HANS K. KAISER
IM BANNE DES ROTEN PLANETEN MIT ZEICHNUNGEN VON F. J. T RIPP
K. THIENEMANNS VERLAG STUTTGART
DER KÜN...
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HANS K. KAISER
IM BANNE DES ROTEN PLANETEN MIT ZEICHNUNGEN VON F. J. T RIPP
K. THIENEMANNS VERLAG STUTTGART
DER KÜNSTLICHE MOND Thomas Berger fühlte sich gar nicht wohl in seiner Haut. Er lag auf einem dickgepolsterten Ruhebett, einem merkwürdigen Zwischending von Lehnsessel und Hängematte, festgeschnallt und ließ seine Blicke über die mattglänzenden Metallwände wandern, bis sie an der elektrischen Uhr über der schmalen Tür haften blieben. Nun lag er also in der Kabine eines richtigen Weltraumschiffs, und dieses seltsame Fahrzeug schickte sich an, den sicheren Erdboden zu verlassen und einen Hafen anzulaufen, den die Menschen vor Jahren einmal im Weltraum errichtet hatten. „Außenstation“ nannten sie dieses Bauwerk, das seither wie ein neuer künstlicher Mond um die alte Erde schwebte — und das Raumschiff, das wie ein schlankes Geschoss mit kurzen Tragflächen sprungbereit auf seiner Startrampe auf dem weiten Raketenflugplatz von Springfield lauerte, bezeichneten die Leute vom Bau ein wenig gönnerhaft als „Zubringerrakete“. „Damit können Sie nicht zum Mond fahren, und zum Mars erst recht nicht“, hatte einer der Ingenieure auf dem Raketenflugplatz draußen gelacht, als Thomas die Größe des Raumfahrzeugs bestaunt hatte. „Das sind ganz kleine Fische. Wir verwenden sie nur für den Pendelverkehr zwischen Erde und Außenstation.“ Jetzt, da Thomas in der engen Kabine der Zubringerrakete eingesperrt war, kam sie ihm plötzlich - auch klein vor, erschreckend klein sogar. Ihm war, als rückten die Wände immer näher an ihn heran, als senkte sich die Decke, als würde die Luft dick und erstickend. Thomas begann unwillkürlich zu zittern. Seine Zähne klapperten hörbar, kalter Schweiß trat ihm in dicken Perlen auf die Stirn. Seine Hände verkrampften sich in den Riemen. „Ruhig, Mister Berger, ganz ruhig atmen“, sagte eine Stimme halb beruhigend, halb spöttisch, unmittelbar neben ihm. Thomas wandte das Gesicht zur Seite und blickte in die vergnügten Augen seines Fahrtgenossen, eines kleinen, sehnigen Mannes mit roten Stehhaaren. Sie hatten sich vor dem Einsteigen kurz miteinander bekannt gemacht, aber Thomas hatte vor lauter Aufregung den Namen des anderen nicht verstanden. „Sie sehen mir ganz danach aus, als sei dies Ihre erste Raketenfahrt“,
grinste der Rothaarige teilnahmsvoll. „Allerdings, Mister ... Wie war doch gleich Ihr Name?“ „Wilson — Walt Wilson, Kameramann im Dienst von „Wolfes Tönender Wochenschau". Kennen Sie die Firma zufällig?" „Aber selbstverständlich! „Wolfes Wochenschau“ ist auch bei uns in Europa als besonders interessant bekannt.“ Der Kameramann lächelte selbstbewusst. „Wir sind jederzeit auf dem Laufenden, und überall, wo was besonders Spannendes passiert, ist auch Walt Wilson persönlich zur Stelle. Erinnern Sie sich zum Beispiel an den großen Vulkanausbruch auf den Sundainseln im Februar, an die Sturmkatastrophe in Japan oder das erste internationale Düsenautorennen in Australien? Überall war ich dabei.“ „Da müssen Sie ja schier die ganze Erde kennen. Und nun haben Sie es scheinbar auf die Außenstation abgesehen.“ „Die Außenstation? Pah — die kenne ich längst.“ Verächtlich wischte Walt Wilson mit der Rechten durch die Luft. „Bin X-Mal oben gewesen — damals, während des Baus, bei der Einweihung, als die erste Mondexpedition aufbrach und zwischendurch auch noch ein paar Mal. Nein, mein Lieber, diesmal will ich höher hinaus. Mars heißt das Ziel!“ „Sie fahren mit zum Mars, Mister Wilson? Großartig, dann sind wir ja Reisegefährten.“ Walt Wilson maß Thomas mit einem prüfenden Blick. „Vermutlich sind Sie der deutsche Astronom, den der Kommodore im letzten Augenblick noch aus Europa kommen ließ?“ „Allerdings. Kommodore Sommerfeld ist mein Freund. Als wir noch Schuljungen waren, drüben in der alten Heimat, schwärmte Edgar schon immer davon, zum Mond und zu den Planeten zu fahren. Das ist ja gar nichts, sagte er, wenn wir an klaren Abenden durch mein kleines Tischfernrohr zum Himmel emporschauten, mit diesen komischen Opernguckern kommen wir doch nicht weiter. Wir müssen selbst hinfahren und an Ort und Stelle nachsehen, was auf Mars eigentlich los ist. Wir anderen nahmen sein Gerede nicht ernst. Wer konnte auch damals, vor zwanzig Jahren, ahnen, dass die Weltraumfahrt so schnell Wirklichkeit würde? Im Scherz ließ ich mir von Edgar das Versprechen geben, mich mitzunehmen, wenn er eines Tages auf die große Fahrt zum Mars ginge. Edgar Sommerfeld ging später als Ingenieur nach Amerika
und trat in eins der neuen Raketenwerke ein. Na, und nun ...“ „Und nun ist aus Scherz Ernst geworden, und Ihr Freund Edgar, der inzwischen eine tolle Karriere bei der URANIA gemacht hat, löst sein Versprechen ein. Wahrscheinlich hatten Sie selbst schon längst nicht mehr daran gedacht?“ „So ist es. Ich fiel aus allen Wolken, als ich gestern Mittag im Observatorium durch Funkspruch von der Außenstation verständigt wurde, dass ich dazu ausersehen wäre, die Marsexpedition als Astronom und Assistent Dr. Sawyers zu begleiten.“ „Dr. Sawyer — der alte Muselmann ist auch mit von der Partie?“ Walt Wilson rief es in komischem Entsetzen. „Mein aufrichtigstes Beileid, armer Freund!“ „Aber wieso denn, Mister Wilson? Ich kenne meinen neuen Chef zwar nicht persönlich, aber er gilt in der Fachwelt als einer der bekanntesten Marsbeobachter.“ „Na, wenn schon. Auf jeden Fall spuken Marsmenschen und fliegende Untertassen in seinem Kopf herum. Auf einem Vortrag in Indianapolis hat er doch allen Ernstes im Mai behauptet ..." Leider sollte Thomas nicht mehr erfahren, was Dr. Sawyer in Indianapolis zum Besten gegeben hatte, denn in diesem Augenblick erklang aus einem verborgenen Lautsprecher eine ruhige, sachliche Stimme: „Bitte, anschnallen, Gentlemen! Wir starten in einer Minute. Die Plätze dürfen bis zur Ankunft an der Station auf keinen Fall verlassen werden.“ Ein leises Knacken in der Membrane zeigte das Ende der Durchsage an. Thomas sah auf das Zifferblatt der elektrischen Uhr, über das der rote Sekundenzeiger gleichmäßig und lautlos der vollen Minute entgegen glitt. Wieder packte ihn ein lähmendes Entsetzen. Sein Herz hämmerte gegen den Brustkorb, der Atem stockte ihm. „Ruhig atmen! Denken Sie an nichts anderes. Es ist alles halb so wild.“ Wie aus weiter Ferne vernahm Thomas die beruhigenden Worte seines Gefährten. Und plötzlich ... Ein leichter Knall aus der Richtung des Hecks, unmittelbar gefolgt von einem Zischen, das rasch zu dumpfem Brausen anwuchs. Ein Beben lief durch das Fahrzeug. Thomas fühlte, wie eine unsichtbare Macht seinen Körper gegen die Polster presste. So ähnlich hatte er
es bereits beim Start des flugplanmäßigen Transozean-Düsenflugzeugs erlebt, das ihn in der vergangenen Nacht von Hamburg nach St. Louis gebracht hatte. Nur war das ein Kinderspiel gewesen gegenüber dem Druck, der ihm jetzt die Rippen brechen wollte, der ihm Kopf und Glieder bleischwer und unbeweglich machte. Thomas wusste, dass das so sein musste. Es lag an der ungeheuren Beschleunigung, die das Raumschiff brauchte, um die gleiche Endgeschwindigkeit zu erreichen, mit der auch die Außenstation ihre Bahn um die Erde zog. Ein leichter Ruck ging durch das Schiff. Das Brausen hatte einen anderen Klang bekommen. „Wir haben die Schubrakete abgeworfen und steigen jetzt mit eigener Motorenkraft weiter“, erklärte Walt Wilson sachverständig, indem er sich bemühte, den Lärm zu übertönen. Thomas war es völlig gleichgültig, ob sie mit Schubraketen oder eigener Rückstoßkraft fuhren. Hauptsache, es wäre bald überstanden... Der Sekundenzeiger kroch mit unendlicher Langsamkeit voran. Thomas hatte nur noch einen einzigen Gedanken: Luft — Luft! Seine Lungen atmeten keuchend. Der furchtbare Andruck drohte ihn zu ersticken. Vor seinen Augen wurde es dunkel ... Das Brausen des Triebwerks, das Beben der Wände hörte fast schlagartig auf. Und im selben Augenblick war auch der würgende Andruck verschwunden. Thomas glaubte sich in eine andere Welt versetzt: Alles war plötzlich so leicht... Ach ja — auch das war doch ganz natürlich. Sobald das Raketentriebwerk abgeschaltet war, flog das Schiff wie ein emporgeschleuderter Stein seinem Ziel entgegen. In seinem Inneren herrschte jetzt ein Zustand, wie man ihn auf der Erde nie erleben konnte: die Gewichtslosigkeit. „Gott sei Dank“, atmete Thomas auf und versuchte, die Riemen zu lösen. „Das Schlimmste hätten wir hinter uns.“ „Wie man’s nimmt“, erwiderte der Kameramann vorsichtig. „Bleiben Sie vor allen Dingen hübsch liegen, bis man Ihnen das Aufstehen gestattet.“ „Aber warum denn?“ Thomas fühlte sich befreit und übermütig. „Jetzt kann doch nichts mehr schief gehen. Ich muss doch unbedingt herauskriegen, was aus meinen siebzig Kilo Lebendgewicht geworden
ist. Diese Schwerelosigkeit muss doch eine himmlische Sache sein — so wie ein Engel durch den Raum schweben zu können ...“ „Freuen Sie sich nur nicht zu früh, Mister Berger. Wir sind nun mal keine Engel.“ Doch Thomas beachtete die gut gemeinte Warnung des anderen nicht. Schon hatte er sich aus den Sicherheitsgurten befreit und richtete sich auf. Im nächsten Augenblick schwebte er schon purzelbaumschlagend der Kabinendecke entgegen und schlug hart mit der Stirn gegen das Metall. Ein entsetzter Hilferuf kam über seine Lippen. Walt Wilson bekam das rechte Bein des hilflos Zappelnden zu fassen und zog ihn herunter. Mit einem leichten Stoß dirigierte er ihn nach seinem Ruhebett hinüber. „Sie sind wohl von allen guten Geistern verlassen, Mann? Anschnallen, los, los! Das Bremsmanöver muss jeden Augenblick beginnen, und dann fliegt hier alles durcheinander, was nicht niet- und nagelfest ist.“ Thomas gehorchte, aber er handelte wie im Traum. Sein Schädel dröhnte, und als er vorsichtig die Stirn betastete, spürte er eine gewaltige Beule, die prächtig zu gedeihen schien. Um ihn herum drehte sich alles. Ihm war ganz furchtbar übel. „Das mit der Schwerelosigkeit ist — doch nicht so schön — wie ich dachte. Wenn ich da — an die Marsreise denke ... Zweimal zweihundertsechzig Tage in schwebendem Zustand ... Pfui Teufel, ich werde seekrank, wenn ich nur daran denke.“ „Sie werden sich schon daran gewöhnen. Hoppla ...!“ Ein kurzes Aufheulen des Raketenmotors. Wieder war da diese abscheuliche, unsichtbare Macht, die den Körper presste und schüttelte, als wollte sie ihm alle Knochen zerbrechen. Doch diesmal wirkte sie in der entgegengesetzten Richtung. Hätte Thomas sich nicht gerade noch rechtzeitig anschnallen können, er wäre mit voller Wucht gegen die Decke geschleudert worden. „Ein Bremsschuss“, ächzte Wilson. „Wir nähern uns der Außenstation und müssen unsere überschüssige Fahrtgeschwindigkeit abbremsen, damit wir nicht an ihr vorbeifahren.“ Ein Knacken im Lautsprecher und wieder die ruhige Stimme des Schiffsführers: „Wir sind am Ziel, Gentlemen. Bitte machen Sie sich fertig. In zehn Minuten werden Sie übergesetzt.“
„Donnerwetter — das ist ja märchenhaft!“ Thomas Berger konnte einen bewundernden Ausruf nicht unterdrücken, als er neben seinem Reisegefährten in der engen, verglasten Kabine des Raumtaxis auf die Außenstation zuraste. Diese Taxis waren kleine Raketenfahrzeuge, die den Personenverkehr zwischen der Station und den ankommenden und abfahrenden Raumschiffen bewältigten. Da schwebte — greifbar nahe — das riesige Bauwerk der Weltraumstation und gleißte im Sonnenlicht. Oft genug hatte Thomas die Außenstation im Fernrohr vorüberhuschen sehen, wenn er in stillen Nächten auf der Sternwarte den Himmel durchmusterte. Doch nun, da das mächtige Gebilde, dieser von Menschenhand geschaffene Mond, unmittelbar vor ihm aufragte, benahm es ihm doch den Atem. Die Außenstation hatte die Form eines Rades von nahezu hundert Meter Durchmesser, das sich langsam um seine Achse drehte. Thomas wusste, wozu diese Drehung nötig war. Im Inneren der Station war nämlich alles schwerelos. Durch die Drehung wurden jedoch Fliehkräfte erzeugt, und dadurch wurden die Menschen, die sich im Radkranz der Station aufhielten, gegen die Außenwand gedrückt. Das täuschte ihnen die verloren gegangene Schwere vor und machte es ihnen wieder möglich, aufrecht zu gehen und zwischen oben und unten zu unterscheiden. Nur in der Achse der Außenstation, die wie ein Turm über das flache Bauwerk hinausragte, herrschte praktisch Schwerelosigkeit. Hier befanden sich auch die Anlegestellen für die Raumtaxis, denen Berger und Wilson in ihrem Fahrzeug jetzt zustrebten. Unten, in rund 1700 Kilometer Tiefe, dehnte sich das mächtige Bund der Erdoberfläche, mit ihren Festländern und Meeren, über weite Flächen hin von weißen Wolkenmassen eingehüllt. Und ringsum der nachtschwarze Himmel, von unzähligen, ruhig strahlenden Sternen übersät. An einer Stelle gleißte ein rundes, weißglühendes Loch inmitten der Schwärze, die Sonne am dunklen Firmament, umgeben vom zarten Schimmer der „Korona“, die man von der Erde aus nur bei totalen Sonnenfinsternissen wahrnehmen kann. „Ich wundere mich immer wieder darüber, was die Sonne hier am
dunklen Nachthimmel zusuchen hat“ sagte Walt Wilson kopfschüttelnd. Diesmal fühlte sich Thomas in seinem Element. „Das ist ganz einfach zu erklären. Bei uns dort unten auf der Erde ist es die Atmosphäre, die Lufthülle, die das Sonnenlicht zerstreut. Ihrer Wirkung verdanken wir es, dass wir am hellen, blauen Tageshimmel die Sterne nicht sehen können, während ...“ „... während sie in Wirklichkeit natürlich auch bei Tage am Himmel stehen“, fiel Wilson ein. „Ich verstehe. Und hier, im leeren Weltraum, wo es keine Luft gibt, kennt man auch keinen blauen Himmel. Sonne und Sterne sind stets gleichzeitig nebeneinander zu sehen.“ Die Verständigung zwischen den beiden Männern erfolgte über eine Telefonverbindung. Sie trugen luftdichte Schutzanzüge, und ihre Köpfe steckten in kugelförmigen Kunstglashelmen. Bei flüchtiger Betrachtung hätte man sie für Taucher halten können, die sich nur versehentlich in den Weltraum verirrt hatten. Walt Wilson deutete auf eine Anzahl von Lichtpunkten, die in größeren und kleineren Abständen scheinbar regellos die Station umschwirrten. „Ziemlich viel Betrieb heute. Man sieht, die Marsflotte wird startklar gemacht.“ Der Astronom konnte die Marsschiffe zwar nirgends entdecken, aber eine andere Wahrnehmung fesselte seine Aufmerksamkeit. „Sehen Sie doch, Mister Wilson: Was für ein Ungetüm schwebt denn da heran?“ Ein merkwürdiges Gebilde näherte sich langsam der Station — drei riesige aneinander gereihte Kugeln, dahinter eine Reihe Flammen speiender Düsen. Das Ganze wirkte wie aus einem Fiebertraum entsprungen. Der Kameramann warf nur einen flüchtigen Blick darauf. „Hier sehen Sie ein richtiges Raumschiff, Mister Berger, nicht so einen kümmerlichen Küstenrutscher wie der, mit dem wir von der Erde heraufgekommen sind. Schiffe dieses Typs verkehren zwischen Außenstation und Mondbasis. Da es auf der ganzen Fahrtstrecke keinen Luftwiderstand zu überwinden gibt, brauchen die Schiffe weder Granatenform noch Tragflächen zu besitzen. Die Konstrukteure können ihnen jede beliebige Form geben, die ihnen gerade zweckmäßig erscheint. Sehen Sie, wir sind da. Gleich werden wir in die Station
eingeschleust.“ In kühnem Bogen hatte der Pilot das Taxi an die Achse des Riesenrades herangeführt. Jetzt schwebte es dicht neben einer mannshohen, ovalen Öffnung in der Wand. „Bitte aussteigen, meine Herren“, sagte der Pilot und ließ die Kunstglashaube zurückschnellen. Vorsichtig tasteten sich die Passagiere an vorstehenden Griffen in die Öffnung hinein. Die Schiebetür der Luftschleuse schloss sich lautlos hinter ihnen. Als Thomas Berger, noch ganz benommen von den ungewohnten Eindrücken, aus der Schleusenkammer schwebte und mit der freien Rechten den Taucherhelm öffnete, während die Linke krampfhaft einen Haltegriff umklammert hielt, sah er sich einem tollen Wirbel durcheinander hastender Menschen gegenüber. Ein beleibter, bärtiger Mann in blauem Monteuranzug hangelte sich zu ihm heran. „Herr Berger?“ „Der bin ich“, erwiderte Thomas. „Können Sie mir sagen ...“ „Das kann ich“, erklärte der Bärtige bedächtig. „Der Kommodore hat mich geschickt, um Sie in die Zentrale zu bringen. Bitte folgen Sie mir. Übrigens: Otto Vogelsang ist mein schöner Name. Nennen Sie mich nur einfach Otto. Ich bin ohnehin völlig unmusikalisch und hatte schon auf der Schule im Singen 'ne Fünf.“ „Freut mich, sagte Thomas und reichte dem Dicken die Hand. „Was freut Sie?“ fragte Otto Vogelsang misstrauisch. „Das mit der Fünf?“ „Aber nein! Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Dies hier ist Mister Wilson von ‚Wolfes Tönender Wochenschau’.“ „Kenne ich bereits. He, Walt, alter Leierkastenmann, willst du etwa auch mit zum Mars?“ „Hallo, Otto, wie geht’s denn noch? Bist ja mächtig fett geworden seit dem letzten Mal. Ich fürchte, du hast hier auf der Station zu wenig Bewegung.“ Otto, der Bärtige, machte ein betrübtes Gesicht.
„Recht hast du, Walt. Das muss anders werden, sonst muss man womöglich die Wände aufschneiden, wenn ich hier eines Tages mal aussteigen will — weil ich mich durch die Schleusentüren nicht mehr hindurchzwängen kann. Habe mich daher entschlossen, als Maschinist die Reise mitzumachen.“ Wilson schüttelte den Kopf. „Eine wahre Schnapsidee, mein lieber Alter. Der faule Borddienst wird dich schließlich zum Platzen bringen. Ja, wenn du die Reise zu Fuß machen würdest ...“ „Sie sind ein Gemütsmensch, Mister Wilson“, lachte Thomas. „Sechzig Millionen Kilometer zu Fuß? Der Ärmste!“ Der beleibte Maschinist bahnte seinen Schutzbefohlenen einen Weg durch die durcheinander wirbelnden Besatzungsmitglieder, die es alle furchtbar eilig zu haben schienen. An einem Netzwerk ausgespannter Seile hangelten sie sich im Inneren der Achse zum Mittelpunkt des Rades hin. Von hier aus führte der Weg durch eine „Radspeiche“ in den äußeren Ring. Deutlich verspürte Thomas die Wirkung der Fliehkraft, die immer fühlbarer wurde, je weiter man sich vom Zentrum entfernte. Als sie den langen, gewölbten Rundgang erreicht hatten, kam es ihm vor, als befände er sich in einem Gebäude auf der Erde. Er konnte wieder aufrecht stehen und sich in der gewohnten Weise bewegen. Auch hier, im Hauptgang, ging es zu wie in einem Bienenhaus. Männer in blauer Arbeitskleidung und andere, die in eine Art hellblauer Trainingsanzüge gekleidet waren, eilten zwischen den Räumen hin und her, deren Türen auf den Gang mündeten. Thomas prallte mit einem hageren, alten Herrn zusammen, dessen Augen durch dicke Brillengläser funkelten, und der zu seiner Überraschung einen umfangreichen, in schwarzes Leder gebundenen Wälzer unter den Arm geklemmt trug. „Verzeihung, Sir“, stammelte er — und dann, an Otto Vogelsang gewandt: „Wer war denn das? Wozu braucht er denn hier, auf der Außenstation, dieses dicke Hauptbuch?“ „Das ist sein Beobachtungsjournal, von dem er sich niemals trennt“, grinste Otto. „Ich würde mich gar nicht wundern, wenn er es sogar nachts mit ins Bett nähme. Sawyer heißt der Mann übrigens.“ „Was? Dr. Sawyer, der bekannte Astronom?“ fragte Thomas über-
rascht. Er musste sich gestehen, dass er sich seinen neuen Chef ganz anders vorgestellt hatte. „Ja, ich glaube, er ist Marsforscher oder so was ähnliches“, erklärte Otto. „Halt, meine Herren! Hier ist die Zentrale.“ Er klopfte kurz an eine Schiebetür, riß sie auf und trat ohne weitere Umstände ein. Thomas und Wilson folgten ihm. Das Erste, was Thomas ins Auge fiel, war die verwirrende Menge von Instrumenten, Schalttafeln und Kontrolllampen, welche die gewölbten Wände vollkommen bedeckten. Messtechniker, in weiße Arbeitskittel gekleidet, standen vor geheimnisvollen Geräten und lasen die Skalen ab. Funker bedienten die Ultrakurzwellenanlage, sprachen in Mikrofone und reichten von Zeit zu Zeit eine Meldung zu dem runden Tisch in der Mitte des Raumes herüber, an dem ein halbes Dutzend Männer in eine erregte Auseinandersetzung vertieft saß. Gerade in diesem Augenblick sprang einer von ihnen auf und warf eigenwillig den Kopf zurück, dass sein blondes Haar im Schein der Neonlampen aufleuchtete. „Und ich sage Ihnen, meine Herren, es bleibt bei meinen Anordnungen. Unsere erste Fahrt zum Mars dient einzig und allein den Zwecken der Forschung. Wir wollen uns Klarheit darüber verschaffen, wie es in Wirklichkeit auf seiner Oberfläche aussieht, ob es dort Pflanzenwuchs gibt, ob wir Menschen seine Luft atmen können. Wir wollen das Geheimnis der Marskanäle lösen, Gesteinsproben entnehmen und alles tun, um zu ergründen, ob der Planet eines Tages von Menschen besiedelt werden kann. Aber es ist nicht unsere Aufgabe, schon bei diesem ersten Besuch Bodenschätze abzubauen, über deren Vorhandensein wir noch gar nichts wissen können.“ „Alles gut und schön, Kommodore“, begehrte ein anderer auf, ein dunkelhaariger Mann mit faltiger, lederartiger Gesichtshaut und buschigen Augenbrauen, „aber bis zum nächsten Besuch werden Jahre vergehen. Und wenn es uns nicht schon beim ersten Mal gelingt, die Geldgeber unserer Gesellschaft davon zu überzeugen, dass auf Mars die großartigsten Schätze zu holen sind, verlieren sie das Interesse, und eine zweite Expedition würde mangels Kleingelds ausfallen. Bringen wir dagegen mehrere Tonnen wertvoller Rohstoffe mit heim — Gold, Uranerz oder was sich sonst noch finden lässt ...“
„und wie wollen Sie diese Mengen zur Erde befördern, Mister French?“ „Wie ich schon andeutete: in einem der Frachtschiffe — in der C 2 zum Beispiel, die ja sowieso leer zurückkehren wird.“ „Bedenken Sie bitte, dass die Rückfahrt dieses Schiffes zusätzliche Treibstoffe beanspruchen würde. Nein, meine Herren, an unserem ursprünglichen Plan ist nichts mehr zu ändern. Die C 2 wird am Mars zurückgelassen, nachdem wir ihre restlichen Treibstoffe übernommen haben.“ „Vielleicht hat Mister French doch nicht so ganz unrecht“, wandte einer der anderen Herren ein. „Für alle Fälle sollten Sie alle erforderlichen Geräte mitnehmen, um mit der Ausbeutung etwaiger Bodenschätze zu beginnen: Bohrmaschinen, Bagger, Dynamit, die nötigen elektrischen Anlagen ...“ „Zeit genug hätten wir“, knurrte French. „Mindestens 400 Tage lang werden wir das Vergnügen haben, auf Mars zu hocken, bevor wir zur Rückreise starten können.“ „Stimmt, Mister French, aber in diesen 400 Tagen werden wir auch eine Menge Proviant verbrauchen, Nahrungsmittel und — Wasser. Alles dies müssen wir selbst mitbringen; denn es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass Mars freundlicherweise für unsere Verköstigung aufkommt. Jedes Kilo, das wir an zusätzlichen Gerätschaften mitnehmen, geht uns an Lebensmitteln verloren. Vergessen Sie das bitte nicht.“ Der Kommodore wandte sich an einen schlanken, grauhaarigen Mann in der hellblauen Tracht der Raumfahrer: „Herr Schelling, Sie prüfen noch einmal die gesamte Ladung der Schiffe anhand der Stückliste. Wir können es uns nicht leisten, auch nur den geringsten überzähligen Gegenstand mitzunehmen. — Ja, was gibt es denn?“ Otto Vogelsang hatte es für richtig gehalten, sich durch lautes Räuspern bemerkbar zu machen. Anscheinend kamen diese Herrschaften mit ihrem Palaver zu gar keinem Ende. „Herr Berger und Herr Wilson sind eingetroffen, Kommodore.“ „Thomas!“ Mit zwei Sätzen war der Kommodore um den Tisch herum und auf die Ankömmlinge zugestürzt. Sein Gesicht strahlte. Er schüttelte Thomas die Hand, dass der dachte, der Arm würde ihm ausgerissen. „Thomas, alter Junge! Prächtig, dass du mitmachst“
„Ich finde es prächtig, dass du dich nach all den Jahren noch an dein Versprechen erinnert hast. Gut siehst du aus, Edgar, hast dich kaum verändert seit den alten Zeiten.“ „Das kann ich auch von dir sagen, Thomas. Hallo, Wilson, Sie sind diesmal mächtig spät dran. Fast wären wir ohne Sie zum Mars gefahren.“ Der Kameramann zog ein gekränktes Gesicht. „Ausgeschlossen, Kommodore. Walt Wilson hat noch nie im Leben den Anschluss verpasst, nicht einmal im Hochland des Kuku-nor, in dem er noch vor zweimal vierundzwanzig Stunden weilte.“ „Kukunor? Wo liegt denn das?“ „Im tiefsten Tibet, Kommodore. Ich habe dort Wochenschauaufnahmen aus dem Leben der lamaistischen Mönche gekurbelt.“ „Das stelle ich mir furchtbar spannend vor“, erklärte Edgar Sommerfeld feierlich. Er fasste an sein Kinn und deutete einen langen Vollbart an. „Sie sind wirklich erstaunlich vielseitig, Wilson. Vorgestern noch im abgelegensten Hinterasien, heute auf der Weltraumstation, morgen unterwegs zum Mars...“ „Das ist nun mal das Tempo unserer Zeit, Kommodore. In meinem Beruf muss man möglichst überall gleichzeitig sein.“ Edgar Sommerfeld wandte sich wieder seinem Jugendfreund zu. „Hast du schon die Station besichtigt? Und was sagst du zu unseren Marsschiffen?“ „Offen gestanden — ich habe sie überhaupt noch nicht gesehen.“ Einer der Funker trat heran und reichte Edgar eine Meldung. Edgar überflog die Zeilen und kratzte sich am Kopf. „Nicht einmal für fünf Minuten hat man seine Ruhe. Entschuldigt mich jetzt bitte, aber Dienst ist Dienst. Ich werde Dr. Williams, den Stationskommandanten, bitten, euch inzwischen ein bisschen herumzuführen. Also, bis nachher...“ Einen besseren Führer durch die Außenstation, als Dr. Williams es war, hätte sich Thomas gar nicht wünschen können. Das war auch kein Wunder; denn Williams versah sein Amt bereits seit drei Jahren. Er kannte die Station bis in die entferntesten Ecken wie seine eigene Tasche und beantwortete bereitwillig die zahllosen Fragen seines Gastes. Thomas wurde durch die Arbeitsräume der Wissenschaftler und durch die Aufenthalts- und Schlafräume geführt, die jede erdenkliche Bequem-
lichkeit boten. In den Lagerräumen sah er neben Proviant und Geräten aller Art große Reservebehälter für Sauerstoff und Trinkwasser — für den Fall, dass einmal die Verbindung mit der Erde vorübergehend unterbrochen sein sollte. Da gab es Klimaanlagen und ein Laboratorium zur ständigen Kontrolle der Atemluft, Pumpen- und Maschinenräume, Beobachtungsräume für Erd- und Himmelsaufnahmen. Und allerorts herrschte das gleiche, emsige Treiben, das Thomas schon beim Betreten der Station aufgefallen war. „Es geht nicht immer so toll bei uns zu“, entgegnete Dr. Williams auf seine Frage. „Normalerweise ist es bei uns sogar recht still und eintönig. Aber heute, am Vorabend des Aufbruchs zum Mars, wimmelt es hier natürlich von Expeditionsteilnehmern und — diesen neugierigen Filmund Zeitungsmenschen.“ Walt Wilson, der sich den beiden angeschlossen hatte, grinste nur. Er ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Immer, wenn er etwas besonders Interessantes erspähte, trat seine Filmkamera für ein paar Augenblicke in Tätigkeit. „Eins ist mir unklar“, sagte Thomas, der vom vielen Schauen allmählich müde geworden war, „woher nehmen Sie nur all die viele Energie, die hier auf der Station gebraucht wird — für Heizung und Beleuchtung, für die Unzahl von Maschinen, die überall in Betrieb sind? Sie müssen ja einen geradezu unmäßigen Verbrauch haben.“ „Ja“, lachte Dr. Williams, „wären wir irgendwo auf der Erde, dann würden wir allmonatlich eine ganz beachtliche Stromrechnung ins Haus bekommen. Aber hier draußen kostet uns der Strom überhaupt nichts. Wir erzeugen ihn in unserem eigenen Kraftwerk, dessen Kessel mit Sonnenstrahlung geheizt werden. Kommen Sie nur, ich will Ihnen die Anlage zeigen. Wir gehen am besten gleich durch die TreibstoffAbteilung.“ Als sie den Raum, auf dessen Tür in weißer Farbe die Ziffer XII glänzte, betraten, hob der Stationsleiter witternd die Nase. In der Luft, die stark nach vergälltem Spiritus roch, lag unverkennbar der Duft von Zigarettenrauch. „Rauchen streng untersagt!“ buchstabierte Walt Wilson und zeigte grinsend auf eins der grellroten Warnungsschilder, die überall von den Wänden herableuchteten. Dr. Williams rannte bereits weiter. Im Eingang
zum Nebenraum prallte er mit zwei Männern zusammen, die — in blaue Wolken eingehüllt — angelegentlich die Köpfe zusammensteckten. „Ihr seid wohl total verrückt geworden?! Sofort die Zigaretten ausmachen, sonst...“ Die beiden Übeltäter fuhren auseinander. Thomas erkannte in dem einen von ihnen den dunkelhaarigen Mann aus der Zentrale wieder, den man mit „French“ angeredet hatte. Der andere, der ebenfalls eine Raumfahrerkombination trug, war ihm noch nicht begegnet. „Ach, Sie sind’s, Doktor“, brummte French mürrisch und reckte sich. „Nun regen Sie sich bloß nicht künstlich auf. Das geht ja wirklich scheußlich ungemütlich in Ihrem Betrieb zu. Nicht mal ‘ne harmlose Zigarette ist erlaubt. Das reinste Gefängnis...“ „Der Treibstoffraum ist kein Rauchsalon, Mister French. Ich hätte Ihnen etwas mehr Vernunft zugetraut. Und nun drücken Sie das Ding endlich aus — aber etwas plötzlich, wenn ich bitten darf.“ Auf Frenchs Stirn schwoll die Zornader. Nur mühsam beherrschte er sich. „Höchste Zeit, diese ungastliche Stätte zu verlassen. Na ja, morgen um diese Zeit bin ich schon unterwegs zum Mars.“ In hohem Bogen flog die glimmende Zigarette auf den Boden. Frenchs Begleiter stieß einen Schrei aus... Eine bläuliche Flamme sprang auf, huschte schnell in der Richtung des Hauptraums weiter und leckte an den Behältern empor. Thomas erschrak. Eine Leitung musste wohl undicht geworden sein. Frenchs achtlos fortgeworfene Zigarette hatte den ausgelaufenen Brennstoff entzündet. „Feuer!“ Der Schreckensruf gellte durch den Raum und hallte hohl von den Wänden wider. Die automatische Feuermeldeanlage, die sofort Alarm auslöste, wenn die Temperatur an irgendeiner Stelle der Station über den Normalwert stieg, trat in Tätigkeit. Sirenen heulten in den Gängen. Auf den Transparenten flackerte die Nummer des gefährdeten Abschnitts: Abteilung XII — Abteilung XII... „Raus!“ kommandierte der Stationsleiter. Mit pochendem Herzen und zitternden Knien stolperte Thomas hinter den anderen her. Er hatte keinen klaren Gedanken. Nur die dumpfe Empfindung einer entsetzlichen Gefahr beherrschte ihn. In der Tür zum
Hauptgang stieß er auf eine Gruppe von Männern in weißen Asbestanzügen. „Vorsicht! Zur Seite, Mann!“ Schläuche ringelten sich über den Boden wie lange, graue Schlangen. Aus den Strahlrohren spritzte der weiße Schaum chemischer Löschmittel in die wabernden Flammen. Aber es schien unmöglich zu sein, die Feuersbrunst einzudämmen. Der Kommandant des Löschtrupps setzte die Signalpfeife an die Lippen. Schritt für Schritt zogen sich seine Männer gegen den Hauptgang zurück. Dr. Williams schaltete die Fernsprechanlage ein, die in einer kleinen Wandnische eingebaut war. Eine blecherne Stimme meldete sich im Lautsprecher. „Zentrale.“ „Hier spricht der Kommandant. Befehl an alle: Äußerste Alarmbereitschaft! Raumschutzanzüge anlegen! Alles klar zum Verlassen der Station! Schotte dicht! Bitte wiederholen.“ Thomas achtete nicht auf die Antwort, die verzerrt aus dem Lautsprecher tönte. Wie gebannt starrte er auf die flackernden Signallampen. Das auf- und abschwellende Sirenengeheul dröhnte ihm in den Ohren. Mit bangem Gefühl sah er, wie die metallenen Schotten aus dem Boden des Ganges herauf wuchsen und der Decke zustrebten, bis die gefährdete Abteilung hermetisch abgeriegelt war. Er kam sich vor wie in einer Falle gefangen und rettungslos verloren. „Achtung, Zentrale“, vernahm er wieder Dr. Williams’ ruhige Stimme: „Abteilung XII — fluten!“ Wie einen „ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht“ erblickte Thomas unter den Löschmannschaften plötzlich die massige Gestalt Otto Vogelsangs. Der Dicke wischte sich den Schweiß von der Stirn und spuckte ungeniert aus. Thomas trat auf ihn zu: „Haben Sie gehört, Otto? Er will die Abteilung fluten lassen. Wie ist denn das möglich? Im Weltraum gibt es doch kein Wasser.“ „Sie dürfen das nicht so wörtlich nehmen“, erklärte Otto. „In Wirklichkeit ist es nämlich so: Wenn ein Schiff auf hoher See eine Feuersbrunst in seinen Eingeweiden hat, und alle Stricke reißen, dann kann der Kapitän immer noch die Flutventile öffnen lassen. Hat er Glück, dann löscht das eindringende Meerwasser den Brand, bevor sein Kahn absäuft. Bei uns
auf der Außenstation werden in solchen Fällen auch die Außenventile geöffnet. Dann entweicht die Luft in den Weltraum, und...“ „...das Feuer wird durch Sauerstoffmangel erstickt. Ich verstehe. Eigentlich ist es eine ebenso einfache wie sichere Methode, die überhaupt nicht versagen kann.“ „Nun, so sicher ist sie auch wieder nicht. Da drinnen braucht nämlich bloß eine Sauerstoffleitung geplatzt zu sein, und alle unsere Mühe wäre vergeblich gewesen. Wahrscheinlich würde es dann nicht lange dauern, bis die ganze Bescherung explodierte.“ „Um Himmels willen, Otto. Malen Sie nicht den Teufel an die Wand!“ Thomas trat an eines der Gangfenster und spähte hinaus. Dampfwolken, die sich schnell im Raum ausbreiteten, versperrten ihm den Blick auf die brennende Abteilung. In der Nähe, oberhalb des Turmes, wimmelte es von Raumtaxi und kleinen Raketenfahrzeugen. „Sie schicken uns Rettungsboote — für den Fall, dass die Station aufgegeben und evakuiert werden muss“, sagte Otto. Er hatte sich — wie alle anderen auch — inzwischen in eine der Weltraumkombinationen gezwängt, die überall griffbereit für den Notfall bereit hingen; nur den Kunstglashelm hatte er noch nicht aufgesetzt. Erst jetzt bemerkte auch Thomas die großen, schwerfälligen Raumschiffe, die im Hintergrund warteten und bereit waren, die Besatzung der Station im Notfall aufzunehmen. Glücklicherweise sollte es jedoch nicht mehr dazu kommen. Im Lautsprecher meldete sich wieder die Zentrale. „Achtung, die Fernanzeige gibt folgende Messwerte aus Abteilung XII an: Luftdruck zwanzig Millimeter, Temperatur minus fünf Grad, weiter fallend...“ „Was bedeutet das?“ wollte Thomas wissen. „Das bedeutet“, erwiderte Dr. Williams freudig, „dass das Feuer gelöscht ist. Für dieses Mal sind wir mit einem blauen Auge davongekommen. Achtung, Zentrale! Der Alarm ist beendet.“ Die Sirenen heulten Entwarnung. Lautlos öffneten sich die Schotte. Ein erleichtertes Aufatmen ging durch die Schar der Männer. Unverzüglich begannen sie mit den Aufräumungsarbeiten. „Kapitän French“, sagte Dr. Williams, und seine Stimme klang kalt.
„Melden Sie sich unverzüglich beim Kommodore.“ Und zu Thomas: „Sie sehen abgespannt aus, Mister Berger. Kommen Sie mit zu einem Drink. Im Augenblick gibt es hier doch nichts mehr für uns zu tun.“ Ja, Thomas Berger fühlte sich wirklich reichlich angeschlagen. Ein Kognak würde ihm gut tun. Dankbar nahm er die Einladung des Stationsleiters an. Mitten in der Nacht fuhr Thomas aus unruhigem Schlummer hoch. Er richtete sich auf und blickte sich verständnislos in der schmalen, nüchtern eingerichteten Kammer mit den gewölbten, weißgestrichenen Wänden um. Eine matte Tischlampe verbreitete dämmeriges Licht. Die elektrische Uhr über der Tür zeigte auf zehn Minuten vor drei. Endlich kehrte ihm die Erinnerung zurück. Richtig, seit gestern war er ja auf der Weltraumstation, und diese enge Kammer war die Kabine, die der freundliche Dr. Williams ihm für die Nacht zugewiesen hatte. Eigentlich war es töricht, hier von „Nacht“ zu sprechen. Thomas wusste, dass die Station in rasend schneller Fahrt um die Erde kreiste. Das musste so sein, denn sonst würde sie der Anziehungskraft der Erde erliegen und abstürzen. In je zwei Stunden vollendete sie einen vollen Umlauf. Während der meisten Zeit bewegte sie sich dabei im Sonnenlicht; nur, wenn sie in den Schatten der Erdkugel eintauchte, wurde es für kurze Augenblicke Nacht in der Station. Die Besatzungsmitglieder aber waren an den Wechsel von Tag und Nacht gewöhnt, wie er ihnen von der Erde her vertraut war. Man hatte daher auch den Dienstbetrieb in der Außenstation einem willkürlichen Vierundzwanzig-StundenRhythmus angepasst. Die Zentrale bestimmte darüber, wann es „Nacht“ war. Dann wurden die Bullaugen in den Schlafräumen abgedunkelt, und die Mannschaft legte sich zur Ruhe. Thomas blickte noch einmal auf die Uhr. Drei Uhr Stationszeit — das bedeutete, dass er noch drei Stunden schlafen konnte bis zum Wecken. Nach den vielen neuen Eindrücken und den Aufregungen des vergangenen Tages hatte er die Ruhe bitter nötig. Er legte sich auf die Seite, schloss die Augen und versuchte, an nichts zu denken. Aber der Schlaf wollte nicht kommen. Unruhig wälzte Thomas sich hin und her. Am kommenden Tage sollte das große Abenteuer beginnen: Die erste Fahrt, die Erdenmenschen zum fernen, rötlich
strahlenden Planeten Mars wagten. Kein Wunder schließlich, dass er „Reisefieber“ hatte. Kurz entschlossen stand Thomas auf und zog sich an. Er trat ans Fenster, öffnete die Verdunkelungsvorrichtung und schaute in das unendliche Sternenmeer hinaus. Ein heller, rötlicher Stern wanderte vorüber — durch die Achsendrehung der Station vorbeigeführt: Mars... Das berufliche Interesse des jungen Astronomen erwachte. Hier, auf der Weltraumstation, wo keine Lufthülle die Beobachtung behinderte, musste es doch möglich sein, im Fernrohr Bilder von geradezu märchenhafter Schärfe und Vollkommenheit zu erhalten. Thomas trat auf den Gang hinaus und fuhr mit dem Lift in die Spitze des Turmes hinauf, wo sich die drehbare Sternwarte der Station befand. Einen Augenblick musste er gegen einen widerwärtigen Schwindel ankämpfen; denn in diesem Teil der Außenstation herrschte völlige Schwerelosigkeit. Endlich hatte er Kopf und Glieder wieder in der Gewalt. Er tastete sich im Dunkel nach einem mittelgroßen Spiegelfernrohr hin und stellte das rote Gestirn mit dem Sucher ein. Plötzlich hielt er mitten in der Bewegung inne. Waren da nicht seltsame Geräusche in der Nähe? Klangen nicht gedämpfte Stimmen von der Tür her? Thomas hatte keine Schritte vernommen — aber wie sollte er auch? In der Schwerelosigkeit dieses Teils der Raumstation bewegte man sich ja schwebend vorwärts. Einer plötzlichen Eingebung folgend, verhielt Thomas sich mucksmäuschenstill. In der dämmerigen Helle des offenen Türrahmens tauchten jetzt zwei menschliche Gestalten auf. Einen Augenblick lang schienen sie regungslos in das Observatorium hinein zustarren. Dann machte einer der Männer eine wegwerfende Handbewegung und sagte: „Keine Sorge, Fred, hier sind wir allein. Wir können uns ungestört unterhalten.“ Thomas, der zum unfreiwilligen Lauscher geworden war, zuckte zusammen. Diese Stimme kannte er doch. Wenn das nicht Kapitän French war, dem er am vergangenen Tage wiederholt begegnet war... Was suchte er hier zu nächtlicher Stunde, anstatt wie die anderen zu schlafen? Dr. Williams hatte Thomas erzählt, dass French der Kommandant des zweiten Passagierschiffs sei, das mit zum Mars fahren würde. Aber Thomas kam gar nicht dazu, seinen Gedanken weiter nach-
zuhängen. Frenchs Begleiter flüsterte erregt: „Vorsicht, Bob! Diese Astronomen sind die reinsten Nachtfalter das liegt in ihrem Beruf. Sollte mich gar nicht wundern, wenn noch einer von den Burschen da drinnen an seinem Fernrohr hockte.“ „Unsinn, Fred. Da, überzeuge dich selbst.“ Thomas erschrak, als der scharfe Lichtkegel einer Taschenlampe aufblitzte und durch den Raum fingerte. Der Strahl huschte über den großen Kometensucher, an den gewölbten Wänden entlang, verweilte sekundenlang auf dem Schreibpult im Hintergrund und erlosch. „Na also, Fred. Bist du nun beruhigt? Und nun leg mal los: Hat alles geklappt?“ „Bestens, Bob. Allerdings hat mir das kleine Feuerwerk, das du in Abteilung XII losgelassen hast, die Arbeit sehr erleichtert.“ „Das stand nicht im Programm“, unterbrach ihn French ärgerlich. „Eine Unachtsamkeit, die mir unterlief, und die fast die ärgsten Folgen gehabt hätte. Der Kommodore hat mir eine ganz ekelhafte Szene gemacht. Er hätte mich am liebsten postwendend zur Erde zurückgeschickt. Es war mein Glück, dass er in der Eile keinen Ersatzmann mehr auf treiben konnte.“ „Du hast also Bewährungsfrist bekommen?“ lachte der andere spöttisch. „Man kann es so nennen. Aber komm nun endlich zur Sache.“ „Jedenfalls war das Durcheinander für meine Zwecke sehr segensreich“, fuhr Frenchs Begleiter fort. „Im Augenblick, als die Zentrale höchste Alarmstufe meldete, stürzte sich alles, was draußen in den Raumschiffen Dienst tat, in die Raketenfahrzeuge und raste los, um zu helfen. Habe mich nur gewundert, dass es bei der Raserei keine Verkehrsunfälle gab.“ „Zur Sache, Fred! Wundern kannst du dich nachher immer noch. Unterwegs zum Mars hast du Zeit genug dafür.“ „Na, meinetwegen“, entgegnete Fred gekränkt. „In diesem Tohuwabohu fiel es dann gar nicht auf, dass ein Raumtaxi von der Station aus davon flitzte und zwischen den Marsschiffen untertauchte.“ „Hast du alles an Bord bringen können?“ „Mühelos, Bob. Wenn du etwas Bestimmtes suchen solltest, dann schau mal im Laderaum des Frachtschiffs C 2 nach.“
„Warum ausgerechnet in dar C 2?“ «Weil mir zufällig bekannt war, dass Kollege Schelling dieses Fahrzeug schon kontrolliert hatte.“ „Ausgezeichnet. Aber wie hast du es angestellt, für unsere Kisten den nötigen Platz zu schaffen?“ „Kleinigkeit, Bob. Ich habe die Backbord-Ladeluke aufgemacht und ein paar Behälter über Bord gehen lassen, die ich gerade zu fassen kriegte. Alles ging viel schneller, als ich gedacht hatte.“ French seufzte erleichtert. „Damit wäre die Hauptsorge beheben. Alles Weitere dann, an Ort und Stelle. Komm jetzt, Fred, es ist nicht nötig, dass man uns hier findet.“ Der andere zögerte noch. „Und — du vergisst doch unsere Abmachung nicht?“ „Ich vergesse sie nicht, Fred. Wenn wir Erfolg haben, bekommst du fünfundzwanzig Prozent vom Reingewinn.“ Die Stimmen entfernten sich. Thomas Berger verharrte noch eine Weile in seiner regungslosen Stellung. Das war ja eine höchst verdächtige Geschichte, die von den beiden ausgeheckt wurde. Thomas konnte sich zwar absolut nicht vorstellen, was das Ganze zu bedeuten hatte, aber die Heimlichkeit, mit der es geschah, wollte ihm nicht gefallen. Was für Kisten mochten das sein, die dieser Fred in den Laderaum des Frachtschiffs C 2 geschmuggelt hatte? Durfte es denn sein, dass er dafür kurzerhand andere Lasten in den Raum hinausbeförderte? Thomas hatte sich zwar nicht näher mit allen Einzelheiten der Raumfahrerei beschäftigt, aber so viel wusste er doch, dass jedes Kilo mitgenommener Fracht aufs Genaueste überlegt und einkalkuliert war. Ein willkürlicher Eingriff, wie ihn Fred offenbar begangen hatte, konnte das ganze Unternehmen in Gefahr bringen. Als Thomas in die Station hinunterkletterte, war er entschlossen, mit Edgar über sein nächtliches Erlebnis zu sprechen. Doch in diesem Augenblick erwachte der künstliche Mond zu neuem Tagewerk, und im Wirbel der Ereignisse, die der Abfahrt der Marsschiffe vorausgingen, hatte der Astronom sein Vorhaben bald vergessen.
ALLEIN IM NICHTS Die Menschheit hatte eine neue Sensation. Mehr als reichlich — ja, fast bis zur Übersättigung — war die Welt in den letzten Jahrzehnten mit gewaltigen technischen Rekordmeldungen überrascht worden. Da rasten Düsen-Ferntransporter über die Autobahnen der Kontinente. Raketenflugzeuge von riesigen Ausmaßen beförderten ihre Passagiere in kühnem Sprung durch die Stratosphäre von Europa nach Amerika und brauchten dazu nicht mehr als eine Stunde. Atomkraftgetriebene Ozeanriesen pflügten die Weltmeere und umrundeten den Erdball immer und immer wieder, ohne jemals Treibstoff nachtanken zu müssen. Die Ingenieure hatten künstliche Monde in den Weltraum entsandt — winzige, unbemannte Körper zunächst, die nur mit selbsttätigen Messinstrumenten befrachtet waren und später durch die große Außenstation ersetzt wurden. Nicht lange nach ihrer Vollendung starteten die ersten Raketenschiffe zum Mond, und kühne Pioniere des Weltraums gründeten die Mondbasis, die erste menschliche Niederlassung auf einem fremden Himmelskörper. Doch jetzt stand der Menschheit ein besonderes Wagnis bevor, das alles Bisherige in den Schatten stellen musste: Eine Flotte der größten und modernsten Raumschiffe sollte Sendboten der Erde über mehr als fünfundfünfzig Millionen Kilometer Nichts zum Mars bringen, zum roten Planeten, dessen Rätsel von jeher die Phantasie der Erdbewohner entzündet hatten. Die Abfahrt der Marsschiffe von der Außenstation war auf zwölf Uhr Weltzeit angesetzt worden. Dieser Termin musste unter allen Umständen eingehalten werden. Die Flugbahn der Schiffe war von den Astronomen und Astronautikern bis ins kleinste vorausberechnet worden. Kommodore Sommerfeld, der Leiter der Expedition, musste sich auf die Sekunde genau an den Fahrplan halten, wenn er im gleichen Augenblick mit dem Zielplaneten am errechneten Treffpunkt im Weltraum erscheinen wollte. Vom frühen Morgen an belagerten die Menschen an allen Orten der Erde die Rundfunk- und Fernsehgeräte. Jeder wollte dabei sein, wenn die Raumflotte ihre große Fahrt begann — auch wenn er das historische Ereignis nur von fern, am Empfänger, mit-
erleben durfte. Auf den Bildschirmen der Fernsehgeräte wechselten in rascher Folge Stimmungsbilder von der Außenstation und Ansichten der Raumschiffe. Hin und wieder gelang es den unermüdlichen Reportern auch, einen der besonders prominenten Fahrtteilnehmer vor Mikrophon und Kamera zu zerren und ihn in größter Hast und Aufregung mit einer Unzahl törichter Fragen zu überfallen. „Meine Damen und Herren, wir befinden uns mit dem Mikrophon vor der Zentrale der Außenstation. Gerade öffnet sich die Tür zum „Allerheiligsten“, dessen Betreten heute nur wenigen Auserwählten gestattet ist. Einige Raumschiffsoffiziere und Wissenschaftler treten heraus, unter denen die markante Erscheinung... — ah, der Kommodore persönlich! Gestatten Sie, Kommodore, dass ich einige Fragen an Sie richte, die für alle Menschen, die jetzt drunten auf der Erde an den Empfangsgeräten sitzen, von höchstem Interesse sind: Wie lange wird Ihre Reise voraussichtlich dauern — hin und zurück natürlich? Wird Ihnen der Proviant nicht ausgehen? Wie gedenken Sie, Ihre Freizeit zu gestalten? Was halten Sie von den Marskanälen? Auf welche Art werden Sie sich mit den Marsmenschen verständigen? Was wollen Sie tun, wenn Sie von Fliegenden Untertassen angegriffen werden? Wie denken Sie über...“ „Halt, halt!“ Der Kommodore wehrte lachend ab. „Das sind mehr Fragen, als ich in den wenigen Minuten bis zum Start beantworten kann. Unsere Reise wird, wenn alles gut geht, ziemlich genau 969 Tage dauern. Proviant haben wir genug mit. An Marsmenschen glaube ich nicht — und an Fliegende Untertassen auch nicht, wenigstens nicht auf Mars. Grüßen Sie mir die alte Erde, mein Lieber, und nun entschuldigen Sie mich.“ Er gab dem schwitzenden Reporter einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter und wirbelte davon. Die Meute der Presse-, Rundfunk- und Kameramänner stürzte sich auf ein neues Opfer. Unbeirrt krochen die Uhrzeiger über die Zifferblätter. Der Augenblick des Starts rückte heran... Im Hauptgang vor der Zentrale waren sie angetreten, die fünfunddreißig wagemutigen Männer, die entschlossen waren, alle Unbilden
und Gefahren der Fahrt ins Ungewisse auf sich zu nehmen. Alle trugen bereits die hellblauen, zweckmäßigen Weltraumanzüge, deren Material ihnen bei etwaigem Aufenthalt im leeren Raum — wenigstens für begrenzte Zeit — ausreichenden Schutz gegen die Gefahren der kosmischen Strahlung gewährte. Durch Aufsetzen des Kunstglashelms ließ sich der Anzug in eine vollkommen luftdichte und drucksichere Kombination verwandeln, die es dem Träger erlaubte, sich im Weltraum zu bewegen. Sie alle, Wissenschaftler wie Techniker, hatten sich freiwillig zu dem Unternehmen gemeldet. Forscherdrang und wissenschaftliche Neugier mochten für viele die Triebfedern gewesen sein, bei anderen hatte zweifellos Abenteuerlust den Ausschlag gegeben. Allen jedoch schwebte das ferne, lockende Ziel vor Augen: Mars, der rote, rätselumwobene Planet. Dieses Ziel schmiedete sie zusammen zu einer festen Schicksalsgemeinschaft, mochten sie auch in ihrem Wesen und in ihren Erwartungen noch so verschieden sein. Thomas hatte ein Gefühl, als stände er unmittelbar vor einer Prüfung, auf die er nicht genügend vorbereitet wäre. Es war eine Art Lampenfieber. Ein flüchtiger Blick in die Gesichter seiner Kameraden überzeugte ihn davon, dass es ihm nicht allein so ging. Nur Otto, der Bärtige, der in seiner ungefügen Weltraumtracht noch rundlicher wirkte als sonst, schien von allem unberührt zu sein. Anscheinend konnte ihn nichts erschüttern. „Ich beneide Sie um Ihre Ruhe, Otto“, flüsterte Thomas mit verkrampften Kiefern. „Wollte Gott, ich könnte mich so sicher fühlen wie Sie.“ „Geben Sie sich nur keinen Illusionen hin“, brummte der Dicke in seinen Bart. „Ich habe die Hosen genau so voll, wie alle die anderen auch. Ich lasse mir nur nichts anmerken. Was sagen Sie eigentlich zu Ihrem Chef?“ „Dr. Sawyer? Ich sehe ihn nirgends.“ Otto wies mit einer Kopfbewegung nach links. „Da drüben, am anderen Ende. Er ist nicht zu verkennen.“ Thomas musste lächeln. Er vergaß minutenlang seine Angst und Unsicherheit. Dr. Sawyer stolzierte feierlich auf und ab und redete mit erhobenem Zeigefinger auf einen braungebrannten, weißhaarigen Herrn ein, der Thomas bisher noch nicht aufgefallen war. Unter den Arm
geklemmt trug Sawyer das unvermeidliche Protokollbuch. „Wer ist denn der andere, Otto?“ „Dr. Dannenberg, unser Schiffsarzt. Ihr Chef ist nicht gut auf ihn zu sprechen, seit der Doktor einmal in seiner Gegenwart gewagt hat zu erklären, die Sache mit den Marsbewohnern sei Mumpitz.“ Die Tür der Zentrale öffnete sich, und Edgar Sommerfeld erschien, vom Stationsleiter und einem Dritten in Raumfahrerkleidung begleitet. Die Blitzlichter der Pressephotographen flackerten. „Wer ist denn dieser braungelockte Jüngling neben dem Kommodore?“ wollte Thomas wissen. „Einer unserer besten Männer: Teddy Hamilton. Er fährt als Steuermann auf dem Flaggschiff mit.“ Die Gespräche im Gang verstummten. Der Kommodore trat einen Schritt vor. Seine Züge wirkten ernst und gespannt, und in seinen Augen lag ein seltsamer Glanz. Unwillkürlich nahm jeder der Männer Haltung an. „Kameraden, nun ist es endlich so weit“, begann Edgar. „Ich brauche nicht mehr viele Worte zu machen. Alles, was zu sagen war, ist bereits gesagt worden. Wir gehen jetzt an Bord der Schiffe. Dr. Williams wird um zwölf Uhr Weltzeit das Startsignal von der Station aus geben. Von diesem Augenblick an wird das Startmanöver planmäßig ablaufen, so wie wir es hundertmal durchexerziert haben.“ Edgar machte eine Pause und schöpfte tief Atem. Sein Blick wanderte der Reihe nach von einem zum anderen. „Wir wissen nicht, welche Gefahren und Überraschungen der rote Planet für uns bereithält. Doch so viel weiß ich bestimmt: Wir werden allen Gefahren gewachsen sein, wenn wir Disziplin wahren und in allen Situationen — mag kommen, was will — unbedingt zuverlässig zusammenhalten. Das ist es, was ich euch noch zu sagen hatte. Denkt immer daran... Und nun, Doktor, lassen Sie die Männer an Bord bringen.“ Der Stationskommandant ließ seine Blicke über die Reihen der Männer schweifen. In seinem Gesicht zuckte es, als müsste er gegen eine innere Bewegung ankämpfen, doch als er jetzt seine Anordnungen erteilte, klang seine Stimme ruhig und gefasst. „Die Besatzung der Terra begibt sich nach Schleusenkammer III, die
Luna-Besatzung nach Nummer IV. Alle übrigen verlassen die Station durch Luftschleuse VI. Gute Fahrt, Kameraden, und — auf Wiedersehen!“ „Auf Wiedersehen, Mister Williams! Auf ein gesundes Wiedersehen!“ Die Expeditionsteilnehmer zogen im Gänsemarsch nach den Luftschleusen im Turm der Station und verteilten sich auf die einzelnen Kammern. Thomas, der zur Besatzung des Flaggschiffs, der Terra, eingeteilt war, fand sich in der Gesellschaft Edgar Sommerfelds, Walt Wilsons, Schellings, Hamiltons, Dr. Dannenbergs und Otto Vogelsangs wieder, als sich die Schleusentür hinter ihm schloss. Dann waren da noch der Bordfunker der Terra, ein junger Mann namens Pietro Boni, und die Maschinisten Smith und Harras. Schon vor dem Betreten der Schleusenkammer hatten die Raumfahrer die kugelförmigen Kunstglashelme aufgestülpt und sie luftdicht an ihren Weltraumkombinationen verschraubt. Sie waren nun vollkommen von der Außenwelt abgeschlossen und konnten sich nur durch eingebaute Sprechfunkeinrichtungen miteinander verständigen. Als die Kammer luftleer gepumpt war, und die Außentür sich langsam öffnete, sahen die Männer die unförmigen Kolosse der fünf Marsschiffe in einigen hundert Meter Entfernung schweben und wie fremdartige Fabelwesen im Sonnenlicht glänzen... Von der Zentrale aus verfolgte der Stationskommandant alles, was draußen im Raum geschah, vor dem Fernsehgerät. Er sah, wie die Besatzung der Schiffe die Raumtaxis verließ und sich an Bord begab.
Die kleinen Transportfahrzeuge legten sofort wieder ab, nachdem sie das Wachpersonal übernommen hatten, das bisher die Schiffe betreut hatte. Unverzüglich kehrten sie zur Station zurück. Gleichmäßig kroch der Sekundenzeiger über das große Zifferblatt der Weltzeituhr. Der Minutenzeiger sprang auf 11.59 Uhr. „X minus eins“, kam es gepresst von den Lippen Dr. Williams. „X minus eins“, wiederholte einer der Schaltingenieure gleichmütig und legte einen Hebel um. Am Turm der Außenstation blinkten farbige Signallampen auf. Im gleichen Augenblick fuhren Flammen aus den Hecks der fünf Raumschiffe. Die Triebwerke waren gezündet worden, aber sie arbeiteten noch nicht mit voller Kraft. Alles geschah in gespenstischer Lautlosigkeit; denn im Weltraum fehlte ja die Luft, die das Brausen der mächtigen Raketenmotoren hätte weitertragen können. „Noch dreißig Sekunden — noch zwanzig — fünfzehn — zehn — fünf — vier — drei — zwei — Achtung — jetzt!“ Drei rotleuchtende Raketen stiegen vom Turm der Station in die Schwärze des Firmaments: das Startsignal! Aus den Düsen der Raumschiffe schossen die Flammen mit äußerster Gewalt. Jetzt kam Bewegung in die scheinbar so plumpen Giganten. „Terra“, das Flaggschiff, setzte sich an die Spitze. Ihr folgten gestaffelt in gleichmäßigen Abständen die riesenhaften Rümpfe der drei Transporter. Den Schluss bildete das Raumschiff „Luna“, unter Kapitän Frenchs Kommando. Lichtsignale morsten letzte Abschiedsgrüße zwischen Raumschiffen und Außenstation hin und her. Schneller wurde die Fahrt der Flotte. Schon waren die Schiffe dem bloßen Auge nur noch als eine Kette aus fünf hellen Sternen erkennbar. Dr. Williams verließ die Zentrale und sauste im Lift zum Observatorium hinauf. Bereitwillig räumte ihm einer der Beobachter seinen Platz am Okular ein. Mit seltsamen Empfindungen, einer Mischung aus Stolz und Bangen, schaute Williams den entschwindenden Raumschiffen nach, die eine Schar kühner Erdenmenschen dem größten aller Abenteuer entgegen trugen — der Reise zum Mars, dem Bruderplaneten der Erde. Würden Edgar Sommerfeld und seine Männer das ferne Ziel erreichen? Und würden sie dereinst die heimatliche Erde Wiedersehen? Drunten auf der Erde hatten die rund drei Milliarden Menschen den
Augenblick des Starts an den Lautsprechern und Fernsehempfängern miterlebt. Die Begeisterung der ganzen Menschheit jubelte hinter den fünfunddreißig Pionieren des Weltraums her... Kommodore Sommerfeld und seine Gefährten wussten nichts davon. Sie hätten gar keine Zeit gehabt, auch nur einen einzigen Gedanken an ihre Mitmenschen auf der Erde zu verschwenden. Das Startmanöver nahm sie ganz in Anspruch. Soweit wie möglich war natürlich jeder Handgriff in wochenlangen Übungen immer und immer wieder durchgeprobt worden. Aber das war bei ruhendem Antrieb geschehen. Es ging ja schließlich nicht an, mit voller Motorenkraft Probefahrten in der näheren Umgebung der Außenstation durchzuführen. Jedes Kilo an Treibstoffen, das für die Marsschiffe benötigt wurde, musste durch Zubringerraketen mühsam von der Erde zur Außenstation heraufgeschafft werden, und die Zubringerschiffe verbrauchten für den eigenen Antrieb mehr als das Zweihundertfache der von ihnen beförderten Nutzlast. Zwar hatte man die Raketentriebwerke, die eine Rückstoßkraft von einigen hundert Tonnen entwickelten, zuvor auf der Erde in riesigen Prüfständen erprobt, und sie hatten sich allen Anforderungen gewachsen gezeigt — aber würden sie auch jetzt, im Ernstfall, durchhalten? Würden sie die stundenlange Antriebszeit überstehen, ohne durchzuschmoren, von schlimmeren Zwischenfällen ganz zu schweigen? Edgar Sommerfeld hatte für die Dauer des Startmanövers vorsorglich jeden Posten an Bord der Terra doppelt besetzen lassen. Er selbst hatte seinen Platz im Führerstand im Bug des Schiffes bezogen. Neben ihm saß Teddy Hamilton, der Steuermann, angeschnallt — jederzeit bereit einzuspringen, wenn Edgar durch einen unvorhergesehenen Zufall die Kontrolle über die Terra verlieren sollte. Im Heck waltete Ingenieur Schelling mit seinen drei Maschinisten vor den Schalt- und Kontrolltafeln des Maschinenraums. Thomas war dem Funker zugeteilt worden und hockte neben Pietro Boni eingepfercht in der engen UKWStation. Dr. Dannenberg hielt sich in der gegenüberliegenden Unfallstation in Bereitschaft. Nur Walt Wilson, der Reporter von „Wolfes Tönender Wochenschau“, genoss völlige Bewegungsfreiheit. Mit seinem Aufnahmegerät bepackt, das hier im Weltraum glücklicherweise so gut
wie kein Gewicht besaß, raste er durch die Räume der Terra und von Fenster zu Fenster, um den historischen Augenblick des Aufbruchs zum Mars in allen Einzelheiten auf «einen Film zu bannen. „Fahren wir eigentlich schon?“ erkundigte sich Thomas unsicher. Er hörte wohl ein fernes, gedämpftes Brausen vom Mittelgang hereindringen und spürte auch ein leises Zittern in den Wänden. Der so lästige Zustand des schwerelosen Schwebens war verschwunden. Wohl war die gewohnte Erdenschwere nicht voll zurückgekehrt, aber man wusste doch wieder, wo oben und unten war. Der Funker wendete für einen Moment den Blick von dem weißen Streifen des Morsetelegraphen. „Wir fahren schon seit fünf Minuten, Herr Berger. Schauen Sie nur mal aus dem Fenster.“ Vorsichtig tastete sich Thomas an das Bullauge heran. Obwohl das Fensterglas dick war und aus einem besonders widerstandsfähigen Kunststoff bestand, war es doch überraschend gut durchsichtig. Zuerst erkannte Thomas nichts als das unübersehbare Gewimmel der Sterne am nachtschwarzen Firmament. Doch dann nahm er plötzlich drei, vier größere Lichtflecke wahr, die scheinbar unbeweglich zwischen den Sternen standen. Ihre Gestalt war nicht deutlich zu erkennen; das lag offenbar daran, dass die Sonnenstrahlen nur einen Teil von ihnen beleuchteten. Es konnte sich nur um die anderen Schiffe der Expedition handeln. „Ich sehe die Transportschiffe und die „Luna“. Die Abstände scheinen mir aber erstaunlich groß zu sein.“ „Ist auch besser so“, erwiderte Boni kurz. „Bei dieser Affenfahrt dürfen wir einander nicht zu dicht auf den Pelz rücken.“ Wieder blickte Thomas hinaus. „Donnerwetter — das ist ja kaum zu glauben! Da drüben sehe ich die Außenstation. Ganz klein und unauffällig sieht sie schon aus. Sollten wir wirklich schon so weit entfernt sein? Da — jetzt ist sie plötzlich verschwunden. Sie ist in den Erdschatten getaucht.“ „Und die Erde selbst?“ fragte der Funker, und seine Stimme klang gepresst. Thomas sah die Erde nicht, so sehr er sich auch bemühte. Nur ein großes, schwarzes Loch gähnte in der Tiefe inmitten der Sternenpracht. Doch plötzlich glühte am Rand der Schwärze ein schwaches Leuchten
auf, wurde heller und lief in eine schmale, glänzende Sichel aus. Auf der Erde drunten ging die Sonne auf. Ihre ersten Strahlen brachen sich in den höchsten Schichten der Atmosphäre. Ein neuer Tag zog herauf... Mit einem Seufzer wandte Thomas sich in die kleine Kammer zurück. Ihm war plötzlich ganz sonderbar zumute. Heimweh griff roh nach seinem Herzen. Ein Sonnenaufgang auf der Heimaterde, die nun schon so weit entfernt im Raum schwebte, als Stern unter Sternen... Würde er die Erde mit all ihren Wundern jemals Wiedersehen? Aus der Lautsprecheranlage klang jetzt die vertraute, ruhige Stimme Edgar Sommerfelds: „Achtung — noch eine Minute bis Brennschluss. Bitte anschnallen! Von diesem Augenblick an herrscht wieder völlige Schwerelosigkeit. Achtung — noch vierzig Sekunden.“ Brennschluss. Das bedeutete, dass die Rückstoßmotoren nach einstündiger Antriebsdauer abgeschaltet würden. Wie ein abgefeuertes Geschoss würde die Terra von jetzt ab in einer lang gestreckten, elliptischen Bahn zum Zielplaneten fliegen, und mit ihr die vier anderen Schiffe. Sie hatten nun die erforderliche Anfangsgeschwindigkeit erreicht, die sie aus dem Anziehungsbereich der Erde forttrug. Eine weitere Beschleunigung war nicht mehr nötig. Es bedeutete zugleich, dass die geringe Schwere, die durch das Arbeiten der Triebwerke im Inneren der Raumschiffe vorgetäuscht worden war, schlagartig verschwinden würde — für 260 lange Tage. Auf die Sekunde genau verstummte das Triebwerk. Vollkommene Stille löste das gedämpfte Brausen und Zittern ab. Thomas kämpfte sekundenlang gegen das scheußliche Schwindelgefühl an, das ihn abermals zu überwältigen drohte; doch setzte es ihm diesmal nicht mehr so arg zu, wie beim ersten Mal, auf der Überfahrt von der Erde zur Außenstation. Er verließ die Funkstation und hangelte sich an den überall angebrachten Griffen und Halteseilen bis zum Führerraum hin. „Herein mit dir, alter Junge!“ klang ihm Edgars Stimme aufgeräumt entgegen. „So, das hätte ja fabelhaft geklappt. Das Schlimmste liegt nun hinter uns.“ „Und was liegt vor uns?“ fragte Thomas mit einem etwas verkrampften Lächeln. „Fast drei Vierteljahre Freizeit - nur unterbrochen von dem bisschen
täglichen Borddienst. Kannst du dir einen besseren Erholungsurlaub vorstellen als diesen? 200 Tage lang in süßem Nichtstun schwelgen...“ Thomas betrachtete den Freund mit zweifelndem Blick. Würde dieses 260tägige Nichtstun wirklich eine Erholungszeit für sie werden? Barg es nicht so manche Gefahr, über die sie sich noch gar nicht klar geworden waren? Zehn Menschen an Bord der Terra— allein im Nichts - für drei Vierteljahre auf engem Raum zusammengepfercht und nur sich selbst überlassen... Ein unbehagliches Gefühl überkam Thomas bei dem Gedanken an die Zukunft. Er durchquerte den Führerstand und begab sich in den Beobachtungsraum. Durch die großen Fenster schaute das Universum mit seiner schweigenden Lichterpracht herein. Schräg seitwärts glänzte ein helles, rötliches Gestirn. In weiter Ferne lockte Mars, das Ziel der großen, langen Reise...
SCHIFFBRUCH IM WELTRAUM Tag für Tag veröffentlichten Presse und Rundfunk die Standortmeldungen der Marsschiffe. Allabendlich um die gleiche Zeit strahlte der Bordsender der Terra diese Nachrichten aus, und oft waren auch noch knappe Berichte über das Leben an Bord angefügt. Meist waren die Meldungen äußerst kurz gefasst; denn die Raumschiffe mussten mit ihren Reserven an elektrischer Energie sparsam umgehen. Und außerdem ereignete sich an vielen Tagen überhaupt nichts, das erwähnenswert gewesen wäre. Die Menschen auf der Erde, die begierig jeden Funkbericht von Bord der Terra verschlangen, erlebten die Wunder des Weltalls und all die kleinen Abenteuer der Raumschiffbesatzungen mit. Doch nach und nach erlahmte ihre Begeisterung. Mars, das Reiseziel, war noch weit. Und als wenig später in Helsinki die Endrunden um die diesjährige FußballWeltmeisterschaft begannen, hatte die Menschheit eine neue Sensation. Das Interesse der Allgemeinheit wandte sich von den Sendboten der Erde ab, die fern im Kaum einem unerforschten Ziel entgegeneilten. Den meisten war es gar nicht aufgefallen, dass schon seit einiger Zeit keine Funkmeldungen von der Terra mehr einliefen. Da der Bordsender zu schwach war, um die ständig wachsende Entfernung zur Erde zu überbrücken, hatte der Kommodore dem Klinker Boni Anweisung gegeben, die regelmäßigen Sendungen einzustellen. Ein paar Tage lang schwiegen die Marsschiffe. Doch eines Tages sah einer der Beobachter auf der Außenstation, die den Weg der Flotte vom Observatorium aus mit lichtstarken Fernrohren verfolgten, Lichtpunkte aufblitzen, die sich nur als Morsezeichen deuten ließen: ... Strich... Punkt... Punkt - Strich - Punkt ... Punkt - Strich - Punkt... Punkt - Strich ... Hieß das nicht Terra? Atemlos stürzte der Beobachter aus dem Observatorium, überschlug sich ein paar Mal, weil er vor Aufregung ganz vergessen hatte, dass er sich ja in schwerelosem Zustand befand, und jede Bewegung wohl bedacht sein wollte. Er turnte bis in den Hauptgang des Riesenrades hinunter, stolperte vorwärts und war noch völlig außer Puste, als er in der Zentrale dem Stationschef gegenüberstand.
Dr. Williams hörte sich das Gestammel des Mannes verdrießlich an. Das einzige, was er zu erwidern wusste, war die nicht sehr liebenswürdige Bemerkung: „Sie haben wohl schlecht geträumt, Maxwell? Die Schiffe sind bereits einige Millionen Meilen von uns entfernt. Ausgeschlossen, auf eine solche Distanz Lichtpunkte zu messen.“ „Aber - ich bin meiner Sache vollkommen sicher, Sir.“ „Dann hätten Sie es mir auch telephonisch melden können. Warum laufen Sie wie ein Irrer in der Station herum und suchen mich? Inzwischen sind die Schiffe längst aus dem Gesichtsfeld verschwunden.“ „Das ist nicht zu befürchten, Sir. Ich hatte die Schiffe genau im Fadenkreuz, und in der Zwischenzeit kann sich kaum etwas verändert haben. Kommen Sie mit?“ Brummend folgte ihm der Stationsleiter. Als er sich in den Gurten des Beobachtungsstuhls angeschnallt und das Okular eingestellt hatte, stieß er einen leisen Pfiff aus. „Donnerwetter, Maxwell, Sie haben recht gehabt. Die Terra morst Lichtsignale. Wie sie das anstellt, ist mir zwar ein Rätsel, aber es verhält sich tatsächlich so. Wollen doch mal sehen, was Sommerfeld auf dem Herzen hat.“ Dr. Williams griff zu einem Block und notierte die Zeichen. Maxwell, der ihm über die Schulter zusah, übertrug die Meldung: „...auch jetzt noch keine nennenswerten Vorkommnisse …stop ...Strahlenschutz erweist sich als ausreichend ...stop …Bisher keinerlei Schädigungen durch kosmische Strahlung ...stop ...Bei einigen Teilnehmern neuartige Krankheitssymptome beobachtet ...stop ....Offenbar hervorgerufen durch langdauernde Schwerelosigkeit ...stop ...Schiffsarzt empfiehlt Schaffung künstlicher Schwerebedingungen ...stop ...Sonst alles in Ordnung ...stop ...Sommerfeld...“ „Hier, Maxwell“, rief der Stationschef wie elektrisiert und riß das Blatt vom Block ab. Es war nur gut, dass er sich angeschnallt hatte; die heftige Bewegung hätte ihm sonst unfehlbar eine Reihe unfreiwilliger Purzelbäume eingebracht. „Geben Sie das sofort an die Funkstelle durch — zur Weitergabe nach der Erde. Die Terra meldet sich wieder. Hurra!“ Schlagartig wandte sich das Interesse der Menschheit wieder den Marsschiffen zu. Die Nachricht vom Ausbruch einer unbekannten
Raumkrankheit erregte die Phantasie der Allgemeinheit und brachte die Gemüter der Mediziner in Wallung. Die Fachzeitschriften brachten gelehrte Abhandlungen, und die Tagespresse wusste ihren Lesern täglich Neues über die Natur dieses seltsamen Leidens zu berichten, das man auf der Erde nicht kannte. Namhafte Forscher vertraten die Ansicht, es handelte sich um eine Art Gemütskrankheit, hervorgerufen durch den langen Aufenthalt im leeren Raum und in einer Umgebung, die fremd und beklemmend auf die Menschen einwirken musste. Andere erklärten diese Meinung als vollkommenen Unsinn und gaben der Schwerelosigkeit Im Raumschiff die gesamte Schuld. Wieder andere glaubten an die Einflüsse geheimnisvoller Weltraumstrahlungen, von denen die Forscher bisher nichts geahnt hatten, weil die irdische Lufthülle sie abschirmte. Schließlich drang der Verdacht auf unbekannte Weltraumbakterien als Urheber der Krankheit immer mehr durch. Schon erhoben hier und da Überängstliche ihre Stimmen und forderten, bei der Rückkehr der Raumschiffe eine strenge Quarantäne über die Fahrtteilnehmer zu verhängen. In Wirklichkeit wusste man allerdings so gut wie gar nichts über die Raumkrankheit. Die Berichte von Bord der Terra waren viel zu knapp und gaben keine Einzelheiten wieder. Eines Tages blieben sie gänzlich aus. „Raumschiff Terra antwortet nicht mehr!“ „Wo ist Kommodore Sommerfelds Marsflotte geblieben?“ „Katastrophe im Weltraum?“ Die Schlagzeilen der Zeitungen schrieen die Sensation in die Welt hinaus. In spaltenlangen Artikeln ergingen sie sich in Vermutungen, für die einstweilen kaum ein Grund vorhanden war. Vergeblich wiesen Einsichtige immer wieder auf die letzte Botschaft Sommerfelds hin, welche die Außenstation mit dem stärksten ihrer Fernrohre aufgefangen hatte. „Stellen Nachrichtenübermittlung bis auf weiteres ein“, hatte es darin geheißen, „da Abstand zur Erde zu groß geworden. Fahrtverlauf bisher im Allgemeinen planmäßig. Melden uns auf Rückreise wieder. Grüßen die Erde und alle unsere Lieben. Sommerfeld.“ Die Menschheit wollte es einfach nicht wahrhaben, dass alles in Ordnung sei. Vermutlich wollte man sie nur beruhigen und hatte die
letzte Botschaft der Terra zu diesem Zweck frei erfunden. Wer konnte wissen, was in den unendlichen Tiefen des Alls tatsächlich geschehen war? Hatte die unheimliche Raumkrankheit die Besatzungen übermannt? Waren die Schiffe das Opfer eines Unfalls geworden? Oder waren etwa — feindselige Marsbewohner am Werk? Eine geschäftstüchtige illustrierte Zeitung griff diesen Gedanken auf und schlachtete ihn zu einer schauerlich-aufregenden Artikelfolge aus. Die glorreichen Tage der „Fliegenden Untertassen“ feierten ihre Auferstehung. Natürlich war alles Unsinn, was da behauptet wurde, aber die Leser merkten es gar nicht. Die Zeitung konnte ihre Auflage vervielfachen, und ihre „Tatsachenberichte“ wurden in alle Sprachen des Erdballs übersetzt. Wohl wussten die Raumfahrt-Sachverständigen, dass das Schweigen, das sich über die Marsflotte gebreitet hatte, nichts Bedrohliches bedeutete. Doch für die Mehrzahl der Menschen waren die Raumschiffe einem Verhängnis zum Opfer gefallen, einem unheilvollen Rätsel, dessen Schleier wohl nie gelüftet werden würde. Die Weltraumfahrer ahnten indessen nichts von dem Wirrwarr, den sie durch ihr Schweigen in den Köpfen ihrer Mitmenschen angerichtet hatten. Sie hätten auch gar nichts ändern können; denn ihre Entfernung von der Erde war jetzt tatsächlich so groß geworden, dass es für sie kein Mittel mehr gab, sich nach außen hin verständlich zu machen. „Der Spiegel hat uns bei der optischen Nachrichtenübermittlung wertvolle Dienste geleistet“, sagte Edgar Sommerfeld zum Ingenieur der „Terra“, „aber jetzt brauchen wir ihn nicht mehr. Lassen Sie ihn abmontieren, Schelling.“ Die beiden standen am Fenster im Führerraum des Flaggschiffs und schauten auf den großen Hohlspiegel aus dünnem, glänzend poliertem Metall hinaus, der an einem langatmigen Halter seitwärts aus dem Schiffsrumpf herausragte. Er war durch Fernsteuerung von der Funkstation des Schiffes aus zu bewegen und war als Blinkgerät von großen Ausmaßen verwendet worden. Karl Schelling nickte und tastete sich zur Personenrufanlage hin, um seine Maschinisten zusammenzutrommeln. In diesem Augenblick mischte sich Dr. Dannenberg lebhaft in das Gespräch. „Wollen Sie das Gerät wirklich entfernen lassen, Kommodore?“
„Gewiss, es nützt uns nichts mehr. Oder haben Sie damit bestimmte Pläne, Doktor?“ „Man müsste es umbauen“, entgegnete der Schiffsarzt sinnend. „An die Stelle des Spiegels sollte man eine allseitig geschlossene Kabine setzen und diese nachher um die Längsachse des Schiffes umlaufen lassen.“ „Ich weiß, worauf Sie hinauswollen, Doktor. Es ist der alte Vorschlag, die fehlende Schwerkraft durch Fliehkraft zu ersetzen, ganz ähnlich, wie man es ja auch in der Außenstation erlebt, wenn sie sich um ihre Achse dreht.“ „Allerdings, Kommodore. In diese Schwerekammer würde ich alle Fahrtteilnehmer von Zeit zu Zeit der Reihe nach hineinstecken, damit sie sich von der ständigen Schwerelosigkeit im Schiff erholen können. Wir Menschen sind nun einmal in unserem ganzen körperlichen Bau auf die gewohnte Erdanziehung eingestellt. Bewegen wir uns wochen- und monatelang in gewichtslosem Zustand, so entartet die Muskulatur, und wenn wir später zur Erde zurückkehren, sind wir der Schwerkraft nicht mehr gewachsen.“ „Abscheulicher Gedanke“, meinte Otto, der Bärtige, der inzwischen mit Smith und Harras hereingekommen war. „Platt wie ‘ne Briefmarke würde man werden...“ „Du würdest eine besonders große abgeben — bei dem Bauch“, grinste Smith. „Nennwert mindestens fünf Dollar.“ „Nun macht mal keine dummen Witze“, knurrte Schelling den beiden zu. Laut fuhr er fort: „Eine Kabine, wie der Doktor sie haben will, ließe sich schon bauen. Aber müsste die Terra nicht aus der Bahn gerissen werden, wenn diese Kabine wie verrückt am Schiffskörper zerren würde?“ „Keine Sorge, Schelling“, wehrte Edgar ab. „Dazu wären ganz andere Kräfte erforderlich. Fangen Sie nur gleich mit dem Umbau an. Dr. Dannenberg wird Ihnen sagen, wie er sich die Geschichte vorstellt.“ Während diese Unterredung im Führerraum der Terra stattfand, hockte Thomas Berger vor seinen Instrumenten im Beobachtungsstand. Nach einer Vereinbarung mit Dr. Sawyer, der sich an Bord der Luna befand, wollte man sich zunächst nicht mit der Untersuchung des Zielplaneten abgeben. Mars war noch viel zu weit, und es gab andere
Beobachtungen in Hülle und Fülle, die den Astronomen interessant und wichtig waren. Thomas notierte gerade die Ablesungen der GeigerZähler, die zur Messung der Weltraumstrahlung verwendet wurden, als Walt Wilson, der Wochenschaureporter, in bester Laune hereingeschwebt kam. „Bitte, recht freundlich!“ rief er und hob die stets schussbereite Kamera. „Das gibt eine prächtige Aufnahme. Begleittext: Der Bordastronom bei der täglichen Entfernungsmessung ...“ „Hallo, Walt!“ Thomas sah erfreut von seiner Arbeit auf. Er mochte den stets gut aufgelegten Kameramann gern leiden und hatte sich längst mit ihm angefreundet. „Hast du die Raumkrankheit endlich überwunden? Übrigens bist und bleibst du ein abscheulicher Sprüchemacher. Jedes Kind würde sofort erkennen, dass man mit diesen Geräten Strahlen misst und keine Entfernungen.“ „Ach was — Strahlen... Solltest dich lieber darum kümmern, ob die Entfernung zum Mars nicht kleiner wird. Aber da rückt und rührt sich nichts. Unser Kommodore behauptet zwar, wir führen mit ungeheurer Geschwindigkeit durch den Raum, aber ich merke nichts davon. Jeden Tag das gleiche Bild, wenn ich aus dem Fenster schaue: Sterne, Sterne — und noch dazu immer dieselben.“ „Das wird sich auch dann nicht ändern, wenn wir jahrelang mit der Terra gefahren sind“, sagte Thomas, „All die Sterne, die wir draußen sehen, sind so weit von uns entfernt, dass sie ihren scheinbaren Platz am Himmel für das Auge behalten. Selbst wenn wir bis zum Pluto führen, bis an die Grenzen des Sonnensystems, würden die Sternbilder dasselbe Aussehen haben, wie daheim am Himmel der Erde.“ „Alles schön und gut, mein Lieber, aber Mars müsste doch wenigstens näher kommen.“ „Das ist auch wirklich der Fall. Er strahlt bereits viel heller, als wir es von der Erde her gewohnt sind. In ungefähr hundert Tagen...“ „Hör auf, Tom! Wenn ich nur daran denke, dass ich noch so lange in diesem Kasten eingesperrt sein soll, werde ich auf der Stelle raum-krank. Warum, zum Teufel, drückt der Kommodore nicht einfach auf die Tube und steuert Mars direkt an, anstatt antriebslos in einer Bahnellipse
dahinzuschlittern, bis der verabredete Treffpunkt erreicht ist?“ „Edgar würde nichts lieber tun, als die Fahrtdauer abkürzen. Aber es geht nun einmal nicht. Er muss Treibstoffe sparen. Jedes Kilogramm davon ist hier im Weltraum kostbar.“ „Man müsste eben Atomkraftraketen bauen.“ Thomas zuckte die Achseln. „Ich sprach neulich mit Edgar über diese Möglichkeit. Er schien nicht viel davon zu halten, und seine Gründe leuchteten mir ein. Solch ein Atommeiler — stark genug, um ein Raumschiff zu treiben — wäre ein ganz stattlicher Brocken, und es dürfte nicht einfach sein, seine Bestandteile von der Erde zur Außenstation heraufzuschaffen. Hinzu kommt, dass der Atommeiler allein noch kein Rückstoßmotor ist.“ „Eigentlich jammerschade“, stellte der Reporter betrübt fest. „Im Zeitalter der Atomrakete wird man in ganzen 75 Tagen zum Mars fliegen können, habe ich mir sagen lassen, und wir brauchen mehr als dreimal so viel.“ „Gewiss, Walt, aber sollten wir nicht froh sein, dass uns die Technik überhaupt die Möglichkeit gibt, zu anderen Gestirnen zu fahren? Sollten wir da nicht diese unvermeidlichen Zeitverluste getrost in Kauf nehmen?“ „Na ja, Tom, wie man’s nimmt. Ich denke nur gerade daran, was mir inzwischen auf der alten Erde alles durch die Lappen geht.“ Der kleine, rothaarige Reporter setzte eine wichtige Miene auf und begann, bedächtig an den Fingern der linken Hand abzuzählen: „Erstens, die internationale Fußballmeisterschaft, zweitens, die Wahl der Miss Universum in Palm Beach, drittens, die große Flottenparade in ...“ Lachend unterbrach ihn Thomas. „Glaubst du denn wirklich, Walt, dass du da viel versäumst? Beruhige dich nur: Ich bin fest davon überzeugt, dass „Wolfes Tönende Wochenschau“ auch dann vertreten sein wird, wenn sich ihr tüchtigster Reporter unterwegs zum Mars befindet.“ Walt Wilson lächelte geschmeichelt. Er zog eine dickbauchige Flasche aus den unergründlichen Taschen seiner Raumfahrertracht und versuchte, sie zu entkorken. „Was ist denn da drin, Walt?“ „Die beste Medizin gegen die Raumkrankheit“, sagte der kleine Reporter. „Es ist... Hoppla!“
Mit lautem Knall gab der Verschluss nach. Die Flüssigkeit, die unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit nicht herauslaufen konnte, wie es unter irdischen Verhältnissen selbstverständlich gewesen wäre, quoll aus dem Flaschenhals und ballte sich zu dicken Kugeln zusammen. Wie Seifenblasen schwebten sie in der Luft herum. Wilson haschte mit der hohlen Hand nach der nächstbesten. Die Kugel teilte sich in mehrere kleine, die von den Wänden und Gegenständen des Beobachtungsraums zurückprallten und dabei in immer kleinere Kügelchen zerfielen. Bald war alles in einen Nebel aus Whiskyschwaden gehüllt. „Pfui Teufel!“ rief Thomas. Er bekam einen Hustenanfall. „Hättest du doch besser aufgepasst, du Unglücksrabe! Jetzt können wir nichts anderes tun, als den Raum verlassen und lüften. Schlimm genug — wo jedes bisschen Atemluft so kostbar ist.“ Hustend und keuchend drängten die beiden Männer zur Tür. Doch als Thomas einen letzten prüfenden Blick auf die Instrumente warf, hielt er plötzlich inne. Was war denn nur mit dem Radargerät los, das die leeren Gefilde des Weltraums vor dem Bug der Terrazu kontrollieren hatte? „So komm doch, Mensch“, würgte Walt Wilson. „Wie lange willst du den edlen Stoff denn noch inhalieren, du alter Genießer?“ Und er machte, dass er hinauskam. Thomas Berger starrte auf den Bildschirm und die Anzeigegeräte. Er versuchte, die lästigen Schwaden zu vertreiben. Nein, da war kein Zweifel möglich: Weit voraus, in der Bahn der Raumschiffe, trieben irgendwelche unbekannten Hindernisse. Er musste Edgar warnen, ehe es zu spät war... Hastig notierte er die Ablesungen der Instrumente. Dann verließ auch er fluchtartig den Raum, dessen Luft inzwischen kaum noch atembar war. Edgar Sommerfeld saß mit Dr. Dannenberg bei einer Schachpartie im Führerraum, als Thomas aufgeregt hereinkam. „Hallo, Thomas, was bringst du uns Schönes?“ fragte er ahnungslos. „Was heißt hier Schönes'? Vor uns treiben irgendwelche verdächtigen Körper. Wenn mich nicht alles täuscht, kreuzen sie direkt unsere Bahn.“ „Um Himmels willen!“ Mit erstaunlicher Eile befreite sich Edgar aus
den Gurten und tastete sich zum Pilotensitz hin. Er drückte einen Knopf und führte das Mikrophon an die Lippen. „Hallo, Funkstation — bitte melden!“ Aus dem Lautsprecher klang die Stimme Pietro Bonis. Edgar befahl ihm, Sprechverbindung mit der Lunaherzustellen und Dr. Sawyer zu rufen. Bereits nach wenigen Sekunden meldete sich der Astronom. „Gerade wollte ich Sie anrufen, Kommodore. Sie kommen! Ich habe es ja vorausgesehen.“ Edgar machte ein ziemlich dummes Gesicht. „Wer kommt, Doktor? Ich verstehe nicht ganz...“ „Die Marsbewohner natürlich. Unser Radargerät hat sie einwandfrei ausgemacht. In spätestens zwölf Stunden treffen wir mit ihnen zusammen.“ Thomas schüttelte den Kopf. „Ich glaube, da ist der Wunsch der Vater des Gedankens“, sagte er zu Edgar. „Sawyer schwört nun mal auf die Marsbewohner und bildet sich allen Ernstes ein, sie wären uns technisch überlegen. Ich wüsste allerdings eine bessere Erklärung: Wahrscheinlich ist es ein Meteorschwarm, der unsere Bahn schneidet.“ „Meteoriten? O...weh“, stöhnte Edgar, „nein — dann lieber Marsmenschen. Die halte ich nämlich für weniger gefährlich.“ „Ich verstehe immer Meteoriten, ließ sich die gereizte Stimme Dr. Sawyers vernehmen. „Das ist äußerst unwahrscheinlich. Wenn sich der Kollege Berger die Mühe machte, im Jahrbuch nachzusehen, würde er erkennen, dass unser Kurs nirgends die Bahn eines Meteorschwarms kreuzt.“ Das dickleibige „Astronautische Jahrbuch“, ohne das kein Raumschiff auf Fahrt gegangen wäre, war schnell zur Hand. Und ebenso schnell hatte sich Thomas davon überzeugt, dass tatsächlich weit und breit keiner der bekannten Meteorschwärme, die zu bestimmten Zeiten des Jahres die Erdbahn kreuzen und leuchtende Sternschnuppen in der Atmosphäre erzeugen, zu erwarten war. „Dann handelt es sich eben um einen kleineren, unbekannten Schwärm“, beharrte Thomas auf seiner Meinung. „Oder — wahrscheinlicher noch — um einen Kometen.“ „Ein Komet?“ fragt der Schiffsarzt. „Das kann ich mir nicht denken.
Dann müssten wir doch einen prächtigen Schweif sehen.“ „Der Schweif entwickelt sich immer erst dann, wenn der Komet auf seiner Bahn durch den Weltraum in die Nähe der Sonne kommt“, belehrte ihn Thomas. Auf Grund der Radarmessungen führten die beiden Astronomen nun eine genaue Bahnbestimmung der rätselhaften Körper durch. Sie verglichen ihre Ergebnisse über die Sprechfunkverbindung, bevor Thomas den Kommodore abermals aufsuchte. Mit gerunzelter Stirn hörte Edgar dem Freund zu. „Wir könnten natürlich ein Ausweichmanöver durchführen“, überlegte er, „aber das würde erheblichen Treibstoffverlust bedeuten. Wie du sagst, wird es voraussichtlich auch gar nicht zu einem Zusammenstoß kommen?“ „Die größeren Brocken dürften in einem Abstand von etwa tausend Kilometer an uns vorüberziehen“, erklärte Thomas. „Aber es ist anzunehmen, dass sie von einem weit ausgedehnten Schwarm von kleineren Teilchen umgeben sind.“ Edgar Sommerfeld kaute unschlüssig auf seiner Unterlippe. Eine schwere Verantwortung lastete in diesem Augenblick auf ihm. Sollte er das Wagnis auf sich nehmen und unbeirrt am bisherigen Kurs festhalten? Er kannte die tödlichen Gefahren eines Zusammenstoßes mit umherziehenden kosmischen Steinchen, selbst wenn diese noch so klein und anscheinend harmlos waren. Das Leben seiner Kameraden, das Schicksal der ihm anvertrauten, kostbaren Raumschiffe stand auf dem Spiel. Andererseits konnte es das Scheitern der ganzen Expedition bedeuten, wenn durch langwierige Ausweichbewegungen Unmengen unersetzlicher Treibstoffe verloren gingen. „Wir müssen es wagen“, entschied er endlich. Dann ordnete er für die gesamte Marsflotte höchste Alarmbereitschaft an. Träge schlichen die Stunden an Bord der Terra dahin. Die Männer kauerten an den Radargeräten im Beobachtungsraum, an der Steuerung im Führerstand, vor den Schalttafeln des Maschinenraums und an den Funkgeräten. Jeder von ihnen trug die schwere Raumtaucherausrüstung. Im äußersten Notfall brauchte er nur mit einem einzigen Handgriff den Kunstglashelm aufzustülpen, mit einem zweiten Griff das Sauerstoffventil zu öffnen — und schon war er außer Gefahr, falls wirklich ein
Meteorstein die Schiffswand durchbohren sollte, und die Atemluft in den Raum entwich. Thomas Berger, der in diesen Stunden eine der verantwortungsreichsten Pflichten an Bord auszuüben hatte, saß vor dem automatischen Radargerät im Beobachtungsraum. Unablässig verfolgte er das Näher kommen der verdächtigen kosmischen Körper. Er las die Instrumente ab und gab die Zahlenwerte in die elektrische Rechenmaschine. Walt Wilson, der neben ihm saß, meldete die Ergebnisse durch das Bordtelefon an den Führerstand weiter, wo Edgar Sommerfeld sie an Hand eines Raumfahrplans mit dem Kurs der Marsschiffe verglich. „Wir haben noch einmal Glück gehabt“, freute sich der Kommodore. „Die Rechnung geht auf. Wir werden den Schwarm links liegenlassen — um Haaresbreit ...“ „Und wenn die Meteoriten von kosmischem Staub umgeben sind?“ gab Hamilton, der Steuermann, zu bedenken. „Wenn uns solch eine Staubwolke streift, wird es uns ergehen, wie in einem Sandstrahlgebläse — bei der Affenfahrt, die wir drauf haben.“ „Allerdings, Teddy. Aber wenn diese Gefahr wirklich bestünde, müssten wir schon etwas davon merken. Nach Thomas letzten Messwerten haben wir in knapp fünfzehn Minuten die größte Annäherung an den Schwarm erreicht. Bald sind wir außer Gefahr.“ „Kommodore, geben Sie Acht: die Außenbordthermometer!“ Edgar ließ seinen Blick über die elektrischen Anzeigegeräte wandern, an denen man die Temperatur an jeder Stelle der Außenwand des Schiffes ablesen konnte. Für gewöhnlich hatten die Zeiger stets den gleichen Stand. Auf der Schattenseite lagen sie unmittelbar über dem absoluten Nullpunkt, auf der Sonnenseite wesentlich höher. Doch Tag für Tag zeigten sie dieselben Temperaturwerte an. Jetzt aber war plötzlich Bewegung in die dünnen Metallfinger geraten. Langsam krochen sie über die Teilstriche empor, der roten Marke entgegen, die anzeigte, dass die Erhitzung der Schiffswand einen gefährlichen Grad erreicht hatte. Zwei, drei Minuten lang beobachtete Edgar gespannt die Instrumente. Dann atmete er auf. „Der Meteorstaub scheint nur ganz dünn verteilt zu sein. Die Reibungswärme kann uns nicht gefährlich werden. Allerdings müssen wir immer noch auf Überraschungen gefasst sein. Es wird gut sein, die
Motoren für alle Fälle laufen zu lassen.“ Er schaltete die Verbindung zur Funkstation ein und hob das Mikrophon an die Lippen. „Befehl an sämtliche Schiffe: Vorstufe einschalten. Fahrzeuge unbedingt in Kiellinie und im befohlenen Abstand halten. Bitte wiederholen.“ Schon wenige Sekunden später trafen die Bestätigungen von den drei Transportschiffen ein. Nur die Luna ließ merkwürdig lange auf sich warten. Edgar verlor die Geduld. „Schlafen die Kerle da drüben denn? Hallo, Funkstation: Rufen Sie die Luna noch einmal!“ Abermals vergingen Minuten äußerster Spannung. Endlich meldete sich wieder die Stimme Pietro Bonis im Lautsprecher: „Die Luna antwortet nicht auf Anruf, Kommodore.“ Ein scheußliches Angstgefühl schlich sich in Edgars Herz. Das Raumschiff Luna meldete sich nicht. Unter gewöhnlichen Umständen hätte das kein Grund zur Besorgnis zu sein brauchen; denn es bestand durchaus kein Anlass, während der ganzen 260 Tage der Überfahrt die Funkstationen der Schiffe ständig besetzt zu halten. Aber jetzt verhielt es sich anders. Die Flotte befand sich in Alarmzustand. Unmittelbare Gefahr drohte ihnen allen, und jeder einzelne Mann hatte in diesen Augenblicken auf seinem Posten zu sein. Irgendetwas stimmte an Bord der Luna nicht. Noch einmal las Edgar rasch die Außenthermometer ab und tastete sich dann an eins der großen Rundfenster, die den Blick nach achtern freigaben. Da schwebten im befohlenen Abstand die drei Transporter — und am Schluss die Luna. Es war das gewohnte Bild. Plötzlich zuckte Edgar zusammen. Aus dem Heck der Lunaschoss ein riesiger Feuerstrahl. Die Raketenmotoren des Schiffes arbeiteten mit äußerster Kraft. Die Lunabeschleunigte ihre Fahrt, scherte aus dem Verband der Raumfahrzeuge aus und schickte sich an, die Transportschiffe zu überholen. Edgar schüttelte fassungslos den Kopf. „French muss verrückt geworden sein. Was fällt ihm nur ein, ausgerechnet jetzt ans der Reihe zu tanzen?“ „Vielleicht will er uns überrunden, um als erster am Mars zu sein“, meinte Teddy Hamilton.
Der Kommodore hörte gar nicht hin. „Solch ein Wahnsinn! Wenn er diesen Kurs beibehält, kommt er der kosmischen Staubwolke gefährlich nahe. Funker, versuchen Sie noch einmal, die Luna zu erreichen.“ Pietro Boni tat sein möglichstes, aber es kam keine Antwort. Inzwischen hatte die Luna das Flaggschiff weit hinter sich gelassen. Sie war in den Bereich von Thomas Radargerät geraten und störte seine Peilungen empfindlich. „Da scheint sich ein riesig fetter Brocken an uns heranzuschleichen“, sagte Walt Wilson mit sachverständiger Miene. „Komm, Tom, setz den Helm auf. Gleich gibt's die prächtigste Karambolage.“ „Keine Sorge“, beruhigte ihn der Astronom mit einem Blick auf die Instrumente. „Er entfernt sich schon wieder. Möchte aber doch wissen...“ Er blickte durchs Fenster und stieß einen überraschten Ruf aus. „Die Luna! Was hat denn die da vorn zu suchen?“ „Ha — das gibt ein Bild für „Wolfes Tönende Wochenschau“!“ frohlockte Walt und holte die stets griffbereite Kamera. „Wettlauf im Weltraum! Terra und Luna im Sturm auf den roten Planeten! Selbst der drohende Zusammenstoß mit riesigen Meteorsteinen kann die tapferen Kommandanten nicht davon abhalten... Hallo — was ist denn das nun wieder? Ich glaube, jetzt hat es sie erwischt.“ Mit fliegenden Händen stellte Thomas ein Beobachtungsgerät mit großem Gesichtsfeld ein. Endlich hatte er das Raumschiff im Okular. Was er da sah, ließ ihm den Herzschlag stocken. Inmitten eines Schwarmes leuchtender Punkte, die von links her langsam vorüber zogen, schwebte der mächtige Rumpf der Luna. Die Düsen hatten aufgehört, ihre Flammen hinauszuschleudern. Schwerfällig drehte sich das Raumschiff um sich selbst. Thomas wusste, was die leuchtenden Punkte zu bedeuten hatten. Es waren große Meteorsteine, die im Sonnenlicht glänzten, und sie bewegten sich in Wirklichkeit rasend schnell. Nur die große Entfernung täuschte eine langsamere Bewegung vor. Wehe dem Raumschiff, das von ihnen getroffen oder auch nur gestreift wurde! Thomas begriff sofort, dass dieses Schicksal die Luna ereilt haben musste. „Walt, ruf sofort den Kommodore an! Raumschiff Luna backbord
voraus von Meteoriten getroffen, treibt hilflos...“ Er kam nicht weiter. Schrill lärmten die Alarmglocken durch das Schiff. Die Stimme des Kommodores dröhnte verzerrt aus den Lautsprechern: „Alarm! Schutzanzüge dicht machen! Anschnallen —Achtung!“ Thomas hatte kaum den Helm befestigt und das Sauerstoffventil geöffnet, als ein heftiger Stoß durch das Schiff ging. Von unsichtbarer Hand fühlte er sich brutal zu Boden geschleudert, dass er glaubte, er hätte sich sämtliche Knochen gebrochen. „Der Kommodore hat's ja verdammt eilig“, stöhnte Walt Wilson, dem es noch im letzten Augenblick gelungen war, sich in einem der gut gepolsterten Sessel in Sicherheit zu bringen. „Hierher, Tom! Warte, ich helfe dir hoch. Schnalle dich schnellstens an, du Unglückswurm. Wer weiß, wie wir hier in den nächsten Minuten noch durcheinander geschüttelt werden.“ Wilsons Warnung kam keine Sekunde zu früh. Kaum hatte Thomas mit vieler Mühe seinen plötzlich wieder so schwer gewordenen Körper in den zweiten Sessel gezwängt und notdürftig gesichert, als ein erneuter Ruck ihn fast aus den Gurten gerissen hätte. Offenbar legte sich die Terra unversehens in eine scharfe Linkskurve. Vor den Fenstern tanzten die Sterne vorbei... Im Führerstand saß Edgar Sommerfeld neben dem Steuermann und nahm den Blick keinen Moment von den Instrumenten. Als er den Unfall des Schwesterschiffes bemerkte, war sein erster Gedanke, die Terra mit äußerster Kraft an den Schauplatz der kosmischen Katastrophe zu führen. Doch schon im nächsten Augenblick wurde ihm klar, dass er nur das eigene Schiff aufs Spiel setzte, wenn er es geradenwegs in den Bereich des Meteorschwarms hineinsteuerte. „Ruder hart backbord!“ befahl er über Sprechfunk. Teddy Hamilton betätigte die Strahlruder. Das waren Steuerflächen aus einer äußerst hitzebeständigen Legierung, die im Strahl der ausströmenden Verbrennungsgase am Heck des Schiffes standen. Mit ihrer Hilfe war es möglich, ein Raketenfahrzeug im Weltraum zu steuern, denn es gab ja keine Luft, und gewöhnliche Luftruder, wie sie die irdischen Flugzeuge benutzten, hatten hier keine Wirkung. Furchtbar war der Beschleunigungsandruck für Menschen und Material. Die Besatzungs-mitglieder keuchten in ihren Spezialsesseln und wehrten sich gegen die unsichtbare Macht, die sie zerquetschen wollte. Das Schiff
ächzte und stöhnte, als wäre es selbst ein menschliches Wesen. Langsam drehte es aus der bisherigen Bahn heraus. „Was wird aus den Transportern?“ Mühsam quälte der Steuermann die Frage heraus. Ja, richtig — fast hätte Edgar die plumpen Transportschiffe vergessen, die bisher im Kielwasser der Terra gefolgt waren. Sie konnten ihm bei der Rettungsaktion nicht viel nützen, dazu waren ihre Besatzungen viel zu schwach. „Achtung, Funkstation!“ rief er. „Befehl an Transporter C 1 bis 3: Kurs und Fahrtgeschwindigkeit beibehalten! Ja, was gibt's denn, Boni?“ „Die Luna funkt S-O-S, Kommodore.“ S-O-S... Das bedeutete, dass sich Schiff und Besatzung in höchster Gefahr befanden. Eigentlich hatte es Edgar gar nicht anders erwartet, aber der Notruf wirkte nun doch elektrisierend auf ihn. „Achtung, Funkstation“, schrie er ins Mikrophon. „Antworten Sie: Wir kommen!“ Ein rascher Blick aus dem Fenster überzeugte ihn davon, dass sich die Luna in einer verzweifelten Lage befand. Das Schiff musste mehrere Treffer erhalten haben. Große Lecks klafften — schon dem bloßen Auge erkennbar — in den Wänden. Treibstoffbehälter schienen angeschlagen zu sein; denn aus dem Mittelteil quollen Dampfwolken und hüllten das hilflose Schiff mehr und mehr ein. Antriebs- und steuerlos trieb die Luna durch den Raum. Noch einmal schätzte der Kommodore den Abstand zum Wrack. Seine Befehle kamen knapp und in schneller Folge: „Ruder zwei Strich steuerbord! — Maschine halbe Kraft! — Maschine Stop! — Bremsdüsen II und IV — Achtung — Feuer!!“ Der Rückstoß der Bremsschüsse schüttelte das Raumschiff, als sollte es in tausend Stücke zerbersten. Irgendwo stürzte etwas krachend zu Boden. Glas splitterte. Fluchen und Stöhnen überall dort, wo die Männer der Besatzung schier aus den Haltegurten gerissen wurden... Und plötzlich wieder Ruhe — und vollkommene Gewichtslosigkeit. Edgar musste ein widerliches Gefühl von Schwindel und Übelkeit niederkämpfen, das ihn übermannen wollte. Er durfte jetzt auf keinen Fall schlapp machen. Die Rettungsaktion für das Schwesterschiff verlangte seinen vollen Einsatz. „Neue Meldung von der Luna.“
Pietro Bonis Stimme klang noch ganz benommen Von den kaum überstandenen Strapazen. „Kapitän French meldet Feuer im Schiff.“ „Geben Sie zurück: Befehl an Kapitän French: Sämtliche Außenventile öffnen. Besatzung klar zum Ausbooten!“ Noch einmal warf Edgar einen flüchtigen Blick auf das Schwesterschiff. Es bestand wenig Hoffnung, die Luna zu retten. Selbst wenn das Wunder glücken sollte, das Feuer an Bord zu löschen und das schwer havarierte Schiff aus der Gefahrenzone herauszubringen, schien es doch so gut wie ausgeschlossen, die Schäden unterwegs zu beheben und es wieder voll einsatzfähig zu machen. Hier gab es nur noch einen Entschluss: Die Mannschaft musste gerettet werden, bevor es zu spät war. Entschlossen drückte Edgar den Knopf der Alarmanlage. Seine ruhige Stimme rief die Besatzung in den Aufenthaltsraum. Die Männer, die längst erkannt hatten, dass sich die Marsflotte in schwerer, unmittelbarer Gefahr befand, warteten gespannt auf seine Erklärung. „Die Luna treibt hilflos und brennend inmitten des Meteoritenschwarms“, begann Edgar ohne weitere Umschweife. „Wir müssen die Besatzung herausholen und in die Terra schaffen. Ich steige jetzt aus und begebe mich nach der Luna hinüber. Wer begleitet mich? Freiwillige bitte...“ Wie ein Mann hoben alle die Hand. Trotz des Ernstes der Stunde musste der Kommodore lächeln. „Ich brauche nicht mehr als drei Mann. Stellt euch die Sache aber nicht zu leicht vor. Wir können mit der Terra nicht näher herangehen, um sie nicht auch noch in Gefahr zu bringen. Deshalb müssen wir versuchen, den Sprung durch viele tausend Meter Nichts ganz allein zu wagen — nur durch die Raumanzüge geschützt und durch die Rückstoßapparate getrieben und gelenkt. Wer die Richtung verliert, wer über das Ziel hinausschießt, gerät selbst in eine hoffnungslose Lage. Außerdem fliegen dort recht hässliche Brocken in der Gegend herum, denen man lieber nicht zu nahe kommen sollte.“ „Eben deshalb sollten Sie hier bleiben, Kommodore“, unterbrach ihn Karl Schelling, der grauhaarige Chefingenieur. „Sie sind unersetzlich. Was soll aus der ganzen Expedition werden, wenn der Chef schon auf der Hinfahrt durch einen Unfall ausfällt? Sie sind hier an Bord nötiger
als da draußen im Raum. Rettungsmanöver können auch andere ausführen. Geben Sie mir den Auftrag, oder meinetwegen auch Hamilton. Wir sind beide alte Hasen.“ Edgar wollte ärgerlich abwinken, aber da mischten sich alle anderen zugleich in die Auseinandersetzung. Alle gaben Schelling Recht, und Edgar Sommerfeld fügte sich ihren Einwänden schließlich, zumal er im Stillen zugeben musste, dass sie nicht ganz unbegründet waren. „Also gut. Wir haben jetzt keine Zeit mehr zum langen Parlamentieren. Schelling, Sie leiten die Hilfsaktion. Suchen Sie sich drei Mann zur Begleitung aus. Allerdings kann ich weder den Steuermann noch den Funker entbehren, und Doktor Dannenberg bleibt wohl auch besser an Bord und hält seine Unfallstation in Bereitschaft. Ich fürchte, es wird nötig sein...“ „Zwei Mann müssen im Maschinenraum bleiben“, ergänzte der Chefingenieur. „Das können Smith und Harras machen. Ja, dann bleiben allerdings nicht mehr viele übrig. Vogelsang, Berger und Wilson, macht euch fertig und kommt mit nach Luftschleuse II.“ „Was Sie zu tun haben, Schelling, ist folgendes“, fügte Edgar Sommerfeld hinzu. „Versuchen Sie, mit Ihren Männern die Luna so schnell wie möglich zu erreichen. Sehen Sie nach, was da drüben eigentlich los ist, und leiten Sie zusammen mit Kapitän French die nötigen Schritte ein. Halten Sie midi über Funk auf dem laufenden. Und falls die Lage tatsächlich so aussichtslos ist, wie es den Anschein hat, dann verlieren Sie keine Sekunde und lassen Sie das Schiff räumen. Ist alles klar?“ „Jawohl, Kommodore.“ „Dann macht's gut, Kameraden, und Hals- und Beinbruch!“ Es war nicht das erste Mal, dass Thomas Berger während dieser langen Raumreise das sichere Schiff verließ, um sich draußen in der gähnenden Leere, im uferlosen Nichts, zu tummeln. Edgar und Schelling hatten ihn hin und wieder bei Außenbordmessungen oder -reparaturen mitgenommen. So war der Zustand, in dem er sich jetzt befand, eigentlich nichts Neues für ihn — doch jedes Mal musste er sich von neuem daran gewöhnen und eine würgende Angst niederkämpfen. Es war stets das gleiche, unbegreifliche Bild: Neben ihm, in scheinbarer Bewegungslosigkeit, der riesige Rumpf der Terra, in dessen glatte
Wände er sich am liebsten hineingekrallt hätte, aus Angst, in das grenzenlose Nichts zu stürzen, das ihn rings umgab. Querab, ebenfalls unbeweglich, die Staffel der nachfolgenden Schiffe. Der schwarze Himmel mit den strahlenden Lichtpunkten der Sterne, der alles umschloss — auch er ohne Bewegung und ohne Veränderung, als stände die Zeit still. Und nirgends der geringste Laut, außer dem Zischen des Sauerstoffventils und dem Klopfen des eigenen Herzens... Der gefürchtete Sturz ins Bodenlose trat niemals ein. Er konnte auch gar nicht kommen; denn hier, unter Weltraumbedingungen, durfte man ja nicht mit erdgewohnten Begriffen, wie Anziehungskraft und Schwere, rechnen. Auch gab es keinerlei Luftwiderstand, der die eigene Bewegung gebremst hätte. Jeder, der aus dem fahrenden Raumschiff ausstieg, schwebte mit der gleichen Geschwindigkeit nebenher. Immer, wenn Thomas sich gewaltsam zusammenriss und sich zum klaren Überlegen zwang, traten ihm diese Naturgesetzlichkeiten vor Augen, und es gelang ihm dann meist sehr schnell, seine Angst zu überwinden. Bald begann es ihm sogar Spaß zu machen, so unbeschwert um den mächtigen Schiffskoloss herumzuschweben. Allzu weit konnte er dabei sowieso nicht abtreiben; denn durch das Kabel des Bordtelefons war er ständig an das Schiff gefesselt. Heute war allerdings manches anders. Die Verbindung mit der Terra war gelöst. Der Schiffskörper schrumpfte hinter ihm zusammen. Auch das Gefühl des Schwebens war verschwunden. Der kleine, aber hochleistungsfähige Rückstoßapparat, den er unterhalb der Sauerstoffflaschen auf dem Rücken trag, trieb ihn mit wachsender Geschwindigkeit von der Terra fort. „Volldampf voraus!“ hatte Schelling kommandiert, als sie zu viert aus der Schleusenkammer sprangen. Ein rascher Blick nach rechts überzeugte Thomas davon, dass er noch immer in gleicher Linie mit seinen drei Kameraden lag. Das riesige Wrack der Lunawuchs von Sekunde zu Sekunde deutlicher vor den Männern auf. Noch immer taumelte es — sich ständig überschlagend — durch den Raum. Es bot einen erschreckenden Anblick. In den gewölbten Wänden gähnte eine Unzahl großer und kleinerer Lecks. Dampf und Qualm strömten aus den Öffnungen. Trümmerstücke wirbelten in dichtem Schwarm um den zerrissenen Rumpf. Die
Schiebetür der Steuerbord-Luftschleuse stand halb offen. Und in dem großen Durcheinander trieben hilflos zwei, drei Gestalten in plumpen Raumtaucheranzügen umher. „Luna ahoi!“ dröhnte Schellings Stimme in den Kopfhörern. „Raumschiff Luna, meldet euch!“ In die Gestalten, die neben dem Wrack schwebten, kam Bewegung. Eine von ihnen stieß sich von der Schiffswand ab und flog wie ein Pfeil den Rettern entgegen. Offenbar hatte der Mann das Rückstoßgerät verloren und konnte sich nur noch auf diese Art vorwärts bewegen. Jetzt meldete er sich über die Sprechfunkverbindung. „Hier spricht Benson — helft uns — das Schiff ist verloren.“ Seine Stimme klang schwach und stockend. Thomas kannte den Sprecher gut. Professor Benson war der Meteorologe der Expedition, der Klima und Wetter auf Mars erforschen wollte. „Was ist Ihnen, Mann?“ brüllte Schelling. „Sind Sie verletzt?“ „Nicht verletzt — Sauerstoff geht zu Ende...“ Der Chefingenieur schimpfte wie ein Rohrspatz. „Keine Rückstoßpistolen, kein Sauerstoff — das muss ja ein toller Saftladen bei euch an Bord gewesen sein! Wer sind die anderen?“ Gleichzeitig und mit ebenso schwacher Stimme meldeten sich jetzt der Geologe Dr. Fisher und Ben Martin, einer der Maschinisten. Ein bedrückender Gedanke stieg in Thomas Seele hoch: Sollten diese drei hilflosen Gestalten die einzigen Überlebenden der Luna sein? Doch Professor Bensons schwache Stimme, in der jetzt ein angstvolles Drängen mitschwang, brachte schnell Klarheit. „Kümmert euch jetzt nicht um uns — rettet die anderen — im Schaltraum eingeschlossen ...“ „Los, Wilson, versuchen Sie, die drei anzuseilen, und dann zurück mit ihnen nach der Terra! Berger und Vogelsang, ihr kommt mit mir — da hinein, in die Luftschleuse!“ Mit Hilfe der Antriebsdüse änderte Thomas seine Bewegungsrichtung. Er schoss unmittelbar auf die halbgeöffnete Schleusentür zu, als plötzlich Otto Vogelsangs Stimme im Hörer dröhnte: „Sind Sie wahnsinnig, Herr Berger? Geschwindigkeit drosseln, schnell, schnell!“ Richtig, das hätte er in der Aufregung fast vergessen. Mit schnellem Griff schaltete Thomas das Rückstoßgerät ab, befestigte es jetzt an der
Vorderseite des Schutzanzugs und ließ die Düse wieder aufflammen. Rasch wurde die Geschwindigkeit abgebremst, aber Thomas landete doch noch mit solcher Wucht am Ziel, dass er für Augenblicke glaubte, er hätte Hals und Beine gebrochen. Noch ganz benommen, kroch er hinter den Gefährten in den Rumpf der Luna hinein. Ziehende Rauchschwaden behinderten den Männern die Sicht. Es war nur gut, dass die Luna ihrem Schwesterschiff wie ein Ei dem anderen glich. So hätten sie sich selbst bei völliger Finsternis zurechtgefunden. Sie schienen sich nun dem Brandherd im Heck zu nähern. Er musste im Bereich der Maschinenräume liegen. Eine unerträgliche Hitze breitete sich aus, je näher sie dem Schaltraum kamen. Die Metallwände des Ganges schienen die Glut auszustrahlen. Jetzt hielten sie vor dem Eingang zum Schaltraum, in dem der Rest der Luna-Besatzung vermutet wurde. Der Türgriff war abgeschmolzen. Wie mochte es den Eingeschlossenen ergangen sein? Zweifelnd und unentschlossen sahen die drei sich an. Plötzlich hob Schelling die Hand. „Pst! Hört ihr nichts, Leute?“ Sie lauschten angespannt und wagten kaum zu atmen. Sekundenlang vernahm Thomas nichts als das Zischen des Sauerstoffs und das Rauschen im Hörer seines Taucherhelms. Doch da... „Sie leben noch!“ Deutlich hatte auch er das schwache Rufen gehört, das nur von den Eingeschlossenen kommen konnte. Otto Vogelsang hatte schon mit geübten Griffen den mitgebrachten Schneidbrenner angesetzt. Grell fraß sich die Flamme in das Metall der Schiebetür, hart um das verklemmte Schloss herum. Mit klopfendem Herzen verfolgte Thomas den Fortgang der Arbeit. Die Sekunden schienen ihm unendlich langsam dahinzutropfen. Schweiß brach ihm aus allen Poren. Schellings ungeduldige Stimme traf ihn wie Keulenschläge: „Wird's bald, Otto? Der Laden kann jeden Augenblick hochgehen. Meiner Ansicht nach muss das Feuer die Abteilung F schon erreicht haben.“ Abteilung F — Thomas wusste, was das bedeutete. Dort befanden sich die mächtigen Treibstofftanks. Doch in diesem Augenblick stieß Otto ein zufriedenes Grunzen aus. Die Flamme des Schneidgeräts erlosch, und im selben Augenblick wurde die Tür von innen aufgerissen. Unwillkürlich taumelte Thomas vor dem Ansturm der plump
wirkenden Gestalten zurück, die sich aus der Öffnung drängten. Ihre Funkgeräte schienen jetzt endgültig ausgefallen zu sein; denn die Sprechverbindung klappte nicht, und die Männer fuchtelten nur wild mit den Armen herum, im vergeblichen Bemühen, sich verständlich zu machen. „Die Jungens sind ja ganz außer sich vor Freude“, sagte Schelling. „Na ja, ich kann es verstehen. Es muss ja auch ein ekelhaftes Gefühl sein, in einem brennenden Raumschiff zu sitzen und nicht raus zu können. Pfui Teufel! Aber kommt jetzt: Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren, sonst fliegt uns der Kahn noch um die Ohren.“ Wie zur Bekräftigung seiner Worte lohte plötzlich in dem nunmehr menschenleeren Schaltraum eine grelle Stichflamme auf. Schelling packte den nächstbesten der Männer und drängte ihn in den Mittelgang. Doch der Mann sträubte sich und gestikulierte wild. Otto Vogelsang war der erste, dem die Erleuchtung kam. „Da fehlt noch einer, Herr Schelling“, sagte er bedächtig. Tatsächlich — sie hatten sechs Mann aus dem Schaltraum befreit, drei weitere waren ihnen schon draußen begegnet, aber die Besatzung der Lunabestand — ebenso wie die des Flaggschiffs — aus zehn Mann. Wo mochte der zehnte geblieben sein? Mit einer Art Zeichensprache versuchte der Chefingenieur, sich verständlich zu machen. Glücklicherweise begriffen die Männer der Luna sofort. Aufgeregt deuteten sie den Gang entlang, In die Richtung des Führerraums. Schelling schüttelte den Kopf. „Unmöglich. Es geht jetzt um Sekunden.“ Ein Stoß erschütterte das Schiff, dass die Männer gegen die Wände des Ganges taumelten. War die Luna abermals von einem kosmischen Geschoss getroffen worden? Oder fingen die Treibstoffe schon an zu explodieren? „Aussteigen!“ befahl Schelling. „Nein, nicht durch die Luftschleuse. Dazu reicht die Zeit nicht mehr. Hier hinaus!“ Er zeigte auf eine Stelle in der Wand, an der die Bleche weit auseinanderklafften. Ein Meteorstein war hier mit rasender Geschwindigkeit vorbeigesaust und hatte die Schiffshaut aufgeschlitzt. Schon stieß der Ingenieur, von Otto Vogelsang tatkräftig unterstützt, die ersten der Geretteten kurz entschlossen in das gähnende Nichts...
Thomas stand etwas im Hintergrund und klammerte sich an eine Schiebetür, die halbaufgerissen, verbeult und verklemmt, in ihrem Rahmen hing. Die Gedanken überstürzten sich in seinem Gehirn. Da drüben, wenige Meter nur von ihm entfernt, klaffte das Leck in der Schiffswand, das die Rettung aus dem sterbenden Raumschiff verhieß. Von rechts, vom Achterschiff her, quollen Dampf und Rauch. Feuerschein flackerte — ein Zeichen dafür, dass die Sauerstoffleitungen bereits undicht geworden waren. Aus den meisten Räumen des zerstörten Schiffes war längst alle Luft entwichen, und irgendwoher musste das Feuer ja schließlich den Sauerstoff erhalten, ohne den es längst erstickt wäre. Links aber von seinem Standort — dort, wo sich die Räume des Vorderteils der Luna in der Dunkelheit verloren — lag weit vorn der Führerraum, und hinter seiner Tür befand sich noch ein Mensch. Vielleicht war er längst tot — vielleicht aber nur ohnmächtig und hilflos? In wenigen Augenblicken würden sie das Schiff verlassen haben, und abermals wenige Sekunden später... Thomas fühlte es heiß und würgend in seiner Kehle aufsteigen. Er verließ seinen Platz und tastete sich vorwärts, ohne eigentlich recht zu wissen, was er tat. Es war, als ob er einem fremden Willen gehorchte. Als er mit einem anderen Menschen in Raumtaucherausrüstung zusammenstieß, erklang plötzlich Otto Vogelsangs vertraute Stimme im Kopfhörer: „Hallo, was ist los? Da geht's hinaus!“ „Schon gut, Otto.“ Thomas hatte bereits erspäht, was er suchte. Mit zwei schnellen Griffen hatte er sich des Schneidbrenners bemächtigt und schwebte und taumelte damit dem Bug des Schiffes zu. Er achtete nicht auf Ottos erbostes Schelten, das ihm in den Ohren dröhnte. Da vorn war ein Mensch in höchster Gefahr, der vielleicht verzweifelt auf Rettung wartete... Der scharfe Strahl des Brustscheinwerfers geisterte über Wände und Türen. Nahm denn dieser vermaledeite Gang überhaupt kein Ende? Endlich die Tür mit dem Schildchen „Abteilung F“ und der zusätzlichen Warnung „Zutritt streng verboten!“ Unwillkürlich musste Thomas lächeln. Wie schnell konnte doch eine Lage entstehen, in der alle Vorschriften und Verbote null und nichtig
wurden! Er packte den Türgriff und riß ihn nach rechts herum. Zu seiner Verwunderung gab die Tür nach. Was noch vor kurzem der nüchtern-sachliche Führerraum eines Weltraum-schiffs gewesen war, bot jetzt das Bild trostloser Verwüstung. Die schwachen Lampen der Notbeleuchtung, die sieb nach Ausfall des Bordnetzes automatisch eingeschaltet hatten, tauchten das Durcheinander von leckgeschlagenen Wänden, zerbrochenen Instrumenten und Schalttafeln in ein unwirkliches Licht. Thomas brauchte etliche Sekunden, um sich in diesem Tohuwabohu zurechtzufinden. Die Besatzungsmitglieder mussten den Führerraum in panischer Angst verlassen haben, als die ersten Meteoriten die Wände zersiebten. Und so hatten sie offenbar zu spät gemerkt, dass einer von ihnen zurückgeblieben war. Dieser eine aber hing — hoffnungslos in das verbogene Gestänge irgendeiner Montierung verkeilt — nahe der Tür zum Beobachtungsstand inmitten des Durcheinanders von Trümmern. Aus dem Kopfhörer hämmerte eine Stimme in höchster Aufregung: „Berger — kommen Sie zurück! Zurück, Mann — das Schiff explodiert! Zurück...“ Er hörte nicht darauf. Er wollte und durfte die warnende Stimme nicht hören — nicht, solange der hilflose Mensch noch in den Trümmern festgekeilt war, nur wenige Schritte von ihm entfernt. Thomas stieß sich ab, um den Raum schwebend zu durchqueren, landete aber an einer anderen Stelle, als er beabsichtigt hatte, und schlug schwer gegen die Tür zum Nachbarraum. Glücklicherweise dämpfte der luftgefüllte Raumanzug die Wucht des Aufpralls. Von nun an war er vorsichtiger. Er hangelte sich von einem Vorsprung zum anderen, bis er den Verunglückten erreicht hatte. Der pralle Zustand seines Schutzanzugs deutete darauf hin, dass er dicht geblieben und sein Träger offenbar nicht dem Erstickungstode zum Opfer gefallen war. Im nächsten Augenblick trat der Schneidbrenner in Tätigkeit. Wieder war es Thomas, als vergingen Ewigkeiten. Im Kopfhörer dröhnten und schepperten nun schon zwei Stimmen durcheinander, die ihn mahnten und riefen. Er konnte es einfach nicht mehr ertragen. „Ja, ja, so beruhigt euch doch — ich komme ja schon“, stöhnte er. Dann schaltete er kurzerhand die eingebaute Funkanlage ab. Endlich! Thomas stieß einen Jubelruf aus, als sich der plumpe Körper
aus dem Gestänge löste. Achtlos flog das Schneidgerät irgendwohin. Thomas stieß den Befreiten zur Gangtür hin und sprang mit einem Satz hinterher. Jetzt noch schnell durch den Hauptgang und zur Schleuse im Mittelteil... Gerade wollte Thomas in die Schleusenkammer einbiegen, als ein furchtbarer Stoß durch das Wrack zuckte. Thomas klammerte sich instinktiv an den Körper des mit so vieler Mühe Geretteten. Nur ihn nicht im letzten Augenblick wieder verlieren müssen — das war sein einziger Gedanke. Wieder ein Stoß, heftiger noch als der erste, und wieder und wieder! Das Schiff wurde förmlich geschüttelt. Thomas stürzte schwer gegen ein Hindernis. Verzweifelt rang er nach Luft. Die Sauerstoffzufuhr musste gestört sein. Noch einmal bäumte er sich auf — dann wurde es schwarz vor seinen Augen... Er fühlte nicht mehr, wie die massige Gestalt Otto Vogelsangs ihn am Gurt hochriss und ihn mitsamt seiner Last, an die er sich noch in tiefster Bewusstlosigkeit festgekrallt hielt, durch einen klaffenden Riss ins Leere hinausbeförderte, um dann fluchend hinterher zu springen. Er sah auch nicht den blendenden Blitz der Explosion, die das Mittelteil der Luna zerriß. Zerfetzt und ausgebrannt trieben die Trümmer des riesigen Schiffes durch den leeren Raum...
IM BANNE DES ROTEN PLANETEN Als Thomas Berger die bleischweren Lider öffnete und in das matte Licht der Deckenlampe blinzelte, konnte er sich minutenlang überhaupt nicht besinnen, wo er sich befand. Er fühlte sich leicht, aber dennoch am ganzen Körper wie zerschlagen. Nach und nach begriff er, dass er auf einem weich gepolsterten Lager festgeschnallt war. Es war still in dem kleinen Raum. Nur von draußen klang gedämpft Stimmengewirr herein. Plötzlich tauchte ein anderes Bild vor seinen Augen auf: Der verwüstete Führerstand eines Raumschiffs, magisch erleuchtet von grünlichen Lichtquellen, und in dem Trümmergewirr die hilflose Gestalt eines verunglückten Raumfahrers... „Ich muss ihm helfen!“ rief Thomas und richtete sich auf. Beim Klang der eigenen Stimme schrak er zusammen und blickte sich verwundert um. Nanu? Das war ja gar nicht der Führerstand der Luna. Er befand sich in einer hellen und sauberen Kabine, die zwar ein wenig nüchtern wirkte, aber doch ein Gefühl von Behaglichkeit und Geborgenheit ausstrahlte. Sollte er denn all die düsteren Geschehnisse nur geträumt haben, die sich seiner Erinnerung so lebendig eingeprägt hatten? „Wem wollen Sie helfen, Herr Berger?“ fragte eine vertraute Stimme in gutmütig-spottendem Ton. Thomas blickte in das lächelnde Gesicht Dr. Dannenbergs, der unbemerkt ans dem Nebenraum hereingekommen war. „Verraten Sie mir lieber, wie Sie sich jetzt fühlen?“ „Danke, Doktor, ein wenig matt und angeschlagen. Was ist denn eigentlich mit mir los?“ „Sie wurden mir vor nunmehr vierundzwanzig Stunden in leicht ramponiertem Zustand eingeliefert, nachdem man Sie im letzten Augenblick aus der explodierenden Luna herausgeholt hatte. Na, ich freue midi jedenfalls, dass Sie nun überm Berg sind. Ein paar Tage Ruhe, und Sie sind wieder munter wie ein Fisch im Wasser und können, wenn's sein muss, zu einer neuen interplanetarischen Rettungsaktion aufbrechen.“ „Ich danke Ihnen tausendmal, Doktor.“ „Wofür denn? Danken Sie lieber diesem hier, ohne den Sie jetzt nicht mehr unter den Lebenden wären. Hallo, Otto, Sie können getrost hereinkommen. Unserem Patienten geht es besser.“ In der Tür erschien jetzt die Gestalt des dicken Maschinisten. Sein
bärtiges Gesicht strahlte wie der Vollmond. Vorsichtig tastete er sich zu Thomas Lager hin und drückte ihm die Hand, dass der am liebsten laut gebrüllt hätte. „Freue mich aufrichtig“, versicherte er. „Otto — Ihnen also verdanke ich mein Leben?“ sagte Thomas gerührt. „Der Doktor verriet mir eben, dass Sie es waren, der mich aus der Luna herausgeholt hat. Wie kann ich Ihnen nur...“ „Unsinn“, wehrte der Bärtige ab. „Kein Wort darüber. Was Sie geleistet haben, Herr Berger, als Sie den Verunglückten aus dem Führerstand befreiten, war viel mehr. Und das in einem Augenblick, als das Schiff schon anfing, sich in Wohlgefallen aufzulösen. Alle Achtung!“ „Wohlgefallen ist gut“, sagte der Schiffsarzt kopfschüttelnd. „Die Luna explodierte mit einer Wucht, dass die Wrackteile nur so nach allen Seiten auseinanderspritzten. Viel hätte nicht gefehlt, und wir hätten auch noch was abgekriegt. Wissen Sie übrigens, Herr Berger, wen Sie da unter Einsatz Ihres Lebens herausgeholt haben?“ „Keine Ahnung, Doktor. Wer ist es denn? Hoffentlich hat er's gut überstanden.“ „Wenn alle so gut davongekommen wären wie er, wäre ich arbeitslos“, erwiderte Dr. Dannenberg. „Ein halbes Dutzend der Geretteten liegt noch mit Knochenbrüchen oder allgemeinen Erschöpfungssymptomen danieder, aber Ihr Schützling schwebt schon wieder munter durch die Räume, das unvermeidliche Beobachtungsjournal unter den Arm geklemmt...“ „Dann ist es also Dr. Sawyer, mein Chef“, staunte Thomas. „Ich hatte ihn gar nicht erkannt; denn in diesen Schutzanzügen gleichen sich die Menschen ja allzu sehr.“ „Sie haben nur nicht genau hingeguckt“, lachte Otto. „Er hatte sich doch sein kostbares Lexikon mit Bindfaden am Gurt befestigt. Irgendwie muss das Ding dann aufgeklappt sein. Es war jedenfalls zum Brüllen komisch, wie ihr zwei da — scheinbar lesend — durchs Weltall schwebtet. Walt Wilson war natürlich gleich zur Stelle und kurbelte das Bild für seine Wochenschau.“ „Walt Wilson? Wo steckt er eigentlich?“ „Wahrscheinlich im Beobachtungsraum, um ein paar Landschaftsaufnahmen vom Weltraum zu machen“, brummte der Schiffsarzt. „Der
Junge fällt mir langsam auf die Nerven. Alle paar Minuten rennt er mir die Bude ein und fragt nach Ihnen. Der Kommodore übrigens auch.“ „Darf ich sie nicht sehen?“ „Morgen, mein Bester, für heute ist es genug. Jetzt legen Sie sich wieder hübsch aufs Ohr und träumen was Schönes — es braucht nicht gerade von der Luna zu sein. Kommen Sie, Otto!“ Thomas nickte den beiden zu, als sie den Raum verließen. Die Müdigkeit übermannte ihn wieder. Bald fielen ihm die Augen zu. Thomas erwachte aus tiefem, erquickendem Schlummer. Die elektrische Uhr über der Kabinentür zeigte ein Viertel nach zehn. Für einen Augenblick war er im Zweifel, ob es Vormittag oder Nacht wäre. Doch dann fiel ihm ein, dass ja die helle Beleuchtung des Zifferblattes die Tagesstunden ankündigte. Er fühlte sich erholt und ausgeruht. Auch Dr. Dannenberg hatte nach einer kurzen Untersuchung keine Bedenken mehr, seinen Patienten aufstehen zu lassen. Dies umso weniger, als der Aufenthalt im schwerefreien Zustand ohnehin keine wesentlichen Anstrengungen verursachte. Thomas erster Weg führte ihn zum Führerraum. Er wollte seinen alten Freund begrüßen und sich zugleich zum Dienst zurückmelden. Es fiel Thomas sofort auf, dass in dem sonst so ruhigen Schiff ein ganz ungewohnter Betrieb herrschte. Hier und da sah er fremde Gesichter. Es machte schon etwas aus, dass sich die Besatzung der Terra durch die Übernahme der Luna-Mannschaft verdoppelt hatte. Edgar empfing den wiederhergestellten Freund mit großer Herzlichkeit. Der fremde Offizier, der am Steuer saß und Thomas mit Fred Kelly vorgestellt wurde, grinste freundlich und rief „Hallo!“ Dann wendete er sich wieder kaugummikauend den Instrumenten zu. Beim Klang des Namens wurde in Thomas eine Erinnerung wach, aber er kam nicht dazu, dem Gedanken nachzugehen; denn in diesem Augenblick klopfte es, und Otto Vogelsang schob sein bärtiges Gesicht durch den Türspalt. „Kapitän French möchte Sie sprechen, Kommodore.“ „Lassen Sie ihn eintreten.“ Edgars Stimme klang kalt, aber vollkommen ruhig und beherrscht. Thomas hielt es für richtig, sich zu empfehlen, aber Edgar Sommerfeld bedeutete ihm mit einem Wink zu bleiben.
Robert French, der Kommandant des Unglücksschiffes, schob sich herein. Er machte einen ziemlich mitgenommenen Eindruck. Ein breiter Verband hüllte den Kopf ein, den linken Arm trug er in der Schlinge. Das Gesicht war wachsbleich und eingefallen. Aber in seinen Augen flackerte Trotz. Schweigend maßen sich die beiden Männer mit den Blicken. Es war, als kämpften sie ein Duell allein mit den Augen. Schließlich sackte es in Frenchs Zügen, und er wandte das Gesicht ab. »Sie haben Pech gehabt, French, und Sie hätten von vornherein damit rechnen müssen“, begann Edgar völlig ruhig. „Der Weltraum eignet sich eben nicht zum Austragen tollkühner Wettrennen, zumindest nicht in der Nachbarschaft von Meteorschwärmen.“ Robert French erwiderte nichts. Er zuckte nur trotzig die Achseln. Sein Gesicht blieb abgewandt. Edgar reichte ihm sein Zigarettenetui hinüber. Zögernd langte French zu. „Danke, Kommodore.“ „Es hätte jetzt keinen Wert mehr, Ihnen Vorwürfe zu machen“, fuhr Edgar in ruhigem Plauderton fort. „Wir können das getrost den Herren von der Direktion überlassen, die nach unserer Rückkehr zur Erde gewiss nicht damit sparen werden. Die Luna bekommen wir dadurch nicht zurück.“ Kapitän French hob den Kopf. In seinem faltigen Gesicht spiegelte sich ein ungläubiges Staunen. „Sie machen mir tatsächlich keine Vorwürfe, Kommodore?“ „Nein — weil dadurch nichts gebessert würde. Wir treiben hier im All auf der gleichen Scholle und sind — auf Gedeih und Verderb — aufeinander angewiesen. Im Augenblick ist nur eins für uns wichtig: Die große Aufgabe, die wir übernommen haben, erfolgreich zu Ende zu führen — mit den Mitteln, die uns noch geblieben sind. Handeln Sie von nun an besonnener. Das ist alles, was ich Ihnen heute zu sagen habe.“ French verharrte noch eine Weile in derselben Haltung. Dann straffte er sich. „Ich will mein möglichstes tun, Kommodore.“ Er grüßte kurz und verließ den Führerstand. „Begleiten Sie Kapitän French in seine Kabine, Kelly“, wies Edgar den Wachoffizier an. „Ich löse Sie so lange am Steuer ab.“ „Nun bin ich aber sprachlos“, rief Thomas, als er mit dem Freund allein
war. „Alles andere hätte ich erwartet. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn du gebrüllt und getobt hättest, wenn du den Mann eingesperrt hättest. Stattdessen bist du die Ruhe und Güte in Person und tust, als sei überhaupt nichts passiert.“ Edgar lächelte ein wenig trübe. „Du hast natürlich vollkommen Recht, Thomas. Was French getan hat, ist so ungefähr das Ärgste, was ihm überhaupt einfallen konnte. Wahrscheinlich wollte er sich einen Vorsprung verschaffen, um seinen maßlosen Ehrgeiz zu befriedigen und als erster am Mars zu sein. Der Alarmzustand — mit laufenden Motoren und allem Drum und Dran — schien der gegebene Augenblick zu sein, um sein Vorhaben möglichst ungestört durchzuführen. So setzte er alles auf eine Karte und steuerte Schiff und Mannschaft ins Verderben.“ „Ich verstehe nicht, wie man einem so leichtsinnigen Menschen das Kommando über ein Weltraumschiff übertragen konnte. Der Einsatzchef eurer Gesellschaft muss ein vollendeter Trottel sein.“ „Du tust ihm unrecht“, versuchte Edgar seinen Vorgesetzten auf der Erde zu verteidigen. „French hat sich in seiner bisherigen Laufbahn nichts Ernstliches zuschulden kommen lassen. Er galt stets als ein befähigter Raketenpilot, der er auch zweifellos ist. Seine Draufgängernatur konnte nicht als Hinderungsgrund gelten, ihm das Kommando über die Luna zu geben.“ Edgar sog tiefsinnig an seiner Zigarette. „Im Grunde war es meine Schuld. Ich hätte ihn nicht mitnehmen dürfen, nachdem durch seine Leichtfertigkeit der Feuerzauber auf der Außenstation losgegangen war.“ „Du hast es dann aber doch getan.“ „Ja, leider. In der kurzen Zeit bis zum Start war kein Ersatzmann mehr zu bekommen. Hätte ich damals geahnt, was alles passieren würde, ich hätte lieber den jungen Hamilton zum Kommandanten der Luna gemacht. Na ja, nun ist es zu spät.“ Thomas konnte den instinktiven Groll, den er gegen Robert French empfand, nicht so ohne weiteres unterdrücken. „Und nun lässt du diesen Unglücksraben frei herumlaufen und gibst ihm Gelegenheit, neuen Unfug auszuhecken. Ich verstehe dich nicht, Edgar.“
„Was soll ich anderes tun? Die Terra ist nicht als Transportschiff für Untersuchungsgefangene eingerichtet. Viel Schaden kann French so wieso nicht anrichten; denn ich habe nicht vor, ihm in Zukunft noch irgendeine Verantwortung zu übertragen.“ Plötzlich kam Thomas ein beunruhigender Gedanke. „Sag mal, Edgar, macht es eigentlich gar nichts aus, dass die Terra jetzt die doppelte Zahl an Besatzungsmitgliedern mitschleppen muss? Werden wir mit dem Treibstoff auskommen?“ Edgar lehnte sich zurück und blickte nachdenklich dem Zigarettenrauch nach. „Ich habe die Sache schon durchgerechnet, Thomas. Treibstoffmäßig dürfte alles klargehen. Uns stehen ja die Reserven zur Verfügung, die von den Lastschiffen befördert werden und eigentlich auch für die Rückfahrt der Luna bestimmt waren. Etwas anderes macht mir weit mehr Sorge: Es sind recht beträchtliche Mengen Proviant mit der Luna zugrunde gegangen...“ „Das heißt also, dass du uns den Brotkorb höher hängen willst?“ „Ob ich will oder nicht — ich werde es einfach tun müssen. Uns bleibt allerdings eine schwache Hoffnung. Dr. Sawyer ist fest davon überzeugt, dass wir auf Mars essbare Pflanzen finden werden. Er denkt an eine Art Kohl, die in den grünlichen Gefilden des Planeten wachsen soll.“ „Oh, dieser Optimist“, lächelte Thomas, „Wenn ich dir einen Rat geben kann, Edgar, so verlasse dich nicht zu fest auf Kohlrouladen á la Mars und ähnliche leckere Gerichte. Kürze uns lieber beizeiten die Rationen. Das ist entschieden sicherer.“ Das Leben an Bord der Terra nahm längst wieder den gewohnten Verlauf. Infolge der Verdoppelung der Besatzung entfielen auf den einzelnen noch weniger Pflichten im Borddienst, als es bisher schon der Fall gewesen war. Die aufregenden Erlebnisse, die im Untergang des Schwesterschiffs ihren Höhepunkt erreichten, waren fast schon vergessen. Nur die Fahrtordnung war eine andere geworden. Die Staffel der Transportschiffe, die nicht für das Rettungsmanöver eingesetzt worden war, hatte die Spitze übernommen, während das Flaggschiff in größerem Abstand hinterherfuhr. Es wäre zwar möglich gewesen, den Vorsprung der anderen Fahrzeuge einzuholen, aber Edgar wollte
weitere Treibstoffverluste vermeiden, zumal die Geschwindigkeit der Terra auch ohnedies hoch genug war, um den vorausberechneten Treffpunkt mit Mars termingerecht zu erreichen. Unmerklich erst, aber schließlich doch immer spürbarer, wuchs der rote Planet von einem strahlenden Punkt zu einem Scheibchen und allmählich zu einem stattlichen Himmelskörper heran, der fremdartig und drohend zu den Bullaugen hereinglotzte. Sein Licht erfüllte die Räume des Schiffes mit einem unheimlichen, magischen Schein. Es war, als ob der fremde Himmelskörper mit diesem Leuchten Besitz ergreifen wollte von dem zerbrechlichen Fahrzeug, das die Erde ausgesandt hatte, und von dem Häuflein Menschen, die mit ihm kamen. Je mehr man sich dem Zielplaneten näherte, desto schwerer wurde es Thomas, sich seinem Bann zuwider setzen. Er konnte beobachten, dass es seinen Gefährten nicht anders erging. Selbst der sonst stets gut aufgelegte und kaltschnäuzige Walt Wilson war auffallend schweigsam geworden. Oft hing er stundenlang am Fenster und schaute zu dem roten Weltkörper hinüber. Die geliebte Kamera, ohne die man ihn sich eigentlich gar nicht vorstellen konnte, schien vergessen zu sein. Der einzige, dem der Bann des roten Planeten nichts anhaben konnte, war Dr. Sawyer, der Astronom. Seitdem Mars fast in greifbare Nähe gerückt war, verließ der versponnene Gelehrte den Beobachtungsraum nur noch zu den Mahlzeiten. Schlaf hatte er offenbar überhaupt nicht mehr nötig. Fast ununterbrochen hockte er am Okular des lichtstarken Fernrohrs und trug seine Beobachtungen in die große photographische Marskarte ein, die man von der Außenstation mitgebracht hatte. Soweit es die übrigen Pflichten Thomas gestatteten — er hatte die Radargeräte zu betreuen und die Bahn der Terra zu kontrollieren —, half er dem Marsforscher bei seinen Beobachtungen. Dabei gerieten ihre Meinungen oft hart aneinander. „Zweifeln Sie noch immer daran, dass Mars von intelligenten Lebewesen bewohnt ist?“ fragte Dr. Sawyer eines Tages und wies triumphierend auf ein Netzwerk feiner, dunkler Striche hin, das er um einen ebenfalls dunklen, runden Fleck herum in die Karte eingetragen hatte. Einige der geraden Linien verliefen doppelt. Viele mochten über tausend Kilometer lang sein, die längsten reichten bis zum Rand der Planetenscheibe und verschwanden hinter seiner Krümmung.
„Noch ist eigentlich nichts bewiesen“, entgegnete Thomas vorsichtig. „Die größten dieser so genannten Kanäle sind doch seit Jahr und Tag bereits von Beobachtern auf der Erde wahrgenommen worden und...“ „Was heißt hier so genannte Kanäle?“ unterbrach ihn Sawyer gereizt. „Betrachten Sie doch dieses Bild gefälligst genauer! Dieses säuberlich nach mathematischen Gesichtspunkten gezogene Netz von Linien — die plötzliche Verdoppelung einiger von ihnen! Das kann nur das Werk hochbefähigter Marsbewohner sein. Mars ist ein vertrocknender Planet. Ihm fehlen jegliche nennenswerten Wasserflächen, er hat keine Ströme und Flüsse, und Regen gehört auf ihm wohl zu den größten Seltenheiten. Nur in den Polargebieten bildet sich im Winter eine dünne Reifschicht, und wenn der Frühling anbricht, dann erwacht der Planet zu regem Leben. Dann öffnen sich die Schleusentore, das erquickende Lebenselement sprudelt durch die Kanäle äquatorwärts — Wasser, das kostbarste Gut des Mars...“ „Sind Sie überzeugt davon, dass es nicht noch kostbarere Güter auf dem Planeten gibt?“ fragte eine spöttische Stimme. Dr. Sawyer, der sich in eine wahre Begeisterung geredet hatte, brach ab und blickte ärgerlich auf den Mann, der unbemerkt hereingekommen war. Thomas sah, dass es Kapitän French war. „Was verstehen Sie schon davon?“ brummte Sawyer mürrisch. „Vielleicht mehr, als Sie denken“, lächelte der Raumschiffsoffizier geheimnisvoll. „Gewiss, Wasser ist für jemand, der am Verdursten ist, von unschätzbarem Wert. Aber sollte man nicht auch andere brauchbare Dinge auf Mars finden können — gewisse Bodenschätze zum Beispiel?“ „Dafür bin ich nicht zuständig“, sagte Dr. Sawyer unwirsch. Er wartete nur darauf, dass ihn der lästige Störenfried mit seinem laienhaften Geschwätz endlich wieder allein ließe. „Sie müssen den Kollegen Fisher fragen, den Geologen.“ „Die Bodenschätze des Mars würden uns nicht viel nützen“, warf Thomas zweifelnd ein. „Was hätten wir schon davon, wenn wir Kohle und Erdöl fänden? Mitnehmen könnten wir sie sowieso nicht. Der Transport nach der Erde dürfte sich kaum lohnen.“ Die faltigen Züge Robert Frenchs nahmen einen halb überlegenen, halb geheimnisvollen Ausdruck an.
„Man braucht ja nicht unbedingt an Kohle und Erdöl zu denken. Sollte es auf Mars wirklich nichts Wertvolleres geben?“ „Erwarten Sie etwa Gold, Mister French?“ „Gold? Pah!“ French machte eine wegwerfende Bewegung. „Wer würde sich wegen des gelben Flitterkrams heute noch groß anstrengen? Das Gold unserer Tage heißt — Uran!“ Und immer näher rollte die rötliche Kugel im Raum heran. Der Führerstand der Terra war von jetzt ab doppelt und dreifach besetzt. Im Beobachtungsraum teilte Thomas seine Aufmerksamkeit zwischen Radargerät und Rechenmaschine. Stündlich wanderten seine Messwerte in den Führerraum weiter, wo Edgar Sommerfeld sie gewissenhaft mit der vorausberechneten Fahrtroute verglich. Das Ausweich- und Rettungsmanöver — durch die verhängnisvolle Begegnung mit dem Meteorschwarm verursacht — hatte Unstimmigkeiten in die Flugbahn gebracht, die der Kommodore jetzt mit Hilfe der Bremsdüsen und Strahlruder auszugleichen versuchte. Pietro Boni stand in dauernder Funkverbindung mit den Transportschiffen. Sie hatten ihre Fahrtgeschwindigkeit stark herabgesetzt, und ihr Abstand zum Flaggschiff verringerte sich zusehends. Die Spannung an Bord wuchs von Stunde zu Stunde, und zuweilen entlud sie sich in heftiger und völlig unvorhergesehener Weise. Im Maschinenraum kam es unter den Mannschaften der beiden Schiffe aus nichtigem Anlass zu einer Rauferei, und nur durch Schellings energisches Eingreifen konnte Schlimmeres verhütet werden. Dr. Sawyer wäre um ein Haar handgreiflich geworden, als der Schiffsarzt sich über die angeblichen Marsbewohner lustig machte. Walt Wilson erlitt einen Tobsuchtsanfall, weil er eine Kassette mit einem besonders wichtigen, noch nicht entwickelten Film bei heller Beleuchtung geöffnet hatte — ein Versehen, wie es ihm während seiner ganzen Berufspraxis noch nie unterlaufen war. Das wertvolle Material war verdorben. „Nimm es nicht so tragisch, Walt“, versuchte ihn Thomas zu trösten. „Du wirst auf Mars noch genug Interessantes erleben, das alles in den Schatten stellt, was jemals auf der Leinwand zu sehen war. „Wolfes Tönende Wochenschau“ wird mit dem großen Sonderbericht aus dem Weltraum die Sensation der ganzen Erde sein.“
Walt Wilson hörte auf zu toben, aber noch nach Stunden konnte man ihn durch das Schiff irren sehen, in grimmige Selbstgespräche vertieft. Am schlimmsten stand es mit Fred Kelly, dem Wachoffizier der Luna. Mit flackernden Augen geisterte er umher und erzählte jedem, den er traf, von seltsamen Erscheinungen, die ihm in den Nachtstunden begegnet wären. Eine Weile sah sich Edgar dieses Benehmen kopfschüttelnd an. Schließlich ließ er den Schiffsarzt zu einem Gespräch unter vier Augen in seine Kabine kommen. „Ich fürchte, Doktor, Fred Kelly schnappt uns noch über“, begann er sorgenvoll. „Und was womöglich noch schlimmere Folgen haben kann. Er macht mit seinen törichten Gespenstergeschichten die anderen auch noch verrückt. Was halten Sie, als Mediziner, davon?“ Dr. Dannenberg zuckte die Achseln. „Wir sind alle ein bisschen mit den Nerven herunter, Kommodore. Das ist auch letzten Endes kein Wunder. Bedenken Sie doch die lange, eintönige Überfahrt — unter Lebensbedingungen, wie man sie daheim auf der Erde einfach nicht kennt. Dann das Alleinsein im Weltall, das Eingesperrtsein in dieser engen Konservendose, die sich stolz und anspruchsvoll Weltraumschiff nennt. Draußen, außerhalb der dünnen Schiffshaut, das absolute Nichts. Allenfalls ein paar gefährliche Meteorsteine und lebensfeindliche Strahlungen. Alles wäre noch eher zu ertragen, stünde uns jetzt die Heimkehr bevor. So aber wartet ein fremder Planet auf uns, von dem wir bisher auch nicht viel anderes sagen können, als dass es trostlos kalt und öde auf ihm sein wird. Macht man sich nun noch klar, dass wir für die Dauer von vierhundert Tagen auf diese ungastliche Welt angewiesen sein werden, so ist es ganz verständlich, dass auch die ruhigsten Männer zuweilen kribbelig werden.“ „Dann hätten sie eben zu Hause bleiben sollen“, rief Edgar ungeduldig. „Schließlich sind das alles Weisheiten, die uns nicht erst unterwegs gekommen sind. Niemand ist gezwungen worden, an dieser Fahrt teilzunehmen, und wir haben kein Hehl daraus gemacht, dass es keine Vergnügungsreise werden würde.“ „Gewiss, Kommodore, darüber hat man die Teilnehmer nicht im Unklaren gelassen. Aber aus großer Entfernung sieht das alles viel harmloser aus, als wenn man nachher mitten darin steckt. Vergessen Sie das
eine nicht: Wir sind nun einmal Kinder unserer Erde, sind ganz und gar an ihre Lebensbedingungen gewöhnt und können uns nicht ungestraft auf Weltraumbürger umschalten.“ Edgar stieß ein unfreies Lachen aus. „Das sind ja nette Zukunftsaussichten für die Raumfahrerei. Sehen Sie nicht vielleicht doch etwas zu schwarz, Doktor?“ „Ich fürchte, nein! Die Erdenmenschheit wird auf Mars oder Venus niemals heimisch werden können — was natürlich keineswegs ausschließt, dass einzelne Menschen hin und wieder im Raumschiff zu den Planeten reisen und sich — unter Beachtung aller erforderlichen Vorsichtsmaßregeln — auch vorübergehend auf ihnen aufhalten. Allerdings möchte ich bezweifeln, dass ein und derselbe Mensch Lust dazu verspürt, ein zweites oder drittes Mal zum Mars zu fliegen, wenn jede dieser Reisen fast drei Jahre dauert.“ „Warten wir ab, Doktor. — Und was nun Freund Kelly betrifft...“ „Ich will mich um ihn kümmern, Kommodore. Wir haben in der Schiffsapotheke ein paar Mittel, von denen ich mir in solchen Fällen etwas verspreche.“ Die beiden Männer verließen Edgars Kabine. Während sich der Kommodore wieder in den Führerstand begab, suchte Dr. Dannenberg die Medikamente heraus. Doch als er sie dem Patienten bringen wollte, war er nirgends zu entdecken. Auch von der Mannschaft hatte ihn seit Stunden niemand mehr gesehen. „Nun, weit kann er nicht fort sein“, meinte der Schiffsarzt und ließ die Tabletten gleichmütig in die Tasche gleiten. In der darauf folgenden Nacht fuhr Thomas jäh aus dem Schlaf auf. Sein Herz klopfte wie rasend. Er brauchte einige Zeit, um sich zurecht zufinden. Langsam wanderte sein Blick zum runden Fenster, in dessen Gesichtsfeld ein Teil der rötlichen Marsscheibe hereinragte. Noch wenige Tage, dachte Thomas, und wir sind am Ziel. Dann beginnt der zweite Abschnitt der großen Reise. Er wird nicht weniger gefahrvoll sein, als der zurückliegende, dem eins der Raumschiffe zum Opfer fiel. Was mag der geheimnisvolle Planet für uns bereithalten? Plötzlich erstarrte Thomas. Er wischte sich mit der Hand über die Augen. Was war das? Narrte ihn ein Spuk? War er das Opfer einer
Sinnestäuschung? Deutlich hatte er einen Schatten vor dem Fenster vorbeihuschen sehen, und dieser Schatten hatte die Gestalt eines übergroßen menschlichen Wesens ... Sein Schreckensruf riß Walt Wilson, mit dem er seit dem Untergang der Luna wegen der Engigkeit an Bord die Kabine teilte, aus tiefstem Schlummer. „Was ist denn los, Tom? Wo brennt's denn?“ Hastig und stotternd berichtete Thomas, was er gesehen hatte. Walt Wilson gähnte gelangweilt. „Jetzt fängst du auch schon an zu spinnen, Tom. Machst es diesem närrischen Kelly nach und siehst Gespenster. Beruhige dich, alter Junge, und leg dich wieder aufs Ohr. Gute Nacht.“ Aber Thomas dachte nicht daran, dem wohlgemeinten Rat zu folgen. Rasch löste er die Sicherungsgurte und schnellte sich zum Fenster hin. Angestrengt blickte er in die Richtung, in welcher das rätselhafte Schattenwesen verschwunden war. „Walt, ich bitte dich: Steh auf und überzeuge dich selbst, ob ich Gespenster sehe, oder...“ In Walt Wilson erwachte das Interesse des Reporters und überwand die Müdigkeit. „Na schön, Tom, damit du endlich Ruhe gibst. Aber lass es dir gesagt sein: Wenn du dich getäuscht und mich umsonst aus den Federn gejagt hast, dann ist eine Lage fällig.“ Mit einem kühnen Hechtsprung schoss er auf das Fenster zu, schaute hinaus und prallte zurück. „Donnerwetter, Tom! Da schwebt tatsächlich etwas — nur, dass es eben kein Gespenst ist.“ „Du meinst doch nicht etwa, dass es ein Mensch sein könnte?“ „Pst! Sag das nicht zu laut, Tom. Wenn dein hoher Chef das hört, bildet er sich womöglich ein, die Marsbewohner hätten uns einen Abgesandten zur Begrüßung entgegengeschickt.“ „Ja, aber — was hat denn das in Wirklichkeit zu bedeuten, Walt?“ „Das kann ich dir ganz genau verraten“, belehrte ihn der Reporter und machte ein furchtbar kluges Gesicht. „Irgendeinem unserer Fahrtgenossen hat es nicht mehr bei uns gefallen, und da ist er eben ausgestiegen.“ „Und das sagst du so in aller Gemütsruhe, als ob es sich nur um einen
Sprung zum Zigarettenhändler gegenüber handelte? Es muss doch irgendetwas geschehen, Menschenskind!“ „Nur immer mit der Ruhe, Tom. Viel passieren kann ihm hier draußen schließlich nicht. Wie mir scheint, hat er nicht mal den Rückstoßapparat mitgenommen. Er wird also ganz friedlich neben dem Schiff herschweben, bis es ihm zu langweilig geworden ist, und dann ... Hoppla!“ Beide hatten das kurze Aufflammen in der Nähe der rätselhaften Gestalt gesehen, die — etwa in der Höhe des Hecks — neben dem Schiffsrumpf schwebte. „Er hat die Rückstoßpistole doch dabei“, stellte Thomas fest. „Hat aber offenbar Ladehemmung. So was soll vorkommen. Donnerwetter — jetzt hat's gefunkt! Tom, sieh doch: Der Mann muss ja verrückt geworden sein. Er haut ab!“ Thomas tastete sich zur Alarmanlage hin. Er drückte den Klingelknopf. In allen Räumen schrillten die Glocken. „Was ist los?“ fragte die Stimme des Wachhabenden aus dem Lautsprecher. „Mann über Bord!“ rief Thomas atemlos. „Er muss durch die Steuerbordschleuse ausgestiegen sein und treibt in den Raum hinaus.“ „Habe verstanden. Achtung — Rettungsmannschaft! Zur Steuerbordschleuse! Schutzanzüge anlegen!“ Als Edgar Sommerfeld, den der Alarm aus kurzem Schlummer aufgeschreckt hatte, vor der Innentür der Schleusenkammer eintraf, fand er die vier Mann des Rettungstrupps schon bereit, rasch schloss er die Schiebetür. Eine Sekunde danach liefen die Pumpen an, welche die Luft aus der Kammer saugten. Am Fallen des Wandbarometers konnten die Männer das rasche Sinken des Innendrucks verfolgen. Endlich war es so weit. Eine grüne Signallampe leuchtete auf. Langsam öffnete sich die Außentür in den leeren Raum. „Vogelsang und Harras“, befahl Edgar über die Sprechfunkverbindung, „ihr kommt mit. Seilt euch an, und dann los! Die beiden anderen bleiben hier in Bereitschaft. Wenn mich nicht alles täuscht, sehe ich den Ausreißer da drüben fliegen.“ Von ihrem Kabinenfenster aus verfolgten Thomas und Walt den Ablauf der Rettungsaktion. Das Rückstoßgerät des Flüchtigen schien tatsächlich nicht intakt zu sein — und das war sein Glück; denn andern-
falls wäre es den Rettern wohl schwer gefallen, ihn einzuholen. Doch der Abstand verringerte sich zusehends. Fast lagen die Verfolger mit ihm in gleicher Linie, als ihre Rückstoßpistolen zu spucken anfingen und plötzlich erloschen. „Aus“, sagte Thomas beklommen. „Sie haben es nicht geschafft.“ „Warte nur ab, Tom. Sie haben jetzt eine solche Affenfahrt drauf, dass sie ihn auch einholen, ohne weiter Gas zu geben.“ Walt Wilson sollte Recht behalten; Sekunden später hatten sie den Flüchtenden überholt, einer der Männer machte eine Armbewegung, als würfe er eine Schlinge... „Sie haben ihn“, rief Thomas, „aber wie sollen sie jetzt zum Schiff zurückkommen? Ihre Rückstoßapparate sind leer gebrannt.“ „Das wirst du gleich sehen. Donnerwetter, das gibt 'ne feine Aufnahme!“ Wie von Geisterhand berührt, waren die vier schwebenden Gestalten zum Stillstand gekommen. Und langsam, anfangs kaum wahrnehmbar, kehrten sie zum Schiff zurück. „Die reinste Zauberei“, staunte Thomas, der so etwas noch nicht gesehen hatte. „Nennen wir es lieber Marionettentheater“, lachte Walt. „Wir sind das Publikum, da draußen siehst du die Puppen, und in der Luftschleuse sitzen die Männer, die an den Drähten ziehen.“ „An den Drähten?“ „Ganz richtig, nur dass es sich dabei — genauer gesagt — um dünne, aber äußerst reißfeste Nylonseile handelt. Die kühnen Retter waren natürlich angeseilt, als sie sich ins Abenteuer stürzten. Komm jetzt mit zur Schleuse, Tom. Ich bin verflixt neugierig, wen die Jungens da mitgebracht haben. Vielleicht gibt das noch eine hübsche Aufnahme.“ Sie kamen gerade zu Recht, um zu sehen, wie die Innentür der Schleuse aufgerissen wurde, und sich die Männer des Rettungstrupps herausdrängten. Sie schoben eine scheinbar ohnmächtige Gestalt in vollständiger Raumtaucherausrüstung vor sich her. Thomas erkannte den Kommodore unter den Männern. Er schraubte dem Geretteten den Helm ab und blickte finster in die bleichen, leblosen Züge. Auch Thomas und Walt hatten das Gesicht erkannt. Es war Fred Kelly, der Wachoffizier der Luna. Der Schiffsarzt war bereits zur Stelle.
Er schälte den Bewusstlosen mit Hilfe zweier Maschinisten aus dem Schutzanzug und fühlte ihm den Puls. Noch während sie sich um ihn bemühten, schlug Kelly die Augen auf. In seinem Blick malte sich maßloses Erstaunen. Plötzlich richtete er sich mit solcher Wucht auf, dass er die anderen fast mitgerissen hätte. „Er ruft mich“, schrie er, und in seinen Augen flackerte ein wildes Feuer. „Lasst mich los — lasst mich los, ihr Schufte. Er ruft mich — der rote Stern...“ Erschrocken wichen die Fahrtgenossen zurück, die sich inzwischen fast vollzählig eingefunden hatten. Einige wechselten furchtsame Blicke und begannen, untereinander zu tuscheln. Edgar Sommerfeld, der die Szene aufmerksam verfolgte, entging die Wirkung nicht, die Kellys Verhalten auf die Männer ausübte. Eine allgemeine Panik schien sich anzubahnen. „Nun aber Schluss mit dem Quatsch“, donnerte er plötzlich dazwischen. „Der Mars kann gar nicht rufen, denn er hat keinen Mund. Er ist ein toter Himmelskörper, und es ist überhaupt nichts Geheimnisvolles an ihm. Wenn noch ein einziger von euch von Weltraumgespenstern und ähnlichem Unfug faselt, werfe ich ihn eigenhändig über Bord. Dann kann er meinetwegen selbst als Gespenst draußen herumschwirren — bis zum jüngsten Tag. Benehmt euch doch nicht wie die Kinder! Wir haben harte Tage vor uns, und jeder, der jetzt schlapp macht, bringt durch sein Versagen Schiff und Mannschaft in Gefahr und womöglich das ganze Unternehmen im letzten Augenblick zum Scheitern. Merkt euch das und macht jetzt, dass ihr auf eure Plätze kommt. Der Alarmzustand bleibt bestehen. In einigen Stunden beginnt ohnehin das Landungsmanöver.“ Im ersten Augenblick sah es aus, als wollten einige der Männer aufbegehren. Aber im stillen mussten sie ihrem Kommodore doch recht geben. Und so trollten sie sich ohne Widerspruch. „Das gilt auch für Sie“, fuhr Edgar fort und schüttelte Fred Kelly wie ein Bündel Lumpen. „Reißen Sie sich doch endlich zusammen, Sie traurige Niete.“ „Lassen Sie nur, Kommodore“, wandte der Schiffsarzt ein. „Der Mann ist tatsächlich krank. Fürs erste will ich ihn in die Schwerekammer bringen, damit er wieder erdähnliche Lebensbedingungen bekommt.“ „Dazu ist es leider zu spät, Doktor. Ich lasse die Schwerekammer ab-
montieren. Sie ist uns doch bloß im Wege, wenn wir Deimos anlaufen.“ „Nun, dann muss es eben auch so gehen. Ich werde Kelly ein kräftiges Schlafmittel verabfolgen. Wenn er dann wieder aufwacht, liegt das Schlimmste schon hinter ans.“ „Heckmotor halbe Kraft! Ruder hart Steuerbord! Maschine Stop!“ Ruhig klangen Edgars Kommandos im Führerraum der Terra, dröhnten im gleichen Augenblick aus dem Lautsprecher im Schaltraum und wurden vom Steuermann und vom Chefingenieur ebenso ruhig zurückgegeben. An Bord des Flaggschiffs lief alles wieder im gewohnten Gleis. Das Donnerwetter, das Edgar Sommerfeld über den Häuptern seiner Gefährten losgelassen hatte, war nicht ohne segensreiche Nachwirkung geblieben, und jeder erfüllte seine Pflicht mit größter Gewissenhaftigkeit. Im Beobachtungsraum bediente Dr. Sawyer eine Astrokamera, die fortlaufend automatische Filmaufnahmen von der Marsoberfläche ausführte. Thomas und Walt hockten an den Radargeräten. In der Tiefe wölbte sich, fast die Hälfte des Himmels verdeckend, die gewaltige Kugel des Planeten. In Abständen von wenigen Minuten las Thomas die Entfernung ab und gab sie durch das Mikrophon an den Fahrerstand weiter: „Null Uhr, fünfzehn Minuten: Distanz dreißig Komma neun... Null Uhr, zwanzig Minuten: Distanz achtundzwanzig Komma drei...“ Von Sekunde zu Sekunde schmolz der Abstand zur Planetenoberfläche dahin. Schließlich war es Zeit zum Einlenken in die Kreisbahn. Infolge ihrer besonderen Bauart waren die Expeditionsschiffe nicht dazu geeignet, direkt auf Mars zu landen. Der Luftwiderstand würde sie beim Eindringen in die Planetenatmosphäre unweigerlich zerstört haben. Man musste die Schiffe in gebührendem Abstand in eine ewige Kreisbahn am den Planeten lenken und dann die Mannschaft mit Hilfe kleiner Landungsraketen auf seine Oberfläche niedergehen lassen. „Distanz einundzwanzig Komma null...“ „Heckmotor — Achtung!“ rief Edgar. Wieder schüttelte der Andruck der plötzlichen Beschleunigung die Mannschaft durcheinander. Teddy Hamilton betätigte das Höhenruder. „Halten Sie das Schiff genau in Distanz zwanzig Komma null-sechsnull“, befahl Edgar.
„Warum ausgerechnet in diesem Abstand, Kommodore? Kreist nicht in dieser Entfernung der Marsmond Deimos um den Planeten?“ „Ja, eben. Ich habe vor, Deimos anzulaufen.“ „Unbekanntes Objekt fünfhundert Kilometer voraus“, meldete lieh Walt Wilson. „In Ordnung. Bremsdüsen klar! Geben Sie jetzt Acht, Hamilton. Wir sind gleich da.“ Bald wuchs der winzige Marsmond aus der Schwärze des Himmelsgrundes heran. Er machte wahrlich keinen imposanten Eindruck. „Der misst doch keine zehn Kilometer“, meinte der Steuermann kopfschüttelnd. „Was versprechen Sie sich nur von der Landung auf diesem winzigen Brocken?“ „Sie haben Recht, Hamilton. Das ganze Möndchen hat nur acht Kilometer Durchmesser. Wir wollen es auch nicht mit unserem Besuch beehren. Wenn wir die Schiffe aber in seiner Nähe verankern, dann wissen wir wenigstens ganz genau, wo wir sie im Notfall zu suchen haben.“ „Wieso, Kommodore — lassen Sie denn keine Wache an Bord?“ Edgar lachte. „Aber, lieber Hamilton, überlegen Sie doch mal: Möchten sie etwa 450 Tage lang hier oben Wache schieben und stumpfsinnig um den Planeten herumgondeln? Dieses Vergnügen möchte ich meinem ärgsten Feind nicht zumuten.“ „Wir könnten die Wachen doch alle vierzehn Tage ablösen lassen.“ „Und woher sollen wir die Unmengen von Treibstoff nehmen, die das kosten würde? Nein, Hamilton, wir können die Schiffe getrost ohne Wache zurücklassen. Denen kann während unserer Abwesenheit gar nichts zustoßen. Achtung — Bremsdüsen: Feuer! Sämtliche Maschinen Stop!“ Zehn Minuten später schwebte die Terra in gleicher Höhe mit dem Marsmond Deimos — vorsichtshalber durch feste Seile mit ihm verbunden. Und ehe noch eine Stunde vergangen war, hatten auch die Transportschiffe C l, 2 und 3 an dem winzigen Trabanten festgemacht. Walt Wilson hatte alle Hände voll zu tun, um das kosmische Manöver in allen seinen Einzelheiten auf den Film zu bannen. Um Thomas
kümmerte sich im Augenblick niemand mehr. Er stand an einem der großen Rundfenster und musterte interessiert die ungastliche Oberfläche des Deimos. Wie mochte Mars zu diesem seltsamen Begleiter gekommen sein? Beim Erdmond war diese Frage seit langem schon gelöst. Vor Urzeiten war er aus der Erde selbst hervorgegangen, als diese sich noch in glühend-flüssigem Zustand befand. Im Laufe langer Zeiträume war er dann zu einer festen Kugel erstarrt. Für Deimos konnte eine solche Erklärung kaum gelten. Er besaß nicht einmal Kugelgestalt. Unregelmäßig und zerrissen, ein wüster Felsblock, zog er seine Bahn. Vielleicht war er dereinst ein kleiner Planet gewesen, wie sie zu vielen Tausenden den Baum zwischen Mars und Jupiter erfüllen. Eines Tages mochte er auf seiner Bahn dem Mars zu nahe gekommen und von seiner Anziehungskraft eingefangen worden sein. Edgars Stimme, die aus allen Lautsprechern tönte, riß ihn aus seinen Betrachtungen. „Fertigmachen zum Ausbooten! Schutzanzüge anlegen und Gepäck bereithalten! Lasst nach Möglichkeit nichts liegen — es dauert immerhin länger als ein Jahr, bis wir an Bord zurückkommen.“ Als Thomas sich anschickte, seine Kabine aufzusuchen, sah er gerade noch, wie die riesigen Transporter die Landungsboote ausluden, mit denen die Expeditionsteilnehmer zur Marsoberfläche fahren sollten.
AUF FREMDEM GESTIRN Es war bedrückend eng in der kleinen Kabine der Landungsrakete, und die fünf Männer, die in ihren Raumanzügen noch mehr Platz einnahmen, als es sonst der Fall gewesen wäre, vermochten kaum ein Glied zu rühren. Vorn, nur durch eine Kunstglaswand von ihnen getrennt, saß der Pilot am Steuer. Es war Kapitän Camino, der Kommandant der C 1. Von außen wirkte die Landungsrakete wie ein schlankes, spindelförmiges Flugzeug mit spitzer Nase und kurzen Tragflächen. Ein Raketenmotor im Heck lieferte die Antriebskraft. Der Hauptteil des Laderaums war mit Proviant, Werkzeug und Instrumenten aller Art voll gestopft. Die beiden anderen Raumfahrzeuge, die in einigem Abstand folgten, waren ähnlich ausgestattet. „Scheußlicher Gedanke, über vierhundert Tage lang ständig in diesem Panzer herumlaufen zu müssen“, klagte Walt Wilson. Er saß zwischen Edgar und Thomas eingekeilt und konnte wegen der Engigkeit nicht einmal seine Kamera bedienen. „Besteht denn gar keine Aussicht, dass wir uns auf Mars frei tummeln können? Soviel ich verstanden habe, gibt es doch Luft auf dem Planeten.“ „Gewiss, Walt“, erwiderte Thomas. Sie konnten sieh über die Sprechfunkverbindung verständigen. „Nur darfst du dabei nicht an Luft in unserem irdischen Sinne denken. Wahrscheinlich besteht die Marsluft zu achtundneunzig Prozent aus Stickstoff.“ „Also eine wahre Stickluft? Pfui Teufel, Tom.“ „Hinzu kommt noch, dass der Luftdruck an der Planetenoberfläche nur recht gering ist, niedriger jedenfalls als auf den höchsten Bergen, die es auf der Erde gibt. Wir würden auf keinen Fall ohne künstliche Atmung auskommen.“ „Trösten Sie sich, Walt“, fiel jetzt Edgar ein, „Sie werden bald aus Ihrem unbequemen Weltraumpanzer aussteigen können. Sobald wir gelandet sind, bauen wir uns ein Haus, das luftdicht schließt, und machen es uns darin gemütlich.“ „Völlig unnötiger Aufwand, meine Herren“, schnarrte die Stimme Dr. Sawyers dazwischen. „Sie werden sehen, dass wir auf Mars bereits
Bauwerke vorfinden werden, hinter denen sich alles verstecken kann, was die menschliche Technik bisher geleistet hat. Wahrscheinlich werden wir bereits erwartet und...“ „...und nachher mit Marskohl bewirtet“, vollendete Walt Wilson lachend. „Na, dann guten Appetit!“ „Wenn Sie mit Ihrer Meinung von den Marsbewohnern recht haben sollten, Herr Doktor“, sagte Edgar gedehnt, „dann müssten wir eigentlich längst etwas von ihren gigantischen Bauwerken und Anlagen entdeckt haben. Aber — offen gesagt — ich sehe nichts, aber auch nicht das Geringste.“ „Warten Sie ab, Sie werden bald anders darüber denken. Selbstverständlich waren die Marsbewohner nicht so blöd, auf der Planetenoberfläche zu bleiben, als ihr bisheriger Lebensraum allmählich unwirtlich wurde. Wahrscheinlich sind sie schon frühzeitig dazu übergegangen, ihre Siedlungen unterirdisch anzulegen, sofern ich dieses Wort einmal auf Mars anwenden darf.“ Die anderen antworteten nicht. Die fremdartige Landschaft, die unter ihnen vorüberzog, nahm ihre Aufmerksamkeit ganz gefangen. In weit ausholender Spiralbahn näherte sich die Landungsrakete der Oberfläche. Schon seit einigen Minuten zeigte der Ausschlag der Außenthermometer an, dass das Fahrzeug in die Atmosphäre eingetaucht war. Die Reibungswärme machte sich bemerkbar. Der vorläufig noch recht geringe Luftwiderstand begann die Fluggeschwindigkeit abzubremsen. „Bleibt es bei dem befohlenen Landeplatz, Kommodore?“ fragte der Pilot. „Es bleibt dabei, Kapitän Camino. Landen Sie, wie vorgesehen, unter 215 Grad Länge und Null Grad Breite.“ „Du willst also direkt auf dem Äquator landen, Edgar?“ fragte Thomas. „Das ist einleuchtend; denn wir werden dort die erträglichsten Temperaturen vorfinden. Aber warum ausgerechnet unter 215 Grad Länge? Dort liegt doch die Landschaft Aeolis...“ „Aeolis — das hört sich wirklich gut an“, meinte Walt Wilson. „Man fühlt sich direkt in die Zeit der alten Griechen zurückversetzt.“ „Die ganze Landkarte des Mars wimmelt nur so von griechischen und auch lateinischen Landschaftsbezeichnungen“, erklärte Thomas. „Dass die Namen sehr treffend gewählt worden sind, wird man allerdings in
vielen Fällen nicht behaupten können.“ „Ich habe Aeolis wegen seiner günstigen Lage ausgesucht“, sagte Edgar. „Wir haben es hier mit einem der hellen Gebiete zu tun, also vermutlich einer Sandwüste, die uns fürs erste keine Überraschungen bieten wird; denn Überraschungen können wir nicht brauchen, solange wir uns noch nicht häuslich niedergelassen haben. Von dort aus sind einige dunkle Flächen verhältnismäßig leicht zu erreichen, deren genaue Erforschung mir lohnend erscheint, zum Beispiel der Mare Cimmerium im Süden und der Cerberus, nördlich der Landschaft. Schaut nur hinaus: Wir überfliegen gerade die ganze Gegend. Noch eine Umkreisung — dann können wir landen.“ „Was ist denn das?“ rief Dr. Sawyer plötzlich. „Sehen Sie doch, meine Herren: dieser seltsame, kegelförmige Bau in Elysium! Jetzt steigt Rauch an seiner Spitze auf — ich sehe es deutlich aufblitzen. Man gibt uns Zeichen. Lassen Sie doch anhalten, Kommodore! Lassen Sie hier landen, zum Donnerwetter, lassen Sie sofort...“ „Nun geben Sie mal schön Ruhe, Herr Doktor. Wir können hier nicht landen, unsere Geschwindigkeit ist noch viel zu hoch. Tragen Sie die Pyramide, oder wie wir das Ding sonst nennen wollen, in die Karte ein. Wir können ja bei späterer Gelegenheit mal einen kleinen Abstecher in die Gegend machen.“ Wehmütig sah der Gelehrte das seltsame Gebilde am Horizont verschwinden. Auch die anderen hatten es bemerkt. Die ringsum eingelassenen Kunstglasfenster gaben den Insassen der Kabine gute Beobachtungsmöglichkeiten nach allen Richtungen hin. Mars, der angeblich tote Planet, schien doch noch manches Rätsel zu bergen, von dem die Wissenschaftler auf der Erde sich nichts träumen ließen... Fast ohne Übergang war es in der Kabine dunkel geworden. Das Landungsfahrzeug befand sich jetzt über der Nachtseite des Planeten. Angestrengt versuchten die Insassen, die Finsternis mit den Augen zu durchdringen. Leuchteten nicht hier und da schwache Lichtpunkte aus der Tiefe herauf? Oder waren es nur Täuschungen, denen die ermüdeten Augen zum Opfer fielen? Leise tauschten die Männer ihre Vermutungen aus. Nur Dr. Sawyer beteiligte sich nicht an ihrem Gespräch. Er schwieg und lächelte überlegen. Das Sonnenlicht erfüllte so plötzlich wieder die Kabine, dass alle geblendet die Augen schließen mussten. Drunten raste
die Marslandschaft mit grellroten und dunkleren Flecken vorbei, wie ein phantastischer Flickenteppich. Sie waren ihr nun schon erheblich näher gekommen, doch war die Fluggeschwindigkeit noch immer so groß, dass Edgar befürchtete, sie würden weit über das Ziel hinausschießen, wenn sie den Gleitflug nicht stoppten. „Geben Sie Gegenschub, Kapitän“, riet Edgar. Thomas vernahm das Aufheulen des Triebwerks. Er fühlte sich nach vorn gerissen, doch zu seiner Verwunderung konnte er nirgends die gewohnten Bremsdüsen entdecken. „Was ist denn da los, Edgar? Kann unser Heckmotor auch rückwärts arbeiten?“ „Er lässt sich auch zum Bremsen verwenden — so merkwürdig das klingt“, bestätigte der Kommodore. „Kapitän Camino hat jetzt die Strahlumlenkung eingeschaltet. Donnerwetter — wenn das nur keine Bruchlandung gibt! Fahrwerk heraus! Festhalten, Leute!“ Edgars Sorge war unbegründet gewesen. Das Raketenflugzeug setzte erstaunlich sanft auf und rollte in lang gestreckter Bahn aus. Eine Weile herrschte vollkommene Stille in der Kabine. „Da wären wir also am Ziel“, sagte Edgar schließlich. Er fühlte, dass die Bemerkung nicht gerade geistreich war, und er hatte sie auch nur gemacht, um das allgemeine Schweigen zu brechen. Aber es fiel keinem von den Gefährten auf. Jetzt, als die lange, gefahrvolle Fahrt ihr Ende gefunden hatte, fühlten sich alle seltsam ergriffen. Langsam dämmerte ihnen das Bewußtsein, dass sie sich in einer neuen Welt befanden — als erste Menschen auf einem fremden Planeten... Walt Wilson war der erste, der zu einem Entschluss kam. Er öffnete die Einstiegluke, trat zurück und hob die Kamera. „Ein wahrhaft historischer Augenblick, meine Herren! Ich muss ihn unbedingt auf den Film bannen. Der erste Mensch betritt den Boden des Kriegsplaneten. Wer macht den Anfang?“ „Edgar Sommerfeld, unser Kommodore, natürlich“, rief Thomas. „Er hat uns glücklich und wohlbehalten hergebracht, und ihm gebührt der Vorrang.“ Edgar lehnte verlegen ab. „Ich habe nur meine Pflicht getan, wie jeder von uns. Wie wäre es mit
Schelling? Er ist länger bei der Raumfahrt als ich.“ „Unsinn“, rief der Chefingenieur. „Als ob das Dienstalter dabei eine Rolle spielte...“ „Kinder, ihr ziert euch ja, als ob ihr daheim zu einem DamenKaffeekränzchen gehörtet“, lachte Walt Wilson. „Seid doch nicht albern. Einer muss schließlich den Anfang machen.“ „Dann soll Dr. Sawyer als erster den Mars betreten“, schlug Thomas vor. „Er hat sein ganzes Leben der Erforschung dieses Planeten geweiht. Wer ist berufener als er, der erste Mensch auf Mars zu sein?“ Alle stimmten begeistert zu. Feierlich ging der Gelehrte zur Tür, stieß sich ab und sprang durch die Luke hinaus. „Hurra!“ brüllten die anderen wie aus einem Munde. Alle drängten jetzt hinterher. Thomas fürchtete, tief in dem staubfeinen, roten Sand zu versinken, der die Ebene bedeckte, so weit der Blick reichte. Allzu weit war es allerdings — mit irdischen Maßstäben verglichen — nicht; denn Mars ist sehr viel kleiner als die Erde, und die starke Krümmung seiner Oberfläche lässt den Horizont nahe an den Beobachter, der auf ihr steht, heranrücken. Zu seiner Überraschung sank Thomas jedoch kaum merklich ein. Der Sprung war leicht und angenehm, der Boden weich, ohne jedoch allzu sehr nachzugeben. Ja, richtig: Die Anziehungskraft des Planeten war ja viel geringer als die der Erde. Alle Dinge besaßen hier nur rund ein Drittel ihres irdischen Gewichts. Wie eine ausgelassene Kinderschar tollten die Raumfahrer herum. Sie griffen in den roten Sand und ließen ihn durch die behandschuhten Finger rieseln. Kapitän Camino übte einen Salto mortale. Bald hatten sich alle über die Ebene zerstreut. „Ihr seid wohl von allen guten Geistern verlassen?“ ertönte plötzlich Edgars Stimme in den Kopfhörern. „Sind wir etwa zum Mars gefahren, um kindliche Spiele im Freien zu treiben? Sofort zurück, Herrschaften! Die anderen Landungsraketen müssen jeden Augenblick hier sein. Wo sollen sie denn landen — zum Donnerwetter! — wenn ihr mit eurer albernen Hopserei das ganze Feld verbaut? Kommt jetzt her und ladet das Landungsboot aus! In dreißig Minuten startet Camino und holt die nächste Fuhre vom Deimos. Los, beeilt euch!“ Thomas fühlte sich augenblicklich ernüchtert. Wahrhaftig, es gab jetzt Wichtigeres zu tun, als hier ziellos herum zuspringen, wenn es auch ein
herrliches Gefühl war, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren und nicht mehr in die Engigkeit des Raumschiffs eingepfercht zu sein. Eilig kehrte er zur Landestelle zurück. Auch die anderen beeilten sich, Edgars Befehl zu befolgen. Kaum waren sie wieder versammelt, als die zweite Landungsrakete vom Himmel glitt, leicht aufsetzte und — eine lange, rote Staubfahne hinter sich herziehend — einige hundert Meter von Ihnen entfernt zum Stehen kam.
Unverzüglich begann man nun mit dem Entladen der Fracht. Anfangs ging alles ganz leicht. Bald türmten sich Bauteile und Lasten aller Art in der Umgebung der Rakete auf. Doch je länger Thomas arbeitete, desto rascher fühlte er seine Kräfte erlahmen. Schließlich ließ er sich müde auf eine Proviantkiste sinken und starrte teilnahmslos vor sich hin. Die Augen fielen ihm zu... „Was für eine Krankheit ist denn bei euch ausgebrochen?“
Der Donner einer überirdischen Stimme riß Thomas roh in die Wirklichkeit zurück, dass er erschrocken empor taumelte. Er erkannte Dr. Dannenberg, der mit zwei Begleitern vom Landeplatz der zweiten Rakete herübergekommen war und kopfschüttelnd das merkwürdige Bild betrachtete, das ihn hier erwartete; denn nicht nur Thomas war von Erschöpfung übermannt worden und dann zu Boden gesunken — auch die fünf anderen Männer lagen wie hingemäht im Sand. Die überirdische Donnerstimme war in Wirklichkeit nichts anderes als das wohlbekannte Organ des Schiffsarztes gewesen. Dr. Dannenberg hatte nicht lauter gesprochen als sonst, aber in dem merkwürdigen Zustand völliger Übermüdung, in dem Thomas dahin schwamm, war es ihm, als hätte man Kanonen neben ihm abgefeuert. Der Arzt trat auf ihn zu und sagte etwas von Sauerstoffmangel. Eine flüchtige Untersuchung zeigte jedoch, dass das Atemgerät in Ordnung war. Plötzlich dämmerte ihm eine Erkenntnis. „Ihr seid das Arbeiten nicht mehr gewöhnt, Jungens, und habt euch ganz einfach übernommen. 260 Tage Schwerelosigkeit haben unsere Muskulatur so gründlich geschädigt, dass wir jetzt schon bei der geringsten Anstrengung schlapp machen. Wir wollen nur froh sein, dass wir in diesem Zustand nicht auf der Erde gelandet sind — mit ihrer dreimal größeren Schwerkraft. Platt wie Briefmarken würden wir am Boden kleben.“ „Was können wir dagegen tun, Doktor?“ fragte Edgar, der sich mühsam herbeigeschleppt hatte. „Hier helfen nur Ruhe und allmähliche Gewöhnung. Wir dürfen uns eben in den ersten Tagen keine zu großen Sprünge erlauben. Im Grunde ist das nicht weiter schlimm; denn wir haben ja so viel Zeit...“ „Und wie soll es hier weitergehen?“ Mit hilfloser Gebärde wies Edgar auf die herumliegenden Gepäckstücke, auf die halbentladene Landungsrakete und die kümmerlichen Gestalten der Gefährten. „Ich könnte uns allen ein paar Injektionen verpassen, die uns über den ersten Schock hinweghelfen und euch — wenigstens für ein paar Stunden — wieder auf die Beine bringen würden. Aber dazu müsstet ihr die Schutzanzüge ablegen, und das geht leider auch wieder nicht.“ „Vielleicht, wenn Sie Ihr ärztliches Ambulatorium in einer Druckkabine einrichten würden? Die Einzelteile sind schon ausgepackt.“
„Dann aber schnell, bevor wir anderen auch noch aus den Sandalen kippen.“ Rasch ging Dr. Dannenberg mit seinen Begleitern an die Arbeit, um das luftdichte und drucksichere Zelt für die ärztliche Behandlung aufzubauen. „Dieser Mars ist doch 'ne ziemlich fade Sache“, meinte Otto Vogelsang und blickte missgelaunt aus dem Fenster. „Weit und breit nichts als Gegend.“ „Beruhige dich, Otto“, lachte Walt Wilson. „Heute Mittag will Dr. Sawyer auf die Suche nach den sagenhaften Marsmenschen gehen. Auch „Wolfes Tönende Wochenschau“ wird natürlich mit von der Partie sein, um den großen Augenblick zu filmen, wenn der Gouverneur der schönen Landschaft Aeolis den Abgesandten der Erde einen feierlichen Empfang bereitet und ihnen höchstpersönlich die Ehrenbürgerurkunden überreicht. Ich sehe ihn schon im Geiste daher schreiten: mit einem wallenden, sternenbestickten Mantel bekleidet, mit langem, weißem Vollbart, am Gürtel die Tarnkappe...“ „Wozu denn eine Tarnkappe, Walt?“ lächelte Thomas, sichtlich belustigt über Walts Phantasie. „Alle Marsbewohner haben Tarnkappen“, sagte der Reporter ernsthaft, „denn anders ließe es sich gar nicht erklären, dass sie bisher unsichtbar geblieben sind.“ „Und weiter, Walt?“ „Na ja, der ganze Zauber, der sonst noch dazu gehört: Fahnen und Girlanden, Salutschüsse und Ehrenjungfrauen, und anschließend ein Festessen mit mindestens zwanzig Gängen.“ „Marskohl auf zwanzig verschiedene Arten? Wie fürchterlich!“ Thomas schüttelte sich in komischem Entsetzen. „Und was habe ich dabei zu tun?“ erkundigte sich Otto. „Du darfst mein Stativ und die Filmschachteln tragen, wenn du hübsch brav bist“, erwiderte Walt Wilson gönnerhaft. „Wirklich zu liebenswürdig — fühle mich sehr geehrt. Aber immer noch besser, als hier untätig herumzuhocken. Wann soll's denn losgehen?“ „Punkt drei Uhr Mittlerer Marszeit“, erklärte eine Stimme vom
Eingang her. „Guten Morgen, meine Herren!“ Edgar Sommerfeld trat ans der Luftschleuse, die jeder passieren musste, der das kleine Gebäude betreten oder verlassen wollte. In den vierzehn Tagen, die seit der Landung vergangen waren, hatten die Expeditionsteilnehmer ans mitgebrachten Einzelteilen ein Dutzend kleiner, praktischer Unterkunftshütten aufgebaut, die von je drei Mann bewohnt wurden und ihren Insassen Schutz vor allen Unbilden des Marsklimas und ein bescheidenes Maß an Behaglichkeit boten. Zusammen mit den vier Lagerbaracken, dem Laboratorium, der Krankenstation und dem einfachen Hangar für die Landungsraketen war in der Zwischenzeit ein recht stattliches Lager entstanden. „Guten Morgen, Edgar! Guten Morgen, Kommodore!“ klang es dem Eintretenden entgegen. „Höchste Zeit, dass hier mal was geschieht. Ist das ein langweiliges Leben auf Mars! Täglich nichts als Liegekur, Frühsport und Skatspiel. Das hätten wir daheim auf der Erde bequemer haben können.“ „Es hat alles seinen guten Grund“, belehrte Edgar die Ungeduldigen. „Dr. Dannenberg weiß schon, warum er uns nur ganz langsam und vorsichtig auf die veränderten Lebensbedingungen umstellt. Es ist besser, wir wappnen uns am Anfang mit Geduld, als dass wir nachher allesamt auf der Nase liegen.“ „Und inzwischen verzehrt sich der arme Sawyer vor Begier, endlich seine berühmten Marsmenschen kennen zu lernen“, spottete Walt Wilson. „Nun, das ist leider nicht zu ändern. Aber in ein paar Stunden wird die Wartezeit abgelaufen sein. Freilich ist fürs erste nur ein kurzer Abstecher in östlicher Richtung geplant. Wir wollen nur das Gelände in unserer nächsten Umgebung erkunden.“ „Eine Art Spähtruppunternehmen also. Das könnten wir allerdings auch einfacher haben, Kommodore. Warum setzen Sie nicht die Landungsraketen dafür ein?“ „Ich werde mich hüten, Walt. Was denken Sie denn, was diese Dinger an Treibstoff verschlingen?“ „Stimmt, Kommodore, daran hatte ich nicht gedacht. Zu Fuß werden wir aber nicht weit kommen.“
„Das verlangt auch niemand von euch. Für alle Fälle haben wir ein paar handliche Kettenfahrzeuge mitgebracht. Sie haben den Männern in der Mondbasis bereits gute Dienste geleistet.“ Pünktlich um drei Uhr Mittlerer Marszeit verließ eine kleine Wagenkolonne das Lager in der Wüste von Aeolis. Die Sonne stand in dieser Gegend fast genau im Zenit, als die Fahrzeuge in östlicher Richtung davonfuhren. Das Rasseln der Ketten verklang rasch in der dünnen Luft des Planeten. Solche Raupenfahrzeuge waren bereits vor einer Reihe von Jahren in ähnlicher Art von dem Raumfahrtpionier Wernher von Braun, der auch die technischen Grundlagen für künftige Marsexpeditionen berechnet hatte, zur Verwendung auf dem atmosphärelosen Erdmond vorgeschlagen worden. Ihre Motoren arbeiteten unabhängig von jeder äußeren Sauerstoffzufuhr. Als wichtigster Treibstoff wurde dabei konzentriertes Wasserstoffsuperoxyd verwendet, das chemisch zersetzt wurde und zum Antrieb einer Dampfturbine diente. Da die Fahrzeuge, die unter irdischen Bedingungen ihre neun Tonnen wogen, sich im Einsatz auf dem Mond vorzüglich bewährt hatten, war man auf den Gedanken gekommen, einen noch größeren und leistungsfähigeren Typ, mit fünfzig Stundenkilometer Durchschnittsgeschwindigkeit, zur Unterstützung der Marsexpedition zu entwickeln. Im ersten Wagen saß Edgar Sommerfeld neben dem Fahrer und musterte von Zeit zu Zeit mit dem Feldstecher den Horizont. Hinter ihm hatten Thomas und Walt Platz genommen. Unter den Insassen des zweiten Gefährts konnte man Dr. Dannenberg und Dr. Sawyer, die beiden Widersacher, wahrnehmen. Kapitän French, Dr. Fisher und Otto Vogelsang bildeten mit dem dritten Wagen den Schluss. Die Männer hatten ihre schweren Weltraumanzüge mit bequemeren, zweckmäßigen Kombinationen vertauscht, die ihnen hinreichend Schutz gegen niedrige Temperaturen gewährten. Im Augenblick konnte sich überhaupt niemand über Kälte beklagen. Die Sonne, die nur ungefähr drei Viertel des Durchmessers zeigte, mit dem sie am irdischen Himmel zu sehen war, verbreitete hier in der Äquatorgegend zu dieser Stunde eine recht angenehme Wärme. Zur Überraschung der Expeditionsteilnehmer war der Luftdruck auf Mars
wesentlich höher, als die Wissenschaftler vorausberechnet hatten. Wegen des geringen Sauerstoffgehalts der Marsluft konnte man allerdings nicht auf Atemgeräte verzichten. Der Himmel war von einem merkwürdigen Blau. Unwillkürlich musste Thomas an die farbigen Ansichtspostkarten denken, die in Amerika so beliebt sind und ihm immer ziemlich kitschig vorgekommen waren. Der ockergelbe Wüstensand glänzte so grell im Sonnenlicht, dass die Augen schmerzten. Kein Lufthauch regte sich. Nur die Riffelung des Sandes zeigte an, dass auch Winde in dieser Gegend nicht selten waren. Vergeblich hielten die Raumfahrer nach irgendwelchen auffallenden Geländemerkmalen Ausschau. Sie fanden nichts, was der Erwähnung wert gewesen wäre. Nur am nördlichen Horizont zog sich eine flache, kahle Hügelkette entlang. Als die Sonne im Westen niedersank, gab Edgar den Befehl zum Halten. Die anderen Fahrzeuge schlossen auf, und die Männer traten zusammen, um sich zu beraten. Als letzter kam Dr. Sawyer. Er machte einen sichtlich enttäuschten Eindruck. „Das Ausbleiben der berühmten Marsmenschen bereitet ihm Kummer“, flüsterte Walt. „Es ist aber auch wirklich nicht sehr nett von den Leuten. Wenigstens eine Fliegende Untertasse hätten sie uns zur Begrüßung entgegenschicken können.“ „Im Grunde tut er mir leid“, gab Thomas ebenso leise zurück. „Er hatte sich seit seiner Jugend fest in die Idee von der Bewohntheit des Mars verbohrt. Nun ist er an Ort und Stelle angelangt und maß es erleben, dass sein ganzes Weltbild zusammenbricht. So etwas ist für einen alten Menschen nur schwer zu ertragen. Kein Wunder, dass er sich noch immer mit Händen und Füßen gegen diese Erkenntnis sträubt.“ Edgar Sommerfeld und einige der anderen Männer hatten sich inzwischen durch einen Schluck aus der Feldflasche gestärkt. Das war, bei einiger Übung, nicht allzu schwierig. Man schob die Sauerstoffmaske für einen Augenblick zur Seite, setzte die Flasche an die Lippen oder steckte rasch einen Bissen in den Mund und rückte dann das Atemgerät wieder zurecht. „Viel Neues hat unsere erste Spritztour nicht ergeben“, stellte Dr. Fisher fest. „Das war auch kaum zu erwarten. Immerhin können wir mit unserer Probefahrt zufrieden sein. Wir wissen nun wenigstens, dass wir
uns auf unsere Marsfahrzeuge verlassen können.“ Edgar warf einen Blick auf die Armbanduhr. „Höchste Zeit, umzukehren. Wir geraten ohnehin schon in die Dunkelheit.“ „Nicht umkehren, Kommodore!“ rief Dr. Sawyer. „Jetzt noch nicht! Wir sind doch dicht am Ziel. Noch eine Viertelstunde in der bisherigen Richtung weiter, und wir gelangen in eine hochinteressante Gegend.“ Er trat, mit einer Spezialkarte der Äquatorzone in der Hand, eilig auf Edgar zu. „Sehen Sie diesen Kanal, Kommodore? Er kreuzt den Äquator nahezu senkrecht, ganz dicht vor uns. Wir können ihn gar nicht verfehlen.“ Edgar schaute auf die Karte, dann zur sinkenden Sonne im Westen und zum Osthorizont, über dem sich der Himmel schon dunkler zu färben begann. Er überlegte kurz und wandte sich langsam den Fahrzeugen zu: „Ich täte Ihnen wirklich gern den Gefallen, Doktor, aber es ist zu riskant, nachher bei Nacht und Nebel in völlig unbekanntem Gelände herum zukutschieren. Außerdem ist es doch gar nicht so eilig. Wir haben noch so viel Zeit vor uns.“ „Das ist Ihre ständige Rede, Kommodore.“ „So machen Sie Dr. Sawyer doch die Freude. Was kann schon viel passieren?“ Ganz unverhofft hatte der Gelehrte in Robert French einen Verbündeten gefunden. Er nutzte seine Chance sofort: „Mister French hat ganz recht, Kommodore. Gar nichts kann uns passieren. Wir finden den Rückweg auch bei Dunkelheit und brauchen uns nur nach den Sternen zu richten.“ „Na schön — und was sagen die anderen dazu?“ Es erhob sich kein Widerspruch. Die Männer kletterten wieder in die Kettenfahrzeuge, und die Kolonne setzte ihren Weg in der bisherigen Richtung fort. Die Viertelstunde, von der Dr. Sawyer gesprochen hatte, war längst vergangen. Zum wiederholten Male schon hatte Edgar die Weiterfahrt abstoppen wollen, doch immer wieder bat der Gelehrte flehentlich darum, noch ein paar Minuten zuzugeben. Gerade wollte der Kommodore endgültig den Befehl zum Rückmarsch geben, als das Gelände urplötzlich sein Aussehen änderte. Kleinere Risse
und Spalten taten sich im Boden auf. An vielen Stellen trat nacktes Felsgestein zutage. Schließlich hielten die Wagen am Rande einer Schlucht, deren Hänge ziemlich unvermittelt in die Tiefe abfielen. Die Schlucht verlief in beinahe schnurgerader Richtung von links nach rechts, soweit der Blick reichte. Auf ihrem Grund lagerten schon die tiefen Schatten der Dämmerung, während die untergehende Sonne hier oben noch alles in einen unwirklichen, blutroten Schein tauchte. „Aus“, stellte der Fahrer des ersten Wagens fest. „Hier kommen wir nicht mehr weiter.“ Edgar betrachtete das Gelände mit dem Feldstecher und bemühte sieh vergebens, in der dämmerigen Tiefe Einzelheiten festzustellen. „Das also wäre einer von den berühmten Marskanälen“, sagte er beinahe andächtig. „Was hätte wohl der alte Schiaparelli (italienischer Astronom, entdeckte 1877 die so genannten Kanäle auf Mars) darum gegeben, hätte er diesen Augenblick miterleben dürfen.“ „Interessant“, rief Walt Wilson. „Ob das Licht wohl noch für eine Aufnahme reicht? Versuchen muss ich's auf jeden Fall. Diesen historischen Augenblick darf „Wolfes Tönende Wochenschau“ sich nicht entgehen lassen.“ „Hören Sie schon endlich auf mit Ihren historischen Augenblicken! Sagen Sie mir lieber, ob Sie irgendwo eine Spur davon entdecken können, dass dieses hier eine künstliche Anlage sei.“ „Bedauere, Kommodore, aber ich sehe nichts Auffälliges. Sicher ist es schon zu dunkel.“ „Ich kann auch nirgends einen Wasserlauf entdecken“, meinte Thomas kopfschüttelnd. „Vielleicht verbirgt er sich unter dem weißen Dunst, der die Talsohle einhüllt. Hallo, Herrschaften! Wo wollt ihr denn hin?“ „Da hinunter, Kommodore“, tönte Frenchs Stimme irgendwo aus der Dämmerung herauf. „Wir können doch den Doktor nicht allein gehen lassen.“ „Was sagen Sie da? Ist Dr. Sawyer etwa in die Schlucht hinuntergestiegen?“ „Hatten Sie etwas anderes erwartet? Ich höre ihn da unten im Geröll herumstolpern.“ „Sawyer!“ brüllte Edgar aus Leibeskräften. „Sind Sie denn ganz
närrisch? Kommen Sie sofort zurück! Wir müssen umkehren.“ Aber es kam keine Antwort aus der Tiefe. „Hm“, machte Edgar verärgert, „das kommt davon, wenn man auf seine Kinder nicht Acht gibt, und mir kommt der gute Doktor wahrhaftig wie ein großes Kind vor. Kommt, Jungs, wir wollen ihn suchen helfen. Nehmen Sie für alle Fälle Signalraketen und einen Scheinwerfer mit, Otto. Dr. Dannenberg bleibt mit den Fahrern bei den Wagen zurück. Versuchen Sie, Funkverbindung mit dem Lager zu bekommen, Doktor. Man wird sich bereits Sorge um uns machen.“ Als Edgar mit seinen Begleitern den Abstieg begann, tauchte gerade der obere Rand des dunkelroten Sonnenballs unter den Horizont. Der ganze westliche Himmel war mit einemmal von leuchtendroten Wolkenschleiern überzogen, die bisher niemand bemerkt hatte. Für Sekundendauer huschten grüne Strahlenbündel durch die farbige Pracht. „Phantastisch!“ staunte Edgar überwältigt. Aber Thomas hatte plötzlich ein ganz seltsames Gefühl. „Der Himmel gefällt mir nicht“, murmelte er.
SANDSTURM! „Der Himmel gefällt mir nicht.“ Professor Benson, der Meteorologe der Mars-Expedition, schüttelte bedenklich den Kopf, als er am anderen Morgen aus seiner Unterkunft trat, um wie gewöhnlich die Instrumente abzulesen. Kapitän Oldring von der C 3, dem Edgar das Kommando während seiner Abwesenheit übertragen hatte, kam ihm entgegen und reichte ihm die Hand. „So, so, Professor, meinen Sie wirklich? Na ja, Sie als Wetterfrosch müssen sich ja auskennen. Wie lautet denn Ihre amtliche Wettervorhersage?“ „Wir kennen uns in den Wetterregeln auf Mars natürlich noch nicht so genau aus“, erwiderte der Meteorologe, „und es ist daher nicht unbedingt sicher, ob meine Prognose auch eintrifft...“ „Genau so, wie daheim auf der Erde“, bemerkte Oldring anzüglich. Professor Benson überhörte den Spott. Er war Kummer gewöhnt. Inzwischen war er an das Wetterhäuschen herangetreten und hatte Thermometer, Barometer und Luftfeuchtigkeitsmesser abgelesen. Gewissenhaft verglich er die Werte mit den Ablesungen des Vortages. Dann ließ er den Blick am Horizont entlang wandern. „Alle Anzeichen deuten auf ein Unwetter hin“, sagte er schließlich, „vielleicht ein Gewitter...“ „Ist es dafür nicht etwas zu kalt?“ Spöttisch zeigte der Kapitän auf den Sandboden, der an diesem Morgen mit einer hauchdünnen Reifschicht bedeckt war. „Es gibt auch Kältegewitter“, erwiderte ihm Benson. „Wahrscheinlich bekommen wir auch Sturm.“ „Sturm?“ Oldring wurde hellhörig. „Das höre ich gar nicht gern — wenigstens nicht, solange der Kommodore mit den anderen noch draußen in der Wüste ist. Der letzte Funkspruch besagte, dass sie die Rückfahrt antreten wollten, sobald sie Dr. Sawyer gefunden hätten. Aber vor Sonnenaufgang werden sie kaum aufgebrochen sein.“ „Und wann können sie wieder hier sein?“ „Meiner Berechnung nach nicht vor fünf bis sechs Stunden.“
„Eine böse Geschichte“, sagte der Professor nachdenklich. „Es könnte leicht passieren, dass sie mitten in den Schlamassel hineingeraten. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Nehmen Sie sofort Funkverbindung mit dem Kommodore auf und mahnen Sie ihn zu beschleunigter Rückkehr. Auch hier im Lager würde ich mich auf allerlei gefasst machen.“ „Geht in Ordnung, Professor. Und vielen Dank für die Warnung!“ Der sonst so gemütliche Oldring hatte es plötzlich furchtbar eilig. Schon von weitem hörte man ihn mit der Lautstärke eines Nebelhorns nach dem Funker Boni brüllen... Als Pietro Boni die Sturmwarnung des Professors in den Äther schickte, war die Wagenkolonne bereits auf dem Rückweg. Müde hockten die Männer auf den Raupenfahrzeugen und dösten vor sich hin. In dem eintönigen Rasseln der Ketten ging das feine, bösartige Singen unter, dessen Klang seit einiger Zeit die dünne Luft erfüllte. Edgar Sommerfeld und seine Begleiter hatten eine schlechte Nacht hinter sich. Sie hatten Dr. Sawyer auf dem Grunde der Schlucht gesucht, waren stundenlang in Dunkelheit und schneidender Kälte herumgeirrt und hatten sich die Kehle wund geschrieen. Doch erst im Morgengrauen fanden sie Sawyer. In tiefem Schlaf lag er in einer Felsspalte, in die er schon am Abend, zu Beginn seines Abstiegs, gestürzt sein musste. Er hatte dabei wohl das Bewußtsein verloren, und allmählich war die Ohnmacht in einen traumlosen Schlummer der Erschöpfung übergegangen. Den Grund der Schlucht, zu der es ihn mit solcher Macht hingezogen hatte, hatte er gar nicht erreicht. „Wie war es denn dort unten?“ fragte Sawyer begierig, als er sich am nächsten Morgen auf dem Kettenfahrzeug wieder fand. „Was haben Sie gesehen?“ „Gesehen? Gar nichts“, war die knurrige Antwort Robert Frenchs, der den Gelehrten in seine Obhut genommen hatte. „Nichts als Geröll und Felsblöcke, an denen man sich Kopf und Glieder blutig stieß, und Risse im Boden, vor denen wir uns höllisch in acht nehmen mussten.“ „Und sonst — haben Sie wirklich — nichts gefunden?“ French sah ihn böse an. „Nichts.“ Sawyer tat ihm in diesem Augenblick beinahe leid. Robert French hielt
nichts von Marsbewohnern und ähnlichen Verrücktheiten, an die der spleenige Gelehrte glaubte, aber er verstand, wie einem Manne zumute war, der seine Hoffnungen enttäuscht sah; denn er befand sich in einer ganz ähnlichen Lage. Auch er hatte nichts gefunden, wenn es auch ganz andere Dinge waren, hinter denen er herjagte. Indessen pendelte Thomas Berger schlaftrunken auf seinem Sitz hin und her und wäre vermutlich längst aus dem Wagen gestürzt, hätte Walt Wilson ihn nicht festgehalten. Er dämmerte in einem Zustand zwischen Schlafen und Wachen dahin. In seinem Geist vermischten sich die Eindrücke der Wüstenfahrt mit den Erinnerungen an die verflossene Nacht. Da sah er sich wieder — nach erfolgloser Suche — erschöpft an einen Felsblock gelehnt sitzen, die Augen zum Nachthimmel empor gerichtet. Droben am Firmament leuchteten die gleichen Sternbilder, wie er sie vom Himmel der Erde kannte. Sie schienen durch den Dunst, der sich an manchen Stellen zu dichterem Gewölk zusammenzuballen begann. Jupiter, der größte unter den Planeten, strahlte fast anderthalbmal heller als am Erdhimmel. Man war ihm ja auf Mars sehr viel näher gerückt. Von Westen nach Osten, also entgegen der Drehung des Himmelsgewölbes, zog Phobos, einer der beiden Marsmonde, seine Bahn unter den Sternbildern. Nah und fern war die Nacht von gedämpften Geräuschen erfüllt. Waren es die Gefährten, die den Boden der Schlucht Meter für Meter durchkämmten? Oder waren es unbekannte Lebewesen des Mars, die in der Dunkelheit zu geheimnisvoller Tätigkeit erwachten? Thomas fühlte, wie die eisige Kälte der Marsnacht auf ihn zu kroch. Ein heftiger Schauer schüttelte ihn... In der Ferne hörte er jetzt Edgars Stimme. Sie klang aufgeregt und befehlend. Näher und näher kam ihr Klang. Nun verstand er bereits einzelne Worte: „...Gefahr ...Sturm von Westen ...Höchstgeschwindigkeit...“ — Stärker wurde sein Körper geschüttelt. Blinzelnd öffnete Thomas die Augen und schaute sich überrascht um. Er saß wieder auf dem Kettenfahrzeug, und es war Tag. Die Wüste ringsum lag in merkwürdig fahler Beleuchtung. Die Sonne am Himmel leuchtete mit mattem Schein, und der Himmel selbst hatte seine dunkle Bläue verloren. Diesig war er und von schwefelgelber Farbe. Aus dem rötlichgelben Boden sprangen kleine Sandfontänen hoch und drehten
sich in raschen Wirbeln. Die Fahrzeuge rasten mit solcher Geschwindigkeit dahin, dass die Männer sich festhalten mussten, um nicht herunter zufallen. Mit lautem Rufen feuerte Edgar die Fahrer an, das Äußerste aus den Maschinen herauszuholen. Thomas wandte sich verwirrt an ihn: „Was soll denn dieses verrückte Wettrennen? Wenn das noch fünf Minuten so weitergeht, werde ich todsicher seekrank.“ „Herzliches Beileid, Thomas, aber darauf können wir keine Rücksicht nehmen. Es gibt Sturm — und gnade uns Gott, wenn wir bis dahin nicht das Lager erreicht haben.“ „Wie weit sind wir noch entfernt?“ Edgar zuckte die Achseln. „Genau kann ich es nicht sagen. Ich schätze, dass wir zwei Drittel bereits hinter uns haben. Stimmt die Richtung noch, Hopkins?“ Der Fahrer schaute auf die Uhr am Armaturenbrett und warf einen abschätzenden Blick zur Sonne empor, die jetzt kaum noch den fahlen Dunst durchdrang. „Im großen und ganzen schon, Kommodore. Leider hat dieser verdammte Wind unsere gestrige Spur völlig verwischt.“ „Also weiter! Wir müssen versuchen... Hallo!“ Die drei anderen Insassen des Wagens sollten nicht mehr erfahren, was Edgar Sommerfeld zu versuchen gedachte; denn in diesem Augenblick fühlten sie sich alle zugleich von unsichtbarer Hand empor gerissen. Unsanft landeten sie eine Strecke weiter im Wüstensand. Sekundenlang blieb Thomas vor Schreck bewegungslos liegen. Dann richtete er eich unsicher auf und rieb sich den Sand aus den Augen. Ringsumher vernahm er Husten und empörtes Schimpfen. Als er endlich die Augen wieder zu einem Blinzeln öffnen konnte, sah er seine Kameraden ratlos um einen Trichter im Boden herumstehen. „Das Loch war tatsächlich nicht zu erkennen“, beteuerte der Fahrer und rieb sich die schmerzende Sitzfläche. „Der Boden sackte einfach unter uns weg.“ „Es macht Ihnen ja auch niemand einen Vorwurf, Hopkins.“ Der Kommodore betupfte sich mit dem Taschentuch die blutende Nase und trat zur Seite, um die anderen Wagen anzurufen, die in der Nähe Halt gemacht hatten. „Kommt mal her, Leute, und fasst mit an! Wir müssen die Karre wieder
flott kriegen.“ Eilig kamen sie herbeigestürzt. Sie wussten gut genug, dass jeder Aufenthalt die verhängnisvollsten Folgen haben konnte. Otto Vogelsang war trotz seiner Körperfülle als erster zur Stelle. Thomas konnte ein Lachen nicht unterdrücken. „Wie sehen Sie denn aus, Otto? Sie haben ja eine Frisur wie 'ne Klosettbürste.“ „Na, nur kein Neid, Herr Berger. Glauben Sie nur nicht, dass Sie etwa anders aussehen. Spiegel gefällig?“ Thomas betrachtete erstaunt sein verändertes Äußeres. Die Haare standen ihm strahlenförmig vom Kopf ab, und den anderen ging es genau so. Ein leises Knistern schien von ihnen auszugehen. »Die Luft ist voller Elektrizität“, rief Thomas. „Passt auf, gleich haben wir das schönste Gewitter.“ Die Sonne, die in den letzten Minuten nur noch als blasser Schemen am Himmel gestanden hatte, war plötzlich verschwunden. Die öde Landschaft lag in einem unheimlichen Halbdunkel. Der Wind hatte sich gelegt. Es war die sprichwörtliche „Stille vor dem Sturm“. Grell zerriß ein bläulich blendender Blitz das eintönige Grau des Himmels. Der Donner, merkwürdig matt in der dünnen Marsluft rollend, folgte fast augenblicklich. Die Männer, die sich zu dem verunglückten Fahrzeug hinunterbeugten, fuhren erschrocken zurück. Bläuliche Flammen tanzten auf den Metallteilen. Wieder guckte es blendend am Firmament. »Nicht anfassen!“ warnte der Kommodore. „Zurück vom Wagen. Legt euch flach in den Sand, bis das Schlimmste vorüber ist. Nein — auseinander da! Nicht alle auf einen Haufen! Stellt euch doch nicht so dämlich an!“ Thomas empfand inmitten dieser fremdartigen, entfesselten Natur plötzlich eine panische Angst. Er machte kehrt und rannte, so schnell ihn die Füße tragen konnten. Hinter ihm her keuchte Otto Vogelsang. Der ganze Himmel zuckte im Leuchten der Flächenblitze. Jetzt schwebte etwas aus dem Gewölk herab: eine kleine, bläulich strahlende Kugel. Lautlos setzte sie auf dem Boden auf und kam hüpfend näher. „Du lieber Himmel“, stotterte Otto entsetzt, „was — ist — denn das?“ Ehe Thomas eine Antwort geben konnte, zerplatzte die Kugel mit
kurzem, scharfem Knall. Otto ließ sich platt auf den Bauch fallen, und Thomas zögerte nicht, seinem Beispiel zu folgen. „Das war ein Kugelblitz“, sagte er, als er sich wieder einigermaßen gefasst hatte. „So etwas gibt es auch gelegentlich bei den Gewittern auf der Erde. Diese blauen Kugeln gelten als besonders gefährlich.“ Das Marsgewitter war zwar heftig, aber nur von kurzer Dauer. Genau so plötzlich, wie es gekommen war, verstummte es wieder. Sekundenlang herrschte eine wahre Totenstille. Dann schien die ganze Luft unvermittelt von einem hohlen Sausen erfüllt zu sein. „Was ist denn das schon wieder?“ stöhnte Otto Vogelsang. Thomas hatte sich aufgerichtet und spähte angespannt nach Westen, von wo der unheimliche Ton heran schwoll. Instinktiv zog er sich die Kapuze seiner Kombination über den Kopf, ließ sich in den Sand zurückfallen und verbarg sein Gesicht in dem dicken Schal. „Vorsicht, Otto! Jetzt geht's erst richtig los. Der Sturm kommt!“ Mit elementarer Gewalt brach der Weststurm über das armselige Häuflein Erdenmenschheit herein. Eine Wand von staubfeinem Sand stürzte sich auf die Männer und deckte sie zu... Im Hauptlager der Expedition, das ungefähr drei Fahrstunden weiter westlich lag, tobte der Sandsturm zu dieser Zeit bereits in voller Stärke. Kapitän Oldring hatte, unterstützt von Schelling und den übrigen Raumschiffsoffizieren, noch einmal alle Schutzvorrichtungen überprüft. Die Unterkunftshütten, Lagerbaracken und Laboratorien waren durch fest verankerte Drahtseile doppelt und dreifach gesichert. Zu allem übrigen hatte man noch vor jedem Gebäude ein geschickt ausgedachtes Winddach errichtet, das ähnlich wie ein Wellenbrecher wirken sollte. Als die ersten wilden Sturmböen den roten Wüstensand aufpeitschten, waren die Männer in ihre Unterkünfte geeilt und hatten die Luken dicht gemacht. Drinnen ließ es sich ganz gut aushalten. Die mit Batteriestrom gespeisten Lampen und Heizkörper verbreiteten eine behagliche Atmosphäre, die durch den dampfenden Tee noch traulicher gemacht wurde. Bald saßen in einigen der Hütten die ganz Unentwegten wieder bei ihrem Weltraumreise-Dauerskat zusammen. Draußen brauste der Sturm. Wie ein Rudel wilder Tiere sprang er die Hütten an, rüttelte an Dächern und Wänden und gab sich die redlichste Mühe, das Werk von Menschenhand zu zerbrechen. Einem Wolken-
bruch gleich, rauschte der Wüstensand über das Lager hinweg. Von Zeit zu Zeit steigerte sich das Toben der entfesselten Naturgewalt zu einem solchen Lärm, dass alle für Augenblicke den Atem anhielten. Wie mochte es denen da draußen gehen — den Kameraden in der Wüste? Das war die bange Frage, die sich erhob. Die Frage, auf die es keine Antwort gab; denn seit Ausbruch des Gewitters, das dem Orkan vorausgegangen war, hatte man nichts mehr von Edgar Sommerfeld und seinen Begleitern gehört. »Haben Sie noch immer keine Verbindung, Boni?“ Sorgenvoll schritt Kapitän Oldring in der Funkstation auf und ab. Gedankenlos kaute er auf dem Stiel seiner längst erloschenen Pfeife. Auf den Batteriekisten, die überall herumstanden, saßen die anderen Raumschiffsoffiziere und der Meteorologe Professor Benson. Pietro Boni setzte den Hörer ab. „Es ist vergeblich, Kapitän. Der Kommodore antwortet nicht. Vielleicht ist sein Funkgerät durch das Gewitter unklar geworden.“ „Hoffentlich haben Sie recht mit Ihrer Vermutung, und hoffentlich ist es nichts Schlimmeres. Ich für mein Teil möchte jetzt um keinen Preis der Welt mit denen da draußen tauschen. Wer hätte geahnt, dass Mars, den man von jeher den Greis unter den Planeten genannt hat, noch so wild und ungestüm sein könnte?“ „Dass es auf Mars Stürme gibt“, erklärte Professor Benson, „ist seit langem kein Geheimnis mehr. Die Astronomen haben des Öfteren beobachtet, dass die Atmosphäre des Planeten bis in große Höhen hinauf durch aufgewirbelten Sand getrübt war. Allerdings sind Stürme von solchem Ausmaß längst nicht so häufig wie auf der Erde.“ Oldring seufzte. „Rufen Sie weiter, Boni. Es ist das einzige, was wir im Augenblick tun können.“ Unablässig drang der Ruf in den Äther: „Hier Hauptlager Aeolis — Kommodore Sommerfeld: bitte melden — bitte melden!“ Es kam keine Antwort. Nur das Brausen des Sandsturms klang durch die Wände herein. Drei Stunden lang hatte das Unwetter bereits getobt, als der Lärm geringer wurde, und das gleichmäßige Tosen nach und nach in ab-
gerissene Stöße überging. Die Männer in der Funkstation und in den Unterkünften horchten auf. War die Macht des Sturms gebrochen, oder legte er nur eine Atempause ein, um danach mit verdoppelter Wucht über das wüste Land herzufallen? Alles lauschte und wartete voller Spannung. Allmählich lichtete sich der Himmel im Westen, und plötzlich erschien die Sonne mattleuchtend in einer Lücke im Dunst. „Die ganze Luft ist noch voller Sand“, sagte der Meteorologe. „Die Sonne dringt kaum durch. Aber wenn mich nicht alles täuscht, haben wir's für dieses Mal überstanden.“ »Was heißt, für dieses Mal?“ brummte Kapitän Oldring. „Mir langt es jedenfalls auf lange Sicht.“ Er nahm den Hörer vom Feldtelefon und rief nacheinander sämtliche Unterkünfte an, die durch Bodenkabel mit der Funkstelle verbunden waren. »Alles in Ordnung“, stellte er erleichtert fest und trat an die Tür, die aber jedem Versuch, sie zu öffnen, Widerstand leistete. „Wir sind sozusagen eingeschneit“, sagte er ärgerlich. „Zu dumm — der Ausgang durch die Schleuse ist vollkommen zugeweht. Jetzt müssen wir zum Fenster hinaus, und dabei geht uns die kostbare Atemluft verloren.“ »Halb so schlimm, Kapitän“, tröstete Schelling. „Um den Mief ist es nicht schade. Höchste Zeit, dass die Luft hier drinnen mal erneuert wird.“ Durch die herausgeschraubte Fensterluke gelangten die Männer an die Außenwelt. Der Lagerplatz sah trostlos aus. Sanddünen und verwehungen hatten sein Bild völlig verändert. Soweit es sich in der Eile feststellen ließ, war jedoch an den Gebäuden kein nennenswerter Schaden entstanden. Als erstes galt es, die Eingänge zu den Unterkünften freizuschaufeln, Es war eine ermüdende Arbeit; denn der feine Sand rieselte ständig wieder nach. Kapitän Oldring, der tüchtig mit zugepackt hatte, war rechtschaffen erschöpft, als er wieder in die Funkstation trat. „Nachricht vom Kommodore, Boni?“ „Noch immer kein Lebenszeichen, Kapitän.“ Bekümmert sah der Kapitän auf die Sonne, die rot am immer noch
trüben Himmel stand. In drei Stunden würde es Nacht sein, und dann war es zu spät, nach dem Kommodore und seinen Begleitern zu suchen. Auch würden ihre Sauerstoffreserven nur noch höchstens bis zum Abend reichen. Es musste sofort etwas geschehen. Kapitän Oldring stürzte hinaus und trommelte seine Mannschaft zusammen. „Lasst jetzt alles stehen und liegen und grabt vor allen Dingen die Garage aus. Wir müssen die drei Kettenfahrzeuge klar kriegen, die noch übrig sind.“ Die Männer eilten schon davon, um den Befehl auszuführen, als Karl Schelling auf Oldring zutrat. „Ich würde mich nicht damit aufhalten, Kapitän. Was nützen uns die langsamen Raupenwagen? Ihr Aktionsradius ist viel zu gering, und wir wissen ja nicht einmal genau, wo wir die Gruppe Sommerfeld überhaupt zu suchen haben.“ Der Kapitän kratzte sich den struppigen Kopf. Schelling hatte natürlich Recht. Ehe die Wagen ausgebuddelt und fahrbereit waren, würde mindestens eine weitere Stunde vergehen. Dann blieben noch knapp zwei Stunden für die Suchaktion, und da der Sandsturm alle Spuren verwischt hatte, war das Ganze von vornherein wenig Erfolg versprechend. Ratlos hob er die Schultern. „Aber wir müssen es doch wenigstens versuchen, Schelling. Wir können unsere Kameraden doch nicht einfach im Stich lassen.“ „Das wollen wir ja auch gar nicht, Kapitän. Ich wollte Sie nur darauf aufmerksam machen, dass die Kettenfahrzeuge nicht das geeignete Mittel sind.“ „Dann machen Sie bessere Vorschläge. Ich sehe keine andere Möglichkeit.“ »Sie vergessen die Landungsraketen, Kapitän. Lassen Sie ein Tor des Hangars freilegen und schicken Sie eine von den Raketen auf die Suche. In knapp fünf Minuten kann der Pilot ganz Aeolis absuchen und...“ „... und verbraucht dabei ein paar Tonnen Sprit und Sauerstoff — das haben Sie wohl total vergessen, he? Kommodore Sommerfeld wusste schon, warum er den strikten Befehl erließ, die Landungsboote nur im alleräußersten Notfall zu benutzen.“ Karl Schelling blickte stumm über die Ebene hin, die sich öde und wüst am Osthorizont verlor. Dann sah er kurz auf die Uhr.
„Wenn dieser Fall nicht jetzt vorliegt, dann möchte ich wirklich wissen, wie Sie sich den äußersten Notfall vorstellen, Kapitän. Das Leben von elf Kameraden steht auf dem Spiel.“ Kapitän Oldring spürte die Schwere der Entscheidung, die der Augenblick von ihm verlangte, und er wäre ihr gern ausgewichen. Auf der einen Seite stand die Verantwortung für die lebenswichtigen Raketentreibstoffe, die man mühsam über fast sechzig Millionen Kilometer von der Erde zum Mars geschafft hatte, und die man dringend benötigte, um die Planetenoberfläche später wieder verlassen zu können. Vielleicht befand sich die Gruppe des Kommodores gar nicht in so unmittelbarer Gefahr, dass der Einsatz eines der Landungsboote gerechtfertigt war. Vielleicht aber war es auch ganz anders. Wer konnte wissen, ob die Gefährten nicht in diesem Augenblick in einer verzweifelten Lage waren und — dem Ersticken oder Verdursten nahe — mit schwindender Hoffnung ihrer Rettung entgegenbangten? Vor seinem geistigen Auge entstand ein furchtbares Bild. Schon hatte er sich umgewandt und rannte auf die Gruppe der Männer zu, die aus Leibeskräften schaufelten. „Aufhören!“ brüllte er. .Legt zuerst den Hangar frei!“ Erstaunt hielten sie in ihrer Arbeit inne. „Den Hangar, Kapitän? Wollen Sie zum Deimos fahren?“ „Fragt jetzt nicht so viel! Tut, was ich euch gesagt habe.“ Achselzuckend fügten sich die Männer. Es verging immerhin mehr als eine Stunde, bis das mittlere der drei Tore freigeschaufelt war und die schlanke, geflügelte Rakete, von kräftigen Fäusten geschoben, im Licht der sinkenden Sonne auf den Lagerplatz rollte. Sofort ging Karl Schelling mit seinen Maschinisten ans Werk, um sie startklar zu machen. Nach Ablauf von zehn Minuten waren die Treibstoffbehälter gefüllt. Teddy Hamilton, der Steuermann der Terra, schnallte sich auf dem Pilotensitz fest. „Machen Sie's gut, Teddy, und bringen Sie die Kameraden zurück!“ Kapitän Oldring schüttelte dem Steuermann die Hand. Die Einstiegluke wurde von außen verschlossen. In der engen Führerkabine hob Hamilton die Hand. Mit leichtem Knall sprang der Raketenmotor an. Die Umstehenden brachten sich schleunigst vor den vom Brennstrahl
aufgewirbelten Sandwolken in Sicherheit. Als sie wieder aufblickten, sahen sie das große Raketenflugzeug bereits über die Ebene rasen. Jetzt hob es sich vom Boden ab und schoss mit kühnem Ansturm in den Himmel hinein. Sekunden später war es den Blicken entschwunden. Keuchend schleppten sie sich durch den roten Sand der Wüste — Edgar Sommerfeld an der Spitze des kläglichen Zuges, die zehn anderen hinter ihm her, in Abständen, die von Minute zu Minute größer wurden. Sie befanden sich ausnahmslos in einem erbarmungswürdigen Zustand. Durst und Erschöpfung drohten sie in jedem Augenblick zu überwältigen.
Thomas Berger stolperte etwa in der Mitte des Zuges halb bewusstlos den Spuren seines Vordermanns nach. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen, um auf Walt zu warten, der hinter ihm hergetaumelt kam. Mit letzter Willenskraft widerstand er der Versuchung, sich einfach in den Sand fallen zu lassen. Er fühlte, dass er dann verloren wäre; denn die Kameraden würden nicht mehr die Kraft haben, ihn mitzuschleppen—konnten sie sich doch selbst kaum noch auf den Beinen halten. An die Ereignisse seit Ausbruch des Sturms konnte er sich nur noch undeutlich erinnern. Irgendwie war es ihm und Otto Vogellang gelungen, einen der beiden übrig gebliebenen Wagen zu finden und hineinzuklettern. In drangvoller Enge hatten sie zu sechs Mann unter dem Verdeck gekauert, das leider nur geringen Schutz gegen die Sturzflut aus Wüstenland bot, die unablässig auf sie hernieder prasselte. Nur die Sauerstoffgeräte schützten sie in dielen Stunden vor dem Erstickungstode. Endlich hatte sich der Sturm gelegt, und sie konnten daran denken, wie die Maulwürfe ans den Sandwehen heraus zukriechen. Schon während des Unwetters hatte Edgar, der mit im selben Wagen hockte, versucht, mit dem Lager in Funkverbindung zu treten. Es erwies sich jedoch als aussichtslos. Wahrscheinlich war das eingebaute Funkgerät durch das Gewitter zerstört worden. Auch scheiterten alle Bemühungen, die völlig vom Sand zugedeckten Kettenfahrzeuge wieder flott zu bekommen. Nach kurzer Beratung hatte man sich daher entschlossen, zu Fuß die Richtung einzuschlagen, die — wie man meinte — geradewegs ins Lager führen musste. Viel Zeit war nicht mehr zu verlieren, denn die Feldflaschen waren längst leer, und die Sauerstoffbehälter würden höchstens noch für drei Stunden reichen. Nach der ersten halben Stunde des Marsches durch knietiefen Wüstensand zeigten sich bei fast allen starke Ermüdungserscheinungen. Edgar redete den Gefährten gut zu. Er gab sich die größte Mühe, sie zum Aushalten anzufeuern, aber er konnte es nicht verhindern, dass ihre Reihe sieh immer mehr in die Länge zog, dass das Marschtempo ständig geringer wurde. Schließlich stolperte er selbst nur noch halb betäubt dahin, nicht anders als seine Kameraden... „Eine Spur! Eine Spur! Wir sind auf dem richtigen Wege. Los, Leute,
reißt euch noch einmal zusammen! Gleich haben wir's geschafft!“ Beim matten Klang der krächzenden Stimme schaute Thomas vom Boden auf. Weit vorn — ein Schattenbild vor dem fahlgelben Westhimmel — stand Edgar und winkte heftig mit den Armen. Wie ein elektrischer Schlag ging es durch die erschöpften Wanderer. Sie eilten nach vorn, jeder wollte der erste sein. „Vorsicht! Zertrampelt mir die Fährte nicht!“ mahnte Edgar. Dann standen sie im Halbkreis um ihn herum und sahen es auch: Eine breite Spur, von vielen Füßen in den Sand getreten, vereinigte sich an dieser Stelle mit ihrer eigenen Fährte und lief In der Richtung weiter, die sie selbst verfolgten. Ein Jubelgeschrei kam krächzend aus den vertrockneten Kehlen. Es war Dr. Fisher, der Geologe, dem die undankbare Pflicht zuteil wurde, die letzte Hoffnung der verzweifelten Männer zunichte zu machen. Düster blickte er auf die Spuren im Sand, dann murmelte er kaum vernehmbar: „Bildet euch doch nur nichts ein. Was ihr hier seht, ist unsere eigene Fährte. Wir sind im Kreis gegangen.“ Die Erkenntnis traf die Gefährten wie ein Keulenschlag. Nur ein einziger Gedanke erfüllte sie noch: Alles war umsonst gewesen. Nun kam die Nacht mit ihrer eisigen Kälte — und der unabwendbare Erstickungstod... Sie ließen sich, einer nach dem anderen, willenlos in den roten Sand sinken, wo sie gerade standen. Diesmal gelang es Edgar nicht, sie zum Weitergehen zu bewegen. Im Dämmerzustand tiefster Erschöpfung nahmen sie nicht das schlanke Raketenfahrzeug wahr, das durch den Dunst des Himmels über ihren Häuptern dahin schoß, in weitem Bogen zurückkehrte und schließlich in nächster Nähe landete. Teddy Hamilton, der Pilot, erkannte auf den ersten Blick, dass es hier um Minuten ging. Ohne viel Federlesens machte er sich an die Arbeit und verstaute einen nach dem anderen im Laderaum der Landungsrakete.
ABENTEUER IN ELYSIUM Ungefähr vierzehn Tage nach diesem ersten Erkundungsvorstoß in die Wüstenlandschaft des Mars, der für elf Expeditionsmitglieder um Haaresbreite die verhängnisvollsten Folgen gehabt hätte, saßen an einem Abend nach Sonnenuntergang sechs Männer in Edgar Sommerfelds Unterkunft zusammen. Sie hockten dicht gedrängt um den kleinen Tisch in der Mitte des Raumes und betrachteten angelegentlich die Karte des Planeten, die vor ihnen ausgebreitet lag. „Dann soll es also morgen früh endlich losgehen, Kommodore?“ fragte Professor Benson. „Ich hatte schon geglaubt, wir würden hier in Aeolis für ewige Zeiten vor Anker gehen, und fühlte mich bereits enttäuscht — obwohl ich gern zugebe, dass man auch am Äquator recht interessante Wetterbeobachtungen machen kann.“ „Ich verstehe Ihre Ungeduld, Professor, aber wir konnten leider nicht eher zum Nordpol aufbrechen, weil diese Expedition, die sich über nahezu 5400 Kilometer Luftlinie erstreckt — und zwar hin und zurück —, mit größtmöglicher Sorgfalt vorbereitet werden musste. Wir können das schließlich nicht zu Fuß bewältigen und mussten versuchen, unsere stecken gebliebenem Kettenfahrzeuge wieder klar zu bekommen. Zwei von ihnen sind ja nun zum Glück wieder einsatzfähig.“ „Warum nehmen wir nicht einfach eine von den Landungsraketen? Wir könnten in einer Stunde am Ziel sein.“ „Das wäre Ihnen selbst am wenigsten angenehm, Herr Professor. Schließlich wollen Sie doch Ihre meteorologischen Messungen nicht nur am Äquator und am Nordpol machen, sondern möglichst in allen Breiten der Planetenoberfläche. Außerdem müssen wir, wie gesagt, mit den Treibstoffreserven für die Landungsraketen äußerst sparsam umgehen.“ „Ich würde lieber nach dem Südpol marschieren“, erklärte Dr. Dannenberg. „Im Norden gibt es ja nichts als Wüste. Ich bezweifle, dass das die geeignete Gegend ist, um die Frage nach dem Leben auf Mars zu klären.“ „Trösten Sie sich, Doktor, es gibt auch im Norden dunkle Gebiete, die unmittelbar in unserer Fahrtrichtung liegen. Entscheidend für uns ist, dass auf der Nordhalbkugel jetzt Frühling herrscht. Das bedeutet
erträgliche Temperaturen für die Dauer der Fahrt — und darüber hinaus vielleicht eine Klärung des Rätsels um die .Kanäle'; denn es ist bekannt, dass sie gerade zu dieser Jahreszeit besonders deutlich hervortreten. Unsere Astronomen werden es Ihnen bestätigen.“ „Wie lange — denken Sie — wird die Expedition dauern?“ „Ich rechne mit je vierzehn Tagen für Hin- und Rückfahrt, wobei jeweils drei Rasttage einkalkuliert sind, an denen die Fahrzeuge gründlich überholt werden und Sie, meine Herren, Gelegenheit erhalten sollen, Ihr Forschungsmaterial zu sichten. Nach achttägigem Aufenthalt am Pol kehre ich dann mit drei Fahrzeugen nach Aeolis zurück. Professor Benson bleibt verabredungsgemäß mit den restlichen Wagen und den Mitgliedern seiner Arbeitsgruppe im Polarlager. Ablösungen und Proviant senden wir in monatlichen Abständen vom Hauptlager herüber. Im Übrigen bleiben wir ja in ständiger Funkverbindung. Hat noch einer der Herren eine Frage?“ „Wie steht es mit Trinkwasser, Kommodore?“ Dr. Dannenberg wiegte besorgt den Kopf. „Die Vorräte schrumpfen bedenklich zusammen.“ „Schelling soll in unserer Abwesenheit alle verfügbaren Leute einspannen und in der Umgebung des Lagers Bohrungen anstellen. Dr. Fisher ist der Ansicht, dass wir in größerer Tiefe auf Wasseradern stoßen werden. Für die Fahrt zum Nordpol wird so viel getankt, dass wir für mindestens zehn Tage versorgt sind.“ „Was geschieht aber, wenn diese zehn Tage herum sind?“ „Bis dahin hoffe ich, die Schneefläche erreicht zu haben, die sich jetzt im Frühling polwärts zurückzieht. Groß wird die Ausbeute an Schmelzwasser zwar nicht sein, aber ich denke doch, dass es für uns reicht.“ Bei Sonnenaufgang ratterte die Wagenkolonne bereits in nördlicher Richtung ihrem fernen Ziel zu. Die fünf Kettenfahrzeuge waren mit je vier Expeditionsteilnehmern besetzt. Im ersten Wagen saßen Edgar, Thomas, Walt und Otto Vogelsang. Von den Wissenschaftlern der Marsexpedition waren diesmal alle mitgekommen. Sie verteilten sich mit einem Dutzend Mitglieder des Schiffspersonals auf die nachfolgenden Fahrzeuge. Jeder Wagen zog einen Anhänger hinter sich her, der mit Instrumenten, Werkzeug und Vorräten aller Art bepackt war.
Die Zurückbleibenden riefen den Nordpolfahrern gute Ratschläge und Scherzworte zu, als sie das Lager verließen. „He, Harras, lass dich nicht von den Eisbären beißen! — Vergiss nicht, dich zu rasieren, Otto. Die Mars-Eskimos halten dich sonst für 'nen Menschenfresser, wenn du so grimmig daherkommst. — Kutschiere deinen Rolls Royce nicht wieder in den Graben, Hopkins. So was kann leicht mal ins Auge gehen. — Hals- und Beinbruch, Kommodore!“ Edgar Sommerfeld nickte lachend zurück. Nur Otto fühlte sich in seiner Würde als Polarfahrer verletzt. „Die Burschen haben nicht den nötigen Ernst“, brummelte er gekränkt in seinen Bart. „Als ob es eine Kleinigkeit wäre, den Mars-Nordpol zu entdecken.“ Es sollte tatsächlich keine Kleinigkeit werden, aber das hatte ja auch niemand im Ernst erwartet. Am ersten Tag ging es ohne nennenswerte Zwischenfälle zügig voran, und Edgar stellte mit Befriedigung fest, dass sie das vorgenommene Tagesziel, einen Punkt 500 Kilometer im Norden des Lagers, erreicht hatten. Müde, aber zufrieden, legten sich die Männer am Abend in den Wagen zur Ruhe, deren Inneres man durch eine geschickte Anordnung nach außen hin luftdicht abschließen konnte, so dass es nicht nötig war, während der Nacht Atemgeräte zu tragen. Eine eingebaute Klimaanlage sorgte für erträgliche Verhältnisse im Inneren. Doch als sie morgens schlaftrunken ins Freie krochen, schauderten sie vor der Kälte zurück, die sie feindselig aus der schweigenden Wüste ansprang. „Pfui Teufel!“ Otto Vogelsang hüpfte trotz seiner Fleischmassen wie ein Wiesel hin und her und bemühte sich, durch heftiges Rudern mit den Armen das Kältegefühl zu vertreiben. Seine Kameraden, die nicht durch eine so prächtige Speckschicht geschützt waren, schlotterten noch viel ärger. „Die Zentralheizung scheint nicht zu funktionieren“, stammelte Walt Wilson zähneklappernd. „Sollten wir am Ende schon auf dem Nordpol angekommen sein, ohne dass wir es gemerkt haben?“ „Wir sind noch lange nicht da, Mister Wilson“, klärte ihn der Meteorologe auf. „Sie dürfen sich noch auf ganz andere Minustemperaturen gefasst machen. Allerdings kann ich Ihnen zum Trost verraten, dass es im Laufe
der Tagesstunden auch wieder wärmer wird, zumal wir mit jedem Tag dem Sommer näher kommen. Außerdem passieren wir heute den Cerberus und in diesen dunklen Gebieten liegen die Temperaturen ohnehin um zehn bis zwanzig Grad höher als in den rötlichen Wüsten.“ Je näher sie der Landschaft Cerberus kamen, desto mehr wuchs die Spannung der Expeditionsteilnehmer. Es würde das erste Mal sein, dass sie eine jener dunklen Stellen auf Mars betraten, die man dereinst irrtümlich für Meere oder Seen gehalten hatte. Dass es in Wirklichkeit keine Wasserflächen sein konnten, daran zweifelte niemand mehr. Was aber würde man tatsächlich vorfinden? „Natürlich handelt es sich um Gegenden mit Pflanzen wuchs“, erklärte Dr. Sawyer eigensinnig. „Schon vor Jahrzehnten sprachen russische Marsforscher von Sträuchern und Nadelbäumen auf Mars. Ich halte es für gar nicht ausgeschlossen, dass wir nun endlich auch auf die Spuren der Marsbewohner treffen werden. Im Wüstengebiet von Aeolis konnten wir schließlich nicht damit rechnen, ein Lebenszeichen von ihnen zu bekommen, aber hier ist es anders. Sie werden bald Ihr blaues Wunder erleben, meine Herren. Warten Sie nur ab.“ Bereits nach anderthalb Stunden änderte sich das Aussehen der Landschaft. Der rötlichgelbe Wüstensand begann sich dunkler zu verfärben. Der Boden schien schließlich mit einer blaugrünen Kruste bedeckt. Edgar ließ die Kolonne halten, um Dr. Fisher, dem Geologen, Gelegenheit zu geben, ein paar Proben zu sammeln. Auch die anderen sprangen von den Fahrzeugen und wühlten misstrauisch in dem unbekannten Stoff herum. „Was — ist das alles?“ Otto Vogelsang machte aus seiner Enttäuschung kein Hehl. „Ich hatte gedacht, hier wüchsen die prächtigsten Tannenbäume. Nicht mal 'nen lumpigen Kohlkopf kann ich entdecken. Was ist denn das überhaupt für ein grünes Zeug?“ „Ich weiß es auch nicht“, erwiderte Thomas, „es scheint ganz einfach Sand zu sein, mit kleinen Steinen vermengt. Merkwürdig ist allerdings diese grünliche Farbe.“ „Sie rührt bestimmt von Chlorophyll, von Blattgrün, her“, rief Dr. Sawyer lebhaft. „Jetzt, nach dem langen Winter, der ja auf der Nordhalbkugel des Mars immerhin 160 Erdentage dauert....“
„Was, wie lange?“ Otto Vogelsang blickte den Astronomen misstrauisch an. „Haben Sie sich auch nicht verzählt? Wenn der Winter schon so lange dauert, dann bleibt ja kaum noch Zeit übrig für die drei anderen Jahreszeiten.“ „Sie vergessen“, lächelte Dr. Sawyer nachsichtig, „dass das Marsjahr insgesamt 687 Erdentagen entspricht. Der Winter ist hier, nördlich des Äquators, sogar verhältnismäßig kurz. Der Frühling dagegen umfasst beinahe zweihundert Erdentage.“ „Das ist mir zu hoch“, meinte Otto, der sich nicht viel aus Zahlen machte, und dem jegliches Verständnis dafür abging, „aber wenn Sie es sagen, glaube ich es Ihnen auch so. Doch — ich unterbrach Sie, Herr Doktor. Sie hatten etwas anderes sagen wollen.“ „Ja, richtig: Ich wollte bemerken, dass die Pflanzenwelt des Mars nach dem langen Winter eingetrocknet und erstorben ist. Wenn jedoch erst das Schmelzwasser vom Nordpol her durch die Kanäle strömt, sieht es hier ganz anders aus.“ „Ich fürchte, Sie täuschen sich, Herr Kollege.“ Dr. Fisher war offenbar anderer Ansicht. „Was Sie für Blattgrün halten, dürfte nichts weiter sein als — Asche, die von den Marsvulkanen ausgestoßen wurde.“ „Das ist — verzeihen Sie meine Offenheit — purer Unsinn. Hier ist weit und breit kein Vulkan zu sehen...“ „Was aber keineswegs ausschließt, dass es an anderen Stellen welche gibt. Die Ascheteilchen können durch Windströmungen weiter getragen und an bestimmten Stellen abgelagert worden sein.“ Thomas musste an die Lichtpünktchen denken, die sie beim Überfliegen der Nachtseite des Planeten in der dunklen Tiefe wahrgenommen hatten. Sollten die vielleicht Feuer speienden Berge gewesen sein? Gerade wollte Sawyer zu einer heftigen Entgegnung ansetzen, als Dr. Dannenberg sich in das Gespräch mischte. „Es hat keinen Sinn, wenn wir uns hier streiten, meine Herren. Ich habe inzwischen ein paar Proben gesammelt und werde sie gemeinsam mit dem Kollegen Fisher chemisch und mikroskopisch untersuchen, sobald wir Zeit und Ruhe dafür finden.“ „Der Doktor hat recht“, erklärte Edgar. „Steigt jetzt wieder ein. Wir haben noch allerhand vor uns.“ An diesem Tag kamen sie noch besser voran, da der Boden fester war
und die schweren Fahrzeuge nicht so tief einsinken ließ. Bei Sonnenuntergang befanden sie sich schon tief innerhalb der großen Wüste von Elysium. Nach dem einfachen Abendbrot saßen die Männer noch für eine Stunde in den Wagen zusammen und tauschten ihre Eindrücke ans. „Ich bin gespannt, was Fisher und Dannenberg bei ihren Untersuchungen herauskriegen“, sagte Thomas. „Die wahre Natur dieser grünen Flecke ist eins der größten Rätsel der Marsforschung seit einer ganzen Generation.“ „Na, so furchtbar aufregend finde ich das alles gar nicht.“ Otto Vogelsang machte seiner Enttäuschung wieder einmal gründlich Luft. „Ja, wenn wir wenigstens grüne Bohnen gefunden hätten oder Grünkohl oder Kopfsalat! Stattdessen nichts als Sand, Steine und diesen gewöhnlichen Staub. Und dafür haben wir nun diese lange Reise und alle Strapazen auf uns genommen.“ „Sie haben eine völlig falsche Einstellung zu diesen Dingen, Otto“, belehrte ihn Thomas. „Wir sind nicht zum Mars gefahren, um hier Ackerbau und Viehzucht zu treiben, sondern um der Wissenschaft zu dienen und unsere Kenntnis von der Welt, in der wir leben, zu erweitern.“ „Hm“, machte Edgar und grinste vor sich hin. „Du bist und bleibst ein unverbesserlicher Idealist, Thomas. Selbst als Junge warst du immer schon so. Um die Wissenschaft allein geht es bei einer so märchenhaft teuren Weltraumreise wohl doch nicht. Zumindest die Geldgeber versprechen sich wohl etwas mehr davon. Aber das ist natürlich ihr persönliches Risiko.“ „Vielleicht finden wir morgen etwas Lohnenderes“, sagte Walt Wilson. Edgar hob zweifelnd die Schultern. „Es ist kaum anzunehmen, Walt. Wenn alles nach Programm abläuft, werden wir am Nachmittag des fünften Marschtages den Nordrand der Wüste Elysium erreichen. Dort wollen wir den ersten Ruhetag einlegen. Ich möchte bezweifeln, dass wir bis dahin viel Aufregendes zu Gesicht bekommen.“ Edgar Sommerfeld sollte nur allzu Recht behalten. Weder am kommenden noch am übernächsten Tage ereignete sich auch nur das Geringste, das von Belang gewesen wäre. Die Eintönigkeit
der flachen, öden Wüstenlandschaft wirkte ermüdend und niederdrückend. Meist hingen die Männer teilnahmslos auf ihren Sitzen und dösten vor sich hin. Die Fahrer brauchten sich nicht sonderlich anzustrengen, dass sie die befohlene Richtung einhielten. Nur auf dem letzten Fahrzeug saßen zwei Männer, deren Aufmerksamkeit keinen Augenblick erlahmte. Dr. Sawyers Blicke durchmusterten den Sand, wanderten am Horizont entlang und kehrten zum Boden der Wüste“ zurück. Unablässig wiederholte sich das Spiel. Robert French wiederum machte sich an einem Gerät zu schaffen, das er ängstlich vor den Augen der anderen zu verbergen trachtete. „Das ist ja ein Zählrohr, Mister French“, stellte Sawyer interessiert fest. „Was versprechen Sie sich denn davon?“ „Ich — ich messe die Höhenstrahlung“, stotterte French verlegen. Er sah in diesem Augenblick aus wie ein bei dummen Streichen ertappter Schuljunge. Dr. Sawyer hatte seine Aufmerksamkeit schon wieder dem Nordhorizont zugewandt. „Die Höhenstrahlung? Ja, natürlich. Ich hatte schon gedacht, Sie wären auf der Uransuche.“ „Hahahaha!“ Frenchs Lachen klang reichlich erkünstelt. Ihm war gar nicht recht wohl. Offenbar war er mit seinen Anspielungen auf die Bodenschätze des Mars, die er während der Überfahrt gemacht hatte, zu unvorsichtig gewesen. Aber der Astronom bemerkte seine Verlegenheit nicht. Er hatte den kleinen Vorfall schon wieder vergessen. Er suchte nach anderen Dingen: nach einer Spur, die ihn hinführen sollte zu den Bewohnern des Mars... Der fünfte Tag sollte endlich die von allen erhoffte Abwechslung bringen. Schon am Morgen querten sie einen der so genannten Kanäle, die in die Spezialkarte von Elysium eingetragen waren. Der Zeichner hatte ihn nur schwach punktiert vermerkt, um anzudeuten, dass er sich selbst nicht ganz im Klaren darüber war, ob diese Wahrnehmung als echt zu betrachten sei oder lediglich als eine Art optischer Täuschung. Es handelte sich um keinen der großen Hauptkanäle, sondern nur um eine Abzweigung, die von Osten nach Westen verlief. Der Kanal wirkte eher wie eine lang gezogene, flache Talmulde, als wie
ein ausgetrockneter Wasserlauf. Der Boden war von Wüstensand bedeckt, und nur an manchen Stellen trat felsiger Untergrund zutage. „Was halten Sie davon, Doktor?“ fragte Edgar Sommerfeld den Geologen. Dr. Fisher war ausgestiegen und bearbeitete das Gestein mit einem kleinen Hammer, bis er einige Brocken in der Hand hielt. „Zweifellos plutonischen Ursprungs“, sagte er. „Ich hatte es kaum anders erwartet.“ „Das würde also bedeuten, dass vulkanische Kräfte bei der Entstehung der Marsoberfläche eine ausschlaggebende Rolle gespielt hätten?“ warf Thomas lebhaft ein. „Allerdings. Es sollte mich übrigens nicht wundern, wenn Mars auch heute noch tätige Vulkane hätte. Wir sprachen neulich schon davon.“ Da der Kanal weiter nichts Bemerkenswertes bot, setzte man die Fahrt nach Norden fort. Die Sonne stand noch nicht im Zenit, als über dem Horizont im Nordosten eine blendendweiße, seltsam geformte Wolke erschien. „Am Ende kriegen wir noch Regen“, meinte Walt Wilson. Es waren noch keine fünf Minuten vergangen, als Edgar halten ließ und heftig zu Professor Benson hinüberwinkte. „Was sagen Sie dazu, Professor? Glauben Sie, dass das eine normale Wasserdampfwolke ist?“ „Es ist Rauch“, antwortete der Gelehrte, „und ich sehe jetzt auch deutlich, woher er stammt. Kollege Fisher hat richtig vermutet: Wir haben einen Vulkan vor uns.“ Auch die anderen erkannten jetzt die flache Kuppe eines Berges, die kaum über den Gesichtskreis emporragte. Dr. Sawyer geriet bei diesem Anblick in größte Erregung. „Lassen Sie die Marschrichtung ändern, Kommodore! Es ist die Pyramide, die wir bei unserem Anflug beobachteten. Hier, sehen Sie: Ich trug sie damals in meine Karte ein.“ „Schon gut, Doktor, ich glaube es Ihnen gern. Nur liegt die Stelle leider zu weit abseits von unserem Kurs. Wenn wir solch einen Umweg machen, erreichen wir unser vorgesehenes Marschziel nicht.“ „Das wäre doch nicht so schlimm, Kommodore“, stimmte nun auch Dr. Fisher ein. „Sie wollten doch morgen ohnehin einen Rasttag einlegen.“
„Also gut, sehen wir uns den Feuerberg mal aus der Nähe an.“ Edgar gab Otto Vogelsang, der den Wagen steuerte, den Befehl, auf den umwölkten Gipfel zuzuhalten. Schneller rasselten die Fahrzeuge durch den Wüstensand. Der geheimnisvolle Berg schien sie anzuziehen wie ein Magnet. Etwa drei Kilometer von seinem Fuß entfernt hielt die Kolonne. Thomas holte einen Sextanten aus dem Gepäck, um eine ungefähre Höhenbestimmung durchzuführen. Das Resultat war nicht gerade überwältigend. „Knapp fünfhundert Meter“, stellte er fest. „Was, solch ein kümmerlicher Maulwurfshügel?“ Wieder einmal fühlte sich Otto schwer enttäuscht. „Sie dürfen hier nicht mit unseren irdischen Maßstäben messen, Otto. Für die Verhältnisse des Mars, der keine Gebirgsmassive wie die Erde kennt, ist das schon eine stattliche Höhe.“ „Weiter!“ befahl Edgar. Die Motoren brummten, die Ketten rasselten, näher und näher kam man dem Ziel, doch immer schwieriger wurde jetzt das Gelände. Der bisherige Sandboden machte einem harten, zerfurchten Gestein Platz, das unschwer als erstarrte Lava zu erkennen war. Aus zahlreichen Spalten im Boden stiegen dünne Schwaden stechend riechenden Rauchs. Ein kleiner, dampfender Wasserstrahl schoß wenige Schritte neben den Wagen wie ein Springbrunnen in die Höhe. Das zurücksprühende Wasser versickerte sofort wieder im Gestein, das an dieser Stelle durchlöchert wie ein Schwamm aussah. Zum ersten Mal seit ihrem Aufbruch aus Aeolis fühlte Thomas, wie ihm der Schweiß aus den Poren drang. Es war plötzlich unerträglich heiß geworden. Auch die anderen empfanden es und wischten sich verstohlen über die Stirn. Edgar gab das Zeichen zum Halten. „Ich denke, das genügt, meine Herren. Ich fürchte, dass die Wagen stecken bleiben. Der Boden scheint mir verdächtig heiß zu werden.“ Aus dem flachen Gipfel des Vulkans schoss plötzlich eine rotleuchtende Wolke in die Höhe und breitete sieh zu einem pilzförmigen Gebilde aus. Ein leichtes Zittern lief durch den Boden. Edgar wollte schon den Befehl zum Umkehren geben, als Sawyer und Fisher ihm ins Wort fielen: „Warten Sie noch, Kommodore! Bitte, noch
nicht umkehren! Wir müssen den Berg unbedingt näher untersuchen. Wer weiß, ob wir je wieder eine so günstige Gelegenheit finden.“ „Meinetwegen. Nehmen Sie ein paar Mann zur Begleitung mit und seien Sie nicht zu leichtsinnig. In spätestens einer halben Stunde müssen Sie zurück sein. Ich habe wenig Vertrauen zu dieser schönen Gegend und möchte lieber in einer weniger brenzlichen Umgebung kampieren.“ Der kleine Trupp war schnell zusammengestellt. An der Spitze ging Dr. Fisher, gefolgt von Sawyer und Walt Wilson, der sich interessante Aufnahmen für „Wolfes Tönende Wochenschau“ versprach. Dann kamen Thomas und der unverwüstliche Otto Vogelsang. Den Schluss bildete Robert French, schweigsam und düster wie immer. „Vom Gipfel aus schreiben wir euch 'ne Ansichtskarte“, rief Otto und winkte noch einmal übermütig zurück. Dann wurden die sechs Männer in einer Felsspalte der zerklüfteten Bergflanke unsichtbar. Ein greller Blitz ließ die Gesichter der Zurückgebliebenen jäh in die Höhe fahren. Der Krater des Vulkans spie Rauch und Flammen. Ganz plötzlich, ohne merkbare Ankündigung, war dieser Ausbruch gekommen. »Das scheint ja ein ganz unberechenbarer Bursche zu sein“, wunderte sich Professor Benson. Edgar Sommerfeld schwieg. Ein Gefühl des Unbehagens beschlich ihn. Er fing an, sich um die Gefährten zu sorgen, die irgendwo, wahrscheinlich auf der Rückseite, den Aufstieg versuchten. „Hoffentlich sind sie vernünftig genug und kehren wieder um.“ „Dr. Fisher kennt sich in solchen Lagen aus. Er wird schon nicht zu nahe herangehen.“ „Fisher vielleicht nicht, aber die anderen. Besonders Sawyer und Walt Wilson sind zuweilen verdammt leichtsinnig. Wenn sie nicht...“ Edgar blieb das Wort im Munde stecken. Eine mächtige Lohe schoss zum Himmel empor, aus dem Inneren des Berges scholl Donnergepolter. Der Bodon bebte. Dicht unter der Gipfelkuppe barst die Bergwand. Ein Strom feurigflüssiger Lava sprudelte in die Tiefe. Die Männer starrten noch wie gebannt nach oben, als plötzlich glühende Geschosse durch die Luft herniederzischten. Mitten zwischen
sie hinein fuhr eine der vulkanischen Bomben. Ein Funkenregen wirbelte hoch, als sie in den Boden schlug. In panischem Entsetzen stob alles auseinander. Edgar sah sich plötzlich allein. „Zurück zu den Wagen!“ schrie er den Fliehenden nach. „Raus aus der Gefahrenzone! Wagen eins bleibt zu meiner Verfügung zurück!“ Durch den Rauch, der plötzlich allerorts aus Bodenspalten hervorquoll, sah er die vier anderen Kettenwagen von dannen rumpeln, der rettenden Ebene entgegen... Der kleine Trupp unter Führung Dr. Fishers war anfangs voller Unternehmungslust dem Vulkan zu Leibe gerückt. Endlich einmal eine Abwechslung im trostlosen Einerlei der Marslandschaft! Der Aufstieg schien keine Schwierigkeiten zu bereiten. In einer tiefen, schräg aufwärts führenden Spalte, die fast wie eine enge Schlucht anmutete, gelangten sie in die Nordflanke des Bergkegels. Hier änderte sich das Bild. Die Rinne endete plötzlich vor einer Wand, die steil vor ihnen aufragte. Ratlos schauten sie sich um. „Rauf müssen wir“, entschied Dr. Fisher. „Ich gehe voraus und versuche, Stufen zu schlagen. Das Gestein scheint reichlich mürbe zu sein. Dort oben, schräg rechts, ist ein kleiner Vorsprung. Wenn ich ihn erreicht habe, will ich erst mal Umschau halten. Es wäre doch gelacht, wenn wir da nicht hinaufkämen.“ „Umkehren kommt gar nicht in Frage“, erklärte Otto Vogelsang bestimmt. Die anderen murmelten Zustimmung. „Lassen Sie mich mitkommen, Doktor“, sagte Robert French. „Diese Kletterei ist für mich nichts Neues. Ich habe mich schon in den Mondbergen darin geübt.“ „Gut, kommen Sie mit. Wir wollen uns aber vorsichtshalber anseilen.“ Von unten verfolgten die Gefährten erwartungsvoll die kurze und offenbar gar nicht so schwierige Kraxelei der beiden. Walt Wilson ließ die Kamera surren. „Das gibt einen tollen Streifen: Irdische Alpinisten besteigen den höchsten Gipfel des Mars, den berühmten Fünfhunderter... — ja, wie heißt denn der komische Hügel überhaupt?“ „Er hat noch keinen Namen“, lachte Thomas. „Wie wollen wir ihn nennen?“ Der Vulkan sollte allerdings vorläufig namenlos bleiben; denn in
diesem Augenblick hatten Dr. Fisher und French den Vorsprang erreicht und bedeuteten den anderen durch lebhaftes Winken, auf dem gleichen Wege nachzukommen. Der Aufstieg bot tatsächlich kaum Schwierigkeiten, und selbst der dicke Otto blieb nicht zurück. Die geringere Schwerkraft des Planeten erwies sich auch hier wieder als nützlich. Schließlich drängten sie sich alle auf der kleinen Plattform, die wie eine Kanzel über die Tiefe ragte. Weit ging der Blick von hier aus nach Norden. Die Wüste, die bis nahe an den Fuß des Bergkegels reichte, war an vielen Stellen von grünlichen Flecken und Streifen durchsetzt. Hier und da lagen mächtige Steine, halb im Sand versunken. Ihre Oberfläche wirkte bei der Betrachtung mit dem Fernglas, als wäre sie geschmolzen und später erkaltet. „Wie soll es nun weitergehen?“ fragte Walt Wilson. Die Frage war berechtigt. Die Bergwand ragte steil und sogar ein wenig überhängend vor ihnen auf. Es schien unmöglich, den Weg an dieser Stelle fortzusetzen. „Hätten wir's nur lieber auf der Südseite versucht“, maulte Otto Vogelsang, „dann wären wir vielleicht schon oben.“ „Ja, hätt'ste“, spottete Walt. „Schaut einmal her, ihr Leute, was Walt Wilsons Adlerauge entdeckt hat.“ Er deutete auf eine Öffnung in der grauen Wand, etwa vier Meter seitlich oberhalb ihres Standortes, die breit genug war, um einen Einstieg zu gewähren. Mit Thomas und Frenchs Unterstützung zwängte sich Dr. Fisher hinein. Schon wenige Augenblicke später kam seine Stimme: „Es ist ein Kamin. Kommt ruhig hinterher. Ich bin überzeugt, dass wir hier zum Gipfel kommen.“ „Er wird als Walt-Wilson-Kamin in die Geschichte der Mars-Alpinistik eingehen“, prophezeite Thomas lachend. „Auf geht's!“ Der Durchstieg erwies sich als einfach, obgleich der Kamin stellenweise eng war. Nur Otto Vogelsang schimpfte unablässig vor sich hin. Endlich hatte er es auch geschafft. „Was hättet ihr angefangen, wenn ich stecken geblieben wäre?“ fragte er grimmig und klatschte sich auf den umfangreichen Bauch. „Wir hätten dich so lange hungern lassen, bis du von selbst wieder losgekommen wärst“, grinste der Reporter.
„Nanu — wo sind wir denn hier hingeraten?“ Eine schmale Rinne führte von dem mit Steinen übersäten Plateau, auf dem sie standen, unmittelbar zum Gipfel empor, der ihren Standort tun fast hundert Meter überragen mochte. Links und rechts von ihr gähnten große, torähnliche Öffnungen in der Wand, durch natürliche Säulen voneinander getrennt. „Das sieht ja ganz romantisch aus“, wunderte sich Walt. „Fast könnte es der Eingang ins Reich der sagenhaften Marsbewohner sein.“ Dr. Fisher wandte sich bereits der Rinne zu, um den Aufstieg fortzusetzen, als Sawyer ihm mit ausgebreiteten Armen den Weg vertrat. „Bleiben Sie doch noch, Herr Kollege! Warten Sie doch — der Gipfel läuft uns nicht davon...“ „Aber der Kommodore fährt uns davon, wenn wir uns nicht beeilen. Die halbe Stunde, die er uns genehmigt hat, ist längst überschritten.“ „Macht nichts“, sprang French dem Astronomen bei. „Schauen wir uns diese Tropfsteinhöhle, oder was es sonst sein mag, ruhig mal aus der Nähe an. Der Kommodore fährt nicht ohne uns ab, das wissen Sie ganz genau, Doktor.“ Nach einigem Hin und Her gab Fisher schließlich nach. Ganz wohl war ihm dabei nicht zumute. Aber er sollte sehr bald erfahren, dass dieses Nachgeben ihm und seinen Begleitern das Leben gerettet hatte... Dünn glitt der Lichtkegel der einzigen Taschenlampe, die Otto Vogelsang zufällig bei sich trug, an den Wänden der Höhle auf und nieder. Vom Eingang fiel nur noch wenig Helligkeit herein, da der Gang, den sie betreten hatten, schon nach den ersten zehn Schritten eine Wendung nach links machte. Sie konnten sich nur undeutlich ein Bild von dem seltsamen Raum machen, in den sie geraten waren. Die Wände rings herum waren von zahllosen Löchern durchsetzt. Überall mündeten weitere Gänge. Der Berg schien in seinem Inneren ein wahres Labyrinth zu sein. Spalten und Risse, aus denen dünne und träge bläuliche Rauchfäden stiegen, durchzogen den Boden. Dichter Dunst verhinderte den Durchblick nach oben. Eine Woge heißer Luft quoll ihnen entgegen. French und Sawyer schickten sich an, noch tiefer in das Gewirr der Gänge einzudringen, doch Dr. Fisher hielt sie zurück. „Wir dürfen uns nicht leichtsinnig in Gefahr begeben. Solch ein Vulkan ist unberechenbar; was wissen wir denn schon davon, wie es unter der
Oberfläche dieses Planeten aussieht? Niemand kennt die Gesetze, nach denen... Moment mal — was ist denn das?“ Alle hatten das tiefgründige Grollen aus dem unheimlichen Inneren des Berges vernommen, hatten das Zittern des Bodens unter ihren Füßen gespürt. Thomas wollte gerade seine Vermutungen aussprechen, als ein so heftiger Stoß den Boden durchzuckte, dass sie samt und sonders haltlos durcheinander purzelten. Von der Decke stürzte ein Hagel von Gesteinsbrocken hernieder, krachender Donner schlug in ihre Ohren. Ein glühendheißer Odem strich über sie hinweg. Es bedurfte keines besonderen Befehls mehr, um die eben noch so unternehmungslustigen Männer zu eiligem Rückzug zu bewegen. Otto hatte die Taschenlampe beim Hinstürzen verloren, und so drängten sie halb blind, mit tastend vorgestreckten Händen, dem schwachen Schimmer entgegen, der den rettenden Ausgang verhieß. Zerschunden und gestoßen torkelte Thomas ins Freie. Sein erster Blick galt der schmalen Rinne, die hinauf zum Gipfel führte. Und in diesem Augenblick stockte ihm der Herzschlag: Glühendflüssige Lava sprudelte in der Rinne hernieder. Sekunden noch — dann musste sie den Platz vor den Höhleneingängen erreicht haben. „Wenn wir dort hinaufgestiegen wären...“, schoss es Thomas durch den Sinn. „Zum Kamin!“ brüllte irgendjemand. Mit zitternden Knien setzte sich der kleine Trupp in Bewegung. Thomas wusste selbst nicht, wie er durch den engen Schacht hinunter kam und sich schließlich auf dem Grunde der Schlucht wieder fand, durch die sie den Aufstieg begonnen hatten. Auch die fünf Kameraden waren da, atemlos und abgerissen. Alle blickten wie gebannt nach oben, wo die Spitze des Bergkegels hinter der steil aufwärts strebenden Wand verborgen war. Plötzlich kamen feurige Geschosse durch die Luft, prallten gegen die Wände der Schlucht und schlugen in den Boden ein. Ein unterdrückter Schmerzenslaut von einem der Männer — niemand achtete darauf. In wilder Flucht drängten sie weiter zu Tal. Der Boden zuckte, Steinschläge polterten links und rechts herab, und überall zischten aus tausend verborgenen Spalten schweflige Dämpfe. Endlich — die Ebene! Auch hier schien die Hölle ausgebrochen zu sein. Verwirrt blickten die Männer auf das Chaos, das sich vor ihren Augen ausbreitete. Wie sollte man da nur hindurch kommen? Wo waren
überhaupt die Gefährten geblieben, wo die Wagen? „Da vorn, rechts von dem flachen Sandhügel, steht ein Fahrzeug!“ Der dicke Otto Vogelsang, der in den letzten Minuten ein ganz erstaunliches Tempo entwickelt hatte, streckte den Arm aus. Im nächsten Augenblick stürmten die Männer darauf zu, unter dem glühenden Aschenregen des Vulkanausbruchs hindurch, über Spalten hinweg, die sich tückisch vor ihren Füßen auf taten. Als sie sich dem Wagen, der noch unversehrt geblieben war, bis auf zwanzig Schritt genähert hatten, kroch eine verstaubte Gestalt darunter hervor. Nur mit Mühe erkannten sie Edgar Sommerfeld. „Nun wird's aber Zeit“, sagte der Kommodore böse. „Aufgesessen — aber etwas plötzlich, wenn ich bitten darf.“ Sekunden später raste das überfüllte Fahrzeug davon. Es ließ eine Stätte der Verwüstung hinter sich, zurück. Am übernächsten Tage, gegen Mittag, sollten sie endlich mit den ersten Lebensformen auf Mars in Berührung kommen. Allerdings waren es weder menschenähnliche Wesen noch Tiere, auch keine hoch entwickelten Pflanzenarten, sondern recht einfache und wenig auffallende Organismen. Die Wagenkolonne hatte Elysium verlassen und befand sich jetzt, nördlich davon, in der Landschaft Chaos. Der Boden war hier wieder von tiefgrüner Farbe, und bald konnte man wahrnehmen, dass er feucht wurde. „Es ist das Schmelzwasser vom Polarschnee“, erklärte Professor Benson. „Wenn wir überhaupt Aussicht haben, pflanzliches Leben zu entdecken, dann muss es hier sein, zwischen Reifzone und Wüstengürtel.“ Vorerst war nichts Auffälliges zu bemerken. Die Expeditionsteilnehmer, die durch das gefährliche Abenteuer in Elysium um den erhofften Ruhetag gekommen waren, fühlten sich abgespannt und schläfrig. Auch die Fahrer schenkten der Bodenbeschaffenheit wenig Aufmerksamkeit und achteten nur darauf, die befohlene Fahrtrichtung und -geschwindigkeit einzuhalten. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als Thomas unsanft aus seinem Halbschlaf gerissen wurde. Der Wagen musste über einen besonders ungefügen Stein hinweggerumpelt
sein. Ärgerlich versuchte Thomas, das Hindernis zu erkennen. Plötzlich war er hellwach. „Wo sind wir denn jetzt gelandet?“ Edgar rieb sieh die Augen und schaute sich um. Die Wagen fuhren über einen Teppich aus dunklem Grün. „Anhalten!“ befahl er. „Warum haben Sie uns nicht geweckt, Otto? Sie sehen doch, dass wir endlich eins von jenen bewachsenen Gebieten erreicht haben, nach denen wir uns schon so lange die Augen ausgeguckt hatten.“ Otto Vogelsang ließ das Steuer los und sah sich entrüstet um. „Was sagen Sie da, Kommodore? Bewachsene Gebiete? Ich sehe nichts davon, absolut gar nichts sehe ich.“ „Aber Sie fahren womöglich schon seit Stunden in den Pflanzen herum.“ „Was heißt hier Pflanzen, Kommodore? Meinen Sie am Ende dieses Kroppzeug da? Na, die berühmte so genannte Marsflora hatte sich Otto Vogelsang aber anders vorgestellt. Mindestens sooo große Kohlköpfe.“ Er umschrieb mit den Händen ein Gebilde von der Größe eines preisgekrönten Riesenkürbisses. Inzwischen waren die meisten von den Wagen gesprungen und stocherten in dem grünen Teppich herum. Dr. Dannenberg grub vorsichtig einige von den Pflanzen mitsamt ihren Wurzeln aus und verwahrte sie in besonders für solche Zwecke mitgenommenen Gläsern. Thomas beäugte sie neugierig. „Für was halten Sie das, Doktor?“ „Es sind Pflanzen, wie sie in der gleichen Art auf der Erde nicht vorkommen. Wir kennen allerdings ganz ähnliche Arten, zum Beispiel Moose, Flechten und gewisse Sorten von Algen.“ „Also recht primitive Vertreter, wie mir scheint.“ „Gewiss. Etwas anderes war unter den Bedingungen dieses mörderischen Marsklimas auch gar nicht zu erwarten. Nur einfache und anspruchslose Formen können hier gedeihen.“ „Das Rätselraten um die grünen Flecke wäre damit wohl beendet“, erklärte Dr. Fisher. „Beide Auffassungen sind richtig gewesen: Die Flecke bestehen teils aus grünlicher, vulkanischer Asche, teils sind sie mit Pflanzen bewachsen, die auf diesem Boden anscheinend besonders gut gedeihen.“
„Na, essen möchte ich dieses Algenzeug aber nicht“, brummte Otto in seinen Bart. „Das verlangt auch niemand von Ihnen“, sagte Edgar. „Einsteigen, meine Herren! Wir müssen weiter.“ Am Abend lagerten sie in einer flachen, stellenweise bewachsenen Mulde. Der Boden strömte einen frischen Duft aus, der an den Geruch des Erdbodens nach einem Sommerregen erinnerte. An der tiefsten Stelle ließ Edgar ein Loch graben. Es dauerte nicht lange, bis sich der Grund mit einer klaren Flüssigkeit füllte. Edgar schöpfte einen Kunstglasbecher voll und hielt ihn gegen die sinkende Sonne. „Marswasser“, sagte er feierlich. „Wer trinkt den ersten Schluck?“ Die anderen verharrten schweigend. Nur Otto Vogelsang trat einen Schritt zurück und sagte besorgt: „Vorsicht, Herrschaften, Vorsicht! Wer weiß, was es mit diesem verdächtigen Gesöff für eine geheime Bewandtnis hat?“ „Du glaubst wahrscheinlich, Marswasser sei für Menschen unzuträglich“, grinste Walt Wilson. „Nun, man kann nicht wissen: Vielleicht gerät jeder, der es trinkt, für alle Zeiten in den Bann des roten Planeten und kommt nie mehr von ihm los.“ „Ich riskiere es jedenfalls“, rief French spöttisch. „Geben Sie her, Kommodore!“ Er nahm einen tiefen Schluck und blieb eine Sekunde lang regungslos stehen. Dann schüttelte ein Schauer seinen Körper. „Was ist Ihnen, French?“ erkundigte sich Edgar besorgt. „Nichts, Kommodore, gar nichts ist mir, nur — kalt ist das Zeug, unheimlich kalt. Ich hatte ein Gefühl, als ob eine eisige Hand nach meinem Herzen griffe.“ Er ließ den Becher achtlos auf den Boden fallen und humpelte von dannen. „Haben Sie sich verletzt, Kapitän French?“ fragte Dr. Dannenberg. Robert French drehte sich langsam um. „Nicht der Rede wert, Doktor. Habe mir wahrscheinlich den linken Fuß verstaucht — vorgestern, bei der Hetzjagd an diesem wild gewordenen Vulkan. Bitte, bemühen Sie sich nicht.“ Kurz nach dem Überschreiten des siebzigsten Breitengrades erreichten
sie die letzten Ausläufer der Schneefläche, die sich langsam zum Nordpol hin zurückzog. Edgar befahl von jetzt ab ein langsameres Marschtempo und erhöhte Aufmerksamkeit. Schon in den letzten Tagen waren die Wagen hin und wieder im aufgeweichten Boden stecken geblieben. Diese Gefahr bestand weit weniger, je näher sie dem eigentlichen Polargebiet kamen. Andererseits ließ die Schneedecke, obwohl sie nur verhältnismäßig dünn war, Unebenheiten und Risse im Boden nur schwer erkennen. Der Himmel, der in den letzten Tagen infolge der verdunstenden Feuchtigkeit trüb und verschleiert gewesen war, klarte zunehmend auf. Einige besonders helle Sterne waren auch tagsüber am tiefblauen Firmament zu sehen, während die Sonne bei ihrem langen Tageslauf nur wenig über den Horizont emporstieg. Die Zeit der hellen Nächte war gekommen. Am zwanzigsten Reisetag, wesentlich später also als beabsichtigt, hatte die Kolonne ihr Ziel erreicht. Edgar atmete erleichtert auf, als er eine Signalstange in den Schnee stieß — an jener Stelle, die ihm die Astronomen als den Nordpol bezeichneten. „Endstation — alles aussteigen!“ verkündete Otto Vogelsang und betrachtete gönnerhaft die weite, eintönige Schneelandschaft. Dann bekam sein Gesicht einen pfiffigen Ausdruck. Er baute sich neben der Signalstange auf und starrte angelegentlich zum Himmel empor, an dem trotz des matten Tageslichts die vom irdischen Firmament her wohlbekannten Sternbilder leuchteten. „Habe ich mir's doch gedacht“, sagte er schließlich kopfschüttelnd. „Mein lieber Lehrer hat mir also doch was vorgeschwindelt.“ „Was ist es denn, was Ihr Herz bedrückt?“, erkundigte sich Thomas teilnahmsvoll. Otto, der Bärtige, räusperte sich. „Kommen Sie doch mal näher heran, Herr Berger, und passen Sie genau auf: Wir stehen also hier genau auf dem Nordpol, nicht wahr?“ „Ganz genau, Otto.“ „Und diese Stange hier ist sozusagen die Marsachse?“ „Hm — genauer gesagt: die Verlängerung der Marsachse.“ „Na schön, soll mir auch recht sein. Nun hat uns unser Lehrer auf der Schule erzählt — Lampe war übrigens sein schöner Name —, die
Erdachse zeige genau auf den Polarstern, und wenn man auf dem Nordpol stünde, hätte man den Polarstern genau über sich. Na, und? Wo ist nun der Polarstern, der bekanntlich zum Kleinen Bären gehört? Ich fürchte, Herr Lampe hat seinen Schülern einen großen Bären aufgebunden.“ „Sie tun Ihrem alten Lehrer unrecht, Otto. Der Polarstern im Kleinen Bären steht nur für die Erde im Himmelsnordpol oder, genauer gesagt, in seiner allernächsten Nachbarschaft. Nun hat aber die Marsachse eine andere Neigung als die Erdachse und zeigt daher auf einen anderen Punkt am Himmel.“ „Aha, ich verstehe. Mars hat also einen anderen Polarstern?“ „Leider nicht, Otto. Er hat überhaupt keinen. Für Mars liegt der Himmelsnordpol zwischen den Sternen Deneb im Schwan und Alderamin im Sternbild Cephous. Ist Ihnen das klar geworden?“ Otto Vogelsang schüttelte den Kopf. Es wollte ihm ganz und gar nicht in den Sinn, dass Mars keinen Polarstern haben sollte... „Abladen!“ erklang der Befehl des Kommodores. „Wir wollen das Lager aufbauen.“
AUCH RAUMFAHRER SIND NUR MENSCHEN Genau zweiundvierzig Tage nach dem Aufbruch von Aeolis traf Edgar Sommerfeld mit vier Fahrzeugen und vierzehn Mann wieder im Hauptlager ein. Professor Benson, Dr. Sawyer und vier Mann vom Schiffspersonal waren in der Polarstation zurückgeblieben, tun meteorologische und astronomische Messungen durchzuführen. Sie sollten, mit Ausnahme des wissenschaftlichen Personals, in monatlichen Abständen abgelöst werden. Ein Kettenfahrzeug war für den Notfall zu ihrer Verfügung zurückgelassen worden. Bei seiner Ankunft in Aeolis erwartete den Kommodore eine böse Überraschung. Mit allen Anzeichen von Verstörtheit zog ihn Kapitän Oldring zur Seite und schob ihn in die Tür der Lagerbaracke II. „Das ist — Sabotage“, stotterte er zornrot. „Wovon sprechen Sie denn überhaupt, Kapitän?“ „Na, von dieser — dieser unglaublichen Schweinerei natürlich. Ich wollte es Ihnen nicht auf dem Funkweg mitteilen, weil es die Leute nicht erfahren sollten.“ „Ich verstehe noch immer nicht...“ Oldring trat an einige in der Nähe stehende Proviantkisten, deren Inhalt mit Fleischkonserven bezeichnet war. Wütend riß er die lose aufliegenden Deckel herunter. „Sehen Sie sich das an, Kommodore! Man hat auf der Außenstation beim Verladen die Kisten vertauscht.“ „Aber, das ist doch — unmöglich!“ Da lagen, fein säuberlich verpackt, anstelle der Lebensmittel die Einzelteile einer Maschine. Sie schienen zu einem kleinen, zusammensetzbaren Spezial-Bagger zu gehören. „Irgendwelche Schufte auf der Außenstation müssen ein Interesse daran gehabt haben, die Marsexpedition zum Scheitern zu bringen. Man hat sich nicht geschämt, uns allesamt einem schmählichen Hungertod preiszugeben.“ Edgar atmete tief. Seine Stimme klang wie erfroren, als er endlich antwortete: „Das ist ganz undenkbar, Oldring. Auf Dr. Williams, den Stationskommandanten, ist unbedingter Verlass. Außerdem hat Schelling die Ladung der
Schiffe vor unserem Start noch einmal an Hand der Stücklisten überprüft und nichts Auffälliges bemerkt.“ „Schelling ist über jeden Verdacht erhaben.“ „Allerdings — und deshalb ist mir die Geschichte völlig rätselhaft. Vielleicht lässt der Inhalt dieser Kisten einige Rückschlüsse zu?“ „Möglich, Kommodore. Ich sah solche Maschinen vor ein paar Jahren in der Mondbasis in Gebrauch. Ein Haufen Prospektoren durchwühlte damit den Boden nach Uranerz.“ Edgar pfiff durch die Zähne. Eine Erinnerung tauchte in seinem Unterbewusstsein auf, ohne jedoch sogleich feste Gestalt anzunehmen. Er richtete sich auf. „Dass ich nicht gleich darauf gekommen bin... Hören Sie, Oldring: Rufen Sie doch mal sämtliche Offiziere und Wissenschaftler in der Zentrale zusammen.“ „Ich möchte nur wissen, was der Chef von uns will“, sagte Walt Wilson, der ebenfalls vorgeladen worden war. Er stand neben Thomas im Kreise der Herren, die im engen Raum der so genannten Zentrale der Dinge harrten, die da kommen sollten. Thomas zuckte die Achseln. „Keine blasse Ahnung, Walt. Es ist sonst nicht Edgars Art, feierliche Ansprachen zu halten. Schau, da kommt er schon.“ Vor dem tiefen Ernst, der Edgar Sommerfelds Züge erfüllte, verstummten die leise geführten Gespräche augenblicklich. Edgar steuerte ohne Umschweife auf sein Thema zu: „Meine Herren, bei der Kontrolle der Vorräte hat es sich herausgestellt, dass eine Anzahl von Kisten anstatt Lebensmittel — Maschinenteile enthält, deren Mitnahme nicht vorgesehen war. Sie alle wissen, welche Folgen das für uns haben kann. Lediglich der gewissenlose Bursche, der uns diese Geschichte eingebrockt hat, scheint sich darüber nicht im Klaren zu sein. Schelling, Sie hatten den Auftrag, die Ladung sämtlicher Schiffe vor der Abreise zu überprüfen.“ Totenstille war in dem kleinen Raum. Nur das stoßweise Atmen der Männer war zu hören. Verstohlen blickte Thomas von einem zum anderen. Tiefes Erschrecken stand in den meisten Gesichtern zu lesen. Kelly, der frühere Wachoffizier der Luna, war blass wie ein Leintuch. Nur Robert French schaute mit unbeteiligtem Ausdruck zum Fenster hinaus.
Karl Schelling trat einen Schritt vor. „Kommodore“, begann er mit einer Stimme, die vor Erregung zitterte, „ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass ich meinen Auftrag zuverlässig ausgeführt habe. Ich habe die Ladung gewissenhaft Stück für Stück geprüft. Es war alles in bester Ordnung.“ „Sie halten einen Irrtum für ausgeschlossen?“ „Für völlig ausgeschlossen, Kommodore.“ Eine Weile herrschte Schweigen. Dann sagte Edgar, ohne dabei einen seiner Kameraden anzusehen: „Die Kisten können demnach nur in den wenigen Stunden vertauscht worden sein, die zwischen der Kontrolle durch Chefingenieur Schelling und dem Start lagen. Das bedeutet wiederum, dass nur einer der Expeditionsteilnehmer als Täter in Frage kommt; denn von der Stationsbesatzung konnte während des fraglichen Zeitraums niemand mehr die Marsschiffe betreten — mit Ausnahme der Bordwache, die jedoch ohnehin die ganze Zeit über in den Schiffen steckte, also auch bereits vor der Kontrolle der Ladung. Ich nehme an, dass einer der Herren in der Lage sein wird, mir Genaueres darüber zu erzählen?“ Schweigen. Edgars Stimme klang schärfer, als er jetzt fortfuhr: „Herr Dr. Fisher, wissen Sie vielleicht Näheres?“ Der Gelehrte räusperte sich. „Ich kann es verstehen, dass Ihr Verdacht auf mich fällt, Kommodore. Als Geologe wäre ich vermutlich derjenige, der am ehesten für Geräte, wie Sie sie in den Kisten gefunden haben, Verwendung hätte. Aber ich habe nichts damit zu tun. Bedenken Sie doch: Ich hätte diese Geheimnistuerei doch gar nicht nötig gehabt. Ich hätte nur von vornherein zu erklären brauchen, dass ich diese Maschinen unbedingt für meine Forschungsarbeit benötigte, und man hätte sie in die Frachtberechnung einkalkuliert.“ „Das leuchtet ein, Doktor. Hat sonst niemand etwas dazu zu sagen?“ Plötzlich fiel es Thomas wie Schuppen von den Augen. Er sah sich wieder zu nächtlicher Stunde in dem kleinen Observatorium der Außenstation hocken, und in der Erinnerung daran glaubte er wieder die Stimmen der beiden Männer zu hören—dieser Männer, die irgend etwas ausgeheckt hatten, was das Tageslicht scheute, und die in diesem
Augenblick mit ihm im gleichen Raum zusammen waren. „Ich habe es getan“, ertönte plötzlich die trotzige Stimme Robert Frenchs. „Jawohl, ich bin es gewesen, und ich bereue es nicht. Mehr als einmal habe ich Ihnen meine Ansicht gesagt, Kommodore: Diese ganze Expedition ist die Mühe nicht wert gewesen, wenn wir nichts anderes vom Mars mitbringen, als ein paar lächerliche Gesteinsbrocken und Luftproben und langweilige Algen in Spiritus. Solcher Klimbim kann höchstens ein paar verschrobene Stubengelehrte in Verzückung setzen und sie veranlassen, eine neue Theorie auszubrüten. Die Menschheit im Allgemeinen aber — und vor allem der finanzkräftige Teil ihrer Mitglieder - erwartet mehr von uns. Sie will sehen, dass sich das MilliardenProjekt einer Marsexpedition auch lohnt, dass es kostbare Bodenschätze auf dem Planeten gibt, die abbauwürdig sind und...“ „Ich kenne Ihre Ansicht“, winkte Edgar ungeduldig ab. „Natürlich ist es Ihr Recht, sich dafür einzusetzen, und niemand wird es Ihnen verübeln, wenn Sie sich hier auf Mars ein wenig umsehen. Schließlich tun unsere Wissenschaftler das auch. Unverzeihlich ist nur, dass Sie leichtfertig das Leben aller aufs Spiel setzten, indem Sie Ihre Maschinenteile auf Kosten einiger Proviantkisten einschmuggelten. Sie, als alter Raumfahrer, hätten wissen müssen, welch katastrophale Folgen das haben konnte.“ Nur Thomas bemerkte den bösen Blick, den French dem wachsbleichen Kelly zuwarf. Die dunklen Augen des Kapitäns wichen Edgars Blick aus, als er jetzt mit unsicherer Stimme erwiderte: „Es ging eben alles so schnell, dass ich mich nicht um den Inhalt der vertauschten Kisten kümmern konnte. Hätten Sie mehr Verständnis für meine Auffassung gehabt, Kommodore, dann wäre diese ganze Geheimniskrämerei nicht nötig gewesen...“ „Aha — jetzt habe ich am Ende noch die Schuld? Machen Sie sich doch nicht lächerlich, French.“ „Was hat das Ganze nun praktisch zu bedeuten, Kommodore?“ erkundigte sich Dr. Dannenberg besorgt. „Es bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass unsere durch den Untergang der Luna bereits spürbar zusammengeschmolzenen Lebensmittelvorräte in Wirklichkeit noch geringer sind, als ich angenommen hatte. Die Tagesrationen müssen von heute ab um ein Drittel gekürzt
werden.“ „Das lässt sich vom ärztlichen Standpunkt aus nicht vertreten, Kommodore. Die Leute würden von Kräften kommen und wären dem rauen Marsklima nicht mehr gewachsen.“ „Ich kann es nicht ändern, Doktor. Bedanken Sie sich bei Mister French, der die Expedition durch sein leichtsinniges Verhalten nun schon zum zweiten Mal in Gefahr gebracht hat.“ „Kürzen Sie meine Ration getrost um zwei Drittel“, sagte French trotzig. „Das würden Sie nicht lange aushalten, mein Lieber. Übrigens — eine Frage noch: In wessen Auftrag handelten Sie eigentlich, als Sie den Bagger in die Ladung einschmuggelten?“ Doch Robert French zuckte nur die Achseln und ging wortlos hinaus. In den folgenden Monaten unternahmen die Forscher vom Hauptlager aus regelmäßig kleinere und größere Streifzüge, die sich vor allem nach Süden in das Märe Cimmerium und westwärts auf dem Äquator bis zur dunkelgefärbten Syrtis Maior erstreckten. Meist schlossen sich ihnen einige Angehörige des Schiffspersonals an, die des gleichförmigen Lagerdienstes überdrüssig waren. Auf einer dieser Fahrten hatte die Forschungsgruppe Dr. Fishers ein aufregendes Erlebnis. Sie waren mit acht Mann und zwei Wagen von Aeolis aus auf dem fünften südlichen Breitengrad nach dem Westrand der Landschaft Libya vorgestoßen und befanden sich seit dem Morgen auf dem Rückmarsch. Um die Mittagszeit lagerten sie auf einer flachen Hügelkuppe. Ringsum dehnte sich die rote Wüste. Am Osthorizont schob sich eine eintönige Dünenkette in das Blickfeld. Die Sonne stand strahlend am blauen Himmel und verbreitete eine angenehme Wärme. Dr. Fisher, der Leiter des kleinen Trupps, reckte wohlig die Glieder. „Ich finde, wir können mit den bisherigen Ergebnissen ganz zufrieden sein. Wir haben bereits solche Mengen an Forschungsmaterial gesammelt, dass wir daheim Jahre brauchen werden, um alles aus zuwerten. Die Wissenschaft wird Erkenntnisse gewinnen, von denen unsere Väter noch nicht zu träumen wagten.“ „Wenn es nur erst so weit wäre“, murmelte Pietro Boni und schaute mit sehnsüchtigem Blick zum östlichen Horizont, als erwartete er, am Himmel über den Dünen die heimatliche Erde zu entdecken.
„Heimweh, Pietro?“ lächelte Walt Wilson. „Na ja, so was soll vorkommen. Auch ich wünschte manchmal, wir wären erst wieder zu Hause, wahrscheinlich aber aus anderen Gründen.“ „Walt hat Angst, er könnte in der Zwischenzeit zu viel versäumen“, erklärte Thomas. „Allerdings. Im Grunde passiert doch auf Mars erschreckend wenig. Doch abgesehen von diesem Mangel lässt es sich schon aushalten. Ich fühle mich schon beinahe als Marsmensch.“ Pietro Boni seufzte. „Ich könnte nie auf diesem fremden Boden heimisch werden. Mars ist nun einmal nicht die Erde.“ „Zugegeben — aber deswegen brauchen Sie doch nicht fortgesetzt nach Osten zu starren, als wären Sie ein Mekkapilger. Was gibt's denn da so Spannendes zu sehen? Hoppla — bin ich denn betrunken? Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu! Was hat denn die Sonne am helllichten Mittag im Osten zu suchen? Um Himmels willen, sie stürzt auf uns herab!“
Erschrocken sprangen alle auf und sahen zum Osthimmel empor. Doch die Erscheinung, die dort strahlend, mit feurigem Schweif, durch die Atmosphäre schoss, war nicht die Sonne. Die Männer schlossen geblendet die Augen. Ein Donnern und Heulen war plötzlich in den Lüften. Dann durchzuckte ein furchtbarer Stoß den Boden. Hilflos purzelten sie durcheinander. Die Welle des Luftdrucks griff nach ihren Körpern und rollte sie durch den Staub. Thomas fühlte sich mitgerissen. Seine Augen füllten sich mit Sand. Sekundenlang versank alles um ihn herum. Als er sich endlich wieder gesammelt und die Augen ausgewischt hatte, sah die noch vor kurzem so tote Landschaft verändert aus. Staubschwaden zogen über den Boden. Von den Hügeln im Osten lief ein breiter, tiefer Spalt herüber, der sich langsam mit nachstürzendem Sand füllte. Am Horizont stieg eine mächtige, graugelbe Wolke wie ein riesenhafter Rauchpilz in den Himmel. „Eine Wasserstoffbombenexplosion!“ rief Pietro Boni und bekreuzigte sich. Walt Wilson hantierte bereits an seiner Kamera. „Das ist 'ne Sensation, Gentlemen! Die Marsbewohner bepflastern uns mit Atombomben.“ „Dann gibt es sie also doch, die Marsmenschen?“ stotterte einer der Fahrer ängstlich. „Unsinn!“ schnauzte Dr. Fisher ihn an. „Nun werden Sie bloß nicht hysterisch. Das war ein Meteor, eine Feuerkugel, eine besonders große Sternschnuppe. Sind Sie nicht auch der Ansicht, Herr Berger?“ „Für ein Meteor kam mir die Erscheinung etwas zu gewaltig vor“, meinte Thomas nachdenklich. „Was wir gesehen haben, war vermutlich der Absturz eines kleinen Planeten, dem der Mars auf seiner Bahn in die Quere gekommen ist. Sollte Clyde Tombaugh am Ende doch recht haben?“ „Tombaugh? Kenne ich nicht. Wahrscheinlich ein Freund von Ihnen?“ „Nein. Clyde Tombaugh ist ein amerikanischer Astronom, der im Jahre 1930 den Planeten Pluto entdeckt hat. Nach seiner Ansicht sind Kanäle Sprünge im Marsboden, die beim Absturz kleiner Planeten auf Mars entstanden sind. Auf ihrem Boden soll sich möglicherweise später Pflanzenwuchs entwickelt haben.“ „Anscheinend ein kluger Kopf, Ihr Tombaugh. Fast sieht es so aus, als
hätte er recht.“ „Nur gut, dass uns das Ding nicht auf den Kopf gefallen ist“, sagte Walt Wilson, und es gab keinen, der ihm widersprochen hätte. Der Absturz des kleinen Planeten, den die Gruppe Fisher in Libya beobachtet hatte, sollte noch für längere Zeit von sich reden machen. Einige Tage nach dem kosmischen Ereignis meldete die Polstation unerwartet Schneefälle. Eine Forschergruppe unter Thomas Berger erlebte in der Landschaft Hesperia einen kurzen, aber wolkenbruchartigen Regen. Am Himmel des Mars zogen Tag und Nacht Wolken herauf, die sich allerdings über Aeolis niemals entluden. „Kannst du dir das erklären?“ fragte Edgar seinen Freund, als sie eines Abends in der Umgebung des Lagers ihren gewohnten Bummel machten. „Wie kommt es nur, dass es auf diesem trockenen Planeten plötzlich allerorts regnet?“ „Es gibt nur eine Erklärung dafür, Edgar. Beim Einschlag des Planetoiden sind gewaltige Staubmassen in die Atmosphäre empor geschleudert worden. Sie müssen dabei in eine feuchtigkeitsgesättigte Luftschicht eingedrungen sein, von der wir bisher nichts wussten, und dort die Niederschläge ausgelöst haben.“ „Hm — meinst du? Nun, uns kann es nur recht sein, wenn wir etwas mehr Wasser bekommen. Unsere Pumpe liefert sowieso kaum das Nötigste. Schau, da kommt Dr. Dannenberg. Er scheint ja mächtig aufgeregt zu sein.“ Der Arzt war von einem Kettenfahrzeug gesprungen, das sich von Nordosten dem Lager genähert hatte, und kam nun heftig winkend auf die Freunde zugeeilt. In der Rechten hielt er einen verschlossenen Glaszylinder, in dem eine trübe Flüssigkeit tanzte. Es schien sich um etwas besonders Wichtiges zu handeln. „Hallo, Doktor! Was bringen Sie uns da Schönes?“ Der Arzt blieb stehen. „Regenwasser!“ keuchte er atemlos. „Na, das ist doch seit einigen Tagen keine Seltenheit mehr. Zeigen Sie mal her. Sehr appetitlich sieht es übrigens nicht aus.“ „Vorsicht, Kommodore! Machen Sie den Deckel nicht auf. Das Zeug wimmelt von Bakterien.“
„Pfui Teufel! Gibt es so etwas auch auf Mars? Wie kommen sie denn da hinein?“ „Also, das war so“, begann Dr. Dannenberg umständlich seinen Bericht. „Wir waren heute früh nach dem Skorpion-Sumpf aufgebrochen, um einige Exemplare einer besonders seltenen Flechtenart zu suchen. Auf halbem Wege gerieten wir in einen heftigen Platzregen. Im Augenblick hatte sich der Boden in einen zähen Schlamm verwandelt, aus dem in erstaunlich kurzer Zeit allerlei seltsame Gewächse emporwuchsen. Ich machte mich mit meinen Leuten daran, möglichst viele verschiedene dieser Pflanzen auszugraben und einzusammeln. Plötzlich stürzte Wilson, der Kameramann, wie vom Blitz gefällt in den Schlamm und wand sich in krampfartigen Zuckungen. Ich untersuchte ihn, so gut es unter diesen Verhältnissen ging. Dabei kam mir ein ganz bestimmter Verdacht, der sich auch prompt bestätigte, als ich Wilson wieder so weit hatte, dass er halbwegs vernehmungsfähig war. Der Mann hatte in gedankenlosem Leichtsinn von dem Sumpfwasser getrunken. Eine rasche mikroskopische Untersuchung ergab dann auch, dass das Wasser völlig von Keimen einer unbekannten Art verseucht war. Ich jagte die beiden gesunden Männer schleunigst auf den Wagen, lud Wilson auf und ließ alles entfernen, was mit dem Wasser in Berührung gekommen war. Nachdem wir die freie Wüste wieder erreicht hatten, haben wir den Wagen und unsere Kleider und Atemgeräte mit den Desinfektionsmitteln behandelt, die ich stets bei meinem Gepäck habe. Das war alles, was wir im Augenblick tun konnten.“ „Sie haben sehr umsichtig gehandelt, Doktor. Ich danke Ihnen. Was wollen Sie nun tun?“ „Vor allem müssen wir strenge Quarantäne über den Kranken verhängen. Wenn die Krankheitserreger im Lager verbreitet werden, haben wir im Nu die prächtigste Epidemie, die umso verhängnisvoller wäre, als unsere irdischen Arzneimittel den Marsbakterien gegenüber möglicherweise versagen würden. Hinzu kommt noch, dass bei dem unterernährten Zustand, in dem wir alle uns befinden, die Folgen nicht abzusehen wären.“ „Gut, Doktor, veranlassen Sie alles Erforderliche. Unterkunftshaus sieben soll sofort als Isolierstation eingerichtet werden. Das ist ohne
weiteres möglich, weil die Bewohner zurzeit in der Polstation weilen. Erstatten Sie mir über das Befinden des Patienten regelmäßig Bericht und achten Sie gut darauf, dass sonst niemand mit ihm in Berührung kommt.“ Drei Tage später erschien Dr. Dannenberg gegen Abend am Fenster der kleinen Behausung, die Thomas und Otto als Unterkunft diente, und winkte die beiden heraus. „Nach menschlichem Ermessen ist er über'n Berg. Sie dürfen ihn durchs Fenster sehen und auch über Sprechfunk mit ihm reden.“ Thomas und Otto ließen sich das nicht zweimal sagen. Wenige Minuten später drängten sie sich bereits vor dem Rundfenster der Unterkunftshütte sieben. Mit eingefallenen Wangen und gelblicher Haut lag Walt Wilson auf dem Bett. Als er die Freunde erkannte, grinste er vergnügt. „Hallo — das ist aber nett von euch.“ Schwach klang die Stimme des Patienten aus dem Lautsprecher, der neben dem Fenster an der Außenwand angebracht war. „Fast hätte ich geglaubt, ihr hättet mich schon abgeschrieben.“ „Rede nicht solchen Stuss!“ rief Thomas ins Mikrophon. „Prächtig, dass du das Schlimmste nun überstanden hast. Ich stelle mir solch eine Marsseuche nicht gerade als das höchste der Gefühle vor. Pfui Teufelnein!“ „Ich möchte sie meinem ärgsten Feind nicht wünschen. Dass ich noch nicht zu meinen Ahnen versammelt bin, verdanke ich nur unserem Doktor. Rührend hat er für mich gesorgt — wie ein Wärter für seinen kranken Affen.“ „Na, der Humor ist wenigstens wieder da. Das ist das beste Zeichen. Können wir irgendetwas für dich tun, Walt?“ „Klar — lasst mich aus diesem Käfig heraus!“ „Untersteht euch!“ Drohend hob der Arzt den Zeigefinger. „Der Patient ist noch hochgradig positiv. Er würde das ganze Lager infizieren.“ „Mach keine Dummheiten, Walt“, ermahnte Thomas den Freund. „Sei vernünftig und versprich uns, deinen Käfig nicht zu verlassen, bis es dir dein Wärter ausdrücklich erlaubt.“
Walt machte ein enttäuschtes Gesicht. Doch dann hellten sich seine Züge auf, und er lächelte verschmitzt. „Gut, ihr Angsthasen, ihr sollt euren Willen haben. Ich schwöre euch beim Barte des Propheten ...“ „Diese Eidesformel hat auf Mars keine Gültigkeit“, stellte Otto Vogelsang fest. „Meinetwegen. Dann schwöre ich also bei deinem Barte, Otto Vogelsang...“ „Du hast Fieber, Walt, du phantasierst ja.“ „Unsinn, ich bin seit vierundzwanzig Stunden völlig fieberfrei. Also, ich verspreche euch hiermit feierlich, dass mein Fuß die Schwelle dieses gastlichen Raumes nicht eher überschreiten wird, bis ich die ausdrückliche Erlaubnis vom Doktor erhalte.“ „So ist es recht, Walt. Nun weiter gute Besserung und auf Wiedersehen!“ „Auf Wiedersehen, Jungens. Bis morgen!“ Das ewige Einerlei des Lagerlebens wirkte auf die Dauer auch auf die stärksten Naturen entmutigend und niederziehend. Die Männer wurden unzufrieden und reizbar — ähnlich, wie sie es schon während der langen Überfahrt im Weltraum geworden waren. Unlustig gingen sie ihren täglichen Pflichten nach. Schon aus den geringfügigsten Anlässen kam es zu heftigen Reibereien, die nicht selten in Handgreiflichkeiten ausarteten. Mehr als einmal am Tage war Edgar gezwungen, einzugreifen. Hier galt es, Streitigkeiten zu schlichten, dort musste er einem Kameraden Mut zusprechen, der vor lauter Heimweh das heulende Elend kriegte. Dabei spürte er selbst, wie ihn die seelischen Kräfte immer mehr verließen, wie jeder unvorhergesehene Zwischenfall an seinen Nerven zerrte. Und doch musste er sich immer wieder gewaltsam zusammen reißen und sich bemühen, nach außen hin das große Vorbild an Ruhe und Pflichterfüllung zu bleiben. Dr. Dannenberg, mit dem er über seine Sorgen sprach, zuckte nur die Achseln. „Es ist eine Mars-Psychose, deren Ausbruch ich längst befürchtet hatte. Wir können da nicht viel machen. Versuchen Sie, die Leute so viel wie möglich abzulenken. Lassen Sie sie nicht untätig herumhocken, schicken
Sie sie lieber aus, um neue Gegenden auszukundschaften. Mars ist groß, und wir kennen seine Oberfläche erst zum geringsten Teil.“ „Leicht gesagt, Doktor, aber unsere Lebensmittel sind streng rationiert, und je mehr Bewegung die Männer haben, desto größer wird ihr Hunger. Außerdem sind wir verdammt knapp mit dem Sprit für die Fahrzeuge.“ „Dann sorgen Sie für Abwechslung und Ablenkung im Lager.“ „Sie denken wohl an Ringelreihen und kindliche Spiele im Freien?“ „Gesellschaftsspiele wären gar nicht zu verachten, Kommodore, aber es gibt auch noch andere Möglichkeiten: Vortragsabende zum Beispiel oder Filmvorführungen.“ „Wir haben nur einen einzigen Film hier, nämlich den Streifen, den Walt Wilson unterwegs gedreht hat.“ „Na also! Lassen Sie ihn nur vorführen. Ich bin überzeugt, dass er jeden von uns begeistern wird.“ So kam es, dass bereits für den folgenden Abend eine Filmveranstaltung angesetzt wurde. Edgar hatte eine Lagerbaracke, deren Vorräte aufgebraucht waren, behelfsmäßig als Zuschauerraum herrichten lassen. Die Lagerinsassen warteten gespannt auf den Beginn des Films, der heute zum ersten Mal gezeigt werden sollte, und der von der Überfahrt zum Mars handelte. Als die Lampen schon gelöscht waren, bemerkte Thomas, wie sich noch ein verspäteter Zuschauer zur Tür hereintastete. Nach kurzem Umherstolpern fand auch er noch einen Platz in dem völlig überfüllten Raum. Endlich konnte es losgehen. Auf der Leinwand rollten die vorzüglich aufgenommenen Bilder ab. Thomas und alle anderen erlebten noch einmal die Abfahrt von der Außenstation, das Leben an Bord der Terra und schließlich den folgenschweren Unfall mit, dem das Schwesterschiff zum Opfer fiel. Mitten in den aufregenden Szenen riß der Streifen entzwei. Maschinist Harras, der den Vorführapparat bediente, mühte sich redlich ab, den Schaden zu beheben. Das Publikum fing an, sich lustig zu machen, Zwischenrufe wurden laut: „Ende des ersten Aktes — Fortsetzung folgt!“ — „Billet No. 1 ist abgelaufen.“ — „Wie in der guten, alten Zeit, als das Kino noch Kintopp war“, sagte Otto Vogelsang vergnügt zu Thomas, seinem Nachbarn.
Plötzlich ging das Licht an. Und fast im gleichen Augenblick gab es ein mächtiges Hallo: Die Männer hatten Walt Wilson in ihrer Mitte entdeckt und begrüßten ihn mit großer Herzlichkeit. „Mensch, Walt, den Film hast du großartig gemacht“, rief einer von den Maschinisten begeistert. „Dafür verdienst du den Oscar.“ Thomas und Otto sahen sich verblüfft an. Wie kam Walt hierher, der doch streng isoliert gehalten werden sollte? Da bahnte sich auch schon Dr. Dannenberg einen Weg durch die Menge. „Sind Sie wahnsinnig geworden, Wilson? Sie wissen doch ganz genau, dass ich Ihnen verboten hatte, den Isolierraum zu verlassen.“ Auch Thomas hatte sich herangedrängt. „Hast du vergessen, Walt, was du uns versprochen hattest?“ Der Reporter grinste. „Ich versprach euch, nicht ohne Erlaubnis die Schwelle des Isolierraums zu überschreiten. Dieses Versprechen habe ich wörtlich gehalten. Ich bin aus dem Fenster geklettert. Ja, könnt ihr denn nicht verstehen, dass ich dabei sein musste, wenn mein großer Film uraufgeführt wurde?“ „Schluss jetzt!“ schnauzte der Arzt wütend. „Sie kommen sofort wieder mit. Ein unverantwortlicher Leichtsinn von Ihnen, Wilson. Wissen Sie denn wirklich nicht, dass Sie alle Ihre Kameraden in Gefahr bringen, von Ihnen angesteckt zu werden? Schon die Atemluft kann die Bakterien übertragen.“ — In der Nacht wachte Thoraas mit rasenden Kopfschmerzen auf. Wie aus weiter Ferne hörte er, wie sich Otto Vogelsang in dem Feldbett über ihm stöhnend von einer Seite auf die andere warf. „Was fehlt Ihnen, Otto?“ stammelte er. Seine Stimme klang fremd und verquollen. Als er mühsam aufstand, um nach Otto zu sehen, packte ihn ein furchtbarer Schwindel. Er taumelte und stürzte zu Boden. Ein Feuerwerk bunter Ringe tanzte vor seinen Augen... An die nun folgenden Tage erinnerte sich Thomas später nur sehr undeutlich. Er hatte immer wieder ein grausiges Angstgefühl gehabt, so, als stürzte er rettungslos in das grenzenlose Nichts des Weltraums. Fieberschauer hatten seinen Körper geschüttelt, bohrender Kopfschmerz hatte ihn gequält. Der Rest war dumpfe Bewusstlosigkeit. Doch seine im Grunde kerngesunde Natur konnte der Krankheit
widerstehen. Es kam der Tag, da er zum ersten Mal wieder bei vollem Bewußtsein die Augen aufschlug und die Dinge um sich herum erkannte. Von nun an ging seine Genesung mit Riesenschritten voran. Von Dr. Dannenberg und Otto Vogelsang, der schon nicht mehr bettlägerig war, erfuhr er, was in der Zwischenzeit vorgefallen war. Die Seuche war in der Nacht, nachdem Walt Wilson verbotenerweise die Isolierstation verlassen hatte, bei fast sämtlichen Lagerbewohnern ausgebrochen. Auch Edgar Sommerfeld war erkrankt, doch hatte er die Nachwirkungen schneller überwunden. Nur Dr. Dannenberg und zwei weitere Männer waren verschont geblieben. Sie hatten alle Hände voll zu tun gehabt, um die zahlreichen Schwerkranken zu versorgen, von denen die Mehrzahl auch jetzt noch daniederlag. Wie durch ein Wunder war die Epidemie bisher ohne einen Todesfall verlaufen. Das ganze Hauptlager war über Nacht zu einem einzigen Krankenhaus geworden. Durch Funkspruch hatte Dannenberg die vier abgelösten Männer der Polstation, die in den nächsten Tagen zurückerwartet wurden, nach dem Nordpol zurückbeordert. Insgesamt zehn Expeditionsmitglieder blieben auf diese Art außerhalb der Gefahrenzone. „Und wie geht es Walt Wilson?“ wollte Thomas wissen. Dr. Dannenbergs Miene verdüsterte sich. „Er ist längst wieder auf den Beinen und hat auch wacker bei der Pflege der Kranken geholfen. Als er begriff, in was für eine Gefahr er uns durch seinen Leichtsinn gebracht hatte, war er völlig verzweifelt. Sein freches Mundwerk ist jedenfalls verstummt. Natürlich entgeht es ihm nicht, dass die anderen ihm ausweichen.“ Thomas fühlte Mitleid mit Walt aufkommen, obwohl es für seine Handlungsweise im Grunde keine Entschuldigung gab. „Nun laufen schon zwei Geächtete zwischen uns herum“, sagte er bitter, „French und Wilson“. Der Arzt erhob sich. Erst jetzt bemerkte Thomas, wie müde und vergrämt er aussah. „Das haben sich die beiden selbst zuzuschreiben. Wenn sie keine Disziplin wahren können, hätten sie eben zu Hause bleiben müssen. Solch eine Marsreise ist schließlich keine Spielerei.“ An einem warmen, sonnigen Tage durfte Thomas zum ersten Mal wieder seine Unterkunft verlassen. Er fühlte sich noch reichlich unsicher
und tastete sich vorsichtig von Hütte zu Hütte vorwärts. Das Lager machte einen ausgestorbenen Eindruck. Kein Mensch war außerhalb der Unterkünfte zu sehen. Nur aus der Richtung des Proviantmagazins kamen gedämpfte Laute. Thomas hatte das Bedürfnis, vor allem seinen alten Freund Edgar Sommerfeld aufzusuchen. Zwar hatte Edgar in den Krankheitstagen regelmäßig nach ihm gesehen, und sie hatten auch jedes Mal über Funk ein paar Worte wechseln können, aber zu einer gemütlichen Plauderei hatte es niemals gelangt. Beim Betreten der Unterkunft des Kommodores blieb Thomas betroffen in der Tür stehen. Edgar saß zusammengekauert auf dem Bettrand und hatte das Gesicht in den Händen vergraben. Ein krampfhaftes Schluchzen schüttelte ihn. „Ist er krank?“ fragte Thomas leise den Arzt, der mit ernster Miene gegen den Tisch gelehnt stand und Edgar schweigend betrachtete. „Völliger Nervenzusammenbruch“, flüsterte Dr. Dannenberg. „Ich habe es schon seit langem kommen sehen. Er hat sich zu viel zugemutet, und nun hat die Krankheit obendrein seine Widerstandskraft geschwächt. Als ihm vorhin gemeldet wurde, dass unsere Lebensmittelvorräte beraubt worden wären — Fred Kelly wurde auf frischer Tat ertappt —, bekam er einen rasenden Wutanfall. Kapitän Oldring und Schelling, die dabei waren, fürchteten, er würde Kelly erwürgen. Nur mit Mühe konnten sie ihm dieses jämmerliche Bündel Mensch im letzten Moment entreißen. Dann riefen sie mich zu Hilfe. Als der Kommodore seine Wut abreagiert hatte, klappte er völlig zusammen.“ Thomas beugte sich hinab und legte den Arm um die Schultern des Freundes. „Edgar, alter Junge, so beruhige dich doch. Bisher ist doch alles leidlich gut gegangen. Bei allem, was uns zugestoßen ist, sind wir letzten Endes wie die Katzen auf die Beine gefallen. Ein paar Monate noch, dann schlägt die Stunde der Heimkehr. Es wäre doch gelacht, wenn wir diesen kümmerlichen Rest nicht auch noch schafften.“ Edgar hob langsam das Gesicht, das aussah, als wäre er um Jahre gealtert. „Eine feine Gesellschaft sind wir, das muss man schon sagen. Die meisten liegen krank auf der Nase und lassen sich von den paar Gesunden bemuttern. Alle sind halb verrückt vor Heimweh. Einer klaut,
andere wieder wissen nicht, was gehorchen heißt. Und der Chef des ganzen Vereins lässt sich zu Gewalttätigkeiten hinreißen und kriegt nachher das heulende Elend. Widerlich! Was würde die Jugend der Erde sagen, für die wir die großen, viel bewunderten Helden sind, wenn sie uns jetzt sähe?“ „Seien Sie nicht ungerecht, Kommodore“, sagte Dr. Dannenberg ruhig. „Wir haben auf dieser Marsreise schon allerlei ertragen müssen, das wohl niemand vorher für möglich gehalten hätte. Auch Raumfahrer sind schließlich nur Menschen.“
KAMERADSCHAFT IM WELTALL Sobald die Epidemie im Hauptlager erloschen war, setzten die Wissenschaftler ihre Forschungsfahrten in die weitere Umgebung von Aeolis fort. Der Tag der Abreise rückte näher, und da sie in den vergangenen Wochen viel Zeit verloren hatten, galt es jetzt, jeden noch verbleibenden Tag gut zu nutzen. Allerdings wurden sie durch das Schwinden der Treibstoffvorräte bereits stark in ihrer Bewegungsfreiheit gehemmt. Es war Thomas Aufgabe, Vermessungsarbeiten durchzuführen und eine möglichst genaue Karte aller von Aeolis aus erreichbaren Marslandschaften zu zeichnen. Indessen führte Dr. Fisher seine gesteinskundlichen Untersuchungen zu Ende, während Dr. Dannenberg die sich bereits herbstlich färbenden Vegetationsgebiete im Norden durchstreifte, um immer wieder neue Arten unbekannter Moose und Flechten aufzustöbern. Von der Polstation aus erledigten Professor Benson und Dr. Sawyer bestimmte wetter- und himmelskundliche Aufgaben. Obwohl es in dieser Gegend bereits recht ungemütlich zu werden begann, waren die beiden Gelehrten entschlossen, bis zum letzten Augenblick auf ihrem Posten auszuharren. Im Hauptlager hatten Thomas und Otto ihren alten Gefährten Walt Wilson wieder in ihre gemeinsame Unterkunft aufgenommen. Über das Vorgefallene wurde kein Wort verloren, aber die unbefangene Stimmung von früher wollte nicht mehr aufkommen. Walt war schweigsam geworden. Man merkte ihm an, dass er unter dem Bewußtsein seiner Schuld litt. Was Thomas gar nicht gefiel, war die Beobachtung, dass Walt sich in letzter Zeit eng an Robert French angeschlossen hatte. Jedes Mal, wenn der düstere Raumschiffkapitän von einem seiner langen Streifzüge heimkehrte, sah man die beiden in vertraulichem Gespräch zusammen stehen. Über das, was French ihm mitzuteilen hatte, schwieg Walt Wilson sich aus, und die anderen vermieden es, ihn danach zu fragen. Als French eines Abends nach zehntägiger Abwesenheit ins Lager zurückkehrte, stand ein triumphierender Ausdruck in seinem erschöpften Gesicht. Er taumelte hinkend auf seine Hütte zu, blieb jedoch
plötzlich stehen und krümmte sich in furchtbaren Schmerzen. Wie ein Klotz fiel er in den Sand. Thomas und Otto, die gerade ihre Verpflegungsrationen für den Abend holen wollten, waren als erste zur Stelle. Dr. Dannenberg erschien in der Tür seiner Unterkunft und bedeutete den beiden, den Ohnmächtigen herein zutragen. Der Arzt schüttelte den Kopf, als er French untersucht hatte. „Der Mann ist vollkommen am Ende. Seine anstrengenden Wüstenwanderungen sind ein heller Wahnsinn. Möchte wissen, was er überhaupt damit bezweckt. French hat die Marsseuche besonders schlimm gehabt. Er hätte es dringend nötig, sich zu schonen.“ „Er scheint sich das linke Bein verletzt zu haben“, sagte Thomas. „Es sieht so aus, als hätte er starke Schmerzen.“ Unterstützt von seinen beiden Helfern, legte der Arzt das Bein des Bewusstlosen frei. Als er den behelfsmäßigen Verband entfernt hatte, prallte er erschrocken zurück. „Alle guten Geister! Und damit läuft der Mann nun schon — wer weiß, wie lange? — herum und sagt keinen Ton.“ In diesem Moment schlug French die Augen auf und stöhnte tief. Seine Lippen bewegten sich: „Wasser...“ Dr. Dannenberg reichte ihm einen Becher, den Robert French gierig leerte. Dann sank er aufatmend zurück. „Wo haben Sie sich nur diese böse Geschichte geholt?“ fragte der Arzt ernst. „In Elysium, Doktor, damals, als die Sache mit dem Vulkan passierte. Irgendetwas Glühendes traf mich am Fuß, als wir vor dem Lavastrom fliehen mussten. Anfangs war es nur eine kleine Brandwunde, dann wurde es immer schlimmer und ergriff schließlich das ganze Bein.“ „Warum sind Sie nicht früher damit zu mir gekommen?“ „Ich hatte Angst, dass Sie mich ins Bett stecken würden, und das durfte nicht sein, solange ich meine Aufgabe nicht erfüllt hatte. Aber jetzt — ist es bald so weit.“ Wieder huschte das triumphierende Lächeln über Frenchs schmerzverzerrte Züge. Die drei Männer wechselten fragende Blicke. Thomas und Otto zuckten die Achseln. „Ich weiß zwar nicht, was Sie damit meinen“, wandte sich der Arzt
wieder an French, „aber das eine sage ich Ihnen: Wenn Sie Wert darauf legen, dass Ihnen das Bein erhalten bleibt — ja, wenn Sie nicht überhaupt Ihr Leben aufs Spiel setzen wollen, dann hören Sie endlich mit dem törichten Herumrennen auf. Sie dürfen bis zu unserer Abreise auf keinen Fall das Bett verlassen.“ Robert French lächelte. Als Dr. Dannenberg sein Besteck ausgebreitet hatte, um die Operation vorzunehmen, war er schon wieder in eine tiefe Ohnmacht gesunken. Der Vorabend der Abreise vom Mars war angebrochen. Am Nachmittag hatte die Landungsrakete 3 die Mitglieder der Gruppe Benson von der Polstation abgeholt. Sämtliche fünfunddreißig Expeditionsteilnehmer waren nun wieder vollzählig im Hauptlager versammelt. Rein äußerlich deutete kaum etwas auf das bevorstehende, sehnlichst erwartete Ereignis hin. Die Gebäude, die ausnahmslos auf Mars zurückbleiben sollten, leuchteten im Schein der sinkenden Sonne. In der Garage standen vier der mitgebrachten Kettenfahrzeuge säuberlich ausgerichtet. Auch sie wurden nun nicht mehr gebraucht. Leere Proviantkisten und Kanister türmten sich am Rand des Lagers und würden nach und nach eine Beute des wandernden Wüstensandes werden. Die drei Landungsraketen — sorgfältig betankt und mit Forschungsmaterial und dem wenigen persönlichen Eigentum der Expeditionsteilnehmer befrachtet — standen startbereit. Der Kommodore hatte alle Männer für den Abend zu einem letzten gemeinsamen Beisammensein in jene Lagerbaracke eingeladen, in der damals die so folgenschwere Filmvorführung stattgefunden hatte. Anfangs wollte keine richtige Stimmung aufkommen. Es war seltsam: Monat für Monat hatten die meisten der Männer, krank vor Heimweh, nur diesem einen Moment entgegengefiebert; doch jetzt, da er unmittelbar bevorstand, war manch einem unter ihnen doch ein wenig wehmütig ums Herz. Dr. Dannenberg, mit dem Thomas darüber sprach, wusste eine Erklärung dafür: „Der Mars hat in der langen Zeit, die wir auf ihm weilten, von einem Teil unseres Wesens Besitz ergriffen. Ohne dass es uns richtig zum Bewußtsein kam, haben wir an diesen fremdartigen
Stern ein Stück unseres Herzens verloren — an seine endlosen, roten Wüsten, an die Nächte unter seinem klaren Himmel, an die große Ruhe und das erhabene Schweigen in seiner Natur, das auf unserem Heimatplaneten so selten geworden ist.“ „Vielleicht ist es noch etwas anderes, das uns der rote Planet geschenkt hat“, entgegnete Thomas nachdenklich. „Wir Erdenmenschen — ganz auf uns allein gestellt — durften das Erlebnis der Kameradschaft erfahren, der Kameradschaft im Weltall.“ Otto Vogelsangs raue Stimme unterbrach die besinnliche Stimmung. „Heda, Wirtschaft! Das ist ja ein trauriger Ausschank. Gibt's denn hier nichts Anständiges zu trinken?“ „Recht hat er, der gute, alte Otto“, fielen zwanzig andere Stimmen zugleich ein. Edgar Sommerfeld gab Kapitän Oldring einen Wink. Oldring verschwand im Hintergrund und tauchte gleich danach wieder auf, ein Fässchen vor sich her rollend. „Bester Malaga, meine Herren“, verkündete er lächelnd. „Ein Geschenk unseres Kommodores, für besonders feierliche Gelegenheiten bestimmt.“ Donnernder Beifall tobte durch den Raum. Im Nu waren die Gläser verteilt. Begeistert ließen die Männer den Spender hochleben, der ihnen strahlend dankte. Rasch steigerte sich die Stimmung bis zur Ausgelassenheit. Von rauen Männerkehlen intoniert, klangen frohe Trinklieder auf. Niemand fiel es in dem Trubel auf, dass hier und da einer der Festteilnehmer sich erhob und unauffällig die Baracke verließ... Es war kurz vor Mitternacht, als Otto Vogelsang den unwiderstehlichen Drang verspürte, eine Rede zu halten. Mühsam erklomm er einen Tisch, der unter seinem Gewicht fast zusammengebrochen wäre. Sekundenlang kämpfte er um sein Gleichgewicht, bis er endlich, voll des süßen Weins, begann: „Kameraden, in diesem... diesem historischen Augenblick... wollen wir... wollen wir nicht vergessen, unserem geliebten... und hochverehrten Kommodore... unseren Dank auszusprechen. Er hat uns durch das Weltall zum... zum Mars geführt... und wird uns auch heil und gesund... zu unserer alten Erde... zurückbringen. Wir sind schon so gut wie... wie zu Hause. Alle Not hat ein Ende. Was kann... in diesem historischen Augenblick... überhaupt noch dazwischen-
kommen? Nichts... sage ich euch... überhaupt gar nichts... hoppla... was ist denn das?“ Vor den Fenstern flammte es auf. Ein Feuerstrahl schoss über den Lagerplatz. Das Brausen eines Raketentriebwerks dröhnte von draußen herein und ließ Boden und Wände erzittern... Otto Vogelsang, der Festredner, schwankte und fiel vom Tisch. Mit dumpfem Knall landete er auf seiner gewaltigen Sitzfläche. Niemand kümmerte sich um ihn, alle drängten sich an den Fenstern und schauten erschrocken in die Nacht hinaus — dem Landungsboot nach, das mit feurigem Schweif in südlicher Richtung am Himmel dahinraste. „Da haut einer ab!“ schrie eine Stimme in die plötzlich entstandene Stille hinein. „Raus!“ brüllte der Kommodore. Schreiend drängten alle zur Tür und rückten sich im Hinausstürzen gewohnheitsgemäß die Atemgeräte zurecht. Bald wimmelte der Platz vor dem Hangar von ziellos durcheinander hastenden Menschen. „Wir müssen sofort hinterher“, rief Kapitän Camino. „Komm, Hamilton, nimm du die Rak 1. Ich steige in die Rak 2, und dann Vollgas!“ „Seid ihr verrückt geworden?“ donnerte Edgar Sommerfeld. „Gar nichts werdet ihr tun, solange ich euch nicht den Befehl dazu gebe, verstanden? Jede unüberlegte Handlung kann uns Kopf und Kragen kosten. Antreten zum Appell!“ Ernüchtert folgten die Männer diesem Befehl. Die Verlesung der Namen ergab, dass zwei fehlten: French und Kelly. „Sie haben die Rak 3 genommen“, stellte Chefingenieur Schelling fest. „Wahrscheinlich wollen sie vor uns am Deimos sein. Wozu, ist mir allerdings unklar.“ „Ich glaube kaum, dass sie zum Deimos geflogen sind“, brummte Kapitän Oldring. „Sie haben nämlich einen Teil der Ladung hinausgefeuert und stattdessen die Kisten mit diesem albernen Bagger mitgenommen. Jedenfalls kann ich sie nirgends entdecken.“ Edgar atmete tief. „Dann kann über ihre Absichten kaum noch ein Zweifel bestehen.“ Er wandte sich den wartenden Männern zu. „Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung. Der Termin unserer Abreise wird unbedingt eingehalten. Legt euch jetzt schlafen; der morgige Tag wird anstrengend sein.“
Die Expeditionsteilnehmer zerstreuten sich, um ihre Unterkünfte aufzusuchen. Nur Thomas, Hamilton, Schelling und Dannenberg folgten Edgar in die Funkstation, wo Pietro Boni sich vergeblich abmühte, Verbindung mit der Rak 3 zu bekommen. „Lassen Sie nur, Boni, die haben gar keine Zeit zu antworten. Legen Sie sich aufs Ohr. Die Nacht ist nur noch kurz, und ich brauche Sie nicht mehr.“ Als der Funker gegangen war, zündete sich Edgar eine Zigarette an und blies den Rauch in mächtigen Wolken von sich. „Ekelhafte Situation, meine Herren!“ „Der Teufel hole diese Halunken!“ schimpfte Schelling. „Was hat uns dieser verrückte French doch schon alles eingebrockt. Ich wünschte, er bräche sich diesmal das Genick.“ „Wünschen Sie ihm das lieber nicht, Schelling. Erstens finde ich es nicht allzu freundlich, und zweitens können wir nicht auf das Landungsboot verzichten, mit dem die beiden unterwegs sind.“ „Das wäre wohl das Wenigste, Kommodore. Verteilen Sie Mannschaft und Fracht auf die beiden Raketen, die uns verblieben sind, und starten Sie zur angesetzten Stunde zum Deimos.“ Edgar maß den Chefingenieur mit ernstem Blick. „Sind Sie sich auch darüber klar, Schelling, dass French und Kelly in diesem Fall rettungslos verloren wären? Denken Sie doch darüber nach, Menschenskind! Jede der drei Landungsraketen hat gerade so viel Sprit getankt, dass sie es bis zum Deimos schaffen müsste. Nennenswerte Reserven sind nicht mehr vorhanden. Die Rak 3 wird bereits in diesem Zeitpunkt nicht mehr in der Lage sein, Mars zu verlassen.“ „Dann nützt sie uns ohnehin nichts mehr, Kommodore.“ Edgar musste ihm darin Recht geben, aber alles in ihm sträubte sich dagegen, French und Kelly einem Schicksal zu unterlassen, über dessen Hoffnungslosigkeit gar kein Zweifel bestehen konnte. Selbst wenn er den beiden alle irgendwie entbehrlichen Lebensmittel zurückließe, so würden sie doch elend zugrunde gegangen sein, ehe die nächste Raumschiffexpedition zum Mars starten könnte. Auf der anderen Seite stand das klare Gebot der Abreise. Er durfte nicht das Leben aller aufs Spiel setzen, um auf zwei Männer zu warten, die ihrerseits auch nicht die mindeste Rücksicht auf ihre Kameraden genommen hatten. Wenn er
den vorausberechneten Starttermin nicht einhielt, würde keiner von ihnen die Erde jemals wiedersehen. Edgar seufzte tief und versuchte, in den Gesichtern der Männer zu lesen, als suche er dort Hilfe in seiner Ratlosigkeit. Doch niemand konnte ihm helfen. Endlich räusperte sich Hamilton. „Vielleicht kriegen wir heraus, wohin die beiden geflogen sind. Es ist unmöglich, dass sie in der kurzen Zeit alle Startvorbereitungen allein getroffen haben. Andere müssen ihnen dabei geholfen haben. Wenn Sie nichts dagegen haben, Kommodore, horche ich mal ein bisschen herum.“ „Gut, Teddy, tun Sie das. Allerdings verspreche ich mir nicht viel davon. French wird ihnen nur so viel erzählt haben, wie sie wissen sollten.“ Edgar sollte leider Recht behalten. Schon zehn Minuten später erschien Hamilton mit drei Besatzungsmitgliedern der Luna, die reichlich verängstigt dreinschauten. „Wir wissen von gar nichts, Kommodore, ganz bestimmt: Wir wissen von gar nichts“, versicherte der Wortführer, ein kleiner, blasser Maschinist. Edgar und Hamilton nahmen die drei in ein scharfes Kreuzverhör. Viel war es nicht, was dabei herauskam. French hatte ihnen befohlen, die Fracht der Rak 3 umzuladen, und erklärt, er müsste im Auftrag des Kommodores zur Polstation fliegen, um wichtiges Forschungsmaterial abzuholen, das Professor Benson versehentlich dort zurückgelassen hätte. Alles sollte möglichst unauffällig geschehen, um den Gefährten nicht den fröhlichen Abend zu verderben. Missmutig schickte Edgar die Männer in ihre Unterkunft zurück. Als sie gegangen waren, lachte er kurz und trocken auf. „Nun wissen wir wenigstens, in welcher Richtung wir French und Kelly nicht zu suchen brauchen.“ Er blickte auf die Uhr. „In drei Stunden geht die Sonne auf. Legt euch jetzt schlafen, ihr werdet die Ruhe nötig haben.“ Blutrot stieg die Sonne am anderen Morgen über den Osthorizont empor. Ihre Strahlen sogen schnell die leichte Reifschicht auf, die sich über Nacht auf dem Boden gebildet hatte. Sie tauchten die Gebäude des Lagers in ein unwirkliches Licht und zeichneten die Schatten der Männer
scharf in den Sand, die vor dem Hangar angetreten waren und den Worten ihres Kommodores lauschten. „Die Expedition startet am vorgesehenen Tage pünktlich zur Heimreise nach der Erde. Ich übergebe für die Zeit meiner Abwesenheit dem Steuermann der Terra, Teddy Hamilton, das Kommando. Seinen Anordnungen ist unbedingt Folge zu leisten. Ich selbst will versuchen, unsere Kameraden French und Kelly bis zum Start zu finden und ins Lager zurückzubringen. Sollten wir bis zum Zeitpunkt des Starts nicht zurück sein, dürft ihr nicht länger auf uns warten. In diesem Falle gelten wir als tot. Ist das klar?“ Durch die Reihen der Wartenden lief ein unwilliges Murmeln.
Zurufe wurden laut: „Kommodore, das gibt es nicht! Lassen Sie die Kerle doch laufen oder schicken Sie andere auf die Suche! Sie dürfen uns nicht verlassen!“ Edgar winkte ab. „Es bleibt bei dem, was ich gesagt habe. Hamilton besitzt mein volles Vertrauen, er wird euch notfalls wohlbehalten zur Erde zurückbringen. Das andere ist meine Aufgabe. Ich kann es nicht verantworten, einen anderen dieser Gefahr auszusetzen. Wenn alles gut geht, bin ich mit den beiden Ausreißern zurück, bevor wir zum Deimos starten.“ „Ich dachte, der Start wäre bereits für heute Mittag angesetzt?“ fragte Schelling.
„So war es ursprünglich geplant. Wir hatten jedoch von Anfang an einen Spielraum von einigen Wochen bis zur endgültigen Abfahrt zur Erde vorgesehen. Diese Zeit wollten wir in der Deimosbahn damit verbringen, unsere Schiffe in aller Ruhe für die Rückreise vorzubereiten und noch eine Reihe von Forschungsarbeiten außerhalb der Marsatmosphäre auszuführen. Wir müssen nun auf diese Absicht verzichten und unseren Aufenthalt auf der Marsoberfläche so lange ausdehnen, wie es erforderlich ist und verantwortet werden kann. Und nun lebt wohl, Kameraden, und auf ein gesundes Wiedersehen!“ »Auf Wiedersehen, Kommodore! Glückliche Fahrt! Kehren Sie um Himmels willen rechtzeitig zurück!“ Edgar Sommerfeld war in seiner Unterkunft gerade damit beschäftigt, die letzten Vorbereitungen für die einsame Fahrt nach Süden zu treffen, als die Tür aufgerissen wurde und Thomas und Walt sich ungestüm hereindrängten. „Ich komme mit, Edgar, ich melde mich freiwillig“, rief Thomas atemlos. „Du wirst brav hier bleiben, Thomas. Diese Suchaktion ist eine verteufelt hoffnungslose Angelegenheit.“ „Kein Wort mehr, Edgar. Du hast genug schöne Reden geschwungen in diesen letzten Stunden, und nun langt es mir. Schließlich sind wir zwei doch alte Freunde, nicht wahr? Und es versteht sich von selbst, dass einer den anderen nicht im Stich lässt.“ Edgar streckte Thomas die Hand hin, und dieser schlug herzhaft ein. Jetzt meldete sich auch Walt Wilson zum Wort. „Ich komme auch mit, Kommodore.“ „Im Auftrage von „Wolfes Tönender Wochenschau“?“ „Spotten Sie nicht, Kommodore, ich meine es ehrlich und habe keine Hintergedanken. Ich glaube, ich habe einiges gutzumachen, und vielleicht kann ich mich Ihnen nützlich erweisen. Bob French hat mir in letzter Zeit verschiedene Andeutungen gemacht, die uns wahrscheinlich helfen werden, seine Fährte zu finden. Bitte, lassen Sie mich mitmachen.“ Edgar zögerte. Der Reporter hatte die ganze Expedition durch seinen Leichtsinn in Gefahr gebracht, und er traute ihm nicht mehr so recht. Doch als nun auch Thomas für ihn eintrat, gab er nach und willigte ein.
„Haben Sie überhaupt eine Ahnung, Wilson, in welcher Richtung wir zu suchen hätten?“ Walt Wilson deutete auf die Marskarte, die auf dem Tisch ausgebreitet lag. „Wenn mich nicht alles täuscht, sind French und Kelly nach Eridania geflogen.“
IN DER WÜSTE VERSCHOLLEN Zwei Wanderer schleppten sich mühsam durch die rote Wüste des Mars. Heiß brannten die Sonnenstrahlen vom Himmel herab. Ein böser Wind peitschte den Sand mit kurzen Stößen hoch. Auch er schien heiß zu sein und brachte den durstigen Männern keine Kühlung. „Hätten wir doch wenigstens einen Kettenwagen mitgenommen“, maulte der eine von ihnen. „Du hättest daran denken müssen, Bob.“ „Ich habe daran gedacht, Fred, aber wie hätten wir an ihn herankommen sollen? Der alte Oldring hält die Wagen unter Verschluss und wacht mit Argusaugen darüber. Außerdem — was hätte es uns genützt? Bei der prächtigen Bruchlandung, die du dir geleistet hast, wäre das Fahrzeug wahrscheinlich auch zum Teufel gegangen.“ „Ich habe mich genau an den Kurs gehalten, den du mir angabst“, begehrte Fred Kelly auf. French ließ ihn nicht ausreden. „Ich habe dir nicht befohlen, am Nordrand von Eridania vorzeitig herunterzugehen.“ „Die Sicht war schlecht, und die Karten dieser Gegend sind ungenau.“ „Das weiß ich ebenso gut wie du, aber es hat keinen Wert, die Schuld auf andere Dinge abzuschieben. Letzten Endes warst du es, der am Steuer saß, und die Panne, die dir unterlaufen ist, ist so ziemlich das Schlimmste, was uns überhaupt passieren konnte.“ Fred Kelly hatte eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, aber er unterdrückte sie. Mürrisch folgte er seinem Spießgesellen, der sich mit verbissener Entschlossenheit vorwärts schleppte, immer weiter nach Südosten. Jeder Schritt musste ihm Höllenqualen verursachen. Der Einbruch der Nacht überraschte die müden Wanderer mitten in der Wüste. Im Windschatten einer Düne bezogen sie ihr Lager und labten sich an den knappen Vorräten. Dann krochen sie — schlotternd vor der plötzlich hereingebrochenen Kälte — in ihre Schlaf sacke. Steifgefroren erhoben sie sich am anderen Morgen vom bereiften Boden, tranken ein paar Schlucke Wasser und verzehrten den Inhalt einer flachen Konservendose. Dann setzten sie ihren Weg nach Südosten fort. Der Tag verging wie der vorherige, und auch an den beiden nächsten ereignete sich nichts Besonderes — nur, dass die Vorräte geringer
wurden und das Trinkwasser in den Feldflaschen auf die Neige ging. Die Kräfte ließen mehr und mehr nach, und entsprechend gingen auch die täglichen Marschleistungen zurück. Gegen Mittag des fünften Tages brach Robert French, von Schmerzen und Schwäche übermannt, zusammen. Minutenlang kämpfte er gegen die Ohnmacht an. Als es wieder klar vor seinen Augen wurde, sah er Fred Kelly, der sich an seinem Gepäck zu schaffen machte. „Wasser, Fred — gib mir einen Schluck Wasser.“ „Es tut mir leid, Bob, aber wir haben keinen Tropfen Wasser mehr.“ Kelly vermied es, seinen Kumpan bei dieser Antwort anzusehen. Robert French richtete sich halb auf. „Das ist unmöglich, Fred. Ich weiß genau, dass meine Feldflasche heute früh noch einen Rest Wasser enthielt.“ „Du musst dich täuschen, Bob. Die Flasche ist leer. Bitte, überzeuge dich selbst. Fühlst du dich kräftig genug, um weiterzugehen?“ Ein schlimmer Verdacht wurde in Robert French wach, aber er schluckte nur trocken und schwieg. Noch eine halbe Stunde blieb er regungslos liegen, dann raffte er sich mit zusammengebissenen Zähnen auf und schleppte sich weiter durch den Wüstensand. Wenn nur das Bein nicht so niederträchtig geschmerzt hätte! Am Morgen, als er den Verband erneuern wollte, war er erschrocken zurückgefahren. Die leichte Besserung, die sich in den letzten Wochen unter Dr. Dannenbergs Pflege eingestellt hatte, war dahin. So schlimm hatte es noch nie ausgesehen. Robert French war sich darüber klar, dass das Bein brandig geworden war und schleunigst amputiert werden musste. Doch ärztliche Hilfe war weit fort, und außerdem galt es, vorher das Ziel zu erreichen, das er sich gesteckt hatte. Gelang es ihm, seine Aufgabe auf Mars zu erfüllen und seinen Auftraggebern daheim überzeugende Beweise über die Uranvorkommen auf dem Planeten zu liefern, dann brauchte er sich um seine Zukunft keine Sorgen mehr zu machen. Er würde so reichlich belohnt werden, dass er den Rest seines Daseins in Nichtstun und Wohlleben verbringen könnte. Auch der Verlust eines Beines wäre unter solchen Umständen wohl zu verschmerzen. Er hatte die Wüsten des Mars durchstreift, einsam, hungernd und dürstend und klappernd vor Kälte. Sein Zählrohr, das ihm die erhofften Lagerstätten der heißbegehrten
Uranerze verraten sollte, hatte nicht reagiert. Doch immer und immer wieder hatte French seine Enttäuschung niedergekämpft und hatte sich zu neuen Erkundungsvorstößen aufgerafft. So kam es, dass keiner den Planeten in der weiteren Umgebung von Aeolis so gut kennen gelernt hatte wie er. French besaß eine Marskarte, die an Genauigkeit alle anderen übertraf. Tausend interessante Einzelheiten waren in ihr eingetragen, die den Forschern bei ihren Arbeiten bisher entgangen waren. Und eines Tages sollte das Langerhoffte Wirklichkeit werden. French hatte den bislang größten Vorstoß unternommen, der ihn bis in mittlere südliche Breiten geführt hatte. Nur durch den Umstand, dass Oldring ihm in einer Anwandlung von Mitleid für die Unternehmung ein Kettenfahrzeug zur Verfügung gestellt hatte, war es ihm möglich gewesen, bis zum Westrand des Scamander vorzudringen. Da der Treibstoff knapp wurde, wollte French am nächsten Morgen den Rückmarsch antreten. Am Abend schritt er gewohnheitsgemäß noch einmal mit dem Zählrohr die Umgebung des Lagerplatzes ab, und plötzlich blieb er wie vom Donner gerührt stehen. Das Instrument schlug aus — ja, es gebärdete sich wie toll! In dieser Nacht konnte French keinen Schlaf finden. Kaum begann sich das Dunkel im Osten zu lichten, als er auch schon nach Süden weiterhumpelte, das Zählrohr in der Hand, und nur dann einmal stehen blieb, wenn er Eintragungen in die Spezialkarte dieser Gegend machen wollte. Erschöpft, aber zufrieden, kehrte er kurz vor Sonnenuntergang zu seinem Fahrzeug zurück. Nun konnte kein Zweifel mehr daran bestehen: An der Grenze von Scamander und Eridania gab es Uranvorkommen von einer Ausdehnung, wie er sie in seinen kühnsten Träumen nicht erwartet hatte. Die Feststellung allein genügte freilich nicht. Frenchs Auftraggebern würden die Eintragungen in der Marskarte nicht ausreichen; keinen Cent würden sie dafür herausrücken, und man konnte es schließlich auch gar nicht von ihnen erwarten. Sie würden Beweise verlangen. French musste also unbedingt noch einmal in diese Gegend zurückkehren und den Bagger mitbringen, um wenigstens ein paar Erzproben zutage zu fördern.
Die Geschichte mit seinem verletzten Bein hatte ihm fast einen Strich durch die Rechnung gemacht. Dr. Dannenberg wachte streng darüber, dass er das Bett nicht verließ. Die Zeit bis zur Abreise verstrich beängstigend schnell. Was sollte er tun? Einen anderen ins Vertrauen ziehen, ihm die Karte aushändigen und ihn allein nach Eridania fahren lassen? Wen sollte er schicken — etwa Kelly, diesen unsicheren Kantonisten? Unmöglich! Der brächte es fertig, ihn nach allen Regeln der Kunst übers Ohr zu hauen. Buchstäblich im letzten Moment war es dann doch noch geglückt, die Einzelteile des Baggers in der Rak 3 zu verstauen und ungehindert zu starten. French hatte sich unwohl gefühlt und Kelly das Steuer überlassen. Nun bereute er es bitter... Nach ihrer Bruchlandung im Nebel wäre Kelly am liebsten in Eilmärschen zum Hauptlager zurück gerannt, um — wenn irgend möglich — die Abfahrt vom Mars nicht zu versäumen. Nur mit größter Überredungskunst war es French schließlich gelungen, ihn davon abzubringen. „Es gibt nur zwei Möglichkeiten, Fred. Entweder, man startet zum vorgesehenen Zeitpunkt, und dann kommen wir sowieso zu spät — oder sie verschieben den Start und suchen uns. Wie ich Sommerfeld kenne, dürfte er wahrscheinlich das letztere tun. Du brauchst dir also in dieser Hinsicht keine Sorgen zu machen.“ Fred Kelly sah das wohl ein, wollte aber trotzdem unverzüglich zurückkehren. „Du willst mir doch nicht im Ernst zumuten, zu Fuß weiterzugehen? Wozu auch — wir können diesen lumpigen Bagger ja doch nicht mitschleppen. Hätten wir das Ding nur auf der Außenstation zurückgelassen.“ „Ja, das Ding nützt uns nun nichts mehr. Da hast du Recht. Aber ein paar Erzproben müssen wir unbedingt bekommen.“ „Dann besorgen wir uns eben nach unserer Heimkehr auf die Erde ein paar von diesen Brocken und behaupten, sie stammten vom Mars. Der Betrug wäre gar nicht mal so schlimm, denn du hast ja einwandfrei Uran auf Mars festgestellt.“ „Das sieht dir ähnlich, Fred. Betrug wäre es auf jeden Fall, und bilde dir nur nicht ein, dass die Fachleute sich täuschen ließen. Sie würden im Handumdrehen heraushaben, woher die Proben stammten, und dann
würde man natürlich auch meine Eintragungen für Schwindel halten. Nimm dir eine Spitzhacke aus dem Gepäck, Fred, und lass uns jetzt keine kostbare Zeit mehr verlieren.“ Seitdem waren fast fünf Tage vergangen. Am Himmel war keine Landungsrakete erschienen, um sie zu suchen. Sollte sich French doch am Ende verrechnet haben? Die Kräfte schwanden. Endlos dehnte sich die Wüste... Am Abend dieses trostlosen Tages hockte Robert French, von rasenden Schmerzen gepeinigt, im Sand, der noch ein wenig von der Wärme des Tages verspüren ließ. Plötzlich stand Kelly vor ihm. In seinen Augen glitzerte ein lauernder Ausdruck. „Sag mal, Bob“, begann er gedehnt, „bist du noch immer davon überzeugt, dass wir auf dem richtigen Wege sind?“ Robert French war auf der Hut. Was mochte der andere im Schilde führen? Vorsichtig erwiderte er: „Daran kann gar kein Zweifel bestehen. Ich kenne die Gegend genau und erinnere mich an alle Einzelheiten des Weges.“ „Aber ich kenne sie nicht. Was soll ich tun, wenn du — ich meine, wenn du aus irgendeinem Grunde ausfallen solltest? Wir wären dann beide verloren. Wäre es nicht besser, du gäbst mir deine Spezialkarte in Verwahrung?“ Die Spezialkarte — mit den Eintragungen der Erzlagerstätten entlang der Grenze zwischen Scamander und Eridania — darauf war Kelly also aus! Natürlich, wie hätte es auch anders sein können? Sobald dieser Schurke das kostbare Dokument in der Hand hätte, würde er ihn, French, hilflos am Wege liegenlassen, und dann den vollen Gewinn in die eigene Tasche stecken. Nein, so leicht wollte er es Kelly nun doch nicht machen. Es gelang ihm, eine möglichst erstaunte Miene aufzusetzen. „Die Spezialkarte? Die ist natürlich nicht hier.“ Kelly prallte unwillkürlich einen Schritt zurück. „Nicht — hier? ... Was soll das heißen, Bob?“ „Ja, glaubst du denn im Ernst, Fred, ich würde dieses kostbare Dokument in die Wüste mitschleppen, wo es mir auf Schritt und Tritt gestohlen werden könnte?“
Fred Kelly bemerkte vor Aufregung den Spott in den Worten seines Kumpans gar nicht. Er konnte seine Wut und Enttäuschung kaum noch verheimlichen. „Und wo — befindet sich die Karte jetzt?“ „In sicherer Obhut. Ich gab sie Walt Wilson zur Aufbewahrung, der natürlich gar nicht ahnt, welch unschätzbare Werte er in dem unscheinbaren, grünen Umschlag in seiner Brieftasche verwahrt.“ „Und wenn seine Neugier nun mit ihm durchgeht? Du hast unverantwortlich leichtsinnig gehandelt, Bob.“ „Das glaube ich nicht, Fred. Wilson wird den Umschlag nicht öffnen. Er ist ein Gentleman. Aber was verstehst du schon davon?“ Vierundzwanzig Stunden später lagerten die Wanderer völlig erschöpft in den Ausläufern einer dunkleren Region, deren Boden von trockenem Moos bewachsen war. Robert French war am Ende. Er glaubte, dass er den Morgen nicht mehr erleben würde, wenn nicht schleunigst Hilfe käme. Doch woher sollte sie kommen? Die Gefährten hätten längst da sein müssen, wenn sie wirklich mit einer Landungsrakete auf die Suche gegangen wären. Sie hatten es gar nicht erst versucht. Nun, verdenken konnte man es ihnen nicht, dass sie ohne Kelly und ihn abgereist waren. Robert French lächelte bitter. Fred Kelly bearbeitete indessen den Boden mit der Spitzhacke. French sah ihm eine Weile halb benommen zu. „Gib dir keine Mühe, Fred. Hier findest du kein Uran. Wir sind noch nicht am Ziel.“ „Zum Teufel mit deinem Uran! Wasser suche ich — verstehst du denn nicht? Wasser! Wo etwas wächst, muss es doch auch Wasser geben.“ Wasser... Robert French riß sich zusammen. Auf dem Bauch kroch er zu der Stelle hin, an der schon ein tiefer Trichter im Boden gähnte, und versuchte, mit den Händen den Sand herauszuschaufeln. Nach fast einstündiger Arbeit gaben die beiden Männer den Versuch auf. Die Nacht war hereingebrochen, und mit der Dunkelheit kam die erstarrende Kälte. Zitternd kroch French in den Schlafsack. Klappernd schlugen ihm die Zähne zusammen. Er fand keinen Schlaf. Aber es war nicht allein die Kälte der Marsnacht, die ihn erschauern ließ. Ein rasendes Fieber tobte in seinen Adern. Das also war das Ende.
In wirren, regellos aneinander gereihten Bildern zog noch einmal das ganze Leben vor seinem geistigen Auge vorbei. Er sah sich wieder als heranwachsenden Jungen auf der ärmlichen väterlichen Farm in Texas, sah sich — des eintönigen Landlebens überdrüssig — als Tramp im Mittelwesten und schließlich als Hilfsarbeiter in einer Flugzeugfabrik in Baltimore. Das schon früh entwickelte technische Interesse des jungen Menschen bekam in dieser Umgebung neuen Auftrieb. In zäher Arbeit verschaffte er sich neben dem Beruf die Grundlagen, die ihm die Ingenieurlaufbahn eröffnen sollten. In Baltimore kam French auch zum ersten Mal in Fühlung mit den Plänen der Weltraumfahrt; denn das Werk, in dem er beschäftigt war, stellte Einzelteile für Weltraumschiffe her. French erkannte seine Chance und trat in die Dienste der großen Raumfahrtgesellschaft ein, die gerade damals in den Staaten gegründet worden war. Vielleicht hätte er sich im Laufe der Jahre zu einem braven Raumschiffoffizier emporgedient, wenn ihn nicht sein Ehrgeiz dazu getrieben hätte, sich auf Dinge einzulassen, vor denen seine Kameraden zurückschreckten. In jener Frühzeit der Raumschifffahrt wurden mehr als einmal Freiwillige für irgendein gewagtes Unternehmen gesucht. Stets war es Robert French, der sich bereit zeigte, sein Leben leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Er hatte bei allem, was er in die Hand nahm, Glück — unwahrscheinliches Glück sogar. Und seinem wagemutigen Draufgängertum — gepaart mit diesem einzigartigen Glück — verdankte er seinen kometenhaften Aufstieg zum Raumschiffkapitän und Kommandanten der Luna auf der ersten Expedition zum Mars. Als damals — wenige Wochen vor dem Start — der Agent einer mächtigen Wirtschaftsorganisation an ihn herangetreten war und ihn dafür gewinnen wollte, Mars für die privaten Interessen dieser Organisation nach Uranvorkommen zu durchforschen, hatte er nicht lange überlegt. Dem märchenhaften Lohn, den man ihm versprochen hatte, konnte er nicht widerstehen. In dem charakterschwachen Fred Kelly, den er von früher her kannte, fand er einen willigen Helfer. Es gelang ihm ohne große Schwierigkeiten, Kelly als Wachoffizier für die Luna anzufordern... Robert French schaute zum Himmel des Mars empor, an dem die beiden winzigen Monde ihr Spiel zwischen den Sternbildern trieben.
Wieder lächelte er bitter. Von dem Augenblick an, da er diesen unseligen Auftrag übernommen hatte, war sein sprichwörtliches Glück von ihm gewichen. Alles war ihm seither schiefgegangen, alles... Und nun, da es ihm allen Widerwärtigkeiten zum Trotz doch noch gelungen war, Uranerz zu finden, sollte es ihm nicht mehr vergönnt sein, die Früchte seiner Arbeit zu ernte ... Gegen Morgen fiel French in einen unruhigen Schlummer, aus dem er plötzlich wieder erwachte. Eine Gestalt stand da vor ihm in der Finsternis. Undeutlich zeichneten sich ihre Umrisse gegen den Sternhimmel ab. Robert French wusste sofort, wer sich da über ihn beugte: Es war Kelly, voll bepackt mit ihrem Gepäck und zum Abmarsch gerüstet. French zwang sich dazu, ruhig — wie ein Schlafender — zu atmen. Eine Weile verharrte Kelly in völliger Ruhe, dann wandte er sich zum Gehen und verschwand auf leisen Sohlen in der Nacht. French fühlte sich elend und verlassen, wie nie zuvor in seinem Leben. Das also war das Ende...
WETTLAUF UMS LEBEN Edgar Sommerfeld und seine beiden Begleiter hatten sich nicht damit aufgehalten, in der Nähe des Lagers nach den Spuren der Verschollenen zu suchen. Die ungefähre Richtung, in der man zu fahnden hatte, war bekannt, und French und Kelly hätten es schließlich nicht nötig gehabt, eine Landungsrakete zu entwenden, wenn ihr Ziel in der näheren Umgebung gelegen hätte. Außerdem hatte Walt Wilson wichtige Hinweise geben können, so dass es für Edgar nicht allzu schwierig war, den Kurs für die ersten Tage festzulegen. „Wir fahren am besten in gerader Linie südwärts bis zum fünfundvierzigsten Breitengrad“, schlug er vor. „Dort werden wir, falls wir bis dahin keine Spur entdeckt haben, den Kurs neu festlegen. Seid ihr einverstanden, oder hat einer von euch einen besseren Vorschlag?“ Sie waren einverstanden und hielten es für das beste, sich Edgars bewährter Führung bedenkenlos anzuvertrauen. Während der ersten drei Tage ereignete sich nichts Bemerkenswertes. Die drei Männer lösten einander am Steuer des Wagens ab und fuhren, solange es hell war, ohne Unterbrechung nach Süden. Nachts schliefen sie im geräumigen Inneren des Fahrzeugs. Es hätte keinen Zweck gehabt, auch noch die Nächte zu opfern. Allzu leicht hätten sie im Dunklen etwaige Spuren der Gesuchten übersehen können. Gegen Mittag des vierten Tages, inmitten der grünen Ebene des Mare Cimmerium, wurden sie Augenzeugen einer neuen, erschreckenden Naturerscheinung. Am Horizont tauchte, genau in ihrer Fahrtrichtung, eine Flamme von gewaltigem Durchmesser auf, die steil aus dem Boden in den Himmel zu schießen schien. „Nehmen Sie Gas weg, Wilson“, rief Edgar. „Die Geschichte gefällt mir nicht. Was hältst du davon, Thomas?“ „Offen gesagt: Ich traue dem Frieden auch nicht. Fast möchte ich annehmen, wir hätten es mit einer Art Luftspiegelung zu tun.“ „Dr. Sawyer würde wahrscheinlich an Lichtsignale seiner sagenhaften Marsmenschen denken“, grinste Walt Wilson. Doch Thomas nahm den Doktor in Schutz: „Sag das nicht, Walt. Sawyer ist in letzter Zeit bedeutend stiller und zurückhaltender geworden. Holla — was ist denn das? Nicht zu nahe rangehen, Walt!“
Walt Wilson bremste scharf. Dann gab er wieder Gas und riß das Steuer so plötzlich herum, dass die beiden anderen fast aus dem Wagen gestürzt wären. Mit Höchstgeschwindigkeit rasselte das schwere Fahrzeug nach Westen. Wilson fuhr, als säße ihm der Teufel im Nacken. Diese Vorstellung drängte sich auch Edgar und Thomas auf, die sich krampfhaft festhalten mussten und ihre Aufmerksamkeit zwischen dem rasenden Fahrzeug und der brausenden Flammenwand teilten, die hinter ihnen tobte. „Was — hat das — nur zu bedeuten?“ stotterte Edgar fassungslos. „Die ganze Ebene ist ja ein einziges Flammenmeer. Man könnte meinen, es gäbe doch Marsbewohner, und sie wollten uns mit einer furchtbaren Vernichtungswaffe den Weg nach Süden verlegen.“ Auch Thomas konnte sich dem Eindruck nicht entziehen, den das grausige Schauspiel einer entfesselten Hölle auf ihn machte, aber er beurteilte es nüchterner. „Astronomen haben solche Leuchterscheinungen auf Mars schon öfter wahrgenommen. Sie beobachteten hin und wieder rätselhafte Blitze von einigen Sekunden bis Minuten Dauer auf dem Planeten, so beispielsweise während der Marsopposition des Jahres 1954. Schon damals hielt man es für möglich, dass auf Mars zeitweise brennende Gasmassen von mehreren tausend Meter Durchmesser ausbrechen.“ „Ein verteufelter Planet! Immer wieder wartet er mit neuen, gefährlichen Überraschungen auf. Glaubst du, dass uns das Feuer einholen wird?“ „Es ist kaum anzunehmen. Ich habe den Eindruck, dass der Ausbruch seinen Höhepunkt schon überschritten hat.“ Edgar atmete erleichtert auf und gab Wilson Weisung, wieder in die ursprüngliche Fahrtrichtung einzulenken. Immerhin hatte man durch den Umweg kostbare Zeit verloren. Um sie wieder aufzuholen, und um nicht in der Nachbarschaft des gefährlichen Gebietes lagern zu müssen, fuhren sie diesmal bis tief in die Nacht hinein. Der neue Tag begann für die drei Freunde mit einer neuen Überraschung. Sie waren bereits zwei Stunden unterwegs, als Wilson einen erstaunten Ruf ausstieß und nach links deutete, wo quer zur Fahrtrichtung irgendetwas Helles, Längliches metallisch im Sonnenlicht
glänzte. Sofort änderte Edgar den Kurs und hielt darauf zu. Thomas, der den rätselhaften Gegenstand mit dem Feldstecher beobachtete, brach in ein Freudengeheul aus. „Drück auf die Tube, Edgar! Wir haben sie. Es ist die Rak 3!“ Edgar holte das Äußerste aus dem Motor heraus. Dennoch dauerte es längere Zeit, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Zahlreiche Bodenspalten, aus denen hier und da Gasschwaden krochen, zwangen sie immer wieder zu Umwegen. Das ganze Gelände hüllte sich mehr und mehr in Nebel ein. „Es war die Rak 3“, berichtigte Edgar den Freund als sie endlich vor dem Raketenfahrzeug hielten. Er hatte recht; denn das, was davon übrig geblieben war, würde niemals mehr mit heulenden Düsen in die Luft des Planeten steigen. Tief hatte sich die schlanke Spitze der Rak 3 in den Sand einer Bodenwelle gebohrt. Die Flügel waren abgebrochen, die Steuerflächen verbogen. In der Backbordseite klaffte ein breiter Riss. Ein dunkler Fleck im Boden zeigte die Stelle, an der die Treibstoffe ausgelaufen waren. „Bruchlandung“, stellte der Reporter sachlich fest. „Woll'n mal nachsehen, ob es die Burschen überstanden haben.“ Von den einstigen Insassen des Landungsbootes war weit und breit keine Spur zu entdecken. Das Innere der Pilotenkabine und des Laderaumes befand sich in einem Zustand, der auf beschleunigten Aufbruch schließen ließ. „Nicht einmal diese Klamotten haben sie mitgenommen“, sagte Walt und stieß mit dem Fuß gegen eine geborstene Kiste, aus der Teile des Baggers hervorragten. „Schlimm für uns“, meinte Edgar, „denn das bedeutet, dass sie noch einen weiten Weg vor sich hatten. Sonst hätten sie bestimmt versucht, wenigstens die wichtigsten dieser Teile mitzuschleppen. Wir müssen ihnen auf den Fersen bleiben. Kommt, hier ist doch nichts mehr zu retten.“ „Fragt sich nur, wohin“, sagte Walt. „Ich finde mich ohnehin nicht mehr in den Himmelsrichtungen zurecht — bei diesem Nebel.“ Tatsächlich hatte sich die ganze Gegend in ein Meer aus bläulichen Nebelschwaden verwandelt. Thomas überkam plötzlich eine erschreckende Vorstellung: „Hoffentlich sind das nicht auch brennbare Gase, die sich aus dem
geringfügigsten Anlass entzünden können, so wie wir es gestern gesehen haben.“ Betroffen sahen die drei sich an. Edgar kam zuerst zu einem Entschluss. „Wir wollen in fünfzig Schritt Entfernung von hier einen Kreis abschreiten. Irgendwo müssen wir ja schließlich auf Spuren treffen. Vergesst nicht, euch von Zeit zu Zeit durch Zurufe zu verständigen. Wir dürfen uns auf keinen Fall im Nebel verlieren.“ Ohne noch einen Augenblick zu zögern, folgten die beiden anderen dem Befehl. Edgars Anordnung sollte sich schnell als richtig erweisen. Schon nach wenigen Minuten aufmerksamen Suchens meldete sich Walt Wilson. „Kommt her — ich glaube, ich habe die Spur!“ Edgar und Thomas kamen herbei gerannt und betrachteten die Eindrücke, die sich undeutlich im Sand abhoben. „Sie sind nach Südosten weitergegangen“, stellte Edgar fest. „Los, zurück zum Wagen! Wir müssen hinterher, bevor der Wind die Fährte gänzlich auslöscht. Und vor allen Dingen: raus hier aus dieser vermaledeiten Waschküche!“ Nach einstündiger Fahrt, bei der sie die größte Mühe hatten, die schwache Fährte nicht zu verlieren, lichtete sich der Dunst. Hell strahlte die Sonne wieder am Firmament, und es war nun ein leichtes, der Spur im Sand zu folgen. Erleichtert ließ Edgar den Motor aufheulen. Sie fuhren nach Südosten, bis der letzte Schimmer der Abenddämmerung verblasste. „Wenn dieser seltsame Planet doch wenigstens einen anständigen Mond hätte, wie wir auf unserer alten Erde“, rief Edgar ungeduldig. „Mir würde es nichts ausmachen, auch noch die ganze Nacht am Steuer zu sitzen, wenn ich nur etwas sehen könnte.“ Er zeigte zum Himmel empor. „Da hat Mars gleich mit zwei Monden aufzuwarten, aber Phobos erscheint nur als winziges Scheibchen und wird noch dazu bei jedem fünften Vollmond verfinstert, und Deimos strahlt kaum heller als Venus am Erdhimmel. Eine trostlos funzelige Beleuchtung, muss ich schon sagen.“ Es half ihnen nichts, sie mussten die Nacht über rasten und konnten erst am nächsten Morgen die Verfolgung wieder aufnehmen. Der
Himmel hatte sich mit zerfasertem Gewölk bezogen. Über dem Osthorizont lohte prächtiges Morgenrot. „Man müsste Farbaufnahmen machen“, sagte Walt Wilson hingerissen. Thomas war anderer Meinung. „Es sollte mich wundern, wenn wir nicht in den nächsten Stunden einen Sturm kriegen, der sich gewaschen hat.“ „Dann aber los!“ kommandierte Edgar. „Ein Sturm wäre so ziemlich das Schlimmste, was uns überhaupt passieren kann. Ehe der Rummel losgeht, müssen wir French und Kelly eingeholt haben.“ Es war geradezu unwahrscheinlich, was Edgar aus dem schwerfälligen Kettenfahrzeug an Geschwindigkeit herausholte. Und doch sollte sich die Hoffnung, die Gesuchten noch rechtzeitig zu finden, als trügerisch erweisen. Gegen zehn Uhr vormittags brach der Sandsturm mit elementarer Wucht über sie herein. Als seine Macht nach stundenlangem Toben gebrochen war, hatte die Landschaft ihr Gesicht geändert. Die Spuren im Sand waren hoffnungslos verweht. „Aus“, sagte Thomas dumpf. „Alles ist umsonst gewesen.“ Edgar, der Optimist, war anderer Ansicht. „Noch ist nicht alles verloren. Wir kennen die ungefähre Richtung, die wir einzuschlagen haben, und werden die Suche sofort wieder aufnehmen. Groß kann der Vorsprung der beiden nun nicht mehr sein. Also weiter!“ Der Vorsprung Frenchs und Kellys konnte tatsächlich nur noch sehr gering sein, aber irgendwie musste die Richtung doch nicht ganz stimmen. Vielleicht hatten die beiden auch selbst eine andere Richtung eingeschlagen, wenn sie nicht gar — was durchaus möglich war — im Sandsturm ums Leben gekommen waren. Jedenfalls gelang es bis zum Abend nicht, ihre Fährte wieder zu finden. Als auch am Mittag des folgenden Tages noch kein Lebenszeichen von den Vermissten gefunden war, begann Edgar, die Nerven zu verlieren. Er wich vom Kurs ab, kreuzte auf gut Glück in der Gegend herum und hatte sich bis zum Abend so gründlich verfahren, dass Thomas in der Nacht den Sextanten zu Hilfe nehmen maßte, um mittels Jahrbuch, Uhr und Gestirnsörtern eine Ortsbestimmung durchzuführen. Tage fruchtlosen Suchens vergingen. Sie waren bis an die Grenzen des Scamander gelangt und hatten die verlorene Spur noch immer nicht
wieder gefunden. Edgar lenkte das Fahrzeug einige Meilen tief in die grünliche Landschaft hinein, auf deren Boden die dürftigen Pflanzen des Mars wucherten. Er hatte die Absicht, am kommenden Tage noch eine Durchquerung von Süden nach Norden durchzuführen und dann auf jeden Fall nach Aeolis zurückzukehren. Ein weiteres Vordringen in östlicher Richtung ließ sich zeitlich nicht mehr verantworten. Im Verlauf dieses Tages geschah es, dass die Kupplung des Anhängers brach, und das Gefährt einen ungewöhnlich steilen Abhang hinunterrollte. Unten angekommen, kippte der Anhänger um. Ein Teil seiner Ladung, unersetzliche Treibstoffkanister, verschwand auf Nimmerwiedersehen in einer schmalen, tiefen Bodenspalte. Mühsam brachten sie den Anhänger wieder auf die Räder. Beim Versuch, die weit verstreute Ladung einzusammeln, verschwand Walt Wilson auf unerklärliche Art. Es war, als hätte ihn der Boden verschlungen. In trüber Stimmung hockten die beiden Freunde zu nächtlicher Stunde in ihrem Wagen, dessen Verdeck sie trotz der Kälte aufgeklappt hatten. Von Zeit zu Zeit ließen sie den Lichtkegel des kleinen Scheinwerfers in die Dunkelheit hinausfingern. Aber Walt Wilson meldete sich nicht. Er blieb verschollen. Es war schon fast Mitternacht, als sie sich schweren Herzens entschlossen, alle weiteren Versuche einzustellen und den Wagen nach außen hin abzudichten. „Das hatten wir nötig“, sagte Edgar bitter. „Nicht genug damit, dass uns die Spuren Frenchs und Kellys verloren gingen, haben wir nun auch noch einen weiteren Kameraden eingebüßt; denn dass wir Wilson in diesem Leben noch einmal zu sehen bekommen, glaubst du doch selbst nicht.“ „Sein Verschwinden ist mir genauso unverständlich wie dir, Edgar. Trotzdem halte ich es für verfrüht, die Hoffnung jetzt schon aufzugeben. Sobald die Sonne wieder am Himmel steht, sieht alles ganz anders aus. Dann werden wir weitersuchen.“ „Wir dürfen uns nicht mehr allzu lange mit der Sucherei aufhalten, sonst startet Hamilton ohne uns. Dann blieben uns vielleicht noch einige wenige Wochen, um unser Leben auf Mars zu fristen, und dann...“ Edgar machte eine Pause und fuhr dann mit Betonung fort: „... dann
wäre der Ofen aus — endgültig aus.“ Thomas fühlte, wie ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken lief, aber er versuchte es noch einmal mit einem neuen Einwand. „Vielleicht könnten wir uns viel länger am Leben halten, als wir jetzt denken. Ein wenig haben wir uns doch schon akklimatisiert, und dann bleiben uns die Unterkünfte, so dass wir aller Voraussicht nach nicht erfrieren müssen. Wasser finden wir allemal, und ich halte es gar nicht für ausgeschlossen, dass unter den mannigfachen Kräutern, die in den grünen Gebieten wachsen, auch das eine oder andere genießbar sein würde.“ „Alles gut und schön, aber Essen und Trinken genügen nicht. Der Mensch muss auch atmen, und länger als zwei bis drei Wochen reichen unsere Sauerstoffreserven nicht mehr. Lass nur, Thomas, alles Grübeln ist zwecklos. Legen wir uns lieber aufs Ohr; wir müssen morgen ausgeruht sein.“ Die Morgensonne stieg golden über den Horizont, als Thomas aus dem Wagen kletterte und die steifen Glieder reckte. Plötzlich hielt er überrascht inne. Was war das für eine Gestalt, die sich dunkel und riesenhaft gegen den Himmel abhob und mit langsamen Schritten näher kam? Jetzt blieb sie stehen und winkte schwerfällig herüber. „Walt! — Edgar, komm heraus! Walt Wilson ist wieder da.“ Thomas erkannte jetzt, warum der Ankömmling ihm im ersten Moment so groß erschienen war. Walt trug eine Last, die ihm über die linke Schulter hing — eine menschliche Gestalt. Zusammen mit Edgar rannte Thomas dem Freund entgegen. Sie überschütteten ihn mit einem Schwall von Fragen: „Walt, wo hast du denn nur gesteckt? Warum hast du dich so stillschweigend davongemacht? Hast uns einen schönen Schreck eingejagt. Und wen bringst du denn da? Ist es French oder Kelly? Wo hast du ihn gefunden?“ Walt Wilson ließ seine Last in den Sand gleiten. Jetzt erst bemerkten sie, wie müde und abgekämpft er aussah. „Es ist Kelly“, sagte er leise. „Fand ihn ganz in der Nähe, bin fast über ihn gestolpert. Alles andere — später...“ Er ließ sich neben Kelly zu Boden sinken und schloss die Augen. „Der arme Kerl ist ja vollkommen fertig“, sagte Edgar kopfschüttelnd, „und der andere scheint auch mehr tot als lebendig zu sein. Lauf schnell
zum Wagen, Thomas, und hole Reserveflaschen für die Atemgeräte. Vergiss auch die Whiskyflasche nicht!“ Thomas stürzte davon und brachte das Verlangte. Unter der belebenden Wirkung des Sauerstoffs und durch Wiederbelebungsversuch unterstützt, schlugen die beiden Männer bald wieder die Augen auf. Ein ordentlicher Schluck aus der Flasche brachte sie vollends in die Wirklichkeit zurück. »Kelly“, begann Edgar mit ernster Miene, „ich nehme an. Sie sind sich darüber im klaren, was Sie angestiftet haben, und welche Folgen sich für Sie ergeben werden.“ „Ich habe keine Schuld, Kommodore'„, flehte Fred Kelly. „Glauben Sie mir doch: Ich bin völlig unschuldig. French hat mich gezwungen, mitzumachen — gegen meinen Willen.“ „Ich habe weder Zeit noch Lust, jetzt mit Ihnen zu rechten, Kelly“, sagte Edgar kurz und wandte sich angewidert zur Seite. „Nur eins will ich von Ihnen wissen: Wo haben Sie Robert French gelassen?“ Kelly wich dem strengen Blick des Kommodores aus. Aber Edgars Augen ließen ihn nicht los, sie heischten gebieterisch nach einer Antwort. „Ich — weiß es nicht — weiß es — wirklich nicht, Kommodore.“ „Das können Sie einem Dümmeren erzählen, Kelly. Wo sahen Sie French zuletzt? Raus mit der Sprache!“ Fred Kelly wand sich wie ein Aal. „Ich kann mich wirklich nicht entsinnen, Kommodore. Es ist zu lange her. Die Anstrengungen der letzten Tage... — Ich bin noch ganz verwirrt...“ „Vielleicht gibt es frische Spuren, denen wir nachgehen können“, schlug Walt vor. „Wie gesagt, fand ich Kelly ganz in der Nähe und...“ „Oh, Mister Wilson!“ Walts Erscheinung schien auf den Verwirrten eine ungemein belebende Wirkung auszuüben. Eilig richtete er sich auf und trat auf den Reporter zu. „Kapitän French hat mir einen Auftrag für Sie mitgegeben. Sie sollen mir den Brief aushändigen, den er Ihnen im Hauptlager zur Aufbewahrung gab. Nur gut, dass ich Sie hier getroffen habe. Ich fürchtete schon, Sie hätten den Planeten bereits verlassen.“
„Den Brief?“ fragte Walt gedehnt und tat so, als dächte er nach. „Ach so — ja, ich erinnere mich.“ Er zog die Brieftasche heraus und reichte Kelly einen gewöhnlichen, grünen Umschlag. Mit zitternder Hand griff Kelly danach und riß ihn auf. Er schien alles um sich herum vergessen zu haben. „Was sind denn das für alberne Heimlichkeiten?“ brummte Edgar ärgerlich. „Als ob wir nichts Wichtigeres zu tun hätten...“ Ein ellenlanger Fluch, von Kelly mit überschnappender Stimme ausgestoßen, riß seine Rede entzwei. Der einstige Wachoffizier der Luna stand wutbebend vor ihnen und hielt ein Blatt Papier in der Hand. Und dieses Blatt — das sahen sie sofort — war vollkommen leer. „Dieser Schuft!“ zeterte Kelly. „Dieser elende Gauner! Selbst im Sterben hat er mich noch betrogen. Aber ich Dummkopf habe es auch nicht besser verdient. Hätte mir schließlich selbst sagen können, dass dieser Trick mit dem Brief nur ein plumper Schwindel war. Natürlich trug er die Spezialkarte bei sich, und ich habe mir nicht einmal die Mühe gemacht, seine Taschen zu durchsuchen, ehe ich ihn verließ.“ Edgar und Thomas sahen sich verständnislos an. Wovon redete dieser Mensch überhaupt? War er am Ende doch übergeschnappt? Aber Kelly ließ ihnen keine Zeit zum Überlegen. Er knüllte das Papier zusammen, schleuderte es zu Boden und stürzte in der nächsten Sekunde davon. „Hier geblieben, Kelly!“ donnerte Edgar. Doch Walt Wilson winkte ab. „Lassen Sie ihn laufen, Kommodore. Er wird uns den Weg zeigen — zu Robert French.“ Schon nach den ersten hundert Schritten hatte Thomas ein Erlebnis, das ihm um ein Haar zum Verhängnis geworden wäre. Er ging etwa zehn Schritt rechts neben der Fährte her, der sie folgten, als der Boden urplötzlich unter ihm nachgab. Er stieß einen entsetzten Hilferuf aus und breitete die Anne aus wie ein Mensch, der auf dem Eis einbricht und ein völliges Versinken verhüten will. Seine beiden Gefährten näherten sich vorsichtig der gefährlichen Stelle. Schließlich kroch Walt auf Händen und Füßen näher und kriegte Thomas Arm zu fassen. Durch die geringe Schwerkraft des Mars begünstigt, gelang es ihm ohne große Schwierigkeiten, den Verunglückten
herauszuziehen. „Das scheint ein ganz tückischer Untergrund zu sein“, meinte Thomas, als er sich von seinem Schreck erholt und für die Hilfeleistung bedankt hatte. „Mir ist schon seit den letzten dreißig Metern aufgefallen, dass unsere Schritte so merkwürdig hohl klangen.“ „Der Boden ist durch und durch ausgehöhlt“, bestätigte der Reporter. „Unzählige Spalten und Höhlen durchziehen ihn an dieser Stelle; es gibt unter der Oberfläche einen wahren Irrgarten kreuz und quer laufender Gänge. Auf die gleiche Art wie du, Thomas, bin auch ich gestern in der Unterwelt versunken. Durch nachstürzenden Sand wurde das Loch sofort wieder zugeschüttet. Ich wäre fast lebendig begraben worden, konnte mich aber gerade noch rechtzeitig befreien und bin dann stundenlang in den Höhlen herumgekrochen. Als ich endlich einen Ausgang gefunden hatte, war draußen schon die Nacht angebrochen.“ „Seid also jetzt ganz besonders vorsichtig“, mahnte Edgar die Gefährten. „Immer hübsch in Kiellinie bleiben!“ Nach weiteren zehn Minuten verlor sich die Fährte in einer Ansammlung von großen Gesteinsbrocken und Felsen, doch gelang es den Verfolgern, sie nach kurzem Suchen stets wieder zu finden. Schließlich führte sie genau auf eine niedrige Öffnung in einer halbverwehten Grotte zu, die gerade groß genug war, dass man auf dem Bauch hineinkriechen konnte. „Was — dort hinein?“ Thomas schüttelte sich. „Das sieht ja aus wie das Tor zum Hades, ans dem es keine Rückkehr gibt.“ „Los, los“, sagte Edgar. „Keine Müdigkeit vorschützen! Wenn wir uns nicht ranhalten, verlieren wir womöglich den Anschluss.“ Er ließ sich auf die Knie nieder, steckte den Kopf in das dunkle Loch und zwängte sich hinein. „Kommt nur nach, hier ist es ganz erträglich.“ Dumpf klang Edgars Stimme aus der Unterwelt. Thomas kämpfte das Grauen nieder, das ihm nach dem Herzen griff, und kroch hinterher. Erstaunt blickte er sich um. Der höhlenartige Raum, in dem er sich befand, lag in bläulichem Dämmerlicht, das durch verborgene Öffnungen von draußen hereinfluten musste. Bläulich war auch der Dunst, der in zähen Schwaden in der Luft hing. „Du kannst ruhig die Atemmaske abnehmen“, rief Edgar. „Die Luft
hier drinnen scheint recht bekömmlich zu sein.“ Thomas folgte dem Rat. Tatsächlich musste die Luft in dieser Höhle dichter und wesentlich reicher an Sauerstoff sein, als die Atmosphäre an der Oberfläche des Planeten. Plötzlich jedoch überfiel ihn ein würgender Husten. Er war in die bläulichen Schwaden geraten und bekam nun ihre erstickende Wirkung zu spüren. Rasch setzte er die Maske wieder auf. Die Unterwelt des Mars war anscheinend auch nur mit Vorsicht zu genießen. Als schließlich auch Walt Wilson zu ihnen gestoßen war, setzten sie ihren Weg fort. Die dünne Staubschicht, die den Boden bedeckte, ließ deutlich je eine heraus- und hineinführende Spur erkennen, die ohne Zweifel von demselben Fuß stammte. „Fred Kelly ist den Weg schon einmal gegangen“, stellte Edgar fest, „und uns hat er vorschwindeln wollen, er erinnere sich an nichts.“ „Was für eine Bewandtnis mag es wohl mit dem leeren Brief gehabt haben — und mit der Spezialkarte, von der er sprach?“ Thomas waren die Zusammenhänge noch nicht ganz klar. „Ich vermute“, erwiderte Walt, „dass French in dieser Gegend Uran gefunden hat. Am letzten Abend — wenige Stunden, bevor er mit Kelly in der Rak 3 startete — übergab er mir den Briefumschlag und bat mich, ihn in Verwahrung zu nehmen. Angeblich enthielt er ein wichtiges Dokument, das nach Frenchs Ansicht bei mir sicherer aufgehoben wäre, als bei ihm selbst. Wahrscheinlich traute er seinem Spießgesellen nicht und wollte ihn auf eine falsche Fährte hetzen, falls Kelly versuchte, sich der Spezialkarte mit den Eintragungen der Fundstellen zu bemächtigen — was ihm offenbar auch gelungen ist.“ „Dann trug French die Karte in Wirklichkeit also bei sich?“ Walt nickte: „Zweifellos. Dass sie allerdings jetzt noch in seinem Besitz ist, halte ich für sehr unwahrscheinlich.“ Sie waren während ihrer Unterhaltung immer tiefer in das Höhlensystem eingedrungen. Ein dumpfes Brausen scholl ihnen jetzt entgegen. Es hörte sich wie das Tosen eines Gebirgsflusses an, der sich durch eine tiefe und enge Klamm zwängt. Plötzlich öffnete sich der Blick auf das Innere eines weiten Höhlenraumes, der seltsamerweise ganz von meergrünem Licht erfüllt war. Verblüfft blieben sie stehen. Es kam ihnen vor, als ständen sie — Tauchern gleich — auf dem Boden der See, und
als donnerte über ihnen die Brandung. Aber das Donnern und Brausen kam nicht von oben her. Es stieg aus dem Boden, aus einer Spalte, die quer durch die ganze Höhle lief. Ein feiner Sprühregen stieg unablässig daraus hervor. „Ein unterirdischer Fluss“, staunte Walt Wilson. „Unterirdisch passt schlecht auf Mars“, berichtigte ihn Thomas. „Man musste schon martialisch oder so ähnlich sagen. Übrigens lässt es sich hier unten ganz gut aushalten, wie mir scheint. Wenn Dr. Sawyer davon erfährt, bekommt seine Meinung von den Marsmenschen bestimmt neuen Auftrieb.“ „Ich glaube fast, da haben wir schon zwei Marsmenschen“, sagte Edgar und deutete auf die beiden Gestalten, die im verdämmernden Hintergrund der Höhle, unweit der Spalte, auf dem Boden in einen erbitterten Ringkampf verstrickt waren. „Los, Leute! Wir kommen gerade im rechten Augenblick.“ Er hatte kaum ausgesprochen, als einer der Kämpfenden plötzlich zurücksank und unbeweglich liegen blieb. Sein Gegner richtete sich schwerfällig auf und glättete sorgsam den zerknüllten Fetzen Papier, den er dem anderen entrissen hatte. Ein triumphierendes Lächeln spielte um seine Lippen. Thomas sah, dass es Kelly war. „Was haben Sie denn da Schönes, Kelly? Zeigen Sie doch mal her!“ Edgar trat auf den Überraschten zu, der das Papier blitzschnell in der Tasche verschwinden ließ. In der gleichen Sekunde fuhr seine Hand wieder heraus. Der kurze Lauf einer Pistole leuchtete in dem grünlichen Licht. „Hände hoch!“ Gehorsam folgten die drei dem Befehl. Ein höhnisches Grinsen verzerrte die Züge Fred Kellys, die in dieser unwirklichen Beleuchtung noch bleicher als sonst waren. „Reingefallen, großer Kommodore, nicht wahr? Jetzt bleibt ihr drei Spürhunde hier und könnt mit French meinetwegen dasselbe Schicksal teilen. Nett von euch, dass ihr so aufmerksam wart, mir einen Wagen hierher zu bringen. Sonst hätte ich den langen Weg nach Aeolis zu Fuß machen müssen und womöglich den Anschluss zum Deimos verpasst.“ „Den haben Sie bereits verpasst, Kelly“, erwiderte Edgar ruhig. „Ich habe Hamilton, bevor wir unsere Suchaktion starteten, den Befehl
gegeben, mit der Rak l und 2 noch am gleichen Tage abzufliegen. Geben Sie sich nur keinen Illusionen hin, Sie kümmerlicher Stümper. Ihre Lage ist um keinen Deut besser als die unsrige. Und nun stecken Sie gefälligst Ihre lächerliche Kanone ein. Wir sind hier schließlich nicht im Wilden Westen.“ Gelassen ließ Edgar die Arme sinken und trat auf French zu, der sich am Boden leise zu regen begann. „Stehen bleiben, Kommodore — und nehmen Sie sofort die Hände wieder hoch!“ rief Kelly schrill und hob die Waffe. Plötzlich geriet er ins Wanken. Ein Schuss krachte und rief ein donnerndes Echo an den Wänden hervor. Thomas ließ sich instinktiv der Länge nach hinfallen. Er glaubte, die ganze Höhle müsste einstürzen. Im Fallen sah er noch, wie French, der sich halb aufgerichtet hatte, Kelly die Beine wegzog, wie der Strauchelnde die Pistole fallen ließ, mit beiden Händen in die Luft griff und den Mund zu einem Hilferuf öffnete. Thomas kniff die Augen zu; als er sie zögernd wieder öffnete, war Kelly verschwunden. Die Höhle war nicht eingestürzt. Edgar und Walt knieten neben der Bodenspalte und leuchteten mit einer Taschenlampe in die Tiefe. Thomas stand auf und gesellte sich zu ihnen. Der schwache Lichtstrahl mischte sich mit dem tosenden Gischt, der die Spalte vollkommen füllte. „Kelly ist verloren“, sagte Edgar ernst und richtete sich langsam auf. „Hier ist keine Rettung mehr möglich. Mars hat sein erstes Opfer gefordert.“ „Er hat sie mitgenommen — die unersetzliche Karte“, stöhnte French verzweifelt, „mitgenommen — in die Tiefe ...“ „Was — zum Teufel — ist eigentlich los mit dieser Karte?“ herrschte Edgar ihn an. French schloss die Augen. Nach einer Weile sprach er wieder — so leise, dass seine Stimme im Brausen des Wassers kaum zu vernehmen war. „Es war eine Karte vom Grenzgebiet zwischen Eridania und Scamander. Ich hatte die Uranfundstätten in ihr eingetragen, die ich entdeckt hatte. Nun ist sie dahin. Alles war umsonst...“ „Pech gehabt“, brummte Edgar unwirsch. „Das ist nun nicht mehr zu ändern. Können Sie aufstehen, French?“
Robert French lächelte nur matt und deutete auf sein linkes Bein. Edgar war sofort im Bilde. „Macht nichts, wir werden Sie tragen. Fasst mal mit an, Jungens! Und Sie, French, beißen jetzt fest die Zähne zusammen; es wird wohl ein bisschen wehtun. Wir müssen uns jetzt sehr beeilen, denn jede Minute ist kostbar, wenn wir den Anschluss noch erreichen wollen.“ French bäumte sich stöhnend auf, als Thomas und Walt ihn vom Boden aufhoben. Doch schon nach den ersten Schritten wurde er still. Eine wohltätige Ohnmacht umfing seine Sinne... Mit rasselnden Ketten raste der Wagen in Richtung Nordnordwest über die Marslandschaft dahin. In zweistündigen Abständen lösten sich die Männer am Steuer ab. Zwischendurch versuchten sie zu schlafen, soweit es bei dem Lärmen und Schütteln überhaupt möglich war. Es gab nur noch ein einziges Ziel für sie: Sie mussten das Lager erreichen, ehe der letzte Termin für den Start der Landungsboote herangerückt war. Eines Morgens — sie hatten bereits den Südteil von Aeolis erreicht — begann der Motor zu bocken. Gleich darauf stand der Wagen. „Wir müssen nachtanken“, rief Edgar ungeduldig. „Los, Wilson, so beeilen Sie sich doch!“ Walt Wilson rührte sich nicht vom Fleck. „Erst mal können, Kommodore. Der Sprit ist alle.“ Edgar erblasste, aber er fing eich rasch wieder. „Runter vom Wagen! Nehmt eure Feldflaschen und Schlafsäcke mit. Thomas und Wilson, ihr könntet euch um French kümmern. Gebt mir den Proviantsack herüber. Ich gehe voraus und suche den Weg nach der Karte.“ Sie taten, was ihnen befohlen worden war. Edgar hastete voraus. Er hatte die Augen überall und suchte nach bekannten Wegmarken. Nur jetzt keinen Umweg mehr machen! Die anderen keuchten auf seiner Spur hinterher. Sie schleppten French wie ein lebloses Bündel mit. Der ehemalige Kommandant der Luna war nur noch wie ein Schatten seines Selbst. Sein eingefallenes Gesicht mit der lederartigen Haut wirkte wie das eines Toten. Dennoch machte ihnen sein Gewicht auf die Dauer schwer zu schaffen. Als die Sonne untergegangen war, stießen sie wieder auf Edgar, der
wie eine Statue auf einer Sandwehe stand und nach Norden zeigte, wo eine flache Hügelkette im letzten purpurnen Schimmer leuchtete. „Wenn wir die Nacht durch marschieren könnten, wären wir bei Sonnenaufgang im Lager. Von diesen Hügeln ans ist es nicht mehr weit.“ Doch angesichts des trostlos erschöpften Zustands, in dem sich die Gefährten befanden, gab er diesen Gedanken sofort wieder auf. Thomas und Walt waren keiner Erwiderung mehr fähig. Sie ließen sich einfach in den Sand fallen und schliefen sofort ein. Edgar zwängte ihre willenlosen Körper in die Schlafsäcke und versorgte auch den bewusstlosen French, ehe er sich selbst zur Ruhe legte. Mitten in der Nacht wachten die Männer auf. Es war ihnen, als hätte eine Stimme gerufen, die bis in ihre wirren Träume drang. Da war es wieder: Robert French rief nach ihnen mit leiser, jedoch auffallend klarer Stimme. Müde und frierend traten sie hinzu. Walt ließ seine Taschenlampe aufleuchten. Ihr Schein fiel auf Frenchs Gesicht, das sie aus weitgeöffneten Augen anblickte. „Es geht mit mir zu Ende“, sagte Robert French ruhig. „Ich wollte euch nur noch einmal sehen — und euch danken.“ „Reden Sie keinen Unsinn, French“, sagte Edgar heiser. „Noch ein knapper Tagesmarsch, und wir sind im Lager. Dann kommen Sie unter Dr. Dannenbergs Fittiche und sind gerettet.“ Der Sterbende lächelte matt. „Ich werde das Lager nicht mehr sehen. Schon einmal fühlte ich mich verlassen und zum Sterben einsam. Das war in jener Nacht, als Kelly mich hilflos liegen ließ. Doch der Tod wollte mich noch nicht haben. Gegen Morgen fühlte ich mich kräftiger und schleppte mich weiter. Durch ein Felsentor geriet ich schließlich in die Höhle, in der ihr mich fandet. Kelly hatte mich schon vor euch dort entdeckt, aber er tat nichts, um mir zu helfen. Ihr aber habt meine Schlechtigkeit und meinen Egoismus nur mit Gutem vergolten.“ „Schon gut, French, reden wir nicht darüber. Wir taten nur unsere Pflicht — als Mitmenschen und als Kameraden auf einem fremden Stern. Haben Sie irgendeinen Wunsch, French?“ „Greifen Sie in meine Brusttasche, Kommodore.“
Edgar gehorchte und zog ein zusammengefaltetes Papier hervor, das er im Schein der Taschenlampe betrachtete. „Eine Karte von Eridania — was soll ich damit?“ „Sehen Sie die Zeichen im linken Randgebiet? Dort lagert das Uran — Unmengen von Erz müssen es sein. Ich habe es nach dem Gedächtnis eingezeichnet. Nehmen Sie die Karte, mir nützt sie ja nichts mehr. Ich schenke sie Ihnen — zum Dank...“ Frenchs Stimme war bei den letzten Worten immer leiser und stockender geworden. Jetzt schwieg er und hielt die Augen geschlossen. Sein Atem ging ruhig. „Ich danke Ihnen, French“, sagte Edgar und wandte sich leise zum Gehen. Die beiden anderen folgten ihm schweigend. Am Morgen begruben sie den einstigen Gefährten. Edgar sprach am offenen Grabe ein kurzes Gebet. Als Thomas und Walt anfingen, den Sand in die Grube zu schaufeln, ließ Edgar das Blatt Papier hineinflattern, das French ihm in der Nacht zuvor gegeben hatte. „Edgar, was tust du?“ „Ich gebe ihm zurück, was ihm gehört. Wir haben keinen Anspruch darauf, und vielleicht ist es besser, die Erdenmenschheit erfährt nichts von den gefährlichen Reichtümern ihres Nachbarplaneten. Mars hält für uns noch so manches Rätsel bereit, das seiner Lösung harrt. Ich möchte, dass der Planet in den kommenden Jahren in friedlicher Forschungsarbeit erschlossen wird. Er darf nicht das Ausbeutungsobjekt moderner Goldgräber werden. Seine Schätze sollen nicht in die Hände von Mächten fallen, die doch nichts Besseres damit anzufangen wissen, als neue Vernichtungswaffen daraus zu schmieden.“ Fast neun Stunden lang hetzten die Männer an diesem Tage durch den roten Wüstensand. Edgars Energie schien keine Grenzen zu kennen. Wenn die beiden anderen nicht mehr weiterkonnten, und das geschah mehr als einmal im Verlauf dieses höllischen Tages, riß er sie immer von neuem wieder hoch. Mehr tot als lebendig schleppten sie sich am frühen Nachmittag die letzte Bodenwelle hinauf, die sie noch vom Lager trennte. Minutenlang lagen sie platt auf dem Boden und rangen nach Luft. Dann siegte die Neugier über die Erschöpfung. Was würde sie dort unten erwarten?
Wie auf Kommando setzten alle drei die Feldstecher an die Augen. Thomas sah zuerst gar nichts. Vor seinen Augen tanzten helle und dunkle Flecke. Schweiß lief ihm von der Stirn in die Augen und verschleierte den Blick. Endlich hatte er das Lager im Gesichtsfeld.
Ein Freudenruf entfuhr ihm, der bei Edgar und Walt begeistertes Echo fand. Alle drei hatten zwischen den Unterkünften auf dem freien Platz vor dem Hangar deutlich das schlanke, glänzende Etwas erkannt... „Eine Landungsrakete! Sie haben auf uns gewartet. Hurra, wir sind gerettet!“ Jubelnd sprangen sie auf. Alle Müdigkeit schien verflogen. Mit erhobenen Armen winkten sie zum Lager hinüber. Doch plötzlich erstarrten sie inmitten der Bewegung. Ein Flammenstrahl, selbst dem bloßen Auge erkennbar, blitzte zwischen den Hütten auf. Schwach klang das ferne Brausen eines Raketenmotors durch die dünne Luft heran. Die Landungsrakete geriet in Bewegung, raste über den Startplatz und bohrte sich steil in den tiefblauen Himmel hinein. Lange standen sie und starrten wortlos, der Erscheinung nach, bis das letzte Glühen vor ihren Augen erloschen war. Edgar fand als erster die Sprache wieder. „Zu spät — um wenige Minuten zu spät. Nun sind wir allein...“ Walt Wilson warf sich in den Sand. Ein lautloses Schluchzen schüttelte seinen Körper. Thomas ließ sich neben ihm nieder. Er sagte nichts; in seinem Inneren war alles tot und leer. Es hatte ja auch alles keinen Sinn mehr... „So kommt doch wenigstens mit ins Lager“, drängte Edgar. Aber niemand hörte mehr auf ihn. Da ließ auch er sich in den roten Sand fallen und vergrub das Gesicht in den Händen.
DIE ERDE RUFT Drei Männer schleppten sich müde und hoffnungslos auf die verlassenen Gebäude des Lagers in Aeolis zu. Die Mittagssonne stand schon hoch am Himmel. Den ganzen vergangenen Nachmittag, die Nacht und den neuen Morgen hatten sie untätig auf der Düne im Süden zugebracht — schlafend oder einfach nur vor sich hindösend. Es gab für sie nichts mehr zu tun und nichts mehr zu versäumen. Alles war jetzt gleichgültig geworden. Und in ein paar Wochen, wenn die letzten Sauerstoffreserven verbraucht waren, würde sowieso alles aus sein. „Ich gehe lieber ins Lager“, hatte Edgar schließlich gesagt. „Es ist dort bequemer, und außerdem habe ich das dringende Bedürfnis, mich nach dem langen Wüstenmarsch gründlich zu waschen.“ Er war aufgestanden, und die Gefährten waren unlustig seinem Beispiel gefolgt. Mit gesenkten Blicken stapften sie auf das Lager zu, das in seiner Verlassenheit einen wahrhaft gespenstigen Eindruck machte. Ohne aufzuschauen gingen sie an dem Hangar vorbei und betraten die Unterkunft, die Thomas und Walt bisher mit dem bärtigen Otto Vogelsang geteilt hatten. Der Gute hatte ihnen einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem er der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen Ausdruck gab. Sie lasen die von ungelenker Hand gekritzelten Zeilen mit Rührung und vergaßen ganz, darüber nachzudenken, wie Otto sich die Möglichkeit eines solchen Wiedersehens wohl vorgestellt hatte. Unterschrieben war der Brief von sämtlichen Expeditionsteilnehmern. An diesem Tage ereignete sich nichts Besonderes mehr. Die drei Männer brachten ihren „Süßeren Menschen“ wieder in Ordnung und labten sich an den vorgefundenen Lebensmitteln. Da sie noch immer todmüde waren, legten sie sich frühzeitig schlafen. „Wir müssen vor allem eine Bestandsaufnahme des ganzen Lagers durchführen“, erklärte Edgar am anderen Morgen beim Frühstück. „Nur, wenn wir genau wissen, über welche Vorräte wir noch verfügen, ist es möglich, weiter zu planen.“ Dagegen gab es nichts einzuwenden. Edgar selbst wollte die Lagerbaracken einer eingehenden Musterung unterziehen, während Walt den Auftrag erhielt, sich die übrigen Gebäude vorzunehmen. Thomas
schließlich sollte versuchen, Funkverbindung mit den Raumschiffen am Deimos aufzunehmen. Thomas fühlte sich im Grunde froh, dass er wieder eine bestimmte Aufgabe hatte. Allzu viel verstand er zwar nicht von der Funkerei, doch hatte er bei Pietro Boni die wichtigsten Handgriffe gelernt, so dass er es sich zutraute, ein Funkgerät empfangs- und sendebereit zu machen. Er fand die kleine Funkstation tadellos aufgeräumt vor und machte sich sogleich an die Arbeit. Aber es wollte ihm ganz und gar nicht gelingen, auch nur den leisesten Ton aus dem Äther zu erhaschen. Irgendetwas musste er falsch gemacht haben. Oder sollten am Ende die Batterien erschöpft sein? Enttäuscht verließ Thomas die Station. Plötzlich sah er, wie Walt Wilson wie von der Sehne geschnellt aus dem halboffenen Hangartor herausgeschossen kam. Er fuchtelte wild mit den Armen in der Luft herum, vollführte die übermütigsten Sprünge und brüllte in einem fort lauter unverständliches Zeug. Er hat den Verstand verloren, fuhr es Thomas durch den Sinn. Laut sagte er: „So beruhige dich doch, Walt, alter Junge! Was soll denn dieser Veitstanz? Sei doch vernünftig, Walt.“ „Vernünftig? Vernünftig? Hahahahaha! Schau dir das an, Tom, und du wirst genauso jubeln und hüpfen wie ich.“ Mit langen Sätzen rannte er wieder auf den Hangar zu. Thomas folgte ihm mit klopfendem Herzen. Als er gerade eintreten wollte, riß ihm Walt die Schiebetür vor der Nase zu. „Was ist da drin, Tom? Dreimal darfst du raten.“ „Jetzt ist's aber genug!“ donnerte Edgar dazwischen. Unbemerkt war er aus einer der Baracken getreten. Er hatte eine große, blaue Schürze umgebunden, deren Zipfel er hochhielt. In der Schürze trug er einen stattlichen Stapel Wurstkonserven. Sein Anblick löste bei Walt Wilson erneute Heiterkeit aus. „Schnell, die Kamera! Kinder, das gibt 'ne Großaufnahme: Kommodore Sommerfeld, der Eroberer des Mars, in seiner neuesten Rolle als Wurstverkäufer. Bitte, ein paar warme Wiener mit Mostrich! Hahahaha!“ „Nun, so lächerlich finde ich unsere Lage wirklich nicht, Wilson.“ Edgar war sichtlich gekränkt. „Anscheinend haben Sie einen leichten Klaps davongetragen. Machen Sie jetzt endlich den Laden da auf und zeigen Sie uns, was Sie so furchtbar komisch finden.“
„Ihr Wunsch sei mir Befehl, Kommodore. Sie werden übrigens bei dem Anblick, der sich Ihren entzückten Augen sogleich bieten wird, in den gleichen Freudentaumel verfallen wie ich. Geben Sie acht: ,Hokus — Pokus — Fidibus'l“ Die Schiebetür flog zur Seite. Edgar und Thomas prallten zurück — und in der nächsten Sekunde gebärdeten sie sich nicht weniger toll, als Walt es kurz zuvor noch getan hatte. In dem Hangar aber stand — der schlanke, silbrig glänzende Rumpf einer Landungsrakete! An Bug und Leitwerk prangte die Ziffer 1. „Hier liegt ein Bogen Papier“, sagte Walt Wilson und bückte sich. „Er war wohl am Tor angeheftet. Wahrscheinlich enthält er eine Botschaft.“ Walt warf einen Blick darauf. „Für Sie, Kommodore.“ Edgar nahm das Blatt und las laut: „Kommodore, da Sie mir das Kommando übertragen hatten, habe ich mir erlaubt, das Ganze nochmals gründlich zu durchdenken. Dabei kam mir in den Sinn, dass es doch das Einfachste sei, zwei von unseren Transportschiffen am Deimos zurückzulassen und die Heimreise zur Erde mit der Terra und der C l allein durchzuführen. Auf diese Art könnten wir eine ganze Menge Treibstoff sparen. Zunächst habe ich also unverzüglich die gesamte Mannschaft mit allem Gepäck in den Landungsraketen l und 2 zum Deimos geschafft und sie auf die beiden Raumschiffe verteilt. Als das geschehen war, haben wir alles, was noch an Proviant, Sauerstoff und Treibstoff übrig war, nach Aeolis gebracht, für den Fall, dass Sie nicht rechtzeitig zurückkehrten und gezwungen wären, auf Mars zu bleiben. Wir haben dann auf Sie gewartet, solange ich es glaubte verantworten zu können. Heute Nachmittag, 14.30 Uhr Ortszeit, werden wir zum letzten Mal zum Deimos starten. Wir tun es schweren Herzens. Unsere Abreise zur Erde beginnt fünfundvierzig Stunden später. Sollten Sie — was wir sehnlichst hoffen — mit Ihren Begleitern in der Zwischenzeit noch im Lager eintreffen, dann verlieren Sie keine Zeit, steigen Sie allesamt in die Rak l, die ich zu Ihrer Verfügung zurücklasse, und steuern Sie Deimos an. Mit allen guten Wünschen, im Auftrag der gesamten Mannschaft, Ihr T. Hamilton.“ Polternd rollten die Konservendosen auf den Boden. Edgar sah auf die Armbanduhr.
„Elf Uhr. Wenn alles klar geht, müssten wir's gerade noch schaffen. Thomas, hole unsere Sachen und macht die Läden dicht. Wilson, Sie helfen mir, die Maschine aufs Rollfeld zu bringen. Wir spannen einfach zwei von den Raupenwagen vor.“ 11.11 Uhr Ortszeit zeigten die Uhren der Männer an, als die Einstiegluke zuschlug. Sekunden noch — dann fauchte die Rakete zum letzten Mal über die rote Wüste des Mars und schwang sich mit brausenden Düsen in den Himmel. An Bord der Terra herrschte in den letzten Stunden vor dem Start eine merkwürdige Stimmung, gemischt aus Reisefieber, Sehnsucht nach der heimatlichen Erde und auch ein klein wenig Abschiedsschmerz: denn auf manch einen unter den Männern hatte das Leben auf dem roten Planeten einen starken, unauslöschlichen Reiz ausgeübt — für alle war diese Zeit zu einem unvergänglichen Erlebnis geworden. Schließlich gewann aber doch die Freude über die Heimkehr, die nun in wenigen Stunden Wirklichkeit werden sollte, die Oberhand. Wenn trotzdem keine rechte Fröhlichkeit aufkommen wollte, so war die Sorge um die fünf Kameraden daran schuld, die man auf dem fremden Planeten hatte zurücklassen müssen. Fünf Männer, an die in diesen Augenblicken jeder mit mehr oder weniger freundschaftlichen Gefühlen, aber doch in aufrichtiger Sorge, dachte: Edgar Sommerfeld, der von allen verehrte Kommodore, und sein Freund Thomas Berger, dessen ruhiges, freundliches Wesen ihm viele Freunde geschaffen hatte. Bei Walt Wilson gingen die Meinungen zwar auseinander — immerhin war er ein Windhund und hatte die Expedition in große Gefahr gebracht —, aber im Grunde hätte ihn doch niemand missen wollen. So blieben schließlich noch Robert French und Fred Kelly. Sie hatten gewiss keine Freunde, nicht einmal unter der Mannschaft der alten Luna, und ihr Maß an gefährlichen Torheiten war zum Überlaufen voll. Und doch würde keiner ihrer Gefährten ihnen gewünscht haben, dass sie auf Mars zurückbleiben müssten, dem sicheren Untergang ausgeliefert. Soweit der Borddienst in den Minuten vor der Abfahrt es überhaupt zuließ, umlagerten die Raumfahrer Funkstation und Beobachtungsraum. „Noch immer keine Antwort, Boni?“ ließ sich auch Teddy Hamilton
alle fünf Minuten im Telefon vernehmen. Die Antwort war stets die gleiche: „Aeolis meldet sich nicht.“ Teddy Hamilton litt schwer unter dem Druck der Verantwortung, die auf seinen jungen Schultern lastete. Immer wieder legte er sich die Frage vor, ob er wohl richtig gehandelt hatte. Gequält blickte er auf die elektrische Borduhr, deren Sekundenzeiger gleichmäßig und ungerührt über das Zifferblatt kroch. Noch zehn Minuten blieben ihm bis zum Startzeichen, zehn kurze Minuten. Es bestand wirklich kaum noch eine Spur von Hoffnung. „Beobachtungsraum an Führerstand: Kapitän Hamilton, bitte melden!“ Blechern klang die Stimme aus dem Lautsprecher, doch Hamilton entging die Erregung nicht, die in dem Ton mitschwang. „Hier Führerstand, Hamilton. Was ist los?“ Fast augenblicklich kam die Antwort. „Schwacher Lichtblitz in Aeolis. Ich halte es für möglich, dass die Rak l gestartet ist.“ „Beobachten Sie weiter! Schalten Sie die Radaranlage ein und geben Sie mir jede weitere Wahrnehmung sofort durch. — Achtung, Funkstation: Rufen Sie die Rak l — rufen Sie, Boni!“ Minuten bangen Wartens vergingen. Endlich meldete sich wieder der Beobachtungsraum: „Es ist die Rak l, Kapitän Hamilton! Sie hält auf uns zu, doch ist der Abstand immer noch beträchtlich.“ Besorgt schaute Hamilton auf die Uhr — und zuckte zusammen. Nur noch fünfundvierzig Sekunden bis zur befohlenen Startzeit... „Sollen wir nicht lieber warten, Ted?“ fragte Kapitän Camino, der die Steuerung der Terra während des Startmanövers bedienen sollte. Teddy Hamilton fühlte sich furchtbar hilflos. Er hatte den strengen Befehl, auf die Sekunde genau zu starten, und er wusste, dass der Kommodore in diesem Punkt keinen Spaß verstand. Andererseits wollte es ihm durchaus nicht in den Sinn, dass er nicht auf die Kameraden warten sollte, für die nun die Rettung so nahe war. Die paar Minuten Verspätung würde man unterwegs wohl ohne große Schwierigkeit aufholen können. Es war Edgar Sommerfeld selbst, der ihm die Entscheidung aus der Hand nahm. „Kommodore an Hamilton“, meldete der Funker. „Start ist unbedingt planmäßig durchzuführen!“
Noch ein letzter Blick auf die Uhr. Teddy Hamilton holte tief Atem. „Achtung — Vorstufe!“ Ein Bauschen klang vom Heck des gewaltigen Weltraumschiffs her durch alle Gänge und Räume. Die Wände begannen zu zittern. Aus allen Lautsprechern kamen die Befehle des Kommandanten — kurz und klar: „Klar zum Startmanöver! Achtung — Heckmotoren volle Kraft! Ruder hart Steuerbord!“ Die Terra löste sich vom Marsmond Deimos, der ihr fast 450 Tage als Hafen im Weltraum gedient hatte. In mäßigem Abstand folgte ihr das Transportschiff C 1. „Was ist denn nur los, Kommodore?“ fragte Walt Wilson besorgt. „Ich dachte, dies wäre eine Landungsrakete. Es kommt mir aber eher vor wie ein langweiliger Hubschrauber von Anno dazumal. Glauben Sie wirklich, dass wir noch zum Start zurechtkommen?“ Edgar Sommerfeld -saß mit verbissenem Gesicht hinter dem Steuerknüppel. „Wir fliegen mit Höchstgeschwindigkeit. Trotzdem wird die Zeit nicht reichen. Wenn wir in die Deimosbahn einlenken, sind wir noch längst nicht an Ort und Stelle. Wir müssen erst noch hinter dem Mond herjagen, und wenn wir ihn schließlich eingeholt haben, müssen wir aussteigen und uns an Bord der Terra einschleusen lassen. Das alles kostet erheblich viel Zeit.“ Thomas fühlte all seinen Mut sinken. Er verstand nicht, warum Edgar das Rennen nicht aufgab, wenn doch keine Hoffnung bestand, die Terra rechtzeitig zu erreichen. Walt Wilson, der sich an der Funkanlage zu schaffen machte, wandte sich an Edgar. „Die Terra ruft uns, Kommodore. Was soll ich antworten?“ „Start ist unbedingt planmäßig durchzuführen“, erwiderte Edgar vollkommen leidenschaftslos. Thomas konnte nicht länger an sich halten. „Aber das ist ja der reinste Selbstmord, Edgar. Ist es nicht möglich, den Start um eine Stunde zu verschieben?“ „Ich werde mich hüten! Überlege dir doch mal, Thomas, wie es jetzt in der Terra aussieht. Es war ursprünglich vorgesehen, die Rückfahrt mit fünfzehn Mann an Bord anzutreten, wenn man dabei die fünf Mann
Besatzung der C 2 einkalkuliert, die ja ohnehin am Deimos zurück gelassen werden sollte. Stattdessen befinden sich jetzt überdies die Besatzungen der Luna und der C 3 mit an Bord und eine große Menge zusätzlicher Fracht. Das wirft natürlich unsere ganzen Berechnungen über den Haufen. Der Treibstoffverbrauch wird größer, und wir müssen unbedingt alles vermeiden, was die Lage noch verschärfen könnte.“ „Dann bleiben wir also doch auf Mars. Ich begreife nur nicht, warum wir noch immer hinter Deimos herhetzen, wenn doch alles umsonst ist.“ „Noch ist nichts verloren. Du wirst gleich sehen, worauf ich hinaus will. Schau, da vorn taucht Deimos auf.“ „Und da drüben liegen die Schiffe. So drück doch auf die Tube, Edgar!“ Anstatt den wohlgemeinten Rat seines Freundes zu befolgen, schaltete Edgar das Triebwerk ab. Die Fahrtgeschwindigkeit der Rak l war jetzt immerhin so groß, dass sich die Entfernung zum Deimos rasch verringerte. In kurzen Abständen gab Edgar kurz dauernde Richtungsschüsse. „Zu spät!“ Thomas und Walt riefen es wie aus einem Munde. Verzweifelt blickten sie den beiden Raumschiffen nach, die mit Feuer speienden Düsen langsam Fahrt aufnahmen. Edgar stieß ein kurzes, raues Lachen aus. Sein Blick glitt über die Instrumente. „Nun will ich euch zeigen, was unsere Rak hergibt. Haltet euch fest! Tief atmen! — Achtung!“ Die Düsen flammten auf. Hart presste der Beschleunigungsandruck die Körper der Männer zusammen, die — nach dem langen Aufenthalt unter den Verhältnissen der geringen Marsschwere — solchen Beanspruchungen kaum noch gewachsen waren. Aber sie wurden sich dessen nicht bewusst. Ihre Blicke hingen an den mächtigen Rümpfen der beiden Raumschiffe, die sich anschickten, ihnen davonzufahren — in unerreichbare Fernen ... Doch was war das? Standen die Schiffe plötzlich im Raum still? Ihre Heckmotoren arbeiteten mit voller Kraft, und dennoch schien es, als würden sie rückwärts fahren und der verfolgenden Landungsrakete näher kommen. „Wir — holen — auf“, keuchte Walt
Wilson und ließ ein zerquetschtes Hurra folgen. Plötzlich ließ der Andruck nach, das sattsam bekannte, schwindelerregende Gefühl der Schwerelosigkeit suchte sie zu überwältigen. „Der Sprit ist aufgebraucht“, stellte Edgar fest. „Leider ein paar Sekunden zu früh.“ „Und was — soll nun werden, Edgar?“ Eine furchtbare Vorstellung bemächtigte sich Thomas. Vielleicht hatten sie bereits jene Fluchtgeschwindigkeit erreicht, die genügte, um sie für immer aus dem Anziehungsbereich des Planeten hinauszutragen. Ohne eine Möglichkeit, ihre Bahn zu beeinflussen, würden sie in einer lang gestreckten Parabel — wie ein selbständiger, kleiner Himmelskörper — durch den Weltraum fliegen und schließlich elend Zugrundegehen, wenn ihre Vorräte an Atemsauerstoff erschöpft waren. Und dabei waren sie der Terra schon fast greifbar nahe... Abermals wusste Edgar Rat. „Schnallt euch die Rückstoßgeräte um, und dann raus aus der Kiste! Gebt Gas — was das Zeug hält — und haltet auf die Terra zu! Gebt aber acht, dass ihr dem Brennstrahl nicht zu nahe kommt.“ An der Einstiegluke der Rak l stießen sie sich ab und schnellten sich ins Nichts hinaus, den langsam entschwindenden Raumschiffen nach. Ihre Raumschutzanzüge hatten sie schon vor dem Start in Aeolis angelegt. Es war nur gut, dass die Schiffe während der langen Antriebsperiode eine verhältnismäßig geringe Beschleunigung entwickelten. Mit Hilfe ihrer leistungsfähigen Rückstoßgeräte gelang es den Männern, den Abstand rasch zu verkleinern. Allerdings ging es jetzt um Sekunden; denn die kleinen, transportablen Rückstoßaggregate hatten nur eine sehr begrenzte Brenndauer. Schon sah sich Thomas, der an der Spitze der kleinen Gruppe schwebte, fast in gleicher Höhe mit der großen Backbordluftschleuse der Terra, als der Brennstrahl seines Rückstoßgeräts erlosch. Erschrocken bemerkte er, wie die Wand des Raumschiffs mit wachsender Geschwindigkeit an ihm vorüber glitt. Doch in diesem Augenblick öffnete sich langsam das mächtige Außentor der Schleusenkammer. Ein halbes Dutzend Besatzungsmitglieder schwebte, mit frischen Rückstoß aggregaten und Nylonseilen ausgerüstet, heraus. Eine Viertelstunde später befanden sich Edgar, Thomas und Walt, von hilfreichen Händen
hereingeholt, an Bord und in Sicherheit. Auf der Erde hatte man inzwischen die Raumfahrer nicht vergessen, obwohl man nun seit Jahr und Tag auch nicht das geringste Lebenszeichen mehr von ihnen erhalten hatte. Niemand konnte sagen, ob sie ihr Ziel überhaupt erreicht hatten. Die stärksten Fernrohre hatten den Himmel durchmustert, die leistungsfähigsten Sendestationen hatten versucht, mit Edgar Sommerfelds Expedition in Funkverbindung zu treten. Aber all diese Bemühungen blieben ohne Echo. Die fünf Raumschiffe, mit denen die Marsflotte aufgebrochen war, blieben verschwunden, als hätte der leere Raum sie verschlungen. Wohl hatte sich das Interesse der Weltöffentlichkeit längst wieder näher liegenden Dingen zugewandt, doch hatten die meisten der Expeditionsteilnehmer ja Angehörige und Freunde daheim gelassen, die sich um sie sorgten und ihrer Rückkehr entgegenbangten. Und dann waren da jene Männer, die sich von Berufs wegen für die Marsexpedition interessierten: die Leiter der Raumfahrtorganisation, die die Schiffe ausgerüstet und auf die Reise geschickt hatte, die Wissenschaftler und — die Zeitungsleute! Eine vielgelesene New Yorker Tageszeitung setzte einen Preis von 10000 Dollar für denjenigen aus, dem es gelang, die heimkehrende Marsflotte als erster zu entdecken. Fieberhaft suchten die Beobachter an den großen Sternwarten den Himmel ab, als der vorausberechnete Zeitpunkt der Rückkehr näher rückte. Aber auch die zahllosen Privatastronomen in aller Herren Ländern wichen Nacht für Nacht kaum noch von den Okularen und Kameras, obwohl sie mit ihren meist kleineren Instrumenten wenig Aussicht hatten, den gewaltigen „Himmelskanonen“ der Fachastronomen zuvorzukommen. Bald jedoch sollte die Hoffnung der Beobachter bis auf den Gefrierpunkt sinken; denn ausgedehnte Wolkenfelder begannen weite Teile der Erdoberfläche einzuhüllen, so dass selbst die höchstgelegenen Sternwarten nächtelang für jede Beobachtungstätigkeit ausfielen. Eine Schlechtwetterperiode, wie man sie in solchem Umfang seit Menschengedenken nicht mehr erlebt hatte, verhinderte wochenlang jede gründliche Überwachung des Himmels. So kam es, dass die 10 000 Dollar nicht an das Observatorium auf dem
Mount Palomar mit seinem gigantischen Fünf-Meter-Spiegelteleskop fielen, und auch nicht an irgendeine der anderen großen irdischen Sternwarten, sondern an Ben Watson, einen jungen Assistenten auf der Außenstation, dem die Entdeckung eines Marsschiffes am stets ungetrübten Himmel des künstlichen Erdmondes als erstem gelang. Eine Stunde später wusste es die ganze Erde. Sondermeldungen und Extrablätter verbreiteten die Nachricht bis in die entferntesten Winkel. Mars war wieder das Gespräch des Tages. Mit Ungeduld wartete jedermann von Tag zu Tag auf neue Meldungen von der Außenstation. Wenn es etwas gab, was der freudigen Erwartung der ganzen Menschheit jetzt noch Abbruch tun konnte, so war es die Tatsache, dass von den fünf Raumschiffen, die ausgezogen waren, nur ein einziges zurückkehrte. Die Pressestelle der Raumfahrtorganisation verbreitete eine Erklärung, die als Beruhigungspille aufgenommen wurde. Es sei nur natürlich, hieß es darin, dass Kommodore Sommerfeld die Transportschiffe, um Treibstoffe zu sparen, am Mars zurückgelassen hätte. Das war gewiss einleuchtend, konnte jedoch die Frage nicht klären, warum auch von den beiden Passagierschiffen nur eins im Anflug auf die Erde war. Die ruhigeren Gemüter unter den Menschen gaben es schließlich auf, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Ein paar Wochen noch, und man würde sowieso alles ganz genau erfahren. Näher and näher kam der Tag, an dem die Marsfahrer auf der Außenstation zurückerwartet wurden. Die ganze Erde rüstete zu ihrem Empfang. „Ob sie uns wohl schon entdeckt haben? Was werden sie denken, wenn sie nur ein einziges Schiff kommen sehen!“ Das waren die Prägen, die sich die Männer an Bord der Terra immer von neuem stellten. Unmittelbar nachdem Edgar Sommerfeld die Führung des Schiffes wieder übernommen hatte, war er mit Teddy Hamilton die ganze Berechnung der neuen Massenverhältnisse noch einmal durchgegangen, die sich durch die Aufnahme nahezu sämtlicher Expeditionsteilnehmer in die Terra ergaben. Das Ergebnis war, dass die Treibstoffe wohl ausreichen würden, um dem Schiff die erforderliche Anfangsgeschwindigkeit zu erteilen, doch blieben für die unvermeidlichen
Brems- und Steuermanöver nicht genügend Reserven verfügbar. Edgar hatte rasch eine neue Rechnung aufgestellt und daraufhin angeordnet, die Vorräte aus den Behältern der C l zu ergänzen. Das Nachtanken im Weltraum bot keine besonderen Schwierigkeiten. „Und was wird nun aus der C l?“ fragte Hamilton besorgt. Edgar klopfte mit dem Bleistift auf die Blätter, die er zuvor mit Formeln und Zahlen bedeckt hatte. „Das Transportschiff nützt uns jetzt nichts mehr. Wir haben auch keine Möglichkeit, es plangemäß zur Erde zurückzubringen. Lassen Sie die Besatzung mit ihrem Gepäck übernehmen und dazu den Teil der Ladung, den ich hier in der Berechnung berücksichtigt habe.“ Teddy Hamilton erteilte die nötigen Befehle. Auf Edgars Anordnung hatte der Schiffsführer beim Verlassen der C l die Bremsdüsen auf Fernzündung geschaltet. Sobald er mit seinen Leuten an Bord der Terra war, löste Edgar durch Funkkommando die Bremsschüsse aus. Das Transportschiff blieb hinter der Terra zurück. „Sie schicken die C l zum Mars zurück, Kommodore?“ wunderte sich Teddy Hamilton. „Man kann es so nennen. Ich versuche, die Geschwindigkeit der C l so weit herunterzusetzen, dass das Schiff auf jeden Fall im Anziehungsbereich des Planeten bleibt und schließlich auf seine Oberfläche abstürzen muss. Auf diese Art kann es wenigstens später keinen Schaden anrichten. Der Weltraum ist zwar weit und leer, aber man sollte als Raumfahrer stets darauf bedacht sein, keine harten Gegenstände auf den interplanetarischen Fahrtstrecken herumschwirren zu lassen.“ Seitdem waren Monate vergangen. Die dreiunddreißig Überlebenden der Marsexpedition hatten sich mit Humor und größtmöglicher gegenseitiger Rücksichtnahme in das Bordleben in drangvoller Enge hineingefunden, und die Zeit verstrich ohne ernstere Zwischenfälle. Eines Abends luden Dr. Sawyer und Thomas Berger die Wissenschaftler und dienstfreien Offiziere zu sich in den Beobachtungsraum, in dem die beiden Astronomen zusammen mit Walt Wilson und Otto Vogelsang Unterkunft bezogen hatten. Es war, wie überall im Schiff, entsetzlich eng, aber schließlich fand doch jeder irgendwo einen Platz. „Meine Freunde“, begann Dr. Sawyer, und es klang, als versuchte er,
eine innere Bewegung zu unterdrücken, „wir haben euch hierher gebeten, damit ihr ein letztes Mal Abschied nehmen könnt von Mars, dem roten Planeten, auf dem wir gemeinsam so manches Schöne und Schwere erlebt haben.“ Er gab Thomas einen Wink, der die Einstellung eines Spezialinstruments betätigte. Alsbald erschien auf einem kleinen Projektionsschirm das Bild des Mars, von der starken Optik über Millionen von Kilometern herangeholt, mit seinen rötlichen und grünen Flächen und der weißen Rappe des nördlichen Polargebiets. „Ich glaube“, meinte Edgar Sommerfeld sinnend, „einige unter uns werden mit recht gemischten Gefühlen an den Aufenthalt auf Mars zurückdenken. Nicht alle Erwartungen haben sich erfüllt.“ „Ich für mein Teil bin zufrieden“, erklärte Dr. Fisher, der Geologe, mit Bestimmtheit. „Das Forschungsmaterial, das ich in diesen vierhundert Tagen auf dem Planeten sammeln konnte, übertrifft meine ursprünglichen Erwartungen sogar beträchtlich.“ Professor Benson pflichtete ihm bei. „Auch ich kann nicht klagen, wenn ich auch zugeben muss, dass die Beobachtungsergebnisse, die ich während dieser Zeit gewinnen konnte, noch immer recht lückenhaft sind. Nach unserer Rückkehr zur Erde werde ich anregen, bei der nächsten Expedition ständige Wetterbeobachtungsstationen auf Mars einzurichten.“ „Aber ohne mich“, lachte Walt Wilson. „Ich bin zwar mit meiner Ausbeute an einzigartigen Filmen durchaus zufrieden, und auch sonst war die ganze Marsreise ein prächtiges Abenteuer, aber ein zweites Mal wäre Walt Wilson von „Wolfes Tönender Wochenschau“ wohl kaum mit von der Partie. Alles in allem hat die Erde — wenigstens für meinen Geschmack — doch wesentlich mehr zu bieten.“ „Und Sie, Doktor?“ wandte sich Edgar an Sawyer. „Ich könnte es verstehen, wenn Sie zutiefst enttäuscht wären. Schließlich haben wir nicht die geringste Spur gefunden, die auf intelligente Marsbewohner hingedeutet hätte.“ „Nein, das haben wir allerdings nicht.“ Der Gelehrte lächelte. „Dennoch fühle ich mich nicht enttäuscht, sondern sogar — dankbar, nämlich dafür, dass mir diese Zeit auf Mars dazu verhelfen hat, Irrtümer zu erkennen und Vorurteile zu überwinden. Für einen Wissenschaftler
bedeutet das einen unschätzbaren Gewinn.“ „Du bist so schweigsam, Thomas“, sagte Edgar und lächelte seinen Freund an, der wie versunken auf das Bild des roten Planeten schaute. „Wie steht's mit dir, alter Junge? Machst du das nächste Mal wieder mit?“ Thomas blickte ihn voll an. „Du wirst mich vielleicht nicht verstehen, Edgar. Die Marsreise war ein einmaliges Erlebnis für mich, für das ich dir und allen Kameraden der Fahrt von Herzen dankbar bin, und das ich nie vergessen werde. Und dennoch — wenn man mich ein zweites Mal fragen würde ...“ Er hob die Schultern und schwieg. „Recht hat er“, erklärte Otto Vogelsang mit Nachdruck und strich sich den Bart. „Mag es auf anderen Planeten auch noch so interessant sein, es geht doch nichts über unsere alte Erde.“ Das musste auch Dr. Dannenberg, der Schiffsarzt, zugeben. „Ich komme immer wieder zu demselben Schluss: Wir Menschen sind nun einmal Kinder der Erde. Wohl haben wir es verstanden, mit Hilfe unserer Technik unvorstellbare Entfernungen zu überbrücken, über die Grenzen des Erdballs hinaus in den Weltraum und nach fremden Gestirnen zu greifen — doch heimisch werden wir uns nicht auf ihnen fühlen können.“ In das nachdenkliche Schweigen, das seinen Worten folgte, platzte Pietro Boni, der Funker der Terra, mit elementarer Gewalt. Ohne anzuklopfen, riß er die Tür auf und purzelte in der Luft herum, weil er vor lauter Aufregung das erste Gebot für den Raumfahrer im schwerelosen Zustand ganz vergessen hatte: Die Notwendigkeit nämlich, sich irgendwo festzuhalten. „Kommodore!“ brüllte er. „Die Erde! Sie meldet sich über die Außenstation. Ich habe einen Funkspruch aufgefangen.“ Edgar Sommerfeld erwischte den Zappelnden, nahm ihm das Blatt aus der Hand und überflog die wenigen Zeilen. Dann richtete er sich auf und sagte mit einer Stimme, in der ein Ton von Rührung mitschwang: „Die Erde... sie ruft uns. Die Erde heißt uns willkommen.“
ENDE