ATLAN Im Auftrag der Menschheit Nr. 155
Im Bann des Eisplaneten von Hans Kneifel
Auf den Stützpunkten der USO, den Pla...
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ATLAN Im Auftrag der Menschheit Nr. 155
Im Bann des Eisplaneten von Hans Kneifel
Auf den Stützpunkten der USO, den Planeten des Solaren Imperiums und den übrigen Menschheitswelten schreibt man Ende Juni des Jahres 2843. Lordadmiral Atlan gewann bei seinem Einsatz auf dem Planeten Karagam den geraubten Zellaktivator noch gerade rechtzeitig zurück. Damit ist eine Episode beendet, die nicht nur in Kreisen der USO beträchtliche Unruhe und Aufregung verursacht hatte. Doch schon vor diesem Zeitpunkt hat sich eine neue Krise angebahnt, die den Lordadmiral zum Eingreifen veranlaßt. Ausgangspunkt dieser Krise ist ein Sonnensystem in der Eastside der Galaxis. Hier, und zwar auf der Welt Komouir, sind wertvolle Schwingkristalle entdeckt worden. Die Entdeckung hat sofort bei allen Prospektoren und Glücksrittern in der Nähe einen wahren Run ausgelöst. Die USO und das Solare Imperium haben dabei das Nachsehen, weil sie nicht frühzeitig genug informiert worden sind. Schließlich greifen der Lordadmiral und der Instinktspezialist Froom Wirtz persönlich ein. Von Terrania Skeller, einem parapsychisch begabten Kind, begleitet, erreichen sie Komouir, die Welt der Schatzsucher. Sie entdecken „das schweigende Raumschiff“ und die „Straße im Kosmos“. Bei ihrer weiteren Untersuchung werden die drei per Transmitter abgestrahlt. Und dort, am unbekannten Zeitpunkt ihrer Versetzung, befinden sie sich IM BANN DES EISPLANETEN…
Die Hauptpersonen des Romans:
Atlan – Der Lordadmiral kämpft ums Überleben.
Froom Wirtz – Der Instinktspezialist unterstützt
den Lordadmiral. Terrania Skeller – Das Mädchen wird zum Sprachrohr eines Unheimlichen. Kilter Shann – Skanmanyons.
Ein
gehorsamer
Diener
1. Als erster taumelte Atlan aus dem Transmitter hervor. Der Schrei blieb ihm im Hals stecken. Wie ein Faustschlag traf die Kälte die bloßen Teile seines Körpers. Der Arkonide drehte sich schnell herum und sah, wie das Mädchen Terrania und Froom Wirtz in den Raum hereinstolperten. Eisige, lähmende Kälte umgab sie wie dichter Nebel. „Froom!“ würgte Atlan hervor. Seine Lippen begannen bereits zu schmerzen. Wie dicker weißer Rauch schwebten die Atemwolken vor seinem Mund. „Wir müssen etwas tun! Oder schnellstens hier heraus!“ Froom sah sich schnell um. Sie befanden sich in einem merkwürdig aussehenden Raum mit runder Bodenfläche. Nur in der unmittelbaren Nähe der lodernden Transmittersäulen war es wärmer. Decke, Wände und Boden waren von einem stumpfweißen Eispanzer bedeckt. „Viel leichter gesagt als getan, Sir!“ antwortete Wirtz. Er hielt Terrania an der Hand, die leise zu wimmern begann. „Verdammt! Das Mädchen! Wir haben nicht einmal eine Jacke!“ Atlan starrte hilflos umher. Während dieser unheimliche Frost mehr und mehr von seinem Körper Besitz ergriff, erkannte er, daß sie in gewisser Weise gefangen waren. Wirtz und Terrania Skeller blieben in unmittelbarer Nähe der Transmittersäulen stehen und warteten zitternd.
Innerhalb der nächsten Sekunden prägte sich das Bild der Umgebung ein. Sinnlos war die Frage, warum sie hierher geschleudert worden waren. Sie befanden sich in einer Station, deren Anlagen weitestgehend ausgefallen waren. Offensichtlich hatte die Kälte sie ruiniert. Die Umgebung, ein zylindrischer, hoher Raum, war durchgehend weiß. Jeder Quadratzentimeter war mit einer Eisschicht bedeckt. Rund um die leicht erhöhte Transmitterplattform standen unbekannte und unbegreiflich aussehende Gegenstände, vermutlich Maschinen oder auch Schalteinheiten. Die runde Wand war in eine Reihe von Vorsprüngen gegliedert, die halbierten wuchtigen Säulen glichen. Zwischen den einzelnen Absätzen schien es runde Schottüren zu geben, aber auch deren Türangeln und Verschlüsse waren eisverkrustet. „Sir! Sehen Sie dort hinüber!“ sagte Wirtz plötzlich aufgeregt. Er deutete quer durch den Saal auf einen der runden, jetzt verschlossenen Ausgänge. Dort sah die Oberfläche aus Eis anders aus. Der Raum um die Angeln und Verschlüsse war gläsern, fast ausgeschmolzen. Auch die Umrisse des vollkommen runden Schottes waren deutlich zu sehen. „Dort ist ein Ausgang!“ rief Atlan. Seine Finger wurden bereits gefühllos. Er steckte nur in einer einfachen Kombination, während Wirtz und das kleine Mädchen nur Hosen und Pullover trugen. Sie alle froren erbärmlich, aber es war nicht nur die Belästigung durch den Kälteschock, sondern die Gefahr darüber hinaus: Blieben sie länger als eine halbe Stunde in dieser tödlichen Kälte, bedeutete dies unweigerlich ihr Ende. Selbst Atlans Zellschwingungsaktivator würde ihn nicht vor dem Erfrieren retten können. „Ich sehe ihn!“ gab Atlan zurück. Er wußte, daß sie unverzüglich handeln mußten. Seit sie der Transmitter ausgespien hatte, waren höchstens zwanzig Sekunden vergangen. Atlan rutschte und stolperte über das Eis, dessen Kälte durch die Sohlen seiner Stiefel drang, auf das Schott zu. Er warf sich vorsichtig rückwärts, nahm einen zweiten Anlauf und sah augenblicklich, daß einige Fladen des Eisbelags herunterfielen und ein graues Metall erkennen ließen. Auch rund um den Griff löste sich unter der Erschütterung das Eis. „Mir ist so kalt! Alles tut mir weh, Froom!“ weinte das Mädchen.
In fieberhafter Eile reagierte Atlan. Er ging schnell vorwärts, griff entschlossen in den Brustausschnitt seiner Kombination und faßte mit den stoffgeschützten Händen den Hebel. Er riß und zerrte daran. Sein Keuchen hallte durch den Raum. Sein Kopf war von den dichten Nebelschwaden umgeben, die seine Atemluft bildete. Beim ersten Ruck löste sich der Rest des Eises. Knirschend und splitternd ratterten Eisstücke zu Boden und zersprangen klirrend in tausend Trümmer. Atlan hob einen Fuß, stemmte sich gegen die weiße Eiswand und zog mit aller Kraft an dem Griff. Gleichzeitig bewegte er sich nach links und rechts, drehte den Hebel und zog, riß daran und schüttelte sich. Er setzte alles ein, was er hatte. Seine Muskeln strafften sich und traten hervor. Schweiß erschien trotz der grimmigen Kälte auf seinem Gesicht. Ein helles, klickendes Krachen. Wieder fiel Eis von der Wand und von der Tür. Knarrend und in einer Anzahl kleiner Rucke schwang die runde Tür auf. Atlan taumelte, vom Schwung mitgerissen, rückwärts. Die Tür öffnete sich weit, neunzig Grad, er ließ den Griff los, stolperte und überschlug sich rückwärts. „Nein!“ schrie Wirtz auf. Mehr instinktiv hatte der Mann erkannt, daß es wichtiger war, zu überleben, als planlos herumzurennen. Also blieb er, frierend und die zitternde und vor Schreck und Schmerzen weinende Terrania in den Armen, in der Nähe der Energiesäulen, die etwas Wärme ausstrahlten. Jetzt sah er über die Schultern des Mädchens hinweg, über den Lordadmiral, der sich eben hochstemmte, über und über mit Eis und Rauhreif bedeckt, hinaus durch die runde Öffnung. „Verdammt! Das steigert sich noch!“ schrie Wirtz auf. In seinem Oberlippenbart bildete sich bereits weißes Eis. Er sah sehr exotisch aus, aber er fühlte beim Anblick der Landschaft noch größere Angst und eine Wut auf das Schicksal, das sie im erbarmungslosen Griff hielt. Dort draußen… Ein plötzlicher, furchtbarer Kälteschock mußte nicht nur die Transmitterstation, sondern auch die gesamte Landschaft überfallen haben. Dort sahen die drei Menschen eine Sommerlandschaft, die in Kälte, Eis und Schnee erstarrt war. Bäume und Wiesen waren deutlich sichtbar, aber alles war von Reif und Schnee verwüstet. Die
Blätter waren gelb, das Gras verdorrt und wie mit Diamantenstaub bedeckt, eine unsichtbare Sonne stand hinter einem milchig-weißen Schneehimmel. Atlan sah ein, daß sie von draußen keinerlei Rettung oder Erleichterung ihrer Lage erreichen konnten. Er stemmte sich wieder gegen die Tür und schmetterte sie mit einem gewaltigen Krachen zu. Langsam drehte er sich um. Der Nebel, der von der um geringfügige Grade wärmeren Luft gebildet worden war, verging. „Wir müssen etwas tun! Los, Wirtz, untersuchen wir die Maschinen und Gegenstände hier!“ „Einverstanden“, erwiderte der Mann, der jetzt sämtliche Aktivitäten ausspielen konnte, da ihn Atlan „aktiviert“, hatte. Atlans Hinweis, daß Rhodan kommen würde, hatte die gesamte Ausbildung, die Wirtz als Instinktspezialist erhalten hatte, gegenwärtig gemacht. Aber Wirtz selbst wußte dies nicht. Er wunderte sich nur öfters darüber, daß er an sich Fähigkeiten entdeckte, die er niemals besessen hatte – so glaubte er wenigstens. Außerdem blieb ihnen gar keine Zeit zum Nachdenken, denn sie rannten und stolperten von einer Überraschung in die andere, von einem Abenteuer ins nächste. „Terrania… Mädchen, du bleibst hier stehen. Aber berühre ja nicht die rote Säule, verstehst du?“ Terrania nickte. Die Tränen, die ihr die Kälte aus den Augen trieb, begannen auf ihren bleichen Wangen zu gefrieren. Mit einem langen Schwung rutschte Froom Wirtz, mit den Armen rudernd, über den Eisbelag und auf Atlan zu. Sämtliche Anlagen waren ausgefallen. Nur das Licht, das die Transmittersäulen ausstrahlten, erhellte in düsterem Rot den großen Raum. Sie gingen nebeneinander vorsichtig auf eine der Maschinen zu. Jedes Teil war von einer dicken Reifschicht bedeckt. Eine plötzliche Katastrophe hatte sowohl die Landschaft, als auch die Energie der Station zusammenbrechen lassen. Mit Fußtritten und mit schnellen Griffen der Hände, die immer wieder am Eis kleben blieben, versuchten sie, eine der Maschinen vom Eis zu befreien. Sie waren völlig hilflos. Es gab nicht einmal eine herumliegende Stange oder ein Stück Holz. „Nichts. Versuchen Sie, Wirtz, dort nachzusehen. Vielleicht finden wir einen Nebenraum, in den wir uns retten können. Ich werde mich ein wenig mit dem Transmitter beschäftigen!“ sagte Atlan.
„Gut. Mache ich, Sir. Was wollen Sie erreichen?“ Atlan gab grimmig zur Antwort: „Ich will, daß wir überleben. Einverstanden?“ „Völlig!“ „Dann an die Arbeit!“ Während Wirtz die unbrauchbare Maschine langsam umrundete und auf einen der säulenartigen Vorsprünge zustolperte, machte sich der Lordadmiral daran, ein weiteres. Schott zu öffnen. Es war, von der Tür in die verwüstete Landschaft hinaus gerechnet, die achte Tür im Uhrzeigersinn. Minutenlang war nichts anderes in dem runden Raum zu hören als Ächzen und Stöhnen, unterdrücktes Fluchen, hämmernde Geräusche und der Ton splitternden Eises. Beide Männer schufteten, weil sie wußten, daß die Alternative ein schneller, wenn auch angenehmer Tod war. Aber sie hatten nicht vor, ihr Leben hier zu beenden. Während sie versuchten, Dinge zu finden oder eine Möglichkeit zu erkennen, ihr Leben und das des kleinen Mädchens zu retten, dachten sie bruchstückweise daran, wie sie in diese Situation geraten waren. * Jene unbekannten Wesen, die vor einer ebenfalls unbekannten Zeit versucht hatten, eine Flugschneise durch die Galaxis zu bahnen, waren an allem schuld und für alles verantwortlich. Sie wollten etwas durch die Sterne transportieren, das den Namen Skanmanyon trug. Niemand konnte bisher ahnen, was es war, worum es sich handelte. Ebenfalls unbekannt und völlig dunkel waren Start und Ziel dieses geheimnisumwitterten Etwas. Was Atlan und Wirtz aber genau wußten: ein riesiges Raumschiff hatte die Flugroute abgeflogen, die Skanmanyon einmal nehmen würde. Oder etwa schon genommen hatte? Niemand konnte es wissen. Der Effekt, den dieses mächtige Schiff verbreitete, war schlechterdings erstaunlich und auf eine merkwürdige Weise verwirrend. Alle raumfahrenden Völker, die entlang der Flugroute Planeten bewohnten, verfielen plötzlich in einen Hohlweltrausch und vergaßen abrupt, daß es Raumfahrt, Sterne, Raumhafen und Raumschiffe gab. Diese teilweise Amnesie bewirkte, daß
Skanmanyon unbehelligt auf Reisen gehen konnte. In einem Teil des Universums, in dem keine Raumfahrt mehr stattfand, weil die Völker ihre Welten als abgeschlossene Einheit in Form einer hohlen Kugel betrachteten, würde sich niemand und nichts dem zu transportierenden Etwas entgegenstellen! Das Schiff, das die Amnesie verbreitete, erlitt über dem Planeten Wiga-Wigo Schiffbruch. Es wurde durch die Tätigkeit jener Gruppe aktiviert, die Froom Wirtz unterstand und versuchte, den Riesenkörper aus dem Erdreich des Planeten auszugraben. Atlan, der sich auf der Suche nach dem scheinbar versagenden Instinktspezialisten Froom Wirtz befand, wurde zusammen mit dem Mädchen Terrania Skeller in den Wirbel der Ereignisse hineingerissen. Sie gingen an Bord des wiederaktivierten Schiffes, wurden entdeckt und verfolgt und schließlich abgestrahlt. Ihre Ausrüstung beschränkte sich auf dünne Kleidung und ihre natürliche Intelligenz und Erfahrung. Beides konnte sie nicht mehr lange am Leben erhalten, jedenfalls nicht hier in der Kälte, die trotz der schnellen und schweißtreibenden Bewegungen unaufhaltsam nach ihrem Leben griff…! * Dröhnend schmetterte die runde Tür gegen die Wand. Gleichzeitig erkannten die zwei Männer verschiedene Dinge, die in ihrer Art merkwürdig und kaum zu begreifen waren. Atlan starrte in einen dunklen Raum hinein. Nur ein schmaler, zungenförmiger Streifen jener roten Helligkeit, die der Transmitter abstrahlte, lag auf dem blanken, eisigen Boden der Nebenkammer. Aber von dem pfeilerartigen Vorsprung rieselte in langen, zackenförmigen Splittern das Eis herunter und gab eine halbkreisförmige, transparente Fläche frei. Dahinter stand, wie eine aus weißem Stein gemeißelte Statue, ein Wesen. Es war absolut fremd. Aufrecht, mit oberen Extremitäten, die bis fast zum Boden herunterhingen und in scherenartigen Klauen endeten. Der Körper war entfernt humanoid; trotz der losen Kleidung wirkte er ein wenig insektenhaft oder so wie der Panzer eines meeresbewohnenden
Wesens. Auch der Kopf, der auf einem kurzen Hals saß, sah aus wie der eines phantastischen Tiefseetieres. Riesige Augen, wie Halbkugeln geformt, ein runder, mit silbernem Pelz bedeckter Schädel mit kleinen Nasenöffnungen und einem schmalen Mund, der lange Eckzähne erkennen ließ. Atlan nahm binnen weniger Sekunden diesen Eindruck in sich auf, registrierte ihn- und sprang dann vorwärts, durch das übermannsgroße Loch der Tür. In dem kleinen Raum, der ebenso kalt war wie das Zentrum der Transmitterstation, herrschte tiefe Dunkelheit. Schließlich fand der Arkonide einen ungewöhnlich aussehenden Schalter neben der Tür und drehte ihn mit klammen Fingern. Eine niedrige Decke begann zu leuchten. Atlan wirbelte herum und sah, daß er sich in einem Materiallager befand. Aber… welch ein Lager! Alle Gegenstände waren fremd und ließen ihren Zweck keineswegs erkennen. Auch Wirtz öffnete eine Tür. Atlan ging die vielen Vertiefungen in allen vier Wänden entlang und suchte, was er brauchen konnte. Zunächst war es wichtig, genügend Wärme zu erzeugen, damit sie eine bestimmte Zeit überleben konnten. Atlan fand einige Kabel, eine Masse von klobigen Dingern, die er als Anschlußstücke identifizierte, andere Gegenstände, und er stellte mit der Routine langer Übung in solchen und ähnlichen Überlebenstechniken etwas zusammen, von dem er glaubte, daß es funktionieren würde. Nacheinander schleppte er die Gegenstände aus dem Raum hinaus und in die Richtung des Transmitters. Er arbeitete mit wahnsinniger Schnelligkeit. Energie gab es genügend, der arbeitende Empfangstransmitter bewies es. „Wirtz!“ schrie Atlan, während er ein Kabel mit dem Schlußstück verband und zwischen den Schaltelementen des Transmitters nach einem Stecker suchte. „Hier! Ich glaube, ich habe etwas! Sieht aus wie ein Klimagerät!“ „Ausgezeichnet! Bringen Sie es her!“ Sie fanden alles nur Erdenkbare, nur keine Kleidung, die sie schützen würde. Sie schufteten mit der eisigen Kälte um die Wette. Während sie sich durch Bewegung einen schäbigen Ersatz für wirkliche Wärme verschafften, warfen sie hin und wieder einen
Blick auf das Mädchen. Sie tat ihnen leid. Terrania war, teilweise durch die ablaufenden Vorgänge, teilweise aber auch durch ihr eigenes Verschulden, in die Sache mit hineingezogen worden. Sie litt mehr als sie. Terrania Skeller mit ihrem langen dunklen Haar und den großen unschuldigen Augen fror, zitterte und weinte schweigend vor sich hin. Die Männer wußten, daß sie dort, wo sie kauerte, in größtmöglicher Sicherheit war. Sie war durch die Hitze, die von der Energiesäule ausströmte, einigermaßen gut geschützt. Während Atlan geschickt einige Geräte miteinander verband und Schalter bewegte, schleppte Wirtz mit neu erwachter Findigkeit Gegenstände und Geräte herbei, von denen er ahnte oder wußte, daß sie ihnen helfen würden. Aus zwei mittlerweile vom Eisbelag befreiten durchsichtigen Behältern sahen ihnen die erstorbenen Augen jener fremden Wesen bei der fieberhaften Arbeit zu. Schließlich funktionierte die wirre Anordnung der Geräte. Als Atlan einen Schalter umlegte, begannen die Heizdrähte zu glühen, bewegten sich die kleinen Radialverdichter von kugelförmigen Geräten, summten die Luftströme auf. Aus einem halben Dutzend von kleineren und größeren Öffnungen quoll warme Luft. Es begann nach schmorender Isolierung zu stinken. Atlan zog blanke Kupferkabel hinter sich her und befestigte sie an Isolatoren, die er ihrerseits auf stangenartige Füße setzte. Auch diese schweren Leiter begannen langsam zu glühen und steigerten die Intensität. Eine annähernd runde Zone neben dem Transmitter war jetzt im Zentrum verschiedener Wärmequellen. Das Eis auf dem Boden schmolz und flöß als dampfendes Wasser ab. „Komm, Terrie!“ sagte Wirtz und zog das Mädchen in ihren Kreis. Sie saßen auf schwarzen Metallwürfeln und streckten ihre Füße und Hände in die Wärme hinein. Wirtz warf einen mißtrauischen Blick auf die verrückte Anordnung der glühenden und qualmenden Geräte und meinte verdrossen, seine kalten Finger betrachtend: „Das sieht verdammt hinfällig aus. Aber es funktioniert!“ „Es ist schön! Und es leuchtet wie das Kaminfeuer damals, erinnerst du dich noch, Froom?“ „Es wird nur nicht lange so bleiben!“ knurrte der Arkonide. „Die Geräte sind hoffnungslos übersteuert. Sie werden durchbrennen.
Mindestens das, wenn es nicht Explosionen gibt!“ Halblaut erklärte der Arkonide: „Wärmen wir uns erst einmal durch. Dann sehen wir weiter. Wir sind jetzt eine knappe Viertelstunde hier, und es kann sich in kurzer Zeit einiges ändern!“ „Sie haben ziemlich recht, Sir!“ gab Wirtz zu. Sie schwiegen und versuchten, darüber nachzudenken, was geschehen war und was getan werden konnte oder mußte. Die Maschinen und die im Kälteschock erstarrten Fremden hinter den durchsichtigen Scheiben deuteten darauf hin, daß eine blitzartig aufgetretene Katastrophe diesen Planeten betroffen hatte. Die Männer wußten nicht, wo sie sich befanden. Langsam begann es ringsherum zu tauen. Zuerst flöß das Wasser dort, wo die Männer und das kleine Mädchen saßen und sich die Finger rieben, die jetzt unerträglich zu kribbeln begannen, nach allen Seiten ab. Gleichzeitig taute der Reif von allen Flächen ab, die der langsam wachsenden Zone der Wärme nahe waren. Die Oberflächen der halbrunden, aufrechtstehenden Särge wurden zuerst glasig, dann völlig klar. Die beiden fremden Wesen, die durch Atlan und Wirtz sichtbar gemacht wurden, waren nicht die einzigen. Etwa zwei Dutzend solcher Vorsprünge gab es, und hinter jeder durchsichtigen Fläche standen, kauerten und hockten Wesen, die unvorstellbar fremd waren. „Vermutlich die Mannschaft dieser Station“, sagte Atlan und deutete auf ein krötenartiges Wesen mit Händen, die sieben lange, erstaunlich schön geformte Finger mit saugnapfartigen Spitzen hatten. „Vermutlich. Sie haben diese Maschinen bedient. Und als der Kälteschock kam, zogen sie sich in die Behälter zurück. Liegen sie nun im Kälteschlaf, oder sind sie eingefroren und getötet worden?“ Der Arkonide, dessen Gedanken sich rasend um die Möglichkeiten ihrer Rettung bewegten, meinte lakonisch: „Wir werden es merken, falls wir es schaffen, diesen Raum angenehm zu durchheizen.“ Es sah nicht so aus, als würden sie mit ihrer technischen Ausrüstung großen Erfolg haben. Die Heizdrähte und eine Menge anderer Teile glühten jetzt in unerträglich heller Glut. Von den
Maschinen und Kästen stieg nicht nur Wärme, sondern ein durchdringender Geruch auf. Es war nur eine Frage der Zeit, wann die ersten Geräte durchbrennen würden. Versuche, hier so schnell wie möglich herauszukommen! Ihr werdet euch nicht lange genug aufhalten können! warnte der Extrasinn des Arkoniden. Plötzlich gab es ein dumpfes Geräusch. Das wohlvertraute Klingeln von Eiskristallen war zu hören. Zugleich mit einem neuen eisigen Hauch drang ein Schleier aus Schneeflocken in den Raum und verdampfte zischend auf den glühenden Drähten und den heißen Oberflächen der Heizgeräte. Die Männer fuhren herum. Aber Terrania Skeller reagierte am schnellsten. Sie schrie auf. Wieder hatte sich eine Tür geöffnet. Das Schott stand weit offen und zeigte die verwüstete Landschaft. In dem runden Rahmen zwischen den aufgerissenen und zerfransten Dichtungen stand eine phantastische Gestalt. Langsam kam sie näher.
2. Terrania schrie laut auf. Es war nicht festzustellen, ob ihr Schrei Schrecken oder Erleichterung bedeutete. „Ich kenne ihn! Du kennst ihn auch, Froom!“ rief sie mit erstickter Stimme. Atlan starrte, ohne sich zu bewegen, stirnrunzelnd die phantastische Gestalt an, die keine zwanzig Meter von ihnen entfernt war. Während sie nicht sicher waren, ob die Wesen in den durchsichtigen Schränken lebten oder tot waren, ging von dieser Gestalt unverkennbar Leben aus. Aus der aufstiebenden Wolke von Schneekristallen und Flocken schob sich eine fremdartige, aber doch irgendwie vertraute Gestalt. „Die Tür zu, schnell, Mann!“ sagte Wirtz mit einer derartigen Schärfe in der Stimme, die bewies, daß er sich nahezu vollständig erholt hatte. „Oder wollen Sie uns umbringen?“ „Einen Moment!“ murmelte der Fremde, drehte sich um und schloß das Schott. Er kam Wirtz mit jedem Schritt, den er machte, vertrauter vor. Endlich dämmerte es ihm. Er sagte verwundert:
„Kilter Shann! Der ehemalige Raumfahrer! Wie ist das möglich?“ Mit hohler Stimme, die unter einem halbkugeligen Atemschutzgerät hervorkam, erwiderte Shann: „Ich bin hier, weil mich Skanmanyon geschickt hat. Das Werk muß beendet werden, und dazu braucht es jede Menge Hilfskräfte. Ich erkenne dich, Froom Wirtz. Und auch die kleine verrückte Terrania. Aber wer ist der Mann neben dir, der so friert, daß er sprachlos ist?“ Wirtz und Atlan zögerten, dann nannte der Arkonide seinen Namen. Er sagte dem ehemaligen Raumfahrer nichts. Shann kam näher und blieb zwischen zwei Luftumwälzgeräten stehen, die bereits in heller Glut standen und runde Löcher in den Boden zu brennen begannen. „Es ist eine Katastrophe eingetreten!“ stellte Shann fest und ließ seinen Blick umherschweifen. „Du sagst es!“ entgegnete Wirtz und betrachtete ihn verwirrt. Auch Atlan schwieg und beschäftigte sich mit dem rätselhaften Aussehen des Mannes. Kilter Shann trug hohe weiße Stiefel, von denen Schnee und Eisreste abtauten. Darüber ein Gewand, das vor Jahrhunderten die Beduinen getragen haben mochten. Es war naß, zerschlissen und dampfte in der Hitze. Eine dicke, dreiviertellange Jacke mit schwerem Pelzbesatz an der Verschlußleiste, den Ärmeln und dem aufgestellten Kragen bedeckte Arme und Oberkörper. Um den Hals trug der Mann mit dem roten, narbenbedeckten Gesicht einen dicken, mehrfach geschlungenen und verknoteten Schal von feuerroter Farbe, darüber die Schläuche und die Kabel eines Heizgeräts, das auf seinen Schultern hing. Den Kopf bedeckte ein runder, orangefarbener Sturzhelm mit einem rauchfarbenen Visier, das jetzt hochgeklappt war und die Facetten des positronischen Sehgeräts enthüllte, die den blinden Raumfahrer befähigten, seine Umgebung wahrzunehmen. Wundere dich nicht! Alles wird sich aufklären! flüsterte der Extrasinn des Arkoniden. An einem breiten Schulterriemen trug Kilter Shann eine schwere, ausgebeulte Tasche. Die Hände steckten in unförmigen Fausthandschuhen. Kilter schob, in den Bereich der wärmenden Geräte gekommen, seinen Schal herunter und sagte: „Es ist gut, daß ihr hier seid, Freunde. Ich werde eine Menge Hilfe
brauchen, um die gigantische Arbeit beenden zu können. Wir müssen in großer Eile zur Ebene ohne Schatten. Dort wartet der Berg auf uns!“ Atlan fragte knurrend: „Was sollen wir dort, verdammt?“ Terrania blickte Shann mit großen, ernsten Augen an. Schon damals, als sie in der gemeinsamen Wohnung von Wirtz und Shann aufgewacht war, hatte sie kein Zutrauen zu diesem Mann finden können. „Das ist der einzige Ort, an dem wir uns retten können. Hier fand eine Katastrophe statt. Sie sind alle erfroren. Drinnen wie draußen. Seht nur diese Bedienungsmannschaft!“ Wirtz, der sich noch immer nicht gerührt hatte und Shann verwundert anstarrte, erkundigte sich: „Wie kommst du hierher, Shann?“ „Ich bin ein Mitarbeiter Skanmanyons!“ war die Auskunft. „Kurz nachdem ihr in dem kleinen Flugschiff verschwunden seid, hat mich Skanmanyon zum Diener gemacht. Ich fand sein Heim.“ Atlan und Wirtz wechselten einen vielsagenden Blick. Sie begriffen augenblicklich. Kilter Shann war noch immer im Irrtum der Hohlwelt befangen und hatte keine Ahnung, daß es sich sowohl beim „Flugschiff“ als auch bei „Skanmanyons Heim“ um Raumschiffe handelte. Aber er arbeitete trotzdem mit. Atlan beschloß, sich weitergehende Klarheit zu beschaffen. „Wir verließen Wiga-Wigo! Was geschah, nachdem wir fortflogen?“ Shann richtete seine seelenlosen Positronikaugen auf den Arkoniden und entgegnete: „Ich wanderte ziellos weiter. Etwas trieb mich, etwas zog mich. Ich kam an eine Grube…“ „Das war unsere Hinterlassenschaft. Wir gruben nach Skanmanyons Schiff!“ flüsterte der Instinktspezialist. „… und ging hinein. Noch immer zerrte etwas an meinem Verstand und überflutete meine Gedanken. Dann erhob sich ein riesiges Ding, nahm mich in sich auf und entfernte sich. Ich kam plötzlich in eine Wüste, dort schlug das Ding auf, das ich als Heim Skanmanyons erkannt habe. Ich war dort, wo die Leute das Land Komouir nannten. Ich gehöre also Skanmanyon.“
Hart fragte der Arkonide: „Wer oder was ist Skanmanyon?“ Das verwüstete, durch radioaktive Verbrennungen entstellte Gesicht Kilter Shanns verzog sich zu einer Grimasse, die Ratlosigkeit, aber auch Starrsinn ausdrückte. „Ich weiß es nicht. Aber ihr müßt mir helfen, um euch selbst zu helfen, Freunde.“ „Um dir helfen zu können“, sagte Wirtz schnell, „mußt du uns zuerst helfen.“ „Wie?“ Die Blicke Atlans und des kleinen Mädchens gingen zwischen Wirtz und Shann hin und her. „Wir brauchen etwas Heißes zum Trinken, gute Kleidung und so etwas Ähnliches wie Waffen. Wir sind völlig hilflos und ziemlich am Ende.“ Kilter kicherte hohl und rieb sich die Hände. „Nichts leichter als das! Ich habe hier…“, er begann in seiner schweren Tragetasche zu wühlen und brachte zwei Waffen hervor, die unverkennbare Merkmale von Strahlern zeigten. Er warf einen Atlan und den anderen Wirtz zu. „Hitzestrahler! Schön warm habt ihr es hier! Ich werde euch schwere Pelzbekleidung beschaffen.“ „Möglichst schnell!“ murmelte Atlan. Der blinde Raumfahrer, der nichts mehr von seinem früheren Beruf wußte, schien von jener unsichtbaren Macht gelenkt zu werden, die er auch nur dem Namen nach kannte. Es war gespenstisch. Er zählte die Schotte ab und schmolz mit einem kurzen Feuerstoß seiner eigenen Waffe das Eis um die Riegel, dann riß er die Tür auf und ging in den angrenzenden Raum hinein. Langsam stand Atlan auf und sah ihm nach. Das helle Licht brandete auf und enthüllte ein ähnliches Magazin, das aber mit Sesseln und Tischen ausgestattet war. Atlan winkte Froom Wirtz, der Terrania von seinen Knien schob, sorgfältig den weißglühenden und funkensprühenden Geräten auswich und durch kleine Wasserpfützen watete. Die Decke des Raumes war von einer dicken Dampfschicht bedeckt und unsichtbar. Sie traten in das kleine Magazin. Kilter Shann wühlte mit leisem, undeutlichem Murmeln in Einbauschränken und schob Gegenstände in Regalen hin und her.
„Hier!“ sagte er. „Jede Menge Kleidung! Sollte euch passen!“ Sie suchten weiter und fanden schließlich alles, was sie brauchen konnten. Dicke Hosen, die vielleicht den kröten- oder fischgesichtigen Bedienungsmannschaften gehört haben mochten, sich aber elastisch zusammenzogen. Große Stiefel, Jacken, pulloverähnliche Kleidungsstücke, deren Ärmel sie abschnitten, Mäntel, Handschuhe und eine Menge anderer, nützlicher Gegenstände. Der blinde Raumfahrer oder jenes Wesen, das ihm seine Handlungen vorschrieb, schien genau zu wissen, was die drei brauchten. „Ihr begleitet mich zu dem Berg? Zum Berg Skanmanyons?“ fragte er lauernd. „Wenn wir sicher sein können, von dort aus gerettet zu werden!“ schränkten Atlan und Wirtz gleichzeitig ein. „Nur dort, in der ‚Ebene ohne Schatten’, ist Rettung für uns alle. Und auch für Skanmanyon!“ beteuerte Shann und hob bekräftigend beide Arme. „Wie weit?“ Ohne zu überlegen, entgegnete der Mann in dem orangenen Sturzhelm, der in dieser Umgebung so grotesk wie ein Karnevalskostüm wirkte: „Fünfzehn Tage! Aber wir dürfen weder rasten noch ruhen!“ Als Atlan entdeckte, wie Wirtz das Mädchen in die Kleidung zwängte und mit rührender Sorge die zu großen Stücke zerschnitt, zusammenband und, soweit möglich, abänderte, mußte der Arkonide leicht lächeln. Sein Lächeln wurde breiter, als er dem Raumfahrer zusah. „Rastlos und ruhelos werden wir durch die schneebedeckte Landschaft stapfen!“ versicherte er. Draußen explodierte eines der hastig installierten Geräte. „Es ist eine gewaltige Katastrophe eingetreten!“ versicherte Kilter Shann und rührte in eine gelbliche Flüssigkeit alle möglichen Pulver und Trockennahrungsmittel ein, die er in einem der Schränke gefunden hatte. Es war eine Art Kessel ohne Herd, der sich selbst erhitzte. Das Zeug darinnen sah nicht einmal schlecht aus und schien hervorragend und nährstoffreich zu sein. Minuten vergingen, und der Diener Skanmanyons holte eine Schöpfkelle und mehrere Becher, die ebenfalls für neunfingrige Scherenhänge oder siebenfingrige
Haftballen entworfen waren. Er goß die dampfende, braungoldene Flüssigkeit hinein und sagte: „Das wird den letzten Rest von Müdigkeit und Kälte vertreiben! Trinkt! Ich weiß, daß wir Menschen es vertragen können.“ Atlan, der sich umgezogen hatte und eben den breiten Gürtel mit den vielen Taschen schloß, nippte an dem heißen, wohlriechenden Getränk. Inzwischen stapelte Shann auf einigen Tischen verschiedene, würfelförmige Verpackungen auf. Er sah auf die fremden Schriftzüge und schien sie lesen zu können. „Gut! Ausgezeichnet!“ murmelte der Arkonide und trank in kleinen Schlucken den ersten Becher leer. Du kannst beruhigt trinken. Dieses menschliche Werkzeug der Fremden wird sich nicht selbst vergiften, weil seine Beherrscher ihn brauchen! flüsterte beruhigend der Extrasinn. „Fünfzehn Tage!“ brummte Wirtz, schob eine Strähne schwarzen Haares unter den Pelzrand der eng schließenden Kapuze des Mädchens, die nur einen kleinen Teil des Gesichts freigab, und richtete sich auf. „Mehr als zwei Wochen durch diesen Schnee und die Kälte dort draußen!“ Er griff nach den Bechern und reichte einen davon dem Mädchen, das mit schlenkernden Beinen in viel zu großen Stiefeln in einem der non-humanoid geformten Sessel kauerte. „Und das zu Fuß!“ bekräftigte Atlan. „Für die Ausrüstung und die Kleine basteln wir einen Schlitten!“ sagte Shann im Tonfall des Leiters jener bevorstehenden Expedition. Das Getränk wirkte wahre Wunder. Es schien sich blitzschnell von der Speiseröhre und vom Magen aus bis in die letzte Körperzelle zu verbreiten und rief überall eine angenehme Wärme hervor. Gleichzeitig vertrieb es Durst, Hunger und Müdigkeit. Binnen weniger Minuten hob sich die Stimmung der Männer, die noch eben der Verzweiflung nahe gewesen war. Dies galt auch für Kilter Shann, der den Helm abnahm, sich ein Ende des feuerroten Schals über das wirre Haar legte und auf einen Tisch setzte. „Ihr wundert euch, nicht wahr?“ „Verständlicherweise, Shann“, erklärte Wirtz grinsend. „Zuerst dieser Kälteschock, dann unsere verzweifelten Versuche, schließlich auch noch dein überraschendes Erscheinen… wo kommst du
eigentlich her?“ Wieder traf ihn der eulenhafte Blick der funkelnden, vielfach gebrochenen Ersatzaugen, die ihre photopositronische Energie über Funkkanäle an die Gehirnzellen weitergaben, nachdem sie über eine Steckverbindung gelaufen waren. „Ich weiß es nicht.“ „Wie?“ fragte Atlan laut. Shann sah ihn, wie es schien, kritisch an. „Was ist das eigentlich für ein Mann? Zuverlässig? Kann er Strapazen auf sich nehmen? Hat er dein Format?“ fragte Kilter und deutete auf Atlan. Wirtz und der Arkonide grinsten sich breit an. „Antworten Sie, Freund. Nur keine Scheu!“ Wirtz wählte seine Worte sorgfältig und sagte: „Er ist ganz brauchbar. Ein ziemlich hohes Tier aus der Regierung. Er hat sich bisher ausgesprochen krisenfest verhalten. Ich bin überzeugt, daß er fünfmal so gut ist wie du und ich zusammengenommen!“ „Dann soll er mitkommen und den Schlitten ziehen!“ entschied Shann. „Deine Frage. Ich war ohne Besinnung und wachte erst dort draußen im Schnee auf. Eine breite Spur führte zu diesem Eingang. Sie war allerdings schon sehr undeutlich und verweht. Ich folgte ihr, wärmte die Türdichtungen an und, hoppla, hier war ich.“ Wieder verzerrte sich sein Gesicht. Er wankte zu einem Sessel, ließ sich fallen und verschüttete die Hälfte des Inhalts seines Bechers. Er schlug die Hände vor sein Gesicht und stöhnte auf. Etwas schien ihn gepackt zu haben und schüttelte ihn innerlich. Langsam hob er nach einer Weile den Kopf und sah, noch einmal langgezogen stöhnend, von Atlan zu Wirtz und zu Terrania. Er flüsterte stoßweise. „Ich weiß nichts, Froom! Ich habe so komische Phasen. Einmal erinnere ich mich an verrückte Dinge. Ich war der Steuermann eines Schiffes, das durch unendliche Dunkelheit raste.“ Er erinnert sich an seine Zeit als Raumfahrer! erklärte der Extrasinn. Vielleicht erfährst du etwas über die unbekannte Macht, die ihn treibt! „Ich weiß nicht, wie ich ins Land Wiga-Wigo gekommen bin. Aber in all der Zeit habe ich nur einen Menschen getroffen, der es gut mit mir gemeint hat. Es war Froom Wirtz. Die Kleine hat mir
niemals getraut, und deswegen habe ich euch verraten.“ Er machte eine Pause. Es war nicht er selbst, der da sprach, sondern vorübergehend war eine erstaunliche Veränderung mit ihm vorgegangen. Er war völlig erstarrt, als wirkte die Kälte dort draußen auf ihn ein und fesselte seinen Körper. Die Worte wurden förmlich aus ihm hervorgestoßen. Ein langer, tiefer Seufzer folgte. „Ich bin in dem Griff eines fremden Verstandes. Es ist wie ein riesiger, kochender Brei. Und ab und zu kommen aus diesem Brei aus Farben und Formen und halben Geschichten klare Gedanken. Dann verwandle ich mich! Dann weiß ich genau, was zu tun ist. Dann treibt mich eine innere Kraft. Nichts und niemand kann ihr widerstehen. Auch ich nicht. Ich tue dann Dinge, die ich zwar beherrsche, aber nicht verstehe. Ich bin ferngelenkt, klar? Könnt ihr das verstehen?“ Er hob den Kopf in den Nacken und lachte auf. Sein Gesicht verfiel wieder in jene rote, von kleinen Adern und ringförmigen Narben überzogene Maske. „Was habe ich gesagt, Froom?“ fragte er dann. Blitzschnell hatte Froom sich angepaßt. Seine Ausbildung als Instinktspezialist befähigte ihn dazu, ein gleichgültiges Gesicht zu machen und lässig abzuwinken. „Nichts. Du hast uns einen Teil des Weges erklärt!“ „In Ordnung. Ich denke, wir rüsten uns aus, Freunde. Dann schlafen wir und brechen auf. Über den ‚Tränen-See’ bis zum ‚Tal der Not’ und über die Hügel zur ‚Ebene ohne Schatten’. Dort wartet Skanmanyons Berg auf uns. Wenn ihr Fragen habt – ich kenne diese Station.“ Glaubhaft versicherte ihm Atlan: „Wir werden jede Menge Fragen haben, Shann!“ Sie kippten einen Sessel, staffierten ihn mit einer Menge von Fellmänteln und runden Decken aus und legten das Mädchen hinein. Atlan streichelte über die erhitzte Wange und sagte leise: „Versuche zu schlafen, Terrie. Wir sind immer in deiner Nähe. Wir bauen einen Schlitten und rüsten ihn aus. Und morgen machen wir eine lange, interessante Reise. Freust du dich schon?“ Es schien eine magische Aufforderung gewesen zu sein, denn Terrania Skeller nickte und begann zu gähnen. Der Arkonide stopfte die Decken fest, bettete Terrania sorgfältig und lächelte sie an. Das
Mädchen schloß die Augen und gähnte abermals. Atlan verfluchte wieder einmal das Schicksal, das die Menschen ohne ihren Willen umherwirbelte, und ging dann hinter Shann und Wirtz hinaus, um zu sehen, was sie tun konnten. Während ein zweites Heizgerät explodierte und glühende Fetzen um sich streute, schmolzen die Wände mehr und mehr ab: Die Drähte und Kabel leuchteten noch immer weiß, und der Transmitter war nach wie vor in Betrieb. Die Schotten ließen sich jetzt relativ mühelos öffnen und zeigten den Männern ein wohlausgestattetes Lager. Atlan stellte die Nahrungsmittel und die Ausrüstung zusammen. Sorgfältig stapelte er das Zubehör in einem annähernd leeren Raum, rannte unzählige Male hin und her und kontrollierte seine Vorbereitungen auf das sorgfältigste. Wirtz und der Raumfahrer fanden eine Art Fahrzeug, zertrümmerten es zum Teil und trennten einige Stücke ab. Sie fanden weiterhin Eisen, das sich biegen ließ und konstruierten breite Kufen. Eine fieberhafte Tätigkeit brach los. Langsam begann ein niedriger, leichter Schlitten Gestalt anzunehmen. Die Männer gingen mit Sorgfalt vor und bedachten alles. Es wurde immer wärmer. Schließlich schwitzten sie wieder. Stundenlang arbeiteten sie und merkten, als einer von ihnen das Schott öffnete, daß es draußen dunkelte. Schließlich waren sie erschöpft, tranken noch einen Becher dieses merkwürdigen Getränks und legten sich auf ausgebreiteten Fellmänteln, Decken und federnden Blöcken aus einer Art giftgrünen Schaumstoffs nieder. Sie schliefen fest und ohne Träume, nur einmal weckte sie das schmetternde Krachen einer weiteren Heizmaschine, die detonierte.
3. „Bereit?“ fragte Atlan. Die Männer hatten sich große, tropfenförmige Schneeschuhe angefertigt und an die Stiefel geschnallt. Der Schlitten, der einer halben Röhre auf einem Rohrgestell glich, stand vor dem geschlossenen Schott. Zwei lange, hitzestrahlende Waffen, die
ähnlich wie ein Gewehr zu bedienen waren, befanden sich festgeschnallt auf dem Oberteil. Terrania saß im Mittelpunkt des Schlittens, ebenfalls festgeschnallt. Kilter Shann, das Zuggeschirr aus verknoteten und mit den Hitzewaffen verschweißten Gurten um Brust und Schultern, hob den. Arm und klappte das Visier seines Sturzhelm herunter. „Ich bin bereit!“ Sie öffneten das Schott. Es war ein klarer Tag. Die Sonne war eben aufgegangen und schwebte hinter den Bäumen, die wegen der Schneelast pilzförmig wirkten. „Heben wir den Schlitten hinaus!“ murmelte Froom Wirtz. Obwohl sie lange geschlafen hatten, schien er am meisten über die bevorstehende Reise zu schimpfen. Er erwartete eindeutig eine furchtbare Strapaze, eine weitere in der langen Folge, dazu eine vermutlich nutzlose. In den Magazinen, von denen rund zwei Drittel breite Treppen und nicht funktionierende Aufzüge in große Keller besaßen, hatten sie eine Unmenge von teuren und wertvollen Gegenständen gefunden. Mit ihrer Hilfe konnten sie alle möglichen Geräte konstruieren – die Zeit fehlte, und keines der Geräte würde ihnen helfen, ihr Ziel auf angenehmere Weise zu erreichen. Sie hoben den Schlitten an und schoben und zerrten ihn durch die Öffnung ins Freie. Die weiße Sonne auf dem reflektierenden Schnee blendete Atlan und Wirtz beinahe. Sie zogen die breiten, weichen Streifen einer Art rauchfarbener Plastikfolie über die Augen. „Atlan! Schalte dein Heizkraftwerk aus! Sonst explodiert die Station!“ sagte Shann mit der deutlichen Autorität des Reiters. „Sehr wohl, Sir!“ antwortete der Arkonide mit breitem Grinsen und ging zurück in den Zentralraum. Dort drosselte er die Energiemenge und hoffte, daß diese fremden Wesen erst dann auftauen oder aufwachen würden, wenn sie mit dem Schlitten weit weg waren. Sie sahen alles andere als friedlich aus. „Der Sonne entgegen, Freunde! Nach Osten!“ rief der blinde Raumfahrer und warf schwungvoll den Schal um seine Schultern. Sie klinkten die drei Leinen ein, stemmten sich nach vorn und gingen los. Die runden Schneeschuhe bildeten breite Spuren. Die Seile strafften sich, der Schlitten kam leicht in Bewegung, und Atlan hatte die Vision, daß Terrania über ihren Rücken gleich eine
Peitsche schwingen und mit ihr knallen würde. „Auf, nach Osten!“ knurrte er. Er hatte nicht die geringste Lust, vierzehn oder mehr Tage lang den Schlitten zu ziehen und Skanmanyons Berg zu suchen. Aber es blieb ihnen nichts anderes übrig. Vor ihnen, nachdem sie die lange, schräg führende Steigung auf einen flachen Hügel hinauf genommen hatten, breitete sich die verzauberte Landschaft aus. Der Eindruck war schön und schrecklich zugleich. Das Land, das sie umgab, wirkte grotesk und in seiner absoluten Zerstörung fast gespenstisch. * Die Station) eine Halbkugel am Ende einer langen, dreieckigen Schneewehe, lag in einem flachen Tal. Riesige Bäume entlang eines Grabens, dessen Wasserlauf nun aus massivem grünen Eis bestand, waren vom Sturm und der Schneelast umgeworfen worden und lagen wie geknickte Holzstangen kreuz und quer über dem Bach. Jede Vertiefung schien verweht zu sein. Alles war weiß, aber zwischen den verschiedenen Schichten sahen sie an jeder Stelle, daß hier Sommer gewesen war. Blätter und Blüten und kleine Früchte waren von der erbarmungslosen Kälte hoffnungslos zerstört worden. Totenstille umgab sie. Die einzigen Geräusche kamen von ihnen selbst. Die schweren Atemzüge, das Summen der kleinen, tragbaren Heizgeräte, das Fauchen der breiten Kufen auf dem Schnee, die Töne, mit denen die Gurte auf der rauhen Oberfläche der Pelzmäntel schabten, und das trocken schmatzende Geräusch der drei Paar Schneeschuhe. Und hin und wieder krachte wie der Schuß aus einer antiken Waffe ein brechender Ast. Sie blieben kurz auf der Spitze des Hügels stehen und sahen sich nach allen Seiten um. Die Landschaft wirkte wie eine weiße Gruft: still und bewegungslos. Trotzdem glaubte Atlan, auf einigen Schneeflächen die Schatten von breiten, großen Spuren zu erkennen. Die Spuren selbst blieben unsichtbar, nur die scharfen Schatten zeigten sich. Der Himmel war fahlblau und frostig klar. Die Scheibe der Sonne stand drei Handbreiten über dem Horizont. Es gab, abgesehen von der
grundsätzlichen Lebensmöglichkeit für humanoide Sauerstoffatmer, keinerlei Daten oder Informationen über diese Welt. Sie kannten nicht einmal ihren Namen. „Wenn ich mir vorstelle, rund dreihundert Kilometer durch diese weiße Öde zu marschieren“, sagte der Lordadmiral ärgerlich, „dann sinkt mir der Mut. Können Sie… kannst du uns nicht aufmuntern, Shann?“ Auch Kilter Shann betrachtete die Umgebung. Wieder krachte ein Ast. Sie fuhren zusammen. „Nein. Ich weiß nichts. Tut mir selbst leid, Atlan. Ich weiß nur, daß wir alle in Skanmanyons Berg gerettet werden!“ „Welch ein fabelhaftes Versprechen!“ kommentierte Froom Wirtz. Sie waren ausgeruht und nickten sich zu. Das Land war leer und ausgestorben. Es gab keine einzige Rauchsäule rund um den Horizont zu sehen. Vor der Verwüstung durch die Kältewelle und dem nachfolgenden Blizzard mußte es eine schöne Welt gewesen sein. Die drei Männer legten sich schwer in die Gurte und zogen weiter. Stundenlang wanderten sie, meist schweigend. Wie ein Automat mit eingebautem Kompaß suchte und fand Shann den Weg. Er führte über Hügel und durch lange, zugeschneite Täler. Sie wanderten eine Zeitlang auf dem Eis eines breiten Baches, immer nach Osten. Die Geräusche von gewaltigen Schneemassen, die unter dem Einfluß der Sonnenwärme zusammenbuken und dann aus den Kronen der Bäume fielen, das Krachen aufplatzender Äste und brechender Zweige, die Geräusche des Schlittens und ihrer Füße im Schnee begleiteten sie. Einmal sah Atlan auf die Uhr. Obwohl die Sonne bereits fast im Mittag stand, waren nur viereinhalb Stunden terranischer Norm vergangen. Also dauerte der Tag rund elf, die gesamte Zeit eines Sternentages weniger als zweiundzwanzig Stunden. Atlan notierte diese Einzelheit, während er weiterging, neben sich Shann und Wirtz. Sie hatten ohne besondere Schwierigkeit eine beträchtliche Strecke zurückgelegt und kamen jetzt über die Ebene eines riesigen, leeren Flußbettes. Der Fluß strömte nach Süden, lag also rechtwinklig zu ihrer Marschrichtung. Sie bremsten den Schlitten ab, der hangabwärts schneller war wie
sie mit den plumpen Schneeschuhen. Plötzlich, als sie gerade die Kehre zwischen Hang und Ebene erreichten, blieb Froom Wirtz stehen und deutete nach vorn. „Geradeaus, Freunde! Eine Siedlung!“ Sie blickten hoch und sahen, fast bis zur Unkenntlichkeit verborgen, auf dem gegenüberliegenden Flußhang einige Hütten. Die Dächer und die Umgebung waren hoch mit Schnee bedeckt. Einige Bedachungen waren unter der Last gebrochen. „Sehen wir nach!“ rief Atlan und stemmte sich wieder nach vorn. Der Schlitten mit Terrania und der Ausrüstung nahm wieder Fahrt auf. „Es liegt ohnehin genau auf unserer Route!“ meinte Kilter Shann. Froom Wirtz hatte sich, ohne es selbst in allen Teilen zu bemerken, sehr verändert. Die lange und tiefgreifende Schulung, die er als Instinktspezialist erhalten hatte, lag nun offen da und befähigte ihn zu ungewöhnlichen Leistungen. Selbst ein Gewaltmarsch, wie er hier begann, würde seine Kräfte früher – zur Zeit der Klondike-Bahn etwa – hoffnungslos überfordert haben. Jetzt aber hatte sich sein Körper auf diese Strapazen eingestellt und verwendete seine Energie sehr haushälterisch. Zusammen mit Atlan, der solche Anstrengungen zur Genüge kannte, und mit Kilter Shann, den sein innerer Dämon mit auszehrender Schnelligkeit und Intensität vorwärts peitschte, legte sich der junge Mann in die Gurte. Seine Kontaktlinsen begannen ihn zu drücken, aber er schrieb dies jener gleißenden Helligkeit zu, die vom Schnee reflektierte. „Ich kann kein Leben feststellen. Sie müßten sich doch gegen die Kälte mit Feuer schützen! Feuer erzeugt aber so gut wie immer Rauch!“ warf der Arkonide langsam ein. Sie liefen mit großen Schritten über die Flußlandschaft, die von Ufer zu Ufer rund vierhundert Meter breit war. Sie sind alle von der Kälte getötet worden, mit größter Wahrscheinlichkeit! flüsterte das Extrahirn. „Jedenfalls ist weder Rauch zu sehen, noch können wir die Schlieren heißer Luft erkennen!“ sagte Wirtz. Trotz der Anstrengung ging sein Atem ruhig und gleichmäßig. Der Mann, der noch vor dem USO-Training zerbrechlich und schmal gewirkt hatte, war jetzt sehnig und zäh und ausdauernd. „Warten wir es ab!“ rief Kilter Shann laut.
„Wie weit müssen wir noch?“ fragte Terrania. „Ich friere an den Füßen, Froom!“ Seltsam, dachte Atlan. Zwischen dem hochintelligenten Mann und dem Mädchen, das ebenfalls unter dem Einfluß dessen stand, das sich Skanmanyon nannte, hatte sich innerhalb kurzer Zeit«eine dichte und enge Verbindung hergestellt. Sie waren rührend umeinander besorgt. „Warte noch, Schätzchen! Wenn wir dort oben sind“, gab Wirtz zurück, „helfe ich dir. Wir haben es gleich geschafft!“ Sie zogen weiter. Einige Minuten später kreuzten sie den Weg einer breiten und tief eingedrückten Spur. Schlagartig blieben sie alle drei stehen und musterten die Eindrücke im Schnee. „Ein Tier!“ stellte Wirtz fest und krümelte Eis und Rauhreif aus seinem dichten schwarzen Oberlippenbart. „Also doch nicht die gesamte Fauna des Planeten ausgestorben!“ meinte Atlan. Er erkannte, daß das Tier sehr groß und schwer sein mußte. Er schien eine Art fleischfressendes Raubtier zu sein, denn eine Tigerspur oder die Spuren der unzähligen Raubtiere, die der Arkonide von anderen Planeten her kannte, waren ihr sehr ähnlich. „Eine frische Spur“, sagte er, als sie weiterliefen. „Obwohl die Eiseskälte blitzartig über das Land hereingebrochen sein muß, gibt es dennoch Leben!“ schaltete sich Wirtz ein. „Was sagst du dazu, Shann?“ Es wurde jede Viertelstunde deutlicher, daß der ferne Berg Skanmanyons den Raumfahrer unwiderstehlich anzog. Er war, was die Möglichkeiten, einen anderen Kurs einzuschlagen, willenlos geworden. Die kurze Phase der Selbsterkenntnis im Nebenraum der Transmitterstation war vorüber und vergessen. „Nichts. Wenn das Raubtier angreift, werden wir uns wehren.“ „Auch eine Methode, die Umstände zu beurteilen!“ stellte Atlan fest. Sie hatten das leere Flußbett fast überquert und gingen den Hang an. Der Frost erreichte hier zwanzig oder mehr Minusgrade, und die ersten Ausfallerscheinungen der Ausrüstung zeigten sich. Wenige Zeit später standen sie vor der Siedlung. Die meterhohen Schneewehen umgaben den Palisadenzaun. Die Palisaden fielen nach außen ab und waren im Innern durch angehäufte Erdmengen in eine Art kreisringförmiger Rampe verwandelt worden. Das war trotz des dicken Schnees deutlich zu
erkennen. Einige Bäume waren geplatzt, weil die Kälte die Flüssigkeit im Innern der Zellen ausgedehnt hatte, andere Bäume lagen wild übereinander, die Zweige und Blätter im Schnee begraben. Ein mächtiger Baumriese, der drei Meter über dem Erdboden gesplittert war, hatte sich halb über die Palisaden geneigt und die Dächer und Teile der Mauern eingedrückt. Kein Laut war zu hören. „Wirtz! Kümmern Sie sich um die Kleine, ja?“ sagte Atlan, schlüpfte aus dem Zuggeschirr und packte Shann am Arm. „Natürlich. Geht nur hinein!“ Der Schlitten stand auf einer dünenartigen. Schneeverwehung vor dem Eingang in dem Palisadenring. Was Atlan und Shann, der kaum als Kulturexperte gelten konnte, zu erkennen vermochten, deutete darauf hin, daß die Eingeborenen eine hochentwickelte Kultur besaßen, sich aber offensichtlich freiwillig mit natürlichen Baumaterialien beschränkten. Langsam gingen beide Männer im Abstand von drei, vier Metern hangabwärts auf die erste Hütte zu. In ihren Händen, die sie vorübergehend aus den dicken Handschuhen genommen hatten, hielten sie die Hitzestrahler. Die blaustählernen Waffen mit dem klobigen Energiemagazin wirkten seltsam fremd in dieser Umgebung. Hinter der Siedlung, in unsichtbarem Gelände, ertönte ein langgezogenes Fauchen, dann ein knurrender Schrei. „Verdammt!“ sagte Kilter Shann düster. „Ein Raubtier. Das wird uns aufhalten!“ „Vielleicht denken Sie einmal kurz an die ‚Diener Skanmanyons’ und daran, daß sie vielleicht hier im Sterben liegen. Wir werden diesen verfluchten Berg schon noch erreichen!“ sagte Atlan laut und näherte sich dem Eingang der ersten Hütte. An wenigen Stellen hatte die Kraft der Sonne die Steine erwärmt, diese Reflexion hatte den Schnee abgeschmolzen, und man konnte deutlich auf einem sorgfältig gemauerten Sockel aus Naturstein eine kreisrunde Mauer aus hellen gebrannten Ziegeln erkennen. Die Mauer war, einschließlich der Fensteröffnungen, hervorragend hochgezogen. Atlan senkte seine Waffe und brannte vor der erhöht eingesetzten Balkentür eine freie Öffnung in den Schnee. Als die Dampfwolke sich verflüchtigt hatte, löste der Arkonide die Schneeschuhe und sprang hinunter. Er riß die Tür auf, Licht fiel ins Innere des Raumes.
„Kommen Sie!“ sagte Atlan scharf und trat ein. Seine Augen glitten suchend umher. Er sah einen halbdunklen Raum. Schräge Lichtbalken fielen durch meist mit Fellen verhängte Fenster. Es war eisig kalt, und von dem gewaltigen Haufen erkalteter Asche und ausgebrannter Holzstücke auf dem großen, offenen Kamin ging ein durchdringender Geruch aus. Die erste Leiche lag dicht neben dem gemauerten Kamin im Mittelpunkt des Raumes. Als Atlan sich bückte und den Körper berührte – er sah anders aus als der erste, den sie in den transparenten Särgen entdeckt hatten –, fühlte er steinhartes Fleisch. „Tot!“ sagte er leise und richtete sich wieder auf. Vier weitere Leichen lagen in geräumigen Schlafnischen, die nur Öffnungen in den Wänden waren. „Kommen Sie schon!“ drängte Kilter Shann. „Wir müssen heute noch mindestens zehn Kilometer machen.“ Atlan durchstöberte den Raum. Er notierte in seinem Geist alle Einzelheiten, die er als Zeichen der Kultur und der Zivilisation erkannte. Er stellte fest, daß die Eingeborenen dieses Planeten sich tatsächlich in das Schema einordnen ließen, das er entdeckt zu haben glaubte. Einerseits waren sie in der Lage, hochtechnisierte Transmitterstationen zu bedienen, andererseits lebten sie freiwillig in reduzierten Möglichkeiten. Der Raumfahrer, der in diesem Raum noch mehr als sonst wie ein Gespenst mit Eulenaugen aussah, stand starr neben dem Eingang und bildete eine Art Schattenriß. Er wirkte sehr ungeduldig. Atlan ging auf ihn zu und murmelte: „Sie sind alle tot. Sie haben die letzten Tage oder Stunden mit der Kälte um die Wette gelebt. Nachdem sie alles Holz verheizt hatten, konnten sie keine Bäume mehr fällen und erfroren. So wird es in allen Hütten aussehen!“ „Gehen wir!“ meinte der blinde Raumfahrer. Sie verließen das Haus. Atlan schloß mit übertriebener Sorgfalt die Tür und sah geradeaus. Dort half Froom Wirtz gerade dem Mädchen zurück unter die Decken und Pelze. Atlan stutzte, dann schob er sich wieder den Streifen des lichtdämpfenden Materials über die Augen. Hinter den Gestalten, die sich um den Schlitten bewegten, sah er den Himmel. Er war bereits
zur Hälfte gefärbt. Die Sonne beleuchtete eine ungeheure Wolke, die sich immer höher auftürmte. „Seht einmal dorthin!“ sagte Atlan und kletterte den Hügel hinauf zu seinen Schneeschuhen. Sorgfältig schnallte er die Reifen an seine Pelzstiefel. „Das sieht nach einem Schneesturm aus!“ erklärte Wirtz und machte in die Schnur, von der die Kapuze Terrania Skellers zusammengezogen wurde, eine doppelte Schleife. „Es wird uns aufhalten!“ echote der blinde Raumfahrer. Plötzlich ertönte zwischen den ausgestorbenen Häusern und den gebrochenen Bäumen ein harter, scharfer Laut. Zwischen zwei Mauern stand eines der Raubtiere, deren Spuren sie gesehen und deren Schreie sie gehört hatten. „Sie sind ausgehungert!“ sagte Froom Wirtz, als ob er sich für das Tier entschuldigen wollte. Das Raubtier war pechschwarz. Die Sonne machte aus dem Fell blauschimmernde Reflexe. Das Tier hatte unverkennbare Ähnlichkeit mit einem terranischen Tiger. Mit sprungbereiten Muskeln kauerte das Tier, dessen Rippen und Knochen durch das schwarze Fell stachen, zwischen den schneebedeckten Wänden. Atlan sah ein, daß die Dinge langsam aus seiner Kontrolle zu laufen begannen. Er dachte an das Ziel, die Widerstände und die Zeit. Er griff nach seiner Waffe und sagte deutlich: „Ein Schneesturm bricht gleich los. Das erste Raubtier hat uns gewittert. Wir haben noch eine bestimmte Strecke zurückzulegen. Was tun wir? Wenn uns der Sturm überrascht, sind wir verloren!“ Froom Wirtz streifte sich, trotz der lauernden Gegenwart des Tieres, das sie mit glühenden Augen musterte, die Gurte über. „Es gibt nur zwei Alternativen. Entweder gehen wir weiter nach Osten, oder wir warten den Blizzard ab. Das können wir hier tun oder in der Station.“ Atlan brauchte nicht mehr zu überlegen. Während der Extrasinn sagte: Er hat vollkommen recht. Es gibt keine andere Möglichkeit! …warf der Arkonide ein: „Froom, Sie haben recht. Die Umstände belauern uns ebenso wie dieses Tier! Ich bin Anhänger einer demokratischen Abstimmung. Was tun wir?“
„Ich weiß es nicht!“ sagte der Instinktspezialist. Sie waren fertig. Um ihre Schultern laben die breiten Gurte. Das ausgehungerte Raubtier hockte noch immer regungslos da und sah sie an. Nur die Augen und der lange, tigerähnliche Schwanz bewegten sich ruckweise. Die Männer betrachteten das Tier ebenfalls und hielten noch immer die Hitzestrahler in den Händen. Die Situation war vollständig unstabil. Jede Sekunde konnte alles ändern. Und es war das Raubtier, das die Änderung herbeiführte.
4. Es hatte sich regungslos verhalten, schwankte zwischen Hunger, Angriffslust und Furcht. Jetzt, als sich die Männer anschickten, auf dem Kamm des Uferhügels die ausgestorbene Siedlung zu umgehen, griff das Tier an. Es sprang auf und raste in langen Sätzen näher. Hinter seinen Pranken stiebte Schnee hoch. Aus dem aufgerissenen Rachen kam ein hungriges Fauchen. Atlan hob die Hitzewaffe, blieb ruhig stehen und zielte. Auch Froom Wirtz hielt den Strahler in der Hand, von der er den Handschuh heruntergerissen hatte. Das Tier griff in Zickzacksprüngen an. Die riesigen Augen hatten ein irres Glänzen. „Der erste Gegner!“ sagte der blinde Raumfahrer, als sei er überzeugt, daß alles nur geschah, damit sie viel langsamer den Berg erreichten. Zwei Schüsse fauchten auf. Das Vorderteil des Tieres hüllte sich in Feuer und in den Dampf des kochenden Schnees. Das Tier hielt mitten im Sprung an, als sei es gegen eine unsichtbare Mauer geprallt. Es überschlug sich in einer Wolke von Dampf und Schneegestöber. Dann zuckte es mehrmals mit allen vier Läufen und lag bewegungslos da. Atlan steckte die Waffe zurück und verschloß die Tasche sorgfältig. „Wir haben geglaubt, auch die Tiere wären erfroren“, meinte er leise. „Aber das ist nicht der Fall. Los, weiter!“ Sie legten sich nach vorn, zogen den Schlitten an. Im Weitergehen, als sich der Instinktspezialist umdrehte, sah er, wie Terrania mit weit aufgerissenen Augen den geschwärzten Kadaver anstarrte. Noch
immer waren jaulende Schreie und hungriges Fauchen im Hintergrund der ausgestorbenen Siedlung zu hören. Die Raubtiere hatten ihre Witterung aufgenommen und würden sie den ganzen langen Weg verfolgen. „Wir werden heute nicht mehr weit kommen!“ sagte Froom, als sie nach einer langen Strecke nach Norden wieder in ein Tal abbogen, das nach Osten führte. Er deutete schräg gegen den Himmel. Eben verschwand das Sonnenlicht und machte einem fahlen Grau Platz. „Wie meinst du das?“ „Der Sturm wird uns zweifellos überholen, Shann!“ sagte Wirtz warnend. Atlan hielt sich schweigend zurück und versuchte, ihre Möglichkeiten zu durchdenken. Es war sicher, daß der Sturm binnen einer Stunde hier über dem Flußtal einsetzen würde. „Wir kommen noch ein gutes Stück weit nach Osten, auf den Berg zu“, beharrte der Raumfahrer. Er war sichtlich nervös, als er sich ebenfalls umdrehte und durch seine großen Sehhilfen die Wolke musterte, die sich sowohl in der Höhe als auch nach Süden und Norden ausdehnte und rasend schnell herangetrieben wurde. Sie ist bald da, in weniger als einer Stunde bricht ein Blizzard los, warnte der Extrasinn den Arkoniden. „Aber wir werden von dem Sturm umgebracht, Shann!“ rief Wirtz. „Das ist sicher!“ „Ich glaube es auch!“ Sie hatten jetzt ihren Weg geringfügig geändert, um leichteres Gelände vor sich zu haben. Sie wanderten leicht nach Nordosten, so daß sie sich von der ausgestorbenen Siedlung mehr und mehr entfernten. Bald bildeten die Transmitterstation, ihre eigene Position und die Siedlung ein annähernd gleichschenkeliges Dreieck. Hin und wieder tauchten rechts vom Weg des Schlittens Rudel jener tiefschwarzen Raubtiere auf, die sich jedoch in einer Entfernung von mehr als hundert Metern hielten. Minuten später traf sie der erste Windstoß. Er kam von hinten, voll aus Westen also. „Shann!“ brüllte Atlan durch die schneidenden Geräusche des Windes, der die Bäume schüttelte, ihre schwer beladenen Äste brach und gewaltige Schneemassen herunterkrachen ließ. „Ja? Was ist?“ „Wir müssen zurück. Schneesturm, Raubtiere und umstürzende
Bäume! Das überleben wir nicht!“ Sie blieben stehen und sahen sich um. Es schien den Raumfahrer körperlich zu schmerzen, daß es schon wieder einen Aufenthalt gab. „Ich glaube, daß es nicht nur ein kurzer Sturm sein wird, sondern daß er unter Umständen tagelang dauern kann. Zumindest die Nacht über.“ Es schien ihnen, daß während der letzten Stunde die Temperatur noch mehr gefallen war. Schneidender Frost wurde vom Sturm herangetrieben. Vereinzelte Schauer aus Schnee und aus nadelartigen Eiskristallen fegten heran und schlugen scharf und schmerzend in die Gesichter. Das Heulen der schwarzen Raubtiere ging im Heulen des Sturmes unter. Triff eine Entscheidung! Zwinge sie, zurückzukehren! Ihr sterbt alle in diesem Sturm! rief der Extrasinn. Atlan blieb stehen und lehnte sich zurück, um nicht von den ständig wechselnden Sturmböen umgerissen zu werden. „Wir gehen zurück!“ sagte er laut. „Wir sterben sonst hier! Nicht einmal Skanmanyon wird das wollen. Einen kurzen Sturm können wir vielleicht überstehen. Aber wenn wir hier warten, dann teilen wir das Schicksal der erfrorenen Eingeborenen. Wirtz – was meinen Sie dazu?“ Das Licht nahm abermals ab. Die riesige Sturmwolke hatte die Sonne verdunkelt. Zum drittenmal seit seinem Aufbruch von WigaWigo überkam den Instinktspezialisten ein Anfall von Todesangst. Allein in dieser weißen Einöde, mit einem winzigen Zelt und einer Ausrüstung, mit der sie der zu erwartenden Naturgewalt nichts entgegensetzen konnten, würden sie untergehen. „Ich schlage vor, wir brechen unseren Versuch ab und ziehen uns in die Transmitterstation zurück. Was sagst du, Kilter?“ Es war deutlich, daß Shann sich im Bann fremder Intelligenzen befand. Er war unfähig, einen eigenen, unbeeinflußten Entschluß zu fassen. Er krümmte und wand sich, aber schließlich siegte durch einen unerklärlichen Effekt die Einsicht. „Gut! Gehen wir zurück! Aber ihr müßt mir versprechen, daß ihr sofort wieder startet, wenn der verdammte Sturm vorbei ist!“ „Selbstverständlich!“ schrie Atlan. Ein neuer Sturmstoß wirbelte sie herum. Sie nickten sich zu, dann drehten sie den Schlitten um und gingen in ihren eigenen Spuren zurück.
Schon nach zweihundert Schritten merkten sie, daß es der einzig mögliche und richtige Entschluß gewesen war. Der Sturm nahm zu. Aus einzelnen Böen, die mit Schneegestöber und Eiskristallen auf sie einschlugen, verwandelte sich der Blizzard in eine Sturmflut, die ununterbrochen von Westen her blies. Der Schnee, der in dicker Schicht auf dem Boden lag, würde hochgehoben und nach Osten gewirbelt. Er schlug den Männern in die Gesichter, machte sie blind und verringerte die Geschwindigkeit, mit der sie vorankamen. Das Licht wurde abermals geringer, und die Konturen der Landschaft verwischten sich. Hin und wieder rissen die Schneeschleier auf. Dann sahen die drei Männer, die den Schlitten zogen und, instinktiv immer schneller liefen, rechts und links von ihnen kleine Rudel von Raubtieren. Offensichtlich gab es Schlupfwinkel, in die sich diese Tiere zur Zeit des schärfsten Frostes hatten zurückziehen können. Sie jedenfalls hatten überlebt. Die Tiere liefen durch den Schnee und über den Schnee und sahen ununterbrochen zu der Gruppe her. Sie waren mit Sicherheit nicht weniger hungrig als ihr Artgenosse, der angegriffen hatte. Die Leichen der erfrorenen Eingeborenen waren für sie kein Fressen, denn das Fleisch war hart wie Stein. Die drei Männer orientierten sich, indem sie immer in die Richtung liefen, aus der jener heulende und kreischende Sturm blies, der von Minute zu Minute stärker wurde. Jetzt wurde nicht nur der Schnee von den Ästen und vom Boden hochgerissen, sondern Eiskristalle und Schneeflocken kamen aus der Luft. Der Sturm raubte ihnen den Atem. Die Erschöpfung nahm zu. Die drei Männer waren zwar vor sieben Stunden gut ausgeruht und satt aufgebrochen, aber sie schleppten eine schwere Last mit sich und gerieten nun langsam in Panik. Sie ahnten, was geschehen konnte. Sie wußten, daß sie einen langen und beschwerlichen Weg vor sich hatten, als sie endlich wieder den Hang erreichten, der sie und den Schlitten in das breite Tal des eingefrorenen Flusses heruntergleiten ließ. Bereits auf dem Kamm des Hanges packte sie der Sturm mit aller Macht. Atlan nützte eine kurze Pause im kreischenden Sturm aus und fühlte, wie an der Stirn, um den Mund und an den Wangen das Eis wie Tausende kleiner Nadeln gegen seine Haut prasselte. Er schrie
laut: „Wir müssen es schaffen! Dort vorn, zwischen den beiden Bäumen, war unsere Spur!“ Sie zogen jetzt mit allen Kräften, über die sie noch verfügten, den Schlitten über die Ebene der Flußlandschaft. Hier tobte sich der Sturm aus. Noch gab es genügend Licht. Sie konnten aber schon jetzt ihre eigene Spur nicht mehr erkennen, die sie vor Stunden gezogen hatten. Sie sahen aber auch noch die Raubtiere, die immer mehr geworden waren. Aus vielleicht einem Dutzend Tieren waren mindestens die doppelte Menge geworden. „Geht in Ordnung! Schützen Sie Ihre Haut. Sonst erfriert sie!“ brüllte Wirtz von links. „Es war idiotisch, umzukehren. Wir hätten in der Siedlung bleiben sollen!“ schrie Kilter Shann. Atlan winkte ab und tastete nach der Hitzewaffe. Sie steckte noch in der Tasche. Das Vorwärtskommen wurde immer schwieriger. Sie stemmten sich mit den federnden Schneeschuhen in den Schnee, beugten sich weit nach vorn, bis ihre pendelnden Arme und Hände beinahe den Boden berührten. Die Seile zwischen den Schultern und dem Vorderteil des Schlittens waren straff gespannt. Froom Wirtz fiel etwas zurück, sprang neben den Schlitten und zerrte ein Stück Stoff aus den Vorräten und wickelte es so geschickt um Terranias Kopf, daß sie vor dem Eis und dem Schnee weitestgehend geschützt war. „Weiter!“ brüllte er. Der Sturm nahm noch mehr an Heftigkeit zu. Sie holten das letzte aus sich heraus. Sie liefen langsam weiter, immer gegen den Sturm ankämpfend, auf den jenseitigen Hang der Ebene zu. Der Wind bildete aus der weißen Flut Wirbel und Wolken, die er ihnen entgegenwarf. Minutenlang waren sie blind. In den kleinen Pausen im ununterbrochenen Heulen, Pfeifen und Kreischen hörten die Männer und das Mädchen das Jaulen der Raubtiere. Sie kamen unaufhaltsam näher. Vertreibt die Raubtiere! Sie werden euch plötzlich angreifen! warnte der Extrasinn. Der jenseitige Abhang näherte sich. Seine obere Kante hatte sich zu einem Inferno gewandelt. Der Sturm pfiff über den Hügelkamm hinweg, riß dort ganze Schneepakete hoch, die mit Ästen und
Blättern durchsetzt waren. Vor dem Hang gab es eine windstille Zone – oder einen Raum, der fast windstill war. Als die Männer die letzten Meter in der Ebene zurücklegten und in diesen Luftwirbel eintraten, dachten sie, in die Wärme zu kommen, so groß war der Unterschied. Atlan löste mit klammen Fingern die Verschlüsse der Waffentasche und drehte sich halb herum. „Vorsicht! Hinter dem Schlitten!“ schrie Kilter Shann auf. Er bückte sich und zerrte an seiner Kleidung. Atlan sah die schwarzen Schatten, die von allen Seiten heranhetzten. Er schleuderte den Handschuh von sich und hob die Waffe. Er zielte schnell und feuerte dreimal. Der erste Schuß verwandelte Eis und Schnee vor einem Tier in Dampf und Flammen. Der zweite Schuß schien eine der heranstürmenden Bestien genau in den Rachen zu treffen. Das Tier schrie auf und starb. Eine schwarze Qualmwolke wurde vom Wind weggerissen. Bis auf fünf Meter kam die nächste Bestie heran und starb, als Atlan den Oberkörper traf. Auf jaulend schoß ein weiteres Tier durch die Dampfsäule. Atlan duckte sich und feuerte weiter. Er zog sich langsam in die Richtung auf den Schlitten zurück, und auf der anderen Seite wehrten sich Froom und Shann gegen den Angriff der Raubtiere. Sie feuerten ununterbrochen in die beiden Rudel hinein, die von der Ebene her angriffen und längs der Barriere des Flußhanges. Atlan drehte sich und suchte die nähere Umgebung ab. Auf der Seite, wo die drei Kadaver lagen und schnell vom Schnee zugeweht wurden, drohte keine Gefahr mehr. Atlan schickte einem Rudel von etwa sechs Tieren einige Fernschüsse nach, ohne zu treffen. Etwa acht der schwarzen Bestien aber waren auf der Seite von Wirtz und Shann durchgebrochen und kamen fächerförmig auf die Gruppe zu. „Vorsicht, Froom!“ donnerte Atlan und schoß über Wirtz Kopf und Schulter hinweg und traf ein Raubtier, das über den knienden Instinktspezialisten hinweg auf Kilter Shann zusprang. Das Tier sackte aus fast zwei Meter Höhe auf Frooms Schulter herunter und warf den Mann um. Atlan sprang zur Seite und stieß fast mit einem anderen Tier zusammen. Er rammte ihm den Absatz zwischen die Augen und
feuerte augenblicklich. Das Tier brach zusammen und rollte zur Seite. Shann wirbelte herum und feuerte wild um sich. Überall schlugen die Hitzestrahlen ein, schmolzen tiefe Löcher in den Schnee und blendeten die drei Männer. Terrania riß sich das Tuch vom Gesicht und schrie auf. Ihr Wimmern ging unter in der Geräuschkulisse aus Sturm, Detonation und den Schreien der Tiere. Wieder wurde eine der Bestien getroffen. Wirtz handhabte seine Waffe vom Boden aus und wurde seitlich von einem Tier angegriffen und halb herumgerollt. Atlan sprang zwischen sterbenden Tieren und Schußbahnen hin und her und versuchte, den Angriff abzuwehren. Er feuerte gezielt und überlegt. Drei Tiere waren noch übrig, und der Geruch des dampfenden Blutes machte sie noch rasender. Sie waren blind vor Wut und Gier. Atlan schoß dem Raubtier, das sich mit Krallen und Zähnen in den Pelzmantel von Wirtz verbissen hatte, in die Wirbelsäule. Der Raumfahrer tötete keine dreißig Zentimeter von seinem Gesicht entfernt das vorletzte Raubtier. Die letzte Bestie floh. Außerhalb des Knäuels schlichen unschlüssig noch einige Tiere herum. Aber sie wagten sich nicht heran. Atlan stand auf, schoß mehrmals in die Richtung, in der er die schwarzen Silhouetten sah, dann rief er keuchend: „Los, weiter! In der Nacht haben wir bei einem zweiten Angriff keine Chance mehr!“ „Richtig! Das war verdammt knapp!“ Wirtz stäubte sich Schnee und Eisbrocken vom Mantel. Die toten und verendeten Tiere umgaben die kleine Gruppe wie ein kleiner Wall. Blut versickerte im Schnee und gefror schnell. „Wir halten die Tiere auf. Sie wollen sich auf die Kadaver stürzen!“ meinte Shann und drängte wieder zum Aufbruch. Froom kümmerte sich um das Mädchen, dann legte er sich wieder ins Geschirr. „Wir werden es schaffen!“ murmelte er. Sie schleppten den Schlitten und sich selbst den Hang hinauf. Atlan erinnerte sich, hakte das Seil los und rannte an die Stelle zurück, wo er den Handschuh liegengelassen hatte. Er schlüpfte hinein und machte das Seil wieder fest. Sie erreichten die Kuppe des Hanges und hatten jetzt noch den langen Weg durch das gewundene
Tal vor sich. Nur die Hoffnung, die Transmitterstation mit ihrer Wärme zu erreichen, hielt sie noch auf den Beinen. Sie taumelten geradeaus, schoben sich durch den brüllenden Sturm und merkten nicht, wie schnell sie wirklich waren. Geradeaus! Schneller! Nicht aufgeben! Ihr werdet es schaffen! drängte der Extrasinn. Halbblind und ausgelaugt zogen sie geradeaus, erreichten das Tal und schleppten sich durch den Schnee und über das Eis. Die Luft war voller Eisnadeln und von einer barbarischen Kälte. Jetzt erkannten sie, daß sie das einzig Richtige getan hatten. Sie wären auf freier Strecke ebenso erfroren wie in den Hütten der Eingeborenen. Atlan kannte die Gefahr. Kamen sie vom Weg ab, waren sie verloren. Er sah sich um, so gut es ging. Er betrachtete im letzten dämmerigen Licht des Tages die Bäume und die Landschaftsmerkmale und versuchte, zu erkennen, ob sie sich auf dem Weg zur Station befanden. Es würden noch Stunden vergehen, bis sie in unmittelbarer Nähe der Station waren. Und der Sturm wurde immer heftiger. Die Temperatur fiel auf einen tödlichen Wert.
5. Vor kurzer Zeit war die Sonne untergegangen. Der Tag des Planeten hatte genau zehn irdische Stunden und zwanzig Minuten gedauert. Die Nacht brach an, aber dieser Umstand änderte nichts. Der Sturm bildete eine breite Front, die aus Westen kam und ungeheure Massen an frischem Schnee herantrieb und überall dort ablagerte, wo derselbe Sturm sie nicht wieder hochreißen konnte. Allmählich veränderte sich die Landschaft bis zur Unkenntlichkeit. Es war nicht eine ständig brüllende und heulende Welle, sondern der Blizzard wehte in großer Kraft, aber in auf- und abschwellender Stärke. Der Himmel war bedeckt, nicht ein einziger Stern war zu sehen, auch kein Mond. Ein vages Licht erfüllte die Landschaft. Es wurde kälter und kälter. Die kleinen Heizaggregate liefen auf Hochtouren ; ohne diese Maschinen der toten Eingeborenen der Station wären die vier Personen bereits tot gewesen.
Atlan brüllte in einer winzigen Sturmpause: „Wir schaffen es! Wir sind in der Nähe des Transmitters!“ Sie stapften weiter. In der Dunkelheit schien der Schnee zu leuchten, aber das Treiben der Flocken und die Myriaden von kleinen Eisnadeln schluckten die undeutliche Helligkeit wieder. Alle Minuten schaltete Terrania den Handscheinwerfer ein und leuchtete zwischen den drei Männern hindurch. Dann konnten sie sich wieder orientieren. „Woher wollen Sie das wissen, Atlan?“ schrie Kilter Shann von rechts zurück. Wieder zwang sie der Sturm dazu, sich tief zu Boden zu beugen, um nicht hochgerissen und davongewirbelt zu werden. Als es möglich erschien, in einer der vielen Pausen im Geräusch der Naturgewalt, brüllte der Arkonide: „Ich habe ein photographisches Gedächtnis. Ich habe mir die Geländemarken eingeprägt.“ Neben ihm schrie Froom Wirtz: „Wie weit noch?“ „Nicht mehr eine Stunde!“ Die letzten Worte wurden Atlan vom Sturm von den Lippen gerissen, aber die anderen Männer schienen ihn verstanden zu haben. Es war wirklich sein absolutes Gedächtnis, das sie rettete. Immer wieder verglich der Arkonide die wenigen Informationen, die er während des schwierigen Rückwegs Hand, mit denen, die er zwischen Aufbruch und Rückkehr aufgenommen hatte. Einzelne Bäume oder Baumgruppen, die Formen der Hügel und der Verlauf von Tälern. Alles summierte sich zu dem Eindruck, den er zwangsläufig haben mußte: sie befanden sich am Beginn des ehemaligen Aufstiegs, jetzt also am Anfang eines langen Abstiegs in das Tal, in dessen Mitte die Kuppel stand. Er merkte dies augenblicklich daran, daß der Schlitten nicht mehr so schwer wog und selbsttätig abwärts zu rutschen begann. Aber noch immer verfolgten sie die Raubtiere. Hin und wieder, wenn der Scheinwerfer eingeschaltet war und sich der Lichtbalken in das Schneegestöber bohrte, sahen sie in einiger Entfernung die Katzenaugen aufleuchten. Aber bisher war kein dritter Angriff erfolgt. Schweigend stapften sie weiter. Längst hingen die Schneeschuhe als kümmerliche Reste an den
Stiefeln. Längst waren die Ärmelöffnungen und die Kragen der schweren Mäntel naß und schwer geworden. Getrockneter Schweiß verwandelte die Haut in eine Schicht, die unerträglich juckte. Die verschiedenen Stellen zwischen Kapuzenrand, Schals und Brillen waren vom Eis gefühllos geworden. Es ging nur noch um das nackte Überleben. Dazu gehörten aber die Ausrüstungsgegenstände und die Nahrungsmittel im Schlitten, der zudem verhinderte, daß sich die drei Männer voneinander entfernten. Er fesselte sie aneinander. Immer wieder rutschte einer der Männer aus und fiel dumpf in den Schnee oder auf eine der glashart angeschliffenen Flächen unter den Bäumen. Er stemmte sich wieder hoch, die anderen halfen ihm, und weiter ging es. Die Mitteilung des Arkoniden hatte ihren Lebensmut und den festen Willen, die Station zu erreichen, neu angefacht. Und plötzlich; eine halbe Stunde später, überholte sie der Schlitten, fuhr schräg an ihnen vorbei und riß sie mit sich. Das Vorderteil des Schlittens hielt an, nachdem es mit einem dumpfen Geräusch genau gegen die Umrandung des runden Schotts gerammt war. Sie hatten die Station erreicht. Minutenlang herrschte fieberhafte Tätigkeit. Die Männer befreiten sich aus den Ziehgeschirren. Atlan riß das Schott auf. Froom packte das Mädchen und sprang am Arkoniden vorbei ins Innere. Dann zerrten und schoben die drei Männer mit letzter Kraft den Schlitten hinein. Das Schott schlug zu. Ruhe, eine Wärme, die gegenüber den Kältegraden draußen geradezu als Hitze wirkte, umgab sie. Die Fellmäntel begannen zu dampfen. Der Boden der Halle war inzwischen getrocknet, dumpf glühten die Transmittersäulen. Das Toben des Schneesturms war ausgeschlossen worden und hatte sich in ein fernes Summen und Brausen verwandelt. Langsam schälte sich Atlan aus der Bekleidung. Während er auf seine tollkühne Konstruktion der Heizgeräte zuging, fragte er laut und mit rauher Stimme: „Bevor wir zusammenbrechen – geben Sie mir recht, Raumfahrer? Wir wären dort draußen umgekommen!“ Kilter Shann nahm seinen eisverkrusteten Helm ab und murmelte geschlagen:
„Sie haben recht. Hier sind wir sicher. Aber wertvolle Zeit vergeht, und wir können nichts tun!“ Froom schleuderte die Handschuhe zu Boden und kümmerte sich um das Mädchen. Während die Kabel wieder zu glühen und die Turbinen wieder zu summen begannen, sagte er leise: „Kilter! Geh in unsere Luxusküche und bereite uns wieder einen solchen Kräftetrunk, ja? Terrania ist in einem schlimmen Zustand.“ Er verschwand, das Mädchen in den Armen, in dem kleinen Nebenraum, in dem noch das provisorische Bett der Kleinen stand. Wenn Terrania krank wurde, dann steigerte sich die Situation ins totale Chaos, denn sie hatten nicht einmal die einfachsten Medikamente dabei. Wirtz und Atlan waren darauf geschult, die richtigen Dinge in der vernünftigsten Reihenfolge zu tun. Aber auch Kilter Shann reagierte, als habe er eine USO-Ausbildung hinter sich. Niemand dachte ausführlich daran, aber dadurch wurde das Geheimnis um Skanmanyon noch mehr vergrößert. Die gläsernen Augen des toten „Dieners Skanmanyons“ in den durchsichtigen Schreinen sahen zu, wie Atlan mit Hilfe des Transmitters und seiner willkürlichen Aufstellung von Maschinen und Geräten wieder Hitze erzeugte. Shann kümmerte sich um das Essen und breitete zwischendurch die Ausrüstung aus, so daß sie trocknen konnte. Einige Stunden später befanden sie sich, um viele Erfahrungen reicher, wieder an demselben Punkt, an dem sie begonnen hatten. Terrania schlief. Atlan lag entspannt in einem der unförmigen Sessel, hielt den Becher in der Hand und sagte nachdenklich: „Die Strecke von rund dreihundert Kilometern ist das Entscheidende! Wenn wir etwa fünfzehn Tage unterwegs sind, kann uns zwischen hier und Skanmanyons Berg jederzeit wieder ein Sturm wie dieser überraschen.“ „Die Stürme sind ebenso manipuliert wie der Kälteeinbruch, der den Planeten verwüstet hat.“ Shann nickte Froom zu und brummte: „Ich weiß auch darüber nichts. Ich ahne nur, daß Schnee und Kälte, Sturm und Eis über die blühende Landschaft hereingebrochen sind! Hört, der Sturm ist eher noch stärker geworden!“ Es stimmte. Die Geräusche, die jenseits der Mauern tobten, waren
angeschwollen. Für die Menschen hier bedeuteten sie augenblicklich keine Gefahr. „Also haben wir auch dadurch die Bestätigung, daß es nicht besser ging. Zurück zur Strecke!“ sagte Wirtz. „Atlan, Sir, glauben Sie, daß wir uns aus dem verschiedenen technischen Gerumpel, das hier lagert, einen Flugapparat oder wenigstens einen guten, schnellen Schlitten herstellen können.“ Du kannst es! Du brauchst nur Ausrüstung und Werkzeug! sagte scharf der Extrasinn. Nachdenklich entgegnete Atlan: „Wenn wir genügend eindeutiges Material hier finden und gute Werkzeuge, kann ein Schlitten hergestellt werden. Einige Tage Arbeitszeit werden wir einkalkulieren müssen.“ „Solange dieser Sturm tobt, sind wir hier eingeschlossen!“ murmelte Shann ärgerlich. Atlan sah ihn scharf an. In dem vernarbten Gesicht, dessen Haut sich jetzt unter dem Einfluß der Wärme unnatürlich rötete, war kein Ausdruck festzustellen. Trotzdem wußten Wirtz und der Arkonide, daß der blinde Raumfahrer geradezu danach fieberte, die Station zu verlassen und sich auf den Weg nach dem rätselhaften Berg im Osten zu begeben. Aber entweder er selbst oder die Macht, die ihn dirigierte, sah ein, daß der Versuch zum gegenwärtigen Zeitpunkt reiner Selbstmord war. „Und solange wir hier eingeschlossen sind“, konterte Atlan, „können wir an dem fabelhaften Schlitten bauen. Immer vorausgesetzt, wir finden genügend Teile und Werkzeuge. Um Ihre Frage zu beantworten, Froom, wir können keinen primitiven Gleiter bauen, auch keine andere ähnliche Maschine.“ „Dann versuchen wir eben zu tun, wozu unsere Möglichkeiten reichen!“ sagte Wirtz und blickte sich um. Die rund zwei Dutzend der leblosen Eingeborenen starrten sie blicklos an. „Aber vorher schlafen wir uns aus!“ meinte der Arkonide. Seine Aggregate funktionierten noch immer und spendeten Wärme. Auf eine reichlich primitive Weise hatten die vier Menschen es hier nicht einmal ungemütlich. Aber sie befanden sich auf der Spur eines Geheimnisses, und sie waren der Lösung nicht um einen Millimeter nähergekommen.
* Als der automatische Hammer endlich mit seinem nervtötenden Geräusch aufhörte, schien die ganze Station zu vibrieren. Atlan richtete sich auf und sagte laut: „Wenn uns die „Diener Skanmanyons“ dort helfen würden, wären wir schon längst fertig!“ „Was uns nichts nützen würde“, erwiderte Wirtz, der sich gerade damit beschäftigte, einen glatten Belag aus Kunststoff auf die breiten Kufen aufzubringen. „Denn der Sturm hat nicht einen Augenblick lang nachgelassen.“ „Auch richtig!“ bestätigte der Arkonide. Das Innere der Station, das jetzt angenehm warm war, hatte sich in eine Werkstatt verwandelt. In dieser Werkstatt wurde schnell und konzentriert gearbeitet. Sie hatten sich entschlossen, den Schlitten in einigen Teilen anzufertigen und diese Teile außerhalb der Station zusammenzubauen. Zwei breite Kufen, die kaum zu zerstören waren, bildeten unter einem sorgfältig geschweißten Rohrgestell die Basis. Darüber sollte der Korb mit jeweils zwei nebeneinanderliegenden Sitzen kommen. Bis hierher war es recht einfach gewesen. Die beiden Teile waren so gut wie fertig und mußten nur noch miteinander verschraubt werden. Sie paßten auch durch das runde Schott. Die Steuerung und der Antrieb des Schlittens waren viel schwieriger. Die Teile lagen in einer Reihe verstreut entlang der Wände. Sie bestanden im wesentlichen aus einem mittelgroßen Gyroskop, das an einen Generator angeschlossen war. Niemand von ihnen konnte auch nur entfernt ahnen, was ein solcher Gegenstand hier zu suchen hatte, aber erstens war es eine Konstruktion, die mit der Erfahrung terranischer Technologie zu behandeln war, zweitens gab es Möglichkeiten, das Gyroskop aufzuladen und zu verwenden. Dazu hatten sie zwei Motoren gefunden, zwei Teile aus dem stillgelegten Ventilatorensystem der Kuppel ausgebaut und alles zueinander in Relation gebracht. Die Überlegungen und Tests hatten die meiste Zeit erfordert. „Machen wir weiter!“ Sie arbeiteten seit eineinhalb Tagen in der Zeitrechnung des
Planeten. Immer wieder lief Kilter Shann zum Schott, riß es auf und mußte es festhalten, denn der Sturm drohte es ihm aus den Händen zu reißen. Er fluchte, warf das Schott zu und kehrte schnell an die Arbeit zurück. Die Stunden vergingen. Ununterbrochen wurden neue Träger zusammengeschweißt, wurden Kabel befestigt, Motoren probeweise angeschlossen und die einzelnen Teile locker aneinander befestigt. Die Steuerung, ein schweres Element aus einem Rad, einer scharfen und breiten Kufe, einigen Untersetzungsmechanismen und Seilzügen, lag fertig und anmontierbar da. „Sir?“ Atlan, der gerade einen Korb aus Draht an der Sitzschale festschweißte, blickte hoch. „Ja, Wirtz?“ „Wir machen gute Fortschritte, nicht wahr?“ „Es geht. Das wichtigste fehlt noch. Das Aufladen des Gyros.“ „Ich nehme an, daß wir dann die Entfernung in einem oder zwei Tagen zurücklegen können!“ meinte Wirtz. „Genau das bezwecken wir!“ rief Shann aus einem anderen Winkel des Raumes. Er hielt einen schweren Schraubenschlüssel in beiden Händen. Auch der Schlüssel war für Saugnäpfe oder Scherenfinger ausgebildet. „Der Sturm wird sich bald legen. Ich fühle das förmlich in jedem Nerv!“ Sein letztes Wort wurde von einem schmetternden Klirren übertönt. Ruckartig hoben Wirtz und Atlan die Köpfe. Direkt neben dem Mann mit den positronischen Augen war langsam eine der transparenten Platten gebrochen, nach vorn gekippt, war auf dem Boden aufgeschlagen und in zahllose Stücke zerbrochen. Langsam bewegte sich einer der eingefrorenen Eingeborenen vorwärts und kam aus seiner Zelle hervor. „Vorsicht, Shann!“ schrie Atlan. „Hinter Ihnen!“ Er ließ sein Schweißgerät fallen, sprang über einige Bauteile und Verstrebungen und rannte auf den Raumfahrer zu. Kilter Shann wirbelte herum. Er zog sich drei Schritte zurück und heftete den Blick starr auf diesen Eingeborenen. Der Mann bewegte sich wie ein funktionsunfähiger Robot. Er ging mit kleinen, schleppenden Schritten geradeaus. Seine Arme hoben sich langsam, dann fiel der lange linke Arm wieder zurück, und die Faust schlug
gegen das Kniegelenk. „Sie sind nicht tot! Wenn sie angreifen…!“ rief Wirtz, sprang auf und rannte durch das offene Schott in den kleinen Raum hinein, in dem ihre Mäntel und auch die Waffen lagen. Atlan hatte seine eigene Hitzewaffe im Gürtel stecken, zog sie und blieb abwartend stehen. Er streckte die linke Hand aus und ergriff Shann, der rückwärts auf ihn zustolperte, an der Schulter. „Halt!“ sagte er leise und beruhigend. „Er hat die Kontrolle über sich verloren. Der Frost… die Kälte… sein Gehirn ist geschädigt!“ Der Eingeborene ging geradeaus. Seine Augen waren auf den Transmitter gerichtet. Er hob wieder den rechten Arm, ging weiter mit seinen kleinen, vorsichtigen Schritten um einige der Heizgeräte herum, stolperte über ein Kabel und öffnete den schmallippigen Mund. Aus seiner Kehle kam ein langer Schrei. Er hatte nichts Menschliches, es war ein halbes Röcheln und ein langgezogenes Wimmern. Die drei Männer verhielten sich völlig ruhig. Sie konnten den Eingeborenen nicht als Gefahr identifizieren. Jetzt trat der halbtote Mann auf ein glühendes Kabel. Sein Schuh begann knisternd zu brennen, aber er ging weiter, als ob nichts geschehen wäre. Dann plötzlich bewegte er sich rasend schnell, sprang in drei, vier Sätzen auf den Transmitter zu und mitten in eine der Energiesäulen hinein. Die Energie schlug in seinen Körper, zerriß ihn, krachte in Funken und Blitzen nach allen Seiten. Dann war der Eingeborene verschwunden. Nur noch ein stechender Geruch lag in der Luft. „Das hat uns gerade noch gefehlt!“ murmelte Atlan und steckte die Waffe wieder in den Gürtel zurück. „Die anderen werden nicht lange auf sich warten lassen“, sagte Wirtz. „Du sagtest es, Shann. Ihre Hirne sind zerstört. Dieser eingefrorene Mann hier hat offensichtlich das Licht gesucht.“ „Offensichtlich!“ Sie sahen sich an. Der Zwischenfall hatte sie aus ihrer Arbeit gerissen. Sie wußten nicht, was sie tun sollten. Die Männer, jene „Diener Skanmanyons“, waren aufgewacht. Normalerweise hätten sie versucht, die Eindringlinge zu vertreiben, aber sie reagierten jetzt völlig unberechenbar. Schließlich schlug Atlan vor: „Wir arbeiten weiter, Freunde! Wenn uns einer der Eingefrorenen
angreift, können wir uns wehren. Solange sie nur bedauernswerte Opfer sind, haben wir nichts zu befürchten!“ „In Ordnung“, sagte Wirtz. Aber als sie weiterarbeiteten, blickte er beunruhigt alle Minuten hoch und musterte die Galerie der starren Eingeborenen. Wieder fing der Hammer zu arbeiten an. Das Schweißgerät spie Funken und Lichtbögen. Werkzeuge klirrten und klapperten. Sie arbeiteten mit größerer Eile weiter und vergaßen, daß Terrania Skeller seit vielen Stunden in dem kleinen Nebenraum lag und sich nicht zeigte. Stunden später warf Kilter Shann sein Werkzeug auf den Boden, der mit Ölspuren und Metallresten bedeckt war. Shann stand auf und ging an Atlan vorbei zum Schott. Er bewegte den Griff und öffnete es. „Wir können starten!“ schrie er kurz darauf. Froom Wirtz steckte eine wuchtige Mutter in seine Tasche, blickte Atlan kopfschüttelnd an und deutete mit dem spitzen Finger mehrmals gegen die Stirn. „Jetzt ist er völlig durchgedreht!“ sagte er. Atlan grinste. „Offensichtlich hat endlich der Sturm aufgehört.“ Er stand auf und ging zum Ausgang. Er blickte hinaus. Der Sturm hatte tatsächlich aufgehört. Hellrotes Licht fiel auf den Schnee. Die Landschaft wirkte jetzt völlig verändert. Millionen Tonnen Schnee lagen hier und hatten sämtliche Konturen hoffnungslos verwischt. Es war Nacht, finsteres Dunkel herrschte. Atlan ging an Shann vorbei ein paar Schritte hinaus und sah zuerst in den Schnee. Deutlich waren die vielen Fährten der Raubtiere zu sehen. Die Spuren kreuzten sich und bildeten ein paar Meter vor dem Eingang eine zusammengetretene Fläche. Keine Sterne, obwohl der Himmel frei ist! sagte kommentierend das Extrahirn. Atlan starrte nach oben und bewegte unruhig den Kopf. Er sah nur einen schwarzen Himmel ohne jeden Stern. Im Süden, fast im Zenit, entdeckte er das Band einer unbekannten Milchstraße. Es war nur ein kurzes Stück; die Sterne waren so weit entfernt, daß Atlans scharfe Augen keinen einzelnen Lichtpunkt mehr unterscheiden konnten. „Verdammt!“ murmelte der Arkonide, drehte sich um, und im gleichen Augenblick hörte er den heiseren Schrei eines Raubtieres.
Der Sturm hatte völlig aufgehört, die Temperatur war abermals gefallen, aber im Westen schob sich schon wieder eine riesige neue Wand aus Schnee und Eis heran. Shann erkannte wohl etwas im Blick des Arkoniden, denn er ließ Atlan schweigend an sich vorbeigehen und zog das Schott wieder zu. „Der Sturm“, sagte Atlan leise, „hat aufgehört, ja. Aber in zwei, drei Stunden wird er abermals einsetzen. Wir sind noch nicht fertig. Wir haben noch jede Menge Zeit, Freunde. Jetzt erst merke ich, wie müde wir alle sind. Wenigstens ich bin restlos fertig. Wir brauchen noch mindestens einen Tag, um die Konstruktion zusammenzuschrauben und zu testen.“ „Aber dann starten wir, nicht wahr?“ rief Shann. In der Stille, die sich nach seinen Worten ausbreitete, hörten sie deutlich, wie Terrania schluchzte. Die drei Männer setzten sich gleichzeitig in Bewegung und rannten auf die Tür zum Nebenraum zu. Kurz bevor sie das weit offene Schott erreichten, schrie Terrania auf. Sie hörten es deutlich. Sie schrie… „Skanmanyon…!“ „Es fängt wieder an!“ murmelte Froom Wirtz und war mit einigen Sätzen am provisorischen Bett des Mädchens. Als das Licht eingeschaltet wurde, sahen und hörten sie, daß Terrania sich wieder in Trance befand und wirr redete. Ihr schmales Gesicht war schweißbedeckt, sie warf den Kopf hin und her und begann qualvoll zu husten. Ohne die geringste Spur von Sarkasmus sagte Wirtz erbittert: „Darauf habe ich unbewußt die ganze Zeit über gewartet. Terrania, mit einer Lungenentzündung und dann noch in Trance. Und was sagt sie? Nichts anderes als ‚Skanmanyon’!“ „Beruhigen Sie sich“, warf Atlan ein. „Die Trance geht vorüber, und es muß nicht unbedingt eine Lungenentzündung sein. Ich weiß, daß wir keine Medikamente haben. Können Sie vielleicht etwas in den Vorräten finden, Shann?“ Shann nickte eifrig. „Ich werde es versuchen!“ murmelte er und machte sich in den Fächern und Lagern dieses Mehrzweckraumes zu schaffen. Wirtz holte ein feuchtes Tuch und wischte Terranias Gesicht ab. Das Mädchen begann um sich zu schlagen. Die Augen waren weit
aufgerissen und blickten an den Männern vorbei ins Nirgendwo. Ununterbrochen versuchte das Mädchen, Worte zu formen. „Der Berg…“, wimmerte sie. „Wir müssen zum Berg… Skanmanyons Berg… die Diener sind getötet… schnell…!“ Dann stieß sie wieder eine Reihe vollkommen unverständlicher Worte aus. Ab und zu hustete sie. Das lange Haar war schweißbedeckt und lag dicht am Kopf an. Hilflos starrte Wirtz Atlan an, aber auch der Arkonide konnte nichts anderes tun, als nichtssagend die Schultern hochzuziehen. „Ich glaube, wir müssen tatsächlich so schnell wie möglich zu diesem verdammten Berg!“ murmelte der Arkonide. Shann kam mit einem Becher voll eines heißen Getränks, dessen Geruch Atlan an Menthol erinnerte. Zusammen hoben sie den Rücken des Mädchens hoch, hielten die wild um sich schlagenden Arme fest und flößten ihr in langsamen Schlucken das Getränk ein. „Was ist das?“ fragte Atlan. „Keine Ahnung“, erwiderte Kilter. „Ich habe es so gemischt, wie es mir Skanmanyon eingegeben hat.“ „Hoffentlich hatte Skanmanyon das richtige Rezept griffbereit!“ murmelte Wirtz besorgt. Das Mädchen hörte tatsächlich auf zu husten. Sie sprach noch immer, doch die Männer konnten nicht verstehen, was sie sagte. Atlan machte, als sich Terrania ein wenig beruhigte und so müde wurde, daß der Zeitpunkt des Einschlafens nicht mehr fern sein konnte, eine Bewegung zur Tür. Die Männer gingen hinaus. „Hört zu“, sagte Atlan. „Der Zusammenbau dauert einen halben Tag. Wir könnten heute noch fertig werden. Dann, morgen früh beim ersten Licht, könnten wir starten.“ „Natürlich bin ich einverstanden!“ stimmte Wirtz zu. „Und Shann brauchen wir deswegen wohl nicht zu fragen!“ Der blinde Raumfahrer schüttelte nur den Kopf. Wenn sie die Stellung seines Mundes richtig deuteten, dann grinste er zuversichtlich. Auch dies war eine derjenigen Situationen, die Atlan zeit seines Lebens hassen gelernt hatte: Die Drohung nahm zu, aber niemand wußte wirklich, was geschehen sollte und ob der Weg, den sie einschlugen, richtig war. Trotzdem begannen sie im Licht des frühen Nachmittags mit dem Zusammenbau ihrer Konstruktion. Sie schleppten die Kufen und die
Verstrebungen nach draußen, sobald sie sich wieder in ihre dicken Pelze gehüllt hatten. Eine weitere Frage wurde laut: Wenn der Sommer hier offensichtlich die Regel war, warum gab es dann in den Magazinen Heizgeräte und Pelze für die Diener Skanmanyons?
6. Sie schleppten Scheinwerfer hinaus und stellten sie auf, als sie mit dem Tageslicht nicht mehr auskamen. Aber die Konstruktion wuchs und wurde zu einem eindrucksvollen Gebilde. Es hätte bei einem Wettbewerb für den häßlichsten Schlitten den ersten Preis gewonnen. Über den breiten, Kufen erhoben sich die Verstrebungen, vereinigten sich und trugen ihrerseits einen Fahrersitz weit vorn und andererseits die Sitzschale mit den drei verkleideten Plätzen. Atlan hatte die restlichen Heizgeräte mit Schläuchen und Metallrohren so befestigt, daß alle vier Sitze von ihnen geheizt wurden. Vor und unter dem Fahrersitz mit der an eine Lenkstange erinnernden Steuerung befanden sich das Rad und das Steuerruder, darüber eine Art Kotflügel, auf dem drei Scheinwerfer montiert waren. Breite Rohrverbindungen hielten, nachdem die letzten Schweißnähte angebracht und die letzten Schrauben angezogen waren, diese ganze Konstruktion zusammen. Eisenblechstücke bildeten so etwas wie einen Windschutz. Zwei lange Streben gingen nach hinten. Dort war das Gyroskop eingebaut, ein kesselförmiger Gegenstand, in dessen Innern eine Schwungmasse rotierte. Sie rotierte bereits seit langer Zeit, denn die Masse bewegte sich auf magnetischen reibungslosen Lagern, drehte sich rasend schnell im Vakuum des Kessels und war mit einem Generator verbunden. Eine primitive Schalttafel zeigte die Geschwindigkeit in unverständlichen Symbolen an. Von dem Generator, der gleichzeitig auch Motor war. gingen dicke Kabel zu den beiden Elektromotoren, von denen die in einem Metallring und durch Gitter davor geschützten Mehrfachpropeller angetrieben wurden. Die Generatorenenergie betrieb die Propeller, und die Lenkung würde den Schlitten steuern. Außerdem gab es noch Ruderflächen, die sich im Windstrom bewegten.
„Wie steht es mit den Anschlüssen?“ Sie schleppten ein Kabel zurück in die Station, schlossen es ohne Mühe am Transmittersockel an und luden dann den Gyro auf. Der Kreisel konnte auf mehrere tausend Touren in der Minute beschleunigt werden. Dann bewegte sich die äußerste Schicht mit einer Stundengeschwindigkeit von mehr als tausend Stundenkilometern. Die Zentrifugalkraft bildete die Grenze der beschleunigenden Einheit; Atlan mußte die Energiezufuhr abschalten, ehe die Nenndrehzahl erreicht war. Aber schon jetzt, als sie dieses häßliche, aber irgendwie vertrauenerweckend aussehende Gerät testeten, strahlten die Scheinwerfer auf, rasten die Luftschrauben los und schoben den Schlitten mühelos ein paar Meter vorwärts. „In Ordnung! Bringen wir die Ausrüstung in die Fächer!“ Sie schufteten noch einige Stunden, dann konnten sie nichts mehr finden, was zu verbessern, nachzusehen oder erneut festzuzurren war. Die Nahrungsmittel befanden sich noch nicht an Bord, denn die Männer fürchteten die Raubtiere. „Geht schlafen!“ ordnete Atlan an. „Ich kümmere mich um die Energieversorgung.“ „Danke, Chef!“ sagte Wirtz. „Der Sturm wird hoffentlich vorbei sein, wenn wir bereit sind!“ Schon jetzt hatte der starke Wind riesige Schneemengen um ihr Mobil angehäuft. Aber es sah so aus, als ob der Sturm seine Kraft verloren habe – wenigstens für die nächste Zeit. Atlan verschloß das Schott durch einen Riemen, da das dicke Energiekabel noch zwischen den Dichtungen hing und sich die Tür nicht schließen ließ. Der Arkonide ging unruhig mehrmals zwischen den Instrumenten und dem Transmitter her, schreckte immer wieder aus dem Schlaf auf, und erst in den frühen Morgenstunden zeigten ihm aufleuchtende Lampen und zitternde Zeiger an, daß sich der Kreisel nicht mehr höher beschleunigen ließ. Und auch der Sturm hatte abgenommen. * Sie standen noch während der Dunkelheit auf.
Kilter Shann rannte augenblicklich zum Schott, riß es auf und warf
einen langen Blick hinaus. Er sah die Schneemassen, spürte die Kälte, aber er warf die Arme hoch, als er das Schott wieder geschlossen hatte. „Wir können losfahren! Kein Sturm mehr, Freunde!“ Atlan und Wirtz zuckten nur die Schultern und begannen, die Nahrungsmittel einzupacken und hinauszuschaffen. Sie schleppten Decken und Felle in den Schlitten und sahen zu, wie Shann das Essen, wieder eine seiner undefinierbaren, aber nahrhaften Suppen bereitete. „Wer steuert eigentlich dieses Monstrum?“ erkundigte sich Wirtz und sah dabei Terrania an, die mit Unterbrechungen ziemlich ruhig geschlafen hatte. „Wir werden uns abwechseln müssen!“ erklärte Atlan. „Das hält einer allein nicht lange durch!“ „Verständlich. Und wenn etwas ausfällt?“ Der Arkonide blickte den Raumfahrer an, als habe der Mann irre geredet. Dann murmelte Atlan verdrossen: „Es wird nichts ausfallen. Oder mißtrauen Sie unseren Fähigkeiten derartig?“ „Schon gut. Grämen Sie sich nicht, Atlan. Aber wir müssen damit rechnen. Was dann?“ „Dann gehen wir zu Fuß weiter, wie abgesprochen!“ schloß Wirtz. In der Nacht hatte sich der Sturm völlig gelegt, nachdem er noch einmal riesige Massen Schnee abgelagert und eine neue Landschaft erschaffen hatte. Jetzt, im ersten Morgengrauen, als die Männer zwischen dem Vehikel und dem überheizten Innenraum hin und her liefen und die Ausrüstung vervollständigten, war nicht eine einzige Wolke am Himmel. Nur die fernen Sterne einer unbekannten Galaxis leuchteten mitten in der Schwärze. „Bereit, Sir?“ fragte Wirtz leise, als sie die letzten Knoten machten und die Gurte festzurrten. Wie ein merkwürdig mißgestaltetes Insekt ragten die Teile des Schlittens aus dem festgetrampelten Schnee. Außerhalb der Lichtzone raste eines der nachtschwarzen Raubtiere vorbei. „Ja. Ich hoffe, wir kommen mit dieser Konstruktion so weit, daß wir den Berg zu Fuß erreichen können. Holen Sie Terrania?“ Wirtz nickte. „Selbstverständlich. Kilter Shann fiebert förmlich dem Start
entgegen.“ „Nicht er fiebert“, erklärte Atlan. „Sondern Skanmanyon hat es eilig. Was immer es bedeutet!“ Atlan warf einen letzten prüfenden Blick auf die Anordnung von Packen, Waffen, Seilen und Zubehör, dann ging er langsam ins Innere, um sich vollständig anzuziehen und das Heizgerät umzuschnallen. Er sah, wie Froom Wirtz mit der schlafenden Terrania aus dem Nebenraum kam. Plötzlich schrie Kilter Shann von rechts gellend auf. „Hinaus! Flüchtet! Sie brechen aus!“ In seinen Schrei mischte sich ein furchtbares Klirren und Krachen. Wirtz blickte blitzschnell nach links und rechts und sprang dann in weiten Sätzen vorwärts und auf Atlan zu. Die Eingeschlossenen! Sie sind frei! Starte den Schlitten! schrie der Extrasinn. Atlan sah, daß die durchsichtigen Fronten der Kammern nach vorn gefallen waren. Etwa fünfundzwanzig der verschiedenartigen Eingeborenen setzten sich langsam in Bewegung. Kilter Shann rannte im Zickzack zwischen Heizkörpern, unbekannten Maschinen und Kabeln hin und her und feuerte, sich immer kurz umdrehend, auf die erwachten Eingeborenen. Atlan warf sich das Heizgerät über die Schultern und riß die Hitzewaffe aus dem Gürtel. Er rannte um den Schlitten herum und schwang sich in den provisorischen Sitz. Er kippte drei Schalter, drehte sich halb herum und hob die Waffe. Er versuchte, sich das Heizgerät überzustreifen, ließ es dann aber sein. Ein wilder Lärm erscholl aus der Station. Es gab eine laute, hämmernde Explosion. Die beiden Propeller begannen sich zu drehen, wurden schneller und schneller, die einzelnen Flügel verschmolzen zu einer durchsichtigen Kreisform, dann sprang der Instinktspezialist aus der Station und rannte die wenigen Schritte auf den Schlitten zu. „Schnell! Sie kommen alle!“ schrie er und setzte Terrania, die plötzlich aufwachte, in den hinteren Sitz. Der Schlitten begann zu vibrieren und schüttelte den Schnee von seinen Versteifungen ab. Wieder eine Explosion. Dann eine Kette von irren, gellenden Schreien, in die sich die Schüsse von Shanns Hitzewaffe mischten. Shann kam, rückwärts laufend, aus der Station hervorgetaumelt und wankte auf den
Schlitten zu. Wirtz schwang sich neben Terrania in den Sessel und schnallte mit flatternden Fingern das Mädchen an. „Starten! Schnell! Sie verfolgen mich! Sie sind alle toll!“ rief der Raumfahrer und zog sich, immer noch auf das offene Schott feuernd, in Richtung auf den freien Sitz zurück. Der Schlitten schob sich jetzt langsam nach vorn. Die Propeller machten einen Höllenlärm. Sie wirbelten breite Bahnen von Schnee hinter dem Schlitten auf. Die Konstruktion schwankte in kleinen Rucken aufwärts und abwärts und vollführte winzige Sprünge nach vorn. Wieder huschte ein Raubtier vorbei. Jetzt saß auch Shann im Sitz hinter Atlan und richtete seine Waffe auf den Eingang. „Sie rennen kreuz und quer durch die Station, mitten in die glühenden Kabel hinein!“ keuchte er. Wie zur Bekräftigung ertönte abermals eine Detonation. Vermutlich hatte eines der stromführenden Kabel eine Maschine berührt. Atlan schob die Regler der beiden Elektromotoren mit einer Hand nach vorn. Die Propeller heulten auf und schoben den Schlitten vorwärts, zuerst langsam, dann immer schneller. Zusammen mit einer Rauchwolke Schossen mehrere Eingeborene hinaus in den Schnee. Noch war die Sonne nicht aufgegangen. Sie sahen den Schlitten, der sich langsam entfernte und rannten auf ihn zu. „Erschießt sie! Sie bringen uns um!“ kreischte Shann. Er feuerte schräg abwärts, traf einen der Eingeborenen, aber das schien die anderen, die aus der Öffnung sprangen und rannten, nicht zu stören. Ihre Hirne waren zerstört. Sie wußten nicht, was sie taten, aber irgendwie schienen sie zu begreifen, daß sie in der Station verloren waren, und daß der langsam fahrende Schlitten ihre einzige Rettung war. Sie rannten auf den Schlitten zu, gerieten in den doppelten Luftstrom der nebeneinander rasenden Propeller und wurden gegeneinander geworfen, überschlugen sich und fielen purzelnd in den Schnee. Zwei Waffen fauchten summend auf. „Schneller!“ tobte Kilter Shann. Es ging ihm nicht um sein Leben, denn er war ein mutiger Mann; es ging ihm darum, daß sie möglichst schnell den Berg erreichten. Atlan faßte beide Stangen der Lenkung und steuerte den Schlitten den langgezogenen, sanften Hang hinauf. Trotz der Steigung gewann der Schlitten immer mehr an Fahrt. Die hemmenden Schneeschichten
und die Eisbrocken lösten sich von den Verstrebungen. Die Eingeborenen kamen wieder auf die Beine und rannten dem Schlitten nach. Sie wurden immer schneller und erreichten ihn. Zwei Raubtiere kamen hinter ihnen her. Plötzlich detonierte etwas in der Station, riß einen Teil der Kuppel auf. Der Rauch und die glühenden Fetzen und die Wucht der Detonation schleuderte einige der Eingeborenen vorwärts. Ihre Hände streckten sich aus, ihre Klauen und Saugnäpfe klammerten sich an die Verstrebungen. Wieder feuerten Wirtz und Shann. Die Wesen schrien auf, starben und ließen die Streben los. Abermals wurde der Schlitten schneller, aber zwei der Toten klammerten sich unten an die Verstrebungen. Sie wurden durch den Schnee gezerrt und mitgeschleppt. Kilter Shann beugte sich tief herunter, drehte seine Waffe um und schlug mit dem Kolben auf die langen, weißen Finger, die sich nur widerstrebend lösten. Jetzt schoß eine Stichflamme senkrecht hoch, riß die Kuppel im Scheitelpunkt auf und streute Fetzen und Trümmer nach allen Seiten. Flammen und Rauch quollen aus der großen Öffnung. Aber noch immer schien der Transmitter selbst zu funktionieren. Wirtz rief laut: „Atlan! Steuern Sie Zickzack!“ Atlan, der vor der Steuerung kauerte und seine Muskeln anspannte, um das Rad und das Ruder gerade zu halten, warf einen kurzen Blick über die Schulter. Die Gruppe der Eingeborenen hatte sich lang auseinandergezogen, rannte noch immer in der Spur der breiten Kufen und des scharfen Steuerrades. Aber die Entfernung vergrößerte sich. „Schießt nicht mehr!“ sagte Atlan laut. „Wir sind außer Gefahr!“ Das Raubtierrudel, das tagelang immer hungriger um die Station gerannt war, stürzte sich von hinten auf die wehrlosen Eingeborenen. Die Tiere waren in einem Blutrausch. Sie sprangen den Eingeborenen in die Nacken, rissen sie um und töteten sie durch schnelle Bisse ihrer furchtbaren Zähne, dann federten sie in kleinen Schneewolken wieder hoch und stürzten sich auf den nächsten Rennenden. Die grauenhaften Schreie der Opfer, das wütende Brummen und Knurren der Räuber, die Explosionen im Bereich der Station – das alles vermischte sich zu einem Geräuschinferno, das den Flüchtenden in den Ohren gellte. Über der geborstenen Kuppel
stand ein schwarzer Rauchpilz. Flammen züngelten aus den aufgesprengten Schotten. Sprünge durchzogen die Kuppel, und in ihrem Innern ertönten kleine Explosionen. Der Schlitten, von den angeklammerten Eingeborenen befreit, schoß schräg den Hang hinauf. Atlan zog die Regler, als sie den höchsten Punkt erreicht hatten, bis zum Anschlag zurück und sprang, als die einfachen Bremsen griffen, in den Schnee. „Der Rückzug dorthin ist uns unmöglich gemacht worden!“ sagte er und deutete auf die Flammen und den Rauch. Vor ihnen schob sich eben die Sonnenscheibe über den Horizont hoch. Die parallelen Strahlen beleuchteten die ungeheure Rauchsäule der halbzerstörten Station. „Und deswegen gibt es dieses Mal auf keinen Fall ein Zurück!“ meinte Wirtz. „Wir sollten uns richtig anziehen und gegenseitig helfen!“ „Aber das hält uns auf!“ beharrte Shann. „Auch der Tod durch Erfrieren wird uns aufhalten“, meinte der Arkonide und versuchte, den Mantel zu schließen, das Heizaggregat richtig anzulegen, sämtliche Öffnungen zu verstopfen. Er zog den Streifen des sonnenschützenden Plastiks über das Gesicht, vermummte sich mit seinem Schal und band die Kapuze sehr eng zu. Shann und Wirtz halfen sich gegenseitig, kümmerten sich auch um das Mädchen, das die letzten Minuten vollkommen starr über sich hatte ergehen lassen. „Terrania?“ erkundigte sich Atlan. Seine Stimme wurde durch Pelze und Stoff gedämpft. Er aktivierte die vier Heizaggregate unter den Sitzen. Sie konnten hundert Stunden ununterbrochen arbeiten, wenn man sie nicht gerade mit einer Axt bearbeitete. „Sie ist ruhig. Wie geht es dir, Schätzchen?“ sagte Froom. Sie murmelte undeutlich und erschöpft, noch immer nicht ganz aufgewacht: „Ich bin müde. Furchtbar müde. Aber ich huste nicht mehr, Froom. Fahren wir jetzt zum Berg?“ „Ja“, erwiderte Wirtz grimmig. „Jetzt fahren wir zu diesem verdammten Berg. Zuerst zum Tränen-See, dann durch das Tal der Not und schließlich zur Ebene ohne Schatten. Heute werden wir es vermutlich nicht schaffen, aber vielleicht sind wir morgen da.“ Seine Stimme wurde lauter.
„Wissen Sie, wir sollten den Planeten Schneeball taufen!“ Kilter Shann setzte sich, ordnete sorgfältig die Decken um seinen Körper und schob die entsicherte Waffe so unter den Pelz, daß er sie jederzeit schnell erreichen konnte. Sie sahen unten im Tal, neben der brennenden Station, wie die Raubtiere ihr grausiges Mahl begannen. Sie glaubten, das Bersten von Knochen hören zu können, aber das war eine Illusion. Gerade, als sich die drei Männer und das Mädchen wieder zurechtsetzten, tobte sich die Energie des zusammenbrechenden Transmitters aus. Die Station schien sich aufzubäumen, dann flogen die Trümmer nach allen Richtungen auseinander. Die dicke Wolke aus Rauch, durch die Blitze und purpurne Entladungen zuckten, verhüllte den Ort, an dem sie vorübergehend Unterschlupf gefunden hatten. Atlan deutete darauf und sagte: „Wir haben nur noch ein Ziel, eine Möglichkeit!“ „Richtig! Es ist Skanmanyons Berg!“ bestätigte Shann. Atlan schob die Regler vor, die Propeller begannen sich zu drehen, der Schlitten wurde schneller und schneller. Sie fuhren direkt in die Sonne hinein. Hinter ihnen erhoben sich zwei langgestreckte Wirbel hochgerissener Schneekristalle. Brausend und heulend schoben die Motoren den Schlitten über den Hang, in das langgestreckte Tal hinein und auf den breiten Flußlauf zu. Der Schnee lag meterhoch über der Landschaft, und Atlan starrte nach vorn, um nicht ein verborgenes Hindernis anzufahren. Hinter ihnen blieben die Rauchwolken zurück und die Raubtiere, die sich um die zerfetzten Leichname der Eingeborenen versammelt hatten.
7. Der Schatten des schwarzen Raubtiers war klein und scharf. Das Tier stand hoch auf einer Klippe, die auf der Seite der Täler abfiel und den Absturz einer sanft ansteigenden Ebene bildete. Überall lag tiefer Schnee, es war klirrend kalt, und das Raubtier war hungrig. Es fror und sah weit und breit nichts als Schnee. Keine Beute. Nicht einmal der Geruch nach etwas Lebendigem war in seinen Nüstern. Das Tier bewegte unruhig den Kopf. Einst war es der nächtliche
Herrscher dieses Gebiets gewesen. Seine stechenden, scharfen Augen überblickten einen riesigen Ausschnitt der Landschaft. Es war vor kurzer Zeit, bevor der große Hunger begann, gewesen. Auch diese Landschaft war vom Schnee und der Eiseskälte zerstört. Das Tier betrachtete die zusammengebrochenen Bäume, die zugefrorenen Bachläufe und die ausgedehnten Weideflächen, auf denen noch vor Tagen genügend Beute zu holen gewesen war. Alles war tot. Es gab keine Bewegung, keine Spuren außer den Raubtierfährten. Überall lag wie Nebel eine dicke Schneeschicht. Es war unmöglich, sie aufzuscharren und darunter an Gras oder Blätter oder Rinde zu gelangen, denn die Decke war mehrmals so dick wie das Tier lang. Es war höchster Sonnenstand, und trotz des Umstands, daß die Sonne fast senkrecht herunterbrannte, zitterte das Tier vor Kälte. Plötzlich hoben sich seine Lauscher, Sie richteten sich nach Westen. Dort, auf der Spitze des kleinen Hügels, gab es Bewegung. Ein länglicher, glitzernder Gegenstand erschien. Hinter ihm brodelten zwei langgestreckte Schneewolken in die klare Luft. Alles geschah lautlos. Dann raste der Gegenstand den Hang hinunter und nahm Kurs auf den breiten Bachlauf. Die Muskeln des Raubtiers spannten sich, als das Geräusch seine Ohren erreichte, und als das Tier sah, daß vier Personen in dem sausenden, fauchenden Gegenstand saßen. Das Ding fuhr auf breiten Kufen von Westen nach Osten, von Sonnenuntergang nach Sonnenaufgang. Es kam schnell näher. Dort war Beute, dort gab es Nahrung! Während sich das Ding schnell näherte, warf sich das Raubtier herum, lief eine Zeitlang nach Osten und glitt dann an einer Stelle, die weniger steil abfiel, von dem Felsen. Mit letzten Kräften rannte das schwarze, tigerähnliche Tier auf die Stelle zu, an der sich dieses seltsame Wild mit der eigenen Fährte des Raubtiers treffen würde. * Noch immer saß Atlan am Steuer. Seine gesamten Armmuskeln schmerzten, als er den Schlitten den Hang hinunter, zwischen zwei Zeilen zusammengebrochener Bäume und ausgesplitterten Stümpfen hindurch auf das Bachbett zusteuerte. Die Kufen pfiffen leise über
den Schnee, die Elektromotoren winselten in höchsten Touren, und die beiden Propeller schoben den Schlitten mit einer Geschwindigkeit voran, die weit höher als fünfzig Stundenkilometer war, wenigstens jetzt, hangabwärts. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Fahrt hervorragend verlaufen. Es hatte nicht den geringsten Zwischenfall gegeben. Atlan setzte sich zurecht, als er das Gelände vor ihnen klar erkennen konnte. Sie waren bereits weit über die Linien hinausgekommen, die sie bei ihrem mißglückten ersten Versuch erreicht hatten. Atlan gab noch einmal volle Energie auf die beiden Luftschrauben, steuerte das Gefährt einen langen schrägen Bachhang hinauf und zog dann die Regler zurück. Er schlug die Steuerung und Seitensteuer ein und löste den Gurt. „Was haben Sie vor, Atlan?“ fragte Kilter Shann hinter seinem orangefarbenen Helm hervor. „Mich von Ihnen ablösen zu lassen!“ sagte der Arkonide und sprang in den weichen Schnee. „Wir haben etwa neunzig Kilometer in annähernd gerader Linie zurückgelegt, also rund ein Drittel der Strecke.“ „Das ist ja ausgezeichnet!“ freute sich Shann und ging prüfend einmal langsam um den Schlitten herum. Er rüttelte an allen Verbindungen und ging dann auf den Steuersitz zu. Diese Fahrt war nicht zu vergleichen gewesen mit dem ersten Versuch. Es war geradezu Luxus gewesen. „Irgendwelche Probleme mit der Steuerung?“ fragte Shann. „Nein“, antwortete Atlan und schnallte sich wieder an. „Sie müssen jede Menge Kraft aufwenden. Und noch etwas…“ „Ja?“ Der Mann, der das Werkzeug des Unbekannten war, schien entweder seine Ungeduld gezügelt zu haben, oder seine Beherrscher waren mit der Schnelligkeit des Schlittens und den günstigen Umständen zufrieden. „Denken Sie unter allen Umständen daran, daß wir zu Fuß weitergehen müssen, wenn der Schlitten umstürzt oder ausfällt. Lieber langsam und sicher als zu schnell und mit erhöhtem Risiko. Versprechen Sie mir, vernünftig zu fahren!“ Shann nickte kurz und schloß die Knoten des Gurtes. „Selbstverständlich!“ sagte er. „Vielleicht schaffen wir es bis heute
abend.“ „Vermutlich nicht!“ gab Wirtz zu. „Es wäre ein Wunder. Fahr los, Raumfahrer!“ „In Ordnung!“ Die Propeller surrten und heulten wieder auf, der Schnee wurde hochgerissen. Das Rad stellte sich gerade; Shann probierte einige Manöver aus. Der Schlitten setzte sich in Bewegung und schoß in langsamer Fahrt den Hang abwärts. Der Schatten des Schlittens wirkte wie ein Fabelwesen und glitt vor ihnen her. Es gab in der Landschaft fast keine einzige sichtbare Linie. Alles war weiß, nur der dunkle Fels einer nasenförmigen Felsklippe im Süden bildete einen auffallenden Gegensatz. Atlan beugte sich nach hinten und sah in die Augen des Instinktspezialisten. „Wie geht es ihr?“ Er deutete auf Terrania, die zwischen Pelzen und Decken fast unsichtbar im Sitz lag. Wirtz machte eine undeutlich Bewegung. „Sie hat wieder gehustet, Sir!“ „Schlimm?“ „Vermutlich ja. Und hin und wieder murmelt sie etwas. Sie scheint wieder in Trance zu sein.“ „Vielleicht hängt das mit der Nähe zum Berg zusammen, Froom?“ „Schon möglich!“ Der Schlitten fuhr in mittlerer Geschwindigkeit durch das ehemalige Bett eines schmalen Flüßchens. Hin und wieder krachte es, dann brach ein Ast, oder die Rinde platzte auf. Das helle Geräusch und die Luftwellen der beiden Propeller ließen Schneemassen von den Bäumen fallen. Die Rauchsäule weit im Westen löste sich auf und war von hier nicht mehr zu sehen. Die Transmitterstation war endgültig zerstört. Für sie bedeutete dies, daß sie nur noch eine Richtung kannten. Hoffentlich, dachte der Arkonide, hielt der Schlitten durch. Er lehnte sich zurück, zog den Kopf zwischen den Kragen und dachte nach. Woher wußte Kilter Shann die Namen oder die Bezeichnungen bestimmter Landschaftsmerkmale? Zweifellos sprach auch hier Skanmanyon aus ihm. In welcher Beziehung stand Kilter Shann wirklich zu diesem rätselhaften Wesen, das transportiert werden wollte oder sollte? Lauter Fragen und keine Antworten.
Warte ab, bis ihr die Ebene und den Berg erreicht! Im Augenblick ist keine Information zu erhalten! sagte kommentierend der Extrasinn. * In der Zeit zwischen Mittag und Abend bekam Terrania Skeller ihren ersten Anfall. Während der Schlitten, jetzt etwas langsamer geworden, in die hügelige Landschaft einbog und sich immer längs der Hügel bewegte, die Steigungen vorsichtig schräg nahm, befreite sich das Mädchen mit einigen schnellen Bewegungen der Arme und Hände aus der Umhüllung und schrie auf. Augenblicklich warf sich Froom Wirtz zur Seite und hielt ihre Arme fest. Atlan drehte sich um und musterte die beiden voller Sorge. „Was hat sie? Gefährlich?“ rief er leise. Wirtz hob die Schultern. „Keine Ahnung!“ Das Mädchen stöhnte auf. Es war ein Laut, der nichts Menschliches mehr hatte. Dann wimmerte sie: „Der Transport… er ist wichtig. Es muß alles getan werden…“ Ihre Stimme versagte, und sie stieß schnell eine Reihe vollkommen fremder Worte aus. Froom war ununterbrochen damit beschäftigt, die Felle und Decken wieder zurückzustecken. Ein schwerer Hustenanfall unterbrach den Strom der unverständlichen Worte, die zugleich drängend und bittend wirkten. „… der Transport… ihr müßt zu Skanmanyons Berg!… es ist wichtig…“ Wieder hustete sie würgend, sprach unverständliche Worte, sank erschöpft zurück. Ihr Gesicht war naß von Schweiß. Sie schloß die Augen und zitterte, dann zuckte sie zusammen und wurde ohnmächtig. „Es ist das beste für sie!“ knurrte Froom. Er sah unglücklich aus, als er ihre Möglichkeiten erkannte: sie waren gleich Null. „Ja, wahrscheinlich!“ sagte Atlan und sah zu, wie Wirtz das Mädchen wieder einpackte und sich vergewisserte, daß sie ausreichend vor der Kälte geschützt war. Der Schlitten, schoß nun von Shann auf der besten, geradesten Linie gelenkt, aus dem
hügeligen Gelände hervor und näherte sich der Ebene, die vor einer durchgehenden Kette kleiner Berge ausgebreitet lag. Zwischen den einzelnen Bergen gab es ziemlich breite Täler, so daß die Mannschaft des Schlittens keine Felsschluchten zu befürchten hatte. „Wir kommen fabelhaft voran!“ schrie Shann plötzlich von vorn. „Der Schlitten ist große Klasse!“ Er schien der einzige Insasse des Schlittens zu sein, der keine tiefgründigen Probleme hatte. Die Macht, die ihn kontrollierte, ließ nicht zu, daß er abgelenkt wurde. Atlan sah sich um. Sein Blick glitt über die einfarbige Fläche, merkte sich jeden einzelnen Punkt und jeden Geländeeinschnitt. Er starrte nach vorn, betrachtete dann die Spuren der Kufen und den Schneewirbel, der sich langsam wieder senkte und im Sonnenlicht auffunkelte. Und dann sah er auch weit hinter sich die schwarze Gestalt des Raubtiers, das sie verfolgte. Nur ein Einzelgänger, kein Rudel! bestimmte der Extrasinn. Atlan nickte und behielt das Tier im Auge. Zuverlässig raste der Gyro, gab seine Energie ab, die Schrauben drehten sich. Der Schlitten glitt auf der dicken Schneeschicht fast ohne Schlingern und ohne Stöße dahin. Atlan war sicher, daß sie es an diesem Tag nicht mehr schaffen würden. Trotzdem wurde der Schlitten schneller, als sie die Ebene erreichten. Es war kein See, das sahen sie deutlich an den Felsen und an den wenigen noch stehengebliebenen Bäumen, aber eine fast völlig ebene und hindernislose Fläche. Als habe Shann seine fragenden Gedanken erraten, rief er vom Steuersitz über die Schulter nach hinten: „Der See liegt hinter diesen Bergen. Ziemlich hoch. Wenn wir ihn passiert haben, brauchen wir nur noch ein paar Stunden bis zur Ebene. Oder noch weniger, wenn wir in diesem Tempo weiterfahren können!“ „Dann werden wir ja sehen, was es mit dem Berg auf sich hat!“ rief Atlan zurück. „Es ist Skanmanyons Berg!“ bestätigte Kilter Shann in guter Laune. Er sagte ihnen damit nichts Neues. Das Raubtier war jetzt in einer Spalte verschwunden und stellte keinerlei Gefahr mehr dar. Atlans Gefühl der Unwirklichkeit nahm zu. Er begann zu ahnen, daß es schon zu lange gut ging. Die kommende Niederlage oder ein
gefährlicher Zwischenfall lagen geradezu auf der Lauer. Er versuchte, dieses Gefühl zu ignorieren, aber es gelang nicht recht. Zwei Stunden vergingen schnell. Die Sonne sank dem Horizont entgegen, und es würde nur noch neunzig Minuten lang Tageslicht geben. „Wir fahren nicht in der Nacht!“ rief Atlan laut. Shann drehte nicht einmal den Kopf und steuerte geradeaus auf den Einschnitt zwischen den Bergen zu. Von hier aus war zwischen den beiden Hängen eine Art dreieckige Rampe zu erkennen, deren unterster Teil bereits im Schatten lag. Das Dreieck führte aufwärts und war in halber Höhe flach abgeschnitten. „Warum nicht?“ rief Shann. „Die Gegend ist gut sichtbar und ohne Tücken!“ „Sie wird bei Dunkelheit immer gefährlicher!“ antwortete der Arkonide. „Ganz gleich, wie ungefährlich sie bei Licht aussieht!“ „Haben Sie noch mehr solche Erfahrungen?“ Atlan lachte kurz und humorlos. „Mehr als jeder andere Mensch“, bestätigte er. „Soll ich Sie ablösen?“ „Nein. Ich schaffe noch den Hang und den Tränen-See. Dann können wir meinetwegen Schluß machen!“ Sie rasten weiter. Das Raubtier war jetzt völlig verschwunden. Langsam bildeten sich Schatten und machten die Landschaft unübersichtlich. Täuschende Linien tauchten auf. Die flachen Erhebungen verwandelten sich scheinbar in kleine Täler und Hügel, Einschnitte und Fallen. Wälder, an den Rändern zerrissen und durch umgestürzte Bäume in allen Größen in undurchdringliche Wälle umgewandelt, zogen vorbei. Keine einzige Siedlung war bisher sichtbar geworden. Entweder gab es keine, oder jedes Zeichen intelligenten Lebens war unter der Schneeschicht erstickt worden. Dann nahm Shann den langen Hang an und erhöhte die Umdrehungszahl der beiden Propeller. Die vier Personen schwiegen und konzentrierten sich auf das letzte Licht, das auf dem Kamm des Hanges lag. Die Sonne berührte den Horizont. Der Schatten des Schlittens wurde immer länger, je mehr die Steigung abnahm. Minutenlang schien es, als ob die Maschinen diese Steigung nicht bewältigen würden, aber mit einem letzten Aufheulen rissen die Motoren den Schlitten hinauf auf die Krone des
Hanges. „Vor uns liegt der See. Er ist höher als die übrige Landschaft. Die Eingeborenen nannten ihn Tränen-See. Eine alte Sage, vermutlich!“ meinte Shann und hielt nach einigen hundert Metern an. „Hier ist er.“ Auch Froom Wirtz beugte sich vor und murmelte etwas. Vor und unter ihnen lag, vollständig im Schatten, ein riesiger See, vollständig zugefroren. Seine Fläche wirkte wie ein gewaltiger blinder Spiegel. An einigen Stellen gab es Schneeverwehungen, aber sonst hatte der Sturm die Eisfläche vollkommen leergefegt. An beiden Seiten des Schlittens fiel der Uferhang ab, bestanden mit Bäumen und Büschen. Das jenseitige Ende war nicht mehr zu erkennen. „Soll doch nicht lieber ich steuern?“ fragte Wirtz laut. „Du bist vielleicht müde, Kilter?“ Shann hob triumphierend einen Arm und erwiderte laut und aufgeregt: „Jetzt? Kurz vor dem Ziel? Kommt nicht in Frage. Bringen wir es hinter uns!“ Er startete den Schlitten, steuerte ihn behutsam zwischen Felsen und runden Schneeverwehungen entlang und dann mit letztem Schwung hinaus auf die gefrorene Fläche. Dann steigerte Shann das Tempo bis zur Grenze der Leistungsfähigkeit. Die Kufen brauchten nicht mehr auf stumpfem Schnee zu rutschen, sondern sie glitten auf blankem Eis dahin. Der Reibungsverlust war sehr gering. Schneller und schneller raste die Maschine schnurgerade über das Eis. Der Wind pfiff, dann schaltete Shann die Scheinwerfer ein und beugte sich vorsichtig über den „Kotflügel“, um die Reichweite und die Ausbreitung des Lichts zu steuern. Drei Lichtbalken erschienen und trafen auf das Eis, das unter der Einwirkung des schräg fallenden Lichts zu leuchten und zu glitzern begann. Über ihnen wechselte der Himmel seine Farbe und wurde zu einem intensiven Blau. Die Regler waren völlig am Anschlag. Es staubte kein Schnee mehr hinter dem Schlitten hoch. Die Kufen zischten unheilvoll. Das Rad drehte sich wie rasend, die Führungsplatte schnitt tief ins Eis ein. Der Fahrtwind war eisig und schnitt wieder in die Gesichter. Das Licht wurde jetzt von Sekunde zu Sekunde heller. Die Landschaft ringsherum verschwand. Sie
waren allein. Eine Maschine, die hinter drei Lichtbündeln dahinschoß mit mehr als hundert Stundenkilometern. Der See durchmaß schätzungsweise zwanzig Kilometer oder weniger. Atlan brauchte nicht mehr zu überlegen, er mußte handeln. Sein Gefühl sagte ihm alles. Außerdem meldete sich sein Extrasinn: Zu schnell! Die kleinste Unregelmäßigkeit wird den Schlitten herumschleudern! „Shann!“ schrie Atlan und beugte sich vor. Er schlug mit der Faust schwer auf die Schulter des Raumfahrers. „Was gibt’s?“ „Langsamer! Sie sehen die Böschung nicht rechtzeitig! Sie bringen uns alle um!“ Shann schüttelte den Kopf, aber seine Hand schob die Regler wieder etwas zurück. Sie waren noch immer zu schnell, diese Geste hatte keine Wirkung. „Ich reiße die Kabel heraus, wenn Sie nicht bremsen, Sie Narr!“ dröhnte Atlan. Terrania war wach geworden und hustete erbärmlich. „Schon gut!“ rief Shann. Er griff nach vorn, zog die Regler weiter zurück und verkantete dabei die Stange der Steuerung. Das Rad wirbelte herum, die stählerne Steuerkufe brach aus den Schweißnähten, und der Schlitten drehte sich ruckartig um neunzig Grad. „Du Idiot!“ schrie Froom und beugte sich über Terrania, klammerte sich fest und fluchte. Atlan sah, daß er nichts tun konnte. Ein wahnsinniger Tanz begann auf dem Eis. Die Propeller drehten sich immer langsamer, aber der Schlitten war den zufälligen Bewegungen ausgesetzt. Die Maschine begann zu kreiseln. Sie schoß mit großer Geschwindigkeit auf das unsichtbare Ufer des Sees zu. Dabei drehte sie sich hilflos um die eigene Achse. Die Lichtstrahlen beschrieben Wege wie die Lichter eines Leuchtturms. Die Drehbewegung im Uhrzeigersinn hielt an, dann erfolgte ein krachender Stoß, der die hintere Hälfte einer Kufe abriß und ins Dunkel wegschleuderte. Sofort stellte sich der Schlitten wieder gerade und fegte weiter. Ein Stab der Stützverbindungen bohrte sich ins Eis und riß eine tiefe Furche. Dann prallte der Schlitten auf einen Felsbrocken oder ein großes Stück Eis, drehte sich in entgegengesetzter Richtung.
Die Insassen wurden hilflos nach beiden Seiten geworfen, fielen wieder in die Sitze zurück. Atlan sah undeutlich, wie Froom seinen Gurt löste, und auch die Finger des Arkoniden lösten den Knoten. Wieder rasten die Propeller los. Kilter Shann kippte aus dem Sitz, fiel auf das improvisierte Armaturenbrett und hatte die Schieberegler bis zum Anschlag in das Blech hineingerammt. Jetzt schlingerte der Schlitten hin und her, wurde aber wieder schneller. Ein zweites Stück der Kufe riß ab. Atlan drehte sich, klammerte sich am Sitz und an der Verstrebung fest, die zu den Schutzringen der Propeller führte. Er blickte dorthin, wo die Lichtstrahlen undeutlich und viel zu kurz etwas erkennen ließen. „Abspringen!“ kreischte plötzlich der Raumfahrer auf und stemmte sich von den Scheinwerfern wieder hoch. „Springt ab!“ Ein Wall aus Schneedünen erhob sich in undeutlicher Entfernung. Er umgab die dunklen Baumstämme, die am anderen Ufer standen. Wie ein Meteor, wie ein Geschoß glitt der Schlitten genau auf diese Kulisse zu. „Los! Raus hier!“ schrie Atlan und riß Wirtz hoch. Wirtz sah ihn mit einem irren Blick an und nickte. Er umklammerte das Mädchen, von Atlan gehalten. Dann turnte er wagemutig hinunter zur Kufe, noch immer am Gürtel und am Kragen gehalten. „Achtung!“ rief Atlan. Er ließ los und gab Froom einen leichten Stoß. Der Instinktspezialist krümmte seinen Körper zusammen, schützte mit angewinkelten Knien und Ellenbogen den Körper des Mädchens und sprang ab. Er landete auf dem Eis, fiel auf den Rücken und begann rutschend zu kreiseln. Der Schlitten zog mit aufheulenden Elektromotoren und rasenden Propellern davon und überholte ihn. Atlan schwang sich heraus, stellte sich auf den Rest der Kufe und wartete auf den günstigsten Augenblick. Verzweifelt versuchte Shann, den Schlitten unter seine Kontrolle zu bekommen, aber er hantierte vergeblich. Der Schlitten, von dem Metallstab abgebremst, von den halbierten Kufen mühsam gehalten, von den Propellern nach vorn gerissen, jagte auf die Baumstämme und die Schneewehe zu. Wirtz war irgendwo in der Dunkelheit verschwunden. Jetzt! gellte der Extrasinn durch die rasenden Gedanken des
Arkoniden. Atlan schnellte sich schräg in die Fahrtrichtung, umklammerte seinen Kopf mit den Händen und zog noch im Sprung seinen Körper zusammen. Er kam auf der Hüfte und der Schulter auf, fühlte, wie er sich drehte und über das Eis rutschte wie ein geschleuderter Stein, dann stabilisierte sich sein Körper. Einen Sekundenbruchteil später raste er wie ein geschleuderter Speer in den Tiefschnee hinein. Er erhielt keine Luft mehr, fühlte sich von allen Seiten von lockerem Schnee umgeben und stand augenblicklich auf. Er versuchte es wenigstens. Der Schnee bewegte sich. Atlan schlug wild mit den Armen um sich, streckte seinen Körper und achtete nicht auf die Schmerzen in der Schulter und an der Hüfte. Er bekam das Gesicht frei, wurde geblendet und sah… …den Schlitten! Er kam heran wie ein Torpedo. Drei weißglühende Scheinwerferaugen blendeten Atlan für einen Moment, dann raste der Spuk dicht an ihm vorbei. Dunkelheit kam, dann funktionierten die Augen wieder. Der Schlitten raste geradeaus, wurde von dem dünnen Schneebelag in die Höhe geworfen und flog in einem leichten Bogen genau auf die Stämme zu. Die Propeller heulten auf. Ein schmetternder Krach ertönte, ein harter Schlag. Dann wurde die Maschine von dem ersten Baum zurückgeworfen. Der Gyro riß sich aus den Verankerungen und zerschmetterte die Halterungen und Streben. Der Schlitten, in dem der Körper Kilter Shanns verkrümmt hing, war schon halb zerfetzt und verformt, als er mit aller Gewalt gegen den zweiten Stamm krachte. Zwei Scheinwerfer erloschen gerade in dem Augenblick, als eine gewaltige Ladung Schnee aus den Baumkronen nach unten krachte und den Schlitten unter sich begrub. Atlan schüttelte sich wild; er erhob sich und kletterte aus dem Schnee heraus auf die Eisfläche zu. Der Generator schien noch zu arbeiten, denn von einem Ast hing ein Kabel, daran der Scheinwerfer. Er beleuchtete das schneebedeckte Wrack. Atlan lief hinaus auf den See und dann in der breiten Spur der Zerstörung in den Wald hinein. „Wirtz! Hierher! Zum Licht!“ schrie er, so laut er konnte. „Hier!“ antwortete eine Stimme aus einiger Entfernung. Atlan kam neben dem Wrack an. Er riß ein Stück der abgesplitterten Kufe ab und begann dort zu schaufeln, wo er Shanns
Körper wußte. Lebte der blinde Raumfahrer noch? Der Schnee flog in hohem Bogen zur Seite. Irgendwo schnurrte der Generator, der Scheinwerfer brannte ruhig und hell. Der Unfallort wurde hell ausgeleuchtet. Atlan berührte im Schnee einen Arm, warf das Werkzeug weg und schaufelte den Oberkörper Kilter Shanns frei. Ein einziger Blick in das Gesicht des Mannes zeigte ihm, daß Shann sterben mußte. Die Sehhilfe war herausgerissen worden, ebenso wie der Helm weggeflogen war. „Atlan?“ flüsterte Shann würgend. Die leeren Augenhöhlen mit den winzigen Fassungen für die Kabel der Kunstaugen starrten den Arkoniden an. Atlan schauderte zusammen. „Ich bin hier. Wie geht es Ihnen?“ „Ich werde sterben. Ich spüre es. Bringen Sie… bringen Sie das Mädchen zum Berg! Es ist wichtig, Atlan!“ Atlan beugte sich über das zernarbte Gesicht und hörte hinter sich schlurfende Schritte. „Ich verspreche es!“ sagte er. „Sie können sich auf Wirtz und mich verlassen. Wie bisher.“ „Es tut… mir leid!“ murmelte der Sterbende. Atlan sah jetzt mit Gewißheit, daß nur noch Augenblicke den Raumfahrer vom Tod trennten. „Schon gut. Uns ist nichts geschehen!“ Shann wollte nicken, aber er brachte nur eine schwache Bewegung des Kopfes zustande und schrie vor Schmerzen auf. Dann würgte er hervor: „Geht unter allen Umständen zu Skanmanyons Berg. Nur zwei Tage zu Fuß! Bringt… Terrania dorthin. Sie ist wichtig.“ „Ich verspreche es!“ sagte Atlan laut. „Der Transport darf nicht gestört werden. Terrania ist wichtig!“ „Ich habe verstanden. Wir sorgen dafür!“ „Vergessen Sie es nicht! Terrania… muß zum Berg. Der Berg ruft, hören Sie es?“ „Ich fühle es“, log der Arkonide. „Ich beschreibe Ihnen jetzt den Weg. Terrania ist wichtiger als alles andere. Sie ist der Katalysator, sagten sie. Ihr müßt hier geradeaus weitergehen…“
Er beschrieb den Weg durch die Schlucht, hinter der das „Tal der Not“ lag. Dort würde es eine Station geben, in der sie sich neu ausrüsten konnten. Eine Tagesreise weiter, und sie waren in der „Ebene ohne Schatten“. Dort würden sie den Berg sehen. Er sei so groß, daß sie ihn nicht mehr verfehlen konnten. „Geht in Ordnung, mein Freund!“ sagte Atlan leise. „Ich werde alles tun, was Sie wünschen. Sie können sich darauf verlassen, daß wir nicht leichtsinnig sein werden.“ Das Gesicht des Sterbenden hob sich in einer letzten, verzweifelten Geste. Der Mund verzerrte sich. Ein Strom Blut quoll zwischen den Lippen hervor, lief über den Ärmel von Atlans Mantel und färbte den Schnee. Dann, überraschend klar und deutlich, sagte der Sterbende: „Es tut mir leid, Lordadmiral. Ich weiß jetzt wieder alles. Ich habe lange Zeit vergessen gehabt. Ich war in einem Nebel.“ Eine Pause der Erschöpfung. „Es war schön, damals, den großen Frachter zu fliegen. Ich bin nämlich Raumfahrer. Stellvertretender Erster Navigator. Ich bin zuletzt auf der PHOEBE DELTA geflogen. Dann haben sie mich zu einem Idioten gemacht und schließlich übernommen. Ich weiß, wer Skanmanyon ist. Oder besser, was Skanmanyon ist.“ Atlan war wie elektrisiert. Er flüsterte: „Ja? Sagen Sie es mir, Sir!“ „Er ist… Skanmanyon ist nämlich…“ Kilter Shann sackte zusammen und starb. Wieder drang Blut aus seinem Mund und ergoß sich in den Schnee. Plötzlich war es totenstill. Die Schritte hielten dicht hinter Atlan an. Froom Wirtz fragte: „Er ist tot?“ „Ja“, sagte Atlan und stand auf. „Und das Geheimnis Skanmanyons ist vorläufig mit ihm gestorben.“ Wieder begann Terrania zu weinen und zu husten. Wenn sie nicht bald Medikamente bekam, würde sie der nächste Tote sein. Atlan sah Wirtz an, dem Blut aus einer Stirnwunde lief, und sagte: „Wir bleiben hier. Wir begraben Shann und übernachten hier auf dem Eis. Der Tränen-See scheint seinen Namen völlig zu Recht zu tragen.“ Dann machten sie sich beim Licht des letzten Scheinwerfers daran, die Ausrüstung auszugraben, soweit sie nicht beim ersten Aufprall
schon davongeschleudert worden war.
8. Das Zelt war mit einer Masse aus Schneerollen und Kugeln umgeben worden, und in die Fugen hatten die Männer Schnee gestopft. Es war fast gemütlich warm im Innern, denn eine Flamme, von Maschinenöl des Generators gespeist, brannte die ganze Nacht. Alles, was sie tragen konnten, befand sich im Innern dieses HalbIglus. Der Rest lag draußen im Schnee. Atlan sah zu, wie ihre „Suppe“ zu kochen begann und nahm die rußgeschwärzte Dose von dem primitiven Drahtgestell. Sämtliche Decken und Pelze lagen auf dem Boden des Zeltes. Terrania hatte abwechselnd geschlafen und gehustet. Bei ihrer schwachen Konstitution bedeutete dies, daß sie eine hochgradige Lungenentzündung hatte. Und die Männer mußten untätig zusehen, wie sich ihr Zustand verschlimmerte. Der Rauch und die heiße Luft zogen durch ein winziges Loch ab. Atlan sah, wie Wirtz die Augen öffnete. „Guten Morgen!“ sagte er. Atlan goß den dickflüssigen Inhalt in drei Becher und verteilte sie. „Ein neuer Tag auf dem Planeten Schneeball. Ich gehe nachher hinaus und beerdige Shann!“ Wirtz, dessen Gesicht schmutzig, ausgemergelt und von geronnenem Blut entstellt war, zog die Brauen hoch. „Wollen Sie etwa ein Grab ausheben?“ „Nein!“ Wirtz und Atlan löffelten den Brei und schwiegen eine Weile. Dann sagte der Arkonide: „Ich werde ihn wie die Parsen oder die Indianer bestatten.“ Wirtz flößte dem Mädchen so viel von dem schleimigen Brei ein, wie sie essen konnte. Sie alle drei waren eine jämmerliche Gruppe geworden, und nur die Einsicht, mit Hilfe Skanmanyons den Planeten verlassen zu können, wenn überhaupt, ließ ihnen die nötige Menge Mut, um weiterzumachen. Atlan schwenkte seinen Becher und spülte die Reste des Breis mit Wasser aus aufgelöstem Schnee hinunter.
„Wir müssen noch einige andere Ausrüstungsgegenstände herstellen. Ich bin gleich zurück.“ „Schon gut!“ Atlan schlug das imprägnierte Tuch zur Seite und kroch aus dem Iglu. Durch den Wald sickerte ein kühles, graues Licht. Die Sonne war eben aufgegangen. Jetzt sah der Arkonide die Spur der Vernichtung besonders gut und deutlich. Der Schlitten war nicht mehr zu gebrauchen. Sie hätten die Ausrüstung der Station benötigt. Atlan sah sich um und ging daran, Kilter Shann auszugraben. Er arbeitete wie ein Besessener, ihm wurde wärmer, schließlich, als er den starrgefrorenen Körper ausgegraben hatte, schwitzte er. Während er sich einen Weg bis zu einem umgestürzten Baum bahnte, dachte er über die letzten Äußerungen des Mannes auf seiner Schulter nach. Warum war es so wichtig, daß ausgerechnet das schwächste Glied von ihnen allen, nämlich Terrania Skeller, den Berg erreichen mußte? Die halbe Nacht hatten Froom und er über diese Frage diskutiert und nichts herausgefunden. Atlan hob das Beil und schlug eine Menge großer Äste aus der Krone eines umgestürzten Baumes. Er verflocht mühsam die Zweige miteinander und mit Astteilen, die noch am Stamm befestigt waren. Schließlich, etwa eine halbe Stunde später, hatte er in drei Metern Höhe über der Schneedecke eine primitive Plattform geschaffen. Er kletterte hinauf und zog den schweren, bewegungslosen Körper an einer Seilschlinge hoch. Er legte Kilter Shann, dessen Gesicht einen friedlichen und entspannten Ausdruck zeigte, flach auf die Plattform, band den Körper mit dem Seil fest und legte den orangefarbenen Helm auf die Brust des Toten. Atlan blieb einige Sekunden regungslos und schweigend stehen, nickte dann und sprang hinunter in den Tiefschnee. Beeilt euch! Bis zum Abend müßt ihr den Rand der Ebene erreicht haben! sagte der Extrasinn drängend. Du selbst glaubst nicht daran, daß ihr im Schnee die Station finden könnt! „Gehen wir!“ sagte er, schlug ein paar Aststücke ab und holte noch Teile der Ausrüstung und die Gurte aus dem Wrack des Schlittens. Noch immer hing der brennende Scheinwerfer über dem Ast. Der Gyro konnte noch ein Jahr weiter rotieren, wenn ihn nicht eine Explosion zerstörte.
Atlan schob sich zurück in das Igluzelt und murmelte: „Alles ist getan. Wir können losgehen, wenn wir gepackt haben!“ Aber sie brauchten trotz fieberhafter Arbeit eine Stunde, bis sie aufbrechen konnten. * Sie waren nichts anderes als Karikaturen ihrer selbst. Abgerissen, mit kleinen Wunden, unrasiert und schmutzig, obwohl sie die Gesichter mit Schnee eingerieben hatten. Die Pelze waren schneeverkrustet und steif. Zwischen Wirtz und Atlan, der führte, lag Terrania auf einer Bahre aus Ästen und Gurten. Unter ihrem Kopf und zu ihren Füßen waren Proviant und Ausrüstung festgezurrt. Breite Gurte führten über die Schultern der Männer und endeten dicht unter den Handgriffen der Bahre. Vor der Brust baumelten die schweren Hitzegewehre, in den Taschen steckten die kleineren Waffen. „Wir hätten doch den Gleiter nehmen sollen“, rief Wirtz im schwachen Versuch zu scherzen von hinten. „Zu Fuß dauert es wieder endlos!“ „Aber unser Versuch ist entschieden gesünder!“ widersprach Atlan. „Und vielleicht finden wir tatsächlich die Station im Tal der Not?“ „Vielleicht!“ Wieder trugen sie, aus allen möglichen Resten zusammengestellt, große Schneeschuhe. Sie wanderten schweigend durch den Wald. Der Weg war nicht sonderlich unangenehm, denn immer wieder sahen sie Möglichkeiten, auf relativ festem Schnee zwischen den Stämmen gehen zu können. Terrania war keine schwere Last, trotzdem waren beide Männer, als sie gegen Mittag den Wald verließen und an der Kante eines langen Hanges standen, erschöpft. Vorsichtig setzten sie das Mädchen ab. Terrania lag im vollen Licht der Sonne. „Sie schläft!“ sagte Atlan und schob vorsichtig die Pelze auseinander. „Ja. Sie ist erschöpft. Aber da ist noch etwas anderes. Mir scheint, sie verändert sich.“ Wirtz schob die improvisierte Sonnenbrille hoch und fragte verblüfft:
„Verändert?“ „Ja. Auch Terrania wird von Skanmanyon beherrscht, wie Shann. Die Symptome einer schweren Lungenentzündung sind anders. Ich kann nicht mehr sagen, denn die Krankheit und Skanmanyon zusammen machen jeden Versuch unmöglich. Wir müssen uns darauf beschränken, Terrie zu tragen und sie zu füttern und zu verhindern, daß sie erfriert.“ „So ist es. Und nicht die Spur von Medikamenten!“ Atlan und Wirtz betrachteten den Hang, der schräg abwärts führte und vor einer Felswand endete. Die Männer beschatteten die Augen mit den Händen und starrten so lange nach unten, bis sie den Riß im Fels erkennen konnten. Der Horizont war in Nebel gehüllt. Dort konnte sich ebenso Skanmanyons Berg zeigen, wie auch jedes andere Bild, wenn der Dunst sich hob. „Hinter dieser Felsenschlucht scheint die Station im ‚Tal der Not’ zu liegen“, meinte der Arkonide und deutete auf den kaum erkennbaren Geländeeinschnitt. „Scheint zu liegen. Hoffentlich verfügt Skanmanyon über richtige Informationen!“ warf Froom ein. „Los, gehen wir!“ „Gemacht!“ Sie wuchteten die Trage hoch, legten sich die Gurte um die Schultern und gingen weiter. Stundenlang wateten sie durch den Schnee, schweigend und konzentriert. Die Schäfte der Waffen schlugen gegen die Arme und die Brust. Sie verfolgten, wie die Schatten der Körper wanderten. Der Hang war lang, der Weg qualvoll, monoton und zehrte an ihren Kräften. Hin und wieder wechselten sie sich in der Führung ab. Sie versanken in bodenlosen Löchern und mußten sich mühsam wieder hervorwühlen. Der Schnee schmolz und sickerte durch die Ärmelöffnungen, durch die Stiefelschäfte und durch den Kragen. Die Pelze und die Monturen verwandelten sich in klamme, feuchte Lappen, die bald zu stinken begannen. Dann wieder liefen sie über eisspiegelnde Flächen, rutschten aus und krachten zu Boden. Mehrmals schlug die Bahre so hart auf, daß Terrania erwachte und zu schreien und zu husten begann. Sie machten keine einzige längere Pause. Sie hatten seit Sonnenaufgang nichts gegessen. Ihre Mägen
knurrten. Sie erreichten das Ende des Hanges und sahen sich einer mächtigen Felswand gegenüber. Fast vierhundert Meter hoch, darin ein Einschnitt von zwanzig Metern Breite. „Wir haben es bald, Froom!“ sagte Atlan, der wieder führte. „Nach dieser merkwürdigen Schlucht sollen wir das Tal mit der Station finden.“ Sie wußten, daß sie eigentlich ins Unbekannte hineinmarschierten. Niemand gab ihnen Garantie, daß die Station tatsächlich dort war. „Weiter! Solange noch unser Schwung reicht!“ gab Wirtz zurück. Sie betraten die Schlucht. Die Felswände waren glatt, trotzdem hatten sich breite Eisplatten daran festgesetzt. Geschmolzener Schnee hatte sich in Wasser verwandelt, das Wasser war an der sonnenbeschienen Seite heruntergelaufen und war im Schatten wieder zu Eis erstarrt. Schräge Platten, tropfsteinartige Zacken und lange Eiszapfen hingen drohend herab. Atlan deutete schweigend nach oben, drehte sich um und legte einen Finger an die Lippen. Froom Wirtz verstand, daß sie sich so schnell und lautlos wie möglich durch die Schlucht bewegen sollten. Sie gingen weiter. Der Verlauf der Schlucht war merkwürdig. Es ging in unregelmäßigem Zickzack zwischen den Felswänden dahin. Ab und zu wehte ein Schleier Schnee herunter. Es wurde immer dunkler. Dann wieder löste sich ein Eiszapfen oder eine der senkrecht hängenden Eisplatten. Krachend stürzten sie herunter, überschlugen sich langsam und krachten in den Schnee. Das Licht schwand dahin, als die beiden Männer mit ihrer schweigenden und schlafenden Last die Hälfte des Weges hinter sich gebracht hatten. Nur ihre Schritte waren zu hören und ihre keuchenden Atemzüge. Vor ihren Gesichtern standen kleine Dampfwolken in der Luft. Meter um Meter arbeiteten sie sich dem Tagesziel entgegen, von dem sie nicht wußten, ob es überhaupt existierte. Schließlich, zwei Stunden vor Sonnenuntergang, fast acht Stunden nach dem Start, wichen plötzlich die Felswände zurück und zeigten ihnen ein breites Tal. Mitten in der Szene, die ebenfalls von dichten Schneeschichten bedeckt war, stieg eine dunkelgraue Rauchsäule in die Höhe. Atlan und Wirtz blieben überrascht stehen. Die Kuppel! Ihr könnt sie nicht erkennen, aber sie ist nicht
verlassen, meldete sich der Extrasinn. Wirtz stellte die Trage ab und musterte schweigend die Landschaft, den Rauch und die zusammengebrochenen Bäume. „Zweitausend Meter!“ sagte er knurrend. „Und wer wird uns erwarten?“ Sie besaßen kein Fernglas, aber trotzdem erkannten sie, daß die Station, von ihnen aus gesehen, hinter einem niedrigen Hügel liegen mußte. „Wir sind bewaffnet!“ meinte der Arkonide. „Und sollten es Diener Skanmanyons sein, dann werden sie uns vielleicht helfen!“ „Vielleicht. Ich würde nicht damit rechnen!“ warf Wirtz ein. „Nein, ich glaube, es sind Eingeborene, die sich in die Station geflüchtet haben.“ Atlan sah in den Himmel. Die Sonne war längst hinter der Felsbarriere verschwunden. Dicht vor ihnen kreuzten viele Raubtierfährten den Weg. „Noch zwei Stunden. Los, es ist nicht mehr viel. Wir können heute dort drinnen sein!“ „Sie haben recht, Chef!“ meinte Wirtz und hob die Bahre wieder auf. Dabei sah er, daß Terrania die Augen geöffnet hatte, aber weder hustete noch sich in Trance befand. Aber aus ihrem Gesicht und den -Augen strahlte etwas Fremdes, als ob sich die Krankheit und der Verfall rasend schnell ausbreiteten und von den Beherrschern dieses jungen Menschen nicht mehr kontrolliert werden konnten. Eine erschreckende Veränderung ging in Terrania Skeller vor. Wirtz fluchte innerlich; er sah ein, daß er in dieser Beziehung völlig hilflos und hoffnungslos in die Defensive getrieben worden war. Wieder begann ein neuer Abschnitt der Wanderung. Als sie den Hügel erreichten, waren die Männer völlig erschöpft. Sie setzten die Trage ab und blickten nach unten. Dort sahen sie, wie einen Fremdkörper inmitten der weißen Landschaft, die silbergraue Kuppel der Station. * Nach einer Weile sagte Atlan leise: „Was jetzt, Froom? Wir können hier warten, bis wir erfroren sind. Diejenigen, die sich in die
Station geflüchtet haben, werden unseretwegen nicht freiwillig in die Kälte hinausgehen und uns Platz machen.“ Wirtz murmelte: „Wir haben nicht viel Möglichkeiten. Ich glaube, wir müssen uns einen Weg in die Station hineinschießen.“ „Gibt es Verständigungsmöglichkeiten?“ fragte Atlan voller Skepsis zurück. „Nein. Ausgeschlossen. Wir sind einander zu fremd.“ „Lassen wir Terrania hier und versuchen einen Vorstoß?“ Wirtz stimmte nachdenklich zu. „Einverstanden. Sehen wir erst einmal nach, wer überhaupt dort ist.“ Sie setzten die Bahre in einem geschützten Winkel ab, lockerten dann ihre kleinen Hitzewaffen und nahmen die schweren Hitzegewehre auf. Dann gingen sie langsam im letzten Licht der tiefstehenden Sonne den Hang hinunter und auf die Station zu. Je näher sie kamen, desto deutlicher sahen sie, was geschehen war. „Eingeborene!“ knurrte der Arkonide. Der Schnee rund um die Station war zusammengetreten worden. In erreichbarer Nähe der etwa fünfzig Meter durchmessenden Kuppel waren Bäume gefällt und zu Kloben zusammengehackt worden, deutlich sahen Wirtz und Atlan die Spuren. Das Holz war bis vor einen der Eingänge geschleift, dort aufgetürmt und angezündet worden. Das Feuer brannte mit riesigen Flammen und einem gewaltigen Haufen weißer Glut, der Schnee war bis auf den Boden abgeschmolzen worden. Die Flammen und der Rauch schlugen hoch, die Hitze schien ins Innere der Station hineinzukriechen. Einige Eingeborene waren zu sehen. Sie trugen meistens schwarze Pelze. „Das bedeutet“, murmelte Atlan, „daß es Krieger sind, die gegen Raubtiere gekämpft haben.“ „Ich sehe mich ungern in der Rolle eines Massenmörders!“ fluchte Wirtz und hob die schwere Waffe. Es war klar, was er meinte. Die Eingeborenen besaßen keinerlei moderne Waffen. Wenn sie sich mit Speeren, Schleudern oder Pfeil und Bogen wehrten, hatten sie gegen Atlan und Wirtz keine Chance. „Wir versuchen es erst einmal mit einem Schock. Vielleicht können wir sie vertreiben. Wenn wir einen Gefangenen machen könnten, wäre es möglich, mit ihnen zu verhandeln. Wir haben
gemeinsame Interessen – die Eingeborenen und wir.“ Wirtz glitt leise an Atlans Seite. „Das ist eine fabelhafte Idee!“ Versucht es immerhin. Viele Chancen bestehen nicht! flüsterte eindringlich das Extrahirn. Die Männer glitten im tiefen Schnee, der bis weit über die Kuppel hinaus reichte, den Hang abwärts und sahen zu, wie eine kleine Gruppe von pelzbekleideten Eingeborenen sich um das Feuer kümmerte. Einige andere füllten Schnee in runde Kessel und trugen ihn in die Station. Atlan und Wirtz hatten sich schnell verständigt. Sie kamen unentdeckt bis auf fünfzig Schritte an die Kuppel heran. Dann gingen sie hinter umgestürzten Bäumen und Schneeverwehungen in1 Deckung. Atlan hob kurz die Hand. „Okay!“ Sie begannen langsam und gezielt zu feuern. In einem Halbkreis um die beiden sichtbaren Eingänge der Station, der der verlassenen und zerstörten Transmitterstation glich, schlugen die Hitzestrahlen ein. Zischend erhoben sich Dampfwolken. Kochendes Wasser spritzte nach allen Richtungen. Die Holzstücke und die Zweige begannen zu brennen und zu verkohlen. Das dröhnende Fauchen der Schüsse übertönte das Prasseln des mächtigen Feuers und das Zischen des Dampfes. Nach dem vierten Schuß sprangen die Einheimischen auf, blickten verwirrt um sich, aber sie erkannten hinter dem Dampf die beiden Schützen nicht. „Auf die Türen!“ sagte Atlan halblaut. Wieder schossen sie. Die Strahlen trafen die Riegel und Verbindungen der Schotte. Gestein und glühende Eisenstücke schwirrten durch die Luft. Ein Wutgeheul der Eingeborenen antwortete. Sie flüchteten durch die offene Schottür ins Innere und waren verschwunden. Noch einmal entfesselten die beiden Männer eine Wand aus Flammen, Rauch und Dampf, die sich langsam ausbreitete und wie ein Vorhang in die Höhe glitt. Dann bückten sie sich tief in die Deckung und warteten atemlos. Sie brauchten nicht lange zu warten. Einige Türen flogen auf, und kaum weniger als hundert Eingeborene stürzten ins Freie. Sie schauten sich suchend um, hoben die großen, weißen Schilde und kamen in kleinen Gruppen auf den Hang zu. Speere wurden durch die Luft geschwenkt, wirre Schreie
ertönten. Froom Wirtz hob die Waffe, zielte und feuerte einen kurzen Schuß auf einen der Schilde ab. Augenblicklich brannte das Material, der Krieger überschlug sich nach hinten und landete im Schnee. Zwei große Krieger sprangen, vor und deuteten auf Frooms Versteck. Atlan zielte bedächtig und schoß dreimal schnell hintereinander. Er bewegte den Lauf der Waffe um einige Handbreit und setzte drei Schilde in Brand. Wieder ertönte ein Schrei. Noch mehr Männer quollen auf beiden Seiten des Holzfeuers hervor und rannten auf die zwei Wanderer zu. „Zurück!“ schrie der Arkonide und sprang auf. Gleichzeitig begann seine Waffe Feuerstrahlen auszuwerfen. Sie brannten vor den heranstürmenden Eingeborenen in den Schnee und in die zusammengebrochenen Bäume und entflammten das Holz, verwandelten Eis und Schnee in kochendes Wasser und in mächtige Dampfsäulen. Auf der anderen Seite sprang Froom Wirtz in die Höhe, rannte dreißig Schritte den Hang hinauf und drehte sich um. Während die ersten Steine und Speere durch die Luft wirbelten, beschrieben die Strahlen aus seiner Waffe ebenfalls einen Viertelkreis. Atlan hatte fast das Versteck des Mädchens erreicht und drehte sich wieder um. Mit langen Feuerstößen deckte er die Flucht von Wirtz. „Sie verfolgen uns! Wir müssen Wirkungsfeuer geben!“ rief Wirtz. „Noch nicht! Warten!“ rief Atlan. Sie befanden sich auf der Spitze des kleinen Hügels. Sie standen einige Meter nebeneinander und schossen immer dann, wenn sich die Dampfwolken oder die Flammen lichteten. Die Eingeborenen kamen nur langsam voran, und wenn eine Gruppe durchzubrechen versuchte, begann der niedergewalzte Wald wieder an einigen Stellen aufzuflammen. Erst als zwischen ihnen eine unübersehbare Bewegung entstand, achteten die Männer darauf, daß sie nicht allein waren. Zwischen ihnen stand schwankend das Mädchen. Ihre Augen waren weit aufgerissen, aber sie schien nichts und niemanden wirklich anzusehen. Es sah aus, als ob sie erblindet sei, denn der Schleier über der dunklen Iris war selbst in der Dunkelheit zu sehen, die von flackernden Flammen nur unvollständig erhellt war. Atlan rannte auf das Mädchen zu und wollte sie am Arm ergreifen.
Er hörte, wie laute, unverständliche Worte aus ihrem Mund kamen. Sie hörten sich seltsam polternd und grob an. Zitternd und kraftlos stand das Mädchen da, aber ihr Arm, der Atlan zur Seite schob, schien plötzlich eine ungeahnte Kraft zu besitzen. Atlan stolperte zur Seite, Wirtz blieb einen Meter vor dem Mädchen wie angewurzelt stehen, und dann geschah es.
9. Das kleine, schmale Mädchen hatte sich halb aus seinen Mänteln und Decken geschält. Die Kapuze war zurückgeschlagen, der dicke Pelzmantel schleifte über den Schnee. Die dünnen Arme in dem schweren Fell streckten sich aus. Die Handschuhe ließen erkennen, daß die Hände zu Fäusten geballt waren. Mit brüchiger, aber lauter Stimme, die immer wieder versagte, sprach Terrania Worte jener unbekannten Sprache, vermutlich der Sprache Skanmanyons. Fassungslos und erstarrt vor Verwunderung, Schreck und Sorge starrten Atlan und Wirtz das Madchen an. „Sie ist wahnsinnig geworden!“ flüsterte Wirtz und ging einen Schritt näher. Atlan erinnerte sich an die angreifenden Eingeborenen, wirbelte herum und war zum zweitenmal verblüfft. Die wütenden Krieger, die aus den Flammen, dem Rauch und den Dampfwolken aufgetaucht waren, blieben stehen. Ihre Waffen sanken herunter. Die Schilde fielen in den Schnee. Terrania sprach in diesem schrecklichen Idiom weiter und hob und senkte ihre Arme. Plötzlich ertönte dort unten ein wildes Kreischen. Sämtliche Eingeborenen warfen die Waffen weg und rannten in panischer Furcht davon. Sie bedeckten die Köpfe mit ihren langen Armen, als ob sie sich vor einem feurigen Regen fürchteten. Sie flohen… Ihr Geist wurde verwirrt. Sie flüchteten völlig blind und mit äußerster Geschwindigkeit. Sie rannten über den Schnee, krachten in vollem Lauf gegen die Baumstämme und arbeiteten sich wie ertrinkende Tiere durch Schneewehen. Aus den Öffnungen der Station kamen andere Eingeborene. Auch sie schrien und heulten und verteilten sich. Diejenigen, die blind durch das Feuer stoben, rannten als brennende Fackeln weiter.
Sie sind verwirrt worden. Die Beherrscher Terranias haben sie zur Flucht getrieben! kommentierte der Extrasinn. „Das kann nicht wahr sein!“ murmelte der Instinktspezialist. Er war fassungslos und betrachtete starr die Dinge, die sich vor ihm abspielten. Er war hin und her gerissen zwischen der Sorge um das Kind und dem grausigen Geschehen dort unten um die Station. „Verdammter Skanmanyon!“ tobte Atlan. Noch immer kamen Eingeborene aus der Station. Sie hatte ihnen, den Insassen von verstreut liegenden Siedlungen, als letzte Zuflucht vor der tödlichen Kälte gedient. Jetzt jagten sie unfaßbare, unsichtbare Dämonen zurück in die Kälte, die sie umbringen mußte. Die Krieger rannten durch den Wald, einige stolperten keuchend und wimmernd an Atlan und der Gruppe vorbei. Atlan drehte sich langsam um und sah, daß Terrania die Gurte gelöst hatte und aufgestanden war, während sie den Eingeborenen das erste Gefecht geliefert hatten. Jetzt stand sie noch immer schwankend da, fünf Meter von der Trage entfernt, und ihre blinden Augen richteten sich auf die Station. Das Schreien, Kreischen und Wimmern bildete rund um die Station eine schauerliche Kulisse der Geräusche, aber es wurde leiser und leiser. Atlan schüttelte sich und ging langsam auf Wirtz zu, vorsichtig Terrania von hinten umrundend. „Die Eingeborenen werden alle erfrieren! Noch in dieser Nacht!“ sagte er und warf das Energiegewehr, dessen einziges Magazin fast leergeschossen war, über die Schulter. „Ich habe den sicheren Verdacht“, sagte Wirtz, „und Sie haben ihn auch, daß die Beherrscher von Shann und Terrania für den Tod der Eingeborenen verantwortlich sind.“ Atlan sprang vor, ließ die Waffe achtlos fallen und fing Terrania auf, die in den Knien zusammenbrach und ohnmächtig wurde. Nur ein verstümmeltes Gurgeln kam aus ihrer Kehle. „Ich zweifle nicht daran!“ sagte der Arkonide. „Wer sonst?“ „Terrania ist eine Art Medium und Sender. Ziehen wir die Konsequenzen!“ Wirtz und Atlan betteten das Mädchen auf die Bahre, hoben sie an und gingen, nachdem Atlan seine Waffe aufgehoben hatte, auf die Station zu. „Ich bin überzeugt, daß die Station restlos geräumt wurde!“ warf
Atlan ein. Erst jetzt merkten sie, wie erschöpft sie wirklich waren. Der Zellschwingungsaktivator hatte zwar die gröbste Müdigkeit von Atlan abgewendet, aber die Männer torkelten mehr als sie gingen, auf das Feuer zu. „Ob die Station entsprechend der anderen ausgerüstet ist?“ fragte Wirtz von hinten. „Das Mädchen ist ohne Bewußtsein. Aber ihre Atemgeräusche lassen das Schlimmste befürchten.“ „Selbst wenn sie technifiziert ist, werden die Eingeborenen die Technik nicht begriffen haben. Das zeigt sich dadurch, daß sie das Feuer angefacht haben.“ Die letzten Geräusche der in den Tod rasenden Eingeborenen – es waren mehr als zweihundert gewesen – verhallten in der Ferne. Die Nacht kam schnell, als die Männer das Feuer erreichten, überall die Spuren der hastigen Flucht bemerkten und dann auf den Eingang zustolperten. Atlan hob den Fuß und trat das Schott auf. Ausdünstungen vieler Lebewesen schlugen ihm entgegen. Das Innere der Station war von Hunderten kleiner Lämpchen erhellt, die überall abgestellt waren. Nach zehn Metern setzten Atlan und Wirtz die Bahre ab. „Leer! Völlig ausgestorben!“ murmelte Atlan, aber als er sich vorsichtig im Kreis drehte, hielt er die Waffe schußbereit in beiden Händen. Auch Wirtz sah sich um und machte einige Schritte der Wand entlang. Überall lagen Felle, Decken und Matten. Rechts von ihnen drangen Hitze und das hellrote Glühen des brennenden Holzes herein. Einige Augenblicke lang waren das Knistern des Feuers und das Zischen von Schneeresten in den Zweigen die einzigen Geräusche. „Tatsächlich. Nicht einmal ein Toter ist zurückgeblieben!“ stellte Wirtz fest. Sie würden also diese Nacht nicht erfrieren müssen. Sie nicht – aber eine Menge Eingeborene. Atlan sagte langsam und nachdenklich: „Wir sind für Skanmanyon sehr wichtig. Wichtig deshalb, weil Terrania ohne uns keine Chance hat, den Berg in der Ebene ohne Schatten zu erreichen. Also hat der Beherrscher des armen Mädchens beschlossen, daß wir überleben müssen. Das wäre uns unmöglich gewesen, wenn die Eingeborenen diese Station besetzt gehalten hätten. Also mußten sie vertrieben werden.“ Wirtz senkte den Kopf.
„Welch eine grausig makabre. Logik!“ flüsterte er. Dann begannen sie einen Rundgang durch die Station. Als der erste wuchtige Schalter knackte und daraufhin die innere Höhlung der Kuppel beleuchtet wurde, meinte der Arkonide: „Es scheint zwei Gruppen Eingeborene zu geben, unabhängig von ihrem Aussehen. Solche, die auf einer niedrigen Zivilisationsstufe stehen, und solche, die in der Lage sind, Stationen wie diese zu bedienen.“ „Vielleicht sind auch diese zwei Gruppen von Dienern Skanmanyons nichts als blind und gedankenlos funktionierende Geschöpfe oder Beherrschte?“ gab Froom zu bedenken. Sie schalteten die Heizaggregate aus, zogen die Handschuhe von den Fingern und öffneten die triefenden Mäntel. Die Station war kuppelförmig, aber anders aufgebaut. Sie bestand aus einem flachen Raum, über dem sich bis in die Höhe der Kuppel mehrere breite Galerien ausbreiteten. Atlan zählte vier Ebenen, die untereinander durch Treppen verbunden waren. Die Galerien waren nur die Plattformen für viele kleine Räume, wie die Türen bewiesen. Nur wenige Türen standen offen, also konnten sie damit rechnen, den Inhalt der Zimmer unversehrt zu finden. „Was ist wichtig, Sir?“ fragte Wirtz. „Zuerst müssen wir Terrania versorgen“, erklärte Atlan und schaltete nacheinander mehrere Beleuchtungskörper an. Das Innere der Kuppel wurde jetzt von fünf Reihen von Leuchtflächen in strahlende Helligkeit getaucht. Nebeneinander hasteten die Männer eine Treppe hoch und wichen den Lämpchen aus, die überall herumstanden und kümmerliche Helligkeit verbreiteten. Auch hier oben hatten die Eingeborenen geschlafen. Die Lagerstätten aus Fellen und Decken bewiesen es. „Jedenfalls ist es warm!“ stellte Wirtz fest, machte sich an der ersten Tür der untersten Galerie zu schaffen und öffnete sie schließlich. Licht flammte auf. Das Innere zeigte drei Reihen verschlossener Fächer und zwei Möbel, die man mit einiger Phantasie als Stühle bezeichnen konnte. Eine Stunde später hatten sie ihren ersten, flüchtigen Rundgang beendet und eine Reihe von Dingen gefunden, deren Zweck sie eindeutig erkannten. Unter anderem das „Schneeball“-Gegenstück zu einem Bad.
„Wir werden den Berg als vorzüglich gekleidete und gewaschene Entdecker besteigen!“ versicherte Atlan und lächelte grimmig. „Vor allen Dingen werden wir besser riechen!“ bestätigte Wirtz. „Zuerst unser Sorgenkind?“ „Natürlich. Kümmern Sie sich…?“ „Ja. Sofort.“ Sie arbeiteten zusammen wie ein Team von alten Goldgräbern. Jeder Handgriff saß, obwohl sie ihre Müdigkeit spürten. Während sie ihre Ausrüstung zum Trocknen brachten, kümmerte sich Wirtz um das Mädchen, badete es und rüstete dann Terrania mit gefundenen Kleidungsstücken aus, die er mit seinem Messer zurechtschnitt. Dann, nachdem Terrania, sorgfältig in Decken verpackt, in einem winzigen Raum der vierten Ebene in einem richtigen Lager zugedeckt schlief, begann Froom Wirtz mit Hingabe, sich selbst unter die Dusche zu stellen und abzuschrubben. Atlan kochte und durchsuchte jedes Fach, das sich in seiner Reichweite befand. Schließlich sah er ein, daß diese Station tatsächlich eine Art Depot für jeden Zweck darstellte. Nur… sie fanden weder Maschinen noch Teile, aus denen sie hätten einen neuen Schlitten konstruieren können. Stunden später hatten sie gegessen und sich von Kopf bis Fuß neu ausgerüstet. Eine leichte Trage war mühelos konstruiert worden, und auf der zweiten Ebene waren drei Räume verhältnismäßig wohnlich eingerichtet worden. Atlan starrte Froom mit müden Augen an. „Das Mädchen schläft?“ fragte er. „Ich habe sie versorgt. Sie aß eine gewaltige Menge und sagte mir, daß sie mich nicht mehr sehen könne. Ich habe ihr etwas vorgelogen, aber ich weiß nicht, ob sie mir glaubt.“ Wirtz kratzte sich am Kinn. Nach einigen Proben waren sie auf eine Paste gestoßen, mit der sich der Bartwuchs entfernen ließ. Jedenfalls hatte das grünschillernde Gelee diese Wirkung hervorgebracht. „Blind, delierend, hustend… was soll das werden? Wir werden ununterbrochen manipuliert, Froom!“ „So ist es. Für uns geht es, bisher wenigstens, nicht um Leben oder Tod.“ Atlan meinte düster:
„Vielleicht ändert sich das, wenn wir Terrania abgeliefert haben. Was ist an ihr so wichtig, daß Skanmanyons uns dreihundert oder mehr Kilometer weit über den Planeten hetzt?“ „Wissen Sie es? Ich weiß es nicht. Weder Shann noch Terrania wissen es.“ Atlan nickte und deutete auf die Schotte. „Wir müssen sie schließen. Raubtiere und so. Die Klimaanlage funktioniert. Vielleicht nimmt morgen Skanmanyon seinen Bann von den Eingeborenen, und ein Teil von ihnen kommt zurück.“ „Vielleicht“, bestätigte Wirtz. „Dann werden sie viele geöffnete Türen und eine Menge Vorräte finden. Ich sorge dafür.“ „Gut. Und jetzt schlafen wir!“ „Einverstanden!“ Sie verließen den kleinen Raum, machten einen Rundgang um die Station und bemerkten nichts, was sie nicht schon vorher gesehen hatten. Die Schotte wurden geschlossen, dann streckten sie sich aus und schliefen augenblicklich ein. Ihre Träume waren wild, wirr und gewalttätig. Die Waffen lagen griffbereit in ihrer Nähe, sie schliefen zwar in Stiefeln, aber in der Wärme hier brauchten sie nicht einmal Decken. Die Ruhe, in der nacheinander die kleinen Öllämpchen erloschen, wurde immer wieder von einem Hustenanfall Terrania Skellers unterbrochen.
10. Wach auf! Es ist Mitternacht! Atlan erwachte von dem unhörbaren Flüstern. Sein Extrasinn hatte ihn zur bestimmten Zeit geweckt. Er tastete um sich und dachte daran, daß er einen Rundgang vorhatte. Langsam zog er sich an, griff nach seiner Waffe und sah, daß das Energiemagazin der fremdartigen Fertigung fast leer war. Auch die schwere Waffe des Instinktspezialisten war nahezu leergeschossen. Atlan nahm beide Büchsen, verließ den Raum und ging leise hinunter. Er kippte einige Schalter, und die Lichtflut nahm ab. Geräuschlos öffnete sich das Schott. Atlan schlüpfte hinaus und schloß die runde, dicke Platte, lehnte sich an die geschwärzte Wand der Station und sah in den sternenlosen Himmel hinauf.
Nur das Band der fernen Milchstraße leuchtete im Zenit. Atlan schaltete den Handscheinwerfer ein, den er hier gefunden hatte. Das Licht schoß wie ein Blitz über Schnee und Eis und beleuchtete die Szene der Panik, die er kannte. Keine neuen Spuren? Nein. Nicht hier. Langsam ging Atlan weiter. Unter seinen Sohlen knirschte der Schnee mit hellem, mißtönendem Geräusch. Wie erwartet, war in der Nacht wieder eine große Kälte ausgebrochen, aber unabhängig davon hatte Atlan bemerkt, daß sie sich seit dem Betreten des Tränen-Sees erhöhte. Je näher sie dem Berg kamen, desto kälter wurde es. War der Berg das Zentrum der Kälte? Ungewiß. Atlan stapfte um die Kuppel herum, den Scheinwerfer in der Linken und den Hitzestrahlwerfer an der rechten Hüfte, den Finger am Abzug. Auch auf dieser Seite war nichts. Nicht einmal eine Raubtierspur. Von fern kam, wie aus einer anderen Zeit, der Schrei eines jagenden Tieres. Wieder schauerte Atlan zusammen; er vermochte sich vorzustellen, wie die schwarzen Raubtiere in der Nacht Jagd auf die erfrierenden Eingeborenen machten. Er starrte in die Dunkelheit nach Osten. Der Nebel war vollkommen gewichen. Atlan glaubte, undeutlich das Licht der unendlich fernen Galaxis auf der Flanke eines gewaltigen, pyramidenförmigen Berges zu sehen, aber das Bild blieb undeutlich. Er zuckte die Schultern, schaltete den Scheinwerfer wieder ein und beendete seinen Rundgang. Jetzt konnten sie für den Rest der Nacht sicher sein. Atlan schlüpfte wieder zurück in die warme Helligkeit der Kuppel, ging auf die Treppe zu und blieb wie angewurzelt stehen, als ein hartes Knacken ertönte. Es hörte sich an, als breche eine Mauer zusammen. Aber ehe Atlan diesen Gedanken richtig fassen konnte, merkte er, daß es sich um Lautsprecher handelte. Sie sprangen an und gaben eine Reihe von Sätzen von sich, die Atlan nicht verstand. Froom Wirtz war nach drei Sekunden aufgesprungen, hatte seine kleine Handwaffe ergriffen und stützte sich schwer auf das Geländer. Noch immer dröhnte die fremde Stimme. Sie sprach jenen unverständlichen Dialekt, in dem auch Terrania die letzten Tage geredet hatte. „Ich bin hier, Froom!“ sagte Atlan und zwang seine Stimme zur
Ruhe. „Ich sehe.“ Die Stimme sprach krachend, polternd und ungeduldig weiter. Sie schien Befehle hervorzusprudeln. Terranias Wimmern wurde lauter, dann hustete sie. Hilflos starrten sich Atlan und Wirtz an. Das Mädchen erwiderte etwas in derselben Sprache. Jedes zweite Wort unterbrach ein Hustenanfall. Dann schrie die Stimme aus den Lautsprechern noch etwas, verstummte, und mit dem gleichen dröhnenden Geräusch schalteten sich Lautsprecher und Funkgerät wieder aus. „Skanmanyon ruft!“ sagte Atlan und stieg langsam die Treppe hinauf. Wirtz hastete weiter und verschwand in dem Raum, in dem Terrania lag. Atlan stellte die beiden Waffen ab und setzte sich auf den Rand seiner Liege. Er hörte aus einiger Entfernung die beruhigende Stimme des Instinktspezialisten, das Wimmern und Husten des blinden Mädchens, dann machte sich Wirtz in der Küche zu schaffen. Kurze Zeit später hörte das Husten auf. Wirtz kam zurück und ließ sich gegenüber Atlan in einen Sessel fallen. „Es zerreißt mir das Herz!“ sagte er leise. „Verdammt! Sie ist zum Befehlsempfänger dieser Unheimlichen degradiert! Warum habe ich Idiot sie nicht auf Wiga-Wigo gelassen?“ „Kein Mensch in dieser Galaxis konnte das ahnen!“ sagte Atlan, dann merkte er, was er geredet hatte. Er deutete auf die Liege und murmelte: „Weitschlafen! Das ist ein dienstlicher Befehl. Versuchen wir es wenigstens. Morgen müssen wir weiter.“ „Verstanden, Sir.“ Sie schliefen trotzdem ein und erwachten nach Sonnenaufgang. Zwei Stunden später waren sie wieder draußen, bestens ausgerüstet, aber ohne die fast nutzlosen Energiegewehre. Sie trugen nur noch die kleinen Hitzestrahler. Zwischen ihnen lag auf der leichten Bahre das Mädchen, neben, vor und hinter ihr waren die Pakete mit der Ausrüstung untergebracht. Zwei Stunden lang wanderten die Männer schweigend durch das „Tal der Not“, dann sprang der Wald nach beiden Seiten zurück und ließ drei verschiedene Dinge erkennen. Sie waren auf ihre eigene, gespenstische Weise furchtbar und erschreckend… Geradeaus ragte der riesige Berg auf. Ein gewaltiger Klotz in der
Ferne, ein Riesenmassiv, das in einer Schicht aus Schneestaub zu schweben schien. Weder die Größe noch die Entfernung konnten geschätzt werden, weil die Vergleichsmaßstäbe fehlten. Es konnte ein kleiner Berg in geringer Entfernung sein, ein relativ großer Berg, oder ein riesiger Berg in weitaus größerer Entfernung. Mehrere Wolkenschichten zerschnitten das ungeheure Massiv. Eine Schneewolke am Boden, über der Ebene, eine zweite etwa in der Mitte, und von einer dritten Wolke wurde der Gipfel eingehüllt. Von dem Berg ging ein ungeheurer Glanz aus, die Sonne war hinter ihm und den Wolken verborgen und versah das gesamte Bild mit einer riesigen, strahlenden Aura von unglaublicher Strahlkraft. Das zweite war die Ebene ohne Schatten. Der Name paßte, denn es gab nichts, was Schatten verursachen konnte. Eine riesige Ebene, die das Zentrum der Kältestrahlung zu sein schien, Skanmanyons Berg, das Massiv in der Ebene, schien den künstlichen Winter ausgelöst zu haben. Und das dritte… Es war die mehrfache Reihe, eine Allee von menschengroßen, völlig starren Gestalten, die sich die letzten Meter zwischen Wald und dem Rand der weiten Ebene aufgestellt hatten. „Los! Weiter! Wir haben den Berg als Ziel!“ knurrte Atlan. Sie marschierten mit der Bahre zwischen sich auf die erste der Gestalten zu. Es lag kein Schnee auf den Schultern des Eingeborenen, der wie eine weiße Plastik wirkte. Er schien auf dem Weg zur Station gewesen zu sein, denn sein Körper war in rennender Bewegung erstarrt. Die Haut war hart wie weißer Marmor. Aber jede Einzelheit war deutlich zu sehen. Er streckte in einer flehenden Geste die Arme aus. „Kann das sein?“ fragte Wirtz mit einer Stimme, aus der das Grauen sprach. „Was?“ Sie gingen weiter, in der Mitte zwischen den sechs langgezogenen Reihen der Statuen. Sie erkannten klar, daß es sich um drei Typen der Eingeborenen handelte, die sie aus den beiden Stationen und der Siedlung kannten. Schweigend gingen sie weiter, entsetzt und kopfschüttelnd. „Daß die Wesen mitten im Rennen, im Fallen oder im Stehen förmlich versteinert wurden?“ erkundigte sich Froom nach einigen
Schritten. „Es ist unwahrscheinlich“, sagte Atlan. „Aber immerhin möglich. Es muß schlagartig eine gewaltige Kälte ausgebrochen sein. Denselben Effekt erreicht man, wenn man einen Gegenstand in eine kyrogenetische Flüssigkeit wirft.“ Die Kälte hatte dreihundert oder mehr dieser Wesen mit dem Boden verschweißt und sie in verschiedenen Haltungen erstarren lassen, die Atlan und Wirtz alle mit Flucht assoziieren mußten. Sie ließen den letzten der Eingefrorenen hinter sich und betraten die Ebene. Nach einem schweigenden Marsch von einer halben Stunde, der sie auf körnigem Schnee mindestens drei Kilometer weiterbrachte, hielt Atlan an. Vor ihnen schob sich die Sonne durch die immer dünner und lichtdurchlässiger werdenden Wolken. Er drehte sich um und blickte in die erblindeten Augen Terranias. „Terrania?“ „Ja, Atlan? Mir geht es gut“, sagte sie mit hoher, kraftloser Stimme. „Ich bin müde. Mir ist warm. Aber ich sehe nichts mehr. Bloß viel Licht vor mir!“ „Ist Skanmanyon etwa in diesem Berg eingefroren?“ Terrania schüttelte den Kopf und murmelte: „Ich weiß es nicht. Noch nicht. Sie haben es mir nicht gesagt.“ Fragen und abermals Fragen. Und keine Antworten. Atlan und Wirtz warfen sich einen schweigenden, vielsagenden Blick über die Bahre hinweg zu. „Soll es dieser gewaltige Berg sein, der transportiert werden muß? Was weißt du, Terrie?“ „Ich weiß es nicht.“ Ein Hustenanfall erschütterte Terrania. Atlan senkte auf einen bittenden Blick Frooms hin die Bahre auf den Boden ab und trat zur Seite. Beide Männer beugten sich über das Mädchen. Sie konnten ihre Bewegung nicht beenden, denn eine ungeheure, kurze Hitze breitete sich aus wie ein Feuerball und schleuderte sie zurück. Dann, noch während sie auf den Schneeschuhen rückwärts taumelten und wild mit den Armen ruderten, um das Gleichgewicht zu halten, verschwammen die Umrisse des Mädchens. Das Bild wurde heller und heller, und durch die Pelze schimmerten die Metallverstrebungen durch, und schließlich verschwand binnen
weniger Sekunden das Mädchen vollständig. Atlan handelte schnell, er warf sich wieder nach vorn und ergriff einen der Gurte. Er rannte weg und zerrte die Trage hinter sich her. Terrania war verschwunden! Ringsherum brodelte die Luft. Auf dem Schnee breitete sich eine Pfütze aus, wurde größer. Dampf erschien in der kristallklaren Luft. Die Hitze wurde intensiver und konzentrierte sich dann in einer kugelförmigen Zone. Kochendes Wasser lief auseinander. Die Männer rannten geradeaus, auf den Berg zu, und hinter ihnen schmolzen Schnee und Eis bis auf den Boden ab. Als sie sich gefaßt hatten, hob Atlan den Arm und deutete auf Skanmanyons Berg. „Eine Art Teleportation und Transition. Sie muß dort drüben sein!“ Wirtz fragte ratlos, obwohl sie dem Geheimnis noch niemals so nahe gewesen waren: „Dort drüben? Meinetwegen. Wir wissen noch weniger als vorher. Ich fühle die Drohung, die vom Berg ausgeht. Was tun wir jetzt, Sir?“ „Ich fühle die Drohung auch“, erklärte Atlan leise. „Wir gehen trotzdem weiter. Dort ist Skanmanyon. Kommen Sie, Wirtz.“
ENDE
Lesen Sie nächste Woche ATLAN Nr. 156. Ein Abenteuer des Helden von Arkon. ZONEN DES SCHWEIGENS von H.G. Ewers. Der Kristallprinz in der Zeitstation – unter lebenden Toten.