Gruselspannung pur!
Ich war Störtebekers Maat
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Auf der Elbinsel Brook, vor d...
79 downloads
589 Views
522KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Gruselspannung pur!
Ich war Störtebekers Maat
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Auf der Elbinsel Brook, vor den Toren der Freien und Hansestadt Hamburg, herrschte am 23. Oktober 1401 ein großes Gedränge. Auf der Weidefläche der Insel, die auch als Richtstätte diente, sollten an diesem Tage der berüchtigte Seeräuber Klaus Störtebeker und vierzehn seiner Vitalienbrüder enthauptet werden. Darunter auch ich, Mark Hellmann, geboren im Jahr 1970, und durch eine Zeitreise in die Vergangenheit gelangt. Mark Hellmann - die Gruselserie, die Maßstäbe setzt! Ich stand gleich hinter Störtebeker, der trotzig sein Löwenhaupt mit dem buschigen, rotblonden Bart hochreckte. Der frische Wind zauste meine blonden Haare. Wir waren alle gefesselt und standen in einer Reihe. Möwen flogen kreischend über uns. Die Mauern, Türme, Hausdächer und Kirchtürme von
Hamburg waren im Hintergrund zu sehen. Auf der Elbe fuhren von Männern und Pferden getreidelte Lastkähne und Seeschiffe vorbei. Eine riesige Menschenmenge hatte sich eingefunden, und es wurden immer mehr. Boote und Flöße brachten sie vom Elbufer herüber. Für die Fährleute ein gutes Geschäft. Alle wollten der Hinrichtung der Vitalienbrüder beiwohnen. Des Klaus Störtebeker, der von sich gesagt hatte, er sei Gottes Freund und aller Welten Feind. Da stand er nun, dieser Recke, vor dem alle gezittert hatten. Er sah ausgezehrt aus. Wie wir alle. Denn monatelang waren wir im Keller des Rathauses eingesperrt gewesen. Die Pfeffersäcke, wie wir die reichen Kaufleute nannten, hatten uns schlimmer als Hunde behandelt. Dreißig Seeräuber waren gefangengenommen worden. Die Haft hatten nur wir fünfzehn überlebt. Auch ich war schwer gezeichnet. Vergammeltes Dünnbier und Abfälle hatten sie uns gegeben, allenfalls noch Trockenbrot. Wenn sie nicht wenigstens ein paar von uns hätten hinrichten wollen, hätten sie uns wohl alle da unten im finsteren Loch krepieren lassen. Ich war völlig fertig. Meinen magischen Ring hatte mir der Scharfrichter Rosenfeld schon am Anfang der Haft gestohlen, bevor er mich einer Folter unterwarf. Mein Körper war von Wunden und Geschwüren übersät. Die Ketten hatten mir die Gelenke aufgeschabt. Meine Haare waren voll Ungeziefer. Um mich herum lärmte das gaffende Volk. Fleisch- und Wurstbratereien waren eingerichtet worden. Wein und Bier wurden hektoliterweise verkauft. Die Menge drängte sich. Zuschauer saßen auf Bäumen. Andere hatten sich Stühle und Leitern mitgebracht. Schaugerüste waren errichtet worden, deren Ränge anstiegen. Der vornehme Rat der Stadt Hamburg, zwölf Gestalten in reichverzierten Wämsern, mit Spitzenkragen am feisten Hals und Goldtressen an den Mützen, saß auf einer mit Purpur- und Goldbahnen geschmückten Tribüne. Als Ehrengast hatte der Schiffskapitän Hermann Nyenkerken als dreizehnter auf der Ratstribüne Platz nehmen dürfen. Ernst und selbstgerecht schauten sie her, diese Herren von der Hanse, dem mächtigen kaufmännischen Städtebund, dessen Kontore, Höfe und Niederlassungen sich von London bis Nowgorod erstreckten. Da seht ihr, was die Seeräuberei einbringt, sagten
die Mienen der Räte. Schaut her, wie sie enden! Die Stadtgarde sperrte die Zuschauermenge auf der Elbinsel von der Weidefläche, dem Grasbrook, ab, auf dem das Galgengerüst und ein paar Räder standen. Letztere dienten zum Knochenbrechen und Aufflechten von Delinquenten. Mit ihren Federbuschhelmen und Hellebarden waren die Stadtgardisten deutlich zu erkennen. Die Büttel der Staat, welche dem Henker bei der Hinrichtung helfen sollten, waren wieder anders gekleidet, nämlich mit enganliegenden Hosen und Jacke. Wir Vitalienbrüder trugen nur Lumpen am Leib, die vor Schmutz und Ungeziefer starrten. Wenigstens baden lassen und sauberes Zeug anziehen hätten sie uns schon lassen können, dachte ich. Die Henkersmahlzeit war auch dürftig ausgefallen. Das meiste davon hatten der Scharfrichter und seine Knechte gefressen und gesoffen. Es war ein arg unrühmliches Ende für einen großen Seeräuber wie Störtebeker. Und genauso für mich. Das Stimmengewirr der Menge war wie Wogengebraus. Gaukler tummelten sich in und bei der Menge und machten ihre Scherze. Bänkelsänger und fahrendes Volk unterhielten die Zuschauer. Heute würden die Moritatendichter Stoff zum Erzählen haben. »… sollt ihr mit dem Schwerte gerichtet werden, daß sich eure Seele vom Leib scheidet«, las der Ratssprecher das Urteil der Stadt und der Hanse vor. Die Namen der Verurteilten folgten. »Klaus Störtebeker, item Kapitän der Vitalienbrüder. Markus Höllemann, Maat bei demselben…«. Meinen Namen hatten sie falsch geschrieben, sei es drum. Die restlichen Namen folgten. Ich schaute über die Menge, und da sah ich sie. Anna Vitalis, die Kaufmannstochter aus Hamburg. Schön war sie und blond. Tränen strömten ihr über das Gesicht. Mit einem Tuch winkte sie mir zu. Ich konnte wegen des Lärms nicht verstehen, was sie mir zurief, doch ich las es von ihren Lippen ab. »Lebe wohl, Mark, ich werde dich nie vergessen.« Ich hatte nicht gewußt, daß Anna nach Hamburg zurückgekehrt war. Ich nickte ihr zu und versuchte ein Lächeln, was mir schwerfiel. Dabei ließ ich den Mund geschlossen. Die Folterknechte hatten mir ein paar Zähne ausgeschlagen. Mit
einem letzten Blick auf Anna wollte ich in den Tod gehen. »Jetzt ist es soweit, Mark«, sagte Störtebeker, als der Ratssprecher verstummte. »Gestorben muß auch einmal sein.« Sein Blick schweifte zu den dahinziehenden Wolken und zu den kreischenden Möwen. »Bald werden unsere Seelen frei wie die Möwen sein.« Ein Kaplan buckelte zu uns heran und zeigte auf die Bibel. »Bereuet, ihr Sünder, die ihr bald in der Hölle brennt. Will noch einer von euch beichten? - Du, Störtebeker? Denn du bist der größte Sünder von allen. Der Rat in seiner Großmut gewährt dir noch eine Spanne Lebensfrist, wenn du niederkniest und beichtest und Abbitte leistest.« »Der Rat kann mich am Arsch lecken«, sagte Störtebeker barsch. »Sie können mir wohl den Kopf abhacken, aber nicht meinen Stolz. Ich bin ein freier Pirat, als der ich gelebt habe. So sterbe ich auch. Gottes Freund und aller Welten Feind. Ich habe den Reichen genommen und den Armen gegeben. In einer Welt, in der Willkür und Ungerechtigkeit zum Himmel schreien, in der die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Wo Tücke und Bosheit belohnt und Ehrlichkeit und Anstand bestraft werden, fand ich keinen anderen Weg als das Schwert des Piraten. Ich werde, wenn ich gestorben, beim Allerhöchsten für meine Taten Rechenschaft ablegen. Bei keinem anderen nicht.« »Halsstarrig« und »unerhört« murmelte der Kaplan. Und »Verstockt ist das Sünderherz«. Er hätte noch eine Weile gebrabbelt, aber der Scharfrichter rief, man solle ihn entfernen, er würde nur den Ablauf der Hinrichtung stören. Zwei Büttel führten den Kaplan sanft, aber bestimmt weg. Von den Treidlern, die mit langen Seilen vom Flußufer aus die Lastkähne zogen, ließen welche die Arbeit im Stich und liefen zur Richtstätte. Dabei hielten welche die Mützen fest, damit der frische Wind sie nicht wegwehte. So eilig hatten sie es und rannten sie, um bloß nichts zu versäumen. Der Scharfrichter, Rosenfeld hieß er, stand vor uns, den rechten Fuß auf einen Holzklotz gestützt. Dieser kam zum Einsatz, falls einer nicht den Kopf hinhielt, um den Todesstreich zu empfangen. Damit der Scharfrichter seines Amtes walten konnte, wurden sie gezwungen, den Kopf darauf zu legen.
Rosenfeld trug eine schwarze Kapuze, die seine pockennarbige Visage verdeckte. Sein Oberkörper war nackt. Enge, an den Seiten geschnürte lederne Hosen und hohe Stiefel hatte er an. Er stützte die Hände auf sein Beidhänderschwert, das haarscharf geschliffen war. Rosenfeld, ein großer, massiger Mann mit schwarzen Haarbüscheln auf Brust und Armen, galt als ein Künstler in seinem Fach. Es hieß, er könnte einem Verurteilten so geschickt den Kopf abhauen, daß der es gar nicht merkte. So rühmte er sich. Mir war jedoch nicht zum Lachen zumute. Bei Rosenfeld standen seine sechs Helfer, schwarz und rot gekleidet. Sie freuten sich, genau wie der Rosenfeld. Hinrichtungen wurden gut bezahlt. Heute konnten sie viel verdienen. Eine Hexenverbrennung wäre ihnen vielleicht noch lieber gewesen, aber man durfte nicht wählerisch sein. In der Zuschauermenge waren auch Mütter mit kleinen Kindern. Bestimmt stahlen dort auch Taschendiebe, genau auf der Richtstätte, an der ihnen die Hand abgehackt wurde, sollten sie ertappt werden. Ein paar Boote und Kähne, auch eine prächtige Kogge, lagen am Ufer vor Anker und waren über und über mit Schaulustigen besetzt. Sogar in den Wanten der Segel und in den Mastkörben saßen welche. Unsere Hinrichtung machte schon was her. Sie war das Ereignis des Jahres! »Wer ist denn der Höllemann?« hörte ich einen Buben in der Zuschauermenge seinen Vater fragen. »Der Lange dort, der mit den blonden Haaren. Neben Störtebeker. Er hat tausend Leute umgebracht. Frauen geschändet, gemordet, gebrandschatzt und geplündert.« Das war natürlich gelogen, beziehungsweise stark übertrieben. An Akten der Piraterie hatte ich nie teilgenommen und mich nur gewehrt, wenn ich angegriffen wurde. Wieder schaute ich Anna an. Sie wankte. In die Menge eingekeilt, konnte sie nicht umfallen, wenn sie ohnmächtig wurde. Der Scharfrichter trat zu uns. Er stank nach Schweiß und saurem Wein. Dann deutete er auf einen von uns. »Du sollst der erste sein!« rief er dem armen Teufel, einem Piratenmatrosen, zu. »Knie nieder und senk deinen Kopf.«
Jetzt fiel mir die Überlieferung ein, nach der Störtebeker den Rat gebeten hatte, ihm als erstem den Kopf abzuschlagen. Die Kameraden, an denen er dann noch ohne Kopf vorbeiging, sollten begnadigt werden. Da Störtebeker keine Anstalten traf, diesen Handel vorzuschlagen, meldete ich mich. Quasi war es eine Wette mit dem Rat der Stadt Hamburg, ob sich ein Enthaupteter von den Knien erheben und zielstrebig laufen konnte. Ein grausiges, böses Wettstück, das aber einigen von uns das Leben retten konnte. »Hoher Rat!« rief ich. »Auf ein Wort noch. Ich, Höllemann, Maat des Störtebeker, habe noch einen letzten Wunsch.« Und ich schlug vor, das zu tun, was mir gerade in den Sinn gekommen war. Störtebeker schaute mich überrascht an. Auf den Gedanken wäre er nicht gekommen. »Bist du verrückt, Mark?« fragte er. »Nein. Vielleicht kann ich dich freibekommen. Einigen unserer Freunde zudem das Leben retten.« Überraschtes Gemurmel lief durch die Menge. Der Bürgermeister der Stadt Hamburg, Meinhard Buxtehude, erhob sich auf der Ratstribüne. Er schlug mit dem Hammer auf den Tisch. »Warum soll ich das genehmigen?« fragte er. »Es heißt, sich versündigen.« Obwohl ich Schmerzen hatte und schwach war, richtete ich mich kerzengerade auf und rief ihm entgegen: »Hast du Angst, ich würde dich um die Leben von ein paar Vitalienbrüdern betrügen? Du bist schuld, daß viele von uns in der Haft verschmachtet sind. Hast du überhaupt keinen Funken Großmut und Ehrgefühl im Leib?« Buxtehude erwiderte kühl: »Ich bin Kaufmann und Reeder, zudem der Bürgermeister. Ich handele nicht mit Piraten und Mordbrennern.« Hermann Nyenkerken, der uns mit seiner Mannschaft überwältigt und gefangengenommen hatte, allerdings durch Verrat, wandte sich an den Bürgermeister. Neben Nyenkerken saß Simon von Utrecht, reguläres Mitglied des Rats. Er hatte das Schiff ausgerüstet und finanziert, dessen Besatzung uns überwältigte. Das Volk wurde ungehalten. Viele riefen, es solle
ein Gottesurteil stattfinden, ob welche von den Vitalienbrüdern zu begnadigen seien. Die Sympathien der einfachen Leute galten uns. Man wollte auf meinen Vorschlag eingehen, denn der Rat befürchtete Unruhen. Nyenkerken war kräftig gebaut, bärtig, wie fast alle in dieser Zeit, ein tüchtiger Kapitän und bedächtiger, tapferer Mann. »Laß es ihn versuchen«, sagte er zu Buxtehude, dem Bürgermeister. »Weit wird er nicht kommen, falls er überhaupt noch mal aufsteht, nachdem ihm der Kopf heruntergeschlagen ist.« Simon von Utrecht stimmte ihm zu. »Ich glaube, er wird nur noch mit den Beinen zappeln oder zur Seite torkeln, ohne Kopf und gefesselt«, bemerkte er. »Warum sollen wir uns das Schauspiel entgehen lassen? Für alle Fälle stellen wir Störtebeker ans Ende der Reihe. So weit gelangt Höllemann nie und nimmer.« Den Argumenten des Helden von Hamburg, wie Nyenkerken nach Störtebekers Gefangennahme genannt wurde, beugten sich Buxtehude sowie der übrige Rat. »Gut!« rief er und hob die Hand. »So soll es geschehen.« Ludger Wolters, dem zuerst der Kopf hatte abgehackt werden sollen, durfte sich wieder erheben. Nun mußte ich mich hinknien. Die Büttel zwangen mich dazu. Noch einmal sah ich Annas liebes Gesicht und versuchte ein Lächeln. Störtebeker wurde ans Ende der. Reihe geführt. Ich dagegen konzentrierte mich auf mein Vorhaben. Rosenfeld, der Halunke, wollte sich nicht um seinen Lohn betrügen lassen. Er hatte mich mit dem Rücken zur Reihe meiner Mitverurteilten hinknien lassen. Also in die entgegengesetzte Richtung. Ich mußte mich also, nachdem mir der Kopf vom Rumpf getrennt war, erst umdrehen, um dann loszurennen. Es mußte gelingen. Mein eiserner Wille sollte mich führen. Zornig sah ich den magischen Ring am Finger des Scharfrichters, der mir jetzt nichts mehr nutzte. Die Legende würde wohl meine Tat dem Störtebeker zuschreiben, da Legenden es an sich haben, sich an einen bestimmten Namen zu heften. Viel weiter dachte ich nicht. Rosenfelds Schatten fiel über mich. Ich spürte eine leichte
Berührung am Genick und zuckte ein wenig zusammen. Doch so gut, daß das schon der Todesstreich gewesen wäre, den ich dann kaum gespürt hätte, war der Henker nun doch nicht. Er hatte erst einmal Maß genommen. »Fahr zur Hölle, Höllemann«, sagte der Henker und hob sein Schwert zum entscheidenden, tödlichen Hieb. Ich schaute zum letzten Mal auf die trübe Sonne. Und erinnerte mich, wie alles begonnen hatte, was mich letztendlich in diese Lage brachte.
* 1998 - Gegenwart Auf der Insel Usedom, bei dem Seebad Bansin, gingen Tessa Hayden und ihre Schwester Annette Braun an diesem Septembertag am Strand spazieren. Die Kripobeamtin aus Weimar hatte einen hellgelben Überzieher an, einen sogenannten Friesennerz. Annette, zwei Jahre jünger als ihre 30jährige Schwester, verheiratet und Mutter zweier Kinder, war im Anorak. Tessa besuchte ihre Schwester gelegentlich, die beiden mochten sich sehr. Weitere Geschwister hatten sie nicht. Tessa war mittelgroß und gertenschlank. Sie hatte braune Augen und kurzgeschnittene, braune Haare, in die ein paar modische Strähnen gefärbt, waren. Annette war ein Stück kleiner als sie, schwarzlockig und kräftiger gebaut. Die Jeanshose spannte sich interessant über ihrem prallen Hinterteil. Der Himmel war grau. Träge schlugen die Wellen der Ostsee gegen den Strand. Im Hintergrund sah man das Häuschen am Rand des Ostseebads, in dem Annette mit ihrer Familie wohnte. Ihr Mann war ein Studienrat und gab sich gern aufgeschlossen und fortschrittlich, was er jedoch überhaupt nicht war. Die beiden Schwestern unterhielten sich über ihr Lieblingsthema, die Männer, und die Probleme bei ihren jeweiligen Beziehungskisten. Ab und zu bückte sich Tessa und hob eine Muschel, einen Seestern oder sonst etwas auf. Was ihr besonders gefiel, steckte sie in eine Plastiktüte und nahm es mit.
»Also«, sagte sie, »das mit Mark ist mir auf Dauer zu anstrengend. Deshalb bin ich mal für ein paar Tage bei dir untergekrochen, um Abstand von ihm zu gewinnen. Mark Hellmann ist als Mann, als Lover, einfach eine Wucht. Aber sonst…« »Was stört dich denn so an ihm?« fragte Annette. Eine Latte von Klagen folgte. Wenn Frauen erst einmal anfingen, über einen Freund oder Ehemann herzuziehen, kamen sie vom Hölzchen aufs Stöckchen. »Er kann einfach nicht treu sein«, brachte Tessa noch einmal den Hauptanklagepunkt vor. »Ständig schaut er anderen Röcken nach.« »Ich dachte, ihr hättet euch geeinigt«, erkundigte sich Annette. »Er läßt dir doch auch deine Freiheit.« »Ja, schon, aber ich brauchte sie ehrlich gesagt nicht. Er aber das kannst du dir überhaupt nicht vorstellen. Bei jedem Weiberarsch kriegt er feuchte Augen. - Die Frauen rennen ihm auch noch hinterher. Er hat so etwas Gewisses.« »Das magst du doch an ihm. Aber du hättest es gern für dich allein. Habe ich recht?« »Ja«, gestand Tessa unumwunden. » Ich dachte, hatte gehofft, irgendwann würde er ruhiger werden.« »Ich bitte dich, Mark ist achtundzwanzig. Bis er fünfzig ist, brauchst du dir überhaupt keine Hoffnungen zu machen. Und dann, mit sechzig, wird er es vielleicht noch einmal wissen wollen und besonders hinter ganz jungen Dingern herrennen. Du weißt ja, die Männer mit grauen Schläfen. Manch ältere jagen hinter den Frauen her, ohne noch zu wissen, weshalb sie das tun. Die können einfach nicht anders.« »Mein Gott, das ertrage ich nicht! Ich habe alles versucht, um ihn fest an mich zu binden. Sogar das Hausmütterchen habe ich für ihn zu spielen versucht. Es ist allerdings eine Katastrophe geworden. Du weißt ja, wie chaotisch mein Haushalt ist.« »Allerdings. Dein Zimmer hat früher immer ausgesehen, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Da lag mehr auf dem Bett und am Boden als in deinen Schränken. - Tessa, ich kann dir nur sagen, wenn du mit Mark zusammenbleiben willst, mußt du ihn so nehmen, wie er nun mal ist. Ich verstehe dich ja, daß du ihn gern
für dich allein hättest. Aber wenn es nicht möglich ist, bleiben dir nur zwei Alternativen: Entweder findest du dich damit ab, oder du trennst dich von ihm.« Tessa hob eine besonders schöne Muschel auf, betrachtete sie und hielt sie ans Ohr. Sie hörte das Rauschen. »Wie wäre es denn«, fragte sie sinnend, »wenn ich schwanger würde? Kann ja passieren, bei einer Pillenpause, zum Beispiel. Vielleicht würde er endlich mehr Verantwortungsgefühl entwickeln und nicht mehr herumstreunen, wenn er Vater wird.« »Du willst ihn reinlegen und mit dem Baby erpressen?« »Wieso denn erpressen? Wenn alle Stricke reißen, ziehe ich es als Alleinerziehende groß. Ich bin Beamtin, mir kann da nicht viel passieren. Erst mal würde ich meinen Erziehungsurlaub nehmen. Dann kann frau weitersehen.« »Tessa, ich blicke bei dir in Abgründe. Ich dachte immer, du wärst eine überzeugte Junggesellin und emanzipiert bis ins Knochenmark. Und jetzt höre ich solche Töne.« Tessa meinte, auch mit Kind brauchte eine Frau heutzutage nicht mehr ständig zu Hause zu sitzen. »Mit meiner Dienststelle und einer Tagesmutter könnte ich das auf die Reihe kriegen«, überlegte sie laut. »Nur, was Mark betrifft, bin ich mir nicht so sicher. Er ist halt ein Luftikus, kein fest angestellter Lehrer an einer staatlichen Schule wie dein Uwe. Mark schlägt sich so als Reporter durch.« Tessa war einerseits ein Plappermaul. Andererseits wußte sie jedoch, wann sie zu schweigen hatte. Daß Mark Hellmann, mit vollem Namen hieß er Markus Nikolaus Hellmann, seit kurzer Zeit die Mächte der Finsternis bekämpfte und sogar schon Zeitreisen unternommen hatte, verschwieg sie ihrer Schwester. Auch das war ein Punkt, der Tessa zu denken gab. Mit einem Ehemann, der ganz oben auf der Abschußliste der Hölle stand, würde es nicht ganz einfach sein. Außerdem hatte Mark alle Hände voll zu tun, um seinen Aufgaben als Träger des Rings gerecht zu werden. Tessa selbst war schon zweimal drastisch in Mitleidenschaft gezogen worden. Beim ersten Mal hatte sie ein Vampir gebissen, Eric Berwald, eine Kreatur des Blutdruiden und Vampirs Dracomar. Mit Dracomars Tod, der über allem regierte, war der
Keim des Vampirismus jedoch von Tessa genommen worden. Berwalds Kräfte hatten nicht ausgereicht, ihr diesen über den Tod seines Herrn und Meisters hinaus einzuimpfen. (Siehe Mark Hellmann Band 1). Dann war Tessa von der Spinnenfrau Uma Aranea in Marks Wohnung angegriffen und dann in deren Brutnest verschleppt worden. In einen Kokon eingesponnen hatte Tessa als Nahrung für Umas und Mephistos Brut dienen sollen und Todesängste ausgestanden. Mark Hellmann, Pit Langenbach und ein Eingreifkommando der Weimarer Polizei hatten sie aus der verzweifelten Lage befreit. (Siehe Mark Hellmann Band 7). Tessa hatte schon einiges ausstehen müssen. Da war auch kein Ende der Gefahr abzusehen. Unter diesen Umständen ein Kind in die Welt setzen zu wollen, zeugte entweder von einem ungeheuren Glauben an das Gute im Leben oder von einer ebensolchen Blauäugigkeit. Ein Baby Tessas und Marks würde ein bevorzugtes Jagdobjekt für die Jenseitsschergen sein. Tessa überlegte gerade, ob sie ihrer Schwester nicht doch reinen Wein einschenken sollte. Irgend jemandem mußte sie sich in dem Punkt einmal anvertrauen. Ihr Vorgesetzter, der Weimarer Kripo-Hauptkommissar Pit Langenbach, hatte zwar immer ein offenes Ohr für sie und war sehr verständnisvoll. Aber er war eben ein Mann. Noch ehe sich Tessa zu einer Entscheidung durchrang, entdeckte sie ein Schiff auf dem Meer. Sie war sofort von ihren Beziehungsproblemen abgelenkt und wies Tessa auf das fremdartig wirkende Schiff hin. »Eigenartig, wo ist das denn hergekommen? Vor einer Minute war es noch nicht da. So schnell kann es nicht hergesegelt sein. Was für ein Schiffstyp ist das denn? So ein alter Kahn wird doch schon seit Jahrhunderten nicht mehr gebaut. Habt ihr irgendeinen Gedenktag, oder werden hier historische Spiele mit alten Segelschiffen aufgeführt?« »Nicht, daß ich wüßte. Wir haben hier zwar einmal im Jahr ein Piratenfest, bei dem Segler mit von der Partie sind. Aber das ist im Sommer, und der ist vorbei. Diesen Schiffstyp habe ich noch nie auf dem offenen Meer gesehen. Ich kenne ihn nur aus Büchern. Das ist eine Holk aus der Hansezeit, eine Weiterentwicklung der einmastigen Kogge, die um 1400 herum
entstand. Der Hulk oder Holk ist seetüchtiger als die Kogge, wie diese ab 1242 mit Heckruder ausgerüstet. Tragfähigkeit über zweihundert Tonnen. Die Kastelle wurden ab 1360 mit leichten Kanonen ausgerüstet.« »Donnerwetter. Was du alles weißt!« rief Tessa erstaunt aus. »Kunststück, wenn man einen Mann hat, der an der See geboren ist und historische Schiffstypen als Modell nachbaut«, sagte Annette. »Dieser Holk ist, wie du siehst, ein Dreimaster. Seltsam, wie düster das Schiff ist. Auf mich wirkt es bedrückend.« »Auf mich auch«, gestand die sonst so kesse Tessa und fröstelte. »Kein Mensch ist an Bord zu sehen. Das Schiff sieht aus wie vermodert. Schau nur, da hängen lange Tangbüschel über der Reling und in diesen Segelstangen.« »Das sind die Wanten. Der Wind bläht die Segel. Das düstere Schiff fährt genau auf den Strand zu. Tessa, hier geht etwas nicht mit rechten Dingen zu.« In voller Fahrt näherte sich der Holk. Möwen, die auf ihn zuflogen, drehten etliche Meter von ihm entfernt plötzlich ab, als ob etwas Unsichtbares sie erschreckt hätte. Die beiden Schwestern hielten sich an den Händen. Grauen erfaßte sie, als sie die unheimliche Atmosphäre des düsteren Schiffs immer deutlicher spürten. Auf der Brücke drehte sich knarrend das Ruder, an dem niemand stand. »Das ist ein Totenschiff!« rief Tessa. »Ein Fliegender Holländer. - Schnell weg, Annette, wir müssen fliehen, oder deine Kinder werden dich nicht lebend wiedersehen.« Die beiden Frauen wollten flüchten. Doch eine unsichtbare Kraft hielt sie zurück. Wie gelähmt standen sie, obwohl sie doch mit allen Kräften fort wollten. Sie schauten dem Dreimaster entgegen wie das Kaninchen der Schlange, als ob etwas sie hypnotisierte. Der Holk stoppte, als sein Kiel den Sand berührte. Jetzt erschienen schaurig anzusehende Gestalten an Deck. An die dreißig waren es, in vermoderte Gewänder gekleidet, mit Enterbeilen, Schwertern und Dolchen bewaffnet. Einige trugen Armbrüste oder Pfeil und Bogen. Nur ein einziger, der auf der Brücke stand, hatte eine uralte schwere Büchse, die auf eine
Gabel gestützt wurde. Entsetzt stellten die Frauen fest, daß Skeletthände die Waffen hielten und Totenköpfe unter den Eisenhelmen, Mützen oder vermoderten Haaren zu sehen waren. Am Bug des Dreimasters stand in blutroter, altertümlicher Schrift der Name »Mephisto« geschrieben. Die skelettierten Seeleute trugen teils stumpfe und glanzlose Brustpanzer mit Rostflecken. Das Schiff und die Besatzung sahen aus, wie vom Grund des Meeres emporgestiegen. Ohne sich rühren zu können, beobachteten die zwei Frauen, wie die Skelette ein Fallreep an der Bordwand herunterließen. Ein Dutzend Skelette kletterten daran herunter. Eine hochgewachsene Gestalt mit goldtressenbesetztem Wams und Eisenhelm führte sie an. Dieser Unheimliche hielt ein langes Schwert in der Hand, mit dem er herumfuchtelte. Mit heiserer, knurrender Stimme gab er Befehle in einem altertümlichen Holländisch. Die Skelette stiegen ins Wasser und wateten an Land. Tessa und Annette bemühten sich mit ganzer Kraft, der Gefahr zu entkommen. Doch vergeblich. Angstbebend starrten sie zu den sich nähernden Skeletten und dem von einer düsteren, unheimlichen Sphäre umgebenen Geisterschiff. »Tessa, was wollen sie nur von uns?« schluchzte Annette. »Hilft uns denn keiner? Ist niemand da?« Doch es befand sich kein Mensch in der Nähe. Nur ein streunender Hund strich im Strandhafer umher. Er jaulte auf, als er die Skelette sah, und rannte mit eingekniffenem Schwanz davon. Schon war der goldbetreßte Anführer nur noch wenige Schritte von den beiden Schwestern entfernt. Deutlich sahen sie seine Skelettfratze, in deren leeren Augenhöhlen rote Funken glühten. Es roch stark nach Tang und Verwesung, als sich die Skelette näherten. »Ich bin Jan van den Duiwel, Kapitän der >Mephisto<, des Satans Korsar«, sagte der Goldbetreßte. Die zwei Frauen verstanden ihn deutlich, hätten jedoch nicht sagen können, in welcher Sprache er zu ihnen redete. »Wer von euch ist Tessa Hayden?« »Ich«, antwortete Tessa. »Wenn ihr es auf mich abgesehen habt, bitte ich euch, laßt sie laufen! Sie hat euch nichts getan.«
»Sie bringen wir um, und dich nehmen wir mit«, sagte der Kapitän des Geisterschiffs. »Mephisto befiehlt es.« Jetzt wich die Starre von Tessa. Marks Freundin konnte zumindest die Arme bewegen und gab Annette einen heftigen Stoß. »Lauf um dein Leben!« rief sie ihr zu. Annette öffnete ihren Anorak, das war ihr jetzt möglich, und sie holte ein Kreuz unter dem dünnen Pullover hervor. Sie trug es an einer Kette um den Hals. Die Skelettpiraten wichen für einen Moment zurück, als sie das Kreuz sahen. Es löste völlig den Bann von Annette. Die junge Frau wirbelte herum und rannte davon, die Düne hinauf, daß der Sand unter ihren Stiefeln wegstob. Zwei Skelettpiraten verfolgten sie. Doch die Todesangst verlieh Annette besondere Kräfte. Der Vorsprung zwischen ihr und den beiden Verfolgern vergrößerte sich. Erst als sie oben auf der Düne war, drehte sich Annette um und schaute zurück, um festzustellen, ob auch Tessa die Flucht gelungen war. Das war nicht der Fall. Die Skelettpiraten des Jan van den Duiwel hatten Tessa gepackt und schleppten sie zu dem Geisterschiff. Die schlanke Kripobeamtin schrie verzweifelt um Hilfe. »Annette, du mußt Mark anrufen! Sag ihm, was hier passiert ist. Nur er kann mich retten. - Hol Mark her, so schnell es geht.« An Bord der »Mephisto« krachte es gewaltig. Der Skelettpirat auf der Brücke hatte die Büchse auf Annette abgefeuert. Der Pulverdampf hüllte ihn völlig ein. Die Kugel verfehlte die junge Frau auf der Düne jedoch um viele Meter. An ein treffgenaues Schießen war mit einer solchen Donnerbüchse auf die Entfernung nicht zu denken, »Tessa!« rief Annette verzweifelt und streckte die Hände nach ihrer Schwester aus. Dann mußte sie weiterfliehen. Die beiden Skelettpiraten, die sie verfolgten, waren bereits nahe heran. Untote, unbarmherzige Killer, die sie umbringen wollten. Annette rannte davon, die Düne hinunter, nach Bansin und in den Ort hinein. Sie sah nicht mehr, wie die Skelettpiraten die sich sträubende Tessa an Bord ihres Geisterschiffs brachten. Das Schiff legte ab, als alle Skelette an
Bord waren. Van den Duiwel stand jetzt am Steuer, das Schwert an der Seite. Wie von Geisterhand gezogen löste sich der Holk vom Strand. Das Steuerruder drehte sich. Das Schiff schwenkte herum. Skelette stiegen hinauf in die Wanten und setzten die Segel, so daß sie möglichst viel Wind faßten. Tessa war bereits unter Deck gebracht worden. Das Geisterschiff fuhr mit geblähten, dunklen Segeln in eine dunkle Wolke hinein. Es verschwand darin und wurde nicht mehr gesehen.
* Mein Handy tutete. Ich saß an der Kulturmeile von Weimar. Im Cafe am Marktplatz. Gerade hatte das Glockenspiel die fünfte Mittagsstunde geschlagen. Durch das Fenster schaute ich auf die reichverzierte Fassade des Cranachhauses und auf das Stadthaus. Eine Freundin von mir, Lucy Everding, eine Studentin, war dabei. Sie diskutierte mit einem Touristenehepaar und dessen Sohn, was von der Weimarer Republik zu halten sei, deren Grundlagen hier gelegt worden waren. 1919 hatte wegen der Unruhen und des Räteaufstands in Berlin die verfassungsgebende Nationalversammlung in Weimar getagt. Daraus war die Republik entstanden, die wegen der großen strukturellen Schwächen und Krisen nur vierzehn Jahre hielt, bevor sie vom Nationalsozialismus überrollt wurde. Mich interessierte die Weimarer Republik nur mäßig, die übrigens nicht von Weimar, sondern nach ihrer Entstehung von Berlin aus regiert worden war. Über den Anruf war ich eigentlich recht froh, bis ich die stammelnde, entsetzte Stimme der Anruferin und die Nachricht hörte. Ich begriff sofort, daß etwas Entsetzliches passiert war. Annette Braun schilderte mir Tessas Entführung. »Mark, ich bin hier in Bansin auf der Polizeiwache. Man glaubt mir nicht. Am Strand sind nur Tessas Spuren und meine gefunden worden. Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll. Am Ende sperren sie mich noch in die Psycho, weil ich solche Sachen erzähle. Aber
ich habe es doch mit eigenen Augen gesehen! Bis heute hätte ich nie geglaubt, daß es solche Dinge tatsächlich gibt. - Oder bin ich doch wahnsinnig?« »Nein«, sagte ich. »Du bist nicht verrückt. Ich komme so schnell wie möglich nach Usedom. Bleib ruhig. Geh baldmöglichst nach Hause und warte auf mich. - Nein, dir droht keine Gefahr. Ich kann dir jetzt am Telefon keine Erklärung geben, aber ich komme.« Damit beendete ich das Gespräch und wandte mich an die anderen am Tisch. »Ich muß dringend verreisen.« Lucy war sehr enttäuscht. »Mark, das kannst du mit mir nicht machen, mich einfach versetzen. Du hast mir versprochen, heute abend mit mir…« Ich beugte mich zu ihr und gab ihr einen Kuß, der sie die Weimarer Republik vergessen ließ. Wenigstens für ein paar Sekunden. »Es geht um Leben und Tod«, erklärte ich und legte einen Geldschein für meine Zeche auf den Tisch. »Mehr kann ich dir im Moment nicht sagen. Wir sehen uns bestimmt irgendwann mal wieder.« Natürlich wäre ich gern bei Lucy geblieben. Doch Tessas Leben war unvergleichlich wichtiger. Ich rannte aus der Fußgängerzone zu meinem BMW, stieg ein und fuhr in die Florian-Geyer-Straße, wo ich wohnte. Mein Hauseigentümer und Vermieter, ein Sachse von napoleonischer Körpergröße, wollte mich im Erdgeschoß abfangen. »Herr Hellmann, ich muß mit Ihnen über das Wassergeld sprechen. Wir haben einen neuen Umlagenschlüssel.« »Das ist mir egal. Ich muß dringend verreisen.« »Aber das Wassergeld…« »Wenn die Abrechnung korrekt ist, stecken Sie sie mir in den Briefkasten. Wenn nicht, schicken Sie sie gleich an meinen Anwalt. - Guten Tag.« Das traf den Pfennigfuchser. Er lag ständig auf der Lauer, wollte mir meine Damenbesuche untersagen und mich aus sonst kontrollieren. Ihm steckte es wohl noch im Blut. Aber das ließ mich kalt. In meiner Dachgeschoßwohnung, die mir sehr gefiel, schnappte ich mir meinen immer bereitstehenden Reisekoffer. Ich warf nur
noch ein paar Jeans hinein, eine Krawatte, falls es mich zu einer kulturellen Veranstaltung verschlagen sollte, und meine Pistole. Rasch rief ich im Polizeipräsidium an. Pit Langenbach war nicht dort. Ich erreichte ihn über sein Handy und informierte den KripoHauptkommissar, daß Tessa von einem Geisterschiff entführt worden sei. Und daß mein Erb- und Erzfeind Mephisto die Finger im Spiel hatte. »Donnerwetter!« war das einzige, was Pit zunächst dazu einfiel. Dann schlug er vor, mich nach Usedom zu begleiten, was ich nicht für notwendig hielt. Ich teilte ihm mit, daß ich mich wieder melden würde. Anschließend rief ich bei meinen Eltern an. Ulrich und Lydia waren eigentlich meine Adoptiveltern, aber ich liebte sie, als wären es meine leiblichen. Nach dem Anruf verließ ich sofort meine Wohnung und fuhr unverzüglich mit dem BMW und leichtem Gepäck los. Weimar blieb hinter mir zurück. Ich sorgte mich sehr um Tessa, genau wie Pit Langenbach, der sie sehr schätzte. Ich fragte mich, wie es ihr an Bord des Fliegenden Holländers, des Schiffs der Skelettpiraten, erging, was man dort mit ihr vorhatte. Ich mußte das Schlimmste befürchten. Gut dreihundertfünfzig Kilometer hatte ich bis Usedom zurückzulegen, und viel Geld hatte ich nicht in der Tasche. Auf meinen Konten herrschte meist Ebbe, und ich kriegte dann diese netten Kundenbriefe von den Banken. … wenn Sie nicht binnen… sehen wir uns leider gezwungen… Der Zustand der chronischen Pleite dauerte bei mir nun schon länger an. Daran mußte sich bald etwas ändern. Daß ich der Träger des magischen Rings und Kämpfer gegen das Böse war, interessierte meine Gläubiger einen Dreck. Mein Name ist Markus Nikolaus Hellmann. Meine richtigen Eltern kenne ich nicht. Ich bin 1980 als Zehnjähriger nach der Walpurgisnacht in Weimar in der Altstadt umherirrend aufgegriffen worden, ohne Gedächtnis und unter Schock stehend. Bis heute weiß ich nicht, was in meinen ersten zehn Lebensjahren geschah. Jetzt bin ich achtundzwanzig, habe Völkerkunde und Geschichte studiert und war in meiner Studentenzeit Zehnkampfmeister. Was ich am meisten verabscheue, sind Ungerechtigkeiten und Zwänge aller Art. Seit einiger Zeit kenne ich meine wahre Bestimmung, nämlich den Kampf gegen das Böse. Dabei riskiere ich regelmäßig
Kopf und Kragen. Als besonderes Kennzeichen habe ich ein sternförmiges, fünfmarkstückgroßes Mal in der Herzgegend. Es ist völlig schmerzunempfindlich. Was für eine Bewandtnis es mit dem Mal hat und wie ich dazu kam, weiß ich nicht. Jedoch kann ich es inzwischen für meine Zwecke einsetzen. Eine weitere Besonderheit ist der silberne Siegelring mit den verschlungenen altertümlichen Buchstaben M. N. aus dem meine Adoptiveltern meine beiden Vornamen gebildet haben. Den Nachnamen habe ich von Ulrich und Lydia Hellmann. Dieser Ring, den ich um den Hals trug, als ich als Zehnjähriger aufgegriffen wurde, hat eine besondere Bewandtnis. Er zeigt dämonische Aktivitäten an. Mit ihm kann ich Zeitreisen unternehmen, mich an einer Stätte dämonischer Aktivität in die Zeit versetzen, von der sie ausging. Andere Zeitreisen sind mir damit nicht möglich. Auch kann der Ring normale in magische Waffen verwandeln, die jedoch keine unfehlbaren und keine Allzweckmittel sind. Der Ring ist kein ultimatives Mittel. Manchmal versagt er, zum Beispiel können Mephisto oder andere starke Dämonen ihn mit ihrer Magie außer Betrieb setzen, so daß er sie und ihre Kreaturen nicht mehr verrät. Ich hatte mich bisher immer gewaltig anstrengen müssen bei meinen Kämpfen gegen die Mächte des Bösen. Einmal war ich sogar durch einen Dolchstich vom Schwarzen Ritter tödlich verwundet worden. Das war im Jahr 1198 geschehen. Im letzten Moment, bevor ich mein Leben aushauchte, hatte ich noch die Rückreise durch die Zeit unternehmen können. Die Zeitreise heilte jeweils die Wunden, die ich zu ihrem Beginn hatte. Wenn ich jedoch in der Vergangenheit starb, war und blieb ich tot. Die Zeitreisen und was ich seit dem Beginn meiner Laufbahn als Träger des Rings erlebte, hatten meinen Horizont gewaltig erweitert. Die kleinen Pannen des Alltags sah ich nicht mehr als so tragisch an. Ich genoß mein Leben, wenn mir Gelegenheit dazu blieb. Es konnte rasch enden. Ich fuhr also auf der früheren Transitautobahn an Berlin vorbei Richtung Stettiner Haff. Vor der deutsch-polnischen Grenze verließ ich die Autobahn und fuhr auf der Bundesstraße über Anklam auf die Insel Usedom. Das Seebad Bansin lag an der Ostseite der Insel, die Landschafts- und Vogelschutzgebiet war.
Bei dem idyllischen Ort waren die Strandkörbe bereits zusammengestellt und verschlossen worden. Nur wenige standen noch ein paar unentwegten Urlaubern zur Verfügung. Die Badesaison war jedoch vorbei. In einer Viertelstunde war es zweiundzwanzig Uhr, und es stürmte und regnete, als ich vor dem Bungalow des Ehepaars Braun hielt. Ich war schon mal mit Tessa hier gewesen und hatte den Weg leicht gefunden. Der nicht mehr ganz neue Bungalow stand auf einem hübsch verwilderten kleinen Grundstück, das mir schon immer gefallen hatte. Die Brauns, also Tessas Schwester und ihr Mann, ließen der Natur ihren Freiraum und verzichteten auf Chemie im Garten. Das Ergebnis war ein hübscher kleiner Naturgarten, in dem sich ihre beiden Kinder austoben und herumtollen konnten. Eine Rundleuchte warf ihr Licht auf den Plattenweg. Ich sah Licht durch die Ritzen des Rolladens schimmern, parkte den BMW am Rand der ruhigen Wohnstraße, in der es ein paar Pensionen und Ferienwohnungen gab, und schwang mich elegant über das kleine Gartentor. »Mark Hellmann«, sagte ich, nachdem ich an die Tür geklopft und sich jemand gemeldet hatte. Annettes Ehemann Uwe öffnete, ein Anfangsdreißiger mit randloser Brille und Bart, passionierter Naturschützer, antiautoritär und politisch sehr interessiert. Die Kinder lagen schon im Bett. Sie waren drei und vier Jahre alt. Annette erwartete mich im Wohnzimmer. Sie hatte verweinte Augen. »Mark, ein Glück, daß du da bist!« rief sie und fiel mir gleich um den Hals. »Stell dir vor, was passiert ist. Ich sterbe vor Sorge um Tessa.« Ihr Mann legte ihr fürsorglich den Arm um die Schultern. Annette setzte sich in den Sessel beim Kamin und schilderte noch einmal alles ganz genau, was sich an diesem Nachmittag bei ihrem und Tessas Strandspaziergang abgespielt hatte. Sie beantwortete meine Fragen. Ich horchte auf, als ich hörte, daß das Geisterschiff »Mephisto« hieß. Für einen Zufall hielt ich das nicht. Eher rechnete ich damit, daß mein Erzfeind die Finger im Spiel hatte und mal wieder ein höllisches Süppchen kochte, in dem er mich schmoren wollte.
»Beruhige dich, Annette«, sagte ich. »Ich gehe der Sache nach.« »Wie willst du das anstellen?« fragte der Studienrat Uwe. »Mit einem Motorboot den Fliegenden Holländer verfolgen, der längst ins Jenseits abgesegelt ist? Du weißt nicht, was wir hier mitgemacht haben. Ich kann nur froh sein, daß meine Frau, nachdem sie die Vorgänge bei der Polizei schilderte, nicht in die Psychiatrie geschickt wurde und keinen Nervenzusammenbruch erlitt.« »Die Beamten haben mich angeschaut, als ob ich verrückt sei«, bemerkte Annette. Sie wischte sich die Augen und schaute mich fragend an. »Du hast mir sofort geglaubt, Mark?« »Ja«, antwortete ich und entschloß mich, mit einem Teil der Wahrheit herauszurücken. »Ich habe schon mehrere solcher Abenteuer erlebt. Ich weiß, daß es übernatürliche Mächte, Gespenster, Dämonen und Geister gibt, und ich weiß auch, wie man sie bekämpft. Tessa ist darüber informiert. Mehr kann ich euch jetzt nicht verraten.« »Natürlich gibt es Gespenster«, krähte da eine Kinderstimme. »Das weiß doch jeder. Nur Ino… Igoganten streiten das ab.« »Es heißt Ignoranten, Christian«, berichtigte Uwe Braun seinen vierjährigen Sohn, der sich unbemerkt angeschlichen hatte. Der Kleine mußte aufgewacht sein, als ich den Bungalow betrat. »Warum bist du denn nicht im Bett?« »Ich habe Durst, Papa. Deswegen bin ich aufgewacht.« Er schaute mich großäugig an. »Wer ist das denn?« Annette sagte ihm, daß er mich eigentlich kennen müßte, und bat ihren Mann, dem Jungen in der Küche ein Glas Wasser zu geben und ihn ins Bett zu bringen. Uwe Braun zog mit ihm ab. In dem Fall, nämlich was Gespenster und übernatürliche Wesen betraf, war das Kind unvoreingenommener und hatte mehr recht als die meisten Erwachsenen, die solche Dinge von vornherein ablehnten. Kinder hatten viel Phantasie und wurden noch nicht von eingetrichtertem Wissen beherrscht, so daß sie manches nicht mehr erkannten. Auch unser Weltbild würde sich ändern. Es war nicht in allem richtig. »Was willst du tun, Mark?« fragte Annette. »Was kannst du überhaupt unternehmen, um Tessa zu retten? Ist das denn
möglich? Van den Duiwel und seine Skelette waren das Grausigste, das ich jemals sah. Was haben die vor mit Tessa? Wollen sie sie opfern, in einem grausigen Ritual ihr Blut trinken? Meine arme Schwester! Hoffentlich kommt sie doch noch mit einem Schrecken davon. « Wieder flossen bei Annette die Tränen. Ich legte ihr die Hand auf die Schulter. »Noch ist nicht aller Tage Abend, Annette«, sagte ich. »Da läßt sich bestimmt noch etwas unternehmen. -Ich gehe dorthin, wo sich Tessa jetzt befindet.« »Wie willst du das anstellen?« »Das ist mein Geheimnis«, antwortete ich. »Führe mich bitte zu der Stelle, an der Tessa von den Skelettpiraten ergriffen wurde. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Und wenn wir dort sind, stell mir bitte keine Fragen. - Können wir?« Die dunkelhaarige Frau nickte abermals. Als ihr Mann zurückkehrte, bat sie ihn, im Haus zu bleiben und auf die Kinder aufzupassen, während sie mit mir an den Strand ging. Uwe Braun protestierte zunächst, ließ uns dann jedoch gehen. Ich wollte am Strand meinen Ring aktivieren und mich dorthin versetzen, wo Tessa jetzt war. Diesmal wußte ich nicht, in welche Zeit und in welche Bereiche es mich verschlagen würde. Es war eine Reise ins Ungewisse. Ohne noch länger zu zögern, verließen Annette und ich den Bungalow, stiegen in meinen BMW und fuhren zur Strandpromenade. »Dort war es«, sagte Annette nach einer Weile und deutete auf den Ort des Geschehens. »Wir müssen den BMW stehenlassen und den Rest der Strecke zu Fuß gehen.« Wir stiegen aus und stapften über mit Strandhafer und Gras bewachsene Dünen. Es regnete immer noch Bindfäden. Aber das störte uns nicht ernsthaft. Am Strand blieben wir stehen. Der Wind trieb uns den Regen ins Gesicht. Wellen liefen auf, brachen sich und rollten zurück. Bei der Ostsee, die keine Gezeiten hatte, waren sie viel niedriger als bei gleichem Wetter in der Nordsee. Die Regentropfen zeichneten Kreise ins dunkle, schaumgekrönte Wasser. Annette deutete auf kaum noch zu erkennende Spuren im Sand.
»Hier ist es gewesen. Ah, da liegt ja die Plastiktüte mit den Muscheln, die Tessa bei unserem Spaziergang sammelte. Als die Skelettpiraten sie packten, hat sie sie fallen gelassen. Mark, ich mache mir Vorwürfe, daß ich davongerannt bin. Ich habe Tessa im Stich gelassen.« »Unsinn! Sie wollten dich umbringen, und sie hätten dich umgebracht, wenn du nicht geflüchtet wärst. Dann wüßte jetzt niemand, was passiert ist. Tessa wäre auf jeden Fall von den Geisterpiraten verschleppt worden.« Der Wind hatte die Tüte ein Stück weggeweht, bis sie sich in einer Vertiefung verfing. Annette holte die Tüte und hielt sie fest. Es war das letzte, was ihre Schwester in der Hand gehabt hatte. Ich gab Annette meine Autoschlüssel, das Handy und die Pistole. Bei der Zeitreise konnte ich nur den magischen Ring mitnehmen, was ein Problem bei der Sache war. »Paß auf«, sagte ich zu Annette, die einen Friesennerz mit Kapuze trug. Ihr Gesicht war blaß, ihre Augen vom Weinen gerötet. »Du wirst jetzt etwas sehen, was dich sehr erstaunen wird. Glaub mir, das ist alles in Ordnung. Es ist nicht mein erstes Experiment in dieser Richtung. Du hast versprochen, mir keine Fragen zu stellen. Sobald ich verschwunden bin, sammelst du meine Kleider auf und gehst zurück zum Auto. - Normalerweise müßte meine Abwesenheit zwischen ein paar Minuten und höchstens anderthalb Stunden dauern. Ich bitte dich, daß entweder du im Auto auf mich wartest, oder daß du nach Bansin zurückfährst und deinen Mann herschickst. Ich möchte jedoch abgeholt werden, wenn ich zurückkehre.« »Von wo?« fragte Annette. Ich beantwortete Vereinbarung war.
diese
Frage
nicht,
die
gegen
unsere
»Wenn ich nach zwei Stunden immer noch nicht zurück bin, ist mein Plan gescheitert«, fuhr ich fort. Eine halbe Stunde gab ich als Karenzzeit zu. Ich hatte keine Lust, nackt und barfuß im Regen zu Fuß nach Bansin zurückzumarschieren, nur weil diesmal etwas anders lief, ich vielleicht zehn Minuten später zurückkehrte und dann keiner mehr da war. »Dann haben die Skelettpiraten ein weiteres Opfer gefunden. In dem Fall braucht ihr nicht mal für ein Begräbnis zu sorgen. Dann werdet ihr mich nicht wiedersehen.«
Annette schaute mich großäugig an. Es war ein sehr ernster Moment. Sie begriff, daß es hier um Dinge ging, von denen sie nichts wußte. Statt unnütze Fragen zu stellen, die ich doch nicht beantwortet hätte, umarmte sie mich, gab mir einen Freundschaftskuß und zeichnete mir ein Kreuz auf die Stirn. »Geh mit Gott, Mark«, sagte sie. »Und bring Tessa zurück. Ich schicke Uwe her und bleibe dann bei den Kindern. Ich bete für dich.« »Tu das«, erwiderte ich und begann mit den Vorbereitungen. Mittlerweile wußte ich recht gut, was ich mit dem magischen Ring anfangen konnte und welche besonderen Kräfte er hatte. Wenn alles gutging, würde ich bald wieder zurück sein, was den Zeitablauf in der Gegenwart betraf. Wie lange ich mich dagegen in der Vergangenheit aufhielt und was mir dort widerfuhr, stand auf einem anderen Blatt. Bei meinem zweiten Fall waren es etliche Tage gewesen. Ich knöpfte Jacke und Hemd auf, hob den Pullover und berührte mit dem silbernen Siegelring das siebenzackige, blaurot-goldenen Mal auf meiner Brust. Dabei konzentrierte ich mich auf das helle, strahlende Licht, das ich in meiner ersten Traumvision erstmals gesehen hatte. Damals war ich in meine Aufgaben als Träger des Rings eingewiesen worden, und man hatte mir erläutert, was ich erwarten mußte. Ich spürte einen kurzen Stich in der Brust. Der Ring fing zu strahlen an und sandte ein Prickeln in meine Hand. Ich zog meine Hand vor und hörte Annettes erstauntes »Aaahhh«, als sie den leuchtenden Ring sah. Ich bewegte ihn und schrieb Zeichen in die Luft. Ein etwa ein Meter langer, laserartiger Strahl, der weder heiß noch kalt war, ging daraufhin von dem Ring aus. Er leuchtete konstant. Mit dem Strahl konnte ich Buchstaben oder Zeichen auf einen Untergrund malen. Nach einiger Zeit verblaßten sie dann. Ich schrieb das keltische Wort für »Reise« mit Runenbuchstaben aus dem Futhark-Alphabet auf den nassen Boden. Der Ring an meiner Hand brannte wie Feuer. Meine Umgebung verschwand. Seltsame, verworrene Laute ertönten. Es zischte und fauchte. Jetzt hätte Licht in meinem Kopf explodieren und ich Sphärenklänge hören müssen. Doch das geschah nicht. Das Fauchen und Zischen blieb. Ich hing in der Dunkelheit, ohne Boden unter den Füßen,
schwerelos. Um mich herum roch es nach Schwefel. Etwas stimmte hier nicht, etwas lief anders als sonst. Dann tauchte ein schwefelgelbes Licht auf, näherte sich und vergrößerte sich. Ein schlanker Mann mittleren Alters mit einem kurzen Umhang um die Schultern und einem Barett auf dem Kopf, wie es zur Zeit Luthers getragen wurde, erschien. Seine Augen glühten rot. Schwefeldampf quoll ihm aus der Nase. Statt Händen hatte er schwarze Krallen. »Hallo, Mefir«, sagte ich. »So sieht man sich wieder.« Er schnaubte Feuer, das mich fast versengte. Der Ring rettete mich. Er hüllte mich in eine silbrig leuchtende Sphäre. Mephir tophel, aus dem Hebräischen abgeleitet, war ein Beiname dessen, den ich in der Schwärze vor mir sah. Mephir oder Mefir hieß auf gut Deutsch Lügner. Mephisto mochte es nicht, wenn ihn jemand so ansprach. »Deine Frechheiten werden dir bald vergehen, Mark Hellmann«, sagte er mit durchaus angenehmer Stimme. Stil hatte er immer gehabt, wie es Goethe im »Faust« beschrieb. Mephisto war kein plumper Patron aus der Hölle kein armer und dummer Teufel. Der Megadämon war er. »Ich habe dir eine Falle gestellt. Prompt bist du hineingetappt.« Mitleidig schüttelte er den Kopf. »Ich hätte mehr Schläue von dir erwartet. Du hast deinen Kopf und deine Seele verspielt. Darauf habe ich lange gewartet.« »Willst du mich jetzt und hier umbringen?« fragte ich ihn. »Das kann und will ich nicht. Es gibt ewige kosmische Gesetze, an die auch ich mich halten muß. Es ist ein Spiel zwischen uns, der ewige Kampf zwischen Gut und Böse. Du bist der Träger des Rings. Dein Einsatz im großen Spiel ist die ewige Verdammnis. Oh, wie freue ich mich, dich bald in meiner Gewalt zu haben. Um dich zu quälen, habe ich mir etwas ganz Besonderes ausgedacht. Tausend mal tausend mal tausend Jahre lang sollst du leiden und sämtliche Qualen der Hölle am eigenen Leib erfahren. Zu Anfang werde ich dich jemandem ausliefern, der einen besonderen Haß auf dich hat. Du wirst schon sehnlichst erwartet.« »Soll ich jetzt zittern?« fragte ich diesen Teufel. »Wie soll ich denn sterben?« »Sehr einfach. Ich weiß mittlerweile, wie deine Zeitmagie funktioniert. Auch der Teufel lernt aus Erfahrung. Du willst dort
landen, wo Tessa Hayden ist. Das wirst du auch, und zwar an Bord des Fliegenden Holländers, dem Geisterschiff meines treuen Dieners, des Kapitäns Jan van den Duiwel. Van den Duiwels Dreimaster ruht im Sargassomeer. Von dort startet er zu Raubzügen und Kaperfahrten in die nördlichen Gewässer. Schnell wie der Wind ist er, wenn er über den Atlantik segelt.« Mephisto legte eine kurze Pause ein, um die Wirkung der nachfolgenden Worte zu steigern. »Du bist wehrlos, wenn du an Bord des Geisterschiffs landest. Van den Duiwel und seine Skelettpiraten werden dich sofort ergreifen und lebendig an den Großmast nageln. Dann werden sie mit dir und deiner Tessa direkt zu mir in die Hölle segeln.« Heiser lachte er auf und sang: »Wir lieben die Stürme, die brausenden Wogen. Die Feuer der Hölle, der Verdammten Geschrei. Und sind auch schon viele zum Satan gezogen, diesmal ist einer, Mark Hellmann, dabei. - Johoho, johoho. Hast du noch weitere Fragen, Ringträger?« »Nein, aber eine Bitte. Hör auf mit deinem Gesang. Du singst noch schlechter als Kaiser Nero beim Brand von Rom. Der hatte einen ähnlichen Charakter wie du und war ebenfalls ein miserabler Verseschmied.« Mephistos Gesicht verzerrte sich. Er war ungeheuer eitel. Ich hatte ihn in seinem höllischen Stolz gekränkt. »Das wirst du bereuen«, fuhr er mich an, »Wenn du erst an den Mast des Geisterschiffs genagelt bist und verzaubert, damit du nicht sterben kannst, wird dir deine Frechheit schon vergehen. Gute Reise zur Hölle, Mark Hellmann. Soll ich dir zum Abschied noch deinen richtigen Namen nennen? Willst du wissen, wer deine Eltern waren?« »Ja«, sagte ich voller Spannung. »Paul Hellmann«, verhöhnte er mich. »Ich habe das Herz deiner Mutter gegessen, nachdem sie Äonen lang meine Geliebte war und ich mit ihr sämtliche Perversitäten genoß. Bald wirst du sie wiedersehen, deinen Vater auch. In der Hölle sollt ihr vereint sein.« Ein Kloß saß mir im Hals. Am liebsten hätte ich losgebrüllt. Doch den Triumph wollte ich Mephisto nicht gönnen. »Schon gut, Mefir. Ich weiß ja, wer das erzählt.«
Mephisto bewies Stil. Er verneigte sich, zog sein Barett und schwenkte es zum Abschied. Im nächsten Moment verschwand er. Jetzt explodierte das Licht in meinem Kopf. Die Dunkelheit wich. Ich hörte Sphärenklänge und sah einen hellen, pulsierenden Schacht, in den ich hineinfiel.
* Nach seinem Zusammentreffen mit Mark Hellmann in einem Zwischenbereich raste Mephisto wie ein flammender Komet mit vielfarbigem Schweif durch die Dimensionen. Leuchtende Sterne wurden zu spektralfarbigen Strichen und rasten an dem teufelsfratzigen Kometen vorbei, der in giftigem Grün strahlte. Galaxien zogen vorüber. Zeit und Ewigkeit wurden eins. Mephistos ungeheuer starke Magie und ungeheure Erfahrung führten ihn weg von dem strahlenden Licht, das über allem leuchtete. In den finsteren, gräßlichen Abgrund jagte er hinein, in dem es von scheußlichen Wesen nur so wimmelte. In einer speziellen »Abteilung«, der Spinnenhölle, fand er sich wieder. Sie war wie eine Hohlwelt angelegt, nach jener Theorie, die es auf der Erde in den 30er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts gegeben hatte. Daß nämlich die Gestirne eine Kugel seien, die im Zentrum der Hohlwelt hing. Und die Menschen an der Innenseite von einer hohlen Kugel herumkrochen. In diesem Fall hatte die Kugel an ihrer Innenseite finstere Höhlen, Berge, tote Ozeane, in denen allerlei Gewürm schwamm und schleimig weiße Krakenwesen hausten, Mollusken und Urzeitfische. Blattlose Urwälder in düsteren Farben beherrschten diese Hohlwelt. Und überall waren Spinnennetze, in denen Spinnen aller möglichen Größen, Arten und Gattungen krochen. Auf der Erde kannte man allein zwanzigtausend Spinnenarten. Hier waren es viel, viel mehr. In den Netzen hingen auch ihre Opfer, zudem Verdammte und arme Seelen, die in die Hohlwelt-Spinnenhölle geschickt waren. Ein gräßliches Los harrte ihrer hier. Es
waren
Menschen
aus
allen
möglichen
Zeiten:
Kindsmörderinnen, Selbstmörder, Verbrecher, Heuchler und Pharisäer, nackte Huren, die Giftmorde begangen oder ihre Liebhaber an Räuber und Mörder ausgeliefert hatten, Verräter, Wucherer, Diebe und Halsabschneider, ungerechte Richter, grausame Könige, Folterknechte und alle möglichen Verbrecherinnen. Sie klagten und schrien entsetzlich. Im Zentrum der Hohlwelt, zu dem sich das größte Spinnennetz hinspannte, hockte eine gewaltige schwarze Riesenpinne mit acht goldenen Augen und zwei goldenen Paaren von Kieferwerkzeugen. Auf ihrem häßlichen Kopf hatte die achtbeinige Spinne mit den langen, geknickten Beinen eine goldene Krone aufsitzen. Das war Ariadna Aranea, die Spinnendämonin, Herrin der Spinnenhölle. Die Mutter jener Uma Aranea, der Mark Hellmann vor kurzer Zeit in Weimar ein Ende bereitet hatte. (Siehe MH Band 7). Mephisto verwandelte sich von einem Komet in die herkömmliche Teufelsgestalt mit Hörnern, Bocksbart und Pferdefuß. Als solche, übergroß, setzte er sich ins Netz der Spinnendämonin, um sich mit ihr zu unterhalten. Ariadna schaute ihn mit ihren goldenen Augen an. In ihrem Netz hingen zahlreiche Totenköpfe und Knochen. »Bald bringe ich dir Mark Hellmann, Schwiegermutter«, sagte Mephisto. »Mit all deinen Mitteln sollst du ihn quälen. Lange Zeit soll er dir ausgeliefert sein.« »Hellmann«, zischte die Spinne. Mephisto verstand ihre Botschaft. »Er hat Uma umgebracht, meine liebe Tochter, die ich als Spinnenfrau auf die Erde schickte und mit der du eine sechsunddreißigköpfige Brut hattest. - Du hast ihn gefangen?« »Ja. Wir wollen gleich in meinem Schwarzen Spiegel nachsehen, ob er schon auf dem Fliegenden Holländer gelandet ist.« Mephisto fuhr mit der rechten Hand durch die Luft und malte mit einer Klaue ein Zeichen. Im nächsten Moment entstand ein Schwarzer Handspiegel aus dem Nichts. Mit einer Kralle seiner rechten Hand zeichnete der Höllenfürst ein paar Zeichen darauf. Daraufhin zeigte sich ein Bild im Spiegel.
Mephisto schaute. Die Riesenspinne lief näher, wobei sie aus ihren Spinnwarzen am Ende ihres Hinterteils kommende Fäden hinter sich herzog. Ariadna glotzte über Mephisto weg, über dem sie mit ihren unendlich langen Beinen stand, in den Spiegel. »Das sieht aber nicht aus wie der Fliegende Holländer, wo er da gelandet ist«, sagte sie. Mephisto zischte Verwünschungen und Flüche in einer uralten, unmenschlichen Sprache. »Da ist etwas schiefgelaufen«, sagte er. »Aber ich kriege ihn schon. Dem Geisterschiff wird er nicht entgehen. Er, der uns einst in den Abgrund stürzte, hat seine eigenen Pläne. Aber die Ränke, die ich schmiede, siegen letztendlich doch.« »Das will ich dir raten«, zischte die Spinnenkönigin. »Sonst brauchst du dich hier nicht wieder sehen zu lassen.« Stolz richtete sich Mephisto auf. Er wuchs zu ungeheurer Größe empor. Der Schwarze Spiegel wurde zu einer gewaltigen brennenden Rute, mit der er die Spinnendämonin züchtete. Gräßlich zirpend, was menschlichen Schmerzensschreien entsprach, floh sie vor Mephisto. Unerbittlich setzte er ihr nach und peitschte sie. Erst nach längerer Zeit ließ er von ihr ab. Ariadnas Spinnen auf der Hohlwelt rundum sahen die Züchtigung und Demütigung ihrer Herrin allesamt. »Dir werde ich geben, mir drohen zu wollen«, sagte Mephisto, als sich die Spinnendämonin vor ihm duckte. Er warf die brennende Gerte weg. »Ich bin Mephisto, der agilste Teufel der Hölle, Megadämon und Fürst. Ich komme und gehe, wann und wo ich will. - Wenn du mir noch einmal drohst, verbrenne ich dich samt deinen Spinnen.« »Verzeiht mir, Herr«, jammerte Ariadna. »Es waren nur der Schmerz um Uma und die Enttäuschung, daß ich Mark Hellmann jetzt doch nicht habe, wie ihr zuvor sagtet.« »Du kriegst ihn, das müßte schon mit dem Teufel zugehen, wenn ich mein Wort nicht halten kann, und der Teufel bin ich. Also besteht keine Gefahr. - Bis bald, Schwiegermutter. Vielleicht solltest du bald wieder einmal eine Spinnenfrau oder einen Spinnenmann auf die Erde entsenden. Oder auch mehrere.« »Wie ihr wünscht, Herr.«
Mephisto wurde wieder zu einem Kometen und verließ die Hohlwelt. Ariadna hatte er es gezeigt. Unverschämtheiten und Rebellion durfte er nicht durchgehen lassen in der Hölle. Sonst hatte er bald keine Autorität mehr und würden ihn selbst die kleinen Teufelchen mit ihren dreizackigen Gabeln plagen. In der Hölle herrschte eine ungeheuerliche Tyrannei. Bei der Bosheit ihrer Bewohner gab es immer wieder Rebellionen und Widerstände. Nur blanker Terror, Brutalität und Verschlagenheit konnten sich behaupten. Abgesehen von den Höllenbewohnern waren auf der Erde sowie in den Zwischenreichen Dämonen, Nachtmahre und andere schreckliche Wesen mafiaähnlich organisiert. Mephisto konnte mit ihnen paktieren oder ihnen befehlen, mußte das jedoch nicht. Er setzte gern andere für seine Zwecke ein und liebte es, aus dem Hintergrund anonym die Fäden zu ziehen. Ihn kannten alle Wesen der Finsternis. Aber er konnte nicht überall sein. Viele Schreckenskreaturen hatten mit ihm überhaupt nichts zu schaffen und legten auch keinen Wert darauf. Zudem hatte er eine Unzahl von Feinden und Neidern, die ihm mit Intrigen und anderen Mitteln den Rang ablaufen wollten. Außer den Feinden und Neidern in den eigenen Reihen hatte er noch die Mächte des Lichts gegen sich und Gegner wie Mark Hellmann, den Träger des Rings. Mephisto ging jedoch souverän mit den vielen Widerständen und Feinden um. Sein satanischer Stolz verbot ihm, je darüber zu klagen.
* Vergangenheit Die unbekannte Kraft hatte mich wieder durch Zeit und Raum geschickt. Abrupt erlosch das strahlende Licht über mir, als ich am Ende der Zeitreise wie aus dem Nichts stürzte. Ich fiel auf ein Schiffsdeck. Um mich herum waren Geschrei und Kampfgetümmel. Die ersten Momente bekam ich jedoch davon kaum etwas mit. Heftige
Schmerzen
im
Kopf
und
in
sämtlichen
Gliedern
peinigten mich. Ich sah alles verschwommen und war so schwach und taumelig, daß ich mich flach auf das Deck legen mußte. Dort war mir freilich nicht lange Ruhe beschieden. Um mich herum klirrten die Schwerter, zischten Pfeile und Armbrustbolzen, rangen ineinander verbissene Männer. Es wurde gekämpft und gestorben. Blut floß über das Deck und rann durch die Speigatten ins Wasser. An Deck und sogar in der Takelage wurde der Kampf ausgetragen. Immer noch schwangen sich brüllende, verwegene Piraten an Tauen von einem anderen Schiff herüber, das jenes geentert hatte, an dessen Deck ich lag. Es war heller Nachmittag. Eine steife Brise wehte. Der Kleidung und Ausrüstung der Männer nach zu urteilen, die um mich herum um Leben und Tod kämpften, mußte ich mich im späteren Mittelalter befinden. Als ein Kanonenschuß ertönte und ich dann einen Schützen mit ungefüger Donnerbüchse, die mit der Lunte gezündet wurde, auf der Brücke sah, konnte ich die Zeit noch besser bestimmen. Nach 1360, vermutlich um 1400 herum. Den niederdeutschen Rufen nach zu urteilen, die die Kämpfer ausstießen, mußte ich auf der Nordsee sein. Ich lag beim Kreuzmast, dem hintersten des Dreimasters, auf dem Achterkastell. Die mit Tauen zusammengeschnürte Ladung schützte mich ein wenig. Sonst hätte ich schlechte Karten gehabt. Ich war splitternackt, waffenlos und nach der Zeitreise erst mal geschafft. Hörner dröhnten von einem anderen Schiff. Der Schlachtruf der Piraten ertönte: »Slah doot, slah doot! All doot!« Neben mir fielen ein halbnackter Pirat und ein Seesoldat mit Brustpanzer in tödlichem Ringen aufs Deck. Der Seeräuber schnitt dem Seesoldaten mit seinem Dolch glatt die Kehle durch. Ich hörte das grauenvolle Stöhnen und Gurgeln des Sterbenden und sah das Lebenslicht in seinen Augen erlöschen. Der Pirat wandte sich mir zu. Er war dunkelhaarig, untersetzt und stämmig. Ein wüstes Gesicht mit plattgeschlagener Nase und einem Ring im linken Ohr unter den blutbespritzten langen Locken starrte mich an. »Wer bist du?« knurrte er. »Ein Pfeffersack?«
So hatten die Seeräuber in der Hansezeit Kaufherren und auch deren Untergebene genannt.
die
reichen
»Nein«, antwortete ich. »Ich bin ein Schiffbrüchiger, gerade erst aus dem Meer gefischt. Kurz bevor ihr angegriffen habt. Oder was denkst du, warum ich nackt bin?« Er glaubte mir nicht. Er packte mich bei der Gurgel und wollte mit seinem blutigen Dolch zustoßen. Doch ich hatte mich schon wieder erholt. Die ersten kritischen Minuten nach der Zeitreise waren vorbei. Mein Kreislauf stabilisierte sich. Atome und Körperorgane hatten sich wieder sortiert, der Anpassungsschock war überwunden. Ich fing den Dolchstoß ab, stand auf, packte den Kerl, hielt seine Messerhand am Gelenk fest und schlug ihn mit dem Kopf gegen den Kreuzmast. Da verdrehte er die Augen, ließ los und blieb reglos liegen. Während um mich herum der Kampf weitertobte, zog ich dem Bewußtlosen die Kniehosen aus und schlüpfte hinein. Der Pirat trug nichts darunter, aber besser, er hatte einen nackten Hintern als ich. Die Hosen waren zu kurz, doch das störte mich nicht. Ich war nicht als Dressman da. Jetzt nahm ich das Schwert des toten Seesoldaten der Hanse. Den Dolch des Piraten schob ich in meinen Gürtel. »Haut ihn in Stücke!« hörte ich einen Ruf. Zwei Seesoldaten sprangen auf mich los. Ich wehrte mich meiner Haut und hatte Mühe damit. Sie waren bis an die Zähne bewaffnet, hatten Brustharnische und kleine Rundschilde und waren geübte Kämpfer. Wir fochten. Mit Dolch und Schwert wehrte ich mich. Um mich herum war die Hölle los! Mein Ring strahlte nicht. Ich brauchte meine ganze Konzentration, um am Leben zu bleiben. Über Mephisto und seine Falle, die er mir gestellt hatte, blieb mir keine Zeit nachzudenken. Auf dem Fliegenden Holländer des Kapitäns Jan van den Duiwel war ich jedenfalls nicht gelandet. Die Klingen klirrten gegeneinander, daß die Funken stoben. Ich versetzte dem einen Seesoldaten einen Tritt, der ihn auf den Rücken warf. Die Hiebe des anderen parierte ich. Unsere Schwerter verbissen sich ineinander. Ich drückte seinen Schwertarm zurück, gab plötzlich nach, wich aus und kriegte
mein Schwert frei. Mit einem blitzschnellen Hieb verwundete ich den Seesoldaten tödlich. Sterbend sank er nieder. Das Blut rann ihm über den Harnisch, durch den ich glatt durchgehauen hatte. Mein magischer Ring bewährte sich. Längst schon wußte ich, daß er mir bei Zeitreisen die Kenntnisse der Landessprache sowie eine Fertigkeit im Umgang mit den gebräuchlichen Waffen bescherte. Mehr konnte man nicht erwarten. Die Kraft und die Reaktion mußte ich allerdings selbst aufbringen. Ich konnte verwundet und sogar getötet werden. Jetzt zischte ein Pfeil an mir vorbei. Die primitiven Büchsen mit wenig Zielsicherheit und enorm langer Ladezeit hatten in jener Zeit Pfeil und Bogen sowie die Armbrust noch lange nicht abgelöst. Pistolen gab es noch keine. Wieder dröhnte ein Feuerrohr. Der Kampf wogte hin und her. Die Piraten gewannen jedoch immer mehr die Oberhand über die Schiffsbesatzung, Passagiere und Seesoldaten. Ich sah, wie die Piraten verletzte oder überwältigte Gegner einfach ins Meer warfen. Aus den Wanten stürzte hin und wieder ein Mann herab. Er krachte entweder aufs Deck, oder er fiel ins Meer. Die Besatzung des geenterten Schiffs, mit dem das Piratenschiff Bord an Bord lag, wurde am Heck zusammengetrieben. Vor meinen Augen hob sich ein Lukendeckel. Eine blonde Schönheit schaute durch den Spalt. Angstverzerrt war ihr Gesicht. Sie hatte allen Grund dazu. »Ergebt euch!« donnerte da eine gewaltige Stimme und übertönte mühelos den Lärm des Kampfes. »Ich bin Klaus Störtebeker! Aller Widerstand nützt euch nichts! Wer seine Waffe nicht wegwirft, wird auf der Stelle niedergemacht.« Der Name elektrisierte mich. Als Junge hatte ich mit glänzenden Augen von Störtebeker gelesen. Von 1386 bis 1401 etwa, genaue historische Daten über seine Anfänge als Seeräuber gab es nicht, hatte er zuerst die Ost- und dann die Nordsee unsicher gemacht. Diese fünfzehn Jahre hatten es jedoch in sich gehabt und seinen Ruf als der berühmteste deutsche Seeräuber und Volksheld zur See aller Zeiten gefestigt. Zahlreiche Sagen und Legenden rankten sich um ihn. Jetzt sah ich ihn, wie er leibte und lebte. Groß, um die Einsachtzig, breitschultrig und mit buschigem Bart führte er seine Mannschaft
an. Barhäuptig war er, und er trug ein schwarzes Hemd, kein Panzerhemd und keinen Brustharnisch. Er schlug mit dem Schwert drein und streckte zwei Matrosen nieder, die ihn mit Spieß und Schwert angriffen. Tot sanken sie nieder. Störtebeker hatte sich so schnell und gewandt bewegt wie keiner seiner Gegner. Er war dunkelblond. Sein Alter konnte ich nur schlecht schätzen. »Was ist, wollt ihr alle sterben?« fragte er und zeigte mit der Schwertspitze auf drei Kaufleute, wohl die Schiffseigner. Sie standen im Zentrum des Widerstands vor der Brücke. Dem Kapitän des bauchigen Kauffahrers, den die Piraten geentert hatten, konnte ich nirgends sehen. Vielleicht lag er tot irgendwo oder war ins Meer geworfen worden. Noch ehe die Schiffseigner antworteten, bemerkte ich eine Bewegung über mir auf der Rahe des Hauptmasts in der Mitte des Schiffs. Ein Matrose des Kauffahrerholks legte die Armbrust auf Störtebeker an. Zweifellos hätte er ihn mit dem Bolzen durchbohrt. Das durfte ich nicht zulassen. Für mich wurde es Zeit, die Seite zu wählen, der ich mich anschließen wollte. Instinktiv, aus dem Bauch heraus, setzte ich auf Störtebeker, den Helden meiner Jugend. Ein Warnschrei wäre zu wenig gewesen. Ich packte den Dolch am Griff, wog ihn in der Hand und warf ihn mit aller Kraft. Fünfundzwanzig Meter weit flog er wie ein stählerner Blitz. Einen Moment später, ehe der Matrose auf der Rahe, einen Arm an einem Tau festgehakt, die Armbrust abschoß, grub sich der Dolch tief in seine Brust. Der Armbrustbolzen verfehlte Klaus Störtebeker und verwundete einen seiner Piraten. Sie schauten zurück und verfolgten, wie der Armbrustschütze mit einem gellenden Schrei aus den Wanten fiel. Schwer schlug er auf dem Deck auf und blieb reglos liegen. Störtebeker und die ihm umgebenden Piraten hatten nicht gesehen, wie ich den Dolch warf. Außer am Achterdeck wurde nicht mehr gekämpft. Die Seeräuber fingen teils schon mit der Plünderung an. Nicht nur ein Handelsschiff war angegriffen und geentert worden. Nein, um drei Hanseschiffe, zwei Holks und eine Kogge wurde gekämpft. Ein vierter Segler suchte das Weite. Von den beiden anderen Handelsschiffen hörte man gleichfalls
Kampfeslärm. Es ging hoch her an dem Tag. Die Haie der Nordsee würden genug zu fressen haben. Jetzt ergaben sich die Schiffseigner den Piraten. Deren Jubelgeschrei brach los, als sie die Waffen niederlegten. Der Seesoldat, den ich mit einem Tritt niedergestreckt hatte, gehörte auch dazu. Störtebeker ließ die überlebenden Besatzungsmitglieder und Passagiere des Hanseschiffs fesseln. Sie blieben unter strenger Bewachung durch mehrere Piraten am Achterdeck. Bisher hatte sich niemand um mich gekümmert. Doch jetzt marschierten gleich drei Piraten auf mich los. Störtebekers Schiff hatte, bevor der Kampf losging, vielleicht siebzig Mann Besatzung gehabt. Da kannte natürlich jeder jeden, zumal sie auf engstem Raum zusammenlebten. »Wer bist du?« fragte mich ein struppiger Bursche. »Ein Schiffbrüchiger«, log ich. »Ich habe an eurer Seite gekämpft und eurem Kapitän das Leben gerettet.« »Du lügst«, sagte der Struppige. Er hatte einen blutigen Verband am Arm, was ihn jedoch wenig störte. »Ergib dich, du Hund, oder wir machen dich einen Kopf kürzer und schicken dich zu den Haien.« Leider war auch der Pirat, den ich niedergestreckt hatte, inzwischen wieder aufgewacht. Er brüllte los, daß ich ihn angegriffen hätte und ein Pfeffersack sei, also ein Knecht des Hansebunds oder so etwas Ähnliches. Zudem schäumte dieser Pirat noch vor Wut und schrie, man solle ihm ein Schwert geben, damit er mich umbringen könne. Es war eine prekäre Situation. Wenn ich mich ergab, konnte ich leicht über die Planke geschickt werden, was zumindest einigen von der Besatzung des Hanseschiffs blühte. Wenn ich mich aber wehrte, streckten mich die Piraten entweder mit Pfeilschüssen nieder oder hackten mich mit ihren Enterbeilen und Schwertern in Stücke. Wie ich es auch betrachtete, es sah schlecht aus für mich, zumal niemand gesehen zu haben schien, daß ich Störtebeker das Leben rettete. Doch da geschah etwas Unvorhergesehenes. Eine Frau schrie gellend um Hilfe. Ein Lukendeckel wurde geöffnet. Ein Pirat stieg an Deck, gefolgt von einem zweiten. Der
erste schleppte die schöne blonde Frau, die ich zuvor aus dem Lukenspalt hatte lugen sehen, über der Schulter an Deck. Sie strampelte, schrie und sträubte sich heftig. »Seht mal, was wir im Laderaum gefunden haben«, sagte der Kerl, der sie trug. Eine schwarze Klappe bedeckte seine linke Augenhöhle. »Das ist ein hübscher Käfer. Wir wollen gleich einmal sehen, wie hübsch sie unter den Kleidern ist und uns mit ihr vergnügen.« Die beiden wüsten Kerle warfen die Blonde auf einige Taurollen, schlugen ihre Röcke hoch, hielten sie fest und fingen an, ihr die Kleider vom Leib zu reißen. Andere Piraten eilten hinzu. Obszöne Bemerkungen wurden gerufen. Diese Piraten waren geile Böcke. Sie wollten die Blondine auf Deck vor aller Augen vergewaltigen. Ich wartete nicht ab, ob und was Störtebeker dazu sagte. Er mußte seiner Mannschaft schon einiges zugestehen. Ich sprang vor. Mit einem Judofußfeger stellte ich den Struppigen, der mir im Weg stand, fast auf den Kopf. Einen anderen Piraten stieß ich zur Seite. Das Schwert im Gürtel, packte ich dann den mit der Augenklappe bei den Haaren. Er wollte sich gerade auf die Blondine werfen, die sich verzweifelt sträubte. Ich riß ihn von ihr herunter und verpaßte ihm eine Ohrfeige, daß es ihm noch stundenlang im Ohr pfeifen würde. Erstaunt setzte er sich. Seinem Kumpan verpaßte ich ein paar Boxhiebe, daß er sich gleich neben ihn legte. Dann zog ich das Schwert und den Dolch und stellte mich schützend vor die blonde Frau. Sie raffte unsicher ihre zerrissenen Kleider zusammen. »Wer sich an ihr vergreift, muß zuerst mich umbringen!« rief ich. »Nur über meine Leiche kommt ihr an sie heran.« »Das kannst du haben«, sagte einer von den Vitalienbrüdern, wie diese Piraten genannt wurden. »Bogenschützen, durchbohrt ihn mit Pfeilen. Die Blonde wollen wir uns nicht entgehen lassen. Sie ist Beutegut und gehört uns allen.« In den Wanten und auf der Brücke legten insgesamt acht Bogenschützen auf mich an. Das konnte ich nicht überleben. Im nächsten Moment würde ich wie ein Nadelkissen mit Pfeilen gespickt sein und tot niedersinken. Ade, schöne Welt! dachte ich. Und: Ade, zwanzigstes Jahrhundert. Ich würde es wohl niemals wiedersehen.
Tessa konnte ich auch nicht mehr retten. Mephisto hatte doch noch sein Ziel erreicht. Zwar nicht auf dem Fliegenden Holländer, wohin er mich ursprünglich hatte schicken wollen. Aber auf einem anderen Schiff würde ich sterben. Schon spannten die Bogenschützen die Sehnen. Von mehreren Seiten zeigten die Pfeilspitzen auf mich. Und schon zischte der erste Pfeil von der Sehne!
* Tessa Hayden war in einer dunklen, modrig riechenden Kabine eingesperrt. Wie viele Stunden verflossen waren, seit die Skelettpiraten sie entführt hatten, wußte sie nicht. Manchmal kam einer und brachte ihr einen Krug mit Wasser, einen Hirsebrei oder Fisch. Zuerst hatte Tessa nichts essen und trinken wollen. Dann aber siegte ihr Lebenswille. Sie mußte bei Kräften bleiben, wenn sie überhaupt eine Chance haben wollte. Die junge Frau zwang sich, den Fraß hinunterzuwürgen. Wenn sie zur Latrine wollte, mußte sie rufen und klopfen. Dann führten sie zwei Skelettpiraten zu diesem Ort. Sobald sie fertig war, wurde Tessa sofort wieder eingesperrt. Wohin das Schiff fuhr, wußte sie nicht. Es war immer dunkel und düster unter Deck, daß man kaum mehr als drei Meter weit sehen konnte, und es stank übel nach Tang und Verwesung. Nach etwa einem Tag Gefangenschaft wurde Tessa an Deck geführt. Ein Skelett in vermoderter Kleidung stand am Steuer. Der Himmel war düster, weder die Sonne noch der Mond oder die Sterne zu sehen. Schwarzes Wasser rauschte um den Bug des Geisterschiffs, das einen unheimlichen Ozean durchquerte. Tessa begriff zu ihrem Entsetzen, daß sie nicht mehr auf der Welt war, sondern in einem Zwischenbereich zwischen Diesseits und Jenseits. Im Reich der Verdammten und der verlorenen Seelen. Tessa schluchzte auf vor Entsetzen. Sie fühlte sich so einsam und verlassen wie noch niemals in ihrem Leben. Ihre einzige Hoffnung war Mark Hellmann. Doch auch von ihm erhoffte sie sich in dem Moment wenig, zu aussichtslos war die Situation. Der Fliegende
Holländer fuhr auf dem Toten Ozean unter einem düsteren und fahlgelben Himmel, an dem blutrote Wolken trieben. Riesige Fledermäuse flatterten in Scharen statt Möwen und anderer Seevögel über die See. Land war nirgends in Sicht. Der Tote Ozean erinnerte Tessa an den Fluß Styx in der griechischen Mythologie, über den der Fährmann Charon die Seelen der Toten in die Unterwelt übersetzte. Die junge Frau zitterte vor Kälte und vor Entsetzen. Jede menschliche Wärme und alles Freundliche fehlten hier. In den Wanten des Segelschiffs hingen die Skelette der Piraten und refften die zerfetzten, modrigen Segel. Ein kalter, schauriger Wind blähte sie. Jan van den Duiwel, der Zombie-Kapitän im mit vergoldeten Schulterstücken und Tressen besetzten Wams, trat aus dem Niedergang. Er ging zu Tessa, die am Vorderdeck an der Reling stand und sich überlegte, ob sie nicht alle Hoffnung fahren lassen und sich ins schwarze Wasser stürzen sollte. Der Tod sollte ihren Qualen und ihrer Angst ein Ende setzen. Doch Tessas Lebenswille siegte. Zudem befürchtete sie, daß mit dem Ertrinken im Meer des Schreckens noch nicht alles zu Ende war. Sondern daß sie danach als eine Verdammte die Qualen der Hölle erleiden mußte oder sonst etwas auf sie zukam. Nein, sagte sie sich, du darfst dich nicht unterkriegen lassen, Tessa. Solange du lebst, hast du Hoffnung. Mark wird dich retten. Sie hoffte das ganz fest und betete, was sie schon eine Weile nicht mehr getan hatte. Gewiß, Mark war kein Engel, aber er war der Mann ihres Lebens. Er war ihr Idol und ihr Held, auch wenn sie öfter mal mit ihm stritt. Van den Duiwels Skeletthand legte sich wie eine stählerne Klammer auf Tessas Schulter Sie drehte sich um. Sie hatte ihre Haltung wiedergefunden. »Was wollt Ihr von mir, Kapitän?« fragte sie. »Wie lange soll ich an Eurer unchristlichen Seefahrt teilnehmen? Was habt Ihr mit mir vor?« »Viele Fragen auf einmal«, grollte es aus der Kehle des Skeletts. Daß van den Duiwel überhaupt noch sprechen konnte, obwohl seine Stimmbänder längst vermodert waren, war nur durch Schwarze Magie zu erklären. »Du bleibst bei uns, bis du dem Teufel geopfert wirst. So erhalten wir unser Leben. Wir
morden, brandschatzen und plündern. Die meisten unserer Opfer bringen wir sofort um. Wenige opfern wir, indem wir sie über die Planke in den Toten Ozean schicken, direkt in den Schlund der Hölle hinein. Auch dir blüht dieses Schicksal.« Tessa erschauerte. Aber sie riß sich zusammen. Sie wollte jetzt keine Schwäche zeigen. »Wann soll das geschehen?« fragte sie. »Sobald die Zeit reif dafür ist.« »Mark Hellmann wird euch einen Strich durch die Rechnung machen. Mein Geliebter wird kommen und aufräumen mit euch Skeletten. Er wird diesen Dreimaster samt seiner Besatzung zur Hölle schicken, wo ihr schon längst hingehört.« »Wenn er nur käme, wir warten auf ihn. Dann wollen wir ihn ergreifen und Mephisto ausliefern.« Tessa begriff. Sie war als Köder für Mark gedacht. Deshalb war sie entführt worden. Sie wußte jetzt, wer dahintersteckte. »Geh unter Deck«, befahl ihr van den Duiwel. »Du bist lange genug oben gewesen.« Tessa mußte gehorchen, ob sie es wollte oder nicht.
* Ich huschte blitzschnell zur Seite. Der erste Pfeil verfehlte mich um Haaresbreite! Gleich mußten die anderen loszischen, denen ich nicht allen entgehen konnte. Mitleidlos beobachteten mich die Piraten. »Halt!« donnerte da eine Stimme seitlich von mir. Ein am Bein verwundeter Seeräuber hockte mit dem Rücken an der Reling. Er deutete auf mich, als ich mit gezücktem Schwert, nur in Kniehosen und Gürtel, vor der blonden Schönheit stand. »Dieser Mann spricht die Wahrheit. Ich habe es selbst gesehen, wie er mit einem unglaublichen Dolchwurf einen Matrosen von der Rahe des Hauptmasts holte. Damit rettete er das Leben unseres Kapitäns. Der Matrose hatte die Armbrust auf Störtebeker angelegt. Dort liegt er.« Klaus Störtebeker winkte. Bogenschützen senkten sofort ihre
Waffen und entspannten die Sehnen. Störtebeker kam auf mich zu. Er schritt mit federnder Kraft über das blutige Deck. Ich schaute in seine stahlgrauen Augen, die unter dichten, buschigen Brauen lagen. Störtebeker hatte eine wilde, bis zu den Schultern reichende Haarmähne, einen Schnurrbart mit zusammengezwirbelten Enden und den buschigen, Bart, mit dem ihn sein überliefertes Porträt zeigte. Er trug einen goldenen Ring im linken Ohr und eine schwere Goldkette um den Hals. Löwenhaft wirkte er. Er war sehr muskulös, und ich hatte gesehen, daß er so schnell und gefährlich wie ein Löwe kämpfte. Ich schätzte Klaus Störtebeker auf Mitte Dreißig. Er musterte mich, und er schien bis auf den Grund meiner Seele zu blicken. »Warum hast du mir das Leben gerettet?« fragte er ohne Umschweife. »Wenn es so war, vielleicht hätte der Armbrustschütze vorbeigeschossen. Du gehörst nicht zu meiner Mannschaft.« In dem Moment hatte ich eine zündende Idee. Allein konnte ich den Fliegenden Holländer, der zweifellos um diese Zeit hier herumsegelte, nicht verfolgen. Noch ohne Hilfe gegen seine Besatzung von Skelettpiraten vorgehen. »Ich will mit Euch fahren, Klaus Störtebeker«, sagte ich. »Nehmt mich in Eure Mannschaft auf. Mark Hellmann heiße ich.« »Höllemann.« Störtebeker hatte mich nicht richtig verstanden. Wogen klatschten gegen die beiden Schiffe, die Bord an Bord vertäut und verhakt waren. Anderswo wurde noch gekämpft und hallten Waffengeklirr und Geschrei herüber. »Das ist ein guter Name für einen Piraten.« Ich sah keinen Grund, Störtebeker wegen meines Namens zu berichtigen. Ich wollte ihn und seine Mannschaft dazu bewegen, gegen das Geisterschiff vorzugehen. Dazu mußte ich ein Vitalienbruder werden. Die Seeräuber, die ich niedergeschlagen oder zur Seite gestoßen hatte, protestierten. Auch andere, die lüsterne Blicke auf die blonde Schönheit warfen, wollten, daß ich getötet wurde, Besonders der Pirat, dessen Kopf ich gegen den Kreuzmast gedonnert hatte, regte sich auf und verlangte meinen sofortigen Tod. »Hängt ihn an die Rahe!« schrie er gehässig. »Oder schickt ihn mit einem Messer im Bauch über die Planke.«
Störtebeker bewahrte die Ruhe. Er ließ sich nicht aufhetzen und wollte sich seine eigene Meinung bilden. »Kräftig siehst du ja aus«, sagte er. »Aber bist du ein Seemann?« »Nein«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Aber die Segelmanöver und den Dienst an Bord kann ich lernen. Zu kämpfen verstehe ich.« »Ja«, meinte Störtebeker. »Leider hast du auch gegen die Falschen gekämpft, nämlich gegen meine Leute.« »Ich habe keinen davon umgebracht. - Ich habe viel von dir gehört, Störtebeker. Du bist stark und gerecht, der Schrecken der Hanse. Du nimmst den Reichen und gibst den Armen. Ich weiß, daß du ein menschlich empfindendes Herz in der Brust hast. Du wirst den Mann, der dein Leben rettete, keinem schimpflichen Tod überantworten, bei dem ihm keine Chance bleibt, seinem Schicksal zu entgehen.« »Slah doot!« brüllte geifernd der dunkelhaarige Pirat mit den blutbespritzten Locken, dessen Kopf ich mit dem Kreuzmast hatte Bekanntschaft schließen lassen. »Slah doot!« schrie auch der Pirat mit der Augenklappe, auf dessen linker, ballonartig anschwellender Wange sich alle meine fünf Finger abzeichneten. »Vielleicht bleibe ich nach diesem Schlag taub auf dem linken Ohr.« »Gnade, Klaus Störtebeker!« rief die Blondine hinter mir und stellte sich auf. Sie war schlank, höchstens zwanzig und wunderschön. »Erbarmen. Du hast Witwen und Waisen geholfen, Störtebeker. Willst du zusehen, wie eine arme Jungfrau geschändet wird?« »Wie heißt du?« fragte sie der Pirat. »Anna Vitalis, aus Hamburg. Ich bin die Tochter eines Hamburger Kaufmanns und war eine Weile in London, wo ich meine Tante besuchte. Von meinen Verwandten ist keiner an Bord. Ich stelle mich unter Euren Schutz, Kapitän Störtebeker.« Das war schlau. Sie appellierte an den Großmut des Seeräubers. Störtebeker hatte immer bewiesen, daß er ein großes Herz hatte. »Sie gehört mir!« rief der Pirat mit der Augenklappe, der sie mit seinem Kumpan zusammen unter Deck aufgestöbert hatte. Er
war wieder aufgewacht, nachdem ich ihn bewußtlos geschlagen hatte. »Nach dem Gesetz der Vitalienbruder ist sie meine Sklavin und mein Beutegut.« Noch lauter rief er seinen Mannschaftskameraden »Natürlich teile ich sie mit euch allen.«
zu:
Johlen und ein paar wilde Rufe erschollen. Selbst Störtebeker fiel es schwer, die entfesselte Meute in Zaum zu halten. Nach dem Kampf und dem Blutvergießen waren all ihre wilden und niederen Instinkte entfesselt. Sie belauerten mich und zogen Anna mit ihren Blicken aus. Einer rief: »Was ist das für ein Kapitän, der uns nicht mal dieses kleine Vergnügen gönnt?« Störtebeker ging zu ihm. Er schlug ihm die Faust in den Magen. Als der kräftige Mann zusammenklappte, packte er ihn am Genick und am Hosenbund und warf ihn in hohem Bogen über die Reling. Der Pirat schrie auf und klatschte ins Wasser der Nordsee. »Jetzt kannst du dir einen anderen Käpten suchen!« rief ihm Störtebeker nach. Er schaute sich um. »Ist noch einer da, dem ich als Käpten nicht passe?« Alle senkten den Blick. Störtebeker schaute auf den toten Matrosen, der mit dem von mir geworfenen Dolch in der Brust an Deck lag, und dann auf mich und zur Rahe des Hauptmasts hinauf. Der am Bein verwundete Seeräuber, der nach wie vor an der Reling hockte, hatte genau gedeutet. »Alle Achtung«, sagte Störtebeker. »Das war ein phantastischer Wurf. Hast du tatsächlich von der Stelle aus geworfen, an der du jetzt stehst?« »Ziemlich genau.« Er überlegte. So einen könnte ich in meiner Mannschaft gebrauchen, dachte er. Er fragte mich, was für ein Landsmann ich sei. Ich antwortete, ein Deutscher aus Thüringen. Ich hätte in Geschäften in Schweden zu tun gehabt. Mein Schiff sei auf der Rückfahrt im Sturm untergegangen. Es gefiel mir nicht, daß ich Störtebeker anlügen mußte. Doch die Wahrheit konnte ich ihm unmöglich sagen, schon gar nicht zu diesem Zeitpunkt. Zum Glück fragte er mich nicht weiter nach dem Namen des Schiffes, auf dem ich angeblich gefahren war, und anderen Einzelheiten. Jedoch wollte er wissen: »Bist du ein Freund der Hanse?«
»Nein«, antwortete ich. Das entsprach der Wahrheit. Wie sollte ich, Jahrhunderte nach der Zeit dieses Städte- und Kaufmannsbundes geboren, ein Freund der Hanse sein? »Weshalb willst du in meine Mannschaft werden?« erkundigte sich Störtebeker.
aufgenommen
»Weil mir das Piratenleben gefällt«, antwortete ich. »Gottes Freund und aller Welten Feind will ich sein, so wie ihr alle hier.« Der Ausspruch war die Losung der Vitalienbrüder, Störtebeker in besonderem Maß auf sich anwendete.
den
»Wie lautet die Regel in diesem Fall, Enno Nordholk?« fragte Störtebeker. »Nun, Steuermann?« Der schon graubärtige Steuermann antwortete: »Wenn welche gegen die Aufnahme in die Mannschaft sind, muß es ein Gottesurteil geben. Dann soll ein Zweikampf entscheiden. Diejenigen, die gegen Höllemanns Beitritt sind, sollen bestimmen, wer gegen ihn kämpft. Ihnen obliegt auch die Wahl der Waffen.« »Ich, Sture Arndt, will gegen ihn kämpfen!« rief der Einäugige, den ich geohrfeigt hatte, sofort. »Mit seinem Blut werde ich die Schmach abwaschen, die er mir zugefügt hat. Du kannst mit uns segeln, Höllemann, aber als Leichnam an der Rahe, als Futter für die Seevögel.« So rauh waren die Bräuche. Mir lag nichts daran, gegen den Einäugigen zu kämpfen, den zu besiegen ich mir ohne weiteres zutraute. Damit konnte ich bei der Mannschaft jedoch keine große Ehre gewinnen. Ich brauchte aber eine überragende Position, wenn ich sie gegen den Fliegenden Holländer führen wollte. Ich rief: »Zwar kenne ich die Gesetze der Vitalienbrüder nicht, aber ich weiß, daß mir Störtebeker etwas schuldet, weil ich ihm das Leben rettete.« Der Steuermann nickte. »Willst du, daß ich dir den Zweikampf erlasse«, fragte Klaus Störtebeker, »und dich ohne ihn in die Mannschaft aufnehme?« »Feigling!« schrien ein paar Piraten. »Nein«, antwortete ich. »Ich mag nicht gegen einen Einäugigen kämpfen, sondern fordere einen anderen Gegner.« »Wen willst du haben?« fragte Störtebeker. »Dich«, antwortete ich sofort. »Mit dem Schwert in der Hand
sollst du mir gegenübertreten.« Alle verstummten. Viele Piraten glaubten, nicht recht gehört zu haben. Störtebeker führte die gefürchteste Klinge von allen Vitalienbrüdern. Seine Kaperfahrten, Taten und Seegefechte waren Legende. Ebenso bekannt waren seine überragende Fechtkunst und Kaltblütigkeit im Kampf. »Ist das dein Ernst?« fragte er. Ich nickte. »Nun«, sagte Störtebeker, »damit hast du dein Todesurteil gesprochen, Höllemann. Mein Ruf fordert es, daß ich dich töte. Dafür, daß du mir das Leben gerettet hast, werde ich es kurz und schmerzlos machen. Du mußt wahnsinnig sein, Höllemann, es ausgerechnet mit mir aufnehmen zu wollen.« »Das«, erwiderte ich, »werden wir ja sehen.« Kurz darauf standen wir uns in der Mitte des Kauffahrerschiffs gegenüber. Die Piraten bildeten einen Kreis von Zuschauern. Auf dem Achterdeck und der Brücke standen welche oder hingen in den Wanten, um ja nichts zu verpassen. Die Gefangenen wurden bewacht. Alle Aufmerksamkeit konzentrierte sich indessen auf uns. Verwundete stöhnten an Deck. Der Kampf zwischen den Besatzungen der beiden anderen Piratenschiffe und den Hanseholks, die sie geentert hatten, ging zu Ende. Der Lärm dort ebbte ab. Das eine Hanseschiff, das entkommen war, war nur noch als ferne Segel am Horizont zu erkennen. Der Wind hatte aufgefrischt. Störtebeker schwang prüfend die Klinge und führte ein paar sausende Hiebe. Auch ich lockerte meinen Schwertarm. Auf den kleinen, runden Schild, der am linken Arm getragen wurde, hatten wir auf meinen Wunsch hin verzichtet. Ich war wieder topfit nach der Zeitreise. Die Frage war, ob die Fechtkunst, die mir mein magischer Ring vermittelte, gegen Klaus Störtebeker ausreichte.
* Tessa, dachte ich, und: Ich muß Klaus Störtebeker besiegen, ohne ihn zu töten. Sonst wird mein Plan, mit ihm gegen den
Fliegenden Holländer vorzugehen, nie gelingen. Störtebeker griff an. Er machte gleich ernst, um den Kampf schnell zu beenden und mich als Leichnam zu den Fischen zu schicken. Der Seeräuber deckte mich mit einem Schlaghagel ein. Ich hatte alle Mühe, die Schwertstreiche abzuwehren. Jeder wurde mit wilder Kraft geführt. Mehrmals drang Störtebekers Schwert durch meine Deckung und verwundete mich leicht. Die Vitalienbrüder spendeten ihrem Kapitän jedesmal Beifall, wenn er mich traf. Doch noch war ich nicht besiegt. Ich wich hinter den Großmast und brachte ihn zwischen mich und den Kapitän der Vitalienbrüder. Sonst hätte er mich glatt erschlagen. Zudem wollte ich Störtebeker nicht töten, sondern nur überwältigen und zum Aufgeben bringen. Oder bewußtlos schlagen. Das war um so gefährlicher für mich. Ich kämpfte vollkommen in der Defensive. »Was läufst du um den Mast herum wie ein besoffener Affe, Höllemann?« fragte Störtebeker zornig. »Steh wie ein Mann und bring es hinter dich!« Der einäugige Sture Arndt stichelte, Störtebeker solle seinem Namen als bester Fechter der Nordsee Ehre und mich endlich einen Kopf kürzer machen. Hageldicht fielen jetzt Störtebekers Hiebe. Er trieb mich über das Deck. Er war einer der besten Schwertkämpfer seiner Zeit. Mein magischer Ring vermittelte mir zwar Kenntnisse, wirkte aber keine Wunder. Blut und Schweiß liefen in Strömen an mir herunter. Das wäre ein Ende gewesen, erst dem Fliegenden Holländer entwischt zu sein, um dann von Klaus Störtebeker erschlagen zu werden. Ich wurde gegen die Reling getrieben. Störtebeker stieß zu. Mehr aus Instinkt, als daß ich es gesehen hätte, entging ich seiner Klinge, die mich Sekundenbruchteile später durchbohrt hätte. Störtebeker fiel gegen mich. Ich riß das Knie hoch, was nicht die feine englische Art war, es ging jedoch ums blanke Überleben. Ich traf Störtebeker nicht da, wo ich wollte. Dann kriegte ich seine Stirn ins Gesicht und sah lauter Sterne. Für zartbesaitete Gemüter mag sich das äußerst roh lesen. Jedoch unter den Seeräubern dieser Zeit wurden Kämpfe auf diese Art
ausgetragen. Da zählte der Sieg, nicht der Weg dorthin. Ein fair kämpfender Gentleman wäre sang- und klanglos untergegangen. Störtebekers Klinge zischte durch die Luft. Ich wehrte mit meinem Schwert ab. Das Schwert des Piraten rutschte an meiner Klinge herunter und schlug eine Kerbe in die Reling. Störtebeker versuchte jetzt, mich mit kräftigen Schwertstreichen über Bord zu treiben. Mit Mühe entkam ich der tödlichen Klemme, in die er mich gebracht hatte. Es gelang mir, aus dem tödlichen Schlaghagel herauszukommen. Mich verteidigend wich ich zurück, bis ich mit dem Rücken zum Kreuzmast stand. Störtebeker hatte ein paar Schwerthiebe und -stiche ausgeführt. Dann hatte er seine Angriffe eingestellt. Er folgte mir, zielstrebig wie der Tod. »Jetzt ist es soweit«, sagte Klaus Störtebeker, als ich mit dem Rücken zum Mast stand. »Sprich dein letztes Gebet, Höllemann. Das Spiel ist zu Ende. Einen Trost kannst du mit ins Jenseits nehmen: Du hast dich wacker geschlagen.« Mit tödlicher Entschlossenheit griff er an, der gefährlichste Korsar seiner Zeit. Hieb, Kreuzfinte, Stich, das konnte ich kaum noch parieren. Mein Arm schmerzte, mein Gelenk wurde lahm, obwohl ich nicht gerade ein untrainierter Student war. Störtebekers Handgelenk schien aus Stahl zu sein. Er schwitzte zwar, doch war ihm keine Müdigkeit anzusehen. Allerdings auch keine Freude, daß er mich gleich umbringen würde. Für ihn war es eine Arbeit, die er hinter sich bringen mußte, weil es nicht anders ging. Er fälschte den Hieb ab, den er nun gegen mich führte. Es machte ihn wütend, daß ich ihm schon so lange Widerstand leistete. Seine Klinge beschrieb einen Halbkreis, den Weberschlag nannte man das. Er wollte meine Knie treffen, mich zu Fall bringen und dann erschlagen. Dagegen gab es für mich nur eine Möglichkeit: Ich sprang hoch. Die Klinge pfiff unter meinen Füßen hinweg. Jetzt hätte ich Störtebeker treffen können. Er hatte keinerlei Deckung. Doch ich begnügte mich damit, ihm die flache Klinge auf den Kopf zu schlagen. Dann, als ich mit beiden Füßen auf dem Boden landete, ließ ich das Schwert fallen und packte Klaus Störtebeker.
Mit einem Judohüftwurf schleuderte ich ihn zu Boden. Er landete katzengewandt, rollte sich ab und sprang auf die Füße. Aber ich gab ihm keine Chance mehr. Ich sprang zu ihm und verpaßte ihm eine Serie von genau abgezirkelten Faust- und Handkantenschlägen. Mit meinem Freund, dem Kripohauptkommissar Pit Langenbach, trainierte ich öfter den Nahkampf in der Hall? des Weimarer Polizeisportvereins. Jetzt zahlte sich das Training aus, bei dem mir die Polizeitrainer nichts schenkten. Störtebeker wankte mit glasigen Augen. Ich nahm maß und versetzte ihm eine Gerade genau auf den Punkt. Er fiel um wie ein Baum und blieb zwischen Gefallenen aus dem Kampf um das Hanseschiff liegen. Seine Mannschaft, die ihn die ganze Weile angefeuert und mich verhöhnt und verlacht hatte, verfolgte es fassungslos. Ihr Idol war geschlagen, der große Champ, wie man in meiner Zeit gesagt hätte. Die Piraten und die gefangengenommene Schiffsbesatzung starrten mich an wie ein Wundertier. Anna Vitalis, die schöne Kaufmannstochter, lachte vor Glück. Ihre himmelblauen Augen strahlten mich an und versprachen mir alle Seligkeit auf Erden. Der Steuermann Enno Nordholk beugte sich über Störtebeker und hob sein linkes Augenlid. »Klaus schläft noch lange«, stellte er trocken fest. Dann kam er zu mir und hob meine rechte Hand. Er schniefte, spuckte aufs Deck. Es paßte ihm nicht. Doch er mußte mich wohl oder übel zum Sieger des Kampfs erklären. Er drückte mir Störtebekers Schwert in die Hand. »Nach unseren Gesetzen kannst du ihn jetzt töten oder über die Planke schicken«, sagte er. »Damit wirst du unser Kapitän. Sein Schwert Mannenköpper gehört dir.« Ich hob die Klinge mit beiden Händen wie zu einem tödlichen Stoß. Ein Seufzen ging durch die Piratenmannschaft. Doch ich stieß den Mannenköpper haarscharf neben Störtebekers Hals in die Decksplanken. »Ich töte ihn nicht«, sagte ich kurz und bündig. »Störtebeker soll Kapitän bleiben. Ich will nur in die Mannschaft.« Nordholk und andere wackere Piraten strahlten. Der Steuermann haute mir auf die Schulter, daß er mir fast das Schulterblatt zertrümmerte.
»Das werden wir dir nie vergessen!« rief er. »Es gibt keinen besseren Käpten im Diesseits und Jenseits als Störtebeker. Du hattest Glück, daß du ihn besiegen konntest. Noch einmal würde dir das nicht gelingen.« Ich ließ das auf sich beruhen. Ich keuchte, denn ich war völlig fertig, mehr vielleicht noch als Störtebeker. Ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten und setzte mich auf eine Tonne. Anna Vitalis kam herbei. Sie küßte mich ab, obwohl ich blutverschmiert und schweißbedeckt war. »Mein Retter, mein Held«, himmelte sie mich an. In einem Punkt hatte Nordholk recht: Glück war dabei gewesen, als ich Klaus Störtebeker im Schwertkampf besiegte. Mein Ring hatte das nicht bewirkt. Ich mußte in meinem Leben immer schwer kämpfen und hart ackern. Aber ich habe etwas, das ich das echte, unverschämte Hellmann-Glück nenne. Hier hatte es wieder zugeschlagen. »Du bist jetzt einer von uns!« rief der Steuermann. »Ein Mitglied von Störtebekers Mannschaft. Dein Rang als Vitalienbruder hängt allerdings noch davon ab, wie du die drei Proben bestehst. Störtebeker selbst wird sie dir auferlegen.« Da konnte ich mich auf etwas gefaßt machen. Der große Pirat war bestimmt nicht glücklich, daß ich ihn vor seiner gesamten Mannschaft besiegt hatte. Ein niederträchtiger Charakter hätte die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, sich an mir zu rächen. Ja, vielleicht sogar, mich aus dem Weg zu räumen und damit den beseitigen, der ihn und andere immer wieder an seine vielleicht einzige Niederlage seit vielen Jahren erinnerte. Ich war gespannt, was auf mich zukam. Ich schaute Anna Vitalis an, und ich dachte an Tessa. Denn sie wollte ich aus den Händen der Skelettpiraten befreien. Das Ziel würde ich keine Sekunde aus den Augen verlieren.
* Ein paar Wassergüsse weckten Klaus Störtebeker. Er setzte sich auf, blinzelte und rieb sich den buschigen Bart.
»Mich hat ein Pferd gegen das Kinn getreten«, murmelte er. Dann fiel ihm alles wieder ein. Er stand auf. Helfende Hände, die sich ihm entgegenstreckten, schlug er zur Seite. »Bin ich noch euer Kapitän?« fragte er seine Mannschaft. »Du bist es!« erscholl es von allen Seiten. Joho! Hussa! und Hurra! wurde gerufen. Aus rauhen Kehlen stimmte die Mannschaft ein Lied an. Es handelte von der rauhen See, die sie alle liebten, von blutigen Kämpfen, Eroberungen feindlicher Schiffe und den Schönheiten und Gefahren des wilden Piratenlebens. »Wo ist der Höllemann?« fragte Klaus Störtebeker. »Am Bug sitzt er mit seiner Blonden.« Störtebeker trat zu uns. Anna Vitalis hatte meine Wunden mit zarter Hand gewaschen und verbunden. Dann hatten wir uns geküßt. Ob sie noch eine Jungfrau war, wie sie vorher gesagt hatte, wußte ich nicht. Im Küssen hatte sie jedenfalls viel Erfahrung. Störtebeker schaute mich an, die Hand am Schwertgriff. Was würde jetzt kommen? Ich sah nach dem Kampf schlimmer aus als er, obwohl ich der Sieger war. Der Piratenkapitän streckte mir seine Hand entgegen. »Hier, schlag ein, Höllemann! Du bist ein Bursche nach meinem Geschmack. Wenn du das Seemannshandwerk rasch lernst, sollst du mein Maat sein. Mit dir habe ich große Dinge vor.« Er quetschte mir kräftig die Hand. Ich drückte dagegen. Störtebeker war ein Bursche, der durchaus eine rohe Kartoffel in seiner Pranke zu Mus quetschen konnte, wie Jack London von seinem Seewolf geschrieben hatte. Sogar in eine große Bleikugel hätte er tief seine Finger hineingraben können. Ich hielt seinem Druck stand. »Ist das schon eine der Proben gewesen, die ich bestehen soll?« fragte ich. »Nein, Freund. Wir müssen fort. An Bord des >Roten Teufels< regeln wir deinen Rang.« Der »Rote Teufel« war Störtebekers Schiff, ein dreimastiger, schneller Holk mit acht Kanonen, vier auf dem Hinterkastell, vier vorne. Es hieß, daß er so schnell wie der Wind segelte und dank der besonderen Anordnung seiner Takelage und der Erfahrung seiner Mannschaft selbst die unmöglichsten Segelmanöver noch
ausführen konnte. To liken delen bedeutete soviel wie zu gleichen Teilen. Tatsächlich hatten die Vitalienbruder alle gleiche Beuteanteile. Nur der Steuermann und der Kapitän als Schiffseigner erhielten mehr. Die Seeräuber brachten das Beutegut auf ihr Schiff. Die beiden anderen Schiffsbesatzungen der Vitalienbruder hatten ihre Gegner inzwischen ebenfalls besiegt. Auch diese Hanseschiffe wurden geplündert. »Wohin fahren wir jetzt?« fragte ich Störtebeker. »Nach Marienhafe. Das ist unser Stützpunkt«, antwortete er mir. Dann stieg er in den Laderaum hinunter. Er sichtete, was wert war, mitzunehmen, und er packte selbst mit an beim Verladen der Beute. Das von Störtebeker und seiner Mannschaft geenterte Schiff hatte Öl, Wachs, Reis, Honig und Stückgut geladen. Außerdem edle Tuche, die in Ballen verpackt waren. Schatzschiffe wie später zur Spanierzeit, als aus den Kolonien in der Neuen Welt Gold und Silber in Mengen ins Mutterland gebracht wurden, gab es zu der Zeit nicht. Die Vitalienbrüder erbeuteten oft Lebensmittel, woher sich auch ihr Name ableitete, und Kaufmannsware. Sie hatten viele Möglichkeiten, diese zu verkaufen. Viele friesische Häuptlinge unterstützten die Seeräuber und boten ihnen Unterschlupf. Dafür erhielten sie dann einen satten Anteil an der Handelsware. Gold und Silber als Beute waren eher rar. Münzen dienten als Zahlungsmittel. Die Kaufleute auf den Hanseschiffen segelten teils bis nach Rußland, nach Nowgorod, und nach Venedig. In Venedig konnten sie schon mit Kreditbriefen bezahlen. Ansonsten galt die Devise Bargeld lacht und mußte in guter und schwerer Münze, nicht in verfälschten Scheidemünzen, gezahlt werden. Es wurde auch viel getauscht. Ein Teil mußte jedoch üblicherweise in bar bezahlt werden. So kamen durch die Plünderung der Schiffskasse und der Kaufmannskassen die Vitalienbrüder doch noch zu einigem Barem. Bei ihnen an Bord ging es locker zu, wie ich bald selber erfahren sollte. Das Essen war gut, und wenn es keins mehr gab, hungerten alle. Da wurde gehurt und gesoffen - im Gegensatz zu den puritanischen, knechtischen Sitten auf den Hanseschiffen, wo die
Mannschaft nur zu kuschen und nichts zu sagen hatte. Schiffsknechte hießen da die Matrosen. Später sollten sie Schiffskinder geheißen werden. Praktisch waren sie Leibeigene des Schiffseigners und des Kapitäns. Nur härtester Drill, erbarmungslose Strenge und drakonische Körperstrafen hielten die Schiffsknechte auf den Hansekoggen und -holken überhaupt zusammen. Das Auspeitschen mit der Neunschwänzigen Katze, einer Peitsche mit neun Schnüren, in die oft noch Bleistücke geflochten wurden, war gang und gäbe. In die Wunden goß man den Ausgepeitschten manchmal noch Salzwasser, was die Qualen vermehrte. Wer meuterte, wurde an der Rah aufgehängt. Aufmüpfige wurden gekielholt, also mit Stricken gebunden und vom Bug zum Heck unter Wasser längs unter dem Schiffsrumpf hindurchgezogen. Dabei schluckten sie etliche Liter. Am unangenehmsten waren jedoch die scharfkantigen Muscheln, die am Schiffsrumpf festhafteten und sie verletzten. Diese Bräuche und Strafen sollten lange Zeit Tradition haben und noch Jahrhunderte später bei der britischen Marine zu Meutereien, wie jener auf der Bounty, führen. Auf See kam der Kapitän gleich nach dem Herrgott. Er war unbeschränkter Herr über Leben und Tod. Sein Wort war Gesetz. Bei den Vitalienbrüdern oder Likedelern erwarb der Kapitän seinen Rang durch Kühnheit, Tüchtigkeit und Können. Er war der Erste unter Gleichen und konnte durch Mannschaftsbeschluß abgesetzt werden. Auf den Hanseschiffen sah das ganz anders aus. Da war es mehr wie bei einer Innung, die Kapitäne zwar großenteils tüchtige, erfahrene Seeleute, schon wegen der ungeheuren Werte, die ihnen anvertraut wurden. Doch hier ging man von ganz anderen Gesichtspunkten aus wie bei den Likedelern, die alles teilten. Der Profit und kaufmännische Erwägungen spielten die Hauptrolle. An Freiheit war nicht zu denken. Auf einem Hanseschiff war es undenkbar, daß die Liebste eines einfachen Matrosen an Bord mitfuhr oder man unterwegs fröhliche Feste feierte. Weibliche Passagiere oder die Gattin und Töchter des Schiffseigners waren gerade noch so geduldet. Das
freie Leben an Bord der Piratenschiffe übte auf die Schiffsknechte der Hanse und auch auf Landbewohner, die in Knechtschaft lebten, einen starken Reiz aus. Das sah ich deutlich, als Störtebeker den Matrosen und Seesoldaten des gekaperten Schiffs anbot, in seine Dienste zu treten. »Wenn ihr euch bewährt, seid ihr schon nach acht Wochen gleichberechtigte Likedeler und Vitalienbrüder!« rief er. »Wer dieses Angebot annimmt, soll über die Linie treten.« Er zog mit dem Schwert einen Strich übers Deck. Von den Matrosen und Seesoldaten lebten noch zweiundzwanzig. Ursprünglich war die Besatzung des Kauffahrers siebzig Mann stark gewesen. Von diesen zweiundzwanzig liefen zehn sofort über die Linie. Vier folgten ihnen nach einigem Zögern. Störtebeker schaute sich die Männer, die sich bei ihm bewarben, genau an. Er ließ sie sogar den Mund öffnen und prüfte ihre Zähne wie bei einem Pferdekauf. Fünf wies er zurück, sie waren ihm nicht gesund oder kräftig genug. Die anderen durften an Bord des »Roten Teufels« gehen, Störtebekers stattlichem Schiff. Es war rotbraun gestrichen. Sein Bugspriet sah aus wie ein Teufelskopf. Unter der Wasserlinie hatte es einen langen Rammsporn. Über den weißen Segeln flatterte die Totenkopfflagge in der steifen Brise, die immer mehr auffrischte. Ein Sturm stand bevor. Die Piraten hatten beim Kampf Verluste gehabt. Deshalb war es Störtebeker nur recht, daß er die Reihen auffüllen konnte. Auch in jener Zeit hatte der Begriff Menschenmaterial schon eine wichtige Rolle gespielt. Ich packte beim Verladen des Beuteguts mit an. Der Seegang ließ das Deck stampfen und schlingern, und ich hatte Probleme. Seekrank wurde ich jedoch nicht. Ich hoffte, daß das so blieb. Die gefangengenommenen Kaufleute und die restliche Besatzung zitterten. Ich hatte Anna Vitalis schon auf den »Roten Teufel« hinübergeschickt. Sie stand unter meinem persönlichen Schutz. Es würde ihr niemand ein Haar krümmen. Nach einer knappen Stunde löste sich der »Rote Teufel« von dem Hanseschiff. Auch die beiden anderen Piratenschiffe unter Führung von Magister Schloye und dem Kapitän Widzel Berninga
kappten die Taue. Die »Kalte Grete« und die »Schwert von Wismar« hießen die beiden anderen Schiffe. Störtebeker segelte selten mit ihnen. Diesmal war es der Fall, weil er zur Zeit eine Extratour unternahm. Er hatte sich von seinem großen Gefährten Gödeke Michel und dem Magister Wigbold getrennt. Sie seien, sagten mir Männer aus Störtebekers Mannschaft, in ihrem norwegischen Hauptquartier geblieben. Dort würden sie sich vor den immer stärker werdenden Aktionen der Hanse gegen das Seeräuberunwesen und die Vitalienbrüder verbergen. Diese Aktionen hatten die Freibeuter bereits aus dem Ostseebereich vertrieben. Dafür trieben sie ihr Unwesen jetzt in der Nordsee, die in jener Zeit noch die Westsee genannt wurde. Gödeke Michel und der in Oxford studierte Piratenkapitän Magister Wigbold wollten zwischen den Schäreninseln und Fjorden erst einmal zusehen und abwarten, ob sich die Aktionen der Hanse nicht bald zerschlugen. Störtebeker war seinem ganzen Naturell nach kein Mann, der sich versteckte und abwartete. Er nahm den Kampf gegen die Pfeffersäcke an. »Ja«, sagte Okko Schoeff, der Krauskopf, den ich mit dem Schädel gegen den Mast gedonnert hatte. »Wir sind losgesegelt, kaum daß die Winterpause vorbei war.« In den Wintermonaten ruhte die Schiffahrt. In diesem Jahr war Störtebeker mit seiner Mannschaft am 22. Februar von Marienhafe in Ostfriesland losgesegelt, wo er die Winterpause verbracht hatte. So erzählte mir Okko Schoeff, der mir nichts mehr nachtrug, im Gegensatz zu Sture Arndt, der mich immer anschaute, als ob er mir gleich die Kehle durchschneiden wollte. »Welches Datum und was für ein Jahr haben wir eigentlich?« fragte ich Okko, nachdem wir von dem Hanseschiff losgelegt hatten. Er schaute mich überrascht an. »Es ist der 25. März 1401«, antwortete er dann. »Weißt du das nicht, Höllemann?« »Ich bin nach dem Untergang meines Schiffs mehrere Tage auf einem Floß auf See getrieben«, antwortete ich. »Dabei ist meine Zeitrechnung durcheinandergeraten. Dann fischten mich die Schiffe der Hanse auf. An Bord ist man recht unfreundlich mit mir umgegangen, weil ich keinen roten Heller mehr hatte und auch nicht nachweisen konnte, woher ich Geld bekommen könnte.«
»Das »Armut würden jemand
haben die ist für sie sie sogar genug Geld
Pfeffersäcke so an sich«, erwiderte Okko. die schlimmste Sünde. Vor lauter Habgier ihre eigene Großmutter verkaufen, wenn für sie bieten würde.«
Zwischen den Vitalienbrüdern und den Kaufleuten von der Hanse und deren Schiffs- und sonstigen Kräften herrschte ein abgrundtiefer Haß. Die Vitalienbrüder pflegten Gefangene, für die sie ein Lösegeld erpressen wollten, gelegentlich in Tonnen zu transportieren. In den Deckel der Tonne wurde ein Loch geschlagen, durch das der Kopf des Gefangenen paßte. Dann erhielt er ihn aufgesetzt, wurde in die Tonne gesteckt und diese zugenagelt. Diese Unglücklichen transportierte man dann zwischen der normalen Ladung. Die Schiffsbesatzungen der Hanse hatten diese Methode von den Piraten übernommen und beförderten gefangengenommene Seeräuber auf die gleiche Weise. Hängen, Köpfen, Rädern und Blenden waren allgemein übliche Strafen für Piraten. Das Foltern wurde als ganz normale Methode angesehen, um Geständnisse zu erhalten. So war die Zeit, in die ich geraten war. Von der Besatzung des von Störtebeker geenterten Hanseschiffs waren nur noch dreizehn Mann übrig, Matrosen und Seesoldaten. Der Schiffskapitän und der Erste Offizier waren im Kampf gefallen. Von den drei Kaufleuten nahmen die Piraten zwei an Bord des »Roten Teufels«. Für diese sollte ein Lösegeld erpreßt werden. Dem dritten wurde nachgewiesen, daß er vor zwei Jahren elf Vitalienbrüder, die ihm in die Hände gefallen waren, ohne Federlesens an der Rahe seines Schiffs hatte aufknüpfen lassen. Die Liebste von einem der Vitalienbrüder, die mit an Bord des aufgebrachten Piratenschiffs gewesen war, hatte er köpfen lassen. Die dreizehn Matrosen und Seesoldaten, von denen die meisten verwundet waren, wurden von den Piraten in einem Rettungsboot mit kleinem Segel zu Wasser gelassen. Sie entfernten sich mit geblähtem Segel und heftig rudernd von ihrem Schiff. Die Vitalienbrüder hatten im Laderaum Feuer gelegt, ehe sie von Bord gingen und die Taue kappten. Ich sah, wie zuerst Rauch vorquoll und dann die Flammen aus dem Schiffsbauch züngelten. Sie leckten zwischen den Decksplanken hervor, deren Pech
kochte. Die Segel des bauchigen Kauffahrteischiffs fingen Feuer. Brennend trieb der Holk davon. Seine Rauchwolke war weithin zu sehen. Magister Schloye und Widzel Berninga, die beiden anderen Piratenkapitäne, hatten die von ihnen gekaperten Schiffe gleichfalls in Brand gesetzt und die Überlebenden in die Boote geschickt. Ob auch auf der »Kalten Grete« und dem »Schwert von Wismar« Hanseknechte das Angebot erhalten hatten, die Piratenmannschaft zu verstärken, wußte ich nicht. Im Angesicht seines brennenden Schiffs schickte Störtebeker jenen Kaufmann und Schiffseigner, der elf Vitalienbrüder hatte aufhängen und eine junge Frau köpfen lassen, über die Planke. Der Kaufmann Edsel Jansen war klein und dick. Trotzdem gebrach es ihm nicht an Mut. Im Angesicht des Todes, die Hände auf den Rücken gefesselt, verfluchte er Störtebeker und uns alle an Bord des »Roten Teufels«. Jansens Hände waren auf den Rücken gefesselt. Man hatte ihn seiner Kleider beraubt. Nur in seinen unteren Beinkleidern stand er da. »Noch ehe das Jahr herum ist, werdet ihr alle tot sein!« rief er wie ein Prophet. »Ich sehe einen Totenkopf über dem Schiff.« »Das ist unsere Flagge!« rief Sture Arndt. »Nein«, sagte der Kaufmann. »Es ist ein anderer. Ihr seid alle verflucht.« Ein Gemurmel lief durch die abergläubische Mannschaft. Störtebeker winkte dem Matrosen, der das Urteil vollstreckte. Dieser drückte dem Kaufmann Jansen die Schwertspitze gegen den Leib und zwang ihn, immer weiter ans Ende der Planke zu gehen. Als es nicht mehr weiterging, versuchte der Kaufmann stehenzubleiben. Doch der Pirat drückte unbarmherzig zu. Der einäugige Sture Arndt hatte die Rolle des Vollstreckers übernommen. Der Kaufmann Jansen mußte weiter zurück, sonst hätte sich das Schwert in seinen Bauch gebohrt. Mit einem gellenden Schrei trat er ins Leere und stürzte von der Planke ins aufspritzende, bewegte Wasser. Die Wellen verschlangen ihn sofort. Mit auf den Rücken gefesselten Händen konnte man halt nicht schwimmen. Störtebeker ließ die beiden als Geiseln dienenden Kaufleute unter
Deck bringen und in eine enge Kabine sperren. Von den Vitalienbrüdern murrten welche. Sie meinten, eine Tonne für jeden hätte es auch getan. Doch Störtebeker mochte nicht unnötig grausam sein, was ihm eher als Schwäche denn als Stärke ausgelegt wurde. Er tauschte mit den Kapitänen der »Kalten Grete« und des »Schwerts von Wismar« Flaggensignale. Alle drei Schiffe wendeten und nahmen einen nordwestlichen Kurs. Wir befanden uns etwa auf der Höhe von Helgoland unterhalb der Nordfriesischen Inseln. Die Vitalienbrüder nahmen Kurs auf die Küste. In Marienhafe, ihrem Stützpunkt, wollten sie die Beute aus diesem Überfall verteilen und verkaufen. Am nächsten Tag schon wollten wir Marienhafe erreichen. Der günstige Wind würde anhalten, erklärte Klaus Störtebeker. Als erfahrener Seemann wußte er über Wind und Wetter, Strömungen und die Gezeiten Bescheid und wurde nur sehr selten überrascht. An Bord des »Roten Teufels« und der zwei anderen Freibeuterschiffe herrschte ausgelassene Stimmung. Dazu trug bei, daß das vom »Schwert von Wismar« erbeutete Hanseschiff Lübecker Bier geladen hatte. Wie es aussah, würden die Piraten nicht mehr viel davon in den Hafen bringen. Sie soffen auf Teufel komm raus. Immer wieder grölten sie ihr Seeräuberlied, dessen Refrain lautete: »Der Schrecken der Meere wir seind, Gottes Freund und aller Welten Feind.« Zweimal mußte ich Anna Vitalis vor Likedelern in Schutz nehmen, die sie angetrunken belästigten. Den einen Piraten streckte ich mit einem gewaltigen Fausthieb zu Boden. Den anderen warf ich mit einem Judogriff mehrere Meter weit durch die Luft, daß er gegen den Großmast krachte. Der Mast war härter als er. Danach hatte Anna Ruhe. Mein Ruf, ein hartgesottener Bursche zu sein, mit dem man sich besser nicht anlegte, verfestigte sich an Bord. Der Gedanke an Tessa Hayden ging mir nicht aus dem Kopf. Die Zeit brannte mir auf den Nägeln. Ich mußte es bald erreichen, daß die Vitalienbrüder gegen den Fliegenden Holländer segelten. Allein hatte ich keine Chance. Nur hatte ich leider absolut keine Ahnung, wie ich Klaus Störtebeker und seine rauhe Mannschaft motivieren sollte, sich mit den Skelettpiraten anzulegen.
Sie sagten zwar großmäulig, daß sie weder Tod noch Teufel fürchteten. Aber ob die abergläubischen Kerle tatsächlich dazu standen, wenn es gegen das Geisterschiff ging, stand auf einem ganz anderen Blatt.
* Wir segelten kurz vor Usedom. Störtebeker gab Enno Nordholk das Steuer und rief mich an Deck. »Es ist Zeit, daß du die Proben bestehst, die dir deinen Rang unter den Vitalienbrüdern sichern«, sagte der Käpten zu mir. »Es sind drei. Bist du bereit?« Ich fragte mich, was jetzt kommen würde. »Ja.« Die Mannschaft, soweit sie nicht dringende Arbeiten zu erledigen hatte oder stockbetrunken war, schaute zu. Wie grinsende Affen hingen Matrosen in den Wanten. Störtebeker ließ zunächst eine schwere Kette bringen, die mir um die Arme geschlungen wurde. »Zerreiß sie«, befahl der dunkelblonde Käpten mit dem buschigen Bart und dem durchdringenden Blick. Ich überlegte. Eine langsame Kraftanspannung war hier völlig verkehrt. Da würde ich mir eher einen Muskelriß holen, als die Kette zu sprengen. Fingerdick waren die Glieder. Doch wenn ich Glück hatte, gab es auch ein oder zwei schwächere darunter. Ich holte tief Luft, spannte ruckartig die Muskeln an, und krachend zerriß die Kette. Die Vitalienbrüder machten große Augen. Ein paar klatschten. Außer Störtebeker, Gödeke Michel und noch einem anderen hatte bisher noch niemand dieses Kunststück fertiggebracht. Störtebeker nickte anerkennend. Dann ließ er ein Hufeisen bringen. »Zerbrich es.« Ich wartete kurz, damit sich meine Muskeln von der vorangegangenen Anstrengung erholten. Dann nahm ich das Eisen, überlegte mir, wie ich die Sache am besten anpackte - und bog es, bis es zerbrach. Diesmal ertönte lauterer Beifall.
»Jetzt«, rief Klaus Störtebeker lachend, »störz den Becher!« Ein Zwei-Liter-Pokal, randvoll mit Bier gefüllt, wurde gebracht. Störtebeker war äußerst trinkfest, ein fröhlicher Patron, wenn er nicht gerade beim Kaperkampf Menschen umbrachte. Bei seiner Mannschaft war er ein beliebter Führer. Er ging immer mit gutem Beispiel voran, richtete die Verzagten auf und holte aus seinen Leuten das Äußerste heraus. Störz den Becher, stürz den Becher, davon war sein Name abgeleitet. Seine kühnen Kaperfahrten und rauschenden Feste waren Legende, waghalsige Taten, durch die er den Ruf erhalten hatte, mit dem Teufel im Bunde zu sein. Auch dem schönen Geschlecht war er zugeneigt. Störtebeker hatte schon manche Schöne betört, und einige, die ihm als Beutegut in die Hände fielen, hatten hernach nicht mehr von ihm gehen wollen. Bei einer Gräfin aus Holstein hatte er die größten Probleme gehabt, sie wieder loszuwerden, obwohl ihr Mann schon zweimal Lösegeld für sie gezahlt hatte. Endlich hatte Störtebeker ihr gesagt, seine Ehre als Vitalienbrüder würde es erfordern, daß sie wieder zu ihrem Gatten zurückkehrte. Unter Tränen war sie daraufhin fortgegangen. »Ich trinke nicht gern allem«, sagte ich zu Störtebeker. »Ich will mit dir auf dein Wohl und auf das Vitalienbrüder anstoßen. Auf erfolgreiche Kaperfahrt!« »Das ist ein Wort«, sagte Störtebeker und ließ sich gleich noch einen Humpen von der gleichen Größe bringen. Auch er war mit Lübecker Bier gefüllt. Die Humpen klangen gegeneinander. Wir setzten sie an. In meiner Studentenzeit hatte ich manche Trinkgelage erlebt. Weil ich Zehnkämpfer war, hielt ich mich meistens zurück, konnte jedoch einen Stiefel vertragen. Ich trank, wie ich es als Student und bei der Bundeswehr gelernt hatte. Störtebeker schluckte viel schneller als ich. Er hatte den Humpen bereits geleert, als meiner noch zu einem Viertel voll war. Mit Mühe kriegte ich den Rest von dem Bier hinunter und wollte dann erst mal längere Zeit keines mehr sehen. Krachend schlug mir Störtebeker auf die Schulter, als ich den leeren Humpen umdrehte und nur noch ein paar Tropfen herausliefen. »Du wirst mein Maat!« rief er. Es waren zwar mehrere Maate
an Bord, doch das machte nichts. Ich wußte die Ehre zu schätzen. »Wir segeln dem Teufel die Hörner ab. Wir beide werden zusammen die kühnste Kaperfahrt aller Zeiten unternehmen, ich und mein Maat Höllemann.« Er wußte noch nicht, wie recht er hatte. Ich ging an die Reling. In einem unbewachten Moment steckte ich den Finger in den Hals und erbrach mich. Danach ging es mir besser. Störtebeker, der fröhliche Zecher, stand wieder am Steuer und pfiff ein Lied. Ich ging in die Kabine, die mir und Anna Vitalis angewiesen worden war. Beide hatten wir uns aus dem Beutegut neu eingekleidet. Nun wollten wir mal was Anständiges zu uns nehmen und uns dann ausschlafen. Gegen Abend hörten wir dann den Ruf »Kerk voran!« Ich eilte an Deck. Die drei Piratenschiffe segelten hintereinander in einem schmalen Wasserlauf von der Leybucht nach Marienhafe, wo sich in der Marienkirche der Wohnsitz des Seekönigs Störtebeker, wie er genannt wurde, befand. Ich sah im Abendrot einen sechs Stockwerke hohen, viereckigen Turm mit einer unterteilten Spitze aufragen. Auf der Brücke stehend, hörte ich, daß dieser Turm zweiundsiebzig Meter hoch sei. Ich hatte aber erst die altertümlichen Angaben von Klaftern und Ellen umrechnen müssen. Der Turm war schon von der Leybucht aus zu sehen und diente als Orientierungspunkt. Die buchtenreiche Küstenlandschaft mit den vorgelagerten Inseln und kleinen Häfen war für die Vitalienbrüder geradezu ideal, nachdem sie aus der Ostsee vertrieben worden waren. Anna Vitalis, einen Umhang um die Schultern, mit goldenen Ohrringen aus meinem vorab erhaltenen Beuteanteil geschmückt, gesellte sich zu mir. Der graubärtige Steuermann Nordholk hatte mir zuvor schon erklärt, daß Störtebeker in dem Turm der Marienkirche wohnte. Er war gegen die Kirche hin, durch eine Mauer abgeteilt. In Störtebekers Wohnräume im ersten und zweiten Geschoß des Turms konnte man nur über zwei Wendeltreppen gelangen. Lagerräume für die Beute des Seekönigs, das Waffenarsenal sowie eine Kemenate für seine offizielle Gattin befanden sich in den oberen Turmgeschossen. In der Turmspitze konnte, wenn es notwendig war, ein Licht
angezündet werden, so daß der Störtebekerturm, der seinen Namen bis in meine Zeit behielt, auch als Leuchtturm dienen konnte. Die Zufahrt von der Leybucht nach Marienhafe war zum Ende des 14. Jahrhunderts mehrere hundert Meter breit. Es war ein großartiges Bild, wie unsere Schiffe mit geblähten Segeln den Hafenort anliefen. Ich schaute über die ostfriesische Küstenlandschaft hinweg. Urwüchsig war die Gegend, und ein rauher Wind blies jetzt im April. Die Äcker und Felder zeigten noch kein Grün. Die Bevölkerung lief zusammen und sammelte sich im Hafen westlich von der alles überragenden Marienkirche, um die sich der Ort gruppierte. Um die Kirche herum gruppierten sich ein paar große Steinhäuser, die gegen den Monumentalbau wie Zwerge wirkten. Weitere Steinhäuser, an die sich reetgedeckte Bauten anschlossen, standen im Hintergrund. Hafen und Ort waren von einer Mauer umgeben und stark befestigt, wie man es bei einem Piratenstützpunkt von dieser Größe und Bedeutung erwarten konnte. Zwanzig Holks und Koggen lagen vor Anker, zudem kleine Fischerboote. Marienhafe war auch ein Marktflecken. Hier wurde ein Teil von der Beute Störtebekers umgeschlagen, was in ganz Ostfriesland bekannt war. Hochrufe erschollen vom Ufer, als wir uns dem Hafen näherten. Aus Turms winkte winkte
einem Fenster im ersten Obergeschoß des wuchtigen wehte ein weißes Tuch. Eine blonde Frau stand dort und heftig. Störtebeker, der auf die Brücke gekommen war, zurück.
»Das ist Amke, meine Gemahlin«, sagte er. »Die beste Frau unter der Sonne.« »Auch die einzige, Klaus?« fragte ich locker. »Nun, die Tage und Nächte auf See sind einsam und lang, wenn man allein ist. Amke ist Keno tom Broks Tochter.« Ich mußte ihn ziemlich verständnislos angesehen haben, denn er erklärte: »Mein Schwiegervater Keno ist der Mächtigste unter den Friesenhäuptlingen. Nach langen, blutigen Kämpfen hat er den größten Teil von Ostfriesland unter seine Herrschaft gebracht. Die tom Broks sind eine alteingesessene, mächtige Sippe. - Man merkt, daß du von weither kommst, Höllemann. Du weißt wirklich sehr wenig von den Verhältnissen hier.«
»Keno tom Brok kennt doch jeder«, sagte Anna Vitalis zu mir. »Im Hamburg weiß man, daß er Verbindungen bis hin zum Dänischen Hof und der machtlüsternen Königin Margarete unterhält. Herzog Albrecht von Holland, der den Vitalienbrüdern Schutz gewährt und ihnen Kaperbriefe gegen seine Feinde schrieb, ist schon lange ein Verbündeter und Beschützer der tom Broks. Das verhinderte allerdings nicht, daß Keno tom Brok im vergangenen Jahr den Bremern in die Hände fiel. Im November 1400, also vergangenes Jahr, haben sie ihn auf Vermittlung des Herzogs von Geldern und Julien dummerweise wieder freigelassen. Gegen Lösegeld und Versprechen, die er sowieso wieder bricht. Das ist ein großer Fehler gewesen. In Hamburg wäre er einen Kopf kürzer gemacht worden oder im Kerker verschmachtet.« »Du hast eine lose Zunge, Kaufmannstochter«, sagte Störtebeker. »Halte sie im Zaum, wenn mein Schwiegervater dabei ist. Er hört sehr ungern von seiner Gefangennahme durch die Bremer Hanse.« Ich hatte zwar unter anderem Geschichte studiert, mich mit Klaus Störtebeker und seiner Zeit jedoch nicht beschäftigt. Als Junge hatte ich von ihm gelesen, aber das waren Abenteuerbücher ohne großen historischen Anspruch gewesen. In der folgenden Zeit sollte ich einiges über Störtebeker, die Vitalienbrüder und die politischen Hintergründe jener Begebenheiten erfahren. So hörte ich von Margarete von Dänemark, dem König ohne Hosen, wie sie genannt wurde, die sogar den Schwedenkönig gefangengesetzt hatte. Die Vitalienbrüder wurden von ihren Gegnern mit Kaperbriefen ausgestattet, die ihnen freies Geleit und Unterstützung zusicherten, und als Aushilfsmarine gegen sie eingesetzt. Sie geboten der Schwarzen Margarete tatsächlich Einhalt. Foelke Kampana war die zweite Frau, die eine gewichtige Rolle spielte. Anführerin der einflußreichen Kampana-Sippe, Drahtzieherin über ihren Sohn und Verwandte, hatte sie die Vitalienbrüder nach Ostfriesland geholt. In England regierte Heinrich IV, dem Störtebeker ebenfalls schon ins Gehege gekommen war und ein paar Schiffe weggekapert hatte. Der englische König schickte einen Gesandten zu den Hanserecessen, den Hansetagen, die alle
ein bis zwei Jahre stattfanden, um dem Piratenunwesen Einhalt zu gebieten. Gödeke Michel und one called Strotbecker, wie er ihn nannte, seien die Oberpiraten. Den größten Einfluß, teils viel mehr als die gekrönten Häupter, Fürsten und Häuptlinge hatte jedoch die Hanse mit über tausend Kontoren und Niederlassungen. Dieser Kaufmannsbund vermochte Reiche zu vernichten und beeinflußte die politischen Geschicke in allen Dingen. Geld und Macht waren eine unheilige Allianz eingegangen, gegen die die Vitalienbrüder relativ harmlos wirkten. Unterschiedliche Parteien setzten sie für ihre Zwecke ein, bedienten sich ihrer, trieben Handel mit ihnen. Offen oder versteckt boten sie ihnen Schutz und Vergünstigungen und ließen sie oft genug wie heiße Kartoffeln fallen, wenn sie sie nicht mehr brauchten oder sie ihnen zu unbequem wurden. Auf den Punkt gebracht, ging es um Macht und um Märkte, und es lief auf ein Duell zwischen der Hanse und den Vitalienbrüdern hinaus. In alledem segelte auch noch der Fliegende Holländer herum, unmenschlichster und grausamster aller Piraten. Gottes und aller Welten und Menschen Feind, wenn man die Losung der Vitalienbrüder umsetzte. Ich war in keine einfache Zeit gekommen. »Gödeke Michel ist in Marienhafe!« rief unser Ausguck. »Ich sehe seine Flagge am Mast seines Schiffs wehen.« »Michel ist hier?« erscholl es an Bord des »Roten Teufels«. »Das ist allerdings eine Überraschung.« Magister Wigbold, der zweite Mann nach Gödeke Michel bei den nördlichen Vitalienbrüdern, war, wie wir hörten, nicht in Marienhafe. Störtebeker runzelte die Stirn. Wichtiges mußte anstehen, wenn Gödeke Michel anwesend war, zweifellos dann auch Keno tom Brok und andere Friesenhäuptlinge und Mächtige. »Ich bin wohl gerade zur rechten Zeit zurückgekehrt«, hörte ich Störtebeker murmeln. Er krampfte die Rechte um seinen Schwertgriff. Er war ein Idealist, den es auf eine blutige Bahn unter die Piraten verschlagen hatte, und ein Romantiker. Intrigen und Machtspiele mochte er nicht. Gödeke Michel übertraf ihn an Bedeutung. Doch für die Nachwelt heftete sich der Ruhm des größten deutschen
Seeräubers an Klaus Störtebekers Namen. Die Zeit drängte. Vielleicht würde ich Störtebeker tagelang nicht allein sprechen können, weil er sehr bald mit Beschlag belegt wurde. Oder es wurden Entscheidungen getroffen, die es ihm verwehrten, auf Fahrt gegen den Fliegenden Holländer zu gehen. Deshalb zupfte ich ihn gleich am Ärmel von seinem Wams. »Auf ein Wort, Klaus.« Ich zog ihn zur Seite. Anna Vitalis blieb etwas entfernt stehen. »Kennst du den Fliegenden Holländer?« »Das Geisterschiff, das verruchte, verdammte. Ich habe davon gehört. Einmal sah ich auf Helgoland die Opfer der skelettierten Bestien, die den Namen aller ehrlichen Piraten beschmutzten. Ein andermal wurden wir Zeuge, wie sie eine Schiffsbesatzung abschlachteten. Als wir sie rammen wollten, segelten die Skelettpiraten davon, in eine Nebelbank hinein, die plötzlich entstand und sie verschluckte.« »Ihr wolltet sie rammen?« fragte ich. »Ich hatte es befohlen«, sagte Klaus Störtebeker. »Doch meine abergläubische Mannschaft weigerte sich. Bis ich sie zur Räson gebracht hatte, war es zu spät. - Weshalb erwähnst du das Geisterschiff?« »Ich habe eine Rechnung mit Jan van den Duiwel offen«, sagte ich. Störtebeker kannte anscheinend den Namen des Kapitäns des Geisterschiffs, denn er fragte nicht. Ich lockte: »Die Skelettpiraten haben reiche Schätze erbeutet. Ich weiß, wie man sie besiegen kann und wie es möglich ist, Gold und Silber zu finden, dazu Münzen aus vieler Herren Länder und wertvollen Schmuck. Das kann viel einträglicher sein als eine Kaperfahrt gegen die Hanse. - Doch das muß vorerst ein Geheimnis zwischen uns bleiben. Bevor du anderen Plänen zustimmst, Käpten, rede zuerst mit mir.« Störtebekers Bieratem schlug mir ins Gesicht. Die Beutefässer aus jenem Hanseschiff waren noch immer nicht leergesoffen. »Ich bin nicht so habgierig, wie du denkst«, sagte Störtebeker. »Hansekaufleute waren es, die mich um Hab und Gut brachten, die meine Familie vernichteten. Durch hinterlistige Machenschaften verloren wir unseren Gutshof im Holsteinischen. Mein alter Vater wurde ermordet. Meinen Vetter haben sie
gerädert, weil er einen der Schufte, denen nichts nachzuweisen war, mit dem Schwert verletzte. Meine hochschwangere Schwester ist von den Söldnern der Hanse niedergeritten worden, als diese ihr Haus anzündeten und sie floh. Sie verlor das Kind und verblutete elend. Ihr Mann, der mir ein guter und lieber Freund war, starb in den Flammen. Deshalb bin ich zur See gegangen. Ich hasse die Hanse und schade ihr, wo ich kann. Das interessiert mich viel mehr als Gut und Geld.« Er fügte hinzu: »Das ist auch ein Geheimnis.« Jetzt kannte ich die Triebfeder seines Handelns. »Jan van den Duiwel hat viel Schlimmeres auf dem Gewissen als jene Schufte, die dir das antaten, Klaus«, sagte ich. »Er ist ein Teufel mit nichts im Sinn, als Unschuldige grausam umzubringen.« Störtebekers Blick flackerte. »Was geht mich van den Duiwel an?« fragte er schroff. »Ich segele gegen die Hanse, diesen Kraken, der seine gierigen Fangarme um die halbe Welt legt, von London bis Nowgorod. Überall sind sie, die habgierigen Pfeffersäcke. Sie saugen die Witwen und Waisen aus, unterdrücken und plündern die Schwachen, treiben Schacher und Wucher und sind voller Ungerechtigkeit. Den Mammon beten sie an. Ach!« Wütend winkte er ab und stapfte davon. Er war vom Haß verblendet. Mir stand es nicht zu, über die Hanse zu urteilen, die wohl kein Wohltätigkeitsverein, jedoch auch kein Ausbund an Niedertracht gewesen war. Natürlich hatten die Hansekaufleute profitorientiert gehandelt. Doch lauter Banditen und Schufte, wie Störtebeker sie verblendet aus persönlichem Ressentiment sah, waren sie nicht gewesen. Resigniert sagte ich mir, daß ich erst einmal abwarten mußte. Mein erster Vorschlag, gegen den Fliegenden Holländer vorzugehen, war bei Störtebeker nicht auf fruchtbaren Boden gefallen. Und nur er, wenn überhaupt einer, war mit mir zusammen imstande, dem Wüten des Jan van den Duiwel und seiner Skelettpiraten Einhalt zu gebieten. Ich schaute auf meinen silbernen Ring und hoffte das Beste. Ich bangte um Tessa. Lebte sie überhaupt noch? Und was trieb Mephisto, dessen Zeitfalle mich verfehlt hatte?
* Nicht nur Gödeke Michel, auch der Friesenhäuptling Keno tom Brok und andere Mächtige waren in Marienhafe versammelt. Die drei Schiffe, mit denen wir angekommen waren, lagen vor Anker. Die Dunkelheit war hereingebrochen. Im Schein von Fackeln und Laternen brachten die Vitalienbrüder und Einheimische die Beute an Land. In Marienhafe waren alle aufgeregt und voll Freude, weil Störtebeker mit seinen Gefährten erfolgreich von der Kaperfahrt zurückgekehrt war. Ein großes Fest begann. Fast jedes Haus in dem Ort wurde zur Schenke. Ausgelassenes Treiben herrschte. Ich ließ Anna Vitalis an Bord des »Roten Teufels« in der Kabine zurück. So wie es jetzt hier zuging, hätte ich sie keinen Moment allein lassen können. Der Ort war mit Laternen und Fackeln hell erleuchtet. In den ersten vier Geschossen des großen Turms der Marienkirche brannte Licht. Laternen-, Lampion- und Fackelschein spiegelte sich auf dem Wasser des Hafens. Auch an Bord mancher Schiffe wurde gefeiert. Musik erklang. Die Zither wurde gespielt sowie ein Vorläufer der Ziehharmonika. Hörner und andere Instrumente erklangen. Von der üblichen Steifheit und Zurückhaltung der Norddeutschen war nichts mehr zu spüren. In einer großen, reetgedeckten Halle drehten sich Paare im Tanz. Mancher Vitalienbruder hatte bereits mit seinem Liebchen ein Lager gefunden. Im Erdgeschoß des wuchtigen Turms der Marienkirche berieten sich die Anführer. Ich schlenderte umher und schaute mir alles an. In einer Schenke kaufte ich mir eine Kalbshaxe, aß und trank einen Humpen. Ich war ausstaffiert wie die übrigen Seeräuber, mit enganliegenden Hosen, derben Schuhen, Wams, flacher Mütze und trug ein Schwert an der Seite. Manchmal betrachtete ich meinen Ring, der jedoch keinerlei Reaktion zeigte. Nach einer Weile wurde es mir langweilig, den Feiernden zuzusehen. Sie waren völlig zufrieden, wenn sie sich nur den Bauch vollschlagen, sich betrinken und lieben konnten. Für das
letztere gab es genug Mädchen und Mägde. Ich erhielt einige Angebote, von denen mich jedoch keines reizte. Ich mußte außerdem immer an Tessa denken. Endlich, als mir die Zeit zu lang wurde, ging ich zum Marienturm. Ein Doppelposten stand vor der Tür, die Hellebarde an der Schulter, das Schwert an der Seite. Mit überkreuzten Hellebarden verwehrten mir die zwei Wächter den Weg. Ich kannte sie nicht. Der Kleidung nach mußten es Leute tom Broks sein. »Halt!« hörte ich. »Was willst du? Nenn die Parole.« »Fette Beute«, sagte ich auf gut Glück. »Ich will Störtebeker sprechen.« »Aber er dich nicht.« Ohne lange zu fackeln, schlug ich die zwei Posten mit den Köpfen gegeneinander, daß sie zu Boden gingen. Es war ein Risiko, hier den wilden Mann zu spielen. Doch irgendwie mußte ich zu einem Ergebnis kommen. Das Tor war verschlossen. Ich zog die zwei bewußtlosen Wachtposten zur Seite und pochte dagegen. Ein älterer Mann, ein Aufseher, ließ mich ein. Ich schickte ihn los. Störtebeker erschien nach fünf Minuten. Gerade rechtzeitig, denn die beiden Wachtposten, die ich zuvor ausgeschaltet hatte, hämmerten an das massive Tor und verursachten einen Höllenlärm. Rasch informierte ich Störtebeker, wie ich mit ihnen verfahren war. »Ich warte nicht gern ab«, sagte ich. »Das haben wir beide gemeinsam«, erwiderte er. »Was willst du?« »Erfahren, was ausgeheckt wird. Ich habe dir heute einen Vorschlag unterbreitet, Käpten, nämlich, gegen den Fliegenden Holländer zu segeln. Wie stehst du dazu? Hast du es dir überlegt, oder hast du andere Pläne?« »Das geht dich nichts an.« Störtebeker öffnete die eiserne Tür zum Turm und stauchte die beiden Wächter zusammen. Er befahl ihnen, sich ruhig zu verhalten. Dann schloß er die Tür und kehrte wieder zu mir zurück. »Um dich gibt es ein Geheimnis, Höllemann. Das spüre ich. Du bist wagemutig und kühn, außerdem ehrlich. Das gefällt mir. Komm mit zur Beratung. Es versteht sich von selbst, daß du über alles schweigen mußt, was du hörst. In deinem eigenen Interesse.«
Er fuhr sich mit dem Daumen über die Gurgel. »Das kann ich dann nicht verhindern«, sagte er erklärend und führte mich in den Raum, in dem die Beratung stattfand. An einem Eichenholztisch saßen Gödeke Michel, Keno tom Brok, Foelke Kampana und ihr Schwager Edzard Allena, ein Sendbote des Herzogs Albrecht von Holland und noch einige andere. Auch ein Gesandter des Königs von Schweden war anwesend. Hier wurden Pläne geschmiedet, die weit über die üblichen Piratenstücke hinausgingen. Die Machtverhältnisse sollten geändert werden. Tom Brok und andere wollten weit über das Maß hinauswachsen, das ihnen gesetzt war. Das Zünglein an der Waage waren, wie so oft, die Vitalienbrüder. Störtebeker stellte mich als den Mann vor, der ihn als einziger je in einem fairen Zweikampf besiegt hatte. Gödeke Michel runzelte die Stirn. »Warum hast du ihn nicht über die Planke geschickt?« fragte er, als ich unten am Tisch saß und die anderen sich bereits wieder angeregt unterhielten. »Ich bin ein gewaltiger Kämpe, aber ich habe noch nie behauptet, daß ich unbesiegbar sei. Warum soll ich Mark Höllemann umbringen, nur weil er im Kampf gegen mich Glück hatte? Wir sind Freunde geworden.« Er meinte das ernst, obwohl wir uns erst kurze Zeit kannten. Ich hatte sein Vertrauen gewonnen, genauso wie er das meine. Während die Beratungen fortgesetzt wurden, hatte ich Gelegenheit, mir die Personen am Tisch genau anzusehen. Keno tom Brok war ein Hüne mit eisgrauem Bart, schwergewichtig wie ein Bär, mit wettergegerbtem Gesicht. Gödeke Michel war baumlang, mit einer Säbelnarbe im Gesicht und über die Mundwinkel herabhängendem Schnurrbart. Foelke Kampana, die große Intrigantin und Hetzerin unter den Friesen, war schon älter. Sie trug ein schwarzes Kleid mit einem weißen Spitzenkragen und eine holländische Haube mit Spitzenbesatz. Ihre bösen, dunklen Augen musterten mich durchdringend. Die böse Foelke, wie der Volksmund sie nannte, ließ nur ungern an jemandem, den sie nicht mochte, ein gutes Haar. Wie
ich
mithörte,
wollten
sich
Holland
und
Schweden
zusammenschließen und mit den wichtigsten Friesenhäuptlingen einen Bund gründen, in den die Vitalienbrüder einbezogen werden sollten. Es war die Rede davon, Störtebeker und Gödeke Michel ostfriesische Inseln und einen Landstrich als erbliches Lehen zu geben. Mir sank der Mut. Bei solchen Zukunftsaussichten wurde immer fraglicher, ob ich Störtebeker zum Vorgehen gegen den Fliegenden Holländer bewegen konnte. Spät nachts, als die Beratung endete, lernte ich Amke kennen, Störtebekers Frau. Sie waren noch nicht lange verheiratet. Die blonde, junge Frau liebte den Seekönig sehr. Sie hatten, wie ich gehört hatte, zwei kleine Kinder von zweieinhalb Jahren und einem Jahr. Spät kehrte ich auf den »Roten Teufel« zurück. In Marienhafe wurde immer noch gefeiert. Anna schlief noch nicht, als ich die Kabine betrat. Die Öllampe brannte und warf ihren Lichtschein auf die schöne junge Frau im spitzenbesetzten weißen Nachthemd. »Du hast lange auf dich warten lassen, Mark«, sagte Anna. Bisher war ich ihr nicht zu nahe getreten. Deshalb drängte sie sich an mich, um mich endlich umzustimmen. Sehnsuchtsvoll streckte sie mir die Arme entgegen, umarmte und küßte mich. Dann wand sie sich aus meinen Armen und streifte sich mit ein paar eleganten Bewegungen das Nachthemd über den Kopf. Ihr Körper war hinreißend und sehnte sich nach Liebe. Ich war in Annas Nähe gefangen. Wie konnte ich Tessa da treu bleiben? Versteht mich, Freunde, ich suchte für das Unausweichliche eine Entschuldigung… Immer leidenschaftlicher gebärdete sich Anna, und mein Widerstand schmolz; mein Verstand rutschte mir gleichzeitig in die Hose… Irgendwann schlief ich in enger Umarmung mit Anna ein. Mein ruhiger Schlaf dauerte nicht lange. Mephisto erschien mir im Traum, grün gekleidet wie ein Jäger, mit einer Feder am Hut und mit rotglühenden, schaurigen Augen. »Wenn du deine Tessa lebend wiedersehen willst, mußt du dich beeilen«, sagte er zu mir. »Bald wird sie mir geopfert. Mit aufgeschlitzter Kehle wird sie sich ausbluten und im Sterben noch deinen Namen verfluchen, weil du sie im Stich gelassen hast.« »Du Halunke!« rief ich im Traum. »Du degradierst mich«,
antwortete der teuflische Jäger. »Was nennst du den Teufel einen einfachen Halunken? Aber ich will nicht kleinlich sein und darüber hinwegsehen. Ich verrate dir, wo du das Geisterschiff findest, an dessen Bord Tessa ist.« »Wo?« »Heute noch werden Jan van den Duiwel und seine Skelettpiraten den Ort Hooksiel im Wangerland am Jadebusen überfallen und plündern. Versuche doch, es zu verhindern.« Hohnlachend verschwand Mephisto, indem er sich in eine nach Schwefel stinkende Rauchwolke auflöste. Der Schwefelgeruch war ihm nicht abzugewöhnen. Jemand packte und schüttelte mich. Mit einem Schrei wachte ich auf. Durch die offene Luke fiel eine Bahn helles Tageslicht herein. Ich hörte den Schrei einer Möwe. Anna Vitalis schüttelte mich. »Mark, wach auf. Du hast schlecht geträumt. Liebster, es war nur ein Alptraum. Was ist mit dem Ring an deiner Hand? Plötzlich leuchtet er.« Der Ring prickelte außerdem. Allmählich kam ich zu mir und sammelte meine Gedanken. Die Reaktion des Rings bewies, daß es kein einfacher Traum gewesen war, sondern daß ich tatsächlich eine Botschaft von Mephisto erhalten hatte. Allmählich beruhigten sich meine aufgepeitschten Nerven. Anna half mir dabei. Sie küßte das sternförmige Mal an meiner Brust. Mit ihm hatte es eine besondere Bewandtnis, die ich noch nicht ergründet hatte. Ich mußte wohl eine Art Hexer sein, denn es handelte sich einwandfrei um ein Hexenmal, wie es die einschlägige Literatur schilderte und von dem in den Überlieferungen die Rede war. »Der Fliegende Holländer greift uns an!« hörte ich den gellenden Schrei des Ausgucks oben im Turm der Marienkirche. »Likedeler, Friesen, auf, zu den Waffen! Soeben laufen die Skelettpiraten in den Hafen ein.«
* Diesmal war es kein Traum. Ich fuhr in meine Beinkleider, griff
nach dem Schwert und rannte an Deck. In dem niederen Gang stieß ich mir den Kopf. Die Schiffe um 1400 waren nicht für Männer von einsneunzig gebaut. Ich kletterte auf den Großmast und stellte mich in den Ausguck. Kalter Wind pfiff. Ein unheimliches, düsteres Schiff kam von der Leybucht her durch den Wasserarm. Modrig und zerfetzt waren die Segel. An Bord herrschte eine Totenstille, die grausiger war als jeder Lärm. Am Ruder stand ein Skelett mit goldtressenbesetztem Wams und schaute mit glühenden Augen herüber. Skelette, in modriges Zeug gekleidet und mit Schwertern und Enterbeilen bewaffnet, standen an der Reling oder hingen in den Wanten. Lange Tangbüschel hingen über die Reling und von den Wanten und Rahen. Düsteres Licht umgab den unheimlichen Dreimaster. Die schwarze Flagge, die am Mast wehte, zeigte einen Teufelskopf, und am Bug stand als Schiffsname »Mephisto«. Störtebeker schaute aus einem Fenster im ersten Obergeschoß des Turms der Marienkirche. Mit dem blanken Schwert zeigte er auf den Fliegenden Holländer und rief: »Zu den Waffen, Männer! Auf, schießt die Kanonen ab! Verjagt diese Teufelspiraten.« Die Vitalienbrüder und die Einheimischen waren jäh aus dem Schlaf gerissen. Ich sah den Steuermann Enno Nordholk an Deck unter mir. Er war wachsbleich, bekreuzigte sich ein ums andere Mal und murmelte »Der Herr sei uns gnädig.« Drei Kanonen auf den Festungsanlagen am Hafen und um die Marienkirche donnerten. Der Lärm war das Schlimmste, was sie vollführten. Von dem mörderischen Geschützfeuer späterer Zeiten waren diese Zwanzig-Pfünder-Kanonen noch meilenweit entfernt. Zwei Kanonenkugeln schlugen ins Wasser des Kanals. Die dritte traf das Geisterschiff am hinteren Drittel. Es geschah nichts weiter, als daß sie durch das Schiff hindurchflog. Jan van den Duiwel grüßte uns höhnisch mit der Knochenhand. Dann löste sich sein Schiff auf. Erst wurde es durchsichtig, dann verwehte es wie ein Nebelstreif. Höhnische Rufe und ein gespenstischer Chor erklangen nun. Beides verstummte gleich wieder. Ich stieg hinunter aufs Deck und ging an Land. Vor Störtebekers Turm versammelten wir uns. Auch Gödeke Michel, der auf seinem Schiff übernachtet hatte, erschien.
»Der Fliegende Holländer ist schon wieder verschwunden«, sagte Störtebeker. »Wir wissen, daß er sein Unwesen treibt. Aber solange er uns nicht angreift, besteht kein Grund zur Sorge.« »Doch!« rief ich. »Ich hatte einen Wahrtraum, daß die Skelettpiraten den Ort Hooksiel am Jadebusen überfallen wollen. Das Totenschiff segelt so schnell wie der Wind. Sie werden schon sehr bald in Hooksiel sein.« Auf dem Landweg waren es fünfunddreißig Kilometer bis Hooksiel. Auf dem Seeweg war es viel umständlicher, man mußte einen großen Umweg segeln. Das würde selbst bei günstigem Wind einen Tag dauern. »Träume sind Schäume!« rief Gödeke Michel. »Darauf kann man nichts geben. Ich werde mich wieder aufs Ohr legen. Sollten die Skelettpiraten wiederkommen, werde ich den Alarm hören.« Störtebeker nahm meine Warnung weniger auf die leichte Schulter. Er verließ den Turm und ging mit mir und einer Gruppe seiner Piraten zu dem Haus, in dem Keno tom Brok sein Quartier hatte. Der Friesenhäuptling hatte etliche Kilometer entfernt eine große und feste Burg. Er war ungehalten, als ich ihm auf Störtebekers Geheiß hin von meinem Traum erzählte. »Bin ich ein Spökenkieker?« fragte tom Brok mürrisch. »Wenn ich jedesmal losziehen wollte, weil einer geträumt hat, wäre ich das ganze Jahr unterwegs.« »Du bist der mächtigste Häuptling und mußt die freien Friesen schützen, denen du vorstehst«, erinnerte ich ihn an seine Pflicht. »So will es das Gesetz.« »Du als Landesfremder brauchst mich nicht auf meine Pflichten hinzuweisen«, brummte tom Brok. »Ich kannte sie schon, da warst du noch flüssig. Was soll ich in Hooksiel? Dort ist Haro von Greetsiel der Oberste, der immer nur gegen mich war. Wenn es etwas zu kümmern gibt, dann soll er sich doch kümmern.« Die Quade Foelke mischte sich ein und giftete mit bösem Maul, tom Brok könnte nicht auf der einen Seite der Erste im Land sein und auf der anderen Unangenehmes abwimmeln wollen. »Entweder bist du der mächtigste Stammesfürst in Ostfriesland, oder du bist es nicht!« keifte die Quade Foelke. »Oder fürchtest du dich vor den Geisterpiraten, Keno tom Brok?« »Ich fürchte keinen, sei er tot oder lebendig«, antwortete der
alte Seebär. »Du hast wie immer ein Schandmaul, Foelke Kampana.« In diesem Fall war das aber gut. Quade Foelkes Gekeif brachte schneller einen Reitertrupp zusammen und zum Aufbruch, als ich es mit sämtlichen Argumenten gekonnt hätte. Keine zwanzig Minuten später ritten wir auf schweren Gäulen nach Osten. Unsere Truppe war fünfzig Mann stark und schwer bewaffnet, um den Skelettpiraten entgegentreten zu können. Geweihte Pfeile, solche aus Schlehenholz, in die magische Zeichen geschnitzt waren, und ein paar silberne oder versilberte Schwerter und Dolche gehörten dazu. In jener Zeit glaubten die Menschen alle fest an Dämonen und Geister. Deshalb waren sie sofort bereit, magische Waffen und Mittel zu beschaffen und einzusetzen. Der Hufschlag unserer Pferde donnerte. Ich hatte keine silberne oder geweihte Waffe. Wenn das Geisterschiff Hooksiel angriff und wir kämpfen mußten, würde ich mein Schwert mit dem magischen Ring in eine magische Waffe verwandeln. Dazu mußte ich ihn an meinen sternförmigen Mal aktivieren und mit seinem Laserstrahl in Runen das keltische Wort für »Waffe« auf die Klinge schreiben. Der Hufschlag unserer Abteilung donnerte. Ich trieb die Männer um Klaus Störtebeker, Keno tom Brok und Gödeke Michel zur Eile an. Mein Ring hatte geglüht, als das Totenschiff auf den Hafen zulief. Nach seinem Verschwinden hatte das Leuchten aufgehört. Doch es fing wieder an, als wir uns eine gute Stunde später dem Ort Hooksiel näherten. Eine große Rauchwolke wies uns den Weg. Schlimme Vorahnungen beschlichen mich. Die Realität übertraf sie jedoch weit.
* Uns bot sich ein Bild des Schreckens. Ein Teil von den Häusern brannte. Alle Einwohner des kleinen Fischerdorfs, soweit sie nicht rechtzeitig hatten fliehen können, waren niedergemacht worden. Die Skelettpiraten hatten nichts und niemanden verschont, nicht
mal das Kind in der Wiege oder das Vieh auf der Weide hinterm Deich oder im Stall. Verängstigte, verzweifelte Einwohner, die inzwischen zurückgekehrt waren, bemühten sich, die Brände zu löschen. Sie berichteten uns, wann der Überfall stattgefunden hatte. Schon eine Stunde, nachdem das Geisterschiff Hafeneinfahrt von Marienhafe gesehen worden war.
an
der
»Die teuflischen Skelette haben meine ganze Familie ermordet«, schluchzte eine ältere Frau. »Mein Mann Pidder hat sich ihnen mit dem Beil in der Hand entgegengestellt, obwohl er vor lauter Entsetzen zitterte. Sie haben ihn glatt in Stücke gehauen. Da liegt er. Ach, wäre ich doch mit ihm gestorben.« Schluchzend und jammernd kniete sie bei ihrem toten Mann nieder und flehte den Himmel um Vergeltung an den Skelettpiraten an. Der Jammer der armen Frau rührte mich. Die anderen von unserem Trupp reagierten jedoch unterschiedlich. Der Überfall der Skelettpiraten war so schnell vor sich gegangen, daß die allermeisten Einwohner von Hooksiel gar keine Chance zur Flucht gehabt hatten. Die Gegenwehr war nur schwach und ohne Aussicht auf Erfolg gewesen, zumal das blanke Entsetzen die Hooksieler lähmte. Wir hörten, daß die Skelettpiraten eine Gefangene mit an Bord ihres Schiffes geschleppt hatten, die Tochter des Schultheißen. Zwanzig Minuten, bevor wir ankamen, waren sie ausgelaufen. Wir hatten von dem Geisterschiff nichts mehr gesehen. Ein schwerer Schicksalsschlag, direkt aus der Hölle, hatte den Ort getroffen. Keno tom Brok, der in seinem Leben schon Ströme von Blut gesehen und selbst vergossen hatte, ging schwer erschüttert umher. Mit ungelenker Hand streichelte er ein totes Kind. Eine ausreichende Anzahl von unserem Trupp half beim Löschen. Es stank nach Rauch und verbranntem Fleisch. Erschüttert schaute Klaus Störtebeker auf das von den Skelettpiraten ermordete dreijährige Mädchen, das sein Schwiegervater auf seinen Armen trug. Ein Schwert hatte es durchbohrt. »Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, daß ich den Tod dieses unschuldigen Kindes und ihre sonstigen Untaten an dieser Höllenbrut rächen werde!« rief Störtebeker. »Höllemann, her zu mir! Du sagtest, du weißt, wie man den Fliegenden Holländer
stellt und seine Besatzung bekämpft. Jetzt brauche ich dich, und wehe dir, wenn du gelogen hast!« Ich ging zu ihm. Ein ungeheurer Zorn flammte aus Störtebekers Augen. Der Überfall auf Hooksiel und. der Tod eines kleinen Mädchens mit vielen anderen hatte bewirkt, was meine Argumente nicht geschafft hatten. Nämlich seine Meinung geändert. Bisher war er ein geschworener Feind der Hanse gewesen. Jetzt hatte er eingesehen, daß die Unholde von dem Fliegenden Holländer tausendmal schlimmer waren, als Menschen je sein konnten. »Ich werde nicht rasten noch ruhen«, schwor Störtebeker, »bis ich Jan van den Duiwel und seine Mordskelette in die Hölle geschickt habe, wo sie hingehören.« Er atmete tief. »Oder ich sterbe bei dem Versuch.« Keno tom Brok legte das tote Kind vor der Dorfkirche nieder, die von den Skelettpiraten entweiht und in Brand gesteckt worden war. Bei den in Brand gesetzten Reetdachhäusern war bis auf zwei nichts mehr zu retten. Sie brannten komplett nieder. An der Kirche gab es jedoch nur einen relativ geringen Schaden. Tom Brok warnte seinen Schwiegersohn. »Klaus, ich verstehe deine Empörung. Aber das ist nicht deine Sache. Du hast andere Aufgaben. Wenn dir der Fliegende Holländer über den Weg segelt, kannst du ihn angreifen. Aber deine Zeit mit seiner Verfolgung vergeuden, solltest du nicht.« Gödeke Michel sagte es drastischer. »Klaus, du bist immer seltsam gewesen und tatest Dinge, die ich nie verstanden habe. Witwen und Waisen gabst du von deiner Beute oft so viel, daß dir selber nichts blieb. Du mußt dich einmal entscheiden, ob du ein Seeräuber oder ein Heiliger sein willst. Jetzt gehst du entschieden zu weit. Holländer hin, Gemetzel her. Wir haben die einmalige Chance, eine Allianz zu gründen, die mächtiger als alle anderen ist. Denk daran, was wir in der letzten Nacht berieten. Wir können zu Fürsten werden. Inseln und einen ganzen Landstrich sollen wir als Lohn für unsere Dienste erhalten. Es gibt viel zu tun, bis es soweit ist. Laß den Holländer Holländer sein. Uns greift er sowieso nicht an. Wir müssen Dänemark und die Hanse schlagen.« »Die
Hanse?«
sagte
Störtebeker,
als
ob
ihn
das
noch
interessierte. »Hier geht es um wichtigere Hansekaufleute sind immerhin Menschen.«
Dinge.
Die
»Du bist wahnsinnig, Klaus«, beschwor ihn Gödeke Michel. »Wegen eines Überfalls auf einen Fischerort willst du auf die größte Chance deines Lebens verzichten, nämlich, ein Fürst zu werden? Laß ab von diesem Vorhaben. Von mir erhältst du keine Unterstützung. Kein Likedeler wird mit dir segeln.« »Das«, sagte Störtebeker, »werden wir sehen. Geh mir aus den Augen. Gödeke Michel, sprich mich nicht mehr an. Sonst verliere ich die Beherrschung und schlage dir ins Gesicht.« Der baumlange Piratenführer wandte sich nach einem Blick in Störtebekers Gesicht wortlos ab. Grimmig starrte Klaus Störtebeker auf die Leichen, die man von allen Seiten herbeitrug und bei der Kirche ablegte, deren Brand wir unter Kontrolle und fast gelöscht hatten. »Ich hätte gleich auf dich hören sollen, Mark«, sagte Störtebeker. »Wenn wir sofort losgeritten wären, statt Zeit zu verlieren, hätten wir vielleicht welche von den Dorfbewohnern retten können. Vielleicht wäre dann dieses Kind dort noch am Leben. Es ist nur wenig älter als meine Tochter.« Es war das erste Mal, daß mich Störtebeker beim Vornamen nannte.
* Am Abend begruben wir die Toten von Hooksiel. Barhäuptig standen wir da. Störtebekers Löwenmähne flatterte im Wind, der auch in meinen Haaren zauste. Danach ritten wir sofort nach Marienhafe zurück. Klaus Störtebeker hatte den unglücklichen Hooksielern jede nur mögliche Unterstützung und Schätze aus seinen Kaperfahrten versprochen, damit sie den Ort wiederaufbauen konnten. »Bis in die Hölle und zurück jage ich dich, van den Duiwel«, hatte Klaus Störtebeker am offenen Grab des ermordeten kleinen Mädchens geschworen, das ihn an seine jüngste Tochter Margret erinnerte. »Ich habe viel Blut vergossen. Erlittenes Unrecht trieb mich unter die Piraten. Doch nie betete ich den Teufel an, noch
mordete ich jemals unschuldige Kinder. In meiner Brust schlägt ein menschliches Herz. Nimmerlasse ich zu, daß Teufel und Teufelsanbeter derlei Schrecken verüben.« Grimmig fügte er noch hinzu: »Die Menschen können sich sehr gut selbst gegenseitig umbringen. Da brauchen wir nicht noch untote Skelette dazu.« Sein Entschluß stand fest. Die Quade Foelke Kampana zog zwar zunächst ein schiefes Maul, weil er alle anderen Pläne zurückstellen wollte. Dann jedoch stimmte sie Störtebeker zu, der am folgenden Morgen öffentlich auf dem Marktplatz von Marienhafe sprach und sein Vorhaben erläuterte. »Es wird höchste Zeit, daß mit dem Unwesen der Skelettpiraten aufgeräumt wird«, sagte sie. »Wenn es einer fertigbringt, dann bist du das, Störtebeker.« Sie fügte hinzu: »Gießt Freikugeln, weiht Pfeile und Armbrustbolzen und nehmt Silberschwerter, Dolche und Hellebarden. Wenn keine da sind, stellt welche her. Bespritzt die Skelettpiraten mit Weihwasser. Bekämpft sie mit Feuersbrunst. Rammt sie und schickt sie zum Satan in die Hölle!« Listig sagte sie: »Für alle Fälle vergeßt auch nicht, ein paar Waffen Odin und den alten Göttern zu weihen. Vielleicht haben sie ja Erfolg, wo nun der Christgott schon so lange versagt. Er läßt dieses Unwesen zu. Bei den germanischen Göttern, die wir lange genug anbeteten und denen wir opferten, hat es das nicht gegeben. Daß doch der Fenriswolf die Skelettpiraten verschlinge, die Wilde Jagd über sie wegbrause und sie vernichte.« Die Sonne schien. Leichter Wind kräuselte die Wellen im Hafen und die des Kanals. Störtebeker fragte: »Wenn du so denkst, wirst du sicher welche von deinen Verwandten und Leuten mit mir auf die Fahrt schicken, Foelke Kampana?« »Ach«, sagte die Quade Foelke heuchlerisch, »ich würde ja gern. Aber leider sind mir die Hände gebunden. Von den Sippen der Kampanas und Allenas ist leider niemand abkömmlich. Unaufschiebbare, wichtige Aufgaben rufen uns.« Keno tom Brok und Gödeke Michel nickten dazu. Auch sie wollten sich an der Fahrt gegen die Skelettpiraten nicht beteiligen. Auch einigen von der Mannschaft des »Roten Teufels« war die
Sache nicht geheuer. Sie murrten, schauten zu Boden und traten unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Störtebeker nahm sein Schwert und zog einen Strich auf dem Boden. »Wer mit mir segeln will, soll diese Linie überschreiten«, sagte er. »Wer von meiner Mannschaft dazu nicht bereit ist, kann sofort abheuern und erhält seinen vollen Anteil von der letzten Beute. Ich brauche Männer an Bord, keine Hosenscheißer.« Der Schiffsjunge lief zuerst über die Linie. Er rannte an mir vorbei, sonst wäre ich der erste gewesen. Alle anderen folgten, manche freilich erst, nachdem sie eine Weile dagestanden und nachgedacht hatten. Es war eine mit Blut und Feuer zusammengeschweißte Mannschaft, die ihrem Kapitän überallhin und gegen jeden folgte. Zuletzt gingen Anna Vitalis und ein Mann aus Gödeke Michels Crew über die Linie. Der letztere hieß Jobst Ewermann, stammte aus Blankenese und war wie ich ein Maat. Von ihm abgesehen schloß sich kein Mitglied einer anderen Mannschaft und auch kein Friese aus den Stämmen der tom Broks, Kampanas, Allenas und anderen uns an. Ich wollte Anna zurückweisen. Ich sagte ihr, daß sie ohne Lösegeld freigelassen und sicher nach Hamburg zu ihrer Familie zurückgeleitet würde. Das wollte sie nicht. »Ich begleite dich, Mark«, sagte sie. Leise, damit nur ich es verstehen konnte, ergänzte sie: »Ich fühle, daß uns kein langes gemeinsames Leben beschieden ist. Deshalb laß mich mit dir fahren.« Ich dachte an Tessa, und mir war nicht wohl bei dem Gedanken, auch noch auf Anna aufpassen zu müssen. »Wenn du mich zurückweist, fliehe ich bei der erstbesten Gelegenheit und segele euch mit einer Jolle hinterher.« Gerührt umarmte ich Anna. »Dann segle schon besser mit uns«, stimmte ich indirekt zu. »So sind deine Überlebenschancen wenigstens etwas größer.« »Es sei«, sagte Störtebeker. Wir fingen sofort mit den Vorbereitungen für die Fahrt gegen den Fliegenden Holländer an. Silberbarren wurden aus den Schatzkammern im Turm der Marienkirche geschleppt, die Störtebekers Beutegut bargen. Wir schmolzen sie ein und fertigten geweihte Waffen davon, wie
Foelke Kampana geraten hatte. Ich hatte eine besondere Idee. Und zwar ließ ich Silberkleinhacken und von dem Kaplan weihen, der in Marienhafe die Seelsorge innehatte. Zwei Geschütze des »Roten Teufels« wurden so hergerichtet, daß sie Kartätschen verschießen konnten, was für diese Zeit eine neue Erfindung war. Nach harter Arbeit konnten wir am folgenden Tag schon in See stechen. Die zwei von Störtebeker gefangengenommenen Hamburger Kaufleute blieben in Marienhafe in einem Verlies zurück. Falls Störtebeker von seiner Fahrt nicht zurückkehrte, würden andere diesen Fall regeln. Anna Vitalis hatte die beiden Kaufherren, die sie kannte, kaum gesprochen. Diese waren der Meinung, sie würde von den Vitalienbrüdern gezwungen und wäre nicht freiwillig bei mir. Störtebeker verabschiedete sich von seiner Frau Amke und den beiden kleinen Kindern. Dann ging er an Bord. Die Ladebrücke wurde eingezogen, die Segel gesetzt. Ab ging die Fahrt, auf die Nordsee hinaus. Von einer Beute, die die Fahrt gegen die Skelettpiraten einbringen konnte, war nicht mehr die Rede. »Wir segeln gegen den Tod und den Teufel«, klang der rauhe Gesang der Vitalienbrüder an Bord des »Roten Teufels«, als Kirche und Hafen hinter uns zurückblieben. »Nimmer bricht uns der Mut.« Der Wind trug den Gesang Zurückgebliebenen hinüber.
zu
den
in
Marienhafe
»Ich habe in meinem ganzen Leben nur zwei richtige Männer kennengelernt«, sagte die alte Quade Foelke Kampana. »Der eine war Albrecht Eisenhand, der Holsteinsche Markgraf. Der andere ist Klaus Störtebeker.« Das Segel des »Roten Teufels« verschwand hinter dem Deich…
* Es war von Anfang an eine stürmische Fahrt, die unter schlechten Vorzeichen stand. Ich erlebte eine seemännische Ausbildung bei den Vitalienbrüdern, die knochenhart war. Ich zechte mit Störtebeker und seinen Kumpanen. An Bord des »Roten Teufels« hatte ich die vielleicht anstrengendste, aber auch
schönste Zeit meines Lebens. Um hier bestehen zu können, mußte man bärenstark und kerngesund sein und eiserne Nerven haben. Nur die Sorge um Tessa trübte meine Stimmung. Gischtumtost stand ich oft im Wogengebraus und führte das Steuer. Oder ich kletterte in die Wanten, half bei den Segelmanövern oder hockte im Mastkorb. Ich war der Maat von Klaus Störtebeker und stolzer darauf als auf die Zehnkampfmeisterschaften, die ich früher gewonnen hatte. Ja, ich war Störtebekers Maat! Wir sahen alle möglichen Schiffe, doch nicht den Fliegenden Holländer. Störtebeker verschmähte die fette Beute. Er hatte es nur auf den Fliegenden Holländer abgesehen. Immer wieder forderte er Jan van den Duiwel heraus, indem er mit mächtiger Stimme in den Wind brüllte und ihn schmähte. Ich wies dem »Roten Teufel« den Kurs, denn ich hatte bemerkt, daß mein Siegelring jeweils schwächer oder stärker leuchtete, je nachdem welche Richtung wir einschlugen. Nachdem wir Helgoland, die rote Felseninsel, hinter uns gelassen hatten, erhob sich ein Brausen in der Luft. Ich war unter Deck, hörte das Schreien der entsetzten, abergläubischen Mannschaft und rannte hinauf. Der Teufel selbst, Mephisto, war erschienen. Von rotem Schimmer umgeben schwebte er über dem Schiff in der Luft. Mit Hörnern, Teufelsfratze, Bocksbart, Pferdefuß und langem Schwanz schrecklich anzusehen. Er saß rittlings auf einer dreizinkigen Gabel wie die Hexe auf dem Besen. Hager, schwarz behaart und übergroß war er. »Werft Mark Höllemann über Bord, oder ich werde euch alle vernichten!« verlangte er. »Das ist eure letzte und einzige Chance. Laßt meinen treuen Knecht Jan van den Duiwel gewähren, oder ihr fahrt in die Hölle! Also?« Mein Ring glühte volle Kraft. Störtebeker machte ein Zeichen. Der krausköpfige Okko Schoeff schoß einen geweihten Armbrustbolzen gegen Mephisto ab, was diesen jedoch nicht erschüttern konnte. »Von meiner Mannschaft wird keiner ausgeliefert!« dröhnte Störtebeker. »Gottes Freund und aller Welten Feind - und gegen
Tod und Teufel.« »Dann sollt ihr verrecken!« Mephisto überschüttete das Piratenschiff mit stinkendem Unflat und Ungeziefer. Es dauerte eine Weile, bis wir wieder klar Schiff hatten. Der Teufel war längst verschwunden. Doch aus der Richtung, in die er zuletzt mit der dreizinkigen Gabel gezeigt und gerührt hatte, zogen dunkel und drohend Sturmwolken heran. Der Wind wurde immer stärker und brauste und heulte. Finster wurde es. Haushohe Wogen rollten heran. Der »Rote Teufel« krängte in der schweren See. Ein Orkan brach los, der volle vier Tage dauerte und unser Schiff an den Rand des Untergangs brachte. Anna litt schwer unter der Seekrankheit. Nach vier Tagen klarte das Wetter endlich wieder auf. Der »Rote Teufel« war schwer angeschlagen. Wir mußten Wasser schöpfen und von den Brechern zerschlagene Planken auswechseln. Auch die Takelage war beschädigt. Wieder erschien Mephisto und ritt auf seiner Gabel heran, in der Gestalt des herkömmlichen Teufels. »Liefert ihr Höllemann jetzt aus? Werft ihr ihn über Bord, damit er ertrinkt und der meine wird?« »Nein!« erscholl es wie aus einer Kehle von der Besatzung des »Roten Teufels«. »Dann kämpft gegen den Fliegenden Holländer!« rief Mephisto. »Die Skelettpiraten werden euch alle töten.« Aus einer Lücke in den Wolken, die noch immer den Himmel bedeckten, fiel blutrotes Licht. Eine Seemeile vor uns stiegen zunächst Mastspitzen, dann Segel und schließlich das düstere Totenschiff aus den Wellen. Die »Mephisto« kam, von Skeletten bemannt, angeführt von des Teufels Korsar. Tessa Hayden sah ich nicht an Bord, als ich hinüberspähte. Lebte sie noch? Wir machten uns kampfbereit.
* Der Fliegende Holländer segelte näher. Frischer Wind blähte die modrigen Segel. Wir hatten den »Roten Teufel« notdürftig
hergerichtet und die Sturmschäden beseitigt. Der Holk würde noch einer gründlichen Überholung bedürfen. Störtebekers Mannschaft war nach dem tagelangen Orkan noch arg angeschlagen. Aber die Vitalienbrüder waren zum Kampf entschlossen und umklammerten ihre Waffen. Letzte Vorbereitungen wurden getroffen. Doch dann, als wir gerade die Kanonen auf die »Mephisto« richteten, geschah etwas Unvorhergesehenes. Die Kanonen waren mit geweihten Kugeln und mit Kartätsehen geladen, also gehacktem Blei und Silber. Auch das war mit Weihwasser übergossen. Außerdem hatte ich meinen magischen Ring an dem Mal auf meiner Brust aktiviert und die Kartätschenladungen und Kanonenkugeln mit Runenbuchstaben bemalt. Das keltische Wort für »Waffe« schrieb ich in Runen darauf. Die Kartätschen und die Kanonenkugeln strahlten in einem blauen Licht, was die Vitalienbrüder zu erstaunten Ausrufen veranlaßte. Seit meinem Kampf gegen die Spinnenfrau und Mephisto auf einem Bauernhof bei Bad Berka wußte ich, daß ich auf diese Weise mit meinem Ring magische Waffen herstellen konnte (Siehe Mark Hellmann Band 7). Mit den Geschützen hoffte ich, den Kampf schnell und vor allem für uns mit möglichst geringen Verlusten zu beenden. Doch noch ehe wir auf Kanonenschußweite heran waren, legten die Skelettpiraten eine Planke über die Reling. Dann führten sie eine gefesselte Frau an Deck. Ich erkannte Tessa. Van den Duiwel in seinem mit Goldtressen besetzten Rock stand selbst an der Planke, über die er Tessa schicken wollte. Er zwang sie, die Planke zu betreten und an deren Ende zu gehen. Tessa konnte nur kurze Schritte machen. Ich sah, daß die Skelettpiraten ihr eine eiserne Kanonenkugel mit einer Kette an einen Fuß gebunden hatten. Ein Skelett kroch auf allen vieren und dirigierte die Kanonenkugel, damit sie nicht von der Planke rollte und Tessa vorzeitig ins Meer riß. Van den Duiwel schwenkte sein Schwert. Ich gab den Kanonieren das Zeichen, die Schüsse zurückzuhalten. Wir hätten Tessa treffen können. »Mark Höllemann, steig in ein Boot, rudere herüber und liefere dich uns aus!« rief van den Duiwel. »Oder wir ertränken diese Frau.«
»Geh nicht darauf ein, Mark!« rief Tessa. »Lieber sterbe ich, als daß diese Teufel weiterexistieren sollen. Nimm keine Rücksicht auf mich, Liebster!« Ich zögerte. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Unmöglich konnte ich zusehen, wie Tessa umgebracht wurde. Dann hatte ich eine Idee. Mit einem Tau wollte ich mich an Bord der »Mephisto« schwingen. Dort würde ich mich scheinbar ergeben. Sobald Tessa an Bord der »Mephisto« geholt war, sollte Störtebekers Mannschaft die Kanonen abfeuern und angreifen. Mit viel Glück konnte ich mit dem Leben davonkommen. Doch da donnerte eine Stimme, die diesen selbstmörderischen Plan vereitelte. »Bring die Frau unter Deck, van den Duiwel!« ertönte Mephistos Stimme irgendwo aus der Luft. Der Megadämon war als Drahtzieher und unsichtbarer Beobachter zugegen. Aktiv in den Kampf wollte oder konnte er nicht eingreifen. Mein Ring leuchtete hell. »Ihr sollt sie alle töten, habe ich gesagt!« fuhr Mephisto fort. »Die Frau könnt ihr mir später opfern. Kämpft jetzt! Beweist, daß ich euch nicht umsonst zum Schrecken der Meere gemacht habe.« Van den Duiwel und das vor ihm kriechende Skelett holten Tessa an Deck zurück. Die Planke wurde eingeholt, Tessa unter Deck geholt und wieder in die Kabine gesperrt. Dort wartete sie voller Angst auf den Ausgang des Seegefechts zwischen Vitalienbrüdern und Skelettpiraten. Tessa hatte mehrere Tage in ihrem Gefängnis verbracht. Ihr einziger Trost, wie sie mit Galgenhumor dachte, war, daß die Skelettpiraten sie wenigstens nicht vergewaltigen konnten. Das war bei den Knochenmännern nicht möglich. Doch ein furchtbares Los harrte ihrer. Ich atmete auf, als Tessa unter Deck verschwand. »Danke, Mefir«, murmelte ich für mich. In dem Fall hatte mir Mephisto einen Gefallen erwiesen. Störtebeker legte seinen Dreimaster hart an den Wind. Doch auch van den Duiwel war ein erstklassiger Käpten. Der »Rote Teufel« und die »Mephisto« führten ein paar Segelmanöver aus. Der Dreimaster der Skelettpiraten führte keine Kanonen mit.
»Feuer!« brüllte Störtebeker, als wir eine günstige Position hatten und der »Mephisto« den Wind aus den Segeln nahmen. Die Kanoniere stießen die brennenden Lunten in die Pulverkanäle der acht Kanonen auf dem Vorder- und Achterdeck. Nichts geschah. Die Technik versagte hier völlig, was Mephistos Magie oder die Magische Sphäre des Geisterschiffs bewirkte. Ich hatte das Nachsehen. Mein schöner Plan, die Skelettpiraten mit speziellen Kartätschen niederzumähen, scheiterte kläglich. Auch die ungefügen langen Flinten der Vitalienbrüder funktionierten aus demselben Grund wie die Kanonen nicht. Wir waren, deutlich gesagt, in den Hintern gekniffen. Immerhin konnten wir Pfeile und Armbrustbolzen abschießen. Ein paar Skelette streckten wir mit den geweihten Waffen nieder. Für sie krochen ein paar andere unter Deck des Geisterschiffs hervor. An Bord des »Roten Teufels« waren siebzig Piraten, auf der »Mephisto« einige Skelette mehr. Die Skelettpiraten warfen Enterhaken herüber. Störtebeker drehte ab. Unsere Leute zerhieben die Taue an den Enterhaken. Klaus Störtebeker versuchte, die »Mephisto« zu rammen. Drei Anläufe schlugen fehl. Jan van den Duiwel war zu clever, um sich austricksen zu lassen. »Entert das Geisterschiff!« kommandierte Klaus Störtebeker. Dank seiner Steuermannskunst gelang es uns, neben die »Mephisto« zu kommen. Enterhaken flogen hinüber und herüber. Auf beiden Seiten wurde mit aller Kraft gezogen, die Taue festgezurrt. Noch ehe die beiden Schiffe Reling an Reling lagen, schwang ich mich an einem Tau aus der Takelage aufs Geisterschiff hinüber, nackt bis zum Gürtel, einen silbernen Dolch zwischen den Zähnen, ein in Marienhafe gegossenes und zusätzlich mit dem magischen Ring behandeltes Silberschwert in der Scheide. Auch die Waffen von einigen Vitalienbrüdern hatte ich behandelt und festgestellt, daß sich die Strahlkraft meines Rings erschöpfte. Ich konnte also nicht in unbegrenzter Zahl magische Waffen herstellen. Schlag- und Stichwaffen waren möglich, auch Pfeile und Armbrüste herzurichten. Bei einem modernen Schnellfeuergewehr oder einer Pistole würde ich auf Probleme stoßen. Größere Feuergefechte mit magischen Schußwaffen waren deswegen nicht möglich. Das ging mir jetzt auf. Ich
landete auf dem Geisterschiff und flog in ein Skelett hinein, dessen Knochen krachend zerbarsten. Der Totenkopf des Knochenmanns rollte klappernd über das Deck. Dieser Skelettpirat war erledigt. Weitere Vitalienbrüder folgten mir. Ich landete katzenhaft geschmeidig, sprang auf die Füße und ließ mein blau leuchtendes Silberschwert und den Dolch wirbeln. Störtebeker sprang wie ein Löwe an Deck. Ein furchtbarer Kampf begann. Die Vitalienbrüder kämpften trotz Angst und Aberglauben wie die Berserker. Sie verfolgten die Skelette, trieben sie zu Paaren, hauten sie in Stücke oder warfen sie in die See. Weihwassergüsse aus Kesseln in den Wanten trafen Skelettpiraten und verätzten sie wie Salzsäure, daß sie sich rauchend auflösten. Störtebeker mähte mit einem silbernen Enterbeil allein ein Dutzend Skelette nieder. Ich war kaum weniger erfolgreich. Dann wollte ich unter Deck, um Tessa zu befreien. Jetzt war das Geisterschiff durchaus stofflich und fest, anders als das Schemen in der Hafeneinfahrt von Marienhafe. Schon schwenkten Vitalienbrüder Brandfackeln, um den Fliegenden Holländer abzufackeln. Die Skelette brüllten und kreischten, wenn sie niedergemacht wurden, wie lebende Menschen. »Van den Duiwel, wo bist du?« brüllte Störtebeker. Da kam der Skelettkapitän aus dem Niedergang. Er führte Tessa mit sich und setzte ihr seinen Dolch an die Kehle. »Laßt mich im Boot davonsegeln, oder ich bringe sie um!« drohte er. Wir zögerten. Der Kampf wurde eingestellt. Nur noch wenige Skelette waren am Leben, soweit man das so nennen konnte. Vielleicht versteckten sich welche unter Deck. Entkommen würden sie nicht. Van den Duiwel hielt Tessa mit eisernem Griff. Doch jetzt griff Anna Vitalis ein. Die Hamburger Kaufmannstochter, im schwarzen Hosenanzug wie ein Korsar gekleidet, war an Deck der »Mephisto« gekommen. Sie warf van den Duiwel ein Silberkreuz, das sie an einer Kette um den Hals getragen hatte, in die Skelettfratze. Er schrie auf, das mochte er nicht. Tessa gelang es, sich
seinem Griff zu entwinden. Ich sprang vor, einen Moment vor Klaus Störtebeker. »Er gehört mir!« rief ich. »Ich fordere als Vitalienbrüder mein Recht des Zweikampfs mit Jan van den Duiwel!« Dem mußte sich Störtebeker beugen. Auf sein Enterbeil gestützt, beobachtete er den Kampf. Ich drosch auf den Skelettkapitän ein. Er war ein erstklassiger Fechter, aber ich hatte geübt und dazugelernt. Ich haute ihm ein paar Rippen weg. Ehe ich ihm den Totenkopf vom Skeletthals schlagen konnte, verwandelte sich van den Duiwel in einen schwarzen Albatros und flog zum Mastkorb hinauf. »Mark, paß hinaufkletterte.
auf!«
rief
Tessa,
als
ich
den
Hauptmast
Auch Anna rief eine Warnung. Hoch über Deck kämpften wir verbissen. Van den Duiwel war gewandt wie eine Katze. Er kletterte in der Takelage herum und setzte mir schwer zu. Störtebeker legte unten die Armbrust mit einem geweihten Pfeil an, den ich zusätzlich mit meinem Ring in eine magische Waffe verwandelt hatte. Doch eine Nebelwand, von Mephisto oder dem Skelettkapitän herbeigeführt, legte sich zwischen uns und das Deck. Von unten konnte keiner mehr eingreifen. Auch nicht emporklettern, magische Kräfte verhinderten es. Ich verlor mein Schwert. Auch der Dolch fiel herunter, als ich einen Schwerthieb van den Duiwels parierte, das Schiff plötzlich krängte und ich ein Tau ergreifen mußte, um nicht abzustürzen. Triumphierend näherte sich van den Duiwel und schwang seine blanke Klinge. »Jetzt habe ich dich!« rief er. Ich zog einen hölzernen Wantenspanner aus der Takelage und strahlte ihn mit dem nur noch schwach flackernden Strahl meines Rings an. Altgermanische Runen schrieb ich auf das ellenlange Rundholz. Ich barg mich hinter dem Mast. Van den Duiwel stieß rechts und links mit dem Schwert vorbei. Es gelang mir, seinen Knochenarm zu packen, der kalt und fest war. Ich kam um den Mast herum und verpaßte van den Duiwel, dem sowieso schon ein paar Rippen fehlten, ein paar kräftige Hiebe mit dem blau strahlenden derben Rundholz.
Er packte mich bei der Kehle. Das Schwert hatte er fallen gelassen. Mit ungeheurer Kraft würgte er mich, und ich glaubte, er würde mir die Gurgel zerquetschen. Was dann genau geschah, wußte ich hinterher nicht mehr. Ich erinnerte mich nur, daß mich van den Duiwel würgte und ich mit dem Rundholz und meiner ringbewehrten Faust auf ihn einschlug. Dann lockerte sich der Griff an meiner Kehle plötzlich. Verschwommen sah ich van den Duiwel mit eingeschlagenem Schädel abstürzen. Er verschwand in der Nebelwand. Als ich nach einer Weile hinunterstieg, hörte ich von den Vitalienbrüdern, daß der Kapitän des Fliegenden Holländers an Deck zerborsten war. Mephisto zeigte sich nicht.
* Ich küßte Tessa und schloß sie in die Arme. Um kein Risiko wegen ihrer Rückkehr ins Jahr 1998 einzugehen, nahm ich sie fest in die Arme und schrieb mit meinem magischen Ring, den ich direkt aufs Deck drückte, das keltische Wort für »Reise«. Ich beförderte Tessa in unsere Zeit; die gemeinsame Zeitreise gelang. Wir fanden uns auf Usedom wieder, von wo ich mich schnellstmöglich anschickte, wieder ins Jahr 1401 zu gehen. »Warum?« fragte Tessa. »Ich will Störtebeker vor seiner Hinrichtung bewahren. Da ist ein Verräter in seiner Mannschaft.« Abermals erfolgte die Zeitreise. Ich gelangte auf den Fliegenden Holländer, der bereits brannte. Störtebeker und sein Steuermann trugen mich auf den »Roten Teufel«. Von dort sah ich, wie der Fliegende Holländer brennend unterging. Von den Skeletten an Bord hatte keins den Kampf überstanden. Doch auch die Vitalienbrüder hatten Verluste gehabt. Nach dem Kampf gegen van den Duiwel und zwei Zeitreisen knapp nacheinander war ich völlig fertig. Ich segelte eine Weile mit Störtebeker. Er verriet mir, wo er auf der Insel Usedom einen großen Schatz vergraben hatte. Nach den Landmarken, die er nannte, würde ich ihn noch Jahrhunderte später finden können.
Es war mir nicht möglich, Störtebeker von seinem Schicksal zu unterrichten. Eine mir unerklärliche Kraft verschloß mir den Mund. Meine Erinnerung verschwamm. Jedesmal, wenn ich etwas sagen wollte, war entweder mein Wissen weg oder meine Lippen versiegelt. Die Vergangenheit ließ sich nicht verändern. An Piratenüberfällen nahm ich nicht teil. So wurden wir dann durch Verrat von dem Hamburger Holk »Bunte Kuh« unter Kapitän Hermann Nyenkerken und seiner Mannschaft überwältigt und gefangengenommen. Jobst Ewermann hatte in die Ösen vom Steuer des »Roten Teufels«, in denen sich dieses drehte, geschmolzenes Blei gegossen. Es erstarrte rasch. Störtebeker war damit manövrierunfähig, und bevor er das ändern konnte, indem er heißes Öl in die Ösen gießen ließ und das Blei aufschmelzen konnte, rammten, enterten und überrannten uns die Hamburger schon. Ewermann war von ihnen bestochen. So fanden wir uns am 23. Oktober 1401 auf dem Grasbrook wieder und sollten hingerichtet werden.
* Ich erwartete den tödlichen Streich des Scharfrichters. »Halt!« rief da Störtebeker. »Ich bin der Kapitän. Mir steht es zu, auszuführen, was Höllemann vorschlug. An wie vielen von meinen Mannen ich ohne Kopf noch vorbeigehe, die sollen begnadigt werden.« Der Rat stimmte ihm zu. So geschah es, daß Störtebekers Kopf in den Sand fiel. Er erhob sich. Ich stand als fünfter in der Reihe der Vitalienbrüder. An mir schritt Störtebeker noch vorbei, ein gräßlicher Anblick, wie der kopflose Rumpf daherwankte. Dann warf ihm der Scharfrichter Rosenfeld den Holzklotz, der zum Abhacken der Köpfe allzu Widerspenstiger diente, vor die Füße. Störtebeker fiel. Noch mal kam er nicht mehr auf die Beine. Der Rat hielt sein Versprechen. Ich und vier andere Vitalienbrüder wurden ausgepeitscht und
davongejagt. Völlig fertig war ich, ohne meinen magischen Ring, den Rosenfeld mir gestohlen hatte. Vierzehn Tage später kehrte ich heimlich in die Stadt zurück, lauerte Rosenfeld nachts auf und überfiel ihn, als er angetrunken aus einer Schenke nach Hause wankte. Dafür, daß er arme Opfer gefoltert hatte und vor allem wegen der Sache mit dem kopflosen Störtebeker verpaßte ich ihm die Tracht Prügel seines Lebens. Den Ring hatte er noch. Er trug ihn als Souvenir am kleinen Finger, an einen anderen hätte er bei Rosenfelds Pratzen auch gar nicht gepaßt. Ich nahm ihm den magischen Ring weg, von dessen Bedeutung er keine Ahnung gehabt und mit dem er nichts hatte anfangen können. Am liebsten hätte ich Rosenfeld noch weiter verprügelt. Aber der jämmerliche Wurm kroch auf allen vieren vor mir herum und winselte um Gnade. Ein Jammerlappen war das! Meine Nase verriet mir, daß sich eine große Latrinengrube in der Nähe befand. Zu dieser großen offenen Senkgrube, in der die Fäkalien mehrerer Häuser zusammenflossen, schleppte ich den massigen Scharfrichter. Dort packte ich ihn am Kragen und am Hosenbund und warf ihn in meinem Zorn in die Brühe, daß sie hoch aufspritzte. »Gnade!« jammerte Rosenfeld, als er wieder auftauchte. »Hilfe, ich kann nicht schwimmen.« Um nichts in der Welt hätte ich ihm geholfen. Ich klopfte mir die Hände ab. »Das trifft sich gut«, sagte ich. »Jetzt kannst du es lernen.« Mit diesen Worten entfernte ich mich. Rosenfeld wurde auf seine Hilfeschreie hin von Anwohnern, die herbeieilten, und Stadtgardisten von der Nachtwache aus der Senkgrube gefischt. Von den Fäkalien, die an ihm klebten, war er völlig unkenntlich. »Ich bin Rosenfeld«, wollte er erklären, wer er sei. Ein geharnischter Stadtwächter antwortete naserümpfend: »So riechst du aber nicht.« Das hörte ich noch, hinter einer Ecke verborgen. Dann sah ich zu, daß ich wegkam, schließlich war ich unter Androhung der Enthauptung aus Hamburg verwiesen worden. Deshalb wollte ich mich nicht noch einmal zeigen. An einem geeigneten Platz
aktivierte ich den Ring und kehrte ins Jahr 1998 zurück. Anna Vitalis hatte ich nicht mehr wiedergesehen. Auf Usedom erwartete mich Tessa. Sie führte mich einige Minuten nach meiner Rückkehr zu meinem BMW, in dem Uwe Braun, der Ehemann ihrer Schwester, wartete. Die Zeitreise hatte meine Wunden aus der Vergangenheit geheilt. Ich hatte Tessa gerettet und zurück in unsere Zeit gebracht. Mephistos Zeitfalle oder vielmehr Zeitreisefalle hatte nicht funktioniert. Ich fand und barg tatsächlich den Störtebeker-Schatz auf Usedom, was eine Geschichte für sich ist. Jedenfalls konnte ich den Finderlohn gut gebrauchen. Ich hätte restlos zufrieden sein können. Doch ich trauerte um Klaus Störtebeker, der mir ans Herz gewachsen war. Ich hatte ihn nicht vor seinem Schicksal bewahren können, sondern durch mich war die Legende von seinem Tod erst ermöglicht und vollendet worden. Diejenigen Vitalienbrüder, an denen er nicht mehr kopflos hatte vorbeigehen können, waren von Rosenfeld noch geköpft worden. Bis zu den Knöcheln hatte der Scharfrichter im Blut gestanden, genau wie die Chronik berichtete, die ich las. Danke, Klaus, dachte ich, als ich den Schatz hatte. Gottes Freund und aller Welten Feind hatte er sich genannt. Das stimmte nicht. Er hatte ein gutes Herz gehabt; aller Welten Feind war er nicht gewesen. Ob er Gottes Freund war, wußte ich nicht. Aber mein Freund war er gewesen, und nie würde ich ihn vergessen, die Zechereien an Bord seines Schiffs, die Sturm- und die Kaperfahrten, seine Todesverachtung. Ohne ihn hätte ich den Fliegenden Holländer niemals erledigen können. Das war vielleicht die größte von Störtebekers Taten gewesen, obwohl keine Legende davon kündete.
ENDE Der Höllenfürst Mephisto tobte vor Wut, stieß schnaubend Rauchwolken aus und donnerte mit der geballten Faust auf den Tisch. »Hellmann, dieser unwürdiger Wicht!" schrie er »Dieser verfluchte Hund! Der hat mehr Glück als Verstand. Ich lasse ihn zerquetschen, denn ich bin der Herr über ein riesiges Reich!" Trotz seiner
Machtfülle und Haßtiraden wirkte Mephisto hilflos, deshalb holte er sich Rat bei Belial. Und dieser Dämon zeigte sich zuversichtlich, daß Mark Hellmanns Schicksal bald besiegelt sein würde. Balthasar, den Höllenritter, wollten sie auf Hellmann hetzen...
Mein Zweikampf mit dem Höllenritter heißt der 11. Band dieser neuen Horror-Serie, die hält, was andere nur versprechen! Von C.W. Bach!