tat. Dann steige ich in den geheimen Keller, wo Konrads Käfig steht. Der Schlüssel dazu hängt – unerreichbar für den Gefangenen – an einem Nagel in der Wand. Ich habe keine Mühe, die Gitter zu öff nen. Konrad ist außer sich. Seine Demut und seine sabbernde Freude über mein Erscheinen lassen mich kurz zweifeln, ob ich das Richtige tue. Aber meine Entscheidung ist gefallen. Ich will es mit ihm als meinem Diener probieren. Hier unten wäre – spätestens nach Karls Tod – sein Schicksal be siegelt. Ich ermahne ihn zu äußerster Ruhe, aber ganz kann er das He cheln und Gieren nicht lassen, als wir dem Verlies entsteigen. Den noch gelingt es uns, unbemerkt die Herberge zu verlassen und die Gäule zu erreichen. Ich frage mich nur, wie Karl meinen Diener all die Jahre mit genü gend Blut versorgt hat …
Bis Sonnenaufgang liegt Nürnberg bereits viele Meilen hinter uns. Wir reiten zunächst gen Würzburg. Und dann geschieht das, was mich für alle Zeit davon heilt, einen Diener halten zu wollen. Ich reite Konrad ein kleines Stück voraus. Das schrille Wiehern sei nes Pferdes und ein dumpfer Aufschlag läßt mich den Kopf wen den. Im ersten Moment denke ich, Konrad sei abgeworfen worden. Er ist – war – mir immer ein besserer »Sattel« denn ein Reiter … Aber sein Sturz hat andere, gespenstischere Gründe. Seine Haut scheint unter den ersten, schüchternen Strahlen der Morgensonne auseinanderzubrechen wie vor Hitze berstendes Erd reich. Konrads Augen starren mich an, als bestünden sie aus flüssi gem Eisen. Es kocht darin. Es kocht und gärt und brodelt in seinem ganzen Leib! Binnen Sekunden springen bläuliche Blitze aus den Schluchten, die seinen Körper durchstoßen. Sein Kleidung, die noch von Karl stammt, knirscht, aber sie verbrennt nicht. Nur Konrad. Er schreit. Er brüllt aus zerfallenden Lungen. Zerfallender Kehle. Zerfallen dem Mund. Sein Pferd flieht in wilder Panik. Mein eigenes Sekunden später, nachdem ich von ihm abgestiegen bin, um Konrad zu Hilfe zu eilen. Es gibt keine Hilfe für ihn. Als ich den Platz erreiche, wo er aus dem Sattel fiel, hebe ich nur noch leere Kleider auf …
*
Wieder allein. Immer allein. Feindschaften, scheint mir, halten ewig, Freundschaften hingegen sind ein so verderbliches, vergängliches Gut. Vielleicht nennt man sie deshalb so kostbar … Ein halbes Jahrhundert ziehe ich durch das England und Schott land des Viktorianischen Zeitalters. Überall sind die Spuren zuneh mender Industrialisierung unübersehbar. Aber »Mutters« Spur ist sehr viel schwieriger auszumachen. Oft zweifelte ich, ob Karl mich nicht in ihrem Auftrag belog. Ich glaube schon selbst nicht mehr daran, ihr je wieder zu begegnen und sie noch einmal zur Rede stellen zu können, um vielleicht doch noch zu erfahren, was sie einst Großes mit mir vorhatte – und warum sie dann doch von mir abließ, um »Alternativen« zu suchen. Dann höre ich in einem kleinen Dorf von einer Frau, auf die »Mut ters« Beschreibung bis ins kleinste Detail zutrifft! Mein Informant ist ein Heimatloser, ein Unruhegeist, der – wie ich – von Ort zu Ort zieht und von dem ich ursprünglich nur »das Eine« wollte. »Wo?« dränge ich nach Details. Und er nennt mir eine Gegend, die Beinn Dearg genannt wird. Dort liegt im Hochland eine alte, verlassene Abtei … Daß er sie gesichtet hat, liegt sechs Monate zurück; in dieser Zeit kann »Mutter« längst das andere Ende der Insel – oder den Konti nent erreicht haben. Aber es ist die erste heiße Fährte nach so langer Zeit! Noch in derselben Stunde verwandele ich mich in meine geflügel te Gestalt (das »Kleid« paßt sich wie immer an) und mache mich auf zu jener alten Abtei, die ganz zu »Mutters« absonderlichen Vorlie
ben passen würde. Nach erschöpfendem Flug und einigen Zwischenstationen errei che ich das einzige Gemäuer, auf das die Beschreibung meines Infor manten zutrifft. Es ist ein wolkenverhangener, stürmischer Herbsttag im Jahre 1881, als ich die Ruine betrete und sofort mit Gewißheit spüre, daß ich zu spät gekommen bin. »Mutter« ist hier nicht mehr. Dennoch finde ich seltsame Spuren, finde unterirdische, verlasse ne Kerker, in denen noch bis vor kurzem Gefangene gehalten wur den. In den feuchten Mauern hängt der Dunst von reichlich geflos senem Blut, und in einer Grube hinter der Abtei finde ich die Reste einer gehärteten, einstmals breiigen Substanz, die aussieht, als hätte sie einmal gelebt. Was es ist, kann ich nicht bestimmen. Müde und enttäuscht beschließe ich, in der Ruine zu übernachten, ehe ich – wie es mein Fluch zu sein scheint – mein sinnloses Leben mit weiterer sinnloser Suche auszufüllen versuche …
* In dieser Nacht weckt mich etwas, das alles verändert. Etwas, das die Jahre der Trostlosigkeit wie ein feuchter Schwamm von einer Schiefertafel wäscht und mich begreifen läßt, daß ich nie vergessen, nie verstoßen und nie verdammt war. Daß mein Weg immer verfolgt wurde. Nicht von »Mutter«, die keine Geduld mit mir hatte, sondern von etwas, dem auch sie untersteht! Gleißendes Licht, das nur im ersten Moment glauben macht, der
Kelch verströme es, füllt die Kammer unter der Abtei aus, in der ich mich zum Schlafen zusammengerollt habe. Bittersüßes Licht, das alles durchdringt und das Geheimste in mir erhellt. Ich liege da und kann mich nicht rühren, kann nicht einmal die Li der heben, aber der Schein durchdringt die dünnen Häute so mühe los wie meine Seele, die so gern dickhäutig wäre, aber immer dünn häutig geblieben ist. Ich fühle mich gestreichelt von dieser Energie, die mehr ist als Hel le. Ich spüre das Feminine, das ihr anhaftet und das ihr auch an mir so gefällt. Ein Lichtfinger, zart und verführerisch, zeichnet ein unsichtbares Mal auf meine Stirn, und ich erbebe, als mich etwas »Tochter« nennt … Am nächsten Morgen fühle ich immer noch das unsichtbare Stig ma auf meiner Stirn, und es kommt mir nicht einmal andeutungs weise in den Sinn, ich könnte das, was ich erfuhr, nur geträumt ha ben. Ich weiß nun, was ich zu tun habe. Es ist der Große Plan, von dem schon die sprach, die nie wirklich meine Mutter war. Mutter hat immer zu mir gehalten. Ich verlasse die Abtei im ersten Morgengrau. Ich verlasse das Hochland von Beinn Dearg. Aber es dauert noch einmal Jahre, bis ich den finde, mit dem ich der Prophezeihung Leben einhauchen werde.
*
Sein Name ist Sean Lancaster. Er ist ein Highlander. Ich begegne ihm in einem kleinen Dorf auf der Insel Skye, und ich weiß, daß er der meine ist, weil er von Mutter dasselbe Stigma erhal ten hat wie ich. Für ihn selbst ist es unsichtbar, für mich nicht. Und auch er mag es für eine Sekunde an mir erkennen – und sich dann fragen, ob es nicht nur ein Reflex der Sonne war. Es ist mehr. Es ist der Anfang vom Ende. Vom Ende der Vampire. »Wer bist du?« fragt er, und ich ziehe ihn mühelos in meinen Bann. Er verfällt meiner Liebe – und ich der seinen. Ja, Liebe. Das Licht in der Abtei von Beinn Dearg hat nicht nur getröstet – es hat vieles verändert. Ich töte nur noch im Notfall. Ich fühle keine solch gnadenlose Verachtung mehr den Menschen gegenüber und riskiere es auch wieder, Spender, deren Blut ich trinke, leben zu las sen – auch auf die Gefahr hin, daß sie einst als Kreaturen enden. Als ich Sean kennenlerne, will ich ohnehin nur noch sein Blut. Und das, was mir sein starker Körper sonst noch zu geben vermag. Ich spiele von Anfang an mit – fast – offenen Karten. Er erfährt, wer und was ich bin. Es ist ein letzter Test, den er glänzend besteht. Schon nach wenigen Tagen – er sagt es selbst – kann er sich ein Le ben ohne mich nicht mehr vorstellen, und geradezu begierig lauscht er jedem Detail, das ich ihm über das geheime Treiben der Vampire offenlege. Manchmal schlafen wir mehrmals am Tag miteinander. Und dann kommt jener ganz besondere Tag, der beides ist: Erfül
lung und Katastrophe. Als ich morgens in Seans Armen aufwache, spüre ich die Frucht in meinem Leib. Die lebende Frucht. Den Anfang. Vom Ende. Und als ich abends mit Sean Arm in Arm über eine Anhöhe schlendere – es ist zu früh, ihm das Geschenk zu offenbaren, das er als solches schwer akzeptieren kann, wenn er erst um die damit ver bundene Tragik weiß –, sehe ich unten im Dorf einen Reiter ankom men. Ehe er auch mich sehen kann, werfe ich mich zu Boden und ziehe Sean mit mir herunter. »Was ist?« fragt er verblüfft. »Ein Vampir?« »Nein«, presse ich hervor und fahre mir unwillkürlich über den noch fast unsichtbar gewölbten Bauch, »nicht ein … der Vampir schlechthin! Landru …«
* Ich weiß nicht, wie er meine Fährte fand oder ob der Zufall (an den ich nicht glaube, sagte ich es bereits?) ihn ausgerechnet in dieses Hochlanddorf führte. Es tut nichts zur Sache. Nicht mehr. Mein Entschluß, Schottland und die Alte Welt zu verlassen, stand schon seit Mutters Kuß fest – er wird durch Landrus Auftauchen nur
beschleunigt. Ohne noch einmal in Seans Haus zurückzukehren, fliehen wir vor meinem schlimmsten Feind, dem ich gerade jetzt nicht in die Hände fallen darf. Ein Kampf könnte alles zerstören. Mit einem kleinen Boot, einer Nußschale nur, setzen wir über auf die britische Insel. Von Landru sehen und hören wir nichts, dennoch bleibe ich unruhig, bis wir London erreichen. Erst hier schafft Sean es, mir Zuversicht zu vermitteln. Es ist schon Ironie, daß er meine Hoffnung hochhalten muß und ich nicht seine. Es zeugt aber auch davon, wie gut Mutters Wahl ist. Kein anderer Sterblicher hätte sich so rasch mit einer Kandidatin wie mir und den damit verbundenen Umständen anfreunden können. Ich liebe Sean. Mehr denn je. Ich liebe auch das Feuer, das er weiter in meinem Schoß in Gang hält. Nacht für Nacht, wo immer sich die Gelegenheit ergibt. Drei Monate sind wir ständig auf der Flucht. In diesen drei Mona ten verlassen wir England mit einem schnellen Schoner und setzen über nach Terra Australis. In Sydney endlich eröffne ich Sean wenigstens die halbe Wahrheit. Daß uns ein Kind beschieden ist. Wir finden ein Haus, das ich – wie ich vorgebe – mittels meiner Magie in einen schützenden Hort für Lilith verwandele. Aber es ist nicht meine Magie. Meine Kräfte reichten niemals aus, solches zu erschaffen. Als die Festung dann fertig ist, verabschiede ich mich von Sean. Es zerreißt mir das Herz, zu sehen, wie es seines zerreißt. Ich habe keine Wahl. Ich hatte nie eine Wahl.
Kurz vor meiner Niederkunft steige ich – allein – hinab in den Kel ler des Hauses, das längst von Mutters Atem durchdrungen ist. Alles ist vorbereitet. Ich kann nun ruhig in die Zukunft blicken, die ihre Pforten vor mir verschlossen halten wird. Ich öffne den Sarg, auf dem Liliths Name steht, und schlüpfe ohne Mühe aus dem »Kleid«, das ich – als ich noch eine Zukunft hatte – nie abzulegen vermochte. Ein paar Tränen gebe ich ihm noch mit …
* Sydney, Gegenwart »Ich wußte gar nicht, daß ich Tränen habe …« Beth fuhr hoch. Sekundenlang mühte sie sich um Orientierung. Dann begriff sie, daß sie eingenickt war. Vor Erschöpfung. Vor gren zenloser Müdigkeit, die auch aus der Angst um Lilith resultierte. Lilith … Hatte sie gerade gesprochen? Beth hielt den Atem an und versuchte ein weiteres Lebenszeichen an der Halbvampirin zu erspüren. Schulter an Schulter lagen sie auf der Couch im Apartment der Reporterin. Hierher hatte Beth Lilith nach den Ereignissen im Marillion-Tower auf deren Bitte hin ge bracht.* Schon da war es Lilith nicht gut gegangen. Geradezu katastrophal schlecht! Und nun?
*siehe Vampira 14: »Die Apokalypse«
Lilith atmete flach. Ihr Puls war kaum erkennbar, aber das allein bot noch keinen Anlaß zur Sorge, denn das Herz einer Vampirin produzierte, auch wenn es nicht krankte, nur etwa ein Drittel der Schläge eines Menschenherzen. Gerade diese Fremdartigkeit machte Lilith so faszinierend … Beth holte tief Luft. Liliths Augen blieben geschlossen. Das anmu tige Gesicht, dem in dieser Form niemand die Kämpferqualitäten ansah, wirkte geradezu überirdisch friedlich. Als wäre sie nicht eingeschlafen, sondern, dachte Beth mit Schau dern, entschlafen … Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Behutsam befreite sie sich von dem Arm, der um ihren Nacken ge schlungen war, stand auf und ging ans Fenster. Sieben Stunden waren vergangen, seit sie mit Lilith hier eingetrof fen war, und sie konnte sich noch genau an die hilflose Panik erin nern, mit der ihre Freundin darauf reagiert hatte, daß sie unter ex tremen Sehproblemen litt. Was oben im Gipfel des Marillion-Towers geschehen war, hatte Li lith bislang nicht verraten können. Im Gegenteil: Sie hatte Beth Fra gen gestellt; solche, die auch jetzt noch die Gänsehaut wachhielten. »Brennt – Sydney …?« »Stirbt – die – Welt …?« Beth schüttelte sich. Angestrengt spähte sie hinaus auf die mittäg liche Stadt, die einen gespenstisch normalen Eindruck vermittelte, nachdem in der letzten Nacht an allen Enden Fanale emporgestie gen waren. »Leuchtfeuer« der entarteten Wondjinas! Beth hatte selbst vor einem dieser Fanale gestanden. Im Nielsen Park, wo eine von vielen hundert über Sydney verteilten heiligen Traumzeit-Stätten der Aborigines lag.
Aus einem mit archaischer Kunst versehenen Felsen war das Fanal in den Himmel geschossen, als wollte es den Menschen zurufen: ICH BIN DA! ICH KOMME ÜBER EUCH! EURE HERRSCHAFT IST ZU ENDE! FÜRCHTET EUCH! Und Beth hatte sich gefürchtet. Klarer als die meisten Menschen hatte sie begriffen, daß in Sydney an den Grundfesten der Realität gerüttelt wurde. Schöpferwesen, die von der andersgearteten Magie des Grundstücks 333, Padding ton Street verändert worden waren und nun nach und nach ihres gleichen infizierten, hatten begonnen, die Seelen der Menschen zu verschlingen und Vorbereitungen zu treffen, die jetzige Schöpfung in einem Inferno untergehen zu lassen. Die dunkle Epoche der Traumzeit-Dämonen hatte sich angekün digt.
All das war gestern gewesen. Und heute? »Stirbt – die – Welt …?« Beth schüttelte sich. Sie kehrte zu Lilith zurück. »Sag du es mir«, flüsterte sie. »Sag du mir, was mit der Welt ge schieht! Hast du sie nun gerettet, oder …?« Sie verstummte. Sie erstarrte. Lilith hatte sich verändert. Ihre üblicherweise blasse Haut hatte einen alarmierenden Blauschimmer angenommen, und in ihre Züge war selbst in der Ohnmacht ein Ausdruck von Qual gesickert! Sauerstoffmangel! durchzuckte es Beth, aber sie wollte nicht glau ben, was sie sah. Der Symbiont!
Das äscherne Kleid, das Lilith wie eine zweite Haut umschlang, hatte begonnen, sich zu bewegen … Nein! Falsch! Sich zusammenzuziehen! Auch der Symbiont war angeschlagen gewesen, als Lilith aus dem Hochhaus an der Druit Street taumelte. Aber nun schien er zu sterben! »Großer Gott!« stammelte Beth. Dann kniff sie die Lippen zusam men. In Liliths Beisein hatte sie sich abgewöhnt, Gott anzurufen. Sie zögerte nicht länger, sondern packte zu. Beide Hände gruben sich in das lebende Kleid, das nun gänzlich wie jene Stelle »weißer Glut« schimmerte, wo Lilith bei ihrer letzten Begegnung ein Totem aus Esben Storms Laden getragen hatte. Diese aus Knochen ge schnitzte Brosche war nun verschwunden. Dafür hatte sich der »Fleck« auf den gesamten Symbionten ausgeweitet. Aber Beth’ Finger vermochten den unzerreißbaren »Stoff«, der sich kalt wie Schlangenhaut anfühlte, nicht von Liliths Haut zu lösen. Schweratmend ließ sie wieder los. Liliths Augen waren geschlossen, aber die Qual grub sich immer deutlicher in ihr Gesicht, und die Haut schimmerte wie erfroren. Beth rannte in die Küche. Sie kehrte mit einem Messer zurück – und ahnte unterschwellig, in welche Gefahr sie sich selbst begab. Als sie die Klinge ansetzen wollte, wurde die Ahnung zur Gewiß heit, und sie konnte sich gerade noch mit einem wilden Sprung vor den Tentakelausläufern in Sicherheit bringen, die sich aus der äschernen Haut bildeten und sich um ihren Hals zu wickeln ver suchten …! Auf dem Teppich sitzend, starrte Beth stumm vor Grauen auf das monströse Schauspiel, das sich ihr auf der Couch bot. Lilith lag reglos da – ob noch Leben in ihr steckte, war von hier aus
nicht feststellbar. Das »Kleid« um ihren Körper aber hatte sich in ein Ungeheuer verwandelt, dessen hauchdünne Tentakel unkontrolliert wie Medusen durch die Luft tanzten – so als ringe auch der Symbi ont mit dem Tod! Beth ballte die Fäuste. Sie konnte nichts tun. In diesem Moment schlug der Türsummer an. Beth sah keinen Sinn darin, aufzustehen und noch weitere Men schen in Gefahr zu bringen. Sie wußte nicht, wo das hier enden wür de … Ob sie die nächste war … Der Symbiont lief Amok! Jemand klopfte an die Tür. Heftig, wie es kein normaler Besucher tat. Höchstens die Polizei, wenn sie akuten Verdacht hegte … Die Polizei! Beth’ Vertrauen in die Obrigkeit war nicht erst seit dem Auftau chen der Wondjinas erschüttert. Höchste Polizei- und Regierungsor gane waren von Vampiren unterwandert … Egal. Sie rappelte sich auf. »Wer ist da?« rief sie. »Esben Storm! Machen Sie auf – schnell!« Sie handelte, ohne nachzudenken. Esben Storm. Die Tür sprang auf. Irgendwo in einem verborgenen Sektor ihres Verstands wußte Beth, daß der alte Aboriginal, der an ihr vorbeidrängte, nicht real sein konnte. Er war in seinem Laden in der Market Street verbrannt.
Als Landru damals wütete …* Nun aber stapfte er wie jemand aus Fleisch und Blut herein und hastete schnurstracks auf Lilith und den tobenden Symbionten zu. »Vorsicht –!« Die Warnung blieb Beth in der Kehle stecken. Esben Storm mußte wissen, was er tat – und wenn sie ehrlich war, wollte sie gar nicht, daß er aufhörte … Mechanisch schloß sie die Tür hinter sich. Und fassungslos beobachtete sie, wie der Aboriginal furchtlos auf Lilith zutrat und auch nicht wich, als sich Medusenfäden um seinen schmächtigen Körper wickelten. Er legte beide Hände auf eine Stelle über Liliths linken Busen und harrte dort aus, obwohl sich die Tentakel des Symbionten nun regel recht in seine Finger zu bohren begannen, um das zu tun, was er nor malerweise nur Schwarzblütigen antat … Sekunden später riß Storm die Hände zurück und hielt einen Ge genstand in den Fingern, den Beth sofort wiedererkannte: Es war das Totem, das Lilith bei ihrer letzten Begegnung getragen hatte! Im nächsten Augenblick beruhigte sich der Symbiont schlagartig. Er wurde tiefschwarz. Die Medusen zogen sich in ihn zurück. Seine Umschlingung, mit der er Liliths Körper zu zerquetschen drohte, lockerte sich wieder … Beth eilte auf Lilith zu. Storm trat mit der Brosche in der Hand zurück. »Was haben Sie getan?« fragte Beth fassungslos, noch während sie begann, Lilith zu untersuchen. »Die Wondjinas haben nicht nur mich belohnt, weil wir ihre
*siehe Vampira 5: »Niemandes Freund«
schwarzen Brüder heilten – sie wollten auch Lilith belohnen. Des halb regte das Totem den Symbionten zu einem … Traum an.« »Einem Traum?« »Traum … Erinnerung … Ist das nicht dasselbe? Allerdings kön nen es keine angenehmen Träume gewesen sein, sonst hätte er nicht derart heftig reagiert. Zum Glück kam ich rechtzeitig …« Zumindest der letzte Satz war typisch Storm. Beth achtete nicht länger auf sein Gerede. Liliths Lider flatterten. Sie schlug die Augen auf, und ihr Blick war klar! »Was ist … passiert?« Beth gab sich keine Mühe, sich die Erleichterung nicht anmerken zu lassen. »Wenn Storm die Wahrheit sagte, hast du – geträumt.« »Storm?« Beth drehte sich um und streckte den Arm aus. Aber Storm war verschwunden. Nur dort auf dem Spiegel, vor dem er zuletzt gestanden hatte, hat te sich etwas in äscherner Schrift eingegraben. Ein Menetekel, das auch Storm zum düsteren »Propheten« stem pelte und die Zukunft mit Skepsis und Sorge erwarten ließ: ES IST NOCH NICHT VORBEI! ENDE
Die Pest in Sydney von Adrian Doyle Was hat Esben Storm gemeint mit seinen Worten »Es ist noch nicht vorbei«? Die Antwort erhalten Lilith und Beth schneller, als ihnen lieb ist. Ein letztes Vermächtnis der entarteten Wondjinas trifft in Sydney ein: der Tasmanische Teufel, der von dem sterbenden Schöpferwe sen infiziert wurde. Nur äußerlich ist er noch ein rattenähnlicher Nager. Sein Innerstes dagegen birgt eine unheimliche Intelligenz – und den Tod. Er bringt eine Krankheit über die Millionenstadt, die in Australien als längst ausgerottet galt – in einer magischen Abart, gegen die es kein Mittel gibt. Eine graue Armee wartet schon darauf, den Virus zu verbreiten: unzählige Ratten …