Ich will mehr, viel mehr
Helen Bianchin
Julia 1504 12 – 1/02
Gescannt von suzi_kay korrigiert von spacy
1. KAPITE...
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Ich will mehr, viel mehr
Helen Bianchin
Julia 1504 12 – 1/02
Gescannt von suzi_kay korrigiert von spacy
1. KAPITEL
Raoul Lanier nickte der attraktiven Stewardess zu, die den Passagieren beim Verlassen des Flugzeugs auf Wiedersehen sagte. Ihr Lächeln wurde ein bisschen breiter, und ihr Blick versprach ihm sinnliche Freuden, falls er sich entschließen sollte, sie während ihres Aufenthalts zu einem Drink einzuladen. Sie hatte ihm auf dem Langstreckenflug eine Aufmerksamkeit geschenkt, die über die höflichen Bemühungen um seine Mitreisenden hinausgegangen war. Wenn flüchtige sexuelle Begegnungen auf meiner Tagesordnung stehen würden, hätte es eine interessante Ablenkung sein können, dachte Raoul. Als ältester Sohn Henri Laniers und Teilerbe eines Familienvermögens von einer Milliarde Dollar war er schon in jungen Jahren vorsichtig und zynisch geworden. Gute Gene hatten ihm eine beneidenswerte Größe, einen herrlichen Körperbau und markante Gesichtszüge beschert. Da er auch noch durchtrainiert war und sich elegant kleidete, faszinierte er Frauen jeden Alters. Was sowohl ein Vorteil als auch ein Fluch ist, räumte Raoul humorvoll ein, während er mit dem Aufzug von der Ankunftshalle ins Erdgeschoss fuhr und zum Gepäckband ging. Er sah auf die Uhr. Bis zu seiner geschäftlichen Besprechung hatte er noch zwei Stunden Zeit. Er musste durch den Zoll, sich ein Taxi zum Hotel in Double Bay nehmen und sich umziehen. In erster Linie war er nach Australien gekommen, um für den multinationalen LanierKonzern einen Standort in Sydney zu schaffen; Die Vorbereitungen liefen bereits seit einigen Mona ten, und wenn er mit allen Details zufrieden war, würde er das Geschäft abschließen. Allerdings nicht ohne weiteres. Er war ein erfahrener Taktiker, dessen Verhandlungsgeschick von seinen Geschäftspartnern und Mitarbeitern anerkannt und gelobt wurde. Raoul entdeckte sein Gepäck, zog es vom Band, verließ den Terminal und winkte ein Taxi herbei. Die strahlende Sommersonne blendete ihn, und er setzte seine Sonnenbrille auf, bevor er dem Fahrer den Namen des Hotels nannte und sich zurücklehnte. Die Sitzung am Nachmittag war wichtig. Er hatte vor, sich noch nicht festzulegen und nach diesem ersten Gespräch für mehrere Tage an die Gold Coast zu fliegen. Sich um die Familie kümmern. Raoul presste die Lippen zusammen und runzelte nachdenklich die Stirn. Er liebte beide Brüder. Sebastian, der jüngste von ihnen, hatte vor kurzem geheiratet und machte zur Zeit mit seiner neuen Ehefrau einen ausgedehnten Urlaub in Europa. Michel war derjenige, der ihm Sorgen bereitete. Gerade sechs Monate verheiratet, steckte seine Ehe offensichtlich in einer Krise. Vor sieben Wochen war seine Frau von New York nach Australien geflogen, um in einem Film mitzuspielen, der in den Studios von „Warner Brothers" an der Gold Coast gedreht wurde. Michel hatte an wichtigen Sitzungen in Europa teilgenommen und war Sandrine dann gefolgt, um eine Versöhnung zu Stande zu bringen. Die Produzenten hatten finanzielle Probleme bekommen, und Raoul vermutete, dass sein Bruder vorhatte, als Retter des gefährdeten Projekts aufzutreten und Sandrine damit unter Druck zu setzen. Alle drei Brüder besaßen ein großes Privatvermögen, und einige Millionen Dollar in einen Film zu investieren würde Michel nicht arm machen. Bremsen quietschten, der Taxifahrer fluchte und entschuldigte sich dann. Aus seinen Gedanken gerissen, nahm Raoul den stärker gewordenen Verkehr wahr. Der Fahrer wechselte rasant auf die Außenspur. Raoul sah in der Ferne Hochhäuser in den Himmel ragen und schätzte, dass sie das „Ritz-Carlton" in Double Bay in zehn, höchstens fünfzehn Minuten erreichen würden. Ihm war Sydney nicht fremd, und er mochte die Großstadt wegen ihrer landschaftlichen Schönheit und Architektur, auch wenn sich hier keine so alten Bauwerke wie in seiner Heimat Frankreich fanden. Ihm gehörte eine luxuriöse, zweistöckige Wohnung in Auteuil. Auf den Marmorböden
lagen kostbare Orientteppiche, und die Zimmer waren voller antiker Möbel und wertvoller Kunstgegenstände. Er war in Paris geboren und aufgewachsen, hatte an einer der besten Universitäten studiert und war danach in das Familienunternehmen aufgenommen worden. Raoul lächelte grimmig, als er an jene erste Zeit unter der Anleitung seines Vaters dachte. Henri Lanier war ein harter Arbeitgeber gewesen. Hart, aber fair, räumte Raoul ein. Inzwischen leiteten Michel und er den multinationalen Mischkonzern, während Henri nur dem Namen nach den Vorsitz führte. Sebastian hatte Jura studiert, als Anwalt praktiziert und dann seinen ersten Roman geschrieben und verkauft. Der Rest war, wie man so sagte, Geschichte. Der Taxifahrer hielt vor dem Eingang des Luxushotels in dem Viertel am Hafen. Raoul gab ihm einen Geldschein und stieg aus, während der Portier das Gepäck aus dem Kofferraum holte. Das Einchecken war problemlos. In seinem Zimmer nahm Raoul eine Flasche Mineralwasser aus dem Barkühlschrank, schenkte sich ein Glas ein und trank es aus, bevor er sich ein leichtes Mittagessen für dreizehn Uhr dreißig bestellte. Dann packte er einige unentbehrliche Sachen aus, duschte, rasierte sich, zog den Hotelbademantel an und erledigte wichtige Anrufe. Gerade als der Zimmerkellner das Essen brachte, beendete Raoul das letzte Gespräch. Er aß schnell, zog sich an, überprüfte seinen Aktenkoffer und fuhr mit dem Lift in die Eingangshalle. Die Besprechung war für zwei Uhr angesetzt. Jetzt war es drei Minuten nach zwei. Wichtige Minuten, die ihm einen Vorteil verschafften, es sei denn, sein Verhandlungspartner kannte sich in taktischen Spielen auch gut aus. Der Wunsch, ein Geschäft erfolgreich abzuschließen, führte unweigerlich zu Pünktlichkeit, besonders wenn es um eine große Investition ging. Die Besprechung hätte durchaus eine Stunde dauern können. Raoul beendete sie nach einer halben, gab klare Anweisungen, stellte Forderungen und ließ keinen Zweifel, wer das Kommando hatte. Er kehrte in sein Zimmer zurück, öffnete seinen Laptop, tippte Daten ein und verschickte sie per E-Mail nach Paris. Danach führte er noch zwei Telefongespräche, eins davon mit Michel, dem er mitteilte, dass er am nächsten Tag an die Gold Coast kommen würde. Raoul streckte sich. Er brauchte Bewegung. Der Fitnessraum? Nein, zuerst würde er einen Trainingsanzug und Joggingschuhe anziehen und einen Spaziergang an der frischen Luft machen. Für den Abend hatte er nichts geplant. Er würde auf dem Zimmer essen, ein oder zwei Stunden am Laptop arbeiten und früh ins Bett gehen. Die Gegensprechanlage summte, und Stephanie drückte die Taste. „Michel Lanier ist hier." Die Empfangsdame bemühte sich um eine französische Aussprache, was so entsetzlich klang, dass Stephanie zusammenzuckte. Dann lächelte sie über die junge Frau, die offensichtlich einen guten Eindruck auf Michel Lanier machen wollte. Stephanie musste zugeben, dass er ein imposanter Mann war, auch wenn sie für große, attraktive dunkelhaarige Männer nicht empfänglich war. „Geben Sie mir eine Minute, dann führen Sie ihn bitte herein." Diskussionen in Gang zu setzen, Meinungen zu äußern und Vorschläge zu unterbreiten gehörte zu ihrem Job als Marketing-Managerin. Ihr gefiel, womit sie ihren Lebensunterhalt verdiente. Die Arbeit wurde gut bezahlt, und es war befriedigend, ihre Fachkenntnisse auf dem Gebiet des Films verwerten zu können. Außerdem hatte sie ein Gespür dafür, was allgemeines Interesse erregte, somit mehr Besucher in die Kinos lockte und die Rentabilität der Filmstudios, der Investoren steigerte. Bei diesem besonderen Film waren das Budget und der Zeitplan überzogen worden. Alle Geldquellen waren erschöpft gewesen, so dass es vor einer Woche ganz danach ausgesehen hatte, als würde der Film nicht fertig gestellt werden. Entscheidend war
gewesen, dass Sandrine Lanier, Model und Schauspielerin, eine Nebenrolle in dem Film hatte. Ihr Mann war bereit, eine große Summe zu investieren, um das Projekt zu retten. Es klopfte, und Stephanie schob die Unterlagen, die sie durchgelesen hatte, in einen Schnellhefter, bevor sie aufstand. „Michel und Raoul Lanier." Sie verbarg ihre Überraschung und lächelte die beiden Männer freundlich an. „Bitte nehmen Sie Platz", sagte sie und zeigte auf zwei bequeme Ledersessel. „Mein Bruder hat darum gebeten, bei dieser Besprechung dabei zu sein. Es stört Sie doch nicht?" fragte Michel Lanier. Was konnte sie schon sagen? „Nein, natürlich nicht." Michel übernahm die Vorstellung. „Stephanie Sommers. Raoul Lanier." Ende dreißig, schätzte sie. Und der ältere der Brüder, wenn auch nur um wenige Jahre. Raoul Lanier war noch einige Zentimeter größer als Michel. Was die kräftige Figur und die Gesichtszüge betraf, war die Familienähnlichkeit unverkennbar, aber Raouls Haar war dunkler, fast schwarz, und der Schatten an seinem Kinn verriet, dass er ein Mann war, der sich morgens und abends rasieren musste. Er hatte schiefergraue Augen, und sein Blick war viel zu scharfsinnig für den Seelenfrieden einer Frau. Der sinnliche Mund deutete große Leidenschaft an. Warum war Raoul Lanier mitgekommen? Wollte er ebenfalls Geld investieren, um den Film zu retten, in dem Michels Frau eine Nebenrolle spielte? „Stephanie." Raoul schüttelte ihr kräftig die Hand. Die Berührung war wie ein kleiner Stromschlag, der durch ihre Adern pulsierte. Das bildest du dir nur ein, sagte sich Stephanie und blickte ihn kühl an. „Guten Tag, Mr. Lanier." Er zog die Augenbrauen hoch und lächelte spöttisch. „Raoul." Er zeigte auf seinen Bruder. „An der förmlichen Anrede festzuhalten wird uns verwirren." Seine tiefe Stimme und der schwache französische Akzent erregten sie. Ihre Reaktion auf ihn gefiel ihr nicht und verschärfte ihre Abwehr. Raoul Lanier besaß Charme. Außerdem verriet sein wissender Blick sexuelle Erfahrung und nachdrückliches Interesse. Ein Mann mit einer verheerenden Wirkung auf Frauen, dachte Stephanie sarkastisch. Er sah umwerfend gut aus, hatte einen herrlichen Körper und war reich. Wahrscheinlich musste er sich nicht einmal bemühen. Sie ging bewusst langsam um ihren Schreibtisch und setzte sich in den Chefsessel aus Leder. Der Platz verlieh Autorität, und sie nutzte es aus. „Ich habe die Zahlen, um die Sie gebeten haben." Sie sah Michel an und ignorierte Raoul völlig. „Zusammen mit Vorschlägen, wie wir für den Film Werbung machen wollen." Sie nahm einen Umschlag und schob Papiere hinein. „Ich bin sicher, Sie werden zufrieden sein. Natürlich können wir mit der Promotion erst beginnen, wenn der Film abgedreht ist. Wir vom Marketing werden den Film in einer privaten Vorführung zu sehen bekommen und danach besprechen, welche Aspekte hervorgehoben werden sollten, damit wir ein großes Publikum ansprechen. Der Produktionsleiter erwartet, dass die Dreharbeiten in einer Woche beendet sind. Vielleicht muss noch einige Tage nachgedreht werden." Sie konzentrierte sich noch immer ausschließlich auf Michel. „Es wäre von Interesse, Sie in die Werbekampagne einzubeziehen, als Investor und Sandrines Ehemann. Ich hoffe, Sie sind damit einverstanden." Michel Lanier sagte nichts. „Schließlich versuchen wir mit all dem, Ihre Investition zu schützen." Hatte sie zynisch geklungen? Das war nicht ihre Absicht gewesen, aber sie hatte einen langen Arbeitstag hinter sich. Michel Lanier schwieg weiter. „Wollen wir es dann erst einmal dabei belassen?"
„Haben Sie heute noch einen anderen Termin?" fragte Raoul sanft. „Ja." Stephanie sah auf ihre Armbanduhr und stand auf. „Es tut mir Leid, aber mehr Zeit kann ich Ihnen nicht erübrigen." Sie erwiderte Michels rätselhaften Blick, nahm den Umschlag und hielt ihn ihm hin. „Wenn Sie die Unterlagen geprüft und noch Fragen haben, rufen Sie mich bitte an." „Ich hätte gern Gelegenheit, über die von Ihnen erwähnten Vorschläge zu sprechen", sagte Raoul. „Heute Abend beim Essen? Michel und Sandrine werden auch kommen. Ich wohne im ,Sheraton Mirage'. Halb sieben in der Eingangshalle?" Stephanie fand es unerträglich, dass er ihre Zusage als selbstverständlich betrachtete. „Tut mir Leid, das ist nicht möglich." „Können Sie Ihre Verabredung heute Abend nicht fürs Geschäft verschieben?" Für ein wichtiges Geschäft mit den Laniers, meinte er. „Ich verbringe den Abend mit meiner Tochter, die ich in einer halben Stunde von der Tagesstätte abholen muss, Mr. Lanier." Leute wie Michel und Raoul Lanier hatten die richtigen Beziehungen und konnten zweifellos problemlos an ihre Personalakte herankommen oder sich auf anderem Wege Informationen verschaffen. Dass sie allein erziehende Mutter war, wussten sie sicher. Raoul Lanier blickte sie mit zusammengekniffenen Augen an. „Ist es Ihnen nicht möglich, einen Babysitter zu engagieren?" Sie wollte ihn ohrfeigen, weil er versuchte, sich in ihr Privatleben einzumischen. „So kurzfristig ist das schwierig", erwiderte sie kühl. „Machen Sie den Anruf, Stephanie." Sie mochte es nicht, herumkommandiert zu werden. Außerdem ärgerte sie sich über die Autorität, die dieser Mann ausstrahlte. Sie war in Versuchung, ihm zu sagen, er solle zur Hölle fahren. Es gelang ihr gerade noch, sich auf die Zunge zu beißen. Michel Lanier besaß ein großes Privatvermögen, aber sie konnte nicht sicher sein, dass nicht ein Teil seiner Investition über den Familienkonzern lief. In dem Fall hätte Raoul Mitspracherecht. Und es wäre töricht, ihn gegen sich aufzubringen. Sie blickte ihn kühl an und nickte. „Würden Sie mich bitte entschuldigen?" Sie ging zur Tür, öffnete sie und wartete darauf, dass die beiden Männer ihr Büro verließen. Raoul Laniers dunkelgraue Augen funkelten vor Belustigung. Ihm machte es Spaß, seinen Willen durchzusetzen. Anscheinend verschwendete er keinen Gedanken daran, wie viel Zeit und Mühe sie dieses Abendessen kosten würde. Sie schloss die Tür, kehrte zum Schreibtisch zurück und rief die Studentin an, auf die sie zählte, wenn sie einen Babysitter brauchte. Einige Minuten später legte Stephanie den Hörer auf, seufzte laut und ging nach draußen zum Empfang. Michel Lanier telefonierte gerade. Er hatte sich mit seinem Handy in eine ruhige Ecke zurückgezogen. Stephanie war sich bewusst, dass Raoul Lanier abschätzend den Blick über sie gleiten ließ, als sie sich ihm näherte. „Halb sieben, in der Halle des Sheraton Mirage. Ich freue mich darauf", sagte sie zynisch. Er holte seine Brieftasche heraus. „Meine Karte, mit Handynummer." Stephanie wollte sie ignorieren und ihm sarkastisch erwidern, dass sie nicht im Traum daran denke, sich freiwillig mit ihm in Verbindung zu setzen. Als könnte er ihre Gedanken lesen, sah er sie amüsiert an. Sie nahm die Visitenkarte und achtete sorgfältig darauf, dass sie dabei seine Finger nicht berührte. Verzog er spöttisch den Mund? Sie sagte sich, es sei ihr völlig gleichgültig. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und ging zurück. Es war fast fünf. Sie hatte eine Stunde und zehn Minuten. In der Zeit musste sie Emma von der Tagesstätte abholen, nach Mermaid Beach fahren, ihrer Tochter Abendessen machen und sie baden, dann selbst duschen, sich anziehen und wieder losfahren. Machbar, vorausgesetzt, dass keine Schwierigkeiten auftauchten. Zum Glück hatte Sarah angeboten, früh zu kommen und ihr abzunehmen, was sie nicht mehr schaffte. Dafür war Stephanie wirklich dankbar, als sie ein enges schwarzes Kleid anzog, mit
einigen Bürstenstrichen das zu einem modischen Bob geschnittene rotblonde Haar in Form brachte, sich schminkte und ihr Lieblingsparfüm auf die Handgelenke sprühte. Dann zog sie schwarze Pumps mit Stilettoabsätzen an, schnappte sich eine kleine schwarze Umhängetasche und ging schnell ins Wohnzimmer. „Tschüss, Liebling." Sie beugte sich zu Emma hinunter und umarmte sie, bevor sie die Babysitterin ansah. „Wenn Sie irgendwelche Probleme haben, rufen Sie mich an. Sie haben ja meine Handynummer. Ich komme nicht spät nach Hause. Danke, Sarah", sagte sie herzlich. „Gern geschehen. Amüsieren Sie sich gut." Das ist fraglich, dachte Stephanie. Sie stieg ins Auto, fuhr rückwärts von der Auffahrt und erinnerte sich daran, dass das Abendessen im Sheraton Mirage rein geschäftlich war. Und warum hatte sie dann das Gefühl, manipuliert worden zu sein? Die Fahrt von Mermaid Beach zum Hotel in Main Beach dauerte fünfzehn Minuten, zwei oder drei weniger, wenn sie an allen Kreuzungen Grün hatte. Es war ein schöner Sommerabend. Die Hitze des Tages hielt sich noch, und Stephanie stellte die Klimaanlage ein. Hochhäuser und Luxushotels säumten die sanft geschwungene Küste. Seit fast vier Jahren wohnte sie jetzt schon an der Gold Coast. Jahre, in denen sie sich damit herumgeschlagen hatte, eine gescheiterte Beziehung hinter sich zu lassen und die bittere Erfahrung zu bewältigen, dass der Mann in ihrem Leben sie darum gebeten hatte, eine ungewollte Schwangerschaft abzubrechen, weil ein Baby zu viel Verantwortung bedeuten und seine Zukunftspläne zunichte machen würde. Ruhig und kühl hatte sie ihm den Verlobungsring zurückgegeben und ihn verlassen. Es war schwer gewesen. Aber Emma lohnte jede Mühe. Sie war ein liebes Kind und ihr wie aus dem Gesicht geschnitten, mit blonden Locken, die einen Stich ins Rotgold hatten. Ein Hupen riss Stephanie aus ihren Gedanken. Sie spürte einen schwachen Ruck und wusste nicht, ob sie fluchen oder weinen sollte, als sie an den Straßenrand fuhr und anhielt. Das hatte ihr gerade noch gefehlt! Eine Reifenpanne ausgerechnet dann, wenn sie in ihrem Zeitplan keine Minute übrig gelassen hatte. Verdammt. Sie streckte die Hand aus, öffnete den Kofferraum, stieg aus und holte den Wagenheber heraus. Links vorn, stellte sie fest. Stilettoabsätze und ein hautenges Kleid waren für einen Reifenwechsel nicht gut geeignet. Und es machte keinen Spaß, mit ungewohnten Werkzeugen widerspenstige Muttern zu lösen. Ein Mal wäre sie bereit gewesen, ihre Unabhängigkeit beiseite zu schieben und von einem Mann Hilfe anzunehmen. Nur dass kein Autofahrer hielt. Stephanie wechselte den Reifen allein, legte die Werkzeuge zurück und säuberte sich mit Erfrischungs- und Kosmetiktüchern. Sie war schon zehn Minuten zu spät, deshalb griff sie nach ihrem Handy, holte Raoul Laniers Visitenkarte heraus und tippte die Nummer ein. Er meldete sich nach dem zweiten Klingeln, und sie erklärte, was passiert war, entschuldigte sich und beendete den Anruf, bevor er noch ein Wort sagen konnte. Fünf Minuten später parkte sie in der Tiefgarage des Sheraton Mirage und fuhr mit dem Lift in die Eingangshalle. Sie entdeckte Raoul sofort. Ein maßgeschneiderter Anzug betonte seine Größe und die breiten Schultern. Während sie auf ihn, seinen Bruder und dessen Frau zuging, blickte Raoul sie unverwandt prüfend an, so dass sich Stephanie fragte, ob sie bei ihrer eiligen Säuberungsaktion vielleicht einen Schmutzfleck auf der Nase oder Wange übersehen hatte. Lass dich nicht nervös machen, befahl sie sich energisch und lächelte freundlich. Sie wusste sich in der Gesellschaft zu benehmen und konnte mit jeder Situation fertig werden. Dass irgendetwas oder irgendjemand sie aus der Fassung brachte, passierte sehr selten. Du musst nur würdevoll durch die nächsten zwei Stunden kommen, beruhigte sie sich, als sie bei ihnen ankam. „Sandrine, Michel", sagte sie und nickte Raoul zu. „Die Verspätung tut mir Leid." Nimm die Sache in die Hand, flüsterte eine innere Stimme. „Wollen wir hineingehen?" Er blickte sie mit zusammengekniffene n Augen an, und sie erkannte, dass
seine Gelassenheit nur gespielt war. Sie weigerte sich, ihr Erschauern zu beachten. Raoul Lanier war einfach nur ein Mann, dessen Reichtum und Macht in der Geschäftswelt beneidenswerte Vorzüge waren. Privat hatte sie kein Interesse an ihm. Und warum kam sie sich dann so nervös und ungefähr so selbstbewusst wie eine Siebenjährige vor, anstatt sich wie die siebenundzwanzig Jahre alte Frau zu fühlen, die sie tatsächlich war?
2. KAPITEL Der Maitre d'hôtel führte sie zu einem Tisch am Fenster mit einer herrlichen Aussicht auf den Pool und das Meer, wartete höflich, bis sie Platz genommen hatten, und winkte den Weinkellner heran. Stephanie kannte sich mit australischen Weinen sehr gut aus. Sie las mühelos die Karte, dann fragte sie die anderen, ob sie roten oder weißen bevorzugen würden. „Welchen würden Sie vorschlagen?" fragte Raoul spöttisch. Er amüsierte sich darüber, dass sie unbedingt die Gastgeberin spielen wollte. „Das Hotel hat eine Auswahl an Weinen, die von einem mit vielen Goldmedaillen ausgezeichneten Winzer geliefert werden. Ich kann den Chardonnay oder den Pinot Noir empfehlen." Raoul bestellte von beiden eine Flasche. Als der Weinkellner ihr einschenken wollte, lehnte Stephanie ab und bat um Mine ralwasser. „Möchten Sie einen klaren Kopf behalten?" „Natürlich", erwiderte sie kühl. „Schließlich sind wir heute Abend hier, um die Marketing Strategien für den Film zu besprechen." Sie sah Michel an. „Ich hoffe, Sie hatten Gelegenheit, die Unterlagen zu prüfen?" „Vielleicht sollten wir mit dem Geschäftlichen warten, bis wir unser Essen bestellt haben", schlug Raoul vor. Stephanie warf ihm einen Blick zu. „Wenn Ihnen das lieber ist, Mr. Lanier." „Raoul." „Raoul", gab sie nach. Wollte er ein Wortgefecht mit ihr anfangen? Sie würde ihm beweisen, dass sie ihm ebenbürtig war! Er beobachtete, wie sie trotzig das Kinn hob und ihre Augen dunkler wurden. Es amü sierte und faszinierte ihn. Die meisten ... nein, alle Frauen, die er kennen lernte, neigten dazu, mit ihm zu flirten, manche subtil, andere ausgesprochen aufdringlich. Er war schon in seiner Jugend zu der Überzeugung gekommen, dass Reichtum und eine hohe gesellschaft liche Stellung die Anziehungskraft ausmachten. Die seitdem gesammelten Erfahrungen hatten seine Meinung nicht geändert. Ein Ober näherte sich dem Tisch, beriet sie bei der Wahl der Vorspeisen und sagte ihnen auf Michels Bitte hin, welche Hauptgerichte er besonders empfehlen könne. Nachdem sie bestellt hatten, nahm Stephanie ihr Glas und trank einen Schluck Mineralwasser. Auch wenn Michel seine Frau mitgebracht hatte und der Abend einen gesellschaftlichen Anstrich hatte, war dies ein Geschäftsessen, und Stephanie hatte vor, ihre Strategie für den Film zu erläutern und danach zu gehen. Wenn Raoul, Michel und Sandrine noch bleiben oder in die Hotelbar weiterziehen wollten, war das ihre Sache. Stephanie stellte das Glas ab und sah Michel an. „Ich habe die wichtigsten Aspekte des Marketing-Konzepts für den Film bereits in einem Anhang zu den Unterlagen skizziert, die ich Ihnen heute Nachmittag gegeben habe", begann sie förmlich. Sie war sich Raouls Blick bewusst und beschloss, keine Notiz davon zu nehmen. „Ich werde den geplanten Ablauf kurz rekapitulieren. Wenn wir den fertigen Film bekommen, werden ungefähr dreißig Leute an einer privaten Vorführung teilnehmen. Danach sprechen wir in mehreren Sitzungen über den Zielmarkt und bestimmen, welche Altersgruppe der Film besonders ansprechen wird. In weiteren Besprechungen wählen wir die Ausschnitte für den Trailer und die Aufnahmen aus, die mit den Pressemitteilungen in Übersee und hier erscheinen sollen, und entscheiden, welche davon für Fernsehsender, Zeitungen und Zeitschriften freigegeben werden." Raoul bemerkte, wie sich Stephanies Wangen röteten und wie sie einzelne Punkte mit kleinen Handbewegungen unterstrich. Sie schien ihren Job wirklich zu mögen und mit echter Begeisterung bei der Sache zu sein. Wenn er sich nicht sehr irrte, handelte es sich
nicht um eine aggressive Verkaufstaktik einer jungen Managerin, die um jeden Preis nach persönlichem Erfolg strebte. „Weltweit?" fragte Michel. Stephanie nickte. „Natürlich. Wir werden die Werbekampagne noch steigern, indem wir Modeaufnahmen machen lassen, die in mehreren renommierten Frauenzeitschriften erscheinen, und wir sorgen dafür, dass in mindestens zwei großen überregionalen Wochenzeitschriften und in Lokalzeitungen über den Film berichtet wird." Der Ober brachte die Vorspeisen, und wie aufs Stichwort erschien der Weinkellner, um nachzuschenken. „Es wäre von Vorteil, auszunutzen, dass Sandrine ein bekanntes Model ist", sprach Stephanie weiter, während sie nach ihrem Besteck griff. „Fotos von Sandrine und Ihnen bei einer Galaveranstaltung würden zweifellos von allen Zeitungen gebracht. Die Stars und einige Nebendarsteller werden in ihrem Hotel Interviews geben, oder wir organisieren einen Treffpunkt, mit dem Schauspieler und Journalisten einversta nden sind. Die Interviews werden in mehreren Zeitungen und Zeitschriften gleichzeitig erscheinen." „Eindrucksvoll", sagte Michel und begann mit seiner Vorspeise. „Lobenswert", stimmte Raoul zu. „Möchten Sie vielleicht noch darauf eingehen, wie stark Sie sich für dieses besondere Projekt engagieren wollen?" „Völlig", erwiderte Stephanie. „Mit einer Ausnahme: Wenn es zu privaten Problemen kommt, hat meine Tochter Emma Vorrang." „Optimal ist das nicht", sagte Raoul hart. Versuchte er, sie in eine ungünstige Position zu bringen? „Haben Sie überhaupt keine privaten Verpflichtungen, Mr. Lanier?" fragte Stephanie ruhig. „Niemanden, der Ihre Zeit beanspruchen darf? Leben Sie nur fürs Geschäft?" Man hätte in der Nähe des Tisches eine Stecknadel fallen hören. Wahrscheinlich hatte noch nie irgendjemand gewagt, Raoul Lanier so entgegenzutreten. „Möchten Sie wissen, ob ich eine Ehefrau habe?" fragte Raoul abscheulich belustigt. „Ihr Familienstand interessiert mich überhaupt nicht." Das war die Wahrheit. „Und Sie haben nicht auf meine Fragen geantwortet." Würde sie auch noch so mutig sein, wenn sie allein wären? Vielleicht, räumte er ein. Er war fasziniert von ihr und wollte herausfinden, ob ihre Tapferkeit nur Fassade oder echt war. „Ich gönne mir Freizeit." Stephanie lächelte honigsüß. „Vernünftig von Ihnen." Sie wusste nicht, was sie gegen die erotische Spannung zwischen ihnen tun sollte. Oder gegen den verrückten Wunsch, Raoul Lanier herauszufordern. Es war fast, als würde ein Kobold ihre Streitlust wecken und ihr Worte in den Mund legen, die sie normalerweise niemals sagen würde. „Ich hoffe, es hat Ihnen keine zu großen Umstände gemacht, so kurzfristig einen Babysitter zu finden", sagte Sandrine. Stephanie hielt es für einen Versuch, das Thema zu wechseln. „Glücklicherweise nicht." Sandrine lächelte sarkastisch. „Die Brüder Lanier schnippen mit dem Finger und erwarten, dass man sofort tut, was sie wollen." „Das habe ich mir schon zusammengereimt", erwiderte Stephanie trocken. „Möchten Sie nicht doch ein Glas Wein probieren, Stephanie?" mischte sich Michel ein. „Nein, danke." Der Ober räumte die Teller ab, fragte, ob ihnen die Vorspeise geschmeckt habe, und zog sich zurück. Raoul betrachtete Stephanie prüfend. Die gedämpfte Beleuchtung betonte ihre feinen Gesichtszüge und verlieh ihrer Haut einen sanften Schimmer. Er beobachtete, wie sie die Lippen zusammenpresste und ihre blauen Augen vor Wut funkelten, als sie merkte, dass er sie unverhohlen musterte. Ganz so beherrscht ist sie nicht, dachte er zufrieden. Es wäre eine interessante Herausforderung, die knisternde erotische Spannung zwischen ihnen zu
erforschen. Wie würde sich ihr Mund unter seinem anfühlen? Raoul wollte sie aus der Fassung bringen, ihre Zurückhaltung auf die Probe stellen und sich mit den Folgen beschäftigen. Stephanie unterdrückte gerade noch den Wunsch, Raoul Lanier zu schlagen. Er reizte sie absichtlich. Wenn er meinte, diese Taktik bei ihr probieren zu können, erwartete ihn eine Überraschung. Sie erwiderte seinen Blick ruhig und sah Raoul spöttisch die Augen brauen hochziehen, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Wahrscheinlicher war, dass er einfach viel von Frauen verstand. Der Ober kam mit dem Hauptgang. Stephanie sah auf den Teller, den er vor sie hinstellte. Sie hatte überhaupt keinen Appetit mehr. „Ist das Essen nicht nach Ihrem Geschmack?" Sie hörte die spöttische Frage, erkannte die beabsichtigte Zweideutigkeit und dachte flüchtig daran, ihr Glas zu nehmen und Raoul das Wasser ins Gesicht zu schütten. Lächle, befahl eine innere Stimme. Es war nicht das erste Mal, dass sie mit männlicher Arroganz fertig werden musste, und es würde nicht das letzte Mal sein. „Haben Sie irgend welche Fragen?" fragte sie Michel. Er warf ihr einen nachdenklichen Blick zu. „Fürs Erste haben Sie anscheinend alle Aspekte behandelt." „Vielleicht möchte uns Stephanie ihre persönliche Meinung über den Film verraten", sagte Raoul, während er mit seinem Weinglas spielte. „Mein Fachgebiet ist Marketing. Ich bin keine Filmkritikerin, Mr. Lanier", erwiderte sie höflich, obwohl sie vor Wut kochte. Sein Blick schien jede Schutzmauer zu durchdringen, die sie um sich errichtet hatte, und dafür hasste sie ihn. „Sie haben doch sicher eine Meinung." „Nichts garantiert einen Kassenerfolg. Mit Ausnahme von Gregor Anders spielen keine großen Stars mit, aber der Regisseur und der Produzent haben sich einen Namen ge macht, und man hat mir gesagt, die Rollen seien mit relativ guten Schauspielern besetzt. Ob ein historischer Film zur Zeit auf ein breites Publikumsinteresse stößt, lässt sich schwer abschätzen. Ich kann Ihnen nur versichern, dass mein Marketing-Team bei der Promotion hervorragende Arbeit leisten wird." Stephanie bemerkte Raouls zynisches Lä cheln, las ihm die Härte am Gesicht ab und ließ sich von beidem nicht aus dem Gleich gewicht bringen. „Eine nichts sagende Standardantwort", erwiderte er sanft. Stephanie hatte es satt. „Sie sprechen mit der falschen Person, Mr. Lanier. Aber das wissen Sie, stimmt's? Dieses so genannte Geschäftsessen haben Sie nur zu Ihrem Vergnü gen arrangiert." Sie legte ihre Serviette neben den Teller, stand auf, nahm ihre Abendta sche und blickte Michel und Sandrine an. „Lassen Sie sich den Rest des Menüs schmecken." Ohne ein weiteres Wort ging sie zur Kasse. Sie zog ihre Firmenkreditkarte heraus, verlangte die Rechnung und bat darum, den geschätzten Höchstpreis einzutragen, einschließlich des Desserts und Kaffees, den Michel, Raoul und Sandrine vielleicht noch bestellten. Stephanie unterschrieb den Beleg, steckte die Kopie ein, durchquerte die Hotelhalle und drückte den Rufknopf des Fahrstuhls mit mehr Kraft als nötig. Zum Teufel mit Raoul Lanier. Es war ihm gelungen, ihr unter die Haut zu gehen. Sie hasste ihn, und sie hasste sich selbst, weil sie ihm erlaubt hatte, ihre professionellen Umgangsfor men in den Grundfesten zu erschüttern. Um Himmels willen, wo blieb der Fahrstuhl? Noch fünf Sekunden, und sie würde die Treppe nehmen. Wie auf Befehl glitten die Türen auf. Vier Personen kamen heraus, Stephanie betrat die Kabine, wandte sich zum Bedienungsfeld um und erstarrte. „Was soll das?" fragte sie wütend. Raoul Lanier kam herein und drückte den Knopf für die Tiefgarage. „Ich begleite Sie zu Ihrem Auto." Stephanie drückte auf den Knopf, der die Türen offen hielt. „Das ist völlig unnötig. Raus."
Er umfasste ihren Arm und schob sie beiseite. Sie versuchte vergeblich, sich zu befreien. Wütend sah sie, wie die Türen zuglitten. „Lassen Sie mich los", sagte sie eisig. „Wenn wir unten ankommen", erwiderte Raoul gelassen. „Sie sind der arroganteste, unverschämteste, unausstehlichs te Mann, dem ich jemals begegnet bin." „Ich fühle mich geschmeichelt. Ich habe mit mindestens zehn Beleidigungen gerechnet." „Geben Sie mir eine Minute, dann fallen mir noch genug ein", drohte Stephanie finster. Sie war sich Raouls Nä he äußerst bewusst, seiner Größe und Ausstrahlung. Der Duft seines Eau de Cologne reizte ihre Sinne. Die sexuelle Anziehungskraft war greifbar, mächtig, fesselnd. Es machte ihr Angst. Nicht nur vor ihm. Sie hatte Angst vor sich selbst und den schlummernden Gefühlen, die sie in den vergangenen vier Jahren unterdrückt hatte. Der Fahrstuhl hielt. Stephanie riss sich los und verließ die Kabine, sobald die Türen aufglitten. „Wo steht Ihr Auto?" „Sie brauc hen nicht den Gentleman zu spielen. Die Garage ist gut beleuchtet." Die Worte hätte sie sich sparen können. Sie atmete tief durch, ignorierte Raoul und ging schneller. Als sie bei ihrem Auto ankam, holte sie die Schlüssel heraus, schloss die Fahrertür auf und wurde starr, denn er hinderte sie daran, einzusteigen. „Was immer Sie vorhaben, tun Sie es nicht", sagte sie angespannt und warf ihm einen Blick zu, der einen kleineren Mann gefällt hätte. „Ich wollte mich entschuldigen." „Dafür, dass Sie unter dem Deckmantel des Geschäfts ein überflüssiges Abendessen in die Wege geleitet und dann Katz und Maus mit mir gespielt haben?" Ihre Stimme klang sanft, aber ihr Blick war hart. „Eine Entschuldigung ändert nichts. Ich finde Ihr Benehmen inakzeptabel." Sie sah demonstrativ auf seine Hand. „Wenn Sie nicht in drei Sekunden verschwunden sind, alarmiere ich den Sicherheitsdienst." „Und Sie bitten, mit mir an unseren Tisch zurückzukehren", sprach Raoul weiter, als hätte sie überhaupt nichts gesagt. „Ich habe keinen Hunger mehr, ich mag Sie nicht, und noch eine Minute in Ihrer Gesellschaft zu verbringen ist das Letzte, wozu ich Lust habe. Ist das klar?" „Völlig klar", erwiderte er spöttisch. Er ließ sie los und hielt ihr die Tür auf. „Au revoir." Stephanie stieg ein und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Sobald Raoul die Tür zudrückte, fuhr sie zur Ausfahrt, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen. Kurz darauf fädelte sie sich in den Verkehr Richtung Stadtzentrum ein. Erst nachdem sie heil über die drei großen Kreuzungen gekommen war, erlaubte sie sich, über die Szene in der Tiefgarage des Hotels nachzudenken. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass Raoul Lanier es so eingerichtet hatte, dass er eine Niederlage erlitt, und das ärgerte sie mörderisch! „Sie sind aber früh wieder zu Hause", sagte Sarah überrascht, als Stephanie um fünf Minuten vor neun hereinkam. „Alles in Ordnung?" Sie legte ihre Tasche auf den Tisch und nahm die Ohrringe ab. „Bestens. Mit Emma gibt es niemals Probleme. Sie hat um halb acht ein Glas Milch getrunken und ist danach ins Bett gegangen, ohne zu murren." Stephanie ließ den Blick über die Lehrbücher und den leeren Kaffeebecher auf dem Tisch gleiten. „Noch Kaffee? Ich mache mir einen." „Danke, nein." Sarah stand auf und schob die Bücher in eine Aktentasche. „Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass Sie so kurzfristig herübergekommen sind." „Tu ich doch gern", erklärte die Babysitterin herzlich. „Bei Ihnen ist es herrlich ruhig im Haus. Perfekte Lernbedingungen." Sie lachte, dann verdrehte sie die Augen. „Zwei kleine Brüder machen viel Krach."
Stephanie nahm einige Geldscheine aus ihrer Abendtasche und drückte sie der jungen Frau in die Hand. „Danke, Sarah. Viel Glück bei den Prüfungen." Sie begleitete sie hinaus, schloss ab und sah nach ihrer Tochter. Sie hielt ihre Lieblingspuppe an die Brust gedrückt und schlief fest. Stephanie zog die Bettdecke zurecht und schob Emma das Haar aus dem Gesicht. Die Macht uneingeschränkter Liebe verzehrte sie. Ein Kind zu haben war wundervoller als alles andere auf der Welt. Emmas Glück und Wohl waren jedes Opfer wert. Den Stress, allein erziehende Mutter zu sein und ständig prägnante Marketing-Strategien vorlegen, die Anziehungskraft auf Kunden einschätzen und jedes Projekt zum Erfolg führen zu müssen. Sich gelegentlich außerhalb der Geschäftsstunden mit Kunden treffen zu müssen kommt noch dazu, dachte Stephanie gequält. Sie hatte in ihrer Branche schon alle möglichen Typen kennen gelernt und war mit der ganzen Skala von Charaktereigenschaften vertraut. Aber kein Mann hatte es geschafft, ihr so unter die Haut zu gehen wie Raoul Lanier. Sie hatte mit Männern zu tun, die Flirten zu einer Kunst ernannt hatten. Männern, die glaubten, Reichtum mache einen erschreckenden Mangel an guten Manieren verzeihlich. Dann gab es noch diejenigen, die vor lauter Einbildung nicht mehr wussten, wer sie waren. Sie war mit allen taktvoll, diplomatisch und sogar charmant fertig geworden. Bei einem gewissen Franzosen zeigte sie diese Eigenschaften nicht. Er verwirrte sie. Viel zu sehr für ihren Geschmack. Sie wollte sich nicht unsicher und verletzlich fühlen. Den Weg hatte sie schon hinter sich, und sie hatte nicht die Absicht zurückzugehen. Stephanie betrat ihr Schlafzimmer, zog das Kleid und die Schuhe aus, schminkte sich ab, streifte ein langes T-Shirt über, holte ihren Kaffeebecher aus der Küche und setzte sich im Wohnzimmer vor das Fernsehgerät. Um zehn schaltete sie das Licht aus und ging ins Bett. Anstatt zu schlafen, lag sie jedoch da und blickte starr in die Dunkelheit, während sie versuchte, Raoul Lanier aus ihren Gedanken zu verbannen. Die Gegensprechanlage summte. Stephanie drückte die Taste und bemühte sich, nicht frustriert und unfreundlich zu klingen. „Ja. Was gibt's, lsabel?" Der Tag ließ sich nicht gut an. Von Anfang an war alles schief gegangen, was nur schief gehen konnte. Aus dem Heißwasserhahn in der Duschkabine lief kaltes Wasser, so dass sie den Klempner anrufen musste. Emma wollte Porridge statt Cornflakes, dann bat sie um Rührei und in schmale Streifen geschnittenen Toast, nur um sich nach zwei Bissen zu weigern, noch mehr zu essen. Sie in der Tagesstätte abzuliefern endete mit einem nie da gewesenen Wutanfall. Stephanie hatte sich einen Fingernagel eingerissen, als sie auf dem Weg zur Arbeit beim Reifenmarkt vorbeigefahren war und den geplatzten Reifen aus dem Kofferraum gehoben hatte. „Hier vorn am Empfang ist eine Zustellung für Sie." „Ganz gleich, was es ist, erledigen Sie das." „Blumen mit einer an Sie adressierten Karte? Und auf dem Umschlag steht .persönlich'." Niemand schickte ihr Blumen, außer bei besonderen Anlässen. Und an diesem Tag war keiner. „Okay, ich komme." Rosen. Drei Dutzend langstielige, zart duftende creme-, pfirsich- und aprikosenfarbene Rosen in Cellophan. „Stephanie Sommers? Bitte unterschreiben Sie den Lieferschein für den Umschlag." Wer schickte ihr ein so teures Geschenk? Ihr kam ein Gedanke, und sie presste die Lippen zusammen. Er würde doch wohl nicht ... Oder? „Sind die schön", flüsterte lsabel neidisch. Stephanie löste den kleinen Umschlag und zog die Karte heraus.
Ein kleines Geschenk, um gestern Abend wieder gutzumachen. R. Sie wollte nicht an den vergangenen Abend erinnert werden und Raoul Laniers „kleines Geschenk" am liebsten in den nächsten Papierkorb stopfen. Nicht einmal zwanzig Dutzend Rosen würden das arrogante Benehmen des Mannes „wieder gutmachen". „Soll ich eine Vase holen?" „Ja." Stephanie gab den Strauß ihrer Sekretärin. „Stellen Sie sie auf den Empfangstisch." „Wollen Sie die Blumen nicht in Ihrem Büro haben?" „Sie lassen mich niesen", schwindelte Stephanie. Sie würden sie ständig an den Mann erinnern, der sie geschenkt hatte. „Ich bin heute für niemand mehr zu sprechen, außer wenn es dringend ist oder jemand aus Emmas Tagesstätte anruft." Sie ging zurück in ihr Büro, schloss die Tür, setzte sich an den Schreibtisch und schlitzte mit dem Brieföffner den Umschlag auf. Darin war ein Scheck, ausgestellt von Raoul Lanier über einen Betrag, der die Kosten des Abendessens im Sheraton Mirage deckte. Wie konnte er es wagen? Ein geschäftliches Essen ging auf Firmenkosten. Raoul Lanier hatte es zu einem privaten machen wollen. Tja, sie wusste, was sie mit seinem Scheck tun würde. Einen Moment später flatterten die Schnipsel in den Papierkorb. Stephanie schaltete den Computer ein. Sie brauchte sich nur in die Arbeit zu vertiefen, dann würde sie den all mächtigen Franzosen schon vergessen. Nur dass es leider nicht ganz so funktionierte. Immer wieder sah sie ihn im Geiste vor sich, und sie konnte sich kaum konzentrieren. Es war so etwas wie ein Dauerkraftakt, ihr Pensum trotzdem ohne Panne zu schaffen. Sie schaltete den Computer aus, als lsabel mit den notierten Nachrichten hereinkam, die Anrufer am Nachmittag hinterlassen hatten. Drei Leute rief Stephanie zurück, zwei Zettel legte sie für den nächsten Morgen beiseite, einen warf sie in den Papierkorb. Darauf kann Raoul Lanier lange warten! dachte sie rachsüchtig. Sie legte Unterlagen in den Aktenkoffer, nahm ihre Handtasche und ließ den Blick prüfend durchs Büro gleiten. Auf dem Schreibtisch lag noch der Umschlag, in dem Raoul Laniers Scheck gewesen war. Einer plötzlichen Eingebung folgend, bückte sie sich, holte die Schnipsel aus dem Papierkorb, legte den zerrissenen Scheck in einen Briefumschlag, klebte ihn zu und schrieb mit schwarzer Tinte „Raoul Lanier, Sheraton Mirage". Das Hotel war kein großer Umweg für sie, und sie lächelte spöttisch, als sie sich seinen Gesichtsausdruck vorstellte, wenn er den Umschlag öffnete. Wie du mir, so ich dir. Nicht gerade ein wünschenswertes Vorgehen, aber sie würde Raoul Lanier keinesfalls die Oberhand haben lassen. Vor dem Haupteingang des Hotels zu halten und dem Portier den Umschlag zu geben war einfach. Schwieriger war es, ein frohlockendes Lächeln zu unterdrücken, als sie wieder losfuhr. Der Verkehr war dicht, und auf dem Weg zur Tagesstätte kam sie erst beim dritten oder vierten Umspringen der Ampel über die großen Kreuzungen. Emmas Wangen waren ein bisschen gerötet, und ihre Augen glänzten fiebrig. „Ich werde erst einmal abwarten, wie es ihr während der Nacht geht", sagte Stephanie zur Kindergärtnerin. „Vielleicht behalte ich sie morgen zu Hause." „Rufen Sie mich an." Eine Stunde später hatte Stephanie ihre Tochter gebadet und umgezogen und ermunterte sie, ein bisschen zu essen. Bald darauf übergab sich Emma. Und das ging die ganze Nacht hindurch weiter. Am Morgen waren sie beide müde und erschöpft. Um acht machte Stephanie mehrere Anrufe. Sie vereinbarte einen Termin beim Kinderarzt, teilte ihrer Sekretärin mit, sie werde zu Hause arbeiten, und informierte die Kindergärtnerin. „Krank", sagte Emma unglücklich. Stephanie beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie auf die Stirn. „Ich weiß, Schatz. Wir
fahren bald zum Arzt und holen Medizin, damit es dir besser geht." Wäsche. Massenhaft. Stephanie nahm die zweite Ladung heraus und steckte sie in den Trockner, dann füllte sie wieder die Waschmaschine und schaltete sie ein. Ein Magen-Darm-Virus, sagte der Arzt und verschrieb ein Medikament. Stephanie fuhr bei der Apotheke vorbei, kaufte im Supermarkt einige unentbehrliche Dinge und fuhr nach Hause. Sie machte es Emma auf dem Sofa gemütlich und schob eins ihrer Lieblingsvideos in den Rekorder, dann schaltete sie den Laptop ein, der sie mit dem Büro verband. Emma schlief eine Stunde, aß ein bisschen Hühnersuppe und eine Scheibe Toast und kuschelte sich wieder in das Bett, das ihr Stephanie auf dem Sofa gemacht hatte. Am Abend ging es Emma viel besser, und sie schlief die ganze Nacht durch. Trotzdem beschloss Stephanie, sie vorsichtshalber noch einen Tag zu Hause zu behalten. Mit einem wieder energiegeladenen Kind im Weg wurde das Arbeiten schwieriger. Nachdem sie Emma am Mittag ins Bett gebracht hatte, ging Stephanie zum Telefon und führte eine Reihe wichtiger Gespräche. Eins davon brachte die Information, nach der sie suchte. Michel Lanier investierte sein eigenes Geld und nicht das des Konzerns. Folglich brauchte sie sich nur nach Michel zu richten. Stephanie schaltete den Laptop ein und begann, das Material für einen Bericht zusammenzustellen. Obwohl sie Expertin auf dem Gebiet des Films war, arbeitete sie auch noch an anderen Projekten. Um kurz vor drei klingelte es. Stephanie ging schnell zur Tür, bevor noch einmal geklingelt werden konnte und vielleicht Emma aufgeweckt wurde. Für eine unverheiratete Frau mit einem kleinen Kind waren Schutzvorkehrungen wichtig. Alle Fenster waren mit Gittern versehen, und Vorder- und Hintertür waren mit einer zweiten, schmiedeeisernen Gittertür gesichert. Möglicherweise war es ein Hausierer. Oder ihre Nachbarin, die als Einzige manchmal unangemeldet vorbeikam. Stephanie schloss die Holztür auf und blickte völlig überrascht Raoul Lanier an. Sie wollte ihn fragen, wie er herausbekommen hatte, wo sie wohnte, unterließ es jedoch. Er brauchte nur jemand anzurufen und zu beauftragen, Erkundigungen einzuziehen, wenn er Informationen haben wollte.
3. KAPITEL „Was wollen Sie hier?" Raoul zog die Augenbrauen hoch. „Empfangen Sie jeden so?" „Nein", erwiderte Stephanie kühl. „Dann lassen Sie Ihre Besucher normalerweise wohl auch nicht vor der Tür stehen?" Er beunruhigte sie mehr, als sie zugeben wollte. Auf geschäftlicher Ebene musste sie ihn ertragen, wenn sie an einer guten Zusammenarbeit mit Michel interessiert war, aber er hatte kein Recht, sie zu Hause aufzusuchen. Sie war sicher vor ihm. Solange sie die Gittertür nicht aufschloss, konnte er nicht hereinkommen. „Geschäfte mache ich in meinem Büro, Mr. Lanier. Ich schlage vor, dass Sie mit meiner Sekretärin .einen Termin vereinbaren." „Ich habe versucht, Sie telefonisch zu erreichen. Sie haben meinen Anruf nicht entgegengenommen." „Ich hatte eine dringende Arbeit am Computer zu erledigen. Sie hätten bei meiner Sekretärin eine Nachricht hinterlassen können." „Das habe ich getan. Ich habe darum gebeten, dass Sie zurückrufen." Stephanie betrachtete ihn vorsichtig. „Da Michel kein Geld aus dem Familienkonzern in den Film investiert, war es nicht notwendig." „Haben es die Rosen eigentlich in Ihr Büro geschafft?" „Ich habe lsabel veranlasst, sie auf den Empfangstisch zu stellen." „Und meinen Scheck haben Sie zerrissen." „Es war ein Geschäftsessen", sagte Stephanie energisch. „Das Geschäft stand auf der Tagesordnung", räumte Raoul ein. „Nur deshalb habe ich Ihre Einladung überhaupt akzeptiert." Seine Augen funkelten belustigt. „Das haben Sie inzwischen bemerkenswert klar gemacht." „Ich stehe nicht auf Wortgeplänkel, und ich verteile keine Streicheleinheiten fürs männliche Ego." Raoul lachte. „Bitten Sie mich herein, Stephanie." „Nein. Emma hält ihren Mittagsschlaf und wird bald aufwachen." „Essen Sie mit mir zu Abend." „Nein. Ich vergebe keine Dates, Mr. Lanier", sagte sie eisig. „Raoul", verbesserte er. „Zusammen zu essen ist noch nicht unbedingt ein Date." Der Mann war wirklich unerträglich! „Welchen Teil des Wortes ,nein' verstehen Sie nicht?" Er blickte sie forschend an. „Haben Sie so große Angst vor mir?" Sie hatte ihre Gefühle symbolisch eingesperrt und den Schlüssel weggeworfen. Raoul Lanier sah zu viel, begriff zu viel und war deshalb gefährlich. „Sie verschwenden Ihre Zeit." Er zog sie Augenbrauen hoch. „Finden Sie?" „Wir haben nichts zu besprechen." „Doch." Es erforderte große Willenskraft, seinen durchdringenden Blick ruhig zu erwidern. „In Ihren Träumen." „Oui", sagte er sanft. Sie atmete tief ein und aus. „Wenn Sie nicht sofort gehen, rufe ich die Polizei und zeige Sie wegen Belästigung an." Sie schloss die Tür und lehnte sich mehrere Minuten lang dagegen, bevor sie in die Küche ging. Sie nahm eine Coladose aus dem Kühlschrank, öffnete sie und schenkte sich ein Glas ein. Ihr war heiß, und ihr Herz raste. Der Teufel sollte ihn holen. Wofür hielt sich der Mann? Stephanie lachte humorlos. Raoul Lanier wusste genau, wer er war. Und sie hatte das Gefühl, dass er vor nichts zurückschrecken würde, um zu bekommen, was er wollte. Die Frage war, was er von ihr wollte.
Sex, was sonst? Dass Männer nur aus diesem Grund Frauen verfolgten, wusste sie schließlich aus eigener bitterer Erfahrung. Ben hatte Süßholz geraspelt und all die richtigen Knöpfe gedrückt. Bis sie schwanger geworden war. Da hatte er sich in jemand verwandelt, den sie überhaupt nicht kannte. Und sie hatte ihn verlassen und sich geschworen, nie wieder einem Mann zu vertrauen. Sie hatte beruflich mit vielen Männern zu tun, aber trotz zahlreicher Einladungen immer an ihrer Regel festgehalten, keine Dates zu haben. Allerdings hatte sie auch noch kein Mann so berührt wie Raoul Lanier. Sie hatte sich sofort zu ihm hingezogen gefühlt. Die sexuelle Spannung zwischen ihnen war schockierend stark. Stephanie erinnerte sich deutlich an jenen Moment, als er in ihr Büro gekommen war und sie angeblickt hatte. Sie hatte den Eindruck gehabt, dass plötzlich die Zeit stillstand und sie nur noch Raoul wahrnahm. Als würde er ihre Sinne erfüllen, ihr Herz erwärmen, Ansprüche anmelden. Einen Plan für ihre Zukunft besitzen. Es hatte sie entnervt. Es entnervte und beunruhigte sie jetzt. Stephanie stellte das Glas ab und ballte die Hände zu Fäusten, bis die Fingerknöchel weiß wurden. Tu etwas, befahl sie sich. Irgendetwas. Die Bügelwäsche. Der Korb war bis oben hin voll. Und danach würde sie Emma beschäftigen, bis es Zeit war, das Abendessen zu machen. Zwei Stunden später setzte Stephanie ihre Tochter vor das Fernsehgerät und schob ein pädagogisch wertvolles Video in den Rekorder. „Ich fange mit dem Kochen an, Schatz." Sie konnte von der Küche das Wohn- und das Esszimmer einsehen. Vom Vortag waren noch Hühnersuppe und Gemüse übrig. Stephanie schälte Karotten und Kartoffeln als Beilage für das gekochte Hühnerfleisch. Es war besser, wenn Emma die nächsten zwei Tage leichte Kost bekam. Sie hatte gerade Wasser in den Kochtopf gefüllt, als es klingelte. Das konnte nur ihre Nachbarin sein. Stephanie griff nach dem Küchenhandtuch und trocknete sich die Hände ab, dann ging sie durchs Wohnzimmer in die Diele und öffnete lächelnd die Tür. Ihr Lächeln verschwand. „Was wollen Sie hier?" „Ich glaube, das hatten wir schon", sagte Raoul spöttisch. Er hielt zwei braune Papiertüten hoch. „Ich habe Abendessen mitgebracht." „Warum?" „Warum nicht?" „Mom?" Stephanie warf ihm einen Blick zu, der Bände sprach, bevor sie sich zu ihrer Tochter umdrehte. „Geh zurück ins Wohnzimmer, Liebling", sagte sie sanft. „Ich komme gleich." „Hallo, Emma." Raouls Stimme klang beruhigend, freundlich und herzlich. Der Teufel sollte ihn holen! „Hallo." Emma war neugierig und überhaupt nicht eingeschüchtert. „Wer bist du?" Raoul ging in die Hocke. „Ein Freund deiner Mutter." „Wie heißt du?" „Raoul." „Isst du mit uns?" fragte das kleine Mädchen ernst. „Möchtest du das gern?" „Ja." Unfair! wollte Stephanie schreien. „Mom?" „Ich bin sicher, Mr. Lanier hat für heute Abend schon andere Pläne." „Hast du?" fragte Emma mit großen Augen. „Keine Pläne", beruhigte er sie. Verdammt, ihm machte das Spaß! „Du kannst dir mein Video ansehen", sagte Emma großzügig. „Gern." Raoul sah Stephanie fragend an. Sie wollte ihm nur die Tür vor der Nase zuschlagen. „Ich halte das für keinen guten
Einfall." „Ich verspreche, mich von meiner besten Seite zu zeigen", erwiderte Raoul feierlich. Kapieren Sie nicht, dass Sie unerwünscht sind? wollte sie ihn wütend fragen. Raoul senkte den Blick. Er war sich sehr wohl bewusst, dass sie kurz davor war, die Beherrschung zu verlieren. Alles, was er jetzt noch sagte, konnte sich zu seinem Nachteil auswirken. „Bitte, Mom?" Blindes Vertrauen. Wenn es für einen Erwachsenen nur so einfach wäre wie für ein Kind! Stephanie schloss die Gittertür auf. „Kommen Sie herein", forderte sie ihn unfreundlich auf. „Du bist groß", sagte Emma, als Raoul die Diele betrat. Er lächelte. „Vielleicht liegt das daran, dass du klein bist." „Ich bin drei!" verkündete Emma stolz. Er hielt die Papiertüten hoch. „Kann ich die in der Küche abstellen?" Ihr relativ modernes, einstöckiges Haus hatte durchschnittlich große Rä ume, doch durch Raouls Gegenwart schienen sie plötzlich kleiner zu werden, und Stephanie war sich seiner Nähe äußerst bewusst, während er ihr in die Küche folgte. Sie hatte das Gefühl, sich schützen zu müssen. Was verrückt war. Schon verwandelte sie sich in ein Nervenbündel, und dabei hatte er sie noch nicht einmal berührt. Wie würde sie reagieren, wenn er es tun würde? Denk nicht einmal darüber nach, befahl sie sich. Das würde nicht passieren. Stephanie stellte sich hinter die Frühstückstheke, um Abstand zwischen sie beide zu bringen. Sie zeigte auf die Kochtöpfe. „Normalerweise bekommt Emma um diese Zeit ihr Abendessen." „Dann können wir ja jetzt gleich essen." Stephanie öffnete eine Tüte und holte Kunststoffbehälter heraus, die Tandoori-Huhn, Reis und Gemüse enthielten. In der zweiten Tüte waren ein knuspriges Baguette, verschiedene Käsesorten und eine Flasche Wein. Es war ein Essen, das zweifellos übertraf, was sie für Emma zubereitet hatte und sich mit ihr hatte teilen wollen. „Ich decke noch einen Teller und ein Besteck auf." „Zeigen Sie mir, wo die Sachen sind, dann mache ich das, während Sie das Essen herrichten." „Du kannst neben mir sitzen", sagte Emma strahlend. O Emma, nicht! dachte Stephanie. Aber eine Dreijährige konnte nicht erkennen, dass dies etwas Einmaliges und nicht der Beginn einer Freundschaft war. „Es wird mir ein Vergnügen sein." „Ich bin jetzt ein großes Mädchen. Ich kann schon ganz allein essen." Stephanie wusste nicht, ob sie lächeln oder seufzen sollte, als ihre Tochter den widerwillig eingeladenen Gast mit den Namen aller ihrer Freunde aus der Tagesstätte, ihrem Schwimmunterricht und einer kürzlich besuchten Geburtstagsparty unterhielt, die Videos aufzählte, die sie sich gern ansah, und schließlich auf das Ereignis zu sprechen kam, das sie kaum erwarten konnte: einen Ausflug zum Themenpark „Movieworld" am Samstag. „Mom hat Karten", versicherte sie Raoul, während sie ihr Gemüse aufaß. „Du kannst auch mitkommen." O nein, konnte er nicht! „Mr. Lanier ist ein sehr beschäftigter Mann, Liebling. Außerdem müssen wir es vielleicht verschieben, wenn du dich noch nicht gut genug fühlst", mischte sich Stephanie schnell ein. Sie wollte nicht mit ihm zusammen sein, nicht einmal, wenn ihre Tochter dabei war. Und er wusste es. Er warf ihr einen belustigten Blick zu, als sie aufstand und begann, die Teller übereinander zu stellen und die Bestecke einzusammeln. „Willst du dir mein Video ansehen, während Mom das Geschirr wegräumt?" Emma wollte vom Stuhl hopsen, dann zögerte sie. „Darf ich aufstehen, Mom?" Es ging ihr zu Herzen, dass Emma versuchte, sich gut zu benehmen. „Ja", sagte sie
freundlich. Raoul hielt ihr die Hand hin, und die Dreijährige nahm sie ohne Zögern. Wie konnte sich Emma nur so schnell mit jemand anfreunden, den sie gerade erst kennen gelernt hatte? Einem Mann, obwohl sie kaum mit Männern in Kontakt kam. Einem, den ihre Mutter auf Anhieb nicht gemocht hatte. „Nicht mögen" trifft es nicht ganz, dachte Stephanie zynisch, während sie anfing, die Teller abzuspülen. Allein seine Anwesenheit drohte die Schutzmauer zu zerstören, die sie um sich errichtet hatte. Sie sah sich gern als Frau, die alles unter Kontrolle hatte und selbst für alles verantwortlich war. Sie brauchte keinen Mann, der sich in ihr Leben drängte, in ihre Gefühle. Außer sie hätte das Glück, den richtigen Mann zu finden. Einen, der die Bedürfnisse einer Frau erkannte und respektierte, der nicht nur nehmen, sondern auch geben würde. Bekomm dich in den Griff, dachte sie spöttisch. Sie war damit zufrieden, wie es jetzt war. Sie hatte ein Haus, einen guten Job und ein Kind, das ihre ganze Freude war. Was wollte sie noch? Nichts, versicherte sie sich und wusste, dass sie log. Sie räumte die abgespülten Teller und Bestecke in die Maschine und reinigte die Töpfe gründlicher, als nötig gewesen wäre. Fünfzehn Minuten später ging Stephanie ins Wohnzimmer und blieb wie angewurzelt stehen, sobald sie Emma neben dem Mann sitzen sah, den sie nicht in ihrem Haus haben wollte. Die beiden fühlten sich sichtlich wohl zusammen, und das gefiel Stephanie überhaupt nicht. Emma machte Raoul pausenlos auf die verschiedenen Figuren mit und ohne Kostüm aufmerksam, und er hörte geduldig zu. Ein Blick auf den Bildschirm genügte, um festzustellen, dass der Film in zwei Minuten zu Ende war. Als der Abspann lief, schaltete Stephanie den Videorekorder aus und nahm die Hand ihrer Tochter. „Zeit für dein Bad, Schatz." Einen Moment lang schien Emma protestieren zu wollen, dann stand sie auf. „Ich komme noch mal wieder und sage gute Nacht", versprach sie Raoul, der ebenfalls aufstand. „Mr. Lanier muss gehen." Stephanie hoffte, dass er den Wink verstand. „Du verabschiedest dich besser jetzt." Er lächelte Emma an. „Kein Problem. Ich warte hier." Sie strahlte vor Freude und hopste an der Hand ihrer Mutter aus dem Zimmer. O verdammt! fluchte Stephanie, während sie Wasser in die Wanne laufen ließ und ihre Tochter auszog. Wie sagte man einer Dreijährigen, sie solle jemand nicht mögen, und erklärte ihr, Erwachsene würden nicht nur nach dem äußeren Schein urteilen? Wie machte man ihr klar, dass die Abneigung ihrer Mutter auf Misstrauen und Angst beruhte? Das konnte ein Kind nicht begreifen, und es wäre unfair, Emma zu tadeln. Raoul ging zu einem Tisch aus Mahagoni, auf dem mehrere gerahmte Fotos standen. Emma als Baby. Emma sitzend, mit einem Teddybären, der fast so groß wie sie war. Emma stehend. Emma auf dem Schoß des Weihnachtsmannes in einem Kaufhausatelier. Emma auf einem Dreirad. Ein Foto zeigte ein älteres Paar, und Raoul nahm an, dass es Stephanies Eltern waren. Keins von dem Mann, der Emmas Vater war. Raoul fuhr sich durchs Haar. Wenn er klug wäre, würde er einfach hinausgehen und zurück zum Hotel fah ren, wo mindestens drei Stunden Arbeit am Laptop auf ihn warteten. Er musste Auslands gespräche führen, Daten überprüfen. Es wäre reines Glück, wenn er vor Mitternacht ins Bett kommen würde. Nicht, dass es viel ausmacht, wenn es später wird, dachte er sarkastisch. In den vergangenen Nächten hatte er nicht gut geschlafen. Zu oft war ihm eine junge rotblonde Marketing -Managerin in den Sinn gekommen, die keine Skrupel hatte, ihn bei der geringsten Provokation zu einem Wortgefecht herauszufordern. Raoul blickte zum Fernsehgerät und versuchte, sich auf die Sendung über einen Safaripark in Afrika zu konzentrieren. Der Klang der Kinderstimme veranlasste ihn, sich
zur Tür umzudrehen. Einen Moment später kam Emma vor Stephanie ins Zimmer gelaufen. „Ich gehe jetzt ins Bett." Sie war eine Miniaturausgabe ihrer Mutter. Das Haar war ein bisschen heller, aber ihre Augen waren strahlend blau, und das kindliche Gesicht verhieß die gleichen feinen Züge. „Gute Nacht, Emma." „Ich begleite Sie hinaus, bevor ich Emma ins Bett bringe", sagte Stephanie kühl. „Wenn Sie mir Ihre Küche anvertrauen, koche ich inzwischen Kaffee. Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen." Raoul sah ihr an, dass sie ihm nicht glaubte. Und dass sie vor ihrer Tochter kein Theater machen wollte. „Ich bin in zehn Minuten zurück", erwiderte Stephanie resigniert. „Kaffee und Zucker sind im rechten Schrank. Milch ist im Kühlschrank. Ich trinke meinen mit einem Löffel Zucker." Emma blieb an der Tür noch einmal stehen und fragte sehnsüchtig: „Kommst du uns wieder besuchen?" Raoul blickte vom Kind zur Mutter und zurück. „Das würde ich gern tun", sagte er freundlich. Die Dreijährige lächelte zufrieden und ließ sich aus dem Zimmer führen. Als Stephanie ins Wohnzimmer kam, standen zwei Tassen Kaffee auf dem Beistelltisch. „Sie haben eine Eroberung gemacht", sagte sie, während sie sich eine der Tassen nahm. Raoul nickte. „Ich habe Emma erobert", räumte er spöttisch ein. „Aber nicht ihre Mutter." „Und das werden Sie auch nicht", versicherte sie ihm kühl. Er soll gehen! dachte sie verzweifelt. Jetzt. Sie wollte ihn nicht in ihrem Haus haben, und besonders wollte sie nicht, dass er ihr seelisches Gleichgewicht durcheinander brachte. Sein Blick wurde wachsam, angespannt, und sie schauderte beunruhigt. „Nein?" Das eine Wort umfasste eine Fülle an Bedeutungen, die sie lieber nicht erforschen wollte. „Warum kommen Sie nicht zur Sache?" Raoul lächelte zynisch. „Ihre Meinung darüber, ob der Film, in den Michel investiert, tatsächlich ein Kassenerfolg werden kann." „Ich würde es nicht einmal wagen, Vermutungen anzustellen", erwiderte Stephanie. „Es hängt von zu vielen Faktoren ab." Sie blickte Raoul durchdringend an. „Und jetzt muss ich Sie bitten zu gehen. Ich habe noch zu arbeiten." Sie rang mit ihrem Gewissen, dann sagte sie: „Es war sehr aufmerksam von Ihnen, das Abendessen mitzubringen. Danke." „Wie höflich." Stephanie ignorierte seinen spöttischen Ton und ging vor Raoul zur Haustür. Er war dicht hinter ihr, und seine Nähe wirkte sich verheerend auf ihre Nerven aus. Sie hasste ihre Reaktion ebenso wie ihn. „Gute Nacht, Mr. Lanier." Sie öffnete beide Türen und trat beiseite, um ihn vorbeizulassen. „Raoul", verbesserte er. „Nur eins noch." „Was?" fragte sie bemerkenswert ruhig. „Dies." Er umfasste ihr Gesicht und küsste sie, bevor sie protestieren konnte. Und dann war es zu spät, denn der KUSS weckte ihre Gefühle und ließ sie außer Kontrolle geraten. Du lieber Himmel. Unwillkürlich schmiegte sie sich an ihn, als Raoul die Zunge in ihren Mund gleiten ließ und der KUSS so erotisch wurde, dass sie am ganzen Körper bebte. Das ist Wahnsinn, dachte sie. Was, zum Teufel, tat sie da eigentlich? Stephanie riss sich energisch los und trat zurück. Sie atmete schwer und sah Raoul entsetzt und empört an. Wie konnte er es wagen? Ihre Augen wurden dunkler vor Wut. „Raus!" flüsterte sie. Er zog mit dem Zeigefinger sanft ihren Mund nach. „Au revoir, cherie." Stephanie schloss die Gitter- und dann die Haustür ab, schob die Sicherheitskette vor und
lehnte sich gegen die Wand. Sosehr sie es ihm auch verübelte, sie hatte selbst ein bisschen Schuld daran. Weil sie nicht nur reagiert, sondern den KUSSS sogar genossen hatte. Sie stieß sich von der Wand ab, trug die beiden leeren Kaffeetassen in die Küche, betrat das kleine Arbeitszimmer und schaltete den Laptop ein. Drei Stunden arbeitete sie an dem Bericht, dann ging sie ins Bett. Nachdem sie sich zwei Stunden hin und her geworfen hatte, knipste sie die Nachttischlampe an und las noch eine Stunde lang, bevor sie endlich einschlief und von einem grässlichen Typ träumte, der Raoul Lanier auffallend ähnlich sah.
4. KAPITEL An den Wochenenden widmete sich Stephanie strikt ihrer Tochter. Am Samstagmorgen fuhr sie mit Emma zu einem Park mit Spielplatz und einem See, an dem die Kinder Enten füttern konnten. Über eine Stunde spielte Emma mit den anderen Kindern, turnte an den Klettergerüsten herum und schaukelte. Danach fuhren sie zum Einkaufszentrum und kauften die Lebensmittel für die Woche, bevor sie nach Hause zurückkehrten. Während Emma ihren Mittagsschlaf hielt, holte Stephanie die Hausarbeit nach. Am Nachmittag hatte Emma Schwimmunterricht. Wie immer kochte Stephanie am Samstagabend etwas Besonderes, und nachdem sie das schmutzige Geschirr in die Maschine geräumt und Emma gebadet und ins Bett gebracht hatte, machte sie es sich in einem Sessel gemütlich und sah sich einen Videofilm an. Das Schema änderte sich selten, und sie sagte sich, sie sei zufrieden. Zumindest war sie es bis vor fünf Tagen gewesen, als ein großer, attraktiver Mann mit einem hinreißenden französischen Akzent in ihr Leben eingefallen war. Sein Kuss am vergangenen Abend hatte Gefühle geweckt, über die sie nicht nachdenken wollte. Nur tat sie es trotzdem und geriet aus dem Gleichgewicht. Noch eine Woche, und die Dreharbeiten würden beendet sein. Sie würde dann noch mehr Arbeit und Stress haben, weil sie die Fernsehinterviews, die Fotoaufnahmen und den Galaabend organisieren musste. In der Zeit würde sie sehr oft mit Michel und Sandrine zu tun haben. Mit Raoul würde sie hoffentlich wenig Kontakt haben. Danach würden Michel, Sandrine und Raoul zurück nach New York oder Paris fliegen, und in ihrem Leben würde alles wieder normal laufen. Am Sonntag besuchte Stephanie mit Emma die Movieworld und wurde von der Begeisterung ihrer Tochter angesteckt, während sie die Sehenswürdigkeiten besichtigten und sich die Vorführungen der Stuntmen ansahen. Nach so einem aufregenden Tag konnte Emma auf der Rückfahrt kaum noch die Augen offen halten, und sie badete bereitwillig, aß früh zu Abend und ging anstandslos ins Bett. Der Montag brachte den gewohnten Alltagstrott. Als Erstes überprüfte Stephanie ihren Terminkalender. Eine Cocktailparty am Dienstagabend und das Galadinner am Samstag bedeuteten, dass sie zwei Mal Sarahs Hilfe in Anspruch nehmen musste, und sie rief die Studentin sofort an. Am Nachmittag tauchten in letzter Minute noch einige kleine Probleme auf, die sie aus der Welt schaffen musste. Sie schaffte es trotzdem, pünktlich Schluss zu machen, und fuhr mit dem Taxi zur Werkstatt, um ihr Auto abzuholen, das sie am Morgen zur Inspektion gebracht hatte. Ein Ersatzteil war nicht rechtzeitig angekommen, und der Mechaniker war mit der Arbeit nicht fertig geworden. Mit einem Leihwagen holte sie Emma von der Tagesstätte ab, fuhr nach Hause und musste feststellen, dass ihr Garten verwüstet war. Irgendwie war ein streunender Hund aufs Grundstück gelangt und hatte fast alle Pflanzen ausgegraben. Außerdem hatte er ihren Kater halb zu Tode erschreckt und die Wäsche von der Leine gezogen. Und dabei ist heute nicht einmal Freitag, der dreizehnte, dachte Stephanie. Sie rettete den Kater, der sich auf einen Baum geflüchtet hatte, sammelte die herausgerissenen Blumen und Sträucher ein und sortierte die Wäsche. Einige Teile musste sie wegwerfen, die anderen waschen oder waschen und flicken. Erstaunlicherweise schlief sie gut. Als sie aufstand, brannte schon die Sonne vom Himmel. Der Tag versprach heiß und schwül zu werden. Stephanie besaß mehrere Kostüme, die sie mit Seidenblusen kombinierte. Sie bevorzugte einen eleganten Look, der ihr Image als Powerfrau unterstrich. An diesem Morgen wählte sie ein dunkelblaues Kostüm, ließ die Bluse weg und zog dunkelblaue Pumps mit passablen Absätzen an. Armbanduhr und eine schmale Halskette waren der einzige Schmuck.
Es war ein Arbeitstag ohne Probleme. Als sie nach Hause kam, hatte sie vierzig Minuten Zeit, um Emma zu baden und ihr Abendessen zu machen, zu duschen und sich anzuziehen. Um sechs musste sie wieder los. Sie war zu einer Cocktailparty in einem Penthouse in Main Beach eingeladen. Tempo und Organisation waren alles. Nicht zum ersten Mal wünschte Stephanie, sie hätte einen ganz normalen Achtstundentag, der begann, wenn sie am Morgen ins Büro ging, und endete, wenn sie es am späten Nachmittag verließ. Und die gesellschaftlichen Verpflichtungen nach Geschäftsschluss würden nicht einen Teil ihres Gehalts ausmachen. Nur würde sie sich dann nicht das schön eingerichtete Backsteinhaus mit Swimmingpool leisten können, wenige Minuten vom Strand und einem großen Einkaufszentrum entfernt. Sie würde auch nicht ein relativ neues Auto und eine so schicke Garderobe besitzen. Und sie war ja nicht unzufrieden mit ihrem Job. Solche Gedanken kamen eben manchmal, wenn sie sich besonders abhetzen musste. An diesem Abend kam dazu, dass sie aus irgendeinem Grund einen ungewohnten Widerwillen gegen die Cocktailparty in Main Beach empfand. Ich brauche nicht lange zu bleiben, erinnerte sie sich, während sie ihrem Make-up den letzten Schliff gab. Sie zog schwarze hochhackige Pumps an und betrachtete sich prüfend im Spiegel. Klassischer Stil ist immer richtig, dachte sie. Schwarz, kurze Ärmel, tiefer Ausschnitt, der Saum einige Zentimeter über dem Knie. Stephanie sah auf ihre Armbanduhr, nahm die Abendtasche und ging ins Wohnzimmer. Sarah unterhielt Emma mit einem neuen Bilderbuch. „Sei ein braves Mädchen und ärger Sarah nicht. Ich liebe dich." Stephanie beugte sich hinunter und umarmte ihre Tochter. „Ja. Ich liebe dich auch." Emma legte ihrer Mutter die Arme um den Nacken und schmiegte sich an sie. Die Liebe eines Kindes war bedingungslos und deshalb etwas, was man hoch schätzen sollte. „Okay, ich muss los." Stephanie löste sich von Emma. Sie konnte damit fertig werden, ihre Tochter in die Tagesstätte zu bringen, weil sie keine andere Möglichkeit hatte. Emma abends zu verlassen tat dagegen jedes Mal weh, obwohl sie nur ausging, wenn es der Job verlangte. Die Soiree fand in einem Penthouse gegenüber dem Sheraton Mirage statt. Der Gastgeber wollte den durchschlagenden Erfolg seiner importierten Luxusdamenwäsche feiern. Eine gelungene Promotion hatte das Interesse der Reichen und Berühmten an der Gold Coast geweckt, und die Ware fand reißenden Absatz. Der Geschäftsführer war aus Mailand eingeflogen, um die erste Boutique seines Unternehmens in Australien zu besichtigen und, wie man munkelte, um sich sein kürzlich erworbenes Penthouse im luxuriösen „Palazzo Versace" anzusehen. Stephanie kam um halb sieben in Main Beach an, parkte in der Tiefgarage des Palazzo und fuhr mit dem Lift nach oben. Minuten später hatte sie die Sicherheitskontrollen hinter sich und wurde von einer Hostess in ein großes Empfangszimmer geführt, das schon voller Gäste war. Ober gingen herum und boten Champagner, Orangensaft und Horsd'oeuvres an. Stephanie nahm sich ein Glas Saft und eine mundgerechte Vorspeise. „Ist das nicht traumhaft?" Stephanie erkannte die Stimme, drehte sich um und lächelte den Werbemanager freundlich an. „Ja, wirklich." Wie er ließ sie den Blick über die luxuriöse Einrichtung gleiten, den prachtvollen Marmorboden, die Gemälde, die alle Originale zu sein schienen. Die Aussicht über das Broadwater bis zu den Bergen in der Ferne war wunderschön. „Sieht so aus, als würden Dessous sehr gut gehen." „Die Marke steht für außergewöhnlich hochwertige Luxusartikel." „Und ist enorm teuer." „Sie hat den berühmten Namen", sagte Stephanie. „Für den wir Werbung machen." „Mit Erfolg." Ein Ober kam vorbei, und sie nahm sich noch ein Horsd'oeuvre. Sie hatte
Hunger und würde nicht mehr zu Abend essen, wenn sie nach Hause kam. „Würden Sie mich bitte entschuldigen? Ich habe einen Kollegen entdeckt, mit dem ich sprechen möchte." Während der nächsten Stunde mischte sie sich unter die Gäste, von denen sie mehrere kannte. Die anderen gehörten offensichtlich zur gesellschaftlichen Oberschicht der Gold Coast. Der Gastgeber war ein charmanter, gut aussehender Italiener, und Stephanie beobachtete amüsiert, wie die Frauen mehr oder weniger subtil versuchten, mit ihm zu flirten und ihn in ein längeres Gespräch zu ziehen. Er wurde mühelos damit fertig, was Stephanie nicht wunderte. Ein attraktiver Mann in seiner Position hatte darin zweifellos Übung. Bald würde er eine kurze Rede halten, Kaffee würde angeboten werden, und dann konnte sie gehen. Sie ließ den Blick durch den Raum gleiten, als das Stimmengewirr einen Moment lang verstummte. Unwillkürlich erschauerte sie. Was, in aller Welt... Sie hielt den Atem an. Der große, breitschultrige dunkelhaarige Mann konnte nicht ... Oder doch? Jetzt drehte er sich um, und ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich. Raoul Lanier. Sofort erinnerte sie sich, wie es gewesen war, von ihm geküsst zu werden. Wie hypnotisiert beobachtete sie ihn, während er auf sie zukam. Sie dachte daran, einfach zu gehen, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass er ihr wahrscheinlich folgen würde. Der Raum und die anderen Gäste traten in den Hintergrund. Sie sah nur ihn und spürte eine Erregung, die sie sich nur sehr ungern eingestand. „Stephanie." „Lassen Sie mich raten", sagte sie zynisch. „Unser Gastgeber ist ein Freund von Ihnen." Raouls Augen funkelten belustigt. „Wir haben zusammen studiert." „Und es ist natürlich reiner Zufall, dass Sie beide zur gleichen Zeit in Australien sind. Nicht nur im selben Bundesstaat, sondern auch noch in derselben Stadt." Er nickte und rückte nah an sie heran, um einem Gast Platz zu machen, der unbedingt den Ober einholen wollte. Ihre Körper berührten sich fast, und Stephanie wich einen Schritt zurück. Hatte Raoul gewusst, dass sie hier sein würde? „Ich hätte nicht gedacht, dass Sie sich für Dessous interessieren." Sobald die Worte heraus waren, wurde ihr klar, welche Bedeutung ihre Bemerkung beinhaltete. „Das hängt von der Frau ab", erwiderte Raoul amüsiert. „Und ob ich so fasziniert von ihr bin, dass ich sie ihr ausziehen will." Allein sich vorzustellen, wie er einer Frau den BH-Träger von der Schulter schob, den Verschluss öffnete, die Hände tiefer gleiten ließ und ihr den Slip über die Hüften ... Hör auf damit! Eine lebhafte Fantasie brachte nur Ärger. „Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden", sagte Stephanie energisch. Sie hatte vor, sich so weit wie möglich von diesem beunruhigenden Mann zu entfernen. „Nein." „Was soll das heißen, ,nein'?" Ihre Augen wurden dunkler und funkelten warnend. Er umfasste ihren Ellbogen. „Ich werde Sie mit Bruno bekannt machen." Sie warf ihm einen wütenden Blick zu. „Lassen Sie mich los!" „Merde", fluchte Raoul. „Sie stellen meine Geduld auf eine harte Probe." „Soll ich den Vermittler spielen?" fragte ein Mann belustigt. Stephanie drehte sich um und stand ihrem Gastgeber gegenüber. „Willst du mich der jungen Dame nicht vorstellen, Raoul?" „Bruno Farelli", sagte Raoul liebenswürdig. „Stephanie Sommers." Bruno küsste ihr die Hand. „Stephanie. Ich freue mich, Sie kennen zu lernen." Er zeigte auf Raoul. „Mögen Sie den Mann nicht?" „Er geht mir fürchterlich auf die Nerven." Bruno unterdrückte gerade noch ein Lachen. „Das ist ja interessant. Normalerweise
fallen ihm die Frauen zu Füßen." „Wie dumm von ihnen", sagte sie honigsüß. „Raoul muss Sie zum Abendessen bei uns mitbringen. Meine Frau wird sich über Ihre Gesellschaft freuen." „Ich denke nicht, dass ..." „Adriana kann heute Abend nicht dabei sein. Unsere Tochter hat den langen Flug nicht vertragen." „Das tut mir Leid", sagte Stephanie mitfühlend. Bruno betrachtete sie forschend. „Ja, ich glaube, Ihnen tut es ehrlich Leid", meinte er leise. Seine persönliche Assistentin kam und flüsterte ihm etwas zu. Bruno nickte und blickte Stephanie und Raoul entschuldigend an. „Wir unterhalten uns nachher noch. Ich muss jetzt einige Worte an meine Gäste richten." Er hielt routiniert seine Rede und kündigte am Schluss überraschend eine inoffizielle erste Vorführung der neuen Kollektion für die nächste Saison an. Drei Models zeigten perfekt choreografiert die Dessous, die in einigen Monaten in der Boutique zu kaufen sein würden. Es war ein geschickter Schachzug und, dem beifälligen Geflüster der Gäste nach zu urteilen, ein sehr erfolgreicher. Viele der anwesenden Ehefrauen werden kaufen, um ihre Männer zu erregen, und einige der Männer ein Geschenk für die Geliebte aussuchen, dachte Stephanie zynisch. „Kann ich Ihnen noch etwas zu trinken holen?" Ihr Glas war fast leer, und sie betrachtete es abwägend. Sie wollte Raoul nicht ermutigen, noch länger bei ihr zu bleiben. „Ich glaube, ich warte auf den Kaffee." „Der wird wahrscheinlich erst in einer halben Stunde serviert." Stephanie schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln, aber ihr Blick war kühl. „Dann lassen Sie sich durch mich nicht aufhalten." „Eine höflich verschleierte Aufforderung, mich zu verziehen?" fragte Raoul belustigt. „Wie haben Sie das nur erraten?" Er schwieg einen Moment lang, dann fragte er: „Hat Emmas Vater Ihnen so wehgetan?" Stephanie war sich bewusst, dass Raoul Lanier mehr sah, als sie irgendjemand sehen lassen wollte. Es verwirrte sie und brachte die Schutzmauer ins Wanken, die sie um ihre Gefühle errichtet hatte. „Das ist meine Sache", sagte sie und war beunruhigt über die Skrupellosigkeit, die er zu erkennen gab. „Vielleicht möchte ich es zu meiner machen." „Und wenn ich es Ihnen nicht erlauben will?" „Glauben Sie, mich davon abhalten zu können?" Stephanie musterte ihn von oben bis unten. „Es wäre dumm von Ihnen, es auch nur zu versuchen." „Ich bin schon vieles genannt worden", erwiderte Raoul langsam, „aber dumm noch nie." Sie hatte es satt. Sie hatte genug von diesem Mann, der nicht unterzukriegen war. Von der Party auch. Am liebsten wäre sie sofort gegangen, doch so ein Benehmen würde ihr Boss zweifellos missbilligen. „Entschuldigen Sie mich bitte", sagte sie kühl. „Unter den Gästen sind einige Geschäftspartner, mit denen ich mich wirklich unterhalten sollte." Raoul ließ sie gehen und beobachtete, wie sie die Runde machte und mit verschiedenen Leuten plauderte. Sie besaß eine natürliche Anmut, und ihre geschmeidigen Bewegungen erinnerten ihn an eine Balletttänzerin. „Ein wundervoller Abend", hörte er eine Frau neben sich sagen. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die schöne junge Blondine. Die kennt jeden weiblichen Trick und ist nicht abgeneigt, jeden anzuwenden, dachte er zynisch. Sie machte geistreich Konversation, lächelte ihn verheißungsvoll an und legte ihm die Hand auf den Arm. Aber sie interessierte ihn nicht, und allzu oft ließ er den Blick zu einer attraktiven
Rotblonden gleiten, die unbedingt gegen die sexuelle Spannung zwischen ihnen ankämpfen wollte. Stephanie trank langsam ihr Glas aus und widerstand der Versuchung, auf ihre Armbanduhr zu sehen. „Ganz allein?" Sie rang sich ein höfliches Lächeln ab. „Samuel." Als Werbemanager suchte Samuel Stone seinesgleichen. Als Mann hatte er einen fatalen Fehler: Er hielt sich für Gottes Geschenk an die Frauen. „Du hast dich ja heute Abend in den höchsten Kreisen bewegt. Raoul Lanier und Bruno Farelli haben sich um dich gekümmert." Samuel ließ den Zeigefinger über ihren Arm gleiten. „Bravo, Darling. Ich bin gespannt, welchen du nimmst." „Keinen von beiden." „Also habe ich freie Bahn?" Stephanie warf ihm einen kühlen Blick zu. „Wann hörst du endlich mit diesem langweiligen Spiel auf?" „Du bist die eine, die ich noch nicht gekriegt habe." „Mich kriegst du niemals", sagte sie trocken. „Ich bin außerordentlich hartnäckig, Darling." „Zwei Jahre, und du hast es noch immer nicht kapiert, Samuel. Wie oft muss ich es dir klarmachen?" „Du spielst Desinteresse wirklich gut." Langsam wurde er lästig. „Es ist echt." „Warum glaube ich dir nicht?" „Weil du ein ernstes Problem mit deinem Ego hast." Stephanie sah, dass zwei Ober Kaffeekannen, Tassen und Untertassen aufdeckten. Dem Himmel sei Dank! „Geh nachher mit mir zusammen hier weg. Wir ziehen weiter in einen Nachtklub, tanzen ein bisschen und machen uns einen netten Abend ..." „Nein." Stephanie wandte sich ab, doch Samuel nahm ihre Hand. „Lass das!" „Die Dame hat Nein gesagt." Raouls Stimme klang gefähr lich sanft. Du liebe Güte, das hatte ihr gerade noch gefehlt! Zwei Männer, die sich ihretwegen in die Haare gerieten. Sie hätte sich geschmeichelt fühlen sollen, aber stattdessen war sie ein bisschen angewidert. „Ich habe gehofft, sie umstimmen zu können." Samuel ließ sie los. Raoul warf ihm einen angespannten Blick zu. „Ich würde sagen, Ihr Glück hat Sie gerade verlassen." Samuel verbeugte sich formvollendet. „Wir sehen uns noch, Stephanie." Nicht wenn ich dich zuerst sehe, schwor sie sich. „Ein Kollege von Ihnen?" fragte Raoul, als Samuel außer Hörweite war. „Er arbeitet in einer Werbeagentur. Wir haben oft miteinander zu tun. Werbung und Marketing gehen Hand in Hand." Stephanie atmete tief durch. „Entschuldigen Sie mich bitte, ich möchte mir einen Kaffee holen." „Ich komme mit." Sie blickte Raoul scharf an, wollte seine Begleitung ablehnen und unterließ es. „Ist Emma völlig wiederhergestellt?" „Ja." „Zwei Kaffee. Einer schwarz, einer mit Milch und einem Löffel Zucker." Raoul gab Stephanie ihre Tasse, nahm seine entgegen und zeigte auf das vom Boden bis zur Decke reichende Fenster. „Sehen wir uns die Aussicht an." Es war dunkel geworden, und die vielen Hochhäuser waren hell erleuchtet. In dem großen Yachthafen lagen Schiffe vor Anker, und das Mondlicht spiegelte sich im Wasser. Stephanie stand schweigend da und trank ihren Kaffee. Sie wurde sich Raouls Nähe
immer mehr bewusst, während sie auf den angrenzenden Restaurantkomplex hinunterblickte. Leute bummelten den Plankenweg entlang und blieben gelegentlich stehen, um die im Hafen vertäuten Kabinenkreuzer zu bewundern. Einer davon glitt gerade aus seinem Liegeplatz und fuhr auf den Hauptkanal zu. Raoul zeigte auf den Yachthafen. „Der Anblick erinnert mich an Südfrankreich. Sind Sie schon einmal im Ausland gewesen?" „Nordamerika." Es schien eine Ewigkeit her zu sein und gehörte zu einer Vergangenheit, an die sie nicht mehr denken wollte. „Ein Urlaub?" „Ja." Eine Gruppenreise zusammen mit dem Mann, den sie heiraten sollte. „Sind Sie auch in New York gewesen?" „Ja. Ich habe das Tempo und das pulsierende Leben in dieser Stadt geliebt. Aber ich habe sie als Touristin gesehen. Ich könnte mir denken, dass auch New York im Alltag einiges an Gla mour einbüßt." Stephanie trank ihren Kaffee aus. „Ich muss jetzt wirklich gehen. Sarah hat morgen Prüfungen, und ich habe versprochen, früh wieder zu Hause zu sein." „Ich bringe Sie zu Ihrem Auto." „Das ist nicht nötig. Die Tiefgarage ist gut beleuchtet." „Kommen Sie, wir suchen Bruno, dann können Sie sich verabschieden und ihm sagen, dass Sie einen angenehmen Abend verbracht haben." „Das schaffe ich sehr gut allein." Raoul nahm ihr die Tasse ab und stellte sie zusammen mit seiner auf einen Konsoltisch. „Hören Sie niemals richtig zu?" schimpfte Stephanie resigniert, als er sie zur anderen Seite des Zimmers begleitete. Bruno war in ein Gespräch mit zwei Männern vertieft, beendete es jedoch, sobald er Raoul und Stephanie auf sich zukommen sah. „Ihr geht schon? So früh?" „Es war ein wundervoller Abend." Stephanie lächelte ihn herzlich an. „Danke." „Wir sehen uns dann beim Essen. Würde es Ihnen am Freitagabend passen? Oder Donnerstag?" „Ich glaube nicht, dass ..." „Wir geben dir noch Bescheid", unterbrach Raoul sie. Stephanie war so wütend, dass sie sich nicht zutraute, mit ihm zu sprechen, ohne ihn anzuschreien. Sie wartete, bis sie in der Tiefgarage aus dem Fahrstuhl stiegen. „Was sollte das da oben?" „Was genau?" „In meinem Namen eine Einladung zum Abendessen anzunehmen !" „Ich habe gesagt, wir würden ihm noch Bescheid geben." Stephanie warf Raoul einen hasserfüllten Blick zu. „Wir? Sie können ja planen, was Sie wollen, aber ..." „Das habe ich vor. Und seien Sie sich darüber im Klaren, dass ich Sie in meine Pläne einbeziehe." „Den Teufel werden Sie tun!" Stephanie öffnete die Abendtasche und holte die Autoschlüssel heraus. „Ich brauche keinen Bodyguard, und ich habe ganz bestimmt kein Bedürfnis danach, dass Sie eine Rolle in meinem Leben übernehmen. Gute Nacht!" Sie hatte gerade ein halbes Dutzend Schritte gemacht, als Raoul wieder neben ihr auftauchte und bis zu ihrem Auto mitging. „Sie sind wirklich der schrecklichste Mensch, der mir jemals begegnet ist!" sagte sie wütend. „In dem Fall habe ich ja nichts zu verlieren." Raoul zog sie an sich und küsste sie. Zuerst wehrte sie sich dagegen, den Empfindungen zu erliegen, die jeden vernünftigen Gedanken auszulöschen drohten, sie wollte mit den Fäusten auf seine Schultern eintrommeln, doch stattdessen legte sie ihm die Arme um den Nacken und erwiderte den
Kuss. O bitte, tu mir das nicht an, dachte sie, als Raoul die Zunge in ihren Mund gleiten ließ. Warum standen ihre Gefühle im Widerspruch zu dem, was ihr Verstand befahl? Raoul brauchte sie nur zu berühren, und schon wurde sie schwach. Raoul spürte, dass Stephanie nachgab, und küsste sie leidenschaftlicher. Ihre Reaktion trieb ihn dazu, ihren Po zu umfassen und sie fest an sich zu pressen. Er wollte mehr, viel mehr, und war in Versuchung, sie in seine Hotelsuite einzuladen. Nur dass er damit jeden Vorteil zunichte machen würde, den er sich ihr gegenüber verschafft haben mochte. Er verringerte den Druck langsam, löste sanft den Mund von ihrem, umfasste ihr Gesicht und sah auf. Tränen schimmerten in ihren Augen. Der Anblick brachte Raoul aus der Fassung. Selten hatte er solch eine Verletzlichkeit bei einer Frau erlebt, und er war unglaublich wütend auf den Mann, der schuld daran war. Raoul erkannte, wie viel Anstrengung es sie kostete, die Beherrschung wiederzugewinnen. Er ließ die Hände zu ihren Armen gleiten. „Stephanie ..." „Bitte." Es klang verzweifelt, und er trat zurück. Sie schloss die Autotür auf, stieg ein und widerstand gerade noch der Versuchung, mit Vollgas aus der Garage zu brausen. Äußerste Selbstdisziplin hielt sie davon ab. Ohne Raoul noch eines Blickes zu würdigen, fuhr sie los und fädelte sich draußen vorsichtig in den Verkehr ein. Warum nur hatte sie sich auf diesen Kuss eingelassen? Fast hätte Stephanie gelacht. Sie hatte eigentlich keine andere Wahl gehabt! Abgesehen davon, dass sie sich nicht gewehrt hatte. Und das hätte sie tun sollen. Es wäre für ihr seelisches Gleichgewicht besser gewesen. Stephanie achtete auf den Verkehr, während sie auf dem Highway nach Mermaid Beach fuhr, dennoch durchlebte sie immer wieder, wie Raoul sie geküsst und gestreichelt hatte. Und wie verdammungswürdig sie reagiert hatte. Nach Ben hatte sie sich geschworen, dass kein Mann mehr an sie herankommen würde. Sie hatte einem vertraut, und ihr Vertrauen war verletzt worden. Sie hatte geliebt und plötzlich erkennen müssen, dass Ben und sie verschiedene Auffassungen von Liebe hatten. Jetzt gab es Emma in ihrem Leben. Das genügte. Sie brauchte keinen Mann, der alles komplizierte. Und besonders brauchte sie nicht Raoul Lanier, der in ein oder zwei Wochen zurück nach Europa fliegen und sein Leben dort wieder aufnehmen würde. Wahrscheinlich hatte er eine Geliebte. Und warum tat der Gedanke weh? Sie konnte den Mann nicht leiden. Zweifellos mochte sie nicht, wie er auf sie wirkte, und sie hatte nicht die Absicht, eine private Beziehung zwischen ihnen zuzulassen. Stephanie erreichte den Vorort Mermaid Beach. Minuten später bog sie auf ihre Auffahrt ab, öffnete mit der Fernbedienung das Garagentor und stellte das Auto ab. Sarah berichtete, dass alles in Ordnung sei. Sie suchte ihre Bücher zusammen, dann brachte Stephanie sie zur Tür und passte auf, bis die Studentin sicher zu Hause angekommen war, bevor sie abschloss. Emma schlief friedlich. Stephanie steckte die Decke fest, entfernte vorsichtig den Teddybär und zog sich leise in ihr eigenes Schlafzimmer zurück.
5. KAPITEL
Das ist heute nicht mein bester Vormittag gewesen, dachte Stephanie, während sie ihre EMails überprüfte. Dass sie schlecht geschlafen und Kopfschmerzen hatte, machte es nur noch schlimmer. Eine Nachricht war mit der Überschrift „Eilt" versehen. Stephanie fluchte leise, als sie den Text las. Der Termin für die Aufnahmen müsse neu geplant werden. Ob sie sich mit dem Direktor des Sheraton und dem Fotografen in Verbindung setzen, einen neuen Termin und das Layout absprechen und ihnen am Nachmittag Bescheid geben könne? Stephanie streckte die Hand nach dem Telefon aus, doch genau in diesem Moment summte die Gegensprechanlage. „Ja?" „Ich habe Raoul Lanier in der Leitung", sagte lsabel. Sofort verkrampfte sich Stephanie. „Lassen Sie ihn wieder anrufen." „Okay. Möchten Sie ihm etwas mitteilen?" Nichts, was du wiederholen könntest! dachte sie finster. „Nein", sagte sie ruhig. „Würden Sie mich bitte mit Alex Stanford verbinden? Probieren Sie es mit seiner Handynummer." Der Fotograf war einer der besten, und wenn sie Glück hatte, würde er eine halbe Stunde Zeit für sie haben und die geplanten Aufnahmen mit ihr durchgehen. Dreißig Minuten später hatte sie alles unter Dach und Fach. Anstatt Mittagspause zu machen, fuhr sie zum Sheraton in Main Beach. Alex wartete in der Halle. Zusammen gingen sie nach draußen zum Swimmingpool, überlegten hin und her, welche Plätze für die Innen- und Außenaufnahmen geeignet waren, sprachen über die Stimmung, die Stephanie auf den Fotos haben wollte, und entschieden sich für einen Termin in der folgenden Woche, vorbehaltlich einer Bestätigung. Stephanie holte ihren Terminkalender heraus, trug den Tag und die Uhrzeit ein und notierte sich, mit welchen Leuten vom Filmstudio, der Werbeagentur und der Garderobe sie noch reden musste. „Okay, das war's", sagte sie. „Ich rufe an, wenn ich es festgemacht habe. Danke, Alex." Sie lächelte ihn an, während sie in die Hotelhalle zurückkehrten. „Ich weiß Ihre Hilfe wirklich zu schätzen." Ihr Handy klingelte, und sie winkte, als er zu den Fahrstühlen ging, dann nahm sie den Anruf entgegen. Fünf Minuten später steckte sie das Handy in die Umhängetasche und ging zu der Treppe, die zur Rezeption führte. Ihr Magen knurrte, und ihr fiel ein, dass sie aufs Mittagessen verzichtet hatte. Sie überlegte, ob sie für einen Kaffee und ein Sandwich die Fußgängerbrücke zum Einkaufszentrum überqueren oder auf der Fahrt zurück zum Büro irgendwo anhalten und sich etwas mitnehmen sollte. Kaffee und Sandwich in einem Cafe mit Blick aufs Broadwater, entschied sie, während sie an der Rezeption vorbei auf den Ausgang zusteuerte. „Stephanie." Sie erkannte die Männerstimme und hatte sofort das Gefühl, sich schützen zu müssen. Alles in ihr sträubte sich, als sie sich umdrehte und den Mann anblickte, der ihr eine schlaflose Nacht bereitet hatte. Raoul Lanier sah genau so aus, wie man sich einen mächtigen Konzernchef vorstellte. Er trug einen zweifellos teuren, perfekt sitzenden dunklen Geschäftsanzug mit weißem Hemd und dunkler Seidenkrawatte, der die breiten Schultern betonte und seine weltgewandte Ausstrahlung verstärkte. Sie sieht zerbrechlich aus, dachte Raoul. Die Schatten unter ihren Augen zeigten an, dass sie ebenso schlecht geschlafen hatte wie er. Was ihn freute. Stephanie bemerkte, dass Raoul nicht allein war. Bruno Farelli, eine attraktive Blondine und ein kleines Kind waren bei ihm. „Raoul, Bruno", grüßte sie und rang sich ein Lächeln ab. „Wie schön, Sie wieder zu sehen", sagte Bruno begeistert. „Meine Frau Adriana. Und
das ist unsere Tochter Lucia." Das Mädchen war niedlich angezogen, hatte herrliches lockiges blondes Haar und ein reizendes Lächeln. Stephanie schloss die Kleine sofort ins Herz. „Adriana", sagte sie höflich, dann wurden ihre Gesichtszüge weicher. „Hallo, Lucia." „Bruno hat von Ihnen gesprochen", erwiderte Adriana freundlich. „Wir haben gerade im Hotelrestaurant zu Mittag gegessen." Stephanie antwortete mit einer angemessenen Plattitüde. „Ich hoffe, Sie genießen Ihren Aufenthalt an der Gold Coast." „Ich glaube, Sie haben ein Mädchen in Lucias Alter. Es wäre schön, wenn sich die Kinder kennen lernen könnten. Bringen Sie Ihre Tochter doch mit, wenn Sie zum Abendessen zu uns kommen", sagte Adriana herzlich. „Geht es morgen Abend?" O verdammt. Stephanie hatte gehofft, Brunos Einladung doch noch irgendwie ausweichen zu können. Aber er hatte schon mit seiner Frau darüber geredet. Wie handhabte sie das jetzt? Mit Anstand, beschloss sie widerstrebend. Bruno Farelli war ein sehr einflussreicher Mann und Kunde der Agentur, für die sie arbeitete. Seine Einladung abzulehnen wäre nicht nur unhöflich, sondern auch beruflich unklug. „Danke, gern." „Um sechs?" Stephanies Handy klingelte. Sie zog es aus der Tasche, sah auf die angezeigte Nummer und lächelte entschuldigend. „Tut mir Leid, den Anruf muss ich entgegennehmen." Sie lächelte Adriana an. „Morgen Abend um sechs. Ich freue mich darauf." Sie nickte Bruno und Raoul zu, dann wandte sie sich ab und telefonierte, während sie die Hotelhalle verließ. Jetzt brauche ich wirklich einen Milchkaffee und ein Sand wich, dachte sie einige Minuten später. Sie ging in ein Cafe, bestellte und aß an einem Tisch im Freien unter einem Sonnenschirm. Und da sie gerade im Einkaufszentrum war, sah sie sich hinterher noch die Schaufensterauslage von Brunos Boutique an. Um kurz vor drei war Stephanie wieder im Büro. Vom Nachmittag war nicht viel übrig, und sie musste noch zahlreiche Telefongespräche führen und einen langen Bericht fertig stellen. Daher war es lange nach fünf, als sie Emma aus der Tagesstätte abholte, und die Kopfschmerzen, die sie schon den ganzen Tag quälten, wurden so schlimm, dass eine Tablette gerechtfertigt war. Nachdem sie Emma um acht ins Bett gebracht hatte, duschte Stephanie gemütlich. Sie ließ das warme Wasser auf ihre verspannten Nackenmuskeln prasseln und wusch sich mit zart duftender Rosenölseife, die ihre Haut glatt und geschmeidig weich machte. Abgetrocknet, benutzte sie den dazu passenden Körperpuder und zog ein frisch gewaschenes T-Shirt an. Nicht gerade der ultrafeminine Look, dachte sie spöttisch, als sie sich zufällig im Spiegel sah. Aber das war ja unwichtig, denn es gab keinen Mann in ihrem Leben, den sie in Seide und Spitze verführen könnte. Und ich will auch keinen, versicherte sich Stephanie. Sie trug Nachtcreme auf, benutzte den Überschuss für die Hände, schaltete das Licht aus und glitt zwischen die Laken. Wenn sie keinen Mann wollte, warum lag sie dann wach und sah im Geiste Raoul Lanier vor sich? Warum stellte sie sich vor, wie sie ihn berühren und sich seine Haut anfühlen würde? Und fragte sich, an welchem Punkt er die Beherrschung verlieren würde? Raoul Lanier ist ein unglaublich gut aussehender, charmanter, erfahrener Mann, der eine Frau wild machen kann, räumte Stephanie ein. Wie wild, daran wollte sie nicht denken, denn an Sex zu denken erinnerte sie unweigerlich an ihre Beziehung zu Ben. Er hatte seine Lust ohne Rücksicht auf sie ausgelebt, und sie hatte die Nähe und Leidenschaft aus Zurückhaltung und Naivität genossen, obwohl sie sich nach mehr gesehnt hatte. Blindes Vertrauen und unreife Liebe, gestand sie sich ehrlich ein. Wenn sie älter gewesen wäre und mehr Erfahrung mit Männern gehabt hätte, dann hätte sie die Schwäche und den Egoismus
erkannt. Stattdessen hatte sie sich selbst die Schuld für Bens Unzulänglichkeiten gegeben. Idiotin. Wie lange hätte es gedauert, bis sie ihn so gesehen hätte, wie er wirklich war? Ihre Schwangerschaft war höhere Gewalt gewesen. Die Pille war durch einen Magen-DarmVirus wirkungslos geworden. Liebe, süße Emma. Bens Reaktion war verabscheuungswürdig gewesen, und von dem Moment hatte Emma ihr ganz allein gehört. Stephanie hatte sich selbst kaum wieder erkannt, so energisch und zielstrebig hatte sie Sydney, ihre Eltern und Freunde verlassen, war an die Gold Coast gezogen und hatte sich eine Karriere aufgebaut. Bis zwei Wochen vor Emmas Geburt hatte sie gearbeitet. Nach einem Monat Mutterschaftsurlaub war sie in die Firma zurückgekehrt. Zwei Mal im Jahr kam ihre Mutter zu Besuch und nahm Emma für einige Wochen mit, wenn sie nach Sydney zurückflog. Stephanie verbrachte ihren Jahresurlaub dort. Fast vier Jahre lang war sie glücklich und zufrieden gewesen. Bis Raoul Lanier auf der Bildfläche erschienen war. Er störte ihr sorgfältig geplantes Leben, reizte ihre Libido und veranlasste sie, sich nach etwas zu sehnen, was nur Kummer bringen konnte. Ihn nicht wieder zu sehen war der einzige Ausweg. Und wie willst du das anstellen? spottete eine innere Stimme. Schließlich hatte sie durch seinen Bruder beruflich mit ihm zu tun. Ein oder zwei Wochen, dann würde er zurück nach Europa fliegen. So lange würde sie es doch wohl aushalten können? Das Telefon klingelte. Stephanie setzte sich auf, knipste mit einer Hand die Nachttischlampe an und griff mit der anderen nach dem Hörer. Sie klang erschrocken, besorgt und atemlos, und sie verfluchte sich, als sie auf die Uhr sah. Es war noch nicht einmal halb zehn. „Habe ich dich geweckt?" fragte Raoul. „Nein. Was willst du?" „Du hast nicht zurückgerufen." „Ich wusste nicht, dass es notwendig ist", erwiderte Stephanie kühl. „Außerdem hat dich meine Sekretärin gebeten, wieder anzurufen." „Dazu hatte ich bis jetzt keine Gelegenheit." „Und was kann nicht bis morgen warten?" „Michel bittet darum, dass du ihm die auf den neuesten Stand gebrachten geschätzten Kosten für Marketing und Werbung faxt. Er möchte sie mit den ersten Zahlen vergleichen. Hast du etwas zum Schreiben zur Hand? Ich gebe dir seine Faxnummer." „Einen Moment." Stephanie öffnete die Nachttischschublade und nahm einen Notizblock und einen Kugelschreiber heraus. „Okay." Sie schrieb sich die Nummer auf und wiederholte sie. „Ich kümmere mich morgen früh als Allererstes darum. Gute Nacht." „Nur noch eins", sagte Raoul. „Ja?" „Ich hole dich und Emma morgen Abend um Viertel vor sechs ab." „Nein. Ich fahre selbst." „Sacrebleu, warum musst du so unabhängig sein?" „Du wohnst gleich gegenüber im Sheraton und kannst zu Fuß zu den Farellis gehen. Es ist unlogisch, mich abzuholen." „Dir wäre es lieber, mit einem kleinen Kind nachts allein zurück zu einem leeren Haus zu fahren?" Das war zu viel. Er war zu viel! „Mir wäre es lieber, du wärst morgen Abend überhaupt nicht dabei", sagte sie ärgerlich. „Verwirrt dich meine Gegenwart?" fragte Raoul spöttisch. „Du bildest dir etwas ein", erwiderte sie eisig. „Und in Zukunft halt dich bitte an die
Geschäftsstunden, wenn du etwas mit mir besprechen musst." Sein Lachen machte sie so wütend, dass sie einfach auflegte. Der Mann war unausstehlich. Stephanie schüttelte ihr Kopfkissen auf, knipste das Licht aus, legte sich hin und zog die Bettdecke hoch. Nur dass sie nicht einschlafen konnte, und sie verfluchte ihn, während sich die Stunden dahinschleppten. Am nächsten Morgen stand sie müde auf und erledigte routinemäßig ihre Aufgaben. Kaffee kochen, mit Emma frühstücken, den Kater füttern, den Müll nach draußen bringen, Emmas Mittagessen einpacken und die Trinkflaschen für die Tagesstätte füllen, Hausarbeit, fürs Büro anziehen, Emma in der Tagesstätte abliefern und zur Arbeit fahren. Es wurde ein Tag, an dem alles schief ging, was schief gehen konnte, und Stephanie musste ihr ganzes Organisationstalent aufbieten, um für den reibungslosen Übergang von der Warenauslieferung zur Fernsehwerbung zu sorgen. Die Auslieferung verzögerte sich durch einen Streik der Firmenfahrer, so dass Stephanie ein anderes Transportunternehmen finden musste. Das Model, das für das Produkt warb, bekam aus irgendeinem Grund die falsche Größe und Farbe aus der Garderobe. Anrufe wurden nicht erwidert, und sie musste die für die Anzeigenkampagne verantwortlichen Leute antreiben. Als sie um fünf das Büro verließ, wollte sie nur noch Emma abholen, nach Hause fahren und abschalten. Stattdessen musste sie ihre Tochter baden und anziehen, dann selbst schnell duschen, sich anziehen und schminken. Alles in fünfundzwanzig Minuten. Sie wollte anrufen und absagen, aber das wäre gleichbedeutend mit Kneifen, und es fiel ihr nicht im Traum ein, Raoul Lanier diese Genugtuung zu gönnen. Emma und ihren Gastgebern zuliebe würde sie das Beste aus diesem Abendessen machen. Wie durch ein Wunder war sie pünktlich fertig. Sie trug eine elegante Abendhose mit dem dazugehörigen Bustier in Violett, eine Farbe, die ihre zarte helle Haut und ihre blauen Augen betonte. Emma, in einem hellblauen Kattunkleid, weißen Schuhen und Socken, sah dem Abend voller Vorfreude entgegen. Stephanie hatte an diesem hektischen Tag keine Gelegenheit gehabt, viel darüber nachzudenken, dass sie noch einige weitere Stunden in Raoul Laniers Gesellschaft verbringen würde. Jetzt, da sie kurz davor war loszufahren, beunruhigte sie die Aussicht mehr, als sie zugeben wollte. „Okay, Schatz", sagte sie und nahm ihre Abendtasche und die Autoschlüssel. „Gehen wir." Es klingelte, während sie zur Haustür gingen. Auf der Veranda stand Raoul. Sofort klopfte Stephanies Herz wie verrückt. „Du hättest nicht kommen sollen." Er warf ihr einen harten Blick zu. „Ich habe gesagt, ich würde euch abholen." Sie sah ihm an, dass er wütend war. Zwischen ihnen entwickelte sich ein Machtkampf, und trotz ihrer festen Absicht, nicht nachzugeben, hatte sie das Gefühl, unsicheren Boden zu betreten. Raoul begrüßte Emma, und die unschuldige kleine Verräterin war nicht nur hocherfreut, ihn zu sehen, sondern auch begeistert, in einem anderen Auto mitfahren zu können. Eine große Limousine und das neueste Modell der Luxusmarke, wie Stephanie sofort erkannte. „Ich muss Emmas Kindersitz holen. Ohne ihn darf sie nicht mitgenommen werden." Einer der Gründe, warum ich lieber mit meinem Wagen gefahren wäre, wollte sie sagen, doch sie fing Raouls Blick auf und wusste, dass er sich nicht täuschen ließ. Drei Minuten später, und sie wären auf der Straße aneinander vorbeigefahren. Raoul wollte Stephanie schütteln. Selbstständigkeit war ja gut und schön, aber diese junge Frau trieb es zu weit. Raoul fuhr konzentriert und sicher. Es war offensichtlich, dass er daran gewöhnt war, sich auf Linksverkehr umzustellen. Emmas aufgeregtes Geplapper ersparte es den Erwachsenen, nach einem Gesprächsthema zu suchen. Als Raoul in der Tiefgarage des
Palazzo Versace anhielt, fühlte sich Stephanie unbehaglich und beklommen. Warte mit deiner Nervenkrise, bis du wieder zu Hause bist, ermahnte sie sich. Zwei, höchstens drei Stunden, dann hatte sie ihre gesellschaftliche Verpflichtung erfüllt und konnte gehen. Sie war fest entschlossen, sich ohne Rücksicht auf Raoul von ihren Gastgebern zu verabschieden und ein Taxi zu nehmen. Nach diesem Abend würde sich der Kontakt zu Bruno Farelli auf geschäftliche Angelegenheit beschränken. Schöne Hoffnung! dachte sie im Verlauf des Abends resigniert. Das Glück stand nicht auf ihrer Seite, in keiner Hinsicht. Emma und Lucia schlossen sofort Freundschaft. Adrianas Herzlichkeit und sprühender Humor machten es unmöglich, distanziert zu bleiben. Sie und ihr Mann waren freundliche, lustige Gastgeber, die sich große Mühe gaben, damit sich Stephanie bei ihnen wohl fühlte. Sie hätten Erfolg gehabt, wenn Raoul nicht dabei gewesen wäre. Er machte sie nervös. Er ließ ihr Herz schneller schlagen, während sie die verschiedenen Gänge kostete, ein bisschen Wein trank und sich scheinbar unbefangen unterhielt. Erkannte einer von den dreien, wie angespannt sie in Wirklichkeit war? Konnte man den Puls an ihrem Hals schlagen sehen? Nahm einer von ihnen wahr, dass ihr ganzer Körper vor Erregung prickelte wegen des Mannes, der neben ihr saß? Das Essen war hervorragend, davon war Stephanie überzeugt, nur schmeckte sie leider überhaupt nichts. Das war ja Wahnsinn., wie lange noch, bis sie gehen konnte? Dessert und Kaffee würden noch kommen. Eine Stunde vielleicht? „Welchen Freizeitpark würden Sie für Lucia empfehlen?" fragte Adriana. „Wir sind nur kurz an der Gold Coast und müssen uns für einen entscheiden." „Die ,Dreamworld' hat ein Koala-Gehege, Karussells und andere Attraktionen für die ganz Kleinen. Die ,Seaworld' ist auch schön. Sie ist Australiens größter Marinepark und hat ein Ozeanarium mit Haien und anderen Fischen sowie einen Wasserpark mit Schwimm- und Planschbecken. Außerdem werden einige sehenswerte Shows geboten. Ich habe Emma in beide mitgenommen. Die Seaworld hat ihr Spaß gemacht, aber die Dreamworld ist ihr Lieblingspark." „Bruno hat Samstag frei. Wir hätten Sie und Emma gern dabei. Die Mädchen verstehen sich so gut, und es wäre schön, wenn Lucia den Tag mit Emma verbri ngen könnte." „Dreamworld", rief Emma aufgeregt. „Bitte, Mom." „Si, Dreamworld", wiederholte Lucia. „Vielleicht hat Stephanie fürs Wochenende schon andere Pläne" , forderte Raoul sie heraus abzulehnen. „Samstag ist in Ordnung", erwiderte sie ruhig, um zu beweisen, dass sie nicht „anbeißen" würde. „Danke. Wir kommen gern mit." Adriana lächelte erfreut. Sie stand auf und sammelte die Teller ein. „Ich hole das Dessert. Sie mögen hoffentlich Tiramisu?" „Ich liebe es", versicherte ihr Stephanie. „Kann ich bei irgendetwas helfen?" „Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber alles ist vorbereitet." Nach dem hervorragenden Dessert servierte Adriana Kaffee, und es war fast neun, als Stephanie sagte, sie müsse gehen. „Danke für den wundervollen Abend. Ich freue mich auf Samstag." Sie meinte es, denn Adriana war wirklich nett, und Emma würde es genießen, zusammen mit Lucia die Abenteuer in der Dreamworld zu erleben. „Geben Sie mir Ihre Telefonnummer, dann rufe ich Sie an und sage Ihnen, wann und wo wir uns treffen." Adriana winkte Stephanie, mit ihr zu einem Schreibtisch zu gehen, und schrieb sich die Nummer auf. Stephanie zog ihr Handy heraus. „Ich rufe ein Taxi." Adriana warf ihr einen nachdenklichen Blick zu, verzichtete jedoch auf eine Bemerkung. Das Taxi würde in zwei Minuten da sein, weil ein Fahrer gerade jemand beim
Sheraton abgesetzt hatte. Stephanie holte Emma und wünschte ihren Gastgebern gute Nacht. „Bestell das Taxi ab", befahl Raoul, während sie zum Lift gingen. „Nein." Seine Gesichtszüge wurden härter. „Bestell es ab, oder ich werde es tun." Stephanie sah ihn kühl an, dann funkelten ihre Augen vor Empörung, denn er nahm ihr das Handy weg, drückte auf Wahl Wiederholung und bestellte das Taxi ab. Sie hätte ihm gern gründlich die Meinung gesagt, aber das würde Emma erschrecken. Es muss warten, bis wir allein sind, entschied Stephanie rachsüchtig. Sie war sich Raouls Nähe äußerst bewusst, während sie nach unten in die Tiefgarage fuhren, und es koste te sie alle ihre Kraftreserven, ihm Emma nicht aus den Armen zu reißen. Was bildete sich dieser Mann ein? Wie konnte er es wagen, sich in ihr Leben zu drängen, über sie zu bestimmen, ihr Befehle zu erteilen? Es war ein Wunder, dass sie nicht vor Wut platzte. Zum Glück war Emma von dem Abend bei den Farellis so begeistert, dass sie auf der fünfzehnminütigen Fahrt nach Mermaid Beach nonstop plapperte, so dass Stephanie auf ihre Tochter eingehen und den Mann am Steuer völlig ignorieren konnte. Sobald Raoul auf die Auffahrt abbog, löste Stephanie den Sicherheitsgurt, und kaum hatte er angehalten, als sie auch schon ausstieg und versuchte, Emma so schnell wie möglich aus dem Kindersitz zu heben. „Du brauchst nicht mit auszusteigen", sagte sie angespannt. „Ich komme allein zurecht." Raoul kam bereits ums Auto. „Lass mich Emma tragen." „Nein." Stephanie wollte ihn nicht im Haus haben. „Sag gute Nacht, Liebling", bat sie Emma einen Moment später und rang überrascht nach Atem, denn Raoul nahm ihr die Schlüssel aus der Hand und steckte einen ins Schloss. Natürlich hatte er gleich beim ersten Mal den richtigen erwischt. Stephanie presste verärgert die Lippen zusammen, als er ihr ins Haus folgte. Sie drehte sich zu ihm um und warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Ich möchte, dass du gehst. Sofort." „Bring Emma ins Bett", erwiderte Raoul trügerisch sanft. Er lächelte das kleine Mädchen an. „Süße Träume, Püppchen." „Gib mir einen Gutenachtkuss." Emma streckte die Arme nach ihm aus. Er beugte sich vor und küsste sie auf die Wange. Kann er sich überhaupt vorstellen, was er mir damit antut? dachte Stephanie. Zwischen Raoul und ihrer Tochter entwickelte sich eine Zuneigung, die zu nichts führte. Es war Emma gegenüber unfair. Nach dem aufregenden Abend dauerte es eine Weile, bis sich Emma beruhigte, aber auf halbem Weg durch die Gutenachtgeschichte schlief sie schließlich ein. Stephanie wartete noch einige Minuten, dann zog sie die Bettdecke zurecht, schaltete das Licht aus und schloss vorsichtig die Tür hinter sich. Eine Hand in der Hosentasche, stand Raoul im Wohnzimmer. Als Stephanie hereinkam, musterte er sie angespannt. „Maß dir nicht an, mich nach Emmas Vater zu beurteilen." Stephanie hob trotzig das Kinn und warf Raoul einen bösen Blick zu. „Du weißt nichts von Emmas Vater." „Ich weiß, dass er in deinem Leben keine Rolle spielt." Raoul zeigte auf die gerahmten Fotos. „Nichts deutete darauf hin, dass er existiert." Wut durchflutete sie. „Ben ist tot." Wenn Raoul schockiert war, so ließ er es sich nicht anmerken. Dass er keine Miene verzog, machte Stephanie noch wütender und brachte sie dazu, ihm Einzelheiten zu erzählen, obwohl sie es nicht wollte. „Wir sind zusammen aufgewachsen und von Kindheit an befreundet gewesen, haben uns verliebt und verlobt. Dann bin ich schwanger geworden. Die klassische ungewollte Schwangerschaft wegen einer Minipille und eines Magen-Darm-Virus. Der Mann, den ich so gut wie mich selbst zu kennen glaubte, hat gesagt, ich solle ,das erledigen', weil ein Kind unser Leben
komplizieren würde." Stephanie wurde blass bei der Erinnerung an Bens Argumente. „Ich habe mich geweigert und die Verlobung gelöst. Er ist nach Kanada geflogen und einige Monate später bei einem Skiunfall ums Leben gekommen." Sie atmete tief ein und aus, um sich zu beruhigen. Sie hasste sich, weil sie diese Tirade von sich gegeben hatte, und Raoul hasste sie noch mehr, weil er sie dazu aufgestachelt hatte. „Willst du alle Männer aus deinem Leben ausschließen, weil einer vor der Verantwortung davongelaufen ist?" Sie hatte sich vor vier Jahren damit auseinander gesetzt. Mit dem Schmerz der Zurückweisung, den Schuldgefühlen wegen Bens Tod. Sie wollte die Vergangenheit nicht wieder aufleben lassen, denn sie hatte auf die harte Tour gelernt, dass sie nichts mit ihrer Zukunft zu tun hatte. „Ich möchte, dass du gehst." „Noch nicht." „Was bildest du dir ein?" Stephanie nahm einen Ziergegenstand aus Porzellan und schleuderte ihn nach Raoul. Er fing ihn auf. Was sie getan hatte, entsetzte sie, und sie blickte ihn einen Moment lang ungläubig an. „Verdammt! Was willst du von mir?" „Die Chance, zu beweisen, dass ich nicht Ben bin", sagte Raoul gefährlich leise. „Wozu?" fragte Stephanie völlig entnervt. „Wie lange bist du an der Gold Coast? Höchstens zwei Wochen, stimmt's?" Sie sah ihn durchdringend an. „Und dann? Du ziehst weiter, New York, Paris, wohin auch immer. Ich kann mit einem vorübergehenden Aufenthalt umgehen, aber was ist mit Emma? Wie wird sie damit fertig, dass jemand ihr seine Zuneigung zeigt und dann wieder verschwindet?" „Ich will mit dir zusammen sein." „Schlägst du vor, dass wir eine Nummer schieben?" Ihre empörte Miene amüsierte Raoul. „Wenn ich mit dir ins Bett gehe, wird es mehr als das sein", schwor er sanft. „Nein. Du kommst nicht einmal in die Nähe meines Betts!" Er betrachtete sie lange. „Bist du dessen so sicher?" Nichts war sicher, was ihn anbelangte. Schon hatte er es geschafft, an sie heranzukommen, und das allein war gefährlich. „Such dir irgendeine andere Frau, die deine Bedürfnisse befriedigt. Ich stehe nicht auf Experimente." „Ich auch nicht. Und wenn ich eine Frau wollte, die ,meine Bedürfnisse erfüllt', warum sollte ich mich dann dafür entscheiden, dauernd mit dir zu streiten?" „Weil ich etwas Neues und daher eine Herausforderung bin?" „Ist es das, was du glaubst?" „Zum Teufel mit dir!" stieß Stephanie hervor, fast am Ende ihrer Kraft. „Was sonst soll ich denn glauben?" „Du könntest versuchen, mir zu vertrauen." „Ich habe einmal einem Mann vertraut. Einem, den ich schon mein ganzes Leben kannte. Warum sollte ich ausgerechnet dir vertrauen, jemand, den ich erst seit einer Woche kenne?" „Weil ich dir mein Wort gebe, dass du mir vertrauen kannst." „Das sagt sich so leicht", erwiderte Stephanie bitter. Als sie wahrnahm, dass sich Raoul bewegte, war es schon zu spät. Er war blitzschnell bei ihr, viel zu nah, und sie konnte seinem KUSS nicht entgehen. Sie erwartete ungestüme, gewissenlose Gewalt. Stattdessen küsste er sie unglaublich sanft, forschend und verführerisch, bezauberte sie, indem er sein Verlangen andeutete, sich aber damit zurückhielt. Hitze durchflutete Stephanie, und sie schmiegte sich an ihn, sehnte sich nach mehr und legte ihm die Arme um den Nacken. Raoul küsste sie leidenschaftlicher und rief eine Reaktion hervor, die ihn bis an den Rand der Ekstase trieb. Es war weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort, deshalb löste er den Mund langsam von ihrem und ließ ihn zu ihrer Schläfe gleiten. Waren es Sekunden? Minuten? Stephanie wusste nicht, wie lange sie so dastanden.
Schließlich umfasste Raoul ihr Gesicht und blickte ihr in die Augen. „Willst du das leugnen?" Er spürte, wie sie erschauerte. „Zurückweisen, was wir zusammen haben könnten? Ic h will dich. Aus all den richtigen Gründen. Aber du musst den ersten Schritt machen." Er küsste sie, spielte flüchtig mit ihrer Zunge, dann zog er sich zurück. „Ich gehe jetzt. Du hast meine Handynummer. Wenn ich im Hotel ankomme und du noch nicht angerufe n hast, werde ich nicht versuchen, dich wieder zu sehen. Okay?" „Ich will das nicht", flüsterte Stephanie verzweifelt. „Falsch", sagte Raoul sanft. „Du willst nur einfach nicht verletzt werden." „Das auch", gab sie unglücklich zu. Er lächelte. „Immer einen Tag nach dem anderen, ja, cherie?" Sie sah ihn mit großen Augen an. Sein Lächeln war spöttisch, herzlich und noch etwas anderes. Raoul drehte sich um und ging hinaus. Sie hörte das leise Klicken, als er die Haustür hinter sich schloss, dann Motorengeräusch, das schnell schwächer wurde. Regungslos stand sie weiter einfach da und blickte ins Leere, während sie versuchte, sich zu konzentrieren. Wenn sie Raoul anrief, würde ihr Leben nie wieder wie früher sein. Aber wenn sie es nicht tat ... würde sie es irgendwann bereuen, das Risiko nicht eingegangen zu sein? Man konnte das Leben mit beiden Händen annehmen. Oder man konnte sich für äußerste Vorsicht entscheiden, jede Möglichkeit in Zweifel ziehen und niemals einen Traum verwirklichen. Was hatte sie zu verlieren? Ein freudloses Lachen blieb ihr im Halse stecken. Sie war verdammt, ob sie es nun tat oder nicht. Spontan holte sie Raouls Visitenkarte heraus und rief an. Er meldete sich beim dritten Klingeln. „Wofür hast du so lange gebraucht?" „Ich habe mit mir gerungen", erwiderte sie ehrlich. „Merci." Seine tiefe, raue Stimme brachte sie aus dem Gleichgewicht. „Gute Nacht." Stephanie unterbrach die Verbindung. Was hatte sie getan? Es war verrückt, sich mit einem Mann von Raoul Laniers Kaliber einzulassen. Zu nervös, um zu schlafen, bezog sie das Bett im Gästezimmer für ihre Mutter, wischte Staub und legte frische Handtücher raus. Danach kochte sie sich eine Tasse Tee, setzte sich vor das Fernsehgerät und zappte, in der Hoffnung, irgendetwas Interessantes zu finden, schaltete jedoch bald aus und nahm ein Buch in die Hand.
6. KAPITEL
Am Nachmittag wurden ein Dutzend wunderschöne zartrosa Rosen am Empfang abgegeben. Stephanie löste die Karte vom Cellophan und ignorierte die Neugier ihrer Sekretärin. Essen. Heute Abend. Sieben. Raoul. „Soll ich eine Vase holen?" Stephanie sah auf. „Ja, danke." „Ihr Termin um halb vier. Die Dame wartet bereits am Empfang. Soll ich sie hereinführen?" „Geben Sie mir fünf Minuten, ich muss erst noch telefonieren." Einen Moment später tippte Stephanie die Nummer ein und versuchte, sich zu beruhigen, während sie darauf wartete, dass Raoul abnahm. Ein KUSS bedeutet nichts, auch wenn er sehr gekonnt war und Raoul all die richtigen Knöpfe gedrückt hat, sagte sie sich. Sie unterdrückte ein Stöhnen, weil sie genau wusste, dass sie sich etwas vormachte. „Lanier." „Stephanie." Sie wandte sich vom Schreibtisch ab und blickte aus dem Fenster. „D anke für die Rosen." Sie kam sich vor wie ein linkischer Teenager, was lächerlich war! „Bitte sehr." Seine tiefe Stimme und der schwache französische Akzent ließen sie erschauern. Stephanie schob sich zittrig eine Haarsträhne zurück. So verwirrt zu sein war ja verrückt! Sie packte den Hörer fester und rang um Fassung. „Ich kann heute nicht. Meine Mutter kommt mit der Abendmaschine aus Sydney." „Du musst sie vom Flughafen abholen." „Ja. Tut mir Leid." „Ich freue mich darauf, sie kennen zu lernen ..." „Raoul..." „Und wenn ich dich und Emma morgen abhole? Adriana hat gesagt, wir würden uns um halb zehn in der Hotelhalle treffen." „Es ist einfacher, wenn ich selbst zum Hotel fahre." „Das hatten wir doch schon mal", sagte Raoul leicht genervt. „Viertel nach neun, Stephanie." „Ich mag keine despotischen Männer", erwiderte sie und hörte sein leises Lachen. Ihre Stimme wurde ausgesprochen kühl. „Eine Kundin wartet." „Ich hole euch ab. Viertel nach neun, Stephanie", erinnerte er sie schnell noch einmal, bevor sie das Gespräch unterbrach. „Nanna kommt, Nanna kommt. Großes Flugzeug", wiederholte Emma auf dem Weg nach Hause, während ihres Bads, beim Abendessen und auf der ganzen Fahrt zum Flughafen Coolan-gatta. „Da ist Nanna!" Stephanie musste Emma festhalten, die losrennen wollte, sobald sie ihre Großmutter durch die Ankunftshalle gehen sah. „Celeste." Stephanie umarmte ihre Mutter zur Begrüßung und nahm ihr den Koffer und das Bordcase ab, damit sie Emma in die Arme schließen konnte. Es war unmöglich, zu Wort zu kommen, während sie den Terminal verließen und zum Auto gingen, denn Emma erzählte ihrer Großmutter jede Einzelheit über die Tagesstätte, ihre Freunde, den Strand, ihren Schwimmunterricht. „Wie geht es dir, Liebling?" fragte Celeste ihre Tochter, als Emma eine kurze Pause einlegte. „Bestens", erwiderte Stephanie. „Die Arbeit läuft gut." Sie lächelte Celeste flüchtig zu. „Wie du sehen kannst, ist Emma in Höchstform."
„Dreamworld!" rief Emma vom Rücksitz. „Ich und Mom und Lucia und Raoul fahren morgen hin. Kann Nanna auch mitkommen, Mom?" „Wir sprechen später darüber, Schatz", sagte Celeste. Es dauerte eine Weile, bis sich Emma nach der Ankunft zu Hause beruhigte. Um neun war sie endlich eingeschlafen, und Stephanie ging zu ihrer Mutter ins Wohnzimmer. „Ich habe Tee gekocht, Liebling." Celeste zeigte aufs Sofa. „Jetzt mach es dir gemütlich." „Wie geht es Dad?" Celeste lächelte. „Gut. Philip arbeitet noch immer zu viel, aber du weißt ja, dass Strafrecht sein Leben ist." Stephanie fand es wundervoll, von ihrer Mutter das Neueste über ihre Cousinen, Tanten, Onkel und Großeltern zu hören. Als Celeste auf die Uhr sah, war es fast elf. „Ich glaube, wir sollten ins Bett gehen. Wir haben ja übers Wochenende noch reichlich Zeit zum Plaudern." „Möchtest du morgen mit uns zur Dreamworld fahren?" fragte Stephanie, während sie Kissen gerade rückte und die Lampe ausschaltete. „Du fährst mit Freunden, stimmt's? Ich bleibe gern zu Hause und bereite einen Braten zum Abendessen zu." Immer die Mutter, dachte Stephanie liebevoll. Wenn Celeste zu Besuch war, briet und backte sie jeden Tag, auch für die Tiefkühltruhe. Stephanie legte ihrer Mutter den Arm um die Taille. „Ich habe schon die Vorhä nge und Tagesdecken gewaschen", sagte sie lächelnd. „Also denk nicht einmal daran, einen Frühjahrsputz im Hochsommer zu machen, okay?" „Ich nehme dir gern Dinge ab. Ich habe doch nicht oft Gelegenheit dazu." Stephanie knipste das Licht im Gästezimmer an. „Schlaf gut, Celeste." Der Tag würde sonnig und sehr heiß werden, wie Stephanie feststellte, als sie die Fensterläden aufstieß und Licht hereinließ. Es war noch früh, erst sieben Uhr, aber Emma war schon aufgewacht. Stephanie schob ein pädagogisch wertvolles Video in den Rekorder, um ihre Tochter davon abzuhalten, ins Gästezimmer zu laufen und Celeste zu wecken. „Bleib hier sitzen", sagte sie. „Ich hole dir einen Saft, dann frühstücken wir." Celeste kam dazu, und um halb neun zog Stephanie ihre Tochter an, bevor sie Sonnenschutzcreme, Snacks, Saft, Heftpflaster und die anscheinend einhunderteins anderen Dinge einpackte, die man brauchte, wenn man mit einem Kind einen Tagesausflug machte. Danach zog sie Jeans, ein ärmelloses blaues Top und eine Bluse an und schminkte sich. Emma hatte sich auf einem Stuhl am Fenster postiert, das auf die Auffahrt hinausging. „Raoul ist da! Er ist da, Mom!" rief sie aufgeregt. „Du meine Güte", murmelte Celeste, als Raoul hereinkam. In Designerjeans, einem dunkelblauen Polohemd und Turnschuhen, die Sonnenbrille hoch ins Haar geschoben, sah er umwerfend gut aus. Stephanie übernahm die Vorstellung. „Meine Mutter, Celeste Sommers. Raoul Lanier." „Freut mich", sagte er. Stephanie entging nicht, wie er auf ihre Mutter wirkte. „Raoul, Raoul!" Emma stürzte sich auf ihn. Er fing sie und hob sie hoch. „Bonjour, Emma." „Dreamworld. Ich habe eine Kappe." Sie berührte sie stolz. „Können wir losfahren?" Sie blickte sich zu ihrer Großmutter um. „Tschüs, Nanna." „Viel Spaß", sagte Celeste herzlich. Raoul trug Emma zum Auto, Stephanie befestigte den Kindersitz, und Minuten später fuhr Raoul rückwärts von der Auffahrt. Um kurz nach zehn waren sie im Freizeitpark. Emma und Lucia lachten und redeten pausenlos vor Wonne, als die Erwachsenen sie mit Karussellfahrten und anderen
Attraktionen für die ganz Kleinen verwöhnten. Stephanie war sich äußerst bewusst, dass Raoul dicht neben ihr ging und ihr gelegentlich flüchtig die Hand um die Taille oder die Schulter legte. Sein Lächeln verwirrte sie, und ihr Körper schien wie ein fein gestimmtes Instrument zu sein, das auf seine nächste Berührung wartete. Es war Wahnsinn. Ein Wahnsinn, den sie sich nicht leisten konnte. Vier Jahre lang hatte sie ihre Gefühle geordnet und sich geschworen, nie wieder einen Mann an sich herankommen zu lassen. Jetzt, ganz gleich, wie sehr sie es zu vermeiden versuchte, war es Raoul gelungen, ihre Abwehr zu durchdringen. Ahnte er, dass sie hin und her gerissen war? Wahrscheinlich, dachte Stephanie gequält. Es war, als hätte er eine unheimliche Begabung dafür, ihre Gedanken zu lesen. Zusammen mit Bruno, Adriana und Lucia sahen sie sich die Tiger an, fuhren mit dem Raddampfer und verfolgten den gespielten Eisenbahnraub, über den die beiden kleinen Mädchen ehrfürchtig staunten. Nach dem Mittagessen wurden Emma und Lucia müde, und Stephanie hob Emma hoch. „Ich nehme sie", sagte Raoul. Stephanie wollte gerade protestieren, als Emma die Arme nach ihm ausstreckte. Sich zu weigern hätte ungehörig gewirkt. Außerdem ahmte Emma nur Lucia nach, die von ihrem Vater getragen wurde. Es dauerte nicht lange, bis beide Mädchen eingeschlafen waren. Stephanie versuchte zu ignorieren, wie sich ihre Tochter in Raouls Arme gekuschelt hatte. Es sah ganz normal aus, viel zu natürlich, und sie wollte ihm Emma entreißen. Sich zu sehr mit ihr anzufreunden ist unfair! wollte Stephanie ihn anschreien, aber mit Bruno und Adriana in Hörweite musste sie scheinbar entspannt mit der Situation umgehen. Die Erwachsenen besuchten mehrere Souvenirläden, während die Kinder schliefen. Eine Weile später rührte sich Lucia, und wie aufs Stichwort wachte auch Emma auf und zeigte dorthin, wo sich als Figuren aus Zeichentrickfilmen kostümierte Schauspieler unter die Leute mischten. „Kenny Koala", rief Emma. Sie fotografierten die Mädchen mit jeder Figur, machten noch eine Pause an einem Erfrischungsstand und gingen dann langsam zur ück zum Haupttor. „Der Tag war wunderschön." Adriana nahm Stephanies Hand. „Danke, dass Sie und Emma mitgekommen sind. Lucia hat sich großartig amüsiert." „Wir haben für morgen einen Kabinenkreuzer mit Crew gemietet", sagte Bruno. „Wir möchten gern, dass Sie, Raoul und Emma mitfahren." Raoul nickte. „Stephanie?" Sie war den ganzen Tag nervös gewesen und bekam Magenkrämpfe bei dem Gedanken, noch einen Tag mit Raoul zusammen zu sein. „Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber meine Mutter ist zu Besuch." „Bringen Sie sie auch mit", forderte Adriana sie herzlich auf. „Bitte, Stephanie. Noch ein gemeinsamer Ausflug wird uns allen Spaß machen. Und es ist unser letzter Tag an der Gold Coast. Wir reisen am Montag ab." Stephanie hatte nicht das Herz abzulehnen. Immerhin würde sie nicht mit Raoul allein sein. „Ich frage Celeste, ob sie irgendetwas anderes geplant hat, und rufe Sie dann an." Der allgemeine Aufbruch aus dem Freizeitpark führte zu einem Stau, und es dauerte eine Zeit lang, bis sie auf dem Highway waren. Dann konnte Raoul schneller fahren, doch es war nach fünf, als er auf Stephanies Auffahrt anhielt. Natürlich stieg er aus, half ihr, den Kindersitz aus dem Auto zu heben, und kam mit ins Haus, und Celeste war anscheinend ganz versessen darauf, ihm einen Drink anzubieten. Sie fragte nach dem Ausflug, Raoul und Emma erzählten gemeinsam, und
eine halbe Stunde später saß er immer noch auf dem Sofa. Er hätte den Drink höflich ablehnen und nach zwei Minuten wieder gehen können, dachte Stephanie. Und warum hatte er es nicht getan? Noch schlimmer war, dass er sich anscheinend wie zu Hause fühlte, während er sich mit Celeste unterhielt. Die Einladung, am nächsten Tag mit ihnen zu kommen, wurde so charmant und geschickt vorgebracht, dass er sein Ziel mühelos erreichte. „Mit dem größten Vergnügen." Celeste lächelte ihn herzlich an. „Möchten Sie mit uns zusammen zu Abend essen?" Nein, nicht das auch noch! dachte Stephanie entsetzt. „Vielleicht hat Raoul schon andere Pläne", warf sie schnell ein. „Keine Pläne", erwiderte er gelassen. „Danke, Celeste." Na schön, sollte sich Celeste um ihren Gast kümmern. „Würdet ihr mich bitte entschuldigen? Badezeit, Schatz." Stephanie streckte die Hand aus, und Emma ging bereitwillig mit. Emmas fröhliche Fragen und Bemerkungen waren eine willkommene Ablenkung, und hinterher nahm sich Stephanie die Zeit, sich frisch zu machen. Etwas anderes anziehen wollte sie aber nicht, weil es so aussehen könnte, als hätte sie es Raouls wegen getan. Stephanie fand ihre Mutter und Emma in der Küche. „Raoul hat darauf bestanden, Wein zu kaufen. Er müsste bald zurück sein." Celeste wendete geschickt das Gemüse und schob die Pfanne wieder in den Backofen. „Er scheint nett zu sein, Liebling." Nett? Er war energisch und überwältigend. Verheerend. Aber nett? „Kein Kommentar?" neckte Celeste sie. Stephanie erwiderte ihren Blick gequält. In diesem Moment kehrte Raoul zurück, und Stephanie beschäftigte sich damit, den Tisch zu decken und Celeste zu helfen, das Essen aufzutragen. Ihre Mutter war eine sehr gute Köchin, und Stephanie bemühte sich, die Portion auf ihrem Teller aufzuessen. „Haben Sie Familie, Raoul?" Jetzt geht es los, dachte Stephanie verzweifelt. Das mütterliche Bedürfnis nach Hintergrundinformationen. Sie vermied es geflissentlich, ihn anzusehen, und half Emma mit ihrem Gemüse. „Zwei Brüder, Michel und Sebastian. Michel und seine Frau sind zur Zeit hier in Australien. Sebastian und Anneke haben vor kurzem geheiratet und reisen durch Europa." „Leben Ihre Eltern in Frankreich?" „Meine Mutter ist vor einigen Jahren gestorben, mein Vater wohnt in der Familienvilla in Paris und nimmt noch aktiven Anteil am Geschäft." „Wohnst du in einem großen Haus?" fragte Emma. „Ich habe eins auf dem Land. An den Wochenenden wohne ich dort." „Hast du einen Hund?" Raoul lächelte Emma freundlich an. „Zwei. Und zwei Katzen, einige Hühner, Enten und Gänse. Ich habe auch einen Papagei, der jedem einen schönen Tag wünscht." Emmas Augen wurden groß. „Kann ein Papagei denn sprechen?" „Ja, e r kann das wirklich." „Ist es weit weg?" „Raoul wohnt in Frankreich, Liebling. Viele Tausende Meilen entfernt von hier auf der anderen Seite der Welt", erklärte Stephanie. „Können wir dich besuchen?" fragte Emma, die von Entfernungen noch nichts wusste. „Ich würde mich freuen." „Soll ich den Nachtisch holen?" Stephanie stand auf und stapelte Teller und Bestecke. Eine köstliche Zitronentorte war der krönende Abschluss des Essens. Celeste bot an, die Küche aufzuräumen, doch Stephanie lehnte energisch ab. „Du hast gekocht. Jetzt mach
Pause." „Ganz meine Meinung." Raoul stand auf. „Setzen Sie sich ins Wohnzimmer. Ich helfe Stephanie." Er hatte wahrscheinlich noch nie in seinem Leben einen Teller abgewaschen. „Danke", sagte sie honigsüß. „Ich fülle die Geschirrspülmaschine, dann kannst du die Töpfe und Pfannen schrubben." Seine Augen funkelten spöttisch, als wusste er, was sie dachte. Mit schnellen, geschickten Bewegungen bewies er ihr, dass sie sich irrte. Er reinigte die Töpfe und Pfannen gekonnt und gründlich, wischte die Arbeitsfläche sauber und polierte die Spüle, dann sah er zu, wie Stephanie den letzten Topf abtrocknete und in den Schrank stellte. „Warum gehst du nicht und bringst Emma ins Bett, während ich Kaffee koche?" schlug Raoul vor. Es lohnte sich, zu beobachten, wie ihre schönen blauen Augen groß wurden und ihr die Röte ins Gesicht stieg. Solange sie wütend ist, habe ich nichts zu verlieren, dachte er und küsste sie. „Wie kannst du es wagen?" flüsterte Stephanie fuchsteufelswild. „Das fällt mir nicht schwer", erwiderte er spöttisch. Sie verließ ohne ein weiteres Wort die Küche. Als sie Emma ins Bett gebracht hatte und ins Wohnzimmer ging, saß Raoul gemütlich mit Celeste zusammen und unterhielt sich mit ihr, als würde er sie seit Jahren kennen. Einem Gesprächspartner dieses Gefühl zu vermitteln war ihm zweifellos anerzogen. Es gehörte zur Taktik des Unternehmers, Interesse zu zeigen, eine Vertrauensbasis zu schaffen und die Kunst der Konversation zu beherrschen. Jemand, der Raoul freundlich gesinnt war, würde es Charme nennen. War er aufrichtig? Ihre Mutter schien es zu glauben, und sie ließ sich nichts vormachen, wenn es um die Beurteilung eines Charakters ging. „Ich muss los", sagte Raoul und stand auf. Er küsste Celeste die Hand. „Merci, Celeste. Für das Essen und Ihre Gesellschaft." „Ich begleite dich hinaus." Nur noch wenige Minuten, dann ist er weg, und ich kann mich entspannen, dachte Stephanie. Er war dicht hinter ihr, viel zu nah, während sie vor ihm durch die Diele ging. Bevor sie die Tür öffnen konnte, drehte er sie herum, umfasste ihr Gesicht und gab ihr einen KUSS, der sie bis ins Innerste aufwühlte. Als Raoul sich schließlich von ihr löste, atmete Stephanie schwer und konnte ihn nur starr ansehen. „Bonne nuit, mon ange." Er drückte flüchtig den Daumen an ihren Mund. „Bis morgen. Ich hole euch um neun ab. Schlaf gut." Er öffnete die Haus- und die Gittertür und ging die Stufen hinunter zum Auto. Stephanie beobachtete, wie er einstieg und rückwärts von der Auffahrt fuhr, dann schloss sie ab und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Celeste machte wohlweislich keine Bemerkung über die geröteten Wangen ihrer Tochter. Stattdessen erzählte sie von dem neuen Verein, in den sie in Sydney eingetreten war, sprach über zwei kürzlich in die Kinos gekommene Filme und unterließ es, Raoul zu erwähnen. Um zehn sagte sie, sie sei müde und würde gern früh ins Bett gehen. Stephanie folgte ihrer Mutter, schaltete dabei die Lampen im Wohnzimmer und in der Diele aus und zog sich in ihr Schlafzimmer zurück. Sie duschte, glitt zwischen die Laken und lag dann da und blickte starr an die Decke. Irgendwann musste sie eingeschlafen sein. Das durch die Ritzen der hölzernen Fensterläden scheinende Sonnenlicht weckte sie. Nur einen Moment später klopfte es, und sie setzte sich im Bett auf. Celeste kam mit einer Tasse Kaffee in der Hand herein. „Guten Morgen, Liebling. Ich dachte, ich sollte dich wecken. Es ist nach acht." O verdammt. „Raoul kommt um neun." Stephanie schlug die Bettdecke zurück und griff nach ihrem Morgenmantel. „Wo ist Emma?"
„Sie sieht sich eins ihrer Videos an. Sie hat schon gefrühstückt, und ich habe die meisten Sachen eingepackt, die sie brauchen wird." Stephanie trank den starken, süßen Kaffee und spürte die belebende Wirkung. „Danke, Celeste. Ich esse schnell etwas und ziehe mich dann an." Sie wählte beigefarbene Shorts, ein ärmelloses hellblaues Top und Turnschuhe, trug Sonnenschutzcreme auf, ein bisschen Puder und Lippenstift. Raoul klingelte um Punkt neun Uhr. In dunkelblauen Shorts und einem kurzärmeligen weißen Polohemd sah er sehr attraktiv aus. Er war fit und sonnengebräunt und hatte die muskulöse Figur eines Mannes, der gern Sport trieb. Es war einfach, ihn sich beim Tennis, Squash oder Kampfsporttraining vorzustellen. Das Wetter war schön. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel, und nur leichter Wind bewegte die Palmwedel und das Laub der Bäume. „Wir gehen auf ein Schiff", sagte Emma immer wieder begeistert auf der Fahrt zum Yachthafen „Marina Mirage" in Main Beach. Ein sehr großes, luxuriöses Schiff, wie Stephanie feststellte, als Bruno sie durch das Tor führte und zu dem Liegeplatz zeigte, wo der Kabinenkreuzer vertäut lag. Kapitän, Crew sowie ein Koch und Stewards sorgten für einen angenehmen Ausflug, bei dem man sich um nichts zu kümmern brauchte. Celeste war entzückt von Lucia, und das kleine Mädchen erwiderte die Zuneigung. „Sie erinnern sie an ihre geliebte Nonna", sagte Adriana, als sie in der wie ein luxuriöser Salon eingerichteten Mitte des Schiffes Platz nahmen. Stephanies Puls raste jedes Mal, wenn sie Raouls Blick erwiderte. Er weckte ihre Gefühle, wie es noch kein Mann getan hatte. Und er wusste es. Während des ganzen Tages versuchte er nur selten, sie zu berühren, und wenn, dann legte er ihr höchstens einmal flüchtig die Hand auf den Arm. Emma schenkte Raoul freigebig ihre Zuneigung und ihr Vertrauen. Was ihre Tochter anbelangte, war er der Weihnachtsmann und der Osterhase in einem. Und was ist er für dich? fragte eine innere Stimme spöttisch. Ein Mann, den ich mit Vorsicht betrachten muss, dachte Stephanie zynisch. Sie hatte Angst, verletzt und enttä uscht zu werden. Sie hatte schon einmal die Scherben aufsammeln müssen und wollte es nicht noch einmal tun. Denk nicht darüber nach, schalt sie sich. Warum konnte sie nicht einfach diesen Tag genießen? Der Kapitän befuhr die Küstenkanäle, den Nerang River und die größeren Binnenkanäle. Schöne Häuser standen am Ufer, viele mit privaten Anlegestellen, an denen Kabinenkreuzer vertäut waren, landschaftlich gestalteten Gärten, großem Palmenbestand und Swimmingpools. Nach dem Mittagessen fuhren sie durch den Hauptkanal nach Sanctuary Cove, dann ging es über Couran Cove, Stradbroke Island und vorbei am Freizeitpark Seaworld zurück zum Marina Mirage, wo sie um kurz nach sechs anlegten. Es war ein herrlicher Tag gewesen, und Stephanie bedankte sich bei Bruno und Adriana. „Bitte kommen Sie noch für ein oder zwei Stunden mit zu uns", sagte Adriana. „Ich mache uns einen Salat, und die Männer können Steaks grillen." „Aber Sie reisen doch morgen ab und müssen packen ..." „Nur wenige Sachen. Es ist einfacher, in jeder unserer Wohnungen eine Garderobe zu haben. Bitte, Stephanie, es würde uns wirklich freuen, Sie, Ihre Mutter und Emma bei uns zu haben." „Die Mädchen sind müde. Für sie war es ein langer Tag." „Eine Stunde mehr wird nicht viel ausmachen", warf Celeste ein, als sie den Yachthafen durch das Sicherheitstor verließen und das Einkaufszentrum betraten. Zwei gegen eine, dachte Stephanie gequält. Drei, verbesserte sie. Emma wurde von
Raoul getragen und sah so glücklich und zufrieden aus, dass sie bestimmt noch nicht nach Hause wollte. Gegrillte Steaks, Salat, ein in dicke Scheiben geschnittenes Baguette, ein leichter Wein und anschließend Kaffee waren ein leckeres Abendessen und der passende Abschluss eines schönen Tages. Um kurz vor acht hielt Raoul auf der Auffahrt. Er hob die schlafende Emma aus dem Kindersitz und trug sie ins Haus. „Dritte Tür links", sagte Stephanie. „Ich ziehe sie aus und bringe sie ins Bett." Fünf Minuten später kam sie ins Wohnzimmer. „Kann ich euch etwas anbieten? Tee? Kaffee? Etwas Kaltes?" „Für mich nicht, Liebling", lehnte Celeste ab. Raoul schüttelte den Kopf. „Nein, danke. Ich muss ins Hotel und noch ziemlich viel Arbeit erledigen, bevor ich morgen mit der Frühmaschine nach Sydney fliege." Er reiste ab? Für wie lange? Und warum war sie plötzlich deprimiert? „Ich bin am Mittwochabend wieder da, am Donnerstag, wenn sich die Verhandlungen verzögern." Raoul wünschte Celeste eine gute Nacht. Stephanie brachte ihn zur Tür. „Danke für den schönen Tag." „Ich rufe dich aus Sydney an", sagte er lächelnd. Ohne zu überlegen, erwiderte sie seinen KUSS, der allzu kurz war und dessen Leidenschaftlichkeit sie verwirrte.
7. KAPITEL
Stephanie sorgte dafür, dass sie mit Arbeit überhäuft war, damit sie keine Zeit hatte, an Raoul zu denken. Acht Stunden täglich funktionierte es größtenteils. Die Nächte waren schlimm, denn ganz gleich, wie sehr sie sich bemühte, sie sah ihn viel zu oft im Geiste vor sich. Es gelang ihm sogar, in ihre Träume einzudringen. Mehr als einmal wachte sie unruhig und erwartungsvoll auf, nur um festzustellen, dass die Bilder in ihrem Kopf genau das waren ... Bilder. Raoul rief zwei Mal an. Die Gespräche waren relativ kurz, er fragte nach ihrem Tag, und Stephanie bekam lediglich heraus, dass er in schwierigen Verhandlungen steckte, die seine Rückkehr verzögern könnten. Am Dienstag wurden Blumen am Empfang abgegeben. Auf der Karte stand: Ich vermisse Dich. R. Stephanie nahm sie nicht mit nach Hause, sondern ließ sie auf ihrem Schreibtisch stehen, weil die Klimaanlage im Büro helfen würde, sie frisch zu halten. Es war an der Zeit, sich zu entscheiden, was sie zu dem Galadinner am Samstagabend anziehen wollte. Sie zog drei geeignete Kleider aus dem Schrank und hängte sie wieder hinein. Ich brauche etwas wirklich Sensationelles, dachte sie. Nicht aufdringlich, sondern dezent und kostbar sensationell. Sie fand es in einer exklusiven Boutique. Ein enges schwarzes Kleid mit paillettenbesetzten Trägern. Die Verkäuferin bestätigte ihr, es sei für den Anlass genau richtig und sitze perfekt. Der Preis war astronomisch. Aber jeden Cent wert, tröstete sich Stephanie, als sie den Saum für die Änderung abstecken ließ. Bis jetzt war sie mit der Strategie für den Film im Zeitplan. Sie machte sich eine Notiz, Alex Stanford anzurufen. Sie würde wirklich gern vorab die Fotos sehen, die er aufgenommen hatte. Am Mittwochabend kam Sarah und passte auf Emma auf, während Stephanie und ihre Mutter ins Kino gingen. Es war ein bezaubernder Film mit Starbesetzung über Engländerinnen, die im Zweiten Weltkrieg in Italien lebten. Hinterher besuchten sie eins der Cafés in der schicken Straße, die in Broadbeach zur Zeit in Mode war. „Ich freue mich so, dass du ein gesellschaftliches Leben hast, Liebling", sagte Celeste, während sie auf ihre Bestellung warteten. „Du meinst Raoul." „Ja." „Daraus wird nichts." „Ich finde, du solltest dir alle Möglichkeiten offen halten." Stephanie lächelte. „Schlägst du vor, dass ich mit ihm schlafe?" „Ich bin deine Mutter. Mütter ermutigen ihre Töchter nicht..." „Sich wildem Sex hinzugeben", endete Stephanie. „Du hast es verdient, mit einem netten Mann zusammen zu sein", sagte Celeste leise. Eine Serviererin brachte den Kaffee, und Celeste ließ das Thema fallen. Sie sprach über den Film, den sie sich angesehen hatte, und Stephanie ging gern darauf ein. Damit hatten sie ausreichend Gesprächsstoff, während sie den hervorragenden Milchkaffee genossen. Am nächsten Tag rief Raoul an und sagte, er werde mit der Abendmaschine zurückkommen. Die Vorfreude war überwältigend. Stephanie hatte sich eingeredet, ihn nicht vermisst zu haben, aber sie wusste, dass sie sich selbst belogen hatte. Sie sehnte sich danach, ihn wieder zu sehen. Am Freitagmorgen wurden erneut Blumen geliefert. Eine Blume, verbesserte Stephanie, unsicher, wie sie die eine Rose auffassen sollte. Auf der Karte stand nur der Anfangsbuchstabe „R". Das Mittagessen bestand aus einem Sandwich, das sie am Schreibtisch aß, während
sie die Standfotos prüfte, die ihr Alex Stanford durch Eilboten hatte schicken lassen. Alex hatte angegeben, welche er auswählen würde, und sie stimmte mit ihm überein. Die Hauptdarstellerin Cait London sah neben den beiden Profimodels großartig aus. Gregor Anders wusste genau, wie er sich am vorteilhaftesten präsentieren konnte. Eigentlich müsste Michel Lanier sehr zufrieden sein. Besonders mit den Standfotos von Sandrine. Sie hatte etwas an sich, das jedem einen zweiten Blick abnötigte. Dazu kamen noch ihre wundervolle Figur und eine natürliche Ausstrahlung. Werbung mit ihr war ein garantierter Erfolg. Das Hochglanzmagazin sollte nächste Woche in den Zeitungskiosken ausliegen. Die Interviews würden zeitgleich in zwei der wöchentlichen Frauenzeitschriften erscheinen. Ein umfassendes Interview mit Cait London und Gregor Anders war für das Feuilleton einer Sonntagszeitung geplant, die in drei Bundesstaaten erschien, und in zwei Wochen sollten die Fernsehinterviews gesendet werden. Zum Galadinner war die gesellschaftliche Elite von Brisbane und der Gold Coast eingeladen, zusammen mit Fotografen und Journalisten, so dass in allen Gesellschaftskolumnen über das Ereignis berichtet werden würde. All das gehörte zu einem gut präsentierten Medienprogramm, das darauf abzielte, den Film allgemein bekannt zu machen und viele zahlende Kinobesucher anzulocken. Es wäre schön, wenn der Film die Kosten wieder einspielen würde, dachte Stephanie. Obwohl es sich Michel Lanier sehr wohl leisten könnte, den Verlust hinzunehmen. Die Dreharbeiten waren beendet, und in der nächsten Woche würde das Marketing Team eine Privatvorführung besuchen und entscheiden, welche Filmausschnitte als Trailer erscheinen sollten. Die Freigabetermine mussten besprochen werden, und viele Konferenzen würden noch folgen. Es war ein umfassendes und anspruchsvolles Projekt. Stephanie führte eine Reihe von Telefongesprächen, tippte Daten in ihren Computer ein und überprüfte noch einmal die Tischordnung für das Wohltätigkeitsdinner, das im Ballsaal des Sheraton stattfinden würde. Sie musste ihr neues Abendkleid abholen und vergewisserte sich mit einem Anruf, dass es fertig war. Um halb sechs parkte sie in der Tiefgarage des Einkaufszentrums Marina Mirage. Zehn Minuten später kam sie mit einer Tragetasche aus der Boutique und hastete los, um Emma von der Tagesstätte abzuholen. Wenn nicht allzu viel Verkehr war, konnten sie um kurz nach sechs zu Hause sein. Celeste kochte Emmas Lieblingsgericht, und danach wollten sie einen ruhigen Abend verbringen. Stephanie stand auf der Rolltreppe und ließ den Blick durch das Erdgeschoss mit dem Marmorboden, dem Springbrunnen und den Cafes gleiten. Plötzlich sah sie Raoul ... in Begleitung einer großen, perfekt geschminkten, bildschönen Frau mit hochgestecktem dunklen Haar, klassischen Gesichtszügen und einer umwerfenden Figur. Noch schlimmer, sie hatte Raoul untergehakt, und die beiden sahen aus, als wären sie sehr vertraut miteinander. Stephanie hätte schwören können, dass ihr das Herz stehen blieb. Genau in diesem Moment blickte Raoul auf und entdeckte sie. Er machte sich von der Frau los, sagte irgendetwas zu ihr und kam zum Fuß der Rolltreppe. Ihm auszuweichen war unmöglich. Stephanie rang sich ein höfliches Lächeln ab. „Raoul", grüßte sie kühl. „Mon ami, willst du uns nicht vorstellen?" Französin. Heisere, verführerische Stimme. Und ungeheuer falsch, dachte Stephanie. „Natürlich", sagte Raoul gelassen. „Ghislaine Chabert. Stephanie Sommers." Ghislaine legte ihm die Hand auf den Arm, schenkte Raoul ein bezauberndes Lächeln und sah dann Stephanie an. Ihr Blick wurde hart und kalt. „Haben Sie geschäftlich mit Raoul zu tun?" Du liebe Güte. Eine Tigerin mit eingezogenen Krallen und einem angeborenen Hang zur Gemeinheit. „Mit Michel", erwiderte Stephanie kurz angebunden.
„Stephanie ist Marketing-Managerin." Ghislaine lä chelte herablassend. „Ach, Sandrines kleiner Film." Das konnte nur schlimmer werden, und Stephanie hatte nicht die Absicht, zu bleiben und herauszufinden, wie viel schlimmer. „Entschuldigen Sie mich bitte. Ich muss meine Tochter abholen und bin schon spät dran." Sie nickte Raoul und Ghislaine kühl zu. „Ich begleite dich zu deinem Auto." „Bitte bemüh dich nicht." Stephanie ging zu den Rolltreppen, die nach unten in die Tiefgarage führten. Raoul sagte irgendetwas auf Französisch zu Ghislaine, dann holte er Stephanie mit wenigen langen Schritten ein. Sie hätte wissen sollen, dass er ihr folgen würde. Ohne sich um ihn zu kümmern, fuhr sie nach unten, sich nur allzu bewusst, dass er auf der Rolltreppe dicht hinter ihr stand. Sobald sie in der Tiefgarage ankamen, packte er Stephanie am Arm und drehte sie herum. „Hör auf, irgendwelche Vermutungen anzustellen", warnte er sanft. „Du hast keine Ahnung, was ich denke", erwiderte Stepha nie abweisend. „Doch." „Kannst du Gedanken lesen?" fragte sie eisig. Raoul lächelte zynisch. „Deine sind bemerkenswert leicht zu durchschauen." „Dieses Gespräch ist sinnlos." „Sacrebleu!" fluchte er leise. „Du könntest sogar einen Heiligen verrückt machen. Ghislaine ist die Tochter eines alten Freunds der Familie. Ich habe sie nicht eingeladen. Sie ist unangemeldet hier angekommen." Raoul wollte Stephanie küssen, bis der Zweifel und die Unsicherheit verschwanden. „Du brauchst mir nichts zu erklären." O doch. Präzise und ehrlich. Jetzt sofort. „Ghislaine hat ein Zimmer in dem Hotel reserviert, in dem ich wohne. Sie ist nicht mit mir zusammen. Sie ist niemals mit mir zusammen gewesen", sagte Raoul nachdrücklich. Stephanie blickte ihn ruhig an. „Warum erzählst du mir das?" Er wollte mit der Faust gegen die Wand schlagen. „Weil Ghislaine eine Femme fatale ist, die es amüsant findet, Spiele zutreiben." Stephanie seufzte entnervt. „Ich würde ja gern noch mit dir plaudern, aber ich muss Emma abholen." „Und du glaubst kein Wort von dem, was ich gesagt habe." „Du kannst tun und lassen, was und mit wem du willst." Sie sah demonstrativ seine Hand auf ihrem Arm an. Raoul ließ Stephanie los. „Du machst aus nichts ein Problem." „Nein, ich mache es einfach." Würde siegt, versicherte sie sich, als sie zu ihrem Auto ging. Nur half ihre Würde nicht gegen den inneren Aufruhr und den Schmerz. Stephanie stieg ein, ließ den Motor an und fuhr aus der Tiefgarage. Vielleicht war es ganz gut, dass sie einen ruhigen Abend zu Hause geplant hatte. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken. Als Raoul um acht anrief, bat sie Celeste, ihm auszurichten, sie bringe gerade Emma ins Bett. Stephanie rief ihn nicht zurück. Celeste behielt ihre Meinung wohlweislich für sich, wofür ihr Stephanie dankbar war. Mütterliche Ratschläge standen bei ihr an diesem Abend nicht hoch im Kurs. Sie sahen sich ein Video an, anschließend eine Sendung im Kabelfernsehen und zogen sich danach in ihre Zimmer zurück. Zu viele Bilder drängten sich ihr auf, und Stephanie versuchte nicht einmal einzuschlafen. Sie legte ein zusätzliches Kissen ans Kopfende des Betts und nahm ein Buch in die Hand. Zwei Stunden später knipste sie die Nachttischlampe aus und blickte starr in die Dunkelheit. Sie hatte einen langen Tag und einen noch längeren Abend vor sich. Am Mittag würde sie zur Movieworld fahren, wo die Schauspieler fotografiert und für die
Berichterstattung in den Abendnachrichten eines der wichtigsten Fernsehsender Australiens gefilmt werden würden. Vorher musste sie Celeste und Emma zum Flughafen bringen. Und am Abend war die Galaveranstaltung mit Würdenträgern und Angehörigen der oberen Zehntausend von Brisbane und der Gold Coast. Würde sich Ghislaine eine Einladung verschaffen? Allzu schwer würde es nicht sein. An den großen Tischen im Ballsaal saß man nicht beengt. Es wäre kein Problem, noch ein zusätzliches Gedeck aufzulegen. Ghislaine brauchte sich nur an den richtigen Ansprechpartner zu wenden und für das Vorrecht zu zahlen. Stephanie unterdrückte einen Fluch und schüttelte das Kopfkissen auf. Sie konnte nicht vergessen, wie sich Ghislaine an Raouls Arm geklammert hatte. Und woher hatte die Französin eigentlich gewusst, in welchem Hotel Raoul wohnte? Es ist unwichtig, versicherte sich Stephanie. Aber das stimmte nicht. Obwohl sie versucht hatte, es zu verhindern, hatte Raoul jede von ihr errichtete Schutzmauer überwunden und war kurz davor, ihr Herz zu erobern. Seine Warnung fiel ihr ein und ging ihr nicht mehr aus dem Sinn. Ghislaine trieb also gern Spiele? Tja, sollte n die Spiele beginnen! Celeste und Emma zum Flughafen zu bringen tat weh. Stephanie war verzweifelt und fühlte sich beraubt, als sie Emma ein letztes Mal umarmte, bevor die beiden durch die Sicherheitskontrolle gingen. Zu beobachten, wie der Jet die Startbahn entlangrollte und abhob, tat Stephanie überhaupt nicht gut. Vielleicht konnte sie die Gewohnheit ablegen, wenn Emma älter wurde. Noch war das Mädchen so klein, so verletzlich, aber dennoch glücklich und begeistert, ein Abenteuer zu erleben. Emma wird in Sydney eine herrliche Zeit verbringen, sagte sich Stephanie, während sie vom Parkplatz fuhr. Sie war diejenige, die sich an ein leeres Haus gewöhnen musste, an das fehlende kindliche Geplapper und Lachen. Zu Hause wärmte Stephanie ein Stück von Celestes Quiche auf, aß schnell, überprüfte den Anrufbeantworter, nahm eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und kehrte zum Auto zurück. Es wäre ohne weiteres möglich gewesen, den Termin in der Movieworld zu delegieren, aber sie wollte dabei sein, um an Ort und Stelle Entscheidungen treffen zu können. Gerade weil sie sich persönlich um Details kümmerte, hatte sie sich so schnell hochgearbeitet. Sobald sie aus dem klimatisierten Auto stieg, war die Hitze mörderisch. Der Nachmittag schleppte sich dahin, und die Stimmung wurde immer gereizter. Das aufbrausende Temperament der Künstler verstärkte sich, und als der Fotograf vorschlug, an einen anderen Ort umzuziehen, protestierten einige Schauspieler. Alex Stanford packte seine Kamera ein und hängte sich die Tasche über die Schulter. „Wir bekommen eine ganz andere Dimension", versicherte er Stephanie. Sie vertraute seinem Urteil. „Okay. Wir sehen uns dort." Auf dem Weg zum Auto klingelte ihr Handy. „Nicht zurückzurufen wird dir zur Gewohnheit", sagte Raoul. Ihr Herz schlug schneller. „Ich habe einen ziemlich stressigen Tag." „Ich hole dich um Viertel vor sieben ab." „Nein." Sie musste schon früh im Hotel sein. „Stephanie, fang nicht wieder damit an", warnte er scharf. „Ich habe noch zu tun, bevor es offiziell losgeht. Du wirst nur herumstehen. Sobald alle sitzen, bin ich aus dem Schneider." „Wann musst du dort sein? Viertel nach sechs?" Sie hätte gern an ihrem Entschluss festgehalten, sich im Hotel mit ihm zu treffen, aber sie hatte jetzt keine Zeit für ein Wortgefecht. „Ja, in Ordnung." Um fünf Uhr waren sogar die Fernsehleute erleichtert, die Kameras abbauen und zu ihrem Fahrzeug gehen zu können. Um halb sechs war Stephanie zu Hause. Duschen, sich die Haare waschen und föhnen, sich schminken und anziehen in fünfund vierzig Minuten
war reichlich knapp, aber sie schaffte es ... gerade eben. Sie war dabei, die Ohrringe zu befestigen, als Raoul klingelte. Schnell zog sie Sandaletten mit hohen Absätzen an, sprühte sich Parfüm auf die Handgelenke, nahm ihre Abendtasche und ging öffnen. Sein Anblick raubte ihr den Atem. Es hatte nichts mit dem schwarzen Smoking zu tun, der muskulösen Figur oder den markanten Gesichtszügen, sondern mit der Charakterstärke und Macht, die Raoul ausstrahlte. „Wir sollten sofort losfahren", sagte Stephanie kühl. Das Abendkleid vollbrachte Wunder für sie. Genau deshalb war sie bis ans Limit ihrer Kreditkarte gegangen. Ihr Job verlangte das, was sie „Arbeitsgarderobe" nannte, doch dieses Kleid hatte sie eher aus privaten Gründen gekauft. „Du siehst wunderschön aus", sagte Raoul. Er bekam flüchtig zu sehen, dass sie sich über sein Kompliment freute, dann verbarg sie es. „Danke." Er machte sie nervös, und sie hoffte, dass man es ihr nicht anmerkte. Kein anderer Mann konnte so komplexe Gefühle in ihr wecken. Warum dieser? überlegte sie, während sie auf dem Highway nach Main Beach fuhren. Das war eine Frage, die sie jeden Tag mehr quä lte. Was willst du deswegen unternehmen? fragte eine hartnäckige innere Stimme. Eine Affäre haben? Eine himmlische Woche? Und anschließend das ganze Leben versuchen, damit fertig zu werden? Fast hätte Stephanie hysterisch gelacht. Noch nie war sie das Opfer so zwiespältiger Gefühle gewesen. Sie war hin- und hergerissen zwischen „Stürz dich auf ihn, und zum Teufel mit den Folgen!" und „Tu dir das nicht an!" „Du bist sehr still", sagte Raoul. Er warf ihr einen forschenden Blick zu. „Es war nur ein hektischer Tag", erwiderte Stephanie. Sie war noch immer wütend auf ihn, aber hauptsächlich war sie auf Ghislaine wütend. „Hoch empfindliche Egos und geplatzte Zeitpläne?" Und das war nur der Tag gewesen. Vielleicht würde der Abend noch schlimmer werden. „Wie hast du das nur erraten?" In der Lounge vor dem Ballsaal plauderten schon die ersten Gäste. Das prestigeträchtige jährlich stattfindende Wohltätigkeitsdinner garantierte die Teilnahme der Reichen und Berühmten, und deshalb hatte Stephanie die Gelegenheit ergriffen, wichtige Leute zu präsentieren, die mit dem Film zu tun hatten. Das Werbepotenzial war zu gut, um es sich entgehen zu lassen. Models würden die neuen Kollektionen von vier führenden europäischen Modehäusern zeigen, die mit Boutiquen im Einkaufszentrum Marina Mirage vertreten waren. Darum brauchte sich Stephanie jedoch nicht zu kümmern. Auch nicht um die Sitzplätze, die die Organisatoren des Wohltätigkeitsdinners vergeben hatten. Sie war für die wenigen Tische zuständig, die für die Leute vom Film und die wichtigen Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik reserviert waren, und die hoch empfind lichen Egos der Stars veranlassten sie, die Tischordnung persönlich zu überprüfen. Sie ging nach vorn, las die Namen auf den Karten, vertauschte zwei und kehrte in die Lounge zurück. Sie entdeckte Alex Stanford und ging zu ihm, um mit ihm die Aufnahmen zu besprechen, die sie haben wollte. „Wo sind unsere exaltierten Stars?" fragte Alex. „Warten Sie noch, weil sie unbedingt ihren großen Auftritt haben wollen?" „Michel und Sandrine sind gerade gekommen", sagte Stephanie. „Sie stehen dort drüben und unterhalten sich mit Michels Bruder." Und Ghislaine. Sie war nicht überrascht gewesen, als sie Ghislaines Namen auf einer der Tischkarten gesehen hatte. In diesem Moment wurden die großen Türen geöffnet, und die Gäste gingen in den Ballsaal. Die Frauen trugen Designerkleider und so viel Schmuck, dass die strengen Sicherheitsmaßnahmen gerechtfertigt waren. Die Männer waren ausnahmslos im Smoking. Michel und Sandrine kamen auf Stephanie zu, dicht hinter ihnen folgten Raoul und
Ghislaine. „Gehst du mit uns hinein?" Stephanie erwiderte Raouls rätselhaften Blick ruhig. „Ich muss noch kurz mit dem Fotografen sprechen." Ghislaine hakte Raoul unter und warf Stephanie ein strahlendes Lächeln zu. Meiner, sollte das heißen. Die Französin sah fantastisch aus. Ihr Abendkleid war ein trägerloses, rückenfreies Meisterwerk, das sie eindeutig bei einem europäischen Couturier gekauft hatte. Das Diamantkollier und die dazu passenden Ohrringe mussten ein Vermögen wert sein. Nachdem sie Michel und Sandrine begrüßt und Ghislaine zugenickt hatte, entschuldigte sich Stephanie und wandte sich wieder Alex Stanford zu. Fünf Minuten später betrat sie den Ballsaal und ging zu ihrem Tisch. Von Cait London und Gregor Anders war noch immer nichts zu sehen. Tony, der Regisseur des Films, saß am Nebentisch, zusammen mit dem Produzenten, zwei Geschäftsführern von Warner Brothers Movieworld und deren Ehefrauen. Und Ghislaine. Wessen Einfluss hatte sich die Französin bedient, um sich in letzter Minute einen Platz an einem der wichtigsten Tisch zu sichern? Raouls? Oder Michels? Stephanie sagte sich, sie wolle es nicht wissen. Sie setzte sich, gerade als das Abblenden des Lichts anzeigte, dass gleich die Eröffnungsrede beginnen würde. Plötzlich erschienen Cait London und Gregor Anders. Von Spotlight angestrahlt, gingen sie durch den Saal nach vorn, und jeder ihrer Schritte wurde von einer Gruppe professioneller Fotografen eingefangen. Wenn man es schaffen könnte, die Situation mit Humor zu sehen, wäre es amüsant, dachte Stephanie sarkastisch. Michel wurde von der Hauptdarstellerin belagert, die anscheinend unbedingt zur Schau stellen wollte, dass sie einen „Anschlag" auf Sandrines Ehemann vorhatte. Und vom Nebentisch aus versuchte Ghislaine alles, um Raouls Aufmerksamkeit zu erringen. Die Vorsitzende der Wohltätigkeitsorganisation hielt die Eröffnungsrede, der Bürgermeister hielt seine Rede, und dann servierten die Ober die Vorspeise. Das Essen war hervorragend, aber Stephanie aß nur wenige Bissen und rührte auch den Hauptgang kaum an. „Noch Wasser?" „Danke", sagte sie höflich. Raouls Augen wurden dunkler. Er unterdrückte den Wunsch, Stephanie aus der Fassung zu bringen. Die Modenschau wurde angekündigt, und Stephanie war dankbar, als das Licht gedämpft und der Laufsteg angestrahlt wurde, denn jetzt blieb ihr ein Gespräch erst einmal erspart. Der Schwerpunkt lag auf Cocktail- und Abendkleidern, und die fachmännisch choreografierte und kommentierte Modenschau, die vierzig Minuten lang Glitter und Glamour bot, zielte zweifellos besonders auf die anwesenden Damen der großen Gesellschaft ab. Dessert und Kaffee wurden aufgetragen, und danach versuchten die Fotografen, ihre Aufnahmen zu bekommen. Cait London wollte, dass einige Fotos von ihr und Michel gemacht wurden. Stephanie teilte ihr mit, Michel bestehe darauf, nur zusammen mit seiner Ehefrau fotografiert zu werden. „Vielleicht beide Brüder?" schlug Alex Stanford vor und bat Raoul, sich zu Michel und Sandrine zu stellen. „Warum nehmen wir nicht die Marketing-Managerin dazu?" Raoul stand auf und streckte die Hand aus. „Stephanie?" „Alex hat den Auftrag, mich zusammen mit Tony, dem Produzenten und den Geschäftsführern von Wamer Brothers Movieworld zu fotografieren."
Raoul war zu erfahren in psychologischen Manövern, als dass er sich mit einer Niederlage abfinden würde. „Wie viele Filme Alex verwendet, ist doch sicher seine Sache." Der Fotograf spürte den Machtkampf zwischen den beiden. Amüsiert forderte er Raoul und Stephanie auf, sich aufzustellen. „Machen wir es, Stephanie." Sich zu weigern würde unhöflich erscheinen. Alex postierte die Frauen in der Mitte, Michel neben seine Frau und Raoul neben Stephanie. Er legte ihr den Arm um die Taille, und Stephanie stand völlig still, während ihr Herz wie verrückt zu klopfen begann. Sie war sich jedes Atemzugs bewusst, Hitze durchflutete sie, und sogar ihre Haut schien plötzlich hoch empfindlich. Stephanie zuckte zusammen, als Raoul ihr sanft und beruhigend den Rücken streichelte. Wusste er, was für eine Wirkung er auf sie hatte? Sie hoffte nicht. „Noch eine Aufnahme", rief Alex, und das Blitzlicht blendete sie alle wieder. „So schwierig war das nicht, oui?" flüsterte Raoul, während sie zurück zum Tisch gingen. „Bekommst du immer deinen Willen?" „Ja." Gäste bewegten sich zwischen den Tischen und unterhielten sich mit Freunden und Bekannten, Plätze wurden getauscht. Raoul hob eine Flasche Wein hoch. „Nein, danke." Stephanie legte schnell die Hand über ihr Glas. „Willst du einen klaren Kopf behalten?" „Ich trinke selten Alkohol." Raoul ließ den Zeigefinger über ihre Wange zum Mund gleiten. Stephanie erstarrte. Ihre Augen wurden dunkler, und sie unterdrückte gerade noch ein Erschauern, als Raoul ihren Hals liebkoste. „Ich brauche dich für das Gruppenfoto, Stephanie!" rief Alex Stanford. Der unwiderstehliche Zauber war gebrochen. Zum Glück, versicherte sie sich, während sie dem Fotografen folgte. Es war nicht einfach, sich davonzumachen, nachdem Alex fertig war. Der Regisseur, der Produzent und die Geschäftsführer von Warner Brothers waren in umgänglicher Stimmung, und erst nach fünfzehn Minuten konnte sie ihnen entkommen. Von Sandrine war nichts zu sehen. Die beiden Würdenträger, die mit ihnen am Tisch saßen, waren auch verschwunden. Raoul und Michel unterhielten sich, und auf Stephanies Platz saß Ghislaine. Es wäre höflich gewesen, aufzustehen und weiterzurücken, aber offensichtlich dachte sie überhaupt nicht daran, zu tun, was sich gehörte. Stephanie nahm ihr Glas und ging zu einem anderen Tisch, an dem zwei ihrer Kollegen saßen. Wenn Ghislaine über Raouls Aufmerksamkeit verfügen wollte, konnte sie das Spielfeld ganz für sich haben. Es machte die Sache nicht besser, dass sich Samuel Stone auf einen freien Stuhl am Tisch setzte. Auch nicht, dass er reichlich Wein getrunken hatte und inzwischen zu Whisky übergegangen war. Vielleicht würde er sie nicht einmal bemerken, wenn sie ihn ignorierte. Herzlich wenig Aussicht, räumte Stephanie Sekunden später ein. Sie hatte nur eine unangenehme Situation an einem Tisch gegen eine schlimmere an einem anderen eingetauscht. „Stephanie, meine Süße." Samue l beugte sich zu ihr und hob sein Glas. „Ich salutiere vor dir." „Danke." Sie war nicht ganz sicher, weswegen, hielt es aber für klug, mit allem einver standen zu sein, was er sagte. „Du bist gut. Sehr, sehr gut, Darling." Er legte ihr den Arm um die Schultern. „Warum kommst du nicht zu mir und arbeitest für mich?" Das wäre wohl ein Schritt in die falsche Richtung, dachte Stephanie spöttisch. Sie sah zu Raoul hinüber. Er saß entspannt da und hörte Michel interessiert zu. Als würde er
spüren, dass sie ihn beobachtete, erwiderte er ihren Blick plötzlich. Er sagte irgendetwas zu seinem Bruder und Ghislaine, stand auf und kam zu ihr.
8. KAPITEL
„Entschuldige, aber es ist schon spät. Gute Nacht." Stephanie ging auf den Ausgang zu. Wenn Raoul glaubte, sie würde ruhig zu ihrem Tisch zurückkehren und mit ansehen, wie Ghislaine weiter die Kletterpflanze spielte, irrte er sich leider! Sie hatte gerade zwei Schritte gemacht, als Raoul sie einholte. Er blickte sie finster an. „Wir sind zusammen mit Michel und Sandrine eingeladen worden, im Nachtklub des Hotels weiterzufeiern. Ich habe gehört, dass die Besetzung, die Studiobosse, dein Chef und die Geschäftsführer der Werbeagentur alle vorhaben, dorthin umzuziehen." „Und Ghislaine?" Raoul presste die Lippen zusammen. „Sie kann tun und lassen, was sie will." „Wie ich", erwiderte Stephanie. Ihr war jedoch klar, dass sie jetzt nicht einfach verschwinden konnte. Selbstverständlich erwarteten ihr Chef und ihre Geschäftsfreunde, dass sie an der Feier im Nachtklub teilnahm. „Entschuldige mich bitte, ich muss mich frisch machen." „Verdammt", fluchte Raoul und unterdrückte mühsam seine Wut. „Warum sollte ich meine Zeit mit Ghislaine verbringen, wenn ich doch viel lieber mit dir zusammen sein möchte?" „Sie ist Französin, sieht fantastisch aus, passt sehr gut zu dir und betet dich an." „Und wenn ich sie nicht anbete?" Stephanie fühlte sich allein schon bei der Vorstellung elend, er könnte eine andere Frau anbeten, aber es war, als würde sie ein unbezähmbarer Kobold aufstacheln. „Denk an die Fusion zweier Familienvermögen." „Geh dich frisch machen, Stephanie. Bevor ich etwas sage, was mir nachher Leid tut." Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und ging zum Ausgang. „Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mitkomme?" Es klang genervt, und Stephanie lächelte Sandrine boshaft an. „Auf der Flucht?" „Sie haben es erfasst." In der Damentoilette hatte sich eine Schlange gebildet, und sie mussten warten. „Jetzt, da die Dreharbeiten vorbei sind, werden Sie wohl nach New York zurückkehren", sagte Stephanie. „Wir fliegen morgen nach Sydney und von dort aus am Dienstag nach Hause ... und zwar ohne Cait London", erwiderte Sandrine spöttisch. Stephanie lachte leise. Nicht einmal einem ahnungslosen Zuschauer wäre entgangen, dass es die Hauptdarstellerin auf Michel abgesehen hatte. Da Stephanie die Blicke bemerkt hatte, die sich Michel und seine Frau während des Abends gelegentlich zugeworfen hatten, bezweifelte sie jedoch sehr, dass sich Sandrine Sorgen machen musste. „Ghislaine ist schon seit Jahren zur Stelle", sagte Sandrine freundlich. „Die Brüder Lanier verfolgen immer sofort, was sie wollen. Wenn Raoul sie wollte, hätte er ihr inzwischen einen Ring an den Finger gesteckt." „Das interessiert mich nicht." „Wirklich nicht?" War Sandrine besonders intuitiv? Oder versuchte sie nur, ihr zu entlocken, was sie für Raoul empfand? Irgendwie passte das Letztere nicht zu Michels Frau. Stephanie wurde eine Antwort erspart, weil eine Kabine frei wurde und die Schauspielerin hineinging. Sie nahmen sich die Zeit, ihr Make-up aufzufrischen, dann verließen sie zusammen die Damentoilette. Raoul und Michel warteten neben dem pittoresken Wasserfall, der an die Lounge angrenzte. Cait, Gregor und Ghislaine standen ganz in der Nähe. „Auf in den Kampf", murmelte Sandrine. Stephanie unterdrückte ein Lächeln. Wenn die Hauptdarstellerin weiter versuchte, Michel
mit Beschlag zu belegen, könnte „Kampf" sehr wohl wörtlich zu nehmen sein. Der exklusive Nachtklub lag ein Stockwerk höher und wimmelte vor Menschen. Funk dröhnte aus den Lautsprechern. Stephanie war nicht mehr in einem Nachtklub gewesen, seit sie sich von Ben getrennt hatte, und sie war völlig zufrieden damit, sich das Gedränge auf der Tanzfläche anzusehen und die Atmosphäre in sich aufzunehmen, Cait und Ghislaine ergeben ein gutes Paar, dachte sie, während sie beobachtete, wie die beiden Frauen versuchten, Michel und Raoul auf die Tanzfläche zu locken. „Möchten Sie der Vorstellung entkommen und mit mir tanzen?" Viele der anwesenden Frauen wären hingerissen gewesen, wenn Gregor Anders sie zum Tanzen aufgefordert hätte. Stephanie gehörte nicht zu ihnen. „Ihr bete noire hat gerade den Schauplatz betreten", sagte Gregor zynisch. „Würde es Ihnen wirklich Spaß machen, den Mann abwehren zu müssen?" Ein verstohlener Blick bestätigte ihr, dass sich Samuel Stone einen Weg durch das Gedränge bahnte. Sie entschied sich für Gregor. „Das ist nicht meine Welt", sagte sie, als er sie auf die überfüllte Tanzfläche zog. „Sie meinen, ich soll sanft mit Ihnen umgehen?" Stephanie lachte. „Keine ausgefallenen Schritte", warnte sie. „Wir können es ja eng umschlungen versuchen." „Bei dieser Musik ist das vielleicht nicht so klug." „Wo bleibt Ihr Sinn für Abenteuer?" Gregor zog sie an sich und führte sie geschickt durch eine Reihe von Grundschritten. „Soso", flüsterte er ihr ins Ohr. „Hier kommt der auf den neuesten Stand gebrachte Bericht über Frauen auf Männerfang. Wir sehen Cait, die von Michel abserviert worden ist, der klargemacht hat, dass er seine Frau vorzieht. Und da haben wir Ghislaine, die bei Raoul abgeblitzt ist." Gregor machte eine schwungvolle Drehung. „Jetzt sehen wir den älteren der Brüder Lanier auf uns zukommen. Sie, meine Liebe, scheinen das Ziel zu sein." „Sie irren sich." „Soll ich den strahlenden Ritter spielen?" „Und hinterher ist Ihr gut aussehendes Gesicht entstellt?" Gregor zuckte zusammen. „Ja, ich bin der gleichen Meinung. Er ist ein gefährlicher Gegner, in mehr als nur einer Hinsicht. Bereiten Sie sich auf die Überna hme vor." Stephanie spürte Raouls Nähe schon, bevor er bei ihnen ankam. Sie war bereit, zu schwören, dass das Blut schneller durch ihre Adern floss. Ihr Herz klopfte wie verrückt, und sogar ihre Haut prickelte vor Erregung. „Haben Sie etwas dagegen, Gregor?" fragte Raoul ruhig, aber seine Stimme klang stahlhart. Gregor hatte überhaupt nichts dagegen. Er täuschte nicht einmal vor, Stephanie nur ungern loszulassen. „Bitte sehr!" Und schon verschwand er im Gewühl. So viel zum Angebot, den strahlenden Ritter zu spielen! Die Musik wechselte zu einer gefühlvollen Ballade, und Raoul zog Stephanie fest an sich. Sie sollte protestieren und ein bisschen zurückweichen. Ihr Verstand befahl es, doch ihr Körper gehorchte nicht. Unwillkürlich hatte sie den Wunsch, sich anzuschmiegen und einfach treiben zu lassen. Einige Minuten lang tat sie es und erlag einer heimtückischen Sinnlichkeit, die immer stärker wurde. Als die Musik wieder wechselte, sagte sich Stephanie, froh darüber zu sein. Sex stand nicht auf ihrer Tagesordnung. Besonders nicht mit einem Mann, der auf der anderen Seite der Welt lebte und sich nur vorübergehend für sie interessierte. Für den sie eine begrenzte Zeit Partnerin in Gesellschaft und im Bett sein sollte. Allein bei dem Gedanken, sich auf Sex mit Raoul einzulassen, wurde Stephanie schwach. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sich dieser Mann seine Lust nicht rücksichtslos nehmen würde, und ihr Puls fing an zu rasen, als sie sich vorstellte, wie er ihr Lust bereiten
könnte. Gefährlich. Ungeheuer gefährlich. Mit jedem Tag nahm ihr Widerstand mehr ab. Wusste Raoul das? Wahrscheinlich, dachte Stephanie. Er war viel zu gut auf ihre Psyche eingestellt. Dass jemand ihre Gedanken und Handlungen voraussah, beunruhigte sie. Und machte sie vorsichtig. „Wir gehen", sagte Michel. „Ich rufe dich am Montagmorgen an, Raoul." Raoul nickte. Sandrine beugte sich vor und legte die Wange an Stephanies. „Viel Glück", flüsterte sie, dann zog sie sich zurück und lächelte Stephanie herzlich an. „Ich hoffe, wir sehen uns wieder." Sie meinte es ehrlich, aber dass sie sich noch einmal trafen, war unwahrscheinlich. „Danke, ich auch", erwiderte Stephanie trotzdem ebenso herzlich. „Stephanie!" O nein, Samuel Stone, mehr als nur ein bisschen betrunken. Und nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, war er fest entschlossen, sich nicht abwimmeln zu lassen. „Tanz mit mir." „Wir wollten gerade gehen", sagte Raoul. „Vielleicht ein anderes Mal?" Nicht wenn ich es vermeiden kann! dachte Stephanie grimmig. „Tut mir Leid, Samuel." „Los, Stephanie." Er umfasste ihren Arm. „Probieren wir es aus." „Ich denke nicht, mein Freund", sagte Raoul trügerisch ruhig. „Sie haben Ihre Ansprüche angemeldet, stimmt's?" fragte Samuel aggressiv. Raoul rührte sich nicht, aber seine Haltung hatte plötzlich etwas Drohendes. „Ja." Stephanie erstarrte. Sie nahm den Raum, die Leute und den Lärm nicht mehr wahr. Einen Moment lang existierte nur noch die unbezwingbare Autorität, die Raoul ausstrahlte. Dann ließ Samuel sie los und breitete versöhnlich die Hände aus. „Deine Runde, Eisprinzessin", räumte er ein und verschwand im Gedränge. „Ärger, Darling?" fragte Ghislaine. Ein Problem losgeworden, eins bekommen, dachte Stephanie. „Kein Grund zur Sorge", sagte sie spöttisch. „Raoul ist sehr gut darin, die Ehre einer Frau zu verteidigen." Ghislaine warf ihm einen verführerischen Blick zu. „Stimmt's, mon ami?" „Gute Nacht", sagte Stephanie, als Raoul nicht antwortete. „O wirklich? Sie wollen jetzt schon gehen? Es ist doch noch früh." „Für Sie vielleicht", erwiderte Stephanie ruhig. „Mein Tag hat heute Morgen um sechs begonnen." „Aber warum Raoul in seinem Vergnügen stören? Sie können sich doch sicher ein Taxi nehmen." „Nein", widersprach er kühl. „Das kommt nicht in Frage." „Übertreibst du die Ritterlichkeit nicht ein bisschen?" fragte Ghislaine verächtlich. Raoul legte Stephanie den Arm um die Taille. „Bonne nuit, Ghislaine." „Ich bin beeindruckt", lobte Stephanie spöttisch, während Raoul sie zum Ausgang führte. „Machst du das oft?" „Was?" Sie verließen den Nachtklub und gingen zu den .Fahrstühlen. „Eine Frau verteidigen und gleichzeitig eine andere vernichten." „Du kannst gut mit Worten umgehen", erwiderte Raoul zynisch. „Eins meiner Talente", versicherte ihm Stephanie. „Ich muss morgen nach Sydney", teilte er ihr mit, während sie nach unten in die Tiefgarage fuhren. „Mein Verhandlungspartner hat heute Nachmittag angerufen. Das Geschäft ist abgeschlossen, und ich kann am Montag den Vertrag unterschreiben."
Stephanies Herz setzte einen Schlag aus. Wenn das Geschäft abgeschlossen war, hatte Raoul keinen Grund, noch länger in Australien zu bleiben. „Fliegst du von Syd ney direkt zurück nach Paris?" fragte sie gelassen. Raoul blickte sie scharf an. Sie verzog keine Miene, aber er bemerkte den schnell schlagenden Puls an ihrem Hals. Doch nicht so gelassen, dachte er zufrieden. „Ich habe vor, am Montagabend hierher an die Gold Coast zurückzukehren." „Ich verstehe." Sie waren beim Auto angekommen, und Raoul entsicherte die Türen. „Wirklich?" Also das war eine gefährliche Frage. Wie antwortete sie darauf, ohne sich selbst zu belasten? Versuch es am besten nicht einmal, sagte sich Stephanie, als sie einstieg. Er ließ den Motor an und fuhr zur Ausfahrt. Kurz darauf waren sie auf der Schnellstraße, die auf den Highway nach Süden führte. „Keine Antwort?" „Nein." Sie fuhren mitten durch Surfers Paradise. Neonlicht beleuchtete Läden und Cafes. Motels säumten beide Seiten des Highway. Es war eine pulsierende, lebhafte Stadt mit einem großen Unterhaltungsangebot, die völlig auf die Einnahmen aus dem Tourismus ausgerichtet war. Zu dieser Zeit nachts war nicht viel Verkehr. Nach wenigen Minuten fuhren sie durch Broadbeach und näherten sich Mermaid Beach. Raoul hielt auf Stephanies Auffahrt an und stellte den Motor ab. Sie öffnete den Sicherheitsgurt, stieg aus und sah, dass er es ihr gleichtat. „Du brauchst nicht mit hineinzukommen." Er streckte die Hand nach ihren Schlüsseln aus. „Doch." In diesem Moment war Stephanie ganz einer Meinung mit Ghislaine. Man konnte Ritterlichkeit auch übertreiben. „Das ist wirklich nicht nötig", versicherte Stephanie, als Raoul die Türen aufschloss und das Licht einschaltete. „Hast du Angst vor mir, cherie?" „Nein", erwiderte sie ehrlich. Sie hatte Angst vor sich selbst. Davor, dass sie vielleicht ihre Gefühle nicht beherrschen könnte, wenn er sie küsste. Und sie wusste genau, wozu es führen würde, wenn sie die Kontrolle aufgab. Mit ihm zu schlafen wäre ... unglaublich. Ihn mit in ihr Bett zu nehmen und aufzuwachen, weil er sie berührte. Traute sie sich? Sie sah ihn an, erkannte die Kraft, die sorgfältig zurückgehaltene Leidenschaft und spürte, wie ihr Körper reagierte. Stephanie ging ins Wohnzimmer. Raoul war dicht hinter ihr. Sie wurde nervös und tadelte sich deswegen. Er war ein Mann wie jeder andere. Was weißt du denn? verspottete sie sich. Es war vier Jahre her, dass sie mit einem Mann geschlafen hatte, und sie war verlegen, kam sich linkisch vor ... und wurde von einer Panik ergriffen, die mit Furcht nichts zu tun hatte. Dies kann sich von einer Sekunde zur anderen in nichts auflösen, warnte sich Raoul. Zu Stephanies Eigenschaften gehörten Integrität und Ehrlichkeit, und sie besaß eine Leidenschaft, in der sich ein Mann verlieren konnte, wenn er nicht aufpasste. Aber da waren auch ein tief sitzender Schmerz und Misstrauen. „Mach Kaffee, Stephanie", sagte Raoul ruhig. Also wollte er sie nicht verführen. Zumindest nicht sofort. Sie hätte erleichtert sein sollen. Stattdessen hatte sie das Gefühl, das Unvermeidliche nur aufzuschieben, was ihre Nervosität noch verschlimmerte. Stephanie ging in die Küche, füllte Wasser in den Behälter, schob die Glaskanne auf die Warmhalteplatte, tat Kaffee in den Filter und schaltete die Maschine ein. „Hat Celeste angerufen und Bescheid gesagt, dass sie gut angekommen sind?" Stephanie hatte nicht gehört, dass Raoul ihr gefolgt war. Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu, bevor sie zwei Tassen und Untertassen aus dem Schrank heraushob. „Ja.
Alles ist bestens." Sie ging zum Kühlschrank und holte Milch heraus. „Möchtest du etwas essen?" Sie schloss die Kühlschranktür, und plötzlich war Raoul da. Ihre Augen wurden groß, als er ihr die Milchtüte wegnahm und auf die Arbeitsplatte stellte. „Ich will nur dich", sagte er und gab ihr keine Zeit zu protestieren. Er zog sie an sich und küsste sie erregend langsam und forschend. Der KUSS war so unglaublich erotisch, dass Stephanie jede Vernunft aufgab und die Empfindungen genoss, die sie alles vergessen ließen außer dem Mann, dem Moment ... und ihrem Verlangen. Du lieber Himmel, fast hätte sie die Hände unter seine Smokingjacke geschoben und ihm das Hemd aufgeknöpft, so sehr sehnte sie sich danach, seine Haut zu berühren. Raoul küsste sie leidenschaftlicher, umfasste ihren Po und presste sie an sich. Seine Erregung war eindrucksvoll, elektrisierend, und Stephanie griff unwillkürlich nach ihm. Sie spürte, wie Raoul erschauerte. Einen Moment lang erfreute sie sich an der Macht, die sie über ihn hatte, dann übernahm er völlig die Kontrolle. Er löste den Mund von ihrem, liebkoste ihren Hals, schob ihr dabei einen paillettenbesetzten Träger von der Schulter und streichelte die entblößte Brust, bis Stephanie dachte, sie würde rasend werden. Als er mit dem Mund die empfindliche Spitze suchte und mit der Zunge reizte, stöhnte Stephanie auf und bog sich Raoul entgegen. Sie konnte es kaum noch aushalten und protestierte nicht dagegen, dass er sie hochhob. Raoul hatte keine Mühe, herauszufinden, welches ihr Schlafzimmer war. Es war sehr feminin in Zartrosa und Minzgrün eingerichtet, mit einem antiken Bett und vielen Spitzenkissen am Kopfende. Er legte die Smokingjacke und die Schleife ab, dann streichelte er Stephanie die Wange, während sie ihm das Hemd aufknöpfte. Beide streiften die Schuhe ab, Raoul machte den Reißverschluss an der Rückseite ihres Abendkleids auf, zog es ihr aus und schob ihr den Spitzenslip hinunter. Sie war schön. Schlank, mit sanften Rundungen und zarter heller Haut. Schnell wurde er Hemd, Hose und Slip los. Stephanie ließ den Blick über Raouls Körper gleiten und bewunderte die breiten Schultern, die muskulöse Brust und den flachen Bauch. Es schockierte sie ein bisschen, wie erregt er war, und unwillkürlich verkrampfte sie sich bei dem Gedanken, ihn aufzunehmen. Dann drückte Raoul sie an sich, und sein KUSS war so zauberhaft erotisch, dass sie fast weinen musste. Er riss die Bettdecke zurück, ließ sich mit Stephanie auf die Matratze sinken, beugte sich über sie und presste den Mund auf ihren Hals. Stephanie legte ihm die Arme um den Nacken, doch Raoul machte sie sanft los und zog sie über ihren Kopf aufs Kissen. Stephanie erschauerte, als Raoul begann, ihre Brüste zu liebkosen. Langsam ließ er den Mund tiefer gleiten, und der Weg, den er mit der Zungenspitze verfolgte, ließ sie laut aufstöhnen. Raoul stellte Sex auf eine neue Ebene und brachte Stephanie dazu, wild und zügellos zu reagieren. Wollüstig, dachte sie, während sie von Empfindungen durchflutet wurde. Du lieber Himmel. Wenn Raoul das mit seinem Mund machen konnte, wie, in aller Welt, sollte sie es aushalten, von ihm genommen zu werden? Würde sie in Flammen aufgehen? Sich selbst zerstören? Beides, gab sie lange Zeit später zu. Raoul war langsam in sie eingedrungen, hatte sie mit leidenschaftlichen Küssen von allen Hemmungen befreit und sie zu einer fieberhaften Erregung getrieben. Stephanie hatte sich seinem Rhythmus angepasst, und das Liebesspiel hatte ihre kühnsten Träume übertroffen. Sie hatte geglaubt, Raoul würde hinterher aufstehen, duschen, sich anziehen und gehen. Stattdessen zog er sie fest an sich, streichelte ihr das Haar und küsste sie gelegentlich flüchtig auf die Wange. Ihr tat alles weh, und Stephanie war bereit, zu schwören, dass sie ihn noch immer spüren konnte. Irgendwann musste sie eingeschlafen sein. Seine Berührungen weckten sie. Er ließ die
Finger über eine Hüfte zum Oberschenkel gleiten und begann, ein erotisches Muster zu zeichnen. Stephanie bewegte sich unruhig, dann beugte sie sich vor und liebkoste mit der Zunge seine Brust. „Also willst du spielen, ja?" Raoul hob Stephanie auf sich. „Du hast mich geweckt", protestierte sie neckend. Sie mochte es, wie er ihre Brüste streichelte und die Hände aufreizend dorthin gleiten ließ, wo sie rittlings auf ihm saß. „Jetzt bist du ganz bei der Sache, stimmt's?" O ja. Stephanie bewegte sich ein bisschen hin und her und freute sich über seine Erregung. Er zog sie zu sich hinunter und küsste sie so leidenschaftlich, dass sie hinterher willensschwach und gefügig war. Als er sie losließ, beugte sie sich zurück, brachte sich in die richtige Stellung und nahm ihn tief in sich auf. Sie hatte die Kontrolle, und sie nutzte es unbarmherzig aus, erst hart und schnell, dann in einem provozierend langsamen Tempo, so dass Raoul schließlich aufstöhnte und sie auf den Rücken rollte. Irgendwann schliefen sie beide ein. Die durch die Vorhänge scheinende Sonne weckte sie am Morgen. Sie standen auf und duschten zusammen, was lange dauerte, denn Raoul hob sie hoch, Stephanie legte ihm die Beine um die Hüften, und sie liebten sich noch einmal leidenschaftlich. Danach trockneten sie sich ab, zogen sich an und machten sich zum Frühstück starken Kaffee, Rührei und Toast. Um zehn zog Raoul sie an sich und küsste sie eingehend. „Ich muss los", sagte er sanft. „Ich rufe dich aus Sydney an." Er lächelte sie liebevoll an. „Pass auf dich auf, cherie." Er ging zu seinem Auto, stieg ein, ließ den Motor an und fuhr rückwärts von der Auffahrt auf die Straße. Stephanie blickte ihm so lange nach, bis das Auto nicht mehr zu sehen war.
9. KAPITEL
Der ganze Tag lag vor ihr, und sie konnte ihn sich einteilen, wie sie wollte. Als Erstes rief Stephanie bei Celeste an. Sie holte Emma an den Apparat, die begeistert vom Flug erzählte, von der Fahrt mit ihrem innig geliebten „Poppa" und von einem Besuch am Strand nach ihrem Mittagsschlaf. „Hört sich nach Spaß an", sagte Stephanie zu ihrer Mutter, die zurück ans Telefon kam. „Wir haben wirklich viel Spaß zusammen", versicherte ihr Celeste. „Und was ist mit dir? Ist gestern Abend alles gut gelaufen?" Also die Frage konnte sie nicht völlig ehrlich beantworten! Sie war nicht bereit, ihrer Mutter zu verraten, dass sie in den vergangenen acht Stunden den besten Sex ihres Lebens gehabt hatte, und das nicht nur ein, sondern mehrere Male. „Ja, wirklich. Der Abend war ein voller Erfolg. Keine einzige Panne, und wir haben die nötige Publicity erreicht." „Und Raoul?" Du liebe Güte. „Ich glaube, er hat sich gut unterhalten." Die Untertreibung des Jahres! „Er ist heute Morgen geschäftlich nach Sydney geflogen." „Aber er kommt zurück?" „Ja." „Schön." Nicht. Schlag dir das aus dem Kopf, Mom, dachte Stephanie. Es konnte nichts daraus werden. „Ich rufe morgen Abend wieder an", sagte sie freundlich. „Danke, Mom. Ich weiß, dass Emma eine wundervolle Zeit bei euch hat." Waschen und bügeln. Nachdem sie das erledigt hatte, ging Stephanie in den Super markt und kaufte Milch, Brot und einige andere unentbehrliche Dinge. Danach machte sie es sich in einem Sessel gemütlich und gönnte sich den Luxus, mehrere Kapitel eines Siebenhundertseitenromans zu lesen. Die historische Familiengeschichte fesselte sie, bis es dunkel wurde, und sie wollte gerade die Lampe einschalten, als das Telefon klingelte. Allein der Klang der tiefen, rauen Stimme erregte sie. „Wie geht es dir?" „Gut." Raoul lachte. „Das war's? Gut?" „Was möchtest du denn von mir hören?" fragte sie unsicher und überlegte, ob er wohl wusste, wie sehr er sie berührte. „Es kann warten, cherie." Einerseits sehnte sie sich danach, ihn wieder zu sehen, andererseits veranlassten sie Vorsicht und eine gewisse Verzweiflung, sich zurückzuhalten. Wenn sie doch nur eine lässige Einstellung zum Sex hätte und keine emotionale Bindung dafür brauchen würde! Dann könnte sie das Intermezzo mit Raoul als das nehmen, was es war: eine flüchtige Affäre ohne Bedingungen. „Michel und Sandrine essen heute Abend mit mir." „Viel Spaß", wünschte Stephanie gespielt gelassen. „Wann findet das Meeting morgen statt?" „Am frühen Nachmittag. Ich rufe dich an." „Okay." „Bonne nuit, cherie. Schlaf gut." Natürlich schlief sie nicht gut. Zu viel ging ihr im Kopf herum, und am nächsten Morgen hatte sie nur den Wunsch, noch zwei Stunden länger im Bett bleiben zu können. Aber die Arbeit wartete, und der Tag würde bestimmt hektisch werden. Sie duschte, frühstückte, zog einen engen schwarzen Rock, ein pfirsichfarbenes Bustier und eine schwarze Jacke mit Nadelstreifen an, schminkte sich, nahm Handtasche und
Schlüssel und eilte zum Auto. Nur um festzustellen, dass sie einen platten Reifen hatte. Stephanie unterdrückte einen Fluch. Reifen zu wechseln wird allmählich zur Gewohnheit, dachte sie, während sie die Jacke auszog und auf den Beifahrersitz warf. Wütend öffnete sie den Kofferraum, holte den Ersatzreifen und den
Wagenheber heraus und machte sich an die Arbeit. Nachdem sie das geschafft hatte, ging sie zurück ins Haus, um sich die Hände zu waschen. Beim lokalen Reifenmarkt vorbeizufahren und den kaputten Reifen zur Reparatur abzuliefern kostete wertvolle Zeit, außerdem herrschte starker Verkehr, so dass sie über jede Kreuzung erst nach dem dritten Umspringen der Ampel kam. Folglich war sie spät dran, als sie ihr Büro betrat.
Heißer, starker, süßer Kaffee half, danach ging sie ihren Terminkalender durch, machte sich Notizen und schaltete ihren Computer ein. Die Gegensprechanlage summte. „Ja?" „Ich habe eine Miss Chabert in der Leitung", sagte lsabel. „Sie besteht darauf, mit Ihnen persönlich zu sprechen." Was, in aller Welt, wollte Ghislaine von ihr? „Stellen Sie sie durch." „Guten Tag, Ghislaine", grüßte Stephanie höflich. „Stephanie. Wir müssen zusammen zu Mittag essen." O nein, müssen wir nicht! dachte Stephanie. „Ich habe im Moment viel zu tun." „Kommen Sie ins ,Terraces'. Ein Uhr." Die herrische Forderung ärgerte Stephanie. „Ich kann nicht..." „Seien Sie pünktlich." Das war fast lachhaft, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass die Situation überhaupt nicht lustig war. „Mir fällt nichts ein, was wir gemeinsam haben könnten." „Raoul." „Wir haben nichts zu besprechen", erwiderte Stephanie ruhig und legte auf. Eifersucht war etwas Hässliches. Ihr Mittagessen bestand aus einem Sandwich, das sie sich aus einem Café bringen ließ. Sie aß am Schreibtisch und trank Mineralwasser dazu, während sie telefonierte, Papiere überprüfte und in Erfahrung brachte, für welchen Tag die Freigabe des Films geplant war. Es war wichtig, den Film bekannt zu machen, indem sie dafür sorgte, dass die Trailer im Fernsehen liefen und die Berichterstattung in den Branchenmagazinen folgte. Sie notierte sich, noch einmal mit dem verantwortlichen Werbeleiter zu sprechen. Um drei schob sie eine Kaffeepause ein. Sie brauchte das Coffein, um durch den Nachmittag zu kommen. So, wie die Dinge lagen, musste sie Arbeit mit nach Hause nehmen. Um kurz nach vier wurde ihr gemeldet, dass Ghislaine Chabert am Empfang sei. Stephanie unterdrückte einen Fluch. Sie hatte keine Zeit dafür. Was auch immer für einen Fimmel Ghislaine hatte, dies war weder der richtige Ort noch der richtige Moment, um sich damit zu befassen. „Haben Sie ihr gesagt, dass ich beschäftigt bin?" „Miss Chabert besteht darauf, mit Ihnen zu sprechen.". Stephanie sah schnell in ihren Terminkalender und traf eine Entscheidung. „In Ordnung. Führen Sie sie herein." Sie stand auf und fuhr sich durchs Haar. „Rufen Sie mich an, wenn der Kunde eintrifft, mit dem ich um Viertel nach vier verabredet bin." Sie benutzte schnell ihren Lippenstift und hatte ihn gerade wieder eingesteckt, als ihre Sekretärin kurz anklopfte, bevor sie die Tür öffnete. Von einer Parfümwolke umhüllt, rauschte die Französin herein, in teurer Designerkleidung und perfekt geschminkt. Ruhig und beherrscht bleiben, ermahnte sich Stephanie. Sie deutete auf einen Stuhl. „Ghislaine. Bitte setzen Sie sich doch", sagte sie kühl, ging zum Schreibtisch und sah demonstrativ auf ihre Armbanduhr. „Ich habe fünf Minuten Zeit für Sie." „Ich stehe lieber." Sie blickten sich über den Schreibtisch an wie zwei erbitterte Feinde. Stephanie war auf
der Hut und ausgesprochen argwöhnisch, während Ghislaine ganz die große Dame spielte. „Lassen Sie Raoul in Ruhe. Er gehört mir." Sofort zur Sache zu kommen war ja gut und schön, aber das war wirklich die Holzhammermethode. Stephanie zog die Augenbrauen hoch. „Tatsächlich? Der Zweck Ihres Besuchs ist demnach, mich von Raoul fern zu halten?" Ghislaine musterte Stephanie verächtlich. „Warum sollte ich wohl sonst hierher kommen?" „Sind Sie fertig?" fragte Stephanie ruhig. Sie bereute bereits ihre Entscheidung, Ghislaine in ihr Büro zu lassen. „Nein, bei weitem noch nicht. Raoul ist gestern Nacht nicht ins Hotel zurückgekehrt. War er bei Ihnen?" „Die Frage verdient keine Antwort." Ghislaines Gesichtszüge verhärteten sich. „Sie sind nur eine vorübergehende Ablenkung, nichts anderes", sagte sie verletzend. Wut durchflutete Stephanie. Sie versuchte, kühl und beherrscht zu bleiben. Ein lautstarker Streit, jetzt, hier im Büro, stand nicht auf ihrer Tagesordnung. „Ich denke, es wäre besser, wenn Sie gingen." „Halten Sie sich von ihm fern." „Was, wenn er sich nicht von mir fern halten möchte?" „Unsere Familien wollen, dass wir heiraten. Ich werde dafür sorgen, dass wir es tun." Stephanie erkannte die Rachsucht, die irrationale Zielstrebigkeit und schauderte besorgt. „Dann muss ich Ihnen Glück wünschen. Und Sie bitten zu gehen." Wie gerufen summte die Gegensprechanlage, und Stephanie drückte die Taste. „Ja?" „Ihr Kunde wartet." „Danke." Stephanie ging zur Tür und öffnete sie. „Auf Wiedersehen, Ghislaine." „Unterschätzen Sie mich nicht", warnte die Französin und verließ das Büro. Stephanie atmete tief durch. Sie brauchte dringend zwei Minuten, um sich abzuregen. Ghislaine war eine böse Frau, möglicherweise eine gefährliche mit einem ernsthaften psychischen Problem. Stephanie fiel ein, was Sandrine gesagt hatte, aber das beruhigte sie nur wenig. Jetzt musste sie sich jedoch auf die Arbeit konzentrieren. Sie durfte einen hoch geschätzten Kunden nicht zu lange am Empfang warten lassen. Auf dem Weg nach Hause fuhr sie beim Reifenmarkt vorbei, um den reparierten Reifen abzuholen, aber der junge Mann schüttelte den Kopf. „Den konnte ich nicht reparieren, Madam. Er war zerschnitten. Aufgeschlitzt", erklärte er, als Stephanie ihn verwirrt ansah. „Mit einem Messer, würde ich sagen." Wer würde das tun? dachte Stephanie. „Ich nehme an, ich brauche einen neuen Reifen." „Zwei. Damit sie vorn gleich sind." Sie blinzelte nicht einmal. „Können Sie es jetzt erledigen?" „Wir schließen bald." „Bitte. Ich brauche mein Auto." „Okay, für Sie mache ich eine Ausnahme." Zehn Minuten später schrieb Stephanie einen Scheck aus, stieg ins Auto und fuhr nach Hause. Es war nach sechs, als sie dort ankam. Sie zog Shorts und ein ärmelloses Top an, dann ging sie in die Küche. Sie würde sich einen gemischten Salat machen und ihn mit kaltem Hähnchenfleisch essen, danach duschen, ihren Morgenmantel anziehen und einige Stunden am Laptop arbeiten. Aber zuerst würde sie Celeste anrufen und sich nach Emmas Tag erkundigen. Eine Fahrt mit der Fähre, erfuhr sie, ein Besuch im Taronga Park Zoo, und am nächsten Tag würden sie mit der Einschienenbahn fahren. „Du verwöhnst sie", protestierte Stephanie. Ihre Mutter lachte. „Nein, wir haben Spaß zusammen."
Es war beruhigend, nicht vermisst zu werden, trotzdem war Stephanie deprimiert, weil ihr das fröhliche Geplapper ihrer Tochter, die Umarmungen und die Küsse fehlten. Nachdem sie gegessen und das Geschirr in die Spülmaschine geräumt .hatte, stellte sie den Laptop auf den Esszimmertisch. Arbeit wird mich ablenken, dachte sie. Und das klappte auch. Sie gab Daten ein und sicherte sie auf Diskette, so dass sie am Morgen im Büro nur noch ausgedruckt werden mussten. Als es klingelte, sah sie überrascht auf die Uhr. Wer kam denn um neun noch vorbei, ohne vorher anzurufen und zu fragen, ob es in Ordnung sei? Vorzutäuschen, nicht zu Hause zu sein, war zwecklos, da die Lampen sie verrieten. Es klingelte wieder, Stephanie ging die Haustür öffnen, sah, dass Raoul auf der Veranda stand, und schloss die Gittertür auf. „Hallo." Mehr als die geistlose Begrüßung brachte sie nicht heraus, und sie spürte, wie sie rot wurde, während er den Blick über den kurzen Seidenmorgenmantel und ihre nackten Beine gleiten ließ. „Warst du schon im Bett?" fragte Raoul belustigt. Stephanie überprüfte den Gürtel des Morgenmantels und zog ihn fester zu. „Nein. Ich habe gearbeitet." Raoul war wirklich ein unbeschreiblich attraktiver Mann. Seine Größe und die breiten Schultern waren eindrucksvoll, das exklusive Eau de Cologne reizte ihre Sinne. Ohne sich dessen bewusst zu sein, blickte sie wie hypnotisiert auf seinen sinnlichen Mund. „Willst du mich nicht hereinbitten?" fragte Raoul sanft. Sie trat sofort beiseite. „Natürlich." Er ging durch die Diele ins Wohnzimmer. „Möchtest du Kaffee?" „Nur wenn du dir selbst gerade welchen kochen willst. Sonst trinke ich gern etwas Kaltes." Er folgte ihr in die Küche. Stephanie nahm eine Coladose aus dem Kühlschrank und gab sie ihm zusammen mit einem Glas. „Hast du schon zu Abend gegessen?" Natürlich hat er das, verspottete sie sich. Um Himmels willen, es war nach neun. Er schenkte sich ein und trank einen großen Schluck. „Ja." „Wie war die Sitzung?" Sie versuchte, höflich Konversation zu machen, und war sich sehr wohl bewusst, dass er es amüsant fand. „Erfolgreich." Er stellte die leere Dose auf die Arbeitsplatte. „Der Vertrag ist unterschrieben, das Geschäft abgeschlossen." „Dann hält dich hier nichts mehr fest." Raoul stellte das Glas neben die Dose und lehnte sich gegen die Kante der Arbeitsplatte. „Doch." Er blickte sie unverwandt an, und Stephanie hatte das Ge fühl, sich am Rand eines Abgrunds zu bewegen. „Du", sagte er ernst. Das war zweifellos eine offene Antwort. Aber in welchem Zusammenhang? Wenn man bedachte, was Ghislaine so gehässig enthüllt hatte, gab es nur eine Möglichkeit. „Als vorübergehende Ablenkung?" Raoul kniff die Augen zusammen. „Ablenkung wovon?" „Ghislaine und deiner bevorstehenden Heirat", sagte Stephanie und bekam einen Eindruck von der Persönlichkeit, die Raoul in der Geschäftswelt zweifellos darstellte. Seine Reglosigkeit hatte etwas Lauerndes, Gefährliches, ohne dass man erkennen konnte, wie er über das Gehörte dachte. „Ghislaine besitzt eine blühende Fantasie", erwiderte er. „Gefördert von allzu nachsichtigen Eltern, die den Wunsch haben, die Familien Chabert und Lanier zu verbinden. Eine Fusion der beiden Unternehmen kommt nicht in Frage, und Heiratspläne existieren nicht." „Das sieht Ghislaine anders."
„Und du hast ihr geglaubt?" fragte Raoul vernichtend leise. Jetzt zeigte sich die Wut, die Stephanie in den vergangenen Stunden unter Kontrolle gehalten hatte. „Sie war sehr überzeugend." „Ja, das kann ich mir denken", räumte er zynisch ein. „Dieses Gespräch ist sinnlos", sagte Stephanie entnervt. „Ich bin anderer Meinung." Sie hob herausfordernd das Kinn. „Das Ende bleibt das gleiche." „Bist du dessen so sicher?" Nichts war mehr sicher! Aber sie konnte sich einen anderen Ausgang einfach nicht vorstellen. Ein Heiratsantrag und gemeinsames Glück für alle Zeiten gehörten ins Märchen. „Raoul, fahr zurück zum Hotel. Bitte." Sie wollte ihn aus dem Haus haben, bevor sie noch irgendetwas völlig Dummes anstellte. In Tränen ausbrach zum Beispiel. „Ich muss wirklich noch zwei Stunden arbeiten." Sie sah müde und gestresst aus, und er war wütend auf Ghislaine, weil sie Stephanie Kummer bereitet hatte. Wortlos um fasste er ihre Schultern, zog Stephanie an sich, legte ihr eine Hand um den Nacken und die andere auf ihren Po. Stephanie versuchte erst, sich loszureißen, dann, als Raoul mit dem Mund die empfindliche Mulde an ihrem Hals suchte, kämpfte sie gegen den Wunsch, sich an ihn zu schmiegen. „Nicht", flüsterte sie verzweifelt. Sie wollte das nicht. Sie konnte es sich nicht leisten, ihren Gefühlen nachzugeben, und sie bezweifelte, dass sie die wundervolle Leidenschaft überstehen würde, ohne zusammenzubrechen. Sie hatte keine Ahnung, wie lange Raoul und sie so zusammenstanden. Es kam ihr richtig vor, und es war herrlich, sich an ihn zu lehnen, seine Kraft und Sicherheit anzunehmen. Plötzlich war es ihr gleichgültig, wie lange die Beziehung zwischen ihnen dauern würde. Er war hier, und sie hatten die Nacht, das genügte. Und wenn zu wenige Nächte übrig waren? Na und? Sie wollte sich das Vergnügen nicht versagen, mit ihm zu schlafen. War das so schlimm? Raoul machte sich langsam von Stephanie los und trat einen Schritt zurück, dann hob er ihr Kinn an, blickte ihr in die schönen blauen Augen und versuchte, sich nicht darin zu verlieren. „Setz dich an den Computer, und mach deine Arbeit fertig." Er streichelte ihr die Wange, küsste sie sanft auf die Nasenspitze und schob Stephanie zum Esszimmertisch. Sie brauchte fast zwei Stunden. Zufrieden sicherte sie schließlich die Daten auf Diskette, Raoul hatte im angrenzenden Wohnzimmer gemütlich auf dem großen Sofa gelegen, leise ferngesehen und ihr gelegentlich einen Blick zugeworfen. Sie hatte es gemerkt und jedes Mal am ganzen Körper gebebt. Jetzt beendete sie das Programm und schaltete den Laptop aus. Sie hörte nicht, dass Raoul aufstand und zu ihr kam. Als er ihr die Hände auf die Schultern legte, rang sie überrascht nach Atem. Raoul begann, ihr die verspannten Nackenmuskeln zu massieren. Es tat so gut, dass Stephanie vor Behagen und Dankbarkeit seufzte. Sie schloss die Augen, ließ sich verwöhnen und verlor jedes Zeitgefühl. Als er aufhörte und ihre Taille umfasste, protestierte Stephanie schwach. Er hob sie hoch und trug sie ins Schlafzimmer. „Raoul, ich denke ..." „Denk nicht, fühl einfach." Er ließ sie hinunter, legte seine Sachen ab, zog Stephanie den Morgenmantel aus, sank mit ihr aufs Bett und begann ein langes, langsames Liebesspiel, das sie dazu brachte, um Erlösung zu flehen. Es war unbeschreiblich erregend, wie er sie überall mit dem Mund liebkoste und erforschte, ihre Empfindungen steigerte und sie immer wieder auf unglaubliche Höhen trieb. Raoul wusste, wo er sie berühren und streicheln musste, um sie rasend zu machen. Geschickt widmete er sich jeder erogenen Zone, und gerade als Stephanie dachte, sie
hätte alles erlebt, ging er denselben Weg zurück, bis sie vor Ekstase aufschrie. Ihr ganzer Körper war ein einziges pulsierendes Sehnen. Das war der Moment, in dem Raoul sie nahm. Er wurde mit einem kräftigen Stoß eins mit ihr, zog sich zurück, bevor er wieder in sie eindrang, einen Rhythmus aufbaute und das Tempo steigerte, bis nichts mehr existierte außer der Leidenschaft zweier Liebender, die perfekt übereinstimmten. Hinterher schliefen sie eng umschlungen ein. Irgendwann in der Nacht wachte Stephanie auf, spürte Raouls beruhigendes Streicheln, kuschelte sich an ihn und schlief wieder ein. Der schrille Summer des Digitalweckers war eine unerträgliche Störung. Stephanie streckte die Hand aus, um ihn abzuschalten, und berührte einen muskulösen Arm, da Raoul gerade dasselbe vorhatte. „Halb sieben", sagte er belustigt. „Raus aus den Federn!" „Ich dusche zuerst", sagte Stephanie schläfrig, dann schrie sie überrascht auf, denn Raoul ließ die Hand über ihren Körper gleiten und brachte sie so schnell und geschickt zum Höhepunkt, dass es ihr den Atem raubte. „Ich glaube, ich sollte jetzt aufstehen." Raoul liebkoste mit dem Mund ihren Hals. „Du glaubst nur?" „Energisches Handeln ist unerlässlich", sagte Stephanie schwach. Sie befreite sich aus seiner Umarmung und stand auf. „Sonst komme ich zu spät." Raoul rollte sich auf den Rücken, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lächelte sie an. Heftiges Verlangen durchflutete Stephanie. Sie würde nichts lieber tun, als wieder aufs Bett zu sinken und sich der Lust hinzugeben, die Raouls Berührungen in ihr weckten. Ihm Lust zu bereiten. Wie es wohl wäre, jeden Morgen nach einer wundervollen Liebesnacht aufzuwachen und es noch einmal zu tun? Sex. Sehr guter Sex. Mehr war es nicht. Konnte es nicht sein. Oder doch? Du lieber Himmel. Was sie fühlte, war nicht Liebe. Wirklich nicht? Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag, ihr folgte schnell Furcht. Nein! dachte sie. Das konnte nicht passiert sein. Raoul betrachtete ihr ausdrucksvolles Gesicht und sah ihr den Schock, die Überraschung an, bevor sie den Blick senkte. Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete er, wie sie nach ihrem Morgenmantel griff und ins Badezimmer ging. Stephanie betrat die Duschkabine, stellte das Wasser an, machte sich das Haar nass und öffnete die Shampooflasche. Einen Moment später nahm Raoul sie ihr weg. „Du kannst nicht..." „Doch, ich kann." Er schüttete sich Shampoo auf die Hand fläche und wusch Stephanie das Haar. Danach nahm er die Seife und fuhr damit so aufreizend über ihren Körper, dass Stephanie aufstöhnte. Bei dem Tempo würde sie auf das Frühstück verzichten müssen. Aber das war es wert. „Raoul ..." Mehr brachte sie nicht heraus, denn er küsste sie auf den Mund, und allein der KUSS war eine Besitznahme. Als er sie hochhob, legte sie ihm die Arme um den Nacken, hielt sich einfach fest und jubelte darüber, wie sich Raoul anfühlte und wie stark er war. Man könnte fast glauben, er sei darauf aus, meine Sinne zu erobern ... um was zu erreichen? überlegte Stephanie, während sie nach einem Handtuch griff und sich das Haar abtrocknete. Sie wurde rot bei der Erinnerung an ihre Reaktion. In seinen Armen wurde sie zügellos und probierte alles eifrig aus, was er gern machen wollte. Sie ging ins Schlafzimmer, suchte frische Wäsche heraus, wählte einen eleganten Hosenanzug, schminkte sich, föhnte sich das Haar und zog Pumps mit hohen Absätzen an. Da klar war, dass sie zu spät kommen würde, sah sie nicht einmal mehr auf die Uhr. Sie nahm ihre Handtasche, ging zum Laptop und holte die Diskette, dann verließ sie das Haus. Raoul war direkt hinter ihr, die Reisetasche in einer, seinen Laptop in der anderen Hand. Er hatte sich rasiert, und an Stelle des Anzugs trug er eine gut sitzende Hose und ein
dunkles Polohemd. Stephanie öffnete mit der Fernbedienung das Garagentor und ging zur Beifahrerseite, um eine Harke wegzuräumen, die umgefallen war und am Auto lehnte. Nur deshalb bemerkte sie, dass sie schon wieder einen platten Reifen hatte. „Verdammt!" fluchte sie leise. „Probleme?" Sie zeigte auf das Vorderrad. „Das ist das zweite Mal in zwei Tagen, dass ich einen platten Reifen habe", sagte sie ärgerlich. „Wenn dieser auch aufgeschlitzt worden ist, werde ich Anzeige erstatten." „Aufgeschlitzt?" „Das hat der Mann im Reifenmarkt gesagt. Er hat gestern Abend zwei neue Reifen montiert." Stephanie seufzte. „Ich mache mich an die Arbeit." Sie wollte den Kofferraum öffnen. „Lass es", befahl Raoul. „Ich fahre dich." „Ich brauche mein Auto!" „Und hole dich von der Arbeit ab. Gib mir die Fernbedienung und einen Ersatzschlüssel, dann kümmere ich mich darum." Stephanie wollte widersprechen, unterließ es jedoch, als Raoul ihr flüchtig die Wange streichelte. „Fang keinen Streit mit mir an, ma chere." Es war einfacher, zu tun, was er sagte. Während er sie zu ihrem Büro fuhr, nahm sie das Handy heraus und teilte der Empfangsdame mit, sie werde in wenigen Minuten da sein. Sobald Raoul vor dem Gebäude hielt, öffnete Stephanie die Beifahrertür, bedankte sich schnell und stieg aus.
10. KAPITEL
Der Morgen war eine einzige Katastrophe, und dass Stephanie eine Stunde verloren hatte, verschlimmerte die Situation noch. Was schief gehen konnte, ging schief. Ausgerechnet an diesem Tag hatte sich zudem ihre Sekretärin krankgemeldet, und ihr Ersatz hatte von nichts eine Ahnung. Heißer, süßer, starker Kaffee half ein bisschen. Stephanie setzte Prioritäten bei den Schreibarbeiten und Telefongesprächen und arbeitete bis ein Uhr durch. Dann hielt sie es für vernünftiger, doch noch Mittagspause zu machen, weil sie den Nachmittag sonst niemals durchstehen würde. Sie ging zu einem der Cafés, in denen gutes Essen und schnelle Bedienung für die Angestellten geboten wurden, die in den vielen hohen Bürogebäuden in diesem Teil von Southport arbeiteten. Draußen waren noch Tische frei. Bunt gestreifte Markisen und Sonnenschirme schützten die Gäste vor der Sommerhitze. Stephanie setzte sich, bestellte und bekam nach kurzer Zeit ihren Cappuc cino und ein Sandwich mit Hühnerfleisch und Salat. Es war ein schöner Tag. Stephanie konnte den Park sehen und das in der Sonne glitzernde Wasser des Hauptkanals. Dahinter erhoben sich die segelähnlichen weißen Dächer des Einkaufszentrums Marina Mirage vor dem Hintergrund des blauen Himmels, und daneben stand der Komplex mit den Eigentumswohnungen des wunderschön gestalteten Palazzo Versace. Das Café war gut besucht, aber nicht so voll, dass sich jemand berechtigt fühlte, sich zu ihr an den Tisch zu setzen, und Stephanie ließ sich Zeit, genoss in Ruhe das Essen und die Atmosphäre. Sie hatte das Recht dazu, schließlich hatte sie am vergangenen Abend bis elf Uhr zu Hause gearbeitet. Sie bebte vor Erregung, als sie daran dachte, was passiert war, nachdem sie den Laptop ausgeschaltet hatte. Zweifellos war es ausgesprochen gefährlich, sich zu. lange auf die Leidenschaft zu konzentrieren, die Raoul in ihr geweckt hatte. Und auf ihre Reaktion. Die Cocktailparty an diesem Abend war ein Muss für die leitenden Angestellten der Firma, aber sie würde höchstens zwei Stunden bleiben müssen. Stephanie aß das Sandwich auf, trank den Cappuccino aus, bezahlte die Rechnung an der Theke und ging nach draußen auf die Straße. Sie hatte gerade wenige Schritte zurückgelegt, als eine Frau ihren Namen rief. Nein! Bitte lass es nicht Ghislaine sein, dachte Stephanie, bevor sie sich umdrehte. Doch es war Ghislaine. Was machte die Französin in diesem Teil der Stadt? „Ich bin im Einkaufszentrum gewesen und habe den falschen Ausgang genommen", erklärte Ghislaine. „Jetzt suche ich einen Taxistand." „Hier in der Nähe ist leider keiner. Entweder gehen Sie zurück ins Einkaufszentrum und fragen nach dem richtigen Ausgang, oder ich rufe Ihnen ein Taxi", schlug Stephanie vor und fragte sich, warum sie so hilfsbereit war. „Oh, mir ein Taxi hierher zu bestellen wäre wundervoll." Nach zwei Minuten legte Stephanie das Handy zurück in die Handtasche. „Entschuldigen Sie mich bitte. Ich muss zurück ins Büro." „Bevor Sie gehen, möchte ich Ihnen danken", sagte Ghislaine gespielt liebenswürdig. „Wofür?" „Dafür, dass Sie mich bei Raoul diskreditiert haben." Stephanie bekam Magenschmerzen bei dem Gedanken, dass Ghislaine wahrscheinlich auf gut Glück hier Ausschau nach ihr gehalten hatte, weil sie irgendwie herausgefunden hatte, in welc hes Café sie normalerweise mittags ging. „Das haben Sie ganz allein geschafft", erwiderte sie vorsichtig. „Raoul hat mich heute Morgen angerufen und vorgeschlagen, dass wir uns im Terraces treffen." Ghislaines Augen funkelten vor Wut. „Ich habe mich auf ein Tete -ä-tete gefreut.
Dass mein Besuch bei Ihnen im Büro vertraulich war, hatten Sie doch wohl begriffen?" Stephanie konnte sich vorstellen, wie Ghislaine im übertragenen Sinne die Krallen wetzte. „Oder laufen Sie immer zu Ihren Männern und plaudern aus der Schule?" Jetzt war Stephanie in Versuchung, ihre Krallen auszustrecken, aber eine Szene auf der Straße kam für sie einfach nicht in Frage. In manchen Fällen war Schweigen wirkungsvoller als Reden. „Wer sind Sie denn schon? Eine unbedeutende Person ohne adlige Abstammung, ohne gesellschaftlichen Rang, eine Null!" „Im Gegensatz zu Ihnen?" „Ja!" Stephanie wurde wütend. „Leider garantieren blaues Blut und eine hohe gesellschaftliche Stellung nicht das Verlangen eines Mannes." „Miststück." Ghislaine holte schwungvoll aus, verfehlte ihr Ziel jedoch knapp, da Stephanie den Kopf zur Seite drehte. „Vielleicht sollte ich Sie daran erinnern, dass man wegen Diffamierung und tä tlicher Beleidigung vor Gericht kommen kann." „Raoul gehört mir." Sie würde nicht hier stehen bleiben und sich Ghislaines Ge hässigkeiten weiter gefallen lassen. Stephanie ging einfach los. „Was fällt Ihnen ein, mir den Rücken zu kehren! Ich bin noch nicht mit Ihnen fertig!" Stephanie blickte sich nicht einmal um. Ein Fehler, wie sie nur einen Moment später feststellte. Etwas Schweres traf ihren Rücken, so dass sie das Gleichgewicht verlor und fast hingefallen wäre. Als sie sich umdrehte, schob sich Ghislaine gerade den Riemen ihrer großen Umhängetasche wieder über die Schulter. „Das war ein tätlicher Angriff." „Wo sind Ihre Zeugen?" Ghislaine zuckte mit den Schultern. „Ich werde behaupten, Sie seien gestolpert. Schade, dass Sie nicht gestürzt sind." Das ging wirklich zu weit! „Sie wollen durchhalten, stimmt's? Es wird Raoul nicht imponieren, dass Sie jemand dafür bezahlt haben, meine Reifen aufzuschlitzen." Stephanie zog die Augenbrauen hoch. „Dachten Sie etwa, ich würde nicht dahinter kommen?" „Ich weiß nicht, wovon Sie reden." „Haben Sie geglaubt, mich einschüchtern zu können, Ghislaine? So leicht kann man mir keine Angst machen." „Er will Sie nur für Sex." „Wenn das stimmt, stellt sich die Frage, warum er mich nimmt, obwohl Sie ihn doch so gern damit versorgen würden." Ghislaine wurde erst blass, dann rot vor Wut. „Wenn Sie nicht wären ..." „Wäre es eine andere Frau", sagte Stephanie. „Finden Sie sich mit der Wahrheit ab, und ziehen Sie weiter." „Wie Sie es tun werden?" Das Taxi hielt am Straßenrand, und Ghislaine ging über den Grasstreifen und stieg ein. Minuten später durchquerte Stephanie die Eingangshalle des Bürogebäudes und fuhr mit dem Lift nach oben. Sie machte einen völlig gelassenen Eindruck. Keine Kleinigkeit, sich nichts anmerken zu lassen, wenn sie doch das Bedürfnis hatte, vor Wut über Ghislaines zwanghaftes Benehmen um sich zu schlagen. „Zwei dringende Anrufe. Sie möchten bitte zurückrufen. Drei Faxe liegen auf Ihrem Schreibtisch. Der Kunde mit dem Termin um drei kommt dreißig Minuten früher." Mit aller Macht zurück an die Arbeit. Stephanie machte bis fünf in einem mörderischen Tempo weiter, dann hatte sie das Ärgste geschafft. Und was nicht, kann bis morgen warten, dachte sie müde. Sie schaltete den Computer aus, nahm ihre Handtasche und verließ ihr
Büro. Raoul wartete unten in der Eingangshalle auf sie. Er trug einen maßgeschneiderten dunklen Anzug, sein gepflegtes Aussehen war beispielhaft, und bei seinem Anblick setzte ihr Herz einen Schlag lang aus. Er ist wirklich ein außergewöhnlicher Mann, räumte Stephanie ein, während sie auf ihn zuging. Sie würde ihn höllisch vermissen, wenn er zurück nach Europa reiste. „Hallo." Das klingt zu munter, dachte Raoul, während er in sich aufnahm, wie blass und zerbrechlich sie aussah. „Harter Tag?" „Eine Untertreibung." Er zog sie an sich und küsste sie. Genüsslich und intensiv. Als er sie losließ, blickte sie ihn mit großen Augen an. „Ich hatte den Eindruck, du würdest es brauchen", erklärte er lächelnd. Aber nicht aus dem Grund, den er vermutete. Der Verkehr war stark, und die Fahrt nach Mermaid Beach dauerte zwanzig Minuten. „Ich dusche und ziehe mich um", sagte Stephanie. „Nimm dir einen Drink." Raoul ging in die Küche und holte sich etwas Alkoholfreies aus dem Kühlschrank, dann betrat er das Wohnzimmer, wo er lange eins der gerahmten Fotos betrachtete. Es zeigte Stephanie mit Emma als Baby. Raoul zeichnete mit dem Zeigefinger Stephanies Konturen nach und lächelte über ihre stolze Haltung. Sie war stark, mutig, integer, leidenschaftlich und besaß ein Selbstgefühl, das er bewundernswert fand. Emmas Vater war ein Dummkopf, dachte Raoul. In mehr als nur einer Hinsicht. Er ging zum Fenster und blickte nach draußen über den Rasen zu dem gepflegten Randbeet mit Blumen, Büschen und Palmen, das am Zaun zum Nachbargrundstück entlanglief. Als er Stephanie ins Wohnzimmer kommen hörte, drehte sich Raoul um und nahm ihre schlanke Figur in sich auf, die feinen Gesichtszüge und das rotblonde Haar. „Wunderschön siehst du in dem Kleid aus." Die stahlblaue Seide betonte ihre helle Haut und die blauen Augen. „Wollen wir los?" Er folgte ihr nach draußen zum Auto. „Du musst mir sagen, wie ich fahren muss." „Es ist nicht weit." Die Cocktailparty gab ein reicher Kunde, der eine Vorliebe für Feiern hatte und für seine Großzügigkeit bekannt war. Er wohnte in einem der vielen großen Häuser mit spektakulärem Meerblick, die in einer parallel zum Strand verlaufenden Einbahnstraße standen. Ungefähr dreißig Leute tranken im großen Salon Champagner und ließen sich mundgerechte Kanapees schmecken. „Ist diese Soiree geschäftlich?" fragte Raoul. „Aber ja. Charles ist einer unserer wichtigsten Kunden. Er leitet gern die Festtage ein, indem er die erste der vorweihnachtlichen Cocktailpartys gibt." Stephanie lächelte. „Ja, ich weiß. Wir haben gerade die erste Novemberwoche." Während der folgenden Stunde mischten sie sich unter die Gäste, erst zusammen, dann getrennt. Raoul wurde in ein Gespräch gezogen, und Stephanie machte weiter die Runde. Sie ist gut in ihrem Job, dachte er. Ihr Interesse war echt, sie hatte ein hervorragendes Zahlengedächtnis, und es war offensichtlich, dass sie von ihren Kollegen respektiert wurde. Sie schien intuitiv zu wissen, dass er sie beobachtete, denn sie sah plötzlich zu ihm hinüber und zog fragend die Augenbrauen hoch. Hitze durchflutete Stephanie, während sie sich anblickten. Es war, als könnte sie seine Berührung spüren, und ihre Haut prickelte vor Erregung. Sie versuchte, ihre unberechenbaren Gedanken unter Kontrolle zu bringen. Ahnte er, was in ihr vorging? Fasziniert beobachtete sie, wie er etwas zu seinem Gesprächspartner sagte und auf sie zukam. „Amüsierst du dich?" neckte sie ihn.
„Und wie", erwiderte Raoul spöttisch. Er hob die Hand und streichelte ihr mit den Fingerspitzen die Wange. Sein Lächeln machte Stephanie schwach, und unwillkürlich rückte sie näher an ihn heran. „Hast du Hunger?" Raoul ließ die Finger über ihren Arm gleiten und nahm ihre Hand. „Sprichst du von Essen?" fragte Stephanie boshaft lächelnd. „Davon auch." „Nicht weit von hier ist ein gemütliches Restaurant, in dem man himmlisches italienisches Essen bekommt. Wir können uns etwas mit nach Hause mitnehmen." „Willst du auf Kerzenlicht, Chianti und Andrea Bocelli vom CD-Player verzichten?" Stephanie lachte. „Na gut, wenn du unbedingt eine authentische Atmosphäre willst." Kurze Zeit später gingen sie. Nach wenigen Minuten erreichten sie das kleine, von einer italienischen Großfamilie geführte Restaurant, das in einer Ladenpassage am Highway lag. An der Tür wurden Stephanie und Raoul von einem höflichen Onkel begrüßt. Den Wein servierte der älteste Sohn, eine Tochter brachte das Essen, Mutter, Vater und die Frau des Onkels herrschten in der Küche. Der Duft von frischen Kräutern, Gewürzen und verlockenden Soßen ... und Musik erfüllten die Luft. „Pavarotti", sagte Raoul spöttisch, als sie zu einem freien Tisch gingen. Er bestellte einen leichten roten Lambrusco, und sie beschlossen, statt eines Hauptgerichts lieber zwei Vorspeisen zu nehmen. Sie wählten eine klare Suppe und danach Spinat-Feta-Ravioli mit Champignons. „Perfetto", lobte Raoul nach dem Essen. Er bestellte Kaffee und bat um die Rechnung. Um elf verließen sie das Restaurant und gingen zum Auto. Die Nacht war warm, und Myriaden von Sternen versprachen auch für den nächsten Tag schönes Wetter. Wie viele Tage hatte sie noch übrig? Zwei? Drei? Denk nicht daran, warnte sich Stephanie. Sie hatten diese Nacht, das genügte. Es musste ihr genügen. Aber das tut es nicht, dachte sie Stunden später, als sie erschöpft neben Raoul lag. Er hatte sie so zärtlich geliebt, dass sie fast geweint hatte. Sie hatte geglaubt, es sei vorbei, nachdem er sie zum Höhepunkt gebracht hatte, doch sie war von ihm auf noch unglaublichere Gipfel getrieben worden. Danach hatte sie ihm Lust bereitet, ihn überall gestreichelt und liebkost, bis sein Verlangen fast nicht mehr kontrollierbar gewesen war. Sie hatten sich hemmungslos einer Ekstase hingegeben, die wild, berauschend und völlig schamlos gewesen war. Vorsichtig glitt Stephanie aus dem Bett, nahm ihren Morgenmantel und ging leise ins Wohnzimmer. Das Mondlicht schien durch die nicht ganz geschlossenen hölzernen Fensterläden. Sie stellte sie anders ein, damit sie nach draußen in den Garten blicken konnte. Die Bäume und Sträucher warfen lange Schatten auf den Rasen. In der Ferne bellte ein Hund, dann beruhigte er sich wieder, und alles war still. Stephanie stand in Gedanken versunken da und sah in die Dunkelheit. Raoul wachte auf, bemerkte, dass Stephanie nicht mehr neben ihm lag, und ging leise durchs Haus, bis er sie im Wohnzimmer am Fenster stehen sah. Ihr Anblick griff ihm ans Herz. Sie stand so reglos, so gedankenverloren und machte einen einsamen, verzweifelten Eindruck. „Kannst du nicht schlafen, che rie?" Er ging zu ihr, stellte sich hinter sie, legte ihr die Hände um die Taille und zog Stephanie an sich. „Es ist eine schöne Nacht", sagte sie heiser und erschauerte, als er mit dem Mund ihren Hals liebkoste. „Oui." Raoul ließ eine Hand zu ihrem Bauch gleiten. „Ich muss am Ende der Woche zurück nach Paris fliegen." Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus, und Stephanie hatte das Gefühl, dass sich die Qual in ihrem ganzen Körper ausbreitete. Jetzt war der Moment da, vor dem sie sich gefürchtet hatte. Warum hatte sie dennoch davon geträumt, er würde es nicht tun? Was
konnte sie sagen? Geh nicht? „Ich möchte, dass du mitkommst." Paris? Das war unmöglich. Auch nur darüber nachzudenken war sinnlos. Was war mit Emma? Celeste war wundervoll, aber sie konnte nicht erwarten, dass ihre Mutter ... Und ihre Arbeit? „Wir führen verschiedene Leben auf verschiedenen Seiten der Welt." Es war, als würde sie innerlich zerbrechen. „Wir haben keine ..." „Gemeinsame Zukunft?" Raoul umfasste ihre Schultern und drehte Stephanie herum. „Doch, haben wir." Sie hob stolz das Kinn und blickte ihn ruhig an. „Als Gelegenheitspartner, die ein oder zwei Wochen zusammen verbringen, wann immer gerade beide Zeit haben?" „Nein. Ich habe etwas anderes im Sinn." „Ich bin keine Frau, die sich zur Geliebten eignet", sagte sie traurig. Raoul lächelte. „Ich bin erleichtert, das zu hören." „Ich habe ein Kind, ich bin berufstätig." „Ist dir dein Beruf, dein Job hier, so wichtig, dass du ihn für nichts aufgeben würdest?" „Ich habe finanzielle Verpflichtungen." „Und wenn die beseitigt würden?" „Was schlägst du vor?" „Heirate mich." Der Schock verschlug ihr einen Moment lang die Sprache. „Was hast du gesagt?" flüsterte Stephanie schließlich. „Heirate mich", wiederholte Raoul sanft. „Das kannst du nicht im Ernst meinen." „Ich meine es völlig ernst." „Aber..." „Wenn dir dein Beruf so wichtig ist, kann ich dir in Paris eine Stelle besorgen." Stephanie bezweifelte es nicht. „Raoul..." „Ich habe eine Wohnung in Auteuil und ein Haus im Weinanbaugebiet Chinon im Loiretal. Emma wird es gefallen, die Wochenenden und Ferien dort zu verbringen." „Du gehst zu schnell vor", protestierte Stephanie. „Nein", widersprach Raoul leise. „Ich will dich bei mir haben, als meine Ehefrau, wo auch immer auf der Welt ich gerade bin. Emma ist ein Teil von dir, der mir alles bedeutet. Vielleicht wird sie in einigen Jahren eine Schwester oder einen Bruder haben. Fürs Erste erleben wir drei alles zusammen, was die Zukunft für uns bereithält." Tränen traten Stephanie in die Augen, und sie versuchte angestrengt, sie wegzublinzeln. „Ich habe nächste Woche wichtige Sitzungen in Paris. Vier Tage, mon amour, dann komme ich zurück, und wir planen unsere Hochzeit. Deine Eltern werden uns begleiten, wenn wir Weihnachten nach Paris fliegen." Bis Weihnachten waren es nur noch sieben Wochen. „Wir können nicht so schnell..." „Doch. Das ist kein Problem." Wenn man genug Geld hatte, war alles machbar. „Du liebst mich." Stephanie konnte sich nur darüber wundern, wie leicht sie zu durchschauen war. Wie lange wusste er es schon? Er umfasste ihr Gesicht. „Ich bin an jenem ersten Tag in dein Büro gekommen, habe dir einen Blick zugeworfen und sofort erkannt, dass mein Leben nie wieder dasselbe sein würde." Jeden Moment jetzt würde sie aufwachen und feststellen, dass alles nur Wunschdenken gewesen war. „Bleib für immer bei mir. Je t'aime, mon coeur." Schwach vor Glück, legte ihm Stephanie die Arme um den Nacken und küsste Raoul. „Ich habe mich dagegen gewehrt, mich gefühlsmäßig mit dir einzulassen", flüsterte sie. „Ich
habe mir so große Mühe gegeben, mich davon zu überzeugen, dass du eine Komplikation bist, die ich mir nicht leisten kann. Aber wo ich auch hinging, du warst da. Ich konnte dir anscheinend nicht entkommen." Raoul liebkoste mit dem Mund ihre Schläfe, und Stephanie spürte, dass er lächelte. „Du hast es gemerkt." „Was du gemacht hast, war unfair. Du hast meine Tochter bezaubert, ganz zu schweigen von meiner Mutter." „Sie waren meine stärksten Verbündeten." „Es war fast, als hättest du einen geheimen Plan." „Eine Aufgabe", verbesserte Raoul und küsste sie auf den Hals. „Emmas Vater zu werden. Und dein Ehemann." Stephanie lächelte. „Andersherum, und ich denke vielleicht darüber nach", neckte sie ihn. „So?" Raoul hob sie hoch. „Was wird das? Überredung?" fragte sie lachend. „Süße Folter", versprach er ihr rau. „Bis du Ja sagst." Es dauerte nicht lange.
11. KAPITEL
Sie wurden von einem Zelebranten in einer restaurierten, nicht konfessionsgebundenen Kirche getraut, die in einer schönen Gartenanlage am Fluss stand. Stephanie wurde von ihrem Vater zum Altar geführt, Celeste war die Brautführerin und Emma das Blumenmädchen. Stephanie trug ein kurzes cremefarbenes Kleid, das mit langettierter Spitze überzogen war. Raoul sah in einem maßgeschneiderten dunklen Anzug großartig aus. Hinterher tranken sie Champagner und genossen ein ausgezeichnetes Essen. Zwei Tage später flogen Raoul, Stephanie und Emma zusammen mit Celeste und Philip nach Paris, wo für Raouls Familie eine zweite Trauung abgehalten wurde. Sandrine und Michel nahmen daran teil, ebenso wie Anneke und Sebastian. Als Oberhaupt der Familie stand Henri stolz zwischen ihnen, und Madeleine, die alte Urgroßmutter, gab ihren Segen und dankte Stephanie dafür, dass sie eine Urenkelin in die Familie gebracht hatte. Voreilig, denn noch war die Adoption nicht amtlich bestätigt, durch die sich Emmas Nachname von Sommers in Lanier ändern würde. Stephanie und Sandrine verbargen ein Lächeln und schwiegen. Es war zu früh für die Neuigkeit, dass Madeleine nächstes Jahr Weihnachten zwei kleine Kinder verwöhnen konnte. Raoul bemerkte Stephanies ein bisschen sehnsüchtigen Blick und nahm ihre Hand. „Glücklich?" Sie sah ihn an, und ihr strahlendes Lächeln raubte ihm fast den Atem. „Ja", sagte sie, erstaunt, dass er fragen musste, da sie doch jede Nacht leidenschaftlich auf sein Liebesspiel reagierte. „Was würdest du dazu meinen, wenn ..." „Oui." „Ich war noch nicht fertig." Raoul hob ihre Hand an den Mund und küsste die Innenseite des Handgelenks. „Mon coeur, das ist nicht nötig." „Kannst du Gedanken lesen?" „Deine, mon amour, sind besonders leicht zu lesen." „Daran werde ich arbeiten müssen", sagte Stephanie leicht spöttisch und hörte sein leises, raues Lachen. „Du bist die andere Hälfte von mir, Teil meiner Seele. Ich sehe dich an und kenne deine Gedanken und Gefühle ebenso gut wie meine." „Tu es ma vie. Je t'adore", flüsterte Stephanie. Raoul küsste sie auf die Schläfe. „Merci, mon ange." Besser kann das Leben nicht werden, dachte er dankbar. -E N D E