Ramona weiß, daß Tim nichts von Treue hält. Doch sie ist unsterblich verliebt – und bereit, jedes Risiko einzugehen...
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Ramona weiß, daß Tim nichts von Treue hält. Doch sie ist unsterblich verliebt – und bereit, jedes Risiko einzugehen...
1985 by CORA Verlag
Band 59 (151) 1985
Scanned & corrected by SPACY Diese digitale Version ist FREEWARE und nicht für den Verkauf bestimmt -1-
Pamela Ketter
Ich schenk dir einen Stern Daß Ramona sich ausgerechnet in Tim verliebt, kann – wenn man hört, was so alles über ihn erzählt wird – kein gutes Ende nehmen. Heißt es doch, daß er die Mädchen spätestens dann sitzen läßt, wenn sie sich von ihm haben küssen lassen. Für Ramone kämen diese Warnungen aber sowieso zu spät. Denn seit der nächtlichen Leuchtturmbesteigung mit Tim und dem langen, zärtlichen Kuß kann sie an nichts anderes mehr denken als an ein Wiedersehen. Und tatsächlich verabredet Tim sich noch öfter mit ihr. Doch dann kommt der Tag, an dem Ramona Tim versetzt, um mit ihrer Mutter auszugehen – und das hat schlimme Folgen. Tim trifft sich mit Lori Lavender, und Ramona beginnt vor lauter Wut einen Flirt mit Gregg...
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1. KAPITEL Als ich Tim Appleby das erste Mal sah, konnte ich ihn genau genommen gar nicht richtig sehen. Wir saßen am Strand auf der Höhe der zwölften Straße. Margaret die darauf bestand, diese Woche Maggie genannt zu worden, rief auf einmal: „Oh!“ Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, von meinem Tagebuch aufzusehen, weil ich solche Ausrufe von Margaret gewöhnt war. Sie sagte ständig „Oh!“ zu guten Sachen oder „Krank!“ bei verrückten Sachen oder „Mist!“ bei schlechten Sachen. Margaret Polk ist meine beste Freundin. Außerdem ist sie meine Cousine, aber das werfe ich ihr nicht weiter vor. „Was ist denn?“ fragte ich etwas zerstreut und kniff dabei erst ein Auge zu und dann das andere. Die Schrift auf dem Papier vor meiner Nase verschwamm. Mist! Auf meinen Kontaktlinsen war schon wieder ein Film. „Der Rettungsschwimmer. Von dem würde ich mir gern einmal das Leben retten lassen.“ Ich blinzelte hinter dem großen braungebrannten Typ her, der an unserer Wolldecke vorbeiging. Er wirkte ausgesprochen männlich mit seinen breiten Schultern, den muskulösen Armen, den schmalen Hüften und der dunkelblauen Badehose. Abgesehen davon konnte ich sein Gesicht nicht erkennen, nicht einmal als er sich umdrehte und auf den Beobachtungsturm kletterte. Ich blinzelte und versuchte meine Augen zum Tränen zu -3-
bringen, damit, die Kontaktlinsen wieder klar wurden und ich ihn mir genauer ansehen konnte. Als meine Sicht sich geklärt hatte, saß der Junge. aber schon unter dem rot-gelb gestreiften Sonnenschirm. Er hatte uns den Rücken zugedreht und sah auf das Meer hinaus. „Na, weißt du, Ramona, jetzt sind wir schon zwei Tage hier am Strand, und haben noch keinen einzigen Typen kennengelernt“, meinte Margaret verdrießlich. „Vielleicht hätten wir doch zu Großmutter fahren sollen.“ „Sei nicht albern“, antwortete ich sofort. Bei Großmutter hätten wir ganz bestimmt auch keinen kennengelernt.“ Ich erwähnte nicht, daß wir anscheinend nirgends Jungen kennenlernten. Das ist eben der Nachteil, wenn man eine reine Mädchenschule besucht – ganz abgesehen von den Sommerferien, die wir ständig auf Grandmas Farm in Texas verbracht hatten. Dort schienen alle Jungen weit und breit mehr an Kühen und Pferden interessiert zu sein als an Mädchen. Na ja, jedenfalls gefiel, mir die gemütliche KleinstadtAtmosphäre auf Tybee Island ganz gut. Meer, Sand und blauer Himmel war mal eine Abwechslung von Kakteen, Sand und blauem Himmel. Zuerst war mit etwas komisch zumute gewesen, als meine Mutter und mein Stiefvater fragten, ob ich mit nach Tybee Island fahren wollte. Aber dann fand ich die Idee ganz gut, zumal Margaret mitkommen durfte. Außerdem hatte mir meine Mutter eröffnet, sie werde ein Baby bekommen. Obwohl ich nicht genau wußte, ob mir das gefiel, war ich wild entschlossen, mir nichts entgehen zu lassen. Jetzt waren wir also alle auf Tybee, einer Insel in der Flußmündung des Savannah Rivers in Georgia. Jungs waren hier zwar reichlich vorhanden, aber bis jetzt hatten wir es nicht geschafft, einen von ihnen kennenzulernen. Ich schob mein Tagebuch zur Seite und grübelte. Andere -4-
Mädchen hatten solche Probleme anscheinend nicht. Jedenfalls schienen sich hier am Strand alle, die in unserem Alter waren, sofort zu verstehen. Ein paar von ihnen stammten wohl von der Insel, aber die meisten waren Touristen wie wir. Ich beobachtete, wie zwei von ihnen in unserer Nähe Ball spielten. Margaret seufzte. „Ich glaube ich werde ein bißchen spazierengehen“, erklärte sie. „Willst du mitkommen?“ „Nein, vielen Dank. Ich muß erst mein Tagebuch fertigschreiben.“ „Okay“, antwortete Margaret und stand auf. Ich sah ihr nach. Sie, hatte eine ganz gute Figur. Leider sah ihr Gesicht ein bißchen aus wie das von Miß Piggy aus der Muppets-Show. Vielleicht würde ihr längeres Haar besser stehen, aber sie hat eine starke Naturkrause. Kurze Haare sind da eben praktischer. Mein Haar ist lang, glatt und dunkel, eigentlich schwarz. Aber nicht blauschwarz, sonder eher braunschwarz. Ich habe auch schwarze Augen, was eigentlich ziemlich ungewöhnlich. ist. Geerbt habe ich das wohl von meinem mexikanischen Vater. Margaret, die fast ständig ans Essen denkt, sagt, daß meine Augen sie an zwei glänzende Oliven erinnern. Ich höre da einfach weg. Eines Tages werde ich hoffentlich einmal einen Typen treffen, der für meine Augen einen, anderen Vergleich findet. Daran werde ich dann erkennen, ob er für mich der Richtige ist. Allerdings warte ich schon fünfzehn Jahre, Ich blätterte noch einmal zurück, um nachzulesen, was ich schon: in mein Tagebuch eingetragen hatte. Eine Lehrerin hatte mir geraten, in den Ferien jeden Tag etwas zu schreiben. Ich wollte nämlich Schriftstellerin werden. Es fing an mit „Liebe Angelyn“. Ich weiß, das man eigentlich „Liebes Tagebuch“ schreibt. Für mich ist ein -5-
Tagebuch aber wie eine Freundin und deshalb habe ich ihm meinen Lieblingsnamen, nämlich Angelyn gegeben. Darunter stand: So weit, so gut. Ian und ich verstehen, uns ausgesprochen gut. Audra und ich verstehen uns auch ausgesprochen gut. Margaret und ich verstehen uns sowieso gut. Es ist überhaupt alles ausgesprochen gut. Bin ich bloß nervös, oder warum glaube ich die ganze, Zeit daß demnächst etwas passiert? Ich schrieb weiter. Wir sind wohl noch nicht lange genug zusammen hier, um uns wie eine richtige Familie zu fühlen. Immerhin kenne ich Ian kaum. Ich war ja die meiste Zeit im Internat seit er und Audra verheiratet sind. Er scheint aber echt nett zu sein. Gestern hat er, eine Eismaschine gekauft und für uns Schokoladeneis gemacht. Ich kaute auf meinem Kugelschreiber herum und dachte über unsere komische Familie nach. Margaret war ja nur so eine Art Leihgabe für den Sommer von Tante Evelyn. Wir anderen hatten einige Probleme damit, uns wie eine Familie zu fühlen. Ich brauchte immer eine Weile, um mich daran zu gewöhnen, wieder mit Audra, meiner Mutter, unter einem Dach zu wohnen. Ihr ging das mit mir bestimmt genauso. Diesmal hatte sie sich halb umgebracht, um mir zu zeigen, wie gern sie mich hatte und wie toll es war, daß ich den Sommer mit ihr auf Tybee Island verbrachte. Vielleicht waren wir, uns deshalb wirklich etwas nähergekommen, ich weiß es nicht. In letzter Zeit hatte ich sie sogar ein paar mal „Mom“ genannt. Dann ließ ich's aber doch bleiben, weil es ihr lieber war, wenn -6-
ich sie Audra nannte. Seit kurzem sah Audra immer ziemlich müde aus. Dabei wußte ich, daß sie furchtbar gern mit Ian zusammen als Innenarchitektin arbeitete. Eines Abends wollte sie kochen, aber dann wurde ihr schlecht und sie mußte ins Badezimmer laufen. Als sie zurückkam lachte sie und meinte daß ihr in dieser Schwangerschaft wohl regelmäßig morgens, mittags und abends übel würde. Also kochte ich. Da ich das ganz gern tat und in der Schule nie Gelegenheit dazu bekam, fragte ich, ob ich in Zukunft immer kochen sollte. Audra war begeistert. Ich klappte mein Tagebuch zu und musterte den Jungen auf dem Beobachtungsturm. Er schien einen Frachter durch das Fernglas zu beobachten. Leider konnte ich immer noch nicht erkennen, wie er aussah, weil der Sonnenschirm sein Gesicht verdeckte. Na ja, früher oder später mußte er ja wieder herunterkommen. Dann konnte ich immer noch entscheiden, ob es sich lohnte, ihn kennenzulernen. Ich dachte über das nach, was ich geschrieben hatte. Für diesen Sommer hatte ich mir vorgenommen, ganz, ehrlich mit mir selbst zu sein. Sonst hatte ich mich immer bemüht, die langweiligen Tage in meinem Tagebuch interessanter zu beschreiben. Meine Lehrerin behauptete immer, es gebe keinen interessanten Stoff, sondern nur interessante Schriftsteller. Damit wollte sie mir zu verstehen geben, daß es an mir liege, wenn mein Tagebuch langweilig sei. Ich vermutete allerdings, daß dieser Sommer ein besonderes Problem werden würde. Bisher hatte ich die Ferien immer Großmutters Farm verbracht. Manchmal mit meiner Mutter, manchmal ohne sie. Als ich klein war, ließ Audra mich immer bei Großmutter zurück, damit sie ihrem ersten Mann nachreisen konnte. Er war Stierkämpfer und außerdem mein Vater. Nachdem er -7-
verunglückt war, zogen wir nach Puerto Rico. Audra arbeitete dort in einer Im-und Export-Firma. Danach lebten wir in New York, wo sie Photos für Agenturen machte. Schließlich gingen wir nach London, und Audra bekam eine Stelle als Journalistin und lernte Sir Cyril White kennen. Er wurde ihr zweiter Mann. Während sie mit Cyril verheiratet war, reisten wir viel herum, bis ich ins Internat mußte. Irgendwann ließen Audra und Cyril sich scheiden, und dann machte sie in Atlanta ihr eigenes Innenarchitekturbüro auf. Dort tauchte Ian auf, auch ein, Innenarchitekt. In diesem Sommer waren Audra und lan dabei, auf Tybee Island einen neuen Block Ferienwohnungen einzurichten. Für Audra war das, etwas völlig Neues, aber es schien ihr zu gefallen. Ich wünschte mir nur, daß wir einmal irgendwo bleiben würden. Manchmal hatte ich richtig Sehnsucht nach einem festen Zuhause. Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als Margaret auf mich zukam. Sie:hatte ein anderes Mädchen im Schlepptau, das.ich noch nie gesehen hatte. Morgaret kaute auf einem Bonbon heum. Sie warf mir auch einen zu. „Ramona Carlotta Romera de Castillo, das hier ist Cathy Hogan“, stellte sie uns einander vor. lch schnitt eine Grimasse, während Margaret meinen langen, spanischen Namen aufsagte. „Hallo Cathy“, begrüßte ich das fremde Mädchen und lächelte. „Einfach Ramona Castillo reicht auch.“ Ich rückte auf der Decke ein Stück zur Seite, und Cathy setzte sich neben mich. Sie war ziemlich klein, hatte ein rundes Gesicht, und Ihre blonden Haare waren noch naß vom Schwimmen.Aber sie lächelte mich freundlich an. -8-
„Bist du neu aub Tybee?“ fragte ich sie und wickelte den Bonbon aus. „Nein, ich wohne das ganze Jahr über hier“, meinte sie. Ihr Südstaaten-Akzent gefiel mir. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es sein mußte, hier das ganze Jahr über zu leben. So ein festes Zuhause hatte ich nie gehabt. Ich fragte Cathy ob Tybee Island immer so überlaufen sei wie im Sommer. „Nein, im Herbst und Winter ist es hier ziemlich verlassen. Erst im Frühling kommen die Leute aus Savannah hierher an den Strand. Das sind aber meistens nur Tagesausflügler. Nachts haben wir die Insel dann wieder für uns.“ „Wer ist denn das?“ unterbrach Margeret sie plötzlich. Ein Paar Schritte weiter stand ein Typ mit einer Gruppe von Leuten. Er lachte gerade und strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht. „Jeff Daigle. Ach, da ist ja auch Lori. Sie hat einen neuen rosa Badeanzug.“ Als ich Lori Lavender das erste Mal, sah, war ich gleich neidisch. Sie hatte wunderschönes Haar, das sich ganz von selbst in sanfte Wellen legte. „Wohnt sie auch auf Tybee?“ fragte ich beiläufig. Ich hatte auch versucht, solche Wellen in mein Haar zu bringen, aber nach kurzer Zeit war es immer wieder glatt. „Ja, sie wohnt in einem großen Haus auf der an deren Seite der lnsel. Die Lavenders sind vor ein paar Jahren hergezogon. Lori ist ganz furchtbar in Tim Appleby verknallt.“ „Wer ist das denn!“ „Das ist der Rettungsschwimmer, der jetzt da oben auf seinem Turm Wache schiebt. Er ist nett, aber er interessiert sich nicht für Mädchen.“ „Schade“, meinte Margaret. „Und was ist mit Jeff Daigle?“ „Ach, Jeff mögen alle gern, mit dem kann man viel Spaß -9-
haben. Kommt mit, ich stelle euch vor.“ Ich ging mit Cathy und'Margaret zu den anderen. Aber ich mußte immer wieder zu Tim hinübersehen. Anscheinend nahm er die Menschen am Strand gar nicht wahr, er saß unbeweglich auf seinem Platz. Na ja, immerhin war das sein Job. Er wurde dafür bezahlt, daß niemand ertrank. Eigentlich eine ziemlich große Verantwortung. Ich konnte sein Geeicht noch immer nicht erkennen, aber als wir ein Stück am Strand entlanggegangen waren, kam sein Profil in Sicht. Er sah sehr gut aus, und irgend etwas an ihm zog mich an. War es seine überlegene Ruhe? Ich werde ihn gern näher kennenlernen. Jeff verwickelte Märgaret sofort, in ein Gespräch. Ich stand etwas abseits und beobachtete Lori, die gerade zum Wachturm ging. Sie rief Tim Appleby etwas zu, und er schien mit einem kurzem Satz zu antworten. Man merkte, daß Lori gern länger mit ihm gesprochen hätte, es dann aber doch ließ. Unentschlossen stand sie neben dem Turm und sah ziemlich enttäuscht aus. Nach einer Weile kam sie zu unserer Gruppe zurück. Ich konnte meinen Blick noch immer nicht von ihrem Haar abwenden. Es war beinahe goldblond und nur knapp schulterlang. Ich nahm mir vor, mein Haar ein Stück abzuschneiden. Vielleicht würde es sich dann auch so schön wellen. „Bis dann, Maggie!“ rief Jeff. Er lief den Strand entlang und hatte eine große rote Lüftmetratze unterm Arm. Das brachte mich in die Wirklichkeit zurück. Margaret lächelte und winkte ihm nach. Dann drehte sie sich zu mir und Cathy um. „Was für ein toller Typ“, meinte sie ganz begeistert. „Nur nichts überstürzen“, warnte ich sie. „Er ist bis jetzt der einzige Junge, den wir kennengelernt haben.“ - 10 -
„Dabei wird es aber nicht lange bleiben“, versicherte Cäthy. „Ihr müßt nur regelmäßig zum Strand kommen.“ Die Gruppe junger Leute löste sich jetzt auf. Einige wollten schwimmen gehen, andere waren unterwegs zum Parkplatz. „Ich will noch nicht nach Hause“, kam Margaret der Frage zuvor, die mir schon auf den Lippen lag. „Wir sind doch erst zwei Stunden hier. Komm, wir legen uns noch eine Weile auf die Decke.“ Ich war einverstanden, da Ich einen dunklen Teint habe und mir keine, Gedanken über einen Sonnenbrand zu machen brauche. Bei Margaret war das anders. Ich sagte ihr, daß ich mir ihretwegen Sorgen machte, aber sie lachte nur. „Ich setze einfach meinen großen Sonnenhut auf“, erklärte sie, als wir bei der Decke angekommen waren. Ihr Gesicht war zwar jetzt im Schatten, aber die Schultern und der Rücken waren ungeschützt. Dennoch verkniff ich es mir, sie darauf hinzuweisen. Es wäre sinnlos gewesen. Margaret mußte ihre bösen Erfahrungen selbst machen, bevor sie, etwas dazulernte. „Im Sommer ist auf Tybee Island einiges los“, erzählte Cathy. „Da sind der Strand die Wasserrutsche und die Regatten. Und am 4. Juli machen wir ein riesiges Grillfest, und...“ Warte mal eine Sekunde“, unterbrach ich sie lachend. „Das kann ja kein Mensch alles auf einmal behalten.“ Schließlich waren Margaret und ich an Sommerferien auf dem Bauernhof gewöhnt. Da passierte den ganzen Sommer überhaupt nichts, außer vielleicht, daß einer der Leute einmal ein Klapperschlange erschoß. „Vielleicht habt ihr Lust zu einem Kunstgewerbe-Kurs“, schlug Cathy vor. „Ich habe mich nämlich in der ,Kunst-Ecke', einem kleinen Laden in der Butler Street, für einen MakrameeKurs eingetragen. Ihr könntet bestimmt auch noch hinein. Wir treffen uns Montagmorgen um zehn Uhr.“ Ich wollte schon lange einmal Makramee machen. In St. - 11 -
Veronica hatte ich nur leider nie Gelegenheit dazu gehabt. Das einzige, was man da außerhalb des Unterrichts lernte, war, wie man sich bei Tisch benimmt. .“Laß uns da doch mitmachen, Maggie“, rief ich begeistert. „Okay“, stimmte sie sofort zu. Margaret war immer für neue Ideen zu haben. Wir saßen noch eine Weile in der Sonne, und ich hatte endlich Gelegenheit, mir Tim Appleby genauer anzusehen. Seine Ablösung war gekommen, und er schlenderte lässig am Strand entlang, direkt an unserem Platz vorbei. Tim Appleby war schlicht und einfach der bestaussehendste Typ, dem meinem Leben begegnet war. Sein blondes,Haar war leicht gewellt. Er hatte dunkle Augenbrauen, eine gerade Nase und einen Mund mit vollen, geschwungenen Lippen. Aber es waren seine Augen, die mich am meisten faszinierten. Sie waren dunkelblau, un man hatte das Gefühl, in ihnen zu versinken wie in einem Gebirgssee. Sie wirkten war und lebendig. In ihnen lag etwas ganz Besonderes. Für einen kurzen Moment trafen sich unsere Blicke. Ich hatte das Gefühl, daß eine Art von Interesse zwischen uns aufflackerte. Das Ganze dauerte bestimmt nicht länger als eine Sekunde. Dann war Tim an unserer Decke vorübergegangen. Trotzdem war mir zumute, als wenn mir jemand einen Tennisschläger auf den Kopf geschlagen hatte. Ich konnte nicht einmal richtig atmen. Margaret lag auf dem Rücken und hatte ihren Sonnenhut auf das Gesicht gestülpt. Sobald ich wieder sprechen konnte, fragte ich Cathy: „Bist du sicher, daß Tim nichts von Mädchen wissen will?“ „Ganz sicher“, antwortete sie. „Stell dir doch mal vor, du wärst Tim, und Lori Lavender würde hinter dir herlaufen. Du an seiner Stelle würdest doch bestimmt sofort stehenbleiben - 12 -
und anbeißen. Tim verabredet sich aber nicht mal zum Eisessen mit ihr. Und mit anderen Mädchen auch nicht.“ „Trifft er sich denn nicht mit Mädchen?“ „Na ja, ab und zu schon. Fast alle Mädchen sind hinter ihm her, aber er ist überhaupt nicht interessiert. Und die, die es schaffen, ihn zu ködern, sind auch nicht viel besser dran. Wenn er sie küßt, war es ihre letzte Verabredung. Er hat noch nie ein Mädchen zweimal geküßt.“ „Warum denn das?“ „Ich weiß es auch nicht, aber es stimmt. Wenn Mädchen ihn wirklich mögen, wissen sie nicht, ob sie auf einen Kuß hoffen sollen, oder nicht.“ Das mußte ich erst einmal verdauen. „Wofür interessiert er sich denn dann?“ „Er verbringt viel Zeit damit, durch sein Fernglas zu gucken, er bastelt an seinem Auto herum und er arbeitet als Rettungsschwimmer. Das ist so ziemlich alles“, meinte Cathy und zuckte die Achseln. „Wenn du daran, denkst, dich mit Tim zu verabreden, vergiß es lieber. Es ist ziemlich hoffnungslos. Ich werde dich demnächst mit dem Rest der Clique zusammenbringen. Keith Nichols wird dir ganz bestimmt gefallen.“ Aber ich wollte die anderen Typen nicht mal in Erwägung ziehen. Ich hatte schon zu tief in Tim Applebys Augen gesehen, und dabei hatte irgend etwas in mir auf ihn angesprochen. Jetzt mußte ich unbedingt herausfinden, was es war.
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2. KAPITEI „Wie findest du denn die hier?“ fragte ich Margaret. „Wenn du die Sonnenbrille auf die Stin hochschiebst, kann ich nichts sehen. Setz sie doch mal richtig auf.“ „Aber ich will sie doch gar nicht richtig aufsetzen“, meinte ich und versuchte, mich in dem kleinen Spiegel auf dem Ständer mit den Sonnenbrillen zu erkennen. „Also muß ich sie auch so ausprobieren.“ „Das klingt vernünftig“, erwiderte Margaret. Sie trug nie Sonnenbrillen, weder auf der Nase noch auf die Stirn geschoben. Die Brille hatte große, runde Gäser und feste Bügel, die die Haare aus meinem Gesicht halten würdern. Ich entschied mich, sie zu nehmen. Nach dem Bezahl ging ich mit Margaret hinaus in die Sonne zu dem Parkplatz, wo unser Auto stand. Wenn e mich nicht irrte, waren auf Margarets Schultern schon die ersten Anzeichen eines fürchterlichen Sonnenbrandes zu erkennen. Ihre Haut war bereits knallrosa, aber sie hatte ja nicht auf meine Warnung hören wollen. Margaret drehte sich zu mir um und bemerkte: „Vielleicht sollte ich lieber den Mund halten, aber...“ „Wieso denn das?“ Mir war klar, daß sie doch mit dem herausplatzen würde, was sie im Sinn hatte. Das tat sie immer, ganz egal, ob man es hören wollte oder nicht. „Na ja, mit der Sonnenbrille siehst du genauso aus wie die - 14 -
Fliege in dem Film neulich.“ Wir hatten den Film „Die Fliege“ im Fernsehen gesehen. Es handelte sich um einen alten Horrorfilm, in dem es um einen Mann ging, der von einer Maschine in seine einzelnen Moleküle aufgelöst und an anderer Stelle wieder zusammengesetzt werden sollte. Leider war eine Fliege mit in Apparat geraten, und so hatten sich seine Moleküle mit denen der Fliege vermischt. Als er aus der Maschine herauskam, hatte der Mann den Kopf der Fliege, und die Fliege den Menschenkopf. Ich rückte die Fliegen-Sonenbrille auf meinem Kopf zurecht und rief mit leiser Stimme: „Hilf mir, hilf mir!“ Genauso hatte die Fliege mit dem Menschenkopf um Hilfe gerufen, als die Spinne auf sie zukam. „Krank“, meinte Margaret suchte in ihrer Tasche nach dem Schlüssei für lans Auto. lan und Audra hatten jeder einen Wagen, aber weil ihr Büro direkt in unserem Apartmenthaus lag, brauchten sie zusammen nur einen. lans mochten wir besonders gern: es war ein silbergrauer Sportwagen. „Hilf mir, hilf mir“, wiederholte ich, um Margaret zu ärgern. „Du brauchst Hilfe?“ fragte da plötzlich eine Stimme aus dem Auto neben uns. Ich drehte mich um, und wenn es die Spinne gewesen wäre, hätte es mich auch nicht mehr überrascht. In dem Wagen saß Tim Appleby und trank eine Dose Cola. Auf einmal hatte ich ganz weiche Knie, aber ein Lächeln brachte ich trotzdem noch zustande. Was für eine Gelegenheit! Eigentlich brauchte ich ja keine Hilfe, aber vielleicht schaffte ich es, mir etwas auszudenken, um ein Gespräch in Gang bringen. Vielleicht konnte ich mein Portemonnai fallen lassen, damit er mir dabei helfen könnte, das Kleingeld wieder einzusammeln. Aber auf so eine plumpe Art wollte ich Tim - 15 -
dann doch nicht kennenlernen. „Nein, nicht wirklich“, antwortete ich also so unbeteiligt wie möglich und lächelte ihn an, damit er merkte, das ich nicht unfreundlich sein wollte. „Das war als Witz gedacht. Weißt du, wir haben diesen Film ,Die Fliege‘ und...“ „Und das waren die Worte der Fliege, als sie im Netz der Spinne gefangen war“, beendete Tim den Satz. Ich konnte gar nicht glauben, daß er den Film gesehen hatte. „War das nicht toll? Ich meine, für einen Hororfilm war er wirklich gut gemacht.“ Margaret beobachtete uns mit offenem Mund von der anderen Seite des Wagens her. Sie hatte die Tür aufgeschlossen, war aber noch nicht eingestiegen. „In dem Programm gibt es jeden Samstag einen Horrorfilm“, erzählte Tim. „Manchmal sehe ich ihn mir an, wenn ich abends noch mit einem Teleskop die Sterne beobachtet habe und spät nach Hause komme. Neulich gab es eine japanische Fassung von Godzilla, aber das war total bescheuert. Sie war miserabel synchronisiert.“ „Das mag ich auch nicht“, meinte ich. „Dann Ist es schon besser, sie bringen den Film mit Untertiteln. Dann stimmen wenigstens die Mundbewegungen mit dem Ton überein.“ „Klar, das meine ich auch.“ lch:konnte gar nicht fassen, daß es so es so leicht war, sich mit Tim zu unterhalten. Und das war der Typ, von dem Cathy gesagt hatte, daß er sich nicht für Mädchen interessierte! Der Wagen, in dem er saß, war ein schwarzer '57 Chevrolet – einer der schönsten, die ich je von dieser Marke gesehen hatte. Mir fiel auf, wie Tim unseren Sportwagen anstarrte. „Nettes Auto habt ihr da“, meinte er nach einer Pause. Margaret hatte inzwischen die Wagentür aufgemacht und war eingestiegen. „Er gehört meinem Stiefvater“, erklärte ich. „Dein Wagen - 16 -
gefällt mir aber auch ganz gut.“ Ich stieg auf den Beifahrersitz ein. Margaret, die versuchte mit durch Zeichen irgend etwas mitzuteilen ignorierte ich dabei. Von Autos verstand ich zwar nicht besonders vieI, aber der Chevrolet aus den fünfziger Jahren sah wirklich toll aus. Man merkte, daß er ziemlich stolz auf seinen Wagen war. Er sah mich genauer an, und ich spürte, wie er sich an dem Moment am Strand erinnette, in dem sich unser. Blicke getroffen hatten. Auf einmal schien er sich für mich zu interessieren. „Laß uns schnell losfahren“, flüsterte ich Margaret zu. „Aber...“ „Schnell“, wiederholte ich eindringlich. Margaret ließ den Motor an und setzte rückwärts aus der Parklücke. Aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, daß Tim uns nachsah. Dann schien ihm etwas eingefallen zu sein. Er winkte, und ich kurbelte so unbeteiligt wie möglich die Scheibe herunter. „Hey!“ rief er hinter uns her. Wir waren schon fast außer Hörweite, weil Margaret nicht anhielt. „lch weiß doch nicht nicht mal deinen Namen!“ Ich lehnte mich aus dem Fenster und lächelte ihm zu. „Das ist schon okay. Ich weiß ja deinen.“ Diese Antwort schien Tim so zu überraschen, daß er uns mit offenem Mund nachsah. Margaret begann halb ungläubig und halb bewundernd zu lachen. „Ich habe das Gefühl, daß du gerade deine große Chance verspielt hast“, meinte sie kopfschüttelnd. „Wir haben ja schließlich noch den ganzen Sommer vor uns“, erklärte ich übermütig und lachte ebenfalls. „Das war doch eben eine tolle Gelegenheit, ihn zu einer Spritztour einzuladen. So, wie er unser Auto angestarrt hat,
In den USA kann man bereits mit 16 Jahren den Führerschein machen.
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wäre er bestirnmt gern mitgekommen. Außerdem war er wirklich nett zu dir, und du hast ihm nicht einmal deinen Namen verraten. Ehrlich, Ramona, ich wäre nicht überrerascht, wenn er nie wieder mit dir reden würde.“ Margaret wußte natürlich nichts von den Blicken, die Tim und ich am Strand ausgetauscht hatten. Außerdem konnte ich ihr schlecht erklären, daß ich ganz sicher war, Tim in nächster Zeit sehr viel näher kennenzulernen. In Worten auszudrücken, wie Tims Blicke auf mich gewirkt hatten, war einfach unmöglich. Schließlich kamen wir auf dem Parkplatz vor unserem Apartmenthaus an, einem gewaltigen Neubau aus Chrom und Glas. Die Besitzer der Wohnungen waren zum größten Teil wohlhabende Rentner aus dem Norden. Audras und Ians Innenarchitekturbüro war genau das, was den Leuten hier fehlte, wenn sie ihre Wohnunge teuer und gemütlich einrichten wollten. Wir wohnten im dritten Stock in einem geräumigen Apartment mit Meerblick. Die Makler hatten es mit Bedacht ausgesucht, um Audra und Ian auf Tybee Island einen zusätlichen Reiz zu bieten. Wir gingen direkt in die Küche - ich, um Abendessen zu machen und Margaret, um die Vorratslage zu prüfen. lan war gerade dabei, sich ein Bier aus dem Kühlschrank zu nehmen. Ian sieht toll aus, ein bißchen wie Omar Sharif in „Doktor Schiwago“. Außerdem kann er mit den Ohren wackeln, wie er es auch in diesem Moment tat, um uns zum Lachen zu bringen. Im übrigen ist er ganz furchtbar in Audra verliebt. Als Margaret und ich gelacht hatten, bis wir nicht mehr konnten, ging ich duschen, und Margaret machte sich über die Erdnußvorräte her. Danach setzten wir uns alle an den hochmodernen Tisch aus Chrom und Glas. „Wollt ihr auch ein paar Nüsse?“ fragte Margaret. Ich lehnte - 18 -
dankend ab, aber lan nahm sich eine Handvoll. „Danke, Margaret.“ „Nicht Margaret. Diese Woche bin ich Maggie.“ „Na gut, dann eben Maggie.“ lan wartete einen Augenblick und begann dann „Würde es dir etwas ausmachen, mir zu erklären, warum du jede Woche deinen Namen wechselst?“ Margaret und ich sahen uns vielsagend an. Es war gar nicht so leicht das einem Erwachsenen zu verdeutlichen. „Ich versuche herauszufinden, wer ich bin“ erklärte Margaret dann. „Wenn ich alle meine Spitznamen ausprobiert habe, werde ich wissen, welcher davon wirklich zu mir paßt.“ Ian runzelte die Stirn und versuchte, sie zu verstehen. Ich dagegen hatte keine besonderen Schwierigkeiten mit Margarets Namen-Theorie. Sie ähnelte schließlich meinen eigenen Versuchen mit verschiedenen Handschriften, durch die ich herausfinden wollte, weIche am besten zu meiner Persönlichkeit paßte. Außerdem war ich durch mein Leben mit Audra so an Veränderungen gewöhnt, daß es mir gar nichts ausmachte, Margaret jede Woche anders zu nennen. „Wie gefällt dir denn der Name Maggie so?“ wollte lan wissen. Margaret kaute nachdenklich auf einer Erdnuß herum. „Um ehrlich zu sein, zuerst kam ich mir vor wie eine alte Marktfrau. Aber jetzt bin Ich mir nicht so sicher. Ich werde dich das Ergebnis am Ende der Woche wissen lassen, bevor ich einem neuen Namen anfange.“ „Was hast du dir denn als nächstes ausgesucht?“ fragte ich. „Muggsy, glaube ich. Ja doch, bestimmt Muggsy.“ Letzte Woche war es Meg gewesen. Bei all den Spietznamen die es für Margaret gab, hatten wir einen ausreichenden Vorrat für den ganzen Sommer. Ich stand auf und fing an, alles fur das Essen - 19 -
zurechtzulegen. Es sollte Frikadellen geben. Draußen knallte die Tür, und Audra kam in die Küche. Sie war mit Musterbüchern für Tapeten und Stoffe beladen, die Ian ihr sofort abnahm und auf den Tisch legte. Dann nahm er Audra sanft in die Arme und gab ihr einen Kuß. Ian und Audra sind schon ein tolles Paar. Ians dunkle Haare und Augen bilden den perfekten Gegensatz zu Audras silberblonden Haaren, das lang und glatt ist. Sie trägt es im Nacken zu einem losen Knoten geschlungen. Ihre Augen sind grau, und sie hat eine gerade Nase. Eigentlich sehen wir uns ziemlich ähnlich. Zumindest Audras schmale Figur und ihr ovales Gesicht habe ich geerbt. Audra ließ sich auf einen Stuhl fallen. „Was, für ein Tag!“ stöhnte sie. „Ich mußte bis nach Savannah fahren, um diese Tapetenmuster zu bekommen, und dann waren es noch-nicht einmal dier richtigen. Zu allem Übel kam Mrs. Drake und hat sich über ihre Möbellieferungen beschwert. Was habt ihr denn heute getrieben?“ „Wir waren unten am Strand“, bemerkte Margarete einsilbig. „Und haben da auch gleich ein paar neue Leute kennengelernt“, ergänzte ich. Dabei formte ich gleichzeitig den Fleischteig zu Kugeln, was eine meiner Lieblingsbeschäftigungen war. „Sind sie nett?“ fragte Audra. „Ja sehr“, meinte Margaret schwärmerisch. Ich wußte, daß sie dabei an Jeff Daigle dachte. „Wir werden wahrscheinlich einen Makramee-Kurs besuchen“, berichtete ich. „Das ist schön. Ich bin froh, daß ihr hier schon Freunde gefunden habt. Ich hatte ja damit gerechnet, aber...“ An Audras Gesicht Ausdruck konnte ich erkennen, daß sie sich - 20 -
unseretwegen Sorgen gemacht hatte. Irgendwie mochte ich sie deswegen auf einmal besonders gern. Mir war klar, daß sie sich wünschte, uns würde es hier genauso gefallen wie ihr. Margaret ging als nächste unter die Dusche, und ich rnachte inzwischen mit dem Abendessen weiter. lan und Audra waren ins Wohnzimmer gegangen. Man konnte Gläserklirren und Gelächter hören. Ich goß das Kartoffelwasser ab, tat Butter und Milch zu den Kartoffeln und fing an, sie zu zerstampfen. Dabei mußt ich wieder an Tim Appleby denken. Gestern hatte ich noch nie etwas von ihm gehört, und jetzt hatte ich schon das Gefühl, nicht genug über ihn erfahren zu können. Viel war es bis jetzt ja noch nicht. Abgeshen davon, daß er wenig mit Mädchen ausging, hatten Cathy und er noch eln Teleskop erwähnt. Wenn er das jeden Samstag benutzte, um die Sterne zu betrachten, war es kein Wunder, daß er nicht mit Mädchen loszog. Cathy hatte außerdem erwähnt, Tim bastele gern an seinem Auto herum. Kein Wunder, daß der Chevy erstklassig aussah. Ich fragte mich, ob Tim das alles ganz allein zustande gebracht hatte. Aber danach konnte ich ihn erst fragen, wenn wir uns das nächste Mal trafen. Danach, und nach dem Teleskop. „Das sieht ja aus, als wenn du die Kartoffen zu Tode stampfen willst“, meinte Margaret, die auf einmal hinter mir stand. Ich war so in meine Gedanken vertieft gewesen, daß Ich sie gar nicht hatte kommen hören. Sie war damit beschäftigt, ihre kurzen Haare trockenzurubbeln. „Geh lieber ein Stück zurück“, entgegnete ich bloß. „Sonst landen noch welche von deinen Haaren im Kartoffelmus.“ „Mist!“ war ihr Komrnentar, aber sie trat einen Schritt zurück. „Soll ich mal probieren? Ich könnte dir sagen, ob noch Salz fehlt“, fragte sie hoffnungsvoll. Ich wußte wirklich nicht, warum Margaret so schlank war. Sie aß den ganzen Tag über. - 21 -
„Vielen Dank, lieber nicht. Du kannst ja den Tisch decken, wenn du Lust hast.“ Zum erstenmal, seit sie in die Küche gekommen war, guckte ich sie richtig an. „Maggie, du hast ja einen Sonnenbrand!“ Margaret trug ein trägerloses Top und Shorts. Sie sah auf ihre Schultern hinunter und meinte:“Tja, es scheint so. Nach der Dusche sieht so etwas natürlich immer viel schlimmer aus. Hoffentlich tut es morgen nicht weh.“ Sie kniff sich vorsichtig in die knallrosa Haut auf ihrem Arm und schnitt eine Grimasse. „Aua, es tut jetzt schon weh! So ein Mist.“ „Ich habe dich ja gewarnt“, meinte ich nur und versuchte nicht schadenfroh zu klingen. „Das stimmt allerdings. Oh, warum konnte ich bloß nicht auf dich hören?“ Ich warf ihr einen genervten Blick zu. Margeret nahm Geschirr und Bestecke und ging ins Eßzimmer, während ich mich um den Rest des Abendessens kümmerte. Ich hatte mir große Mühe gegeben, weil ich wollte, daß wir uns alle um den großen Tisch setzten, wie eine richtige Familie. Unser Eßzimmer war wunderschön und hatte etwas leicht Exotisches an sich. Im Grunde war es viel zu schick, um dort Frikadellen zu essen. Der Tisch war achteckig, mit einer Rauchglasplatte und einem hölzernen Fuß, und die Stühle hatten hohe Lehnen und waren mit muschelfarbenen Damast bezogen. Das Zimmer sah stilvoll aus, war aber gleichzeitig sehr praktisch. Es verriet den besonderen Geschmack von lan und Audra. Nachdem ich die Frikadellen, das KartoffeImus, Möhren und Salat auf den Tisch gestellt hatte, zündete ich die Kerzen an. Eigentlich war ich ziemlich stolz auf das Essen, das ich zustande gebracht hatte. - 22 -
„Wirklich toll; Ramona“, lobte meine Mutter. „Einfach wundervoll.“ Ihr Gesicht wirkte in dem Kerzenlicht weicher als sonst, und sie strahlte mich an. Ich mußte daran denken, daß Audra schwanger war. Vielleicht war das der Grund dafür, warum sie so verändert aussah, auch wenn sie noch keine Umstandskleider brauchte. Ich versuchte nicht an das Baby zu denken, denn daran hatte ich mich immer noch nicht gewöhnt. Wir setzten uns alle an den Tisch, und ich genoß das Lob der anderen. lan beobachtete ich besonders. Schließlich kannte ich seinen Geschmack noch nicht so genau. Nach dem Essen wuschen Margaret und Audra ab. Danach schlug Ian vor, daß wir noch ein bißchen am Strand spazierengehen sollten. Noch war es nicht ganz dunkel, aber die Sonne stand schon tief am Horizont. Unten am Wasser angekommen zogen Margaret und ich die Schuhe aus und liefen an der Brandung entlang. Der Strand auf Tybee Island ist breit und flach und hat an der Oberfläche feinen, grauen Sand. Wenn man aber ein bißchen gräbt, bekommt er die Farbe von braunem Zucker. Margaret bohrte mit ihrem großen Zeh darin herum. „Warum muß dieser Sand bloß so lecker aussehen“, meinte sie verdrießlich. „Ich werde von dem Anblick schon wieder hungrig. Kannst du Kekse backen Ramona?“ „Ich weiß nicht. ich kann es ja mal versuchen.“ „Ich helfe dir auch“, bot Margaret an. „Bloß das nicht! Als du mir das letzte Mal bei den Brownies geholfen hast, hattest du den halben Teig aufgegessen, bevor er überhaupt auf dem Blech landete. Das einzige, wobei ich dich helfen lasse, sind gelbe Rüben.“ Ich wußte, daß Margaret Rübenhaßte wie die Pest. „Krank“, meinte Margaret verächtlich. Sie betrachtete ihren - 23 -
verbrannten Arm. „Dies fängt alImählich an, richtig weh zu tun.“ Audra und lan hatten uns eingehoft. Audra wurde jetzt auch auf Margarets Sonnenbrand aufmerksam. „Maggiel Auf deine Haut müssen wir aber schnellsten irgendeine Salbe schmieren, wenn wir wieder zu Hause sind. Dabei bin ich mir gar nicht sicher, ob wir überhaupt etwas Geeignetes habrn.“ „Haben wir“, schaltete sich lan ein. „Überlaßt das nur mir, ich weiß, was da hilft. Guckt euch noch mal den Sonnenuntergang an. Ist er nicht wunderschön?“ Damit hatte er wirklich recht. Die Sonne ging gerade über der Flußmündung unter, und rechts von uns lag das offene Meer. Gegen den zartrosa Horizont konnte man in der Ferne eine Art Boje erkennen. Ich zeigte mit dem Finger darauf. „Was, ist denn das?“ „Das ist ,Little Tybee Light'. Früher war es einmal ein unbemannter Leuchtturm, der den Schiffen bei der Einfahrt in den Savannah River helfen sollte. Jetzt wird er leider nicht mehr benutzt, fürdie Schiffe genügt das große ,Tybee Light'.“ Nachdem die Sonne hinterrn Horizont verschwunden war, machten wir uns auf den Rückweg. Margaret und ich gingen voraus, und Audra und Ian folgten. Als wir das Haus erreicht hatten, sah Margarets Sonnenbrand richtig böse aus. „Was soll ich dehn jetzt drauftun?“ jammerte sie. Daraufhin verschwand lan wortlos in der Küche. Einen Moment später kam er mit einer Flasche Essig zurück. „Essig?“ fragten Audra, Margaret und ich wie aus einem Munde. „Ein altbewährtes Hausmittel. Außerdem haben wir gar nichts anderes da. Ich würde ja zur nächsten Nachtapotheke fahren und etwas holen, aber ich glaube wirklich, daß der Essig - 24 -
genauso gut ist wie jede Salbe. Versuch's nur, ich bin sicher, daß es dann nicht mehr so weh tut.“ Wir wußten ja, daß lan gern Spaß machte, aber diesmal schien er es wirklich ernst zu meinen. Also sagten Margaret und ich den beiden „Gute Nacht“ und verschwanden in unserem Schlafzimmer. Nachdem wir uns ausgezogen hatten, fing ich an, Margarets brennenden Rücken vorsichtig mit dem Essig einzureiben. „Weißt du, was das Schlimmste an diesem Sonnenbrand ist? Ich werde mindestens drei Tage nicht in die Sonne gehen können. Das bedeutet, ich kann nicht zum Strand und Jeff Daigle treffen! Aua! Das tut weh!“ Margaret rollte sich aus meiner Reichweite. „Dann mach's doch selber“, entgegnete ich ein bißchen sauer und gab ihr die Essigflasche. „Mit den Frikadellen heute abend bist du sanfter umgegangen“, meinte sie noch. Dann zuckte sie zusammen, als sie den Essig selbst auf ihrer Haut verteilte. Es schien wirklich sehr weh zu tun, abor da ich noch nie einen Sonnenbrand gehabt hatte, konnte ich das nicht richtig beurteilen. Ich ging hinüber zum Fenster. Es hatte einen herrlichen Anblick auf das Meer, genau wie das Wohnzimmer und Audras und Ians Schlafzimmer. Der Himmel leuchtete ietzt nur noch ein bißchen. Im Vordergrund hoben sich dunkle Palmwedel gegen den helleren Himmel und das spiegelblanke Meer ab. Es war ein wunderschöner Augenblick, und ich wünschte, er wurde nie vorübergehen. Trotzdem wußte ich, daß der Himmel schon bald dunkelblau und mit Sternen übersät sein würde. Margaret schraubte den Verschluß der Essigflasche zu. „Ich glaube, dieses Zeug wirkt wirklich“, meinte sie. „Das schlimmste Brennen scheint vorbei zu sein.“ Ich verzog das Gesicht. - 25 -
„Was meinst du, wie lange es dauert, bis der Essig aufhört, wie Essig zu riechen?“ „Weiß ich auch nicht. Ich komme mir jedenfalls vor wie eine Essiggurke.“ Das brachte mich zum Lachen. „Erinnerst du dich noch en den Sommer bei Grandma, als wir uns praktisch nur von Senfgurken ernährt haben?“ „Na klar! Das war in dem Jahr, als Claire auch bei Grandrna wohnte. Sie fand uns fürchterlich.“ Clair ist unsere Cousine und drei Jahre älter als wir. Ende dieses Sommers wollte sie heiraten. Völlig überraschend hatte sie uns zu ihrer Hochzeit eingeladen. Margaret und ich hatten zwar absagen wollen, aber Audra und Tante Evelyn hatten uns davon überzeugt, daß man das nicht machen könne. Also würden wir wohl oder übel Brautjungfern spielen müssen Glücklicherweise lag das Ende des Sommers noch in weiter Ferne. Margaret und ich kletterten in unsere Betten, und ich machte das Licht aus. Im Dunkeln konnte ich hören, wie sie sich von einer Seite auf die andere wälzte und versuchte, es sich trotz des Sonnenbrandes bequem zu machen. Ich lag auf dem Rücken und starrte an die Decke. „Ramona? Bist du wach?“ flüsterte Margaret, als ich schon lange glaubte, sie sei eingeschlafen. „Ja“, antwortete ich in normaler Lautstärke. „Was ist denn?“ „Weiß du, was ich denke? Dies wird der beste Sommer aller Zeiten.“ Ich lächelte. „Weißt du was?“ fragte ich zurück und dachte dabei an Tim Appleby mit seinen blauen Augen. „Das glaube ich auch.“ Dann fielen mir bald die Augen zu, und ich träumte von Tim und seinem schwarzen Chevrolet.
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3. KAPITEL Mein sehnlichster Wunsch war es, einmal so lange in einem Haus zu wohnen, daß ich mich an die Wasserhähne gewöhnen könnte. In unserem Apartment gab es am Badezimmerwaschbecken nur einen Hahn, den man herausziehen mußte. Für heißes Wasser mußte man ihn links, für kaltes nach rechts drehen. Andauernd verwechselte ich das und verbrannte mich mit dem kochendheißen Wasser, wie jetzt auch wieder. Ich bin der Meinung, daß es ein Gesetz gegen die Installation unterschiedlicher Wasserhähne auf der ganzen Welt geben müßte. Wütend ging ich nach nebenan, um Margeret zu wecken. Margaret öffnete nur ein Auge. „Laß mich in Ruhe“, murmelte sie undeutlich. „Willst du nicht frühstücken?“ fragte ich erstaunt. „Ich kann uns Spiegeleier mit Schinken und Toast machen.“ „Krank“, war Margarets einziger Kommentar. Sie vergrub den Kopf unter ihrem Kissen, woran ich erkennen konnte, daß es ihr wirklich schlecht gehen mußte. Normalerweise bekommt sie bei dem Gedanken an Essen immer gute Laune. „Kann ich irgend etwas fürdich tun?“ erkundigte ich mich besorgt. „Danke, nein“, brummte Margaret unter dem Kissen hervor. „Es sei denn, du hast eine Badewanne voll Eiswasser.“ Ich merkte, daß immer noch ein leichter Essiggeruch im Zimmer hing. „Meinst du das ernst?“ fragte ich. - 27 -
„Nein, eigentlich nichts aber ich würde gern noch etwas schlafen.“ „Okay“, meinte ich und ging ins Wohnzimmer. Irgend jemand hatte schon die Gardinen vor dem breiten Panoramafenster zurückgezogen und die Sonne schien herein. Audra hatte einen Zettel dagelassen, auf dem stand, daß wir ihr oder Ian Bescheid sagen sollten, bevor wir an den Strand gingen. Wegen Margarets Sonnenbrand fiel das leider auch für mich aus. Wir hatten nämlich nur einen Führerschein, und der gehörte Maragaret. lch hätte natürlich auch an den Strand direkt hinter unserem Haus gehen können, aber das war nicht dasselbe. Alle Jugendlichen auf Tybee Island gingen an den großen Strand, weil da die Action war. Ich machte mir eine Schüssel Cornflakes und setzte mich damit an den Küchentisch. Allein zu frühstücken war nicht besonders nett. Man hatte niemanden zum Reden, außer den Cornflakes, und deren Unterhaltung war nicht besonders interessant. Danach brachte ich Margaret ein Glas Orangensaft, aber sie schlief immer noch. Ich beugte mich über sie und betrachtete ihre Haut genauer. Auf den Schultern bildeten sich schon die ersten Blasen. Ich ging hinaus und suchte meine Mutter. Audra sah von ihrem Schreibtisch auf, als ich in das Büro kam. „Hallo, mein Schatz“, begrüßte sie mich gutgelaunt. Sie kam extra um den Tisch herum, um mich in den Arm zu nehmen. „Was hast du heute vor?“ „Ich weiß noch nicht. Ich denke, ich werde einfach zu Hause bleiben. Margaret ist noch im Bett, und ihr Sonnenbrand sieht fürchterlich aus. Wahrscheinlich ist sie für ein paar Tage außer Gefecht gesetzt.“ Audra wirkte besorgt. „Ich werde gleich mal nach oben gehen und nach ihr sehen. - 28 -
Hat der Essig geholfen?“ Ian kam durch die Tür zum angrenzenden Zimmer, in dem die Tapeten und Stoffmuster aufbewahrt wurden. „Sie meint, daß der Essig zumindest das schlimmste Brennen gelindert hat“, antwortete ich. „Seht ihr? Wie ich es gesagt habe“, triumphiert lan. Er sah an diesem Morgen sehr gut aus in seinen blauen Hosen und einem weißen Polohemd. So hätte Doktor Schiwago ohne Pelzmantel bestimmt auch ausgesehen. „Vielleicht sollte ich Noxzema ausprobieren. Das ist ein Mittel, das mir eigentlich immer gegen Sonnenbrand hilft“, schlug Audra vor. „Ramona, warum nimmst du nicht eins der Fahrräder und fährst damit zur Apotheke?“ Die Fahrräder hatte ich völlig vergessen. Sie gehörten den Hansens. Die hatten sie für ihre Enkel gekauft, wollten sie aber nicht in der Wohnung herumstehen haben. Deshalb hatte Mr. Hansen Audra und lan gefragt, ob er die Räder in ihrem Hinterzimmer unterstellen könnte. Dafür durften wir sie so oft benutzen, wie wir wollten. „Keine schlechte Idee. Ist es okay, wenn ich danach an den großen Strand radele?“ Das war eine Möglichkeit, meine neuen Freunde doch noch zu treffen. „Na klar“, meinte Audra und lächelte mir zu. „Toll!“ Auf einmal hatte sich meine Laune schlagartig gebessert. Ich würde Cathy und die anderen treffen - und nicht zu vergessen: Tim. Schnell zog ich meine Shorts und ein T-Shirt über meinen Badeanzug und schob die neue Sonnenbrille ins Haar. Danach radelte ich schnell in die Apotheke, um das Mittel für Margaret zu besorgen. Sie murmelte nur irgend etwas Unverständliches, als ich es ihr neben das Bett stellte. Offenbar fühlte sie sich immer noch nicht besser. Auf dem Weg zum Strand wünschte ich mir doch, Mardaret - 29 -
sei dabei. Es war ein komisches Gefühl, allein am Strand anzukommen. lmmerhin waren wir fremd auf der Insel und kannten niemanden. Ich ließ mir Zeit damit, mein Rad abzuschließen. Aus einem Augenwinkel sah ich Tims schwarzen Chevvy, der gerade in eine ParkIücke in der Nähe rollte. So gern ich Tim auch wiedersehen wollte, so war ich doch auf einmal total nervös. Er öffnete gerade die Autotür, stieg aus und sah noch viel besser aus als sonst, fand ich. Er hatte wieder seine blaue Badehose an und trug dazu ein hellblaues T-Shift mit einem aufgedruckten Bild von einem '57iger Chevrolet. Ich bekam schon weiche Knie, wenn ich ihn nur ansah. lrgendwann wurde mir klar, daß es ziemlich albern aussehen mußte, wenn ich nur stumm dastand. Also holte ich tief Luft und ging auf ihn zu. Noch nie war mir etwas so Einfaches so schwer gefallen. Außerdem war ich mir auch gar nicht sicher, ob ich wollte, daß er mich bemerkte. Ich war schon an seinem Wagen vorbei, als Tim mir nachrief. „Heyl“ Der Zuruf klang frech, aber er kannte ja meinen Namen nicht. Ich drehte mich zu ihm um. Unsere Blicke begegneten sich, und auf einmal war es wie gestern am Strand. Irgendwie wußte ich, daß es ihm ganz genauso ging. Diesmal brach er das Schweigen: „Sagst du mir jetzt deinen Namen?“ Ramona CastiIlo“, antwortete ich. Er kam um das Auto herum und schlang sich ein weißes Handtuch über die Schultern. „Na, Ramona, du hast gesagt, daß du weißt, wer ich bin. Wie ist denn mein Name?“ Er grinste mich von oben her an, und ich bemerkte, daß er fast einen ganzen Kopf größer war als ich. „Rumpelstitzchen?“ fragte ich. - 30 -
Tim lachte. „Ich nehme an, ich soll wie Rumpelstilzchen verschwinden, sobald die Königin den Namen errät, aber ich habe nicht die Absicht.“ „Das will ich hoffen.“ Tim lachte wieder. „Du bist anders, Ramona, weißt du das?“ Wir sahen uns an. Ich mußte auch lachen und merkte, daß er die Situation genoß. „Bist du nur für wenige Wochen auf Tybee lsland, oder bleibst du den ganzen Sommer?“ fragte Tim. „Den ganzen Sommer. Meine Mutter und mein Stiefvater haben die Inneneinrichtung eines neuen Apartmentblocks übernommen.“ Tim schien sich über diese Nachricht zu freuen. „Wo kommst du denn her?“wollte er wissen. Die Frage klang einfach, nur war die Antwort leider etwas komplizierter. Sollte ich wirklich Texas, Mexiko, Puerto Rico, New York, England und Atlanta aufzählen? Ich lächelte und sah auf meine Fußspitzon hinunter. „Aus dem Universum“, erwiderte ich geheimnisvoll. Tim warf den Kopf zurück und lachte so laut und schallend, daß sich einige Leute nach ihm umdrehten. Er nahm meinen Arm und ging mit mir auf den Strand zu. „Wenn das so ist, bist du gengau das Mädchen, auf das ich gewartet habe. Astronomie ist ein Hobby von mir“ Das schien eine gute Gelegenheit, um ein Gespräch anzufangen. „Du hast gestern dein Teleskop erwähnt.“ „Ich weiß. Ich verbringe eine ganze Menge Zeit damit, die Sterne zu beobachten.“ In meinen Ohren klang das sehr romantisch. Die Sterne, die Milchstraße, Orion und Cassiopeiax! Als wir ans Meer kamen, rief Cathy meinen Namen. Ich freute mich, sie wiederzusehen, aber warum mußte sie mich - 31 -
gerade jetzt stören, wo ich mit Tim allein sein wollte? „Komm doch mit schwimmen“, meinte sie. Ich sah Tim an. Cathy war offensichtlich erstaunt, uns beide zusammen zu sehen. Sie starrte uns mit offenem Mund an. „Ich habe erst in einer Stunde Dienst“, meinte Tim. „Warum legen wir nicht unsere Sachen auf den Wachturm und gehen alle ins Wasser?“ „Okay“, stimmte ich zu und folgte Tim zu dem Turm, wo ich meine Sachen dem anderen Rettungsschwimmer, Keith Nichols, gab. Keith sah mich neugierig an, aber Tim schien nichts davon zu bemerken. Als wir zum Wasser gingen, hatte ich das Gefühl, daß jedes Mädchen am Strand uns anstarrte und sich fragte, warum Tim Appleby ausgerechnet mich ausgesucht hatte. Ich war ziemlich stolz, weil ich wußte, daß viele von ihnen gern an meiner Stelle gewesen wären. Es war erstaunlich, wie leicht man sich mit Tim unterhalten konnte. Unglaublich, daß dies der Typ sein sollte, der sich angeblich nicht für Mädchen interessierte. Wir fanden eine ganze Menge Gesprächsthemen als wir jetzt zusammen ins Wasser gingen. Er erzählte von seinem Teleskop, für das er den ganzen letzten Sommer gespart hatte. Er ging auf die High School in Savannah, und im Herbst würde sein letztes Schuljahr beginnen. Wir aßen beide gern Pizza und mochten keinen Rosenkohl, und ich erzählte, daß ich in diesem Sommer das Kochen für die Familie übernommen hatte. Ich erzählte auch, daß Margaret den Sommer mit uns verbrachte und daß ich versuchte, meinen Stiefvater kennenzulernen. Ich hatte keine Ahnung, wie lange wir so redeten, aber es war so, als wenn niemand sonst existierte, nur wir beide am Rand des weiten atlantischen Ozeans. Cathy, die später zu uns stieß, nahm ich zuerst kaum zur Kenntnis. Erst als sie mich ansprach, kam ich mit einem Ruck in die Wirklichkeit zurück. - 32 -
„Sag mal, Ramona, ich würde dich und Margaret gern zu meiner. Fete am Samstag einladen. „Das ist nett, wir würden furchtbar gern kommen“, antwortete ich. Daß Margaret begeistert sein würde, wußte ich im voraus. „Ich werde auch dasein“, warf Tim ein. Dadurch wurde meine Vorfreude doppelt so groß. „Los, kommt mit“; forderte Cathy uns jetzt auf. „Laßt uns mal ein paar Runden drehen. Ihr zwei klönt schon viel zu lange. Wißt ihr nicht, daß Wasser zum Schwimmen da ist? Reden kann man auch am Telefon.“ „Das ist eigentlich eine gute Idee“, meinte Tim. „Wie ist deine Telefonnummer, Ramona?“ Meine Telefonnummern änderten sich so oft, daß ich sie mir nicht immer merken konnte, aber diese hatte ich glücklicherweise behalten. Ich sagte sie Tim und er nickte. „Ich habe zwar nichts zum Aufschreiben, aber ich behalte sie auch so.“ Das bezweifelte ich zwar, sagte aber nichts. Wie redet man auch mit jemandem, der auf einmal taucht und mit langen Zügen von einem wegschwimmt? Tim war ein sehr guter Schwimmer, und im Wasser schien er ganz in seinem Element zu sein. Es war toll, ihm zuzusehen. Das Wasser war sehr klar und plätscherte in sanften Wellen auf den Strand zu. in der Luft lag der Geruch von Sonnenmilch, und vom Strand her erklang aus mehreren Kofferradios Rockmusik. „Wie hast du bloß Tim Appleby dazu bekommen, mit dir zu reden?“ fragte Cathy auf einmal neben mir. „Ich glaube, es war der Sportwagen von meinem Stiefvater“, vermutete ich. „Wir haben Tim gestern auf dem Parkplatz gesehen, und das Auto hat ihm gut gefallen. Als ich vorhin - 33 -
hierherkam haben wir uns zufällig getroffen.“ Ich zuckte die Schultern. Eben noch war mir alles so aufregend vorgekommen, aber beim Erzählen klang es ganz normal. „Du bist das erste Mädchen, mit dem er sich so ausführlich unterhält“, meinte Cathy bewundernd. „Es gibt eben doch noch Wunder.“ „Na hoffentlich“, entgegnete ich und sah zu Tim hinüber, der jetzt wieder auf uns zuschwamrn. „Du magst ihn wirklich gern, nicht wahr?“ fragte Cathy und sah mich dabei neugierig an. „Sicher“, murmelt ich und hoffte, daß sie nicht merkte, wie ernst es mir damit war. Sie mußte nicht unbedingt gleich erfahren, daß ich mich in den Herzensbrecher vom Dienst verknallt hatte. „Denk bloß dran, was ich dir von ihm erzählt habe, und mach dir bei ihm keine falschen Hoffnungen. Ich möchte nicht, daß er dir wehtut, Ramona.“ Ich nickte, aber die Unterhaltung gefiel mir nicht mehr. „Laß uns um die Wette schwimmen“, forderte ich sie auf. „Wetten, daß ich als erste bei der Boje dahinten ankomme?“ „Wetten, daß nicht?“ rief Cathy zurück, und wir schwammen wie die Verrückten drauflos. Cathy gewann, aber nur knapp. Danach hängten wir uns an das mit Algen überwachsene Tau, das den bewachten Teil begrenzte, und ließen die Beine im Wasser baumeln. „Wo ist denn Maggie heute?“ erkundigte sich Cathy. „Zu Hause. Sie hat einen üblen Sonnenbrand.“ „Jeff hat nach ihr gefragt. Lch glaube, er mag sie.“ Das waren wirklich interessante Neuigkeiten. „Was du nicht sagst!“ Margarer würde sich bestimmt irre freuen. „Ja, und er kommt auch zu meiner Fete. Hoffentlich ist Maggie bis dahin wieder okay. - 34 -
„Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Wenn sie weiß, daß Jeff kommt ist Maggie auf jeden Fall da.“ Wir ließen uns noch eine Weile im Wasser treiben und wateten dann zurück an den Strand. Tim hatte inzwischen seinen Posten auf dem Wachturm bezogen. Ich kletterte hoch um meine Sachen abzuholen. „Du kommst, um deine Wertsachen zurückzufordern, wie ich sehe“, empfing er mich lächelnd. Sein Haar war noch feucht, und um den Hals hatte er eine silberne Pfeife. Dann gab er mir meine Sachen. „Vielen Dank. Ich wollte irgend etwas sagen, um ihm zu verstehen zu geben, daß ich mich auf ein Wiedersehen freute, aber dann überlegte ich mir, wie komisch daß klingen könnte. Ich wollte den nächsten Schritt ihm überlassen, also nahm ich meine Sachen und ging zu Cathy hinüber. Ich breitete meine Decke neben Cathys aus und verbrachte den Rest des Tages damit, in der Sonne zu liegen und mich mit anderen zu unterhalten. Cathy war sehr nett, und sie kannte viele von den Leuten, die am Strand waren. Außerdem lernte ich Neill Cameron und Bethany Lynn kennen, beides Klassenkameraden von Tim. Cathy zeigte mir ein rothaariges Mädchen. Es war Phyllis Mitchellson, die beste Freundin von Lori. Als ich nach Hause kam, roch die ganze Wohnung nach Noxzema, was wesentlich angenehmer war als der Essiggeruch. Margaret saß auf dem Balkon und fächelte sich mit einer Zeitschrift Luft zu. Ihre Haut hatte die Farbe von Räucherlachs „Erzähl es mir bloß nicht“, wehrte sie bei meinem Anblick sofort ab. „Erzähl mir nicht, daß du Jeff Daigle gesehen hast, das könnte ich nicht ertragen. „Ich habe gute Nachrichten“, begann ich und ließ mich in - 35 -
den Liegestuhl neben ihr fallen. „Das will ich hoffen“, erwiderte sie unglücklich und sah mich aus geschwollenen Augen an. „Wir sind von Cathy zu einer Fete eingeladen. Jeff und Tim kommen auch.“ Sofort wirkte sie frölicher. „Toll! Wie hast du das denn geschafft?“ Ich erzählte ihr ausgiebig von dem Tag am Strand. Als ich fertig war, stand Margaret auf. „Laß uns schon mal überlegen, was wir anziehen“, schlug sie vor. „Wir haben doch noch die ganze Woche Zeit“, protestierte ich, aber sie bestand darauf. Also gingen wir an unsere Kleiderschränke und untersuchten den Inhalt, die Auswahl war nicht einfach. Bis Samstag änderten Margaret und ich dreimal unsere Meinung, was wir anziehen sollten Margarets Haut pellte inzwischen, und deswegen hatte sie sich trotz der Wärme dafür entschieden , einen langärmligen Rollkragenpullover anzuziehen. Als ich zu bedenken gab, daß das wohl zu warm sei, meinte sie verzweifelt:“Was soll ich denn sonst machen? Meine Arme sehen doch unmöglich aus!“ Dem konnte ich nichts entgegenhalten. Ich hatte mir eine, pinkfarbene Seidenbluse, mit einer weißen Bundfaltenhose ausgesucht. Statt eines Gürtels hatte ich ein buntes Seidentuch durch die Schlaufen gezogen. Als wir abends zu Cathys Haus in einer der Straßen unten am großen Strand fuhren, konnten wir schon vom Parkplatz aus die laute Musik hören. Cathy erwartete uns an der Tür und brachte uns sofort in das Wohnzimmer. Sie stellte uns so viele Leute vor, daß ich die - 36 -
Namen gar nicht alle behalten konnte. Nach Tim brauchte ich nicht lange zu suchen, der war Mittelpunkt einer Gruppe bewundernder Mädchen. Schließlich stellte Cathy Margaret und mich ihren Eltern vor. Mrs. Hogan war sehr freundlich und genoß die Fete ganz offensichtlich genauso wie ihre Tochter. Mr. Hogan dagegen wirkte eher ruhig. Er war damit beschäftigt, die Getränke in der Badewanne zu kühlen. Das Haus der Hogans war schon älter, aber sehr gemütlich eingerichtet. Im Wohnzimmer war für eine Tanzfläche Platz gemacht worden, und die Teppiche waren aufgerollt. Cathly hatte Lampions an die Decke gehängt. Sie verbreiteten ein gedämpftes Licht. Aus einer Stereo-Anlage kam Musik. Das Eßzimmer ging nach hinten:hinaus. Von dort aus entdeckte ich im Garten noch ein anderes kleines Gebäude. „Das ist ein Ferienhäuschen“ erklärte Cathy. „Die Leute, die dieses Haus vor uns besaßen, haben es immer vermietet. Dad sagt, er will das ganze Gerümpel hinauswerfen, was sich da angesammelt hat, damit wir eine Anzeige aufgeben können, aber bis jetzt ist er noch nicht dazu gekommen.“ Auf einmal zischte Margaret: „Da ist Jeff!“ Noch bevor sie den Satz richtig zu Ende gesprochen hatte, kam er schon auf uns zu. Er fragte Margaret, ob sie tanzen wolle, und die beiden gingen auf die Tanzfläche. Cathy meinte, sie müßte sich mal wieder um die Getränke kümmern, und so stand ich auf einmal alleine da. Der erste, der mich danach ansprach, war Keith Nichols, der ebenso wie Tim Rettungsschwimmerdienst machte. Wahrscheinlich wußten wir beide nicht so richtig, woran wir mit einander waren, als wir ein Gespräch begannen. Ich war die ganze Zeit damit beschäftigt, aus einem Augenwinkel Tim zu beobachten, sobald ich das Gefühl hatte, daß Keith es nicht merkte. - 37 -
Nach einer Weile fiel mir auf, daß Keith seinerseits Lori beobachtete. Das fand ich so lustig, daß es mir nach einer Weile richtig Spaß machte, mit Keith zu reden. Schließlich forderte er mich zum Tanzen auf. Wir gingen auf die Tanzfläche und suchten uns eine Ecke aus, in der wir genug Platz hatten. Es war ein langsamer Tanz, und Keith entpuppte sich als sehr guter Tänzer. „Bist du neu auf Tybee Island?“ fragte er mich. Ich nickte. „Wir bleiben den Sommer über hier.“ „Das finde ich toll. Es ist hier viel interessanter, wenn im Sommer, die Feriengäste da sind. Wir können ein bißchen Abwechslung ganz gut vertragen.“ „Abwechslung? Wieso denn das?“ Keith grinste. „Die meisten von uns kennen einander schon ihr ganzes Leben lang, und das ist ziemlich langweilig.“ „Aber ich dachte, daß hier eine ganze Menge neue Leute herziehen. Es werden doch andauernd neue Häuser gebaut. Cathy und Lori sind doch auch erst vor ein paar Jahren hergezogen.“ „Lori? Ja, du hast recht.“ Sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich, und seine Bewegungen wirkten auf einmal steif. „Habe ich etwas Falsches gesagt?“ fragte ich betreten. „Nein, nicht wirklich. Es ist nur so, daß Lori und ich früher miteinander gegangen sind.“ „Oh, das tut mir leid.“ „Mach dir deswegen keine Gedanken. Das konntest du ja nicht wissen.“ „Magst du sie immer noch?“ „Na ja...“ „Ich habe bemerkt, daß du immer zu ihr hinübersiehst.“ „lst das so offensichtlich?“ „Na ja...“ entgegnete ich in dem gleichen Tonfall wieder. - 38 -
Keith lächelte mich an, und der gequälte Ausdruck verschwand von seinem Gesicht. Ich fand ihn wirklich sehr nett, auch wenn er mit Tim nicht zu vergleichen war. Wir tanzten weiter, aber ich konnte es mir nicht verkneifen, immer wieder zu Tim hinüberzusehen. Er saß immer noch am selben Platz und unternahm keinerlei Anstalten, sich unter die Leute zu mischen. Lori war inzwischen auch zu ihm hinübergegangen. Kurz danach forderte Neil Cameron sie auf, und dann tanzte sie Wange an Wange mit ihm, wobei sie die Augen schloß. Hinter ihr, in der Ecke lachte Tim gerade über irgendeinen Witz. Er schien weder Lori noch mich zu bemerken. Als Russel die Platte umdrehte, gingen Keith und ich ins Eßzimmer, um etwas zu trinken. Auf dem Weg dorthin kam Margaret uns entgegen und zog mich mit ins Badezimmer. „Rate mal was passiert ist. Jeff hat mich gefragt, ob ich demnächst einmal Zeit für ihn habe“, eröffnete sie mir strahlend.“ „Toll!“ erwiderte ich. Aber obwohl ich mich natürlich für sie freute, ärgerte es mich doch ein bißchen, daß sie mit Jeff schneller vorankam als ich mit Tim. „Wir wollen nächste Woche mal abends zusammen weggehen. Jetzt muß ich aber zurück, Jeff will mir einen neuen Tanzschritt beibringen. Bis nachher!“ Margeret war wieder verschwunden. Ich seufzte und ging auf die Veranda hinaus. Ohne den Lärm und dieMusik von der Fete wäre die Nacht sehr ruhig gewesen. Die Nachbarhäuser waren alle dunkel, die Bewohner waren wahrscheinlich ausgegangen. Immerhin war Samstag. Auf der Veranda saßen mehrere Paare eng nebeneinander auf den Gartenmöbeln. Ich wollte nicht stören und drehte mich wieder um, um ins Haus zurückzukehren. Dabei stieß ich mit - 39 -
Tim zusammen. „Ramona, ich habe dich schon gesucht“, sagte er. Der Blick aus seinen tiefblauen Augen ließ mich schon wieder weiche Knie bekommen. „Das hast du?“ Ich mußte mir Mühe geben, nicht zu stottern. „Willst du mit mir tanzen?“ Ich nickte, und auf einmal schien sich die übrige Welt ins Nichts aufzulösen. Tim nahm meine Hand und führte mich auf die Tanzfläche. Er legte den Arm um mich und zog mich dicht an sich. Meine rechte Hand lag in seinem Nacken, und als ich die Haut über seinem Kragen berühe, zuckte ich zusammen. Hoffentlich hatte er es nicht gemerkt. Aber dann war ich sicher, daß er es doch bemerkt hatte. Überall dort, wo sich unsere Körper berührten, schien eine elektrische Spannung zu entstehen. Ich achtete nicht einmal mehr auf die Musik. Nur Tim und ich waren wichtig und das unglaubliche Gefühl zwischen uns. Dann ertönte auf einmal ein furchtbares Quietschen und die Musik verstummte. Anscheinend war der Arm des Plattenspielers über die Platte gerutscht. Alle hörten auf zu tanzen, nur Tim und ich gingen nicht auseinander. Erst als Russel meinte, es würde eine Weile dauern, trennten wir uns widerwillig. Meine Hand ließ Tim jedoch nicht los. Die anderen stöhnten genervt und verzogen sich ins Eßzimmer oder in die anderen Räume. „Los, komm“, flüsterte Tim mir ins Ohr. „Laß uns auf die Veranda gehen. „Ich folgte ihm und war froh darüber, daß wir die einzigen waren, die diese Idee gehabt hatten. Tim und ich blieben am Geländer stehen. „Sieh mal“, meinte er leise. „Da oben ist die Milchstraße.“ - 40 -
Ich folgte seinem BIick. Am Himmel verbreiteten die vielen kleinen Sterne einen milchigen Schimmer. Es war wunderschön. „Die Milchstraße ist unsere Galaxie, weißt du“, erklärte Tim. „Aber es gibt auch noch andere Galaxien, die genauso groß sind. Der Andromeda-Nebel zum Beispiel.“ „Ich dachte immer, daß Andromeda ein Sterhbild ist'„ entgegnete ich. Ich wünschte, ich hätte in der Schule besser aufgepaßt. „Ist es auch“, erwiderte Tim. „Wenn du Andromeda mit bloßem Auge ansiehst, kannst du nur einen kleinen Lichtfleck erkennen. Durch das Teleskop siehst du dann, daß der Fleck in Wirklichkeit eine gewaltige Galaxie ist.“ Tim hielt immer noch meine Hand. „Wie weit ist denn Andromeda von hier entfernt?“ fragte ich. Es interessierte mich wirklich, aber es fiel mir sehr schwer, mich zu konzentrieren, weil Tim so dicht neben mir stand. „Etwa zwei Millionen Lichtjahre“, antwortete Tim. Auf einmal hörten wir hinter uns eine Tür zuschlagen. Cathy und Russel kamen um die Ecke geschossen. Offenbar hatten sie es sehr eilig. Cathy schien überrascht, uns zusammen auf der Veranda zu sehen. „Wir wollten schnell in die alte Gartenlaube“, erklärte sie. „Russels Stereoanlage hat endgültig den Geist aufgegeben, und mein Vater sagt, unter dern Gerümpel dort sei noch ein Plattenspieler, den wir benutzen können. Nachdem die beiden im dunklen Garten verschwunden waren, blieben tim und ich noch eine Weile auf der Veranda stehen und betrachteten schweigend den Sternenhimmel. Wir hatten beide nicht das Bedürfnis zu sprechen, und es reichte, daß der andere da war. Wir standen sehr dicht zusammen. Tim hatte meine Hand noch immer nicht losgelassen. - 41 -
Cathy und Russel kamen aus dem Ferienhaus zurück. „Tim, kannst du uns mal helfen?“ rief Russel herüber. Tim sah mich entschuldigend an, bevor er meine Hand lostieß. Russel hatte einen großen Pappkarton mit Platten auf dem Arm, den er Tim gab. Dann kamen Cathy und er mit einem alten Plattenspieler nach, den sie an mir vorbei ins Haus trugen. Ich folgte ihnen. Als die anderen den alten Apparat sahen, kamen sie alle an, um ihn genauer zu begutachten. Die Lederhülle war staubig und hatte sogar schon etwas Schimmel angesetzt. Irgend jemand im Hintergrund meinte ironisch: „Und du meinst, es ist kein Stereo?“ Darauf brachen alle in Gelächter aus. „Immerhin ist der komplett mit Schallplatten“, rief Cathy. „Das hier nennst du Schallplatten?“ fragte Phyllis Mitchellson zweifelnd. Sie nahm eine aus dem Pappkarton. Es handelte sich um eine alte Platte, wie sie heute nicht mehr hergestellt werden. Meine Großmutter hatte einmal gesagt, daß diese alten Dinger schon Sammelstücke sind. „Wer ist denn Tommy Dorsey?“ fragte Lori, die Phyllis über die Schulter gesehen hatte. In der Zwischenzeit hatte Cathy den Plattenspieler angeschlossen, und er funktionierte tatsächlich. Einige Leute waren in den Garten hinausgegangen, weil sie die alten Scheiben nicht hören wollten, aber ein paar von uns waren neugierig. Tim hatte wieder meine Hand genommen, und wir sahen uns an. Wir wollten weitertanzen, ganz egal zu was für einer Musik. „Hier, legt die mal auf“, schlug Mary Jane vor, die eine der Platten abgestaubt hatte. „Stardust, also Sternstaub“, verkündete Cathy. „Davon habe ich schon einmal gehört.“ „Das war lange vor deiner Zeit“, erklärte Keith. „Wahrscheinlich auch noch vor der Zeit deiner Eltern.“ - 42 -
„Ich kenn das Lied auch“, meinte Jeff. „Mir gefällt es jedenfalls.“ Die Paare verteilten sich wieder auf die Tanzfläche, und Tim nahm mich sanft in die Arme. Die Nadel des alten Plattenspielers senkte sich auf den Rand der Platte, und man konnte die ersten Kratzer schon hören, bevor die Musik überhaupt angefangen hatte. Aber dann ging es los. Es war ein Instrumentaltitel und ich hatte dasGefühl, noch nie ein so wunderschönes Lied gehört zu haben. Die Melodie, gespielt von einer Trompete, war sanft und traurig. Trotz der vielen Kratzer schien das Lied Tim und mich ganz in seinem Zauber einzufangen. Tim hielt mich eng an sich gedrückt. Unter den Lampions berührten sich unsere Wangen. Die Musik schien ein Teil von uns zu werden und mit uns hinauf bis zu den Sternen zu schweben. Vielleicht war das Lied alt, aber die Stimmung der Melodie drückte genau das aus, was ich für Tim empfand. Und das Schönste daran war, daß ich ganz sicher war, daß Tim genauso empfand.
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4. KAPITEL Eine Woche später schrieb ich wieder in mein Tagebuch. Liebe Angelyn, heute ist der letzte Rest Nagellack von meinem kleinen Finger abgeblättert. Ich hatte mir geschworen den NagelIack auf keinen Fall zu entfernen, weil das die Hand war, die Tim gehalten hatte. Margaret sagt jeden Morgen, ich sei krank, wenn ich ihr erzähle, daß immer noch ein bißchen Lack zu sehen ist. Sie kann einfach nicht verstehen, warum ich das tue. Ich eigentlich auch nicht, außer, daß es irgend etwas zu beweisen scheint. Was, weiß ich auch nicht. Jedenfalls kann ich mir heute die Nägel neu lackieren. Leider war außer Händchenhalten auf Cathys Party zwischen Tim und mir nichts weiter vorgefallen. Wir sahen uns zwar fast jeden Tag am Strand, aber er hatte nie versucht, sich mit mir zu verabreden. Angerufen hatte er mich auch nicht, obwohl er an dem Abend wieder nach meiner Telefonnummer gefragt hätte. Ich dachte schon, er hätte sie vielleicht vergessen, und überlegte mir, wie ich sie ihm unauffällig noch einmal geben könnte. Meine einzige Idee war, die. Nummer ganz groß in den Sand, vor seinem Rettungsturm zu schreiben, bevor Tim seinen Dienst antrat. Aber das habe ich mich dann doch nicht getraut. Immerhin unterhielt sich Tim in seinen Pausen immer mit mir. Er kam mehrere Male herüber und setzte sich zu mir auf die Wolldecke. Einmal wollte er wissen, ob mir Cathys Party gefallen hätte, und als ich nickte, schien er sich zu freuen. Er redete mehr mit mir als mit jedem.anderen Mädchen, sogar mehr als mit Lori. Es war allen klar, daß Tim mich besonders gern mochte. Selbst Lori hatte es bemerkt obwohl sie immer - 44 -
noch erfolglos versuchte, ihn für sich zu interessieren. „Ich verstehe es einfach nicht, Muggsy“, meinte ich eines Tages zu Margaret. „Ich weiß, daß er mich mag. Cathy weiß, daß er mich mag. Du, weißt daß er mich mag. Sogar Tim weiß, daß er mich mag. Also warum verabredet er sich nie mit mir?“ „Vielleicht geht er aus Prinzip nie mit Mädchen aus, die Ramona heißen“, schlug Margaret vor. „lch hatte die Frage ernst gemeint! Habe ich vielleicht Schuppen? Brauche ich Mundwasser? Sind meine Jeans vielleicht nicht eng genug?“ Ich war so verzweifelt, daß ich schon bei den Gründen angekommen war, die in der Fernsehwerbung angeführt werden. „Wahrscheinlich ist es dein abgeblätterter Nagellack“, erwiderte Margaret mit todernster Miene. „Das muß ihn ja abschrecken. Ich zielte mit meinem Tagebuch nach ihr, aber leider ging der Wurf daneben. Jetzt wußte ich immer noch nicht, was mit Tim los war. Tröstlich fand ich nur, daß er sich auch nicht mit anderen Mädchen traf. Margaret hatte da mehr Glück: sie war schon ein paarmal abends mit Jeff Daigle unterwegs gewesen. Die beiden hatten mich das letzte Mal sogar eingeladen, mitzukommen, aber ich wollte nicht stören und war zu Hause geblieben. Wenn Margaret weg war, verbrachte ich meine Abende mit lan und Audra. Eines Abends holte Audra ihre ganzen Umstandskleider aus dem Schrank und breitete sie auf dem Bett aus. Ich sah mir alles an, aber ich konnte mir meine Mutter einfach nicht in den Sachen vorstellen. Sie war immer so sportlich-elegant, und diese Kleider hatten überall Rüschen, Spitzen und Schleifen. An solchen Abenden hätte ich Audra gern von Tim erzählt, aber ich brachte es nie fertig. Sie war so mit Ian, ihrer Arbeit und ihrer Schwangerschaft beschäftigt, daß ich sie nicht mit meinen Problemen belästigen wollte. Außerdem hatte ich ja - 45 -
Margaret, mit der ich reden konnte. Seltsamerweise schien es aber immer mehr so, als wenn Margaret mit mir redete, aber ich nicht mit Ihr. Sie sprudelte über von Berichten über ihre Liebesgeschichte mit Jeff, aber je mehr sie erzählte, desto niedergeschlagener wurde ich. Zwei Wochen nach Cathys Party war Ich an meinem Tiefpunkt angelangt. „Jeff und ich wollen heute abend Savannah ins Kino fahren“, erzählte Margaret mir am Samstagnachmittag. „Und dann werden wir an der Uferpromenade entlangfahren. Du weißt doch, die River Street, wo sie aus den ganzen alten Warenlagern Läden gemacht haben.“ „Viel Spaß“, wünschte ich ihr unglücklich. Was ging es mich denn an, was all die anderen taten? Ich war noch nicht ein einziges Mal mit einem Jungen unterwegs gewesen, seit wir auf Tybee Island waren, und allmähllich fing ich an, mich richtig als Außenseiter zu fühlen. Audra und lan waren an diesem Abend sehr mit sich selbst beschäftigt, und im Fernsehen gab es auch nichts interessantes. Ich nahm mir ein Buch vor, aber konnte mich einfach nicht konzentrieren. Gegen zehn Uhr gab ich endlich auf und trat hinaus auf den Balkon, um die frische Seeluft einzuatmen. Der Himmel sah aus wie ein samtenes Zelt, das mit Sternen bestreut war. An der Mündung des Savannah Rivers blinkten die Lichter, und rechts von mir lag das Meer. Der Strand lag verlassen da, nur von den, Sternen beleuchtet. Plötzlich hatte ich Lust, noch etwas spazierenzugehen. Als ich in den Dünen ankam, spürte ich den sanften Wind und ging mit großen Schritten am Strand entlang, ohne mich darum zu - 46 -
kümmern, ob ich Sand in die Schuhe bekam oder nicht. Schließlich lag der Apartmentblock weit hinter mir und war nur noch als schwacher, Lichtschein zu erkennen. Die einsame Figur am Strand entdeckte ich erst, als ich schon fast mit ihr zusammengestoßen war. Zuerst hielt ich ihn für einen Fischer, aber als ich das Stativ erkannte wußte ich sofort Bescheid. Auf das Stativ war ein Teleskop montiert, und davor stand Tim. Er drehte sich überrascht um als er mich näherkommen hörte. Dann lächelte er, wie nur er lächeln kann. „Ramona, was in aller Welt tust du hier?“ „Dasselbe könnte ich dich fragen“, erwiderte ich. „lch gehe häufig an den, Strand, weil es hier dunkler ist als in der Stadt und ich die Sterne besser erkennen kann. Außerdem gibt es hier keine Bäume oder Gebäude, die mir die Sicht versperren.“ „Das Ist wohl ein ziemlich aufwendige Hobby“, meinte ich. „Ich weiß. Mit bleibt nicht viel Zeit für andere Sachen. Hier, willst du auch einmal durchsehen?“ Tim trat zur Seite. Es war toll, die Sterne so nah zu sehen. Sie wirkten viel heller als mit bloßem Auge. Tim zeigte mir die bekanntesten Sternbilder. Ich spürte seinen warmen Atem an meiner Wange und den sanften Druck seiner Finger auf meiner Hand, als er mir zeigte, wie man den Sucher richtig einstellte. Mein Herz klopfte schneller, aber Tim schien meine Nähe nichts auszumachen. Er freute sich anscheinend über mein Interesse an seinem Hobby. „Siehst du den großen Wagen?“ fragte er. „Die Sterne am äußeren Rand zeigen auf Polaris, den Nordstern. Er ist seit Jahrhunderten der wichtigste, Orientierungspunkt für Seeleute. Wenn du jetzt die gebogene Achse verfolgst findest du den Stern Arcturus. Siehst du ihn?“ - 47 -
Ich konnte einen leuchtenden, orange-roten Stern erkennen. „Ja, er ist ein bißchen rötlich, nicht?“ „Stimrnt. Die Farbe sagt etwas über die Temperatur auf dem Stern aus. Arcturus ist ein relativ kalter Stern, nämlich etwa 1100 Grad Celsius.“ Ich weiß nicht mehr, wieviel Zeit wir zusammen verbrachten. Es war als seien alle Uhren stehengeblieben. Dann fiel mir ein, daß ich niemanden etwas von meinem Spaziergang gesagt hatte. „Zu Hause werden sie sich bestimmt schon Sorgen um mich machen“, meinte und trat vom Teleskop zurück. „lch muß jetzt gehen.“ „Ich bringe dich nach Hause“, erklärte Tim wie selbstverständlich. Mein Herz fing an zu klopfen. Wir gingen eine Weile nebeneinander her. Ich hatte das Gefühl, daß ich eine Unterhaltung anfangen mußte. Tim war eher zurückhaltend und redete nur, wenn es auch wirklich etwas zu sagen gab. Mir gefiel das, weil ich mir so das Gesprächsthema selbst aussuchen konnte. „Wie hat dir denn der Film ,Krieg der Sterne' gefallen fragte ich Ihn. „Er war toll“, antwortete Tim begeistert. „Nach dem Film habe ich überhaupt erst angefangen, mich für Astronomie zu interessieren.“ Mit diesem Gesprächsthema hatte ich anscheinend genau den richtigen Punkt getroffen. „Wirklich?“ hakte ich nach. „Erzähl doch mal.“ „Ach, es fing damit an, daß ich wissen wollte, was im Weltraum wirklich passiert und wie es sich vom Film unterscheidet. Dann habe ich ein paar Bücher gelesen...“ „Bücher? Was denn für Bücher?“ Ich hatte Tim eigentlich nicht für den Typ gehalten, der besonders viel las. - 48 -
„Hast du schon einmal von Isaac Asimov gehört?“ Ich erinnerte mich schwach daran, daß Isaac Asimov viele Bücher über den Weltraum geschrieben hatte. „Na klar. Hast du seine Bücher gelesen?“ „Ja, und, außerdem noch den ,Kosmos' von Carl Sagan. Danach brannte ich darauf, ein Teleskop zu besitzen, um die Wunder im Weltraum selbst sehen zu können.“ „Den Kosmos habe ich leider nicht gelesen“, meinte ich bedauernd. „Das solltest du aber. Besonders, wenn du dich für Astronomie interessierst. Die Bilder in dem Buch sind einfach toll.“ In dem Augenblick wußte ich, daß ich anfing, mich auch für Astronomie zu interessieren. Das lag nicht nur daran, weil das Tims Hobby war. Der Gedanke an die unendliche Weite des Universums faszinierte mich einfach. „Wenn du möchtest, leihe ich dir den Kosmos einmal“, bot Tirn an. Wir waren inzwischen bei unserem Apartmentblock angekommen. „Das finde ich nett, Tim“, erwiderte ich. „Wir sind da. Ich gehe jetzt wohl besser hinein.“ „Soll ich dir das Buch mal vorbeibringen?“ „Gern, wenn es dir nichts ausmacht? Ich Iächelte ihn an. Mit seinen blauen Augen sah er mich ernst an, so daß ich meinen Blick kaum losreißen konnte. Eigentlich war die Situation ideal für einen ersten Kuß. Hinter uns rauschte das Meer, über uns spannte sich der dunkelblaue Sternenhimmel. Tims Blick wanderte zu meinem Mund, dann wieder zurück zu meinen Augen. Wie magisch angezogen lehnte er sich zu mir herüber, aber dann war der Augenblick auch schon wieder vorbei. Die Sehnsucht, die in seinem Blick gelegen hatte war verschwunden. Als er sprach, war seine Stimme ein bißchen heiser. „Ich - 49 -
werde dafür sorgen, daß du das Buch bekommst. Gute Nacht, Ramona.“ „Gute Nacht“, antwortete ich leise, bevor ich mich umdrehte und den Weg zum Haus hinauflief. Ich schaffte es, mich nicht nach der einsamen Figur am Strand umzudrehen obwohl ich wußte, daß er mich beobachtete. Er hatte mich nicht geküßt. Er hatte nicht einmal meine Hand berührt. Später, als ich im Bett lag, wälzte ich mich hin und her und fragte mich, warum Tim so zurückhaltend war. Dabei waren, wir doch drauf und dran, gute Freunde zu werden! Wir sprachen über Dinge, die uns beide interessierten. Aber vielleicht würde nie mehr zwischen uns sein. Dann fiel mir ein, daß Cathy gesagt hatte, Tim würde ein Mädchen erst bei seiner letzten Verabredung küssen. Eigentlich hatten wir ja noch nie eine richtige Verabredung gehabt. Und vielleicht wollte ich auch nicht, daß Tim mich küßte, wenn das das Ende unserer Freundschaft sein sollte. Am nächsten Morgen, es war Sonntag, hatte keiner von uns Lust, etwas zu unternehmen. Wir schliefen lange, lasen stundenlang Zeitung und ließen das Frühstück ausfallen. Um zwölf Uhr herum legte lan plötzlich die Zeitung fort. „Was haltet ihr von einem Brunch, einer Mischung aus Frühstück und Mittagessen?“ fragt er. „lch koche auch.“ „Du kannst kochen?“ riefen Margeret und ich im Chor. Wir sahen uns zweifelnd an. „Jawohl, ich kann es. Fast so gut, wie ich mit den Ohren wackeln kann“, meinte er und führte es uns zur Bestätigung gleich noch einmal vor. lan ging in die Küche, und ich folgte ihm. Ei hantierte mit den Töpfen, hatte schon alle-Herdplatten angestellt und fing - 50 -
mit den Vorbereitungen an. „Kann ich helfen?“ bot ich ihm an. „Ja, gern. Du mußt nicht denken, daß ich dich aus deinem Revier vertreiben will. Heute abend darfst du gern wieder allein kochen.“ „Ich fühl mich gar nicht vertrieben“, erwiderte ich. Ganz sicher war ich mir dessen aber doch nicht. „Gibst du mir mal die Eier aus dem Kühlschrank?“ „Was gibt es denn?“ fragte ich neugierig. „Russische Eier und Erdbeeren in Champagner. Wie klingt das?“ „Es klingt himmlisch“, schwärmte Audra, die auf einmal in der Tür stand. lch drehte mich zu ihr um und sah, daß sie zum erstenmal eines ihrer Umstandskleider angezogen hatte. Irgendwie machte mich das betroffen. Ich spürte so etwas wie Eifersucht auf das Baby. „Wie gefällt es dir?“ fragte Audra selbstzufrieden und drehte sich um, damit ich sie von allen Seiten bewundern konnte. „Wunderschön“, meinte lan vorn Herd her. Ich konnte es kaum glauben, daß er Audra in diesem:schrecklichen sackartigen Kleid wirklich leiden mochte. Mein Lächeln wer etwas gequält.. „Hübsch“, meinte ich und drehte mich zum Kühlschrank um, nur damit ich sie icht länger ansehen mußte. Margaret, die sich diese Woche Marge nannte, kam in die Küche. Natürlich mußte sie auch gleich Audras Kleid bewundern. Ich beschäftigte mich damit, die Erdbeeren zu waschen und über die ganze Sache nachzudenken. Zum erstenmal wurde mir so richtig bewußt, daß Audra tatsächlich ein Baby haben würde. Solange sie nicht richtig schwanger ausgesehen hatte, - 51 -
konnte ich die Tatsache ignorieren. Jetzt ging das nicht mehr. Ich würde eine kleine Halbschwester oder einen Halbbruder bekommen, egal, ob es mir gefiel oder nicht. Und auf einmal wußte ich, daß es mir nicht gefallen würde. Wenn Audra mich so sehr liebte, wozu brauchte sie dann ein neues Baby? Doch wohl nur weil ihr einiges an mir mißfiel. lch merkte wie sich in meinen Augen Tränen sammelten, und blinzelte. Ian merkte nichts von meinem Kummer. Er sang irgendeine Opernarie, die schrecklich falsch klang, und schmierte dabei Brötchen. „Ramona, könntest du mal diese holländische Sauce für mich rühren? Am besten nimmst du den Schneebesen.“ Ich rührte, während lan mit seiner Imitation eines Heldentenors weitermachte. Irgendwie ging mir nicht aus dem Kopf, daß Audra ohne ihn kein Baby bekommen hätte. Auf einmal brach lans Gesang ab. „Vorsicht! Jetzt hast du nicht aufgepaßt, und die Sauce ist an gebrannt“, rief er. lan nahm mir den Schneebesen aus der Hand und goß die Sauce in den Ausguß. Obwohl er es sich nicht anmerken ließe wußte ich doch, daß er wütend war. „Es tut mir leid, lan“, entschuldige ich mich zerknirscht. Mir war klar, daß ich besser hätte aufpassen sollen. „Mach dir deswegen keine Gedanken“ meinte er. Der Ton seiner Stimme verriet jedoch, daß er mich nicht mehr in der Küche haben wollte. Als lan anfing, Eier für die neue Hollandaise zu trennen, machte ich mich aus dem Staub. Ich rannte ins Schlafzimmer, schlug die Tür zu und war erleichtert, daß Margaret immer noch bei Audra war und mich so nicht sehen konnte. Den Kopf in ein Kissen vergraben, lag ich auf dem Bett. Es war tatsächlich so gekommen, wie ich es von Anfang an befürchtet hatte. Der erste Riß in der heilen Fassade, mit der - 52 -
wir uns alle solche Mühe gegeben hatten, war da. Jetzt würde es meine Schuld sein, wenn wir nie mehr eine heile Familie sein würden. Das Selbstmitleid tat mir irgendwie gut. Und dann klingelte auf einmal unerwartet das Telefon. In unserem Zimmer war zwar auch auch ein Anschluß, aber ich ließ jemand anderen abnehmen. Ich war völlig überrascht, als Marggret rief, daß es für mich sei. Ich setzte mich auf, rieb mir die Augen trocken und nahm den Hörer ab. „Hallo?“ „Einen Moment lang dachte ich, es sei jemand anders. Du klingst so fremd. Sag mal, wäre es dir recht, wenn ich das Buch heute nachmittag gegen drei Uhr vorbeibringe? Ich muß heute nämlich nicht arbeiten. Vielleicht können wir hinterher dann ein bißchen spazierenfahren.“ Hatte Tim „vielleicht“ gesagt? Ich konnte es kaum glauben. „Na klar!“ antwortete ich sofort. Ich hatte schon gedacht, daß er meine Telefonnummer vergessen hatte, und jetzt rief er tatsächlich an! Ich freute mich so sehr, daß alles Selbstmitleid und die Eifersucht auf einmal verschwunden waren. „Okay, dann bis nachher. Welche Apartmentnummer habt ihr?“ „317. Direkt neben dem Fahrstuhl.“ „Alles klar. Dann bis drei“, meinte Tim und legte auf. Ich stand vom Bett auf und tanzte durchs Zimmer. Jetzt mußte ich unbedingt mit Margaret sprechen, um ihr zu sagen, daß ich eine richtige Verabredung mit Tim Appleby hatte!
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5. KAPITEL Noch nie war die Zeit so langsam vergangen wie an diesem Nachmittag, während ich auf Tim wartete Geistesabwesend zog ich eine rote Bundfaltenhose, ein rot-weiß-blaues T-Shirt und Sandalen an. Dann bürstete ich mein Haar, bis es glänzte, und warf es über die Schultern zurück. Margaret beobachtete mich interessiert. „Vielleicht verabredet er sich ja nachher richtig mit dir“, meinte sie. „Dies ist eine richtige Verabredung“, erklärte ich ärgerlich. Für Margaret zählte eine Verabredung nur, wenn sie abends stattfand. Ich überlegte, wie ich mich verhalten sollte, wenn Tim kam. Würde ihn das elegante große Apartment nicht verunsichern? Und dann war da noch Audra, in Umstandskleidern. Es war zwar nicht richtig, aber ihr Zustand war mir wirklich peinlich. Schließlich nahm ich mir vor, Tim gleich in der Tür abzufangen. Allerdings würde das schwierig werden, weil Margaret mir dauernd in der Wohnung hinterherlief wie ein Hündchen. „Weißt du, Marge“ , meinte ich schließlich, „ich glaube, es wäre besser, wenn ich Tim allein empfange.“ „Ach so.“ Margaret nickte verständnisvoll. „Du hast völlig recht. Was soll ich tun? Ich kann mich im Schlafzimmer verstecken.“ „Nein, bloß nicht“, stöhnte ich. „Ich schäme mich doch nicht deinetwegen. Ganz im Gegenteil, ich brauche deine Hilfe, wenn Audra und lan Tim kennenlernen wollen.“ - 54 -
„Okay, dann bleibe Ich eben in der Nähe“, versprach Margaret. Sie warf sich in einen der modernen DesignerStühle. „Vielleicht so? Ich könnte an einem Champagnerglas schlürfen, was meinst du?“ Margaret stand auf und tippelte zu einem großen Korbsessel, der in einer Ecke stand. „Oder wie wäre es hier? Ich könnte mein Gesicht hinter einer Modezeitschrift verstecken, damit er nur meine langen, wunderschönen Beine sieht. Er wird denken, daß wir ein Top-Model zu Besuch haben.“ „Er wird denken, daß wir Besuch von einer Halbidiotin haben, was ja wohl auch stimmt. Jetzt mal im Emst, Marge. Das ist immerhin Tims erster Besuch bei uns, also benimm dich bloß normal.“ In dem Moment klingelte es. Mir stockte der Atem. Tim kam zu früh! „Mach dir keine Sorgen“, meinte Margaret und sprang auf. „Ich werde meine allerbesten Manieren vorführen. Mädchen, die Marge heißen, benehmen sich immer gut, ganz im Gegensatz zu Muggsys.“ Sie gab mir einen Schubs. „Na los, mach schon auf!“ Dann verschwand sie in unserem Zimmer. Ich setzte ein Lächeln auf, aber nervös war ich trotzdem. Schließlich ging ich zur Tür und öffnete sie. Tim stand da und lächelte mich an. Ich hatte vergessen, wie groß er war: um ihm in die Augen zu sehen, mußte ich richtig den Kopf heben. „Hallo, Ramona“, sagte er nur, aber diese zwei Worte nahmen mir gleich die Angst, und ich konnte wieder sprechen. „Hallo Tim“, begrüßte ich ihn mit ganz normaler Stimme. „Willst du nicht hereinkommen?“ Meine Vorstellungen von der Liebe stammten meistens aus irgendwelchen Filmen. Danach hätten Tim und ich uns jetzt mindestens dreißig Sekunden wortlos anstarren müssen, während im Hintergrund ein Violinorchester ertönte. Leider - 55 -
sah die Wirklichkeit etwas anders aus: Tim hielt mir das Buch vor die Nase. „Ach, das ist also das Buch“, meinte ich wenig einfallsreich. Ein Drehbuchautor hätte bestimmt einen spritzigeren Dialog geschrieben, aber ich hatte leider gerade keinen in der Nähe. Um Zeit zu gewinnen blätterte ich das Buch durch und fragte mich, was Tim erwartete. Sollte ich Audra und lan rufen? Wohin war eigentlich Margaret verschwunden? Sollte ich mich mit Tim auf das Sofa setzen und das Buch durchsehen? Wenn ja, wer von uns würde danach den Vorschlag zum Aufbruch machen! Vielleicht bereute Tim es ja auch schon, daß er mich besucht hatte, und würde am liebsten das Buch fallenlassen und wieder verschwinden. Glücklicherweise kam in dem Moment wie zufällig Margaret aus unserem Zirpmer. „Hi, Tim“, begrüßte sie ihn als wenn sein Anblick für sie eine totale Überraschun sei. „Audra, Ian!“ rief sie dann, bevor ich sie daran hindern konnte. „Tim ist hier!“ Ich wußte nicht ob ich sie treten oder umarmen sollte. Sie hatte zwar meine Unentschlossenheit beendet, aber ich hatte mir das anders vorgestellt. Tim war jemand Besonderes und sollte auch so behandelt werden. Im nächsten Augenblick kamen Audra und Ian herein. Audra strahlte und freute sich, einen Freund von mir kennenzulernen. Ian schüttelte ihm herzlich die Hand. „Das sind meine Eltern, Mrs. und Mr. Flanders“, stellte ich sie vor. „Wir freuen uns, dich kennenzulernen“, meinte meine Mutter freundlich. „Möchtet ihr beide vielleicht eine Cola?“ schlug lan vor und ging zur Bar. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. „War das normal? Fragten alle Väter so etwas? Woher wußte lan übehaupt, wie Väter sich benehmen sollten? Auf einmal merkte ich, daß - 56 -
meine Hände ganz feucht waren. Ich konnte mir gut vorstellen, daß es lan ganz genauso ging. Tim hingegen war gelassen und wirkte überhaupt nicht unsicher. „Vielen Dank, aber wir möchten im Moment nichts das heißt, wenn Ramona auch nichts möchte.“ Er sah mich fragend an, und ich schüttelte den Kopf. „Wir wollen einen Ausflug machen und können ja unterwegs etwas trinken.“ „Wie ihr wollt“, meinte Ian, irgendwie erleichtert. Er stellte die Cola-Flasche zurück in die Bar. Dann verabschiedeten wir uns, und Audra schloß hinter uns die Haustür. Auf einmal war es so, als wenn Tim und ich zusammen in einer anderen Welt angelangt wären. Die Luft schien draußen klarer zu sein, und ich fühlte mich plötzlich frei. „Komm, laß den Fahrstuhl sausen“, rief ich. „Wir laufen die Treppen hinunter.“ „Gute Idee“, stimmte Tim zu. Wir rannten um die Wette hinunter, so laut lachend, daß es ein Echo gab. Unten angekommen, lehnten wir uns an die Wand sahen uns an, und auf einmal wußte jeder vom anderen, daß er genauso glücklich war wie er selbst. Wir waren immer noch außer Atem, als wir bei Tims Wagen ankamen. Ich sah ihn mir erst einmal genau an. Der Boden war rot ausgelegt, die Sitze waren weiß bezogen, und die Armaturen glänzten vor lauter Chrom. Tim mußte sich sehr viel Mühe gegeben haben, um seinen Wagen so auf Hochglanz zu bringen. „Dein Wagen gefällt mir wirklich irre gut“, meinte ich, als Tim sich hinter das Steuer setzte. „Hast du es in diesem Topzustand gekauft, oder selbst aufgemöbelt?“ Tim setzte rückwärts aus der Parklücke. „Ich hab den Wagen im letzten Sommer auf dem Autofriedhof - 57 -
aufgestöbert“, erzählte er. Er war total heruntergeommen, mit lauter Roststellen und zerrissenen Polsterbezügen. Glücklicherweise war der Motor noch ganz gut in Schuß, und da konnte ich nicht Nein sagen, als der Händler mir ein Angebot machte. Ich hab ihn von dem Geld gekauft, das ich mit der Rettungsschwimmerei verdiente. Eine Zeitlang war ich natürlich ziemlich knapp bei Kasse, weil da ja auch noch das Teleskop war. Ich hab so viel wie möglich selbst gemacht und zusätzlich dem Sohn des Werkstattbesitzers umsonst Schwimmnunterricht gegeben, damit der mir den Wagen spritzt.“ „Du hast ihn toll hingekriegt“, meinte ich anerkennend. „Jedenfalls bleibt jetzt nicht mehr viel zu tun, was bedeutet, daß ich wieder mehr Zeit für Astronomie habe. Allerdings ist am 4. Juli eine große Auto-Show, für die ich nochmal alles durchchecken muß. Siehst du den Radioschalter da?“ fragte Tim und zeigte auf den Lautstärkenregler. „Das ist nicht der Originalschalter zu diesem Modell. Ich kenne einen Typen drüben in Thunderbolt, der das Original besitzt und es mir verkaufen will. Auf einer Auto-Show muß alles genauso sein wie in dem Jahr, in dem der Wagen gebaut worden ist.“ „Ich wußte gar nichts von einer solchen Show“, meinte ich. „Was gibt's denn da zu sehen?“ „Straßenkreuzer, Oldtimer, was du willst. Meistens macht es irrsinnigen Spaß. Am 4. Juli laufen hier auch noch andere Sachen, zum Beispiel Regatten oder Grillfeste.“ Das hörte sich gut an „Klingt nach einem richtigen Volksfest.“ „Tybee ist ja schließlich auch eine richtige Kleinstadt“, meinte Tim. „Mit allen Vor- und Nachteilen.“ Mir hatten Kleinstädte immer schon gefallen. Städte; in denen alle sich kennen, wo Nachbarn einander helfen, wo die Menschen fest verwurzelt sind. Ich fragte mich, ob Tim klar - 58 -
war, was für ein Glück er hatte, an so einem Ort aufzuwachsen. Wir fuhren am Strand vorbei, aber von den anderen war keiner zu sehen. Es wäre schön gewesen, wenn wir wenigstens Cathy oder Jeff gesehen hätten. Oder noch besser Lori, damit alle wußten, daß ich mit Tim Appleby in seinem Wagen durch die Gegend fuhr. „Weißt du“, meinte Tim auf einmal „mir ist gerade etwas eingefallen. Ich habe noch ein anderes Buch, das ich dir leihen könnte. Es, heißt ,Sternbildführer' und ist ein Taschenbuch. Du könntest damit bestimmt ganz gut von deinem Balkon aus die Sternbilder erkennen.“ „Oh ja, das wäre toll.“ „Mit dem Buch kannst du auch ohne Teleskop etwas anfangen, das, heißt, wenn du dich wirklich für Astronomie interessierst.“ „Aber sicher tue ich das!“ entgegnete ich.Wir hielten gerade an einer Ampel, und Tim sah mich von der Seite an. „Du interessierst dich wirklich dafür? Das finde ich erstaunlich“ meinte er kopfschüttelnd, als könne er es gar nicht fassen. „Wieso ist das erstaunlich?“ „Ach, für die meisten Leute sind die Sterne zu weit weg. Sie können nichts damit anfangen. Vielleicht tun sie interessiert, aber man merkt sofort, daß das nur oberflächlich ist. Bei dir hingegen habe ich das Gefühl, daß dein Interesse echt ist. Du bist anders, Ramona, das wußte ich von Anfang an.“ Ich wußte nicht, was ich darauf antworten sollte. Tim hatte völlig recht, ich war wirklich an Astronomie interessiert. „Macht es dir etwas aus, wenn wir kurz bei mir zu Hause anhalten?“ fragte Tim auf einmal. „Wir könnten das Buch gleich holen.“ Er sah mich etwas unsicher an. „Ja, gern“, erwiderte ich deswegen sofort. Außerdem war ich natürlich furchtbar neugierig auf Tims Zuhause und auf - 59 -
seine Familie. Nach einer Weile bogen wir in eine kleine Straße ab, die auf die andere Seite der Insel führte. Hier gab es kleinere Bungalows, die schon etwas älter waren. In den kleinen Vorgärten und in den Einfahrten neben parkenden Autos spielten Kinder. Tim fuhr in eine der Einfahrten, und ich sah mir das Haus an, während er schon ausstieg. Es war nicht größer als die anderen, aber die grüne Haustür und die Blumenkästen mit Geranien wirkten besonders einladend. Als ich auch ausstieg, rannte gerade ein kleiner Junge mit einer Zahnlücke um die Ecke. Er grinste uns an, hielt aber nicht an. „Das war mein kleiner Bruder Bobby“, erklärte Tim. „Ich wußte gar nicht, daß du einen kleinen Bruder hast“, bemerkte ich erstaunt. „Ich habe vier Geschwister“, sagte er und lächelte mir zu. „Die sorgen dafür, daß es uns hier nicht zu langweilig wird..“ Das konnte ich mir gut vorstellen. Hinter dem Haus waren eine alte rostige Schaukel und ein Dreirad zu sehen, weitere Anzeiche, daß hier Kinder wohnten. Schließlich gingen wir in das Haus hinein. Auf einmal fühlte ich mich total unsicher. Vielleicht weil mir zuviel an Tim lag? Das Wohnzimmer war klein, aber gemütlich. Es wirkte sehr ordentlich, wenn auch ein Teil der Möbel schon etwas abgewetzt war. „Mom!“ rief Tim. „Dad?“ Sofort erschien eine rundliche, rotwangige Frau mit einem freundlichen Lächeln und wischte sich die Hände an der weißen Schürze ab. Sie roch nach Zimt, und ich wußte, daß ich von jetzt an bei diesem Geruch immer an Anny Appleby würde denken müssen. - 60 -
„Dad ist zum Fischen“, meinte sie. „Er wollte bei Sonnenuntergang wieder zurück sein.“ „Mom, das ist Ramona Castillo. Sie interessiert sich auch für Astronomie, und wir wollen meinen ,Sternbildführer' holen. Bleibst du eben hier, während ich ihn suche?“ Tim sah mich kurz aufmunternd an, bevor er im Flur verschwand. „Was für eine nette Überraschung, Ramona. Ich freue mich, daß Tim dich mitgebracht hat. Komm doch mit in die Küche, dann können wir uns ein bißchen unterhalten.“ Ich folgte Mrs. Appleby in die gemütliche Küche. An der Wand hingen Kupfertöpfe, und auf dem Herd brodelte ein Eintopfgericht. Ich setzte mich an den runden Küchentisch und sah zu, wie Mrs. Appleby einen Kuchenteig ausrollte. „Eigentlich backe ich sonntags nicht, aber heute hatte ich auf einmal das Gefühl, einen Kirschkuchen backen zu müssen. Da habe ich die Kinder zum Spielen geschickt, und jetzt stehe ich hier. Ich finde es sehr befriedigend, einen Kuchenteig auszurollen.“ Ich hatte Angst gehabt, kein Gesprächsthema zu finden, weil ich sonst keine älteren Frauen wie Mrs. AppIeby kannte. Aber auf diesem Gebiet fühlte ich mich zu Hause. „Mir geht es mit Frikadellen genauso“, meinte ich zu ihr. „Mich befriedigt es unendlich, wenn ich die Fleischbälle forme.“ Mrs. Appleby drehte sich zu mir um und lächelte mich an. Ich wußte, daß sie mich verstand, und fand das toll. Auf einmal war ich sehr glücklich und hatte das Gefühl, Mrs. Applebys Küche sei der schönste Ort auf der ganzen Welt. „lch will zwei Kuchen machen. Da drüben ist noch ein zweites Nudelholz in der Schublade“, meinte sie jetzt. „Möchtest du den anderen ausrollen?“ Ich wollte, und kurz darauf standen Mrs. Appleby und ich - 61 -
nebeneinander am Küchentisch. Ich erzählte ihr, daß ich in diesem Sommer das Kochen für die ganze Familie übernommen hatte. Dann mußte ich ihr natürlich auch unsere ungewöhnliche Familie erklären. Schließlich erzählte ich noch von Grandmas Ranch in Texas. Einmal kam ein etwa elfjähriges Mädchen herein, das vom Teig naschte und mir schüchtem zulächelte. Sie hatte Tims Augen, und ich wußte, daß es seine Schweter sein mußte, bevor Mrs. Appleby sie mir als Betsy vorstellte. Nach einer Weile verschwand sie wieder. „Tim hat erzählt, daß er vier Geschwister hat“, meinte ich. Mrs. Appleby lächelte mich an. „Ja. Sein Brunder Kip ist schon neunzehn und lebt in Arizona“, antwortete sie. Tim ist unser Zweitältester. Dann kommt Betsy, die sehr still ist und furchtbar gern liest. Dann Bobby, er ist sechs Jahre alt, und schließlich Ginger, die erst zwei ist. Sie schläft gerade.“ „Sie hat geschlafen“ verbesserte Tim der auf einmal in der Küchentür stand, und ein kleines Kind auf dem Arm hatte. „Sie hat mich herurnsuchen hören. Da ist sie aufgewacht.“ „Würdest du eben diesen Kuchen zu Ende ausrollen, Ramona?“ bat mich Mrs. Appleby und nahm ihm Ginger ab. „Armes Baby, hat man dich geweckt? Möchtest du einen Keks?“ Das Backen machte mir Spaß. Vorsichtig legte Ich die Springform mit dem Teig aus. Ich war stolz darauf, daß Mrs. Appleby mir ihren Kuchen anvertraut hatte. Es war so, als ob ich zur Familie gehörte. Nachdem ich fertig war, stellte ich die beiden Springformen vorsichtig auf den Tisch. Ginger war jetzt ganz aufgewacht und saß in ihrem Kinderstuhl am Tisch. Sie lächelte mich schüchtern an und sah dabei aus wie ein Engel mit dicken Pausbacken. In dem Augenblick kam Betsy wieder herein. „Ich gieße Ginger Saft ein“, verkündete sie. Tim hatte eine Schale mit - 62 -
Pfirsichen in der Hand. „Möchtest du einen, Ramona?“, fragte er mich. Ich setzte mich neben Ginger und lächelte sie an. „Nein danke“, antwortete ich. „Wenn du noch etwas Saft übrig hast, würde ich auch gern, welchen trinken“, meinte ich zu Betsy. „Na klar“ rief sie und kam mit zwei Gläsern Apfelsaft zum Tisch zurück. Die Stimmung in der Küche war so gemütlich, daß ich auf einmal wußte, was es heißt, eine echte Familie zu sein: sich umeinander kümmern, freundlich und glückilch zu sein. „Kannst du meinen Namen sagen?“ fragte ich Ginger „ich heiße Ramona.“ „Ra-ma-na“, antwortete Ginger. „Ra-mo-na“, verbesserte ich. „Ro-ma-na“, behauptete Ginger wieder. Ich mußte lachen. „Wir üben weiter“, meinte ich zu ihr. „Vielleicht klappt es ja das nächste Mal.“ Dann fragte ich mich auf einmal, ob ich nicht zuviel gesagt hatte. Vielleicht wollte Tim mich gar nicht wieder einladen. Aber nicht einmal dieser unangenehme Gedanke konnte mir an diesem Tag die Laune verderben. Als wir schließlich losfuhren, hatte ich das Gefühl, eine Weile zum Appleby-Haushalt dazugehört zu haben. „Ich“ mag deine Familie gern.“ sagte ich zu Tim. „Danke“, erwiderte er. „Ich habe gemerkt, daß sie dich auch mögen. Ich nehme fast nie Mädchen mit nach Hause, aber mit dir war es ganz einfach. Wozu hast du jetzt Lust? Eine kleine Stadtrundfahrt vielleicht?“ Um wieviel Uhr mußt du überhaupt wieder zu.Hause sein?“ '„So um halb sieben herum, damit ich das Essen machen kann“, antwortete ich. „Aber ansonsten habe ich keine bestimmten Wünsche.“ Außer, mit dir zusammen zu sein, fügte - 63 -
ich in Gedanken hinzu. „Warst du schon einmal auf dem Leuchtturm von Tybee Island?“ fragte Tim. „Nein , abe ich wollte es immer schon einmal. Marge und ich sind nur noch nie dazu gekommen.“ „Laß uns doch jetzt hinaufklettern. Hast du Lust?“ „Das wäre toll. Kann man denn sonntags hinauf?“ Tim nickte. „Ich kenne den Leuchtturmwärter. Er läßt uns bestimmt rein.“ Tim bog in eine kleine Seitenstraße ein und fuhr auf die alten Schutzwälle der Küstenverteidigung zu, die noch aus dem Jahre 1886 stammten. Einer davon war jetzt zu dem TybeeMuseum umgebaut, das Ausstellungsstücke aus über fünf Jahrhunderten zeigte. Margaret und ich waren schon dagewesen, aber am meisten faszinierte mich, der große Leuchtturm, der dort stand. „Auf der freien Fläche vor dem Turm wurden früher Duelle ausgetragen“, erklärte Tim, als wir auf den Parkplatz fuhren. „Duelle? Wie romantisch!“ Ich dachte an die gutaussehenden, tapferen Männer, die um die Ehre der schönen Damen gekämpft hatten. „Romantisch? Ich würde es eher tödlich nennen“, entgegnete Tim. „Die Gegner trafen sich hier bei Sonnenaufgang, nahmen ihre Pistolen ...“ „Und über dem Meer lag ein leichter Nebeleschleier“, setzte ich die Geschichte fort. „Der Leuchtturm erhellte die Gesichter mit seinem bleichen Licht...“ „Die Gesichter werden wohl eher vor Angst bleich gewesen sein“, beendete Tim kurz und bündig meinen Traum. „Kannst.du dir vorstellen, wie es gewesen sein muß, hier draußen seinen Gegner zu treffen und zu wissen, daß einer von beiden, wenn nicht sogar beide, tot oder schwer verletzt würde?“ - 64 -
Mir liefen kalte Schauer den Rücken hinunter. „Dafür, daß ich die Tochter eines Stierkämpfers war, war meine Abenteuerlust sehr gemäßigt. „Ich glaube, ich bin froh darüber, daß es keine, mehr gibt“, gab ich kleinlaut bei. Tim sah mich an und merkte, daß meine Phantasie mit mir durchgegangen war. Aufmunternd drückte er meine Hand. „Laß uns jetzt den Leuchtturmwärter suchen.“ Tim rief einen Namen, und der Wärtier kam sofort aus seinem kleinen Haus am Fuß des Turms. Ich sah nach oben, während die beiden sich unterhielten. Tybee Island schien bis in die Wolken hinaufzureichen, obwohl ich wußte, daß er nur etwa 45 Meter hoch war. Der Turm war aus Backstein gemauert. Unten und oben war er schwarz, und in der Mitte hatte er einen weißen Ring, etwa neun Meter breit. Oben, auf der Aussichtsplattform, drehte sich das große Licht. Der Wärter führte uns in den Leuchtturm hinein. Über uns führte die Wendeltreppe mit schmalen Stufen bis ganz nach oben. Tim hielt meine Hand, als wir den Aufstieg begannen, weil er merkte, daß mir ein bißchen mulmig war. Sowie wir auf dem ersten Absatz angekommen waren, hörten wir draußen jemanden rufen. „Das ist meine Frau“, erklärte der Leuchtturmwärter. „Ich werde wohl besser nachsehen, was sie will. „Wir warten hier auf Sie“, bot Tim an. „Das braucht ihr nicht, Tim, Du hast den Leuchtturm ja schon fast so oft bestiegen wie ich. Geht ruhig schon vor, ich komme dann später nach.“ Der Leuchtturmwärter klemmte sich auf der engen Treppe an uns vorbei und stieg hinunter. - 65 -
„Dann müssen war beide wohl allein da hoch“, seufzte ich. „Du hast doch noch Lust, oder?“ Tim sah mich herausfordernd an. Mit leichter Skepsis musterte ich die endlos scheinende Wendeltreppe. „Na klar“, antwortete ich dann. „Du gehst vor. Dann kannst du mich das letzte Stück ziehen, wenn es nötig ist.“ Was für eine Kletterei! Schon bevor wir halb oben waren, fühlten sich meine Beine ganz weich an, obwohl wir alle Augenblicke eine Pause machten. Nach einer Weile war ich ziemlich erschöpft, aber Tim schien eher noch schneller zu werden. Endlich waren wir oben angekommen und traten hinaus auf die Aussichtsplattform. Schlagartig vergaß ich meine ganze Müdigkeit. Die Aussicht war überwältigend. Von hier oben sah die Welt total anders aus. Die Inseln vor der Küste wirkten wie eine Kette aus Smaragden, die in der Nachmittagsonne leuchteten. Unterteilt wurden sie durch die blauen Meeresstreifen, die einen leuchtenden Hintergrund bildeten. Die Menschen am Strand bewegten sich wie winzige Ameisen, und die Autos auf dem Parkplatz sahen wie kleine Spielzeugautos aus. Ich war begeistert. Tim beobachtete mich. Der Wind hier oben war so stark, daß er sich näher zu mir herüberlehnen mußte, um zu verstehen, was ich sagte. Ich hielt meinen Mund ganz dicht an sein Ohr und rief: „Es ist wunderschön hier oben! Ich finde es wahnsinnig toll!“ „Ich wuße, daß es dir gefallen würde!“ Tim lächelte. Ich fühlte mich wie auf Wolken schwebend. Das lag nicht nur daran, daß die Insel von oben so schön aussah, sondern auch daran, daß die Welt mit all meinen Bekannten und den Problemen, die ich mit ihnen hatte, soweit. weg schien.Die Probleme waren auf einmal unwichtig und klein geworden, und - 66 -
ich wußte, daß ich leicht mit ihnen fertigwerden könnte. Tim nahm meine Hand, und wir gingen auf die andere Seite des Leuchtturms. Von hier aus konnte man die Häuser von Savannah sehen und ein Schiff, das den Fluß hinunter zum Hafen fuhr. „Weißt du, warum es mir hier oben so gut gefällt?“ fragte Tim ganz dicht an meinem Ohr. Ich schüttelte den Kopf. „Hier oben bin ich dichter bei den Sternen“, erklärte er.' „Nachts ist es beinahe so, als wenn ich einen berühren könnte, wenn ich nur die Hand ausstreckte.“ Unsere Blicke begegneten sich, und auf einmal war ich auch ganz dicht: bei den Sternen - nicht bei denen am Himmel, sondem bei denen tief unten in seinen blauen Augen. Tims Blick wurde ganz sanft, und ich sah verwirrt nach unten. Auf einmal wurde mir bewußt, daß wir hier oben ganz allein waren, nur wir beide hoch oben über der Erde. Der Wind blies so stark, daß es mir beinahe den Atem verschlug. Später erkannte ich den wirklichen Grund. Es war die Aufregung, die ich durch Tims Nähe verspürte, der seinen Arm um meine Taille gelegt hatte. Dann legte Tim auch den anderen Arm um mich und zog mich ganz dicht an sich. Mir wurde plötzlich schwindelig. Tim sah mir tief in die Augen, und dann spürte ich seinen warmen Atem ganz dicht an meiner Wange. Ich blickte auf seinen Mund, seine Lippen, die näherkamen und meine suchten. Ich hätte wissen müssen, daß ich bei Tims Kuß nichts von der Unsicherheit empfinden würde, die ich bei anderen Jungen verspürt hatte. Ich brauchte mir keine Gedanken darüber zu machen, wo ich mit meinen Armen bleiben sollte oder wer von uns zuerst mit dem Küssen aufhören sollte. Der Kuß war so schön, daß ich alles um mich herum vergaß. Es war irgendwie, als wenn wir etwas gefunden hatten, wonach wir beide sehr lange gesucht hatten. - 67 -
6. KAPITEL Am nächsten Morgen, als Margaret und ich im MakrarneeKurs auftauchten, drehten sich alle neugierig nach uns um. Dabei waren wir schon einmal dort gewesen. Cathy saß auf dem Fußboden und knüpfte einen Gürtel. „Hi“, begrüßte sie uns und rückte ein Stück, damit ich mich neben sie setzen konnte. Margaret machte sich auf die Suche nachGummibändern, die sie um die Enden ihres Wandbehanges wickeln wollte. Bevor ich irgend etwas sagen konnte flüsterte Cathy schon: „Ich habe gehört, du warst mit Tim verabredet?“ Ich nickte. „Woher weißt du das?“ „Lori hat euch gesehen“, tuschelte sie weiter und deutete mit dem Kopf in die Richtung, wo Lorelei arbeitete. Sie knüpfte ein kompliziertes Uhrenarmband in blau und weiß. Auf einmal tat sie mir richtig leid, weil ich an ihrer Stelle bestimmt ziemlich unglücklich gewesen wäre. „War es denn nett?“ wollte Cathy wissen. „Sehr“, bestätigte ich, zögerte dann aber. Ich wußte nicht, ob ich Cathy sagen sollte, daß Tim mich geküßt hatte. Zuerst wollte ich es, aber dann fiel mir ein, daß Cathy behauptet hatte, Tim werde ein Mädchen immer erst bei der letzten Verabredung küssen. Ich hatte Angst, daß das erste Mal auch bei uns das letzte Mal gewesen sein könnte. Cathy muß meine Gedanken wohl geahnt haben. „Stimmt irgend etwas nicht?“ fragte sie. Ich schüttelte den Kopf. „Aber nein, wieso denn?“ Nicht - 68 -
einmal Margaret hatte, ich von meinen Ängsten oder von unserem ersten Kuß erzählt. Also fing ich eifrig an, mein Garn zu ordnen und die verschiedenen Knoten zu üben. Während ich bastelte, mußte ich wieder an den vergangenen Nachmittag denken. Es schien mir einfach unmöglich, daß Tim mich vielleicht nicht wiedersehen wollte, wo wir uns doch einfach toll verstanden hatten. Und unser erster Kuß - ich hatte es nie für möglich gehalten, daß er am hellichten Tag stattfinden würde. Ich hatte mir ihn immer im Sternenlicht vorgestellt, was ja auch viel passender wäre, da wir beide uns für Astronomie interessierten Aber dann fiel mir ein, daß die Sonne ja auch nur ein Stern am Himmel ist. Als Margaret und ich zum Mittagessen nach Hause kamen, fanden wir vor der Tür ein Kätzchen. Es miaute kläglich und sah aus, als ob es hereingelassen werden wollte. „Wir haben Besuch“, bemerkte ich und stieß Margaret an. Das kleine Ding war zu niedlich: grau getigert, mit ganz weichem Fell. Es hatte weiße Pfötchen und eine winzige rosa Nase. Margaret nahm es auf dem Arm, während ich die Tür aufschloß. „Meinst du, Audra und lan hätten etwas dagegen, wenn wir es füttern?“ fragte sie hoffnungsvoll und streichelte es. Da hatte ich meine Zweifel. Audra war immer gegen Haustiere gewesen. Andererseits sah das Kätzchen so hungrig aus. „Wir geben ihm schnell etwas, bevor sie nach, Hause kommen“, schlug ich vor. „Dann können wir es wieder laufen lassen.“ „Ich habe Neuigkeiten für dich“, entgegnete Margaret. „Man füttert keine Kätzchen und läßt sie dann so einfach wieder laufen. Sie gehen nämlich nicht. Wenn wir dieses - 69 -
Kätzchen füttern, haben wir einen Freund fürs Leben, fürchte ich.“ Ich sah das Kätzchen an. Margaret hatte es auf einen Küchenstuhl gesetzt, und es sah unsicher von einem zum anderen. Dann fing es an, sich mit seiner rosa Zunge und einem weißen Pfötchen zu putzen. „Ach, ich wünschte, wir könnten es behalten“, schwärmte ich sehnsüchtig. So ein Kätzchen hat etwas ungemein Gemütliches, Beruhigendes an sich. „Was meinst du, ist es ein Kater oder eine Katze?“ „Eine Katze“, klärte Margaret mich auf, die über so etwas Bescheid wußte. „Wir werden es Granny nennen“, entschied ich. „Wieso denn Granny“ fragte Margaret verwundert. Ich wußte nicht, wie ich es ihr erklären sollte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß wir mehr wie eine echte Familie wirken würden, wenn eine Granny dabei wäre. Margaret machte den Kuhechrank auf. „Wir haben keine Milch mehr“, verkündete sie verdrießlich. „Ich glaube, da ist noch etwas Dosenmilch in der Speisekammer.“ Ich machte mich gleich auf die Suche. Schließlich hatte ich die Milch gefunden und war gerade dabei, sie mit warmen Wasser zu vermischen, als Audra hereinkam. „Was ist das denn?“ fragte sie sofort, als sie Granny auf dem Küchenstuhl sitzen sah. „Das ist Granny“, stellte ich vor. „Ach so“, kam die überraschend milde Antwort von Audra. Eigentlich hatte ich erwartet; daß sie Granny sofort vor die Tür setzen würde. „Hat sie die Absicht, zum Essen zu bleiben?“ „Ich glaube schon. Deshalb mache ich ihr ein bißchen Milch fertig. Du weißt schon, halb Milch, halb Wasser.“ „Ach ja, genauso wie für Babys“, bemerkte Audra. Bei dem - 70 -
Gedanken sah sie auf einmal richtig glücklich aus, und das ärgerte mich. Ich stellte die Milch in einer Untertasse auf die Erde, woraufhin Granny sofort vom Stuhl sprang und anfing, die Flüssigkeit aufzuschlabbern. „Ich dachte, wir essen heute mittag einfach ein Sandwich“, meinte Audra. „Habt ihr Lust auf Eiersalat?“ „Das mach ich schon“, erbot ich mich schnell. Audra schien erleichtert zu sein. Im Gegensatz zu mir, bereitete sie nicht besonders gern Sandwiches zu. Außerdem war ihr Eiersalat immer eine Katastrophe. Als Granny mit der Milch fertig war und Audra um die Beine strich, erwartete ich, daß Audra zumindest eine Grimasse ziehen würde. Aber sie goß ruhig weiter unseren Eistee in Gläser. „Ich kann Granny auf den Schoß nehmen, wenn sie dir im Weg ist“, meinte Margaret. Sie schien in letzter Zeit immer sehr um Audra besorgt zu sein. Aber Audra lächelte nur. „Laß sie doch. Sie ist so schön weich und schnurrt so niedlich.“ Es überraschte mich, daß Audra die Katze überhaupt duldete. Aber seit ihrer Schwangerschaft hatte sie sich sowieso sehr verändert, das fiel mir immer wieder auf. Ich legte die Eiersalat-Sandwiches auf eine Platte und beschloß, daß wir im Eßzimmer statt in der Küche essen sollten. lan kam herein. „Das sieht ja lecker aus, Ramona“, lobte er mich. „Es ist hübsch, wie liebevoll du die Platte mit Petersilie verzierst. Dann sehen einfache Sandwiches aus wie auf einem Foto in einer Zeitschrift.“ Gleich nachdem wir uns alle an den Tisch gesetzt hatten, kam Granny aus der Küche und sprang auf lans Fuß zu. Er war ziemlich überrascht, als er unter den Tisch sah und sie dort - 71 -
entdeckte. „Das ist Granny“, erklärte Margaret ihm. „Sie ist heute angekommen.“ „Aha, ich verstehe“, meinte lan. „Macht sie einen Besuch, oder hat sie die Absicht, länger zu bleiben?“ „Das wissen wir noch nicht“, antwortete ich mit ernstem Gesicht. „Sie hat zwar kein Gepäck mitgebracht, aber vielleicht wird es nachgeschickt.“ „Hoffentlich hast du dem Dienstmädchen gesagt, daß es das Gästezimmer fertig machen soll“, schaltete sich Audra ein. „Ich glaube, Granny schläft am liebsten auf der Couch“, meinte ich. Dann herrschte eine Weile Schweigen, bis wir alle auf einmal in Gelächter ausbrachen. Granny spitzte die Ohren und sprang dann im Wohnzimmer auf die Couch, als wenn sie verstanden hätte, was wir gesagt hatten. Sie drehte sich dreimal um sich selbst, rollte sich auf das Kissen zusammen, steckte die Nase unter ihren Schwanz und schlief ein. Wenn die Stimmung zwischen lan und mir seit der dummen Szene in der Küche neulich nicht so gespannt gewesen wäre, hätte er Granny bestimmt wieder fortgeschickt. Aber da er sich wahrscheinlich wieder mit mir vertragen wollte, sagte er nichts. Also durfte sie bleiben: das erste Haustier, was ich jemals besessen hatte. Nach dem Essen setzte ich mich neben Granny auf die Couch und las in „Kosmos“. Ich war gerade bei dem Teil über die schwarzen Löcher, angekommen, als das Telefon klingelte. „Hallo, Ramona“, hörte ich Tims Stimme am anderen Ende der Leitung. Im Hintergrund war ein Höllenlärm. „Tim, ich kann dich kauim hören“, meinte ich und hielt mir mein anderes Ohr zu, um alle Nebengeräusche auszuschließen. „Ich bin in der Telefonzelle am Strand.“ - 72 -
„Hast du gerade Pause?“ fragte ich.“ „Genau, und da dachte ich, ich rufe dich einmal an. Erinnerst du dich noch an mich? Ich glaube, wir sind uns einmal oben auf dem Leuchturm begegnet.“ „Ich erinnere mich“, bestätigte ich mit klopfendem Herzen. „Ich habe nicht viel Zeit, hier wartet schon jemand an der Zelle. Hast du Lust, heute abend irgend etwas mit mir zu unternehmen? Ich muß nach Thunderbolt, den Radioschalter abholen, und ich dachte, vielleicht magst du mitkommen?“ „Na klar habe ich Lust!“ Cathy hatte also mit ihrem Gerede doch nicht recht gehabt. „Toll, ich hole dich dann ab. Wann soll ich kommen?“ „Wie wär's mit acht Uhr?“ schlug ich vor. „Okay, bis dann“, verabschiedete sich Tim „War das Tim?“ erkundigte sich Margaret, die auf einmal hinter mir stand. „Ja, wir wollen heute abend zusammen weg.“ „Habt Ihr Lust, zusammen mit Jeff und mir etwas zu unternehmen?“ „Nein, das geht leider nicht. Wir wollen nach Thunderbolt und einen Schalter für Tims Radio abholen und ...“ „Du meinst, er lädt dich nicht einmal irgendwohin ein?“ Margaret konnte es gar nicht fassen. „Na ja, Thunderbolt ist doch immerhin schon etwas“, brachte ich lahm hervor. „Thunderbolt ist überhaupt nichts. Warum kann er nicht mit dir ins Kino gehen?“ Ich zuckte die Schuftem. Langsam wurde ich ungeduldig. „Was macht denn das für einen Unterschied? Die Hauptsache ist, daß Tim und ich zusammen sein können.“ Margaret sah mich ungläubig an. „Das Beste an Verabredungen mit Jungen ist doch, daß man sich aussuchen kann, wo man hingeht.“ - 73 -
„Nicht, wenn man so viele Gemeinsamkeiten hat wie Tim und ich“, versuchte ich ihr zu erklären. „Wir müssen nicht immerzu etwas um die Ohren haben, um uns zu amüsieren. Uns reicht es, zusammen zu sein.“ „Was habt ihr denn gestern gemacht? Seid ihr etwa nur im Auto herumgefahren? War das nicht langweilig?“ Nein, es war überhaupt nicht langweilig gewesen. Aber wenn ich Margaret erzählte, daß wir bei Tim zu Hause gewesen waren und ich dabei geholfen hatte, Kirschkuchen zu backen, würde sie es einfach nicht verstehen. Also sah ich sie einfach nur stumm an, bis sie merkte, daß ich die Diskussion beenden wollte. In dem Augenblick kam Audra herein. Sie war auf dem Markt gewesen und hatte frischen Rosenkohl gekauft. Wenn ich irgend etwas auf der Welt hasse, dann ist es Rosenkohl, aber ich wußte, ich mußte ihn kochen, weil es lans Lieblingsgemüse war. Er war ja auch wegen Granny ganz nett gewesen, also würde ich mich wohl überwinden müssen. Mein Gott, kann Familienleben kompliziert sein! Am liebsten hätte ich mich aufs Bett gelegt und mir ausgemalt, wie der Abend mit Tim werden würde. Statt dessen stand ich später in der Küche, putzte Rosenkohl und kochte ihn anschließend. Es wäre ja alles nicht so schlimm gewesen, wenn er einfach nur schlecht schmecken würde, aber die ganze Wohnung roch nach dem Zeug. Ein Luxusapartment sollte einfach nicht nach Rosenkohl riechen. Einmal hatte ich in einer Zeitschrift gelesen, daß man zwei Scheiben Brot, beim Kochen auf den Rosenkohl legen sollte, um den Geruch zu dämpfen. Also legte ich Brot in den Topf und tat den Deckel wieder drauf. Dann briet ich die Steaks und schnuppert zwischendurch immer mal wieder, konnte aber keinen richtigen Unterschied zwischen vorher und nachher - 74 -
feststellen. Nach zehn Minuten war mir nur eins klar: das Brot hatte den Rosenkohl verdorben. Als ich in den Topf sah, hatte es sich völlig aufgelöst und mit dem Kohl vermischt. Zu allem Überfluß hatte ich mir noch die Hand, an dem heißen Dampf verbrannt. Dies war wirklich nicht mein allerbester Tag! Irgendwie schaffte ich es, den Rosenkohl wieder genießbar zu machen, indem ich ihn gründlich abspülte. Allimählich fing ich an, mir selbst leid zu tun. Hier stand ich in der Küche mit dem ganzen Ärger, während Audra und lan am Strand spazieren gingen und Margaret am Telefon stundenlang mit Jeff klönte. Merkte denn niemand, wieviel Mühe ich mir jeden Tag mit dem Essen gab? Ich war total sauer. Nach einer Weile hatte ich das Essen auf dem Tisch, und wir setzten uns alle hin. Ich beeilte mich, weil ich rechtzeitig zu meiner Verabredung mit Tim fertig sein wollte. Die Stimmung war ganz anders als bim Mittagessen, wo wir noch zusammen über Granny gelacht hatten. Alle merkten, daß irgend etwas mit mir los war, aber keiner fragte. Ich wünschte, sie würden es, denn ich wollte Mitleid für meine verbrannte Hand und Anerkennung für das Essen. Margaret dachte sicher, meine schlechte Laune käme von unserer Auseinandersetzung über Tim. Audra schien etwas verwundert zu sein, und lan lobte zwar den Rosenkohl, sagte dann aber auch nichts rnehr. Mir war klar, daß mein Benehmen ziemlich albern war, Trotzdem - mir ging unser Famillenleben allmälich auf die Nerven. Es wäre besser gewesen, wenn ich mit irgend jemanden über meine Probleme hätte reden können, aber davor hatte ich Angst. Die anderen würden sich vielleicht Vorwürfe machen, wenn sie wüßten, wie sehr ich unter ihrem gleichgültigen Verhalten litt. Ich machte mir selber schon Vorwürfe genug. Aber immerhin hatte ich noch Angelyn, mein - 75 -
Tagebuch, dem ich alles anvertrauen konnte. Das war wenigstens eine kleine Hilfe. Als Tim mich abholte, merkte er sofort, daß ich ziemlich niedergeschlagen war. Aber er sagte nichts. Er nahm einfach meine Hand, während wir zum Wagen gingen. Es war die Hand, die ich mir verbrannt hatte, und als er die Stelle rührte, zog ich sie automatisch zurück. „Irgend etwas nicht in Ordnung?“ fragte Tim und sah mich bestürzt an. Ich wurde rot. „Nein, nicht wirklich. Ich habe mir nur beim Kochen die Hand verbrannt, aber es ist nicht weiter schlimm.“ „Laß doch mal sehen.“ „Nein, nein, ist schon in Ordnung“, wehrte ich ab. Er sollte mich nicht für wehleidig halten. Tim blieb stehen. „Ramona! Wie schlimm ist es denn nun wirklich?“ Er runzelte die Stirn und ich merkte, daß er sich wirklich Sorgen machte. Stumm hielt ich ihm meine Hand hin. „Das sieht aus wie eine Dampfverbrennung“, meinte er. „Hab ich doch gesagt - nicht weiter schlimm“, erwiderte ich. „Solche Stellen können aber ziemlich weh tun. Was für eine Salbe hast du denn draufgetan?“ „Gar keine“, mußte ich zugeben. „Ich habe gar nicht weiter daran gedacht.“ Das stimmte sogar, ich hatte nur aus der Wohnung herausgewollt. Tim hakte mich unter, wobei er darauf achtete, nicht an meine Hand zu kommen. „Ich weiß etwas gegen die Schmerzen.“ „Aber...“ - 76 -
„Kein Aber“, fuhr er mir über den Mund. Wir stiegen in Tims Wagen und fuhren los. Nach etwa zehn Minuten hielt er vor einem Drugstore an. „Ich bin sofort zurück“, versprach er und ließ den Motor laufen. Als er zurückkam, gab er mir eine Tube mit Salbe. „Verreib das auf der Haut“, riet er. „Es ist das beste Mittel bei Verbrennungen jeder Art. Meine Mutter hat immer eine Tube davon in der Küche liegen.“ Ich folgte seine Rat, und tatsächlich ließen die Schmerzen nach. Tim öffnete das Handschuhfach und kramte darin herum. „Eigentlich müßte hier irgendwo noch Pflaster sein. Ach ja, hier ist es.“ Er klebte es vorsichtig über die empfindlichste Stelle. „Geht, es jetzt besser?“ fragte er dann. „Viel besser“, antwortete ich. Ich hatte ihn auf einmal furchtbar lieb, weil er sich wirklich Gedanken um mich gemacht hatte. Ich hätte ihm gern gesagt, wie dankbar ich dafür war, aber ich hatte Angst, zuviel Gefühl zu zeigen. Vielleicht würde Tim nur denken, daß ich viel zuviel Theater um eine so unbedeutende Sache machte. Also unterdrückte ich, was mir schon auf der Zunge lag, und sah aus dem Fenster. Thunderbolt ist ein malerisches kleines Fischerdorf an dem Deich, der die Insel mit dem Festland verbindet. Tim fuhr zu dem Mann, der ihm den Radioschalter überlassen wollte, und die beiden unterhielten sich lange über alte Wagen. Ich stand daneben und schnappte eine ganze Menge auf, obwohl ich nicht mitreden konnte. Es war schon fast dunkel, als sich Tim bei dem Mann bedankte und wir uns auf den Rückweg machten. „Du mußt doch nicht gleich nach Hause?“ fragte Tim. „Nein, noch nicht.“ Wenn es nach mir gegangen wäre, - 77 -
wollte ich nie wieder nach Hause, aber das behielt ich lieber für mich. „Laß uns nach Savannah fahren. Wir können an der Promenade entlangfahren und vielleicht irgendwo anhalten, und etwas essen. Oder ins Kino gehen, wenn du möchtest.“ Ich dachte an das, was Margaret über Verabredungen gesagt hatte. Aber ich hatte keine Lust, mit Tim ins Kino zu gehen, weil ich mich dann nicht mit ihm unterhalten könnte. „Mir wäre es lieber, zur Promenade zu fahren“, schlug ich deswegen war. „Okay“, stimmte Tim zufrieden zu und bog in die Straße nach Savannah ein. Ich hatte das Gefühl, daß er auch nicht ins Kino wollte. Man hatte den Eindruck, die gesamte Bevölkerung von Savannah sei an diesem Abend auf der Uferpromenade versammelt. Die Straße war mit Wagen verstopft, und auf den Fußwegen gingen die Menschen Arm in Arm auf und ab. Am Ende der Promenade wendeten die Autos und fuhren denselben Weg wieder zürück. „Dagegen kommen wir garantiert an“, meinte Tim, als ich eine Grimasse zog, weil aus einem Laden besonders scheußliche Western-Musik dröhnte. Tim angelte unter seinem Sitz eine Kassette hervor. „Hier, legst du die mal ein?“ Ich war total überrascht, als aus den Lautsprechern des Autos russische Klänge ertönten. Es war tatsächlich das Wolgalied! „Russische Folklore?“ fragte ich ungläubig. „Wahrscheinlich findest du sie gräßlich nicht wahr?“ Tim grinste mich an. „Nein, ich muß mich nur erst mal reinhören. Sie könnte mir gefallen.“ Als wir das zweite Mal an der Promenade entlangfuhren, drehte Tim die Musik auf volle Lautstärke. „Laß uns die Fenster ganz runterkurbeln“, rief er mir durch den Lärm zu. - 78 -
Wir lachten und amüsierten uns über die verdutzten Gesichter der Leute auf der Straße. Eigentlich war es ja albern, an einem warmen Sommerabend Musik zu hören, die eher in den russischen Winter gepaßt hätte, aber uns machte es Spaß. „Hast du genug gehört?' erkundigte Tim sich nach einer Weile. „Wir könnten es ja vielleicht ein bißchen leiser drehen, schlug ich vor und übernahm das gleich selber. „Wie findest du die Musik denn? Gut oder schlecht?“ „Gar nicht so übel“, antwortete ich. „Laß uns doch irgendwo in ein Restaurant gehen, oder vielleicht nur irgendwo etwas Kaltes trinken“, schlug Tirn vor. „Ich habe Durst, du nicht?“ Ich nickte. Tim fuhr auf den Parkplatz, und wir gingen zürück auf die Promenade. Tim hielt wieder meine Hand. Nachdem wir uns die Schaufenster angesehen hatten, setzten wir uns in ein kleines Café. Ein Klavierspieler saß in einer Ecke und machte Musik. Außerdem gab·es dort eine winzige Tanzfläche. Wir bestellten beide Eiskaffee, der mit einer riesigen Sahnehaube bedeckt war. Beim Trinken stippte ich mit der Nase hinein, worauf Tim mir die Sahne zärtlich abwischte. Wie immer bekam ich von seiner Berührung Herzklopfen. „Weißt du“, meinte ich nachdenklich zu Tim, „ich hätte nie gedacht, daß ich hier so mit dir sitzen würde. Nicht nach gestern.“ „Gestern? Was ist denn gestern passiert?“ „Gestern hast du mich geküßt.“ „Ach ja, ich erinnere mich dunkel“, bestätigte Tim grinsehd. „Es wird behauptet, daß du dich nie wieder mit einem Mädchen triffst, daß du geküßt hast. Deswegen dachte ich, unsere erste Verabredung sei gleichzeitig unsere letzte.“ Tim sah mich einen Moment sprachlos an und brach dann in lautes Gelächter aus. - 79 -
„Ist das wirklich wahr?“ Ich nickte. „Ich kann mir schon denken, warum einige Mädchen auf den Gedanken gekommen sind, aber ...“ Tim schüttelte den Kopf. „Magst du es rnir sagen?“ „Na ja, ich bin nie besonders viel mit Mädchen losgezogen hauptsächlich, weil sie sich nie für meine Hobbys interessiert haben. Ich bin lieber allein, als mit jemanden zusammen, der immer nur Ja und Amen zu allem sagt, bloß weil er abends mit mir weggehen möchte. Und diese Sache, mit dem ersten und letzten Kuß ist wirklich nur Gerede.“ Er lächelte mich an und ergriff wieder meine Hand. Wir saßen eine Weile schweigend da, bis eine Serviererin mit einem Teller voll Kleingeld an unseren Tisch kam. „Ich sammle für den Klavierspieler“, erklärte sie. „Er spielt nur für Trinkgelder, weil wir ihm nichts bezahlen können.“ Tim war einen Dollar-Schein auf den Teller. „Habt ihr vielleicht einen Musikwunsch?“ wollte das Mädchen wissen. Tim sah mir tief in die Augen. „Fragen Sie ihn doch, ob er ,Stardust' kennt“, sagte er leise, ohne den Blick von meinem Gesicht abzuwenden. Der Pianist kannte das Stück tatsächlich. Als die vertraute Melodie erklang, die uns auf Cathys Party so viel bedeutet hatte, zog mich Tim wortlos auf die Tänzfläche. Er hielt mich ganz eng an sich gedrückt. Wange an Wange tanzten wir zu unserem Lied. Später, bevor Tim mich nach Hause brachte, gingen wir noch ein bißchen am Meer spazieren. Irgendwann nahm er mich ganz sanft in die Arme und küßte mich zärtlich. „Eben habe ich dich schon wieder geküßt“, bemerkte Tim, als wir uns widerstrebend voneinander trennten. - 80 -
„Das habe ich gemerkt“, ich lächelte. Er strich mit einem Finger über meine Stirn. „Und das bedeute nicht, daß dies unsere letzte Verabredung ist. Ganz sicher nicht.“ Dann küßte er mich wieder und wieder, bis mir schwindelig wurde.
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7. KAPITEL Ich saß im Liegestuhl draußen auf dem Balkon und sah hinauf zum Sternenhimmel. Ab und zu knipste ich meine Taschenlampe an, die ich in einen roten Schal gewickelt hatte, um etwas im Sternführer nachzulesen. „Warum hast du denn den Schal über der Taschenlampe?“ wollte Margaret wissen. Sie saß neben mir auf dem Balkon, interesesierte sich aber überhaupt nicht für die Sternbildstimmung. „Wenn man sich an die Dunkelheit gewöhnt hat; wird man von dem grellen Licht der Lampe geblendet. Bei dem roten Schein hingegen müssen sich die Augen nicht so stark umstellen, und ich kann dann gleich wieder die Sterne erkennen.“ „Ach so.“ Margaret seufzte „Wirst du gar nicht müde, wenn du immer nach oben starrst?“ „Nein, nie. Außerdem hat Galileo genauso angefangen.“ Margaret sah beeindruckt aus. „Galileo muß ja ein toller Typ gewesen sein. Was macht Tim eigentlich heute abend?“ „Er muß Babysitten, weil seine Eltern weg sind.“ Tim paßte oft auf seine Geschwister auf, aber er beschwerte sich nie darüber. Ich bewunderte ihn dafür. Er schien seine kleinen Brüder und Schwestern wirklich gern zu mögen. „Da oben ist die Herkules-Konstellation“, stellte ich auf einmal aufgeregt fest. Ich nahm das Fernglas, weil nach etwas ganz Bestimmtes suchte. Da war es, ganz schwach nur sichtbar, nicht mehr als ein heller Fleck, der Sternhaufen M 13! Ich war richtig stolz auf meine Entdeckung, obwohl ich wußte, daß ich bei weitem nicht die erste war, die ihn gesehen hatte. - 82 -
„Los komm, Ramona, laß uns nach drinnen gehen“, schlug Margaret vor und kratzte gelangweilt an einem Mückenstich. „Nein, ich muß erst herausfinden, wie man die Himmelsentfernungen mit dem Fernglas schätzt. Tim hat es mir neulich erklärt.“ Margaret seufzte wieder. „Man sollte doch eigentlich denken, daß ihr interessantere Themen habt als Astronomie“, meinte sie. „Worüber redest du denn mit Jeff?“ wollte ich wissen. „Über Rockgruppen, darüber, wer mit wem geht, wo wir waren und wohin wir gehen.“ „Mm.“ Ich hörte kaum hin. Es war mir wirklich unbegreiflich, wie man das interessanter finden konnte als Astronomie. „Und die ganze Zeit, die ihr da,unten am Strand verbringt ... seht ihr euch wirklich nur die Sterne an? Küßt er dich nie?“ Ich legte das Fernglas zur Seite. „Margaret...“ „Diese Woche heiße ich Marlo, bitte.“ „Marlo, das geht dich überhaupt nichts an. Aber ja, wir sehen uns wirklich die Sterne an. Tim hat ein fantastisches Teleskop, für das er den ganzen letzten Sommer gespart hat. Ich will mir auch eins kaufen, sobald ich das Geld zusammen habe. Ach ja, nur um deine Neugierde zu befriedigen, manchmal küßt er mich auch. Und gelegentlich küsse ich ihn.“ Margaret sah mich triumphierend an. „Das habe ich mir doch gedacht. Ich glaubte schon, du würdest nie zugeben, daß er dich geküßt hat.“ „Jetzt hat wohl dieses blödsinnige Gerücht von über Tims Freundinnen endlich ein Ende“, entgegnete ich. Margaret lachte. „Wahrscheinlich mag Tim dich eben wirklich gern“, bemerkte sie. „Ja, ich glaube. Aber bei Tim ... „ Ich brach den Satz ab. Ich wußte zwar, daß er mich mochte, aber er hatte es noch nie - 83 -
ausgesprochen. „Bei Tim was?“ hakte Margaret nach, die natürlich sofort meine Unsicherheit gespürt hatte. „Wir haben immer viel Spaß, reden über interessante Dinge, die uns beiden viel bedeuten, aber Tim hat noch nie so richtig direkt gesagt daß er mich mag.“ Außerdem, aber das behielt ich für mich, hatte er meinen geheimen Test noch nicht bestanden. Ich hatte mir immer gewünscht, daß mein Freund meine schwarzen Augen einmal so richtig romantisch beschreiben würde. Eigentlich war das ziemlich albern, aber ich hatte mir das nun einmal früher überlegt und wollte die Idee nicht aufgeben. Vielleicht war es unrealistisch von mir, zu wünschen, daß Tim mir eine Liebeserklärung machen würde. Ich fragte mich, wie das bei Margaret und Jeff war. Ob sie wahnsinnig ineinander verliebt waren? Margaret hatte nie darüber gesprochen. Eigentlich war jetzt eine gute Gelegenheit für ein vertrauliches Gespräch über Jungs, über die Liebe und was wir von ihr zu erwarten hatten. Aber irgendwie ging das nicht mehr. Sowohl Margaret wie auch ich waren zu sehr mit den eigenen Gedanken beschäftigt, um dem anderen noch richtig zuhören zu können. Margaret stand auf und reckte sich. „Ich glaube, ich werde jetzt duschen und dann ins Bett gehen.“ „Ich komme auch gleich“, sagte ich. Margaret ging hinein, machte kurz Licht, um den Weg ins Schlafzimmer zu finden, und lies mich in der Dunkelheit zurück. Ich sah wieder hinauf zu den Sternen, ohne sie jedoch richtig wahrzunehmen. Das Verhältnis zwischen Margaret und mir machte mich traurig, weil wir früher immer die besten Freundinnen gewesen waren. Dann dachte ich daran wie gut - 84 -
ich mich mit Tim verstand und wie glücklich ich in seiner Gegenwart war. Ich dachte an das Leuchten in seinen Augen, wenn er mich sah, und fragte mich, ob er das gleiche bei mir bemerkte. Warum war es nur so schwer für uns, darüber zu reden? Das große Ereignis in jener Woche waren die Vorbereitungen für den 4. Juli, den Unabhängigkeitstag. Tim machte seinen Wagen für die Auto-Show fertig, und ich half ihm dabei. Am dritten Juli brauchte Tim nicht zu arbeiten, also saßen wir bei ihm zu Hause in der Auffahrt und polierten den Chevvy, bis er glänzte. Dieser Tag war furchtbar heiß und schwül, und ich war froh, als wir Pause machten und im Schatten selbstgemachten Apfelsaft tranken. Mrs. Appleby setzte sich mit Ginger zu uns. „Mein Gott, ist das stickig heute“, stöhnte sie und strich sich die Haare aus der Stirn. Ginger stolperte auf mich zu. Sie sah mir ins Gesicht und sagte unsicher „Ro-mana?“ „Ra-mona“, erwiderte ich automatisch. Ginger lachte begeistert und setzte sich auf ihr Dreirad. Sie hatte noch nicht richtig fahren gelernt, sondern schob sich immer mit beiden Beinen vorwärts. „Warte mal, Ginger.“ Ich gab Tim mein Glas und stand auf. Dann beugte ich mich über Ginger und stellte ihre Füße auf die Pedale. „Erst trittst du mit diesem Fuß und dann mit dem anderen.“ Ich zeigte es ihr, indem ich ihre Füße mit meinen Händen bewegte. „Laß mich!“ verlangte Ginger nach einer Weile, worauf ich mich wieder hinsetzte. Wir beobachteten sie, während sie versuchte, es so zu machen, wie ich es ihr gezeigt hatte. Allmählich schien sie es zu begreifen und ihre Füße rutschten - 85 -
nicht mehr von den Pedalen ab. Mrs. Appleby stand auf und klopfte das Gras von ihrem Rock. „Ich glaube, ich muß jetzt zurück in die Küche, sonst gibt es auf unserem Picknick morgen nur Erdnußbutterbrote. Ramona, hast du Lust, morgen mitzukommen?“ „Ja, furchtbar gern!“ „Das, ist schön. Bis morgen dann!“ Sie ging zurück zum Haus und summte dabei eine Melodie. „Ich freue mich, daß du morgen auch kommst“, meinte Tim, während wir die Deckel der Politurdosen zuschraubten. „Wir können erst zusammen zu der Auto-Show fahren und dann hinterher herkommen.“ Der Plan klang toll. Audra wollte den Tag über zu Hause bleiben, weil sie sich nicht wohlfühlte. Margaret und Jeff planten, morgens die Regatta anzusehen, und für nachmittags hatte er sie zu einem Barbecue eingeladen. Die Einladung von Mrs. Appleby kam mir also gerade recht. Am 4. Juli war es wieder sehr heiß. Das war schon morgens urn neun Uhr zu merken, als ich kurz auf den Balkon hinausging. Verglichen mit den Unabhängigkeitstagen, die ich in Texas verbracht hatte, war dieser allerdings viel erträglicher. Schon die Tatsache, daß das Meer in der Nähe war, machte eine Menge aus. Ich war als erste aufgestanden und nahm mir deshalb nur eine Schüssel Cornflakes mit Milch. Mir schoß durch den Kopf, daß ich schon bald nie mehr allein frühstücken würde, weil dann das Baby da war. Audra müßte dann immer früh aufstehen müssen, um es zu füttern. Dann dachte ich an Ginger Appleby und wie niedlich sie war. VieIleicht würde Audras und lans Baby gar nicht so stören, wenn es genauso süß wäre. Aber ich mußte mich damit abfinden, daß ich wahrscheinlich die meiste Zeit wieder im Internat verbringen - 86 -
würde. Wir hatten zwar nie darüber gesprochen, aber ich würde wohl wieder zur Schule müssen, wenn Audra und Ian im Herbst nach Atlanta zurückkehrten. Energisch schob ich diese trüben Gedanken beiseite. Immerhin war der 4. Juli ein Nationalfeiertag, und außerdem würden Tim und ich zusammensein. Ich beeilte mich, die Cornflakesschüssel abzuwaschen, damit ich mich anziehen konnte. Margaret hatte schon eine blaue Hose und eine weiße Matrosenbluse an, als ich in unser Zimmer kam. „Sieht gut aus“, bemerkte ich anerkennend. „Genau das Richtige für eine Regatta“, entgegnete sie zufrieden. Margaret sah wirklich gut aus mit ihren kurzen Haaren und den leuchtend blauen Augen. „Macht bei dem Rennen irgend jemand mit, den wir kennen?“ erkundigte ich mich. „Nur Cathy und Neill Cameron. Und vielleicht Davey Adler.“ Einen Moment lang wünschte ich, ich könnte mir die Regatta auch ansehen. Aber Tim und ich mußten noch ein paar Sachen an dem Chevvy in Ordnung bringen, und ich war natürlich am liebsten mit Tim zusammen. „Viel Spaß“, sagte ich deshalb nur und ging unter die Dusche. Bevor Tim ankam, waren Audra und lan aufgestanden. Ian hatte sich hinter einer Zeitung verkrochen, und Audra humpelte in die Küche. Sie lächelte abwesend als ich mich von ihr verabschieden wollte. „Fühlst du dich nicht wohl?“ fragte ich besorgt. „Nein, nicht besonders“, war ihre Antwort. „Meine Füße sind so geschwollen, daß ich keine Schuhe anziehen kann. Und mein Rücken tut auch wieder weh.“ - 87 -
„Das tut mir sehr leid. VieIleicht solltest du heute einfach die Füße hochlegen. Das hilft bestimmt.“ „Das werde ich auch tun. Weißt du, es ist lange her, daß ich das letzte Baby bekommen habe. Als ich dich erwartet habe, war alles etwas anders.“ Audrg sah mich liebevoll an. Das machte mich neugierig. Ich hätte gern mehr darüber gewußt. Wie Audra wohl gewesen war, als ich geboren wurde? Wie ihr und meinem Vater wohl zumute gewesen war, als Audra schon nach einem Jahr ein Baby erwartete? Aber in dem Augenblick klingelte Tim an der Tür und ich hatte keine Zeit mehr. Bevor ich ging gab ich Audra einen Kuß auf die Wange. „Paß auf dich auf“, sagte ich noch und lief dann hinaus. Während ich mit Tim in dem glänzenden Chevvy durch die Straßen fuhr, fragte ich mich, warum ich jemals mehr gewollt hatte als ich in dem Moment besaß. Ich betrachtete Tim, der sich auf das Fahren konzentrierte. Wie hatte ich mir nur gestern abend auf dem Balkon wünschen können, Tim wäre romantischer? Er war hier, saß neben mir, und hatte kein anderes Mädchen gebeten, den Tag mit ihm zu verbringen. Das allein genügte schon als Beweis dafür, daß er mich mochte. Für den Augenblick war ich damit zufrieden. Die Auto-Show fand auf dem Parkplatz neben dem Rathaus statt. Tims Wagen bekam eine Nummer und einen Stellplatz zugewiesen. Auf der einen Seite von uns stand ein Thunderbird, ein Zweisitzer, und auf der anderen ein Modell-T Ford. Tim hatte einen kleinen Autostaubsauger besorgt, und wir machten uns daran, den Sand vom Boden abzusaugen, den wir auf dem Herweg an unseren Schuhen gehabt hatten. Tim polierte noch einmal über den Chrom, während ich mir die anderen Wagen und die Leute ansah. Aus dem Kassettenrecorder des Chevvy ertönte das Wolgalied. Es kam mir vor, als wenn hier alle Wagentypen ausgestellt - 88 -
waren, die es überhaupt gab. Überall liefen Leute herum, die so angezogen waren, wie es zur Blütezeft ihrer Wagen modern gewesen war: ein Mann kam in einem Staubmantel und einer Art Motorradbrille an mir vorbei und etwas weiter weg gingen zwei Mädchen in altmodischen Badekostümen spazieren. „Das finde ich einfach toll“, schwärmte ich. „Ich auch“, meinte Tim. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß an seinem Wagen auch wirklich kein, Staubkörnchen mehr zu sehen war, schlenderten wir umher und sahen uns die anderen Wagen an. Die Zeit verging dabei so schnell, daß ich es gar nicht gauben konnte, als die Preisverteilung begann. Die Preisrichter standen auf einem Podest und riefen die Plazierungen in jeder Gruppe aus. Tim und ich hörten gespannt zu. „lch glaube nicht, daß ich mit meinem Chevvy einen Preis gewinnen werde“, meinte Tim skeptisch. „Aber es lohnt sich immer, teilzunehmen, weil man ja nie weiß, wer die Gegner sind.“ Schließlich waren die Preise in allen Gruppen verteilt. Tims Name war nicht dabei gewesen. „Nimms nicht so schwer“, tröstete ich ihn, als gerade die Ehrenpreise aufgerufen wurden. Der erste Name, der genannt wurde, warTims. lch stieß einen lauten Juchzer aus, und Tim riß mich begeistert in die Arme und schwenkte mich herum. Dann kamen alle möglichen Bekannten, um zu gratulieren, unter ihnen auch Lori. Es war wirklich interessant, zu beobachten, wie Lori die Situation ausnutzte. Sie schlang die Arme um Tims Hals und gab ihm einen Kuß auf die Wange. Mir stand vor Staunen der Mund offen. Auch Tim war sichtlich verlegen. Glücklicherweise wurde die peinliche Situation durch den Schiedsrichter beendet, der herankam, um Tim seine - 89 -
Ehrenurkunde zu überreichen. In dem dann folgenden Gedränge verloren wir Lori und die:anderen und ließen uns nur noch erschöpft in Tims Wagen fallen. Die Schiedsrichter hatten Tim die genaue schriftliche Beurteilung seines Wagens ausgehändigt. „Ich wußte, daß mich dies von einer besseren Plazierung ausschließen würde“, meinte er, und zeigte auf einen der Punkte. Es ist der Teppichboden. Er ist nicht das Original aus dem Baujahr des Wagens, sondern ganz normaler roter Teppich. Ich könnte mir den richtigen noch nicht leisten, aber vielleicht klappt es nächstes Jahr.“ Ich zog meine Sandalen aus und fuhr mit den Zehen über den Boden. „Mir gefällt dieser hier gut“, stellte ich fest. „Gewöhn dich nur nicht zu sehr daran“, warnte Tim, während er sich in die Schlange der startenden Wagen einordnete. „Ich werde anfangen, für den neuen zu sparen, sobald ich wieder aus Arizona zurück bin.“ „Arizona?“ Das war das erste Mal, daß ich von einer Fahrt nach Arizona hörte. „Ja, ich will Ende des Sommers da unten meinen Bruder Kip beswuchen. „Du willst den ganzen Weg nach Arizona allein fahren?“ fragte ich ungläubig. „Genau. Weißt du, die Luft in Arizona ist so klar, daß es dort ideal ist, um Sterne anzugucken. Wußtest du, daß das ,Kitt Peak National Observatory' das größte Solar-Teleskop der Welt hat? Und außerdem verfügen sie noch über das größte optische Teleskop.“ „Das klingt ja nach einer Traumreise“ „Ist es auch. Kip und ich wollten an einem Wochenende zum Grand Canyon fahren.“ „Du Glücklicher.“ Ich beneidete ihn wirklich. Auf jeden Fall klangen seine Pläne wesentlich aufregender als meine Reise - 90 -
nach Texas zur Hochzeit meiner Cousine Claire. Als wir bei Tim zu Hause ankamen, war seine Mutter gerade dabei, das Picknick im Garten vorzubereiten. Mr. Appleby half ihr dabei. „Hallo Dad“, begrüßte Tim ihn. „Das ist Ramona Castillo.“ Jim Appleby kam mir vor wie eine etwas gealterte Ausgabe von Tim. Er hatte die gleichen blauen Augen, die gleichen hellen Haare und war genauso groß. Ich mochte ihn auf Anhieb. „Kann ich Ihnen in der Küche helfen?“ fragte ich Mrs. Appleby. Es war deutlich, daß sie Hilfe gebrauchen konnte, weil Bobby, Ginger und Betsy sie die ganze Zeit mit Beschlag belegten. „Was ich wirklich gebrauchen könnte, wäre jemand, der auf Ginger aufpaßt“, entgegnete Mrs. Appleby. „Du kommst so gut mit ihr zurecht Ramona, könntest du dich ein bißchen um sie kümmern? Tim, du solltest schon mal die Klappstühle holen.“ Ginger fing sofort an zu kichern, als ich sie auf meinen Schoß zog. „Romana“, sagte sie. „Ra-mona“, korrigierte ich wieder. „Laß mich runter“, rief sie und versuchte, sich zu befreien. „Ich will laufen.“ Mir war klar, daß ich das verhindern mußte, weil Mr. und Mrs. Appleby immer noch beschäftigt waren. Also trug ich Ginger ein Stück weiter weg unter einem Apfelbaum und ließ mich mit ihr ins Gras fallen. „Soll ich dir eine Geschichte erzählen?“ fragte ich. „Tim liest mir immer Geschichten vor“, entgegnete sie. „Trotzdem, jetzt werde ich dir einmal eine Geschichte erzählen“, begann ich. „Hast du schon einmal etwas von Willy Winzig Wucherkraut gehört?“ Auf einmal hörte sie zu. „Nein“, erwiderte sie, jetzt schon - 91 -
etwas ruhiger. Ich mußte mir das Märchen zwar ausdenken, aber es klappte. Also fing ich an, von dem kleinen Elf Willy Winzig zu erzählen, der in einern großen Ballen Wucherkraut wohnte. Dieses Wucherkraut wurde immer vom Wind durch die texanische Prärie geblasen, und dabei erlebte Willy Winzig die aufregendsten Abeuteuer. Ginger paßte genau auf, bis Mrs. Appleby uns zum Essen rief. „Ich wußte gar nicht, daß du so gut Geschichten erzählen kannst“, meinte Tim, während wir unsere Teller mit Hühnchen, Schinken, Kartoffelsalat und anderen Köstlichkeiten beluden. „Ich hatte dir doch gesagt, ich will Schriftstellerin werden“, erinnerte ich ihn.“ „Stimmt“, bestätigte er. Erinnere mich nachher daran, daß ich dir meine Büchersammlung zeige. Aber an Tims Bücher dachten wir den Rest des Nachmittags überhaupt nicht mehr. Mrs. Applebys Picknick war so lecker, daß wir stundenlang aßen und sie versprach, mir das Rezept für ihren Kartoffelsatat mit saurer Sahne zu verraten. Dann kam ich mit Betsy ins Gespräch, und sie verriet mir ihre Lieblingsbücher, die ich zum großen Teil auch besonders gern mochte. Ginger weigerte sich, woanders zu sitzen als auf dem Stuhl neben mir, und Bobby brachte mich immerzu mit seinen Witzen zum Lachen. Es war der schönste 4. Juli, den ich bisher erlebt hatte. Ich wünschte, meine eigene Familie wäre ebenso harmonisch. Langsam setzte die Abenddämmerung ein, und die Kinder wurden müde. Ginger schlief sogar auf meinem Scboß ein. Mr. Appleby stand auf und meinte zu seiner Frau: „Heute abend werde ich abräumen, du hast heute schon genug gearbeitet.“ Ich wunderte mich über den liebevollen Blick, den sie austauschten. An die Liebe, die Audra und Ian offen zur - 92 -
Schau trugen, hatte ich mich mittlerweile gewöhnt, aber daß ein Ehepaar mit so vielen Kindern noch ineinander verliebt sein konnte, war mir neu. Ich fand den Gedanken beruhigend. „Wir beide können Ginger ja ins Bett bringen“, schlug Tim leise vor um sie nicht aufzuwecken. Vorsichtig trugen wir sie in ihr Zimmer. „Hier ist ihr Nachthemd.“ Tim reichte es mir. Er nahm automatisch an, daß ich mich mit kleinen Kindern auskannte, aber tatsächlich war das neu für mich. Etwas umständliche zog ich Ginger das Kleid über den Kopf. Sie war zum Glück zu müde, um sich zu beschweren. Dann legten wir sie ins Bett. Es ist beinahe so, als wenn Ginger unser eigenes Klind wäre, dachte ich, als wir zusammen auf sie hinuntersahen. Sie sah so süß aus. Einen Moment lang überlegte ich, wie es wäre, mit Tirn verheiratet zu sein. Dann sah ich ihn von der.Seite an und hoffte, daß er keine Gedanken lesen könne. Heirat und Kinder lagen für uns beide noch in ferner Zukunft. Es hatte zwar einen Moment lang Spaß gemacht, davon zu träümen, aber es blieb ein Traum. „Komm mit“, forderte Tim mich leise auf, und wir gingen in sein Zimmer, das gegenüber lag. Ich folgte ihm, blieb aber etwas verlegen in der Tür stehen. Immer wieder hatte ich mich gefragt, wie Tims Zimmer wohl aussähe. Er teilte es mit Bobby und sie hatten Etagenbetten. Tims Teleskop stand in einer Ecke. An der Decke hingen Sternenkarten. „Ich wollte dir meine Bücher zeigen.“ Tim kniete vor einem Regal an der Wand. Er zog mehrere Bände heraus und legte sie neben sich auf die Erde. Ich setzte mich zu ihm und blätterte sie durch. „Du weißt ja, daß Isaac Asimov mein Lieblingsschriftsteller ist“, erzählte - 93 -
Tim. „Na ja, er hat zwischen 1953 und 1958 unter dem Namen Paul French auch sechs Kinderbücher geschrieben. Die Helden bekämpfen im ganzen Sonnensystem das Böse, nämlich Räuber, Piraten und Agenten.“ „Du hast etwas von sechs Büchern gesagt, aber hier sind nur fünf.“ „Ja, eines fehlt mir noch. Es heißt ,Lucky Starr und die Ozeane der Venus'. Es ist schwer zu bekommen, weil die Bücher nicht mehr neu aufgelegt werden, aber das macht das Sammeln natürlich auch interessanter.“ Ich sah mir die Titel der Bücher an. Vielleicht konnte ich das fehlende als Überraschung für Tim irgendwo auftreiben. Ich beschloß, mich auf die Suche zu machen. Im August hatte Tim Geburtstag. Dann gingen wir wieder zu den anderen zurück in den Garten. Bobby und Betsy hatten Wunderkerzen angezündet und sahen den sprühenden Funken zu. „Das große, Feuerwerk müßte eigentlich gleich anfangen“, meinte Mr. Appleby. „Draußen auf dem Wasser schwimmt irgendwo eine Barkasse“, erzählte Bobby. „Sie ist bis obenhin voll mit Raketen, und sobald es dunkel genug ist, werden sie angezündet.“ „Das ist bestimmt eine tolle Show“, meinte Tim. Wir saßen etwas von den anderen entfernt im Schatten. Er ergriff meine Hand. Über uns schien der Mond so groß und hell, daß man beinahe den Mann im Mond hätte sehen können, wenn es einen gäbe. „Weißt du, Tim“, meinte ich in die Stille hinein, „eigentlich brauchst du gar nicht nach Arizona zu fahren. Die Luft ist so klar, daß du auch auf Tybee Island eine Sternenwarte errichten könntest.“ Ich wußte gar nicht, was los war, als Tim plötzlich meine - 94 -
Hand mit eisernem Griff umklammerte. Auf einmal schien die ganze Atmosphäre verändert. Mrs. Appleby sah unglücklich aus, Mr. Appleby wirkte wütend, und Bobby ließ eine brennende Wunderkerze auf den Rasen fallen. „Tim fährt nicht nach Arizona“, entschied Mr. Appleby kurz. Er warf seinem Sohn bedeutungsvollen Blick zu. Ich sah vorsichtig zu Tim hinüber. Sein Gesichtsausdruck hatte sich verhärtet, und er preßte die Lippen aufeinander. „Ich fahre nach Arizona, Dad, ob es dir und Mom gefällt oder nicht!“ „Tim“, begann Mrs. Appleby sanft. „Anna, überlaß das bitte mir“, unterbrach Mr. Appleby sie streng. „Tim, so kannst du nicht mit uns reden. Wir werden uns später noch über das Thema unterhalten.“ Tim.schien innerlich zu kochen. Er stand auf und zog mich mit hoch. „Ramona und ich gehen“, verkündete er mit kalter Stimme. Dann drehte er sich ohne ein weiteres Wort um und ging mit mir fort. Endlich konnte ich meine Hand aus seinem festen Griff befreien. Ich ging zu der schweigenden Gruppe zurück. Jeder schien sich in gewisser Weise zu schämen. Ob für Tim, für mich oder für sich selbst, wußte ich nicht. „Es... es war ein wunderschöner Tag“, brachte ich stotternd hervor und kämpfte mit den Tränen. „Vielen Dank, daß Sie mich eingeladen haben.“ „Es war nett, dich bei uns zu haben, Ramona“, antwortete Mrs. Appleby. Ich merkte, daß auch sie kurz davor war zu weinen. Ich drehte mich um, um hinter Tim herzulaufen. An diesem Abend hatte es wirklich ein Feuerwerk gegeben, aber nicht in der Art, wie ich gedacht hätte.
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8. KAPITEL „Dad behandelt mich wie einen kleinen Jungen“, stieß Tim hervor. Er hatte das Steuer fest in beiden Händen und sah starr geradeaus. Ich saß unglücklich auf dem Beifahrersitz, weil ich wußte, daß alles meine Schuld war. „Warum ist er denn so dagegen, daß du nach Arizona fährst?“ fragte ich schließlich. Tim seufzte. „Seit mein Bruder Kip weglief und dieser Kommune beigetreten ist, denken Mom und Dad, daß ich das gleiche tun werde.“ „lch wußte nicht, daß er gegen ihren Willen fortgegangen ist“, meinte ich überrascht. „Ja, es ist gleich, nachdem er die Schule abgeschlossen hatte, passiert. Er hatte-Streit mit meinen Eltern und ist dann einfach auf und davon. Als sie das nächste Mal von ihm hörten, war er schon in Arizona.“ „Was für eine Kommune ist es denn? Eine religiöse Sekte?“ wollte ich wissen. „Nein, nein, nicht so etwas. Eigentlich waren Mom und Dad auch nicht weiter beunruhigt, bis ich ihnen eröffnete, ich wolle ihn da, besuchen. Es klingt eigentlich alles ganz nett: Kip lebt auf einer Art Farm und kürnmert sich um da Reservat der Hopi-Indianer“, erklärte Tim. „Das scheint wirklich nicht sehr beunruhigend zu sein.“ „Ist es auch nicht. Aber Mom meint, es ist für mich zu weit, um allein mit dem Wagen zu fahren, und Dad macht sich Sorgen, daß ich, wenn ich einmal da draußen bin, nicht wieder - 96 -
zurückkomme und die Schule nicht zu Ende mache. Das ist natürlich albern, aber es hat Dad wirklich schwer getroffen, als Kip weggelaufen ist. Er will mich nicht auch noch verlieren.“ „Es ist ja wirklich eine ganz schön weite Reise“. Ich fragte mich, ob der alte Chevvy eine so lange Strecke noch schaffen würde. „Das ist kein Problem, die Fahrerei macht mir nichts aus. Außerdem bin ich ein guter Mechaniker. Wenn also etwas kaputt ginge, könnte ich es immer reparieren. Ich wollte in den letzten beiden Augustwochen fahren, und am 2. August werde ich schon achtzehn. Ich finde, meine Eitern sollten mir dann nicht mehr vorschreiben, was ich zu tun habe, schon gar nicht, wo ich die Reise von meinem eigenen Geld bezahle. Außerdem habe ich nicht die Absicht in Arizona zu bleiben. Das letzte Schuljahr verpasse ich auf keinen Fall. Ich habe mir viel zuviel vorgenommen: ich will zurn Beispiel die Schwimmwettkämpfe gewinnen und außerdem einen Astronomie-Club gründen.“ Ich war davon überzeugt, daß sich Tims Eltern keine Sorgen zu machen brauchten. Tim war wirklich zuverlässig und meiner Meinung nach sollten sie ihn ruhig fahren lassen. Tim lenkte den Wagen auf den Parkplatz vor unserem Apartmenthaus und stellte den Motor ab. Wir saßen eine Weile einfach nur so da und hörten den Wellen zu, die sich am Strand brachen. Tim rieb sich die Stirn. Er seufzte. „Die Szene war wohl nicht besonders angenehm für dich, Ramona“, sagte er dann. Ich versuchte zu lächeln. „Ist schon, gut“, beruhigte ich ihn. Ich wollte seinen Arm nehmen, aber ich konnte es nicht. Tim hatte so etwas wie eine Schranke zwischen uns aufgebaut, weil er ärgerlich über die ganze Sache war. Es half nichts, daß sein Ärger nicht mir galt, ich war trotzdem enttäuscht. Die Applebys waren mir so vollkommen erschienen, und jetzt mußte ich erfahren, daß es bei ihnen ebenso Probleme gab wie - 97 -
sonst überall. Zu allem Überfluß hatten Ian und ich an dern Abend auch noch einen Streit darüber, daß ich Audra angeblich nicht genug im Haushalt half. „Aber ich koch doch immer Essen“, verteidigte ich mich, als lan mich zurechtwies, ich solle mehr Ordnung halten. Audra wußte nichts davon. Sie würde sich nie über mich beschweren. lan runzelte ärgerlich die Stirn. „Immer läßt du, deine Klämotten in der Wohnung herumliegen! Eben bin ich schon wieder über einen deiner Schuhe gestolpert“, meinte er. Dann deutete er auf einen Pullover, der über dem Stuhl hing. Er hatte ja vielleicht recht, aber besonders unordentlich fand ich das eigentlich nicht. „Audra hat dieses Apartment. mit Liebe eingerichtet“, fuhr er fort „und da macht es sie nätürlich unglücklich, wenn es hier so liederlich aussieht. Kannst du nicht die Verantwortung für deine eigenen Sachen übernehmen, damit sie nicht immer hinter dir herräumen muß? Warum kannst du mit deinen Sachen nicht so sorgfältig umgehen wie Margaret?“ „Wahrscheinlich, weil ich nicht Margaret bin“, entgegnete ich wütend und ging hinaus, ohne mich um meinen Pullover und die Schuhe zu kümmern. lan konnte sie sich ruhig noch etwas länger ansehen. Seit dem 4. Juli ging irgendwie alles schief. Tim und ich hatten auf einmal ein gespanntes Verhältnis zueinander, während, Margaret mit Jeff anscheinend überhaupt keine Probleme hatte. Schließlich überlegte ich mir, daß eine neue Frisur meine Laune vielleicht bessern würde. Also ließ ich mir einen Termin - 98 -
beim Friseur geben, ohne irgend jemandem etwas davon zu erzählen. Dem Stylisten erklärte ich, er solle meine Haare in Schulterlänge abschneiden. Danach fuhr ich an den Strand. Margaret und Cathy bekamen vor Überraschung den Mund nicht wieder zu. Was mich viel mehr interessierte war Tims Reaktion. Ich hielt gespannt nach ihm Ausschau und entdeckte ihn schließlich auf Loris Decke. Verächlich zog ich eine Grimasse und ließ mich dann neben Cathy nieder. „Deine Haare sehen gut aus so“, meinte sie. „Aber wahrscheinlich wirst du eine ganze Weile brauchen, um dich an die neue Länge zu gewöhnen.“ Ich hoffte die ganze Zeit, daß Tim zu mir herübersehen würde, aber er schien mich nicht zu bemerken. Aufmerksam hörte er Lori zu, die ihm gerade irgendetwas erzählte. „Vielleicht sollte ich das nicht sagen“, meinte Margaret, „aber...“ „Dann laß es bleiben“, unterbrach ich sie barsch und stand:auf. Ich ging in Richtung Wasser, weil ich allein sein wollte. „Okay, ist ja schon gut“, rief Margaret mir beschwichtigend nach. Plötzlich hörte ich meinen Namen. Tim hatte mich endlich entdeckt und kam auf mich zu. „Du hast deine Haare abschneiden lassen“, stellte er überrascht fest. „Richtig“, entgegnete ich und wartete auf seine Reaktion. Er sagte aber nichts, sondern ging nur neben mir her. „Na?“ fragte ich nach einer Weile. „Na, was?“ „Na, ob es dir gefällt?“ „Was? Ach, deine Haare. Doch, es sieht gut aus.“ „Fein.“ Ich ging weiter und wartete, ob das alles war, was er - 99 -
dazu zu sagen hatte. Unwillkürlich mußte ich an Loris goldene Locken denken und fragte mich, ob Tim vielleicht den gleichen Gedanken hatte. „Hast du Lust, morgen eine Fahrradtour nach Fort Pulsaki zu machen?“ fragte Tim plötzlich. „lch muß zwar nachmittags arbeiten, aber wir könnten zum Mittagessen zurück sein, wenn wir früh losfahren.“ Es war die erste Verabredung mit Tim seit einer Woche. Ich war froh, daß er mich gefragt hatte. Es war ein Zeichen dafür, daß der Streit am 4. Juli nichts zwischen uns verändert hatte. „Das würde mir gut gefallen“, antwortete ich und lächelte ihn an. Er sah aus wie ein Märchenprinz. Wie selbstverständlich nahm er meine Hand und auf einmal war meine schlechte Laune verflogen. „Erzähl mir doch etwas von dem Astronomie-Club, den du gründen willst“ forderte ich ihn auf. „Die Idee kam mir im letzten Frühling“, erzählte er. Ich mochte es gern, wenn er so begeistert von Astronomie sprach. „Da habe ich ein paar Leute kennengelernt, die sich auch dafür interessierten, und dachte mir, wir könnten uns regelmäßig treffen und unsere Ausrüstung austauschen. Vielleicht können wir uns sogar an die staatliche Sternwarte wenden.“ „Wieso das denn?“ „Weil wir uns dann richtig nützlich machen könnten. Wir könnten unbekannte Sterne beobachten, die sich verändern, und unsere Ergebnisse der Sternwarte mitteilen. AmateurAstronomen können auf dem Gebiet wirklich ernsthaft arbeiten, anders als den anderen Wissenschaften.“ „Ich kann es gar nicht abwarten, bis ich mein eigenes Teleskop habe“, schwärmte ich begeistert. „So ist es mir letzten Sommer auch gegangen.“ Tim sah mich liebevoll an. Ich hätte ihn am liebsten vor allen Leuten - 100 -
hier am Strand geküßt, drückte aber nur seine Hand ganz fest und ging mit ihm zusammen zurück zum Aussichtsturm. Sein Dienst begann. Am nächsten Morgen stand ich, munter auf, sprang unter die Dusche und lief dann singend in die Küche. Es war ein wunderschöner Tag und ich freute mich schon irre auf die Fahrradtour mit Tim. „Guten Morgen, Ramona“, begrüßte Audra mich. Ich war überrascht, daß sie schon so früh auf war. „Du siehst heute gut aus“, sagte ich ihr, was wirklich stimmte. Die Ringe unter ihren Augen waren verschwunden. Triumphierend streckte sie mir einen Fuß entgegen. Er war überhaupt nicht mehr geschwollen. „Ich fühle mich auch gut“, meinte sie. „Ich könnte Bäume ausreißen. Deshalb dachte ich mir, wir könnten heute vielleicht einen Ausflug machen. Wir könnten irgendwohin fahren, mittagessen und ein bißchen spazierengehen.“ Schlagartig war meine gute Laune wie weggeblasen. Ausgerechnet heute! Ich überlegte, ob ich Audra von meiner Verabredung mit Tim erzählen sollte. Aber sie war so begeistert von ihrer Idee, daß ich sie nicht enttäuschen wollte. In dem Augenblick kam lan herein und nahm mir die Entscheidung ab. Seit unserem letzten Streit über meine Unordnung war das Verhältnis zwischen uns gespannt. Ian hatte Audras Vorschlag über einen Ausflug gehört und erkannte natürlich sofort, daß ich noch unentschlossen war. Er sah mich streng an und gab mir wortlos zu verstehen, Audra nicht zu enttäuschen. Ich dachte an Tim, die Fahrradtour und den wunderschönen Morgen. Dann gab ich verzweifelt nach. „Ich ... ich finde die - 101 -
Idee toll, Audra“, meinte ich zu ihr. „Ich gehe mir nur schnell etwas anziehen.“ Dann flüchtete ich ohne Frühstück aus der Küche. In unserem Zimmer kamen mir dann die Tränen. Natürlich war es nur dummes Selbstmitleid. Schließlich hatte mir niemand befohlen Tim abzusagen, und ich wollte Audra ja auch gern einen Gefallen tun. Es war nur einfach so, daß ich auf keins von beiden verzichten wollte. Meine Stimme klang etwas zittrig, als ich bei Tim anrief. „Tim?“ „Hallo, Ramona, ich wollte gerade losfahren“, meinte er gutgelaunt. „Du, Tim, es tut mir leid, aber ich kann nicht mitkommen. Ich muß etwas mit meiner Mutter unternehmen.“ „Ach so“, war seine überraschte Antwort. Noch nie hatte ich eine Verabredung mit ihm abgesagt. Ich war mir sogar ziemlich sicher, daß das noch kein Mädchen fertiggebracht hatte. Jedes, das mit Tim Appleby verabredet war, würde die Gelegenheit wahrnehmen. „Es tut mir wirklich leid“, meinte ich hilflos. Ich wußte nicht, wie ich es ihm erklären sollte, warum ich Audra begleiten mußte. Sie kam am Wohnzimmer vorbei, während ich telefonierte, und lächelte mir zu. Wenn ich versuchte, Tim die Situation zu erklären, konnte sie es womöglich hören, und darauf wollte ich es lieber nicht ankommen lassen. „Ist schon okay“, meinte Tim, aber es klang enttäuscht. „Vielleicht können wir unsere Fahrradtour auf morgien verschieben?“ fragte ich hoffnungsvoll. „Nein, morgen muß ich den ganzen Tag arbeiten.“ „Ach, so. Vielleicht an einem anderen Tag?“ Ich wünschte, daß er einen festen Termin nennen würde, aber er schwieg. „Ich ruf dich an“, versprach er dann und legte ohne ein weiters Wort den Hörer auf. Ich hatte ein ungutes Gefühl, als - 102 -
ich ging, um mich anzuziehen. Audra schien sich sehr auf unseren Ausflug zu freuen. Ramona, komm her, du mußt mir sagen, was ich anziehen soll“, fortderte sie mich auf und schleppte mich zu ihrem Kleiderschrank. Schließlich einigten wir uns auf ein weißes Leinenkleid. Als ich ihr mit dem Reißverschluß halt, stellte ich mich ungewöhnlich dumm an, aber Audra schien nichts zu merken. „Das wird bestimmt ein netter Tag, nur wir zwei unter uns“, meinte sie und hakte mich unter, während wir zum Fahrstuhl gingen. Im Auto stellten Audra und ich das Radio an und machten uns auf den Weg nach Savannah. „Noch einen Monat, und ich passe nicht mehr hinters Steuer“, scherzte Audra, die jetzt schon einen ziemlichen Bauch hatte. Ich sagte nichts, weil ich es nicht mochte, wenn sie immer von ihrer Schwangerschaft redete. Ich konnte es einfach nicht mehr hören und verstand auch nicht, warum sie so stolz darauf war. Audra parkte den Wagen in der Nähe der River Street. Wir gingen eine Weile am Fluß spazieren. Dabei kamen wir an der Statue eines Mädchens vorbei, das mit einer Fahne zum Fluß hinüberwinkte. „Was die Statue wohl bedeutet“, fragte ich und versuchte, die Inschrift auf dem Sockel zu entziffern. „Ach, das kann ich dir sagen“, meinte Audra. „ Es ist Florence Martus, die mit ihrem Bruder, einem Leuchtturmwärter, auf Elba lebte. Es muß etwa um 1800 gewesen sein. Florence hatte ihren Verlobten, einen Seemann, verabschiedet und versprochen, jedem Schiff zuzuwinken, bis er wieder da sei. Vierzig Jahre später hat sie tagsüber immer noch mit ihrer Schürze und nachts mit einer Laterne gewunken, - 103 -
weil ihr Geliebter noch nicht zurück gekommen war.“ „Was für eine traurige Geschichte“, meinte ich etwas unbehaglich. Florence Martus' Treue war natürlich bewundernswert, aber was war mit dem Seemann passiert? Liebesgeschichten ohne Happy-End, verabscheute ich. Ich mußte dann immer daran denken, daß Tim und ich uns am Ende des Sommers auch trennen mußten. Der Gedanke machte mich unruhig, und Audra konnte kaum mit mir Schritt halten, weil ich so schnell von der Statue fort wollte. „Geh doch bitt etwas langsamer, Ramona“, bat sie schließlich. Wir waren jetzt in der Einkaufsstraße und schlenderten an den Schaufenstern vorbei. Dann stießen wir auf einen Laden, der wunderschöne handgearbeitete Babysachen ausgestellt hatte. „Die sind ja bezaubernd“, schwärmte Audra und betrachtete eingehend einen blau-weißen Strampelanzug. Ich wußte, daß sie ihn für ihr Baby haben wollte. „Warum kaufst du ihn nicht?“ drängte ich, um möglichst schnell zu einem anderen Laden zu kommen. „Ach nein“, wehrte sie lachend ab. Das kann ich doch nicht machen. Der Anzug ist für einen Jungen bestimmt, und wir könnten ja ein Mädchen bekommen.“ Sie sah ihn aber noch einmal sehnsüchtig an, bevor wir zum anderen Ende des Schaufensters gingen, wo ein Paar Puppen saßen. „Sind die nicht niedlich!“ rief sie begeistert. „Sie sehen genau wie richtige Babys aus. So eine hätte ich zu gern, damit könnte unser Baby dann von Anfang an spielen.“ Ich mußte zugeben, daß die Puppe mit ihrem lebensechten Gesicht besonders reizend war. Sie hatte auch genau die Größe eines kleinen Babys, so daß man sie fast mit einem verwechseln konnte, wenn man nicht so genau hinsah. Wenn Audra die so niedlich findet, dachte ich mißmutig, warum hatte sie dann nicht eine gekauft, anstatt ein richtiges zu bekommen? - 104 -
Eine Puppe hätte weniger Probleme gemacht. Glücklicherweise knurrte in dem Moment mein Magen, sonst hätten wir noch tagelang vor dem Schaufenster mit den Puppen gestanden. „Ach, du liebe Zeit“, meinte Audra fürsorglich. „Du hast ja noch: gar nicht gefrühstückt! Laß uns zum Essen in ,The Olde Pink House' gehen, ia?“ Ich nickte. ;The Olde Pink House' war ein großes Gebäude aus dem 18.Jahrhundert. Ursprünglich war es einmal ein kleines Museum gewesen, aber jetzt wurde es als Restaurant genutzt. Dort hatten wir mit Audra und Ian unsere Ankunft auf Tybee Island gefeiert. Als wir an einem wunderschönen gedeckten Tisch saßen, fragte.Audra: „Was meinst du, Ramona, wie wollen wir unser Baby nennen?“ Ich konzentrierte mich ganz auf das sprudelnde Mineralw asser, das vor mir stand. „Das hängt doch davon ab, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird“. wich ich aus. Ich wolfte,jetzt wirklich nicht über das Baby sprechen, denn es war so nett, mit Audra hier zusammen in diesem Restaurant zu sitzen. „wir müssen für beide Fälle einen Namen parat haben“, bohrte Audra nach. „Du solltest Margaret fragen. Die denkt sowieso die ganze Zeit an Namen.“ „Das habe ich schon, aber sie weiß keinen. Ihr sei alles recht außer Fanny. Den Namen kann sie nicht ausstehen.“ Audra lachte. Auf einmal war mir der Gedanke unangenehm, daß Audra zusammen mit Margaret über einen Namen für unser Baby gesprochen hatte. Nein, verbesserte ich mich in Gedanken, es ist ja lans und Audras Baby. Mir kamen die Tränen. „Ich ... ich glaube, meine Kontaktlinsen sind verrutscht“ stotterte ich verlegen und stieß beinahe den Stuhl um, als ich - 105 -
hastig aufstand. lch flüchtete auf die Damentoilette und ließ Audra etwas verdutzt zurück. Auf der Damentoilette, wo glücklicherweise niemand sonst war, weinte ich mich erstmal richtig aus. Und ich wußte nicht einmal, warum ich so down war. Wahrscheinlich kam alles zusammen: die geplatzte Verabredung mit Tim, lans Ärger über meine Unordnung und jetzt noch das Gerede über das Baby. Ich betrachtete mein verweintes Gesicht im Spiegel und versuchte, mit dem Weinen aufzuhören. Mit einem Papierhandtuch tupfte ich die Tränen ab und putzte mir die Nase. Dann lehnte ich mich gegen die Wand, um mich zu beruhigen. Ich wollte nicht, daß Audra merkte, wie unglücklich ich war. Schließlich hatte ich mich so weit unter Kontrolle, daß ich zum Tisch zurückging. Lange Erklärungen brauchte ich nicht abzugeben, weil in dem Momeht unser Essen ankam. Der Rest der Mahlzeit verlief so, wie Audra es sich vorgestellt hatte. Wir redeten über ein Buch, das wir beide gelesen hatten, und über meine neue Frisur, die Audra gefiel. „Dein Haar ist sehr voll, Ramona“, meinte sie bewundernd. „Genau wie das von deinem Vater.“ Das interessierte mich. In letzter Zeit hatte ich öfter über meinen Vater nachgedacht. Ich wußte, daß er ein gutaussehender Stierkämpfer gewesen war, mit dem meine Mutter durchgebrannt war, als sie gerade mit ihren Eltern Ferien in Acapulco gemacht hatte. Sie war damals erst achtzehn gewesen. Eine so romantische Geschichte war für sie typisch. „Schade, daß ich mich nicht besser an ihn erinnem kann“, meinte ich etwas wehmütig. „Ach, ,ja“, schwärmte Audra. Ihr Gesicht nahm einen verträumten Ausdruck an. Ramon, sah einfach toll aus. Er war groß, dunkelhaarig und furchtbar stark. Außerdem hat er uns - 106 -
beide sehr geliebt.“ „Es muß doch für euch etwas lästig gewesen sein, als ich kam“, unterbrach ich vorsichtig. „lmmer unterwegs und so...“ Audra lächelte. „Nein, in keiner Weise. Wir haben dich einfach überall mit hingenommen.“ „Aber hast du nicht deine Freiheit vermißt?“ Ich wußte, wie unternehmungslustig Audra war. Als Neunzehnjährige mit einem Baby belastet zu sein, war für sie bestimmt schwierig gewesen. „Nein, nie. Was wir an Freiheit verloren haben, wurde durch unsere Liebe füreinander aufgewogen, Ramona. Du hast uns überhaupt nicht gestört, weil du uns an nichts gehindert hast, was wir machen wollten.“ Audra klang so ehrlich, daß ich ihr glauben mußte. „Aber im Sommer habt ihr mich bei Grandma abgegeben“, warf ich ein. „Ja, manchmal, wenn wir das Gefühl hatten, daß die Reise für ein kleines Mädchen zu anstrengend sein würde. Und dann wollten wir natürlich, daß du deine Großmutter auch einmal richtig kennenlernst. Du solltest merken daß die Welt nicht nur aus Stierkämpfen besteht. Schließlich brauchen Kinder ab und zu einmal einen Ruhepunkt, und den hat dir Grandma gegeben.“ Ich seufzte. Wahrscheinlich hatte Audra recht. lch freute mich eigentlich schon richtig darauf, Grandma bei der Hochzeit von Claire in Texas wiederzusehen. „Margaret und ich müssen noch zur Schneiderin, wegen der letzten Anprobe für unsere Brautjungfernkleider“, erinnerte ich sie. „Machen wir das nächste Woche?“ „Ja, am Mittwoch glaube ich. Dann ist alles fertig. Ich freue mich schon auf die Hochzeit, du dich auch?“ Ich nickte. Nachdem Audra die Rechnung bezahlt hatte, gingen wir - 107 -
nach draußen. Mittagshitze schlug uns entgegen. „Ich finde, wir sollten noch nicht nach Hause fahren“, meinte Audra. „Wir können noch ein bißchen spazierengehen und uns die alten Villen ansehen.“ „Bist du sicher?“, erkundigte ich mich besorgt. lch wollte nicht, daß Audra sich überanstrengte. „Aber natürlich“, erwiderte Audra. Ich mußte zugeben, das sie sehr unternehmungslustig wirkte. „Der Arzt hat gesagt, ich soll viel spazierengehen.“ Wir kamen an einigen wunderschönen alten BacksteinVillen vorbei, bei denen mir besonders eine Regenrinne auffiel, die wie ein Delphin mit offenem Maul aussah. Dieser alte Teil von Savannah gefiel mir besonders gut, nicht nur wegen der schönen alten Häuser, sondern auch wegen der Ruhe. Irgendwie hatte ich das Gefhl, daß die Leute in diesen Häusern nicht andauernd umzogen. Hier blieb man ein Leben lang wohnen. Langsam schlenderten wir zu unserem Wagen in der River Street zurück. Audra schien immer noch nicht erschöpft zu sein und hatte hervorragende Laune. „Ich wurde zu gern einmal eins dieser alten Häuser einrichten“, meinte sie sehnsüchtig. Mir machte dieser Tag mit meiner Mutter großen Spaß. Ich hatte schon vergessen, wie schön es war, mit ihr allein zu sein. Weder Margaret noch lan standen zwischen uns, und ich merkte, daß wir nicht nur Mutter und Tochter, sondern auch Freundinnen sein konnten. Auf dem Heimweg flachsten wir wie zwei Gleichaltrige. Es machte großen Spaß, und obwohl es mir leid tat, daß ich nicht mit Tim zusammensein konnte, war ich froh, daß ich mich für Audra entschieden hatte. Zu Hause wartete lan schon auf uns. „Hattet ihr einen schönen Tag?“ erkundigte er sich, als - 108 -
Audra und ich lachend zur Tür hereinkamen. „Ganz toll, Liebling“, antwortete Audra mit einem Seitenblick auf mich. Ich lächelte zustimmend zurück. lan schien froh zu sein, daß Audra der Ausflug, gefallen hatte. Er ging hinüber zur Bar, um sich einen Drihk zu mixen. „Erzählt doch, was ihr gemacht habt“, forderte er uns auf. „Ach, wir haben uns Schaufenster angesehen“, begann ich. „In einem Laden waren unheimlich niedliche Babysachen“, fiel Audra ein, aber ich wollte nicht schon wieder über das Baby reden und unterbrach sie schnell: „Und dann sind wir ins ,Olde Pink Restaurant' gegangen und haben gegrillte Garnelen mit Reis gegessen.“ „Und wie wir gegessen haben“, bestätigte Audra. Sie strich sich über den Bauch, als wenn sein Umfang auf das Essen zurückzuführen wäre. lan und ich mußten lachen. Es schien mir, als wenn lan uns beide vorsichtig beobachtete. Er legte den Arm um Audras Schultern. Audra und ich kamen ihm wohl auf einmal wie eine Einigkeit vor, in der er nichts zu suchen hatte. Jetzt machte er durch die zärtliche Geste seine Rolle wieder deutlich. Ich seufzte. Meine Zeit mit Audra war also wieder vorbei. „Wenn es euch nicht stört, gehe ich noch etwas an den Strand. Ich habe noch anderthalb Stunden Zeit, bevor ich mit dem Essen anfangen muß“, verkündete ich. Ich spürte, daß die beiden jetzt allein sein wollten. „Ist gut, Ramona“, stimmte Audra fröhlich zu. lan schwieg, hatte aber immer noch den Arm um ihre Schultern. Ich ging am Strand entlang und versuchte, mich nicht einsam zu fühlen, als Margaret auftauchte. „Hallo, wie war der Ausflug mit deiner Mutter?“ wollte sie gleich wissen. Sie wirkte heute stiller als sonst. „Toll“, entgegnete ich. Das stimmtig wirklich, auch wenn ich mir jetzt etwas einsam vorkam. „Und was hast du heute - 109 -
gemacht?“ „Jeff und ich sind nach Fort Pulsaki gefaren. Wie haben auf Cockspur Island gepicknickt“, erzählte sie. Dann machte sie eine lange Pause, während ich wartete, daß sie wie sonst auch weitererzählte. „War es nett?“ fragte ich schließlich. „Oh ja.“ Wieder eine Pause. Wir gingen am Strand entlang. Über uns schrien die Möwen. „Margaret, du hast doch irgend etwas, oder?“ Margaret sah starr geradeaus, als wenn sie meinem Blick ausweichen wollte. „Na, sag schon, was ist es“, forderte ich sie ungeduldig auf. Margaret blieb stehen und sah mich verlegen an. „Vielleicht sollte ich das sagen, aber...“ „Margaret!“ Wenn sie doch endlich mit diesen Andeutungen aufhören würde! „Jeff und ich haben heute morgen Tim gesehen, als er gerade auf seinem Fahrrad aus Fort Pulsaki wegfuhr.“ „So?“ Ich versuchte, so unbeteiligt wie möglich zu klingen, aber ich hatte auf einmal Angst. Vor mir schien sich ein großes schwarzes Loch aufzutun, in das ich gleich hineinfallen würde. „Tim war nicht allein, Ramona. Lori war bei ihm.
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9. KAPITEL Tim rief ein paarmal an, aber ich ließ mich immer verleugnen. Schließlich ging ich doch an den Apparat. „Rmona?“ Seine Stimme klang unsicher. „Ja“, erwiderte ich. Dann war eine Weile Schweigen. „Margaret hat dir bestimmt erzählt, daß sie mich mit Lori beim Fort gesehen hat“, begann er wieder. „Ja“, wiederholte ich. Was sollte ich sonst sagen? „Ich hatte zuerst dich gefragt, ob du mitwillst.“ „Ja.“ Ich klang wie ein Computer, der darauf programmiert war, zu allern „ja“ zu sagen. Aber wenn Tim mich jetzt fragen würde, ob ich Zeit hätte, würde ich „nein“ sagen. Höchstwahrscheinlich. „Als du abgesagt hast, dachte ich, daß...“ „Ich mußte mit meiner Mutter wegfahren, Tim.“ Das klang zwar albern, aber wie sollte Tim meine merkwürdige Familie und unsere Probleme verstehen? So etwas gab es bei ihm zu Hause bestimmt nicht. Woher sollte er wissen, was für ein Gefühl es war, in meinem Alter eine schwangere Mutter zu haben, und daß dieses Baby wichtiger war als ich? Mein Tag mit Audra wer vielleicht unser letzter gewesen, bevor ein neuer kleiner Mensch ihre ganze Zeit in Anspruch nehmen würde. Aber das konnte ich Tim nicht-so einfach erklären. „Es tut mir leid, wenn ich dich verletzt habe, Ramona“, meinte er. Könnten wir uns nicht treffen und darüber reden?“ Es schien sinnlos, mit Tim darüber zu reden. Ich hatte mir selbst oft genug Gedanken gemacht, seit ich von seiner Radtour - 111 -
mit. Lorl erfahren hatte. Die beiden waren mir immer wieder durch den Kopf gegangen. Ich konnte einfach nicht begreifen, wieso Tim zugelassen hatte, daß Lori meine Stelle einnahm. „Es gibt nichts zu reden, Tim.“ Ich riß mich zusammen, um nicht in Tränen auszubrechen, und legte schnell den Hörer auf. An die folgende Zeit kann ich mich kaum noch erinnern. Nur noch daran, daß ich immer weinen mußte, wenn ich allein war. Alles erinnerte mich an Tim: die Kleider, die ich am 4. Juli angehabt hatte, die Bücher, die er mir geliehen hatte, und sogar die Sterne. Die Kleider schob ich ganz nach hinten in den Schrank, die Bücher packte ich unter meine Matratze, aber den Sternen konnte ich nicht ausweichen. Jeden Abend standen sie wieder am Himmel und erinnerten mich an Tim. Margaret und Audra schienen von meinem Unglück wegen Tim nichts zu merken, weil wir alle vollauf mit Vorbereitungen für unseren Flug nach Texas zu Claires Hochzeit beschäftigt waren. Sie hatten jeder einen Koffer gepackt, ich hingegen zwei. „Ich kann gar nicht glauben, daß du soviel mehr Sachen hast als ich“, meinte Margaret kopfschüttelnd, während ich auf meinem kleineren Koffer saß und versuchte, die Schlösser zuzumachen. Sie versuchte mir zu helfen, indem sie den an der Seite hervorquellenden Inhalt wieder hineinstopfte. „Was ist das hier überhaupt?“ Ich stand auf und warf den Kofferdeckel zurück. Margaret starrte entgeistert auf das Durcheinander. „Ehrlich, Ramona“, meinte sie dann. „Ich weiß wirklich nicht, warum du deinen Teddy mitnimmst. Mit fühfzehn ...“ „Das hat überhaupt nichts damit zu tun, daß ich fünfzehn bin“, unterbrach ich sie. „lch nehme ihn ja auch nicht mehr rnit ins Bett.“ „Warum willst du ihn dann ganz bis nach Texas - 112 -
mitschleppen? Und was ist, mit diesem albernen rosa Samtkissen? Oder diese kleine Vase mit der gelben Seidenrose? Du kannst doch diesen ganzen Kram nicht zu Grandma nach Texas rnitschleppen!“ „Ich habe schon immer viel zuviel mitgenommen,das weißt du doch, Margaret.“ „Diese Woche bin ich Margo“, erinnerte sie mich. „Und wenn du immer zuviel einpackst, heißt das noch lange nicht, daß du es auch alles mitnehmen mußt. Hat irgend etwas von dem Kram eine besondere Bedeutung?“ „Den Teddy habe ich noch von meinem Vater, und das rosa Samtkissen stammt aus Puerto Rico.“ Ich erzählte ihr nicht, daß ich mich jede Nacht auf dem Kissen in den Schlaf geweint hatte, als wir in New York angekommen waren. Ich hatte damals furchtbare Angst vor der großen Stadt gehabt. „Und die Vase mit der gelben Rose war ein Geschenk von Cyril, als er mit Audra von der Hochzeitsreise zurückkam. Mir gefällt sie.“ „Krank“, war Margarets Kommentar, aber ich wußte, daß sie es nicht so meinte. Sie verstand wahrscheinlich, daß es für mich wichtig war, die vertrauten Sachen bei mir zu haben. Mit ihnen konnte ich mich überall zu Hause fühlen. Audra hatte sich so auf die Reise noch Texas gefreut, aber im letzten Moment konnte sie nicht fahren. „Ich wünschte, ich würde mich nicht so, schlecht fühlen.“ Sie seufzte und sah auf ihre geschwollenen Füße hinunter. „lch auch“, sagte ich schnell und umarmte sie. Ihr Arzt hatte ihr verboten nach Texas zu fliegen, aber Margaret und ich hatten als Brautjungfern keine andere Wahl. Margaret wollte Jeff nicht allein lassen, weil sie nach der Hochzeit den Rest der Ferien in San Antonio mit ihren Eltern verbringen sollte. Ich wollte nicht fliegen, weil ich von Anfang an nicht zu Claires Hochzeit gewollt hatte, und die Reise eine - 113 -
Versöhnung mit Tim noch unwahrscheinlicher machte, als sie es sowieso schon war. Dabei lag mir so daran, daß wir wieder zusammenkamen. Aber das schien unmöglich zu sein. Tim und ich gingen uns sorgfältig aus dem Weg, obwohl ich mich immer mehr nach ihm sehnte. „Ich glaube, er mag dich immer noch“ sagte Cathy eines Tages am Strand, als ich Tim beobachtete. Er schien mich auch zu sehen, aber keiner von uns ließ sich etwas anmerken. „Er weiß einfach nicht, wie er es zeigen soll, das ist alles. Er kann seine Gefühle nicht ausdrücken, und das war wahrscheinlich auch das Problem mit seinen anderen Freundinnen.“ „lch dachte, bei uns sei es etwas anderes.“ Mir fiel ein, wie Tim mich bei unserem letzten Treffen geküßt hatte. „Ich eigentlich auch“, entgegnete Cathy. „Aber als du eure letzte Verabredung abgesagt hast, hat ihm das wahrscheinlich mehr weh getan als er verkraften konnte.“ „Aber ich wollte mich doch schließlich nicht mit einem anderen Jungen treffen“, protestierte ich unglücklich. „Es war doch nur meine Mutter. Und Tim hätte ja nicht statt dessen Lorl mitnehmen müssen, sondern an einem anderen Tag mit mir fahren können.“ Cathy nickte verständnisvoll. „Ich weiß, aber du bist wahrscheinlich in die gleiche Falle geraten wie die anderen Mädchen. Du dachtest, ihm läge mehr an dir, als tatsächlich der Fall war.“ Ich konnte verstehen, warum Cathy das glaubte. Bei einem anderen Paar wäre so etwas wohl auch möglich gewesen. Aber bei Tim und mir war da etwas Besonderes, und ich war sicher, daß er das auch spürte. Schließlich kam der Tag, an dem wir nach Texas fliegen sollten. Margaret und ich winkten Audra und lan noch einmal zu, bevor wir in das Flugzeug stiegen. Sie standen Arm in Arm - 114 -
zusammen, und auf einmal war ich traurig. Wahrscheinlich freuten sie sich darüber, endlich einmal allein sein zu können. Ich würde keine Spannungen und Probleme mehr verursachen. Zumindest lan war sicher erleichtert, mich gehen zu sehen. Als das Flugzeug abhob, konnte ich weit unter uns Tybee erkennen. Ich dachte daran, daß irgendwo da unten Tim war. Tränen stiegen in mir auf. In Atlanta mußten wir umsteigen, und als wir endlich auf unseren Plätzen saßen, malten Margaret und ich uns aus, wie die Hochzeit wohl werden würde. Margaret, Cialre und ich hatten der Sommer zusammen auf der Farm verbracht, in dem Audra Cyril geheiratet hatte. Margaret war neun gewesen, ich acht und Claire zwölf. Margaret und ich hatten uns von Anfang an verstanden, während das bei Claire anders gewesen war. Claire gehörte zu den Mädchen die überhaupt keine Fehler haben. Bei ihr saßen die Haare immer makellos, nie rutschten ihre Kniestrümpfe und immer aß sie ihren Teller leer. Außerdem war sie überheblich, was Margaret und mich verrückt gemacht hatte. Wir hatten versucht, sie zu ärgern, wo wir nur konnten. In Grandmas Augen konnten wir in vielen Dingen niemals an Claire heranreichen, aber wir wußten natürlich genau, daß sie uns deswegen nicht weniger lieb hatte. Grandma war von Claire von Anfang an begeistert gewesen, wohl auch, weil sie die Tochter ihres einzigen Sohnes war. Außerdem konnte Claire toll Klavier spielen, wobei Grandma gern zuhörte. Eines Tages hatte Claire ein Lied nach dem anderen für Grandma gespielt, während diese mit Kopfschmerzen auf ihrem Bett lag. Ich hatte mich von hinten an Claire - 115 -
herangeschlichen und ihr ins Ohr gepustet, worauf sie sich verspielte und mich ärgerlich ansah. „Das klingt wie ,Claire de Lune'„, bemerkte ich spitz und betrachtete meine Fingernägel, wie ich es bei Bette Davis in den alten Filmen gesehen hatte. „Das ist auch ,Claire de Lune', du dumme Nuß“, antworteten Claire. Es war ihr Lieblingslied und sie bekam immer einen ganz verträumten Gesichtsausdruck, wenn sie es spielte. „So, wie du es spielst, klingt es mehr wie Claire, die Verrückte“, entgegnete ich. Dann hatte ich natürlich flüchten müssen, weil Claire mich verfolgte. Sie war unheimlich sauer, aber von da an blieb sie für Margaret und mich Claire, die Verrückte. Und jetzt war Claire, die Verrückte, im Begriff zu heiraten. Auf dem Flug nach Texas, irgendwo über Louisiana, mußten Margaret und ich schließlich zugeben, daß wir doch neugierig auf die Hochzeit waren. Schon um zu sehen, welcher Mann dumm genug war, auf Claire hereinzufallen. Grandma holte uns vom Flughafen ab. Sie nahm Margaret und mich eilig in die Arme und roch nach Kölnisch Wasser, genau wie immer. Hinter ihr standen Tante Evelyn und Onkel Donald, die Eltern von Margaret. Das erste, was sie sagten, war: „Mein Gott, wie bist du gewachsen!“ Erwachsene sagten das immer. Aber sie konnten ja nicht wissen, daß ich in Wirklichkeit nur ganz tief in mir selbst gewachsen war. Ich war ja gerade erst dabei, das, selbst zu merken. Dann waren wir wieder auf Grandmas Ranch in der weiten Landschaft, mit noch viel mehr Himmel darüber, als ich mich - 116 -
erinnerte. Das Haus war sehr groß, weil jede neue Generation der Delaneys einen Teil angebaut hatte. Es war eine der größten Farmen in Privatbesitz in ganz Texas. Grandma führte sie zusammen mit dem Vater von Claire, Onkel Mike, und seiner unscheinbaren Frau Millicent. Sie wohnten ein paar Meilen die Straße hinunter in einem kleineren Haus. Margaret und ich zogen wieder in unser Zimmer bei Grandma ein. Es war ganz in rosa gehalten, und weder Margaret noch ich hatten uns jemals so richtig wohl darin gefühl. Wahrscheinlich hatte Grandma die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben, daß unser Geschmack einmal dem von Claire ähneln würde. „Völlig unverändert“, stellte ich nur fest, als wir allein im Zimmer waren. Margaret und ich mußten beide lachen. Grandma Delaney war genauso wie eine Großmutter aus dem BiIderbuch: sie hatte weißes Haar, trug immer lila und hellblaue Kleider und sah sich regelmäßig im Fernsehen die Familienserien an. Es ist wirklich erstaunlich, wie sie eine Tochter wie Audra und dann eine Enkelin wie mich bekommen konnte. Was für ein Glück, daß wenigstens Tante Evelyn Onkel Mike und Claire mehr nach ihrem Geschmack waren. Am nächsten Morgen erwartete uns eine angenehme Überraschung: massenweise Jungs. „Das sind die Cousins, Brüder und Freunde von Claires Zukünftigem“, erklärte Grandma. „Sie wohnen drüben in dem alten Pförtnerhaus, bis das Fest vorbei ist.“ Wir saßen in dem Frühstückszimmer, von wo aus man einen Ausblick auf den Swimmingpool hatte. Auf den Liegen tummelten sich zehn junge Männer zwischen vierzehn und fünfundzwanzig Jahren. Margaret und ich sahen uns mit großen Augen an. Dies war ein unerwarteter Pluspunkt bei der ganzen Angelegenheit. Nur wir beide und die ganze Meute da draußen! - 117 -
Auf einmal erschien uns unsere Aufgabe, Brautjungfern zu spielen, viel angenehmer. Dann sahen wir Claire wieder, zum erstenmal, seit sie auf die Uni gegangen war und Bill Hartington, ihren Verlobten, kennengelernt hatte. „Ramona!“ rief sie aus und umarmte mich. Sie wirkte dabei etwas affig, und ich machte mich schnell wieder los. Dieselbe Prozedur wiederholte sie rnit Margaret, die ihr dann erst einmal erklärte, daß sie diese Woche Peg hieße. Claire sah total verdutzt aus, so etwas ging offenbar über ihren Horizont. Bill, Claires Verlobter, stellte sich als viel netter heraus, als wir erwartet hatten. Er hatte braungelocktes Haar, intelligente graue Augen, eine leichte Stupsnase und war nur etwa 1,70 Meter groß. Damit hatte er nur knapp die Größe von Claire, die immer hohe Absätze trug. Bills Freunde hießen Tony, Gregg, Alan, Karl, Steve, Walter, Patrick, Loring, Evan und Chuck. Waren die vielleicht froh, uns zu sehen! Tony und Steve stritten sich sofort darum, wer beim Essen neben mir sitzen durfte, und Margaret hatte das gleiche Problem mit Walter und Patrick. lch war gerade zu dem Schluß gekommen, das mir Steve am besten gefiel, als ich merkte, daß er die gleichen dunkelblauen Augen wie Tim hatte. Also redete ich die übige Zeit über nur mit Tony, weil er braune Augen hatte, die keine traurigen Erinnerungen weckten. An dem Abend hatten wir nichts vor, und deswegen hatte Grandma die ganze Meute ins Haus zum Fernsehen eingeladen. Es gab einen synchronisierten Horrorfilm, der mich wieder an die erste Unterhaltung zwischen Tim und mir erinnerte, in der wir uns geeinigt hatten, daß wir schlecht synchronisierte Filme beide nicht ausstehen können. Ich versuchte, Tim aus meinen Gedanken zu verdrängen, aber es klappte nicht. Schließlich ging ich unter dem Vorwand hinaus, mir etwas - 118 -
zu essen holen zu wollen. Ich stand am Küchenwaschbecken und sah hinaus in den Nachthimmel. Hier in Texas konnte man unglaublich viele Sterne sehen, und sie zogen mich unwiderstehlich an. Ich wußte genau, daß ich nur wieder Sehnsucht bekommen würde, wenn ich die Sterne ohne Tim betrachtete, aber ich konnte nicht länger drinnen bleiben. Deshalb ging ich ein Stück den Gartenweg hinunter. Über mein Gesicht liefen Tränen, so sehr vermißte ich Tim. Ich kam zu einem Zaun und lehnte mich dagegen. Die kühle Nachtluft war angenehm, und langsam verebbten meine Tränen. In der Ferne hörte ich Kühe muhen. Plötzlich erklangen hinter mir Schritte. „Margaret?“ fragte ich und erwartete schon die Korrektur „Diese Woche bitte Peg.“ „Nein“, antwortete statt dessen eine unverkennbar männliche Stimme. „Ich bin Evan. Ich habe gesehen, wie du hinaus gegangen bist.“ Evan sah von den ganzen Typen mit am besten aus. Ich war überrascht, daß er mir nachgegangen war. „Ich... ich wollte mir die Sterne ansehen“, erklärte ich. „Die Nacht ist wunderschön“, bestätigte er. Ich betrachtete ihn im Mondlicht. Er sah Bill, Claires Verlobtem ziemlich ähnlich, außer daß er viel größer war und eine tiefere Stimme hatte. Er mußte etwa siebzehn sein, überlegte ich. „Laß uns ein bißchen spazierengehen“, schlug er vor. „Okay“, stimmte ich zu. Auf einmal war mir klar, was ich jetzt tun mußte. Tim war weit weg und schien mich sowieso nicht mehr zu wollen. Und hier war Evan, deutlich interessiert und sehr gutaussehend. Was war besser, als Tim endlich zu vergessen? Ich strahlte Evan an und warf ihm einen Blick zu, der unverkennbar auf einen Flirt hinzielt - 119 -
Schon nachdem wir nur eine Viertelstunde gegangen waren, wußte ich, daß ich ihn dazu bekommen würde, mich zu küssen. Ich lachte viel. Er wußte es natürlich nicht, aber in meinen Ohren klang es falsch, und ich fühlte mich wie ausgehöhlt. Tim spukte mir immer noch im Kopf herum. „Sieh dir bloß einmal die Milchstraße an“, forderte ich ihn mit großartiger Geste zum Himmel auf. „Ja, phantastisch“, erwiderte Evan, sah mich dabei aber unverwandt an. „Ist es nicht erstaunlich?“ fuhr ich etwas gekünstelt fort. „Ich rneine, daß wir ein Teil der Milchstraße sind?“ „lch dachte immer, die Milchstraße wäre ein Schokoriegel wie Milky Way“, brumrnte Evan gelangweilt. Wir kamen jetzt von der anderen Seite wieder auf das Farmhaus zu. Die anderen Jungen waren schon zum Pförtnerhaus zurückgegangen. Jetzt wurden überall die Lichter ausgemacht. Wir standen an der Hintertür des Haupthauses. Evan kam näher, genau wie ich es vorausgesehen hatte. Dann nahm er mich in die Arme, drückte mich ganz eng an sich und küßte mich. Die ganze Zeit über empfand ich nichts, als Leere und Verzweiflung. „Gute Nacht, Ramona“, flüsterte er zärtlich. „Gute Nacht, Evan“, war meine Antwort. lch ging ins Haus und weinte mich in den Schlaf wegen eines Jungen, der Hunderte von Meilen entfernt war. „Sind diese Klamotten nicht schrecklich?“ flüsterte Margaret, so daß Grandma es nicht hören konnte. Wir hatten für Grandma, Tante Millicent und Claire eine Anprobe gemacht, weil sie unsere Kleider ja noch nicht gesehen hatten. Es gab noch eine andere Brautjungfer, Mitzi Porch, eine - 120 -
Freundin von Claire, die sich genau so ein Gewand hatte machen lassen: Rüschen von Kopf bis Fuß, bei Margaret und meinem Kleid in Pink, und bei Mitzi in lindgrün. Diese Farborgie wurde noch gekrönt von Hüten, groß wie Wagenräder, auf denen Unmengen von Stoffblumen festmontiert waren. Ich fand, daß das unmöglich aussah, aber das war nun einmal der Geschmack von Tante Milicent und Claire. Hat Claire denn keine anderen Freundinnen? fragte ich mich, nachdem wir Mitzi kennengelernt hatte. Sie schien überhaupt nicht Claires Typ zu sein mit ihren langen, strähnigen roten Haaren und dem traurigen Blick. Allerdings hatte sie eine für Claire sehr wichtige Eigenschaft: sie betete Claire an. In Mitzis Augen konnte Claire keinen Fehler machen, egal was passierte. „Guck mal da“, forderte Margaret mich mit einer Kopfbewegung auf. Durch die Tür konnten wir Claire sehen, wie sie gerade vor dem Spiegel die Rolle der Braut einübte. Sie ging mit Tante Milicent um, als wenn sie ein Dienstmädchen wäre, und nicht einmal Grandma sträubte sich dagegen, ihren Anordnungen zu folgen. Kopfschüttelnd machte ich die Tür zu. „Laß uns diese schrecklichen Fetzen ausziehen“, meinte ich und hatte ganz schnell wieder Jeans und ein T-Shirt an. Margaret folgte meinem Beispiel. Dann gingen wir hinaus, um etwas spazierenzugehen. Wir winkten Tante Evelyn und Onkel Donald zu, die auf Pferden vorüberritten. Sie waren natürlich auch zu der Hochzeit angereist.“ Margaret seufzte. „Ich wünschte, ich müßte nicht mit ihnen zurück nach San Antonio.“ „Jeff fehlt dir wohl, was?“ „Ja“, gestand Margaret kläglich und sah unglücklich aus. - 121 -
„Warum bemühst du dich nicht um die Jungs hier? Karl scheint dich sehr zu mögen. Er könnte dich vielleicht über Jeff hinwegtrösten.“ Ich glaubte, das sagen zu müssen, auch wenn keiner von ihnen mir dabei helfen konnte, Tim zu vergessen. „Bei mir klappt das einfach nicht, Ramona“, wehrte Margaret düster ab. In dem Moment kamen uns Evan, Karl und Tony entgegen. Sie schlossen ich uns an, und kurz danach kam der Vorschlag auf, mit Tonys Wagen eine Spritztour nach Miranda zu unternehmen. Miranda ist wirklich keine umwerfende Stadt, aber immerhin gab es dort eine Eisdiele. Wir gingen also alle hinein und bestellten uns die größten Eisbecher, die auf der Karte standen. Danach sahen wir uns den Ort an. Die meisten Läden waren ziemlich langweilig, aber wir fanden immerhin einen Trödler, bei dem Tony im Schaufenster ein altes Jagdgewehr entdeckte, das ihn interessierte. Also gingen wir hinein. Während die anderen einen Preis aushandelten, sah ich mich in einer Ecke um, in der ein paar Bücher standen. Auf einmal stach mir ein ganz bestimmter Titel ins Auge: „Lucky Starr und die Ozeane der Venus“, das Buch, das Tim in seiner Sammlung noch fehlte. Ich wußte, daß ich das Buch kaufen mußte, auch wenn Tim und ich uns getrennt hatten. Sein Geburtstag war am gleichen Tag wie Claires Hochzeit, und es wäre bestimmt ein tolles Geschenk für ihn. Ich konnte es einfach nicht stehen lassen, wo er doch so lange danach gesucht hatte. Ich zögerte nur einen winzigen Moment, als ich an die peinliche Situation dachte, wenn ich ihm es Buch überreichte. Er würde es erst nach seinem Geburtstag bekommen. Aber dann kam ich auf die Idee, daß ich es ihm auch anonym geben könnte. - 122 -
Ich kaufte es. Auf der Rückfahrt war es ziemlich schwierig für mich, mit den anderen zu lachen und zu reden wo ich eine so deutliche Verbindung zu Tim in der Hand hielt - das Buch. Ich versteckte es ganz unten in meinem Koffer und gab mir an dem Abend besondere Mühe, mit den Jungen auf der Farm zu flirten. Claire und Bill waren auf der Party, zu der der Rest der Hochzeitsgesellschaft nicht eingeladen war, und so beschlossen wir, draußen ein Grillfest zu starten. Wir saßen um das Feuer herum, erzählten uns Witze und aßen Würstchen, bis wir beinahe platzten. Ich flirtete mit jedem Jungen, und schon nach kurzer Zeit war ich Mittelpunkt einer bewundernden Gruppe. Margaret die sich die ganze Zeit ernsthaft mit Karl unterhielt, warf mir von Zeit zu Zeit fragende Blicke zu, aber ich ignorierte sie. „Ramona, erzähl uns doch, wie Cyril dir in Argentinien das Polospielen beigebracht hat“, schlug Gregg vor. „Nein, ich würde lieber etwas über London hören. Hast du dich wirklich auf das Grab von Charles Dickens gesetzt, um deinen Schuh zuzubinden?“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich glaube, es ist Zeit, hineinzugehen“, wehrte ich lächelnd ab. Also sammelten wir unsere Wolldecken und die anderen Sachen zusammen und machten uns auf den Rückweg. Gregg ging neben mir. Er sah zwar nicht gerade umwerfend aus, aber er war nett und schien von mir sehr beeindruckt zu sein. Wir blieben hinter dem Rest der Gruppe zurück, und wenig später legte Gregg seinen Arm um meine Schultern. Ich versuchte verzweifelt, nicht an Tim zu denken. Mir kam die Situation irgendwie falsch vor. Bald waren uns die anderen ein großes Stück voraus. Wir hörten, wie sie sich am Pförtnerhaus voneinander verabschiedeten. Gregg und ich standen im Schatten der - 123 -
Bäume. Sein Atem kam mir sehr laut vor. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals auf Tims Atem geachtet zu haben, wenn wir Arm in Arm durch die Gegend gegangen waren. Ich hatte es natürlich herausgefordert, aber als Gregg mich an der Tür küssen wollte, drehte ich mich in letzter Minute fort. Verwundert ließ er mich los. „Wir ... wir sehen uns dann morgen früh“, stieß ich hervor und lief ins Haus. Ich konnte Gregg nicht küssen. Wenn ich seine Lippen sah mußte ich zwangsläufig an Tim denken, egal, wie sehr ich mich bemühte, es nicht zu tun. Ich versuchte die Tränen zurückzuhalten, weil ich nicht wollte, daß Margaret etwas merkte. Sie saß im Dunkeln und wartete auf mich. Wortlos zog ich mich aus und legte mich ins Bett. „Ramona, wie war es denn?“ „Wie war was?“ „Mit dir und Gregg. Magst du ihn wirklich?“ Es duerte einen Moment, aber dann brach es aus mir heraus. „Nein, nein! Ich mag ihn nicht. Auch nicht Tony oder Steve oder Evan oder Chuck! Ich habe es ja versucht, aber es geht einfach nicht! Ich will eben nur Tim.“ Dann brach ich in wildes Schluchzen aus. Margaret setzte sich zu mir und strich mir beruhigend über das Haar. „Arme Ramona“, meinte sie mitfühlend. „Es Ist sehr schwer für dich, nicht wahr?“ Nach einer Weile beruhigte ich mich etwas und setzte mich auf. „Machst du bitte mal das Licht an, Margaret?“ bat ich sie. „Ich muß diese verdammten Kontaktlinsen herausnehmen, bevor ich sie verliere.“ Es war mir peinlich, daß Margaret meine roten, geschwollenen Augen sah, aber es schien ihr - 124 -
nichts auszumachen. Ich nahm die Kontaktlinsen heraus und dann ging ich zurück zum Bett und setzte mich neben Margaret. „Möchtest du darüber reden?“ fragte sie. Ich seufzte. Ich hatte meine Gefühle so lange für mich behalten, daß ich jetzt gar nicht wußte ob ich überhaupt darüber reden konnte. Dann sah ich aber Margarets besorgten Blick und wußte, daß es okay war. „Es ist nicht nur Tim“, gestand ich. „Es ist einfach alles Audra und lan, die Ungewißheit, ob Ian mich wirklich mag, das neue Baby, das ich nicht will, und die Gewißheit, daß sie mich wieder ins Internat schicken wollen.“ „Warte mal eine Sekunde“, unterbrach Margaret mich ungläubig. „Um all diese Sachen machst du dir Sorgen?“ Ich sah unglücklich auf meine Hände hinunter. „Ja, und ich habe wirklich versucht Tim zu vergessen, indem ich mit den Typen hier flirte, aber es hat einfach nichts genützt.“ „Du hast sie ganz schön ausgenutzt, Ramona“, sagte Margaret vorwurfsvoll. „Ich weiß. Es war Gregg und Evan gegenüber nicht besonders fair. Aber es schien mir der einzige Weg zu sein, um mir Tim aus dem Kopf zu schlagen. Nur, als Evan mich geküßt hat, habe ich absolut nichts gefühlt. Gregg hat es heute abend auch versucht, und ich konnte den Gedanken einfach nicht ertragen, obwohl ich es herausgefordert hatte. Immerzu mußte ich am Tim denken.“ „Ich hatte auch das Gefühl, daß du bei dem Essen ganz woanders warst, nämlich auf Tybee Island.“ „Tybee ist so weit weg. Heute abend ganz besonders“, seufzte ich. „Aber du kannst wieder hinfahren, wenn die Hochzeit vorbei ist. Du hast mit Tim noch eine Chance, während ich Jeff niemals wiedersehen werde.“ - 125 -
Auf einmal traten meine eigenen Sorgen in den Hintergrund. „Wir denken uns einfach einen Weg aus, damit deine Eltern dir erlauben, mit mir zurückzufahren.“ „Das sehe ich noch nicht so richtig.“ Margaret hatte einen flüchtigen Moment lang hoffnungsvoll ausgesehen. „Außerdern scheinst du wirklich mehr Probleme zu haben als ich. Ehrlich, Ramona, ich wußte nicht, daß du dir solche Gedanken machst“, fügte sie hinzu. „Jetzt geht es mir schon besser, wo ich dir davon erzählt habe“, gestand ich. „Man braucht eben ab und zu jemanden, der einem zuhört. Weißt du noch, wie wir früher immer über alles gesprochen haben? Das haben wir in letzter Zeit selten getan.“ „Du hast recht. Ich habe es auch vermißt, Ramona. Warum haben wir damit aufgehört?“ Ich dachte darüber nach und entschloß mich, ehrlich zu sein. Seit du mit Jeff gingst, fühlte ich mich einfach ausgeschlossen.“ „Mir ist es mit dir und Tim genauso gegangen! Du warst immerzu mit ihm zusammen!“ Wir sahen einander ungläubig an. Ich hatte keine Ahnung gehabt, daß Margaret genauso unglücklich darüber war wie ich. „Es sieht so aus, als wenn Mädchenfreundschaften die zweite Stelle einnehmen, wenn eine einen Freund hat“, bemerkte ich. „Du hast recht, aber es muß doch nicht so sein. Laß uns ein Abkommen schließen. Falls wir gemeinsam nach Tybee lsland zurückkehren, machen wir mehr zusammen. Wir werden reden und nicht unsere ganze Zeit mit unseren Freunden verbringen, okay?“ „Das klingt toll, Margaret. Außer, daß ich keinen Freund mehr habe, erinnerst du dich?“ - 126 -
Margaret sah mich betrübt an. „Ach, Ramona, das tut mir so leid. Es wir schon wieder in Ordnung kommen, das weiß ich genau.“ Sie umarmte mich schnell, bevor sie wieder zurück in ihr eigenes Bett ging. Danach machten wir das Licht aus. Es dauerte nicht lange, bis ich eingeschlafen war. Mein letzter Gedanke war, wie glücklich ich darüber war, daß Margaret meine beste Freundin war. Daß sie gleichzeitig meine Cousine war, machte wirklich nichts.
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10. KAPITEL Wir standen hinten in der Kirche aufgereiht: erst ich, neben mir Margaret, dann Mitzi und hinter ihr Claire in ihrem Hochzeitskleid aus elfenbeinfarbenem Satin mit alten Spitzen. Ich beobachtete, wie sich die letzten Gäste in die Kirchenbänke zwängten und hätte beinahe laut los gekichert, weil Tante Millicent dabei so komisch aussah. Margaret biß sich auf die Lippen, um nicht laut loszulachen. Vorn am Altar stand der Bräutigam mit seinen Freunden und wartete auf die Braut. Bill sah so erwartungsvoll und glücklich aus, daß ich mich einfach für ihn freuen mußte, auch wenn mir unklar war, warum er ausgerechnet Claire heiraten wollte. Dann fing der Organist an zu spielen. Statt des Hochzeitsmarsches von Mendelssohn hatte Claire darauf bestanden, daß „Claire de Lune“ gespielt wurde, weil das nun einmal ihre Lieblingsmelodie war. Erstaunlicherweise berührte mich die Hochzeit mehr, als ich erwartet hatte. Ich hatte der ganzen Sache ziemlich skeptisch gegenübergestanden, aber als dann die traditionellen Worte „Bis daß der Tod euch scheidet“ erklangen, war ich doch ziemlich gerührt. Eigentlich war es eine wunderschöne Zeremonie. Mir.kamen sogar die Tränen, als Bill Claire küßte. Danach fuhren wir in, den Country Club zu einem Empfang, der alles übertraf, was bisher in Miranda, Texas, stattgefunden hatte. Es gab eine mehrstöckige Torte, einen Springbrunnen mit Champagner und eine Band, deren einziger Fehler war, daß - 128 -
sie keine Rockmusik spielte, sondern ein Potpourri aus modernen Schlagern. Bevor wir mit dem vergnüglichen Teil anfangen konnten, mußten wir die Gäste begrüßen. Margaret und ich standen am Ende einer langen Reihe und mußten jedem Gast die Hand geben und ihm unseren Namen sagen. Margaret stellte sich als Peg Polk vor, was mich jedesmal wieder zum Lachen brachte. Schließlich drangen wir zu der Tanzfläche vor und tanzten mit vielen verschiedenen Partnern, was selbst bei der schrecklichen Musik erstaunlich viel Spaß machte. Sogar Mitzi machte mit. Ich mußte zugeben, daß Claire vor Glück nur so strahlte. Zum ersten empfand ich so etwas wie Zuneigung für sie. Margaret ließ sich in einer Ecke in der Nähe des Buffets nieder und streifte ihre hohen Pumps ab. Mir taten die Füße hingegen überhaupt nicht weh, und ich tanzte mit Tony zu einem furchtbaren Hitparaden-Schlager. „Laß uns ein Glas Bowle trinken“, schlug ich schließlich vor. Noch ein Lied von dieser Band kann ich bestimmt nicht ertragen.“ „Ach was, komm schon“, versuchte Tony mich umzustimmen. „Noch schlimmer kann es auf keinen Fall werden. Nur noch einenTanz.“ „Na gut, noch einen“, stimmte ich zu. „Aber wenn wir dann keine Pause machen, nehme ich die Bowle und gieße see dir über den Kopf.“ „Das ist wirklich eine entsetzliche Drohung.“ Tony setzte einen gespielt erschrockenen Gesichtsausdruck auf und nahm mich wieder in den Arm. Er war ein guter Tänzer, und es machte Spaß mit ihm zu tanzen. Aber als die Band das neue Lied anstimmte, wurde ich in seinen Armen ganz steif und trat ihm fast auf die Füße. Er lehnte sich zurück und sah mich verwundert an. - 129 -
Ich wußte, daß er sich fragte, was mit mir los war, aber ich konnte es nicht erklären. Die Band spielte Stardust, und das rief schlagartig in mir die Erinnerung an Tim wach. Für einen Moment befand ich mich nicht mehr in dem überfüllten Saal im Country Club, sondern war allein mit Tim oben auf dem Leuchtturm, wo er mich zum ersten Mal geküßt hatte. Auf einmal war meine Sehnsucht nach Tim so groß, daß ich nicht mehr mit Tony weitertanzen konnte. „Es ... es tut mir leid“, stotterte ich. „Entschuldige bitte.“ Dann drehte ich mich um und schlängelte mich durch die Menschenmassen hindurch. Ich wollte nur fort, fort von den sanften braunen Augen eines Jungen, der zwar nett war, aber mir nie soviel bedeuten würde wie Tim. Durch einen Seiteneingang lief ich nach draußen auf die Veranda. Erleichtert ließ ich mich auf ein weiches Sofa fallen und vergrub mein Gesicht in den Händen. Ich weiß nicht, wie lange ich mit klopfendem Herzen da saß und versuchte, die qualvollen Gedanken an Tim wieder zu verdrängen. „Ramona?“ Es war Tony, der mir nachgegangen war. Er stand vor mir, in jeder Hand ein Glas Bowle. „Darf ich mich zu dir setzen?“ Ich nickte. Er reichte mir ein Glas Bowle. Dann setzte er sich neben mich und sah mir ins Gesicht. „Kann ich irgend etwas für dich tun?“ Ich zuckte die Schultern und versuchte zu lächeln. „Ich glaube nicht, daß irgend jemand etwas für mich tun kann.“ „Ich kann zuhören“, bot Tony verständnisvoll an. „Weilßt du, Ramona, mir ist aufgefallen, daß du schon die ganze Woche irgendwie komisch bist.“ Überrascht sah ich ihn an. - 130 -
Mir war nicht klar gewesen, daß man mir meine Gefühle so deutlich anmerken konnte. „Du mußt es mir natürlich nicht sagen, wenn du nicht willst, schließlich will ich dich nicht nerven. Wenn es dir lieber ist, gehe ich wieder.“ „Nein, geh nicht“, bat ich ihn. Seine Gegenwart tat mir wohl. Wir saßen eine Weile schweigend da, bis ich mich entschloß zu reden. „Es geht um einen Jungen“, gestand ich endlich. „Das ist wahrscheinlich nichts anderes als ein Problem mit einern Mädchen.“ Tony lächelte mich aufmunternd an. „Hast du schon einmal ein Problem mit einem Mädchen gehabt?“ „Aber sicher. Massenweise.“ Tony war siebzehn und sah sehr gut aus. Ich konnte mir denken, daß er viele Freundinnen hatte. „Sind Mädchen für Jungen genauso problematisch wie Jungen für Mädchen?“ wollte ich wissen. „Noch viel mehr'', entgegnete Tony und lachte. „Aber mit jeder Verabredung lernt man, damit ein bißchen besser umzugehen. So wie Paula und ich zum Beispiel.“ „Paula?“ „Ja, meine Freundin. Wir hatten auch so unsere Schwierigkeiten, bevor wir richtig zusammenkamen.“ „Was für welche denn zum Beispiel?“ bohrte ich nach. „Mißverständnisse und Streitigkeiten. Aber jetzt verstehen wir uns besser als jemals zuvor.“ „Auch bei uns war es eigentlich nichts weiter als ein Mißverständnis“, meinte ich und erzählte ihm dann die ganze Geschichte mit Tim ... wie ich unsere Verabredung abgesagt hatte, um etwas mit meiner Mutter zu unternehmen, und wie Tim statt dessen mit Lorelei losgefahren war. Tony hörte verständvoll zu. „Weißt du, Ramona, vielleicht ist es für dich und Tim schon zu spät. Ich kann wirklich nicht - 131 -
voraussagen, ob ihr wieder zusammen findet oder nicht. Aber ich kann dir sagen, welchen Fehler ihr gemacht habt. Paula und mir ist es genauso gegangen.“ Er machte eine Pause und sprach dann weiter. „Keiner von euch hat den anderen richtig in sein Leben hineingelassen, in das Leben, das er ganz tief drinnen führt.“ „Aber...“ „Nun warte mal eine Sekunde, Ramona. Denk doch einmal an alle die Gefühle, die du für dich behalten hast. Wenn du Tim zum Beispiel gesagt hättest, was der Ausflug mit deiner Mutter für dich bedeutete, hätte er dich bestimmt verstanden. So, wie die Dingen liegen, hast du ihm dazu keine Möglichkeit gegeben.“ „Aber es ist so schwer, über Gefühle zu sprechen“, erwiderte ich. Ich dachte daran, wie ich Margaret alles erzählt hatte, nachdem Gregg versucht hatte, mich zu küssen. Wenn es bei Margaret schon so schwer war, wie sollte ich es dann bei Tim schaffen! In letzter Zeit hatte ich mich ja nicht einmal mehr Angelyn anvertraut, die doch immerhin nur ein Tagebuch war und mir deswegen auch nicht weh tun konnte. „So schwer kann es für dich nicht sein, deine Gefühle preiszugeben“, hielt Tony mir entgegen. „Immerhin bin ich ein total Fremder für dich, und du redest trotzdem mit mir. Betrachte das ruhig als ersten Schritt in die richtige Richtung.“ Er drückte kurz meine Hand. In diesem Moment unterbrach uns Karl, der Margaret suchte. „Ich glaube, wir sollten lieber wieder zurückgehen“, meinte ich nachdem Karl wieder gegangen war. Tony stand auf. „Fühlst du dich jetzt etwas besser? Habe ich dir ein bißchen geholfen?“ Hastig und etwas verlegen umarmte ich Tony. „Du hast mir sehr geholfen, vielen Dank. Ich glaube, Paula hat ziemliches Glück gehabt.“ - 132 -
Die anderen Gäste fuhren alle am Tag nach der Hochzeit ab. Nur Margaret ihre Eltern und ich wollten noch ein paar Tage bei Grandma bleiben. Unter dessen setzen Margaret und ich alles daran, um Tante Evelyn und Onkel Donal davon zu überzeugen, daß sie auch noch für den Rest des Sommers mit nach Tybee Island kommen sollte. „lch koche alle Mahlzeiten, und Margaret hilft dabei, die Wohnung in Ordnung zu halten“, erzählte ich. In dem Moment hatte ich sogar vergessen, daß Ian mir vorgeworfen hatte, im Vergleich mit Margaret unordentlich zu sein. Ich wollte wirklich gern, daß sie wieder mit nach Tybee Island kam, nicht nur wegen Jeff, sondern auch meinetwegen. Wir mußten eine Menge verlorene Zeit aufholen. „Na ja ...“, meinte Tante Evelyn zögernd. „Und du weißt, daß es Audra manchmal nicht so gut geht“, fügte Margaret noch hinzu. „Na ja, wenn es Audra eine Hilfe ist“, kam es schon etwas weniger zögernd. „Ach Evi, laß sie doch gehen“, rnischte sie nun auch Onkel Donald ein. „Es ist doch klar, daß Audra sie braucht.“ Tante Evelyn seufzte. „Na gut. Ich glaube, ihr habt mich überredet.“ Auf dem Rückflug nach Savannah kam Margaret auf ihre Spitznamen zu sprechen. „Diesen Sommer war ich schon Meg, Maggie, Marge, Marlo, Margo und Peg.“ „Du hast Muggsy vergessen“, erinnerte ich sie und stellte meine Rücklehne für die Landung hoch. Wir waren jetzt kurz vor Savannah, und ich bekam langsam Angst vor dem Wiedersehen mit Audra und lan. Vielleicht - 133 -
freuten sie sich gar nicht darüber, daß ich zurückkam! „Ja, richtig, Muggsy“, meinte Margaret. Jetzt bleibt nur noch ein Spitzname übrig. Ich kannte einmal eine Margaret, die Mousy genannt wurde.“ Ich sah Margaret entsetzt an. „Also, eine Mousy bist du auf keinen Fall, das brauchst du gar nicht erst zu versuchen.“ „Das dachte ich mir auch schon. Eine Meg bin ich auch nicht, das ist zu bieder. Die Zeit, in der ich Maggie war, bin ich mir immer etwas schlampig vorgekommen. Marge hat auch nicht zu mir gepaßt, und Marlo ist für mich jemand mit langen Haaren, die ich nicht habe. Margo hat mir gefallen, aber mit dem Namen müßte man Filmstar werden, und das will ich nicht. Bleibt nur noch Peg.“ „Peg Polk klingt aber einfach gräßlich.“ „Ganz meiner Meinung.“ Margaret überlegte einen Moment. „ Nun habe ich so lange herumprobiert und weiß immer noch nicht, wer ich eigentlich bin.“ „Was ist denn an Margaret auszusetzen?“ „Nichts, aber ...“ „Der Name ist okay für dich“, unterbrach ich sie entschlossen. Das kannst du mir glauben.“ „Margaret.“ Sie sprach den Namen aus, als wenn sie ihn vorher noch nie gehört hatte. „Okay, ich werde ihn eine Woche lang ausprobieren.“ Als wir aus dem Flugzeug kletterten, entdeckte ich sofort Audra und lan, die auf uns warteten. Audra strahlte, sobald sie mich sah, und umarmte mich. lan legte wie selbstverständlich den Arm um meine Schultern. Ich spürte eine Welle der Erleichterung. Ich hatte wirklich Angst gehabt, daß meine Gegenwart ihnen auf die Nerven gehen würde. Nachdem wir unsere Koffer im Mercedes verstaut hatten, stiegen wir alle ein. Audra schlug vor, daß wir unsere Rückkehr mit einem Abendesen im „Pirate's House“ feiern - 134 -
sollten. Später, nachdem wir das Ereignis gebührend mit Austern und Sekt begangen hatten, fuhren wir zurück in unser Apartment. Vor dem Schlafengehen bemerkte Audra noch: „Übrigens hat das Telefon andauernd geklingelt, während ihr fort wart.“ Einen Moment blieb mir die Luft weg. „Wer hat denn angerufen?“ brachte ich schließlich mit klopfendem Herzen heraus. „Cathy Hogan. Ihr sollt so schnell wie möglich zurückrufen. Sie war ganz begeistert, als sie hörte, daß Margaret wieder mitkommt, und wollte es sofort Jeff erzählen. Aber da es jetzt schon nach zehn Uhr ist, solltet ihr lieber bis morgen warten.“ Ich war unsagbar enttäuscht.· Eigentlich hätte ich mir denken können, daß Tim nicht anrufen würde, aber trotzdem hatte ich es einen Moment lang gehofft. Granny war in unserer Abwesenheit ein gewaltiges Stück gewachsen. Als wir in die Küche kamen, strich sie mir schnurrend um Beine. Margaret und ich stellten ihr unsere leeren Conflakes-Schüsseln hin. damit sie die restliche Milch austrinken konnte. In dem Moment klingelte das Telefon. Ich nahm den Hörer ab. „Hallo, Ramona, hier ist Keith Nichols.“ Einen Anruf von Keith hatte ich wirklich nicht erwartet, aber ich freute mich darüber. „Schön, daß ihr aus Texas zurück seid“, meinte er. „Gerade rechtzeitig zu einer Fete bei mir zu Hause.“ „Heute abend?“ „Genau. Die anderen aus der Clique sind auch alle da, - 135 -
Cathy, Lori, Mary Jane, Phyllis, Davey, Jeff ... du weißt schon.“ Ich traute mich nicht, nach Tim zu fragen, weil ich wußte, daß Keith und Tim gute Freunde waren. Keith würde es Tim bestimmt erzählen., wenn ich mich nach ihm erkundigte. Zwar fand ich es ziemlich feige von mir, Tim nicht zu erwähnen, aber ich konnte einfach nicht anders. Außerdem wußte ich ja nicht, ob nicht Tim und Lorelei inzwischen zusammen waren. lch wollte mich nicht lächerlich machen. „Ich würde furchtbar gern kommen“, erwiderte ich deswegen nur. „Und Margaret bestimmt auch.“ „Spitze“, meinte Keith. „Ihr habt uns allen gefehlt.“ Sobald ich den Hörer aufgelegt hatte, hängte sich Margaret ans Telefon, um Jeff anzurufen. Jeff bestand darauf, sofort bei uns vorbeizukommen und Margaret mit an den Strand zu nehmen. Sie fragte mich, ob ich sie begleiten wollte, aber ich lehnte ab. Nachdem die beiden gegangen waren, setzte ich mich in den Korbsessel, hob Granny auf meinen Schoß und streichelte sie. In dem Moment ging die Tür auf und lan kam herein. „Audra schläft heute morgen etwas länger“, meinte er und setzte sich mir gegenüber. „Ich bin froh, daß sie noch nicht wach ist, weil ich deine Hilfe brauche.“ „Wobei?“ Granny streckte sich genießerisch auf meinem Schoß Ich kraulte sie unter ihrem Kinn. „Ich will für Audra ein Geschenk besorgen. Etwas für das Baby, was sie etwas aufheitert. Ich dachte, du könntest mir dabei helfen.“ Er sah mich hilfesuchend an. Sein Vorschlag überraschte mich, aber der Gedanke, mit ihm etwas Schönes auszusuchen, gefiel mir. Mir fielen die Babykleider und die Puppen wieder ein, die Audra in dem Schaufenster in Savannah bewundert hatte. „Ich weiß schon genau das Richtige“, erzählte ich begeistert. - 136 -
„Toll.“ lan lächelte mich an. „Kannst du dich gleich fertigmachen?“ Klar konnte ich das! Kurz danach fuhren lan und ich die Straße nach Savannah hinunter. Ian wollte alles über Claires Hochzeit wissen. Als wir in Savannah ankamen, hatten wir uns ganz toll unterhalten. Jeder von uns versuchte, auf den anderen einzugehen. Ich führte Ian zu dem Laden mit den Babysachen und den Puppen, und wir gingen hinein. Ian bestand darauf, sich jeden einzelnen Strampelanzug im Laden zeigen zu lassen. Mir war das eher peinlich, aber es war offensichtlich, daß lan sich schon irre auf das Baby freute und es sich in dem Zeug vorstellte. Ich versuchte ebenfalls, es mir auszumalen, aber mir gelang nur eine kleinere Version von Ginger Appleby. Das wiederum weckte nur die Erinnerung an Tim. „Ramona, was glaubst du, wird es ein Junge oder ein Mädchen? Ich muß das wissen bevor ich mich entscheiden kann.“ Ian sah mich hilfesuchend an. Ich wußte nicht, was ich antworten sollte, aber die Verkäuferin kam mir zu Hilfe. „In diesem Fall ist es das Beste, etwas auszusuchen, das immer paßt. Wir haben einige wunderschöne Taufkleider, würden Sie sich dafür interessieren?“ Sie nahm ein langes Spitzenkleid aus einem Kasten mit Seidenpapier heraus und breitete es auf dem Tresen aus. „Mensch, ist das toll“, war mein spontaner Kommentar. Das Kleid hatte einen langen Rock aus feiner Spitze und ein besticktes Oberteil mit Rüschen am Hals und an den Ärmeln. Dazu passend gab es eine weiche Mütze mit Satinbändern. „Ja, das ist nicht übel“, meinte Ian. „Audra wird es bestimmt gefallen, meinst du nicht auch?“ „Aber sicher“, bestätigte ich, ohne zu zögern. - 137 -
„Also, wir nehmen es“, wandte sich lan an die Verkäuferin. Während sie das Kleid wieder in Seidenpapier einpackte, zog ich lan hinüber zu dem Schaufenster mit den Puppen. „Diese Puppen haben Audra besonders gut gefallen“, erzählte ich ihm und nahm eine hoch. Ihr rosiges Gesicht sah wirklich lebensecht aus. Dazu hatte sie noch richtige Babykleidung an. „Die sieht aus wie Winston Churchill“, meinte er. Aber trotzdem hatte ich den Eindruck, daß auch ihm die Puppen gefieIen. „Weißt du was?“ Schlug er vor. „Such du eine Puppe aus, und die bringen wir Audra dann mit.“ Es machte mir riesigen Spaß, eine Puppe nach der anderen zu begutachten. Mir fiel ein, daß Audra daran gedacht hatte, das Baby könne dann auch mit der Puppe spielen. Deshalb legte ich die Puppen, die einen mißmutigen oder ärgerlichen Gesichtsausdruck hatten, sofort beiseite. Das Baby sollte mit einer fröhlichen Puppe spielen. Irgendwo hatte ich einmal gelesen, daß kleine Kinder nur auf freundliche Gesichter reagieren, bei schlechtgelaunten fangen sie an zu schreien. Schließlich fiel meine Entscheidung auf eine rothaarige Puppe rnit einem verschmitzten Grinsen. lan war sofort einverstanden, und nachdem unsere Geschenke eingewickelt worden waren, gingen wir wieder hinaus auf die Straße. Es war ein wunderschöner Tag. Eine sanfte Brise wehte über den Fluß herüber. „Laß uns hier ein bißchen spazierengehen“, schlug lan vor. „Danach könnten wir dann vielleicht zusamen essen. Hier unten gibt es ein kleines Restaurant, das besonders gute Krabben hat. Magst du schon wieder Fisch nach gestern abend?“ „Na klar“, antwortete ich. Gerade das liebte ich so an Savannah: es gab immer frischen Fisch. - 138 -
Wir machten uns auf den Weg zu dem Restaurant und kamen unterwegs an mehreren Schaufenstern vorbei. „Warte mal“, sagte Ian plötzlich. Er betrachtete ein mehrfarbiges Glasfenster, das in einem der Schaufenster hing. „Das muß ich mir unbedingt einmal von drinnen ansehen, damit ich weiß, wie das Licht dadurch wirkt. Macht es dir etwas aus?“ Ich schüttelte den Kopf und folgte ihm in den Laden. Das Fenster war wirklich wunderschön. Es zeigte ein Waldlandschaft mit einer tanzenden Nymphe in leuchtenden Farben. „Das wäre toll geeignet als Raumteiler für das Apartment der Wests“, schwärmte lan. Aus einem Hinterzimmer kam ein Mann und fragte uns, ob er uns helfen könnte. lan wollte den Preis für das Fenster wissen, der mir unheimlich hoch erschien. Während die beiden handelten, sah ich mich etwas um. Keine der Glasmalereien waren so wie die, die ich aus Kirchen gewohnt war. Diese hier waren modern und sehr sorgfältig gemalt. Es war deutlich zu erkennen, daß der Mann ein großer Künstler auf seinem Gebiet sein mußte. Nachdem sie sich auf einen Preis geeinigt und die Lieferung des Fensters besprochen hatten, schüttelten Ian und der Künstler, Mr. Fair, einander die Hände. „Vielleicht würden Sie sich gerne einmal meine Werkstatt ansehen“, schlug Mr. Fair mit einem Seitenblick auf mich vor. „Sie scheinen sich dafür zu interessieren, glaube ich.“ Er führte uns durch eine Tür in einen Hinterraum. Überall lagen hier buntes Glas, Glasschneider und Kitt herum. Augenblicklich arbeitete Mr. Fair an einer Wiese mit Osterglocken. „Das soll kein ganzes Fenster werden, sondern nur eine Dekoration für ein Schaufenster“, erklärte er uns. „Ich will es - 139 -
an zwei Ketten aufhängen, damit sich das Sonnenlicht darin bricht.“ „Es ist wunderschön“, begeisterte ich mich. Mr. Fair nickte. „Ich freue mich, daß es Ihnen gefällt. Sehen Sie, so setze ich die Bilder zusammen“, erklärte er und führte es uns an seiner Werkbank vor. „Zuerst male ich ein kleines Bild mit dem Motiv“, fuhr er fort. „Dann fertige ich eine maßstabgetreue Zeichnung, auf der ich jedes Feld nummeriere, für das ich später einen Glasstein einsetzen will.“ Er setzte eine gläserne Blüte in das Osterglockenbild ein, um uns die Technik zu demonstrieren. Jedes kleine Glasstück war zu einer komplizierten Form geschnitten, und alle paßten genau ineinander wie bei einem Puzzle. Einzeln sahen sie einfach aus wie bunte Glasscherben, aber zusammen ergaben sie ein wunderschönes Bild. Neben der Werkbank, an der Mr. Fair die Glasstücke zurechtgeschnitten hatte, lagen kleine Glassplitter auf der Erde. „Schneiden Sie sich eigentlich nie?“ wollte ich wissen. Mr. Fair sah mich lächelnd an. „Ja, öfter, aber nie besonders ernsthaft“, meinte er. „Es macht mir nichts weter aus, es ist nur lästig.“ Mir lief ein Schauer über den Rücken, weil ich schon Angst bekam, wenn ich mit einen Splitter in den Finger rammte. „Manchmal tut es auch weh“, fuhr er fort. „Aber wenn ich mit meinem Entwurf fertig bin, dann habe ich ein wunderschönes Bild, das einmalig ist. So werden alle Schmerzen wieder wettgemacht.“ Es war ihm deutlich anzusehen, wie stolz er auf seine Bilder war. Ian wirkte nachdenklich, als wir uns in dem Restaurant an einen Tisch setzten. Wir bestellten jeder Krabbensalat. Dann räusperte er sich auf einmal. Normalerweise bedeutete das, daß jetzt ein ernstes Thema angeschnitten werden sollte. Ich - 140 -
wartete voller Unbehagen. „Audra wird das Taufkleid bestimmt gefallen, meinst du nicht auch?“ begann er und sah mich über den Tisch hinweg an. Ich nickte vorsichtig, weil wir uns darauf ja schon geeinigt hatten. An seinem Gesichtsausdruck war zu erkennen, daß noch etwas folgen würde. „Ich freue mich, daß es dir auch gefällt, Ramona“, fuhr lan fort. „Du wirst nämlich bei der Taufe eine wichtige Rolle spielen. Audra und ich möchten gern, daß du Taufpatin wirst.“ Vor Staunen vergaß ich, den Mund zuzumachen. „Taufpatin? Ich?“ lan nickte und lächelte mich an. „Bist du überrascht?“ Ich starrte ihn einen Moment wortlos an, bevor ich antworten konnte. „Aber ich werde nicht einmal bei euch sein! Ich denke, ihr wollt mich Ende des Sommers wieder zurück ins Internat schicken!“ lan sah mich verdutzt an. „Wie kommst du denn auf die Idee? Unsere Pläne sind natürlich noch offen, weil wir nicht wissen, wie lange unser Projekt hier auf Tybee Island dauert, aber wir hatten immer vor, dich bei uns zu haben.“ „Letztes Jahr war ich im Internat, dieses Jahr kommt das Baby ...“ Ich hatte wirklich keine Ahnung gehabt, daß sie mich bei sich behalten wollten. „Ich weiß, du hattest in letzter Zeit eine Menge Veränderungen in deinem Leben, mit denen du fertigwerden mußtest“, meint lan sanft. Ich nickte. „Ja, und es war nicht leicht. Diese ganzen Umzüge, und dabei möchte ich endlich einmal genau wissen, mit was für Wasserhähnen ich es zu tun habe.“ „Was?“ lan sah mich an, als zweifelte er an meinem Verstand, bis ich ihm mein Problem mit den Wasserhähnen erklärt hatte. Dann lachte er. „Ich habe zwar noch nie darüber - 141 -
nachgedacht“, gab er zu. „Aber ich glaube, du hast recht.“ Wir lächelten uns über den Tisch hinweg an. Dann kam unser Essen, und wir machten uns heißhungrig darüber her, bis Ian auf einmal das Besteck hinlegte. „Weißt du, ich denke über unsere Familie wie Mr. Fair über seine Glasfenster. Wir müssen sie erst Stück für Stück zusammensetzen und tun uns auch manchmal dabei weh, aber wenn wir fertig sind, kommt dabei etwas Wunderschönes und Einmaliges heraus.“ Das war schön ausgedrückt, fand ich. Und ich wußte jetzt, was er und Audra erwarteten, nämlich genau das gleiche wie ich: eine richtige Familie. Das neue Baby war im Grunde nur der Beweis dafür, daß sie wirklich so eine Familie aufbauen wollten. Noch nie in meinem Leben war ich so erleichtert gewesen wie jetzt. Vor Glück konnte ich kaum essen. Ich saß einfach nur da und strahlte über das ganze Gesicht. Schließlich meinte lan: „Wenn du den Rest nicht mehr essen willst, sind wir wohl fertig.“ Ich nickte eifrig. An lans Augen konnte ich erkennen, daß ihn mein Glück auch glücklich machte. Auf dem Nachhauseweg fuhren wir durch die Straßen im älteren Teil von Savannah. Ich fragte nicht nach dem Grund, als lan auf einmal vor einem Haus mit Stuckfassade und rotem Dach langsamer fuhr. „Das ist ein tolles Haus, nicht wahr?“ schwärmte ich. „Finde ich auch“, war alles, was er darauf antwortete. Und dann fuhren wir weiter durch den Stadtteil und bewunderten noch andere Häuser, die herrlich gemütlich aussahen. Schließlich machten wir uns auf den Rückweg nach Tybee Island, wo wir Audra im Wohnzimmer beim Zeitunglesen antrafen. Es war eine Zeitschrift über Babys, was mich noch am Morgen furchtbar gewurmt hätte. Jetzt war mir auf einmal - 142 -
klar, daß sich an Audras Gefühlen für mich nichts ändern würde, wenn das Baby da war. Audra machte die Pakete auf, während ich vor ihr auf der Erde saß. Lan stand daneben und freute sich über Audras Begeisterung genauso wie ich. Zum ersten Mal waren wir drei eine Einheit, und ich kam mir nicht mehr vor wie das fünfte Rad am Wagen. Vielleicht waren wir noch keine perfekte Familie, aber der erste Schritt war getan. „Ach, die sind ja vielleicht niedlich!“ begeisterte sich Audra. „lch finde es so toll von euch beiden, daß ihr zusammen losgezogen seid, um alles auszusuchen!“ Ian beugte sich hinunter, um sie auf die Wange zu küssen, worauf Audra mir auch einen Kuß geben wollte. Dann lachte sie und lehnte sich zurück. „Tut mir leid, Ramona, aber du mußt schon zu mir kommen. Ich kann mich einfach nicht zu dir hinunterbeugen, das Baby im Bauch stört.“ „Das Baby ist doch nicht im Weg“, protestierte ich, was ich ganz wörtlich meinte. Ian und ich tauschten heimlich einen Blick aus. Er wußte genau, daß ich jetzt den Gedanken an das Baby akzeptierte. Und es war für mich auch nicht mehr Ians und Audras Baby, sondern unser Baby.
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11. KAPITEL In dem Raum drängten sich so viele Leute, das man beinahe sein eigenes Wort nicht mehr verstand. Keith hatte anscheinend alle jungen Leute von Tybee Island uu seiner Fete eingeladen. „Kannst du Tim sehen?“ flüsterte Margaret, die neben mir stand. Ich schüttelte den Kopf. „Es ist irre heiß hier drinnen“, meinte ich, um irgend etwas zu sagen. Jeff bot an, uns eine Cola zu holen, und verschwand. „Ehrlich Margaret, ich weiß nicht, ob es gut war, mit euch zu kommen“, meinte ich unglücklich. „Ach was“, wehrte Margaret ab. „Jeff hat dich wirklich gern dabei. Außerdem wollten wir uns doch für den Rest des Sommers nicht von unseren Freunden auseinanderbringen lassen.“ „Ich weiß“. Ich seufzte. Margaret ging immer noch davon aus, daß ich einen Freund hatte, aber ich wußte es besser. „Ramona! Margaret! Wie schön, daß ihr da seid.“ Ich drehte mich zu Keith um, der sich wirklich freute, uns zu sehen. Jeff kam mit den Getränken zurück, und dann standen wir eine Weile zusammen, bis Keith mich zu einer Partie Tischtennis herausforderte. Wir mußten einen Moment auf den Tisch warten, weil Davey, Carolyn, Russel und Phyllis gerade ein Doppel spielten. Deshalb setzten Keith und ich uns auf eine Bank und sahen zu. „Sag mal, hast du schon gehört, daß ich nach Arizona fahre?“ fragte Keith so ganz nebenbei. - 144 -
„Arizona!“ schon das Wort erinnerte mich so sehr an Tim, daß ich eine Gänsehaut bekam. „Ja. Tim und ich wollen nächste Woche rüber. Wir brechen am sechzehnten auf, gleich nachdem wir unseren letzten Lohn bekommen haben. Klingt gut, nicht wahr?“ „Ja, das finde ich auch.“ Meine Gedanken arbeiteten fieberhaft. „Wie seid ihr denn auf die Idee gekommen?“ „Na ja, Tims Eltern wollten nicht so gern, daß er allein fährt“, erklärte Keith. „Ich weiß“, meinte ich, „Also haben wir uns überlegt, daß sie sich nicht solche Gedanken machen würden, wenn ich mitfahre. Genaugenommen ist dies so eine Art Abschiedsfete für uns.“ Das hatte ich nicht gewußt. Aber jetzt war ich mir wenigstens sicher, daß Tim auch kommen würde. Schließlich konnte er auf seiner eigenen Party nicht fehlen. Davey rief uns zu, daß der Tisch jetzt frei sei. Die Nachricht über Arizona hatte mich jedoch so aus der Bahn geworfen, daß ich abgelenkt war und Keith haushoch gewann. Gerade als wir das Spiel beendeten, kam Lori hereingeschlendert. „Wie wär's mit einem Match, Lori?“ schlug Keith vor. Wir können ein Doppel spielen, wenn du einen Partner findest.“ „Ich spiele mit“, bot Russel sich an. So kam es, daß ich gegen Lori, Tischtennis spielte, als Tim hereinkam. Ich sah ihn zuerst aus dem Augenwinkel, spielte aber weiter, als, wenn nichts gewesen wäre. Mein Herz klopfte rasend und ich hätte mich zu gern zu ihm umgedreht, traute mich jedoch nicht. Wie es kam, weiß ich auch nicht, aber dieses Match gewannen Keith und ich. Erstaunlicherweise war es nicht Tim, dem Lori sich nach dem Spiel zuwandte, sondern Keith. Lachend gingen sie zusammen hinaus, um sich etwas zu essen zu holen. - 145 -
Tim stand immer noch an der Tür des Raumes, der früher einmal eine Garage gewesen war. Da auf einmal auch alle anderen verschwunden waren, mußte ich die Bälle einsammeln und wieder in ihr Futteral packen. Meine Hände zitterten dabei so sehr, daß ich drei Bälle fallen ließ, die natürlich wild über den Betonboden sprangen. „Warte ich helfe dir“, bot Tim sofort an. Er lief hinter einem der Bälle her. „Nein, nein, ich mach schon“, wehrte ich ab und ging dem gleichen Ball nach. Aber ich sah nicht auf den Ball, sondern auf das Uhrenarmband an seinem Handgelenk, das aus blauweißem Makramee war. Ich hatte das schon oft gesehen, und zwar bei dem Makramee-Kurs, wo Lori daran gearbeitet hatte. Es wäre besser gewesen, auf den Ball zu achten statt auf das Uhrenarmband, denn im nächsten Moment krachten unsere Köpfe zusammen, weil Tim und ich uns gleichzeitig bückten. Einen Augenblick lang taumelte ich. „Siehst du Sterne?“ fragte Tim dicht an meinem Ohr. Er stützte mich, und es tat gut, mich einen Moment an ihn lehnen zu können. „Leider die falsche Sorte“, brachte ich schließlich heraus. „Komm mit nach draußen, das hilft bestimmt, um den Kopf wieder klar zu kriegen“, schlug Tim vor unf führte mich zur Tür. Die salzige Brise war angenehm auf meinem heißen Gesicht, und langsam verschwand das Schwindelgefühl. Ich konnte es gar nicht glauben, daß Tim und ich tatsächlich zusammen bei Keith im Garten standen und zur Milchstraße hinaufsahen. Es war, als ob nie etwas zwischen uns gestanden hätte. Leider war ich mir nicht sicher, ob Tim es genauso empfand. Er stand mit einem undurchdringlichen - 146 -
Gesichtsausdruck neben mir. Irgendwo schrie eine Nachteule. Dicht über unseren Köpfen konnte ich ihren Flügelschlag hören. Tim seufzte unglücklich und unsicher. Da erkannte ich auf einmal, daß ihm unsere Trennung genauso wehgetan hatte wie mir. „Tim...“ „Ramona...“ Wir mußten beide verlegen lachen, weil wir zur gleichen Zeit gesprochen hatten. „Da hinten im Garten ist eine Hollywood-Schaukel. Komm, wir setzen uns hin“, schlug Tim vor. Wir gingen zu der Schaukel hinüber und setzten uns. Wenn ich zuerst sprach, würee es Tim vielleicht leichter fallen, seine eigenen Gedanken auszudrücken. Deshalb gab ich mir einen Ruck. „Du hast mir gefehlt, Tim“, gestand ich leise. „Du hast mir auch gefehlt“, erwiderte er genauso leise. „Du hast keine Ahnung, wie sehr.“ „In Texas habe ich viel andere Jungs getroffen, aber ich konnte dich einfach nicht vergessen.“ „Und ich habe mich immerzu mit Lori verabredet, aber sie wahr nicht wie du.“ „Als ich damals unsere Verabredung absagte, war das wirklich notwendig. Meine Mutter...“ Tim unterbrach mich. „Ich war rnir nicht sicher, daß deine Mutter wirklich der Grund war. Du hast dich am Telefon so komisch angehört, als wenn du gar nicht so gern mitwolltest.“ Ich sah ihn ungläubig an. „Natürlich wollte ich mitkommen! Es hat wahrscheinlich nur deswegen komisch geklungen, weil ich so traurig war, daß etwas dazwischengekommen war!“ Tim sah mich prüfend an. Erleichtert stellte ich fest, daß er mir glaubte. - 147 -
„Ich wollte Lori eigentlich gar nicht bitten, mit zum Fort zu kommen. Ich habe es nur getan, um dir wehzutun, so wie du mir weh getan hattest. Sicher, ich weiß jetzt, daß das albern war.“ Tim wirkte so verzweifelt, daß ich Mitleid hatte. „Das ist dir auch voll und ganz geglückt“, sagte ich leise. Tim streckte seine Hand aus und hielt meine ganz fest. Für einen Moment sagten wir beide nichts, sondern saßen einfach nur da und genossen die des anderen. „Weißt du, ich hatte es diesen Sommor nicht besonders leicht“, begann ich dann. „Vorher hatte ich noch nie mit meiner Mutter und meinem neuen Stiefvater zusammengewohnt, und wir mußten uns alle erst einmal kennenlernen. Für dich ist das bestimmt schwer nachzuvollziehen, weil deine Familie so anders ist. Audra, lan und ich versuchen erst noch, eine Familie zu werden. Ich glaube zwar, daß es uns gelingen wird, aber da ist auch noch das Baby, das Audra erwartet.“ „Bringt dich das aus dem Gleichgewicht?“ Ich schüttelte den Kopf. „Zuerst fand ich den Gedanken schrecklich, aber allmählich gewöhne ich mich daran. Jetzt habe ich ihn akzeptiert. Ich glaube, inzwischen freue ich mich sogar auf das Baby. Anfangs war es mir natürlich schrecklich peinlich. Stell dir vor, ich bin schließlich beinahe sechzehn, und da erwartet meine Mutter noch ein Baby!“ Ich zuckte etwas hilflos die Schultern. „Mir war es auch peinlich, als Mom Ginger erwartet hat. Tim lächelte mich an. „Ehrlich?“ Ich konnte es kaum glauben. „Aber sicher. Ich fand, daß Mom zu alt war, urn noch ein Baby zu bekommen. Und sie sah einfach schrecklich aus. Es war furchtbar.“ „Aber du hast Ginger doch lieb!“ „Ja, natürlich habe ich Ginger lieb, sie ist wirklich etwas Besonderes. Aber das wußte ich doch nicht, als sie noch nicht - 148 -
geboren war. Ich mußte mich erst an den Gedanken gewöhnen, genau wie du. Warum hast du mir nie gesagt, daß du dir deswegen Sorgen gemacht hast? Ich hätte dir vielleicht helfen können.“ „Der Gedanke ist mir gar nicht erst gekommen, es dir zu erzählen“, gestand ich. „Und wenn ich mich tatsächlich dazu durchgerungen hätte, hätte ich nicht erwartet, daß du es verstehst.“ Wir saßen ein paar Minuten schweigend da. Dann begann Tim: „Wir haben wohl beide unsere Probleme mit unseren Familien, nur auf verschiedene Weise.“ Ich wußte, daß er an die Schwierigkeiten wegen der Reise zu seinem Bruder dachte. „Keith hat mir erzählt, daß ihr zusammen nach Arizona fahrt“, meinte ich. „Das freut mich. Geht es bei dir zu Hause jetzt etwas besser?“ „Aber klar. Es ist mir endlich gelungen, Dad davon zu überzeugen, daß ich nicht die Absicht habe, auch in Kips Kommune einzutreten.“ Tim lächelte mich an. Auf einmal hatten wir ein viel stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl als jemals zuvor. Uns gegenseitig unsere Sorgen anzuvertrauen, hatte uns enger zusammengebracht. Ich war nur traurig darüber, daß schon bald alles vorüber sein würde. Audras und lans Projekt sollte nur den Sommer über dauern, und dann würden wir Tybee Island verlassen. Tim hingegen würde schon in der nächsten Woche nach Arizona abfahren. Wir wußten beide, daß uns nicht mehr sehr viel Zeit zusammen blieb. „Wie bist du hierhergekommen, Ramona?“ fragte Tim auf einmal. „Margaret und Jeff haben mich mitgenommen.“ „Fährst du mit mir nach Hause?“ Darüber freute ich mich natürlich irre. Als die Fete vorbei - 149 -
war, setzten wir uns in Tims Chevvy und fuhren los. Tim brachte mich zur Tür und wollte mir gerade einen Abschiedskuß, als mir das Buch von Paul French einfiel. „Komm noch einen Moment herein“, bat ich und zog ihn schon in das Apartment hinein. Drinnen war alles ruhig. Margaret war noch unterwegs, und Audra und lan waren schon ins Bett gegangen. Tim war verwundert, als ich ihm noch eine Überraschung ankündigte. „Sie wird dir gefallen“, meinte ich. „Es ist etwas, das ich aus Texas mitgebracht habe.“ Das verwirrte ihn nun endgültig, und ich beeilte mich, das Buch aus meinem Zimmer zu holen. Ich hatte es noch nicht einmal eingewickelt, weil ich nicht damit gerechnet hatte, es ihm so bald zu geben. Also versteckte ich die Hand mit dem Buch hinter dem Rücken, als ich zurück ins Wohnzimmer kam. „Dreimal darfst du raten“, verkündete ich schmunzelnd. „Etwas, das du aus Texas mitgebracht hast...“ Tim überlegte angestrengt. „Vielleicht eine Tortilla?“ „Quatsch, es ist etwas, das dir gefallien wird.“ „Willy Winzig Wucherkraut, der Elf aus der Geschichte, die du dir für Ginger ausgedacht hast?“ „Nein, hör doch auf so albern zu sein. Das ist ein ernsthaftes Mitbringsel, ein verspätetes Geburtstagsgeschenk.“ Tim dachte noch eine Weile nach. „Ich gebe auf. Ich kann mir einfach nicht denken...“ Er brach mitten im Satz ab, als ich ihm „Lucky Starr ud die Ozeane der Venus“ entgegenhielt. „Ramona! Aber wo hast du...? Wie hast du...?“ Ihm fehlten die Worte, so überrascht war er. Ich erzählte ihm die Geschichte von unserem Ausflug nach Miranda und von dem Trödler, wo ich das Buch gefunden hatte. Dankbar riß Tim mich in die Arme. Ich wahr unheimlich - 150 -
froh darüber, daß ich das Buch gekauft hatte, obwohl wir zu der Zeit gerade getrennt gewesen waren. „Meinst du, daß wir noch einen kurzen Spaziergang am Strand machen können?“ fragte er plötzlich. „Ja gern“, antwortete ich bereitwillig. Schnell legten wir das Buch in Tims Wagen und gingen dann zu dem Strand hinunter. Dort kamen wir auf Lorelei zu sprechen. „Ich war viermal mit ihr verabredet“, gestand Tim, als wir Hand in Hand am Wasser entlangschlenderten. Ich war so einsam ohne dich, daß ich einfach etwas unternehmen mußte. Aber es war ein totaler Reinfall.“ „Wieso?“ „Lori hat behauptet, sich für Astronomie zu interessieren, genau wie alle anderen. Aber irgendwie ließ ihr Interesse zwischen meiner Haustür und dem Strand, wo ich mein Teleskop aufgebaut hatte, stark nach.“ „Du hast sie mit an den Strand genommen?“ Bei dem Gedanken, wie Tim und Lori allein am einamen Strand waren, wurde mir doch etwas mulmig zumute, auch wenn ich mir jetzt keine Sorgen mehr zu machen brauchte. „Nicht an diesen Strand. Ich konnte es nicht einmal ertragen, hier vorbeizufahren, während du fort warst. Alles hat mich an dich erinnert. Ich bin mit Lori zum öffentlichen Strand gegangen und hatte ihr von Anfang an gesagt, daß ich durch das Teleskop ein paar größere Sternbilder beobachten wollte. Ich weiß wirklich nicht, was sie erwartet hat, aber sie hat sich die ganze Zeit über den nassen Sand beschwert.“ „Das klingt ja nicht sonderlich romantisch, wie du das erzählst“, bemerkte ich. Ich mußte das Lachen unterdrücken. „Es war nicht im geringsten romantisch“, betonte Tim noch einmal. „Ich glaube, seitdem interessiert sie sich auch gar nicht mehr für mich. Hoffentlich verträgt sie sich wieder mit Keith. - 151 -
Die beiden waren mal zusammen.“ Inzwischen hatten wir den Bohlenweg zum Apartmenthaus wieder erreicht. Tim legte die Hände um meine Taille und hob mich auf die unterste Stufe, so daß mein Gesicht auf gleicher Höhe mit seinem war. Wir lächelten uns an, und unsere Nasen berührten sich. Dann hob ich eine Hand und fuhr mit dem Finger über Tims Wange. Den Gedanken an das Ende des Sommers drängte ich ganz weit fort. Für Traurigkeit würde später noch genug Zeit sein. „Weißt du, mit Lori etwas zu unternehmen, das war wie der falsche Schalter an meinem Radio“, meinte Tim unvermittelt. Der Vergleich kam so unerwart, das ich kichern mußte. „Was soll denn das bedeuten?“ wollte ich wissen. „Du warst diejenige, die das als erste gesagt hat“, erinnerte er mich. „Du hast damals bemerkt, daß es die Harmonie in der Inneneinrichtung eines Wagens stört, wenn man den falschen Schalter am Radio hat.“ „Und?“ „Genauso war es, als ich mit einem anderen Mädchen verabredet war. Manche Typen denken, es ist egal, mit wem man geht. Aber mir ist es nicht egal.“ Tim zog mich an sich und küßte mich. Zum erstenmal hatte ich das Gefühl, daß wir auf eine ganz besondere Weise zusammengewachsen waren. Wir hatten angefangen zu lernen, auch unsere inneren Gefühle zu teilen, genau wie Tony es vorgeschlagen hatte. Am nächsten Tag, als ich Audra in ihrem Biro besuchte, war sie gerade an ihrem Schreibtisch mit irgendeinem Vertag beschäftigt. „Hallo, Ramoa“, begrüßte sie mich. „Ich habe gehofft, daß - 152 -
du mich besuchen kommst, denn ich habe dir, etwas furchtbar aufregendes zu erzählen.“ Ich setzte mich auf den Stuhl neben sie. „Zwillinge?“ „Was? Nein, nein, jedenfalls nicht, soweit wir wissen. Es ist etwas anderes, ewas, wovon lan und ich hoffen, daß es dich genauso glücklich macht wie uns.“ „Nun verrat es schon endlich“, drängte ich ungeduldig. Ich platzte vor Neugier. „Wir sind im Begriff, ein Haus zu kaufen, Ramona. Ist das nicht aufregend?“ Wenn sie das Haus auf einmal aus der Tasche gezogen hätte, wäre ich nicht weniger überrascht gewesen. Als ich meine Sprache wiedergefunden hatte, fragte ich: „Wo denn? Und wann?“ „In diesem Moment. Dies ist der Vertrag.“ Audra wedelte mit den Papieren, in denen sie eben noch gelesen hatte. „Wenn wir ihn unterschrieben haben, gehört uns das schönste Haus in ganz Savannah. Du kennst es, Ian hat es dir gestern gezeigt. Für einen lnnenarchitekten ist das Haus ein absoluter Traum, Ramona. Ich habe schon Gardinenstoff, Teppiche und eine wunderschöne Wiege für das Baby bestellt, und...“ „Warte mal eine Sekunde!“ unterbrach ich sie. „Das geht mir alles viel zu schnell. Du meinst, daß wir hier in Savannah wohnen werden?“ Das war eine Möglichkeit, die ich nie in Betracht gezogen hatte. Immerhin ist Tybee Island in erster Linie ein Ferienort und ich war immer davon ausgegangen, daß Ian und Audra nach Atlanta zurückziehen würden. Seit meinem Essen mit Ian hatte ich gedacht, daß ich sie dahin begleiten sollte. „Natürlich werden wir in Savannah wohnen! Ian und ich haben hier tolle Möglichkeiten für ein Einrichtungsstudio.“ Dann machte sie auf einmal ein besorgtes Gesicht. „Gefällt dir die Idee nicht? Ian und ich möchten dich natürlich gern bei - 153 -
uns haben, aber wenn du wieder ins Internat möchtest...“ „Nein!“ platzte ich heftig heraus. Dann sprang ich auf und umarmte Audra stürmisch. „Das ist die beste Nachricht, die ich je in meinem Leben gehört habe, außer der gestern. Ich kann es gar nicht glauben! In Savannah wohnen! Ach, Mom!“ Dann umarmte ich sie wieder, und es schien sie nicht einmal zu stören, daß ich sie Mom genannt hatte. Als wir uns beide wieder beruhigt hatten, meinte Audra: „Wir müssen jetzt natürlich eine Schule für dich finden.“ „lch möchte auf die gleiche Schule gehen wie Tirn“, erklärte ich. „Er will einen Astronomie-Club aufziehen, und dafür interessiere ich mich sehr. Dann habe ich vielleicht schon mein eigenes Teleskop, für das ich spare und...“ „Jetzt geht mir alles zu schnell.“ Aber Audra lächelte, und ich konnte sehen, daß sie sich für mich freute. Bevor ich wieder ging, meinte Audra noch: „Ramona, hast du irgendwelche besonderen Wünsche für deine neue Zimmereinrichtung?“ Ich dachte einen Moment nach. „Alles außer rosa Rüschen“, antwortete ich und zog eine Grimasse. Wir lachten beide, weil Audra genau wußte, wie ich über das rosa Zimmer bei Grandma dachte. Den Nachmittag verbrachten. Margaret und ich damit, uns auszumalen und wie die Blöden zu gackern. Während ich bei Margaret blauen Eye-Liner ausprobierte, erzählte ich ihr alles von dem neuen Haus. Margaret war fast so begeistert wie ich. „Überleg bloß mal“, schwärmte sie. „Dann kann ich euch jeden Somemer besuchen!“ „Und Jeff wiedersehen.“ „Und des neue Baby kennenlernen“, ergänzte sie. Ich versuchte gerade mit dem Fön ihre Naturkrause glatt zu ziehen, was so gut wie unmöglich war. - 154 -
„Hast du dir schon einen Namen für das Baby ausgedacht?“ wollte ich wissen und sah sie im Spiegel an. Wenn es ein Mädchen wird, könnt ihr es ja nach mir nennen“, schlug sie vor.“ „Margaret? Nie im Leben. Wir könnten uns ja nie darauf einigen, welchen Spitznamen wir ihr geben sollten.“ „Ja, das wäre ein Problem. Weißt du, nach dieser Woche glaube ich, das du recht haben könntest. Es ist durchaus möglich, daß Margaret wirklich am besten zu mir paßt, und nicht irgendein Spitzname.“ „Gott sei Dank“, entgegnete ich. „Jetzt können wir endlich aufhören, jede Woche den Namen zu wechseln. Das wurde allmählich etwas lästig.“ „Andererseits habe ich letzte Woche ein Mädchen getroffen, die nannte sich nach ihrem zweiten Vornamen. Meiner ist Elizabeth, und nun stell dir mal die Möglichkeiten vor: Lizzie, Libby, Betty...“ „Nein Margaret!“ Ich war ehrlich entsetzt und hatte schon Angst, daß wir im nächsten Sommer wieder Spitznamen ausprobieren müßten. „Beth, Bettina...“ Margaret sah verträumt in den Spiegel. Sie war immer noch dabei, sich neue Namen auszudenken, als ich hinausging. Vielleicht sollte ich das nicht sagen, aber meine Cousine Margaret geht mir manchmal wirklich auf die Nerven, auch wenn sie meine beste Freundin ist. An dem Abend setzte ich mich mit Granny vor den Fernseher, um mir einen Horrorfilm anzusehen. lan und Audra schliefen schon, Tim mußte auf seine kleine Schwester aufpassen, und Margaret war nach ihrer Verabredung mit Jeff sofort ins Bett gegangen, weil sie für den Spätfilm zu müde war. Granny rollte sich behaglich auf meinem Schoß zusammen. Gemeinsam beobachteten wir, wie ein gewaltiges - 155 -
Seeungeheuer ein ganzes japanisches Dorf vernichtete. Der Film war gerade am spannendsten, als ich so etwas wie einen Stein an der Glastür zum Balkon hörte. Einen Augenblick hatte ich Angst, aber dann hörte ich das Geräusch wieder, und eine sehr bekannte menschliche Stimme rief meinen Namen. lch öffnete die Tür. Unten stand Tim. „Tim! Was in aller Welt machst du da?“ rief ich. „Ich warte darauf, daß Rapunzel ihr Haar herunterläßt“, antwortete er. „Es ist aber nicht Rapunzel, sondern Ramona“, erinnerte ich ihn. „Kannst du herunterkommen? Heute abend gibt es einen Meteoritenschauer, der bestimmt ganz toll aussieht. Wir könnten ihn unten vom Strand aus beobachten.“ „Furchtbar gern, aber es ist schon nach Mitternacht.“ Ich zögerte. „Dann sieht man die meisten Meteoriten.“ „Okay, ich komme für einen Moment hinunter. Ich will nur eben einen Zettel schreiben, falls jemand aufwacht und mich vermißt.“ „Wir brauchen nicht weit zu gehen, sondern können gleich unten am Bohlenweg bleiben“, beruhigte er mich. Kurze Zeit später lief ich zu Tim hinunter. Er hatte eine Decke mitgebracht. Wir breiteten sie vor der untersten Stufe des Bohlenweges aus, damit wir uns anlehnen konnten. „Du mußt die Perseus-Konstellation ansehen“, erklärte Tim. „Von da kommen die Meteoriten. Wir haben Glück, daß heute Neumond ist. Da kann man sie leichter erkennen.“ „Ich sehe einen! Da ist noch einer!“ Strahlend helle Lichtpunkte schossen über den Himmel und verblaßten. Als ich klein war, hatten wir sie immer Sternschnuppen genannt. Ich erfuhr jetzt zum erstenmal, daß es sich um Meteoriten handelte. - 156 -
„Laß sie uns in der nächsten halben Stunde zählen“, schlug Tim vor und sah auf seine Uhr. Glücklich stellte ich fest, daß er das Makramee Armband durch sein altes ledernes ersetzt hatte. Das ist das Ende von Lori, dachte ich im stillen. In der folgenden halben Stunde zählten wir sechsunddreißig Meteoriten. Dann wurden es weniger und nach einer Weile hörte es ganz auf. Tim und ich waren ziemlich müde und steif vom langen Sitzen. „Ich muß jetzt hineingehen“, meinte ich. „Es ist schon sehr spät.“ „Ich weiß.“ Tim setzte sich auf, streckte sich und wandte sich mir zu. Er sah mich sanft an und ich spürte eine vertraute Erregung in mir aufsteigen. Bisher hatte ich auf eine besondere Gelegenheit gewartet, um ihm die Neuigkeit mitzuteilen, daß wir am Ende des Sommers Tybee Island doch nicht verlassen würden. Dies schien mir der geeignete Moment zu sein. Als ich die Neuigkeit losgeworden war, schlang Tim beide Arrne um mich und drückte mich heftig an sich. „Das ist ja traumhaft“, flüsterte er mir ins Ohr. „Ich hatte mich schon gefragt, wie ich nach deiner Abreise ohne dich zurecht kommen sollte.“ Dann küßte er mich sanft auf die Wange und drückte mich noch fester an sich. Danach standen wir auf und schüttelten die Decke aus. Tim legte seinen Arm um meine Schultern, und wir gingen den Bohlenweg hinauf, wobei ich meinen Arm um seine Hüften legte. „Ich habe mich zwar sehr auf die Reise nach Arizona gefreut“, gestand Tim. „Aber es wäre mir schwergefallen, wegzufahren, nachdem wir uns gerade wiedergefunden haben.“ Wir blieben stehen, und beobachteten die Dününg. „Ich werde auf dich warten“, versicherte ich. „Genau wie - 157 -
Florence Martus auf ihren Seemann gewartet hat. Ich hoffe nur, daß du zurückkommst.“ „Ganz bestimmt.“ Tim zog mich nochmals an sich heran. „Ich werde in meinem Chevvy auf die Insel gefahren kommen, und du wirst auf dem Balkon stehen und mir mit deiner Schürze zuwinken.“ „Oder bei Nacht mit einer Laterne. Allerdings wird es meinem Fall wohl eher eine Taschenlampe sein, die zu astronomischen Zwecken in einen roten Schal eingewickelt ist, weißt du.“ Tim lachte. „Ach Ramona, ich konnte gar nicht anders als mich in dich zu verlieben.“ Dann drehte er mich zu sich herum, so daß er mich auf den Mund küssen konnte. Hatte ich richtig gehört? Tim hatte gesagt, daß er sich in mich verliebt hatte! Es schien ihm nicht einmal besonders schwer gefallen zu sein. So wie er es gesagt hatte, klang es natürlich, und doch bedeutete es so viel. „Ach, Tim“, flüsterte ich an seiner Schulter. „Ich liebe dich auch.“ Wir standen noch lange zusammen am Bohlenweg, weil uns beiden der Gedanke an eine zeitweilige Trennung unerträglich vorkam. Trotzdem wußten wir, daß wir danach wieder zusammensein würden, und ich fühlte keinerlei Zweifel. Wir vertrauten einander und arbeiteten beide zusammen an unserer Beziehung, waren bereit, den anderen als eigenständige Person zu akzeptieren und ihn nicht zu dem Traumfreund oder der Traumfreundin zu idealisieren. Wir hatten gelernt, unsere wahren Gefühle zu akzeptieren, und das war für einen Sommer schon eine ganze Menge. „Du mußt jetzt hineingehen“, erinnerte Tim mich. Ich seufzte. „Ich weiß.“ Wieder legte er seinen Arm um meine Schultern, und kurze Zeit später standen wir vor - 158 -
unserem Apartrnenthaus. Da fiel mir auf einmal etwas ein. „Tim?“ „Was denn?“ „Sieh mich an“, forderte ich ihn auf und wandte ihm mein Gesicht zu. Tim wirkte etwas verwundert, lächelte aber. „Mit Vergnügen“, meinte er. „Du mußt meine Augen ansehen“, befahl ich. Es war Zeit, herauszufinden, ob er den entscheidenden Test bestehen würde. „Du hast wunderschöne Augen“, meinte er. „Aber wie wirken sie auf dich?“ „Ich weiß nicht. Eben wie Augen“, meinte er. „Na los, Tim, dir fällt doch bestimmt mehr ein“, drängte ich. „Na ja, sie sind sehr schwarz...“ „Ja?“ „Sie sind groß...“ „Ja, aber womit würdest du sie vergleichen?“ „Mit...mit...mit zwei großartigen, schwarzen Löchern im weiten All!“ brachte er triumphierend heraus. Einen Moment starrte ich ihn wortlos an. Dann fing ich an zu lachen. Was hatte ich denn von jemandem erwartet, dar sich so stark für Astronomie interessierte? Für Tim war der Vergleich meiner Augen mit den schwarzen Löchern, einem der größten Geheimnisse im Weltall, bestimmt das schönste Kompliment, das er machen konnte. Früher einmal hätte ich von meinem Traummann bestimmt, etwas Romantischeres erwartet, aber inzwischen war ich darüber hinaus. Ich brauchte meine Idealvorstellung von Tim nicht mehr, genauso wenig, wie ich die Idealvorstellung von meiner Familie brauchte. Ich lehnte mich an ihn und lachte bis mir die Tränen kamen. „Na ja, du hast ja schließlich gefragt“, meinte er nach einer Weile irritiert, als ich mich noch immer nicht beruhigt hatte. Ich wischte mir die Tränen fort. „Ach, Tim“, brachte ich - 159 -
atemlos heraus „Sind deine Kontaktlinsen in Ordnung?“ erkundigte er sich besorgt. „Ich glaube schon. Weißt du, ich habe mein Problem mit ihnen in diesem Sommer gelöst.“ „Was denn für ein Problem?“ „Sie waren mit Sternstaub überzogen“, erklärte ich etwas unverständlich. „Sternstaub?“ „Ja, wie in dem Lied ,Stardust'. Ich glaube, ich habe mir endlich den, Sternstaub aus den Augen gewischt und damit angefangen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist.“ „Du hebst dir aber besser noch etwas davon auf“, riet Tim und küßte mich auf die Stirn. „Du weißt doch, Sternstaub hat magische Kräfte.“ Eng aneinandergeschmiegt gingen wir zu unserem Apartment hinauf. Ich wußte, daß wir zwar immer noch unter dem magischen Einfluß des Sternstaubs standen, aber nicht mehr davon verblendet waren.
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