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Männer sind Schweine! Der Auftragskiller Frank Spain weiß das längst, und seine vierzehnjährige Tochter Tiff lernt es auf die harte Tour, als sie dem Mädchenschwarm ihrer Schule auf den Leim geht, der sie verführt, mit ihr durchbrennt, sie drogenabhängig macht und zur Prostitution zwingt. Als Spain herausfindet, wo sich seine Tochter aufhält und was ihr angetan wurde, kommt es, wie es kommen muss: Ein Mann sieht rot, und Frank Spain, dessen Beruf der Tod ist, rastet völlig aus und beginnt einen langen und blutigen Krieg gegen alle, die seiner Tochter Unrecht getan haben. Als die Opferzahlen steigen und steigen und weder über die Motive noch die Identität des Killers Klarheit herrscht, zieht die Polizei von St. Louis den Serienkiller-Spezialisten Jack Eichord hinzu, der im Mafia-Milieu ermittelt... doch wie geht man gegen einen Mann vor, der von Berufs wegen ein eiskalter Killer ist und nur überlebt, weil er der Gegenseite immer einen Schritt voraus ist?
Rex Miller
Im Blutrausch Das ist das Unglück bei allem, was unter der Sonne geschieht, daß es dem einen geht wie dem andern. Und dazu ist das Herz der Menschen voll Bosheit, und Torheit ist in ihren Herzen solange sie leben; danach müssen sie sterben. Der Prediger Salomo, 9,3 Prolog Eine weitere Träne fiel auf das teure Holz. Hartes, orange und schwarz gekörntes Cocobolo mit abwechselnden Intarsien von dichtem, rotbraunem Tulpenbaumholz aus Brasilien. Tränen hatten sich in den Wimpern an den Augenwinkeln des Mädchens gestaut; jetzt flössen sie über, rannen an ihren Wangen hinab und tropften auf die Armlehne des Zweisitzersofas in dem üppig ausgestatteten Kinderzimmer. Die Tränen durchnässten die Lehne eines Möbelstücks, das mehr gekostet hatte als die meisten Männer in einem Monat verdienen. Doch für das Mädchen schien die luxuriöse Umgebung wenig mehr als ein komfortables Gefängnis zu sein. Ihr Name lautete Tiff. Sie war vierzehn Jahre alt. Sie weinte, weil sie sich traurig, verletzt, wütend, frustriert und ängstlich fühlte. Sie war ein braves Mädchen. Warum musste das ausgerechnet ihr passieren? Wie konnte ihre Mutter sie nur verlassen? Wie konnte ihr Vater sie so behandeln? Eben noch war alles in bester Ordnung, dann wurde es über Nacht schlimm, und was hatte sie getan, dass sie so etwas verdiente? Jetzt bin ich ganz allein, dachte sie, während das Schluchzen eines Weinkrampfs ihre Schultern erbeben ließ. Sie weinte sich die Augen rot, wie das Sprichwort lautet... Teil Einst Tiff LAX war eine Schlampe, auf die er verzichten konnte. Er betrachtete den Flughafen von Los Angeles immer als eine Sie und sah ihn als Schöne der Nacht, die aus der Ferne sexy,
aufreizend und attraktiv wirkte, aus der Nähe jedoch verdorben, mit einem unangenehmen Geruch. Manche Flughäfen verkörperten die Quintessenz ihrer jeweiligen Städte. Rom und Paris, Dallas und D. C. -aber nirgendwo mehr als im Falle von Los Angeles und LAX. Frank Spain, der gerade von einen Auftrag zurückkehrte, sog vorsichtig die Düfte des Flughafens von L. A. in die Lungen und entdeckte Spuren lebenserhaltender Aromen. Die gute alte allotropische, ozonhaltige Frischluft von Südkalifornien. Er hasste L. A. und sah den Flughafen nur als eine überteuerte Hure: man kam erwartungsvoll und ging ernüchtert. Und er war nie glücklicher gewesen, dass er dem Flittchen den Rücken kehren konnte, als heute morgen. Sie sah unschön aus ohne Schminke - den Glanz der nächtlichen Lichter und das Drama der Dunkelheit, das sie in Samt und Funkeln hüllte. Jetzt wirkte sie nur geschäftig und verbraucht. Er war froh, dass er fortging. Tatsächlich konnte er es kaum erwarten, an Bord des TWA-Flugs zu gehen, verweilte aber dennoch und band sich einen Schnürsenkel, der gar nicht gebunden werden musste. Irgendwie stimmte da was nicht. Etwas kitzelte ihn ein wenig in der Nase. Zuerst glaubte er fälschlicherweise, die Schar Polizisten, die an einem unweit entfernten Gate offensichtlich einen Promi begrüßten, wären der Grund dafür. Er witterte die Polente wie manche Tiere den Jäger wittern können. Er band sich den Schuh zu und betrat ein kleines Geschäft am Rande des Rundgangs. Wart ein bisschen ab, dachte er. Sieh dich um. Logisch, dass er etwas nervös war. Der Auftrag, von dem er gerade zurückkehrte, hatte ihm von Anfang an nichts als Arger gemacht, bis er am Ende jemand anderen auf das Opfer ansetzen 3 musste. Am Ende überließ er den Griechen zwei Jungs aus der Gegend. Blödmännern. Dem am Telefon sagte er: »Ihr solltet auf gar keinen Fall jemanden nervös machen«, worauf der Bengel antwortete: »Scheiße. Nix und niemand wird hier nervös. Lassen wir die Kuh fliegen.« »Baut bloß keinen Mist«, sagte er zu dem Jungen. Lassen wir die Kuh fliegen? Großer Gott. Da hätte er schon Bescheid wissen müssen. Natürlich vermasselten sie es von A bis Z und wieder zurück, und Spain wollte nichts anderes, als möglichst viel Distanz zwischen sich und das Schlamassel bringen. Scheiß-Südkalifornien. Alle stürzten sich immer »knietief« in den gerade aktuellen allerneuesten Trend. Griechischer Typ. Mit einem Namen wie kochendes Popcorn. Irgendwas - Plop-plop-popoulos. Dick in einer dieser hierarchischen Verkaufsorganisationen im Geschäft, Herbalife oder Amway. Verdient jede Menge Asche. Investiert hier und da. Wird zu schnell zu groß für die Banken. Leiht sich einen enormen Batzen von der Familie. Setzt am Ende alles in den Sand. Der Grieche hatte sich »knietief ins Jogging« gestürzt. Jetzt lag er knietief in der verdammten ERDE. Spain roch den Braten, als er die Bullen sah. Wusste, wo der Hammer hing, als er den ersten kräftigen Atemzug dieser kohlenwasserstoffreichen Atzung einsog, die in La-LaLand lächerlicherweise Luft genannt wird. Zu gleichen Teilen Schmiere, Abriebstaub, Smog, Rauch, Diesel, Deals, Perrier, Perignon, Mimose, Massenflatulenz und - irgendwo dazwischen - Ozon. Aber er nahm auch die unmissverständliche Witterung von Ärger auf. Roch sie hier und jetzt. Roch die Scheiße vom Asphalt aufsteigen. Und sein Riechkolben trog nie.
Er tat so, als wäre er in die Taschenbücher im Schaufenster eines Andenkenladens vertieft, während er sie beobachtete. Zwei in Uniform, Einer in zivil, der einem dunkelhaarigen Kerl die Hand schüttelte, unverkennbar ebenfalls ein Bulle. Er beobachtete, wie der erste uniformierte Polizist das Gepäck des einen 4 Typs in den Kofferraum eines Autos lud, das ans Gate gefahren war. Wie der Zivilbulle den dunkelhaarigen Kerl führte, während der andere Uniformierte hinzutrat und einem Flughafenangestellten etwas zeigte, worauf sie zu dem wartenden Auto gingen. »Kann ich Ihnen behilflich sein?« ertönte eine Stimme, und er antwortete der Frau murmelnd, dass er eine Geburtstagskarte für seine Tochter suchte und folgte ihr in die entsprechende Abteilung, so dass er nicht mehr sah, wie der dunkelhaarige Bulle Augenblick noch, bitte, sagte und das Geschäft betrat, um eine Zeitung zu kaufen. Als er aufblickte und feststellte, dass der Bulle ihn durch die Glasscheibe betrachtete, musste er sich anstrengen, damit man seinem Gesicht die Überraschung nicht anmerkte, während er den Blick wieder langsam über die Karte schweifen ließ, die er vorgeblich begutachtete. Er konnte nicht wissen, dass er direkt in die Augen des Serienmörderspezialisten Jack Eichord gesehen hatte, begriff nur, dass es sich um einen Bullen handelte, während Eichord sah, wie der Mann sich wieder der Karte zuwandte und offenbar vollkommen fasziniert zu sein schien von der Karikatur der »Nichts Böses sehen, nichts Böses hören, nichts Böses sagen«-Affen. Aber Jack war noch etwas aufgefallen. Eichord beobachtete gewohnheitsmäßig alles ganz genau. Polizistengepflogenheit. Er betrat den Laden, um eine Zeitung zu kaufen, und sah einen Mann, der ihn auf den ersten Blick als Polizisten identifizierte. Das konnten nur andere Polizisten und Ganoven. Ein Polizist deutete die Zeichen. Das Flackern der Erkenntnis in den Augen eines Ganoven, das man bei einem Normalo nicht sah. Man musste nicht mal in der Nähe sein. Autobahnpolizisten sahen es manchmal klar und deutlich über vier Fahrspuren hinweg. Eichord entfernte sich, beobachtete den Mann allerdings noch ein Weilchen hinter einem Zeitschriftenkiosk. Der schien zu hören, dass sein Flug aufgerufen wurde, bezahlte die Karte und 4 näherte sich zielstrebig dem Flugsteig. Vermutlich nichts weiter. Eichord speicherte den Vorfall in seinem Gedächtnis ab und dachte nicht mehr darüber nach. Aber auf dem Weg zum Auto verspürte er eine dieser Vorahnungen, denen er stets Beachtung schenkte. Als würde ihn jemand heftig am Ärmel ziehen und sagen: He, Jack. Nimm das ernst. Es ist die Polizistenversion des kurzen Schocks, den man empfindet, wenn man plötzlich merkt, dass man gleich seine Autoschlüssel im Wagen einschließt. Jack Eichord war kein Genie. Er hatte den Fall »Doktor Derangiert« und die sogenannten »Einsame-Herzen-Morde« in Chicago aufgeklärt, was ihm ein internationales Ansehen verschaffte, das kaum etwas mit der Realität zu tun hatte. Ungewollt kam er in den Ruf, eine Art Superschnüffler zu sein, was, wie seine Kollegen wussten, ziemlich lächerlich war. Durch etwas Glück und einen gigantischen Medienrummel, den die Lamettaträger in Chicago noch nach Kräften schürten, katapultierte seine Arbeit an den sensationsträchtigen Sex- und Verstümmelungsmorden ihn mitten ins grelle Rampenlicht. Die Presse liebte Vokabeln wie »Serienmörderexperte«, wie unzutreffend sie auch sein mochten, und Jack Eichord geriet solchermaßen ins Visier der Medienmeute. Sie schrieben über sein Genie in der Verbrechensaufklärung und sein Sherlock-Holmes-
gleiches Gehirn, und er lachte über den ganzen Quatsch, genau wie seine Kollegen, die es besser wussten. Er hatte Glück. Er besaß eine Gabe. Irgendwas. Er hatte Eingebungen. Was auch immer. Das Ding, das er in sich trug. Er nannte es seinen Scheißedetektor. Und der surrte gerade auf Hochtouren, obwohl Eichord keinen blassen Schimmer hatte, warum. Der Mann namens Frank Spain besaß denselben Instinkt, dieselbe Intuition, nur umgekehrt. Jeder tat das kalte Gefühl im Inneren achselzuckend ab, wie zwei Schiffe, die einander in der Nacht passieren, aber Spain fiel es schwerer, den Geruch von Ärger aus der Nase zu bekommen. Der folgte ihm, als er den 5 Rundgang verließ, die Treppe hinaufging und seinen Sitz in der ersten Klasse suchte. Es war der beunruhigende Gestank einer Hure. Nur berufsbedingte Paranoia, dachte er, und dann machte der müde Mann mit den schweren Lidern und dem LA/ST L-Ticket auf den Namen Frank Spain die Augen zu und kuschelte sich so gut es ging in den Sitz. Um 12:21 Uhr stieg er in Lambert Field aus dem Flugzeug aus; er hatte die Armbanduhr noch nicht auf Küstenzeit umgestellt, weil ihm nicht gefiel, dass der lange Flug dann nur zwei Stunden gedauert zu haben schien, und wenn man zu Hause eintraf, verstärkte es das Unbehagen der Zeitumstellung zusätzlich. Sein Auto stand noch auf dem Parkplatz. Immerhin das. Das Gefühl wollte nicht weichen. Es nahm sogar noch zu. Als hätte er etwas vergessen. Eine winzige Einzelheit, die ihm später noch in den Arsch treten würde. In seinem Metier war das gar nicht gut. Seine Paranoia nahm zu. Am frühen Nachmittag erreichte er die Hügelkuppe vor ihrem Haus in Ladue und sah Buddy Blackburns Auto in der Einfahrt, dachte sich aber nichts dabei. Pat schrieb andauernd wegen diesem und jenem an die Versicherungsgesellschaften oder rief an. Er versuchte immer, ihr klarzumachen, dass das alles ein Riesenhumbug war, aber sie bestand darauf, dass sie Versicherungen bis zum Abwinken abschlossen, und er ließ sie hauptsächlich Tiffs wegen gewähren. Auf der Anhöhe machte er kurz Halt, ordnete einige Sachen in der Aktentasche neben sich auf dem Beifahrersitz, und sah, wie die Tür des Hauses aufging und Buddy Blackburn herauskam. Einen Moment glaubte er, so müde er nach der Reise war, dass Buddy Pat einen Abschiedskuss gab, was an sich vollkommen unmöglich schien. Herrgott, dachte er, Pat küsste nicht einmal ihn zum Abschied. Und Buddy schon gar nicht. Schon gar nicht ihren Versicherungsvertreter, den sie kaum ertragen konnte und ... Oh-oh, und da verspürte er das kurze Zing und 5 ihm dämmerte, dass er einen Tag früher nach Hause kam als er ihr gesagt hatte. Buddy war nur drei oder vier Jahre jünger als Spain, trug sein Haar aber wie der Gitarrist einer Rockband, und Spain wusste, er hatte mindestens zwei halb-platonische Beziehungen zu jüngeren verheirateten Frauen seiner Klientel laufen - aber Pat? Nie im Leben. Er wartete bis der rote Sportwagen nicht mehr zu sehen war, raste den Hügel hinab in die Einfahrt, sprang aus dem Auto und rannte fest entschlossen ins Haus, seine Frau im Schlafzimmer zur Rede zu stellen, doch das erwies sich als unnötig. Sie stand an der Spüle in der Küche, sah zum Fenster hinaus ins Leere, trug hochhackige Schuhe und ein höchst aufreizendes Korsett, das er noch nie an ihr gesehen hatte, und sonst nichts; sie hatte ihm
den Rücken zugedreht und wandte sich langsam um, als er zur Tür hereinplatzte und sie am hellichten Nachmittag in ihren Fick-mich-Klamotten erwischte. »Ich glaube, der Ausdruck dafür ist in flagranti delicto«, sagte er kalt. »Du solltest heute noch nicht wiederkommen«, antwortete sie und zeigte damit, wie er fand, dass sie das Offensichtliche ausgesprochen gut begriffen hatte. »Tut mir leid.« Er musste sich nicht einmal anstrengen, ruhig zu bleiben. Das überraschte ihn so sehr. Dass er so ruhig blieb, obwohl er merkte, wie alles um ihn herum in Trümmer ging. Sein ganzes Leben zerschellte, und die Bruchstücke regneten zu seinen Füßen herab. »Ich könnte gehen und morgen zurückkommen, wenn du meinst, dass das hilft.« »Sehr witzig«, seufzte sie ein wenig angenervt und wandte sich von ihm ab. »Oh. Tut mir leid, wenn meine rhetorischen Fähigkeiten nicht so geschliffen sind. Ich könnte daran arbeiten und -« »Ich will mich nicht streiten«, sagte sie anscheinend, wandte ihm aber immer noch den Rücken zu. Er hatte seine Frau seit 6 rund einem Monat nicht einmal mehr richtig angesehen. Seltsamerweise fand er sie im Augenblick ausgesprochen sexy. Er sprach es aus, ehe er nachdachte. »Ich könnte wohl nicht den Schlammreiter bei dir machen?« Sie drehte nur ein wenig den Kopf zur Seite; er sah, wie sie unter dem dünnen Oberteil tief durchatmete und mit beachtlicher Anmut die Küche verließ. »Du schuldest mir eine Erklärung, du Schlampe. Warum, von allen Menschen auf der Welt, ausgerechnet Buddy BLACK-BURN?« sagte er zu ihrem Rücken. Da sie nicht antwortete, folgte er ihr, packte sie am Arm und wirbelte sie zu sich herum, verspürte jedoch immer noch nicht den Wunsch, sie zu schlagen, was sie offenbar beide überraschte. »Warum Buddy Blackburn?« »Das würdest du nicht verstehen.« »Es kann nicht daran liegen, dass wir beide keinen tollen Sex gehabt hätten.« »Siehst du, was ich meine?« Sie wandte sich ab, da packte er sie wieder. »Würdest du bitte mit mir reden, verdammt? Warum?« »Warum? Du machst Witze.« »Es war doch immer schön bei uns -« Er schüttelte den Kopf. »Na klar«, sagte sie ätzend ironisch, worin sie die ungeschlagene Meisterin war. »Du hast nie gesagt, dass es nicht gut ist - du hast sich immer so verhalten, als würde es dir Spaß machen. Wir hatten ein tolles Sexleben.« »Einen Zweiminutenquickie zweimal im Monat nennst du ein SEXLEBEN?« Sie lachte. »Das ist nicht fair.« »Was meinst du damit, es ist nicht fair?« »Mit kommt es nicht fair vor, zu sagen, unser Sexleben bestand aus einem Zweiminutenquickie -« »Siehst du! Jetzt haben wir eine Diskussion. Okay, du hast 6 gewonnen. Drei Minuten viermal im Monat, acht Minuten neunmal im Monat. Du hast gewonnen. Es war toll.« »Warum BUDDY BLACKBURN?« »Dich hat nie interessiert, ob ich befriedigt war.« »Was?« fragte er fassungslos.
»Du wolltest nur eine schnelle Nummer, zack-bumm und gute Nacht. Wann hast du zum letzten Mal etwas Romantisches gemacht oder wenigstens so getan, als würde dir etwas an mir liegen? Nie. So sieht das aus. Dich interessiert nichts und niemand, außer dir selbst.« »Das stimmt nicht, Pat. Wie kannst du -« »Warum Buddy? Es hätte jeder sein können. Ein Mann. Kein Waschlappen. Eigentlich brauchst du gar keine Frau. Du solltest ein ... du solltest schwul sein oder so. Du magst es ja nicht-mal.« »Du bist verrückt«, sagte er. Aber das Groteske der Situation, so lächerlich ins Zentrum eines häuslichen Klischees gerückt zu werden, setzte ihm allmählich zu. »Du hast den Verstand verloren«, sagte er ohne einen Hauch von Überzeugung zu ihr. »Ich will die Scheidung.« »Gib uns wenigstens noch eine Chance. Ich kann mich ändern. Ich will -« »Siehst du, was ich meine? Ein WASCHLAPPEN! Warum schlägst du mich nicht? Brüllst herum? Zerdepperst etwas. Du willst, dass ich bleibe. Du erwischst mich dabei, wie ich dich betrüge, und willst eine zweite Chance. Eine Chance wofür? Ein noch größerer Waschlappen zu sein? Willst du mir und Buddy im Schrank dabei zusehen? Ist es das?« Sie stellte sich direkt vor ihn, sah ihm in das rot angelaufene Gesicht und forderte ihn regelrecht heraus, ihr eine zu kleben. »Soll ich dir erzählen, wie es mit Buddy war? HM? Geilt dich das auf?« »Pat. Komm schon.« Er brachte kaum ein Wort heraus. »Willst du wissen, ob seiner größer ist als deiner? Das ist er, weißt du. Viel größer. Und er ist viel besser. Besser in der Matrat 7 zenarena, Mr. Großkotz. Wie gefällt dir das? Wolltest du das hören? Willst du jetzt immer noch eine zweite Chance - hm? Herrgott! Du machst mich krank!« Sie stapfte ins Schlafzimmer und schlug die Tür zu, gekränkt, wie immer die beleidigte Leberwurst, dachte er. Ein schönes Willkommen. Er versuchte zu schlucken. Die Bestätigung ihrer Untreue erfüllte ihn mit einer gewissen perversen Zufriedenheit, da sie ihm seine Befürchtungen, er könnte tatsächlich ein Waschlappen sein, ohne jeden Zweifel bestätigte. Doch es war ein kalter und flüchtiger Trost. Er war am Boden zerstört. Das war der richtige Ausdruck dafür. Am Boden zerstört. Und verwirrt, da seine Körperchemie plötzlich im Angesicht der Konfrontation unabhängig von seinem Gehirn zu funktionieren schien. Obwohl er sich wie gelähmt fühlte, wurde sein Ständer gleichsam als Kontrapunkt zur Benommenheit nach dem Gespräch zunehmend härter. Dass ein anderer Mann sie begehrenswert fand, hatte als seltsame Nebenwirkung zur Folge, dass er seine Frau wollte wie schon seit Jahren nicht mehr. Großer Gott, er war tatsächlich eine Art Waschlappen. Der Rest des Zerfallsprozesses ging schnell und herzlos über die Bühne. Sie wollte die Scheidung, verflucht noch mal, und das Ende seiner Ehe lag ebenso sehr an der Tatsache, dass er früher als erwartet nach Hause gekommen war, wie auch daran, dass er ein Waschlappen war. Seine unverzeihliche Indiskretion und seine Schwäche und seine mangelnde Männlichkeit hatten zerstört, was sie besaßen. Jetzt wollte sie die Scheidung. Und was blieb einem Waschlappen anderes übrig, als sich unter Tränen zu fügen?
Und so verließ sie ihn. Und wenn Sie jetzt glauben, dass es, wenn man sein Metier und seine Vorgeschichte berücksichtigt, nicht zu Spain passt, dass er diese Demütigung einfach so schluckte, dann haben Sie die Fakten begriffen, ohne die Wahrheit zu kennen. Die Wahrheit ist nämlich, dass Auftragskiller Menschen wie 8 du und ich sind. Sie haben Zahnschmerzen und bekommen Erkältungen. Manchmal überziehen sie ihr Konto oder ihr Auto springt nicht an. Wenn sie, wie Spain, ihr Leben eingerichtet haben, dann können sie wie ganz normale Familienväter daherkommen, die ein normales und langweiliges Privatleben führen. Wenn der Typ in der Autowerkstatt ihnen dumm kommt, legen sie ihn nicht um; sie gehen nach Hause und beschweren sich und leiden wie alle anderen auch. Sie werden genauso angeschissen wie unsereiner. Und so ließ er sie gehen. Der Gedanke, dass er Buddy Blackburn oder Pat oder alle beide umlegen könnte, kam ihm einfach nie in den Sinn. Was hätte es denn schon gebracht, verflucht? Außerdem wusste er, dass ihre Beziehung nicht wegen seinem Unvermögen im Bett, seinem kleinen Pimmel oder seinem waschlappigen Verhalten in die Brüche gegangen war. Es stand schon lange in den Sternen. Die Stellen, wo sie im Schlafzimmerschrank und dem großen begehbaren Schrank ihre Kleider von den Stangen genommen hatte, blieben als klaffende Lücken zurück. Schwarze Löcher, die Spain den Lebenssaft aus Herz und Hirn saugten. Und jedes Mal, wenn er sich von diesen Kräften anziehen ließ, kostete es ihn mehr. Tagelang saugte alles im Haus die Energie aus ihm heraus, und die gewöhnlichste Tat - wenn er die Kühlschranktür öffnete oder eine bestimmte Lebensmittelmarke sah - reichte aus, dass er innere Blutungen bekam. Eichord musste sich zusammenreißen, damit er nicht weinte. Und ihm trieb nichts so leicht Tränen in die Augen. Das Komische dabei war, an sich war alles in bester Ordnung. Was den Beruf anbetraf, hatte er die Zügel einer steil nach oben sausenden Rakete fest in der Hand. Und als sie ihn nach Los Angeles holten, zu dem Fall, den die Medien die »Augapfel-Morde« nannten, bekam er praktisch einen Blankoscheck und alles erster Klasse. »Sie sind ein Star in diesem Metier«, versicherte ihm der Liai 8 sonbeamte. Die redeten hier draußen tatsächlich so. Jeder in Südkalifornien schien irgendwie mit der Unterhaltungsindustrie verbandelt zu sein. Einer der Detectives im Revier hatte gerade ein Buch auf der Bestsellerliste; Jack hörte ihn am Telefon mit jemand über Tantiemenabrechnungen und Schaufensteraktionen sprechen und dachte im ersten Moment, sie hätten ihn ins falsche Büro geführt. Sie hatten einen Wagen, der am Flughafen auf ihn wartete, und das volle VIP-Programm für ihn; Standard. Zwei Streifenpolizisten begleiteten den Liaisonbeamten, und sie brachten ihn zuerst nach Studio City, damit ihm die Polizisten den jüngsten Tatort am dicht belebten Ventura Boulevard zeigen konnten. Es war der dritte einer Reihe von Bandenmorden, was noch nicht ausreichte, die Sache als Serienmorde einzustufen, aber genügte, dass man Jack hinzuzog, dem sein Ruf vorauseilte. Die Leute des LAPD wirkten auf ihn forsch, makellos gekleidet, hip, sehr klug und unaufrichtig. Auch daran trug die Filmindustrie die Schuld. Ganz Kalifornien schien davon angesteckt zu sein, diesem Virus der Ethik, wie auch immer. Es deprimierte ihn. Es deprimierte ihn, dass er ein Star war. Er wurde begrüßt, als wäre er hergekommen, um einen Film zu promoten oder so, und nicht, damit er Ermittlungen in einem Mordfall
aufnahm. Er war Gast in Talkshows gewesen. »Sehr hip«, sagte jemand zu ihm. Er spürte, dass er hier nichts ausrichten konnte. Alles war zu weitreichend, zu mobil, zu sehr Kalifornien. Niemand trug die Schuld, höchstens vielleicht San Andreas. Er befand sich eben im La-la-Land. Sie scheuchten ihn durch Studio City, jagten ihn zwei Stunden durch die Gegend, und als sie zurückkamen, gingen sie mit ihm essen; nicht ganz so Standard. Das Essen für die Vier hätte vermutlich jemanden zwei Hunnies gekostet, wenn am Ende eine Rechnung vorgelegt worden wäre. Überall wuselten Kellner herum, die bereit schienen, einem ein Feuerzeug unter die Nase zu halten, wenn man auch nur an eine Zigarette dachte 9 die Art von Restaurant. Das Essen ordentlich, aber unspektakulär. Eichord fühlte sich unwohl in seinen altbackenen Klamotten und allein an diesem erschreckend fremden Ort. »Sind Sie je im Pink Pussycat gewesen?« Fragen, was er am Abend vorhatte. Nie nach den Ermittlungen. Das sagte ihm alles, was er wissen musste. Sie waren so begeistert, ihn zu haben, wie er, hier zu sein. Einer der Fälle, bei denen »ein Spezialagent der Major Crimes Task Force die Ermittlungen unterstützt -« Sie würden ihn den Medien zum Fraß vorwerfen, wenn er sie morgen nicht genau im Auge behielt. »Möchten Sie heute Abend was von der Stadt sehen?« fragte ihn der Liaisonbeamte mit seiner eleganten Kombination von Jackett und Rollkragenpullover und grauer Stoffhose, während die beiden Uniformierten und der alte Jack in dem todschicken Restaurant vollkommen deplatziert wirkten. Eichord trank eisgekühlten Chablis wie ein Idiot und verging vor Selbstmitleid. Er hatte schon was von der Stadt gesehen, schönen Dank. Er hatte gebeten, dass sie ihn den Strip und den ganzen Rest ersparten und auf ein ruhiges Motelzimmer gehofft, aber jemand, den er flüchtig kannte, bestand in aller Deutlichkeit darauf, dass ein selbst zubereitetes Abendessen genau das Richtige für ihn wäre, und so ließ er sich mehr oder weniger an der Hand nehmen und in diesen dunklen kalifornischen Vorort führen, wo ihn ein überwältigendes Gefühl von déjà-vu überkam, dass er sich im Griff von Mächten befand, die er nicht beeinflussen konnte. Eichord, der selten die Zeit oder den Nerv hatte, reglos vor einem Fernseher zu sitzen und sich das Abendprogramm anzusehen (er war süchtig nach den alten Krimis, die immer als Spät-film gezeigt wurden), saß jetzt im Haus eines fast Fremden, sah mit halbem Auge zur Glotze, während er darauf wartete, dass er zum Essen gerufen wurde, und verfolgte eine Sendung, die das »Comeback« eines in die Jahre gekommen Komikers sein sollte; als der Komiker ein paar Worte zum Auftakt sagen sollte, begann er damit, dass er Erbsensuppe ausspuckte, als müsste 9 er sich übergeben. Kaum war das schockierte Gelächter des erschrockenen Publikums abgeklungen, lächelte der Komiker unschuldig. »Das schien mir einfach richtig zu sein«, sagte er. Eichord lehnte sich zurück, machte einen Moment die Augen zu und dachte an die vielen schrecklichen, abgedrehten, blödsinnigen, unrühmlichen, albernen, grässlichen und dummen Sachen, die Eichord der Mann, nicht Eichord der Polizist, angestellt und später bereut hatte. Sengende Demütigungen und unsägliche Peinlichkeiten, die sich als gnadenlos unvergesslich erwiesen. Und wenn er sich fragte: Warum — immer dieselbe Antwort. Weil es ihm in dem Moment richtig schien.
Mit fest zugekniffenen Augen und abgeschottetem Verstand verdrängte Eichord die Erinnerungen, während der Fernseher eines so gut wie Fremden ihm in den Ohren plärrte, spürte, wie ihn kurz die Angst vor der eigenen Sterblichkeit wie die kalte Spitze eines Eiszapfens berührte, und verspürte eine überwältigende Traurigkeit und Selbstmitleid. Er musste über sich lachen. Er lachte, weil seine Gedanken so absurd waren. Er tat sich leid - so leid weil er eines Tages sterben musste. Verspürte Traurigkeit, wie alles gekommen, wie sein Leben verlaufen war, wie Edies Leben verlaufen war. Er wünschte sich, er hätte sie jetzt anrufen können. Und das sah sein Gastgeber, als er das Zimmer betrat und nach dem Salatdressing fragte: Ob Jack Essig und Öl oder Thousand Island bevorzugte? Da saß Jack, sah sich einen abgehalfterten Komiker an, dessen Toupet aussah, als wäre es mit Sprühlack auf den Schädel aufgetragen, lachte und genoss die Sendung. Jacks Gastgeber war am Boden zerstört, dass er sich nicht von ihm nach Hause fahren lassen wollte, ganz gleich, dass es eine einfache Fahrt von vierzig Minuten war, und das bei neunzig Meilen die Stunde, Stoßstange an Stoßstange, das übliche Verkehrschaos. Aber Jack ließ sich nicht erweichen, bedankte sich artig für die Hausmannskost, setzte sich in ein Taxi aus Los 10 Angeles und fuhr nach Nirgendwo oder ins Jenseits oder keins von beiden, je nachdem, was zuerst eintreten würde. Der Taxifahrer wurde durch plötzliches Schweigen verhaltensauffällig. Jack begriff, dass der Fahrer in seinem Monolog innegehalten und ihn etwas gefragt haben musste. »Pardon?« sagte er. »Springs. Sind Sie je in Palm Springs gewesen?« »Seit Jahren nicht.« »Tja, na ja, mein Schwager und ich haben ein paar Arbeiten an Franks Haus dort erledigt. Wir sind in der Pool-Branche, wissen Sie. Und wir haben an seinem Pool gearbeitet. Er hat gerade einen Film mit dem Regisseur John Frankenheimer gedreht. Der, in dem er mit Janet Leigh spielt, die auch schon mal in meinem Taxi mitgefahren ist. Jedenfalls war das in Franks Haus in Palm Springs und ...« Großer Gott. Sogar die verfluchten Taxifahrer waren hier draußen im Showgeschäft. Das Abendessen wurde wieder zu einem familiären Fiasko. In seinem Kopf war der Mann Frank Spain, der Auftragskiller. Aber für das Mädchen am Esstisch war er nur »Dad«. »Dad«, heulte sie und machte zwei Silben daraus. »Tiff, heul nicht«, sagte er kauend. »Du weißt, dass ich keine Heulsuse bin.« »Nein. Du bist keine Heulsuse. Darum solltest du auch jetzt keine werden.« »Dad, warum magst du Greg nicht? Jeff hast du auch nicht gemocht. Du magst keinen Jungen, der mir gefällt.« »Ich mag ihn.« »Komm schon, Dad. Du hasst Greg. Dabei ist er ein guter Kerl und so. Er kommt aus einer netten Familie. Wieso magst du ihn nicht?« »Ich mag ihn doch. Lass gut sein, bitte. Können wir nicht in Ruhe essen?« 10 »Das ist die einzige Gelegenheit, wo ich mit dir reden kann. Du beachtest mich gar nicht mehr. Dad. Bitte. Ich will doch nur mit ihm zu Spielen und ins Kino und so was gehen.
Es ist ja nicht so, dass wir ein echtes Date hätten und lang wegbleiben und so.« Sie war vierzehn und blühte auf, und er wusste nicht, was er machen sollte. »Müssen wir gerade jetzt darüber nachdenken, wo ich essen will?« »Kann ich dann zu Greg gehen?« »Wenn du fünfzehn bist, dann kannst du zu Greg oder jedem anderen netten Jungen gehen, wie wir es besprochen haben. Aber bis dahin will ich nichts mehr davon hören, Tiff. Ende der Diskussion. Iss jetzt auf. Bitte.« Sie schwieg mürrisch. Dieses Mädchen, das weder eine Heulsuse noch mürrisch war. Und sie fragte sich, was aus ihnen werden würde. Archilochus, colubris hatte die Wanderung nach Süden noch nicht angetreten. Das junge Mädchen, die Tochter des Mannes, der sich Spain nannte, betrachtete zwischen den eleganten Vorhängen hindurch zwei leuchtend bunte Kolibris, die emporschössen, schwebten und wieder nach unten sanken, ein unglaubliches Ballett der Lüfte. Das Weibchen flog davon und verschwand, das erschöpfte Männchen verweilte und bediente sich an dem fast leeren Futterspender vor dem Fenster. Als es trank, kam das Weibchen wie aus dem Nichts und vertrieb das Männchen aus seiner schwebenden Position, worauf sie ihre komplexe Flugakrobatik fortsetzten. Doch das Mädchen bekam kaum etwas davon mit, denn in seinen starren Augen standen Tränen. Sie saß auf einem Sessel in ihrem teuer möblierten Zimmer, hatte aber kaum einen Blick für ihre luxuriöse Umgebung übrig. Das Haus ihrer Eltern war prachtvoll, die exklusive Wohngegend bestens gepflegt, ohne die Spur von etwas Hässlichem, eine sichere Zuflucht für die hiesige Fauna, fast schon ein kleiner 11 Park. Doch da sie immer nur das Beste vom Besten bekommen hatte, fehlten ihr die Vergleichsmöglichkeiten, die ihr ermöglicht hätten, das elegante Umfeld zu würdigen. Nicht, dass ihr etwas daran gelegen hätte. Die Tränen in ihren Augen quollen über und flössen als salziges Rinnsal, das ihre Sicht verschwommen machte, die braungebrannten Wangen hinab; sie wischte die verhaltene Flut mir dem Handrücken ab und schniefte in ein Taschentuch. Sie weinte traurig und gekränkt und voller Wut auf ihre Mutter, die sie verlassen hatte, und sie weinte um ihren Vater, der so am Boden zerstört war, dass er vor Kummer nichts und niemanden mehr an seinem Leben teilhaben ließ - auch seine Tochter nicht. Und ja, sie weinte auch ihretwegen, der Niedertracht und bitteren Ungerechtigkeit wegen. Und schluchzend wurde ihr klar, wie lächerlich sie auf ihrem Sessel, wo sie vor Selbstmitleid zerfloss, gerade aussehen musste. Äußerlich war sie ein geschmeidiger, braungebrannter, attraktiver Teenager mit langen Beinen und sanften, betörend weiblichen Rundungen, die allmählich zum Vorschein kamen und die schlaksigen Kanten verdrängten; ein Fremder hätte sie für sechzehn halten können, nicht vierzehn. Doch sie war eine betrübte Vierzehnjährige, Spains Tochter. Und hier und jetzt, in ihrem üppig dekorierten Zimmer, das sie so wenig sah wie den Balzflug der Kolibris, fühlte sie sich mit ihren vierzehn Jahren uralt. Uralt und einsam. Sie schniefte, wischte sich die Augen ab, schnäuzte sich wieder die rote Nase, streckte die langen Beine aus, stand auf und ging von ihrem Zimmer nach unten. Die Tür zum Arbeitszimmer ihres Dad war nicht im Schloss, daher öffnete sie sie lautlos einen Spalt
und betrachtete ihn, wie er reglos am Schreibtisch saß. Sie fuhr fast aus der Haut, als oben das Telefon läutete, lief hinauf und nahm beim vierten Klingeln ab. »Hallo.« »Tiff.« 12 »Oh, hi.« Es war Greg. Den ganzen Tag hatte sie gehofft, dass er sie anrufen würde. »Du hast mir gefehlt«, sagte sie und spürte, wie ihr der Atem stockte. »Dito. Ich wünschte, ich könnte dich sehen.« »Ich auch.« »Damit ich dich berühren kann. Festhalten. Ich könnte dich stundenlang knuddeln, ohne dass es mir langweilig werden würde. Weißt du das?« Sie liebte seine Stimme. »Greg, ich wünschte auch, wir könnten jetzt zusammen sein.« »Und warum treffen wir uns dann nicht irgendwo? Kannst du nicht aus dem Haus?« »Dad will nicht, dass ich ausgehe, mit Jungs, du weißt schon. Er sagt, erst, wenn ich fünfzehn bin.« »Oh, Mann. Kann ich dann wenigstens rüberkommen?« »Hm. Lieber nicht. Er begreift einfach nicht, dass ich erwachsen bin. Gar nichts lässt er mich machen. Ich komm mir vor wie im Gefängnis, seit Mom ... fort ist. Du fehlst mir so.« »Geh zu Amber, dann hol ich dich dort ab. Ich hab Rogers Auto, Mann, komm schon. Das kriegt dein Alter nie raus. Unmöglich.« Roger war ein älterer Junge, der Greg manchmal ans Steuer ließ. »Ich könnte Amber überreden, dass sie mit uns kommt, dann lassen wir sie bei Herman's raus.« »Ja, okay, gehen wir. Okay?« »Ich sehn mich so nach dir. Ich ... Oh, schon gut. Ich bin gegen drei da.« »Bis dann.« »Tschüs.« Sie legte auf und bemerkte, dass sie einen dünnen Schweißfilm unter dem Haaransatz hatte. Immer wurde ihr ganz heiß vor Aufregung, wenn sie mit Greg redete. Mit seinem zerzausten Haar und den blauen Augen, die Bergseen glichen, sah er so wunderschön wie ein Filmstar aus. Er gehörte nach Hollywood. Greg erinnerte sie immer an einen aus der Vorabendserie, 12 die sie sich ansah. Wie hieß er noch gleich - der mit dem widerborstigen, lockigen Haar? Nur sah Greg viel besser aus. Sie wünschte sich, sie hätte mit ihrem Dad über ihn reden können, aber wenn sie es versuchte, wurde Dad wütend. Dabei war Greg so toll. Er war zärtlich. Manierlich. Ein gebildeter Junge aus guter Familie. Was wollte man mehr? Sie war nicht im herkömmlichen Sinne hübsch, aber die Art Mädchen, das zu einer Frau heranwuchs, von der andere neidisch sprachen. Augen nur eine Winzigkeit zu weit auseinander. Die Nase nicht zierlich genug, dass Kinn ein ganz klein wenig zu breit für eine makellose Schönheit, aber ein interessantes Mädchen, dessen toller Körper sich gerade entwickelte. Sie trug das Haar wie einen zerrupften Federschmuck und brauchte Stunden, bis es genau richtig aussah - einmal hatte ihr jemand gesagt, dass sie mit der Frisur und ihren Augen wie eine Katze aussah. Sie mochte Katzen, seit sie ein kleines Mädchen war. Die aktuelle Frisur hatte sie aus einer Zeitschrift, weil sie die Bildunterschrift falsch gelesen hatte. Sie dachte, die hochgekämmte Haartracht hieß »Katzen-Look«, aber in Wahrheit stand da »Tatzen-
Look«; sie kopierte den Schnitt, aber »Katzen-Look« gefiel ihr besser. Sie hatte tatsächlich etwas Katzenhaftes, wusste es, sah es zurecht als eine ihrer Stärken und nutzte es aus. Dieses Kätzchen war eine ziemlich gute Katze. Ein nettes Mädchen. Das es gerade nicht leicht im Leben hatte. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass ihre Mutter mit diesem ... diesem Ding ... durchgebrannt war und sie verlassen hatte, Tiff ging nie ans Telefon, wenn ihre Mutter anrief und mit ihr reden wollte. Sie verabscheute ihre Mutter dafür, was sie ihnen angetan hatte. Besonders Dad. Er zerbrach daran, dass sie einfach so fortging. Irgendwie wollte sie ihm helfen, ihn retten. Ihre mütterlichen Instinkte kamen zum Vorschein, sie wollte ihn trösten, sich im Haus nützlich machen, damit er entlastet wurde, aber er ließ keinen an sich ran. Als wäre er im Schock. »Dad?« sagte sie und steckte den Kopf ins Arbeitszimmer. »Ich 13 geh rüber zu Amber. Bin bald wieder da. Okay?« Er sah mit verquollenen Lidern auf, nickte, und sie stürmte hinaus. Sie erinnerte sich, vor rund zwei Jahren hatte ihre Mutter ihr das Haar gebürstet und sie unterhielten sich dabei über diese Zeit des Monats; ihre Mutter sprach darüber, dass man blutete, wenn man geschlechtsreif wurde, und sie sagte nur so im Spaß zu ihrer Mutter: »Ich versteh nicht, warum wir da unten so gemacht wurden. Warum will der liebe Gott, dass wir jeden Monat bluten?« Da wurde ihre Mom ganz ernst. »Gott hat uns anders als die Männer gemacht, damit wir uns vermehren und lieben und Babys bekommen können. Eines Tages hast du einen Mann, dann zeugt ihr ein Baby miteinander, und neun Monate später kommt das Neugeborene dann da unten raus.« »Da unten?« antwortete Tiff. »Komm schon. Nie im Leben.« Das hatte ihre Mutter so amüsiert. Sie musste herzlich lachen. Offenbar fand sie das echt komisch. In seinem Arbeitszimmer spürte der Mann namens Spain, wie sich der Nebel über seinen Gedanken einen Sekundenbruchteil hob, und registrierte geistesabwesend, dass seine Tochter gerade den Kopf zur Tür reingestreckt, etwas zu ihm gesagt und er in seiner grüblerischen Benommenheit ihr ovales Gesicht im Türrahmen gesehen hatte wie das einer gerahmten Madonna; selbst das Sonnenlicht, das in dem Moment durch die Jalousien einfiel, umgab ihren Kopf wie ein goldener Heiligenschein. Sie wusste an dem Tag, dass sie mit Greg bis zum Letzten gehen würde, als sie den Trans-Am wuschen und Roger sie allein ließ und mit einem Mädchen verschwand, das ihm im Vorbeifahren zugehupt hatte. Rogers Eltern waren wie üblich nicht da, und fast hätte sie es da schon zugelassen, besaß jedoch Verstand genug und hielt ihn zurück, bis sie die PILLE besorgen konnte. Sie seiften das Auto ein und alberten dabei herum; sie trug echt enge kurze Hosen und ein knappes, zusammengeknotetes T-Shirt, das den Bauchnabel unbedeckt ließ, und sie lehnte sich 13 weit über die Haube, sodass die kurze Hose bis zu den Pobacken hochrutschte, und da trat Greg hinter sie. »AAAH!« Sie zuckte zusammen, als er sich von hinten an sie drückte. »Du Ratte, du machst mich ganz nass.«
»Echt?« fragte er und ließ sie über den Doppelsinn ihrer Worte nachdenken, während er die Arme um sie schlang und ihre Brüste hielt. »Ich bin total eingesaut.« »Ich würd dich gern noch mehr einsauen, weißt du.« Er drückte sich an sie, und sie spürte ihn hart und beharrlich. »OOOOOHHH, Mist!« Sie hielt den Schlauch nach hinten und spritzte ihn nass, dann rangen sie miteinander, rutschten über die glatte Oberfläche des Autos und durchnässten sich mit Seifenwasser. »Das zahl ich dir heim.« Jetzt knabberte er zärtlich an ihrem Ohr; sie leistete nicht mehr so heftig Gegenwehr, genoss seine Umarmung, und sie lachten. »Du bist verrückt«, sagte sie. »Auf jeden Fall«, flüsterte er mit den Lippen an ihrem Haar hinter ihr. »Das tut gut«, sagte sie. »Das auch?« Er ließ die Fingerspitzen kreisen, hauchzarte Bewegungen, bei denen er ihr nasses T-Shirt kaum mit den Fingern berührte. »So gefällt mir dein Hintern«, ließ er sie wissen, glitt mit der Hand nach unten und legte sie auf die rechte Pobacke. »Nass, meinst du.« »Hmmmm.« »Wenn du ein Loch in mich bohren willst, machst du das ziemlich gut -« sie drehte sich um, da versiegelte er ihre Lippen mit einem sanften, samtweichen Kuss. »Wen liebst du?« »Mmmff.« »Was?« Er ließ sie antworten. 14 »Du weißt, wen.« »Sag es.« Er küsste sie und zog sie wieder an sich, »Dich?« »Ja?« Er küsste sie so zärtlich. »Ja..« »JA.« »Mmmm.« »Du schmeckst gut.« »Gehen wir rein.« »Wir machen alles nass.« »Nicht, wenn wir die Klamotten in der Küche lassen.« »Gute Idee.« Sie gingen hinein, entledigten sich der nassen T-Shirts und kurzen Hosen und küssten sich wieder, dann stolperten sie in inniger Umarmung und immer noch nass auf das Sofa im Wohnzimmer der Nunnalys. Und er begann sein alteingespieltes Ritual, das stets sein nächster Schritt war, wenn er Tiff dazu brachte, sich mit ihm auszuziehen. »Ich liebe dich so sehr, weißt du?« Wäre sie älter oder klüger gewesen, etwas abgebrühter, dann hätte sie das einstudierte, künstliche Lächeln vielleicht als das Verführungsmanöver durchschaut, das es war. Aber sie war vierzehn und hatte kein bisschen Erfahrung. Und als er den Mund aufmachte und sie mit seinen vollen, sinnlichen Lippen anlächelte, da spürte sie, wie ihr Herz einen Schlag aussetzte und ihr der Atem stockte, und sie ließ sich von dem weißen Grinsen und dem perfekten Mund blenden -blinded by the light, vom Licht geblendet, könnte man sagen.
»Ich liebe dich auch, Greg«, sagte sie, dann küssten sie sich. Sie sah, was sie sehen wollte, als sie tief in diese hübschen blauen Hollywood-Augen blickte, und sie ließ sich gehen und fiel gewissermaßen in die Tiefen dieser diese sexy blauen Seen hinein. »Liebst du mich wirklich?« fragte er. So verzweifelt liebte Tiff den Gedanken, so vollkommen war ihre Hingabe an das Ideal der Romantik allgemein, dass sie sich 15 ihm direkt proportional zu ihrem Wunsch, wiedergeliebt zu werden, hingab. Was ein ziemlich schwerwiegender Fehler ist, wenn man es mit einem aalglatten kleinen Aufreißer wie Greg Dawkins zu tun hat. Ein durch und durch verdorbenes und verzogenes Einzelkind, verwöhnt und verhätschelt, im Glauben erzogen, dass er etwas Besseres als alle anderen wäre, der zuviel Komplimente und zuviel Taschengeld bekam und zu wenig Regeln kannte. Ein gutaussehender Junge mit zuviel Freizeit und einer fiesen, gemeinen Ader. »Komm schon, Püppchen. Nicht«, sagte er, als sie die Beine zusammenkniff und seine tastenden Finger zwischen ihren warmen Schenkeln einklemmte, »lass mich nicht hängen, bitte. Ich muss dich haben.« Er bewegte die Finger zielstrebig weiter, behutsam und sanft an ihren Beinen hoch zu der Stelle, die den Hauptgewinn bedeutete, das Land, wo Milch und Honig flössen. »Bitte, Greg.« Sie versuchte, ihn abzuwehren. »Bitte«, flehte sie ihn mit ihrem heißen, feuchten Mund an, aber ihr Gesicht war aufgedunsen und verzerrt vor Verlangen und unter der Bräune ganz rot und sie wollte, dass er gut gut gut zu ihr war. »Bitte«, sagte sie immer wieder. »Bitte was?« fragte er, biss sie zärtlich und küsste sie dabei an den richtigen Stellen, wo er den Herzschlag spüren konnte, küsste ihren rasenden Puls mit seinem Hollywood-Mund, ließ seine Filmstar-Lippen über ihren ganzen Körper wandern und versengte ihr die Haut mit der Flamme seiner meisterlichen Übung im Küssen, während er zielstrebig seinen Plan verfolgte. »Oh, bitte«, flüsterte sie und ließ ihn die neu entdeckten, unbekannten Regionen mit seinen abenteuerlustigen Fingern erforschen, und er sagte: »Bitte, Baby«, als Antwort auf ihre Bitten. »Du musst mich lassen, Engel, ich sterbe, wenn ich nicht kommen kann.« Und dann sein todsicherster Dosenöffner: »Bitte lass mich dir die höchste Form der Liebe zeigen«, flehte er. Seine List hallte in ihren Ohren wider, und später sollte sie sich an seinen Blödsinn erinnern. Später, als es zu spät war. Später, 15 als das Romantischste, das er je zu ihr sagte, »Komm, ziehen wir 'ne Linie hoch« war. Doch vorerst ging sie ihm und seinem sorgsam einstudierten Ränkespiel auf den Leim. Sie hatte Greg schon zu oft vertröstet. Seine Duldsamkeit dürfte Grenzen haben. Er war der süßeste Junge in der Schule, und außerdem machten es jetzt alle Mädchen. Mädchen, die viel besser aussahen als Tiff, wären ohne zu zögern mit Greg ins Bett gehüpft, wenn er ihnen auch nur zugeblinzelt hätte. Und sie hatte Angst, wenn sie weiterhin nein sagte, würde sie ihn verlieren. »Bitte, Baby. Bitte.« Er bewegte die heißen Finger, und sie wollte ihn. Warum sollte sie sich etwas vormachen?
»Nicht.« Sie stieß ihn behutsam von sich. »Hör mir einen Moment zu, Liebes. Erinnerst du dich an das letzte Mal? Wie du so scharf geworden bist und so und gesagt hast, dass du durchdrehst, wenn ich dich nicht weitermachen lasse?« »Das ist nicht fair, Baby. Ich meine, ich bin so heiß, ich ex-plo-diere gleich.« Er hauchte die Flamme über sie wie ein junger Drache. »Bitte lass mich dich lieben.« »Begreifst du nicht, dass ich dich auch will?« »Sieht aber nicht so aus.« »Ich liebe dich und ich will dich wirklich, glaub mir.« »Dann zeig es mir«, verlangte er und bewegte die Finger wieder. »Süßer, hör zu. Ich kann nicht das Risiko eingehen, dass was, du weißt schon, passiert.« »Ich sorg schon dafür, dass nichts passiert. Ich pass auf.« »Ich muss vorsichtig sein. Noch nicht, BITTE. Hab noch ein klein wenig Geduld, süßer Greg, ich will es auch.« Sie küsste ihn zärtlich, aber er reagierte nicht. »Nach allem, was Mom uns angetan hat, Dad, dass sie einfach fortgegangen ist... Gott. Wenn was passieren würde. Das würde Dad den Rest geben. Ich darf das Risiko nicht eingehen. Hab bitte noch etwas Geduld.« »Ich weiß nicht, ob das geht«, sagte er mürrisch, mit exakt dem 16 richtigen drängenden Unterton. Und am nächsten Vormittag schwänzten sie die Schule; Tiff ließ sich von ihm in die Free Clinic in der Innenstadt fahren und sich Antibabypillen verschreiben. Damit fing der ganze Ärger an. Den Tag sollte sie in ihrem ganzen Leben nicht mehr vergessen. Noch Wochen danach spürte sie, wie ihre Wangen glühend heiß wurden, wenn sie nur daran dachte. Sie ging aus dem Haus wie immer, als wollte sie zur Schule. Greg holte sie mit Rogers Karre ab und sie fuhren in die Stadt. »Mann. Das ist echt ätzend.« Die Free Clinic sah aus wie aus einem Roman von Dickens und lag in einer fragwürdigen Gegend. »Soll ich mit reingehen?« Sie hörte seinem Tonfall an, dass er nicht die Absicht hatte. »Nein. Wart einfach auf mich, ja?« »Klar.« Sie küssten sich, dann ging sie hinein. Man musste alle möglichen Fragen beantworten, und die Frau redete und redete und kam vom Hundertsten ins Tausendste, derweil Tiff langsam ein Gefühl des Unbehagens und Grauens überkam, während sie der Frau mit halbem Ohr zuhörte »... das nennt man Pessar, was bedeutet...« - und sich wünschte, es wäre endlich vorbei. Sie fragte sich, wie es mit Greg sein würde. Und dabei hing die ganze Zeit die Schuld ihrer Mutter wie eine dunkle Wolke über ihr. »... und das ist ein Diaphragma ...« Und kau jeden Bissen zweiunddreißig Mal und schau nach rechts und links, bevor du über die Straße gehst. Und dann war es vorbei, Tiff hatte die PILLE und war ganz aufgeregt und ängstlich und vierzehn Jahre alt und lief hastig aus der Free Clinic hinaus und oh mein Gott OH NEIN, DAD! Greg war nirgends zu sehen. Ihr Dad, der aussah, als wäre er drei Meter groß und würde gleich vor Wut explodieren, wartete auf sie. »Was machst du hier -« 16
Er unterbrach sie, indem er mit dem Daumen zum Auto zeigte, was heißen sollte, mach, dass du zum Auto kommst. »Steig ein«, fauchte er. »Wo ist Greg? Was hast DU hier zu suchen?« »STEIG EIN.« »Dad.« Nichts. Das Auto springt an, er braust vom Bordstein los und fädelt sich in den Innenstadtverkehr ein. »Dad? Was soll das alles?« »Das ist die Höhe, Tiff. Sollte nicht ich dich das fragen?« »Bist du mir gefolgt, Dad? Ich meine, das ist so ziemlich das erbärmlichste -« »Nein, Süße. Ich musste dir nicht folgen. Ich wusste genau, wohin du heute morgen gehen würdest.« »Hat Amber?« »Dich braucht nicht zu interessieren, wie ich dahintergekommen bin. Ich hätte das Telefon abnehmen und dich aus Versehen von der Pille sprechen hören können, nicht? Ich hätte feststellen können, dass du dich die letzten paar Tage ziemlich verdächtig benommen hast, dich vielleicht bei einigen Lügen erwischen und herausfinden können, dass du dich mit diesem Flegel Greg triffst, als du angeblich bei einer Freundin warst - ich meine, ich hätte es auf hundert Arten herausfinden können. Wenn man andauernd lügt, muss man damit rechnen, dass man erwischt wird. Oder nicht?« »Greg ist kein Flegel. Nenn ihn nicht so.« »Oh. Ich halte ihn für einen Flegel. Ich finde, er ist hundertprozentig genau das, was er ist. Ein rotznäsiger, verlogener, hinterlistiger kleiner Flegel, der nichts als Ärger macht und ernste Probleme bekommt, weil er ein vierzehnjähriges Mädchen belästigt hat. HABE ICH MICH KLAR UND DEUTLICH AUSGEDRÜCKT?« »Du musst nicht so schreien. Ich sitz direkt neben dir, Dad.« »Du verlogene kleine Hure!« Und ehe er sich beherrschen konnte, schlug er zu und gab ihr eine Ohrfeige, dass er hören 17 konnte, wie sie mit dem Kopf gegen das Fenster auf der Beifahrerseite knallte; er schlug sie viel fester als eigentlich beabsichtigt, klebte ihr unwillkürlich eine, erhob die Hand gegen sie, ehe er sich eines Besseren besinnen konnte, schlug seine treulose Tochter, schlug Pat, schlug ihren Liebhaber Buddy, schlug die Stewardess, die ihn im Flugzeug angefasst hatte und ließ seine ganze Wut und Qual und Frustration an dem kleinen Mädchen aus. »ICH HASSE DICH«, schrie sie ihn schluchzend an. Das war ein Schlag, den er nicht mehr zurücknehmen konnte. Nicht die Ohrfeige mit dem Handrücken oder die zähneklappernden Kopfschmerzen, die sie bekam. Das war gar nichts. Wirklich schlimm war der Ausdruck, den er gebraucht hatte. So sehr sie es sich je wünschte, sie wusste, den Ausdruck würde sie ihm nie verzeihen. »Weißt du, was ich auf dem Weg hierher über dich gedacht habe? Was mir durch den Kopf gegangen ist, als ich auf der anderen Seite gegenüber der Klinik darauf gewartet habe, dass du deine kleinen Schlampenpillen holst, damit du dich diesem - diesem Jungen hingeben kannst? Als wäre mir zum ersten Mal klar geworden, dass ich dich überhaupt nicht kenne. Du hast wie eine vollkommen Fremde unter unserem Dach gelebt. Meinem Dach«, verbesserte er sich. »Und von jetzt an muss ich dich behandeln wie eine Fremde. Ich muss Regeln aufstellen. Strenge Regeln.« »Ich hasse dich, weißt du«, fauchte sie ihn an und betrachtete ihn immer noch hemmungslos schluchzend mit ihren zusammengekniffenen Katzenaugen.
»Und ich liebe dich, und darum -« »Stimmt gar nicht«, sagte sie und schluchzte verzweifelt, »du verlogenes altes Aas«, und das Wort Aas war das letzte, das sie lange, lange Zeit mit ihm sprach. Er fuhr fort und erläuterte seine neuen Regeln, die so definitiv absurd waren, dass die alten Einschränkungen sich dagegen fast vernünftig ausnahmen. Die Strenge, mit der er Tiff begegnete, seit Pat mit ihrem wahren Liebsten durchgebrannt war, würde 18 sich milde ausnehmen verglichen mit den drakonischen Maßnahmen, mit denen er ab jetzt seine aufsässige, kriminelle Vierzehnjährige »kontrollieren« würde. Spain redete weiter und kommandierte, wo er zuhören und Fragen stellen sollte. Statt Verständnis oder behutsame elterliche Führung stellte er Anforderungen an sie, die sie nie im Leben erfüllen konnte. Er nahm seine Tochter, die ihn liebte, und nutzte sie als Ventil für seine aufgestaute Wut. Und die Schroffheit dieses Streits schlug die Tür zwischen ihnen ein für alle Mal zu. »Wie du mir das antun konntest, wo du genau weißt, dass ich so einen Mist momentan überhaupt nicht brauchen kann und ...« Sie hörte nur ein unverständliches Nuscheln von Worten. Aber war das nicht so typisch ihr Vater? Was ER momentan überhaupt nicht brauchen konnte. Ganz egal, was andere brauchten. Ihretwegen konnte er sich zum Teufel scheren. Sie hatte alles versucht, ihm mehr Liebe zu geben, als Mom fortgegangen war. Die kleinen Extras. Arbeitete zu Hause so schwer für ihn. Putzte für ihn. Kochte ihm nahrhaftes Essen. Machte alle Hausarbeiten, die ihre Mutter erledigt hatte. Sie versuchte, mit ihm zu reden, aber er wollte nicht. Wenn sie verständnisvoll und mitfühlend war, zog er sich in das Schneckenhaus seines angeknacksten Egos zurück, wo sie nicht an ihn rankam. Und jetzt das. Sie fuhren eine halbe Stunde schweigend, jeder mit seinen eigenen wütenden Gedanken beschäftigt, beide sprachlos, schäumend vor Zorn und Frustration und Selbstmitleid, rasend vor Verbitterung; die grobe Klinge ihrer Taten und Worte hatte die letzten Bande zwischen Vater und Tochter zerschnitten. Als sie vor dem Haus hielten, war sie aus dem Auto gesprungen und hatte die Haustür hinter sich zugeschlagen, ehe er auch nur nach der Fernsteuerung des Garagentors auf der Sonnenblende greifen konnte. Als er das Haus betrat, war sie längst nach oben gelaufen, vertauschte die Pillen mit einigen alten Tabletten ihrer Mutter und brachte ihren kostbaren Schatz in Sicherheit. 18 Irgendwann würde er danach fragen. Vermutlich würde er sogar einfach ihre Handtasche durchsuchen und sie nehmen, ohne ein Wort zu sagen. Kaum hörte sie, dass er in sein Arbeitszimmer ging, vergewisserte sie sich, dass er die Tür auch wirklich zugemacht hatte, und wählte hastig die Nummer der Dawkins. Gregs Mom nahm ab. »Hallo?« »Hi. Ist Greg da?« fragte sie leise. »Klar, Liebes. Oh, weißt du, was dein Dad von Jerry will?« »Hm?« »Schon gut. Ich dachte, es geht vielleicht um diesen anderen Anruf. Moment noch. Greg ist unterwegs.« Sie hörte, wie er den Hörer in die Hand nahm. »Ja?« »Was ist passiert?«
»Ist rübergekommen, als ich gewartet hab«, sagte er in dem knappen Tonfall, mit dem er sie wissen ließ, dass jemand mithörte. Er sprach so leise, dass sie nicht alle Worte mitbekam. »Was ?« »Sagte, ich soll verschwinden oder er ruft die Bullen. Minderjährig. Lässt mich einbuchten. Kapiert?« Er flüsterte wirr und unverständlich. »Aber wir haben gar nichts gemacht. Ich bin immer noch JUNGFRAU«, sagte sie lauter als beabsichtigt; das Wort hallte wie ein Pistolenschuss durch das Zimmer. »Sagte, wenn ich's tue. Muss ins Gefängnis und so. Will's meinem Dad sagen. Dafür sorgen, dass ich nie wieder fahre. Glaubt anscheinend, es war Dads Auto. Hat hier angerufen und Mom was ausrichten lassen. Du musst ihn aufhalten.« »Ich kann ihn nicht aufhalten. Er ist verrückt. Auf dem Heimweg hat er mich geschlagen und eine Hure und Schlampe und so genannt. Dass ich von jetzt an nicht mehr seine Tochter bin und den ganzen Mist. Und ich dich nie wiedersehen kann.« Sie schluchzte wieder, weil sie nicht anders konnte. »Ich hab dem 19 Arschloch gesagt -« Sie hörte die Tür unten. »Muss auflegen. Ich ruf dich heute Abend an«, flüsterte sie, legte lautlos auf und wartete auf Schritte auf der Treppe. Sie sagte nichts, als er an die angelehnte Tür klopfte. »Wir müssen darüber reden, Tiff. Kann ich reinkommen? Es hat keinen Sinn, wenn du da drin sitzt, schmollst und mich anschweigst.« Sie blieb reglos sitzen. Sagte kein Wort. Sah ins Leere. Wollte ihm keine Regung zeigen. Der Arsch sollte seine Predigt halten und wieder verschwinden. »Es tut mir sehr leid, dass ich dich geschlagen habe, aber diesmal bist du einfach zu weit gegangen. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie die Hand gegen dich erhoben, das weißt du. Aber wenn ich sehe, wohin es uns gebracht hat, frage ich mich, ob das der richtige Weg war, eine junge Dame zu erziehen. Dennoch. Ich hab dich sehr lieb, ob du das jetzt akzeptieren willst oder nicht. Ich hoffe, du siehst ein, das es nur darum ging, dich vor einem Fehler zu bewahren, der dein Leben ruinieren könnte« - sie gestattete sich ein Grinsen, als er das sagte - »und das zum ungünstigsten Zeitpunkt, mitten in einer Ehekrise. Ich meine, wir sitzen hier in den Trümmern unseres Familienlebens, Mom auf und davon und so, und dann ziehst du so eine Nummer ab.« Er schüttelte fassungslos den Kopf. »Aber im Auto war jedes Wort ernst gemeint. Du bist wie eine Fremde für mich. Du bist launisch und egozentrisch, und jetzt noch das - du drehst durch. Gefährlich. Das viele Geld, der Luxus und keine Geschwister - das war ein Fehler. Wir müssen uns beide ändern. Ich muss endlich anfangen, dir ein echter Vater zu sein. Ab sofort gelten in diesem Haus Regeln, und auch wenn ich weiß, dass sie dir sicher nicht gefallen, sind sie zu deinem Besten. Bis jetzt hat deine Mutter die Regeln aufgestellt, aber der lag nicht genug an dir und ich war zu sehr mit meiner Arbeit beschäftigt. Du bist mehr oder weniger ohne elterliche Aufsicht ein Teenager 19 geworden. Es ist nicht deine Schuld. Es war meine. Aber das ist jetzt vorbei.« Sie holte tief Luft und atmete ganz langsam aus, um ihm zu zeigen, wie langweilig er war.
»Wir fangen mit dem Telefon an. Ich wünsche, dass du Greg nicht mehr anrufst. Ist das klar? Du hast ihn gerade vor ein paar Minuten angerufen, nicht? Ich meine, trotz allem, was wir gerade durchgemacht haben, musstest du unbedingt seine Stimme hören, hm? Damit lässt du mir keine andere Wahl, als dir das Telefon wegzunehmen.« Er ging zum Telefon auf ihrem Nachttisch und holte ein großes Taschenmesser heraus. Sie wandte sich ab, als er das Kabel durchschnitt. Sie versuchte, an gar nichts zu denken. »Tut mir leid, dass ich dich so behandeln muss. Aber du bist offensichtlich nicht bereit, mir entgegenzukommen. Ich kann dir kein Taschengeld mehr geben. Ab sofort bekommst du eine kleine wöchentliche Summe für deine Schulsachen. Ich wünsche nicht, dass du aus dem Haus gehst, außer ...« Sie schaltete ihn einfach ab. Sie dachte an Greg, seine Augen, seine zärtlichen Hände und tagträumte, wie es beim ersten Mal sein könnte. Und es würde nicht mehr lange dauern, das schwor sie sich. Ganz gleich, wie sie es anstellen musste. »... und da wir schon dabei sind, ich nehme die Pillen und alles, was sie dir heute in dieser Klinik gegeben haben.« Und sie hörte, wie er nach ihrer Handtasche suchte, sie aufklappte und durchsuchte, und sie musste sich auf die Zunge beißen, damit sie nicht laut auflachte. Als das Wochenende kam und ihr Dad zum ersten Mal seit Tagen das Haus verließ, litt sie unter einem schweren Gefängniskoller. Sie rannte nach unten, wählte Gregs Nummer, hielt den Atem an, überkreuzte die Finger und hoffte, er würde zu Hause sein. Beim zweiten Läuten nahm er den Hörer ab und sagte hallo. »Stell keine Fragen«, beschwor sie ihn atemlos. »Wenn du mit 20 mir schlafen willst, dann komm her und hol mich ab. Ich warte unten an der Kreuzung vom Highway, okay?« »Hm? Oh, oh, ja. Klar, bin gleich da.« »Beeil dich«, sagte sie und legte auf, während er sagte: »Verlass dich drauf.« Und sie lief wieder nach oben, trug etwas Lip-gloss auf, den sie nicht brauchte, und etwas Lidschatten, den sie fast nie trug, prüfte ihre Frisur, vergewisserte sich, dass die Pillen in ihrer Tasche waren, und lief durch Ruffstone Terrace zum Highway. Eine blendend aussehende, vierzehnjährige zukünftige Ex-Jungfrau. »He«, rief er durch das runtergekurbelte Fenster. »Du warst aber schnell hier.« »Ich trödle nicht«, sagte er, während sie zum Auto lief und einstieg. »Du hast das Auto von deinem Dad.« Sie war überrascht. »Er ist nicht daheim. Ich hab nicht gefragt. Er und Mom sind mit dem Kombi unterwegs.« »Wo willst du hin?« Sie sagte es fast teilnahmslos. »Hm?« »Ich will mit dir schlafen«, sagte sie, drehte sich auf dem Sitz um und kuschelte sich so gut es ging an ihn. »Jetzt.« Keine fünf Minuten später fuhr er hinter einen Motel-Restaurant, das er kannte, von der Straße ab und klappte den Kofferraum auf. Er winkte ihr, dass sie aussteigen sollte. »Komm«, sagte er. Er holte eine alte Armeedecke heraus. »Wo hast du die her?« »Die haben wir immer im Kofferraum. Für medizinische Notfälle.« Er lächelte. »Sind wir das - ein medizinischer Notfall?« »Ich auf jeden Fall, Engel«, sagte er und half ihr am Rain eines kleinen dreieckigen Wäldchens über einen Stacheldrahtzaun.
»Ich mach dich schon wieder gesund«, versicherte sie ihm anzüglich und nahm seine Hand. »Ja«, sagte er heiser und bewunderte, wie sich der Stoff über 21 ihren erstklassigen, perfekten Pobacken spannte. Er drückte sie an sich. »Ziehen wir dir diese Hose aus.« »Mmmmmm.« »Gott.« »Oh.« »Himmel.« »Ooooooooooohhh.« Plötzlich brach alles aus ihr hervor, als wäre ein Damm gesprengt worden. Die Wochen des Wollens und Wartens. Und er versuchte, sie aus den Kleidern zu bekommen, ihr die verdammte Hose runterzuziehen, während sie an seinem Hemd zerrte und der Verkehr in der Ferne vorübersummte, und sie ließen sich in dem Wäldchen auf die alte Decke fallen, unmittelbar hinter dem Platz, wo das Motel und die fettige Frittenbude ihre Abfälle abluden, aber das war in diesem Moment in der großen, weiten Welt des Sports so ungefähr die schönste, geilste und herrlichste Stelle, die sie sich denken konnten. »Du weißt, wie ... lang —« »Nnnnnn.« »Wie lang ... ich schon -« »Oh. Oh, Gott.« Sie wartete schon so lange darauf. Irgendwie hatte sie gewusst, dass sie eines Tages zusammen sein würden; nur so schnell hätte sie nicht damit gerechnet. »Oh, Baby.« Ihr Mund war wie heißes Feuer, und sie ließ sich die Zunge davon versengen und versuchte, die Flammen mit ihrem feuchten Speichel zu löschen. »Himmel, Gott, oh.« Sie war glatt und braungebrannt. Ihm gefielen diese langen, schlanken, vollkommen glatten Beine, als er zum ersten Mal in sie eindrang. Gab es etwas Besseres als eine unberührte, enge vierzehnjährige Stute mit sexy Beinen und obendrein blind vor Liebe? Oh, sie war so eng. »Ich bin ganz sanft, Baby.« Oh, ja. Ich press deiner Pflaume den Saft raus. Oh, ja. Ich stoß dir das dicke Ding rein. Mann, an dem Harten könnte sich eine Katze die Krallen wetzen. »Oh.« 21 »Du bist so schön«,sagte er ihr und küsste sie zärtlich, während er in sie rammelte, »du bist so wunn-derrr-schöööön.« »Ich will es schon so lange.« »Küss mich.« Ihre braungebrannte Haut war makellos, samtweich, glatt wie die eines Babys und so unglaublich weich. Sie berührten einander mit den Lippen, er presste den Mund bei jedem Stoß fest auf ihren, während er sie mit dem Becken in das zusammengedrückte Grasbett rammte, das sich unter der Decke befand, ihn ihr reinstieß, immer und immer wieder, es dem geilen kleinen Luder besorgte. »... will dich schon so lange, ich ...« »Ja.« »... ich hab ... ich ...« »Oh, ja.«
»Ja.« Er strich mit den sanften Händen über diese kleinen, kindlichen Brüste mit den winzigen Warzen. Kleine, heiße Kreise auf ihrer Haut. »Ahhhh.« »Es gefällt dir.« »Ja.« »Oh, ja, Baby.« »Hnnnnn. Greg.« »Küss mich. Gib mir deine feuchte, heiße Zunge.« Er beugte sich über sie, stieß ihr die Zunge hinein, küsste sie innig, während er in sie und wieder hinaus glitt. »Gott. Oh, ich liebe dich.« »Komm schon. Oh. Komm SCHON, MACH ES OOOOOO-OOOOOOOOOOH.« »AAAAAHHH.« Er lachte beinahe in ihren Mund. In ihren heißen, feuchten, vierzehnjährigen Mund. Und verbrannte sich den Schwanz in ihrem engen, überfließenden Fleisch. »Ochchchch.« Lange musste er sich nicht beherrschen. Sie kam wie ein verdammter D-Zug. Gott, das lief alles so super. Alles passte in 22 jeder Hinsicht wie die Faust aufs Auge. Und sie kuschelten sich aneinander und streichelten sich und liebkosten sich, sodass es nicht lange dauerte, bis ihn das Mädchen und die Beine und die enge Möse und der blutige Fleck auf der alten Decke so aufgeilten, dass er wieder einen Steifen bekam; er küsste sie und strich ihr über die langen, glatten Beine, die sie feucht für ihn spreizte. »Ich brauche dich«, flüsterte er und ließ die Finger über die scharfe vierzehnjährige Brust wandern. Sie spürte die sengende Hitze bis in ihr Herz. »Ich brauch dich auch.« »Gehörst du ganz mir?« Er küsste sie, dann erst gab sie Antwort. »Das weißt du doch«, schwor sie ihm. »Tiff, ich muss wissen, dass du mich so sehr liebst wie ich dich«, flüsterte er auf seine sanfte, drängende Art und glitt mit den Fingern an ihren langen, nackten Beinen entlang. »Ich liebe dich«, versicherte sie ihm zwischen Küssen. »Zeig mir, wie sehr«, sagte er zu ihr. »Liebst du mich, Tiff?« Jetzt spielte er wieder Hai Hunk und kehrte ins Mösenstadion zurück. »Jaaaaa. Oh, sei vorsichtig, ooohhh. Oh, Gott. Ich bin so heiß.« Sie schloss die Katzenaugen vor Ekstase. »Sag es mir. Zeig es mir. Wie sehr.« »Ich will dich. Jetzt JETZT JEEEEEEEEEEEETZT.« »Sag es. SAG ES.« »NNNNNNNNNNNNNNNN.« Das genügte ihm. Nach dem zweiten Mal. Erschöpft und ausgelaugt. Nass. Ihre Körper kühlten an der frischen Luft ab. Er hörte den gedämpften Verkehrslärm und dachte nach. Gab es etwas Besseres als mit dieser geilen, noch so gut wie neuen vierzehnjährige Pflaume eine Nummer zu schieben? Und er war der Superschieber, mein lieber Schieber - Max, du hast das Schieben raus, dachte er bei sich und lächelte. 22 »Warum lachst du?« fragte sie und wollte sich an ihn kuscheln. »Mir ist eben noch was eingefallen, was wir zusammen machen können.« Dann holte er mit einem breiten Grinsen seiner gutaussehenden Hollywoodfresse seinen Stoff raus. »Das schon mal versucht?«
»Was ist das?« Ihre Katzenaugen wurden groß. »Der Schnee, auf dem wir alle talwärts fahren«, sang er atonal. Er trug ein kleines goldenes Ding an einer Kette, damit schaufelte er ein kleines bisschen heraus, sagte: »Mach es so«, und schniefte. »Das kann ich nicht.« »Man kann es auch essen.« »Herrgott.« »Versuchs mal. Ist echt stark. Komm schon. Wir wollen doch alles Schöne miteinander teilen, richtig?« »Richtig. Okay.« Er schüttelte ein wenig auf den Löffel, worauf sie zaghaft inhalierte. »Puuuuh. Oh! HERRGOTT, Greg, KLASSE!« Sie nieste. »Das haut rein«, sagte er, vermutlich das einig Aufrichtige, das er an diesem Tag sagte. Und sie sah ihren Liebsten an und lachte glücklich. Frank Spain, damals noch ein Junge namens Frank Spanhower, war nie ein großer Stecher gewesen. Seine Jugend war in sonstiger Hinsicht normal, aber eine sexuelle Durststrecke. Darüber hinaus hatte er eine unbedeutende Sprachstörung, die bei Mädchen aber auch nicht gerade der Bringer war. Als Kind kann man mit einer Sprachstörung ziemlich weit unten in der Hackordnung stehen. Selbst schlimme Aknefälle, Sommersprossentussies, Fettsäcke und abgedrehte Spinner können auf einen mit so einer Behinderung runtersehen. Als er etwas älter war, erlebte er erste sexuelle Erfahrungen als peinliches Fiasko. Er fühlte sich zu Mädchen hingezogen und 23 wusste, er war normal, nur unerfahren, doch dieses mangelnde Selbstvertrauen machte ihn ungewöhnlich schüchtern. Erst mit seiner Arbeit änderte sich das alles. Am Anfang war er ein Handlanger gewesen. Damals arbeitete der Mob, die Mafia, noch in den Läden und Ständen in St. Louis, wo es frisches Gemüse direkt vom Erzeuger gab, und nutzte deren legale Fassaden, um Schwarzgeld zu waschen. Mr. Ciprioni nahm Frank aus Mitleid unter seine Fittiche, weil er den Jungen mochte, und ließ ihn Botengänge in den Büros machen. Der Junge wusste nichts vom Mob. Aber sie bezahlten ihn gut, und er und Vince Ciprioni, der jüngsten Sohn vom Boss, waren Schulkameraden und Waffenfreaks. Vince wollte immer, dass er ihm das Schießen beibrachte. »Verdammt, du kannst echt prima mit dem Gewehr umgehen«, sagte Vince eines Tages zu ihm. Frank hatte seine Mutter beschwatzt, damit sie ihn endlich sein Red Ryder BB einmotten und ihn ein .22er Gewehr kaufen ließ, und binnen einer Woche lebte im Umkreis von zehn Blocks um ihr Haus kein einziger Scheißvogel mehr. »Ganz gut, würde ich sagen«, antwortete er. Er wusste, dass er gut war. Im Pfadfinderlager hatte er schon im ersten Jahr alle anderen Jungs beim Wettschießen geschlagen. Er prahlte nie damit, aber als die Jungs herausfanden, dass sie sich beide für Gewehre interessierten und Waffennarren waren, gestand Frank Vince eines Tages, dass er immer eine bei sich trug. »Echt? Auch in der Schule?« »Klaro.« Er erklärte, dass eine Straßenbande aus dem Viertel seinen Cousin »ziemlich derb zusammengeschlagen« hatte.
»Wenn die mich blöd anmachen«, sagte er und betonte die schwierigen Konsonanten sorgfältig, »bin ich bereit. « Er klopfte auf die Tasche. Vince konnte den Blick nicht von der Tasche nehmen, in der die Knarre steckte. 24 »Warst du in der Schule, als Jarrods Revolver im Kunstunterricht rausgefallen ist?« »Ja, ich hätt mich fast vollgeschissen.« Sie lachten über den Jungen, der von San Berdoo nach Missouri gezogen war und das Getue kalifornischer Jugendbanden importierte, bis hin zu dem vieldiskutierten .38er aus dem Pfandleihhaus, den er sogar mit in den Unterricht nahm. »Ich glaub nicht, dass die alte Shindleford überhaupt was geschnallt hat«, sagte Vince lachend, »dabei ist das verdammte Teil wie ne Bombe rausgefallen. Ein Wunder, dass es nicht losgegangen ist.« Sie brüllten beide. »Kann ich sie sehen?« fragte er, die Tasche fest im Blick. »Hmm.« Frank lächelte und holte die Waffe heraus. Eine Smith & Wesson mit kurzem Lauf und abgefeiltem Hahn. »Irgendwann mal«, sagte Frank leise. Vince Ciprioni bekam die Waffe nie wieder zu sehen, bis zu dem Tag, an dem Frank die vier Jungs erschoss, die Vince hinter dem Rialto aufgelauert hatten. Vier. Alle mit Eisenrohren bewaffnet. Frank schoss alle vier gleich da in der Gasse hinter dem Rialto mausetot. Da er nicht wusste, was er mit der Waffe anstellen sollte, nahm Vince sie an sich, brachte sie seinem Vater, erzählte ihm, was Frank getan hatte, und sein Alter nahm das Teil einfach an sich und beschwor die Jungs, nie einer Menschenseele davon zu erzählen. Der Mann bat Frank persönlich zu sich. Frank dachte sich, er würde ihm sagen, wie dankbar er war, dass er seinem Sohn das Leben gerettet hatte und den ganzen Scheiß, aber er sagte nur zu ihm: »Du bist ein guter Junge. Aber kannst du auch den Mund halten?« Frank nickte zustimmend. »Okay«, sagte er; Ciprioni sah ihm lange und durchdringend in die Augen, bis er offenbar gesehen hatte, was er sehen wollte. »Bleib ganz ruhig«, sagte er, und das war alles. Kein danke, dass du Vincent den Arsch gerettet hast. Nichts. Pah. Frank zuckte die Achseln und ging seiner Wege. Vincent dagegen konnte die Klappe nicht halten. Vince bedankte sich schätzungsweise fünf Mal am Tag, bis Frank ihn 24 nach einer Woche oder so bitten musste, dass er um Himmels willen endlich damit aufhören sollte. Und er fühlte sich danach weder stark oder tollkühn und unbesiegbar, wie es bei manchen Leuten der Fall ist, noch verspürte er den Wunsch, sich ein Album anzulegen und Zeitungsausschnitte über Morde hineinzukleben. Seltsamerweise bedeutete es ihm gar nichts. Er behandelte es so, wie manche Kinder die Tatsache, dass sie auf einen besonders hohen Baum geklettert sind oder einen Softball über den linken Zaun des Spielfelds geschlagen haben. Er war ein Schütze. Aber kurz nach dem Vorfall nannte er sich Frank Spain. Insgeheim hoffte er, dass er eines Tages eine Kiste frischen Salat rumwuchten und der Boss zu ihm kommen und ihm einen Hunderter in die Tasche stecken würde, aber dazu kam es nie. Aber Mr. Ciprioni schenkte ihm etwas, das wesentlich kostbarer war, wie sich herausstellte. Er schenkte ihm sein Vertrauen. Ein paar Monate nach der Schießerei bat ihn der Boss in einen Lagerraum und erzählte ihm, dass ein Problem aufgetreten wäre. Ein Mann machte ihm Arger. Die Situation
verlangte eine Lösung. Eine endgültige Lösung, sagte der Boss. Einen Einsatz wie Franks beherztes Vorgehen hinter dem Rialto. Die Art von Einsatz. »Na gut, dann mal los«, sagte Spain in seiner besten James-Dean-Imitation. »Hast du verstanden, was ich dir gesagt habe?« Frank nickte, dass er verstanden hatte. »Ich brauche jemand, der gut ist. Der den Mund halten und so eine Arbeit erledigen kann. Bezahlen kann ich für diese Arbeit...« Er zog einen Umschlag aus der Tasche und zählte. Frank hatte in seinem Leben noch nie soviel Geld gesehen. »Ich mach's«, sagte er. »Bist du sicher? Ich weiß, du bist gut, aber du bist noch sehr jung. Es ist eines, wenn man einen Freund in Not rettet, aber jemandem einfach so das Licht auszuknipsen, steht wieder auf einem anderen Blatt. Wenn du dir nicht sicher bist, lass es.« 25 Spain sagte nichts, erwiderte Mr. Ciprionis Blick aber einen vollen Herzschlag lang, dann nahm er den Umschlag langsam an sich. Der wartete, bis Frank ihn in die Tasche gesteckt hatte, dann nannte er ihm Namen und Wohnort des Mannes. Ein Hotel in der Innenstadt. An dem Abend ging Frank ins Milburn, fuhr mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock, klopfte; als die Tür aufging, fragte er den Mann, ob er der Mann war, dessen Namen er bekommen hatte und als der Typ bejahte, zückte er die Smith mit dem abgefeilten Hahn, feuerte dem Mann einen Schuss mitten ins Herz, drehte sich um und beschloss, dass er seine Waffe diesmal selbst entsorgen würde. Und von dem Tag an wurde er Mr. Ciprionis Schütze. Gaetano Ciprioni gehörte nicht zu Tony Gees Familie, die damals der Mafia in St. Louis vorstand. Der Boss erklärte Spain die Hierarchie. »Das hier ist gar nichts. Es ist Scheiße. Was Missouri angeht, spielt sich alles in Kansas City ab, und Kansas City sind wir scheißegal. St. Louis spielt keine Rolle in der Organisation. Wird sowieso alles von Chicago aus gelenkt. Aber der große Mann dort geht bald in den Ruhestand. Und dann erbt sein Nachfolger den ganzen Mittelwesten, und der ist mein Mann. Er ist für mich, was ich für dich bin, verstanden?« »Ja.« »Er wird einiges verändern. Und dann rücke ich in den Rat auf. Du hast keine Ahnung, was das heißt, was?« Frank schüttelte den Kopf. »Das ist der Vorstand aller Familien. ALLER Familien, selbst der großen Familien in New York. Der Rat kontrolliert alles. Da arbeite ich dann. Und ich brauche hier jemand, dem ich vertrauen kann. Der Aufträge für mich erledigt. Überwiegend hier im Mittelwesten. Die Bezahlung ist vorzüglich, das kann ich dir versichern.« »Okay.« »Gut, wir verstehen einander.« Sie schüttelten sich die Hände. Spain konnte sich nie daran gewöhnen, dass die Italianos ein 25 ander andauernd die Hände schütteln mussten. Nur was den Boss anbetraf, wusste er eines genau: wenn der einem so etwas erzählte, dann durfte man es getrost für bare Münze nehmen. Seine gesegnete Mutter hätte Spain als einen Spätzünder bezeichnet. Als er Pat kennenlernte, hatte er sich in seinem Metier schon an die Spitze hochgearbeitet; nur seinem neuen Selbstbewusstsein war es geschuldet, dass er sich erstmals traute, jemanden anzusprechen.
Sie war ein gewöhnliches Mädchen, für ihn jedoch eine Schönheit. Mary Pat Gardener arbeitet in der Reinigung in seinem Viertel, die, wie er ihr - viele Jahre später - erzählen wollte, ein Familienunternehmen war, wo nicht nur Wäsche, sondern auch Geld gewaschen wurde, aber er sprach nie mit ihr über seine Arbeit. Er »reiste.« Er war »Vertreter«. Eines Tages trat er ein, da sah sie außergewöhnlich gut aus, was er ihr auch sagte. »Sie sehen heute besonders hübsch aus.« »Danke«, antwortete sie strahlend. »Und wie geht es Ihnen so?« Sie nahm seinen Wäschesack und schrieb etwas auf einen Zettel. »Ich hol Ihnen Ihre Sachen sofort.« »Lassen Sie sich ruhig Zeit.« Er sah sie seit einem Jahr jede Woche einmal hier, wenn er seine Wäsche brachte, bis er endlich den Mut aufbrachte und sie fragte, ob sie mit ihm ausgehen würde. Sein Sprachfehler hatte sich so gut wie erledigt. Frank stotterte und verhaspelte sich nicht mehr, wenn er sich auf seine Worte konzentrierte. Er legte sich die Worte zurecht: »Möchten Sie am Freitagabend mit mir ins Kino gehen?« Das wollte er sagen. Doch stattdessen kam heraus: »Mary Pat?« Sie sah von dem Auftragsbuch auf, in das sie gerade schrieb. »Hm-hmm?« sagte sie. »Wollen Sie im Kino mit mir zum Freutag gehen? Wollen Sie FREITAG mit mir im Kino stehn, MIT MIR INS KINO GEHN?« Herrgott, Herrgott, Herrgott, gibt es keine Gnade, keine Barmherzigkeit, keine Hoffnung? 26 Er erinnerte sich noch genau, wie er vor Resignation fast in sich zusammenschrumpelte, aber sie sah ihn lächelnd an. »Na klar«, sagte sie. »Wann?« »Mmmm. Okay«, murmelte er, nahm seine frische Wäsche und war nach seinem Gestammel so nervös, dass er einen Moment brauchte, bis er begriffen hatte, dass sie ja sagte. Unglaublich. Einer der größten Siege seines Lebens. Die einzige Eroberung, auf die er wirklich stolz war. Eine größere und beängstigendere Herausforderung als ein Dutzend Aufträge. Und sie hatte nicht einmal »Vielleicht« gesagt. Nichts Zaghaftes oder Halbherziges. Ein strahlendes Lächeln und ein herzliches, schnelles »Na klar. Wann?« Das gefiel ihm. Er verliebte sich auf der Stelle in sie. Für ihn war sie der Inbegriff von Schönheit, glühendem Verlangen, Weiblichkeit und Sex. Und er glaubte, dass sie ihn auch liebte. Bei ihrer zweiten Verabredung machte er ihr einen Antrag und überraschte sie mit einem Ring, den er dabei hatte. Sie sagte ja, was sie beide überraschte, und betrachtete ein wenig amüsiert den großen Stein, den sie für Glas hielt. Am nächsten Tag kam sie bei einem Juwelier vorbei und trat ein. »Mr. Plotkin?« »Ja?« »Erinnern Sie sich an mich? Mary Pat Gardner?« »Shirley Goodells Cousine?« »Genau die, Mr. Plotkin, ich wollte Ihre Meinung zu einem Familienerbstück hören.« Sie hielt ihm die Hand unter die runzlige Visage. »Meine Tante hat mir den hinterlassen. Man sagte mir, dass er einen gewissen Wert besitzt.« Er klemmte sich etwas ins Auge, betrachtete den Ring und hielt ihre Hand dabei. »Abär sischer. Ein perfekter Diamant mit rund fünf Karat, den Sie da haben, mein Kind. Ja. Ich würde sagen, dass er einen gewissen Wert besitzt.« Er sah abermals hin. »Hübsche Farbe. Keine Bläschen. Nichts. Makellos«, sagte er. Wenig später heirateten sie. Binnen eines Jahres wurde Spain
27 Vater eines kleinen Mädchens. Nach außen führte er ein scheinbar normales Familienleben. Vertreter, Berater oder »Troubleshooter« (das gefiel ihm!), je nachdem, mit wem er redete, und mit einem sorgsam ausgearbeiteten und von Experten so angelegten Hintergrund, dass er auch gründlicheren Ermittlungen des FBI standhielt, ein wohlhabender, aufstrebender Mann der gehobenen Mittelschicht. Ein typischer, wenn auch untypisch reicher amerikanischer Handelsreisender, Wäre er von Anfang an ein normaler Mann gewesen oder hätte wenigstens einen normalen Beruf gehabt, es hätte alles anders kommen können. Ein Buchhalter mit saisonal bedingter Arbeitsüberlastung, ein Autohändler mit langen Touren, jeder Beruf hat seine Nachteile. Aber Spains Arbeit führte ihn unerwartet auf Reisen, manchmal über längere Zeiträume hinweg, und sein Metier machte ihn zum Geheimniskrämer. »Du redest nie mit mir«, beklagte sich Pat oft. »Ich rede. Ist nur so, dass ich nicht viel zu sagen habe.« »Ich weiß nicht mal, was du treibst. Die meisten Männer reden mit ihren Frauen über ihre Arbeit. So langweilig kann sie doch nicht sein.« »Glaub mir«, sagte er und schüttelte verzweifelt den Kopf, »du hast keine Ahnung, wie glücklich du dich schätzen kannst. Sei einfach froh, dass ich keine Arbeit mit nach Hause bringe, wie andere Leute.« Entsprach das nicht der Wahrheit? »Mir ist schon lange klar, dass ich zu viele Ehen gesehen habe, die in die Brüche gingen, weil der Mann selbst im Schlafzimmer von nichts anderem als seiner Arbeit reden konnte. Ich trenne Arbeit und Privatleben. Ich kümmere mich um die Verkäufe und sorge dafür, dass immer reichlich zu essen auf dem Tisch steht. Du kümmerst dich um den Haushalt.« Und so weiter. Und die Zeit vergeht so schnell. Wenn man nicht aufpasst, lebt man, ehe man sich versieht, nur noch für den Beruf und vernachlässigt das Privatleben darüber. Seine Familie glitt ihm zwischen den Fingern hindurch. 27 »Ich mag Männer, die alles geben. Das ist das Beste an dir, Frank«, sagte der Boss zu ihm. »Und du bist verschwiegen. Das ist eine seltene Gabe in diesen Zeiten. Sogar bei meinen Jungs. Ständig hör ich, wie sie rumstolzieren, ihr Mundwerk spazieren führen und sich Sachen wie Schmalzlocke oder Spaghettifresser an den Kopf werfen. Und am schlimmsten ist, mein eigener Sohn spricht von Itackern, ein Ausdruck, den ich gar nicht abkann. Ich kann's nichtmal ausstehen, wenn Farbige Nigger genannt werden. Du - dich hab ich noch nie was Abfälliges sagen hören, oder?« Frank zuckte die Achseln. »Ich denk eben anders.« »Mein Sohn. Mein Jüngster. Der himmelt dich so an. Seit du diese Flegel abserviert hast. Was anderes krieg ich von dem nicht zu hören. Papa, Frank hat alle vier erschossen, sagt er. Vier bewegliche Ziele und drei Kopfschüsse. Wie oft hab ich mir das schon anhören müssen, wenn der Junge und ich über dich reden. Du hast nie ein Wort zu mir gesagt. Du hast nie was verlangt. Hast mich nie auch nur um einen Cent gebeten.« »Ich bin froh, dass ich an dem Tag dort war.« »Ja. Ich auch.« Ein Vater, der nach dem Baseballspiel mit seinem Sohn redet. Ihm sagte, wie stolz er auf den Hammerwurf des Jungen in der neunten Runde war. Und die Treue, die er dem Boss hielt, war die enger Familienbande. Wenn man es recht bedenkt, war der Boss vielleicht eine Art Familienmitglied für ihn. Ganz sicher schenkte er ihm seine Zeit und Energie.
Als er seine Frau nicht halten konnte, kam es ihm so vor, als hätte der solide Boden, auf dem er stand, plötzlich Risse bekommen, und jetzt... die Sache mit seiner Tochter, da spürte er endgültig, wie er in den Abgrund rutschte. Er saß im dunklen Wohnzimmer, wartete auf sein kleines Mädchen und überlegte sich, was er hätte tun können, um Pat zu halten, als er sie die Treppe raufkommen und die Eingangstür öffnen hörte. »Du hättest dich ruhig vor der Tür absetzen lassen können. Es war nicht nötig, vom Highway hierher zu Fuß zu gehen. Ich hätte 28 ihn schon nicht mit einem Baseballschläger verprügelt. Obwohl das sicher keine schlechte Idee wäre.« Sie sah ihn nicht einmal an, ging einfach die Treppe hinauf. »Du warst heute das letzte Mal draußen«, sagte er zu ihr. »Du hast drei Chancen, wie alle anderen auch. Zwei hast du schon vertan. Noch eine, dann ruf ich das Jugendamt an und geb dich in eine Erziehungsanstalt. Ich kann dich nicht in deinem Zimmer anketten. Wenn die Behörden nicht mit dir fertigwerden, muss ich Leibwächter engagieren. Was immer erforderlich ist, wir sorgen dafür -« Die Tür von Tiffs Zimmer wurde heftig zugeschlagen und machte seinem Gedankengang ein Ende. In ihrem Zimmer traf Tiff eine Entscheidung. Sie hatte Greg gefragt, was sie machen sollten, und er wollte nach Florida. Sie sagte: Schlafen wir eine Nacht darüber, und dass sie es morgen in der Schule besprechen wollten. Roger Nunnaly hatte die Schnauze gestrichen voll von der Schule, daher konnten sie mit Roger in dessen Auto mitfahren. Alle miteinander Richtung Süden. Jede Menge Spaß in der Sonne. Jede Menge wildes Treiben am Strand. Tiff fand, dass sich das großartig anhörte. Sie fing an zu packen, doch dann wurde ihr klar, dass sie die Sachen nie aus dem Haus bringen würde, vorbei an ... ihm. Sie kippte die Bücher aus ihrem geräumigen Schulranzen und packte das Notwendigste hinein, und in ihre größte Handtasche. Ein bisschen Geld hatte sie gespart. Sogar ein bisschen viel. Nicht zu vergessen den Schmuck. Stumm packte sie ihre Aussteuer ein. Und unten sitzt der Mann, der sich Spain nennt, schweigend in den Schatten. »Fahren wir echt weg? Ich kann es kaum glauben«, sagte sie zu Greg und betrachtete ihren strahlenden Ritter mit zusammengekniffenen Augen. »Glaub's nur«, sagte er ihr und verstaute ihre Sachen im Auto. Sollen wir uns so eine geile Möse wirklich entgehen lassen? Ist der Papst katholisch? dachte er bei sich, grinste und pfiff leise 28 vor sich hin, während er den Rest ihrer wenigen Habseligkeiten in Rogers Auto lud. Das kleine Luder würde schon noch Geld für ihn verdienen. Vierundzwanzig Stunden nach der Abreise der Kinder wusste jeder der betroffenen Familien, dass sie gemeinsam durchgebrannt waren, Pat und ihr Versicherungsvertreter eingeschlossen, von der Polizei ganz zu schweigen. Es waren zu viele Leute darin verwickelt. Ganze Familien auseinandergerissen, Spain musste mehrmals mit der Polizei reden, was für ihn so war, als würde er die Hände in kochendes Wasser halten, aber allen Vorbehalten zum Trotz, seine Tochter war verschwunden. Er musste sie finden. »Die finden sie noch ehe es Abend wird«, versicherte Roger Nunnalys Vater allen Beteiligten, »dieses Auto ist einfach zu auffällig.«
Der private Spain war auf einen Schlag sehr öffentlich geworden und musste vollkommen Fremde, und sogar die Bullen, in Geheimnisse einweihen, die inzwischen alle seine persönlichen Entscheidungen beeinflussten. Leute, die er in seinem Leben noch nicht gesehen hatte, saßen in seinem Wohnzimmer und erzählten ihm lächerliche Geschichten über Telefonseelsorge für Ausreißer und Drogen und wie junge Mädchen Sex benutzen können, um sich einen armen, unschuldigen Jungen wie Greg Dawkins gefügig zu machen, den Spain schon durchschaut hatte, als er ihn zum ersten Mal sah, und von einem Bengel namens Roger, offensichtlich ein Junkie, was alle wussten, außer seinen Eltern. Und Spain saß einfach nur in ihrer Mitte und hörte sich an, wie sie davon sprachen, dass seine Frau und Tochter ihn beide verlassen hatten; fast über Nacht war das Leben zu einer Dampfwalze geworden, die die Trümmer seines angeknacksten Egos vollends zermalmte. Doch es war keine liebevolle Frau zur Stelle, die ihn beiseite genommen und getröstet und gesagt hätte: Schon recht, Liebling, alles wird gut. Du hast dir Mühe gegeben, Daddy. Du hast 29 nur vergessen, dass Vaterschaft eine Fertigkeit und eine Kunstform ist. Eine Fertigkeit, die ebenso viel Geschick wie Übung erfordert. Und es war niemand da, der ihm sagte, dass Tiff ebenfalls Seelenqualen litt. Dass Frustration und Demütigung für eine Vierzehnjährige wie tiefe Wunden von Messerstichen in die Brust sind. Wunden, die tödlich sein können, wenn man sie nicht rechtzeitig heilt. Er war allein und musste zusehen, wie er mit allem zurechtkam. Und am nächsten Abend, als alle Dawkinses und Nunnalys und Polizisten und Leute vom Jugendamt abgerückt waren, saß er im Dunkeln, fühlte sich, als hätte er einen Herzinfarkt, verspürte die erdrückende Last der Schuldgefühle; er schluchzte gequält in der Finsternis seines luxuriösen Hauses und beglich Schulden mit einer Währung, die er bis dahin gar nicht gekannt hatte. So saß er am nächsten Morgen immer noch auf der Treppe, von trockenem Schluchzen geschüttelt, am Rande des Zusammenbruchs, von Schuldgefühlen verzehrt, von Verzweiflung gepackt und durch und durch und auf herzerreißende Weise allein. Und eine Hälfte von ihm verspürte Selbstmitleid, doch die andere nicht, und so zerbrach er ganz langsam tief in seinem Inneren wie das harte, scheinbar kerngesunde Herz eines verrotteten Gummibaums. Da sitzt Spain also am Rande der Realität, im zunehmend größeren Trümmerhaufen seines Lebens, und fühlt sich echt verarscht, gefickt und am Ende. Und der Schatten des Todes rückt langsam näher. Eichord fühlte die Ränder einiger Karten mit finsterer Miene. Christian's Cards und das todschicke Einkaufzentrum, wo es lag - in beiden wimmelte es von zielstrebigen, wohlhabenden Kaliforniern und einer ganzen Schar durchschnittlicher Kunden wie ihm -, waren so fern wie das Sternbild Andromeda. Eine andere, weit entfernte und entlegene Stelle auf dem irdischen Planeten, Chicago genannt, beschäftigte ihn. 29 In dem Geschäft fühlte er sich zwischen den makellosen Verkäuferinnen und freundlichen, makellosen Kunden, die so einen Laden regelmäßig besuchten, vollkommen fehl am Platz. Eichord stand mitten an einem Arbeitstag in L. A. in einem Kartenladen und betrachtete witzige Grußkarten; ein Polizist der Mordkommission, der
sich wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen fühlte, während er langsam sein kurzärmeliges Hemd, das Waffenhalfter und den modischen Kunstfaseranzug durchschwitzte. Mit dem Gewicht des schweren Revolvers in der Schultertasche, der absurden Umgebung, dem Wissen, dass er sich hier mit einer tödlichen Schusswaffe unter dem Arm niedliche Glückwunschkarten ansah, fühlte er sich lächerlich, deplaziert, nervös. Schweiß lief ihm als dünnes Rinnsal den Rücken hinab, als eine perfekt frisierte Frau mit einem leicht nagetierähnlichen Gesicht ihn freundlich fragte: »Kann ich Ihnen helfen?« Er lächelte automatisch und schüttelte den Kopf. »Ich seh mich nur um. Danke.« Brillant. Sie wäre nie drauf gekommen, dass du dich umsiehst. Er stand dumm da und überlegte sich, welche der albernen Karten einem kleinen Mädchen gefallen könnte. Er grübelte nach, wie alt sie jetzt eigentlich war. Ihren Geburtstag hatte er sich irgendwo aufgeschrieben, aber vergessen, wo. Er betrachtete eine weitere Karte, die noch weniger Sinn ergab als die vorherige. Was würde ein kleines Mädchen gern mit der Post bekommen? Auf jeden Fall wollte er einen Zwanziger mit reinstecken. Mädchen in diesem Alter (welchem Alter?) bekamen Geld bestimmt lieber als alles andere. Aber wäre es ihr nicht vielleicht peinlich, wenn sie Geld bekam? Ob sie sich überhaupt an ihn erinnerte? Und was würde ihre Mutter sagen, wenn Lee Anne fragte, wer dieser Mann war? »Oh, du erinnerst dich doch sicher noch an Jack, Onkel Jack, den Polizisten?« Was für einen Gefallen tat er einem kleinen Mädchen, das er 30 gar nicht mehr sah? In dessen Leben er sich ein oder zwei Mal im Jahr mit einem Telefonanruf einmischte, bei dem keiner der Beteiligten viel zu sagen hatte. Jemand, der so schnell erwachsen wurde. Wie alt war sie gewesen? Einsfünfzig groß bei ihrer letzten Begegnung. Als er sie vor einem Jahr das letzte Mal anrief, sagte sie ihm ganz stolz, wie groß sie geworden war, und ihm schien, als wäre sie über Nacht zig Zentimeter in die Höhe geschossen. Wenn sie einander wiedersahen, würden sie sich vermutlich gar nicht mehr erkennen. Aber er konnte nicht loslassen. Er zog eine weitere Karte aus dem Ständer, eine lächerliche Karikatur mit dem Text: »Du weißt, es gibt nichts, das ich nicht für Dich tun würde. Und dieses Jahr an Deinem Geburtstag ...« Dann musste man die Karte aufschlagen, und die Karikatur versicherte dem Leser: »... tue ich genau das für Dich: NICHTS.« Er seufzte, nahm die Karte samt Umschlag und ging zu der Verkäuferin. Eichord dankte ihr, steckte das Wechselgeld ein und ging in den Sonnenschein hinaus. Er öffnete die Autotür und warf den Mantel auf den Rücksitz. Er schwitzte wie ein Schwein. Warum wurde ihm so heiß? Schließlich war es nur eine Karte. Er fragte sich, was Eddie sagen oder denken mochte, wenn sie den Brief von ihm an ihre Tochter sah. Er überlegte sich, wie sie auf den Zwanziger reagieren würde, und beschloss, doch lieber kein Geld zu schicken. Stattdessen würde er einen netten Brief schreiben. Er wusste, dass er sie verlor. Genau wie das süße kleine Mädchen. Entfernung und Zeit würden dafür sorgen. Das Leben kann Scheiße sein, dachte er und fragte sich, was ihm als nächstes widerfahren würde. Würde sich die Erde auftun und das Einkaufszentrum, die Autos, ihn, die Rattenfrau - uns alle verschlucken? Würde der ganze Scheißlandstrich ins Meer kippen?
Eichord legte den Gang ein und verließ das teure und plüschige Einkaufszentrum; als er an einem Mülleimer aus Metall vorbei 31 kam, kurbelte er das Fenster runter, warf Karte und Umschlag samt Tüte hinein, fädelte sich langsam in den fließenden Verkehr ein, schüttelte den Kopf und erschauerte im kühlen Fahrtwind. Er sollte wenden und die Karte aus dem Müll fischen. Doch in dieser halben Sekunde spürte er wieder den kalten Blick des Mannes am Flughafen. Des Mannes, der ihn über den Rand einer Grußkarte hinweg angesehen hatte. Mit den Augen eines Killers. Und Eichord erschauerte erneut, während der Schweiß ihn abkühlte wie eine Vorahnung des Todes, die die Seele eines zaghaften Visionärs erschüttert, und ihm klar wurde, dass er L. A. wieder verließ und weniger wusste als bei seiner Ankunft. Jemand hatte Eichord einst gefragt: »Was machen Sie eigentlich? Sie wissen schon, was macht ein Detective?« »Man sucht nach Fußspuren im Hüttenkäse«, antwortete Eichord. Damals erntete das einen Lacher, aber wem wollte er was vormachen? So sah es aus. Die »Augapfel-Morde« blieben unaufgeklärt. Zusammenhanglose Morde, abgesehen von der Visitenkarte des Killers. Den Opfern waren die Augen herausgeschossen worden. Möglicherweise die altbekannte Strafmaßnahme der Mafia. Vielleicht auch eine und ein paar Nachahmungstäter. Oder irgendeine andere Scheiße. Jack hatte nicht das Fitzelchen eines Hinweises. Sie hatten es, wie es aussah, wieder mal mit einem richtig schön dampfenden Schlamassel zu tun, und er konnte es kaum erwarten, dass sie ihn La-la-Land den Rücken kehren und heim nach Buckhead fahren ließen, wo NIEMAND wusste, wer zum Teufeljohn Frankenheimer war. Sie hatte die Haut ihrer Mutter geerbt, Pigmente, die zu einem goldenen Kupferton bräunten, eine so glatte und samtweiche Haut, dass sie betörte und selbst erwachsenen Männern ein wenig der Atem stockte, wenn sie sie entblößt zur Schau gestellt vorgeführt bekamen, zum Beispiel in einem String-Tanga oder einem winzigen Oberteil und knappen Shorts. Und das war 31 Gregs nächster Schachzug, so viel wie möglich von dieser unwiderstehlichen Haut zu zeigen. Sie hatte die Augen ihres Vaters samt allen Schattierungen. Von Schiefergrau bis Blaugrün, je nach Licht. Greg schenkte diesen Augen sein strahlendstes Lächeln, so dass ein breiter Streifen Hollywood-Weiß in seinem dunklen, wunderschönen Gesicht blitzte. »Hmmmm.« Er knabberte an ihr, saugte rauh wie ein kleiner Welpe, hinterließ winzige Knutschflecke an ihrem Hals und arbeitete sich küssend weiter nach unten vor, während er ihr behutsam das winzige Oberteil auszog. »Ich könnte dich auffressen, weißt du?« sagte er. Sie murmelte zufrieden, während er mit der Zungenspitze über ihre Brust, die flachen Brüste und die winzigen Warzen glitt. Er sagte leise etwas zu ihr, doch da er es an ihrer Brust sagte, klang es gedämpft, daher hakte sie nach: »Was?« »Ich sagte, weißt du, wohin ich mit dir gehen will?« wiederholte er und sah zu ihr hoch, während seine Zunge mit kurzen, blitzschnelle Bewegungen nach ihr stieß wie ein Ochsenfrosch nach einem Junikäfer. »Wohin? Wieder ins Bett?«
»Logisch. Klar. Aber ich möchte mit dir gern an einen dieser schicken Wintersportorte fahren, Vail oder Aspen. Du weißt schon - eine kleine Hütte allein da oben, wo der Pulverschnee echt der Wahnsinn ist. Auf der Loipe, du weißt schon, es einfach krachen lassen.« »Oh, Greg«, schnurrte sie, »mit uns ist es genau so, wie ich es mir vorgestellt habe.« Er saugte wieder an ihr, während sie ihn mit ihren großen Katzenaugen ansah und mit der Hand seine Locken zerzauste. »Weißt du, dass ich dich liebe?« »Ja«, hauchte sie. »Und ich liebe dich auch.« »Hmmm.« Er saugte und redete weiter an ihrem Körper, bis sie leise lachte. Gott, wie sie ihn bewunderte. Es wurde doch alles 32 gut. Es war schön, er selbst so zärtlich und fürsorglich, und sie wusste genau, ihre Beziehung würde wunderbar sein. »Was?« Sie lachte. »Verstehst du kein Englisch mehr, Weib?« »Nein. Nicht, wenn du in meinen Bauchnabel sprichst, dann nicht.« »Hallo«, sagte er. »Jemand zu Hause?« fragte er ihren Bauchnabel. »Ja, ich bin zu Hause.« »Hu-hu. Ich auch.« Er küsste zärtlich ihren Bauch und den braungebrannten Brustkorb. »Ah! Das kitzelt.« »Ha«, sagte er, strich mit der Zunge über ihre Seite und brachte sie zum Lachen. Unfassbar, wie wunderschön er war. »Du bist mein scharfer Filmstar, weißt du.« »Ich bin auch scharf auf dich.« »Sei ein braver Junge und red nicht so unanständig daher«, sagte sie, während er sich wieder an ihrer Brust hocharbeitete. Er saugte, knabberte, leckte, nahm ihre Brustwarzen ganz behutsam zwischen die Zähne. Blies seinen heißen Hollywood-Atem über sie, bezauberte sie mit seinen Seifenopernaugen und seiner magischen Zunge. Bearbeitete sie. Spielte mit ihr wie mit einem Fisch, ehe man ihn ins Netz zieht, hielt die Angelrute schön fest und hoch, ließ sich Zeit, ließ sie zappeln, verlor nie die Geduld und entwickelte die Verführung zu einer eigenen Kunstform. »Hmmmm.« Er küsste sie fest auf den Mund und murmelte leise, mit seiner Superverführerstimme: »Oh, Baby, wir könnten die Pisten runtersausen und dann in unser kleines Chalet zurückkehren, unsere Berghütte auf dem Gipfel, ein Schweizer Blockhaus wie im Kino, und da lassen wir uns dann einschneien und lieben uns wochenlang ohne Unterbrechung. Wir legen uns Vorräte für Wochen an, besorgen uns einen schönen warmen Pelzmantel oder so und kuscheln vor dem Kaminfeuer« — sie 32 küsste ihn auf den Mund, während er das sagte - »wir holen ab und zu mal etwas Holz, trinken Brandy, ziehen uns hin und wieder ein bisschen Stoff rein und, hm, sehen einfach dem Schneetreiben zu.« »Dem Schneetreiben zu«, sagte sie mit einem Funkeln in den Augen. »Hört sich das gut an?« »Es hört sich wundervoll an, Greg.« »Ja, finde ich auch.« Er küsste sie sehr sanft, küsste sie auf die Mundwinkel, dann unter der Nase, auf das Kinn, küsste ihre Grübchen, wanderte im Uhrzeigersinn um die Lippen herum, ließ die Zunge zwischen diese Lippen gleiten, und sogar ihr Mund schmeckte feucht und heiß wie ein warmes Glas Honig.
»Oh, Greg - ich will dich jetzt.« Sie keuchte ihm ihren heißen Atem an Hals und Wange und schloss die Augen. »Ach ja? Mal sehen.« Und er fasste sie an. »Baby. Autsch. Du hast mir gerade die Finger verbrannt.« Sie sagte etwas, das er nicht verstand, da führte er ihr die Finger wieder ein und sagte: »Hey, du bist ja ganz feucht da unten. Hab ich dir gesagt, dass du da unten ganz feucht werden sollst?« »Dafür kann ich nichts. Daran bist du schuld.« »Willst du mich wirklich, Tiff?« Jetzt beobachtete er sich selbst, was er stets gern machte, wenn er eine kleine Schlampe mit seiner einstudierten Nummer einseifte, nicht in einem Spiegel, sondern irgendwo in seinem Kopf, wo er seine Darbietung genoss. Wie er die Mädchen um den Finger wickelte. Wie er sie mit seinem Süßholzraspeln um den Verstand brachte. Sie beackerte, bis sie abgingen wie Zäpfchen. Man musste nur dafür sorgen, dass sie einem auf den Leim gingen, klar? Oh, es gefiel ihm, wenn er ein Mädchen spielen konnte wie ein Musikinstrument, sodass sie summte und sang, wie bei einer Gitarre, halt sie am Hals, drück sie ans Herz und spiel sie am Loch. Dass sie zuckte und kreischte und sich besinnungslos zappelte. Sein Ding wurde hart wie Kruppstahl, wenn er sich so in seinem gutaussehenden 33 Kopf sehen konnte, und er stützte sich über ihr auf die Ellbogen. »Willst du mich wirklich, Baby?« »Ja. Ja. JA.« »Dann sag schön bitte. Sag bitte-bitte, wenn du es willst.« »Bitte.« »Was?« Er führte die Spitze ein, und sie war schon ganz feucht und versengte ihn mit ihrem Pflaumensaft. »JA, JA, JAA A A A A A.« Niemand sollte je daran zweifeln, dass es da draußen ein paar Oberschurken gibt, die ganz genau wissen, wie man ein kleines Mädchen zur willenlosen Liebessklavin macht. Und nur weil manche erst dreizehn oder vierzehn sind, heißt das nicht, dass sie nicht trotzdem ganz scharf drauf wären, den Super-O zu erleben. Na klar doch. Mach bimmbimm, Jim. Er sah, dass er sie rasend vor Geilheit machte, und ließ sie am ausgestreckten Arm verhungern, wo jeder ahnungslosere Stecher sie hätte bocken und zappeln und kommen lassen. Ließ sie verhungern und fletschte die Perlweißen vor Konzentration, Harte Latte GmbH, und if you think Im sexy, if you WANT my body, dann komm schon, Mädchen, zeig es mir. Sag es mir. Bussi, Tussie. »Nnnnnnnn«, machte sie als Reaktion auf seine Dr.-Feelgood-Teeny-Romanze. »Ja«, sagte er, vierundzwanzig Stunden täglich, dabei sind wir schon die ganze Nacht dabei. »Oh.« Es flutscht wie geschmiert. »Ja.« Du musst richtig süchtig danach werden. Und dann der große Moment, der innere Reichsparteitag. Süßer die Glocken nie klingen. Oh, Mann. Darüber haben sie also in der Schule ständig geredet. Oh. Kein Wunder. Gott. Oh. Oh, ja. Greg. Oh, du bist so süß, du bist perfekt ... oh ... OH GOTT ... OOOOOOOOOOO-OHHHHHHH! Er muss sich zusammenreißen, dass er noch einen Moment drinbleibt und sie weiter küsst, ein zärtliches kleines Nachspiel, 33 rhythmisch wie Reggae, bumm-tschickabumm-tschickabumm, und immer schön am Ball bleiben, der Doktor operiert noch, ein wenig sanft in den schweißnassen Schatten
geknabbert, eine Liebkosung oder zwei. Gute A. R. B. E. I. T., denkt er, und dann steht er auf und läuft davon und pfeift sich eine Prise Hollywood-High vom Resopaltresen rein. »Ziehn wir ein paar Linien rein, Engel.« Superhengst. Spains erste Alpträume sind zahm und trügerisch frei von bösen Omen. Obwohl es nur ein Alptraum war, sah er ihn klar und deutlich und in leuchtenden Farben auf dem Traumbildschirm seines Verstands, ein lebensnahes und unglaubliches Szenario, erstaunlich detailliert und quälend real. Und da nichts Bedrohliches darin vorkam, schien es ihm umso beängstigender zu sein. Anders als in einem Traum, in dem man von den Bösewichtern durch einen Tempel gejagt wird und in ein wartendes Auto springt, dem das Benzin ausgeht, wenn man gerade bergab rast; der Alptraum besteht dann aus den Sekunden der Angst, wenn man hofft, dass der Schwung das Auto auf der anderen Seite wieder hoch und über den nächsten Hügel in Sicherheit trägt, doch auf den letzten Zentimetern kommt das Auto langsam wieder zum Stillstand und rollt danach rückwärts, und der Traum besteht darin, dass man versucht, aus dem Auto rauszukommen, das langsam wieder zurück zu ihnen rollt ... anders als in diesen Träumen enthält der Alptraum, den Spain durchlebt, keine spürbare Bedrohung. Und später, als die wirklich brutalen Träume ihn plagen, gedenkt er dieses Traumes als milde und harmlos, doch als er ihn erlebt, diesen ersten einer ganzen Reihe schlimmer Alpträume, da erschüttert er ihn bis ins Mark. Dies ist der Traum: Es ist Nachmittag. Er ist Sportmoderator eines lokalen Rundfunksenders. Nein, warum weiß er auch nicht, er hat in seinem ganzen Leben noch nie eine Sendung moderiert und interessiert sich praktisch gar nicht für Sport. Er ist der 34 Sachverständige, eine Hälfte eines Moderatorenteams, und der Rundfunksender hat seinen Sitz im Keller eines großen innerstädtischen Bankhauses. Die Studiowände sind limonengrün gestrichen. Er ist ziemlich erfolgreich und populär und steht im Ruf, dass er ein passabler Baseball-, ein vorzüglicher Basketball-und ein absolut erstklassiger Footballexperte ist. Das sind die sorgfältig ausgearbeiteten Details. Er ist auf Sendung. Ein wichtiges Spiel ist zur Hälfte vorbei. Samstagnachmittag, und er riecht den Rauch in der stickigen, verschwitzten Pressekabine des Teams. Die Menge tobt. »Unitas fällt zurück«, sagt sein Co-Moderator, »gleich dürfte er die Bombe werfen! Drei Sekunden bis zur Halbzeit und dem Gong, Frank.« Er antwortet ohne die Spur eines Lispelns oder Stotterns. »Stimmt genau, Gil«, sagt er, »drei Sekunden, und Unitas hat ein Problem, er muss jetzt werfen oder - MANN! Da fliegt der Ball. Was für eine Kanone! Johnny Unitas schafft einen Wurf wie aus dem Bilderbuch, was für ein grandioser Ball und ... unglaublich, Raymond Berry hält ihn im letzten Viertel! Eine Fünfundneun-zig-Meter-Kugel aus Unitas' Gewehr, und die Baltimore Colts beenden die Halbzeit mit sechs Punkten Vorsprung vor den Green Bay Packers, als der Gong ertönt, zwanzig zu vierzehn.« »Und Schnitt, ihr Jungs hört euch im Ü-Wagen gut an«, ertönt eine Stimme aus der Alptraumsprechanlage. Die Traumlogik bringt Fernsehen und Radio durcheinander, aber Spain bemerkt es gar nicht und träumt weiter. »Telegramm, Frank«, sagt der Toningenieur und reicht ihm einen gelben Umschlag von Western Union. Er öffnet ihn und liest:
FRANK, DU BIST EIN ELENDER TAUGENICHTS. ICH WÜNSCHTE, DU WÄRST TOT. Unterschrieben ist die Nachricht mit Sylvester P. Landis III, und es ist eine Adresse angegeben. 35 »Gil«, fragt er seinen Phantomkollegen, »wer ist Sylvester P. Landis der Dritte?« »Nie gehört. Was ist los, Frank?« »Hier«, sagt er, »lies das.« »Verdammt«, sagt der Mann. »Und du kennst diesen Kerl nicht?« »Ich hab den Namen noch nie gehört. Was meinst du? Ob das ein Scherz sein könnte?« »Oh, ja, verflucht. Nur ein Irrer, der unsere Sendung hört. Wirf es in den Müll. Komm schon — vergiss es, Mann. Holen wir den Tabellenstand und machen wir uns an die Arbeit. Du rekapitulierst die Halbzeit, und ich übernehme am Ende deines Berichts, okay?« »Prima«, sagt Spain und erledigt seine Aufgabe fehlerlos. Die Tambouretten, die Marschkapelle, die Blasmusik, das alles schildert er in den leuchtendsten Farben. Auch der Rest des Spiels verläuft wunderbar. Als das Spiel zu Ende ist, geht er zum Stadion zurück; auf dem Parkplatz macht jemand einen Riesenaufstand. Die Männer gehen alle raus und stellen fest, dass die Polizei einen abgerissenen Irren, der Franks neuen BMW mit roter Farbe aus der Spraydose traktiert hat, festhalten. »Scheißkerl« hat er mit Leuchtfarbe auf den Kofferraumdeckel geschrieben, und »Frank ist ein Arschloch« auf die Beifahrertür. »Kennen Sie diesen Mann, Frank?« fragt ihn einer der uniformierten Beamten. »Nein. Wer zum Teufel ist er?« »Er behauptet, dass er Sie kennt. Sein Name ist Sylvester P. Landis.« »Ein Irrer. Sehen Sie.« Er zeigt dem Polizisten das Telegramm. »Haben Sie das geschickt?« Die Polizisten sehen den durchgeknallten Irren an. Er ist ein Typ mit groteskem Aussehen und einer abgedrehten, irren Miene. Hirni. Brillengläser wie Colaflaschen, schreckliche Akne, schlechte Zähne, eine echte Niete. »Klar, Bullenschwein, na und? Ich wünschte, Frank wäre tot.« 35 »Oh-oh, Mr. Landis ... Sie sind festgenommen.« Und sie zerren den Penner in Handschellen fort, lesen ihm dabei seine Rechte vor und bugsieren ihn auf den Rücksitz eines wartenden Streifenwagens. Zeit vergeht. Frank (Spain) erfährt, dass der Kerl ein harmloser Trottel ist, der gern Hassbriefe an Sportmoderatoren schickt. An der Stelle begreift Spain offenbar, dass er träumt und fragt sich, was zum Teufel das hier mit irgendwas zu tun hat. Doch der Traum geht weiter. Die Verunstaltung des BMW ist der erste Akt von Vandalismus, den der Irre begangen hat, daher lässt man ihn wieder frei. Es folgen Anrufe und Briefe, aber Frank ignoriert sie alle. Eines Abends kommt er dann heim und stellt fest, dass sein Apartment verwüstet wurde. An einer Wand steht in roter Leuchtfarbe: ICH WÜNSCHTE FRANK WÄRE TOT. Die Polizei verhaftet Landis. Er gesteht. Es kommt zum Prozess. Er wird für schuldig befunden und zu zwei Jahren wegen Einbruch in das Haus eines Sportmoderators verurteilt, doch ehe er seine Strafe antreten kann, begeht er in seiner Zelle Selbstmord. Er hinterlässt eine Nachricht. Mit roter Farbe sprüht er an die Zellenwand: FRANK IST EIN SCHEISSKERL. Die Verwaltung des Rundfunksenders spürt, dass Frank kurz vor einem Nervenzusammenbruch steht, aber jetzt, wo der Irre nicht mehr ist, kann er vielleicht
wieder ein normales Leben führen, ohne dass ihn andauernd jemand belästigt. Man besteht darauf, dass Frank eine Woche Urlaub macht. Er gehorcht. Wenig später, nach einigen entspannenden Tagen auf den Bahamas, lässt er sich braungebrannt und erholt im Sender sehen. »Ahem, äh, hallo, Frank«, sagt einer der Nachrichtensprecher albern. »Was für eine, äh, hübsche Überraschung.« Er benimmt sich nervös und ausweichend. »Frank! Oh! Wie nett«, sagt ein anderer Angestellter. »War dein Urlaub schön?« Alle sind so verkrampft in seiner Gegenwart. Unten im Tonstudio verweilt er entspannt, hängt so ab, liest die neuesten Meldungen, als er eine Paketpappröhre im Müllei 36 mer sieht. Und beim Anblick der eckigen Buchstaben auf der Röhre schaltet der Traum gewissermaßen einen Gang hoch und leuchtet, als wäre gerade ein Licht angegangen, das sagen soll: ACHTUNG, WICHTIGER TEIL DES TRAUMS ... AUFGEPASST! Jetzt kommt der schwarze Mann aus dem Schrank. Es handelt sich ohne jeden Zweifel um die Handschrift von Sylvester P. Landis. Und plötzlich, noch bevor Spain/Frank weiß, was sich in der Röhre befindet, überzieht der eisige Rauhreif der Angst seine Arme und Beine mit einem Prickeln von Grauen und Paranoia. »He«, ruft er einem Nachrichtensprecher zu, »was ist in dieser Röhre gekommen?« »Hm?« Der Sprecher wendet nervös den Blick ab und sieht ihm nicht in die Augen. »Keine Ahnung.« »Komm schon, Bill. Was zum Teufel ist hier los?« »Geh zu Schmertz.« So realistisch. Ein Angestellter des Senders namens Sid Mertz. Alle nennen ihn Schmertz. Sämtliche Details kristallklar. Bis hin zu den kleinsten Nebensächlichkeiten und belanglosen Trivia. »Okay, Sid«, stellt Frank den Mann zur Rede, »was ist hier los?« »Wir wollten es dir nicht zeigen, Frank. Weißt du, wahrscheinlich ist es ein schlechter Scherz.« Er schwitzt. »Geh runter in den Heizraum.« »In den Heizraum?« Schmertz nickt zustimmend, worauf Frank die Treppe runterhetzt. Der Heizraum sieht exakt so aus wie der Keller der Schule, die er als Kind besucht hat. Und da, im Müll, liegt der Rest der Pappröhre, voll von Papieren, die nur darauf warten, dass sie verbrannt werden. Er holt das Päckchen aus dem Abfall und liest die Adresse auf der zerrissenen Röhre. Sie lautet, teilweise: FRANK DER SCHEISSKERL c/o Der Rundfunksender. Und die Handschrift ist ohne jeden Zweifel die des toten Landis. Das erste Blatt Papier in der Röhre zeigt die hässliche, primi 36 tive Wachsmalstiftzeichnung eines Clowns. Er weiß, dass er diesen Clown in der zweiten Klasse gemalt hat und sie ihn ausgelacht haben. Es ist bizarr und beängstigend, die Zeichnung jetzt hier im Päckchen des verrückten Landis zu sehen, der allen möglichen Mist um das Bild des Clowns herumgekritzelt hat, Sprüche wie: DAS IST DU, ARSCHGESICHT, ICH WÜNSCHTE, DU WÄRST TOT. Das Übliche. Doch der Rest des Päckchens macht ihm wirklich Angst. So große Angst, dass er zitternd aus dem Alptraum hochfährt und plötzlich hellwach ist. Denn im Rest der Röhre befinden sich Fotos seiner Mutter und seines Vaters, die vor über dreißig Jahren in Agency, Missouri, ums Leben kamen, als ihr Haus bis auf die Grundmauern niederbrannte - mindestens fünf Jahre vor der Geburt von Sylvester P. Landis III.
Der Rundfunksender mit den klickernden Fernschreibern und den Büros, die er im Keller eines Bankgebäudes aus dem Hut gezaubert hat, sind in Wahrheit die einer Investmentfirma. Es sind Orte, an die sich der Knabe, heute der Mann, der sich Spain nennt, voller Angst verkrochen hat. Orte, die er mit lähmender Angst und Erinnerungen an schmerzhaft realistische Schrecken verbindet. Die Halbzeit eines Footballspiels war ebenfalls ein Augenblick unerträglichster Qual für das Kind gewesen. Namen und Orte der Vergangenheit, die heraufbeschworen wurden, damit sie ihm verheerende Demütigungen ins Gedächtnis rufen, wenn er sich an das wiehernde Gelächter seiner Peiniger erinnert. Unverzeihliches Unrecht, das ihm einst in einem Heizungskeller wie dem in seinem Traum angetan wurde. Ängste, Schrecken, Demütigungen und Grausamkeiten, die ihn auf den Weg zu seiner ersten Bluttat führten. Selbst der Name - Sylvester P. Landis III war in Wahrheit ein frei assoziiertes Amalgam demütigender und grauenhafter Kindheitserinnerungen. Erinnerungen an eine Vergangenheit, die ihn untrüglich wie ein Kompass immer zum nächsten Ziel führten, 37 das seine Herren und Meister ihm nannten. Eine Vergangenheit, die ihn jetzt wie ein fehlgeleiteter Querschläger eingeholt und seine Familie zerstört hatte. Spain schüttelte den Traum ab, sobald er erwacht war, und zunächst wollten ihm nur winzigste Bruchstücke davon nicht aus dem Sinn gehen. Doch dabei ließ es Spain nicht bewenden; besonders das Bild des obszönen Clowns verfolgte ihn, und er kreiste in Gedanken immer wieder darum, wie man ständig mit der Zunge im Loch eines gerade gezogenen Zahns stochert. Man weiß es besser, kann aber trotzdem einfach nicht anders. Fünf Wochen macht er ihr den Hof, spielt mit ihr, geht bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit ihr ins Bett, betört sie, bringt sie mit seiner flinken Zunge um den Verstand, spielt sein gesamtes Repertoire an Tanzeinlagen rauf und runter mit ihr durch, während der sanfte, hübsche, wortgewandte, intelligente junge Mann sie zielstrebig mit Kokain, zunehmend ausgefalleneren Sex-Praktiken und dem Leben auf der Überholspur bekannt macht. Er bereitet sie vor, erzieht sie, unterwirft sie. Wartet auf den richtigen Moment, wenn er sie einfach so komplett umdrehen, sie mit auf die gefährliche Böschung neben der Überholspur nehmen kann, wo nur die ganz besonderen Spieler sich hinwagen. Fünf Wochen lang ließ er sie zappeln wie einen zwölfpfünder Katzenwels am Haken einer sündhaft teuren Angelrute, einer Zebco 303, deren Nylonschnur bis zum Zerreißen gespannt ist, zog sie ohne Netz in der Hand ins seichte Wasser am Ufer, wo er dafür sorgte, dass sich der Haken immer tiefer und tiefer ins Fleisch bohrte, der grausame Haken, von dessen Widerhaken sich nur der zäheste Fisch je wieder befreien könnte, sorgte dafür, dass die Angelrute immer schön steil nach oben zeigte, zog die Schnur ein, damit sie schön straffblieb, aber nicht zu straff, niemals zuviel Druck ausgeübt wurde. Und er beobachtete wohlgefällig, wie er mit seinem neuen Fisch spielte. Durch und durch Profi und allzeit bereit. Versklavte sie mit Drogen und Sex und 37 romantischem Verlangen und Versprechungen. Und der Saft seiner gesunden, geilen Hollywood-Abgänge wurde zum Gleitmittel für ihre einseitige Liebesbeziehung, mit der er ihren Körper für die lange, heiße Abfahrt die Drogenrampe hinunter schmierte und glitschig machte. »Greg, ich liebe dich so sehr«, schnurrte sie ihn an.
»Du bist ein süßes Kätzchen. Weißt du das?« »Liebst du mich so sehr wie ich dich?« »Das weißt du doch, Engel.« Er musste sie nur ein paar Mal an Hals und Kinn und Mund berühren, dann konnte sie es kaum erwarten, diese vollen, heißen Filmstarlippen zu spüren. Er war ein Meister in der Wahl des richtigen Zeitpunkts und konnte manchmal selbst kaum fassen, wie schnell und bereitwillig sie inzwischen ihre Blüte für ihn öffnete, nur ein paar Sekunden und sie war fit im Schritt. Doch das Spiel wurde ihm allmählich langweilig, und je weniger ihn ihr kostbarer Schatz interessierte, desto schwerer fiel es ihm die Illusion aufrecht zu erhalten. »Haben dir die zurückliegenden Wochen so gut gefallen wie mir, Tiff?« »Oh Gott. Natürlich. Ich hab schon fast vergessen, wie es vorher war. Ich will, dass du mich heiratest, Greg. Ich möchte, dass wir uns irgendwo niederlassen und eine Familie gründen«, sagte sie mit blinzelnden Katzenaugen. Ihre Mutterinstinkte waren ziemlich ausgeprägt. »Das wünsche ich mir auch. Ich seh richtig vor mir, wir zwei in der verschneiten Blockhütte in den Bergen, draußen fällt der Schnee, wir legen Holz in den Kamin, kuscheln unter einer Decke und zeugen unser erstes gemeinsames Kind. Wäre das nicht wunderbar?« »Hmmmm.« Sie küssen sich. Zuerst sanfte, zärtliche Schmatzer, die ihr Feuer entfachen, wie er genau weiß, dann bringt er die Hände ins Spiel, schließlich folgen die festen, suchenden, feuchten Küsse, und wenn sie dann so richtig geil ist, weicht er ein wenig zurück 38 und sieht sie mit seinen sexy kalifornischen Blauaugen an. »Wenn du mir hilfst. Baby«, sagt er, »können wir das alles im Handumdrehen haben.« »Was meinst du damit? Natürlich helfe ich dir.« Sie lächelt. Er küsst sie, steht auf, holt etwas aus der Tasche, bringt es zum Bett und zeigt es ihr. »Was ist das?« »Das ist unsere Fahrkarte hier raus, Tiff. Das ist unsere Zukunft. Damit kommen wir hier raus und können eine Familie gründen.« Sie betrachtet das kleine Fläschchen mit ihren großen Katzenaugen. »Ach ja?« »Dynamite White«, erklärt er ihr. »Serpico. Weißer Traum. Wolke Sieben. Superschnee! Ich hab eine Möglichkeit gefunden, wie wir alles haben können, Baby-Doll, und zwar jetzt gleich. Roger und ich kennen einen Typen, der kann uns so viel von dem Zeug beschaffen, dass wir mit einem einzigen Deal raus aus der Scheiße sind und ich aufhören kann. Damit wären wir für immer und ewig alle Sorgen los.« »Boah.« »Ja. Es ist nur so, wir brauchen 'n Arschvoll Kohle, damit wir das durchziehen können. Und wir sind abgebrannt, Mann.« »Ich dachte, wir hätten jede Menge Geld. Ich hab dir gegeben, was ich hatte, und den Schmuck und die -« »Schon, aber wir sind jetzt seit achtunddreißig Tagen im Deuville. Doppelzimmer kosten ein Schweinegeld. Es ist alles allein für die Motelrechnung draufgegangen. Und wir müssen den Deal durchziehen, andernfalls verliert unser Kontaktmann hier das Interesse, und dann ende ich irgendwo als Hotelpage und du als Kellnerin in einer fettigen Frittenbude.«
»Es macht mir nichts aus, als Kellnerin zu arbeiten, Greg. Man kann wenigstens nicht verhaftet werden, weil man kellnert?« »Ja, vergiss es. Wir müssen Stoff vertickern und ich brauch Kohle.« 39 »Ich hab dir gegeben, was ich hatte, bis auf fünfzehn Dollar oder so. Die kannst du haben.« Sie will aufstehen und ihre Handtasche holen. »He, Tiff. Vergiss die fünfzehn Piepen. Komm schon. Verarsch mich nicht. Wir reden hier von unserer Zukunft.« »Ich verarsch dich nicht. Ich dachte, du brauchst Geld.« »Klar. Ich brauch Geld. Aber keine fünfzehn Dollar. Ich brauch dreitausend Ocken.« »Liebes, ich hab keine dreitausend Ocken.« »Hör mir zu.« Er beugt sich über sie mit seinen Locken und den strahlenden Augen direkt vor ihrem Gesicht und redet ziemlich schnell und fast flüsternd. »Du hast mir gesagt, du möchtest, dass wir eine Familie sind. Pass auf. Wir müssen beide ein großes Opfer bringen, wenn wir für immer zusammen sein und uns umeinander kümmern möchten. Ich hab dich. Du bist meine einzige Ressource, Tiff. Du musst mir helfen, Baby. Ich muss dich um was bitten, das du vermutlich nicht willst, aber wenn ich dir alles erklärt hab, siehst du sicher ein, dass es das Beste für uns ist. Ich will das nicht von dir verlangen, Baby, aber es ist die einzige Möglichkeit, glaub mir. Wir brauchen genug Geld, damit wir uns ein gemeinsames Nest machen können, richtig? Und ich muss imstande sein, dich zu beschützen - damit du nicht wieder in dieses Gefängnis zurück musst, in dem du eingesperrt warst -, ich bin der Einzige, der das kann. So, wie du die Einzige bist, die das für mich tun kann.« »Was soll ich denn für dich tun?« flüsterte sie. »Wir müssen schnell ziemlich viel Zaster auftreiben. Ich hab nur dich. Hör zu, du musst ein paar Mal mit Typen ausgehen. Jetzt geh nicht gleich an die Decke. Ich -« »WAS?« sie fängt an zu lachen. »Was soll ich für dich tun?« »Ich will es so wenig wie du. Die Vorstellung, dass meine zukünftige Frau Sex mit anderen Männern hat, ist mir zuwider. Aber wenn du nur -« »Hör auf. Red nicht so einen Stuss. Du bist verrückt.« 39 »Aber eigentlich ist es sowieso kein Beinbruch. Roger kennt einen Typen, einen netten älteren Herrn mit jeder Menge Kies, der immer auf der Suche nach Frischfleisch ist. Du musst ihn nur ein paar Minuten ranlassen, und dann können wir -« »GREG! Hör auf!« »Alle schaffen an. Drei Minuten mit nem Typen. Ist doch nichts dabei, dann kommst du zurück, wir ziehen uns 'ne Linie rein und vergessen die Sache. Und es dauert nicht lang, dann haben wir genug, dass ich aussteigen kann.« »Wir vergessen die Sache, da hast du ganz recht.« Sie lacht immer noch, so absurd ist das alles. »Du durchgeknallter Irrer.« »Das war kein Witz. Du musst es machen, um uns zu helfen. Mir gefällt es auch nicht, aber das ist unsere große Chance. Ich liebe dich, Püppchen. Ich wünsche mir ein Zuhause für uns. Einen Neuanfang. Aber wenn du mir weiter sagst, dass ich es vergessen soll, wird daraus nie was. Wie hätte es dir gefallen, als du mich gebeten hast, dich bei deinem Alten rauszuholen, wenn ich da gesagt hätte: Blödsinn - vergiss es. Es hätte dir nicht besonders gut gefallen, hab ich recht?«
Sie sah ihn an. Es war wirklich sein Ernst. »Ich will, dass wir zusammen sind, aber es muss richtig sein. Das wäre nicht richtig. Wenn es dir wirklich ernst damit ist, lass gut sein. Ich könnte es nicht, nichtmal, wenn ich wollte, und ich will nicht. So ein Mädchen bin ich nicht.« »Das weiß ich, Engel. Ich weiß, dass du nicht so ein Mädchen bist.« Er machte wie immer einen Rückzieher. Ihm war gelungen, was er sich vorgenommen hatte — ihr den Keim des Gedankens einzuimpfen, damit sie darüber nachdenken konnte. Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. »Wir finden schon einen Weg. Mach dir keine Gedanken.« Er hielt eine Flamme an das Piece an und nahm eine Lunge des herrlichen Dynamite White. Nur ein winziges Stück des Piece. »Puuuh. Super«, sagte er. 40 »Dreckskerl«, schimpfte sie ihn mit einem Lächeln, als er ihr das Glasrohr hinhielt. »Fast hättest du mich drangekriegt.« Greg sah so wunderschön wie ein Filmstar aus, fand sie. »Hmmm.« Er lächelte unverbindlich., Sie nahm einen tiefen Zug, dann saßen sie zusammen auf dem Bettrand, hörten das Knistern, mit dem der Stoff köchelte, ihren Geist mit seiner Magie verzauberte, und rauchten danach stumm und fasziniert von der Verwandlung. Und der Rauch machte sie beide hochintelligent, auf brillante Weise klug und unanfällig für die Fallstricke und Pfeile, die niedrigere Sterbliche verletzen konnten. Solange wir zusammen sind, sterben wir niemals, dachte sie, zufälligerweise einmal korrekt. »Wie gut ist das Zeug?« wandte sich Greg an Roger. »Das ist Kokain MacNugget, Mann.« »Und?« »Superrein und superstark. Das Zeug haut dir die Schädeldecke weg, und es gehört alles uns.« »Wie cool ist der Typ?« »He, der ist absolut astrein, Mann. Der hat nie einen mit seinem guten Shit übers Ohr gehauen. Damit können wir ganz groß absahnen. Er hat das affengeilste, konkurrenzloseste Dynamite White, das man kaufen kann. Shit, den wir zum besten Crack auf der Straße einkochen können. Fünfzig Gramm ergeben genügend Kügelchen für fünfhundert Phiolen, Greg, und da ist das, was wir selber rauchen, noch nicht mit eingerechnet. Ein Riesengeschäft, Mann. Aber wir müssen uns entscheiden.« »Scheiß drauf. Machen wir es.« »Schick die Schlampe los, Mann. Wir brauchen es so schnell, wie du's kriegen kannst.« »Keine Bange«, sagte er grinsend. »Die ist eine Scheißgoldgrube hier unten.« Die neue Junk-Krankheit beschränkte sich nicht auf Getto, 40 Bardo, Ort, Region, Land oder Volk. Sie war allgegenwärtig, egalitär und übermächtig. Man begegnete ihr überall, von der East Forty-second Street bis ins östliche L. A., und sie konnte jeden befallen, vom Straßenpunk bis zum Großmütterchen. Sie schrieb eine himmlische Viertelstunde lang etwas Wunderbares auf die Schiefertafel des Geistes und jagte einen danach mit dem Fahrstuhl hui-bui neunzig Stockwerke runter in den Keller. Das Problem ist, dein Gehirn liebt das Zeug, und wenn du fast so schnell runterkommst, wie du high geworden bist, sagt dein Gehirn: BOAH! Moment mal. Gib mir MEHR davon. Das war gut. Du willst diesen Kitzel erneut verspüren, und zwar sofort. Und du denkst nicht nach und handelst logisch. Du willst einfach nur das Hochgefühl wieder
erleben. Und genau dorthin führte der Junge sie, zum ersten Boxenstop auf dem Weg zur Hölle. Und er genoss jeden einzelnen Moment. Sein Freund stieß ihn an. »Und?« fragte Roger mit listigem Grinsen. »Ja?« »Ziehen wir's durch.« »Ja«, sagte Greg ungeduldig. »Ich hab doch gesagt, alles klar. Keine Bange. Wenn du sagst, er ist astrein, dann ist er astrein. Mach's.« »Scheiße, Mann, ICH hab meinen Teil getan. Jetzt musst du dafür sorgen, dass deine Fotze ihre Muschi miauen lässt. Der wartet nicht ewig auf uns.« »Was zum Teufel willst eigentlich, 'n Scheißwunder? Grad eben hast du mir von dem Deal erzählt, und jetzt soll ich mit den Fingern schnippen und das Scheißgeld IN ZWEI SEKUNDEN BEISCHAFFEN?« »Ja.« Er lachte. »Ich bin der Strahlemann, du bist der Zahlemann. Du musst dir dein Stück vom Kuchen schon verdienen, Mann.« »Du willst mir erzählen, wie man 'ne Schlampe auf die Straße schickt, ja?« 41 »He, blas dich nicht so auf, Arschloch.« »Blas DU dich nicht so auf, ARSCHLOCH.« »ICH hab meinen Teil erfüllt, Alter. Ich hab dich hergebracht, und zwar in meiner Scheißkarre, richtig? Und ich hab diesen Eins A Stoff für uns aufgerissen. DU hast die Schlampe. DU sorgst dafür, dass sie den Arsch hinhält.« »Klar, mach mir doch noch n BISSCHEN MEHR DRUCK, Herrgott.« Wenn Greg die Beherrschung verlor, hörte er sich an wie ein Zehnjähriger, fand Roger. »Sie ist schon ANGEFIXT.« »Ganz ruhig, Wunderwarzenschwein. Ich verarsch dich doch nur. Aber ernsthaft, Mann, ich weiß, dir ist klar, wenn wir die fünfzig Gramm wollen, dann müssen wir in die Gänge kommen und die ÄRSCHE drehen.« Er streckte die Hand aus, aber Greg schlug nicht ein. Roger wusste, er war immer noch angepisst, hatte die Botschaft aber verstanden. Die Schlampe musste auf die Straße. Nach der Entscheidung gestern Abend war es an der Zeit, zu feiern, und jetzt rauchten sie, ließen sich davon forttragen, und sie segelte und schwebte höher als jemals zuvor, ohne Netz und doppelten Boden, weil sie so schlau war, dass sie das riskieren konnte, und die Wirkung war so herrlich, dass sie nur mit offenem Mund dasitzen und »Oooooh« machen konnte. Worauf er »Mmmm« antwortete. Und sie kicherte und inhalierte, hielt den Atem an, während er inhalierte, und dann machten sie gleichzeitig »Mmmmm ...« und lächelten, lachten innerlich, stießen den weißen Rauch aus und staunten, wie rattenscharf das alles war. Greg dachte dreierlei: Oh ja, das ist gut, und: Flache Knabentitten, und: Lass dich von diesem krassen Shit high machen, Liebling - alle drei Gedanken gleichzeitig. Und bei Crack gilt: gesagt, getan. »Hmm«, sagte sie leise, als er ihre Bluse hochschob, mit den Fingern sanft über die knabenhaften Brust strich, spürte, wie 41 ihre Nippel unter seinen Fingerspitzen hart wurden und ihre Brüste betrachtete. »Hmmmmmm.« Sie flog davon, weg von hier, und es war momentan alles so gut, so richtig und so magisch.
»Oh, ja«, flüsterte er ihr zu, nahm geistesabwesend eine Brustwarze und hielt sie einfach zwischen Daumen und Zeigefinger, hielt sie behutsam und wusste, er konnte kneifen oder nicht kneifen, ziehen anfassen küssen lecken und machen was er wollte sie gehörten ihm und ihm allein und seine Macht strömte durch die Fingerspitzen und sie fühlte und spürte die Hitze durch die Wirkung des Rauchs dringen und zuckte ein klein wenig zusammen als die Hitze sie überraschte, und er ließ die Magie aus seiner Berührung und in ihre Brüste strömen, eine wohlige Wärme, die sich sogleich über ihren Brustkorb, Hals und bis ins Gesicht ausbreitete; er sah es, beugte sich vor und küsste die heißen Stellen treffsicher, lachte sein abgehacktes Lachen und genoss den Kitzel seiner enormen Macht. Gestern Abend hatte er bei Kerzenlicht Weißwein mit ihr getrunken, aber das würde in absehbarer Zeit nur noch Weißwein unter der Brücke sein, denn sie ging zum ersten Mal »auf die Straße«. Schon jetzt saß sie in ihren »Fick-mich-Klamotten« da, wie er sich ausdrückte, einem lächerlich kurzen, obendrein hochgeschobenen Rock, damit man einen guten Einblick ins Wunderland hatte, und Schuhe mit extrem hohen Absätzen. Die Aufgeil-Uniform der Nuttenkompanie. Sie hatte nicht gefragt, woher er das Geld für die Kleider oder den Wein oder die Kerzen oder den Stoff hatte. Sie war ihm verfallen. Aber nicht die Arglist hatte ihren Widerstand brechen lassen, sondern das Crack. Sie sehnte sich mit jeder Faser ihres Körpers danach. Sie musste es immer wieder haben. Es machte alles so wunderbar und richtig und warm und herrlich erträglich. Es brachte Ordnung in die Unordnung und gab dem Leben einen neuen Sinn; es war das Evangelium der Süchtigenreligion. Zweck und Freude des Lebens in zwei Worten: Mehr davon. 42 Es machte sie wieder zur Prinzessin, und sicher in den Armen eines Liebsten, der sie beschützen und festhalten und ihr alle Liebe auf der Welt geben und sie nie verlassen würde. Für so einen lieben, fürsorglichen Menschen musste man ein paar Opfer bringen. »Leicht verdientes Geld, Püppchen.« Das hatte er zu Tiff gesagt. Ein Mantra, das ständig wiederholt wurde, bis es nachhallte. Er beschrieb damit wechselweise die Prostitution oder den Drogendeal. Wie sein Kniff mit der »höchsten Form der Liebe«, den er als MiniArgument in sich benutzte, durch konstante Wiederholung verstärkte; später hatte sie hinreichend Zeit, über die Ironie nachzudenken, wenn das Echo von »leicht verdientes Geld« in ihren Ohren hallte. »Filmstargeld«, den Ausdruck hatte der Freier benutzt. Später erinnerte sie sich daran, was die Männer gesagt hatten. Ihre Männer, denkt sie. Die Männer, die ihr geholfen hatten, das leicht verdiente Filmstargeld zu verdienen. Doch hinter der prasselnden, weißen Rauchwolke ihrer neuen Liebe schien die Aussicht auf ihre neue berufliche Laufbahn plötzlich nicht mehr ganz so anrüchig zu sein. Inzwischen kam es ihr nicht mehr undenkbar, sondern nur noch etwas abstoßend vor. Crack färbte alles schön. Man konnte Unsummen damit verdienen. Und sie brauchten nur das Startkapital für ihr kleines Liebesnest. Sie musste schnell etwas Geld machen. Leicht verdientes Geld. Und sie war vierzehn; das früher Lächerliche war jetzt Realität, und sie betrachtete seine Locken und hörte ihn »Geile Möse« sagen, blinzelte mit den Katzenaugen und sah zu dem magischen Spieglein, Spieglein an der Wand. Doch das Spieglein war trüb vom Rauch und erwiderte ihren Blick nicht. Und Greg beobachtete sie, ließ den Blick über ihre Arbeitsmontur schweifen, betrachtete sie mit seinen Westküstenaugen mit den langen Wimpern, ließ sein weißes Beverly-Hills-
Grinsen blitzen und dachte darüber nach, wie langweilig kleine Mädchen immer wurden. Längst hatte er den Blick auf eine andere gewor 43 fen. Sobald er ein wenig Scheißgeld auf die Seite gescheffelt hatte, würde er Tiff einen Tritt geben. »Steh kurz auf«, befahl er ihr. Gehorsam erhob sie sich. »Komm schon. Geh auf und ab und lass mich sehen.« Sie stellte sich direkt vor ihn, zwischen seine gespreizten Beine. Sie machte die Augen zu und legte den Kopf in den Nacken, als er sie streichelte, dann bewegte sie den Kopf, als hätte sie einen steifen Hals. Mit den Fingern raufte sie sein langes, lockiges Haar. »Mmmfff.« Sie konnte nicht hören, was er sagte, da er sie fest an sich drückte, mit den Händen über ihre braunen Beine strich, die Handflächen auf die Pobacken legte, an den Oberschenkeln hinabglitt, bis er die Ränder ihrer glatten, hochhackigen Stiefel spürte, und sagte etwas zu ihr, doch die Worte klangen gedämpft und unverständlich, da er den Mund an sie presste. Und er dachte bei sich: Ich bin der Größte. Spain, der untröstlich ist und zum ersten Mal in seinem Leben befürchtet, dass er das Einzige verlieren könnte, das ihm lieb und teuer ist, konzentriert sich einzig und allein darauf, dass er sie findet und wieder nach Hause bringt. Nicht einmal er hat sich vorstellen können, wie viel Zeit und Energie und was für unglaubliche Geldsummen so eine Suche kostet. Er weiß nur, er will Tiff wiederhaben. Seine Tochter ist wie vom Erdboden verschwunden. Und er muss die Hilfsmittel nutzen, die ihm zur Verfügung stehen: das Auge des Jägers, seine enormen finanziellen Mittel, sein Netz von Kontaktpersonen an den finstersten Orten. Wenn Spain einen Auftrag annahm, dann musste er das Individuum normalerweise nicht aufspüren, damit er, wie es im Branchenjargon hieß, »Zugang« dazu hatte. Die wenigen Ausnahmen machten es jedoch manchmal erforderlich, dass er diesen Aspekt des Auftrags an einen Spürhund oder Schnüffler weitergab. Er konnte sich nicht entsinnen, dass er jemals anders gearbeitet hätte, nicht einmal am Anfang seiner Laufbahn. Es 43 gab überall im Land so genannte Kopfgeldjäger, die als Kautionsverleiher arbeiteten. Manche davon waren berüchtigt dafür, dass sie es mit dem Gesetz nicht immer so genau nahmen, wenn das Honorar stimmte. Er kannte einige ehemalige Polizisten, die jetzt in anderen Branchen arbeiteten, denen er ebenfalls hin und wieder schon Aufträge zugeschanzt hatte, daher ließ er jetzt alle Optionen, die ihm offenstanden, Revue passieren. Er wusste, was er tun musste. Im Rahmen des Gesetzes bleiben. Zu viel Öffentlichkeit. Schon jetzt war er durch das Maß an Interesse verwundbar geworden. Zu viele Leute hatten ihre Nasen in diese Sache gesteckt, die längst keine Privatangelegenheit mehr war. Es existierten Akten. Fragen wurden gestellt. Möglicherweise polizeiliche Ermittlungen geführt. Er musste auf juristisch sicherem Boden agieren. Sich eine angesehene Detektei suchen und auf den Fall ansetzen. Sollten die nach ihr suchen. Die Spur war längst kalt, die Uhr tickte. Er wusste genau, was für eine Art von Privatschnüffler er wollte. Spain rief einen Anwalt mit Beziehungen an, der ihm etwas schuldete, und fügte ein paar Namen zu der Liste hinzu, die er bereits angelegt hatte. Er grenzte die Auswahl auf fünf Detekteien ein, die
einen guten Ruf in Fällen von Ausreißern, Kindesentführung, usw. hatten, dann klemmte er sich ans Telefon und legte los. Innerhalb von wenigen Stunden hatte er zwei Namen gestrichen; eine Firma arbeitete nur noch im Wachdienst, die andere wurde von jemandem geleitet, der Spain zu dumm erschien. Blieben drei. Einer davon schied nach einem persönlichen Gespräch aus; der Inhaber stand zu sehr auf elektronische Hilfsmittel, doch Spain folgte in solchen Angelegenheiten stets seinen Instinkten. Am Ende ließ er zwei Jungs antanzen. Jeder hatte sich landesweit einen Namen gemacht. Er schickte jedem eine Anzahlung bestehend aus fünf druckfrischen Hundertern, nur um ihr Interesse zu wecken, dazu eine Hin- und Rückfahrkarte, und er spendierte das volle Programm: Erstklas 44 siges Hotel, Verpflegung, alle Spesen. Zwei Riesen leicht verdientes Geld, bar auf die Kralle, für vierundzwanzig Stunden Konsultationen, und dann wieder ab nach Hause. Kein doppelter Boden. Keine Fallen. Das erste Gespräch führte er mit »Beechie« Meeks, einem Privatschnüffler aus Detroit, der für Wells und Pinkerton gearbeitet hatte, zwei der großen Vier, um sich danach erfolgreich selbstständig zu machen. Berühmt geworden war er, weil er den fünfzehnjährigen Sohn eines hochrangigen leitenden Angestellten gerettet hatte, den eine religiöse Sekte an die Westküste lockte; im Anschluss gelang es Meeks sogar, die Gehirnwäsche der Sekte wieder rückgängig zu machen, mit dem der Verein ihn in einen fast zombieähnlichen Zustand versetzt hatte. Der Junge erwies sich als hinreichend wortgewandt und interessant, dass sich die Medien auf ihn stürzten, und der seltsame Name »Beechie« Meeks beherrschte eine Woche lang die Schlagzeilen. Beechie Meeks hinterließ einen blendenden ersten Eindruck. Er sah aus wie ein Privatdetektiv im Kino. Ein gutaussehender Bursche mit einer hartgesottenen, intelligenten Erscheinung und Manieren. Und passend bekleidet mit einem wunderschönen, maßgeschneiderten dreiteiligen grauen Anzug und dezenter Krawatte unter einem blütenweißen Hemdkragen - er sah aus wie ein erfolgreicher Junganwalt und ehemaliger Rodeocowboy, der sich inzwischen auf Firmenfusionen spezialisiert hatte - der MarlboroMann im feinen Zwirn für den Kirchgang. Doch dann zerstörte er den ersten guten Eindruck, indem er den Mund aufmachte. Ist das nicht immer so? Oberflächlich zumindest war Beechie Meeks übertrieben anmaßend, anstößig korrupt und absurd hyper-hyper. Eine Art von größenwahnsinniger, napoleonischer kleiner Knilch, der in seinem Spielzeuganzug und Miniaturgamaschenschuhen vor Spain saß und ihm die vollständige, ungekürzte BeechieMeeks-Story predigte, Satz für Satz, Kapitel für Kapitel. 44 Dennoch hätte er den Job vermutlich gemeistert. Er verurteilte den kleinen Mann zunächst nicht dafür, dass er ein Selbstdarsteller war oder sich aufführte wie Jiminy Grille auf Speed. Manchmal waren diese dreisten kleinen Burschen gut. Und das war schließlich die Hauptsache hier, dass der Job erledigt wurde. Das Problem war, Beechie kam Spain nicht vertrauenswürdig vor. Erstens würde er sich als Geldgrab erweisen, keine Frage. Das war akzeptabel, doch das gravierendere Problem kam später. Welche Garantie hatte Spain, dass Meeks nicht alles ex post facto ausplaudern würde? Er liebte die Medien zu sehr. Zu sehr der Typ, der öffentlichen Hype um seine Person schätzte. Und Spain wollte keine Öffentlichkeit. Aus und vorbei.
Er holte einen Privatdetektiv aus Cleveland, der Mel Troxell hieß. Der Anwalt hatte ihm gesagt: »Troxell ist verdammt gut, aber er dürfte zugeknöpft wie eine Auster sein.« Spain sagte: »Mr. Troxell, Sie wurden mir wärmstens empfohlen. Aber kommen wir gleich zur Sache, was können Sie für mich tun, das ich nicht selbst tun kann?« »Zuerst wüsste ich gern, wer mich empfohlen hat«, antwortete der Mann etwas zurückhaltend. »Ich muss meine Informanten schützen, genau wie Sie, nehme ich an. Sagen wir einfach, es war jemand, dem ich vertraue.« »Tja« - er zuckte die Achseln - »das wird dann wohl genügen müssen. Ich erfahre immer gern, wer eine Empfehlung ausgesprochen hat. Das ist eine wertvolle Information.« Spain fällte sein Urteil bereits. Er schätzte den Mann als versiert, sehr erfahren, vielleicht ein wenig übermisstrauisch ein, als harten, nicht gerade zimperlichen Kämpfer. Spain dachte, dass er ihn beauftragen würde. Er lächelte verhalten. »Können wir einfach sagen, dass es jemand war, dem ich vertraue, jemand unter den Gesetzeshütern?« Das schien ihn zu beruhigen; er legte den Kopf schief und zuckte abermals mit einer kurzen, knappen Bewegung des gesamten Oberkörpers die Achseln. »Na gut«, sagte er. »Ja. Okay. Um 45 auf Ihre Frage zurückzukommen, ich kann eine ganze Menge, was Sie nicht können.« »Zum Beispiel?« »Zum Beispiel Fragen stellen. Ich kann Leute auf die Freundinnen des Mädchens ansetzen. Die können Sie nicht fragen und hoffen, dass Sie viel rauskriegen. Offensichtlich ist das Mädchen ... Wie heißt Ihre Tochter?« »Tiff. T-I-F-F.« »Offensichtlich ist Tiff von zu Hause ausgerissen. Ganz gleich, aus welchen Gründen. Sie haben mir ein wenig über die häusliche Situation verraten, dass Ihre Frau Sie verlassen hat. Das könnte mit ein Grund dafür sein. Wie auch immer. Wesentlich ist, ihre Freundinnen würden Ihnen gegenüber sicher nicht so unbefangen sprechen wie mit meinen Leuten. Darum würde ich als erstes versuchen, Hintergrundinformationen von ihren Freunden und Bekannten zu bekommen. Dafür stehen mir Mittel und Wege zur Verfügung, die für Sie unpraktikabel, wenn nicht unmöglich wären. Die Jungs, mit denen sie offensichtlich durchgebrannt ist, die haben hundertprozentig mit jemandem geredet. Kinder prahlen immer gern damit, was sie vorhaben. Es erfordert nur Arbeit, aber die können wir leisten.« »Was haben Sie sonst noch vor, um sie zu finden?« »Oh, etwas Spezielles kann ich aus dem Stegreif nicht sagen.« Es stimmte, der Mann war zurückhaltend und defensiv. »Ich kenne eine Menge Standardorte, wo ich nach Informationen suche, aber jeder Fall liegt anders. Jeder Fall ist einzigartig. Ich würde mir ihr Zimmer und alles ansehen, was sie zurückgelassen hat. Wir gehen ihre Unterlagen durch, ihre Notizbücher, eine Menge Sachen, die viel Arbeit machen und Zeit kosten. Was immer uns einen Anhaltspunkt gibt.« Er war brüsk, kurz angebunden. Mit seiner Körpersprache sagte er Spain: Komm schon, lass dem Quatsch, fangen wir an. »Sie sagten Anhaltspunkte. Was für Anhaltspunkte würde ein Kind hinterlassen?« 45 »Oh ... Verdammt, keine Ahnung. Die Telefonrechnung, zum Beispiel. Sie wären überrascht, wie oft wir jemand finden, nur weil wir die ungewöhnlichen Ferngespräche
unter die Lupe nehmen. Man hat alles Schwarz auf Weiß vor sich, wenn man versteht, die Hinweise zu deuten. Das verstehen Sie nicht. Ich schon. Und meine Mitarbeiter.« »Entschuldigen Sie die vielen Fragen«, sagte Spain. »Vermutlich ist es müßig, Sie zu fragen, wie Sie Tiff finden möchten, aber ich weiß über Privatdetektive nur, was ich im Fernsehen gesehen habe« - er gönnte sich ein zaghaftes Lächeln - »Sie wissen schon, die alten Spürnasen.« »Also wir benutzen den Ausdruck Spürnasen gar nicht mehr. Ich meine, der ist schon in den vierziger Jahren aus der Mode gekommen. Kopfgeldjagden und Scheidungskriege und den ganzen Mist überlassen wir den kleinen Familienunternehmen, die im ganzen Land wie Pilze aus dem Boden schießen. Jemand schlägt eine Anzeige in den gelben Seiten auf, die ein Auge oder irgendsowas ziert. Und er denkt, er hat Sam Spade.« »Mit was für Aufträgen haben Sie am häufigsten zu tun?« »Wir arbeiten für große Firmen, wie Sie vermutlich bereits wissen. Ich mache eine Menge Sicherheitszeug, Videoüberwachung, Industriekram.« »Mord?« »Grundgütiger!« Troxell kicherte. »Wissen Sie, wie viel Mordfälle ich in dreizehn Jahren hatte? Einen. Das ist der Quatsch aus dem Fernsehen. Und es ist alles Blödsinn. Die Polizei untersucht Mordfälle. Privatdetekteien lassen da schön die Finger davon. Oh, alle paar Jubeljahre hat vielleicht ein Versicherungsbetrug etwas mit Mord zu tun, aber ich ...« Spain beobachtete den Mann, während der seine Ausführungen herunterleierte, und achtete kaum auf den Sinn der Worte, und das seit der ersten zufälligen Frage, die ihm in den Sinn gekommen war. Das hatte Spain gelernt. Er konnte die Reaktionen der Leute lesen wie ein Buch und machte regen Gebrauch 46 davon. Und plötzlich hatte er ein klares Bild von dem Mann. Er sah, dass der Mann hochintelligent war. Troxell musste sich anstrengen, damit er bei seinen Ausführungen komplizierte Begriffe vermied. Er musste sein Vokabular beim Reden runterfahren, und das etepetete Getue war nur Fassade. Er machte das, vermutete Spain, damit er einen leicht falschen Eindruck hinterließ. Damit man selbst die Hosen runterließ, während er einen abschätzte. In dem Moment entschied Spain, dass der Mann den Zuschlag erhalten würde. »Ich hab nur gefragt, weil mir aufgefallen ist, dass Sie bewaffnet sind.« Er sah zu der Waffe, worauf der Mann den Mantel ein klein wenig beiseite schob und sie zeigte. »Und ich wusste nicht, dass Privatpersonen noch die Genehmigung bekommen, eine Waffe zu tragen.« »Ja. In Cleveland geht das noch. Da gibt es die so genannte Privatpolizistenlizenz, die die Stadt Cleveland erteilt. Man muss Schießunterricht nehmen und so weiter, und wenn man die Prüfung bestanden hat, lassen die einen eine Waffe tragen. Und wenn man die Genehmigung hat, darf man auch im Einsatz ...« Er verstummte. »Die Jungs, die sie mitgenommen haben. Ich hab keine Ahnung, ob die gefährlich sind oder welche Probleme sich Ihren Leuten stellen könnten, sie sicher zurückzubringen. Ist es denn legal, dass Sie« - er sah zu der Waffe - »sich oder jemand anderen auf diese Weise beschützen?« »Für uns gelten dieselben Gesetze wie für alle anderen. Wir sind Privatpersonen, die in diesem Fall das ganz normale Recht haben, eine Bürgerverhaftung durchzuführen oder innerhalb vernünftiger Grenzen Leib und Leben einer Person zu beschützen. Wenn ein
Individuum die Sicherheit einer unserer Schutzbefohlenen öffentlich gefährdet, äh, oder feindselige oder aggressive Handlungen begeht, müssen wir natürlich verteidigend eingreifen. Genau wie Sie, wenn Sie im Supermarkt jemand bedrohen würde. Dann würden Sie sich oder Ihre Tochter beschützen. 47 Wir haben das Recht, ebenso zu handeln. Man muss sein Köpfchen benutzen, wissen Sie.« »Ich habe von diesen Kulten gehört, und dass Befreier Gewalt anwenden müssen, und da frage ich mich -« »Wir sind befugt, das erforderliche Maß Gewalt anzuwenden, um uns oder unsere Klienten zu schützen.« »Was meinen Sie, dürfte es schwierig werden, meine Tochter zurückzubekommen?« »Das Maß der Schwierigkeiten hängt vom Zufall ab. Wie viel Arbeit wir investieren müssen. Den Glücksfällen. Manchmal hat man Glück. Manchmal muss man endlose Stunden investieren. Hängt davon ab, wie schnell die Anhaltspunkte zu etwas führen. Hatten sie ein Auto? Am Telefon haben Sie gesagt ja, sie hatten eins. Das könnte es schwerer machen, aber auch leichter. Normalerweise gehen Kinder in diesem Alter zur Bushaltestelle, da kann man ihre Spur leicht verfolgen. Wenn sie per Anhalter fahren, wenn sie dies oder das machen - sehen Sie, jeder Fall ist anders. Aber am Ende finden wir sie.« »Mir kommt das alles so hoffnungslos vor«, sagte Spain wahrheitsgemäß. »Mir ist unbegreiflich, wie Sie ein vierzehnjähriges Mädchen finden wollen, wenn wir keine Ahnung haben, in welche Richtung sie überhaupt geflohen ist.« »Ich kann Ihnen dazu nur sagen, dass das nicht allein von mir abhängt. Ich gebe meinen Klienten immer eine Garantie. Wenn Sie mich angemessen bezahlen - und damit meine ich, wenn Sie mir das Geld mit der Schubkarre hinterherfahren, und ich warne Sie, es wird Schubkarren voll Geld kosten -, wenn Sie mich finanziell so unterstützen, dann finde ich jeden. Das garantiere ich.« »Ich kann mir nicht vorstellen, wie«, sagte Spain leise. »Geld. Wie ich eben sagte. Damit finde ich sie. So, wie Sie mich hergebracht haben. Sie geben mir genügend Geld für den Job, dann bekommen Sie sie wieder. Ich meine, wenn Sie bereit sind, mir unbegrenzte Mittel zur Verfügung zu stellen. Kein Problem. Wir finden sie und bringen sie zurück.« 47 Spain sah ihn nur mit kaltem, leerem Gesichtsausdruck und starrem Blick an. »Geld regiert die Welt.« Eine erfahrene Nutte hätte sich gewundert, dass der Freier im Hotelzimmer als erstes die Lautstärke des an die Wand geschraubten Fernsehers hochdreht. »Sehen wir uns eine Serie an?« Sie stellte die Frage halb scherzhaft, da das Kind in ihr hoffte, sie würden sich einfach zusammen hinlegen und die neueste Folge von As the World Turns oder eine hirnlose Quizshow ansehen, statt das zu tun, was sie tun musste, damit Greg zu seinem leicht verdienten Geld kam. Eine erfahrene Hure wäre wachsam gewesen. Aber dies war keine fünfundvierzigjährige Puffmutter, seit zehn Jahren Professionelle und versiert darin, Freaks, Sittenbullen und den Widrigkeiten und Gefahren aus dem Weg zu gehen. Wir sprechen hier von einem
vierzehnjährigen Mädchen. Sie hatte dem Kerl nicht-mal ins Gesicht gesehen, so ängstlich und nervös war sie. Bis jetzt war es gar nicht so schlimm gewesen. Roger und Greg hatten den ersten für sie aufgegabelt. Der kam wie die Liebenswürdigkeit in Person rüber. Sie trafen eine Abmachung mit ihm -eine Gratisnummer, wenn er ganz besonders zärtlich vorging. Ja, klar, sagte er. Kein Problem. Er liebte Vierzehnjährige. Er spritzte allein beim Gedanken daran schon fast ab. Eine gutaussehende kleine Möse wie die umsonst? Keine Bange, Jungs, versprach er, ich bin sanft wie ein Lamm. Der zweite Kerl war ein verheirateter Mann, den sie vor einem Hotel in der Innenstadt aufgabelte. Der konnte kaum glauben, was er für ein Glück hatte. Sie sah so jung und unschuldig aus. Und sie war so anders als die alten Schlampen und hässlichen Schabracken, die er sonst abbekam, dass er abging wie eine Rakete. Zwei Minuten auf ihr rumgehoppelt, und fertig war die Laube. Wenn alle so schnell kamen wie die beiden ersten, dann war das echt leicht verdientes Geld, dachte sie. Wenn sie nicht 48 ständig darüber nachdachte. Ein kleines Mädchen in Mamis Klamotten, mit zwei Kilo Lidschatten drauf. Den nächsten gabelte sie auf, oder besser gesagt, er lief ihr über den Weg, als sie gerade das Hotelzimmer des zweiten Freiers verlassen hatte und erst ein paar Minuten wieder auf der Straße war. Sie schlenderte einfach herum wie ein kleines Mädchen und dachte nicht daran, dass Kleider Leute machen, daher war sie überrascht, als der alte Sack fragte: »Wie viel für 'ne Party?« Fast hätte sie ihm gesagt, dass er sich verpissen sollte, besann sich aber noch rechtzeitig. Greg würde bestimmt glücklich sein. Sie hatte schon eine Brieftasche voller Geld, und es war leicht verdientes Geld, genau wie ihr Liebster versprochen hatte. »Filmstargeld«, sagte der Freier im Hotelzimmer zu ihr. Aber sie sah nicht vorher, was sie erwartete. Sie konnte die Zeichen nicht deuten, die eine erfahrene Frau vermutlich gesehen und verstanden hätte. Sie war Spains behütete vierzehnjährige Tochter, noch ein Kind. Unschuldig und arglos, und der dritte Stecher ist ein faules Ei. Es ist schlicht und einfach ein Zahlenspiel. Das Anschaffen ist reine Mathematik. Zaster. Zahlen. Nummern. Minuten im Sattel. Tempo. Schneller Service und der nächste bitte, wie in einer Imbissbude. Zahlen und Ziffern und Nummern. Und die Wahrscheinlichkeit von Problemen hängt auch von Zahlen und Nummern ab. Eine Prozentsatzfrage. Soundsoviel Prozent Risiko, dass du angeschmiert wirst. Soundsoviel Risiko einer Razzia der Sitte. Soundsoviel Prozent Risiko, dass dir wehgetan wird. Soundsoviel Prozent, dass dir irgendein Psycho bleibende Schäden zufügt. Zahlen. Betrüger. Freier. Irre. Sittenbullen. Zuhälter. Das Leben einer Bordsteinschwalbe ist das reinste Abenteuer. Ein Grund, weshalb sie es tun. Das Geld. Wieder Zahlen und Nummern. Der Kerl hätte, sollte, müsste die Nummer dreihundertundsiebzehn oder so für sie gewesen sein. Dann wäre sie vermutlich schon 48 abgebrüht genug gewesen, sich zu schützen. Aber er war eben ihre Nummer drei. Er trat vor sie, steckte den Schlüssel ins Loch, drehte den Knauf und hielt ihr die Tür auf, damit sie eintreten konnte, während sie daran dachte, wie viel sie Greg heute Abend nach Hause bringen und wie oft sie das noch tun müsste, bis sie wieder zu ihm gehen konnte. Müßig spekulierte sie, um welche Tageszeit das sein könnte, und hoffte, er würde sie
wieder zu einem schicken Abendessen ausführen, so wie gestern. Sie wollte das alles hier möglichst schnell vergessen. Wenn man an etwas anderes dachte, war es gar nicht so schlimm. Sie dachte, die Typen würden sich eine Stunde oder so Zeit nehmen, wie die Kids, wenn sie es in den Autos ihrer Alten miteinander trieben. Sie wusste nicht, dass Ficken und körperliche Liebe zweierlei Paar Schuhe waren. Ein Freier brauchte bei einer geübten Professionellen selten mehr als drei oder vier Minuten, und Ende der Fahnenstange. Am wichtigsten war, sie musste daran denken, was Greg ihr eingetrichtert hatte, an den Spruch, den sie immer wieder miteinander übten, daher dachte sie jetzt an seine weisen Worte, als sie den Kaugummi in den Mund nahm und das fremde Zimmer betrat. »Nimm sein Geld, wasch sein Ding, bring ihn zum Abspritzen, hau schleunigst ab ... Nimm sein -« Sie sagte es sich immer wieder, wie ein Mantra, kaute ihren Zuckerfreien und spürte, wie ihre Handflächen feucht wurden, doch dann brachte sie das Mantra in ihrem Kopf in der Nervosität des Augenblicks und ihrer Angst durcheinander. »Hau schnell ab, nimm sein Geld —« »Hm. He, kann ich bitte gleich das Geld haben?« sagte sie und schämte sich, dass sie fragen musste, ließ es aber nicht wie eine Frage klingen, ein trickreicher Moment, dachte sie, ein trickreicher Moment mit einem entscheidenden Trick; sie hatte ihn immer noch nicht angesehen. »Klar, Baby.« Er brachte eine enorme Rolle zum Vorschein 49 und zog einen Hunderter außen ab, aber sie konnte nicht sehen, was in der Rolle war. Möglicherweise Zeitungspapier, ihr war es egal. Sie wollte nur den Hunderter, damit sie ihn in Gregs Geldbörse stecken konnte. »Aber jetzt muss ich dich im Gegenzug um 'nen kleinen Gefallen bitten. Nichts für ungut, aber weg mit dem Gummi.« »Was?« fragte sie und begriff nicht, weil sie weg mit der Wümme verstanden hatte. »Dein Kaugummi, Süße. Nimm ihn raus. Das törnt mich ein bisschen ab, okay, Kleines?« »Oh. Ja. Der Gummi. Klar.« Sie nahm ihn mit ihren Teenyfingern raus und warf ihn in den Mülleimer neben dem Bett. »Pardon, ich muss einen Moment ins Bad, bitte«, sagte sie, und er lächelte und nickte und zeigte übertrieben zur Tür. Nimm das Geld, wasch sein Ding ... »Ziehst du bitte die Hose aus, während ich mich ausziehe? Danke.« Sie stieß es hervor, während sie die Tür hinter sich zumachte. Wie peinlich. Sie würde sich nie daran gewöhnen, dass sie einen Wildfremden bitten musste, sich auszuziehen, wusste aber, was sie zu tun hatte. Nimm sein Geld, wasch sein Ding, bring ihn zum Abspritzen. Eins nach dem anderen. Sie wünschte sich, ihre Nervosität würde verschwinden, bevor sie sich dumm anstellte, Sie versuchte, sich zu beruhigen, und als sie das Wasser laufen ließ, fiel ihr ein, dass sie Librium in der Handtasche hatte. Librium von ihrer Mutter. Sie kam mit dem heißen Waschlappen aus dem Bad, dem leicht eingeseiften Waschlappen, der tropfte, während sie ihre Litanei ständig wiederholte, aber der Kerl hatte keinen Mucks gemacht. Er stand immer noch da, wo sie ihn verlassen hatte, wie im Schock. »Komm schon. Bitte lass dich von Tiff schön saubermachen, hm?« Er zog sie an sich und nahm ihr den Waschlappen ab. »Gleich, Liebes, und ich schieb sogar die Vorhaut zurück und schrubb das große Ding blitzblank für dich, aber vorher brauch ich erst n 49
dicken Kuss von meiner Zuckerschnute.« Er zog sie fest an sich, doch sie wich unwillkürlich ein wenig zurück, als er den eisernen Klammergriff um ihre Arme lockerte. Er hatte Muskeln wie ein Gewichtheber. »He, sachte, Boss«, sagte sie und versuchte sich zu erinnern, was Greg ihr gesagt hatte, wie sie mit so einer Situation am besten umgehen sollte. Er stank nach Alkohol. »Komm schon. Ein Kuss. Ein kleiner Kuss, wie heißt du noch gleich? Tiff? Tiff?« Sie nickte. »Tiff. Die Kurzform von Tiffany.« Er lachte in ihr Katzenaugen. »Oh, Allmächtiger, das ist super. Gefällt mir echt.« Er küsste sie auf den Mund. »Ja. Ist echt originell. Ich hab bis jetzt nur eine Professionelle mit dem Namen Tiffany getroffen. Marvy.« »Das ist mein richtiger Name«, sagte sie etwas erbost. »Ich benutze nur meistens Tiff.« »Tiff mit Pfiff. Verdammt, das gefällt mir. Vielleicht bring ich dich und meine andere Tiff mit Pfiff mal zusammen und wir machen was. Eine kleine ménage à trois mit dem doppelten Tiffchen?« »Was für eine Menagerie?« fragte sie und versuchte, sich zu befreien. »Das ist Französisch und heißt Nuttensandwich, Süße.« Jetzt küsste er sie wieder auf den Mund, nahm beim Küssen aber immer mehr ihren ganzen Mund in seinen, ein feuchtes, schmatzendes, schlabberndes Saugen, mit dem er ihre Lippen in seine nach Fusel stinkende Kauleiste sog. Er war kräftig wie ein Ochse, und sie wurde allmählich wütend. Mit zwei Fingern drückte er ihr die Lippen zu einem übertriebenen Schmollmund zusammen. »Mmmm«, sagte er. »Nicht Menagerie. Ménage à twaaaah.« Er sprach es pedantisch aus und zog es in die Länge, sprach fast in ihren Mund, und in seinem sauren Tequilaatem musste sie fast würgen. »Und jetzt sprich mir nach, Tiff mit Pfiff, sag es. Muh-naaaaahhh-hhhj ...« »RRRmmmmmgg.« 50 Das haut ihn um, er brüllt vor Lachen, haucht ihr mehr sauren Atem und Tequila ins Gesicht und drückt ihre Lippen noch fester zusammen. »Oh, Schätzchen. Du bist so verdammt niedlich. Ich muss dir einfach in dein süßes Schlabbermäulchen beißen, okay?« »Rrrrr.« Sie will sich vergeblich losreißen. Sie muss an eine alte Tante mütterlicherseits denken, die ihr immer mit hei-dei-dei gekommen ist, als sie noch klein war, und sie echt fest in die Wange gekniffen hat. Aber das hat nur ein bisschen wehgetan, und Tiff lächelte immer dabei, weil ihre Tante bis auf das ziemlich nett war. Und plötzlich schlägt er die großen, gelben Zähne in ihre Lippen und beißt ihr praktisch den Mund ab; sie versucht zu schreien, bringt aber nichts raus, außer »AAAAA AMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMGGGGGG GGGGG«, als er sie beißt und sie die Schmerzen nicht ertragen kann und ihr Mund in diesem grässlichen Schraubstock gefangen ist, und ihr kommt es vor, als würde sie gegen eine Backsteinmauer drücken, da holt sie instinktiv und geistesgegenwärtig mit dem spitzen Stiefel aus, tritt ihm mit aller Kraft gegen das rechte Bein, und er schreit, während sie sich losreißen kann und er ein leises Geräusch von sich gibt, das sich wie »Waaaauuuuugggg« anhört. Und sie weint und schreit und hyperventiliert fast, kreischt und läuft ins Bad, um nachzusehen, ob ihr Mund in Fetzen runterhängt oder was. Großer Gott herrje verflucht das tut so weh, dass sie weinen muss. Es fühlt sich an, als wäre ihre Lippe glatt durchgebissen; sie schluchzt fast unkontrolliert und versucht sich zusammenzunehmen
und er sagt was dieser Irre er murmelt Stuss auf den sie gar nicht hört sie hält sich behutsam ein kaltes feuchtes Handtuch an den geschwollenen Mund und weint und sieht sich da im Spiegel des Motelzimmers die tiefen Bisswunden in ihrem Gesicht ab und der Freier ist im Nebenzimmer und es ist ihm scheißegal. Er ist in dem Zimmer, wo er sie gebissen hat, und jetzt hat 51 er den Penis rausgeholt und steht grinsend da und wichst sich mit zusammengekniffenen Augen einen ab, grunzt und gibt ein ersticktes Stöhnen von sich, als er nach nicht einmal dreißig Sekunden zum Höhepunkt kommt und einen heißen Strahl milchigweißer Spermien in die Luft schießt, die auf dem dreckigen, ausgetretenen, verbrannten, verlausten, fleckigen Teppich absterben. Und noch mal »Waaaaaaauuuuuuuuggg«, während er seine Ladung abspritzt und sich dann sofort das Bein reibt, wo sie ihn getreten hat. Dafür wird sie teuer bezahlen, heilige Maria und Josef, dafür wird sie bezahlen. Er lächelt unheilvoll und schlägt einen scheinheilig zerknirschten Tonfall an, als er durch die Tür spricht. »GOTT verdammt! Es tut mir SO leid, kleine Tiffy.« Er hört, dass sie sich da drin immer noch die Lungen aus dem Leib plärrt. Er weiß, er sollte sie nicht beißen, aber bei der heiligen Mutter Gottes, es fällt ihm so schwer, sich zu beherrschen. Und manchmal verliert man eben die Beherrschung, wenn das ganz junge Gemüse so einen hübschen, geilen Mund hat wie die. Mann, er könnte gleich noch mal kommen, wenn er nur daran denkt, und er spielt an seinem Schwanz rum, der nach dem Orgasmus noch ganz feucht und verschmiert ist, und entschuldigt sich durch die Tür bei der jungen Nutte. Sie schluchzt immer noch im Badezimmer, aber zwischen Schluchzen und Naseschneuzen sagt sie ihm, dass er abhauen soll, während er sich im Nebenzimmer ständig bei ihr entschuldigt, was sie noch wütender macht. Und sie wird wütend wie eine Furie, als sie die Schmerzen spürt und die hässliche rote Bisswunde um ihren Mund herum sieht, und denkt nur noch daran, wie wütend Greg sein wird, daher stürmt sie aus dem Bad und schnappt nach Luft, während sie schluchzt und den durchgeknallten Freier anbrüllt. »SIEHNURWASDUGEMACHTHAST DU, ÄH, DUHUHUU, MEIN FREUND BRINGT DICH -« 51 »HIER!« Er erschreckt sie, indem er sie ebenfalls anschreit und dabei eine Handvoll Geldscheine in die Höhe hält; sie schlägt nach der Hand, aber er ist schnell genug und zieht die Hand weg und brüllt wieder: »WARTE. HERRGOTT. VERDAMMT. WARTE. SIEH HER, JA?« Er fächert alle Hunderter auf. Eine Handvoll Hundertdollarscheine direkt vor ihrer Nase. Sieht nach über tausend Dollar aus, einfach so auseinandergeflippt. »Oh, es tut mir so schrecklich leid, Süße«, sagt er und verkauft es ihr sehr glaubwürdig und mit zerknirschtem Blick. »Das ist als Wiedergutmachung gedacht. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Das gehört dir, Süße; nimm es, bitte.« Wieder das aufgefächerte Geldbündel. Es ist das einzige, das wirkt, und irgendwie hat er gewusst, wie er den richtigen Knopf drücken kann. Als sie das Geld gesehen hat, ist sie wie angewurzelt stehen geblieben. »Das ist ein Tausender, Tiff. Tausend Ocken. Plus die hundert, die ich dir sowieso zahlen wollte.«
Sie streckt immer noch wütend und verletzt die Hand aus und reißt ihm die Scheine aus der Hand. »Du müsstest noch viel mehr zahlen. Sieh mich an. Bist du verrückt? Wie ich aussehe, kann ich tagelang nicht mehr arbeiten.« Sie tastet die Bisswunde ab. Und er redet unaufhörlich, lullt sie ein, täuscht sie mit seiner breiten, leutseligen Miene. »... so schrecklich, schrecklich leid, dass ich die Beherrschung verloren habe, ich weiß echt nicht, was in mich gefahren ist, dass ich so -« Und sie denkt bei sich: Einhundert und einhundert sind zweihundert Dollar ... »Ich erwarte nicht, dass du mir vergibst, aber ich will dir wenigstens die Zeit bezahlen, die du nicht arbeiten kannst. Es ist nur recht und billig, dass ich -« Und sie denkt: Und zweihundert und elfhundert sind dreizehnhundert, das sind ewTAUSENDdreihundert Dollar! »Ich kann mir denken, wie weh das tun muss«, und er beruhigt sie weiter, aber sie hört nicht zu, und dann sieht sie die Hand wieder aus der Hosentasche kommen, und sie ist voller Geld, und er 52 plappert unaufhörlich weiter: »Ich will dir noch mehr geben, als Wiedergutmachung, okay?« Sie kann nur noch Kopfrechnen, und auf einmal sind die Schmerzen völlig weg. Wir haben hier ein vierzehnjähriges Mädchen, das in ihrer aufgesetzten Hurenkluft bei einem Irren sitzt, der nach Alkohol stinkt und versucht, ihr noch mehr Geld aufzudrängen. Und sie denkt nur an Greg und was er sagen wird, wie er sie heute morgen losgeschickt und gesagt hat: Komm mir nicht mit weniger als sechshundert zurück, sechs Scheinchen. Und jetzt hat sie schon alles für heute UND morgen, denkt sie, während er vor ihr sitzt und sie anfleht, aber sie hört seine Entschuldigungen nur mit halbem Ohr, weil sie so sehr mit Kopfrechnen beschäftigt ist. Sie hätte unmöglich noch zehn Hundert-Dollar-»Verabredungen« geschafft. Das weiß sie genau. Mit den zwei Scheinen, die sie schon hat, dreizehnhundert, könnte Greg über tausend in die Kasse für ihr gemeinsames Nest legen. Und sie müsste morgen vielleicht gar nicht noch mal raus. Damit blieben immer noch ausreichend Geld zum Feiern übrig, und der Gedanke, dass sie den Schmerzen und Erinnerungen entkommen kann, wird übermächtig. Aus heiterem Himmel verspürt sie plötzlich den Wunsch, was zu rauchen, und da geht ihr ein Licht auf und sie begreift, dass sie auf dem Weg zum Motel zurück ein Dutzend Crackphiolen kaufen und ihrem Mann trotzdem noch zwölfhundert Dollar mitbringen könnte. Sie ging wieder ins Bad, fragte sich beiläufig, ob man die tiefen Bissspuren mit Make-up verdecken könnte, dann holte sie ein kleines Plastikfläschchen aus der Handtasche und schniefte gleich hier und jetzt zwei Linien hoch. Schniefte und fuhr mit der Zunge über die wunden, geschwollenen Lippen. Die roten Blutergüsse sahen so hässlich und beängstigend aus. »Ich kann es wiedergutmachen«, ertönt seine schroffe, nuschelnde Stimme, als sie das Zimmer wieder betritt, »und ich dachte mir ... Hey, komm einen Moment her.« Sie blieb ruckartig 52 stehen. »Ich kann es hier und jetzt wiedergutmachen.« Wieder wedelte er mit seiner dicken Geldrolle.
»Bleib noch fünfzehn Minuten hier, damit ich kommen kann -ich bin sanft wie ein Lamm, ich schwöre es - und ich geb dir noch mal fünfzehnhundert Dollar. Wie hört sich das an?« »Verarschst du mich, oder was?« Sie war fast sprachlos. »He, Tiff. Hört es sich an, als würde ich dich verarschen? Ich bezahl dich im Voraus. Hier hast du die gesamte Summe, vorab. Damit du siehst, dass ich dich nicht verarsche.« Er zählte fünfzehn Hunderter ab und hielt sie ihr hin. Sie bewegte sich immer noch nicht. »Du meinst einschließlich der elfhundert - du gibst mir noch mal vierhundert, wenn ich mich von dir pimpern lasse?« Sie begriff immer noch nicht. »Nein, verflucht, kleine Tiffany. Ich geb dir EINTAUSENDFÜNFhundert Dollar MEHR, damit ich abspritzen kann. Das sind hundert Mücken pro Minute, Kindchen. Plus die elfhundert, die ich dir schon gegeben hab, um dir zu zeigen, wie leid es mir tut, dass ich dich gebissen hab. Kapierst du, was das heißt? Das sind zweitausendsechshundert nur für kurze fünfzehn Minuten Party - damit wäre deine Muschi die wertvollste Möse der Weltgeschichte. Das ist Filmstargeld.« »Ich weiß nicht«, sagte sie und betrachtete seine ausgestreckte Hand misstrauisch. Er ließ die Hand mit dem Geld sinken; sie ging hin und berührte die Scheine einen nach dem anderen. Ließ ihn nicht aus den Augen. Spürte, wie wund ihr Mund war. »Aber du lässt meinen Mund in Ruhe. Du küsst mich nicht, fasst mich nirgendwo an, beißt mich nicht.« Die Linien hatten sie mutig gemacht. »Ich schwöre es.« Er schüttelte den Kopf, als würde er ihm vom Hals fallen. »Ich will nur abspritzen und nach Hause gehen. Fünfzehn Minuten. Ganz normal vögeln. Sonst nichts. Kein Küssen. Gar nichts. Nichts. Herrgott, lass ihn mich dir reinstecken.« 53 »Du garantierst mir, dass du mich nicht küsst oder so?« Sehr misstrauisch. »Hundert pro. Versprochen. Und du kriegst das Geld vorher.« Er setzte seine beste Miene der Zerknirschung auf. »Hör zu, Tiff, ich sehe, dass ich dich am Mund verletzt hab. Das soll meine Wiedergutmachung dafür sein, dass du eine Weile nicht arbeiten kannst. Ich bezahl dir einen Urlaub. Fünfzehn Minuten im Sattel, und du hast zweisechs.« Diesmal nahm sie das Geld von ihm, und da wusste er, er hatte sie. »Und keine verdammten Bisse mehr«, fuhr sie ihn mit funkelnden Katzenaugen an. »Und keine Bisse mehr. Ich bin ganz zärtlich, ich schwöre es.« »Na gut«, sagte sie, nahm das Geld und zog sich langsam aus. »Aber wasch dir zuerst dein Ding.« Das Geld sah echt aus. Er hielt den Waschlappen in der Hand, während er noch untröstlich den Kopf schüttelte, ließ Hose und Unterhose runter und wusch sich vor ihr. Mit den Hosen um die Knöchel hüpfte er ins Bad und spülte den warmen Seifenschaum ab. Sie musste trotz des wunden Mundes lächeln und rieb sich das schmerzende Gesicht, während sie an das Geld dachte. Gott. Greg würde so stolz auf sie sein. Ihr erster Tag auf dem Strich, und gleich so eine Unsumme. Hm. Mann. 2800 $'. Nimm sein Geld ... wasch sein Ding ... bring ihn zum Abspritzen ... »So. Daddy ist ganz sauber«, sagte er als er nur in Socken und T-Shirt aus dem Bad kam. Hose, Hemd und Schuhe trug er in der Hand wie ein Trottel. »Und KEINE KÜSSE MEHR!« Sie musste es nur noch drei oder vier Minuten ertragen! »Alles klar, Süße. Kein Schlabbern und kein Küssen. Versprochen. Nur rein und raus und leicht verdientes Geld für Tiff.«
»Okay«, sagte sie, als sie ins Bett krochen, er die Socken neben dem Bett ablegte, sanft nach ihr griff, sich an sie drückte und leichte stoßende Bewegungen machte, bis sie spürte, wie er an ihrem Körper steif wurde. Sie überlegte sich gerade, ob sie sei 54 nen Schwanz mit Spucke anfeuchten sollte, wie Greg ihr geraten hatte, oder ob sie es ihm überließ, und sah nicht, was er da zum Vorschein brachte und hinter sich unter das Kissen schob, das Metallding in die andere Hand gleiten ließ und einrichtete, sodass alles bereit war. »OOOOOHHH! Baby.« Er war gut. Er wusste wie und stöhnte richtig laut, als er die Handschellen bewegte. Eine hatte er in dem kleinen Waschlappen, den er mit aus dem Bad gebracht hatte, und als er die Kette um eine Bettstange herumzog, gab er ein lautes Stöhnen von sich, das das metallische Schaben halb übertönte, ehe sie sich fragen konnte, was dieses SCHSCHSCH-TICK! bedeuten mochte, das sie gerade gehört hatte. Sie spürte kalten Edelstahl um das Handgelenk, er legte sich mit dem ganzen Körpergewicht auf sie und drückte sie trotz ihrer Gegenwehr nieder, während er ihren anderen Arm mühelos festhielt und ihr die zweite Ose der Handschelle um das andere Handgelenk klappte und fest zudrückte; dann ging er von ihr runter, damit er ihre Beinen spreizen konnte, und das war ihre Chance, sie trat nach ihm, aber ohne Schuhe fügte sie ihm nur einen Kratzer mit dem Zehennagel zu, was er in seiner Aufregung kaum bemerkte, aber trotzdem war er angepisst genug, dass er ihr zwei mit der geballten, wuchtigen rechten Faust verpasste und ihr dann den kleinen Waschlappen in den Mund steckte. »Damit hab ich mein Ding gewaschen, TIFFANY, oder wie dein Puffname auch immer sein mag, du kleine Fotze. Und da noch ein Paar Socken.« Er stopfte ihr die stinkenden Socken in den Mund. Sie spürte Erbrochenes im Hals aufsteigen und hatte Angst, sie könnte an der Kotze ersticken. Kotze, Fotze, dachte sie zusammenhanglos, zerrte an den Handschellen und versuchte wieder, nach ihm zu treten. Er verpasste ihr noch eine harte Rechte. Diesmal mitten in den Solarplexus, was ihren Kampfgeist augenblicklich erlahmen ließ. Er nahm ihr den Knebel aus dem Mund und ließ sie eine Weile nach Luft schnappen, dann wischte er ihr das Gesicht ab und steckte ihr die Socken wieder 54 in den Mund. Doch er überlegte es sich anders, nahm die Socken wieder raus und quetschte ihren Mund zu einem weiteren speziellen Kuss zusammen. Jetzt bekam sie es mit der Angst. Zum ersten Mal seit langer Zeit verspürte sie richtige Angst. Sie erinnerte sich, wie sie dachte: Tja, das war's dann wohl. Sie empfand Angst, als er ihren Mund sanft in seinen nahm, zwischen seine großen, gelben Zähne, ihn wieder freigab und überaus zärtlich ihre verkrampften Lippen küsste, ehe er Waschlappen und Socken wieder dazwischen schob, zum Fernseher ging und den Ton richtig laut stellte. »Du weißt ja, wie diese Motelwände sind, Tiff. Dünn wie Papier. Wir wollen doch nicht, dass sämtliche Nachbarn hören, wie viel Spaß wir miteinander haben, oder?« Er näherte sich vorsichtig dem Bett, packte das Bein auf seiner Seite und drückte es auf die Matratze, während er sich das andere Bein schnappte, sich wieder nach oben vorarbeitete und auf sie legte. Es schien, als würde er eine Tonne wiegen, und sie betete, dass sie nicht wieder würgen musste und erstickte. »Tiffany ist ein schöner Name, sehr, sehr hübsch. Hübsches Kätzchen«, schnurrte er in seinem Sachte-sachte-Tonfall. Sie hatte einen Schrei parat, doch noch ehe er ihr den Knebel abnahm, verpasste er ihr eine auf den Kopf und sie spürte nur noch brüllende
Schmerzen und Schock und sah eine samtene Schwärze voll von explodierenden blauen, roten und gelben Sternen, doch sie blieb bei Bewusstsein, und als sie die Augen erneut aufschlug, spürte sie, wie er ihr den Knebel abnahm und ihren Mund wieder in seinen nahm, und diesmal war es, als würde sie jemand über eine Werkbank halten und ihre Lippen in einen Schraubstock klemmen und den Schraubstock zudrehen und mit den Füßen auf den Hebel des Schraubstocks springen, um ihn zuzudrehen, soweit es nur ging, und die Schmerzen waren so rasend und quälend und unerträglich, dass sie in ihrer Qual das Bewusstsein verlor, noch ehe er sich mit den Händen an ihr zu schaffen machte. 55 Ein erfahrener Soldat hätte das Schlachtfeld angesehen und sollte müsste könnte das Ding auf den blutgetränkten Laken identifiziert haben. Ein erfahrener Soldat hätte Spains Tochter möglicherweise erkannt, aber nur durch einen sechsten Sinn, eine Intuition, nicht der äußeren Erscheinung wegen, denn es gab keine Ähnlichkeit mehr zwischen dem geschwollenen, blutverkrusteten, zerschlagenen Ding auf dem feuchten und blutigen Bett und dem lebhaften, munteren jungen Mädchen, das dieses Motelzimmer erst vor wenigen Stunden voll nervöser Energie und unversehrter Jugend betreten hatte. Sie erwachte in der Dunkelheit in einer fremden Umgebung, in ein stinkendes Laken gehüllt, das an ihr zu kleben schien, und vernahm ein so lautes Brüllen, dass sie den Verkehrslärm unmittelbar außerhalb des Erdgeschosszimmers in dem Motel, das keinen Steinwurf vom Highway entfernt lag, nicht hören konnte. Entsetzen erfüllte sie, als sie versuchte, die Augen zu öffnen, es aber nicht konnte, und in ihrer Desorientierung und Panik riss sie den Mund auf und wollte schreien, hörte jedoch nichts, und das Kind, die Tochter des Mannes, der sich Spain nannte, lag auf dem blutigen Laken, besudelte sich mit ihrem eigenen Urin und Angstschweiß und schluchzte lautlos - Tränen stiegen in so geschwollenen Lidern empor, dass sie sie nicht öffnen konnte wollte sollte. Er hat zwei Nächte nicht geschlafen und ist sehr müde, als er aufblickt und ein Polizeiauto sieht, das in die Einbahnstraße einbiegt, die zu seiner Einfahrt führt, und wie immer betet er, dieser Mann, der nie betet, betet zu Gott, dass sie keine schlechten Nachrichten bringen. Und er verspürt dieses leichte Kribbeln in der Brust und den Eingeweiden, das er instinktiv immer spürt, wenn er Ordnungshüter sieht. Diesmal werden seine Gebete erhört und es sind keine schlechten Nachrichten, nur ein Beamter der noch mehr endlose Fragen und Papierkram bringt. Sie saßen in dem makellosen, unbenutzten Wohnzimmer, in 55 dem Pat aus Gründen, sie sich ihm nie erschlossen haben, stets alles mit durchsichtigen Plastikplanen abdeckte, ein wunderbar gestalteter Innenerchitektentraum, unberührt von den Bewohnern von io Ruffstone Terrace in Ladue. Dort sitzen sie jetzt, und Spain beantwortet wieder einmal Routinefragen und konzentriert sich dabei dennoch enorm, denn obwohl er bei seiner Arbeit immer äußerste Vorsicht walten ließ und sein Privatleben abschirmte, ist dies doch die Polizei. Der Polizist sitzt auf Plastik, schreibt mit einem Plastikstift, stellt Fragen über Plastik. Sie schreiben Zahlen und noch mehr Zahlen. Ablaufdaten. Fordern Kopien von etwas an, untersuchen alte Aufzeichnungen. Jede Frage wird auf zwölf unterschiedliche Arten und Weisen gestellt, wie bei Dreharbeiten für einen Film, wenn sie jede Einstellung aus unterschiedlichen Kamerawinkeln wiederholen, von oben, von unten, durch einen Aschenbecher, in der Spiegelung eines Weinglases, in einer Radkappe. Es reicht längst.
Die Polizisten hoffen, dass sie eine Plastikspur finden. Spain lässt alles über sich ergehen, bis der Beamte wieder verschwindet und vorerst zufrieden ist mit seinem neuen Schatz an Kreditkartennummern. Ein anderer Polizist beschafft dieselben Daten von den Kreditkartenfirmen. Warum haben sie sich dann überhaupt erst die Mühe gemacht und sind hergekommen? Weil sie Polizisten sind. Warum haben sie nicht einfach angerufen? Weil sie Polizisten sind. Warum ist der Himmel blau? »Wann haben Sie zum ersten Mal gedacht, dass Ihre Tochter ausgerissen sein könnte, Mr. Spain?« fragt der Beamte und schreibt. Er hatte eine dieser tonlosen Spießerstimmen, denen man die Langeweile gleich anhört. Spain sagte es ihm. Er fragte sich, wann sie tatsächlich weggelaufen war. Möglicherweise war sie schon viel viel früher vor ihm weggelaufen, dachte er. »Und Sie haben erst Meldung gemacht am ...« Eine weitere Frage aus der durchnummerierten Liste rhetorischer Fragen, die von einem ganzen Block durchnummerierter Fragen abgelesen wurde. Immer lief alles auf Nummern hinaus, Zahlen und Num 56 mern. So bezeichnete er auch die Exekutionen, die er für Ciprioni und seine Familie erledigt hatte, seine ANDERE Familie. Nummern. Komisch, wie sie immer für alles einen anderen Namen parat hatten, diese Sizilianos und Italianos, für die er arbeitete. Man plante keinen Einbruch, man »machte einen Zug«. Man legte keinen um oder schaffte ihn weg, man »zog eine Nummer durch«. Man »versorgte« ihn. Sie wollten sich nicht die Hände damit schmutzig machen. Wollten nichts mit den »Nummern« zu tun haben. Jemand anderes konnte mit ansehen, wie die Leute bluteten. Jemand anderes konnte sich den letzten Atemzug ins Gesicht hauchen lassen, wenn die Nummer zu einer Statistik wurde. »Mr. Spain, mit wem haben Sie in der Kreditkartenabrechnungsstelle gesprochen?« »Mit irgendeiner Frau. Ich hab mir ihren Namen nicht aufgeschrieben.« Dieser Polizist nannte ihn Mister, mit einem kalten, gelangweilten Ton in seiner Spießerstimme. Nur ein klein wenig misstrauisch, ganz automatisch, so waren sie alle. Der Letzte hatte ihn Frank genannt und war ein scheinheiliger Betroffenheitsheuchler mit einem automatischen, starrkrampfartigen Lächeln gewesen, das er beim Sprechen ein- und ausschalten konnte. Scheißbullen. »Hat Ihre Tochter schon vorher damit gedroht, dass sie von zu Hause weglaufen würde?« »Nein«, sagte er leise mit übermüdeten Augen und hängenden Lidern. Allmächtiger, dachte er, bringt es hinter euch und zieht endlich Leine. Die Fragen gingen weiter. Er ging jede einzelne Scheißkreditkarte durch. Plastic Man. He, Bulle, warum suchst du dir keinen Job bei Visa? Spain saß da, bejahte und verneinte an der Oberfläche seines Verstands, unterdrückte ein Gähnen und dachte darüber nach, was ihn in diese Lage gebracht hatte. Ciprioni hatte ihn benutzt. Diese Leute, die ihm versicherten, dass er wie ein Sohn für sie war, die nahmen ihm sein Leben und deformier 56 ten es so, dass ihm nichts mehr blieb. Nicht einmal die eigene Frau konnte er halten. Schlimmer, nicht einmal sein Kind. Sein eigen Fleisch und Blut. Die hatten ihm das mit ihren verdammten NUMMERN angetan. Er dachte an die vielen Risiken, die er für sie eingegangen war, den ganzen Mist, den er schlucken musste - und darauflief es hinaus. Das blieb ihm nach Jahren der Hingabe. Ein schwarzes Loch voller Nichts.
Endlich verabschiedete sich der Bulle; Spain stand auf und begleitete ihn zur Tür. »[irgendwas] sie bald finden«, versicherte er Spain, worauf Spain nickte und sie sich die Hände schüttelten, dabei aber nach unten sah, und dann fuhr das Auto weg. Die Hände des Polizisten verrieten, dass er in mittleren Jahren war, genau wie Spain, doch waren sie schwielig und abgenutzt von harter Arbeit, die Handrücken von Malen übersät, die wie Leberflecke aussahen. Spain betrachtete seine großen, haarigen Hände, das Muster der Poren und Falten und Narben auf den Handrücken. Es waren große, kräftige Hände, sahen jedoch nicht aus, als hätten sie jemals Erde geschippt, als wären die Knöchel je bei der Arbeit mit einem Schraubenschlüssel an einer engen Stelle zerkratzt worden, als hätten sie Rohre zusammengeschraubt oder ein Schweißgerät oder einen Metallschneider benutzt. Er dachte an alles, was er mit diesen Händen getan hatte. Seine Augen brannten wie im Rauch. Geraucht hatte er seit den siebziger Jahren nicht mehr. Nur zwischendurch ein Päckchen gepafft. Gehörte zu einem Job. Er hatte einen merkwürdigen Auftrag angenommen, an dessen Einzelheiten er sich nicht mehr erinnern konnte, dabei jedoch in eine Situation geraten, in der er eine primitive selbstgebastelte Zeitbombe herstellen musste. Er musste sie in aller Hast aus verfügbaren Materialen zusammenflickschustern. Mangelnden Erfindungsreichtum konnte man ihm nicht vorwerfen. Als Zündschnur diente eine Zigarette aus einer Packung Winston, die er gefunden hatte. Das Päckchen steckte er automatisch ein, und als er später ziellos durch die Nacht fuhr, rauchte er sie nach 57 einander weg. Es bereitete ihm nicht eine Sekunde lang Vergnügen, den heißen, beißenden Rauch einzuatmen. So stellte er sich einem persönlichen Mini-Dämon und obsiegte. Man ging immer davon aus, dass einer, der vier Packungen am Tag weggequalmt hatte, irgendwann rückfällig werden würde. Ein großer Sieg. Er versuchte, sich eine Zigarette in den Fingern vorzustellen, konnte es aber nicht, daher hielt er einen Kugelschreiber wie eine Zigarette, und in dem Moment fuhr lähmende Angst wie ein Stromschlag durch ihn hindurch. Etwas stimmte nicht. Es handelte sich um diese schreckliche, verzehrende Paranoia, die man einfach nicht ignorieren kann. Spain spürte, wie sein Herz schlug und Schweiß ihm auf dem Rücken und an den Seiten hinablief und sein Gesicht wie einen Film überzog, als hätte er Fieber. Er deutete es nicht als Omen künftiger Schrecken, sondern als eine Präsenz. Etwas war hier. Er bekam eine Gänsehaut. Eine mächtige Aura, keine Vorahnung, sondern einfach nur ... da. Er biss die Zähne zusammen. Jemand oder etwas hinter ihm ... Eine Präsenz. Jemand befand sich bei ihm in dem leeren Haus. Er ging sehr leise und vorsichtig durch die leeren Zimmer. Plötzlich fielen ihm die vielen Spiegel und das Glas auf; er machte sie sich zunutze und ließ den Blick des Jägers über die glänzenden Flächen von Bar, Lüstern, Schranktüren, Bücherregalen, Spiegeln, Bilderrahmen, Fenstern, Schränken, Glasscheiben, alles Spiegelnde schweifen, während er lautlos durch die großen Zimmer schlich und nach einer Andeutung von Schatten oder Bewegung suchte, während er im Geiste hastig alle Möglichkeiten durchging. Wer war der wahrscheinlichste Kandidat für ein Attentat auf ihn? Der Verwandte eines Opfers? Ein Polizist, der sich hinten reingeschlichen hatte, während er den anderen vorne verabschiedete? Ein hohes Tier der Familie, das ihn jetzt irgendwie als Bedrohung ansah? Buddy Blackburn? Er unterdrückte ein Lachen, als ihm klar wurde, was er machte, und betrachtete das müde Ebenbild im Spiegel des Esszimmers.
Er wusste, wie der Verstand unter Stress arbeitet. Er war sehr 58 müde. Er würde zwei Aspirin nehmen, eine Tasse Kaffee trinken — Koffein machte ihn perverserweise schläfrig — und den Telefonhörer aushängen. Und er wusste, er würde schlafen. Und in dem Schlaf. Ja. Was da für Träume kommen mochten. Das war das Schöne daran, wieder zu Hause zu sein, dachte Eichord. Man musste keine Resultate vorweisen. Man saß einfach nur hier im schäbigen Revier, roch abgestandenen Rauch und hörte Lee und Tuny zu, das unkomischste Komikerduo, mit denen er seit Anbeginn der Zeitrechnung befreundet war. Langjährige Partner, die einander so nahestanden, dass sie in dieselbe Bierdose pissen konnten. Ihm wurde klar, dass er seit zehn Minuten dieselbe Seite der Akte eines Mordfalls betrachtete. Er las sie immer wieder und verstand die Worte dennoch nicht. Nichts blieb hängen. Abwesend. »Ich bin abwesend«, sagte er in den Raum hinein. »Erzähl doch mal was Neues«, murmelte sein Freund James Lee. »He, Jimmy«, sagte er und neigte den Kopf in Richtung des dicken Dana, »so langsam sieht deine Freundin richtig gut für mich aus, Mann.« »Ach ja? Aber der gehört mir ganz alleiiiiiiiiin.« »Stimmt genau, ich bin schon vergeben, also lass mich in Ruhe, alte Saufnase.« Eichord war Alkoholiker, und seine Freunde gingen - wie in allem - taktvoll und diplomatisch damit um, indem sie Eichord eine alte Saufnase nannten. Wenn man keinen Spaß vertragen konnte, hatte man hier nichts verloren. So schön, wieder zu Hause zu sein, dachte Eichord seufzend. Da, wo ich hingehöre, beim Rest der Raketenforscher. In seinem muffigen Kabuff tief im Innersten des Polizeireviers von Buckhead fühlte sich Eichord weit entfernt von einer Welt, wo ein Auftragskiller des Mob seinen Opfern die Augen raus 58 schoss. Hatte jedes der Opfer, zwischen denen es keinerlei Verbindung gab, etwas gesehen, das es nicht sehen sollte? Wollte der Killer das ausdrücken, wenn er zweimal auf diese grässliche Weise abdrückte? Du hast zuviel gesehen? Eines stand fest: Wenn man jemandem gezielt die Augen ausschießt, dann begeht man nicht nur einen Mord. Man schreit damit etwas in die Welt hinaus. Sie war bewusstlos und blieb lange weggetreten und erwachte mit dem Gefühl, als wäre sie auf Droge, aber von derart intensiven, pochenden Schmerzen erfüllt, dass der Stoff sie nicht bezwingen konnte. Man stelle sich einen entzündeten Weisheitszahn vor, den ein unfähiger Zahnarzt beim Ziehen abgebrochen hatte, sodass blankliegende Nervenenden nach jedwedem Trost brüllten, den es jenseits von Kodein gibt, Demerol, Dilaudid. Welcher Schuss kommt als nächster? Das gute alte Heroin? Ein Baseballschläger über die Rübe? Es ist einem egal, man will nur, dass das Licht wieder ausgeknipst wird. Als sie wieder zu sich kam, konnte sie einige Geräusche identifizieren. Roger Nunnalys Stimme, die einer älteren Frau. Die Stimmen nahmen Gestalt an als verwaschene Farben in einer vielschichtigen Dunkelheit, als sähe sie durch eine dick mit Vaseline eingeschmierte Kameralinse. Dann schlief sie wieder ein. Greg hatte sie gefunden und überlegt, ob er sie in die Notaufnahme des nächsten Krankenhauses bringen sollte, wusste aber, dass die Polizei ins Spiel gekommen wäre.
Das Mädchen war zu einer echten Plage geworden. Einem lästigen Anhängsel. Nunnalys halbseidene Freunde kannten eine Krankenschwester, die keine Fragen stellte, womit sich das Problem vorübergehend lösen ließ. Private Krankenvorsorge. Sozusagen. Tiff war jung und stark und gesund. Sie heilte schnell. Aber ohne medizinische Hilfe wuchsen die Knochen nicht richtig zusammen. Sie würde Schäden davontragen. Die Wirbelsäule 59 ist auch so eine komische Sache. Ein Schlag in den Rücken hatte die motorischen Nerven beschädigt, die die laterale Bewegung des rechten Fußes steuerten. Sie würde nicht mehr so gut gehen können wir vorher. Die Narben im Gesicht würden bis zu einem gewissen Grad verschwinden. Alles in allem gar nicht so übel. Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach. Die Schwester, die die Jungs besorgten, wollte Geld. Die Schmerzmittel, die sie Tiff gab, waren auch nicht umsonst. Nicht zu vergessen das Problem des anstehenden Deals. Greg und Roger taten, was sie tun mussten. Ein Paar suchte ein junges Mädchen als »Haushaltshilfe mit Familienanschluss«, wie sie sich ausdrückten; Greg verkaufte ihnen Tiffany für sechzehnhundert Dollar bar auf die Kralle. Eine Zeitlang sahen die Erfolgschancen gar nicht gut aus. Die Freunds traten um ein Haar von dem Kauf zurück, als sie sahen, wie stark beschädigt ihre Ware tatsächlich war, untersuchten sie dann aber gründlich, schliefen eine Nacht darüber und kamen schließlich zu einer Entscheidung. Scheiß drauf. Geld spielte keine Rolle bei ihnen, und einen Versuch war es wert. Selbstredend konsultierte niemand Tiff in dieser Angelegenheit. Nicht nur waren ihr die zweitausendachthundert Dollar durch die Lappen gegangen, sie hatte auch noch einen Arschvoll Kosten verursacht und ein wichtiges Geschäft gefährdet. Da gab es nichts zu besprechen. Wenn sie etwas dazuverdienen konnte, dann war das ihre verdammte Pflicht. Sie würde tun, was die Freunds ihr befahlen. Vermutlich leichte Hausarbeit und Sex in jeder erdenklichen Variante. Jederzeit. Mit wem sie sagten. Im Gegenzug übernahmen die Freunds ihre »Arztkosten«. Recht und billig. Charlie Freund hatte hier in Hollywood, Florida, Pornos gedreht, als man noch mit dreckigen Super-8-Streifen, in denen Zellulitisköniginnen und dürre Macker in schwarzen Socken auftraten, Geld verdienen konnte. Mit Nutten, die man an Straßenecken aufgabelte. Mit Bimbos, die an Pools rumlungerten. 59 »Dreckige-Füße-Streifen«, so genannt nach dem Markenzeichen der guten alten PornoQuickies. Doch der blühende Markt explodierte, und plötzlich gab es Schmuddelfilme in Sexshops und Versandhäusern, die Ansprüche an die Produktionen stiegen und die neue Videotechnologie brachte das große Geld. Der billige Pornostreifen wurde in einer Welt, wo die Nachbarn nebenan ihre eigenen Ferkeleien selbst filmen konnten, praktisch über Nacht überflüssig. Das Konsumverhalten änderte sich. Der Siegeszug des Videos verhieß Megakohle, und schon bald war der Markt für Pornofilme das größte Geschäft in Amerika. Als es mit den billigen Super-8-Pornos aus und vorbei war und Charlies Partner eigene Wege ging und Massagesalons eröffnete, konzentrierte sich Charlie auf den Direkt vertrieb spezieller Angebote. Er wusste, mit den zweihundert Namen, die er hatte, konnte er jederzeit seinen Lebensunterhalt verdienen.
Pädophile, Tierfreunde, harte SM-Freaks. Denen blieb nichts anderes übrig, als sich an kleine Pornoproduzenten zu wenden, die im Verborgenen agierten. Charlie hatte sich einen kleinen Kreis von Damen zugelegt, die auf Tittenfolter, Auspeitschen, Erniedrigen und leichtere Formen von Fessel- und Erziehungsspielen standen. Alles andere wurde getürkt, und mitunter mehr als dilettantisch. Aber es existierte ein Markt dafür, wie er gesagt hatte. Und da er selbst mitmischte, erkannte er das erstaunliche Potenzial für hochkarätige Ware. Pornounternehmen gehen aus denselben Gründen unter wie alle anderen kleineren Betriebe auch: wenn ihre Kapitaldecke zu dünn ist, keine ausreichenden Managementkenntnisse vorhanden sind, auf Marktforschung verzichtet wird, die Umsätze zu gering sind, der Inhaber nicht hart genug arbeitet. Charlie ging zu Leuten, die Geld hatten und etwas von Marketing verstanden, und versicherte ihnen, dass er sich der neuen Herausforderung stellen, hart arbeiten und einen jungfräulichen Markt für 60 sie erobern würde. Er überzeugte sie davon, dass er seine Spezialität genau kannte, nämlich Schmerz, und schon war Charlie Freund im Geschäft. Charlie war verheiratet - na ja, nicht im eigentlichen Sinne verheiratet -, er lebte mit einer fiesen, gemeinen Kampflesbe namens Bobbie zusammen. Sie bildeten ein gute Team. Sie taten gern Frauen weh, aber nicht ausschließlich. Diesbezüglich teilten sie einen katholischen Geschmack. Sie verfügten über ein erstaunlich abwechslungsreiches Repertoire und einen unstillbaren Appetit danach, zu bestrafen, quälen und unterwerfen. Es begann auf der Stufe von verbalen Erniedrigungen und verletzenden Kommentaren, was sie beide zur Kunstform entwickelten. Sie verfügten über einen giftigen und tödlichen Wortschatz. Ätzende, beißende, gnadenlose Zungen - alle beide -, die zur quälendsten und beleidigendsten linguistischen Chirurgie fähig waren. Verbalinjurien, die gnadenlos jede empfindliche Stelle ausnutzten. Geringschätzung der verletzendsten und erniedrigendsten Art. Beißende, zerstörerische Kritik. Das Problem war nur, sie brauchten Opfer für ihre Angriffe. Vorzugsweise Leute, die sich nicht wehren konnten. Sie suchten nach Zielen vor und in der Pubertät, die man als aufreizende kleine Cheerleaderinnen, jungfräuliche Schulmädchen und rotwangige Ballköniginnen präsentieren konnte. Doch meist mussten sie sich mit verbrauchten Nutten, dreifach geschiedenen, desillusionierten Ehefrauen und tranigen Kifferinnen begnügen, die Rollen spielten. Sie sehnten sich nach unverbrauchten, frischen Opfern für ihre einzigartige Fähigkeit. Sie brachen ihre Opfer. Immer begann es mit Worten. Ätzender Sarkasmus, der mit chirurgischer Präzision verletzen oder entwürdigen oder der Opfer mit der verbalen Keule niederknüppeln konnte; verheerende Hohn- und Spottattacken. Gnadenlose Erniedrigungen, die das Selbstvertrauen anknacksen und den Willen brechen sollten. Und Tiff hatte das Wort OPFER förmlich auf der Stirn stehen. 60 Sie benutzten Tiff für einige ihrer billigeren Produktionen. Spezielle Bestellungen von »Nadelkissen-Filmen«, wo die Kamera zeigen musste, wie rote Schwellungen auf der Haut entstanden und vielleicht sogar ein wenig Blut floss. Die besseren Filme verlangten Profis. Für Tittenfolterqualen, die Phantasien der Stecknadel- und Gummihosenfetischisten, die Teenager-Auspeitschungen zogen sie Models heran (Patty züchtigt Tara in diesem heißen Bestseller mit den Stars aus Frischlings-Folter). Tiff
genügte für den Dreck, der nicht einmal einen Titel bekam. Für das Grobe engagierten sie eine grotesk übergewichtige Domina aus Pennsylvania, die ihnen regelmäßig Polaroidfotos ihres schuldgeplagten Manne zuschickte, an dessen trotz Schwanzring schlaffem Pimmel ein Gewicht baumelte. Routinearbeit für die Spinnerten. Ein körperlicher Akt übte eine ganz spezielle Faszination auf Charlie und Bobbie aus. Bei VGE handelte es sich um eine Unterkategorie von Disziplinierung und Bestrafung, die sogar noch aufregender war als rein verbal jemanden zum emotionalen Krüppel zu machen. Eine bizarre tangentiale Abart des Sado-Maso mit der Bezeichnung Verstümmelung in gegenseitigem Einvernehmen. Mit hinreichend Zeit und Drogen und dem gebotenen Maß an Erniedrigung und Gewalt lockte man ein junges, argloses Opfer ins Netz. Der eigentliche Spaß bestand freilich darin, das Kind soweit zu bringen, dass es selbst es wollte. »Weißt du, was wir hier drin haben, Sklavin?« fragte Bobbie Tiff mit ihrer sinnlichsten, gefährlichsten Stimmlage. »Nnn-nnnn.« Tiff schüttelte verneinend den Kopf. »Sieh mich nicht an, du Missgeburt«, zischte Bobbie, worauf Tiff gehorsam die Augen niederschlug. »Na also, du Fotze. Schon besser. Gut. In diesem kleinen Rosenholzkästchen bewahrt deine Herrin ihr kleines silbernes Brandeisen auf. Wenn du willst, dass wir dich weiter mit deinen teuren Drogen versorgen, du kleine Schlampe, dann solltest du uns besser zeigen, dass du wirklich zur Familie gehören willst. Nicht mehr lange und du wirst deine 61 Herrin um das Privileg anbetteln, dass du unser Brandzeichen auf dem Arsch tragen darfst.« Tiff schien einzudösen, daher versetzte Bobbie ihr geistesabwesend eine Ohrfeige. »Wenn du nur lernen könntest, dich ein wenig mehr wie Ginger zu benehmen. Junkie-Fotze.« Andauernd erzählten sie ihr von Ginger. Sie sollte sich mehr wie Ginger benehmen. Ginger Deaton hatte gelernt, es wirklich zu mögen, versicherten sie ihr. Sie war extrem schlicht gewesen, mit einer embryonalen Persönlichkeit, aber Charlie und Bobbie hatten sie mit der ganzen Kunstfertigkeit ihrer kollektiven Perversion gefügig gemacht und das stille, passive Geschöpf noch tiefer in ihren Alptraumsumpf hineingezogen, weil sie den süßen Duft des geborenen Opfers an ihr rochen. Im Lauf der Zeit wurde sie zu ihrem bevorzugten Protegee. Man kann nicht gegen seinen Willen hypnotisiert werden. Doch Gingers Bedürfnisse waren dergestalt, dass ein berüchtigt skrupelloser Hypnotiseur sie für die Freunds noch mehr versklaven konnte. Einmal hörte Bobbie ein Geräusch in ihrem Schlafzimmerschrank - das nur, um das ganze Ausmaß ihrer finsteren Neigungen zu demonstrieren - und sprang erschrocken aus dem Bett. Es war Ginger, die ein Niesen nicht unterdrücken konnte, wofür sie später bis an die Schmerzgrenze ausgepeitscht wurde. Ginger, deren Kopf man nur vom Scheitel bis zur Oberlippe sehen konnte. Der Rest von Ginger Deaton war in anderthalb Meter hautenge, straff gezogene Fesseln verschnürt. Charlie fiel ein, dass Ginger »vor ein paar Tagen« um eine Bestrafung gebeten und er die stille kleine Sklavin ganz vergessen hatte, sodass sie stumm im Kleiderschrank verdurstete. Die devote Ginger trug das grausame Brandzeichen der Freunds auf beiden Beinen, an den Innenseiten der Oberschenkel, den Pobacken, den Achselhöhlen, den
Brüsten - der Rest war eine lebende Dartscheibe voll Zigarettenabdrücken und Einstichlöchern von Nadeln, Kanülen und Gott weiß was noch allem. Warum kannst 62 du nicht lernen, mehr wie Ginger zu sein? schalten sie Tiff. Lernen, uns zu dienen. Doch ihr piece de Minimumresistance war Denise. Ihr Meisterwerk der Unterwerfung. Über zwei Jahre lang hatten sie einen jungen, zwanzigjährigen Schwulen namens Dennis Majors bearbeitet. Sie waren hartnäckig, überzeugend und ausgesprochen gerissen. Ihre Liebesbeziehung zu Dennis würde die Prüfung der Zeit nur überdauern, wenn er ihnen auf halbem Weg entgegenkam. Was bedeutete, wenn er die Frau in sich/ihr endlich herausließ und den grausamen Streich überwand, den die Natur ihm/ihr/es gespielt hatte. Enorme Konzentration, Anstrengung und Planung ihrerseits war erforderlich, ganz zu schweigen von dem persönlichen Risiko, während sie ihr Opfer die achtzehn Monate hätschelten, die Dennis in der Obhut eines angesehenen Psychiaters und eines Arztes verbrachte. Aber Dennis/Denise, der/die seit Jahren als Frau lebte, die letzten anderthalb Jahre mit Hormonspritzen, erhielt die Erlaubnis, sich unter das Messer zu legen. Mehrere Wochen später beging das junge Ding zum größten Vergnügen der Freunds Selbstmord, nachdem sie ihm/ihr am Telefon auf unsäglich höhnische, beleidigende Weise den Laufpass gegeben hatten. Sie hatten Denise wissen lassen, ohne auch nur einen Augenblick Reue dabei zu empfinden, dass ihre/seine Geschlechtsumwandlung nichts weiter als die Pointe eines besonders brüllend komischen Streichs gewesen war. Dabei erreichten sie ein Ausmaß an Gift und Garstigkeit, das selbst sie in Erstaunen setzte; Denises Selbstmord war eine unerwartete, erfreuliche Zugabe, In die Obhut und Fürsorge dieser Leute war Spains Tochter geraten. Später arbeitete Spains gebrandmarkte und durch und durch abhängige Tochter schließlich in »Love Shows«, ein anderer Ausdruck für Geschlechtsverkehr live vor Publikum, nachdem sie ihren Geburtstag mit einer besonders abscheulichen SM-Party 62 feiern durfte, bei der es hieß, dass sie »Natursekt passiv« genießen würde. Doch Güte und Barmherzigkeit kennt diese Welt nicht. Tiffs Sucht und ihren verkrüppelten Körper konnten sie akzeptieren. Doch ihre widerborstige Ader war ein Quell ständigen Verdrusses für die Freunds. Mit der Zeit betrachteten ihre Besitzer Tiff als wertlosen Störenfried, der zunehmend zu einem lästigen Mitesser wurde. Und als Leute mit Beziehungen zur Mafia, die ein anonymes Opfer für einen Snuff-Film suchen, der auf dem Land gedreht werden soll, sich mit den Freunds in Verbindung setzen, wird Tiff ein letztes Mal verkauft. Vielleicht fingen die schlimmen Träume zu der Zeit an, als seiner Tochter verschwand, denkt er. Oder schon früher - als er von dem Ausflug zur Küste nach Hause kam und feststellte, dass Pat und Buddy Blackburn es in seinem Ehebett miteinander trieben? Spain kann sich nicht an den exakten Zeitpunkt erinnern, als die Alpträume anfingen. Nur an die Träume selbst, die verdammt realistisch sind und sich in seine Speicherbänke einbrennen. Das große Fenster rahmte ein Panorama fallenden Herbstlaubs ein, das von den hohen Eichen, Ahornbäumen und Sykomoren auf den gepflegten Rasen herabregnete. Über Nacht hatten Blätter und Gras offenbar sämtliches Chlorophyll verloren, sahen die üppigen Stauden immer dünner aus, während das abgestorbene, spröde Laub auf den
Boden sank und zu Mulch wurde. Archilo-chus colubris war längst verschwunden, auch gut, da sowieso niemand mehr die Futterspender füllte. Die Verluste hinterlassen tiefe Spuren in Spain, und etwa zu der Zeit, als die schrecklichen, quälenden Schmerzen zu einem dumpfen Pochen abgeklungen sind, erschüttert ihn eine neue Druckwelle der Erkenntnis bis ins Mark. Als Realist begreift er, dass sein Kind unwiederbringlich fort ist. Gerade kauft sie noch Cabbage-Patch-Puppen und Glücksbärchis, und anderntags reist sie per Anhalter und besorgt sich Anti 63 babypillen. Warum hatte er das alles nicht kommen sehen und etwas unternommen, um es aufzuhalten? Immer wieder denkt er zwanghaft über alles nach, was sich zwischen ihm und Pat und zwischen Vater und Tochter abgespielt hat, über die Schroffheit und Gefühlskälte, die zuerst die Ehefrau und dann die Tochter von ihm entfremdet hat. Jetzt wurde ihm klar, dass es kein Wiedersehen und keine Versöhnung mehr geben würde. Keine strenge väterliche Zuneigung, die seine abtrünnige Tochter wieder auf den rechten Weg brachte. Es gab keine Gnade für sie. Keine Möglichkeit, dass sie wieder eine Familie wurden. Er hielt sich im Wohnzimmer auf und sah durch das Fenster dem Laub zu, wie es fiel, als er den Schatten wieder sah, dieses Gefühl hatte, dass sich hinter ihm etwas bewegte, und er fuhr herum und griff mit der rechten Hand unwillkürlich nach der Automatik, die er bei sich trug, beherrschte sich aber im selben Moment noch. Wieder das Gefühl. Das unheimliche Gefühl, dass jemand in dem großen, leeren Haus bei ihm war. Ihn beobachtete. Herrgott. Er spürte das Prickeln einer Gänsehaut auf Armen und Schultern, »Entenfell«, hatte seine teure alte Mutter immer scherzhaft dazu gesagt. Und dieser Mann, der nichts fürchtet, geht mit einem Achselzucken darüber hinweg. Er kennt die Streiche, die einem Stress und Schlafmangel spielen können. Er versuchte im Kopf auszurechnen, wie viele Stunden Schlaf er diese Woche schon gehabt hat. Es war Donnerstagvormittag, dachte er, und seit Sonntagnacht konnten es kaum mehr als sechzehn Stunden insgesamt gewesen sein, und unruhige obendrein. Und wenn schon, dachte er, Edison hat die Glühbirne mit weniger Schlaf erfunden. Er war hundemüde. Da seine Augen brannten, beschloss er, dass er etwas einnehmen und sich aufs Ohr hauen würde. Gute Nacht, sagte seine Mutter immer, wenn sie ihn ins Bett gebracht hatte. Lass dich nicht von den Bettwanzen beißen. Müde bin ich, geh zur Ruh. 63 Mache meine Äuglein zu. Vater lass die Augen dein. Über meinem Bette sein ... HERRGOTT, da war sie wieder, eine Art Bewegung hinter sich, als er den dicken Teppich der Treppe hinaufging. Er musste sich auf die Zunge beißen, damit er nichts Lautes sagte. Reiß dich zusammen, Mann, ermahnte er sich und ging zu Bett. Der Traum begann in dem Moment, als Spain den Kopf aufs Kissen legte und mit den Armen unter sich einschlief, sodass die Blutzirkulation behindert wurde. Und diesmal war der Traum ziemlich schlimm. Sogar einer der Schlimmsten überhaupt. Es ist ein Tag, an dem man sich freut, am Leben zu sein. Er fährt auf einem asphaltierten Dienstweg irgendwo auf dem Land. Der Weg verläuft parallel zu Eisenbahnschienen nicht weit von einem dicht befahrenen Highway entfernt. Ein Flugzeug fliegt in
Abständen tief über den angrenzenden Feldern mit Hirse und Sojabohnen und versprüht Unkrautvernichter; Spain bewundert die Anmut der kleinen gelben Maschine. In der Ferne nähert sich ein Zug; alles an dem Bild, das flache Ackerland, das veraltete Flugzeug, der näherkommende Zug, wirkt zusammengenommen wie eine friedliche, altmodische Idylle, die man fotografieren und für den Kalender eines Pharmaziekonzerns verwenden sollte. Das Sprühflugzeug braust wieder über die Felder hinweg und hinterlässt eine Spur weißen Dunstes am kristallklaren Himmel; Spain und sein Begleiter fahren durch den Dunst der Chemikalien auf dem asphaltierten Weg, der ein Feld in zwei Hälften teilt. »Was für ein schöner Tag, was?« sagt das monströse Ding an Spains Seite. »Ja. Sehr hübsch.« »Ein Tag, an dem man sich freut, am Leben zu sein.« »Unbedingt.« »Einfach herrlich.« Das monströse Ding lehnt sich wohlig zurück; das ganze Auto ächzt unter seinem enormen Gewicht. »Echt hübsch.« 64 »Jou.« »He«, wendet sich das Ding an Spain, »weißt du, was ein Kris ist?« »Chris?« »Ja. Ein Kris. Ein malaysischer Dolch. Schon mal einen gesehen?« »Nein, ich glaube n -« Und ehe er antworten kann, streckt das Ding die Hand aus, löst einen von Spains Fingern - den rechten Daumen - vom Lenkrad, fährt mit etwas darüber; Blut spritzt wie aus einem Gartenschlauch heraus und ergießt sich hellrot über Lenkrad und Armaturenbrett; Spain schreit vor Schmerzen auf. Das Ding hat ihm mit einem scharfen, wellenförmigen Dolch den Daumen abgeschnitten, die Schmerzen sind schlichtweg unerträglich, und das monströse Ding lacht, während Spain verzweifelt versucht, die Blutung zu stillen. »Oh, Mann. Also ich an deiner Stelle würde mir keine übertriebenen Sorgen machen. Du hast keine Zeit, zu verbluten«, sagt es, worauf es ihm den Kris in den Hals stößt und mit der welligen, gezackten Klinge Spains Schlagader aufschlitzt, den Dolch fallenlässt und einen schweren Schläger aufhebt, während Blut über das gesamte Innere des Autos spritzt. »Adios, Wichser«, sagt es und schlägt einen Homerun mit Spains Kopf als Ball; als der Schläger ihm gerade ins kreischende Gesicht schlägt, rammt das entgegenkommende Auto sie frontal; sie wirbeln herum und werden von einem Achtunddreißigtonner erfasst, der Stahl geladen hat, und der heftige Zusammenstoß schleudert sie aus dem Auto auf die Schienen, wo der Zug sie zermalmt, während gleichzeitig das Sprühflugzeug trudelnd vom Himmel auf das Katastrophenszenario herabstürzt, und Spain fährt vom Schrecken des Alptraums geschüttelt in dem knirschenden, zermalmenden, pulverisierenden Fleischwolf in die Höhe, und da ergreift das Ding, das hier bei ihm in den Schatten des leeren Hauses ist, zum ersten Mal das Wort, als er gerade aus dem Alptraum erwacht, und Spain spürt, dass sein ganzer Körper von eisiger Gänsehaut 64 überzogen ist, als die alte und grässliche Stimme »Hallöchen« zu ihm sagt. »Wer, äh, wie kommst du hier rein?« träumt Spain. »Wer wie komme ich hier rein? Mann, du kannst dich echt gut ausdrücken.« »Du hast mich beobachtet.« »Bingo.« »Warum kommst du nicht aus dem Schatten? Hast du Angst?« »Hm-hmm.« »Wovor hast du Angst?« »Wovor ich Angst habe? Nicht vor dir, Großer.« »Bist du eine Art Dämon?«
»Hör dich doch an. Du flippst völlig grundlos aus.« »Geh deine Mutter ficken.« »Oh, nein. Die würde ich nie ficken. Meine Mutter ist die Sünde, und die Sünde fickt man nicht. Die Sünde fickt dich. Die Sünde und der Wahnsinn.« »Scher dich zur Hölle.« »Dein Wort in Gottes Ohr.« »Bockmist.« »Sünde, Wahnsinn, Hölle und Bockmist. Die vier apokalyptischen Scheißer.« »Leck mich!« kreischt Spain, der in der leeren Dunkelheit seines Schlafzimmers endgültig aus dem Schlaf erwacht, während das verhallende Echo seines Fluchs ihm in den Ohren klingt. Die Schatten sind jetzt ganz nahe, bald finden sie ihn und kommen über ihn und hüllen ihn in ein Leichentuch aus Wahnsinn und Tod. »Komm schon, Mann«, sagt Morales zu dem schlanken, dunkelhaarigen Mann, während er zum dritten Mal den schweren Scheinwerfer ausrichtet. »Und bass auf wose hindriddst, Baby, wennse das Scheißlicht 65 umwirfs, dann bezahlstes auch, Mann.« Immer dieser Aufstand wegen seinen teuren Scheinwerfern. Was soll der Scheiß? dachte Belmonte. Mit den Scheinwerfern und Kameras und dem ganzen Mist sah es hier wie auf 'nem »richtigen« Filmset aus. Überall Kabel. »He, die Dinger brenn' durch, wenn ich sie zu lang anlass, Mann. Komm schon, siehs echt gut aus, 'mano. Bringen wir 'n Misd hinner uns, okay?« »Jaaaa«, grunzte Jon Belmonte unverbindlich und kämmte sich sorgsam das dunkle Haar. Er wollte gut aussehen, auch wenn er von hinten gefilmt wurde. Später würde er sich den Mist schließlich mit seiner neuen Schnecke ansehen. Als er zufrieden war, zog er das neue Hemd aus und ein altes an, das er später verbrennen konnte. Die Fotze würde ihm garantiert kein neues Achtundsechzig-Dollar-Hemd versauen. »Bisse jeds fettich, Marlon?« »Kann losgehn, Mann, geladen und gesichert.« Sie lachten. »Packen wir's an.« »He, kleine Tusse«, sagte Belmonte, als sie das Zimmer betraten, wo das Mädchen auf dem Bett lag. »Showtime«, sagte er kichernd und breitete die Arme aus. »Richtig?« »Nnn.« Sie nickte benommen; ihre Lider waren schwer, die Gesichtszüge schlaff. »He?« Nichts. »HE, Schlampe. Gib Laut.« »Was?« fragte sie. »Du versaust mir das jetzt doch nicht, oder?« Er lächelte. Sie schüttelte langsam den Kopf und nickte. »Wach jetzt auf, kleine Tusse. Du weißt deine große Zeile doch noch, oder?« »Mmmm«, grunzte sie. »Wie?« »Ja. Hmm. Ja, ich weiß noch.« »Sag sie.« Sie blickte mit einem starren Lächeln im Gesicht ins Leere. »SAG SIE, verdammt ... du dumme kleine Fotze.« Nichts. 65 »Ay, Chihuahua, du 'as ihr suviel gegeben. Die sieht nich mal mehr aus als wennse lebd.« »Drauf geschissen, Mann, bringen wir's hinter uns.« Sie schalteten die restlichen Scheinwerfer ein. Einen starken drehbaren Scheinwerfer, ein Licht, das aussah, als wäre es von einem Schirm umgeben, und eine Reihe kleinerer Scheinwerfer auf einem Gestell mit Rollen.
Tiff wurde geblendet und hielt sich eine Hand vor das Gesicht. »Scheiße. He, das Licht tut mir in den Augen weh«, worauf beide Männer prustend lachten. »He, kleine puta«, sagte Morales, der Kameramann, »du mus-sir nich mehr lange Sorgen machen, dasser die Augen wehdun, also lass gut sein.« »Hör auf, gottverdammt«, sagte Belmonte lachend, als sie das Set für die letzte Einstellung vorbereiteten. »Sieh nach, ob du 'n Film in dem Scheißding hast und dass nix schief geht, 'ne Wiederholung gibt's nich, C. B.« »Ja, ja, verschon mich mit dem Scheiß.« Er warf einen Blick auf den Monitor. Er drehte ein Direktvideo mit einer billigen Handkamera, aber das Bild schien ganz okay zu sein, und den Typen, die sich so was kauften, waren Panaflex-Kameras und Cinemascope nicht so wichtig. Man musste ihnen nur alles nah und deutlich zeigen, klar. Damit sie in einer hübschen Nahaufnahme sahen, wie die kleine chiquita gefickt wurde. Kein Stress, solange man nur alles gut erkennen konnte. »Mikro dran?« wandte sich Morales an Belmonte. »Hmmm«, sagte er und vergewisserte sich, dass die Mikroschnur auf der Seite war, die die Kamera nicht sehen würde. Nichtmal einen Kameraarm gab's für den billigen Mist. »Wie sieht's aus?« »Gut«, sagte Morales. Er nahm letzte Justierungen vor, während er durch die Kamera blickte. »Ja. Okay.« »Ja.« »Ich bin soweit. Alles klar bei dir?« 66 »Hmmm. Band läuft?« »Yo. Klappe.« »Teenage Snuff die Scheiß-ERSTE.'« Er nahm von rechts unten auf. Tiff in einer Nahaufnahme, dann in die Halbtotale, damit man Belmontes Rücken und das lange Metallteil in seiner linken Hand sehen konnte. »Ich hab dir gesagt, dass du es büßen musst, wenn du mich nicht befriedigst, du Fotze«, mimte er ins Mikro an seinem Hemd. Nichts. Die Dummfotze hatte ihre Zeile vergessen. »HALT DAS BAND NICHT AN. LASS DAS SCHEISSDING LAUFEN«, rief er und kam näher. »Kein Stress«, sagte Morales. Er schlug sie mit der flachen Hand, aber sie drehte den Kopf nur ein Stück weg, ohne dass sich ihr dümmliches Grinsen veränderte. Er sah, dass sie völlig weggetreten war. Scheiße. »Teenage Snuff, DIE ZWEITE!« Er wiederholte seine Zeile: »Ich hab dir gesagt, dass du es büßen musst, wenn du mich nicht befriedigst, du Fotze«, dann rammte er ihr das Metallding rein und sie schrie. Morales dachte bei sich, dass das Blut verdammt gut aussah. Das beste spritzende Blut, das man sich vorstellen konnte. Und dabei kam der beste Teil erst noch. Er konnte es kaum erwarten. Er brannte darauf, zu sehen, wie Jon ihr mit dem Ding die Augen ausstach. Es gefiel ihm, wenn ein kleines weißes Liebchen so gründlich alle gemacht wurde. Jon Belmonte alias Juan La Bellamonde trat selten in dem Splatterscheiß auf, den sie bei Rhapsody Video abdrehten. Ab und zu arbeitete er hinter der Kamera, doch dies war eine spezielle Ausnahme. Hier war ein wenig Erfahrung nötig. Man wollte nicht zu weit gehen. Wie leicht konnte man den Kopf verlieren, sich hinreißen lassen und die Schlampe ausknipsen, bevor man die richtig guten Szenen im Kasten hatte. Entbehrliche waren
teuer. Außerdem sah er nicht ein, dass er einem Typen mit Riesenschwanz, Mordskohle für etwas hinblätterte, das sie mit einem 67 kurzen Gegenschnitt über die Schulter drehen konnten. Und er wusste, bei ihm würde sie mindestens am Leben bleiben, bis er zu den Augen kam. Er wusste, wie tief er ihr in die Titten schneiden musste, damit es für die Kamera gut aussah. Die Freaks sollten was für ihr Geld haben. Jede Menge Schnitte, aber nicht allzu tief. Er wusste, er konnte sich darauf verlassen, dass er nicht ausrastete und es vermasselte. Er hatte so eine Scheiße schließlich schon oft genug gemacht. Nur nicht alles gefilmt. Kein Problem. Er war Unternehmer. Die ganze Produktion lag in seinen Händen, letzte Haltestelle der Schmerz-Linie. Rhapsody, das den ironischen Namen von seinem vorherigen Besitzer hatte, war nur eine von vielen unabhängigen Produktionsfirmen, die Blue Kriegal belieferten, die wiederum mit den Leuten in St. Louis zu tun hatte. Er wusste nicht, wer alles die Finger im Spiel hatte, und wollte es auch gar nicht wissen. Schlimm genug, dass er sich mit einem Freak wie Kriegal abgeben musste. Kriegais Unternehmen wurde von St. Louis aus gelenkt, das wiederum Chicago unterstand, und die Wichser - je weniger man von denen wusste, desto länger lebte man. Soweit es ihn betraf, war Porno ein Familienunternehmen. Und seine Stufe der Familie, die Leute mit Kontakten zu den großen Fischen, die einen durch den Dreck an der Oberfläche bringen konnten, war wirklich und wahrhaftig eine Familie. Eine Familie von Freaks, aber nichtsdestotrotz eine Familie. Ein kleiner Kreis von Leuten, die alle in derselben Scheißbranche arbeiteten. Die Leute, von denen er das Mädchen gekauft hatte, die Freunds - Scheiße, die machten Geschäfte mit Blue Kriegal. Im ganzen Land gab es Produktionsfirmen. Kleine Firmen, die sich nicht zu schade waren für diesen Mist. Der ganze Blödsinn, dass der Mob, die Mafia das Pornogeschäft kontrollierte, das war nur Zeitungsquatsch. Perverse kontrollierten diesen Scheiß. Abschaum wie Jon Belmonte, der auf kleine Kinder stand, auf Folter oder jeden Tierscheiß, den man sich denken konnte. Der Mob kontrollierte 67 lediglich den Vertrieb, und da ließ sich die große Kohle machen, bei den Jungs, die die Strippen zogen. Wenn man wissen wollte, wo der Mob gerade dran war, musste man nur dem Geld nach. Der Kleinkram, die billigen Nacktschuppen, das interessierte kein Schwein. Aber sobald es ums große Geld ging, bekam man es mit der Familie zu tun. Blue Kriegal prahlte immer damit, wie gut seine Beziehungen zur Firma in St. Louis waren, aber Jesus Christus, jedem mit einem halben Hirn war klar, dass es sich dabei zu neunzig Prozent um dummes Geschwätz handelte. Wer um Himmels willen wollte was mit einem vollkommen durchgeknallten Irren wie Blue Kriegal zu tun haben, wenn es sich vermeiden ließ? Der Mann war durch und durch plemplem. Kleine Babys und so 'ne Scheiße. Verdammt. Das Kotzen konnte einem kommen. Belmonte musste sich zweimal jährlich mit ihm rumärgern, wenn Kriegal durch McAllen runterkam und wollte, dass Belmonte ihm mexikanisches Material beschaffte. Dann musste er den gruseligen Wichser ausführen und ihm ein armes kleines Baby besorgen. Verrückter Pisser. Aber manchmal musste man sich eben mit solchen Irren abgeben.
Persönlich fuhr Belmonte auf junge Dinger ab. Manchmal auch einen gutaussehenden Knaben. Mit denen ging es so richtig ab. Das kapierte er noch. Aber nicht kleine Babys und so 'n Scheiß. Er war ein bisschen pervers, klar. Ziemlich versaut und was nicht alles. Aber er war kein verdammter IRRER. Laute Stimmen hallten durch das Büro der Mordkommission im Polizeirevier von Buckhead. »Weil du dran bist, darum«, fauchte der dicke Detective und zog zwei Zerknitterte aus einer mehr als fadenscheinigen Börse. Er beugte sich unter großer Mühe vornüber und warf die beiden Scheine auf den Schreibtisch seines Partners. »Ein großer Kaffee und eins von den großen, langen Dingern, die aussehn wie'n Schwatten sein Stecker.« 68 »Wie war das, du willst n großes, langes Ding, das aussieht wie Schwarzenegger?« »Geht das Leben an Ihnen vorbei?« rief der dicke Dana Tuny in den Raum, hielt sich die Hand wie ein Nachrichtensprecher ans Ohr und dämpfte seine Stimme um eine Oktave. »Verzichten Sie keinen Tag mehr auf unsere revolutionären neuen Hörgeräte von >Ohr frei< GmbH. Das Hörgerät, das speziell für Arschlöcher entwickelt wurde. Ganz recht! Sie haben richtig gehört. Das neue Hörgerät, das wie ein Sackhalter geformt ist. Man steckt es in den Arsch statt ins Ohr -« »Ein Wort mit fünf Buchstaben, das mit S anfängt und Gesetzgeber in Athen bedeutet?« rief Jack Eichord von der anderen Seite des Büros, wo er ein Kreuzworträtsel löste. »Schmock«, sagte James Lee hilfreich. »Schmock hat sieben Buchstaben, du Schmock. He, Eichord, Lee geht über die Straße. Willst du 'n Bananendaiquiri oder so? Oder isses noch nicht an der Zeit? Ich meine, wir haben Viertel vor neun morgens, hm?« Die Partner kicherten wie kleine Mädchen. »Tschuldigung, das hab ich grad nicht gehört, ich hab einen Bananendaiquiri im Ohr«, murmelte Eichord. »Du sollst sowieso nicht da rumdaddeln«, sagte Lee zu ihm. »Ich hab gehört, du bist an 'ner großen Mafiasache dran.« »Klar. Er will rauskriegen, wer Dutch Schultz umgelegt hat.« »Ich arbeite gerade dran«, murmelte Eichord. »SOLON — das ist es.« Er trug das Wort ein. »Was hat er gesagt?« wandte sich Lee an seinen Partner. »Was?« »WAS? Seh ich vielleicht wie ein Hörgerät für Arschlöcher aus?« »Ich sagte Solon«, teilte Eichord ihnen mit. »Okay«, sagte Lee, stand auf und ging zur Tür, »ich geh jetzt solo.« »Ja«, rief Tuny hinter ihm her, »schreib uns 'ne Karte, wenn du da bist, und tritt nicht auf deine Eier.« 68 Jack hatte schon vor langer Zeit gelernt, sie einfach auszublenden. Wenn man in Buckhead arbeitete, gehörte das zum Überlebenstraining. Ein Hörgerät für Arschlöcher, dachte er, während er das Wort Solon mit schwarzem Kugelschreiber kritzelte. Er schüttelte den Kopf. Diesen Trick der Polizeiarbeit hatte er von einem Schriftsteller gelernt. Einem netten alten Herrn namens Carlton E. Morse. Der schrieb I Love a Mystery und One Man's Family für das Radio. Morse hatte ihm beigebracht, wie man den Geist für den Strom
von Einfällen öffnete. Und ein anderer Mann, der für den Geheimdienst arbeitete, brachte ihm bei, wie man diese Einfälle schneller sprudeln ließ. Eichord kritzelte scheinbar wahllos, doch sein Verstand sog wie ein Schwamm alles in sich auf, was über den Damm floss. Er hat ein ziemlich großes S O L O N geschrieben und aus den beiden Os altmodische Schielaugen gemacht. Mit Augenbrauen. Als er die Pupillen malte, wobei er immer wieder heftig mit dem Filzstift hin und her fuhr, riss das Papier, die Spitze des Filzstifts fuhr durch ein Auge, und da sah Eichord die Augen des ersten Kadavers vor sich, die blutigen Höhlen, die Schlagzeile AUGAPFEL-MORDER, die Augen eines kleinen Affen, der die Hand davor hielt, NICHTS BÖSES SEHEN auf einer Grußkarte und ein Mann, der beiläufig von dieser Karte aufsah, aber mit einem Ausdruck der Ahnung in den Ganovenaugen mit den schweren Lidern, und das alles verschmolz in Eichords geistigem Lagerhaus miteinander, als er zum Telefon griff und die Major Crimes Task Force anrief, seinen offiziellen Arbeitgeber. Eichord hatte in vielen ungewöhnlichen Mob-Attentaten ermittelt, weil die immer eine Menge Presse in ihrer jeweiligen Jurisdiktion bekamen, Jack war nur einer von vielen, die das FBI bei Kapitalverbrechen zu Rate zog, die, wie man es ausdrücken könnte, »ungebührliche Aufmerksamkeit« erregten. Mit anderen Worten, potenzielle Skandale. Heikle Morde. Bei den meisten handelte es sich strenggenommen nicht um Serienmorde. 69 Von Serienmorden sprach man, jedenfalls in der Definition der MCTF, wenn man es mit vier zusammenhängenden Morden zu tun hatte. Das war die offizielle Definition in Quantico. Wer entschieden hatte, dass drei nicht ausreichten, sondern es vier sein mussten - da kam niemand je so richtig dahinter, aber die Definition setzte sich durch. Drei Mann erledigt. Augen rausgepustet. Vergeltung im Westküsten-Mafiosi-Stil. Ganovenaugen. NICHTS BÖSES SEHEN. Ein allzu beiläufiges Abwenden nach dem Aufblitzen einer Erkenntnis. »He, Junge, was geht ab?« sagt er in den Hörer. »Ja, ich hab was Großes.« Pause. »Kann nicht sagen, dass ich das ohne deine Hilfe schaffe.« Höfliches Kichern. »Was ich brauche - ich brauche den Namen jedes männlichen Passagiers, der vom LAX nach St. Louis abgeflogen ist, und zwar zwischen halb sechs und halb sieben am -« Er wirft einen Blick auf den Kalender und nennt das Datum. »Ha-ha. Nein, ich bin nicht sicher, an welchem Flugsteig.« Aber dann ertönt eine Stimme in diesem Schwamm mit dem enormen Fassungsvermögen: PASSAGIERE FÜR FLUG TWA BLÄH BLÄH NACH ST. LOUIS FLUGSTEIG 41. Er sieht NICHTS BÖSES SEHEN von der Grußkarte aufblicken, als die Lautsprecherdurchsage ertönt, das Geschäft verlassen, zu einem Flugsteig gehen. »Könnte einundvierzig sein. Vierundvierzig. Weiß nicht mehr genau. Und ich glaube, es war ein TWA-Flug. Aber überprüf sie bitte alle. Ja, ich weiß. Ich will alles, das die Fluggesellschaft über die männlichen Passagiere hat. Um die frühe Morgenstunde können nicht allzu viele Flugzeuge von L. A. nach St. Louis gestartet sein. Mich würde überraschen, wenn es mehr als eins wäre. Danke, Baby. Ja - ich brauch's vorgestern.« Eichord konzentriert sich auf die Augen und versucht, das Gesicht um sie herum zu beschwören, aber es gelingt ihm nicht. Nur argwöhnische Augen, die aufschauen. Und wissen, dass er Polizist ist. Klar und deutlich. Polizisten und Kriminelle sind 69
von Natur aus wachsam, und alte Gewohnheiten legt man schwer ab. Könnte alles sein. Könnte nichts sein. Aber nach so vielen Jahren in dem Metier hatte Jack Eichord gelernt, sich auf seine Ahnungen zu verlassen. Unter die S O L O N-Kritzelei mit dem durchstochenen Auge schreibt er NICHTS BÖSES SEHEN, und die Worte jagen ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Belmonte hat ein kleines, einträgliches Geschäft und eine Sekretärin mit einer kleinen, engen Möse, und diese Scheiße mit dem Snuff-Film hat ihn so aufgegeilt, dass er es kaum erwarten konnte, bei ihr zu sein. Cathy beschwerte sich immer so über ihr Arbeitspensum, dass er eine eigene Sekretärin nur für sie eingestellt hatte. Die sah ausgesprochen gut aus, war aber dümmer als ein Laib Brot. Und dieses neue Mädchen beackerte er auch schon. Er hätte ihr sein Ding gern direkt vor diese großen Kuhaugen gehalten und ihr irgendeine Filmscheiße erzählt, während er vor ihren Augen einen Steifen bekam. Sollte seine steinharte Latte den Hosenstall auswölben wie ein Zelt, damit sie genau sah, was er zu bieten hatte, während sie zappelig wurde und so tat, als würde sie gar nicht hinsehen. Ein freundliches Schulterklopfen auf beiden Seiten. Willkommen im Team und so weiter. Dann den steifen Schwanz ein klein wenig an ihrer Wange reiben. Und dann Cathy holen, damit sie vor den Augen der Neuen so richtig an ihm rumfingern konnte. Es gefiel ihm, wenn sie altmodische Nuttenklamotten trug. Heute hatte sie einen grünen Minirock wie aus den sechziger Jahren angehabt, total aus der Mode. Grob gestrickte Wolle, sodass man direkt durchsehen konnte. Er würde eine Weile mit der neuen Schickse rummachen und dann Cathy reinrufen, damit sie das Büro aufräumte. So, wie er es mochte, mit schnurgerade ausgestreckten Beinen, an der Hüfte eingeknickt beim Abstauben, damit der kurze Rock schön an den Oberschenkeln hoch70 rutschte. Verdammt. Sie hatte einen unwiderstehlichen Arsch, und diese Beine. Prächtig ausgestattet, die Schlampe. Dann würde er zu ihr gehen und ihr die winzige Bikinihose runterziehen und ihn ihr trocken reinrammen. Sie würde ein bisschen schreien. Er würde die prachtvollen Titten als Griffe zum Festhalten benutzen, während er sie an der Wand von hinten im Stehen pimperte, und ihr dann seine Ladung ins Gesicht schießen, weil er darauf stand. Zusehen, wie der heiße, milchige Saft unter den Augen, die schwarzen Spinnen glichen, sich über das ganze, sorgsam aufgetragene Make-up ergoss. Seinen heißen Strahl zwischen diese rosa, feuchten Lippen jagen und zusehen, wie sie den letzten Tropfen ableckte. Und wenn er kam, würde er daran denken, wie die kleine Schlampe im Drogennebel geschrien hatte, als er ihr die Augen ausstach. Teil Zwei: Spain Wer war dieser Mann, der allein im luxuriösen Gefängnis seines Hauses saß und wartete? Wartete, obwohl er sich unter anderen Umständen selbst auf die Suche nach ihr gemacht hätte. In Wahrheit war er gar kein Mann. Äußerlich sah man scheinbar eine selbst geschaffene Persönlichkeit: Jemand, der Frank Spain hieß. Zwei kalte, emotionslose Augen im Schatten schwerer Lider, die schon vor langer Zeit den Trick gemeistert hatten, ohne zu blinzeln ins Leere zu starren. Ein Gesicht, das daran gewöhnt war, keine Regung zu zeigen. Dem man nichts Ungewöhnliches ansah. Antlitz, Haltung, Benehmen, Auftreten, alles eiskalt. Gelassen. Ruhig und besonnen. Doch was man sah, das war er längst geworden: leer. Im Lauf der
Jahre hatte sein Metier, Gemetzel, ihm die Menschlichkeit genommen. Spain war ein hohler Mann. Mr. Chiffre. Leerer Blick. Verzerrtes, eingeschränktes Gesichtsfeld. Kugelsichere Emotionen, vernarbte Seele. Mann ohne Eigenschaften. Todesbote. Das war die leere Hülle, die den Hörer abnahm und die Stimme von Mel Troxell hörte, der mit schlechten Neuigkeiten von Cleveland kommen wollte. Spain ließ ihn natürlich alles am Telefon berichten und hörte sich den ganzen Bericht an, ohne dass er ihn einmal unterbrochen hätte. Als Troxell fertig war, dankte er ihm einfach und versicherte ihm, dass er ihn morgen besuchen würde, wenn er nach St. Louis kam. Wenigstens hatte Troxell Mumm genug und brachte den Bericht und seine Rechnung persönlich. Für die exorbitante Rechnung der Detektei bekam Spain eine Liste mit Namen und eine Filmrolle, brachte es aber nicht über sich, sie anzusehen. Die Liste hatte Troxell eine Stange Geld gekostet. Der Bericht selbst war so gut wie alles, das Spain jemals selbst versucht hatte. Vermutlich besser. Mehr als gründlich. Penibel recherchiert. Geprüft 71 und gegengeprüft. Die Leute dieses Burschen waren verdammt gut. Das Geld war gut investiert. Der Mann, der sich Spain nannte, beantwortete ein paar Fragen, stellte selbst aber viele, viele mehr. Er überraschte Troxell mit seiner Kälte und Gefasstheit. Er nahm die Neuigkeiten wie ein Mann mit einem Herz aus Stein hin. Er empfand eindeutig etwas, gehörte aber offenbar zu den Menschen, die in aller Abgeschiedenheit trauern. Er weinte allein. Mel Troxell hatte schon genügend Leuten schlechte Nachrichten überbracht und den Eindruck, als könnte Spain damit umgehen. Bedenken hatte er nur, was die Abrechnung am Schluss anbetraf. Dann ergriff Spain das Wort. Er wusste instinktiv, dass er Troxell überzeugen musste, daher griff er auf seine inneren Kraftreserven zurück und lieferte ein Meisterstück der Schauspielkunst ab. Er wusste, welches Maß an Glaubwürdigkeit er aufbringen musste, um einen Profi wie Troxell zu überzeugen, dass er als Vater den Zusammenhängen nicht folgen konnte. Er würde sich der Werkzeuge des »Method Actings« bedienen und den Bericht selbst als Ausgangspunkt für die Szene nehmen. Das dürfte so schwer nicht sein. Kaum hatte er gehört, wer darin verwickelt war, brachen sämtliche Dämme in seinem Inneren. Seine eigenen Leute. SEINE EIGENEN SCHEISSLEUTE hatten sie ermordet. Oh, nicht direkt. Es waren Punks. Nie-mande am untersten Ende der Mafia-Nahrungskette. Aber sie arbeiteten für seine eigene Scheißfamilie. Ciprioni. Die Leute des alten Sally Dago. Die Drecksäcke. Er spürte, wie er vor Wut rot anlief. Immer musste er daran denken, wie sehr er sich Rache wünschte. Doch er bemüht sich, gelassen zu bleiben, als Troxell den Bericht über die Ermordung seiner Tochter mit ihm durchging. Es war entscheidend, dass Troxell ihm den Schwindel abkaufte, daher ging er wie anhand einer Checkliste vor und erkundigte sich nach Einzelheiten, wie es ein »normaler Vater« seines Erachtens unter den gegebenen Umständen machen würde. Das fiel 71 ihm leicht. Seine Gefühle waren die eines normalen Vaters. Kummer. Bittere Traurigkeit. Fassungslosigkeit. Rasende Wut. Dann erdrückendes Herzeleid. Er heuchelte Verwirrung
über die Befehlskette und gab sich größte Mühe, in Gegenwart von Mel Troxell alle Hinweise auf die wahren Schuldigen zu verschleiern. »Wollen Sie damit sagen, diese Jungs - diese Kinder — haben sie verkauft?« Er wischte sich die Tränen ab. »Ja, genau das haben sie.« Troxell erläuterte ihm die klebrige rote Spur von Missbrauch, Folter und Tod, die mit Dawkins und Nunnaly, den beiden Jungs, begann und in den stinkenden Sumpf der gewissenlosesten Pornoproduzenten führte; Spain verzog das Gesicht, als er Namen hörte, die er nur zu gut kannte. Abschaum, der für die Familie arbeitete. Er musste die Zähne zusammenbeißen, damit er nicht losbrüllte, als der Name »Blue Kriegal« fiel. Dieses wertlose Aas. Der war NICHTS. Ein Lump, der Kinderpornos verkaufte. Er hatte nur sehr, sehr entfernt mit Dagatina zu tun, aber das konnte Troxell nicht wissen. Die Familie benutzte solchen Abschaum als Strohmänner und Handlanger. Anfall, der als Kanonenfutter vorgeschoben wurde und die Leute deckte, die eine gewisse Bedeutung besaßen. Porno - die gesamte Sex-Industrie - spielte so gut wie keine Rolle in den Geschäften der Familie. Der Gedanke, dass seine eigenen Leute ... »- begreifen, was ich Ihnen damit sage.« Troxells Tonfall riss ihn aus seinen Überlegungen; er schüttelte verwirrt den Kopf und sagte: »Die vielen Namen ... Wer sind diese Leute? Warum hat die Polizei nichts unternommen? Wer trägt die Verantwortung?« »In gewissem Sinne wir alle. Jeder, der eine pornografische Videokassette kauft, finanziert diese Branche. Doch hierbei handelt es sich um eine spezielle Abart dieser besonderen Welt. Kinderpornografie ist ein größerer Industriezweig als die Meisten von uns denken. Er verfügt über eine vergleichsweise kleine, aber höchst aktive Kette von Produktion und Vertrieb. Und logischer 72 weise auf den Untergrund ausgerichtet. Den Direkt verkauf und die illegale Subkultur und in diesem Vertrieb und der Herstellung ist die Industrie mit dem organisierten Verbrechen verbunden. Die Männer, die Ihre Tochter getötet haben - Morales, der Kameramann, und Belmonte, der Vertreiber und, wenn Sie ihn so nennen wollen, Produzent -, haben einen Snuff-Film für die Firma eines Mannes namens Kriegal gedreht. Er kontrolliert die Produktion fast der gesamten Staaten des Südens und mittleren Westens.« »Wenn seine Identität bekannt ist, warum nimmt ihn die Polizei dann nicht fest?« »So einfach ist das nicht. Er ist wie die meisten schlauen Mafiosi heute. Hält sich gerade weit genug von den tatsächlichen Straftaten fern, dass ihm das Gesetz nichts anhaben kann.« »Mir ist unbegreiflich, wie das sein kann. Ich meine, Pornografie und - Folter - und Mord -« »Es verhält sich genau wie im Drogengeschäft. Das wird beschützt. Nicht nur von korrupten Polizisten oder Politikern, sondern von den Unsummen Geld, die heutzutage hinter den Fassaden aller halblegitimen Geschäfte fließen. Die Familien des organisierten Verbrechens sind sehr mächtig.« »Dieser Mann - kontrolliert er die Pornoindustrie für die Mafia hier?« »Ja, aber er ist nur ein Soldat im Fußvolk des Mobs, und die Snuff-Filme sind, wie alles andere, am extremen Rand der Aktivitäten des Syndikats. Man spricht heute manchmal von der Syrischen Mafia, aber das ist nur ein griffiger Name für die Zeitungen; gemeint
sind damit zwei Top-Leute des organisierten Verbrechens hier, Rikla und Measure, die gemischte ethnische Gruppierungen der alten kriminellen Organisationen beherrschen.« »Und die haben sich auf Pornos mit Kindern spezialisiert?« »Ich bezweifle, dass diese Männer das wahre Ausmaß von Kriegais Kinderpornoproduktion kennen. Das sind alte Männer 73 beide über siebzig und man nennt sie >Crew-Bosse< für die obersten Capos. Ein Mann namens Salvatore Dagatina, inzwischen betagt und im Gefängnis. Ein Mann namens Tony Cypriot, richtiger Name Ciprioni, der mehr oder weniger die Unterwelt des mittleren Westens beherrscht, aber ihre so genannten >Unterbosse<« - er sah auf ein Blatt Papier - »dieser James Russo und Lyle Venable, die streichen einen Teil von Kriegais Profiten ein, also könnte man sagen, dass sie, von einem technischen Standpunkt aus betrachtet, durchaus das Unternehmen für ihre hochrangigen Bosse kontrollieren. Allerdings spielt es im gesamten Verbrechenskartell nur eine winzige Rolle.« »Wie bekommt man Gerechtigkeit für so etwas? Die wahren Mörder sind ebenso sehr die Männer, die Sie gerade erwähnt haben, wie die tatsächlichen Täter.« Troxell sah dem Gesicht des Mannes an, dass er unmittelbar vor dem völligen Zusammenbruch stand. Sein Körper machte plötzlich den gebrechlichen Eindruck, wie man ihn manchmal bei Leuten sieht, die gleich vollkommen aus dem Leim gehen. Ein unkontrolliertes Zucken schüttelte Spain. Nennenswert schauspielern musste er dafür nicht. Seit er den Namen Ciprioni gehört hatte, schlotterte er regelrecht. Dieser schwanzlutschende Drecksack. Jahrelang hatte er ihn am Arsch geleckt. Ja, Sie, MISTER Ciprioni. Wie oft hatte er für den Mann gemordet. Jesus CHRISTUS, das war zuviel. Er hörte, wie er zu dem Privatermittler sagte: »Ich kann das ... ich kann das einfach nicht mehr diskutieren. Ich habe meine Frau verloren, und jetzt mein KIND!« Sein Körper fühlte sich an, als würde er hier und jetzt die Selbstzerstörungssequenz aktivieren. Hinzu kam das merkwürdige Schauspiel, dass er sich selbst dabei beobachtete, wie er für Troxell eine Schau abzog. Als er die Symptome eines Nervenzusammenbruchs heuchelte, fragte er sich ganz kurz, ob er tatsächlich einen hatte. »Die endlosen Fragen. Tiffs Name in den Schmutz gezogen.« Und so weiter, während er von Krämpfen geschüttelt wurde und die Worte 73 sein Herz vereisen ließ. Etwas, dass das Rechtssystem eben war, wie es war. Verkehrte Welt. Die Inkompetenz der Macher und Gesetzeshüter, und so weiter und so fort und ad infinitum. »Jahre der Qual und übler Nachrede für meine Tochter, und WOFÜR VERDAMMT NOCH MAL? Die sitzen dafür nicht eine Woche im Gefängnis -« und so weiter. Troxell sah seinen Klienten nur an und zuckte innerlich die Achseln. Er konnte dem Mann nichts mehr zumuten. Da saß einer am Rande des völligen Zusammenbruchs. Man sah auf einen Blick, dass er gleich zerfließen würde. Jetzt begriff er, dass er Spain ganz falsch eingestuft hatte. Die scheinbare Fassade eiskalter Kraft war nur Lug und Trug - die starre Maske eines innerlich zum Zerreißen angespannten Mannes, eine Sprungfeder, die gleich unter dem Druck zerbrechen würde, ein untröstlicher, bis an die Grenzen des Erträglichen und darüber hinaus belasteter Vater. Frank Spain taumelte am Abgrund eines schweren Nervenzusammenbruchs dahin.
Dennoch versuchte Mel Troxell dafür einzutreten, dass man die Schuldigen im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten verfolgen sollte. Er bemühte sich, Spain behutsam davon zu überzeugen, dass er in seiner derzeitigen Verfassung nicht geeignet war, die Angelegenheit in die Hand zu nehmen, was endgültig alle Dämme brechen ließ. Spain schrie Zeter und Mordio, dass er der Klient wäre, der die Rechnungen bezahlte, der Vater, der eine Tochter verloren hatte, und spielte den Mann, der gleich überschnappt, so überzeugend, dass Troxell schließlich nur ein letztes Mal die Achseln zuckte und ging. Die Ironie darin bestand, dass Spain nur der Meinung war, er würde schauspielern. In Wahrheit war er Troxell gegenüber so überzeugend, weil er tatsächlich den Verstand verlor. Diesen lockenden Wahnsinn sah der Privatdetektiv, und nur deshalb ließ er die Tür ins Schloss fallen. In dem Moment, als der Mann fort war, drehte Spain den Strom der Emotionen ab wie einen Wasserhahn. Stumm las er den Bericht noch einmal durch, obwohl es nicht nötig war. Jeder 74 Name, jede Redewendung, jedes Komma, jeder Satz hatte sich in sein Hirn eingebrannt und für alle Zeiten in die Großhirnrinde geätzt. Und dennoch las er den Bericht erneut. Und ein drittes Mal. Las mit jahrelangem Insiderwissen zwischen den Zeilen, was ihm ermöglichte, neue Perspektiven zu erkennen, die nicht explizit auf den Seiten standen. Er stellte neue Mutmaßungen auf der Grundlage besserer Informationen an. Mutmaßungen und Theorie mündeten in die Ansätze eines neuen Plans. Beim vierten Mal Lesen machte er sich Notizen auf einem gelben Kanzleiblock, während er sich die Geschichte von Verführung, Missbrauch, Sucht, Folter und Erniedrigung seiner Tochter abermals gründlich studierte. Und dann ihren grässlichen Tod. Abermals liest er über die vierzehnjährige Fremde - sein eigenes Kind - und die durch und durch monströsen Verbrechen und unmenschlichen Schandtaten, die an ihr begangen wurden. Und abermals folgt er ihrer Spur nach Florida und Texas und über die Grenze nach Mexiko zu ihrer letzten kreischenden, blutbefleckten Sternstunde als »Star« im grellen Scheinwerferlicht. Und während er liest, hält die Hand des Todes ein brennendes Streichholz an eine langsame Zündschnur. Er schreibt seine eigene Liste. Sie beginnt mit GAETANO CIPRIONI und dann SALVATORE DAGATINA. Und die Liste enthält viele, viele Namen. Die Liste wird sein Heiligtum. Seine heilige Mission. Eine endlose Liste von Leuten, die er nur noch als Nummern betrachtet. Nummern, die er abservieren muss. Alle, da jeder mitverantwortlich ist am Tod und den Qualen seiner geliebten Tiff, und zwar so sicher, als hätte er selbst die Mordwaffe gehalten. Er macht einen kleinen Schrein aus der Filmrolle, die auf einem Regal in seinem Arbeitszimmer liegt wie eine Urne voll Asche aus dem Krematorium, seine Blicke auf sich lenkt, ihm das Herz schwer macht und seinen Verstand beschäftigt, bis ihm ist, als müsste er innerlich platzen. 74 Und Spain sitzt da und spürt, wie er zerfällt, in einzelne Teile zersplittert, und er streicht sorgfältig den zweiten Namen von unten durch. ROGER NUNNALY.
Er studiert das umfangreiche Dossier, bis seine roten Augen vor Erschöpfung brennen. Es gibt noch andere Namen, die er seiner heiligen Liste, seiner privaten Nummernliste hinzufügen möchte. Alle sind mit dem Netzwerk des Schreckens und der Erniedrigung verbunden, das sich verschworen hat, um ihm seine Familie zu nehmen und seine Tochter in einem höllischen Alptraum zugrunde zu richten. Er sieht auf den ersten Blick einen Aspekt seines Plans, der die Freude an seinem Vorhaben noch größer und köstlicher machen dürfte. Er lässt sich alle Namen auf der Zunge zergehen. Und das, wie er sie gegeneinander ausspielen wird, da er ihre größten Schwächen kennt, ist der Zuckerguss auf seinem Rachekuchen. Er muss sich zusammenreißen, denkt er. Die Tränen sind längst versiegt. Doch während er liest und sich Notizen macht, zittert er weiter am ganzen Körper vor Wut und Verzweiflung. Und jetzt betet er, dass der Wahnsinn ihn holen möge. »Da bin ich also in meinem Nikolauskostüm, samt falschem Bart und dem ganzen Scheiß, als dieses kleine Mädchen mit einer Sexbombe von Mutter daherkommt, und ich: Setz dich auf den Schoß vom Nikolaus und sag ihm was du dir zu Weihnachten wünschst. Und wenn du fertig bist, kann sich MAMI auf das Gesicht vom Nikolaus setzen und ihm sagen, was sie sich wünscht.« »Blödsinn«, hört Eichord James Lee zu seinem Partner sagen. »Du hast gar keinen Schoß. Du hast ein paar Fettwülste, die du zusammenschieben kannst - aber mehr auch nicht.« Eichord hielt den Telefonhörer dichter ans Ohr, aber dann hörte er wieder die Musik vom Band, und als er den Hörer wieder weiter 75 weghielt Tuny sagen: »Vielleicht schieb ich DICH zusammen und mach ein Schlitzaugenakkordeon aus dir«, und er hielt den Hörer ans andere Ohr, als gerade die Stimme am Telefon ertönte und die Antwort auf seine Frage gab. »Sehr freundlich. Danke. Jawoll«, sagt er ins Telefon, »mach ich. Nochmals danke.« Und das war's. Die letzte Sackgasse der Spur eines Floyd Streicher. Es existierte schlichtweg niemand, der vom LAX aus abgereist war. Er hatte die ganze Mischpoke von der MCTF untersuchen lassen. Alles, von Kraftfahrzeugen bis zu Telefonaufzeichnungen. In einem Umkreis von hundert Meilen um Saint Louis Stadt. Nix zu machen. Floyd mit den schweren Lidern - da war Eichord ganz sicher - existierte nicht. Floyd ging also an Bord des TWA-Flugs, aber ein anderer ging in St. Louis von Bord. Und? Was jetzt? Das Töten entsprang mysteriösen und dunklen Energien, die er in den langen Wochen des Winterschlafs und der Flaute anhäufte, anfangs ein Ausstoß hochenergetischer Kräfte nach einer ausgedehnten Periode des Ausbrütens, dann eine Erschütterung der Karbonisierung in dem vakuumversiegelten, hermetischen Hautsack brodelnden, explosiven Drucks. Anfangs wurde er nie richtig wach und schlief vierzehn, manchmal sechzehn Stunden täglich. Ein tiefes, medikamentöses Schlafkoma, das ihm immer und immer wieder die Sinne raubte, und er kroch zurück in sein Nest schmutziger Laken, die nach dem letzten Tiefschlafmarathon kaum zerwühlt waren, und suchte mit schon wieder brennenden Augen den dunklen Trost des Schlummers, der Vergessen brachte. Er schlief fest. Verstand abgeschaltet. Sein Unterbewusstsein schwebte durch das schwarze, zeitlose Nichts der ewigen Nacht.
Manchmal weckte ihn seine Blase, dann schlurfte er aus seinem Mumienverband und pinkelte, bespritzte mit halb geschlossenen Augen in dem verknitterten Gesicht die Seitenwand der Kommode im Bad, taumelte in seinem Tran der Unwissenheit zurück 76 und schlief schon wieder tief und fest, noch ehe seine schlafrunzlige Visage richtig das Kissen in dem geliebten, warmen Nest der Decken und schmutzigen Laken berührte. Wunde Stellen waren sein Wecker, und Unbequemlichkeit der einzige Grund, der ihn sieben oder acht Stunden auf den Füßen hielt. Richtig wach wurde er nie. Minimale Aktivitäten, Mahlzeiten, die unverzichtbaren Rituale der Existenz, eine Phase der Ruhe, wenn er einfach nur ins Leere starrte, bis das enorme Gewicht zurückkehrte und sich wieder über ihn legte wie ein nasser und schwerer Mantel, ihn niederdrückte und zwang, wieder in seiner bequemen Embryonalhaltung in die Gebärmutter der Dunkelheit und des Zusammenbruchs zurückzukehren. Still und reglos verharrte er fast zwei Tage und eine Nacht und betrachtete unendlich konzentriert die Filmrolle, während sein gnadenloses Gedächtnis ihm immer wieder in einer Endlosschleife das Desaster seines Lebens vorspielte. Er stand ein paar Minuten von dem Stuhl auf, wenn sein Körper wegen der Reglosigkeit schmerzte oder er sich erleichtern musste, dann nahm er wieder dieselbe sitzende Haltung ein und konzentrierte sich erneut. Einmal vergaß er zu trinken; nach fast vierundzwanzig Stunden war seine Kehle so rauh, dass er kaum schlucken konnte. Am nächsten Tag vernahm er seltsame Geräusche. Die Töne, die das Haus von sich gab, wurden unerträglich laut und nervtötend. Er hörte das Blut durch seine Adern strömen und bildete sich ein, dass er mitbekam, wie Arterien verhärteten und verstopften. Wie Zellen abstarben. Synapsen fehlzündeten. Relais versagten. Er malte sich aus, wie sich die Maschine seines Körpers selbst zerstörte. Er stellte sich vor, dass der Blumenkohl seines Großhirns verfaulte. Mit dem Geruchssinn nahm er den Gestank von verrottetem Gemüse wahr, und Neuronen, Millionen Nervenzellen im Hippokampus, bemühten sich, die verkümmerten Terminals des Computers im Gehirn zu füttern. Der Computer, dessen Lich 76 ter rot blinkten, näherte sich einer gefährlichen Überlastung, es kam zu einem Kurzschluss, und er blies die Lichter in seinem Verstand aus. Er fiel in einen tiefen, hirntoten Schlaf. Reglos. Gelähmt. Komatös. Spain träumte nicht mehr. Wenn ich erwache, denkt er, erwache ich mit einem Kribbeln. Der Plan ist fest verankert. Er wacht auf und erinnert sich an den vollständigen Text von »Lonely Teardrops«, gesungen von Jackie Wilson. Er ist ziemlich sicher, dass er dreihundertfünfzig Pfund stemmen könnte. Er weiß, dass sein Gehirn vollkommen neu verkabelt wurde und riecht brennendes Laub, Toast mit Schinken und Eiern, Schokoladenkuchen und kalte Milch, Tar-tar, aus dem noch das Blut auf den Teller läuft, frisch gebackenes Brot, Tuborg, einen deutschen Wein, den er nicht aussprechen kann, Chanel, einen frisch gemähten Rasen, viele unterschiedlichste Gerüche gleichzeitig, während sein Gehirn die Glühbirne des Geruchssinns wieder in die Fassung schraubt. Er weiß, geistig würde er die hundert in 9,9 Sekunden schaffen, er könnte die Abschnitte A bis C des Wörterbuchs komplett auswendig lernen (Aal, der; -[ejs, -e; aber: Alchen (vgl.
d); aa|len, sich (ugs. für behaglich ausgestreckt sich ausruhen); aal|glatt), unermüdlich klettern, ohne je abzustürzen, die Bedeutung der Theorie der nachtaktiven Flora vollständig begreifen, sich an einen Witz über einen Mann mit Namen Wolfshegelsteinhausenbergerdorf erinnern; er weiß, jetzt könnte er »Willow Weep for Me« mit dem Altsaxofon spielen, und während dieses urzeitliche Meer an Informationen sich in sein Gehirn ergießt, geht er Duschen, Scheißen, Rasieren, Zähneputzen, Eincremen, Medikamente Einnehmen, Deo Auftragen und fängt an zu packen. Beim Packen stellt er zu seinem Erstaunen fest, dass sein Gehirn ihm Finley Wren wiederholt, das er mit siebzehn gelesen hat. Er hat eine Neuronenbarriere durchbrochen. Sein Gedächtnis versucht, ihm etwas zu sagen, das spürt er jetzt, da er nach sei 77 ner langen und perversen tranigen Phase wieder voll da ist, und die grenzenlosen Möglichkeiten, die ihm offen stehen, umgeben ihn mit einem weiteren schützenden Panzer der Unverwundbarkeit und Entschlossenheit. Im Geiste hat er die Reise bereits abgeschlossen, für die er packt, und bereitet sich jetzt auf das Großereignis vor, greift zum Telefonhörer und ruft einen Makler an. Er bietet das Haus zum Verkauf an, nachdem er sich ein glaubwürdiges Szenario zurechtgelegt hat, dann ruft er unter einem anderen Tarnnamen einen anderen Makler an und lässt ihn nach etwas suchen, das seinen momentanen Bedürfnissen eher entspricht. Lächelnd sieht er den Aussichten entgegen. Packt zu Ende. Setzt sich ans Steuer, schaut in den Rückspiegel und sieht in die schiefergrauen Augen eines Wahnsinnigen. Über fünfzehn Jahre hat er als Top-Mann für den Nationalen Betäubungsmittelrat gearbeitet, den die Familien nur die Kommission nennen. Das ist die übergeordnete Instanz, der acht wichtigsten Drogenfamilien, die wiederum die größte Einheit des so treffend bezeichneten »organisierten Verbrechens« bilden. Für den Laien ist das alles nicht so leicht nachvollziehbar. Wir kennen die Mafia, aber sonst kaum etwas. Doch dieses Element, die alten Dinosaurier in bestimmten Sektoren der primär italienischen und sizilianischen Gemeinschaften, repräsentieren nur einen unbedeutenden Aspekt des riesigen Drogenmonolithen. Sinn und Zweck des Nationalen Rats oder der Kommission war der Versuch, einen unkontrollierbaren Moloch zu kontrollieren, der sich von der menschlichen Gier ernährt: ein Milliarden-Dollar-Geschäft, dessen Fortbestand ein möglichst unauffälliges Profil erforderte. Jahre der Loyalität und des Erfolgs, und die Hand des Schicksals, die jetzt ausgestreckt wurde, um seine Vorgesetzten zu vernichten oder auszuschalten, hatten Gaetano Ciprioni auf den Thron dieser geheimen Organisation gehievt. Als verlängerter Arm hatte Spain die Aufgabe, 77 die Lösungen zu finalisieren, die nicht durch Diskussionen oder Drohungen zustande gebracht werden konnten. Er war ermächtigt, im Namen der Kommission zu handeln, was bedeutete, er war ebenso sehr Arbeitgeber wie Arbeitnehmer. Er arbeitete vollkommen außerhalb der Familien, war nur über gebührenfreie Telefonverbindungen zu erreichen, die mit einem speziellen Funktelefonsystem verbunden waren, und blieb über ein Jahrzehnt der vielbeschäftigtste Profi, der außerhalb des Militär-Geheimdienst-Gesetzeshüter-Umfelds arbeitete. Er war der Beste, den man für Drogengeld kaufen konnte, was bedeutet, er war der Beste überhaupt.
Frank Spains verzerrte Rachepläne führten ihn letztendlich wieder zurück nach St. Louis und zum dunklen Herzen von Salvatore Dagatina, dem nominellen Don der Familie von St. Louis, und zu dem Mann, der diesen Alptraum losgetreten hatte: sein verräterischer Mentor Gaetano Ciprioni. Ein wahnsinniger Vater, der sich danach verzehrt, Rache an der Mafia zu nehmen, wäre eines gewesen. Aber dies ist SPAIN, der Killer. Und mit seiner implodierten Persönlichkeit betrachtet er den grässlichen Tod seiner Tochter nicht mehr als Tat von Individuen, sondern als Kollektivschuld von vielen. Er hat sich ein Blutbad der Vergeltung an allen auf die Fahnen geschrieben, die er als direkte Mittäter ansieht. Es wäre schlimm genug, ihn persönlich anzugreifen, Seine Reaktion auf einen bedrohlichen Stimulus wäre vorhersehbar schrecklich, blitzschnell und verheerend. Aber dies geht weit über Beschützerinstinkte hinaus. Sie haben direkt in ihrer Mitte eine tödliche Bombe erschaffen und den Zeitzünder aufgezogen. Mal sehen, wie ihnen die rote Blutspur von Folter und Tod gefällt, wenn ihre eigenen Arsche davon betroffen sind. Spain ist total übergeschnappt und beginnt seinen Amoklauf der Rache. Beim Fahren verdaut Spain eine ärgerliche Nachricht. Der kleine Pisser Roger Nunnaly war bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Jammerschade, dachte er. Was für ein Pech 78 hm? Aber es hatte keinen Sinn, dem verschütteten Blut nachzuweinen. Als Denksportaufgabe versucht er, die Dutzende von Namen in alphabetische Reihenfolge zu bringen, während er auf dem Weg zu den Freunds ist: Alba. Annelo. Belmonte. Nein, der gehört unter L, wie La Bellamonde. Casagrande. Ciprioni. Oh, ja. Dann der junge Mr. Dawkins. Scheiße. Dagatina zweimal. Dann erst Dawkins, dann DeVintro. Dudzik. Egglestone. Freunds. Hm-hmm. Die Freunds zweimal. Den Pisser Dawkins spürt er dank Troxells detailliertem Bericht mühelos auf. Der Pisser hält sich in einer Spiel- und Billardhalle auf; Spain wartet. Er folgt ihm. Als der Junge parkt, stürzt sich Spain auf ihn - und er ist recht geschickt im Umgang mit dem Totschläger. Er hat einen bleibeschwerten Stock bei sich, mit dem er töten kann, den er jetzt aber mit chirurgischer Präzision einsetzt. Ein blitzschneller Hinterhalt. Der junge Dawkins klappt in der Gasse zusammen, und Spain hat binnen Sekunden den Kofferraum geöffnet und den Jungen wie einen Kartoffelsack hineingeworfen, da ihm der Adrenalinstoß und sein wahnsinniger, rachsüchtiger Hass die übermenschliche Kraft verleihen, die er braucht, damit er die Aufgabe mühelos erledigen kann. »Ooooooohhh«, sagt der junge Dawkins und blinzelt, als Spain ihn aus dem engen, stickigen Kofferraum zerrt. Er hat jegliches Zeitgefühl verloren. Eben noch stieg er gerade aus seiner Karre aus, und dann wumm - gehen die Lichter aus und er spürt explosionsartigen Schmerz. Und als er erwachte, konnte er nicht atmen und es war heiß und er zu keiner Bewegung fähig. »Hallo, Greg.« 78 »Mr. Spain.« Seine Hände sind auf den Rücken gefesselt, er spürt nichts in den Armen. Keine Schmerzen. Gar nichts.
»Holperige Fahrt?« Er kann nicht erkennen, wo sie sind. »Hören Sie. Es war nicht meine Schuld, dass Tiff weggelaufen ist. Machen Sie MIR keine Vorwürfe für -« Spain verpasst ihm eigentlich recht sanft eine mit dem Handrücken. »Sei still, Greg. Komm mir nicht mit dieser aalglatten Scheiße daher. Dafür ist es zu spät. Kapiert?« Tiffs Vater spricht gelassen, aber Greg sieht den eiskalten Hass in seinem Gesicht. »Bitte, Mr. Spain. Bitte tun Sie mir nicht weh. Ich wollte nicht -AAAAAAAHHH! AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAH-HHHHHHHH OOOOOOOOOHHHHHHH HERRGOTT NIIIIIIIimiCHT!« Himmel, denkt Greg, dieser verrückte Wichser schlitzt mich auf. Eigentlich tut es gar nicht so sehr weh. Aber er bekommt richtig Angst, als er sieht, wie ihr Dad plötzlich eine Art kleines Küchenmesser in die Hand nimmt und ihm einen Schnitt quer über die Brust zufügt. »AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAHHHHH-HHHHH!« schreit er wieder, als Spain einen weiteren schnellen Schnitt an Gregs Brust hinab durchführt und dabei sehr präzise und exakt durch Hemd, Stoff und Haut gleitet. Danach folgt ein dritter langer Schnitt. Als rote Linien durch den Stoff bluten, reißt Spain dem Jungen das Hemd vom Leib. Erst da stellt Greg fest, dass seine Füße ebenfalls zusammengebunden sind, da er vergeblich zu laufen versucht und dabei unter weiteren qualvollen Schmerzen vornüber kippt. »So tief sind die Schnitte auch wieder nicht, Greg. Bitte. Entspann dich«, ermahnt ihn der Mann beschwichtigend, während er ihn auf den Rücken dreht. »Weißt du, ich hab dir gerade ein schönes, auf dem Kopf stehendes U in die Brust geritzt. Wie geht der alte Witz über einen Jungen, der mit einer Cheerleaderin aus Michigan geht und ein W auf der Brust hat? Oder war es ein Mädchen, das sich mit einem Typen verabredet und ihre 79 Zimmergenossin sieht ein W auf ihrer Brust, den Abdruck des Buchstabens auf seinem Pullover, und dann kommt ein dummer Spruch von wegen: Ist er aus Wisconsin? Und sie sagt: Nein -Michigan. So irgendwie - ich hab vergessen, wie der Witz genau geht. Also dein Mädchen könnte demnach aus Utah sein oder so, hm?« Und das Messer wurde mit einigen schnitzenden Bewegungen ins obere Ende des inversen U gebohrt, und da schrie der junge Dawkins so laut er konnte. Er erwachte mit unerträglich intensiven Schmerzen, doch die Angst vor Spain war so schlimm wie die körperlichen Qualen. Und als er wieder einigermaßen bei sich war, sah er in die Augen von Tiffs Vater, der sagte: »Greg. Bitte. Werd nicht einfach so ohnmächtig. Du musst allmählich lernen, ein MANN zu sein. Denn wenn nicht, du kleiner Scheißer, wie sollte ich dich da sachgemäß HÄUTEN?« Und der heiße, beißende Stahl schnitt weiter. Er ließ sich viel Zeit mit dem jungen Dawkins. Und als der Junge tot war, begrub Spain ihn in dem abgelegenen Grab, das er vorbereitet hatte, stieg in sein Auto ein und fuhr weg. Er fuhr so lange, wie er die Augen offen halten konnte. Ihm fiel auf, dass er nichts empfunden hatte, als er dem kleinen Pisser Schmerzen zufügte. Die Tat hatte ihm keine Freude bereitet. Er wollte die Familie. Denen wollte er es heimzahlen. An nichts anderes konnte er denken, während er durch die lange Nacht fuhr, und die Vorfreude auf seine süße Rache zauberte ihm ein beängstigendes Lächeln ins Gesicht.
Geschwindigkeit, Hass, Adrenalin und Wahnsinn heizten ihn auf bis zum Siedepunkt, als er mit maximalem Schub zu den Freunds kam. Für ihn waren sie so ein jämmerlicher Abschaum, dass er sich nicht einmal um ein professionelles Vorgehen bemühte. Kein spezieller, gründlich ausgearbeiteter Plan, wie er vorgehen könnte. Kein ausgiebiges Observieren vorab. Sie waren NICHTS. Übelriechende Scheiße. 80 Als er in einer Gasse hinter dem Gebäude der Telefongesellschaft McAllen an einer Mülltonne vorbeifuhr, hielt er fast spontan an, zog ein paar Papiere aus einer Kiste in der Tonne, Rundschreiben und Kopien und so ein Mist, steckte sie in ein billiges Klemmbrett und fuhr zum Haus der Freunds. Es ist erstaunlich, was man alles abziehen kann, wenn man nichts weiter als einen gelangweilten, geschäftsmäßigen Tonfall anschlägt und ein Klemmbrett dabei hat. Jemand, der vor deiner Eingangstür steht und etwas auf einem Klemmbrett schreibt, hat sofort etwas Beängstigendes und Einschüchterndes. Was mag los sein? Nichts Gutes. Im günstigsten Fall ein Volkszähler, und Gott allein weiß, was Onkel Sam heutzutage mit den gesammelten Daten alles anfängt. Als Bobbie die Tür aufmachte, vergewisserte er sich, dass er die Richtige vor sich hatte, indem er einfach nur fragte: »Mrs. Freund?« In Spains Verfassung hätte sie vermutlich antworten können, dass sie Samantha die Babysitterin war und er hätte ihr einfach aus Prinzip eine reingehauen, aber die Frau sagte: »Ja?« »National Express-Zustellung. Sie müssen bitte hier unterschreiben, Ma'am«, und er hielt ihr das offiziell aussehende Klemmbrett unter die Nase und ließ sie mit einem Stift, den er schon parat hatte, etwas nur für sie Bestimmtes unterschreiben. »Hier unterschreiben?« »Genau, da, wo das Kreuzchen ist«, mit einem vagen Fingerzeig. Das reicht aus, dass sie den Kopf senkt, und sie ist mitten in dem Satz »Ich bin nicht -« als sie spürt, wie etwas ihr die Koordination raubt. Was ist das - sie stützt sich mit einem Arm an der Tür ab und versucht zu erkennen, wo sie ihren Namen hinschreiben muss - wo ist das verdammte Kreuzchen? Da verpasst er ihr einen schön Saftigen mit dem Totschläger und drängt mit ihr ins Innere, spricht mit ihr, während sie zu Boden geht, führt eine scheinbar ganz gewöhnliche Unterhaltung, um das Plump 80 sen ihres Aufschlags zu übertönen, und das alles binnen eines Sekundenbruchteils. Jetzt handelt er professionell und bedacht, befindet er sich doch in einer kritischen Phase seines Auftritts; er geht weiter durch das Haus und hofft, dass er Charlie allein antrifft. Und hofft, dass er niemand anderen töten muss. Keine Nachbarn von nebenan oder Fremde, die zufällig vorbeikommen. Denn alle, die er sieht, müssen dran glauben. Erwachsene. Kinder. Hunde. Katzen, Wellensittiche. Hamster. Kakerlaken. Jedes Scheißlebewesen, das sich bewegt oder atmet, muss sterben. Er plapperte immer noch, wohin er das Paket bringen sollte und er es gern für sie ins Haus trug, weil es so schwer war und ihn freute, dass er behilflich sein konnte, und den ganzen Blödsinn, während er durch die Zimmer hastete, bis er einen großen, schlaksigen Kerl sah, der gerade von einem Sofa aufstand, wo ein Fernseher plärrte; da machte Spain sich nicht einmal die Mühe, eine richtige Waffe zu verwenden, er warf einfach den
Totschläger, als der Mann die Arme hob und »Heeeeeeee« sagte, und dann trat Spain ihm so richtig mit Schmackes in die Eier und ließ Charles Freund unvermittelt in eine Welt richtiger Schmerzen eintauchen. »AAAAAAaaaaaaaaaaaaaaaaaa«, stöhnte der Mann. »Hm?« sagte Spain und hielt ihn fest. »Oooooooouuuuuu«, gab Charlie wie auf ein Stichwort hin von sich. »Du stehst doch so sehr auf Schmerzen«, murmelte Spain, während er Charlie über den Teppichboden schleifte, »was soll das Gejammere?« »Ohhhhhhhh, aaaaaaaaaaaaaaaaahhhhh«, und da riss Spain ihm die Hände weg und trat noch mal zu. Ein richtiger, wohlgezielter Hundert-Kilopond-pro-Quadratzentimeter-Tritt in des Mannes bestes Stück, und Freund brüllte aus vollem Halse: »AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAHHHHHHHHHHHHHHHHHHHH!« und es war Musik für Spains Ohren, als er an Tiff dachte. 81 Er fragte sich, wie lang Bobbie im Reich der Träume bleiben würde und ob sich noch jemand in dem Haus aufhalten mochte, und das alles dachte er ganz automatisch, während er den stöhnenden Charles Freund an einem Bein weiterzerrte. Der Kerl stöhnte und jammerte, als würde er es ernst meinen. »Wie fühlen wir uns, Paps? Gefällt es dir?« »UUUUUUUUUUUUUUUUHHHHHHHHHHH, OOOOOOOOUUUUUUUUUUTSCH!« »Im Ernst? Das kann ich kaum glauben«, sagte Spain im Plauderton, »wo du Schmerzen doch so gern hast. Ich meine«, fuhr er fort, während er Charlie Freund zu einem Stuhl mit gerader Lehne schleifte, »wollen mal sehen, ob wir dir zu richtig schönen verhelfen können. Was meinst du dazu, Arschgesicht?« Den ganzen Karatescheiß kannst du vergessen. Wenn ein Kerl in dein Wohnzimmer stürmt, wo du gerade ganz entspannt rumliegst und in die Glotze siehst, einen mit Blei beschwerten Totschläger nach deiner Birne wirft und dir, wenn du die Arme hebst, um den geworfenen Gegenstand abzuwehren, treffsicher wie ein Schützenkönig in die Eier tritt, dann kannst du dem ganzen Kung-Fu-Quatsch einen Abschiedskuss geben, adiós. Du bist im großen, grünen Schmerzspind eingeschlossen. Ende der Geschichte. Und tschüs. Freund weinte und pisste und stöhnte, während seine Eier zur Größe von Grapefruits anschwollen, und Spain fesselte ihn schön fest, dann ging er Bobbie verkabeln, die wesentlich härtere Nuss von beiden, wie er ganz zurecht vermutete, kam wieder und machte sich ernsthaft über Charlie her. Charlie Freund verriet Morales, Jon Belmonte und spuckte darüber hinaus neun weitere Namen aus, während er darauf wartete, dass er endlich starb. Einige Namen waren neu; Spains Liste wuchs weiter an. Charlie und Bobbie waren froh, dass sie ihm etwas Neues erzählen konnten. In den letzten Minuten ihres Lebens schrien, sabberten, flehten sie ihm ausführliche, umfangreiche Beschreibungen entgegen. 81
Sie beschworen, winselten, beteten und heulten ihn an, dass er bitte, bitte aufhören sollte, wir sagen Ihnen alles, was Sie wissen wollen, nur tun Sie uns bitte nicht mehr weh, bitte niiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiicht. Für Leute, die so sehr auf Schmerzen standen wie sie, konnten sie erstaunlich wenig ertragen. Am Ende hätten sie liebend gern noch vierzig oder fünfzig Namen für ihn gehabt. Gute Geschichten, die sie ihm erzählen konnten. Alles hätten sie getan, um die Zeitspanne zu verlängern, die ihnen noch blieb, um die Qualen und Schmerzen aufzuschieben, die sie ganz bestimmt in allzu naher Zukunft erwarteten. Sie gaben ihm Sparbücher, Haschtüten, Koksvorräte, geheime Geldkassetten, ausgehöhlte Bücher, Tresore, Kontonummern, Einmachgläser, Filmnegative, Adresslisten, und als sie nichts mehr hatten, dachten sie sich etwas aus, wie die Leute das immer machen. Sie hätten ihm Lucky Luciano, Willie Sutton und die Wiener Sängerknaben präsentiert, wenn Spain ihnen nur weiter zugehört hätte. Geschwätzige, blumige Beschreibungen. Adressen. Bevorzugte Aufenthaltsorte, Hobbys, Gewohnheiten. Muttermale und Narben. Herrgott ohneiiiiiiiiiin bittenicht ALLES. Wir sagen Ihnen, was Sie hören wollen. Alles Wichtige hatte er gut verschnürt unter Dach und Fach, als Bobbie zum letzten Mal unterging. Charlie war zäher als er aussah. Er wirkte wie eine Schwuchtel, fand Spain. Aber natürlich ist die Schmerzgrenze eines Menschen eine festes Merkmal, wie die Blutgruppe. Man kann nicht aus seiner Haut, wenn einem vor Schmerzen schwarz vor Augen wird. Alles in allem hielt Charlie wacker durch. Spain hatte ihm schon die halbe Brust gehäutet, als er endgültig umkippte und nicht mehr zu sich kam. Es tat Spain richtig leid, als es vorbei war. Er hatte Zeit genug, aber sie spielten einfach nicht lange genug mit. Und dabei hatte er Bobbie das Brandeisen noch nicht einmal von Innen aufgedrückt. 82 Richtig Spaß machte es ihm freilich nicht, sie zu foltern. Irgendwie ermüdete es ihn. Doch als er später durch die Wohnung ging und die Stellen sah, wo sie Tiff Leid zugefügt hatten, da kehrte seine Wut zurück, und er nahm sich ein scharfes Küchenmesser, machte sich erneut über die Freunds her, und diesmal erledigte er den Jot-oh-be gründlich. Es tut gut, wenn man aufgestaute negative Energie wenigstens teilweise abreagieren kann, dachte er. Schließlich sah er auf den Überbleibsel der Freundschen Kadaver hinab. »Haben wir jetzt unseren Spaß gehabt?« fragte er und lachte über seine eigenen Worte. Seine langjährigen Kollegen von der Mordkommission, Detective Sergeant James Lee, der »Chink« des legendären Polizistenduos Chink und Chunk, erklärte gerade die Feinheiten der Lüsterner-Lüde-Stellung, als die laute Stimme seines Partners, des dicken Dana Tuny die Treppe herunterschallte und »Chunk« in die Eingeweide der Büros des Polizeireviers Buckhead hinabstieg. Er sang einen zotigen, schmutzigen Text zu einer bekannten Melodie. »Ohohohoh, Susanna, du bist mein Sonnenschein. Ja, wenn ich nach Alabama komm, dann wirst du endlich mein -« ertönte lautstark als »Ohohohoh, Susanna, ich bin ein altes Schwein, und wenn ich nach Alabama komm, ich steck ihn dir gleich rein«. »Himmel hilf«, sagte Lee zu Eichord, »stinkt wie ein Taco-Furz und sieht aus wie ein Hefekloß. Watz mag datz sein?«
»Guten Morgen die Damen«, sagte Chunk. »Hörr-gott, hier unten stinkt's vielleicht immer. Nach Eau de Toilettenwasser und Fromage-Füßen.« »Guten Morgen, Mr. Frohnatur«, sagte sein leidgeprüfter Partner. »Morgen«, begrüßte Eichord ihn. »Honcho schon da?« »Weiß ich doch nicht. Seh ich etwa wie meines Bruders Hüter aus?« »Du siehst wie ein Pottwal mit doppeltem Leistenbruch aus, aber ich weiß immer noch nicht, ob der Honcho schon da ist.« 83 »Du siehst aus wie fünf Typen in denselben Klamotten«, setzte Lee noch einen drauf. »Ich hab sein engelsgleiches Antlitz noch nicht gesehen, Süßer«, sagte Tuny zu Eichord, dann wandte er sich an seinen spindeldürren Partner: »Und du siehst aus wie ein Spargel im Rübenfeld, mein kleines Schweineringelschwänzchen.« Das Telefon auf Lees Schreibtisch klingelte. »Polizeirevier Hill Street, Lieutenant Hunter«, sagte er, dann nahm er den Hörer ab und sagte: »Mordkommission ... Okay.« Er gab Eichord ein Zeichen, dass er den Hörer nehmen sollte. Heute spielten sie Fernsehpolizisten aus Polizeirevier Hill Street. Daran trug Eichord eine Teilschuld. Seit er ihnen von den Jungs in Chicago erzählt hatte, die an einem Tag Cisco und Pancho waren, und am nächsten Hawaii 5-0, zogen sie ihre eigene Version der Serie Durchgeknallte Polizisten ab. Jeden Tag »spielten« Chink und Chunk jemanden. Wie kleine Jungs. Wenn man sie nicht mochte, konnte einen das die glatten Wände hochtreiben. An einem Tag gab der dicke Dana den Kingfish mit seinem Partner Andy aus Arnos 'n Andy. »Also, ähem, abba dabba, lucki-lucki, Bruder Andy, also das sind dünne Beweise und schwerwiegende Vorwürfe«, und der andere entgegnete wie auf ein Stichwort hin: »Isch bin dünn, isch beweise, und du ziemlich schwergewichtig.« Ein Zeitvertreib eben. Fernsehserien, Rundfunksendungen, Filme - sie waren ein Team und buchstäblich schon so lange zusammen, dass jeder wusste, was der andere dachte. Alles in allem ergab das solala Comedy-Einlagen und manchmal auch ganz passable Polizeiarbeit. Eichord mochte sie. Besonders Jimmy Lee, mit dem er befreundet war, seit er für die Polizei arbeitete. Er hörte ihrem Geplänkel zu und gleichzeitig der Frau, die ihm was von Karten ins rechte Ohr schwallte. Einer sagte gerade zu anderen: »Die lässt dich nur mit dem Kopf zwischen ihre Beine, weil dein Gesicht wie ein Badeschwamm aussieht.« Sie waren schon so viele Jahre zusammen. Länger als die meisten Ehen dauern. 83 »... sieht bei uns hier leider ganz anders aus ...« Er hörte wieder mit halbem Ohr auf die nörgelnde Frauenstimme in seinem Ohr. Die Angestellte einer Kreditkartenfirma laberte ihn mit etwas über einen Mordfall im Zusammenhang mit einem Junkie voll. Er sah auf die Uhr an der Wand. Genau in der Mitte des Zifferblatts stand in winzigen Druckbuchstaben die Botschaft »Eile mit Weile«. Er konnte die Frau abwimmeln, da stürzten sich alle sofort auf ihn. »He, der Captain ist jetzt da«, sagte der dicke Dana, kaum dass Eichord aufgelegt hatte. »Hm-hmm.« Er wartete. »Der Captain? Hat jemand nach dem Captain gefragt?« erkundigte sich Lee ganz aufgeregt. »Captain Furillo?« »Tschuldigung«, sagte Tuny. »Furillo fällt heute wegen Aids aus, Mick. Ich hab das Kommando.«
»Sie, Lieutenant Putz?« »Es heißt Buntz! Du spatzenhirniger kleiner Dünnbrettbohrer.« Er rückte die Krawatte zurecht wie die Jungs im Fernsehen. »Grrrrrrrrrrrrrrrr«, fauchte Lee bedrohlich. »Reiß dich zusammen, Rinty.« »Pass bloß auf, Mundgeruchmonster.« »He. So redet keiner im Beisein von Missssssssss Davenport hier.« »Guten Morgen, Detectives«, flötete Lee in seinem besten Falsett. »Fas heißt guten Morgen Detective Lotternant, flachbrüstiger Trampel. Dein schwanzloser Mann ist nicht da, dich in Schutz zu nehmen.« »Hören Sie, Pickelfresse oder Generalinspektor Zitz oder wie Sie auch heißen mögen«, keifte Lee, »wenn mein Gatte Furillo zurückkommt, reißt er Ihnen wegen dieser Grobheit den Arsch auf.« »Ach ja? Und ich reiß Ihnen gleich was anderes auf, Misssssss Lotterbett, und jetzt schaffen Sie Ihren knochigen Arsch hier raus.« 84 »Guter Vorschlag«, meinte Eichord und stand mit einem hörbaren Seufzen auf. »Oh, gehen Sie nicht im Zorn weg«, kreischte Lee immer noch im Falsett. »Zwei Minuten nach neun, und schon hab ich euch Irre satt. Mit der Scheiße könnt ihr einem richtig den Nerv töten.« »Weißt du, Jack«, sagte Tuny, »ich wollte es eigentlich nicht sagen, aber du hast ein Recht darauf, es zu erfahren.« »Mmmm?« sagte Eichord, der sich mit fragender Miene unter der Tür umdrehte. »Ja. Wir wollten es eigentlich gar nicht erwähnen. Einige der Jungs meinen, dass du ein latenter Heterosexueller bist.« »So ist es«, antwortete er und wandte sich wieder ab. »Ich denke, jetzt kann ich die Heimlichkeiten sein lassen und es jedem unter die Nase reiben.« Er ging nach oben. »Wir sind dir erst auf die Schliche gekommen, weil du es jedem unter der Nase gerieben hast«, rief Tuny ihm nach. Das hübsche Mädchen in der Telefonzentrale im Erdgeschoss sah zu ihm auf, als er mit dem Mund ein »Hi« formte, und hauchte ihm stumm einen Kuss zu, während sie in ein Head-Set sprach. Er zeigte mit dem Daumen in die ungefähre Richtung ihres furchtlosen Anführers, worauf sie nickte. Er winkte ihr zum Abschied. Er klopfte an die offene Tür, als er eintrat. »Morgen, Captain«, sagte er zu dem feisten Mann mit dem roten Gesicht hinter dem Schreibtisch, der ihn angrunzte, ohne aufzuschauen, und sagte: »DU siehst heute Morgen aus wie ein Scheiß am Stiel.« Eichord überlegte sich eine oder zwei passende Erwiderungen, während er das straff gespannte Hemd des Mannes betrachtete, dessen Knöpfe abzuplatzen drohten, doch dann lächelte er. »Ich brauch Urlaub«, sagte er. »Du hast gerade Urlaub gehabt.« »Dieses Gruppenwichsen in Kalifornien nennst du Urlaub? Ich nenne es eine Strafe.« 84 »Tja, ihr unbesiegbaren Gesetzeshüter habt es eben nicht leicht.« »Gönn mir eine Pause, Cap.« »Du willst eine Pause? Du brauchst noch mal Urlaub? Kannst du haben.« Er schon einen Umschlag der Task Force über den Tisch. »Sofort.«
Eichord öffnete ihn umständlich und plauderte kurz über die Abberufung nach St. Louis, die er selbst beantragt hatte. Er wollte hin und herausfinden, ob es einen Zusammenhang zwischen NICHTS BÖSES SEHEN und den jüngsten Mafia-Morden in St. Louis gab. Ein anderer MO als bei den AUGAPFEL-Morden in L. A., aber der phantomgleiche Mr. Streicher war ihm ein Dorn im Auge. Er verabschiedete sich so schnell er konnte vom Captain. In der ganzen Zeit im Büro hatte ihn der Captain nicht einmal angesehen. Sie hielten nicht besonders viel voneinander. Eichord respektierte den Mann nicht sonderlich und vermutete, dass man ihm das anmerkte. Und der Honcho machte kein Hehl daraus, was er von Eichord hielt. Jack war ein Trunkenbold und eine Primadonna, die man schon vor Jahren aus der Truppe gekickt hätte, wenn die McTuff-Leute nicht eingegriffen und seine rüpelhaften Freunde Lee und Tuny, die so oft die Brücken wieder aufbauten, die er selbst einriss, sich nicht vor ihn gestellt hätten. Eichord störte das Missverhältnis nicht weiter. Er dachte sich, dass er an der Stelle des Captain vermutlich ebenso empfunden hätte. Jeder wusste, dass der Captain lediglich im rein nominellen Sinne Jacks Vorgesetzter war. Jack war nur einem Herrn verpflichtet: der Major Crimes Task Force. Jack Eichord zumindest wusste aber, dass er kein unbesiegbarer Gesetzeshüter war. Er war nur ein schwitzendes Arbeitstier des Fußvolks, das Akten jonglierte. Einer von vielen Bullen mit Alkoholproblemen, dessen Arsch jeden Tag breiter wurde und der ein graues Haar für jede Stadt hatte, in der er schon im Einsatz gewesen war. Einer, dessen Wert als Polizist irgendwo zwischen 85 den Extremen »Graue Eminenz unter den Serienkiller-Experten« (Criminology Magazine) und »Scheiß am Stiel« lag. Als er nach dem Einsatz in Florida mit Aufräumen fertig war, brach Frank Spain Richtung Texas auf und überquerte nach tagelanger Fahrt die Grenze von Me-chi-ko, wo er an einer Reklametafel vorbeikam, die für eine Fernsehsendung oder ein Erfrischungsgetränk oder irgendwas warb, das VIVIR UN POCO hieß. Da lächelte er zum ersten Mal seit langer Zeit wieder und murmelte »Aber so was von«, als er es sah. Er hatte die ganze langweilige Fahrt durch eintöniges Gelände Zeit gehabt, zu planen. Alle Namen und Leute zu rekapitulieren und sich im Geist ein Bild von allen zu machen. Er kannte die Organisation besser als die Meisten. Ciprioni, sein Mentor, hatte dafür gesorgt. Als Spain noch ein Knabe war und Botengänge für den Mob erledigte, ein Jungspund, den sie als einen betrachteten, den es heranzuziehen galt, hatte Ciprioni sein Schicksal an Aufstieg und Fall der Familie Dago gekettet. »Du musst dir keine Sorgen machen. Ich schaff es an die Spitze. Der Mann steht einmal ganz oben. Doch diese Leute« - womit er die andere Familie in St. Louis meinte, die auf der Leiter eine Stufe unter dem großen Mob in Chicago stand, von Kansas City ganz zu schweigen - »die zerfallen, wenn der Alte einmal nicht mehr ist.« Der Mann, von dem er stets voll ehrfürchtiger Bewunderung sprach, war nicht nur sein patriarchalischer Pate, sondern aller spiritueller Anführer. Mehr als der Boss der Bosse. Er war die Kraft, die alles zusammenhielt. So weit von der Familie Dagatina entfernt wie Amerika von der alten Welt. Ohne Tony Gee wäre Sally Dago nur ein unbedeutender Kleinganove, der versuchte, ein verfallendes Imperium zusammenzuhalten.
Soviel war im Lauf der Jahre geschehen. Sally stolperte letztendlich über eine Schutzgeld/Erpressungs-Sache und saß immer noch hinter Gittern. Aber Spain würde schon etwas einfallen, 86 wie er auch ihn erledigen konnte. Genau wie diesen verdammten Ciprioni. Niemand war unverwundbar - das hatte die Geschichte immer wieder bewiesen. Sally Dagos Leute waren ein bunter Haufen, Italiener, Sizilianer und überwiegend Syrier. Die beiden wichtigsten Fraktionen konnte man gegeneinander ausspielen. Unterwegs arbeitete Spain seinen Plan aus. Zuerst mussten die kleinen Fische dran glauben. Er würde einen auf jeder Seite wegpusten - alles wohlüberlegt - die Leute mussten strategisch 50 platziert werden, dass es aussah, als hätten die »auf der anderen Straßenseite« etwas vor. Wenn er es richtig machte, sorgfältig arbeitete und seine Emotionen im Zaum hielt, dann konnte er einen Bandenkrieg vom Zaun brechen. Er machte Rast, suchte ein Telefon und rief jemanden an, dessen Name in einem Anhang zum Hauptdossier aufgetaucht war. »Hallo.« »Ja?« »Ich rufe von L. A. an, kannst du mich gut verstehen?« »Ja. Wer ist dran?« »Ich bin der Freund eines gemeinsamen Freundes. Er hat mir gesagt, du kannst mich 'nem Typen vorstellen, der keine Fragen stellt, wenn es um Bilder von hübschen Mädchen geht... Weißt du, was ich meine?« »Nee, ich weiß nicht, was du meinst.« »Schon gut. Hör zu. Er meinte, ich soll Juans Namen erwähnen, und wenn du den Kontakt zu diesem Morales oder 'nem anderen herstellst, springt für dich auch was raus, comprende?« »Oh.« Man hörte der Stimme regelrecht an, wie der Mann das Interesse verlor. »Du sprichst von Morales. Welcher Morales?« »Paco, Mann. Wen meinst du denn? He, wie kann ich ihn finden?« »Bin nicht sicher. Wer war noch mal am Apparat?« »Der Freund eines Freundes von Juan - eines guten Freundes, 86 klar? Er hat gesagt, du bist in Ordnung, Mann, also was soll das Getue? Wohnt Paco immer noch in der Wohnwagensiedlung?« »Ja. Aber die Nummer hab ich nicht.« »Hm, wie, äh, wo kann ich ihm 'ne Nachricht zukommen lassen? Die Scheiße lohnt sich für ihn, Mann.« »Scheiße, weiß nicht. Du kannst es im Bacardi versuchen.« »Hm?« »Ja. Im Bacardi kannste ne Nachricht für ihn lassen. Da hängt er manchmal rum.« Pause. »Scheiße - keine Ahnung, Mann. So oft seh ich den nicht.« »Was ist das Bacardi?« »Eine BAR, Baby. Die Bar heißt Bacardi, okay?« »He, gracias. Wenn du ihn siehst, sag ihm, dass Bob Long angerufen hat. Okay?« »Klar. De nada.« Es klickte in der Leitung, Spain hörte sich leise ein wenig um. Er brauchte an die fünf Minuten, dann hatte er die Bacardi Bar gefunden, eine Cantina ohne Namen, die ihren hiesigen Spitznamen von dem großen Neonschild B A C A R D I auf dem Dach hatte. Er sah den Wohnwagenpark auf der anderen Straßenseite, schob die Tür des Transporters, den er jenseits der Grenze in Tex-ii-koo gestohlen hatte, einen Spalt auf
und wartete ein paar Minuten. Viel los war nicht auf der Straße. Als er ausgestiegen war, sah er sich um, las die Namen auf einigen Briefkästen, entdeckte den von Morales, ging zu dem Wohnwagen und klopfte. Dabei drehte er zaghaft den Türknauf. Schon vor vielen Jahren hatte er zu seiner großen Überraschung gelernt, dass die Hälfte der Türen, vor denen man steht, gar nicht abgeschlossen sind. Die hier nicht, aber sie gab leicht nach. Er würde nicht einmal eine Kreditkarte brauchen. Er drehte sich um und tat so, als ginge er wieder zum Transporter zurück; da niemand auftauchte, blieb er stehen, schlug sich an die Stirn, eine Ich-hab-was-vergessen-Pantomime, und kehrte zu dem Wohnwagen zurück. Es war ein gewöhnlicher, wenn auch recht langer gebrauch 87 ter Wagen. Spain schätzte ihn auf an die dreieinhalb mal zehn Meter. Möglicherweise schlief Morales hinten im Schlafzimmer. Er schob ein kleines Stück Metall in den Spalt, worauf die Tür mit einem lauten Plop aufsprang. Keine Kette im Inneren. Spain trat hastig ein, schloss die Tür hinter sich und blinzelte im Halbdunkel. Er wartete eine Sekunde und horchte. Hörte nichts und ging in den langen rechteckigen Raum, wo seine Schritte die dünnen Bodenbleche zum Erbeben brachten. Ein Saustall. Niemand daheim. Überall lag Zeug herum. Kein Hund. Kein Vogelkäfig. Nichts. Gut. Er machte sich sofort an die Arbeit, holte ein paar kleine Werkzeuge aus der Tasche und reparierte den Türrahmen, damit die Tür nicht sofort aufschwang, wenn der Besitzer nach Hause kam und sie aufschließen wollte, und ihn vorwarnte. Mit Superkleber befestigte er einen Metallstreifen am Rahmen, der das Schnappschloss hielt, das er aufgebrochen hatte, und färbte ihn mit einem schnell trocknenden Filzstift, damit das neue Metall nicht so verdächtig glänzte. Er wartete und versuchte, so wenig wie möglich zu atmen. Anscheinend badete der Pisser nie. Was für ein Dreckloch, dachte er. Ein kleiner Wichser, der bei Jon Belmontes lokalen Produktionen die Kamera bediente. Rhapsody Video. Was für ein Name. Und durch die Leute in St. Louis mit dem Vertrieb des Kinderpornogeschäfts verbandelt. Die Freunds, Belmonte, allesamt nur kleine Pisser. Perverser Abschaum im Dunstkreis der SexIndustrie. Spain zitterte. Ekelhaft, dass sich die Familien mit solchen Freaks überhaupt abgaben. Andererseits setzten sie auch Junkies als Straßendealer ein, wo lag da der Unterschied? Die Familien würden für ihre mangelnde Achtung bezahlen. Er würde es dem Abschaum mit gleicher Münze heimzahlen. Fast zwei Stunden. Ein kleines Auto fährt vor, zwei Bohnenfresser steigen aus, unterhalten sich in ihrer verdammten Bohnenfressersprache, plaudern und lachen; Spain weicht in den hinteren Raum zurück, als sie eintreten, in einer Hand hält er den Stock in der anderen seine Waffe mit aufgeschraubtem Schall 87 dämpfer und das ganze noch in ein Tuch gewickelt. Ein Mückenschiss von einer .22er. Die Tür fällt zu. Sie wollen etwas sagen, da tritt er mit gezückter Waffe aus der dunklen Ecke. Er sagt ihnen en español, dass sie keine Bewegung machen sollen. »Umdrehen, ihr Pisser.« Er gestikuliert. »Was willstn?« »MAUL HALTEN«, zischt er. »Morales, du Wichser, hör mir gut zu. Ich brauch ein paar Informationen, dann lass ich euch in Ruhe. Du zuerst - Hände auf den Rücken.« Einer gehorcht, und das ist gut. Er gab keine cucaracha darauf, was was war, aber er musste
wissen, wer wer war. Hastig verpasste er dem anderen Mann einen leichten mit dem Totschläger. Er fesselte Morales die Hände, trat ihm von hinten in die Kniekehle und ließ ihn zu Boden gleiten. Filzte ihn halbherzig. Brachte eine Geldbörse zum Vorschein und nickte. Knebelte Morales, als er sich durch eine Karte in der Börse überzeugt hatte, dass es sich tatsächlich um Morales handelte und sie ihn nicht verarschten, beugte sich rasch nach vorn und feuerte dem Bewusstlosen eine Patrone Kaliber .22 in den Kopf, wobei er den Schuss hinter dem linken Auge ansetzte, knapp vier Zentimeter vom Ohr entfernt und nach oben gerichtet. Mit dem Schalldämpfer und dem Tuch hörte sich die .22er wie ein lauter, metallischer Furz an. »Das Handtuch haben wir versaut, was?« Er nahm den Kleiderbügel, den er schön gerade gebogen auf den Fernseher gelegt hatte, und seine Zange und wickelte den Draht fest und eng um Morales' Handgelenke. Die Augen des kleinen Pissers waren so groß wie Silberdollars. »Si, sí, señor. Du sitzt richtig tief in der Scheiße, chinga chinga. Was meinst du?« »MmmmmmmfFfffffff.« Morales zappelte. »Wie war gleich dein Name, amigo? Paco? Hör zu, Schleimbeutel, du machst gern Bilder von kleinen Kindern, hm? Du und dein Kumpel Juan«, er sprach den Namen übertrieben aus, 88 »ihr geilt euch an Kinderpornos auf. Das muss ich euch ein- für allemal austreiben.« Wie aus dem Nichts blitzte ein Rasiermesser auf, das Spain dem Mann zeigte. Dann steckte er es wieder ein, fesselte Morales die Knöchel zusammen, nahm das Rasiermesser wieder, schnitt dem Mann den Schritt der Hose auf und griff nach seiner Zange. Jetzt waren die Augen so groß wie Golfbälle. »He, ich tu deinem Piller nichts damit an«, sagte er sanft zu dem gefesselten Mann. »Das dient nur dazu, dass ich deinen jämmerlichen Abklatsch von einem Pimmel nicht selbst anfassen muss, Paco.« Mit der Zange pulte er vorsichtig den schlaffen braunen Penis des Mannes aus Hose und Unterhose. »Nein, siehst du, damit tu ich dir nicht weh.« Er klappte das Rasiermesser wieder auf. »Wehtun werde ich dir DAAAAAAAAAAAAAAAMIT«, sagte er und machte den letzten Schnitt an der letzten Szene von Morales. »Meine Tochter möchte, dass du diese Kleinigkeit als Abschiedsgeschenk bekommst, du kleiner spanischer Abschaum.« Mit einem strahlenden Grinsen steckt er dem Mann das Ding in den Mund. »Du magst doch kleine Kinder so sehr, du Wichser«, sagt er mit einem gepressten, hechelnden Flüstern, »und jetzt hast du sogar den Pimmel von 'nem kleinen Knaben.« Dann wischt er Fingerabdrücke ab und achtet penibel darauf, dass er nicht in die Blutlache tritt. Nach einem letzten Blick auf die Beiden am Boden ging er zu dem gestohlenen Transporter zurück, der am hellichten Tag am Straßenrand gegenüber der Bacardi Bar parkte. Dreist, dreister, am dreistesten. »Adi os, Taco oder Paco oder wie dein Scheißname auch immer gewesen sein mag.« Spain fuhr den Weg zurück, den er gekommen war. Jetzt ganz ruhig. Passierte abermals das VIVIR UN POCO-Schild und fuhr weiter zu Jon Belmonte. Am unteren Ende seiner langen Liste waren jetzt fünf Namen durchgestrichen: 88 Greg Dawkins Roger Nunnaly Charles Freund Bobbie Freund Paco Morales
Ein sechster Name würde jenseits der Mex-Tex-Grenze dazukommen. Der Einzige der ersten sechs, der ein klein wenig kitzlig war. Natürlich war der Pisser Nunnaly ein Geschenk Gottes gewesen. Aber er konnte nicht einfach zu La Bellamonde gehen und ihn mitten auf der Straße abknallen. Er brauchte mehr Namen und einen Einblick in den Aufbau der Firma von Blue Kriegal. Auf keinen Fall wollte er einen ungeschoren davonkommen lassen, nur weil sein nervöser Zeigefinger juckte. Wie sich herausstellte, musste er dann aber dennoch auf ihn schießen. Mel Troxells Leute hatten schmerzhaft explizit zum Ausdruck gebracht, welche Rolle Belmonte/La Bellamonde bei Folter und Tod seiner Tochter spielte. Als zusätzlichen Affront wertete er, dass sich niemand auch nur den Anschein gegeben hatte, den SnuffFilm geheimzuhalten. Als wären sie so behütet, dass ihnen keiner was konnte. Die Bullen in Mexiko stecken sowieso mit den Bohnenfresserganoven unter einer Decke, aber man hätte meinen sollen, dass Belmonte wenigstens ein klein wenig diskreter gewesen wäre. Spain wusste, er musste ein Höchstmaß an Selbstdisziplin aufbieten, damit er Belmonte nicht auf der Stelle ausknipste. Er fand ihn hinter seinem Haus, wo er mit einer Kette auf zwei kleine Tische einschlug. Die Tische standen i n seinem Hof im grellen Sonnenlicht, wo er sie bearbeitete, damit sie antik aussahen. Dem Kapitänsschreibtisch verpasste er ein rundes Dutzend Hiebe, keine festen, gerade hart genug, dass jedes Mal ein klein wenig Holz absplitterte; als er Spain durch den Hof auf sich zukommen hörte, wollte er sich gerade über eine Holztruhe hermachen. 89 Spain sah, dass Belmontes Reflexe gut waren, denn der drehte sich mit einer anmutigen Bewegung um, hielt die Kette am rechten Bein und nickte Spain zu, während Spain sagte: »Tschuldigung, Sir. Ob Sie mir wohl sagen könnten, wie ich zu dieser Adresse komme?«, während er einen zusammengelegten Zettel aus der Hemdentasche zog. Spain studierte das Papier und schüttelte wie verwirrt den Kopf. Doch er sah, wie Belmonte das Gewicht ein wenig verlagerte. Er wich im selben Maß zurück wie Spain vorwärts ging. Spain las eine frei erfundene Adresse vor und hielt den Zettel in der ausgestreckten Hand, aber J. B. ging nicht darauf ein. Er schüttelte höflich den Kopf. »Tut mir leid, Kumpel«, sagte er, »aber ich wohn selbst noch nicht lange hier«, blieb dabei misstrauisch und erfahren immer ein wenig in Bewegung und hielt die Kette zwischen sich und dem Fremden mit dem ausgestreckten Arm, von dem er sich stets eine Kettenlänge fernhielt. Spain deutete die Situation und erkannte einen Vollprofi in dem Burschen, steckte den Zettel achselzuckend wieder ein und lächelte. »Kein Problem, Mann, ich frag unten an der Tankstelle noch mal.« Damit wandte er sich ab, dann legte er den Mantel über die .25er Browning und feuerte tief. Der Schuss erzeugte ein lautes SSPPPAAAKK, bohrte ein Loch in den Mantel und traf Belmonte an der Hüfte. Der ließ die Kette fallen, während er mit einem Schmerzensschrei zu Boden ging, und Spain lief im Handumdrehen zu ihm, kickte die Kette weg, fesselte ihn hastig und zerrte ihn in die angrenzende Garage. Binnen weniger Minuten hatte er den Mann gefesselt und geknebelt und die Blutung gestillt, stieß mit dem Auto rückwärts i n die Garage und lud ihn in den Kofferraum. Er betrat das Haus durch die Hintertür und sah sich hastig und mit gezückter Waffe um,
doch es war niemand sonst da. Er stieg ins Auto ein und fuhr aus der Stadt hinaus, bis er Landstraßen fand, die keinen besonders befahrenen Eindruck machten. Als Juan La Bellamonde zu sich kam, war er mit den Händen 90 auf dem Rücken an einen Baum gefesselt. Spain, der im Gras saß, griff neben sich und nahm ein Rasiermesser und ein kleines Fläschchen mit einer trüben Flüssigkeit zur Hand. Dr. Spain zog Gummihandschuhe an, die er in einem Kramladen gekauft hatte, und machte sich an die Arbeit. Mit den gummigeschützten Fingern tupfte Spain ungemein behutsam die tränenden Augen des Mannes ab und zog langsam den Stöpsel von der Säureflasche. »Glaubst du an Auge um Auge?« fragte er den Mann rhetorisch. Die Augen des Mannes, der keine Lider mehr hatte, tränten erneut, während Urin den Schritt seiner Hose besudelte. »Du hast eine Chance. Und hör um Gottes willen auf, dich vollzupissen - du musst lernen, dich ein wenig zu beherrschen.« Er hob etwas hoch, das in ein Papiertaschentuch gewickelt war, und hielt es dem schreienden Mann vors Gesicht. »Weißt du, was das ist?« La Bellamonde wusste es, noch ehe er den blutigen Zellstoff ansah. »Das sind deine L i der , Freak«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Und das« - er zeigte ihm die rauchende Flüssigkeit - »ist deine Säure, weißt du.« Der Mann versuchte, den Knebel durchzubeißen, und musste würgen. Spain nahm ihm den Knebel einen Moment aus dem Mund. »Eine Chance«, wiederholte er, als das Würgen nachgelassen hatte. »Ich will alles über Kriegais Unternehmen wissen. Jeden Namen im Mob, der dir einfällt. Jede Adresse. Jede Möglichkeit der Kontaktaufnahme. Sag mir alles, Schritt für Schritt, was Blue mit den kleinen Jungen und Mädchen macht, von wem er sie kauft, bis zu der Marke des Rattengifts, das du dir morgens auf die Cornflakes schüttest. Den ganzen Dreck. Vergiss kein Komma dabei. TU nichtmal so, als würdest du müde. Wenn du eine Kleinigkeit auslässt, merke ich das ...« Er hielt die Säure hoch. La Bellamonde war gesprächig und hilfsbereit. Er erzählte ihm jedes kleine Dies und sämtliches Das, aber am Ende nützte es ihm natürlich nichts. Als er Spain allmählich langweilte, griff der 90 nach der Säure, öffnete den Stöpsel, hielt sie dem Mann dicht vor das Gesicht und sagte in einem lieblichen Singsang: »Ein Auge riskier ich«, während der Mann das Bewusstsein verlor. Spain war bester Laune, als er eine Woche später vorübergehend Quartier in einem Motel bezogen hatte. Er erledigte Mehreres gleichzeitig, schuf sich eine Tarnidentität, hielt nach einem sicheren Unterschlupf Ausschau, konstruierte einen Hintergrund für seine neue Persönlichkeit; das alles hatte er schon öfter gemacht, aber jetzt gab es einen kleinen Unterschied. Zum ersten Mal arbeitete er nicht gegen Bezahlung. Er arbeitete für die Rache, was ihn mit einer hämischen Wonne erfüllte. Dieser Sänger hatte Unrecht. Gut zu leben war nicht die beste Rache. RACHE war die beste Rache, die es gab, mit allem anderen machte man sich nur selbst etwas vor. Wenn ein Arbeiter sich absichern will — oder, ähnlicher Fall, wenn ein Dealer sich schützen möchte —, dann wird ein Unschuldiger benutzt. Maulwurf, nützlicher Idiot, man kennt viele Namen dafür. Typen, die man aufspüren, isolieren, von der Meute absondern, manipulieren und ohne ihr Wissen ins Rennen schicken kann. Spain gab eine
Annonce auf und nannte als Adresse ein Motel, das er ausschließlich für getürkte Vorstellungsgespräche benutzte. Er suchte eine Assistentin für ein Versandunternehmen. Vorher würde er ein billiges Büro anmieten und eine Sekretärin einstellen. Sie musste echte Schecks ausstellen, ein Postfach eröffnen, den ganzen Mist. Dann würde er sie als Strohmann für den Kontakt mit Maklern heranziehen - alles Erforderliche, bei dem er selbst nicht in Erscheinung treten wollte. Derweil arbeitete er etwas ziemlich Kompliziertes aus. Sorgfältig verfasste er ein minutiös durchdachtes Szenario, und als es genau passte, rief er den Polizisten an, der zuletzt bei ihm zu Hause gewesen war, um zu erfahren, »was sie gehört hatten«, wenn überhaupt etwas. Sie führten eine merkwürdige, lineare 91 Unterhaltung, wie ein Drehbuch angelegt, damit Spain später -falls erforderlich - immer sagen konnte, er habe die Polizei angerufen wie ein besorgter Vater, um sich zu erkundigen, ob die Polizei schon etwas Neues über die Ermordung seiner Tochter herausgefunden hatte. Im Hinblick auf Troxells Bericht würde die Schmierenkomödie nicht lange standhalten, doch er gestaltete das Gespräch hinreichend vage, dass er sich immerhin etwas darauf berufen konnte. Ein Trumpf, der sich im Fall der Fälle ausspielen ließ. Möglicherweise ausreichend, damit er sich etwas Zeit erkaufen konnte, falls erforderlich. Das Gute war, es verriet ihm, dass Mel Troxell nicht geredet hatte. Das hatte er wissen müssen. Dann setzte er den ersten Schritt seines Plans mit einem schmerzhaften Anruf bei Pat in die Tat um. Er wollte ungefähr so gern mit ihr reden wie auf eine Glasscherbe beißen, musste jedoch seine Tarnung untermauern. Und das war die billigste Möglichkeit dafür - nur ein paar Anrufe. »Pat«, hörte er sich sagen. »Hast du etwas von Tiff gehört?« Dabei wollte er der Mutter seines Kindes, der Mutter seines ermordeten Babys, alles sagen und sie fragen, ob sie jetzt zufrieden wäre. Wollte es ihr unter die Nase reiben. Wollte wissen, ob es sich gelohnt hatte, ihr kleines Mädchen für Buddys großen Schwanz zu opfern. Aber erstens musste er sich minutiös an seine Tarnung halten, und zweitens ... Scheiße, vermutlich würde es die Schlampe gar nicht so sehr treffen. Die kaltherzige Fotze. Er brachte den Anruf auf Autopilot hinter sich und bereitete sich auf den Einsatz vor. Verspürte eine große innere Aufregung. Das Wissen, dass er die Drecksäcke zu Fall bringen würde. Er würde einen Scheißkrieg vom Zaun brechen. Teil Drei: Eichord Die Tatsache, dass Eichord einen Ganoven, Ex-Knacki, oder als was für eine Unterart der Gattung krimineller Tunichtgut der nichtvorhandene Mr. Streicher sich auch immer erweisen mochte, oder auch nicht, aufgespürt hatte, hätte nicht ausgereicht, Jack wieder nach St. Louis zu locken. Das Bandenkrieg-fieber hätte ihn vielleicht nicht gepackt. Es ging um einen Zufall zuviel. Schlechte Schwingungen. Unterschwellige Ahnungen. Bei den Morden in St. Louis handelte es sich um Bombenanschläge. Schießereien. Aber kein AUGAPFEL-M.-O. Keine Ballistik oder Forensik oder andere stichhaltige Informationen, die die Attentate in Kalifornien mit den Morden in St. Louis i n Zusammenhang brachten. Die Wahllosigkeit der Morde stellte jedoch einen Faktor an und für sich dar. Die Unterlagen der Mordkommission in St. Louis erwähnten brutale und scheinbar zusammenhanglose Gemetzel. Ausschließlich Bandenkriege. Doch die Aufmerksamkeit
der Medien war erstaunlich, genau wie in L. A. Berücksichtigte man dazu noch die zufällige Begegnung mit einem definitiven Ganoven, der von der Küste nach St. Louis aufbrach, dann, fand Eichord, lohnte sich eine eingehendere Untersuchung möglicherweise. Er kam wieder auf Geheiß, wie in L. A., auf Befehl der Task Force. Aber diesmal würde er sich nicht zur Kirsche machen lassen, die man pflückte, kaute und wieder ausspuckte. Er würde sich nicht wieder von »Liaisonleuten« manipulieren lassen. Er würde heimlich, still und leise kommen. Unangemeldet. Nur der dortige Honcho durfte Bescheid wissen. Kein VIP-Blödsinn. Er würde hinfliegen und sich umsehen. Auf seine Weise ermitteln. Jack erinnerte sich freudig an das St. Louis von einst, das ihm im Gedächtnis geblieben war, weil er vor einem Vierteljahrhundert einmal zwei angenehme Jahre dort gewohnt hatte. Aber ab 92 dem Moment, als das Taxi Lambert verließ, hätte er sich auch auf dem Mars befinden können. Ebenso wenig war er auf die Special Division vorbereitet, eine kleine Einheit, die im Büro der Mordkommission des Reviers Ecke Twelfth und Clark in der Innenstadt untergebracht war, heute Twelfth und Tucker Boulevard. Er kannte sich kein bisschen mehr aus in dieser Stadt, wo in den sechziger Jahren seine Zuhause gewesen war, am Plaza Square, keine zwei Blocks vom HQ der Polizei entfernt. Die Mordkommission befand sich im vierten Stock des fünfstöckigen Gebäudes, wo Chief Adler als Polizeichef von St. Louis Stadt regierte. Dies war das Hauptquartier der Detectives, die für die neun Polizeidivisionen von St. Louis arbeiteten. Die Stadt hatte sich vollkommen verändert. Das berüchtigte alte Pruett-Igo, wo Streifenwagen mit zwei Polizisten einst fette Beute für Heckenschützen in den Hochhäusern gewesen waren, existierte nicht mehr. Aber im Norden der Stadt gab es immer noch billige Wohnsiedlungen für die überwiegend schwarze Bevölkerung. Immer noch Enklaven der Unruhen, wo das Verbrechen regierte. Es würde eine Weile dauern, bis er sich daran gewöhnt hatte, dass der Gaslight Square verschwunden war, genau wie der breite Strip. De Baliviere Strip war in den drogenseligen sechziger Jahren berühmtberüchtigt gewesen, ein heißes Pflaster der Smack-Dealer und Huren an jeder Straßenecke, die ganz unverhohlen ihre Waren feilboten. Jetzt bestand De Baliviere, der siebte Polizeidistrikt, nur noch aus teuren Eigentumswohnungen. Und der einzige Stoff wurde von Profi-Geschäftsleuten verkauft, die zweihunderttausend im Jahr machten. Er fand, dass das Büro aussah wie die ganz entspannte Redaktion einer Stadtzeitung oder einer angesehenen Yuppie-Versicherungsagentur. Die Polizisten sahen wie Lehrer oder Werbeleute für eine ultrakonservative Kanzlei aus. Nur nicht wie Polizisten. Nur die Augen und die Waffen in Schulterhalftern sprachen eine andere Sprache. 92 »Guten Morgen, Jack, schön, dass wir Sie an Bord haben«, sagte sein neuer vorübergehender Boss mit einem gepressten Lächeln beim ersten Austausch ebenso liebenswürdigen wie nichtssagenden Geplauders. Der Bezirksbefehlshaber, unter dem Eichord nominell arbeitete, hielt sich gerade nicht in der Stadt auf, weil er einen vom FBI veranstalteten und von der Universität von Virginia finanzierten Fortbildungskurs besuchte; sein Stellvertreter war Lieutenant Victor Springer, der Eichord distanziert und einstudiert höflich vorkam, als wäre die Begrüßung
von Eichord Punkt 361 auf einer Liste mit 362 Punkten, die er heute erledigen musste, was vermutlich auch zutraf. »Treten Sie ein. Haben Sie sich schon eingerichtet?« »Nein«, sagte Eichord. »Ich bin gerade erst angekommen.« Es folgte das Ritual des Kaffeeeinschenkens. Die üblichen Höflichkeitsfloskeln. Die obligatorischen Bemerkungen über Eichords beruflichen Werdegang und seinen Ruhm nach dem Fall in Chicago. Fragen nach seiner Unterbringung, grundsätzliche Details seiner Bezahlung, wo er sitzen würde, sein vorübergehender Platz i m großen Plan. Dann kam Springer endlich zur Sache. »Wie Sie sicher wissen, haben wir es hier mit den Anfängen eines regelrechten Bandenkriegs zu tun.« »Ja.« »Diese Mafia-Morde waren bis vor Kurzem noch allein auf die rivalisierenden Familien beschränkt. Ganoven, die andere Ganoven erledigt haben. Dachten wir. Aber dann kam es zu der Schießerei von Laclede Landing.« Springer schob eine Zeitung über den Schreibtisch. »Die hab ich aufgehoben.« ZWEI VERLETZTE BEI MAFIASCHIESSEREI IN ST. LOUIS, lautete die Schlagzeile. Mit einem Foto des Tatorts auf Seite eins. »Bürgermeister Carrol Donovan sagte zu Polizeichef Powell: >Sagen Sie Ihrer Truppe, dass sie diesem Morden endlich ein Ende bereiten soll, andernfalls werden es ihre Nachfolger über 93 nehmen. Diese Stadt wird die Atmosphäre der Gewalt nicht mehr dulden<«, las Eichord laut vor. »Sie wissen ja, wie das ist, Jack. Man hat Bandenmorde.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Die meiste Zeit kann man wenig dagegen machen. Verdammt. Wenn es in der Familie bleibt, dann legt man eben die Hände in den Schoß. Die Schlagzeilen der Zeitungen oder die Position der Zehn-Uhr-Nachrichten diktieren mehr oder weniger, wie viel Zeit und Leute wir für so etwas verwenden.« Eichord nickte. »Ich meine, man hat es mit einem Profi-Job zu tun ...« er zuckte die Achseln und führte den Satz nicht zu Ende. »Und dann ballern auf einmal Leute in Laclede Landing rum, Herrgott. Das ist eine Katastrophe.« »Die Bombenanschläge«, sagte Eichord. »Besteht zwischen allen ein Zusammenhang?« »Jou. Folgendes haben wir.« Er stand auf und enthüllte eine Staffelei mit einem handgeschriebenen Stammbaum. »Die Familie in St. Louis besteht eigentlich aus mehreren verschiedenen Fraktionen. Wir haben die klassischen Ganoven, die traditionellen Mafiosi, unter dem legendären Tony Gee, der Ihnen sicher ein Begriff ist. Er war der Mann. Hat die ganze Eiterbeule geleitet. Seine rechte Hand war ein anderer Tony, Tony Cypriot, daher der alte Name, den die Zeitungen so gern benutzt haben: Zwei-TonyMob. Aber so war es eben nicht. Gee hat alles für Chicago organisiert. Ich glaube, das war« - er sah in seine Unterlagen - »als Sie noch hier gelebt haben, wenn ich mich rechts entsinne.« »Ich war zweiundsechzig und dreiundsechzig hier«, sagte er. Dabei sah Jack dem Lieutenant i n die Augen und fragte sich, ob es zu viele Notizen geben mochte, an die sich Springer nicht mehr richtig erinnerte.
»Tja, Tony Gee hat die Reißleine i n den Siebzigern gezogen. Und uns hinterlassen hat er Sally Dago - Salvatore Dagatina -, der übrigens noch lebt und i m Knast sitzt. Und ein halbgares Drogenimperium. Die alten italienischen und sizilianischen 94 Gruppen haben einst das Geschäft mit Glücksspiel, Drogen und Prostitution kontrolliert, jetzt teilen das Splittergruppen von Syrern und Schlitzaugen unter sich auf, und LatinoGanoven -und die Rocker, also die mischen auch immer stärker mit. Aber die können die ethnischen Gruppen und so nicht kontrollieren. Die ganze Organisation zerbricht in Splittergruppen. Jetzt sind also beide Tonys weg. Einer tot, einer nach oben gefallen - Cypriot ist ein großes Tier und sitzt im nationalen Rat, während Sally Dago abstürzt und in den Bau einfährt. Also sind alle, die das Ruder in der Hand hatten, plötzlich weg vom Fenster. Gee tot. Cypriot fort. Dago hinter Gittern. Sehen Sie ... Tony Gee war der letzte Friedenshüter. Er war wie ein, äh, Orchesterleiter, klar? Er hielt alles zusammen. Und als der andere Tony und Sally aus dem Rennen waren, blieb keiner mehr mit genügend Hirn, Mumm und Erfahrung übrig, um die Familie zusammenzuhalten. Kein Pate, wie es in den Zeitungen immer heißt. Kein Sicherheitsventil für die Revierkämpfe und Rivalitäten der einzelnen Fraktionen. Keine vermittelnde Instanz mehr. Wenn man genügend Mumm hatte, zu handeln, dann handelte man. Ganz gleich, in wessen Revier man sich befand. Scheiß auf die einzelnen Reviere - man zog es einfach durch. Und so entstand das ganze Schlamassel. Tony Gees Vertrauter und Berater Paul Rikla, und sein Leibwächter James Measure, die einander aus tiefster Seele hassten, sich aber aus reiner Notwendigkeit zusammenrauften, wurden unter Sally Dago zu Unterbossen ernannt. Dann verschwindet Sally von der Bildfläche, und jeder der beiden Syrischen Burschen kontrolliert einen Zweig der Familie. Der klassische Machtkampf.« »Diese Typen - Measure und Rikla -, sind die jetzt die beiden Oberhäupter der Familie?« fragte Jack. Die Namen wirbelten i n seinem Kopf durcheinander. Gerade hatte er eine ganze Latte kalifornischer Namen gelernt. Jetzt kamen neue hinzu. »Genau.« Springer nickte. 94 »Und wo steckt Cypriot die ganze Zeit? Wieso kommt er nicht her und nimmt das Heft in die Hand?« »Ach, das lohnt doch nicht. St. Louis bedeutet nur Kleingeld für die großen Jungs. Das organisierte Verbrechen hier ist Pipi-fax, und ich sag das nicht, weil ich damit ausdrücken will: Oh, was haben wir doch für eine saubere kleine Stadt. Ich will nur sagen, dass es keine Hochburg des Verbrechens ist, wie Sie sicher wissen. In Kansas City geht etwas mehr die Post ab, aber hier ist kaum was los. Ein bisschen was in East St. Louis, ein bisschen was im Norden und weiß Gott wo, aber nur Kleinkram. Cypriot sitzt im Nationalrat. Er arbeitet in den fünf großen New Yorker Familien, arbeitet mit den Leuten in Chicago und Vegas und Miami. Er ist jetzt eine ganz große Nummer. Für die großen Jungs ist St. Louis ein kleiner Eiterpickel am Arsch der Welt.« »Okay.« Eichord schien seinen Verstand nicht in Schwung zu bringen. Er hatte diesen altbekannten Baumwollgeschmack im Mund, den weder Zahnpasta noch Mundwasser vertreiben konnten.
»Also haben wir jetzt die altmodischen consigliere, Rikla und Measure, der Leibwächter, die die Familie leiten. Okay, Rikla und Measure sind beide über siebzig. Kämpfer der alten Schule. Riklas Vollstrecker Jimmy der Haken, Jimmy Russo, kommt durch eine Autobombe ums Leben. Also lässt Rikla daraufhin Lyle Venable in die Luft jagen, Measures rechte Hand - und schon haben wir eine höchst brenzlige Situation.« »Sie meinen also, es geht ausschließlich um Bandenkriege.« »Hmm.« Der Lieutenant verzog ein wenig das Gesicht. »Das ist im Moment schwer zu sagen. Manche der Morde sind so ... willkürlich. Sie passen auf den ersten Blick nicht in das Muster von Vergeltungs- oder Racheanschlägen, aber nichts Genaues weiß man nicht. Wie diese Sache in Laclede Landing« - er schüttelte den Kopf und rieb sich heftig die Augen, als wäre er in Spinnweben gelaufen - »so wird das in diesen Kreisen einfach nicht gemacht. Man zieht nicht so eine Aufmerksamkeit, so eine 95 Ermittlung auf sich. Man lässt etwas nicht derart außer Kontrolle geraten.« Unter dem Druck der alltäglichen Routine wurde diese erste Sitzung schließlich beendet; Springer gab Jack i n die Obhut eines anderen. Den Rest des Tages verbrachte Eichord damit, dass er versuchte, die seltsame Struktur der Special Division in sich aufzunehmen, einer Untereinheit in dem runden Dutzend verantwortlicher Stellen. Sie war die Nabe eines Rades, dessen Speichen die ganze Stadt in Jurisdiktionen einteilte und typisch komplex, labyrinthisch und geografisch (von philosophisch ganz zu schweigen) verwirrend für ihn war. Wie immer tastete er sich vorsichtig voran, klammerte nichts aus, ließ die Sensoren leise schnurren; hörte zu, beobachtete, erfasste emotional soviel wie verstandesmäßig. Fühlend, nüchtern, leise fragend, aufmerksam, vorurteilsfrei, offen für alle Möglichkeiten. Lernte und sog alles in sich auf wie ein Schwamm. Die Polizisten der SD sahen tatsächlich wie Lehrer aus. Jedenfalls mehr nach Staatlichen als nach Streifenpolizisten. Keine leicht abgerissenen Typen. Keine Goldkettchen. Geschäftsleute oder Oberlehrer mit kurzärmeligen Hemden und Krawatten. Keine Pistolenhelden-Schnurrbärte. Keine langen Haare. Keine Dicken. Rank und schlank. Zivilfahnder. Möglicherweise FBI. Alles andere als Streife. Locker, aber keine große Hilfe für ihn. Geschäftsmäßig. Willkommen in St. Louis. Freut uns, dass Sie da sind. Hier ist Ihr Schreibtisch. Das ist ein Telefon. So wählen Sie raus. So wählen Sie das Haustelefon an. Hier ist ein Telefonbuch. Das ist eine Karte. Sehr standesbewusst. Zurückhaltendes Lächeln und Papierkram. Typen, die gute Gehaltsschecks für gute Polizeiarbeit wollten. Junge Karrierepolizisten am Anfang ihrer Laufbahn. Eichord war nicht sicher, was er erwartet hatte, aber das hier jedenfalls nicht. Als er das letzte Mal vorübergehend versetzt gewesen war, hatte er es mit Knallschoten zu tun gehabt, die 95 noch verlotterter waren als seine heißgeliebten Brüder in Buck-head. Eine Art durchorganisiertes Irrenhaus. Und davor gehörte er einer so durch und durch korrupten großstädtischen Einheit an, dass sie landesweit berühmt-berüchtigt gewesen war. Man betrachtete sie generell als eines der drei großen und gemeinhin bekannten Zentren verkommener Polizisten, die die Hand aufhielten. Das reichte sechzig, siebzig Jahre zurück, manchmal über zwei oder drei Generationen Polizistenfamilien - es gehörte als
organischer Bestandteil zum JOB dazu. Es war so schlimm, dass ehrliche Polizisten kaum innerhalb der »Schmiere« bestehen konnten. Die Schmiere reichte bis in die höchsten Kreise, Schwindel erregende Höhen, wenn man ein Bulle auf der Straße war und den gefräßigen Schlund einer Maschine fütterte, die weit über den Commissioner und den Bürgermeister hinausreichte bis hin zu der schwarzen Tüte, die jede Woche im Rathaus herumgereicht wurde. Wenn eine Schmiere derart umfangreich ist und ihre Tentakel bis zu Richtern und Staatsanwälten und Beamten des County und den Taschen der Legislative reichen - dann kann man das vergessen. Sie gehörte eben zum Leben dazu. Die Schmiere war wesentlich mehr als ein Arm freundlicher, netter Streifenpolizisten, die nur »behilflich« sein wollten. Man betrachtete die Schmiere als eine KARRIEREMÖGLICHKEIT, und es gab Leute, die sie ebenso verfolgten wie die alten Veteranen des Streifendienstes, die sich gewisse Nebenverdienstmöglichkeiten offenhielten, bis Knapp das NYPD übernahm. Eichord kannte genügend Polizisten, die die Straße als Einnahmequelle für den gewieften Unternehmer sahen. Er selbst stimmte ihren rationalen Argumenten weshalb sie sich schmieren ließen, nicht zu, und hatte das kleine Wunder vollbracht, dass er in einem oder zwei der korruptesten Reviere des Landes relativ sauber geblieben war, ohne sich geringschätzige Spitznamen wie Mr. Clean oder St. Eichord einzuhandeln, die deiner Karriere reichlich abträglich sein konnten. 96 Vic Springer gab sich auf eine eiskalte Weise herzlich, doch Jacks erster Eindruck des Mannes war der, dass er ihn mochte. Das war wichtig. Der Verantwortliche, der das Sagen hatte, sollte zumindest keiner sein, der Eichord unter einer Wagenladung Scheiße begraben konnte. Er fand, dass Springer wie ein guter, zäher, ehrlicher Kämpfer aussah. Ein guter Polizist. Tatsächlich sah Springer wie die Karikatur eines Hundes aus. Eine potthässliche Version von Lyndon Johnson. Ein Basset mit traurigen Augen, von Karsh fotografiert. Ein deprimierter Köter mit einem ewigen Ausdruck der Niedergeschlagenheit. Eichord sollte bald herausfinden, dass das die glückliche Miene des Mannes war. Unter normalen Umständen vermittelte sein Gesicht unsägliches Leid. Wurde er aufgeregt, wütend oder angenervt, sackte sein Gesicht i n sich zusammen wie ein einstürzendes Gebäude. Doch Eichord wusste, dass Gesichter nur Masken sind. Jack schüttelte alle erforderlichen Hände und machte sich auf die Suche nach einer passenden Unterkunft. Auf der Minus-Seite sah der Bullenstall aus, als könnte es Probleme geben. Er würde seinen schönsten Werbehut aufsetzen und versuchen, seine Arbeit zu erledigen. Die Morde schienen so ohne jeden Zusammenhang und, in Ermangelung eines besseren Worte, willkürlich zu sein, dass er noch nicht einmal ansatzweise den Durchblick hatte. Eine harte Nuss für Mr. Keen, aber unmöglich für Eichord. Wo zum Teufel steckte der Falke, wenn man ihn brauchte? Ebenfalls auf der Minus-Seite: Er erinnerte sich an rein gar nichts mehr im heutigen St. Louis. Wohin war Gaslight Square verschwunden, als er nicht hingesehen hatte? Wo sollte er sein alkoholfreies Bier trinken, während er in einem hübschen Straßencafe saß und mit netten Fremden plauderte? Wie sollte sich Mr. Verbrechensbekämpfer in der Stadt zurechtfinden? Was machte er hier? Warum ich, Herr? dachte er bei sich. Auf der Plus-Seite ... es gefiel ihm hier. Da man ihn vorgewarnt hatte, was Apartments in St. Louis
97 anbetraf, suchte er ein Motel, das verhieß, dass man unter seinem gastfreundlichen Dach BILLIGE ZIMMER bekommen konnte; das Zimmer roch wie ein chemischer Kiefernwald, wo die Bäume rauchten, aber das Bett sah gut aus. Er nicht. Er betrachtete sich im Spiegel, als er seine Kleidung aufhing, wollte abschätzen, was für einem Hund er ähnelte, und entschied sich schließlich für eine Promenadenmischung. Der struppige Straßenköter sah ihn mit seinen dunklen Augen vorwurfsvoll an. Es war Wochen her, seit Spain zum letzten Mal schweißgebadet aus einem Alptraum erwachte. Die Morde in Texas und Florida und jenseits der Grenze hatten ihn bis zur Verklärtheit beruhigt. In letzter Zeit schlief er wie ein Baby, schlief den Schlaf harter Arbeit, bester Gesundheit, Zufriedenheit und eines reinen Gewissens. Aber diesmal stimmte etwas nicht. Er hatte etwas zu hart gearbeitet. Ging erschöpft zu Bett. Verwundbar. Er schlief hundemüde in der Kleidung ein, und zum ersten Mal seit vielen Nächten kam wieder ein Alptraum und erwischte ihn kalt. Der Schlimmste bisher. Er begann in vollkommener Schwärze und Spain träumte, dass er träumte, hörte sich selbst schnarchen, sah, wie sich in einer dunklen Ecke des Schlafzimmers etwas bewegte und fuhr ängstlich aus dem Schlaf hoch. Hatte er vergessen, die Riegel vorzulegen, mit denen er neuerdings die Tür sicherte? War jemand ins Haus eingedrungen, während er schlief? Eine grässliche, undefinierbare Präsenz erfüllt ihn mit Grauen. Sie bewegt sich erneut. Nur die Andeutung einer Silhouette in der finsteren Schwärze; fast schreit Spain laut auf, als sie die Augen aufschlägt. Riesige gelbe Augen, so hell leuchtend wie Katzenaugen, die Licht in der Dunkelheit reflektieren, doch diese sind elektrisierend gelb, blendend grell und sechzig Zentimeter auseinander. Was immer dieses Ding sein mag, es ist riesig. Im Herzen weiß er, dass es gekommen ist, um ihn zu holen. Diese dunkle, Jahrtausende alte Kraft, die den Schlaf des Todes 97 schläft. Spains Verstand präsentiert ihm ein Wort, das er nicht kennt: Müllennium. Er erschauert. Das böse Ding, das er sieht, hat beschlossen, mitten in Spains Traum aufzuwachen. Und auch wenn er es in der Dunkelheit nicht sehen kann, weiß er, dass es mit seinen enormen, rasiermesserscharfen Klauen eine einzelne, amaranthrote jfewr du mal hält. Er stellt sich die reptilienartige Drachenhaut dieses ultraexothermen Dings vor, das von der Hitze von Hochöfen lebt, und kennt die grässlichen Kräfte des Monsters. Und er hat solche Angst, dass er schreit, ehe er es verhindern kann. Das monströse Ding erwacht brüllend zum Leben in einer Explosion von Wind Regen Licht Glasfaseroptik-Regenbogen Ol Pech Schwefel Feuer Eis Schneesturm Nebel Wirbelsturm Orkan Monsun-Tornado Flutwelle intensiver Hitze unsichtbaren Spinnweben die sich in Haar und Wimpern verfangen ein Gefühl als würden einem körperfremde Substanzen in subkutane Hautschichten gespritzt während das Ding blitzschnell Kauwerkzeuge ausfährt und mit chirurgischer Präzision in seine Körperöffnungen schlägt gleich schmerzhaften Kathetern des Todes und ... Er erschauert nach dem ersten ätzenden Biss, mit dem es ihm schmatzend und zuckend das Blut aussaugt. Das Ding reißt den Reptilienkiefer auf und artikuliert: »Na, hallo erst mal.« Und es lacht schroff und abgehackt, während er spürt, wie es ihm außerirdische Mikroorganismen durch die Katheter injiziert und ihn mit den Analsekreten des stinkenden Raubtiers füllt, das direkt vom Boden des tiefsten Lochs der schwärzesten
Kotzehölle stammt, ihn mit seinen Extremitäten fickt und Teufelssperma in ihn ergießt, das ihn verbrennt, während sich das Ding immer tiefer in seine Öffnungen hineinbohrt. Das riesige Ding kommt näher; Spain erkennt, dass es von einer gelatineartigen Membran umgeben ist, in der sich Säcke für Nahrung und Ausscheidung befinden. Die Reptilienhaut ist blass und sieht so tot aus wie die einer frisch gepuderten Leiche, straff über einen ungeschlachten Schädel gespannt, dabei jedoch 98 grellbunt, mit unnatürlichen Farbtönen, die auf eine opaleszierende Mutation hindeuten. Die Augen erinnern an brennenden Eiter. Die lange, silberne Zunge wirkt prall und aufgedunsen, als hätte man einen großen, aalähnlichen Fisch in gerinnendes Blut getaucht, und sie ist gegabelt, stachelig, wülstig, gerippt und immer noch mit einem Film von jüngst Erbrochenem überzogen. Helles, feuchtes Rot auf Rubidiumsilber, das sich beim Kontakt mit der Luft entzündet, als das Ding artikuliert: »Jetzt zier dich nicht so, gib Küsschen, gib Küsschen«, worauf es wieder vor Lachen brüllt, ein zuckender Krampf unkontrollierbarer Heiterkeit, und sein Blut erbricht. Spain bekommt eine kochendheiße Dusche aus Exusdation, Leukozyten, Gedärmen, Gekröse, blutigem Gewebe und Fäkalien. Und er erwacht und träumt, dass er in einem Niagarafall von sengendem Unrat ertrinkt, dass er das Gelächter des vorgeschichtlichen Monsters in der Ferne hört, gedämpft wie unter Wasser, und als Spain stirbt, hört er die Stimme des Dings ganz leise sagen: »Du bringst mich um«, während er ausgesaugt, verbrannt, geschockt, ertränkt, erstickt, ausgebeint und geängstigt wird - bis zum Tod. Und Spain träumt, dass er stirbt, da ihm Demogorgons eitrige, giftige, ätzende, tödliche Koitalejakulate durch die Adern strömen und die Killer-Ficksahne über ihn hinwegspült. Eichord war kein großer Meisterdetektiv. Jedenfalls seiner Meinung nach nicht. Kein weißer Ritter oder aufrechter Verbrechensbekämpfer in blauer Uniform. In seinen Augen war er nicht besser oder schlechter als viele andere Polizeikollegen auch. Diese Einstellung sorgte für gute Schwingungen. Daher würde Jack selbst mit den Schlimmsten und Dümmsten und Korruptesten mitspielen, wenn der Fall es erforderte. Ihm lag einzig und allein daran, dass der JOB erledigt wurde. Und er liebte die Action in der Mordkommission. 98 Die MCTF, ursprünglich für die Aufklärung ungewöhnlicher Gewaltverbrechen gegründet, war kurz nach dem Fall Doktor Derangiert umstrukturiert worden, und Eichord spielte eine neue Rolle - die eines wichtigen Agenten mit einer EliteSpezialeinheit. McTuff war mehr als nur eine vom Steuerzahler alimentierte Institution mit Scheuklappen. Sie wurde aus Bundesmitteln finanziert, keine Frage. Doch damit endeten die Übereinstimmungen. Wenn eine lokale oder überregionale Behörde sich bei der MCTF einklinkte, dann hatte sie Zugriff auf ein enormes Netzwerk der umfassendsten Datenbänke, die je von Gesetzeshütern angelegt worden waren. COMSEC in Ft. Meade, die Terrorismusabwehr hier und in Europa, die Academy in Quantico, DEA, das Militär, alles war nur ein Fingerschnippen entfernt.
Durch die Wunder modernster Technologie konnte man auf Knopfdruck die Akten potenzieller Serienmorde in Mississippi einsehen oder die unglaublichen Ressourcen einiger der bestgehüteten Geheimnisse der NCIC nutzen. In den letzten Jahren verschwanden die lähmenden Rivalitäten und Kompetenzstreitigkeiten unter den verschiedenen Behörden ein wenig. Ein neuer Direktor baute das FBI dahingehend um, dass es jetzt mit Institutionen vor Ort und mit den Jungs in Lang-ley zusammenarbeitete, und es wurden mitunter hochkarätige Leute ausgetauscht, genau wie Informationen und Beweismittel. Es gab wahrlich keinen Präzedenzfall dafür, wie die Polizeiarbeit, sehr zum Nachteil der Kriminellen, durch die moderne Computertechnologie und den neuen Typ des Ermittlers und Kriminologen revolutioniert wurde. Der neue Geist der Zusammenarbeit war besonders wichtig in der Drogenbekämpfung, bedeutete aber auch, dass gewisse Arten von Morden eine deutlich bessere Aufklärungschance hatten. McTuff produzierte kriminalistische Profile mit einem unglaublichen Maß an Komplexität. Man erstellte Berechnungen über 99 mögliche Gefahrenpotenziale, die sich auf den verschiedensten Ebenen als nützlich erwiesen. Und am besten für die Polizei -alles gestaltete sich enorm benutzerfreundlich. Jack war ein begeisterter Fan. Er glaubte, die größte Stärke der Task Force bestand in der Tatsache, dass sie sich i n hohem Maße auf die Fähigkeiten ihrer Mitarbeiter verließ. Man verstand offenbar, dass es nur eine Möglichkeit gab, herauszufinden, wie Leute dachten oder was sie vorhatten - und dafür musste man Menschen einsetzen. Andere Polizisten. Informanten. Auf dem Gebiet beackerte McTuff seinen fruchtbarsten und produktivsten Boden. Es konnte einem eine Detektionsmaschine bauen. Das Leben besteht aus einer Abfolge von Geben und Nehmen. Die Kunst des Kompromisses. Das Wissen um quid pro quo. Eine Hand wäscht die andere. Und i n der seltsamen, trüben, unsteten Welt von Gesetzeshütern und Gesetzesbrechern erforderte Gerechtigkeit das Schmier- und Gleitmittel des beiderseitigen Handels, damit sie weiterhin funktionierte. Wenn man das akzeptierte, arbeitete das System für einen. Wenn nicht, konnte das Leben im JOB ein Alptraum sein. Die komplexen Irrungen des nervtötenden Rechtssystem allein reichten aus, einen Polizeibeamten in den Wahnsinn zu treiben. Die Fallstricke der Jurisdiktion, die undurchsichtigen Verhaltenkodexe, die Zweideutigkeit der Statuten, der schiere Wahnsinn der Vorgehensweisen, Regeln, Postulate und Disziplinen laugten einen aus; die erdrückende Last des Papierkrams machte einen starr, fesselte einen statisch an den Schreibtisch, verurteilte einen zur Reglosigkeit; die kompromisslos doktrinäre Methodik des frustrierend unzureichenden Systems, das die Gesellschaft im Stich ließ, die es eigentlich schützen sollte, spießte einen auf. Die MCTF war von Leuten erdacht, gegründet, programmiert und kalibriert worden, die ihr ganzes Leben innerhalb des Systems gearbeitet hatten und ihr schwer erarbeitetes Wissen nutzten. Der Computer wusste, wie man nach potenziellen Schlüsselinformationen sucht, und der Benutzer bekam eine aus 99 reichende Ausbildung, wie er die Maschine nutzen konnte. Ein kleiner Streifenpolizist in Buchanan County - Meilen, Lichtjahre, Quantensprünge von einem mächtigen Bezirksstaatsanwalt i n Suffolk County entfernt, um nur ein Beispiel zu nennen -war
imstande, sich direkt i n das Ringen um eine beiderseitige Abmachung auf höchster Ebene einzuklinken und etwas zu erreichen, das nur die besten Verhandlungsführer durchziehen konnten: alle beteiligten Parteien glücklich machen. McTuff wusste, wie man ein Hindernis beseitigt, und Verbrechen werden durch Detektion aufgeklärt, daran darf kein Zweifel bestehen. Es war die ultimative Detektionsmaschine. Die Task Force verfügte nicht über ein Jahrhunderte altes Erbe an Polizeiarbeit. Sie wurde aus der Not geboren. Technologie bildete ihre Basis, und die Not, die bekanntlich erfinderisch macht, waren die bestialischen Serienmorde, die aus dem giftigen Karma der sechziger Jahre entstanden zu sein schienen wie eine Mutation von Agent Orange. Zodiac, Manson, Gacey, eine blutige Spur von Opfern, die grimmige Legenden in ihrem Kielwasser erzeugten. Die Task Force war offenkundig ein Kind ihrer Zeit. Und Jack Eichord, der Polizist des Volkes, wurde Jack Eichord, das Auf-gaben-orientierte Organisationsgenie. Bei diesen Serienkillern handelte es sich nicht um ausgeflippte Schurken. Sie waren eine neue Art bösartiger Mutanten und mussten gefunden und aufgehalten werden - um jeden Preis. So wandte sich Eichord als erstes an McTuff und brachte ein umfangreiches Dossier voller Fakten und Mutmaßungen und ein Dutzend undankbare Aufgaben mit, die sich nicht allein von Computern und Denkfirmen erledigen ließen. MENSCHEN mussten die Flugbegleiterinnen und Stewards von TWA und die Angestellten der Andenkenläden befragen. Jemand musste alle Fragen stellen und sich alle Antworten anhören, denn am Ende lief es - wie immer - darauf hinaus, dass sich Polizisten die Hacken abliefen. 100 Doch Big Mac ließ ihn diesmal im Stich. NICHTS BÖSES SEHEN schien buchstäblich vom Erdboden verschwunden zu sein. Der Mann namens Spain betrachtete sein St.-Louis-Dossier, das inzwischen zu einem ganzen Album angewachsen war, und sein Blick fiel auf zwei Zeitungsmeldungen, die aus neueren Ausgaben des Post-Dispatch ausgeschnitten worden waren. Die Überschriften lauteten BERUFUNGSGERICHT IN MISSOURI HEBT URTEIL AUF, und als er den Namen Andrew Dudzik sah, machte es in seinem Kopf klick. Jetzt erinnerte er sich an die Verbindung und überflog den Artikel erneut. Das Berufungsgericht in St. Louis, Missouri, hat das Urteil gegen einen Mann aus St. Louis aufgehoben, der des Handels mit Betäubungsmitteln und verschreibungspflichtigen Medikamenten angeklagt war. Andrew Dudzik, 28, aus dem 8ooer-Block der Bancroft Avenue, wurde vorgeworfen, dass er einem verdeckten Ermittler, der sich als Drogendealer aus Cairo, Illinois, ausgab, Heroin und mehrere gestohlene Arzneimittel zum Kauf angeboten haben soll, wie Lawrence V. Goetz, der Assistent des Staatsanwalts von St. Louis, mitteilte. Goetz identifizierte den Angeklagten als Andrew »Candy« Dudzik, Inhaber von American Industrial Laundry, Inc., am Washington Park und Mitglied des organisierten Verbrechens mit mutmaßlichen Kontakten zur Familie Dagatina, die nach Meinung der Behörden den Markt für Betäubungsmittel und Kinderpornografie in St. Louis kontrolliert. Das Berufungsgericht entschied am vergangenen Dienstag, dass das Verbrechen im Staate Illinois begangen worden war, nicht in Missouri; der Vorsitzende Richter Richard B. Brewer sagte im Namen des Gerichts, er »bedaure, dass dieses Urteil aufgehoben werden muss, besonders im Hinblick auf die heutigen komplexen Transaktionen über
Staatsgrenzen hinweg«. Doch »alle Änderungen bestehender Gesetze müssen von unserer Legislative ausgehen«. »Eine Anklageschrift in dem Fall erwies sich als fehlerhaft, wie sich darüber hinaus herausstellte, da sie nicht alle Elemente des Verbrechens enthielt«, führte Goetz weiter aus. Der angesehene Strafrechtsverteidiger Jacob Rozitsky Jr. bestritt, dass das neue Urteil »ungebührlich restriktiv« und »höchst suspekt« sei, wie 101 eine namentlich nicht genannte Quelle im Büro des Bezirksstaatsanwalts gesagt haben soll. »Die Aufhebung des unrechtmäßigen Urteils ist ein Beweis für die große Fairness und den Mut des Gerichts«, sagte Rozitsky. Beisitzer des Vorsitzenden Richters Brewer waren die Richter Quentin R. Ide und James DeMournier. Er klappte das Album zu und unterstrich den Namen Dudzik, Andrew auf einem gelben, linierten Blatt Papier, dann fügte er die Namen Rozitsky, Jacob Junior und Brewer, Richard B. in winzigen, exakten Druckbuchstaben hinzu. Er schlug das Telefonbuch von St. Louis auf und ging die Brewers durch, bis er einen Brewer, Richard B. gefunden hatte; er notierte sich Privat- und Büroadresse unter dem Namen Dudzik, neben der Anschrift 827 Bancroft Avenue und verband die beiden Einträge mit einem kleinen Pfeil in beide Richtungen. Er malte ein einziges Fragezeichen neben den Eintrag Brewer, doch dann schürzte er einen Moment nachdenklich die Lippen. »Drauf geschissen«, sagte er leise. Und dann lachte er. Alles lief wie am Schnürchen. Jedes Mal, wenn die Medien Schlagzeilen über einen weiteren Mafiakrieg brachten, grinste er vor Schadenfreude. Er selbst hatte alles mit seinen zwei Bombenattentaten ins Rollen gebracht. Den Rest hatten die beiden Seiten ganz allein erledigt, da sie Vergeltung für imaginäre Anschläge der Gegenseite übten. Das gefiel ihm. Vollkommene Gerechtigkeit. Das Lachen verstummt. Er verzerrt das Gesicht zu einer hasserfüllten Fratze. Candy Dudzik. Der elende Candy Dudzik war nicht einmal eine Made, die auf einem Scheißhaufen herumkrabbelte. Und er konnte sich Schutz kaufen und so tun, als gehörte er zur Familie Dagatina. Genau das war der Grund, weshalb selbst ein Itakker wie Gaetano Ciprioni Verstand genug besaß, sich nicht mit Abschaum wiejimmie dem Haken und Blue Kriegal anzulegen. Herrgott. Was war aus der Familie geworden? Unglaublich. Er dachte an den Abschaum und fragte sich, wie er vorgehen würde, 101 wenn er die großen Bosse erledigte — wie er sie lang und schwer leiden lassen konnte. Doch allein der Gedanke an sie machte ihn krank, ihm gingen die Bilder von Tiff nicht aus dem Sinn, und so zwang er sich am Ende, an etwas anderes zu denken. Er dachte daran, wie der Mob gewesen war, als er zusammen mit Ciprioni in die höchsten Ränge des nationalen Rates aufgestiegen war. Damals bildeten diese so genannten MobAnführer die unterste Sprosse der Leiter. Leute wie Rikla und Measure waren gar nichts. Er erinnerte sich an Measure, der, wenn er sich recht erinnerte, inzwischen ziemlich auf den Tag genau vierundsiebzig sein musste. Nur ein Brutalo, der die Fotzenindustrie beaufsichtigte. Seine Legitimation war, dass er vor fünfundzwanzigjahren zur Familie stieß und sie ihn zum Leibwächter ernannten. Später gaben sie ihm dann ein dickes
Scheckbuch für seinen Lebensunterhalt. Aber er war nichts weiter als ein Handlanger, der sich hochgebuckelt hatte. Sie gaben ihm ein paar Massagesalons, Puffs, einige Sex-Shops und ein Kino - das volle Porno-Programm eben. Er holte sich William »Blue« Kriegal aus Detroit, der i h m helfen sollte, alles auf die Reihe zu kriegen. Zwei steinalte Schwuchteln. Er würde sie auf die qualvollste Weise erledigen, die ihm einfiel - und dieser verdammte Rikla war der typische Großstadtperverse. Menschlicher Abfall, allesamt. Er würde sie so leiden lassen, wie Tiff leiden musste. Brewers Haus fand er noch an diesem Abend. Clayton. Mittelmäßig. Etwas heruntergekommenes, aber riesiges Haus, das nach altem Geld stank. Im Garten goss eine Frau irgendwas. Er fuhr an dem Haus vorbei den Block entlang, dann in einer Gasse wieder zurück. Hunde bellten wirklich überall, während er langsam durch die Gasse tuckerte und hinter dem Haus der Brewers parkte. Er stieg zielstrebig aus, ging die Stufen zur Hintertür hinauf und klopfte. Rund zwanzig Sekunden später reagierte ein Mann darauf, der die Tür aber nicht öffnete, sondern nur »Ja?« durch das Fliegengitter sagte. 102 »Hallo«, sagte Spain mit einem strahlenden Lächeln. »Mann, tut mir leid, dass ich Sie belästigen muss, aber ich müsste dringend kurz telefonieren. Ich bin Ron Ryan von KMOX und muss einen Verkehrsunfall melden.« Er zeigte zur nächsten Hauptstraße. »Es ist ein Ortsgespräch, aber ich bin nicht bei der Einheit und die brauchen Polizei und einen Krankenwagen dort.« Er formte das Gesicht zu einer ernsten, besorgten, verantwortungsvollen Maske und riss die Augen mit den schweren Lidern so weit auf, wie er konnte. »Na gut«, sagt der ältere Mann mit einem verärgerten Seufzen, das er nicht verhehlt, »wenn es nicht lange dauert.« »Oh«, sagte Spain, »das ist so anständig von Ihnen. Ich weiß es wirklich zu schätzen.« Der Mann zeigt zum Telefon; Spain nickt, greift zum Hörer und wählt. Der ältere Mann kann Brewer sein, oder auch nicht. Das Haus ist hübsch, aber nicht übertrieben möbliert. Könnte das Haus eines Richters sein. »Hallo? Hier ist Ryan. Kann ich bitte die Nachrichtenredaktion haben? Danke.« Er deckt den Hörer ab, als wäre jemand am anderen Ende. »Sie sind nicht zufällig Richter Brewer, oder?« Freundliches Lächeln. Der Mann nickt und lächelt verkniffen. »Ich DACHTE doch, dass ich Sie kenne.« Er legt den Hörer auf und nimmt gleichzeitig die .25er aus der Tasche. »Seien Sie jetzt schön brav, dann passiert Mrs. Brewer nichts. Sie wollen doch nicht, dass ihr etwas geschieht, oder?« Der Richter schüttelt den Kopf. »Ich möchte, dass Sie mich begleiten und mit ein paar Leuten sprechen. Wenn Sie einen Aufstand machen, leg ich Sie einfach um, komm wieder und mach Mrs. B. alle. Das wollen Sie nicht. Also machen Sie mir keinen Ärger. Mein Auto parkt in der Gasse da hinten. Wenn wir rausgehen und Ihre Frau sieht sie, dann lächeln Sie und sagen ihr, dass Sie in zwei Minuten wieder da sind. Wenn sie fragt, wohin Sie wollen, dann antworten Sie, dass sie es ihr erklären, wenn Sie wieder da sind, Sie wollen sich 102 etwas ansehen, das dieser Mann hat. Murmeln Sie einfach etwas Vages und gehen Sie weiter. Bleiben Sie nicht stehen oder sagen etwas Verdächtiges zu ihr. Verstanden?« »Ja.«
»Dann los.« Spain winkt mit der Waffe. »Keine falsche Bewegung.« Er bemerkt die vielen Gemälde. »Sagen Sie ihr, jemand hat ein Aquarell anzubieten, oder so. Seien Sie überzeugend, wenn Sie nicht erschossen werden wollen.« Sie steigen in das Auto ein; Spain lässt den Motor an, und als er sich vergewissert hat, dass sie niemand beobachtet, befiehlt er dem Richter, den Kopf zu senken. Als er gehorcht, verpasst Spain ihm eine Mittelschwere mit dem Kolben der Waffe; der Mann sackt vornüber und Spain fährt weg. Sie fahren immer noch, als der Mann ein leises Stöhnen von sich gibt. »Unten bleiben«, sagt Spain zu ihm. »Und Mund halten.« »Wenn mir etwas zustoßen sollte, muss ich Sie warnen, dass schwere -« Spain tritt ihm in die Zähne, da fängt er an zu weinen. »Halten Sie den Mund«, zischt Spain ihm zu. Wenig später halten Sie vor einem riesigen Maisfeld. Spain biegt auf einen Schotterweg ab, dann auf einen Feldweg, wo die Reifenspuren eines Traktors zu betonartiger Konsistenz erstarrt sind. Der schmale Weg liegt zwischen dem Rain der Maisstauden und einer dichten Hecke am Straßenrand. Sie halten an. »Aussteigen.« Der Mann gehorcht. Er ist ein freundlicher Mann, Ende fünfzig, Anfang sechzig. Einer, den man einfach gernhaben muss. Runzliges Gesicht. Kräftig, aber nur um den Bauch etwas dick. Also vermutlich erst spät im Leben etwas auseinander gegangen. Braungebrannt. Golfspieler oder fanatischer Hobbygärtner. Teurer Diamantring. Goldene Uhr. Teure Schuhe. Das alles sieht Spain in der halben Sekunde oder so, die man braucht, um sich einen Eindruck zu verschaffen. Die Einschätzung von Menschen gehört zum Handwerk. »Stehen bleiben«, sagt Spain. Steigt aus. Sie gehen zwischen 182
zwei Reihen der hohen Maisstauden. Der Mais ragt baumhoch über ihnen auf. Spain zieht eine kleine Ahle aus der Tasche. Ahle oder nichts, denkt er. Das gefällt ihm. »Jetzt hören Sie mir ganz aufmerksam zu. Wenn Sie mich anlügen. Wenn Sie winseln. Wenn Sie behaupten, dass Sie kein Geld genommen haben. Dann tue ich Ihnen weh. Ich will nur eines wissen. Wie viel hat man Ihnen dafür bezahlt, dass Sie das Urteil gegen Candy Dudzik aufheben, und wer hat Sie dafür bezahlt?« »Ich habe nicht die geringste Ahnung, was Sie ... AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAHHHHHHH«, brüllt er in die Maisstauden, die über ihnen aufragen. »Oooooooohhh. Bitte. Ich habe kein Geld genommen. Ehrlich nicht. Tun Sie mir bitte nicht mehr -« »HALTEN SIE DEN MUND!« »OOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOHHHHHH, HIMMEL, NICHT«, schreit er wieder. »Wie viel? Und lassen Sie sich Zeit - wir haben Stunden.« »Zweitausend Dollar.« »Wer hat Ihnen das Geld gegeben?« »Ein Anwalt.« Er wimmert wie ein kleines Kind. »WELCHER Anwalt, Arschloch?« »Rozitsky.« Spain sticht dem Mann in die Schulter, durch Hemd, Haut, Sehnen, Würde. »AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAHHH-HHHHHHHHHHHHHHHHHH!« »Stimmt genau«, sagt Spain gutgelaunt zu ihm und rammt ihm die spitze Ahle ins Ohr. »SIE WERTLOSES AAS!« Er stößt immer wieder mit der Ahle zu. Als der Richter sich nicht mehr bewegt und keinen Laut mehr von sich gibt, zerrt er den Leichnam an den Knöcheln aus dem Maisfeld und zum Kofferraum des Fahrzeugs. »Fetter Drecksack«, murmelt er. Der Richter ist schwerer, als er aussieht. Sein Gesicht blutbesprenkelt wie die Karikatur eines Mannes mit Masern. 183
Über ihnen fliegt ein Vogel dahin, taucht zwischen die Reihen der Maisstauden hinab und stößt einen Ruf aus, der sich für Spain wie »tö-ten, tö-ten« anhört. »Ganz recht«, sagt Spain laut. Er ist immer noch bester Laune, als er den Kofferraum öffnet. »Hier kommt das hohe Gericht«, sagt er. An Eichords zweitem Tag in der Stadt hat er eine Vision. Eine Vision, die ihm das Herz mit beiden Händen zusammendrückte, bis er um Gnade winselte. Eine Vision, die mit zarter Knochenhand an seine Stirn klopfte und flüsterte: »Ist jemand zu Hause?« Eine Vision von solcher Schönheit und Attraktivität, wie er sie seit, oh, einigen Tagen nicht mehr gesehen hatte, und ihm ploppten fast die Augäpfel aus den Höhlen. Das Problem ist, Eichord befand sich an dem Punkt, den viele alleinstehende, vielbeschäftigte Männer manchmal in der Mitte ihres Lebens erreichen: sie leiden unter der alten und gefürchteten exotischen Krankheit Kuschelmausmangel, daher müssen Sie wissen, dass Eichord ein- bis zweimal täglich eine Vision hatte, die ihm mit beiden Händen das Herz zusammendrückte, bis er um Gnade winselte. Doch diese Vision war anders. Es handelte sich um eine Granate von einer Frau namens Rita Haubrich. An sich hatte er nicht vorgehabt, in den nächsten zwei Tagen mit jemandem zu reden. Sein Plan sah vor, dass er sich durch den Berg an Papierkram durcharbeitete, aber er brachte es einfach nicht über sich. Die kleinste Kleinigkeit, zum Beispiel die Schublade finden, wo diese und jene Akte aufbewahrt wurde, stellte an diesem Morgen ein unüberwindbares Hindernis für seinen zerstreuten Verstand dar. Dass ihm die Stadt so fremd geworden war, beschäftigte ihn, seit er einen Fuß in sie gesetzt hatte, daher beschloss er, dass er sich zuerst diesem Problem zuwenden würde und redete mit den beiden Zeugen, die während der Schießerei von Laclede Landing verletzt worden waren. Den beiden Zivilisten. 104 Die Überlebenden, wenn man sie so nennen wollte, waren zwei unschuldige Passanten, die in entgegengesetzte Richtungen gingen, ein Mann und eine Frau. Der Mann draußen auf dem Bürgersteig, ein Teppichhändler namens Sorga, hatte eine Patrone Kaliber .38 ins linke Handgelenk abbekommen; die Wucht des Schusses schleuderte ihn gegen die Haubrich, die, wie es der Zufall wollte, gerade auf seiner Höhe ging. Sie zog sich eine schwere Nackenverletzung zu, als sie gegen eine Mauer aus Stein prallte. Beide hatten ausgesagt, dass sie nicht besonders viel gesehen hätten, aber man konnte nie wissen. Er würde sie sich noch einmal vornehmen. Er wollte zuerst zu Sorga und auf dem Rückweg vom Universitätsgelände, wo sich der Teppichhändler zu Hause erholte, dem Abschleppdienst einen Besuch abstatten, der Paul Rikla als halblegale Fassade für seine Geschäfte diente. Zumindest der Karte nach lag das mehr oder weniger auf dem Weg nach Forest Park. Früher oder später musste er mit Measure und Rikla reden, doch die Chance, dass ihn das weiterbrachte, schien verschwindend gering zu sein. Der Vormittag war eine Katastrophe. Den ganzen Morgen lief er sich die Hacken ab. Mr. Sorga erwies sich als übellauniger, störrischer, cholerischer Typ, der Eichord fünfundvierzig Minuten mit diesem und jenem auf die Nerven ging, vorwiegend der Tatsache, dass man nicht mehr ungehindert seinen Geschäften nachgehen konnte, weil die Polizei ausschließlich damit beschäftigt war, Leuten Strafzettel zu verpassen, bläh, bläh, bläh, und so weiter. Das ging eine ganze Weile so, bis Eichord sich wünschte, Sorga wäre einer dieser verschlossenen Typen mit einer natürlichen Abneigung dagegen, mit Fremden zu reden. Es schien, als wäre er nicht
bereit, Eichord nützliche Informationen über die Schießerei zu geben. Er hatte niemals nichts und niemanden gesehen. Alles geschah viel zu schnell. Und so weiter. Auf dem kleinen Stadtplan von der Tankstelle sah es aus, als wären es nur sechs Querstraßen den Häuserblock entlang, aber 105 Riklas Abschleppdienst schien eine Ewigkeit entfernt zu sein, und einmal wurde Eichord in seinem Mietwagen fast zwischen einem Lastwagen ohne Nummernschild und einem irren Raser, der zu dicht auffuhr, zerquetscht. Der Verkehr i n St. Louis war die Hölle. Man kam sich vor wie auf dem San Diego Freeway um halb elf Uhr morgens. Am gemächlichsten schien es auf der mittleren Spur voranzugehen, während rechts und links Autos wie Raketen an einem vorbeischössen. Er schaffte es dennoch bis zu Riklas Betrieb, wo man ihm sagte, Rikla sei unterwegs. Wohin? Keine Ahnung. Eine Ahnung, wann er wiederkommt? Nee. Er hinterließ eine neutrale »Special Agent«-Karte, auf der handschriftlich seine aktuelle Telefonnummer und Durchwahl standen, und bat darum, dass Mr. Rikla ihn zurückrufen möge. Super. Erstaunlich, wenn man einige Jahre i n einer Stadt gelebt und gedacht hatte, man hätte alle Namen vergessen. Aber kaum fährt man zur Stoßzeit im Kamikaze-Verkehr durch die Gegend, kommen einem die Namen und Orte wieder in den Sinn. Je älter man ist, in je mehr Städten man gelebt hat, je mehr verschmilzt alles zu einem großen amerikanischen Panorama mit Gravois und Grady und Natural Bridge und Northwest Parkway und Kings Highway und Turtle Creek. Nach und nach fiel ihm Manches wieder ein, Erinnerungen an Florissant und ... VERDAMMT! Pass doch auf, wo du hinfährst, du Idiot. So einen Verkehr hatte er nicht mehr erlebt, seit er i n Orange County gewesen war. Der Tag war halb vorbei und er hatte noch nichts gegessen. Alles an diesem Fall missfiel ihm. Die Leute i m Hauptquartier gaben sich reserviert und misstrauisch, er glaubte, dass ihm St. Louis nicht mehr gefiel, der Verkehr war grauenhaft, er bekam mörderische Kopfschmerzen, es sah nach Regen aus, er hatte keinen blassen Schimmer, was er hier machte, und um den verstorbenen Mr. Lewis zu zitieren: »Besser wirst du dich den Rest des Tages nicht mehr fühlen.« Nicht die Stunden, die er in dunklen, verrauchten Bars ver 105 bracht hatte, wo er mit den Jungs Bier trank, ein Strohs oder Oly Light, stellten eine Versuchung für ihn dar. Er konnte jederzeit ein oder zwei kühle Blonde zischen, gerade soviel, dass er angenehm bedudelt wurde und nicht den Eindruck hatte, als wäre ihm jeder Spaß im Leben genommen, und dann nach Hause fahren, eine Tasse löslichen Kaffee oder eine Tasse Tee trinken und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Das machte er andauernd. Seit Jahren. Da lauerte kein Dämon. Hoffte er jedenfalls. Schon vor langer Zeit hatte er wider besseres Wissen beschlossen, dass er ab und zu ein Bier trinken könnte. Wie ein ganz normaler Mensch. Er hatte in Bars zu tun. Der Job führte ihn dorthin, wo Alkohol ausgeschenkt wurde. Damit musste er zurecht kommen. Es gab nie Probleme. Zwei, drei Bier, und er musste gar nichts. Höchstens pissen. Das war's. Das härtere Zeug lockte ihn mit dem Mittelfinger. In Zeiten wie diesen, wenn er durch ein fremdes Kaff kutschierte und seinen eigenen Arsch mit zwei Händen nicht finden konnte, Kopfschmerzen ihn plagten und ihm davor graute, morgens zur Arbeit zu gehen,
wenn er nichts erreichte und hilflos i n einem scheinbar nahtlosen, komplexen Fall herumstocherte, wenn sich nichts zusammenfügte, es keinerlei Lichtblicke gab, er sich ausschließlich auf seinen sechsten Polizistensinn und sein Glück verlassen musste, in solchen Zeiten, da hätte er schon einen Schluck vertragen können. Die Angst verhinderte, dass er abstürzte. Er gewöhnte sich nie daran, wie unauffällig es einen überkam. Viertel vor zwölf am Vormittag und unterwegs nach Forest Park. Es wäre ganz einfach, jetzt rechts ran zu fahren, vor einer kleinen Ma-und-Pa-Taverne zu parken und einen Dreifachen runterstürzen, ehe man sagen konnte: Verrammel die Tür, Katie. Er war immer so nahe dran, die Kontrolle zu verlieren, dass er sofort alle Abwehrmechanismen aktivierte, wenn der Wunsch zu übermächtig wurde. Die Angst funktionierte, dachte er. Jedenfalls bis jetzt noch. Als er später darüber nachdachte, erinnerte er sich kaum mehr 106 daran, wie sie sich das erste Mal begegnet waren. Der ganze Tag verschwand in einem hübschen Dunst. Er betrat mit pochenden Schläfen die Büros der Akquisition, wo eine atemberaubend anmutende Sekretärin ihn zur Begrüßung anlächelte und fragend dreinblickte, als er sich nach Rita Haubrich erkundigte, und ob sie vielleicht ein Aspirin für ihn hätte? Als er ihr seinen Namen nannte, konterte sie: »Komm mir ja nicht mit Jack Eichord.« Mit der Miene, dem Lächeln und dem Tonfall, die Leute nur an den Tag legen, wenn sie einen wissen lassen wollen, dass man sie kennen müsste. »Meine Güte«, sagte er und sah noch mal hin. »Bist du Rita Paul? Die von vor einer Million Jahren?« »Du erinnerst dich.« Sie lächelte ein sonniges Lächeln. »Außerdem heißt es jetzt Rita Paul Haubrich, und es ist erst hundert Jahre her. Machen wir es bitte nicht schlimmer, als es ist. Du hast dich überhaupt nicht verändert.« Er wollte ihr sagen, wie toll SIE aussah, doch sie kam ihm zuvor. »Und ich hab Tylenol hier, wenn das genügt? Mal sehen .,.« Sie suchte in ihrer Tasche und er sah ihr dabei zu. »Rita. Was für eine hübsche Überraschung. Ich hätte nie erwartet, dich hier zu sehen.« »Ich bin nicht am Empfang. Normalerweise arbeite ich da hinten«, sagte sie und zeigte vage in einen anderen Bereich, »aber Terry musste mit ihrem Kind zum Arzt, daher bin ich eingesprungen. Als du angerufen hast, wollte ich schon was sagen, aber es hat eine Weile gedauert, bis ich begriffen hatte, dass du es bist. So viele hiesige Polizisten und Reporter haben mit mir geredet, dass ... Was machst du eigentlich wieder in St. Louis?« »Ich arbeite an einigen Bandenmorden.« »Ich hab deinen Namen mal in der Zeitung gelesen. Eine Ermittlung, die dich in die Schlagzeilen brachte, was mich nicht überrascht hat. Ich wusste, dass du mal berühmt wirst. Du warst so entschlossen.« »Weißt du noch, das Büro des Bezirksstaatsanwalts?« Sie lach 106 ten beide. »Das war ein Spaß«, sagte er, worauf sie kicherte und einen reizenden Schmollmund zog. »Ja. Echt witzig. Ich bin nicht lange, nachdem du St. Louis verlassen hattest, da weg.« »Du hast den großen Anwalt geheiratet. Den Kerl, mit dem du schon ausgegangen bist, als wir uns noch kannten. Haubrich.« »Jou«, gab sie zu. »Gutes Gedächtnis.«
»Sein Name war irgendwas mit Don?« »Winslow. Winslow Haubrich.« »Gott. Stimmt. Winslow. Der gute alte Winslow«, sagte er ohne Überzeugung. »Wie geht es dem alten Winslow?« »Ich habe den alten Winslow schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, wie ich zu meiner Freude bekennen muss. Wir sind geschieden.« »Oh. Tut mir leid«, sagte er mit noch weniger Überzeugung. »Bist du noch verheiratet?« »Schon lange nicht mehr«, antwortete er kopfschüttelnd. »Tja«, fuhr er fort und zwang sich, wieder an den Fall zu denken, »ist toll, dich zu sehen. Eine schöne Überraschung.« Das meinte er ernst. »Ich freue mich auch über das Wiedersehen. Du hast dich echt kein bisschen verändert.« Sie lächelte, und er war hingerissen. »Du auch nicht.« In Wahrheit fand er, dass sie wesentlich besser aussah als damals - doch seither waren Jahre vergangen. Vielleicht war er damals einfach nicht so geil gewesen. In einer Menschenmenge hätte er sie im Leben nicht wiedererkannt, aber ihm wurde schnell klar, dass das an ihrer Frisur und der Kleidung lag, nicht am Gesicht. Sie war in Schönheit gealtert. »Entschuldige mich bitte einen Moment.« Er ging zum Trinkbrunnen. »Klar.« Er nahm die Tylenol und kehrte zum Schreibtisch zurück. »Möglicherweise werden wir gestört«, sagte sie zu ihm, »aber wir können uns gern weiter unterhalten, wenn du willst.« »Gern, okay. Lass mich nur meine Notizen holen. Was kannst du mir über die Schießerei von Laclede Landing erzählen?« 107 »Genau das, was ich auch den anderen Jungs erzählt habe und was du sicher in deiner Akte da hast. Ich wünschte, ich könnte dir behilflich sein, aber mehr als einen ganz kurzen Blick konnte ich nicht auf sie werfen. Es passierte alles so schnell. Ich hörte den Knall, und praktisch im selben Moment stieß der Mann gegen mich. Ich sah nur ein Auto. Ein Auto, in dem zwei oder drei Männer saßen. Ich weiß, dass ich am rechten Vorderfenster eine Waffe gesehen habe und den Eindruck hatte, dass es eine -eine Schrotflinte war. Denke ich jedenfalls - und ich bin nicht sicher, ob jemand auf dem Rücksitz saß oder nicht. Es ging alles so schnell.« »Hast du das Auto erkannt?« »Eigentlich nicht. Ich hab nur diesen Eindruck. Eine Waffe am Fenster, die Schüsse. Ich kann nicht mal mit Sicherheit sagen, ob es ein dunkles Auto war. Ich kann nur ... na ja, die Schüsse trafen diesen Mann, der stieß gegen mich, ich fiel und wurde gegen die Mauer geschleudert, und innerhalb einer Sekunde war alles vorbei. Ich stand auf, versuchte aufzustehen. Es war irgendwie wie nach einem schlimmen Schleudertrauma im Auto. Ich hörte Schreie, und überall war Blut. Da sah ich die Männer die erschossen worden waren. Und überall waren Leute in Deckung gegangen, es war so beängstigend - ich weiß nicht -« »Schon gut. Ich dachte nur, wir sollten reden. Wenn man sich aus der Distanz erinnert, fallen einem manchmal noch Einzelheiten ein, Kleinigkeiten, die man vielleicht übersehen hat. Zum Beispiel das Aussehen des Mannes mit der Waffe. Erinnerst du dich gar nicht an sein Gesicht?« »Ich könnte dir nicht sagen, ob er einen Bart hatte, welcher Nationalität er angehörte, nichts. Mir ist rein gar nichts an ihm aufgefallen. Nur die kurze Schrotflinte, die aus dem
Fenster ragte, als er schoss, und wie laut sie war. Man bekam Todesangst. In meinem ganzen Leben habe ich so was noch nie durchgemacht.« »Beim ersten Mal hast du Schrotflinte gesagt, eben kurze Schrotflinte. Was für eine Schrotflinte? Was meinst du damit?« 108 »Oh, wie man es ab und zu im Kino sieht. Abgesägt, nehme ich an. Es war eine kurze Waffe. Aber keine Pistole. Sie hatte einen Lauf, nicht zwei wie manche von meinem Dad. Ich erinnere mich an diese Waffe, oh und ich erinnere mich an eine Hand, die sich über die Waffe bewegte, als müsste sie spannen oder wie man das nennt. Da stieß der Mann gegen mich, als der zweite Schuss fiel und er neben mir auf dem Bürgersteig getroffen wurde.« »Rita, ich weiß aus den Berichten, dass du schwer verletzt warst. Aber jetzt scheint alles wieder bestens zu sein.« Allerbestens sogar. »Ja.« Sie lächelte. »Ich hatte großes Glück. Es war seltsam. Einen oder zwei Tage dachte ich, ich würde ernste Schwierigkeiten bekommen. Der Arzt sprach von einer Operation an einer Bandscheibe, da wurde ich ziemlich besorgt. Es war schmerzhaft, wie ein eingeklemmter Nerv oder so da hinten.« Sie zeigte auf ihren Nacken, eine Bewegung, die ihre Kleidung auf höchst attraktive Weise verrutschen ließ, sodass sich Eichord sehr bemühen musste, weiterhin gelassen und offiziell rüberzukommen, während sie ihm weiter von Röntgenaufnahmen erzählte, und dass es am nächsten Tag schon besser gewesen wäre und es ihr jetzt wieder gut ging. Sie war herzlich, offen, aufrichtig, sonnig, liebenswürdig und, ja, ausgesprochen sexy. Und sie war etwas höchst Erfreuliches an einem unerfreulichen Tag, daher stand er nur vor ihr und sog sie in sich auf. Herrgott. Rita Paul. Wer hätte das gedacht. Ihre Fröhlichkeit und Wärme, und auch ihre Attraktivität nagten an seiner offiziellen Zurückhaltung. Am Ende durchbrach sie seinen eiskalten Polizistenpanzer, aber leicht war es nicht. Sie hatte zwanzig bis dreißig Sekunden Plauderei dafür gebraucht. Er kam sich wie ein Einfaltspinsel vor. Es lag nicht nur daran, dass sie granatenmäßig aussah. Es lag auch daran, dass der Tag halb vorüber war und er noch nichts gegessen hatte. Es lag daran, dass er sich den ganzen restlichen Tag nicht mehr besser fühlen würde. Und außerdem, seien wir 108 ehrlich! Es lag an der Tatsache, dass sie GRANATENMÄSSIG AUSSAH! Na gut. Mann! Hmmm. Ja. Er konnte so wenig von Rita lassen wie der Mann im Mond seine Bahn verlassen konnte. »Kommen wir endlich zur Sache«, sagte er in seinem Sherlockestesten Tonfall, nur um etwas zu sagen, doch als die Worte draußen waren, verzog er das Gesicht über ihre Zweideutigkeit, aber sie lachte reizend und ... oh, verflucht. Rückblickend verschwand der Rest des Tages in einem Nebel vager Erinnerungen. Die Tatsache, dass er das Büro einer Frau betrat, die Zeugin eines Verbrechens geworden war, und sie am Ende auf einen Kaffee einlud war nur — oh, wie sollte man es nennen? - ein Ausdruck sozialer Umgangsformen. Öffentlichkeitsarbeit. Freundlichkeit. Trinken wir einen Kaffee und reden wir darüber. So was in der Art. Ein guter, tüchtiger Polizist möchte ein Verhältnis mit der Öffentlichkeit haben, das so herzlich ist, wie es nur geht, richtig? Und Jack wünschte sich SEHNLICHST ein herzliches Verhältnis mit Rita Haubrich.
Was ist nur los mit mir? dachte er, wie er sich erinnerte, obwohl er die Antwort darauf nur zu gut kannte, da eine uralte Krankheit durch seine Adern strömte. Als er an diesen herrlichen Tag zurückdachte, erinnerte er sich nur noch daran, dass er ein paar wunderbare Stunden mit dieser atemberaubenden Frau aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit verbracht hatte und es am Ende doch kein völlig verlorener Tag gewesen war. Erst am späten Nachmittag traf er wieder an der Ecke Twelfth und Clark ein, und da war es höchste Zeit für ernsthafte Polizeiarbeit. Darum gab es schließlich eine aus Bundesmitteln finanzierte Task Force, deren Netzwerk verlinkter Computer surrte, schnurrte und summte. Darum bezeichneten die besten Forensiker und tüchtigsten Kriminologen der Welt McTuff als das »bedeutendste zeitgenössische Hilfsmittel der Verbrechensbekämpfung«. Darum ersuchte ein großes innerstädtisches Polizeirevier um Hilfe. Alles lief auf einen einzigen Mann hinaus. Den besten Detective des Jahrhunderts. 109 Genie ist ein inflationär überstrapaziertes Wort, dachte er, aber vielleicht traf es in diesem Fall zu. Der genialste Verbrechensbekämpfer aller Zeiten. GOTT sei Dank, dass diese Leute Verstand und Mut genug hatten und nach Jack Eichord riefen, damit er ihnen half, diese verwirrenden Morde aufzuklären. Folgendes bekamen sie an diesem Tag für ihr Geld. Okay, dies noch vorab: Wenn Sie sich nicht wirklich gut mit Vektoranalyse, der Berechnung komplexer Variablen, der elliptischen Harmonie heterogener Konfigurationen, höheren geometrischen Funktionen und orthogonalen Paranomials auskennen - mit anderen Worten, dem ganz normalen Geniezeug eben -, dann dürfte Sie das, was jetzt kommt, nicht so sehr beeindrucken. Als erstes zeichnete Jack ein riesengroßes A, das mit seiner Symmetrie ein ganzes Blatt Papier ausfüllte, und verlieh ihm mit einem Filzstift das Aussehen, als wäre es aus Holz geschnitzt, mit Maserung, Astlöchern, Dellen und Kerben, dann verlieh er ihm eine räumliche Dimension und gab ihm mit einem Schatten Tiefe. Als nächstes - und das war der brillante Teil - schrieb er sorgfältig die Namen aller Leute, mit denen er heute in Kontakt gekommen war, deren Vor- oder Nachnamen auf den Buchstaben A endete. SorgA; Rikla war er zwar nicht begegnet, hatte aber viel über ihn nachgedacht, daher schrieb er auch RiklA. Rita schrieb er mit einem besonders schönen A: RitA; und er schrieb die Namen so neben das große A, dass es jeweils zum letzten Buchstaben ihres Namens wurde. Das nennt er sein »Gekritzel«, und er beschäftigte sich an die fünfzehn Minuten damit. Und da er nun mal ein Genie war, konnte er dabei auch noch mit einem Ohr aufmerksam auf das Getuschel rings um sich herum hören. Er erfuhr, dass die Cards in dieser Saison drei null standen, Dr. Watson, und dreizehn der letzten fünfzehn regulären Spiele versiebt hatten. Dass alle auf den Bänken der Cardinais Dallas hassten. Dass zwei Detectives namens T. J. Monahan und Pat Skully entweder einen Freund oder Kollegen namens Art Le Castor hat 109 ten, der abstoßend eklige Witze erzählte. Dass es heute Abend regnen würde. Dass alle Tomaten aufgegessen waren. Das inspirierte Eichord so sehr, dass er seinen Filzstift nahm und eine »Art-Le-CastorKritzelei« begann. Mit dem komplexen Ergebnis war er mehr als zufrieden: eine dichte Abfolge verbundener Schnörkel umgaben aus den Buchstaben des Namens »Art Le Castor« gebildete Worte und - was das Wunderbare ist - ergaben sogar einen sinnvollen
Kontext. Der Satz, aus dem die Kritzelei bestand, lautete: »Art Le Castor tat als Ratte so Castro« und »Actor rast als Co-Star statt Astro Astor«. Er verspürte unbändige Aufregung, als er feststellte, dass er noch den Ausdruck »Art las Tarots Rat als rote Tat trara, Lea trat Ast so tot« hinzufügen konnte, noch mehr Worte, die ihm fünfzehn Minuten Kritzelei schenken konnten, als eine Stimme hinter ihm ertönte. »Was bin ich froh, dass sich McTuff so in unseren Fall reinkniet. Jetzt sehe ich das ganze Ausmaß brillanter Ermittlungsarbeit, das uns erwartet«, gefolgt von irrem Gelächter. Eichord drehte sich um; neben ihm stand ein hünenhafter Mann, den wieherndes Lachen schüttelte. »Bud Leech, Geheimdienst.« Er lachte. »Freut mich.« »Gott, das hoffe ich«, entgegnete Eichord und lachte mit ihm. Zwei freundliche Gesichter an einem Tag, das war fast zu viel für einen Nachmittag. Leech erinnerte mehr an die Polizisten, die Eichord gewöhnt war; sie gingen nach unten und tranken einen Kaffee, und Eichord plauderte unterwegs und erzählte ein wenig von dem Fall und den eigentümlichen Gegebenheiten in der Stadt. Jack erfuhr, was Sache war. Ein Skandal, bei dem es um die Mafia ging, und zwei Polizisten, die die Hand aufhielten, hatten die Einheit jüngst in der ganzen Stadt in Misskredit gebracht. Alle hielten ihn für einen Spitzel. Sie gingen davon aus, dass dieser vorgebliche McTuff-Einsatz eine Falle der Dienstaufsicht war. Bud Leech erzählte ihm im Lauf des Tages noch viel mehr. Er 110 berichtete, wie die Mafia die höchsten Kreise der Truppe hier infiltriert hatte, wie sie ihre Tentakel bis in die Gerichtsbarkeit und die Stadtverwaltung ausstreckte. Samt und sonders Fakten, die Eichords Eindruck bestätigten, dass der Schein von St. Louis trog. Immerhin sah er allmählich einige Puzzleteile, das Problem bestand darin, mit welchen Namen er sie verbinden sollte. Gesetzestreu oder gesetzlos, Opfer oder Täter, wie immer im lachend so genannten wahren Leben ist nichts ausschließlich schwarz oder weiß. Die Wirklichkeit besteht aus Grautönen. In Abstufungen. Und hier hatten sie es noch mit einem weiteren Faktor zu tun. Eichord vermutete, dass es nicht ausschließlich um einen Bandenkrieg ging. Er hielt sich an eine eherne Regel für Las Vegas. Hast du Pech, dann geh wech; wenn das Glück lacht, spiel die ganze Nacht. Er rief Rita Haubrich an, die nach dem ersten Läuten abnahm, und er fragte sie, ob sie einem Fremden am Wochenende vielleicht die Sehenswürdigkeiten der Stadt zeigen könnte und erinnerte sich später, wie er an ihr rotes Haar und die langen Beine und den Mund dachte, und er stieg ins Auto ein und sang leise vor sich hin, wie der blasse Mond ihn inspirierte und versuchte, nicht die Lippen zu bewegen und dachte immer noch an die gutaussehende Rothaarige, als die ersten Oktoberregentropfen auf seine Windschutzscheibe klatschten. Spain hatte einen kleinen Karton mit der gedruckten Aufschrift GRETA GRISWOLD in seinem Hotelzimmer. In dem Karton befand sich ein braunes Herrentoupet, eine gewöhnliche rechteckige Brille mit Fensterglas, eine Pfeife nebst Tabak und weitere Kleinigkeiten, die er für eine Tarnidentität brauchte. Dieser Person gehörte, wieder unter anderem Namen, die fiktive Firma Direct Import Enterprises. Diese Maske legte Spain stets an, wenn sich persönlicher Kontakt mit einer Greta Griswold, seiner Firmensekretärin, daher der Name auf dem Karton, nicht vermeiden ließ. 110
Mit ihrer Hilfe würde er bald in dem Haus sein. Er arbeitete bereits Pläne für den Verhörraum aus, um seinem weiteren Vorgehen eine zusätzliche Dimension an Sicherheit hinzuzufügende höher ihn seine Rache in die Hierarchie der Organisation führte, desto größer wurde die Gefahr für ihn persönlich, mit ein Grund für eine sichere, schalldichte Zuflucht, wo er sich mit seinen Opfern aufhalten, sich Zeit lassen konnte, solange er wollte, wo ihre Schreie keine unerwünschte Aufmerksamkeit weckten. Wo Blut fließen konnte. Eine Frau namens Greta Griswold unterstützte ihn dabei. Er hatte sie über seine Stellenanzeige gefunden. Sie war zweiundfünfzig. Graue Maus. Schüchtern. Gehorsam. Einigermaßen tüchtig. Nicht unbotmäßig klug oder neugierig. Er bezahlte ihr gerade genug, dass sie dankbar für das gute Gehalt war, aber nicht so viel, dass sie misstrauisch werden würde. Meistens telefonierte Spain mit ihr, aber damit er nicht zu bizarr rüberkam, ließ sich ein persönlicher Kontakt manchmal nicht vermeiden. Er hatte sie überzeugen können, dass er nur ein sehr beschäftigter, zerstreuter und exzentrischer Arbeitgeber war, der gut bezahlte und ihr eine Menge ungewöhnliche Verantwortung übertrug. Er zog sein Unternehmertoupet und die Brille auf, steckte sich die Pfeife in den Mund und ging zu den nicht weit entfernten Büroräumen. Mit der Verkleidung hätte er keinen täuschen können, der ihn kannte, aber bei einer Frau, die ihn immer nur ein paar Minuten zu Gesicht bekam, reichte sie vielleicht aus, ihn für eine Personenbeschreibung unkenntlich zu machen. Brille, Pfeife und einige Ticks und Manierismen, an mehr würde sie sich bei ihrem Arbeitgeber nicht erinnern. »Guten Morgen«, sagte er mit der verkniffenen Stimme, die er nur für sie benutzte. »Guten Morgen, Sir«, antwortete sie und leierte sofort eine Liste von hundert Kleinigkeiten herunter, die sie für ihn notiert hatte. »Die Post aus dem Postfach liegt dort auf Ihrem Schreibtisch, ich habe einen Scheck eingelöst und auf das Konto einbe 111 zahlt, und das hier ist das Bild des Hauses«, schwallte ihn mit allen Pflichten voll, die sie gewissenhaft erledigt hatte, und reichte ihm einen Schlüssel, was er lediglich mit einem »Hmmmmm — prima« quittierte. »Und der ist für vier-drei-eins. Hier die Fotokopien der Pläne. Man sieht nicht viel darauf, aber es hat, äh, diese ungewöhnliche Kombination von Dach und Decke, die Sie wollten, äh, und Sie können es sich jederzeit ansehen. Es wären fünf-fünfzig pro Monat. Und hier habe ich den neuen Ankauf in die Kladde für die Ausgaben eingetragen ...« Während sie ihm weiter die frei erfundenen Geschäftsdaten herunterleierte, blendete er sie aus und betrachtete das körnige Foto des Hauses. Er hatte die Mietimmobilie schon von außen begutachtet; sie sah perfekt aus. Das Grundstück war ein zusätzlicher Bonus. Er ließ sie weiter über die Angelegenheiten der Scheinfirma berichten, bis ihr der Stoff ausging. Sie hatte »seine Botengänge« für ihn erledigt. Er ließ sie alles erledigen, wo persönlicher Kontakt mit anderen erforderlich war, wo Überwachungskameras Kunden am Bankschalter filmten, wo sie auf ein Bild des Individuums bestanden, das ein Postfach eröffnete, und so weiter. Ein Haus zu mieten ging offenbar unproblematischer über die Bühne als eines zu kaufen, daher ließ er sie ausgiebig mit Maklern verhandeln. Gewiss würde er Gegenstand zahlreicher Spekulationen werden, weil er die Suche nach einem Haus seiner Sekretärin überließ, aber es war sicher nicht das erste Mal, dass ein vielbeschäftigter Firmenchef so etwas an jemand anderen delegierte.
Wenn er das Haus bezog, bestand keine Veranlassung mehr für direkten Kontakt mit dem Makler oder dem Besitzer, solange die Schecks für die Miete pünktlich eintrafen. Greta würde er mit Scheinarbeit beschäftigt halten, sie Briefwerbung für sein nichtexistentes Geschäft vorbereiten und auf Anfragen und Angebote antworten lassen, die er Direct Import Enterprises von seinen anderen Briefkastenfirmen zuschusterte. Auf jeden Fall würde er 112 sie sich für die Anlässe warm halten, wenn ein Strohmann, oder eine Strohfrau, erforderlich wurde. »Ich seh mir das Haus heute an. Es ist doch niemand da, der Reparaturen erledigt oder so?« »Nein, Sir. Man gab mir zu verstehen, dass es leersteht.« »Okay. Ich sag Ihnen Bescheid. Ich rufe an, wenn es mir gefällt, dann können Sie die weiteren Formalitäten für mich übernehmen. Schließen Sie ab und kümmern Sie sich nur noch darum, und wenn das Geschäft unter Dach und Fach ist, können Sie heute früher nach Hause gehen. Okay?« »Ja, Sir. Danke.« Sie strahlte bei dem Gedanken an einen frühen Feierabend. Auf dem Weg zu dem Haus brüllte er freudig vor Lachen darüber, was er schon alles erreicht hatte. Einfach großartig, wie er die Fraktionen des Mob gegeneinander ausgespielt hatte, und dank Troxells Bericht und seiner intimen Kenntnisse über die Schwächen der Familien war es ein Kinderspiel gewesen. Der Ausdruck sagte ihm zu. Ein Kinderspiel. .Am meisten musste er lachen, weil er die dämlichen Spatzenhirne dahingehend übertölpeln konnte, dass sie Lyle Venable selbst für ihn aus dem Verkehr zogen. Jetzt hatte er ein Ziel für beide Seiten im Auge, das wirklich für einen Paukenschlag sorgen würde. Johny Picciotti, der langjährige Leibwächter von Blue Kriegal. Und seine Entsprechung im anderen Zweig der Familie, ein Schläger namens Tripotra. Wenn er es richtig anstellte, würde ihr jeweiliger Tod wie ein weiterer Schachzug in dem anhaltenden Bandenkrieg aussehen, wenn auch nur für die Polizei und die Medien. Er sah sich das Haus an und fand es ideal. Wie für seine Zwecke geschaffen. Die abgelegene Lage wie auch die Zimmer selbst. Er wollte »einen ungewöhnlichen Dachfirst mit Winkeln und Ecken überall«, hatte er Greta gesagt und ihr sogar ein paar Skizzen gemacht. »Ich mag Häuser mit ungewöhnlich geformten Zimmern, Dächern wie Kathedralen, Maisonettewohnzim 112 mer ...« Und so weiter. Aber in Wahrheit wollte er nur ein Haus, in dem sich ein geheimes Zimmer einrichten ließ, ohne dass die Wände und Mauern es auf den ersten Blick verrieten. Spain hielt es für perfekt. Er stand in dem leeren Gebäude und versuchte sich vorzustellen, wie es sein würde, wenn die gequälten Schreie von Abschaum wie Blue Kriegal darin erklingen würden, und lachte laut auf. Am meisten freute er sich darauf, Ciprioni herzubringen ... Oh, was für ein Vergnügen, wenn er ihn langsam aufschnitt, ihm die Eingeweide aus dem Körper zog, ihn zusehen ließ, wie er ihn langsam und genüsslich ausweidete und ihm seine eigenen giftigen Därme voller Scheiße fütterte. Er kehrte ins Motel zurück, nahm die Greta-Griswold-Perücke ab und griff zum Telefon.
»Direct Import Enterprises«, sagte die Frau erfreut über einen ihrer zwei bis drei Kontakte mit der Außenwelt täglich. »Ich bin es«, informierte er sie überflüssigerweise. »Gefällt mir. Sehr hübsch. Bezahlen Sie die zwei Monatsmieten im Voraus und holen Sie sich alle Schlüssel. Unterschreiben Sie den Mietvertrag für mich, wenn das nötig sein sollte.« »Okay. Und was, wenn Sie persönlich erscheinen und ihn unterschreiben müssen?« »Erklären Sie ihnen, dass ich zu beschäftigt bin. Dass ich gerade ein überaus wichtiges Geschäft mit zahlreichen Sitzungen abwickle, die meine ständige Anwesenheit erfordern dann nehmen Sie alles mit, was unterschrieben werden muss, ich unterschreibe es und lasse es ihnen zurückschicken.« Den Rest des Tages arbeitete er an Gerätschaften. Am Spätnachmittag parkt er in der Straße, wo das Mietshaus liegt, in dem Tripotra wohnt. Er sah den schicken Wagen des Mannes auf dem Parkplatz. Ein schwarzer Mercedes mit dem kindischen Wunschnummernschild BADTRIP sollte nicht übertrieben schwer zu verfolgen sein. Spain spürte, wie ihm der Kopf zur Seite kippte und wachte wieder auf. Dunkler Abend. Scheiße. Er war eingenickt. Der 113 Mercedes ist noch da. Fünfundvierzig Minuten später, als Spains Haltung ziemlich unbequem wird, kommt jemand aus dem Haus und steigt in das schwarze Auto ein. Spain folgt ihm in geringer Entfernung, als er wegfährt. Nach fünfzehn Minuten hält er an und redet mit jemand, den Spain nicht kennt. Sie steigen in ihre Wagen ein, er folgt ihnen ins Blaue. Das andere Auto ist ein dunkler Caddy, der den anderen Fahrer überholt; Spain hängt sich weiter an BADTRIP. Es wird dunkel, die Verfolgung schwieriger. Die Scheinwerfer entgegenkommender Fahrzeuge taten Spain in den Augen weh. Er sitzt seit Stunden im Auto und ist total verkrampft. Nacken und Rücken schmerzten, sein Hintern fühlte sich taub an, er hatte leichte Kopfschmerzen. Er kurbelte das Fenster ein Stück herunter und rieb sich die Augen. Als sich ein Idiot von Lastwagenfahrer vor ihn drängte, verlor er den schwarzen Mercedes vorübergehend aus den Augen, dann entdeckte er ihn wieder und holte ein wenig auf. Den dunklen Caddy sah er vorübergehend nicht mehr. Plötzlich nehmen sie beide eine Ausfahrt, und Spain blieb nichts anderes übrig, als ihnen zu folgen. Ein Konvoi aus drei Fahrzeugen. Er sieht den Caddy. Jetzt ist er hellwach, seine Gedanken rasen. Was haben die vor? fragt er sich. Biegen sie am Ende der Ausfahrt rechts oder links ab? Rechts. Ihm bleibt keine Wahl. Er muss ihnen folgen. Keine Frage. Sie halten nicht an sondern fahren immer weiter. Spain bleibt dran. Hier, auf dem Highway, sangen Raser und Lastwagen das Lied des Straßenverkehrs. Der schwarze Mercedes bog scharf ab auf eine Stahlbetonbrücke, fuhr etwas zu schnell vom Asphalt ab und schlingerte auf dem Schotterplatz. Der Fahrer bremste hinter einem parkenden Fahrzeug, löschte die Scheinwerfer, stieg aus und sah die Straße hinauf und hinab. Er steigt in das andere Auto ein. Spain, der dem Mercedes gefolgt ist, sieht den Mann in den parkenden Wagen einsteigen und fährt 113 auf der anderen Seite der Kurve rechts ran. Die Strecke ist trügerisch kurz, aber er weiß, wie es ist, wenn man sich durch das bewaldete Gelände jenseits des Highways schlagen
will; das Gras ist offenbar nicht so hoch, aber er hat keinen blassen Schimmer, was ihn erwartet. Doch die Mühe lohnt sich, denn wenn sie eine Weile in dem parkenden Auto bleiben, kann er ungestört aus dem Wald heraus schießen. Noch während er durch das Gras stapft und die steile Böschung runterschlittert, überlegt er sich, ob er einfach umkehren, an ihnen vorbeifahren und wenden soll, als hätte er sich verirrt, um sie auf dem Rückweg zu erledigen. Nein, entscheidet er, er nimmt die Röhre und ballert ihnen einen oder zwei Schuss damit rein. Das Gelände ist perfekt für die Röhre. Er kann sich zurückschleichen, die Böschung rauf, in sein Auto einsteigen und niemand käme auf die Idee, dass er auch nur in der Nähe der beiden anderen Fahrzeuge gewesen war. Verkehrslärm und Insektengeräusche übertönen seine Schritte, als er sich dem Waldrand nähert. Kondensierender Atem des Fahrers hat ein kleines, frostiges 0 auf der Innenseite der Windschutzscheibe gebildet; er hört dem anderen Mann zu und scheint fast hypnotisiert von den wachsenden Kreisen zu sein, die ihr warmer Atem auf der Scheibe erzeugt. »Ich muss das Scheißfenster runterkurbeln«, sagt der Mann, öffnet die Scheibe und atmet die Luft mit ihrem feuchten Beigeschmack von Dunst und Grillen und Moskitos ein. »Sonst wird die Scheibe blind.« »Dann schalt doch den Scheißmotor und die Klimaanlage wieder an.« »Ich könnt alle Fenster runterkurbeln«, sagt der Fahrer, rührt sich aber nicht. »Klar. Könntest du. Aber dann fressen uns die Scheißmücken auf und so. Lass einfach den Motor wieder an und die Klimaanlage pusten. Oder gib Ruhe und lass die blöde Scheibe anlaufen. So oder so.« 114 »Beschissene Jahreszeit, man erfriert, wenn man die Klimaanlage anschaltet und geht ein vor Hitze, wenn man's nicht macht, oder -« »Ja, ja, schon gut, hör mal, ich muss heut Nacht noch aufs Scheißland rausfahren, also sieh zu, dass was geht, ja?« »Ach was, und ich hab auch nicht die ganze Nacht Zeit. Also los.« Der Mann am Steuer drehte sich um, hebt mühsam ein schweres Bündel vom Rücksitz hoch und schwingt es über den Sitz. »Was hast n?« »Achthunnertfünfzig pro Stück muss ich dafür kriegen. Vierunddreißig Cent.« »Herrgott. Das sind ScheißLUGER. Ich will keine Scheißluger.« »He. Scheiße, das sind P-Achtunddreißiger. Das sind keine Scheißluger.« »Scheißegal, was sie sind, ich willse nich. Die sehn aus wie ScheißLUGER. Ich will Achtunddreißiger, verdammt. Scheiß-REV OL V ER, Herrgott noch mal.« »Das sind keine ScheißLUGER, verflixt. Ich kenn mich aus. Wir reden hier von waschechten beschissenen Walther Parabellum P-Achtunddreißigern.« »Und wenn's Luftgewehre sind, fuchtel nicht mit dem Scheißding vor meiner Nase rum, Herrgott.« »Ja. Die Scheißeichhörnchen da draußen könnten sie sehen. Pass auf. Wenn du das Scheißteil im Holiday Inn abfeuerst, dann geht die Kugel durch den Kopf deiner Schnalle und die Wand und das Kopfteil im Nebenzimmer, durch den Kopf sei ner Schnalle, und dann ploppt die Kugel aus dem Schädel und kullert ihr auf die Titten, springt von den Titten ab und landet auf der Scheißbettdecke. Du kannst den Zimmerservice rüber-
schicken und dir die Scheißkugel holen lassen. Wir reden hier von Feuer kr aft , ne Luger taugt kein Scheiß nich.« »Ich brauch keine Knarre fürs Holiday Inn, Mann. Wenn ich 115 durch die Wand vom Holiday Inn und die Schnalle von jemand ausknipsen will, dann fahr ich einfach mit dem Sch ei ß aut o rein. Ich brauch einen Revolver.« »Du hast keine Ahnung von Waffen. Nix für ungut. Ich hätt dir auch 'n Scheiß andrehen können. Abzugsstollen, die kristallisieren und so n Scheiß. Wenn der Hahn unten ist, drehst du die Sicherung und die sperrt den Abzugsstollen. Wenn de das aber machst und das Scheißding ist gespannt, dann versperrt n kleiner Stahlbolzen den Abzugsstollen und der Hahn knallt auf die Sicherung und nicht auf die Patrone, wie bei mancher von der Nachkriegsscheiße. Man lädt 'ne Patrone, und KA-BUMM geht das Scheißding los. Das sind Selbstmordwaffen. Vierunddreißig i st g esch enkt für die Dinger. Die sind selt en. Wenn du nein sagst, kann ich bis domani anderswo neunhundertfünfzig pro Stück dafür kriegen, kapiert?« »He, bei allem Respekt für dich und so, aber du hast so wenig Durchblick bei Waffen wie ich, klar? Du bist nur 'n Scheißdieb, genau wie ich, klar? Die ganze Scheiße von wegen dass du mit deinem Bolzen 'n Hahn abknallen willst, das ist für 'n Arsch, Mann. Macht aber nix. Ich nehm die Luger aus'm Stollen und geb dir fünfundzwanzig für den Sack, und dann nehm ich die Scheißdinger und bin glücklich damit auch wenn's keine Revolver sind. Also, wie sieht's aus? Sind wir uns einig, oder was?« »Ich will dir mal was sagen, pai san, du gibst mir fünfundzwanzig-hundert, dann kriegste 'n astreines Teil. Ich hab 'ne brandneue Colt Government für fünfundvierzig ACP, angepasst, vom Hersteller zertifiziert, sauber wie geleckt und so jungfräulich wie 'ne Nonnenmöse. Ist 'n halbautomatischer Rückstoßlader. Hat 'ne Griffstücksicherung, hat 'n abkippenden Lauf und 'ne Verriegelung mit Kettengliedsteuerung, hat 'ne Flügelsicherung, hat Halbstellungsrast und hat ne Trennstücksicherung, und ich leg noch zwei Magazine mit Spezialfedern mit drauf. Fünfundzwanzig Lappen und sie gehört dir.« »Ich geb dir fünfundzwanzig für die vier Luger hier.« 115 »Pasadena.« »Hä?« »El Paso, Baby. Ich brauch vierunddreißig Bohnen. Harte Dollars, sonst geh ich mit der Ware anderswo hin. So sieht's aus.« »Ich gab dir zweitausendsiebenhundertfünfzig, Ende der Fahnenstange. Und du packst noch zweihundert Schuss Munition drauf.« Gelächter. »Hör zu, war echt lustig, he. Aber ich hab was zu tun. Ernsthaft. Willste'se für 3400 oder nicht? Hosen runter. Ich hab meine Zeit auch nicht gestohlen.« »Was ist mit Munition? Ich muss die Scheißmunition doch nicht extra kaufen, oder?« »Na logo, Baby. Ich krieg das Scheißzeug ja auch nicht für umme, kapiert?« »He, leck mich. Ich seh mich anderswo um.« Die Autotür. »Hör zu. Gib mir vierunddreißighundert und ich leg noch vier Schachteln Parabellum drauf.« »Vier was?« »Vier Schachteln neun Millimeter. Das war's. Vierunddreißig Piepen. Bar auf die Kralle.« »Meinetwegen. Scheiße.« Pause.
»Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn ...« Spain wollte gerade abdrücken, als das Licht in dem Auto anging, die Tür geöffnet wurde und der Mann ausstieg. Er hatte eine M-31 in seine Röhre geladen. Selbstgebaut aus einer Übungsgewehrgranate, eins von den ausgesonderten Teilen ohne Zünder und Sprengladung, aber ansonsten intakt. Flügel unversehrt. Er drückte ab, als sich der Mann wieder ins Wageninnere beugte und zählte: »Acht, neun, zehn, zweitausend, und eins, zwei, drei vier«, so blätterte der Kerl die Hunderter hin, als die Granate in die Seite des Autos einschlug. Der Mann hörte das hüstelnde Plop, als die Ladung mit Verzögerung hochging, aber als er das 116 Geräusch registriert hatte und sich zu den Bäumen umdrehte, hatten sich sein Kopf und der Oberkörper schon in rotes, auseinanderspritzendes Gelee verwandelt; Fahrer und Auto und der Sack mit den »Lugern« und der ganze Rest verwandelten sich im grell orangeroten Feuerball des flammenden Todes in scharlachroten Glibber. Spain drehte sich um stapfte durch das Gras in dem Wäldchen und kletterte wieder die Böschung hoch zu seinem Wagen, Einmal sah er zurück zu dem Inferno unten an der Straße, dem schwarzen, öligen Rauch, der nach Chemiefabrik roch. Der Mercedes war noch unversehrt, aber die Flammen würden jeden Moment den Tank zur Explosion bringen; Spain spuckte aus und atmete tief die Abgase im Kielwasser der vorüberfahrenden Autos ein. Er stieg ein, ließ den Motor an und horchte nach der Explosion, als er sich in den fließenden Verkehr einfädelte. Bud Leech und Eichord waren gerade unterwegs, um noch einige späte Besuche abzustatten, als Leech einen Funkspruch bestätigte. »Achtzig-eins-elf«, sagte er der Zentrale, die Kennziffer der Geheimdienstabteilung. Die Zentrale gab ihm die Daten durch, und schon machten sie sich in einem Gewitter von Statikrauschen und unverständlichem Polizeichinesisch auf den Weg zum Tatort. Eichord hörte »vierzig-drei-null-vier« heraus, eine Zahl der Mordkommission, und »Castle Road«, mehr aber auch nicht. Sie fuhren in einem Streifenwagen rasend schnell Richtung Norden; Eichord konzentrierte sich, damit er den Kreuzungen und Biegungen folgen konnte, gab es dann aber auf und entspannte sich, während sie durch den nächtlichen Verkehr brausten. »Ich hab keine Ahnung, wo wir sind.« »Wissen Sie, in welchem Stadtteil wir sind?« »Ich bin nicht mal sicher, in welchem Bundesstaat wir sind.« Leech lächelte. »Denken Sie nur daran, die hohen Zahlen sind 116 die Bezirke nördlich von St. Louis, das heißt nördlich der Stadt, und —« Das Sprachgerät funkte ihm dazwischen. Es folgte ein weiterer unverständlicher Wortwechsel in Polizeichinesisch, dann informierte er Eichord. »Eine Autobombe.« Ein weiterer Mord oder zwei in der anschwellenden Akte mit dem Titel »Russo«, nach dem ersten Ganoven, dessen Ermordung den Bandenkrieg ausgelöst hatte. Bud Leech hatte Erfahrung im Außendienst. Technisch gesehen war er heute ein Geheimdienstaufseher, stammte aber aus einem kleinen Kaff, wo man alles selber machte; man sicherte den Tatort ganz allein, machte Bilder, stellte Beweise sicher, fuhr ins Revier, schrieb den Bericht und ermittelte als Ein-Mann-Team. Jetzt war er nur noch
ein Beobachter. Er beobachtete religiöse Kulte; die Typen paramilitärischer Wehrsportgruppen, denen bei Söldnerphantasien einer abging; und eine ganze Menge außer dem, was in die üblichen Rubriken des »organisierten Verbrechens« fiel, darunter Glücksspiel, Nutten, Erpressung, Schutzgeld, Porno und natürlich der Knüller, Drogen. »Wie sieht Ihre Vorgehensweise aus, wer zu einem Mordfall gerufen wird?« fragte Eichord, während der Streifenwagen auf der Überholspur durch die Stadt raste. »Wie meinen Sie das?« »Ich meine, wer erfährt davon und wer nicht?« »Oh, ich erfahre durchaus davon. Aber Sie meinen, ob die Zentrale uns anruft.« »Ja.« »Wenn jemand anruft und der Zentrale einen Mord meldet -oder sagen wir eine fatale Schießerei -, dann ruft das erste Individuum am Tatort automatisch den Krankenwagen, und wenn das Opfer tot zu sein scheint, werden automatisch vier Leute angerufen. Mit Ihnen jetzt fünf. Die Mordkommission, der Gerichtsmediziner, die BS-Einheit und wir.« »BS-Einheit?« »Das ist der mobile Einsatzwagen. Beweismittelsicherung. So 117 haben wir in den meisten Fällen einen recht gut erhaltenen und dokumentierten Tatort. Die BS-Jungs sind umgehend zur Stelle und kümmern sich um alles.« »Gibt es Ausnahmen bei schweren Fällen? Bei denen Sie nicht angerufen werden?« »Oh, sicher. Tödliche Verkehrsunfälle. Etwa in der Art, klar.« »Nein. Ich meine, nehmen wir an, die finden einen Typen der in einem verlausten Hotelzimmer am Strick hängt. Baumelt mit einem Abschiedsbrief an der Brust vom Deckenbalken. Ruft man Sie vor Ort?« »Nein. In dem Fall vermutlich nicht. Nein.« »Nein.« Der oder die unbekannten Täter hatten großes Glück gehabt, erfuhren Leech und Eichord, als sie am Tatort eintrafen. Der Lieutenant war bereits vor Ort. »Mindestens zwei Tote«, informierte Springer sie. »Leichen vollkommen zerfetzt. Möglicherweise ein dritter Toter. Einer in dem Fahrzeug« - er zeigt in die Richtung einer verkohlten und rauchenden Karosserie, die im angrenzenden Feld auf der Seite liegt - »und daneben ebenfalls einige menschliche Überreste.« Er wirft einen Blick auf seine Notizen. »Ein auf einen Anthony Tripotra alias Tony Trip zugelassener Mercedes. Schläger der DagatinaFamilie. Der andere ist unmöglich zu identifizieren. Die Jungs, die das getan haben, hatten unwahrscheinliches Glück. In keiner der Farmen und Häuser unterwegs ist jemand zu Hause. Und von den ganzen braven Bürgern, die die Explosion am Highway gehört oder die Rauchwolke und den ganzen Scheiß gesehen haben, hat sich nicht einer die Mühe gemacht und uns angerufen. Wir wären gar nicht hier, wenn nicht die Feuerwehr angerufen worden wäre.« »He! Lieutenant« - ein uniformierter Beamter und zwei Detectives standen am Straßenrand und stocherten in den Büschen und Bäumen herum — »hier drüben.« Ein Polizist der Mord 117 kommission, ein Detective namens Richard Glass, hielt eine Art Patronenhülse in einer Beweismitteltüte hoch. Der Rauch, der ihnen entgegenschlug, stank bestialisch. »Alles deutet auf einen Profi-Anschlag hin.«
»Richtig.« Eichord betrachtete den Inhalt der Tüte. Ein Techniker kam mit einer Waffe, die er irgendwo gefunden hatte, die Straße entlang. Sie sah nach den Überresten einer Walther P-38 aus. Lee und Eichord stocherten herum, sahen sich nach mehreren Minuten an, zuckten gleichzeitig die Achseln und kehrten zum Ermittlerteam zurück. »Haben Sie genug gesehen?« fragte Leech. »Jou.« »Sie haben da hinten nicht viel gesagt«, meinte Leech, als sie ins Auto einstiegen. »Ich hätte gedacht, wir würden jetzt richtige Kriminologie zu sehen bekommen, aber Sie haben nur rumgewühlt und so. Ich war echt enttäuscht.« Er grinste breit, »Tja. War mein freier Tag.« Sie fuhren Richtung Stadt zurück. »Sie haben übrigens auch nicht gerade viel gesagt. Die Schweigsamkeit in Person.« »Das ist meine Art, Jack. Ich mach nicht viel. Ich häng einfach ganz entspannt rum.« »Hm-hmm.« »Abchecken.« »Überlegen, wer die bösen Buben sind.« »Schon klar.« Traditionell erstatteten Streifenpolizisten, die zum Tatort eines Mordes kamen, einem Bezirksaufseher Bericht, der vor Ort kam und die Sicherung des Schauplatzes übernahm. Das konnte ein Detective Sergeant sein, und er behielt das Kommando auch dann, wenn später ein ranghöherer Beamter hinzu kam. Wenn die Kriterien den richtigen Vorgaben entsprachen, wurde irgendwann Eichord hinzugezogen. Er wollte sicher sein, dass es auch dazu kam. »Was sind denn die Kriterien in den Vorschriften, wer bei 118 einem Bombenanschlag oder einem Mordfall dieser Art benachrichtigt wird?« »Hm. Erstens ... jemand muss ziemlich tot sein.« »Gut. Das leichnamt ein.« »Großer Gott. Ich geb's auf. Okay. Kommt ganz auf die Situation an. Vor allen Dingen hängt der Anruf vom Arbeitspensum des jeweiligen Tages ab. Aber Sie müssen sich keine Sorgen machen. Alle wissen Bescheid. Wenn es jetzt passiert, wird Jack Eichord zuerst informiert.« Bud Leech war, abgesehen von Springer, der einzige Polizist in St. Louis, der bereit war, ihm jeden Mist über alles zu verzapfen. Er betrachtete den Mann. Er hatte einen markanten Kiefer und eine große, gebrochene Hakennasse, die ihm fast das Aussehen von Dick Tracy verlieh. Wäre er nicht ganz so groß und massig gewesen, hätte Leech gut und gern Hut und gelben Trenchcoat anziehen und als Goulds Comic-Held durchgehen können. Eichord sagte: »Geben Sie mir eine Verhaltensmaßregel.« »Hm?« »Sie wissen schon, eine Verhaltensmaßregel ä la Dick Tracy. Die mir bei den Ermittlungen nützlich ist.« »Okay. Wenn Sie mitschreiben möchten, prima. Fertig?« Eichord grunzte zustimmend. »Stolpern Sie nicht über ihren Schwanz. D as ist eine Verhaltensmaßregel!« »Verdammt. D i e Gefahr besteht sicher nicht.« Auf der Rückfahrt erzählte Leech ihm von der Geheimdiensteinheit. Früher diente sie ausschließlich dem Schutz von Würdenträgern, inzwischen jedoch legte sie Dossiers über
alle Mitglieder des organisierten Verbrechens an, die möglichst immer auf dem neuesten Stand sein sollten. Manchmal arbeitete sie als unabhängige Einheit. Manchmal in Koordination mit Staats-, County- oder Bundesbehörden, Task Forces wie McTuff, DEA; und intensiv mit der Drogenfahndung. Ihr Zauberwort hieß Informanten. IRA, fasste Leech es zusammen: Informationen, Recherche, Aufklärung. 119 Eichord kannte sich mit Informanten aus. Sie wurden Freunde. Auch wenn man nie mit ihnen »ins Bett gehen« wollte, im übertragenen oder wörtlichen Sinne, machte man es am Ende doch. Es existiert ohne jeden Zweifel ein starkes Band, das sich im Lauf der Jahre zwischen einem Polizisten und einem Spitzel entwickelt. Selbst der übelste, verkommenste Junkie ist ein menschliches Wesen wie man selbst. Und wenn die betreffende Person einem wichtige Informationen gibt und einem so hilft, wichtige Fälle aufzuklären, fällt es verdammt schwer, nicht auch ihre positiven Seiten zu sehen. Sie unterhielten sich darüber. »Es gibt Leute, mit denen habe ich seit neun, zehn, elf Jahren zu tun«, sagte Leech. »Sie schulden mir nichts, und ich schulde ihnen ganz sicher nichts, aber sie versorgen mich trotzdem immer noch mit brauchbarem Zeug. Vor neun oder zehn Jahren haben sie irgendeine Scheiße gebaut. Wurden verhaftet, warteten auf ihren Prozess oder versuchten, sich von irgendwas reinzuwaschen, so kommt man mit ihnen in Kontakt, aber inzwischen sitzt ihnen niemand mehr im Nacken und sie geben einem immer noch Infos. Ist das bei Ihnen ähnlich?« »Ja. Unbedingt. Und man freundet sich an.« »Stimmt. Jemand hilft einen, wie das bei Freundschaften so üblich ist. Wenn man eine menschliche Ader in sich hat, empfindet man ziemlich schnell Freundschaft für sie. Unheimlich.« »Liebe geht seltsame Wege.« »Daran erinnere ich mich auch. Mickey und Sylvia?« »Herrr-gotttt. Sie sind älter als Sie aussehen.« »Ich bin sogar größer als ich aussehe. Also hüten Sie sich, Freundchen.« »Man kann nicht größer sein als man aussieht, Godzilla. Sie wirken auf mich so groß, als könnten Sie Wildgänse im Flug mit der Hand einfangen.« Darüber musste er brüllend lachen. »Das höre ich eben zum zweiten Mal«, sagte er kopfschüttelnd. 119 »Erst zum zweiten Mal?« »Ja. Beim ersten Mal war ich neun Jahre alt.« An jedem Tatort, das wusste Eichord, färbte etwas auf einen persönlich ab. Ganz gleich, wie oft man einen sah, selbst der hartgesottenste, abgestumpfteste Polizist verspürte etwas an den besonders Schlimmen, ein Gefühl der Vergeblichkeit, ein Fünkchen Mitleid über den Verlust; möglicherweise ging es auch schleichend vonstatten, in Form von Müdigkeit und Resignation, die sich als lebensmüde Ironie oder schwarzer Humor unter der Gürtellinie äußerten. Irgendetwas, das einem half, damit fertigzuwerden. Eichord hatte schon Schlimmes gesehen. Kinder. Haustiere. Alte Leute. Ganze Familien. Massengräber. Folterszenen, neben denen Gemälde der Hölle aussahen wie pastorale Landschaftsidyllen von Wyeth. Manche hatte er nie wieder völlig abschütteln können. Als sie durch den nächtlichen Verkehr fuhren, kamen sie zu einer Stelle, wo der Highway durch Findlinge und einen Felsen, so groß wie Providence, Rhode Island, gesprengt worden war und irgendein Schwachkopf eine geistreiche Weisheit im Stil des zwanzigsten
Jahrhunderts hinterlassen hatte. Auf der Oberfläche des großen Felsens stand, von Sonne und dem Zahn der Zeit schon leicht ausgebleicht, als krudes Graffiti mit verwackelten Buchstaben: HARRY WIXT Die verlorene Generation. Die Beat-Generation. Die Ich-Generation. Die High-TechGeneration. Und jetzt die Harry-wixt-Generation. Scheißbegriffe für eine Lebensart. Ein zukünftiger Archäologe vom Planeten Garbanza X dürfte seine Liebe Müh und Not damit haben, einige unser er primitiveren Hieroglyphen zu entziffern. Jack Eichord dachte bei sich, dass er nur zu gern dabei wäre, wenn der Erhabene Expeditions 120 leiter aus den Elysischen Mysterien gerufen wurde, um den tiefschürfenden Sinn von »Harry wixt« zu entschlüsseln. John-Boy war nicht so einfach. Er fuhr keinen zitronengelben Volkswagen mit dem Wunschnummernschild SOLDAT. Aber professionell oder nicht, Johnny Picciotti würde untergehen wie ein Stein. Wie geschmiert. Er wohnte in einem Apartmenthotel — hatte keines von diesen Arschlöchern ein eigenes Haus? - Aber kein Problem. Spain benutzte einen Mann, dem er früher schon einige Jobs zugeschoben hatte. Sagte ihm, er sollte an einem bestimmten Zeitpunkt vor dem Haus sein. Warten. Eine Frau würde ihm sagen, wohin er gehen müsste. Spain saß auf der anderen Straßenseite im Auto und beobachtete seinen Handlanger, während er mit Greta über einige mythische Pflichten sprach, die sie in Zukunft zu erfüllen hatte, während er einerseits seinen Handlanger im Auge behielt und parallel auf Picciotti wartete, der einen vergleichsweise regelmäßigen Zeitplan hatte. Johnny brach jeden Morgen gegen Viertel vor zehn zu Blue Kriegal auf. Heute bildete keine Ausnahme. »Wir bringen ungefähr fünftausend Kartons auf einmal rein. Die sind zusammengelegt, und Sie müssen zwei Jungs anheuern, die sie zusammensetzen und stapeln, wenn wir anfangen ... Äh, hören Sie, tun Sie mir einen Gefallen, ich muss mich mit jemand treffen. Sehen Sie den Mann in dem blauen Auto dort?« »Ja, Sir?« »Tun Sie mir einen Gefallen.« Spain holte einen Geldclip aus der Tasche und pulte einen Zwanziger heraus. »Gehen Sie rüber, klopfen an sein Fenster und sagen Sie nur: Gehen Sie rauf. Er weiß, was Sie meinen.« »Gehen Sie rauf?« »Genau. Das spart mir ein paar Minuten, weil er ständig mit mir reden will, ich aber gerade gar keine Zeit habe, und Sie wissen ja, wie das ist, ich möchte nicht gern unhöflich sein, aber er 120 ist einer von den Typen, die einfach nie aufhören, zu quatschen.« Sie lächelten beide. »Na klar«, sagte sie. »Ich sage nur: Gehen Sie rauf. Sonst muss ich ihm nichts sagen?« »Nein.« Er drückte ihr den Zwanzigdollarschein in die Hand. »Dann gehen Sie einfach wieder über die Straße und ...« Er drehte sich um. »Sehen Sie den Taxistand da drüben?« Sie nickte. »Fahren Sie einfach mit dem Taxi zurück ins Büro.« Er musste sich auf die Zunge beißen, damit er ihr nicht sagte, dass sie das Wechselgeld behalten sollte. Er wusste, wenn er sie das nächste Mal sah, würde sie ihm eine Quittung über den Fahrpreis vorlegen und sich wahrscheinlich den Kopf darüber zerbrechen, wie viel Trinkgeld sie dem Fahrer
geben sollte. Er dankte ihr, sie stieg aus und überquerte die Straße, während er vom Bordstein anfuhr. Er fuhr einmal um den Block. Zählte auf sechzig. Fuhr langsam in eine Parklücke ein Stück von dem Taxistand entfernt. Er wartete, bis er die Frau sah, die über die Straße zum ersten Taxi ging. Fahrer steigt aus. Öffnet die Tür. Sie steigt ein. Sie sitzen scheinbar ewig da. Schließlich fährt das Taxi an. Spain lässt den Motor an, steuert das Auto vor das Apartmenthotel. Geht ohne Umschweife hinein und fährt mit dem Fahrstuhl auf Picciottis Etage. Die Tür ist nicht verschlossen; dafür hat er gerade einem Mann, der ihn vorher noch nie gesehen hat, eintausend Dollar bezahlt. Spain tritt ein, setzt Kaffee auf, macht es sich gemütlich. Die Tür hat er abgeschlossen. Jetzt muss er sich nur noch setzen. Sich entspannen und darauf warten, dass Mr. Picciotti nach Hause kommt. Der Wäschewagen des Zimmermädchens im vierten Stock ist auf mysteriöse Weise verschwunden. Er steht in Picciottis Schlafzimmer. Ich fürchte, Johnny geht heute hier nicht auf eigenen Füßen raus, denkt Spain lächelnd. Es ist halb vier Uhr nachmittags, als Spain, der ganz entspannt auf Johnnys Satinbettwäsche ein Buch liest, den Schlüssel hört, 121 hastig aufspringt und sich hinter der Schlafzimmertür versteckt. Eine Minute kein Laut, dann wird ein plärrend lauter Fernseher eingeschaltet, worauf Spain nach seiner .25er Automatik greift und sich ins Zimmer schleicht. »Nicht«, sagt er und zeigt auf Johnny Soldiers überraschtes Gesicht, »Nicht mal dran denken, Johnny. Wenn das ein Attentat wäre, dann wärst du schon längst im Eimer, richtig?« »Was zum Henker willst du?« »Schön ruhig«, sagt Spain und zieht eine Waffe aus dem Halfter des Mannes. Er bekommt sie kaum heraus. »Echt schnellen Zugriff hast du hier. Eine PPK.« Spain lacht. »Wer bist du, James Arschloch Bond?« »Wer zum Henker bist du?« »Das bin ich, Blödmann.« Er tritt ihm an die Kniescheibe; Picciotti bricht unter Schmerzen zusammen. »Du bist tot, du Aas«, grunzt Picciotti. »Ja, irgendwann sind wir das alle.« Er geht rüber und legt dem Mann Handschellen an, aber Johnny zieht einen Arm weg, ehe Spain sie einrasten lassen kann, also verpasst er Johnny einen Tritt an den Kopf, erwischt ihn mit der Schuhspitze seitlich am Nacken und lässt die andere Ose einrasten. »Wie gefällt dir die Arbeit für Blue, Johnny? Guter Job, was?« Er tritt den Mann wieder, diesmal ins Gesicht, dann geht er ins Bad und holt zwei Handtücher und einen Waschlappen als Knebel. »Du erzählst mir alles über Blue und die Jungs. Alles über die Firma, du kleines Itackerspatzenhirn, aber vorher machen wir einen kleinen Ausflug. Okay?« Er schiebt den Wagen des Zimmermädchens rein. Johnny blutet aus dem Mund, Spain taucht eines der Handtücher hinein und verstaut es anschließend in einer Plastiktüte. Als Piciotti verladen ist, besteht Spains nächste Aufgabe darin, dass er Johnnys Autoschlüssel nimmt, das Fahrzeug des Mannes aufschließt und mit dem blutigen Handtuch über die Kopfstütze 121 streicht. Nur ein klein wenig, wegen des Effekts. Als er damit fertig ist — brechen sie auf.
Die Linie war einst eine viel genutzte Verbindung gewesen, doch man hatte die Schienen schon längst zur Weiterverwertung entfernt. Nur eine tiefe Narbe durch den Wald legte Zeugnis davon ab, wo die Bahngeleise einst mehrere hundert Meter im Landesinneren parallel zum Ufer verlaufen waren. Nichts mehr übrig. Die Eisenbahn war buchstäblich verschwunden. Selbst den Schotter hatte das County weiterverkauft, jedes Körnchen und jeden Kieselstein, und als Belag verschiedener Nebenstraßen im Hinterland von Missouri verwendet. Noch lange gedachten Farmer der ehemaligen Eisenbahnlinie, wenn sie mit ihren Pick-ups über die unebenen Kieswege fuhren. Spain lenkte sein Fahrzeug ein gutes Stück von der Straße weg zu einer leicht abschüssigen Stelle unmittelbar vor der Straßensperre aus Betonkreuzen, die das County als Begrenzung errichtet hatte. Nicht weit entfernt stand eine riesige Eiche, und das Auto passte wie angegossen zwischen zwei enorme Wurzelwerke, die aus der flachen Stelle herausragten wie gigantische, gichtige Finger. Spain schleppte Werkzeuge und Materialien zum Uferstreifen. Es handelte sich um eine winzige Stelle, abgeschieden und aus praktisch jedem Winkel so gut wie uneinsehbar, mit Ausnahme von einem, eine durch Erosion entstandene natürliche Bucht, die ein kleines 0 bildete, aus dem der Fluss ein kuchenförmiges Stück herausgerissen hatte. Auf dem Schild am Straßenrand stand Headwater Diversion Channel. Spain sah in das fließende Wasser, das selbst in der kleinen Bucht tief und trüb aussah, und fragte sich müßig, wie viele Flüsse in dieses Gewässer münden mochten, in das er blickte. Vermutlich der Mississippi, der Ohio, vielleicht sogar der trübe Mo, und er spuckte hinein und ging Nachschub holen. Durch die schwere Ladung brach ihm umgehend der Schweiß 122 aus; die kühle Brise trocknete ihn und tat gut. Er entlud drei Säcke voll Schotter, die er von einer Landstraße geschaufelt hatte - vielleicht stammte das Geröll ja ursprünglich sogar von hier —, und Backsteintrümmern von einer Baustelle. Ein halbes Dutzend Plastiktüten füllte er mit Erde und band sie mit Nylonschnüren zu. Daneben hatte er eine rasiermesserscharfe Sichel, einen Spaten, eine Spitzhacke, Handschuhe und eine Holztür aus dem Müll, die er auf einsachtzig mal siebzig zurechtgesägt hatte. Mit der Sichel bahnte er sich einen Weg zu einer geeigneten Stelle und hob dort mit der Spitzhacke einen sechzig Zentimeter breiten und knapp zwei Meter langen Graben aus. Spain war ausgesprochen kräftig, daher bohrte er die Hacke tief ins weiche Erdreich. Er wollte neunzig Zentimeter tief graben, arbeitete ohne besondere Eile, zauderte aber auch nicht, sondern erledigte die Aufgabe mit einer grimmigen Entschlossenheit. Binnen weniger Minuten hatte er soviel Erde ausgehoben, dass er sie in Tüten füllen konnte und in das Loch stehen musste. Ihm gefiel die Hebelwirkung am Rand des Grabens, daher nutzte er die Zeit, füllte seine Tüten, und als das Loch zugänglich war, arbeitete er weiter. Jenseits des Flusses ging die Sonne spektakulär am Horizont unter und warf scheckige orangene und apricotfarbene und karminrote Blitze zwischen den Weiden hindurch, die anmutig das Ufer säumten, und auf den Uferstreifen mit dem dichten Bewuchs von Hundskamille und Fuchsschwanz, Brennnesseln und Disteln, wildem Wein und Spitzklette, Ambrosia und Seidenpflanze, Kermesbeere und Giftefeu. Doch das alles sah Spain gar nicht, als er am Rain der Wunder von Mutter Natur stand und ein flaches Grab aushob, während die Zikaden und Moskitos und Frösche gnadenlos sangen.
Etwas durchbrach die Mauer irrsinniger Konzentration; einen Moment begriff der Mann, der sich Spain nannte, wo er sich befand, und seine Umgebung drang durch den dichten Todeshauch, der ihn jetzt stets umgab. Er hatte eindrucksvolle Men 123 gen an Informationen abgespeichert. Triviales und bedeutendes Wissen. Kleinigkeiten, die er sein halbes Leben lang angehäuft hatte, zum Beispiel die Tatsache, dass die Indianer einst eine tabakähnliche Mixtur herstellten, die sie Kinnikinnik nannten. Das fiel ihm in dem Moment wieder ein, als er Sumach und Hartriegelrinde mit den Augen sah, die die Information an seine Gehirnzellen weiterleiteten, und in dem Moment ging ihm auch auf, dass der Regen den Großteil der Pflanzen hier erhalten hatte. Ladue sah öd aus, als er in den Süden aufgebrochen war. Der Gedanke, der zwischen den vielen abnormen anderen ein einsames Dasein fristete, verschwand umgehend wieder; Spain freute sich nur noch darüber, dass die Regenfälle die Erde aufgeweicht hatten, sodass er leichter graben konnte. Als er das Grab fertig hatte, fein säuberlich rechteckig und für den Insassen bereit, ging er Johnny Picciotti holen, Blue Kriegais Leibwächter. Der war leichter, als er aussah, fiel Spain auf, als er das mumifizierte Bündel des Mannes wieder zuschaufelte, indem er zuerst Steinbrocken und Schotter hineinwarf, dann Erde darauf. Von Zeit zu Zeit konnte man gedämpfte Schreie vernehmen, doch als die ersten Schichten Geröll das Bündel bedeckten, hörte man kaum noch etwas. Nur Frösche, Moskitos und das unablässige Zirpen der Baumgrillen. »Schön, dass wir so nett miteinander plaudern konnten«, sagt er zu der stummen Erde. Das Telefon auf dem Nachttisch läutete, der Mann nahm ab und musste über die schlafende Gestalt eines reglosen Knaben greifen, um den Hörer abzuheben. »Hm?« grunzte er in den Hörer und sah auf die Uhr mit ihren verschnörkelten Ziffern, die ein Designer schick fand, obwohl er selbst nie sagen konnte, was sie genau anzeigte. »Boss?« »Wer zum Teufel ist da?« »Boss, hier ist Blue.« 123 »Was soll'n der Scheiß, mich um die unchristliche Zeit anzurufen?« »B OSS! Wachen Sie auf, Herrgott, 's ist wichtig.« »Was?« »Kann ich reden?« »Scheiße, keine Ahnung. Nein. Was willst du, gottverdammt?« »Muss mit Ihnen reden.« »Scheiße. Worüber?« Er rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Die ham Johnny.« »Was soll 'n das heißen, die ham Johnny?« »Johnny. Der is' einfach verschwunden. Wir ham sein Auto.« »Keine Chance. Vermutlich isser bei her Schlampe. Leck mich. Geh wieder schlafen.« »... verflucht noch mal, wachen Sie auf. Die haben ihn.« »Wer hat ihn? Verdammt noch mal, was redest du da, zum zehnten Mal?« »Der Scheißkerl Rikla hat ihn. Wir ham das Auto. Da is' Blut drin.« »Blut?« »Blut, gottverdammich, auffer Kopfstütze. RI KL A der Scheißtaugenichts hat Johnny, seine verfluchten Kinner sollten ST ERB EN ! Kann nur der Scheiß-RIKLA gewesen sein.« »Wann?« »Hä?« »Wann haste 's Auto gefunden?«
»Grad eben. Gino und ich ham 's gefunden.« »Wie lang ist Johnny schon weg?« »Seit gestern Abend. Wir ham zuerst auch dasselbe gedacht wie Sie, dasser bei 'ner Schlampe is' oder bei 'nem Scheißkartenspiel oder so, aber schließlich war 'n wir da, wo er wohnt, und sehn in die Garage und checken sein Auto ab und das sind gottverdammte Blutflecken und so 'n Scheiß.« »Er könnte verletzt sein. Drin. Und nicht ans Telefon gehen.« 124 »Nee. Wir ham uns vom Hausmeister aufschließen lassen. Niemand da. RIKLA HAT IHN ALLE GEMACHT, der verfluchte Wichser.« »Woher weißt du das so sicher?« »Wer sollte 'n sonst den Mumm ham und sich Johnny Soldier vornehmen, Herrgott? Mitten in seiner eigenen Wohnung. Muss 'n verdammter Wichser sein, der kein Respekt vor der Wohnung von nem Mann hat. Dass Rikla einfach so reinspaziert und n Mann in seinem Allerheiligsten ausknipst. Keiner von UNS würd 'n Kerl einfach da erledigen, wo er WOHNT, verdammt noch mal.« »Tja. Hm.« Der Mann setzte sich auf, rieb sich die Augen erneut und betrachtete den schlanken Knaben, der neben ihm schlief oder so tat, als schliefe er. »Hol Buck und Lowenstein. Du und Gino, wir treffen uns drüben, und zwar um ...« Er sah wieder auf die Uhr. »Die verdammte Scheißuhr zeigt nicht mal die verdammte Zeit richtig an. Scheiße. Wir treffen uns in 'ner halben Stunde. Bringt eure Werkzeuge und den ganzen Scheiß mit. Sieht so aus, als müssten wir's dem elenden Drecksack zeigen.« Einer der Hauptgründe, weshalb er sich nicht konzentrieren konnte, war der, dass er einen schlimmen Anfall von Ritafizierung hatte. Heute Nacht ist die Nacht aller Nächte, dachte er immerzu. Ihn erstaunte selbst immer wieder, wie schnell er sich beim Gedanken an übereinandergeschlagene Beine in hochhackigen Schuhen geistig in einen Sechzehnjährigen verwandeln konnte. Ich meine, gesund ist eines, aber jippi-dippi, Pest und Hölle, gönnt mir eine Verschnaufpause. Rita Paul geschiedene Haubrich mit den langen Beinen und dem roten Haar jedenfalls schob er als Grund vor. Ganz gleich, was der wahre Grund sein mochte, sein Fall war und blieb ein unklares Durcheinander. Den ganzen Tag hatte er zuerst mit Springer und zwei Jungs von der Mordkommission und der Abteilung für organisiertes 124 Verbrechen verbracht und ein Gespräch geführt, das ihn so sehr verwirrte, dass er es umgehend wieder von seiner geistigen Schiefertafel löschte und es mit seiner ureigenen, vereinfachten Form des Notizblocks versuchte. Das begann folgendermaßen: D I E ZWEI -T ON Y-BAN DE Cypriot (fort/NY?) Dago (sitzt) Rikla Measure Russo Venable »He, Glass?« sagte er zu einem Detective in der Nähe. »Ja?« »Wer ist Johnny Picciotti?« »Johnny Soldier. Der Pisser hat für Measures Leute gearbeitet. Blue Kriegais Leibwächter. Aber offenbar ist der Job vakat. Anscheinend wurde er ausgeknipst.« »Aber keine Leiche, richtig?« »Ja. Der liegt bestimmt im Fundament einer neuen Reihenhaussiedlung in Lake St. Louis.«
»Hm-hmm«, sagte T. J. Monnahan, »oder er wird grade im Kofferraum einer uralten Rostlaube draußen in Used Car City gepresst.« »Genau. Er ist jetzt die Heckstoßstange eines Dodge Omni.« »Und Tony Tripotra. Gehörte der zu Rikla oder zu Measure?« »Er GEHÖRTE zu Rikla. Jetzt gehört er zu den Engeln. Toter Schläger. Ein Dieb. Hat einmal gesessen und konnte eine Anklage wegen bewaffnetem Raubüberfall gerade noch abwenden. Ich bezweifle, dass der je sein Geld wert war. Für Rikla war er nur ein Handlanger.« »Wie kommt Blue Kriegal eigentlich zu dem Namen Blue?« »Blue Movies«, schlug jemand vor. »Nee«, sagte Pat Skully. »Das liegt daran, dass er zu vielen kleinen Jungs einen ß/ae-Job verpasst hat.« Eichord fand, dass die 125 Atmosphäre etwas herzlicher war, aber vielleicht lag es auch nur an dem Übermaß an Informationen. »Illlllhhhh«, rief Leech ihm zu, während er mit seiner Schuhgröße fünfundvierzig durch das Büro stampfte. »Wie ist das Befinden des Capo di Tutti-Frutti heute?« fragte er Eichord. »So gut wie immer, und nach wie vor ungeküsst.« Aber das wird sich hoffentlich bald ändern, dachte er. Er rasierte sich wieder für seine Verabredung. Schälte sich in seinen besten Zwirn, was immer ein gutes Zeichen ist, betrachtete sich in seinem Lieblingsmantel und dachte: Das geht ja gar nicht. Bäh. Um nichts auf der Welt . Als er vor ihrem Haus anhielt, war er zufrieden mit sich. Sie sah. Wie heißt das Wort? Großartig reichte nicht annähern aus. Sie sah aus wie ... Oh, bleiben wir ruhig. Exakt. Wir sind ein geübter Beobachter, dachte er. Sie sieht aus wie J 1 11 P P P P P P 1 11 1 11 1 1 1 ! Sie war hübsch. Alles an ihr war hübsch. Sie sah hübsch aus. Roch hübsch. Lächelte hübsch. Redete hübsch. Dachte hübsch. Das wird eine hübsche, atemberaubend langweilige Verabredung. Wir hübschen einander zu Tode. Auf seine Bitte hin schlug sie ein Lokal vor, und das war - richtig! - hübsch. Ein ruhiges, dunkles, aber nicht zu dunkles, hübsches kleines Lokal mit gutem Service und wahrscheinlich gutem Essen und Wein. Er schmeckte rein gar nichts, denn er hatte Rita Haubrich, die er ansehen und schmecken konnte. Jämmerlich, und natürlich ist niemand stolz darauf, dass er ein hechelnder, sabbernder Sexbesessener ist, aber so ist nun mal das Leben, Ma'am. Rita trank einen gekühlten Weißwein, den sie selbst bestellen musste, weil ihm durch den Ansturm von Sinneswahrnehmungen, den ihre Gegenwart in ihm auslöste, blümerant und schwindelig wurde und es ihm die Sprache verschlug. Er bestellte irgendwas, das unbeachtet vor ihm stand, während sie sich unterhielten. Ja, verdammt noch mal, es war HÜBSCH, mit ihr über alles 125 Mögliche zu reden. Er mochte sie außerordentlich, und sie schien irgendwie imstande, ihn zu ertragen und lachte sogar über seine kläglichen Versuche, witzig zu sein. Andererseits, wer wäre nicht bezaubert gewesen von gebildeter, geistreicher Intelligenz und fröhlichen, humorvollen B onmot s wie den folgenden:
»Wie die Zeit vergeht«, sagte sie, während ihr strahlendes Lächeln noch die dunkelsten Ecken des Restaurants erhellte. »Wir reden, oder besser gesagt, ich rede schon seit einer Ewigkeit. Hattest du heute Abend noch etwas anderes vor?« Worauf Jack Eichord antwortete - und dies als ein Beispiel für seine Schlagfertigkeit, denn er zögerte nicht einen Augenblick, sondern antwortete brillant: »Hamma, hamma, hamma«, was sie lobenswerterweise urkomisch fand. Vermutlich hatte sie schon öfter Männer gesehen, denen es blümerant und schwindelig wurde und die Sprache verschlug. Sie war, wie man so sagte, ein »Hingucker«. Hübsch war sie immer gewesen. Aber heute war sie nichts Geringeres als SENSATIONELL. Sie hatten ihren Spaß, unterhielten sich, saßen stundenlang zusammen und machten sich nicht im geringsten zum Narren. Rita zog ihn damit auf, dass er der erste erwachsene Mann wäre, den sie kannte, der kein Anwalt war. »Bist du sicher, dass du in der Zwischenzeit nicht Anwalt geworden bist?« »Ich versichere dir, dass ich -« »Schwöre es mir.« Sie zog ein hübsches Gesicht. »Polizisten schlagen manchmal diesen Weg ein.« »Ehrenwort. Keine weiteren Fragen.« Er wusste, wann er es bei einer knappen Bemerkung belassen musste. »MÖCHTEST du Anwalt werden?« »Kaum. Ist das gut oder schlecht?« »Ja, vermutlich das eine oder andere, aber irrelevant. Nur so erfrischend anders. Du bist wirklich der erste Angehörige des männlichen Geschlechts, den ich in den letzten zwanzig Jahren kennengelernt habe und der kein Anwalt war.« 126 »Immer noch nur ein simpler alter Polizist.« »Polizist, vielleicht. Alt, pfffffff. Simpel, nn-nnn.« Sie lachte. Sie betrachtete sein dunkles, graumeliertes Haar und die dunklen Augen, die sie schmachtend betrachteten, und da passierte es. »Ach, herrje«, sagte er und zapfte eine neuerliche Quelle brillanter Konversation an. Er war bis in sein sexbesessenes Innerstes aufgewühlt. Er L I EBTE St. Louis. »Weißt du«, begann er einen lahmen Mist, nur damit er überhaupt etwas sagte, aber er konnte den dummen Satz nicht zu Ende sprechen. Sie haute ihn schlicht und einfach so um, daher beließ er es einfach dabei und sah sie nur bewundernd an. »Ja?« hätte eine andere Frau vermutlich zu einem unvollendeten Dialog gesagt. Sie dachte es nur und er verstand. Und er dachte, dass sie die Aufrichtigkeit in seinen Augen sehen konnte. Das war natürlich lächerlich, aber so ein verdammt biochemischer und metaphysischer und drauf-gepfiffener blauäugiger Spaß, dass er ihr nur zunickte, als wollte er sagen: Ja, ich stimme zu, es war schön, ein Gespräch ohne Worte zu führen. Dann wurde beiden plötzlich überdeutlich bewusst, was hier lief, und im selben Moment, als Rita anfing: »Es ist interessant, wie jemand es fertig bringt -« da sagte er: »Hast du je über die Tatsache nachgedacht —« und sie sagten es beide gleichzeitig, prusteten vor Lachen und sagten wiederum gleichzeitig: »Du zuerst.« »Ich wollte nichts Bestimmtes sagen.« »Immer raus damit, ich wollte auch nichts Bestimmtes sagen.« »Glaubst du mir, wenn ich dir versichere, dass ich hier sitze und einen Heidenspaß bei der dümmsten Unterhaltung habe, die je zwei Menschen miteinander geführt haben?«
»Ich auch.« Und er wollte sie fragen, wenn er einen Filzstift nehmen und alle kleinen Pünktchen auf ihrem Körper verbinden würde, ob dann eine Art ausgeflipptes, wunderschönes, Picassoähnliches kubistisches Kunstwerk entstehen könnte? Und ob er 127 das vielleicht später versuchen dürfte? Er könnte etwas Wasserlösliches verwenden. Aber es gingen ihm noch andere Gedanken durch den Kopf. Sie redeten über alte Zeiten. Das St. Louis, das sie damals beide liebten, in den berauschenden Soho-artigen Zeiten des Gaslight Square, in denen die Stadt wie eine Oase der Hippen in der hoffnungslosen Wüste des Mittelwestens gewirkt hatte. Sie lachten über einen Bezirksstaatsanwalt, einen aufgeblasenen kleinen Wichtigtuer, an den sie sich noch beide erinnern konnten. Sie erzählte ihm alles über ihren Dad, einen ehemaligen Richter und Anwalt, der längst im Ruhestand war. Ihr Bruder war ein bekannter Strafverteidiger in Kansas City, ihr ehemaliger Mann Winslow Haubrich ein aufstrebender Firmenanwalt bei North, Haubrich and Dechter, einer Kanzlei, die beste Kontakte zum Bankenwesen in St. Louis besaß. Wenig später flirteten sie hemmungslos miteinander, dann lachten sie über sich selbst, und auch das war ein Spaß. Es war, als wären die vergangenen Jahre wie weggeblasen. Jack wusste es nicht mit Sicherheit, bildete sich aber ein, wenn sie sich nur einmal von ihm küssen lassen würde, dann könnte er nach Hause gehen und einen hundertseitigen Essay nur über ihr Gesicht in all seiner speziellen Perfektion verfassen. Zierliche Knochen, die auf attraktivste Weise gerade nicht zum Supermodel reichten. Ein Aussehen, dass man stehen bleiben und ihr nachsehen musste. Jippie. Ex-Ehemann hin oder her, er spürte etwas Jungfräuliches, Frisches und Zärtliches an ihr. Rita sah aus wie eines der Mädchen, die man in ihr Apartment begleitet, das ganz aus Chintz und Spitzen und Himmelbett und Topfpflanzen bis zum Abwinken und Lautrec oder einem Stierkampfposter an den Wänden besteht, oder schlimmer - Pferde oder Samtdrucke von Kindern mit großen Augen -, aber so ein Mädchen war sie nicht. Sie war eine großartige, superkallefragelistigexpialigorische, mmmmmmm-gute Überraschung. 127 »Gott!« sagte er wieder. »Rita PAUL ! Aus heiterem Himmel«, worauf sie beide wieder in Gelächter ausbrachen. Auf dem Weg zu ihr machte er im Geiste eine Liste von allem, was phänomenal an dieser Lady war. Mit ihrem Gesicht fing er an. Ausschließlich körperliche Merkmale: 1. Das rote Haar 2. Die Lippen (a: Lächeln) (b: Mundwinkel) (c: Form) (d: Farbe) 3. Die Nase 4. Das Kinn 5. Die Augen 6. Die Wimpern 7. Die Brauen (bisher hatte er noch ni e auf Brauen geachtet) 8. Die Wangen (a: Wangenknochen) (b: makellose Haut) 9. Die Ohren 10. Die Stirn Sie war, soweit er sich erinnern konnte, die erste Frau, mit der er ausging, bei der er tatsächlich zehn Schönheiten allein oberhalb des Halses aufzählen konnte, Hinterkopf, Zähne, Zunge usw. gar nicht berücksichtigt.
Doch noch ehe er zu der wunderbaren Rundung ihrer Brust und dem langen, anmutigen Hals und den anderen 469 Eigenheiten kam, die großartig an Rita waren, erreichten sie ihr Apartment. Eine weitere Überraschung. Da sie ihn zuvor an der Tür empfangen hatte, konnte er keinen Blick ins Innere werfen. Zu seiner Überraschung entpuppte es sich als nüchtern, weiß und zweckdienlich. Nicht dieser High-Tech-Mist mit viel Chrom und dem ganzen Plunder, und alles bewusst sphärisch und todschick, sondern einfach nur eine großartige Inneneinrichtung. Sogar die Grünpflanzen sahen gut aus. Ihm gefiel einfach alles an dieser Lady. Sie gehörte zu den hübschen Frauen, die altern wie guter Wein. 128 Die eines Tages Ende zwanzig aufwachen und feststellen, dass sie ein Wunder vollbracht haben. Oder besser gesagt, Gott. Er hat ihnen im Schlaf ein sensationelles Aussehen verliehen. Weil das bei diesen Frauen manchmal über Nacht passiert. Kein langsamer Evolutionsprozess, sondern ein schneller, atemberaubender Prozess, der im Schlaf mit ihnen geschieht. Und dann wacht Mauerblümchen Jane anderntags in Umwerfend-City auf. Die einigermaßen hübsche Rita erwacht als Schönheit. Es kommt nicht oft vor. Aber wenn es passiert, kann es ganz schön heftig sein und nicht jede Frau oder jeder Mann kommt damit klar. Manche Frauen können eitel werden und sich regelrecht in ihren Spiegel verlieben, wenn es passiert. Nicht so Rita. Sie ging damit um, dass sie sich gar nicht für so sensationell hielt. Sie lachte über Eichords Komplimente. Er sagte ihr, wie hübsch sie war, was sie wirklich aus der Fassung brachte, sodass sie laut und aufrichtig lachte. Was war er doch für ein Komiker. Und darüber musste er wiederum lachen. Mr. Haubrich hatte ihr geholfen, das atemberaubende Spiegelbild zu ignorieren. Sie erzählte Jack, dass er ihr immer noch half. Wann immer sie dachte, dass sie eine Schönheit wäre, musste sie nur an den Tag zurückdenken, als sie nach Hause kam und das Abendessen zubereitete und wie immer darauf wartete, dass er nach Hause kam, und dann die schreckliche Demütigung des Anrufs seiner MUTTER. SEI NER M UT T ER, um Himmels willen. Er besaß nicht einmal den Anstand und sagte es ihr persönlich. Ein Zettel auf dem Kopfkissen hätte es getan. Alles, nur nicht dieser hämische Anruf seiner Mutter, die ihr versicherte, dass Winslow an diesem Abend nicht nach Hause kommen würde ... Großer Gott, wie peinlich! Sie konnte den Gedanken an diesen Anruf, und alles, was er für sie persönlich bedeutete, immer noch nicht ertragen. Schließlich ließ der Schock nach und Rita wurde klar, dass der durchgeknallte Win und seine Sekretärin ihrethalben hingehen konnten, wo er Pfeffer wächst, für sie selbst jedoch oberste Prio 128 rität haben sollte, dass sie ihr Leben wieder in den Griff bekam. Je mehr Zeit verging, desto mehr betrachtete sie die Trennung als einen Segen. Ihr Mann war ein egozentrischer Schwächling und Arschkriecher gewesen, der mit Daddys Beziehungen die Karriereleiter hinaufkletterte und dabei die ganze Zeit am Rockzipfel seiner Mutter hing, die ihn verhätschelte. Eichord hatte den Eindruck, dass Rita ein zäher Knochen war und nicht vor ihren Problemen davonlief. Sie setzte sich solange damit auseinander, bis sie sie gelöst hatte. »Mein Ehegelöbnis war eine ernste Sache für mich«, sagte sie. »Ich sah es tatsächlich als einen Bund fürs Leben.«
»Das habe ich auch einmal gesagt, aber dann ließ ich einen Dämon über mich kommen.« »Für mich war es am Ende positiv, dass er gegangen ist. Für meine Selbstachtung mag es ein ziemlich schwerer Schlag gewesen sein, aber am Ende brachte es eine Menge frischen Wind in mein Leben.« »Vermutlich könnte meine Ex-Frau dasselbe sagen. Ich tauge nichts als Ehepartner. Vermutlich für keine. Man muss sich in meinem Metier anstrengen, wenn eine Ehe funktionieren soll. Man widmet der Arbeit soviel Zeit. Eigentlich ist es nicht fair seiner Partnerin gegenüber, dass sie in der Beziehung immer die zweite Geige spielen muss.« »Vielleicht. Vielleicht nicht. Aber es gibt auch Polizisten, die gute Ehen führen, oder nicht?« »Einige. Klar. Aber ich finde, dass viele Polizistenehen scheitern. Man steht von Anfang an auf verlorenem Posten, und irgendwann macht es dann bums.« Er verstummte unvermittelt und überlegte sich, dass er an seiner Metaphernsprache arbeiten sollte, denn in jedem Satz, der ihm einfiel, kam plötzlich das Wort »bums« vor. Sie dämpften das Licht und unterhielten sich noch ein wenig, und kurz darauf küssten sie sich, ein so zärtlicher und zaghafter Anfang, dass sie beide laut auflachten über das Wunder und die 129 uneingeschränkte Freude und, oh, Baby, ja, das Hübsche daran. Das unerwartete Wiedersehen hatte für beide eine Treibhausatmosphäre geschaffen. Sie trug eine weiße, langärmelige Bluse und keinen Schmuck. Sie hatte einen herrlichen Körper. Brüste fast zu schön, um wahr zu sein. Die Art von klassischen, drallen Melonen, die so weich und weiß aussehen, sich aber dennoch fest und elastisch anfühlen, und perfekt proportioniert, weder zu klein noch unansehnlich groß. Straffer, flacher Bauch und ein zierlicher Brustkorb, der plötzlich in die beiden prachtvollen Halbkugeln überging. Sie drehte sich um und löschte das Licht völlig, bis auf eine kleine Lampe hinter ihr, sodass der Rest des Apartments im Dunkeln lag. Ihre Beine. Mein Gott. Sie war Tänzerin, Pony, absolut jippie. Was für hübsche Beine sie besaß. Er hatte das seltsame und unnachahmliche Gefühl, als hätte er etwas köstlich Süßes im Mund und holte tief Luft, damit er den weiblichen Duft ihres Körpers einsaugen konnte. Sie trug noch die Brille, und als sie diese Beine bewegte, die er kaum anzusehen wagte, da nahm sie gleichzeitig die Brille ab, was ihm wie ein Striptease vorkam. Das allein. Und der lange Giraffenhals, das Model-Kinn, der Hals und Oberkörper, die sich wie ein Modigliani wölbten, der Oberkörper mit seinen winzigen Sommersprossen, die förmlich zum Küssen und zu einer eingehenderen Untersuchung einluden, und diese Killerbeine in dem knappen, winzigen Höschen, sodass er ganz weit oben fast die unsichtbaren Adern in ihren langen Alabasterbeinen sehen konnte, die einfach kein Ende nehmen wollten. Gegen die Lampe zeichnete sich ihr begehrenswerter Körper als Silhouette unter dem weißen, dünnen Seidenkleid ab, das ihre Brüste mit einem V-Ausschnitt bedeckte, und sie war so makellos, dass er ganz benommen wurde und in Leidenschaft entflammte. Das lange, feuerrote Haar schmiegte sich zärtlich an sie, lang und glatt folgte es den Konturen ihres Halses und legte sich über die weichen Schatten. 129 Sie sah ihn mit leuchtenden Augen an und wollte ihn, und er stellte sich vor, wie er gleich diesen vollen, heißen Mund kosten und an seiner Lust verbrennen würde. Er betrachtete
sie, sie betrachtete ihn, und sie ließen sich beide Zeit und genossen die Vorfreude. Er ließ den Blick über diesen prachtvollen Körper schweifen, den sie ihm im Profil darbot. Hohe, feste Brüste unter dem hauchdünnen Stoff, aufgerichtete, steife Brustwarzen, die sich ihm entgegen reckten, als könnten sie die Hitze seiner Berührung kaum erwarten, ein flacher und wunderbarer Bauch — der Leib eines Teenagers, so flach und verlockend —, und dann die klassischen Kurven, die aufreizenden Hüften einer Frau und das schemenhafte Dreieck ihres Schamhaars unter dem winzigen, durchsichtigen Bikinihöschen, und die langen, langen, laaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaangen und perfekten Beine bis hinab zu den hohen Absätzen. Ein betörendes Inbild von purem Sex. Sie stand reglos da. Vollkommen starr. Durchbohrte ihn mit ihrer Wärme und Schönheit. Sagte ihm, dass das — das alles — ihm gehörte und ihm zur Verfügung stand; sein Gehirn kapitulierte unter der Überdosis Feuer, die in seinem Körper brannte, und er zog sie zu sich herunter. Sie konnten es beide kaum glauben. Es ging für sie beide so schnell vorbei, explodierte förmlich aus ihnen heraus, obwohl es mit Zärtlichkeiten anfing, aber blitzschnell, verlangend und fordernd zu einer entspannenden Hitzeentladung kam, die so schnell erfolgte, dass sie nur dalagen, Eichord noch in ihr, sie noch an ihn geklammert, beide feucht, schweißnass, beide durchgewalkt, weichgehämmert, zum Trocknen aufgehängt. Und sie sagte ganz leise zu ihm; »Ich will Romantik und zwar jetzt gleich«, und er verstand. Später saß er bei eingeschalteter Festbeleuchtung neben ihr auf der Bettkante, beide nackt, und er betrachtete sie Zentimeter für Zentimeter, sog sie in sich auf und war so offenkundig high davon, dass sie laut auflachte. »He, Kumpel«, fragte sie, »was gibt's da zu sehen?« 130 »Modigliani«, sagte er ganz im Bann des langen, geschwungenen Halses und makellosen Torsos. »Verschon mich mit diesem Bo-Diddley-Mist«, antwortete sie. »Lass uns vögeln.« Und er fiel auf das Bett und lachte, bis ihm die Tränen kamen. Und als er sich wieder beruhigt hatte, ließ sie sich mit ihm zu Boden gleiten und sie trieben es auf ihrem Schlafzimmerteppich. Eine Premiere, versicherte sie ihm. Sie stimmten darin iiberein, dass Amerika ein großartiges Land war. Eichord schwieg lange Zeit. Er horchte nach ihrem regelmäßigen Atem und erschrak, als sie ihn mit leiser Stimme »Bist du wach?« fragte. »Nein«, antwortete er leise. »Woran denkst du?« »An nichts«, log er. Schüttelte den Kopf und krümmte die Mundwinkel nach unten. »Absolut Zero.« Und er schwor sich, er würde nichts Böses sehen, nichts Böses hören, nichts Böses sagen. Der alte Mann nahm sein Essen schweigend zu sich. Nicht den üblichen Gefängnisfraß. Es gab frisches Obst. Vorzüglichen Fisch. Er schmeckte nichts. Durch die frustrierende Situation allein hätte man durchdrehen können. Er musste all seine erhebliche Willenskraft aufbieten, damit er nicht die Beherrschung verlor. Er wurde zu alt für das alles. Wie sehr ihr Geschäft doch verkommen war. Kopfschüttelnd biss er ein weiteres Stück von der Frucht ab.
Er tastete nach seiner Lesebrille, kramte sie aus dem Etui, das er fallenließ und ignorierte; er sah nicht einmal hin, als der große, furchteinflößende Mann an seiner Seite sich hastig bückte, das Etui aufhob und neben ihn legte, worauf er seine Position hinter dem alten Mann wieder bezog. Was war aus den Jungs geworden? Dem verfluchten Paulie und Jimmie. Seinen verdammten Brüdern in dieser Sache. Bekämpften einander und töteten und brachen ihre Schwüre rechts und 131 links. Man tötete keinen, wo er wohnte. Nicht mal bei einem Auftragsmord. Das gehörte sich einfach nicht. Wenn du einen mit deiner Tochter erwischst, dann kannst du ihn vielleicht in der Nähe seiner Wohnung ausknipsen, aber nicht so. Er versuchte, sich den Bericht durchzulesen. Er konnte nichts machen. Er hatte Schmerzen, wenn er pissen musste, er hatte Schmerzen, wenn er scheißen musste, er hatte noch mehr Schmerzen, wenn er nicht scheißen musste. Seine alten Finger waren schmerzhaft arthritisch, und die ersten Worte, die er las, brachten ihn gleich wieder auf die Palme. Jimmie der Haken. Der verrückte Lyle. Verdammte Irre, liefern sich eine Schießerei bei Toot Smith direkt im beschissenen Laclede Landing und mitten in einer Menschenmenge. Jesus, Maria und Josef, gebenedeite Jungfrau, heilige Mutter Gottes, was soll ich nur tun? Die Kommission interessierte sich einen Scheißdreck für die Probleme der Familie hier draußen in St. Louis. Erwartete man von ihm, dass er die Geschäfte aus dem G EFÄN GN I S leitete? Er atmete mehrmals hintereinander kurz und flach, sodass sich seine schmale Hühnerbrust hob und senkte und die uralten, misshandelten Lungen so gut sie konnten Luft einsogen. Zu allem Übel auch noch Scheißgefängnisluft. Mehr, als ein Mensch ertragen konnte. Und die Bruderschaft erwartet von mir, dass ich diese Scheiße wieder für sie auf die Reihe kriege. Er hob den ersten Finger der rechten Hand ein paar Millimeter von der Tischplatte und spürte, wie der Schatten hinter ihm sich bewegt und sich auf seinen Befehl hin über ihn beugt. »Wo ist -« Oh, Herrgott im Himmel noch mal, jetzt fällt mir sein Name nicht ein. Schließlich kam er doch drauf. »Wo ist Duke? Ist er anwesend?« Seine Stimme klang dünn und krächzend. »Nein, Sir«, eine Stimme wie Geröll in einer Pfanne aus Gusseisen. »Ich glaube, Duke ist unten.« Der alte Mann nickte. »Hol ihn.« Und der große Schatten verschwand. 131 Ein paar Minuten später ertönten Schritte und zwei Männer betraten den Raum. »Setzen«, sagte er zu dem Mann, als sie einander den förmlichen, respektvollen Gruß erwiesen hatten. »Duke« - er schob die Zeitung über den Tisch - »ich möchte, dass jeder Bescheid weiß. Es reicht. Der Nächste, der sich über unsere Bräuche hinwegsetzt, der nächste Gesetzlose - und es ist vorbei. Der geht unter. Überbring das Big Mike Stricoti und Jack Nails. Die sollen es ihren Leuten sagen. Wer immer verantwortlich ist. Ich will, dass diese Scheiße aufhört.« Spain schläft. Und in einem Schlaf des Todes träumt dieser Mann, dem Kontrolle so überaus wichtig ist, dass er jegliche Kontrolle verloren hat.
Ein vermummter Schurke taucht aus den Schatten des Traums auf, die Klauenhand eines Skeletts schnellt aus den Falten des dunklen Mantels hervor und schüttet uralte Knochen aus einer Schädelschale. Das geheime Orakel betrachtet die Knochen und weissagt einen plötzlichen und gewaltsamen Vorfall. Irgendwo im Orient schreibt ein Weiser über Myriaden Sündenböcke, während hoch droben auf einem Berggipfel ein betagter heiliger Mann hinter einen Schleier des Wissens vordringt. Ein Geheimbund bereitet eine Jungfrau für eine rituelle Opferung vor. Spain sieht, dass es seine Tochter ist. Ein ehedem vernunftbegabter Verstand zieht sich in eine dunkle Kammer zurück, wohin ihm Sinn, Wahrnehmung und Reaktionsvermögen nicht folgen können. Ein bioelektrischer Schalter wird umgelegt. In der Kammer wird es schwarz. Der Träumer hebt einen geschmiedeten Kelch, in dem sich einst das Blut Christi befand, und trinkt aus vollen Zügen Schlangengift. Er sieht, wie sich seine Gehirnwindungen in ein Nest zuckender Aale verwandeln. Die kalte, pechschwarze Kraft des Alptraums zieht ihn hinab, 132 und zweihundert Faden unter der Oberfläche hält ihn ein mächtiger, kreisender Strudel fest. Er träumt von gigantischen Seeschlangen und mutierten Wasserskorpionen und schleichenden Wesen ohne Augen, die gekommen sind, um ihn mit Teufelsdreck zu vergiften, und das Orakel sagt ihm, dass er an die Oberfläche zurückkehren wird, um mit Geschick und Magie zu morden. Und er steigt spiralförmig durch die schwarze, rasende Helix empor, als ein Befehl ertönt: »Hinfort!« Am nächsten Tag ruhte Spain sich aus. Und am Tag darauf verübte er einen vollkommen willkürlichen Mord. Er parkte ein gestohlenes Auto vor dem Robert Schindler Building gegenüber des Press Club und nur wenige Blocks vom Polizeirevier entfernt, geht hinein und studiert die Namen auf einer ganzen Platte mit Namensschildern neben dem Fahrstuhl. Und als der Fahrstuhlführer zu ihm kam und fragte, ob er ihm helfen könnte, versetzte der Tonfall des Mannes, seine Hautfarbe, Spain in eine derart rasende Wut, dass er ohne Vorwarnung oder einen Hauch Planung (und dennoch hatte er ein Auto gestohlen) Mary Pat aus der Scheide zog, die er am linken Unterarm festgeklebt hatte, und den kleinwüchsigen Fahrstuhlführer/Portier in der Halle des Schindler Building damit erstach. Als er sich wieder wohlbehalten zu Hause in dem gemieteten Haus befand, das er emsig umbaute, damit es seinen bizarren und schrecklichen Anforderungen genügte, spielte er mit Pat und schleuderte das dreißig Zentimeter lange Stilett wiederholt ins weiche Holz der Tischplatte, sodass es steckenblieb. Als Junge hatte er Leslie Charteris gelesen und erinnerte sich an den Dolch, den der Saint nach einer Frau benannt hatte - Anna, richtig? Und er selbst nannte dieses tödliche Miststück nach seiner Frau und gab ihm Blut zu trinken. Das Stilett bohrte sich erneut ins weiche Kiefernholz des Tischs, die kreuzförmige Silhouette warf ihren Schatten auf die 132
Platte. Es erinnerte ganz und gar an ein Kruzifix, Klinge und Heft bildeten die Form des Kreuzes, Greifwülste und Relief des Griffs deuteten den Leichnam des Erlösers an. Er nahm das Ding und schleuderte es mit Schmackes durch das Zimmer, hielt es an der Spitze, warf es mit der geübten Armbewegung, die er im Lauf der Jahre einstudiert hatte, wenn er alle möglichen Arten von Messern warf - Dolch, Brotmesser, Schraubenzieher, spitzen Bleistift, alle Arten von Gegenständen mit Schneiden oder Spitzen -, und Pat bohrte sich mit einem tröstend tschwockenden Geräusch in die Wand, wo der Schatten des Kruzifixes auf die Tapete fiel und jemanden andeutete, der kopfunter gekreuzigt worden war, und Spain blieb sitzen, betrachtete das Stilett in der Wand und verspürte ein Frösteln in dem sehr warmen, leeren Haus. Jetzt war Spain vollkommen übergeschnappt. Er knirschte leise mit den Zähnen und dachte daran, wie schön es gewesen war, den Fahrstuhlführer zu töten, dessen Tonfall und Hautfarbe ihn an Gaetano Ciprioni erinnert hatten. Doch er wusste, er würde die erforderliche professionelle Kontrolle behalten, bis er sein höchstes Ziel erreichte. Dieses Maß kontrollierter Entschlossenheit würde ihn auch im Wahnsinn nicht im Stich lassen. Immerhin war das Töten sein Beruf. Drei Tage lang war Jack Eichord voll und ganz mit einer Welle der Gewalt beschäftigt, dann konnte er endlich wieder Luft holen und Rita anrufen. »Ich hab dich schrecklich vermisst«, ließ sie ihn wissen, aber er konnte nur in den Hörer atmen. »Ich weiß, du hast mich auch vermisst. Das höre ich daran, wie du keuchst.« »Ja«, antwortete er ihr sehr ernst. »Was passiert hier?« fragte sie ihn. »Was?« »Was passiert mit uns?« »Was meinst du damit?« 133 »Du weißt genau, was ich damit meine, du kleiner Teufel.« »Oh, du meinst das?« »Ja. Das.« »Das ist ein biologisches Phänomen, über das ich einiges in Büchern gelesen habe. Es ist ganz natürlich.« »Oh, dann ist es ja gut.« »Es ist sogar sehr gut.« »Hat es einen Namen?« »Ja, ef hat durchauf einen Namen«, sagte er und hörte sich aus einem unerfindlichen Grund wie eine Katze im Zeichentrickfilm an. »Es bedeutet, wir haben uns ineinander versext.« »Wie romantisch.« »Möchtest du heute Abend wieder ein bisschen Romantik?« »Ich könnte dich vielleicht in meinen dichten Terminplan reinquetschen.« »Quetsch mich gegen sieben rein, ja?« »Betrachte dich als gequetscht.« »Ich hab dich auch vermisst. Sehr.« Beim zweiten Mal noch besser? fragte er sich hinterher. Kaum möglich. Aber es war so. So wunderbar. Sie lagen nebeneinander und lachten wie die Doofen, so zufrieden miteinander und ihren tollen Entdeckungen. Sie betastete seinen zweiten Nabel, eine unebenmäßige Vertiefung, wo eine alte Verletzung verheilt war. »Wie ich sehe, hast du ein interessantes Leben geführt.« »Ohne Frage, mein guter Watson.« »Wer war das? Hat dich jemand gebissen?« Sie strich über die Vertiefung. »Vermutlich«, sagte er und spürte die kleine Vertiefung, das längst vergessene Souvenir einer Begegnung mit einem Fairbairn-Kampfmesser. »Antike Geschichte.« »Ich bin sicher, dass das von einer Frau stammt. Eine Bisswunde.«
Sie berührten sich mit den Mündern; ihre Zunge brizzelte wie die Berührung mit einem Starkstromkabel, und er war Kupfer, 134 das zu einem langen Erdungsbolzen führte, der die Energie gierig in sich aufsog und darauf reagierte und versuchte, soviel wie möglich ihres heißen, süßen Blitzschlags in sich aufzunehmen, damit der Strom der elektrischen Ladung sie beide knisternd und zuckend durchschütteln konnte. »Wer ist es?« wandte sich Eichord an Bud Leech, der sich schon am Tatort befand. »Ein kleiner Penner namens Betters. Dem haben sie echt wehgetan. Hoffentlich haben Sie schon gegessen.« »He, Bud«, sagte ein Mann der Mordkommission zu Leech und nickte Eichord zu. »Jou.« »Können Sie ihn mitnehmen?« »Hm, Moment noch. Nicht ganz, Baby. Sag ihnen, sie wollen noch ein paar Minuten warten.« »Okay.« »Kleinkarierter Ganove namens Vinnie Bennett. Ein Unterling von Measure.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was das alles soll«, sagte er und zeigte bei den Worten »das da« in Richtung Küche. »Schon fertig mit den Fingerabdrücken?« »Nee.« »Riecht klasse da drin.« »Herrgott.« Eichord hielt sich ein Taschentuch vor das Gesicht. »Hiiiiiiiiier ist Vinnie.« Eichord sah hin und wandte sich nach einer Weile wieder ab. »Wer das getan hat, hat offensichtlich -« »Ja.« er lachte humorlos. »Das können Sie laut sagen.« »Im Ernst. Aus welchem Grund er auch getötet wurde, der Täter hat versucht, Dampf abzulassen. Daran ist nichts Professionelles, wie Sie sagen. Es sei denn, der Täter war ein Profi, der versuchte jemandem eine Botschaft zukommen zu lassen — wollen Sie darauf raus?« 134 »Genau.« »Den kleinen Bettnässer haben sie U-B-E-L zugerichtet.« Vinnie lag mit dem Kopf nach unten, hatte schätzungsweise neunhundert Einstiche in sich und wurde unter dem Küchentresen im Haus seiner Ex-Frau langsam zu Madenfutter. »Wer hat es gemeldet?« »Seine Frau, hm, ähem, HE!« Er winkte einem Detective. »Sie da.« Er befahl den Mann in den Küchenbereich. »Erzählen Sie ihm, wie Sie den Anruf bekommen haben.« »Klar. Es war seine Ex-Frau. Sie sagte, sie sei reingekommen und hätte ihn gefunden. Sie war mit ihrem neusten Macker in Atlantic City. Wir prüfen das gerade. Vinnie hat ein kleines Vorstrafenregister. Kleinkram, wie man's von so einem kleinen Sittenstrolch erwarten kann.« »Vielleicht hat er die falschen Typen gesittenstrolcht.«
»Könnten Riklas Leute gewesen sein. Sieht aber zugegeben nicht nach einem Auftragsmord aus. Jedenfalls wollte er immer hoch hinaus und hatte nicht den Schneid dazu, und -soweit ich gehört hab - hat er nie so richtig was auf die Reihe gekriegt.« »Das Sterben hat er auf die Reihe gekriegt.« Sie lachten. »Wohl wahr.« »Die Lynch-Street-Leute waren als erste hier. Die haben uns angerufen. Ich bin hergekommen. Sie sind hergekommen. Das ist so ziemlich alles.« »Glauben Sie, man kann auf der Straße was drüber erfahren?« »Neeeeeee. Bezweifle ich.« »Ein Racheakt. Irgendjemand muss was drüber sagen, andernfalls war alles für n Arsch. Sie wissen ja, wie diese Ganoven sind.« »Niemand interessiert sich einen Scheißdreck für Vinnie. Vermissen dürfte ihn eh keiner. Er war eine Niete. Nicht mal seine Ex hat sich groß aufgeregt. Sie sagte, als sie nach Hause kam und 135 ihn dort fand, wie er kleine weiße Würmchen ansetzte und, in ihren Worten« — der Polizist sah in sein Notizbuch — »>stank wie zehn Plastiktüten voll toter Ratten.<« Sie kicherten. »Da war sie nicht besonders überrascht. Zu den Jungs von Lynch Street sagte sie: >Verdammt, der kann froh sein, dass er UBERHAUPT so lang gelebt hat.<« »Schöner Nachruf.« »Leech.« »Jou.« »Können wir den Wichser jetzt rausbringen ?« »NEIN, GOTTVERDAMMT, IHR KÖNNT DEN WICHSER NOCH NICHT RAUSBRINGEN, das hab ich schon hundert Mal gesagt. Was habt ihr's denn so eilig, Herrgott noch mal?« »Wir haben's gar nicht eilig. Wir stehn GERN hier rum und lassen uns das Aroma von Kotze und Scheiße um die Nasen wehen.« »Gut. Ich weiß, es ist ein revolutionärer Vorschlag, aber wie wäre es damit, dass wir die Spusi anrollen lassen, damit die hier alles einstauben und, ihr wisst schon, die FINGERABDRÜCKE von den Typen findet, die das getan haben. Wie im Fernsehen, klar?« »Prima. Super Idee.« Und so geschah es. Jackie Nails, alias Jack Annelo, und Big Mike Stricoti von der Familie Dagatina - »mutmaßliche Auftragskiller«, wie die Presse sie nannte - hatten ihre dicken, fetten Fingerabdrücke im ganzen Haus hinterlassen. Das reichte für einige vorläufige Festnahmen aus, und binnen vierundzwanzig Stunden lief alles wie geschmiert und die Medien berichteten pflichtschuldigst über einen »großen Durchbruch in den Bandenkrieg-Ermittlungen«. Zufällig war die gesamte Einheit präsent, als es zum nächsten »großen Durchbruch« kam. Eine Laboranalyse brachte Annelo mit einer der früheren Schießereien in Verbindung. Ganz im Gei 135 ste von omer t ä gab er sich zugeknöpft wie eine Auster, wodurch er noch verdächtiger dastand, was die Bandenmorde anbetraf. Nur nicht für Eichord. Der war einerseits immer bereit, alles zu glauben, und andererseits wich seine gesunde Skepsis einer zunehmenden, monumentalen Paranoia, was diesen Fall anging. Zunächst
einmal waren seit der Sache auf dem Ventura Boulevard in Studio City keine AUGAPFEL-Morde mehr passiert. Er glaubte immer noch, dass sich einer dieser Bandenmorde in St. Louis mit denen in Kalifornien in Verbindung bringen ließ, aber es ging nicht. Alle Fakten und ernsthaften Überlegungen deuteten auf eine Lösung mit mehr als einem Täter hin. A: Gerüchte, die der Mordkommission des Polizeireviers L. A. zugetragen wurden, deuteten daraufhin, dass einige lokale Kleinganoven für den Studio-City-Job verantwortlich waren. B: Bei der Schießerei von Laclede Landing war ein Scharfschütze und geübter Auftragskiller im Spiel gewesen. C: Die beiden Ganoven der Dagatinas waren eindeutig des Mordes an Betters überführt. Jackie Nails in mindestens einem weiteren Fall verdächtig. Aber trotz alledem ging ihm Floyd Streicher mit den schweren Lidern nicht aus dem Sinn. Und Jack rieb sich die Augen, seufzte und betrachtete den Satz, den er gekritzelt hatte: TAT ER EUERE TAT? Mit einem langen Stoßseufzer ließ er die Luft aus den Lungen entweichen und las den Satz rückwärts. Und dabei wurde ihm klar, dass er nicht den geringsten Schimmer besaß, womit er es hier zu tun hatte. Wider besseres Wissen atmete er erneut ein und machte weiter. Am folgenden Montag brach genau um 14:30 Uhr die Hölle los. Der CP brüllte Victor Springer am Telefon an, dass der berüchtigte Mafia-Anwalt Jake Rozitsky und ein weiteres Individuum, vermutlich ein unschuldiger Passant, gerade in der Innenstadt 136 bei einem Bombenattentat ums Leben gekommen wären. Neben der Feuerwehr wurde eine beispiellose Armada von Einsatzfahrzeugen losgeschickt - und Eichord. Polizisten von einem Ende zum anderen. Reporter am Rande des Nervenzusammenbruchs. Ein Zirkus von Streifenwagen, Blaulicht. Rauchwolken, Sirenen, was man will. Zwei Helikopter des Fernsehens lieferten sich um ein Haar eine Luftschlacht um die beste Position für Aufnahmen des brennenden Hauses und des obligatorischen Durcheinanders von Polizeibeamten, Notärzten und Feuerwehrleuten, die Rozitsky und den anderen Mann, vermutlich ein Bauarbeiter, in Leichensäcken zu den wartenden Krankenwagen trugen. Glass kam zu Eichord gelaufen und rief ihm etwas zu, das er in dem Lärm nicht verstehen konnte. »Was?« (»MURMEL MURMEL«) »WAS? ICH KANN SIE NICHT HÖREN!« (»IRGENDWAS«) Es sah aus, als hätte er Polizei-irgendwas gesagt. Dann machte er das universelle Zeichen für Telefon, und da begriff Eichord endlich, griff zum Funkgerät, stellte den Kanal des Polizeifunks ein und nahm den Anruf von McTuff entgegen. Etwas, das er aus eigenem Antrieb eingeleitet hatte, und die Task Force reagierte gerade rechtzeitig. Er ging zu Springer und erzählte es ihm. »Lieutenant?« »Was?« »Steigen Sie in den Wagen ein.« Er winkte. »Hä«, brüllte Springer. »Hier REIN.«
»Herrgott.« Vic Springer ließ sich auf den Autositz fallen. »Hört sich da draußen wie der Dritte Weltkrieg an. Scheiße, so unwirklich, ich höre keinen -« »Wir haben vielleicht was«, teilte Eichord ihm mit. »Ja?« »Ich hatte mir einen Gerichtsbeschluss für eine Abhörung 137 besorgt. Über McTuff. Das Büro des Bezirksstaatsanwalts war informiert.« »Wieso haben Sie mich nicht danach gefragt, Jack?« Er sah so niedergeschlagen aus, dass Eichord schon dachte, er würde zusammenklappen, doch dann fiel ihm ein, dass das nur sein natürlicher Gesichtsausdruck war. »Was für eine Abhörung? Welches Telefon?« Sein Gesicht fiel noch mehr in sich zusammen. »Rozitskys.« Er nickte zu dem qualmenden Gebäude, wo die Feuerwehrmänner noch damit beschäftigt waren, die letzten Flammen zu löschen. »Sie haben Rozitsky abgehört? Wann war das? Wieso haben Sie nicht mit mir darüber geredet?« Eichord musste an einen Basset denken, als die traurigen Augen ihn anblickten. »Vor ein paar Tagen. Ich hatte noch keine Möglichkeit, Lieutenant. Es war immer jemand in der Nähe, oder ich hatte kein Telefon, dem ich trauen konnte. Abhören können viele. Ich hatte ein ungutes Gefühl im Fall Russo.« »Ja.« Springer blieb einen Moment reglos sitzen. »Sie wollen mir sagen, dass jemand in der Einheit Dreck am Stecken hat.« »Nein. Keineswegs. Ich sage nur — man muss alle Möglichkeiten erwägen. Die Sache ist die. Ich hatte seine Privatleitung anzapfen lassen, als er getötet wurde.« »Hmm. Und?« »Ich glaube, wir haben die Stimme des Killers auf Band.« Ecke Twelfth und Clark versammelten sich alle von Chief Adlers Special Division im dritten Stock wie zu einer Totenwache oder einem stummen Protest. Es vergingen lange, 1-a-a-a-a-a-n-g-e fünfundvierzig Minuten, bis ein Beamter mit einer Kopie des Originals aufkreuzte. »Na los«, sagte Springer zu ihm, worauf der Special Agent das Band ins Abspielgerät einfädelte. »Okay. Ah« - er räusperte sich - »die Qualität dürfte nicht eben berauschend sein, darum müssen wir uns bitte konzentrieren und so leise wie möglich sein, damit es alle deutlich hören 137 können. Das ist eine Kopie, und wir haben beim Überspielen eine Menge Tonqualität verloren, aber ich wusste, Sie wollten es sicher so schnell wie möglich anhören. Wir müssten bis morgen Nachmittag eine bearbeitete und qualitativ akzeptable Kopie haben, bis dahin muss die hier eben genügen. Okay. Hier haben wir - dies ist ein Band von einer Wanze in der Kanzlei des Verstorbenen, allerdings über ein mobiles Telefon, das hochfrequente Funkwellen aussendet. Eine tragbare Einheit, wie Ihre Funkgeräte oder Piepser, was in der Art, aber nicht die offene Wanze, die das Gerät harmonisch anzapft, sondern -« »Äh, pardon«, unterbrach Eichord ihn. »Tut mir leid, aber wir müssen uns das anhören, wenn Sie sich also die technischen Details für später aufheben würden.« Jemand sagte Showtime, während der Beamte nickte und die Play-Taste drückte. Fünf Minuten lang
hörten sie eine Menge Mist über das Spiel der Dolphins, die Spielführung und die Punkte. Dann folgte eine neue Unterhaltung. Eichord hörte sich das Band mit seiner recht schlechten Qualität an; die Sekretärin des Anwalts unterhielt sich mit der Sekretärin von jemand anderem, danach eine Pause, bis die Gegenpartei in der Leitung war. »Er unterhält sich mit James Measure«, sagte einer der Polizisten in dem Zimmer. »Ja«, bellte eine mürrische Stimme. »Mr. Measure, bitte bleiben Sie dran, Mr. Rozitsky ist jetzt bereit.« »Ja, gut.« »Jim-Baby«, ertönte eine sonore Stimme hocherfreut. »Jake. Was geht?« »Wie geht's Ihnen, Mann?« »Ganz gut. Man kann's lassen.« »Hören Sie, Jim ... ich muss später über Verschiedenes mit Ihnen reden, klar?« »Ja.« 138 »Ich hatte eben eine Sitzung mit unserem Freund da drüben, und es verhält sich genau so, wie ich es Ihnen gesagt habe. Er hält uns hin, macht aber mit, wir müssen ihn nur auf der richtigen Seite erwischen.« »Der hält uns wohl hin, der Wichser.« »Ja. Er wartet eben ab. Wir müssen ihm die Sache irgendwie versüßen, klar?« »Oh, das war mir von Anfang an klar.« »Wir müssen es ihm irgendwie versüßen, aber er ist dabei, das versichere ich Ihnen, kein Problem. Wir treten ihm ein bisschen auf die Füße, danach tritt er uns ein bisschen auf die Füße, aber am Ende tanzen wir alle gemeinsam und dann läuft die Kacke, und am Ende haben wir eine Einigung. Ich meine, wir finden zusammen, aber der Eiertanz muss eben sein, der Form halber und so.« »Mir ist scheißegal, ob er bei der Sache mit mir zusammenarbeitet, mehr hab ich dazu nicht zu sagen.« »Ich hab mit ihm gesprochen. Hören Sie, Jim, er weiß, dass das unser Land ist und er wickelt das mit Ihnen ab, und ihm ist auch klar, dass ein paar Typen hier ihr Fähnchen in beide Richtungen hängen.« »Ganz recht, das ist unser Land hier, der elende Flachwichser.« »Es geht wirklich nur darum, es ihm irgendwie zu versüßen, und ein paar Runden mit dem Hurensohn zu tanzen, das war's dann aber auch, finito, aber für ihn ist das so, dass er eben den Schein wahren muss, klar? Der führt Sie ein bisschen vor, damit nach außen hin alles koscher wirkt und er Mr. Big Businessman ist, aber am Ende macht er einen Rückzieher. Er kann eben nur nicht danach fragen, dass wir es ihm versüßen, sondern muss sich zuerst so richtig ordentlich aufplustern. Aber dafür haben Sie ja mich. Ich lass mir eine Weile von dem Arschficker in den Hintern treten, und dann machen wir was.« »Und auf was nagelt er uns am Ende fest?« »Ich nehm mal an, weitere zehn Dollar.« 138 »Jesus CHRI ST US! Was soll 'n DAS heißen, zehn? Glaubt das alte Arschloch, dass bei uns die Geldsäcke nur so rumliegen, oder was? Verrecken soll er.« »Wir müssen es ihm irgendwie versüßen, das schnitzt er uns aus den Rippen. Aber wissen Sie, mich pisst richtig an, dass er nicht einfach wie 'n Mann damit rausrücken kann, sondern erst diesen Affenzirkus mit uns veranstalten muss und sich dabei aufführt wie
die Ehrlichkeit in Person, klar, und dabei langt einem der schleimige Kotzbrocken in die Taschen und schwallt einem dabei noch was vor von wegen dies und das und er kann dieses und jenes nicht machen.« »Das ist Blödsinn. Zehn Riesen. Herrgott noch mal, wenn der mir noch mal zehn Riesen aus der Tasche leiert, dann sollte aber ziemlich schnell die Post abgehen, das sag ich Ihnen. Ich zahl keine zehn Riesen dafür, dass ich mir einen abwichsen lass und dann wie n Idiot mit tropfendem Schwanz dasteh.« »Ich lass Sie wissen, was am Ende entschieden wird. Aber zu der anderen Sache, die Sie mir angetragen haben ...?« »Ja?« »Kein Problem. Er hat größtes Verständnis für unsere Situation. Ich kann Ihnen auf jeden Fall garantieren, dass wir an ihn rankommen, falls wir ihn brauchen. Das Problem ist nur, man muss ihn mit Samthandschuhen anfassen. Das will ich nicht selber machen.« »Erledigen Sie es so, wie Sie es für richtig halten.« »Ja. Ich lass jemand bei ihm im Büro vorbeischauen und ihm den Umschlag bringen. Gar kein Problem. Er ist ziemlich verständnisvoll und mitfühlend. Ist nur so, er meint, da muss 'ne Show abgezogen werden. Ich hab allerdings das Gefühl, dass das alles reibungslos über die Bühne geht.« »Wann ist es soweit? Das waren - drei Wochen?« »Ja, genau, Jim, ein weiterer Vorteil für uns ist, dass er diesen Freund hat, der die politische Sache will. Die Vereinbarung ist so was wie n Abkommen auf Lebenszeit, klar?« 139 »Das will ich auch hoffen. Die Wichser machen keinen Finger krumm und die ganze Scheiße bringt siebzig Riesen ein, während die auf den Ärschen sitzen, und die müssen nicht alle paar Jahre wieder von vorn antreten wie die anderen Arschlöcher. Scheiße. Die setzen sich ins gemachte Nest.« »Auf jeden Fall. Scheiße, so was würd mir verdammt noch mal auch reinlaufen. Und natürlich weiß er, dass Sie sich mit dem Komitee einig sind, also gibt's auch diesbezüglich keine Probleme. Sein Freund hat die ganze Arbeit erledigt, klar, und wir lüpfen ihn einfach da rein, wir haben da drüben zwei von drei Posten besetzt.« »Verdammt richtig.« »Also das andere tut mir leid, aber ich wollte Sie unbedingt über unseren Freund da drüben informieren. Ich denke, er leiert uns zehn Dollar aus den Taschen, und damit ist es gut, also heißt es, Arschbacken zusammenkneifen; ich meld mich wieder, wenn ich was Konkretes hab, und dann betonieren wir die Sache ein.« »Ich würd lieber den Wichser einbetonieren.« (Sie lachen.) »Auf bald - wir reden später.« »Gut, Jake, halten Sie mich auf dem Laufenden.« »Wird gemacht, mein Freund. Bis dann.« »Okay, und jetzt alle Mann zuhören«, als das stimmaktivierte Norelco wieder einschaltete und Eichord eine leise, extrem präzise Stimme die Sekretärin fragen hörte, ob Mr. Rozitsky zu sprechen wäre. »Wen darf ich bitte melden?« »Sagen Sie ihm, es ist Roy Cohn«, sagte der Mann.
»Ja, Sir, Mr. Cohen, einen Moment, bitte«, sagte die Frau, die den Witz des Mannes nicht mitbekam. Ein paar Sekunden später meldete sich jemand lachend zu Wort: »Jake Rozitsky.« »Hallo, Mr. Rozitsky. Sie kennen mich nicht und mein Name 140 ist nicht wichtig, aber ich besitze Informationen, die Ihnen sicherlich sehr nützlich für eine Strafverteidigung sein werden, die Sie in den nächsten zwei Wochen angeboten bekommen.« »Mit wem spreche ich, bitte?« »Oh, betrachten Sie mich einfach als Freund des Gerichts. Hören Sie, ich will kein Geld. Ich will nur Gerechtigkeit. Und ich bin in einer Position, die mir erlaubt, Ihnen etwas über eine bestimmte Person zu erzählen, die Ihnen in der bevorstehenden Situation eine große Hilfe sein dürfte.« »Wenn Sie von der Anhörung sprechen, über so etwas kann ich beim besten Willen nicht am Telefon reden und ich -« »Hören Sie auf mit dem Mist«, sagte der andere Mann leise. »Ich bin ein Freund. Sie müssen nur zuhören und selbst urteilen. Zunächst einmal traue ich Ihrer Telefonleitung nicht, und wenn Sie ein Hirn im Kopf haben, dann wissen Sie, wovon ich rede. Wenn Sie die Informationen wollen, die ich für Sie habe, gehen Sie nach unten zum Münztelefon in der Halle. Wissen Sie, welches Telefon ich meine?« »Ja, aber das -« »Es ist wichtig. Ich habe keine Zeit für Blödsinn. Ich rufe in drei Minuten dieses Münztelefon an. Wenn Sie rangehen, prima. Wenn der Portier oder sonst jemand rangeht, lege ich auf und Sie hören nie wieder von mir. Wenn besetzt sein sollte, versuche ich es drei Minuten später noch einmal, aber das ist es dann. Sie haben drei Minuten, um nach unten zu gehen.« Es wurde aufgelegt, ehe der Anwalt auch nur die Möglichkeit hatte, zu antworten. »Er sagte seiner Sekretärin, dass er in ein paar Minuten wieder da wäre«, ließ der Polizist Eichord wissen, »und soweit wir wissen, war das das Letzte, was er überhaupt zu jemandem gesagt hat. Unter dem Münztelefon war etwa ein halbes Pfund Plastiksprengstoff versteckt. Der ging etwa drei Minuten nach diesem Anruf hoch. Riss ihn in zwei Teile, das Fenster barst, überall Glasscherben, ein unschuldiger Mann kam ums Leben -« 140 »Adi os, Jake«, sagte ein anderer Polizist. Eichord dachte an die Zeile in Shakespeares Hei nr i ch V I . Die über »tötet alle Anwälte«. Er spulte das Band ein Stück zurück und hörte sich die kühle, wohlmodulierte, leise Stimme noch einmal an: »Sagen Sie ihm, es ist Roy Cohn.« Es war eine eindeutige Stimme. Der Mann sprach kaum lauter als flüsternd, betonte äußerst präzise, akzentfrei und sachlich wie ein Nachrichtensprecher, aber ohne die professionelle Geschmeidigkeit, jede Silbe exakt nach der anderen. Überexakt. Selbstsicher. »Sie kennen mich nicht und mein Name ist nicht wichtig«, ertönte die leise Stimme und sprach jeden Vokal so präzise aus. Jack Eichord spulte erneut zurück und versuchte sich den Mund des Mannes vorzustellen, wenn er die Es aussprach: »Sie kennen mich nicht und mein Name ist nicht wichtig -« »Falsch«, sagte Eichord zu dem Tonband.
»He, eines kann ich mit Sicherheit über diesen Mann sagen.« »Ja?« Sie sahen den Polizisten an, der das gesagt hatte. »Jackie Nails ist das nicht.« Das Ding an Rita war. Ja, du lüsterner alter Mann. Das WAR das Ding an ihr. Und es gab noch anderes, das ihm an ihr gefiel. Er moch t e sie. Er mochte - verdammt, er LIEBTE den Gedanken, eine Frau zu mögen. Eine Frau. Er war verrückt danach, zu mögen. Es war schön, in einem wie die vorherige Generation es ausgedrückt hatte, »gewissen Alter« zu sein. Er dachte sich, dass sie durchaus in einem gewissen Alter waren, okay. Und es war ein interessantes Alter. Kein Zweifel. Trotz aller Nervosität und Übellaunigkeit und der gelegentlichen Paranoia herrschte das wunderbare Gefühl vor, sich wohl in seiner Haut zu fühlen, das den Jungen so selten vergönnt ist. Sicher, die haben andere Vorzüge. Aber er wollte nicht mit ihnen tauschen. Nehmen wir Rita. Er würde es auf jeden Fall, bei jeder sich bietenden Gelegenheit, danke. Sie besaß die Klasse, die man sich 141 nicht über irgendeine Abkürzung zulegen kann. Die man definitiv nicht mit Geld kaufen kann. Es ist mehr als Stil oder Flair oder eine gute Herkunft. Es ist Klasse. Selbst in den heißesten, wildesten, selbstvergessensten Augenblicken fand er sie anrührend edel. Er wusste, er konnte mit ihr über Casablanca , Sibelius' V alse T r i st e, Dostojewski und Diagilew und Deila Street und Vivian Deila Chiesa reden und sie würde Bescheid wissen und sich erinnern. Er könnte ihr von Madame de Beauvoir und Ted de Corsia und Vaughn de Leath und Demosthenes flüstern, und sie wäre nicht überfordert. Aber würde sie sich an Les Dämon und Les Tremayne, Brad Runyon und Margot Lane, Olan Soule und Omar den Mystiker, Jack Packard und Michael Axford, George W. Trendle und Phillips H. Lord erinnern? Würde sie sich an die Katze auf dem Kilimandscharo erinnern, Moxie und Chox, Chickory-Chick, Stan Getz' Stella? Stella Dallas? Oder nur Dallas ...? Er wusste es, und die Flut des Wissens umfing die harten Konsonanten wie in einem inneren Monolog ferner Gemeinsamkeiten. Zunächst einmal war sie seine Erlösung. Die Einzige, die ihn aus dem trübsinnigen, drögen, niederschmetternden Milieu herausholen konnte, das ihn in einem mehr oder weniger dauerhaften Griff hielt. Rita konnte ihn im Handumdrehen davon befreien. Allein der Gedanke, bei ihr zu sein, an die lange, glänzende rote Mähne seidenweichen Haars, das ihr blasses und engelsgleich schönes Gesicht umrahmte, wie sie mit ihren Killerbeinen durch ein Zimmer schritt, das alles reichte aus, ihn binnen einer New Yorker Sekunde vollkommen umzukrempeln. Die Frau machte ihn verrückt. Was für eine Granate. Besonders mochte er ihren Mund, und das sagte er ihr auch, als sie in einer einigermaßen langen Schlange standen, um sich D er Asph alt -D sch ung el anzusehen. »Du hast einen tollen Mund«, flüsterte er ihr zu, »weißt du das?« 141 »Ja. Eine Menge Leute versichern mir, dass ich ein tolles Mundwerk habe.« »Naja, das auch. Aber selbst das macht mich geil.« »Dich machen Einkaufszettel geil. Erzähl mir was Neues.« »Schlangestehen macht mich nicht geil. Aber ich würde alles tun, um Marilyn wiederzusehen. Ihr zwei habt etwas gemeinsam, weißt du?« »Oh, sicher. Ich möchte alles hören, was Marilyn Monroe und ich gemeinsam haben. Ich mache eine alphabetische Liste davon, ja? Wir sind beide Frauen. Sie sprach Englisch, ich
spreche Englisch. Als sie noch lebte, lag ihre Körpertemperatur bei um die sechsunddreißig Komma acht Grad, zufällig genau wie meine. Das wäre meine Liste. Wir haben wirklich viel gemeinsam, was?« »Die Körpertemperatur könnte ich ein wenig in die Höhe treiben, wenn du einen Moment Zeit hast.« »Soll ich die Polizei rufen, Mister?« »Das Schlimmste daran, in deiner Nähe zu sein, ist die Tatsache, dass du dich nicht aus der Ferne betrachten kannst. Ich wünschte, du könntest gleichzeitig mit mir auf der anderen Straßenseite sein, damit ich dich gehen sehen kann. Wenn ich dich jetzt sehen könnte, wie du mit deinen bezaubernden, langen Beinen die Straße entlang gehst ...« Er sah sie mit funkelnden schwarzen Augen an und hauchte ihr die Worte ganz leise ins Ohr. »Du solltest dich zusammenreißen und mich NICHT gleich hier in der Schlange bespringen. Dad ist pensioniert, und ich glaube nicht, dass wir uns darauf verlassen können, dass Winslow uns auf Kaution rausholt, wenn wir verhaftet werden«, flüsterte sie, »weil wir öffentliches Ärgernis erregen. Immerhin sind wir in St. Louis, das gehört fast noch zum Bibelgürtel.« »Ist das so?« flüsterte er erregt zurück. »Außerdem«, sagte sie und berührte flüsternd mit der Zungenspitze sein Ohr, um ihren Worten mehr Nachdruck zu ver 142 leihen, »wenn du weiter so an mir rumknabberst, bekommen wir den Asph alt D sch ung el womöglich gar nicht mehr zu sehen, den du schätzungsweise erst siebenundzwanzig Mal gesehen hast. Ich glaube nicht, dass ich das mit meinem Gewissen vereinbaren könnte.« »Wenn du Marilyn und die Bande wirklich nicht sehen willst, können wir sofort nach East St. Louis rüberfahren. Dort gibt es ein kleines Programmkino, wo sie Cr y D ang er mit Dick Powell zeigen.« »Mein Gott! Wirklich? Das kann nicht wahr sein!« Er nickte bekräftigend. »Ach, was hab ich Herzklopfen! Das ist alles so aufregend. Und wer spielt die weibliche Hauptrolle, Lillian Gish? Nein. Verrat es mir nicht. Sag mir nur eins. Ist es ein Tonfilm?« »Ja. Natürlich. Der ultimative Wohnwagenpark-Film. So schäbig und abgehalftert, wie's nur geht.« »Gut.« Sie schüttelte die rote Mähne, als bereite ihr ein Gedanke Kopfzerbrechen. »Kennen wir einander schon gut genug, dass ich dich um einen kleinen Gefallen bitten dürfte?« »Schon erfüllt, Kleines«, sagte Bogie. »Wünsch los.« »Wenn wir noch ein paar Monate zusammen sind - du weißt schon, wenn wir uns wirklich gut kennen -, dann möchte ich, dass du etwas für mich tust. Es ist ziemlich wild und verrückt. Und vielleicht willst du es von dir aus ja nicht, weil es so pervers ist. Aber bitte, sei ganz unvoreingenommen. Könnten wir irgendwann einmal - wenn ich schön brav bin - einen NEUEN Film ansehen? Du weißt schon, einen in Farbe. Mit lebenden Schauspielern?« Eine lange Pause, während Eichord darüber nachdachte. »Nein. Tut mir leid.« Er schüttelte den Kopf. »Da verlangst du zuviel.« »Bitte entschuldige! Ach je!« Sie verzog spöttisch-entsetzt das Gesicht. »Hätte ich nur nichts gesagt!«
»Ich kümmere mich darum«, sagte er, während die Schlange langsam in Richtung des schalen Popcorngeruchs vorrückte. 143 Verdammt, man kann nie wissen, wo man einen Hinweis findet, richtig? Spain versuchte sich zu erinnern, wann er das letzte Mal zu einer Untersuchung beim Arzt gewesen war. Er bekam manchmal Anfälle, die ihm gar nicht gefielen. Nicht jeden Tag, aber einigermaßen regelmäßig überkam ihn ein Schwindelgefühl, als würde er fallen. So fühlte er sich, wenn er eine schlimme Erkältung bekam. Aus irgendeinem Grund brachten ihn seine Stirnhöhlen um. Das neue Bett, das er für das Haus gekauft hatte, kam ihm nicht richtig vor. Mit der Matratze stimmte etwas nicht. Er hatte einen schmerzhaften eingewachsenen Zehennagel und konnte offenbar gar nichts dagegen tun. Auf der Toilette konnte er seinen eigenen Stuhl nicht ansehen. Im Hinterzimmer eines kleinen Bestattungsinstituts hatte er das seltsame Gefühl erneut. Den Wunsch, den nächstbesten Menschen zu töten, mit dem er in Kontakt kam. Er identifizierte es korrekterweise als Wahnsinn und verdrängte es. Er wollte einen großen Pappkarton, in denen Särge und Kühlschränke und dergleichen ausgeliefert wurden, darum war er hier. Für die schalldichte Kammer, die er gebaut hatte. Frank Spain hatte mit komplexen Vielecken, rhombischen Parallelogrammen, jeder erdenklichen Form experimentiert. Ein trapezförmiges Rechteck aus zwei kurzen, gleich langen Seiten und einem etwas längeren Rücken schien ideal zu sein. Der vordere Teil der Kammer sollte Verhören dienen. Der trapezförmige Grundriss fügte sich in den seltsamen Dachfirst ein und ermöglichte Spain, einige Trennwände hochzuziehen, die aneinander anzugrenzen schienen. Er baute sie als doppelte Wände, acht Mauern, nicht vier, und der innere Raum - nicht viel mehr als ein begehbarer Schrank — war eine schalldichte Kammer mit zweifach verstärkten Trennwänden. Die Rückseite jeder Wand im Büro, dem L-förmigen Lagerraum und dem Schlafzimmer waren mit schalldichten Fliesen 143 bedeckt, was er schon lange bevor er den Mietvertrag unterschrieb mit dem Besitzer abgeklärt hatte. Der enge Zwischenraum zwischen einem Wändepaar würde mit Eierkartons gefüllt werden, sobald er die großen Kartonbahnen gefunden hatte, mit denen er ihnen Halt geben konnte. Dann wurden die Innenwände mit Teppichboden beklebt. Nebst einigen weiteren wirkungsvollen Schalldämpfern. Im Hinterhof von Lane-Freeman, einem mittelständischen Bestattungsunternehmen, fand er keinen Karton. Er ging zur Hintertür und versuchte sein Glück. Nicht abgeschlossen. Er trat ein. Ein leerer Vorraum oder so. Er wandte sich nach links und ging durch eine Tür mit der Aufschrift PRIVAT. Ein Präparationsraum. Spain lächelte. Das Gefühl war außerordentlich stark. Was, wenn jemand, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Gaetano Ciprioni hatte, plötzlich zur Tür hereinkam? Spain ging hastig zu einem Metalltisch neben einer Spüle und griff nach einem spitzen Instrument, das er an die Seite drückte, als er das Gebäude verließ. Niemand hatte ihn gesehen. Das Gefühl ließ nach; er begab sich zu einem anderen Institut, wo er seine Pappkartons fand, die er kaum auf den Rücksitz des großen Fahrzeugs zwängen konnte. In seinem speziellen Zimmer vollendete er die schalldichte Wand aus Eierkartons und deckte die behelfsmäßige Dämmung mit den großen Pappkartons ab, sodass eine
abgeschottete und schalldichte Kammer entstand. Die Mitte des kleinen Geheimraums befand sich über einer tiefen Drainagerinne, die ein entscheidender Faktor bei der Auswahl der Immobilie gewesen war. Der Vermieter wusste nicht, dass sein neuer Mieter einen Abschnitt dieser Rinne abgeteilt, zu einem Laugebottich umfunktioniert und ein Loch in den Boden des Hauses gesägt hatte, damit man vom Hausinneren Zugang zu diesem Bottich hatte. In den vergangenen Wochen hatte Spain behelfsmäßige Folterwerkzeuge gesammelt, wie es ihm in den Sinn kam. In einer 144 Ecke des kleinen »Verhörraums« stand eine Kiste mit Zwingen, Schellen, Zangen, Messern, Rasierklingen, Haken, Pickeln und Pinzetten, alles eben, womit man stechen, pieksen, kneifen, reißen, quälen, verstümmeln und zerfetzen konnte. An der hinteren Wand befand sich ein Regal mit tödlichen Chemikalien und in der Ecke ein paar Sägen und ein Azetylenbrenner. Von außen handelte es sich um ein hübsches Backsteinhaus, drei Zimmer, Küche, Bad, für normale bis gehobene Ansprüche. Ungewöhnlich waren nur die abgelegene Lage und das außergewöhnliche Giebeldach. Und jetzt Spains Innenausbau. Er verließ das Haus, schaltete seine Alarmanlage ein - kann mir nicht leisten, dass Einbrecher einsteigen - und stieg in das Auto ein. Von einem Münztelefon aus rief er seine Sekretärin an und hörte gute Nachrichten, »Schön, dass Sie anrufen«, sagte sie. »Ein Mr. Hitter hat zweimal für Sie angerufen. Er sagte, er würde zum vereinbarten Zeitpunkt unter dieser Nummer zu erreichen sein. Bringen Sie den Ball so schnell es geht in Spiel. Er wollte, dass ich es Ihnen genau so weitergebe. Zum vereinbarten Zeitpunkt unter dieser Nummer. Bringen Sie den Ball so schnell es geht in Spiel.« »Okay.« Spain kicherte freundlich. »Bei Ihnen hört sich das an wie ein Code.« Sie lachten beide. »Er ist schon eine Type.« »Also wegen der Nachricht war er sehr deutlich. Er wollte, dass ich sie genau so übermittle, daher ...« »Prima. Das haben Sie gut gemacht. Er ist nur ein schräger Vogel. Denkt, dass seine Art die einzige ist, wissen Sie.« Sie antwortete mit hmmmmm, aber er beendete das Gespräch mit dem nagenden, paranoiden Gefühl, er könnte allmählich sorglos werden. Der Idiot hätte sich dieses Gewese wegen der Uhrzeit getrost schenken können. Alles war sorgsam eingefädelt worden, um genau diese Art von verdächtigem Quatsch zu vermeiden. Er musste sich bald von seiner Sekretärin verabschieden, oder noch besser, ihr mehr routinemäßige, normale Arbeit geben. Diese merkwürdigen Anrufe, dass er sie über die Straße schickte, 144 damit sie Fremden in einem Auto Nachrichten übermittelte ... daran könnte sie sich erinnern. Fünftausend Dollar in bar, und der Blödmann konnte nicht mal eine einfach Telefonbotschaft übermitteln. Er wählte ungeduldig. »Ja.« »Ist da Mr. Hitter?« »Okay. Ich habe ihn gefunden. Sein Hiwi hat gesungen, er versteckt sich in einem Haus am See, das der Familie gehört.« Er gab Spain die Adresse und eine Wegbeschreibung. »Er hat einen Leibwächter drinnen, einen draußen. Der draußen sitzt im Auto. Ich glaub,
der Kerl drinnen ist eine Schwuchtel.« Er kicherte. »Das war's jedenfalls. Kann ich noch was für Sie tun?« »Momentan nicht. Gute Arbeit.« »Jederzeit gern.« »Ist klar.« Verdammter Idiot. Er legte auf. Spain fuhr zu seinem Haus zurück, zog einen Ledermantel an, holte sich einen Hut und ein paar Kleinigkeiten. Fuhr zum Lake St. Charles raus. Der Park Avenue stand etwa hundertfünfzig Meter von der Eingangstür entfernt. Vom Haus aus und für den passierenden Verkehr zu sehen. Nicht gerade ideal, aber er würde es schaffen. Er ging ganz unverhohlen hin und bemerkte, wie sich der Mann ein wenig bewegte. Vermutlich hatte er die Hand an eine Waffe gelegt. »Ja«, grunzte der Mann in dem Auto und hängte ein Fragezeichen an das Wort an. »Sir, legen Sie bitte beide Hände auf das Lenkrad«, sagte er und ließ das Ausweismäppchen aus Leder aufklappen. Verschnörkeltes Messing und ein perfekt nachgeahmtes laminiertes Foto wurden sichtbar. »Sie haben das Recht -« »Ey, was soll die verdammte Scheiße?« sagte der Typ, legte aber die andere freie Hand auf das Lenkrad. »Wer -« »- zu schweigen. Sie haben das Recht auf einen Anwalt.« Er hob die Pistole mit dem Schalldämpfer und schoss dem Mann 145 in die Schläfe. Ein Strahl roten Blutes spritzte aus dem Kopf, während der Mann nach rechts kippte. »Sie haben das Recht auf einen Totengräber«, plapperte Spain weiter in das Auto hinein und steckte die Waffe wieder ein. »Wenn Sie einen Totengräber wünschen, sich aber keinen leisten können ...« Er verstummte, ging wieder zu seinem Auto und fuhr bis zur Eingangstür des Hauses. Dort stieg er aus und läutete. Ein dünner, blasser Mann mit sandfarbenem Haar öffnete die Tür. »Ja?« »Ihr Name?« Wieder blitzte die Plakette auf. »MEIN Name?« »Ja. Sir. Nennen Sie mir bitte Ihren Namen.« »Mein Name ist Dorn.« »Sir, wir haben einen Durchsuchungsbefehl für dieses Haus im Rahmen einer FBIErmittlung.« Er ging an dem Mann vorbei, als er das sagte. »Einen kleinen Moment, bitte ...« Und damit schoss er dem Mann ins Gesicht, schritt hastig ins Zimmer, noch ehe der Mann zu Boden gefallen war, und richtete die Waffe sofort auf Kriegal, ein fester, beidhändiger, Griff, genau wie im Kino. »Blue«, sagte er, »Sie sind verhaftet. Arschloch. Und hier kommt der Richter.« Er lachte und fühlte sich zum ersten Mal an diesem Tag so richtig wohl. Und dann sah er die Bilder an den Wänden. Im ersten Moment glaubte er an eine Halluzination. Das waren nicht wirklich Bilder von kleinen Kindern in gegenseitiger Umarmung und oh mein Gott in der Umarmung von Erwachsenen und in Stellungen in vollkommen unnatürlichen Haltungen und gefesselt und schreiend und bestraft und alles so, ah, so grauenhaft abstoßend, in Ausübung widernatürlicher Akte von der Kamera eingefangen, professionell gerahmt und unter Glas. Er flüsterte dem untersetzten, halb kahlen Mann auf dem langen Sofa zu: »Ich würde dir am liebsten den dreckigen Kopf abschneiden und dir in den Hals scheißen, du -« Ihm fielen wirklich keine Schimpfworte ein, die ihm schlimm genug für
146 diesen Mann zu sein schienen. Ihm fehlten die Worte. Er ging näher hin, trat dem Mann in den Magen, zielte sorgfältig und trat ihn so präzise, wie er konnte, damit seine Gefühle nicht mit ihm durchgingen. Er wusste, wenn er sich jetzt nicht beherrschte, wäre in dreißig Sekunden alles vorbei, und das wäre ein Jammer. Ein Verrat an allem, wofür er gearbeitet hatte. Schließlich ging es darum, den Abschaum kriechen zu lassen. Die Peiniger zu schnappen und ihnen etwas von dem Leid heimzuzahlen, das sie zufügten. Ein Bild zweier kleiner Mädchen ließ ihn nicht los; wider besseres Wissen warf er noch einen Blick darauf. Ein Kind, etwa neun, zehn Jahre alt, machte etwas mit einem anderen Kind. Das Kind, das in den Genuss der Zuwendung kam, erinnerte ihn an Tiff auf einer Lieblingsaufnahme in ihrem Album, und da brodelte die Wut doch einen Augenblick unbeherrscht über und er trat Blue Kriegal etwa zwanzig Mal so fest er konnte. Er musste ihn hier rausschaffen, andernfalls würde er ihn gleich abschlachten. Spain fesselte ihm nicht einmal die Hände. Er empfand eine solche Verachtung für den Mann, dass er einfach rausging, den Kofferraum öffnete, zurückkam, den reglosen Mann auf einen kleinen Teppich rollte, Kriegal am Leichnam seines Aufpassers vorbei ins Freie schleifte und die Last achtlos in den Kofferraum warf, William Kriegal erwachte unter ungeheuren Qualen und Angst in der Dunkelheit, doch dann überwältigten ihn die Schmerzen und er kippte wieder weg und erwachte viel später abermals mit diesem Brechreiz erregenden Gefühl, das man hat, wenn man Salz riecht, doch als er versuchte, das Gesicht von dem würgenden Aroma abzuwenden, konnte er sich nicht bewegen. »Aaaaaaaa, biiiiiiiiiiiittte«, flehte er den Mann an, der vor seinem Gesicht die Zähne fletschte. »Guten Morgen. Gut geschlafen?« Der Mann schraubte den Deckel auf das Fläschchen. »Himmel, Mann, ich geb dir alles, aber bitte nicht -« 146 »Blue, Blue, BLUE, halt einen Moment dein Arschloch. Mein Name ist Frank Spain. Hast du je von mir gehört?« fragte er liebenswürdig. »Äh -« Das Gehirn des Mannes arbeitete mit einer Meile pro Minute. Wo zum Teufel war er und wie kam er hier wieder aus? »Du fühlst dich gerade nicht so großartig, was?« »Hm-hmm.« Er fühlte sich, als würde er gleich wieder umkippen. »Ich gab dir was, damit du dich besser fühlst, okay?« sagte der Mann. »Mein Name ist Frank Spain. Aber du kannst mich Mr. Spanhower nennen. Sag: Hallo, Mr. Spanhower.« »'lo, Mr. Spanhower.« »Gut.« »Bitte, Mr. Span -« »Schau her, Blue, was ich für dich habe. Vitamine«, sagte er strahlend. »Die bringen deinen alten Prügel auf Vordermann.« Kriegal zuckte zusammen, als er die Spritze sah. »Oh, he - Blue, mach dir deswegen keine Sorgen. Die ist nur dafür, dass du wieder ein bisschen Farbe kriegst.« Er spritzte einen dünnen Strahl in die Luft. »Ich will dir kein Luftbläschen in die Adern spritzen und dich dadurch umbringen, um Himmels willen, nein.« Spain fand eine Ader in Kriegais fleischigem Arm und stieß die Nadel hinein. »Mmmm.« Der Mann gab unwillkürlich einen Laut der Angst von sich, als Spain den Kolben der Spritze nach unten drückte.
»Ja, ich versteh das, Blue. Nichts ist so wirksam wie Tetrodotoxin. Besonders dieser kleine Cocktail. So heiß wie das Orinoco-becken, Baby. Wärmend wie eine Schlammpackung. Geht ab wie Wooooooooooodoooooooooo«, zog er den Mann auf. »Bitte, hören Sie zu, Mister, ich weiß nicht, warum Sie das machen, aber ich hab über zweihunderttausend in einem -« Spain brachte ihn zum Schweigen, indem er ihm einfach eine Hand auf den Mund drückte. »Hmmm-mmmm. Nicht reden. 147 Bleib ganz ruhig. Du brauchst all deine Kraft. Ich nehm nicht an, du bist immun gegen Engelstrompete? Stechapfel? Zombie-kraut? Himmel Blue, was soll ich nur mit dir machen? Hast du deine ethnobotanischen, ophiologischen fünf Sinne nicht beisammen? Hm? Sag was, Mann. Oder hat eine Katze deine Zunge gefressen?« »Jesus Christus. Bitte.« »Oh, bleib ganz ruhig. Das mit dem Zombiekraut war nur ein Witz. Es war schlicht und einfach Benzin. Aber eins war kein Scheiß, Blue. Das Zeug ist ERSTE SAHNE. Wirkt es schon ein bisschen, Blue?« Und plötzlich verlor er die Beherrschung und schrie los. »STIRB STIRB STIRB du elender Drecksack!« Er brüllte dem Mann ins Gesicht, während er den Trokar nahm, ein spitzes Ding, das Einbalsamierer benutzen, um eine Kanüle in den Torso eines Leichnams zu legen, mit der sie die Körperflüssigkeit absaugen, und stieß ihn immer und immer wieder in den lebenden, kreischenden Körper von Blue Kriegal. »Ich hatte so schöne Pläne für uns, Blue«, seufzte er und beruhigte sich wieder ein wenig. »Aber ich glaub nicht, dass du mir lang genug durchhältst, dass ich dich in einen Zombie verwandeln kann, verdammt. Ich glaube, du bist schon scheißetot, Blue. Was sagst du dazu -hm?« Seine Stimme klang sehr laut in dem engen Kabuff, wo er zusah, wie der dunkelrote Strudel sich in den Laugebottich im Boden ergoss. Er blieb lange Zeit mit starrem Blick und kalten Augen wie gebannt stehen, als würde er auf ein weiteres Wort eines hohen Orakels warten. Und in dieser Nacht wachte in seinem Schlaf Anubis, der schakalsköpfige Gott der Antike, Beschützer der Friedhöfe, über das Wägen der Herzen beim Ritual des letzten Urteils. Der distinguierte Mann schloss die Tür seines Arbeitszimmers auf, trat ein und setzte sich hinter den enormen Schreibtisch. Er bückte sich und stellte etwas mit einem Tischbein an, worauf sich die Vorderseite des Beins löste. Er griffhinein und holte 147 ein Instrument mit roten und schwarzen Telefonhörern daran heraus. Er drückte einen Knopf, ein Licht ging an, er legte den roten Hörer auf die Gabel in der Mitte, hob den schwarzen hoch und wählte. »Ja ... Ich will eine Sitzung einberufen. Der gesamte Rat, Ein Notfall.« Er bellte eine schroffe Antwort in den Hörer. »Das weiß ich, Herrgott noch mal. Ich bin kein Idiot. Hören Sie zu. Alle Dons. Mir ist scheißegal, wie Sie das anstellen, ich will Repräsentanten ALLER Familien sehen. Wir haben es hier mit einem Krieg zu tun, aber der ist nicht so, wie alle glauben. Ich weiß, wer hinter dieser ganzen Scheiße steckt. Es kann nur ein Mann sein.« Er stieß einen Stoßseufzer der Wut und Frustration aus.
»Aufgepasst. Ich möchte Folgendes. Ich will, dass Sie eine Mannschaft ... Nein, eine ganze Mannschaft, verdammt, ich will eine ganze SCHWADRON Soldaten. Ich gebe Ihnen eine Adresse in Ladue, Missouri...« DES KINDESMISSBRAUCHS ANGEKLAGTER MAFIOSO AUS ST. LOUIS VERSCHWUNDEN, St. Louis, Mo. Missouri News Service Wire, las Eichord, übersprang M08-44-29173301 und las direkt weiter. Ein ehemaliger Pflegevater im Dienste von Family Services, Abteilung Missouri, der jüngst ins Kreuzfeuer der Ermittler wegen mutmaßlicher Mafia-Aktivitäten geraten war, wurde in zwei Countys des Kindesmiss-brauchs angeklagt, nachdem die Polizei, wie es hieß, »Tausende Fotos und Filme mit Kindern« bei ihm gefunden hatte. Die Beweise wurden in seinem Haus in Jefferson County sichergestellt. William »Blue« Kriegal, 41, aus dem 12000er Block DeSoto, wurde am Dienstag des Kindesmissbrauchs in sechs Fällen in Warren County und in zwei Fällen in Jefferson County angeklagt. Nach Hinterlegung einer Kaution in Höhe von 75000 Dollar wurde er freigelassen, wie es von Behördenseite hieß; man geht davon aus, dass er geflohen ist. Die Polizei sucht seit Mittwoch nach Kriegal, ein Haftbefehl wegen unerlaubter Flucht, um sich einer Anklage zu entziehen, wurde ausgestellt. Kriegais Familie verweigerte jeden Kommentar. 148 Kriegal galt als »Hauptverdächtiger« einer FBI-Ermittlung gegen die mutmaßliche »kriminelle Familie« von Salvatore Dagatina und weiteren nicht genannten Individuen, die, wie die Behörden vermuten, den Markt für Kinderpornografie und Betäubungsmittel im mittleren Westen kontrollieren, so der stellvertretende Staatsanwalt von Jefferson County, Ken-neth Wales. »Wir lassen immer noch Bilder entwickeln, sammeln Anklagepunkte und versuchen, einen zeitlichen Rahmen abzustecken«, sagte Wales bezüglich der Anklage wegen Kindesmissbrauch, »da in Missouri eine dreijährige Verjährungsfrist für derartige Vergehen besteht.« Kriegal arbeitete früher als Pflegevater für Family Services und war im Gebiet Columbia, Missouri, für das Wohl von mehreren Kindern im Alter zwischen neun und dreizehn Jahren verantwortlich, wie Melinda Zook, die stellvertretende Direktorin der Behörde, bestätigte. Uber Kriegais Führungszeugnis als Erzieher wollte sie keine Angaben machen. Zook sagte, dass Erziehungsberechtigte stets so gründlich wie möglich überprüft werden würden, versicherte den Reportern jedoch, dass es »keine exakte Wissenschaft ist«, gute Pflegeeltern zu finden. Die Behörden sind der Überzeugung, dass Kriegal an Produktion und Vertrieb so genannter »Snuff-Filme« beteiligt ist, pornografischen Filmen, in denen echte Folterszenen und Morde zu sehen sind. Die Behörden gehen weiter davon aus, dass Kriegal für Filme verantwortlich ist, in denen Kinder gefoltert und ermordet wurden, wie es aus gut unterrichteten Kreisen im Büro des Staatsanwalts von Jefferson County hieß. Er las die Worte laut vor, obwohl es Worte waren, die eigentlich stumm gelesen werden sollten, und sie auszusprechen, verlieh ihnen mehr Wirkung. Eichord hatte die Spur aufgenommen. Er hatte die Stimme. Und jetzt auch einen Elinweis. Etwas nagte in ihm. Dafür lebte er. Seine unerschütterliche Arbeitsmoral: das elementare Fundament, Katharsis, Heilung, Analeptikum. Balsam und Stimulans für seine Seele, wenn er in Dreck und Abfall und Unrat und Fäulnis wühlte. Als er die Worte las,
verspürte er ein Frösteln und spürte, wie die altbekannten Vektoren sich überschnitten. Er wat irgendwo da draußen. Wartete darauf, wieder zu töten. Ein Meister des Todes. Und jetzt gab es eine Stimme. Und ein Muster. Und Vektoren, die sich kreuzten. 149 Zur Abwechslung wusste er einmal, wie er weiter vorgehen musste. Das hätte er schon früher machen müssen, als ihm das Muster der Morde aufgegangen war, Eichord wusste nicht mehr, ob der Ganove Floyd Streicher NICHTS BÖSES SEHEN etwas damit zu tun hatte, und es kümmerte ihn auch nicht mehr. Er schnappte sich Bud Leech und verließ das Büro der Mordkommission mit ihm. Leech entging das Manöver nicht. »Wieso wollen Sie nicht da oben reden?« erkundigte er sich und zeigte zum Revier. »Kommen Sie«, antwortete Eichord. »Machen wir einen Spaziergang.« »Machen Sie sich Sorgen wegen einer Wanze?« »Vergessen Sie das. Ich hab was, Bud.« »Ach ja?« »Ich denke ja«, sagte er. Und er sagte ihm, was er brauchte. Eine Observierung, die er durchführen wollte. »Verdammt, dann setzen wir den verdammten Wagen drauf an.« »Auf keinen Fall«, sagte er, eine Entscheidung, die er bald bereuen sollte. »Nur wir beide, Parrrrtner. Kümmern wir uns im Alleingang darum.« »Scheiße, okay«, sagte der große Mann achselzuckend, »wie Sie wollen.« Das Achselzucken drückte eine Frage aus. Sie glauben, dass es in der Special Division ein faules Ei gibt. »Ich will bloß vorsichtig sein«, sagte Eichord nur. »SEHR vorsichtig. Das ist... Verflucht, ich weiß nicht, WAS es ist. Aber es geht um mehr als nur einen Bandenkrieg.« Zu Leech sagte er es nicht, aber er dachte: SUPERKILLER. Zwei Tage später flog die Stretchlimousine, in der Phillip Russo, einer der Söhne von »Jimmy dem Haken«, mit seinem Chauffeur/ Leibwächter Bugs DeVintro fuhr, durch eine »professionell hergestellte Bombe mit einer großen Menge Sprengstoff« in die Luft. Die Mordkommission, der Geheimdienst und die Feuerermitt 149 ler rollten an, genau wie Eichord, der seinen ersten echten Einblick in die Mafia von St. Louis bekam. Er befand sich am Tatort, als ein vierschrötiger Mann italienischer Herkunft mit derben Zügen und einem Gesicht wie die dunkle Seite des Mondes zu ihm kam. »Sie kommen von der Task Force?« fragte er. »Jou.« Er gab ihm einen Zettel mit einer Telefonnummer darauf. »Mrs. Russo möchte, dass Sie sie anrufen«, sagte der Mann, glaubte Eichord jedenfalls. »Mrs. Russo? Rosemarie Russo?« »MISS Russo. Angelina. Rufen Sie sie an?« Eichord nickte. »So schnell es geht, bitte. Danke.« Er ging zur nächsten Telefonzelle und wählte. Beim zweiten Läuten nahm eine Frau ab. »Ja?« »Hallo, hier ist Jack Eichord, ich möchte bitte Angelina Russo sprechen.« »Ja, ich weiß. Am Apparat. Ich bin Angelina. Können Sie zu mir kommen?« »Aber sicher. Jetzt gleich?« »Klar. So schnell Sie können, ja?«
Sie sagte ihm, wo sie wohnte, ohne zu wissen, dass er nach seiner Ankunft in St. Louis als Erstes dort gewesen war, er dankte ihr und fuhr quer durch die Stadt. Das Haus der Russos fand er ohne Mühe wieder. Er parkte, ging zur Tür und klopfte. Er läutete. Klopfte wieder. Drinnen sagte ein missmutiger, hünenhafter Leibwächter zu seinem Schützling: »Miss Russo, Sie machen einen Fehler, bitte reden Sie mit keinem Bullen nicht.« »Lass ihn rein, Johnny.« »Wenn Jimmie hier wäre, er -« Sie brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. »Genau. Wenn Jimmie hier wäre, würdest du meine Entscheidung nicht in Frage stellen. Und jetzt lass ihn bitte rein.« 150 Er drehte sich um und öffnete die Tür. Johnny war fast schon so lange, wie sein irdisches Dasein währte, bei der Familie. Er gehörte gewissermaßen zur Familie, nannte sie jedoch aus Respekt immer noch Miss Russo. Sie wusste, was ihm durch den Kopf gehen musste, dass er so mit ihr redete. Es war ihr egal. Alles war egal. Nur das Morden musste aufhören. »Jack Eichord, Miss Russo.« Er reichte ihr eine Karte der Special Division der Mordkommission. »Ich habe Ihre Nachricht erhalten.« Der hünenhafte Leibwächter sah ihn an, als hätte er ihn am liebsten aufgespießt, entfernte sich aber aus dem großen Zimmer und machte leise die Tür hinter sich zu. »Bitte setzen Sie sich, Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie gekommen sind.« »Ich war schon einmal hier, hatte aber leider keine Gelegenheit, mit Ihnen zu reden.« »Ich musste mit jemandem reden. Der Polizei.« »Gut.« »Ich -« Sie holte ganz tief Luft und sank ein wenig in sich zusammen, als würde sie kollabieren. Einen Moment dachte er, er sollte zu ihr gehen, sich neben sie setzen und sie halten, sollte sie ohnmächtig werden, doch dann richtete sie sich mit einem weiteren Stoßseufzer wieder auf und sagte ohne jede Einleitung: »Ich habe Angst um meine Mutter.« »Oh?« »Und um mich. Ich kann es ja ruhig offen aussprechen, nicht? Ich fürchte, wer das alles hier anrichtet, hat es auch auf uns abgesehen. Mein Bruder und ich standen uns sehr nahe. Ich habe Einiges gehört.« Sie sah ihn mit roten Augen an. »Er glaubte, dass es jemand außerhalb der Familie wäre.« Eichord sagte nichts und wartete. Sie hustete. »Jemand versuchte, es wie einen Machtkampf aussehen zu lassen ... innerhalb der Familie. Begreifen Sie, was ich sage?« Er nickte. »Hatte Ihr Bruder eine Ahnung, wer hinter den Anschlägen stecken könnte?« 150 »Nein. Keine. Hören Sie - ich rede mit Ihnen - ich sage Dinge, für die ich einfahren könnte. Ich würde niemals grundlos jemanden von der Familie verpfeifen. Sie können nichts von dem verwenden, was ich Ihnen sage. Wenn Sie es versuchen, streite ich alles ab. Wenn Sie versuchen, es zu verwenden, bin ich dran. Sie fällen das Urteil über mich, wenn Sie es an Dritte weitergeben. Haben Sie verstanden?« Er neigte den Kopf und schwieg. »Ich bitte Sie nicht um Ihr Ehrenwort, da ich Sie nicht kenne. Ich weiß nicht, ob Sie ein Mann sind, der zu seinem Wort steht. Aber wenn Sie irgendjemand davon erzählen,
kompromittieren Sie mich. Die legen mich garantiert um. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?« Er nickte wieder. Angelina Russo war es gewohnt, Befehle zu erteilen, das hörte man ihrer Stimme an. »Fahren Sie fort«, forderte er sie auf. »Es gibt ein Konzil, einen Rat, nennen Sie es, wie Sie wollen. Es gibt diese Zusammenkunft der großen Familien in New York. Diese Männer beherrschen die Gesellschaft. Ihr Wort ist absolutes Gesetz. Nicht Ihr Gesetz. Das Gesetz. Nach dem wir leben. Sie verstehen, wenn wir uns treffen - als amico nostro? Zu uns zu gehören, unserem Ding - das bedeutet eine Ehre, der man bis zum Tod vertrauen kann. Aber sie ist ein Witz. Die Gesellschaft, unsere Freunde, hat so wenig Sinn wie die Gemeinschaft der Polizisten. Wir sind alle gleich, wie ihr Polizisten auch. Es gibt nur eine Hand voll, denen man wirklich trauen kann. Diese Männer, sie müssen ihre Familien beschützen. Wo Macht und Geld sind, da sind auch stets andere, die sie für sich haben wollen, und unsere Familie existiert, genau wie Ihre, nur aus Habgier. Diese Männer haben einige wenige vertrauenswürdige Mitarbeiter innerhalb des geheimsten Teils der Gesellschaft. Niemand weiß, wer diese Männer sind, die für die capos der Familie arbeiten. Nicht einmal die Offi 151 ziere, die die wichtigsten Geschäftszweige leiten. Sie arbeiten geheim. Phillie wusste, dass die Attentate von außerhalb verübt wurden. Da war er sich ganz sicher.« Eine Weile glaubte Eichord, sie würde noch mehr sagen, aber was immer sie sagen wollte, sie hatte es sich anders überlegt. Er sah es zuerst in ihren Augen, die vollkommen leer blickten, und dann an ihrer Körpersprache, und er spürte es in der Atmosphäre, als sie sich binnen eines Herzschlags verwandelte und vor seinen Augen wieder zu dem MafiaMädchen wurde. Innerhalb dieser einen Sekunde drängte sie ihn vollkommen hinaus, sie ging bis an die Grenze und öffnete beinahe, beinahe die Tür für ihn, aber dann, nein, dann sorgten die Jahre der Gewohnheit und Beeinflussung dafür, dass das Klima der Verschlossenheit, in dem diese Frauen lebten, wieder hergestellt wurde. Und er wusste, er war hier unerwünscht, jedes weitere Gespräch wäre reine Zeitverschwendung für ihn und für sie, daher stand er auf und ging hinaus, ließ die solide Tür hinter sich ins Schloss fallen und war durch jahrelange Konditionierung wieder raus aus dem Spiel. Als Eichord in das Auto einstieg und wegfuhr, beobachtete ihn jemand auf der anderen Straßenseite mit teurer Spionageausrüstung. Manchmal wirkten die Augen des Beobachters blaugrün im Licht, manchmal schiefergrau und kalt wie das Metall eines Gewehrlaufs. Die Augen eines Wahnsinnigen, eines professionellen Beobachters, der froh war, dass sich das Mädchen noch drinnen aufhielt. Der Mann mit den wahnsinnigen Augen sah das Mädchen nicht als von Kummer gezeichnete Schwester und Tochter. Er, der stumme Beobachter, interessierte sich mehr für Joe Russo, ihren lebenden Bruder. Er observierte sie, weil sie die Schwester eines Joseph Russo war, ältester Sohn von Jimmie dem Haken, der gerade eine fünfzehnjährige Haftstrafe wegen Totschlags absaß. Er beobachtete Angelina, weil sie sein Ticket zu Joey 151 Russo war, einem verurteilten Mörder, der im selben Gefängnis saß wie der Alte — Salvatore Dagatina.
Aber droben, links hinter ihm, lauerte ein weiteres Augenpaar. Jemand beobachtete den Beobachter. Und als Frank Spain seinen Posten verließ, folgte ihm Bud Leech vom Geheimdienst der Polizei St. Louis. Im Polizeirevier munkelte man, dass der Mob generalstabsmäßig in den Krieg zog. Sie nahmen die Stadt auseinander, aber auf eine Weise, wie es die Polizisten noch nie zuvor erlebt hatten. Keine rivalisierenden Banden, sondern eine gemeinsame Anstrengung. Es schien, als hätten sich sämtliche Bruderschaften zusammengetan und einen Mordauftrag für jemanden erteilt. Männer, die einander seit den Tagen von Tony Gee befehdeten, sah man plötzlich in friedlicher Eintracht auf der Straße. Die Mafia suchte nach jemandem, und die Polizisten fragten einander: »Was zum Teufel ist da los?« Genau diese Frage wollte Eichord auch Bud Leech stellen, als der mit angesäuerter Miene und der schlechten Nachricht aufkreuzte, dass er sein Zielobjekt VERLOREN hatte. Jack sah zu dem großen Mann auf. »Bitte sagen Sie mir, dass Sie mich verarschen.« »Tja, ich wünschte, ich könnte es. Tut mir leid, Mann.« Leech war so zerknirscht, dass Eichord gelacht hätte, wäre er nicht so verdammt angepisst gewesen. »Wie konnte das passieren?« »Diese verdammten Schwachköpfe ...« Er zeigte in den Verkehr hinaus. »Ach, was soll ich mich rausreden? Ich hab's einfach versaut. Ich hab mich genau an die Vorschriften gehalten. Fahrspuren gewechselt. Mich echt zurückgehalten und so. Dann kommt aus heiterem Himmel dieser verdammte Laster, ich bin auf der mittleren Spur, das alte Muttchen und Paps auf der Überholspur, und der verdammte Laster hätte das Auto gerammt, wenn ich nicht rübergezogen wäre. Ich musste in die Eisen stei 152 gen. Der Wichser schert ein. Als ich endlich um ihn rum bin, ist der Typ weg.«. »Wie hat er ausgesehen?« fragte Eichord leise. »Scheiße, Jack« - er schüttelte den Kopf - »sein Gesicht hab ich nie deutlich sehen können. Normal gebaut. Unser Alter, vielleicht etwas jünger. Ganz normal gekleidet.« »Und natürlich haben Sie die Nummernschilder überprüft und der Wagen war als gestohlen gemeldet, richtig?« Leech nickte. »Tut mir leid, Baby. Was soll ich sagen?« »Kommt vor. Drauf geschissen.« »Soll ich den Transporter vor das Haus beordern?« »Nein«, antwortete Eichord. Noch eine Entscheidung, die er bereuen sollte. BeBop Rutledge war im Begriff, seine grandiose Schwindlernummer am Telefon abzuziehen und dachte bei sich, dass es diesmal nicht einen Cent weniger als vierhundert Dollar sein müssten. Mit vier Scheinen konnte man was ANFANGEN, die Scheiße konnte man zur Bank bringen. BeBop schnippte mit den Fingern, tänzelte den Jive, streifte seine Böse-Buben-Maske über, swingte diddy-bop die Straße entlang und war so was von super drauf. BeBop Rutledge war kein schwarzer Jazzmusiker, Er war ein ausgesprochen hellhäutiger angelsächsischer Typ mit unbeschränkt gültigem Mitgliedsausweis für den Club der weißen Rasse, so weiß, weißer geht's nicht, die Weißheit des Tages. Er war dreiundzwanzig und rauchte hin und wieder ein bisschen Dope, nur etwas Hasch oder was auch immer, und ab und zu vielleicht mal ein tüchtiger Nasenschniefer, aber nichts Ernstes. In ein paar Wochen stand ihm eine vollkommen an den Haaren beigezogene Anklage wegen Besitz mit Verkaufsabsicht ins Haus und er musste sich was einfallen lassen. Er
überlegte sich, ob er die vierhundert Dollar, die er am Telefon abzocken würde, einfach nehmen und nach Westen abhauen sollte, aber natürlich war Wilma Smith vom USGericht so eine hartgesottene 153 Schlampe, dass sie ihm vermutlich ein Loch in der Größe eines Autoscheinwerfers in den Arsch treten würde, wenn er die Biege machte. Und zusätzlich zu der Besitz-mit-AbsichtScheiße noch ein FBI-Haftbefehl hätte ihm gerade noch gefehlt. BeBop hatte nicht die Absicht, sich eine reinwürgen zu lassen. Dieser Besitz-Blödsinn war das reine Gewichse. Ein Typ, den BeBop kannte, war mit rund zwei Pfund weißem Pulver in einer Tüte bei ihm ins Haus reingeschneit, da hätte auch Weißmehl oder irgend ein verdammter Mist da drin sein können, Puderzucker Scheiße, was wusste er denn schon, Mann, klar? Und dann sagt der Penner zu ihm: He, BeBop, heb das mal für mich auf, kriegst auch 'n Anteil vom Schnitt. Scheiße, warum nicht? Und ehe er sich's versieht, da macht Rabbit, das ist der Name von dem Typ, Rabbit's Foot, da macht der 'n Abgang und die Bullerei klopft an die Tür und, Scheiße, finden seinen ganzen privaten Vorrat, und dann ist da diese Tüte und er hatte keine Ahnung, dass da ein Kilo KOKAIN drin ist. Verdammt. Tolle Überraschung, was? Und dann muss er ausgerechnet noch Wilma Smith ziehen, ihro Scheißehren von Richterin Gnadenlos, die sowieso nix lieber macht als BeBop Knüppel zwischen die Füße zu werfen, also beraumt sie als erstes eine Anhörung an, dann setzt sie das verdammte nationale Bruttosozialprodukt als Kaution fest, und jetzt will sie ihm mit dieser absoluten Lachnummer von Anklage wegen Besitz mit Verkaufsabsicht aber so richtig an die Karre fahren. Freilich hat er nicht vor, sich von diesen trüben Aussichten die Laune vermiesen zu lassen. Vielleicht nimmt er die vierhundert ja und macht was Gescheites. Gönnt sich was, klar? Da fügt sich plötzlich alles so wunderbar für ihn zusammen, seht, er hüpfelt und tänzelt die Straße lang, als er sieht, wie der Typ da diesen anderen Typ da anmacht. Gerade wollte er den Oberbullen anrufen und so 'n Stuss an ihn ranlabern, was von zwei Schwuchteln, die auf Einbruch & Diebstahl standen, wie er gehört hätte, nur um ein paar Vorarbei 153 ten für diese Besitz-Nummer zu leisten, bis er sich was Richtiges überlegen kann, und da sieht er diese Scheiße. »Oh, MANN!« macht BeBop, und »Voll KRASS!«, als er beaugapfelt, wie der eine Typ diesen anderen Typ am Schlafittchen packt und voll ins URBE-Kino reinschubst. Das URBE ist geschlossen, seit Dinosaurier die Erde beherrschten, und trotzdem sieht er die zwei Typen da einfach reingehen und denkt sich, checken wir doch mal ab, was da los ist. Man kann nie wissen, richtig? Und er schleicht sich da rein und sieht die zwei Typen, die eine Zange oder einen Bolzenschneider genommen haben und an die große, schwere Kette mit Vorhängeschloss halten, die die Tür zwischen den beiden Kartenhäuschen des URBE sichert. Es ist dunkler als Josephine Bakers Möse, aber er schleicht echt leise rein. Wo zum Teufel sind denn alle? Und er hört diese gemurmelte Scheiße aus dem Inneren kommen und schleicht weiter, obwohl er sich vor Bammel fast das Beinkleid nässt. Das URBE - das ursprünglich einmal KURBEL hieß, aber irgendwann das K und das L verlor, sodass es jeder nur noch URBE nannte -, das sollte eigentlich abgerissen werden, damit die einen neuen Eigentumswohnungenklotz oder was auch immer da hochziehen
können, aber vor an die hundertfünfzig Jahren war es ein nettes Papa-und-Mama-Kino gewesen, in das vielleicht hundertfünfzig Pappnasen reingepasst haben, die hingingen, um sich eine gequirlte Cowboykacke anzusehen, Lash Larue knallt alles ab, so einen Film eben, und BeBop streckt die Rübe, damit er sehen kann, was da abgeht. Zwei Typen vorn im Dunkeln, als hätten sie sich gute Plätze gesucht, klar, direkt in der Mitte, im Licht der NOTAUSGANG-Lichter auf beiden Seiten kann er sie kaum sehen, und der eine Typ, der sagt was, worauf der andere Typ antwortet: »Ich möchte dir gern Mary Pat Gardner vorstellen« - jedenfalls glaub ich, dass er das gesagt hat, vielleicht war der Name auch Mary Pat Garner. Irgendsowas. »Sag hallo zu Mary Pat«, sagt der eine Typ. Und der andere 154 Typ macht, yeah, ganz cool, »Hallo, Mary Pat AAAAAAA AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAHHHHHHH!« Und er kreischt, als wäre ihm gerade sein Dödel in den Fleischwolf geraten, klar? Dann ist es still und der erste Typ sagt: »Das Flittchen war echt durstig«, oder so 'ne Scheiße, und dann hebt er was, das wie ein Messer aussieht, und sticht wieder zu, aber diesmal macht der andere kein Mucks nicht mehr, und ich hätt mir fast in die Hosen geschissen, erzählt BeBop dem Oberbullen. »Da hab ich Sie angerufen, Mann. Sehen Sie zu, dass Sie schnellstens hier antanzen. Und bringen sie 'n Krankenwagen mit, Mann. Ich servier Ihnen hier 'n scheißvorsätzlichen Mord aufm Tablett.« Und er wollte gerade loslegen und von dieser albernen BesitzAnklage erzählen und dass ihro Ehren US-Richterin Wilma Fotze Smith ihm mal wieder die Eier in den Schraubstock klemmen und ihn nach Springfield oder in irgend 'n anderen Knast stecken will, wo er in zwei Jahren mit nem Arschloch wie 'n Ofenrohr wieder rauskommt, als diese undankbare Arschgeige von Oberbulle einfach auflegt. Und so machte BeBop Rutledge aus East Alton, Illinois, und von Gott weiß wo, die Bekanntschaft eines Bullen namens Jack Eichord. Und so wurde BeBops Tag ruiniert, genau wie sein famoser Plan, vierhundert Dollar mit seinem Telefonschwindel abzugreifen, aber gleichzeitig überredete er den Oberbullen, dass der ein Wörtchen mit Richterin Smith reden würde, was vermutlich vierhundert Mücken wert war, abgesehen von der Tatsache, dass er jetzt bestimmt eine Woche nicht richtig schlafen konnte. Eichord spielte das Band ab, und BeBop sagte ja, das ist der Typ, der den anderen abgestochen hat. Mit Sicherheit dieselbe Stimme. Und er fragte, war dieser Typ fünfundzwanzig, dreißig Jahre alt? Und BeBop ließ ihn wissen: Nee, das ist ein alter Knacker. Etwa in Ihrem Alter, sagte er. Womit er Eichord dann so richtig für sich einnahm. 154 Und als sich die Beweise türmten und der Gerichtsmediziner und alle sich verzogen hatten und im Inneren des URBE wieder Dunkelheit herrschte, nahm Eichord auf einem der fadenscheinigen Sessel Platz (Sonderangebot diese Woche, Kinder, Gratis-Kaugummi unter jedem Sitz) und betrachtete die dunkle Leinwand und ließ sich alles durch den Kopf gehen. Er blieb lange Zeit so sitzen, assoziierte frei, dachte über den wahnsinnigen Killer nach, und versuchte, alles in eine Form zu bringen, wobei er im Geiste enorme Sprünge machte, manchmal etwas ohne logische Zusammenhänge neu ordnete, wilde Haken schlug, sinnlos Silben aneinanderreihte und willkürlich zusammenfasste. Und er führte
leise Selbstgespräche, während er darauf wartete, dass Weyland, der Zeichner, ein Phantombild mit dem Zeugen anfertigte, der vielleicht genug gesehen hatte, dass sie etwas Greifbares bekamen, aber verlassen wollte er sich darauf nicht. Er murmelte flüsternd vor sich hin und plapperte wie ein durchgedrehter alter Kauz, der zu lang allein gelebt hat, was vermutlich sogar zutraf. Probierte, theoretisierte, sondierte, kasperte herum und versuchte, einen roten Faden in diesen gewaltsamen Todesfällen zu finden. Er saß in der Schwärze der stickigen, abgehalfterten Traumfabrik, wo das Blut eines weiteren unschuldigen Opfers gerade einen der Sitze mit abstoßender scharlachroter Farbe überzogen hatte. Wieder ein menschliches Wesen von einem Wahnsinnigen ermordet, und er suchte nach der Gemeinsamkeit, die es nicht gab, und kaute alles von vorne durch. Er würde sich noch einmal intensiv die Lebensgeschichten des Portiers im Schindler Building und dieses neuesten Opfers vornehmen, künstlerischer Leiter einer Werbeagentur, dem gerade ein Etikett an den großen Zeh gebunden wurde. Noch ein unschuldiger Toter. Noch ein Puzzleteil, das nicht passte. Aber jetzt hatte er wenigstens einen einsamen Beobachter vor dem Haus der Russos und einen einsamen Killer hier. 155 Es war ein Mann. Ein Wahnsinniger, Und er arbeitete auf eigene Faust. Am nächsten Morgen im Revier führte er immer noch Selbstgespräche, aber leise, ließ sich alles noch einmal durch den Kopf gehen, während er müßig vor sich hinkritzelte und den Trubel und die Unterhaltungen im Büro über sich ergehen ließ und kritzelte und meditierte und an seinem Brocken kaute. »Nein, Ma'am«, hörte er T. J. Monahan am Telefon zu einer Frau sagen. »Deswegen müssen Sie sich mit dem Bezirk in Verbindung setzen, wo es passiert ist. Sie müssen das Polizeirevier L. A. anrufen, und falls es auf dem Land passiert ist, möglicherweise das Außenrevier East L. A., okay?« L. A. Herrgott, die verfluchte Stadt verfolgte ihn! »- hatte sechs Punkte, aber ich würde keinen Pfifferling auf diesen wertlosen, nichtsnutzigen -« »- kenne die Projekte da draußen und garantiere Ihnen, da gibt es eine Bande von Taugenichtsen, die nichts anderes machen als Kreditkarten stehlen -« »- auch gleich nach Vegas gehen und alles, was ich habe, auf Rot setzen und das Risiko eingehen und -« »- Stricher, der in Tower Grove arbeitet, wir glauben, dass er gestern Nacht den Jungen im Carondolet Park getötet hat -« »Jack«, sagte Lt. Springer und riss Eichord aus seinen Gedanken, »können Sie bitte in mein Büro kommen?« Auf dem Weg zum Ende des Flurs sammelte Springer Leute ein. Glass, Leech, Skully, Monahan und zwei andere der Einheit mussten mitkommen. »Hört mal«, eröffnete Springer ihnen, »in diesem Fall finden wir alle unseren Arsch mit beiden Händen nicht. Wir haben die Ballistik der Waffe, mit der gestern Mr. Cooper erschossen wurde. Wir haben einen unzuverlässigen Augenzeugen mit einer Anklage wegen Drogenbesitz. Wir haben ein wachsweiches Phantombild, das meinen Schwager zeigen könnte. Jack, Sie sind 155 der Serienmörderexperte hier. Womit zum Teufel haben wir es hier zu tun?«
»Ich wünschte, ich könnte Ihnen etwas sagen.« Eichord zuckte die Achseln. »Aber auch ich tappe hier im Dunkeln. Ich finde keinen Zusammenhang zwischen den beiden ermordeten Zivilisten und den Bandenattentaten - aber Sie wissen ja, wie das so ist mit Ahnungen, ich glaube, dass es einen Zusammenhang gibt.« »Man kann keinen Zusammenhang herstellen«, sagte Richard Glass, »weil es keinen gibt, Jack. Jede Wette. Zwei verschiedene Täter. Äpfel und Orangen.« »Vielleicht.« Er atmete tief durch, »aber ich glaube es nicht.« »Was sagt Ihre Intuition zu dem Fall, Jack? Sie sagen, Sie haben eine Ahnung. Verdammt, Lassen Sie hören«, sagte Springer. »Mehr als eine Ahnung ist es nicht. Mehr nicht. Gar nichts Handfestes. Ich kann Ihnen sagen, was ich befürchte, aber ich kann Ihnen nicht einen soliden Beweis dafür liefern.« Da niemand etwas sagte, fuhr er fort. »Ich gebe nichts auf Rutledges Identifizierung. Bud, Sie haben da einen Weltraumkadetten«, sagte er lächelnd. Sie lachten. »Sie haben BeBop. Einen kleinen Kiffer, dem wegen Kokainbesitz Bau droht. Der will unser Lied singen. Daher haben wir leider rein gar nichts, auch wenn er die Stimme auf dem Rozitsky-Band identifiziert hat. Aber« - er legte den Kopf schief, als wäre der ihm plötzlich zu schwer geworden - »mein Gefühl sagt mir, dass wir es mit demselben Täter zu tun haben, und wenn das stimmt, sehen wir hier etwas ziemlich Beängstigendes. Ich hab so was noch nie erlebt. Wir haben unseren Psychopathen, unseren Attentäter oder Auftragskiller, der über einen organisierten Verstand verfügt, und über einen Psychoten: einen, bei dem das Muster seiner Taten desorganisiert ist. Der erste Typ - manchmal überdurchschnittlich intelligent. Plant seine Taten gründlich. Der zweite Täter hat Psychosen, die ihn veranlassen, wahllos zu morden. Der Psychopath kennt den Unterschied zwischen Recht und 156 Unrecht und hat ein Motiv für seine Taten. Wenn er tötet, dann ist es eine emotionslose und ausgeklügelt geplante Hinrichtung. Der Psychot dagegen tötet je nach Laune, das traditionelle Verbrechen aus Leidenschaft, die ungeplante und manchmal unmotivierte wahllose Tötung. Sie wissen alle, dass wir die Psychoten meistens anhand der Tatwaffe überführen, die sie häufig in ihrem Besitz behalten oder am Tatort zurücklassen. Der Psychopath dagegen vernichtet die Mordwaffe gewissenhaft oder versteckt sie. Beim Psychoten müssen wir bedenken, was der Täter mit den Opfern anstellt, bevor er sie umbringt. Befiehlt er ihnen, dass sie Mary Garner hallo sagen, oder was auch immer? Mit anderen Worten, wenn es zwischen diesen Verbrechen einen Zusammenhang gibt, und ich bin der festen Überzeugung, dann haben wir es mit einem Täter zu tun, der ein psychopathischer Killer UND ein psychotischer Irrer ist. Ein professioneller Attentäter, ein Söldner oder Auftragskiller, der gleichzeitig manchmal die Kontrolle verliert und Leute willkürlich tötet. Meiner Meinung nach haben wir es mit einem Hybridkiller zu tun.« »Himmel«, sagte jemand, während das Telefon auf Springers Schreibtisch läutete. »Lieutenant Springer.« »Gut.« Er legte auf, sprang hoch und setzte sich in Bewegung. »Gehen wir. Er hat gerade einen Bombenanschlag auf Measure verübt. Vier Tote.« Alle liefen zur Tür, wo es zum Polizistenstau kam. Leech und Eichord fuhren mit Vic Springer und einem Detective Sergeant namens Thompson.
Mordkommission und Brandstiftung, Geheimdienst und Forensiker, alle rasten im Stadtteil River North hinter der Feuerwehr die Missouri Avenue entlang. Blinklichter, heulende Sirenen passierten auf dem Weg zu Measures Haus Mietshäuser, schicke Boutiquen und Galerien, Straßencafes mit einem Übermaß an Topfpflanzen und schummerige Bars. »Verdammte Scheiße.« Leute wuselten herum. Typen wurden 157 sauer aufeinander. Es war zu einem Missverständnis gekommen und handelte sich doch nicht um einen Bombenanschlag. »Wo ist das Feuer?« fragte jemand. »Leck mich«, antwortete jemand. Im Inneren lagen vier Tote. Und einer, von dem sie noch nichts wussten. Spain hatte James Measure, Gino Sclaffani, Edward Sidenfadden alias Eddie Sides und Tony Alba erwischt. Alle so tot wie die Weihnachtsbäume vom vergangenen Jahr. »Ach du Scheiße.« »Mann, die sehen aus, als hätte man sie auf dem Schießstand als Zielscheiben benutzt.« »Unwirklich.« »Was haben wir?« »Ein Feuer im Nebenzimmer, mehr nicht. Eins von diesen Dingern hier hat die Vorhänge in Brand gesetzt. Bisschen Rauch. Kein Problem.« Es sah aus wie eine Art von Gasflasche. »Lieutenant, hier ist noch eine.« Er zeigte ihm eine weitere Gasflasche. »So muss er sie ausgeschaltet haben. Aber ich kann kein Gas mehr riechen, wenn es welches war.« Er sah einen Mann an, der eine Leiche untersuchte. »Schon eine Vorstellung, wie lange, Doc?« »Kaum.« Na super. »Eine Stunde, zwei Stunden, vielleicht länger. Ich bin nicht dieser Wieheißternochgleich aus dem Fernsehen.« »Was meinen Sie? Eine Ooozey?« sprach er es aus. »Oder eine Ingram? Irgendwas?« »Scheiße. Muss sein. Wahrscheinlich so was wie he Uzi. Er hat die Magazine eingesammelt, aber die Hülsen dagelassen. Warum macht er das?« »Weil der Arsch ein Irrer ist. Vollkommen durchgeknallt, darum.« »Könnte eine Waffe mit Patronengurt sein«, mutmaßte jemand. 157 »Das würde erklären, warum hier keine Magazine rumliegen, nur Messinghülsen, hm?« »Großartig«, sagte Springer. »Er kam irgendwie hier rein. Oder schickte einen anderen rein. Oder zwei kamen irgendwie hier rein. Und die haben sie mit dem Gas betäubt, und dann haben er und sein Partner mit den Maschinenpistolen Hackfleisch aus ihnen gemacht. Nein?« »Warum nicht?« »Jack?« »Vic?« »Ein Schlamassel, was?« »Scheiße.« Ein Hybridkiller. Eine Art von mörderischem Überfliegen Sie wussten noch nicht, wie das Killerteam oder der Killer sich Zutritt verschafft hatten. Measures Haus glich sonst einer Festung. Aber irgendwie waren sie reingekommen. Oder war er reingekommen. Sie konnten kaum glauben, dass ein einzelner Mann dieses Gemetzel angerichtet haben sollte. Es war wirklich ein Schlamassel.
Noch wussten sie nichts von Lowenstein. Ben Lowenstein, ein kleiner Taschendieb aus Narcross, Georgia - Spain hatte ihn als Türöffner benutzt. Erwischte ihn allein und brachte ihn in den Verhörraum in seinem Haus und bearbeitete ihn dort ein paar Minuten und er verriet ihm den Weg hinein. Erzählte ihm von einem Jungen, der für Geld alles machte. Und Spain ließ die Gasbomben von einem Maulwurf reinschaffen. Kostete ihn fünftausend, aber da er Measure damit bekam, war es gut angelegtes Geld. Als Spain mit Lowenstein fertig war, schaffte er ihn in Treflan-Dosen runter in die Kanalisation. Rechtes Bein und Oberkörper hier. Arm, Kopf und Bein da. Man könnte sagen, dass Lowenstein damit endgültig aus dem Verkehr gezogen wurde. Sozusagen Stück für Stück. Axt und bange war ihm geworden. Er war nicht mehr das personifizierte Leid das er anderen zufügte, er war geteiltes Leid. 158 Am Tatort fand sich nichts außer den Gasflaschen und Patronenhülsen in Hülle und Fülle. Messing und Blech. Und Gangsterblut. Aber das in rauhen Mengen. Keine unbekannten Fingerabdrücke. Wie üblich hatte niemand etwas gesehen. Niemand hatte etwas gehört, bis ein Nachbar den Rauch der Gardinen sah. Zero. Und das hier waren keine Weicheier, das waren abgebrühte Mafiosi. Erfahrene Ganoven, und er - oder sie schaltete sie aus wie im Schlaf. Wenn es sich um einen einzelnen Mann handelte, dann war er, ob verrückt oder nicht, sehr, sehr gut. Eichord fuhr durch die Gegend und wollte Rita anrufen, sich aber in seiner momentanen Verfassung keiner so reizenden und unschuldigen Person wie ihr aufdrängen. Der Gedanke an ein paar Bier hörte sich wunderbar an. Jack war weder brillant deduktiv noch außergewöhnlich rational. Der Prozess des messerscharfen Nachdenkens, logische, zusammenhängende Gedankengänge, der Holmessche Modus der Deduktion, das alles entzog sich ihm. Stattdessen gelang es ihm durch seine Fähigkeit, die Essenz von etwas zu destillieren und extrahieren, auch noch der kältesten Spur oder den winzigsten Hinweisen etwas abzugewinnen. Er war in jedem Fall ein Profi, wenn es darum ging, unterschwellige Gemeinsamkeiten zu finden, wo es scheinbar keine gab. Er konnte vergessene Bilder heraufbeschwören, sorgsam zurückgehaltene Antworten herauskitzeln, vergrabene Daten-nuggets ans Licht bringen, die bestgehüteten Geheimnisse entlocken, Eichord war superb, wenn es darum ging, das Unbekannte zu extrapolieren, das Begrabene zutage zu fördern, Unschuldige zu entlasten, zu extrahieren, exemplifizieren, exstirpieren und eliminieren, und kein Schnickschnack dazwischen. Er hatte eine einfachere Bezeichnung dafür. Für Eichord waren es - Schwingungen. Er befand sich auf einer wichtigen Mission im heiligen Krieg von Gut gegen Böse, und diese Mission machte seine Arbeit autotelisch und sakrosankt. Er stapfte durch das Zentrum, absorbierte, horchte, sog alles in sich auf, beobach 158 tete. Und er arbeitete rund um die Uhr. Manchmal nur auf Spar-flamme. Außer bei Rita. Das war die einzige Zeit, .wo er richtig loslassen und seinen Geist mit der leisen, reinen, glücklichen und sorglosen Musik ihrer Beziehung frei machen konnte. Das Telefon zog ihn wie ein Magnet an, er rief sie an, und allein ihre Stimme reichte aus, dass ihm ein Stein vom Herzen fiel und er es kaum erwarten konnte, sie wiederzusehen. Und in dieser Nacht verschwand seine Melancholie ein wenig und er konnte die kranke,
brutale Welt der Morde und des Wahnsinns kurze Zeit vergessen und sich ganz in ihr verlieren. Sie war seine Musik und er legte ein grandioses Solo hin und spielte heiße, hemmungslose Jazzphrasen. Bearbeitete das Instrument mit der Zunge. Spielte Riffs, die er nie für möglich gehalten hätte. Seine Darbietung war so makellos, dass sie allein durch die Berührung seiner Lippen unter ihm zum Leben erwachte. Schön langsam und sanft, schließlich wild und stürmisch, am Ende erschöpft und zufrieden. Er küsste ihren zarten Hals, die köstliche Wölbung ihrer Unterlippe, die Rückseite der Knie, die Stelle über dem Mittelfußknochen, die feinen Ligaturen; eine Tastsymphonie der heißen, klebrigen Sinneseindrücke. Und dann die Überleitung zu einer verträumten Coda und einem dampfenden, brodelnden Crescendo als Abschluss und Krönung, bei dem sie fast den Verstand verloren und einander mit der unbeschwerten Unbefangenheit von Seelenverwandten liebten. Sie waren hingerissen. Es war nie besser zwischen ihnen gewesen. Und nach einer langen Zeitspanne drehte sich Rita um und flüsterte: »Oh, Mann. Möchte der Memsahib noch mal mit der Eingeborenen rummachen? Sprich zu mir, Waffenträger.« Aber er war fort. Die Mafia fiel in Spains Haus in Ladue ein und verwüstete es wie ein Zyklon. Machte es dem Erdboden gleich. Buddy Black-burns Mitbewohnerin kam vom Walmart nach Hause und spürte, wie ihr jemand eine Hand auf den Mund presste, und plötzlich 159 befand sie sich in einer schrecklichen Welt der Gefahren und Schmerzen. »Wir wollen Frank ... Spain ... kapiert?« Es lag an der sanften Stimme. Der gespielten Zurückhaltung des feisten, narbigen Mannes, der ihr Gesicht zwischen seinen riesigen Pranken hielt. Andere Männer hielten ihr die Arme auf den Rücken. »Ich weiß nicht -« Mit seinem stählernen Griff drückte er ihr das Gesicht zusammen. »Nein. Sie ... hören ... nicht zu. Wenn Sie noch mal Ich weiß nicht sagen, überlasse ich Sie Shake. Der quält gern Frauen. Wo ... ist... Frank?« Sie blinzelte Tränen weg und dachte gründlich nach. Diese Männer würden sie töten. Sie versuchte zu reden, da fiel ihr auf, dass sie eine ganze Weile nicht mehr geatmet hatte; sie rang nach Luft und schluchzte gleichzeitig: »Unsere Tochter ... er heuerte einen ... Sie wissen schon ... einen Detektiv an, und der .,. Frank sagte ...« Sie fing an zu weinen und jemand drehte ihr den Arm um zog sie am Haar die Schmerzen ihre Ellbogen die Schulter ausgerenkt ziehen peinigen. »Das war ein Privatdetektiv. Traskle oder so ähnlich. Ich schwöre ... mehr weiß ich nicht. Ich weiß nicht, wo Fr -« »Sie haben was Schlimmes gemacht, ein Nein-nein«, flüsterte der vernarbte Mann. »Sie haben ICH WEISS NICHT gesagt.« Und sie hörte ein abgehacktes Lachen, als er ihr die Lichter ausblies. Willie Ray Campbell war sein Name, und ethnisch, spirituell, geistig, in jeder erdenklichen Hinsicht war er etwa 379 Millionen Meilen von Jack Eichord entfernt. Jede Blassbacke war Galaxien und Rassen entfernt vom Getto im nördlichen St. Louis, wo Willie Rays Heimat lag. Und doch sollten Jack und Willie sich begegnen, wie es bei Fremden manchmal vorkommt, wenn das Schicksal mit seinem langen und gekrümmten Mittelfinger winkt. Starren Blickes, hart, mitternachtstödlich. Ein grellbuntes, 159
altmodisches Tuch über dem Wuscheligen Afro. Perfekt rasierter und ausgeputzter Mösenkitzler, auch Rotzbremse genannt, wie ein exakter schwarzer Strich über wulstigen Onkel-Toms-Hütte-Lippen, so sah er aus, unser Willie Ray. Große Koksernasenlöcher. iio'/J Prozent Jamaikanischer Gangster mit gefährlichen Launen, einer Nase voll böser Träume und dem schalen Thunfischgeschmack ungewaschener Fotzen auf der Zunge; 115 Kilo mösenleckender, rumsaufender, koksschniefender, pfeiferauchender gemeiner Wichser von einem Mach-mich-bloß-nicht-an-Nigger. Da stand er an der Ecke Struggle und Die, zusammen mit den anderen bösen Brüdern und scharfen Ludern zum Pudern und ist drauf aus, was abzugreifen, klar, um auf die Kacke zu hauen mit den abgehalfterten, verlotterten Wer-kein-Schwanz-hat-taugt-nixLuden, den straßendealenden Arschfotzen, den Möchtegern-Großkotzen, den Pülverchen vertickenden chilenischen Brutalos, den Mackern, Rackern und Kackern. Hier draußen bei den Junkie-Hypern, den schwarzen Kaffern und Fürsten der Unterwelt, und aaaaaaaallen anderen Arschlöchern, die nur drauf warten, dass sie was von irgendeiner verschissenen an den Haaren beigezogenen Anklage hören, die der Oberbulle sich aus den Rippen geschnitzt hat wies die schrecklichen, wertlosen, käseweißen Teufel nun mal so gern tun. Um n richtigen Mann zu unterdrücken. Scheeeeeeeeeeeeeeeeeeiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiße! Händeklatschen mit 'nem Jungen, den er kennt. »Wie geht's?« »Abwärts geht's.« »Halt die Ohren steif.« »Die gleiche alte Leier.« »Krieg alles auf die Reihe. Später.« Sie verabschieden sich mit dem Zeichen. Vorbei an Soul Food und HairQuarters und Barbee-Q, wo der Duft von heißer Hausmannskost rausweht, dass ihm das Wasser im Mund zusammenläuft. »Doktor Good«, begrüßt er den Mann hinter dem Tresen. 160 »Schau an, Willie Ray. Geiler Tag heut.« Er schlang sein Soul Food runter, quasselte eine Weile Scheiß mit dem Bruder, ging wieder raus und stand an der Ecke, wo er Passanten das linke Ohr wegquatscht. Ein Subgetto brandgefährlicher Straßen namens Sunset, die Hütten grad auf der andern Straßenseite von nem neuen Bauprojekt. Willie Ray ist mit einer schmollmündigen kleinen Mama »verheiratet«, die angefangen hat, als Hobbyhure anschaffen zu gehen und ihm ein paar Mösenmoneten heimbringt. Er hat ein paar Jobs außerhalb der Familie angenommen. Ist zum Schützenkönig aufgestiegen. Ein paar kleine Umlegen-undabhauen-Jobs, um ein paar Fehler in seinem Lebenslauf auszubügeln, ihr wisst schon. War er bei Smack und Koks und so'm Scheiß geblieben, war alles gutgegangen, aber er musste ja unbedingt den gottverdammten großen bösen GANGster spielen. Und jetzt stand Willie Ray Campbell hier und wartete darauf, dass der nächste große Scheißekübel über ihm ausgekippt werden würde. Wartete auf die Nacht und den Klang der Sirenen, die Symphonie des Subgettos nach Einbruch der Dunkelheit. Wartet auf die Neonnacht und den Geruch dieses offenen Gefängnisses, das ihn wie eine zusammengekniffene, stinkende Achselhöhle im Schatten der Wolkenkratzer festhält - Willie Ray hätte sie etwas über Soul lehren können. Meilenweise von der Wichse. Hätte diesen weißen Käsen die Flötentöne beibringen
können. Haufenweise nichtsnutzige Scheiße. Und als hätte das Schicksal seine Gedanken gelesen, krümmte es die Knochenfinger um seine Feder und tauchte sie in die schwärzeste Tinte und fügte seiner Shitlist den Namen Willie Ray Campbell hinzu. Viele Meilen entfernt, auf der anderen Seite von St. Louis, setzte jemand, der sich gerade Carl Dunkan nannte, alias Frank Spain, gerade Willie Rays Namen auf seine Namensliste. C-A-M-P-B-E-L-L. Was beweist, ganz gleich, was andere sagen, dass es sich nicht immer auszahlt, wenn dein Name in der Zeitung steht. 161 Jack »traf« Willie Ray zwei Tage später. Er hatte an seinem revidierten, aktualisierten »Stammbaum« der Verbrechenschronologie gearbeitet. Darauf waren die kriminellen Familien die internationale Automobilindustrie. Das machte er manchmal als Kniff zum Lernen - er gab etwas eine metaphorische Identität. Er betrachtete den Nationalen Rat bzw. die Kommission als Manager und Vizepräsidenten großer Automobilhersteller. Die Kolumbianer und Syrier und andere Fraktionen waren der japanische Automarkt verhasste Konkurrenten, aber im Bett mit den Amerikanern. Er verlieh Sally Dago den Rang eines Generals wie in General Motors. Tony Cypriot, Gaetano Ciprioni, war der kommandierende Admiral von Ford. Rikla war Oldsmobil, Measure war Buick, und so weiter. Allmählich zeichneten sich gewisse Muster bei den Anschlägen und Morden ab. Und noch etwas. Ein roter Faden zog sich durch diesen blutigen Bandenkrieg. Drogen? Das internationale Machtspiel eines abtrünnigen Capos? Wer blieb übrig? Der X-Faktor. Der zeigte sich in den Morden am unteren Ende des Spektrums. Jimmie der Haken Russo und Lyle Venable kamen Jack immer noch wie Bandenattentate vor. Aber wie in zunehmender Zahl Ganoven vermisst wurden, und dann die zivilen Opfer - das bedeutete etwas. Da kam sein geheimnisvoller Irrer ins Spiel. Eichord hatte heute Vormittag noch nicht ferngesehen oder Radio gehört, daher wusste er nicht, dass ein weiterer Anschlag stattgefunden hatte - ein schwarzer Drogendealer mit Beziehungen zu den Familien, zwei Polizisten und ein Busfahrer waren bei einem weiteren Bombenattentat ums Leben gekommen. Daher überraschte ihn doppelt und dreifach, dass Paul Rikla, seine Konkurrenz für den inzwischen ebenfalls toten und begrabenen »Buick«, im Polizeirevier wartete und bereit war, eine »Aussage zu machen«. Rikla wollte Schutz, wie er einem fassungslosen Polizisten gestand. Rikla »lieferte sich aus«, wie er es nannte, wegen eines schwar 161 zen Drogendealers namens Willie Ray Campbell. Sie waren einander nie begegnet. Campbell, zweiunddreißig, kohlrabenschwarz, mit Lippen wie King Kongs Sohn und dope-braunen Augen, saß im Bus eines Bundesgefängnisses, der ihn nach Kanada bringen sollte, wo er wegen Bankraub gesucht wurde. Als der Nachrichtensprecher im Fernsehen berichtete, dass Willie Ray ausgeliefert wurde, hatte er ihn ganz zutreffend als »mutmaßlicher Drogendealer der Familie von Paul Rikla« bezeichnet, und weiter: »Rikla, Inhaber des Abschleppdienstes Rikla, werden von der Polizei Kontakte zum Geschäft mit Drogen und Kinderpornografie im Großraum St. Louis unterstellt. Rikla, angeblich ein Unterboss der Dagatina-Organisation, stand für einen Kommentar nicht zur Verfügung.«
Inzwischen hatte Rikla vor Dagatinas Leuten so große Angst wie vor denen Measures, was noch davon übrig blieb, und das Schicksal von Willie Ray war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Gegen halb neun an diesem Morgen saß Campbell mit dem altbekannten altmodischen Tuch über dem etwas gekämmten, gebändigten »Afro«, der aussah wie aus einem alten Dokumentarfilm über Neger, einfach da in dem Bus und kümmerte sich um seinen Scheiß, saß da in seinen Gefängnisklamotten, als plötzlich der ganze Scheißbus in die Luft flog. Zwei Mann Begleitschutz und der Fahrer kamen ebenfalls ums Leben. Ohne ersichtlichen Grund. Die Polizei erzählte den Medien nur, dass es Hinweise auf einen elektronisch gezündeten Sprengsatz gab. Kein Motiv bekannt. Keine Verdächtigen. Ein weiterer Vorfall in dem Bandenkrieg, der mittlerweile ganz St. Louis in Angst und Schrecken versetzte. Und dann wird Measure aus dem Verkehr gezogen und seine Leute gehen IMMER NOCH unter. Plötzlich fühlte sich Rikla, als hätte ihm jemand ein Fadenkreuz auf die Stirn gemalt. Die Nachricht über den Sprengstoffanschlag auf den Bus wurde schon zeitig ausgestrahlt. Die Medien stürzten sich in den Früh 162 nachrichten darauf. Fünf Minuten, darunter dreieinhalb Minuten Originalton vom Schauplatz und jede Menge Gekröse. Rikla war zu Hause und sah es auf einem tragbaren Fernseher mit einem echt schlimmen Anfall von Bildstörung. Zwei Stunden später wartete Rikla in Begleitung zweier Anwälte von Rozitsky, Karp and Nathan auf den Bezirksstaatsanwalt und redete immerzu von RICO und dem Zeugenschutzprogramm und versuchten, für den äußerst nervösen Klienten eine Art Deal auszuhandeln. »Lieber bin ich eine lebendige Ratte als ein sehr toter Mann«, meinte Rikla. Was die Situation ziemlich gut zusammenfasste. Bei allen Beteiligten in Hörweite herrschte Einigkeit darüber, dass er sich so oder so ziemlich trefflich beschrieben hatte. Rikla versicherte seinen persönlichen Vertrauten ganz zurecht: »Ich hab keinen blassen Schimmer, wer diese Scheiße anrichtet, Bullen, Ganoven oder ein durchgedrehter Auftragskiller, der die Arbeit macht. Aber wenn die die Unverfrorenheit besitzen und einen Bus des FBI hochjagen, dann warte ich ganz bestimmt nicht, bis die mich erledigen kommen. Das war's. Drauf geschissen. Ich bin raus.« Und jetzt saß er in seiner »Kapitulationskleidung« hier. Die Hose eines Seidenanzugs für achtzehnhundert Dollar, ein Pullover von Neiman's über einem Golfhemd von LaCoste, Goldketten, Armbanduhr, Namensarmreif, rosa Diamant von der Größe einer Grapefruit, durch und durch ein vierundzwanzigkarätiger Ganove, der unter dem Schirm des »Zeugendenschutzprogramms«, wie Leech es immer ausdrückte, an die Öffentlichkeit gehen wollte. Sie machten Witze über den zweihundert Kilo schweren Auftragskiller, der durch plastische Chirurgie ein neues Gesicht bekam, eine neue Identität und aus der Gegend von Boston nach Seattle geflogen wurde, wo man ihm einen neuen Namen verpasste. Nach ein paar Monaten arbeitete er aus lauter Langeweile wieder in seinem alten Beruf und wurde prompt entdeckt und hingerichtet, weil er der einzige zweihundert Kilo schwere 162
Auftragsmörder an der Westküste mit einem so dicken South-Baaahston-Akzent war, dass man ihn mit dem Messer schneiden konnte. Allerdings schnitten sie nicht seinen Akzent. Rikla, der Sally Dagos Berater, Freund, Beichtvater, Vertrauter und Sprachrohr gewesen war, wusste, wo alle Leichen im Keller lagen. Er legte ganz am Anfang von Dagatinas Aufstieg los. Er behauptete, dass er Sachen wüsste, die niemand sonst in der Familie wusste, und wenn das FBI ihn ins Programm aufnahm, würde er auspacken. Geben Sie uns ein Beispiel, baten ihn die großen Jungs, und er köderte sie mit einer Geschichte über einen hochrangigen Vollstrecker, der einen Ein-Mann-Krieg gegen die Familien führte, und lockte sie mit dem Versprechen, korrupte Kollegen bloßzustellen. »Wenn ich weiß, dass ich bedingungslosen Schutz bekomme und weder die Bullen noch Dago mir was antun können, dann kriegen Sie das volle Programm. Von A bis Z, und Sie werden es nicht glauben. Ich hab Bullen direkt hier in St. Louis, die Geschäfte für mich erledigen. Und ich mein nicht nur Informanten, ich meine Schwindel, bei denen man in ein bestimmtes Geschäft geht, und wenn man nicht fünf Cent bekommt, kreuzen die Bullen auf und machen den Laden dicht«, was soviel hieß wie, sie ließen das Geschäft schließen. »Nennen Sie uns ein Beispiel - wie wär's mit dem Bezirk der Jurisdiktion?« »Ihr kriegt was von mir, aber erst, wenn ich seh, dass alles gut für mich läuft. Na gut, würden Sie mir glauben, wenn ich Metro East sage?« Und so ging es eine Weile hin und her, die großen Jungs nahmen ihn mit, damit sie noch mehr und größeres von ihm bekamen, und Leech erzählte Eichord davon. Sie waren beide müde. Sie fingen mit »was ist das Schlimmste, das Sie je gesehen haben«Geschichten an, und Leech erzählte seine, die einer alten Dame, die mit einer Axt Selbstmord begangen hatte. Eichord antwortete, dass er das nicht glaubte, da schilderte Leech alles. 163 »Emmis, mein Guter, die war ein zäher alter Brocken, um die achtzig Jahre, eine schwere alte Dame mit solchen Oberarmen, die überschnappte, ZofF mit ihrem Alten bekam und ihm mit einer Axt den Kopf abhackte, als er sturzbetrunken war. Ich bezweifle, dass er es kommen gesehen hat. Dann beschloss sie, Selbstmord zu begehen.« »Mit der Axt?« »Genau.« »Ha, ich lach mir n Axt«, sagte ein Polizist namens Wunderlich, worauf sie lachten. »Wie kann man sich denn mit einer Axt umbringen, sich den Bauch aufschlitzen?« »Nee. Sie hält den Griff mit beiden Händen, ungefähr so, hält ihn so weit weg, wie sie kann, und macht WUUU-UUUUUUUUUUUUUUUUMMMMMMS! Mitten in die Stirn. Direkt zwischen die Scheinwerfer.« »Blödsinn.« »Ich hab die Laborfotos, wenn sie 'n Zehner drauf wetten wollen, Jack. Die können Sie sehen. Sie hat den Stiel immer noch in der Hand, und man sieht den Schädel, den die Klinge Eins-A gespalten hat, wie eine überreife alte Melone.« »Dieses Gespräch macht mich hungrig. Gehen wir eine Melone kaufen.« »Im Ernst, wie kann man -« Und es folgte eine zehnminütige Unterhaltung über das Gewicht einer Axt, wie man eine Axt am besten halten sollte, wenn man sich selbst den Schädel damit einschlagen wollte, und so weiter.
Eichord kannte Polizisten. Und mochte sie. Er wusste, wie sie tickten. Warum sie da waren und was man tun musste, damit einen der Job nicht ins Irrenhaus brachte. Solche Gespräche dienten nur dazu, Dampf abzulassen. Es war eine Art, zu sagen: Dieser Dreck, in dem ich lebe, dieser Schmutz, in dem ich arbeiten muss, das ist nicht real. Es berührt mich eigentlich gar nicht. Es existiert nicht. Nur Worte. Jedenfalls sah er das so. Er hörte zu wie ein anderer Polizist, Pat Skully, von der Zeit 164 redete, als er noch bei der Drogenfahndung war und sie ein Haus stürmten, in dem überall tote Babys lagen. Etwas Schlimmeres hatte er noch nie gesehen, und während dieser Geschichte machte niemand Witze. Zwei Dealer schafften es vor der Polizei zu dem Haus, wo Süchtige, die sich einen Schuss setzen wollten, ein und aus gingen. Die Frau, der die Bude gehörte, hatte vier Kinder im Alter zwischen einem Säugling und einem sechsjährigen. Als die Drogenfahnder sie fanden, hatten die Dealer alle im Zorn getötet. Die Babys waren ganz platt. Als Skully schilderte, wie sie gestorben waren, stand Eichord leise und unauffällig auf und verließ den Raum. Bud Leech erwischte ihn auf der Straße. »Kippen wir einen«, sagte Eichord. »Warum nicht?« Und sie gingen in die erstbeste Taverne und tranken jeder ein kühles Blondes. »Das Komischste an Rikla ist, dass er ausgerechnet heute reingeschneit kommt. Ich kenne diesen Perversling schon ewig. Ich arbeitete in einem kleinen Hinterwäldlerkaff und hörte Horror-Stories darüber, wie Mr. G. in St. Louis das Sagen hatte, und die Polizisten aus St. Louis erzählten mir alles über diesen Paul Rikla, einen Hühnerficker. Und ich sagte: Das soll heißen, dass er auf kleine Jungs steht, richtig? Worauf sie antworteten nein, er fickt wirklich gern Hühner. Sein Register reicht zurück bis zu einem Tag, an dem sie einen Anruf erhielten, dass ein Perversling in einer Wohngegend mit seinem Ding rumgewedelt hätte. Ein Mann in einem Auto, nackt, hieß es. Die Polizisten gehen der Sache nach, und da steht ein parkender Coup De Ville; die Kollegen gehen hin und leuchten mit einer Taschenlampe rein, und da hüpft kein anderer als Rikla aus dem Caddy, von oben bis unten blutüberströmt. Das ist übrigens eine wahre Geschichte, Er machte den Eindruck, als wollte er unbedingt erschossen werden, und fast wäre sein Wunsch in Erfüllung gegangen, denn die hätten ihm fast eine Ladung reingeballert, als sie ihn so gesehen haben. 164 Im Auto selbst fanden sie den Rest der Geschichte. Er hat diese junge, hübsche syrische Tochter bei sich, die neben ihm auf dem Beifahrersitz saß, und das ganze Wageninnere ist voll von Blut und Federn. Rikla schnitt einem Huhn den Kopf ab, Töchterchen nahm das Huhn und drückt die durchtrennte Luftröhre auf Daddys Dingeling, und das geköpfte Huhn zappelte und ruckelte, bis er abspritzte.« »Ich -« Eichord fing an zu lachen, bevor er weitersprechen konnte. »Ich schwöre es, Mann. Der Blitz soll mich treffen, wenn ich lüge.« »Oi. Es war ein langer Tag. Holen wir uns was zu essen und machen hier die Flatter«, sagte er und trank den letzten Schluck. »Okay. Wo möchten Sie essen?« »Colonel Sanders?«
Eichord mochte Bud Leech sehr. Er war ein guter Kerl. Jack konnte sich gut vorstellen, wie sehr es Leech wurmen musste, dass ihm der Killer durch die Lappen gegangen war, wenn er daran dachte. Aber er war ein guter Polizist und das hätte jedem passieren können. Eichord wusste nicht, dass Bud Leech sich in Kürze von seiner großen Sünde reinwaschen sollte. Aber Jacks Gedanken kreisten um die Andeutungen des höchst ängstlichen Mr. Rikla. Die blödsinnige Geschichte, dass ein hochrangiger Vollstrecker seine eigene private Vendetta durchzog. Seine endlosen Gedanken über NICHTS BÖSES SEHEN hatten damit aber endlich die Andeutung eines Motivs, über das er grübeln konnte. Ein Superkiller. Was, wenn sie es wirklich mit einem wahnsinnigen Ermittler zu tun hatten, der Amok lief? Sie waren auf dem Weg zum Essen, als sie den Funkspruch erhielten. Eichord wusste, worum es ging, noch ehe der das Wort Russo laut und deutlich gehört hatte. Schießerei mit mehreren Opfern. Ein männlicher, zwei weibliche Weiße am Boden. Herr 165 gott. Das Haus stand unter »nachrangiger Beobachtung«, was bedeutete, dass alle Stunde ein Streifenwagen langsam daran vorbeifuhr, ein »Buhmann«, wie sie es nannten. Na super. Eichord wusste, dass sich Angelina und ihre Mutter unter den Opfern befinden würden. Den ganzen Hinweg dachte er über ungesühnte Verbrechen nach. Die Verbrechen, die Großgrundbesitzer, Polizisten, Manager von Sendern, Gewerkschaftsbosse, Fernsehprediger, Ölbarone, politische Würdenträger, Autohersteller, Werbeleute tagtäglich begingen - die ganze schmutzige Scheinheiligkeit. Die degenerierte, unerträgliche, gleichgültige Scheiße, mit der Menschen jeden Tag davonkamen. Das hielt ihn beschäftigt, bis sie den Tatort erreichten. Der Killer hatte den Leibwächter, das Hausmädchen und Rosemarie Russo abgeschlachtet. Kein Hinweis auf gewaltsames Eindringen. Keine Spur von Angelina Russo. Ein Reporter rief in der Erzdiözese an und erkundigte sich nach dem Gesundheitszustand von Bischof O'Consky; während sie sich am Telefon unterhielten, erwähnte er zufällig die schreckliche Sache - wie schrecklich für die arme Familie Russo -, er sei ein persönlicher Freund, und da James und Phillip nicht mehr waren, würde es für den Rest der Familie sicher noch schwieriger werden. Und der Zeitungsmann macht einen so ungewöhnlich verständnisvollen Eindruck, dass der Mann am anderen Ende der Leitung ihm von einem speziellen Gottesdienst berichtete, der vorgesehen war, und da führte eins zum anderen, bis der Anrufer im Lauf der weiteren Unterhaltung herausfand, dass der Bischof noch nie jemanden von der Familie Russo persönlich getroffen hatte, und so weiter, und so fort. Und als der Bischof persönlich von der Erzdiözese anrief und fragte, ob er morgen vorbeikommen könnte, um der Familie Russo sein Beileid auszusprechen, ihnen einige Andenken an die Verstorbenen zu geben und etwas Material zu zeigen, das dem Kardinal Glennon Priesterseminar gespendet worden war, 165 da wurde er natürlich hereingebeten und von den trauernden Hinterbliebenen, Mutter und Tochter Russo, empfangen.
»Dominus vobiscum«, flüsterte der gute Bischof und bekreuzigte sich auf seine ganz spezielle Weise, als er die Treppe hinaufging. »Et cum spiritu —« Ein vorüberfahrender Passant hätte sehen können, wie der Bischof höchstpersönlich die erschöpfte, gramgebeugte Angelina Russo die Treppe herunter und in ein wartendes Fahrzeug führte. Ominös vobiscum. Angelina, die jetzt gefesselt, geknebelt und geblendet leise schluchzend auf dem Rücksitz lag, sollte die Nächste sein, die die Eigenheiten von Spains Haus kennenlernte. Sie fuhren eine lange, kurvenreiche Schotterstraße entlang. Das Haus lag einsam und allein inmitten von vier Morgen bewaldetem Land. Am Ende der recht verwahrlosten und ungepflegten Schotterstraße endet die Zuständigkeit des County. Hinter einem kleinen Familienfriedhof mit zugewachsenen Grabsteinen beginnt ein alter Gottesacker, der langsam die sterblichen Überreste seiner längst Verblichenen ausspuckt. Unkrautüberwucherte Gräber zwischen dunklem, tiefem Dickicht, wo sich alte Gebeine langsam an die Erdoberfläche vorarbeiten. Bei schweren Regenfällen verwandeln sich die letzten hundert Meter in ein Schlammloch. Man sollte tunlichst darauf achten, dass man bei Regen nicht auf dieser Straße stecken bleibt, denn verlässt man sein Fahrzeug und geht zum einzigen Haus in der Gegend, kann sich der Gastgeber als unberechenbar erweisen. Er könnte sich als geistreich, weltoffen, sogar hilfsbereit erweisen. Möglicherweise bietet er Annehmlichkeiten wie Telefon, ein wärmendes Kaminfeuer, möglicherweise sogar eine Erfrischung an. Die folgenden Minuten könnten ereignislos verlaufen. Ein gemütlicher, behaglicher Schutz vor den Elementen, während man auf ein Taxi, einen Abschleppwagen oder einen Freund wartet. Aber es könnten auch Minuten sein, die einem wie Tage 166 vorkommen. Minuten, die einen in eine Welt plötzlicher und unerträglicher Schmerzen stürzen. Denn der Gastgeber ist in Wahrheit zwei grundverschiedene, höchst unberechenbare Männer. Beide Männer, die sich Spain nennen, töten. Aber der zweite Spain, dessen Wahnsinn ihn über jede Grenze hinaus in den brüllenden, blutigen Alptraum seiner Psychosen gestoßen hat, dieser Spain tötet ohne jede Vernunft. Die beiden Hälften des Killers leben in diesem unscheinbaren Backsteinhaus an der einsamen, abgelegenen Schotterstraße. Spain der Psychopath. Der kaltblütige, ausgebildete Attentäter, der im Blutrausch der Rache tötet. Der Spain, der plant, wie er Ciprioni und Dagatino erledigen kann. Dessen Morde ausgeklügelt und durchorganisiert sind. Sorgfältig vorbereitet. Und dann die andere Hälfte. Noch gefährlicher, da er aus einem unbekannten, dunklen und grundlosen Brunnen tötet. Willkürlich Menschenleben nimmt. Ohne Ursache oder Angst vor den Folgen mordet, blindwütig killt, da ihn ein psychotischer Quell antreibt, der in seinem seelenlosen Zentrum entsprungen ist. Hier, in diesem Haus, das Blue Kriegais gequälte Schreie gehört hat, dem Haus, wo Ben Lowenstein seine letzten Höllenqualen erdulden musste, in einem Mordlabor, das keine zwei Meter misst, wird Angelina Russos Augenbinde entfernt. Und als erstes sieht sie das Gesicht des lächelnden Wahnsinnigen, und dahinter die blutbespritzte Wand des Beinhauses, wo sie ihm jetzt hilflos ausgeliefert ist. Und die beiden Hälften von Spain bringen sie mit stählernem Griff zum Schweigen, während er mit seiner leisen,
bedächtigen Stimme »Aber, aber, aber, aber, aber. Beruhigen Sie sich« zu ihr sagt. »Sie könnten ja die Toten aufwecken.« Dann fließen ihre Tränen, aber sie zwingt sich wütend, nicht zu weinen und spuckt ihm ins Gesicht. Und sie weiß, sie ist tot, und hofft nur, dass es schnell und barmherzig geht, während sie zu sich sagt: Ja, und ob ich auch wandelte im finsteren Tal ... Und sie sieht ihn lachen, als er sich behutsam den Spei 167 chel abwischt und zu ihr sagt: »Sie sollten meine Frau kennenlernen, Sie und Pat haben viel gemeinsam. Vielleicht später. Ja, schon recht bald dürfen Sie Mary Pat hallo sagen. Dann können Sie und die Schlampe sich über gemeinsame Interessen austauschen. Sie dürstet regelrecht... nach Gesellschaft. Und sie kann es kaum erwarten, Sie kennenzulernen.« Und er kichert wieder und fragt sie: »Glauben Sie an Dämonen?« Ihre Kehle ist jetzt sehr trocken, sie spürt eine Ohnmacht anrollen wie eine Flutwelle, und er sagt: »Wären Sie sehr überrascht, wenn ich Ihnen sage, dass ich, wie man es in Ihrem heuchlerischen Unterweltjargon ausdrückt, ein Arbeiter war? Dass ich über viele Jahre als oberster Vollstrecker Ihrer Gesellschaft tätig gewesen bin? Dass ich der verlängerte Arm Ihres Capo di Tutti Capi war und nicht einen einzigen Auftragsmord vermasselt habe? Niemals. Würde es Sie überraschen, dass Sukkubi in mich eindringen, wenn ich schlafe? Glauben Sie an Magie?« Und dann fasste er sie an, und sie verlor das Bewusstsein. »Haben Sie gut geschlafen?« »Sie verrückter/ace da borco -« Er schlug sie brutal und fuhr mit seiner sanften Stimme fort. »Sie können es sich selbst schwer machen. Sehr schwer. Und dann beenden Sie Ihr Leben als Ding ohne Zunge, das nicht mehr schreien kann und in einem scharlachroten Meer grausamer, unerträglicher Qualen versinkt. Sagen Sie hallo zu der Missis.« »Ha ... hallo.« Sie spürte eine Messerspitze am Hals. Bildete sich ein, dass etwas Blut floss. »Sagen Sie: Hallo, Mary Pat.« »Hallo, Mary Pat.« Sie wusste, das war es. Es spielte keine Rolle, was er zu ihr sagte. Sie sah Wahnsinn und Tod in den Augen unter den schweren Lidern. »Wenn Sie tun, was ich sage, lasse ich Sie am Leben. Andernfalls darf sie ihren Durst an Ihnen stillen ... hier -« Er stach zu, 167 sie unterdrückte einen Schrei. »Und hier.« Angelina schrie vor Schmerzen. »Undjetzt tun Sie, was ich verlange, oder Mary Pat SCHLITZT UND SCHNETZELT UND METZELT, BIS SIE VOLLKOMMEN UNKENNTLICH GEWORDEN SIND, KLEINE SCHLAMPE. HABEN SIE MICH VERSTANDEN?« »Ja.« »Gut.« Er trat einen Moment aus ihrem Gesichtsfeld, sie hörte ein Klicken, dann hielt er ein Stück Papier mit einer getippten Nachricht hoch. »Lesen Sie genau, was da steht. Wenn Sie mich verarschen, verwandelt Mary Pat diese Seite Ihres Gesichts in zuckende, tropfende Fetzen blutiges Fleisch.« Seine eiskalte Ruhe war furchteinflößender als das Brüllen. Sie las laut, während er ihr ein kleines Mikrofon an den Mund hielt. »>Ich lebe und bin gesund. Du musst tun, was ich sage. Dagatina m-muss sterben. Folgendes musst du erledigen, wenn du willst, dass ich überleben« Sie hatte fast die gesamte Nachricht abgelesen, bis ihr klar wurde, was sie da las. Sie dachte sich, dass der Irre das Joey vorspielen würde, ihrem älteren Bruder, damit er den alten Mann erledigte. Dennoch las sie weiter. Angelina wollte nicht sterben. Nicht hier. Nicht jetzt. Nicht so.
Es begann mit der unwahrscheinlichsten Quelle, dem einmaligen und unvergleichlichen BeBop Rutledge, und einem Gespräch zwischen Bud Leech und seinem Spitzel, das sich folgendermaßen abspielte: »Sie müssen mir helfen, Mann, das ist nicht FAIR.« »Das Leben ist ein Tauschgeschäft, BeBop. Man muss geben, wenn man nehmen will.« »Ich hab bis an die Schmerzgrenze gegeben, Mann. Ich bin schnurstracks damit zu Euch gekommen.« »Einen Scheißdreck hast du uns gegeben.« »Vorsätzlichen Mord.« »Du gehst baden mit dieser vollkommen berechtigten Koks-Anklage, das wissen wir beide. Ich kann nicht zu MEINEM Boss 168 gehen und was für dich rausschlagen, wenn du mir nicht mehr gibst. Ich meine, ich kann Euer Ehren für dich anquatschen, aber wenn du mit 'nem blauen Auge davonkommen willst, dann lass gefälligst mehr rüberwachsen. Eine Hand wäscht die andere.« »Ich hab den Wichser nicht GESEHEN. Nur ein oder zwei Sekunden im funzeligen Licht der verdammten Notausgang-Lampen. Ich würd den Kerl nicht mal wiedererkennen, wenn ich mit ihm zusammenstoßen würde.« »Das ist ein Jammer, BeBop. So sieht's aus, mein Bester: Der Lieutenant hat 'n Draht zu Wilma Smith. Ich meine, wenn du echt nachdenken könntest, deinen Grips ein bisschen anstrengst und uns ein besseres Phantombild gibst, Scheiße, dann würde der Boss seinen Charme versprühen und du würdest nicht mehr in der Scheiße sitzen.« »Och, Mann, ich denk mir, ich könnt's noch mal versuchen mit dem Typ. Wieheißternochgleich, der mit den Bildern?« »Weyland. Ja. Gut so, Junge, du musst es noch mal mit dem Typ versuchen. Dich konzentrieren. Echt nachdenken. Vielleicht fällt's dir ja wieder ein.« Und so kam jeder schummerigen Beleuchtung zum Trotz ein neues, besseres Phantombild zustande. Irgendwie, Mehr oder weniger. Je mehr BeBop daran dachte, wie Richterin Smith ihm die Eier quetschen könnte, desto besser wurde sein Gedächtnis. Er sah sozusagen das Licht. Und es gibt keine klarere Vision als späte Einsicht. Mit der möglichen Ausnahme von Eichord, den seine überaus starke NICHTS BÖSES SEHEN-Intuition im Bann hielt, versuchten nur noch die Ganoven, einen einsamen Killer dingfest zu machen. Die Polizisten hatten offenbar kein Interesse mehr an dem wahnsinnigen Vollstrecker - sie versuchten nur noch, die Sache so einzudämmen, dass sie nicht zu einem vollkommen unverhohlenen Krieg zwischen Mafia-Familien und ethnischen Randgruppen eskalierte. »Die Zwei-Tony-Bande ist den Bach runter«, hörte Eichord 168 einen Polizisten zu einem anderen sagen, »Und du weißt, was das bedeutet,« »Die Reviere werden neu verteilt.« »Treffer.« In Zeiten wie diesen konnten zwei übergelaufene Schläger einen offenen Bandenkrieg anzetteln - vergessen wir die Theorie vom »übergeschnappten Vollstrecker«. Aber Jack teilte ihre Überzeugungen nicht. Er hörte ihrer Unterhaltung stumm zu. »Russo hat den Alten abgefackelt, richtig? Was haben wir also hier? Einen internen Machtkampf.« Sally Dago! Dem Wahnsinnigen war es gelungen, hinter die Gefängnismauern zu kommen. Hatte den alten Mann mit Benzin übergössen und in seiner Zelle angezündet. Joey Russo stand dafür gerade.
Eichord sah dagegen glasklar. Der Vollstrecker hatte Angelina entführt. Irgendwie Verbindung mit dem Bruder im Bau aufgenommen: Entweder machst du den Alten kalt, oder deine Schwester stirbt. So, oder ein ähnliches Szenario. Sie hatte ihm gesagt, wie nahe sich die Geschwister standen. Der Beobachter hatte beobachtet. Hatte er auch mitgehört? Für einen mit seinen Fähigkeiten dürfte eine Abhörung ein Kinderspiel sein. Jack nahm Leech beiseite. »Wie kann ich zu Tony Cypriot?« »Sagen Sie es mir, dann wissen wir es beide.« Leech lachte. Jack sah ihn nur an. »Sie meinen es ernst. Okay. Ich bezweifle, dass Sie das können. Warum?« »Ich will ihm nur eine Botschaft zukommen lassen. Am Telefon. Wie kann ich ihn anrufen?« »Der würde nie mit Ihnen reden. Sie müssten an einer Million Unterlingen vorbei. Scheiße. Das könnte eine Woche dauern.« »Ich hab keine Woche. Wie komme ich an den Mann ran. Denken Sie nach.« »Wenn Sie etwas hätten, das er will. Sie könnten ihm von einem seiner Top-Leute etwas ausrichten lassen. Vielleicht jemand in New York.« Leech hörte sich sehr unsicher an. Als wäre es die reinste Zeitverschwendung. 169 »Helfen Sie mir«, sagte Jack zu dem großen Mann. »Wer wäre jemand, der augenblicklich zu Cypriot durchkommen würde, Rikla?« »Scheiße, nein.« Leech lachte. Er dachte einen Moment nach. Die Zahnrädchen kreisten, »Okay. Es gibt einen Mann, der sitzt. Zwanzig bis lebenslänglich. Wenn der glauben würde, dass es im Interesse vom Boss ist. Sie wissen schon.« »Können Sie ihm heimlich eine Nachricht zukommen lassen?« »Schwitzt Oscar Peterson?« »Oscar Peterson? Ach ja, der Typ, der für Cincinnati Basketball spielt?« »Er könnte spielen, wenn Sie ein paar Takte summen.« »Okay. Summen Sie ein paar Takte davon: Sagen Sie ihm, er soll Tony Cypriot Bescheid geben. Jack Eichord hat dem Paten was zu verkaufen. Er kann ihm den Mann liefern, den sie suchen. Sagen Sie ihm, ich will, dass der Abschaum stirbt, und wenn wir ihn hopps nehmen, fürchte ich, er könnte mit dem Leben davonkommen. Ein sündhaft teures Anwaltsgenie schindet Unzurechnungsfähigkeit für ihn raus, und schon ist er wieder auf der Straße. Wenn Cypriot ihn haben will, soll er das über mich persönlich abwickeln. Er und ich. Sagen Sie ihm, er soll mich anrufen. Ich rede. Er kann zuhören und sich dann entscheiden. Das - oder der Mann, den er so sehr will, führt seinen Krieg weiter.« Jetzt war Leech es, der ihn nur ansah. »Das kauft der nie«, sagte er schließlich. »Im Leben nicht.« Und natürlich kaufte er es nicht. Nicht einen Augenblick. Aber binnen vierundzwanzig Stunden sprach er mit Eichord am Telefon. »Vergeuden Sie meine Zeit nicht. Was wollen Sie WIRKLICH?« »Es geht nicht darum, was ich will. Es geht darum, was Sie tun 169 werden. Sie packen ein paar Sachen ein — nicht zuviel, da Sie nicht besonders viel Zeit haben. Setzen Sie sich in ein Flugzeug oder Ihren Privatjet oder was auch immer und fliegen Sie hierher. Ich nehme Sie in Gewahrsam. Zu Ihrem eigenen Schutz.« Cypriot lachte brüllend. Ein hysterisches, keuchendes Plärren. Eichord wartete, bis er fertig war.
»Oh, Scheiße«, sagte Tony, als er wieder zu Atem kam. »So hab ich seit Wochen nicht mehr gelacht. Herrgott. Oh. Sie sind in Ordnung. Das war komisch. Hören Sie, ich muss jetzt los und -« »SEIEN SIE STILL! Sie haben dieses Monster für den Rat oder das Komitee oder wie Ihr Arschlöcher es auch immer nennt auf die Straße geschickt. Haben Sie eine Ahnung, wie die anderen Familien reagieren, wenn ich ihnen sage, dass SIE für diese vielen Morde innerhalb der Organisation verantwortlich sind?« Jetzt hörte er kein Kichern mehr. »Dann sind Sie im Arsch.« Wenn Jack Eichord jemandem wirklich Angst machen wollte, bekam seine sanfte Stimme einen rasiermesserscharfen Unterton, und wenn er die Schleusen öffnete und sein ganzes Gift wie eine heiße, ätzende Flutwelle herausströmen ließ, dann sollte man besser nicht bergab davon stehen. »Vergessen Sie es«, sagte Cypriot missmutig. »Vergessen Sie es, hm? Wenn Sie nicht mit mir zusammenarbeiten und sich in meine Obhut begeben, dann spaziere ich direkt zu den Dons. Ich erzähle ihnen, was ich über Ihren obersten Vollstrecker weiß und was für eine Scheiße Sie gebaut haben.« Allmählich kam Eichord richtig in Fahrt. »Und nächste Woche ist nicht mehr genug von Ihnen übrig, damit man einen Schuhkarton damit füllen kann. Also, arbeiten Sie jetzt mit mir zusammen oder nicht?« Unter anderen Umständen hätte Gaetano Ciprioni diesem schwanzlosen Bullen vermutlich gesagt, dass er sich einen runterholen gehen sollte. Aber er hatte gerade die traurige und schreckliche Pflicht gehabt, einen seiner treuesten Freunde und vertrau 170 enswürdigsten Vizepräsidenten von der Liste zu streichen. Der junge Russo hatte ihn von der Tat in Kenntnis gesetzt. Was er tun sollte, wollte er wissen. Ciprioni wusste, was Spain wusste - er WAR der Pate, der ECHTE Pate von Angelina Russo. Niemals würde er sie für den Alten opfern. Und so gab er Russo grünes Licht. Scheißangelegenheit. Aber manchmal musste man eben Opfer bringen. »Los«, sagte er zu ihm. »Sag ihnen, sie sollen ihn abfackeln.« Und dann hatten sie schließlich Troxell aufgespürt, diese elende kleine Scheißhausfliege in Cleveland oder Cincy oder wo immer der Pisser seinen Sitz hatte. Fanden alles über Spains Tochter raus. Verfolgten die Angelegenheit zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Und am Ende kam ein klein wenig Licht ins Dunkel dieser ganzen Scheiße. Dass von allen Leuten ausgerechnet Spain durchdrehen musste. Er schüttelte den Kopf, während er überlegte, wie er weiter vorgehen sollte - und in den wenigen Sekunden hörte er dem Bullen zu, bei dem er eigentlich gleich auflegen hätte sollen, als der zu ihm sagte: »Ich habe eine Möglichkeit, dem Kerl eine Falle zu stellen, aber ich muss alles über ihn wissen, und wie das passieren konnte. Wenn Sie kooperieren, garantiere ich, wir bekommen Angelina Russo zurück, garantiere ich für Ihre Sicherheit und garantiere, dass wir diesen Irren aufhalten.« Je länger der Bulle redete, desto überzeugter wurde Ciprioni wider alle Instinkte, dass es funktionieren könnte. Wer hätte sich je DIESE Scheiße träumen lassen - er lächelte humorlos -, die Bullen und ICH auf derselben Seite! Eichord schloss den Deal mit einer listigen Spiegelfechterei über die Anklagen auf, die möglicherweise in Sachen der Ex-Mrs. Pat Spain erhoben werden könnten, und Andeutungen über eine Amnestie, und dies und das, bis er am Ende recht zufrieden mit sich und seinem Spiel war. Doch lange bevor Tony Cypriot seine Tasche packen konnte,
hatte Eichord mit dem Privatdetektiv in Ohio über seinen Klienten gesprochen und telefonierte abermals mit dem Boss. 171 »Eines brauche ich vorgestern«, teilte er Cypriot mit, »nämlich diesen Film.« »Was für einen Film?« »Was für einen Film? Den Film mit Spains Tochter. Den Snuff-Film. Den brauche ich SOFORT.« »Das ist gar kein Problem«, antwortete der Mann, erledigte einen Anruf und Eichord hatte zwei Kopien auf dem Schreibtisch, bevor man »Wann immer es beliebt« sagen konnte. Und keine Minute zu früh. Jack Eichord bildete das offizielle Begrüßungskommando, als Cypriot mit dem privaten Learjet seiner Firma eintraf. Zuerst stiegen zwei Leibwächter aus, die zu Eichords Überraschung gar keine Ähnlichkeit mit den Footballspieler- und Schlägertypen hatten, die man erwartete. Beide waren kleinwüchsige Männer, extrem professionell und sahen wie Tony Cypriot - mehr nach Geschäftsleuten aus, wenn auch nach ziemlich harten. Der Mann selbst machte einen distinguierten Eindruck. Edel gekleidet in einen zweitausend Dollar teuren Mantel über unauffälligem Bankiersgrau der Savile Row. »Wozu ist der hier?« sagte er zu Eichord, als ein Polizeifotograf ein Blitzlichtfoto von ihm machte. »Öffentlichkeitsarbeit.« Eichord erzählte ihm von der Falle, die er plante. Anfangs tobte Ciprioni, aber es war zu spät, jetzt noch zu kneifen. »Ich gebe Ihnen dieselbe Garantie wie am Telefon«, sagte Jack. »Wir ziehen diesen Irren aus dem Verkehr und Sie haben ein Problem weniger.« Ihm würde in seiner kugelsicheren langen Unterhose nichts geschehen. »Er tut Ihnen nichts, Ich verspreche es.« Das Phantombild hatte bei den Maklern in St. Louis rein gar nichts gebracht. Polizisten hatten an den Türen von Motels, Hotels und Pensionen geklingelt und sich in Wohnwagenparks und auf Campingplätzen umgesehen, wo immer sie eine mögliche Spur vermuteten. Nichts. 171 Ciprioni sah sich die Skizze auf dem Rücksitz an und nickte. »Das ist er durchaus, aber die Zeichnung ist beschissen.« Er beschrieb die schweren Lider und die anders geformte Stirn, und Eichord versprach ein besseres Bild von Weyland, während er sich das Gesicht von NICHTS BÖSES SEHEN in dem Souvenirladen in L. A. vorstellte. Als Mel Troxell ihm alles auf den Tisch gelegt hatte, wusste er, dass dieser Spain ihr Mann war. Alles fügte sich zusammen, und die unschuldigen Opfer zwischendrin bestätigten Eichords Hybridtheorie. Spain war ein manisch-schizoider Attentäter. Ein tödlicher und gefährlicher Jäger, der den Verstand verloren hatte. »Wenn dieser irre Wichser Angelina was angetan hat, will ich ihn persönlich umlegen«, sagte Ciprioni, und Eichord dachte, dass er das transitive Verb »umlegen« nie so häufig gehört hatte als während dieser Ermittlung. Zu Hause bedeutete umlegen, dass man eine Frau ziemlich glücklich machte. »Sie wissen, dass Ihre Anwälte unseren Deal bereits abgenickt haben. Sie haben uneingeschränkte Amnestie. Drum habe ich jetzt eine Frage. Die >Augapfel-Morde< in L. A. - hat Ihr Rat die in Auftrag gegeben?«
»Nee.« Ciprioni holte tief Luft. »Das ist deren Land da draußen. Wer weiß schon, was in Kalifornien abgeht.« Er gab nicht mehr preis als unbedingt nötig. »Irgendwer treibt da seine Spielchen mit den Augen. Als würde man diese Puppen mit den Stecknadeln im Hals schicken. Das ist Mustache-Pete-Blödsinn. So läuft das bei uns nicht.« »War es Frank Spains Werk?« »Aaah« - er zuckte die Achseln - »wer weiß? Er hat die Aufträge nicht immer persönlich erledigt, wissen Sie? Manchmal war er nur eine Art Aufpasser. Hat die Arbeiter selbst angeheuert. Das war eben seine Methode.« Jack spielte den Medien in St. Louis die schlagzeilenträchtige Meldung zu, dass der berüchtigte »Pate« Tony Cypriot offiziell in 172 Schutzhaft genommen wurde. Und er gab sie einigen Reporterfreunden in Schlüsselpositionen im ganzen Land, wie zum Beispiel Letty Budge, der ausführlichst darüber berichten konnte. Er wusste, es gab keine Garantie, dass Spain Zeitungen las, fernsah oder das Radio einschaltete. Aber er ließ es auch überall auf der Straße verbreiten. Eichord hatte Gaetano Ciprioni. Den Mann, den man mehr als jeden anderen für das Geschäft mit Kinderpornografie und ergo auch für Folter und Tod von Tiff Spain verantwortlich machen konnte. Troxell, der Privatdetektiv, den die Mafia bereits »verhört« hatte, brachte Eichord auf die Spur von Dawkins' und Nunna-lys Plan, Tiff auf den Strich zu schicken. Mel Troxell erzählte ihm, dass Nunnaly bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Schilderte das mögliche Schicksal von Dawkins und das Verschwinden der Tochter sowie die Umstände ihres Todes. Eichord setzte Jeeter Oliver auf den Fall an. Jeeter war der Mann im Revier, der sich um alles kümmerte, das mit Film, Überwachungsvideos und ähnlichem Material zu tun hatte. Eichord bereitete sein Spiel an mehreren verschiedenen Stellen vor. Für alle Fälle. Ein paar zusätzliche Trumpfkarten im Spiel, ein klarer Fall von ... na ja, für alle Fälle eben. Er wählte Orte aus, an denen Spain sich vermutlich wohlfühlen würde. Orte, denen er vermutlich vertraute. In der Special Division herrschte rege Betriebsamkeit. Man zeigte Maklern und Hausbesitzern und Vermietern und Hausverwaltern im gesamten Bereich von St. Louis das neue Phantombild von Frank Spain, das Eichord Bud Leech mit den Worten präsentierte: »Wie heißt er doch gleich wieder - ReBop? Ihr Spitzel?« »Ja - BeBop. Ja?« »Der kleine Wichser war AUFRICHTIG. Und übrigens, betrachten Sie sich als gebauchpinselt.« Eichord klopfte dem großen Mann auf die Schulter und begab sich raschen Schrittes wieder zu seinem provisorischen Schreib 172 tisch. Während Leech sich am Kopf kratzte. »Gebauchpinselt?« sagte er. »Was zum Teufel ist gebauchpinselt?« Aber Jack hatte ihn schon lange nicht mehr so breit lächeln sehen. Eichord kümmert sich um eine Million und ein lose Enden, die plötzlich am Horizont aufragten. Er überprüfte zusammen mit Chief Adler die letzten Einzelheiten seiner Falle in Abstimmung mit dem Büro von Victor Springer, hielt sich genau an die Vorschriften und versuchte, an alles zu denken. Immer einen Schritt voraus sein. Die letzten Überlebenden der Familie Dagatina hatte er eingesammelt, Polizisten überwachten Pat
Spains Versicherungsvertreter, die Häuser der Dawkins' und Nunnalys mit soviel Männern, wie sie erübrigen konnten. Alles Menschenmögliche. Kaum sorgten die Berichte über Tony Cypriot öffentlich für Schlagzeilen, als die Zentrale einen Anruf für das Revier erhielt und Springer Jack zubrüllte: »LOS!« Und Eichord kam den Flur entlang gerannt und riss den Hörer hoch, wohl wissend, dass ein Tonbandgerät, das über einen Adapter an die Telefonleitung angeschlossen war, jedes Wort und jeden Atemzug aufzeichnete. »Hallo?« sagte er. »Sind Sie der Polizist, der für die Bandenkriegsmorde zuständig ist?« Eichord erkannte die Stimme sofort und bekam in dem Moment eine Gänsehaut, als er das übertrieben betonte, seltsam präzise Sprechmuster hörte. »Jou. Und Sie müssen der einzigartige und unvergleichliche Frank Spain sein, richtig?« »Sehr schlau. Na und?« »Ich hatte gehofft, wir könnten eine Art von Deal machen. Wissen Sie, wir haben durchaus ein gewisses Maß an Verständnis für Ihre Situation. Wen interessiert schon, dass eine Anzahl wertloser Abschaum ins Gras gebissen hat? Wir sind auf Ihrer Seite, ob Sie es glauben oder nicht.« Er hörte selbst, dass er sich zu flehentlich anhörte. »Ich habe keine Ahnung, wie dumm Sie persönlich sind«, hörte 173 er die sehr bedächtige, präzise und gelassene Stimme am anderen Ende, »daher kann ich Ihnen nur einen gutgemeinten Rat anbieten und hoffe, dass Sie ihn beherzigen. Sie sollten mich auf gar keinen Fall verarschen, haben Sie das kapiert?« Die Stimme übertrieben präzise. Beängstigend kalt. »Das mit dem Abschaum war mein Ernst«, sagte Eichord in seinem leisesten Tonfall. »Wir haben Ciprioni. Wir könnten uns einen Austausch mit der unschuldigen Frau vorstellen, wenn wir gewisse Zusagen bekommen.« »Haben Sie mir eigentlich zugehört?« Spain schnaubte. »Sie sind entweder ein Idiot, oder Sie denken, dass ich einer bin, dass ich auf den Blödsinn reinfalle. Verlieren werden Sie so oder so. Wie heißen Sie noch gleich - Officer Oehlert?« »Eichord. Nein, ich denke nicht, dass Sie ein Idiot sind. Ich finde nur, wir haben etwas gemeinsam -« »Boah. Lassen Sie das für uns beide abkürzen. Ich will es klipp und klar sagen. Sie haben einen dürren jämmerlichen Plan, mich zu schnappen. Okay«, er seufzte hörbar, »ich weiß, sie haben Leute bei der Telefongesellschaft, die den Anruf zurückverfolgen, und so weiter. Sagen Sie denen, dass sie das vergessen können. Ich spiele dieses Spiel schon sehr viel länger als die. Bis Sie rauskriegen, wo ich stecke, bin ich schon längst wieder weg. Sie bieten mir an, dass Sie den Abschaum, den Sie in Schutzhaft haben für die junge Dame austauschen möchten. Sie haben ein SWAT-Team und Scharfschützen bereit, und wenn ich aufkreuze, werde ich verhaftet. Die Musik wird lauter. Sie bekommen das Mädchen und reiten in den Sonnenuntergang, der Abspann fängt an. Das hab ich alles schon GESEHEN. Nein. Glauben Sie, ich wüsste nicht, dass es der hiesigen Bullerei nicht gestattet ist, Personen auszutauschen?« Eichord wollte etwas sagen, aber Spain fuhr fort: »Vergessen Sie diesen ganzen Kindergarten-DRECK. Klar soweit?« »Also ich weiß nicht -« »Lassen Sie's gut sein.« Spain lachte kalt. »Die CIA, also DIE 173
Arschlöcher tauschen vielleicht Leute aus, aber ihr Jungs nicht. Gut. Ich habe Sie nur angerufen, um Ihnen zu erklären, warum Ihr Plan nicht funktionieren kann und warum Sie genau das tun werden, was Sie gerade vorgeschlagen haben. WARUM Sie mir diesen Abschaum Ciprioni geben. Wenn nicht, sterben nämlich noch weitere unschuldige Menschen, darunter auch die bedauernswerte Miss Russo. Der es übrigens gar nicht gut geht. Wenn ich nicht bekomme, was ich will, dürfte sie es wohl kaum überstehen.« Er lachte wieder. Eichord fand zum ersten Mal, dass sich der Anrufer verrückt anhörte. »Ich war eben in einem Lebensmittelladen und habe eine Grußkarte hinterlassen. Es ist eine dieser altmodischen Handgranaten aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Leute kaufen sie als Briefbeschwerer. Aber die ist nicht harmlos. Sie enthält Schießpulver und alles und hat eine elend kurze Zündschnur. Sie liegt hinter einem Stapel Pfirsichdosen oder so - ich weiß nicht mehr genau. Das soll nur als Beispiel für einige meiner, äh, besseren Einfälle dienen. Ich meine den IGA-Laden in der Olive. Außerdem habe ich zwei Handgranaten in Polstersesseln von Bielerman's Möbelgeschäft versteckt.« Und die Polizisten, die die Adressen hörten, stürmten hinaus, als Springer nickte und mit dem Mund ein LOS! formte. »Passen Sie auf. Ich zieh die Bolzen raus, stecke die Ringe in die Tasche, spazier ganz unbehelligt wieder raus. Jemand geht rein, setzt sich auf einen Sessel, zieht die falsche Dose Pfirsiche aus dem Regal oder öffnet die falsche Schublade eines Ausstellungsstücks und - KA-BUMM!« »Wo haben —« »Ich WILL, dass Sie sie finden. Ich meine, ich weiß, ihr Jungs seid ziemlich schwer von Begriff, darum will ich euch vorführen, wie es das nächste Mal sein könnte. Genau so, nur anders. Nächstes Mal sind es keine Handgranaten. Etwas Besseres. Keine kleinen Sprengsätze, die einen oder zwei Leute erledigen, sondern große Überraschungen für eine Menge Leute. Das ist 174 das Erbe, das ich hinterlasse, bevor ich zu einem Austausch aufkreuze. Mir ist klar, dass nicht einmal ich das Verhalten von irgendwelchen Bürokraten vorhersehen kann, von Schwachköpfen ganz zu schweigen, daher muss ich damit rechnen, dass Sie trotz der Beweise, die Sie in dem Lebensmittelladen und dem Möbelgeschäft finden, versuchen werden, mich einzusacken. Der Polizist kann nun mal nicht aus seiner Haut. Sollte das der Fall sein, habe ich hinreichend Vorkehrungen getroffen. Dann haben Sie mich um meine Rache gebracht und ich dafür in angemessener Weise Vergeltung geübt. Berichten Sie das Ihren Vorgesetzten. Wenn die versuchen, mich zu überlisten und festzunehmen, dann verlieren wir alle - und wofür? Für das Leben dieses menschlichen Abfallhaufens Ciprioni. Da Sie mich kennen, wissen Sie sicher auch, dass man mich in meinem Metier als den Besten betrachtet. Als Profi begreifen Sie, was das bedeutet. Wenn ich Ihnen also sage, dass ich mich mit - sagen wir - Anschlägen auskenne, dann wissen Sie, dass ich die Wahrheit sage.« »Ich verstehe.« »Hoffentlich. Wenn nicht, haben Sie eine Menge Menschenleben auf dem Gewissen. Ich habe mir überlegt, wie ich nach einer Verhaftung behandelt werden würde. Ich bin ein gebildeter und erfahrener Mann. Ich habe Maßnahmen ergriffen, die ... Ach, was hat es
für einen Sinn, wenn ich mich lang und breit darüber auslasse? Entweder glauben Sie mir, oder Ihre Handlungen bewirken, dass viele, viele Menschen unnötig sterben. Wenn mir Ciprioni heute Nacht nicht ausgehändigt wird, gehen alle Todesfälle auf das Konto der Polizei, und ich habe mir erlaubt, eine kurze Zusammenfassung der Situation an aufgeschlossene Persönlichkeiten bei den Medien zu schicken. Ich denke, Sie wären gut beraten, wenn Sie kooperieren.« »Natürlich«, sagte Eichord, »muss ich mich mit den Leuten besprechen, die das Sagen haben. Aber ich kann wohl verspre 175 chen, dass wir vernünftig sind. Wir wollen jedes weitere Blutvergießen vermeiden.« »Das ist nett. Aber sollte es anders laufen - oder sollten Ihre Vorgesetzten mir nicht glauben —, dann jage ich mit dem größten Vergnügen ein paar Dutzend Leute in die Luft, nur um Ihnen zu zeigen, dass ich es ernst meine.« »Kommen Sie, Mr. Spain. Sie wissen, dass Sie das gar nicht wollen. Wir finden sicher eine Möglichkeit, Ihnen zu geben, was Sie wollen. Ciprioni geht uns am Arsch vorbei - er ist nur einer von vielen Kriminellen.« »Betonen Sie einfach, dass sein Leben nicht das Leben hunderter unschuldiger Zivilisten wert ist. Das müsste genügen. Und wenn nicht -« »Es dürfte genügen.« »Sagen Sie ihnen, wenn meine Anweisungen nicht befolgt werden, wenn Sie mir diesen Abschaum heute Nacht nicht bringen, beginne ich mit einer Reihe von Hinrichtungen, die diese Stadt auf den Kopf stellen. Ich morde auf die schrecklichste und spektakulärste Weise. Vergessen Sie nicht, wenn Sie Beweise brauchen, bekommen Sie sie - jede Menge.« »Was schwebt Ihnen denn vor, wenn Sie sagen, dass wir ihn heute Nacht zu Ihnen bringen sollen?« »Was mir vorschwebt? Das sagte ich doch gerade. Bringen Sie mir Ciprioni. Ende.« »Ich meine, wohin sollen wir ihn bringen? Wir gehen gern auf jede Vorsichtsmaßnahmen ein, die Sie treffen möchten, um Ihre persönliche Sicherheit zu gewährleisten, wenn wir den Austausch vornehmen, den Sie vorgeschlagen haben -« »Sie sollten sich mehr Gedanken um IHRE persönliche Sicherheit machen, verstanden?« Leech gab ihm ein Zeichen - nein, was bedeutete, dass sie den Anruf noch nicht zurückverfolgt hatten, womit Eichord auch nicht gerechnet hatte. »Klipp und klar.« 175 »Wir tauschen heute Nacht aus. Um Mitternacht. Sie bringen mir Ciprioni, und ich garantiere Ihnen, dass ich nicht mehr töten werde, wenn man mich nicht bedroht. Außerdem lasse ich die Russo-Fotze frei, wenn unser Austausch über die Bühne gegangen ist. Wenn Sie mich verarschen oder mich festnehmen wollen oder sie diesen Schleimbeutel nicht bei sich haben - dann haben eine Menge Leute das Scheißpech, dass sie am nächsten Morgen mausetot sind.« »Niemand verarscht Sie. Wo soll der Austausch stattfinden, wenn es denn dazu kommt?« »Das ist mir scheißegal. Das kann meinetwegen im verdammten Polizeirevier über die Bühne gehen. Vergessen Sie nicht -meine Hinterlassenschaft des Todes hängt davon ab, dass Sie mir geben, was ich will. Verhaften Sie mich, unterschreiben Sie damit das Todesurteil für eine Menge Leute. Und die Hinterlassenschaft sieht so aus, dass Sie die
Gegenstände nicht entschärfen können, selbst wenn Sie ihren, äh, Aufenthaltsort kennen.« »Wo kann ich Sie anrufen, wenn ich weiß, dass wir den Austausch durchziehen können?« »Jämmerlich!« Spain lachte wieder. Sein Lachen drückte nicht Heiterkeit aus, sondern Wahnsinn und Wut. »Ich rufe Sie an, Mr. Eichord. Und sagen Sie Ihren Bossen, sie sollen nicht vergessen, wenn sie mich verarschen, dann sehe ich mich leider auch gezwungen, auf die unschönste und endgültigste Weise mit Miss Russo umzugehen - sie wäre dann eine weitere Tote, die Sie auf dem Gewissen haben.« »Ich bin sicher, wir können das Geschäft durchziehen. Es wird den Bossen nicht gefallen, aber sie haben vermutlich keine andere Wahl.« »Wie auch immer. Ich melde mich umgehend wieder, viel Zeit bleibt Ihnen also nicht. Seien Sie nicht dumm.« Er sah, wie das Tonband automatisch abschaltete, als der Hörer aufgelegt wurde. »Tja«, sagte Springer, »was ist mit den Granaten?« 176 »Ach ja. Ich halte das für ausgemachten Blödsinn.« »Jack, Sie meinen, er blufft mit diesen Bomben?« »Ich glaube, dass wir die Granaten finden. Trotzdem, nein. Es ist Blödsinn. Er ist ein Irrer. Und er ist gut. Ein Profi. Er hält sich jetzt für unverwundbar. Er hat sich nicht einmal die Mühe gemacht und überzeugend gelogen. Dass er Briefe an die Medien geschrieben hat, das war völliger Quatsch.« »Ach ja? Glauben Sie?« »Klar. Die Widersprüche in sich. Eben zeigt er uns noch, dass er weiß, wie wir arbeiten, und deutet an, dass wir auf Druck der Medien reagieren, und dann kommt er mit diesen Briefen daher und vergisst dabei, wenn er sie tatsächlich geschrieben hätte, würden sie der Presse auch verraten, dass wir einem wahnsinnigen Killer ein Menschenopfer gegeben haben. Von seiner Seite aus ist das alles nur noch Gewichse. Ich glaube, er weiß, dass wir ihn abknallen, aber der Wunsch, es Ciprioni heimzuzahlen, verbunden mit seinen Schuldgefühlen und seiner Geisteskrankheit, haben ihn vermutlich soweit getrieben.« »Hoffentlich haben Sie recht.« »Der Kerl ist natürlich vollkommen übergeschnappt.« Eichord wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er drehte den Kopf von einer Seite auf die andere und hörte Knochen knacken. »He, sehen Sie mich an - ich weiß Bescheid.« Springer nickte düster. »Natürlich ...«, fügte Jack mit der Andeutung eines leutseligen Lächelns hinzu, »könnte ich mich irren.« »Na super. Absolut wunnebar.« Plötzlich dachte Eichord an achtzehn Dinge, die vermutlich schief gehen konnten und würden, vom Wetter bis zu Jeeter Oliver. Er betrachtete einen gelben Kanzleiblock vor sich und konnte nicht ein Wort entziffern, das er geschrieben hatte. Er wollte seine Notizen irgendwem geben und sagen: »Lassen Sie die im Labor untersuchen.« Er nahm den Hörer ab und legte ihn wieder auf. Ging pinkeln und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. Er dachte an 176 alles, das schief gehen könnte, an das er bisher NOCH NICHT gedacht hatte. Er hoffte, dass die Verwerfungen nicht aufbrechen und ihn verschlingen würde, was auf der terra infirma, auf der er sich bewegte, schon früher möglich gewesen wäre. Spain - Spanien. Er
hoffte, dass es so grün grünen würde, wenn Spaniens Blüten blühten, und Spain verblühte. Er hoffte, dass Jeeter nicht das Flattern kriegen würde. Was könnte schief gehen? JEDER SCHEISS, mehr nicht. Alles konnte schief gehen. Eichord dachte bei sich: Ich könnte einen Herzanfall haben und hier und jetzt den Löffel abgeben. Das könnte schief gehen. Und er spürte, wie seine Handflächen feucht wurden, und hatte ein heißes, unangenehmes Gefühl im Kopf, und dann dachte er aus heiterem Himmel an Rita und sah ein, dass es stimmte, was die Weisen schrieben, dass Abstinenz das Verlangen nur noch steigerte. Die Zeit schien schneller abzulaufen, wie bei einem Betrunkenen, der Nachmittag und frühe Abend verstrichen wie im Rausch, und Eichord spürte, wie kalt ihm war, wie heiß seine Stirn, und die Zeit raste. Als das Telefon läutete, war es wie ein Messerstich. Er hatte den Ausdruck dreierlei schon gehört, aber noch nie selbst erlebt und nie gedacht, dass er selbst einmal dreierlei auf einmal machen würde. Er wollte gerade ins Büro nebenan gehen und sein Telefon läutete und er drehte den Kopf nach hinten und dann wieder in die Richtung, in die sein Körper sich bewegte, und er korrigierte ihn und korrigierte ihn abermals und überlegte es sich wieder ganz anders — ein Veitstanz hier bei American Bandstand. »Hallo.« Seine Kehle hörte sich an, als hätte er mit Abflussfrei gegurgelt. »Und?« »Okay. Die sagen, Sie können Ciprioni haben, müssen uns aber ein paar Garantien geben. Was könnte Sie daran hindern, auch dann überall Zeitbomben zu hinterlassen, wenn Sie bekommen, was Sie wollen?« 177 »Nichts. Wenn ich darauf aus wäre, die ganze Scheißstadt zu vernichten. Aber wenn ich darauf aus wäre, die ganze Scheißstadt zu vernichten, dann wäre die Scheißstadt schon längst IM ARSCH, klar?« »Ah, ja.« »Brillant. Ich habe Ihnen gesagt, dass ich nicht mehr töte, wenn Sie mir meinen teuren Freund auf dem silbernen Tablett servieren. Ein Mann, ein Wort. Ich kann meine Tochter nicht zurückbringen. Aber dann habe ich sie alle erwischt und meine gerechte Strafe vollzogen.« Eichord hoffte, dass er im Griff seines Wahnsinns vergessen hatte, dass Rikla unter Polizeischutz stand. »Prima. Ich habe eine Liste möglicher Treffpunkte erstellt, möchten Sie -« »Sie wollen, dass ich dorthin komme? Mir egal. Ich habe Sie gewarnt, was passiert, wenn Sie versuchen, mich zu schnappen.« »Hm. Wie wäre es mit dem Kino, wo Sie waren. Das URBE, wie sie es nennen. Ich bringe Tony Cypriot um Mitternacht dorthin, wenn Sie mir versprechen, dass Angelina Russo dort lebend auf mich wartet.« »Und vergessen Sie Scharfschützen und den ganzen Mist, Freundchen. Bedenken Sie, meine Vorsichtsmaßnahmen sind kein Witz. Wenn es bumm macht und ich falle, dann macht es bei ALLEN bumm —« Er kicherte humorlos. »Haben Sie verstanden?« »Ja. Ich sehe kein Problem. Offen gestanden ist Mr. Ciprioni wertlos für uns. Aber Miss Russo ist eine Zivilistin, Sie hat so wenig mit den Geschäften der Familie zu tun wie Ihre Tochter mit Ihrer Arbeit zu tun hatte. Wir wollen nicht, dass eine weitere Unschuldige zu Schaden kommt, und Sie ganz sicher auch nicht.« Er fragte sich, ob er zu weit gegangen war. Nach einer Pause klang die Stimme hart wie Stein. Kalt und hart wie ein Grabstein.
»Sie bringen den Schleimbeutel. Sie persönlich.« 178 »Okay.« »Wenn ich jemand anderen sehe, mach ich die Russo-Fotze sofort platt wie eine Pizza.« »Gut. Ich komme allein und habe Mr. Ciprioni. Wir sehen uns um Mitternacht in dem Kino.« Es wurde aufgelegt. Die erste Frage auf dem Notizblock, die er entziffern konnte, war: Was ist, wenn er draußen wartet? Was, wenn ich ihn nicht ins Innere locken kann? He, so geht das nicht, das ist zu schwierig für diese Tageszeit. Außerdem sind es zwei Fragen. Aber auf einer anderen Ebene wusste er, dass Spain ins Innere gehen würde, oder anderswo hin. Selbstsicherheit sprach aus seiner Stimme. Und Wahnsinn. Victor Springer sah aus, als hätte er gerade die Titanic untergehen sehen und jeder an Bord schuldete ihm Geld. »Das gefällt mir nicht besonders«, teilte er Eichord mit. »Hmm.« »Eigentlich gefällt es mir gar nicht.« »Schon verstanden. Ihm geht es um Strafe. Er will Rache. Der Mann hat nicht alle Tassen im Schrank.« »Außerdem ist er ein Experte, ein äußerst professioneller Auftragskiller, Junge, Er TÖTET Menschen. DARUM geht es ihm.« Es wurde zu einer weiteren Verhandlung. Der Lieutenant willigte ein, dass er die taktische Einheit einsetzen würde, Eichord ließ sich zu Verstärkung und Ortungsfahrzeugen überreden. Was sonst noch für Hich-TechQuatsch zum Einsatz kommen würde - sollten sie reingehen und es erledigen. Das Bombenkommando schickte Leroys, wie sie ihre entbehrlichen Techniker kannten ein klein wenig Polizistenhumor —, damit sie die Granaten in den beiden Geschäften fanden und sicherstellten. Sie waren da, wie er gesagt hatte. McTuff hatte alle Wahrscheinlichkeiten berechnet und das Gefahrenpotenzial der Situation als hoch, aber akzeptabel eingestuft - nur für wen? Eichord war am Ende der Fahnenstange angelangt und überlegte sich ein passendes Klischee. 178 »Manchmal muss man angeln oder den Köder abschneiden«, sagte er ins Leere. Er ging allein rein. Diesbezüglich blieb er eisern. »Sie können Leute auf den Dächern postieren«, sagte er zu Springer, »aber wenn Spain sie sieht, sind wir nicht nur ihn los, vermutlich schießt er die Polizisten auch noch aus reiner Gemeinheit runter. Wir müssen versuchen, dass wir reinkommen und unsere Trumpfkarte ausspielen können.« Gaetano Ciprioni war alles andere als angetan. Und je näher der Zeitpunkt rückte, desto weniger angetan war er. Eine Weile sah es so aus, als müsste Eichord ihm Handschellen anlegen und ins URBE zerren, doch dann beruhigte sich der Mann im letzten Augenblick doch noch. Seltsamerweise verspürte Eichord kaum Angst. War entspannt. Er stieg aus dem Streifenwagen aus und über das orangefarbene Band hinweg, betrat das URBE, wo das Siegel der Polizei erbrochen und die Kette durchgeschnitten worden war, trat ein und passierte den Bereich der Kartenhäuschen, dann strauchelte er mit Ciprioni, als beide über etwas stolperten und stieß unwillkürlich ein heiseres »HURENSOHN!« aus, als sie den Mittelgang hinab in die grelle Taschenlampe des Killers Spain sahen. »Schleimbeutel«, sagte Spain. »Moment, Frank, hör dir wenigstens meine Seite an.« Der Mann flehte regelrecht.
»Das ist dafür, was du Drecksack meinem kleinen Mädchen angetan hast«, sagte er, und Ciprioni schrie Eichord an: »Los doch, los doch, LOS GOTTVERDAMMT UNTERNEHMEN SIE WAS WORAUF ZUM TEUFEL WARTEN SIE NOCH -« »Was ist denn los, MISTER Ciprioni«, sagte Spain und lachte sein lautes Nichtlachen. »ELENDER WICHSER. SIE HABEN GESAGT, DASS MIR NICHTS PASSIERT. SIE HABEN VERSPROCHEN, SIE LASSEN NICHT ZU, DASS ER MIR WAS TUT.« Spain spannte den Hahn seiner Waffe, während Eichord sagte: »Ich habe gelogen«, und in die Dunkelheit sprang, während Spain 179 seinem ehemaligen Mentor Gaetano Ciprioni das Lebenslicht auspustete. Jeeter Oliver, der sich in der Nische eines ehemaligen Projektorraums versteckte, schaltete die Maschine ein, worauf ein greller Lichtstrahl sich durch die Dunkelheit fräste, die Leinwand weiß aufleuchtete und das riesige Bild von Spains Tochter das kleine Kino mit Bewegung erfüllte, während eine Männerstimme so etwas wie »wenn du mich nicht befriedigst, du Fotze« sagte, und Eichord hält die Waffe in beidhändigem Griff in der Semi-Weaver-Haltung und drückt besonnen und überlegt ab. Zielt nicht ganz ohne klammheimliche Freude auf den durch und durch wahnsinnigen Frank Spain. Tausend Schachteln Übungsmunition und blitzschnell gewechselte Magazine könnten belegen, welches hohe Maß an Training Frank hat, das ihn für diese dreißig Minuten währende Sekunde qualifiziert. Denn so lange kommt es ihm konservativ geschätzt vor, bis die nächste Sekunde vergeht. Es ist eine Sekunde, die er in bösen Tagträumen immer und immer wieder erleben wird, wenn er sich selbst für sein Versagen in den Hintern tritt und sich die Frage nach dem »Was wenn« stellt, die immer aufkommt, wenn so etwas passiert. Der Hahn senkt sich, Jack sieht ihn ganz deutlich, er senkt sich langsam auf den Bolzen, während er die Smith & Wesson festhält, fest, aber nicht zu starr, wie im Lehrbuch, ruckizucki peng, und als das Peng ertönt, so nahe, im Dreck und Verfall des alten Kinos mit diesem niederträchtigen, derangierten Killer so nahe, dass man ihn gar nicht verfehlen kann, muss es so sein wie Spains Schuss in den Kopf von Tony Cypriot. Es kann nur ein Trickfilm-Peng sein, ein Zeichentrickfilm-WUMMS, wo ein ganzes Bild erforderlich ist für die onomatopöisch-lautmalerische Darstellung dieser hallenden, ohrenbetäubenden, nahen Explosion, und Eichord erinnert sich an jeden Augenblick, an alles, an jedes Detail, während er den schrecklichen Aufprall des Hahns erstarren lässt. Manche Leute können das. Sie können die Zeit anhalten. 179 Wenn sie sehr ängstlich oder nervös oder beides sind. Wenn sie den grässlichen Moment hinauszögern wollen, der gleich hinter der nächsten Ecke lauert, wie sie wissen, dann treten sie einfach auf die Bremse und sagen: Halt! Langsam, sachte, Auszeit. Und dann nageln sie die Schuhe der Zeit am Boden fest und nichts geht mehr. Kein Sekundenzeiger rückt vor. Nichts tickt oder tackt. Alles wird langsam, steht still, und sie lassen nicht mehr zu, dass sich etwas durch den Raum ihrer Furcht und Nervosität fortbewegt. Und Jack Eichord hielt alles an. Aber bedauerlicherweise musste er atmen, und so setzte er die Zeit wieder in Bewegung und es ging weiter und er sah den verdammten Hahn herunterfallen. Kurze Distanz. So nahe und persönlich, wie es nur geht, und wie das Sprichwort sagt, wat mutt, dat mutt. Es ist niemals ein Schaun-mer-mal. Und du sieht das Ziel genau,
unverkennbar über die Kimme hinweg, aber die Sache ist die - Scheiße, du hast nicht gesehen, dass er die kleine Russo hat. Sie so dicht an sich hält. Aber wozu das Zaudern? Welcher abgehärtete, durchtrainierte Supermacho-Polizist hätte auf so eine Entfernung jemals danebenschießen können? Richtig? Richtig! F A L S C H , Bourbonschnauze. Und jetzt war eine Frau, an der ihm an sich nichts lag, war diese Fremde von seiner Treffsicherheit abhängig, von seinem kalten Kopf, den er sich unter Druck bewahren musste, und das war der erstarrte Herzschlag stillstehender Zeit, den er immer und immer wieder erlebte, wobei der nach jedem Zurückspulen von Neuem errötete. Man geht so vor, dass man die Oberkante des I, die Kimme, in das U bringt. Und wenn das I das U ganz ausfüllt und man das Ziel exakt im Visier hat, dann starrt man ein Loch in sein Ziel und drückt ab. Man will sich dabei nicht bewegen, und was man garantiert NIEMALS will ist, dass man blinzelt oder ein Auge zukneift wie die im Fernsehen. Und tausend Schachteln Polizeimunition, SELBSTGE180 KAUFTE MUNITION, KUMPEL, nein, die stellen dir diese Kugeln nicht zur Verfügung, du musst jedes einzelne dieser teuren Babys selbst KAUFEN, die du da draußen auf dem Schießstand verballerst, und jede dieser fünfzigtausend Patronen oder welche astronomische Zahl er auch über die Jahre durch den Lauf der Smith gepustet hat, sie sind samt und sonders und ausnahmslos für den Arsch, weil er blinzelte oder ein Zucken ihm das linke Auge zukniff, Herrgott, lass dir irgendeine lahme Ausrede einfallen, jedenfalls schießt er daneben, ER SCHIESST DANEBEN und es war der Knall einer Red Ryder Daisy B-B-Waffe und Spain knickte ein und brach ihr fast das Genick, als er seinen menschlichen Schutzschild hinter die schmutzigen Sitze zerrte und auf seinen Zünder zukroch, während er Eichord zubrüllte: »DU BIST TOT DU ELENDER DUMMER SCHEISSER DU BIST EIN TOTER MANN UND JETZT KANNST DU MIT ANSEHEN WIE DIESE ITACKERFOTZE AUCH STIRBT«, und mehr, an das sich Jack später wirklich nicht mehr erinnern konnte. Er erinnerte sich nur an seinen Atem und den Knall des Schusses als Spain über die Sitzlehne auf ihn schoss und mein Gott es war das comichafte WUMM PENG KRRRKKKK auf das er gewartet hatte und es hörte sich an als wäre ein Mörser abgefeuert worden. Wenn man daneben schießt, hören sie sich vielleicht leise an, aber wenn jemand auf dich schießt, Jack, alter Kumpel, dann ist das, als würde Nagasaki in seinem Kopf hochgehen, und sein Atem ist so laut, so hyper, und er macht »haaaaaaaaaaaannnnnnngggggggh-hhhh, haaaaaaaaaaaaaaaaaaannnnnnnnnnnnnnngggghhhh« und presst sich flach auf den dreckigen kalten Steinboden, solche Angst hat er, und der grelle, schreckliche, böse Strahl, der mit dem lauten Knall einhergeht, bohrt sich neben ihm in Stahl und Polster und er konnte sich nicht entsinnen, dass er jemals solche Angst gehabt hätte und er wollte beten und wusste, dass er jetzt keine Zeit dafür hatte. Jetzt, jetzt, wo er die Zeit anhalten musste, da hielt sie nicht für ihn an, und der irre Hurensohn zerrte die 180 Russo weg und feuerte dabei einen weiteren Schuss auf Eichord ab und Jack wusste er musste etwas tun und oh-Gott-oh-Jesus-Christus er betete, dass er nicht erschossen werden würde. Er hatte Angst. Er wollte nicht sterben. Es war wie im Kampf. Man dachte nur ans Leben. Überleben. Scheiß auf alle anderen. Sei auf MEINER Seite, lieber
Gott. Nur wir beide, Okay? Und mit diesem Gedanken spielte der alte Mann dort droben Eichords Ass für ihn aus. Er richtete sich auf, während das kleine Mädchen auf der Leinwand wieder schrie, und die Lautstärke war hochgedreht, sodass es laut aus den uralten, spinnwebüberzogenen Lautsprechern hallte, und sie rettete Eichord und der jungen Russo das Leben, als Belmonte ihr das Metallding in die Augen stach und sie diesen grässlichen Schmerzensund Todesschrei ausstieß und nach ihrem Vater rief, »DADDDDIIIIIIIIIIIEE!«, und er aufblickte und nach dem Geräusch sah, den Peiniger seiner Tochter erblickte, der sie blendete und tötete, und dann ertönten nicht mehr die Schreie eines übergeschnappten Vaters, sondern eines gequälten Tiers an der äußersten Grenze seiner Belastbarkeit, und in diesem Moment der Erkenntnis und Qual, die einem den Verstand zerstören können, hebt Eichord die Waffe auf die altmodische Weise, hebt sie mit einer Hand, drückt ab und schaltet den Killer wohlüberlegt aus. Und der Schrei des Mannes und der Frau und möglicherweise Eichords, und die Echos des donnernden Schusses aus der Waffe verhallen allesamt, als der Film im Projektor zu Ende ist und die Leinwand - genau wie Jack Eichord - vollkommen leer wird. Und ein Mann, der einst Frank Spanhower hieß, liegt im Sterben. Eichord sieht, wie er die Lippen bewegt, hört ein Flüstern, vergewissert sich, dass der Killer keine Schusswaffe und kein Messer mehr hat und kniet nieder und fragt ihn: »Bitte. Wo sind die Bomben? Möchten Sie, dass unschuldige Menschen sterben müssen, so wie Ihre kleine Tochter? Haben Sie Bomben versteckt?« Und er beugt sich ganz dicht hin und hört ein geflüstertes Stam 181 mein: »M-m-m-m-ma-ma-ma —«, während das Leben endgültig entweicht. Es hätte alles Mögliche heißen können. Mary Pat. Mama. Meinen Glückwunsch. Und Eichord nahm die Frau und legte den Arm um sie und ging zurück zur Straße und der realen Welt. Er konnte nicht auf die obligatorischen zwei Bier und die Kameradschaft in die Bar gehen, und das sah ihm gar nicht ähnlich. Er wusste, er wagte es einfach nicht. Nicht heute Nacht. Er hatte Angst, wenn ihn jemand beglückwünschte, würde er den Betreffenden entweder aus den Schuhen hauen oder ein Wasserglas voll Jack Daniels runterkippen. Bis auf die ranken, schlanken, harten Polizisten der Special Division unterschied sich das Revier von St. Louis nicht von den anderen typischen Polizeirevieren im ganzen Land, die kollektiv nicht in Form waren. Neue und strengere körperliche Anforderungen könnten bedeuten, dass eine ganze Menge guter Polizisten den neuen Maßstäben nicht mehr genügten. Aber vermutlich war es zum Besten. Weniger Herzinfarkte wären eine offensichtliche positive Folgeerscheinung. Eichord wurde viel zu alt für diese Scheiße. Er ging nach Hause und setzte sich auf die Bettkante. Stand auf und schaltete den Fernseher ein. Setzte sich. Stand auf und schaltete ihn wieder aus. Legte sich hin und zog die Decke über den Kopf. So blieb er bis gegen zwei Uhr morgens liegen, als er schweißnass und vor Angst schlotternd erwachte. Ein paar Minuten verzehrte ihn Paranoia, fühlte er sich vollkommen desorientiert und verspürte die schreckliche, nagende Angst, dass die ganze Nacht nur ein schlimmer Alptraum gewesen war und der Mann namens Spain irgendwo in der Nacht dort draußen auf ihn lauerte. Er schaltete wie ein kleines Kind alle Lichter ein, machte sich einen starken Kaffee und rief Rita an.
»Tut mir leid, dass ich um diese Zeit anrufe. Ich muss dich sehen.« Sie sagte ihm dass er rüberkommen könnte, und er ging 182 halb angezogen zur Tür hinaus. Als er bei ihr ankam, war er nicht mehr ganz so paranoid, aber immer noch ein wenig mitgenommen. Sie hatte es in den Nachrichten gehört, stellte ihm aber keine übertriebenen Fragen danach, wofür er ihr dankbar war, und er schlüpfte zu seiner verschlafenen Herzensdame ins Bett, wo sie sich ein paar Mal küssten. Rita gab ihm herzliche, innige Küsse, auf die er nicht reagierte. Und er drückte sie fest an sich und flüsterte mit den Lippen an ihrem Ohr: »He, du.« »Selber he«, antwortete sie und ließ sich von ihm drücken. »Nur heute Nacht - ich, äh, lass mich dich einfach nur halten.« »Okay. Kuscheln wir nur.« Gesagt, getan, bis er schließlich so mit ihr einschlief, sie in seinen Armen, sein Gesicht an ihrem seidenweichen Haar. Kurz vor Einbruch der Dämmerung wachte er wieder auf, da lag sie immer noch in seinen Armen. »He, du«, flüsterte er. Und Rita antwortete mit einer sehr leisen, verschlafenen Stimme: »Selber he.« »Bist du wach?« fragte er sie. »Ja, ich denke schon«, antwortete sie. »Und du?« »Ja.« Sie entknuddelten sich einen Moment, Eichord versuchte, wieder etwas Gefühl in seine Arme zu reiben, und dann küssten sie sich wieder, diesmal inniger, bis er schließlich zu ihr sagte: »Ich will Romantik, und zwar jetzt gleich«, und sie verstand. Und es war angenehm und überraschend und zärtlich und inniglich, aber Sie wissen ja, wie das ist. Selbst wenn es schlecht ist, ist es sagenhaft.