Lois Tilton
Babylon 5
Im Kreuzfeuer
Roman
scanned by Jamison corrected by Jez
1 Die Beobachtungskuppel von Babylon...
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Lois Tilton
Babylon 5
Im Kreuzfeuer
Roman
scanned by Jamison corrected by Jez
1 Die Beobachtungskuppel von Babylon 5. Wenn nicht viel los war, keine Schiffe die Station verließen oder anflogen, konnte man durch die gewölbten Fenster die Sterne vor dem schwarzen Hintergrund des Alls glänzen sehen. In solchen Momenten erahnte man die Unendlichkeit des Universums und besann sich auf den Platz der Menschen in der Riege der intelligenten Lebewesen. Aber so friedfertige Gedanken waren in der Kuppel nur selten möglich. Schließlich war sie die Kommandozentrale von Babylon 5, und Commander Susan Ivanova beschäftigte sich intensiver mit dem Bildschirm ihres Computers als mit dem Anblick der Sterne. Die Oberfläche ihres Kontrollpults war schwarz, schwarz wie der Weltraum, aber die Anzeigen blinkten und wechselten beständig die Farbe, während Informationen und Daten darüberhuschten. Auf dem Hauptschirm zeigten Symbole die Schiffe in Warteposition an, Schiffe, die abflogen oder sich den Andockvorrichtungen
näherten. Eines darunter war besonders gekennzeichnet: ein beschädigter Frachter, dessen zerstörte Stabilisatoren ein sehenswertes Anflugmanöver vorausahnen ließen. Ivanova hatte ihre Hände auf dem Rücken verschränkt und betrachtete die vorgezeichnete Landeschneise des Frachters auf dem Schirm. Die Farben der Anzeige tanzten auf ihrem Gesicht. Ihre Haut war von dem eng zusammengebundenen Pferdeschwanz gespannt. Selbstsicher gab sie ihren Befehl: »CentauriTransporter Gonfalion, hier ist Babylon Control. Ihr Einflugwinkel ist instabil. Ich fordere Sie auf, Ihre Triebwerke abzustellen. Wir werden Sie reinschleppen. Versuchen Sie nicht, ich wiederhole, versuchen Sie nicht, aus eigener Kraft anzudocken. Haben Sie mich verstanden, Gonfalion?« Das Gesicht des fremden Piloten auf dem Kommunikationsschirm sah nicht gerade erfreut aus. Für ihn bedeutete das Schleppmanöver zusätzliche Landegebühren. Aber das Bußgeld für eine Weigerung würde noch höher ausfallen. »Verstanden, Babylon Control. Ich stelle jetzt die Triebwerke ab.« Die Technikerin an den Scannern prüfte ihre Instrumente. »Sie stoppen ihre Maschinen, Commander.« Ivanova nickte. Ohne den Blick von ihrem Bildschirm zu lösen, befahl sie: »Schicken Sie ein paar Shuttles rüber, die das Schiff zum Frachtdock
acht schleppen. Halten Sie alle anfliegenden Schiffe von dieser Einflugschneise fern. Die werden viel Platz benötigen.« Es war ein kniffliges und kompliziertes Manöver, einen interstellaren Frachter dieser Größe mit Greifern zu packen und durch die knapp bemessene Landeschleuse der Station zu navigieren. Ivanova würde den Vorgang von der Konsole aus überwachen, damit nichts schief ging. Sie vertraute zwar den Piloten, aber in dieser Situation gab es nur ein wünschenswertes Ergebnis und jede Menge Möglichkeiten für eine Katastrophe. Angesichts dieser Tatsache wollte sie sich nicht allein auf ihr Glück verlassen. Das ist die Russin in mir, wie sie stets sagte. Andere, kleinere Probleme zogen ihre Aufmerksamkeit auf sich: der Kommunikationsschirm auf ihrer Anzeige meldete drei weitere Nachrichteneingänge. Ivanova hatte eine ziemlich genaue Vorstellung, worum es dabei ging. In den Korridoren außerhalb der Zentrale trieb sich eine kleine Meute von Schiffsspediteuren, Versicherungsagenten und hoffnungsvollen Rettungsunternehmern herum, die mehr über den Frachter und seine Ladung in Erfahrung bringen wollte. Aber die würden sich gedulden müssen, bis das Schiff sicher angedockt hatte. Sie hatte weder die Zeit noch die Absicht, sich jetzt mit diesen Leuten herumzuschlagen.
Auf dem Schirm näherten sich die Shuttles mittlerweile dem Frachter und fuhren ihre Greifarme aus. »Zentrale, ich hab' ihn«, meldete der Pilot von Shuttle A. »Gut gemacht«, lobte Ivanova. »Commander«, unterbrach die Kommunikationsabteilung das Gespräch, »noch ein weiterer Anruf. Dringend und persönlich.« »Wenn es persönlich ist, kann es warten«, beschied Ivanova sie kurz. Noch vor einigen Monaten hätte eine derartige Meldung in ihr sofort Sorge um ihren Vater ausgelöst, der sterbend in einem Hospital auf der Erde gelegen hatte, aber diese Phase ihres Lebens lag nunmehr hinter ihr. Mutter, Bruder, schließlich ihr Vater, sie alle waren tot. Es gab niemanden mehr, dessen persönliches Anliegen so dringend sein konnte, daß es ihren Dienst unterbrechen durfte. Mittlerweile hatten beide Shuttles den Frachter sicher in der Zange, und Ivanova konzentrierte sich wieder auf die Arbeit. »Okay, bringt ihn rein.« Es wurde noch einmal spannend, denn ein startendes Kampfschiff der Narn kam dem Frachter gefährlich nahe. Ivanova reagierte sofort: »Narn Kampfschiff 42, verringern Sie Ihre Geschwindigkeit, schwenken Sie in Ihre vorgesehene Route ein!« Das riskante Manöver war vermutlich Absicht gewesen. Die Narn und die Centauri lagen mit
Unterbrechungen seit hundert Jahren miteinander im Krieg. Die Feindseligkeiten schwelten unter der Oberfläche immer fort, selbst hier auf Babylon 5. Dabei war die Station der Versuch, den Frieden zwischen den intelligenten Völkern zu sichern. Mit den wieder aufgeflammten Konflikten der jüngsten Zeit schien dieses Vorhaben immer weltfremder und undurchführbarer, aber noch bestand das Gleichgewicht der Kräfte. Es war einfach ein Gebot des Selbsterhaltungstriebs, sich an die Verkehrsvorschriften einer Station zu halten, die so stark frequentiert wurde. Der Rest des Landeanfluges verlief reibungslos, sogar langweilig, und ab und an wanderten Ivanovas Gedanken zu jener persönlichen und dringenden Botschaft. Wer konnte sie geschickt haben? Was wollte man von ihr? Nachdem die Krise gemeistert war, übergab sie die Kontrolle des Flugbetriebs wieder an die diensthabenden Techniker. Sie zögerte, doch dann fragte sie den Computer nach dem Absender der Nachricht. »Der Name des Absenders ist J.D.« »J.D.?« wunderte sie sich. »Nur J.D.?« »Kein anderer Absender, keine weitere Identifikationskennung.« Da erinnerte sich Ivanova wieder. Ortega. J.D. Ortega. Aber was machte er hier auf Babylon5? Und was für eine dringende Angelegenheit wollte er mit ihr besprechen? Soweit sie sich zu erinnern
vermochte, war Ortega zum Mars zurückgekehrt und hatte damit eine vielversprechende Karriere bei der Earthforce sausen lassen, während sie schon vor ihrem dreißigsten Geburtstag zum Commander befördert worden war. Nun kehrte auch das Gesicht zurück: schwarzblaue Locken, ein warmherziges Lächeln. Zwischen ihnen hatte sich nie etwas abgespielt, aus einer Reihe von Gründen: J.D. war ihr Fluglehrer gewesen. Außerdem war er seiner Frau auf dem Mars absolut treu. Sie erinnerte sich, daß er stets ihr Bild bei sich getragen hatte. Wie war noch ihr Name gewesen? Constanzia? Ivanova hatte immer vermutet, daß er die Earthforce wegen Constanzia verlassen hatte. Man konnte sich ihn nur schwer in einer roten Grube in den marsianischen Minen vorstellen, wenn man ihn einmal im Cockpit eines Fighters erlebt hatte. Er hatte ihr alles beigebracht, was sie über das Fliegen wußte. Ja, sie konnte sich gut erinnern. »Nachricht abspielen«, wies sie den Computer an. »Nachricht wird abgespielt.« Das Gesicht, das jetzt auf dem Kommunikationsschirm erschien, war und war doch nicht das von J.D. Sein Vater, ein älterer Bruder? Dieses Gesicht sah älter aus, die Lachfalten hatten sich tiefer eingegraben, sie sahen überhaupt nicht mehr wie Lachfalten aus. Ivanova kämpfte den Drang nieder, ihr eigenes Gesicht in der spiegelnden
Konsole zu mustern. Haben wir uns so verändert? Wie lange ist es her? Zehn Jahre? Die Stimme war jedoch noch dieselbe. Die Nachricht war kurz und bündig: »Susan, ich bin in Schwierigkeiten. Man sagt, du bist auf der Station die Nummer zwei. Ich kenne niemanden sonst, der mir helfen könnte. Ich muß dir etwas berichten. Triff mich bitte im Bereitschaftsraum der Alpha-Staffel um 20:00.« »J.D.?« entfuhr es Ivanova, aber der Computer sagte nur: »Ende der Nachricht.« 20:00. Ivanova dachte nach. Zu dem Zeitpunkt würde sie außer Dienst sein. Natürlich würde sie sich mit J.D. treffen. Aber in was für Schwierigkeiten steckte er? Warum schien er so beunruhigt, sogar ängstlich? Was war los? »Computer, wie spät ist es?« »21:55.« Ivanova erhob sich, durchmaß den Raum, und setzte sich dann wieder hin. Der Bereitschaftsraum war verwaist, wie immer, wenn die Alpha-Staffel keinen Dienst hatte. Sie war nun schon seit fast zwei Stunden hier, sie hatte sich die Nachrichten auf dem Bildschirm angesehen, ein paar alte Zeitungen durchgeblättert, die auf dem Boden gelegen hatten, und sich schließlich mit einem kleinen Holo-Spiel abgelenkt, das sie unter einem Sitzkissen gefunden hatte. Bei diesem Spiel jagte man mit einem in den Raum projizierten Kampfflieger hinter den Minbari her. Das sollte eingezogen werden, dachte sie. Nun,
da endlich Friede zwischen den Menschen und den Minbari herrschte, sollte das Thema Krieg nicht ständig wieder aufgewärmt werden, besonders, da die Begegnung mit einem echten MinbariSchlachtschiff hier häufig genug vorkam. Trotzdem war das Spiel gar nicht so übel. Sie trug immer noch ihre Uniform, und ihr Haar war immer noch straff nach hinten gebunden, was zu den Kopfschmerzen beitrug, die sie über ihren Schläfen pochen fühlte. Fast zwei Stunden! Wo blieb J.D.? Ihre Sorge hatte sich unterdessen von »Warum kommt er nicht pünktlich?« über »Was dauert denn so lange?« bis zu »Was ist ihm zugestoßen?« gesteigert. »Computer, wie spät ist es jetzt?« »22:02.« Über zwei Stunden. Während der ganzen Zeit hatte niemand den Raum betreten. Nur eine weitere Person hatte sich sehen lassen: ein Mann orientalischer Herkunft, der aus dem Waschraum gekommen war, nachdem sie das Bereitschaftszimmer betreten hatte. Was also war mit J.D.? In seiner Nachricht hatte er von Schwierigkeiten gesprochen. Er schien Angst gehabt zu haben. Es war schwer zu glauben, daß jemand wie J.D. Feinde hatte, geschweige denn auf Babylon. Schließlich hatte er noch nie einen Fuß auf die Station gesetzt, bis ...
Ja, bis wann eigentlich? Wie lange war er jetzt bereits auf der Station? Warum hatte er sie nicht schon früher kontaktiert? »Computer, wann ist J.D. Ortega auf der Station angekommen?« »Die Registratur führt acht Individuen mit dem Namen Ortega; keine mit den Initialen J.D.« »Was? Das ist unmöglich!« Auf einem Tisch in der Ecke des Raumes stand eine Computerkonsole. Ivanova setzte sich und nahm die Stationslisten in Augenschein. Reihen von Namen flackerten über den Schirm. Es stimmte. J.D. Ortega war nicht darunter. Das war ein Fehler, ein ganz klarer Fehler. Wenn sich J.D. irgendwo auf der Station aufhielt, mußte sein Name im Register auftauchen. Sie rief seine Nachricht erneut auf und ermittelte ihren Ausgangspunkt. »Die Nachricht wurde um 13:08 in Sektor GRAU aufgenommen.« Er war also auf der Station. Es war Ortegas Gesicht, das sie vor sich sah. Und er sagte es erneut: »Ich bin in Schwierigkeiten.« Langsam machte sich Ivanova ernsthafte Sorgen darüber, in welchen Schwierigkeiten er stecken könnte. »Irgend etwas geht hier vor«, murmelte sie. Aber vielleicht war die Registratur ja auch der falsche Ausgangspunkt für ihre Suche. »Computer, durchsuche alle Datensätze nach dem Namen J.D. Ortega!«
Die Antwort war nicht das, was sie zu hören wünschte: »Die Datei ist geschützt.« Ivanova schnaubte. Sie gab das Paßwort ein, das sie als Mitglied des Kommandos auswies. »Paßwort akzeptiert. Sicherheitsfreigabe gültig. Zugriff auf Datei J.D. Ortega.« Wieder erkannte sie sein Gesicht auf dem Schirm, aber diesmal war es für alle Sicherheitskräfte der Earthforce gekennzeichnet: FLÜCHTLINGSALARM. STUFE ROT. ANKLAGE: HOCHVERRAT UND TERRORISMUS. J.D. Ortega ein Terrorist? Ein Teil von Ivanovas Weltbild geriet gefährlich ins Wanken. Nein, das konnte nicht sein, ausgeschlossen, ein Irrtum. Vielleicht ging es um einen anderen Mann. Aber das Gesicht auf dem Schirm war J.D.s Gesicht. Alarmiert, mit zitternden Händen, wählte sie ihre Privatverbindung an. »Garibaldi? Hier spricht Ivanova.« Erleichtert hörte sie die vertraute Stimme des Sicherheitschefs von Babylon 5. »Ivanova? Was gibt's?« »Ich weiß, Sie sind nicht im Dienst...« »Schlaf ist was für Memmen, und ich bin keine. Schießen Sie los.« Das war leichter gesagt als getan. Ivanova begann: »Ich bekam heute eine Nachricht von einem alten Freund. Mein Fluglehrer. Er bat mich um ein Treffen hier, im Bereitschaftsraum der Alpha
Staffel, um 20:00. Ich habe bis jetzt gewartet. Er ist nicht aufgetaucht.« Garibaldis Stimme klang belustigt: »Hat Sie sitzenlassen, wie? Sollen meine Leute Ihre Verabredung aufspüren?« Ivanova überging diese Bemerkung. Garibaldi war für seine schlechten Witze bekannt, doch sie war jetzt nicht in der Stimmung. »In seiner Nachricht erwähnte er Schwierigkeiten.« Sie zögerte. War das Verrat an J.D. ? »Als er nach zwei Stunden immer noch nicht aufgetaucht war, habe ich den Computer zu Rate gezogen. Zuerst konnte ich ihn in der Registratur nicht finden. Dann stieß ich auf eine Fahndung. Man sucht ihn wegen des Verdachts auf Terrorismus.« Garibaldis Stimme wurde sehr schnell ernst. »Der Name Ihres Freundes?« »J.D. Ortega.« Eine Pause. Dann ließ sich Garibaldis grimmige Stimme vernehmen: »Ich glaube, Sie sollten mich mal in der Sicherheitszentrale besuchen, Commander.« Er erwartete sie bereits. Wie immer saß er in seinem Drehsessel, der ihm Zugriff auf die Unmenge an Instrumenten und Bildschirmen gewährte, die die Hälfte seines Büros einnahmen. Garibaldis graue Earthforce-Uniform war wie gewöhnlich nicht so faltenfrei, wie es einem ehrgeizigen Offizier zukam. Er war schon zu lange dabei, um die Erscheinung für wichtiger zu erachten
als das Ergebnis. Ivanova hatte miterlebt, daß er meistens Ergebnisse lieferte. Der Hauptschirm zeigte eine Datei. Garibaldi wies sie darauf hin. »Ist das Ihr Freund?« fragte er. »Kommt er von der Mars-Kolonie?« Widerstrebend nickte sie. »Das ist J.D.« »Sieht so aus, als hätte sich Ihr Freund in die marsianische Politik eingemischt. Separatisten, >Freier Mars<. Earth Central hat die Fahndung vor zehn Tagen ausgeschrieben.« »Nein.« Sie schüttelte den Kopf über die überraschenden Erkenntnisse aus der Datei. »Nein, Garibaldi, das kann nicht sein. Nicht J.D. Sie kennen ihn nicht. Sie wissen nicht, wie er ist. Seine Familie und seine Frau bedeuten ihm alles. Er hat seine Karriere für sie aufgegeben, um bei ihnen auf dem Mars bleiben zu können. Er ist in die Minen gegangen. Er würde niemals...« Ivanovas Stimme verebbte, als sie weiterlas. »Haben Sie ihn in einer Zelle? Ist er in Gewahrsam?« Garibaldi schüttelte den Kopf. »Bis jetzt wußten wir nicht einmal, daß er auf Babylon 5 ist. Dies ist eine allgemeine Fahndung, die an alle Sicherheitschefs der Earthforce rausgegangen ist. Wie genau kennen Sie den Mann? Er war Ihr Fluglehrer, sagen Sie. Haben Sie ihn seitdem gesehen? Haben Sie ihn in letzter Zeit getroffen?« »Nein, nicht, seit er Earthforce verlassen hat. Das war noch vor meiner Stationierung auf Io. Dort habe
ich erstmals unter Captain Sheridan gedient.« Sie brach plötzlich ab. Ihre Miene änderte sich, als ihr aufging, daß das hier einem Verhör gleichkam. Sie fiel wieder in ihren dienstlichen Tonfall zurück: »Ich habe ihn seither nicht gesehen. Ein paarmal hat er sich gemeldet, Feiertagsgrüße und so. In den letzten Jahren auch das nicht mehr. Ich habe in den vergangenen Jahren überhaupt nicht mehr an ihn gedacht.« »Sie sollten mir lieber die Botschaft zeigen, die Sie heute von ihm bekommen haben«, sagte Garibaldi leise. Ivanova fühlte sich hin- und hergerissen. J.D. hatte sie um Hilfe gebeten. Aber sie hatte keine Wahl, nicht als Offizier der Earthforce. Außerdem war ihr klar, daß Garibaldi ihre Einwilligung gar nicht brauchte. Als Chef der Sicherheit hatte er Zugriff auf praktisch alle Daten. »Natürlich«, sagte sie rasch, um ihr Zögern zu überspielen. Dieses Mal kam ihr J.D.s Gesichtsausdruck gehetzt vor, wie der eines Mannes auf der Flucht. »Ich bin in Schwierigkeiten«, hörte sie ihn wieder sagen. Das ist eine ziemliche Untertreibung, dachte Ivanova. »Das ist er«, bestätigte sie erneut kopfschüttelnd. »Ich verstehe es nicht. Nicht J.D.« »Wir wissen immerhin«, sagte Garibaldi, »daß er es bis hierher geschafft hat und eine Nachricht abschicken konnte, ohne entdeckt zu werden. Das macht mir Sorgen. Wie konnte er an Bord der
Station gelangen, ohne Alarm auszulösen? Und wenn er dazu in der Lage war, was hat er noch anstellen können? Wir haben keine Ahnung, wie lange er sich schon auf der Station aufhält. Oder ob ihm jemand Unterschlupf gibt. Wenn wir hier einen Ableger der >Freier Mars<-Bewegung haben, bedeutet das allerdings Schwierigkeiten.« Ivanova wollte so schnell nicht aufgeben. »Aber wenn er wirklich ein Terrorist wäre, warum sollte er mich dann um Hilfe bitten? Er muß meinen Rang doch gekannt haben. Wenn er mit der Bewegung >Freier Mars< etwas zu tun hat, hätte er doch zu denen gehen können. Vielleicht sind die hinter ihm her. Er sagte doch, er wäre in Schwierigkeiten.« »Das wüßte ich auch gerne. Wir müssen ihn also verhören, sobald er sich wieder mit Ihnen in Verbindung setzt.« Sie stimmte zu, aber in ihrem Innern nagte weiterhin der Zweifel. Ortegas Gesicht flimmerte immer noch auf dem Schirm. J.D. ? In was für Schwierigkeiten steckst du? Was ist geschehen? Wo warst du heute abend?
2 Das Notsignal wurde auf allen Frequenzen ausgesandt. Sämtliche Schiffe im Epsilon-Sektor empfingen es, auch auf Babylon 5 war es zu hören. Auf dem Kommunikationsbildschirm in der Beobachtungskuppel war das vor Angstschweiß glänzende Gesicht des Piloten zu sehen. Fassungslos rief er: »Mayday! Mayday! Wir werden angegriffen. Schiffe der Raiders; sie kommen rasch näher! Wir brauchen Unterstützung! Hier spricht das Transportschiff Cassini, unsere Koordinaten sind Rot 470-13-16. Mayday! Mayday!« Captain John Sheridan stand an der Kommandokonsole. Er reagierte ohne Zögern: »Commander Ivanova, veranlassen Sie umgehend den Start des Alpha-Geschwaders! Raiders-Alarm, Koordinaten Rot 470-13-16! Das ist draußen beim sekundären Transitpunkt in Sektion 13.« Ivanova war bereits unterwegs zu den CobraBays, wo ihr Kampfflieger startbereit wartete. Inzwischen befaßte sich Sheridan in der Beobachtungskuppel mit dem bedrohten
Transportschiff. Die Hauptstreitmacht der Piraten war im vergangenen Jahr eliminiert worden. Aber es gab noch immer ein paar unabhängige Einheiten, die auf eigene Faust operierten. »Cassini, hier Babylon Control. Wir schicken ein Kampfgeschwader. Wurden Sie getroffen? Können Sie sie abwehren, bis wir bei Ihnen sind?« »Wir versuchen, zum Hyperraumsprungtor zurückzugelangen«, rief der verzweifelte Pilot. »Das ist unsere einzige Chance. Flucht ist nicht möglich. Es sind zu viele, und sie sind zu schnell. Ich weiß nicht, ob wir es schaffen. Die haben uns eingekreist. Als wir das Tor passiert hatten, fielen sie über uns her; als hätten sie nur auf uns gewartet. Es war ein Hinterhalt!« »Halten Sie durch, Cassini! Hilfe ist auf dem Weg.« Als Sheridan sich vom Bildschirm abwandte, war alle Zuversicht aus seinen Zügen gewichen. Er wußte nur zu gut, daß nicht viel Hoffnung bestand. Ivanova konnte das Schiff kaum noch rechtzeitig erreichen. Auch der Pilot des Transporters mußte das wissen. Nach Verlassen des Hyperraums hatte das Alpha-Geschwader noch drei weitere Flugstunden in Sektor Rot 13 vor sich, ehe es das bedrängte Schiff erreichte. Und das bei Höchstgeschwindigkeit. Die Schotten der Cobra-Bay standen weit offen, bereit für den Abflug. Die Kommandozentrale hatte die Schiffe bereits für den Alarmstart freigegeben. Rasch führte Ivanova ihren Sicherheits-Check durch.
»Alpha-Geschwader, bereit zum Abwurf.« Alle neun Schiffe signalisierten ihr Okay. »Bereithalten zum Abwurf! Auf mein Zeichen, Alpha-Geschwader. Drei, Zwo, Eins, und Abwurf!« Die Abwurfzange schwang nach unten, und Ivanovas F 23 Starfury stürzte hinab in den Weltraum. Die anfangs gekrümmte Flugbahn, verursacht durch die Rotation der Raumstation, wurde jäh unterbrochen, als Ivanova die Schubtriebwerke zündete und der Kampfflieger von Babylon 5 wegkatapultiert wurde. Nacheinander folgten die übrigen Einheiten des AlphaGeschwaders. Sie bildeten eine Formation und beschleunigten in Richtung Hyperraumsprungtor. Angestrengt umklammerten Ivanovas Hände das Steuer, als könnte sie das Fluggerät durch bloße Willenskraft vorantreiben. Der kritische Faktor in solchen Situationen war stets die Zeit: die Zeit, bis die Kampfflieger starten konnten, die Zeit, bis der Hyperraumübergang erreicht war. Bis zu ihrem Eintreffen bei dem attackierten Schiff würde noch eine halbe Ewigkeit vergehen. Über ihren Kommandohelm verfolgte sie den Funkverkehr zwischen Sheridan und dem Piloten der Cassini. Für ihn und seine Besatzung sah es nicht gut aus. Die Entfernung zu dem. Transportschiff war einfach zu groß, und die Schiffe der Raiders waren ihm dicht auf den Fersen. Wenn das Geschwader sein Ziel endlich erreichte, konnte es längst zu spät sein.
In letzter Zeit waren sie sehr häufig zu spät gekommen. Ärgerlich versuchte Ivanova, die Erinnerung an diese jüngsten Zwischenfälle zu verdrängen. Das Sprungtor, der permanente Hyperraumgenerator der Raumstation Babylon 5, lag direkt vor ihnen. »Hier Alpha-Führer. Bereithalten für Hyperraumsprung«, befahl Ivanova, als sie an der Spitze des Geschwaders auf das Zentrum des Tores zuflog. Als ihr Starfury-Gleiter das Sprungtor passierte, wurde eine gewaltige Energiewelle erzeugt, der Eingang zum Hyperraum tat sich auf. Das Schiff wurde von dem Strudel, in dem Raum, Zeit und Licht ineinanderflossen, erfaßt und aufgesogen. Als es das unvorstellbar schwarze Zentrum des Transitpunktes erreicht hatte, verschwand es, um sich in der dunkelroten Alptraumwelt des Hyperraums wiederzufinden. Schließlich öffnete sich in Sektion Rot 13 ein blauer Energietrichter und entließ das Schiff wieder in den Normalraum, Lichtjahre von Babylon 5 entfernt. Ein Schiff nach dem anderen folgte, bis sich das Geschwader hinter Commander Ivanova wieder zur Formation einte. »Hier Alpha-Führer. Sehen wir zu, daß wir diesen Transporter erreichen«, sagte sie. »Voraussichtliches Eintreffen an der zuletzt gemeldeten Position der Cassini in einhundertsechsundsechzig Minuten. Heizen Sie schon mal Ihre Waffen vor, damit wir gerüstet sind für die Raiders.«
Als sie versuchte, den Transporter über ihre Ankunft in Kenntnis zu setzen, erhielt sie keine Antwort. »Irgendwelche Signale von der Cassini?« »Negativ«, meldete Alpha zwei. Der Pilot, Gordon Mokena, war ihr Flügelmann und verantwortlich für Scans und Kommunikation. Verdammt, dachte sie, kein gutes Zeichen. Sie öffnete einen direkten Subraum-TachyonKanal zu Babylon 5. »Babylon Control. Hier spricht Commander Ivanova, Sektion 13. Keine Verbindung zur Cassini möglich. Haben Sie noch Kontakt? Erbitte Daten über aktuelle Position!« Sheridans Stimme antwortete: »Ivanova, unser Kontakt zur Cassini riß ab, als Sie das Sprungtor passierten. Ihre letzte bekannte Position war 470-1318. Sie wollten zurück zum Sprungtor.« Mit bitterer Miene änderte Ivanova den Kurs, als bestünde noch immer eine reelle Chance, daß die Cassini überlebt hatte. Ein Zurück konnte es jetzt ohnehin nicht mehr geben. Man mußte alles versuchen, wie schlecht die Chancen auch standen. Vielleicht war irgendein zufällig eintreffendes Schiff in der Lage, die Raiders zu verfolgen. Vielleicht konnte man noch überlebende Schiffbrüchige aufnehmen. Und wenn das nicht möglich sein sollte, so konnte man vielleicht Vergeltung üben. Vielleicht gelang es ihnen, wenigstens ein Schiff der Raiders aufzuspüren. Ivanova stellte sich vor, wie es sich nach einem kurzen Aufglühen in Rauch auflöste,
nachdem der entzündete Treibstoff die Tanks zerfetzt haben würde. Aber Rache war allein Gott vorbehalten. Jedenfalls hatte man sie das als Kind gelehrt. Ivanova jedoch war das einerlei. Sie wollte die Raiders vernichten. Es gab Zeiten, da schien es ausgeschlossen, ihrer jemals ganz Herr zu werden. Hatte man einen ihrer Stützpunkte zerstört, machte man in einem anderen Raumsektor schon einen neuen aus. Je stärker sich der Handel zwischen den Sternen entwickelte, desto mehr blühte auch die Piraterie. Den Schwarzmarkt zu beliefern wurde immer lohnender. Menschen und Außerirdische, dachte Ivanova wütend, in ihrer Habgier unterscheiden sie sich kaum voneinander. Die Raiders waren berüchtigt für ihre Blitzangriffe. Dabei plünderten sie alles Brauchbare aus den geenterten Transportschiffen, töteten die Besatzung und überließen ihre Opfer der kalten Leere des Weltraums. Zuerst waren sie einfache Freibeuter gewesen, die sich in der Nähe der Verkehrsrouten herumtrieben und dann und wann Schiffe ausraubten. Seit der Vernichtung ihrer Hauptstreitmacht jedoch riskierten sie immer mehr. Sie überließen nichts mehr dem Zufall. Die verbliebenen Piratenkonsortien operierten nun von großen Mutterschiffen aus, die ihren eigenen Hyperraumübergang generieren konnten. Ihre Ziele wählten sie im voraus. Bestechung brachte sie in den Besitz aller Frachtlisten und Flugpläne, und es gab
praktisch keine Information, die nicht käuflich war. Nur der Preis mußte stimmen. Ivanova versuchte aufgebracht, an etwas anderes zu denken. Sie fragte den Computer nach der verbleibenden Flugzeit bis zur Cassini. »Voraussichtliches Eintreffen bei Koordinaten 470-13-18 in vierundzwanzig Minuten.« Nahe genug. Sie öffnete ihren Kommandokanal. »Alpha-Führer an alle. Langstrecken-Scanner aktivieren! Mal sehen, ob wir sie hier draußen finden.« Minute um Minute starrten sie auf ihre Monitore. Aber es tat sich nichts. Doch dann kam eine Meldung von Alpha zwei. »Ich empfange etwas. Sieht ganz nach den Raiders aus. Vier Schiffe ... nein, es sind fünf, vielleicht mehr!« »Nach meinen Werten befindet sich noch ein weiteres Schiff unter ihnen. Ziemlich groß. Könnte ein Transporter sein«, berichtete jetzt Alpha fünf. »Position?« Die Piloten der beiden Kampfflieger übermittelten Ivanova die Koordinaten sowie die übrigen Scanner-Daten. Sie deckten sich mit ihren eigenen Ergebnissen. Die Raiders befanden sich augenscheinlich auf dem Weg zum Hyperraumübergang von Sektion Rot 13. Demnach kamen sie nicht von einem Mutterschiff mit eigenem Hyperraumgenerator.
»Was ist mit der Cassini?« wollte Ivanova wissen. Doch von dem Schiff, das zu retten sie gekommen waren, fehlte noch immer jede Spur. Bei ihrer gegenwärtigen Beschleunigung würden die Raiders den Übergang in weniger als vierzehn Minuten erreichen. Sie waren zwar nicht mehr weit entfernt, aber der Transporter, den sie eskortierten, behinderte ihre Beweglichkeit erheblich. Die Starfury-Gleiter des Alpha-Geschwaders konnten es bei Maximalschub in zwölf Minuten schaffen. Aber was war mit der Cassini geschehen? Hatten die Raiders das Schiff gekapert und ins Schlepp genommen? Endlich eine Meldung von Alpha zwei: »Ich orte eine Masse von achthundertfünfzig Kilotonnen bei 470-13-18. Ich registriere nur Masse. Keine Beschleunigung, keine Lebenszeichen.« Die Cassini. Ivanova wußte es. Ihre schlimmsten Befürchtungen waren einmal mehr wahr geworden. Es war an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen. »Alpha zwei, sechs, zehn! Sehen Sie nach! Wenn es der Transporter ist, wissen Sie, was zu tun ist. Der Rest folgt mir in Formation. Wir werden diese Mistkerle beim Übergang abfangen und einäschern. Ende.« Die drei Flieger lösten sich aus der Formation, während die übrigen, wie befohlen, hinter Commander Ivanovas Düsenschweif auf Abfangkurs gingen. Sie mußten den Übergangspunkt unbedingt als erste erreichen. Wenn es ihnen gelang, die
Raiders samt Beute dort zu stellen, waren die Piraten nur mehr heiße Asche. Keiner von ihnen würde entkommen. Die Starfury-Gleiter waren schneller, und verstecken konnten sich die Raiders im leeren Raum auch nicht. Es ging allein um Triebwerke und Feuerkraft, und da war ihnen das Alpha-Geschwader eindeutig überlegen. So überlegen wie die Freibeuter dem Transportschiff Cassini, als sie es angegriffen hatten. Ivanova sprach mit fester, kalter Stimme, als sie ihre Kommandos gab. Ihre Befehle genügten den strengen Vorschriften, ihre Hände umfaßten das Steuer, ohne zu zittern. Aber ihr angespannter Gesichtsausdruck verriet, daß sie keinen der Raiders schonen würde, wenn er erst einmal in ihrem Zielkreuz auftauchte. Vorschriftsmäßig öffnete sie einen Breitbandkanal. »Earthforce-Commander Ivanova an mutmaßliche Raiders. Schalten Sie Ihre Triebwerke ab, oder Sie werden beschossen!« Keine Entgegnung. Das konnte alles oder nichts bedeuten. Die Piraten flogen nach wie vor in Richtung Hyperraumübergang. Wie eine Speerspitze raste die Formation des Alpha-Geschwaders auf sie zu. Die Plasmaphasen-Waffen der Schiffe waren aufgeladen, und sie kamen näher und näher. Aber ihre Ziele waren weder blind noch hilflos. Sobald die Raiders die auf sie hereinstürzenden Earthforce-Flieger entdeckt hatten, drehte ein halbes Dutzend ihrer kleinen, flugeiförmigen Schiffe ab,
um die Schar der Verfolger auf sich zu ziehen. Ivanova vermochte auf dem Monitor das Transportschiff zu erkennen. Die Raiders, die es eskortierten, beschleunigten für den Eintritt in den Hyperraum. Was auch immer der Transporter geladen hatte, es mußte von großem Wert sein, wenn die Raiders bereit waren, ein solches Risiko einzugehen. »Hier Alpha-Führer. Alpha drei, vier, neun und zwölf, Sie kümmern sich um die Rückendeckung! Die anderen bleiben bei mir! Wir werden die Cassini da rausholen. Sobald Sie in Reichweite sind, eröffnen Sie das Feuer!« Jetzt war es deutlich zu erkennen: Das größere Schiff war nicht die Cassini, sondern ein wendiger leichter Frachter. Genau richtig, um Diebesgut schnell zu verstauen und sich dann aus dem Staub zu machen. Ohne Zweifel war das Schiff auch bewaffnet. Ivanova kam flüchtig der Gedanke in den Sinn, daß die Raiders ihren Raubzug offenbar gut vorbereitet hatten, worauf immer sie es abgesehen haben mochten. Doch angesichts des bevorstehenden Gefechtes blieb zum Nachdenken keine Zeit. Wenn das erste Schiff der Raiders in Reichweite kam, mußte sie gewappnet sein. »Ziel erfassen! Feuer!« Hocherhitztes Plasma zischte aus ihren Geschützen und traf die Defensivbewaffnung des Frachters. Die Schiffe der Formation um sie herum eröffneten ebenfalls das Feuer. Das Alpha
Geschwader stürzte geschlossen auf die feindlichen Schiffe herab. Eines raste direkt auf sie zu, doch Ivanova sah es kommen. Sie feuerte und beobachtete befriedigt, wie sich die Gaspartikel der Explosion auf ihrem Schirm ausbreiteten. Ein weiteres RaidersSchiff wurde von ihr getroffen. Zuerst trudelte es wie ein Kreisel, dann zerplatzte es in seine Bestandteile. Ein wildes Gefühl der Genugtuung überkam sie dabei. Auf Ivanovas Kommandokanal redeten alle gleichzeitig. »Raider auf zehn Uhr.« »Hab' ihn.« »Ich habe ein Triebwerk verloren, Alpha-Führer. Ich kann nicht mehr mithalten.« Ivanovas taktischer Monitor zeigte etwa zwanzig Grad hinter ihrer Position die kleinere StarfuryFormation mit Alpha drei an der Spitze, die auf die Abwehr der Raiders zuhielt. Das Hauptkontingent des Geschwaders verfolgte die übrigen Feindschiffe und nahm sich eines nach dem anderen vor. Ivanova konzentrierte sich nur teilweise auf den Kampf. Zwar verfolgte sie die Vorgänge und paßte ihren Kurs an, vor allem aber galt ihre Aufmerksamkeit dem Frachter der Raiders. Seine Distanz zum Hyperraumübergang verringerte sich ständig, während sie langsam, aber unerbittlich aufholte. Das Frachtschiff war sehr gut gerüstet. Die Plasmasalven seiner Heckgeschütze waren Ivanovas StarfuryGleiter alles andere als angenehm. Als sie jedoch das
Feuer erwiderte, landete sie einen direkten Treffer. Eine der hinteren Frachtsektionen sowie ein Schubtriebwerk wurden zerfetzt. Der Rest der Raiders schien jetzt einzusehen, daß die Beute verlorenging und es an der Zeit war, sich selbst zu retten. Die ersten beiden Schiffe beschleunigten in Richtung Sprungtor und verschwanden im Hyperraum, lange Lichtschweife hinter sich lassend. Verflucht, dachte Ivanova, die sind außer Reichweite! Jetzt gerieten die verbliebenen Raiders in Panik. Sie brachen den Kampf ab und waren nur noch darauf bedacht, ebenfalls durch das Tor zu entkommen. Den schwerfälligen Frachter ließen sie zurück und gaben ihre Beute auf. Wieder fluchte Ivanova. Frustriert mußte sie zusehen, wie ein Schiff nach dem anderen das Sprungtor passierte. Das Alpha-Geschwader hielt noch immer auf den angeschlagenen, kampfunfähigen Frachter zu. Commander Ivanova öffnete erneut einen Kanal und forderte die Übergabe. Doch zu einer Antwort kam es nicht mehr. Zwei Schiffe aus der Nachhut der Raiders hatten gleichzeitig beschleunigt, um in das Sprungtor einzutreten. Die beiden Schiffe kollidierten und gingen in einem riesigen Feuerball auf. Ein drittes Raiders-Schiff konnte nicht rechtzeitig abdrehen und zerschellte an einem Außenarm des Sprungtores. »Hochziehen!« befahl Ivanova. Sie brach jetzt mit ihren Schiffen die Treibjagd ab. Sonst wären sie
von der gewaltigen Energiewelle, die aus dem beschädigten Generator des Tores ausbrach, atomisiert worden. Die Energieanzeige an Ivanovas Scanner schoß weit über die Skala hinaus. Entsetzt starrte sie auf den manövrierunfähigen Frachter; hilflos trieb das Schiff auf die Gefahrenzone zu. Ein Blitz, blau und weiß, so grell, daß sie trotz Schutzschirm die Augen schließen mußte, aus dem hochaufgeladenen Feld des Sprungtores, und das Schiff war verschwunden. Seufzend befahl Ivanova: »Hier Alpha-Führer. Alle Einheiten zurück in Formation! Schadensbericht!« Mokena aus Alpha zwei hatte mit ernster Stimme seinen Bericht durchgegeben. »Wir haben die Cassini gefunden, Commander. Die Besatzung ist tot. Man hat das Schiff zerstört und die Frachtsektion aufgebrochen, um an die Ladung zu kommen.« Ivanova konnte die Verwüstungen jetzt selbst in Augenschein nehmen: das gebrandschatzte, leblose Schiff und das riesig klaffende Loch im Laderaum. Fast ohne Fahrt trieb sie an dem Wrack vorüber. Nahe genug, um die Kohlenstoffspuren von den Salven der Raiders an der Außenhülle ausmachen zu können. Sie blickte direkt in das Innere des Cockpits und in den leeren Frachtraum. Was war Wertvolles an Bord gewesen? Warum waren so viele Menschen ermordet worden?
Es gab Augenblicke, da Ivanova sich nicht sicher war, ob die Raiders den Tod verdienten. Mitansehen zu müssen, wie der Frachter der Raiders hilflos seinem sicheren Untergang entgegentrieb, war ein solcher Augenblick gewesen. Doch der Anblick der zerstörten Cassini hob alle Zweifel wieder auf. Manche Dinge konnte man nur bekämpfen. Die anderen Schiffe hatten die sterblichen Überreste der Cassini-Crew bereits an Bord genommen, außerdem die Aufzeichnungen, das Logbuch und den Flugschreiber. Vielleicht vermochten sie damit ein paar Rätsel zu lösen, wenn sie wieder auf Babylon waren. Ivanova aktivierte ihren Kommandokanal: »Hier Alpha-Führer. Alle Einheiten zurück in Formation! Wir können nichts mehr tun. Wir fliegen nach Hause.«
3 Währenddessen begann auf der Station die Suche nach dem Flüchtigen. Keine leichte Aufgabe, wenn man bedachte, daß es auf Babylon 5 nahezu eine Viertelmillion empfindungsfähiger Individuen gab. Selbst wenn man die Methanatmer und alle NichtHumanoiden ausschloß, blieb immer noch eine stattliche Zahl von Wesen übrig. Die Sektionen der Station, wo Außerirdische lebten, mußten ebenfalls durchsucht werden. Es war denkbar, daß Ortega sich irgendwo dort versteckte; möglicherweise hatte er einen Schutzanzug angelegt. Aber dies alles war Routine für Michael Garibaldi. Niemand auf Babylon 5 wußte besser Bescheid über alle An- und Abreisen. Schließlich war er nicht zufällig der Sicherheitschef der Station. Sein Beruf bedeutete Garibaldi viel. Dies war wahrscheinlich seine allerletzte Chance, und er hatte beinahe alles aufgegeben, um sie beim Schopfe zu packen. Auch Lise hatte er aufgeben müssen - und damit jede Möglichkeit, jemals reinen Tisch mit ihr zu machen. Nun würde er nie herausfinden, ob es für
sie eine Zukunft gegeben hätte. Sie war jetzt verheiratet. Und er freute sich für sie. Lange Zeit hatte er einen Tiefschlag nach dem anderen einstecken müssen. Mindestens seit der Sache auf Europa. Mehr als einmal hatte er den Bogen überspannt. Dann hatte sich Jeff Sinclair seiner angenommen und ihm diesen Job verschafft: die Chance, Sicherheitschef auf einem der heikelsten Außenposten der Earth Alliance zu werden. Jetzt lagen die Dinge wieder anders. Jeff Sinclair war nicht länger Commander von Babylon 5. Er hatte den Posten des Botschafters bei den Minbari angetreten. Hinter seinem Schreibtisch saß jetzt Captain John Sheridan. Sheridan hatte Garibaldis Akte studiert, und er wollte den Mann dahinter genau kennenlernen. Es lag auf der Hand, daß er Garibaldi den Job nicht gegeben hätte. Angesichts solcher Tatsachen konnte es sich Garibaldi nicht leisten, diese Sache zu vermasseln. Der Fall Ortega war wichtig; ein Flüchtlingsalarm der höchsten Dringlichkeitsstufe. Earth Central war brennend an dem Burschen interessiert, und Garibaldi hatte deshalb seine gesamte Mannschaft auf ihn angesetzt. »Alle Mann die Ohren gespitzt! Das ist unser Mann: J.D. Ortega. Sie haben alle eine Kopie seiner Akte erhalten, richtig? Lesen Sie sie sorgfältig! Wie Sie sehen, ist er auf dem Mars wegen Terrorismus und Verschwörung zur Fahndung ausgeschrieben. Er hatte vermutlich etwas mit dem Aufstand im letzten
Jahr zu tun, mit diesen Separatisten, die sich >Freier Mars< nennen. Irgendwie muß es ihm gelungen sein, sich nach Babylon 5 abzusetzen, ohne von unseren Scannern registriert worden zu sein, was die Annahme nahelegt, daß er im Besitz einer gefälschten Identicard ist. Möglicherweise hat er Komplizen auf der Station. Verlassen Sie sich darauf, daß wir uns auch damit noch befassen werden. Aber zu diesem Zeitpunkt müssen wir nur Ortega aufspüren und in Gewahrsam nehmen. Das bedeutet, wir werden durch sämtliche Ventilationsschächte kriechen und hinter jeder Wandverkleidung nachsehen, falls es nötig ist. Gut, Sie alle kennen Ihre Aufgabe. Gibt es dazu Fragen?« Zu Garibaldis Erleichterung gab es keine. Da auch Commander Ivanova in diese Affäre verwickelt war, wollte er gewisse Punkte lieber nicht mit seiner Mannschaft erörtern. Aus Sicherheitsgründen hatte er überdies bestimmte Abschnitte der Akte zurückgehalten. Earth Central verlangte in dieser Angelegenheit absolute Diskretion. Sie waren also auf der Suche nach einem Flüchtigen. Als ihm die Kommandozentrale über sein Com-Link mitteilte, daß in einer der Kampffliegerwerften eine Leiche gefunden worden war, befahl Garibaldi einem seiner Leute, Fähnrich Torres, die Meldung zu überprüfen. Kurz darauf erreichte Chief Garibaldi eine Nachricht von Torres. Sie sagte: »Chief, wir haben ihn. Der Tote in der Werft ist Ortega.«
»Ortega? Tot? Sie meinen, er wurde ermordet?« »Sieht ganz danach aus, Chief.« Also sind wir keinen Schritt weiter, dachte Garibaldi. Zwar hatten sie Ortega gefunden, doch jetzt mußten sie seinen Mörder suchen. Und wie würde Ivanova reagieren, wenn sie erfuhr, daß ihr alter Freund tot war? Seine Antwort fiel vorschriftsmäßig aus: »In Ordnung, Torres. Hoffentlich haben Sie den Fundort abgeriegelt. Die Sperre bleibt auf jeden Fall bestehen. Niemand darf rein oder raus, und niemand sagt irgend etwas, bis ich bei Ihnen bin. Haben Sie denjenigen, der die Leiche gefunden hat? Gut. Wir müssen jeden verhören, der den Toten gesehen hat oder davon weiß, verstanden? Ich bin schon unterwegs. Und denken Sie daran: Lassen Sie außer mir und Dr. Franklin vom Med-Lab niemanden rein! Ich werde ihn selbst unterrichten.« Wegen der Dringlichkeit der Nachricht wurde Garibaldi sofort zum Chefarzt von Babylon 5 durchgestellt. »Doc, hier spricht Garibaldi. Ich brauche Sie, um eine Leiche zu untersuchen.« »Schauen Sie, Garibaldi, ich arbeite gerade an einem Experiment, ich schicke Ihnen ...« »Nein, ich brauche Sie. Es handelt sich um Sicherheitsbelange. Earth Central wünscht Diskretion, und Sie haben die höchste Sicherheitsstufe in der medizinischen Abteilung.« »Ein gewaltsamer Tod?«
»Wahrscheinlich. Aber um das genau sagen zu können, brauche ich Sie.« Franklin seufzte: »Na schön, Garibaldi, ich komme. Wo, sagten Sie, wurde die Leiche gefunden?« »Kampffliegerwerft eins.« Während er dies sagte, wurde ihm klar, daß es sich dabei um die Wartungswerft des Alpha-Geschwaders handelte. Sie versammelten sich um den Spind mit den Ersatzteilen, dem Fundort der Leiche: Franklin, Garibaldi und Popovic, Garibaldis bester Mann vom Erkennungsdienst. Franklin und Popovic scannten gerade die Leiche und nahmen Proben von dem Schrank und dem Fußboden drumherum. Garibaldi blieb abseits und überließ die makabre Arbeit den anderen. Er hatte das Gesicht des Toten gesehen. Lange genug, um sicher zu sein, daß der Mann wirklich J.D. Ortega war. Mehr brauchte er nicht zu wissen. Sie hatten einen Flüchtigen gesucht und einen Toten gefunden. Und ein neues Rätsel. Nein, sie waren keinen Schritt weiter. Garibaldi stellte eine Verbindung zur Kommandozentrale her. »Hier spricht Garibaldi. Die Suche nach J.D. Ortega ist hiermit beendet. Wir haben ihn.« Nun wandte er sich zum anderen Ende des Decks, wo Torres damit beschäftigt war, eine maulende Gruppe von Leuten am Verlassen des Raumes zu hindern. Er sah den Vorarbeiter der Werft; neben
ihm stand der Mechaniker, der die Leiche entdeckt hatte; außerdem eine Kampfpilotin, die nach ihrem defekten Fluggerät sehen wollte, als der tote Mann gefunden worden war. War das wirklich Zufall? Vielleicht war die Pilotin irgendwie in die Sache involviert. Vielleicht hatte sie vorgehabt, die Leiche fortzuschaffen, und die Geschichte um ihr Schiff war nur eine Ausrede. Garibaldi war fest entschlossen, es herauszufinden. Zuerst nahm er sich den Mechaniker vor, der alles andere als schweigsam war. »Bin heute ziemlich früh zur Arbeit, um diesen Kahn zu reparieren. Das obere Steuerbordtriebwerk machte Ärger.« Garibaldi musterte kurz die ungeduldige Pilotin. Sie gehörte dem Alpha-Geschwader an, der Fliegerstaffel, die von Commander Ivanova befehligt wurde. Sie saß also fest, während der Rest ihres Teams draußen die Raiders jagte. Er fragte sich, ob dies für die Untersuchung irgendeine Bedeutung haben mochte. Der Mechaniker fuhr fort: »Ich will mir also meinen Lötkolben holen, da sehe ich, daß ihn wer anders benutzt hat. Die ganze Zufuhrleitung war verstopft. Ich hasse das, wenn irgendwer ohne zu fragen mein Werkzeug nimmt. Ich bin zum Ersatzteillager, um eine neue Zufuhrleitung zu holen. Und da seh' ich ihn.« »Den Toten.« »Ja-ah. Total steif liegt er da und starrt mich an. Ich rufe also Brunetti, der ruft die Sicherheit. Na ja,
und dann seid ihr Jungs auch schon hier aufgekreuzt.« Der Vorarbeiter bestätigte diesen Gang der Ereignisse. »Sonst war niemand da?« wollte Garibaldi wissen. »Nur sie.« Der Mechaniker schielte nach der Pilotin. »Sehen Sie«, begann diese, »ich kam hierher, um nach meinem Schiff zu sehen. Ich kam herein, und ich sah die beiden hier vor dem Schrank Maulaffen feilhalten. Als ich hinging, sah ich den nackten Kerl hier. Ich wollte nur nach meinem Schiff sehen.« »Schon gut, eins nach dem anderen. Ich würde gerne erfahren, ob dieser Mann einem von Ihnen bekannt vorkommt. Hat ihn irgend jemand schon mal gesehen?« Alle drei schüttelten einmütig die Köpfe. »Sind Sie da ganz sicher? Sie haben ihn nie zuvor gesehen? Möglicherweise während des Krieges? Auf der Erde oder dem Mars?« Alle drei waren sicher. »Der Mann scheint ein ganz und gar Fremder gewesen zu sein.« Er wandte sich wieder an den Mechaniker: »Haben Sie ihn genauso gefunden, wie er jetzt daliegt? Ohne Kleider?« »Ja. Nackt wie Adam.« »Und seine Kleider lagen nicht irgendwo hier auf dem Boden oder sonstwo? In einem anderen Spind zum Beispiel?«
»Keine Spur.« »Okay. Wann beginnen Sie gewöhnlich Ihre Arbeit? Waren Sie heute morgen zu spät dran oder vielleicht ein wenig zu früh? War jemand vor Ihnen da?« Garibaldi war nicht einmal annähernd mit seinen Fragen am Ende, als Dr. Franklin auf ihn zukam. »Ich habe alle Untersuchungen, die hier durchführbar sind, abgeschlossen. Für genaue Tests muß ich ihn ins Med-Lab schaffen lassen. Ich habe bereits eine Trage angefordert.« »Danke, Doktor, alles klar. Sie und Popovic kommen zurecht?« »Ja, und wir sind beide fertig. Sie brauchen diesen Raum nicht länger zu isolieren. Er wurde nicht hier getötet.« Die Pilotin sprang auf die Beine. »Das heißt, wir können endlich gehen, richtig?« Garibaldi hielt sie zurück. »Nicht ganz. Ich hätte da noch ein paar Fragen.« Als Garibaldi Ortegas Leichnam das nächste Mal sah, hatte er sich verändert. Als er gefunden wurde, war der Körper des Toten steif und auf groteske Weise verdreht gewesen, damit er in den Schrank hineinpaßte. Er hatte die Zähne gefletscht, und seine Augen waren blicklos starr gewesen. Als er nun zugedeckt auf dem Untersuchungstisch lag, sah es beinahe so aus, als schliefe er nur. Diesmal wandte sich Garibaldi nicht ab, als Dr. Franklin die Decke
wegzog. »Er sieht schon besser aus«, bemerkte er trocken. »Ich habe die Leichenstarre chemisch reduziert«, erklärte Franklin. »So läßt sich leichter eine Autopsie durchführen. Bisher wissen wir: Die Quetschungen und Abschürfungen sind postmortal. Wahrscheinlich verursacht, als er in den Schrank gestopft wurde. Das gilt aber nicht für diese Male hier. Es hat einen Kampf gegeben; er hat versucht, sie abzuschütteln.« »Dann war es definitiv ein gewaltsamer Tod?« »O ja.« Der Arzt deutete auf eine kleine, blasse Stelle in Ortegas Armbeuge. »Hier wurde das Gift injiziert.« »Aha. Was für ein Gift?« »Chloro-Quasi-Dianimidin. Direkt in die Blutbahn.« Garibaldi runzelte die Stirn. »Ich dachte, das sei wenige Minuten nach dem Ableben nicht mehr nachweisbar, weil es in der Blutbahn zerfällt. Oder verwechsele ich das mit etwas anderem, dessen Name genauso lang ist?« »Nein. Das wird allgemein angenommen. Aber glücklicherweise wurde aufgrund neuester Forschungen ein exakterer Test entwickelt. Dieser Umstand ist nur wenigen bekannt.« »Gott sei Dank, würde ich sagen.« »Da haben Sie recht. Der Tod dürfte übrigens gegen 20:00 gestern abend eingetreten sein.« Garibaldi kamen Ivanovas Worte in den Sinn, und wieder runzelte er die Stirn. »Sind Sie sicher?«
»Vielleicht plus-minus eine Stunde; auf keinen Fall mehr. Der Zerfall der Droge ist ein gutes Indiz, abgesehen von den anderen Dingen, zum Beispiel der Leichenstarre. Aber genauer läßt es sich beim besten Willen nicht sagen.« »Und Sie sind sicher, daß er erst nach seinem Tod in die Werft gebracht wurde, um die Leiche dort zu verstecken? Haben Sie eine Ahnung, wieviel Zeit dazwischen vergangen ist?« »Ich würde meinen, nicht mehr als ein paar Stunden.« »Und offensichtlich wurde er vorher entkleidet. Um ihn zu durchsuchen vermutlich.« Garibaldi dachte nach. Wonach könnten die Mörder gesucht haben? Franklin stellte die Frage laut: »Ich würde gerne wissen, ob sie fanden, wonach sie gesucht haben. Es muß etwas sehr Kleines gewesen sein, das leicht zu verstecken ist.« »Wie ein Datenkristall«, spekulierte Garibaldi. Da kam ihm eine Idee. »Könnte es ... nun ja, könnte es vielleicht in seinem Körper sein?« Franklin schüttelte den Kopf. »Kaum. Das hätte ich beim Scannen der Leiche bemerkt.« »Ich nehme an, die Mörder haben ihn auch gescannt.« »Das Equipment ist jedenfalls nicht schwer zu beschaffen«, entgegnete der Doktor, indem er den Leichnam wieder zudeckte. »Was geschieht jetzt mit ihm?«
»Warten Sie, bis ich Earth Central informiert habe. Vielleicht haben die besondere Anweisungen. Ich habe keine Ahnung, wie sie hierauf reagieren werden. Laut Befehl sollte ich ihn lebend fangen und zur Erde überführen.« »Also gut. Ich werde ihn konservieren.« »Ehe Sie ihn abtransportieren... Ich glaube, da gibt es eine Person, die ihn hundertprozentig identifizieren kann. Wir sollten warten, bis sie zurück ist.«
4 Commander Ivanova wollte eben den Konferenzraum verlassen, als sie Garibaldi draußen stehen sah. »Was gibt es, Garibaldi?« »Commander, mir ist bewußt, daß Sie gerade von einer anstrengenden Mission zurück sind, aber es gibt da etwas, das Sie sich ansehen sollten.« Ivanova schloß gereizt die Augen. Nach der langen Besprechung hatte sie sich auf ihr Bett gefreut. Im äußersten Fall hätte sie sich vorher noch zu einem Drink überreden lassen. Doch sie war sofort hellwach, als sie die nächsten Worte Garibaldis vernahm: »Wir haben Ihren Freund Ortega gefunden.« »Ortega? J.D.? Sie haben ihn festgenommen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich denke, das sollten Sie selbst sehen.« Da bemerkte Garibaldi Captain Sheridan, der hinter ihr in der Tür stand. »Vielleicht wollen Sie uns begleiten, Sir.« »Vielleicht sollte ich das«, seufzte Sheridan.
Erschöpft erreichte Ivanova mit den anderen das Med-Lab. Als sie den verdeckten Körper auf dem Untersuchungstisch sah, ließ sie keine Reaktion erkennen, wenngleich Dr. Franklins ernste Miene sie auf das Kommende hätte vorbereiten müssen. »Also gut.« Niemand wagte zu atmen, als der Arzt die Decke zur Seite schlug und das leblose Gesicht entblößte. »Commander, können Sie diesen Mann identifizieren?« Sie blinzelte. Irgend etwas war sonderbar. Beim ersten flüchtigen Augenschein waren dies die Züge jenes J.D. Ortega, den sie seit zehn Jahren gekannt hatte, nicht die des Mannes, der sich letzte Nacht mit ihr hatte treffen wollen. Die tiefen Linien der Ermattung wirkten weicher. Sie sahen wieder wie Lachfalten aus. Es schien ihr, als würde er im nächsten Moment seine Augen aufschlagen und sie in seiner unnachahmlichen Weise anlächeln. Doch da bemerkte sie die allzu offensichtlichen Merkmale des Todes, die verfärbte Haut, die erschlafften Muskeln. Abrupt wandte sie sich ab, dankbar, daß seine Augen geschlossen waren. »Ja, das ist Ortega. Was ist passiert? Wie ist er gestorben?« »Er wurde ermordet«, entgegnete Franklin, der die Leiche vorsichtig wieder bedeckte. Der Chefarzt nahm Todesfälle stets sehr ernst. Für ihn war der Tod, was die Raiders für Commander Ivanova waren.
»Wie wurde er ermordet?« Sie hatte unterdessen ihren entschlossenen Tonfall wiedergefunden. »Durch eine Giftinjektion. Der Tod dürfte schmerzlos gewesen sein. Allerdings hat er zuvor mit seinen Mördern gekämpft.« »Ich verstehe.« Die Art, wie alle sie ansahen, verriet ihr jedoch, daß da noch irgend etwas war. Garibaldi klärte sie auf. »Er wurde in einem Werkzeugschrank auf der Wartungswerft eins gefunden. Er wurde nach seinem Tod dort hingebracht.« Ivanova begriff sofort, worauf er hinauswollte. »Unsere Werft. Sie liegt nur eine Etage unter dem Alpha-Bereitschaftsraum, wo wir verabredet waren.« Garibaldi nickte. Aber das war noch nicht alles. »Der Doktor hier schätzt die Todeszeit auf ungefähr 20:00 gestern abend.« »Gestern abend 20:00.« Ivanova fröstelte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie im Bereitschaftsraum auf Ortega gewartet und sich gewundert, daß er nicht erschien. Da hatte man ihm ein tödliches Gift injiziert, und sie hatte die ganze Zeit auf einen Toten gewartet. »Wenigstens wissen wir jetzt, warum er nicht aufgetaucht ist«, meinte Garibaldi. »Die haben ihn erwischt, ehe er Sie treffen konnte.« Sheridan meldete sich zu Wort: »Commander, Sie sagen, Sie haben keine Ahnung, warum dieser Mann Sie sehen wollte?«
»Nein, Sir. Nach dem, was er mir gesagt hatte, nahm ich an, er brauchte meine Hilfe. Vielleicht hatte er Feinde auf der Station.« »Was offensichtlich der Fall war«, bemerkte Chief Garibaldi. »Sie wußten also nicht, daß er auf der Fahndungsliste stand?« »Nein, Sir. Ortega war ein alter Freund aus der Nachkriegszeit. Da er nicht erschienen war, befragte ich den Computer und erfuhr von der Fahndung. Ich habe unverzüglich Garibaldi informiert.« »Ich verstehe.« Der Captain schien nicht sehr glücklich über diese Angelegenheit, die ihm in den Schoß gefallen war. »Nun, nach Mr. Garibaldis Angaben sieht es so aus, als hätte er sowohl Freunde als auch Feinde auf Babylon 5 gehabt. Ich hoffe, sie alle mit Ihrer Unterstützung ausfindig zu machen.« »Selbstverständlich.« Commander Ivanova richtete sich zu einer noch strafferen Haltung auf. »Ich werde nichts unversucht lassen.« Sheridan nickte. »Aber ich denke, das alles betrifft im Augenblick eher die Sicherheitsabteilung. Warum legen Sie sich nicht ein wenig aufs Ohr, Commander? Oder gibt es noch etwas, Mr. Garibaldi?« »Nein, Sir«, erwiderte Garibaldi. »Vorerst nicht. Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen. Die Zeugen, die die Leiche gefunden haben, müssen noch verhört werden.«
Ivanova sah ihn an. »Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie etwas herausfinden!« »Natürlich.« »Mr. Garibaldi?« begann Captain Sheridan, als sie das Labor verlassen hatte. Ein Nerv in Garibaldis Gesicht regte sich. »Ja, Sir?« »Widersprechen Sie mir bitte, sagen Sie mir, daß die jüngste Entwicklung die Sache nicht noch verzwickter macht, als sie es ohnehin bereits war!« »Tut mir leid, Sir, aber das kann ich leider nicht. Alles, was wir zu tun hatten, war, Ortega zu schnappen und ihn der Earth Alliance zu übergeben; vielleicht noch herauszufinden, wie er unbemerkt auf die Station gelangen konnte. Nun sieht es so aus, als müßten wir nicht nur seine Mörder finden, sondern auch das, was er bei sich trug.« »Er trug etwas bei sich?« »Die Leiche war nackt, als man sie fand. Das deutet für mich darauf hin, daß er durchsucht wurde, und zwar sehr gründlich. Ja, ich denke, er trug etwas bei sich.« Sheridan seufzte. »Garibaldi, seit Sie mir den Fall gemeldet haben, habe ich die Akte studiert. Earth Central vermutet hinter dieser Geschichte anscheinend eine sehr heikle Sache. Ich verlasse mich darauf, daß Sie diesem Fall Ihre volle Aufmerksamkeit widmen. Haben Sie der Zentrale bereits einen Bericht über den Leichenfund geschickt?«
»Noch nicht, Sir. Ich wollte die Identifizierung des Toten durch Commander Ivanova abwarten.« »Das ist ja nun geschehen.« »Ich mache mich sofort an den Bericht, Sir.« »Und halten Sie mich auf dem Laufenden!« »Geht klar, Sir. Sobald wir etwas Neues wissen, gebe ich Ihnen Bescheid.« »Gut.« Sheridan wollte bereits das Labor verlassen, hielt aber noch einmal inne. »Mich würde wirklich interessieren, was er hier wollte. Warum dieses Treffen mit Ivanova?« »Ich hoffe, das erfahren wir, wenn wir wissen, wer für seinen Tod verantwortlich ist.« »Ja, das hoffe ich auch.« Auf dem Rückweg zur Werft begegnete Garibaldi einer der Personen, mit denen er reden wollte: Miss Talia Winters, lizenzierte Telepathin und die einzige Repräsentantin des Psi-Corps auf der Station. Obgleich sie kein Mitglied der Sicherheitsabteilung war, gehörte es zu ihren Aufgaben, in schwierigen Ermittlungen zu assistieren. Und in diesem Fall war Garibaldi froh über jede Unterstützung, die er bekommen konnte. »Oh, Miss Winters, sind Sie fertig mit den Zeugen? Haben sich alle scannen lassen?« Sie nickte ernst. Mit ihren Handschuhen strich sie über ihren langen Rock. In ihrer formellen, wenig attraktiven Kleidung wirkte sie stets ein wenig steif. Garibaldi hatte häufig bemerkt, daß der geistige Kontakt mit anderen Personen Telepathen nicht
sonderlich behagte. Es war beinahe, als schwebe eine Wolke aus Kummer über ihr. Das Psi-Corps machte Garibaldi immer ein wenig nervös. Die meisten Menschen, die er kannte, empfanden ähnlich. Jemand, der über die Vorgänge in jedermanns Kopf Bescheid wußte, war mit Vorsicht zu genießen ... Talia Winters' Tonfall war vollkommen sachlich. »Ja, alle haben zugestimmt, offenbar dachten sie, daß dies der einfachste Weg sei, das Verhör rasch zu beenden.« »Nun, ich bin froh, daß alle kooperiert haben. Was haben Sie herausgefunden?« »Nichts, fürchte ich. Keiner der Zeugen hat Ihnen etwas verheimlicht.« »Die Wahrheit also ...« »Ja, die Wahrheit«, bestätigte sie. »Die Pilotin kam wirklich nur in die Werft, um ihr Schiff zu begutachten. Sie nimmt es Ihnen äußerst übel, daß Sie sie zu den Verdächtigen zählen.« »Tut mir aufrichtig leid für die Dame«, entgegnete Garibaldi ungerührt. »Auch der Mechaniker, der die Leiche entdeckt hat, und sein Vorarbeiter haben Ihnen alles gesagt. Ich bedaure, aber mehr ist dazu nicht zu sagen.« »Auf jeden Fall danke ich Ihnen, Miss Winters. Jede noch so kleine Information kann nützlich sein, auch wenn sie anders als erwartet ausfällt.«
Ohne ihre distanzierte, unbefahrbare Haltung auch nur für einen Augenblick abzulegen, drehte sie sich um, um zu gehen. »Miss Winters?« »Ja, Mr. Garibaldi?« »Ich habe mich gefragt... also, mißverstehen Sie mich nicht, aber ist es möglich, einen Toten zu scannen?« Sichtlich schockiert wich sie zurück. »Nein. Und selbst wenn, würde ich so etwas niemals tun. Ganz unvorstellbar!« Er zuckte die Schultern und lächelte verlegen. »War nur so ein Gedanke. Nochmals vielen Dank, Miss Winters.« Die Tür schloß sich hinter ihr. »Verdammt«, fluchte Garibaldi.
5 Die Raiders waren überall. Wieder und wieder feuerte sie, doch es gelang ihr nicht, sie aufzuhalten. Sie war in der Falle. Sie hätte ihren Flügelmann decken müssen, er war in ernsten Schwierigkeiten. Sie hörte seine Stimme: »Commander Ivanova!« Sonderbar, die Stimme war nicht die Gordon Mokenas, sondern Garibaldis. Aber der war doch nicht ihr Flügelmann. Oder doch? »Commander Ivanova!« Gähnend versuchte sie, die Augen zu öffnen. Die Kommandozentrale? Nein, dort würde man nicht schon wieder nach ihr verlangen. Schließlich war sie gerade erst von einem Einsatz zurückgekehrt. Außerdem hatte sie dienstfrei und benötigte Schlaf. »Commander Ivanova!« »Ivanova hier«, murmelte sie schlaftrunken. »Commander, hier spricht Garibaldi. Sind Sie wach?« »Nein«, murrte sie widerstrebend, während sie wieder in ihr Kissen sank.
»Ich muß Sie leider wecken. Es gibt etwas, das Sie sich ansehen sollten.« »Garibaldi, falls Sie es nicht wissen: Ich komme gerade von einem Einsatz gegen ungefähr hundert Raiders-Schiffe. Ich habe mich eben hingelegt, und es ist mitten in der Nacht.« »Genaugenommen ist es 10:30.« »Nicht möglich.« Ivanova rappelte sich auf und öffnete die Augen. War es schon so spät? »Also, was ist los?« »Wir haben ein weiteres Beweisstück im OrtegaFall gefunden, und ich denke, daß Sie das was angeht.« »Ich komme sofort.« Ihr Leben beim Militär hatte sie gelehrt, wie man trotz Müdigkeit schnell in seine Uniform schlüpft, doch Garibaldis Nachricht hatte sie derart beunruhigt, daß sie längst hellwach war. Was für ein neues Beweisstück mochte das sein? Und was hatte sie damit zu tun? »Das ging aber flott«, begrüßte sie Chief Garibaldi, als sie den Konferenzraum betrat. Milde überrascht bemerkte sie die Anwesenheit von Captain Sheridan. Der Sicherheitschef griff in seine Beweisschachtel und holte ein kleines Stück Papier hervor, das in Folie eingeschweißt war. Behutsam nahm Ivanova das Papier entgegen. Ein Zettel, der offensichtlich zusammengefaltet gewesen, dann aber geöffnet und glattgestrichen worden war. Durch die Folie konnte man einige
Buchstaben entziffern: SI... hardw... r. Ivanova schüttelte den Kopf; das sagte ihr überhaupt nichts. »Sie haben das nie vorher gesehen? Und Sie wissen auch nicht, was es bedeutet?« fragte Garibaldi. »SI könnte für Susan Ivanova stehen. Aber mit dem Rest kann ich nichts anfangen. Wo haben Sie das her?« »Bereitschaftsraum. Wo Sie auf Ortega gewartet haben. Wir haben den Zettel gescannt und wissen daher sicher, daß er von Ortega kam. Zumindest hat er ihn in der Hand gehabt, wenn er nicht sogar den Text geschrieben hat.« »Im Bereitschaftsraum, sagen Sie?« In Ivanovas Stimme lag Mißtrauen. »Er hat mir eine Nachricht hinterlassen?« »Das Papier lag auf dem Fußboden vor dem Waschraum.« »Mir ist dort nichts aufge ... Sie meinen, es hat die ganze Zeit da gelegen? Während ich auf Ortega gewartet habe?« »Vermutlich hätten Sie es nie bemerkt. Meine Leute haben den Boden Zentimeter für Zentimeter abgesucht. Der Zettel lag unter einem der Tische. Sie wissen ja, wie Piloten sind. Sie werfen ihren Müll nicht immer in die Recycling-Anlage. Da lag noch eine Menge anderes Zeug auf dem Boden.« Sie mußte zugeben, daß er recht hatte. Wenn die Leute ihre Zeitung ausgelesen hatten, landete sie
zumeist achtlos auf dem Boden, zwischen anderen Papierhaufen. Garibaldi fuhr mit der Hand über seinen fliehenden Haaransatz. »Sagen Sie, Commander, kamen Sie pünktlich zu der Verabredung mit Ortega, oder ist es möglich, daß Sie fünf oder zehn Minuten zu spät dran waren?« Sie schloß die Augen, um sich zu erinnern. »Ich kam herein, der Raum war leer. Ortega war nicht da. Moment, da war dieser Typ...« »Was für ein Typ?« fiel ihr Garibaldi ins Wort. »Ich weiß nicht. Niemand, den ich kannte. Er kam aus dem Waschraum, und er hatte es ziemlich eilig. Er verließ den Raum.« »Glauben Sie, daß Sie ihn wiedererkennen würden?« »Keine Ahnung. Ich habe nicht auf ihn geachtet, nachdem ich sah, daß er nicht Ortega war.« »Na gut. Das prüfen wir später. Wie steht's mit der Uhrzeit?« »Daran erinnere ich mich. Es war... Ich kann es nicht mit absoluter Sicherheit sagen, aber ich kam etwa vier bis fünf Minuten zu spät. Nicht mehr. Ich habe den Computer nach der Uhrzeit gefragt. Das müßte im Logbuch festgehalten sein.« »Sie haben den Computer das erste Mal um 20:04 gefragt«, bestätigte der Chief. »Ja, unmittelbar nachdem ich reinkam. Ich erinnere mich wieder. Als er nicht erschien, prüfte ich die Zeit.«
Captain Sheridan ergriff jetzt das Wort: »Commander, diese Nachricht, wissen Sie, was sie bedeutet?« Ivanova las. noch einmal: SI... hardw ... r. Sie verneinte kopfschüttelnd. »Nein, Sir.« »Keine Idee?« bohrte Garibaldi. »Ich könnte mir vorstellen, es heißt hardware; militärische Hardware, Waffen und so...« Garibaldi nahm den Zettel und studierte den Text. »Oder es heißt hardwar, was immer das sein mag.« Er reichte ihn weiter an den Captain, der die Hand danach ausstreckte. »Das hier sieht mir eher wie ein i aus. Möglicherweise hardwire.« Garibaldi griff wieder nach dem Papier, um es abermals zu mustern. »Ja, Sie haben recht. Jetzt sehe ich es auch: Hardwire! Computer! Bedeutung dieses Begriffs!« Die mechanische Stimme antwortete: »Hardwire. Primäre Bedeutung: veralteter, primitiver elektronischer Computer; permanent in die physikalische Struktur eines Computers integrierte Anweisungen. Sekundäre Bedeutung: instinktives oder erblich bedingtes Verhalten. Tertiäre Bedeutung: zukunftsorientierte Literatur des späten 20. Jahrhunderts. Abgeleitete Bedeutung: Wetware, Cyberware. Sind zu einem Eintrag zusätzliche Informationen erwünscht?« Ivanova erschrak, als sie bemerkte, daß alle sie ansahen. »Tut mir leid.«
»Vielleicht hatte er nicht genug Zeit, seine Nachricht zu vollenden. Vielleicht wurde er gestört«, überlegte Chief Garibaldi. »Wenn der Text für Sie bestimmt war, müßte er Ihnen doch irgend etwas sagen.« »Nein. Tut mir leid«, wiederholte Ivanova gereizt. Hatte sie nicht längst alles gesagt? »War's das? Oder ist noch etwas?« »Nein, das war's fürs erste«, antwortete Garibaldi. »Nichts Definitives. Wir wissen noch immer nicht, wo Ortega ermordet wurde. Wir werden als erstes den Bereitschaftsraum checken, obwohl der eigentlich nicht in Frage kommt, wenn Sie ab 20:04 dort waren. Ich setze Sie davon in Kenntnis, wenn wir etwas haben.« »Danke.« Sheridan erhob sich. »Wissen Sie was, Commander? Da Sie einmal aufgestanden sind, werde ich Sie zum Frühstück einladen, ehe Ihr Dienst beginnt. Ich habe ein paar Neuigkeiten für Sie, die Ihnen besser gefallen werden als das hier.« »Eine ausgezeichnete Idee, Sir. Ich nehme dankend an.« Wie sich herausstellte, beinhaltete das Frühstück etwas überaus Seltenes und Begehrtes: echten Kaffee, Import von der Erde. Mit geschlossenen Augen hielt Ivanova die Tasse unter ihre Nase und sog den Duft ein. Als erstes nippte sie nur und trank dann in langen, kleinen Schlucken. »Oh, ist das wunderbar. Einzigartig. Wenn ich geahnt hätte, wie
schwer echter Kaffee zu bekommen ist, ich hätte mich wohl nie für diesen Job entschieden. Wie kann die Earthforce nur erwarten, daß irgend jemand morgens ohne Kaffee wach wird. Das ganze künstliche Zeug ist nichts dagegen.« »Ein Geschenk meines Vaters zu meinem letzten Geburtstag. Zwei Pfund, direkt von der Erde. Ich habe mich erinnert, wie sehr Sie Kaffee schätzen. Als wir damals nach dem Krieg vor Io stationiert waren, war er noch schwerer zu beschaffen.« »Ich erinnere mich.« »Na ja«, sagte Sheridan, während er seine geleerte Tasse absetzte, »auf jeden Fall habe ich die Informationen über die Cassini, um die Sie mich baten.« »Richtig. Die Fracht.« Nach der Konferenz und der Identifizierung der Leiche im Med-Lab war sie schlicht zu erschöpft gewesen, um selbst die Aufzeichnungen zu prüfen. »Ja, die Fracht. Was war so wertvoll, daß es sie alle das Leben kostete? Morbidium-Barren vom Raumhafen Mars.« »Morbidium? Das ist doch ein strategisches Metall. Der Handel damit unterliegt strengen Restriktionen.« Sheridan nickte. Morbidium war unentbehrlich für die Produktion von Plasmaphasen-Waffen; ein essentieller Bestandteil der Legierung, aus der ihre Hauptspulen bestanden. Die Herstellung war aufwendig und teuer. Die Earth Alliance hatte für
den Handel mit strategischen Metallen strenge Auflagen erlassen: Die Preise waren festgesetzt, jeglicher Verkauf an Unbefugte war untersagt. Die Nachfrage auf dem Schwarzmarkt war folglich beträchtlich. Schließlich gehörten Waffen sowie deren Bestandteile seit jeher zu den begehrtesten Handelsgütern. Und die hohen Profite ließen natürlich auch die Piraten auf den Plan treten. »Sie denken an eine undichte Stelle«, sagte Sheridan. »Jemand hat den Raiders die nötigen Hinweise gegeben.« »Genau das hat auch der Pilot der Cassini gesagt. Erinnern Sie sich: Er sprach von einem Hinterhalt. Sie wußten, wo und zu welchem Zeitpunkt sie den Transporter erwarten mußten, und sie wußten, woraus die Ladung bestand. Sie hatten sogar einen eigenen Transporter mitgebracht, um die gestohlene Fracht fortzuschaffen. Das alles mußte geplant werden.« Captain Sheridan teilte diese Auffassung. »Ich weiß. Wie gut die Sicherheitsvorkehrungen auch sein mögen, solange die Raiders für Informationen bezahlen, werden sie sie auch bekommen. Bieten Sie einer Sekretärin fünftausend Credits, und Sie kriegen jede Information, die Sie brauchen. Und je lohnender die Beute, desto mehr können die Raiders in Bestechung investieren.« »Die Raiders scheinen in festen Zyklen aufzutauchen. Ihre Bewaffnung konnten wir im vergangenen Jahr weitgehend eliminieren. Jetzt sind
sie offenbar wieder da. Es gab einfach zu viele Zwischenfälle in den letzten Monaten. Irgend etwas muß dahinterstecken: eine neue Bande von Raiders, ein neuer Informant. Es hat etwas zu bedeuten, wenn ich nur wüßte, was...« »Sie wollen der Sache auf den Grund gehen?« »Nur um zu sehen, was ich finde. Da das Hyperraumsprungtor in Sektion 13 beschädigt wurde, müssen einige der Routen umgeleitet werden. Vielleicht wird dadurch irgendein Muster sichtbar. Am besten wäre es, wenn die Earthforce regelmäßig Patrouillenflüge bei sämtlichen Hyperraumübergängen und Standardrouten fliegen würde.« »Angesichts der aktuellen politischen Lage auf der Erde können wir uns glücklich schätzen, wenn uns die Mittel nicht ganz gestrichen werden. Der Weltraum steht im Budgetplan der neuen Verwaltung leider nicht sehr weit oben. Ich würde an Ihrer Stelle nicht mit mehr Patrouillen rechnen.« »Ich weiß«, sagte Ivanova bitter. »Obwohl Schutzmaßnahmen für Transporte von strategischem Metall eigentlich in ihrem Interesse sein sollten. Wenn noch mehr Schiffe verlorengehen oder sich die Speditionsfirmen beklagen, wird vielleicht endlich etwas unternommen.« »Nun, viel Erfolg, Commander. Ich freue mich darauf, Ihren Bericht zu lesen, wenn Sie etwas gefunden haben.«
»Danke, Sir. Auch für den Kaffee.« Ivanova stand auf. In wenigen Minuten mußte sie bereits wieder ihren Dienst antreten. »Commander? Was diesen ermordeten mutmaßlichen Terroristen angeht: Ich weiß, es ist schlimm, wenn man bemerkt, wie sich alte Freunde verändern.« Mit einem Seufzen ließ sie sich noch einmal auf ihren Platz sinken. »Ich kann es noch immer kaum glauben. J.D. Ortega könnte aus Versehen in etwas geraten sein. Ehe die Leiche gefunden wurde, habe ich die ganze Zeit nach einer Erklärung gesucht. Ich dachte, wenn wir ihn finden, wenn wir der Sache nachgehen, würden wir am Ende feststellen, daß alles nur ein Irrtum war. Eine Verwechslung... Doch nun, ich weiß es nicht. Er wurde ermordet.« »Nun, ich hoffe, alles klärt sich rasch auf, wenn Garibaldi den Mörder hat.« »Das hoffe ich auch.« Als Ivanova die Beobachtungskuppel betrat, herrschte dort bereits rege Geschäftigkeit. Wegen des defekten Transitpunktes in Sektion Rot 13 mußten zahlreiche abflugbereite Schiffe umgeleitet werden. Bis das beschädigte Sprungtor repariert war, mußten alle Flugpläne geändert werden. Andernfalls bestand das Risiko, daß zwei Schiffe zum selben Zeitpunkt denselben Raum einnahmen, und das in einem Sektor, der drei Hyperraumsprünge entfernt lag.
Commander Ivanova registrierte ein paar neugierige Blicke, als sie die Kuppel betrat. Worüber sie wohl nachdenken mochten, fragte sie sich. Über ihren Kampf mit den Raiders? Über den Mord an Ortega? Offiziell durfte niemand über den Mord Bescheid wissen, und sie selbst verspürte nicht die geringste Lust, darüber zu sprechen. Zum Glück gehörten die Techniker zum erfahrenen Militärpersonal; sie wußten daher, daß man im Dienst besser keine persönlichen Fragen stellte. Lieutenant Nomura begrüßte sie knapp: »Schön, daß Sie noch in einem Stück sind, Commander.« Ivanova löste ihn an der Kontrollkonsole ab. Zu mehr schien er nicht bereit. Nicht einmal zu einer Gratulation zu ihrem Sieg über die Raiders. Sie waren beide lange genug in ihrem Job, um zu wissen, daß Ivanova keinen wirklichen Sieg errungen hatte. Soeben wurde die Entsorgung der Toten von der Cassini vorbereitet. Glückwünsche schienen da wenig passend. »Glücklicherweise sind wir alle heil zurückgekommen«, entgegnete sie ebenso beiläufig. Von nun an war jede Kommunikation dienstlich. Nomura informierte sie über die laufenden Vorgänge, und die Aussichten waren alles andere als rosig. »Jeder Pilot oder Eigner, dessen Abflug sich auch nur um fünf Minuten verzögert, verlangt, jemanden mit Einfluß zu sprechen. Captain Sheridan, Earth Central...«
»Damit werde ich fertig«, bemerkte Commander Ivanova. »Viel Glück.« Nomura übergab ihr die Konsole und überließ ihr damit alle Probleme. Er hatte sich lange genug damit herumschlagen müssen. Ivanova fand rasch heraus, daß ihr heute garantiert keine Zeit bleiben würde, ihre Spekulationen über die jüngsten RaidersAktivitäten zu überprüfen. Nicht bei der Flut von Anfragen, Beschwerden und Forderungen, verursacht durch die Umstellungen. Nomura hatte nicht übertrieben. Zeitpläne, abgelaufene Fristen, verderbliche Ware, Zeitklauseln in Lieferverträgen ... jeder schien anzunehmen, daß die Flugplanänderungen eine Verschwörung waren, allein angezettelt, ihn zu ruinieren. Und jeder war überzeugt, daß sein Fall der dringendste war. Ivanova war es bald leid, sich ständig zu wiederholen. »Ich glaube, Sie verstehen mich nicht. Ich muß meinen Zeitplan einhalten.« Es dauerte gar nicht lange, und sie mußte sich beherrschen, um nicht loszuschreien: »Ich glaube, Sie verstehen mich nicht. Jemand hat vielleicht schon Ihren Flugplan an die Raiders verraten. Durch die Verspätung bleibt Ihnen Ihre wertvolle Fracht vielleicht erst erhalten!« In Wirklichkeit sagte sie jedoch: »Ich habe durchaus Verständnis für Ihren Zeitplan, Skipper. Ich verspreche Ihnen, mich persönlich darum zu kümmern. Ihr Abflug erhält die höchstmögliche Priorität. Natürlich im Rahmen der Bestimmungen
von Babylon 5.« Das hieß im Klartext: Die Piloten hatten gar keine andere Wahl, als sich ihren Weisungen zu beugen. Schlimmer noch als die Handelsschiffe waren die Diplomaten und ihr Gefolge. Der Pilot eines Kurierschiffes der Minbari war ein charakteristischer Vertreter: ein überheblicher alter Krieger, der ernsthaft die Auffassung vertrat, es würde auf der Stelle wieder Krieg ausbrechen, wenn die Übergabe seiner Depeschen um mehr als eine Stunde verschoben würde. Wenn man ihm nicht umgehend eine Startfreigabe gewährte, würde er ein Kriegsschiff anfordern mit dem Potential, einen Hyperraumübergang zu generieren. Commander Ivanova schlug ihm unzweideutig vor, genau das zu tun. Schließlich war ihr Zeitplan eng genug. Oder der Captain der Narn, der tatsächlich bezweifelte, daß das Sprungtor überhaupt ausgefallen war. »Ein Trick, eine Verschwörung unserer Feinde, um uns auf dieser Station zu binden. Ich verlange augenblickliche Startfreigabe!« Ivanova atmete tief durch. »Captain Ka'Hosh, ich war dabei, als das Tor beschädigt wurde. Ich kann dieses Faktum persönlich bestätigen. Wenn Sie also nicht damit einverstanden sind, daß Ihr Flug umgeleitet wird, müssen Sie leider warten, bis die Reparaturarbeiten abgeschlossen sind. Das wird voraussichtlich binnen achtunddreißig Erdstunden der Fall sein. Wenn es soweit ist, wird Ihnen die angemessene Priorität eingeräumt werden, Sie haben
mein Wort. Bis dahin sitzen Ihre Feinde, sollten sie sich auf der Station befinden, ebenfalls fest.« Das schien den Narn für den Augenblick zufriedenzustellen. Ivanova sah nach der Uhrzeit und unterdrückte ein Gähnen. Es war erst zweieinhalb Stunden her, daß sie zum Dienst erschienen war. Und sie ahnte, daß der Tag für sie noch lange nicht zu Ende sein würde.
6 Später, viel später, saß Commander Ivanova in ihrem Quartier am Terminal. »Computer! Ich benötige die Aufzeichnungen aller Überfälle der Raiders auf Frachter im Gebiet der Earth Alliance. Über einen Zeitraum von einem Jahr. Graphischer Anzeigemodus!« »Bitte warten!« »Nach Art der Fracht sortieren! Anzahl der Schiffe, die strategische Metalle geladen hatten!« Die erwünschte Information erschien auf dem Monitor. Strategische Metalle. Ein Volltreffer. Ivanova schloß für einen Moment die Augen; sie fühlte sich müde, ausgelaugt. Der Tag war grauenvoll gewesen. Der Ärger mit dem beschädigten Sprungtor; in zwei Tagen würde es repariert sein. Doch welche neuen Krisen würden sie dann erwarten? Nun, da sie dienstfrei hatte, war es an der Zeit, endlich zu entspannen. Doch die Sache mit den Raiders war den Tag über nicht aus ihren Gedanken gewichen. Sie wußte, sie würde keinen Schlaf
finden, wenn sie zuvor nicht wenigstens einen Anhaltspunkt finden würde. Sie blickte wieder auf den Bildschirm. »Diebstähle strategischer Metalle! Zeitraum: die vergangenen zehn Jahre. Vergleichsanalyse. Sortieren nach Lademenge und Anzahl der Überfälle!« Sie nickte, als das Bild wechselte. Ja. Seit etwa einem Jahr waren beide Zahlen rasant angestiegen. Galt das für sämtliche strategischen Metalle - oder nur für bestimmte? Die Cassini hatte Morbidium an Bord gehabt, wie sie sich besann. »Die Statistik der strategischen Metalle nach Typen sortieren!« Die Antwort, die auf dem Monitor erschien, sprang sie an. Die Tonnage geraubten Morbidiums war während der letzten sechzehn Monate dramatisch in die Höhe geschossen. Einhundertvierundachtzig Prozent allein im vergangenen Jahr. Es war kaum zu glauben. Vielleicht war einfach mehr von dem Metall verschifft worden. Aber die Zahlen zeigten, daß der Anstieg der verschifften Tonnage keinesfalls die Menge des gestohlenen Metalls zu erklären vermochte. Und das sollte niemandem bei Earth Central aufgefallen sein? Immerhin ging es um strategische Güter. Für Ivanova war Morbidium gleichbedeutend mit Rüstung, besonders mit den Energiespulen von Plasmaphasen-Waffen. Und seit dem Krieg zwischen Menschen und Minbari war der Handel
mit Rüstungsgütern eines der begehrtesten Geschäfte. Ivanova massierte mit den Fingerspitzen ihre Schläfen. »Computer! Ist es möglich, die Preisentwicklung für strategische Metalle auf dem Schwarzmarkt aufzuschlüsseln? Zeitraum: die letzten zwei Jahre!« Doch hier zeigte sich der Computer unkooperativ. »Diese Daten sind nicht verfügbar«, lautete die schlichte Entgegnung. »Mist«, brummte Commander Ivanova. Wahrscheinlich gab der Schwarzmarkt einfach keine regelmäßigen Finanzberichte heraus. Erst recht nicht für die Datenbanken der Earthforce. Sie nahm an, daß Garibaldi ihr helfen konnte. Er schien über Informanten aus der Unterwelt zu verfügen. Sie notierte, daß sie ihn später fragen wollte, morgen oder so. Möglicherweise wäre es hilfreich, das Problem von einer anderen Seite anzugehen. Woher, zum Beispiel, erhielten die Raiders ihre Informationen? Existierte ein gemeinsamer Faktor? Welcher Personenkreis hatte Zugang zu diesen Daten? »Computer! Alle Überfälle der Raiders im letzten Jahr auf Schiffe, die strategische Metalle geladen hatten! Nach Spediteuren sortieren!« Angestrengt starrte sie auf den Schirm, doch kein Muster war zu erkennen. »Morbidium-Transporte markieren!« Sie schüttelte den Kopf. Noch immer kein Muster. Dann stellte sie enttäuscht fest, daß in
den Datenbanken der Station keine Informationen über die Frachteigner oder die Versicherungen der Ladungen gespeichert waren, mit Ausnahme der Transporte via Babylon 5. Schließlich verlangte sie: »Daten nach Frachtherkunft sortieren!« Da war es! Ein signifikanter Anstieg geraubter Fracht, die vom Raumhafen des Mars aus verschifft worden war, in den vergangenen sechzehn Monaten. Parallel dazu waren die Morbidium-Diebstähle angestiegen. Und die Cassini war ebenfalls vom Mars-Hafen ausgelaufen. Um sicherzugehen, befahl sie: »Überfälle auf Morbidium-Transporte markieren, die vom Mars kamen!« Ja, sie hatte die Lösung gefunden. Vom MarsRaumhafen wurde alle zwei bis drei Tage eine Ladung strategischer Metalle verschifft; zwanzig Prozent davon waren während der vergangenen sechzehn Monate den Raiders in die Hände gefallen. Da war sie, die undichte Stelle. Es gab keinen Zweifel. Irgend jemand auf dem Mars verkaufte den Raiders Informationen über Transportflüge, und die Ware, um die es dabei ging, war Morbidium. Es war unglaublich, daß bisher niemand darauf gestoßen war, aber möglicherweise war »unglaublich« nicht der angemessene Ausdruck. »Verdächtig« könnte das geeignetere Wort sein. Commander Ivanova lehnte sich zurück und streckte ihre Glieder. Nun, ein Anfang war gemacht. Und sie empfand Genugtuung darüber, daß es außer Plasmafeuer noch andere Wege gab, die Raiders zu
treffen. Ohne Informationen waren sie blind. »Man müßte nur diese undichte Stelle versiegeln«, überlegte sie laut. Der Computer, der stets alles wörtlich nahm, meldete sich zu Wort: »Es wird derzeit keine undichte Stelle angezeigt.« Ivanova schloß wieder die Augen. »Ende der Eingabe«, sagte sie. »Für heute bin ich fertig. Ich gehe schlafen. Keine Anrufe für mich durchstellen!« In der Offiziersmesse herrschte zur Frühstückszeit immer ein geschäftiges Treiben. Dutzende Uniformierte eilten mit ihren vollen Tabletts zu den Tischen und bereiteten sich auf die Frühschicht vor. Ivanova hatte Chief Garibaldi erspäht, der jetzt auf den freien Platz neben ihr zukam. Er stellte sein überladenes Tablett ab und setzte sich. »Sie wollen heute das Mittagessen auslassen?« erkundigte sie sich angesichts der Mengen. »Und das Abendessen offenbar auch.« »Ich habe schon häufig bemerkt, daß Frauen es gar nicht gern sehen, wenn ein Mann ein gutes, reichhaltiges Mahl verdrückt.« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Das nennen Sie reichhaltig? Wenn Sie noch ein paarmal so reichhaltig essen, wird Ihr Herz Ihnen den Dienst verweigern.« Er ließ die Gabel sinken. »Sehen Sie, was ich meine?« »Übrigens«, fragte sie, »gibt es etwas Neues?«
Garibaldi zog die Stirn kraus. »Oh. Tut mir leid. Ich dachte, das hätte ich Ihnen bereits mitgeteilt. Aber Sie waren letzte Nacht nicht erreichbar. Wir wissen, wo Ortega getötet wurde. Im Waschraum.« Bestürzt wich sie zurück. »Der Waschraum unmittelbar vor dem Bereitschaftsraum? Das war der Tatort? Dann muß er die ganze Zeit dort gewesen sein. Wissen Sie das genau?« Der Chief nickte. »Wir haben Spuren des Giftes auf dem Fußboden gefunden sowie geringe Mengen von Ortegas Blut.« Ivanova schauderte. »Das würde bedeuten, daß der Typ, der so eilig an mir vorbeilief...« »... der Mörder war. Genau.« »Und wahrscheinlich wartete er die ganze Zeit vor der Tür darauf, daß ich gehe.« »Oder er wartete auf jemand anderen«, nickte Garibaldi. »Der Bursche muß Blut und Wasser geschwitzt haben. Hat sich bestimmt gefragt, was noch schiefgehen würde. Er hatte einen hübschen kleinen, intimen Mord geplant, und da platzen Sie herein.« »Ich wünschte, ich wäre ein paar Minuten früher gekommen«, bedauerte Ivanova. »Ich nicht. Sonst hätten wir vielleicht zwei Leichen indem Werkzeugspind gefunden. Dieser Kerl ist ein Profi. So ein Gift wird nicht von Amateuren verwendet. Wie auch immer, so wie's ausschaut, sind Sie der einzige Zeuge, der den Mann identifizieren kann. Kommen Sie bitte so bald wie
möglich in mein Büro, und versuchen Sie noch mal, diesen Typ zu beschreiben.« »Natürlich.« Sie schauderte abermals. Der Appetit war ihr vergangen. »Falls Sie wünschen, daß ich ein paar Sicherheitskräfte für Sie abstelle, zu Ihrem Schutz ...« »Nein. Das ist, glaube ich, nicht nötig. Es weiß doch sonst niemand Bescheid, oder?« »Nein, die Sache unterliegt der Geheimhaltung, ultraobergeheim. Obwohl mir nicht ganz klar ist, wieso.« Garibaldi beäugte interessiert ihr Tablett. »Übrigens, der Captain sagte, Sie führen auf eigene Faust Ermittlungen durch?« »Ich habe lediglich ein paar Daten durch den Computer laufen lassen. Ich habe mich gefragt, woher die Raiders ihre Informationen haben. Jetzt weiß ich es.« »Und?« »Vom Mars-Raumhafen. Irgendein Angestellter verkauft den Raiders Informationen über Transportflüge.« Jetzt war er an der Reihe mit Augenbrauenhochziehen. »Das war sicher kein Problem.« »Kein Problem? Ich habe mir die halbe Nacht um die Ohren geschlagen.« Sie unterbrach sich. »Nein, Sie haben recht. Wenn Sie sich die Statistiken genau ansehen, liegt es auf der Hand. Und der Stationscomputer hat nicht mal alle vorhandenen
Daten gespeichert. Irgend jemand auf der Erde oder dem Mars hätte das schon vor Monaten bemerken müssen; genaugenommen schon vor einem Jahr. Irgend jemand hat, aus welchem Grund auch immer, seine Hausaufgaben nicht gemacht. Ich werde noch heute einen Bericht an Earth Central schicken.« Garibaldi spießte ein Stück Obst mit seiner Gabel auf. »Halten Sie das für eine gute Idee?« »Was wollen Sie damit sagen?« »Ich meine, Sie kehren vor fremden Türen, Commander. Niemand hört es gerne, wenn ihm eine andere Abteilung Nachlässigkeit oder Schlimmeres unterstellt.« Sie glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. »Garibaldi, das ist nicht Ihr Ernst! Die Raiders überfallen da draußen Schiffe, und sie töten Menschen.« »Wahrscheinlich haben Sie recht. Aber seien Sie vorsichtig, okay? Die Dinge entwickeln sich nicht gerade günstig, Sie könnten es mit jemandem zu tun bekommen, dem Sie nicht gewachsen sind.« Er blickte wieder auf ihr Tablett. »Sagen Sie, essen Sie das nicht auf?« Er wollte gerade nach dem Tablett greifen, als sein Com-Link piepte. »Garibaldi.« »Hier Captain Sheridan, Mr. Garibaldi. Wir sind auf etwas gestoßen. Können Sie mich im Besprechungsraum treffen?«
»Schon unterwegs.« Als er aufblickte, sah er, daß Ivanova ihr nur zur Hälfte leergegessenes Tablett forttrug. Er seufzte. Gutgelaunt betrat Chief Garibaldi den Besprechungsraum. Sheridan sah zu ihm auf. »Ich habe gerade Ihren Bericht zu dem Ortega-Fall gelesen, Mr. Garibaldi. Gute Arbeit. Ich muß sagen, Ihre Ermittlungen in dieser Sache waren überaus gründlich. Ich möchte nicht, daß Sie jetzt denken, ich hätte irgend etwas gegen Ihre Arbeit einzuwenden.« Das hörte sich gar nicht vielversprechend an, dachte Garibaldi. »Aber leider muß ich die Einstellung Ihrer Ermittlungen anordnen.« »Wie bitte? Die Ermittlungen einstellen? Bei einem Mordfall?« Er glaubte an ein Mißverständnis. »Sir?« Sheridan machte einen verlegenen Eindruck. »Wie ich bereits sagte, das hat nichts mit Ihnen zu tun. Und es ist auch nicht meine Entscheidung. Meine Anweisungen kommen direkt von Earth Central. Sie schicken ein Spezial-Ermittlungsteam, das den Fall übernehmen wird. Offenbar ist man aufgrund der Verbindung zur Gruppe >Freier Mars< der Ansicht, daß die Angelegenheit für den regulären Sicherheitsdienst von Babylon 5 zu groß ist.« Chief Garibaldi setzte dazu an, etwas wie »Bockmist« zu sagen, doch verbiß er sich den Fluch.
Sheridan fuhr fort: »Sie erhalten hiermit den Befehl, Ihre gesamte Mannschaft unverzüglich von dem Fall abzuziehen und sämtliche Aufzeichnungen und Akten zu versiegeln, um sie den Spezialisten bei ihrer Ankunft auszuhändigen!« »Wann wird das sein?« »Sie sind bereits auf dem Weg hierher. An Bord der Asimov.« »Die Brüder wollen keine Zeit verlieren.« Captain Sheridan musterte ihn. Er schien etwas sagen zu wollen, entschied sich aber dagegen. »Wenn Sie keine weiteren Fragen haben, wäre das alles. Ich danke Ihnen, Mr. Garibaldi.«
7 »O je!« murmelte Garibaldi. Er beobachtete auf den Monitoren der Sicherheitszentrale, wie sich die Passagiere der Asimov der Zollkontrolle näherten. Er erhaschte einen ersten Blick auf das Spezialteam, das Earth Central geschickt hatte. »Sieht gar nicht gut aus.« Diese Leute waren unmöglich zu verwechseln. Sie wirkten steif und übertrieben militärisch in ihren blauen Uniformen der Earthforce. Drei Offiziere, zwei Männer, eine Frau. Alle drei hatten denselben unnachgiebigen Blick, der sagte: Wir wissen, Sie haben sich eines Vergehens schuldig gemacht. Und wir finden heraus, was Sie getan haben; wir haben viel Zeit! Auch die Zollbeamtin brauchte nur einen Blick auf die drei zu werfen, schon schoß sie wie von der Tarantel gestochen in die Höhe und nahm Haltung an. Garibaldi konnte sie sogar über den Bildschirm schwitzen sehen, während sie ihren Routine-Check erledigte: die Identicards entgegennehmen, die Abbildungen mit den Gesichtern ihrer Inhaber
vergleichen, die Karte durch das Sichtgerät ziehen, die Bestätigung der angezeigten Daten, schließlich die Reisenden, sofern alles in Ordnung war, auf Babylon 5 willkommen heißen. Als die drei die Zollkontrolle passiert hatten, verschwanden sie von Garibaldis Monitor. Sie gingen in Richtung der Aufzüge. In seine Richtung ... Er war gewappnet, als sie wie ein dreiköpfiges Überfallkommando in das Sicherheitsbüro eindrangen. Sie arbeiteten perfekt zusammen: Einer blieb im Hintergrund und sicherte den Eingang; die Hauptstreitmacht, dekoriert mit den auf Hochglanz polierten Insignien eines Commanders, stürzte sich derweil auf das eigentliche Ziel, die Computerkonsole. Garibaldi schickte sich an, sie aufzuhalten. »Der Zutritt zu diesem Büro ist untersagt«, erklärte er mit fester Stimme. »Haben Sie eine Genehmigung?« Der Earthforce-Commander, ein drahtiger Mann um die Vierzig, mit blondem Bürstenhaarschnitt und scharf geschnittenen Gesichtszügen, machte noch einen weiteren Schritt. Seine Miene war finster. Offenbar hatte er den Befehl, jeden allein mit seinem Blick einzuschüchtern. »Sind Sie Garibaldi?« »Ich bin Michael Garibaldi, der Sicherheitschef von Babylon 5.« »Sie sind angewiesen, uns Ihr Material über den Fall Ortega vollständig auszuhändigen. Ich benötige Ihr Paßwort«, forderte der Commander. Er klang wie
ein Drahthaarterrier oder ein ähnlich bissiger kleiner Köter. Garibaldi ließ sich nicht beirren. Immerhin konnte er sich auf die Regularien der Earthforce berufen. »Zuerst benötige ich Ihren Ausweis und Ihre Genehmigung!« Der Commander preßte die Lippen zu einer dünnen weißen Linie zusammen, dann holte er seine Papiere hervor und ließ sie auf Garibaldis ausgestreckte Hand klatschen. Der Chief überprüfte sie und nickte schließlich. Die Identicard war auf Commander Ian Wallace ausgestellt. Seine Genehmigung war in Ordnung - natürlich. Er hatte Zugang zu Informationen der Geheimhaltungsstufe Ultraviolett, vermutlich mehr. »Commander«, bestätigte Garibaldi, als er die Papiere zurückgab, dann fügte er hinzu: »Ich muß auch die Papiere Ihrer Mitarbeiter sehen.« »Sie haben meine Order gesehen, Garibaldi. Sie wissen, ich habe hier alle Befugnisse.« »Nicht ganz, Commander.« Garibaldi blieb stur. »Der Ortega-Fall gehört Ihnen. Aber dies hier ist das Sicherheitsbüro von Babylon 5, und ich habe hier auch Material zu anderen Fällen unter Verschluß, die mit Ihren Angelegenheiten nicht das mindeste zu tun haben. Folglich darf niemand ohne Zugangsberechtigung Einsicht in unsere Akten nehmen.« Verärgert winkte Wallace seine Assistenten heran und übergab Garibaldi auch deren Ausweise. Es
waren die Lieutenants Miyoshi und Khatib. Miyoshi hatte bemerkenswert weibliche Formen, die aussahen, als wären sie unter ihrer Uniform in ein Korsett eingeschnürt. Garibaldi schien die Frau ein wenig zu alt für den Rang eines Lieutenants. Und Khatib - Khatib wirkte eiskalt. Selbst Garibaldi hatte noch nicht viele von diesem Schlag getroffen. Er hatte schwarze Augen, eine Nase, die jedem Vergleich mit einem Adlerschnabel standgehalten hätte, und sein Mund war lippenlos wie der einer Schlange. Garibaldi wäre kaum erstaunt gewesen, wenn plötzlich die gespaltene Zunge eines Reptils zwischen seinen nicht vorhandenen Lippen hervorgeschossen wäre. Dies nahm keinen guten Anfang. Die Ausweise und Zugangsberechtigungen waren in Ordnung. Garibaldi trat von seinem Computerterminal zurück. »Sie sind zugangsberechtigt. Ich gebe Ihnen gleich die erforderlichen Paßwörter.« Kurz darauf übergab er sie Wallace mit einem aufgesetzten Lächeln. »Willkommen auf Babylon 5, Commander. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.« »Wie ich diese dämlichen Spielchen hasse«, schimpfte Chief Garibaldi und stieß die Hände in die Hosentaschen. »Was für Spielchen?« fragte Ivanova beiläufig, ohne von ihrer Konsole aufzublicken.
»Machtspielchen, Rangspielchen. Wie die Hafenköter, die sich um einen Knochen balgen.« Ivanova war skeptisch. »Aber Sie waren im Recht. Sie haben sich genau an die Regeln gehalten. Vielleicht ist das nur so eine Männersache. Sie wissen schon, sich auf die Brust klopfen wie ein Gorilla, die alte Testosterongeschichte ...« Garibaldi schüttelte den Kopf. »Nein, hier geht es um mehr. Ich kenne diese Sorte. Wenn man so einem das erste Mal begegnet, muß man aufs Ganze gehen. Ich weiß, daß ich im Recht war, und das ist der Punkt. Er kann mich jetzt nicht ausstehen, aber wenn ich nachgegeben hätte, wäre es noch übler.« Er unterbrach seinen Redefluß und blickte durch die Beobachtungskuppel nach draußen, wo das strahlende Licht des Sprungtores aufschien, als ein Schiff im Strudel des Hyperraums verschwand. Ivanovas Aufmerksamkeit gehörte noch immer ihrer Konsole. »Wie auch immer«, fuhr der Chief fort, »das ist nicht mehr mein Fall, aber Sie sind immer noch eine wichtige Zeugin. Sicher müssen Sie früher oder später mit denen reden. Geben Sie nur acht! Diese Typen bedeuten nichts als Ärger.« »Garibaldi, Sie sehen das alles zu schwarz. Ich habe zehn Jahre Militärdienst erlebt, wissen Sie noch? Ich kenne die Sorte, die Sie meinen. Ich denke nicht, daß ich allzu große Schwierigkeiten mit denen haben werde.«
»Nun, manchmal gibt es gute Gründe, schwarzzusehen. Eines steht fest: Irgendwer ganz oben hat großes Interesse an dieser Sache.« Jetzt wandte sich Commander Ivanova von ihrem Bildschirm ab und sah ihn an. »Um die Wahrheit zu sagen, das ist es, was mich wirklich nervös macht. Die Raiders sind da draußen, Schiffe werden überfallen, die Besatzungen ermordet. Und was tun die dagegen? Sie kürzen uns die Mittel. Sie schicken nicht etwa mehr Patrouillen raus. Nein, sie ignorieren Berichte über die Unfähigkeit und Korrumpierbarkeit des Beamtenapparates. Aber man muß nur die richtigen Knöpfe drücken: Wenn sie Begriffe wie Terrorist hören, wenn sie ihre politischen Ämter in Gefahr wähnen, setzen sie ein Sonderkommando ins nächste Schiff; dann ist nichts zu aufwendig, koste es, was es wolle.« »Oh, ich verstehe. Sie haben keine Antwort auf Ihren Bericht über den Verrat der Transportwege an die Raiders erhalten?« Sie schüttelte den Kopf und wandte sich wieder der Konsole zu. »Ich habe ihn erst vorgestern abgeschickt. So etwas dauert.« »Seien Sie einfach vorsichtig, das ist alles! Sollten Sie trotzdem Ärger bekommen, weiß ich nicht, ob ich Ihnen eine große Hilfe sein kann. Diese Typen richten sich hier auf der Station ihr eigenes kleines Reich ein, unter Ausschluß der Sicherheitsabteilung. Wallace sagt, er duldet keine Störung oder Einmischung. Ich muß ein Team von
Sicherheitsleuten für ihn abziehen, das allein seinem Befehl untersteht. Er hat seine eigene Kommandozentrale in Besprechungsraum B eingerichtet, er hat seine eigenen Computer mitgebracht; unsere sind ihm nicht sicher genug. Er baut sogar seine eigenen Verschlußbehälter auf.« Garibaldi runzelte die Stirn. »Das gefällt mir ganz und gar nicht.« Ivanova kannte diesen Blick. »Was also wollen Sie tun?« »Tun? Gar nichts. So lauten meine Anweisungen.« »Sie sollten auch vorsichtig sein«, riet Ivanova. Sie kannte Garibaldi. Ein Teil der Raumstation unten in Sektor BRAUN wurde die Unterwelt genannt. Offiziell existierte dieser Ort nicht, aber alles Offizielle war in der Unterwelt ohne Bedeutung. Dort unten mußte man durch Wartungstunnel kriechen, um an sein Ziel zu gelangen. Die Bewohner der Unterwelt zapften verbotenerweise die Versorgungsleitungen der Station an, um sich mit Strom und Wasser auszustatten, sie schliefen in leeren Tonnen und hausten in mit Lumpen verhängten Winkeln. An einem Ort wie Babylon 5 gab es immer Individuen, die durch die Maschen des Netzes fielen und am Rande der Legalität in Behelfsunterkünften lebten. Einige überschritten die Grenze und fielen damit unter Chief Garibaldis Zuständigkeit. Für die übrigen lautete das Motto: Leben und leben lassen. In der Unterwelt konnte man fast alles käuflich erwerben. Das Spektrum des Handels reichte von
halblegalen bis zu Schwarzmarktgeschäften. Manche Bewohner verkauften sogar ihre Körper. Es gab richtige Läden ebenso wie zwielichtige Gestalten mit verborgenen Manteltaschen, die sich auf den Gängen herumdrückten. Wie jedes denkbare Gut, wurden hier auch Informationen feilgeboten. Nicht zuletzt aus diesem Grund duldete Garibaldi dieses Treiben. Auf diese Weise hielt er Verbindung zum Schwarzmarkt und war unterrichtet über das Kommen und Gehen von Personen und Waren, die auf der Station möglicherweise unerwünscht waren. Gleichwohl wurden sämtliche Transaktionen in der Unterwelt, legal oder illegal, augenblicklich eingestellt, wenn der Chief auf der Bildfläche erschien. Waren verschwanden, den Leuten fiel plötzlich ein, daß woanders wichtige Erledigungen ihrer harrten, dringende Geschäfte verloren mit einem Mal an Dringlichkeit. Der Sicherheitschef war einfach kein gern gesehener Gast in der Unterwelt. Wohin auch immer Garibaldi seinen Blick lenkte, jedermann tat noch geheimnisvoller als üblich. Seine Informanten hatten sich in Luft aufgelöst. Doch es gab andere Methoden, sich Informationen zu beschaffen. Garibaldi beschloß, Kapital aus den Reaktionen auf sein Erscheinen zu schlagen. Er schlenderte umher, verharrte hier und da, nahm die falschen Edelsteine auf dem Tisch eines ausgesprochen widerspenstigen Händlers einen nach dem anderen in Augenschein; er verlangte, die Lizenz eines Trios von Straßenmusikanten zu sehen
sowie die Zollpapiere für einen Schwung importierter Skunklederstiefel in einem Regal, das der Besitzer eines improvisierten Ladens unter einem kaum weniger verdächtigen Teppich zu verbergen versucht hatte. Garibaldi war Gift fürs Geschäft, und er machte keine Anstalten zu verschwinden. Endlich machte es sich der Chief an einem Tisch der Hazy Daze Bar bequem. Eine bleiche Gestalt kam heran, während er an seinem Mineralwasser nippte. Die Bar besaß keine Lizenz zum Ausschank alkoholischer Getränke. Garibaldi war der einzige Gast. »Was du wollen, Garibaldi?« fragte Mort, der den Beinamen »das Ohr« trug, Informant, Händler und gegenwärtig Besitzer der Bar. »Wollen? Tja, eigentlich nichts Bestimmtes, Mort. Ich dachte nur, ich geh' mal ein bißchen bummeln, schau' mir die Sehenswürdigkeiten an, besuche ein paar alte Freunde.« »Wieso du hast jetzt übrig so viel Zeit, Garibaldi? Vor zwei, drei Tagen, viel fragen, groß Fall. Jetzt...« Mort machte eine Pause und verzog seinen Mund zu einem schiefen Grinsen. Garibaldi fragte sich, wie lange es dauern würde, bis sich die Neuigkeiten über Commander Wallace und sein Ermittlungsteam herumgesprochen haben würden. Vorausgesetzt, die gesamte Station wußte nicht schon längst Bescheid. Wallace' Ankunft auf Babylon 5 war nicht besonders unauffällig
vonstatten gegangen. Garibaldi grinste zurück. »Na ja, ich dachte, ich nehme mir frei, komme hier runter und besuche einen alten Freund. Louie. Ja, Louie ist ein alter Kumpel von mir. Ich hab' ihn ewig nicht mehr gesehen. Er ist vor ein paar Jahren auf den Mars gezogen, hat hier und da gejobbt. Und was kommt mir jetzt zu Ohren? Er ist hier, auf Babylon 5. Also sag' ich mir: Mike, du mußt den alten Louie besuchen, so dicke, wie wir miteinander waren. Also werfe ich einen Blick in unsere Akten, und jetzt rate mal! Kein Hinweis darauf, daß er die Station überhaupt betreten hat; keiner der Kontrollpunkte hat seine Ankunft registriert. Wenn das nicht verrückt ist. Du weißt, wie das läuft: Wenn jemand die Zollkontrolle passiert, ziehen wir seine Identicard durch das Sichtgerät und tragen seinen Namen in das Register ein. So wissen wir immer, wer sich auf der Station aufhält. Wenn wir wen suchen, wissen wir, wo wir ihn finden. Also hab' ich mir gedacht, ich hänge einfach für eine Weile auf der Station rum und halte die Augen offen. Vielleicht läuft mir der alte Louie ja zufällig über den Weg. Dann könnten wir ein bißchen Spaß haben, über die alten Zeiten quatschen. Vielleicht kriege ich sogar raus, was bei seiner Ankunft mit seinem Ausweis falsch gelaufen ist, damit so was nicht wieder vorkommt. Dann könnt' ich Louie finden, wenn ich Lust dazu habe. Ich müßte nicht jedesmal hierherkommen und nach ihm suchen.«
»Du Blödsinn reden, Garibaldi.« »So? Dann muß ich wohl deutlicher werden, Mort. Jemand ist durch die Hintertür auf die Station gekommen; vielleicht mit einem gefälschten Ausweis. Und das gefällt mir nicht. Ich will wissen, was das für eine Fälschung war, die unsere Sichtgeräte überlisten konnte. Die will ich sehen.« »Du wollen falsch' Ausweis?« »Genau, Mort.« »Ich viel haben falsch' Ausweis. Du wollen?« Er wühlte in den verborgenen Taschen seiner Kleider herum, Kleider, die seine dürre Gestalt nur spärlich verhüllten. Garibaldi bremste seinen Eifer. »Nicht doch, Mort! Nicht diesen Ramsch, den du den Touristen andrehst. Ich interessiere mich ausschließlich für das wirklich gute Zeug.« »Ich rumfragen«, versprach Mort mürrisch. »Na also«, strahlte Garibaldi ihn an. »Das hört sich doch schon viel besser an. Vielleicht mache ich in ein bis zwei Tagen noch so einen Einkaufsbummel. Schließlich hab' ich im Moment, wie du so treffend sagst, übrig viel Zeit.« Damit schlenderte er davon. Es handelte sich für den Chief um so etwas wie einen Angelausflug. Man konnte nie wissen, was vielleicht anbeißen würde. Er zögerte, den nächsten Schritt zu unternehmen. Er bewegte sich dicht an Wallace' Territorium. Was soll's, dachte Garibaldi. Typen, die sich auf Babylon 5 mogelten, gehörten noch immer in die Zuständigkeit der Sicherheitsabteilung. Und wenn
gefälschte Identicards im Umlauf waren, so mußte er sie finden. Weiter oben, in einem weniger verrufenen Teil des Sektors BRAUN, führte eine Frau namens Hardesty das Wet Rock, eine Spelunke, in der die Arbeiter der Station bei Schichtende ein, zwei Bier tranken. Das Bier war hier so billig, wie es mitten im Nichts des Weltalls nur sein konnte, das Essen schwer und fett. Garibaldi mochte es. »Wie geht's, Hardesty?« »Alles klar«, entgegnete die Angesprochene in einem Tonfall, als wolle sie fragen: Bist du privat oder dienstlich hier, Garibaldi? »Du hast in letzter Zeit nicht zufällig Meyers gesehen?« »Ich glaube, er hat die Station verlassen. Könnte sein, er ist vor ein paar Tagen mit einem Eisschlepper weg.« »Und wie steht's mit Nick?« »Nick Patinos?« »Genau der.« »Ich glaube, der arbeitet jetzt in der Wechselschicht. Schwer zu erwischen.« »Kommt er noch manchmal hierher?« »Ja, nach der Arbeit. Die meiste Zeit treibt er sich allerdings in diesem dämlichen Spielsalon rum. Oder in der Sporthalle.« Garibaldi wußte, wo sich der Spielsalon befand. Nick war einer von den etwa zwölf Gästen, die an den Tischen saßen, auf denen substanzlose Autos
um virtuelle Rennstrecken jagten und geisterhafte holographische Gladiatoren gegeneinander kämpften. Garibaldi mischte sich für kurze Zeit unter die Zuschauer, bis eine der Spielfiguren in die Knie ging und ihr künstliches Leben aushauchte. Ein neuer Herausforderer nahm Platz, um gegen den Sieger anzutreten. »Du wirst besser mit dem Säbel, Nick«, bemerkte Garibaldi. Der Mann sah von seinem Bier auf. Er war Hafenarbeiter. Seine Augen waren dunkel, sein Haar wurde an den Schläfen bereits grau. »Mike. Ja, mit Cass schaff' ich jetzt schon manchmal zehn Minuten.« »Vielleicht spielen wir mal gegeneinander. Oder wir gehen rüber in die Sporthalle, ein, zwei Runden Sparringskampf im schwerkraftreduzierten Ring. Wie damals auf dem Mars.« »Ja, kann sein.« Er schwieg und musterte Garibaldi. »Aber du bist heute nicht hier aufgekreuzt, um Holo-Spielchen mit mir zu spielen, hab' ich recht, Mike?« Garibaldi bestätigte das stumm. »Nach dem, was ich gehört habe, schnüffelst du rum.« Nick Patinos blickte wieder in sein Bier. »Und zwar in Sachen, die eine Menge Ärger bedeuten können.« Gute Nachrichten verbreiten sich schnell, dachte Garibaldi mißmutig. »Du hast also schon davon gehört.« Nick machte eine vage Geste. »Hier und da.«
»Es gab einen Flüchtlingsalarm vor ein paar Tagen. Ein mutmaßlicher Terrorist.« Nick knallte wütend sein Bierglas auf die Tischplatte. »Terrorist! Weißt du was? Seit dem Aufstand letztes Jahr habt ihr Earthforce-Typen nur noch die verfluchten Terroristen im Kopf. Man zeigt seine Identicard, und jedesmal derselbe Spruch: Sie sind vom Mars. Wir müssen Ihr Gepäck kontrollieren. Nur für den Fall, daß Sie Sprengstoff zwischen Ihren dreckigen Socken versteckt haben. Ich kann's nicht mehr hören, Mike.« »Hey, Nick! Du kennst mich! Ich bin nicht bloß einer von der Earthforce, klar? Kann sein, jemand schnüffelt in dieser Terroristensache rum, aber der bin nicht ich. Zumindest nicht im Moment. Komm schon, du kannst mir glauben. Das weißt du. Wir kennen uns vom Mars seit... wieviel... drei Jahren?« »Schon. Aber jetzt ist alles anders. Du gehörst nicht mehr dazu.« Für einen Augenblick überkam Garibaldi die unangenehme Erinnerung an Lise. Sie hatte ihn nicht nach Babylon 5 begleiten, er nicht bei ihr auf dem Mars bleiben wollen. Richtig, er gehörte seit langem nicht mehr dazu. »In Ordnung«, sagte er energisch und verbannte sie aus seinen Gedanken. »Wir sind jetzt nicht auf dem Mars, sondern auf Babylon 5. Eine Raumstation. Eine kleine Welt für sich. Und ich bin hier für die Sicherheit verantwortlich. Mich interessiert nur eins: Wie kommt jemand auf die
Station, ohne die Kontrollen zu passieren? Wird er mit einer Frachtlieferung reingeschmuggelt? Benutzt er eine gefälschte Identicard, oder was? Denk darüber nach, Nick, und vergiß die Politik für einen Moment! Die Erde, >Freier Mars< und das alles! Niemand will, daß ein Irrer auf die Station gelangt, der Sprengstoff, biologische Waffen oder sonstwas mit sich herumträgt. Komm schon! Hilf mir in dieser Sache!« »Ich denke darüber nach, Mike. Ich höre mich um, aber der Zeitpunkt ist nicht günstig. Die Dinge ...« Er schüttelte den Kopf. »Man wird sehen.« »Wenn du irgendwas weißt?« »Ich weiß nichts über Gefahren für die Station. Das kann ich dir versichern.« »Über illegale Einreise? Gefälschte Identicards?« Nick Patinos schüttelte abermals den Kopf, stellte sein leeres Bierglas ab, erhob sich und wollte gehen. »Ich höre mich um. Aber der Zeitpunkt ist wirklich nicht günstig.« Das kannst du laut sagen, dachte Chief Garibaldi. Und er ahnte, daß es schon bald noch viel schlimmer kommen würde.
8 Die Befragung nahm keinen freundlichen Anfang. Lieutenant Miyoshi hob kaum den Kopf, als Commander Ivanova den Raum betrat. Ivanova wartete, dann bemerkte sie: »Lieutenant, der Anzahl der Nachrichten, die Sie mir heute zukommen ließen, entnahm ich, daß Sie mir einige Fragen stellen wollen. Aber wenn Sie beschäftigt sind, werde ich später wiederkommen.« Als Miyoshi nun doch aufblickte, kam Ivanova wieder die Warnung in den Sinn, die Garibaldi am Morgen ausgesprochen hatte. »Keineswegs, Commander, ich bin froh, daß Sie sich endlich die Zeit nehmen konnten, uns bei unseren Ermittlungen behilflich zu sein.« Ivanova nahm unaufgefordert Platz. »Ich bin sicher, Lieutenant, Sie werden verstehen, daß ich meine Pflichten auf dieser Station nicht jederzeit vernachlässigen kann. Ich bin der leitende Offizier vom Dienst. Ein Hyperraumsprungtor fiel aus,
andere dringende Angelegenheiten erforderten meine Anwesenheit.« »Ja, ich weiß. Sie waren in diesen, hm, Unfall verwickelt. Nun, in der Zwischenzeit hatte ich Gelegenheit, Ihre Akte zu studieren - insbesondere Ihren Briefwechsel mit dem flüchtigen Terroristen J.D. Ortega.« Briefwechsel? Ivanova zog die Stirn kraus. Das behagte ihr nicht. »Sie wollen sagen, mutmaßlicher Terrorist?« »Wenn Sie darauf bestehen. Also, seit wann kannten Sie diesen mutmaßlichen Terroristen, Commander?« »Seit ungefähr zehn Jahren. Ich habe ihn kurz nach dem Krieg kennengelernt. Er war mein Fluglehrer während meiner Ausbildung.« »Sie standen sich nahe?« »Nicht näher als sich Kadetten und ihre Ausbilder gewöhnlich stehen.« Miyoshi zog zweifelnd eine Augenbraue hoch. »Und nach dem Krieg blieben Sie in Verbindung?« »Eigentlich nicht. Nicht mehr, seit er auf den Mars zurückgekehrt war.« »Tatsächlich? Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen mitteilte, daß wir Briefe in Ihrer Handschrift besitzen, von Ihnen unterzeichnet?« Ivanovas Entgegnung darauf war knapp: »Wenn Sie ein paar Glückwunschkarten als Briefwechsel bezeichnen wollen, hatten wir etwa zwei Jahre lang einen solchen Briefwechsel.«
»Können Sie irgendwelche Briefe, die er Ihnen geschrieben hat, vorweisen?« »Ich bin Berufsoffizier der Earthforce, Lieutenant. In den vergangenen Jahren wurde ich ein halbes Dutzend Mal versetzt. Da hebe ich doch Glückwunschkarten von ehemaligen Kameraden nicht auf.« »Also haben Sie nach Ihrem letzten offiziellen Zusammentreffen mit dem mutmaßlichen Terroristen alle Korrespondenz vernichtet?« Da wurde Ivanova zornig. Sie stand abrupt auf. »Ich muß nicht hier sitzen und mir das anhören!« Aber Miyoshi schien auf einen solchen Ausbruch nur gelauert zu haben. Ein Lächeln erschien auf ihrem breitflächigen Gesicht. »Doch, Commander, das müssen Sie. Ich darf Sie daran erinnern, daß wir für diese Ermittlung mit allen Vollmachten ausgestattet sind. Mit allen Vollmachten, Commander. Ich könnte Sie auf der Stelle verhaften lassen. Sie würden in einer Arrestzelle schmoren, bis Sie sich bereit finden, meine Fragen zu beantworten.« Ivanova funkelte sie wütend an, aber sie setzte sich wieder. »Fahren wir also fort.« Indes blieb Miyoshi nun, nachdem sie ihren Standpunkt deutlich gemacht hatte, bei den Fakten. »Sie behaupten, als Ortega Sie kontaktierte, wußten Sie nicht, daß er verdächtigt wurde, einer terroristischen Vereinigung anzugehören oder auf der Flucht zu sein?«
»So ist es.« »Aber Earth Central hatte doch angeordnet, die Angelegenheit vordringlich zu behandeln.« »Die diesbezügliche Anweisung erging an alle Einheiten der Earthforce, an die jeweiligen Sicherheitsabteilungen. Es gab keinen Anhaltspunkt, daß er sich auf Babylon 5 aufhielt.« »Aber Mr. Garibaldi erinnerte sich an seinen Namen?« »Mr. Garibaldi ist der Chief der Sicherheitsabteilung hier. Das ist sein Job, nicht meiner.« »Und als Ihnen klar wurde, daß nach Ortega gefahndet wurde, meldeten Sie das der Sicherheitsabteilung, richtig?« »Richtig. Ich habe Mr. Garibaldi verständigt.« »Aber wie erklären Sie die Verzögerung? Wieso haben Sie sich erst gemeldet, als Ortega bereits seit zwei Stunden tot war?« »Was wollen Sie damit sagen?« »Ich will damit sagen, daß uns Fakten vorliegen. Ortega wollte sich um 20:00 im Bereitschaftsraum eins mit Ihnen treffen. Laut Dr. Franklin, dessen Einschätzung uns mehr als glaubhaft erscheint, wurde er etwa zu diesem Zeitpunkt getötet, vermutlich im angrenzenden Waschraum. Im Protokoll des Stationscomputers finden sich Eintragungen, die Ihre Anwesenheit am Tatort zwischen 20:04 und 22:06 bestätigen. Sie selbst
räumen ein, mehr als zwei Stunden in unmittelbarer Nähe der Leiche gewesen zu sein.« »Stimmt.« »Ungefähr dreiundzwanzig Stunden nach dem Mord wurde Ortegas Leiche im Gerätespind einer Kampffliegerwerft aufgefunden, nur ein Stockwerk vom Tatort entfernt. Sein Körper war völlig nackt, und weder seine Kleider noch seine persönlichen Sachen sind in der Zwischenzeit gefunden worden.« »Richtig. Was wollen Sie damit sagen?« »Ich stelle nur die Fakten dar. Diese Fakten lassen sich unterschiedlich interpretieren. Betrachten wir noch ein paar Fakten. Sie haben keine Zeugen für Ihre Anwesenheit im Bereitschaftsraum für den Zeitraum zwischen Ortegas Ableben und Ihrem Treffen mit Mr. Garibaldi zwei Stunden später. Niemand hat Sie gesehen, abgesehen von einem Mann, den Sie am Schauplatz gesehen haben wollen, kurz nachdem Sie dort eingetroffen waren. Sie haben diesen Mann jedoch nicht erkannt, richtig? Sie hatten ihn nie zuvor gesehen, und Sie sind ihm seitdem nicht wieder begegnet. Tatsächlich gibt es keinen Grund, an die Existenz dieses geheimnisvollen Mannes zu glauben, abgesehen von Ihrer Aussage, oder?« Ivanova fühlte sich wie betäubt, außerstande, darauf etwas zu erwidern. »Nun gibt es ein weiteres Beweismittel, Commander. Eine Nachricht, adressiert an S.I. Wir alle glauben zu wissen, wer S.I. ist, nicht wahr?
Susan Ivanova. Diese an Sie gerichtete Botschaft lautet: hardw... r. Sie behaupten, keine Ahnung zu haben, was das bedeutet: hardw ... r?« Miyoshi beugte sich vor und fixierte Ivanova. Ihre Haare waren pechschwarz, streng zurückgekämmt, glänzend. Offenbar hatte sie sie mit einer Art parfümiertem Öl behandelt. »Diese Nachricht gehört zu den wenigen konkreten Beweisen, die wir haben, Commander. Sie steht nachweislich in Verbindung mit Ortega. Sowohl unsere eigenen gerichtsmedizinischen Untersuchungen als auch die Überprüfungen der Sicherheitsabteilung Ihrer Station bestätigen das. Und ich denke, was die Identität von S.I. angeht, bestehen keine Zweifel, nicht wahr?« Sie beugte sich noch weiter vor. »Diese Nachricht war für Sie bestimmt, Commander Ivanova. Er wollte, daß Sie sie verstehen. Behaupten Sie noch immer, nicht zu wissen, was sie bedeutet?« Ivanova verschlug es die Sprache. Sie war zornig, verwirrt. Endlich erklärte sie: »Sie haben meine Zeugenaussage.« »Ja, die haben wir.« Miyoshi richtete sich wieder auf und blickte geraume Zeit auf den Monitor. Dann fuhr sie fort: »Es wäre von Vorteil, Commander, wenn Ihnen einfallen würde, was diese Nachricht bedeutet. Für Sie selbst und alle Beteiligten. Das wäre vorerst alles.« Ivanova erhob sich. Sie war noch immer zu erschüttert, um zu sprechen. Sie verließ den Raum. Schauer liefen ihr über den Rücken, sie empfand
Zorn, Zweifel und einen Anflug wirklicher Furcht, die Kontrolle zu verlieren. Was geschah mit ihr? Was ging hier vor? Sie fühlte sich, als habe sie den festen Boden unter den Füßen verloren. Konnten sie ihr das wirklich antun? Garibaldi hatte versucht, sie zu warnen. Er hatte gesagt, die machen das mit Absicht. Sie machen einen so wütend, daß einem ein Fehler unterläuft, daß einem etwas herausrutscht, was man für sich behalten wollte. Aber warum? Die konnten doch nicht ernsthaft denken, sie habe Ortega ermordet? Erst vor wenigen Augenblicken hatte sie Miyoshi doch beschuldigt, mit ihm unter einer Decke gesteckt zu haben, mit ihm einen unerwünschten Briefwechsel gehabt zu haben. Das ergab keinen Sinn. Warum also taten sie ihr das an? Was wollten sie? Was glaubten sie, wo sie stand?
9 Irgend etwas war im Gange. Garibaldi war schon eine ganze Weile im Sicherheitsgewerbe, und er hatte im Laufe der Jahre gewisse Instinkte entwickelt. Manchmal sah man, was sich zutrug. So wie im vergangenen Jahr, als die Dockarbeiter einen Streik vorbereitet hatten. Manchmal war Ärger im Anzug, und niemand unternahm etwas, um das zu verbergen. Aber diesmal war es anders. Die Art, wie die Leute es vermieden, ihm geradeaus in die Augen zu schauen; sie blickten zu Boden oder ins Leere; sie wußten etwas, das sie lieber nicht wissen wollten. Das Problem war nur, es bestand eine Verbindung zu der Ortega-Sache, da war er sicher. Und das bedeutete: Terroristen, Separatisten, die Bewegung »Freier Mars«, alles Dinge, die für ihn eine Nummer zu groß waren. Captain Sheridan hatte gesagt: »Earth Central übernimmt den Ortega-Fall. Das ist ab jetzt die Angelegenheit von Wallace. Halten Sie sich da raus!«
Ein guter Rat. Vielleicht sollte er ihn befolgen. Doch gute Ratschläge zu befolgen hatte noch nie zu seinen Stärken gezählt. Zurück zu Nick Patinos. Netter Kerl. Wartungsingenieur für Lebenserhaltungssysteme. Er hatte an allen großen Kuppeln auf dem Mars gearbeitet. Er war bereits auf Babylon 5 gewesen, als die Station sich noch im Bau befunden hatte. Garibaldi war ihm zum ersten Mal in Gerrys schwerkraftreduzierter Sporthalle im MarsRaumhafen begegnet. Sie hatten ein wenig miteinander trainiert. Dann war er eine gute und zuverlässige Informationsquelle geworden, Garibaldi konnte sich stets auf Nicks Offenheit verlassen. Aber er war kein Spitzel, nein. Dessen mußte er sich bewußt sein. Jemand wie Nick würde niemals seine eigenen Leute verraten. Hey, Nick, ich habe gehört, aus dem Warenlager von Syrtis verschwindet dauernd irgendwelches Zeug. Glaubst du, das organisierte Verbrechen hängt da mit drin? Nick, es geht das Gerücht, Biggie Wiszniewski ist wieder am Hafen aufgetaucht, um seine alten Geschäfte wieder aufzunehmen. Weißt du was darüber? So lief das. Nick Patinos gab ihm Auskunft. Ein guter Kontakt. Doch diesmal schwieg sich Nick aus. Er hatte Angst davor zu reden. Und das bedeutete, daß irgend etwas oberfaul war. Zurück in seinem Büro, wollte Chief Garibaldi einen Blick in Nicks Akte werfen. Vielleicht fiel ihm
dabei etwas ein. Aber er hatte nicht damit gerechnet, die nüchterne Stimme des Computers sagen zu hören: »Diese Datei kann nicht aufgerufen werden.« Garibaldi versteifte sich vor seiner Computerkonsole: »Die Akte Patinos, Nikolas. P-AT-I-N-O-S.« »Diese Datei kann nicht aufgerufen werden. Sie ist als Verschlußsache klassifiziert.« »Wie bitte?« »Die Sicherheitsakte Patinos, Nikolas, P-A-T-IN-O-S, ist als Verschlußsache klassifiziert. Zugriff verweigert.« »Sicherheitschef Michael Garibaldi. Zugangsberechtigung: Ultraviolett-Alpha. Mein aktuelles Paßwort: Ginseng-Hase-Apache. Bestätigung? Oder muß ich es eintippen?« »Zugangsberechtigung und Paßwort bestätigt. Die angeforderte Datei ist als Verschlußsache klassifiziert. Zugriff verweigert.« »Wer hat Zugriff, verdammt noch mal?« »Diese Information ist geheim.« »Wallace! Dieser Hundesohn hat meine Dateien gesperrt!« »Diese Information ist geheim.« Garibaldi überlegte einen Moment. »Ich verlange eine Liste aller nicht gesperrten Personalakten der gesamten Station! Nein, das wären zu viele ... Die nicht gesperrten Dateien aller Personen, die bekanntermaßen auf der Mars-Kolonie gearbeitet haben!« Diese Liste war ausgesprochen kurz. Sein
eigener Name war darauf; außerdem zwei weitere Namen, die zum Personal der Sicherheitsabteilung zählten. Das war alles. Garibaldi starrte auf den Monitor. »Dieser Hundesöhn! Er hat tatsächlich alle meine Dateien gesperrt!« Captain Sheridan hatte sich zwischen Garibaldi und Wallace plaziert. Das war eine gute Idee. Sein Sicherheitschef würde wohl kaum einen Versuch unternehmen, um ihn herumzufassen, um den Sonderermittler zu erwürgen. Garibaldi war bleich wie der Tod. »Er kennt alle meine offiziellen Paßwörter; er hat Zugriff auf alle sicherheitsrelevanten Dateien von Babylon 5; er hat sich in die Datenbanken der Station eingeklinkt und alle Dateien gesperrt. Nicht bloß die über Ortega, nein, er hat sämtliche Personalakten von Leuten gesperrt, die jemals auf dem Mars gearbeitet haben. Ich kann nicht eine davon aufrufen. Er hat die Handlungsfähigkeit der Sicherheitsabteilung dieser ganzen verdammten Raumstation lahmgelegt.« Commander Wallace warf ihm einen kurzen, kalten Blick zu, dann wandte er sich mit seiner Entgegnung an Sheridan. »Woher will er das wissen? Woher will er wissen, daß die Ortega-Akte gesperrt ist, wenn er nicht versucht hat, sie aufzurufen? Oder die Akten über diese anderen Verdächtigen? Das beweist lediglich, daß meine Vorsichtsmaßnahmen gerechtfertigt waren. Diese Angelegenheit hat ausgesprochen delikate Aspekte,
die weder Mr. Garibaldi noch sonst jemanden auf dieser Station irgend etwas angehen. Ich will nicht, daß jedes kleine Licht in der Registratur oder der Sicherheitsabteilung die Aufzeichnungen über meine Ermittlungen aufrufen kann. Und, offen gesagt, ich habe ernste Zweifel in bezug auf einige Angehörige des Stationspersonals.« »Wenn irgend etwas die Sicherheit der Station beeinträchtigt, habe ich verdammt noch mal das Recht, das zu erfahren!« schnauzte Garibaldi zurück. Captain Sheridan fiel ihm ins Wort, indem er mit einer Handbewegung die Luft zwischen den beiden Männern durchschnitt. »Also gut. Klären wir die Sache. Commander Wallace, Sie geben zu, den Zugriff auf diese Dateien gesperrt zu haben? Sie verweigern dem Sicherheitschef von Babylon 5 den Zugriff auf die Sicherheitsakten?« »Meine Vollmachten ...« »Ihre Vollmachten unterstellen Babylon 5 nicht Ihrem alleinigen Kommando! Das ist zufällig Teil meiner Aufgabe! Sie sind hier, um im Fall Ortega zu ermitteln, nicht um die Sicherheitsabteilung zu übernehmen oder meine Offiziere an der Erfüllung ihrer Pflichten zu hindern.« »Wenn ich Sie korrigieren darf, Captain, meine Vollmachten beschränken sich keineswegs darauf, den Tod eines Bergbauingenieurs zu untersuchen. Wir sind hier, um die Verschwörung einer terroristischen Vereinigung aufzuklären, die eine
Gefahr sowohl für diese Station als auch für die rechtmäßige Regierung der Mars-Kolonie darstellt.« »Das mag ja stimmen, Commander, aber ich kann nicht zulassen, daß die Sicherheit von Babylon 5 dadurch in Mitleidenschaft gezogen wird. Sie haben Ihre Kompetenzen überschritten. Als befehlshabender Kommandant dieser Station erteile ich Ihnen die Order, diese Dateien umgehend wieder freizugeben!« Wallace' Stimme klang gepreßt, als er erwiderte: »Ich muß darauf bestehen, daß die Ortega-Akte unter Verschluß bleibt, auch für Mr. Garibaldi hier. Ich habe meine Gründe.« »Also schön. Aber lediglich die Aufzeichnungen, die in direkter Verbindung mit dem Ortega-Fall stehen. Alle übrigen werden unverzüglich wieder zugänglich gemacht! Und ich will nicht erleben, daß Sie so etwas noch einmal veranstalten! Ist das klar?« »Captain«, bestätigte Wallace formell. »Und was Sie betrifft, Mr. Garibaldi«, fuhr Sheridan jetzt fort, »Sie werden sich befehlsgemäß nicht in die laufenden Ermittlungen von Commander Wallace einmischen!« »Okay. Aber wie weit reicht das ? Wenn sich jemand auf diese Station schmuggelt, muß ich das herausfinden. Ich muß in der Lage sein, die Löcher zu verstopfen, ehe noch mehr Ratten an Bord kriechen. Und was, wenn sich Typen mit gefälschten Identicards hier rumtreiben? Eine Beeinträchtigung der Sicherheit der Station. Soll ich so etwas nicht
verfolgen? Ein paar meiner zuverlässigsten Kontakte sind Typen vom Mars. Darf ich mich mit denen nicht mehr treffen, nur weil sich das vielleicht mit seinen Ermittlungen überschneidet?« Der Captain schüttelte den Kopf. »Was das betrifft, muß ich dem Commander zustimmen, Mr. Garibaldi. Herauszufinden, wie Ortega auf die Station gelangte, gehört sehr wohl zu den Ermittlungen in diesem Fall. Wenn Sie andere Hinweise darauf finden, daß jemand gefälschte Identicards in Umlauf bringt, so ist das Ihre Sache. Aber nicht, wenn es um Ortega geht. Dann lassen Sie Ihre Finger davon!« Wie soll ich Beweise finden, wenn ich nicht ermitteln darf? dachte Garibaldi, ohne die Frage laut zu stellen. Immerhin erhielt er seine Akten zurück, und das war die Hauptsache. Aber Wallace war noch nicht fertig. »Da ist noch etwas, Captain. Eine ernste Angelegenheit. Tatsächlich einer der Beweggründe für mich, den Zugriff auf diese delikaten Dateien einzuschränken. Meiner Auffassung nach ist die Sicherheit dieser Station in Gefahr, in ernster Gefahr. Ihrem Kommando gehört ein Offizier an, der in diesen Fall verwickelt ist. Ich muß darauf bestehen ...« Garibaldi begriff zuerst, von wem er sprach. »Augenblick mal, Sie ...!« Wallace schenkte ihm keine Beachtung. »Captain, ich muß darauf bestehen, daß die
betreffende Person bis zur Beendigung unserer Ermittlungen unter Arrest gestellt wird.« Sheridan machte große Augen. »Falls Sie glauben...« »Sie muß in ihrem Quartier arretiert werden, oder zumindest muß sie ihrer Pflichten enthoben werden.« »Commander Ivanova.« »Sie müssen den Verstand verloren haben«, platzte Garibaldi heraus. Wallace jedoch erwies sich als zäh. »Sie haben mir die Order erteilt, diese ausgesprochen heiklen Akten freizugeben, um die Sicherheit von Babylon 5 zu gewährleisten. Commander Ivanova hat als Mitglied Ihrer Mannschaft selbstverständlich Zugang zu diesen Akten. Um offen zu sprechen, Captain, Commander Susan Ivanova gehört in diesem Fall zu den Verdächtigen. Sie stand in enger Verbindung mit einem mutmaßlichen Terroristen, sie arrangierte ein konspiratives Treffen mit diesem Terroristen, und sie hielt sich zur Tatzeit, oder ungefähr zur Tatzeit, unter überaus verdächtigen Umständen in der Nähe des Tatorts auf. Eine Nachricht, die der Terrorist an sie gerichtet hatte, wurde am Tatort gefunden. Offenbar war die Nachricht verschlüsselt, und Commander Ivanova hat sich geweigert, den Text zu decodieren. Während der Befragung verhielt sie sich meinen Mitarbeitern gegenüber feindselig; nur unter Androhung von Arrest erklärte sie sich damit
einverstanden, die ihr gestellten Fragen zu beantworten. Sie gibt an, einen Tatverdächtigen gesehen zu haben, doch es gibt keine weiteren Zeugen; es gibt überhaupt niemanden, der ihre Version der Ereignisse bestätigen würde.« Garibaldi ging wutschnaubend dazwischen. »Sie haben keine Beweise!« Wallace fuhr fort, ohne davon Notiz zu nehmen: »Vor allem jedoch haben wir Grund zu der Annahme, daß der mutmaßliche Terrorist Ortega gewisse Informationen mit sich führte, als er auf die Station kam; Informationen, eine Angelegenheit betreffend, über die zu sprechen mir nicht gestattet ist. Als die Leiche gefunden wurde, fehlte von diesen Informationen jede Spur; Kleidung sowie persönliche Gegenstände wurden nicht gefunden. Deshalb müssen wir davon ausgehen, daß sich diese nun im Besitz einer dritten Person befinden. Vielleicht hat sie Ortega vor seinem Tod jemandem übergeben, vielleicht hat sie ihm jemand gestohlen. Vielleicht sein Mörder oder jemand, der die Leiche fand, nachdem der Mörder bereits verschwunden war. Wir halten es keineswegs für ausgeschlossen, daß einer dieser Beteiligten Commander Ivanova war. Unter diesen Umständen und angesichts der Sensibilität des Falles halte ich es für unumgänglich, daß Commander Ivanova unter Arrest gestellt wird. Es ist ganz undenkbar, sie ihre gegenwärtige Arbeit weiter verrichten zu lassen, da sie jederzeit Zugang zu den Akten hätte.«
Garibaldi starrte Wallace an, als wären ihm während seines Redeflusses Schuppen und ein Schweif gewachsen. Captain Sheridan machte einen irritierten Eindruck. »Diese Anschuldigungen stehen in Ihrem Bericht?« »Oh, das sind keine Anschuldigungen, Captain. Jedenfalls vorerst nicht. Allerdings steht das alles, wie all unsere bisherigen Ergebnisse, in unserem Bericht. Lesen Sie ihn, Captain! Lassen Sie Ihre bisherige Beziehung zu Commander Ivanova außer acht, und urteilen Sie unvoreingenommen!« Garibaldi riß der Geduldsfaden. »Captain, Sie können doch nicht zulassen, daß dieser ...!« Der Captain fiel ihm ins Wort: »Das genügt, Mr. Garibaldi. Das gilt auch für Sie, Commander. Ich werde über die Angelegenheit nachdenken und Ihnen meine Entscheidung mitteilen. Das wäre alles.« Captain Sheridan war wieder allein. Wallace' Report lag vor ihm auf seinem Schreibtisch. Er hatte während seiner Laufbahn vieles tun müssen, das ihm schwergefallen war: Briefe an die Angehörigen der Soldaten zu schreiben, die unter seinem Kommando gefallen waren, das war am schlimmsten gewesen. Aber auch dies hier fiel ihm kaum leichter. Er hatte sich den Bericht angesehen. Wallace' Rat folgend, hatte er ihn mit den Augen eines Mitarbeiters der Earthforce gelesen, auf dessen Schreibtisch er gelandet war. Die Fakten waren
verdreht, so verdreht, daß sie kaum wiederzuerkennen waren. Aber die Fakten ließen sich dennoch nicht abweisen. Ivanova war unbestreitbar verdächtig. Sein Interkom piepste leise. »Captain, hier Ivanova. Sie wollten mich sprechen?« Sheridan zwang sich, ihr offen in die Augen zu sehen, als sie kurz darauf sein Büro betrat. Sie wirkte nervös, vermutlich ahnte sie, worum es ging. »Nehmen Sie Platz, Commander! Ich mache es kurz: Es gefällt mir ganz und gar nicht, aber Wallace' Report läßt mir keine andere Wahl. Bis auf weiteres entbinde ich Sie von allen Pflichten als Mannschaftsangehörige von Babylon 5.« Es schmerzte sie, das konnte er sehen. Sie erbleichte, blieb stehen, blickte starr geradeaus, beinahe als nehme sie Haltung an. Wenn sie auch geglaubt hatte, hierauf vorbereitet zu sein, traf es sie doch schwer. »Möchten Sie etwas sagen?« »Nur«, sie schluckte, »schenken Sie diesen Anschuldigungen Glauben, Sir?« Mit Nachdruck schüttelte er den Kopf. »Nein, aber was ich glaube, spielt leider keine Rolle. Commander Wallace' Standpunkt ist... einleuchtend, wie er ihn darstellt. Und er hat bedauerlicherweise recht: Wir haben nichts als Ihr Wort, daß sich alles nicht so abgespielt hat, wie er behauptet.« »Ich gebe Ihnen mein Wort als Offizier der Earthforce.«
»Das genügt mir«, sagte Sheridan mit Bestimmtheit. »Aber auf einem Posten wie diesem muß der Offizier vom Dienst über jeden Zweifel erhaben sein. Bis zum Beweis des Gegenteils stehen Sie unter Verdacht. Es tut mir leid, Susan.« Ivanova nahm Haltung an. »Würde mich der Captain jetzt entschuldigen ?« »Selbstverständlich.« »Verdammt«, fluchte er, als sie gegangen war. Warum mußte so etwas einem Offizier wie Susan Ivanova geschehen? Er war vertraut mit ihrem Schlag. Nicht ein negativer Eintrag in die Personalakte in all den Jahren. Sie hatte ihr Leben der Armee verschrieben. Ihre Karriere bedeutete ihr alles. Sie hatte sich auf dem Weg nach oben befunden, über den Rang eines Captains hinaus - bis heute. Ganz gleich, ob Wallace offiziell Anklage erheben würde, aus ihrer Personalakte war der Vermerk ihrer Suspendierung vom Dienst nicht mehr zu tilgen. Der Verdacht. Jedesmal, wenn sie künftig auf der Beförderungsliste erschiene, würde er auffallen. Man würde sie übergehen. Sie würde niemals ein eigenes Kommando bekommen. Ihre Karriere war praktisch beendet. Eine verdammte Schande.
10 Garibaldi stand auf dem Korridor vor der geschlossenen Tür. »Kommen Sie, Ivanova! Ich weiß, daß Sie da drin sind. Ich bin's, Mike Garibaldi. Lassen Sie mich rein, ja?« Nichts rührte sich. Er stieß gepreßte Verwünschungen aus. »Ivanova, das bringt doch nichts.« Keine Antwort. »Wissen Sie was, ich geh' hier nicht weg. Ich warte einfach hier draußen, laufe den Korridor auf und ab ...« Von drinnen ließ sich ein gedämpftes »In Ordnung, kommen Sie rein, wenn Sie ohnehin nicht verschwinden!« vernehmen. Die Tür glitt auf. Garibaldi trat zaghaft ein. Ivanovas Quartier war nur schwach beleuchtet. Sie erhob sich von der Couch und kam auf ihn zu. Sie trug ein schlichtes, ziemlich zerknittertes kragenloses Hemd sowie eine wahllos herausgegriffene Zivilhose. Sie ließ die Schultern
hängen, und Garibaldi konnte an ihren Augen erkennen, daß sie geweint hatte. »Also«, sagte sie ohne Anteilnahme, »jetzt sind Sie drin und gehen in meinem Quartier auf und ab. Besser so?« »Schauen Sie, Ivanova, Sie können doch nicht einfach hier im Dunkeln rumhocken. Sie müssen sich dieser Sache stellen. Sie dürfen sich nicht unterkriegen lassen!« »Ich bin erledigt, Garibaldi. Ich wurde vom Dienst suspendiert. Meine sämtlichen dienstlichen Privilegien sind aufgehoben. Ich stehe unter Verdacht. Ich habe einen Eintrag in meiner Personalakte. Was immer geschieht, dieser Eintrag wird nie wieder gelöscht werden. Wenn ich in Zukunft einen Sicherheits-Check über mich ergehen lassen muß, wird das wirken, als blinke in meiner Akte eine Warnlampe auf. Wußten Sie, daß meine Akte bisher tadellos war?« Sie wandte sich ab. »Ich verstehe nicht, wie der Captain das zulassen konnte. Ich meine, er kennt mich. Ich habe schon auf Io unter ihm gedient. Er weiß, was für ein Offizier ich bin. Wenn mir das bei einem anderen Vorgesetzten passiert wäre, aber...« »Hören Sie«, unterbrach Garibaldi ihr Plädoyer. »Ich war dabei in Sheridans Büro. Ich habe mitgekriegt, was Wallace von sich gegeben hat. Er wollte Sie einsperren lassen. Jede Wette, daß er mit seinen ganzen Vollmachten bis zu Earth Central gegangen wäre. Hätten Sie das lieber gesehen?
Sheridan hat versucht, Sie davor zu bewahren. Was hätte er sonst machen können?« Sie zog unbehaglich die Schultern hoch. »Er sagt, er glaubt mir, vertraut meinem Wort.« Ihr Blick wanderte zur Seite, an die Decke, verlor sich schließlich in irgendeinem Winkel des Raumes. »Ich sehe kommen, daß sie mich auf einen anderen Posten versetzen, wo ich weniger Schaden anrichten kann, außerhalb des Kommandostabes. Vielleicht als Shuttle-Pilotin, oder auf irgendeiner Technikerstelle in der Kommandozentrale. Dafür bin ich ausgebildet. Ich schätze, wenn man mich zur Erde zurückschickt, könnte ich einen Job als ...« »Jetzt kommen Sie schon! Ich kann nicht glauben, was ich da höre. Sie werden nicht zulassen, daß diese Schweine damit durchkommen! Sie werden Wallace doch nicht kampflos die Lorbeeren überlassen.« Mit einem Mal wurden die aufgestauten Emotionen in ihrer Stimme hörbar. »Wieso? Das ist es, was ich wissen will. Wieso tun die mir das an? Glauben die im Ernst an diese verrückte Anschuldigung? Wissen Sie, was die behaupten? Das ergibt nicht mal einen Sinn. Zuerst behaupten sie, ich stecke mit Ortega unter einer Decke, im nächsten Atemzug soll ich ihn umgebracht haben. Was geht hier vor, Garibaldi? Wieso ...?« Da blieben ihr die weiteren Worte in der Kehle stecken, und Garibaldi schloß sie unversehens in seine Arme. Er fühlte, wie sie zitterte, als sie versuchte, ihre Tränen
zurückzuhalten. Er verspürte die beunruhigende Wärme ihres Leibes, des Leibes einer Frau an seinem eigenen. In Zivilkleidung, die Haare offen ... Er wollte über ihr Haar streicheln, um ihr Trost zu spenden. Doch das wäre ein Fehler, der größte Fehler, den er machen konnte. Nicht Ivanova, nein. Unbeholfen tätschelte er ihre Schulter. Sie löste sich von ihm, straffte ihren Körper und wischte sich energisch die Tränen aus den Augen. »Tut mir leid.« Er räumte ihr Zeit ein, die Fassung wiederzuerlangen, und fragte sich, warum es Frauen gestattet war zu weinen. Oder warum es Männer als so schwierig empfanden, es ihnen gleichzutun. Während der zurückliegenden Jahre hatte es genug Situationen gegeben, in denen es ihm zum Weinen gewesen war, er sich gewünscht hätte, Trost in jemandes Armen zu finden. Am schlimmsten war gewesen, daß es niemanden gegeben hatte. Er begann allmählich zu glauben, daß es in seinem Leben niemals wieder jemanden geben würde. Doch das war ein anderes Thema, über das er jetzt nicht nachdenken wollte. Sie setzten sich beide. Garibaldi legte sich seine Worte zurecht. »Ivanova, ich weiß, wie das ist, wenn man aufs Kreuz gelegt wird. Ich habe so was schon mal erlebt; und das hier sieht ganz danach aus.« »Aber wieso?« »Tja, ich sag's ungern, aber wenn die einen Verdächtigen gebraucht haben, sind Sie erste Wahl.
Wen sonst hätten sie sich aussuchen sollen? Niemand auf dieser Station außer Ihnen scheint irgendeine Verbindung zu Ortega gehabt zu haben. Also mal angenommen, die wollten jemanden decken. Die vielversprechendste Strategie ist es, jemand anders die Schuld in die Schuhe zu schieben. Sie standen zur Verfügung, die Beweise waren leicht zu manipulieren. Der Fall ist abgeschlossen. Ich weiß, daß Sie davon nichts hören wollen, aber wenn Sie beweisen könnten, daß Sie die Wahrheit sagen...« »Nein!«Ivanova kam aufgebracht auf die Beine. »Nein! Das haben wir doch alles bereits durchgekaut. Das lasse ich nicht mit mir anstellen; niemand wird in meinem Kopf herumschnüffeln. Nicht einmal, wenn es dem Psi-Corps erlaubt wäre, Verdächtige zu scannen. Und das ist es nicht!« Garibaldi seufzte resigniert. Er kannte Ivanovas Ressentiment gegen das Psi-Corps. Sie machte das Corps für den Tod ihrer Mutter verantwortlich. Sie tat sich sogar schwer, Telepathen mit Höflichkeit zu begegnen. »In Ordnung. Dann gibt es nur noch eine Alternative.« »Sie meinen, Ortegas wahren Mörder zu finden?« Er nickte. »Das sollte eigentlich kein Problem darstellen. Immerhin ist das mein Job, bloß im Augenblick ...« »Der Fall wurde Ihnen entzogen.« »Nicht einfach nur entzogen; ich darf nicht einmal über den Fall nachdenken. Sheridan hat mir
einen ausdrücklichen Befehl erteilt: Halten Sie sich aus Wallace' Ermittlungen raus! Keine Einmischung! Wußten Sie, daß der Hurensohn die Hälfte aller Sicherheitsdateien der Station gesperrt hatte? Nicht nur die Ortega-Akte. Nein, die Akten über beinahe jeden, der jemals auf dem Mars gearbeitet hat, waren auf einmal unter Verschluß. Die wollen wirklich nicht, daß irgend jemand mitkriegt, was sich in dieser Sache tut. Ich wünschte, ich könnte an diese Dateien rankommen.« »Ich nahm an, Sie hätten wieder Zugriff.« »Auf alles, ja, ausgenommen Ortegas Akte. Die ist noch immer blockiert. Aber wenn ich auch nur in die Nähe dieser Datei käme, ginge auf der Stelle eine Alarmsirene los, die bis nach Earth Central zu hören wäre. Und jede Wette, Wallace wartet nur darauf, daß ich es versuche.« Ivanova ließ sich wieder neben ihm nieder. »Glauben Sie, die wollten auch Ortega reinlegen? Ich kann mir noch immer nicht vorstellen, daß er etwas mit den Terroristen zu tun hatte.« Garibaldi zog die Schultern hoch. »Wer weiß. Wenn wir nicht rausfinden, warum er überhaupt hierher kam ...» Ivanova dachte nach. »Wissen Sie, Miyoshi hat gesagt...« »Was gesagt?« wollte Garibaldi wissen. »Sie sagte, sie hätten Grund zu der Annahme, daß Ortega Informationen nach Babylon geschmuggelt und an jemanden weitergegeben hat.«
»Jemanden wie Sie.« »Das glaubt sie anscheinend.« Ivanova blickte besorgt drein. »Garibaldi, ich denke, ich verstehe allmählich. Hören Sie zu! Ortega läßt mir eine Nachricht zukommen. Ich treffe ihn, wie vereinbart, um 20:00. Er übergibt mir die Informationen. Da bringe ich ihn um und schleppe die Leiche in die Leitstelle. Ich warte zwei Stunden. Ich lasse mir vom Computer die Zeit ansagen, um den Eindruck zu erwecken, er sei niemals erschienen ...« »Und Sie kommen schnurstracks zu mir gerannt, um ihn als vermißt zu melden und sich so ein Alibi zu verschaffen.« »Auf wessen Seite stehen Sie eigentlich, Garibaldi?« Er war erleichtert, daß sie sich so weit erholt hatte, einen Scherz zu versuchen. »Nein, ernsthaft, Sie brauchten diese zwei Stunden, um ihn auszuziehen und zu durchsuchen.« »Warum das, wenn ich die Informationen schon hatte?« »Richtig. Aber vielleicht hatten Sie sie nicht. Vielleicht hat er sich geweigert, Ihnen diese Informationen zu geben, und deshalb haben Sie ihn umgebracht. Dann haben Sie ihn gefilzt, die Informationen gefunden und die Leiche weggeschafft, um sie zu verstecken.« »Hatte ich die Zeit? In den zwei Stunden?« »Ich glaube schon. Laut Dr. Franklin wurde der Körper ziemlich bald, nachdem der Tod eingetreten
war, in den Schrank gesteckt. Später, nachdem Sie bei mir gewesen waren, hatten Sie dazu keine Zeit mehr.« Es überlief sie kalt. »Allmählich bekomme ich es mit der Angst zu tun. Denken Sie, die glauben das wirklich? Glauben die, ich habe diese Informationen? Wollen die versuchen, sie aus mir rauszuquetschen?« Wieder tätschelte er ihre Schulter wie ein großer Bruder. »Keine Ahnung. Ich wünschte...« »Was?« »... ich könnte die Bedeutung von Ortegas Nachricht entschlüsseln. Hardware. Hardwire. Hardwir... Er muß gedacht haben, Sie wüßten damit etwas anzufangen.« »Möglicherweise hat er sie nicht zu Ende schreiben können. Möglicherweise reichte die Zeit dazu nicht. Er war beunruhigt. Ich habe das wieder und wieder bedacht. Jemand war hinter ihm her. Nehmen wir an, er dachte, seine Verfolger kannten den vereinbarten Treffpunkt, so daß er mich nicht mehr sprechen könnte. Aber er mußte sichergehen, daß ich die Informationen erhalte. Er erschien also etwas früher und begann, die Nachricht an mich zu schreiben, um sie da zu hinterlegen, wo ich sie sicher finden würde. Wer immer ihn getötet hat, kam ihm zuvor, ehe er noch die Gelegenheit hatte, seine Nachricht zu beenden.« »Und der Mörder übersah den Zettel?«
»Ich habe ihn auch nicht gesehen. Und auch sonst niemand, bis Ihre Leute von der Spurensicherung alles durchsucht haben. Er lag zerknüllt auf dem Fußboden. Er wußte, daß es zu spät war, und er wollte nicht, daß sie die Nachricht finden.« »Schon möglich«, bemerkte Garibaldi skeptisch. »Im Augenblick jedenfalls scheint diese Nachricht der Schlüssel zu dem ganzen Schlamassel zu sein. Wenn Sie nur eine Idee hätten.« Sie preßte ihre Fingerspitzen gegen die Schläfen. »Habe ich aber nicht. Glauben Sie mir, ich habe mir bereits den Kopf zerbrochen.« »Nun, ich werde es herausfinden.« »Was meinen Sie?« »Ich meine, daß ich der Sache auf den Grund gehen werde, von Anfang an.« »Das können Sie nicht.« »Wieso nicht?« »Sheridans ausdrücklicher Befehl.« Er schnaubte. »Zum Teufel damit! Sie nehmen doch hoffentlich nicht an, daß ich mich davon aufhalten lasse, wenn Ihre Karriere auf dem Spiel steht? Vielleicht sogar mehr.« Vielleicht sogar mehr. Diese Worte ließen sie ihren Protest hinunterschlucken. »Und was ist mit Ihrer Karriere?« »Lassen Sie das meine Sorge sein!« »Nein, Garibaldi, ich kann nicht zulassen, daß Sie ...«
»Sehen Sie, ich bin doch längst in die Sache verwickelt. Ich stehe bei Wallace auf der schwarzen Liste. Also ist der einzig mögliche Weg, unser beider Karrieren zu retten, dieser Geschichte auf den Grund zu gehen.« »Anscheinend«, sagte Ivanova vorsichtig. »Da bin ich mir ganz sicher«, sagte Garibaldi im Brustton der Überzeugung. »Was also haben Sie vor?« »Herumfragen. Mag sein, Wallace hat die Unterlagen, aber ich habe etwas, das er nicht hat: Kontakte. Trotzdem«, fügte er hinzu, »wird es nicht leicht sein, sie zu nutzen. Die Leute sind beunruhigt, sie fürchten sich.« »Wovor?« »Wenn ich das wüßte.« »Und was mache ich?« »Nachdenken. Versuchen Sie, sich zu erinnern! An alles, was Sie über Ortega wissen. Schreiben Sie alles auf! Und hören Sie, trauen Sie dem Computer nicht! Nicht einmal Ihrem persönlichen Tagebuch, verstanden? Ich habe keine Ahnung, auf was Wallace alles Zugriff hat. Er hat alle meine Paßwörter, und kann sein noch ein paar, von denen wir nichts wissen. Dieser Hurensohn!« schloß er zornig.
11 Man legt einen Köder aus. Dann legt man sich auf die Lauer und folgt den Spuren, die von der Falle wegführen, um herauszufinden, wer den Köder geschluckt hat. Garibaldi mochte die Trapper, über die er in einem alten Buch gelesen hatte. Im Sicherheitsgewerbe gab es bisweilen Zeiten der Muße zum Lesen. Seit er auf Babylon 5 war, allerdings nicht mehr. Wenn er es recht bedachte, konnte man das Leben auf der Station mit dem während der Pionierzeit auf der Erde vergleichen, dem Leben an der Grenze zum Unbekannten. Gefahren und Risiken waren allgegenwärtig; von den meisten ahnte man kaum, daß es sie gab. Ihm gefiel es so. Es bedeutete, er hatte keine Zeit, untätig zu sein und über die Vergangenheit nachzugrübeln. Während er über Fallen, Köder und seine mögliche Beute nachdachte, schlenderte er in Richtung Unterwelt. Er wollte wissen, was nach seiner Unterhaltung mit Mort dem Ohr an die Oberfläche gespült worden war.
Zuerst fiel ihm nichts Außergewöhnliches auf. Lediglich die vertrauten übellaunigen, feindseligen Blicke, die ihm die üblichen übellaunigen, feindseligen Unterweltbewohner zuwarfen, die vergrätzt waren über den Rückgang ihrer Geschäfte, verursacht durch die Gegenwart des Arms des Gesetzes. Doch dann bemerkte er, daß diesmal etwas anders war. Er betrachtete das Schild der Happy Daze Bar, endlich hatte jemand das ohne Unterlaß flackernde D repariert. Garibaldi runzelte verwundert die Stirn, schlüpfte durch die automatische Eingangstür und bahnte sich seinen Weg durch Rauch und Dunst, die man hier für Atemluft hielt. Anstelle von Mort fand er einen unbekannten Barmann vor. Einen der Drazi, die neuerdings in diesem Sektor einen Laden nach dem anderen zu eröffnen schienen. »Sag mal, Freund, hast du meinen Kumpel Mort gesehen? Mort das Ohr? Das ist sein Laden. Ich hab' gehofft, ihn heute hier zu treffen.« »Mort weg.« Garibaldis Verwunderung wuchs. »Was heißt weg? Wohin weg?« Der Drazi machte eine Geste, als wolle er etwas Imaginäres wegwischen. »Weg. Von Station. Hat genommen Transport gestern. Geschäft verkauft. Weit unter Wert«, erläuterte er. »Was?« Der Drazi vollführte eine weitere Geste, wohl um die folgende unglaubwürdige Begründung zu
unterstreichen. »Mort sagen, zuviel Ärger jetzt hier. Verkaufen Bar. Ziehen in Euphrat-Sektor, wegen Frieden und Ruhe.« Garibaldi stieß eine Verwünschung aus. Damit hatte er nicht gerechnet. Die Falle war leer. Die Dinge schienen schlechter zu stehen, als er erwartet hatte. Viel schlechter. Wahrend er noch nachdachte, erreichte ihn ein Anruf über sein Com-Link. »Mr. Garibaldi?« »Garibaldi hier.« Der Anruf kam aus der Sicherheitszentrale. Er war ganz Ohr. »Was gibt es?« »Möglicherweise einen zweiten Mord.« »Ich bin schon unterwegs.« Auf Babylon 5 gab es keine Friedhöfe, doch auch hier starben Individuen. Es gab verschiedene Möglichkeiten, ihre sterblichen Überreste zu entsorgen, entsprechend den Gebräuchen und der paar Dutzend Rassen und etwa hundert bedeutendsten Religionsgemeinschaften auf der Station. Manchmal wurde die Leiche in die Heimat des Verstorbenen überführt, damit dort die Zeremonien durchgeführt werden konnten. Andere wurden in die benachbarte Sonne geschossen. In einigen Ausnahmefällen wurde der tote Körper im Rahmen eines Rituals von den Verwandten und Freunden des Verblichenen verzehrt. Ein Brauch, der von der Leitung der Station hingenommen wurde; Toleranz war der oberste Grundsatz auf Babylon 5.
In jedem Fall galt die Regel, daß die sterblichen Überreste einer intelligenten Lebensform keinesfalls dorthin befördert wurden, wo der gesamte übrige organische Abfall der Station unweigerlich landete: in das Wiederaufbereitungssystem. Aber dennoch, Garibaldi, ein Wiederaufbereitungstechniker, dessen Vorgesetzter sowie die beiden Sicherheitsleute, die als erste auf die Meldung reagiert hatten, nahmen das dort entdeckte Objekt in Augenschein. Und sie gelangten zu dem einstimmigen Urteil: Bei dem Objekt handelte es sich um den Fuß eines Humanoiden, oberhalb des Knöchels sauber abgetrennt. Wahrscheinlich der Fuß eines Menschen. »Haben Sie einen Beutel für Beweismittel?« fragte Garibaldi. »Hier, Chief.« Einer der Sicherheitsleute hielt ihm einen Klarsichtbeutel unter die Nase. Unter Zuhilfenahme einer Zange, die ihm der Leiter der Recycling-Abteilung zu diesem Zweck zur Verfügung stellte, beförderte Garibaldi das Beweismittel in den Beutel, den er verschweißte. »Bringen Sie das ins Med-Lab, und übergeben Sie es Dr. Franklin zur Untersuchung! Er wartet bereits.« Der Sicherheitsmann eilte von dannen, augenscheinlich erleichtert, diesen ungastlichen Ort verlassen zu dürfen. Garibaldi wandte sich an den Abteilungsleiter, einen Mann namens Ryerson, ungefähr in seinem Alter. »Ist das alles?« »Soweit ja.«
»Dann können wir jetzt wohl hier raus.« Sie gingen auf dem Steg, der über das riesige Faß führte, zurück. Ryerson vorneweg, gefolgt von der zweiten Sicherheitswache, der jungen, schmächtigen Torres. Garibaldi folgte. Sie stiegen einige schmale Stufen hinab und überquerten das Netzwerk von Rohren, das zu der Anlage führte. Die Rohre waren an ihren unterschiedlichen Farben zu unterscheiden; der Durchmesser eines jeden übertraf die durchschnittliche Körpergröße eines Humanoiden. Wie das Fusionskraftwerk, war dieser Ort auf seine eigentümliche Weise beeindruckend. Und riesig. Immerhin diente er zweihundertfünfzigtausend Bewohnern einer autarken Welt. »Kommt so etwas häufiger vor?« erkundigte sich Garibaldi und sog die frische Luft am Ausgang ein. Auf Babylon 5 war dergleichen bisher jedenfalls nicht vorgekommen. »Häufiger, als Sie glauben«, erwiderte Ryerson und nickte. »Niemand denkt gern daran, wie das Wiederaufbereitungssystem tatsächlich arbeitet. Das Zeug kommt hier rein und da drüben, am anderen Ende, wieder raus. Alles automatisch, ohne daß irgend jemand es anfaßt oder auch nur zu sehen bekommt. Hübsch sauber und hygienisch. Das funktioniert so lange, wie sich die Leute an die Recycling-Vorschriften halten. Tun sie aber nicht, wie man sieht. Tun sie nie. Immer wieder verstopft etwas die Rohre und Leitungen. Wir müssen dann herausfinden, wo, damit wir wissen, welchen Teil
des Systems wir abschalten müssen. In neun von zehn Fällen hat jemand die Vorschriften mißachtet. Die Leute werfen immer wieder Zeug rein, das im System nichts verloren hat. Sie würden staunen, was wir schon alles aus den Rohrleitungen gefischt haben. Ganz besonders aus denen im Alien-Sektor. Manchmal frag' ich mich wirklich ...« »Wie steht's mit einer menschlichen Leiche, die ein Rohr verstopft?« »Eine Leiche würde uns keine allzu großen Schwierigkeiten machen. Nicht, wenn sie sauber zerlegt wurde, damit sie hineinpaßt. Eine menschliche Leiche besteht zu hundert Prozent aus organischem Material, damit wird das System problemlos fertig. Nein, unser Pfropfen hier bestand aus ungefähr fünfundfünfzig Pfund Solarscheiben aus Silikon, die irgendein Idiot in die organische Müllverwertungsanlage gesteckt hat, ohne sie zuvor in kleine Stücke zu reißen. Die Regeln schreiben das vor. So etwas kommt andauernd vor. Einige lernen es nie. In dem Fall müssen wir da rein, die Rohrleitungen aufmachen und alles reinigen. Ihr Fuß hatte sich da bloß verfangen.« »Haben Sie keine Scanner? Die würden so etwas wie Körperteile in Ihrem System doch bemerken?« »Zum Teufel, ja, Scanner! Die verwenden wir in erster Linie, um Ärger zu vermeiden, um Verstopfungen rechtzeitig zu erkennen. Angenommen, jemand spült einen Datenkristall mit runter, auf dem sämtliche Verteidigungs-Codes der
Station gespeichert sind - den können wir mit dem Scanner finden. Aber Sie haben keine Ahnung, wie viele Kilometer Rohr das gesamte System hat, was es heißen würde, jedes Bröckchen Müll, das hier jede Sekunde durchkommt, zu scannen und zu kontrollieren. Können Sie sich vorstellen, wie Earth Central auf die Kosten für den Aufwand reagieren würde?« »Na schön. Sie meinen also, man könnte eine menschliche Leiche in den Wiederaufbereiter werfen, ohne daß die Kontrollen Laut geben?« »Werfen Sie sie am Stück rein, und es kommt eine Meldung. Eine ganze Leiche würde irgendwo die Rohrleitungen verstopfen. Aber wenn man sie in handliche kleine Stücke zerlegt, würde sie durchrutschen. Wenn die Leute bloß die Vorschriften befolgen würden. Ich erinnere mich, einmal auf der Luna-Kolonie, da hat eine Frau ihren Mann und seine Freundin kaltgemacht. Sie hatte die beiden in flagranti erwischt, wissen Sie? Sie hat sie mit 'nem Küchenmesser kleingeschnitten und in unser System geworfen. Aber der Kopf von ihrem Alten ist irgendwo im Rohr hängengeblieben. Er wurde rausgefischt, und so hat man die Sache dann bis zu ihr zurückverfolgt. Das muß allerdings eine kleine Rohrleitung gewesen sein. Oder der Typ hatte 'nen Riesenschädel.« Ryerson unterbrach sich, als sein Com-Link sich meldete. »Ja?«
»Chef, wann können wir diese Leitung wieder in Betrieb nehmen? Im Zulauf von BRAUN 62 staut sich schon alles.« Ryerson sah Garibaldi fragend an. »Nun?« »Sie haben bestimmt alles abgesucht? Da sind nicht noch mehr Leichenteile drin?« »Nicht in der Hauptleitung. Nicht stromaufwärts von der verstopften Stelle. Stromabwärts, tja, da wird's schon schwieriger. Hinter dem sogenannten Zersetzungsbottich da drüben ... Also wenn Ihr Fuß die Kreuzung da passiert hätte ...« »Okay«, fiel Chief Garibaldi ein, »das heißt, wir können hier nichts mehr tun.« Torres, seiner Assistentin, schien ein Stein vom Herzen zu fallen, als er das sagte. Gemeinsam verließen sie die Wiederaufbereitungsanlage. Garibaldi rieb sich die Stirn an der Stelle, von der sich sein Haaransatz erst kürzlich verabschiedet hatte. »Immer wenn man glaubt, alles zu wissen, alles gesehen zu haben, kommt etwas Neues.« »Da fragt man sich, wie viele Leichen da hineingeworfen werden und nie wieder auftauchen«, sinnierte Torres. »So ist es«, entgegnete Garibaldi. Sie stiegen in den Lift zum Med-Lab, wo sie bereits von Dr. Franklin erwartet wurden, der ihnen mitteilte, daß er die Untersuchung des Leichenteils beinahe abgeschlossen hatte. »Wenn das so weitergeht«, sagte Franklin, als er schließlich sein Büro betrat, »muß die
Sicherheitsabteilung ihren eigenen Gerichtsmediziner einstellen. Nicht, daß diese Untersuchungen en passant nicht interessant wären, aber ich habe noch meine eigene Arbeit und außerdem ein oder zwei Patienten.« »Schon gut«, drängte Garibaldi. »Sagen Sie mir ganz einfach, was Sie herausgefunden haben!« »Es handelt sich um den Fuß eines Menschen, eines Mannes, genau gesagt. Bedenkt man den Zustand des Objektes, so habe ich einen ziemlich guten Abdruck der Fußsohle.« »DNS?« »Wird noch geprüft.« »Todesursache?« »Unbekannt.« »Was ist mit der ungefähren Todeszeit?« Dr. Franklin schüttelte den Kopf. »Nicht in diesem Fall, Garibaldi. An der Zellstruktur erkennt man, daß das Gewebe eingefroren war, ehe es im Wiederaufbereitungssystem landete. Man kann unmöglich feststellen, wie lange. Das kann ein Jahr gewesen sein.« »Noch etwas?« Franklin nickte. »Der Fuß wurde mit einem Laser abgetrennt. Man kann genau erkennen, wo das Gewebe versengt wurde.« »Also zuerst einfrieren, dann zerteilen. Gar nicht übel, so gibt's am wenigsten Dreck. Die Teile kann man so lange eingefroren lassen, wie man will, und dann Stück für Stück mit Hilfe der
Wiederaufbereitungsanlage loswerden. Hier ein Stück, da ein Stück ... Große Klasse.« »Vielleicht ein Serienmörder«, meldete sich Torres eifrig zu Wort. »Der hätte uns hier gerade noch gefehlt«, entgegnete Garibaldi weit weniger eifrig. »Ein Serienmörder, ein Profikiller, Zivilist oder Soldat, Alien oder Mensch, wir haben die Auswahl.« Dr. Franklin musterte die beiden mit einem sonderbaren Gesichtsausdruck. »Sind das nicht ein paar Schlußfolgerungen zuviel bei einer Leiche?« Die Stimme des Computers unterbrach sie: »Die DNS-Analyse der Probe ist abgeschlossen.« Garibaldi fragte schnell: »Computer! Von wem stammt die Gewebeprobe?« »Suchvorgang läuft.« Alle warteten gespannt. Ein Chor von drei Stimmen fragte ungeduldig: »Wer?« Der Computer antwortete prompt: »DNSIdentifizierung: Yang, Fengshi; Ankunft Babylon 5: 18:4:2259; Abreise Babylon 5: 20:4:2259.« Fähnrich Torres stellte die Frage, die allen auf der Zunge lag: »Er ist ohne seinen Fuß abgereist?«
12 Garibaldi zog sich in die Sicherheitszentrale zurück, um das Rätsel um Fengshi Yang zu lösen. Wenn es keine zwei Yangs gab, völlig identische Zwillinge, oder der Mann, wie Torres vermutet hatte, mit nur einem Fuß von der Station abgereist war, lag etwas ernstlich im argen. Als Garibaldi die Passagierlisten der Schiffe checkte, die während der fraglichen Zeit an der Station festgemacht und sie wieder verlassen hatten, formte sich rasch ein Bild. Tatsächlich war Yang vor fünf Tagen, am 18., auf Babylon 5 angekommen; an einem Tag, den Garibaldi so schnell nicht vergessen würde. An jenem Tag war J.D. Ortega getötet worden. Obwohl er der Registratur zufolge die Station zwei Tage später mit der Asimov wieder verlassen hatte, war kein Fengshi Yang auf der Passagierliste des Schiffes verzeichnet, als es am 20. startete. Damit gab es eine Unstimmigkeit in den Berichten. Nun waren dem Chef der Sicherheitsabteilung von Babylon 5 Unstimmigkeiten in seinen Berichten
grundsätzlich zuwider. Ihm gefiel die Vorstellung nicht, daß sich auf der Station Individuen herumtrieben, die den Eintragungen der Registratur zufolge gar nicht da waren oder sie nach deren Angaben bereits vor drei Tagen verlassen hatten. Und am allerwenigsten gefiel es ihm, wenn der Gegenstand der Unstimmigkeiten .in kleine Stückchen zerhackt und in die Wiederaufbereitungsanlage der Station geworfen wurde. Solche Vorfälle erregten sein Mißtrauen. Zu der Zeit, da Yang Babylon 5 offiziell den Rücken gekehrt hatte, darauf würde Garibaldi jede Wette eingehen, war er längst tot, tiefgefroren und im Begriff, sich in seine chemischen Bestandteile zu zersetzen. Doch das war es nicht, was Garibaldis Interesse weckte. Was ihn von der Passagierliste buchstäblich ansprang, war Yangs Abflughafen: Mars. Garibaldi glaubte an Zufälle etwa ebensosehr wie an die Zahnfee. Zwei Männer tot, beide vom Mars. Nur daß Yang, seiner Akte nach, gar nicht vom Mars kam. Seiner Akte nach war er Außenhandelsvertreter einer Kleiderfirma auf der Erde. Schön, aber zumindest war er unmittelbar vor seiner Ankunft auf Babylon 5 auf dem Mars gewesen. Zwei Ermordete, beide vom Mars, beide mit Unstimmigkeiten in den Berichten der Stationsregistratur. Zufall? Garibaldi schnaubte verächtlich.
Gut. Erste Vermutung: Sie wurden beide von derselben Seite getötet. Vielleicht aber auch nicht. Die Beseitigung der Körper war unterschiedlich. Den von Ortega hatte man überaus auffällig deponiert. Oder war der Werkzeugspind nur ein Notbehelf gewesen, um ihn später einzufrieren und ihn dem Wiederaufbereitungssystem zuzuführen, wie sie es mit Yang getan hatten? Zuviel der Vermutungen. Was noch? Er dachte einen Augenblick nach, dann drückte er die Verbindungstaste. »Doc? Garibaldi hier. Ich habe noch eine Frage in der Mordsache Yang.« »Ja?« »Als Sie sagten, Sie könnten die Todesursache nicht feststellen, hatten Sie da den Test gemacht, von dem Sie mir erzählt haben, mit dem man dieses Gift, Chloro-Quasi-Dia-Dingsda, nachweisen kann?« »Dianimidin. Ich hab's probiert, ja, aber bei dem Gewebezustand konnte ich nichts mehr feststellen.« »Es könnte also dasselbe Zeug gewesen sein, das Sie ... in einem anderen Fall gefunden haben, den wir mal auf der Station hatten?« Er erwähnte den Ortega-Mord absichtlich nicht und hoffte, daß Franklin den Wink verstehen würde. »Richtig. Das wäre durchaus möglich. Aber ich kann mich unmöglich festlegen. Außer wenn Sie mir einen Teil von ihm bringen, der besser erhalten ist.«
»Laut Ryerson eher unwahrscheinlich. Danke, Doc.« »Sonst noch etwas?« »Nein. Im Augenblick nicht.« Garibaldi lehnte sich einen Moment nachdenklich zurück, ehe er Fähnrich Torres kommen ließ. Sie war jung, klug, sehr engagiert, obgleich letztere Eigenschaft ihre Grenzen kannte, sobald das Abfallsystem ins Spiel kam. Mit Sicherheit war sie imstande, eine unabhängige Aufgabe zu übernehmen. »Chief?« »Fähnrich Torres, es sieht so aus, als habe jemand die Akten von unserem Mr. Yang durcheinandergebracht.« »Es hat den Anschein. Wissen Sie, ich habe mich bereits gefragt, ob dieser Fall nicht in Beziehung zu dem anderen stehen könnte. Dem anderen Mord. Keines der Opfer ist ordnungsgemäß in der Stationsregistratur aufgeführt.« Vielleicht ist sie ein wenig zu klug, dachte Garibaldi. Sehr vorsichtig entgegnete er: »Ich glaube nicht, daß es eine Verbindung zwischen den Fällen gibt, Torres. Wenn dem so wäre, könnte es womöglich an Dinge rühren, die wir nicht zu untersuchen autorisiert sind.« Das ernüchterte sie. »Ja, Chief, Sie haben recht. Genaugenommen sehe ich überhaupt keine Ähnlichkeit zwischen den beiden Fällen.«
»Wenn das so ist, wie war's dann, wenn Sie sich mal in den Yang-Fall reinknien?« Sofort hellte sich ihre Miene auf. »Gern, Chief.« »Gut. Hier ist Yangs Akte. Wie Sie feststellen werden, ist alles ein bißchen dünn. Aber er war im Kleidergeschäft, das könnte ein Anfang sein. Überprüfen Sie die Händler auf der Station, finden Sie raus, mit wem er Geschäfte gemacht hat, wer seine Partner waren, ob er Feinde hatte. Trug er Wertsachen bei sich? Sie werden schon wissen, welche Fragen zu stellen sind.« »Ich fange gleich damit an. Danke, Chief.« »Schön. Ich erwarte Ihren Bericht.« Torres verließ das Sicherheitsbüro voller Stolz und hellauf begeistert. Garibaldi tadelte sich, daß er sich eigentlich schämen sollte, bei einer so reizenden und smarten jungen Dame wie Torres einen solchen Trick zu versuchen. Die Erfahrungen während ihrer Ermittlungen würden ihr jedoch nicht schaden, und, wer weiß, vielleicht würde sie dabei sogar auf etwas Nützliches stoßen. Und während sie andernorts beschäftigt war... Garibaldi wandte sich wieder seinem Monitor zu, wo Yangs offizielle Akte zu sehen war, daneben die Passagierliste der Asimov, und ein Eintrag, ein Wort, das der Schlüssel zu allem sein konnte: Mars. Dieses Mal fischte er nicht bloß im trüben ... oder legte auf gut Glück Köder aus. Dieses Mal ging er zielstrebig vor. Er hatte Fragen, und er wollte Antworten.
Er fand Nick Patinos in der schwerkraftreduzierten Sporthalle bei Taekwondo Übungen mit einer großen dunklen Alienfrau, die mit Zeitlupen-Grazie tanzte und schwebte, als sie Nicks Schläge parierte. Ihre Schritte und Sprünge waren in der niedrigen Schwerkraft langsam und kontrolliert; jede Bewegung schien endlos gedehnt. Nick hatte Mühe, mit seiner Gegnerin mitzuhalten. Garibaldi wußte jedoch genug über Kampfsport, um zu erkennen, daß sein alter Freund eine Menge dazugelernt hatte, seitdem sie beide das letzte Mal gegeneinander angetreten waren. Er hegte Zweifel, ob er Nick nun noch zu schlagen vermochte, und er bedauerte, daß ihn tausend Dinge, die Zwänge seines Jobs, daran gehindert hatten, in der Form zu bleiben, in der er sein sollte. Das hieß indes nicht, daß er sich außer Form fühlte. Der Kampf war zu Ende. Nick verbeugte sich vor seiner Partnerin und stieß sich dann mit einer langen, langsamen Rolle in Garibaldis Richtung ab. Zwei Meter vor ihm kam er zum Stehen. »Mike.« Er hielt den Stab in der Ausgangsposition. »Bereit für eine Runde oder zwei?« Garibaldi lehnte ab. »Nicht heute. Ich bin dienstlich hier, Nick.« Nick drehte sich so schnell weg, wie es die niedrige Schwerkraft erlaubte. »Mike, ich dachte, ich hätte mich klar genug ausgedrückt. Ich sage nichts. Nicht jetzt. Nicht darüber.«
»Nicht worüber?« Garibaldi bemühte sich, seine Stimme im Zaume zu halten, als er sah, wie einige Leute in der Sporthalle die Köpfe in ihre Richtung drehten. »Verdammt, was geht hier vor, daß keiner mit mir reden will?« Nick führte ihn weg, in den Umkleideraum, wo das Geräusch von Duschen und Gebläsen ihre Stimmen überdeckte. »Ich sag' dir, Mike, ich weiß nicht, was los ist. Alles, was ich weiß, ist... daß ich nichts wissen will. Ist sicherer so. Was ich nicht weiß, kann keiner aus mir rausholen.« »Worüber redest du überhaupt? Ich bin der Sicherheitschef dieser Station.« »Ja, aber diese Typen von Earth Central arbeiten nicht für dich, oder? Sie arbeiten für jemanden ein gutes Stück weiter oben. Die sind überall auf der Station aufgetaucht, sie haben Leute zum Verhör weggeschleppt, Leute, die nichts getan haben. Sie sagen nicht, warum, sie sagen nicht, wonach sie suchen. Ich möchte nicht, daß mich diese Typen auflesen und in meinem Hirn nach was rumstochern, von dem ich nichts weiß.« »Worüber redest du überhaupt? In deinem Hirn rumstochern?« Nick wirkte plötzlich verunsichert. »Das hab' ich jedenfalls gehört.« »Du glaubst, sie haben einen Telepathen, der für sie arbeitet? Aber es gibt nur einen Telepathen auf der Station.« Er hielt inne. War er sich dessen so sicher?
»Mike, es ist mir gleich, wie viele Telepathen die haben.« Er unterbrach sich, schaute sich um. Der Umkleideraum war in diesem Augenblick leer. »Du willst wissen, was vorgeht? Gut, ich sag' dir, wie es ist. Du warst letztes Jahr nicht auf dem Mars, oder? Während des Aufstands? Du warst auf der Station.« »Du doch auch.« »Ja, aber ich habe Bruder und Schwester daheim. Was die mir erzählt haben ... Es war schlimm dort, Mike. Soldaten überall, Verhaftungen, sie haben nicht mal Fragen gestellt, bevor sie die Leute mitnahmen. Die zwei Kinder meiner Schwester waren in der Schule, der Olympus-Universität. Es gab Demonstrationen. Truppen marschierten auf, schlossen den Bau, nahmen jeden mit, den sie sahen. Drei Monate lang hielten sie die Kinder meiner Schwester fest. Keine Anklage, sie hatten nichts gegen sie in der Hand, sie waren bloß am falschen Ort, als die Unruhen losgingen. Genug, um sie als Terroristen zu verdächtigen. Hörst du, was ich sage? Ich kenne diese Kinder, ich habe sie mit großgezogen, nachdem ihr Vater bei einem Bergwerksunglück ums Leben gekommen war. Sie haben vielleicht bei einer friedlichen Demonstration mitgemacht, aber bestimmt nicht beim >Speer des Ares< oder einer von diesen Gruppen für einen freien Mars. Aber machte das Earthforce was aus? Nein, sie hielten sie drei Monate lang fest.
Und jetzt hast du diese Typen auf der Station, die andere bloß deswegen zum Verhör wegschleppen, weil sie vom Mars kommen. Du willst wissen, was los ist? Das ist los. Und es macht den Leuten angst. Und ich sage dir noch was. Einige von denen, die sie verhört haben, sind nicht zurückgekommen.« »Was sagst du da?« »Ein Kumpel von mir hatte letzte Nacht eine Verabredung zum Essen mit einem Mädchen aus den Vermessungsbüros. Sie sagte, sie wäre nicht sicher, ob sie's schafft, sie müßte zuerst zu diesem Earthforce-Offizier, um ein paar Fragen zu beantworten. Nun, sie tauchte nie zu der Verabredung auf, ging nicht ans Interkom. Angeblich hat man sie auf die Erde gebracht. Ohne Grund.« Garibaldi war bestürzt. Weniger über das, was er gerade gehört hatte. Er war alles andere als naiv. Wallace, das lag auf der Hand. Aber weshalb hatte er nichts davon mitbekommen? Warum hatte ihn niemand davon unterrichtet? Natürlich, er hatte versucht, Ivanova zu helfen, und dann dieser Mord an Yang. Trotzdem ... »Nick, ich versichere dir, ich hatte keine Ahnung. Aber ich werde mich darum kümmern, versprochen! Dein Freund, wie heißt der?« »Kein Kommentar.« »Verdammt! Nick!« »Hey, ich liefere meine Freunde nicht ans Messer, Mike. Das habe ich nie getan. Ich setze dich
höchstens über ein paar Dinge ins Bild, aber das war's dann schon.« »Dein Freund könnte also da mit drinhängen?« »Das habe ich nicht gesagt. Ich weiß es nicht. Alles was ich weiß, ist, daß er nicht will, daß irgendwer bei der Earthforce seinen Namen kennt.« »Also gut«, seufzte Garibaldi, »noch mal von vorne. Der Bursche, nach dem ich suche, hat nichts zu tun mit... dieser anderen Geschichte. Wie du weißt, bin ich den Fall los. Dies ist eine eigenständige Untersuchung.« Das war zumindest die offizielle Version. Nick zog die Stirn kraus und wartete. Garibaldi holte einen Viewer aus der Tasche und klickte das Holo-Bild von Fengshi Yang aus dessen Akte an. Wie ein Geist schwebte es zwischen ihnen. »Kennst du diesen Typ ? Hast du ihn schon mal gesehen ?« Nick schüttelte den Kopf. »Wo zum Beispiel?« »Hier auf der Station? Oder auf dem Mars?« »Tut mir leid, nein. Warum? Wer ist das?« »Wer war das, paßt besser. Heute früh tauchte seine Leiche auf.« »Du meinst, man hat ihn ermordet?« »Sieht so aus. Wir versuchen, seine Wege zu rekonstruieren, mit wem er zusammengewesen sein könnte.« »Und warum kommst du damit zu mir?« »Er könnte vom Mars gekommen sein. Zumindest war sein letzter Abflughafen Mars.«
Da ging Nick Patinos an die Decke. »Du willst mir weismachen, daß das nichts mit dieser anderen Sache zu tun hat? Erwartest du im Ernst, daß ich das glaube? Eine eigenständige Untersuchung? Komm schon, Mike! Ein Typ wird umgebracht, und die einzige Spur, die du hast, führt zum Mars? War er auch noch des Terrorismus verdächtig? Wer ist als nächstes dran?« »Ich weiß es nicht. Warum, glaubst du denn, versuche ich das rauszufinden? Wenn die Morde miteinander in Verbindung stehen, will ich das wissen. Aber ich habe keinen Anhaltspunkt. Ich weiß ja nicht mal, ob sein Name wirklich Yang ist. Jemand hat seine Akte in der Stationsregistratur manipuliert. Das einzige, was ich bis jetzt rausgefunden habe, ist eben, daß er vom Mars kam. Also arbeite ich mit dem, was ich habe. Und wenn sich rausstellt, daß beide Fälle miteinander zusammenhängen und dieser Earthforce-Wallace dahinterkommt, übernimmt der das Kommando und läßt mich im Regen stehen.« Nick wiegte den Kopf. »Tut mir leid. Ich kann dir wirklich nicht helfen.« Er wandte sich zum Gehen. Garibaldi unternahm einen letzten Versuch. »Ist wohl nicht anzunehmen, daß dieser Freund von dir weiß, wer Yang war?« »Ich frage ihn, okay? Ich hör' mich um. Mehr kann ich nicht tun, Mike. Nicht mal für dich.« »Danke«, sagte Garibaldi. Nick schob sich durch die Tür und war verschwunden. Ein paar Männer
kamen in die Duschräume und warfen Garibaldi fragende Blicke zu. Er steckte den Betrachter mit Yangs Holo-Bild weg. Es gefiel ihm nicht, was er zu hören bekommen hatte. Und was war es, das Nick Patinos vor ihm zu verbergen suchte? Immerhin hatte er dafür einen guten Grund. Und dieser Grund hieß Commander Ian Wallace.
13 In meinem Hirn rumstochern, hatte Nick Patinos gesagt. Garibaldi fragte sich, wie sich das wohl anfühlen mochte. Die Leute hatten Angst vor Telepathen, jedenfalls die meisten. All seine Schwächen entdeckt zu sehen, alle schlimmen Geheimnisse, die Dinge, die nie jemand erfahren sollte. Er hatte mit Sicherheit genug von der Sorte. Und selbst angesichts all der Psi-Corps-Regularien und Restriktionen hatte er immer wieder die unangenehme Vorstellung, daß Talia Winters stets sagen konnte, was er dachte. Die Lifttüre öffnete sich, und da war sie. Ein Zufall? Sie blickte ihn an, schloß dann die Augen. Sie sah niedergeschlagen aus, erschöpft, bleich. Wovon? Garibaldi hatte eine ziemlich genaue Vorstellung, wovon. Zumindest offiziell war Miss Winters gegenwärtig der einzige Telepath auf Babylon 5. Wenn also jemand in Gehirnen herumstocherte, dann mußte sie das sein. Nur wollte diese Vorstellung nicht recht zu dem passen, was er von
Talia Winters wußte. Sie war einfach nicht der Typ, der in Gehirnen herumstöberte. Nicht, daß es den Typ nicht gab. Garibaldi war auf wenigstens einen Psi-Polizisten getroffen, der einem das Hirn ausbrannte, wenn man ihm nur zublinzelte. Aber so sehr Talia Winters auch ihre kühle, unnahbare Erscheinung wahren mochte, war sie doch überaus empfindsam. In ein grausames oder abwegiges Bewußtsein einzudringen war für sie eine schmerzhafte Erfahrung. Dennoch war es ihr Job. Wenn so etwas getan werden mußte, war es ihre Pflicht. Das Psi-Corps nahm sie unter seine Fittiche, das war der Preis. Und heute nacht sah es so aus, als sei der Preis hoch gewesen. Garibaldi hatte seine Unterredung mit Nick Patinos mit dem Gefühl beendet, ein paar Köpfe abreißen zu wollen. Vornehmlich den von Wallace, aber er konnte sich auch ein paar andere vorstellen, die ihm genügen würden. Auf seiner Station wurden Leute eingesperrt, und er wußte nichts davon. Unerwartet bot sich ihm hier eine weitere Informationsquelle. »Miss Winters? Talia?« Sie hob müde ihren Blick. »Mr. Garibaldi?« »Sie sehen erschöpft aus. Möchten Sie vielleicht einen Drink?« »Ich weiß nicht...« »Es gibt etwas, was ich Sie gern fragen würde.« Sie seufzte. »Einen Drink könnte ich vertragen. Es ist ein langer Tag gewesen.«
Im Restaurant sank sie auf einen Stuhl und wischte mit einer behandschuhten Hand ihr blondes Haar aus ihrem blassen Gesicht, während Garibaldi ihren Wein und sein Wasser holte. »Danke«, sagte sie und nahm ihr Glas entgegen. »Ein harter Tag, hm?« fragte Garibaldi. »Ich nehme nicht an, daß er die Überwachung der Verhöre durch Commander Wallace beinhaltete, oder?« Sie richtete sich abrupt auf und versuchte, abweisend dreinzuschauen. »Mr. Garibaldi, Sie wissen, daß ich mit Ihnen nicht darüber sprechen darf, wenn es das ist, was Sie im Sinn haben.« »Sehen Sie, Miss Winters, ich möchte ja keine Abschrift von den Befragungen. Ich versuche keinesfalls, mich in seine Untersuchungen einzumischen ...« Eine kurze Pause, während der er daran dachte, daß sie spüren konnte, ob er log. »Ich habe mit einigen Leuten geredet, und sie haben Angst. Es gibt Verhaftungen, Verhöre. Jemand erwähnte Telepathen, die in Gehirnen rumstochern. Und wenn das nicht Sie sind ...« »Ich verstehe.« Sie seufzte abermals. »Gut. Commander Wallace hat mich gebeten, an seinen Ermittlungen teilzunehmen. Aber niemand schnüffelt in irgendeinem Gehirn herum. Ich sage lediglich, ob die Zeugen bei der Wahrheit bleiben. So wie ich es bei jeder anderen Ermittlung auch tun würde.«
»Und alle machen freiwillig mit? Die ganzen Zeugen? Keiner wird gezwungen?« »Mr. Garibaldi, ich kann nicht sagen ...« »Aber die Leute haben Angst, nicht wahr?« »Es ist ganz natürlich, daß jemand angespannt ist, wenn er von den Behörden vernommen wird. Sie sollten das wissen.« »Aber die Erkenntnisse eines Telepathen sind vor Gericht nicht zugelassen.« »Ich glaube nicht, daß das hier zur Debatte steht«, räumte sie widerstrebend ein. »Haben Sie etwas darüber gehört, daß bestimmte Zeugen für weitere Verhöre zur Erde gebracht werden?« »Nein, darüber weiß ich nichts.« »Und was ist mit Commander Wallace? Sagt er die Wahrheit?« »Mr. Garibaldi!« »Gut, gut.« Er fand sich mit kaum verhülltem Widerwillen in seine Niederlage. »Ich weiß ja nicht mal, weshalb Sie mir all diese Fragen stellen. Schließlich wurde ein Mann umgebracht, es gibt eine schwerwiegende Attentatsdrohung ...« »Die gibt es? Tatsächlich?« »Ich weiß nicht, was Sie meinen.« »Nicht?« Nun war seine Neugier endgültig angestachelt.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, daß es gegen die Psi-Corps-Regeln ist, in die Gedanken einer Person einzudringen.« »Na schön, dann wissen Sie halt nicht, was ich meine. Sagen Sie mir eins: Könnte Commander Ivanova mit der Bewegung >Freier Mars< zu tun haben? Mit Terroristen? Hatte sie irgendwas mit Ortegas Tod zu schaffen?« »Ich kann wirklich nicht sagen ...« »Aber Wallace wollte sie ihres Kommandopostens entheben. Wissen Sie, warum? Glaubt er es?« Sie schüttelte den Kopf, drehte sich von ihm weg. »Sie wissen, daß ich darüber nicht sprechen kann. Warum fragen Sie mich aus?« »Weil ich Ivanova helfen will. Und die Wahrheit darüber rausfinden möchte, was hier im Gange ist. Deshalb.« Talia Winters fand ihren Wein auf dem Tisch, nahm einen Schluck. »Ich bin mir nicht mal sicher, ob sie meine Hilfe will«, sagte sie langsam. »Ich bin nicht gerade Commander Ivanovas Busenfreundin.« »Sie wissen, daß es nichts Persönliches ist«, sagte Garibaldi. »O ja, ich weiß. Und ich verstehe ihre Beweggründe. Ich weiß, wie ihr wegen ihrer Mutter zumute ist, was das Psi-Corps ihr angetan hat. Sie schaut mich an, und was sie sieht, ist das Psi-Corps. Ich weiß das. Aber das macht es nicht leichter, mit ihr auszukommen. Ich habe es versucht.«
»Helfen wollen Sie ihr aber?« »Wenn ich kann. Doch ich kann nicht. Nicht, wenn sie nicht mitmacht. Verstehen Sie? Ich möchte ihr ja helfen ...» »Ich verstehe.« »Es gibt Regeln.« »Klar.« Talia Winters verknotete ihre Finger, schaute in ihr halbleeres Weinglas. »Und Sie sind sicher, daß sie nicht... in irgendwas drinsteckt?« »So sicher, als würde ich ihre Gedanken lesen«, erwiderte Garibaldi fest. »Man hat sie hochgenommen. Reingelegt. Wallace hat das getan. Ich kenne den Grund nicht, aber ich bin mir vollkommen sicher.« »Ich verstehe«, flüsterte Talia und drehte ihr Glas. »Ich denke, ich verstehe.« Es war noch früh am Morgen, aber Captain Sheridan war bereits in der Kommandozentrale. Es gab viel zu tun. Babylon 5 war anders als jeder Kommandoposten, den er bis dahin innegehabt hatte, in diplomatischer Hinsicht mindestens ebenso wie in militärischer. Mit all den Zivilisten, die kamen und gingen, war es beinahe so, als würde er eine Stadt befehligen. Aber er hatte über einen erfahrenen ausführenden Offizier verfügt - bis jetzt. Er vermißte Ivanovas Unterstützung. Natürlich gab es auch andere Offiziere auf der Station, aber da war niemand mit ihrer Erfahrung bei der Leitung dieses Ortes. Ohne sie schien es zehnmal so viele Anfragen
zu geben, zehnmal so viele Notfälle, die er an niemanden delegieren konnte. Wenn sich Ivanova bloß nicht auf diese verdammte Ortega-Affäre eingelassen hätte. Das war etwas, das er sobald wie möglich auf geklärt und beseitigt wissen wollte. Neu auf Babylon 5, hatte er schon genug Probleme ohne die Terroristendrohung, die über der Station hing. Garibaldi war noch spät in der letzten Nacht bei ihm gewesen, feuerschnaubend, und hatte sich beschwert, daß Wallace auf Babylon 5 einen Polizeistaat installierte. Auf der ganzen Station liefen Gerüchte um über Leute, die aus keinem anderen Grund verhaftet wurden, als daß sie vom Mars kamen. Es gab Gerüchte über erzwungene telepathische Sondierungen, selbst über Folterungen und Drogen. Aber trafen diese Gerüchte zu? Gab es denn überhaupt eine Grundlage dafür? »Ich bin mir noch nicht sicher, inwieweit sie begründet sind«, hatte Garibaldi auf Sheridans Fragen erwidert. »Ich weiß nur soviel, daß sie nicht völlig gegenstandslos sind. Aber selbst wenn es sich dabei um nichts weiter als um Gerüchte handelt, verweist das doch auf eine reale Unruhe auf der Station. Die Arbeiter, die Leute, auf die wir bei der Führung dieses Ortes angewiesen sind, haben Angst. Sie haben Angst, und sie sind wütend. Meiner Ansicht nach stellen diese Gerüchte eine ernsthafte Bedrohung der Ordnung und Sicherheit dar.«
»Und noch was«, war er nach einer Pause fortgefahren, als ob das nicht schon genug gewesen wäre. »Meines Wissens hat Commander Wallace den ihm unterstellten Mitgliedern des Sicherheitsdienstes befohlen, von mir keine Order entgegenzunehmen und mir keine Details von dem mitzuteilen, was er auf der Station treibt. Diese ganzen Verhaftungen ... Meinen eigenen Leuten wurde befohlen, sie vor mir zu verbergen. Verdammt, die halbe Station wußte vor mir darüber Bescheid!« Das war ein weiteres Problem, dem sich Captain Sheridan irgendwann heute stellen mußte. Wieder einmal Garibaldi und Wallace, die sich um Kompetenzen stritten. Er seufzte. »Captain Sheridan?« Sheridan unterdrückte einen Fluch und holte tief Luft. Ebensogut könnte er gleich aufgeben. Wenn es einmal begonnen hatte, würde es nicht mehr aufhören. »Ja? Was gibt es?« »Captain, Miss Winters würde Sie gern aufsuchen. Haben Sie Zeit?« Resigniert entgegnete er: »Ja, lassen Sie sie reinkommen. Gibt es noch weitere Anrufe?« »Bis jetzt nicht, Captain.« Die Telepathin betrat das Büro. Sie schien besorgt, wegen irgend etwas beunruhigt. Er lächelte, um es ihr leichter zu machen. »Miss Winters. Kommen Sie rein, setzen Sie sich. Gibt es ein Problem, bei dem ich Ihnen helfen kann?«
»Nun, Captain ...« Sie saß hochaufgerichtet auf der Kante ihres Stuhles. »Sie werden wissen, daß mich Commander Wallace gebeten hat, ihn bei der Befragung von Zeugen im Ortega-Fall zu unterstützen. Ich weiß, es gehört zu meinen Pflichten, den Behörden in derartigen Belangen zu helfen, aber ich möchte wirklich ... Captain, kann er mir befehlen, das zu tun?« Sheridan runzelte die Stirn, als er sich daran erinnerte, was Garibaldi letzte Nacht gesagt hatte. »Warum? Ist etwas nicht in Ordnung daran?« »Ich bin mir nicht sicher. Einige scheinen nicht freiwillig zugestimmt zu haben, sich scannen zu lassen. Commander Wallace nennt sie Zeugen im Mordfall Ortega, aber die meisten wissen darüber überhaupt nichts. Er spricht von Terrorismus, aber er scheint mir derjenige zu sein, der hier terroristische Methoden anwendet. Ich bin einfach nicht glücklich darüber, in all das verwickelt zu sein.« »Schon klar. Nun, Miss Winters, wenn Sie wissen wollen, ob Commander Wallace Ihnen die Mitarbeit befehlen kann, ist die Antwort: Nein, er kann es nicht. Sie unterstehen nicht militärischer Befehlsgewalt. Andererseits macht es, wie Sie wissen, Ihre Lizenz als Telepathin nötig, mit den legalen Behörden zu kooperieren. Sie können sich weigern, aber dann hätte Commander Wallace das Recht, sich beim Psi-Corps über Sie zu beschweren, und möglicherweise um die Mitarbeit eines anderen Telepathen nachzusuchen. Sie wissen wohl besser
als ich, wie das Psi-Corps in diesem Fall reagieren würde.« Talia sah unglücklich aus. »Nun, ja, ich bin mir dessen bewußt. Ich habe mich nur gefragt... Ich meine, Sie stehen über ihm, Sie tragen die Verantwortung für Babylon 5. Können Sie Commander Wallace befehlen, seine Untersuchung auf andere Weise durchzuführen?« »Nun ja«, begann Sheridan. Die Antwort ließ dieses Mal länger auf sich warten. »Da haben wir ein Problem. Ich habe zwar das Kommando über die Station, aber in der Angelegenheit dieser Untersuchung kommen Commander Wallace' Befehle direkt von der Zentrale. In dieser Hinsicht ist er mit der vollen Befehlsgewalt ausgestattet. Wenn Sie also wissen wollen, wo mein Zuständigkeitsbereich endet und der seine beginnt ... Das ist so eine Art Grauzone. Was aber keiner von uns in dieser Situation will, ist eine Einmischung von Earth Central.« »Ich verstehe.« »Natürlich kann ich mit dem Commander sprechen. Ich kann ihm Ihre Besorgnis mitteilen.« »Danke, Captain.« »Tut mir leid, daß ich Ihnen keine größere Hilfe sein kann, Miss Winters, aber ich fürchte, wenn der Commander auf Ihrer Mitarbeit besteht, wird das eine Sache zwischen Ihnen und dem Psi-Corps sein.«
Sie erhob sich. »Ich bin froh, daß Sie sich die Zeit für mich genommen haben.« Sheridan sah ihr nach, glücklich darüber, daß er kein Telepath war. Das Psi-Corps hatte seine eigene Disziplin, die anders war als die des Militärs. Hermetisch. Die stärksten Telepathen wurden Polizisten, um die übrigen zu kontrollieren. Er nahm an, daß das so sein mußte, aber da war doch etwas Finsteres um das Corps in den schwarzen Uniformen. Er hoffte, daß mit Miss Winters alles in Ordnung war, aber er hatte ihr nichts als die Wahrheit gesagt; er konnte sich nicht wirklich einmischen, um ihr beizustehen. Jedenfalls nicht, ohne Wallace herauszufordern. Aber vielleicht war Wallace ja vernünftigen Argumenten zugänglich. Jedenfalls hoffte er das. Er kippte den Schalter seiner Interkom. »Hier Captain Sheridan. Commander Wallace, ich würde gern mit Ihnen bei der frühestmöglichen Gelegenheit sprechen.« Er erhielt keine Antwort. Sheridan befahl der Kommandozentrale: »Kontaktieren Sie Commander Wallace für mich! Er soll mich anrufen. Dringend.« Einen Augenblick später kam die Antwort. »Captain, keine Rückmeldung von Commander Wallace.« Sheridans Gesichtsausdruck verdüsterte sich. »Kontaktieren Sie ihn noch mal! Machen Sie das,
bis es klappt! Ich befehle ihm, sich in meinem Büro zu melden. Jetzt.« Wallace tauchte weder in der nächsten Minute auf noch in den nächsten zehn. Mit zwei Stunden Verspätung erschien er in der Kommandozentrale. Sheridan konnte ihm die kalte Wut darüber ansehen, daß man ihn herzitiert hatte. Aber es war ihm einerlei. »Commander, ich habe Sie bereits vor geraumer Zeit gerufen. Sie haben nicht geantwortet.« »Ich habe einen Zeugen verhört. Ich befahl die Abschaltung aller Verbindungen.« »Commander, ich fange an, einige Fragen hinsichtlich der Ausübung Ihrer Autorität auf dieser Station zu haben. Und genau in diesem Augenblick steuern Sie noch eine bei. Als kommandierender Offizier von Babylon 5 erwarte ich eine Antwort, wenn ich Sie kontaktiere. Oder halten Sie sich für ausgenommen von den üblichen Regeln und Verfahrensweisen der Earthforce?« Wallace entgegnete steif: »Nein, dem ist nicht so.« »In diesem Fall erwarte ich, daß Sie in Zukunft eine Leitung für Notfälle offenhalten. Jetzt möchte ich Ihnen, wie ich schon sagte, einige Fragen hinsichtlich der Art und Weise stellen, wie Sie Ihre Untersuchung durchführen. Es gibt Gerüchte, daß Sie unzulässige Methoden zur Erlangung von Informationen anwenden, und das sorgt für Unruhe auf der Station bis zu einem Grad, der Sorgen über
die Sicherheit aufkommen läßt. Auch die lizensierte Telepathin der Station hat ihren Vorbehalten Ausdruck verliehen.« Wallace' Miene blieb hart. »Captain, ich bin Ihnen über die Durchführung meiner Ermittlungen keine Rechenschaft schuldig. Wenn Ihre Station Sicherheitsprobleme hat, muß Mr. Garibaldi damit fertig werden. Das ist sein Job, wie er wiederholt betont hat. Und wenn Sie meine Autorität in Frage stellen wollen, schlage ich vor, daß Sie Earth Central kontaktieren.« »Das werde ich, Commander.« »Ist sonst noch etwas, Captain?« »Nein. Sie können gehen. Aber bleiben Sie erreichbar. Das ist ein Befehl.«
14 Das Atmen in der Kommandozentrale schien leichter, nachdem Wallace draußen war. Sheridan hatte jedoch die unangenehme Empfindung, einen Fehler gemacht zu haben. Zu dumm, daß er die Geduld verloren hatte, ein Effekt, den Commander Wallace allgemein auf andere zu haben schien. Und jetzt würde er bei Earth Central um Klarstellung nachsuchen müssen, wo die Grenzen seiner Autorität lagen, und es gab keine Garantie dafür, daß ihm die Antwort gefallen würde. Aber vielleicht war diese Zuspitzung von Beginn an unausweichlich gewesen, von dem Zeitpunkt an, da Wallace seinen Fuß auf Babylon 5 gesetzt hatte. Garibaldi hatte es kommen sehen, und er hatte versucht, ihn zu warnen. Nun, wenn es ohnehin unausweichlich war ... »Einen Goldkanal zur Übermittlung einer Nachricht zur Erde, bitte!« ... könnte er es ebensogut gleich hinter sich bringen.
Talia Winters hielt kurz inne, bevor sie die Tür zum Interviewraum öffnete. Verhörzimmer schien ihr zutreffender. Der Raum war ein Bestandteil von Commander Wallace' privaten Befragungsmethoden, das, was er seinen Kommandobereich nannte. Ein Mann saß auf einem Stuhl in der Mitte des Raumes, und an ihrem Tisch thronte Lieutenant Miyoshi, die mit ihren flachen, schwarzen Augen aufblickte. »Sie sind spät dran.« »Ich hatte zu tun. Und eine Verabredung mit dem Captain.« »Jede Minute, die Sie zu spät sind, verzögert diese Untersuchung.« Miyoshi funkelte sie an. »Von nun an haben Sie nichts anderes zu tun. Sie sind die einzige lizensierte Telepathin auf dieser Station. Unsere Ermittlung benötigt Ihre Dienste. Uns wurde zugesichert, daß Sie verfügbar sind.« »Nun machen Sie aber mal halblang!« »Nein, ich habe lange genug gewartet. Es ist genug. Ich habe heute noch vier Zeugen zu befragen, die möglicherweise alle lügen.« Miyoshi wandte sich wieder ihrem Tisch zu, zog eine Schublade auf und nahm etwas heraus. »Ich möchte, daß Sie sich das hier ansehen, Miss Winters. Commander Wallace teilte mir mit, daß Sie unsere Befehlsgewalt in Frage stellen.« Talia berührte widerstrebend den Gegenstand. Es war eine Systemkarte, und bei der Berührung ihrer behandschuhten Finger nahm ein Holo-Symbol Gestalt an, das sich schillernd von der Karte erhob.
Gleichzeitig erzwang eine Botschaft Zugang zu ihrem Bewußtsein: Gehorche! Keine Fragen! Gehorche! Talia fuhr mit einem verhaltenen Schreckensruf zurück, und die Karte nahm wieder ihr flaches, merkmalloses Aussehen an. Miyoshi, die sie beobachtet hatte, trug ein vages Lächeln auf den Lippen. »Stellen Sie immer noch meine Autorität in Frage, Miss Winters?« Talia erschauerte. »Nein«, sagte sie lahm. »Sehr gut«, schnappte Miyoshi. »Dann an die Arbeit. Ich habe schon zuviel Zeit vergeudet und noch eine Menge Fragen.« »Commander Ivanova wie befohlen angetreten, Captain.« Sheridan seufzte innerlich. Pünktlich, korrekt, uniformiert. Ihr Salut hätte in einem Lehrbuch gezeigt werden können. Nur ihre Augen waren anders als sonst, ein anderer Ausdruck stand in ihnen, wie nach einer Niederlage. Er versuchte vorzugeben, dies nicht zu bemerken. »Commander, bitte setzen Sie sich. Sie wissen, daß ich über eine zeitweilige Verwendung anderenorts für Sie nachgedacht habe, bis die Dinge wieder ins Lot gekommen sind. Und nun habe ich Ihren Report gelesen.« Er legte eine Pause ein und sah, wie ihr Gesicht einen verwirrten Ausdruck annahm. »Ihr Bericht über die gegenwärtige Lage hinsichtlich der Freibeuter«, erklärte er. »Wie sie die Lieferungen
strategischer Metalle ausspionieren. Sehr gute Analyse. Und etliche exzellente Vermutungen.« »Dann haben Sie ... von Earth Central Antwort erhalten?« »Nein. Noch nicht. Von dort ist nichts gekommen, außer, daß sie die Sache weiter prüfen.« »Oh.« »Nun, wie ich schon sagte, finden sich hier einige exzellente Vorschläge. Wenn Ihre Analyse korrekt ist, stimme ich besonders der Auffassung zu, daß es ein leichtes sein sollte, die Transporte mit dem höchsten Angriffsrisiko zu identifizieren, um sie mit einer Eskorte zu versehen. Ich weiß, Ihr Report unterstreicht die Tatsache, daß unsere Mittel zu begrenzt sind, um Geleitschutz für jeden Frachter bereitzustellen, der durch den Epsilon-Sektor kommt. Wenn wir jedoch, wie Sie vorschlagen, die Transporte identifizieren, die mit einer Ladung Morbidium oder anderen strategischen Metallen vom Mars-Hafen kommen, schätze ich, daß wir Resultate erhalten, die die Mühe mehr als rechtfertigen.« Er wartete. Ivanova sah plötzlich verblüfft drein. »Commander?« »Ja, Sir. Transporte, die vom Mars-Hafen kommen. Morbidium-Ladungen. Ganz genau.« »Ja. Was ich also jetzt von Ihnen will, ist, daß Sie das Kommando über die Alpha-Staffel übernehmen und diese Strategie so gründlich wie möglich verfolgen. Wenn erst einmal die anfälligen Ladungen identifiziert sowie Route und Zeitplan
festgestellt sind, werden Sie in der Lage sein, die Transporte abzufangen und zu eskortieren. Haben Sie noch Fragen?« »Nein, Sir. Aber ich weiß es sehr zu schätzen, daß Sie mir diesen Auftrag gegeben haben.« »Ich will Resultate, denken Sie daran.« Ihr Lächeln war etwas verrutscht. »Ich habe doch schon immer gesagt, daß ich mehr Flugzeit haben möchte, oder? Danke, Sir.« Ihre erste Handlung war, sich dem Interkom zuzuwenden, um sich mit Garibaldi in Verbindung zu setzen. »Hier Ivanova. Ich glaube ... ich weiß, was es ist!« »Was was ist?« »Die Verbindung. Der wahre Grund, warum sie mich reinlegen wollen. Es geht um den Mars.« Garibaldi hatte plötzlich ein paranoides Bild von Wallace vor Augen, der mittels eines Lecks im Kommunikationssystem der Station zuhörte. »Ich denke, wir reden lieber unter vier Augen darüber«, warnte er Ivanova. Ein Augenblick verwirrten Schweigens von der anderen Seite der Verbindung folgte. Dann: »Ich bin gerade bei der Kommandozentrale.« Sie trafen sich dort und entschieden sich für Ivanovas Quartier. Doch ehe er sie zu Wort kommen ließ, deaktivierte Chief Garibaldi den Computer und durchsuchte die Räume nach Mikrophonen. »In Ordnung«, sagte er schließlich, »was war das über
den Mars? Sie meinen, Ortega war ein Teil der Bewegung >Freier Mars« »Nein. Sie erinnern sich doch an den Report, den ich abgefaßt habe: die Piraten, die entführten Transporte? Nun, diese Transporte kamen alle vom Mars.« »Sie meinen die ...« »Morbidium-Ladungen, genau. Morbidium vom Mars. Das ist die Verbindung, darauf wette ich.« Garibaldis Augen weiteten sich. »Ich denke, Sie haben vielleicht ins Schwarze getroffen. Warum haben sich Wallace und seine Crew auf Sie eingeschossen, wo wir doch alle wissen, daß es keine wirkliche Verbindung zwischen Ihnen und Ortega gab? Wenn Sie nicht vom Mars sind und noch nie dort waren, gibt es auch nichts, was Sie mit dem Mars in Verbindung bringen könnte, abgesehen von ein paar Postkarten. Aber Sie sind hingegangen und haben herausgefunden, daß jemand auf dem Mars Informationen über Schiffsladungen an die Raiders durchsickern läßt.« »Nicht nur das«, spann Ivanova den Faden weiter. »Sonst wäre man schon vor einem Jahr drauf gestoßen. Irgend jemand mit Verantwortung hockt auf der Information und hält den Daumen drauf. Wer immer da mit drinhängt, ist ein hohes Tier in der Allianz.« »Fein«, sagte Garibaldi enthusiastisch, »und wo ist die Verbindung zu den Terroristen? Wo kommt die Bewegung >Freier Mars< ins Spiel? Und Ihr
Freund Ortega? Wie paßt das alles zusammen: Morbidium, Piraten, Terroristen?« »Waffen«, erklärte Ivanova. »Terroristen brauchen Schußwaffen, und Morbidium ist eine Grundlage bei der Herstellung von PlasmaphasenWaffen. Und der Handel ist eingeschränkt.« »Außer auf dem Schwarzmarkt«, ergänzte Garibaldi. »Wo Terroristen nun mal einkaufen. Terroristen mit einer Verbindung zu Freibeutern. Irgendwie kommen sie an die Informationen über Transporte und leiten sie an die Raiders weiter, die dann das Morbidium klauen, es auf dem Schwarzmarkt verkaufen und dem >Freien Mars< die Bezahlung des Endproduktes überlassen.« »Da bin ich ja vielleicht über etwas noch Größeres gestolpert, als ich angenommen habe.« Ivanova schüttelte ungläubig den Kopf. »Aber wenn das zutrifft, wissen Sie, was das bedeutet?« Garibaldi nickte schwer. »Wallace. Er könnte in die Geschichte verwickelt sein. Wenn EarthforceBeamte involviert sind, und sei es nur bei der Verschleierung, ist sein erster Schritt, die Person aus dem Weg zu räumen, die alles aufgedeckt hat.« Ivanova hob eine Hand. »Augenblick mal. Das kann nicht sein. Earth Central hat Wallace zu Ermittlungen hergeschickt, noch ehe ich diesen Bericht abgeschickt hatte. Sie konnten nichts darüber wissen.« Garibaldi zog die hohe Stirn kraus. »Okay. Zuerst hatte die Zentrale keine Ahnung. Sie haben Wallace
bloß hergeschickt, um wegen Ortegas Tod Nachforschungen anzustellen. Dann hatten sie Ihren Report auf dem Tisch. Die Zentrale weiß nicht, wieviel Sie wissen, aber Sie sind ein Unsicherheitsfaktor. Zu gefährlich, als daß man Ihnen erlauben dürfte, in Dingen rumzuschnüffeln, von denen sie nicht wollen, daß sie ans Licht kommen.« »Da ist aber noch was«, rief Ivanova eifrig. »Wenn Wallace Teil des Deckmantels der Verbindung zwischen den Terroristen und den Raiders ist, warum dann die ganzen Anstrengungen, Ortega aufzuspüren? Das kann doch nur bedeuten, daß J.D. überhaupt nichts mit den Terroristen zu tun hatte.« »Kann sein...« Garibaldi war ersichtlich irritiert. »Das stellt alles auf den Kopf. In Ordnung, überdenken wir das. Nehmen wir an, Ortega gehörte zu den Guten. Er hat irgend etwas rausgekriegt. Über diese Verbindung zwischen den Terroristen und den Raiders. Er geht damit zu den Behörden, aber die hängen auch mit drin. Sie versuchen, ihm den Mund zu stopfen. Er setzt sich ab. Da schreiben sie ihn zur Fahndung aus. Er kommt hierher, auf Babylon 5, er versucht, sich mit Ihnen in Verbindung zu setzen, weil Sie der einzige ehrliche Earthforce-Offizier sind, den er kennt. Aber er wird umgebracht, bevor er Ihnen seine Informationen geben kann. Bloß wissen das die Bösen nicht. Die glauben, daß Sie im Bilde sind.«
»Das ergibt einen Sinn«, sagte Ivanova langsam, »aber wer war der Mörder? Es kann nicht Wallace gewesen sein oder einer seiner Gehilfen, denn die waren auf der Erde. Und ... wenn sie ihn umgebracht hätten, würden sie dann nicht wissen, daß ich gar nicht im Besitz der Informationen bin? Warum also das alles?« »Ja, wonach suchen die noch immer?« wunderte sich Garibaldi. »Und warum haben sie den anderen dann umgebracht?« »Welchen anderen?« »Oh, hab' ich vergessen, das wissen Sie ja noch nicht. Wir haben jetzt zwei Morde.« »Dieselben Mörder?« Garibaldis Stimme verriet seine Frustration. »Ich wünschte, ich wüßte das. Ich weiß nicht mehr als an dem Tag, an dem wir Ortega aus dem Werkzeugspind gezogen haben. Und daran wird sich auch nichts ändern, wenn's nach Wallace geht. Und was diesen anderen Typen anbelangt, Fengshi Yang, weiß ich von ihm überhaupt nichts sicher, außer, daß ein Stück von ihm fehlt. Er muß noch nicht mal Tang heißen. Aber ich glaube zumindest, daß er vom Mars gekommen ist.« »Man hat ihn nach Ortega umgebracht?« »Wir wissen nicht mal das. Sie hatten ihn eingefroren. Gott weiß, für wie lange. Ich hab' das satt. Hier stehe ich, Sicherheitschef der Station, und spiele Blindekuh. Ich kann nicht versuchen, Yangs Ermordung mit dem Ortega-Fall in Zusammenhang
zu bringen, denn wenn ich das tue, wird Wallace wie eine Harpyie aus dem Himmel herunterstoßen und mir alles wegnehmen.« Ivanova konnte es sich nicht verkneifen: »Ich dachte immer, Harpyien wären Frauen?« »Sie wissen, was ich meine.« »Was können wir also tun?« »Sie? Vorsichtig sein. Auf das aufpassen, was hinter Ihrem Rücken vorgeht. Das tue ich auch.« »Und Sie?« Garibaldi atmete hörbar ein. »Erst mal behalte ich das Yang-Ding für mich.« Er biß sich auf die Unterlippe. »Ich meine, ich halte es aus den Computerakten raus.« »Wegen Wallace?« Er nickte. »Wenn der erst dahinterkommt und selber die Verbindung herstellt, ist alles gelaufen. Dann hab ich nichts mehr zum Weitermachen. Also ein Wettlauf. Ich muß vor Wallace rausfinden, wer Yang umgebracht hat. Ich muß zwar so tief graben, daß ich womöglich im Fusionskern ankomme, aber anders geht es nicht.« Ivanova runzelte die Stirn. »Sie könnten Ärger kriegen. Ihr Job...« »Mein Job ist egal. Da passe ich schon auf. Denken Sie dran, ich bin schon seit einer Weile in dem Geschäft, und das bleibe ich auch. Ich hab' ein paar Tricks gelernt. Vertrauen Sie mir, in Ordnung?« Ivanova schaute immer noch zweifelnd drein, aber sie wurde durch den Ruf seines Com-Links
unterbrochen. »Mr. Garibaldi, würden Sie sich bitte in der Kommandozentrale beim Captain melden.« »Ich bin gleich da.« Und zu Ivanova, als er ging: »Vertrauen Sie mir nur, okay!« Allein im Lift, unterwegs zu Sheridan, fragte sich Garibaldi, wieviel er über Wallace sagen sollte. Worüber er und Ivanova gesprochen hatten, war reine Spekulation, nichts weiter. Er wollte nicht ohne Anhaltspunkte oder gar einen Beweis, mit nichts als einer verrückten Verschwörungstheorie vor Sheridan erscheinen. Der Captain würde ihn womöglich mit einem Tritt aus der Kommandozentrale befördern, und das zu Recht. Nein, das war etwas, mit dem er selbst klarkommen mußte, auf seine Weise. Um Ivanovas willen. Sie war jung, sie hatte noch alles vor sich eine brillante Karriere, wenn er nur beweisen konnte, daß diese Beschuldigungen nichts weiter waren als Teil eines abgekarteten Spiels. Was ihn anbelangte, war er sich der Risiken bewußt. Aber Mike Garibaldi hatte seine Chancen gehabt und sie größtenteils versiebt. Was noch vor ihm lag, sah immer weniger einladend aus, je näher es rückte. Wenn er sich nur mit Lise wieder versöhnen könnte ... doch das war vorbei. Um Ivanovas willen also. Er blieb einen Augenblick vor der Tür zur Kommandozentrale stehen, um sicher zu sein, daß er wußte, was er wollte. »Captain Sheridan, Sie wollten mich sprechen?«
Der Captain drehte sich langsam mit seinem Stuhl in seine Richtung. »Mr. Garibaldi. Haben Sie schon mal eine codierte Ultraviolett-Botschaft gesehen?« »Nicht sonderlich oft, Sir.« »Na, dann schauen Sie sich mal das hier an.« Er gab einen Code ein. Darauf erschien das Ultraviolett-Sicherheitslogo auf dem Schirm, dann ein vertrautes Gesicht. »Das ist...« »Captain Sheridan, hier spricht Admiral Wilson vom Büro der Vereinigten Stabschefs. Commander Ian Wallace wurde von unserer Abteilung beordert, eine Untersuchung der höchsten Dringlichkeit in bezug auf die Sicherheit der Allianz durchzuführen. Als Commander von Babylon 5 schulden Sie und Ihr Stab ihm das höchstmögliche Maß an Kooperation. Seine Autorität in allen Belangen dieser Ermittlung ist nicht in Frage zu stellen. Ich hoffe, das zerstreut die von Ihnen zum Ausdruck gebrachte Besorgnis.« Das Bild verschwand vom Schirm und hinterließ einen verblüfften Garibaldi. »Direkt von den Vereinigten Stabschefs.« »Sie haben es selbst gesehen. Die Mannschaft dieser Station wurde angewiesen, Commander Wallace bei der Durchführung seiner Untersuchung zu unterstützen. Das ist ein klarer Befehl. Oder, Mr. Garibaldi?« »Ja, Sir. Vollkommen klar.«
15 Es gab Zoff im Casino. Jemand hatte einen Streit vom Zaun gebrochen, der immer noch andauerte, als Garibaldi auf dem Kampfplatz erschien, ungeachtet der Sicherheitsleute, die dabei waren, die Kampfhähne mit Hilfe von Schockstäben auseinanderzubringen. Der Chief drängte sich dazwischen, wobei er sich die Fingerknöchel an der gepanzerten Bauchplatte eines Alien aufschrammte. Nach ein paar weiteren Minuten war die Ordnung wieder so weit hergestellt, daß er sich daranmachen konnte, den Hergang der Ereignisse aufzuklären. »Also gut, was ist los? Wo liegt das Problem?« Beschuldigungen von allen Seiten: »Er hat angefangen!« »Nein, er!« »Sie hat betrogen!« »Betrogen? Ich? Du hast betrogen! Du warst es!« »Du hast meine Gedanken gelesen. Wenn das kein Betrug ist. Das ist gegen das Gesetz. Einsperren sollte man sie!«
Garibaldi hatte eigentlich gar nichts gegen Aliens. Aber Poker - simples, altmodisches irdisches Poker das war seiner Ansicht nach ein rein menschliches Spiel. Menschenverstand gegen Menschenverstand. Mit Aliens, die Poker spielten, besonders gegen Menschen, schien es unweigerlich so zu enden. Diesmal war der Streit zwischen einem Menschen und einer außerirdischen Touristin, einer Hyach, ausgebrochen. Sie wurde von einer größeren männlichen Version ihrer selbst unterstützt, allem Anschein nach ihr Begleiter. Die Hyach hatte Krallen, und das Gesicht ihres menschlichen Gegenspielers trug blutige Kratzer, die er mit seinem Hemdsärmel abtupfte. Von der dienstältesten Sicherheitswache am Schauplatz erfuhr Garibaldi, daß sich der Streit schon auf die Zuschauer und anderen Casinogäste ausgeweitet hatte, hauptsächlich entlang der Rassenlinien. Menschen gegen Aliens. Dieser Umstand steigerte das Potential für weitere Gewalt und machte eine schnelle, faire und offene Lösung unbedingt erforderlich. Sofort. »Er hat betrogen«, beharrte die Hyach weiter auf ihrem Standpunkt. »Er hat Markierungen auf den Karten gemacht.« »Siehst du irgendwelche Markierungen auf den Karten, hm? Siehst du welche?« konterte hitzig der Mensch, wobei er sich beifallheischend an die Schaulustigen wandte. »Sie ist diejenige, die betrogen hat. Kriecht mir im Hirn rum, spioniert
mich aus, liest meine Karten. Schleimiger Telepathen-Beschiß!« Als sich die Menge unter feindseligem Murmeln näher schob, bemerkte Garibaldi den Haufen von Spielchips, der über den Tisch verteilt lag, noch mehr davon waren auf dem Boden verstreut. Er gab dem nächststehenden Sicherheitsmann ein Handzeichen, der daraufhin nickte und herantrat, um den Raum freizuhalten, den Schockstab offen vor der Brust. Garibaldi brauchte kein Telepath zu sein, um zu wissen, daß der menschliche Spieler betrogen hatte. Auf einem seiner Finger befand sich mit ziemlicher Sicherheit ein E-Z-MarkR-Im-plantat, eine beliebte Vorrichtung von Falschspielern in der Amateurliga. Ein passender Sender hinter einem Auge nahm die schwache elektromagnetische Spur auf, die das Markieren der Karten hinterließ. Besser eingerichtete Spielstätten auf der Erde scannten die Spieler, sobald sie durch die Tür kamen, und jeder, den man mit einem MarkR-Implantat erwischte, wurde durch die Hintertür des Casinos hinausgeworfen, um dort in eine kurze, schmerzhafte Diskussion über Spieletikette verwickelt zu werden. Aber das hier war Babylon 5, und Garibaldi hatte seine eigenen Ansichten über Spieletikette. Er schnappte sich den protestierenden Spieler beim Handgelenk und zog ihn durch das Casino zum Büro des Managers. »Ich schätze, wir haben es hier mit
einem MarkR-Implantat zu tun. Haben Sie einen Scanner?« Es wurde einer herbeigeschafft, und als Garibaldi ihn einschaltete, brandmarkten das blitzende Licht und der schrille Alarm den Spieler als Betrüger. Als Garibaldi den sich windenden Spieler einer Sicherheitswache übergab, forderte eine kleine Gruppe von Spielern lautstark ihr Geld zurück. Sie lernen's nie, diese dämlichen Amateure, dachte er. Die einzigen, die jemals Geld mit diesen Implantaten machen, sind die Betrüger, die sie verscherbeln. Noch immer ließ sich eine Anzahl von Stimmen vernehmen: »Hey, was ist mit ihr? Was ist mit der Telepathin? Ich spiele doch nicht mit irgendwelchen Telepathen.« Vom Manager gefolgt, trat Garibaldi der Hyach in den Weg, als die sich gerade anschickte, die Spielchips vom Kartentisch zusammenzuraffen. »Augenblick mal.« Ihr Partner blickte wütend auf. Garibaldi funkelte kurz zurück, bevor er sich der Frau widmete. »Lady, sind Sie sich bewußt, daß die Regeln des Hauseses Telepathen verbieten, an Glücksspielen teilzunehmen?« »Was wollen Sie damit sagen? Sie haben es doch selbst gerade festgestellt. Er hat doch betrogen, oder? Nicht ich. Nicht ich.« Sie griff wieder nach den Chips, und wieder stoppte Garibaldi sie. »Aber Sie sind Telepathin?
Wenn dem so ist, fürchte ich, sind Sie Ihres Gewinnes verlustig gegangen.« »Was ist lustig gegangen? Was meinen Sie damit? Er hat doch betrogen.« »Nur weil er betrogen hat, heißt das noch lange nicht, daß er der einzige war.« Garibaldi tippte auf seine Ruftaste. »Miss Winters, hier ist der Sicherheitschef. Wir haben hier eine Situation, in die anscheinend eine Telepathin verwickelt ist. Könnten Sie bitte ins Casino kommen?« Er blickte hoch zu der unfreundlichen Menge, die ersichtlich nicht gewillt war, sich zu zerstreuen, ehe der Streit beigelegt war. »Ich würde es für eine Art Notfall halten ... Ja, eindeutig ein Notfall.« Während sie warteten, fuhr die Hyach fort zu protestieren und verlangte mit schriller Stimme abwechselnd nach ihrem Botschafter, dem Commander der Station oder einem Anwalt. Auf Garibaldis anderer Seite gab der Casinomanager nervöse Geräusche von sich. Garibaldi schickte weiterhin dringende mentale Botschaften an Talia Winters: Beeilung, bitte! Bevor die Situation hier außer Kontrolle gerät! Bevor mir von dem Gekreische die Trommelfelle platzen! Natürlich wäre das auch auf der Erde oder irgendeinem Territorium, das dem Gesetz der Allianz unterstand, eine ungewöhnliche Situation gewesen. Das Psi-Corps herrschte mit eiserner Hand über seine Mitarbeiter, und Aktivitäten wie Poker
waren strikt untersagt. Niemand wollte mit einem Telepathen spielen. Aber hier befanden sie sich auf Babylon 5, hier galten andere Regeln. Das irdische Recht war nicht das einzige System, das hier zählte, und das PsiCorps hatte keine Macht über einen außerirdischen Telepathen. Die Hausregeln des Casinos galten jedoch für jeden, selbst für Angehörige fremder Rassen, die telepathische Fähigkeiten als völlig normal ansahen und ihrem Einsatz keinerlei Einschränkungen auferlegten. Schließlich erschien eine zerbrechlich und verzagt aussehende Miss Winters. Garibaldi erkannte, daß sie bei seinem Ruf vermutlich geschlafen hatte. Als sich die mißmutige Menge teilte, um sie durchzulassen, wurde ihr Gesichtsausdruck ernst. »Tut mir leid, Sie zu stören, aber ich fürchtete, daß die Situation außer Kontrolle geraten könnte. Ich möchte hier keinen Aufstand niederschlagen müssen«, entschuldigte er sich. »Diese Dame hier hat gerade eine Menge Geld beim Poker gewonnen, und sie leugnet, eine Telepathin zu sein.« Talia wandte sich der Hyach zu, sah ihr fest in die Augen. Sie hielt den Blick eine Zeitlang fest, bis die Außerirdische wütend den Kopf wegdrehte. »Sie ist eine Telepathin«, sagte Talia müde. Garibaldi nickte. Er hatte nichts anderes erwartet. »Tut mir leid, Lady, aber ich fürchte, daß Sie das Geld nicht behalten können. Der Einsatz
telepathischer Fähigkeiten wird hier als Betrug angesehen. Solange Sie auf Babylon 5 bleiben, ist Ihnen das Betreten des Casinos untersagt.« Er winkte nach ein paar Wachen, die sie aus dem Raum führten, wobei sie auf dem ganzen Weg bis zur Türe hin zeterte und protestierte. Ihr erboster Begleiter stapfte schweigend hinter ihr her. Die zufriedengestellte Menge begann endlich, sich unter den Augen der Wachen zu zerstreuen. »Danke, Miss Winters«, sagte Garibaldi, und er meinte es ernst. »Ich wollte diese Sache ohne Waffengewalt beilegen. Wir brauchen auf dieser Station keine weiteren Spannungen zwischen Menschen und Aliens.« Er legte eine Pause ein. »Gut, daß sie beide betrogen haben.« »Sind Sie sich da so sicher?« Garibaldi zog die Augenbrauen hoch. »Hat sie nicht?« Talia richtete den Blick zur Decke. »Oh, natürlich! Warum sollte denn ein Telepath sonst wohl Karten spielen wollen? Welches Vergnügen haben wir denn, außer im Geist von anderen Leuten rumzuschnüffeln?« Ihre Worte waren bitter. »Hey, tut mir leid. Aber ich war mir sicher, daß sie auf die eine oder andere Weise betrogen hat, noch ehe ich wußte, daß sie eine Telepathin ist«, erklärte Garibaldi vorsichtig. Talia preßte ihre Hände auf die Augen. »Entschuldigen Sie, ich stehe in letzter Zeit ein bißchen unter Streß. Ich weiß nur nicht mit
Sicherheit, ob sie betrogen hat. Wir scannen einander nicht ohne Erlaubnis.« »Ich weiß. Das sagten Sie bereits. Ich glaube, ich habe bloß angenommen ... Ach, ich weiß nicht.« »Ich konnte ihre Abschirmung spüren und ihre Wut, und das ist alles, was ich benötigte, um sie als Telepathin zu identifizieren. Das war's doch, was Sie wissen wollten?« »Sie haben recht. Es tut mir leid. Wenn Sie in Ihr Quartier zurückkehren wollen, bringe ich Sie hin oder wenigstens zum Lift. Oder möchten Sie einen Drink?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich brauche etwas Schlaf.« Er begleitete sie durch die Menge, die sich nun wieder den diversen Spielvergnügen zugewandt hatte. Als sie zum Lift kamen, sagte er: »Wenn es irgend etwas gibt, was ich tun kann...« »Nein. Das ist eine interne Angelegenheit des Psi-Corps. Aber danke, daß Sie gefragt haben.« Die Lifttür öffnete sich, und Talia trat hinein. Als sie sich hinter ihr schloß, fragte sich Garibaldi: Warum war sie so erschöpft? Das war Wallace, da war er ganz sicher. Aber was machte der Bastard mit ihr? Welche Geheimnisse fischte er aus dem Bewußtsein seiner Opfer? Nachdem die Ordnung wiederhergestellt war, entschloß sich Garibaldi, zum Gefängnis hinunterzugehen, um sich seinen neuesten Gefangenen anzusehen. Wenn der Kerl bis jetzt
keinen Eintrag wegen Falschspielens auf zuweisen hatte, würde er ihn lieber mit einem Tritt von der Station befördern, als ihn zwecks einer formellen Verurteilung vor den Schiedsmann zu zerren. Und er glaubte nicht, daß dieser Falschspieler schon einen Eintrag hatte. Dafür war er einfach nicht clever genug. Garibaldi wollte außerdem sichergehen, daß wer auch immer ihm dieses schwachsinnige Implantat verkauft hatte, nicht hier auf Babylon 5 sein Unwesen trieb. Das wäre mehr Ärger, als er gebrauchen konnte. Ein Abruf der Akte des Burschen offenbarte keinen Vermerk wegen Spielvergehen, aber mehrere Verhaftungen wegen Raufhändeln sowie eine Verurteilung wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Er war ein Asteroiden-Schürfer namens Welch; sein Schiff hatte wegen eines Austauschs der Crew hier festgemacht. Er kam von der MarsKolonie, und er hatte keinen Kriegsdienst geleistet. Mehr oder minder ein charakteristischer Raumfahrer. Aber er kam von der Mars-Kolonie. Woran Garibaldi dachte, war nichts als ein Schuß ins Blaue. Aber vielleicht wußte Welch etwas. Als Garibaldi Welch im Verhörraum gegenübertrat, sah dieser nicht besonders glücklich aus. Er versuchte, seine Hand hinter dem Rücken zu verbergen, als der Sicherheitschef begann: »E-ZMarkR-Implantat, wie? Ich wette, du bist auf ihre Anzeige reingefallen: Machen Sie kolossale
Gewinne, wenn Sie mit Ihren Freunden Karten spielen! Nie wird man Ihr Geheimnis entdecken! War's so?« Welch wand sich. »Hör zu, Freundchen«, fuhr Garibaldi fort, der sich entschlossen hatte, dem Mann ein paar seiner Grundregeln einzutrichtern, »weißt du eigentlich, was du für ein Glück hast, daß du nicht versucht hast, das Ding in einem der großen Casinos auf der Erde oder dem Mars abzuziehen? Die Rausschmeißer in den Läden sind bei weitem nicht so reizend wie ich. Erst mal ...« Er schnappte sich Welchs Hand und zwang sie flach auf den Tisch. »Erst mal hacken sie dir das Ding da ab. Dann geben sie's dir zu essen. Einen Finger nach dem anderen. Ob du hungrig bist oder nicht.« Er preßte einen Daumen neben Welchs Auge, wo das VisualImplantat saß. »Dann drücken sie dir das Auge aus. Einfach so. Und geben es dir als Nachtisch. Und wenn du dann Glück hast, lassen sie dir noch ein oder zwei funktionierende Körperteile. Du merkst, worauf ich hinaus will?« Welch nickte beflissen. »Fein. Weil ich, wie gesagt, ein netter Kerl bin. Und du hast Glück, weil ich mir deine Akte angeschaut habe und keinen Eintrag über Verurteilungen wegen Spielvergehen gefunden habe. Das heißt, daß du das Ding da gerade erst gekriegt hast oder bis jetzt noch nicht erwischt worden bist.« Er lüpfte Welchs Hand am Gelenk und drehte sie,
um sie sich besser ansehen zu können. »Keine frische Narbe. Ich schätze, das bedeutet, daß man dich bis jetzt noch nicht geschnappt hat. Dann hast du Glück gehabt. Schau'n wir mal, wie's jetzt weitergeht. Wir können das auf zwei Arten handhaben, Welch: Bei eins hast du bloß Ärger. Bei zwei hockst du ganz tief in der Scheiße. Das kommt ganz drauf an, wie du meine Fragen beantwortest. Welche Art darf es sein?« Welch wand sich abermals und versuchte vergeblich, seine Hand aus Garibaldis Griff zu lösen. »Ich weiß nichts. Ich hab' nicht gedacht, daß es gegen das Gesetz ist.« Garibaldi schüttelte den Kopf. »Betrug: Aneignung von Gütern, Dienstleistungen oder anderen Wertgegenständen mittels Irreführung oder Tricks.« Er tappte mit der Hand des Spielers auf die Tischplatte. »Das ist ein irreführendes Mittel. Ein verdammt billiges noch dazu. Woher hast du dieses Implantat?« »Von so 'nem Typ. Er hat eine Klinik, draußen im Gürtel. Ich hab' ihm Geld geschuldet und konnte es nicht zurückzahlen. Er hat gemeint, das war schon in Ordnung, weil, er könnte mir helfen. Er würde mir sein Implantat verkaufen, und ich könnte Geld damit machen, wenn ich mit den Typen auf dem Schiff Karten spiele.« Garibaldi seufzte. Hatten sie denn nie eine andere Geschichte parat? Zur Abwechslung mal was
Interessantes? »Und wie bist du dann das erste Mal um dein Geld gekommen? Auch Glücksspiel?« Welch nickte betreten. »Ich habe getan, was er gesagt hat. Aber als ich es ihm dann zurückgeben wollte, hat er gesagt, daß ich ihm immer noch was für das Implantat schulden würde, das wäre echtes High-Tech-Zeug. Aber die Typen auf dem Schiff haben nicht mehr mit mir gespielt, und da hab' ich mir gedacht, jetzt war's an der Zeit, daß ich aus dem Gürtel verschwinde. Dann hab' ich mich bei dieser Außen-System-Operation eingeschrieben. Und bin hier gelandet.« Der Bursche hat ein Vakuum statt Hirn, dachte Garibaldi resigniert. »Und ich nehme an, du bist im Gürtel gelandet, nachdem du Ärger auf dem Mars bekommen hast? Bloß, das war nun wirklich nicht deine Schuld?« »So etwa, vielleicht.« »Nun denn, ich sage dir, was du jetzt tun wirst. Du meldest dich in unserem Med-Lab, wo dir ein netter Pfleger das Implantat rausnehmen und wegwerfen wird, wie sich das für so einen Schrott gehört. Dann wirst du in unserem Knast bleiben, bis dein Schiff abfliegt. Danach wirst du nie wieder einen Fuß auf Babylon 5 setzen, wenn du weißt, was gut für dich ist. Ach ja«, fügte er hinzu, »und eine Gebühr für das Entfernen des Implantats gibt's auch noch. Unsere Ärzte arbeiten schließlich nicht umsonst.« »Eine Gebühr?«
Garibaldi seufzte wieder. »Sag jetzt nicht, du hast kein Geld?« »Na ja, ich meine, ich hab's gehabt, aber das war alles auf dem Pokertisch, bevor diese schlangenäugige außerirdische TelepathenSchlampe...« »Hör auf damit! Also du hast das Geld nicht. Dann setze ich mich eben mit deinem Schiff in Verbindung, und die können die Kosten von deinem Gehalt abziehen. Es sei denn, du willst das lieber dem Schiedsmann erzählen.« »Hey, hey, hey! Nun mal halblang! Ich hätt's doch nie getan, wenn ich das Geld gehabt...« »Wenn du was halblang möchtest, mußt du dir's verdienen. Und jetzt fangen wir gleich mal mit dem Namen von dem Typ draußen im Gürtel an.« Welch wollte nicht damit herausrücken, er wand sich weiter, er winselte, wußte, daß er Schwierigkeiten bekommen würde. Aber Garibaldi war überzeugend. Als er die Information hinsichtlich der Quelle im Gürtel hatte, machte er weiter: »Und was hältst du davon, über den Mars zu reden?« »Ich kenne niemanden auf dem Mars. Ich meine, es ist fünf, sechs Jahre her, daß ich dort war. Wer kann sich da noch erinnern?« »Kommt auf den Versuch an«, drängte Garibaldi. »Was weißt du zum Beispiel über einen Kerl namens Yang? Fengshi Yang?« »Nichts. Nie von ihm gehört.« Aber Welchs Augen verrieten ihn.
»Laß mich deiner Erinnerung ein bißchen auf die Sprünge helfen.« Garibaldi präsentierte seinen Viewer. »Hier. So sieht er aus. Fällt's dir jetzt wieder ein?« »Kann sein.« Bingo! Garibaldi jubilierte innerlich. Endlich! Aber er behielt seinen undurchschaubaren Gesichtsausdruck bei, als er weitere Informationen einforderte. »Kann sein? Hast du ihn einmal in der Mars-Kolonie gesehen? Oder mehrmals? Hat er vielleicht für die Allianz gearbeitet?« »Vielleicht hab' ich. Damals, als ich in den Tiefbohrminen gearbeitet habe, könnte ich ihn gesehen haben. Bevor ich wieder in den Raum bin.« »Yang war ein Minenarbeiter?« »Nein.« Welch fing wieder an, sich unbehaglich zu winden. »Aber er hat mit den Minen zu tun gehabt. Vielleicht für eine der Gesellschaften, ich weiß es nicht. Metallicorp vielleicht. Oder AreTech. Ich glaube ... Die Leute haben gesagt, er wäre so was wie ein Vollstrecker. Wenn man, sagen wir mal, jemandem Geld schuldet. Oder jemand einen nicht leiden kann.« »Verstehe. Dann war dieser Yang wohl ein Typ mit einer Menge Feinden?« »Ja, ich glaube schon. Ich hätte ihm nicht ins Gehege kommen wollen. Nicht nach allem, was ich über ihn gehört habe.«
»Schon klar. Und glaubst du, daß einer von diesen Feinden politische Gründe gehabt haben könnte?« »Keine Ahnung, wovon Sie reden.«
»Aber sicher doch. War Yang in der Bewegung
>Freier Mars Glaubst du, er könnte bei irgendeiner terroristischen Aktion mitgemacht haben?« Vehementes Kopfschütteln. »Keine Ahnung. Echt nicht. Das war nach meiner Zeit. Ich bin vor sechs, sieben Jahren von der Mars-Kolonie weg. Ich hab' nie mit so was zu tun gehabt. Was ich weiß, ist, daß Yang bei den Minen gearbeitet hat, das ist alles. Ich habe versucht, ihm nicht in die Quere zu kommen, wenn Sie wissen, was ich meine.« »Ich weiß, was du meinst.« Garibaldi nahm sich einen Augenblick Zeit für seine Entscheidung. Ein direkter Befehl. Bis hinauf zu den Vereinigten Stabschefs. Doch dann stellte er die Frage trotzdem: »Was ist mit einem Typ namens Ortega? J.D. Ortega? Hast du den jemals in der Mars-Kolonie gesehen? Bei der Arbeit in den Minen?« »Nee. Nein, ich glaube nicht. Der Name sagt mir nichts.« Und das war, so sehr Garibaldi auch bohrte, in etwa alles an Information, was er aus Welch herausholen konnte. Aber etwas hatte er in der Hand. Immerhin hatte der Bursche schon von Yang gehört und ihn dem Mars zugeordnet.
Garibaldi faßte einen weiteren Entschluß. »So«, sagte er, »ich sag' dir was. Aber nur, weil es den Anschein hat, als hättest du allen Grund, diesem Yang nicht über den Weg zu laufen. Stimmt's?« Welchs Augen wurden riesengroß, und seine Stimme ging hoch. »Hier? Auf B5? Sie meinen, er ist hier?« »Das glaube ich zumindest. Also tu dir selbst einen Gefallen, und laß dich gleich auf dein Schiff zurückversetzen. Du bleibst an Bord bis zum Abflug, und du setzt keinen Fuß mehr auf diese Station. Kapiert?« Wildes Kopfnicken. »Ich sorge dafür, daß niemand erfährt, daß du jemals hier warst. Und du hältst dich an die Abmachung, klar? Du sagst niemandem was von unserer kleinen Plauderei.« »Auf keinen Fall.« Garibaldi rief eine Wache, die Welch zum MedLab und dann zurück zu seinem Schiff eskortieren sollte. Er hoffte, daß der Mann genug Verstand hatte, den Mund zu halten. Denn wenn Wallace jemals erfuhr, daß er Fragen über J.D. Ortega und die Bewegung »Freier Mars« gestellt hatte, würde Garibaldi mehr Ärger bekommen, als es selbst Welch sich vorzustellen vermochte.
16 Ivanova überflog die Check-Liste wie eine gewohnte Litanei, heimisch im vertrauten Raum des Cockpits ihres Alpha-Gleiters, in Weltraumausstattung, die Hände auf den Armaturen. Es fühlte sich gut an. Es fühlte sich richtig an. »Geleitgeschwader, bereit zum Abwurf ?« Sheridan hatte ihr das zurückgegeben, was sie brauchte. Ein Kommando. Wenn es auch nicht ganz das war, was er ihr genommen hatte, so war es doch unvergleichlich viel. Die Möglichkeit zu fliegen. »Geleitgeschwader! Bereithalten zum Start. Auf mein Zeichen. Abwurf!« Das Schiff stürzte von der Station weg durch die offenen Tore des Schachtes. Sobald sie frei schwebte, hieb Ivanova auf die Zündung, und die Schubtriebwerke erwachten vibrierend zum Leben. Sie konnte ihre Kraft fühlen, die Beschleunigung preßte sie in den Sitz. Der Rest ihres Geschwaders ging hinter ihr und an ihrer Seite in Formation. Die sechs Schiffe machten sich auf den Weg in den Unendlichkeitswirbel des Hyperraumes.
Sechs Starfury-Gleiter. Sternenfurien. Nicht die ganze Alpha-Staffel, und doch machtvoll, in Erwartung eines Kampfes. Sogar in der Hoffnung darauf, was Commander Ivanova betraf; in der Hoffnung, ein paar Raiders zu erwischen und sie dort zu treffen, wo es sie schmerzte. Und wenn sie ein mentales Abbild von Commander Ian Wallace als Zielscheibe vor sich hatte, wenn das Plasmafeuer traf, um so besser. Das Tor spie die Gleiter aus dem Hyperraum, und Ivanova befahl: »Formation einhalten, GeleitStaffel!« Ihr Rendezvous war noch zweieinhalb Flugstunden entfernt, am anderen Ende von Sektor BLAU. Es handelte sich um den schweren Frachter Kobold. Wenn das Schiff durch den Transferpunkt kam, beladen mit Rohbarren Iridium, Titan, Nickel und Morbidium von den Minen auf dem Mars, mußte sie mit ihren Jägern vor Ort sein. Kein Problem, ein solches Schiff auf den Massedetektor zu bekommen, dachte Ivanova. Fast so schwer wie ein kleiner Planet, mit dem entsprechenden Trägheitsmoment. So was zu fliegen dürfte so aufregend sein, wie mit einem Schlepper eine Barke einen Fluß hinaufzuziehen. Ihre Hände schwebten über den Kontrollinstrumenten des Kampfschiffes, wobei sie, wenn auch bloß für eine Sekunde, die Versuchung spürte, die Nachbrenner zu zünden. Ja, es war gut, wieder draußen zu sein.
»2:20 Stunden bis zur geschätzten Rendezvouszeit«, sagte sie, denn sie hatte nun, da sie durch das Tor und immer noch so weit von ihrem Bestimmungsort entfernt waren, keine Befehle zu erteilen. Die Kampfschiffe flogen in Formation, alle waren auf Kurs. Man konnte kein sinnloses Geplapper im Cockpit dulden, wenn die Schiffe auf Patrouille waren. Aber manchmal wirkte das All auf den langen Flugstrecken wie ein schrecklich großer, schwarzer und schweigender Ort, und da war es gut, eine menschliche Stimme zu vernehmen. »Schauen Sie, Alpha-Führer«, hörte sie Mokena von Alpha zwei. Als sich der Transferpunkt auf dem Langstrecken-Scan zeigte, war Ivanova bereit für die Konfrontation, die sie erwartete und insgeheim herbeisehnte. »Waffensysteme klar. Auf Raiders achten«, befahl sie, aber die Kampfschiffpiloten waren über den Zweck dieser Patrouille unterrichtet. Sie wußten, wer höchstwahrscheinlich auftauchen würde, und waren darauf vorbereitet; Da zeigten ihre Instrumente eine plötzliche und massive Energieenladung, ein Aufflammen von blauem Licht aus der Richtung des Sprungtores, und der Transporter trat mit der Maximalbeschleunigung eines Schiffes dieser Klasse aus dem Hyperraum aus. Ivanova stellte augenblicklich Kontakt her. »Hier ist Earthforce-Commander Susan Ivanova,
Befehlshaber des Geleitgeschwaders Alpha. Sind Sie die Kobold?« »Bestätigt, Commander. Earth-AllianceTransporter Kobold, vom Mars-Hafen. Wir sind froh, Sie hier draußen zu sehen.« »Es ist gut, hier zu sein, Kobold. Wir sind rausgekommen, um Sie nach Babylon 5 zu eskortieren. Wir haben gehört, daß die Raiders Interesse an Ihrer Ladung haben.« »Danke, Commander. Eigentlich haben wir die Typen längst erwartet.« »Geleit-Formation!« wies Ivanova ihr Kommando an, und die Starfury-Gleiter nahmen ihre Positionen rund um das Schiff ein, paßten sich der Geschwindigkeit an und machten sich auf den Weg zurück nach Babylon 5. Es war zu einfach. Ivanova stellte fest, daß sie beinahe wünschte, die Piraten würden auftauchen. Nachdem alle Schiffe auf Kurs waren, drang die Stimme des Transporterpiloten über den Kommunikationskanal an Ivanovas Ohr: »Commander, darf ich Sie etwas fragen? Sie sagten, daß die Piraten Interesse an unserer Ladung hätten?« »Das ist richtig.« »Nun, dürfte ich fragen, woher Sie das wissen? Wer ist Ihre Quelle?« »Kontaktieren Sie mich, wenn wir auf Babylon 5 angekommen sind«, erwiderte Ivanova, »dann können wir darüber reden.« »Abgemacht, Commander.«
Alpha zwei schaltete sich zu: »Ich habe da was auf dem Scanner. Position 80-44-122.« »Ich hab's auch drauf«, bestätigte einer der anderen Piloten. Ivanova überprüfte ihren Schirm. Ein Trio von winzigen Lichtpunkten an der Grenze der ScannerReichweite, aber schnell aufschließend. Raiders, dachte sie sofort, und der Computer bestätigte diese Interpretation: kleine, wendige Schiffe, mit Sicherheit Kampfmaschinen, und in diesem Sektor war das gleichbedeutend mit Piraten. »Machen Sie Ihre Waffen klar«, rief sie. »Aufgepaßt. Sind noch mehr von denen da draußen?« »Negativ, Commander. Nur die drei.« »Nun«, bemerkte der Pilot der Kobold, »es sieht so aus, als wären Ihre Informationen zutreffend, Commander.« Aber wo ist der Rest von denen? fragte sich Ivanova. Die Raiders-Schiffe waren klein und operierten üblicherweise in Rudeln. »Sollen wir sie uns vornehmen?« wollte Alpha drei wissen, als die drei Punkte die Distanz verringerten, aber weit außer Reichweite der Starfurys blieben. »Sie versuchen uns wegzulocken«, erklärte Ivanova. »Alpha drei und sechs: Halten Sie auf sie zu! Wenn möglich abfangen, aber lassen Sie sich nicht auseinanderreißen oder in eine Jagd verwickeln. Unser Job ist es, diesen Frachter zu eskortieren.«
Auf ihren Befehl hin drehten sich die zwei Kampfschiffe mit einem Stoß aus ihren Schubtriebwerken weg und nahmen die Verfolgung der Piratenschiffe auf, die jetzt die Flucht antraten. »Ein Ablenkmanöver«, sagte Ivanova zu sich selbst. Es war leicht, der Jagd auf ihrem taktischen Bildschirm zu folgen, als das Paar Starfurys auf die kleineren, bumerangförmigen Schiffe hinabstieß. In ihrem Inneren feuerte Ivanova sie an, die Hand über dem Auslöser eines Plasmatorpedos, und es trieb sie, das Feuer zu eröffnen. Los! Schnappt sie euch! Die Piloten der Raiders hatten die Distanz und ihre Gegner gut eingeschätzt. Sobald Alpha drei und Alpha sechs in Schußweite kamen, trennten sich die drei Schiffe und versuchten, die Verfolger auseinanderzubringen. Ivanova wollte das eben mit einem Befehl unterbinden, als sich zeigte, daß Alpha drei die Lage ebenso wie sie selbst einschätzte. »Bleiben Sie bei mir!« wies der Pilot seinen Flügelmann an. »Wir fliegen hinter dem her, der nach zehn Uhr abdreht.« Zusammen visierten sie ihr Ziel an. Alpha drei landete einen Treffer, der den Schwanzflügel des Raiders versengte und ihn verwundbar machte für den nächsten Plasmaschuß von Alpha sechs, der ihm den Rest gab. In der Zwischenzeit hatten sich die beiden anderen Piraten außer Reichweite in Sicherheit gebracht. »Alpha-Führer, sollen wir die Verfolgung fortsetzen?« wollte Alpha drei wissen.
»Negativ, Alpha drei. Abbrechen und zum Geleitgeschwader zurückkehren. Gut geschossen, Jungs.« »Commander, glauben Sie, daß die es noch mal versuchen?« fragte der Pilot des Transporters, aber die Frage wurde beantwortet, ehe noch Ivanova den Mund auftun konnte, als einer der anderen Kampfpiloten rief: »Ich habe mehr von ihnen auf dem Scanner. Vier dieses Mal.« »Formation einhalten«, ermahnte Ivanova ihr Kommando. »Sie versuchen uns wegzulocken. Denken Sie dran, es ist der Transporter, den sie wollen.« Aber diesmal hielten die Freibeuter respektvoll Abstand. »Sie suchen nach ihren Freunden«, schloß Ivanova. Aber von den ersten Raiders war einer vernichtet worden, und zwei hatten Fersengeld gegeben. Schließlich zogen sich auch diese Neuankömmlinge aus dem Abtasterbereich zurück und gaben ihre Beute auf. Ivanova sah zu, wie ihre Symbole vom Schirm verschwanden. Sie verspürte einen scharfen Stich des Bedauerns über die verpaßte Gelegenheit, die Chance, ihnen nachzusetzen, die Waffen scharf gemacht und kampfbereit. Aber wie sie sehr wohl wußte, lag ihre Hauptverantwortung bei dem Frachtschiff. »Scheint ein ungestörter Flug zurück nach Babylon 5 zu werden«, gab sie zur Kobold durch. »Lehnen Sie sich einfach zurück, und freuen Sie sich auf eine angenehme Reise.«
»Commander, Sie können sich gar nicht vorstellen, wie wohltuend das klingt«, entgegnete der Pilot mit aufrichtiger Erleichterung in der Stimme. Als Garibaldi die Fakten zusammenfügte, die er bis jetzt gesammelt hatte, schienen sie in einer Minute ein perfekt geknüpftes Netz zu ergeben, in der nächsten jedoch schnurrte alles zu einer Handvoll loser Fäden zusammen, so dünn, daß man keine Feder daran hätte aufhängen können. Es kam ihm sonderbar vor, ohne Computer zu arbeiten, aber seit Wallace in seinen Dateien herumgestöbert hatte, mußte er damit rechnen, daß der EarthforceErmittler Wanzen in das System geschmuggelt hatte. Im allgemeinen hielt sich Garibaldi für schlau genug, was die Computer-Sicherheit betraf, aber er mußte sich darüber im klaren sein, daß Wallace von Earth Central mit Paßwörtern und Aufhebungscodes ausgestattet worden sein mußte, die alles beseitigten, was er hatte. Bevor es jedoch Computer gegeben hatte, gab es bereits Papier und Schreibzeug, und darüber verfügte auch Garibaldi. Wenn er also alles zusammenzählte, hatte er bis jetzt die Mars-Kolonie mit »Freier Mars«Terroristen, mit Morbidium-Minen und mit dem Rohmaterial für Plasmaphasen-Waffen. Hier draußen im Epsilon-Sektor hatte er Piraten, die die Morbidium-Ladungen stahlen. Wenn man das miteinander verband, hatte er J.D. Ortega, vielleicht Teil der Bewegung »Freier Mars«, vielleicht aber
auch nicht, der mitsamt einer geheimnisvollen, verlorengegangenen Information auf Babylon 5 auftauchte und wenig später tot war. Er hatte Susan Ivanova, die die Diebstähle untersuchte und eine Botschaft von Ortega erhalten hatte, die auf jene geheimnisvolle Information verweisen konnte oder auch nicht. Und jetzt hatte er noch Fengshi Yang, wieder vom Mars, wieder tot auf Babylon 5. Yang, dessen Akten nicht das waren, was sie sein sollten, ein »Vollstrecker«, irgendwie mit den Minen verbunden. War er ein Agent der Bewegung »Freier Mars«? Ein Terrorist? Welch schien das nicht zu glauben, aber Garibaldi hielt nicht sonderlich viel von dessen Geistesgaben. Ein Agent der Raiders vielleicht? Der Agent, der die Frachtrouten verriet? War er nach Babylon 5 gekommen, um Ortega zu treffen? Um ein Geschäft zu machen? Um eine Warnung weiterzugeben? Um Ortega umzubringen? Garibaldi schob Vierecke aus Papier auf seinem Tisch umher, ordnete sie zu verschiedenen Kombinationen. Welche Anordnung könnte einen Sinn ergeben? Ein viereckiges Stück Papier, mit X markiert, für wen auch immer, der Ortega getötet hatte. Ein anderes X für den Mörder von Yang. War X eine Person oder zwei? Vielleicht hatte ein X das andere X umgebracht. Dann sollte nur mehr ein X übrig sein. Auf welcher Seite stand X? Oder sollte es heißen, auf welchen Seiten? Sein Monitor starrte ihn dunkel und leer an. Verdammt! Es wäre so einfach, den Computer
anzuwerfen und die Dateien von jedermann auf der Station nach einer vorherigen Verbindung zum Bergbau auf dem Mars abzufragen. Sicher. Und was möchtest du wetten, daß Wallace nicht wie ein Fluch über dich kommen würde, Garibaldi? Nun, es gab mehr als eine Möglichkeit, die Suche zu beginnen. Das hier brachte ihn todsicher nicht weiter. Er verbrannte die Papiervierecke. Er hatte sowieso alles im Kopf. Was er jetzt brauchte, war eine weitere Unterredung. Es war nicht leicht gewesen, das in die Wege zu leiten. Garibaldi wußte den Namen des Mannes immer noch nicht. Nur daß er Nicks Freund war, der, dessen Freundin im Vermessungsbüro gearbeitet hatte, die dann von Wallace verhört und zur Erde gebracht worden war. Vermessungen von Minerallagerstätten, Ausfuhren von Analysen. Hatte das etwas mit den Minen zu tun? Mit Morbidium? Terroristen? Fengshi Yang? Nicks Freund war ein nervös umherschauender Bursche. Er gab an, nichts zu wissen, in nichts drinzustecken und auch nirgends mit drinstecken zu wollen. Aber er war, das hatte Nick widerstrebend zugegeben, mit Bergbau befaßt gewesen. Mit Bergbaumaschinen, beziehungsweise einer der Gesellschaften, die die großen Ladegeräte bauten. Sie trafen sich unten in den Maschinenwerken, einer von einem Dutzend verschiedener Branchen der technischen Abteilung auf Babylon 5. Der Mann, der seinen Namen beharrlich nicht preisgeben
wollte, hatte die Fäuste in seinem mit Schmiere befleckten Overall geballt und wollte sie offenbar nicht herausnehmen. Garibaldi wurde das Gefühl nicht los, daß er etwas auf dem Kerbholz hatte. Vielleicht gab es etwas in seiner Akte, das nicht ans Licht kommen sollte. Vielleicht ein Vorfall in seiner Vergangenheit, der ihn jeder Art von Autorität, wie sie Chief Garibaldi oder die Earthforce repräsentierten, feindselig begegnen ließ. »Ich habe nur zugestimmt, weil Nick mich darum gebeten hat. Und hauptsächlich, weil er gesagt hat, Sie könnten vielleicht was wegen Sonia unternehmen, irgendwas ... rausfinden. Wohin sie sie gebracht haben. Was sie mit ihr gemacht haben. Und warum.« »Ich tue, was ich kann. Aber ich muß Ihnen gleich sagen, daß sich das, was man mit Ihrer Freundin gemacht hat, meiner Kontrolle entzieht.« Ein Stirnrunzeln. »Sie sind doch Earthforce, Sicherheitsdienst, oder? Nick hat mir gesagt, Sie wären da der Vorstand.« »Ich bin der Chef vom Sicherheitsdienst auf Babylon 5, ja. Aber es wird eine davon unabhängige Untersuchung durchgeführt, mit der ich direkt nichts zu tun habe. Nick hätte Ihnen das sagen müssen. Ich habe nichts zu tun mit dem, was dieser Commander Wallace auf der Station treibt. Aber ich werde versuchen zu helfen. Und wenn ich finde, wonach ich suche, könnte das auch Ihrer Freundin nützen.« »Und wonach suchen Sie?«
Garibaldi zeigte das Holo-Bild seines Viewers. »Nach diesem Mann. Ich brauche, was immer Sie über ihn wissen. Wir nehmen an, daß sein Name Fengshi Yang ist. Er könnte sich aber auch anders genannt haben.« Wieder ein Stirnrunzeln. »Sie glauben, daß Sonia was mit diesem Typ zu tun haben könnte?« »Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, worin Sonia verwickelt war. Wenn Sie mir das sagen könnten, würde es helfen.« Aber Nicks Freund gab ihm den Viewer rasch zurück. »Nein. Nein, ich habe den Mann noch nie gesehen.« Garibaldi hatte die plötzliche Eingebung, wie es sein mußte, ein Telepath zu sein, und einfach zu wissen, wann jemand log. »Was ich gehört habe«, sagte er, »ist, daß er als eine Art Vollstrecker auf dem Mars tätig war. Im Umkreis der Minen.« Die Antwort kam schnell, zu schnell. »Das würde ich gar nicht wissen. Ich war kein Minenarbeiter. Hören Sie, ich muß los. Ich habe nichts zu sagen.« Garibaldi versuchte, ihn aufzuhalten, aber ein Blick in die Augen des Mannes machte ihm klar, daß er Angst hatte. Er ließ seinen Arm los. Schon wieder ein Hinweis, der nirgendwohin führte. Noch mehr Zeit verschwendet. Jeder hatte Angst, keiner wollte reden. Ein Dutzend Gespräche bis jetzt, und nur Welch hatte geredet. Aber Welch hatte nur Leere im Hirn.
Was jetzt? Es gab noch andere Arbeiter in den Werkstätten. Ein paar beäugten ihn neugierig. Garibaldi fragte sich, ob er rübergehen und ihnen Yangs Holo-Bild zeigen sollte, fragen, ob jemand von ihnen schon mal in den Minen auf dem Mars gearbeitet hatte. Aber er wußte im voraus, was sie sagen würden: Nein, tut mir leid, nie gesehen, nie gehört. Nein, ich war nicht in den Minen. Ich weiß überhaupt nichts. Würden sie es vorziehen, wenn Wallace die Fragen stellte? Garibaldi verließ das Areal der Werkstätten. Würden sie es vorziehen, wenn ein Telepath in ihrem Geist rumstocherte und die Wahrheit aus ihnen herausholte? Garibaldi wußte, daß er vor einer Sackgasse stand. Wenn er nicht bald auf ertragreiche Hinweise stieß, standen ihm beachtliche Schwierigkeiten bevor: Keine ordentlichen Berichte abgeliefert, die Wahrheit über seine Untersuchung verschleiert. Wenn Wallace das spitzkriegte ... Na, vielleicht hatte ja Fähnrich Torres etwas herausgefunden. Es blieb ihm nur die Hoffnung darauf. Er hatte jetzt ohnehin vor, sich mit ihr zu treffen. Derartig in seinen Gedanken gefangen, bemerkte er weder den Mann, der hinter ihm auftauchte, noch den, der plötzlich an seine Seite trat. Er sah die Schockstäbe nicht, die sie zückten. Dann raste Schmerz durch sein gesamtes Nervensystem, schloß alle Denkprozesse kurz, und alle anderen
Funktionen. Seine Muskeln verkrampften sich unkontrolliert, und er fühlte nicht einmal mehr, wie sein Kopf mit dem harten Boden zusammentraf.
17 Er fand allmählich wieder zu sich. Den Schmerz nahm er nur verschwommen wahr; einen alles umfassenden Schmerz, so groß wie sein Körper. Es war dunkel. Er versuchte, seine Hand auszustrecken, etwas Festes zu ertasten, doch er konnte seine Arme nicht bewegen. Er unternahm noch einen Versuch und erkannte, daß sie irgendwie hinter seinem Rücken zusammengebunden waren. Und... ja, auch seine Beine waren an den Knöcheln verschnürt und gegen seine Brust angewinkelt. Sein Rücken war gegen eine harte, unnachgiebige Fläche gepreßt, seine Arme eingeklemmt, verkrampft, die Blutzirkulation abgeklemmt. Er versuchte, eine andere Lage einzunehmen, seiner unbequemen Haltung Erleichterung zu verschaffen. Doch es fehlte an Spielraum. Sein Rücken touchierte eine Wand, seine Schulter drückte gegen eine weitere, und wenn er sich zur anderen Seite schob, stieß er gegen eine dritte. Und seine Knie und Füße schließlich waren von der vierten eingeengt.
Er war gefesselt in dieses finstere Verlies gesteckt worden, das um ein Haar zu klein für ihn war. Warum? Die Furcht machte sein Herz rasen. Es fiel ihm schwer zu atmen. Die Luft war heiß und abgestanden, als fehle es ihr an Sauerstoff. Und diese Wahrnehmung löste auf der Stelle das Gefühl aus, ersticken zu müssen. Nein. Augenblick mal. Da war ein Knebel in seinem Mund. Wo war er? Eingeschlossen an einem lichtlosen, engen Ort. Einem Schrank? Ein Schrank .. . Ortega! Nun überfiel ihn echte Panik, ließ ihn sich verzweifelt winden und gegen seine Fesseln stemmen. So hatten sie Ortegas Leichnam gefunden, in einen Spind gesteckt. Garibaldi konnte nicht umhin, den Toten vor sich zu sehen: im Tode erstarrt, die Knie an die Brust gezogen, damit er in den Spind mit den Ersatzteilen gepaßt hatte. Hatte man ihn deswegen gefesselt? Sollte er hier auf dieselbe Art sterben, in diesem finsteren, luftlosen Gefängnis? Niemals! Er holte mit beiden Füßen zugleich aus; in Auflehnung gegen ein solches Schicksal und in dem ernsthaften Unterfangen auszubrechen. Das gelang halbwegs. Er vermochte seine Beine so weit anzuwinkeln, daß er einen kraftvollen Stoß zustande brachte.
Er trat noch einmal zu. Nein, damit würden sie nicht durchkommen. Das würde er nicht zulassen. Nicht wie Ortega. Er würde nicht hier drin sterben. Nein! Er legte eine Pause ein, ließ sich zurückfallen. Alle Glieder schmerzten, er schwitzte, schnappte nach Luft, die kaum durch den Knebel in seinem Mund dringen wollte. Sein Schädel brummte, und seine Ohren dröhnten von den Tritten gegen die Schrankwand. Es reichte ihm. Reiß dich zusammen, Mike! Beruhige dich erst mal! Denk nach! Er besann sich darauf, daß J.D. Ortega nicht in dem Werkzeugspind erstickt war, sondern daß man ihn vergiftet und nach seinem Ableben in den Schrank gesteckt hatte. Das bedeutete natürlich nicht, daß Garibaldi hier nicht sterben konnte, aber es machte wenigstens einen kleinen Unterschied. Und wenn sie gewollt hätten, daß er starb, hätten sie ihn längst töten können. Es sei denn, sie hatten angenommen, daß er bereits tot war, als sie ihn in den Schrank bugsiert hatten. Also gut. Es hilft nichts, darüber nachzudenken, oder? Schließlich war er noch am Leben, und nur darauf kam es an. Und darauf, daß es auch so blieb. Wenn er nur sein Com-Link erreichen könnte. Er könnte um Hilfe rufen. Das sollte eigentlich nicht so schwierig sein; seine Handgelenke waren doch zusammengebunden. Er tastete nach dem Com-Link, faßte mühsam sein Handgelenk, seinen Handrücken
und - kein Com-Link. Es war nicht mehr da. Verflixt! Und nun? Also gut. Denk darüber nach, Mike! Die Problemstellung: Mein Interkom ist verschwunden; ich bin gefesselt und in einen Schrank gesperrt; Wenn dies überhaupt ein Schrank ist. Mal angenommen, es ist einer. Dann hat er eine Tür. Bei vier Seiten muß eine doch eine Tür sein. Ich habe keine Ahnung, welche, es ist viel zu finster hier drin. Könnte ich sie eintreten? Na klar. Die Schränke auf der Station sind alle nicht sonderlich stabil. Das sollte ich schaffen. Andererseits habe ich ja schon wild drauflos getreten, und dieses Ding ist immer noch dicht. Demnach befindet sich die Tür nicht auf dieser Seite. Es hieße, die Tatsachen auszuschmücken, wenn man behaupten wollte, Garibaldi hätte sich überhaupt nicht bewegen können. Es blieb ihm Spielraum genug, um mit seinen verschnürten Beinen so weit auszuholen, daß er kraftvolle Tritte anbringen konnte. Und er konnte, wie er nun herausfand, seinen beengten Leib Zentimeter um Zentimeter bewegen und so in eine andere Position bringen. Jetzt hatte er eine andere Wand des Schrankes vor sich, die sich, so hoffte er, als dessen Türseite erweisen würde. Es war ein langwieriger und erschöpfender Prozeß, der ihm das Atmen erschwerte, als wiche alle Luft von ihm. Der Schrank ist luftdicht
abgeschlossen, ahnte er. Am Ende war es gar kein Schrank, sondern etwas, das weitaus mühevoller zu sprengen wäre. Verzweifelt trat er abermals zu. Die Seiten des Schrankes rappelten, daß ihm die Ohren weh taten. Ein Heidenlärm. Das mußte doch irgendwer hören. Er machte eine Pause. Wieder dröhnten seine Ohren. Es war, als vibrierte sein ganzer Schädel. Das Denken machte ihm Mühe. Nichts da, ich muß nachdenken. Warum hört niemand den Krach, den ich hier mache? Ist irgend jemand in meiner Nähe? Vielleicht ist da draußen genau so ein Lärm, so daß mich deshalb niemand hört. Er vermochte es nicht zu sagen. Und es war auch einerlei. Er mußte es weiter versuchen. Es konnte jemand vorbeikommen und ihn hören. Oder es gelang ihm endlich doch, die Tür einzutreten. Aber nur, wenn er nicht aufgab. Und so versuchte er es weiter. Auf dem Hauptmonitor der Beobachtungskuppel sagte Commander Ivanova gerade: »Nein, ich erwarte keinen weiteren Angriff. Die erste Attacke geschah nur zum Schein, um zu sehen, ob sie uns weglocken konnten. Das zweite Mal sind sie nicht mal in unsere Reichweite gekommen. Wir haben sie vertrieben.«
»Gute Arbeit«, kommentierte Captain Sheridan anerkennend. »Ich denke, wir können Earth Central mitteilen, daß diese Route sicher ist. Resultate, das ist es, was zählt, Commander.« »Ja, Sir. Wir bringen den Transporter rein. Ankunft in 3:50 Stunden.« »Gute Arbeit«, wiederholte Sheridan. Er war froh wegen Ivanova, wegen des sicher eintreffenden Transportes und wegen des gelungenen Geleitschutzes durch das Kampfgeschwader. Ein guter Offizier, Susan Ivanova. Innovation, Initiative, das rechte Maß an Aggressivität. Sehr fähig. »Captain Sheridan?« Er wandte sich um und erblickte einen anderen weiblichen Offizier, einen Fähnrich, SicherheitsInsignien auf der Uniformbrust, klein und rothaarig. Die junge Frau schien wegen irgend etwas beunruhigt, aber sie wahrte ihre Haltung. »Fähnrich Torres«, erinnerte er sich an ihren Namen. »Sir. Kann ich Sie sprechen?« »Selbstverständlich.« Sie sah sich im geschäftigen Zentrum der Beobachtungskuppel um. »Privat?« »Selbstverständlich.« Als sich die Tür zum Besprechungsraum hinter ihnen geschlossen hatte, erkundigte er sich: »Nun, was kann ich für Sie tun, Fähnrich?« »Sir, es geht um Mr. Garibaldi. Ich fürchte, er ist verschwunden. Ich kann ihn nicht lokalisieren.«
Captain Sheridan tastete nach seinem Interkom, aber Torres schüttelte den Kopf. »Er geht nicht ran. Und die Zentrale kann ihn auch nicht ausfindig machen. Und ... ich habe Grund zu der Annahme, daß er in Gefahr ist.« »Sie sagen mir besser, was los ist, Fähnrich.« »Wir haben einen Mord untersucht...« »Doch nicht den Ortega-Fall?« »Nein, Sir. Einen anderen Mord. Ein toter Mann wurde gefunden, das heißt, ein Teil von ihm. In der Wiederaufbereitung. Wir konnten ihn anhand seiner DNS identifizieren. Er wurde als Fengshi Yang geführt. Aber seine Akte bei der Registratur wurde manipuliert, es gibt Ungereimtheiten. Wir haben versucht, dem nachzugehen, um seine wahre Identität festzustellen.« Sheridan sah sie erstaunt an. »Ich glaube nicht, daß ich davon in Kenntnis gesetzt wurde, Fähnrich. Warum nicht?« Torres' kleine weiße Zähne bissen auf ihre Unterlippe. »Ich weiß es nicht, Sir. Aber Mr. Garibaldi wollte Stillschweigen bewahren; für den Fall, daß Informationen in die falschen Hände geraten, vermutlich. Ich nehme an, ich bin die einzige, die in dieser Sache unmittelbar mit ihm zusammengearbeitet hat. Allerdings hatte ich keine Ahnung, daß Sie nicht unterrichtet wurden, Sir.« Des Captains Erstaunen wuchs. Torres fiel es schwer, ihn unverwandten Blickes anzusehen. Anscheinend gab es etwas, das sie ihm
verheimlichen wollte. »Fahren Sie fort«, forderte er sie ungeduldig auf. »Ja, Sir. Wir waren vor mehr als drei Stunden verabredet, um unsere Ergebnisse auszutauschen. Als Mr. Garibaldi nicht auftauchte, versuchte ich, ihn über sein Com-Link zu erreichen. Zuerst nahm ich an, er könnte sich aus einem besonderen Grund ausgeklinkt haben. Aber das ist sonst nicht seine Art. Als ich die Kommandozentrale bat, das zu prüfen, fand sich überhaupt keine Spur von seinem Interkom. Sir, ich mache mir Sorgen. Aber weil dies eine heikle Sache sein könnte, war ich nicht sicher, ob ich einen Suchalarm für die gesamte Station auslösen sollte.« »Was meinen Sie mit einer heiklen Sache?« Torres blickte verlegen zur Seite. »Nun, Sir, wir waren uns nicht sicher... Ich meine, wir hatten keine Beweise, und Mr. Garibaldi sagte, ich solle den Mund halten... Aber es ist möglich, daß es einen Zusammenhang zwischen diesem Mord und dem Ortega-Fall gibt. Und ich glaube, er hat Nachforschungen in dieser Richtung angestellt.« »Sie glauben?« »Sir, er hat mir nichts gesagt. Er behauptete, es existiere keine Verbindung, doch ich glaube ... er dachte, es könnte doch eine geben. Er wollte niemanden da reinziehen. Ich wußte nicht, was ich tun ...«
»Ich verstehe«, entgegnete Sheridan knapp. »Haben Sie eine Ahnung, wohin er gegangen sein könnte?« »Nein, Sir. Wenn ich das wüßte, hätte ich selbst nachgesehen. Aber er hat mir nichts gesagt. Ich glaube, er hat niemandem gesagt, was er vorhatte.« Sheridan nickte. Er würde später genug Zeit haben, dem Geheimnis auf den Grund zu gehen, die Wahrheit aus Garibaldi herauszufragen - wenn man den Chief erst gefunden hatte. »Hier Captain Sheridan. Allgemeiner Alarm für die ganze Station. Chief Garibaldi ist verschwunden.« An Fähnrich Torres gewandt: »Kommen Sie! Ich bin noch nicht lange auf der Station, aber wenn wir sie auseinandergenommen haben, kenne ich jeden Quadratmeter. Wir werden Garibaldi schon finden.« Wie lange saß er jetzt schon hier fest? Erschöpft trat Garibaldi noch einmal gegen die Schrankwand. Gab sie allmählich nach? Er vermochte es nicht mit Sicherheit zu sagen. Warum mußten sie auch die Schränke auf dieser Station so stabil bauen? Seine Hüfte schmerzte ebenso wie sein Rücken. Seine Schultern waren pure Pein dank der auf den Rücken verdrehten Arme. Sein Kopf pochte. Er drehte sich, bis sein Rücken gegen eine neue Wand stieß. Ich muß es weiter probieren. Er trat zu. War das die Tür? Weiter! Nein. Moment. Was war das? Ein Geräusch? Eine Stimme? Er versuchte, durch den Knebel auf sich
aufmerksam zu machen, würgte, trat abermals gegen die glatte Fläche. Hier bin ich! Hörte man ihn? Ja. Erleichterung durchströmte ihn. O ja. Jemand rief seinen Namen. Garibaldi. Er trat noch zweimal zu. Einmal für nein, zweimal für ja. Wo habe ich das schon mal gehört? »Garibaldi? Sind Sie das? Wo stecken Sie?« Hier, wollte er antworten, aber der Knebel hinderte ihn daran. Noch zwei Tritte. Nicht so hart, dieses Mal, nicht so laut. Sie sollten nur den Schrank finden, in dem er gefangen war. »Garibaldi? Sind Sie da drin?« Es war die Stimme des Captains. Sheridan. Danke, Captain. Oh, danke. »Er ist hier drin. In dem Schrank da. Aufmachen, aber sofort!« Es gab ein knirschendes, ein reißendes Geräusch. »Verdammt, dann versucht den nächsten! Ich weiß, daß er hier drin ist.« Er trat gegen die Wand, um zu helfen, aber da hörte er ein weiteres lautstarkes Knirschen von zerberstendem Metall. Die Wand zu seiner Linken gab nach und fiel heraus. Das Licht blendete. Hände griffen nach ihm, ließen ihn vorsichtig zu Boden gleiten. »Bindet ihn los! Garibaldi, sind Sie in Ordnung?« Der Knebel wurde aus seinem Mund gezogen. Er keuchte, wollte schlucken, brachte eine krächzende Erwiderung zustande, schluckte noch einmal. »Gut.
Großartig.« Ein Grinsen gelang ihm. »Echt... froh, Sie zu ... sehen, Captain.« Man brachte ihn ins MedLab. Garibaldi wollte nicht dorthin, aber niemand fragte ihn nach seiner Meinung; Befehl des Captains. Dr. Franklin untersuchte ihn, gab ihm etwas, das allen Schmerz vergessen ließ, prüfte mit einem Instrument seine Augen und meinte, er könne über seinen harten Schädel glücklich sein. Eines Tages würde er ihn einmal zu sehr anstoßen. »Gehirnerschütterung?« erkundigte sich der Captain. Der Doktor schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht. Er hat eine dicke Beule, als wäre er bei seinem Sturz auf etwas aufgeschlagen. Aber das da, das ist eine Verbrennung, verursacht durch einen Schockstab.« Er wies auf eine Stelle an Garibaldis Hals hin. Sonderbar, er vermochte sich an diesen Schmerz nicht zu erinnern, als er in dem Schrank gefangen war. Aber jetzt fiel es ihm wieder ein. Ein Schockstab. Ja, das mußte es gewesen sein. Es war nicht das erste Mal, daß man ihn geschockt hatte. Eine solche Erfahrung vergaß man nicht so rasch. Ja, zuerst der Schock, dann Aufwachen in der Dunkelheit. Er erinnerte sich jetzt. Versuchsweise bewegte er den Kopf hin und her. Die Schmerzen waren nahezu verschwunden. Er richtete sich auf. Der Doktor protestierte: »Langsam!« »Es geht mir gut.« Er drehte sich zu Sheridan um. Und da stand Torres, hinter dem Captain. Torres?
»Danke, daß Sie mich da rausgeholt haben, Captain.« »Für eine Weile waren wir ein wenig in Sorge.« Torres sagte entschuldigend: »Tut mir leid, Chief. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Aber als ich Sie nicht erreichen konnte, habe ich dem Captain Bescheid gesagt. Ich hoffe ...« »Ich schätze, das war eine kluge Entscheidung«, bemerkte Garibaldi mit Wärme. »Danke, Torres.« Sheridan musterte ihn. »Haben Sie mir jetzt vielleicht etwas zu sagen?« Franklin erhob Einspruch, schließlich habe sein Patient gerade erst einen Hieb auf den Kopf überstanden, aber Garibaldi erhob sich bereits. Sein Kopf war jetzt klarer, doch er ahnte, daß dies lediglich auf die Wirkung der Medikamente zurückzuführen war. »Ich weiß nicht, was ich da groß sagen soll, Captain. Ich hatte einen Zeugen befragt, der mir allerdings nicht viel mitzuteilen hatte. Ich ließ ihn ziehen und war eben auf dem Weg zum Lift, um Torres hier zu treffen, als ... Peng.« »Wie ich höre, ermitteln Sie in einer Mordsache. Ein Mann namens Yang? Gibt es da eine Verbindung? Glauben Sie, daß Yangs Mörder Sie ausgeschaltet hat? Jemand, der Ihren Zeugen am Reden hindern wollte?« Garibaldi schloß für einen Moment die Augen. Er war nicht sicher, ob er schon dazu bereit war, aber jetzt konnte es kein Zurück mehr geben.
Captain Sheridan setzte eine strengere Miene auf. »Laut Fähnrich Torres existiert möglicherweise ein Zusammenhang zwischen Yangs Tod und dem Ortega-Fall. Es gibt aber nichts in dieser Hinsicht in der Akte über Yang; tatsächlich gibt es darin so gut wie gar nichts.« Torres, die immer noch hinter dem Captain stand, schaute jetzt ertappt und schuldbewußt drein. Garibaldi schüttelte den Kopf und zuckte zusammen. »Nur so ein Gefühl. Nichts Konkretes. Keine Beweise. Nichts, was in einen Bericht gehören würde. Alles, was ich weiß, ist, daß Fengshi Yang am 18. April vom Mars-Hafen nach Babylon 5 abgeflogen und irgendwann in den nächsten fünf Tagen gestorben ist.«" Sheridans Miene blieb skeptisch. »Das ist Ihre Vermutung.« »Es geht noch weiter. Der Stationsregistratur zufolge hat er Babylon 5 am 20. verlassen, nicht jedoch nach den Passagierlisten. Die Tatsache, daß wir drei Tage später seine Leiche gefunden haben, bestätigt das. Also muß sich jemand an den Aufzeichnungen der Registratur zu schaffen gemacht haben. Das war mein Anhaltspunkt. Mehr nicht.« Garibaldi war froh, daß sich in diesem Augenblick kein Telepath im Raum befand. Er dachte an Welch und an die Information, die er von ihm erhalten hatte, an die Verbindung von Yang mit den Minen auf dem Mars. Doch Welch war wieder
auf seinem Schiff, und in seinem Bericht erschien er lediglich als ein Spieler, den er wegen Betrügereien am Kartentisch der Station verwiesen hatte. Captain Sheridan wollte etwas sagen, doch dann drehte er neugierig den Kopf; auf dem Korridor hatte sich ein Lärm erhoben, jemand rief etwas. Dr. Franklin wurde zornig und lief zur Tür. »Ruhe da draußen! Was soll der Krach? Ich bitte mir Ruhe für meine Patienten aus!« Garibaldi schloß die Augen. Sein Kopfweh kehrte wieder. Er ließ sich zurücksinken. Er hatte die aufgebrachte Stimme erkannt, die jetzt verlangte, daß man ihm den Weg freigab und seine Ermittlungen nicht länger behinderte. Andernfalls drohte er mit schwerwiegenden Konsequenzen. Das war genau das, was er jetzt brauchte. Sein Lieblingskopfjäger, Commander Ian Wallace, war hier, um ihn zu besuchen.
18 Wallace stürmte buchstäblich in das Behandlungszimmer, seinen schlangenhaften Gehilfen Khatib dicht auf den Fersen, hintendrein ein schäumender Dr. Franklin. »Na schön, Garibaldi, das Maß ist voll.« Aber er wurde von Sheridan aufgehalten, der neben Garibaldis Liege stand und nicht den Eindruck eines freundlichen Begrüßungskomitees machte. »Ich hoffe, Commander, Sie haben eine zufriedenstellende Erklärung dafür, daß Sie in das Med-Lab meiner Station hineinplatzen und die Patienten beunruhigen.« Wallace riß sich daraufhin zusammen. »Captain, ich habe Grund zu der Annahme, daß Ihr Sicherheitschef sich in meine Ermittlungen eingemischt hat, in Zuwiderhandlung meiner und Ihrer Befehle. Und ich denke, Sie verstehen mittlerweile, von welcher Bedeutung meine Resultate für Earth Central sind.« Falls er mit der letzten Bemerkung die Absicht verfolgte, Sheridan einzuschüchtern, so zeitigte sie
den gegenteiligen Effekt. Der Kommandant von Babylon 5 mochte nicht daran erinnert werden, daß Wallace von der persönlich übermittelten, nur für den Dienstgebrauch bestimmten Botschaft der Vereinigten Stabschefs der Earthforce an ihn wußte. »Was ich augenblicklich verstehe, Commander«, erwiderte er gepreßt, »ist, daß Sie eine Minute haben, Ihre Anwesenheit im Med-Lab zu rechtfertigen oder zu verschwinden.« »Gut, Captain. Wir können diese Diskussion auch in Ihrem Büro fortsetzen. Ich verlange, daß Sie Mr. Garibaldi von seinen Pflichten als Sicherheitschef von Babylon 5 entbinden und unter Arrest stellen. Ihm wurde ausdrücklich und wiederholt befohlen, sich nicht in den Fall Ortega einzumischen. Und jetzt stelle ich fest, daß er meine Zeugen verhört... und sich in eine Situation manövriert, die zu meistern er eindeutig überfordert ist.« Er warf Garibaldi einen kurzen, verächtlichen Blick zu. »Tatsächlich könnte man sagen, daß die Enthebung von seinem Posten zu Mr. Garibaldis eigenem Nutzen ist.« Sheridan hatte den Blick sehr wohl bemerkt. Er schnappte: »Nicht nötig, Commander. Ich lehne Ihr Gesuch ab. Mr. Garibaldi wurde in Ausübung seines Dienstes verletzt, während er einen Mord auf seiner Station untersuchte. Er hat alle Rechte, Verdächtige und Zeugen in dieser Angelegenheit zu befragen, auch wenn Sie glauben, es handele sich dabei um Ihre Zeugen. Besonders, da Sie anscheinend jeden
Mann, jede Frau und jeden Alien auf Babylon 5 verhören.« Wallace blinzelte und sah sich nach Khatib um. Er schien verunsichert. »Was für ein Mord?« »Ein Handelsvertreter von der Erde wurde vor kurzem ermordet. Sein Name war Fengshi Yang.« »Yang?« »Richtig. Warum, Sie wissen doch ohnehin nichts über den Fall, nicht wahr? Über den Mann namens Yang?« Beflissenes Kopfschütteln, eine zu prompte Reaktion. »Nein, der Name sagt mir nichts.« Garibaldi reckte seinen Kopf ein wenig in die Höhe. Er beobachtete Wallace mit lebhaftem Interesse. Sheridan fuhr fort, ohne dieses Interesse zu beachten: »Dann wird es kaum Ihre Ermittlungen beeinträchtigen, wenn die Sicherheitsabteilung von Babylon 5 versucht, seinen Mörder aufzuspüren. Da beide Fälle nichts miteinander zu tun haben, wie Sie sagen.« Wallace wich einen kleinen Schritt zurück. »Natürlich nicht. Ich stelle fest, man hat mich falsch informiert.« »Ja, könnte sein«, sagte Sheridan. Er sah nach Fähnrich Torres, die reglos dastand und aussah, als wäre sie am liebsten unsichtbar. »Sie begleiten Commander Wallace aus dem Med-Lab.« Dankbar sagte Torres: »Ja, Sir. Commander, wenn Sie mir bitte folgen wollen.«
Wallace wandte sich zum Gehen, wobei er Torres allerdings ignorierte. Garibaldi, der sich auf der Behandlungsliege aufsetzte, konnte nicht umhin, ihm nachzurufen: »Commander, falls Sie auf irgendwelche Hinweise im Yang-Fall stoßen, würden Sie mich dann unterrichten?« Wallace entgegnete kalt: »Natürlich.« »Ich tue natürlich dasselbe für Sie. Wir sollten einander zur Hand gehen, nicht wahr? Da wir im selben Geschäft sind.« Wallace blieb ihm eine weitere Antwort schuldig, aber Khatib warf Garibaldi einen schweigend beredten tödlichen Blick zu. Was für ein garstiger Geselle, dachte Garibaldi, als sie abzogen, in gebührendem Abstand gefolgt von Torres. »Danke, Captain«, sagte er. Dr. Franklin beobachtete zufrieden den Abgang von Wallace. »Ich meine, wir sollten dem Chief jetzt etwas Ruhe gönnen, Sir.« »Einen Augenblick noch, Doktor. Ich möchte unter vier Augen mit Mr. Garibaldi sprechen.« »Ich glaube, mir wird schwindlig«, murmelte Garibaldi und schloß die Augen. »Ist mir gleich, Mr. Garibaldi. Und zur Hölle mit Commander Wallace. Ich will wissen, was hier vorgeht. Ich habe mit Torres gesprochen, und sie hat gesagt, daß die beiden Mordfälle Ihrer Meinung nach zusammengehören. Sie wissen etwas, und ich will es hören.«
»Ich schwöre, Captain. Ich habe fast nichts in der Hand. Jedesmal, wenn ich denke, ich habe eine Spur, löst sie sich in Rauch auf.« Garibaldi machte eine Pause. »Also gut. Sie wollen wissen, warum ich glaube, daß es eine Verbindung gibt? Weil ich überhaupt nichts herausfinde. Niemand macht den Mund auf. Das ist meine Station. Will sagen, ich habe Kontakte hier, Typen, zu denen ich gehen kann und die mit mir reden. Aber als ich im Ortega-Fall herumschnüffelte, ehe Sie mir den Befehl erteilten, es bleiben zu lassen, rannte ich nur gegen Mauern. Niemand will etwas wissen; keiner will etwas sagen. Und als ich dann wegen diesem Yang rumfragte, bekam ich dasselbe zu hören. Nämlich nichts. Alle haben Angst, Captain.« »Angst wovor?« »Das weiß ich eben nicht. Aber alles scheint irgendwie auf den Mars hinzudeuten. Ich habe herausgefunden, daß Yang vom Mars war, und er war in etwas involviert, worüber die Leute nicht sprechen wollen. Und Ortega kam auch vom Mars, ein mutmaßlicher Terrorist, und auch darüber will niemand reden. Er kam nach Babylon 5 und wurde umgebracht. Yang kam nach Babylon 5 und wurde umgebracht. Und noch was: Wir haben nichts darüber, daß Ortega auf die Station gekommen ist, und der Stationsbericht über Yang war gefälscht.« Sheridan sagte nichts, aber wenigstens hörte er zu.
»Der Rest ist nichts als verrückte Spekulation«, schloß Chief Garibaldi. Doch der Captain gab sich damit nicht zufrieden. »Welche verrückte Spekulation?« Garibaldi rieb sich müde die Schläfen. »Wer Yang in Wirklichkeit war. Aus welchem Grund er hierherkam. Wirklich nur eine verrückte Theorie, okay? Ich habe mit Ivanova gesprochen. Sie wissen doch, wie sie die Lecks in den Transportrouten bis zum Mars zurückverfolgt hat. Sie meint, jemand von Earth Central könnte da mit drinhängen, der das deckt. Es könnte durchaus sein, Ortega war gar kein Terrorist, könnte sein, er hat den Deal aufgedeckt und die Schurken bei Earth Central haben versucht, ihn zum Schweigen zu bringen, indem sie einen Vollstrecker auf ihn angesetzt haben. Aber irgendwas ist schiefgelaufen, und auch der Vollstrecker wurde umgebracht.« »Und dieser Vollstrecker war Yang?« »Sein Aufgabengebiet, nach allem, was ich gehört habe.« Sheridan zog nachdenklich die Stirn kraus. »Aber nach seiner ganzen Herumschnüffelei, nachdem er jeden auf der Station verhört hat, der irgendwann mal auf dem Mars war, warum sollte dann ausgerechnet Wallace nichts über Yang wissen?« »Ich denke, er verheimlicht etwas.« Sheridan überlegte und hatte plötzlich dieselbe Erleuchtung wie der Sicherheitschef.
Garibaldi nickte. »Genau. Ich habe Wallace' Gesicht beobachtet, als Sie Yangs Namen erwähnten. Und das von diesem Schlangenmann, Khatib. Sie wußten es. Sie wußten über Yang Bescheid. Sie hatten bloß keine Ahnung, daß wir auch Bescheid wissen. Und sie waren nicht besonders erfreut darüber.« Eine Weile bedachten beide schweigend die Tragweite des Ganzen. Dann nahm Garibaldi den Faden wieder auf: »Nehmen wir also an, EarthforceBeamte sind in irgendeine Schweinerei verwickelt. Einer kommt dahinter. Sagen wir, er hat Namen, Daten, jetzt ist er tot, der Vollstrecker ist tot, die Informationen jedoch sind nicht aufgetaucht. Sie haben keine Ahnung, ob er sie weitergegegeben hat, also schicken sie jetzt einen neuen Vollstrecker, einen Profi mit Vollmachten ...« »... von den Vereinigten Stabschefs. Kommen Sie, Garibaldi!« »Ich hab' doch gesagt, daß es verrückt ist.« Sheridan machte einen Schritt weg von dem Krankenlager, verharrte, wandte sich wieder Garibaldi zu. »Ich habe mir so meine Gedanken über Wallace gemacht, das will ich gerne einräumen. Über sein Vorgehen. Genug, um bei Earth Central Erkundigungen über ihn einzuholen. Sie haben die Antwort selbst gesehen. Die Vereinigten Stabschefs, Garibaldi. Admiral Wilson. Sie spinnen sich da eine Verschwörungstheorie bis hinauf zum Oberkommando zusammen.«
»Ja, ich weiß. Was glauben Sie, weshalb ich noch keinen offiziellen Bericht darüber angefertigt habe? Was glauben Sie, weshalb ich versucht habe, Stillschweigen über die Yang-Sache zu bewahren?« Garibaldi seufzte. »Da steckt noch mehr dahinter.« Sheridan setzte eine Miene auf, als wolle er nichts mehr davon hören. Gleichwohl bedeutete er Garibaldi fortzufahren. »Also. Die Bösen schicken ihre Ermittlungsbeamten. Die finden schnell heraus, daß der Mann mit den Informationen hier einen bestimmten Earthforce-Offizier kontaktiert hat; denselben Earthforce-Offizier, der gerade einen Report an Earth Central geschickt hat, in dem es auch um ihre schmutzigen Geschäfte ging. Das erste, was diese Ermittlungsbeamten tun, ist, die Arretierung dieses Offiziers zu verlangen.« Captain Sheridan ballte die Fäuste. »Ich kann damit unmöglich zu Earth Central gehen. Und das wissen Sie. Ich habe meine Order, direkt von ...« Er verstummte abrupt. »Verdammt, Garibaldi, es ist verrückt. Ich kann das nicht glauben. Sie haben keine Beweise, wie Sie selbst zugegeben haben.« »Ja, ich weiß.« Garibaldi seufzte abermals und massierte die schmerzende Stelle an seinem Kopf. »Und es gibt noch ein paar ungelöste Rätsel. Wer hat mich mit einem Schockstab behandelt und in diesen Spind gesperrt? Wer hat Yang auf dem Gewissen?« »Dieselbe Seite?«
Garibaldi verneinte und schüttelte sich unbehaglich. Die Wirkung der verabreichten Medikamente ließ allmählich nach und ließ die Schmerzen wieder anschwellen. »Nein. Ich hatte da drin eine Menge Zeit zum Nachdenken. Ich glaube das nicht. Die hätten mich ohne Umstände umbringen können, wenn sie gewollt hätten. Nein, das war eine Warnung.« »Sie meinen: Hör auf, Fragen zu stellen, sonst endest du wie Ortega in einem Schrank?« »So was in der Art.« Garibaldi schwieg einen Moment und überlegte. »Wer auch immer Ortega erledigt hat, war ein Profi. Ob es Yang war oder sonstwer. Aber es war ihm gleichgültig, ob der Leichnam entdeckt wurde. Es könnte auch ursprünglich eine Warnung gewesen sein wie bei mir.« »Jemand sollte gewarnt werden?« »Yangs Mörder hingegen wollten auf keinen Fall, daß die Leiche irgendwann auftaucht. Vermutlich ...« Wieder machte er eine Denkpause. »Vermutlich wären sie ausgerastet, wenn sie gewußt hätten, daß wir ihn identifiziert haben. Und daß jemand Nachforschungen über den Mord anstellt, das wäre ein Schock gewesen.« Er sah Sheridan in die Augen und erkannte, daß sie beide dasselbe dachten. »Irgendwie ändert das alles«, sagte Garibaldi bedächtig. Einen Augenblick später fragte er: »Und was jetzt?«
Sheridan preßte seine Lippen zusammen. »Ich weiß nichts über diese ganzen anderen Dinge, Garibaldi, über diese Verschwörung. Aber wir haben nach wie vor einen ungelösten Mordfall auf Babylon 5. Das ist unbestreitbar. Und wie ich bereits zu Commander Wallace sagte, kann ich unmöglich einen Mord auf der Station ignorieren, solange ich das Kommando habe.« »Und Wallace hat eben eingeräumt, daß der Yang-Fall seine Ermittlungen nicht berührt«, fügte Chief Garibaldi befriedigt hinzu. »Also würde ich sagen, es ist an uns, den Mörder zu finden.« »Und ich werde keinerlei Angriffe auf einen meiner Offiziere dulden«, fuhr Sheridan fort, der seinen Weg nun in hellem Licht vor sich sah. »Auch das ist unbestreitbar. Wir müssen diesen Zeugen herbeischaffen, mit dem Sie gesprochen haben, unmittelbar bevor Sie überfallen wurden. Sein Name?« Er hatte bereits die Hand erhoben, um über sein Interkom einen Sicherheitsmann zu verständigen, doch dann ließ er sie wieder sinken, als Garibaldi kleinlaut sagte: »Ich habe keinen Schimmer.« »Sie kennen seinen Namen nicht?« Garibaldi schüttelte vorsichtig seinen empfindlichen Kopf. »Er hatte es so eingefädelt, daß er nur mit mir reden wollte, wenn mir sein Name verborgen blieb. Er hatte ohnehin nicht viel zu sagen.«
»Und wie haben Sie sich dann mit ihm in Verbindung gesetzt?« »Mittels ... anderer Kontakte. Captain, ich bin mir nicht sicher, ob ich preisgeben will, um wen es sich handelte. Diese Leute reden mit mir, weil ich ihnen Vertraulichkeit garantiere. Sie wissen, daß sie sich auf mich verlassen können. Was soll ich tun? Mein Versprechen brechen? Sie reinlegen?« »Was glauben Sie, was die getan haben? Die haben Sie reingelegt, Garibaldi. Die haben Sie in eine Falle gelockt, Sie verkauft, an wen auch immer. Sie hätten getötet werden können. Sind das die Leute, die Sie schützen wollen?« »Ja. Klingt irre, wie?« Garibaldi schloß die Augen und ließ den Kopf nach vorne sinken. Die Schmerzen wurden jetzt wieder schlimmer. Die Sache war die, er wollte seine Informanten decken. Nick und die anderen, deren Vertrauen in ihn so groß war, daß sie die Hand für ihn ins Feuer legen würden. Es war ein Teil von dem, was er war, für seine Informanten geradezustehen und sie nicht über den Tisch zu ziehen. »Hören Sie, ich mach' das lieber auf meine Art. Schließlich ist das mein Job.« Aber Sheridan zeigte sich nur mäßig beeindruckt. »Ihre Art hätte Sie um ein Haar umgebracht. Und Sie sind noch nicht wieder diensttauglich. Nein, Garibaldi, dieses Mal läuft es so, wie ich es für richtig halte.«
19 Beim Anflug auf das Andockareal fiel das Geleitgeschwader zurück, um den Transporter zuerst andocken zu lassen. Ivanova öffnete ihre Kabine und kletterte nach langen Stunden im Cockpit steifbeinig und ungelenk hinaus. Sie nickte der Dock-Crew gutgelaunt zu und machte sich auf den Weg in den Bereitschaftsraum, um sich ihrer Montur zu entledigen. Doch zuerst stellte sie eine Verbindung zu Captain Sheridan her. »Captain, hier Ivanova. Wir sind zurück. Die Geleitmission war ein voller Erfolg. Transporter Kobold sicher reingebracht. Keine eigenen Verluste oder Schäden. Ein Raider abgeschossen. Wünschen Sie, daß ich Ihnen unverzüglich persönlich Bericht erstatte?« »Können wir das noch eine Zeitlang zurückstellen, Commander Ivanovä? Wir hatten ein Problem hier. Es gab einen Übergriff auf Chief Garibaldi. Es geht ihm gut, er erholt sich im MedLab. Aber es gibt ein paar Sicherheitsfragen, um die ich mich dringend kümmern will.«
»Es geht ihm gut? Kann ich ihn sehen?« fragte sie beunruhigt. »Dr. Franklin meint, es besteht kein Anlaß zur Sorge. Aber er ist erschöpft. Man hat ihn niedergeschlagen ... Es ist besser, ihn vorerst in Ruhe zu lassen.« Was war geschehen? Wer hatte Garibaldi angegriffen? Na, wenigstens kam er wieder in Ordnung. Als sie ihr Quartier betrat, um die Kleidung zu wechseln, kam ihr der Gedanke, daß es nun an der Zeit war für eine Unterredung mit dem Piloten der Kobold. Sein Name war Pal. Er war mager und dunkelhaarig, und er bestand darauf, sie zu einem späten Abendessen einzuladen. Ivanova lehnte nicht ab; die Konfrontation mit den Raiders hatte ihren Appetit zurückgebracht. »Sie haben ja keine Ahnung«, sagte er, als er sie zu ihrem Tisch im Freiluftrestaurant führte, »was für eine Erleichterung das war, aus dem Hyperraum zu kommen und Sie auf uns warten zu sehen. Ein paar Sekunden jedoch, ehe Sie sich identifizierten, dachte ich, Sie selbst wären die Raiders.« »Sie haben einen Überfall erwartet?« »Großer Gott, ja. Und wie wir den erwartet haben. Ich sage Ihnen, in der letzten Zeit ist es so mies gelaufen, daß die Gewerkschaft der Transportpiloten gedroht hat, sich einzuschalten. Sie wollte alle Transporte boykottieren, bis die
Earthforce endlich ihren Job macht und uns Geleitschutz durch das Territorium der Raiders zur Verfügung stellt.« Er machte ein bekümmertes Gesicht, räusperte sich und sagte dann nichts mehr. Der Kellner kam mit einem Teller voller Pfannkuchen, mit einer Mischung aus geschnetzeltem Gemüse und Gewürzen gefüllt. Pal goß eine beachtliche Menge der scharfen Sauce darüber und würzte seine Pfannkuchen so scharf wie aus des Teufels Küche. Ivanova, mit der Sauce vertraut, hielt sich zurück. Nachdem der Kellner gegangen war, senkte Pal seine Stimme. »Es ist so, ich bin im Zentralkomitee der Gewerkschaft. Daher weiß ich, daß die Earthforce zu der Zeit, als wir den Mars-Hafen verließen, unser Gesuch noch immer prüfte. Deshalb war ich ja so überrascht, Sie da draußen zu sehen. Man hat uns immer wieder vertröstet, die Mittel wären nicht ausreichend, uns den nötigen Geleitschutz zu geben. Sie sagten, sie hätten die Schiffe nicht. Deshalb bin ich neugierig. Was geht da vor?« »Verstehe«, sagte Ivanova und schluckte vorsichtig einen Bissen von ihrem Essen. Heiß, aber gut. »Nein, es hat keinen politischen Wechsel auf der Kommandoebene der Earthforce gegeben, wenn Sie das meinen. Es war Captain Sheridan, hier auf Babylon 5, der den Einsatz von Patrouillen angeordnet hat. Nur für das Territorium, das wir in
Epsilon abfliegen. Und lediglich für bestimmte Transporte, die als hochgefährdet erachtet werden.« Pals Augenbrauen wölbten sich. »Und was erachten Sie so als hochgefährdete Transporte?« Ivanova zögerte. Wieviel konnte sie preisgeben? »Wir haben eine Computeranalyse hinsichtlich der letzten Überfälle erstellt. Bestimmte Routen scheinen anfälliger zu sein als andere. Bestimmte Ladungen, die besonders begehrt sind auf dem Schwarzmarkt. Der Computer prognostiziert die Transporte, deren Risiko auf der Grundlage dieser Analyse am größten ist, und wir setzen daraufhin ein Geleitgeschwader in Marsch. Es scheint zu funktionieren.« Pal beugte sich weit über den Tisch vor. »Und sagt Ihre Computeranalyse auch etwas über Datenlecks, darüber, daß Informationen über die Frachtrouten an die Raiders verkauft werden? Woher wissen die, wo die wertvollen Ladungen aus dem Hyperraum kommen und wann? Kommen Sie, Commander, verschonen Sie mich mit Ihrer Computeranalyse! Wir wissen es besser. Jemand da draußen schlägt Profit daraus, uns zu verkaufen, Profit aus zerstörten Schiffen und ermordeten Besatzungen. Erzählen Sie mir nicht, daß die Earthforce davon nichts weiß!« Ivanova schluckte. Also war sie nicht die einzige, der dieses Muster bei den Überfällen aufgefallen war. »Mr. Pal, gegenwärtig bin ich hier nur der Geschwader-Commander. Earth Central zieht mich
in politischen Belangen nicht ins Vertrauen.« Sie wartete einen Augenblick. »Aber persönlich glaube ich, Sie haben recht. Ich bin sogar sicher, Sie haben recht. Die Raiders operieren auf der Grundlage von Insider-Informationen.« »Oh, die wissen Bescheid«, sagte Pal unheilverkündend. »Ich meine, Earth Central. Sie geben es bloß nicht zu. Nicht uns gegenüber. Und nach einer Weile fragt man sich halt, warum?« »Und?« »Einige von uns fragen sich, ob sie Grund dafür haben, nicht zu genau hinzusehen.« Ivanova legte ihre Gabel nieder. Sie war also nicht die einzige mit diesem Verdacht. »Mr. Pal«, erkundigte sie sich vorsichtig, »haben Sie irgendeinen Beweis für diese Beschuldigung? Irgendeinen Hinweis?« Pal verneinte kopfschüttelnd. »Nicht direkt, nein. Aber wir Transportpiloten haben uns beschwert. Bei der Earthforce, immer wieder. Nichts geschieht. Nichts ist jemals geschehen. Daher glaube ich, zwei oder drei hochgestellte Offiziere verschleppen Untersuchungen, ignorieren Fragen und lassen Beschwerden einfach verschwinden.« Nach einer kurzen Unterbrechung fuhr er fort: »Und da ist noch etwas. Einige von uns wundern sich über diese Ladungen, auf die die Raiders scharf sind, die auf dem Schwarzmarkt so wertvoll sind, wie Sie sagen.« Sie nickte. »Strategische Metalle hauptsächlich. Was Sie befördern: Iridium, Morbidium ...«
»Wenn es das ist, was wir an Bord haben. Ein paar von uns würden liebend gern in die Laderäume gehen, die Container aufbrechen und nachsehen, was wirklich drin ist. Strategische Metalle oder bloß Schlacke.« »Schlacke?« »Wertloses Zeug.« Pal benützte die Gabel, um seine Worte zu unterstreichen. Ivanova hatte ihr Abendessen vergessen. »Denken Sie nach, Commander. Wieviel ist ein Iridium-Barren wert? Ein ganzer Container voll? Eine ganze Schiffsladung? Welchen Versicherungswert hätte eine solche Fracht?« »Soweit ich weiß, setzt Earth Central den Wert fest. Der Preis für strategische Metalle ist nicht frei.« »Genau!« rief Pal aus und stach auf den Tisch ein. »Und wenn Sie nur die Möglichkeit haben, zum offiziellen Preis zu verkaufen, während der Preis auf dem Schwarzmarkt höher und höher klettert, was tun Sie dann? Wie können Sie größere Gewinne machen?« »Sie verkaufen lieber auf dem Schwarzmarkt. Sie bestechen Beamte der Earthforce, bestimmte Transporte zu übersehen. Aber was hat das mit den Überfällen zu tun?« fragte sie. Ihr Interesse war geweckt, aber sie war verwirrt. »Wir glauben«, erwiderte er und lehnte sich weiter über den Tisch, »es gibt für jede Fracht zwei Schiffe. Eines mit der richtigen Fracht; eines beladen mit wertlosem Erz. Sie bezahlen die Raiders
dafür, die falsche Ladung zu rauben, die richtige verkaufen sie auf dem Schwarzmarkt. Sie kassieren den höheren Preis für das Metall, und für die gestohlene falsche Fracht streichen sie die Versicherung ein. Ganz einfach, nicht?« Ivanova, die einiges davon bereits selbst vermutet hatte, war für den Augenblick sprachlos. »Was hält denn Ihre Versicherungsgesellschaft davon?« fragte sie schließlich. »Die haben auch so ihren Verdacht. Ich habe mich mit der Vertreterin unserer Versicherung hier auf Babylon 5 bereits kurzgeschlossen. Wir diskutieren mögliche Maßnahmen zur Erhärtung unseres Verdachts. Ich sage Ihnen das im Vertrauen, Commander.« »Sie haben mein Wort.« »Sobald wir unseren Bestimmungsort erreichen, wollen wir die Siegel an den Containern öffnen und den Inhalt überprüfen, ehe wir liefern. Die Versicherungsagentin leitet das gerade in die Wege. Ich werde Sie wissen lassen, was wir finden.« »Das wäre mir eine große Hilfe«, entgegnete Ivanova begierig. Pals Gesichtsausdruck wurde grimmig. »Eines sage ich Ihnen, Commander: Die Gewerkschaft wird das nicht mehr länger tatenlos hinnehmen. Unsere Leute sterben, Schiffe samt Crew werden verscheuert, um die Gier räuberischer Gesellschaften und korrupter Beamter zu befriedigen. Wir sind nicht machtlos, Commander Ivanova. Die machen
einen Fehler, wenn sie glauben, damit durchzukommen.« Pal hatte seine Stimme erhoben, und die Hälfte der Gäste an den Tischen blickte bereits in ihre Richtung. Ivanova stach mit ihrer Gabel in den Pfannkuchen, um ihrer Konversation einen unschuldigen Anschein zu verleihen. Aber ihre Hand erstarrte in der Bewegung zum Mund. Dort, am Eingang des Restaurants, stand Lieutenant Miyoshi. »Oh-oh«, murmelte Ivanova. »Jetzt gibt's Ärger.« Es war zu spät, Harmlosigkeit vorzutäuschen. Mit einem Anflug von Trotz wandte sie sich wieder ihrem Tischgefährten zu. »Ich glaube, ich nehme noch etwas von der scharfen Sauce.« Die Situation verschärfte sich ebenfalls. Etwa eine Stunde später, nach ihrem Treffen mit dem Captain, betrat Ivanova Garibaldis Zimmer im Med-Lab. Sie fand ihn auf der Bettkante sitzend. Er schien zu meditieren. »Ich dachte, Sie sollen sich erholen.« »Das habe ich bereits. Mir geht's prima. Zeit, wieder auf die Beine zu kommen.« Sie musterte ihn kritisch von Kopf bis Fuß. »So gut erholt sehen Sie aber gar nicht aus. Was ist das da auf Ihrem Kopf?« Seine Hand wanderte zu der Stelle. »Das? Ach, das ist nichts. Sieht schlimmer aus, als es ist. Ich habe mir den Schädel angestoßen, als ich hingefallen bin.« »Als man Sie gezappt hat.«
»Sie wissen also Bescheid?« Sie nickte. »Der Captain.« »Was hat er sonst noch gesagt? »Nicht viel. Jemand hat Sie geschnappt und in einen Schrank gesperrt. Man wollte es so aussehen lassen wie bei Ortega. Eine Warnung, nicht rumzuschnüffeln und Fragen zu stellen. Vielleicht eine Terror-Organisation. Nur...« Er bemerkte das Zögern in ihrer Stimme. »Nur was?« »Nun, ich habe heute etwas gehört. Wichtig, wenn es stimmt. Ich weiß noch nicht recht, was ich davon halten soll. Ich habe mit dem Piloten von dem Frachter zu Abend gegessen, den wir reingebracht haben. Sein Name ist Pal, er ist so eine Art Offizieller bei der Gewerkschaft der Transportpiloten. Er hat Vermutungen über die Raiders-Aktivitäten und eine Verschwörung geäußert. Er und seine Leute halten alles für einen gewaltigen Schwindel der Bergbaugesellschaften. Sie glauben, bestimmte Transporte sind falsch deklariert. Sie verfrachten etwas mit Masse, aber ohne Wert, dann füllen sie einen falschen Versicherungsantrag aus und versetzen die eigentliche Ladung auf dem Schwarzmarkt. Garibaldi, wenn er recht hat, gehen die Profite in die Millionen. Weit mehr, als ich angenommen habe.« »Hat er Beweise?« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist das Problem. Aber sie haben vor, sich welche zu beschaffen. Sie
wollen die Frachtcontainer aufbrechen und nachsehen, was in Wahrheit drin ist.« »Ist das nicht illegal?« »Es sieht so aus, als wollten sie etwas mit ihrer Versicherung arrangieren; außerdem habe ich den Eindruck, das ist ihnen ziemlich egal. Die Überfälle, die Verluste, niemand, der etwas unternimmt...« Garibaldi sank zurück auf sein Krankenlager. Er rieb sich den Kopf. »Aber das ergibt doch keinen Sinn. Die Verschwörer können doch nicht davon ausgehen, daß jeder Überfall erfolgreich ist, oder? Was geschieht also, wenn eine getürkte Ladung ihren Bestimmungsort erreicht? Was geschieht, wenn die Käufer die Container öffnen und nur Schrott finden? Würde das nicht den ganzen schönen Plan zunichte machen?« Seine Worte wirkten auf Ivanova sichtlich ernüchternd. Daran hatte sie nicht gedacht. »Stimmt. Und wenn die Käufer auch mit drinhängen?« »Vielleicht.« »Es kommt darauf an, daß Pals Leute dasselbe glauben wie wir. Jemand verrät diese Transporte, und jemand von der Allianz deckt das alles.« »Ja, schon«, stimmte ihr Garibaldi zu. »Aber der Rest paßt immer noch nicht ins Bild: Ortega, Wallace, Yang.« »Yang?« »Der Tote Nummer zwei. Habe ich Ihnen erzählt. Dessen Fuß wir im Recycling-System gefunden haben.«
Er berichtete Ivanova von seiner Konfrontation mit Wallace und der Diskussion mit dem Captain danach. »Er hält das Ganze für völlig verrückt. Sie müssen zugeben: eine Konspiration bis hinauf zu den Stabschefs ...« Aber Ivanova hatte sich in eine andere Sache verbissen. »Moment mal. Yang hat angeblich für die Minen gearbeitet. Ortega doch auch. Er war Bergbauingenieur, wenn ich mich recht erinnere. Sehen Sie, es gibt eine Verbindung.« »Kann sein«, räumte Garibaldi zögerlich ein. »Ich weiß nicht. Meine Quelle war nicht gerade, was man zuverlässig nennt. Aber da ist noch was.« »Was?« drängte sie, als der Chief nicht sogleich weitersprach. »Wallace hat einen Fehler gemacht«, begann Garibaldi langsam. »Wir haben ihn kalt erwischt, als der Captain Yangs Namen aufbrachte, und er behauptete, er hätte nie von ihm gehört. Das war eine Lüge, darauf verwette ich meine Karriere. Die Sache ist die: Er hat jede Verbindung zwischen Yang und Ortega geleugnet, zwischen beiden Morden. Wir haben Order, uns nicht in die OrtegaSache einzumischen. Aber der Sicherheitsdienst von Babylon 5 hat freie Hand, im Fall Yang zu ermitteln.« Garibaldi wollte aufstehen, aber Ivanova streckte den Arm aus, ihn aufzuhalten. »Was tun Sie da?« »Die haben meine Uniform hier irgendwo versteckt.«
»Sie wollen doch nicht etwa von hier verschwinden?« »Nein. Ich will nur etwas aus meinen Taschen.« Commander Ivanova bedeutete ihm, sitzen zu bleiben. Sie durchstöberte seine Uniform. »Hier«, sagte sie und reichte ihm den Holo-Betrachter. »Was ist das?« »Das«, entgegnete er, indem er das holographische Abbild von Fengshi Yang in die Luft projizierte, »wollte ich Sie schon längst gefragt haben. Haben Sie diesen Kerl schon mal gesehen?« Sie betrachtete das Bild, und ihr stockte der Atem, als sie Yang erkannte. Ein Mann mittleren Alters mit orientalischen Gesichtszügen. Breites Gesicht, dunkle Augenbrauen. »Das ist er. Das ist der Mann aus dem Bereitschaftsraum. Er ist an mir vorbeigelaufen, als er aus dem Waschraum kam.« »Wo er Ortegas Leiche deponiert hatte«, nickte Garibaldi. »Das ist es. Der Typ hat Ortega umgebracht. Jetzt wissen wir es mit Sicherheit.« Ivanova schaltete fröstelnd die Projektion ab. »Wenn ich mich bloß erinnern könnte«, sagte sie mit gedämpfter Stimme. »Wenn ich bloß wüßte, was J.D. mir sagen wollte. Dann wäre alles klar.« »Ist es aber nicht. Nicht ganz. Noch nicht.« Garibaldis Züge waren von Ingrimm und Entschlossenheit. zerfurcht. »Aber ich werde es herausfinden.«
20 »Commander Ivanova!« Sie wandte den Kopf, um zu sehen, wer sie rief. Es war der nächste Morgen, sie ging gerade durch die Zocalo, und ihr erster Gedanke galt Garibaldis früherer Warnung. Aber dann fiel die Furcht, ein Attentäter könne sie inmitten des belebtesten Ortes der Station angreifen, von ihr ab. Die sich nähernde Person war ohnehin ein eher unwahrscheinlicher Kandidat für eine Attacke; eine junge Frau im Kostüm und mit streng gestutztem schwarzem Haar, dem Aussehen nach eine aufstrebende »Junior-Handelskriegerin«, ständig bemüht, ihre Zeit im All einmal mit der Beförderung in eine Machtposition auf der Erde belohnt zu sehen. »Commander Ivanova?« rief sie wieder. »Ja, was kann ich für Sie tun?« »Ich bin Luz Espada, Agentin für Universal Underwriters hier auf Babylon 5. Kann ich Sie in einer dringenden Angelegenheit sprechen, die Mr. Pal, glaube ich, bereits erwähnt hat? Darf ich Sie vielleicht zu einer Tasse Kaffee einladen?«
Auch ohne dieses Angebot wäre Ivanova sofort einverstanden gewesen. Espada fand einen ruhigen Tisch in einem kleinen, aber teuren Cafe. Sie kam ohne Umschweife zur Sache. »Commander, ich habe letzte Nacht mit Mr. Pal gesprochen, und er deutete an, Sie könnten einige in jüngster Zeit aufgekommene Verdachtsmomente hinsichtlich der Überfälle auf Frachttransfers bestätigen. Es handelt sich um großangelegten Versicherungsbetrug.« »Ja, das wäre möglich«, nickte Ivanova zurückhaltend. »Aber Sie müssen verstehen, daß alles, was ich dazu sagen kann, inoffiziell ist und von der Earthforce nicht bestätigt wird. Um ehrlich zu sein, man dürfte es dort sogar abstreiten.« »Was die Situation kompliziert«, stimmte Espada zu. »Aber ich wäre Ihnen dankbar für alles, was Sie zu sagen haben.« Ivanova umriß die Prüfung der Daten, die sie zu der Annahme veranlaßt hatte, daß Informationen über die Routen der Handelsschiffe an die Raiders verkauft worden waren. »Es war eigentlich nicht schwer, zu diesem Schluß zu gelangen. Man mußte lediglich die richtigen Fragen stellen«, schloß sie. »Ich habe mich gefragt, ob es eine Verwicklung offizieller Stellen gegeben haben könnte; ob jemand von der Earthforce das Komplott vertuschen half.« »Ja«, bestätigte Espada, »das entspricht im wesentlichen auch unseren Überlegungen.«
Ivanova zog irritiert die Stirn kraus. »Wenn ich mich nicht irre, belegt das Muster, das ich entdeckt habe, daß diese Geschichte schon mindestens ein Jahr lang anhält. Würde die Versicherungsgesellschaft wirklich so lange brauchen, um auf einen derartigen Betrug aufmerksam zu werden? Ich dachte, Ihr Berufszweig wäre auf der Hut bei solchen Dingen.« »Nun, selbstverständlich sind wir das. Aber die Fracht der Kobold wäre erst der dritte Verlust dieser Kategorie für Universal innerhalb des letzten Jahres. Zwei würden durchaus noch dem gewöhnlichen Aufkommen an Piratenaktivität entsprechen. Ich glaube nicht, daß eine Untersuchung stattgefunden hätte. Und falls doch, wäre sie im Sande verlaufen. Drei. Überfälle jedoch sehen nach einem Schema aus.« »Sie haben nur die Fracht versichert? Nicht auch das Schiff?« »Richtig.« »Ist das so üblich? Das Schiff bei der einen und die Fracht bei einer anderen Gesellschaft zu versichern?« »O ja, durchaus.« Sie tippte auf ihr ArmbandInterkom, ein Modell ähnlich dem der Earthforce. »Computer, haben wir die Daten über die Kobold?« »Eigner des 1500-Tonnen-Frachters Kobold: die Instell Shipping Incorporated, eine Tochter von Aegean Enterprises. Versicherer des Schiffes: die TransGalactic Assurance Corporation.«
»Und von wem kam die Fracht?« fragte Ivanova gespannt. Espada befragte ihren Computer. Die Antwort lautete: »Die Fracht war Eigentum der AreTech Consolidated-Minen«. »Ist das eine Mars-Gesellschaft?« erkundigte sich Ivanova. »Alle ihre Betriebe sind auf dem Mars angesiedelt«, erläuterte Espada. »Die Zentrale hat ihren Standort allerdings auf der Erde.« »Was ist mit den anderen beiden Verlusten an die Raiders? In beiden Fällen Morbidium-Ladungen? Und wurden sie ebenfalls von AreTech verschifft?« Espada sah sie an. »Das entspricht den Fakten, ja.« »Aber Universal versichert nicht alle Frachten von AreTech, oder?« »Nein, ich denke nicht.« Espada zog einen tragbaren Datenschirm aus ihrem Koffer hervor und verband ihn mit ihrem Interkom. Zahlen liefen über die Anzeige. »Nein«, sagte sie langsam, »allem Anschein nach versichert AreTech bei mehreren Gesellschaften.« »Ist das auch ... üblich?« »Es ist zumindest nicht ungewöhnlich«, erwiderte Espada. »In Fällen sehr wertvoller und angreifbarer Frachten kann ein Unternehmen bei mehreren Versicherungen um Gebote für die verschiedenen Ladungen anfragen, um so die Kosten zu
minimieren. Außerdem beschränkt eine derartige Streuung auch unsere Risiken.« Ivanova gewann immer stärker den Eindruck, auf etwas Großes gestoßen zu sein. Und jeden Augenblick konnte sie den Schlüssel zu des Rätsels Lösung in der Hand halten. »Die einzelnen Gesellschaften würden ähnliche Verluste auf diese Weise nicht so schnell entdecken?« »So ist es, es sei denn, sie würden ihre Daten austauschen«, stimmte Espada zu. »Und es ist Geschäftspolitik, derartige Informationen vertraulich zu behandeln, um zu verhindern, daß konkurrierende Gesellschaften die eigenen Angebote unterbieten.« »Und ein Unternehmen wie AreTech weiß über dieses Geschäftsgebaren Bescheid?« »Da bin ich sicher.« »Miss Espada, Mr. Pal sprach zu mir über eine weitreichende Verschwörung. Er glaubt, strategisch wichtige Metalle würden auf dem Schwarzmarkt angeboten. Wieviel Geld wäre dabei im Spiel? Genug, um Offiziere der Earthforce zu schmieren?« »Commander, der gegenwärtige offizielle Preis eines einzelnen Barrens Morbidium beträgt zwölfhundert Credits. Auf dem Schwarzmarkt bekommt man dafür wahrscheinlich das Sechsfache. Und wir reden hier über Tonnen, über ganze Schiffsladungen.« »Ich verstehe«, nickte Ivanova. Espada preßte besorgt ihre Lippen zusammen. »Commander, instabile Zeiten sind für das
Versicherungsgewerbe von großem Nachteil. Und in letzter Zeit scheinen die Verhältnisse alles andere als stabil. Regierungen bereiten sich auf Kriege vor. Außerirdische Völker greifen einander an. Der Bedarf an strategischem Material wächst ständig, und das treibt die Preise in die Höhe. Es sieht nicht gut aus.« Ivanova wollte gerade ihre uneingeschränkte Zustimmung ausdrücken, als sich über ihr Com-Link eine Stimme vernehmen ließ: »Commander Ivanova, die Sicherheit benötigt Sie umgehend auf Landedock achtzehn. Ein Zwischenfall mit den Transportarbeitern, man verlangt nach Ihnen.« »Ich bin sofort da.« Dann fragte sie: »Um welchen Transporter handelt es sich? Die Kobold?« »So ist es, Commander.« »Schon unterwegs.« Sie stand rasch auf. »Entschuldigen Sie mich bitte. Ein Notfall.« »Natürlich«, entgegnete Espada. Sobald Ivanova gegangen war, widmete sie sich wieder den Zahlenkolonnen auf ihrem Datenschirm. Ivanova nahm die direkte Verbindung zum Landedock. Sie fragte sich, wie ernst die Lage wohl sein mochte; ob sie anhalten und sich ihre Kampfausrüstung holen sollte, zumindest einen Schutzanzug oder eine Waffe. Aber der verantwortliche Wachoffizier, Fähnrich Torres, beruhigte sie über Interkom, auf solche Vorsichtsmaßregeln zu verzichten.
»Es gibt keinerlei Ausschreitungen - noch nicht. Aber man verlangt nach Ihnen. Die Mannschaft des Transporters will speziell Sie. Als Vermittlerin, vermutlich.« Sie konnte die Unruhe hören, kaum daß sie das Landedock betreten hatte: aufgebrachte Stimmen, die in den enormen Frachthallen widerhallten, dort, wo die größten Schiffe andockten. Ein Sicherheitskommando war bereits an Ort und Stelle. Ivanova sah, als sie näher kam, daß niemand eine Waffe gezogen hatte. Ein gutes Zeichen. Sie war froh zu sehen, daß sich Garibaldi nicht aus dem Med-Lab hergeschleppt hatte; wahrscheinlich stand er noch unter Beruhigungsmitteln. Torres winkte sie mit einem Ausdruck der Erleichterung heran. »Gut, daß Sie da sind. Haben Sie eine Ahnung, worum es hier eigentlich geht?« »Nein!« Sie mußte schreien, um sich über die erhobenen Stimmen der Schiffsmannschaft hinweg verständlich zu machen, die an der Frachtschleuse mit dem Gebaren revoltierender Umstürzler zusammengeströmt war. »Was ist hier los?« Torres deutete auf die einschüchternd anmutende Gestalt von Lieutenant Khatib. »Er hat den Befehl von Commander Wallace, die Schiffsladung zu durchsuchen. Die Mannschaft behauptet aber, wir hätten ihren Piloten verschleppt, und sie lassen ihn nicht an Bord. Khatib hat seinen Sicherheitstrupp angewiesen, notfalls Gewalt anzuwenden, aber die Einheit verlangt die Bestätigung durch die Führung
von Babylon 5. Khatib beschuldigt sie der Meuterei. Ich denke, wenn er könnte, würde er die ganze Abteilung hier und jetzt am liebsten erschießen.« Meuterei? »Wo ist der Captain?« »In einer Besprechung mit dem Botschafter der Narn. Es gab einen Zwischenfall mit den Centauri. Man munkelt bereits von einer Kriegserklärung. Der Captain verhandelt.« »Garibaldi ist im Med-Lab.« Und ich habe keine Befehlsgewalt mehr, fügte Ivanova im stillen hinzu, doch Torres bewahrte den Überblick. »Also sind Sie verantwortlich?« »Ich bin der befehlshabende Offizier. Aber Khatib wird meine Anordnungen zum Abzug nicht akzeptieren. Er wird darauf bestehen, daß ich meinem Team den Angriff auf den Frachter befehle. Natürlich werde ich das nicht tun. Und die Mannschaft des Transporters weigert sich abzuziehen. Sie sind bewaffnet, Commander, aber bis jetzt bewahren sie Ruhe. Und sie haben nach Ihnen verlangt.« »Gut.« Ivanova nickte, die Situation auf ihren einfachsten Nenner reduzierend: eine neue Krise. Gut. Sie wußte mit Krisen umzugehen. »Wer ist ihr Sprecher?« »Der große Dunkelhaarige - der Copilot. Heißt LeDuc.« »Gut«, sagte Ivanova abermals, stieg über die Sicherheitsabsperrung und marschierte auf den
Repräsentanten der Kobold zu. »Mr. LeDuc, ich bin Commander Ivanova. Sie haben nach mir gefragt?« »Commander? Ja. Ich bin froh, daß Sie hier sind. Mr. Pal sagte, daß er Ihnen vertraut. Jetzt wird er hier festgehalten. Was geht auf dieser Station vor?« »Ich bin nicht sicher, aber ich versuche, es herauszufinden. Was ist mit Mr. Pal passiert? Wer hält ihn wo fest?« »Der Sicherheitsdienst. Sie haben ihn mitgenommen.« »Man hat ihn verhaftet?« LeDuc deutete mit einem feindseligen Blick in Khatibs Richtung. »Der da kam zu Pal und behauptete, ein Sonderbeauftragter der Sicherheit zu sein und ein paar Fragen an ihn zu haben. Pal verwies auf unseren bevorstehenden Abflug, daß wir bereits Verspätung hätten, daß er bereits mit einem der Stationsoffiziere gesprochen hätte und nichts hinzuzufügen habe. Er sagte, das spiele keine Rolle, er habe andere Fragen, und falls Pal nicht kooperieren sollte, würde er unseren Abflug verhindern. Kann er das, Commander?« Ivanova runzelte die Stirn. »Nein, nicht ohne den Befehl seiner Vorgesetzten. Zumindest nicht direkt.« »Das hat ihm Pal auch entgegengehalten, und er solle sich verziehen. Dann sagte dieser Kerl, Pal stünde unter Arrest, und griff so nach ihm.« LeDuc illustrierte seine Worte, indem er seinen Arm auf den Rücken bog. »Ein paar von der Mannschaft waren dabei; sie mischten sich ein, was denn hier
vorginge, aber dieser Sicherheitsmann zieht seine Waffe und sagt, wenn sie sich einmischten, würde er sie wegen Widerstands ebenfalls festnehmen. Also gehen sie zurück zum Schiff; ich protestiere über Interkom bei der Sicherheitszentrale. Die behaupten, sie würden das überprüfen. Aber ich erhalte keine Antworten, nur Ausreden. Sie wissen, was ich meine, Commander?« Ivanova nickte. »Ungefähr eine Stunde später taucht er wieder hier auf, zusammen mit einem Sicherheitsteam, und er sagt, er werde nun die Kobold durchsuchen. Ich halte ihm entgegen, solange wir nicht unseren Piloten zurückhaben und die Freigabe für unseren Abflug da ist, setzt er nicht einen Fuß auf das Schiff. Ich meine, Commander, ich war froh, daß Sie uns da draußen bei dem Sprungtor geholfen haben, aber jetzt kann ich es gar nicht mehr erwarten, diese Station wieder zu verlassen.« Ivanova dachte, daß sie ihm das nicht verdenken konnte. Nicht in diesem Augenblick. LeDuc fuhr fort: »Also sagt er, daß das Schiff das Landedock solange nicht verläßt, bis er unsere Fracht untersucht hat, worauf ich sage, er kommt nicht an Bord, solange Pal nicht wieder da ist...« Ivanova war nun hinlänglich im Bilde. »Was wir hier haben ist ein Patt, richtig?« »Richtig. Wir haben beschlossen, Sie zu rufen, weil Pal Ihnen zu trauen scheint.« »Gut.«
Ivanova blickte über die Sicherheitsleute hinweg zu Lieutenant Khatib, der seinerseits sie anstarrte. Großartig. »Sehen Sie«, richtete sie das Wort an LeDuc, »der Offizier, der Mr. Pal verhaftete, hat hier nicht das Kommando. Fähnrich Torres dort drüben hat das Kommando. Und sie wird unserem Sicherheitsteam keinerlei drastische Maßnahmen befehlen. Es wird also keine Gewalt geben, wenn Sie nicht damit anfangen.« LeDuc schüttelte heftig den Kopf. »Wir wollen keine Schwierigkeiten, Commander, wir wollen nur unseren Piloten zurück und die Genehmigung für die Abreise von diesem Ort.« »Na schön. Ich werde sehen, was ich tun kann.« Ohne viel Hoffnung auf Erfolg, wandte sie sich Khatib zu, der sich mit verschränkten Armen so nahe wie möglich bei der Frachtschleuse des Schiffes aufgebaut hatte. »Das führt doch zu nichts, Lieutenant Khatib!« Khatib grinste abfällig. »Sie haben keine Befehlsgewalt hier, Commander Ivanova. Sie haben keinerlei Befugnisse.« »Nein, die habe ich nicht, aber Sie haben sie ebensowenig. Fähnrich Torres ist hier der befehlshabende Offizier, und ich bin sicher, sie wird den Sicherheitsdienst von Babylon 5 nicht anweisen, in einer Situation wie dieser Gewalt anzuwenden. Also scheint es mir, es ist an der Zeit zu verhandeln, und die Mannschaft der Kobold hat mich gebeten, für sie zu sprechen. Sie wollen wissen, wo ihr Pilot
ist, und sie wollen ihn wiederhaben. Unversehrt, wenn Sie mich verstehen.« »Der Pilot wird freigelassen, sobald Commander Wallace mit ihm fertig ist. Und nachdem ich dieses Schiff durchsucht habe. Ich habe meine Befehle, und die sagen nichts von Verhandlungen.« »Und was sind das für Fragen, die der gute Commander Mr. Pal stellt?« »Der Inhalt unserer Ermittlungen ist vertraulich«, knurrte Khatib. Ivanova wünschte sehnlichst, Captain Sheridan wäre hier. Er allein wäre Wallace übergeordnet. Obwohl sie nicht sicher war, ob Sheridan die notwendige Autorität besaß, ihn zur Herausgabe seines Zeugen wider Willen zu bewegen. Sie ging zurück zu Torres. »Ich werde etwas versuchen. Aber zuerst muß ich wissen: Wurde die Freigabe für den Abflug der Kobold wirklich aufgehoben?« Es war lästig, sich für eine Information, die sie mit einer simplen Abfrage über ihr Interkom bekommen könnte, an Fähnrich Torres wenden zu müssen. Aber sie war entschlossen, sich hundertprozentig an die Vorschriften zu halten, solange Khatib sie beobachtete. »Ich überprüfe das, Commander«, antwortete Torres und betätigte ihr Com-Link. »Nein, soweit es die Kommandozentrale betrifft, ist sie nach wie vor für den Abflug vorgesehen.« Ivanova nickte zufrieden. Gut. Sie wußte, daß die Zentrale niemals nur aufgrund einer Anordnung von
Wallace diese Freigabe widerrufen würde. Dazu wäre jemand vom Kommando nötig, und der Kommandostab war zur Zeit äußerst dünn besetzt. Sie kehrte jetzt zurück zu LeDuc. »Ich schlage folgendes vor«, sagte sie zu ihm. »Wie Sie wissen, hat mich Ihr Pilot, Mr. Pal, in einige prekäre Angelegenheiten eingeweiht. Sie wissen, wovon ich spreche?« Der Copilot gab das mit finsterem Blick zu. Sie fuhr fort: »Aufgrund dessen, was er mir erzählt hat, sowie aufgrund anderer Vorkommnisse der jüngeren Vergangenheit hier auf Babylon 5 bin ich etwas besorgt darüber, Mr. Pal in den Händen dieser Offiziere der Earthforce zu belassen. Besorgt über seine Sicherheit.« »Ich weiß. Genau darum protestieren wir ja dagegen.« »Ja«, stimmte Ivanova zu, »aber wegen verschiedener anderer Dinge, über die Mr. Pal mit mir gesprochen hat, hätte er selbst wahrscheinlich nichts gegen eine gründliche Untersuchung der Fracht einzuwenden, nicht wahr?« LeDucs Augen weiteten sich mit wachsendem Verstehen, als sie fortsetzte: »Natürlich wäre es für jeden anderen illegal, versiegelte Behälter aufzubrechen, aber nicht, wenn es sich um die zuständigen Behörden handeln würde, richtig? In diesem Fall wären die geöffneten Versiegelungen ausreichend legitimiert.« »Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte LeDuc langsam.
»Also ist anzunehmen, daß, wenn Mr. Pal hier wäre, er sich einer Durchsuchung nicht widersetzen würde?« »Ja, ich verstehe.« »Nun, jetzt kommt der schwierige Teil. Wenn ich nicht irre, haben die Ermittler, die Mr. Pal in Gewahrsam genommen haben, sehr großes Interesse daran, Ihre Ladung aus der Nähe anzusehen. Ich weiß nicht genau, warum, aber ich bin sicher, daß sie nach etwas suchen, und daß sie dieses Etwas auf Ihrem Schiff vermuten. Es ist riskant, aber ich wäre bereit zu wetten, daß sie viel lieber das Schiff durchsuchen würden, als Mr. Pal weiterhin für Befragungen festzuhalten. Die Frage lautet: Sind Sie bereit, dieses Risiko zu tragen?« »Wie meinen Sie das?« »Ich meine, daß ich Lieutenant Khatib dort drüben einen Handel vorschlagen möchte. Wenn er Ihren Piloten unversehrt herbeischaffen kann, dann lassen Sie ihn und ein Sicherheitsteam zur Durchsuchung an Bord Ihres Schiffes. Ich nehme an, Sie haben nichts zu verbergen?« »Nein! Wir verstecken nichts. Dies ist ein ehrlich geführtes Transportschiff, wir betreiben keine Schmuggeleien nebenbei.« »Dann ist ja alles in Ordnung.« »Aber was ist, wenn er nicht einlenkt?« Ivanova verzog das Gesicht. »Das ist der schwierige Teil. Dann fliegen Sie ab.«
»Ohne den Piloten? Niemals! Wir laufen ohne Pal nicht aus!« »Hören Sie«, insistierte Commander Ivanova, »das soll ein Bluff sein. Ich denke, Khatib wird darauf eingehen. Wenn ich richtig vermute, dann wollen die etwas auf dem Schiff viel mehr als Ihren Piloten. Aber Sie müssen ihn davon überzeugen, daß Sie es ernst meinen. Sie müssen bereit sein, die Sache durchzuziehen. Kein Nachgeben, auch nicht in letzter Minute, nicht einmal am Sprungtor. Das müssen Sie durchstehen.« »Und was ist, wenn Sie sich irren, Commander? Was geschieht dann mit Mr. Pal?« Ivanova atmete tief durch. »Das ist eine gute Frage. Erstens ist Captain Sheridan zur Zeit nicht verfügbar, aber sobald er weiß, was sich hier abspielt, wird er handeln, um Mr. Pals Sicherheit zu gewährleisten, davon bin ich überzeugt. Ich selbst garantiere, daß ich alles unternehmen werde, was in meiner Macht steht.« »Können Sie auch garantieren, daß es funktioniert?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Aber die Alternative ist, daß dieses Patt bestehen bleibt, daß wir abwarten, bis Captain Sheridan einen Streit zwischen Außerirdischen geschlichtet hat, wie lange das auch dauern mag. Dann müßten wir noch seine Verhandlungen mit Commander Wallace abwarten. Es ist eine Frage der Zeit, verstehen Sie? Wenn wir das Risiko eingehen, besteht die Chance, daß wir Pal
jetzt freibekommen, nicht erst morgen oder übermorgen.« »Ich verstehe, was Sie meinen«, wiederholte LeDuc. »Ich muß erst mit meiner Mannschaft sprechen.« Er ging zurück zur Schleuse, und es gab eine Diskussion. Schließlich nickte LeDuc Ivanova zu: »Tun Sie es, Commander. Ich lasse die Maschinen warmlaufen.« »Gut.« Zurück zu Khatib. »Folgender Handel, Lieutenant ...« »Meine Anweisungen lassen keinen Handel zu«, war Khatibs selbstherrliche Entgegnung. »Der Handel lautet: Sie können das Schiff inspizieren, die Fracht durchsuchen, was immer Sie wollen. Sobald der Pilot frei ist.« Khatib setzte eine finstere Miene auf. »Ich habe keine Befugnis, einem derartigen Handel zuzustimmen.« »Warum holen Sie dann nicht Ihren Chef an Ihr Com-Link und besorgen sich die Befugnis, Lieutenant? Hier ist der Rest des Handels: Wenn Sie nicht innerhalb von zwanzig Minuten Mr. Pal unversehrt herbeischaffen, können Sie Ihre Suche abschreiben, denn die Kobold wird Babylon 5 wie vorgesehen verlassen.« »Das können Sie nicht machen!« »Ich mache überhaupt nichts, Lieutenant. Ich bin nur eine Sprecherin für die Mannschaft der Kobold. Dies ist ihr Angebot.«
»Ich werde ihre Startfreigabe aufheben.« »Nein, das werden Sie nicht. Sie haben dazu keinerlei Befugnis. Auch Commander Wallace ist dazu nicht berechtigt. Und ich wette, bevor Sie jemand auftreiben können, der über die ausreichende Autorität verfügt, wird die Kobold das Sprungtor bereits passiert haben und weit weg sein. Also, wie steht's, Lieutenant? Verhandeln wir, oder werden Sie hier Wurzeln schlagen, bis das Schiff ausläuft?« »Das werden Sie nicht wagen.« Ivanova zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Ich? Wie ich Ihnen schon sagte, Lieutenant, ich bin hier nur ein Vermittler. Das ist nicht meine Sache, die Entscheidung liegt bei der Besatzung der Kobold.« »Das werden sie nicht wagen. Wir haben ihren Piloten.« Ivanova senkte ihren Blick wieder und nahm den Mann ins Visier. »Das ist doch nicht etwa eine Drohung, Lieutenant Khatib? Sie haben doch nicht die Absicht, Mr. Pal irgendwelchen Schaden zuzufügen?« Mit einem wütenden Blick ging Khatib ein paar Schritte zurück und betätigte sein Com-Link. Sie konnte hören, wie er Wallace kurz die Situation schilderte, und an einem Punkt hob sich seine Stimme: »Ich kann nicht! Ich habe es versucht, aber die Kommandozentrale akzeptiert meine Befehle nicht. Schön, versuchen Sie es doch.« Ihr Interesse war geweckt; Ivanova versuchte, mehr zu hören,
aber Khatib hatte seine Stimme schon wieder gesenkt, und sie konnte nur mehr Bruchstücke verstehen: »Zwanzig Minuten... nein, sie akzeptiert meine Befehle auch nicht... Das kann ich nicht... Ein Dutzend Leute sieht zu ...« »Commander Wallace zieht die Angelegenheit in Erwägung«, wandte er sich endlich wieder an Ivanova. Ihre Lippen kräuselten sich zu einem verborgenen Lächeln, als sie daran dachte, daß Commander Wallace wahrscheinlich soeben über Interkom die Zentrale dazu zu bewegen versuchte, die Startfreigabe der Kobold zurückzuziehen. Aber sie wußte, daß Torres die wachhabende Besatzung eingeweiht hatte, und sie bezweifelte, daß sie nachgeben würden. Man war dort nicht besonders begierig auf Commander Wallace' Anweisungen. Er hatte sich während seines bisherigen Aufenthaltes bei der Besatzung von Babylon 5 nicht gerade beliebt gemacht. Ivanova wartete. Torres wartete. Das Sicherheitsteam, weiterhin in Bereitschaft, wartete. Die Mannschaft des Frachtschiffes setzte ihre Vorbereitungen für den Abflug fort. Einige Minuten später kam es zu einer erneuten Auseinandersetzung zwischen Khatib und Wallace über Interkom. Khatib beendete die Verbindung und starrte Ivanova an. »Sie behaupten, man wäre mit einer Durchsuchung einverstanden?«
»Wenn Mr. Pal sicher auf dem Schiff ist.« Sie fügte hinzu: »Und sie wollen Fähnrich Torres als diensthabenden Sicherheitsoffizier, um zu gewährleisten, daß die Sache korrekt über die Bühne geht. Und Repräsentanten der Mannschaft, da sie rechtlich für die Unversehrtheit der Fracht verantwortlich ist. Und die Agentin der zuständigen Versicherung.« »Einverstanden«, zischte Khatib. Er ging einen Schritt auf die Frachtschleuse zu, aber Ivanova stoppte ihn mit erhobener Hand. »Nachdem Mr. Pal an Bord ist.« »Der Commander ist unterwegs.« »Er sollte sich lieber beeilen«, bemerkte Ivanova beiläufig. »In... elf Minuten muß dieses Landedock für den Abflug geräumt sein. Ich glaube nicht, daß Sie hier stehenbleiben und auf ihn warten möchten, wenn die Druckschleusen geschlossen werden.« Khatib produzierte eine unverständliche Zorneskundgabe in seiner Kehle. Ivanova lächelte ihn verschmitzt an, mit sichtlichem Vergnügen an der Sache. Einige Minuten später konnten sie Wallace sehen, begleitet von einem Sicherheitsbeamten und einer kleineren Gestalt zwischen ihnen, deren Schritte ein wenig unregelmäßig waren. Ivanova eilte auf diese Person zu, um sie in ihre Obhut zu nehmen, und bemerkte, daß Pals Augen irgendwie glasig blickten, mit ungewöhnlich geweiteten Pupillen. Drogen,
dachte sie. Drogen und ein Telepath. Sie überließen anscheinend nichts dem Zufall. Wallace erkannte sie, wich einen Schritt zurück und machte eine Bewegung, als wolle er auch Pal mit sich zurückziehen, aber es waren zu viele Zeugen zugegen, als daß er nun noch von dem Handel zurücktreten konnte. »Commander«, sagte er kalt, »ich wußte nicht, daß Sie hier sind. Aber ich hätte es mir denken können.« Ivanova lächelte ihn höflich an. »Ich bin nur hier, um für die Mannschaft der Kobold zu sprechen. Auf ihre Bitte hin. Sie waren um Mr. Pal besorgt.« Besänftigend ergriff sie nun die Hand des Piloten und führte ihn zur Besatzungsschleuse, wo sein Copilot bereits auf ihn wartete. »Sind Sie in Ordnung?« flüsterte sie eindringlich. »Es geht mir gut«, sagte er, »aber ich habe geredet. Ich habe ihnen Dinge erzählt. Sie... haben mir etwas gegeben.« »Es ist alles gut«, redete sie beruhigend auf ihn ein, in der Hoffnung, es möge auch stimmen. »Ich glaube, er wird wieder, sobald er sich ausgeschlafen hat«, erstattete sie LeDuc Bericht, »aber er ist in keinem Zustand, um auf der Brücke zu sein.« Wallace und Khatib hatten sich beraten. »Nun, ich denke, daß es jetzt keinen Einspruch mehr gegen eine Durchsuchung geben wird?« wollte Khatib wissen.
»Keinen Einspruch«, stimmte Ivanova zu. »Fähnrich Torres, würden Sie die Aufgabe eines offiziellen Beobachters übernehmen?« Sie hatte Espada bereits gerufen, sie mußte auf dem Weg sein. Da meldete sich LeDuc wieder zu Wort. »Unser Zahlmeister, Mr. Kim, wird dabeisein. Und Commander Ivanova.« »Sie ist nicht Mitglied Ihrer Crew!« protestierte Wallace. »Trotzdem ist sie unsere Repräsentantin«, beharrte LeDuc. »Und ich werde ebenfalls anwesend sein.« Aber Wallace schien gar nicht zu interessieren, wer alles im Frachtraum dabeisein sollte, solange er ihn nur durchsuchen konnte. Khatib, der einen Behälter mit Ausrüstung aufgehoben hatte, folgte ihm, nachdem der Zahlmeister des Schiffes beinahe feierlich das versiegelte Tor des Laderaums geöffnet hatte. Ivanovas erste Reaktion, als sie den Frachtbereich betrat, war Zweifel: Wie wollen die das bloß alles durchsuchen? Hunderte verplombter Frachtcontainer stapelten sich bis an die Decke des Laderaums. Transportgut wurde üblicherweise in Containern verschifft, in Kisten oder Kanistern oder Fässern, um das Beladen und Löschen zu erleichtern und die Stabilität der Fracht zu gewährleisten. Darüber hinaus aus Sicherheitsgründen. Da die meisten durch das All transportierten Güter vergleichsweise
wertvoll waren, wurden die Container in der Regel versiegelt. Aber Wallace und Khatib schienen zu wissen, was sie zu tun hatten. Mit Hilfe ihrer Instrumente tasteten sie die Behälter der Reihe nach ab, aufmerksam verfolgt von Zahlmeister Kim, der auf seinem tragbaren Display jeweils alle relevanten Daten zu den Containern abrief: Inhalt, Eigentümer, Ursprung und andere Angaben von Belang. An seiner Seite verglich Espada ihre Daten mit den seinen. Ivanova, Torres und LeDuc folgten ihnen, als ob sie wüßten, was hier geschah. Wallace hielt an, zeigte auf einen Behälter und sagte: »Dieser da.« Kim trat heran und entfernte die Plombe, nachdem er eine Notiz gemacht hatte. Als Wallace und Khatib den Inhalt inspizierten, spähte Ivanova über ihre Schulter auf Espadas Anzeige: Container 7794. Morbidium-Barren, circa 96 Prozent Reinheit; Eigentum der AreTech Consolidated-Minen; Ursprungshafen: Mars... Sie tauschte einen verstohlenen Blick mit LeDuc, der sich flüsternd mit Kim beriet. Sie fragte sich, wie ein Barren reines Morbidium eigentlich aussah. Könnte man ihn unterscheiden von einem Barren Aluminium oder Eisen? Kim machte weitere Notizen. Wallace und Khatib setzten ihre Suche fort, mit unzufriedenen Gesichtern. Es dauerte einige Zeit. Es dauerte eine ziemlich lange Zeit. Schließlich mußte die Frachtmannschaft herbeigerufen werden, um mit den
geeigneten Maschinen die schwer zugänglichen Container umzuschichten. Bei jedem, der geöffnet wurde, führte der Zahlmeister Kim seine eigene Inspektion durch und nahm eine Eintragung in seine Notizen vor. LeDuc hatte eine Diskussion mit seiner Brückencrew, die eine Anfrage der Babylon 5 Kommandozentrale weiterleitete. Nein, er hatte keine Vorstellung, wie lange dies hier noch dauern würde; der Abflug mußte auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Als er mit dem Frachtraum fertig war, bestand Wallace darauf, auch den Rest des Schiffes zu durchsuchen, einschließlich der Brücke und der Mannschaftsquartiere. Als auch das endlich ausgestanden war, zog er sich mit einer Miene, als hätte er etwas Verdorbenes gegessen, von der Kobold zurück; gefolgt von einem ebenso mürrisch dreinschauenden Khatib. »Was immer es war, anscheinend haben sie es nicht gefunden«, stellte Torres seufzend fest. »Nein«, stimmte Ivanova nachdenklich zu. Was immer es war. Aber sie hatte eine recht genaue Vorstellung davon. Etwas, das von J.D. Ortega an sie und an den Frachterpiloten weitergegeben worden war. Etwas, das zu finden Wallace die Stationsbesatzung terrorisiert hatte. Es war LeDuc, der ein besonders erleichtertes Gesicht zur Schau trug. »Jetzt können wir endlich von hier weg. Ich will Sie natürlich nicht der Ungastlichkeit bezichtigen, Commander. Aber ich
hätte gerne die erste Gelegenheit genutzt, die sich zum Verlassen von Babylon 5 bietet.« »Das verstehe ich. Aber was ist mit der Fracht? Ist sie echt?« Kim sah von seinen Notizen auf. »Morbidium. Jeder Behälter, in den sie hineingesehen haben, enthielt Morbidium. Zwischen vierundneunzig und achtundneunzig Prozent Reinheit. Jeder Barren, den ich überprüft habe.« »Nun«, sagte Ivanova, ein wenig enttäuscht, »soviel zu dieser Theorie.« »Es sieht so aus«, stimmte die Versicherungsagentin Espada zu. »Ich möchte Ihnen trotzdem danken, Commander. Ihr Verständnis war sehr hilfreich.« »Dann werden Sie also weiter ermitteln?« »O ja.« »Richten Sie Mr. Pal bitte aus, daß ich die Schwierigkeiten sehr bedaure«, wandte sich Ivanova an LeDuc. »Das werde ich. Und vielen Dank, Commander Ivanova. Sie haben ihn da rausgeholt.« Aber nicht rechtzeitig, dachte Ivanova, als sie das Schiff zusammen mit Espada verließ. Was auch immer Pal wußte, alles, was sie ihm erzählt hatte, auch Wallace war nun darüber im Bilde. In Gedanken versunken hörte Ivanova eine bekannte Stimme ihren Namen rufen, als sie das Landedock der Kobold verließ. Sie hob den Blick.
Dort auf dem Deck war Captain Sheridan und beriet sich mit Torres. Sie ging zu ihnen hinüber. »Fähnrich Torres hat mir berichtet, daß die Situation unter Kontrolle ist. Ich bin erfreut, das zu hören«, sagte Sheridan. »Ich habe gehört, Sie waren von einiger Hilfe bei den Verhandlungen.« »Ich fungierte nur als Sprecher für die Mannschaft des Frachters«, sagte Ivanova einmal mehr. »Nicht der Rede wert. Wirklich.«
21 »Nun wissen wir es also besser«, bemerkte Ivanova, während sie ihr Tablett auf dem Tisch im Speisesaal abstellte. »Ich war so sicher, daß Pal recht hatte. Der Versicherungsbetrug und all das. Aber die Morbidium-Frachten sind nun doch keine Attrappen.« Bedrückt fuhr sie fort: »Und Wallace hat Pal mit Drogen vollgepumpt und von der ganzen Sache Wind bekommen.« »Aber was immer er herausgefunden hat, es war eine Ente«, fügte Garibaldi hinzu. »Ein schöner Trost.« Ivanova ließ ihren Blick widerwillig über ihr Frühstück wandern. »Und der Captain ist nach wie vor überzeugt, wer auch immer Sie niedergeschlagen hat, gehörte irgendwie zur Bewegung >Freier Mars« »So ist es.« Garibaldi berührte zaghaft die Prellung auf seiner Stirn. »Was denken Sie«, grinste er, »gibt mir das diese romantische Aura des Angeschlagenen?«
»Es wäre hilfreich, wenn Sie statt dessen Ihren Appetit verlieren und erbleichen würden«, versetzte sie spitz und deutete auf die Portion auf seinem Tablett, die sich rasant verringerte. »Vergessen Sie's«, riet ihr Garibaldi fest. »Ich bin wahrscheinlich sowieso nicht der Typ.« Ivanova beendete ihre Mahlzeit und sah ihm zu, wie er noch die Reste verputzte, und rollte mit den Augen. Er war wirklich unverbesserlich. »Gehen Sie wieder raus auf Patrouille?« fragte er. »Ja.« Sie seufzte. »Ich gebe zu, diese RaidersSache war meine Idee, aber wenn die Dinge sich jemals wieder normalisieren sollten, werde ich mich nicht mehr so schnell über zu wenig Flugstunden beschweren.« »Das tut Ihnen gut«, sinnierte er. »Hält Ihre Reflexe auf Trab. Man kann sich nicht an Sie heranschleichen und mit einem Schockstab traktieren. Besonders wenn Sie draußen im All sind.« »Ich werd's mir merken«, entgegnete sie trocken und überließ Garibaldi ihr Tablett. Er zog es zu sich heran, aber sobald Ivanova den Speisesaal verlassen hatte, zeigte er kein Interesse mehr an Gebäck und Früchten, die sie verschmäht hatte. Sogar sein eigenes Tablett schob er jetzt angewidert von sich. Es wurde immer anstrengender, dauernd seinem Ruf gerecht werden zu müssen, dem, was man von ihm erwartete.
Auf der anderen Seite des Saales saß Talia Winters allein an einem Tisch über einer Tasse irgendeines synthetischen Kaffee-Ersatzes. Sie sah mager aus. Sie sollte mehr essen, aber er hatte keine Ahnung, wie er ihr das schonend beibringen konnte. Was eigentlich albern war, sagte er sich, schließlich war sie eine Telepathin und würde ohnehin wissen, was er dachte. Trotzdem, er wollte sich nicht darauf einlassen, möglicherweise etwas Dummes zu sagen. Außerdem, entschied er und erhob sich, hatte er genug zu tun. Er mußte sich einen Eindruck davon verschaffen, welches Chaos sich im Sicherheitsbüro angehäuft hatte, während er flach auf dem Rücken im Med-Lab lag. Es gab, wie er vermutet hatte, einen ziemlichen Rückstau an Nachrichten, Memos und Berichten, die auf ihn warteten. Garibaldi stöhnte, ließ sich vor seinem Monitor nieder und rief die ersten davon ab. Einige Augenblicke später blieb sein Blick an einem vertrauten Namen haften, aufgeführt auf einer Liste der während der letzten vierundzwanzig Stunden arretierten Personen. »Hey? Was macht Nick Patinos hinter Schloß und Riegel?« Der Computer antwortete eilfertig: »Nick Patinos wird zur Vernehmung festgehalten.« »Auf wessen Befehl?« »Die Inhaftierung wurde von Captain Sheridan angeordnet.«
Er öffnete einen Kanal zu dem wachhabenden Beamten der Gefängnissektion. »Kennealy, was wissen Sie über diese Verhaftungen?« Der Beamte blickte von seinem Computerpult auf. »Der Captain hat sie angeordnet. Er sagte, er würde den Fall persönlich übernehmen, solange Sie im Med-Lab liegen.« »Was für einen Fall?« verlangte Garibaldi verärgert zu wissen. Was glaubte Sheridan eigentlich, wer er war, ohne viel Federlesen seinen Job zu übernehmen? Vielleicht wollte er ihn auf ständiger Basis? Aber für Kennealy war die Sache klar. »Ihren Fall, Chief. Wer Sie mit dem Schockstab angegriffen hat. Übergriff auf einen Stationsoffizier. Der Captain war äußerst aufgebracht darüber, soviel ist sicher.« »Verstehe.« Garibaldi kehrte zurück zu seiner Konsole und machte sich daran, die Sache zu überdenken. Er hatte ernst gemeint, was er zu Sheridan über Vertrauen gesagt hatte. Seine Quellen. Ein Grundsatz während seiner ganzen Zeit als Sicherheitsbeamter. Wenn einem seine Informanten nicht trauen konnten - soweit trauen, daß man in ihren Augen eine Sache eher aufgab, als sie mit hineinzuziehen und ihre Tarnung aufs Spiel zu setzen -, dann verdiente man ihr Vertrauen nicht. So einfach war das. Er hatte einige Dinge getan, auf die er nicht eben stolz war, aber das war keines davon. Er würde niemals den Namen eines Informanten preisgeben.
Und Nick, er war ein gutes Stück Weg gemeinsam mit Nick Patinos gegangen. Er würde ihn sogar einen Freund nennen, einen alten Freund. Was würde Nick nun von ihm denken? Wie konnte er Nick fortan jemals wieder um sein Vertrauen bitten? Und woher hatte Sheridan überhaupt Nicks Namen? Kennealy wußte es nicht zu sagen. Er hatte den Befehl nur weitergegeben, ebenso den Aktenvermerk, als Nick eingeliefert worden war. Das war alles. Gab es ein Problem? »Nein«, sagte Garibaldi schroff. Und ob. Er war drauf und dran, Sheridan anzurufen und ihn zu fragen, was zum Teufel er sich dabei gedacht hatte, als er seine Kontaktleute inhaftierte, jede Diskretion unterminierte, sein Wort entwertete. Aber er zögerte. Sheridan war nicht sein alter Freund Jeff Sinclair, daher konnte es ihn seinen Job kosten. Sheridan war eine andere Sorte Commander. Garibaldi erinnerte sich wie der Captain gestern auf der Krankenstation gesagt hatte, daß er Überfälle auf Offiziere seiner Station nicht dulden würde. Es bedeutete etwas für Sheridan - seine Offiziere, seine Leute. Garibaldi dachte an das letzte Mal, als er im Med-Lab gelegen hatte, nur daß er damals im Koma lag, sterbend, wie ihm der Doktor später eröffnet hatte. Und Sheridan war es gewesen, der sein Leben gerettet hatte, indem er das seine aufs Spiel setzte für einen Mann, den er nie zuvor getroffen hatte, der aber einer seiner Offiziere war. Das war am
allerersten Tag gewesen, an dem Sheridan einen Fuß auf die Station gesetzt hatte. Es war ein etwas kleinlauter Sicherheitschef, der schließlich seinen vorgesetzten Offizier kontaktierte. »Captain, es gibt da ein paar Namen auf der Inhaftierungsliste, die ich nicht autorisiert habe. Es handelt sich um Informanten, denen ich meinen Schutz zugesagt habe.« Sheridan zeigte einen unbeugsamen Gesichtsausdruck. »Wir hatten diese Diskussion bereits, Mr. Garibaldi. Ich respektiere Ihren Standpunkt, aber ich möchte auch, daß Sie den meinen verstehen. Ich habe Grund zu der Annahme, daß diese Personen Kenntnis von einem schamlosen Übergriff auf meinen Sicherheitschef hatten. Möglicherweise waren sie sogar daran beteiligt. Ich kann und will über derartige Vorkommnisse nicht hinwegsehen. Nun, wenn Sie die Untersuchung in diesem Fall nicht selbst übernehmen möchten, kann ich jemand anderen damit betrauen. Aber ich werde diese Leute dingfest machen, Mr. Garibaldi, und diese Station wird sehen, daß niemand mit einer solchen Tat davonkommt.« »Ja, Sir, ich respektiere Ihren Standpunkt. Ich möchte nur eins gerne wissen: Woher haben Sie diese Namen? Wie kamen Sie an diese Leute? Ich habe nicht... im Med-Lab, als ich unter Medikamenten stand, da habe ich doch nichts gesagt, oder?«
Sheridan stutzte, und ein verständnisvoller Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Ich weiß, was Sie meinen. Nein, Sie haben niemanden verraten. Ich habe einige Ihrer Offiziere befragt. Ich ließ sie in Ihren Dateien nachforschen. Einige Namen kamen zum Vorschein, und wir unterzogen sie einer Computeranalyse. Chief, ich beschuldige diese Leute keiner Verbrechen, noch nicht. Für den Moment werden sie nur zum Verhör dabehalten.« »Ich verstehe.« Welchen meiner Offiziere? Fähnrich Torres? »Wünschen Sie, daß ich jemand anderen mit der Sache betraue?« wollte Sheridan wissen. »Es wäre vielleicht besser, wenn man Ihre Rolle dabei in Betracht zieht.« Garibaldi schüttelte heftig den Kopf. Er schmerzte bereits nicht mehr. »Nein, Sir. Ich kann selbst damit fertig werden.« »Es ist Ihre Entscheidung.« »Es ist mein Job.« Garibaldi starrte eine Weile auf den leeren Bildschirm. Er dachte daran, daß der Captain vielleicht recht hatte und er sich irrte. Vielleicht hatte man ihn reingelegt. Zum Teufel, natürlich hatte man ihn reingelegt. Wer sonst könnte es getan haben? Er hatte einigen Leute angeboten, ihm zu vertrauen, aber Vertrauen beruhte auf Gegenseitigkeit. Wer hatte hier wen betrogen? Schließlich öffnete er seine Zeugendatei und durchforstete alle Namen, einen nach dem anderen.
Nick Patinos lachte kurz und freudlos auf, als er sah, wer soeben den Zellentrakt betreten hatte. »Nun, Mike, ich hatte mich schon gefragt, wann du auftauchen würdest. Hey, wenn du dich unterhalten wolltest, hättest du nur eine Einladung schicken brauchen. Oder ich hätte dich zu mir eingeladen.« »Und wie viele Kerle mit Schockstäben hätten auf mich gewartet, Nick?« Nick blickte betreten zu Boden und murmelte: »Man wollte dir nichts antun. Es war eine Warnung, weiter nichts.« Garibaldi fuhr hitzig auf: »Also warst du bei der Sache dabei! Du hast mich reingelegt!« »Ich habe nicht...« »Verdammt, Nick! Ich dachte du ... Ich hätte nicht gedacht, du könntest...« »Ich hatte keine Ahnung«, beteuerte Nick Patinos. Er versuchte weiter, Garibaldis Blick zu entkommen. »Ich meine, ich hatte keine Ahnung, was passieren würde, was sie vorhatten.« Er hob den Kopf und begegnete Garibaldis anklagendem Blick. »Ich sagte es ihnen. Ich versicherte ihnen, du würdest nicht zu diesen anderen Bastarden gehören. Aber Allianz ist Allianz, Mike. Darauf läuft es doch hinaus, nicht wahr? Und du gehörst zur Earthforce.« Er schüttelte resignierend den Kopf. »Ich sagte ihnen, ich wollte nicht wissen, was sie vorhatten. Ich wollte nur sichergehen, daß dir nichts zustößt. Das haben sie mir versprochen. Es sollte bloß eine Warnung sein.« Nick ballte die Faust und hieb auf
den Tisch zwischen ihnen. »Doch du konntest es nicht sein lassen! Du mußtest immer und immer wieder zurückkommen, mit immer neuen Fragen. Verdammt, Mike, ich habe versucht, dich zu warnen, ich hab' dir gesagt, daß was läuft. Aber du konntest keine Ruhe geben.« Garibaldis Zorn stand dem von Nick nicht nach. »Richtig, ich konnte keine Ruhe geben! Weil das mein Job ist! Mindestens zwei Menschen auf der Station ermordet; Frachtmannschaften draußen im All getötet; ein anständiger Offizier mit einer ruinierten Karriere; weiß Gott was für Verschwörungen im Gange, möglicherweise bis rauf zu Earth Central. Also was ? Soll ich all das einfach vergessen, nur weil mein alter Freund Nick sagt, daß man darüber nicht zu sprechen wünscht? Ich bin hier für die Sicherheit zuständig. Ich habe Verantwortung. Ich kann so etwas nicht einfach ignorieren.« »Egal, wie sehr es schmerzt?« »Glaubst du, hier wird niemand verletzt? Glaubst du diesen Typen, wenn sie dir erzählen, niemandem wird etwas geschehen? Nick, ich dachte, du hättest mehr Grips.« Eine kurze Weile starrten sie einander an, die Luft zwischen ihnen war aufgeladen von aufgeputschten Emotionen. Nick war der erste, der dem Blick des anderen nicht länger standhielt. Schließlich sagte er: »Mike, ich weiß nichts über all
das, aber was dir passiert ist, tut mir aufrichtig leid.« Eine Pause. »Ich hoffe, es war nicht... du weißt...« »Ich hatte schon angenehmere Erlebnisse.« Garibaldi focht einen Kampf gegen sich selbst aus, der Kumpel gegen den Sicherheitschef, »Na, ich denke, ich werd's überleben.« »Wenn es dir etwas bedeutet«, Nicks Stimme klang aufrichtig, »ich hatte wirklich keine Ahnung, was sie mit dir machen würden. Ich hoffe nur, du kannst mir das glauben.« Garibaldi blieb stumm. Er war nicht sicher, ob er das konnte. Vielleicht brauchte es dazu nur Zeit. Er holte hörbar Luft. »Die Sache ist die, Nick, ich brauche die Namen.« Nick wich zurück und erstarrte förmlich. Da wurde der Freund zum Gefangenen, zum Gegenüber auf der anderen Seite der Trennlinie. »Nichts zu machen, Mike.« Garibaldi hatte nicht angenommen, daß er irgend etwas anderes entgegnen würde. Trotzdem, die Frage war nötig gewesen. »Na schön, Nick. Aber ich kann dich nicht gehen lassen, zumindest nicht, solange diese Geschichte fortdauert. Es war nicht nur ich, den man überfallen hat, es war der Chef der Sicherheit von Babylon 5.« »Ich denke, du mußt deinen Job tun«, sagte Nick kalt. »Richtig, das muß ich.« Garibaldi hatte sich bereits halb abgewandt, als er sich noch einmal besann. »Aber eins sollst du wissen: Du bist nicht
aufgrund meiner Anordnung hier. Nicht ich habe die Namen preisgegeben. Das ist alles, was ich dich zu glauben bitte.« Aber sein alter Freund Nick Patinos blieb eine Antwort schuldig., Chief Garibaldi sah nur noch seinen Rücken. Der Name des Mannes aus den Maschinenwerken war Williams, Val Williams. Garibaldi hatte den Namen selbst ausgegraben, so wie er bei jedem Zeugen vorging. Er durchforstete einfach die Dateien nach der ungefähren Beschreibung des Mannes, den er in dem Betrieb getroffen hatte. Es hatte gar nicht lange gedauert, weniger als eine Stunde, bis er das Gesicht unter den Hunderten wiedererkannte, die ihm der Computer präsentierte. Dabei stellte er fest, daß Williams gar nicht in den Maschinenwerken arbeitete. Garibaldi war es lieber so. Er wollte nicht gezwungen sein, den Namen aus Nick Patinos oder irgend jemandem, der ihm bislang vertraut hatte, herausfragen zu müssen. Nicht, wenn es sich vermeiden ließ. Ja, es war ihm lieber so. Er beendete die Computerfahndung, ohne Williams' Akte zu markieren. Daraufhin schickte er ein Sicherheitsteam los, den Verdächtigen herzubringen. Aber das Quartier des Mannes erwies sich als verlassen, und seit der Begegnung in der Maschinenhalle hatte ihn niemand mehr gesehen. Garibaldi war darüber wenig erstaunt. Er schlug
Alarm und ließ die auslaufenden Schiffe überprüfen. Er ging die Passagierlisten der seit dem Überfall abgereisten Raumschiffe durch. Ohne Ergebnis. Mit ein wenig Glück hielt sich Williams also noch immer irgendwo auf der Station versteckt. Inzwischen hatte Fähnrich Torres ihren Dienst wieder angetreten. »Schön, Sie wieder hier zu haben, Chief«, begrüßte sie Garibaldi ein wenig unsicher. »Sie haben gut reagiert, Torres«, versicherte er ihr. »Sie haben nach bestem Wissen und den Umständen angemessen gehandelt.« Er grinste. »Wahrscheinlich hatten Sie sogar recht.« Sie schien sich noch immer unbehaglich zu fühlen. »Wegen dieser Namen. Die Ihrer Kontaktpersonen. Captain Sheridan hat mir befohlen, sie zusammenzustellen.« »Schon klar.« Garibaldi gab Torres keine Schuld. Eigentlich gab er nicht einmal Sheridan die Schuld. Sie hatten beide nur ihre Arbeit getan. Keiner der beiden hatte den betroffenen Männern irgendwelche Versprechen gegeben, und keiner hatte ihr Vertrauen mißbraucht. Seine Informanten würden ihm keinen Glauben schenken, ihm nie wieder trauen. Nick Patinos vielleicht. Eines Tages. Aber wenigstens wußte Chief Garibaldi selbst, daß er Wort gehalten hatte. Nun, es war nicht zu ändern, und Torres hatte gute Arbeit geleistet. Er sagte es ihr und fügte hinzu: »Ich habe gehört, Sie haben auch die Sache unten im
Frachtdock großartig gemeistert. Es hätte leicht zum Aufstand kommen können.« »Commander Ivanova hat das geregelt«, erwiderte sie, indem sie ihren Beitrag herunterspielte. »Aber Sie hatten das Kommando«, betonte er. »Ich werde dafür sorgen, daß das in Ihre Akte kommt.« »Danke, Chief«, sagte sie. »Ahm, was ist mit meinem Report? Über Yang? Hatten Sie Gelegenheit, ihn zu lesen?« »Verdammt!« Garibaldi holte zu einem Hieb gegen seine Stirn aus, doch hielt er gerade noch rechtzeitig inne. Während all der Ereignisse war ihm das vollkommen entfallen. »Tut mir leid, ich wurde von einem Schockstab davon abgehalten und hab' danach nicht mehr daran gedacht. Was haben Sie herausgefunden?« Sie wiegte den Kopf. »Nun, ich habe bei allen Händlern nachgefragt, bei allen Import-ExportVertretern. Keiner von denen kennt ihn. Sein Kreditkonto - nichts. Fast überhaupt keine Transaktionen. Er bezahlte seine Unterkunft, hatte seine Mahlzeiten, das war's. Was auch immer der Mann auf Babylon 5 getrieben hat, es war die Art von Geschäft, bei der er keine Mitwisser haben wollte. Ich habe lediglich herausgefunden, daß er nicht von der Erde kam. Wir haben ein routinemäßiges Identifikationsgesuch rausgegeben, um vielleicht einen Verwandten aufzutreiben, aber
es gab keinen Eintrag über einen Erdbewohner, der zu Yangs Identicard paßte.« »Das bringt uns weiter, Torres, sehr viel weiter. Gute Arbeit.« »Und was machen wir jetzt?« fragte Torres, ihrer selbst schon viel sicherer. »Ich lasse unseren Mr. Yang bei Earthdome auf dem Mars überprüfen«, erklärte er. »Was Sie betrifft, was halten Sie davon, Val Williams auszuforschen? Hier ist alles, was wir über ihn wissen. Nach unseren Aufzeichnungen hat er Babylon 5 nicht verlassen.« »Den Aufzeichnungen über Yang zufolge hatte der die Station bereits verlassen, als wir seine Leiche fanden. Es sieht so aus, als könnten wir unseren Akten nicht so ganz trauen, oder ?« »Sie haben recht«, stimmte er zu und dachte: Aber wer hat Zugriff auf die Dateien, wer könnte die Manipulationen vorgenommen haben? »Also verlassen wir uns nicht darauf, gehen wir statt dessen davon aus, daß er noch hier ist. Versichern Sie sich, daß jeder Sicherheitsbeamte Williams' Bild bekommt, damit sie ihn auf Sicht erkennen und nicht nur anhand seiner Identicard. Er könnte im Besitz einer Fälschung sein. Checken Sie alle auslaufenden Raumschiffe, einschließlich der Frachter. Sie wissen, was Sie zu tun haben.« »Ja, Chief. Und vielen Dank.« Sie ging voller Selbstvertrauen und Vorfreude auf die Jagd. Garibaldi beneidete sie um ihren Enthusiasmus, der
ihrer Jugend zuzuschreiben war. Er war auch einmal so gewesen, in Torres' Alter. Es war verwirrend, die Kluft zwischen seiner Generation und der des Fähnrichs vor Augen geführt zu bekommen. Sie war jung genug, seine Tochter zu sein - wenn er je eine gehabt hätte. Er tat diesen unwillkommenen Gedanken ab und machte sich wieder an die Arbeit. Er stellte eine Verbindung zum Mars her, zu Earthdome, und bat um alle verfügbaren Informationen über Yang, Fengshi, Ankunft 18:04:59 an Bord der Asimov, die vom Mars gekommen war. Er teilte Earthdome mit, daß die Daten von Yangs Identicard möglicherweise inkorrekt waren. Danach nahm er sich all den Papierkram vor, der sich während seiner Abwesenheit angehäuft hatte: Nachrichten, Memos, Berichte sowie Anfragen, die seine Bestätigung erforderten. Bürokratischer Alltag. Er stieß auf Torres' offiziellen Report über Yang und überflog ihn, vielleicht gab es ein Detail, einen Hinweis, der ihm bisher entgangen war. Er fand nichts. Der Mann hatte sich auf Babylon 5 wie ein Geist bewegt, ohne Spuren zu hinterlassen. Oder vielmehr, korrigierte sich Garibaldi, wie ein Profi. Und ein Profi hatte einen Auftraggeber. Wer konnte das sein? Jemand von der Allianz? Die AreTechMinengesellschaft? Die »Freier Mars«Organisation? Der Rückruf vom Mars erreichte ihn viel früher, als er es erwartet hatte, und unterbrach seine
Gedanken. Er antwortete: »Chief Garibaldi hier. Was haben Sie für mich?« Das Gesicht auf dem Schirm gehörte nicht irgendeinem kleinen Beamten. Ein Sicherheitsmajor der Earthforce. »Bedaure, Mr. Garibaldi«, sagte die Frau, »aber Ihre Anfrage wurde abgewiesen. Die Datei ist vertraulich.« »Was?« Er beherrschte sich und senkte die Stimme. »Verzeihen Sie, Major, aber was wollen Sie damit sagen? Ich bin der Sicherheitschef von Babylon 5, und ich habe Einsicht in Geheimakten.« Der Major war augenscheinlich anderer Ansicht. »Wie ich schon sagte, es tut mir leid, aber nicht in diese Akte. Sie ist ausschließlich auf UltraviolettFreigaben beschränkt.« »Wovon sprechen wir überhaupt, Major? Dies ist keine beiläufige Anfrage, wie Sie wissen sollten. Ich ermittle hier in einem Mordfall. Yang wurde ermordet, zerstückelt und im Recyling-System der Station entsorgt. Das dürfte ein ausreichender Grund zur Einsicht sein, nicht wahr?« Das Gesicht auf dem Schirm nahm jetzt einen ernsten, sogar besorgten Ausdruck an. »Davon ist mir nichts bekannt, Mr. Garibaldi. Es hört sich aber so an, als wäre an der Sache etwas dran. Leider kann ich diese Auskunft nicht ohne entsprechenden Befehl herausgeben.« »Wessen Befehl? Wer hat diese Datei überhaupt gesperrt?«
»Ich fürchte, diese Information ist ebenfalls vertraulich.« Garibaldi nahm sich selbst an die Kandare und unterdrückte jede lautstarke Verwünschung. »Dann werde ich einen offiziellen Antrag auf Einsicht in die Akte Yang stellen. Dies ist eine Morduntersuchung, und es könnten weitere kriminelle Aktivitäten im Spiel sein.« »Ich werde Ihren Antrag weiterleiten, Mr. Garibaldi. Über die offiziellen Stellen. Aber solange die Genehmigung nicht vorliegt, kann ich nichts für Sie tun.« Garibaldi dachte einen Moment nach. Wenn Ivanova recht hatte, dann könnte auch jemand bei Earthdome, wahrscheinlich bei der dortigen Sicherheit, in die Verschleierung eines Komplotts verstrickt sein. War dieser Major ein Teil davon? Oder folgte sie nur ihren Anweisungen? »Können Sie mir mitteilen, seit wann die Akte als Geheimsache gilt? Welches Datum trägt die Klassifizierung? Oder ist diese Information ebenfalls vertraulich?« Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, und in ihre Augen trat ein Ausdruck, der Garibaldi gefiel. Sie überprüfte etwas außerhalb seines Blickfeldes. »Nein, diese Information ist nicht vertraulich, Mr. Garibaldi. Die Datei wurde um 22:45 StandardErdzeit am 26:04:2259 als geheim eingestuft.« Garibaldi spürte seinen Puls sich beschleunigen. Ja. Yangs Akte wurde zur Geheimsache weniger als
eine Stunde, nachdem Commander Wallace auf der Krankenstation erklärt hatte, er wüßte von keiner Verbindung zwischen diesem Fall und dem OrtegaMord. Commander Wallace hatte einen großen Fehler begangen. Und nun versuchte er, die Spuren zu verwischen. »Können Sie mir sagen«, fragte er den Major auf dem Mars, »ob die Klassifizierung dieser Datei auf Gesuch eines gewissen Commander Ian Wallace durchgeführt wurde?« Garibaldi war kein Telepath, aber er konnte sehen, wie sich die auf das verborgene Terminal gerichteten Augen des Majors überrascht weiteten. »Es tut mir leid, diese Information ist vertraulich.« Tatsächlich? dachte er. Du hast mir die Antwort gerade gegeben. »In Ordnung, ich verstehe. Sie waren sehr entgegenkommend, Major. Ich möchte Ihnen für Ihre Mitwirkung danken.« »Und viel Glück bei Ihrer Morduntersuchung, Mr. Garibaldi.« »Sie werden meinen Antrag weiterleiten?« »Ohne Verzögerung.« »Nochmals danke.« Garibaldi unterbrach die Verbindung und lehnte sich in seinem Sessel zurück, um die Tragweite seiner neugewonnenen Erkenntnisse zu überschlagen. Es stimmte, Wallace hatte, was Yang anging, gelogen. Er hatte gelogen, als er behauptete, nichts über diese Sache zu wissen. Er hatte gelogen und dann sofort versucht, seine Mitwisserschaft zu
vertuschen. »Das war dein zweiter Fehler, Wallace«, sagte er leise zu sich selbst. »Du hättest diese Datei von Anfang an sperren lassen sollen.« Weshalb hatte er das versäumt? Weil eine als vertraulich eingestufte Computerakte einer roten Fahne glich. Jedermann würde sofort vermuten, daß sie Geheimnisse enthielt. Wallace wollte den Verdacht vermeiden, es könnte ein Geheimnis um Fengshi Yang geben. Wäre es nach ihm gegangen, hätte niemals jemand erfahren, daß Yang überhaupt existiert hatte. Aber womit er nicht gerechnet hatte, war, daß dessen Leichnam auftauchen würde. Das war Pech. Sonst wäre wohl niemals etwas ans Licht gekommen. Yangs geheimniskrämerische Methoden hatten sich am Ende gegen ihn selbst gerichtet. Es gab kaum einen Anhaltspunkt für seine Ankunft und seinen Aufenthalt auf Babylon 5, als hätte es ihn nie gegeben. Mit Sicherheit hatte niemand Grund, sein Verschwinden zu bemerken und es den Behörden zu melden. Und wenn die Aufzeichnungen zu belegen schienen, daß er die Station verlassen hatte... Wer würde daran zweifeln? Wer würde vermuten, daß diese Aufzeichnungen manipuliert waren? Es gab immer noch Fragen, zu viele ungeklärte Fragen. Wer war Yangs Auftraggeber gewesen? Was hatte er gewußt oder herausgefunden oder herauszufinden versäumt? Ivanova dachte, daß Yang ein Agent korrupter Earthforce-Beamter war, aber Garibaldi war sich
dessen nicht sicher. Yang hatte Ortega getötet, das stand außer Frage, aber wer hatte Yang ermordet? Wallace vertuschte Beweise, aber auf wessen Seite stand er? Captain Sheridan weigerte sich, an eine Verschwörung bis in die höchsten Ränge zu glauben. Und was konnte der Sicherheitschef in dieser Affäre unternehmen? Seine Ergebnisse Wallace aushändigen? Oder sollte er ihn festnehmen, weil er im Fall Yang Beweise unterschlagen hatte? Was für Beweise hatte er denn? Konnte man von Beweisen sprechen, wenn der Verdächtige ebendiese zur Geheimsache erklärte? Garibaldi wußte, wann ihm eine Sache über den Kopf wuchs. Normalerweise hielt er es in einem solchen Falle für das beste, eine interne Untersuchungskommission zu berufen. Wenn er einen Fall hatte. Aber davon konnte gar keine Rede sein. Er hatte Leichenteile, eine unzugängliche Akte und einen großen Haufen verdächtiger Umstände, aber das ergab noch keinen Fall. Ja, er konnte die Fragen, die man an ihn richten würde, schon beinahe hören: Und woher wollen Sie wissen, daß Commander Wallace lügt, Mr. Garibaldi? Wäre es nicht möglich, daß er Sie einfach als nicht zur Einsicht in die Einzelheiten seiner Ermittlungen befugt betrachtet? Und woher wollen Sie wissen, daß der Commander Yangs Akte als vertraulich einstufen ließ? Haben Sie eine Bestätigung dieser Annahme? Glauben Sie nicht,
daß Sie die Grenzen Ihrer Befugnisse überschreiten, Mr. Garibaldi? Hat man Ihnen nicht ausdrücklich Order erteilt, sich nicht in den Fall Ortega einzumischen, Mr. Garibaldi? Genau, wahrscheinlich war er es, der am Ende hinter Gittern landen würde. Was konnte er also tun? Nichts? Zumindest nicht, solange er ohne Beweise dastand. Ihm waren die Hände gebunden, während Wallace weitersuchen konnte. Und in der Zwischenzeit hatte es bereits zwei Tote gegeben - mindestens zwei Tote. Garibaldi berührte sein Com-Link. »Torres, Garibaldi hier.« »Torres zur Stelle.« »Wie steht's mit Williams? Haben Sie ihn schon irgendwo auf getrieben?« »Negativ. Wir suchen noch, aber bisher haben wir noch nichts gefunden. Aber wir hatten einen Zusammenstoß mit der Konkurrenz.« »Commander Wallace?« »Sein Helfer, dieser Lieutenant Khatib.« »Machen Sie weiter, Torres«, befahl Garibaldi düster. Er beendete seine Sitzung an der Computerkonsole und stand auf. Kurze Zeit später war er in der Gefängnissektion und stand Nick Patinos gegenüber. »Hör zu«, drängte er, »vielleicht weißt du etwas, was ich nicht weiß, kann sein, du hast guten Grund zu der Annahme, daß Val Williams auf der Mond-Kolonie und außer Gefahr und sowieso alles in bester
Ordnung ist. Aber der Sicherheitsdienst konnte ihn bisher nicht auftreiben, und ich mußte daran denken, was mit dem letzten Vermißten passiert ist, den wir auf der Station hatten. Immerhin haben wir von dem ein Stück gefunden. Das war aber auch alles, was von ihm übrig war, ein Stück. Also, solange du nicht sicher bist, Nick, solange du nicht absolute Gewißheit hast, daß Williams irgendwo in Sicherheit ist, wo ihn weder Wallace noch ich ausräuchern können, schlage ich vor, du erzählst mir, wo du ihn vermutest. Oder du verrätst mir den Namen von irgend jemand anderem, der Bescheid weiß. Es sei denn, du möchtest ihn lieber im Recycling-System zu Brei verarbeitet und als Frühstück im Speisesaal auftauchen sehen. Denn wenn ich ihn nicht finde, dann, fürchte ich, wird ihn wer anders finden. Und wenn das passiert, glaube ich nicht, daß man ihn noch mal lebend zu Gesicht bekommt.« Nick wurde blaß. »Ich kann dir das nicht sagen, Mike«, brachte er schließlich heraus, aber es kostete ihn offensichtlich Überwindung. Garibaldi preßte die Zähne aufeinander. »Wenn es das ist, was du willst. Deine Entscheidung. Ich dachte nur, du hättest mittlerweile den Unterschied begriffen zwischen mir und diesem Bastard Wallace ...« »Verdammter Bockmist!« »Deine Entscheidung.« »Na schön.« Nick stützte schwer den Kopf in seine Hände, dann schielte er zu Garibaldi hinauf.
»Sein richtiger Name ist Nagy. Josef Nagy. Er könnte mit seiner echten Identicard die Station zu verlassen versuchen.« Garibaldi kratzte sich am Kinn. »Was noch?« »Das ist alles, Mike. Mehr weiß ich nicht.« »Die Wahrheit?« Ihre Blicke trafen sich. »Die Wahrheit.« Garibaldi nickte und betätigte sein Interkom. »Torres, hier ist Garibaldi...« Dann hielt er inne. Wallace fiel ihm ein, die Möglichkeit, abgehört zu werden. Diesen Namen wollte er nicht zur Konkurrenz durchsickern lassen. »Ich habe Neuigkeiten für Sie. Warten Sie auf mich.« Er würde sie unter vier Augen unterrichten. Er sah Nick an. »Du solltest lieber hoffen, daß wir ihn zuerst finden.«
22 »Wir empfangen einen Notruf, Commander!« »Bestimmen Sie die Koordinaten, Alpha zwei!« befahl Ivanova und nahm das Signal auf. Die Verbindung war sehr undeutlich. »... Raiders ... Sie greifen uns an... Benötigen Hilfe. Ist dort draußen irgend jemand?« Ivanovas Reaktion erfolgte ohne Zögern: »Angegriffenes Schiff, hier spricht EarthforceCommander Susan Ivanova. Ihre Position?« »Earthforce? Ist da jemand? Wir benötigen Hilfe! Die Raiders überfallen uns!« »Sie haben Probleme mit der Kommunikation«, wandte sich Ivanova an Alpha zwei. »Hören Sie mich? Können Sie sie lokalisieren?« Aber was war das für ein Schiff? Sie waren hier, um die Duster zu treffen und zu eskortieren, ein weiterer Erzfrachter vom Mars-Raumhafen. Aber der sollte erst in einer Stunde eintreffen. Wieder und wieder rief sie das bedrängte Schiff: »Hier ist die Alpha-Staffel der Earthforce von
Babylon 5. Wir versuchen, Ihnen zu helfen. Übermitteln Sie uns Ihre Koordinaten!« »Ich habe sie, Alpha eins! Koordinaten Rot 44736-10.« »Kurs Rot 36!« befahl sie ihrer Patrouille. »Formation beibehalten. Maximaler Schub. Wir haben Raiders irgendwo da draußen. Fertigmachen zum Feuern auf mein Kommando.« Mit einem Energiestoß schoß Ivanovas Kampfflieger nach vorn und nahm Kurs auf die Position des in Not geratenen Schiffes. Die Bereitschaftsanzeigen ihrer Bordwaffen glühten rot. Die übrigen Starfury-Gleiter ihrer Staffel setzten ihr nach. Wenige Augenblicke später hatte sie eine bessere Verbindung zu dem Schiff und bat um Identifikation. »Hier Erdtransporter Cyrus Mac von Luna. Wir werden von Freibeutern verfolgt. Wie schnell können Sie hier sein?« »Wir sind unterwegs, Cyrus Mac; ich schätze in achtzehn Minuten. Wie viele Angreifer? Können Sie sie auf Distanz halten? Ist Ihr Schiff bereits getroffen? Haben Sie Probleme mit der Kommunikation?« »Vier ... nein, fünf Angreifer! Sie kommen schnell näher... sind fast in Reichweite. Beeilen Sie sich, sonst haben sie uns!« Ivanova fluchte inbrünstig. Sie fragte sich, ob die Raiders einen Fehler gemacht hatten, indem sie ein
Schiff angriffen, das unmittelbar vor der Duster durch das Sprungtor kam. Wie zuverlässig waren ihre Informationen? Oder war dies ein Ablenkungsmanöver? »Alpha-Staffel! In Alarmbereitschaft bleiben!« warnte sie ihre Patrouille. »Es könnte ein Trick sein.« Aber der Pilot oder Funkoffizier, der von der Cyrus Mac sendete, schien am Rande der Panik. »Sie feuern! Sie... Wir sind getroffen! Wir sind getroffen!« Die Steuerung ihres Kampffliegers im Griff und die Piraten zur Hölle wünschend, versuchte Ivanova, ihre Geschwindigkeit weiter zu erhöhen, aber die Maschine war bereits auf Maximalleistung. Verflucht! Sie wußte es. Sie würden wieder zu spät kommen. Sie haßte diese Hilflosigkeit, das Wissen darum, daß nur wenige Augenblicke den Unterschied ausmachten zwischen der Rettung eines Schiffes und seinem Verlust. Aber es war ausgeschlossen, früher dort zu sein. Alpha zwei meldete sich: »Alpha eins, wir haben die Verbindung zu dem Frachter verloren.« Sie hatte bereits bemerkt, daß der Kanal nur mehr Hintergrundrauschen von sich gab. Sie setzten den Flug fort in der Hoffnung, es könnte für Rettung noch nicht zu spät sein. Einige Minuten später sah Ivanova den Transporter auf ihrem Radarschirm. Von den Raiders keine Spur. Sie mußten die sich nähernden Kampfflieger ausgemacht haben. »Ich
habe das Schiff«, sagte sie. »Alpha zwei, überprüfen Sie den Frachter. Die übrigen tasten die Umgebung ab. Überprüfen Sie, ob Sie die Raiders lokalisieren können.« »Kein Lebenszeichen, Commander. Das Schiff ist tot.« Als die Patrouille näher kam, wurde das Bild des Frachtschiffes deutlicher. Ivanova fluchte abermals. Ein Wrack. Verbogenes, aufgerissenes Metall. Keine Lebenszeichen, keine Überlebenden. »Commander, ich habe die Piraten!« kam eine Meldung von Alpha sechs. »Kurs 120-19.« Ohne nachzudenken gab Ivanova den Befehl, die Verfolgung aufzunehmen. Nein, halt! Kurs 120-19 führte vom Hyperraumsprungtor weg. Wieder ein Ablenkungsmanöver, dessen war sie sicher. Ein weiteres Mal tastete sie das Wrack des toten Schiffes ab. Leer und kalt. Es gab nicht mehr Strahlung ab als der dunkle, leere Raum. Es bestand keine Möglichkeit zu bestimmen, wie lange das Schiff bereits hier trieb. Tage, vielleicht Monate oder Jahre. Aber es waren mit Sicherheit mehr als zehn Minuten. »Keine Verfolgung!« widerrief sie ihren Befehl. »Hier Alpha eins. Ich wiederhole, keine Verfolgung. Es ist eine List. Dieses Wrack ist kalt. Wir fliegen zurück zum Sprungtor.« Nachdem sie das Wrack mit einem Signalfeuer für das Bergungsteam versehen hatten, wendete sie ihren Jäger. Die Staffel reformierte sich und folgte
ihrem Commander zu dem Rendezvous mit der Duster. Sie wußten, daß wir kommen würden, sagte sich Ivanova. Die Raiders hatten vorausgeplant, wissend, wann die Alpha-Staffel auftauchen würde. Offenbar verfügten sie über sehr zuverlässige Informationen. Nur hatte die Täuschung nicht funktioniert, und das war zur Abwechslung einmal Pech für die Raiders. Genug, um Ivanova auf eine Idee zu bringen. Die Freibeuter waren nicht die einzigen, die Fallen stellen konnten. »Alpha zwei«, übermittelte sie, »hier Alpha eins. Fliegen Sie mit Alpha vier und fünf weiter zum Sprungtor, treffen Sie sich dort mit der Duster. Alpha drei und sechs, Sie bleiben bei mir!« Wenn diese Sache so lief, wie sie annahm, dann würden die Piraten in der Nähe des Sprungtors lauern, bereit, die Duster zu überfallen. Sie würden glauben, daß ihr Tauschungsmanöver erfolgreich gewesen war und daß Ivanova ihre Patrouille aufgeteilt und eine Hälfte den Verfolgern der toten Cyrus Mac nachgeschickt hatte. Sie hoffte, das würde sie übermütig machen. Sie hoffte, daß sie recht hatte. Sie benutzte das Sprungtor als Schutzschild, indem sie sich von der anderen Seite näherte. Sie hoffte, die Tachyonen-Rückstände würden die Anwesenheit ihrer Jäger auf den Schirmen der Raiders verdecken. Sie hielt einen Kanal zu Alpha zwei offen, aber die Earthforce-Piloten wahrten
Funkstille für den Fall, daß die Piraten die Kommunikation in dem Sektor überwachten. Da hörte sie: »Ich sehe sie, Alpha zwei. Schiffe der Raiders! Neun oder zehn von ihnen!« »Schon irgendwelche Anzeichen von dem Frachter?« »Negativ, Alpha zwei.« »Sie greifen an! Sie greifen an!« Zehn Piratenschiffe gegen drei Kampfflieger. Ein geringer Vorteil für die Angreifer, mehr nicht. Aber Ivanova würde auch das ändern. Sie führte den Rest der Alpha-Staffel von der anderen Seite des Sprungtors her in den Kampf, so daß die überraschten Raiders eingekeilt wurden. Sie und die beiden Jäger an ihrer Seite zerstörten den ersten Raider, ehe dieser noch Gelegenheit erhielt, sich auf die neuen Gegner einzustellen. Nun wendete sich das Blatt. In direkter Konfrontation waren die Starfurys im Vorteil. Die Auseinandersetzung verlief kurz und war rasch entschieden. Ein Kampfpilot benötigte schnelle Reflexe und einen kühlen Kopf. Beide Seiten setzten computergestützte Zielvorrichtungen ein, dennoch bestand bei zwölf beteiligten Schiffen immer die Möglichkeit, vom Feuer der eigenen Leute getroffen zu werden. Einige der Raiders drehten ab und versuchten dem Kampf zu entkommen; sie wurden umgehend abgeschossen. Die übrigen erkannten, wie es um sie
stand. Sie versuchten, sich in Formation zur Wehr zu setzen. Einige von ihnen waren gut, konstatierte Ivanova mit jenem Teil ihres Verstandes, der stets kühl und beherrscht blieb. Der Rest von ihr war vollkommen auf die Auseinandersetzung konzentriert. »Hinter Ihnen, Alpha vier!« rief sie, und der Pirat feuerte, aber Alpha zwei holte ihn sich, bevor er einen weiteren Schuß abgeben konnte. Alpha sechs, an ihrer Seite, zerstörte einen anderen Angreifer, der von oben auf sie herabstieß. Der Raum um sie füllte sich mit leuchtenden, metallischen Gasen und glühenden Trümmern. Da bemerkte Ivanova zwei weitere Raiders, die Alpha zwei bestürmten. Sein Begleiter, Alpha vier, wurde durch einen anderen Angreifer gebunden, aber Alpha sechs feuerte, traf einen der beiden Aggressoren und schleuderte ihn davon. Die Waffen von Alpha zwei funktionierten noch, und er plazierte einen Treffer, der den Freibeuter endgültig erledigte. Aber es war sein letzter. Der zweite Angreifer kam von der anderen Seite und verwandelte den Kampfflieger Sekunden später in einen glühenden, tödlichen Feuerball. Ivanova sah das Schiff ihres Gefährten explodieren, sah ihn sterben, und Zorn schnürte ihr die Kehle zu. Sie wollte schreien, doch brachte sie keinen Ton heraus. Sie stürzte sich mit feuerspeienden Waffen auf das Raiders-Schiff.
Alpha sechs folgte ihr zur Rückendeckung, aber Ivanova preßte zwischen den Zähnen hervor: »Er gehört mir!« Der Angreifer suchte sein Heil in der Flucht, vor ihm nichts als leerer Raum, und Ivanova jagte hinter ihm drein wie ein Racheengel. Wie er sich auch drehte und wand, es gelang ihm nicht, sie abzuschütteln. Die Triebwerke ihres Kampffliegers brannten auf Maximum, die Entfernung verringerte sich, und Ivanova zählte die Sekunden, die er noch zu leben hatte. Ihr Schirm zeigte ihn in Reichweite, sie nahm ihn ins Visier, feuerte und erzielte einen direkten Treffer auf seinen rechten Flügel. Erhitztes Plasma entzündete sich in den Austrittsöffnungen seiner Triebwerke, die Tragfläche verzog sich, das kleine Schiff schlingerte außer Kontrolle durch den Raum. Erwischt! Im Sturzflug ihrer Beute nachsetzend, war sie bereit für den tödlichen Schuß. Sie hatte ihn wieder im Sichtfeld, ihre Waffen waren auf das Ziel gerichtet, ihre Hand war bereits über dem Feuerknopf, als sie das Signal des sich Ergebenden auffing. »Friß Plasma, du Bastard!« rief sie und schoß. Doch im allerletzten Moment zog sie ihr Schiff hoch, und der Schuß streifte nur den Ausläufer des anderen Flügels, als sie vorbeiflog, nahe genug, um einen Blick auf das angeschlagene Schiff zu erhaschen. Eine Tragfläche war abgerissen, die andere verbogen und zur Hälfte weggeschmolzen. Der Pirat war vollkommen hilflos,
unfähig, sich aus eigener Kraft zu bewegen oder seine Bordgeschütze einzusetzen. Allein das Cockpit sah noch intakt aus. Mehr oder weniger. Ivanova kehrte in einem engen Wendekreis zurück und reduzierte die Energie ihres Antriebs. In einiger Entfernung hatte sich Alpha sechs wieder dem Gefecht zugewendet, als sich Ivanova den Fliehenden vorgenommen hatte. Sie tastete das Schiff der Raiders ab. Das Cockpit war doch nicht vollkommen unversehrt. Aus einem Riß strömte Atemluft aus. Aber es gab Lebenszeichen. Der Bastard war noch am Leben. Und er signalisierte noch immer seine Bereitschaft, sich zu ergeben. Ihre Geschütze waren nach wie vor schußbereit. Sie wollte feuern. Sie wollte den Bastard ganz einfach abschießen, ihn in glühenden Dampf verwandeln. Aus Rache, um all der zerstörten Schiffe willen, für die Cassini und für das kalte Wrack, das dort draußen mit dem Signalfeuer durch das All trieb. Und vor allem für Lieutenant Gordon Mokena, ihren Gefährten. Für Alpha zwei. Es gab keine Zeugen. Niemand würde es je erfahren. Sie flog eine weitere Umkreisung, wobei sie sich beinahe treiben ließ. Jederzeit konnte sie dem Raider ohne Erbarmen den Todesstoß versetzen. Die Abtastung zeigte, daß fast alle Luft aus seinem Cockpit entwichen war, und dann kam er selbst in Sichtweite, in Raumanzug und Helm. Sie fragte sich, wieviel Sauerstoff er wohl noch hatte, wie lange es
dauern würde, wenn sie jetzt ihre Triebwerke starten und ihn hier draußen allein zurücklassen würde, um zu sterben. Aber das Signal war nach wie vor da. Dann öffnete der Pirat einen Kanal. »Nun, EarthforceSchiff, was passiert jetzt?« Ivanova fluchte einmal mehr und antwortete. Als sie sprach, klang ihre Stimme ruhig und entspannt, als führte sie ein Routinegespräch von der Kommandozentrale auf Babylon 5 aus. »Hier spricht Commander Susan Ivanova. Ich gebe Ihnen fünf Sekunden, um mir zu erklären, warum ich Ihr Schiff mit Ihnen darin nicht zur Hölle schicken sollte.« »Wie steht's mit den Richtlinien der Earthforce, Commander? Zum Beispiel mit der, daß man nicht auf einen kampfunfähigen Feind feuert, der zur Aufgabe bereit ist?« »Das sind Kriegskonventionen. Sie beziehen sich auf einen ehrenwerten Feind, nicht auf Abschaum wie Sie.« Aber sie wußte bereits, daß sie es nicht tun würde. Vielleicht würde es nie jemand erfahren, aber sie würde es wissen, und sie würde es niemals vergessen. Zu ihrer eigenen Befriedigung und um sicherzugehen, daß seine Geschütze wirklich untauglich waren, feuerte sie ein weiteres Mal auf niedrigster Energiestufe auf die noch vorhandene Hälfte der Tragflächen. Das Wrack des Piratenschiffes schlingerte und rotierte, und über den Kommunikationskanal konnte Ivanova einen
unterdrückten Fluch hören, dann ein Keuchen, als der Raider verdutzt feststellte, daß er noch am Leben war. »Hey, Commander. Hören Sie. Vielleicht machen wir... ein Geschäft?« Obwohl Ivanova nicht beabsichtigte, noch einmal zu schießen, ließ sie sich Zeit mit ihrer Antwort: »Was für ein Geschäft?« Ein Lachen, unsicher. »Zur Hölle, jedes Geschäft, das Sie wollen. Wollen Sie wissen, wo unsere Basis ist?« »Sie würden Ihre eigene Seite verkaufen?« Ihre Worte drückten Verachtung aus. »Wie Sie schon sagten, ich bin Abschaum. Wir sind alle Abschaum. Was macht es für einen Unterschied für Sie, ein Stück Abschaum mehr oder weniger?« Und als Ivanova nicht antwortete: »Also, was sagen Sie?« Der Tonfall seiner Stimme reichte beinahe aus, sie ihre Entscheidung, nicht zu schießen, bedauern zu lassen. Aber hier bot sich ihr eine Gelegenheit, mit der sie nicht gerechnet hatte. Langsam erwiderte sie: »Das wäre ein Anfang. Ich will außerdem wissen, wo Sie Ihre Informationen über die Flugpläne der Transporter herbekommen, woher Sie wissen, welche Schiffe durch das Sprungtor kommen und welche Fracht sie geladen haben, wie Sie die Informationen erhalten, wie die Ziele ausgewählt werden ... einfach alles.«
Eine Pause. »Sie denken nicht gerade in kleinen Dimensionen, nicht wahr?« »Also«, verlangte sie spitz zu wissen, »was sagen Sie dazu?« Resignierend seufzte er. »Was wollen Sie zuerst wissen?«
23 Nachdem Garibaldi die Gefängnissektion verlassen hatte, wollte er zuerst die restliche Sicherheitsmannschaft von Josef Nagys Identität unterrichten. Aber er wurde von einem Anruf vom Mars aufgehalten. Es war der Major von Earthdome, und ihr Gesichtsausdruck war kühl und ernst. »Mr. Garibaldi, ich fürchte, die Antwort auf Ihre Anfrage lautet nein.« »Einfach so und so prompt? Nur nein?« »Ich habe Ihr Ersuchen an die höchsten Stellen weitergeleitet. Die Auskunft, um die Sie gebeten haben, ist bis zu den höchsten Stellen gesperrt.« »Von den höchsten Stellen, meinen Sie wohl.« »Den allerhöchsten Stellen. Ich bedaure, Mr. Garibaldi.« Selbst der Umstand, daß die Vereinigten Stabschefs seinen Antrag abgelehnt hatten, war also vertraulich. Garibaldi schüttelte ungläubig den Kopf. Vielleicht ging hier etwas vor, von dem er sich keinerlei Vorstellung machen konnte.
»Ich würde gerne noch eine Frage stellen, wenn ich darf?« »Natürlich, wenn die Information nicht vertraulich ist«, entgegnete sie, und die Andeutung eines Lächelns kehrte auf ihr Gesicht zurück. Garibaldi seufzte. Sie hatte Sinn für Humor, dieser Major vom Mars. »Ich hätte gerne alle Daten, die Sie über einen gewissen Josef Nagy haben. Könnte in der >Freier Mars<-Bewegung sein. Alter, hm, ungefähr fünfundzwanzig bis dreißig Jahre.« Er äußerte eine Ahnung. »Er arbeitete möglicherweise mal in der Bergbauindustrie.« Außerhalb seines Blickfelds überprüfte sie ihre Dateien. »Ja, wir haben eine Akte Josef Nagy. Er wird gesucht wegen des Verdachts auf Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, gesucht wegen Sabotage, gesucht wegen Verschwörung und Verrat. Befindet sich dieser Nagy auf Babylon 5 ?« »Wir haben keinen Hinweis auf seine Anwesenheit hier.« Das war nicht einmal geflunkert. Es entsprach den Spielregeln. »Sein Name kam in einer anderen Sache auf. Ich dachte, ich sollte das überprüfen. Natürlich kann ich ohne die Akte nicht wissen, ob es sich um denselben Josef Nagy handelt. Ich habe keine Identicard, nur den Namen.« »Ich übertrage Ihnen umgehend die Daten.« »Dann ist die Akte nicht gesperrt?« Sie lächelte wieder. »Ihre Zugangsberechtigung als Sicherheitschef von Babylon 5 genügt
vollkommen. Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie helfen, Mr. Garibaldi?« »Nein, das war's für heute. Vielleicht können wir uns wieder mal unterhalten. Danke, Major.« Auf dem Bildschirm erschien das BABCOMLogo. Einige Augenblicke später ließ sich der Computer vernehmen: »Datenübertragung von Earthdome, Mars. Datei gesichert, bitte Kennwort eingeben.« Er tippte »Bastard« auf seiner Tastatur. Er hatte alle Kennworte ausgewechselt, nachdem Wallace die Datenbank der Abteilung freigegeben hatte. »Zugriff gestattet.« Unmittelbar darauf betrachtete er das Bild eines Mannes auf dem Monitor. Williams. Er war also Josef Nagy. Obwohl er auf dem Mars längere Haare und einen Bart getragen hatte, sah er jünger aus als der verhärtete, argwöhnische Arbeiter, mit dem Garibaldi in den Maschinenwerken gesprochen hatte. Er überprüfte den Rest der Akte, bis er laut ausrief: »Na also!« Vor einem Jahr hatte Nagy für die AreTech-Minengesellschaft als Datenanalytiker gearbeitet. Während des Aufstandes auf dem Mars im vergangenen Jahr war es zu einem Systemabsturz gekommen, bei dem Personalakten des Unternehmens gelöscht wurden. Josef Nagy war unter den Hauptverdächtigen gewesen. Man hatte seine Verhaftung angeordnet, aber er galt seitdem als verschollen.
Garibaldi klickte von Nagys Akte zu der Liste vorgesehener Abflüge von Babylon 5. Gegenwärtig wartete das Passagierschiff Heinlein auf Startfreigabe. Viel zu naheliegend. Außerdem wußte er, daß Torres das ohnehin überprüfen würde. Weiterhin zur baldigen Abreise vorgesehen: der Botschafter der Minbari, ein Frachtschiff der Narn. Und die Redstone 4, ein Versorgungstransporter, der über Mars und Luna zur Erde zurückkehren sollte. Der Name fiel ihm ins Auge; er erinnerte ihn an den Mars. Er rief weitere Daten zu dem Schiff ab und stieß sofort auf einen Hinweis. Red Stone Shipping Incorporated. Und der Pilot, Edwin Cooper, kam von der Mars-Kolonie. Garibaldi stellte umgehend eine Verbindung zu Fähnrich Torres her. »Die Redstone 4«, rief er, »haben Sie sie überprüft?« »Noch nicht. Der Abflug ist erst in acht Stunden vorgesehen.« »Ich komme runter. Treffen Sie mich dort. Ich habe da so ein Gefühl.« »Ich werde da sein.« Sie kamen beide am Frachtdock an, während die Redstone 4 noch beladen wurde. Garibaldi setzte Torres über die Situation ins Bild und ersuchte anschließend um Erlaubnis, in Begleitung eines Sicherheitsteams auf dem Schiff mit dem Piloten sprechen zu dürfen. Sie trafen ihn auf der Brücke. Torres trat vor. »Mr. Cooper, ich bin Fähnrich Torres, Sicherheit
von Babylon 5, wir würden uns gerne Ihr Schiff ansehen. Wir haben Grund zu der Annahme, daß sich Schmuggelware an Bord befindet.« Cooper verzog säuerlich das Gesicht. »Ich hoffe, das verursacht keine Verspätung, Fähnrich. Wie Sie sehen, sind wir mit dem Beladen beschäftigt.« »Ich hoffe, das wird nicht der Fall sein, Mr. Cooper. Nun, wenn ich jetzt Ihre Papiere einsehen könnte, Ihre Frachtbriefe, Zollunterlagen...« Garibaldi, der sich mit dem Rest des Sicherheitsteams im Hintergrund gehalten hatte, sah zu, wie Torres die Dokumente überprüfte. Der Pilot wirkte nervös, als ob er sie nicht auf der Brücke haben wollte. Torres beendete die Durchsicht der geforderten Dateien des Schiffscomputers sowie der Mannschaftsliste. Sie schüttelte andeutungsweise den Kopf in seine Richtung. »Es scheint alles in Ordnung zu sein, Mr. Cooper. Nun werden wir uns noch ein wenig umsehen.« Als Vorsichtsmaßnahme gegen eine vorzeitige Warnung Nagys durch den Piloten - falls Nagy an Bord war - ließ sie einen ihrer Beamten als Wache auf der Brücke zurück. »Er steht nicht auf der Mannschaftsliste«, sagte sie, als sie unterwegs waren. »Weder unter dem Namen Williams noch als Nagy. Aber sie konnten ihn an Bord geschmuggelt haben. Wie sollen wir vorgehen?« »Warum überprüfen Sie nicht den Laderaum, und ich nehme die Besatzungsquartiere«, schlug Garibaldi vor.
Die Frauen und Männer der Redstone 4 lebten nicht gerade in luxuriösen Unterkünften, aber sie waren besser als so manche Kaserne, die Garibaldi im Laufe seiner Karriere bewohnt hatte. Die Schlafkojen waren Klappbetten, der Garderobenplatz ausreichend, die Unterhaltungseinrichtungen minimal. Es war ruhig in den Räumen, anscheinend waren sie alle leer, was normal war während der Frachtbeladung. Alle waren an der Arbeit, jedenfalls alle Mitglieder der regulären Besatzung. Garibaldi ging die Korridore entlang und überprüfte jede Unterkunft mit seinem Abtaster auf Lebenszeichen. Einen Raum, noch einen, noch einen. Dann fing er etwas auf. Nicht von dem Quartier, sondern von dem Raum jenseits des nächsten Durchgangs, der die Aufschrift »Wäscherei« trug. Und die wenigen Stunden vor dem anstehenden Abflug waren sicher nicht die Zeit, seine Unaussprechlichen zu reinigen. Garibaldi zog seine PPG und wählte die niedrigste Energiestufe. Er wollte diesen Kerl Nagy nicht erschießen, er wollte ihn lebend für seine Befragung. Auf der anderen Seite, Nagy war womöglich verzweifelt, und er könnte bewaffnet sein. Garibaldi holte tief Luft und stieß die Tür auf. Jemand keuchte, und er sah eine Bewegung in einer Ecke. Garibaldi hielt seine Waffe auf den Mann gerichtet, der dort kauerte, Säcke voller schmutziger Wäsche verdeckten ihn teilweise.
»Keine Bewegung! Hier ist der Sicherheitsdienst von Babylon 5! Kommen Sie da raus - aber schön langsam!« Der Mann in der Ecke erstarrte, als könnte Garibaldi ihn noch gar nicht sehen oder als meinte er jemand anderen. Dann richtete er sich langsam auf, und Garibaldi konnte sein Gesicht erkennen. Es war Williams. Oder Josef Nagy. »Nehmen Sie Ihre Hände hoch!« befahl er. »Kommen Sie raus!« Nagy befolgte die Anweisung und trat einen Schritt vor, dann einen weiteren in die Mitte des engen Waschraumes. Garibaldi beobachtete, wie seine Augen wild umherhuschten, zu der PPG, zu dem offenen Korridor hinter ihm, und war auf den verzweifelten Fluchtversuch des Mannes vorbereitet. Er versetzte dem heransprintenden Nagy einen Faustschlag in die Magengegend. Dieser gab alle Luft mit einem Schlag von sich, klappte zusammen und fiel zu Boden, wo ihn Garibaldi festhielt. Aber der Gedanke an Kampf hatte Nagy verlassen. Er hatte seine Chance gehabt und sie verspielt. Garibaldi betätigte sein Com-Link. »Torres, hier Garibaldi. Ich habe ihn.« Er stellte seinen Gefangenen auf die Beine. »Kommen Sie, Nagy, wir werden uns ein wenig unterhalten.« Torres und ihre Männer kamen auf ihn zu, als er den Korridor zur Hälfte durchquert hatte. »Soll ich ihn in eine Zelle werfen?« fragte sie.
Aber Garibaldi hatte darüber nachgedacht, und auch über andere Dinge, zum Beispiel gesperrte Akten und wer Zugriff auf sie haben mochte, selbst mit neuen Kennworten. »Nein, ich denke nicht. Ich werde das erledigen.« Als er weitersprach, sah er jeden einzelnen der Truppe ernst an. »Ich weiß, es ist ungewöhnlich, aber ich möchte diese Verhaftung nicht an die große Glocke hängen. Es wird keine offizielle Aktennotiz hierüber geben. Kein Gefangener namens Nagy in der Gefängnissektion. Ich denke, Sie alle kennen den Grund. Kann ich mit Ihrer Kooperation rechnen?« Nach kurzem Zögern versicherte ihm Torres, er könne auf sie zählen, und die anderen nickten dazu. Garibaldi marschierte mit Nagy durch die Frachtschleuse der Redstone 4 und zum Liftschacht. »Das können Sie nicht tun!« protestierte sein Gefangener mit gedämpfter Stimme, ohne echte Überzeugung. »Damit kommen Sie nicht durch!« »Halten Sie den Rand!« riet ihm Garibaldi gelassen. »Dies geschieht zu Ihrem eigenen Wohl, ob Sie es glauben oder nicht.« Nagy glaubte ihm offenkundig nicht, aber er zog es trotzdem vor zu schweigen, und er wählte ohne erneute Anstrengungen den Weg des geringsten Widerstands. Er schien vollkommen ergeben, als Garibaldi ihn schließlich in einen Vernehmungsraum brachte und ihn auf einen Stuhl setzte, bevor er selbst ihm gegenüber Platz nahm.
»Nun gut. Jetzt werden wir uns unterhalten. Und zwar diesmal ernsthaft.« Nagy sagte nichts, sondern blickte sich mißtrauisch um, als ob er sich fragte, wann denn die Überredungswerkzeuge, die Drogen, das Psi-Corps auftauchen würden. Garibaldi wußte, daß er ihn provozieren mußte. »Zuallererst, wo ist der echte Val Williams? Was haben Sie mit ihm angestellt - ihm eine verpaßt und seine Identicard gestohlen?« Nagys Kopf fuhr hoch. »Nein! Ich meine, es gibt keinen echten Williams. Das ist nur ein Name. Erfunden.« »Woher haben Sie dann die Intenticard? Von Ihren Freunden, den Terroristen von >Freier Mars« »Das ist eine Lüge!« »Das ist eine Frage.« »Die Marsbefreier sind keine Terroristen. Ich bin kein Terrorist.« »Was sind Sie dann, Nagy? Warum sind Sie überhaupt hier auf Babylon 5? Was hatten Sie hier vor? Sabotage? Vielleicht die Station in die Luft jagen?« »Nein! Ich bin ein Patriot! Nur ist meine Heimat der Mars, nicht die Erde. Ist das so schwer zu verstehen?« »Ich werde nicht fürs Verstehen bezahlt. Man bezahlt mich, um dem Gesetz Geltung zu verschaffen und Ruhestörer zu fassen. Im Moment
werde ich dafür bezahlt herauszufinden, warum zwei Männer hier auf der Station sterben mußten. Und wenigstens einer von ihnen war ein mutmaßlicher Terrorist vom Mars. J.D. Ortega. Komische Sache. Er hat für dieselbe Minengesellschaft gearbeitet wie Sie.« Nagy schüttelte den Kopf. »Was soll das heißen?« fuhr Garibaldi ihn an. »Ortega war genausowenig ein Terrorist wie ich. Er war nicht einmal bei der Organisation.« »Sie kannten Ortega?« »Ich wußte, wer er war. Er arbeitete für die Firma.« »Welche Firma? AreTech?« Nicken. »Was tat er dort? War er nicht Techniker oder so etwas?« »Metallurgist, glaube ich. Einer dieser Männer in weißen Kitteln, er arbeitete in den Labors. Ich weiß nicht genau, was er tat, ich war nur ein einfacher Angestellter. Ich führte die Akten.« »Wissen Sie, warum ihn jemand als Terroristen bezichtigen sollte?« Kopfschütteln. »Warum ihn jemand ermorden wollte?« »Nein. Ich weiß nichts von all dem. Sehen Sie, wenn Sie für die Firma arbeiten, dann wollen Sie nichts wissen über Dinge, die Sie nichts angehen. Sie stellen keine Fragen. Es gab immer Gerüchte über Geschäfte unter der Hand, Bestechung der
Sicherheitsinspektoren, Minenschließungen. Aber wenn sich herausstellte...« »Das war dann der Zeitpunkt, daß ein Kerl namens Fengshi Yang auf den Plan trat? Beauftragter der Firma? Seine Aufgabe, die Arbeiter ruhigzustellen, die Gerüchte zu stoppen? Sachen dieser Art?« Ein widerwilliges Nicken. »Wenn also Ortega Probleme mit AreTech gehabt hätte, würde man ihm dann jemand wie Yang auf den Hals hetzen?« Abermals ein widerstrebendes Nicken. Garibaldi bohrte weiter: »Also war Ortega nach Babylon 5 gekommen, weil er Probleme mit der Firma hatte, nicht weil er ein Terrorist war?« »Wenn Sie Yang auf ihn angesetzt haben, ja.« »Aber Sie dachten nicht, es wäre eine gute Idee, mir von diesen Dingen zu erzählen, als wir uns in den Maschinenwerken unterhielten, ehe Sie mich überfallen ließen. Ich nehme an, Sie wußten, daß ein Team von Sonderermittlern auf der Station herumschnüffelte, die Nachforschungen über Ortegas Tod anstellten. Aber Sie haben mit mir gesprochen. Warum?« »Die haben Sonia! Und ... ich habe gehört... Sie sind nicht einer von denen, die sie verhaftet haben.« »Also beschlossen Sie, mit mir Kontakt aufzunehmen. Aber gleich darauf entschieden Sie auch, daß es eine wirklich großartige Idee wäre, mir eine Schlägertruppe zu schicken, und mich in diesen
Schrank zu stecken. Genau wie es Yang mit der Leiche von Ortega gemacht hat. Sie wußten von Yang, nicht wahr? Sie wußten, daß er Ortega getötet hatte.« Ein kaum merkliches Nicken. »Die Frage ist also, wer hat Yang ermordet? Waren Sie es, Nagy?« »Nein!« Das Gesicht des Gefangenen wurde blaß. »Wer also? Jemand anders, der für die Firma tätig war? Jemand von Ihren patriotischen Freunden vom Mars? Haben die den Firmenbeauftragten umgebracht, seine Leiche zerstückelt und ihn in die Müllverwertung gestopft?« »Ich weiß es nicht! Ich schwöre es! Ich weiß nicht, wer's getan hat!« Jetzt war Nagy begierig darauf zu sprechen, alles abzustreiten. »Wir wußten bloß, daß er hier auf Babylon 5 war. Er hatte bereits jemanden getötet, niemand wußte, hinter wem er sonst noch her war. Jeder hätte es sein können.« Garibaldi nickte verständnisvoll. »Also beschloß jemand, daß man Yang loswerden mußte. Aber ich kam wieder, ich hörte nicht auf, Fragen zu stellen. Da war es besser, auch mich loszuwerden, nicht wahr?« Es hatte sich ein kalter Schweißfilm auf Nagys Stirn gebildet. »Wie ich schon sagte, manche behaupteten, Sie seien kein Teil von ... daß Sie ... in Ordnung sind. Aber Sie wußten etwas über Yang, über die Minen ...« »Teil wovon?« fragte Garibaldi.
»Der ganzen Sache. Der Firma. Der Allianz. Von all denen. Sie gehören alle dazu. Gott weiß, was sie mit Sonia gemacht haben...« »Stimmt, Ihre Freundin aus den Vermessungsbüros. Die man mitgenommen hatte. Wußte sie von Ihnen? Kannte sie Ihren Hintergrund?« »Nein! Gott, ich hoffe nicht, ich habe aufgepaßt. Wenn sie etwas gewußt hätte, wäre ich schon vor Tagen verschleppt worden. Sie...« Nagy ließ den Kopf einen Moment in seine Hände sinken, dann blickte er wieder auf und atmete tief durch. »Ich kannte sie auf dem Mars noch nicht. Wir haben uns erst kennengelernt, nachdem ich hierhergekommen war und zu arbeiten begonnen hatte. Für sie war ich Val Williams von der Erde, Angestellter bei einer Vermessungsgesellschaft.« »Sie war nie für AreTech tätig?« »Nein, sie arbeitete für die Schätzstelle. Das ist eine öffentliche Einrichtung.« »Was ist mit Ortega?« wollte Garibaldi wissen. »Wissen Sie, auf welchem Wege er hierhergekommen ist? Hatte er eine gefälschte Identicard wie Sie? Einen anderen Namen? Woher, glauben Sie, hätte er so ein Ding bekommen können, wenn er nicht zum >Freien Mars< gehörte?« »Ich weiß es nicht.« Eine Pause. »Vielleicht kannte er die richtigen Leute.« »Was für richtige Leute?« Aber Garibaldi wurde von seinem Com-Link unterbrochen. »Mr.
Garibaldi, Sie werden am Shuttle-Dock gebraucht. Es gab wieder einen Mord. Es handelt sich um Lieutenant Khatib.« Khatib? Ermordet? Als ob die Geschichte nicht bereits verwickelt genug war! Er sprang auf und antwortete: »Ich bin sofort da.« Aber er hielt inne und wandte sich noch einmal an seinen Gefangenen. »Sie sind ein Glückspilz, Nagy. Er war auch auf der Suche nach Ihnen. Glauben Sie mir, Sie sollten froh sein, daß er Sie nicht vor mir gefunden hat.«
24 »Alpha eins, hier ist Alpha drei. Sind Sie in Ordnung da draußen?« »Alles unter Kontrolle, Alpha drei. Ich nehme nur ein Stück ... Weltraumschrott auf. Wie ist die Lage?« »Die Raiders sind erledigt. Geringfügige Schäden an Alpha vier, aber Moy ist in Ordnung. Und wir haben Kontakt mit der Duster, wir treffen sie in Kürze hier.« Er gab ihr die Koordinaten. »Ich stoße dort auf Sie, Alpha drei.« Ivanova machte sich wieder daran, das Wrack des Piraten an ihrem Schiff festzumachen. Sie wollte den bewegungsunfähigen Schiffsrumpf der Duster übergeben und ihren Gefangenen auf dem Frachter nach Babylon 5 überstellen. Sie war in Sorge, seine unerwartete Bereitschaft auszusagen könnte nachlassen, sobald er sich nicht länger der akuten Bedrohung ausgesetzt sah, in eine Plasmawolke verwandelt zu werden. Nicht, dachte sie säuerlich, daß er bisher zu sprechen aufgehört hatte.
»Sagen Sie, Erdenkriegerin, wie lange wird diese kleine Reise dauern? Ich habe nämlich nicht allen Sauerstoff des Universums hier. Selbst Abschaum wie ich muß atmen. Was werden Sie tun, wenn mir die Luft ausgeht?« »Zusehen, wie Sie blau anlaufen«, entgegnete Ivanova gemein, aber sie bedauerte die Bemerkung im nächsten Moment bereits. Er schien dadurch nur ermutigt. »Es ist etwas mühselig, ohne Luft zu sprechen.« »Warum fangen Sie dann nicht an, sie zu sparen?« »Ich habe viel zu sagen, wissen Sie. Über unsere Operationen, unsere Kontakte. Es wäre zu schade, wenn mir die Luft ausginge, bevor ich Gelegenheit habe, Ihnen alles zu beichten.« Aber als Entgegnungen ihrerseits ausblieben, wurde der Pirat allmählich still. So still, daß sich Ivanova ernstlich sorgte; vielleicht war es kein Bluff gewesen, vielleicht ging ihm wirklich der Sauerstoff aus. Sie tastete sein Schiff ab und versicherte sich, daß er noch am Leben war. Und die Duster war schon in Reichweite, nur etwa zehn Minuten entfernt. »Alpha drei, Alpha eins hier, Lagebericht!« »Hier Alpha drei. Die Duster hat genug Platz in ihrem Shuttle-Dock, wir werden Alpha vier dort für die Rückführung unterbringen.« »Sie sagten, Moy ist in Ordnung?«
»Ihr geht es gut, Commander. Aber ihr Schiff hat eine Tragfläche, die nicht mehr viel Belastung vertragen kann.« Das schien Ivanova die Lösung ihres Problems zu sein. »Glauben Sie, daß sie in der Lage ist, meinen Jäger zurückzufliegen?« »Sekunde, Alpha eins, ich überprüfe das.« Kurz darauf: »Sie meint, das wäre kein Problem. Sind Sie in Ordnung, Commander?« »Alles klar. Ich möchte nur auf dem Rückweg meine Beute nicht aus den Augen lassen.« »Wir erwarten Sie, Alpha eins.« Einige Augenblicke später drosselte Ivanova ihre Triebwerke und flog langsam an die Duster heran, in Begleitung von drei unversehrten Kampffliegern. Die Duster zählte ohne Frage zu den größeren Transportschiffen. Sie öffnete einen Kanal zur Brücke des Frachters. »Hier spricht Commander Susan Ivanova von Babylon 5. Ich möchte den Piloten der Duster sprechen.« »Mein Name ist Bogdonovich, ich bin der Chefpilot. Wir waren überaus erfreut, auf Ihr Empfangskomitee zu treffen.« »Freut mich zu hören, Mr. Bogdonovich. Sie nehmen eins unserer angeschlagenen Schiffe an Bord?« »Wir haben genug Platz, Commander, kein Problem.«
»Fein. Ich würde gerne wissen, ob Sie mir einen sicheren Raum auf Ihrem Schiff zur Verfügung stellen können.« Bogdonovich hatte anscheinend das RaidersWrack scannen lassen. »Ein Gefangener, Commander?« fragte er neugierig. »Sagen wir, Weltraumschrott, Mr. Bogdonovich.« »Wenn Sie es sagen. Selbstverständlich habe ich einen Raum, wo Sie Ihre Trümmer verstauen können. Sie können durch Frachtschleuse D an Bord kommen.« »Danke. Und seien Sie vorsichtig beim Verladen. Ich nehme an, es bestehen noch immer Risiken.« »Ich verstehe, Commander.« Ivanova rief das Schiff des Freibeuters. »Hier Commander Ivanova. Wir werden Sie in Kürze an Bord des Frachters bringen. Nur zu Ihrer Erinnerung: keine Tricks, wenn Sie weiteratmen wollen!« »Ganz wie Sie meinen, Commander.« Die Stimme des Piraten war nur mehr ein Flüstern. Vielleicht war seine Atemluft tatsächlich knapp geworden. Aber Ivanova wollte sich nicht den Kopf darüber zerbrechen. Mit geübten Handgriffen löste sie die Verbindungen zu dem Raiders-Schiff und glitt in das Dock des Frachters. Die Bergung des erbeuteten Schiffes würde sie der erfahrenen Mannschaft überlassen. Bevor sie aus der Kanzel
ihres Kampffliegers kletterte, zog und entsicherte sie ihre Waffe. Sie wurde bereits von Moy auf dem Landedeck erwartet, in Raumanzug und Helm. »Ist bei Ihnen wirklich alles in Ordnung?« erkundigte sich Ivanova. »Kein Problem, mein Schiff zurückzubringen?« »Alles klar, Commander. Kein Problem.« Die Crew des Frachters hatte bereits den Rumpf des Piratenschiffes durch eine Frachtschleuse an Bord gehievt, als Commander Ivanova dazukam. Sie stellte zufrieden fest, daß sie nicht als einzige bewaffnet war. Die Mannschaft schien überdies einen Sicherheitsbeamten bereitgestellt zu haben; das war gut so. Sie nickte ihm zu. Der Mann ging auf sie zu, während er zu ihr über Funk sprach, da das Dock noch nicht unter Druck stand. »Mein Name ist Massie, Commander. Kann ich irgendwie behilflich sein?« »Danke, Mr. Massie. Halten Sie erst mal nur die Augen offen.« Während sie das Wrack des Piratenschiffes absicherten und die Frachtschleuse dichtmachten, wandte sich Ivanova wieder an ihren Gefangenen. »In Ordnung, sobald Ihr Schiff abgesichert ist, können Sie herauskommen. Aber vergessen Sie nicht, jeder hier hat mehr als genug Gründe, Sie aus Ihrem Cockpit zu schießen.« Er gab keine Antwort, aber das Verdeck des Raiders glitt langsam auf. Ivanova sah zu, ihre PPG
auf das Cockpit gerichtet, als ein Helm zum Vorschein kam, dann der Rest einer Gestalt im Raumanzug. Er blieb einen Augenblick zögernd am Rand der Abdeckung stehen, endlich sprang er herab. Für einen Moment schienen seine Knie ihm den Dienst versagen zu wollen, dann tastete er nach den Überresten eines Flügels und stützte sich mit einer Hand ab. Sobald er sicher stand, öffnete er seinen Helm und setzte ihn ab, gefolgt von heftigen Atemzügen. Ivanovas Anzeige belegte, daß der Luftdruck auf dem Dock doch nicht vollständig hergestellt war. Er war wohl wirklich dem Erstickungstod nahe gewesen, dachte sie. Der Lauf ihrer PPG wich nicht von ihrem Ziel, selbst als sie ihren eigenen Helm abnahm und ihn einem Besatzungsmitglied in die Hand drückte. »Können Sie das für mich aufheben?« »Klar, Commander.« Sie näherte sich dem Piraten, der sich aufrichtete und sich ihr mit einem matten Grinsen zuwandte, als er sie kommen sah. »Sie sind also Ivanova, hm? Als ich Ihre Stimme hörte, dachte ich mehr an einen alten Eisberg. Ich bin Zaccione, aber jeder nennt mich Zack.« Ivanova kannte diesen Typ und ging darüber hinweg. »Benötigen Sie medizinische Fürsorge?« Er winkte gelassen ab. »Zur Hölle, nein. Nur ein Kratzer, wie man so sagt.« Aber mit seiner anderen Hand hielt er sich immer noch am Ausläufer der Tragfläche fest.
Der Sicherheitsoffizier des Frachters hatte sich von der anderen Seite dem Gefangenen genähert, der jetzt zwischen ihnen stand. »Commander Ivanova? Was wollen Sie jetzt mit ihm anfangen?« »Gibt es auf Ihrem Schiff einen Arzt?« »Ja, natürlich.« »Gut, wir werden ihn zusammenflicken und durchchecken, um sicherzugehen, daß er keine versteckten Waffen bei sich trägt.« »Ich habe einen Abtaster hier.« Massie führte das Instrument den Körper des Piraten entlang. »Er ist sauber.« »Gut«, sagte Ivanova wieder. An den Gefangenen gerichtet, fügte sie hinzu: »Letzte Chance. Wollen Sie einen Arzt, ehe wir uns unterhalten?« »Wenn Sie darauf bestehen.« Zacciones Verletzungen stellten sich als angeschlagene Rippen und eine gebrochene Nase heraus. »Stellen Sie ihn wieder her«, ordnete Ivanova an, »aber seien Sie nicht zu großzügig mit den Schmerzmitteln. Er hat noch einiges zu erzählen, und ich will nicht, daß er mir umkippt.« »Besten Dank«, sagte der Pirat und zuckte zusammen, als Massie ihm Handschellen anlegte. »Mr. Massie, ich habe gehört, Sie haben einen sicheren Raum für uns?« »So ist es.« »Dann gehen wir.« Massie wollte sie zuerst nicht allein mit dem Piraten gehen lassen, aber er brachte keine weiteren
Einwände vor, als sie ihm klarmachte, daß der Gefangene vertraulich zu behandeln sei und es möglicherweise gefährlich war, von ihm zu wissen. »Jetzt sind wir also allein«, sagte Zaccione und grinste sie mit weißen, ebenmäßigen Zähnen an. »Stellen wir eines klar, Dreckskerl«, entgegnete Ivanova bestimmt. »Ihnen steht ein sehr kurzer Trip in sehr kaltes Vakuum bevor, sobald wir Babylon 5 erreichen. Also verschwenden Sie keine Luft mit dieser Art von Mist.« »Ich dachte, die Allianz hätte die Todesstrafe auf Verrat und Meuterei beschränkt?« »Sie haben irdische Schiffe angegriffen. Das ist Verrat genug nach meinem Ermessen.« Ivanova war sich dessen keineswegs sicher, aber sie versuchte trotzdem, überzeugend zu klingen. Sie war zur Zeit weniger an Strafen als an Informationen interessiert. »Ganz wie Sie meinen, Commander. Was wollen Sie also wissen?« »Wie gehen Sie bei der Auswahl der anzugreifenden Ziele vor? Woher kommen Ihre Informationen? Geht es immer um Morbidium?« »Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht, Commander. Ja, darum geht's.« »Warum Morbidium? Warum nicht irgendein anderes strategisches Metall?« Er gluckste, riß sich aber sofort wieder zusammen. »Keinen Schimmer. Bei dem Geschäft geht es um Morbidium, mehr nicht. Wenn etwas anderes mittransportiert wird, ist das Nachtisch, alles
klar? Uns soll's recht sein. Haben Sie eine Ahnung, was das Zeug wert ist?« »Ja, die habe ich. Was bezahlen Sie also für die Informationen?« »Ursprünglich den festen Satz. Sie wissen schon, den offiziellen Preis. In letzter Zeit, nachdem der Wert gestiegen war, auch für uns, haben sie immer mehr verlangt. Die gierigen Bastarde, sie gehen zu den Versicherungen und sahnen da auch noch ab.« »Von welchen gierigen Bastarden reden wir?« »Die Minen.« »Ihre Informationen kommen direkt von den Minen?« »Ja, so ist es.« »Das heißt die Minengesellschaft, die Besitzer? Nicht bloß irgendein Angestellter, mit dem Sie Geschäfte machen?« »Ja, sie verkaufen ihre eigenen Ladungen. Fragen Sie mich nicht, warum die das tun.« »Also, sie verkaufen Ihnen die Informationen zum Fixpreis, dann holen sie sich das Versicherungsgeld. Und Sie bekommen den restlichen Gewinn?« Ivanova erinnerte sich an Pals Verdacht. »Manche Leute fragen sich, ob die Frachten nicht vielleicht nur Attrappen sind, leere Container oder unbrauchbare Schlacke. Daß es bei alldem um einen Versicherungsbetrug geht.« »Hey, Commander, das ist nicht gerade ein ungefährliches Unternehmen, oder? Wir zahlen für
die Information, aber die Fracht muß es wert sein. Wir jagen doch keinen Attrappen hinterher.« »Na gut, zurück zur Quelle Ihrer Informationen. Von den Morbidium-Minen also. Nur von einer Gesellschaft, oder von allen? Wer genau gibt sie Ihnen? Ich brauche Namen.« Der Pirat grinste jetzt nicht mehr. »Sehen Sie, wie Sie schon sagten, alles, was ich vor mir habe, ist eine offene Luftschleuse und ein großes Vakuum. Wenn ich Ihnen alles erzähle, was ich weiß, was für eine Garantie habe ich dann?« »Das einzige, was ich Ihnen garantieren kann, ist, daß Sie lange genug atmen werden, um heil nach Babylon 5 zu kommen«, entgegnete Ivanova. »Von da an haben Sie keine Wahl mehr, ob Sie reden oder nicht. Dort wartet ein Team von Spezialermittlern auf Sie, und man wird jedes bißchen Information aus Ihnen herausquetschen und Ihren Verstand so leer wie eine zerbrochene Eierschale zurücklassen. Dann wird man den kümmerlichen Rest aus einer Luftschleuse werfen, und Sie werden nicht mal mehr mitbekommen, wie Ihnen geschieht.« Der Pirat blinzelte bei diesen bedrohlichen Aussichten. Er musterte ihr Gesicht. Meinte sie es ernst? Ivanova starrte zurück. »Oder Sie können jetzt mit mir reden und damit aktenkundig werden.« »AreTech«, brachte er schließlich widerwillig heraus.
»Die große Minengesellschaft? Sie ist die einzige?« »Genau. Die Informationen kommen aus ihrem Zentralbüro auf dem Mars. Wir haben einen Agenten dort sitzen. Er gibt alles weiter. Wir wissen, wo die Fracht hingehen soll, wann sie transportiert wird und wann sie durch die Sprungtore kommt, wann wir sie abfangen können. Es ist ziemlich einfach. Zumindest war es das bis jetzt.« Ivanova dachte daran, was Espada, die Versicherungsagentin, ihr berichtet hatte; daß die Schiffsladungen alle von verschiedenen Gesellschaften versichert wurden, um Verdachtsmomente zu zerstreuen. »Sie haben sich nie gefragt, warum die das tun?« Er zuckte mit den Schultern und stöhnte auf. »Commander, Sie erinnern sich, die Schmerzmittel?« »Später«, sagte sie mitleidlos. »Na gut, na gut. Wir sind immer an solchen Daten interessiert. Macht unseren Job einfacher, Sie verstehen? Also, vor einiger Zeit nimmt dieser Kerl mit einem unserer Leute Kontakt auf. Er sagt, er hat Informationen, Flugpläne, Details über eine ziemlich wertvolle Ladung strategisch wichtiger Metalle. Ob wir interessiert sind? Und das Beste daran ist, er will nicht mal was dafür haben. Wir sollen uns nur die Frachtschiffe dann und dort holen - wie er es uns steckt. Natürlich denkt jeder sofort, das ist irgendein Trick, der Kerl ist ein Agent der
Earthforce, nicht wahr? Zu schön, um wahr zu sein. Aber unser Agent überprüft ihn, und er ist sauber, er arbeitet für die Minengesellschaft und all das. Einige von uns sagen, gut, versuchen wir's. Das Schiff kommt, genau wie der Kerl gesagt hat. Wir schnappen es uns, nehmen uns das Zeug und versetzen es. Plötzlich sieht das Ganze nach einer guten Sache aus. Also sind wir im Geschäft, wir machen einen Deal mit dem Kerl, uns regelmäßig zu beliefern. Die Informationen sind ihren Preis wert. Mittlerweile sind wir einer der Hauptlieferanten für militärisch nutzbares Morbidium in acht Sektoren.« »An wen verkaufen Sie?« »Gegen Höchstgebot natürlich.« »Außerirdische? Die Narn vielleicht?« »Wir haben einen freien Markt, oder? Nicht wie auf der Erde. Angebot und Nachfrage, wissen Sie. Zur Zeit ist die Nachfrage ziemlich groß. Wir haben Käufer für jede Schiffsladung, die wir uns holen.« »Warum verkaufen die nicht das Morbidium selbst auf dem Schwarzmarkt ?« »Fragen Sie mich nicht. Vielleicht wegen der Inspektoren von der Allianz, die Art, wie sie jede Ladung überprüfen, jeden Barren zählen, bevor man sie versiegelt. Ich weiß es nicht.« »Wäre es nicht einfacher, die Beamten zu bestechen? Wissen Sie etwas darüber? Irdische Offiziere, die kassieren? Das Ganze vertuschen?«
»Ich habe gehört... vielleicht bezahlen sie jemanden, ja. Aber ich weiß nicht genau. Ich habe nur mitbekommen, daß Leute in den Minen, die zu viele Fragen stellen, nicht sehr lange dort bleiben, klar?« »Ich brauche immer noch Namen. Sagt Ihnen der Name J.D. Ortega etwas? War er in diese Sache verwickelt?« »Nie von ihm gehört.« »Was ist mit Yang? Oder Wallace?« »Commander, ich sage Ihnen, ich weiß es nicht. Ich kenne keinen dieser Namen. Ich habe mit diesen Dingen nichts zu tun. Ich bin bloß ein Kampfpilot, genau wie Sie, das ist alles.« Ivanova hätte ihn um ein Haar geschlagen. »Sagen Sie das nicht noch einmal! Sagen Sie so etwas nie wieder!« »Ganz wie Sie meinen, Commander.«
25 Captain Sheridan und Chief Garibaldi warteten, während der Shuttle-Pilot die Leiche von Khatib hereinbrachte. Auf der anderen Seite des Docks standen Wallace und Miyoshi, steif, und sagten kein Wort. Garibaldi bemerkte: »Kaum zu glauben, aber ich dachte wirklich, daß es nicht noch schlimmer kommen könnte.« Sheridan stierte zornig und murmelte, keine weiteren Morde mehr auf Babylon 5 dulden zu wollen. Garibaldi wölbte seine Augenbrauen. »Das wird ein großer Spaß, das kann ich Ihnen versprechen. Khatib war ungemein beliebt. Ich kann mir niemanden auf der Station vorstellen, den mehr Leute liebend gern fertiggemacht hätten. Ich darf mich wohl glücklich schätzen. Ich muß ein reizender Mensch sein, sonst wäre ich wahrscheinlich auch in einer Luftschleuse gelandet anstatt in diesem Schließfach.«
Das Schott des Shuttles öffnete sich, und der Pilot kam zum Vorschein, der um Hilfe bei der Bergung des Toten in die Runde blickte. Dr. Franklin und einer seiner Sanitäter warteten bereits, aber Commander Wallace schob sie aus dem Weg. Sheridan fluchte und wollte eingreifen. Garibaldi folgte ihm. »Dieser Mann war mein Mitarbeiter«, blieb Wallace stur. »Dieser Mord steht in Verbindung mit meinen Ermittlungen und niemand ...« »Commander Wallace!« Sheridan ging ihn wütend an. »Sind Sie ein lizensierter Mediziner oder Pathologe? Wenn nicht, werden Sie sich zurückziehen und Dr. Franklin die sterblichen Überreste zu einer ordentlichen Untersuchung auf die Krankenstation bringen lassen. Was immer Sie für Fragen haben sollten, ich bin sicher, er wird sie beantworten.« Als Wallace widerwillig einen Schritt zurücktrat, um die Sanitäter zu der Leiche vorzulassen, konnte Sheridan einen genaueren Blick auf den Toten werfen. Kein schöner Anblick. Die Extremitäten waren in verzerrten Stellungen erstarrt, der Kiefer stand offen, als ob Khatib noch laut geschrien hätte, als ihn seine Mörder durch die Luftschleuse gestoßen hatten. Aber als Sheridan sah, worauf Franklin sich konzentrierte, bezweifelte er, daß Khatib noch Gelegenheit zum Schreien gehabt hatte. Dunkelrot kristallisiertes Blut füllte eine deutliche Druckstelle an der Seite seines Kopfes. Als sie ihn
bewegten, lösten sich funkelnde rote Splitter von seinem Haar und fielen zu Boden. Während die Leiche auf die Krankenstation überstellt wurde, protestierte Wallace einmal mehr dagegen, daß irgend jemand außer ihm selbst Zugang zu den Untersuchungsergebnissen haben sollte. Da empörte sich Garibaldi: »Moment mal! Das ist jetzt der dritte Mord auf dieser Station während der letzten zehn Tage. Wenn das kein Fall für den Sicherheitsdienst von Babylon 5 ist, dann weiß ich es auch nicht.« »Ich kann keine Einmischung in meine Ermittlungen gestatten. Diese Informationen sind vertraulich.« Garibaldi grummelte ärgerlich. »Was haben Sie eigentlich zu verbergen, Wallace? Wissen Sie, es wird zunehmend verdächtig, wenn Akten und Beweismaterialien verschwinden, sobald Sie auftauchen, oder Dateien urplötzlich gesperrt werden, sobald sie sich jemand anzusehen versucht. Vielleicht sollten wir uns auch einmal vergewissern, ob an Ihren Händen kein Blut klebt, wenn wir schon mal dabei sind.« Daraufhin wurde Wallace bleich vor Zorn, aber Captain Sheridan schritt zwischen die beiden, bevor sie sich wieder bei den Hörnern hatten. »Niemand wird sich an den Untersuchungsergebnissen vergreifen. Ich will, daß ausnahmsweise einmal die Wahrheit ans Licht kommt.«
Wallace setzte zu erneuten Protesten an, aber ein Blick auf den Ausdruck in Sheridans Gesicht ließ ihn verstummen. Er hielt inne, zog Miyoshi von den anderen fort und erteilte ihr mit gedämpfter Stimme Anordnungen, die Sheridan nicht verstehen konnte. »Also gut, Captain, wie Sie so oft betonen, Sie haben auf der Station das Kommando. Im Augenblick jedenfalls.« Captain Sheridan ignorierte die versteckte Warnung. Er hatte genug von Commander Wallace, seinen ständigen Drohungen, seinen Ermittlungen, seinen Störungen des Stationsbetriebes. Für einen Moment gestattete er sich den unlauteren Gedanken: Wenn schon jemand durch eine Luftschleuse gestoßen werden mußte, dann... Garibaldi konnte sehen, daß Dr. Franklin nicht sonderlich glücklich über all die Beobachter war, die sich um seinen Untersuchungstisch versammelt hatten. »Was ist das hier, ein medizinisches Seminar?« Es dauerte eine Weile, den Körper aus seinem blitzgefrorenen Zustand zu befreien. Währenddessen nahm der Doktor einige oberflächliche Untersuchungen vor, ob Khatib bereits tot gewesen war, als man ihn in den Weltraum verfrachtet hatte. Wallace, so bemerkte Garibaldi, versuchte immer wieder, den Blick von der Leiche abzuwenden. Zimperlich, dachte er. Sheridan betrachtete die Vorgänge ohne jedes Anzeichen einer Gemütsregung. Garibaldi nahm an, der Captain hatte
während des Krieges gegen die Minbari genug von dem Effekt plötzlichen Druckverlustes auf menschliches Fleisch zu sehen bekommen. Aber seine Gedanken wanderten zurück zu den Morden, dem Muster - falls es ein Muster gab. Drei Leichen, dachte er. Wenn du ein Mörder bist, was fängst du mit ihnen an? Einen in einen Schrank, einen recyceln und einen in die Luftschleuse? Drei verschiedene Killer? Oder unterschiedliche Umstände? Ortega war von einem Profi ermordet worden. Eine vorsätzliche Tat, aber in Eile begangen, und die Leiche war als abschreckendes Memento für andere hinterlassen worden, die AreTech zu mißachten versuchten, wenn Nagy recht hatte. Yangs Mörder hingegen hatte sich eine Menge Mühe gemacht, die Leiche vor einer Entdeckung zu bewahren. Und nun Khatib. Wieder sah es nach einem eiligen Job aus. Der Killer war sicher kein Profi, wenn Garibaldi eine Ahnung von solchen Dingen hatte. Dem Opfer einfach eins über den Schädel ziehen und das Ergebnis schnellstmöglich loswerden. Ein menschlicher Körper, der an einer Station wie Babylon 5 mit ihrem hohen Verkehrsaufkommen entlangtrieb, konnte nicht lange unentdeckt bleiben. Garibaldi wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Wallace einen Ruf über sein Interkom entgegennahm. Miyoshi, vermutete der Chief. Was auch immer die Neuigkeiten waren, Wallace wirkte
aufgeregt. Er trat von dem Untersuchungstisch zurück bis zur Eingangstür, wo er die Unterhaltung flüsternd fortsetzte. Garibaldi fragte sich, was da vorgehen mochte, aber seine Aufmerksamkeit wurde wieder auf den Tisch gelenkt, als der Mediziner einen Laser nahm und die Kleidung des Opfers wegzuschneiden begann. Garibaldi trat näher heran, griff sich Khatibs Uniform und durchsuchte eilig die Taschen, wobei er die vertrauten Umrisse eines Holo-Betrachters ertastete. Verstohlen blickte er kurz in Wallace' Richtung, aber der Offizier war nach wie vor abgelenkt. Sehr schön. Vorsichtig leerte er den Inhalt der Taschen aus, um ihn in Beweismittelbeutel zu verstauen. Was war auf dem Viewer? Er schaltete ihn ein und erkannte das Gesicht von J.D. Ortega. Das war keine Überraschung. Aber es waren noch mehr Informationen abgespeichert. Er nahm alles unter die Lupe und sah Dateien erscheinen, Personaldateien, deutlich als die der AreTech Consolidated-Minen gekennzeichnet. Aber darunter? Wessen Unterschrift war das? Er vergrößerte die Darstellungsauflösung ... »Geben Sie das her!« Wallace langte nach dem Betrachter. Garibaldi zog das Gerät unwillkürlich zurück. »Lassen Sie das! Das ist Beweismaterial!« »Diese Informationen sind vertraulich!« Wallace brüllte. »Sie haben keine Befugnis, das zu sehen! Geben Sie es heraus!«
»Es handelt sich um Beweismaterial«, beharrte Garibaldi noch immer. »Beweise in einer Mordsache. Was passiert, wenn ich es übergebe? Wird es sich einfach in Luft auflösen? Wird es jemals Verwendung finden vor Gericht?« »Das geht Sie gar nichts an, Garibaldi! Dies ist meine Untersuchung.« Garibaldi wandte sich direkt an den befehlshabenden Offizier. »Captain, dieses Beweismaterial steht in direktem Zusammenhang mit dem Mordfall Yang. Von dem, wie Sie sich erinnern, Commander Wallace und Lieutenant Khatib nichts gewußt haben wollten. Nun, dies hier beweist, daß sie gelogen haben. Es beweist vielleicht noch einiges mehr.« »In Ordnung, ich nehme das ganze Material unter meine Aufsicht«, sagte Sheridan entschieden. »Commander, wenn Sie meine Entscheidung anfechten wollen, bitte. Gehen Sie von mir aus bis zu den obersten Stellen. Aber ich bin es langsam leid, daß hier ständig Leute ermordet werden und niemand wissen will, was dahintersteckt.« »Das werden Sie noch bedauern«, setzte Wallace zu einer neuen Drohung an, aber sein Com-Link unterbrach ihn. »Was?« rief er. Dann, mit leicht zurückgenommener Stimme: »Nicht jetzt, Sumiko!... Was? Können Sie das nicht selbst in die Hand nehmen? Holen Sie sich mehr Sicherheitsleute!«
»Was ist mit mehr Sicherheitsleuten?« verlangte Garibaldi zu wissen, aber dann meldete sich sein eigenes Interkom. »Mr. Garibaldi, können Sie sofort zur Zentrale in ROT kommen? Es gibt Probleme hier, ein Haufen Leute ist hier versammelt! Sieht so aus, als ob es hier einen Aufruhr geben wird!« »Ich bin gleich da!« Garibaldi blickte zu Sheridan, aber der Captain hatte mitgehört. Er hatte eine verbissene Miene aufgesetzt. »Dr. Franklin, können Sie dieses Beweismaterial hier auf der Krankenstation sicher aufbewahren?« fragte er. »Vollkommen sicher«, versprach Franklin. »Dann gehen wir«, wandte er sich an Garibaldi. Der angekündigte Aufruhr schien unmittelbar bevorzustehen, als sie den Ort des Geschehens erreichten, beide in ihren schwarzen Kampfanzügen. Sicherheitskräfte hielten ihre Schockstäbe einsatzbereit vor der Brust. Die Menge bestand nach Garibaldis Ermessen aus etwa hundert Personen; dem Anschein nach überwiegend Stationsarbeiter. Und sie waren sichtlich aufgebracht. Brüllend gingen sie in Wellen gegen die Absperrkette aus Sicherheitskräften vor, wobei sie sich nach jedem Zusammenstoß und anschließendem Rückzug zu einem neuen Angriff zusammenrotteten. Gegenstände wurden geworfen, Teile von Wandverkleidungen, die man aus ihrer Verankerung gerissen hatte, Stühle, Splitter zerborstener Interkom-Schirme.
Garibaldi griff sich den nächstbesten Sicherheitsmann. »Lagebericht! Sind welche von denen bewaffnet?« versuchte er, den Mob zu überstimmen. »Nein, Sir. Wir glauben nicht, daß sie Schußwaffen haben. Aber sie haben Rohre, Kabel, Werkzeuge; sie nehmen die ganze Station auseinander und werfen Sachen nach uns.« In diesem Augenblick kam ein Stück Metall geflogen und verfehlte Sheridan so knapp, daß dieser lauthals fluchte. »Bekommen wir die Sache unter Kontrolle?« fragte Garibaldi. »Nein, Sir, es sieht nicht so aus. Der Befehl lautet, keine Schußwaffen einzusetzen, solange niemand verletzt wird. Aber wenn das so weitergeht...« Der Beamte beendete seinen Bericht und ging auf zwei Aufrührer los, die einen anderen Sicherheitsmann zu Boden reißen wollten. Garibaldi und Sheridan folgten ihm auf dem Fuße, und die Angreifer zogen sich maulend und fluchend zurück. Die zwei Sicherheitsleute gesellten sich schwer atmend zu ihnen. Der zweite hatte eine Prellung, die Haut über seinem Wangenknochen verfärbte sich bereits. Er erkannte Sheridan und Garibaldi. »Es wird unschön hier, Sir.« »Worum geht's hier eigentlich?« wollte Sheridan wissen.
»Ich bin nicht ganz sicher, Sir. Sie verlangen, daß die Gefangenen freigelassen werden, mehr weiß ich nicht.« »Welche Gefangenen?« »Wie ich hörte, gab es so was wie eine Razzia, Verhaftungen. Einige Leute protestierten, dann wurde das hier daraus.« Sheridan schüttelte ungläubig den Kopf. »Es gab keinen Befehl.« Garibaldi unterbrach ihn schroff: »Wallace!« »Bockmist«, fluchte Sheridan. Er betätigte sein Com-Link. »Captain Sheridan hier, geben Sie mir den unmittelbar Commander Wallace untergeordneten Sicherheitsoffizier.« »Verbinde mit Lieutenant Kohler«, meldete teilnahmslos der Computer. »Kohler hier«, kam es fast gleichzeitig aus Sheridans Com-Link. »Lieutenant, was geht hier vor? Wie hat das angefangen?« »Sir, ich hatte Anordnung von Commander Wallace, eine größere Anzahl von Leuten zu verhaften. Verdächtige im Mordfall Lieutenant Khatib. Es gab einen Zusammenstoß. Ein paar Arbeiter an den Docks versuchten, uns daran zu hindern, einen Verdächtigen abzuführen. Das dürfte der Auslöser gewesen sein. Ich nehme an, der Aufruhr hat sich inzwischen in das Zentrum von ROT Verlagen.«
»Lieutenant, Sie nehmen ab jetzt keinerlei Befehle mehr von Commander Wallace entgegen, wenn diese nicht von mir persönlich autorisiert sind. Ist das klar?« »Jawohl, Sir!« Captain Sheridan gab eine weitere Verwünschung von sich. Garibaldi war alarmiert. Er wandte sich an Sheridan, wobei er seine Stimme heben mußte, um gehört zu werden: »Das ist höchstwahrscheinlich noch nicht alles. Ich habe vorhin den Kerl verhört, der mich überfallen ließ. Er hat gestanden. Er hat irgendwie mit >Freier Mars< zu tun. Ich war noch mit ihm beschäftigt, als die Neuigkeit über Khatib durchkam. Möglicherweise hat seine Festnahme auch mit dem hier zu tun. Und die anderen, die zum Verhör abgeholt wurden ...« »Es ist höchste Zeit, der Sache ein Ende zu bereiten«, sagte Sheridan entschlossen. Er bewegte sich jetzt nach und nach auf eine zentralere Position zu, wo ihn die Menge sehen konnte. Garibaldi blieb an seiner Seite, die PPG schußbereit, wobei er sich zwischen den Captain und den wütenden Mob zu schieben versuchte. Es war nicht einfach, den anfliegenden Geschossen aus den Händen der zornentbrannten Demonstranten auszuweichen. Endlich hatten sie sich an einen Platz vorgekämpft, von dem aus sich Sheridan auf einen Laufsteg schwingen konnte, um die Köpfe der wogenden Menge zu überblicken. Unglücklicherweise machte ihn das auch zu einem
exponierten Ziel für jede Hand, die irgendein Wurfgeschoß hielt, oder gar für eine Waffe. Garibaldi zog den Captain rasch zurück. »Lassen Sie mich zuerst ihre Aufmerksamkeit gewinnen.« Er guckte sich einen nahen Verteilerkasten aus, zielte mit seiner PPG; die von dem Plasmafeuer aufstiebenden Funken erregten auf der Stelle die Aufmerksamkeit der Meute. Sheridan ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen. Er kletterte den Laufsteg hinauf und rief: »Ich bin Captain John Sheridan, Kommandant von Babylon 5! Was ist der Grund für diese Zusammenrottung? Wenn ihr eine Klage vorzubringen habt, dann kommt damit zu mir! Also, was geht hier vor?« Einige Dutzend Menschen schrien durcheinander. Sheridan schüttelte den Kopf und winkte um Ruhe. Die Stimmen verebbten, und eine Handvoll Männer trat vor. »Wir wollen, daß die Verhaftungen aufhören! Daß man die Gefangenen freiläßt!« Jemand von weiter hinten in der Menge fügte hinzu: »Sonst nehmen wir die Station auseinander!« Zustimmendes Gejohle folgte darauf, Garibaldis Griff um seine Waffe wurde fester. »Welche Gefangenen? Was für Verhaftungen?« verlangte Sheridan zu wissen. »Sie wollen, daß wir Mörder laufen lassen? Verräter?« »Keine Mörder! Unschuldige Frauen und Männer!« Die Zustimmung zu dieser Feststellung wurde noch lauter kundgetan. »Patrioten, keine Verräter!«
Garibaldi hob die Hand, um Sheridans Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. »Nagy«, erklärte er. »Der Kerl von >Freier Mars<, den ich verhaftet habe. So nannte er sich auch, einen Patrioten.« »Das bringt uns nicht weiter.« Sheridan beobachtete beunruhigt die aufgebrachte Menge. Abermals erhob er seine Stimme und rief: »Ich werde mich mit Ihren Repräsentanten treffen. Bringen Sie mir eine Liste mit Namen. Falls tatsächlich Unschuldige verhaftet wurden, werde ich persönlich dafür Sorge tragen, daß man sie gehen läßt.« Auf dieses Angebot folgte eine lange Weile des Schweigens, als sich die Sprecher in vorderster Linie zum Rest der Versammelten umdrehten, um sich mit ihnen zu beraten. Menschen drängten nach vorne, um gehört zu werden, und riefen Namen. Einige verlangten zornig nach mehr Konzessionen. Ein Mann schrie: »Der reinste Polizeistaat!« Dieses Urteil wurde von zustimmenden Ausrufen begleitet. Garibaldis Spannung stieg, und die Sicherheitskräfte hoben ihre Waffen, doch ein neuerlicher Ausbruch von Gewalt blieb aus. Sheridan nahm Verbindung mit Lieutenant Kohler auf. »Lieutenant, treffen Sie mich in Konferenzraum drei mit der Liste der Verhafteten. Und bringen Sie Commander Wallace mit.« Vier Demonstranten traten vor, drei Männer und eine Frau, und einer der Männer sagte: »Na gut,
Sheridan, wir haben die Namen. Gehen wir. Lassen Sie uns sehen, was Sie in dieser Sache unternehmen werden.« Sicherheitsleute bildeten eine Gasse zu dem Konferenzraum. Hinter ihnen stieß die Menge nach, für den Augenblick besänftigt und gespannt auf die Ergebnisse des Treffens. Garibaldi fragte sich, wie lange ihre Geduld wohl anhalten würde, und er hoffte, daß die Angelegenheit schnell aus der Welt zu schaffen war. Den ersten Sprecher erkannte Garibaldi als Hank Ndeme, Inhaber des größten Lebensmittelbetriebes auf Babylon 5, geborener Marsianer. Er kam zur Sache, ehe Captain Sheridan noch ein Wort sagen konnte, und winkte mit einem Notizgerät vor den Gesichtern der Offiziere. »Hier sind die Namen! Ich habe sie alle hier! Jetzt wollen wir sie frei sehen!« »Falls sie unschuldig sind«, erinnerte ihn Sheridan an die Abmachung. »Für den Fall, daß Sie es noch nicht wissen, es hat in den letzten zehn Tagen drei Morde auf Babylon 5 gegeben sowie einen Übergriff auf den Sicherheitschef der Station. Wenn Sie glauben, daß ich das billigen werde, muß ich Sie eines Besseren belehren.« »Ist das eine Entschuldigung dafür, diese ganze Station in einen Polizeistaat zu verwandeln?« verlangte Miss Conolly zu wissen. Sie war die Vertreterin der Gewerkschaft der Dockarbeiter. »Ist das ein Grund, Frauen und Männer aus ihren Quartieren, von ihrer Arbeit zu zerren?«
»Das wird zur Zeit überprüft«, erwiderte Sheridan. »Es hat möglicherweise Kompetenzübterschreitungen gegeben. Wenn dem so war, werden sie berichtigt.« Aber Ndeme schüttelte den Kopf. »Das muß aufhören«, insistierte er. »Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind vom Mars wird auf dieser Station wie ein Krimineller behandelt, ein Terrorist. Gilt es neuerdings schon als Delikt, auf dem Mars geboren zu sein? Du kommst vom Mars, du hast keine Rechte? Ist das der Stand der Dinge?« »Nicht nur vom Mars«, protestierte Conolly. »Sie haben drei Leute aus meiner Sektion geholt, keiner von ihnen hat den Mars jemals auch nur betreten.« Garibaldi unterbrach sie: »Geben Sie uns die Namen!« Ndeme aktivierte das Notizgerät. Die ersten Namen identifizierte niemand, der dritte lautete Val Williams. Garibaldi hob die Stimme: »Val Williams ist ein Pseudonym für Josef Nagy. Nagy hat die Komplizenschaft bei einem Angriff auf einen Stationsoffizier gestanden.« Ndeme zeigte sich darüber für einen Moment irritiert. »Und was ist mit Allen Rodgers? Irene Hardesty? Nick Patinos?« »Keiner von ihnen wird derzeit eines Verbrechens angeklagt. Sie werden lediglich zur Befragung bezüglich des Übergriffs auf Mr. Garibaldi festgehalten«, sagte Sheridan.
»Zur Befragung festgehalten, verhaftet - wo ist der Unterschied?« wollte Ndeme wissen. »Wir wissen nur, der Sicherheitsdienst kommt und verschleppt sie ins Gefängnis. Man fragt nach dem Grund, aber niemand antwortet, alles ist geheim. Und dann wird man bedrängt: In was für einer Verbindung stehen Sie zu dem Verdächtigen?« Sheridan und Garibaldi blickten einander an und dachten dasselbe: Wallace. Sheridan sah gereizt nach seinem Com-Link, doch in diesem Moment öffnete sich bereits die Tür des Besprechungsraumes, und Lieutenant Kohler trat ein, ein wenig aufgeregt und verwirrt dreinblickend. Bei ihm war eine feindselige und trotzige Lieutenant Miyoshi. »Tut mir leid, Sir, ich konnte den Commander nirgendwo erreichen.« Sheridans Züge erstarrten. »Kommandozentrale, hier ist Captain Sheridan. Ich möchte, daß Commander Wallace sich sofort bei mir meldet. Das ist ein Befehl!« Er wandte sich an Miyoshi: »Wo ist Ihr Vorgesetzter, Lieutenant?« Aufsässig kam die Antwort: »Der Commander wünscht, nicht gestört zu werden!« »Lieutenant Miyoshi, kontaktieren Sie unverzüglich Commander Wallace!« »Sie haben nicht das Recht...« »Ich werde Sie wegen Insubordination und Verweigerung eines direkten Befehls verhaften lassen.«
Miyoshi starrte ihn giftig an und sprach dann in ihr Com-Link: »Commander, hier ist Miyoshi. Captain Sheridan hat mir befohlen, Sie zu rufen. Sind Sie da, Commander?« Sie sah von ihrem Armband auf, mit einem bitteren Ausdruck des Triumphs. »Er reagiert nicht.« »Sie sollten beten, das liegt nicht daran, daß ihn jemand aus einer Luftschleuse geworfen hat«, mischte sich Garibaldi unfreundlich ein. Aber Sheridan hatte entschieden, Wallace für den Augenblick zu vergessen. Er wandte sich statt dessen an Kohler: »Haben Sie die Namensliste?« »Jawohl, Sir.« Er nahm einen Datenkristall und übergab ihn Sheridan, Miyoshis schrillen Protest ignorierend: »Das können Sie nicht tun! Diese Namen, diese Informationen sind vertraulich!« »Zum Teufel damit«, sagte Sheridan entschieden und schob den Kristall in ein Lesegerät. Namen erschienen auf dem Monitor, Ndeme und die anderen Sprecher der Demonstranten versammelten sich davor: »Ja! Das ist es! Das sind sie!« Es waren fünfzig Namen und mehr. »All diese Leute wurden im Zusammenhang mit dem Mord an Lieutenant Khatib verhaftet?« fragte Sheridan Kohl er. »Äh, nein, Sir. Das ist nur die Liste von Verdächtigen. Wir haben noch nicht alle von ihnen abgeholt. Es gab Unruhen ...« Aber Sheridan hatte bereits die zweite Liste gefunden, die mit den Namen derer, die bereits
arretiert worden waren. »Es wird keine weiteren Verhaftungen geben«, beschied er Kohler und Miyoshi. »Nicht ohne meine ausdrückliche Anordnung. Niemand wird mehr ohne meine Erlaubnis festgenommen.« »Ich habe verstanden, Sir«, bestätigte Kohler. Miyoshi sagte nichts. Sheridan widmete sich wieder der ersten Liste und zischte: »Das reicht.« Garibaldi fügte hinzu: »Wenn man alle auf dieser Station in Haft nehmen wollte, die Khatib in eine Luftschleuse gestoßen haben könnten, würde der Platz auf dem gesamten Hauptdock nicht ausreichen.« »Also gut«, sagte Sheridan. »Lieutenant Kohler, ich ordne an, daß jede Person auf dieser Liste unverzüglich freigelassen wird. Überwachen Sie ihren Verbleib, aber lassen Sie sie gehen.« Zu Miyoshi, in Erwartung ihres Protests: »Wenn Commander Wallace ihnen irgendeine Verbindung zu dem Mord an Khatib oder einer anderen Straftat nachweisen kann, werden wir sie uns wieder holen.« »Ich denke, mit Nagy in Haft können wir die anderen hier auch freilassen«, gab Garibaldi zu bedenken; er meinte damit Nick Patinos, Irene Hardesty und die übrigen, die festgehalten wurden, um sie wegen des Übergriffs auf ihn zu verhören. Die Vertreter der Zivilisten verglichen, immer noch mißtrauisch, die Namen auf dem Bildschirm mit ihrer eigenen Aufstellung. »Da sind noch mehr«,
drängte Ndeme. »Manche Namen stehen nicht auf der Liste.« Er nannte Namen, und Conolly zählte einige mehr auf. Sheridan holte Luft. »Ich muß etwas erklären. Commander Wallace und seine Helfer von der Earth Central haben eine unabhängige Ermittlung über einen terroristischen Akt durchgeführt, der hier auf Babylon 5 stattgefunden hat. Die Details sind vertraulich, aber ich kann sagen, daß sie mindestens einen Mord einschließen. Sie müssen verstehen, der Commander untersteht Earth Central. Wenn Wallace Verhaftungen angeordnet hat, entzieht sich das meiner Kenntnis. Aber ich kann Ihnen versprechen, daß ich alles tun werde, was in meiner Macht steht, um aufzuklären, was mit diesen Leuten geschehen ist. Aber ich muß Sie warnen, ich werde keinen Mörder davonkommen lassen. Das Verbrechen wird untersucht, und die Schuldigen werden gefunden und nach dem Gesetz bestraft. Ich hoffe, das ist klar.« Die Zivilisten berieten sich. Schließlich sagte Ndeme: »Ich denke, das genügt uns.« »Wenn der Rest dieser Leute freigelassen wird«, mahnte Conolly. »Wir werden jeden gehen lassen, solange wir keinen konkreten Grund haben, ihn festzuhalten«, versprach Sheridan. »Und es wird keine Wiederholung des heutigen Vorfalls geben. Alle Verhaftungen in Zusammenhang mit diesen Ermittlungen werden ab sofort ausschließlich von
mir autorisiert.« Er fixierte Miyoshi mit einem strengen Blick. »Haben Sie mich verstanden, Lieutenant?« »Ich werde Commander Wallace unterrichten«, entgegnete sie steif. »Mr. Garibaldi, nehmen Sie diese Namen auf!« ordnete Sheridan an. Innerhalb von nur wenigen Minuten war alles erledigt und gegengeprüft. Jedermann außer Miyoshi versicherte, für den Moment zufrieden zu sein. Als die Vertreter der Demonstranten den Besprechungsraum verlassen hatten, hielt Garibaldi Captain Sheridan zurück: »Sir, Sie gehen da ein ziemliches Risiko ein. Wallace wird dafür Ihren Kopf fordern.« »Ich tat, was ich in einer derartigen Notlage tun mußte«, betonte Sheridan. »Einen Aufruhr zerstreuen. Seine verdammte Hexenjagd stört den normalen Stationsbetrieb. Es muß für alles eine Grenze geben.« »Nun, ich habe Informationen, die helfen könnten.« Er erklärte: »Einiges davon habe ich gerade erst herausgefunden. Sie erinnern sich, nachdem wir Yangs ... Überreste gefunden hatten, behauptete Wallace, nichts von der Sache zu wissen? Und daß ich ihn der Lüge bezichtigte? Nun, es sieht so aus, als ob Yang Agent einer MarsGesellschaft und hinter J.D. Ortega her war. Alles deutet darauf hin, daß Yang ihn getötet hat.« Garibaldi faßte sich ein Herz. »Als ich vorhin
Khatibs Uniform filzte, stieß ich auf eine Holo-Karte mit der Personalakte Ortegas von der Firma, die ihrer beider Brotgeber war. Und derjenige, der die Übertragung der Datei mit seiner Unterschrift autorisierte, war Fengshi Yang.« Eine Pause. »Es gibt nur einen Weg, wie Khatib in den Besitz dieser Karte gelangen konnte.« »Also hat Yang Ortega getötet, und dann hat Khatib ...« »... Yang ermordet. Ich hätte ohnehin auf ihn gewettet. Und Wallace wußte zumindest davon. Deshalb hat er gelogen, damit wir ihn nicht mit dem Mord in Verbindung bringen.« »Also Mord, Mittäterschaft und Verschleierung einer Straftat«, sagte Sheridan. »Aber ist das ein Beweis?« »Wir haben bessere Beweise, wenn wir Yangs Fingerabdrücke oder andere Spuren auf der HoloKarte finden ...« Er hielt plötzlich inne, als ihm ein Gedanke kam, nur einen Augenblick später als Sheridan: das Wallace belastende Beweismaterial im Med-Lab. Wo sie Wallace zurückgelassen hatten. Und nun war er nirgendwo aufzutreiben. Garibaldi hatte zuerst sein Com-Link aktiviert. »Dr. Franklin! Hier Garibaldi! Ein Notfall!« »Franklin hier, was gibt es, Mr. Garibaldi?« »Das Beweismaterial! Ist es noch unter Verschluß? Hören Sie, was auch immer passiert, lassen Sie Commander Wallace ...«
»Sie kommen zu spät, Garibaldi, er war bereits hier.« Nur der amüsierte Tonfall in Franklins Stimme hielt Garibaldi davon ab, laut zu fluchen. »Die Beweise? Sind sie in Sicherheit?« »Kommen Sie, und sehen Sie selbst.« »Ich dachte, es müßte wichtig sein, was immer es war, worüber Sie und Wallace sich stritten«, erklärte Franklin. »Also steckte ich es an den sichersten Ort hier, das Labor für biologische Gefahrenquellen. Nicht lange, nachdem Sie weg waren, zog Wallace eine Waffe und verlangte die Herausgabe des Materials. Er behauptete, er sei der einzige, der die Befugnis dafür hätte. Nun, ich argumentiere nicht mit einem Strahler vor meinem Gesicht, also öffnete ich das Labor und ließ ihn hinein.« Franklin grinste. Weder Sheridan noch Garibaldi verstanden den Grund für seine Heiterkeit. »Vielleicht erinnern Sie sich, ich habe vor kurzem erst die Sicherheitsvorkehrungen für das Bio-Labor verstärken lassen.« »Ja«, bestätigte Garibaldi, »ich erinnere mich, Sie erwähnten irgendwelche zusätzlichen Absicherungen.« Franklin nickte. »Nun, es gibt jetzt zwei versiegelte Luftschleusen, jede führt zur nächstfolgenden Sektion. Solange man die Versiegelungen nicht außer Kraft setzt, öffnen sich die Schleusentore nicht, bis die Person darin eine vorgeschriebene Entseuchungsprozedur über sich
ergehen läßt und einen Schutzanzug anlegt. Und wenn jemand diesen Vorgang nicht abwartet und die Tür mit Gewalt...« Nun mußte Garibaldi grinsen. »Und Sie haben den Schalter für die Außerkraftsetzung nicht betätigt, als Sie ihn dort hineinschickten, nicht wahr?« Franklin sah mit sich selbst zufrieden aus. »Ich mag es nicht, wenn sich jemand gewaltsam Zutritt zur Krankenstation verschaffen will und mir einen Strahler unter die Nase hält. Nein.« Die Schleuse unter der Warnlampe war transparent, und Sheridan blickte hinein, dann Garibaldi. Commander Wallace lag bewußtlos auf dem Boden. Das innere Schloß der Luftschleuse zeigte Spuren einer sinnlosen Attacke mit einer PPG. »Da haben Sie aber ein ziemlich sicheres Schloß, Doc«, bemerkte Garibaldi. »Biologische Gefahrenherde sind eine ernstzunehmende potentielle Gefahr für jede Raumstation«, entgegnete Franklin nüchtern. »Das Betäubungsgas wird automatisch freigesetzt, wenn jemand die Versiegelung gewaltsam aufzubrechen versucht. Und das ist nur die äußere Kammer. Wenn jemand die innere Kammer ohne Entseuchung verlassen will, wird ein tödliches Gas abgesondert.« Garibaldi blickte ihn respektvoll an. »Und die Behälter mit dem Beweismaterial sind da drin?«
Dr. Franklin nickte, trat an eine Konsole und gab einen Befehl ein. »Selbstverständlich besteht bei deaktiviertem System keine Gefahr. Möchten Sie das Material herausholen?« Garibaldi zögerte. »Sie würden nicht vielleicht vorgehen? Nur für den Fall?«
26 »Commander Ivanova, wir haben Freigabe zum Andocken an Babylon 5. Geschätzte Ankunft in zwanzig Minuten.« »Danke, Mr. Bogdonovich. Können Sie für mich eine direkte Verbindung zur Station herstellen?« »Bitte sehr, Commander.« Ivanova befand sich auf der Brücke der Duster, während ihr Gefangener auf der kleinen Krankenstation des Schiffes unter Bewachung stand. Als der Kanal offen war, sagte sie: »Hier ist Commander Ivanova, verbinden Sie mich bitte mit Mr. Garibaldi!« Aber die Kommandozentrale erwiderte: »Es tut mir leid, Commander, aber Mr. Garibaldi ist im Moment nicht verfügbar. Es gibt einen Störfall auf der Station.« Ivanova ließ einen russischen Fluch hören. »Was war das bitte, Commander?« »Vergessen Sie's. Geben Sie mir irgend jemand anderen von der Sicherheit! Fähnrich Torres vielleicht?«
»Tut mir leid, Commander, aber derzeit ist eigentlich niemand aus der Sicherheitszentrale erreichbar.« »Wie ernst ist dieser Störfall?« »Ziemlich ernst, Commander, soviel ich weiß. Wenn Sie keinen Notfall haben...« »Kein Notfall, nein«, räumte Ivanova ein. »Aber es ist wichtig. Ich nehme an, der Captain ist ebenfalls nicht verfügbar?« »Leider, Commander.« »Nun, bitte richten Sie Mr. Garibaldi aus, er soll mich auf der Duster kontaktieren, sobald er kann.« »Probleme, Commander?« fragte der Copilot des Frachters. »Anscheinend ein paar auf der Station. Ich weiß keine Details. Irgendein Störfall.« »Ich hoffe, unsere Landung wird dadurch nicht behindert.« »Das bezweifle ich. Man hätte Ihnen keine Freigabe erteilt, wenn es Probleme auf dem Landedock geben würde.« Sie überlegte einen Moment. »Könnte ich mir Ihre Wache ausleihen? Massie war der Name, nicht wahr? Ich benötige ein größeres Maß an Sicherheit, wenn ich den Gefangenen auf die Station bringe, besonders angesichts der Probleme dort.« »Duke Massie, natürlich. Gehen Sie nur, und leihen Sie ihn sich aus, Commander. Wenn Sie und Ihre Kampfstaffel nicht gewesen wäre, würden wir
wohl weder jetzt noch irgendwann hier andocken können.« Emsige Geschäftigkeit setzte auf der Brücke ein, als die Mannschaft das Andocken vorbereitete. Kein einfaches Manöver mit einem Schiff von den Ausmaßen der Duster, und eine Zeitlang beobachtete Ivanova Bogdonovichs Arbeit mit professionellem Interesse. Aber auf halber Strecke des Landevorgangs ging sie, um den Gefangenen zu übernehmen. Der Raider sah unter der Aufsicht von Massie nicht mehr sonderlich furchteinflößend oder gefährlich aus. Massies schiere Größe schien ihn zumindest teilweise für seinen Beruf qualifiziert zu haben. Zaccione konnte sich trotzdem nicht beherrschen, als sie den Raum betrat: »Hey, Commander, Sie sind wieder da. Haben Sie mich vermißt?« »Halt's Maul, Mistkerl!« raunzte der Wachmann. Commander Ivanova ignorierte beides und wandte sich an Duke Massie: »Ich würde Sie bitten, mich bei der Überstellung des Gefangenen in seine Zelle auf der Station zu begleiten, sobald wir angedockt haben. Es gibt einen Störfall auf der Station, und es sind keine Sicherheitskräfte verfügbar.« »Sicher, Commander, ich helfe gerne. Er wird Ihnen keine Schwierigkeiten machen, wenn ich dabei bin.«
»Danke«, sagte sie unbehaglich und etwas förmlich, während der Pirat grinste. Ivanova bemerkte ungerührt, daß seine angeschwollene und gebrochene Nase seinen angestrengt spitzbübischen Charme zunichte machte. Sie zählte die Minuten, bis der Frachter festgemacht hatten und sie beide wieder loswerden konnte. Als die ersehnte Durchsage über Interkom zu hören war, erhob sie sich sofort. »Andockvorgang abgeschlossen. Die Passagiere können das Schiff jetzt verlassen.« »Das gilt uns«, sagte sie lebhaft. »Gehen wir.« »Gehen wir«, wiederholte Massie und bedeutete dem Piraten mit seiner Waffe, sich zu erheben. Zack Zaccione kam sichtlich steifer auf die Beine. »Ganz wie Sie meinen.« Die Duster hatte tatsächlich neben ihrer Fracht auch eine Handvoll Passagiere befördert. Ivanova begegnete ihnen auf dem Weg zur Einstiegsschleuse. Als die Zivilisten die kleine Gruppe aus einem bewaffneten Earthforce-Offizier, einem schwerbewaffneten Sicherheitsbeamten und einem Gefangenen zwischen ihnen bemerkten, traten sie schnell beiseite, um ihnen ausreichend Bewegungsfreiheit zu gewähren. Die Zollbeamtin von Babylon 5 hob ebenfalls verdutzt ihre Augenbrauen. »Willkommen daheim, Commander.« Neugierig musterte sie den Gefangenen und den Wachmann.
»Nichts zu verzollen, Fitch«, sagte Ivanova aufgeräumt. »Nur ein wertloses Stück Weltraumschrott. Wie stehen die Ding auf der Station?« »Beruhigen sich wieder. Es muß aber noch aufgeräumt werden.« »Danke.« Ivanova runzelte die Stirn und fragte sich, warum sich Garibaldi noch nicht gemeldet hatte, wenn die Krise vorüber war. Hatte er ihre Nachricht nicht erhalten? Als sie den Liftschacht erreichten, hob sie ihr Com-Link in Sprechweite, ohne die Augen von dem Gefangenen zu lassen. »Garibaldi, hier ist Ivanova. Ist die Situation unter Kontrolle?« »Ivanova! Sie sind zurück!« »Können Sie mich in der zentralen Haftsektion treffen? Ich denke, es wird Sie interessieren, was ich mitgebracht habe.« »Ich bin gerade dort. Ich glaube, auch Sie werden sehen wollen, was ich hier habe.« Sie runzelte wieder verwundert die Stirn, als sie den amüsierten Ton in Garibaldis Stimme bemerkte, und sie fragte sich, welche Überraschung wohl diesmal auf sie wartete. Als sie die Transportröhre bei Sektor ROT verließ, nahm sie mit Schrecken das Durcheinander wahr, in das die Unruhen den Ort verwandelt hatten. Wandverkleidungen waren verbeult, einige ganz herausgerissen, Lampen zerschlagen, Einrichtungsgegenstände zerbrochen, und Trümmer
bedeckten den Boden. Ein Wartungstechniker reparierte auf einem Gerüst stehend einen Verteilerkasten, der aussah, als hätte er eine Salve aus einer PPG abbekommen, was, wie Ivanova Garibaldi einschätzte, wohl auch der Fall war. Der Pirat gab einen leisen Pfiff von sich. »Sie müssen hier ja wilde Parties feiern, Commander.« Ivanova biß die Zähne zusammen. Ohne Kommentar ging sie voraus zur zentralen Gefängnissektion, wo Garibaldi und Sheridan sie bereits erwarteten. »Captain«, sagte sie überrascht. Dann präsentierte sie ihnen Zaccione: »Garibaldi, könnten Sie bitte dafür sorgen, daß man mir das hier abnimmt? Mr. Massie, ich danke Ihnen für Ihre Unterstützung.« Ein Sicherheitsbeamter führte den Freibeuter ab, aber Zaccione drehte sich noch einmal um: »Hat Spaß gemacht, Commander!« Garibaldi rollte mit den Augen. »Wer ist das denn?« Ivanova atmete erleichtert auf. »Einer der Raiders, die uns da draußen angegriffen haben. Ich konnte ihn verfolgen und zur Aufgabe überreden.« Dann wandte sie sich wieder Captain Sheridan zu und nahm Haltung an: »Entschuldigen Sie, Sir. Mission erfolgreich durchgeführt. Transporter Duster sicher zur Station eskortiert. Neun Piratenschiffe abgeschossen, einen Gefangenen gemacht. Aber wir haben Lieutenant Gordon Mokena verloren.«
Etwas in Captain Sheridans Gesicht schien einen Moment zu zittern, bevor sich seine Züge wieder entspannten. Er hatte diese Worte schon zu oft hören müssen; zu viele Frauen und Männer unter seinem Kommando waren in den Tod gegangen. »Weitere Verluste?« erkundigte er sich schließlich. »Nein, Sir, leichte Beschädigungen an Alpha vier. Moy brachte mein Schiff zurück, während ich mit dem Gefangenen auf dem Frachter hergeflogen bin.« Der Gedanke an den gefallenen Piloten schwebte wie eine Geistererscheinung zwischen ihnen und reduzierte das Gespräch auf Standardfloskeln. Da fragte Garibaldi: »Und Ihr Gefangener? Entschuldigen Sie, ich habe Ihre Nachricht erhalten, aber ich hatte keine Gelegenheit mehr, Sie vor Ihrer Ankunft zu kontaktieren. Wir hatten ein paar Probleme auf der Station.« »Ich hab's gesehen«, kommentierte sie trocken. Doch so gleich empfand sie wieder ein wenig von der Erregung, die sie gepackt hatte, als sie herausbrachte, was Zaccione wußte. »Der Gefangene, richtig. Ich brachte ihn zum Sprechen. Er weiß alles über das Morbidium-Geschäft. Eine Gesellschaft namens Are-Tech steckt dahinter.« »Die AreTech Consolidated-Minen?« fragte Garibaldi interessiert. »Sie verraten die Informationen an die Raiders. Eine Verschwörung, um Morbidium auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Ich bin sicher, daß auch
Beamte der Allianz darin verwickelt sind, um die ganze schmutzige Angelegenheit zu vertuschen.« »Und dieser Kerl weiß davon?« »Er weiß eine Menge. Mehr, als er bisher gestanden hat, da wette ich drauf.« »Darum geht es hier also«, sagte Sheridan kopfschüttelnd. »Und das muß es sein, was Ortega gewußt hatte, der Grund, ihn töten zu lassen«, fügte Garibaldi hinzu. Ivanova sah ihn an. »Ortega? Sie haben eine Verbindung gefunden?« »Oh, ich vergaß, das wissen Sie noch nicht. J.D. Ortega arbeitete für die AreTech-Minengesellschaft. Der Bursche, der ihn ermordet hat, Yang, war ein Sonderbeauftragter des Konzerns.« »Das hat Zaccione auch gesagt. Leute, die zu viele Fragen über den Betrieb stellten, galten schnell als vermißt.« »Ja, das klingt ganz nach Yang«, stimmte Garibaldi zu. »Das ist es also! Das war die Information, hinter der sie her waren.« Ivanovas Erregung wurde hoffnungsfroh. Sie hatten die Lösung. Endlich. »Und dann kam Wallace' Bande nach Babylon 5, um auszuspähen, was Ortega wußte, wem er die Informationen gegeben hatte. Sie fanden das mit Yang heraus und nahmen sich seiner an...« »Commander Wallace hat Yang getötet?«
»Nun, wahrscheinlich eher Khatib, wenn Sie mich fragen. Auf jeden Fall haben wir Hinweise gefunden, die Khatib eindeutig mit Yangs Tod in Verbindung bringen.« »Hat er gestanden?« fragte Ivanova zweifelnd. »Das kann er nicht mehr. Er ist tot«, entgegnete Garibaldi. »Khatib ist tot?« Ivanova war wie vor den Kopf geschlagen. »Einen Moment mal. Was ist hier eigentlich passiert, während ich weg war?« Garibaldi grinste. »Alles hat angefangen, als ich eine Spur zu dem Kerl verfolgte, der mich flachlegen ließ. Ich habe ihn verhaftet - er hat übrigens auch eine interessante Geschichte zu erzählen -, und ich habe versucht, den Deckel draufzuhalten, aber anscheinend hat es sich trotzdem rumgesprochen. Einige von Nagys Kollegen von >Freier Mars< gerieten in Panik. Sie müssen angenommen haben, jemand habe ausgepackt und man würde sie jeden Augenblick verhaften. Also töteten sie Khatib - ich schätze, sie mochten ihn ungefähr so sehr wie ich - und beförderten seine Leiche aus einer Luftschleuse. Wir konnten ihn bergen und brachten ihn auf die Krankenstation, wo wir dann das Beweismaterial fanden, das ihn mit Yangs Ermordung in Verbindung brachte.« »Ist das alles?« fragte Ivanova mit großen Augen. »Nicht ganz. Als dann Wallace herausfand, daß Khatib tot war, geriet wiederum er in Panik. Er befahl eine umfassende Razzia; auf der ganzen
Station wurden Leute verhaftet, Leute vom Mars, Leute, die mit Josef Nagy zusammengearbeitet hatten, Leute, die in irgendeiner Verbindung zum Bergbau standen. Und das war schließlich zuviel. Alle hatten endgültig genug von Festnahmen und Verhören. Einige versuchten, es zu stoppen, es kam zum Konflikt, und daraus wurde schließlich ein Aufruhr. Während wir alle mit dem Löschen der Flammen beschäftigt waren, schlich Wallace zurück auf die Krankenstation, um das Beweismaterial in Sachen Khatib und Yang zu stehlen.« »Und hat er?« fragte sie, bereit, alles zu glauben. Garibaldis Grinsen wurde breiter. »Fast. Aber er lieferte uns die Handhabe, ihn der Komplizenschaft im Mordfall Fengshi Yang anzuklagen. So sehen die Tatsachen aus.« Ivanova verstand. »Sie meinen...« »Ganz richtig. Wallace und sein Sprachrohr Miyoshi sitzen in den Zellen gleich neben Ihrem Piraten.«
27 Der Raider hatte seine Bereitschaft zur Kooperation eingestellt. Aber wenigstens hatte er auch seine Scherze eingestellt. »Er besteht darauf, einen Schiedsmann zu sehen«, teilte Captain Sheridan Ivanova mit. »Er will kein Wort mehr sagen, solange man ihm das verwehrt. Behauptet, er hätte das Recht.« »Der hat Nerven, von Rechten zu sprechen ...«, erregte sie sich. »Nun, er tut es aber«, stellte Sheridan fest. »Und wie die Dinge stehen, muß er überhaupt nichts sagen. Wenn wir seine Aussage wollen, müssen wir mitspielen.« »Werfen Sie ihn aus einer Luftschleuse, mal sehen, wie lange er dann braucht, um zu reden«, entgegnete Ivanova hartnäckig. »Ich habe alles aktenkundig, was er mir auf dem Frachter erzählt hat.« »Das ist was anderes«, intervenierte Sheridan mit Bestimmtheit. »Man könnte behaupten - und wenn er vor Gericht kommt, wird er das behaupten -, daß
alles, was er Ihnen erzählt hat, erzwungen war. Daß Sie ihn bedroht hätten. Nun, ich verstehe die Umstände: Mokena abgeschossen, in der Hitze des Gefechtes ... daß Sie keinen kühlen Kopf bewahren konnten. Aber wenn wir seine Aussage nutzen wollen, müssen wir es nach Vorschrift machen.« »Also kann er bei einem Schiedsmann vorsprechen, um ein Geschäft auszuhandeln.« »Wir brauchen, was er zu sagen hat«, warf Chief Garibaldi ein und blickte von den Aufzeichnungen über ihren Gefangenen auf, die er gerade studierte. »Wir sitzen hier ziemlich auf Sperrholz, falls Earth Central zu sägen anfängt. J.D. Ortega hat nach wie vor den Status eines gesuchten Terroristen, und Sie stehen immer noch in dem Verdacht, seine Verbindung hier zu sein. Wir müssen beweisen, daß diese Anschuldigungen ungerechtfertigt sind, daß irdische Beamte auf dem Mars korrupt sind, daß Wallace das Ganze verschleiern und keinesfalls eine legitime Ermittlung durchführen wollte.« »Andernfalls werden wir lange und hart fallen«, nickte Ivanova schwer. Sie blickte nun weniger zuversichtlich in die Zukunft. Ein Ruf unterbrach ihre Erörterungen. »Captain Sheridan, ich habe hier eine Goldkanal-Übertragung für Sie, von der Erde. Admiral Wilson.« Oh-oh, sagte Garibaldis Miene, und Ivanova nickte ihm zu, worauf sie beide sich erhoben und den Besprechungsraum verließen, um Sheridan den Ruf ungestört entgegennehmen zu lassen.
Sheridan wandte sich dem Kommunikationsschirm zu; einsam, wie ein Mann, der seine Hinrichtung erwartete. Er straffte seine Schultern und sagte: »Stellen Sie den Admiral durch.« Wilsons Gesicht war vor Erregung verfärbt. »Diesmal sind Sie zu weit gegangen, Sheridan. Sie hatten klare Befehle. Ausdrückliche Befehle. Sie wurden gewarnt, sich unter keinen Umständen in die Ermittlungen von Commander Wallace einzumischen. Ich dachte, ich hätte mich verständlich gemacht. Diesmal haben Sie die Grenzen Ihrer Befugnis eindeutig überschritten, Sheridan.« »Bei allem Respekt, Sir, das glaube ich nicht. Ich denke sehr wohl, daß mein Vorgehen gerechtfertigt war, Sir.« »Den ermittelnden Offizier zu verhaften? Wegen Mordes? Wegen Verschwörung?« »Sir, wenn meine Befugnis als Kommandeur dieser Station nicht einschließt, daß ich einen Mordverdächtigen bei angemessener Beweislast festnehmen darf, dann reiche ich hiermit meinen Rücktritt ein.« »Jetzt warten Sie mal, Sheridan. Wovon sprechen Sie überhaupt?« »Sir, wir haben Beweise, daß Commander Wallace' Begleiter Lieutenant Khatib einen Mann namens Fengshi Yang ermordet hat. Wir können weiter belegen, daß der Commander von diesem
Mord wußte und seine Kompetenzen dazu mißbrauchte, ihn zu vertuschen, und daß er schließlich versuchte, diese Beweise zu vernichten, nachdem er eine tödliche Waffe auf meinen Chefarzt gerichtet hatte.« Wilson blickte zweifelnd. »Das sind ernste Anschuldigungen. Sie sagen, Sie können das beweisen?« »Davon gehe ich aus, Sir. Wir haben Beweise hinsichtlich des Mordes, wir wissen, wer ihn begangen hat. Und darüber hinaus können wir voraussichtlich beweisen, daß der Commander in eine weiterreichende Verschwörung verwickelt ist, die mehr als einhundert Besatzungsmitgliedern verschiedener Frachtschiffe während der vergangenen sechzehn Monate das Leben gekostet hat.« Nun grunzte Wilson ungläubig. »Wallace? Teil einer Verschwörung?« »Sir, wir haben handfeste Beweise, daß die AreTech-Minengesellschaft systematischen Betrug begangen hat, indem sie ihre eigenen Frachten an die Raiders verkaufte, um von dem erhöhten Preis des Metalles auf dem Schwarzmarkt zu profitieren. Wir glauben, daß Beamte der Allianz Teil dieses Komplotts sind. Weiterhin haben wir Grund zu der Annahme, daß der eigentliche Anlaß von Commander Wallace' Ermittlungen nicht die Verfolgung von Terroristen war, sondern vielmehr eine Bedrohung dieses Komplotts zu eliminieren.«
Wilsons Gesicht verlor langsam seine Farbe. »Und Sie können das beweisen?« fragte er langsam. »Diese Verschwörung?« »Wir haben einige Beweise, ja. Endgültige, was den Mord angeht. Unsere Ermittlungen in den übrigen Angelegenheiten sind noch nicht abgeschlossen.« Wilson machte ein ernstes Gesicht. »Captain, Sie sind da auf etwas gestoßen, wovon Sie keine Ahnung haben. Möglicherweise haben Sie wertvolle Hinweise aufgedeckt. Ich werde mich mit meinen Vorgesetzten über diese Sache beraten. Ich bin aber nicht befugt, weitere Details preiszugeben. In der Zwischenzeit lassen Sie mich eine Warnung aussprechen: Dieses Wissen darf nicht noch weitere Kreise ziehen. Haben Sie mich verstanden?« »Jawohl, Sir. Und was ist mit Commander Wallace? Er ist noch nicht offiziell des Mordes angeklagt...« »Vergessen Sie das, Captain. Sie unternehmen nichts mehr, was den Commander betrifft. Man wird sich der Sache annehmen. Ein Schiff wird ihn zur Erde zurückbringen.« »Ich verstehe.« »Ich werde wieder mit Ihnen in Verbindung treten. Wilson Ende.« Der Schirm wurde schwarz. Sheridan blieb einen Moment sitzen und betrachtete das BABCOM-Logo, als ob es den Befehl zu seiner Exekution in sich barg. Schließlich stand er auf und ging hinaus zu
Garibaldi und Ivanova, die mit besorgten Gesichtern auf ihn warteten. »Behalten wir unsere Köpfe?« stellte Garibaldi die entscheidende Frage. »Wir behalten sie.« Aber bevor allgemeine Erleichterung um sich greifen konnte, fügte er hinzu: »Für den Augenblick.« »Und Wallace?« fragte Ivanova. »Wird auf die Erde gebracht.« Sheridan beobachtete das Kommen und Gehen der Sicherheitsbeamten in der Zentrale, wo sie Berichte ablieferten oder Anrufe entgegennahmen. »Vielleicht sollten wir uns darüber lieber drinnen unterhalten.« »Er kommt mit Mord davon?« empörte sich Garibaldi, als sich die Türen des Besprechungsraumes wieder hinter ihnen geschlossen hatten. Sheridan antwortete nachdenklich: »Ich habe das unbestimmte Gefühl, das zentrale Kommando auf der Erde denkt, ein Mord wäre vergleichsweise unbedeutend.« »Im Vergleich womit?« »Damit wollen sie noch nicht herausrücken.« Sheridan hielt inne und dachte daran, was Wilson gesagt hatte. »Wir sind auf Dinge gestoßen, von denen wir keine Ahnung haben. Und auch keine Ahnung haben sollten.« »Was passiert jetzt?« verlangte Ivanova zu wissen.
»Erstens dürfen diese Informationen, was auch dahintersteckt, nicht weiter verbreitet werden, als sie es bereits sind. Das ist ein Befehl. Und zweitens: Wenn wir eine Chance haben, weitere Beweise zu finden, dann sollten wir sie jetzt finden.« Commander Ivanova seufzte. »In diesem Fall holen wir lieber den Schiedsmann.« Schiedsmann Wellingtons Position in der Sache war streng und entschlossen. Der oberste Zivilrichter der Station war vielleicht alt und weißhaarig, aber seine Aura von Autorität reichte aus, um den Verhörraum in einen Gerichtssaal zu verwandeln. »Wessen auch immer Sie Mr. Zaccione anklagen mögen, nichts von dem, was er getan haben könnte, verwirft die Tatsache, daß er das Recht hat, sich nicht selbst zu belasten. Und es scheint evident: Was Sie ihn auffordern zu tun, nämlich in dieser Sache auszusagen, die Sie nicht offenlegen wollen, könnte ihn zu einem Eingeständnis von Straftaten zwingen, welche von unserem Gesetz mit den höchsten Strafen überhaupt geahndet werden - bis hin zur Todesstrafe«, fügte er mit einem tadelnden Blick auf Commander Ivanova hinzu. Sie konterte: »Ich brauche sein Geständnis nicht. Ich habe genügend Beweise, um seinen Hintern ein dutzendmal festzunageln. Ich habe ihn meinen Mitkämpfer abschießen sehen ...« »Aber darum geht es hier nicht, Commander, wie wir alle wissen«, ermahnte Captain Sheridan sie. »Es
ist nicht Zaccione, den wir wollen. Nicht sofort und um jeden Preis.« Sie stieß hörbar Luft aus. »Ich weiß. Natürlich. Tut mir leid. Es ist nur, daß dieser Abschaum davonkommt...« »Sie wollen ihn nicht sofort aburteilen«, erinnerte sie Wellington, »aber Mr. Zaccione hat zu bedenken, daß er später vor Gericht gestellt wird, wo man seine jetzt gemachten Aussagen gegen ihn verwenden kann.« »Was ist dann der Deal?« fragte Garibaldi, einmal mehr zum Kern der Diskussion kommend. »Wenn er glaubt, daß er einfach davonkommt...« , »Ich konnte ihn davon überzeugen, daß diese Option unrealistisch ist«, entgegnete Wellington trocken. »Wie Commander Ivanova erwähnt hat, sind die Beweise gegen ihn ziemlich erdrückend. Er hat sich unter zwei Bedingungen mit einer Aussage einverstanden erklärt: erstens, daß nichts von seinen Angaben jemals gegen ihn vor Gericht verwendet wird; zweitens, daß ihm weder die Todesstrafe noch Hirnlöschung für den Fall einer Verurteilung drohen.« Ivanova wollte aufbrausen, aber Sheridan kam ihr zuvor: »Bedenken Sie, Commander, nach Admiral Wilsons Worten bezweifle ich, daß Earth Central eine öffentliche Verhandlung mit der einhergehenden Bekanntgabe der Fakten zulassen wird. Und wenn wir irgendeine Möglichkeit haben,
zu beweisen ... was zu beweisen ist, dann brauchen wir Ihren Piraten.« »Ich weiß, ich weiß. Na gut, wenn das der einzige Weg ist.« »Sagen Sie ihm, er hat seinen Deal«, sagte Garibaldi. »Nein, halt!« Aller Augen richteten sich auf Ivanova. »Schon gut«, sagte sie durch zusammengepreßte Zähne, »er hat seinen Deal, aber ich will etwas anderes. Ich will eine Garantie, daß seine Aussage tatsächlich der Wahrheit entspricht. Ich will einen Telepathen während seiner Befragung dabeihaben. Ich will um jeden Preis die Wahrheit aus ihm herausholen.« Garibaldi starrte sie an. »Sie wollen jemanden vom Psi-Corps?« »Ivanova hat recht«, stimmte Sheridan zu. »Können wir den Piraten während des Verhörs von Miss Winters scannen lassen?« »Ich werde sehen, ob sie verfügbar ist«, sagte Garibaldi und hob sein Com-Link. »Hier Garibaldi, Miss Winters, bitte!« Er konnte es noch immer nicht fassen, daß ausgerechnet Susan Ivanova um ihre Unterstützung gebeten hatte. Zwei Sicherheitsleute brachten den Gefangenen in den Besprechungsraum, setzten ihn auf einen Stuhl und verließen auf ein Nicken von Garibaldi das Zimmer.
Der Pirat sah sich um, musterte einen nach dem anderen, und als seine Augen auf Ivanova trafen, formte ein vages Grinsen seine Gesichtszüge. »Commander, Sie haben mich wohl vermißt, hm?« Aber der Scherz war halbherzig und fiel bei den Anwesenden erwartungsgemäß durch. Garibaldi nahm den Platz der Wachen ein und lehnte sich mit verschränkten Armen in eine Ecke, die aufmerksamen Augen auf den Gefangenen gerichtet. Captain Sheridan ignorierte die Bemerkung und nahm dem Freibeuter gegenüber Platz. »Mr. Zaccione, diese Sitzung wird aufgezeichnet. Sie haben sich freiwillig zur Aussage bereit erklärt, unter der Bedingung, daß nichts hiervon bei einer zukünftigen Strafverfolgung gegen Sie verwendet wird. Ist das korrekt?« »Ja, das stimmt.« »Die Frau neben Ihnen ist Miss Talia Winters, eine lizensierte Telepathin. Sie wird die Wahrheit Ihrer Aussage während der Befragung überprüfen. Damit sind Sie ebenfalls aus freiem Willen einverstanden?« »So ist es.« »Mr. Zaccione«, übernahm jetzt Talia Winters, »ich möchte, daß Sie sich entspannen und nicht an meine Anwesenheit denken. Beantworten Sie nur die Fragen. Ich werde ausschließlich die Oberfläche Ihrer Gedanken abtasten, gerade tief genug, um festzustellen, ob Sie die Wahrheit sagen. Solange Sie nicht versuchen zu lügen, werden Sie
möglicherweise nicht einmal bemerken, daß ich hier bin.« »Oh, ich denke, ich fühle Ihre Präsenz in meinem Kopf, Telepathin«, entgegnete er und grinste Talia an, die nicht darauf achtete. »Ich bin bereit, Captain.« »Na gut. Mr. Zaccione, fangen Sie an, und erzählen Sie uns alles, Was Sie über den Plan der AreTech Consolidated-Minengesellschaft wissen, ihr Frachtgut an die Raiders auszuliefern. Wie gelangten Sie in den Besitz der Terminpläne und Transportrouten des Konzerns?« Der Pirat ging die ganze Geschichte noch mal durch; im wesentlichen dasselbe, was er Ivanova an Bord der Duster berichtet hatte: wie sich der Kontaktmann von AreTech mit einem Agenten der Raiders getroffen hatte, um die Informationen weiterzugeben, durch die die Firma ihre eigenen Frachten in betrügerischer Absicht verkauft hatte. Aber Sheridan bestand auf Einzelheiten: »Wie oft traf Ihr Agent mit dem Vertreter der Gesellschaft zusammen?« »Kannten Sie die Namen der Schiffe? Die genaue Art der Ladung? Den exakten Wert?« »Wie viele Frachter haben Sie pro Monat aufgrund dieser Informationen plündern können? Wie viele insgesamt? Was war der Gesamtwert der verlorenen Ladungen?« Die meisten Fragen beantwortete der Pirat, zum Teil behauptete er, die Details nicht zu kennen, nach denen Sheridan fragte. In einigen wenigen Fällen schien er widerspenstig.
»Der Name des Beauftragten von AreTech, der Ihnen diese Informationen verraten hat?« »Ich bin nicht sicher...« »Sie haben doch Commander Ivanova erzählt, daß Ihre Organisation seine Identität überprüft hat.« »Forrester, glaube ich. Oder Forrestal - irgend etwas in der Art.« »Miss Winters?« fragte Sheridan. »Ich denke, der Name Forrestal ist korrekt, Captain. Soweit er das weiß.« »Und der Name Ihres Agenten auf dem Mars?« Zaccione rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. »Ich ... weiß nicht...« »Das ist nicht wahr, Captain«, warf Talia ein. »Er kennt den Namen, aber er will ihn nicht preisgeben.« »Beantworten Sie die Frage«, befahl Sheridan. Die Augen des Piraten huschten zwischen Sheridan und der Telepathin hin und her. »Sie antworten lieber, Zack«, sagte sie zu ihm. »Es wäre viel leichter für Sie, wenn ich nicht nach dem Namen bohren müßte.« »King«, sagte er schließlich mit gedämpfter Stimme. »Wally King. Er arbeitet als Verschiffungsangestellter in einem Frachtbüro beim Mars-Raumhafen.« »Er sagt die Wahrheit«, bestätigte Talia. »Gut. Nun«, fuhr Sheridan fort, »glauben Sie, daß Offiziere der Allianz in diese Verschwörung verwickelt sind?«
»Irgendeiner mußte uns die Earthforce vom Leib halten.« Er schielte kurz und vorwurfsvoll zu Ivanova. »Das sollten sie jedenfalls.« »Wie lauten die Namen der korrupten Beamten von der Erde?« Zaccione schüttelte den Kopf. Die Spannung im Raum stieg merklich. Ivanova hielt den Atem an. Garibaldi lehnte sich vor. »Ich weiß es nicht.« »Die Namen«, drängte ihn Sheridan. »Miss Winters?« Sie sah den Captain an. »Er lügt nicht.« »Gehen Sie tiefer«, verlangte Ivanova. »Holen Sie's aus ihm raus.« »Er kennt die Namen nicht«, sagte Talia mit Nachdruck. Sheridan verzog das Gesicht. »Sagt Ihnen der Name Yang irgend etwas?« »Ja, aber er ist keiner von denen aus der Allianz. Er arbeitet für die Minengesellschaft. Widmet sich den Leuten, die zu viele Fragen stellen.« »Können Sie bestätigen, daß Yang jemals Menschen ermordet hat, um sie vom Fragenstellen abzuhalten?« »Ich weiß zumindest von diesem einen Mal, ein Typ von einer Versicherungsagentur. Sie fanden ihn außerhalb der Kuppel, ohne sein Atemgerät.« »Und wie steht's mit dem Namen Wallace?« Der Pirat verneinte. »Er weiß es nicht«, bestätigte Talia Winters.
»Sind Sie sicher?« bohrte Ivanova. »Er kennt den Namen nicht.« Sheridan zeigte jetzt ein besorgtes Gesicht. Er blickte zu Ivanova und schüttelte leicht den Kopf. Er setzte die Befragung noch einige Zeit fort, entlockte dem Piraten noch ein paar Angaben über die Aktivitäten seiner Organisation, aber er verriet ihnen keine Einzelheiten über angeblich beteiligte Beamte der Earth Alliance. Zaccione kannte keinen ihrer Namen. Er war nie in direkten Kontakt mit ihnen getreten. Sie blieben im Hintergrund, erklärte er. Schließlich schob Sheridan seinen Stuhl zurück. »Ich denke, das wäre alles«, schloß er die Befragung. Garibaldi kam aus seiner Ecke heraus und führte den Gefangenen ab, zurück in seine Zelle. »Es tut mir leid«, sagte Sheridan zu Ivanova. »Ich weiß nicht, ob uns das sonderlich weiterhelfen wird, ohne die Namen und ohne eine direkte Verbindung zu Wallace.« »Nun ja.« Sie lächelte schwach. »Ich schätze, man schlägt kein Wasser aus einer Wüste. Wir haben's versucht.« »Wir haben unser Bestes getan«, stimmte Sheridan zu. »Und vielen Dank, Miss Winters, für Ihre Hilfe.« Ivanova zögerte einen Moment, dann ging sie einen Schritt auf Talia Winters zu. »Ja, vielen Dank. Ich weiß, es muß unangenehm gewesen sein, in einen Kopf wie den seinen eindringen zu müssen.«
Talia schüttelte den Kopf und setzte ein mattes Lächeln auf. »Oh, er war nicht gar so schlimm. Nicht im Vergleich mit manchen anderen.« Ivanova sah sie verblüfft an. »Abschaum wie der? Bei dem, was er zu Ihnen gesagt hat?« »Nun, eine Menge Leute sagen solche Dinge, besonders Männer, um ihre Unsicherheit zu verbergen. Es hat nichts zu bedeuten.« Ivanova war skeptisch. »Unsicherheit? Der?« Nun zögerte Talia ein wenig. »Ich weiß, Sie ... machen sich nichts aus dem, was ich tue, Commander. Aber ich habe festgestellt, daß die Gedanken der meisten Leute nicht wirklich böse sind. Manche - ja, manche sind es. Aber was ich am häufigsten sehe, ist Angst. Und Einsamkeit. Und Selbstzweifel. Ich weiß, daß dieser Pirat Ihren Begleiter abgeschossen hat, daß Sie sehr zornig sein müssen. Aber da war nichts, das Sie ...« Ivanova barg ihr Gesicht in den Händen und schüttelte emphatisch den Kopf. »Nein«, sagte sie, »Sie wissen gar nichts! Sie wissen nichts von ...« Sie lief aus dem Raum. Talia seufzte erschrocken. »Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich bei Captain Sheridan. »Ich dachte für einen Augenblick, daß sie akzeptieren könnte, was ich bin, daß ich keine Bedrohung für sie darstelle.« »Schon gut«, erwiderte Sheridan. »Man muß kein Telepath sein, um es zu sehen. Es ist grausam, wenn man einen Mitstreiter verliert, wissen Sie. Selbst
wenn man nichts dagegen tun konnte, flüstert eine Stimme im Innern: Wäre ich nur ein wenig früher dort gewesen; hätte ich mir nur ein bißchen mehr Mühe gegeben...« Talia wechselte das Thema. »Ist es wahr, daß Commander Wallace verhaftet wurde?« Sheridan runzelte die Stirn. »Ich nehme an, Sie hätten es früher oder später ohnehin gehört. Es stimmt, aber das ist vertraulich.« »Natürlich.« Sie nickte langsam. »Ich bin froh darüber. Das für ihn zu tun, in den Verstand all dieser armen Leute kriechen zu müssen, während er sie verhörte... Ihre Einwilligungen waren erpreßt, wissen Sie. Er drohte ihnen mit Haft, mit Deportation zur Erde. In manchen Fällen tat er es ohne Einwilligung.« »Er wird keine Gelegenheit mehr dazu haben«, versicherte ihr Sheridan. »Nicht auf Babylon 5.«
28 »Captain Sheridan, ein Ruf auf dem Goldkanal. Admiral Wilson.«. Sheridan hatte schon darauf gewartet. »Stellen Sie durch.« Es handelte sich sogar um eine Ultraviolett Übertragung, die erst die Eingabe von Sheridans persönlichem Code verlangte, bevor sie freigegeben wurde. Wilsons Gesicht erschien auf dem Kommunikationsschirm. »Nun, Sheridan, ich denke, Commander Wallace wird mit seiner Assistenz bald wieder auf dem Weg zur Erde sein.« »Ja, Sir. ihr Schiff verläßt Babylon 5 in etwa einer halben Stunde.« »Sehr gut. Es wird Sie sicher freuen zu hören, daß Ihre Vorgehensweise von den Stabschefs geprüft und als unter den gegebenen Umständen gerechtfertigt gebilligt wurde. Bei genauerer Betrachtung hat Commander Wallace seine Untersuchungen wohl nicht mit der nötigen Diskretion durchgeführt.«
»Und die anderen Anschuldigungen gegen ihn?« Der Admiral räusperte sich vernehmlich. »Ich wurde autorisiert, einige Fakten preiszugeben, die bisher aus gutem Grund klassifiziert waren. Die Verschwörung rund um AreTech Consolidated gibt es tatsächlich. Ihre Erkenntnisse werden uns sehr nützlich sein, auch in anderen Bereichen aktiv zu werden, die an dieser Stelle nicht erörtert werden können. Auf der Basis Ihrer Informationen wurden allerdings bereits erste Verhaftungen durchgeführt. Nichtsdestotrotz sind Ihre Spekulationen, was die Verbindungen von Commander Wallace in dieser Angelegenheit angehen, unzutreffend. Commander Wallace ist Agent der Abteilung der Vereinigten Stabschefs. Der Grund für seine Untersuchungen muß geheim bleiben, aber es ging um Informationen, die lebenswichtig sind für die Verteidigung der Erde. Lebenswichtig. Diese Informationen gelangten vermutlich in den Besitz von J.D. Ortega, der wiederum im Dienst von AreTech stand. Was er mit den Daten wollte, ist noch ungeklärt. Er hätte jeden, ich betone, jeden Preis dafür verlangen können. AreTech schickte ihre Leute aus, wir die unseren. Wie Sie schon wissen, war AreTech schneller. Es war die Aufgabe von Commander Wallace, die Informationen unter allen Umständen zu finden. Natürlich konzentrierte sich sein Verdacht auf Yang, den AreTech-Beauftragten. Unglücklicherweise ... na ja, Sie wissen ja, was geschehen ist. Wie dem auch sei, die Informationen blieben verschollen. Wir
müssen davon ausgehen, daß sie vernichtet wurden oder in die falschen Hände gelangt sind. Das ist überaus bedauerlich, aber jede weitere Suche erübrigt sich damit.« »Dann ist die Untersuchung beendet?« »Zu meinem Bedauern. Aber Sie werden erfreut sein zu hören, daß keinerlei Vorwürfe gegen Ihre Mannschaft erhoben werden. Angesichts ihres Kenntnisstandes konnte sie sich nur so verhalten.« »Ja, Sir, das ist in der Tat erfreulich. Dann wird Commander Ivanova wieder als Zweiter Offizier eingesetzt?« Wilson entgegnete verlegen: »Die Stabschefs halten das zum gegenwärtigen Zeitpunkt für keine gute Idee.« Sheridan erhob sich aus seinem Stuhl. »Was? Commander Ivanova hat die Verschwörung aufgedeckt...« »Das ist wahr, Captain. Die Stabschefs haben diese Tatsache in ihre Überlegungen mit einbezogen.« »In ihre Überlegungen bezüglich was?« »Bezüglich der terroristischen Kontakte ...« »Es gab keine terroristischen Kontakte. Sie haben es doch eben selbst gesagt. J.D. Ortega hatte Informationen von Are-Tech gestohlen, aber er war kein Terrorist!« »Captain, Sie vergessen sich!« Wilsons Stimme erreichte Grabestiefe, während sein Gesicht rot anlief. »Wie die Beweise Ihrer eigenen
Sicherheitsabteilung deutlich zeigen, stand Ortega mit der Bewegung >Freier Mars< in Verbindung. Diese terroristische Vereinigung war es auch, die ihm die Flucht vom Mars und den Transport nach Babylon 5 mit falschen Dokumenten ermöglichte. Angehörige dieser Organisation haben den Angriff auf Ihren Sicherheitschef geplant und vermutlich auch Lieutenant Khatib ermordet, um ihre Identität zu vertuschen. Stimmen Sie darin mit mir überein?« »Aber das hat doch nichts mit Ivanova zu tun!« widersprach Sheridan mit Nachdruck. »Sie hatte nichts mit Ortega zu schaffen. Er war Vorjahren ihr Fluglehrer, das ist alles.« »Das mag stimmen, aber trotzdem haben die Vereinigten Stabschefs entschieden, daß Commander Ivanova zum gegenwärtigen Zeitpunkt diesen doch sehr sensiblen Posten nicht bekleiden sollte. Die Angelegenheit wird beizeiten neu diskutiert.« »Neu diskutiert? Wann?« »Darüber wurde noch nicht entschieden. Man wird Sie rechtzeitig davon in Kenntnis setzen.« Mit diesen Worten wurde die Übertragung beendet. Sheridan saß da, angespannt, und zürnte mit dem BABCOM-Logo. Das Schlimmste stand ihm noch bevor. Er mußte es Ivanova beibringen. »Der Kreuzer Asimov startet um 9:00 zur Erde. Zwischenlandung auf dem Mars und der LunaKolonie. Die Passagiere können sich nun zum
Einstiegsbereich begeben. Wir hoffen, daß Sie Ihren Aufenthalt auf Babylon 5 genossen haben.« Sheridan nickte gedankenverloren, als er die Ansage hörte. Manchmal war es beruhigend, die gewöhnlichen und alltäglichen Geräusche der Station zu hören. Keine Notfälle, keine Unfälle, keine Reinfälle. Die Türe des Lifts öffnete sich, und zwei Sicherheitsbeamte führten einen Gefangenen in Handschellen heraus. Garibaldi folgte ihnen. Sheridan beobachtete, wie der Pirat Zaccione am Zoll vorbei noch vor den Passagieren an Bord gebracht wurde. Garibaldi gesellte sich zu ihm. »Glückspilz«, kommentierte er trocken. »Ich weiß nicht. Er wird den Rest seines Lebens in einem Gefängnis auf der Erde verbringen.« »Besser als eine Hirnlöschung«, gab Garibaldi zu bedenken. Er rieb sich die Stirn. »Manchmal denke ich, Ivanova hat recht: ab durch die Luftschleuse mit dem. Wäre einfacher für alle Beteiligten.« »Vielleicht«, sagte Sheridan. »Wenn man genügend gute Leute hat sterben sehen, fällt es schwer, für einen Kerl wie den Mitleid aufzubringen. Aber ich denke, sie nimmt die Angelegenheit recht gefaßt.« Garibaldi nickte. »Sie war bei der Verhandlung wirklich gut. Hat mir gefallen. Ich hatte schon gedacht, sie würde sich an diesem Raider festbeißen.«
»Kein Wunder. Er hat Mokena auf dem Gewissen. Und wie Sie wissen, ist es bedeutend einfacher, wenn man jemanden hat, dem man die Schuld zuweisen kann. Da braucht man sich nicht zu fragen, was man selber hätte ausrichten können.« »Stimmt, aber ein guter Commander tut das trotzdem.« Beide schwiegen für eine Weile und beobachteten den Verkehr auf der Station. »Die haben ihr ganz schön übel mitgespielt«, bemerkte Garibaldi dann, und er meinte damit nicht die Raiders, sondern die Stabschefs. »wenn ich sie wenigstens auf eine Patrouille schicken könnte«, stimmte Sheridan zu. »Eine Mission. Irgend etwas, um sie abzulenken. Man hätte sie versetzen können. Jetzt hängt sie bloß in der Luft.« »Ich könnte sie in der Sicherheitsabteilung gebrauchen, aber das ist nichts für jemanden ihres Ranges. Es ist zum Kotzen.« Sie konnten nichts tun. Es gab keine höhere Stelle, bei der sie eine Revision der Entscheidung hätten einfordern können. Und das Versprechen auf eine neue Verhandlung war nur - ein leeres Versprechen. Earth Central würde Ivanova einfach so lange hängenlassen, bis ihr das Leben im Vakuum unerträglich würde und sie den Dienst quittierte. »Commander! Commander Ivanova!« Ivanova drehte sich um. Die Versicherungsagentin Espada
rief nach ihr. Sie wartete, bis die andere Frau zu ihr aufgeschlossen hatte. »Commander... o je, bin ich außer Puste. Commander, ich wollte mich nur bedanken. Earthforce hat die Informationen freigegeben, die wir für die Anklage gegen AreTech brauchen. Mit diesen Beweisen können wir vor Gericht gehen. AreTech hat den Raiders tatsächlich die Routen der Schiffe verraten. Wir klagen auf Ablehnung aller Ansprüche.« Espada strahlte förmlich. »Ich weiß nicht, wie Sie darauf gekommen sind, aber Sie hatten recht. Der Handel mit AreTech-Aktien ist bereits eingestellt worden. Alle Aufsichtsräte werden angeklagt, nicht bloß die direkt beteiligten.« »Dann dürften Universal-Aktien wohl eine ziemlich gute Geldanlage werden.« Ivanova lächelte schief. Espada wurde schlagartig ernst. »Eigentlich ist so etwas eine Verletzung des Verbots auf Weitergabe von Insider-Informationen. Aber wenn jemand bei dieser ganzen Angelegenheit einen Profit verdient hat, dann Sie!« »Ich werde mich daran erinnern, wenn mir der Pleitegeier mal wieder ins Gesicht grinst«, entgegnete Ivanova, Sie entschuldigte sich, schob unaufschiebbare dienstliche Pflichten vor. Die Ironie dieser Lüge tat ihr weh. Dienstliche Pflichten, klar. Sie mußte dringend dienstlich das Silberbesteck in der Kantine polieren. Eine Liste der Vordrucke anfertigen. Oder die Formulare für rücktrittswillige
Offiziere sortieren. Darauf würde es früher oder später nämlich hinauslaufen, das stand fest. So konnte es nicht weitergehen. Und was stand heute auf dem Programm? Ein weiterer Trainingsflug? Ihr war klar, daß sie Sheridan keine Schuld geben durfte. Tatsache war, daß Earth Central ihr einfach nicht vertraute. Und das hatte nichts mit den Terroristen auf dem Mars zu tun, auch wenn das eine bequeme Ausrede war. Man dachte immer noch, daß sie irgend etwas wußte, das mit den geheimen Informationen von Ortega zu tun hatte. Wenn es die überhaupt gab. Vielleicht waren sie verloren, vielleicht nicht. Keiner konnte das sagen. Ivanova wußte nur, Ortega hatte ihr etwas übergeben wollen, damit sie es aufhob. Und diese verdammte Notiz. Hardw... r. Was auch immer das heißen mochte. Ins Cockpit steigen. Die Kanzel versiegeln. Instrumenten-Check. »Alpha-Start. Systeme an.« Sie kannte die Abläufe im Schlaf. Trainingsflug. Fliegen in geschlossener Formation. Grundlegende Manöver. Sie ließ sich zurückfallen und überließ Moy die Führungsposition, damit sie Erfahrungen sammeln konnte. Danach zurück in den rot ausgeleuchteten Tunnel des Landedecks. Diese Notiz ließ sie immer noch nicht los. Hardw ... r. Was sollte das bedeuten? Wie konnte J.D. Ortega annehmen, das würde irgendeine Erinnerung bei ihr
auslösen? Earth Central glaubte, daß es sich um eine Art Code handelte. Zurück im Bereitschaftsraum. Ein Saustall, wie immer. Die kleine alte Frau, die hier immer durchwischte, machte ihren Job nicht besonders gut. Vielleicht würde ihr Sheridan ja diesen Job geben - Putzfrau. Hier auf Babylon 5 würde man ihr wohl kaum noch etwas anderes zutrauen. Garibaldi hatte immer noch Dienst, als er in das Casino ging, um sich ein bißchen umzusehen. In besseren Zeiten wäre Ivanova auch im Dienst gewesen. Jetzt hatte sie die Uniform im Schrank gelassen - und nicht viel mehr herausgenommen. Ihr Haar trug sie offen, und das rote Kleid erlaubte mehr Einsicht als so manche Datenbank. In der Hand hielt sie einen Drink. Der Mann neben ihr hatte seine Hand an einer Stelle, an der nur wenige Männer sie je gehabt hatten. Noch weniger hatten diese Erfahrung mit heiler Haut überstanden. Aber Ivanova lachte bloß. Ein bißchen zu laut. Sie lehnte sich an den Typen an, dessen Hand noch tiefer rutschte. Er konnte ihr jetzt beschwerdefrei in den Ausschnitt schielen. Garibaldis Augen wurden schmal. Das gefiel ihm nicht. Unter normalen Umständen konnte Ivanova gut auf sich selbst aufpassen. Sie hatte einmal die ganze Bar räumen lassen, nur weil so ein Kerl die Absicht verkündet hatte, seine Hand genau da plazieren zu wollen, wo dieser Schleimer seine
Griffel schon längst hatte. Garibaldi hätte es lieber gesehen, wenn Ivanova ihren Problemen mit einer zünftigen Rauferei statt mit dieser Aufreißernummer Luft gemacht hätte. Er marschierte zielstrebig in ihre Richtung und zwang sich zu einem jovialen Ton. »Hallo, Ivanova! Ist das ein Freund von Ihnen? Ich glaube, wir kennen uns noch nicht.« »Garibaldi! Hallo! Das ist Rick.« Sie blinzelte ihn alkoholisiert an. »Rick stimmt doch, oder?« »Klar, Susie. Rick Morrison, erinnerst du dich?« Garibaldi fiel fast aus den Schuhen, als er sehen mußte, wie die Hand des Mannes an Ivanovas Hals entlang in Richtung ihres Ausschnitts wanderte. Susie? Ivanova? Großer Schöpfer, wie Londo jetzt sagen würde. »Freut mich, Sie kennenzulernen«, preßte Garibaldi mit dem letzten Quentchen zivilen Benehmens hervor. Ein paar Augenblicke später bekam er seine Chance, als Ivanova kurz den Tisch verließ. Er packte den Kerl gerade so hart am Ellbogen, um deutlich zu machen, daß er es ernst meinte. »Paß auf, Freundchen, nur daß du im Bilde bist: Ivanova ist eine gute Freundin von mir. Ich möchte nicht, daß sie etwas tut, was sie am nächsten Morgen bereut. Hast du kapiert?« »Hey, was geht's dich an? Ich denke, die Lady ist alt genug, um alleine zu entscheiden. Wer bist du überhaupt ? Ihr Beschützer? Oder ihr Vater?«
Das saß. Garibaldi war sichtlich alt genug, Ivanovas Vater zu sein, aber er konnte diesem Schleimer ja mal zeigen, wie leicht der alte Herr ihm den Arm brechen konnte. Der Typ wurde bleich, als Garibaldi den Druck ein wenig verstärkte. »Ich sag' dir, wer ich bin. Ich bin der Sicherheitschef von Babylon 5. Vielleicht hast du sogar recht. Vielleicht ist Ivanova alt genug, um sich selber auszusuchen, mit wem sie Spaß haben will. Aber ist sie auch nüchtern genug? Das ist die Frage. Ich sag' dir noch was: Du darfst den Kavalier spielen, sie zu ihrem Quartier begleiten und ihr zum Abschied die Hand geben. Oder du kannst es drauf ankommen lassen. Wenn du ihr weh tust, wirst du dir wünschen, nie geboren worden zu sein.« Er ließ den Arm rechtzeitig los, ehe Ivanova an den Tisch zurückgekehrt war. Der Mann wich zurück und rieb sich beeindruckt den Ellbogen. Ivanovas Blick war glasig. »Ich werde irgendwie müde, Rick. Ich glaube, ich möchte in mein Quartier und dann ins Bett.« Der Typ schluckte nervös. »Ich bringe dich hin.« Garibaldi sah sie davongehen. Vielleicht hatte er sich wirklich zu weit aus dem Fenster gelehnt. Ivanova hatte das Recht auf ein bißchen harmlosen Spaß. Vielleicht war dieser Rick Morrison ja ein ganz netter Kerl. Klar, und vielleicht würden sich die Narn und die Centauri um den Hals fallen und ihre Streitigkeiten beilegen.
Gott, es war furchtbar, Ivanova so zu sehen. Aber wie konnte er ihr helfen? Was konnte er tun? »Commander Ivanova, es ist jetzt 6:05.« Die gnadenlos aufgeräumte Computerstimme wiederholte die Zeit noch einmal. Ivanova stöhnte. »Commander, Ihre Antwort wurde nicht verstanden. Bitte wiederholen!« Sie versuchte, ihren Kopf zu heben, stöhnte erneut, endlich gelangen ihr ein paar halbwegs zusammenhängende Worte: »Laß mich in Ruhe.« »Verstanden, Commander. Einen angenehmen Tag.« Ivanova hoffte, ihre Schmerzen würden abflauen, wenn sie ganz still liegenbleiben würde. Aber vielleicht hatte sie ja schon immer Schmerzen gehabt, und das hier war nur der hereinbrechende Tod. Wenn dem so war, wünschte sie sich, daß es schnell vorübergehen möge. Sie hatte einen faulen Geschmack im Mund, ihr Magen rebellierte, und ihr Kopf weigerte sich beharrlich, das Kissen zu verlassen. Sie zwang sich, an den Medikamentenspender im Badezimmer zu denken. Soforthilfe. Aber sie mußte es erst mal bis dahin schaffen, ohne sich zu übergeben. Es gelang ihr, sich aufzusetzen. Dann tastete sie sich blind durch ihre Unterkunft. Offenen Auges traute sie sich die paar Schritte nicht zu. »Sobertal«, murmelte sie und griff nach der Tablette, die der Spender ausspuckte. Sie schluckte
das Medikament trocken, legte den Kopf zurück und wartete auf die Wirkung. Endlich vermochte sie die Augen zu öffnen. Sie sah ihr Bild im Spiegel und schloß sie sofort wieder. Großer Gott! Was hatte sie letzte Nacht bloß getan? Eine kalte Dusche würde helfen. Zumindest würde sie sich danach wieder an die letzte Nacht erinnern. Sie war ins Casino gegangen. Allein. Sie hatte sich elend gefühlt. Ein netter Kerl. Seine warmen, netten Hände auf ihrer Haut. Er hatte sie hergebracht. Plötzlich kamen ihr diese Erinnerungen gar nicht mehr so nett vor. Langsam festigte sich in ihrem Kopf der Gedanke, daß sie sich zum Narren gemacht hatte. Auf ihrem Weg zurück ins Wohnzimmer stolperte sie fast über das rote Kleid. Das rote Kleid. Ivanova schloß wieder die Augen. Weshalb habe ich das denn getragen? Nüchtern genug, um von sich selbst angewidert zu sein, stieg sie rasch in ihre Uniform und band ihr Haar so straff zurück, als wolle sie die Reste der Kopfschmerzen mit den Wurzeln herausreißen. Sie ignorierte die Mannschaftsangehörigen in der Kantine und begab sich schnurstracks zum Kaffeeautomaten. Erst als das bittere, chemische Gebräu in ihren Becher lief, fiel ihr wieder ein, daß es kein richtiger Kaffee war.
Sie schüttelte sich, trank aber trotzdem. Diesen Morgen würde sie nicht ohne etwas überstehen, das mit Koffein angereichert war. Wenigstens war die Flüssigkeit heiß. Der Gedanke an Gesellschaft war ihr unerträglich. Sie setzte sich an einen leeren Tisch. Sie blickte nur kurz auf, als sie unter halbgeschlossenen Augenlidern eine wohlgenährte Gestalt wahrnahm, die in ihre Richtung steuerte. Sie kniff die Augen zu. Nein, nicht Garibaldi, nicht heute morgen! Er grinste verschmitzt. »Na, Ivanova, wie war die Tour gestern nacht?« Sie hielt den Kopf gesenkt. »Ich will nichts davon hören, Garibaldi. Wirklich nicht.« »Wirklich?« Da war etwas in seiner Stimme. Sie sah nun doch auf. »Was habe ich gemacht? Mir die Kleider vom Leib gerissen? Die Minbari-Windschwerter zu einem Duell herausgefordert? Hat das Casino einen Preis auf meinen Kopf ausgesetzt?« Er wurde ernst. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich ihr gegenüber. »Nichts dergleichen. Wirklich. Ich habe mir nur Sorgen um Sie gemacht. Der Typ, mit dem Sie unterwegs waren...« »Was für ein Typ?« warf sie lahm ein. Sie erinnerte sich vage an jemanden, irgend jemanden. »Hey, der war sicher ein Kavalier alter Schule. Ich sage ja nicht, daß Sie nicht alleine rumziehen und Spaß haben dürfen. Sie haben es sich verdient.
Ich weiß nur ...« Er zögerte. »Ich weiß nur noch, wie es bei mir war, als ich dachte, daß ein paar Drinks mir bei meinen Problemen helfen könnten. Ich möchte Sie nicht so sehen ...« Er blickte betreten zu Boden. Sie stierte in ihren Kaffeebecher. Dann sprach sie: »Er war also ein Kavalier, ja?« »Nachdem ich versprochen hatte, ihm den Arm zu brechen.« Er machte eine Pause, um den Knallfrosch zu zünden. »Er nannte Sie Susie.« Ivanova jaulte auf und nahm noch einen Schluck von dem schwarzen synthetischen Gebräu. »Danke«, sagte sie schließlich. »Danke, daß Sie interessiert, was mit mir passiert. Manchmal bin ich nicht sicher, ob es mich selbst noch interessiert.« Er stand auf, und die Beine des Stuhls quietschten über den Boden. »Das ist doch Blödsinn. Und Sie wissen das.« Er ließ sie sitzen, damit sie darüber nachdenken konnte. Wieder allein, starrte sie auf die letzten dünnen Schwaden Dampf, die aus dem Becher aufstiegen. Garibaldi hatte recht. Es interessierte sie sehr wohl. Und nichts interessierte sie mehr als ihre anscheinend ruinierte Karriere. Aber was konnte sie tun? Während sie noch in die schwarze Brühe starrte, betrat ein Neuankömmling die Kantine und setzte sich alleine an einen Tisch. Talia Winters. Garibaldis absoluter Gegensatz, was ihre Eßgewohnheiten betraf. Sie hatte vielleicht zwei Scheiben trockenen
Toast auf ihrem Tablett liegen. Höchstens. Zur Zeit war sie so schlank, daß sie schon beinahe mager wirkte. Ivanova besann sich darauf, was Garibaldi erzählt hatte. Was Talia für Wallace tun mußte. Wie quälend das für sie war. Eines immerhin hatten sie beide gemeinsam. Sie konnten Wallace nicht ausstehen. Schuldbewußt rief sich Ivanova ins Gedächtnis, daß sie mit dem Abtasten des Raiders Zaccione der Telepathin noch zusätzliche Mühen aufgebürdet hatte. Und sie erinnerte sich an ihren Ausbruch. Sie hob den Becher, schüttelte sich angewidert und stellte sich an, um eine frische Portion zu holen. Auf dem Rückweg blieb sie an Talias Tisch stehen. »Darf ich mich setzen?« Die Telepathin blickte überrascht auf. »Wie? Ja, bitte sehr. Nehmen Sie nur Kaffee?« »Wenn man das so nennen will.« Ivanova blickte verstohlen auf Talias Tablett. Zwei Scheiben Toast, allerdings nicht trocken. Sie waren mit irgend etwas bestrichen. Und ein wenig Obst lag daneben. »Ich möchte ...« Ivanova versagte die Stimme. Das war schwer für sie. »Ich möchte mich noch einmal bedanken. Für Ihre Hilfe bei dieser Aussage. Meine Reaktion tut mir leid.« »Das ist schon okay. Ich kann das verstehen. Ich wollte Sie nicht kritisieren. Oder Ihr Privatleben.« »Nein. Ich hatte wohl gedacht, wir holen die Wahrheit aus diesem Mann raus. Und alles wäre
vorbei. Die Verschwörung, die Anklagen, alles wäre vorbei. Aber das war es nicht.« »Es tut mir leid für Sie, daß es nicht so gekommen ist.« »Ja. Darum möchte ich Sie auch bitten ...« Sie schluckte. »Ich möchte Sie bitten, mir noch einmal zu helfen.« »Wenn ich kann, gerne«, erwiderte Talia verwirrt. »Sie wissen sicher, daß Earth Central mich nicht mehr auf meinem alten Posten haben will. Ich nehme an, man vertraut mir einfach nicht mehr: wegen Ortega, wegen der Notiz, wegen der verlorenen Informationen. Man denkt wahrscheinlich immer noch, daß ich mehr weiß, als ich sage.« Ivanova hielt inne. Sie fragte sich, ob das, was sie sagte, irgendeinen Sinn ergab. Bei Talia Winters legte sie es gewöhnlich stets darauf an, ihren Geist keine Handbreit zu öffnen. Jetzt aber... »Ich will wissen, was diese Notiz bedeutet. Es ist nur ein Wort. Ich sollte mich daran erinnern, aber es gelingt mir nicht. Je mehr ich mich bemühe, desto weniger Erfolg habe ich. Und nun dachte ich mir...« Ihre Hände schwitzten, sie stellte ihren Becher ab; beinahe hätte sie ihn sogar umgestürzt. Sie konnte ihr Herz schlagen hören. »Ich habe mich gefragt, ob Sie es ... vielleicht finden.. .« Talia sprach sehr langsam und vorsichtig. »Das könnte ich womöglich, wenn es wirklich Teil Ihres Gedächtnisses ist. Der Geist speichert viele Dinge, die dem Bewußtsein nicht zugänglich sind.« Sie sah
Ivanova unschlüssig an. »Aber dafür ist mehr als ein normaler Scan an der Oberfläche notwendig. Bei Zaccione mußte ich nur die äußeren Schichten seiner Gedanken sondieren. In Ihrem Fall müßte ich viel tiefer gehen. Sind Sie sich darüber im klaren?« Ivanova brachte kein Wort heraus. Hätte sie es gekonnt, hätte sie mit jeder Faser ihres Leibes geschrien: Bleib aus meinen Kopf! Statt dessen nickte sie steif. »Wir sollten das an einem Ort machen, an dem wir völlige Ruhe haben und nicht gestört werden. Darf ich mein Quartier vorschlagen?« Ivanova nickte abermals und gab ein paar heisere Worte von sich: »Gut. Einverstanden.« Talia sah auf ihr halb verzehrtes Frühstück. »Sollen wir sofort gehen?« »Nein!« Ivanova nahm noch einen schnellen, nervösen Schluck aus ihrem Becher. »Essen Sie zu Ende. Bitte. Ich habe noch den Kaffee.« Alles, dachte sie, was diese Sache noch ein paar Minuten hinauszögert. Sie nahm einen tiefen Schluck und schüttelte sich. Gott, das ist widerlich. Susan Ivanova war noch nie in Talia Winters' Quartier gewesen, daher sah sie sich neugierig um, während die Telepathin Kissen zurechtrückte und ein abgestorbenes Blatt von einer Pflanze zupfte. Sie schien ebenfalls nervös zu sein. »Nun«, sagte Talia schließlich, »sollen wir anfangen?«
Ivanova wäre lieber aus einer Luftschleuse gesprungen. Aber hier ging es um ihre Karriere. Und um die einzige Möglichkeit, ihre Karriere zu retten. »Ja«, sagte sie. Talia wies auf eine Couch. »Ich denke, dort wird der beste Platz sein.« Während sich Ivanova steif niederließ, streifte Talia in einer selbstsicheren Geste die grauen Handschuhe ab. »Direkter Kontakt erleichtert den mentalen Zugang«, erläuterte sie. Ivanova nickte, als sich die Frau neben sie setzte. »Lehnen Sie sich zurück. Versuchen Sie sich zu entspannen. Schließen Sie die Augen. Wehren Sie sich nicht gegen meine Präsenz.« Es waren fast die gleichen Worte, die Talia während der Vorbereitung für den Scan des Piraten verwendet hatte. Diesmal klang ihre Stimme indes nicht so unpersönlich. Die Telepathin legte ihre Hand vorsichtig auf die von Ivanova. Da sie Handschuhe getragen hatte, fühlte sich ihre Haut warm und ein wenig feucht an. Talia schloß ihre Augen für einen Moment. »Ich möchte, daß Sie sich an Ihre Zeit mit J.D. Ortega erinnern. Versuchen Sie nicht, sich etwas Spezielles ins Gedächtnis zu rufen. Vergegenwärtigen Sie sich nur sein Gesicht, seine Stimme, Dinge, die er gesagt hat. Er war Ihr Fluglehrer. Denken Sie an die Zeit im Cockpit des Testfliegers. Denken Sie an Ihre ersten Flugstunden. Ja, so ist es gut.« Ivanova hielt ihre Augen geschlossen. Talia Winters' Stimme war weich und sanft. Es gab keinen
Anlaß zur Beunruhigung. Sie würde ihr nur helfen, sich zu erinnern. Sie konnte den Moment nicht definieren, da die gesprochenen Worte in ihrem Kopf der geistigen Stimme Talias wichen. Die Berührung ihrer Hand war warm, besänftigend und schützend. Es war, als säße Talia mit ihr im Cockpit des Testfliegers, während, J.D. Ortega den Platz des Copiloten eingenommen hatte. Talias entblößte Hände lagen auf den Instrumenten des Schiffes, aber sie gehörten gleichzeitig ihr selbst. Sie trugen beide die Uniform der Kadetten und nicht das strenge, graue Kostüm, das Talia Winters stets trug. Gefällt Ihnen die Art nicht, wie ich mich kleide? Ich habe es stets bedauert, daß Sie mich nicht mögen, Susan. Direkt hinter ihnen hörte Ivanova J.D. die Funktionsweise des taktischen Schirms erläutern. »Ihr wißt alle, wie man einen Computerschirm bedient. Aber dieser Monitor funktioniert anders als gewöhnliche Bildschirme.« Er sieht wirklich sehr gut aus. Zu schade, daß er so verliebt in seine Frau ist. »Ihr seht nicht durch den Schirm, ihr seht nicht auf den Schirm. Ihr seht mit dem Schirm. Es ist wie mit euren Augen. Denkt ihr darüber nach, wie ihr eure Augen benutzt? Tut ihr nicht, ihr benutzt sie einfach. Der Schirm ersetzt eure Augen, und der Schirm ersetzt euer Hirn. Die Benutzung muß automatisch und intuitiv erfolgen. Ihr habt keine Zeit, anzuhalten und nachzudenken.«
Er ist ein verflixt guter Pilot. Er mag allerdings das Militär nicht. Er mag nur das Fliegen. »Wie ihr wißt, wird es eines Tages eine direkte Verbindung zwischen dem Gehirn und dem taktischen Computer geben, ein Hardwire-Interface. Das ist der ganze Trick: Ihr müßt euch verhalten, als hättet ihr es bereits, als wärt ihr unmittelbar mit dem Schiff verbunden.« Susan, ist es das? Der Schlüssel zu der Notiz? Hardwire? Da vernahm Ivanova die Worte wieder getrennt von der Stimme in ihrem Kopf: »Susan, ist es das? Der Schlüssel zu der Notiz? Hardwire?« Talia Winters' Hand übte jetzt einen leichten, fordernden Druck auf die ihre aus. Ivanova richtete sich abrupt auf. »Ja! Ja, das ist es! Ich erinnere mich!« »Ich freue mich so für Sie. Was bedeutet es?« »Es heißt... es heißt, daß das Geheimnis irgendwo in meiner Starfury verborgen ist. Auf dem taktischen Schirm. Er hat es an einer Stelle versteckt, die ein Pilot ständig vor Augen hat und doch nicht wirklich wahrnimmt.« Sie war schon fast an der Tür, als sie sich noch einmal umdrehte. »Danke. Vielen, vielen Dank.«
29 Ivanova rannte fast den gesamten Weg zu den Cobra-Bays und konnte auch im Lift kaum stillstehen. Kein Wunder, dachte sie, kein Wunder, daß ich mich nicht erinnern konnte. J.D. hatte sich schon immer für neue Technologien wie Schiff/Geist-Verbindungen begeistert. Damals hatte sie nur im Cockpit eines Kampfschiffes sitzen wollen, um im Gefecht ihre Probleme zu vergessen und den Tod ihres Vaters zu überwinden. Sie lief an den überraschten Dockarbeitern vorbei, die ihr hinterher riefen: »Commander! Ein Alarm?« »Nein, alles in Ordnung!« gab sie zurück. »Ist mein Schiff klar?« Aber sie bedurfte gar keiner Antwort. Sie konnte das vertraute Schiff schon in seiner Zange hängen sehen. Sie hielt kurz inne und wandte sich an den Vormann der Schicht. »Jeder weiß doch, welches Schiff meins ist, oder?« »Warum, Commander?« Er blickte besorgt. »Befürchten Sie Sabotage?«
»Nein. Es geht nicht um Sabotage. Ich wollte es nur wissen.« »Gut. Dann ist alles in Ordnung?« »Ja, ich will nur etwas nachprüfen. Hab' ich bei meiner letzten Inspektion vergessen.« Sie glitt in das Cockpit. Die Kontrollen und Anzeigen waren ihr mehr als vertraut, sie waren fast schon ein Teil ihrer selbst. Der taktische Bildschirm war dunkel. Sie schloß kurz ihre Augen, um sie gleich darauf wieder zu öffnen. Sie aktivierte den Computer. Die Bildschirme erwachten zum Leben: Kontrollinstrumente, Zielerfassung ... J.D. hatte unter Druck gestanden. Er hatte nicht viel Zeit gehabt. Was immer er auch versteckt hatte, es war zu gefährlich gewesen, es bei sich zu tragen, und zu wertvoll, um es aufs Spiel zu setzen. Da hatte sie eine Idee. »Computer! Suche nach dem Schlüsselwort Hardwire.« »Keine Datei verfügbar.« Sie dachte einen Moment lang nach. »Schlüsselwort J.D.« »Datei verfügbar.« »Datei anzeigen.« Was nun vor ihren Augen auf dem Monitor erschien, war ihr völlig unverständlich. Ein Diagramm? Ein Code? Vielleicht die Karte eines Sternensystems? Es war so komplex, daß sie das Linienmuster erst zu erkennen vermochte, nachdem sie die Auflösung vergrößert hatte. Es bedeutete
etwas, ganz klar. Aber was? Der taktische Computer konnte ihr auch nicht mehr geben, als er bereits anzeigte. Das ist es also, ging es ihr durch den Kopf. Dafür bist du gestorben, J.D. ? Und die anderen? Welches Geheimnis konnte das wert gewesen sein? Er hatte gewußt, daß sie auf der Station war, und auch, welches Schiff das ihre war. Hatte ein Sympathisant des »Freien Mars« bei den CobraBays ihm das gesteckt? Er hatte die Informationen in ihrem taktischen Computer versteckt. Tief in den Datenspeichern, wo sie niemand finden konnte, der nicht Bescheid wußte und das Schlüsselwort nicht kannte. Ivanova empfand plötzlich wieder den Verlust und die Trauer darüber. Was war nur mit ihrem alten Fluglehrer geschehen? Wie sehr hatte er sich verändert, daß er in so etwas verwickelt werden konnte? »Verdammt, J.D.!« Aber das brachte sie kein Stück weiter. Sie übertrug die Daten auf einen Kristall, den sie in die Tasche ihrer Uniform gleiten ließ. Nun mußte sie nur noch herausfinden, was sie eigentlich gefunden hatte. Die kleine alte Putzfrau schrubbte immer noch den Boden der Cobra-Bays, und Ivanova trat einen Schritt zur Seite. Sie nahm die Bewegung kaum aus dem Augenwinkel wahr. Ein harter Schlag warf sie zu Boden - kein Besenstiel, ein Schockstab. Ihr
gesamtes Nervensystem kollabierte, alle Sinne verloren sich in einem weißen Rauschen. Als sie sich wieder ein wenig aufrappelte, fühlte sie Hände ihre Uniform durchstöbern und sie durchsuchen. Ihr erster Gedanke war: Vergewaltigung! Irgendein Spinner hatte sie überfallen. Aber dann nahm sie die Stimme deutlicher wahr, und sie erkannte sie. »Wo ist es ? Ich weiß, daß Sie es haben! Ich wußte es die ganze Zeit! Miss Saubere Akte! Miss Commander mit neunundzwanzig! Miss Heldin und Piratenjägerin! Er hat es Ihnen gegeben! Ich weiß es! Ich weiß ... Da ist er! Ja! Der Kristall! Sie hatten den Code. Ich wußte es!« Ivanova zwang sich dazu, ihre Augen zu öffnen. Für einen Moment dachte sie, ihr Gehirn würde nicht richtig arbeiten, denn sie hörte eindeutig Miyoshis Stimme. Sie war ihr aus vielen Alpträumen der vergangenen Nächte vertraut. Aber vor ihr stand die alte Putzfrau aus dem Bereitschaftsraum. Da verschwammen die beiden Gesichter ineinander, und Ivanova konnte Miyoshis Gesicht durch die falschen Runzeln hindurch erkennen. Hinter der Verkleidung verbarg sich der Offizier des Earthforce-Kommandos Myioshi. Sie hielt den Datenkristall in den Händen, und ihre Augen glänzten triumphierend, voller Genugtuung kostete sie den Moment aus.
Natürlich. Khatibs Verbrechen und Wallace' Versagen hatten Miyoshi geschadet. Ihre Karriere war ruiniert - mindestens ebenso wie ihre eigene. Der Datenkristall war ihre einzige Chance, sich zu rehabilitieren. Und Ivanovas Karriere? Allem Arischein nach hatte Miyoshi keinen Gedanken daran verschwendet. Dann bleibt es wohl an mir hängen, dachte Ivanova angeschlagen. Aber was konnte sie ausrichten, nachdem die Auswirkungen des Schocks noch nicht wieder abgeklungen waren ? Sie versuchte sich zu bewegen, ballte zuerst die linke Hand zur Faust, dann die rechte. Wenn sie ihr ComLink erreichen könnte ... Aber Lieutenant Miyoshi ließ sie keine Sekunde aus den Augen. Sie beugte sich hinunter und hielt den Kristall Ivanova vors Gesicht. »Ich habe ihn! Ich habe Sie die ganze Zeit beobachtet! Als Sie zu der Telepathin liefen, wußte ich, daß es nun passieren würde. Sie ahnen nicht, wie lange ich gewartet habe!« Sie richtete sich auf und schob den Kristall in eine Innentasche des Overalls, den sie trug. Aus einer anderen Tasche nahm sie einen kleinen Gegenstand, den Ivanova nicht genau zu erkennen vermochte. Ein kleiner Zylinder. Miyoshi lächelte, und dieses Lächeln gefiel Ivanova ganz und gar nicht. »Sie wissen, wo wir hier sind, nicht wahr?«
Wo auch immer sie waren, Ivanova war überzeugt, daß sie keinen Grund hatte, darüber so erfreut zu sein wie Miyoshi. Sie blinzelte, drehte den Kopf und versuchte die einfache, funktionelle Einrichtung des Waschraums genauer in Augenschein zu nehmen. Sie war auf dem Weg zum Bereitschaftsraum der Alpha-Staffel gewesen ... »Ironie, oder? Was meinen Sie, wieviel Spaß ihr Freund Garibaldi haben wird, diese Nuß zu knacken. Er spielt doch so gerne Detektiv.« Ivanova wußte, daß es um alles oder nichts ging. Sie holte mit ihren Beinen aus und versetzte Miyoshi einen Stoß, der sie nach hinten warf. Dann griff sie nach ihrem Interkom, um Hilfe zu rufen, vielleicht Garibaldi... Es war weg. Ihr Handrücken war frei. Und der Stoß hatte Miyoshi nur kurz gegen die Wand katapultiert. Der Lieutenant war schnell wieder auf den Beinen und erlangte ebenso schnell das Gleichgewicht wieder. Miyoshi drehte sich um und sah Ivanova, wie sie auf dem Boden herumtastend nach ihrem Com-Link suchte. Ihr Lächeln kehrte unversehens wieder. Sie griff in eine Tasche und holte einen weiteren Gegenstand heraus. Ivanovas Com-Link. »Suchen Sie danach?« Miyoshi ließ das Interkom wieder verschwinden und bückte sich vorsichtig nach dem Zylinder, den sie fallen gelassen hatte, als sie gestolpert war. Ivanova erkannte nun den Injektor. Sie hätte jede
Wette angenommen, daß der Zylinder mit Gift gefüllt war. Es würde also einen weiteren Mord auf Babylon 5 geben, eine weitere ungesühnte Bluttat. Denn Miyoshi war ja gar nicht mehr auf der Station. Sie war mit ihrem Boß zur Erde zurückzitiert worden. Wer war der Täter? Captain Sheridan wird furchtbar sauer sein, dachte sie mit unangemessener Klarheit. Er hatte genug von solchen Verbrechen. Miyoshis Runzeln schienen sich tiefer in ihr Gesicht einzugraben, als sie an dem kleinen Gerät herumfummelte. Schließlich gab sie auf und schleuderte es mit einem angewiderten Gesichtsausdruck zu Boden. »Das ist aber ärgerlich. Es ist kaputt.« Sie behielt Ivanova im Auge, während sie sich den Schockstab angelte, der an ein Waschbecken gelehnt war. »Wie Sie wissen«, sagte sie im Plauderton, »sind diese Dinger angeblich nicht tödlich. Aber da Sie mal für die Sicherheit gearbeitet haben, wissen Sie es sicher besser. Es braucht seine Zeit, aber es funktioniert. Und Sie lassen mir keine andere Wahl. Zu dumm, daß Sie keine Waffe bei sich tragen. Die hätte ich jetzt brauchen können.« Sie drehte am Griff des Schockstabs, bis dieser die höchste Stufe erreicht hatte. Ivanova wußte mit der Gewißheit der Verzweiflung, daß ihr nur noch eine Chance blieb. Wenn sie doch nur nicht so hilflos hingestreckt auf dem Rücken liegen würde.
Miyoshi kam näher und hielt den Schockstab wie ein Schwert vor sich. Ivanova beobachtete sie gespannt, und Miyoshi wartete nur auf eine Reaktion. Sie waren beide kampferfahren, und beide lauerten nur auf eine Schwäche des Gegners, auf eine Öffnung der Deckung des anderen. Nach nur einer Berührung mit dem Schockstab würde Ivanova wieder hilflos sein. Sie drehte sich mit, um Miyoshi immer vor Augen zu haben. Sie war in der ungünstigeren Lage, aber von Minute zu Minute kehrten ihre Kräfte wieder, gewann sie ihre Koordinationsfähigkeit zurück. Aber Miyoshi wußte das auch. Plötzlich stürzte sie sich auf Ivanova. Die rollte sich weg und versuchte, auf die Füße zu kommen. Aber ihre Muskeln reagierten immer noch zu träge. Der Stab traf sie an der Hüfte. Mit einem Mal schienen ihre Nerven zu explodieren. Alle auf einmal... Garibaldi hörte den Ruf über sein Com-Link und den Sicherheitskanal gleichzeitig. »Sicherheit! Mr. Garibaldi! Es geht um Commander Ivanova! Sie ist in furchtbaren Schwierigkeiten! Sie müssen sie finden!« »Alarm auslösen!« befahl er. Dann erkannte er die Stimme. »Talia? Was geht da vor sich?« »Ich weiß es nicht! Ich weiß nur, daß sie in Gefahr schwebt! Bitte! Beeilen Sie sich! Finden Sie sie, bevor es zu spät ist!«
»Lokalisieren Sie ihr Com-Link!« befahl Garibaldi den Sicherheitskräften. »Verständigen Sie den Captain. Sagen Sie ihm, was hier los ist.« Die Stimme des Computers meldete: »Commander Ivanova befindet sich im Bereitschaftsraum der Alpha-Staffel.« »Das ist...« Er beendete den Satz nicht. Das war der Ort, an dem Ortega getötet worden war. »Taktische Schwadron B, zu mir! Alle verfügbaren Sicherheitskräfte zum Bereitschaftsraum der AlphaStaffel! Sofort!« Garibaldi stürmte an der Spitze seiner Truppe in den Bereitschaftsraum, aber ein anderer Offizier war bereits da. Er deutete auf die Tür zum Waschraum. »Sie sind dort drin.« Der Chief eilte zum Waschraum. Er spürte den Geruch einer starken elektrischen Entladung in der Nase. Drei Sicherheitsbeamte knieten am Boden. Zu ihren Füßen lagen zwei regungslose Gestalten. Ivanova ... Garibaldi wollte sich dazwischen drängen, aber der am nächsten hockende Sicherheitsmann blickte zu ihm auf. »Sie lebt, Mr. Garibaldi. Bloß bewußtlos. Das Med-Lab ist informiert.« Ein weiterer Mann stand auf und präsentierte einen Schockstab. »Das hatte sie in der Hand. Sie benutzte es gegen den Commander. Ich befahl ihr, ihn fallen zu lassen und die Hände zu heben. Da ist sie auf uns losgegangen.«
Der Offizier, der bei der anderen Gestalt am Boden kauerte, richtete sich langsam auf. »Sie ist tot.« Garibaldi trat näher, um zu sehen, wer es war. »Miyoshi!« rief er. »Lieutenant Miyoshi!« Der Sicherheitsbeamte, der sie erschossen hatte, schien stark verunsichert. »Sie attackierte Commander Ivanova, Chief. Sie wollte ihre Waffe nicht fallen lassen.« »In Ordnung«, versicherte ihm Garibaldi. »Sie können das in Ihrem Bericht so schreiben.« Er sah Ivanova an, die immer noch am ganzen Leibe zitterte. »Wo bleibt die Med-Einheit?« In diesem Augenblick hastete das medizinische Notfallteam in den Raum, Dr. Franklin an der Spitze. »Ivanova ist verletzt?« »Schockstab«, beschied ihm Garibaldi knapp und machte den Sanitätern den Weg frei. Er schickte die Sicherheitsleute aus dem Raum. Ihre Arbeit war vorerst getan. »Die hier ist tot«, berichtete der Arzt von der anderen Seite des Raumes. »Plasmastoß. Blattschuß.« Franklin setzte Ivanova einen Injektor an. »Sie kommt durch«, verkündete er. »Commander Ivanova? Können Sie mich hören? Können Sie sprechen?« Nun schob sich Garibaldi wieder heran. Ivanova zitterte. Ihre Lippen bewegten sich vage. Für ihn ergab es einen Sinn: »Mi... yo ... shi.«
»Ist schon erledigt«, beruhigte er sie. »Miyoshi ist nicht mehr wichtig. Sie sind in Sicherheit.« »Ga ... ri...« »Genau, der bin ich. Sie hat Sie mit einem Schockstab behandelt, aber das kriegt der Doktor schon wieder hin.« Aber diese Diagnose wollte Franklin nicht der Sicherheitsabteilung überlassen. Er lüpfte Ivanovas Augenlid und leuchtete ihr mit einem Instrument in die Pupille. »Hm«, machte er. »Sieht ganz gut aus. Aber ich werde sie zur Sicherheit ins Med-Lab bringen lassen, damit wir einen neurologischen Scan durchführen können.« Ivanova blinzelte und versuchte, den Kopf zu heben. »Nein! Warten Sie! Miyoshi... die Daten ... der Kristall.« »Miyoshi hat einen Datenkristall?« fragte Garibaldi. »Ortega ... Ich habe ihn gefunden.« Nun verstand der Chief. »Keine Angst. Den find' ich schon. Einen Augenblick. Schafft die Leiche noch nicht raus.« Er kniete nieder und kramte in den Taschen des Overalls. Der kam eindeutig aus der Wartungsabteilung. Das Makeup ließ ihr Gesicht fast doppelt so alt aussehen. Er hoffte, keine Leibesvisitation vornehmen zu müssen. Er haßte es, wenn Leute Gegenstände runterschluckten, damit sie schwerer zu finden waren. Aber das wäre Franklins Aufgabe.
Kein Problem. Er fand den Kristall in einer Innentasche und steckte ihn in seine Uniform. Dann folgte er dem Med-Team, das Ivanova abtransportierte. Er wollte die gute Nachricht selbst überbringen. Sie saß schon wieder halbwegs aufrecht, als er in der Krankenstation ankam. Auf Franklins Behandlung hatte sie gut angesprochen. Captain Sheridan stellte ihr einige Fragen, aber als Garibaldi zur Tür hereinkam, wäre sie fast vom Tisch gesprungen, ehe ein aufmerksamer Helfer sie zurückhielt. »Haben Sie ihn? Haben Sie ihn gefunden?« »Hier drin.« Er klopfte auf seine Tasche. »Wissen Sie, was das ist?« »Nein. Es ist nichts, was ich schon mal gesehen habe. Vielleicht ist es nicht mal irdischen Ursprungs.« »Hm.« Garibaldi drehte den Kristall prüfend um und um, als könne er die abgespeicherten Daten mit dem bloßen Auge ausmachen. »Darf ich das mal sehen?« fragte Captain Sheridan. Im nämlichen Augenblick kam Talia atemlos in den Behandlungsraum gestürmt. »Es heißt, Sie hätten sie gefunden. Es heißt - Susan, wie geht es Ihnen?« Ivanovas Kopf zückte zurück, als hätte sie einen Schlag erhalten. »Mir ... mir geht es ganz gut, danke«, sagte sie rasch, aber Garibaldi konnte die
nervösen Flecken sehen, die in ihr Gesicht traten. Gleichzeitig schien Talia zu erbleichen. Garibaldi nahm sie beiseite und fragte leise: »Es würde mich schon interessieren, woher Sie wußten, daß Ivanova in Schwierigkeiten war, als Sie mich anriefen?« Talia stotterte. »Ich weiß nicht... Ich ... Sie hatte mich in einer... vertraulichen Angelegenheit aufgesucht. Ich vermute, die Verbindung war noch nicht ganz abgerissen. Wir waren uns sehr... nahe gewesen. Ich weiß nicht, aber irgendwie spürte ich, daß sie in Gefahr war.« Garibaldi sah zu Ivanova hinüber. »Sie hat Sie aufgesucht? Als Telepathin?« Sie war ziemlich verzweifelt«, sagte Talia und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Die Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück. Ivanova hatte zugehört. »Ja, ich habe Miss Winters in ihrer Eigenschaft als Telepathin konsultiert. Es war notwendig, um hinter die Bedeutung von Ortegas Notiz zu kommen.« Es war deutlich zu erkennen, daß sie sich schwertat. »Ich bin froh, daß Miss Winters Hilfe gerufen hat.« »Und ich bin froh, daß Sie nicht ernsthaft verletzt wurden«, antwortete Talia, und ihre Stimme klang noch gefaßter und kühler als die von Ivanova. »Im Augenblick sind mir entschieden zu viele Menschen in diesem Raum.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und verließ den Raum, während Sheridan Garibaldi einen
Wissen-Sie-was-das-alles-soll?-Blick zuwarf. Der Sicherheitschef schüttelte den Kopf. Keiner der beiden Männer hatte sich getraut, die Frauen zu unterbrechen, und Ivanovas Blick ermutigte niemanden, Fragen zu stellen. »Der Kristall«, fing sie erneut an. »Wir müssen nachsehen, was darauf gespeichert ist.« Sheridan blickte den Gegenstand an, der immer noch in seiner Hand ruhte. »Dafür sind also alle gestorben«, bemerkte er leise. »Ich frage mich, was das hier wohl wert ist.« Er schob den Kristall in eine bereitstehende Computerkonsole und sah das Muster auf dem Bildschirm erscheinen. »Was soll das denn sein?« Dem Computer befahl er: »Analyse!« »Analyse läuft«, kam es zurück. »Moment!« rief Ivanova. »Das ist mein Kristall. Ich will zusehen.« Auf Garibaldi gestützt, kam sie auf die Beine. Auch Franklin kam dazu. Er war immer an neuen Technologien interessiert. »Ich finde«, sagte er langsam, »das sieht wie das Diagramm eines Atoms aus. Ein ziemlich großes Atom.« Sekunden später gab ihm der Computer recht. »Wahrscheinlichste Analyse: Das Schema eines Isotops eines unbekannten Elements. Wahrscheinlich ein Element der Gruppe VI b, atomare Zählung 156; abnormale Elektronenhülle und Präsenz eines unbekannten subatomaren Partikels.«
»Das ist unmöglich!« rief Franklin überrascht aus. »Es gibt kein Element 156. Und selbst wenn, wäre es so radioaktiv, daß man seine Halbwertzeit in Nanosekunden messen müßte. Es wäre zu instabil, um zu existieren! Und sehen Sie hier: Sein Gewicht ist doppelt so hoch wie das herkömmlicher Isotopen eines Elements dieser Art.« Der Computer fuhr fort: »Das Element ist künstlicher Herkunft und kommt in der Natur nicht vor. Das Resultat eines abnormalen subatomaren Partikels, eines unbekannten Kernbausteins, der den Atomkern stabilisiert.« »Ein unbekannter subatomarer Kernbaustein? Ein neues, künstliches Element?« staunte Captain Sheridan. »Das kann nicht von Menschen entwickelt worden sein.« Der Computer stimmte zu. Sie sahen vor sich den Bauplan für ein völlig neuartiges Metall außerirdischen Ursprungs. »Aber wofür soll das gut sein?« fragte Garibaldi mißtrauisch. »Warum bringt jemand links und rechts Menschen um, nur um da ranzukommen?« »Die geschätzte Analyse ergibt einen Schmelzpunkt von 6180 Grad; Siedepunkt bei n 500 Grad; Leitfähigkeit nach Index 0:42 ...« »Das ist Supermorbidium!« rief Ivanova. »Kein natürliches Metall kann derartigen Temperaturen widerstehen! Ich weiß sogar, wofür das gut ist: für die Phasenspulen von Plasmaphasen-Waffen!«
Jeder im Raum starrte die Darstellung sprachlos an. »Das würde die Waffentechnologie revolutionieren«, sagte Sheridan leise. »Der strategische Vorteil wäre enorm.« Er erinnerte sich an die Worte des Admirals: Informationen, die lebenswichtig sind für die Verteidigung der Erde. »Für diese Art von Information töten sogar Regierungen«, fügte Garibaldi hinzu. »Und gewöhnliches Morbidium wäre für strategische Zwecke mit einem Schlag wertlos«, sagte Ivanova langsam. »Und wenn Morbidium deine einzige Einnahmequelle ist...« »... dann würdest du töten, damit niemand diese Information in die Hand bekommt«, vervollständigte Garibaldi ihren Gedanken. Aber Ivanova war nicht sicher. »Vielleicht. Vielleicht würdest du aber auch versuchen, als erster die neue Technologie auf den Markt zu bringen. Aber dafür brauchst du Kapital. Sobald etwas über das neue Metall nach außen dringt, gehen deine Aktien in den Keller... Du müßtest so schnell wie möglich verkaufen, jeden möglichen Profit einstreichen.« Sie schüttelte den Kopf. Ökonomie war kein so klar berechenbares Feld wie Astrogation oder Hyperraum-Feldtheorie. Vieles blieb undurchsichtig. Ihr wurde klar, daß sie vielleicht nie herausfinden würde, was J.D. mit den Daten vorgehabt hatte. Hatte die Aussicht auf unermeßlichen Reichtum ihn korrumpiert? Oder
hatte er die Informationen der Earthforce zuspielen wollen und war dabei in die Verschwörung rund um AreTech geraten? Oder war er vielleicht doch ein Mitglied von »Freier Mars« gewesen und hatte mit der Entdeckung seine politischen Ziele unterstützen wollen? Captain Sheridan schien sich zumindest einer Sache sicher. »Commander Ivanova«, sagte er fest, »ich möchte, daß Sie ins Kommando-Büro kommen. Wir werden Admiral Wilson von den Vereinigten Stabschefs anrufen. Das dürfte sehr aufschlußreich werden.«
30 Es war still in der Beobachtungskuppel von Babylon 5 in einer der raren Stunden, da kein Schiff ankam oder abflog. Nur die Basismannschaft tat Dienst an ihren Computerkonsolen. Auf der oberen Ebene der Kuppel stand Commander Ivanova vor ihrem Pult, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Die flackernden Lichter funkelten und spiegelten auf dem gewölbten Glas über ihr, aber Ivanova sah hindurch in die endlose, schwarze Ferne des Alls unter den schweigenden Sternen. Ihre Augen sahen nur Frieden und Stille. Aber die Instrumente in ihrer Konsole sahen viel weiter und tiefer, registrierten Energien jenseits der menschlichen Wahrnehmung. Es gab Kriege da draußen zwischen den Sternen; der Weltraum war eine Arena. Es gab Schiffe und Waffen - Waffen, die immer mächtiger wurden, immer zerstörerischer. Nun streckte die Erde ihre Hand nach außerirdischem Wissen aus, um außerirdische Waffen in Menschenhand zu legen. Ivanova wußte
nicht, was sie mehr fürchten sollte: das destruktive Potential der Technologie oder was die Menschen damit anfangen würden. Es war nicht die Zeit, solche Fragen zu stellen, denn in diesem Augenblick meldete ein Techniker: »Commander Ivanova! Wir registrieren einen starken Anstieg an Tachyonen-Emissionen. Etwas sehr Großes kommt durch das Sprungtor!« »Ich bin dran«, bestätigte sie schnell und wandte sich wieder dem Hauptschirm zu. Sie hatte das Kommando.