Carolyn Meyer
Ich, Prinzessin Elisabeth von England
Aus dem amerikanischen Englisch von Anne Braun
Fischer Schatzins...
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Carolyn Meyer
Ich, Prinzessin Elisabeth von England
Aus dem amerikanischen Englisch von Anne Braun
Fischer Schatzinsel
Fischer Schatzinsel Herausgegeben von Eva Kutter Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag, einem Unternehmen der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, Februar 2005 Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel ›Beware, Princess Elizabeth‹ bei Gulliver Books/Harcourt Inc. San Diego
Copyright © 2001 by Carolyn Meyer Published by Arrangement with Carolyn Meyer Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Garbsen Für die deutschsprachige Ausgabe: © 2005 Fischer Taschenbuch Verlag in der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main Vignette: Henriette Sauvant Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-596-85169-6 Nach den Regeln der neuen Rechtschreibung
»Ich gelobe feierlich: Ich, Elisabeth, werde nicht meines Vaters und auch nicht meiner Mutter oder meiner Schwester wegen in die Geschichte eingehen, sondern allein meiner eigenen Verdienste wegen.« Der außergewöhnliche Weg der jungen Prinzessin Elisabeth, vom Kerker bis zur Krone. Ein beeindruckender historischer Roman, spannend und ergreifend erzählt.
Für Elizabeth Van Doren, eine großartige Lektorin, die mir Inspiration und Freundin ist.
Ich, Prinzessin Elisabeth von England ist eine fiktive Geschichte, die auf historischen Figuren und Fakten basiert. Die Autorin hat sich jedoch erlaubt, einige Details abzuändern.
PROLOG Hatfield, Hertfordshire, England 17. November 1558
Früher einmal, vor langer Zeit, habe ich meine Schwester geliebt. Vermutlich hat auch Maria mich einst geliebt. Doch das hat sich geändert. Es musste sich ändern, wenn man bedenkt, wer wir sind: die Töchter von Heinrich VIII. Es gab Zeiten, in denen unser Vater uns verhätschelte, dann wieder wollte er nichts von uns wissen, und zeitweilig sah es so aus, als hätte er uns völlig vergessen. Wir waren nun einmal nicht die Söhne, die er sich so sehnlich gewünscht hatte. Und was die Beziehung zwischen Maria und mir noch schlimmer machte: Ich bin die Tochter der Frau, die meine Halbschwester am meisten auf der Welt hasste. Sie konnte mir nie verzeihen, wer meine Mutter war: Anne Boleyn, die Marias Mutter, Katharina von Aragon, ihren Platz als Königin wegnahm. Nach meiner Geburt wurde Maria gezwungen, mein Kindermädchen zu sein – sicher keine leichte Sache für eine stolze Siebzehnjährige. Wie sie das verabscheut haben muss! Doch dann – ich war noch keine drei Jahre alt – musste meine Mutter sterben. Sie wurde auf Befehl meines Vaters enthauptet. Trotz alledem sah es eine Zeit lang jedoch so aus, als würde Maria mich mögen – bevor sie verbittert wurde und zu dem Schluss kam, dass ich nur ihre Feindin sein konnte. Ich habe einen langen, steinigen Weg voller Gefahren hinter mir. Doch nun bin ich bereit, in die Fußstapfen meines Vaters zu treten, des größten Königs, den England bislang hatte. Maria, die mich drangsalierte und mir so viele Steine in den Weg legte, wird in den Köpfen der Engländer bald vergessen sein. Und ich gelobe feierlich: Ich, Elisabeth, werde nicht
meines Vaters und auch nicht meiner Mutter oder meiner Schwester wegen in die Geschichte eingehen, sondern allein meiner eigenen Verdienste wegen.
KAPITEL I DER TOD MEINES VATERS
»Der König ist tot.« Diese vier Worte, kühl wie Marmor und scharf wie ein Messer, kamen von den schmalen, grausamen Lippen von Edward Seymour, Berater des Königs und Onkel meines kleinen Halbbruders. Auf diese Weise erfuhr ich vom Tod meines Vaters. Es war der 31. Januar anno Domini 1547. Mein Vater – tot! Ich hatte gewusst, dass er krank war, aber dennoch erschütterte mich diese Nachricht nun bis ins Mark. Im ersten Moment konnte ich mir nicht vorstellen, dass der große König Heinrich in Zukunft nicht mehr wie ein Riese durch das Königreich und mein Leben stapfen würde. Sehr nahe standen wir uns nicht, denn während der letzten Jahre hatte ich nur wenig Zeit mit ihm verbracht. Dennoch war er in meinem Leben allgegenwärtig gewesen. Und nun war er tot. Ich würde in Zukunft weder seinen Schutz noch seine gelegentlichen Anwandlungen von Zuneigung genießen dürfen. Unversehens stand ich allein auf der Welt, und dieser Gedanke machte mir ehrlich gesagt auf einmal große Angst. Doch mir blieb nicht viel Zeit, mich lange meinen aufgewühlten Gefühlen hinzugeben. Mein kleiner Bruder war bei den Worten seines Onkels in Tränen ausgebrochen und warf sich nun schluchzend in meine Arme. Der nach seinem Onkel Edward benannte Neunjährige war ein hübscher Knabe, zart und empfindsam wie ein frisch geschlüpftes Küken. Ich drückte ihn an mich und ließ meine eigenen Tränen ungehindert auf seine dichten Locken tropfen. Ich war dreizehn, auf der Schwelle zum Frausein, doch in diesem
Augenblick fühlte auch ich mich wieder als Kind. Mein Bruder und ich waren zu Vollwaisen geworden, und Edward würde in Bälde der neue König werden. Dass er vor dieser gewaltigen Aufgabe Angst hatte, konnte ich mir lebhaft vorstellen. »Wann ist mein Vater verstorben?«, wandte ich mich nach einer Weile an Seymour und hoffte, dass meine Stimme nicht zu verräterisch bebte. »Am Morgen des Achtundzwanzigsten.« »Vor drei Tagen?«, rief ich verdutzt aus. »Warum erfahren wir es erst jetzt?« »Es mussten eine Menge Entscheidungen getroffen werden«, entgegnete Seymour kühl. »In diesen drei Tagen wurden nur die Mitglieder des Geheimen Rats über das Ableben des Königs informiert.« Empört funkelte ich ihn an. Ich hatte Seymour nie über den Weg getraut, schon damals nicht. Entscheidungen worüber?, hätte ich zu gern gefragt, doch ich tat es nicht, weil ich spürte, dass meine Fragen ihn noch ungehaltener machten. Seymour war der Bruder von Jane Seymour, der Mutter meines kleines Halbbruders, die kurz nach seiner Geburt verstorben war. Geschickt hatte Seymour es verstanden, sich in unsere Familie einzuschleichen, und bei Edwards Taufprozession hatte er mich tragen dürfen. Inzwischen galt er als der mächtigste Mann des Rats. Seymour hatte sicher seine eigenen Gründe, warum er den Tod des Königs so lange geheim gehalten hatte. Ich vermutete, dass er sich zuerst die Macht über den neuen König sichern wollte. Doch statt eine Erklärung zu verlangen, fragte ich nur: »Wurde meine Schwester Maria bereits informiert?« »Ja«, gab er ungnädig zurück. »Madam, mit Euren Fragen verzögert Ihr unsere Abreise nach London. Ruft Eure Bediensteten zusammen. Wir müssen umgehend aufbrechen.« »Ihr habt Euch drei Tage Zeit gelassen, uns den Tod unseres Vaters mitzuteilen«, erwiderte ich kühl. »Wenn Ihr nun bitte die Freundlichkeit hättet, mir etwas Zeit zu geben, damit ich
meinen Bruder, den neuen König, trösten kann.« Ohne auf eine Antwort zu warten, kniete ich mich neben den schluchzenden, bebenden Knaben. Erst nachdem dieser sich etwas beruhigt und auch ich mich wieder einigermaßen im Griff hatte, schickte ich nach Kat Ashley, um ihr zu sagen, dass sie unsere Abreise vorbereiten solle. »Der Himmel sei uns gnädig!«, rief Kat aus, als sie die Neuigkeit erfuhr. Sie brach in lautes Wehklagen aus, was ich ihr jedoch nicht ganz abnahm. Seit meinem dritten Lebensjahr war Kat meine Erzieherin und engste Vertraute. Wir standen einander sehr nahe, und ich spürte genau, dass sie es zwar für angebracht hielt, den Tod des Monarchen zu beklagen, meinem Vater andererseits aber nie verziehen hatte, wie er mit meiner Mutter verfahren war und wie oft er mich links liegen gelassen hatte. Während Kat noch am Jammern und Wehklagen war, trug ich meinen Zofen auf, schwarze Trauerkleidung bereitzulegen, die ich in nächster Zeit brauchen würde. Schließlich und endlich – und sicher nicht schnell genug in Seymours Augen – waren meine wenigen Habseligkeiten in Truhen und Kisten verpackt und auf Pferderücken verstaut. Wir bestiegen die Kutsche. Frost knirschte unter den Hufen der Pferde, als diese über den unebenen Weg zockelten. Kat verfiel in ein düsteres Schweigen, und so war es mir endlich möglich, mich meinem Kummer hinzugeben. Ich hatte meinen Vater seit über zwei Jahren nicht mehr gesehen. Damals hatte er mich an den Hof kommen lassen, um gemeinsam Weihnachten und Neujahr zu feiern. So war er, der König – mal schenkte er mir seine Gunst, dann wieder nicht. Mein ganzes Leben lang war es mir so ergangen. Eine Zeit lang hatte er mich nicht einmal als Tochter anerkannt und sowohl meine Schwester Maria als auch mich zu Bastarden erklärt. (Maria ist das Kind seiner ersten Frau, ich seiner zweiten und Edward seiner dritten.) Erst wenige Wochen vor seinem Tod hatte ich
erfahren, dass er uns wieder in die Erbfolge eingesetzt hatte. Nach Edward und eventuellen Kindern, die der einzige männliche Nachkomme unseres Vaters zeugen würde, hatten nunmehr sowohl Maria als auch ich ein Anrecht auf den Thron. Meine Schwester und ich galten zwar noch immer als unehelich, waren aber dennoch erbberechtigt. Zu jener Zeit lag der Thron für mich jedoch noch in weiter Ferne, und an dem Tag, als wir nach London reisten, kam es mir kein einziges Mal in den Sinn, dass ich eines Tages Königin von England werden könnte.
Es war schon spät am Nachmittag, und die Fackeln brannten bereits, als wir London erreichten. Wir froren bis auf die Knochen und waren von der anstrengenden Reise erschöpft. Doch an Ausruhen war nicht zu denken. Wir mussten umgehend in die Kapelle des Whitehall-Palasts, wo der Leichnam meines Vaters aufgebahrt war. Dutzende von Trauergästen und eine Vielzahl von flackernden Kerzen umgaben seinen riesigen Sarg. Bei meinem Eintritt in die Kapelle hätte ich vor Schreck um ein Haar laut aufgeschrien, denn neben dem Sarg stand eine Wachsstatue des Königs, in eine prachtvolle, mit Juwelen besetzte Robe gekleidet. Mit dem von Schmerzen geplagten Vater aus meiner Erinnerung hatte die äußerst lebensecht wirkende Figur allerdings nicht viel gemeinsam. Sie war dem kraftvollen jungen König nachgebildet, den ich nie kennen gelernt hatte. Ich kannte meinen Vater nur als bereits dicken, unansehnlichen Mann. Unvermittelt wurde ich von Gefühlen des Verlusts und der Sehnsucht nach dem gut aussehenden, kräftigen Mann überwältigt, den ich nie gekannt hatte. In der Nähe des Sargs saß Königin Katharina, die sechste Gemahlin meines Vaters. Sie wirkte blass, aber gefasst. Als
schön konnte man sie nicht beschreiben, denn mit ihren vierunddreißig Jahren hatte sie ihre besten Jahre bereits hinter sich. Doch dafür hatte sie freundliche Augen und einen großzügigen Mund, der bei weniger traurigen Anlässen oft und gern lächelte. Ich stellte mir vor, wie einsam sie nun ohne meinen Vater sein würde. In den letzten Monaten, als er schwach und krank war, hatte sie sich rührend um ihn gekümmert. Er war ein tyrannischer Ehemann gewesen, würde ihr aber dennoch sehr fehlen. An Katharinas Seite saß eine unserer Cousinen, Lady Jane Grey, die der Königin die Hand streichelte. Bei unserem Eintreten sprang Jane auf, und sie und Edward fielen sich weinend in die Arme. Ich stand stumm daneben und beobachtete die Szene. Ich war zwar selbst den Tränen nahe, pflegte meine Gefühle jedoch nicht offen zur Schau zu stellen. Nachdem Königin Katharina Edward umarmt hatte, war ich an der Reihe. Ich trat vor und kniete mich vor sie, und als sie mich wieder hochzog, küsste ich sie in aufrichtiger Zuneigung auf die Wange. Dabei fiel mir ein Mann auf, der mit beflissener Miene hinter ihrem Stuhl stand. Er musterte mich, und ich konnte nicht anders, als seinen Blick erwidern. Ich kannte ihn. Vor zwei Jahren, als ich das letzte Mal am Hof gewesen war, hatte ich ihn bereits getroffen. Er war Tom Seymour, Edward Seymours Bruder und einer der vielen Onkel meines kleinen Bruders. Damals war er mir nicht weiter aufgefallen – aber schließlich war ich erst elf Jahre alt gewesen. Inzwischen war ich dreizehn und empfänglicher für solche Dinge, und seine Blicke ließen mein Herz etwas schneller schlagen. Tom Seymour war groß, nicht so groß wie mein Vater, doch mindestens einen Meter achtzig, und von schlankem, athletischem Wuchs. Seine dunklen Haare fielen ihm bis über die Augenbrauen, und sein üppiger Bart hatte einen rötlichen
Schimmer. Seinen dunklen Augen sah man an, dass sie gern lachten, doch ich spürte, dass sie auch vor Zorn funkeln konnten. Auf alle Fälle war er ein gut aussehender, interessanter Mann. Nachdem er mich eingehend gemustert hatte, verbeugte er sich, begrüßte mich und sprach mir sein Mitgefühl aus. Doch gleich darauf wandte er sich abrupt von mir ab und begrüßte meinen Bruder geradezu überschwänglich. Seit Seymour uns die Nachricht vom Tod unseres Vaters überbracht hatte, hatte Edward fast unaufhörlich geweint. Doch nun hellte sich sein Gesichtchen auf, und er warf sich in Toms Arme. Sein Onkel umarmte den schmächtigen Jungen so heftig, dass er ihn fast erdrückt hätte. Sofort trat Edward Seymour vor. »Lass ihn sofort los!«, befahl er Tom in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Du hast den König von England vor dir, du Narr! Edward ist kein Kind mehr, mit dem du herumalbern kannst!« Die beiden Seymour-Brüder funkelten einander an, und mein kleiner Bruder klammerte sich an Tom, als ginge es um sein Leben. Betont langsam setzte Tom ihn ab und machte vor Edward einen Kniefall. »Hoheit«, sagte er untertänig. Edward Seymour bedachte Tom mit einem letzten vorwurfsvollen Blick und wandte sich dann ab. Was mich noch mehr bestürzte als die wütenden Blicke zwischen den beiden Brüdern, war der Ausdruck in den Augen von Königin Katharina. Der Blick, mit dem sie Tom Seymour anschaute, konnte nur eines bedeuten: Sie war in ihn verliebt. Ich war entgeistert. Seit wann geht das nun schon? Mein Vater ist doch noch keine Woche tot! Dieser plötzliche Verdacht stürzte mich in große Verwirrung. Ich mochte Königin Katharina, und der Gedanke, sie könnte meinem Vater untreu gewesen sein, war mir unerträglich. Meine Gedanken überschlugen sich: Und was ist mit Tom Seymour? Erwidert er die Gefühle der Königin?
Betend kniete ich neben dem Sarg meines Vaters, als meine Schwester Maria eintraf. Ihr Erscheinen erregte großes Aufsehen. Wenn wir nicht an den Hof gerufen wurden, sahen wir einander kaum, obschon wir nur eine halbe Tagesreise voneinander entfernt wohnten und hin und wieder höfliche, förmliche Schreiben austauschten. Ihr Aussehen überraschte mich. In Kürze würde sie ihren einunddreißigsten Geburtstag feiern, doch sie wirkte wesentlich älter. Ihre Haut war blass, ihr Gesicht verhärmt, und ihre einst rotgoldenen Haare wirkten farblos und dünn. Ihre Trauerkleidung schien ihr viel zu weit zu sein, doch dafür hatte sie sich üppig mit Diamanten und Perlen behängt und glitzerte von Kopf bis Fuß. Diese Schwäche für Juwelen hatte sie eindeutig von unserem Vater geerbt! Wir begrüßten einander, wie es dem Anlass entsprach, als die Töchter des Königs und umarmten uns mit Tränen in den Augen. Allerdings lag keine Wärme in unserer Umarmung. Feindinnen waren wir zum damaligen Zeitpunkt zwar noch nicht, aber auch keine Freundinnen. Für mich war es nicht viel anders, als würde ich einen Menschen umarmen, der mir fast fremd war. Als Maria und ich nun neben der Bahre unseres Vaters standen, dachte ich an den Sommer zurück, in dem unser Vater seine letzte Frau Katharina geheiratet hatte. Nach den Feierlichkeiten in Hampton Court im Juli 1543 hatte das frisch vermählte Paar Maria, mich und natürlich auch Edward auf die Hochzeitsreise durch das halbe Königreich mitgenommen. Mein Vater war jeden Sommer durch sein Land gereist, um sich dem Volk zu zeigen. Dabei pflegte er ein oder zwei Wochen bei adligen Familien zu wohnen, die entlang seiner Reiseroute lebten, um von ihren Landsitzen aus seinem Steckenpferd, der Jagd, zu frönen. In jenem Jahr hatte seine prunkvolle Rundreise gleich zwei Gründe gehabt: Zum einen wollte er seine neue Gemahlin vorzeigen, zum anderen wieder einmal ausgiebig jagen gehen.
Mir hatte in jenem Sommer niemand große Aufmerksamkeit geschenkt, mit Ausnahme der frisch vermählten Katharina, die sehr reizend zu mir war. Ich war ihr dankbar für ihre Freundlichkeit, denn mit meinen damals neun Jahren wurde ich nicht gern übersehen. Wo immer wir auch hinkamen, stand natürlich der süße kleine Thronerbe Edward mit seinen Löckchen im Mittelpunkt, und alle wollten ihn streicheln und verhätscheln. Allerdings war es meine Halbschwester Maria, die von den Menschen, die in den Dörfern und Weilern unseren Weg säumten, am stürmischsten bejubelt wurde. Dies schien Vater nicht zu gefallen, und er hänselte Maria ständig damit, für sie endlich einen Mann finden zu müssen. »Siebenundzwanzig und noch Jungfrau!«, grölte er. »Hm, da fällt mir ein deutscher Prinz ein, der dich vielleicht nehmen würde!« Wenig später redete er dann vom französischen Thronfolger und dann wieder von einem dänischen Grafen. Er hänselte Maria so, wie man einen Hund mit einem besonders leckeren Knochen neckt. »Ganz wie Euer Majestät wünschen«, entgegnete Maria dann immer mit ihrer tiefen, fast männlich klingenden Stimme und bemühte sich tapfer, ihre Verlegenheit und Beschämung zu verbergen. Maria versuchte zwar, ihre wahren Gefühle vor unserem Vater zu verheimlichen, doch eines Tages, als wir an einem Fluss Rast machten, konnte ich einen Einblick in ihre Gefühlswelt erhaschen. Die Dienerschaft eilte geschäftig umher, um mit Brettern und auf Baumstümpfen unter dem Laubwerk einer großen, alten Eiche eine behelfsmäßige Tafel aufzubauen. Während die Speisen aufgetragen wurden, schlich Maria sich heimlich davon. Mein Vater hatte wie üblich Schmerzen im Bein, und Katharina umsorgte ihn. Edward war auf dem kleinen Diwan eingeschlafen, den wir eigens für ihn mitführten. Vermutlich aus Langeweile und andererseits auch aus Neid, wie ich glaube, weil sie nun einmal die
Lieblingstochter war – mich zu hänseln, kam meinem Vater gar nicht erst in den Sinn –, beschloss ich, Maria heimlich zu folgen. Ich wollte wissen, was sie machte. Ich kann bis heute nicht sagen, was ich erwartete, und Gedanken über die Folgen meines Tuns machte ich mir auch keine. Nach einer Weile verlangsamte Maria ihre Schritte und blieb dann stehen. Aus sicherer Entfernung sah ich mit an, wie sie sich ins grüne Gras am Ufer sinken ließ und unvermittelt in Tränen ausbrach. Vom Schutz eines dicken Baumstamms aus sah ich sie aus tiefstem Herzen schluchzen. Ein Teil von mir wollte zur königlichen Reisegruppe zurückeilen, wo mir nun vielleicht endlich die Aufmerksamkeit meines Vaters zuteil werden würde. Doch Marias tiefer Kummer brachte etwas in mir zum Klingen, und irgendwann konnte ich mich nicht länger beherrschen und trat aus meinem Versteck. Da mir die rechten Worte fehlten, um Maria zu trösten, stand ich nur stumm da und hoffte, dass sie mich irgendwann bemerken würde. Als Maria merkte, dass sie nicht allein war, zuckte sie erschrocken zusammen. »Ja?«, fauchte sie. »Was ist, Elisabeth?« »Warum bist du so traurig?«, fragte ich zurück und trat näher. Maria betrachtete mich mit rotgeränderten Augen. »Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt. Ich habe keinen Gemahl und keine Kinder; ja, nicht einmal die Aussicht auf eine Familie. Glaub mir, Elisabeth, es ist schrecklich, ohne Liebe zu leben.« »Aber ich liebe dich doch, Schwester«, murmelte ich und streckte mitfühlend die Hand aus, um ihre Wange zu streicheln. »Du!«, fauchte sie und zuckte zusammen, als hätte ich ein Messer in der Hand. Erschrocken wich auch ich einen Schritt zurück. »Ausgerechnet du!« Verletzt drehte ich mich um und rannte zu den anderen zurück. Die Behelfstafel war inzwischen mit Fleisch- und Fischpasteten gedeckt, Ale wurde ausgeschenkt. Doch mir war der Appetit vergangen. Nach
einer Weile kehrte auch Maria zurück, mit roten, verquollenen Augen. Meinem Vater schien dies nicht aufzufallen, doch die junge Königin musterte Maria ein paar Mal nachdenklich. Da Maria mich so schnöde abgewiesen hatte, ging ich ihr für den Rest der Reise tunlichst aus dem Weg. Das fiel mir im Übrigen nicht sehr schwer, denn ich hatte den Eindruck, dass auch sie mir auswich. Als die königliche Rundreise gegen Ende des Sommers vorüber war, kehrte jeder von uns in sein Heim zurück: Maria nach Hunsdon House in Hertfordshire, nördlich von London, Edward in seinen Palast in Ashridge und ich nach Hatfield, das ebenfalls in Hertfordshire lag. Natürlich wurden wir alle drei von unseren Hauslehrern und Erziehern begleitet. Der König und die Königin kehrten in den Lieblingspalast meines Vaters in Greenwich zurück, östlich von London am Ufer der Themse gelegen. Eine Zeit lang vermisste ich meine Familie, doch dann widmete ich mich wieder ganz meinen Studien und dachte mit jedem Tag etwas weniger an sie. In der Folge habe ich sowohl das königliche Paar als auch Maria nur selten gesehen, nur dann, wenn meine Geschwister und ich an den Königshof geladen wurden. Das war in der Regel zu Weihnachten und Neujahr der Fall, dann wieder an Ostern und am Pfingstfest. Bei diesen Gelegenheiten achtete ich darauf, Maria gegenüber eine gewisse Distanz einzuhalten, obschon sie sich recht freundlich gab. Doch nun, bei der Beerdigung unseres Vaters, blieb mir keine andere Wahl. Beklommen fragte ich mich, was meiner Schwester wohl durch den Kopf ging, als wir Seite an Seite dastanden und uns an den Händen hielten.
KAPITEL II DER JUNGE KÖNIG EDWARD
König Heinrichs Leichnam wurde zwölf Tage lang feierlich aufgebahrt. Während der endlosen Stunden, die ich neben seinem Sarg knien musste, hatte ich viel Zeit, über die Beziehung zwischen meinem Vater und mir nachzudenken. »Ihr erinnert ihn an Eure Mutter«, hatte Kat mir erklärt, als ich ihr wieder einmal vorgejammert hatte, dass er mir so wenig Beachtung schenkte. »Daran wird sich nie etwas ändern.« Und sie sollte Recht behalten. Natürlich sprach mein Vater dieses Thema nie an. Den Namen Anne Boleyn auszusprechen, war verboten. Es war, als hätte meine Mutter nie existiert. All ihre Spuren waren beseitigt worden – alle, mit Ausnahme von mir. Dass ich überhaupt etwas von meiner Mutter und ihrer Beziehung zu meinem Vater weiß, verdanke ich allein Kat. Abend für Abend, wenn wir nebeneinander im Dunkeln meines Schlafgemachs lagen und die Vorhänge meiner Bettstatt um uns herum zugezogen hatten, gab mir die gute Kat im Flüsterton die Antworten auf meine geheimsten Fragen. Manchmal wollte ich Dinge über meinen Vater wissen, doch am häufigsten über meine Mutter. Kat war und ist der einzige Mensch, mit dem ich jemals über Anne Boleyn sprechen konnte. »Sie war eine wunderschöne Frau, mit Haaren so schwarz wie das Gefieder eines Raben und Augen so schwarz und funkelnd wie Gagaten. Und zudem war sie sehr klug und geistreich«, pflegte Kat über meine Mutter zu sagen. »Euer Vater war von ihr vom ersten Zusammentreffen an fasziniert.« Sie mochte ihn zwar fasziniert haben, doch er hatte damals bereits eine Gemahlin gehabt: Katharina von Aragon, Marias
Mutter. Als ich etwas älter war, erfuhr ich, dass mein Vater seine Ehe mit Katharina annullieren ließ, um Anne heiraten zu können. Diese erste Katharina (mein Vater hatte insgesamt drei Gemahlinnen namens Katharina) tat alles in ihrer Macht Stehende, um an ihrer Ehe festzuhalten. Doch mein Vater verbannte Katharina und ließ seine Ehe mit ihr für ungültig erklären – was Maria natürlich zu einer unehelichen Tochter machte. Doch selbst noch in ihrer Todesstunde und lange nachdem mein Vater Anne Boleyn geheiratet und sie zu seiner Königin gemacht hatte, verweigerte Katharina ihre Einwilligung in die Annullierung ihrer Ehe. Wer weiß, vielleicht hatte Maria ihre Sturköpfigkeit geerbt, dachte ich mir manchmal insgeheim. Kats Worten nach hatte mein Vater gehofft, Anne Boleyn würde ihm den ersehnten Sohn und Thronerben schenken, den die bereits ältliche Katharina ihm nicht mehr gebären konnte. Zu seiner großen Enttäuschung war ich, das einzige Kind aus seiner Verbindung mit Anne, jedoch kein Sohn. Dass ich ein Mädchen war, wurde Anne zum Verhängnis. Heinrichs Liebe erlosch, und er beschloss, sich ihrer zu entledigen. Er ließ sie im Tower einsperren, beschuldigte sie des Ehebruchs und des Hochverrats und ließ sie hinrichten. Allerdings enthielt keiner dieser Vorwürfe auch nur ein Fünkchen Wahrheit. Hätte König Heinrich meine Mutter auch hinrichten lassen, wenn ich ein Sohn gewesen wäre? Vermutlich nicht. Durchaus möglich, dass er sich später anderen Frauen zugewandt hätte, wie es seine Art war, aber er hätte Anne am Leben gelassen, und ich hätte meine Mutter behalten dürfen. Aus diesen Gründen war mein Verhältnis zu meinem Vater natürlich nie einfach und unkompliziert. Ich liebte ihn, weil er mein Vater und ein großer König war. Doch ich hegte auch einen heimlichen Groll gegen ihn: Wie konnte ich ihm je verzeihen, dass er mir meine Mutter genommen hatte? Mehr noch – mein
schlimmstes Geheimnis war, dass ich ihn bisweilen geradezu hasste! Dann, nur wenige Wochen nach der Hinrichtung meiner Mutter, vermählte sich mein Vater mit Jane Seymour. »Das genaue Gegenteil von Eurer Mutter«, erklärte mir Kat, nachdem ich sie endlos angefleht hatte, die Frau zu beschreiben, an die ich mich nur vage erinnerte. »Ganz hübsch, würde ich sagen, aber eher farblos. Ziemlich steif und prüde.« Kat schürzte die Lippen. »Königin Jane hatte allerdings das große Glück, ihm einen Sohn zu schenken. Der König war außer sich vor Freude. Und dann war sie klug genug, im Kindbett zu sterben, ehe der König ihrer überdrüssig werden konnte.« Das hätte Kat natürlich nie sagen dürfen, doch andererseits hatte sie ein Talent dafür, Dinge zu sagen, die sie besser für sich behalten hätte. Ihr loses Mundwerk hatte sie schon so manches Mal in Schwierigkeiten gebracht. Meine Mutter war nicht die einzige Gemahlin, die König Heinrich im Tower einsperren und dann hinrichten ließ. Ich war acht Jahre alt, als seine fünfte Frau, Katharina Howard, zum Tode verurteilt wurde. Die nervöse Aufregung anlässlich ihrer Hinrichtung blieb nicht vor mir verborgen, und für mich war es fast, als wiederhole sich die Hinrichtung meiner eigenen Mutter. Ich weinte und schrie und konnte tagelang weder essen noch schlafen. In ihrer Sorge ließ Kat den Hofarzt kommen, der mir einen starken Schlaftrunk verordnete. Als ich danach wieder aufwachte, war alles vorbei. Ich belauschte die Dienstboten, die miteinander flüsterten, und erfuhr so, dass Katharinas Kopf in einem Korb aufgefangen wurde und alte Frauen ihr Blut mit Tüchern aufwischten, als ihr lebloser Körper weggetragen wurde. So muss es auch bei meiner Mutter gewesen sein, dachte ich damals spontan, ein Gedanke, der mich auch später noch lange verfolgen sollte.
Wann immer ich an den Tod von Katharina Howard zurückdachte, erfasste mich eine namenlose Panik. Der zwölfte Tag der öffentlichen Aufbahrung war zu Ende. Von einem Fenster des Palasts aus blickten Edward, Maria und ich auf die endlos lange, düstere Prozession, die dem Sarg unseres Vaters bis zum Schloss Windsor folgte. Wie es Brauch war, wohnten die Erben eines Monarchen nie seiner Beisetzung bei, doch es hatte den Anschein, dass fast alle anderen seiner Untertanen dies taten. Sein Abbild aus Wachs wurde in einer Kutsche gefahren, gezogen von acht mit schwarzem Samt geschmückten Rappen. Die folgenden Tage verbrachte ich mit Warten. Wann würde ich erfahren, wie mein weiteres Leben aussehen würde? Ich hatte keinerlei Einfluss darauf, konnte mir nur aussuchen, wie ich darauf reagieren würde. Eingehüllt in das Schweigen meiner eigenen, einsamen Gedanken, schritt ich rastlos über die verschneiten Wege des trostlosen Schlossparks. Mein Vater war tot. Meine Schwester Maria war ein verschlossener, zumindest nach außen hin kühler Mensch. Mein kleiner Bruder Edward war der neue König. Was wird aus mir werden?, fragte ich mich immer und immer wieder. Wie sieht mein weiteres heben aus? Doch egal, wie viele Ängste und Sorgen damals auch an mir nagten, ich war fest entschlossen, die Zügel meines Lebens irgendwann in die eigenen Hände zu nehmen. Am zwanzigsten Tag des Monats Februar anno Domini 1547 wohnte ich der Krönung meines Bruders Edward bei. Diejenigen, die schon bei der Krönung unseres Vaters im Jahre 1509 zugegen gewesen waren, hatten beschlossen, dass diese Krönung die alte an Prunk und Pracht um einiges übertreffen sollte. Am Tag vor der Krönung, als die königliche Prozession durch die Straßen von London zog, verkündete eine Vielzahl von Trompetenstößen das Näherkommen des jungen Königs. Mein kleiner Bruder trug ein silbernes, mit Goldfäden
besticktes Gewand, das von einem mit Rubinen, Perlen und Diamanten besetzten Gürtel zusammengehalten wurde. Er saß auf einem riesigen Schimmel mit einer Satteldecke aus purpurrotem Satin. Ihm folgten, ihrem Rang gemäß, die Adligen des Königreichs, allen voran die beiden SeymourBrüder, Edward und Tom. So viel Prunk für einen so schmächtigen Jungen! Edward wirkte stolz und hochmütig, doch ich wusste, dass dies nur seine Maske war, hinter der er seine Ängste versteckte. Einmal ertappte ich mich bei dem Gedanken, wie es wohl wäre, selbst an seiner Stelle zu sein, geschmückt mit Hermelin und Edelsteinen, umgeben von den Mitgliedern des Rats in ihren üppigen Samtroben. Vor meiner königlichen Sänfte, beschloss ich, würden wilde Spießgesellen mit vergoldeten Streitäxten gehen und Ritter in purpurrotem Samt hoch zu Ross reiten! Doch ich war keine Königin, und wenn nicht ein Wunder geschah, würde ich auch nie Königin werden. Mir war ein Platz weit hinten in der Prozession zugewiesen worden, hinter meiner Schwester Maria, die bei der Königinwitwe Katharina, der ranghöchsten Frau im Königreich, in der Kutsche sitzen durfte. Neben mir ritt Anna von Kleve, die vierte Gemahlin meines Vaters, eine deutsche Prinzessin, die mein Vater vor sieben Jahren geheiratet hatte, nachdem er nur ein kleines Porträt von ihr gesehen hatte. Anna von Kleve sprach nur Deutsch, als sie damals in Dover das Schiff verließ. Sie war recht stämmig, ihr Gesicht von Pockennarben gezeichnet, und ihr Gewand und ihr Kopfschmuck waren erschreckend altmodisch gewesen. Der König sah zwar auf den ersten Blick, dass diese Frau in Fleisch und Blut nur wenig mit dem schmeichelhaften Porträt gemeinsam hatte und noch weniger mit seinen Träumereien von ihr. Doch da er nun einmal sein Wort gegeben hatte, schob er alle Bedenken beiseite und heiratete sie. Doch nach nur
sechs Monaten ließ er die Ehe wieder annullieren – und seinen Sekretär Cromwell, der die Ehe arrangiert hatte, am Galgen aufknüpfen. Da Anna der Scheidung sofort zustimmte, erhielt sie den Ehrentitel »Königliche Schwester« und durfte fortan mit allen Annehmlichkeiten auf einem der königlichen Landgüter leben. Um sie für ihre verletzten Gefühle zu entschädigen, hatte der König sie auch mit Edelsteinen und viel Geld überhäuft. Bei offiziellen Anlässen saß ich oft an Annas Seite. Wir mochten einander, und ich war immer froh über ihre Gesellschaft. Wir waren zwei Frauen, die eine jung, die andere schon älter, die im Königreich nur wenig zählten. Das mochte Anna vielleicht nicht weiter belastet haben, mich jedoch schon, wie ich gestehe. Ich war schließlich die ehelich geborene Tochter von König Heinrich dem Achten! Am Abend vor der Krönung hatte Edward im Tower von London übernachtet, wie es eine alte Tradition in der Geschichte Englands jedem neuen Herrscher vorschreibt. Auch meine Mutter hatte hier die Nacht vor ihrer Krönung zur Königin verbracht. Der Gedanke, dass auch ich damals schon dabei war – weniger als drei Monate vor meiner Geburt! – unter all ihrem prachtvollen Schmuck in ihrem Bauch versteckt, belustigte mich irgendwie. Doch im Augenblick war ich mit meinen Gedanken nicht bei Edwards Krönung, sondern bei etwas ganz anderem, das mir schon seit Tagen zu schaffen machte: dem Blick, mit dem Königin Katharina Tom Seymour angeschaut hatte. Ich wusste, dass Kat mir in aller Offenheit antworten würde, wenn ich sie auf dieses Thema ansprach. Am Abend zogen wir uns in die uns zugewiesenen Gemächer zurück. Bis auf eine einzige Kerze wurden alle Lichter gelöscht, und wir stiegen in das hochbeinige Himmelbett und zogen die Vorhänge zu, um die Kälte abzuwehren. Unsere
Bediensteten schliefen nebenan. »Tom Seymour und die Königin…«, begann ich zögernd. »Oh, sie war früher schon einmal in ihn verliebt, wisst Ihr«, sagte Kat spontan, fast als könne sie meine Gedanken lesen. »Katharina hat Tom Seymour viele Jahre lang geliebt, lange vor ihrer Ehe mit König Heinrich. Tja, wer könnte es ihr verdenken? Er ist wirklich ein Bild von einem Mann, nicht wahr?« Der best aussehende Mann, den ich je gesehen habe, dachte ich mir im Stillen. Doch ich sagte nur: »Ist mir gar nicht aufgefallen«, und tat so, als müsste ich gähnen. »Was meint Ihr, werden sie heiraten?«, bohrte ich dann weiter. »Die Königinwitwe muss mindestens ein Jahr Trauerzeit einhalten«, erklärte mir Kat. »Mal sehen, wie lange sie durchhält. Keine sechs Monate, würde ich sagen.« Nach diesen Worten drehte Kat sich auf die Seite und schlief rasch ein, während ich noch lange wach lag und mir diese Neuigkeit durch den Kopf gehen ließ.
Am nächsten Morgen, nach einer feierlichen Prozession vom Tower zur Westminster Abtei, begann die eigentliche Krönungszeremonie. Diese dauerte viele Stunden, und hinterher waren alle erschöpft. Doch bis zum Abend hatten die Gäste sich wieder einigermaßen erholt, und die Feierlichkeiten im Whitehall-Palast, der offiziellen Residenz des neuen Königs, konnten beginnen. Während des Festbanketts wurde mir wie üblich keine besondere Aufmerksamkeit zuteil. Ich saß am unteren Ende der Tafel von König Edward und wurde komplett übersehen – eben so, wie es einer dreizehnjährigen Prinzessin niederen Ranges inmitten eines Heers von Herzögen, Grafen, Baronen und Marquisen mit den jeweiligen Gemahlinnen zukommt. Als die Tänze begannen, stand zu meiner großen Überraschung auf
einmal Robin Dudley neben mir. Als Robin und ich acht Jahre alt gewesen waren – unsere Geburtstage lagen nur wenige Tage auseinander –, hatte er am Unterricht von Edward und mir teilgenommen. Er war ein lustiger, hübscher Junge gewesen, doch danach hatten wir uns aus den Augen verloren. Inzwischen war er dreizehn, fast schon ein Mann, und ich sah, dass er noch dieselben strahlenden Augen, rötlichbraunen Haare und das ansteckende Grinsen hatte, an das ich mich noch so gut erinnerte. Zu Beginn wirkte er etwas schüchtern, doch sobald wir im Meer der anderen Tanzenden untergetaucht waren, taute er auf. Gerade wurde mein Lieblingsstück gespielt, La Volta, ein Tanz, bei dem sich jedes Paar um die Taille fasst und den Partner abwechselnd hochhebt. Die Damen heben ihren Partner natürlich nicht wirklich hoch; der Gentleman springt von allein in die Höhe, packt seine Dame dann um die Taille und wirbelt sie durch die Luft. Als wir schließlich keuchend und lachend wieder zum Stehen kamen, holte Robin mir ein Glas Kräuterwein und fragte mich, wie meine nähere Zukunft aussähe. »Das wüsste ich auch gern, Robin«, antwortete ich in aller Offenheit, als wir den ersten Schluck des köstlichen Kräuterweins tranken. »Ich bin zwar die Tochter des Königs, doch ich glaube, man hat mich ganz vergessen.« »Ich nicht!«, widersprach er heftig und ergriff meine Hand. »Ich werde Euch nie vergessen, Elisabeth!« Die Leidenschaft, mit der er dieses Versprechen äußerte, überraschte mich, denn ich hatte ihn im Grunde immer als eine Art Bruder gesehen. Doch nun ließen mich sowohl sein Ton als auch die Worte selbst stutzen. »Ich Euch auch nicht, Robin«, sagte ich etwas verlegen. Ich freute mich aufrichtig, meinen alten Freund wiederzusehen und mit ihm zu plaudern. Doch schon nach
kurzer Zeit tauchte Tom Seymour auf und bat mich um den nächsten Tanz, eine gesetzte, würdevolle Pavane. Beim Tanzen mit Robin Dudley war ich heiter und ausgelassen gewesen, doch als ich nun an Tom Seymours Arm über die Tanzfläche schritt, bekam ich weiche Knie und eiskalte Hände. Ich bemühte mich, meine Verlegenheit zu verbergen, und wünschte mir gleichzeitig, dieser Tanz würde ewig dauern. Meine Verwirrung wurde noch größer, als ich merkte, wie sehr ich mich zu diesem Mann hingezogen fühlte. Es war ein bislang unbekanntes Gefühl, und ich spürte, dass es auf Gegenseitigkeit beruhte. Andererseits war mir bewusst, dass diese Gefühle sich nicht schickten oder vielmehr sogar gefährlich waren. Als ich später wieder nach Robin Ausschau hielt, war er verschwunden. Kurz darauf tauchte Kat auf und ließ mich wissen, dass es an der Zeit war, mich zurückzuziehen. »König Edward ist längst in seinen Gemächern«, sagte sie stirnrunzelnd. »Auch Ihr solltet seinem Beispiel folgen, Madam.« Dass ich in dieser Nacht erst kurz vor dem Morgengrauen einschlafen konnte, schob ich auf das Feuerwerk und den Kanonendonner. Doch in Wirklichkeit waren es zwei Gesichter – das eines gut aussehenden Mannes und das eines hübschen Jünglings –, die mich so lange nicht einschlafen ließen.
KAPITEL III DER LORD ADMIRAL
Am Tag nach Edwards Krönung überraschte mich die Königinwitwe Katharina mit der Einladung, fortan bei ihr im Chelsea-Palast in London zu leben. »Ich würde mich über deine Gesellschaft freuen, Elisabeth«, sagte sie. »Und es wäre mir ein Vergnügen, auch weiterhin deine Erziehung zu überwachen. Was sagst du dazu? Bist du einverstanden?« »O ja, gern, Lady Katharina!«, rief ich aus. Ich mochte meine Stiefmutter sehr gern. Verglichen mit meinem ruhigen Landsitz Hatfield war London eine laute, schmutzige Stadt. In Hatfield hört man nur das Geblöke der Schafherden auf den nahen Weiden. Doch dafür hatte London andere Vorzüge. Bei den Vorbereitungen für meinen Umzug wuselte Kat in Hatfield geschäftig von Kammer zu Kammer, um den Dienstmädchen alle nötigen Anweisungen zu geben. Hin und wieder blieb sie stehen, um zu verschnaufen, und lächelte mich zufrieden an. »London, London!«, trällerte sie entzückt. »Was für ein Leben Ihr fortan haben werdet, Madam!« Die Zofen packten meine Gewänder und Unterkleider, meine Petticoats, Kittel, Schuhe, Stiefel und Strümpfe – die inzwischen allesamt zu kurz, zu eng, zu abgetragen oder abgewetzt waren – in Truhen und Kisten. Skeptisch blickte Kat zuerst auf das blaue Samtkleid in ihren Händen, dann auf mich. »Ihr braucht dringend ein neues Gewand, oder auch zwei oder drei. Seit das hier für Euch geschneidert wurde, seid Ihr um mindestens eine Handspanne gewachsen. Ich muss ein Wörtchen mit Mr Parry reden…« Thomas Parry, ein
aufgeblasener, kleiner Waliser, war mein Haushofmeister, der auch für die Verwaltung des Gelds zuständig war, das mein Vater bisher zum Unterhalt meines Haushalts geschickt hatte. Auch seine Schwester, Blanche Parry, eine offene, praktisch veranlagte Frau, stand in meinen Diensten. Blanche und Kat hatten schon immer gejammert, dass nie das nötige Geld da war, das der jüngeren Tochter des Königs ein standesgemäßes Leben erlaubt hätte, während es Heinrichs ältester Tochter Maria wesentlich besser erging. Ob sich daran etwas ändern würde, nachdem nun mein Bruder auf dem Thron saß? An einem winterlichen Tag Anfang März, als der Himmel voller Schneewolken hing, machte ich mich mit Kat und einem kleinen Gefolge von Bediensteten erneut auf den Weg nach London. Die Hufe der Pferde versanken immer wieder im dicken Matsch, was unser Tempo beträchtlich verlangsamte. »Weiß meine Schwester, dass ich umziehe?«, fragte ich. »Oh, das weiß ich nicht, Elisabeth«, antwortete Kat. »Habt Ihr es ihr nicht geschrieben?« Tatsächlich hatte ich in den letzten Wochen immer wieder daran gedacht, Maria meinen baldigen Ortswechsel mitzuteilen, doch in der ganzen Aufregung hatte ich es dann doch versäumt. Aber andererseits, tröstete ich mich, hatte auch Maria sich nicht die Mühe gemacht, mir zu schreiben. Später, nahm ich mir vor. Sobald ich mich häuslich eingerichtet habe, werde ich ihr schreiben. Doch dann vergaß ich meinen Vorsatz wieder.
Im wunderschönen Chelsea-Palast wurde ich so warm und herzlich empfangen, wie ich es mir erträumt hatte. Königin Katharina wartete nicht darauf, dass ich höflich anfragte, wann sie mich zu empfangen wünsche. Gleich bei unserer Ankunft kam sie auf den verschneiten Hof geeilt, um mich zu begrüßen.
»Wenn du wüsstest, wie sehr ich mich darüber freue, dass du nun bei mir wohnst!«, rief sie, ehe sie mich stürmisch umarmte. Sie führte Kat und mich durch elegante Säle mit Marmorböden und Eiche getäfelten Wänden in unseren eigenen Wohntrakt, eine geräumige Zimmerflucht mit Fenstern, die auf die Themse hinausgingen. Nachdem sie uns eingeladen hatte, mit ihr zu speisen, sobald wir uns von der beschwerlichen Reise erholt haben würden, ließ die Königin uns wieder allein. Während meine Bediensteten meine Truhen und Kisten herbeischleppten, untersuchte Kat mit großer Begeisterung alles, von den Kerzen in den Wandhaltern (»Oh, Bienenwachs bester Qualität«, meinte sie zufrieden) bis zum Himmelbett mit seinem Baldachin und den Vorhängen aus dickem, blauem Damast. »Schaut nur!«, flüsterte Kat und bohrte einen Finger in die hohe Unterlage mit dem ebenfalls blauen Überwurf. »Drei Matratzen, alle randvoll mit Wolle ausgestopft.« Mein Interesse galt jedoch mehr dem kleinen Sekretär mit den zierlichen Intarsien und den beiden mit Leder bezogenen Holzstühlen. Ich entdeckte auch etliche Federkiele, ein Messerchen, um sie anzuspitzen, und ein kleines Tintenfass. Im Kamin prasselte ein wärmendes Feuer. Ich hatte das sichere Gefühl, dass ich mich hier wohl fühlen würde. Nachdem wir uns Hände und Gesicht gewaschen und uns etwas ausgeruht hatten, tauschten wir unsere schmutzigen Gewänder gegen frische aus und machten uns auf den Weg zur Galerie. Erlesene Wandteppiche schmückten die Wände. An einem Ehrenplatz hing ein Porträt meines Vaters. Daneben ein kleineres Porträt meines Großvaters, König Heinrich dem Siebten. Ich blickte den Porträts in die Augen und versuchte mir vorzustellen, was den beiden großen Königen wohl durch den Kopf gegangen war, als sie dem Künstler Modell gestanden hatten. Dann tauchte ein livrierter Lakai auf, in die
Tudor-Farben Grün und Weiß gekleidet, und verkündete, dass die Königinwitwe uns erwartete. Der Lakai schob eine schwere Tür auf. Ich betrat das Privatgemach der Königin, innerlich darauf vorbereitet, vor Katharina einen Knicks zu machen. Doch noch ehe ich dazu gekommen wäre, fand ich mich unversehens in den Armen von Tom Seymour wieder. Ich hatte Mühe, einen Aufschrei zu unterdrücken. »Herzlich willkommen, liebste Elisabeth!«, rief er mit lauter Stimme und wirbelte mich durch die Luft, ehe ich mich auf zugegebenermaßen wackligen Beinen wiederfand. Mein ganzes Leben lang hatte ich königlichen Anstandsunterricht erhalten, weshalb ich sein Benehmen höchst ungebührlich fand. Doch ich gestehe, dass mich seine Begrüßung zugleich auch ziemlich nervös machte. Etwas ängstlich blickte ich von dem gut aussehenden, übermütigen Mann auf das lieblich lächelnde Gesicht meiner Stiefmutter. Königin Katharina musste meine Verwirrung bemerkt haben, denn sie beeilte sich, mir den Heißsporn offiziell vorzustellen. »Thomas Seymour, Baron von Sudeley.« Was tut Ihr denn hier?, fragte ich mich insgeheim, machte dann aber rasch einen Knicks und murmelte leise: »Mylord.« Der Baron machte eine tiefe Verbeugung. »Lady Elisabeth«, sagte er nun, ohne eine Miene zu verziehen und ziemlich formell. Kaum zu glauben, dass er mich eben noch ausgelassen umarmt hatte. Die Königin, noch immer mit ihrem wohlwollenden Lächeln, befahl ihrem Diener, Kräuterwein aufzutragen. Da Fastenzeit war, gab es kein Fleisch, sondern nur mehrere Fischgerichte und feines, weißes Brot. Während des Essens beschrieb der Baron mir seine Burg Sudeley, drei Tagesreisen von hier entfernt, im Nordwesten von Gloucestershire.
»Euer Bruder, der König, war so großzügig, mir sowohl die Burg als auch den Adelstitel zu schenken«, erklärte Tom. Auf Drängen der Königinwitwe erzählte er danach noch etliche wilde Abenteuergeschichten, die ich jedoch nur zur Hälfte glaubte. Und er machte Witze, die ich nicht so recht verstand. Der Abend verging höchst vergnüglich, und irgendwann sagte Katharina, wir dürften uns nun zurückziehen. Der livrierte Diener erschien und begleitete Kat und mich zu meinen Gemächern zurück. Das Feuer im Kamin war am Erlöschen, und sobald meine Zofen mir das Gewand und die diversen Unterkleider ausgezogen hatten, zog ich mich mit Kat in unser Bett zurück, welches sich tatsächlich als so bequem erwies, wie es aussah. »Was haltet Ihr vom Baron von Sudeley?«, murmelte Kat, als wir Seite an Seite im Dunkeln lagen. »Hm, ich finde ihn…« Ich zögerte und musste an seine stürmische Begrüßung zurückdenken. »… dreist.« »Ich glaube, dass der Baron Euch gern heiraten würde, wenn Ihr schon alt genug wärt«, sagte Kat unverblümt und in einem Ton, als würde sie mir mitteilen, dass Katzen gerne Rahm schlürfen. »Aber bis dahin dauert es ja nicht mehr lange.« »Er mich heiraten?« Ich schnappte nach Luft. »Aber ich dachte, Katharina liebt ihn! Hat der Baron nicht vor, sie zu heiraten, sobald die offizielle Trauerzeit vorüber ist?« »Das hofft Katharina natürlich. Doch ich glaube, dass Tom Seymour sein Herz an Euch verloren hat.« »Aber, Kat!«, widersprach ich, aufgeregt und erschrocken zugleich. »Das geht doch nicht! Und was soll ich dann machen?« »Tut einfach gar nichts, kleine Elisabeth«, entgegnete Kat auf ihre gelassene Art, die mich manchmal so wütend machte. »Wartet einfach ab!« Warte einfach ab!, sagte ich mir ein ums andere Mal, als ich noch lange wach lag und in die Dunkelheit
starrte, während mir ruhige, gleichmäßige Atemzüge verrieten, dass meine Erzieherin längst tief und fest schlief. War nicht mein ganzes Leben ein einziges Warten? Aber mir blieb wirklich nichts anderes übrig – selbst wenn ich gewusst hätte, was ich wirklich wollte.
Nicht lange, nachdem ich in Katharinas Palast umgezogen war, erfuhr ich, dass auch Toms Bruder, Edward Seymour, vom König in den Adelsstand erhoben worden war. Er war nun Herzog von Somerset. Außerdem war er zum Lordprotektor von König Edward ernannt worden – obwohl ich eher vermutete, dass er sich selbst dazu ernannt hatte. »Das bedeutet, dass Edward Seymour anstelle des Königs regieren wird, bis dieser mündig ist«, erklärte mir Kat. »Die Aufgabe des Lordprotektors ist es, den jungen König zu beraten und zu unterstützen, aber man kann sich gut vorstellen, wer in den nächsten neun Jahren in England das Sagen hat.« Das überraschte mich nicht. Kaum hatte mein Vater seinen letzten Atemzug gemacht, als auch schon gemunkelt wurde, dass Edward Seymour plane, die Zügel der Macht an sich zu reißen. Und es gab noch eine Neuigkeit: Tom Seymour hatte noch einen zweiten neuen Titel erhalten. Er war zum neuen Lordadmiral ernannt worden. Das erfuhr ich während einer der vielen Mahlzeiten, die ich in den folgenden Wochen in Gesellschaft von Königin Katharina einnahm. Die meiste Zeit hatte der neue Lordadmiral keine Marine und keine Schiffe zum Befehligen; er hatte nur uns. Inzwischen war ich innerlich auf seine stürmischen Begrüßungen vorbereitet, wenn er wieder einmal unerwartet hinter einem Wandteppich oder einem Tisch hervorsprang, mich in die Arme riss, ein paar Mal
herumschwang und dabei ausrief: »Wie schön, Euch zu sehen, meine liebe Lady Elisabeth!« Ich gestehe, dass ich auf diese unkonventionellen Begrüßungen nicht nur vorbereitet war – ich freute mich geradezu darauf. Katharina schaute sich dieses kleine Ritual immer mit einem nachsichtigen Schmunzeln an. Wenn der Lordadmiral aus dienstlichen Gründen außer Haus war, was hin und wieder vorkam, war ich richtig enttäuscht. Doch natürlich versuchte ich, es mir nicht anmerken zu lassen. Ich wollte nicht, dass meine liebevolle Stiefmutter merkte, wie sehr ich diese seltenen, wertvollen, spielerischen Momente in Toms Armen genoss. Von den Blicken, die sie ihm immer wieder zuwarf, wusste ich, wie sehr sie in Tom verliebt war. Ob seine Gefühle für sie ebenso tief waren, hätte ich allerdings nicht zu sagen vermocht. Damals war ich, wie schon gesagt, dreizehn Jahre alt und hatte begonnen, über das Wesen der Liebe nachzudenken. Der Gedanke an eine Heirat reizte mich nicht besonders, obwohl mir – wie allen Frauen – dieses Schicksal eines Tages sicher blühen würde. Doch bei einer Heirat ging es in erster Linie darum, sein Vermögen oder seine Macht zu vergrößern, und die Liebe spielte keine sehr große Rolle. Ich musste nur an die sechs Ehen meines Vaters denken, um schon bei dem Gedanken an eine Heirat zu erschauern. Königin Katharina war auch schon zweimal verheiratet gewesen, mit Männern, die wesentlich älter waren als sie, ehe sie meinen Vater heiratete, der ebenfalls um einiges älter war als sie. Falls ich jemals heirate, nahm ich mir vor, dann nur einen Mann wie Tom Seymour: gut aussehend, charmant und temperamentvoll. Und in dem, wie Kat es einmal ausdrückte, »ein kleiner Teufel steckt«. Aus ihrem Mund hatte es so geklungen, als sei dies etwas Gutes. Jedenfalls ertappte ich mich immer wieder dabei, dass ich Tagträumen nachhing und
mir vorstellte, wie es wohl wäre, die Gemahlin des Lordadmirals zu sein. Eines Morgens im Mai ließ Königin Katharina mich zu sich rufen. Ich sollte ausdrücklich ohne Begleitung kommen. Als ich ihre Gemächer betrat, schickte sie ihre Hofdamen hinaus und bat mich, mich zu ihr zu setzen. Das tat ich auch, während ich mich noch über diese ungewöhnliche Einladung wunderte. »Ich möchte dir ein Geheimnis verraten, Elisabeth, nur dir allein. Und ich muss dich bitten, es vorläufig für dich zu behalten, obwohl ganz England es zu gegebener Zeit erfahren wird.« »Ich schwöre, dass ich es niemandem erzählen werde«, sagte ich gespannt. »Der Lordadmiral und ich haben uns vermählt«, begann sie und errötete bis zu den Haarwurzeln. »Tom – ich meine, der Baron von Sudeley – wird fortan nicht nur ein häufiger Gast in meinem Hause sein. Er wird hier bei uns leben.« Mir schwirrte der Kopf bei dieser überraschenden Neuigkeit. Ich schaffte es zwar, ihr meine Glückwünsche auszusprechen, doch ich gestehe, dass ich einen Stich von Eifersucht verspürte. Würden die stürmischen Begrüßungen und deftigen Küsse auf meine Wangen nun ein Ende haben, da Tom Seymour der Gemahl meiner Stiefmutter war? Wie hatte ich nur so dumm sein können, davon zu träumen, irgendwann seine Ehefrau zu sein, obwohl Kat diese meine kindliche Phantasie immer wieder genährt hatte? Ich hielt das Versprechen, das ich der Königin gegeben hatte, und schwieg selbst Kat gegenüber, doch irgendwann führte die häufige Anwesenheit des Barons auch zu den ungewöhnlichsten Tages- und Nachtzeiten zu großem Klatsch innerhalb der Palastmauern. Und wenig später wurde die Eheschließung offiziell bekannt gegeben.
Kat Ashley konnte ihr Entsetzen darüber nicht verbergen. »Dafür war es noch viel zu früh«, erklärte sie und runzelte missbilligend die Stirn. »Die Königinwitwe hätte zuerst das offizielle Trauerjahr abwarten müssen. Dabei ist König Heinrich erst seit drei Monaten tot!« Ich verkniff mir die Bemerkung, dass ich diese Neuigkeit schon früher von Katharina persönlich erfahren hatte, und erinnerte Kat nur daran, dass sie selbst dieses Ereignis vorhergesagt hatte, ebenso wie die Tatsache, dass es viel zu früh eintreten würde. »Seid nicht so keck, Miss«, sagte Kat tadelnd, und ich beschloss, lieber nichts mehr dazu zu sagen.
Es gab noch eine weitere Veränderung, die mehr nach meinem Geschmack war. Da Tom Seymour nun offiziell zum Haushalt von Chelsea gehörte, brachte er sein Mündel mit, Lady Jane Grey, die zugleich meine Cousine war – ihre Großmutter Margaret war die Schwester meines Vaters. Früher einmal waren Jane, mein Bruder und ich – und zeitweilig auch Robin Dudley – gemeinsam unterrichtet worden. Jane war inzwischen neun, nur wenige Wochen älter als Edward. Nach Absprache mit ihren Eltern hatte der Lordadmiral die Vormundschaft für sie übernommen. Jane Grey nahm fortan an meinem Unterricht bei William Grindal teil. Trotz des großen Altersunterschieds von vier Jahren stellte ich fest, dass Jane es wissensmäßig durchaus mit mir aufnehmen konnte. Ihr Latein war ebenso gut wie meines, und sie konnte auch schon Griechisch und Hebräisch lesen – zwei Sprachen, für die ich kein großes Interesse aufbringen konnte. Jane war eine hervorragende Schülerin, und ich genoss es, mich mit ihr zu messen. Doch das war noch nicht alles. Als ich einmal mit Kat durch die Gärten rund um den Chelsea-Palast spazierte, sagte sie
plötzlich: »Ich glaube, dass der Lordadmiral beabsichtigt, sein Mündel mit dem König zu verheiraten.« Die zierliche Jane mit ihren großen, ernst dreinblickenden Augen, den rosa Lippen und ihrer frühreifen Art schien wirklich gut zu meinem Bruder zu passen. Doch es gab auch Gerüchte, dass der Lordprotektor eine andere unserer Cousinen, die erst fünfjährige Maria Stuart, Königin von Schottland, als Gemahlin für meinen Bruder ausgewählt hatte. Das war in meinen Augen eine höchst interessante Rivalität. Nicht zwischen den beiden Mädchen, die in einer solchen Angelegenheit natürlich gar nicht erst befragt wurden, sondern zwischen den beiden SeymourBrüdern. Sowohl Tom als auch Edward waren bestrebt, jeweils ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Insgeheim hatte ich schon immer den Verdacht gehegt, dass es Toms größter Wunsch war, das Amt seines Bruders zu übernehmen und Edwards Lordprotektor zu werden. Meine Stiefmutter war voll und ganz mit ihrem neuen Eheglück beschäftigt. Außer meiner Erzieherin Kat war Jane meine einzige Freundin. Sie hatte nicht nur einen messerscharfen Verstand, sondern auch ein freundliches Wesen, und so verbrachten wir viele schöne, unterhaltsame Stunden miteinander. Ich war zwar vier Jahre älter als sie, doch es gab nur wenig, was ich Jane beibringen konnte – vom Sticken einmal abgesehen. Allerdings fand sie es wesentlich spannender, griechische Texte zu übersetzen, als Seidenstoffe mit dünnen Goldfäden zu besticken. »Ach, Elisabeth«, seufzte sie bisweilen. »Deine Stiche sind umso vieles sauberer als meine es jemals sein werden!« Und so weiter… Wäre sie nicht meine einzige Freundin gewesen, mit der ich mich unterhalten und mit der zusammen ich im Park spazieren gehen oder ausreiten konnte, wäre sie mir vermutlich etwas lästig gewesen. Denn sie war fast zu perfekt!
Als wir wieder einmal über unseren Stickarbeiten saßen – ich arbeitete gerade an einem Buchumschlag aus Samt, den ich Königin Katharina schenken wollte: Es waren ihre Initialen, verschlungen mit denen des Lordadmirals –, hob Jane auf einmal den Kopf und sagte leise: »Du kannst dir gar nicht vorstellen, Elisabeth, wie froh ich bin, hier zu sein.« »Oh, ich freue mich auch darüber«, antwortete ich etwas verwundert. Wieso sollte ich mir das nicht vorstellen können? »Eigentlich sollte ich nicht darüber reden…«, fuhr Jane schüchtern fort. »Ach was, liebe Cousine. Du kannst mir alles sagen«, versicherte ich ihr. »Weißt du, meine Eltern sind so streng«, vertraute sie mir mit Tränen in den Augen an. »Egal ob ich etwas sage oder schweige, sitze oder stehe, esse, trinke, fröhlich oder traurig bin, ob ich nähe oder spiele, tanze oder sonst etwas tue – ich muss immer perfekt sein. So perfekt wie der liebe Gott, als er die Welt erschuf! Wenn ich ihre Erwartungen einmal nicht ganz erfülle, schimpft meine Mutter mich aus und zwickt mich, und mein Vater schlägt mich. Manchmal fühlte ich mich wie in der Hölle, bis der Lordadmiral kam und meine Vormundschaft übernahm. Er hat meinen Eltern versprochen, mir den Weg in eine glanzvolle Zukunft zu ebnen.« Jane war nun wirklich kein weinerlicher Mensch, der ständig wie viele andere jammerte. Als sie mir schilderte, wie schlecht ihre Eltern sie behandelt hatten, rollten nur zwei Tränen über ihre blassen Wangen. Sie wischte sie ab und widmete sich dann wieder wortlos ihrer Stickarbeit, als sei nichts vorgefallen. »Vielleicht ist es besser, Waise zu sein«, sagte ich nach einer Weile. »Wie ich. Doch zurzeit können wir beide nicht viel an unserem Leben ändern. Wir müssen warten, bis andere beschließen, uns zu helfen.« Doch eines Tages, dachte ich trotzig, wird zumindest für mich alles anders sein. Der Tag
wird kommen, an dem ich eigene Entscheidungen treffen werde! Diesen Gedanken sprach ich natürlich nicht laut aus, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass Jane meine Entschlossenheit verstehen würde. »Was für ein Glück wir beide haben, dass uns der Lordadmiral gewogen ist«, sagte Jane. »O ja, was für ein Glück!«, stimmte ich ihr zu. Doch insgeheim fragte ich mich, ob sie wohl ahnte, dass Tom sie nur benutzte, um seinen persönlichen Ehrgeiz zu stillen. Ich gestehe, dass ich mir hin und wieder wünschte, Jane los zu sein. Denn dann würde mir vielleicht mehr von Tom Seymours Zuneigung und Aufmerksamkeit zuteil werden. Aber ich wusste natürlich, dass solche Gedanken sich nicht schickten. Denn inzwischen war Tom ein verheirateter Mann, und zudem missbrauchte ich damit das Vertrauen meiner Stiefmutter. Und doch ertappte ich mich immer wieder bei sehnsüchtigem Verlangen. Ich münzte jeden von Toms Scherzen, jeden seiner Blicke in etwas um, das mir bewies, dass er meine jugendliche Leidenschaft erwiderte. Ich war mir sicher, dass Lady Jane nicht bemerkte, wie verlangend ich ihn anblickte, wenn er wieder einmal unerwartet in unser Schulzimmer gestürmt kam – sehr zum Missfallen von Professor Grindal natürlich – und uns mit seiner donnernden Stimme bat, ihm etwas vorzulesen. Oder dass ich mich, wenn wir zusammen zu Abend speisten, möglichst unauffällig an seine Seite setzte. Kat entging es allerdings nicht. »Es ist eine Schande, Madam!«, tadelte sie mich, wenn ich ihn ihrer Meinung nach wieder einmal zu auffällig angeschmachtet hatte. »Das sieht selbst ein Blinder, wie Ihr Euch ihm bei jeder nur denkbaren Gelegenheit an den Hals werft. Dabei ist er der rechtmäßig angetraute Gatte Eurer Wohltäterin!«
Doch ich konnte mich einfach nicht beherrschen. Und im Übrigen tat auch der Lordadmiral nicht das Geringste, um mich von meiner jugendlichen Schwärmerei zu heilen. Als es Sommer wurde, zog der ganze Haushalt vom ChelseaPalast in die Burg im ländlichen Gloucestershire. Der Baron von Sudeley hatte sie eigens für seine neue Gemahlin renovieren lassen, und auch dort wucherten meine liebeskranken Phantasien weiter wie die Blumen des Sommers. Falls Königin Katharina etwas bemerkte, so behielt sie es jedenfalls für sich. Vermutlich nahm sie an, dass ich irgendwann von allein wieder zur Vernunft kommen würde. Wie oft sollte ich mir in den kommenden Monaten noch wünschen, sie hätte damit Recht behalten!
KAPITEL IV EINE VERSCHWÖRUNG?
Während der ersten Wochen und Monate nach dem Tod meines Vaters und der Thronbesteigung meines Bruders hörte ich nur wenig von meiner Schwester Maria. Im September, anlässlich meines vierzehnten Geburtstags, schickte sie mir ein Paar hübsche, mit Perlen bestickte Lederhandschuhe. Ich sandte ihr ein kurzes Dankesschreiben, und das blieb vorläufig unser einziger Kontakt. Ich sah sie erst an Weihnachten wieder, als König Edward uns an seinen Hof lud. Maria erschien wie immer mit viel Prunk und Geschmeide, und sie sah auch wieder gesünder aus als bei der Beisetzung unseres Vaters. Wir begrüßten einander, wie es von Schwestern erwartet wurde, lächelten und tauschten ein paar höfliche Sätze aus. Doch das waren nur hohle Floskeln. In Wirklichkeit hatten Maria und ich uns nur wenig zu sagen; der Altersunterschied von siebzehn Jahren war einfach zu groß. Unter anderen Umständen – wenn Maria meine Mutter nicht so abgrundtief gehasst hätte – wäre sie vielleicht wie eine Mutter zu mir gewesen, so, wie sie sich Edward gegenüber verhielt. Ich war mir jedoch sicher, dass Maria sich ebenso wie ich über die Veränderungen wunderte, die mit unserem Bruder vorgegangen waren. Mit seinen zehn Jahren war Edward zwar noch immer ein schmächtiger kleiner Junge, weit davon entfernt, ein Mann zu sein. Und doch schien er fest entschlossen, seiner Rolle als Sohn unseres Vaters gerecht zu werden. Er benahm sich, als sei er längst in die Fußstapfen unseres Vaters getreten, die ihm meiner Meinung nach
allerdings noch um einiges zu groß waren! Wie immer lief ich auf ihn zu, um ihn in die Arme zu nehmen. Doch statt mich wie früher herzlich zu begrüßen, verschränkte Edward seine dürren Ärmchen vor der Brust, machte eine unwillige Kopfbewegung und blickte stirnrunzelnd auf seinen Onkel, den Lordprotektor. »Liebe Lady Elisabeth«, sagte Edward Seymour in dem arroganten Tonfall, den ich so sehr an ihm verabscheute, »Ihr müsst vor dem König fünf Kniefälle machen.« Fünf?! Selbst unser Vater, der von seinen Untertanen jeden nur denkbaren Respekt forderte, hatte nie mehr als drei Kniefälle verlangt! Doch ich hatte schon in jungen Jahren gelernt, niemals den Willen des Königs infrage zu stellen, und tat sofort, was von mir verlangt wurde. Erst danach war König Edward bereit, mich zu begrüßen, indem er mir feierlich seine rechte Hand reichte, damit ich den großen Rubinring an seinem Daumen küssen konnte. Das Benehmen meines Bruders kam mir lächerlich, ja, geradezu peinlich vor. Und ich dachte mir: Vielleicht braucht er das, um sich zu beweisen, dass er wirklich der König ist. Bei jedem der allabendlich stattfindenden Weihnachtsbankette saß mein Bruder am Kopf der langen Tafel und hatte sein kleines Hündchen auf dem Schoß. Über ihm war der Thronhimmel aufgehängt, ein kunstvoll bestickter Baldachin, der zum Ausdruck brachte, dass er – und er allein – der Herrscher war. Maria und ich wurden zu Stühlen am unteren Ende der Tafel geleitet, weit genug weg von Edward, um auf keinen Fall im Schutze des Thronhimmels zu sitzen. Ich fragte mich unwillkürlich, ob Maria sich genauso darüber ärgerte wie ich, vielleicht sogar gekränkt war, doch sie ließ sich nichts anmerken. Deshalb beschloss ich, die ungnädige Bemerkung, die mir auf der Zunge lag, hinunterzuschlucken.
Nur die wenigen Male, wenn Edward und ich während meines Besuchs allein waren, vergaß er sein pompöses Getue und nannte mich wieder »liebes Schwesterherz«, wie er mich früher oft zärtlich genannt hatte. Nur in solchen Momenten hatte ich das Gefühl, dass er wieder mein süßer, kleiner Bruder war. Doch sobald Edward Seymour oder einer der Räte den Raum betraten, verwandelte Edward sich prompt wieder in den herrschsüchtigen Tyrannen und erwartete von mir, umgehend in meine Rolle als gehorsame Untertanin zu schlüpfen. Nach den zwölf Tage währenden Weihnachtsfeierlichkeiten reisten Maria und ich ab und gingen fortan wieder getrennte Wege, ohne dass wir auch nur einmal unter vier Augen zusammen gewesen wären. Betrübt fragte ich mich, ob ich meinen kleinen Bruder wohl für immer an die Intrigen seiner Ratgeber verloren hatte.
Im Januar 1548 brach in London zum wiederholten Male die Pest aus, der auch mein Hauslehrer, William Grindal, zum Opfer fiel. Ich trauerte um ihn und bat meine Stiefmutter, statt seiner den berühmten Gelehrten Roger Ascham als meinen Privatlehrer einzustellen. Katharina hatte jedoch schon jemand anderen im Sinn, weshalb ich mich mit meinem Wunsch an den Lordadmiral wandte. Ich hatte das sichere Gefühl, ihn um den Finger wickeln zu können, und wusste, dass Katharina auf jeden Fall auf ihn hören würde. »Ah! Bekommt Ihr etwa immer, was Ihr haben möchtet, Lady Elisabeth?«, meinte Tom neckisch. »Wann immer es möglich ist, Mylord«, entgegnete ich mit einem koketten Lächeln. »Gut, dann sollt Ihr Euren Master Ascham bekommen!«, sagte er und tätschelte meinen Arm. Und so war es dann auch.
Ich wohnte nun schon seit einem Jahr unter dem Dach meiner Stiefmutter, als Katharina mich eines Tages in ihre Gemächer bestellte. Tom war zu jener Zeit unterwegs. Ich erschrak, als ich sie bleich und erschöpft auf ihrem Diwan liegen sah. »Geht es Euch nicht gut, Madam?«, fragte ich besorgt. »Keine Sorge, Elisabeth«, erwiderte sie mit einem matten Lächeln. »Ich erwarte ein Kind.« Zärtlich umfasste sie meine Hände. Diese Enthüllung traf mich schwer. Natürlich freute ich mich für sie – während ihrer drei Ehen hatte sie keine Kinder bekommen, obwohl sie ihr jedes Mal Stiefkinder eingebracht hatten. Und nun endlich war sie schwanger! Allerdings war Katharina keine junge Frau mehr. Die Schwangerschaft würde sicher nicht leicht für sie werden. Ich sagte das, was man in einer solchen Situation zu sagen pflegt, und wünschte ihr alles Gute, obwohl meine Sehnsucht nach dem Mann, der nunmehr ihr Gemahl und bald auch der Vater ihres Kindes war, noch nicht erloschen war. In der Folgezeit ließ ich mir immer wieder neue Ausreden einfallen, um in seiner Nähe zu sein. Ich bestand darauf, dass er sich mein neu erlerntes Stück auf dem Spinett anhörte oder meine neueste Stickarbeit bewunderte. Und ich merkte, dass mein Lachen immer etwas zu schrill klang, wenn Tom in der Nähe war. Es war ausgeschlossen, dass Katharina mein Verhalten nicht bemerkt hätte. Kat beobachtete mich stirnrunzelnd. Etliche Male zog sogar die kleine Jane Grey die Augenbrauen hoch, als spürte sie, dass irgendetwas nicht stimmte. Und gelegentlich befürchtete ich, dass jemand an meine Schwester Maria schreiben könnte, die mich sicher zurechtweisen oder – schlimmer noch – sich an unseren Bruder, den König, wenden würde. Edward wurde immer prüder. Was würde er sagen, wenn er erführe, dass mir das Herz in Anwesenheit des
Lordadmirals bis zum Hals klopfte und ich feuchte Hände bekam? Oder was würde er tun? Bestimmt würde er mich umgehend von Tom und der Königinwitwe wegschicken. Ich bekam eine Gänsehaut, wenn ich mir vorstellte, was für Probleme ich bekommen könnte. Aber dennoch konnte ich nichts gegen meine Gefühle tun. Sie waren stärker als ich. Und eines Tages tat ich etwas unglaublich Dummes, das alles verändern sollte. An diesem Nachmittag hatten Lady Jane und ich wieder einmal stundenlang über unseren Büchern gesessen. Professor Ascham war ein strenger Lehrer, der uns das Äußerste abverlangte. Ich hatte unser Schulzimmer bisher nie als düster empfunden, doch auf einmal hatte ich das Gefühl, es keine Sekunde länger darin aushalten zu können. Es war gegen Ende des Frühlings, und draußen war es angenehm warm. Ich war heilfroh, als wir endlich die Bücher zuschlagen, die Feder zur Seite legen und unsere Blätter ablöschen durften. Während Jane noch blieb, um mit unserem Hauslehrer ein griechisches Grammatikproblem zu besprechen, stürzte ich erleichtert nach draußen. Ich brauchte dringend frische Luft. Auf dem Weg zum Treppenhaus stieß ich in meiner Eile mit dem Lordadmiral zusammen. Geistesgegenwärtig fing Tom mich auf seine stürmische Art mit beiden Armen auf. Einen Moment lang blickten wir uns nur stumm in die Augen. Und auf einmal pressten wir unsere Lippen aufeinander. Weder er noch ich taten etwas, um uns aus dieser Umarmung zu lösen. Erst ein plötzlicher Schrei ließ uns auseinander fahren. »Mylord!«, keuchte Katharina. »Elisabeth!« Meine Stiefmutter stand oben auf dem Treppenabsatz und starrte ungläubig auf uns herab. Ihr enges Gewand wölbte sich bereits über ihrem Bäuchlein, und sie sah alt und erschöpft aus. Tom ließ mich los, als habe er sich verbrannt, und rannte, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf. Er protestierte,
entschuldigte sich und tat das Ganze als kleinen Scherz ab. Ich hingegen brachte es nicht über mich, Katharina in die Augen zu blicken. Mit zitternden Knien und einem Gesicht, das vor Scham und Verlegenheit glühte, flüchtete ich mich in mein Zimmer. Kat war am Lesen, als ich hereinstürzte und mich wortlos auf mein Bett warf. »Mylady!«, rief Kat bestürzt und ließ ihr Buch fallen. »Was ist los? Seid Ihr krank?« »Bauchschmerzen«, wimmerte ich in mein Kissen. »Das Übliche…« »Ich werde Euch einen Kräutertrank bringen«, sagte sie. Gehorsam trank ich das bittere Gebräu, das vielleicht gegen Monatsbeschwerden helfen mochte, aber nicht geeignet war, meine Seelenpein zu lindern. An diesem Abend ließ ich Katharina ausrichten, dass ich mich nicht wohl fühle und nicht zum gemeinsamen Dinner kommen könne. Wenig später stand eine ihrer Dienerinnen mit einem Tablett vor meiner Tür. »Das lässt Euch die Königinwitwe bringen«, sagte sie und stellte das Tablett auf meinen Tisch. Doch ich brachte keinen Bissen davon hinunter. Am nächsten Tag schickte Katharina mir ein kurzes Schreiben. Die Szene, die sie miterlebt hatte, erwähnte sie mit keiner Silbe. Sie teilte mir nur kurz mit, dass der Lordadmiral und sie in Bälde zur Burg Sudeley reisen würden, wo sie bis nach der Geburt ihres Kindes zu bleiben gedachten. Ich sollte den Sommer nicht wie letztes Jahr mit ihnen in Sudeley verbringen, sondern bei Sir Anthony Denny, einem Mitglied des Rats, und seiner Gemahlin Joan, auf ihrem Landsitz in Cheshunt. Ich kannte das Ehepaar gut, denn Lady Joan Denny war die Schwester meiner Erzieherin Kat. Ich hoffe, dass du mir schreiben wirst, dass du einen vergnüglichen Sommer verbringst, schrieb Katharina zum Schluss. Ich war der Königinwitwe zu ewigem Dank verpflichtet. Sie schickte mich nicht nur fort, um ihre Ehre zu retten, sondern
zugleich auch meinen guten Ruf. Und dieser wäre mit Sicherheit in Gefahr gewesen, wenn ich noch länger in Tom Seymours Nähe geblieben wäre. Noch immer beschämt über das Vorgefallene, betrat ich am Pfingstmontag das Gemach der Königin, um mich zu verabschieden. »Hoheit…«, stammelte ich, und alle weiteren Worte ertranken in einer Flut von Tränen. »Schon gut, Elisabeth«, sagte sie tröstend und wischte mir mit ihrem Taschentuch die Tränen ab. »Ich kann dich verstehen, wirklich. Und jetzt geh!« Sanft schob sie mich zur Tür hinaus. Katharina und ich tauschten im Laufe dieses Sommers mehrere Briefe aus. Ich führte ein zurückgezogenes Leben und widmete mich hauptsächlich meinen Studien. Ich war froh, etwas abgelenkt zu sein. Den größten Teil der Tage verbrachte ich mit Mr Ascham. Wir lasen das Neue Testament auf Griechisch, übersetzten die Werke von Cicero und Livius ins Englische und dann wieder zurück ins Lateinische. Ich vermisste Jane Grey, die mit Katharina und Tom nach Sudeley gereist war. Doch zum Glück hatte ich meine Kat noch, und ihre Schwester Joan war eine fröhliche Frau, die nie durchblicken ließ, dass sie den Grund für mein Exil kannte, obwohl Kat es ihr sicherlich erzählt hatte.
Anfang September erhielten wir die erfreuliche Nachricht, dass Katharina in Cheshunt eine gesunde Tochter zur Welt gebracht hatte, die Maria heißen würde. Doch nur wenige Tage später überbrachte ein weiterer Bote die Nachricht von Katharinas Tod. Zu meinem Schmerz über ihren Verlust kamen nun auch noch Gewissensbisse. Hatte ich durch mein schändliches Benehmen in irgendeiner Weise Schuld an ihrem Tod? Ich erfuhr, dass Jane Grey bei Katharinas Beisetzung den Zug der
Trauergäste angeführt hatte. Dieses Privileg hatte ich mit meinem rücksichtslosen Verhalten verspielt. Lady Jane war weitaus tugendhafter als ich und hatte diese Ehre wahrhaftig verdient. Ich war vor Kummer und Gram wie gelähmt. Ich weinte, schlief kaum noch und aß fast nichts. Königin Katharina war meine Fürsprecherin am Hof gewesen, meine Beschützerin. Was war nun, da sie tot war? Vielleicht würde Tom sich meiner annehmen, dachte ich in wilder Hoffnung. Wie naiv ich doch war! Kurz nach meinem fünfzehnten Geburtstag kehrte ich mit meinem Haushalt nach Hatfield zurück und wartete. »Wartet ab!«, flüsterte Kat mir eines Abends hinter den zugezogenen Bettvorhängen zu. »Tom Seymour wird Euch den Hof machen, sobald die vorgeschriebene Trauerzeit vorüber ist.« Es kam mir fast so vor, als könne Kat in mir lesen wie in einem Buch und kenne meine geheimsten Hoffnungen und Sehnsüchte. »Er hat sicher die Absicht, um Eure Hand anzuhalten. Er hat die ganze Dienerschaft seiner Frau behalten. Lady Jane wurde zu ihren Eltern zurückgeschickt. Warum sonst bräuchte er einen Haushalt mit zweihundert Bediensteten, wenn er nicht eine Prinzessin freien wollte?« »Das kann ich mir nicht vorstellen«, murmelte ich und gab nicht einmal Kat gegenüber zu, wie verzweifelt ich mir wünschte, sie möge Recht haben. »Ihr wollt doch sicher nicht wie Eure Schwester als alte Jungfer enden, oder?«, fuhr Kat eindringlich fort. Natürlich nicht. Doch wie hätte ich in diesem Augenblick auch ahnen können, wie sehr meine Welt sich bald verändern sollte? In diesem Jahr erhielt ich von meinem Bruder keine Einladung zu Weihnachten, und das bestürzte mich. Hatte er den wahren Grund für meinen Aufenthalt in Cheshunt erfahren? Hatte Tom ihm alles gebeichtet? Ich befürchtete, dass Edward mich durch diesen Bann für etwas bestrafen
wollte, und nahm mir mehrmals vor, ihm zu schreiben. Doch wenn ich mich dann an den Schreibtisch setzte, fielen mir nie die richtigen Worte ein, und all meine angefangenen Schreiben endeten als Papierschnipsel auf dem Fußboden. Eines Morgens im Januar 1549, als ich mich gerade anschickte, in die Kapelle zu gehen, hörte ich Kat einen empörten Schrei ausstoßen. Verwundert rannte ich die Treppe hinunter und auf den Hof. Dort sah ich Kat und Mr Parry, meinen Haushofmeister, umstellt von Soldaten in der Uniform des Königs. Die Soldaten hatten meine Bediensteten offensichtlich aus dem Haus gezerrt. Ich wollte auf Kat zueilen, doch Sir Robert Tyrwhitt, ein Mitglied des Rats, stellte sich mir in den Weg. »Lady Elisabeth!«, sagte er mit einer respektvollen Verbeugung. »Was habt Ihr mit ihnen vor?«, fragte ich empört. »Wir bringen sie in den Tower von London.« »Warum? Auf wessen Befehl hin?« »Zwecks Befragung. Im Auftrag von König Edward«, entgegnete Sir Robert ungerührt. Ich rannte den Soldaten nach und versuchte, mich Kat an den Hals zu werfen. Doch einer der Soldaten stieß mich unsanft zurück. Hilflos musste ich mit ansehen, wie die Gefangenen weggeführt wurden. Kat jammerte, und Mr Parry wiederholte ein ums andere Mal: »Ich bin unschuldig! Ich bin unschuldig!« Nachdem sie fort waren, wandte Sir Robert seine ganze Aufmerksamkeit mir zu, die ich nun allein und zitternd mitten auf dem Hof stand. Erst jetzt fiel mir auf, dass seine buschigen Augenbrauen ihm ein Furcht einflößendes Aussehen gaben. »Der Lordadmiral, Baron von Sudeley, ist verhaftet worden«, teilte er mir mit düsterer Stimme mit. »Und der Rat hat auch an Euch einige Fragen, Madam.« »Verhaftet? Aber warum?« Wie betäubt sank ich auf eine nahe Bank. Meine Gedanken überschlugen sich: Was hat er
getan? Warum soll ich befragt werden? Doch dann fasste ich mich wieder und erkundigte mich so gelassen wie möglich: »Ich bitte Euch, Sir Robert, sagt mir, wie es dazu gekommen ist!« Mit finsterer Stimme schilderte Sir Robert mir die Ereignisse, die zur Verhaftung von Tom Seymour geführt hatten. »Der Lordadmiral schlich sich mitten in der Nacht zum Schlafgemach des Königs, um ihn zu entführen. Kaltblütig erschoss er das Hündchen des Königs, als dieses zu bellen begann. Als die Wachen den Schuss hörten, eilten sie herbei und konnten den Übeltäter verhaften.« »Du meine Güte!«, rief ich. »Und was wird ihm sonst noch vorgeworfen?« »Verrat in mehreren Punkten«, ließ Sir Robert mich wissen. »Die schwerste Anklage ist sein Versuch, den König zu entführen. Doch wie es scheint, hatte der Baron auch geplant, Euch zu heiraten, Lady Elisabeth. Und zwar ohne die Einwilligung des Königs, des Rats oder des Lordprotektors einzuholen. Und das gilt als Hochverrat!« »Mich heiraten?« Ich fühlte mich einer Ohnmacht nahe. »Ich versichere Euch, an dieser Behauptung ist kein Wort wahr!« Sir Robert sprach weiter, als hätte er mich gar nicht gehört. »Eine Thronerbin ohne Einwilligung des Königs zu heiraten, gilt als Verrat und wird mit dem Tode bestraft. Mistress Ashley und Mister Parry sollen von den Plänen des Barons gewusst haben und waren angeblich bereit, ihn darin zu unterstützen.« Ich stand da wie vom Donner gerührt. Sir Robert begleitete mich in meine Gemächer, und noch ehe ich mich von meinem Schock erholt hatte, begann er auch schon mit seinem Verhör. »Haben Mr Parry und Mistress Ashley ein Komplott geschmiedet, um Euch mit dem Lordadmiral zu vermählen? Nein? Seid Ihr Euch da ganz sicher? Denkt sorgfältig nach! Es gab doch eine Verschwörung, nicht wahr?
Bitte, keine Lügen, Madam. Die Wahrheit wird über kurz oder lang ohnehin ans Tageslicht kommen.« Während er mich mit Adleraugen durchbohrte, wiederholte Sir Robert immer wieder, dass ich mehr wissen müsse, als ich vorgab. Und das war auch tatsächlich der Fall! Wie hätte ich all die nächtlichen Gespräche mit Kat vergessen können: Er will Euch also doch zur Frau haben. Doch das war noch lange keine Verschwörung, sondern es waren reine Spekulationen, die jeglicher Grundlage entbehrten. Mir war klar, dass ich keine Schwäche zeigen, nichts zugeben durfte, nicht einmal die harmlosesten Worte. Nötigenfalls musste ich lügen, und zwar geschickt! Alles hing davon ab, ob meine Antworten überzeugend klangen. Immer und immer wieder stritt ich alles ab, während ich vor Angst um das, was mit Kat und Mr Parry im Tower passierte, halb wahnsinnig wurde. Wer weiß, welche Geständnisse man ihnen unter Folter oder auch nur durch Androhung von Folter entlocken würde! Sir Robert eröffnete mir, dass er vorläufig in Hatfield bleiben würde. Und die Befragungen gingen weiter, Tag für Tag, Woche für Woche. Es gab kein Entrinnen für mich. Er kannte keine Gnade, stürzte sich auf mich, sobald ich mein Schlafgemach verließ, oder hämmerte gegen meine Tür, wenn ich seiner Meinung nach nicht rechtzeitig aufstand. Selbst nachts fand ich keine Ruhe, denn mir fehlte Kat, die mich normalerweise beruhigt und getröstet hätte. Ich war mit meinen Nerven am Ende. Ich war erst fünfzehn Jahre alt und hatte keinen einzigen Menschen an meiner Seite, der mir geholfen hätte. Anfangs brach ich des Öfteren in Tränen aus. Doch meine Tränen hatten nicht den gewünschten Erfolg, und Sir Robert wiederholte seine Frage einfach so lange, bis er schließlich eine Antwort erhielt. Oft hüllte ich mich in Schweigen, verweigerte jede Auskunft. Andere Male gab ich ihm
vernünftig klingende Antworten, doch auch diese schienen ihn nicht zufrieden zu stellen. Tyrwhitt glaubte mir kein Wort, das war offensichtlich, doch andererseits hatte er keine Gegenbeweise in der Hand. Ich selbst stellte mir natürlich auch viele Fragen: Hatte Tom wirklich vorgehabt, mich zu heiraten? Was hatte er vor Edwards Schlafgemach zu suchen gehabt? Hatte er wirklich geplant, den König zu entführen? Aus welchem Grund? Natürlich wagte ich nicht, auch nur eine dieser Fragen laut zu äußern, doch je länger ich darüber nachdachte, desto mehr war ich davon überzeugt, dass Toms Interesse an meiner Person allein seinem persönlichen Fortkommen gedient hatte. Das machte mich wütend. Für diesen Mann hatte ich meine freundliche, gütige Stiefmutter hintergangen, während er mich nur für seine finsteren Zwecke benutzt hatte. Nachdem ich wochenlang diese quälenden Befragungen hatte ertragen müssen, reiste Sir Roberts Frau an und teilte mir mit, dass sie fortan Kats Aufgabe als meine Erzieherin übernehmen würde. Ich kannte Lady Tyrwhitt bereits. Sie war eine der Stieftöchter aus einer von Königin Katharinas früheren Ehen, und ich wusste, dass sie engstirnig und leicht reizbar war. Ich weinte endlos über diese Veränderung. Vor Kummer konnte ich nicht mehr essen oder schlafen. Ich wollte Kat wiederhaben! Ich wollte nur Kat als Erzieherin haben und sonst niemanden! Um ganz ehrlich zu sein – Kat Ashley verloren zu haben, meine treue Gefährtin der letzten zwölf Jahre, war schmerzhafter für mich als der Verlust von Menschen, mit denen ich durch Blutsbande verbunden war. Kat war für mich Mutter und Vater zugleich gewesen. Sir Robert und seine mürrische Gattin ließen sich von meinen Tränen nicht erweichen. In meiner Verzweiflung schrieb ich an Edward Seymour, den Lordprotektor, versicherte ihm, dass ich in sämtlichen Anklagepunkten unschuldig wäre, ebenso wie
meine Erzieherin und der Haushofmeister, und bat ihn, Kat zu mir zurückkehren zu lassen. Doch der Lordprotektor teilte mir lediglich mit, dass ich die Verschwörung endlich gestehen müsse. Das verweigerte ich natürlich und schwor erneut, dass es niemals eine Verschwörung gegeben hatte. Lady Tyrwhitt blieb auch weiterhin an meiner Seite, die meiste Zeit mit einem missbilligenden Stirnrunzeln im Gesicht. Meine neue Erzieherin und ich versuchten, einander das Leben so schwer wie möglich zu machen. Ich behauptete zum Beispiel, dass ich nur schlafen könne, wenn die Bettvorhänge aufgezogen waren und die ganze Nacht über Kerzen brannten. Das stimmte zwar nicht, doch ich hatte gemerkt, dass sie das Licht störte. Sie hingegen erlaubte mir nicht, auszureiten oder mit meinen Hofdamen spazieren zu gehen, wenn nicht sie selbst oder Sir Robert uns begleiteten. Sie war eine nörglerische Wichtigtuerin mit einer weinerlichen Stimme. Es war mir ein Rätsel, wie Sir Robert es überhaupt mit ihr aushielt. Lady Tyrwhitt war es auch, die mir die schreckliche Nachricht überbrachte, als ich gerade über einer Stickarbeit saß. »Der Lordadmiral ist wegen Verrats zum Tode verurteilt worden«, verkündete sie mit unüberhörbarem Triumph in der Stimme. Sie hatte ihn nie leiden können. »Und falls Eure Freunde nicht endlich zur Besinnung kommen, droht ihnen dasselbe Schicksal.« Ich wusste, dass sie das nur sagte, um mir Angst einzujagen. Doch ich hütete mich, mir meine durchaus vorhandenen Ängste anmerken zu lassen, und stickte verbissen weiter. Es ging mir nicht um Tom Seymour. Sobald ich begriffen hatte, dass ich ihm im Grunde genommen nichts bedeutete, waren meine Gefühle für ihn erloschen. In letzter Zeit hatte es immer mehr Gerüchte gegeben, dass er Königin Katharina vergiftet hatte, was ich mir allerdings nicht vorstellen konnte. Wie es
meinem armen, kleinen Bruder wohl erging? Wie sehr musste er sich von seinem Onkel betrogen fühlen, an dem er einst so gehangen hatte? Meine größte Angst galt jedoch Mr Parry und Kat. Die beiden hatten nichts verbrochen. Bisweilen fragte ich mich auch, was wohl aus Katharinas kleiner Tochter geworden war, die der Obhut von Toms Mutter anvertraut worden war. War die Kleine überhaupt noch am Leben? Würde sie sich im Laufe ihrer Kindheit auch Schauergeschichten über die Hinrichtung ihres Vaters anhören müssen, so wie ich damals über meine Mutter? Ehe Tom Seymour am 20. Mai 1549 zur Enthauptung auf den Tower Hill geführt wurde, versicherte er dem Rat noch einmal, dass ich völlig unschuldig wäre. Allem Anschein nach glaubten sie ihm nun endlich, denn die Versuche, mir ein Geständnis zu entringen, wurden eingestellt. Ohne Erklärung oder Entschuldigung reisten die Tyrwhitts eines Tages von Hatfield ab, und wenige Tage später durften Mr Parry und meine geliebte Kat zu mir zurückkehren. Ich hatte Wachposten am Weg zum Palast aufgestellt, die mich über ihre Ankunft informieren sollten. Als ich die frohe Nachricht erhielt, ritt ich ihnen entgegen, und wir fielen uns erleichtert in die Arme. »Heute Abend wird gefeiert. Und morgen erzählt ihr mir dann, wie es euch ergangen ist.« Der Kampf um die Macht ging weiter. Als Nächster wurde Edward Seymour verhaftet und im Tower eingekerkert. Sein alter Rivale, John Dudley, Vater von Robert, meines Freunds aus Kindertagen, hatte ihm seinen Posten als Lordprotektor streitig gemacht. Ich mochte Roberts Vater nicht, denn er war kein Mann, der zu seinem Wort stand. In meinen Augen war John Dudley kein bisschen besser als Edward Seymour, möglicherweise sogar schlechter, doch nun war er als Lordprotektor von König Edward der zweitwichtigste Mann im Reich geworden.
In der Zwischenzeit hatte ich gelernt, wesentlich vorsichtiger zu sein als noch vor zwei Jahren, als mein Kopf von Tom Seymours Schmeicheleien benebelt war. Ich hatte früh lernen müssen, mir äußerst sorgfältig zu überlegen, was ich sagte, was ich tat und wem ich meine Sympathie schenkte. Zudem hatte ich auch gelernt, in gewissen Fällen sehr geschickt zu lügen, um mich zu schützen. Schon zu Lebzeiten meines Vaters war der Hof ein gefährlicher Ort voller Intrigen gewesen. Doch wenigstens hatte mein Vater, König Heinrich, die Zügel der Macht fest in der Hand gehalten. Mit dem jungen König Edward verhielt es sich anders. Seine Macht war bloßer Schein: Seine Untertanen zu zwingen, fünf Kniefälle zu machen, war reine Fassade. Was ich nun noch lernen musste, war, zu warten. Aber ich wusste, dass ich die nötige Kraft dazu hatte.
KAPITEL V AM HOF VON KÖNIG EDWARD
Der Bann, der auf mir lag, endete an Weihnachten im Jahr 1549, als Edward mich erneut an den Hof lud. Ich war seit achtzehn Monaten nicht mehr dort gewesen, und in dieser Zeit war ich erwachsen geworden. Inzwischen war ich sechzehn Jahre alt und kein dummes, kleines Mädchen mehr, das auf die schönen Worte eines gut aussehenden reifen Mannes hereinfiel. Nur dank ständiger Vorsicht und mit viel Intelligenz hatte ich es geschafft, Sir Robert Tyrwhitts zermürbende Befragungen zu überstehen, obwohl am Hof angeblich noch wochenlang gemunkelt wurde, ich hätte doch mit Tom Seymour unter einer Decke gesteckt. Ich hatte in der Zwischenzeit einen Teil des Erbes meines Vaters erhalten und konnte in finanzieller Hinsicht ein recht angenehmes Leben führen. Es war mir bewusst, dass ich recht gut aussah. Ich war inzwischen ausgewachsen, fast eine Handspanne größer als meine Schwester und im Gegensatz zu ihr recht schlank. Außerdem hatte ich, wie es Mode war, eher kleine Brüste. Meine Haare hatten einen goldenen Rotton und umrahmten lang, dicht und lockig mein Gesicht und fielen bis über die Schultern. Und obwohl ich eher hellhäutig war, hatte ich dunkle Augen. Wenn ich mich ab und zu im Spiegel betrachtete, sagte ich mir zufrieden, dass mich vermutlich kein Mann übersehen würde. Ich beschloss, aus meiner Rückkehr an den Hof einen Triumph zu machen. Bislang war Maria die große Favoritin gewesen, während man mich eher übersehen hatte, aber ich war wild entschlossen, mich nicht länger mit der Rolle einer
Prinzessin im Schatten abzufinden. Maria würde sicher wieder wie üblich mit Juwelen und Edelsteinen behängt kommen; ich hingegen wollte nur einen oder zwei Ringe tragen, um die Blicke auf meine Hände zu lenken, die meiner Meinung nach das Schönste an mir waren. Und um mich von Marias auffälligen Farben und üppigen Stoffen abzuheben, wollte ich nur schlichte Gewänder in Schwarz oder Weiß tragen, die ich aus Frankreich hatte kommen lassen. Ich war jung, Maria nicht, und das konnten auch all ihre Seidenstoffe und Juwelen nicht wettmachen. Ich war nicht nur ihre kleine Schwester, sondern zugleich auch die stolze Tochter von König Heinrich dem Achten, und das wollte ich aller Welt vor Augen führen. Eine königliche Eskorte von hundert livrierten Reitern begleitete mich in der letzten Adventwoche auf meinem Weg nach London. Falls die Menschen geglaubt hatten, die vielen bösen Gerüchte um Tom Seymour hätten mich krank gemacht, so belehrte ich sie nun eines Besseren. Ich fühlte alle Augen auf mir ruhen, als ich im St. James-Palast eintraf und mich auf den Weg zu den Privatgemächern des Königs machte. Die Hofdamen und Höflinge versuchten, sich gegenseitig mit Verbeugungen und Kniefällen, Lächeln und Begrüßungen zu übertrumpfen. »Mein liebes Schwesterherz!«, rief König Edward, nachdem ich alle Respektbezeugungen hinter mich gebracht hatte, die er verlangte – eins, zwei, drei, vier, fünf Kniefälle! Zumindest in diesem Punkt hatte sich nichts geändert! Erst danach erhob er sich und streckte seine Hand aus, damit ich seinen Ring küssen konnte. Von Maria war jedoch weit und breit nichts zu sehen. »Ich habe sie eingeladen«, sagte mein Bruder. »Ich schrieb ihr eigenhändig, dass ich mich auf ihr Kommen freue. Doch sie schrieb zurück, ihr Gesundheitszustand lasse dies nicht zu. Sie will mich jedoch im neuen Jahr für ein paar Tage besuchen.«
Ich fand ihr Nichterscheinen merkwürdig. »Maria hat sich entschuldigt und kommt dieses Weihnachten nicht«, erzählte ich Kat* während meine Zofen mich für das abendliche Bankett umzogen. »Sie befürchtet, dass es ihr hier am Hof nicht erlaubt sein könnte, die katholische Weihnachtsmette zu besuchen«, meinte Kat und behauptete, dies aus sicherer Quelle zu wissen. Während der Regierungszeit meines Vaters war die katholische Kirche in England gesetzlich verboten worden. Edward und ich waren protestantisch erzogen worden, und als König war Edward nun zugleich auch das Oberhaupt der Kirche von England, der einzig wahren Kirche. Maria hingegen frönte weiterhin dem katholischen Glauben, dem Glauben ihrer Mutter und ihrer Kindertage. Im Verlauf der nächsten drei Wochen verbrachte ich viele Stunden in der Gesellschaft meines kleinen Bruders. Wir gingen spazieren, redeten oder spielten Schach. Wir kamen uns fast wieder so nah wie damals als Kinder und waren manchmal auch wieder fast so ausgelassen und fröhlich. Doch an den Abenden, wenn sich mindestens einhundert Gäste in der Großen Halle versammelten, verwandelte Edward sich wieder in einen aufgeblasenen kleinen Tyrannen. Ich fand sein pompöses Auftreten und sein affektiertes Getue widerlich, aber natürlich war es verboten, den König zu kritisieren. Ich wurde wie immer in gebührendem Abstand zu ihm gesetzt. Obwohl mein Bruder bei den abendlichen Banketten selbst nur wenig zu essen schien, ließ er stets zwei Gänge auftragen, von denen jeder aus mindestens zwei Dutzend verschiedener Gerichte bestand – Schweinebraten, Dinkelbrei mit Rehbraten, alle möglichen Arten von Fisch und Geflügel, Fleischpasteten und so weiter –, und alles wurde aufgetischt, probiert und dann wieder abgetragen.
Am Weihnachtsfeiertag selbst wurde unter lauten Trompetenstößen der Kopf eines gewaltigen Wildschweins auf einer vergoldeten Platte hereingetragen. Auch die Hauer waren vergoldet worden. Dann wurde das Ganze angezündet. Und als sich die Diener vor dem König niederknieten, um ihm den brennenden Eberkopf zu präsentieren, sangen die Anwesenden ein altes Weihnachtslied. Der Höhepunkt der Weihnachtsfeierlichkeiten war traditionsgemäß die Zwölfte Nacht, die festlicher und überschwänglicher gefeiert wurde als alle vorhergehenden. Das wichtigste Ereignis war die Wahl des Herrn der Misswirtschaft. Zu Zeiten meines Vaters hatte das anschließende Singen und Tanzen bis zum Anbruch des neuen Tages gedauert. Seit mein Bruder den Thron bestiegen hatte, war das Tanzen stark eingeschränkt worden und endete zu recht früher Stunde. Ich genoss die wenigen Tänze, die uns vergönnt waren, und es mangelte mir wahrlich nicht an Tanzpartnern. Auf einmal stand Robin Dudley vor mir. Seit meinem letzten Besuch am Hof hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Nun, mit seinen sechzehn Jahren, war er beträchtlich gewachsen und auffällig gut gebaut. Mein Bruder hatte ihn zum Aufseher seiner Jagdhunde ernannt. Edward liebte es, in Gesellschaft von Robert und den Hunden auf die Jagd zu gehen, und wie ich schon erfahren hatte, hielt Robin sich in letzter Zeit viel am Hof auf. Ich hatte mich schon darauf gefreut, ihn zu treffen. »Ich muss Euch unter vier Augen sprechen, Elisabeth«, flüsterte er mir zu, als die Musik einsetzte und wir uns für die ersten Schritte an den Händen fassten. Meine Neugier war geweckt, doch ich konnte nur lächeln, weil wir uns schwungvoll wieder voneinander abwenden mussten. Wo können wir uns ungestört treffen?, überlegte ich. Auf die
Schnelle fiel mir nur ein einziger Ort ein, der an einem Abend wie diesem vermutlich verlassen sein würde. »Die königliche Kapelle«, murmelte ich, als unsere Hände sich wieder trafen. »Wenn der nächste Tanz beginnt.« In dem ganzen Trubel war es kein Problem, ungesehen aus dem Raum zu schlüpfen, und ich wartete ungeduldig in der leeren Kapelle. Was hatte Robin mir zu sagen? Etwas über König Edward? Oder etwas, das mich betraf? Schon wenige Augenblicke später tauchte Robin aus den Schatten auf, und ich konnte im Licht der wenigen brennenden Kerzen sein Gesicht sehen. »Elisabeth«, begann er, und seine Stimme klang etwas heiser. Ohne auf eine Reaktion zu warten, fuhr er fort: »Ich habe mich verlobt.« »Oh? Und welcher Lady habt Ihr Eure Gunst geschenkt?«, fragte ich nach. Ich gestehe, dass mich diese Neuigkeit etwas unerwartet traf. »Amy Robsart. Im Juni werden wir heiraten.« »Im Juni?«, rief ich aus. Dass sich sowohl die wohlhabenden Robsarts als auch die ehrgeizigen Dudleys von der geplanten Verbindung Vorteile versprachen, überraschte mich jedoch nicht. Verlobungen sind Verpflichtungen, die zwei Menschen für die Dauer eines Jahres binden, doch sie werden oft gebrochen. Und nicht selten geht das Jahr vorbei, ohne dass es zu einer Heirat kommt oder die Verpflichtung erneuert wird. Dass die Hochzeit jedoch so früh schon stattfinden sollte, erstaunte mich. Ich glaube, insgeheim hatte ich gehofft, dass mein alter Freund ein freier Mann bleiben würde. Meine Gefühle entbehrten jeder Logik, weshalb ich lieber schwieg, weil meine Stimme mich sonst vielleicht verraten hätte. »Ich wünschte, Ihr wärt es gewesen, Elisabeth!«, rief er plötzlich mit wilder Verzweiflung aus, und im ersten Moment verspürte ich ein unbändiges Verlangen, mich in seine Arme zu werfen.
Doch ich beherrschte mich eisern. »Ich werde niemals heiraten, Robin«, sagte ich nur. »Weder Euch, noch einen anderen Mann.« Dann wandte ich mich ab und hastete zur Tür hinaus. Was hatte ich da gesagt? Ich werde niemals heiraten. War das mein Ernst gewesen? Niemals? Ich war völlig durcheinander, mir wurde fast schwindelig. Doch schon Minuten später tanzte ich die komplizierten Schritte einer Gigue mit Guildford Dudley, Robins jüngerem, schwerfälligerem und wesentlich weniger hübschem Bruder. In den darauffolgenden vier Tagen kam es zu keinem Gespräch mehr mit Robin. Ich hatte das Gefühl, dass er mir aus dem Weg ging, und auch ich suchte seine Nähe nicht. Ich musste immer wieder an meine eigenen Worte zurückdenken: Ich werde niemals heiraten. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, als hätte ich einen riesigen Ozean überquert und würde nie mehr zurückkehren. Dann kam der Tag des Abschieds von meinem Bruder. Mein Besuch bei Hof war zwar ein Erfolg gewesen, aber dennoch war ich erleichtert, als ich mit meinem Gefolge ins nördlich gelegene Hatfield zurückreiste. Mein einziger Besucher während der folgenden, dunklen, kalten Wintermonate war Sir William Cecil, ein Mitglied des Geheimen Rats und das einzige der sechzehn Mitglieder, für dessen Redlichkeit ich meine Hand ins Feuer gelegt hätte. Diesen nüchternen, ehrlichen Mann hatte ich mit der Verwaltung meiner Finanzen betraut. In diesen ruhigen Wochen war ich nicht unglücklich, doch ich gestehe, dass ich immer wieder eine seltsame Unruhe verspürte. Um mich davon zu befreien, ließ ich einen meiner Wallache satteln. »Irgendwann werdet Ihr Euch noch den Hals brechen!«, pflegte Kat dann immer händeringend zu sagen. Und obschon ich in der Regel verdreckt und verschwitzt von
diesen wilden Ausritten zurückkehrte, stieß mir nie etwas zu, und ich war hinterher sehr viel besserer Laune. Ich liebte die Gefahr, und nur auf dem Rücken eines Pferdes hatte ich das Gefühl, mein Leben selbst in der Hand zu haben. Hin und wieder musste ich an Robin denken, doch ich hatte längst beschlossen, dass kein Mann mir mehr fast zum Verhängnis werden würde – so wie es Tom Seymour beinahe gelungen wäre. Der Winter machte noch keine Anstalten, dem Frühling Platz zu machen, als ich 1550 für die Karwoche und das Osterfest erneut von meinem Bruder an den Hof geladen wurde. Dieser war inzwischen nach Hampton Court umgezogen, ein prachtvoller Palast an der Themse, etliche Meilen flussaufwärts von London gelegen. Solange noch Fastenzeit war, gab es keine prunkvollen Bankette, nur die traditionell schlichten Fastenmahlzeiten während der letzten beiden Wochen vor dem Osterfest. Edward war inzwischen zwölf Jahre alt, ein dünner, schmächtiger Junge, der eine Schulter immer höher hielt als die andere. Außerdem war er kurzsichtig, und wenn er etwas sehen wollte, das weiter weg lag, musste er die Augen zusammenkneifen und blinzeln. Um unseren starken, athletisch gebauten Vater nachzuahmen, stolzierte er großspurig herum, die zarten Fäuste auf die schmalen Hüften gestemmt und sein empfindsames Gesicht zu einem skeptischen Ausdruck verzogen. Und selbst bei privaten Mahlzeiten waren seine Vorkoster und Mundschenke angehalten, ihre Kopfbedeckungen zu lüften und vor ihm auf die Knie zu fallen, ehe sie ihn bedienen durften. Er bemühte sich, möglichst derb und donnernd zu reden, doch seine Stimme kippte immer wieder zwischen dem Tonfall eines Mannes und dem eines Jungen hin und her. Es war eine Art Spiel von Edward geworden, den neugierigen Blicken von John Dudley
zu entkommen, der inzwischen den Titel Herzog von Northumberland trug. Ich hatte das Gefühl, als würden Dudley und die anderen Mitglieder des Rats meinen Bruder beobachten wie Falken, die im Begriff standen, sich auf einen unglückseligen Hasen zu stürzen. Um ihren durchdringenden Blicken zu entgehen, rannten mein Bruder und ich manchmal durch das Labyrinth der Hecken, das schon unser Vater in den Gärten rund um Hampton Court anpflanzen ließ. Edward kannte jede Biegung zwischen den hohen Ligusterhecken, und wenn wir dann endlich im Zentrum des Labyrinths angekommen waren, hofften wir, uns ein Weilchen in aller Ruhe unterhalten zu können, ehe jemand uns finden würde. Wegen der Kälte und des grimmigen Windes, der vom Fluss herüberwehte, waren wir in dicke Pelze eingehüllt, und Edward setzte sich zum Ausruhen auf die dort aufgestellte Steinbank und gab mir zu verstehen, mich auf den kalten Boden zu knien. Nicht einmal hier erlaubte er mir, die Bank mit ihm zu teilen. Am liebsten hätte ich ihm ins Gesicht gebrüllt: Edward, ich bin deine Schwester! Hier ist weit und breit kein Höfling zu sehen! Doch ich wusste mich zu beherrschen. Obschon ich das Verhalten meines Bruders unglaublich albern fand, war und blieb ich eine seiner Untertaninnen, die es nicht wagen durfte, ihn zu kritisieren oder auf einen Fehler oder eine Nachlässigkeit aufmerksam zu machen. Deshalb biss ich mir nur wütend auf die Zunge, schwieg und zitterte vor Kälte wie Espenlaub auf der eiskalten Erde. »Liebes Schwesterherz!«, begann Edward wie üblich, wenn er sich an mich wandte. »Ich mache mir Sorgen um unsere Schwester.« »Um Maria? Was ist mit ihr, Mylord? Wird sie anlässlich der Osterfeierlichkeit nicht anreisen?«
»Nein. Sie hat erneut mit einer fadenscheinigen Begründung abgelehnt. Angeblich befürchtet sie eine Verschwörung gegen ihre Person.« »Da muss sie sich irren, Mylord!«, sagte ich spontan, doch insgeheim dachte ich mir: Hm, sie wird wohl ihre Gründe haben. Ich selbst traute den königlichen Beratern auch nicht über den Weg, am allerwenigsten Dudley, und Maria erging es vermutlich nicht anders. Edward seufzte. »Wie ich höre, ist sie einfach nicht bereit, der katholischen Kirche abzuschwören. Wie kann sie es wagen! Meine Berater haben erfahren, dass nicht nur sie selbst weiterhin täglich die Messe besucht, sondern sogar ihren gesamten Haushalt dazu zwingt! Und das ist streng verboten! Warum ist sie nur so halsstarrig, Elisabeth? Es wäre doch ein Leichtes für sie, sich den Gesetzen zu beugen, oder?« »Ich schätze unsere Schwester sehr«, antwortete ich so vorsichtig, wie es geboten war, »doch ich kann ihre religiöse Besessenheit ebenso wenig verstehen wir Ihr, Mylord. Sie müsste doch lernen können, Gott auch als Protestantin zu ehren.« Edward bekam einen Hustenanfall. Sobald dieser vorbei war, sagte er: »Wie mir zu Ohren kam, könnte Maria demnächst versuchen, aus dem Land zu fliehen. Sie soll mit Kaiser Karl in Briefkontakt stehen und ihn gebeten haben, ihr ein Schiff zu schicken, das sie nach Flandern bringt.« Kaiser Karl war Marias Vetter mütterlicherseits. Und er war zudem der mächtigste Mann Europas. Doch es wäre sehr riskant für ihn gewesen, Marias Wunsch nachzukommen. Angenommen, Maria würde einen katholischen König heiraten, der dann versuchen würde, Edward zu stürzen und den katholischen Glauben wieder in England einzuführen? Der Kaiser wäre verpflichtet, sich auf Marias Seite zu stellen und somit gegen England in den Krieg zu ziehen. »Aus welchem
Grund sollte sie fliehen wollen?«, fragte ich jedoch mit Unschuldsmiene. Edward schwieg zuerst, und wir lauschten beide auf die sich nähernden Schritte in der Ferne. Aha, es war also bereits jemand ausgeschickt worden, um nach uns zu suchen. »Nun, weil sie befürchtet, ich würde sie hinrichten lassen. Aber glaube mir, liebe Elisabeth, das täte ich nur sehr, sehr ungern! Sie war immer wie eine Mutter zu mir, und ich mag sie wirklich gern!« Ich bekam einen fürchterlichen Schreck. Solch entsetzliche Worte hatte ich bisher noch nie aus seinem Munde gehört. Maria hinrichten lassen? Würde er das wirklich tun – seine eigene Schwester hinrichten lassen? Aus seinem entsetzten Gesichtsausdruck konnte ich schließen, dass er mit Sicherheit nicht selbst auf diese Idee gekommen war. »Aber warum? Was hat sie getan, um den Tod zu verdienen? Und auf wessen Anraten spielt Ihr mit dem Gedanken, unsere Schwester hinrichten zu lassen?«, erkundigte ich mich vorsichtig. »Meine Räte haben es gesagt«, gestand Edward und brach in Tränen aus. »Weil sie die Gesetze missachtet und ihre dumme Religion nicht aufgeben will! Die Ratsmitglieder haben es schon untereinander besprochen. Ich finde es ganz schrecklich. Aber ich muss tun, was sie beschließen, besonders wenn auch Dudley es sagt. Denn er weiß, was für England das Beste ist, ich nicht!« Ich durfte mich nicht dazu äußern. Ihm zu widersprechen, selbst wenn wir unter uns waren, wäre zu gefährlich gewesen. Mein Bruder war zwar nicht dumm, aber er war immer noch ein Kind. Mit Ausnahme von Cecil, der auch mein Berater war, wichen die Mitglieder des Rats ihm nicht von der Seite und schrieben ihm jede einzelne Entscheidung vor – natürlich immer nur zu seinem Besten! »Der junge König hat kein
Rückgrat und keinen eigenen Willen«, hatte Kat schon häufig zu mir gesagt. »Dudley hat aus ihm eine Marionette gemacht.« Doch nun hörten wir Stimmen, die schon verdächtig nahe waren, und mussten das Gespräch abbrechen. Ich konnte nur noch Edwards Hand drücken, während wir wie ungezogene kleine Kinder dasaßen und darauf warteten, entdeckt zu werden. Hatfield, das nunmehr mir gehörte, war während meiner Abwesenheit gründlich gereinigt worden. Die schmutzigen Binsenmatten auf den Fußböden waren gegen frische, wohlriechende ausgetauscht worden. Die vom Ruß der Kaminfeuer geschwärzten Wandteppiche waren ins Freie gebracht und gewaschen worden, die Wände abgeschrubbt und frisch geweißelt worden. Die Vorhänge meines Himmelbetts, der Überwurf und die mit Wolle ausgestopften Matratzen waren gewaschen, geflickt oder ausgetauscht worden. Die silbernen und goldenen Teller waren frisch poliert, die Leintücher in der Sonne gebleicht worden. Ich freute mich, dass alles so frisch und neu wirkte. Ich trug nun die Verantwortung für ein großes Landgut, auf dem Schafe und Rinder gezüchtet, Wolle und Leder erzeugt wurden sowie Fett zur Herstellung von Seifen und Kerzen. Viele der Erzeugnisse Hatfields gingen natürlich an den Hof von König Edward. Ich freute mich immer, wenn ich bei meinen Ausritten die Bauern bei der Arbeit sah. Solange ich auf diesem ruhigen Fleckchen Erde leben konnte, weit weg von den Intrigen des Hofs, fühlte ich mich sicher. Dann erreichte mich eine Einladung zur Hochzeit von Robin Dudley und Amy Robsart. Inzwischen hatte ich mich an den Gedanken gewöhnt, dass mein alter Freund aus Kindertagen bald ein verheirateter Mann sein würde. An einem schönen, sonnigen Tag im Juni reiste ich mit großem Gefolge von Hatfield zum Schloss Windsor. Mein
Bruder, der mit einem sehr viel größeren Gefolge von London angereist kam, erhielt natürlich einen Ehrenplatz an der Hochzeitstafel, während ich weiter unten saß. Unter den Gästen befand sich auch Lady Jane Grey, so schön und elegant gekleidet, dass sie ungebührlicherweise ernsthaft Gefahr lief, der Braut ihre verdiente Aufmerksamkeit zu rauben. Ich freute mich, Jane wiederzusehen, und wir schafften es, für kurze Zeit unter vier Augen zu reden. »Mein Leben ist schrecklich«, vertraute sie mir spontan an. »Ich fürchte, dass Gott mich zu lebenslangem Leiden verurteilt hat.« »Unsinn! Ich glaube nicht, dass Gott auch nur eines seiner Geschöpfe leiden sehen will«, sagte ich, doch noch ehe ich den Grund für ihr Unglücklichsein herausgefunden hatte, wurden wir auch schon wieder von einer Schar Musikanten getrennt. Vermutlich waren ihre Eltern noch genauso grausam zu ihr wie früher schon. Amy Robsart war ein pummeliges, recht kleines Mädchen, das von ihrem prachtvollen silbernen Gewand fast erdrückt wurde. Sie wurde von zwei jungen Männern in die Kirche geleitet und trug einen riesigen Strauß aus vergoldeten Rosmarinzweigen, die mit einer Vielzahl silberner Bänder zusammengebunden waren. Hinter ihr schritten zwölf Jungfern mit je einem Brautkuchen. Musikanten spielten eine fröhliche Melodie. Kurz darauf betrat Robin in Begleitung seines Trauzeugen die Kirche, und ich konnte meine Blicke nicht von ihm abwenden. Er sah großartiger aus als je zuvor. Robin und seine zukünftige Gemahlin sprachen ihr Ehegelübde, und nachdem Robin Amy den Ehering an den Daumen gesteckt hatte, legte der Priester den Hochzeitsschleier über sie und segnete ihre Verbindung. Nach der kirchlichen Feier schritten wir hinter dem Brautpaar über den mit Rosenblättern und Rosmarinblüten übersäten Weg zum Schloss. Wie es Brauch war, wurde den ganzen Tag über
gefeiert und getanzt. Eigentlich war ich immer sehr gern auf Hochzeiten, doch diesmal fühlte ich mich nicht ganz wohl in meiner Haut. Ob Robin Dudley diese Amy wohl wirklich liebte? Ich bezweifelte es. Und bei einer Heirat geht es nicht um Liebe, sondern vielmehr um Geld. Dank Amy war ihr Gemahl über Nacht ein wohlhabender Mann geworden. Es gab absolut keinen Grund für die Eifersucht, die ich in meinem Herzen verspürte. Und doch kam es mir so vor, als wäre eine Tür, von deren Existenz ich bisher gar nichts gewusst hatte, ganz plötzlich und für immer verschlossen worden.
KAPITEL VI DER STERBENDE KÖNIG
Im September dieses Jahres, kurz nach meinem siebzehnten Geburtstag, überbrachte ein Bote mir ein Schreiben von Robins Vater, John Dudley, dem Lordprotektor. Erstaunt brach ich das Siegel und überflog den Inhalt: Der König ist der Meinung, dass der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um Euch zu vermählen. In seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Rats habe er bereits mehrere passende Anwärter in Erwägung gezogen, fuhr er fort. Ich werde es als meine Pflicht ansehen, Euch über den Fortgang der Verhandlungen auf dem Laufenden zu halten. Das Schreiben endete mit den besten Wünschen für gute Gesundheit und war mit dekorativen Schnörkeln versehen. Ich schnappte empört nach Luft. »Kat!«, rief ich dann, so laut, dass meine Stimme fast durch den ganzen Palast drang. »Kat, wo steckst du? Ich brauche dich! Sofort!« Wenige Minuten später kam Kat hereingeeilt und rückte hastig ihre Haube zurecht. »Meine liebste Lady Elisabeth! Was gibt es?« Ich war so außer mir, dass mir die Worte fehlten. Deshalb drückte ich ihr nur das infame Schreiben in die Hand. »Hier, lies selbst!«, befahl ich. Kats Augen huschten über die Zeilen. Dann blickte sie wieder auf und musterte mich erstaunt. »Warum regt Ihr Euch so auf, Elisabeth?«, fragte sie. »Ihr seid alt genug. Diese Nachricht trifft Euch doch nicht unerwartet, oder?« »Kat, begreif doch endlich! Hast du mir denn nie zugehört? Wie oft muss ich es dir noch sagen?«, fauchte ich. »Ich werde
niemals heiraten!« Kats sanfte, blaue Augen musterten mich lange. »Kommt«, sagte sie dann, »trinken wir ein Gläschen Ale und besprechen das Ganze!« »Es gibt nichts zu besprechen!«, erklärte ich, nachdem uns zwei silberne Becher Ale gebracht worden waren. »Ich habe lange darüber nachgedacht, und mein Entschluss steht fest. Er ist unabänderlich. Ich werde niemals heiraten.« »Aber Ihr müsst, Elisabeth!«, sagte Kat mit Nachdruck. »Ausgeschlossen, dass Ihr nicht heiratet! Zum einen, weil es von Euch erwartet wird, wie von jeder Frau. Und zum anderen: Ledig zu bleiben wäre äußerst ungesund, sowohl in körperlicher als auch in seelischer Hinsicht. Schaut Euch nur Eure arme Schwester an!« »Das ist ihre Sache. Hier geht es um mich«, entgegnete ich schnippisch. »Und ich habe die feste Absicht, ledig zu bleiben.« Ich glaubte, Kats Mundwinkel spöttisch zucken zu sehen. »Wäre es vorstellbar, dass Ihr Eure Meinung irgendwann einmal ändern werdet?«, fragte sie. »Wenn der Richtige kommt?« »Nein!«, sagte ich im Brustton der Überzeugung und setzte meinen Becher so heftig ab, dass der bernsteinfarbene Inhalt auf mein Gewand schwappte. »Niemals!« Kat begriff, dass es klüger war, das Thema fallen zu lassen, und gleich im Anschluss an unser Gespräch antwortete ich auf das Schreiben des Lordprotektors. Ich wünsche nicht zu heiraten, schrieb ich zurück. Da ich dem nichts hinzuzufügen hatte, fügte ich lediglich das Datum und meine Unterschrift hinzu. Dann ließ ich den Boten kommen, der mein Antwortschreiben nach London bringen sollte. Im Verlauf der darauffolgenden Monate erfuhr ich, dass John Dudley meinen Brief und meinen Wunsch schnöde ignoriert hatte. Er war mit vier ausländischen Adligen in Verhandlung
getreten – einem Franzosen, einem Deutschen und zwei Italienern, deren Väter oder Brüder mächtige Herzöge waren. Als ich davon erfuhr, schwor ich mir, dass ich keinen von ihnen erhören würde. Und natürlich auch keinen anderen Bewerber! Vorläufig schien mir das Glück hold: In allen vier Fällen verliefen die Verhandlungen im Sande. Allerdings war mir klar, dass der Druck von Seiten des Hofes, mich lieber früher als später verheiratet zu sehen, nicht nachlassen würde. Eine Jahreszeit löste die nächste ab, und mein Leben war unterteilt in die ruhigen Wochen auf dem Land mit meinem ehemaligen Privatlehrer, Professor Ascham, der mir ein anregender intellektueller Unterhalter war, und die eher turbulenten Wochen am Königshof. Ich genoss die Wertschätzung meines Bruders und die Aufmerksamkeit, die mir als Schwester des Königs zuteil wurde. Obschon Edward nach wie vor auf seinen albernen Ritualen bestand, war ich ihm von Herzen zugetan und freute mich über die wenigen Stunden, die wir für uns allein hatten. Andererseits tat er mir auch Leid. »Du hast ja keine Ahnung, wie schrecklich es ist, liebes Schwesterherz«, vertraute Edward mir an, als es uns wieder mal gelungen war, seinen Beratern zu entkommen, die ihn nicht aus den Augen lassen wollten. »Was meint Ihr?«, fragte ich nach. »Mein Onkel Edward Seymour wurde aus dem Tower entlassen und gehört wieder dem Rat an. Er und Dudley streiten sich ständig und schreien sich an, und auf mich hört kein Mensch! Ich wäre so gern ein guter König, und ich weiß, dass ich es sein könnte, wenn sie mich nur lassen würden. Doch sie trauen mir nichts zu und bestimmen alles über meinen Kopf hinweg.« Schluchzend sank Edward in meine Arme.
Im Sommer des Jahres 1551 suchte eine SchweißfieberEpidemie ganz England heim, so schlimm wie seit Jahren nicht mehr. Von den Menschen, die mich in Hatfield besuchten, erfuhr ich, dass die Kirchenglocken in London unablässig für die Toten läuteten. Fern der gedrückten Stimmung der großen Stadt betete ich inständig zu Gott, dass er uns davor bewahren möge. Vor allem um Edward machte ich mir große Sorgen. Gott sei Dank blieb er tatsächlich vom Schweißfieber verschont, ebenso wie ich selbst und alle mir nahe stehenden Menschen. Viele andere hatten jedoch weniger Glück, und insgesamt wurden in jenem Sommer in England an die fünfzigtausend Menschen von dem bösen Fieber dahingerafft. Edward bekam zwar kein Schweißfieber, doch ich sah, dass sein Gesundheitszustand sich alarmierend verschlechterte. Als ich anlässlich des Weihnachtsfests 1551 wieder am Hof weilte, wirkte mein inzwischen vierzehnjähriger Bruder kränker denn je. Es verging ein weiteres Jahr, in dessen Verlauf es Dudley gelang, seinen gefährlichsten Rivalen, Edward Seymour, für immer aus dem Weg zu räumen, indem er ihn zum Tod durch Enthauptung verurteilen ließ. Es muss eine schreckliche Zeit für meinen Bruder gewesen sein, der gezwungen war, das Todesurteil zu unterzeichnen. Ich reiste an den Hof, wann immer König Edward mich rufen ließ, wobei ich mich stets vor dem ersten Anblick und Anzeichen weiteren Verfalls fürchtete. Maria sah ich bei diesen Besuchen kein einziges Mal. Im Winter 1553 übersetzte ich die Predigt eines religiösen Reformers, dessen Werk mich tief beeindruckt hatte. Ich übertrug meine Übersetzung in meiner schönsten Handschrift auf feinstes Pergament und sandte sie an Edward. Nichts übertrifft das Ausmaß meiner Liebe und Zuneigung zu Euch, schrieb ich in aller Ehrlichkeit in das Begleitschreiben. Als ich seinen Dankesbrief erhielt, erkannte ich sowohl an seinen Worten als auch an seinen
ungelenken Buchstaben, dass mein Bruder sehr krank sein musste. Umgehend fragte ich an, ob ich ihn besuchen kommen könne. Das unfreundliche Wetter zu Beginn dieses Frühlings war nicht sehr geeignet für die lange Reise von Hatfield nach London, und mein Gefolge und ich mussten eisige Windstöße und einen peitschenden Schneeregen ertragen. Als wir uns schon unserem Ziel näherten, kam uns eine Gruppe durchnässter Männer entgegen, die uns zu verstehen gaben, dass wir anhalten sollten. Einer der Männer, in dem ich ein Mitglied des Rats erkannte, überreichte mir ein Schreiben, in dem mir befohlen wurde, auf der Stelle umzukehren. Mein erster Gedanke war es, das Schreiben zu ignorieren, derweil es nicht von König Edward, sondern von John Dudley, dem Herzog von Northumberland, unterzeichnet war. »Der König ist mein Bruder«, rief ich dem ausgesandten Ratsmitglied ungnädig in Erinnerung. »Und ich gedenke, ihm meine Aufwartung zu machen, sofern er mich nicht persönlich wegschickt.« »Lady Elisabeth«, entgegnete der Mann, »ich kann Euch versichern, dass Ihr auf keinen Fall Zutritt zum Schlafgemach des Königs erhalten werdet.« Etliche Sekunden lang funkelten der Rat und ich uns nur erbost an. Doch wie hätte ich gegen den Willen eines John Dudley ankommen können? Wenn ich meine Reise fortsetzte, fände Dudley sicherlich einen Vorwand, um mich festzunehmen und einkerkern zu lassen – oder noch schlimmer. Und wenn Edward wirklich sehr krank war, hätte er nicht einmal etwas dagegen tun können. Mir blieb nichts anderes übrig, als klein beizugeben. Wütend wendete ich mein Pferd und ritt nach Hatfield zurück. Mein anfänglicher Zorn machte bald einer tiefen Trauer Platz, denn ich begriff, dass mein Bruder im Sterben lag. Zu dieser großen Sorge gesellte sich bald die Erkenntnis, dass
Maria gemäß dem Willen unseres Vaters nach Edwards Tod das Thronerbe antreten würde. Und wie es schien, war dieser Tag nicht mehr fern. Meine Gedanken überschlugen sich. Wie würde Englands Zukunft aussehen? Edward hatte nicht lange genug gelebt, um einen Nachfolger gezeugt zu haben. Maria mit ihren dreiunddreißig Jahren war noch unverheiratet. Ich, die ich mich bislang so fern der Krone wähnte, würde als Nächste an der Reihe sein. Diese plötzliche Erkenntnis hatte etwas Faszinierendes, doch zugleich machte sie mir auch Angst. Mich beschlich das ungute Gefühl, dass etliche Leute, angefangen bei John Dudley und den Räten, vor nichts – auch nicht vor einem Mord – zurückschrecken würden, um sich Maria und später auch mir in den Weg zu stellen. In den darauffolgenden Tagen betete ich voller Inbrunst für meinen Bruder, rechnete aber zugleich Tag für Tag mit dem Eintreffen einer schlimmen Nachricht. Mein Leibarzt hielt mich auf dem Laufenden: Edward hustete Blut, sein Körper zerfiel mehr und mehr, sein Geist war fiebrig und wirr. Das Ende war abzusehen. Da ich in Hatfield recht abgeschirmt lebte, war der Hofklatsch, bis er an meine Ohren gelangte, meist schon abgestanden oder überholt. Deshalb traf es mich völlig unerwartet, als ich im Mai erfuhr, dass sich Jane Grey mit John Dudleys jüngstem Sohn und Robins Bruder Guildford verlobt hatte. Die meisten meiner Hofdamen dürsteten nach Klatschgeschichten wie Pferde nach Wasser; zudem hatten sie dank Brüdern oder Cousinen am Hof meist auch gute Verbindungen. Besonders drei von ihnen – Cynthia, Marian und Letitia – genossen es sichtlich, mir die neuesten Gerüchte oder Skandalgeschichten zu unterbreiten, meist während der Stunden, wenn wir gemeinsam über unseren Stickarbeiten saßen. Bei diesen für sie meist belanglosen Details ging es für mich oft um Leben und Tod, und ich gab vor, ihren
Enthüllungen mit Hochgenuss zu lauschen. »Lady Jane ist nicht erpicht auf diese Heirat, ganz und gar nicht«, wusste Lady Cynthia zu berichten, eine rothaarige junge Frau mit smaragdgrünen Augen. »Warum nicht?« »Sie beruft sich darauf, bereits Lord Hertford versprochen zu sein, Edward Seymours Sohn.« »Lord Hertford?«, rief ich ungläubig aus. »Sie zieht eine Hochzeit mit einer Bohnenstange wie Lord Hertford der mit Guildford Dudley vor?« »Stimmt, Guildford ist keine schlechte Wahl«, musste Lady Letitia zugeben, »obwohl er nicht annähernd so gut aussieht wie sein Bruder Robin.« Sie warf mir einen verschmitzten Seitenblick zu, den ich jedoch tunlichst übersah. »Doch Jane kann weder ihren zukünftigen Schwiegervater John Dudley noch dessen Gemahlin ausstehen. Guildford soll angeblich vollständig unter der Fuchtel der Herzogin stehen.« »Wer weiß, vielleicht findet Lady Jane einen Ausweg«, sagte ich. Ich bedauerte, dass Jane und ich uns nicht mehr so nahe standen wie früher, und wünschte, sie hätte sich mir anvertraut. »Die Hochzeit soll schon in vierzehn Tagen stattfinden«, sagte Lady Marian nun auf ihre direkte Art. »Da bleibt so wenig Zeit, dass sie nicht einmal ein neues Brautkleid bekommt. John Dudley sagte, sie solle sich in der königlichen Garderobe umsehen und sich aussuchen, was ihr gefällt.« »Allerdings«, sagte nun Cynthia, während sie schwungvoll einen Knoten in ihren silbernen Faden machte, »haben Janes Eltern ihr versprochen, dass sich an ihrem bisherigen Leben nichts ändern wird. Sie darf – wie seit dem Tod der Königinwitwe – auch weiterhin zu Hause wohnen. Und sie haben ihr versprochen, dass sie auch ihre Studien fortsetzen darf.« »Die gute Jane!«, entfuhr es mir unwillkürlich. »Darauf legt sie sicher den größten Wert.« Diese Ehe ist also nur eine reine
Formsache, bis ein Erbe gebraucht wird, dachte ich mir im Stillen. Was bei diesem Komplott wohl als Nächstes kommen wird? Jane und ihre Familie waren häufig am Hof, denn sie waren eng mit uns verwandt. Frances, Janes Mutter, war die Nichte meines Vaters. Jane war die älteste von drei Töchtern, Söhne gab es keine. Dem Testament meines Vaters zufolge stand Frances Grey hinter Maria und mir auf Platz drei in der Thronfolge, ihr folgten Jane und deren zwei jüngere Schwestern. Es war eine höchst ungewöhnliche Situation, dass in der Thronfolge keine männlichen Nachkommen vorkamen. Doch dem konnte mit der richtigen Heirat abgeholfen werden. Der Ehemann würde, wie es Brauch war, anstelle seiner Gemahlin regieren, bis ein männlicher Erbe zur Welt käme. Nun begriff ich, warum John Dudley seinen Sohn mit Jane vermählen wollte! Sie stand in der Thronfolge an vierter Stelle. Hatte er als nächsten Schritt geplant, die beiden Anwärterinnen vor Jane – nämlich Maria und mich – aus dem Weg zu räumen? Mit einem Mal begriff ich, dass John Dudley wesentlich gefährlicher war, als ich bisher angenommen hatte. Wenige Stunden, nachdem ich dies erfahren hatte, schickte ich nach William Cecil, mit der Ausrede, dass ich seine Meinung zum geplanten Kauf eines an meine Ländereien angrenzenden Grundstücks bräuchte. Mein Bote kehrte zurück mit der Nachricht, dass Cecil an einem Fieber erkrankt wäre, nach seiner Genesung jedoch sofort zu mir eilen würde. Ich musste mich vorläufig also noch mit Krümeln von Klatsch begnügen. Die arme Kat hatte am meisten unter meiner Ungeduld zu leiden. Einmal riss ich ihr sogar ihren Stickrahmen aus der Hand und trennte zornig ein paar Stiche auf. »Mach das nochmal von vorn!«, fauchte ich, gab ihr den Rahmen zurück und stürmte aus dem Raum. Ich erhielt keine Einladung zur Hochzeit. Das war natürlich eine Beleidigung, doch ganz offensichtlich war sich Dudley
seiner Macht so sicher, dass er sich nicht darum scherte, wen er vor den Kopf stieß. Ich galt nichts. Dieser Affront diente nur dazu, meine schlimmsten Vermutungen zu bestätigen, goss Öl ins Feuer meines Zorns und bestärkte mich in meinem Entschluss, alles zu tun, dass eines Tages ganz England zu mir aufblicken würde. Lady Marians Schwägerin ließ uns nach der Heirat einen ausführlichen Bericht zukommen. »Jane trug ein goldenes Gewand und einen silbernen Umhang«, wusste Marian zu berichten. »Ihre Haare hatte sie im Nacken zu einem dicken Zopf geflochten, was einige für eine Braut recht ungewöhnlich fanden. Auf dem Kopf trug sie eine Haube aus grünem Samt, bestickt mit unzähligen Edelsteinen.« Jane war nicht die einzige Braut des Tages gewesen, wie ich ebenfalls im Nachhinein erfuhr. Es gab gleich drei Vermählungen. Auf einen Schlag verheiratete John Dudley seine Tochter Katharina mit einem Ratsmitglied, und Janes Schwester, die ebenfalls Katharina hieß, mit dem Sohn eines weiteren Ratsmitglieds. Was für ein engmaschiges Netz der Verschwörung John Dudley gesponnen hatte! Ich befürchtete ernsthaft, verrückt zu werden, wenn Sir Cecil mir nicht endlich haarklein alle Hintergründe erzählen würde. Marian plauderte fröhlich weiter. »Nach der Feier brachen die drei Bräutigame zum königlichen Kampfplatz in Whitehall auf, um ein Freundschaftsturnier abzuhalten.« »Da werden sich die drei Bräute sicher gefreut haben, dass sie noch ein Weilchen ihre Ruhe hatten«, merkte ich an. Aber wer weiß, das war vielleicht nur meine persönliche Meinung. Erst im Juni traf Cecil schließlich in Hatfield ein, offensichtlich genesen und wie immer in düsteres Schwarz gekleidet, das nur durch eine kleine weiße Halskrause aufgelockert wurde. Ich ließ meinen Wallach satteln, und wir ritten los, um das benachbarte Grundstück in Augenschein zu
nehmen. Sobald wir unter uns waren, kam ich ohne große Umschweife auf mein Anliegen zu sprechen. »Wie Ihr sicherlich ahnt, bin ich sehr interessiert an den Hintergründen der Ehe meiner Cousine Jane mit Guildford Dudley.« »Und das zu Recht, Madam, derweil sie zum Teil ja auch Euch betreffen.« »Erzählt!« »Nach der Hochzeit durfte Jane wie versprochen ins Haus ihrer Eltern zurückkehren. Doch dieses Versprechen wurde schon zehn Tage später wieder gebrochen, und sie lebt seither mit Guildford im Palast der Dudleys. John Dudley ließ die Greys inzwischen wissen, warum ihm so sehr daran lag, Jane zur Schwiegertochter zu bekommen: König Edward weiß, dass er im Sterben liegt, und wollte die Thronfolge neu festlegen. Er legte seinen letzten Willen in dieser Hinsicht schriftlich nieder. Eure Schwester Maria wurde aus der Erbfolge gestrichen. Und ich bedauere, es Euch sagen zu müssen, doch auch Euer Name wurde gestrichen. Janes Mutter hat ihren Anspruch an ihre Tochter Jane abgetreten. Und folglich wird nach Edwards Tod Lady Jane Dudley, wie sie nunmehr heißt, zur neuen Königin gekrönt werden.« »Wie konnte Edward das tun!«, rief ich empört aus und brachte mein Pferd abrupt zum Stehen. »Das widerspricht dem Willen unseres Vaters!« Auch Cecil zügelte sein Pferd, und wir blickten uns an. »Dennoch hat er es getan, Mylady. Euer Bruder, der König, ist sehr, sehr schwach. John Dudley hat ihn vollkommen in der Hand.« »Wann habt Ihr davon erfahren?«, wollte ich wissen. »Erst nachdem alles über die Bühne gegangen war, Madam. Vor wenigen Tagen erst ließ Dudley den Rat im königlichen Audienzzimmer zusammentreten. Soweit ich mich erinnere, lauteten seine Worte ungefähr so: ›Um dem Namen und den
Wünschen seines Vaters gegenüber treu zu sein und um seine Pflicht vor Gott zu erfüllen, hat König Edward beschlossen, dass die Krone auf keinen Fall an seine Schwester Maria übergehen darf, da selbige das königliche Gesetz missachtet und durch ihre sture Ausübung des katholischen Glaubens das Gedenken meines Vater beschmutzt hat.‹« »Aber was ist mit mir?«, rief ich aus. »Ich bin keine Katholikin! Mich kann mein Bruder nicht des Verrats am Glauben beschuldigen, da ich ebenso protestantisch bin wie er! Er kann mich nicht einfach übergehen!« »Dudley behauptet, der König hätte ausdrücklich gesagt, dass die Krone auch nicht an ›Lady Elisabeth‹ gehen dürfe. Er fände es ungerecht, wenn eine Schwester ausgeschlossen wird, die andere aber nicht. Das behauptet zumindest Dudley.« Nun war mir klar, was Dudley von Anfang an im Sinn gehabt hatte. Auf seine Anweisung hin würde die neue Königin, Jane, ihren Gemahl Guildford zum neuen König ernennen. Grünschnabel Guildford würde alles tun, was sein Vater ihm befahl, und somit hielte John Dudley, seines Zeichens Herzog von Northumberland, die Macht über England in seinen Händen. Vor Wut schäumend sprang ich vom Pferd, griff nach einer Hand voll herumliegender Steine und schleuderte sie mit aller Kraft gegen den nächstbesten Zaunpfosten. Dieser war jedoch nur ein armseliger Ersatz für John Dudley, und die Steine prallten ab, ohne Schaden anzurichten. Cecil beobachtete mich schweigend. Meine drei Hofdamen, die in gebührender Entfernung hinter uns hergeritten waren, hielten ihre Reittiere an und starrten mich verblüfft an. Als ich keine Steine mehr fand, warf ich mit Erdklumpen um mich. Meine Haube fiel mir vom Kopf, mein Gewand war dreckig, und meine Frisur löste sich auf. »Aber es ist doch hoffentlich noch nicht endgültig, oder?«, schäumte ich, nach Atem ringend, doch schon etwas ruhiger
nach meinem Temperamentsausbruch. »Das Parlament muss Edwards Nachfolgeregelung doch zuerst noch zustimmen. Wenn sich der Rat einig ist, kann die neue Nachfolgeregelung für ungesetzlich erklärt werden, nicht wahr?« Cecil stieg ab, um mir wieder auf mein Pferd zu helfen. »Ihr habt Recht, Madam«, sagte er und seufzte. »Doch Ihr wart nicht dabei und habt Dudleys Argumente und Drohungen nicht gehört. Er hämmerte auf den Tisch ein und äußerte mit seiner donnernden Stimme die Warnung: ›Sollte Maria jemals den Thron besteigen, wird jeder Einzelne von uns wegen Illoyalität bestraft werden. Wir werden alle in den Tower wandern, und jeder Einzelne von uns wird seinen Kopf auf den Block legen müssen.‹« In diesem Moment schob sich eine dunkle Wolke vor die Sonne, und ich erschauerte. »Und wie lautete das Ergebnis der Ratsabstimmung?«, fragte ich beklommen, weil ich ahnte, was ich gleich hören würde. »Die Abstimmung endete ziemlich einstimmig. Es gab eine einzige Gegenstimme – meine. Doch alle anderen Anwesenden erklärten sich damit einverstanden, dass Lady Jane Dudley die nächste Königin Englands sein wird.«
KAPITEL VII ZWEI KÖNIGINNEN
Die arme Jane! Sie war eine ausgezeichnete Schülerin, in weltlichen Dingen jedoch völlig naiv. Ohne zu ahnen, in welche Intrigen und Machenschaften sie nun verstrickt war, tat sie brav alles, was von ihr verlangt wurde. Kurz nach ihrer Heirat wurde Jane krank. Einer Freundin schrieb sie – Lady Letitia behauptete, das Schreiben mit eigenen Augen gesehen zu haben –, dass sie befürchte, ihre Schwiegermutter versuche, sie zu vergiften. Ganz offensichtlich hatte Jane keine Kenntnis der neuen Nachfolgeregelung, denn andernfalls hätte sie gewusst, dass sie für die Dudleys viel zu wertvoll war, um ermordet zu werden. Am vierten Juli lag ich selbst mit Fieber darnieder, vermutlich infolge der schlechten Nachrichten, die Sir William mir überbracht hatte. Außer Kat hatte ich niemandem von der neuen Nachfolgeregelung erzählt, doch der Gedanke daran quälte mich Tag und Nacht. In diesem angeschlagenen Zustand erhielt ich eine Nachricht von John Dudley. »Ihre Majestät, der König, liegt im Sterben. Es steht zu befürchten, dass er diese Woche nicht überleben wird.« Wie betäubt schickte ich nach Kat. »Edward liegt im Sterben«, stammelte ich. »Was soll ich tun?« »Wartet ab«, riet sie mir. »Ihr seid zu krank zum Reisen, Elisabeth. Und selbst wenn Euer Gesundheitszustand Euch erlauben würde, umgehend aufzubrechen, besteht vermutlich nur wenig Hoffnung, dass Ihr Euren Bruder noch lebend
antreffen würdet. Und zudem«, fügte sie besorgt hinzu, »könnte Dudleys Schreiben auch eine Falle sein.« Aber natürlich! Das Fieber hatte meinen Verstand benebelt. Es war nicht auszuschließen, dass Dudley in der Tat geplant hatte, meine Schwester und mich nach London zu locken, um dafür zu sorgen, dass wir seinen finsteren Plänen nicht mehr lange im Weg standen. Ich befolgte Kats Rat. Und ich sandte eine Botschaft an meine Schwester nach Hunsdon, um auch ihr meinen Entschluss mitzuteilen. Doch der Bote kehrte mit der Nachricht zurück, dass Maria, normalerweise stets auf der Hut vor einer Falle, bereits nach Greenwich abgereist war. Mein Bruder, der König, verstarb an einem Donnerstag, den sechsten Juli anno Domini 1553. Wie schon beim Tod meines Vaters wurde die Nachricht von seinem Verscheiden drei Tage lang zurückgehalten – kein leichtes Unterfangen, wenn man bedenkt, dass sein lebloser Körper in der Sommerhitze bereits zu verwesen begann. Am darauffolgenden Sonntag, den neunten Juli, überbrachte mir ein schwarz gekleideter Bote die offizielle Benachrichtigung. Natürlich traf sie mich nicht unvorbereitet, doch ich hatte schon Jahre zuvor schmerzlich erfahren müssen, dass ein Todesfall, selbst wenn man mit ihm rechnet, in seiner Endgültigkeit ein wahrer Schock ist. In den Tagen nach Edwards Tod kam es zu Ereignissen, von denen ich zum damaligen Zeitpunkt keine Kenntnis hatte. Erst später, als mich Sir William Cecil in Hatfield aufsuchte, begriff ich die ganzen Zusammenhänge. Bis dahin hatte ich mich auch von meinem Fieber erholt. Ich ließ uns ein erfrischendes Getränk in den Garten bringen, wo Sir William mir die Ereignisse der letzten vierzehn Tage schilderte. Am neunten Juli war Lady Jane nach Syon House gebracht worden, einem der königlichen Paläste. Dort war ihr Schwiegervater vor ihr auf die Knie gefallen und hatte sie feierlich über den Tod des Königs in Kenntnis gesetzt – und über die Tatsache,
dass sie die neue Königin sei. Auch alle anderen Anwesenden – einschließlich ihrer verhassten Schwiegermutter – fielen vor ihr auf die Knie. »Jane war wie vom Donner gerührt, als sie dies hörte«, wusste Cecil zu berichten, »und fiel in Ohnmacht. Als sie wieder zu sich kam, begann sie zu weinen und den Tod des Königs zu beklagen. Dann erklärte sie allen Anwesenden mit lauter, leidenschaftlicher Stimme – sie hat eine erstaunlich kräftige Stimme für ein so zierliches Persönchen –, dass sie die Krone nicht haben will. ›Sie steht mir nicht zu‹, sagte sie mit großer Überzeugung. ›Lady Maria ist die rechtmäßige Herrscherin.‹« »Arme Jane«, murmelte ich. »Das hat sie wirklich nicht gewollt, dessen bin ich mir ganz sicher.« Doch Dudley, unterstützt von Janes Eltern, ließ sie wissen, dass sie in dieser Angelegenheit nichts zu sagen habe. »Es ist der Wille des Königs«, sagte Dudley, »und auch der Wille Gottes. Ihr habt keine andere Wahl als zu gehorchen.« Schließlich blieb Jane nichts anderes übrig, als kleinlaut zuzustimmen. Eine schweigende Menschenmenge versammelte sich entlang der Themse, als die königliche Barkasse Jane und ihr Gefolge flussabwärts zum Tower brachte. Cecil erzählte mir sämtliche Einzelheiten, bis hin zu ihren Chopinen – dicke Holzsohlen, die unter ihren eigentlichen Schuhen befestigt wurden, damit sie größer wirkte. Mit unbeholfenen, unsicheren Schritten verließ Jane die Barkasse und stakste zum Tower und zum königlichen Wohntrakt. Ihr war gesagt worden, dass sie dort bis zu ihrer Krönung bleiben müsse. ›Und wann soll das sein?‹, hatte Jane gefragt. ›Ihr werdet rechtzeitig darüber informiert werden‹, hatte die Antwort gelautet. Als die Herolde in ganz London verkündeten, dass Jane Dudley die nächste Königin werden würde, derweil Maria
Tudor als uneheliche Tochter des Königs zum Regieren ungeeignet war, kam kein Jubel auf. Das Volk nahm die Nachricht schweigend auf. Nach außen hin ruhig und beherrscht, saugte ich jedes der Worte von Sir William gierig auf. Insgeheim jedoch pochte mir das Blut im Kopf, und meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. »Und wo war Maria in dieser Zeit?«, fragte ich Cecil mit heiserer Stimme. »Was ist mit meiner Schwester?« »Maria hatte sich in der Tat auf den Weg nach Greenwich gemacht. Doch unterwegs kam ihr ein Bote entgegen, der sie warnte und ihr sagte, dass Robin Dudley ihr im Moment mit dreihundert bewaffneten Soldaten entgegenritt, um sie festzunehmen.« »Mein alter Freund Robin Dudley?!«, rief ich aufbrausend. »Aha, also doch der gewissenlose Sohn seines gewissenlosen Vaters!« »Allem Anschein nach«, entgegnete Cecil trocken. »Jedenfalls nahm Lady Maria die Warnung ernst und änderte umgehend ihre Reiseroute. Mit nur zwei Hofdamen und einem halben Dutzend Höflingen floh sie durch die Nacht in die entgegengesetzte Richtung. Am nächsten Tag – es war der zehnte Juli – teilte John Dudley der neuen Königin Jane mit, dass sie ihren Gemahl Guildford zum König ernennen müsse. Es waren noch keine vierundzwanzig Stunden vergangen, doch spätestens jetzt muss Jane begriffen haben, dass John Dudley niemals die Absicht gehabt hatte, sie regieren zu lassen. Sofort rief Jane einige der königlichen Räte zusammen, darunter auch mich, und erklärte uns: ›Wenn die Krone mir wirklich rechtmäßig zusteht, dann werde ich meinen Gemahl zum Herzog ernennen, doch keinesfalls zum König.‹« »Oh, sie hat mehr Mut, als ich erwartet hätte.« »O ja, Jane hat sehr viel Mut bewiesen«, pflichtete Cecil mir bei. »Doch ihre Kühnheit versetzte ihre Schwiegermutter in
große Wut. Mit kaum verhehltem Zorn wandte sich die Herzogin an Guildford und zischte: ›Wenn sie so widerspenstig ist, dann musst du sie dafür bestrafen. Weigere dich, das Lager mit ihr zu teilen, diesem boshaften Weibsbild, das sich deine Frau nennt.‹ Nach diesen Worten stürmte die Herzogin aus dem Saal, und ihr Söhnchen folgte ihr auf den Fersen – wie ein Hündchen. Am selben Abend erhielt der Rat ein Schreiben von Maria, in welchem sie ihren Anspruch auf den Thron anmeldete. Sie war Robin Dudley ganz offensichtlich entkommen! Lady Maria war mittlerweile in Kenninghall in der Nähe von Cambridge angekommen und fest entschlossen, die nächste Königin Englands zu werden.« »Weiter, weiter!«, rief ich drängend, während ich ungeduldig im Garten hin- und herschritt. »Sobald John Dudley zu Ohren kam, dass mächtige Adlige und auch das gewöhnliche Volk auf Marias Seite waren, bereitete er sich auf eine Schlacht vor. Er versammelte dreitausend Männer im Tower, bewaffnet mit Armbrüsten und Spießen, aber auch Kanonen und Schießpulver. Er wollte seine Truppen nach Norden in Richtung Cambridge führen und sagte prahlerisch: ›Ich werde Marias Trotz ein rasches Ende bereiten.‹ Doch dabei hatte John Dudley eines vergessen: Maria ist beim Volk sehr beliebt, während er selbst so gut wie keine Anhänger hat. Und deshalb hatte der Herzog in dieser Situation, in der er dringend Unterstützung gebraucht hätte, niemanden, dem er wirklich vertrauen konnte.« »Gut, gut, gut!«, rief ich begeistert aus. »Als Lady Maria hörte, dass John Dudley auf dem Weg zu ihr war, verließ sie Cambridge und ritt eilends nach East Anglia. Ihre Burg in Framlingham besteht aus acht Fuß dicken Mauern, ist vierzig Fuß hoch und hat Wachtürme, die auf die See hinausgehen. Als die Nachricht ihrer Ankunft sich in der Umgebung
verbreitete, kamen viele Menschen zu ihrer Unterstützung herbei. Mit jedem neuen Tag kamen noch weitere an, die mitbrachten, was immer sie an Pferden und Waffen erübrigen konnten. Andere schickten Karren mit Lebensmitteln. Meine Berichterstatter waren überwältigt vom Ausmaß der Unterstützung von Seiten des Volks, und von ihnen erfuhr ich auch, dass Lady Maria plötzlich über eine Armee von zwanzigtausend Mann verfügte! In der ganzen Umgebung rief eine Stadt nach der anderen Maria zur neuen Königin aus.« »Und was wurde aus John Dudley?«, fragte ich gespannt. »Oh, für den Herzog sah es gar nicht mehr gut aus. Er hatte sieben Kriegsschiffe an der Küste auffahren lassen, die eine Flucht Marias verhindern sollten, doch die Seeleute meuterten. Am nächsten Tag kamen zweitausend der Matrosen zu Marias Burg und brachten an die hundert gewaltige Kanonen von den Schiffen mit. Könnt Ihr Euch vorstellen, wie es den Räten da zumute war? Die meisten von ihnen hatten Dudley die Treue geschworen. Doch als deutlich wurde, dass Maria siegen würde, dämmerte ihnen, dass es ihnen an den Kragen gehen könnte, und sie wendeten sich von Dudley ab. Am neunzehnten Juli traten alle Räte gemeinsam auf den großen Platz vor der Kirche und riefen Maria zur Königin aus. Kurz darauf gab Dudley auf. Seit Menschengedenken gab es nichts mehr, was vergleichbar gewesen wäre mit den anschließenden Feiern nach der Ernennung Eurer Schwester«, berichtete Cecil weiter. »Als ich fortritt, läuteten die Kirchenglocken, und soweit ich weiß, tun sie das noch immer. Es herrschte ein unglaubliches Spektakel. Die Männer warfen ihre Mützen in die Luft und brüllten vor Begeisterung, und die Frauen weinten vor Freude. Die jubelnde Menschenmenge wird sicher die ganze Nacht hindurch feiern, tanzen und singen.« Aha, meine Schwester war die neue Königin. Und da sie gesiegt hatte, stand ich in der
Thronfolge nun an zweiter Stelle. In diesem Augenblick, als ich hier im Garten stand, spürte ich ganz deutlich, dass auch ich eines Tages Königin von England sein würde. Wie ich diese Erkenntnis genoss! Und während ich voller Gier Cecils Bericht lauschte, sah ich mich selbst schon an Marias Stelle, hörte die läutenden Glocken und die jubelnde Menschenmenge. Eines Tages… »Im Tower von London hat sicher eine ganz andere Stimmung geherrscht«, sagte ich, um mich aus meinen Tagträumen zu reißen. Sir William strich sich über seinen kurz geschorenen Bart. »Ah, die arme kleine Königin Jane«, seufzte er. »Totenbleich saß sie da und wartete mit ihrem Vater zusammen auf den Ausgang der Ereignisse. Als Lord Grey erfuhr, dass sich alle Räte von Dudley abgewandt hatten, stürmte er ins Freie und bekannte sich lauthals zu Maria als neuer Königin. Danach eilte er in die königlichen Gemächer zurück und riss den Thronhimmel herunter, der über seiner Tochter aufgehängt worden war. Barsch forderte er sie auch auf, ihr königliches Gewand abzulegen. Jane war nur neun Tage lang Königin gewesen.« »Was wird nun aus ihr werden?«, fragte ich und versuchte mir vorzustellen, wie ich mich an ihrer Stelle fühlen würde. Vermutlich ebenso erleichtert wie verängstigt. »Sie ist im Tower eingekerkert worden und ihr Gemahl natürlich ebenfalls«, antwortete Sir William. »Doch ich kann mir nur vorstellen, dass Königin Maria ihr irgendwann verzeihen wird. Lady Jane war völlig schuldlos an allem, was passiert ist.« Ich schwieg und betete zum Himmel, er möge mit seiner Vermutung Recht haben. Sir William leerte seinen Becher und bat um die Erlaubnis, sich zurückziehen zu dürfen. Er war auf dem Weg zur Burg Framlingham, um Königin Maria seine Loyalität zu bezeugen. »Ich vermute, dass sich dort inzwischen viele Räte
eingefunden haben und die Königin untertänig und auf den Knien um Verzeihung bitten, um ihren Kopf zu retten.« Ich bat ihn, noch so lange zu verweilen, um ihm einen Brief an Maria mitgeben zu können. Ich wollte meiner Schwester meine Glückwünsche zu ihrer Ernennung aussprechen und ihr natürlich auch schreiben, wie sehr mich der Tod unseres Bruders bekümmerte. Während ich die Zeilen zu Papier brachte, ertappte ich mich immer wieder bei dem Gedanken: Auch meine Stunde wird kommen. Eines Tages werde ich an der Reihe sein… Nachdem alle Rebellen gefangen genommen und in die Kerkerzellen des Towers geschleppt worden waren, verließ Maria Burg Framlingham mit einer Eskorte von mehreren tausend Mann. Aufgeregt machte auch ich mich in Begleitung meines Gefolges, bestehend aus ungefähr tausend Rittern, Höflingen und Hofdamen, auf den Weg, um die neue Königin auf ihrem Weg nach London zu begrüßen. Als Maria näher ritt, stieg ich von meinem Pferd und kniete mich auf die staubige Straße. Auf meiner Höhe angekommen, stieg Maria vom Pferd und zog mich hoch. Meine Schwester und ich hatten uns seit fünf Jahren nicht mehr gesehen, und ich glaube, wir waren beide überrascht über das Aussehen der anderen. Maria war inzwischen siebenunddreißig, weit über ihre Jugend hinaus, während ich noch keine zwanzig Jahre alt war. Im ersten Moment starrten wir einander nur stumm an, doch dann nahm Maria mich in die Arme und küsste mich auf beide Wangen. Anschließend ging die Königin zu den Hofdamen in meiner Gefolgschaft und umarmte auch diese. Während ich ihr zuschaute, überlegte ich mir, ob Maria mich wohl als Rivalin sah. Hoffentlich hatte ich sie davon überzeugen können, dass sie von mir nichts zu befürchten hatte. Wenn die Dinge ihren natürlichen Lauf nahmen, käme
ich irgendwann sowieso an die Reihe. Ich würde sie nicht herausfordern oder verärgern. Ich musste nur warten. Seite an Seite ritten wir auf London zu, wo Fahnen flatterten und Fanfaren ertönten. Vor den Stadtmauern hielt die lange Prozession an, damit Maria ihre verstaubte Reisekleidung gegen ein prachtvolles Gewand eintauschen konnte. Bei ihrem Einzug in die Hauptstadt trug Königin Maria eine Robe aus violettem Samt über einem Unterrock aus violettem Satin, bestickt mit Goldfäden und Perlen. Auch ihre Samtärmel und ihre Haube sowie ihr enges Mieder waren mit Edelsteinen verziert. Ihr Pferd trug eine Satteldecke aus feinstem Goldtuch. Die Schleppe von Marias Gewand war so lang und schwer, dass einer ihrer Höflinge sie über seiner Schulter tragen musste. Nie zuvor hatte ich das Volk so begeistert jubeln sehen, und ich war stolz und aufgeregt, am Tag des großen Triumphs meiner Schwester einen Ehrenplatz zu haben. Die Welle liebevoller Zuneigung und Ergebenheit wogte auch über mich und ihr Gefolge hinweg, als wir der Königin langsam durch die Straßen der Stadt folgten. Oftmals hielten wir an, um den Chören zu lauschen, die Loblieder sangen. Als wir uns dem Tower näherten, ertönten so laute Kanonendonner, dass der Boden bebte und die Fensterscheiben erzitterten. Dann endlich konnte Königin Maria die königlichen Gemächer betreten, die Lady Jane, die inzwischen in einem anderen Flügel des Towers als Gefangene einsaß, vor kurzem erst geräumt hatte. Am ersten Oktober 1553 durfte ich bei der Krönungszeremonie die Schleppe meiner Schwester tragen. Ich trug einen mit Hermelin verbrämten purpurroten Umhang über meinem weißsilbernen Gewand. Der Pomp und die Zeremonie selbst übertrafen sogar Edwards Krönung, denn die neue Königin hatte eine Schwäche für Prunk und Gepränge. Nach der siebenstündigen Zeremonie war ich die Erste, die Königin
Maria den Treueeid leistete. Beim anschließenden Festbankett in der Westminster Hall saß ich an der Seite meiner Schwester. Dutzende von Gerichten wurden serviert, doch die Königin kostete nur von dem Wildschweinbraten. Diese berauschenden Tage waren für alle eine Zeit ausgelassener Freude und des Feierns. Für alle, außer jenen, die im Tower eingekerkert waren. Auch ich jubelte und frohlockte. Ich werde die nächste Königin Englands sein! Ich werde als Nächste die Krone tragen!
KAPITEL VIII KÖNIGIN MARIA
Nach ihrer Krönung verließ Maria ihren Landsitz und zog in den Whitehall-Palast um. Kurz darauf lud sie mich ein, bei ihr am Hof zu leben. Nach den langen, recht einsamen Monaten auf dem Land freute ich mich darauf, nach London umzusiedeln. Ich bezog Somerset House, den Stadtpalast, den ich nach der Hinrichtung seines früheren Besitzers, Edward Seymour, Herzog von Somerset, erstanden hatte. Gegen dieses große Herrenhaus hatte ich ein anderes meiner Grundstücke eingetauscht, und es war ganz nach meinem Geschmack – eine Mischung aus klassizistischer Einfachheit und Eleganz. Zudem lag es unweit von Whitehall. Eines Nachmittags überbrachte mir der Bote der Königin ein Schreiben. Ich brach das königliche Siegel. Liebste Schwester, las ich. Wir möchten Euch bitten, heute Abend mit uns zu dinieren. Wir haben vieles mit Euch zu besprechen. Unterzeichnet war das Schreiben mit Maria Regina – Maria die Königin. Aha, sie verwendete inzwischen das königliche Wir. Und ich wunderte mich, was wir zu besprechen hatten. Der Bote wartete, während ich eine kurze Antwort aufsetzte und ihrer Majestät versicherte, dass ich mich sehr geehrt fühle und so weiter und so fort. Ich war bester Stimmung, als ich mich für den Besuch bei der Königin vorbereitete. Kat Ashley schaute zu, als meine Zofen mir in ein schwarzes Samtkleid mit weit auslaufenden Ärmeln halfen. Darunter trug ich einen Petticoat aus weißem Damast. Da ich inzwischen zwanzig war, war Kat nicht mehr meine Erzieherin, sondern meine
Gesellschafterin. Und ich war froh, sie ständig um mich zu haben. »Keine Juwelen, Madam?«, fragte sie. Sie drängte mich stets, eines der wertvollen Schmuckstücke zu tragen, die mein Vater mir hinterlassen hatte. »Die Halskette mit den Diamanten und Rubinen würde ausgezeichnet zu diesem Kleid passen.« »Nein, keinen Schmuck!«, wehrte ich ab, da ich der Meinung war, dass ein schlichtes Kleid mir am besten stand. Ich band mir nur eine einfache Goldkette um die Taille, an der ein kleines Büchlein hing, die Miniaturausgabe eines vergoldeten Gebetbuchs. Mein Bruder hatte es mir dereinst geschenkt, und ich hing sehr daran. Als ich fertig war, rief ich nach Lady Marian und Lady Cynthia, die mit mir und zwei Höflingen zum Whitehall-Palast reiten sollten. Nachdem ich in die königlichen Privatgemächer geleitet worden war, machte ich drei Kniefälle (Maria verlangte keine fünf, wie Edward früher), während ich mich ihrem Sessel näherte. Nach dem Austausch der üblichen Höflichkeiten wies Königin Maria mir einen niederen Schemel zu, während meine Hofdamen auf Seidenkissen bei ihren Hofdamen Platz nehmen durften. Sobald wir alle saßen, ließ Maria Wein auftragen. Kaum hatte ich den ersten Schluck aus dem goldenen Kelch genommen, als ich merkte, dass Maria mich intensiv musterte. »Besuchst du auch regelmäßig den Gottesdienst, Elisabeth?«, fragte sie mit ihrer tiefen, klangvollen Stimme. »Ich besuche jene Gottesdienste, die Gott gefällt, mich besuchen zu lassen«, entgegnete ich vorsichtig. »Und ich bin in der Gegenwart des Herrn auf den Knien, wann immer sich die Gelegenheit bietet.« Sie hatte die Antwort auf ihre Frage schon gekannt, noch ehe sie sie gestellt hatte, und ich merkte sofort, dass meine ausweichende Antwort nicht nach ihrem Geschmack war.
»Wir sind uns sicher, dass du, meine liebe Elisabeth, weißt, dass wir die alte Religion alsbald wieder einzuführen gedenken.« König Heinrich hatte die katholische Kirche verboten, und nun teilte Königin Maria mir unverblümt mit, dass sie beabsichtigte, den katholischen Glauben des Papstes in Rom erneut in England einzuführen. Es war mir unbegreiflich, woher Maria das Recht nahm, alles rückgängig zu machen, was unser Vater und unser Bruder veranlasst hatten. »Aber, Euer Majestät…«, kam es vermutlich zu hastig von meinen Lippen, »in Eurer ersten offiziellen Verlautbarung habt Ihr Euren Untertanen doch Religionsfreiheit versprochen.« Die Königin legte den Kopf schief und musterte mich lange, ehe sie sagte: »Und? Ließen wir zum Beweis unserer guten Absichten nicht zwei Trauergottesdienste für unseren Bruder abhalten – einen protestantischen in der Westminster-Abtei und ein katholisches Requiem im White Tower?« »Jawohl, Madam«, entgegnete ich. Ich verkniff mir die Bemerkung, dass ich in meiner Naivität davon ausgegangen war, dass sie auch in Zukunft beide Konfessionen gleichberechtigt nebeneinander dulden würde. Marias Augen blitzten auf. »Und wer wäre besser dazu geeignet, dem Volk den Wechsel – den notwendigen Wechsel zurück zum rechten Glauben – vor Augen zu führen, als die Schwester der Königin?« »Ich verstehe, Madam«, antwortete ich widerspruchslos. Mir war klar, dass es nutzlos, wenn nicht sogar gefährlich gewesen wäre, Gegenargumente anzubringen. »Gut«, sagte die Königin. »In unserer königlichen Kapelle werden täglich ein halbes Dutzend Gottesdienste abgehalten. Sämtliche Räte besuchen sie. Und wir erwarten, dass auch du sie besuchen wirst, Elisabeth.« »Sehr wohl, Madam.«
»Und hör auf, dieses alberne Gebetbuch um deinen Bauch zu tragen«, fügte Maria gereizt hinzu. »Wie Euer Majestät wünschen«, sagte ich. Was hätte ich auch sonst zur Königin sagen können? Auch wenn man anderer Meinung ist, hat man zu gehorchen. Oder man tut zumindest so. Wie herrlich muss es sein, als Königin so große Macht zu haben!, dachte ich mir im Stillen. Anschließend überreichte Maria mir ein Geschenk, einen Rosenkranz mit Perlen aus roten und weißen Korallen, und wir speisten zusammen. Es gab Wildschweinbraten, offensichtlich die Leibspeise meiner Schwester, ganz sicher nicht meine. Während des Mahls unterhielt die Hofnärrin Jane uns mit ihren Späßen. Sie war wie eine Hofdame in Seide und Satin gekleidet, trug dazu jedoch bunte Strümpfe und viel zu große Schuhe wie ein Clown. Mit ihrem kahl geschorenen Kopf und ihrer unpassenden Aufmachung bot sie wirklich einen urkomischen Anblick. Ich war froh, dass die Mahlzeit sich nicht lange hinzog, denn ich konnte es kaum erwarten, der Gegenwart meiner Schwester zu entfliehen. »Wir werden die katholischen Gottesdienste besuchen«, sagte ich zu meinen Hofdamen, als wir nach Somerset House zurückritten. »Jeden Morgen und jeden Abend und manchmal auch noch dazwischen.« »Sehr wohl, Madam«, murmelten sie. »Und falls ihr keinen Rosenkranz sprechen könnt«, fuhr ich düster fort, »dann solltet ihr das möglichst bald lernen.« Kat schritt besorgt durch mein Schlafgemach. Ich machte meine Gürtelkette mit dem kleinen Gebetbuch ab, drückte zur Erinnerung an Edward einen Kuss darauf und reichte sie dann Kat. »Ich darf sie fortan nicht mehr tragen«, sagte ich betrübt. Während meine Zofen mich auskleideten, schilderte ich Kat mein Gespräch mit der Königin.
»Nun, sie verlangt nicht wenig von Euch«, merkte Kat an, »doch Ihr könnt weiterhin Eurem Herzen treu bleiben und nur nach außen hin tun, was sie sehen will. Zu Eurem Wohl und für Eure Sicherheit.« So kam es, dass ich fortan eine große Frömmigkeit zur Schau stellte und mich zweimal täglich zur Messe in der königlichen Kapelle einfand. Ich wusste, dass mein Erscheinen genau beobachtet und jedes Fehlen Maria gemeldet wurde, falls sie zufällig einmal nicht anwesend war. Den Rosenkranz in der Hand, den sie mir geschenkt hatte, murmelte ich meine Gebete, während ich die Perlen durch meine Finger gleiten ließ. Andächtig blickte ich auf die mit Juwelen geschmückten Kreuze, die wieder über den Altären aufgehängt worden waren, die goldenen Tabernakel, Kerzenhalter und die mit wertvollen Edelsteinen besetzten Kelche, die man wieder aus ihren Verstecken geholt hatte, wo sie unter Edwards Herrschaft verwahrt worden waren. Ich besuchte die katholischen Gottesdienste nur, weil ich dazu gezwungen war. Wann immer ich eine Ausrede hatte – Kopfschmerzen, Bauchweh oder Gallenbeschwerden –, blieb ich in meinen Gemächern und wies meine Hofdamen an, Marias Hofdamen über meine Unpässlichkeit zu informieren. Nach außen hin versuchte ich den Anschein zu erwecken, dass ich mich den Anweisungen der Königin fügte, doch insgeheim blieb ich meinem Glauben treu. Doch Maria ließ sich nicht so leicht täuschen. Es war der mir ergebene Sir William Cecil, der mich warnte. »Die Königin weiß sehr wohl, dass Euer Verhalten nur aufgesetzt ist, und das macht sie sehr wütend. Sie macht keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegenüber Eurer Person und spricht es offen an, ebenso wie viele der Besucher an ihrem Hof. Sie bezeichnet Euch als ihre ›hetzerische Schwester‹.« »Und was ist mit Euch, Sir William?«, entgegnete ich provozierend. »Seid Ihr nicht auch ein Ketzer?«
»Ich bin kein Katholik, das ist richtig. Und ich gehöre auch nicht mehr dem Rat an, obwohl ich auch weiterhin im Dienste der Königin stehe. Doch ich stelle ihre Dekrete nicht infrage. Ihr hingegen schon, Madam.« Beim Abschied machte Cecil William eine tiefe Verbeugung. »Vergesst nicht – Ihr seid von Spionen umgeben«, flüsterte er. »Seid auf der Hut!« Das Verhältnis zwischen der Königin und mir war auch weiterhin von unterkühlter Höflichkeit geprägt. Offenbar waren wir beide gute Schauspielerinnen, doch ich war die bessere. Das musste ich sein. Als die Königin zum ersten Mal das Parlament zusammenrief, verlangte sie, dass die Ehe zwischen ihrer Mutter und unserem Vater zu seiner einzig rechtmäßigen Ehe erklärt wurde. Dies nahm offiziell den Makel der Unehelichkeit von ihr. Doch sie hatte keinerlei Absicht, meiner Mutter und mir denselben Gefallen zu tun. Wenn es nach ihrem Willen ging, würde ich mein Leben lang Heinrichs uneheliche Tochter, ein Bastard, bleiben.
Ich war gerade von der Morgenandacht zurückgekehrt, als einer meiner Pagen einen Besucher ankündigte. »Edward Courtenay, Graf von Devon«, sagte er. Sichtlich überrascht über einen Besuch zu so früher Stunde blickten auch Lady Cynthia und Lady Letitia auf. Und kaum hatte der Page diese Worte ausgesprochen, als der Graf auch schon in meine Gemächer gepoltert kam, ohne auf die Erlaubnis zu warten. Er trug eine stutzerhafte Kniebundhose aus braunem Samt mit gelben Seitenschlitzen. Sein Samtwams war mit vielen Perlen bestickt, an seiner Kappe hing eine schlaffe, gelbe Feder. »Guten Morgen, Lady Elisabeth«, begrüßte er mich so salopp, als würden wir uns schon ewig – und recht gut – kennen. Weder zog er den Hut
noch verbeugte er sich so tief, wie es angemessen gewesen wäre. Vor Überraschung fiel mir das Buch aus der Hand, in dem ich gerade gelesen hatte. Mein Besucher bückte sich flink und reichte es mir mit einem breiten Grinsen. Ungnädig riss ich es ihm aus der Hand. »Wem oder was verdanke ich die Ehre Eures Kommens, Mister Courtenay?«, erkundigte ich mich betont kühl. Theatralisch breitete er beide Arme aus. »Königin Maria hat mich auf freien Fuß gesetzt! Sie schickte mir diese Kleidungsstücke und noch viele andere, ganz ähnliche. Und sie verlieh mir einen Titel – Graf von Devon. Und sie schenkte mir auch jede Menge Edelsteine. Schaut…« Er fuchtelte mit seinem Ring vor meiner Nase herum. »Den auch.« Der Ring, der nun an seinem Finger blitzte, hatte dereinst meinem Vater gehört. Ich war fassungslos und wusste nicht, ob ich dem Kerl ins Gesicht lachen oder ihn hinauswerfen lassen sollte. Ich hatte Edward Courtenay zwar noch nie gesehen, doch schon viel über ihn gehört. Vor Jahren hatte mein Vater Courtenays Vater hinrichten und den jungen Edward in den Tower von London einsperren lassen, wo er fünfzehn lange Jahre lang eingesessen hatte. Inzwischen musste er ungefähr siebenundzwanzig Jahre alt sein. In den Jahren, die er hinter Gefängnismauern zugebracht hatte, war Courtenay ein vielseitiger Gelehrter und Musiker geworden. Während seines Besuchs warf er mit klugen und ausschweifenden Zitaten aus den Werken Ciceros um sich. Und auf einmal, ohne auch nur um meine Erlaubnis zu bitten, griff er nach meiner Laute, um uns eine kleine Darbietung seines Könnens zu geben. Gute Manieren hatte ihm offenbar niemand beigebracht! Der Grund und Zweck seines Besuchs blieb mir nach wie vor verborgen, und ich empfand seine
Anwesenheit als höchst störend. Ich war heilfroh, als sich endlich eine Gelegenheit bot, ihn zum Gehen aufzufordern. Kaum war die Tür hinter ihm zugefallen, als Lady Letitia aufsprang und begann, seinen großspurigen Gang und seine ausladenden Gesten nachzuäffen. »Der arme Kerl! Der arme Kerl!«, kreischte Lady Marian, und wir lachten über den unglückseligen Courtenay, bis uns die Tränen kamen. »Seid auf der Hut, Madam«, meinte Lady Cynthia naserümpfend, während sie sich die Tränen aus den Augen tupfte. »Demnächst kommt er wieder, um Euch den Hof zu machen!« »Gott bewahre!«, rief ich entsetzt aus. Doch insgeheim fragte ich mich, ob die Königin ihn nicht doch aus einem ganz bestimmten Grund hergeschickt hatte. An einem Tag im Oktober erhielt ich einen Brief von meiner Cousine Katharina Knollys. Katharina war die Tochter von Maria Carey, der Schwester meiner Mutter, und mit Sir Francis Knollys verheiratet, einem wichtigtuerischen Mann, der als fanatischer Protestant bekannt war. Sir Francis war sehr viel älter als Katharina, und ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie eine sehr aufregende Ehe führten. Katharina hatte eine kleine Tochter, an der sie mit abgöttischer Liebe hing und die ich seit ihrer Taufe nicht mehr gesehen hatte. Liebste Cousine, schrieb Katharina mir aus ihrem Landhaus in Essex, wie viel Zeit doch schon vergangen ist, seit wir uns das letzte Mal gesehen und uns unserer Gesellschaft erfreut haben. Aus diesem Grunde bitte ich darum, Euch besuchen zu dürfen. In meiner Freude antwortete ich ihr umgehend und bat sie, so schnell wie möglich zu kommen und auch ihren kleinen Sonnenschein Lettice mitzubringen. Katharina reiste schon Mitte Oktober an, nur in Begleitung ihrer Tochter, der Erzieherin des kleinen Mädchens und drei Bediensteten. Es kam mir fast so vor, als sollte der Besuch
geheim gehalten werden. Seit der Geburt ihrer Tochter war meine Cousine etwas rundlicher geworden, doch sie wirkte auch müde und verhärmt. Die kleine Lettice war ein entzückendes Geschöpf, knapp fünf Jahre alt, mit rötlichen Locken und großen blauen Augen. Meine Bediensteten boten der Kleinen Konfekt und der Mutter Kräuterwein an. Hastig trank Katharina einen ersten Schluck und setzte den Becher dann mit einem nervösen Klirren ab. »Können wir frei reden?«, fragte sie leise. Ich zog es vor, nicht direkt darauf zu antworten. »Wenn Ihr von Eurer Reise nicht zu erschöpft seid«, sagte ich und erhob mich, »könnte Euch und Lettice vielleicht ein kleiner Spaziergang im Garten erfreuen.« Ich wusste, dass Maria mit Sicherheit einige Spione in meinem Haushalt untergebracht hatte, weshalb ich mich nie allzu wohl fühlte. Doch ich hatte noch nicht herausgefunden, welche meiner Bediensteten mir ergeben waren und welche mich und meine Freunde verraten würden. Im Garten konnten Katharina und ich unter uns sein. Man würde uns zwar zweifellos aus der Ferne beobachten, konnte uns aber nicht belauschen. Bald darauf gingen Katharina und ich Arm in Arm, während die kleine Lettice wie ein junges Fohlen auf den Wegen herumtollte. Es war ein milder, fast ungewöhnlich warmer Tag. »Nun, liebe Cousine«, sagte ich, »sprecht!« Katharina blickte stur geradeaus. »Wir gehen fort.« »Fort?« Im ersten Moment dachte ich, sie und Lettice müssten ihren Besuch abbrechen und umgehend wieder abreisen. »Aber Ihr seid doch gerade erst angekommen! Wohin wollt Ihr gehen?« »Nach Frankreich. Mein Gemahl sagt, uns bleibe keine andere Wahl. Die Königin macht es uns unmöglich, in diesem Land zu bleiben.«
Ich begriff; Sir Francis hielt mit seinen religiösen Überzeugungen nicht hinter dem Berg. Ich schwieg und tätschelte nur tröstend Katharinas Arm. »Wir rechnen jeden Tag damit, dass die Verfolgung der Protestanten beginnt«, fuhr Katharina leise fort. »Wir müssen fliehen, um unseren Kopf zu retten, Elisabeth.« Sie schluckte, ehe sie voller Verzweiflung hinzufügte: »Und das solltet Ihr auch tun, Elisabeth, wenn Euch Euer Leben lieb ist!« »Um mich braucht Ihr Euch keine Sorgen zu machen, liebe Katharina«, versicherte ich ihr mit wesentlich größerer Überzeugung, als ich verspürte. »Ich besuche regelmäßig den Gottesdienst. Das weiß die Königin.« »Das wird Euch nicht ausreichend schützen«, meinte Katharina. »Viele andere Protestanten wollen auch auf den Kontinent fliehen. Und dort werden wir bleiben, solange Maria Königin ist. Doch viele andere sind gezwungen zu bleiben, und sie leiden ebenso sehr wie wir darunter, dass es mit unserer Glaubensfreiheit vorbei ist.« Ich nickte. »Vielleicht wird die Königin ein Einsehen haben, wenn sie sieht, wie viele sich ihr widersetzen.« Das glaubte ich ehrlich gesagt zwar nicht, doch ich wollte meine geheimsten Befürchtungen nicht preisgeben. Katharina blieb abrupt stehen und griff nach meinen Händen. »Warum seid Ihr so blind, Elisabeth? Die Protestanten, die hier bleiben, werden mit Sicherheit einen Aufstand gegen Königin Maria planen. Das weiß ich von Francis. Und fast ebenso sicher ist, dass sie sich um Euch scharen werden. Und Ihr werdet dafür verantwortlich gemacht werden!« »Mit einem Aufstand will ich nichts zu tun haben!«, erklärte ich vehement. »Ihr werdet gar nicht erst gefragt werden, Elisabeth. Und die Königin wird Euch nicht glauben. Euer Haus ist voller Spione.« Ich sah Tränen in Katharinas Augen
schimmern. »Oh, liebste Elisabeth, ich fürchte, ich werde Euch niemals Wiedersehen!« Und sie brach in Tränen aus. Das Schluchzen ihrer Mutter lockte die kleine Lettice herbei, die sich besorgt an die Röcke ihrer Mutter klammerte. Ich hielt meiner Cousine die Hand vor den Mund und flehte sie an, kein Wort mehr zu sagen. Sobald sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, beendeten wir unseren Spaziergang und kehrten in den Palast zurück, wobei wir uns fest an den Händen hielten, um unser Zittern zu unterdrücken. Katharina und Lettice blieben drei Tage lang bei mir. Natürlich hätte ich meine Cousine zu gern ausführlich befragt: Wusste sie von einer geplanten Verschwörung gegen die Königin? Kannte sie die Namen von Verschwörern? Hatte ihr Gemahl bestimmte Namen genannt oder beruhte das alles auf reinen Vermutungen? Doch bei näherem Überlegen kam ich zu dem Schluss, dass es besser war, wenn ich erst gar nichts erfuhr. Denn falls ich jemals verhört werden würde, könnte ich wahrheitsgemäß behaupten, von nichts gewusst zu haben. Als meine Cousine sich nach den drei Tagen zur Abreise anschickte, weinten wir beide bittere Tränen, da wir nicht wussten, wann – oder ob überhaupt – wir uns jemals Wiedersehen würden. Katharina versuchte noch einmal, mich davon zu überzeugen, dass ich zu meiner eigenen Sicherheit wie sie aufs Festland fliehen müsste. »Ich kann England nicht verlassen«, erklärte ich ihr. »Ich bin England. Und eines Tages werde ich Englands Königin sein.« »Aber nur, wenn Ihr bis dahin noch am Leben seid!«, sagte sie unter Tränen. »Oh, das werde ich! Und ich werde England regieren!«, versicherte ich ihr. Doch als ich dies sagte, hatte ich alle Mühe, meine eigenen Worte zu glauben.
KAPITEL IX DIE KÖNIGIN IST VERLIEBT
Ich war noch sehr betrübt wegen der Abreise meiner Cousine Katharina, als Königin Maria für uns alle überraschend verkündete, sich mit dem Gedanken an eine Eheschließung zu tragen. Seit sie dies dem Rat mitgeteilt hatte, gab es am Hof keinen anderen Gesprächsstoff mehr. »Heiraten?!«, rief ich aus, als Sir William Cecil mir diese Nachricht überbrachte. »Und wen?« Alle Welt glaubte, dass eine Frau weder klug noch stark genug war, allein zu regieren – selbst Sir William war davon überzeugt. Die Wahl eines Gatten für die Königin war also von größter Wichtigkeit, nicht nur für das Wohl der Königin, sondern auch das des ganzen Landes. Die ersten Bewerber waren natürlich schon vom Tag ihrer Krönung an vorstellig geworden. Maria hatte jedoch an keinem von ihnen großes Interesse gezeigt und verlauten lassen, dass sie nicht die Absicht habe, sich vorschnell zu entscheiden. Deshalb traf diese Nachricht mich nun doch etwas überraschend. Beim gemeinsamen Abendessen besprachen Sir William und ich die aussichtsreichsten Kandidaten. »Reginald Pole?«, schlug Sir William vor. »Pole ist Kardinal!«, protestierte ich. »Ein Katholik! Seit mein Vater ihn vor zwanzig Jahren verbannt hat, lebt er in Rom. Und sollte er in der Zwischenzeit nicht sogar mal zum Papst gewählt werden?« Sir William spielte mit seinem adrett gestutzten Schnurrbart. »Was Ihr sagt, trifft zu. Allerdings ist Pole nie zum Priester geweiht worden. Er ist lediglich Diakon und könnte – auf eigenen Wunsch oder
den der Königin hin – von seinem Gelübde als Diakon entbunden werden.« »Wie ich gehört habe, soll Maria früher einmal in ihn verliebt gewesen sein«, sagte ich nachdenklich. »Das liegt allerdings schon Jahre zurück.« »Es gibt noch einen weiteren Kandidaten«, fuhr Cecil fort. »Und dieser hat die Unterstützung etlicher Herren des Rats.« »Und wer ist es?« »Edward Courtenay, der Graf von Devon.« Ich musste lachen. Seit seinem überraschenden Besuch in meinem Haus hatte ich den Grafen zwar nie mehr gesehen, doch er war sicher häufig bei Hof. »Er stolziert herum wie ein aufgeblasener Pfau«, rief ich Cecil in Erinnerung, »und hat keinerlei Manieren. Zugegeben, es ist gewiss nicht leicht, höfische Etikette zu lernen, wenn man seine ganze Jugend im Kerker verbracht hat. Doch andererseits fürchte ich, Edward Courtenay wäre ebenso unerträglich, wenn er eine standesgemäße Kinderstube genossen hätte.« Cecil stimmte mir zu, gab jedoch auch zu bedenken, dass Courtenay ungeachtet all seiner Fehler in den Augen der Räte die beste Partie für die Königin war. »Er ist Engländer und stammt aus einer angesehenen Familie – das genügt, um die Ratsmitglieder zu überzeugen. Einen Ausländer wollen sie unter keinen Umständen auf dem Thron sehen. Allerdings…«, fuhr Cecil nach kurzem Räuspern fort, »wird der Königin über kurz oder lang zu Ohren kommen, dass Courtenay des Öfteren in der Gesellschaft von Damen mit lockerem Lebenswandel gesehen wird und einen Hang zu Ausschweifungen hat. Deshalb dürfte er letzten Endes als Gemahl für Königin Maria wohl doch ausscheiden.« »Oder für mich, dem Himmel sei Dank«, warf ich ein. »Wer gehört sonst noch zu Marias Bewerbern?« »Philipp von Spanien.«
»Das ist unmöglich!«, entfuhr es mir. »Es ist mir völlig gleichgültig, wen meine Schwester heiratet, doch ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ein Spanier überhaupt infrage kommt. Wer auch nur einen Tropfen englischen Bluts in den Adern hat, will mit Sicherheit keinen Spanier an Marias Seite sehen!« Wie sich jedoch schon wenige Wochen später herausstellte, sollte Sir Williams letzte Vermutung sich bewahrheiten: Königin Marias Wahl fiel auf den spanischen Prinzen, Sohn des Vetters ihrer Mutter, Kaiser Karl dem Fünften. Vor langer, langer Zeit hatte unser Vater Maria mit Karl verlobt, doch damals war Maria erst sechs und Karl zweiundzwanzig Jahre alt gewesen. Allerdings war die Verlobung wieder gelöst worden, und Karl war eine andere Ehe eingegangen. Und aus dieser Ehe entstammte ein Sohn – Philipp! Prinz Philipp war inzwischen siebenundzwanzig, zehn Jahre jünger als Maria. Bei einem weiteren Abendessen sagte Cecil: »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Maria in den Hintergrund gedrängt wird und Philipp die Herrschaft über England an sich reißt. Ihre Berater warnen sie inständig, doch sie will nicht auf sie hören.« »Mit welcher Begründung?« »Sie sagt, dass diese Ehe Gottes Wille ist. Ihre Mutter war Spanierin, und sie hat verwandtschaftliche Bande zum Kaiser. Sie fühlt sich geradezu verpflichtet, Philipp zu heiraten.« Meine halsstarrige Schwester! Sie ließ sich von niemandem etwas sagen. Und genau wie ich erwartet hatte, herrschte große Empörung, als Marias Verlobung allgemein bekannt wurde. »Ich hasse die Spanier«, schimpfte Kat. »Man stelle sich vor, dass dieser Philipp bald anreist und die Macht an sich reißt! Und über England herrscht!« Fassungslos schüttelte sie den Kopf. »Gütiger Himmel! Die Königin macht einen
schrecklichen Fehler!« Wenige Wochen nachdem Maria ihre Entscheidung verkündet hatte, traf ein großes Porträt von Philipp in Whitehall ein. Königin Maria ließ es sich nicht nehmen, mich und einige meiner Hofdamen zur Begutachtung einzuladen. Das Gemälde stand auf einer Staffelei im privaten Empfangsraum der Königin und war mit einem seidenen Tuch verhängt. Lady Marian und Lady Cynthia hatten mich begleitet, und während wir auf das Erscheinen der Königin warteten, konnten wir unsere Augen nicht von dem violetten Tuch abwenden. Dann hörten wir Schritte und fielen auf die Knie, sobald die Tür sich öffnete. Die Königin trug ein mit Brokat besetztes Samtkleid und glitzerte wie üblich von Kopf bis Fuß vor Edelsteinen und Juwelen. Auch ihre Augen blitzten. Gleich nach der Begrüßung ging sie zur Staffelei, riss das Tuch herunter und trat dann einen Schritt zurück, damit wir das Porträt bestaunen konnten. »Unser zukünftiger Gemahl«, hauchte Maria mit einer für sie ungewöhnlichen Scheu. Gut, ich gebe es zu: Der junge Prinz mit dem blauen, mit Wolfspelz besetzten Umhang war ein Mann von ansprechendem Äußeren und stattlicher Gestalt. Ich konnte verstehen, dass Maria sich aufgrund dieses Porträts in ihn verliebt hatte. Ob Philipp wohl auch schon ein Bild von Maria gesehen hat?, fragte ich mich unwillkürlich. Was wird er denken, wenn er vor der bereits verblühten englischen Königin steht? Ob er es sich dann noch einmal anders überlegt? Ich hatte nicht vergessen, wie ungnädig mein Vater damals mit Anna von Kleve verfahren war, seiner vierten Ehefrau. Nur aufgrund eines Porträts von ihr hatte er damals beschlossen, sie nach England kommen zu lassen und zu heiraten. Doch ungeachtet unserer geheimsten Gedanken klatschten meine Hofdamen und ich Beifall und gaben anerkennende Kommentare ab. »Der
Prinz ist inzwischen drei Jahre älter als damals, als er dem Maler Tizian Modell stand«, erklärte Maria. »Angeblich soll er heute noch männlicher aussehen. Und auch einen stärkeren Bartwuchs haben«, fügte sie errötend hinzu. »Es interessiert mich einen feuchten Kehricht, wie er aussieht«, meinte Lady Cynthia säuerlich, als wir nach Somerset House zurückritten. »Er ist und bleibt ein Spanier!« »Aber was soll sie auch machen?«, meinte Lady Marian seufzend. »Jemanden muss sie nun mal heiraten, und warum dann nicht ihn?« Sie könnte doch auch ledig bleiben, dachte ich mir. Ich persönlich hatte es jedenfalls vor. Doch das behielt ich vorläufig lieber für mich.
Meine Hoffnung, dass die geplante Vermählung meine Schwester von meiner Person ablenken würde, erwies sich leider als falsch. Als Erstes ereilte mich ihre Nachricht, dass ich in Zukunft ohne ihre Erlaubnis keine Besucher mehr empfangen dürfe. Wieder einmal bekam die arme Kat das ganze Ausmaß meines Zorns zu spüren. »Wie kann sie es wagen!«, schäumte ich. »Sie behandelt mich wie eine Verbrecherin!« Darauf konnte Kat nur das antworten, was ganz offensichtlich war: »Sie kann es wagen, weil sie die Königin ist.« Wenig später ließ Maria mir katholische Lehrbücher überbringen. Wütend schleuderte ich sie an die Wand, hob sie jedoch rasch wieder auf, weil mir – mit einiger Verspätung – klar wurde, dass Spione großzügig belohnt wurden, wenn sie solche Einzelheiten an den Hof meldeten. Ich ermahnte mich, mein Temperament in Schach zu halten und meine Zunge zu hüten, egal auf welch harte Proben meine Schwester mich auch noch stellen würde.
Eines Tages, als ein kalter Wind den kommenden Winter erahnen ließ, rief die Königin mich erneut zu sich. Ich hatte Angst vor dieser Unterredung; vielleicht hatte sie von meinem Wutanfall gehört und wollte mich bestrafen. Ich machte einen Kniefall, trat einen Schritt näher, machte erneut einen Kniefall, einen Schritt näher, einen dritten Kniefall… »Liebe Schwester!«, sagte Königin Maria mit schneidender Stimme. »Euer Majestät?«, entgegnete ich untertänig. »Du gehst doch auch weiterhin täglich zur Heiligen Messe, nicht wahr?« »Gewiss, Euer Majestät. Sogar zweimal täglich. Ich nehme an, dass Euch darüber Bericht erstattet wurde.« Dessen war ich mir sogar ganz sicher. Mindestens die Hälfte meiner Bediensteten und vermutlich auch einige meiner Hofdamen und Höflinge waren Spione, die Maria nur allzu bereitwillig alles zutrugen, was sie hörten und sahen oder vielleicht nur glaubten, gehört oder gesehen zu haben. »Wir wissen sehr wohl, dass du körperlich bei den Messen anwesend bist. Doch was ist mit deinem Geist? Deinem Herzen, Elisabeth? Und wie sieht es in deiner Seele aus?« Sie lächelte säuerlich. »In diesem Punkt haben wir unsere Zweifel.« »Aber, Euer Majestät, ich bin höchst aufrichtig in meinem Glauben«, protestierte ich. »Bist du wirklich fest im katholischen Glauben verankert?«, fragte sie mit einem drohenden Unterton und beugte sich zu mir. Mir war voll und ganz bewusst, dass ich im Moment das bisschen Freiheit riskierte, das ich noch besaß, und möglicherweise sogar mein Leben. Deshalb unterdrückte ich meinen spontanen Impuls zu sagen: Kein Mensch kann gezwungen werden zu glauben, was er nicht glaubt! Heuchlerisch schwor ich meiner Schwester, dass ich fest im
katholischen Glauben verankert sei und den Gottesdienst aus freien Stücken und mit aufrichtiger Überzeugung besuche. Um die Aufrichtigkeit meiner Aussage zu unterstreichen, schlug ich mir beide Hände an die Brust, als ich nun vor ihr kniete. Dabei waren es nichts als Lügen, die aus meinem Munde kamen. »In deinen Worten schwingt keine Wahrheit mit«, entgegnete Maria kühl, während sie mich abschätzig musterte. Unvermittelt lehnte sie sich wieder zurück. »Du erinnerst mich viel zu sehr an deine Mutter. Du wirst ihr von Tag zu Tag ähnlicher – einer Frau, die so viel Unruhe und Ärger im Königreich verursacht hat.« Bei dieser Beleidigung meiner Mutter schlug meine Abneigung gegen Maria unversehens in nackten Hass um. Ich spürte, dass meine Wangen glühten, doch ich bemühte mich angestrengt, mir meinen unbändigen Zorn nicht anmerken zu lassen. »Ich bitte Euch zu bedenken, Euer Majestät, dass Ihr und ich denselben Vater habt. In unseren Adern fließt dasselbe Tudor-Blut.« Maria lachte – ein barsches, unschönes Lachen. »Daran gibt es so manchen Zweifel«, sagte sie und trommelte mit den Fingern auf ihre Armlehnen. Ich hielt den Kopf gerade, blickte meine Schwester nur wortlos und flehentlich an und wagte kaum zu atmen. »Es ist nicht zu übersehen, dass du weit mehr Ähnlichkeit mit Mark Smeaton, einem Mann von niedriger Geburt, hast, als mit dem Mann, den du deinen Vater nennst«, fauchte sie. Vor lauter Wut wäre ich fast ohnmächtig geworden, und ich musste eine Hand ausstrecken, um einen festen Halt zu finden. Und zugleich hatte ich plötzlich schreckliche Angst. Mark Smeaton war einer der fünf Männer, mit denen meine Mutter fälschlicherweise des Ehebruchs bezichtigt worden war. Die anderen vier Männer waren Edelleute – einer sogar der eigene
Bruder meiner Mutter! Und mein Vater ließ sie allesamt enthaupten. Meine Mutter musste die Enthauptung der fünf Männer sogar mit ansehen, ehe auch sie zum Richtblock geführt wurde. Maria wusste genau, dass die Anklagen gegen Anne Boleyn aus der Luft gegriffen waren, Lügenmärchen, die mein Vater sich ausgedacht hatte, um sich einer Ehefrau zu entledigen, der er überdrüssig geworden war. Doch in diesem Augenblick war es, als würde nicht ich, sondern meine Mutter vor Maria knien und auf ihre Verurteilung warten. Würden Marias Taten so grausam sein wie ihre Worte? Zitternd wartete ich. Sehr lange Zeit starrte die Königin mich nur geringschätzig an. Doch dann plötzlich entließ sie mich mit einer ungnädigen Handbewegung. Rückwärts entfernte ich mich mit den vorgeschriebenen drei Kniefällen. Meine Knie zitterten so sehr, dass ich befürchtete, nicht mehr aufstehen zu können. Es kostete mich unglaublich viel Kraft, mit unbewegtem Gesicht an der Hofnärrin Jane mit ihrem kahl geschorenen Schädel vorbeizugehen, an den Hofdamen, die ruhig über ihren Stickrahmen saßen. Dann an den Wächtern vorbei, die steif an jeder Tür standen, an den Höflingen, die plaudernd in der Langen Galerie herumstanden, und schließlich an der Wachmannschaft, die am Eingangstor von Whitehall postiert war. In der bangen Erwartung, dass die Wachen der Königin mich gleich ergreifen würden, stand ich keuchend da und wartete darauf, dass mein Pferd auf den Hof geführt wurde. Sobald ich aufsaß, hätte ich ihm zu gern die Sporen gegeben und wäre losgeprescht, doch ich zwang mich zu einer gemäßigten Gangart, bis ich nach einer endlos lange scheinenden Zeit in meinem Palast ankam. Jeder Schritt führte mich weiter weg von der verhassten Königin, doch leider nicht weg von aller Gefahr.
Als ich in Somerset House ankam, musste ich zuerst den Salut meiner Wachen, die Begrüßung meiner Hofleute, meiner Bediensteten und meiner Hofdamen über mich ergehen lassen. Ich fühlte mich noch etwas schwach auf den Beinen, doch ich schaffte es mit hoch erhobenem Haupt bis in mein Schlafgemach, während ich so tat, als sei nichts vorgefallen. Doch sobald die Tür hinter mir zugefallen war, ließ ich mich auf mein Bett fallen und weinte, bis ich keine Tränen mehr hatte. Als mein Schluchzen verebbte, gewann Wut allmählich die Oberhand über meine Angst. Ich richtete mich auf und rief nach Kat. Nachdem ich ihr erzählt hatte, was die Königin mir alles vorgeworfen hatte, sagte sie: »Ihr müsst fort von hier. Je früher, desto besser. Ich fürchte um Euer Leben, Elisabeth. Es geht um mehr als nur um Eure Kirchenbesuche.« Ich ließ mir Kats Ratschlag durch den Kopf gehen. »Du hast Recht«, sagte ich dann. Gleich am nächsten Tag schrieb ich an meine Schwester. Ich erbitte untertänigst die Erlaubnis Eurer Majestät, meinen Haushalt nach Ashridge in Hertfordshire zu verlegen, bat ich sie. Ich musste tagelang auf eine Antwort warten. Als diese schließlich eintraf, entpuppte sie sich als Ablehnung. Ich ließ mich jedoch nicht entmutigen und schrieb erneut. Diesmal flehte ich Maria an, mir wenigstens eine Audienz zu gewähren. Wieder vergingen Tage bangen Wartens, ehe die Königin sich schließlich bereit erklärte, mich zu empfangen. Als ich mit flehentlicher Miene vor Maria kniete, betrachtete sie mich wieder lange und schweigend. In meinem Herzen tobten die wüstesten Gefühle, doch mir war klar, dass ich mir nichts anmerken lassen durfte.
»Du willst weg vom Hof?«, fragte Maria schließlich. »Wenn Euer Hoheit so gütig wäre, mir Ihre Erlaubnis zu geben«, wisperte ich, »würde ich gern in Ashridge leben.« Wieder spannte sie mich etliche Sekunden auf die Folter. »Dann geh!«, sagte sie schließlich. Ich dankte ihr – endlich konnte ich eine aufrichtige Regung zeigen. Als ich mich wieder erhob und zum Gehen anschickte – mit dem üblichen Schritt rückwärts, einem Kniefall, einem Schritt rückwärts und so weiter – hob die Königin noch einmal die Hand. »Elisabeth!« Nervös wartete ich auf das, was gleich kommen würde. »Doch ehe du London verlässt«, sagte sie, »wünschen wir dich noch einmal zu sehen.« »Wie Euer Majestät wünschen«, erwiderte ich erleichtert und machte meinen dritten Kniefall. Was will sie denn noch?, fragte ich mich besorgt, als meine Bediensteten schon am Packen waren. Ich hatte der Königin bereits geschrieben, dass ich wie gewünscht jederzeit zu ihr kommen könne, um mich von ihr zu verabschieden. Am nächsten Tag ließ sie mich rufen. Ich bereitete mich innerlich auf das vor, was hoffentlich ein letzter Besuch sein würde. Diesmal schien Maria etwas freundlicher gesinnt, sie wirkte fast freundschaftlich. Doch ich traute ihr nicht mehr über den Weg. Die Hofnärrin Jane und Lucretia, die Bodenakrobatin, waren anwesend, um die Königin mit ihren Kunststückchen zu unterhalten. Jane sah anders aus als sonst, wie mir auffiel: Auf ihrem kahl geschorenen Kopf trug sie eine üppige Zobelhaube, die ihr bis zu den Schultern reichte. »Wir haben ein Geschenk für dich«, sagte Königin Maria zu mir. Wie auf Kommando trat Hofnärrin Jane vor, wobei sie wie üblich über ihre viel zu großen Clownsschuhe stolperte, und riss sich die Haube vom Kopf. Maria nahm sie entgegen und setzte sie mir auf. »Das wird dich während des frostigen Winters in Ashridge wärmen,
Elisabeth«, sagte die Königin. Während ich mich noch über dieses unerwartete Geschenk wunderte, schlug Akrobatin Lucretia einen Purzelbaum und fuchtelte dann mit beiden Händen vor meinem Gesicht herum. Und auf einmal hielt ich zwei teure Perlenketten in der Hand. Verdutzt blickte ich auf. Maria lächelte, doch ihre Augen blieben kalt. »Damit du uns nicht vergisst…«, sagte sie nur. »Ihr werdet stets in meinen Gedanken sein, liebste Schwester«, antwortete ich. Das war nicht gelogen – meine Angst vor ihr würde nie erlöschen, ebenso wenig wie mein Hass auf sie! Königin Maria erhob sich, um mich zu umarmen. Ich zwang mich, ihre Umarmung zu erwidern. Dann gab sie mir ihren Segen, und ich war entlassen. Ich konnte gehen! Doch meine Erleichterung war nur von kurzer Dauer. Vor der Tür zu den Privatgemächern der Königin lauerten mir zwei ihrer Räte, Sir William Paget und der Graf von Arundel, auf. »Lady Elisabeth«, sagte Paget, und sowohl seine Worte als auch sein Tonfall erinnerten mich daran, dass ich in den Augen vieler keine Prinzessin, sondern die uneheliche Tochter einer in Unehre gefallenen Frau war. Sie nahmen mich in ihre Mitte, begleiteten mich durch die Lange Galerie und zogen mich irgendwann unvermittelt in eine kleine Kammer. Die schwere Tür schlug hinter uns zu. Beide blickten alles andere als freundlich drein. Was wollten sie von mir? »Ihr reist demnächst nach Ashridge?«, erkundigte sich Paget. »Jawohl, morgen schon.« »Wer wird Euch begleiten?« Kat, teilte ich ihnen mit, Mr Parry, mein Haushofmeister, und dessen Schwester Blanche, die meine Zofen beaufsichtigte. Ich nannte auch die anderen Personen meines Gefolges und merkte, dass ich dabei immer unsicherer und ängstlicher wurde. »Und wer erwartet Euch dort?«, wollte Arundel wissen.
Ich blickte ihn verwundert an. »Wer sollte mich dort erwarten?«, fragte ich ratlos zurück. Die beiden Räte tauschten einen kurzen Blick aus. »Wir werden ehrlicher zu Euch sein, als Ihr es vermutlich zu uns seid«, begann Paget. »Seid gewarnt, Lady Elisabeth: Ihr werdet aufmerksam beobachtet werden, ob es nicht irgendwelche Anzeichen gibt, die darauf hinweisen, dass Ihr einen Aufstand, eine Verschwörung plant, die den Sturz der Königin zum Ziel hat.« »Ich versichere Euch, dass ich keinerlei derartigen Absichten hege, meine Herren!«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Ich bin meiner Schwester, der Königin, die ich liebe und ehre, treu ergeben.« »Dann hütet Euch davor, Euch von anderen mit derartigen Absichten missbrauchen zu lassen. Ihr mögt vielleicht unschuldig sein, andere jedoch nicht. Sollte es zu einer Verschwörung gegen die Königin kommen, würde die Verantwortung dafür allein auf Euren Schultern lasten.« Die zwei alten Schwätzer traten zurück, verbeugten sich förmlich, und endlich konnte ich die Kammer verlassen. Ich floh mit dem Anschein von wesentlich größerer Gelassenheit, als ich verspürte.
Die ersten dicken Schneeflocken dieses Winters fielen vom Himmel, als ich im späten November von London aufbrach. Auf den matschigen Straßen wichen Bauersleute respektvoll aus, um meiner Sänfte und dem königlichen Gefolge Platz zu machen, und rissen sich untertänig die Kappen vom Kopf. Sobald wir in Ashridge angekommen waren, setzte ich mich pflichtschuldig an meinen Schreibtisch, um der Königin zu schreiben und mich für die erwiesenen Gefälligkeiten zu bedanken. Und ich bat sie auch, einige Priesterornate zu schicken, die wir für die Gottesdienste brauchten. Maria hatte
dafür gesorgt, dass etliche katholische Priester mit mir gereist waren. Ich wollte, dass sie gebührend gekleidet waren für ihre Rolle, derweil ich weiterhin meine Rolle als brave Katholikin zu spielen gedachte. Danach richtete ich mich häuslich ein und hoffte, mit meinen üblichen Beschäftigungen – Studieren, Sticken, Musizieren und amüsanten Plaudereien mit meinen Hofdamen – einen friedlichen Winter zu verbringen.
KAPITEL X AUFSTAND UND VERRAT
Kurz nach meiner Ankunft in Ashridge geschah etwas höchst Befremdliches. Ich war in der Kapelle und kniete im Beichtstuhl, als der Priester hinter dem kleinen Gitter, der ganz offensichtlich ein verkleideter Bote war, mir einen Brief zuschob. An Elisabeth, die einzig wahre Prinzessin, die England zu regieren vermag, las ich. Euer Tag wird kommen! Die Vorbereitungen sind bereits in vollem Gange, Betet für das Gelingen unseres Plans. Euer gehorsamer Diener, Thomas Wyatt. Mein Herz raste. Ich wusste kaum etwas über Wyatt. Und obwohl ich mich im Moment in einer Kapelle befand, verfluchte ich ihn insgeheim. Was er da getan hatte, war unglaublich gefährlich – für ihn selbst natürlich, aber ebenso für mich. »Ich will nichts damit zu tun haben«, wisperte ich dem geistlichen Boten im Beichtstuhl zu und floh eilends aus der Kapelle. Den schändlichen Brief verbrannte ich umgehend, und ich sprach mit niemandem darüber, nicht einmal mit Kat. Und da ich nicht so recht wusste, was ich von diesem Wyatt, dem Sohn des beliebtesten Dichters am Hof meines Vaters, halten sollte, versuchte ich, nicht mehr an sein geheimes Schreiben zu denken, und betete, er möge seine Verschwörungsabsichten fallen lassen. Erst nachdem ich mehrere Wochen nichts mehr von ihm gehört hatte, wurde ich wieder etwas ruhiger. Als der Winter ins Land zog, wurde ich krank und musste mit Fieber das Bett hüten. Kat machte sich große Sorgen, weil ich so schwach und blass war, und ließ meinen Leibarzt rufen, der meinte, dass es an der Galle läge.
Als verschiedene unangenehme Abführkuren keine Besserung brachten, konsultierte der Leibarzt meinen Astrologen, Dr. John Dee. Dieser kam zu dem Schluss, dass nur ein Aderlass in der Stunde nach Mitternacht mich heilen könnte. Also kam ein Chirurg, der mir eine Ader im linken Arm aufritzte. Nachdem die Schale mit dem Blut weggetragen und meine Wunde verbunden worden war, flößte Kat mir heißen Kräutertee ein und wachte an meinem Bett. Am nächsten Tag war das Fieber beträchtlich gesunken, doch ich war nach wie vor viel zu schwach, um ohne fremde Hilfe aufzustehen. Während meiner Genesungsphase saß Kat Stunde um Stunde an meinem Bett und erzählte mir alles, was in den letzten Tagen passiert war, als ich die meiste Zeit von einem Fiebertraum in den nächsten geglitten war. »Die spanischen Diplomaten sind eingetroffen, um die Heiratsbedingungen zwischen Prinz Philipp und der Königin auszuhandeln«, wusste sie zu berichten. »Der Empfang war allerdings recht unterkühlt. Mr Parry hat erfahren, dass eine aufgebrachte Schar von Menschen, die keinen spanischen König wollen, sie mit Schneebällen und Beschimpfungen begrüßt haben.« Ich schmunzelte bei der Vorstellung, dass die arroganten Spanier mit Schneebällen beworfen worden waren! »Und wann soll die Hochzeit stattfinden?«, fragte ich. »Im Sommer, glaube ich. Doch es gibt noch eine andere Neuigkeit, die weitaus besorgniserregender ist«, fuhr Kat fort. »Am fünfundzwanzigsten Januar ist Sir Thomas Wyatt aus Kent mit einem Heer von mehreren tausend Männern auf London zu marschiert. Er hatte die Absicht, die Königin gefangen zu nehmen und abzusetzen.« Ich bekam einen Schreck. »O Gott!«, stöhnte ich. Der Brief! »Und was ist passiert?«, fragte ich ängstlich. »Als die Nachricht von Wyatts geplanter Revolte in London bekannt
wurde, wurde die Königin von den Räten gedrängt, sich hinter den dicken Mauern des Towers zu verschanzen. Einige meinten sogar, sie solle am besten das Land verlassen. Doch Maria wollte nichts davon hören. Sie blieb in ihrem Palast. Und sie hielt eine so tapfere, unerschrockene Rede, dass den Zuhörern – wie Mr Parry sagte – die Tränen kamen und sie ihr ewige Treue gelobten.« »Der Aufstand wurde doch hoffentlich niedergeschlagen, nicht wahr?« »O ja! Am siebten Februar wurde Wyatt gefangen genommen und in den Tower gebracht.« Kat zögerte, doch ich flehte sie an, mir nichts zu verschweigen. »Wyatt behauptet, er habe es für Euch getan, und Ihr wärt in alles eingeweiht gewesen. Außerdem hättet Ihr ihm Eure Zustimmung gegeben und ihm jede Unterstützung zugesagt.« »Alles Lügen!«, rief ich empört aus, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprach. »Gelogen!« Ich versuchte mich aufzusetzen, doch die Anstrengung war zu groß und ich sank ermattet wieder in meine Kissen. »Hat er allein gehandelt?«, fragte ich. »Oder hatte er Mittäter?« »Edward Courtenay wurde ebenfalls verhaftet.« »Courtenay? Dieser Dummkopf! Welche Rolle spielte er bei diesem Mitleid erregenden Mummenschanz?« »Die Verschwörung hatte zum Ziel, Euch mit Courtenay zu vermählen. Wäre sie geglückt, hättet ihr beide an Marias Stelle regiert.« Meine Gedanken überschlugen sich. So viel Neues war fast zu viel, um es auf Anhieb zu verdauen. »Gibt es sonst noch etwas?«, fragte ich und hoffte, Kat würde den Kopf schütteln. Doch diesen Gefallen tat sie mir nicht. »Ich fürchte ja, Madam.« »Erzählt!«
»Es betrifft Lady Jane Dudley und ihren Gemahl Guildford«, sagte Kat betrübt. »Die Königin hat ihren Hinrichtungsbefehl unterzeichnet.« »Aber die beiden hatten doch sicherlich nichts mit der Verschwörung Wyatts zu tun!« »Nein, Madam, sie nicht«, antwortete Kat. »Aber Janes Vater. Er hat die Grafschaften Mittelenglands aufgehetzt. Ich fürchte, für die drei gibt es keine Hoffnung mehr.« Ich wandte den Kopf ab. Würde meine Schwester die kleine Jane wirklich enthaupten lassen? Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen! Jane hatte nichts mit der Verschwörung zu tun! Und obwohl ich noch sehr geschwächt war, traf mich eine plötzliche Erkenntnis wie ein Fausthieb: Maria würde mir alle Schuld an der Verschwörung zuschieben, und ich würde teuer bezahlen müssen! Wenn Maria sogar Lady Jane aufs Schafott schickte, dann würde sie auch in meinem Fall nicht zögern. Die Königin hatte Angst, und Angst macht bekanntlich unbarmherzig. Ich war müde, schrecklich müde, doch während ich wieder einschlummerte, wurde mir bewusst, dass ich in Bälde jeden Funken Kraft aufbringen musste, den ich besaß, um mich zu verteidigen. Andernfalls wäre mein Leben keinen Pfifferling mehr wert.
Der gefürchtete Tag kam, noch ehe ich innerlich darauf vorbereitet war. Das Fieber war zurückgekehrt, schlimmer als zuvor, und ich hatte mein Schlafgemach seit Wochen nicht verlassen können. Eines Morgens, als ich im Bett lag und mich äußerst unwohl fühlte, hörte ich Stimmen unten im Hof und erfuhr wenig später, dass ein Botschafter aus London eingetroffen war. Er hatte ein Schreiben bei sich, das er nur mir persönlich aushändigen durfte. Als er mein Schlafgemach betrat, sah ich, dass er die königliche Uniform trug. Mit wild
pochendem Herzen brach ich das Wachssiegel mit dem Abdruck des königlichen Rings. Lady Elisabeth wird befohlen, sich umgehend bei Ihrer Majestät, der Königin, einzufinden. Das war alles. Kein Grund, keine Erklärung, nichts! Unterzeichnet war das Schreiben mit ihren Initialen, M. R. für Maria Regina. Ich sank in meine Kissen zurück, und Kat nahm mir den Brief aus der Hand. »Unsinn!«, sagte sie tadelnd zu dem Boten. »Ihr seht ja selbst, dass Lady Elisabeth außerstande ist, eine Reise anzutreten.« Doch der Bote ließ sich von Kat nicht einschüchtern. Er war mindestens ebenso stur wie sie und beharrte darauf, dass ich noch am selben Tag aufbrechen müsste. Das sei der ausdrückliche Befehl der Königin, dem ich mich zu beugen hätte. Kat weigerte sich, nachzugeben, und ich war so schwach, dass ich nur halbherzig protestieren konnte. Kat eilte aus meinen Gemächern, um meine Ärzte zu bitten, umgehend an Königin Maria zu schreiben. Innerhalb einer Stunde machte sich der Bote mit dem Schreiben meiner Ärzte wieder auf den Weg nach London. So blieb mir noch etwas Zeit, doch in den folgenden Tagen konnte ich vor Angst kaum noch schlafen. Und es dauerte keine Woche, bis auch schon der zweite Bote eintraf. Mein Fieber war etwas gesunken, und ich hatte mich so weit erholt, dass ich mit Kissen im Rücken sitzen konnte. Aufstehen konnte ich jedoch noch nicht. Dieser zweite Bote wurde von ernst dreinblickenden Wachen begleitet. »Wir haben den Befehl, Lady Elisabeth notfalls mit Gewalt mit uns zu nehmen«, sagte der Anführer der Wachen, ein stämmiger Kerl mit einem schlecht gestutzten Bart. »Hinaus mit euch!«, befahl Kat und versuchte die Wachen zu verscheuchen, als wären sie eine Gänseherde. »Die Lady ist krank und braucht Ruhe.«
»Maria glaubt nicht, dass ich krank bin«, sagte ich unter Tränen zu Kat, sobald die Wachen sich widerwillig zurückgezogen hatten. »Sie denkt, ich täusche die Krankheit nur vor.« »Liebste Elisabeth«, antwortete Kat, »leider habt Ihr keine andere Wahl und müsst diese Reise antreten. Die Königin hat eine Sänfte für Euch geschickt, und die Wachen dulden keinen Aufschub.« Sie tätschelte meine Hand. »Aber keine Angst, ich werde Euch begleiten und mich weiterhin um Euch kümmern.« So kam es, dass ich Ashridge am achtzehnten Februar mit einem kleinen Gefolge verließ, voller Angst vor dem, was mich erwartete. Die Reise nach London in einer Sänfte dauert normalerweise drei Tage, auf einem schnellen Pferd natürlich sehr viel weniger. Doch Kat, die stets neben meiner Sänfte herritt, erlaubte den Reitern nicht, die Geschwindigkeit über das Schritttempo hinaus zu erhöhen. Da wir auch recht häufig eine Rast einlegten, dauerte die Reise insgesamt fünf Tage. Für mich waren es fünf endlose, schreckliche Tage. Als wir kurz vor London waren, ließ ich mich von meinen Zofen in ein schlichtes, weißes Gewand kleiden. Die Leibwache der Königin kam uns entgegen, um uns das letzte Stück des Wegs zu begleiten, und Kat zog die Vorhänge der Sänfte zurück, damit die neugierige Menschenmenge am Wegrand mit eigenen Augen sehen konnte, wie krank ich war. Und tatsächlich hatte ich mich noch nie im Leben elender gefühlt. Ich ging davon aus, in den Whitehall-Palast zu meiner Schwester gebracht zu werden. Doch ich hatte mich getäuscht. Ich wurde in den St. James-Palast geleitet, wo man mich unter strenge Bewachung stellte. Der Hauptmann der Wache verlas die Namen von einem halben Dutzend meiner Hofdamen. »Ihr habt die Erlaubnis, bei Lady Elisabeth zu bleiben«, teilte er ihnen brüsk mit. »Die anderen müssen gehen.« Ich schnappte
empört nach Luft. Die Hofdamen, die somit entlassen waren, begannen in aller Eile, ihre Habseligkeiten zusammenzusuchen. Kat weigerte sich, mich zu verlassen, doch einer der Soldaten wollte sie resolut aus dem Zimmer drängen. »Ich habe vorhin meinen Namen nicht gehört«, protestierte sie lauthals. »Das kann nur ein Versehen sein.« Der Mann funkelte sie an. »Ah, Ihr müsst Mistress Ashley sein. Die Königin hat ausdrücklich angeordnet, dass Ihr entlassen seid.« Kat schrie auf, und ich hätte am liebsten mitgeschrien. Doch was hätte das genützt? Deshalb fiel ich ihr nur um den Hals, drückte sie an mich und ließ sie dann gehen. Wir hatten beide Tränen in den Augen. Kurz darauf kam ein halbes Dutzend neuer Hofdamen an, die Maria sicher als Spioninnen geschickt hatte. Lady Maud, eine verhutzelte Frau fortgeschrittenen Alters, war etwas gesprächiger als die anderen. Von ihr erfuhr ich, dass Lady Jane und Guildford Dudley in der Zwischenzeit enthauptet worden waren. »Ich war bis zum Schluss bei ihr, dem armen, kleinen Ding«, berichtete Lady Maud mit ihrer heiseren Stimme. »Dabei gab die Königin ihr jede Chance, ihren Kopf zu retten.« Maud richtete ihren knotigen Finger auf mich. »Ihre Majestät hätte Lady Jane begnadigt, wenn sie sich zum katholischen Glauben bekannt hätte. Doch Lady Jane wollte nichts davon wissen. Ihre letzten Stunden brachte sie damit zu, Abschiedsbriefe an ihre Familie zu schreiben und die Ansprache vorzubereiten, die sie vom Schafott aus halten wollte.« Ich dachte an das intelligente, ernsthafte junge Mädchen zurück, das so häufig an meinem Unterricht teilgenommen hatte. Hätte ich auch so viel Mut aufgebracht wie sie? Werde ich ebenso viel Mut brauchen für das, was mir bevorsteht? »Die Königin hatte auch erlaubt, dass Guildford sich von ihr persönlich verabschiedet«, erzählte Maud weiter. »Doch Lady
Jane weigerte sich, ihn zu empfangen. Da er nicht von königlichem Blut war, wurde er zur Hinrichtung auf den Tower Hill geführt. Ich war bei Lady Jane, als sein enthaupteter Körper in ein blutiges Tuch gehüllt auf einem Karren vorbeigefahren wurde. Sie wurde blass, das könnt Ihr mir glauben, doch sie vergoss keine einzige Träne.« Ich dachte an Guildford Dudley, den albernen, unreifen jungen Mann, den ich nie gemocht hatte. Lady Maud genoss es sichtlich, in ihren Erinnerungen zu schwelgen, weshalb ich sie nicht unterbrach. »Es war meine Aufgabe, Lady Jane die Stufen zum Schafott hinaufzubegleiten, und das tat ich dann auch, obwohl es mir fast das Herz brach. Sie kniete sich auf die Sägespäne und sagte den einundfünfzigsten Psalm von vorn bis hinten auf. Dann reichte sie mir ihre Handschuhe und ihr Taschentuch und nahm die Augenbinde entgegen. Sie wollte nicht, dass ich ihr helfe, und band sie sich selbst um. Doch dann konnte sie ihren Weg zum Richtblock nicht finden und tastete herum wie eine Blinde. ›Wohin? Wohin?‹, rief sie voller Panik aus. Schließlich musste ich sie doch das letzte Stück begleiten, obwohl ich alles in der Welt dafür gegeben hätte, wenn mir diese schwere Aufgabe erspart geblieben wäre!« Lady Maud machte eine kurze Pause und schniefte in ihr Taschentuch, ehe sie fortfuhr. »Dann kniete Lady Jane sich vor den Block und sagte mit lauter Stimme: ›Gott, in deine Hände empfehle ich meinen Geist.‹ Ein Axthieb, und es war vorbei. Der Scharfrichter hielt den abgeschlagenen Kopf an den Haaren hoch und rief: ›Seht her, so ergeht es allen Feinden der Königin! Hier seht ihr den Kopf einer Verräterin!‹ Das Blut sprudelte aus ihrem leblosen Körper, und ein paar alte Frauen drängten sich vor, um es aufzuwischen. Später, als die Neugierigen sich verlaufen hatten, war es meine letzte
Aufgabe, dafür zu sorgen, dass ihre Leiche unter dem Altar in der Kapelle des Heiligen Petrus ad Vincula beigesetzt wurde.« Lady Maud blinzelte und schloss ihre grauenhafte Schilderung mit den Worten ab: »Da ruht sie nun, die NeunTage-Königin, zwischen Katharina Howard und Eurer Mutter, Anne Boleyn.« Ich brach in Tränen aus. Ich weinte um die Gefährtin meiner Kindertage, ich weinte um meine Mutter, an die ich mich kaum erinnerte, und um mein eigenes Leben. Inzwischen war mir klar geworden, dass meine Schwester keine Gnade kannte, wenn sie ihren Thron bedroht sah – sei diese Bedrohung nun real oder nur eingebildet.
KAPITEL XI IM TOWER
Obwohl sie mich so dringlich nach London hatte kommen lassen und ich ihr nach meiner Ankunft mehrmals geschrieben hatte, weigerte sich Königin Maria, mich zu sehen. Stattdessen kam ein Mitglied des Rats nach dem anderen, und manchmal auch mehrere gleichzeitig, in meine schmucklosen Gemächer im St. James-Palast. Und die Verhöre begannen! Wieder einmal hing alles davon ab, ob ich genügend Durchhaltungsvermögen aufbrachte und wie geschickt ich notfalls zu lügen verstand. Was wisst Ihr von Thomas Wyatt? »Ich weiß, dass er der Sohn des Hofdichters desselben Namens ist. Thomas Wyatt der Ältere war sehr beliebt am Hof meines Vaters, König Heinrich dem Achten.« Habt Ihr mit Thomas Wyatt dem Jüngeren heimlich geplant, ihre Majestät die Königin zu stürzen? »Ich würde niemals eine Verschwörung gegen Ihre Majestät die Königin, meine geliebte Schwester, planen, der ich bis zum Tod die Treue geschworen habe.« Hat Sir Thomas Wyatt Euch in seine Pläne eingeweiht? »Ich hatte niemals Kontakt mit Sir Thomas Wyatt, das schwöre ich.« Wir wissen, dass er Euch geschrieben hat. Habt Ihr seine Briefe etwa nicht erhalten? »Ich weiß von keinen Briefen.« Das entsprach der Wahrheit; ich wusste nur von einem einzigen Brief, nicht von Briefen in der Mehrzahl. Habt Ihr auf diese Briefe geantwortet? »Ich kann nicht auf Briefe antworten, die ich nie erhielt.«
Gesteht Ihr, dass Ihr die Absicht hattet, Edward Courtenay zu heiraten und Euch dann zur Königin ausrufen zu lassen? »Ich verspürte zu keinem Zeitpunkt den Wunsch, auch nur mit ihm zu sprechen, ganz zu schweigen davon, jemals seine Gemahlin zu werden. Und was die Königin angeht: Ich erkenne nur eine einzige Königin an, und das ist meine geliebte Schwester Maria.« Thomas Wyatt war noch am Leben, wie mir meine Fragesteller mitteilten, und noch immer im Tower eingekerkert. Mir war klar, dass er gefoltert werden würde, bis er alles gestand, was die Königin und ihre Räte hören wollten, ob es nun der Wahrheit entsprach oder nicht. Nämlich, dass ich von dem Komplott gegen Maria gewusst und dieses sogar gutgeheißen hätte. Meinen Namen hatte Wyatt bereits genannt. Und wenn sein Körper erst mal auf der Streckbank lag, würde er sicher auch die unmöglichsten Einzelheiten hinzudichten, die seine Folterknechte hören wollten. Die quälenden Befragungen dauerten endlos an, Stunde um Stunde und Tag um Tag. Ich war mittlerweile zwanzig, fünf Jahre älter als damals, als Sir Robert Tyrwhitt mich anlässlich der Verhaftung von Tom Seymour ins Verhör genommen hatte. Wieder einmal hing alles von meiner Schlagfertigkeit ab, meinem Geschick, die Fragen so zu beantworten, dass die Befrager von meiner Unschuld überzeugt sein würden. Während ich meinen Verstand immer mehr schärfte, wurde auch mein Körper merkwürdigerweise wieder kräftiger. Mein Gesundheitszustand besserte sich zusehends.
Als ich am Palmsonntag von der Messe in der königlichen Kapelle zurückkehrte, fand ich in meinen Gemächern ein halbes Dutzend Wachen vor, die mich ganz offensichtlich erwarteten. Erschrocken hielt ich die Luft an.
»Aus welchem Grund seid Ihr hier?«, fragte ich beklommen. »Bereitet Eure Abreise vor, Madam«, antwortete der Hauptmann. Den entschlossenen Mienen seiner Männer konnte ich entnehmen, dass ich keineswegs in die Freiheit entlassen werden sollte. »Und wohin?«, fragte ich, obwohl mir die Angst vor der Antwort, die ich gleich hören würde, fast den Hals zuschnürte. »In den Tower, Madam«, erklärte mir der Hauptmann mit einem höhnischen Grinsen. »In den Tower?« Hatte Thomas Wyatt sie doch von meiner Mitschuld überzeugen können? Vor Schreck wäre ich fast in Ohnmacht gefallen. Doch ich wusste, dass ich meine Angst nicht zeigen durfte. »Nein!«, rief ich ungläubig. »Auf wessen Befehl hin?« Natürlich war mir schon im Voraus klar, wie die Antwort lauten würde. »Auf Befehl Ihrer Majestät, der Königin.« »Zeigt mir diesen Befehl!« Der Hauptmann hielt mir ein Pergament vor die Nase. Ich sah nur die Unterschrift – Maria Regina. Thomas Wyatt war angeblich bereits zum Tode verurteilt worden. Würde ich die Nächste sein? Bitte nicht, lieber Gott, bitte nicht! Die Wachen schauten ungeduldig zu, wie Lady Cynthia und Lady Marian, beide sichtlich erschüttert, meine wichtigsten Sachen zusammenpackten. Ich gab ihnen heimlich zu verstehen, möglichst langsam vorzugehen, um etwas Zeit zu gewinnen. Schweigend flehte ich Gott an, mir zu helfen. Als meine Hofdamen ihre Aufgaben nicht länger hinauszögern konnten, wandte ich mich an den Hauptmann der Wachen. »Bitte, bringt mir Feder und Papier! Ich möchte an meine Schwester, die Königin, schreiben.« Die Wachen tauschten empörte Blicke aus. Der Leutnant, ein schlaksiger junger Mann, ersuchte den Hauptmann, mir diesen Wunsch zu erfüllen. »Was kann es schon schaden?«, flüsterte der junge
Mann beschwörend, und zu meiner Erleichterung gab der Hauptmann schließlich nach. »Aber beeilt Euch«, knurrte der Hauptmann, als mir meine Schreibutensilien gebracht wurden, »die Strömung wartet nicht.« Mir war klar, was er meinte: Wir würden mit einer Barkasse vom Anlegesteg des St. James-Palasts flussabwärts zum Tower fahren. Die Themse ist einem starken Gezeitenwechsel unterworfen, und zu gewissen Zeiten ist es gefährlich, wenn nicht gar unmöglich, unter den Bögen der London Bridge durchzufahren. Viele Bootsleute mitsamt ihrer Fahrgäste fanden schon ein feuchtes Grab, weil sie sich verschätzt hatten. Ich war mir sicher, dass die Wachen dieses Risiko nicht eingehen wollten, besonders jetzt im Frühjahr, wenn der Wasserstand am höchsten steigen konnte. Durch das Schreiben dieses Briefs würde ich etwas Zeit gewinnen – Zeit für meine Schwester, Nachsicht zu üben und ihre Meinung zu ändern. »Ich bitte um Nachsicht, meine Herren«, sagte ich und setzte mich mit Pergament, Tintenfass und Federkiel an meinen Schreibtisch. Wenn ich Maria nur dazu überreden könnte, mich zu empfangen! Ich wusste, ich würde ihr in die Augen blicken und sie ohne mit der Wimper zu zucken anlügen können. Ich würde ihr meine unerschütterliche Treue und auch meine Unschuld bei jedwedem Komplott schwören. Wenn sie mir ins Gesicht schaute und daran erinnert wurde, dass wir die Töchter desselben mächtigen Königs waren, würde sie es sicherlich nicht über sich bringen, mich hinrichten zu lassen! Für mich hing alles von diesem Brief ab. Ich wählte jedes einzelne Wort mit großem Bedacht, während die Wachen mich ungeduldig beobachteten und mit den Füßen scharrten. Diejenigen meiner Hofdamen, denen erlaubt worden war, mich zu begleiten, brachen in Tränen aus – sehr zum Unbehagen des jungen Leutnants und zum Verdruss des Hauptmanns. Nachdem ich
jedes nur mögliche Argument angeführt hatte, das zu meinen Gunsten sprach, fügte ich meinem Schreiben noch einen weiteren Satz hinzu: Ich flehe Euch an, seid so gütig, mir wenigstens eine kurze Antwort zukommen zu lassen. Ich unterzeichnete mit: Euer Majestät untertänigste Dienerin, vom Anbeginn bis zum Ende meiner Tage, Elisabeth. Anschließend zog ich unter meine Unterschrift ein paar diagonale Striche quer über das Blatt, damit niemand ein erfundenes Nachwort hinzufügen konnte. Ich versiegelte den Brief sorgfältig und erhob mich. »Ich bin bereit«, sagte ich. »Seid bitte so freundlich, diesen Brief Ihrer Majestät der Königin auszuhändigen.« Der Hauptmann platzte fast vor Zorn. »Zu spät, Madam«, fauchte er mit hochrotem Kopf. »Die Ebbe hat eingesetzt. Bis zum Gezeitenwechsel müssen wir jetzt sechs Stunden warten.« »Das bedauere ich«, sagte ich scheinheilig. Sechs Stunden – das war zwar nicht viel Zeit, aber vielleicht würde es reichen. »Es ist durchaus möglich, dass die Königin mir umgehend antworten wird, und in diesem Fall ersparen wir uns die beschwerliche Fahrt.« Die Stunden schleppten sich dahin, Stunden voll düsterer Vorahnungen. Immer wieder sah ich den Tower vor mir! Und vor Angst blieb mir fast das Herz stehen. Lady Maud verstärkte meine Angstgefühle noch, als sie wenig später berichtete, dass die Hinrichtungen begonnen hätten. »Die Männer, die an dem geplanten Aufstand gegen Königin Maria beteiligt waren, werden gerade in allen Teilen der Stadt aufgehängt«, erzählte sie mit sichtlicher Genugtuung. »Noch baumeln sie am Galgen, aber bald werden ihre Köpfe an den Stadttoren aufgepfählt werden.« »Wie viele?«, fragte ich die mir ergebene Lady Marian. »Bei der letzten Zählung waren es fünfundvierzig, aber es ist noch nicht zu Ende. Wyatt fehlt auch noch«, erwiderte Lady Marian. »In der ganzen Stadt soll es schon jetzt fürchterlich
stinken.« Um diese Aussage zu unterstreichen, hielt sie sich eine Duftkugel an die Nase. Was ist mit dem Priester, der mir die Botschaft überbracht hat?, fragte ich mich insgeheim. Lief er noch frei herum, der Mann, der wusste, dass ich in der Tat einen Brief von Thomas Wyatt erhalten hatte und in diesem Punkt log? Gott möge mir verzeihen, doch ich betete, dass er unter den Gehängten war und folglich nicht mehr gegen mich aussagen konnte. Die sechs Stunden vergingen, doch der Bote kehrte nicht mit einer Antwort der Königin zurück. Meine Schwester würdigte mich keiner Antwort, gewährte mir keine Audienz. »Es ist Zeit, Madam«, sagte der Hauptmann der Wachen. »Innerhalb der nächsten Stunde brechen wir auf. Wir können uns keine weitere Verzögerung leisten.« Ich kleidete mich in mein elegantestes Gewand, und vor Angst bebend, bat ich darum, noch ein letztes Mal in der königlichen Kapelle zu beten, ehe wir zu dieser betrüblichen Reise aufbrechen würden. Der Hauptmann erlaubte es mir, und ich flehte den Gott der Protestanten und den der Katholiken an, mir das befürchtete Martyrium zu ersparen. Der Himmel hing düster und tief über der Stadt, und ein leichter Nieselregen fiel. Zuschauer säumten das Ufer und reckten die Hälse, um einen Blick auf die vorbeifahrende Barkasse zu erhaschen. Ich fragte mich, ob die schweigende Menschenmenge mir wohlgesonnen war oder ob sie, wie Maria, in mir eine Staatsfeindin sah. Der Nieselregen verwandelte sich in einen Platzregen, als die Barkasse sich dem Water Gate näherte. Über diese Anlegestelle war auch meine Mutter dereinst in den Tower gebracht worden, vor fast achtzehn Jahren. Und sie hatte ihn nur noch einmal verlassen, um zum Richtplatz zu gehen. Bei diesem Gedanken brach ich in Tränen aus. Gleich würde ich denselben Weg gehen wie so viele Unglückliche vor mir, die des Verrats angeklagt waren, und der sie an genau dieser Stelle von der Freiheit in den Tod
geführt hatte. »Ein anderes Tor, nicht dieses!«, rief ich schluchzend aus. Doch die Wachen blickten nur stur geradeaus und taten so, als hätten sie mich nicht gehört. Als ich angewiesen wurde, das Boot zu verlassen, strömte auf einmal alle Kraft aus meinen Beinen. Von einer namenlosen Panik übermannt, brach ich auf der Landungstreppe, deren Stufen von dunklem Wasser überspült waren, zusammen. Kraftlos lag ich im Regen, unfähig, auch nur einen weiteren Schritt zu gehen. Die Wärter des Towers, die gekommen waren, um mich in Empfang zu nehmen, blickten stumm auf mich herab. Flehentlich hob ich den Kopf, in der Hoffnung, ein mitfühlendes Gesicht zu sehen. Ich fühlte mich verlassen und hoffnungslos wie nie zuvor. Auf einmal fielen, zu meiner großen Überraschung, etliche der Männer auf die Knie und murmelten: »Gott schütze Euer Hoheit!« Das erboste andere Wärter, die mich unsanft packten, auf die Beine zogen und mir befahlen, mich umgehend in den Tower zu begeben. Wenig später fanden wir – meine Hofdamen und ich – uns in einer düsteren, kahlen Kammer im Erdgeschoss des Glockenturms wieder, in einer Ecke eine einfache Pritsche zum Schlafen. Unter den Bogenfenstern in Stein eingelassene Sitzbänke. Sonst nichts! Zitternd stand ich in meinem triefnassen, schmutzigen Gewand da und ließ meine Blicke durch die primitive Unterkunft schweifen. Trotz meinem Entsetzens wurde mir klar, dass ich mich zusammenreißen musste. Um mich des Respekts meiner Wächter zu versichern, musste ich mich stark geben. Ich durfte keine Anzeichen von Schwäche oder Angst zeigen. »Soll ich etwa hier untergebracht werden?«, wandte ich mich herrisch an den Wächter mit dem großen Schlüsselring am Gürtel. »Jawohl, Madam«, entgegnete er ungerührt. »Und wie verschaffe ich mir Bewegung?«, fragte ich ungnädig. »Soll ich etwa wie eine gewöhnliche Gefangene behandelt werden?
Dasselbe essen wie sie? Guter Mann, bedenkt: Ich bin die Schwester der Königin!« Der Wächter zog den Kopf ein und schlurfte von dannen, während er brummend seine Absicht kundtat, zu sehen, was er für mich tun könne. Sobald ich hörte, wie der Schlüssel in der Tür herumgedreht wurde, fiel ich ermattet auf eine der Steinbänke und brach in Tränen aus. Meine herrischen Worte zeigten Erfolg. Noch am selben Tag wurde ein Feldbett mit einer recht anständigen Matratze in meine Kammer gebracht. Und am nächsten Tag wurden mir zehn Bedienstete zugeteilt, die für mich kochen und mir die Mahlzeiten servieren würden. Und noch während der ersten Woche wurde mir erlaubt, zweimal täglich auf der Burgmauer spazieren zu gehen, einem schmalen Gang, der vom Glockenturm zum Beauchamp-Turm führte. Von hier aus hatte ich über die Brüstung hinweg einen guten Blick zur Kirchturmspitze der St. Paul’s Kathedrale. In die entgegengesetzte Richtung blickte ich wohlweislich nie: Dort lag der Towerpark, wo meine Mutter hingerichtet worden war, wo Jane Grey sterben musste und wo hoffentlich – wie ich inständig betete – nicht auch mein Leben enden würde. Die folgenden Tage vergingen einer nach dem anderen auf dieselbe, langweilige, streng reglementierte Art und Weise. Ich betete, las, machte meine Spaziergänge oder stickte. Die Mahlzeiten wurden mir in meiner Kammer serviert, und jedes Gericht wurde gründlich durchsucht, damit mir in einer Fleischpastete oder einem Bratenstück keine Nachricht zugeschmuggelt werden konnte! Meine Stimmung war auf einem Tiefpunkt; immer wieder war ich ungehalten zu meinen Hofdamen, was ich danach jedoch meist sofort wieder bereute. Sie waren aus freien Stücken bei mir geblieben und hätten jederzeit gehen können. Im April erfuhr ich, dass Sir Thomas Wyatt auf die grässliche Weise hingerichtet worden war, die Hochverrätern vorbehalten ist: Nach seiner Enthauptung auf
dem Tower Hill wurde sein Kopf in der Nähe des Hyde Parks auf einen Pfahl aufgespießt. Sein Körper wurde in kochend heißes Wasser gelegt und anschließend in vier Teile geschnitten, von denen als Warnung jeder in einem anderen Stadtteil von London zur Schau gestellt wurde. Es waren allerdings noch mehr Männer gefangen genommen worden, nach deren Schicksal ich mich bisweilen fragte – insbesondere Robin Dudley, der verhaftet worden war, weil sein Vater zu den Verschwörern gehörte. Wo war er? Lebte er noch oder war er auch tot? Wurde er etwa auch hier im Tower gefangen gehalten? Doch niemand erwähnte ihn, und ich wollte mich nicht in noch größere Gefahr bringen, indem ich nach ihm fragte. So vergingen die Wochen. Maria konnte mich doch nicht vergessen haben, oder? Auf alle Fälle ließ sie mich schmählich im Stich. Ich wusste, dass die Mitglieder des Rats nicht an meine Unschuld glaubten. Wäre es nach ihnen gegangen – besonders Sir William Paget und dem Grafen von Arundel –, wäre ich vermutlich längst hingerichtet worden. Ich war mir sicher, dass sie alles taten, um die Königin davon zu überzeugen, dass sie mir nicht trauen konnte. Und dass sie ständig um ihre Krone bangen müsste, solange ich lebte. Bisweilen stellte ich mir vor, wie die endlosen Debatten zwischen meiner Schwester und ihren Beratern abliefen: Was machen wir mit Elisabeth? Wir können sie nicht hinrichten lassen, das würde zu einem öffentlichen Aufstand führen, zu einer Revolte. Wir können sie aber auch nicht ewig im Tower gefangen halten – auch das führt über kurz oder lang zu einer Revolte. Aber freilassen können wir sie auf keinen Fall – sie ist zu gefährlich! Wenn wir sie an den Hof holen, könnten wir sie ständig beobachten – andererseits wäre ihre Anwesenheit am Hof ein
ständiges Ärgernis für die Königin. Tja, und was machen wir nun mit Elisabeth? Abend für Abend, wenn ich mich auf mein armseliges Lager legte, dankte ich Gott dafür, dass er mir einen weiteren Tag geschenkt hatte. Und jeden Morgen, wenn ich die Augen aufschlug, befürchtete ich, der neue Tag könne mein letzter sein.
Am neunzehnten Mai des Jahres 1554, dem Jahrestag der Hinrichtung meiner Mutter, und drei lange Monate, nachdem ich von Ashridge nach London gebracht worden war, kam eine Abordnung von Soldaten im Tower an und befahl mir, mich auf meine Abreise vorzubereiten. Ich stand stocksteif da, wie ein Stück Holz. »Wohin werde ich gebracht?«, fragte ich bestürzt. »Es ist nicht gestattet, die Gefangene darüber zu informieren.« Aha, ich war also nach wie vor eine Gefangene. Doch ich sollte zumindest nicht hingerichtet werden, noch nicht! Zum Tode Verurteilte bekommen Besuch von einem Geistlichen, damit dieser ihnen die letzte Beichte abnehmen kann. Und ein Priester war nirgends zu sehen. Mit Füßen schwer wie Blei verließ ich den Tower durch das Water Gate. Ich war heilfroh, dass ich noch lebte. Doch was stand mir als Nächstes bevor?
KAPITEL XII ICH BIN EINE GEFANGENE
Ich hütete mich, den Kopf zu drehen, als die Bootsleute nach ihren Rudern griffen und den schmucklosen Kahn mit der Flut flussaufwärts lenkten, unter den Bögen der London Bridge hindurch. Niemand am Ufer würdigte uns eines zweiten Blickes. Nach einer Weile sah ich, dass wir auf den Landungssteg des Richmond-Palasts zuhielten. »Warum halten wir hier?«, fragte ich eine der Wachen, einen Mann, dem eine deutlich sichtbare Narbe vom Ohr bis zum Kinn verlief. »Befehl Ihrer Majestät, der Königin«, lautete die barsche und leider nichts sagende Antwort. Im Palast angekommen, wurde ich in einen kahlen Raum geführt. Die Tür wurde geschlossen und von außen verriegelt. Und wieder einmal war ich völlig allein. »Wo sind meine Hofdamen?«, rief ich erbost und hämmerte gegen die Holztür. »Und meine Bediensteten?« »Ihr dürft mit niemandem sprechen«, teilte der Wachter mir durch die schmale, vergitterte Öffnung in der Tür mit. „Aufgebracht schritt ich durch den kleinen Raum, zuerst der Länge, dann der Breite nach. Das einzige Fenster lag so hoch, dass ich nichts sehen konnte außer eines Fleckchens blauen Himmels. Mutlos schaute ich zu, wie der Himmel sich langsam dunkler färbte. Nach einer Weile kehrte der Wächter mit einem Teller ranzig riechendem Lammbraten und einem Zinnbecher mit Ale zurück, welche er wortlos neben der Tür abstellte. Ich brachte es nicht über mich, es auch nur anzurühren. Der Himmel wurde tiefschwarz. Die ganze Nacht über lag ich
hellwach und nur mit einer dünnen Zudecke auf der Pritsche auf dem Fußboden. Mit Schrecken wurde mir klar, dass ich vermutlich nur deshalb hierher gebracht worden war, um in aller Heimlichkeit beseitigt zu werden, ohne Wissen meiner Freunde oder eventueller Fürsprecher, die ich hatte. Wyatt war tot, ebenso wie viele andere, die in die Verschwörung verwickelt waren. Doch sicher hatten auch einige überlebt, die mich gern an Marias Stelle gesehen hätten. Aber würden sie den Mut aufbringen, mir ihre Unterstützung zu beweisen, wenn sie dadurch ihr Leben aufs Spiel setzten? Die Stunden vergingen, doch es kamen keine Wachen, die mich in eine der Kerkerzellen im Keller des Palasts schleppen wollten. Als der Flecken Himmel vor meinem Fenster wieder etwas heller wurde, teilte der Hauptmann der Wachen, der Mann mit der Narbe, mir mit, dass wir »unsere Reise« fortsetzen würden. Ich wollte ihm nicht die Genugtuung verschaffen, ihn auch heute wieder mit Fragen zu löchern. Von meinen Hofdamen war nichts zu sehen. Sie waren gewiss alle entlassen worden. Angesichts der nichts sagenden Gesichter und des stinkenden Atems der Männer, die mich bewachten, wäre mir sogar Lady Mauds Gesellschaft noch lieber gewesen. Angst umhüllte mich wie ein abgetragenes Gewand, als ich erneut in die Barkasse stieg. Wir erregten keine Aufmerksamkeit der Menschen am Ufer, als wir flussaufwärts bis zum Schloss Windsor fuhren. Die Wachen führten mich jedoch nicht in das Schloss, sondern in ein kleines Häuschen in der Nähe der St. George’s Kapelle, wo die Gebeine meines Vaters begraben lagen. Wieder wurde ich eingeschlossen und verbrachte eine weitere qualvolle Nacht. Ständig lauschte ich auf Schritte, das Klicken eines Schlüssels im Schloss, wartete auf den Anblick eines heimlichen Scharfrichters, der gekommen war, um mich hinzurichten. Doch wieder brach irgendwann der neue Tag an, und ich war erstaunlicherweise
noch am Leben. Kurz nach Sonnenaufgang wurde ich in den Hof geführt, wo eine einfache Sänfte auf mich wartete. Daneben stand Sir Henry Bedingfield, ein Mitglied des Königlichen Rats. Sir Henry, mit seinem Schnauzbart und seinen Hängebacken, empfing mich mit einem Kniefall. »Die Königin hat mich beauftragt, für Eure Sicherheit und Bequemlichkeit zu sorgen«, sagte er mit gefalteten Händen und bebenden Wangen. »Ich bitte Euch, Madam, betrachtet mich nicht als Euren Gefängniswärter, sondern als Euren Beschützer.« »Der Himmel bewahre mich vor solchen Beschützern«, entgegnete ich schnippisch. Ohne ein weiteres Wort bestieg ich die Sänfte, und die Reise ging weiter. Bedingfield ritt stets neben mir. Wir wandten uns vom Fluss ab und durchquerten eine grüne Landschaft mit vielen farbenprächtigen Pflanzen. Ich hatte den Eindruck, dass wir in nordwestlicher Richtung unterwegs waren, vermutlich in Richtung Oxfordshire. Obwohl sicher alle nur denkbaren Vorkehrungen getroffen worden waren, um die Tatsache zu verschleiern, dass ich ein Mitglied des Königshauses war, musste sich doch herumgesprochen haben, dass König Heinrichs jüngste Tochter durch die Dörfer und Weiler reiste. Die Kirchenglocken läuteten, und die Menschen strömten aus ihren Häusern und von ihren Feldern, um mich zu grüßen. Kleine Jungen saßen auf den Schultern ihrer Väter und riefen: »Gott schütze Euch, Prinzessin!« Mütter schoben ihre Töchter nach vorn, um mir Leckereien und kleine Blumensträußchen zu überreichen. Ich erhielt so viele Geschenke, dass in meiner Sänfte für mich selbst fast kein Platz mehr war. Diese spontanen Gesten der Zuneigung gaben mir neuen Mut. Zum ersten Mal seit Monaten spürte ich so etwas wie Hoffnung in mir aufkeimen. Ich hatte also doch etliche Anhänger – das einfache Volk vom Lande. Ihre stürmischen
Jubelrufe schienen Bedingfield nervös zu machen. Er warf den jubelnden Bauern und Frauen zornige Blicke zu, machte aber keine Anstalten, ihnen ihr Tun zu verbieten. Winkend und lachend beugte ich mich aus der Sänfte und rief: »Ihr guten Leute, ich bitte euch, behaltet diese wunderbaren Leckereien für euch!« Doch das konnte sie nicht abhalten. Ich war ihre Prinzessin Elisabeth, die Tochter ihres geliebten Königs Heinrich, und sie schienen entschlossen, mir ihre Sympathie zu zeigen. Ein herrliches Gefühl, geliebt zu werden, dachte ich mir, weitaus besser, als gefürchtet zu werden. Am Abend machten wir in dem Dorf Rycote Halt, wo der Gutsherr mich unter Bedingfields missbilligenden Blicken üppig bewirtete. Es war lange her, seit ich so opulent gespeist hatte. Als wir am nächsten Morgen wieder aufbrachen, dankte ich dem Baron für seine Gastfreundschaft. »Vergesst nie, Madam«, sagte der Baron leise, als er sich über meine Hand beugte, »es gibt viele, die Euch treu ergeben sind und Euch als Königin frohen Herzens dienen würden.« Ich nickte lächelnd und wandte mich dann hastig ab. Zum Glück war Henry Bedingfield gerade mit unseren Pferden beschäftigt und hatte nichts gehört. Doch die freimütige Aussage unseres Gastgebers begleitete mich auf dem weiteren Weg. Das einfache Volk liebte mich, ebenso wie einige Männer des Adels, die mich gerne an der Macht sähen. Doch regieren konnte ich nur dann, wenn ich lange genug lebte. Mir wurde in aller Deutlichkeit klar, dass meine Hauptaufgabe in Zukunft darin bestand, am Leben zu bleiben – und abzuwarten. Und Augen und Ohren offen zu halten. Die lange Reise führte uns schließlich zum WoodstockPalast. Einst ein beliebtes Jagdschlösschen der normannischen Könige, war er inzwischen zu einem baufälligen Steinhaufen geworden mit zum Teil zerbrochenen Fensterscheiben. Er lag
auf einer kleinen Anhöhe inmitten eines nach Verfall riechenden Sumpflands. »Hier soll ich wohnen?«, rief ich entsetzt aus. »Nie im Leben!« Selbst Sir Henry hatte ein Blick genügt, um zu sehen, dass das alte Gemäuer, in das ich verbannt werden sollte, sich nicht einmal mehr als Gefängnis eignete. Deshalb beschloss er, dass ich im Pförtnerhaus wohnen sollte. Meine zukünftigen Gemächer in Augenschein zu nehmen, kostete weniger Zeit, als sie nun zu beschreiben: Mir stand nur ein einziger Raum mit schimmeligen Wänden und einer sehr merkwürdig gebauten Decke zur Verfügung, den ich mit meinen Zofen teilen musste; eine Kapelle; ein zweiter Raum für Sir Henry und unsere männlichen Bediensteten; und ein dritter für meine Wachen. Und hier würde ich also fortan meine Tage und Nächte verbringen – wer weiß, für wie lange. Bedingfields erste Amtshandlung war es, mir die Regeln meines Aufenthalts zu verlesen, die Königin Maria angeordnet hatte: »Lady Elisabeth ist es verboten, ohne Bewachung im Garten spazieren zu gehen. Des Weiteren ist es ihr untersagt, jedwede Art von Botschaften, Briefen oder Geschenken von wem auch immer zu erhalten.« »Was ist mit Büchern?«, fiel ich ihm ins Wort. »Ich werde doch wohl ein paar Bücher meiner Wahl erhalten!« Bedingfield sah die königlichen Regeln durch. »Nur ganz bestimmte Werke«, erklärte er mir dann. »Weitere Anfragen müsst Ihr an mich stellen, und ich werde sie dann an den Rat weiterleiten, der darüber befinden wird.« »Das ist ja unerhört, Sir!«, schimpfte ich. Sir Henry fiel auf die Knie. »Ich bitte untertänigst um Vergebung, Madam, aber ich darf keine Ausnahmen machen. Und auf eigene Faust darf ich leider keine Entscheidungen treffen.« Es schien ihm wirklich aufrichtig Leid zu tun.
»Na schön. Bekomme ich wenigstens eine englische Ausgabe der Bibel?« »Ich werde an den Rat schreiben, Madam.« Nach einer ungebührlich langen Zeit traf die Antwort ein. Die Königin hatte verfügt, dass all ihre Untertanen (ohne Ausnahme) die Bibel nur auf Lateinisch lesen durften! In meinem Fall spielte das keine Rolle, da ich Latein ebenso mühelos lesen konnte wie Englisch. Doch dem einfachen Volk war somit der direkte Zugang zur Heiligen Schrift verwehrt! Dass Maria meinen Wunsch abgelehnt hatte, machte mich wütend und übellaunig. Schlimmer noch als die primitive Unterbringung fand ich das Eingesperrtsein. Hier in Woodstock konnte ich nirgendwo hingehen, nichts tun und mit niemandem sprechen außer mit den wortkargen Bediensteten. Nachdem ich begriffen hatte, wie unglaublich öde mein Leben hier verlaufen würde, beschloss ich, an die Königin zu schreiben. Doch mein Wunsch nach Schreibutensilien musste zuerst dem Rat unterbreitet werden, da es Bedingfield untersagt war, mir sein Papier und seine Tinte auszuleihen. Die Ratsmitglieder zögerten lange. Offenbar waren sie sich unsicher, ob ich durch die Möglichkeit des Briefschreibens nicht vielleicht eine Verschwörung anzuzetteln gedachte. Erst als ich ihnen ausdrücklich versicherte, dass ich nur an meine Schwester zu schreiben beabsichtigte, gaben sie nach. Ich erhielt alles Nötige – aber natürlich nur in geringer Menge – und machte mich sofort ans Werk. Ich schrieb Königin Maria, dass ich ihr treu ergeben sei und bat sie von Herzen um Nachsicht und Milde. Diese Mühe hätte ich mir sparen können! Vielleicht hatte ich auch nicht die richtigen Worte gewählt. Doch wie auch immer – jedenfalls stießen meine Worte auf taube Ohren. Schlimmer noch, die Königin erteilte mir einen scharfen Verweis: Wir wünschen in Zukunft nicht mehr mit solchen Schreiben belästigt zu werden.
Als ich die knappe Antwort der Königin las, brach ich vor Enttäuschung in Tränen aus. Ich brüllte Sir Henry an und warf mein Tintenfass mit dem spärlichen Inhalt an die Wand. Dann brach ich schluchzend zusammen, weil mir klar wurde, dass ich zusätzlich zu all meinem Elend nun auch noch eines meiner wertvollsten Besitztümer, nämlich die Tinte, vergeudet hatte. Die Tage vergingen mit unerträglicher Langsamkeit. Jeden Tag kam ein ältlicher Priester aus dem nahen Dorf, um in der Kapelle mit den verschimmelten Wänden die Messe zu lesen. Mein Mittagessen bekam ich immer schon am späten Vormittag, meistens Fleischpastete oder ein Stück Rehbraten sowie einen Krug Ale. Die Frauen, die mich bedienten, waren äußerst wortkarg. Nach dem Essen blieb mir nichts anderes übrig, als mich einer stumpfsinnigen Stickarbeit zu widmen, damit die langen Nachmittagsstunden überhaupt vorübergingen. Dann gab es das Abendessen, der Priester kam erneut, um eine Andacht zu lesen, und an den Abenden las ich oder stickte erneut, bis mir die Augen wehtaten, mein Kopf pochte und ich mich endlich schlafen legen konnte. Ich dachte sehr häufig an Kat und fragte mich, wie es ihr wohl ging. Und wie sehr vermisste ich die Besuche von Sir William Cecil, der mich früher über alles auf dem Laufenden gehalten hatte, was am Hof vor sich ging! Bedingfield leistete mir auch keine Gesellschaft – wir gingen uns beide tunlichst aus dem Weg. Allein schon das Aufstehen kostete mich jeden Morgen größte Überwindung. Um nicht völlig in trübe Gedanken zu versinken, dachte ich bisweilen an die Freudenrufe und die Zuneigung der einfachen Leute zurück, die mir auf dem Weg hierher zugejubelt hatten. Auch die Worte meines Gastgebers in Rycote gaben mir Kraft. Ich spürte, dass es da draußen etliche Menschen gab, die mich liebten, obwohl ich natürlich nicht wusste, bis zu welchem Punkt sie zu mir halten würden. Andererseits gab es am Hof mit Sicherheit einige Adlige, die
meiner Schwester einredeten, dass ich – und meine Anhänger – eine Gefahr für sie darstellten, denn sonst hätte Maria mich nicht hier eingesperrt. Und wenn meine Anhänger nicht ohne mein Zutun – und ohne mein Wissen – auf irgendeine Weise einen erfolgreichen Aufstand anzettelten, würde sich an meinem jetzigen Leben vermutlich nie etwas ändern. Erst dann, wenn meine Schwester starb. Das wurde mir mit jedem Tag klarer. Und wenn ein Anführer eines Komplotts gegen die Königin mich um meine Hilfe bitten würde, was dann? Ich hätte seine Pläne auf gar keinen Fall billigen können. Die Gefahr, dass auch dieser Aufstand erneut niedergeschlagen werden würde, war einfach zu groß – und dann wäre es um mein Leben geschehen gewesen. Als ich eines Tages wieder einmal fest davon überzeugt war, dass ich mein ganzes Leben innerhalb der morschen, modrigen Wände dieses baufälligen Gemäuers zubringen müsste, ritzte ich in meiner Verzweiflung mit dem Diamanten meines Rings in eine Fensterscheibe: Vieler Vergehen verdächtigt, ohne Grund und Beweis, sitze ich hier gefangen – Elisabeth
KAPITEL XIII LADY BESS
In jenen Tagen war ich sicherlich die unglücklichste Frau in ganz England. In jenem Sommer regnete es Tag für Tag ununterbrochen, das umliegende Sumpfland stank und meine feuchte Kammer nicht minder. Unter anderen Umständen hätte ich meine Sachen gepackt und wäre an einen anderen Ort gezogen, damit man die Räume hier gründlich hätte reinigen können. Zumindest die verdreckten Binsenmatten auf den Fußböden hätten dringend erneuert und die Matratzen gelüftet werden müssen. Obwohl ich fast ständig eine Duftkugel mit mir herumtrug, war der Gestank beinahe unerträglich. Dann, im August, teilte Bedingfield mir mit, dass der Rat mir eine Gesellschafterin genehmigt hatte. »Ihr Name lautet Elisabeth Sands«, sagte Sir Henry. »Sie gehört schon seit Jahren zum königlichen Hof, und Ihre Majestät hält große Stücke auf sie.« »Ah, eine weitere Spionin der Königin«, antwortete ich missmutig. »Obwohl ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, was es an diesem trostlosen Ort zu spionieren gibt.« Schon vierzehn Tage später traf meine neue Gesellschafterin ein, eine eher stämmige, kleine Frau mit einem herzförmigen Gesicht. »Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Reise«, sagte ich zur Begrüßung, obwohl es mir ehrlich gesagt vollkommen gleichgültig war. »O ja, eine angenehme Reise an einen Ort, der in jeder Hinsicht erbärmlich ist – von der Gesellschaft meiner neuen Herrin natürlich abgesehen«, entgegnete sie, während sie ihre Blicke durch meine ärmliche Behausung
schweifen ließ. »Warum seid Ihr hier?«, fragte ich. »Die Königin fürchtet, Ihr könntet Euch einsam fühlen.« Ich lachte gequält. Doch Lady Bess, wie ich sie nannte, zerstreute bald all meine Bedenken und gewann meine Sympathien. Ich merkte rasch, dass sie ein fröhlicher Mensch war, der aber durchaus auch ernst sein konnte. Zudem entpuppte sie sich als gute Erzählerin, so gut wie Kat in ihren besten Zeiten. »Habt Ihr schon von der Hochzeit der Königin gehört?«, fragte Bess mich am zweiten Tag, als wir beide über unsere Stickrahmen gebeugt saßen. »Ich weiß nur, dass sie die Absicht hatte zu heiraten. Die Hochzeit hat also bereits stattgefunden?« »O ja. Am fünfundzwanzigsten Juli, dem Tag des Heiligen Jakob, des Schutzpatrons von Spanien, haben Königin Maria und König Philipp sich vermählt.« »Ah – ist er schon König? Als ich zuletzt von ihm hörte, war er noch ein Prinz.« »Am Abend vor der Heirat traf die Nachricht ein, dass sein Vater ihn zum König von Neapel ernannt hat. Diese Nachricht wurde öffentlich verlesen, und alle anwesenden Edelleute stürzten sich auf ihn, um ihm die Hand zu küssen. Maria war außer sich vor Freude und hat nur noch gestrahlt.« »Wart Ihr dabei? Habt Ihr es miterlebt?« Bess nickte schmunzelnd. »Ja, ich war dabei. Ich habe alles mit eigenen Augen gesehen.« »Erzählt!«, rief ich, halb flehentlich, halb befehlend, ausgehungert wie ich war nach jeder Art von Unterhaltung. Es dauerte fast eine Stunde, bis Bess mir die Szene in der Winchester-Kathedrale in allen Einzelheiten beschrieben hatte – die goldenen Tücher in dem Gotteshaus, die fünf Bischöfe in ihren violetten Talaren, Philipp in einem weißen Wams und
weiten, weißen Kniehosen sowie mit einem Umhang, den Maria ihm geschenkt hatte. Bess ließ wirklich keine Einzelheit aus: »Auf jedem seiner Ärmel waren zwei Dutzend große Knöpfe aufgenäht, und jeder Knopf bestand aus jeweils vier großen Perlen.« »Und meine Schwester?« »Die Königin trug ein schwarzes Samtkleid und war von Kopf bis Fuß mit Juwelen behängt. Ihr Umhang, goldfarben und mit purpurrotem Samt besetzt, passte zu dem des Königs. Ihr folgten fünfzig Edeldamen, alle in Silber gekleidet. Die Feierlichkeiten zogen sich über mehrere Stunden hin, doch die Königin wendete ihre Augen die ganze Zeit kein einziges Mal vom Altar ab.« »Eine fromme Frau«, murmelte ich, »fast eine Heilige.« Das war alles andere als meine wahre Überzeugung. Eine Heilige würde ihre Schwester niemals so abscheulich behandeln wie Maria mich. Bess schaute mich durchdringend an. »Das wird gesagt, ja.« »Und das Bankett?«, fragte ich weiter. »Wart Ihr auch beim Bankett anwesend?« »Ja, Madam.« »Und wie war’s? Erzählt mir alles!« Bess schielte auf ihre Nadel und schob einen seidenen Faden durch das schmale Öhr. »Wenn ich Euch heute schon alles erzähle, liebe Lady Elisabeth, bleibt uns für morgen nichts mehr übrig.« An diesem Abend lud ich Bess ein, bei mir im Bett zu schlafen statt auf ihrer Pritsche auf dem feuchten Fußboden. Zum ersten Mal seit Monaten konnte ich durchschlafen. Am nächsten Nachmittag hielt Bess ihr Versprechen und setzte ihre Schilderung der königlichen Hochzeit fort. »Ich dachte, es würde nie enden. Die königliche Braut und ihr frisch angetrauter Gemahl hatten Platz genommen, doch die Gäste mussten im Stehen essen. Es gab vier Gänge mit jeweils
dreißig Gerichten. Bei jedem Gang, der aufgetragen wurde, ertönte ein Trompetenstoß, und die Gäste machten eine tiefe Verbeugung. Das Mahl zog sich über Stunden hin. Und es war unvergesslich – so viele goldene und silberne Platten und Teller habe ich noch nie auf einem Haufen gesehen! Allerdings fielen mir zwei Dinge auf: Der Sessel der Königin war feiner gearbeitet als der von König Philipp, und sie bekam ihre Speisen auf goldenen Platten serviert, während Philipp sich mit silbernen begnügen musste. Tja, und wenn mir dieser kleine Unterschied auffiel, dann den spanischen Adligen erst recht! Ich bin mir sicher, dass sie uns Engländer für ungehobelte Barbaren halten.« »Nun, die Engländer sind den Spaniern auch nicht gerade wohl gesonnen«, merkte ich an. »Aber nun erzählt mir endlich von den Tänzen.« »Morgen«, sagte Bess und ließ sich tatsächlich kein weiteres Wort mehr entlocken. Wenig später brachte uns eine Dienstmagd unser Abendessen, einen frischen Fisch, den ein in der Nähe wohnender Bauer vorbeigebracht hatte. Mein Appetit war zurückgekehrt, und dieser Fisch mundete mir mehr als jedes Hochzeitsbankett.
Am nächsten Nachmittag, dem ersten schönen Tag seit Wochen, bat ich Sir Henry, mir und meiner Gesellschafterin einen Spaziergang im Garten zu erlauben. Doch er lehnte ab, und prompt kehrte meine schlechte Laune zurück. Lady Bess wischte meine Enttäuschung beiseite. »Glaubt mir, dort draußen stinkt es nicht weniger als hier drinnen«, sagte sie. »Nehmt Eure Stickarbeit, Lady Elisabeth, dann erzähle ich Euch von den Hochzeitstänzen.«
Mir blieb nichts anderes übrig, als das Stück Leinen zu nehmen, das ich schon zur Hälfte mit komplizierten Kettenstichen bestickt hatte. »Na schön«, sagte ich und war gespannter, als ich es mir anmerken ließ. »Das Tanzen war kein großer Erfolg«, begann Bess. »Den englischen Adligen und ihren Gemahlinnen waren die Tänze der Spanier fremd, und umgekehrt natürlich auch. Miteinander zu tanzen erwies sich als noch schwieriger, als sich miteinander zu unterhalten, was auch so gut wie unmöglich war. Die Spanier verstanden kein Englisch, und die Engländer kein Spanisch. Der König und die Königin tanzten miteinander auf deutsche Art, die dem Augenschein nach beiden vertraut war. Doch ganz im Vertrauen möchte ich Euch sagen, dass die Königin ihrem Gemahl hierin bei weitem überlegen war.« »Und ich Ärmste sitze hier in diesem stinkenden Pförtnerhaus, während meine Schwester tanzt!«, rief ich wütend und schleuderte meinen Stickrahmen an die Wand. Doch als ich die bestürzten Blicke meiner Gesellschafterin sah, riss ich mich rasch wieder zusammen. Geschickt wechselte Bess danach das Thema, und ich verkniff mir an diesem Tag alle weiteren Fragen.
»Wisst Ihr auch etwas über die Hochzeitsnacht?«, fragte ich, nachdem ich mich innerlich für weitere Neuigkeiten gewappnet hatte. »Dabei war ich nicht, Madam«, antwortete Bess mit einem schelmischen Augenzwinkern. »Doch kurz vor meiner Abreise hörte ich Folgendes: Nachdem die letzten Gäste gegen neun Uhr am Abend die Feier verlassen hatten, zogen der König und die Königin sich in ihre Privatgemächer zurück, um gemeinsam zu Abend zu speisen. Danach begaben sie sich in
ihr Schlafgemach, wo der Bischof das Ehebett für sie gesegnet hatte. Aber stellt Euch vor: Am nächsten Morgen wollten Philipps Höflinge in aller Herrgottsfrühe das Schlafgemach betreten, wie es in Spanien wohl Sitte ist. Dort wird der König am Morgen nach der Hochzeitsnacht im Bett begrüßt. Doch Marias Hofdamen, die nichts von diesem Brauch wussten, hatten die Tür verschlossen. ›Man stelle sich vor!‹, sagte eine von ihnen später ganz empört zu mir, ›eine Braut am Morgen nach ihrer Hochzeitsnacht im Bett zu stören! Wie geschmacklos!‹« »Die arme Königin!«, schnaubte ich und konnte ein spöttisches Lachen nicht unterdrücken. »Dieser Aufruhr vor ihrer Tür muss Maria einen schönen Schrecken eingejagt haben!« Nachdem Bess und ich sämtliche Einzelheiten der Hochzeit meiner Schwester genüsslich durchgekaut hatten, machten wir ein Ratespiel, bei dem man ganz bestimmte Wörter erraten muss. Leider war Bess nicht sehr gebildet, und meine Versuche, sie für die lateinischen Dichter zu begeistern, verliefen im Sande. Sie war auch keine gute Musikerin, und wenn sie sich an die Laute setzte, hätte man meinen können, sie habe zwei linke Hände. Doch dafür liebte sie Pferde und die Jagd ebenso sehr wie ich, was uns allerdings nicht viel nützte, weil wir nicht ins Freie durften. So blieb uns nichts anderes übrig, als zusammen zu sticken, zu nähen oder zu plaudern, und ab und zu konnten wir richtig ausgelassen zusammen lachen. Innerhalb kürzester Zeit hatte ich gemerkt, dass ich Bess vertrauen konnte, und ich genoss ihre Gesellschaft von Tag zu Tag mehr. An meinem einundzwanzigsten Geburtstag war Bess die Einzige, die mir gratulierte. Wir konnten noch ein paar goldene Septembertage genießen, ehe die Nächte unerfreulich kühl wurden und es wieder in Strömen regnete. Der Wind heulte um – und durch –
das Pförtnerhaus und gab uns einen Vorgeschmack darauf, wie qualvoll der kommende Winter werden würde. Das Dach war undicht, und etliche der Fensterscheiben waren zerbrochen. Immer wieder bedrängte ich Bedingfield, beim Rat um eine Reparatur des Gebäudes nachzusuchen, da wir sonst alle im Laufe der nächsten Monate elendiglich frieren würden. Ich konnte mir nur zu gut vorstellen, dass die Königin, die ich vor meinem geistigen Auge in den Armen ihres frisch angetrauten Gemahls ihr neues Glück genießen sah, wohl kaum einen Gedanken an ihre arme, kleine Schwester vergeudete, deren Leben allmählich versickerte – wie Wasser, das durch ein Sieb lief. Bess und ich passten stets auf, dass wir uns tagsüber nicht zu viel anvertrauten, weil wir nie wissen konnten, ob wir nicht belauscht wurden. Doch am Abend, sobald wir die Bettvorhänge zugezogen hatten und uns sicher waren, dass die Zofen, die auf Matratzen auf dem Fußboden schliefen, eingeschlafen waren, konnten wir einander unser Herz ausschütten, und manchmal unterhielten wir uns stundenlang im Flüsterton. »Dem Bauern, der Euch neulich den Fisch gebracht hat, wurde untersagt, sich noch einmal blicken zu lassen«, murmelte Bess eines Abends. »Er soll angeblich ein glühender Verehrer von Euch sein, und Sir Henry befürchtet, er könne an einer Verschwörung beteiligt sein, die Euch auf den Thron bringen möchte.« Ich machte ihr ein Zeichen zu schweigen. Um ganz sicher zu gehen, dass die Zofen auch wirklich eingeschlafen waren, kletterte ich aus dem Bett und setzte mich auf den Nachttopf. Als sich nichts rührte, kroch ich wieder unter die zerlumpte Zudecke und setzte die Unterhaltung mit Bess fort. »Ihr müsst mir glauben, Bess, dass ich in keine Verschwörung verwickelt werden will«, flüsterte ich. »Das wäre viel zu gefährlich. Das sage ich doch bei jeder nur denkbaren Gelegenheit.«
»Vielleicht bedarf es ja gar keiner Verschwörung«, entgegnete Bess leise. »Früher oder später werdet Ihr Marias Thron erben. Mir persönlich wäre früher allerdings lieber als später.« »Nicht, wenn die Königin ein Kind bekommt, möglicherweise sogar einen Sohn. Dann wird er der nächste König werden und nach ihm seine Kinder. Und ich werde einsam und verlassen hier sterben«, sagte ich mit bebender Stimme. Bess stützte sich auf einen Ellbogen. »Maria ist achtunddreißig und somit gewiss zu alt, um noch schwanger zu werden.« »Ausgeschlossen ist es aber nicht«, widersprach ich und dachte an Königin Katharina, die sechsunddreißig Jahre alt gewesen war, als sie Tom Seymours Kind geboren hatte. »Aber bedenkt ihren schwachen Gesundheitszustand«, sagte Bess eindringlich. »Ihr müsst nur Geduld haben. Und vorsichtig sein…« Unsere spätabendlichen Gespräche hinter zugezogenen Bettvorhängen gingen weiter, was vermutlich weder vorsichtig noch klug war. Eine von uns beiden tapste irgendwann zum Nachttopf, um sich zu vergewissern, ob die Zofen schliefen. Und unweigerlich stellte Bess mir dann immer die Frage: »Wenn Ihr erst Königin sein werdet, was werdet Ihr dann tun?« Durch ihre geschickt gestellten Fragen begann ich, mit neuer Zuversicht an meine Zukunft zu denken. »Ich werde die protestantische Kirche wieder einführen und sie zur Amtskirche Englands ernennen, wie schon mein Vater geplant hatte. Doch ich werde die Katholiken nicht verfolgen oder sie zwingen, ihren Glauben aufzugeben.« Ein andermal sagte ich: »Ich werde ein Parlament ernennen, zu dem die fähigsten und weisesten Männer des Königreichs gehören. Wie Sir William Cecil zum Beispiel. Und…«, fügte ich noch hinzu, »… ich
werde nie heiraten. Kein Mann soll jemals über mich und mein Leben bestimmen können.« Ich hätte es wissen sollen, dass Lady Bess mir nicht lange erhalten bleiben würde. Sir Henry mochte sie nicht, vermutlich aus dem einfachen Grund, weil ich sie zu sehr mochte. Jedenfalls war ich mir sicher, dass nur er dahinter stecken konnte, als Maria ihre Entlassung verfügte. Sie bezeichnete meine neue Freundin als »Person übler Gesinnung und ungeeignet, bei unserer Schwester zu sein«. Dabei war Bess einst ihre eigene Hofdame gewesen! Hatte vielleicht doch jemand unsere heimlichen Gespräche belauscht? »Eines Tages werdet Ihr eine großartige Königin sein«, flüsterte Bess mir zu, als wir uns zum Abschied in die Arme fielen. Als ich sie fortreiten sah, liefen mir die Tränen über die Wangen. Wieder einmal war ich allein. In den langen Wochen nach ihrem Weggang lag ich abends oft lange wach, und manchmal kamen mir ihre Abschiedworte wieder in den Sinn und gaben mir neue Hoffnung und Zuversicht. Ich werde die nächste Königin Englands sein. Ich werde als Nächste die Krone tragen. Doch am siebenundzwanzigsten November zerplatzte dieser schöne Traum wie eine Seifenblase. Ein Bote der Königin traf mit einer Nachricht ein, die noch am selben Tag im ganzen Königreich offiziell verkündet wurde: Die Königin war guter Hoffnung. Um meine riesige Enttäuschung und meine Wut in den Griff zu bekommen, setzte ich mich sofort an meinen Stickrahmen und bestickte eine Menge kleiner Stoffstücke aus feinstem weißen Leinen. Ich bestickte sie für den erwarteten kleinen Prinzen oder die Prinzessin mit roten Bordüren. Es war ein elender Winter. Ich spielte auch weiterhin die Rolle einer frommen Katholikin und besuchte zweimal täglich die Messe. In der Kapelle war es häufig so kalt, dass ich die Perlen des Rosenkranzes kaum durch meine klammen, steifen
Finger gleiten lassen konnte. Und in meiner Kammer war es so eisig, dass ich größte Mühe hatte, die kleinen Kleidungsstücke und Mützchen für das königliche Baby fertig zu stellen, das mir eines Tages meinen Platz als Thronerbin wegnehmen würde. Meine einzige Gesellschaft war die nackte Verzweiflung, die Tag und Nacht nicht von meiner Seite wich.
KAPITEL XIV ENDLOSES WARTEN
Irgendwann war der trostlose, einsame Winter überstanden. Im Frühjahr des Jahres 1555 befahl Königin Maria Sir Henry, mich nach Hampton Court zu bringen. Dorthin hatte sie sich am vierten April zurückgezogen, um auf die Geburt ihres Kindes zu warten. Die Tradition verlangte, dass ich als nächste Verwandte bei der Geburt des Thronerben anwesend war. Über diese Pflicht freute ich mich wahrlich nicht, ebenso wenig wie meine Schwester, dessen war ich mir gewiss. Doch andererseits war ich heilfroh, endlich von Woodstock wegzukommen. Auf der langen Reise nach Hampton Court hatte ich wieder viel Zeit, über meine Zukunft nachzudenken. Mir wurde bewusst, dass diese äußerst düster aussah. Mit der Geburt von Marias Kind konnte ich all meine Hoffnungen, jemals Königin zu werden, begraben. Und solange ich lebte, würde ich eine Bedrohung für ihren Erben darstellen, der bald meinen Platz einnehmen würde. Und falls die Königin mir weiterhin misstraute, wer weiß, was für Entscheidungen sie dann treffen würde! Sie konnte mich jederzeit in mein Privatgefängnis in Woodstock zurückschicken oder an weiß der Himmel welch anderen gottverlassenen Ort, und dort würde ich vor mich hindämmern, bis ihr Nachkomme eines Tages vielleicht beschließen würde, mir wieder die Freiheit zu schenken. Aber vermutlich erst dann, wenn ich alt und zahnlos wäre! Als Alternative zum Eingesperrtsein könnte Maria mich auch zwingen, einen ausländischen Adligen zu heiraten und auf den Kontinent überzusiedeln. Oder sie konnte mich aus
irgendwelchen fadenscheinigen Gründen des Verrats bezichtigen und mich hinrichten lassen. Solch düsteren Gedanken hing ich nach, statt mich auf die vielen Menschen zu freuen, die sicher wieder wie beim letzten Mal aus ihren Hütten und Häusern strömen würden, um mir zuzujubeln. Ich befürchtete sogar, dass sie der Königin einen willkommenen Grund gaben, mich in den Tower einsperren und zum Tode verurteilen zu lassen. Deshalb bat ich Sir Henry, meine Reise geheim zu halten, und er kam meinem Wunsch nur zu gern nach. Folglich gab es keine jubelnden Menschen am Wegrand und auch keine Besuche auf Gutshöfen, wo mich freundlich gesinnte Adlige hätten aufnehmen können. Als wir Mitte April in Hampton Court eintrafen, erfuhr ich, dass Königin Maria befohlen hatte, mich in aller Abgeschiedenheit unterzubringen, nur in Gesellschaft von vier Hofdamen und vier Höflingen, die sich um mich kümmern sollten. Ich war nach wie vor eine Gefangene, die weder das Haus verlassen noch Besucher empfangen durfte. Und es wurde mir auch keine Audienz bei der Königin gewährt. In Hampton Court mit seinen annähernd tausend Räumen wimmelte es nur so vor Menschen. Sie alle waren herbeigeeilt, um dem großen Tag der Geburt beizuwohnen: Ärzte und Hebammen, die der Königin beistehen würden, Ammen und Kindermädchen, Adlige und ihre Gemahlinnen, die einfach nur dabei sein wollten, natürlich mit all ihrem Gesinde. Große Aufregung lag in der Luft, während alle auf das große Ereignis warteten. Jeden Morgen ging ich wie üblich in die königliche Kapelle, um die Messe zu hören, wobei ich stets darauf achtete, dass die Lieblings-Hofdamen der Königin, Lady Susan Clarencieux und Lady Jane Dormer, es auch bemerkten. Sicher hielten sie Maria ständig darüber auf dem Laufenden, ob ich auch fromm genug war – oder nicht. Danach kehrte ich in meine Gemächer
zurück und wartete darauf, ans Bett der Königin gerufen zu werden, sobald ihre Wehen einsetzen würden. Da ich sehr angespannt und rastlos war, bat ich um die Erlaubnis, mit meinen Hofdamen im Garten spazieren gehen zu dürfen. Diesem Wunsch wurde stattgegeben, allerdings nur in Begleitung von Wachen. Doch da hier so viele Menschen unterwegs waren, wurden die Wachen immer unachtsamer, und so kam es, dass ich eines Tages auf einem dieser Spaziergänge auf einen Fremden stieß, der mich höflich ersuchte, ihm eine Unterredung zu gewähren. Er sei, so behauptete er, ein Freund meiner Cousine Katharina Knollys. Ein großer Hut verbarg einen Großteil seines Gesichts. Mit einem Lächeln wandte ich mich an meine Hofdamen. »Das ist der Sohn meiner früheren Erzieherin«, log ich unverfroren. »Wir haben uns ewig nicht mehr gesehen, seit damals, als wir zusammen unterrichtet wurden.« Ich ergriff den Arm des Fremden, und wir begannen ein lebhaftes Gespräch über unsere angeblich gemeinsame Kindheit, bis meine Damen ihr Interesse verloren. »Ich bitte Euch, sprecht!«, forderte ich ihn auf. Da ich in Woodstock so lange von Gott und der Welt abgeschlossen gelebt hatte, war alles, was ich nun aus dem Munde dieses Fremden erfuhr, vollkommen neu für mich. Mit wachsendem Entsetzen hörte ich, dass Königin Maria beschlossen hatte, alle aus dem Weg zu räumen, die sich weigerten, katholisch zu werden – Ketzer, wie sie behauptete, die sich gegen Gott und den wahren Glauben versündigten. Die meisten adligen Protestanten waren wie meine Cousine und ihre Familie bereits auf den Kontinent geflohen. Und mit den wenigen, die geblieben waren, machte Maria kurzen Prozess. »Wer seinen Irrglauben nicht aufgibt, wird lebendigen Leibes verbrannt«, hatte sie verkünden lassen.
»Die Tapfersten gehen in den Tod, und das dauert nun schon seit letztem Winter an«, sagte der Fremde leise. »Wenn Ihr wüsstet, wie viele Menschen schon umgekommen sind.« Ich schluckte. »Wer seid Ihr?«, fragte ich schließlich. »Nicht einer der Tapferen«, antwortete er. »Sobald ich fort bin, müsst Ihr vergessen, dass Ihr mich jemals gesehen habt.« Meine Hofdamen starrten neugierig zu uns herüber, da sie offenbar eine Veränderung in seiner Haltung bemerkt hatten. Nicht mehr lange, dann würden auch die faulen Wachen merken, dass etwas nicht stimmte. »Fahrt fort!«, drängte ich ihn. »Und schnell!« »Unter den ersten Ketzern, die starben«, sagte mein Informant, »war auch John Hooper, der Bischof von Gloucester. Wegen der feuchten Luft und dem stürmischen Wind musste der Arme eine ganze Stunde lang brennen, ehe der Tod ihn schließlich erlöste.« »Habt Ihr es mit angesehen?«, fragte ich bestürzt. »O ja. Der Bischof wurde auf einen hohen Hocker gestellt, damit alle ihn gut sehen konnten. Dann wurde er an einen Pfahl gebunden und Reisig um den Hocker herum angehäuft. Als das Reisig mit Fackeln entzündet wurde, hofften wir alle, er möge möglichst rasch erlöst werden. Doch das Reisig war noch frisch, und ein scharfer Wind blies die schwachen Flammen wieder aus, kaum dass sie sein Gewand versengt hatten.« »Vielleicht war das ein Zeichen des Himmels«, sagte ich müde, »ihn zu verschonen.« »Durchaus möglich«, sagte der Augenzeuge dieser schrecklichen Szene, »doch die Schergen der Königin waren wild entschlossen, ihrer Pflicht nachzukommen. Sie legten weitere Äste dazu, doch auch das führte nicht zum gewünschten Ergebnis. Bei einem dritten Versuch wurden Säckchen mit Schießpulver an den Füßen des Bischofs
festgebunden. Wäre das Pulver explodiert, hätte er nicht lange leiden müssen. Doch das war ihm leider nicht vergönnt.« Ich zog mein Taschentuch heraus und drückte es an meine Lippen. »Führt Eure schreckliche Schilderung zu Ende, ich bitte Euch«, stammelte ich. Mein Informant holte tief Luft. »Der Wind blies das Schießpulver davon. Es hatte nichts genützt. Wir hörten ihn schreien: ›Herr Jesus, sei meiner Seele gnädig!‹ Dieser Ruf wollte nicht aufhören, selbst nachdem die Flammen bereits um seinen Hals züngelten. Doch irgendwann verstummte er. Er senkte den Kopf und starb.« »Gott sei uns allen gnädig!«, rief ich erschauernd aus. »Seid auf der Hut!«, flüsterte der Fremde warnend. »Seid auf der Hut!« Und nach diesen Worten verschwand er ebenso lautlos wie er gekommen war. Wie kann Maria nur so grausam sein?, dachte ich mir im Stillen, während ich noch um meine Fassung rang. Königin Maria kannte keine Gnade mit allen, die anderen Glaubens waren als sie selbst. Und obschon sie mich zurzeit mit Verachtung strafte, machte mir die Grausamkeit der Königin gegenüber jenen, die sie als Ketzer bezeichnete, große Angst. Alle warteten fieberhaft auf die Geburt, doch nichts geschah. Ende April verbreitete sich das Gerücht, die Königin habe einen Knaben zur Welt gebracht. Doch alle, die sich ständig in der Nähe ihrer Privatgemächer aufhielten, wussten, dass dies nicht stimmen konnte. Dennoch verbreitete sich dieses Gerücht wie ein Lauffeuer, und in den Straßen von London wurden bald schon Freudenfeste abgehalten, wie mir zu Ohren kam. Wie enttäuscht und bestürzt diese Menschen gewesen sein mussten, als sie erfuhren, dass das Gerücht nicht der Wahrheit entsprach, konnte ich mir lebhaft vorstellen. Anfang Mai berieten sich die Leibärzte der Königin mit den Hofastrologen und verkündeten anschließend, dass sie sich verrechnet hätten. Der königliche Nachwuchs wurde nun nicht
mehr für die erste Maiwoche erwartet, sondern erst gegen Ende des Monats, möglicherweise sogar erst nach dem Vollmond am vierten oder fünften Juni. Obwohl ich wiederholt um ein Gespräch mit der Königin bat, weigerte sie sich, mich zu empfangen. Alle anderen waren ebenso nervös wie ich. Es gab kein höfisches Leben – keine Feste, kein Tanzen, keine Maskenbälle und keine Musik. Wir konnten nichts anderes tun als warten. Ich fragte mich, wie König Philipp wohl diese Tage der Anspannung hinter sich brachte. Ich hatte ihn nur einmal flüchtig gesehen, als er seine Gattin in ihrem Schlafgemach aufsuchte. Hinterher kam mir der Gedanke, dass ich versuchen sollte, seine Bekanntschaft zu machen. Wer weiß, vielleicht könnte ich ihn für mich gewinnen und ihn dazu überreden, bei meiner Schwester ein gutes Wort für mich einzulegen. Deshalb wartete ich inbrünstig auf eine günstige Gelegenheit. Um der ständigen Langeweile zu entkommen, ging ich eines Nachmittags Ende Mai trotz des unablässigen Regens mit zweien meiner robusteren Hofdamen im Park spazieren. Die Wachen, die mich bei jedem Spaziergang begleiten sollten, erfanden eine Ausrede, um sich irgendwo unterzustellen. Auf einmal kam mir ein vornehm gekleideter Edelmann entgegen, der von einer Schar missmutig dreinblickender Herren begleitet wurde. Es war mein Schwager! Als wir aufeinander zugingen, fasste ich blitzschnell einen Entschluss und fiel trotz des Matsches vor ihm auf die Knie. »Euer Gnaden!«, begann ich auf Spanisch. Er blieb prompt stehen und musterte mich neugierig. Da mein Spanisch nicht sehr gut ist, fuhr ich auf Lateinisch fort: »Mit Verlaub – ich bin Elisabeth, die Schwester Ihrer Majestät, der Königin.« Galant griff Philipp nach meiner Hand, zog mich hoch und sagte: »Es ist mir ein großes Vergnügen, Eure Bekanntschaft
zu machen.« Dann gab er mir einen formvollendeten Handkuss. Wir unterhielten uns ein Weilchen, und ich erkundigte mich natürlich nach dem Gesundheitszustand seiner Gemahlin. »Der Königin geht es gut, Madam«, versicherte er mir, was ich allerdings bezweifelte. »Und Ihr, werte Lady Elisabeth? Seid Ihr angemessen untergebracht?« »O ja, absolut zufriedenstellend, Euer Majestät«, log ich und fügte gleich noch eine weitere Lüge hinzu: »Es ist mir eine große Ehre, hier zu sein, um meiner Schwester bei dem höchst erfreulichen Ereignis zur Seite zu stehen. Doch Ihr würdet mir einen großen Gefallen tun«, fuhr ich mit einem gewinnenden Lächeln fort, »wenn Ihr der Königin ausrichten würdet, dass ich ihr nach wie vor treu ergeben bin und sie von Herzen liebe. Vielleicht könntet Ihr sie auch dazu bringen, dass sie mir eine Audienz gewährt. Wisst Ihr, sie hat kein Vertrauen zu mir.« Der König musterte mich mit einem durchdringenden Blick, ehe er mir eine Antwort gab. »Das werde ich gern für Euch tun, meine liebe Lady Elisabeth«, sagte er mit einer weiteren Verbeugung. Mir war bewusst, dass mein Gewand schmutzig und meine Haare feucht und zerzaust waren, doch dem wohlwollenden Blick des Königs konnte ich entnehmen, dass ich ihm sympathisch war. Das war allerdings nicht ohne Risiko: Mir lag zwar an seiner Bewunderung, doch andererseits musste ich verhindern, dass die Königin eifersüchtig wurde. Trotzdem lauerte ich auf weitere Möglichkeiten zu solch zufälligen Treffen, und ich glaube, dass auch Philipp daran lag. »Meine liebe Lady Elisabeth«, sagte er meist, wenn wir uns zufällig wieder im Park trafen, »findet Ihr das englische Wetter nicht auch bedrückend?« Ich sagte meist Dinge wie: »Ich vertraue darauf, dass Gott unsere Königin auch weiterhin mit guter Gesundheit segnet«, und erinnerte ihn an sein Versprechen, eine Unterredung mit der
Königin für mich in die Wege zu leiten. Ich hoffte inständig, dass er mir meinen Wunsch irgendwann einmal erfüllen würde, denn steter Tropfen höhlt bekanntlich den Stein. Dann endlich, Ende Mai, erschien Lady Susan Clarencieux in meinen Gemächern. Es war schon spät am Abend. »Ihre Majestät, die Königin, verlangt Euch zu sehen«, teilte sie mir in einem Ton mit, in dem ihre ganze Abneigung gegen meine Person mitschwang. Ah, Philipp hatte schließlich doch ein gutes Wort für mich eingelegt! Endlich würde ich die Gelegenheit haben, meine Schwester von Angesicht zu Angesicht zu sehen und ihr erneut meine Treue und Ergebenheit zu schwören. Während Lady Susan mit finsterer Miene wartete, halfen meine Zofen mir in ein weißes Unterkleid und ein schwarzes Samtkleid. Ich hängte mir eine Kette mit einem großen, goldenen Kreuz um den Hals. Dann wurde ich, in Begleitung von sechs Dienern, die rauchende Fackeln trugen, durch den Park und schließlich durch eine Seitentür in einen anderen Flügel des Palasts geführt. »Warum nehmen wir diesen ungewöhnlichen Weg?«, fragte ich beklommen, als wir eine düstere, schmale Stiege hinaufgingen. Lady Susan würdigte mich keiner Antwort. Instinktiv befürchtete ich, in eine Falle gelockt zu werden. Doch was hätte ich dagegen tun können? Wir gingen weiter durch die dunklen Hinterräume des Palasts. Schließlich kamen wir in den Privatgemächern der Königin an und gingen umgehend in ihr Schlafgemach weiter. Vor Anspannung war mein Mund wie ausgetrocknet. Während ich gehorsam die drei vorgeschriebenen Kniefälle machte, fiel mir auf, wie sehr Maria in den letzten sechzehn Monaten gealtert war, wie müde und erschöpft sie wirkte. Und wie dünn! Ich hatte eine rundliche Schwangere erwartet, doch stattdessen wirkte ihr Körper eher ausgezehrt. Meine Gedanken
überschlugen sich. Erwartet sie wirklich ein Kind? Dass das vielleicht gar nicht der Fall sein könnte, war mir bisher nicht in den Sinn gekommen. Hinter Maria sah ich eine offene Tür, durch die eine prächtig geschnitzte Wiege zu sehen war, die nur auf den königlichen Nachwuchs zu warten schien. Was, wenn es gar keinen Nachwuchs geben wird? Doch ich konnte nicht lange bei diesem Gedanken verweilen, da die Königin mich finsteren Blickes musterte. Ich verschränkte die Hände, damit Maria nicht sah, dass sie zitterten, fiel erneut auf die Knie und rief flehentlich: »Gott schütze Euer Majestät! Ich bin Eure ergebene Dienerin, auch wenn böse Zungen vielleicht etwas anderes über mich sagen!« Doch schon mein bloßer Anblick schien die Königin wütend zu machen. »Du!«, fauchte sie. »Du hast uns belogen! Du glaubst ebenso wenig wie früher an die einzig wahre Kirche, obwohl du nach wie vor vorgibst, katholisch zu sein!« »Aber, Euer Majestät…«, stammelte ich mit Tränen in den Augen. »Ich habe alles getan, was Ihr von mir verlangt habt. Und alles, worum ich Euch bitte, ist es, eine gute Meinung von mir zu haben.« »Wir haben keinerlei Meinung von dir, Elisabeth«, entgegnete sie kühl. Mit einer unwilligen Handbewegung entließ sie mich, und ich wurde in meine Gemächer zurückgeführt. Die so sehnsüchtig erwartete Audienz hatte sich als Fehlschlag erwiesen. Ich war zwar in keine Falle gelockt worden, doch andererseits war es auch nicht zu der gewünschten Aussöhnung gekommen. Darüber war ich sehr betrübt. In den darauffolgenden Tagen ging ich König Philipp tunlichst aus dem Weg; er hatte bei seiner Gemahlin ganz offenbar doch kein gutes Wort für mich eingelegt. Außerdem waren unsere kleinen Unterhaltungen auch gefährlich;
böswillige Zeugen hätten sie durchaus als Tändelei deuten können. Bald wurde es Juni, und der erwartete Thronerbe ließ noch immer auf sich warten. Inzwischen war ich mir sicher, dass die Königin gar nicht schwanger war. Hat sie während der ersten Monate eine Fehlgeburt erlitten? Oder bildet sie sich ihre Schwangerschaft nur ein? Leider gab es niemanden, dem gegenüber ich diese Gedanken laut hätte aussprechen – oder gar nur leise flüstern – können.
Es regnete ununterbrochen, was das Warten auf die Geburt – oder ein offizielles Dementi – fast unerträglich machte. Frustration und vergebliche Hoffnung lagen bleischwer in der Luft. Die Anwesenheit so vieler Menschen verwandelte selbst einen so großen Palast wie Hampton Court in einen Ort, an dem es ebenso übel stank wie früher in Woodstock. Es machte mich wütend, dass Maria mich zwar verachtete, aber dennoch in ihrer Nähe haben wollte. Aber ich war wie immer machtlos. Die wildesten Gerüchte begannen zu kursieren. In den Sälen und auf den Höfen hörte ich flüstern, dass König Philipp mich heiraten würde, falls Maria die Geburt nicht überleben sollte. Schon der Gedanke daran ließ mich schaudern. Dann kam mir das Gerücht zu Ohren, dass das Kind der Königin erst dann zur Welt kommen würde, wenn auch der letzte Ketzer verbrannt worden wäre – das hatte Maria angeblich selbst gesagt. Offenbar schien sie das ernsthaft zu glauben, denn die Scheiterhaufen hörten nicht auf zu brennen. Wer nicht bereit war, zum katholischen Glauben überzutreten, wurde erbarmungslos zum Tode verurteilt. Voller Entsetzen versuchte ich, meine Ohren vor diesen schrecklichen Nachrichten zu verschließen. Ich war verzweifelt, weil dieser Albtraum kein Ende nehmen wollte.
KAPITEL XV KÖNIG PHILIPPS ABREISE
Ende Juli gaben die Hofärzte, Hebammen, Astrologen und Hofdamen der Königin und auch Maria selbst endlich zu, dass keine Schwangerschaft vorlag. Eine offizielle Verkündigung gab es allerdings nie. Wir erfuhren lediglich, dass die Königin mit ihrem Hof nach Oatlands umzuziehen gedachte, einen großen Landsitz in Surrey, damit Hampton Court gründlich gesäubert werden konnte. Mir wurde befohlen, mit dem Gesinde der Königin zusammen umzusiedeln. Ich war nach wie vor nicht frei! Da es nun allerdings keinen neuen Erben gab, war ich jedoch wieder die nächste Anwärterin auf den Thron. Aber der Gedanke an meine Zukunft machte mir eher Angst. Was hatte die Königin als Nächstes mit mir vor? Würde sie mich nach Woodstock zurückschicken? Oder schlimmer…? Nachdem wir uns in Oatlands häuslich niedergelassen hatten und die Königin wieder ihren königlichen Pflichten nachging, bekam ich Besuch von einem ihrer Kaplane, Pater Francis. Der alte Priester redete endlos lange um den heißen Brei herum, sodass ich anfangs gar nicht begriff, warum er überhaupt gekommen war. Ich bot ihm etwas zu trinken an, und er nahm dankend an. Danach offerierte ich ihm Brot und Fleisch, und wieder griff er gehörig zu. Nachdem wir zu Ende gegessen und getrunken hatten, seufzte er zufrieden und redete weiter unverdrossen über Gärten und ihre Pflege, wofür er offenbar ein großes Interesse hegte. Doch da ich von Anfang an das Gefühl hatte, dass er geschickt worden war, um mich einer ketzerischen Aussage zu überführen, war ich stets auf der Hut.
»Die fortwährenden Regenfälle haben große Schäden angerichtet«, sagte er. »Das stimmt«, pflichtete ich ihm bei. Und warum seid Ihr hier? »Mein Garten ist eine Katastrophe.« »Wie bedauerlich.« Kommt endlich auf den Grund Eures Besuchs zu sprechen! »Zu Zeiten von König Heinrich«, fuhr der gute Mann fort, »war ich für den Kräutergarten eines Klosters zuständig. Das heißt… ehe es geschlossen wurde.« »Gewiss eine befriedigende Tätigkeit«, sagte ich. Wie lange wollt Ihr mir noch meine Zeit stehlen? Doch unsere Unterhaltung plätscherte weiter dahin, und er schilderte mir in aller Ausführlichkeit, wie er vergeblich versucht hatte, eine spezielle Rosenart zu züchten. Schließlich gewann meine Ungeduld die Oberhand. Ich bat ihn, mir den Grund seines Besuchs zu enthüllen. Pater Francis schien überrascht. »Nun, um mit Euch über einen Gemahl zu sprechen, Lady Elisabeth. Diese Angelegenheit liegt Ihrer Majestät, der Königin, sehr am Herzen.« Aha, es ging also wieder einmal um eine Eheschließung, nicht um Ketzerei! »Gut, dann lasst uns darüber sprechen«, sagte ich. Es erschien mir ratsam, mir zuerst anzuhören, was er zu sagen hatte. »Es wurde vorgeschlagen, dass Ihr Don Carlos, den Sohn von König Philipp, heiratet. Er stammt aus Philipps erster Ehe mit Maria von Portugal, die im Kindbett verstorben ist.« Ungläubig starrte ich Pater Francis an. »Don Carlos ist noch ein Kind!«, rief ich. »Er ist neun Jahre alt«, antwortete der Priester mit einem Nicken. »Die Verlobung könnte stattfinden, sobald alles Nötige besprochen ist, doch zur Heirat käme es natürlich erst,
wenn der Prinz sechzehn Jahre alt ist.« Pater Francis musste meine Bestürzung bemerkt haben, denn er fügte hastig hinzu: »Oder vielleicht auch früher, falls Ihr es wünscht.« »Der Junge soll nicht ganz gesund sein, wie ich gehört habe«, sagte ich, sorgsam auf meine Wortwahl achtend. Dabei war hinlänglich bekannt, dass der Sohn des Königs Anzeichen von Schwachsinn zeigte und stets unter Verschluss gehalten wurde. »In sechs Jahren kann sich noch vieles ändern«, versuchte Pater Francis mich zu beruhigen. »Gut möglich, dass der Knabe über seine Probleme hinauswächst und sich gut entwickelt.« »Bitte richtet der Königin und dem König aus«, erklärte ich kategorisch, »dass ich nicht gewillt bin, Don Carlos zu heiraten.« »Ach, meine Liebe«, seufzte der Priester und starrte betreten auf seinen leeren Becher. Natürlich war mir bewusst, dass es höchst gefährlich war, mich einer Anordnung der Königin zu widersetzen. Doch lieber ging ich das Risiko ein, auch weiterhin eine Gefangene zu sein, als in eine so unglückselige Hochzeit einzuwilligen. Oder würde ich mit meiner Weigerung sogar mein Leben aufs Spiel setzen? Meinetwegen, dachte ich trotzig. Unwillig sprang ich auf, doch der Kaplan merkte nicht, dass das Gespräch in meinen Augen beendet war. Ich versuchte mich wieder zu beruhigen und ließ uns noch etwas Ale bringen. Wer weiß, vielleicht konnte ich diesem durstigen Diener Gottes noch etwas mehr über die Pläne der Königin entlocken. »Gibt es noch andere Bewerber?«, erkundigte ich mich, als er zufrieden die Hände vor seinem dicken Bauch faltete. »Ein deutscher Prinz, der Markgraf von Baden, war auch im Gespräch, doch er wurde abgelehnt. Er ist Protestant, und Ihre Majestät, die Königin, wünscht natürlich, dass Ihr einen Katholiken heiratet.«
»Natürlich.« Ich war versucht, hinzuzufügen: Und ICH wünsche, überhaupt nicht zu heiraten! Doch ich hielt wohlweislich den Mund. Königin Maria käme es natürlich sehr gelegen, wenn ich den spanischen Kronprinzen oder sonst einen katholischen Ausländer heiraten würde. Denn somit hätte sie mich aus ihrem Reich und fern meiner protestantischen Anhänger, die mich – wie ich glaubte – gern als Königin gesehen hätten. Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass diese Anhänger nach wie vor zu mir hielten und mit mir zusammen den passenden Augenblick abwarteten. »Und noch ein weiterer Adliger hat sich um Eure Hand beworben – wisst Ihr schon von ihm?«, fuhr Pater Francis fort. »Nein, davon ist mir nichts bekannt.« »Emmanuel Philibert, der Herzog von Savoyen, ein Vetter des Königs. Als er erfuhr, dass König Philipp ihn gern als Euren zukünftigen Gemahl sähe, kam er schnurstracks nach England gereist, um ›die Frucht zu pflücken‹ – so seine eigenen Worte, wie mir gesagt wurde. Allerdings hatte niemand der Königin oder dem König sein Kommen mitgeteilt, und der Herzog wusste nicht, dass Ihr nicht gewillt seid, Besucher zu empfangen.« »Es geht nicht darum, dass ich nicht gewillt bin, sondern darum, dass ich hier eingesperrt bin«, entgegnete ich schnippisch. »Ja… nun ja. Wie auch immer. Jedenfalls verbrachte der Herzog einen Monat in Somerset…« »Der Herzog in meinem Haus?«, rief ich fassungslos aus. »Ohne meine Erlaubnis?« »Auf Einladung Ihrer Majestäten«, sagte der Priester besänftigend. »Doch nach einem Monat erfolglosen Wartens kehrte der Herzog nach Savoyen zurück. Angeblich war er sehr enttäuscht.«
»Zweifellos«, erwiderte ich sarkastisch. Der Becher des Priesters war schon wieder leer, und als ich mich vorbeugte, um ihn ein drittes Mal zu füllen, beugte er sich ebenfalls vor, um meine Hand zu tätscheln. »Seid guter Dinge, Madam«, sagte er. »Ich bin mir sicher, dass wir einen guten Gemahl für Euch finden werden.« Ich hatte mir fast die Zunge durchgebissen, bis er mir endlich seinen Segen gab und mich verließ!
Wochen später bereitete der Hof sich auf einen neuen Umzug vor, diesmal in den Greenwich-Palast. Philipp war von seinem bereits betagten Vater, Kaiser Karl dem Fünften, vor kurzem zum König der Niederlande ernannt worden und wollte demnächst nach Flandern reisen, um sich mit seinem neuen Reich vertraut zu machen. Das königliche Paar fuhr in einer offenen Kutsche durch London, damit Marias Untertanen mit eigenen Augen sehen konnten, dass die Königin und ihr Gemahl gesund und munter waren. Ich wurde, mit nur vier Hofdamen und drei Höflingen, in einer alten Barkasse befördert – wie ein Fass gepökeltes Fleisch. Das empörte mich zwar, doch ich begriff den Grund: Maria wollte nicht riskieren, dass meine Anhänger mich zu sehen bekämen. Nur ihr durfte der Jubel des Volkes gelten! Andererseits hätten meine Anhänger sich ohnehin zurückgehalten, denn sonst hätten sie nicht nur sich selbst, sondern auch mich in große Gefahr gebracht. In was für einer kläglichen Lage ich mich doch befand! Kurz nach unserer Ankunft in Greenwich konnte ich von meinem Fenster aus sehen, wie große, mit Leder überzogene Truhen und Holzkisten auf eine der königlichen Barkassen geladen wurden, die Philipp nach Gravesend bringen würden, wo ein spanisches Schiff vor Anker lag. Plötzlich kam eine
meiner Zofen, ein albernes junges Ding namens Alice, in mein Gemach gestürzt. »Der König ist da!«, keuchte sie und vergaß sogar den üblichen Knicks. »König Philipp? Hier?« »Ja, Madam.« Da ich nur äußerst selten Besuch bekam, trug ich nur einen schlichten Kittel, mit dem ich niemanden empfangen konnte, am allerwenigsten einen König. Doch mir blieb keine Zeit, mich umzuziehen. Sein Besuch war sicher nur kurz und geheim, damit die Königin nichts mitbekommen würde. »Sag dem König, dass ich mich freue, ihn zu sehen«, trug ich dem Mädchen auf. In letzter Zeit hatte ich bei Philipps Anblick häufig den Eindruck gehabt, dass er an Magenbeschwerden litt. Er wirkte kraftlos und träge, sicher nicht zuletzt wegen der langen, erfolglosen Schwangerschaft seiner Frau. Doch an diesem Tag wirkte er voller Tatkraft, hatte eine gesunde Gesichtsfarbe und schritt kraftvoll aus. Er ergriff meine Hand und machte eine tiefe Verbeugung. »Meine liebe Lady Elisabeth«, sagte er. Zumindest nahm ich an, dass er das sagte, denn obwohl er insgesamt über ein Jahr hier gelebt hatte, war er unserer Sprache noch immer nicht mächtig. Maria hatte versucht, ihm einige Höflichkeitsfloskeln beizubringen, die er in der Regel jedoch nur als unverständlichen Kauderwelsch über die Lippen brachte. Ich antwortete auf Latein und wünschte ihm Gottes Segen auf seiner Reise. Er bedankte sich und sagte dann: »Ihre Majestät, die Königin, hat mir versprochen, dass sie Euch mit allem gebührenden Respekt und in Ehren behandeln wird. Ich bin mir also sicher, dass Ihr fortan ein etwas angenehmeres Leben führen werdet.« Noch immer hielt Philipp meine Hand umklammert. Der kleinen Alice fielen fast die Augen aus dem Kopf, und obwohl mir mein Instinkt sagte, dass sie sicherlich kein Latein
verstand, würde sie garantiert jede Geste und jede Veränderung des Tonfalls herumposaunen, und irgendwann würde auch die Königin davon erfahren. Unsanft entzog ich Philipp meine Hand. »Und ich werde alles in meiner Kraft Stehende tun, um meine Schwester über Eure Abwesenheit hinwegzutrösten«, erwiderte ich mit dem üblichen gewinnenden Lächeln, das bei Philipp immer großen Anklang fand. »Dann gehabt Euch wohl, liebe Madam«, sagte er und verließ mich mit einer tiefen Verbeugung. Als ich mich wieder ans Fenster stellte, sah ich, wie fünfzig englische Rassepferde auf eine große Barkasse geführt wurden. Philipp stand an Deck und gab die letzten Anweisungen. Stunden später, als die Barkasse ablegte, winkte Philipp mit seinem Hut in Richtung des Palasts. Nach Philipps Abreise benahm die Königin sich ein paar Wochen lang so, als sei ein Todesfall eingetreten. Ihr gesamter Hofstaat schien mit ihr zu trauern. Und in meinem Leben änderte sich nichts, absolut gar nichts! Ich tat alles, was ich konnte, um die Gunst der Königin zu gewinnen. In der Woche vor meinem zweiundzwanzigsten Geburtstag begann ich ein dreitägiges Fasten, um Vergebung für meine Sünden zu erlangen. Dass ich drei Tage lang nur Wasser zu mir nahm, diente hauptsächlich dazu, Lady Susan Clarencieux und Lady Jane Dormer zu beeindrucken, die mich mit nicht weniger Verachtung behandelten als die Königin! Maria gab inzwischen zwar vor, mir gewogen zu sein, doch ich traute ihr nicht über den Weg. Ich hatte vielmehr den Eindruck, dass ihre Abneigung gegen mich noch größer geworden war. Trotzdem – sie tat mir einen Riesengefallen: Meine drei Hofdamen, die entlassen worden waren, als ich in den Tower gesperrt wurde, durften zu mir zurückkehren. Lady Marian, Lady Cynthia, Lady Letitia und ich fielen uns überglücklich in die Arme. Ich fand es recht mutig von ihnen, wieder in meine Dienste zu
treten, denn wenn auch nur der Schatten eines Verdachts auf mich fiele, würden sie mit mir in den Abgrund gerissen werden. Dennoch hoffte ich von ganzem Herzen, dass die Königin bald auch Kat Ashley zurückschicken würde, von der ich seit unserer erzwungenen Trennung vor etlichen Monaten nichts mehr gehört hatte. Es war kein schöner Herbst, sondern der schlimmste seit Menschengedenken. Da es unaufhörlich weiterregnete, verfaulte die Ernte auf den Feldern und Äckern. Die Flüsse traten über die Ufer und schwemmten ganze Dörfer mitsamt ihren Bewohnern und deren Vieh weg. Gelagertes Getreide und andere Vorräte verschimmelten. Eine Hungersnot unvorstellbaren Ausmaßes drohte. Dazu kam noch, dass Philipp keine Anstalten machte, in nächster Zeit nach England zurückzukehren. Stattdessen schrieb er Maria aus Flandern und forderte sie auf, ihn zum König von England zu ernennen. Doch meiner Schwester war klar, wie ihre Räte und ihre Untertanen reagieren würden, wenn sie Philipps Forderung erfüllte: Es hätte einen Aufstand gegeben! Und obwohl Maria ihm seinen Wunsch gewiss zu gern erfüllt hätte und sich unsäglich danach sehnte, ihn wiederzusehen, musste sie ablehnen. Die arme Maria! Obschon ich sie hasste, tat sie mir aufrichtig Leid. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, in welcher Zerrissenheit sie lebte. Es gab so viele Verschwörungen, so viele Verschwörer, die sich ihren Tod wünschten, dass sie niemandem vertrauen konnte, nicht einmal den ihr am nächsten stehenden Menschen. Und inzwischen hatte jeder am Hof die neuesten Gerüchte gehört: König Philipp amüsierte sich prächtig in den Niederlanden und wurde häufig in Gesellschaft einer gewissen Madame D’Aler gesehen. O ja, Philipp schien es absolut nicht eilig zu haben, nach England und zu seiner ihn liebenden, sich seinem Wunsch aber widersetzenden Gemahlin zurückzukehren.
Mein Leben verlief nach wie vor äußerst langweilig. Ich war zwar offiziell keine Gefangene mehr, durfte den Palast aber dennoch nicht ohne Erlaubnis der Königin verlassen. Maria lud mich auch nie ein, mit ihr privat zu Abend zu speisen, obschon ich jederzeit in der Großen Halle des Greenwich-Palasts zum Essen willkommen war. Doch wenn ich dort erschien, redete fast niemand mit mir. Man schien mich zu meiden. Ohne meine drei Hofdamen und die wenigen hohlköpfigen Zofen wäre ich mutterseelenallein gewesen. Warum ich gemieden wurde, war mir klar: Jeder hatte Angst, mit mir zusammen gesehen zu werden. Nur Sir William hatte den Mut, mich hin und wieder zu besuchen. Er gehörte inzwischen nicht mehr dem Rat an, sondern war ein Mitglied des Parlaments. Und er stand weiterhin im Ruf, ein ehrlicher, aufrichtiger Mann zu sein. Eines Nachmittags, als wir durch den Park spazierten, murmelte er: »Seid auf der Hut, Lady Elisabeth.« »Das bin ich stets, Sir William.« »Ja, aber zurzeit ist es noch nötiger als früher.« Ich befolgte seinen Rat. Nur wenn ich es schaffte, mich aus allen Verschwörungen herauszuhalten, die uns wie Hornissenschwärme zu jeder Stunde des Tages umgaben, hatte ich überhaupt die Chance, zu überleben und eines Tages die Königin Englands zu werden. Dank Sir Williams unausgesprochener Ermunterung wagte ich es wieder einmal, neue Hoffnung zu schöpfen.
KAPITEL XVI WIEDER IN HATFIELD
Eines Nachmittags bekam ich Besuch von Lady Jane Dormer, der Hofdame, die Maria am nächsten stand. Sie überbrachte mir ein Schreiben der Königin und stand ungeduldig neben mir, als ich es las. Es waren die Worte, auf die ich so sehnsüchtig gewartet hatte, seit ich wiederholt um Erlaubnis gefragt hatte: Ich durfte nach Hatfield zurückkehren! »Tja, Lady Elisabeth«, kommentierte Jane boshaft, »Ihr bekommt also, was Ihr gewollt habt. Obschon Ihr es wahrlich nicht verdient habt…« Ich überhörte ihren Nachsatz, bedankte mich höflich für das Überbringen der Nachricht, und sobald sie meine Gemächer verlassen hatte, gab ich Anweisungen zu packen. Zwei Tage später, als Lady Marian und Lady Letitia das Einpacken meiner Gewänder und Pelze überwachten, traf ein Bote ein, der mir befahl, umgehend zur Königin zu kommen. Wie immer bekam ich einen Riesenschreck. »Meint Ihr, sie hat ihre Meinung eventuell doch noch geändert?«, wandte ich mich nervös an Lady Marian. »Das glaube ich nicht«, antwortete Marian zuversichtlich. »Königin Maria muss demnächst das Parlament eröffnen und wird nach London reisen. Ich bezweifle, dass sie großen Wert darauf legt, dass Ihr sie dabei begleitet.« Trotzdem hatte ich ziemlich wacklige Knie, als ich vor der Königin niederkniete. Ich erschrak erneut über das Aussehen meiner Schwester: Sie wirkte verhärmt und abgemagert, und ihre Augen schienen noch schwächer geworden zu sein. »Liebe Schwester
Elisabeth«, sagte sie zur Begrüßung und musterte mich eingehend, »meine besten Wünsche werden dich auf deiner Reise begleiten. Hier noch ein kleines Abschiedsgeschenk.« Unter den missbilligenden Blicken von Susan Clarencieux und Jane Dormer steckte die Königin mir einen Rubinring an den Finger und überreichte mir ein Set goldener Löffel, die die zwölf Apostel symbolisierten. Was für ein sonderbarer Mensch du doch bist, dachte ich im Stillen, während ich mich überschwänglich für diese Geschenke bedankte. Wenn sie mich zu sich bestellte, wusste ich nie, ob mich eine Strafe oder eine Belohnung erwartete, ob ich ins Gefängnis geworfen oder mit Geschenken überschüttet werden würde. Maria schickte nach dem alten Pater Francis, der uns beide segnen sollte, und nachdem er wieder fort war, erhob sie sich und umarmte mich – förmlich und kühl. Dann durfte ich gehen. Doch ich verspürte nach wie vor eine gewisse Beklemmung. In jedem Dorf, das auf dem Weg von Greenwich nach Hatfield lag, wurden die Glocken geläutet, und Hunderte von Menschen strömten herbei, um mir zuzujubeln. Ich reiste in Begleitung meines früheren Hauslehrers, Roger Ascham. Als die Beifallsrufe immer überschwänglicher wurden, kam er an meine Seite geritten und sagte leise: »Wenn die Königin davon erfährt, dürfte sie nicht sehr erfreut sein.« Er hatte Recht – die Begeisterungsrufe der Menge erfreuten zwar mein Herz, doch mir war ehrlich gesagt nicht ganz wohl bei dem Gedanken an Maria. Ich nahm Aschams Warnung ernst und rief einige meiner Höflinge herbei. »Mischt euch unter das Volk!«, befahl ich ihnen, »und sorgt dafür, dass die Leute sich etwas zurückhalten.« Doch die Menschen ließen sich nicht beruhigen. Auf dem ganzen Weg nach Hatfield war ihre Begeisterung Musik in meinen Ohren. Und irgendwann auf dieser Strecke loderte das Fünkchen Hoffnung, das seit Monaten schon in mir flackerte,
zu einer gewaltigen Flamme auf: Ich werde triumphieren und eines Tages regieren.
Fast zwei Jahre waren vergangen, seit ich Hatfield verlassen musste, um nach London zu fahren. In den ersten Tagen nach meiner Rückkehr ging ich glücklich durch alle Räume, um mich zu vergewissern, ob noch alles in Ordnung war, ob genügend Vorräte in den Küchen gelagert waren, die Außengebäude noch in gutem Zustand waren und das Vieh gut versorgt worden war. Das Schönste war, dass Kat Ashley zu mir zurückkehren durfte. Verstaubt und erschöpft von ihrer Reise kam sie an, und ich rannte ihr überglücklich entgegen. In den ersten Tagen ließ ich sie kaum aus den Augen. Auch Thomas Parry und seine Schwester Blanche kehrten in meine Dienste zurück. Ich stellte einen italienischen Lehrer ein, Battista Castiglione, um meine Kenntnisse in dieser Sprache zu verbessern. Roger Ascham befriedigte mein Bedürfnis nach intellektueller Unterhaltung, und wir lasen viel zusammen. Und ich konnte endlich wieder mit Lady Marian und Lady Letitia ausreiten. Ich genoss es, meinem Lieblingswallach die Sporen zu geben und über Bäche und Hecken zu springen. Letitia konnte meist mithalten, doch Marian blieb murrend zurück. In meiner Freude, wieder von meinen alten Vertrauten umgeben zu sein, kam es mir fast so vor, als seien die schlimmen Ereignisse der letzten zwei Jahre nur ein böser Traum gewesen. Doch obschon ich so glücklich war, vergaß ich Sir William Cecils Warnung keinen Augenblick. Auf jeden Menschen an meiner Seite, der mir wohl gesonnen war, kam mindestens eine Person, die als Spion für die Königin tätig war. Wieder einmal nahm ich mir vor, dafür zu sorgen, dass diese Spione nichts zu berichten hatten. Ich besuchte täglich die
Messe und ging jede Woche zur Beichte, wie früher, als ich in unmittelbarer Nähe der Königin gelebt hatte. Da ich nicht die Absicht hatte, als Märtyrerin zu sterben, führte ich nach außen weiterhin das Leben einer braven Katholikin. Mich derart zu verstellen, fiel mir nicht einmal schwer, denn Gott würde sicherlich wissen, wie es in meinem Herzen aussah.
Ich wurde zu Weihnachten nicht an den Hof eingeladen, was mir ganz recht war. Ich hatte genug von den durchdringenden, vorwurfsvollen Blicken der Königin und feierte lieber in Hatfield. An jedem Abend der zwölf Heiligen Nächte spielten Musikanten bei uns auf, und zu Silvester führte eine Truppe Wanderschauspieler ein Maskenspiel auf. Anfang des Jahres 1556 erfuhr ich, dass Königin Maria zurzeit mit einigen wenigen Hofdamen in völliger Abgeschiedenheit lebte. Sie verließ ihre Privatgemächer nur, um in der königlichen Kapelle die Messe zu hören – und das neunmal am Tag! Sie war nunmehr vierzig Jahre alt. Wegen der mageren Ernte im letzten Jahr kam es zu einer Hungersnot und Unruhen. Maria hielt dies für ein Zeichen Gottes, sich noch intensiver darum zu kümmern, das Land von Ketzern zu befreien, und die Scheiterhaufen brannten weiter. Ich betete täglich darum, dass ihr endlich jemand Einhalt gebieten würde, doch das wagte niemand. In den überfüllten Gefängnissen waren Hunderte von Menschen eingesperrt, die der Ketzerei bezichtigt waren, die meisten von ihnen bereits zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Diese langen und qualvollen Hinrichtungen lockten weniger Neugierige an als Hinrichtungen durch Hängen oder Enthaupten. Doch wenn Maria glaubte, ihr Volk auf diese Weise zum katholischen Glauben zurückzuführen, dann hatte sie sich getäuscht! Das Leiden der vielen Märtyrer schien den Glauben der
Protestanten eher noch zu vertiefen. Neuesten Gerüchten zufolge wurden sogar jene, die Mitgefühl mit den Verurteilten äußerten, verhaftet und ebenfalls verbrannt. »Wenn ich einmal Königin bin«, versprach ich Kat, »dann schwöre ich bei Gott, dass es unter meiner Regierung so etwas nicht geben wird!« Dieser Gedanke war mir zwar schon oft durch den Kopf gegangen, doch es war das erste Mal, dass ich ihn laut aussprach: Wenn ich einmal Königin bin. Wann immer mir eine neue Verschwörung gegen Maria zu Ohren kam, bekam ich Angst. Denn obwohl ich in keinem der Fälle etwas damit zu tun hatte, wurde stets mein Name genannt. Ich blieb meinem Entschluss treu, mich aus allen Komplotten und Intrigen herauszuhalten. Wenn ich jemals Königin werden wollte, durfte ich kein Risiko eingehen! Das hatte mir das Schicksal von Thomas Wyatt gezeigt. Doch so sehr ich es mir auch gewünscht hätte – ich hatte keinen Einfluss auf Marias Gegner. Ich war noch keine sechs Monate wieder in Hatfield, als ich erneut unter Verdacht geriet. Wieder war bei diesem neuen Komplott ein Mitglied der DudleyFamilie beteiligt: Sir Henry, Robins Bruder. Dieser war nach Frankreich gefahren und hatte ein Heer aufgestellt, mit dem er in England einfiel und Königin Maria absetzen wollte. Und wieder war auch Edward Courtenay an der Sache beteiligt. Lernt dieser Narr denn gar nichts dazu?, fragte ich mich verwundert. In diese neueste Verschwörung waren offenbar etliche Personen verwickelt, die ich kannte – und sogar einige meiner Bediensteten. Deshalb war ich nicht überrascht, als der Rat eine Durchsuchung von Somerset House, meinem Londoner Wohnsitz, anordnete. Das behagte mir natürlich gar nicht, obwohl ich mir sicher war, dass sie nichts finden würden, das mich belastet hätte. Doch eine knappe Woche nach der Durchsuchung kamen etwa zwei Dutzend Soldaten der königlichen Wachmannschaft vor die Tore von Hatfield
geprescht. Als ich zu ihnen eilte, verlangten sie lauthals die Herausgabe von Katharina Ashley. »Aus welchem Grund?«, erkundigte ich mich hochmütig. »Anklage wegen Aufwiegelung, Madam!«, brüllte der Hauptmann der Truppe. Kat sollte zu einer Revolte aufgewiegelt haben? »Aufgrund welcher Beweise?«, brüllte ich zurück. Da sie die lauten Stimmen gehört hatte, tauchte Kat plötzlich neben mir auf. Ihr Gesicht war grau vor Angst, wie mir auffiel. Der Hauptmann blickte kurz auf Kat, dann wieder auf mich. »Eine Truhe voller Druckerzeugnisse, die Ihre Majestät die Königin beleidigen und entehren und auch die heilige katholische Kirche. Die Truhe soll diesem Weibsbild gehören.« Drohend zeigte er auf Kat, die mit einem spitzen Schrei zusammenbrach. Der Hauptmann schenkte dem keine Beachtung. Er entrollte ein Pergament und las laut vor: »Des Weiteren sind festzunehmen ein gewisser Battista Castiglione, seines Zeichens Italienischlehrer, und ein gewisser Francis Verney, Verwalter.« »Und was wird diesen beiden vorgeworfen?«, fragte ich, während ich mühsam meine Fassung zu bewahren versuchte. »Aufwiegelung, Madam.« Ich war sprachlos. Wie oft noch, fragte ich mich voller Verzweiflung, als die weinenden Gefangenen weggeschleppt wurden, muss ich noch mit ansehen, wie meine ergebensten Diener zu Unrecht beschuldigt, beleidigt und eingekerkert werden? Meine Hilflosigkeit machte mich wütend und ließ mich ebenfalls in Tränen ausbrechen. Doch ich konnte nichts anderes tun, als untätig abzuwarten, wie dieser ungeheuerliche Übergriff ausgehen würde. Meine Freunde stritten alles ab, doch natürlich glaubte man ihnen nicht. Kat schwor, dass sie nichts von irgendwelchen katholikenfeindlichen Druckschriften, Angriffen und Spottgedichten wusste, die in
besagter Truhe gefunden worden waren. Doch wieder einmal wurde sie meinetwegen eingekerkert, diesmal im FleetGefängnis. Castiglione wurde als Erster freigelassen – er konnte lediglich gestehen, dass er in meinem Auftrag nach London gefahren war, um neue Saiten für meine Laute zu kaufen. Der arme Verney wurde vor ein Gericht gestellt, für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. (Später wurde er zwar begnadigt, doch zum damaligen Zeitpunkt wussten weder er noch ich, ob er überhaupt die Qualen des Kerkerlebens überstehen würde.) Ich konnte es kaum fassen, als Abgesandte von Königin Maria bei mir eintrafen – mit einem Diamantring und einer Entschuldigung für eventuelle Unannehmlichkeiten, die mir durch die Verhaftung meiner Bediensteten entstanden waren! Unannehmlichkeiten! Am liebsten hätte ich ihnen sowohl den Ring als auch das Entschuldigungsschreiben ins Gesicht geschleudert, wusste mich aber zu beherrschen. Als Nächstes teilten die Abgesandten mir mit, dass Maria mich an den Hof einlud. Mir war klar, dass hinter dieser Einladung sicher nicht ihr Wunsch stand, ihre geliebte Schwester zu sehen. Maria wollte mich gewiss nur wieder in den Tower sperren und diversen Verhören aussetzen lassen, bis ich schließlich zusammenbrach. Aber natürlich war sie zu klug, um den Zorn meiner Anhänger herauszufordern, deren Zahl – wie sie wohl wusste – von Tag zu Tag anwuchs. Inzwischen mussten es Tausende von ihnen sein, ohne dass ich auch nur einen Finger gerührt oder ein Wort gesagt hätte. Ich ahnte, was Maria im Schilde führte: Sie wollte abwarten, bis ich mir selbst eine Falle stellte und hineinfiel. Ha, da würde sie lange warten müssen! Auf dieses Spielchen fiel ich nicht herein! Flugs setzte ich ein Antwortschreiben an die Königin auf. Ich bedankte mich für den Ring und ihre freundliche Einladung, bat sie aber, mich zu entschuldigen, da ich krank sei. »Ich habe
einen Katarrh«, schrieb ich und entließ die Abgesandten mit diesem Schreiben. Wer weiß, ob Maria mir meine fadenscheinige Ausrede abgenommen hat oder nicht. Jedenfalls schrieb sie mir kurz darauf, dass ich als ledige Frau den Schutz eines Gouverneurs bräuchte. Mir war natürlich klar, dass sie damit eine Art Gefängnisdirektor meinte, und ich rechnete damit, demnächst Sir Henry Bedingfield vor den Toren von Hatfield auftauchen zu sehen. Doch stattdessen ernannte die Königin den wohlhabenden, ernsthaften Sir Thomas Pope für diese Aufgabe. Obschon ich seiner Ankunft mit einem gewissen Bangen entgegensah, entpuppte sich Sir Thomas als höflicher, weltmännischer und großmütiger Mensch. Er war ein angenehmer Zeitgenosse, der es sich nicht nehmen ließ, alle möglichen Maskenspiele und Musikaufführungen zu meiner Unterhaltung zu organisieren. Mein Leben in Hatfield war endlich etwas abwechslungsreicher geworden, und ich war weit entfernt von den Intrigen Londons, wo wieder einmal eine neue Verschwörung aufgedeckt worden war. Zehn Männer wurden hingerichtet und ihre Köpfe auf Pfählen entlang der London Bridge aufgespießt. Edward Courtenay, der offensichtlich bei jeder bisherigen Verschwörung seine Finger mit im Spiel gehabt hatte, unerklärlicherweise aber die Sympathie der Königin genoss, wurde lediglich des Landes verwiesen. Im September erkrankte er und verstarb in Italien; angeblich soll Gift mit im Spiel gewesen sein. Natürlich hatte ich ihm den Tod nicht gewünscht, doch andererseits war ich erleichtert, dass ich in Zukunft nie wieder mit einer von Courtenays üblen, stümperhaft organisierten Verschwörungen in Verbindung gebracht werden konnte. Vier Monate voller Anspannung gingen ins Land, und ich betete täglich darum, dass die Königin mich diesmal in Ruhe lassen würde. Doch dann wurde Sir Thomas Pope
überraschend aus meinen Diensten abberufen. Gleichzeitig wurde Kat aus dem Gefängnis entlassen. Keine der Anklagen gegen sie konnte bewiesen werden, und ich wartete erleichtert auf ihre Rückkehr nach Hatfield. Als sie endlich wieder bei mir war, ging mein Leben wieder seinen gewohnten Gang. Ich nahm meinen Unterricht bei Castiglione wieder auf, setzte meine Stickarbeiten mit Kat fort, spielte mit Lady Marian Laute, ging mit Lady Letitia auf Falkenjagd und diskutierte mit Roger Ascham die Werke der Klassiker. Und wieder einmal begann ich von dem Tag zu träumen, an dem ich endlich Königin sein würde.
Im November ließ Königin Maria mich in den Whitehall-Palast rufen. Es handelte sich nicht um eine Einladung, die ich höflich ablehnen konnte; es war eindeutig ein Befehl, dem ich Folge zu leisten hatte. Voller Anspannung machte ich mich auf den langen, beschwerlichen Weg nach London, eskortiert von zweihundert berittenen Wachen, die ich mit Uniformen ausgestattet hatte, die ich selbst entworfen hatte. Sie waren aus purpurrotem Satin und mit schwarzem Samt besetzt. Der vergangene Sommer war so heiß und trocken gewesen, dass die zarten, frischen Pflanzen in der trockenen Erde abgestorben waren. Im Jahr zuvor hatte der ständige Regen die ganze Ernte zerstört, während es in diesem Herbst so gut wie nichts zu ernten gegeben hatte. »Zwei schlimme Jahre hintereinander«, kommentierte der Reiter an meiner Seite. »Ich fürchte, das wird zu einer großen Hungersnot führen.« Doch ich war viel zu sehr mit meinen bangen Gedanken an die baldige Unterredung mit der Königin beschäftigt, als dass ich in diesem Moment das ganze Ausmaß dieses Problems begriffen hätte. Als ich Königin Maria das letzte Mal gesehen hatte, vor meiner Rückkehr nach Hatfield, hatte sie krank und
müde gewirkt. Und nun sah sie noch elender aus: Ihr Gesicht war ausgezehrt, ihre Stirn ständig in Sorgenfalten gelegt. Nach dem üblichen Ritual mit den Verbeugungen und dem Niederknien winkte die Königin mich näher. Sie nahm mein Gesicht zwischen ihre Hände und betrachtete mich lange. Ich wusste nicht, ob sie mich gleich küssen oder anspucken würde. Ich bemerkte ihren Mundgeruch und musste mich zwingen, nicht zurückzuweichen. »Was für ein hübsches Ding du bist!«, brummte sie dann mit ihrer tiefen Stimme. »Wenn Euer Majestät meinen…«, entgegnete ich unsicher. Sie nahm ihre Hände von meinem Gesicht und stieß mich weg. Ich sank auf die Knie und wartete auf das, was als Nächstes kommen würde. Das Blut pochte in meinen Ohren. »Wie ich gehört habe, sind die Männer ganz verrückt nach deiner Schönheit, Elisabeth. Obwohl…« Sie machte eine kurze Pause. »Wir persönlich sind der Ansicht, dass es etwas übertrieben ist, dich als schön zu bezeichnen. Deine Nase ist zu lang und zu dünn, um als schön zu gelten.« »Jawohl, Euer Majestät.« »Aber hübsch genug bist du schon, um einem Gemahl zu gefallen. Und genau das werden wir nun in Angriff nehmen, liebe Schwester. Dir einen Gemahl aussuchen.« Ah, schon wieder dieses leidige Thema! Sie hatte mich nur deshalb aus Hatfield kommen lassen, um mir zu sagen, dass sie mich notfalls zu einer Heirat zwingen würde. »Haben Euer Majestät schon einen Bewerber im Sinn, den es nicht stören würde, eine Frau mit einer langen, dünnen Nase zu heiraten?«, fragte ich. »Und mit einer spitzen Zunge«, fügte sie hinzu. »Vermutlich ist es deine Zunge, welche die meisten Männer abschreckt.« »Jawohl, Euer Majestät.«
Meine Schwester schwieg. Sie hatte neuerdings eine höchst enervierende Art, einen einfach nur anzustarren, entwickelt. Ich wusste nicht, ob sie nur gerade an etwas Bestimmtes dachte oder meine Anwesenheit einfach vergessen hatte. Jedenfalls blieb ich vor ihr knien und wartete. »Wir wünschen, dass du den Antrag von Emmanuel Philibert, dem Herzog von Savoyen, annimmst. König Philipp ist ebenfalls dieser Ansicht.« Aha, das war der feurige Herzog, der schon vor zwei Jahren, als ich noch in Woodstock gefangen gehalten wurde, nach England gekommen war, um »die Frucht zu pflücken«. Offenbar hatte er noch nicht aufgegeben. »Ich fühle mich geehrt, dass der Herzog mich schätzt«, begann ich vorsichtig, während die Gedanken sich in meinem Kopf überschlugen. Ich musste mir sehr genau überlegen, was ich sagte, und die jeweiligen Folgen bedenken. Maria zögerte und zupfte an ihrer Unterlippe. Das war eine weitere irritierende Gewohnheit von ihr. »Für den Herzog spricht sehr viel«, sagte sie dann. »Er gilt als einer der tapfersten Generäle Kaiser Karls.« »Mit allem gebührenden Respekt, Euer Majestät«, sagte ich und nahm meinen ganzen Mut zusammen. »Aber ich kann den Herzog nicht heiraten.« »Und warum nicht? Er würde einen guten Ehemann abgeben, Elisabeth. Mit ihm würdest du eine gute Wahl treffen.« Ich holte tief Luft und gab mir dann einen Ruck. »Ich habe beschlossen, niemals zu heiraten«, erklärte ich mit lauter, fester Stimme. »Es geht nicht darum, mich für ihn oder einen anderen zu entscheiden. Ich möchte keinen Ehemann.« Maria lächelte säuerlich. »So, so, du möchtest lieber das Keuschheitsgelübde abgelegen?«, sagte sie. »Dich in ein Kloster zurückziehen?« »Nein, Madam«, entgegnete ich. »Ich möchte nur nicht heiraten.«
»Du widersetzt dich einem Wunsch der Königin?«, fauchte sie. »Dem Befehl deiner Herrscherin, die über Tod oder Leben bestimmen kann? Aber vielleicht änderst du deine Meinung noch, wenn du erst ein paar Monate im Tower sitzt!« Im Tower?! Die Königin wusste instinktiv, wovor ich am meisten Angst hatte, und nutzte es nun geschickt aus. Doch ich ließ mich nicht einschüchtern. Weil ich das Gefühl hatte, dass jetzt nur noch Tränen helfen konnten, begann ich prompt zu weinen. »Ich bin Eurer Majestät in allen Dingen gehorsam«, schluchzte ich, um an ihr Mitgefühl zu appellieren. »Doch ich bitte Euch inständig: Zwingt mich nicht zu einer Heirat!« Wieder bedachte Maria mich mit einem ihrer langen, schweigenden Blicke. Dann hob sie die Hand und entließ mich mit einer abfälligen Geste. »Kehre nach Hatfield zurück«, fauchte sie. »Diese Unterredung war sinnlos.« Mit dem Gefühl, wenigstens einen kleinen Teilsieg errungen zu haben, reiste ich am darauffolgenden Tag zurück aufs Land. Andererseits konnte ich mir nicht sicher sein, ob die Königin ihre Meinung nicht doch wieder ändern würde, wie sie es schon so viele Male getan hatte. Aber ich schwor mir, dass Königin Maria mich das letzte Mal hatte weinen sehen – ob nun echte oder gespielte Tränen. In ihrer Gegenwart würde ich keine einzige Träne mehr vergießen!
KAPITEL XVII KÖNIG PHILIPPS RÜCKKEHR
Für Weihnachten 1556 erhielt ich erneut eine Einladung an den Hof, was ich zweifellos König Philipp zu verdanken hatte. Ich packte eine Anzahl neuer Gewänder und Unterkleider ein, die ich mir in Frankreich hatte nähen lassen. Ich fand es an der Zeit, meinen Anhängern am Hof eine neue Elisabeth zu zeigen, eine starke, energische Frau, die nicht länger im Schatten stehen wollte. Deshalb wählte ich auffällige Blau- und Grüntöne, Rotbraun und Gelb – alles Farben, welche die wertvollen Schmuckstücke, die mein Vater mir vererbt hatte, gut zur Geltung brachten. Doch diese Mühe hätte ich mir für diesen Hof ersparen können! Nie hatte ich ein langweiligeres, farbloseres Weihnachten erlebt als dieses Jahr – von Festivitäten war keine Rede. Hölzern und lustlos brachte Maria die Riten und Gebräuche hinter sich. Selbst die traditionellen Trinksprüche brachte sie kaum über die Lippen. Zum Glück – wenigstens für mich – war unter den Gästen auch Anna von Kleve, mit der ich mich schon immer gut verstanden hatte. Ihre Gewänder waren zwar wie üblich etwas altmodisch, doch ihr Schmuck war prachtvoll. Und wie immer war sie eine scharfsichtige Beobachterin des Lebens am Hof. Wir saßen in der Nähe eines Feuers in der zugigen Kammer, die Anna zugewiesen worden war, stickten und plauderten derweil über alles Mögliche. »Wahrlich kein leichtes Los«, murmelte Anna mit Hinblick auf die Königin, »mit so einem Mann verheiratet zu sein.« Ich schmunzelte; wenn jemand etwas über die Schwierigkeiten mit einem unmöglichen Ehemann wissen
konnte, dann sie, die vierte Frau meines Vaters. »König Philipp ist nun schon seit anderthalb Jahren fort«, fuhr Anna fort. »Er hält die Königin mit Versprechen und Ausreden hin. Angeblich soll er mit der Damenwelt in Flandern einen recht lockeren Umgang pflegen.« »Weiß die Königin davon?«, fragte ich. »O ja«, antwortete Anna. »Vermutlich hat sie sogar damit gerechnet. Doch sie hat Angst, dass einer seiner Flirts in Liebe umschlagen könnte. Und das soll angeblich bereits eingetreten sein.« »Tatsächlich?« »Christina von Dänemark, die Herzogin von Lothringen, soll sehr hübsch sein.« »Hat Philipp etwas mit der Herzogin?«, fragte ich flüsternd. »Wie ich gehört habe, ja.« Eine Zeit lang stickten wir in komplizenhaftem Schweigen weiter, während ich mir diese Neuigkeit durch den Kopf gehen ließ. »Dennoch soll König Philipp demnächst nach England zurückkehren«, fuhr Anna nach einer Weile fort. »Er will Frankreich den Krieg erklären. Und für diesen Krieg braucht er das Geld Englands.« »Und Ihr glaubt, die Königin wird es ihm geben?« Anna von Kleve zog die Augenbrauen hoch. »Das war die Bedingung für seine Rückkehr. Und Maria will ihn unbedingt Wiedersehen.« »Hm, das klingt nicht sehr erbaulich!« »Da habt Ihr Recht.« Anna seufzte. »Doch ihr ist kein Preis zu hoch. Und während seines Aufenthalts…« Sie musterte mich aus dem Augenwinkel, ehe sie ihren Satz vollendete, »… will er dafür sorgen, dass Ihr unter die Haube kommt. Angeblich hat er den Herzog von Savoyen für Euch im Sinn. Aber das dürfte Euch bekannt sein.« Ich nickte. »Ich will aber nicht heiraten!«, sagte ich, wahrlich nicht zum ersten Mal in meinem Leben. Anna von Kleve legte
ihren Stickrahmen beiseite und blickte mich sehr ernst an. »Wäre Maria im Kindbett gestorben, hätte König Philipp Euch geheiratet, wie mir damals zu Ohren kam. Er braucht Euch aus politischen Gründen. Nur ihm habt Ihr es zu verdanken, dass Maria Euch nicht schon längst wegen Hochverrats hinrichten ließ. Elisabeth, Ihr verdankt Philipp Euer Leben. Und er wird nichts unversucht lassen, um Euch zu dieser Heirat zu überreden – ob nun mit Schmeicheleien oder Drohungen. Meint Ihr, Ihr kommt gegen ihn an?« »Ich habe mehr Kraft, mich zu weigern, als er, mich zu überreden!«, sagte ich trotzig. »Dann kann ich Euch nur viel Kraft und Mut wünschen, meine liebe Elisabeth.« Unsere Unterhaltung verstummte, als unsere Kammerfrauen kamen, um uns daran zu erinnern, dass es Zeit war, uns für das Neujahrsbankett umzukleiden. Ich wählte ein mit Perlen besticktes gelbes Seidenkleid, unter dessen Schlitzen ein zartgrüner Petticoat hervor blitzte. Trotz ihrer unübersehbaren Niedergeschlagenheit war die Königin wie immer großzügig mit Geschenken. Mir schenkte sie ein Set vergoldeter Kelchgläser, genau das gleiche, wie auch Anna von Kleve eines erhielt.
Gleich nach der Zwölften Nacht verabschiedete ich mich und reiste nach Hatfield zurück. Im März erfuhr ich, dass König Philipp nach England zurückkehren würde, und ich wurde zu seinem Begrüßungsfest an den Hof eingeladen. Natürlich sagte ich zu, denn dies war eine weitere Gelegenheit, mich dem englischen Hochadel als Schwester der Königin und nächste Anwärterin auf den Thron zu präsentieren. Als Philipps Schiff in Dover anlegte, wurde er von einer königlichen Barkasse erwartet und nach Greenwich gebracht. Dort begrüßten ihn
zweiunddreißig Kanonenschüsse und der jubelnde Hofstaat der Königin. Die Königin selbst war beim Anblick ihres Gemahls außer sich vor Freude. Am nächsten Tag, als die königliche Prozession sich London näherte, wurden alle Kirchenglocken geläutet und die Kanonen im Tower abgefeuert. Zum Dank für die Rückkehr des Königs hatte die Königin angeordnet, dass in jeder Kirche das Te Deum gesungen werden sollte. Nur langsam näherten wir uns dem Richmond-Palast. Ausnahmsweise wurde ich diesmal nicht wie ein Ballen Wolle auf einem undichten Stocherkahn transportiert, sondern auf einer frisch gestrichenen und mit Blumen geschmückten Barkasse. Ich hatte mich prächtig herausgeputzt und trug ein rostbraunes Seidengewand, das von einem breiten Gürtel aus schwarzem Samt zusammengehalten wurde, der üppig mit Goldfäden bestickt war. Unzählige Menschen hatten sich am Ufer der Themse eingefunden und jubelten der königlichen Prozession zu. Am Tag des großen Fests zu Ehren Philipps gab ich mich betont fröhlich, obwohl mir alles andere als leicht ums Herz war. Argwöhnisch wartete ich auf den Moment, in dem der König mich wegen der geplanten Verlobung mit seinem Vetter unter Druck setzen würde. Nach dem großen Fest ritten Philipp, Maria und ich in einer aufwändigen Prozession zum Whitehall-Palast zurück. Wie angeordnet, blieb ich noch für ein paar Tage in London. Das Thema Verlobung kam allerdings nicht zur Sprache. Ich hatte gehofft, von Anna von Kleve, die über gute Quellen zu verfügen schien, etwas mehr zu erfahren. Doch auch sie wusste nichts Neues, und so kehrte ich einigermaßen erleichtert nach Hatfield zurück. Eines Nachmittags stand eine Gruppe von Bänkelsängern vor den Toren meines Palasts. Ein junger Bursche mit einer Lautengitarre teilte den Wachen mit, er und seine Truppe seien
geschickt worden, um für mich aufzutreten. Er wurde abgewiesen, blieb aber hartnäckig. Schließlich willigte ich ein, ihn zu sehen, doch eingedenk des »Priesters«, den Thomas Wyatt mir geschickt hatte, war ich auf der Hut. »Wer hat euch geschickt?«, fragte ich. »Jemand, der Euch wohlgesonnen ist«, sagte der Bursche und reichte mir einen Beutel aus Samt. Darin fand ich einen mit Perlen bestickten goldenen Kelch, genau so einen, wie ich sie von Maria zu Neujahr geschenkt bekommen hatte. Er konnte nur von Anna von Kleve stammen. »Gut«, sagte ich zu dem Burschen. »Dann sing mir dein Lied vor!« Die anderen seiner Truppe wollten uns folgen, doch ich winkte sie zurück. Sobald wir allein waren, griff der Bursche nach seinem Instrument und spielte ein paar jämmerliche Akkorde. »Das tut einem ja in den Ohren weh!«, rief ich gequält aus. Und plötzlich riss er sich seine Kappe vom Kopf, und lange, blonde Locken fielen herab. Es war Lady Cecily, die Hofdame von Anna von Kleve. Hochzufrieden mit dem Erfolg ihrer Mission versicherte mir Lady Cecily zuerst, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauche, sie sei zu ihrer Sicherheit mit mehreren Rittern gekommen, die als Musikanten der Truppe verkleidet waren. »Ich soll Euch eine Botschaft überbringen, die Madame Anna Euch nicht auf anderem Weg überbringen lassen konnte.« »Dann fangt an!« »Zwei Besucherinnen sind in London eingetroffen«, begann sie, als wir in meinem Schlafgemach saßen und Konfekt naschten. »Eine ist Margarete, die Herzogin von Parma, eine Cousine von König Philipp. Die andere ist Christina von Dänemark, die Herzogin von Lothringen.« »Die Mätresse des Königs? Ich kann es nicht glauben!«
»Tja, die Königin war auch sehr überrascht – und ist natürlich verärgert. Sie wies ihnen Räume zu, die so weit weg von den königlichen Gemächern liegen wie nur möglich.« »Und was ist der Grund für ihren Besuch?« »Sie wollen Euch auf den Kontinent mitnehmen, Mylady«, sagte Cecily. »Und Euch als Verlobte dem Herzog von Savoyen zuführen.« Mir verschlug es die Sprache. »Ihr kennt den Herzog?«, wollte Lady Cecily wissen. »Ich hatte noch nicht das zweifelhafte Vergnügen, seine Bekanntschaft zu machen«, sagte ich spöttisch. »Er soll völlig verarmt sein«, flüsterte Cecily mir zu. »Und deshalb will er Euch auch unbedingt heiraten. Er ist nur hinter Eurem Geld her.« »Lieber würde ich den Rest meines Lebens im Tower verbringen als an seiner Seite«, fauchte ich. »Zu solch drastischen Mitteln müsst Ihr vermutlich gar nicht greifen«, tröstete die Lady mich und knabberte an einer Praline. »Die Königin legt keinen Wert darauf, dass Ihr den Savoyer heiratet.« Ich wunderte mich. »Tatsächlich? Dann muss sie ihre Meinung geändert haben!« »Es sieht ganz danach aus. Königin Maria hat keinen Erben geboren, und ihr ist klar, dass sie Euch noch vor Aufnahme der Verlobungsverhandlungen zur legitimen und rechtmäßigen Tochter von König Heinrich dem Achten erklären müsste.« »Was ich auch bin!« »Verzeiht mir, Mylady, aber nicht in den Augen von Königin Maria. Sie behauptet auch weiterhin steif und fest, Mark Smeaton sei Euer leiblicher Vater. Und was Eure Mutter betrifft…« Cecily geriet kurz ins Stocken. »Nun, auf Eure Mutter hält sie auch keine großen Stücke. Jedenfalls behauptet die Königin, Ihr wärt unehelich, und als Bastard seid Ihr natürlich wertlos für irgendwelche Verhandlungen. Selbst ein verarmter Herzog hätte kein Interesse daran, Euch zu heiraten,
wenn Ihr unehelich seid und keinen Anspruch auf den Thron habt. Denn dann kann er selbst ja auch niemals König werden. Königin Maria bringt es aber offenbar nicht über sich, Euch für ehelich zu erklären«, sagte Cecily. »Doch der König wird gewiss alles in seiner Macht Stehende tun, um sie entsprechend zu beeinflussen. Dann stünde einer Heirat nichts mehr im Wege.« Betroffen schwieg ich einen Moment lang. »Wenn Maria mich für ehelich erklärt, wird sie anschließend versuchen, mich gegen meinen Willen zu einer Ehe zu zwingen. Und falls sie mich nicht für ehelich erklärt, kann ich ihren Thron nicht erben.« Cecily nickte betrübt. »Was werdet Ihr tun, Lady Elisabeth?«, fragte sie dann. »Wie immer Maria sich auch entscheiden wird – ich werde niemals heiraten!«, sagte ich entschlossen. »Und eines Tages werde ich Königin sein!«
Als ich zu Ostern an den Hof zurückkehrte, spürte ich eine ungute Stimmung. Auch die Bankette und Bälle, die Maria über die ganzen Osterfeiertage bis zum Fest des Heiligen Markus’ anberaumt hatte, waren von dieser Missstimmung geprägt. Maria schien in eine tiefe Melancholie gesunken zu sein. Philipp wählte diesen Zeitpunkt, um mir mitzuteilen, dass ich den Herzog von Savoyen heiraten würde. Aha, er hatte meine Schwester also überreden können, mich für ehelich zu erklären! Tat sie denn wirklich alles für ihn? »Mylord«, erklärte ich mit fester Stimme. »Ich habe allen gebührenden Respekt für Eure Wünsche und die meiner Schwester. Doch ich kann den Herzog nicht heiraten.« »Und warum nicht? Sagt mir, Mylady: Warum nicht?« »Ich habe gelobt, niemals zu heiraten. Weder Philibert noch einen anderen Mann.«
»Ich bitte Euch, überdenkt Euer Gelöbnis noch einmal, Elisabeth! Der Herzog schätzt Euch sehr. An seiner Seite würdet Ihr ein angenehmes Leben führen. Und Ihr würdet feststellen, dass es sich auf dem Kontinent ganz gut leben lässt.« »Es spielt keine Rolle, welche Vorzüge der Bewerber oder seine Heimat auch haben. Ich werde den Herzog von Savoyen nicht heiraten«, erklärte ich ungerührt. »Und hiermit ist das Gespräch für mich beendet!« Philipp funkelte mich zornig an. »Bei Gott, Weib, wenn Ihr Euch weigert, ihn zu heiraten, werde ich zusehen, dass Ihr wieder in den Tower kommt!« Mir war klar, dass das durchaus in seiner Macht stand. Aber vielleicht wollte er mich auch nur einschüchtern. Ich holte tief Luft und erwiderte mit wesentlich größerer Gelassenheit, als ich verspürte: »Lasst mich ruhig einkerkern, Sir! Das Gefängnis ist nichts Neues für mich. Und glaubt mir – schlimmer als eine Ehe kann es nicht sein.« Nach diesen Worten verbeugte ich mich und wandte mich dreisterweise von ihm ab, während er mich noch ungläubig und mit offenem Mund anstarrte. Ich musste unbedingt mehr über die Hintergründe erfahren. Anna von Kleve war krank und nicht an den Hof gereist. In meiner Verzweiflung schickte ich Sir William Cecil eine kurze Botschaft und bat ihn um ein heimliches Treffen. Es vergingen mehrere Tage quälenden Wartens, bis endlich eine Antwort eintraf. Lady Letitia half mir in den rauen, braunen Kittel einer Dienstmagd und band mir einen Schal um den Kopf. Sir William erwartete mich in der Spülküche und war – nicht sehr überzeugend – als Eierhändler verkleidet. »Erzählt mir, was vor sich geht!«, bat ich ihn. »Die Königin ist überglücklich, ihren Gemahl wieder bei sich zu haben«, sagte Sir William und fügte, ziemlich trocken, hinzu: »Die Begeisterung des Rats hält sich hingegen in Grenzen. Die wenigsten sind auf einen Krieg
gegen Frankreich erpicht. Philipp und die Königin ringen seit Wochen um die nötige Zustimmung. Irgendwann werden die Ratsmitglieder klein beigeben.« »Und was ist mit dem Herzog von Savoyen?« Cecil strich sich über seinen Bart, der für einen armen Eierhändler viel zu gepflegt wirkte. »Philipp hat der Königin befohlen, Euch notfalls zu dieser Ehe zu zwingen. Doch sie widersetzt sich ihm. Er erinnert sie ständig daran, dass es ihre eheliche Pflicht ist, ihm zu gehorchen. Aber eines steht fest: Der Rat wird Euch niemals zwingen, einen Mann zu heiraten, in dessen Adern zur Hälfte spanisches und zur Hälfte französisches Blut fließt. Keines dieser beiden Länder steht bei uns Engländern in großem Ansehen. Deshalb denke ich, dass Ihr vorläufig nichts zu befürchten habt, Madam.« »Habt Dank, bester Freund«, sagte ich erleichtert. »Doch nun sagt mir – wie viel kosten Eure Eier hier?« »Das entzieht sich meiner Kenntnis, Madam«, sagte er mit einer Verbeugung und verließ die Küche. Den Korb mit den Eiern ließ er zu meinen Füßen stehen.
Ich wartete noch auf die Erlaubnis, den Hof verlassen zu dürfen, als die Königin mich zu sich rufen ließ. »Möchtest du nach Hatfield zurückkehren, liebe Schwester?«, erkundigte sie sich. »Wenn es auch im Sinne Eurer Majestät ist«, antwortete ich vorsichtig. Ich fühlte mich in ihrer Gesellschaft nie ganz wohl, obwohl sie an jenem Tag recht freundlich wirkte. »Wir selbst waren seit Jahren nicht mehr in Hatfield«, sagte Maria auf einmal leicht wehmütig. »Ist es noch immer ein so entzückender Ort?« »Der schönste Platz auf Erden«, antwortete ich schwärmerisch und fügte, ohne lange zu überlegen, noch hinzu: »Es wäre mir eine Ehre, wenn Eure Majestät mich in
Hatfield besuchen würden, um sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen.« Allerdings kam es mir gar nicht in den Sinn, dass sie meine Einladung annehmen könnte. Doch Maria lächelte. »Das werden wir tun. In etwa zwei Wochen kannst du mit unserem Kommen rechnen.« »Es wird mir ein Vergnügen sein«, log ich. Gott stehe mir bei! Meine Feindin würde mich besuchen kommen! Was hatte ich mir da eingebrockt?
Tagelang war mein Haushalt damit beschäftigt, alles für die Ankunft der Königin vorzubereiten. Wir zerbrachen uns auch den Kopf, wie wir sie unterhalten könnten. Es war für uns alle eine Zeit mit wenig Schlaf und großer Aufregung. Die Knaben der nahe gelegenen Paulus-Schule wollten ein kleines Theaterstück auf Lateinisch aufführen. Ich selbst würde etwas auf dem Spinett vorspielen, das früher meinem Vater gehört hatte. Allabendlich würde es ein Bankett geben, obwohl ich bezweifelte, dass ich noch rechtzeitig Marias Leibspeise – Wildschweinbraten – auftreiben konnte. Alles war vorbereitet, als sich die königliche Kutsche an einem herrlichen Frühlingstag mit großem Gefolge den Toren meines Palasts näherte. Trompeten schmetterten, und die Wimpel flatterten im Wind. Ich eilte nach draußen, um die Königin zu begrüßen, insgeheim noch immer mit der Frage beschäftigt: Wieso um alles in der Welt kommt sie hierher? Wie sich dann aber herausstellte, wollte die Königin nichts anderes als Kartenspielen. Am liebsten spielte sie Primero, und das gnadenlos. Ich war ihr eine ebenbürtige Gegnerin. Im Laufe der nächsten Tage verloren und gewannen wir beide Unsummen. Unsere Gespräche drehten sich hauptsächlich um belanglose Dinge. Ich merkte rasch, dass meine Schwester jedes Mal aufblühte, wenn sie über König Philipp reden
konnte. Wann immer ich ihn erwähnte, hellte ihre Miene sich auf. Und wenn sie selbst sprach, ließ sie immer wieder Bemerkungen wie »unser Gemahl, der König« einfließen. Vom Herzog von Savoyen, der Herzogin von Lothringen, dem geplanten Krieg gegen Frankreich oder ihrem schlechten Gesundheitszustand war hingegen keine Rede. Nach fünf Tagen rief Maria ihr Gefolge wieder zusammen und reiste ab. Es war, wie ich fand, ein erfolgreicher Besuch gewesen, der ohne störende Zwischenfälle verlaufen war. Ich atmete erleichtert auf. Während der Stunden, die wir zusammen verbracht hatten, hatte ich fast vergessen, dass die Königin mich hasste und meine Gefühle für sie kaum sehr viel freundschaftlicher waren.
KAPITEL XVIII DER TOD VON KÖNIGIN MARIA
Kurz nachdem die Königin nach London zurückgekehrt war, erfuhr ich, dass die Herzoginnen wieder abgereist waren. Angeblich hatte Maria Christina von Dänemark befohlen, ihre Sachen zu packen und abzureisen. Anderen Gerüchten zufolge hätten die Herzoginnen irgendwann von selbst begriffen, dass sie mich nicht als Braut des Herzogs von Savoyen mitnehmen konnten. Und weil sie England langweilig fanden, seien sie freiwillig abgereist. Es gab noch eine weitere Neuigkeit: England hatte Frankreich den Krieg erklärt. Das erfuhr ich von Sir William Cecil, als dieser mich Anfang Juni in Hatfield besuchte. »Oh, der Rat hat Philipps Vorhaben also genehmigt?«, sagte ich. »Die Königin war unerbittlich. Sie nahm jedes Ratsmitglied einzeln beiseite und drohte, sie allesamt hinrichten zu lassen, wenn sie nicht endlich ihre Zustimmung gäben.« Er schmunzelte. »Eine Methode, die mich sehr an Euren Vater erinnert hat.« »Offenbar mit dem gewünschten Erfolg.« »In der Tat. Aber ich glaube nicht, dass Philipp diesen Krieg gewinnen kann. Er wird noch diesen Monat aufbrechen. Dann werden wir sehen…« Von Lady Marian erfuhr ich später die Einzelheiten von König Philipps Abreise. Als sie von Greenwich zurückkehrte, bat ich sie, mit mir auszureiten. Bei dieser Gelegenheit trabte ich zur Abwechslung sehr gemäßigt, denn die neuesten Geschichten vom Hof interessierten mich mehr als ein aufregender Galopp.
»Während der letzten Wochen waren Königin Maria und König Philipp fast unzertrennlich«, wusste Marian zu berichten. »Sie nahmen stets alle Mahlzeiten zusammen ein und besuchten mehrmals täglich gemeinsam die Heilige Messe. Ansonsten waren sie hauptsächlich damit beschäftigt, den geplanten Krieg gegen Frankreich vorzubereiten.« Lady Marian schmunzelte. »Die Königin ließ ihren Gemahl keine Sekunde aus den Augen«, fuhr sie fort. »Sie ist bis über beide Ohren in ihn verliebt und liest ihm jeden Wunsch von den Augen ab. Anfang Juli begleitete sie ihn sogar nach Dover. Auf dieser Reise schliefen sie jede Nacht Seite an Seite. Es wird gemunkelt, dass sie noch immer auf ein Kind hofft. Und als Philipp am Morgen des sechsten Juli mit der Flut um drei Uhr in der Früh ablegte, klammerte sich Maria bis zum allerletzten Augenblick an ihn. Sie versuchte auch nicht, ihre Tränen zu verbergen.« »Und der König?«, fragte ich. »Machte ihm die bevorstehende Trennung auch zu schaffen?« »Er war der Königin gegenüber aufmerksam und freundlich«, antwortete Lady Marian. »Aber es war nicht zu übersehen, dass er es kaum erwarten konnte, fortzukommen.«
Die ersten Kriegsnachrichten waren recht erfreulich, doch der Jubel Englands war nur von kurzer Dauer. Mit dem eisigen Novemberregen traten im ganzen Land erste Krankheitsfälle auf – eine Art Katarrh verbunden mit sehr hohem Fieber. Diese Krankheit griff rasch um sich und forderte Tausende von Menschenleben. Angesichts der wachsenden Anzahl von Todesfällen ließen meine protestantischen Nachbarn sich zu der Bemerkung hinreißen, diese Epidemie sei sicher ein Fluch Gottes, um die Königin für ihre Sünden zu bestrafen.
Unter den Opfern, die in diesem Winter dahingerafft wurden, war zu meinem großen Kummer auch meine alte Freundin Anna von Kleve. Lady Cecily kam in Trauerkleidung zu mir und überbrachte mir die traurige Nachricht. »Kurz vor ihrem Tod bat sie mich, Euch diese Geschenke zu bringen«, sagte Lady Cecily. Auf ihr Zeichen hin stellte ein Diener eine kunstvoll geschnitzte Holztruhe auf den Tisch, die Cecily eigenhändig öffnete. Sie war mit schwarzem Samt ausgeschlagen und enthielt prachtvolle Schmuckstücke – Perlenketten, mit Diamanten und Smaragden besetzte Broschen, goldene Rubinringe, mit Saphiren verzierte Diademe. Ich besaß natürlich schon herrlichen Schmuck, doch diese Stücke waren absolut einmalig. »Anna von Kleve mochte Euch sehr, Lady Elisabeth«, sagte Cecily. Ich schenkte ihr ein goldenes Armband aus Annas Hinterlassenschaft. »Möge es Euch Kraft und Mut verleihen«, sagte ich, als ich es ihr um das Handgelenk legte, und wenig später ritt sie, noch immer unter Tränen, davon. Tage später sollte ich erfahren, dass Lady Cecily auf dem Heimweg nach London ebenfalls erkrankte. Knapp vierzehn Tage später war sie tot.
Obwohl ich selbst bisher von dem im ganzen Land wütenden Fieber verschont geblieben war, hielt ich es für ratsam, im Dezember auf die alljährliche Reise nach Greenwich zu verzichten. Ich wollte lieber in Hatfield bleiben und Weihnachten und Neujahr ganz ruhig und besinnlich im kleinsten Kreise feiern. Einige Tage nach Dreikönig traf Sir William Cecil während eines heulenden Schneesturms in Hatfield ein. Obschon ich mich wie immer natürlich freute, ihn zu sehen, fragte ich mich unwillkürlich, was für ein wichtiger
Grund ihn bei diesem scheußlichen Wetter zu mir aufs Land verschlagen hatte. Ich bemerkte sofort, dass er sehr bedrückt wirkte und die Schultern hängen ließ, als habe er eine schwere Last zu tragen. Nachdem er sich aufgewärmt und gestärkt hatte, schickte ich meine Bediensteten hinaus. »Was ist passiert?«, fragte ich besorgt. »Calais!«, sagte er verbittert. »Es ist an die Franzosen gefallen.« »Calais?«, rief ich ungläubig aus. »Das kann nicht sein!« Seit über zweihundert Jahren hatte Calais zu England gehört. Es war der Punkt auf dem Kontinent, der England am nächsten lag. Diese bewehrte Stadt war auch das Zentrum des englischen Wollhandels und daher von größter wirtschaftlicher Bedeutung für uns. Die Stadt hatte stets als uneinnehmbar gegolten. Und nun hatten wir sie verloren! Nach dieser ersten, schlimmen Nachricht wartete Cecil noch mit einer weiteren auf: »Ihre Majestät, die Königin, ließ verkünden, dass sie schwanger ist.« »Königin Maria – schwanger?«, fragte ich ungläubig. »Aber…« »Nun, ich bin mir sicher, dass sie das glaubt«, meinte Sir William müde. »Sie teilte dem Rat mit, dass sie es schon länger vermutete, doch noch warten wollte, bis sie sich ganz sicher war.« »Wann soll das Kind zur Welt kommen?«, fragte ich bestürzt. »Im März.« Ich konnte nicht glauben, dass meine Schwester schwanger war, und ich denke, ich war nicht die Einzige. Natürlich traute sich niemand, offen darüber zu sprechen. Bei der Ankündigung der letzten Schwangerschaft hatte ich bereits jede Menge Kleidungsstücke für den erwarteten königlichen Nachwuchs genäht und bestickt. Deshalb beschloss ich diesmal, ein Taufkleid anzufertigen, obwohl ich offen gestanden nicht
glaubte, dass es jemals ein Kind der Königin tragen würde. Wie die Tradition es verlangte, reiste ich Ende Februar mit einem großen Gefolge aus Hofdamen und Höflingen nach Greenwich. Mir graute davor, endlos lange neben Marias Wochenbett zu sitzen – falls es überhaupt dazu kommen würde. Die Königin empfing mich sehr förmlich und war weder boshaft noch übermäßig freundlich. Ich konnte sehen, dass ihr Bauch angeschwollen war, aber dennoch zweifelte ich auch weiterhin an einer Schwangerschaft. Sie wirkte sehr krank. Und wieder einmal begannen Tage endlosen Wartens. Ich begriff, dass das Ganze kein gutes Ende nehmen würde. Alles Warten würde vergeblich sein. Maria würde kein Kind bekommen. Und ich wagte mir nicht vorzustellen, in welchem Zustand meine Schwester sein würde, wenn sie sich demnächst eingestehen musste, dass sie sich erneut getäuscht hatte. Würde der Wahnsinn mit den Scheiterhaufen noch größere Ausmaße annehmen? Doch was wäre, wenn ich mich täuschte? Wenn meine Schwester trotz meiner Zweifel nun doch ein lebendes Kind gebären würde, wäre meine eigene Zukunft ruiniert. Vor lauter Angst konnte ich kaum noch klar denken, aber wieder einmal war ich gezwungen, untätig abzuwarten. Und mit mir der ganze Hof. Philipp kehrte nicht heim. Stattdessen schickte er den Grafen von Feria, um seiner Gemahlin beizustehen. Ich weiß nicht, inwieweit der Graf dieser Aufgabe nachkam, doch eines gelang ihm jedenfalls mit Sicherheit: Lady Jane Dormer, die Lieblingshofdame der Königin, verliebte sich in ihn. Jane war eine hübsche Frau mit Vermögen und einer guten Stellung und zudem noch ledig. Aber würde Maria ihrer Lieblingshofdame jemals die Erlaubnis geben zu heiraten? Bisher hatte keiner von Janes Bewerbern vor den strengen Augen der Königin Gnade
gefunden. Und nun, da Philipp weit weg war, schlief Jane sehr häufig in Marias Schlafgemach. Doch diesmal mischte Maria sich nicht ein. Diese Liebesgeschichte war das einzig erfreuliche Ereignis der trostlosen letzten Wochen. An Ostern musste die Königin sich endlich eingestehen, dass sie auch diesmal kein Kind bekommen würde. Angeblich litt sie an Wassersucht, und in ihrem Bauch hatte sich nur Flüssigkeit gestaut. Sie muss gespürt haben, dass sie im Sterben lag, und verfiel in tiefe Niedergeschlagenheit. Ich reiste so rasch wie möglich nach Hatfield zurück, um die Entwicklung der Dinge abzuwarten und weitere Heiratsanträge zurückzuweisen, mit denen ich nach wie vor belästigt wurde. Der neueste kam vom König von Schweden, dessen Gesandter mir Erik, den Sohn des Königs und seines Zeichens Herzog von Finnland, als Gemahl anbot. Und wieder lehnte ich ab. Ich wartete und wartete. Solange meine Schwester noch am Leben war, konnte sie jederzeit verhindern, dass ich jemals Königin werden würde. Der Tower war nach wie vor eine Bedrohung, die ich nicht ganz ausschließen konnte. Im September feierte ich meinen fünfundzwanzigsten Geburtstag. Marias gesundheitlicher Zustand verschlechterte sich von Woche zu Woche. Wenn ich keinen Fehler machte und mir ihren Zorn zuzog, oder wenn Maria nicht vollkommen wahnsinnig werden würde, wäre es – wie ich nunmehr fest glaubte – nur noch eine Frage der Zeit, bis ich selbst Königin sein würde. Ich dachte kaum noch an etwas anderes. Ich grübelte viele Stunden lang darüber nach, wer mir bei meinen schweren Aufgaben als Königin zur Seite stehen sollte. Doch selbst nun, da meine Schwester ihren Tod vor Augen hatte, weigerte sie sich, mich zu ihrer Nachfolgerin zu ernennen. Offenbar sah sie mich noch immer als Feindin, wie schon die ganzen letzten fünfundzwanzig Jahre.
Rührenderweise gab die Königin jedoch in einem Punkt nach: Jane Dormer wurde erlaubt, ihren Herzallerliebsten, den Grafen von Feria, zu heiraten. Allerdings bedauerte Maria, wie sie sagte, dass sie die Hochzeitsfeier leider nicht mehr erleben würde. Und als glaubte sie, dem Tod auf diese Weise die Stirn bieten zu können, setzte Maria ihren Kampf gegen die Ketzer in ihrem Land unerbittlich fort. Die letzten fünf Todesopfer unter ihrer Regierungszeit wurden Anfang November auf Scheiterhaufen verbrannt. Erstaunlich viele Menschen kamen nach Hatfield gepilgert. Ich empfing alle Besucher und hörte sie an, sagte jedoch nur wenig. Ich wollte mir meine Ängste nicht anmerken lassen, denn sie wären mir möglicherweise als Schwäche ausgelegt worden. Innerlich war ich jedoch bereit. Aber immer, wenn ich an die enorme Aufgabe dachte, die bald wie eine Riesenlast auf meinen Schultern lasten würde, wurde mir ganz kalt vor Bangen. Ich verbrachte viele Stunden im Gebet und betete so inbrünstig wie damals, als ich um mein Leben fürchten musste. Während der letzten fünf Jahre, als mir nach Marias Krönung bewusst geworden war, dass ich die nächste rechtmäßige Anwärterin auf den Thron war, hatte ich mir täglich – ja, stündlich! – vorgestellt, was es bedeutete, Königin zu sein. In den fünf Jahren von Marias Regierung hatte ich all meine Kraft dafür gebraucht, ihren Neid und ihren Hass auf mich zu überleben. Nun, da es mit dem Leben der Königin allmählich zu Ende ging, musste ich weniger um mein eigenes Leben bangen. Meine größte Sorge galt nun England. Während der langen Gespräche mit Sir William Cecil wurde mir das ganze Ausmaß der Probleme bewusst, vor denen das Königreich stand – und somit auch ich als zukünftige Herrscherin. England litt noch immer an den Folgen der zahlreichen Hinrichtungen infolge von Marias Hass auf die Protestanten, während die Katholiken andererseits keine Protestantin auf dem Thron
sehen wollten. Die Schatztruhen waren leer, da uns der Krieg gegen Frankreich viel Geld gekostet hatte, Calais war verloren. Die schlechten Ernten der letzten zwei Jahre hatten im ganzen Königreich zu Hungersnot und Armut geführt. Zudem erachteten die Räte eine Frau als untauglich zum Regieren – selbst Cecil war in diesem Punkt äußerst skeptisch. »Ihr müsst so schnell wie möglich heiraten, Madam«, sagte er zum wiederholten Male. »Hört mir gut zu, Sir William«, erwiderte ich, »denn ich werde es Euch nur noch ein einziges Mal sagen: Ich werde nicht heiraten!« Pikiert machte Sir Cecil eine leichte Verbeugung und wechselte das Thema. Unter den vielen Menschen, die mich aufsuchten, war auch Robin Dudley. Die vergangenen Jahre hatten ihn nur noch anziehender gemacht, und er war ein stattlicher, dunkelhaariger Mann geworden. Ich empfing ihn in meinem Privatgarten. Wir tauschten die üblichen Höflichkeiten aus, und ich erkundigte mich auch nach dem Befinden seiner Gemahlin, Amy Dudley. »Es geht ihr gut, Madam.« Dann nahm er meine Hand und deutete einen Handkuss an. »Ich schwöre Euch ewige Ergebenheit, Mylady Elisabeth«, sagte er. »Und ich habe Euch vieles zu erzählen. Kommt, lasst uns einen Spaziergang machen.« Wir verließen den Privatgarten, schlenderten am Labyrinthgarten vorbei und entfernten uns so immer weiter vom Palast. Die Bäume trugen schon ihr buntes Herbstkleid, einige späte Rosen blühten noch. Nach einer Weile gelangten wir zu der alten Eiche, die ich oft aufsuchte, wenn ich in Ruhe lesen oder nachdenken wollte. Ich setzte mich auf die Steinbank und wartete gespannt darauf, was Robin mir zu sagen hatte. »Madam, Ihr mögt vielleicht keine Rivalen haben, doch Ihr habt viele Feinde. Bisher war Euer Leben hauptsächlich von Feindseligkeiten von Seiten Eurer Schwester geprägt. Dieser Kampf hat bald ein Ende. Doch der
eigentliche Kampf hat erst begonnen.« Robin trat einen Schritt näher und schaute mir tief in die Augen. »Wenn Ihr überleben wollt, müsst Ihr Eure Berater zu absolutem Gehorsam und vollkommener Ergebenheit zwingen. Das gemeine Volk braucht Ihr nicht zu überzeugen – Ihr seid die Tochter seines geliebten Königs Heinrich des Achten. Doch dem Adel müsst Ihr erst beweisen, dass Ihr zum Herrschen imstande seid.« Plötzlich fiel Robin Dudley auf die Knie, seine Kappe in der Hand. »Ich gelobe Euch zu dienen und für Euren Thron zu kämpfen, Madam«, sagte er. »Ich werde Euer Diener sein bis zum Tod.« »Eure Ergebenheit zu Lebzeiten wäre mir lieber, Robin«, sagte ich schmunzelnd. »Könnt Ihr mir das versprechen?« »Von ganzem Herzen.« Er hielt meinem Blick unverwandt stand. »Und Ihr, Robin«, fragte ich, gespannt auf seine Antwort, »meint Ihr, ich muss heiraten, um England regieren zu können?« »Nein, Elisabeth«, erwiderte er ruhig und ohne lange nachzudenken. »Ihr seid alles, was England braucht.«
Schließlich traf die Nachricht ein, auf die ich so lange gewartet hatte. Jane Dormer kam mit einem riesigen Gefolge in königlicher Livree an. Seit Jane verliebt war, wirkte ihr Mund weniger verkniffen, doch sie machte aus ihrer Abneigung gegen meine Person noch immer keinen Hehl. »Ihre Majestät, Königin Maria, hat mich geschickt, Euch diese Gabe zu überbringen«, sagte sie und reichte mir einen schweren Goldring. Ich blickte auf den Ring in meiner Handfläche und spürte sein Gewicht. »Und was hat dieser Ring zu bedeuten?«, fragte ich leise.
»Die Königin hat Euch zu ihrer Nachfolgerin ernannt«, brachte Jane nur widerwillig über die Lippen. Sie hat sich also doch dazu durchgerungen!, frohlockte ich innerlich. »Die Königin bittet Euch, den alten, katholischen Glauben beizubehalten, gut zu ihren Bediensteten zu sein und für all ihre Schulden aufzukommen«, fuhr Jane fort und schluckte. »Und sie wünscht, dass Ihr ihr das alles versprecht.« Den alten Glauben beibehalten? Maria wusste genau, dass ich das nicht tun würde, und das war gewiss auch Jane klar. Doch ich kniete mich vor Jane nieder. »Ich gelobe feierlich, dass ich die Wünsche der Königin erfüllen werde«, sagte ich. Und mit dieser letzten Lüge meiner Schwester gegenüber steckte ich mir den goldenen Siegelring an den Daumen.
An diesem Tag war die Luft kühl und feucht. Ich saß wieder unter der alten Eiche, wo Robin Dudley mir seine Loyalität geschworen hatte, als eine kleine Gruppe von Männern auf mich zukam. Sie trugen Trauerkleidung, und ich erkannte Sir William Paget und den Grafen von Arundel unter ihnen. Ich erhob mich, um sie zu begrüßen. »Die Königin ist tot«, sagten die Männer mit bewegter Stimme. »Lang lebe die Königin!« Der große Moment war gekommen! Meine Schwester war nicht länger meine Feindin, sie war tot. Die erste große Herausforderung meines Lebens war überstanden. Und obwohl ich diesen Augenblick so lange erwartet, gefürchtet und gleichzeitig herbeigesehnt hatte, wurde ich nun von meinen Gefühlen übermannt. Ich fiel auf die Knie und sprach auf Latein die erstbesten Worte, die mir in den Sinn kamen, die Worte des Psalmisten: Dies ist das Werk des Herrn, und es ist wundervoll in unseren Augen! Von heute an bin ich Elisabeth, Königin von England.
EPILOG
Königin Maria wurde am 14. Dezember 1558 mit einer römisch-katholischen Feier in der Westminster-Abtei beigesetzt. Am 15. Januar, einem Datum, das der Hofastrologe Dr. Dee sorgfältig ausgewählt hatte, wurde Elisabeth, Marias verhasste Halbschwester, zur neuen Königin Englands gekrönt. Mit ihr begann eine der bemerkenswertesten Epochen in der englischen Geschichte. Unter Elisabeths Herrschaft blühte England auf. Sie führte die anglikanisch-protestantische Kirche von England wieder ein, und ihre Schiffe schlugen die spanische Armada vernichtend. Francis Drake und Walter Raleigh erforschten und kolonisierten die Neue Welt, und William Shakespeare schrieb einige der großartigsten literarischen Werke in englischer Sprache. Elisabeth – eitel und unbarmherzig, eigensinnig und geistreich, wunderschön und temperamentvoll wie sie war – hat tatsächlich nie geheiratet. Es gab zwar Gerüchte über einzelne Liebesaffären, darunter auch mit Robin Dudley, ihrem Oberstallmeister. Robins Frau Amy starb unter höchst fragwürdigen Umständen, und wieder einmal sah Elisabeth sich als Opfer böswilliger Anschuldigungen. Als sie Robin anschließend jedoch nicht heiratete, wandte dieser sich Lettice Knollys zu, der hübschen jungen Tochter von Elisabeths Cousine Katharina. Königin Elisabeth starb am 22. März 1603 im Alter von neunundsechzig Jahren. Wie ihre Schwester ernannte auch sie ihren Nachfolger erst im allerletzten Moment. Sie gab ihre Krone an Jakob, den Sohn ihrer Cousine, der schottischen Königin Maria Stuart, weiter. Da Maria Stuart zeitlebens eine
ernsthafte Bedrohung für Elisabeth gewesen war, hatte Elisabeth sie 1587 nach großen inneren Kämpfen hinrichten lassen. Elisabeth wurde neben ihrer Halbschwester Maria beigesetzt, in einem Grabmal, das der neue König Jakob der Erste in der Kapelle von Heinrich dem Siebten in der Westminster-Abtei bauen ließ. Die beiden Schwestern und Königinnen teilen sich die folgende Grabinschrift:
Gefährtinnen sowohl auf dem Thron als auch im Grab, ruhen wir zwei Schwestern hier, Elisabeth und Maria, in der Hoffnung auf dereinstige Wiederauferstehung.