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Nur ein Soldat hat den sinnlosen Angriff des verrückten Hauptmanns Isaac Henry Burton auf den Landeplatz der fünf spanischen Karavellen in der Dungarvanbai überlebt: Jake Tinkler, ein einfacher Soldat. Er weiß als einziger, welches Schicksal Philip Hasard Killigrew und den drei englischen Galaonen droht - aber Tinkler ist mit seinen Kräften am Ende. Er kann den Seewolf nicht mehr warnen. Und wenige Stunden später tobt über Dungarvan die Hölle. Hasard muß die schlimmste Niederlage seines Lebens einstecken …
PHILIP HASARD KILLIGREW wurde ›Seewolf‹ genannt, denn er war der Härteste in der Seeräubersippe der Killigrews. Er machte nicht nur die Küste Cornwalls unsicher. Er segelte über alle alle Meere der Welt, als Seemann so perfekt wie als Pirat. Ihm folgten noch viele Generationen der Seewölfe. Sie alle waren Kaperfahrer, Eroberer und Entdecker. P. H. Killigrews große Seeabenteuer begannen 1576 an Bord der ›Marygold‹ - unter dem Kommando von Sir Francis Drake, dem größten Korsaren unter Königin Elisabeth I., der dazu beitrug, daß England zur größten Seemacht der Welt aufstieg.
William Garnett
Im Kugelhagel
Seewölfe Band 22
DIE AUTHENTISCHEN ERLEBNISSE, KAPERFAHRTEN UND SEESCHLACHTEN DES PHILIP HASARD KILLIGREW
1. Der Soldat Jake Tinkler stolperte durch das nächtliche Dunkel. Nasse Zweige peitschten ihm ins Gesicht, von der Irischen See wehte ein eisiger Wind. Seine Zähne schlugen aufeinander, wenn eine Bö in seine nassen Kleider fuhr. Am liebsten hätte er sich irgendwo verkrochen wie ein verwundetes Tier, das die Sicherheit und Wärme seiner Höhle sucht. Aber er wußte, daß er nicht schlappmachen durfte, daß er weiter mußte, zu der kleinen Bucht im Nordosten der Dungarvanbai, in der die drei britischen Galeonen lagen. Er stieß mit der Stirn gegen einen Ast, den er in der Dunkelheit nicht bemerkt hatte. Die harte Borke riß den dünnen Schorf von der langen Messerwunde, und der plötzliche Schmerz ließ ihn stöhnend zusammenbrechen. Jake Tinkler blieb liegen und schloß die Augen. In dieser momentanen Schwächeperiode spürte er auch wieder die brennenden Schmerzen der anderen Wunden, des tiefen Messerstichs im rechten Oberschenkel und der angeschwollenen Platzwunde auf dem Kopf, die ihm ein irischer Musketenkolben geschlagen hatte. Deutlich sah er die Szene des Kampfes am Bootsanleger wieder vor sich. Nach einem sinn- und planlosen Angriff auf den Landekopf der Iren und Spanier waren er und drei Kameraden von einer Übermacht auf die Bootspier abgedrängt worden. Sie hatten sich verzweifelt gewehrt und sechs oder sieben ihrer Gegner erledigt, bis einer nach dem anderen gefallen war. Deutlich sah er die beiden riesigen, bärtigen Iren vor sich, die ihn immer wieder auf die morschen Bohlen des Anlegers hinausgetrieben hatten. Seine Muskete hatte er langst verloren. Er wehrte sich mit dem kurzen Entersäbel gegen die beiden Männer und wußte, daß er ihnen nicht entkommen konnte.
Dort, wo die Pier zu Ende war, würde auch sein Leben zu Ende gehen. Spätestens am Ende der Pier. Und wenn er dennoch verbissen und mit aller Kraft weiterkämpfte, so nur, weil sein Überlebensinstinkt stärker war als die Erkenntnis des unvermeidbaren Endes, und um wenigstens einen der beiden in die Ewigkeit mitzunehmen. Und das hatte er auch geschafft. Einer der beiden Iren war mit einer spanischen Muskete bewaffnet gewesen, der andere mit einem langen, gekrümmten Messer. Jake Tinkler wußte, daß der Mann mit dem Messer der gefährlichere der beiden war. Die Muskete war leergeschossen, und der Mann schwang die schwere, plumpe Waffe wie eine Keule. Den langen, weitausholenden Schlägen konnte er ausweichen, wenn er aufpaßte, nicht aber den raschen, kurzen Stichen des Messers. Einmal hatte der Ire ihn schon erwischt. Der Stich hatte ihn zwar nicht in die Halsgrube getroffen, wie es beabsichtigt gewesen war, aber seine Ausweichbewegung war zu langsam gewesen, um ihn ganz fehlgehen zu lassen. Die scharfe Klinge hatte seine Stirn getroffen und eine lange, tiefe Wunde gerissen. Jake Tinkler hatte den Musketenmann ständig im Auge behalten und die weitausgeholten Schläge der Waffe durch Abducken und rasche Sprünge zur Seite vermieden. Gleichzeitig mußte er die Klinge des anderen Gegners durch Ausweichen und Paraden mit seinem Entersäbel abwehren und nach einer Gelegenheit suchen, ihn zu erledigen. Sie war gekommen, als er das Ende der Pier fast erreicht und kaum noch Raum zum Ausweichen hatte. Der Mann hatte wieder einen von oben geführten Stich in die offene, vom Brustpanzer ungeschützte Halsgrube führen wollen. Dabei war er für den Bruchteil einer Sekunde ohne Deckung, und Tinkler nutzte die Gelegenheit, um ihm den Entersäbel bis zum Heft unter die Rippen zu stoßen. Der Mann war tot, als er auf die Planken der Pier sank. Das hatte ihn für einen Augenblick von
dem Mann mit der Muskete abgelenkt. Er spürte einen harten Schlag auf dem Hinterkopf, und dann versank seine Welt in einem tiefen, weichen Dunkel. Der Schock des eisigen Wassers und Atemnot hatten ihn Sekunden später wieder aus der Bewußtlosigkeit erwachen lassen. Zu seinem Glück hatte ihn die Strömung unter die Holzpier getrieben. Ohne den Halt an den dicken, halb verrotteten Pfeilern und Querverstrebungen wäre er nie wieder an die Wasseroberfläche gelangt. Und außerdem hätten ihn die Iren und Spanier sonst auch sofort entdeckt und mit ihren Musketen erschossen. Er hatte sich an eine der glitschigen Querstreben geklammert und völlig ruhig verhalten, bis sein Kopf wieder einigermaßen klar war. Er hörte den verebbenden Kampflärm und wußte, daß jetzt auch die letzten seiner Kameraden hingemetzelt wurden. Sie waren alle tot, bis auf ihn. Und bis auf den Bastard, der fünfzig Männer sinnlos geopfert hatte, nur um seinen Willen gegen den Seewolf, Philip Hasard Killigrew, durchzusetzen. Seine Schmerzen, die eisige Kälte des Wassers und seine Benommenheit waren vergessen, als er an Captain Isaac Henry Burton dachte, der ihn und die anderen in den Tod gehetzt und sich dann, zusammen mit dem Profos, feige verdrückt hatte. Burton würde für dieses Verbrechen bezahlen, nahm Tinkler sich vor, und wenn er selbst daran zugrunde gehen sollte. Und der Haß auf Burton gab ihm die Kraft, durchzuhalten. Sein Verstand funktionierte wieder mit der gewohnten Klarheit des erfahrenen Soldaten, der seit elf Jahren, seit seinem siebzehnten Lebensjahr, gegen Spanier und Iren gekämpft hatte. Zunächst einmal mußte er seinen Brustharnisch ablegen, überlegte er, der ihn jetzt nur behinderte. Es kostete ihn erhebliche Mühe, die vom Wasser aufgequollenen Riemen zu lösen, und dabei auch möglichst kein Geräusch zu verursachen. Er atmete erleichtert auf, als er den Harnisch endlich frei hatte
und ihn im flachen Wasser versinken ließ. Aber damit versank auch der letzte Teil seiner Ausrüstung. Er trug jetzt nur noch Hose und Hemd, und als einzige Waffe ein Messer im Gürtel. Er duckte sich unwillkürlich zusammen, als er über sich schwere Schritte auf den Bohlen der Pier hörte. Durch die Ritzen sah er die Schatten der Männer, die jetzt zum Kopfende der Pier gingen, hörte spanische und irische Flüche, und dann das Schleifgeräusch, als sie die Toten an Land zogen. Wenn nur einer auf den Gedanken verfallen wäre, durch die breiten Ritzen zwischen den Bohlen unter die Pier zu blicken, wäre er erledigt gewesen. Aber es sah keiner hinunter. Sie waren überzeugt, daß er durch den Kolbenhieb erledigt worden oder ertrunken war. Jake Tinkler spürte, wie die Kälte in ihm emporkroch, und er wußte, daß er es nicht mehr lange aushalten würde. Aber solange es hell war, bestand nicht die geringste Aussicht, ungesehen von hier zu entwischen. Er mußte warten, bis es dunkel war, aber er bezweifelte, ob er es so lange aushalten würde. Durch die eisige Kälte des Wassers wurden auch die Schmerzen seiner Wunden stärker spürbar. Mehrere Male war er nahe daran, wieder bewußtlos zu werden. Sein dunkles Haar war blutverklebt. Wie eine steife Perücke hatte das trocknende Blut es ihm an den Schädel geklatscht. Vorsichtig tastete er nach der Beinwunde. Er wußte nicht, ob die Feuchtigkeit, die er fühlte, Wasser oder Blut war. Der Stich im Oberschenkel bereitete ihm am meisten Sorge. Wenn er nicht mehr gehen konnte, würde er nie ... Er entdeckte die Kiste erst, als sie die Pier fast erreicht hatte. Es war eine alte, roh zusammengehämmerte Holzkiste, wie man sie auf den Schiffen für Zwiebeln und Gemüse verwendete. Der Ebbstrom trieb sie in knapp drei Yards Entfernung am Kopf der Pier vorbei. Bevor Jake noch richtig bewußt wurde, daß ihm das Schicksal
hier eine Möglichkeit des Entkommens bot, hatte er scho n tief Luft geholt und schwamm mit ein paar Stößen unter Wasser auf die treibende Kiste zu. Sekunden später tauchte sein Kopf wieder aus dem Wasser - innerhalb der Kiste, die vom Ebbstrom langsam zum anderen Ufer der Dungarvanbai getrieben wurde. Der Soldat Jake Tinkler erhob sich stöhnend und ging weiter. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt, und es fror ihn noch mehr als vorher. Aber die Kälte half ihm auch, wach zu bleiben. Er mußte in dieser Nacht wach bleiben, hellwach, wenn er sein Ziel erreichen wollte: die Ankerbucht der drei englischen Galeonen. Voraus sah er plötzlich einige matte Lichter durch das Dunkel schimmern. Er blieb stehen und lehnte sich an einen Baum, um zu überlegen und sich zu orientieren. Er war hier am Westrand der Dungarvanbai. Das Dorf, das da nur eine knappe halbe Meile entfernt vor ihm lag, mußte Dungarvan sein. Jake Tinkler ging weiter, vorsichtiger und noch wacher als zuvor. Als er sich den Lichtern auf zwei-, dreihundert Yards genähert hatte und schon die Umrisse der Häuser erkennen konnte, verhielt er wieder. Wie ein sicherndes Wild starrte er zu der kleinen Ansammlung der Häuser hinüber. Häuser in Irland bedeuteten Menschen, Gefahr. Ich sollte das Dorf in weitem Bogen umgehen, dachte er, und hinter ihm wieder zum Ufer der Bucht zurückkehren. Aber er wußte, daß er am Ende seiner Kräfte war, daß jedes Mehr ihm die letzten Reserven rauben würde, die ohnehin eigentlich überhaupt nicht mehr vorhanden waren. Außerdem bedeutete ein Dorf Wasser, einen Brunnen. Fünfzehn Stunden waren seit dem Kampf auf der Bootspier vergangen, fünfzehn Stunden ohne einen Tropfen Wasser. Der Blutverlust steigerte seinen Durst ins Unerträgliche, sein Körper schrie nach Flüssigkeit. Noch ein paar Sekunden zögerte er, dann wurde der brennende Durst stärker als die warnende Stimme. Wer sollte
um diese Stunde denn noch auf sein? dachte er. Es war jetzt schließlich elf Uhr nachts oder sogar noch später. Die meisten Häuser waren dunkel, und die paar Menschen, die jetzt noch wach waren, hatten anderes zu tun, als draußen herumzulaufen. Eine knappe Viertelstunde später hatte er den Ortsrand von Dungarvan erreicht. Ein typisches irisches Fischerdorf, stellte er mit einem Blick fest. Zumindest einfache, schon etwas windschief wirkende Holzhäuser, nur die Kirche und ein Haus in der Nähe der Bootspier waren aus Stein erbaut. Vor dem Steinhaus befand sich der kleine Dorfplatz mit dem Brunnen. Jake Tinkler blickte sich um. Kein Mensch war zu sehen, nirgendwo vernahm er einen Laut. Nur aus der Ferne hörte er das Jaulen eines Hundes, und von der Bai her ertönte der heisere Schrei einer Möwe. Geduckt ging er auf den Brunnen zu. Gott sei Dank, der Trog war noch halb gefüllt. Er brauchte das Wasser nicht heraufzuziehen. Jake sank am Brunnenrand in die Knie und trank. Nein, er trank nicht, er soff wie ein verdurstendes Tier, ließ das Wasser in den ausgedörrten Körper hineinlaufen und hatte das Gefühl, noch nie etwas so Herrliches, Köstliches getrunken zu haben. Er richtete sich auf, als er Stimmen aus dem Dunkel hörte, Stimmen, die sich dem Platz und ihm näherten. Er sprang auf, und beinahe wäre das verletzte Bein unter der plötzlichen Belastung zusammengeknickt. An Flucht war nicht zu denken und an einen Kampf erst recht nicht. Er hatte nicht mehr Zeit, sich nach einer passenden Deckung umzusehen. Mühsam humpelte er auf das Steinhaus zu, das dem Brunnen am nächsten war, und drückte sich in den tiefen Schatten einer Nische zwischen Tür und einem aufgeschichteten Haufen Feuerholz. Drei Gestalten tauchten aus den Schatten der Holzhäuser am Südrand des Dorfes auf. Es waren drei Männer, die sich dem Brunnen näherten und an ihm vorbeischritten. Sie gingen genau auf Tinkler zu.
Er preßte sich noch fester an die rauhe, feuchte Hauswand und wäre am liebsten in sie hineingekrochen. Einer von ihnen war ein Spanier, wie er an dem mühsamen Englisch erkannte. Die beiden anderen waren Iren. Unmittelbar vor seinem Versteck blieben die drei stehen. Jake Tinkler hielt den Atem an, als einer der drei sich mit der Hand gegen die Hauswand stützte. Unmittelbar neben seinem Gesicht. Die Hand roch nach Fisch und Zwiebeln, stellte er mechanisch fest. Dann wurde sie weggezogen, und die drei Männer traten ins Haus. Jake Tinkler rutschte an der Wand in die Knie und ging in die Hocke, bis Atem und Herzschlag wieder ruhig geworden waren. Weg, war sein einziger Gedanke, du mußt weg von hier, so rasch wie möglich, bevor die drei Männer wieder auftauchen. Doch nach diesen Gedanken der ersten Paniksekunden schaltete sich sofort der Verstand des Soldaten wieder ein. Wer war der Spanier? Was wollte er hier? Wahrscheinlich ein Offizier einer der fünf spanischen Karavellen, die den irischen Aufständischen Waffen und Munition gebracht hatten, was Kapitän Francis Drake mit seinen drei Galeonen zu verhindern versucht hatte. Er mußte erfahren, was die drei zu besprechen hatten. Jake Tinkler hob den Kopf. Die beiden vorderen Fenster des Hauses waren dunkel. Wahrscheinlich befanden sich die drei Männer in einem der rückwärtigen Zimmer. Er löste sich aus der dunklen Nische und schlich vorsichtig um das Haus herum. An der Hausecke blieb er ein paar Sekunden stehen. Ja, er hatte recht gehabt. Aus einem der Fenster fiel Licht, und jetzt hörte er auch leise Stimmen. Aber der kleine Hof hinter dem Haus war ohne Schatten und Deckung. Der Mond stand zwar hinter einer dichten Wolkendecke, doch sein Licht war immer noch ausreichend, um jede Gestalt, jede Bewegung deutlich erkennen zu lassen -
wenn man darauf achtete, schränkte Jake Tinkler ein, als er an den Stellagen mit ihren zum Trocknen aufgespannten Fischernetzen vorbei zur Hauswand blickte. Er mußte sich eben darauf verlassen, daß die drei Männer - und auch alle anderen Dorfbewohner in der Nähe - andere Dinge zu tun hatten, als aus dem Fenster in den Hinterhof zu blicken. Mit einer mechanischen Bewegung griff er nach seinem Messer und überzeugte sich, daß es an seinem gewohnten Platz im Gürtel steckte. Dann drückte er sich von der Mauer ab und schlich langsam, tief geduckt, auf das halboffene Fenster zu, aus dem der Lichtschein fiel. »... wenn nicht dieser verdammte Engländer die Höhle mit dem Pulver und den Waffen in die Luft gesprengt hätte«, hörte er eine wütende Stimme sagen. Jake Tinkler grinste. Er hatte sich etwas Ähnliches gedacht, als er nach Überqueren der Bai unter der treibenden Kiste zitternd vor Kälte und Schmerzen im Schutz der Uferklippen gehockt und das Krachen einer Explosion gehört hatte. »War das der Große, Dunkelhaarige, der drüben am Südufer der Bai mit sieben anderen Männern alle unsere Angriffe abgewehrt hat?« fragte eine Stimme mit breitem, irischen Tonfall. »Ja, der war es. Wahrscheinlich einer der Offiziere.« »Nein, der Kapitän«, sagte die dritte Stimme. »Ich habe schon von ihm gehört. Sie nennen ihn den Seewolf.« Jake Tinkler nickte befriedigt. Der Mann, der sich dem sinnlosen Einsatz Captain Burtons am schärfsten widersetzt hatte: Philip Hasard Killigrew. »Wir werden den Wolf mal das Schwimmen lehren«, sagte die Stimme des Spaniers amüsiert. »Seine verdammte Galeone blockiert die Ausfahrt der Stiefelbucht und hält uns hier fest. In genau einer Stunde, um Mitternacht, gehen wir mit ein paar Booten längsseits, um sie zu entern und zu kapern. Die ›Isabella von Kastilien‹ ist ohnehin rechtmäßig
spanisches Eigentum, das dieser Freibeuter uns gestohlen hat.« Die beiden anderen lachten. Jake Tinkler hörte das Klirren von Gläsern und weitere Gespräche. Er hörte sie, aber er nahm sie nicht auf, weil sein Verstand damit beschäftigt war, nach einem Weg zu suchen, den Seewolf und die Männer der ›Isabella‹ vor dem bevorstehenden Überfall zu warnen. Aber wie? Er brauchte ein Boot, um rasch an Bord der ›Isabella‹ oder eine der beiden anderen Geleonen zu gelangen. Normalerweise war das kein Problem. In jedem Fischerhafen lagen irgendwelche Kähne herum, die man nur ins Wasser zu schieben brauchte. Aber in seinem jetzigen Zustand würde er nicht einmal eine lose Planke vom Ufer schleifen. »Wir müssen die Galeone unbedingt heute nacht beseitigen, weil morgen ein zweiter Transport von Waffen und Munition eintrifft«, sagte der Spanier jetzt, und damit war Tinklers Aufmerksamkeit wieder bei der Unterhaltung der drei Männer. »Die Engländer sollen nicht glauben, daß die Vernichtung dieses einen Lagers in den Drum Hills die Absichten Spaniens vereiteln kann.« »Sehr richtig.« Die Stimme des Iren klang wie eine rostige Feile. »Wir wissen schon, warum wir uns mit dem König von Spanien verbündet haben.« »Dem Verteidiger der Rechtgläubigen«, sagte der Spanier salbungsvoll. »Jawohl, auch wegen der Kirche, und weil unser Pfarrer sagt, daß wir gegen die Ketzer kämpfen sollen.« Das war der andere Ire, dessen Stimme so träge und schleppend klang, als wenn er jedes Wort durch dicken Sirup zog. »Aber vor allem, weil uns die Spanier mit allem versorgen, was wir für den Kampf gegen die Engländer brauchen.« »Und für die Befreiung Irlands«, sagte die Stimme, die wie eine rostige Feile klang. »Was bringen die Schiffe denn mit, die morgen eintreffen sollen? Wir brauchen vor allem
Musketen und Pistolen, um einzelne Briten abschießen zu können. Für größere Unternehmen sind wir noch nicht bereit.« »Ich weiß auch nicht genau, was die Schiffe geladen haben.« Die Stimme des Spaniers klang etwas gereizt und ungeduldig, fand Jake Tinkler. »Aber das werden Sie ja morgen selbst sehen.« Er machte eine kurze Pause, und Tinkler hörte ein leises Klirren, wie es beim Einschenken entsteht, wenn der Flaschenhals an den Rand des Glases stoßt. »Wo wollen Sie das Zeug lagern? Das erscheint mir im Augenblick eine viel wichtigere Frage.« »Im zweiten Lager«, sagte die trage Stimme. »Und wo ist das?« »Auch oben in den Drum Hills, südwestlich von dem anderen, das die verdammten Briten gesprengt haben.« »Ist das nicht sehr unvorsichtig, zwei geheime Lager in den Drum Hills anzulegen?« »Im Gegenteil. Wenn die Englander eins entdeckt haben, werden sie niemals vermuten, daß sich noch ein anderes in der Gegend befindet. Sie werden glauben ...« »Trotzdem können wir die neuen Waffen nicht dort unterbringen«, unterbrach die rostige Stimme. »Und warum nicht?« fragte der andere Ire. »Weil es voll ist, Trottel.« »Dann müssen wir es eben vergrößern. Wenn ein Dutzend Männer heute nacht die Höhle erweitern, ist doch Platz genug, um eine Ladung unterzubringen.« »Und was ist mit den Engländern, he? Glaubst du, die sind blind? Sie brauchen doch nur die frische Erde zu sehen, die du aus der Höhle schaffen mußt, dann jagen sie auch unser zweites Munitionslager in die Luft. Mit den neuen Waffen und dem ganzen Zeug ...« »Bitte, Senores«. unterbrach der Spanier scharf. »Wir sind doch nicht zusammengekommen, um uns zu streiten. Sie müssen selbst entscheiden, wo Sie die Lieferung sicher lagern
können. Zunächst aber müssen wir dafür sorgen, daß sie überhaupt an Land gebracht werden kann. Und dazu muß die britische Galeone, die in der Einfahrt zur Stiefelbucht liegt, beseitigt werden.« Jake Tinkler hörte, wie ein Stuhl zurückgeschoben wurde, und wußte, daß der Spanier jetzt aufstand. »Zu den Booten, Senores.« Jake Tinkler wartete, bis das Licht erlosch und das Fenster dunkel geworden war. Als er geduckt zur Hausecke zurückschlich und auf den kleinen Platz spähte, sah er die beiden Iren und den Spanier aus der Haustür treten und zur Pier gehen. Er hörte leise Rufe und Kommandos, die er nicht verstehen konnte. Eine knappe Minute später sah er einige Boote, die sich von der Pier gelöst hatten und mit kaum hörbaren Ruderschlägen in der Dunkelheit verschwanden. Jake Tinkler wartete noch etwas, dann humpelte er, sich immer im Schatten der Häuser haltend, aus dem Dorf. Er ging auf dem Uferweg entlang nach Norden, auf die Stelle zu, an der der Colligan in die Bai mündete. Es war nur eine knappe Meile, und er marschierte über fast ebenes Gelände, doch bei seinem Zustand brauchte er fast eine Stunde dafür. Diese Stunde war ein einziger Kampf gegen seine Schwäche, seine Müdigkeit und Erschöpfung. Immer wieder stürzte er zu Boden, immer länger wurden die Pausen, die er brauchte, um sich zu zwingen, wieder aufzustehen und weiterzuhumpeln. Kurz vor Mitternacht sah er die Mündung des Colligan vor sich, eine von der Strömung gekräuselte Wasserfläche, von der das mattsilberne Mondlicht reflektiert wurde. Wasser! Wieder war der Durst übermächtig geworden, stärker als Hunger, Müdigkeit und Erschöpfung. Er humpelte schneller. Er spürte kaum, wie die Anstrengung sein Herz schneller schlagen, seinen Atem in kurzen Stößen keuchen ließ, und die letzte Reserven seines Körpers mobilisierte und verbrauchte.
Zu Tode erschöpft brach er am sandigen Ufer des Flusses in die Knie und ließ sich vornüber fallen, mit dem Gesicht in das kühle Wasser. Während er das Wasser in seinen Mund rinnen ließ, hörte er aus der Ferne Geräusche. Er brauchte eine Weile, um sie als Schüsse zu identifizieren, und noch ein paar Sekunden länger, um zu begreifen, daß sie von der ›Isabella‹ kommen mußten, die jetzt von den Booten der Spanier und Iren angegriffen wurde. Er richtete sich auf und lauschte angestrengt. Dann entspannte sich sein Gesicht zu einem breiten Grinsen. Deutlich unterschied er das dunklere Ballern britischer Musketen von dem belfernden Abschußknall der spanischen Waffen. Die Briten, das hörte er deutlich, beantworteten die immer schwächer und undisziplinierter werdenden Schüsse der Angreifer mit einem mörderischen Abwehrfeuer. Jake Tinkler rappelte sich auf und humpelte den Hang des kleinen Hügels hinauf, der sich am Rand der breiten, trichterförmigen Mündung des Colligan befand. Noch bevor er den Gipfel der kleinen Anhöhe erreicht hatte, sah er kurze, grelle Blitze gegen den nachtdunklen Himmel zucken, und dann ein helleres, breiteres Aufflammen, dem kur z darauf ein lautes Krachen folgte. Jake Tinkler erkannte den hellen Abschußknall der Drehbasse auf dem Bug der ›Isabella‹ und wußte, daß jetzt bestenfalls noch fünf der sechs Boote schwammen. Auf diese kurze Entfernung würde jeder Stückmeister einer Fliege das linke Auge herausschießen. Bevor Jake Tinkler den Gipfel der Anhöhe erreichte, hatte die Drehbasse noch zweimal gefeuert. Drei Boote erledigt, überlegte Jake. Aber als er auf der Anhöhe stand und auf das Wasser der Bai hinausblickte, sah er fünf zerschmetterte und sinkende Boote um die ›Isabella‹, die etwa eine halbe Meile vom Ufer entfernt in der engen Ausfahrt der Bucht ankerte. Das letzte Boot suchte sein Heil in wilder, verzweifelter
Flucht. Deutlich sah er, wie die Blätter der Riemen in hastigen, hektischen Schlägen ins Wasser tauchten. Der Wind trug das Schreien von Verwundeten und erregtes Rufen zu ihm herüber. Plötzlich zuckte ein heller Feuerschein auf dem Bug der ›Isabella‹ auf, und zwei Sekunden später hörte er den Abschußknall der Drehbasse. Gleichzeitig sah er, wie die schwere Eisenkugel in das letzte Boot krachte. Sie zerschlug Boden und Kiel, das Boot brach in der Mitte auseinander. Er sah, wie Menschen ins Wasser stürzten und sich an die treibenden Bootstrümmer klammerten. Andere paddelt en mit Armen und Beinen, um sich an der Oberfläche zu halten, wurden aber rasch vom Gewicht ihrer Brustpanzer in die Tiefe gezogen. Jetzt setzte auch Musketenfeuer von Bord der ›Isabella‹ ein. Jake Tinkler konnte sich genau vorstellen, wie jetzt die besten Scharfschützen der Besatzung an der Reling standen, die schweren Eisenläufe ihrer Waffen auf die Reling stützten und auf alles schossen, was sich noch im Wasser bewegte. Der Angriff auf die ›Isabella‹ ist fehlgeschlagen, dachte Jake Tinkler befriedigt, als er den Hang hinabhumpelte und dann am Westufer des Colligan entlang nach Norden weiterging. Der Anblick der ›Isabella‹ hatte ihm neue Kräfte verliehen. Das Ziel, dem er seit den frühen Morgenstunden zustrebte, war kein vages Wunschbild mehr, sondern eine Realität in fast greifbarer Nähe. Er brauchte jetzt nur noch auf die andere Flußseite zu gelangen und von dort ostwärts zum geheimen Treffpunkt der drei englischen Galeonen zu marschieren - dorthin, von wo die Burton- Truppe am Morgen aufgebrochen war. Jake Tinkler erschien es, als sei das vor vielen Jahren gewesen. Eine halbe Meile flußaufwärts war eine schmale Brücke. Über sie waren sie am Morgen marschiert, als sie das Anlanden der spanischen Waffen hatten verhindern wollen. Fünfzig Männer, und neunundvierzig von ihnen waren jetzt tot. Nur er
hatte überlebt - und die beiden, die für das sinnlose Massaker verantwortlich waren, Captain Burton und sein Profos. Jake Tinkler stolperte über eine Baumwurzel und stürzte zu Boden. Ein irrsinniger Schmerz durchzuckte sein rechtes Bein, als er genau mit der Wunde auf einen scharfkantigen Stein fiel. Sekundenlang mußte er gegen Übelkeit und Bewußtlosigkeit ankämpfen, und wieder wurde der Wunsch nach Ruhe und Vergessen übermächtig in ihm. Er war fast dankbar für den Schmerz, der ihn davon abhielt, sich in das Dunkel des Vergessens zu flüchten. Mit einem Fluch setzte er sich auf und tastete nach der Wunde im Oberschenkel. Durch den Sturz war sie wieder aufgebrochen. Der Stoffetzen, mit dem er sie notdürftig verbunden hatte, war feucht vom frischen Blut. Er zog das Hemd aus dem Gürtel, riß einen zweiten Streifen von dem grobgewebten Stoff und band ihn fest über den anderen. Bevor er das Bein wieder belastete, wartete er noch ein paar Minuten, um den Schmerz abklingen zu lassen und die Blutung etwas zum Stillstand zu bringen. Dann stand er auf und humpelte weiter. Zwanzig Minuten später sah er den schmalen Steg, der den Fluß überspannte - Reihen von Baumstämmen, in das Flußbett gerammt, darauf ein Belag roher Planken, die mit Querbohlen auf den Pfeilern festgenagelt worden waren. Die Erschöpfung hatte seine normale Umsicht und seine aus über einem Jahrzehnt soldatischer Erfahrung erworbenen Instinkte ausgeschaltet. Und so merkte er fast zu spät, daß die Brücke bewacht wurde. Er hatte den Aufgang des Steges fast erreicht, als er die schweren, regelmäßigen Schritte auf dem Bohlenbelag hörte, Schritte, die sich entfernten, dann plötzlich stehenblieben. Jake Tinkler duckte sich hinter ein Gebüsch und starrte auf den Steg. Deutlich sah er jetzt die Umrisse zweier Männer, die in der Mitte der Brücke standen und miteinander redeten.
Als er genau hinhörte, vernahm er auch leise, vom Wind herübergewehte Wortfetzen. Jetzt wandten sie sich um, und jeder ging zu seinem Ufer zurück. Jake Tinkler duckte sich tiefer in das Gebüsch, als sich die Schritte seinem Standort näherten. Keine zehn Schritte von ihm entfernt, am Ende der Beplankung, blieb der Mann ein paar Sekunden lang stehen. Das Licht des Mondes fiel auf einen Brustharnisch, einen zweispitzigen Helm, den Lauf einer schweren Muskete, die der Mann über der Schulter trug, und auf ein Gesicht mit einem schwarzen Bart. Ein Spanier, dachte Jake Tinkler, einer der Soldaten, die von den Karavellen an Land gesetzt worden waren. Nach dem Angriff der fünfzig Briten hatten es die Spanier anscheinend für nötig erachtet, die Brücke bewachen zu lassen. Und auch das war Captain Burtons Schuld, erkannte er mit neu entfachter Wut. Der Bastard hatte nicht nur den Tod seiner neunundvierzig Kameraden auf dem Gewissen, sondern er war auch dafür verantwortlich, daß er, Jake Tinkler, jetzt hier festsaß und der Weg nach Osten versperrt war. Aber diese Erkenntnis nutzte ihm jetzt nichts, und auch seine Wut brachte ihn um keinen Schritt weiter. Er mußte über den Fluß zum anderen Ufer. Und der Weg führte nur über diesen Steg, vorbei an den beiden Posten. Der Spanier wandte sich jetzt wieder um und schlenderte mit langsamen Schritten, die für gelangweilte Posten aller Nationen typisch waren, zur Mitte des Stegs zurück. Von der anderen Seite kam der andere in dem gleichen langsamen Tempo. Als sie, wie vorher, auf der Mitte des Stegs zusammentrafen und stehenblieben, um eine Minute zu schwatzen, hatte Jake Tinkler seinen Plan gefaßt. Er kannte jetzt die Routine der Posten, und er wußte, daß sie sich langweilten und ihren Dienst als überflüssige Schikane betrachteten, die man eben auf sich nehmen und irgendwie
hinter sich bringen mußte wie so vieles, wenn man seinen Sold verdienen wollte. Er konnte also das Überraschungsmoment für sich nutzen. Er konnte es, und er mußte es. Offen konnte er den beiden nicht gegenübertreten. Er war zu geschwächt für einen Kampf, und gegen zwei Musketen war sein Messer eine sehr kümmerliche Waffe. Während sich die beiden Spanier auf der Mit te des Stegs unterhielten, kroch er auf Händen und Knien zum Kopfende des Stegs und versteckte sich unter den Planken. Kurz darauf hörte er wieder die langsamen, schlurfenden Schritte, die über seinem Kopf auf den Bohlen dröhnten. Obwohl er wußte, daß der andere ihn nicht sehen konnte, duckte er sich unwillkürlich, als die Schritte näher und näher rückten. Dann sah er durch die breiten Ritzen den Schatten des Mannes. Aus dem angstvollen Ducken wurde ein sprungbereites Lauern. Er versuchte den Stand des Mondes zu berechnen, die Länge des Schattens, den der Mann warf. Als er ihn genau über sich wußte, schnellte er vor, packte seine Füße und riß ihn vom Steg. Der harte Fall schlug dem Mann die Luft aus den Lungen. Noch bevor er wieder Atem schöpfen konnte, um zu schreien, fuhr ihm Tinklers Messerklinge unter den Brustharnisch und bohrte sich in sein Herz. Jake Tinkler nahm den heruntergefallenen Helm und die Muskete des Mannes vom Boden auf und zog sich auf den Steg. Der andere Spanier hatte offenbar irgendein Geräusch gehört. Seine Schritte waren schneller als sonst, als er auf die Mitte des Stegs zuging. Er rief irgendeine Frage, die Tinkler nicht verstand. Er murmelte undeutlich ein paar Worte, gerade laut genug, daß der Spanier sie hören, aber nicht laut genug, daß er sie verstehen konnte. Den Helm auf dem Kopf und die Muskete über der Schulter ging er auf den anderen zu. Es war sein Glück, daß der Mond
seitlich hinter ihm stand. So konnte der Spanier nicht erkennen, daß er keinen Brustharnisch trug, und wenn er sein Gesicht ein wenig nach links wandte, war es im tiefen Schatten unkenntlich. Wieder eine Frage des Spaniers, diesmal etwas ungeduldiger. Jetzt war er schon so nah heran, daß Tinkler ihn nicht mehr mit einer undeutlichen Antwort abspeisen konnte. Er biß die Zähne zusammen und versuchte, sein Humpeln zu unterdrücken, als er stur auf den Spanier zuging. Der Spanier rief ihn zum dritten Mal an, und jetzt hörte Jake Tinkler deutlich das erwachende Mißtrauen in der Stimme des anderen. Er sah an seinem langsamer werdenden Schritt, daß er unsicherer wurde und Unrat witterte. Dann blieb er plötzlich stehen und griff nach seiner Waffe. Aber bevor er die Muskete von der Schulter hatte, sprang Jake Tinkler auf ihn zu und schlug ihm den Lauf der eigenen Waffe auf den Schädel. Lautlos sackte der Spanier zusammen. Jake Tinkler fiel über ihn, von der Wucht des Schlages nach vorn gerissen. Zwei Minuten lag er völlig reglos auf dem Toten. Die Erschöpfung ließ Kälteschauer über seinen Rücken rinnen. Er mußte sich dazu zw ingen, sich aufzurichten und neben den Toten zu knien. An dessen Gürtel hing ein Brotsack. Jake Tinkler riß ihn ab und entdeckte einen Kanten Brot und ein Stück Speck. Neben dem toten Spanier hockend schlang er beides heißhungrig in sich hinein. Danach fühlte er sich etwas besser. So viel besser, daß er sich die Zeit nahm, dem Spanier die Taschen auszuräumen. Er fand ein paar kleine Münzen, ein Stück Papier und eine Tonpfeife, die durch den Sturz zerbrochen war. Tonpfeife und Zettel warf er ins Wasser, die Münzen steckte er in die eigene Tasche. Dann schob er den Toten über den Rand des Stegs ins Wasser, humpelte zum Ufer zurück und zog den anderen unter die Bohlen. Früher oder später würde man sie natürlich finden,
aber er wollte verhindern, daß man sie sofort entdeckte und nach dem Mann suchte, der sie getötet hatte. Jake Tinkler blickte aufmerksam über den Steg zur anderen Seite des Flusses. Dann humpelte er über die Bohlen zum anderen Ufer. Dort verschwand er im Unterholz und wartete fast zwei Minuten. Als alles still blieb, trat er auf den Uferweg und ging nach Osten.
2. Die drei britischen Galeonen ankerten in der kleinen Nebenbucht am Nordrand der Dungarvanbai, dem vereinbarten Treffpunkt von Kapitän Drakes kleinen Verband, als sie zu diesem Unternehmen gegen die Rebellen an der Südostküste Irlands ausgelaufen waren. Die ›Marygold‹, das von Francis Drake kommandierte Schiff, lag dem Ufer am nächsten, etwas weiter entfernt ankerte die ›Santa Cruz‹, das Schiff Kapitän Thomas’, und vor der schmalen Ausfa hrt der Bucht die ›Isabella‹ Philip Hasard Killigrews. Etwas abseits lag die Karacke des jüngsten KilligrewBruders, Thomas Lionel, der zusammen mit seinem Vater, dem alten John Killigrew, die ›Isabella‹ verfolgt hatte, um dem Seewolf den Silberschatz abzujagen, den sie an Bord der Galeone vermuteten. Bei Anlaufen der Küste waren sie der letzten der fünf spanischen Karavellen, die gerade versuchte, aus der Bai auszubrechen, direkt vor die Rohre geraten. Das Schiff des alten John Killigrew war versenkt worden. Aber dann hatte der Secwolf die spanische Karavelle unter Feuer genommen und sie zu den Fischen geschickt. Kapitän Francis Drake hat auf Antrag von Captain John Norris, dem Führer des Truppenkontingents auf den drei
britischen Galeonen, eine Verhandlung anberaumt, bei der das Verhalten von Captain Isaac Henry Burton bei dem eigenmächtigen und katastrophal verlaufenen Einsatz seiner fünfzig Soldaten untersucht werden sollte. »Und ihr habt selbst gesehen, wie Captain Burton seine Truppe im Stich gelassen hat und geflohen ist?« fragte Kapitän Drake die beiden Männer, die Augenzeugen des Massakers geworden waren. »So genau, wie ich Sie jetzt vor mir sehe«, erwiderte Blacky und fuhr mit der schwieligen Hand durch sein schwarzes, widerborstiges Haar. »Stenmark und ich«, er deutete auf den blonden Schweden, der neben ihm stand, »waren von Kapitän Killigrew beim spanischen Landeplatz in der Stiefelbucht zurückgelassen worden. Ich sah, wie die fünfzig Männer Captain Burtons über den Uferweg heranmarschierten, obwohl Stenmark Captain Burton vorher gewarnt und davon unterrichtet hatte, daß die Iren und Spanier abwehrbereit wären und eine Falle aufgebaut hätten. Ohne Front- und Seitensicherung ließ der Idiot Burton seine Truppe in den Tod marschieren.« »Ich verbitte mir diese Beleidigung!« Captain Isaac Henry Burton sprang erregt auf und blickte von Francis Drake zu Captain John Norris, seinem direkten Vorgesetzten. Aber die beiden sahen ihn nur schweigend an. »Ja, wie zu einer verdammten Parade marschierte er heran«, sagte Stenmark ungerührt. »Und deshalb war auch die Hälfte seiner Männer sofort hin, als die spanischen Schiffe das Feuer eröffneten. Sie sind gefallen wie die Fliegen. Und als die Spanier und Iren den Rest mit ihren Musketen zusammenschossen ...« »Davon haben wir bereits eingehend gesprochen«, unterbrach ihn Kapitän John Thomas, Kommandant der ›Santa Cruz‹. »Wir haben auch festgestellt, daß Captain Burton
unverantwortlich und leichtfertig gehandelt und damit nicht nur fünfzig Männer sinnlos geopfert, sondern auch den Erfolg des ganzen Unternehmens gefährdet hat. Jetzt versuchen wir die Frage zu klären, ob wir ihm auch Feigheit vorwarfen müssen.« »Aye, aye, Sir«, sagte Stenmark. »Das werden wir, und das können wir. Kaum war die Salve der spanischen Karavellen gefallen und der Nahkampf bahnte sich an, da verschwand Captain Burton seitlich in den Büschen - zusammen mit seinem Profos.« Francis Drake nickte und sah Isaac Henry Burton nachdenklich an. »Wo ist eigentlich dieser Profos?« fragte Captain James Courcy, der Führer des dritten Truppenkontingents. »Wenn er zusammen mit seinem Captain geflohen ist, sollte er sich genauso hier verantworten wie Burton.« »Er ist tot.« Zum ersten Mal nach seiner Aussage und einer kurzen Schilderung, wo und unter welchen Umständen er Burton und seinen Profos angetroffen hatte, nahm der Seewolf wieder an der Verhandlung teil. »Gefallen?« fragte Courcy, offensichtlich froh, wenigstens für diesen Soldaten eine Entschuldigung zu finden. »Von den Spaniern und Iren erschossen«, sagte der Seewolf. »Na also. Wenigstens einer ...« »Als er zu ihnen überlaufen wollte«, erklärte der Seewolf und zerstörte die Hoffnung James Courcys wieder, »nachdem er mitten im Gefecht versucht hatte, mich umzubringen.« »Lüge! Lüge!« Wieder war Burton aufgesprungen und stellte sich in der Pose des Anklägers vor Francis Drake auf. »Dieser Mann«, er deutete mit ausgestrecktem Finger auf den Seewolf, »hat uns überfallen und wie gemeine Verbrecher fesseln lassen.« »Und gefesselt haben Sie dann gegen die Spanier und Iren gekämpft?« fragte Kapitän John Thomas skeptisch. »Natürlich nicht. Als wir von einer Übermacht angegriffen
wurden, wußte er sich nicht mehr anders zu helfen, als uns zu befreien und zu bewaffnen. In dieser Lage brauchte er eben einen Mann, der etwas von diesen Dingen versteht.« Blacky begann dröhnend zu lachen. »Den hat unser Kapitän gebraucht wie ein Loch im Kopf.« Und Stenmark setzte hinzu: »Sei doch nicht so hart zu ihm, Blacky. Wir brauchten wirklich so einen, der sich vor Angst in die Hose macht. Und darin ist er wirklich Fachmann. Ich habe noch keinen kennengelernt, der eine so ausgefeilte Technik darin hat.« »Lange Erfahrung und reiche Praxis«, sagte Blacky. »Haltet den Mund, ihr Affenärsche!« schrie der Profos der ›Marygold‹, Edwin Carberry. Die Anwesenheit des gesamten Führungsstabes der kleinen Flotte hielt ihn davon ab, ihnen noch ein paar andere zoologische Bezeichnungen an den Kopf zu werfen. »In Gegenwart von Gentlemen habt ihr euch gefälligst einer anständigen Redeweise zu bedienen, ihr Rübenschweine!« »Ruhe!« Francis Drake sagte nur dieses eine Wort, und ohne seine Stimme zu erheben. Er gehörte zu den Menschen, die niemals laut werden, weil sie es nicht nötig haben, weil jedes Wort, das sie sprechen, auch so genügend Gewicht hat. Er blickte Captain Burton an. »Wir haben also festgestellt, daß Sie und Ihr Profos von Kapitän Killigrew und seinen Männern festgenommen und gefesselt wurden. Aus welchem Grund, Killigrew?« Der Seewolf blickte Burton mit seinen eisblauen Augen an, und ein verächtlicher, angewiderter Zug grub sich um seinen Mund. »Lassen Sie diese Frage von meinen beiden Männern beantworten«, sagte er und nickte auf Blacky und Stenmark. »Also?« Francis Drake blickte die beiden auffordernd an. Blacky sah Stenmark an, und der gab ihm durch ein kurzes Nicken zu verstehen, daß er Drakes Frage beantworten solle. An sich war Stenmark der klügere der beiden Seeleute. Aber
wenn es darauf ankam, hatte sich Blacky bisher noch immer als der bessere, überzeugendere Redner erwiesen. »Das was so, Sir«, sagte er und sah Kapitän Drake gerade in die Augen. »Kapitän Killigrew wollte das Debakel auf jeden Fall verhindern, und wir waren zum anderen Ufer der Bai gesegelt ...« »Nicht mit der Galeone, sondern mit dem Beiboot«, stellte der Seewolf richtig. »Ja, stimmt. Wir sind also drüben gelandet, um nach dem Abmarsch der Burton- Truppe zu retten, was noch zu retten war. Wir wollten das Waffen- und Munitionsversteck finden und sprengen.« »Die Burschen stecken alle unter einer Decke!« schrie Burton erregt. »Sie haben sich untereinander verabredet, durch falsche Aussagen mich und meinen Profos, der für die Interessen von Land und Krone sein Leben geopfert hat ...« »Mr. Burton«, unterbrach Kapitän Drake ruhig, »ich möchte Sie jetzt nachdrücklich ersuchen, nur dann zu sprechen, wenn Sie gefragt werden. Falls Sie es noch nicht begriffen haben sollten - dies ist eine Kriegsgerichtsverhandlung und keine Teestunde.« »Jawohl Sir.« Burton spürte mit dem Instinkt des Opportunisten, daß er die Geduld Francis Drakes nicht weiter belasten durfte. »Entschuldigen Sie, Sir. Es ist nur ...« »Danke. Sie werden noch reichlich Gelegenheit erhalten, Ihren Standpunkt darzulegen, Mr. Burton.« Er wandte sich an Blacky. »Also, ihr seid drüben, am anderen Ufer der Bai, gelandet. Und weiter?« »Noch vor der sogenannten Stiefelspitze, Sir.« Blacky vermied es, seinen Kameraden Stenmark anzublicken. Es durfte nicht so aussehen, als ob wirklich eine Art Absprache zwischen ihnen bestand »Unser Kapitän und die anderen sind weiter ins Land vorgestoßen, in die Drum Hills. Wir sollten
zurückbleiben - als Beobachter, falls Burton den Landeplatz angreifen sollte.« Jetzt konnte er nicht mehr verhindern, Stenmark einen raschen, nach Bestätigung fragenden Blick zuzuwerfen. Stenmark nickte. »Wir haben genau gesehen, wie Captain Burton seine Truppe ins Verderben führte und sie dann feige im Stich ließ.« »Vom Ufer aus?« warf Kapitän John Thomas ein. »Ja, wir hatten eine gute Deckung unter Felsen und konnten alles übersehen.« »Wenn wir schon nicht mit den anderen in die Drum Hills durften, um nach dem Waffenlager der Iren zu suchen«, sagte Stenmark, »dann wollten wir wenigstens als Zeugen beobachten.« »Also gut.« Francis Drake blieb noch immer ruhig. Es schien aber doch seine Geduld etwas zu strapazieren, den fabulierfreudigen Blacky beim Thema zu halten. »Und dann seid ihr mit Mr. Burton und seinem Profos zusammengestoßen. Wie? Unter welchen Umständen?« »Das war erst viel später, Sir. Burton und sein Profos waren nach Osten geflohen. Wir hatten Angst, daß die beiden unser Boot entdeckten und damit einfach abhauten. Also verließen wir unseren Beobachtungsposten. Übrigens hatte sich Burton, als Stenmark ihn warnte, sehr interessiert nach diesem Boot erkundigt.« »Wir kommst du dazu ...« Isaac Henry Burton konnte sich gerade noch rechtzeitig bremsen. Mit einer förmlichen Verbeugung vor Drake sagte er: »Ich bitte um Verzeihung, Sir. Aber ich kann dieses verlogene Geschwätz einfach nicht länger anhören. Ich muß Sie um Erlaubnis bitten, mich dagegen zur Wehr setzen zu dürfen.« Francis Drake blickte Burton ein paar Sekunden lang prüfend an. »Bitte«, sagte er dann knapp. »Vor allem möchte ich hier ausdrücklich feststellen, daß
dieser Kapitän«, er deutete auf den Seewolf, »von Anfang an versucht hat, den von mir befohlenen Angriff auf die Landestelle in der Stiefelbucht zu verhindern. Ich habe von ihm verlangt, daß er zum selben Zeitpunkt die Landestelle und die spanischen Karavellen unter Feuer nehmen solle. Er hat sich nicht nur geweigert, sondern wollte sogar mein Unternehmen verhindern - äh - mit Waffengewalt.« »Mit Waffengewalt haben Sie uns zwingen wollen, Ihnen unser Boot zu überlassen, damit Sie Ihr Fell in Sicherheit bringen können«, sagte Blacky. »Halten Sie den Mund!« schrie Burton unbeherrscht. Er fuhr mit der Hand über seine schweißnasse Stirn und sagte zu Drake: »Muß ich es mir wirklich bieten lassen, mich von einem gewöhnlichen Seemann anpöbeln zu lassen?« »Nehmen Sie sich bitte etwas zusammen, Mr. Burton. Da Sie Ihren Rang so herauskehren, sollten Sie auch Ihr Benehmen entsprechend einrichten.« Seine Stimme klang scharf und eisig, war aber um nichts lauter als vorher. »Und du wirst den Mund halten, bis du gefragt bist, verstanden?« wandte er sich dann an Blacky. »Aye, aye, Sir.« »Mund halten, verstanden, du karierter Affenarsch?« sagte der Profos Carberry mit Nachdruck. »Gut.« Kapitän Drake faltete die Hände, stützte das Kinn darauf und sah Burton nachdenklich an. »Sie geben also zu, daß Sie Ihre Männer im Stich gelassen haben und geflohen sind, als sie von einer spanisch- irischen Übermacht zusammengeschossen wurden?« »Nein, Sir.« »Nein?« Drake blickte Burton erstaunt an. »Aber Sie haben doch nicht widersprochen, als die beiden Männer aussagten, Sie und Ihr Profos seien gleich zu Beginn des Gefechts verschwunden.« »Das stimmt, Sir.«
Die anderen Männer stießen verblüffte Ausrufe aus und starrten Burton erwartungsvoll an. »Wir haben uns abgesetzt, Sir, und nicht verdrückt, wie es diese beiden Männer so unverschämt behaupten.« »Wie Sie es ausdrücken, erscheint mir kaum von Belang, Mr. Burton. Es bleibt die von Ihnen unbestrittene Tatsache, daß Sie sich trotz der äußerst bedrängten Lage Ihrer Truppe vom Kampfplatz entfernt haben.« »Jawohl, Sir.« Es war so still in dem kleinen Raum, daß man einen Holzwurm hätte husten hören können. Nur das leise Knarren eines Stuhls war zu hören, als Captain John Norris sich gespannt vorbeugte. Sekundenlang schweifte sein Blick ab und fiel auf das Gesicht des Seewolfs, der mit verschränkten Armen, als ob er lediglich unbeteiligter Zuschauer des Geschehens sei, am Ende des Tisches saß. Das markante Gesicht Hasards war völlig ruhig und unbewegt. »Es war eine Frage der Prioritäten, Sir«, sagte Burton mit seiner hohen, immer etwas grell klingenden Stimme. »Während das Gefecht noch in vollem Gange war, sah ich ein, daß es nichts mehr zu retten gab, daß auch meine persönliche Führung des Kampfgeschehens das Blatt nicht mehr wenden konnte. Und daß es so gekommen ist, war die Schuld dieses Mannes!« Mit einer dramatisch wirkenden Geste, wie der Ankläger in einem großen Prozeß, wies er auf den Seewolf. »Nur, weil er sich bis zuletzt geweigert hat, mir die nötige Unterstützung ...« »Mr. Burton«, unterbrach Francis Drake ruhig, »das haben Sie uns bereits mehrmals erzählt, und Kapitän Killigrew hat uns in seinem Bericht auch seine Gründe genannt - die ich übrigens in vollem Umfang anerkenne. Hier geht es um die Frage, warum Sie Ihre Truppe im Stich gelassen haben, als die Männer Sie brauchten. Es ist das Wort Priorität gefallen. Darf ich jetzt erfahren, was nach Ihrer Ansicht eine höhere Priorität
für einen Offizier hat, als seinen Männern beizustehen und wenigstens ein paar von ihnen vor dem Tod zu retten?« »Natürlich, Sir.« Burtons unsteter Blick huschte rasch über das Gesicht des Seewolfs, der noch immer ruhig und fast unbeteiligt am Ende des Tisches saß. »Während des Kampfes hörte ich einen der Iren sagen, daß er sofort zu den Leuten beim Munitionslager in den Drum Hills müsse, um ihnen das Kampfgeschehen zu melden. Ich nahm diese Gelegenheit wahr, dem Mann, zusammen mit meinem Profis, zu folgen, um das geheime Lager der Rebellen aufzuspüren. Das war schließlich mein Auftrag.« »Und Sie haben diese Aufgabe nicht einem Ihrer Leute geben können, um den Rest Ihrer Truppe zu führen?« »Ich benutzte vorhin das Wort Priorität. Es erschien mir wichtiger, meinen Kampfauftrag durchzuführen.« »Und ungefährlicher«, konnte sich Stenmark nicht verkneifen, zu bemerken. »Verzeihung, Sir«, setzte er sofort, zu Drake gewandt, hinzu. Aber seine Stimme klang nicht sehr ernsthaft dabei. Als er dem drohenden Blick des Profoses begegnete, hielt er es doch für besser, an ihm vorbeizusehen. »Leider ist Ihr Vorhaben, trotz seiner Priorität, im Versuch steckengeblieben«, sagte Drake mit eisiger Ironie. »Wieso? Natürlich haben wir das Geheimlager entdeckt und in die Luft gesprengt. Das Krachen müssen Sie doch bis hierher gehört haben. Es war wirklich gewaltig.« Zum ersten Male verlor der Seewolf seine eiserne Ruhe. Aber diese Lüge war einfach zu infam, um dabei ruhig bleiben zu können. Selbst einer Ratte wie diesem Burton hatte er eine so unverschämte Behauptung nicht zugetraut. Aber bevor er sich von seiner Überraschung erholt hatte, drangen Blacky und Stenmark auf Burton ein und Blacky hielt ihm drohend seine riesige Faust unter die Nase. »Profos!« schrie Burton ängstlich und hob schützend beide Arme vor das Gesicht.
»Wolt ihr euch wohl anständig benehmen, ihr gesengten Säue?« Mit eisernen Griffen packte Carberry die beiden Männer beim Kragen und riß sie zurück. »Noch ein Wort von euch, und ich sorge dafür, daß ihr die nächsten sechs Monate ...« »Das reicht, Profos«, sagte der Seewolf gefährlich leise und ruhig. »Lassen Sie meine Männer los.« »Aye, aye, Sir.« Carberry war tief gekränkt. »Ich möchte vorschlagen«, erklärte Philip Hasard Killigrew, »die anderen Männer herbeizuholen, die bei der Sprengung des Munitionslagers dabei waren.« Nachdem Drake genickt hatte, gab er dem Profos einen Wink. Als der die Tür auf riß, fiel der riesige Neger Batuti fast in die Kammer. Erst nach zwei, drei stolpernden Schritten gewann er sein Gleichgewicht wieder und grinste verlegen. »Hast wieder gelauscht, du schwarze Wildsau, was?« fuhr ihn der Profos sofort an. »Wozu hat Mensch Ohren, wenn er nicht hören soll, was los ist?« fragte Batuti unschuldig, während sich Gary Andrews, Dan O’Flynn, Tom Smith und Matt Davies von der Besatzung der ›Isabella‹ durch die enge Tür drängten. Drake forderte die Männer auf, ihm kurz zu schildern, was seit ihrer Landung am anderen Ufer der Bucht passiert sei. Matt Davies übernahm ohne jede Abrede die Rolle des Wortführers. Die anderen beschränkten sich auf zustimmendes Nicken und gelegentliches bestätigendes Murmeln. Nur der kleine Dan O’Flynn konnte sich ein paar freche Bemerkungen nicht verkneifen, bis ihn ein kräftiger Rippenstoß Gary Andrews zum Schweigen brachte. »Die hatten da genug Waffen und Pulver, um einen langen Krieg führen zu können«, sagte Matt Davies und kratzte das stoppelige Kinn mit dem Stahlhaken seiner Unterarmprothese, den er je nach Bedarf als Werkzeug oder als sehr effektive Waffe verwendete. »Kapitän Killigrew hatte jedenfalls keine
Sorgen, woher er den Sprengstoff nehmen sollte, um das Zeug in die Luft zu jagen.« »Ich ihn hinterher von Baum pflücken wie reife Pflaume«, erklärte der riesige Neger Batuti grinsend. »Er nicht schnell genug Kopf einziehen und segeln durch Luft wie Vogel.« Die witzige Bemerkung löste ein befreiendes Gelächter aus, das die Anspannung der letzten Stunde auslöschte. Aber das Lachen erstarb jäh, als Captain Burton, der sich nur mit Mühe beherrscht hatte, erregt aufsprang und schrie: »Lüge! Lüge! Die Burschen sind von Killigrew samt und sonders bestochen worden, mich zu verleumden! Merken Sie denn nicht, was hier gespielt wird, Gentlemen? Killigrew war von Anfang an gegen mich. Er hat mir die Unterstützung des Angriffs durch die Geschütze der ›Isabella‹ verweigert. Er ist schuld an dem Tod meiner Männer! Und jetzt will er mich diffamieren, um sich selbst ...«
3. Laute Rufe an Oberdeck, rasches Trampeln von Füßen auf den Planken über ihnen, erregtes Stimmengewirr und dann die sich überschlagende, fast hysterisch wirkende Stimme eines Mannes unterbrachen die Anklage Burtons. »Profos, sorgen Sie sofort für Ruhe«, befahl Kapitän Drake. Die Tür wurde aufgestoßen. Ein Seemann stürzte herein. »Sir, ein Überlebender von Captain Burtons Truppe!« Jemand drängte ihn zur Seite. Zwei andere Seeleute schleppten Jake Tinkler herein. Der Mann war völlig am Ende, halb bewußtlos vor Erschöpfung, Gesicht und Kopf blutverkrustet, die wenigen Fetzen, die er noch am Körper trug, starrten vor Dreck. Sekundenlang blinzelte er unsicher, bis er seine Umgebung wahrnahm. Er erkannte Kapitän Drake und sagte: »Sir, ich bin
der einzige Überlebende ...« Er erkannte Burton, der seitlich von Drake stand und ihn mit angstvoll geweiteten Augen anstarrte. »Du Hund! Du Mörder! Du mieser Feigling!« Er riß sich von den beiden Männern los, die vergeblich versuchten, ihn festzuhalten, und stürzte sich in unbeherrschter Wut auf Burton. Doch seine Kraft reichte nicht mehr aus. Kurz bevor die blutverschmierten, ausgestreckten Hände den Hals des Captains umklammern konnten, brach er zusammen und blieb reglos am Boden liegen. Aber die Angst vor dem wütenden Tinkler, die Gewißheit, daß jetzt alle seine Lügen in sich zusammenstürzen würden und der einzige Überlebende des Massakers die Wahrheit an den Tag bringen würde, reichten Burton, um mit einem angstvollen Schrei zur Tür zu stürzen. Er lief direkt in einen Faustschlag Carberrys, der ihn in die Kammer zurück zu Boden schleuderte. »Aufstehen.« Captain Norris hatte sich erhoben und blickte angewidert auf den vor ihm liegenden Mann. Burton wischte sich das Blut vom Mund und stemmte sich hoch. »Mr. Norris, ich schwöre Ihnen bei allem, was mir heilig ist ...« »Halten Sie den Mund, Burton«, sagte Captain Norris eisig. »Sie würden jeden Meineid schwören, um Ihr dreckiges Leben zu retten, das weiß ich jetzt.« Er blickte Burton an, so wie man ein noch unbekanntes Insekt mustert, das einem über den Handrücken kriecht. »Ich hatte bisher noch einige Zweifel und konnte mir einfach nicht vorstellen, daß ein Offizier Ihrer Majestät so durch und durch verlogen, pflichtvergessen und feige sein kann.« »Mr. Norris, Sie müssen mir glauben!« »Ich habe Ihnen zu lange geglaubt, und das wurmt mich am meisten. Ich hätte viel früher erkennen müssen, daß Sie nicht wert sind, England zu dienen. Sie sind es nicht einmal wert, zu leben.« Er blickte Drake an. »Ich halte es für erwiesen, daß
dieser Mann für den Tod von fünfzig Soldaten«, sein Blick fiel auf den bewußtlosen Tinkler, »neunundvierzig Soldaten Ihrer Majestät verantwortlich ist und beantrage deshalb, ihn zum Tode zu verurteilen. Mit Ihrer Erlaubnis werde ich ihn sofort an die Rah hängen lassen.« Burton starrte von Norris zu Drake, sein Mund öffnete und schloß sich, aber er brachte keinen Laut heraus. Er zitterte am ganzen Körper. »Der Mann untersteht natürlich Ihrem Kommando, Mr. Norris«, sagte Drake nach kurzem Überlegent »Dennoch bin ich dagegen, ihn mit dem Tod zu bestrafen. »Danke - ich danke Ihnen, Sir, ich schwöre Ihnen, ich werde alles tun, mich zu rehabilitieren.« »Das müssen Sie auch, Burton. Sie werden reichlich Gelegenheit erhalten, uns zu beweisen, daß man Sie zu Unrecht der Feigheit beschuldigt hat.« Ein feines Lächeln umspielte seine Lippen. »Sie können bei Ihrer Truppe sicher noch einen Soldaten brauchen, nicht wahr, Captain Norris?« Norris nickte, und jetzt lächelte auch er. »Profos!« »Sir?« Carberry trat vor. »Zeigen Sie dem Soldaten Burton das Mannschaftsquartier. Es gibt sicher eine Menge Arbeit, mit dem Sie ihm das Eingewöhnen erleichtern können, nicht wahr?« »Aye, aye, Sir. Die Abtritte vorn auf dem Galionsdeck müssen wieder gescheuert werden. Na los, auf was wartest du noch?« Er stieß Burton die Faust in die Rippen, daß er gegen die Tür torkelte. »Willst du etwa eine schriftliche Einladung, du Bastard?«
4. Sie waren wieder unter sich, die Kapitäne der drei Schiffe und die beiden Hauptleute der an Bord befindlichen Truppen. Und
Jake Tinkler, den die Seeleute mit einem sehr großzügigen Schuß Whisky wieder ins Bewußtsein zurückgeholt hatten. Drake und die anderen hatten darauf bestehen wollen, ihn sofort ins Mannschaftlogis zu bringen, um seine Wunden reinigen und versorgen zu lassen. Sie sahen ihm an, daß er am Ende seiner Kraft war und vor allem Ruhe brauchte. Aber Jake Tinkler hatte sich mit aller Kraft gesträubt, als sie ihn hinaustragen wollten, und schließlich murmelte er: »Ich muß ... wichtige Nachrichten ... neuer Transport ...« Drake warf den anderen einen kurzen Blick zu, dann trat er vor Jake Tinkler, den zwei Seeleute stützten. »Gut, dann sag es mir, mein Junge. Aber mach es kurz und nur das Wichtigste. Über alles andere können wir uns später unterhalten, wenn es dir wieder besser geht.« Tinkler nickte. Sogar das ange lernte »Jawohl, Sir« ersparte er sich. Er brauchte den winzigen Rest seiner Kraft, um Drake und den anderen von dem Gespräch des Spaniers und der beiden Iren im Dorf Dungarvan zu berichten, aus dem er entnommen hatte, daß sich in den Drum Hills noch ein weiteres Waffen- und Pulvermagazin der Rebellen befand und für den nächsten Tag - also für heute - ein weiterer Transport erwartet würde. Er brauchte fast zehn Minuten, um die wenigen Sätze herauszubringen, und einige Male hatten die angespannt lauschenden Männer den Eindruck, als ob er mitten im Satz bewußtlos geworden wäre. Aber er riß sich immer wieder zusammen, und erst, als er alles gesagt hatte, was er für wichtig hielt, ließ er sich in das wohltuende Dunkel der Bewußtlosigkeit fallen. Die fünf Männer schwiegen und blickten den beiden Seeleuten nach, die Jack Tinkler hinaustrugen. Erst als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, sagte Drake: »Ich glaube, wir sollten uns jetzt einmal sehr ernsthaft und eingehend über unsere Situation unterhalten, Gentlemen. Und die ist, trotz der
Versenkung der fünf spanischen Karavellen, alles andere als rosig. Abgesehen von den irischen Rebellen stehen uns jetzt Teile der Besatzung von fünf spanischen Schiffen gegenüber, jene, die überlebt haben und an Land gelangt sein dürften. Und durch das Versagen dieses Burton haben wir ein Drittel unserer Soldaten verloren. Wie stark schätzen Sie die Stärke des Gegners, Mr. Norris?« Der Captain zuckte mit den Schultern. »Karavellen haben normalerweise eine Besatzung von etwa dreißig Mann. Wir müssen annehmen, daß sich hundert der insgesamt hundertfü nfzig Seeleute retten konnten.« »Die Spanier, von denen Burtons Männer niedergemetzelt wurden, waren zum Teil reguläre Soldaten, keine Seeleute«, sagte der Seewolf. »Ich weiß, Kapitän. Darüber wollte ich gerade sprechen. Wir müssen damit rechnen, daß sich auf jeder Karavelle außer den Seeleuten auch noch zwanzig bis dreißig Soldaten befanden, zusammen also mindestens hundert Mann.« Drake nickte. »Von denen sich ein guter Teil gerettet haben dürfte, sagen wir mindestens siebzig Mann. Sind zusammen allein hundertsiebzig Spanier hier in der Gegend.« »Aber ohne Waffen«, wandte Captain James Courcy ein, der das Truppenkontingent der ›Santa Cruz‹ kommandierte. »Davon dürfte es hier jede Menge geben«, erklärte Captain Norris. »Sie haben doch gehört, was Tinkler berichtet hat: In den Drum Hills befindet sich noch ein zweites Geheimlager, und wenn das genauso groß ist wie das, welches uns Kapitän Killigrew geschildert hat, dann sind unsere Gegner bestens mit Waffen versorgt.« »Ich möchte sogar wetten, daß auch bei Dungarvan selbst ein Lager existiert«, sagte Philip Hasard Killigrew. »Vielleicht sollten wir uns da auch einmal umsehen.« Drake nickte nachdenklich. »Das sollten wir wirklich tun. Und nicht nur wegen der
versteckten Waffen, die es möglicherweise dort gibt. So ein massiver Schlag gegen die Bevölkerung ist vor allem eine Warnung, die von den Rebellen nicht übersehen werden kann.« »Vielleicht vergeht da manchem der Appetit, gegen die Königin zu rebellieren«, sagte Captain Norris. »Anschließend könnten wir in die Drum Hills marschieren und nach dem zweiten Waffenlager suchen. Wenn Sie mir Verstärkung von Ihren Schiffsbesatzungen mitgeben könnten, wäre das sicher zu schaffen.« Drake nickte schweigend. Seine Gedanken waren nicht hier, in diesem engen Raum, sondern sie befaßten sich bereits mit den taktischen und logischen Problernen dieser Unternehmen. »Das wichtigste erscheint mir, den nächsten Konvoi spanischer Schiffe abzufangen, bevor die Ladung von Waffen und Pulver an Land gebracht werden kann. Und der Angriff muß möglichst weit vor der irischen Küste erfolgen, damit den Rebellen keine Gelegenheit bleibt, ihre spanischen Freunde zu warnen. Für ein Gefecht brauchen wir aber voll bemannte Schiffe. Wir können es nicht riskieren, mit halben Besatzungen auszulaufen und dann möglicherweise auf einen überlegenen Gegner zu stoßen.« »Sie haben völlig recht, Sir«, stimmte Kapitän John Thomas ihm zu. »Wir können nicht einen einzigen unserer Männer entbehren, wenn es zu einem Gefecht kommen sollte. Und das wird der Fall sein, wenn wir die Spanier stellen.« »Falls die Dons es nicht vorziehen, davonzulaufen«, sagte der Seewolf. »Dann müssen wir ihnen nachlaufen und den Kampf suchen«, erwiderte Drake. »Unsere Aufgabe besteht darin, die Anlandung dieser Waffentransporte zu verhindern, und das können wir nur, indem wir sie vernichten.« »Dann schlage ich vor, nicht von jedem Schiff ein paar Männer abzuziehen, sondern eine der drei Galeonen ganz für
den Kamp f an Land freizugeben«, sagte Hasard. »Und nur mit zwei Schiffen die Spanier zu jagen?« fragte Francis Drake zweifelnd. »Mit drei Schiffen, Sir. Sie vergessen die Karacke meines Vaters, der seit gestern bei uns ist.« »Das Schiff Ihres Vaters untersteht nic ht meinem Kommando«, erklärte Drake. »Ich kann ihn also nicht zwingen, sich uns anzuschließen.« »Das brauchen Sie auch gar nicht«, sagte der Seewolf lächelnd. »Sie brauchen ihm nur zu sagen, daß die Spanier wertvolle Ladung an Bord haben, dann können Sie ihn nicht mehr halten. Sir John ist so wild auf Beute wie ein Aasgeier.« Kapitän Drake nickte. »Ja, so könnte es gehen.« Dann blickte er Philip Hasard Killigrew plötzlich mißtrauisch an. »Und auf was für eine Beute sind Sie scharf, Hasard? Sie setzen sich so eifrig für Ihren Plan ein, daß ich nicht ganz an Ihre Selbstlosigkeit glauben kann. So wie ich Sie kenne, werden Sie mir gleich vorschlagen, ich soll Sie und Ihre Besatzung für den Feldzug an Land freigeben, nicht wahr?« Der Seewolf lächelte. »Sie müssen einsehen, daß Sie die ›Isabella‹ am besten entbehren können. Die ›Santa Cruz‹ mit ihren sechzig Kanonen ist das kampfstärkste Schiff Ihres Verbandes. Und Ihre ›Marygold‹, das Flaggschiff, können Sie doch nicht gut hierlassen.« Er blickte Drake mit einem so unschuldigen Lächeln an, daß Blacky seine Freude daran gehabt hatte. »Außerdem haben meine Männer als einzige bereits Erfahrungen sammeln können und kennen sich hier aus.« Kapitän Drake schüttelte den Kopf. »Ich möchte den Tag erleben, an dem Ihnen die Ausreden ausgehen«, sagte er. Und dann, wieder ernst: »Aber Sie haben völlig recht. Ihre ›Isabella‹ könnte stärker bestückt sein. Aber Ihre Männer sind die besten Kämpfer und für den Einsatz gegen Dungarvan am geeignetsten.«
Er stand auf, nahm eine der zusammengerollten Seekarten aus einem Fach und breitete sie aus. Die Karte zeigte die Dungarvanbai und einen Teil der Südküste Irlands. »Sie werden kurz nach vier Uhr auslaufen und das Dorf von See her angreifen.« Drake wandte sich Captain Norris zu. »Sie und Ihre Leute gehen an Bord der ›Isabella‹, belegen das Dorf mit Musketenfeuer und nehmen es in Besitz. Captain Courcy und seine fünfzig Männer werden gleichzeitig einen Angriff von der Landseite her durchführen. Marschieren Sie so rechtzeitig los, daß Sie in Position sind, wenn die ›Isabella‹ vor Dungarvan eintrifft, Mr. Courcy. Angriffszeit - sechs Uhr. Da wird es um diese Jahreszeit gerade dunkel, und die Leute sind von ihren Feldern in die Häuser zurückgekehrt. Das dürfte den Überraschungseffekt noch etwas vergrößern.« Er blickte die beiden Hauptleute und den Seewolf an. Die drei Männer nickten schweigend. »Sie werden das Dorf besetzen und als britischen Stützpunkt benutzen«, sagte Francis Drake weiter. »Dreißig Ihrer Männer, Mr. Courcy, werden als Garnison zurückbleiben. Das dürfte reichen - zumal auch die ›Isabella‹ an der Pier liegt -, um den Iren jede Lust an Abenteuern zu nehmen. Sie, Mr. Norris, marschieren sofort nach der Einnahme des Dorfes mit Ihren Männern und zwanzig von Mr. Courcys Soldaten weiter in die Drum Hills, um das zweite Waffenlager auszuheben.« Captain Norris nickte. »Wenn es eins gibt, werde ich es auch finden. Verlassen Sie sich darauf, Sir.« Er blickte den Seewolf an. »Könnten Sie mir einen Ihrer Leute als Führer mitgeben, Killigrew?« »Ich glaube, Batuti ist der beste Mann dafür«, erwiderte Hasard. »Außerdem war er bei unserem ersten Unternehmen dabei. Und bei seinen unverbildeten Instinkten wird er eine Gegend, in der er einmal war, nie wieder vergessen.« Norris erhob sich. »In Ordnung. Dann werde ich meinen Männern sofort Befehl geben, auf Ihr Schiff überzusetzen,
Killigrew.« Er blickte Drake an. »Mit Ihrer Erlaubnis, Sir.« Francis Drake war einverstanden. »Ich glaube, wir haben alles besprochen, Gentlemen. Ich wünsche Ihnen Glück und Erfolg.« Die anderen Männer erhoben sich ebenfalls. »Sie bleiben noch, Mr. Thomas. Wir müssen uns über unser seemännisches Unternehmen unterhalten, wenn diese Landratten gegangen sind. Und - Killigrew«, rief er dem Seewolf nach. »Schicken Sie doch einen meiner Männer auf die Karacke Ihres Vaters. Ich ließe ihn bitten, sofort zu mir an Bord zu kommen.«
5. »Geschützpforten auf! Nur Backbordseite!« hallte der Befehl über das Deck der ›Isabella‹. Die Männer hängten sich in die Seile, und die schweren Abdeckungen der Luken, hinter denen die Kanonen auf ihren Eichenlafetten standen, wurden in die Höhe gezogen. »Nur Backbordseite habe ich gesagt, du Idiot!« fuhr Al Conroy, der Geschützführer der ›Isabella‹ einen Soldaten an, der eine der Steuerbordpforten hochzog. »Sollen die Kerle an Land merken, was wir vorhaben?« Die Galeone segelte bei halbem Wind von Norden unter gerefftem Großmarssegel und Besansegel auf den kleinen Fischerhafen von Dungarvan zu. Ihre Steuerbordseite war schräg dem Land zugewandt. Erst wenn sie sich unmittelbar vor dem Dorf befanden, wollte Hasard hochdrehen und dem Dorf die feuerbereite Backbordseite zuwenden. »Geschütze ausfahren!« Die Männer warfen sich gegen die Bronzerohre und Eichenlafetten der Kanonen und schoben sie auf ihren kleinen Hartholzrädern so weit nach vorn, daß ihre Mündungen
drohend aus den Pforten ragten. Es war nicht viel, was die ›Isabella‹ an Armierung zu bieten hatte: je zwei Drehbassen vorn achtern sowie zwölf Kanonen, sechs auf jeder Seite. Es waren sogenannte Minions, Vierpfünder mit gegossenen Bronzerohren. Aber trotz dieser fast lächerlichen Armierung hatte die ›Isabella‹, dank des kämpferischen und seemännischen Könnens ihres Kapitäns und der Erfahrung und Verwegenheit ihrer Besatzung Schiffe besiegt und erbeut et, die das Fünffache an Geschützen aufzuweisen hatten. An der Schmuckbalustrade des Achterkastells standen Kapitän Killigrew und Captain Norris und blickten zum Hafen und Dorf Dungarvan hinüber. »Die haben was gemerkt!« schrie eine Stimme aus dem Hauptmars. Es war eine Stimme, bei der man nicht ganz bestimmen konnte, ob sie noch ein kindlicher Alt oder ein männlicher Bariton war. Der Seewolf blickte zu Dan O’Flynn hinauf, einem Jungen von knapp siebzehn Jahren. Er hatte die besten Augen an Bord. Der Bursche konnte schon sagen, was für ein Schiff hinter dem Horizont auftauchte, wenn andere noch nicht einmal die Mastspitzen sahen. Deshalb war seine Gefechtsstation auch im Hauptmars, und der alte Ferris Tucker hatte ihm einmal gesagt, er würde ihm da oben eine Hängematte montieren, weil er praktisch doch ohnehin im Mast wohne. »Kannst du was sehen, Dan?« Hasard blickte wieder durch den langen Kieker zum Dorf hinüber. Aber er konnte nichts entdecken. Die Fischerboote lagen fest vertäut an der Holzpier, ein paar Ruderboote waren auf den Kiesstrand gezogen, Netze wehten aufgespannt im Wind. Das Dorf lag wie ausgestorben da. Vielleicht war es das, was Dan aufgefallen war. »Zwei Reiter preschen nach Süden, in Richtung Drum Hills«, meldete Dan. »Von Deck aus kannst du sie nicht sehen.«
Der Seewolf setzte den Kieker ab. Hoffentlich schaltete Captain Courcy jetzt richtig, überlegte er. Courcy und seine Männer mußten seit einer guten halben Stunde ihr Ziel erreicht haben. Wenn er wollte, konnte jetzt nicht einmal eine Ratte hinein- oder herausschlüpfen, ohne entdeckt und abgeschossen zu werden. Aber wenn Courcy jetzt feuern ließ, war der Überraschungseffekt zum Teufel. Er versuchte, sich in die Situation der Iren zu versetzen. Das Auftauchen der ›Isabella‹ war zwar irgendwie beunruhigend, aber noch kein Grund, in Panik zu geraten. Die beiden Meldereiter wurden wahrscheinlich zu irgendwelchen Führern der irischen Widerstandsbewegung oder zu spanischen Offizieren geschickt, um ihnen das Auftauchen der Galeone zu melden und eventuell Anweisungen einzuholen. »Mehrere bewaffnete Männer!« rief Dan O’Flynn aus dem Hauptmars. Der Seewolf starrte wieder durch das Glas. Nichts. Keine Bewegung. Dungarvan lag still und verlassen wie eine Geisterstadt. »Bist du sicher, Dan?« rief er zu dem Jungen hinauf. »Ich kann nichts sehen!« »Soll ich dir die Ziselierungen an den Musketen beschreiben?« rief Dan beleidigt. »Die Burschen wollen nicht gesehen werden. Sie schleichen hinter den Katen auf den Dorfplatz zu. Nein! Sie sind jetzt im Hinterhof des Steinhauses - verschwinden im Haus.« Der Seewolf blickte durch den Kieker zu dem einzigen Steinhaus Dungarvans hinüber und erinnerte sich an den Bericht Jake Tinklers. In diesem Haus hatte die Besprechung zwischen den beiden Iren - wahrscheinlich Führern der Rebellen - und dem spanischen Offizier stattgefunden. Hier mußte sich also eine Art Hauptquartier der Rebellen befinden, das die Männer verteidigen wollten. Durch seine solide Bauweise war es auch das einzige Haus, das sich zu einer
Verteidigung eignete. Heftiges Musketenfeuer unterbrach seine Gedanken. »Dieser Idiot«, murmelte Captain Norris neben ihm und schlug wütend auf die Balustrade. Das Feuer verstummte wieder, so plötzlich, wie es aufgeflackert war. Die beiden Reiter würden nicht zu ihren Anführern gelangen und ihnen Meldung erstatten. Aber der Überraschungseffekt war damit hin. Jetzt waren die Iren vorgewarnt und wußten, daß die ›Isabella‹ nicht nur vor ihrem Dorf spazieren fuhr, sondern daß sie von Land und von See her eingeschlossen waren. Drüben, in den Fensterhöhlen des Steinhauses, tauchten Köpfe auf, Fensterläden knallten zu, und jetzt wurde es auch bei den Holzhäusern lebendig. Die Schüsse im Süden hatten die Geisterstadt mit einem Schlag zum Leben erweckt. Im Licht der untergehenden Sonne sah Hasard Schatten von einem Haus zum anderen huschen, und dann begann die Kirchenglocke zu läuten. »Klar zum Aufgeien!« befahl Hasard, als sie sich etwa hundert Yards seitlich der Pier befanden. »Klar zum Aufgeien!« hörte er den Ruf Ben Brightons vom Mitteldeck und sah die Männer zu ihren Manöverstationen laufen. Sie waren etwas langsamer als sonst, weil sie schon ihre Waffen für den Kampf an Land in die Gürtel gesteckt hatten lange Entermesser, zweischneidig geschliffene Krummsäbel, Radschloßpistole n und Beile. »Gei auf!« rief Hasard, als er sah, daß die Männer klar zum Manöver waren. Pete Ballie, der Rudergänger, drehte die ›Isabella‹ automatisch in den Wind. Der Bug schwenkte nach Steuerbord herum. Die Galeone schoß in den Wind. Die Männer holten die Geitaue durch, und die Segel wurden zu den Rahen hin auf geschürzt. Auf Deck waren die Lunten angezündet worden. Hinter jeder
Kanone stand ein Mann bereit, ihr glimmendes Ende auf die Pulverpfanne zu drücken. Die ersten Schüsse krachten. Jetzt hatten die Iren keinen Zweifel mehr, daß der Besuch des englischen Schiffes ihnen galt, und daß es keine höfliche Teestunde werden würde. Dicht über Hasards Kopf schlug eine Musketenkugel in den Besanmast. Eine zweite riß Captain Norris den Hut vom Kopf. Ruhig hob er ihn auf, betrachtete die beiden Kugellöcher in dem dunklen Filz und sagte: »Ich glaube, es wird allmählich Zeit für mich.« Dann stieg er den Niedergang zum Mitteldeck hinunter, wo seine Männer hinter dem Schanzkleid hockten, bereit zum Sprung an Land, sowie die Bordwand der ›Isabella‹ an der Pier entlangschrammen würde. »Feuer!« Die sechs Kanonen krachten, Pulverqualm wehte über das Deck nach oben. Drei der hölzernen Fischerkaten brachen wie Kartenhäuser zusammen, als die Eisenkugeln ihre Ziele fanden. Die moralische Wirkung war recht eindrucksvoll. Sie sahen Menschen schreiend aus den Trümmern des zerschossenen Hauses kriechen und zum Steinhaus laufen. Und auch die Leute in den heil gebliebenen Häusern schienen sich in ihrer Bleibe plötzlich nicht mehr sehr sicher zu fühlen. Männer, Frauen und Kinder hasteten tief gebückt von einer Deckung zur anderen und verschwanden schließlich irn Steinhaus. Nur noch sporadisch fielen ein paar Schüsse, bis plötzlich im Süden eine Salve krachte und dann eine zweite vom nördlichen Rand der Ortschaft. Captain Courcy und seine Männer hatten ihre Bereitstellungen verlassen und stürmten konzentrisch auf das Dorf zu. Die Galeone wurde langsamer und ging mit der letzten auslaufenden Fahrt an der Pier längsseits. Hasard war gena u im richtigen Moment in den Wind gegangen. Die alten Bohlen stöhnten und knackten, als die Bordwand der ›Isabella‹ an ihr
entlangschrammte. Und noch bevor sie richtig festlag, sprangen Soldaten und ein Teil der Besatzung an Land und stürmten über die Pier auf den Dorfplatz zu. Jetzt waren die Iren endgültig aufgewacht. Wütendes Abwehrfeuer prasselte aus den Häusern, vor allem aus dem Steinhaus auf der anderen Seite des Dorfplatzes. Zwei der Soldaten brachen im Laufen zusammen und blieben auf der Pier liege n. »Deckung!« schrie Captain Norris, der hinter einem Holzpoller kniete und mit seiner Pistole sorgfältig auf einen Iren zielte, der Pier und Schiff von einer Dachluke aus unter Feuer nahm. Er wartete, bis der Mann nachgeladen hatte und sich wieder weit hinausbeugte, um ein besseres Ziel zu haben. Dann drückte er ab. Der Mann ließ seine Muskete los, bäumte sich auf und kippte langsam aus der Luke. Mit einem irren Schrei klatschte er auf das Kopfsteinpflaster des Platzes. Blacky hatte seine Muskete leergeschossen und benutzte sie als Keule. Wie ein Bauer, der sein Feld abmäht, schwang er den schweren Prügel und senste alles nieder, was sich ihm in den Weg stellte. »He, laß mir noch ein paar übrig!« rief plötzlich eine noch fast kindliche Stimme neben ihm. Es war Dan O’Flynns größter Kummer, daß er immer den längsten Weg hatte, wenn irgendwo etwas los war, und er litt unter der ständigen Angst, zu spät zu kommen. »Du wirst schon noch ein paar abkriegen«, sagte Blacky über die Schulter und schlug mit der Faust einen Säbel zur Seite, den ihm ein bulliger Ire auf den Kopf dreschen wollte. Dann rammte er ihm den Lauf seiner Muskete in den Unterleib. Der Ire brach schreiend zusammen und krümmte sich vor Schmerzen. »Der hat vorläufig keine Sorgen, sich einer Hure an den Hals zu werfen«, sagte Blacky und wandte sich zwei Männern zu, die mit Messern auf ihn eindrangen.
»Ein richtiger Menschenfreund«, sagte Dan O’Flynn mit seiner piepsigen Stimme. »Mir kommen gleich die Tränen.« Er wich dem Messer des einen Angreifers mit einer halben Drehung aus und rammte ihm mit aller Kraft den Ellbogen in die Magengrube. Der Ire ging zu Boden und übergab sich in seinen grauen Bart. »Du bist schon zu alt für solche Spielchen, Opa«, sagte Dan O’Flynn und erlöste ihn mit einem Tritt gegen die Schläfe von seinen Schmerzen. Matt Davies hatte sich eine der Katen rechts vom Steinhaus vorgenommen. Ein paar Iren hatten etwas einwenden wollen, daß er sie unangemeldet besuchte. Sie lagen jetzt, wie unordentlich aufgeschichtete Scheiterhölzer, übereinander vor der Tür. Matt Davies’ rechte Unterarmprothese mit dem messerscharf geschliffenen Haken war eine Waffe, auf die sie nicht vorbereitet gewesen waren. Und in Zukunft würden sie diese neue Erfahrung nicht mehr brauchen. Jetzt schlug er den Haken in das Holz der Tür und riß sie auf. Ein Schuß dröhnte in dem engen Raum wie ein Kanonenschlag. Haarscharf zischte die Kugel an Matts Kopf vorbei. Er warf sich nach vorn. Ohne in dem kleinen, fensterlosen Gelaß irgend etwas erkennen zu können, schlug er mit dem Stahlhaken und mit der linken Hand nach dem unsichtbaren Gegner. Der Haken bohrte sich tief in etwas Weiches, Nachgiebiges. Aber es war nicht der Körper eines Gegners, erkannte Matt, als sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, sondern eine morsche Dachsparre. Und als er den Haken wieder herausreißen wollte, merkte er, daß er festsaß. Wie eine Fliege im Spinnennetz hing der breitschultrige Freibeuter an dem Dachsparren. Jetzt erkannte auch der Ire, der sich in diesem Haus versteckt gehalten hatte, Matts hilflose Lage. Matt sah ein Gesicht, eigentlich nur einen hellen, schemenhaften Fleck im Halbdunkel, von dem nur das breite,
genüßliche Grinsen klar zu erkennen war. Matt spürte einen plötzlichen, irrsinnigen Schmerz in der Magengrube und rang keuchend nach Luft. Der Mann wollte ihn nicht sofort umlegen, sondern ihn langsam und mit Genuß fertigmachen, registrierte sein Gehirn, während er versuchte, gegen Atemnot und Übelkeit anzukämpfen und verzweifelt an dem Haken zerrte. Aber er hatte ihn mit solcher Wucht in das Holz des Sparrens geschlagen, daß er unverrückbar festsaß. Matt verfluchte die solide Arbeit der Ledermanschette, in welcher der Haken an seinen Unterarm geschnürt war. Und er hatte das verdammte Ding heute noch besonders fest geschnürt. Jedenfalls ließ es sich nicht vom Unterarm reißen. Ein zweiter Schlag traf ihn am Kopf, und seine Knie gaben nach. Er hing völlig hilflos an seinem rechten Arm, und das schlimmste war das Wissen, daß er nicht mehr die Kraft hatte, sich zu befreien. Den dritten Schlag spürte er kaum noch. Es war nur ein dumpfer Schmerz am Kopf. Matt wunderte sich, daß sein Gehirn trotz allem noch so gut funktionierte, daß er sich fragte, ob der Kerl mit einem Knüppel auf ihn eindrosch, oder ob er wirklich so harte Fäuste hatte. »Noch zwei Schläge, Engländer«, sagte eine Stimme aus dem Halbdunkel, »einen zum Spaß, und beim zweiten bist du hin.« Der Schlag zum Spaß war ein scharfer Schmerz im Brustkorb der Matt aus seiner halben Bewußtlosigkeit riß. »Und jetzt ist Himmelfahrt, Engländer«, sagte der Mann im Halbdunkel, und Matt hörte das Grinsen in der Stimme. »Jetzt werde ich dich ...« Die Stimme brach ab, als habe jemand den Wortfaden abgeschnitten. Und Matt Davies hörte jemanden sagen: »Dich kann man wirklich nicht eine Minute allein lassen.« Eine Klinge fuhr unter seine Ledermanschette, zerschnitt die
Verschnürung, und Matt sank in die Arme Smokys, der ihn ins Freie schleppte. »Mein Arm«, sagte er und versuchte sich zu befreien. »Mein Arm hängt noch an der Decke.« »Den holen wir schon heraus, wenn der ganze Mist hier vorbei ist. Und wenn nicht, kann dir der alte Tucker einen neuen basteln.« Sie traten aus dem Haus in das Dunkel, das von den Blitzen der Mündungsfeuer zerrissen wurde. Musketen knallten von Bord der ›Isabella‹, von der Pier, von dem Dorfplatz und aus den Häusern des Dorfes, von denen jedes einzelne wie eine Festung verteidigt wurde, bis es den englischen Soldaten und Seeleuten gelang, die Iren niederzukämpfen oder zu vertreiben. Ein Soldat lief geduckt die Pier entlang, sprang an Bord der ›Isabella‹ und rief zu Kapitän Killigrew hinauf: »Kompliment von Captain Norris, Sir! Captain Courcy und seine Leute haben jetzt ebenfalls den Ortskern erreicht. Die Iren haben sich in das Steinhaus dort vorn zurückgezogen und belegen uns mit einem verheerenden Feuer. Mit unseren Musketen können wir gegen die dicken Mauern nichts ausrichten. Captain Norris läßt anfragen, ob Sie mit Ihren Kanonen eine Bresche schießen können?« Der Seewolf hatte mit dieser Entwicklung gerechnet. Von seinem Vater, dem er seine ganze seemännische und kämpferische Ausbildung verdankte, hatte er gelernt, sich immer in die Lage des Gegners zu versetzen und dessen Aktionen vorauszusehen. Die Konzentration der verbliebenen Kräfte war für die Iren der einzig mögliche Ausweg aus ihrer bedrängten Situation. »Sag dem Captain, daß in zwei Minuten das Feuer eröffnet wird.« »Aye, aye, Sir.« Der Mann sprang auf die Pier zurück, und Hasard sah ihn geduckt zum Steinhaus laufen, aus dessen Fenstern ein Abwehrfeuer schlug, das von Minute zu Minute
mörderischer wurde. »Conroy!« »Hier, Sir.« Der stämmige Stückmeister hatte einen sechsten Sinn dafür, wann und wo man ihn brauchte. Und deshalb erstaunte es den Seewolf jetzt auch nicht, daß er bereits neben ihm stand. »Wir müssen den Männern an Land Feuerunterstützung geben und ...« »Ich weiß, Sir, hab alles mitgehört.« »Und wie ich Sie kenne, wissen Sie seit mindestens einer halben Stunde, was Sie tun werden, nicht wahr?« sagte Philip Hasard Killigrew, ohne den Blick von dem Kampfgeschehen an Land zu nehmen. »Wozu bin ich denn sonst da? Die Deckgeschütze können wir nicht verwenden - wegen des miesen Schußwinkels. Schade. Mit einer Breitseite der Vierpfünder wären alle unsere Probleme gelöst.« »Also bleiben uns nur die Drehbassen«, sagte Hasard. »Ist mir auch lieber. Wir wollen das Dorf schließlich nicht vernichten, sondern nur besetzen. Es reicht, wenn ihr dem Steinhaus die Augen herausschießt. Feuerbeginn in einer Minute.« »Aye, aye, Sir.« Conroy nahm sich nicht die Zeit, den Niedergang hinunterzugehen, sondern schwang sich mit einer Flanke über die Balustrade und landete wie eine Katze auf Händen und Füßen auf dem Mitteldeck. Sekunden später sah Hasard ihn auf dem Vorkastell und an der in einer Gabellafette gelagerten Drehbasse. Ein fragender Blick zum Kapitän, und als Hasard nickte, richtete er das Bronzerohr mit einer spielerisch wirkenden Leichtigkeit auf das Steinhaus, warf einen fast oberflächlichen Blick über das Rohr und drückte die glimmende Lunte auf das Zündloch. Es dröhnte, als die dreipfündige Eisenkugel vor einer
rötlichgelben Stichflamme aus der Mündung fuhr. Das erste »Auge« des Hauses, das mit schweren Holzläden verriegelte Fenster neben der Tür, wurde zu Splittern zerfetzt. Natürlich hatte der Schuß genau getroffen, und natürlich war die Drehbasse fertig geladen gewesen, und natürlich hatte eine glimmende Lunte griffbereit neben ihr gelegen. Bei Al Conroy war immer alles so, wie es sein sollte, und Hasard hatte es sich längst abgewöhnt, sich darüber zu wundern. In einer Zeit, in der ein anderer Mann bestenfalls das Pulver ins Rohr geschüttet hätte, hatte Conroy die Drehbasse wieder feuerbereit, und das zweite Fenster zersplitterte. Wut- und Schmerzensschreie hallten zur ›Isabella‹ herüber.
Captain Norris hockte hinter einem Haufen Dreck, den jemand etwas seitlich vom Brunnen zusammengekehrt hatte. Er schien, dem Gestank nach, größstenteils aus Fischabfällen zu bestehen. Keine wirkliche Deckung, aber immerhin eine Sichtblende gegen die Burschen, die aus den verrammelten Fenstern des Steinhauses ballerten. »Die ›Isabella‹ beginnt in zwei Minuten zu feuern.« Der Soldat, den Norris zu Kapitän Killigrew geschickt hatte, warf sich neben ihn hinter den Dreckhaufen. »Das heißt, jetzt in einer Minute.« In diesem Augenb lick dröhnte der erste Schuß der Drehbasse. Sie hörten die Rundkugel über ihre Köpfe wegsausen und durch das Fenster neben der Tür ins Haus schmettern. »Deine Uhr geht falsch«, sagte Captain Norris trocken und feuerte seine Pistole auf die jetzt offene Fensterhöhle ab. Ein lauter Schrei verriet ihm, daß die ungezielte Kugel
getroffen hatte. Ein schwarzhäutiger Riese zerrte einen anderen Mann über den Platz und ließ ihn hinter dem Brunnen in Deckung gleiten. »He, paß doch auf, wo du die Sachen hinschmeißt, du schwarzer Affe!« protestierte eine helle Stimme. »Selber Affe, weißer, wurmblasser!« schrie der schwarze Riese Batuti. »Du noch einmal meckern, dann werde ich ...« Er starrte in das Gesicht des anderen. »Ach, du bist es, kleines O’Flynn! Beinahe ich hätte dir gehauen in Visage.« »Hättest du ja mal versuchen können«, gab das Bürschchen sofort zurück. »Hauen könnt ihr euch später«, sagte Matt Davies, der sich wieder einigermaßen erholt hatte. »Denkt lieber nach, wie ich meinen verdammten Arm wiederkriege.« »Arm kann ruhig in Stube hängen«, sagte Batuti tröstend. »Haust du Iren einfach mit Armstumpf auf Köpfe, ist das nichts?« »Du bist wirklich ein schwarzer Affe«, sagte Matt Davies, wütend darüber, daß er durch den Verlust seiner Spezialwaffe nicht mehr richtig mitmischen konnte. Neidisch sah er, wie die Soldaten sich immer näher an das Steinhaus heranarbeiteten. Conroys präzises Feuer mit der Drehbasse hatte es »blindgeschossen«. Sämtliche Fenster waren nur noch leere Höhlen, aus denen sie das Stöhnen und Schreien von Verwundeten hörten. Das Feuer der Iren war fast völlig verstummt. Nur aus den Kellerfenstern krachten noch hin und wieder Musketenschüsse. »Wenn Al Conroy nur ein bißchen Grips hat, schießt er jetzt noch die Tür ein. Dann ist die Bude reif«, sagte Dan O’Flynn und packte sein Entermesser fester. »Der Junge hat mehr Grips, als du jemals versaufen kannst«, sagte Matt Davies. »Wenn ich meinen Arm wiederhätte ...« Wieder dröhnte die Drehbasse vom Bug der ›Isabella‹. Die schwere Eichentür des Steinhauses zersplitterte zu Brennholz.
»Los! Jetzt wird aufgeräumt!« brüllte Matt Davies aufspringend und schwang seinen Armstumpf, als ob noch der tödliche Stahlhaken an seinem Ende säße. Er, Batuti und Dan O’Flynn waren dem Steinhaus am nächsten gewesen, und so waren sie auch die ersten, die durch die Türöffnung stürmten. Dan O’Flynn stolperte über einen Toten, der dicht hinter der Schwelle lag. Batuti hackte mit dem Entermesser auf einen Mann ein, der an der gegenüberliegenden Wand hockte, die Muskete in beiden Händen. Erst als der Mann lautlos zur Seite sank, sah er die klaffenden Kugellöcher in seiner Brust. Der Mann war längst tot. Es waren überhaupt nur Tote im Steinhaus. Nicht einer der Iren, und dem Feuer nach mußten es mindestens zwei Dutzend gewesen sein, war zurückgeblieben. Wann immer sie in den dunklen Räumen auf einen anderen Mann stießen und schon zuschlagen wollten, entdeckten sie, daß es Soldaten Norris’ waren, die durch die Hintertür oder eins der Fenster ins Haus eindrangen. »Verdammt, die Hundesöhne können sich doch nicht in Luft aufgelöst haben«, sagte Matt Davies enttäuscht. »Vielleicht haben sie sich im Keller verkrochen«, meinte Dan O’Flynn. »Wir sollten da mal nachsehen.« »Zuerst brauchen wir Licht in diesem Schuppen«, sagte Matt Davies. »Seht nach, ob es hier irgendeine Funzel gibt.« Sie brauchten sich dann doch nicht darum zu kümmern, weil einer der Soldaten, die nach ihnen ins Haus gekommen waren, eine Öllampe fand und sie ansteckte. »Hier ist der Kellereingang!« hörten sie kurz darauf eine n der Männer rufen. Etwa zehn Soldaten standen an einer offenen Falltür, Musketen schußbereit, Säbel und Messer in den Händen. »Kommt ‘raus, ihr Stinktiere!« schrie ein baumlanger
Schotte. »Kommt raus, oder wir sprengen euch in eurem Rattenloch in die Luft.« Stille. Nichts rührte sich in dem Dunkel. Irgendwo tropfte Wasser, langsam, monoton, spukig. »Heraus mit euch, hab ich gesagt!« Der Schotte richtete den Lauf seiner Muskete in das dunkle Loch und drückte ab. Der Schuß dröhnte wie die Explosion eines Pulverfasses. Aber auch jetzt geschah nichts. »Laß mal einen Erwachsenen ran«, sagte Matt Davies, drängte den Schotten zur Seite und nahm einem anderen die Öllampe aus der Hand. »Richtig, sonst erzählt ihr nachher, wir seien nur als Zuschauer hier gewesen«, sagte Dan O’Flynn und stieg als erster die steile Treppe hinunter, die in die Kellerräume führte. Er blieb kurz stehen, als plötzlich wieder das Läuten der Kirchenglocke einsetzte. Was sollte das? War es ein verabredetes Signal für andere, jetzt in den Kamp f einzugreifen? Oder hatte nur jemand die Nerven verloren und riß aus reiner Panik am Glockenstrang? Egal. Das würde sich schon irgendwann herausstellen. Er mußte sich jetzt auf die Sache konzentrieren, die er vor sich hatte. Vorsichtig stieg er die Leiter hinab und entschwand den Blicken der Männer, die oben am Einstieg standen. Dann tauchte auch Matt Davies unter. Ein paar Sekunden lang sahen die Manner noch den matten, flackernden Schein der Öllampe. Dann war es dunkel, dunkel und still. Minuten vergingen, Minuten, die sich für die Zurückgebliebenen zu Ewigkeiten dehnten. Dann hörten sie die helle Stimme Dan O’Flynns rufen: »He, ihr könnt runterkommen, die Geisterstunde ist vorbei!« Kurz darauf sahen sie eine Hand mit der flackernden Öllampe aus dem Dunkel tauchen, und in dem Licht das grinsende Gesicht des Jungen. »Die Ratten sind verschwunden.«
Sie waren wirklich verschwunden. Zwei der Soldaten blieben an der Falltür, um die anderen vor Überraschungen abzusichern. Batuti und der Rest der Soldaten stiegen in den Keller hinunter und durchsuchten die Räume gründlich. Sie stöberten ein paar Ratten aus ihren Verstecken, entdeckten Blutspuren, verschüttetes Pulver und andere Zeichen, daß bis vor wenigen Minuten noch Menschen hier unten gewesen sein mußten, aber die Menschen selbst waren verschwunden. »Himmelarsch, die verdammten Iren können sich doch nicht in Luft aufgelöst haben«, sagte Matt Davies. »Du wiederholst dich, Matt, das hast du vorhin bereits festgestellt.« Dan O’Flynn klopfte mit dem Kolben seiner Pistole gegen die Kellerwände. »Hilf mir lieber, das Luftloch zu finden, durch das sie verschwunden sind.« Noch einmal begannen sie eine gründliche Suche. Aber jetzt suchten sie nicht nach den Iren, sondern nach einer Falltür, einem Loch in der Mauer, nach irgendeinem geheimen Ausgang, durch den die Iren entwischt waren. Sie fanden ihn an einer Stelle, an der sie ihn niemals vermutet hätten, das heißt, Dan O’Flynn fand ihn. Seine scharfen Augen entdeckten in dem fast unzugänglichen Winkel hinter der Treppe feine Risse in der weißgetünchten Wand - eine Tür aus starken Bohlen, mit einer dicken, staubigen Schicht weißer Tünche bedeckt, genau wie die Kellerwande. »Hier ist das Rattenloch!« rief er den anderen zu, als er die Bohlentür nach innen stieß. »Gebt mal die Lampe her, damit ich was sehen kann!« Diesmal war es Batuti, der darauf bestand, ihn bei dem Erkundungsgang zu begleiten. »Du keinen Haken an Hand, was tun, wenn Haufen Iren da unten sind?« Matt Davies protestierte beleidigt, daß er auch ohne seinen Stahlhaken ein ganzer Mann sei und mit jeder Menge Iren fertig werden könne, aber Batuti schob ihn mit einer fast
lässigen Bewegung zur Seite. »Außerdem ich schwarzer Affe, Iren nicht können sehen schwarzer Affe in schwarzer Keller, klar?« Er wollte gerade in das dunkle Loch klettern und dem matten Lichtschein von Dan O’Flynns Lampe folgen, als dieser herausstürzte, den schwarzen Riesen zur Seite stieß und rief: »Abhauen! Rasch! Pulverfaß!« Er schlug Batuti die Faust ins Kreuz, als dieser nicht in derselben Sekunde losprustete, und war schon auf der Leiter, die aus dem Keller nach oben führte. »Deckung!« brüllte er den Männern zu, die nach dem Sieg über die Iren die Häuser plünderten und vor allem nach Trinkbarem suchten. »Geht in Deckung, ihr Armleuchter, sonst ...« Er brauchte es nicht näher zu erklären, was sonst passieren würde. Ein gewaltiges Krachen ließ die Luft erzittern. Dan O’Flynn spürte, wie selbst die Erde, auf die er sich preßte, bebte. Grellroter Feuerschein blitzte sekundenlang hinter den leeren Fensterhöhlen des Steinhauses auf, das Gebäude schien um mehrere Inches zu wachsen, wie ein Mensch, der tief Luft holt, und dann riß die Gewalt der Detonation die starken Mauern auseinander. Ziegel, Dachsparren und Granittrümmer wurden durch die Luft gewirbelt und prasselten auf das Kopfsteinpflaster des Dorfplatzes. Dan O’Flynn preßte sich noch enger an den Boden und hatte den Wunsch, sich für die nächsten Sekunden wie ein Maulwurf verkriechen zu können. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so wehrlos gefühlt wie in diesen Sekunden, in denen ein einziger niederfallender Stein ihn töten oder für immer verkrüppeln konnte. Er zuckte zusammen, als ein schwerer Granitbrocken knapp einen Yard neben seinem Kopf in das Pflaster schlug und mehrere Steine zu Pulver zermahlte. Das Niederprasseln der Stein- und Holztrümmer hörte auf.
Aber es dauerte mehrere Sekunden, bis Dan O’Flynn begriff, daß es wirklich zu Ende und er in einem Stück geblieben war. Er sprang auf und starrte auf die Trümmer des Steinhauses. »Matt! Batuti!« Er lief auf den wirren Steinhaufen zu, der von dem Haus übriggeblieben war. »Matt! Batuti!« »Was schreist du denn so?« Matt Davies richtete sich hinter dem Brunnen auf, hinter dem er in Deckung gegangen war. »Glaubst du, ich bin schwerhörig?« »Melde dich doch, wenn man nach dir ruft, du dämlicher Hund«, sagte Dan und versuchte, seine Erleichterung zu verbergen. »Wo ist Batuti?« Sie blickten einander ein paar Sekunden wortlos an. Dann rannten sie zu der Hausruine und begannen, die schweren Granitbrocken zur Seite zu räumen. »Batuti!« schrie Dan O’Flynn immer wieder. »Batuti!« Irgendwo hörten sie ein leises Stöhnen. »Schnell! Hier ist er!« rief Matt Davies, und sie arbeiteten noch schneller. »Vorsichtig!« rief Dan O’Flynn, als sie ein zerschmettertes, blutverkrustetes Bein freilegten. Und dann rollten sie einen Steinbrocken von der Brust des Mannes, die genauso aussah wie das Bein, eingedrückt, zerquetscht und rot von Blut. »Tot«, sagte Matt Davies mit einer geborstenen Stimme. Dan O’Flynn starrte in das bleiche, stoppelbärtige Gesicht, aus dessen Mund ein breiter Blutstrom quoll. »Es ist nicht Batuti«, sagte er leise und schämte sich ein wenig, daß er fast »Gott sei Dank« gesagt hatte. »Es ist Steve Banston«, hörte er eine Stimme hinter sich sagen. Er sah auf und erkannte einen der beiden Soldaten, die sie als Posten vor der Falltür zurückgelassen hatten. »Sie sind alle tot. Nur drei von uns sind rechtzeitig herausgekommen. Ich war der letzte. Gleich hinter mir ist das Haus ...« Das laute Krachen einer Musketensalve riß seinen Satz entzwei. Unwillkürlich duckten sie sich. Ein Mann schrie
gellend auf, und sie hörten erregtes Rufen und Fluchen. »Sie sind in der Kirche!« schrie ein Soldat, der an ihnen vorbei zum Ostrand des Dorfplatzes lief. »Die verdammten Hunde schießen aus der Kirche auf uns!« »Komm, Junge, wir müssen die Iren da ausräuchern«, sagte Matt Davies und legte Dan O’Flynn den Armstumpf auf die Schulter. »Wenn Batuti da drin ist, kann ihm keiner mehr helfen.« Der Junge blickte auf. Aus den schmalen, wie Schießscharten gebauten Fenstern der Kirche sah er das Aufblitzen von Schüssen, das von den Engländern, die rings um den massiven Bau in Stellung gegangen waren und langsam vorrückten, heftig erwidert wurde. »Ja, du hast recht, es ist sinnlos«, sagte er abwesend, und der Gedanke, seinen riesigen schwarzen Freund nicht mehr wiederzusehen, war so unfaßbar, daß er an seinem Verstand zweifelte! Er starrte auf den Berg von Stein- und Holztrümmern, unter dem Batuti begraben war. Es war wirklich kein Stein auf dem anderen geblieben. Nur der Kamin ... »Nun komm schon, Dan«, sagte Matt Davies wieder. »Es hat wirklich keinen Zweck.« »Du kannst ja gehen.« Dan O’Flynns Stimme klang ungewollt scharf. »Ich versuche nur noch ...« Er nahm sich nicht die Zeit, den Satz zu Ende zu sprechen, sondern kletterte über die Steintrümmer zum stehengebliebenen Kamin und begann sofort, ihn freizuräumen. Matt Davies blickte ihm verblüfft nach, dann zuckte er mit den Schultern und ging langsam zum Ostrand des Dorfplatzes und auf die Kirche zu. Dan O’Flynns Hände bluteten, als er einen Steinbrocken nach dem anderen zur Seite wälzte. Ein kleiner Stein löste sich, rutschte nach innen, und Dan O’Flynn hörte ihn irgendwo aufschlagen. Ein Hohlraum! Die
Feuerstelle des Kamins war von den Trümmern nicht zugeschüttet, sondern nur abgeschlossen worden. Er riß den nächsten Stein zur Seite und versuchte, in die dunkle Höhlung zu blicken, die sich jetzt geöffnet hatte. Wenn er nur daran gedacht hätte, die Öllampe mitzunehmen, überlegte er wütend. Er legte sich auf den Bauch und tastete vorsichtig mit der Hand in den Raum der Feuerstelle. Ein Stein kollerte hinein, und diesmal hörte Dan O’Flynn ihn nicht aufschlagen. Er fiel auf etwas Weiches. Dan vernahm einen lauten Fluch in einer Sprache, die er nicht verstand. »Batuti?« »Aye, aye.Sir.« Die Stimme klang hohl und dumpf wie aus einem Grabgewölbe und ziemlich verwirrt. Im nächsten Augenblick tauchte ein schwarzes Gesicht in dem engen Loch auf. »Sie haben Batuti gerufen, Sir?« Der schwarze Riese stand auf. Er schien kaum zu merken, daß seine Schultern einen Berg Schutt und Trümmer wegräumten, als er sich auf richtete. »Komm raus, bevor das Ding zusammenfällt«, drängte Dan O’Flynn. »Wo raus, Sir?« Batuti schüttelte den Kopf und schien aus seiner Be nommenheit zu erwachen. »Ach, du bist es, kleines O’Flynn.« Er drückte die letzten Granitbrocken zur Seite und kletterte aus der Öffnung. Hinter ihm stürzte die Höhlung, die ihm das Leben gerettet hatte, zusammen. Jetzt fiel ihm auch wieder ein, was gesche hen war. »Du sagen, paß auf, Pulver, und ich raus aus Keller. Oben in Zimmer kein Licht. Liegt toter Ire mitten im Weg. Batuti fällt über verdammten Iren, und bevor aufstehen kann, geht Pulver los. Bummm!« Er beschrieb die Wirkung der Explosion mit einer Geste seiner riesigen Hände. »Batuti weiß, nun Schluß mit Leben, wirft sich in Höhle wie Tier, wenn krank und kann
nicht mehr weiter. Vorhin ich denken, Tod schöne Sache. Batuti steht am Ruder von himmlische Galeone, und Kapitän Killigrew segelt auch schon durch Wolken, und Blacky und Smoky und ...« »Ich auch?« fragte Dan O’Flynn. »Natürlich, du auch. Alle Männer von alte ›Isabella‹, kleines O’Flynn sitzt in himmlische Mars von himmlische Galeone. Zuletzt war herrliche Schießerei, Kampf mit schwarze Karavelle von höllische Spanier. Batuti sich schlagen wie Simba, plötzlich kriegt Schlag gegen Brust. Getroffen von Kugel, denke ich, gleich sterben. Aber wieso sterben? Wie kann Batuti sterben, wo doch schon tot, und wohin gehen Tote, die sterben in himmlische Schlacht? Gibt zweiten Himmel, und dritten, und vierten ? Und dann ich hören Stimme rufen Batuti. Ich denken, ist Kapitän, rufen Batuti für letzte Appell, und dann ich sehen, ist bloß kleines O’Flynn, rufen Batuti für Rauskriechen aus Loch.« »Du könntest dich wenigstens freuen, daß du noch nicht abgesegelt bist. Im Himmel gibt’s keine Schiffe, keine Kämpfe und auch sonst nichts Interessantes. Nur lauter Harfen und Lobsingen und solchen Kram.« »Keine Schiffe?« fragte der Neger ungläubig. »Aber wieso man sagt, Himmel ist schön?« Er fuhr mit den Fingern durch sein Haar und kämmte eine Handvoll Mörtel und Steinstaub heraus. Dann wurde aus seinem nachdenklichen Gesichtsausdruck ein breites Grinsen. »Ist doch schöner, wenn Batuti noch bleiben kleines Weilchen auf alte Tante ›Isabella‹, bei kleines O’Flynn und überhaupt.« »Sei mal ruhig.« Batuti hob den Kopf und lauschte. »Warum? Ich nichts hören.« »Eben.« Dan O’Flynn richtete sich auf und blickte zur Kirche hinüber. Das Schießen hatte aufgehört. Es war still, beunruhigend still.
Und dann hörten sie Menschen singen. Sie sangen einen Choral.
6. Captain Norris hob verblüfft den Kopf, als er den Gesang aus den zerschossenen Fenstern der Kirche hörte. »Zurück!« Er winkte zwei von seinen Männern, die auf die Kirchentür vorgingen, mit einer heftigen Armbewegung zu, in Deckung zu bleiben. Die Männer wichen zurück und kauerten sich hinter irgendeiner Deckung auf den Boden. Sie starrten fragend zu ihrem Captain hinüber, dann auf die Kirche, aus deren Fenstern der Choralgesang drang, und plötzlich wurde ihnen das Unwirkliche dieser Situation bewußt. Was für eine Teufelei hatten die Iren jetzt wieder vor? Die Frage beschäftigte auch Captain Norris. Was bezweckten die Burschen damit? Eben noch hatten sie aus allen Rohren aus der Kirche gefeuert, und jetzt sangen sie fromme Lieder. Er sah, wie einer seiner Männer sich unwillkürlich bekreuzigte und wußte, daß er unbedingt etwas unternehmen mußte, bevor seine Männer weich wurden. Er stand auf, vorsichtig, den Blick auf die Kirche gerichtet. Wenn sie jetzt da drüben ein paar Scharfschützen an den Fenstern hatten, war er erledigt. Aber er mußte das Risiko eingehen. Diese Geste war notwendig, um die Männer im Griff zu behalten. »Langsam auf die Kirche vorrücken!« sagte er kalt. Er brauchte den Befehl nicht zu schreien, weil es still war, unheimlich still. Das einzige Geräusch waren der leise Choralgesang und das kaum hörbare Plätschern der Wellen an Pier und Ufer. Er hätte den Befehl flüstern können, und seine Männer hätten ihn gehört.
»Vier Männer gehen auf die Tür vor, die anderen sichern die Kirche von allen Seiten ab. Schießt auf alles, was aus der Kirche zu fliehen versucht.« Aber niemand floh. Da war nur Gesang. Und auf den konnte man nicht schießen. Die Männer rückten vor. In einer Zangenbewegung umstellten sie den weißgetünchten Steinbau mit dem vierkantigen, fortartigen Turm. Ohne daß Norris etwas sagen mußte, blieben zwei Männer zurück und richteten die Mündungen ihrer Musketen auf die Schallöcher des Glockenstuhls - für den Fall, daß die Iren sie aus ihren Deckungen locken und von der überhöhten Position aus angreifen sollten. Captain Norris hielt die vier Männer, mit denen er auf die Kirchentür vorgehen wollte, so lange zurück, bis er sicher war, daß die anderen ihre flankierenden Positionen erreicht hatten. »Langsam vorgehen!« Er wechselte die Pistole von der rechten Hand in die linke und zog den Säbel, als er langsam auf die Kirche zuschritt. Mit jedem Schritt wurde der monotone Gesang in der Kirche lauter. Captain Norris versuchte, die Beklemmung abzuschütteln. Verdammt, es war nichts Übernatürliches, nichts Unheimliches, daß Menschen einen Choral sangen. Aber die Beklemmung blieb. Er erkannte, daß es ganz einfach Angst war, Angst vor dem Unbekannten, Ungewöhnlichen. Im Grunde genommen war die Beklemmung weiter nichts als eine Wiederholung seiner ursprünglichen Frage: Was haben die Burschen damit vor? Er erwartete jede Sekunde, daß etwas passieren würde, ein plötzlicher Überfall, eine Bombe oder etwas anderes, das genauso ungewöhnlich war wie der Choralgesang, der aus den schmalen Fenstern der Kirche drang. Er atmete auf, als er die tiefe Türnische erreichte und drängte sich unwillkürlich an den starken, rauh verwitterten Eichenbohlen. Seine vier Männer reagierten genauso wie er,
bemerkte er mit einer fast kindischen Erleichterung, über die er lächeln mußte. Die Iren sangen ihren Choral. »Ich möchte wirklich wissen, was diese verdammten ...« »Ruhe«, unterbrach Norris den Soldaten, der nervös an seiner Muskete fingerte. Und er fragte sich, warum er geflüstert hatte. Die Klinke war aus Schmiedeeisen und stellte eine Szene aus dem Paradies dar. Ein ziemlich angerostetes Paradies, dachte Captain Norris, als er sie herunterdrückte und sich gegen die Tür stemmte. Zu seiner Überraschung war sie offen. Das unerwartete Nachgeben der Tür ließ ihn in den Raum stürzen. Der Gesang brach ab. Norris fand sein Gleichgewicht wieder und hob die Pistole. Fünfzig oder sechzig Gesichter starrten ihn an - ruhig, gleichgültig, abwartend, Gesichter von Frauen und Kinder zumeist, ein paar alte Männer darunter, Greisengesichter mit schütteren weißen Bärten und tiefgefurchten Lebensspuren. Auf dem Altar brannten zwei riesige Kerzen, und zwischen ihnen stand, die Arme weit ausgestreckt, ein schwarzgekleideter Priester und murmelte lateinische Brocken, die Norris nicht verstand. Dann schwieg auch er, und es war völlig still, Captain Norris starrte auf die Pistole in seiner Hand, auf die vier Männer, die mit schußbereiten Musketen neben ihn getreten waren, und kam sich plötzlich sehr töricht vor. Er ließ die Waffe sinken. Irgendwo begann ein Kind zu weinen. »Bringt die Leute raus«, sagte Norris ruhig. Sie brauchten sie nicht anzutreiben. Schweigend standen sie auf - eine stumme, schwarzgekleidete Herde - und verließen die Kirche. »Sagt den anderen, sie sollen sie in irgendeinen Schuppen an der Pier bringen und bewachen.« Er blickte weg, als die Menschen an ihm vorbei zur Tür
gingen und in die Nacht hinaustraten, schweigend, ruhig, ohne zu drängen, ohne einen Blick für ihn und seine Soldaten. Er atmete auf, als die letzte Frau an ihm vorbeigegangen und verschwunden war. Zwei Minuten später waren seine Mähner wieder zurück. »Unten bei der Pier ist ein Schuppen, da werden sie über Nacht aufbewahrt«, sagte einer von ihnen. »Stinkt ein bißchen nach Fisch, aber an den Gestank sind sie ja gewöhnt.« Norris nickte kurz und sah sich in der Kirche um. »Zwei Mann bewachen die Tür, die anderen mitkommen.« Langsam schritt er den Mittelgang entlang zum Altar. Wo waren die Männer geblieben, die sie aus den Kirchenfenstern heraus beschossen hatten? Es gab keine Verstecke in dieser schlichten Dorfkirche. Sie war weiter nichts als eine leere Halle, an deren weißgetünchten Wänden naive Heiligenbilder hingen, von den gläubigen Dörflern mit Bootsfarben selbst gemalt. Einziges Mobiliar waren die roh gezimmerten Bänke und der erhöhte Altar. Der Altar - ein nach allen Seiten geschlossener Opfertisch, mit einem violettfarbenen Tuch bedeckt, zwei riesige Kerzen, zwischen ihnen die aufgeschlagene Bibel. Captain Norris stieg zögernd die drei Stufen hinauf, trat an den Opfertisch, legte die Hand darauf und klopfte mit den Knöcheln darauf. Holz, hohl, registrierte er automatisch. Natürlich Holz.es gab viel Holz in Südirland, sie fertigten vieles aus Holz an, warum nicht auch ihren Altar? Und natürlich hohl. Warum sollten sie einen tonnenschweren Klotz als Altar nehmen? Aber dann erinnerte er sich an eine Geschichte aus dem Altertum, von der er in der Schule gehört hatte, an die Geschichte vom Trojanischen Pferd, einem riesigen Pferd, das die Griechen dem belagerten Troja zum Geschenk gemacht hatten. Dieses Pferd war aus Holz und hohl gewesen - aber griechische Soldaten hatten sich in dem hohlen Bauch
versteckt! Unwillkürlich trat Norris einen Schritt von dem Altar zurück und hob die Pistole. »Nehmt das Ding auseinander«, sagte er verbissen, stellte die beiden Kerzen zu Boden und riß die violettfarbene Decke samt der darauf liegenden Bibel herunter. »Captain! Da ist ...« Er hörte ein ohrenbetäubendes Krachen, und gleichzeitig fegte ihn ein harter Schlag gegen die Schulter zu Boden. Also wirklich ein »Trojanischer« Altar, dachte er und wunderte sich, daß ihn dieser Gedanke sogar ein wenig amüsieren konnte. Er hörte das Krachen der Musketen, sah die beiden Türposten heranstürzen und auf den hohlen Altar schießen. Er erkannte deutlich die schmalen Schlitze in dem Holz, die von der dünnen, grobgewebten Altardecke verdeckt gewesen waren. Durch die Schlitze hatten die Iren sie also die ganze Zeit über beobachtet und auf eine Gelegenheit gewartet. »Hat es Sie erwischt, Captain?« Einer der Soldaten beugte sich über ihn. »Kümmere dich um den - um den Altar. Ich komme schon zurecht.« Jetzt begann der Schmerz in der verwundeten Schulter. Er bewegte vorsichtig das Gelenk. In Ordnung, nichts gebrochen, nur das Bluten war unangenehm. Er blickte zu den Männern hinüber. Zwei von ihnen standen mit schlagbereiten Säbeln neben dem Altar, den die beiden anderen jetzt mit den Musketenkolben in Trümmer legten. Captain Norris ric htete sich auf und zielte mit der Pistole auf die Holztür. Warum schossen die Leute nicht mehr? Warum stürzten sie nicht heraus? Warum wehrten sie sich nicht, wenn sie mit dem Altar zusammengeschlagen wurden? »He, da ist ja ein Loch!« rief einer der Soldaten überrascht.
Sie stießen die Holztrümmer zur Seite. Einer nahm eine der Kerzen auf und leuchtete. Norris stieg die drei Altarstufen hinauf, eine Hand auf die blutende Schulter gepreßt. Die Kerze flackerte im Luftzug, der aus dem Loch herauswehte. Also war es nicht nur ein Versteck, sondern ein Fluchtweg, der irgendwo ins Freie führte. Zwei der vier Männer stiegen die steile Leiter hinab und halfen denn Captain Norris, der sich nur mir einer Hand an den Holzsprossen festhalten konnte. Da war ein enger, schmaler Gang, aber mit Grubenholz befestigt, als sei er für die Ewigkeit gebaut. »Achte auf Sprengladungen!« rief Captain Norris dem Mann nach, der als erster ein paar Schritte vorausging. Aber die Iren hätten diesmal kein Pulverfaß für solche Überraschungen bereitgestellt. Nach etwa hundert Yards erreichten sie eine T-förmige Gabelung. Vorsichtig drangen sie in den rechten Gang vor. Nach knapp zehn Schritten versperrten ihnen Steine, Sand und zerfetzte Stützbohlen den Weg. Sie mußten sich kurz vor dem Steinhaus oder vor dem befinden, was davon übriggeblieben war, überlegte Norris. Die Iren hatten sich also durch den unterirdischen Gang in die Kirche zurückgezogen, nachdem ihre Position im Steinhaus unhaltbar geworden war. Aber wohin waren sie von der Kirche entkommen? Norris und seine beiden Männer fanden die Antwort, als sie zur Abzweigung zurückgingen und den anderen Gang verfolgten. Je weiter sie vordrangen, desto stärker wurde der Luftzug, der zu ihnen hereinwehte. Nach etwa zweihundert Yards erreichten sie den Ausgang des Ganges. Sie standen zwischen losgeschlagenen Granitblöcken und wucherndem Gestrüpp in einem Steinbruch. So geschickt und gründlich war der Ausstieg getarnt, daß man ihn selbst aus einer Entfernung von wenigen Yards nicht entdecken konnte.
Captain Norris blickte sich um. Es war still. Kein Mensch war zu sehen, nirgends bewegte sich etwas. Aber Captain Norris begriff, daß jetzt, in dieser Minute, ein Dutzend Augen oder mehr zu ihnen herüberstarrten, daß irgendwo im Dunkel Männer lagen, reglos, lautlos, die Waffen neben sich, und nur auf eine Gelegenheit warteten, über sie herzufallen.
Eine Stunde später flog der unterirdische Stollen in die Luft. Das heißt, nur sein Mittelteil. Die Engländer konnten mit dem Pulver nicht so verschwenderisch umgehen wie die Iren, die von den Spaniern großzügig beliefert wurden. Fünf Pfund aus den Beständen der ›Isabella‹ mußten reichen, und selbst davon hatte sich Al Conroy nur unter heftigem Protest getrennt. Die beiden noch intakten Ausgänge, in der Kirche und im Steinhaus wurden nur mit Sand und Geröll blockiert. Captain Norris ließ sich an Bord der Galeone die Schulterwunde verbinden. Der Kutscher, der früher, bevor er von einer Preßgang auf Francis Drakes Schiff geschleppt worden war, die Droschke eines Arztes gefahren und im Lauf der Jahre seinem Herrn einiges von seinem Handwerk abgesehen hatte, fungierte als Wundarzt der ›Isabella‹. Glücklicherweise stellte sich heraus, daß die Kugel nur den Muskel getroffen und glatt durchschlagen hatte. So blieb Norris auch die schmerzhafte Prozedur erspart, das Bleistück herausschneiden zu lassen. Der Kutscher konnte sich damit begnügen, die Wunde zu säubern und einen festen Verband anzulegen. Dennoch - Captain Norris wußte es - würde er als Kämpfer
ausfallen. Und das war schlimm, weil die Besetzung Dungarvans ziemlich schwere Opfer gefordert hatte. Fünf seiner Männer waren unter den Trümmern des Steinhauses begraben worden, vier andere bei den Kämpfen gefallen. Und von den zwanzig Verwundeten waren zwölf so schwer verletzt, daß sie nicht mehr einsatzfähig waren. Bei einundzwanzig Ausfällen ging Kapitän Drakes optimistische Rechnung natürlich nicht mehr auf. Zwanzig Männer mußten unbedingt im Dorf zurückbleiben um es zu sichern. Im Gegenteil, er hielt diese Zahl für zu gering, da fast alle Männer von Dungarvan entkommen waren und sicher nur auf eine Gelegenheit warteten, ihr Dorf zurückerobern zu können. Blieben ihm also nur neunundfünfzig Soldaten, mit denen er gegen neun Uhr abends den Marsch in die Drum Hills antreten konnte.
7. Die Nacht war voller Geräusche. Die Schritte der Männer knirschten im Geröll der Straße, Waffen schlugen scheppernd gegeneinander, hin und wieder quietschte das angerostete Scharnier eines Brustharnischs, und von den Bäumen tropfte Wasser auf die Männer herab. Es regnete nicht, es war nicht einmal ein Nieseln. Den Männern erschien es, als sei die Luft mit Feuchtigkeit übersättigt und gäbe dieses Zuviel nun an alles andere ab. Die Nässe drang bis auf die Haut. Alles, was man anfaßte, war triefend feucht. Das Wasser sammelte sich an den Pfählen der Zäune und an den Baumstämmen und rann an ihnen herab. Es formte sich im Laub der Bäume zu Tropfen, und das ständige, unregelmäßige Herabkleckern der Nässe auf Helm, Gesicht und Hände war unangenehmer und entnervender als ein heftiger Regenguß.
Und dann die Geräusche, die das Land selbst aussandte, das Bellen der Hunde, wenn sie einen einsamen Hof passierten, den sie im Dunkel nur ahnen konnten, die Schreie der Nachtvögel, ein heftiges, plötzliches Rascheln im Unterholz, das von einem aufgestörten Wild stammen mochte - oder auch nicht. Sie wußten, daß sie nicht eine Sekunde lang unbeobachtet blieben, daß scharfe Augen jeden ihrer Schritte verfolgten. Zu sehen war der Gegner nicht, auch nicht zu hören, aber sie wußten, daß die Iren sie begleiteten, in weitem Abstand, in einem Gelände, das ihnen von Kindheit an vertraut war, während die Engländer mit jedem Schritt Neuland betraten. Der riesige Neger Batuti war Norris als Führer mitgegeben worden. Er war bei der Vorhut, einer Gruppe von drei Soldaten, die dreihundert Yards vor der Kolonne ging und sie vor Überraschungen schützen sollte. Batuti war schweigsam, er sprach kaum das Notwendigste, einmal, weil er die drei Soldaten nicht kannte und Fremden gegenüber noch immer mißtrauisch war, und außerdem fühlte sein unverbildeter Instinkt, daß sie sich in höchster, unmittelbarer Gefahr befanden, daß diese Gefahr um sie war, auf allen Seiten lauerte wie das Dunkel der Nacht und das fremde, feindselige Land, durch das sie marschierten. Wann? fragte er sich immer wieder, und seine riesige Pranke umschloß den Kolben seiner Muskete, als ob er ihn zerquetschen wollte. Und wo? Diese Frage stellte sich auch Captain Norris. Für ihn gab es auch keine Frage, daß die Iren, vielleicht sogar verstärkt von den Spaniern, sie ständig belauerten und irgend etwas vorbereiteten. Aber was? Und wann? Und warum warteten sie so lange?
Es passierte gegen elf Uhr, und hinter der ersten Bodenwelle der Drum Hills. Norris hörte den Schrei eines Waldkauzes, links voraus in den Hügeln, ein zweites Tier antwortete, ebenfalls etwas voraus, aber auf der anderen Seite. Captain Norris beschlich ein unheimliches Gefühl, und er verfluchte wieder die Tatsache, daß er ein halber Krüppel war. Angespannt starrte er in die Dunkelheit, als sie die Stelle passierten, von der die Eulenrufe gekommen waren. Aber es geschah nichts, alles blieb ruhig. Captain Norris wollte gerade erleichtert aufatmen, als plötzlich hinter der Kolonne Schüsse krachten. Dann Schreie, Rufen, das Klirren von Blankwaffen, und dann wieder ein Schuß, etwas flacher und heller als die vorigen, wahrscheinlich eine Pistole. »Langsam vorgehen! Auseinanderziehen!« rief er den Männern zu, die sich umgedreht hatten und im Laufschritt losstürmten, um ihren Kameraden der Nachhut beizustehen. Aber denen konnte niemand mehr helfen. Zwei der Männer waren tot, ein dritter lag mit einer tiefen Säbelwunde am Kopf neben dem Weg. Vom Gegner war nichts zu sehen. Es war, als hätten sich die Iren in Luft aufgelöst - wie vor ein paar Stunden im Steinhaus und später in der Kirche. Aber hier brauchten sie keine Verstecke und unterirdischen Gänge, um zu verschwinden. Hier brauchten sie nur ein Stück zur Seite zu huschen, vielleicht nur ein paar Schritte. Es war sehr gut möglich, daß sie greifbar nahe in einem Gebüsch oder hinter einem Baum hockten und die Engländer in aller Ruhe beobachteten. Vielleicht suchten sie sich schon die nächsten Ziele für ihre heimtückischen Kugeln aus. »Wo ist der vierte Mann?« fragte Captain Norris. Genau wie die Vorhut hatte auch die Nachhut aus vier Männern bestanden. »Richtig, wo ist Cuthbert?« fragte einer der Soldaten. »Sie - sie haben ihn mitgenommen«, sagte der Verwundete
leise. »Ich konnte nichts tun, wirklich. Es ging alles so schnell. Sie waren sechs Mann. Sie schossen auf uns, und - bevor wir noch wußten, was los war, fielen sie über uns her.« Der Mann stöhnte auf, als der Kamerad, der seine Kopfwunde verband, den Lappen zu fest anzog. »Paul und John waren sofort tot, und Cuthbert kriegte eine Kugel ins Bein. Ich sah, wie einer der Iren ihn mit dem Pistolenkolben bewußtlos schlug, und als ich ihm zu Hilfe eilen wollte, feuerte der Mann auf mich. Die Kugel ging daneben. Aber sofort sprang einer von hinten auf mich zu und drosch mir den Säbel an den Kopf. Wenn ich den Helm nicht gehabt hätte, wäre ich jetzt tot.« »Sie werden den Mann verhören«, sagte Norris. »Wir müssen Cuthbert retten«, sagte der Mann, der vorhin nach ihm gefragt hatte. »Dein Freund?« fragte Norris mitfühlend. Der Mann nickte. »Wir dürfen nicht zulassen, daß diese Hunde ihn foltern und umbringen. Wir müssen ihn suchen.« »Wo denn, Junge?« sagte Norris ruhig. »Wo willst du ihn suchen? Glaubst du wirklich, daß wir ihn in dieser stockdunklen Nacht finden würden? Daß wir überhaupt irgend etwas finden? Es wäre unser Untergang, wenn wir auch nur einen Schritt von dem Weg abwichen. Selbst auf dem Weg knallen sie uns ab wie Kaninchen, wie du eben erlebt hast. Ich halte es sogar für sinnlos, jetzt weiterzumarschieren.« Er winkte einen Soldaten heran. »Lauf zur Vorhut und sag Batuti ich meine diesen Neger, der uns führt -, er soll eine geeignete Stelle für ein Camp suchen. Wir werden hier über Nacht bleiben und morgen bei Tagesanbruch weitermarschieren.« Das Camp war auf einer flachen Hügelkuppe. Der Boden war uneben und steinig, aber sie konnten es nicht riskieren, in einer Senke zu bleiben und den Feind über sich auf den Hügelkuppen zu wissen. Besonders in einem so dicht bewachsenen, unübersichtlichen Gelände wie den Drum Hills. Der Soldat Peter Perkins gehörte zur ersten Wache, zu den
sechs Männern, die jeder einen bestimmten Sektor im Umkreis des Camps abpatrouillierten, um die schlafenden Kameraden vor Überfällen der Iren zu schützen. Allerdings gab es in dieser Nacht kaum einen, der wirklich schlief. Peter Perkins war der Krone verkauft worden. Nach der dritten Mißernte konnte sein Vater für seine dreizehn Kinder nicht mehr genug Nahrung heranschaffen, und deshalb mußten ein paar davon aus dem Haus. Irgend jemand hatte seinem Vater gesagt, er brauche nur eins seiner Kinder wegzugeben - wenn es ein kräftiger, junger Mann sei. Er erhielte für den Burschen von den Werbern genügend Geld, um den Rest seiner Familie bis zur nächsten Ernte durchzubringen. Und so war Peter Perkins ungern und widerwillig Soldat geworden. Besonders die Grausamkeit seines neuen Metiers - das Verwunden und Töten - war ihm zuwider. Wann immer möglich, hatte er einen Gegner geschont. Nie hatte er sich dazu überwinden können, seine Kampfgegner zu hassen - bis heute. Zum ersten Male verspürte Peter Perkins glühenden Haß und den Wunsch nach Vergeltung an den Kerlen, die seinen Freund geraubt hatten und ihn jetzt vielleicht folterten, um irgendwelche Informationen von ihm zu erpressen. Er wußte, daß er Cuthbert nicht Wiedersehen würde. Und dafür würde er sich rächen, schwor er sich jetzt. Wo immer er einen Iren traf, würde er ihn umbringen. Er blieb stehen und nahm die Muskete von der Schulter. Hatte sich nicht eben etwas bewegt? Zehn Schritte vor ihm wucherte dichtes Gebüsch. Langsam, zögernd, ging er näher. Sein Blick versuchte, das tiefe Dunkel hinter dem Laub zu durchdringen. Irgendwo bellte ein Fuchs. Peter Perkins blieb stehen, zögernd, abwartend, alle Instinkte drängten ihn zur Flucht. Aber er war Posten, er durfte nicht fliehen, er mußte seine Pflicht erfüllen - und seinen Racheschwur.
Wieder ein leises Rascheln. Nein, nicht aus dem Gebüsch vor ihm. Die Blätter blieben still und unbewegt. Es mußte aus dem Geäst des Baumes gekommen sein, unter dem er jetzt stand ein Eichhörnchen wahrscheinlich oder irgendein anderes Tier, das er erschreckt hatte. Ein leises, amüsiertes Lachen ertönte aus dem Geäst des Baums. Peter Perkins riß die Muskete hoch, aber in derselben Sekunde rauschte es auch schon auf ihn herab. Ein Mann brach durch das Geäst und flog auf ihn zu. Der Zusammenprall warf Peter Perkins zu Boden. Seine Muskete landete im Gestrüpp. Der Mann, der ihn umgeworfen hatte, pendelte vor ihm hin und her - hin und her -, wie ein Mann eben pendelt, der mit eine m Strick um den Hals an einem Baumast hängt. »Cuthbert!« flüsterte Peter Perkins entsetzt, als er das Gesicht des Toten erkannte. »Cuthbert ...« Der andere Mann sprang lautlos aus dem Geäst des Baums. Peter Perkins hörte ihn nicht. Er spürte nur den jähen, scharfen Schmerz, als sich die Messerklinge des Iren in seinen Rücken bohrte.
Batuti lag zusammengerollt in einer flachen Mulde und schlief. Das heißt, er versuchte zu schlafen. Die verdammte Kälte trieb ihn immer wieder aus dem leichten Dämmern. Dabei träumte er von Wärme. Früher, wenn er von einer warmen Umgebung geträumt hatte, war es immer seine afrikanische Heimat gewesen, nach der er sich zurückgesehnt hatte. Aber seit einigen Monaten sah er das dunkle, muffige Mannschaftslogis der ›Isabella‹ vor sich. Das Schiff war ihm Heimat geworden, die Männer der Besatzung seine Familie, sein Stamm.
Er wußte nicht, was ihn wieder aus dem Halbschlaf schrecken ließ. Waren es die Kälte, die allgemeine Unruhe, ein Naturinstinkt? Oder hatte sein feines Gehör doch ein leises Geräusch vernommen? Er öffnete die Augen und sah die Klinge eines Messers niederzucken. Sie bohrte sich in den Hals eines Soldaten, der wenige Schritte von ihm entfernt schlief. Das Aufbäumen des Mannes wurde von dem Gewicht der dunklen Gestalt unterdrückt, die sich auf ihn warf. Sein Schrei erstarb unter einer schwieligen Hand, die sich auf seinen Mund preßte. Und da sah Batuti andere Schatten, die lautlos und tief gebückt ins Camp schlichen. »Alarm!« brüllte Batuti, griff nach seinem Entermesser und sprang auf. »Alarm!« Der Ire, der den Soldaten erstochen hatte, riß sein Messer hoch und wollte aufspringen. Es blieb bei dem Versuch. Die scharfe Klinge des Entermessers trennte ihm den Kopf von den Schultern. Irgendwo krachte ein Schuß, Männer brüllten und griffen nach ihren Waffen, um den Feind zu verjagen. Aber es war niemand mehr da. Die Schatten, die Batuti ins Camp hatte schleichen sehen, waren wieder im Dunkel der Nacht verschwunden. Nur der tote Ire war zurückgeblieben. Er lag nicht weit von dem toten Engländer. Ihr Blut rann aus den zerfetzten Schlagadern und versickerte in der Erde. »Wie konnten die Iren ins Camp eindringen?« fragte Captain Norris scharf. »Campbell.« Er winkte einen der Männer heran. »Kontrolliere die Posten.« Der Mann rührte sich nicht. Er wagte zwar nicht, seinem Captain ins Gesicht zu sehen, während er sich durch trotziges Schweigen seinem Befehl widersetzte, aber er blieb stehen und fummelte an seinem Gürtel herum. »Campbell!« Captain Norris Stimme war gefährlich leise.
»Ich befehle Ihnen ...« »Ich das tun, Captain«, sagte Batuti. »Vielleicht Soldat mich begleiten, wenn Batuti Posten suchen.« Campbell nickte dankbar und trat neben den schwarzen Riesen. Er war ein guter und gehorsamer Soldat. Seit fast zwanzig Jahren hatte er an allen Feldzügen und Schlachten teilgenommen, die England gegen Spanier, Niederländer und Iren ausgefochten hatte. Kein Mensch konnte ihm Feigheit vorwerfen. Aber hier, in diesem unheimlichen Land, in dem unsichtbare Gegner aus der Dunkelheit zuschlugen und wieder verschwanden, bevor man sie packen konnte, spürte er zum ersten Male wirkliche Angst, eine Angst, die stärker war als sein Pflichtbewußtsein, sein Gehorsam, sein Stolz. Mit dem riesigen Neger an seiner Seite würde er die unbekannten, unheimlichen Gefahren des Dunkels ertragen. Aber allein? Campbell nahm schweigend seinen Helm vom Boden auf, überzeugte sich, daß seine Muskete geladen war und sagte: »Ich bin bereit, Batuti.« »Keine Angst, wenn Batuti bei dir«, hörten die Männer den tiefen Baß des Negers, als die beiden Gestalten in der Dunkelheit verschwanden. »Batuti gehen vor, du hinterher. Batuti schwarz, Nacht schwarz, verdammte Iren Batuti erst sehen, wenn am Boden liegen mit Messer im Bauch.« Sie fanden Peter Perkins mit einem Messerstich im Rücken unter seinem toten Freund Cuthbert, der am Ast einer Eiche baumelte und von der Nachtbrise hin und her bewegt wurde. Und sie fanden einen weiteren Posten mit durchschnittener Kehle. Die Iren hatten den ganzen Westsektor des Postenrings freigeräumt, um ungesehen und unbehindert ins Camp eindringen zu können. Außer den drei Toten sahen sie niemanden. Die Iren waren verschwunden. Das heißt, sie ließen sich nicht sehen. Aber sie ließen keinen Zweifel daran, daß sie sich in unmittelbarer Nähe
der beiden Männer befanden. Immer wieder hörten sie es irgendwo knacken oder rascheln. Einmal hörten sie sogar aus einem dichten Gebüsch ein leises höhnisches Lachen. Campbell war schweißgebadet, und immer wieder riß er seine Muskete hoch, um auf die unheimlichen, unsichtbaren Gegner zu feuern. Batuti konnte es verhindern und tat alles, um den Mann zu beruhigen und dafür zu sorgen, daß er nicht durchdrehte. Dabei hatte er selbst Mühe, einen einigermaßen klaren Kopf zu behalten, um sich von dem Unheimlichen, Unbekannten dieses Krieges im Dunkel nicht beeindrucken zu lassen. Batuti war ein Mann, der sich vor keinem Gegner fürchtete - solange er ihn vor sich sah und nicht aus dem Dunkel blindlings zuschlug. Wieder ertönte ein leises Rascheln seitlich voraus in eine m dichten Gestrüpp. Campbell schrie auf. Es war ein Schrei der Angst und Panik. Diesmal war Batuti zu langsam. Campbell riß die Muskete hoch und drückte ab, bevor Batuti ihm die Waffe hochschlagen konnte. Der Knall zerfetzte die Stille der Nacht. Sie hörten erregtes Rufen und Schreien aus dem Camp. Wieder krachte ein Schuß. Eine Kugel pfiff dicht an Batutis Ohr vorbei. Campbell schrie in unbeherrschter Angst, warf seine Muskete fort und stürzte in das Dunkel. »Campbell!« Batuti wagte nicht, ihm nachzulaufen. Irgendwo im Dunkel vor ihm lauerte ein Gegner, der ihn mit dem zweiten Schuß bestimmt erwischen würde, wenn er jetzt leichtsinnig wurde. »Campbell!« Er hörte den Mann irgendwo durch das Unterholz brechen, und dann war es still. Batuti hockte sich auf den Boden und starrte voraus, in die Richtung, aus der der Schuß erfolgt war. Nichts - keine Bewegung, kein Laut, außer dem erregten Rufen der Männer im Camp, das jetzt nur noch fünfzig oder sechzig Yards
entfernt sein konnte. Da, jetzt sah er eine leichte Bewegung im Laub des Gebüsches, ein wenig zu stark und zu abrupt, als daß der Wind sie verursacht haben könnte. Lautlos wie eine Schlange kroch Batuti näher an das Gebüsch heran. Er erkannte die Silhouette eines Mannes und sah für den Bruchteil einer Sekunde die Reflektion des Mondlichts auf Metall. Der Mann im Gebüsch lud seine abgefeuerte Muskete nach. Batuti kroch etwas schneller. Er mußte ihn erwischen, bevor er die Kugel in den Lauf gesteckt hatte. Er war zu rasch und unvorsichtig. Das Entermesser schepperte gegen einen Stein. Batuti blieb reglos liegen, fest gegen den Boden gepreßt, die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengezogen, damit man das Weiße nicht sah. Der Mann im Gebüsch griff nach seinem Messer und starrte zu Batuti herüber. Mann haben Angst, dachte Batuti, ist gut, wenn Mann Angst haben. Verdammt, überlegte er, jetzt dachte er auch schon in englisch und nicht mehr in seiner Stammessprache. Der Mann schien sich überzeugt zu haben, daß das leise Geräusch nichts zu bedeuten hatte. Aber seine Bewegungen wurden hastiger, als er mit dem Laden seiner Muskete fortfuhr. Batuti schnallte den Gürtel mit dem Entermesser ab, bevor er weiterkroch. Im Gebüsch war ihm die Waffe zu hinderlich, und für einen Mann reichten seine Hände. Der Schrei eines Kauzes tönte aus dem Dickicht, dicht hinter ihm. Wieder preßte Batuti sich an den Boden. Seit dem Überfall auf die Nachhut traute er diesen Eulenrufen nicht mehr. Er wartete ein paar Sekunden, dann kroch er weiter seitlich in das Gebüsch, in dem der Mann mit der Muskete hockte. Batuti wartete, bis er den Ladestock herausgezogen hatte, um die Kugel fest in den Lauf zu pressen. Seine gewaltigen Muskeln spannten sich, und dann schnellte er vor wie ein
schwarzer Panther, packte im Sprung den Hals des Mannes, riß ihn zu Boden und drückte zu. Der Halswirbel knackte, der Schrei des Mannes erstickte, er lag still. Aufatmend richtete Batuti sich auf, blickte auf den Toten und erstarrte. Der Mann war ein englischer Soldat. Erst jetzt sah er den Brustharnisch und erkannte die zu Boden gefallene Muskete als englisches Fabrikat. Der Mann war als Posten aufgestellt worden und hatte aus reiner Angst und Nervosität auf ihn geschossen. Batuti rüttelte ihn an den Schultern. Aber ein gebrochenes Genick läßt sich nicht wieder einrenken. Wieder schrie ein Waldkauz. Irgendwo in den Hügeln antwortete ein anderer. Batuti stand auf, schwang sich den Toten auf die Schulter, nahm die Muskete des Soldaten und das eigene Entermesser auf und ging langsam auf das Camp zu. »Hallo, Camp!« schrie er. »Hallo Camp!« Er wollte nicht, daß noch einmal ein nervöser Posten ihn für einen Iren hielt. »Hier Batuti! Nicht schießen!« Sie standen mit schußbereiten Waffen, als er die Kuppe des kleinen Hügels erreichte. Batuti trat auf Captain Norris zu und ließ den toten Soldaten schweigend zu Boden gleiten. »Von den Iren ermordet?« fragte Norris nach einem kurzen Blick. Einen Augenblick war Batuti versucht, diese Ausflucht wahrzunehmen, die der Captain ihm quasi in den Mund gelegt hatte. Aber dann schüttelte er den Kopf. »Ich war es«, sagte er leise. Die Soldaten, die sich um ihn und Norris drängten, begannen erregt zu murmeln. Und aus der Erregung wurden Drohungen. »Aufhängen, den Mörder!« »Ich habe dem schwarzen Bastard von Anfang an nicht
getraut.« »An den nächsten Ast mit ihm! Wer hat einen Strick?« »Ruhe!« Captain Norris verlor zum ersten Male die Beherrschung. »Geht auf eure Posten! Die Iren warten doch nur darauf ...« »Wir denken nicht daran, uns einzeln abschlachten zu lassen!« schrie ein Soldat aus der Sicherheit des Dunkels. »Und was die Iren nicht schaffen, erledigt dieser Nigger für sie. Wer sagt uns denn, daß er nicht von den Rebellen bestochen ist?« Von den anderen ertönte beifälliges Gemurmel. »War ein Versehen«, sagte Batuti ruhig. »Mann schießen auf mich, weil denkt, Batuti Ire. Ich töten Mann, weil denken, wer schießt auf Batuti, ist Ire.« »Und wo ist Campbell? Warum hast du ihn nicht mitgebracht?« »Campbell verrückt. Iren haben verrückt gemacht. Rennt in Wald. Vielleicht schon tot.« »Und woher sollen wir wissen, daß du ihn nicht auch umgebracht hast?« »Wollen nachsehen im Dunkel? Vielleicht auch gehen zu Posten mit Messer im Rücken und abgeschnittene Hals.« »Sie haben die Männer gefunden, Batuti?« Captain Norris hatte sich wieder in der Hand. Er sah ein, daß die Männer zu erregt, zu entnervt waren, als daß er mit Gewalt und harter Disziplin etwas ausrichten konnte. Er mußte sie ablenken und ihre Wut wieder auf den Gegner richten, um ein Ventil zu schaffen. »Aye, Sir.« Ruhig berichtete Batuti, wie er die beiden ermordeten Posten vorgefunden hatte, von dem beim Überfall auf die Nachhut verschleppten Soldaten Cuthbert, von den Geräuschen in der Nacht und dem leisen provozierenden Lachen, das Campbell schließlich in Panik versetzt hatte. »Das also ist es«, sagte Norris nachdenklich. »Bis jetzt war ich der Ansicht,daß es nur ein zufälliger Erfolg
der Iren war. Aber jetzt bin ich überzeugt, daß ein System dahintersteckt und sie damit eine bestimmte Absicht verfolgen.« Er hob den Kopf und blickte die Männer an. »Sie wollen uns zermürben, Leute, sie wollen uns nervlich fertigmachen, so wie sie es bei Campbell tatsächlich geschafft haben. Wir dürfen ihnen nicht auf den Leim gehen. Wenn wir jetzt die Nerven verlieren, sind wir erledigt.« »Das sind wir sowieso, wenn wir tiefer in die Drum Hills vordringen«, sagte ein Soldat. »In dem unübersichtlichen Gelände sind wir den Iren ausgeliefert.« »Wir werden nicht in die Drum Hills vordringen«, sagte Captain Norris ruhig. »In vier Stunden wird es hell, und dann treten wir den Rückmarsch nach Dungarvan an.« »Gott sei Dank.« »Das einzig Vernünftige.« »Was scheren uns die verdammten Iren!« Captain Norris preßte die Hand gegen seine verwundete Schulter. Wahrscheinlich war es die nervliche Belastung, die die Wunde plötzlich wieder stärker schmerzen ließ. »Uns bleibt keine andere Wahl als der Rückzug«, sagte er. »Wir waren schon zu wenige Männer, als wir aufbrachen. Innerhalb weniger Stunden haben wir sechs Tote und einen Schwerverletzten gehabt. Und die Nacht ist noch nicht zu Ende.« »Sollen die Iren doch ihr verdammtes Land behalten!« rief einer der Männer. »Darum kämpfen sie ja auch. Und ich kann es ihnen nicht einmal verdenken.« Er hätte diesen Satz gern zurückgenommen. Die Soldaten waren auch so schon verwirrt genug, und seinen Gedanken würden sie sowieso nicht folgen können. »Der Feind ist stärker und entschlossener, als wir angenommen hatten«, sagte er deshalb rasch.
»Ich gebe nur selten und sehr widerwillig auf. Aber ich muß auch die Grenzen erkennen, an der unser Einsatz ein sinnloses Opfer wird. Und diese Grenze haben wir hier erreicht.«
8. Auch die Männer auf der ›Isabella‹ und die Soldaten Captain Courcys in Dungarvan fanden in dieser Nacht keine Ruhe. Immer wieder knallten Schüsse aus dem Dunkel, und immer wieder war der Feind spurlos verschwunden, wenn die Engländer nachstießen. Der Seewolf stand die ganze Nacht auf dem Achterdeck der ›Isabella‹ und starrte auf die Pier und zum Dorf. Und genau wie er war auch die Besatzung auf den Beinen. Die Geschütze waren geladen und auf das Dorf gerichtet. Ferris Tucker hatte Holzkeile schneiden lassen, die er unter die Lafetten geschlagen hatte, damit auch die sechs Bordkanonen eingesetzt werden konnten. Glimmende Lunten lagen bereit, und wenn sie aufgebraucht waren, wurden neue entzündet. Die Männer hockten neben ihren Kanonen, rauchten oder versuchten ein wenig zu schlafen. Die meisten vergeblich. Alle hatten ihre Waffen griffbereit neben sich. Immer wieder, wenn sie ein wenig eingenickt waren, schreckte sie ein Schuß oder erregtes Geschrei im Dorf aus dem Schlaf. Hasard blickte über die Balustrade auf die Kuhle, auf seine Männer, die genau wie er nicht zur Ruhe kamen. Morgen würden die Iren ernsthaft zuschlagen, dachte er, und morgen würden die Engländer übermüdet, erschöpft und entnervt sein. Und das bereitete ihm die größte Sorge. Captain Courcy war ein schweigsamer, ruhiger Mann, dessen Zurückhaltung von einigen seiner Vorgesetzten und Untergebenen sogar als Hochmut ausgelegt wurde. Es gab nur wenige Menschen, die ihn jemals erregt oder sogar
unbeherrscht erlebt hatten. Aber in dieser Nacht im irischen Dorf Dungarvan mußten einige ihr Urteil gründlich revidieren. Er hatte nur zwanzig Männer, um das Dorf zu bewachen. Vier von ihnen mußten abgestellt werden, damit die Frauen, Kinder und alten Leute im Fischschuppen am Hafen unter Kontrolle gehalten werden konnten. Die restlichen sechzehn waren eine lächerlich geringe Streitmacht, um das Dorf und seine Zugänge ständig zu überwachen. Zu gering, selbst wenn sie ohne Pause, ohne einen Augenblick der Ruhe ständig auf Posten standen und Streife gingen. An Ablösung war natürlich nicht zu denken. Kapitän Drake hatte ihnen zuviel zugemutet, erkannte Courcy jetzt, als er durch die unheimlich stillen, menschenleeren Gassen des Dorfes schritt, um die Posten zu kontrollieren, und weil ihn eine innere Unruhe mit einer nie gekannten Hektik umhertrieb. Aber Drake konnte schließlich nicht wissen, daß der Gegner so stark war und so hart und verbissen kämpfen würde. Und diese Heckenschützentaktik, diese heimtückischen Überfälle aus dem Dunkel waren für ihn und seine an offene Feldschlachten gewöhnten Soldaten fremd und unheimlich. Captain Courcy blieb stehen und warf einen Blick zum östlichen Horizont, in der Hoffnung, dort einen ersten, grauen Schimmer des neuen Tages zu sehen. Aber es war noch immer stockdunkel. Die Nacht war noch lange nicht zu Ende. Er zuckte zusammen, als wieder ein Schuß krachte. Ein Schrei hallte durch die Nacht und erstarb in einem Gurgeln. Courcy stieß einen Fluch aus, riß seine Pistole aus dem Gurt und lief los. An einer Hausecke stieß er mit zwei Soldaten zusammen, die in dieselbe Richtung rannten. »Da drüben war es!« rief einer von ihnen. »Hinter der zweiten Hütte.« Sie fanden den Soldaten mitten auf der Straße. Die Kugel
hatte ihn in die Seite getroffen und anscheinend seine Leber verletzt. »Diese verdammten Schweine!« schrie einer der beiden Männer und starrte in das Dunkel. »Kommt doch raus, ihr feiges Pack! Warum zeigt ihr euch nicht? Warum kämpft ihr nicht wie Männer?« »Beruhige dich doch, Mann«, sagte Captain Courcy, obgleich er sich selbst alles andere als ruhig fühlte. »Damit änderst du auch nichts.« Er blickte auf die große, runde Kugelwunde in der Seite des Toten und versuchte, Schußkanal und Schußrichtung festzustellen. »Dort drüben«, sagte er und deutete auf eine kaum zehn Yards entfernte Kate. »Von dort ist der Schuß gefallen.« Sie liefen zur Tür, rüttelten daran, und dann schlugen sie sie mit den Kolben ihrer Musketen auf. Ein Schuß dröhnte, eine rote Flammenzunge zuckte aus dem Dunkel, einer der beiden Männer schrie auf und sank zu Boden. Courcy hob die Pistole und feuerte auf die Stelle, an der das Mündungsfeuer aufgeblitzt war. Ein lauter Fluch verriet ihm, daß er getroffen hatte. Er zog den Säbel und hieb wild fluchend in das Dunkel. Aber die Klinge schlug nur in die Luft. »Mach Licht, verdammt noch mal!« schrie er den Soldaten an. Der stürzte zum Herd, blies in die Glut, bis ein Holzscheit Feuer fing, und hob es über den Kopf. Das Haus war leer. Der Ire war verschwunden. Durch das offene Fenster, vielleicht sogar an ihnen vorbei durch die aufgeschlagene Tür. Wieder dröhnte ein Schuß durch die Nacht. Captain Courcy stürzte auf die Straße und sah einen Soldaten vorbeilaufen. Der Mann war ohne Helm und ohne Muskete, und in seinen Augen stand ein irrer, entsetzter Ausdruck. »He! Stehenbleiben!«
Der Mann hetzte weiter. Captain Courcy packte ihn am Kragen und schlug ihm ins Gesicht. »Kannst du nicht hören, wenn ich mit dir rede!« Wieder knallte seine Rechte in das Gesicht des Mannes und schleuderte ihn zu Boden. Der Soldat rappelte sich auf, stieß einen wilden Fluch aus und wollte sich auf Courcy stürzen. Der Mann, der mit dem Captain in dem Haus gewesen war, packte ihn von hinten und umklammerte ihn. »Schön ruhig, mein Junge, sonst kriegst du ein paar in die Fresse.« Der Soldat versuchte, sich aus dem Klammergriff zu befreien, dann entspannten sich seine Muskeln. »Also, was ist geschehen?« fragte Courcy scharf. »Wer hat auf dich geschossen?« »Ich habe geschossen«, sagte der Mann. »Auf wen?« »Auf - es war nichts da, worauf ich hätte schießen können.« Der Mann atmete tief durch. »Es war nur - ich habe James gefunden. James ist mein Freund - war mein Freund.« »Tot?« fragte der Captain. Der Mann nickte. »Wir waren zusammen auf Streife. Ich habe mich nur ein paar Minuten von ihm getrennt, weil - ich mußte mal, und er ist schon weitergegangen. Und als ich ihm folgte, lief ich gegen ihn. Sie hatten ihn an einen Dachsparren gehängt, mit dem Kopf nach unten, und ihm die Kehle durchgeschnitten - wie einem geschlachteten Schwein.« Der Mann stieß einen heiseren Schrei aus. »Diese Hunde! Diese verdammten Hunde!« Captain Courcy trat auf ihn zu und schlug ihm die Faust unter das Kinn. Der Mann sackte bewußtlos zusammen. »Bring ihn in die Kirche«, sagte er tonlos. »Gib die Nachricht durch, alles in die Kirche. Wir können das Dorf nicht mehr halten.«
»Jawohl, Sir«, sagte der Mann, nahm den Bewußtlosen unter den Arm und schleifte ihn fort. Captain Courcys Gesicht war eine steinerne Maske. Niemand hätte ihm angesehen, daß er innerlich vor Wut kochte und sich zusammenreißen mußte, um nicht auch, wie dieser durchgedrehte Soldat, zu toben und zu schreien. Mit ruhigen Schritten ging er auf das Haus zu, aus dem der irische Heckenschütze geschossen hatte. Er schleppte den toten Engländer heraus und legte ihn neben den anderen Toten auf die Straße. Dann trat er ins Haus zurück, riß einen Feuerbrand aus dem Herd und begann, das Haus in Brand zu stecken. Auch das Nachbarhaus steckte er an, und noch ein drittes. Als das Holzscheit so weit niedergebrannt war, daß es fast seine Hände versengte, schleuderte er es auf das Dach eines vierten Hauses. Er stellte sich neben die beiden Toten und starrte schweigend in die Flammen, die von dem leichten Nachtwind angefacht innerhalb weniger Minuten die riolzkaten in feurige Fackeln verwandelten, sah, wie Funken und brennende Schindeln emporgewirbelt wurden und auf die Dächer anderer Häuser niederfielen. Dann wandte er sich wortlos um und ging auf die Kirche zu.
»Da brennt was!« schrie Dan O’Flynn aus dem Mars. »Längst gesehen, du Schlafmütze«, rief Hasard zurück. »Was ist mit dir? Pennst du da oben?« Der Junge antwortete nicht. Zum ersten Mal versagten sein schneller Witz und seine immer wache Intelligenz. Selbst für eine freche Antwort war er zu müde. Er hatte wirklich geschlafen. Nicht wirklich, aber sein Verstand war abgeschaltet
gewesen. Er hatte die Flammen längst gesehen, aber sein Gehirn hatte eine Weile gebraucht, um die Beobachtung zu registrieren und in eine Information umzusetzen. »Ein Mann verläßt das brennende Haus«, berichtete er jetzt. »Er hat einen Feuerbrand in der Hand. Er - jetzt geht er zum Nachbarhaus - steckt es an.« »Was haben die Iren denn davon, wenn sie ihr eigenes Dorf abbrennen?« fragte der Seewolf. »Es ist kein Ire«, sagte Dan O’Flynn von seinem Beobachtungsposten. »Der Mann trägt einen Brustharnisch und einen Helm. Jetzt hat er das dritte Haus angesteckt. Er muß Engländer sein.« »Kein Ire, sondern ein Irrer«, murmelte Hasard. »Wahrscheinlich durchgedreht. Ist ja auch kein Wunder.« »Wie bitte, Sir?« Smoky, der Achterdeckswache hatte, trat einen Schritt auf seinen Kapitän zu. »Nichts für dich. Ich habe nur mit mir selbst gesprochen.« »So fängt es meistens an, Sir. Ich hatte mal einen Onkel, das heißt, ein richtiger Onkel war es eigentlich nicht, sondern nur ein entfernter Cousin meiner Mutter, und der ...« »Mein Arm!« Matt Davies schoß vom Steuerbordschanzkleid quer über das Deck und sprang auf die Pier. »He, wo willst denn du hin?« rief ihm Hasard nach. »Es brennt!« schrie Matt Davies zurück und deutete aufgeregt auf die Flammen, die jetzt schon ein Viertel des Dorfes einhüllten. »Mein Arm hängt da irgendwo in einem Dachbalken. Ich muß sofort hin, bevor er verbrennt!« Er rannte die Pier entlang und verschwand im Dunkel. »Komm zurück, du Idiot!« rief der Seewolf ihm nach. »Himmelarsch! Als wenn ich nicht schon genug um die Ohren hätte! Muß dieser verdammte Kerl ...« »Soll ich ihn zurückholen?« fragte Smoky. »Unsinn. Der ist doch längst weg. Und außerdem bin ich
wirklich ein Trottel, mich um Matt Davies zu sorgen. Ein Bursche wie er kommt immer zurück. Ich wette ...« »Sir!« Smokys Stimme war ein erregtes Flüstern, und beinahe hätte er Hasard am Arm gepackt. »Da!« Er deutete auf drei Reisigbündel, die aus der Mündung des Colligan auf die ›Isabella‹ zutrieben. »Leise.« Hasard duckte sich hinter das Schanzkleid des Hecks und starrte über seinen Rand ins Wasser. Die drei Reisigbündel trieben genau auf das Heck des Schiffes zu. Eins von ihnen verfing sich am Ruder, löste sich nach ein paar Sekunden und wurde gegen die Bordwand gespült. Die beiden anderen folgten ihm ohne die Zwischenstation am Ruder. »Zwei Musketen«, flüsterte Hasard. Smoky verschwand lautlos. Die drei Reisigbündel trieben nicht mehr. Sie hingen an der Bordwand fest, obwohl die Strömung aus dem Colligan genauso stark war wie zuvor und alles mögliche Treibgut vorbeischwemmte. »Hier!« Smoky war lautlos zurückgekehrt und drückte Hasard eine Muskete in die Hand. »Geladen und gespannt.« »Gut.« Hasard lauschte nach unten. »Hörst du das?« Smoky lauschte angespannt. Er vernahm ein kratzendes, mahlendes Geräusch. »Handbohrer«, flüsterte der Seewolf. »In den Reisigbündeln paddeln drei von unseren irischen Freunden und sind dabei, drei große Spundlöcher in die Bordwand zu bohren. Du nimmst den linken.« Hasard richtete sich auf, zielte auf das rechte Reisigbündel und drückte ab. Eine Sekunde später krachte auch Smokys Muskete. Etwas planschte kurz im Wasser, dann trieben zwei tote Iren in der Strömung des Colligan an der Bordwand vorbei
auf die Bai hinaus. Das dritte Reisigbündel wurde plötzlich sehr lebendig. Verzweifelt versuchte der Ire, der sich darin verborgen hatte, von der Bordwand freizukommen. Hasard riß die Pistole aus dem Gürtel, zielte kurz und drückte ab. »Der bohrt nicht mehr«, sagte Smoky grinsend, als der Mann einen kurzen Schrei ausstieß und versank. »Alarm! Auf Gefechtsstation, ihr Pennbrüder!« Ben Brighton tobte über das Deck und trieb die Männer an, obwohl überhaupt keine Notwendigkeit dazu bestand. Bereits bei den ersten beiden Schüssen waren sie aufgeschreckt und hatten zu ihren Waffen gegriffen. »Was ist passiert, Hasard?« Ben Brighton stürzte aufs Achterdeck, das Entermesser in der Hand. Hasard sagte es ihm! »Die Männer sollen die Bordwand genau beobachten«, wies er ihn an. »Auch die Backbordwand. Wenn die Iren unter der Pier entlangtauchen ...« Aus dem Dorf krachten mehrere Schüsse, dann dröhnte eine gewaltige Explosion aus dem lodernden Brand. »Die Flammen haben das zweite Waffenlager der Iren gefunden«, sagte der Bootsmann und grinste. Sein Grinsen erlosch, als er sah, daß das Gesicht Hasards ernst blieb, ernst und angespannt. »Entschuldige, wenn ich etwas Falsches gesagt habe.« »Matt Davies ist irgendwo da drüben«, sagte Hasard gepreßt. Ben Brighton blickte schweigend in das Flammenmeer, das sich immer weiter ausbreitete. Trümmer, von der gewaltigen Explosion emporgeschleudert, fielen noch immer in die Flammen zurück. »Wenn er da drin steckt, kommt er nicht mehr raus«, sagte er leise. Sie schwiegen eine Weile und starrten in das Inferno hinüber. »Es wird hell«, sagte Hasard nach einer Weile. Die Flammen des brennenden Dorfes hatten das erste Dämmern des neuen Tages überdeckt. Am östlichen Horizont
war der Himmel schon rosafarben. Die Kuppen der Drum Hills zeichneten sich als dunkle Silhouetten vor dem hellen Hintergrund ab. »He, Achterdeck!« schallte die helle Stimme Dan O’Flynns aus dem Mars. »Was willst du?« rief Hasard zurück. »Die Iren scheinen etwas vorzuhaben.« »Die haben die ganze Nacht schon etwas vorgehabt, falls du das nicht gemerkt haben solltest.« »Ich meine richtig. Da geht ein ganzer Haufen von den Burschen in Stellung. In den Hügeln zu beiden Seiten der Straße, die zu den Drum Hills führt.« Ein Hinterhalt für Norris und seine Männer, überlegte der Seewolf. Aber warum schon jetzt und an dieser Stelle? Norris würde den ganzen Tag brauchen, um das andere Waffenlager aufzuspüren und zu vernichten. Aber vielleicht war es nur ein kleiner Haufen, der sich dort sammelte. »Anzahl?« schrie er zum Mars hinauf. »Hundert Mann mindestens, wahrscheinlich mehr.« Sie viele Männer würden die Iren nicht zusammenziehen, wenn sie nicht etwas ganz Bestimmtes planten. Und zwar sehr bald. Es gab nur eine Erklärung: Captain Norris hatte das Unternehmen aus irgendeinem Grund abgebrochen und befand sich bereits auf dem Rückmarsch. »Entfernung?« rief er zum Mars hoch. »Etwas über eine Meile, wie der Vogel fliegt.« Oder die Kugel eines Vierpfünders. Hasard wußte, daß seine Kanonen nur knapp so weit trugen. Ein Treffer würde reiner Zufall sein. Aber das Ballern und die einschlagenden Kugeln würden Norris warnen und ihm sagen, daß die ›Isabella‹ dort den Feind erkannt hatte. »Steuerbordkanonen klar zum Gefecht!« rief er zum Deck hinunter. »Smoky.« Er wandte sich zu dem Wachgänger um. »Vier Mann auf die Pier, auf mein Kommando die Vorleine
loswerfen. Achterleine etwas lose geben, klar?« Er drehte sein Gesicht in den Wind. »Ben, laß die Fock setzen.« »Aye, aye, Sir.« Die beiden liefen den Niedergang hinunter. Kurz darauf hörte Hasard ein halbes Dutzend Männer zum Bug traben. Drei andere sprangen auf die Pier und machten die Vorleine klar zum Loswerfen. Ich hatte vier Mann gesagt, dachte Hasard etwas verärgert. Aber dann sah er ein, daß ein Bestehen auf einer so wörtlichen Befolgung seiner Befehle in dieser Lage wirklich mehr als kleinlich war. Außerdem hatte er jetzt andere Sorgen. »Steuerbordseite feuerbereit!« schrie Al Conroy zu ihm herauf. »Vorleine klar zum Loswerfen!« »Fock klar zum Setzen!« schrie Ben vom Bugkastell. »Dan!« rief Hasard zum Mars hoch. »Ja?« »Paß jetzt gut auf, Junge. Ich will den Iren dort hinten ein paar Grüße hinüberschicken. Der Wind weht von Nordwest. Wenn ich die Fock setze, wird der Bug von der Pier abgedrückt. Sowie die Steuerbordseite etwa schräg zur Ansammlung der Iren liegt, gibst du Conroy Feuerbefehl, verstanden?« »Verstanden.« »Das Schiff bleibt natürlich mit dem Heck im Wind liegen, vielleicht drückt uns die Strömung noch etwas in südliche Richtung. Dann geht wieder eine Salve raus. Und so weiter, bis die Iren nervös werden. Alles kapiert?« »Alles kapiert! Al!« schrie er dann zum Heck hinunter. »Artillerie hört auf mein Kommando, klar?« Al Conroy schrie etwas Unliterarisches, das mit Herkunft und Moral seiner Mutter zu tun hatte. »Fock setzen!« rief der Seewolf. »Vorleine los!« Die dicke Trosse klatschte ins Wasser und wurde an Bord
geholt. Die viereckige Fock killte im Wind. »Anbrassen, ihr Hammel!« schrie Ben Brighton. Die Leinwand straffte sich, als der Wind sie füllte. Langsam wurde der Bug der ›Isabella‹ von der Pier weggedrückt. »He! Halt!« Ein Mann raste vom Dorf heran, einen runden Gegenstand mit beiden Händen an die Brust gedrückt. »Wartet doch auf mich, ihr Armleuchter!« Matt Davies erreichte die Pier. »Fang auf!« rief er Stenmark zu, der auf der Kuhl hinter dem Schanzkleid stand. Der runde Gegenstand, den er an die Brust gepreßt hatte, segelte durch die Luft, und Matt Davies jumpte sofort hinterher. Der blonde Schwede reagierte nicht schnell genug. Das runde Ding sauste an ihm vorbei und kollerte über das Deck. »Idiot«, sagte Matt Davies wütend. Dann wandte er sich an ein paar andere Männer. »Ihr wolltet also wirklich ohne mich abhauen?« »Quatsch. Der Alte will den Kahn nur mal ein bißchen bewegen, damit sich keine Algen festsetzen«, sagte Stenmark. »Du hast ja deinen Haken wieder.« Er blickte auf Matts rechten Unterarm, an dem wie immer die Ledermanschette mit dem scharfgeschliffenen Stahlhaken saß. »Klar, dazu bin ich ja schließlich an Land gegangen, nicht wahr?« Er sah sich um. »Wer hat meinen Whisky geklaut?« »Meinst du den hier?« Der Kutscher hatte das Ding aufgehoben, das Matt an Deck geworfen hatte. Es war ein kleines Whiskyfaß, so fünf Gallonen, schätzte er fachmännisch. »Eine Daube ist etwas lose«, sagte er dann und schnüffelte an der Flüssigkeit, die an der Stelle hervorsickerte. »Da hält sich Whisky aber nicht mehr lange.« Er fuhr mit dem Finger darüber und leckte ihn ab. »Nicht so gut wie der Schottische, aber sehr brauchbar. Wo hast du das Zeug auf getrieben?« »Gebildete Menschen bringen von jeder Reise ein kleines
Andenken mit, du Affe.« »Feuer!« schrie Dan O’Flynn aus dem Mars. Die sechs Steuerbordkanonen donnerten.
Captain Norris blickte überrascht auf, als das Krachen der Breitseite über die Bai dröhnte. »Die ›Isabella‹ feuert, Sir«, sagte einer der Männer erregt. »Kolonne halt!« Der Befehl wurde zur Vorhut und Nachhut durchgegeben. Sie marschierten heute enger aufgeschlossen als sonst, mit geringem Abstand zwischen der Vorhut, Gros und Nachhut. Das widersprach zwar allen taktischen Regeln und machte die Sicherung fast wirkungslos, aber Captain Norris hielt es für vordringlicher, seine Männer zusammenzuhalten und besser gegen Überfälle zu schützen. Er wußte, wenn noch so ein Debakel eintreten würde wie in der Nacht, gab es keine Möglichkeit mehr, die nervösen, erschöpften Männer im Griff zu behalten. Außerdem war er sicher, daß sie sich weigern würden, so weit von der relativen Sicherheit des Gros getrennt zu werden. Und er mußte sich hüten, jetzt einen Befehl zu geben, den er nicht durchsetzen konnte. Wieder dröhnte eine Salve über das Wasser der Bai. Norris starrte zur Pier von Dungarvan hinüber. Eine dünne, graue Rauchwolke hing über dem Dorf. Deutlich zeichnete sich davor der hellere Pulverdampf ab, der aus den Mündungen der Steuerbordkanonen der ›Isabella‹ quoll. Captain Norris versuchte, die Flugbahn der Kugeln zu errechnen und sie einschlagen zu sehen. Aber von dieser
Position aus, in einer flachen Mulde vor mehreren flachen Hügelketten, konnte er nichts erkennen. »Batuti!« »Sir?« Der riesige Neger trat auf ihn zu. »Steig auf einen Baum und sieh zu, ob du den Einschlag der Kugeln beobachten kannst.« »Aye, Sir.« Batuti blickte sich kurz um, schüttelte den Kopf und sprintete dann den nächsten Hügel hinauf. »Hierbleiben, du Idiot!« schrie Norris ihm nach. »Da oben stecken vielleicht ein paar Dutzend Iren im Unterholz!« »Baum auf Berg ist bessere Aussicht!« schrie der Neger zurück und lief weiter. »Batuti!« Der Riese blieb stehen. »Ich befehle dir, sofort zurückzukommen!« Der Neger legte eine Hand ans Ohr. »Was?« »Umkehren!« schrie Norris wütend. »Nichts verstehen. Sie mir später sagen.« Grinsend wandte er sich um und verschwand im Unterholz. Kurze Zeit später sahen ihn die Männer in der Krone einer Buche. Er stieg so hoch, wie die Äste seinen schweren Körper noch trugen, hockte sich auf eine Astgabel und starrte nach Norden. Wieder dröhnte eine Breitseite der ›Isabella‹. Captain Norris blickte zu Batuti hinauf, der in der Krone der Buche hockte. Er sah, wie Batuti den Kopf wandte und dann mit ausgestrecktem Arm voraus deutete, den Weg entlang, über den sie marschieren mußten. »Zurück!« schrie Captain Norris, obgleich er genau wußte, daß Batuti ihn nicht hören konnte. Er spürte, wie seine Nerven vibrierten, als der Neger aus der Baumkrone kletterte und im Unterholz verschwand. Und er
atmete auf, als Batuti dann auf ihn zulief. »Was vorhin wollen, Sir?« fragte Batuti grinsend. »Batuti nichts verstehen, weil so weit weg. Jetzt sagen, Batuti sofort tun.« »Halt deinen frechen Mund!« sagte Norris wütend und hätte am liebsten in dieses breite, grinsende Gesicht geschlagen. »Was hast du beobachtet?« »Kugeln schlagen in Hügel, so eine Meile von hier. Haufen Iren da vorn. Werden nervös von Kugeln. Tanzen hin und her wie schwarze Krieger in Afrika, wenn beschwören Regengott.« »Gut gemacht, Batuti.« Captain Norris tat es leid, diesen tüchtigen und mutigen Mann so angefahren zu haben. Ihm war klar, daß die Iren seinen Aufbruch karz vor Sonnenaufgang beobachtet und ihm jetzt dort einen Hinterhalt gelegt hatten. Und er begriff auch, daß die ›Isabella‹ auf diese Distanz kein Wirkungsfeuer schießen konnte, sondern den Gegner nur beunruhigen und aus dem Konzept bringen wollte. Und er sollte gewarnt werden. »Hört zu, Leute«, wandte er sich an seine Männer. »Die Straße nach Dungarvan wird von den Iren blockiert. Wir müssen von jetzt an Straße und Täler meiden und uns auf den Kuppen der Hügel halten. Der Weg wird dadurch mehr als doppelt so lang und erheblich schwieriger. Aber auch euch ist es sicher lieber, ihr kommt etwas später auf unser Schiff zurück als gar nicht.« Die Leute blickten ihn schweigend an. Sie waren zu müde und zu erschöpft, um zuzustimmen oder zu protestieren. »Vorwärts!« Schweigend formierten sich Vor- und Nachhut, und schweigend setzten sich die Männer in Marsch, von der Straße fort in das dichte Unterholz der Hügel.
9. »Feuer!« schrie Dan O’Flynn aus dem Mars. Die sechste Salve verließ die Rohre der sechs Vierpfünder, und Dan sah befriedigt die Deckfontäne n aufspritzen, als sie im Zielraum einschlugen. Die Männer an den Kanonen schufteten wie Galeerensklaven, um die Rohre neu zu laden und zu richten. »Feuer!« schrie Dan O’Flynn aus dem Mars und war glücklich, daß sein Befehl es war, der die Kanonen aufbrüllen und das ganze Schiff erzittern ließ. Vom Dorf her dröhnten jetzt wieder Musketenschüsse, aufgeregtes Rufen ertönte. Zuerst knallte es nur vereinzelt, in langen Abständen, als ob ein paar nervöse Posten auf Schatten schossen. Doch dann wurde das Feuer massierter und regelmäßiger, das Schreien und Rufen erregter und nervöser. Der Seewolf starrte durch den Kieker zum Dorf hinüber, das fast zur Hälfte nur noch aus schwelenden Trümmern bestand. Er setzte das Glas wieder ab, rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die müden, brennenden Augen und blickte dann wieder durch das lange Rohr. Deutlich erkannte er die Wolken grauweißen Pulverrauchs, die wie zähe Nebelschwaden um die Kirche zogen, dem einzigen Gebäude, das noch völlig unbeschädigt war. Und jetzt sah er auch die Läufe von Musketen, die aus den schmalen Kirchenfenstern ragten und diese grauweißen Schwaden ausspuckten. Hatten sich die Iren in dem Bau verbarrikadiert und wurden von Courcy belagert, oder war es umgekehrt? fragte er sich. Und noch während er versuchte, eine Antwort auf diese Frage zu finden, wurde sie ihm schon von anderer Seite präsentiert. »Iren!« rief Smoky und deutete auf den Dorfplatz. Hasard setzte den Kieker ab und starrte auf die Männer, die
geduckt auf die Trümmer des Steinhauses zuliefe n und in ihnen verschwanden. Ein paar andere gingen hinter dem Brunnen in Stellung, und eine weitere Gruppe von etwa sechs oder sieben Männern drang auf die Pier vor. »Feuer!« schrie Dan O’Flynn aus dem Mars, und die achte Breitseite dröhnte. »Ben!« schrie der Seewolf seinem Bootsmann zu, der die Crew auf dem Vorschiff kommandierte. »Herunter mit der Fock!« »Aye, aye! Geit auf die Fock! Schneller, schneller! Schlaft nicht ein, Männer!« »Ferris!« rief Hasard. »Ja?« Ferris Tucker trabte über das Deck, eifrig und pflichtbewußt wie immer, aber selbst sein eisenhartes Gesicht zeigte jetzt die Spuren der letzten Nacht. »Schiff gegen Angriffe von Land sichern. Drehbassen auf Bug und Heck gefechtsklar. Zehn Männer mit Musketen an Land, um die Pier zu sichern. Courcy und seine Männer sitzen fest. Wir müssen ihnen den Weg zum Schiff freihalten.« »Aye, aye.« Ferris Tucker begann schon zu brüllen, bevor er sich ganz umgedreht hatte. »Dan!« rief Killigrew zum Mars hinauf. »Wie ist die Lage?« »Beschissen!« schrie der Junge. »Überall Iren! Sie haben die Kirche eingeschlossen und ballern wie die Wilden. Und eine Gruppe ist ... Aufpassen! Da versuchen drei Kerle, eine Pulverladung an der Pier anzubringen!« »Richtung? Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst genauer melden !« »Backbord! Ich meine die linke Seite der Pier. Gleich neben der ...« »Schon gesehen«, unterbrach Smoky, sprang an die Drehbasse, die hinter dem Besanmast montiert war, richtete sie kurz und drückte die Lunte auf das Zündloch. Der Schuß
dröhnte, die Kugel fetzte in die linke Seite der Pier und schleuderte Holztrümmer in die Luft. »Saumäßig!« sagte Hasard wütend. »Mindestens ein Yard daneben.« »Ich bin schließlich kein Kanonier«, sagte Smoky beleidigt, während er sofort das Rohr neu lud. »Und ich wollte den anderen nur zeigen, wo die Burschen sitzen.« Die Drehbasse des Vorderkastells bellte auf, und Ben Brightons Kugel lag genau im Ziel. Zwei Körper wurden in Stücke gerissen und zur Seite geschleudert, ein Pulverfaß rollte die Uferböschung hinunter und versank im Wasser. »So wird bei mir geschossen«, sagte der Seewolf zu Smoky. Aber er lächelte dabei. Smoky brabbelte etwas vor sich hin und Hasard zog es vor, es nicht zu verstehen.
Für Captain Courcy und seine Leute war das Ende abzusehen. Bis jetzt hatten sie vier Tote und sieben Verwundete, das heißt, fast die Hälfte war ausgefallen. Courcy selbst hatte einen Streifschuß am Kopf, den er mit einem Fetzen verbunden hatte. Die Iren hatten die Kirche jetzt völlig umstellt, und es schienen immer mehr zu werden. Pausenlos krachten die Musketen, und ihr Vorrat an Pulver und Blei schien ebenso unerschöpflich wie der an Menschen, während bei den Belagerten auch die Munition knapp wurde. »Nur schießen, wenn ihr sicher seid, daß ihr auch trefft!« rief Captain Courcy den Männern zu. Er stand neben einem der schmalen Fenster, die Muskete von einem der Gefallenen in der Hand, und wartete, bis ein Ire etwas zu weit aus seiner Deckung trat. Dann drückte er ab. Der
Ire kippte lautlos zur Seite und blieb liegen. Captain Courcy reichte die abgeschossene Waffe zurück. Sie wurde ihm aus der Hand genommen und eine andere, geladene, hineingedrückt. Einer der Verwundeten, den ein Schuß in den rechten Oberschenkel kampfunfähig gemacht hatte, hockte in sicherer Deckung neben dem Fenster an der Wand und lud für Courcy und den Mann am Nebenfenster die Musketen nach. »Achtet vor allem darauf, daß niemand an die Außenwand herankommt!« rief Captain Courcy, während er ein neues Ziel für seine Kugel suchte. Wenn es den Iren gelang, eine Pulverladung mit einer brennenden Zündschnur durch eins der unbesetzten Fenster zu werfen, waren sie alle erledigt. Sie brauchten nur ein Pulverfaß an die Außenwand zu rollen und durch einen Schuß zu zünden. Wieder krachte seine Muskete. Ein Ire schrie auf, preßte die linke Hand an seine rechte Schulter und taumelte zurück. Von einem anderen Fenster krachte ein zweiter Schuß, und der Ire brach zusammen. »Welcher Idiot war das?« schrie. Courcy wütend. »Ich habe doch gesagt, ihr sollt Munition sparen. Der Mann war als Gegner erledigt. Es war also völlig unnötig!« Das Faß rollte heran. Es kam aus einem Gebüsch, etwas links von Courcys Blickrichtung, und kollerte langsam über das Kopfsteinpflaster auf die Wand der Kirche zu, blieb hängen, rollte weiter, wurde von herausragenden Steinen abgelenkt, wechselte die Richtung und blieb schließlich knapp einen Schritt vor der Kirchentür liegen. Courcy konnte keine brennende Lunte entdecken. Aber die brauchten sie auch nicht. Ein Schuß genügte, und der konnte jeden Augenblick fallen. Er hatte keine Zeit mehr, einem der Männer zu erklären, um was es ging. Er ließ die Muskete fallen, zog seine Pistole aus dem Gürtel und lief zu der mit einem dicken Bohlenriegel gesicherten Tür. Von draußen krachte ein Schuß. Unwillkürlich schloß er die
Augen und wartete auf die Detonation, die ihn in Fetzen reißen würde. Aber nichts geschah. Er schob die dicke Bohle herunter, drückte die Tür auf und warf sich vorwärts zu Boden, alles in einer einzigen, fließenden Bewegung, um den Iren keine Zeit zu lassen, seine Absichten zu erkennen und sich darauf einzurichten. Im Fallen sah er das Pulverfaß, packte es und stieß es durch die offene Tür ins Innere der Kirche. »Aufpassen!« schrie er und hoffte, wenigstens einer der Männer würde wissen, was er zu tun ha tte. Zwei Schüsse, fast gleichzeitig. Die Kugeln schlugen dicht vor ihm auf die Steine des Pflasters. Er spürte einen plötzlichen, brennenden Schmerz auf der rechten Wange, Blut rann aus der Wunde. Im ersten Augenblick glaubte er, getroffen worden zu sein, aber dann merkte er, daß es nur ein Steinsplitter gewesen war, der seine Wange geritzt hatte. Wieder krachten Schüsse, und wieder schlugen Kugeln auf die Steine. Courcy konnte nicht vor und nicht zurück. Er konnte nicht einmal wagen, den Kopf zu heben, und die Pistole in seiner Hand war so sinnlos wie ein morscher Knüppel, wenn er nicht sehen konnte, wohin er schoß. Wieder krachte eine Muskete, wieder fuhr eine Kugel dicht vor ihm in das Pflaster, prallte ab und schlug als verformter Querschläger gegen seinen Helm. Das Eisen dröhnte wie eine Glocke. Er spürte den Schlag durch das Metall hindurch. Es war nur eine Frage von Minuten, bis sie ihn treffen würden. Aber sie brauchten ihn nicht einmal zu treffen. Ein Querschläger oder ein Steinsplitter an die richt ige Stelle würde völlig reichen. Wieder krachte ein Schuß. Diesmal pfiff die Kugel dicht über seinen Kopf weg in die offene Kirchentür. Warum feuerten seine Leute nicht? dachte er wütend. Er wartete auf die massierte Salve, die die Iren zwang, die
Köpfe einzuziehen und ihm die eine Sekunde Zeit gab, den Sprung zurück in die Kirche zu wagen. »Warum schießt ihr nicht!« schrie er wütend, ohne den Kopf zu heben. »Aufpassen, Captain«, hörte er eine Stimme hinter sich. Ein großer, dunkler Gegenstand segelte über seinen Kopf weg, landete wenige Yards vor dem Gebüsch, in dem das Gros der Iren saß, und rollte darauf zu. Deutlich sah er die glimmende Lunte. Sie war sehr kurz. »Achtung! Pulverfaß!« brüllte eine Stimme, und das Gebüsch wurde plötzlich sehr lebendig. Courcy sprang auf und stieß im Sprung mit dem Soldaten zusammen, der aus der Kirche gestürzt war, um ihn zurückzuzerren. Jetzt krachten die Musketen aus den Kirchenfenstern, und flüchtende Iren brachen im Feuer zusammen. Und dann fetzte eine gewaltige Detonation das Gebüsch auseinander. Zweige, Erde und zerrissene Menschenleiber wurden in die Luft gewirbelt. Captain Courcy wurde von der Druckwelle gepackt und durch die offene Tür in die Kirche zurück geschleudert. Er prallte gegen die letzte Bankreihe und riß sie um. Aber dieser Aufprall rettete sein Leben, weil der Sturz dadurch gedämpft wurde. Der Soldat, der ihn gerettet hatte, hatte nicht soviel Glück. Er wurde durch die Wucht der Explosion gegen die Kirchenwand geschmettert, und was von ihm übrig blieb, ha tte nur noch wenig Ähnlichkeit mit einem Menschen. »Captain! Captain Courcy!« Wie durch einen dicken Nebel hörte er die Stimme, und dann spürte er, daß ihn jemand an der Schulter rüttelte. Er öffnete die Augen und sah zunächst nur vage Hell- Dunkel-Schemen, undeutliche Umrisse, die sich erst nach Sekunden zu Köpfen formten, zu Gesichtern, die sich über ihn beugten. »Gott sei Dank, Sir. Wir hatten schon geglaubt, es hätte Sie
erwischt.« Sie halfen ihm auf, und er setzte sich auf eine der Kirchenbänke, die noch standen. Jetzt fiel ihm auf, daß es draußen völlig still geworden war. Sie hatten die Iren in die Flucht geschlagen. Mit einem Faß Pulver, das sie ihnen freundlicherweise selbst geliefert hatten. Er sah von einem der Männer zum anderen. Nur noch neun waren kampffähig. Die anderen waren entweder tot oder so schwer verwundet, daß sie nicht mehr stehen konnten. Und auch von den anderen war kaum einer völlig unverletzt. Fast jeder hatte irgendwo einen blutdurchtränkten Fetzen um Arm, Bein oder Kopf, und sie waren so erschöpft und ausgepumpt, daß nur ihr Überlebenswille sie noch aufrecht hielt. Sie hatten die Iren in die Flucht geschlagen, aber Captain Courcy wußte, daß sie sich damit bestenfalls eine Atempause erkämpft hatten.
Die Detonation des Pulverfasses schreckte Dan O’Flynn aus seinem halbwachen Dämmerzustand. Bis sein müdes Gehirn das Gesehene registrierte, waren die meisten Trümmer schon wieder zu Boden gefallen. Wirklich bewußt wurde ihm nur der Rauchpilz, der auf der anderen Seite des Platzes stand und in der Brise verwehte. »Was ist los, Dan?« schrie Hasard zum Mars hinauf. »Es ist was explodiert.« »Das habe ich selbst gehört, du Idiot. Ich habe dich gefragt, was los ist.« »Das weiß ich auch noch nicht so genau. Ich glaube ...« »Du sollst nicht glauben, sondern aufpassen. Hier ist schließlich keine Bibelstunde.«
»Sir«, sagte Smoky leise, »dieser Junge ist doch völlig fertig. Du solltest ihn ablösen lassen.« »Wir sind alle fertig!« schrie Hasard in einer völlig fremden Unbeherrschtheit. »Aber Dan ist doch noch ein halbes Kind. Als wir in seinem Alter waren ...« »Er hat sich sein Leben ausgesucht! Er wollte unbedingt ein Mann sein! Dann soll er auch gefälligst ...« Hasard merkte endlich, daß er Unsinn redete, daß er etwas tat was kein Führer von Menschen tun durfte: er verlangte Dinge, die die Männer nicht geben konnten - nicht mehr. »Du hast recht, Smoky.« Er fuhr mit der Hand über seine geröteten Augen. »Laß den Jungen ablösen.« »Danke, Sir.« Er rief Blacky auf das Achterkastell. Es wurde ein schwieriges Unternehmen. Dan O’Flynn empfand es als Degradierung, als Tadel, als Mangel an Vertrauen, daß ein anderer seinen Posten übernehmen sollte, und Smoky rnußte ihn fast mit physischer Gewalt aus dem Mast holen. Dan fluchte und protestierte noch immer, als er sich an Deck hockte und mit dem Rücken gegen das Schanzkleid lehnte. Mitten in einem Fluch kippte er zur Seite und schlief ein. »Lage?« rief Hasard zum Mars hinauf, als Blacky an Dans angestammtem Platz hockte. »Im Dorf ist alles ruhig. Hinter dem Steinhaus - das heißt, hinter dem, was davon Übriggeblieben ist - glucken an die zwanzig Iren zusammen und palavern. Wirken ein bißchen aufgeregt und verbiestert, die Herren. Entweder ist ihnen etwas schief gelaufen, oder sie planen eine neue Schweinerei. »Kannst du Norris sehen?« fragte Hasard. »Sehen und hören«, antwortete Blacky. Hasard hob den Kopf und lauschte. Jetzt hörte er deutlich Gefechtslärm, das Krachen von Musketenschüssen. Captain Norris und seine Truppe konnten nicht mehr weit entfernt sein.
»Entfernung?« fragte er. »Eine knappe Meile«, sagte Blacky. »Soweit waren sie doch vorhin auch ...« Er brach ab. Sein Gehirn funktionierte wirklich nicht mehr, dachte er wütend. »Sie scheinen festzusitzen!« rief Blacky. »Die Iren haben sie in der Mangel.« »Das brauchst du mir nicht zu sagen!« rief Hasard ungeduldig. »Oder glaubst du, die ballern auf Rebhühner?« »Ich meine, sie sitzen richtig fest, Sir. Die Iren haben sie eingeschlossen. Da drüben ist ein Hügel, direkt am Ufer, und anscheinend haben die Iren sie da hingetrieben.«
10. Aber das hatten die Iren nicht getan. Norris und seine Männer waren zu deren Überraschung und Freude ganz allein in diese ungünstige Position geraten. Um den durch die Kugeln der ›Isabella‹ markierten Hinterhalt zu umgehen, hatte Captain Norris entschieden, die Straße zu verlassen und über die Kuppen der Hügel zu marschieren. Ein taktisch logischer und richtiger Entschluß, der nur einen entscheidenden Nachteil hatte: keiner der Männer kannte das Gelände, und auf der Seekarte, die Norris bei Kapitän Drake eingesehen hatte, waren die Landkonturen nur so weit eingezeichnet, als sie als Fixpunkte für die Navigation wichtig waren. So war ihnen zum Beispiel unbekannt, daß der letzte Hügel der Bergkette eine große Verwerfungsscholle war, die nur von einer Seite einen passierbaren Zugang hatte. Die anderen drei waren steil abfallende, schroffe Klippen, die besonders zur Uferseite durch Wellen, Wind und Erosion zu einem schroffen Labyrinth von drachenzahnartigen Felstrümmern verwittert waren.
Die Iren konnten ihr Glück kaum fassen, als sie sahen, daß die Engländer freiwillig und völlig unerwartet in diese Falle gingen. Sie brauchten eine Weile, bis sie erkannten, daß sich keine taktische Finte dahinter verbarg, sondern schlichte Unkenntnis. Jetzt brauchten sie nur noch die Tür hinter den Engländern zu schließen, indem sie den einzigen passierbaren Hang, über den die Engländer aufgestiegen waren, mit etwa hundert Männern abriegelten. Und das taten sie auch. Batuti erreichte die steil abfallende Klippe als erster. »Hier Weg zu Ende!« rief er Captain Norris zu. »Müssen rechts oder links gehen.« Norris ging zur Kante der Scholle und blickte in die Drachenzahnschlucht hinunter. Hier konnte bestenfalls eine Bergziege hinabklettern, nicht aber Menschen, noch dazu völlig erschöpfte Menschen, die Verwundete mitschleppen mußten. Er hob den Blick, sah die Straße, die rechts an der Anhöhe vorbei um das Ende der Bai nach Dungarvan führte, und er sah auch das Dorf und die Pier, an der die ›Isabella‹ lag, das Ziel ihres harten Marsches durch die Berge, fast greifbar nahe. Er sah aber auch, was den Weg zurück zum Schiff so furchtbar weit machte: Gruppen von Männern, die sich von allen Seiten auf die Straße und die Straße entlang auf den Punkt zubewegten, an dem sich das untere Ende der Scholle befinden mußte. »Gehen nach rechts, vielleicht besser«, schlug Batuti vor. »Sieh erst einmal nach, Batuti«, sagte Norris. Er erkannte die geologische Formation und ahnte, daß sie sich in eine unhaltbare Position begeben hatten. Und wenn er noch irgendwelche Zweifel hatte, so wurden sie von der Tatsache beseitigt, daß die Iren es nicht mehr für nötig hielten, ihm den Weg nach vorn, nach Dungarvan, abzuschneiden, sondern alle zurückliefen, um ihm den Rückweg zu verlegen. Batuti trabte los. Norris blickte ihm nach und beneidete
diesen schwarzen Riesen um seine unerschöpflich scheinende Kraft. Er selbst war fast am Ende, erkannte er, als er sich zu Boden fallen ließ und den Rücken gegen einen Baumstamm lehnte. Die Schulterwunde schmerzte wieder stärker, und der Verband strömte einen widerlichen Eitergestank aus. Hoffentlich nur eine Entzündung und kein Wundbrand, dachte er, wagte aber nicht, den Verband abzunehmen und nachzusehen. Und es war ja auch sinnlos. Was würde es ihm helfen, wenn er wußte, warum die Wunde eiterte? Er blickte zu seinen Männern hinüber, die sich sofort beim Halten, wo sie gerade standen, zu Boden fallen gelassen hatten. Sie würden bei der geringsten Belastung zusammenbrechen, wußte Norris. Wenn Batuti nicht irgendwo einen einigermaßen passierbaren Weg entdeckte, waren sie erledigt. Die Iren brauchten sie nicht einmal anzugreifen. Sie brauchten sie nur auszuhungern. Sie hatten Zeit, unendlich viel Zeit, und sie hatten Menschen, unendlich viele Menschen, die einander ablösen konnten, bis die Engländer fix und fertig waren. Batuti kehrte zurück - mit demselben bequemen und mühelos wirkenden Trab, mit dem er losgelaufen war. »Rechte Seite auch schlecht«, meldete er, »nicht so steil wie vorn, aber geht. Nur geht doch nicht, weil unten Iren, passen auf, daß keiner runtersteigt.« »Hab ich mir gedacht. Sieh mal auf der linken Seite nach.« »Schon nachgesehen«, sagte Batuti. »Fast so steil wie vorn, auch Iren. Nur vorn keine Iren, weil Klippe geht direkt zum Meer, und unten lauter scharfe Zacken, kann keiner schaffen.« »Ich weiß. Ich habe es gesehen.« Norris warf wieder einen Blick auf seine völlig erschöpften Männer, auf die Verwundeten, die sie auf roh zusammengeschlagenen Asttragen mitgeschleppt hatten, die gerade noch Gehfähigen, die von je zwei Männern mitgeschleift worden waren.
»Wir müssen zurück«, sagte Norris und stand stöhnend auf. »Mal herhören, Männer!« Er erklärte ihnen die Lage, ohne die Ausweglosigkeit zu erwähnen. »Wir müssen zur Straße zurück«, sagte er und verschwieg, daß mindestens hundert Iren alles dransetzen würden, das zu verhindern, und daß er versuchen wollte, durchzubrechen, bevor der Riegel zu dicht geworden war. »Wenn wir Glück haben, sind wir in zwei, höchstens drei Stunden an Bord der ›Isabella‹.« Das war eine glatte Lüge. Aber er mußte lügen, um die Männer überhaupt auf die Beine zu bekommen. Zu offenem Widerstand waren sie schon zu apathisch. Sie würden einfach liegenbleiben und schlafen, es war ihnen egal, was mit ihnen geschah. Fünfzehn Minuten später passierte es dann auch. Vier der Männer blieben liegen - im massierten Feuer der Iren, in deren Stellung sie liefen. Und als die anderen sich wieder auf die Kuppe zurückgezogen hatten, waren sie völlig am Ende. Einen der Schwerverwundeten, den sie auf seiner Bahre mitgeschleppt hatten, ließen sie einfach fallen, als Norris den Befehl zum Rückzug gab. Sie hörten den Mann noch eine Weile schreien, aber nicht lange. Die Iren hatten anscheinend etwas gegen schreiende Engländer. Er starrte den Hang hinunter. Er war zum größten Teil mit krautigem Gras, Büschen und Gestrüpp bewachsen, dazwischen waren kleine Baumschonungen und einzelne Eichen und Buchen. Und zwischen dem Bewuchs sah er Männer langsam näher rücken. Sie ließen sich Zeit. Sie hatten ja keine Eile. Ihre Beute konnte ihnen nicht entwischen. Wahrscheinlich rückten sie nur näher, um sich an dem Leiden ihrer Feinde zu weiden. Aber das war keine Garantie dafür, daß sie wirklich abwarten würden. Ihr Haß konnte sie dazu verleiten, ihren Vorteil aufzugeben und zu versuchen, die Engländer sofort
abzuschlachten. Es würde sie Opfer kosten, unnötige Opfer. Aber abschlachten werden sie uns, dachte Norris. »Batuti!« rief er, ohne die Augen zu öffnen und den Kopf von der raunen Borke des Baums zu lösen, an dem er lehnte. »Sir?« »Würdest du dir zutrauen, den Steilhang hinunterzukletterm? Allein, meine ich.« »Kann versuchen«, sagte der Neger. »Aber Batuti nicht allein, andere Männer müde oder verwundet. Kann nicht machen.« Captain Norris öffnete die Augen und blickte den schwarzen Riesen an. »Sieh nach, ob es irgendwie geht«, sagte er. »Wenn die Iren angreifen, sind wir erledigt, alle. Ich möchte, daß wenigstens ein paar von euch gerettet werden.« Batuti nickte ernst, wollte etwas sagen, verbiß es sich aber. »Aye, Sir.« Norris blickte ihm nach. Batuti trabte bis zum Rand des Absturzes, blieb dort stehen und starrte aufmerksam hinab, dann ging er etwa zehn Schritte nach links, trat über den Rand und verschwand. Norris schloß wieder die Augen und lehnte den Kopf an den Baumstamm. Er wollte nicht einschlafen, und vielleicht schlief er auch nicht. Wahrscheinlich war es eine Art Bewußtlosigkeit, ein Abschalten aller Funktionen, die sein völlig ausgepumpter Körper erzwang. Er hörte die Schüsse, aber erst beim dritten oder vierten erreichte die akustische Information sein Gehirn, das ihm dann den Befehl zum Handeln gab. Norris sprang auf, taumelte und stützte sich gegen den Baum, während er die Pistole aus dem Gürtel zog. Wieder krachte ein Schuß, und er sah einen Mann, der wie er aus einer Art Dämmerzustand hochfuhr, zusammensinken. »Deckung!« schrie er den anderen zu. »Haltet die Köpfe unten! Und nur gezielt schießen!«
Die ersten Musketenschüsse dröhnten. Norris sah eine heftige Bewegung in einer Baumkrone, etwa sechzig Yards entfernt, dann fiel eine Muskete aus dem Geäst - und kurz darauf ein Ire. Zwei Schüsse krachten fast gleichzeitig, und der Mann, der den Iren aus dem Baum geholt hatte, sank mit zerschmettertem Bein zusammen. Norris stürzte vor. Eine Kugel schwirrte dicht an seinem Ohr vorbei. Er warf sich hinter einen umgestürzten, faulendem Baumstamm. »Auf diese Höhe zurückziehen!« rief er den Soldaten zu. Zwei Männer sprangen auf. Einer brach im Feuer von drei Musketenschüssen zusammen. »Einzeln aufspringen, ihr Trottel!« Mit jedem Mann, der ausfiel, verringerte sich die Überlebungschance der anderen. Wieder krachten drüben mehrere Schüsse. Norris hörte die Kugeln über den Baumstamm wegsurren. Warum schossen die Idioten so hoch? Sie hatten doch nicht die geringste Chance. »Sir.« Batuti ließ sich neben ihn fallen, und jetzt wußte Norris, auf wen die Iren geballert hatten. »Was ist?« »Es geht«, sagte der Neger, und Norris ärgerte sich, daß der Mann nicht einmal schwer atmete. »Können runter in Klippen.« »Gut.« Er hatte fast nicht daran geglaubt. »Nein, nicht gut. Weil, wenn Leute runterklettern, Iren kommen an Rand und schießen ab wie Kaninchen.« »Dann müssen wir eben in zwei Gruppen absteigen. Die erste steigt ab, während die zweite Feuerschutz gibt. Und die erste putzt die Iren vom Klippenrand, während die zweite unterwegs ist.« »Immer noch nicht gut«, sagte Batuti. »Abstieg sehr schwer, sehr gefährlich. Unmöglich für Verwundete.« Norris schwieg eine Weile und starrte vor sich auf den Boden. »Dann müssen wir eben die Verwundeten zurücklassen«,
sagte er hart. »Es wäre Wahnsinn, auch die Männer zu opfern, die noch eine Chance haben.« Eine Kugel fetzte einen Splitter aus dem Holz des Baumstamms, hinter dem sie lagen, und unwillkürlich zog Norris den Kopf ein. »Batuti gehen und sagen Männer Bescheid.« Der Neger spürte, wie schwer es dem Captain fallen würde, den Verwundeten ihre Todesurteile selbst mitzuteilen. Er ließ sich zu Boden fallen und kroch - wie eine Schlange in das krautige Gras gepreßt - um das Ende des Baumstamms herum. »Batuti!« rief Norris ihm nach. »Sir?« »Die Leute sollen sich langsam auf diese Höhe zurückziehen und die Verwundeten hinter dem Baumstamm in Deckung bringen.« »Aye.Sir.« Es dauerte eine halbe Stunde, bis der erste Soldat herangekrochen war. Es war der Mann, der den Iren aus dem Baum geschossen hatte. Er kroch auf der rechten Hüfte und zog das zerschossene linke Bein nach. »Der Neger hat erklärt, daß wir hier in Deckung gehen sollen, Sir«, sagte er, als er sich mit dem Rücken gegen den Baumstamm lehnte. Norris blickte ihm in die Augen und wußte, daß er verstanden hatte. »Es gibt keinen anderen Ausweg«, sagte er ruhig. »Das weiß ich, Sir. Ich würde genauso handeln wie Sie, wenn ich etwas zu bestimmen hätte. Und ich weiß, Sie würden mit uns zurückbleiben, wenn Sie nur die geringste Chance sähen, uns herauszuhauen.« »Danke«, sagte Norris ehrlich. »Hoffentlich sehen es die anderen auch so.« »Ich werde es ihnen schon erklären, Sir. Machen Sie sich
darum keine Sorgen.« Einer nach dem anderen trafen die anderen Männer ein. Die Kampffähigen gingen rechts von dem Baumstamm hinter Steinen und kleinen Erderhebungen in Stellung und feuerten weiter auf den nachrückenden Gegner, die Verwundeten schleppten sich hinter den Baumstamm. »Nicht schlappmachen, Leute«, sagte der Mann mit dem zerschossenen Bein. »Noch sind wir Soldaten. Noch haben wir eine Aufgabe. Ich verspreche euch, daß es die letzte ist. Wir müssen jetzt die verdammten Iren eine Weile aufhalten, damit die anderen sicher den Abhang hinunterkommen. Und bei der Gelegenheit wollen wir versuchen, noch möglichst viele von den Iren zur Hölle zu schicken, damit der Teufel Gesellschaft hat. Wenn das erledigt ist, haben wir Zeit zum Schlafen, unendlich viel Zeit, und ich verspreche euch, daß es eine Ewigkeit dauern wird, bis uns wieder jemand weckt.« Es schien, als ob die Gewißheit der baldigen Ruhe den Männern wirklich als das bessere Los erschien. In ihren Augen standen weder Neid noch Bitterkeit, als sie zu den anderen hinübersahen, die sich unter stetigem Feuer langsam zum Rand der Klippen zurückzogen. »Ich danke euch, Männer«, sagte Captain Norris. »Es war ...« Er suchte nach Worten. »Wird Zeit, Sir«, sagte Batuti. »Müssen schnell machen. Wenn Iren merken ...« »Gut.« Norris nickte den Zurückbleibenden zu und kroch den anderen Männern nach zum Rand der Schlucht. Batuti sprach noch ein paar Worte zu dem Mann mit dem zerschossenen Bein. Schließlich zog er Feuerstein und Stahl aus der Hosentasche und drückte es dem Mann in die Hand. Captain Norris blickte sich ungeduldig um. »Batuti! Wo bleibst du?« »Sofort, Sir!«
Batuti sagte dem Soldaten, was er mit Feuerstein und Stahl tun solle, dann kroch er hinter den anderen her zum Rand der Klippe.
11. »Begreift ihr, warum sie nicht mehr feuern?« Captain Courcy starrte durch das schmale Kirchenfenster auf den Platz hinaus. Er war menschenleer und still. So still, daß man das. Krächzen der Möwen hörte. »Sie haben bei der Explosion einen Haufen Leute verloren«, sagte einer der Männer. »Vielleicht haben sie die Schnauze voll.« Courcy schüttelte den Kopf. »Männer haben sie genug. Das muß einen anderen Grund haben. Vielleicht haben sie erkannt, daß sie uns auch ohne jede Anstrengung, ohne jedes Opfer fertigmachen können.« Ihre Munition ging zu Ende, sie waren erschöpft, zum großen Teil verwundet, sie hatten seit gestern nichts mehr gegessen, und vor allem, sie hatten kein Wasser. Die Iren brauchten sie nur hier festzuhalten. Es war nur die Frage, was sie erledigen würde: der Durst, der Hunger, die Übermüdung. Captain Courcy drehte den Kopf nach links und blickte zur ›Isabella‹ hinüber, die am Ende der Pier lag. Auch dort rührte sich nichts. Auch dort schienen die Iren jede Aktivität eingestellt zu haben. Im ganzen Dorf war es ruhig, unheimlich ruhig. Captain Courcy spürte sekundenlang die Versuchung, jetzt einen Ausbruch zu unternehmen. Es schien so einfach, durch das verlassene, wie tot daliegende Dorf zur Pier und zur ›Isabella‹ zu laufen. Aber er wußte, daß sie es nicht schaffen würden, daß die Ruhe trügerisch war. Die Iren hatten die Initiative abgegeben, weil es nicht nötig
war, irgend etwas zu unternehmen. Sie warteten darauf, daß die Engländer etwas tun und einen Fehler begehen würden. Und alles, was sie tun würden, wäre ein Fehler. Captain Courcy zuckte zusammen, als plötzlich wieder Schüsse krachten. Nicht im Dorf, stellte er sofort fest. Das plötzliche, heftige Feuer ertönte aus der Richtung der Drum Hills.
Sie hingen hilflos in den steilen Klippen, als über ihnen, auf der schrägen Fläche der Scholle, das Musketenfeuer einsetzte. Captain Norris warf einen raschen Blick nach oben, obwohl er wußte, daß es dort nichts zu sehen gab. In dem Moment, da die Iren dort auftauchten, waren sie tot. Die Iren brauchten nicht einmal Kugeln und Pulver zu verschwenden, um sie aus der Wand zu stürzen. Sie brauchten nur ein paar Steine zu lösen und sie herabzurollen. Ein gellender Schrei ertönte rechts über ihm. Norris sah einen Mann an sich vorbeifallen. Er schrie, bis er unten aufschlug und von einem der spitzen, scharfen Granitpfeiler aufgespießt wurde. Irrtum, dachte Norris bitter. Sie brauchen nicht einmal Steine auf uns herabzuwerfen. Sie brauchen nur ein bißchen zu ballern, um den erschöpften Männern den Rest ihrer Nervenkraft zu nehmen - wie diesem hier. Sie hatten jetzt etwas mehr als die Hälfte des Abstiegs hinter sich. Und er wußte, daß sie es nur diesem riesigen Neger zu verdanken hatten, bis hierher gelangt zu sein. Batutis scheinbar unerschöpfliche Kraft, seine Erfahrung in der Wildnis von Bergland und Dschungel, seine Improvisationsgabe, wenn es galt, fast unlösbare Aufgaben zu bewältigen, hatten sie den Abstieg bis zu dieser Stelle bewältigen lassen.
»Es geht nicht mehr!« hörte er den Schrei eines Mannes. »Ich kann mich nicht mehr halten!« »Gib Hand, Soldat«, hörte er Batutis tiefe, ruhige Stimme. Er blickte nach unten und sah, wie der Neger einen Soldaten, der auf einem schmalen Grat stand, am Handgelenk packte und wie ein Pendel auf eine kleine Plattform schwang. Batuti hockte oberhalb des kleinen Grats und half einem nach dem anderen, diese schwierige Stelle zu überwinden. Norris bildete den Schluß. Als er an Batutis Hand zur Plattform hinüberpendelte, schlug er mit der verletzten Schulter gegen die Felswand, und die Wunde brach wieder auf. »Jetzt kommt die Brücke«, sagte Batuti und deutete auf einen zweiten Grat, aus dem ein etwa zwei Yard breites Stück herausgebrochen war. Ohne auf die mutlosen, ängstlichen Ausrufe der Soldaten einzugehen, kletterte er vorsichtig von dem Grat auf einen etwas tiefer liegenden, vorspringenden Fels, klammerte sich rnit den Händen in schmalen Rissen fest und duckte den Kopf. »Jetzt kommen, einer nach dem anderen, treten auf Batutis Schultern und rüber zu andere Grat.« Der erste Mann blieb zögernd stehen, als er das Ende des Grats erreichte. »Komm schon, nicht Angst haben. Batuti halten fest.« Und er hielt fest. Einer nach dem anderen trat jetzt über seine Schultern zum anderen Teil des Grats, als letzter Captain Norris. Mit der linken Hand krallte er sich an der Felswand fest und trat auf die breiten Schultern des Negers. »Achtung! Da unten!« schrie plötzlich eine Stimme. Norris zuckte zusammen, wollte herumfahren, sekundenlang schwankte er und wäre abgestürzt, wenn er nicht mit der rechten Hand zugepackt und zufällig in eine Felsspalte gegriffen hätte, an der er sich an die Wand heranziehen konnte. Ein Schuß krachte. Nicht über ihnen, sondern unten, am Ufer. Er hörte die Kugel gegen die Felswand klatschen.
Er trat von Batutis Schulter auf den anderen Teil des Grats und blickte hinab. Unten, jenseits der scharfen Drachenzähne, sah er ein Ruderboot mit drei Iren, das genau auf sie zuhielt. Einer der Männer setzte gerade seine Muskete ab und begann hastig, neu zu laden. Die anderen beiden richteten sich jetzt auf, zielten kurz und drückten ab. Ein Mann schrie auf und kippte aus der Wand. »Schießt doch, ihr Idioten!« schrie Norris wütend. »Wollt ihr euch wie Fliegen abschießen lassen?« Aber keiner der Männer hatte die Nerven, den Halt an der Wand loszulassen und auf die drei Iren zu feuern. Nur oben krachten immer noch Schüsse, aber das Feuer war erheblich schwächer geworden, erkannte Norris und wußte, daß ein Teil der Verwundeten, die sich für sie opferten, bereits erledigt war. Sie hatten nicht mehr viel Zeit. Das Boot mit den drei Iren trieb jetzt zwischen die ersten Drachenzähne. Es lag fast direkt unter ihnen, und die Iren beeilten sich, ihre Musketen nachzuladen. Auf diese Entfernung würde kein Schuß mehr vorbeigehen. Die Soldaten begriffen es. Einer von ihnen begann vor Angst zu schreien. Sie hingen bewegungslos in der Wand, wagten nicht, auf die Iren zu schießen und auch nicht, weiter hinab zuklettern und sich den drei Männern im Boot als leichteres Ziel anzubieten. Sie hatten nur noch Angst. »Batuti!« Er war der einzige, der jetzt noch helfen konnte. Norris wandte sich nach dem Neger um. Aber Batuti war verschwunden, und dann entdeckte Norris ihn rechts unter sich. Wie eine Bergziege sprang er von einem schmalen Grat auf eine kleine Plattform, blieb eine Sekunde in der Hocke, um sein Gleichgewicht zu bewahren, und richtete sich dann auf. »Batuti!« Wahrscheinlich wollte der verdammte Nigger jetzt sein schwarzes Fell in Sicherheit bringen, dachte Norris wütend.
»Batuti!« Er hörte nicht. Der erste der drei Iren im Boot zog den Ladestock aus dem Lauf der Muskete und legte sie an. Norris sah, daß die Mündung auf ihn gerichtet war. Durch sein Rufen nach Batuti hatte er wohl die Aufmerksamkeit der Iren erregt. Unwillkürlich versuchte er, sich zu ducken und irgendwo in Deckung zu gehen. Aber es gab keine Deckung in dieser Wand. »He, du!« hörte er die tiefe Stimme Batutis rufen und sah, wie der Ire sekundenlang unsicher wurde und aufblickte. Und auch Norris blickte zu Batuti hinab. Der stand jetzt auf der Plattform, einen riesigen Felsbrocken mit beiden Händen über den Kopf schwingend, ein schwarzer Atlas. Und dann warf er den zentnerschweren Stein mit aller Kraft nach vorn. Die drei Iren schrien auf. Einer von ihnen griff nach den Riemen, der Mann mit der Muskete ließ die Waffe fallen und wollte über Bord springen. Der dritte blieb wie versteinert sitzen und starrte auf den riesigen Felsbrocken, der auf sie herunterstürzte und Sekunden später alle drei und das Ruderboot zermalmte. Captain Norris atmete auf und merkte, daß er zitterte. Und wußte im selben Augenb lick, daß sie dennoch verloren waren. Das Schießen auf dem schrägen Plateau über ihnen war verstummt.
Sie waren tot. Sie hatten jetzt die Ruhe, die er ihnen versprochen hatte, dachte der Soldat mit dem zerschossenen Bein. Das heißt, es war jetzt viel me hr an ihm zerschossen, und er wußte, daß auch er bald Zeit zum Ausruhen haben würde,
unendlich viel Zeit. Er zog den Ladestock aus der Muskete und feuerte. Er zielte nicht, er schob nur mit einer Hand den Lauf der Waffe über den Baumstamm und drückte ab. Er wollte nicht treffen. Er wollte den Iren nur zeigen, daß noch jemand da war, um ein paar von ihnen mitzunehmen, wenn sie zu nahe rückten. Und nur das wollte er verhindern. Er warf einen vorsichtigen Blick um das Ende des Baumstamms. Sie hatten blutige Ernte gehalten, bevor die Iren einen nach dem anderen abgeschossen hatten. Mindestens zwanzig Tote lagen auf dem leicht abfallenden Hang zwischen dem Baumstamm und dem Rand des Buschgürtels, dunkle Schatten im kniehohen, trockenen Gras. Er raffte eine Handvo ll von diesem Gras zusammen und rupfte es aus. Dann begann er - den Feuerstein mit dem Daumen an das Gras pressend - mit dem Stahl dagegen zu schlagen. Gott sei Dank sind meine Hände in Ordnung geblieben, dachte er, während er Funken aus dem Stein schlug. Sonst war nicht mehr viel in Ordnung, und er wußte, daß er nur noch Minuten zu leben hatte. Ich muß mich beeilen, dachte er, während er Funken aus dem Stein schlug, und kämpfte gegen die ersten dunklen Nebel der Bewußtlosigkeit an. Ich muß es schaffen, bevor ich mich fallen lassen darf. »He, Engländer!« rief einer der Iren. Zwei Schüsse krachten, und er hörte die Kugeln in den Baumstamm klatschen. Sie wollten probieren, ob sich noch jemand rührte. Keine Zeit mehr, noch einmal zu laden und zu schießen. Wenn er es jetzt nicht schaffte ... Ein glühender Funke ließ einen trockenen Halm aufglimmen. »He, ihr da drüben! Betet noch schnell ein Vaterunser! Aber beeilt euch damit! Viel Zeit habt ihr nicht mehr!«
Er betete wirklich. Er betete, daß der Funke nicht erlöschen würde, als er vorsichtig darauf blies und sah, wie sich das Glimmen weiterfraß. Und dann züngelte eine kleine Flamme auf. Er drückte den Feuerbrand in das trockene Gras, wartete, bis fast ein Quadratyard des trockenen Zeugs in Flammen stand, dann riß er ein brennendes Büschel heraus und schleuderte es über den Baumstamm. Er grinste, als er das Knistern der aufflackernden Flamme hörte, riß ein zweites Büschel heraus und schleuderte es nach links, dann eins nach rechts, das nächste wieder über den Baumstamm. Er spürte nicht, daß er in die Flammen griff, daß seine Handflächen verbrannten und die Haut in nassen Blasen aufplatzte, daß seine blutverschmierte Hose Feuer fing. Er sah nur, wie hinter dem Baumstamm haushohe Flammen zum Himmel emporzüngelten und hörte das Knistern und Prasseln, aus dem bald ein dumpfes Röhren wurde, als der Wind die Flammen anfachte und vorwärtstrieb, das Schreien der Iren, die von ihnen eingeholt und lebendig verbrannt wurden. Sein Rücken brannte schon, und die Flamme sprang auf sein Haar über. Er lachte schallend, und er lachte noch immer, als er sich in die dunklen Nebel sinken ließ, deren Lockung er so lange widerstanden hatte.
12. »Es brennt!« rief Blacky aus dem Mars. »Was brennt?« Dan O’Flynn fuhr aus dem Schlaf und blickte sich verwirrt um. Dann erst merkte er, daß er nicht auf seinem angestammten Platz im Großmars saß, sondern auf dem Achterkastell. »Richtung?« fragte Hasard ruhig und griff nach dem Kieker.
»Letzte Kette der Drum Hills«, sagte Blacky und deutete in die Richtung. Hasard brauchte den Kieker nicht. Mit bloßem Auge konnte er die dicke, graue Rauchwolke erkennen, die über der schräg aufragenden Scholle direkt am Ufer stand. Ein zufälliger Brand? überlegte er. Hatte jemand unvorsichtig mit Pulver hantiert? Hatte ein Schuß das trockene Gras in Brand gesetzt? Möglich, aber nicht wahrscheinlich. Jetzt setzte er den Kieker doch an. Deutlich erkannte er die hohen Flammen, die vom Wind den Abhang hinunter getrieben wurden. Wahrscheinlich hatte Norris den Brand gelegt - der jetzt auf die Stellung der Iren zutrieb -, um sich den Rücken freizuhalten. Das bedeutete, daß er jetzt zum Ufer hinunterwollte, vielleicht schon unten war, und auf Dungarvan zumarschierte. »Iren am Kopf der Pier!« meldete Blacky aus dem Mars. »Wie viele, du Idiot. Hat dir noch keiner gesagt, daß man eine Meldung vollständig machen muß?« rief Dan O’Flynn zu ihm hinauf. »Der Schlaf hat dich wohl wieder sehr munter gemacht«, sagte der Seewolf. »Deine freche Schnauze ist jedenfalls wieder voll im Einsatz.« Dan O’Flynn hörte ihn nicht. Er enterte bereits die Wanten hoch, und dann entbrannte ein heftiger Streit zwischen ihm und Blacky, wer im Mars sitzen dürfe und wer dessen eigentlich überhaupt nicht würdig sei. »Nun komm schon runter, Blacky!« Hasard hatte keine Lust, sich die Kabbelei länger anzuhören. »Aber wenn du wieder da oben einschläfst, Dan, lasse ich dich für den Rest deines Lebens Deck schrubben, verstanden!« »Schon gut, schon gut. Die Iren wollen anscheinend einen Riegel vor die Pier legen!« rief Dan. »Ich sehe zwölf Männer nein, dreizehn, vierzehn - und hinter den Trümmern des Steinhauses kriechen auch noch welche herum. Jetzt steigen sie
in die Trümmer und suchen sich Stellungen, von denen sie die Pier und die Straße unter Feuer nehmen können. Ich glaube ...« »Drehbassen klar zum Feuern!« rief Hasard. »Tucker und Conroy sofort zu mir!« »Tucker, Conroy zum Captain!« wurde der Befehl weitergegeben. »Tucker, Conroy ...« »Iren erhalten ständig Verstärkung!« rief Dan O’Flynn aus dem Mars. »Mindestens vierzig sind es jetzt. Ein paar haben Front zur Pier, die anderen zur Straße. Nein, nicht nur zur Straße. Eine zweite Gruppe hat die Kirche abgeriegelt!« »War zu erwarten«, sagte Hasard. »Sie wollen verhindern, daß Norris’ und Courcys Männer an Bord zurückkommen.« Ferris Tucker, der Schiffszimmermann, enterte als erster den Niedergang hoch. Kurz darauf war auch Al Conroy, der Geschützführer, zur Stelle. »Wir haben jetzt zwei Aufgaben«, sagte Hasard, »erstens, den Männern an Land einen Korridor freizuhalten, damit sie an Bord zurückkommen können, und zweitens, das Schiff vor Angriffen der Rebellen zu schützen.« Er wandte sich an Conroy. »Gibt es irgendeine Möglichkeit, die Backbordkanonen einzusetzen?« Al Conroy nickte. »Ferris hat schon stärkere Keile unter die Lafetten schlagen lassen. Wenn wir etwa drei Yards von der Pier abliegen, dürfte es reichen.« »Gut.« Er wandte sich an Ferris Tucker. »Laß sofort die Leinen verlängern und Fock und Besan setzen. Dann drückt uns der Wind von der Pier. Wie viele Männer sind auf der Pier?« »Sechs, wie du gesagt hast.« »Stell je zwei Mann an Fock und Besan, falls irgendwelche Segelmanöver nötig werden sollten. Alle anderen, inklusive Koch und Segelmacher, an die Backbordreling. Auch die verwundeten Soldaten, soweit sie noch eine Muskete halten können. Und wenn nicht, dann sollen sie wenigstens die
Waffen nachladen. Wir werden alle Feuerkraft brauchen, die wir mobilisieren können.« »Aye, aye.« »Und hol sämtliche Musketen und Pistolen aus der Waffenkammer. Sorge dafür, daß alle Waffen geladen und feuerbereit sind. Pulverfässer und Lunten an Deck. Vielleicht werden wir sie brauchen. Vielleicht werden wir alles brauchen, was wir haben.« »Aye, aye«, sagte Tucker ernst, wandte sich um und sprang den Niedergang hinunter, gefolgt von Conroy. Sekunden später hörte Hasard die Kommandos des Schiffszimmermanns. »Gruppe von Männern zieht an der Küste Richtung Dorf«, meldete Dan O’Flynn aus dem Mars. »Vielleicht Captain Norris, aber ich glaube es nicht.« »Warum nicht?« Hasard hatte schon den Kieker vor dem rechten Auge und starrte zur Küste zwischen Drum Hills und Dungarvan. »Es sind nur knapp dreißig Leute.« Dreißig von neunundfünfzig. Deutlich sah Hasard die Helme und Brustharnische der Männer, die mit müden, schleppenden Schritten am fe lsigen Ufer entlang auf Dungarvan zugingen, nur noch eine knappe halbe Meile von den ersten Häusern entfernt. Und von den ersten Vorposten der Iren, erkannte Hasard. Einer der Männer lief jetzt zurück ins Dorf. Wahrscheinlich hatte auch er die Engländer bemerkt und wollte das Gros der Rebellen alarmieren. Sie würden den Rest von Norris’ Männern abschlachten, wußte Hasard. Er mußte sich auf ein anderes Ziel konzentrieren. Und es gab nur ein anderes Ziel: die ›Isabella‹. »Conroy!« schrie er zum Deck hinunter. »Sir!« Natürlich stand AI Conroy bereit. »Feuer auf den Kopf der Pier und den rechten Dorfausgang. Dan O’Flynn wird dich wieder einweisen.«
»Aye, aye.« »Hast du verstanden, Dan?« rief Hasard zum Mars hinauf. »Die verdammten Iren dürfen nicht zur Ruhe kommen. Wohin sie auch ausweichen, das Feuer muß ihnen folgen. Verstanden?« »Alles klar, keine Sorge.« »Heißt auf Besan und Fock!« schrie Hasard über das Deck. Ferris Tucker legte sich ins Zeug, als ob er die Segel mit seinen Flüchen emporziehen müßte. »Lose in Vor- und Achterleinen!« rief Hasard den Männern auf der Pier zu, als der Wind in das Tuch fuhr. Die Leinen klatschten ins Wasser, wurde neu belegt und strafften sich, als die ›Isabella‹ knapp vier Yards von der Pier gedrückt worden war. »Feuer!« schrie Al Conroy, und die sechs Backbordkanonen brüllten auf. Hasard wandte sich zu Ben Brighton um, der an der Drehbasse stand, die glimmende Lunte in der Hand. »Zehn Yards nach rechts, dann gibt’s Hackfleisch!« schrie Dan O’Flynns kieksige Stimme aus dem Mars. »Frage: soll ich feuern?« Hasard wandte sich zu Ben Brighton um, der an der Drehbasse stand, die glimmende Lunte in der Hand. »Setz mal ein paar Dinger neben die Kirche«, sagte Hasard. »Sag dem Mann an der Bugdrehbasse, er soll sich nach deinem Feuer richten.« Ben rief den Befehl zum Bug hinüber, und kurz darauf dröhnten die beiden Dreipfünder, und die Kugeln schlugen dicht neben der Kirche ein. Captain Courcy fuhr unwillkürlich vom Kirchenfenster zurück, als eine Kugel knapp sechs Yards entfernt einschlug und Erdklumpen und Steine gegen die Mauer schleuderte. Er blickte zur ›Isabella‹ hinüber und sah, daß sie vom Wind von der Pier abgedrückt wurde.
Wieder dröhnte eine Breitseite, und vom Rand des Dorfes ertönten Rufe und Schreie. Was sollte das massive Geschützfeuer? Was hatte Killigrew vor? Bevor er eine Antwort auf die Frage fand, knatterte Musketenfeuer. Es war dünn, unkonzentriert, fahrig. Und jetzt wußte Courcy, was los war: Norris und seine Männer gingen auf das Dorf zu, die Iren wollten verhindern, daß sie an Bord der ›Isabella‹ zurückkehrten, und Killigrew hielt durch sein Feuer die Iren in Trab. »Fertigmachen, Leute!« rief er seinen Männern zu. »Wir haben jetzt unsere einzige und unwiderruflich letzte Chance, hier herauszukommen.« Er blickte von einem zu anderen, und besonders lange ruhte sein Blick auf den Verwundeten. Sie würden versuchen, die Männer mitzuschleppen, aber er wußte, daß nur wenige es schaffen würden. Wieder krachte eine Salve der ›Isabella‹, und kurz darauf landeten zwei Kugeln der Drehbassen rechts von der Kirche. Die Männer sammelten sich vor der Tür, ein müder, angeschlagener Haufen, nur von der Hoffnung auf den Beinen gehalten, vielleicht doch noch an Bord der Galeone zurückzukehren. Captain Courcy warf einen letzten Blick aus dem Kirchenfenster. Niemand war zu sehen, die kopfsteingepflasterte Fläche des Dorfplatzes bis zur Pier schien frei zu sein. »Schien« war ein Wort, das Courcy haßte. »Wir warten, bis Captain Norris und seine Männer noch näher heran sind, dann brechen wir durch«, sagte er. Drei Schüsse krachten kurz hintereinander. Hasard hörte einen Aufschrei, den dumpfen Einschlag von Bleikugeln. Ben Brighton war hinter der Drehbasse zusammengesunken und preßte eine Hand auf die Schulter. Blut rann zwischen seinen Finge rn über Handrücken und Arm. »Kutscher!« schrie der Seewolf. »Schickt den Kutscher
herauf!« Er sah, daß Smoky an die Drehbasse sprang, sie richtete und die Lunte auf das Zündloch drückte. Und diesmal lag die Kugel genau im Ziel. Links vom Pierkopf wurden die Trümmer eines Bootes in die Luft geschleudert, hinter dem drei Iren in Stellung gegangen waren, und Teile der drei Iren. Die sechs Männer auf der Pier hatten ebenfalls Ziele aufgefaßt. Ihre Musketen dröhnten, und Hasard hörte einen Aufschrei. »Ferris! Langsames, ständiges Störfeuer schießen lassen!« rief Hasard zum Deck hinunter. »Aye, aye! Ihr habt gehört, ihr Bastarde! Langsames Störfeuer! Und für jede Kugel, die nicht trifft, kriegt ihr einen Tritt in den Hintern!« Die ersten Schüsse krachten, und in das Knattern der Musketen dröhnte wieder eine Breitseite der ›Isabella‹. »Raus!« schrie Captain Courcy und stürzte als erster aus der Kirche. Die Gruppe unter Captain Norris war jetzt so nahe heran, daß man zwischen den Schüssen schon das Rufen und Schreien der Kämpfenden hören konnte. »Raus!« Es war eine Befreiung, endlich wieder etwas tun zu können und nicht länger apathisch auf den Tod warten zu müssen. Die Männer stürzten hinaus ins Freie, auf den buckeligen Dorf platz, und liefen auf die Pier zu. Unaufhörlich krachten Schüsse, von der Pier, von Bord der ›Isabella‹ und von der anderen Seite des Dorfes. Und dazwischen brüllten die Kanonen und Drehbassen der Galeone, und schwere Eisenkugeln schlugen in den Boden, in das Pflaster, in die wenigen Häuser, die noch stehengeblieben waren. Captain Courcy sah einen Iren, der mit Front zur ›Isabella‹ hinter einem umgestürzten Boot lag, überrascht herumfahren. Bevor er sich von seiner Überraschung erholt hatte, schoß ihm
Courcy eine Pistolenkugel in den Kopf. Aber jetzt hatten auch ein paar andere bemerkt, daß sie von hinten angegriffen wurden. Sie warfen sich herum, feuerten ihre Musketen ab, sprangen dann auf und drangen mit geschwungenen Säbeln und Keulen auf Courcy ein. Hinter ihm krachten die Schüsse seiner Soldaten, und drei Iren sackten zusammen. Er riß den Degen heraus und sprang auf die anderen Iren zu. Captain Norris’ Truppe war durch die irische Sperre gebrochen, und zwar im Kampf Mann gegen Mann. Vor ihnen lag noch ein weiterer Riegel der Iren, dir ekt vor der Pier, sah er jetzt und hörte die ersten Musketenschüsse krachen. Aus, dachte er, so kurz vor dem Ziel zu Ende. Seine Männer hatten nicht mehr die Kraft, noch einen Durchbruch zu schaffen. Die meisten hatten kein Pulver mehr, und die anderen hatten keine Zeit, ihre Musketen nachzuladen. Wieder krachten zwei Schüsse. Ein Mann neben ihm schrie auf und sank zusammen. Captain Norris wartete auf das Ende. Vor ihnen lagen etwa fünfzehn Iren und feuerten, so rasch sie nachladen konnten. Plötzlich sah er einen von ihnen auffahren und hinter sich blicken. In der nächsten Sekunde sackte er zusammen. Und nun fuhren auch die anderen Rebellen herum. »Courcy«, rief Norris unwillkürlich, als er den Captain erkannte, der von der anderen Seite auf den Kopf der Pier zuhetzte. »Schnell, solange Iren dumm im Kopf«, sagte Batuti, nahm die Muskete des eben gefallenen Soldaten vom Boden auf und stürzte sich mit einem ohrenbetäubenden Schrei auf die Iren. Norris sah, wie er die schwere Waffe wie einen Degen schwang, sie auf die Köpfe und Leiber sausen ließ, hörte die Schreie der Getroffenen. »Captain!«
Er hörte die Warnung zu spät und hatte ein paar Sekunden lang nicht aufgepaßt. Instinktiv riß er den rechten Arm hoch und vergaß, daß er den Degen in der unverletzten Linken trug. So traf ihn der schwere Säbel des Iren voll in die linke Seite. Das letzte, was Captain Norris hörte, war eine rollende Musketensalve. Sie kam aus dem Heckkastell der ›Isabella‹. Hasard hatte die Besansegel niederholen und das Schiff an der Achterleine hart an die Pier holen lassen. Er wußte, daß es jetzt um Sekunden gehen würde. Um Sekunden, wenn die Männer an Bord sprangen, und um Sekunden, wenn er die ›Isabella‹ heil von der Pier wegbringen wollte. »Beide Gruppen sind jetzt zusammen!« schrie Dan O’Flynn den Lagebericht aus dem Mars. »Captain Norris wird angegriffen! Er fällt! Scheiße!« »Schießt einen Korridor frei!« brüllte Hasard den Männern zu. Sie waren jetzt auf dem Achterkastell und standen Kopf an Kopf hinter dem Besanmast am Schanzkleid. Nur die Verwundeten waren an der Backbordreling zurückgeblieben und feuerten von dort aus. »Haltet links und rechts von der Pier auf alles, was sich bewegt, und schießt so rasch ihr nachladen könnt.« Die Musketen dröhnten ununterbrochen, und dazwischen brüllten die beiden Drehbassen, fetzten Löcher in die Trümmer um den Dorfplatz und in die Planken am Kopfende der Pier. »Sie haben die Pier erreicht!« schrie Dan O’Flynn aufgeregt. »Das sehe ich selber, du Idiot!« rief Hasard und starrte zu den ersten Männern hinüber, die über die rohen Planken hasteten. In ohnmächtiger Wut schossen die Iren hinter ihnen her. Ein Mann brach zusammen. Ein anderer lief an ihm vorbei, wandte sich dann um und schleifte ihn mit sich. »Schneller feuern!« schrie Hasard. »Die verdammten Iren dürfen nicht den Kopf aus dem Dreck kriegen!« »Schneller, ihr Hurensöhne!« schrie Ferris Tucker. »Ist hier
Picknick oder was?« Sie kletterten über das Heck und brachen zusammen, blieben wie tot liegen, einer nach dem anderen, als einer der letzten Captain Courcy - blutüberströmt. Der Seewolf blickte die Pier entlang. Niemand mehr, nur drei Tote und ein Schwerverwundeter, der auch bald tot sein dürfte. »Ablegen!« rief er »Achterleine los! Heißt auf Fock!« Zwei Männer stürzten zum Poller und versuchten vergeblich, den festgezogenen Knoten der dicken Trosse zu lösen. Einer von ihnen riß ein Enterbeil vom Gürtel, um sie zu kappen. »Halt!« schrie Dan O’Flynn aus dem Mars. »Batuti fehlt noch.« »Ich weiß«, sagte Hasard. »Und mir tut es auch leid, aber ich kann wegen eines Mannes nicht das ganze Schiff ...« Er blickte auf die Pier, als das Feuer plötzlich wieder stärker wurde. Er sah einen Mann die Pier entlanglaufen. Er lief leichtfüßig und rasch und schlug immer wieder Haken, um den Musketenkugeln zu entkommen. Und das, obgleich er einen Mann auf der Schulter mitschleppte. Der Wind frischte auf, fuhr in Besan und Fock, und die ›Isabella‹ zerrte an der Heckleine wie ein ungeduldiger Hund. Es knackte und knarrte, und Hasard fragte sich, ob die Trosse brechen oder die Pier auseinanderkrachen würde. Sie brach in dem Augenblick auseinander, als Batuti den bewußtlosen Norris über das Schanzkleid warf und selbst nachsprang. Die ›Isabella‹ riß Poller und Bohlen aus der Pier und schleppte sie hinter sich her, als sie mit geblähten Segeln abdrehte. Batuti blickte den Kutscher an, der sich um den verwundeten Captain Norris kümmerte. »Batuti müde«, sagte er. »War bißchen anstrengender Tag heute.« Im Donner der Geschütze schlief er ein.
Sie schossen die Pier zusammen, als sich die Iren darauf drängten, um dem absegelnden Schiff ein paar letzte Musketenkugeln nachzuschicken. Sie zerfetzten die Pier, die Iren und die Reste dessen, was einmal das Dorf Dungarvan gewesen war.
In 14 Tagen erscheint SEEWÖLFE Band 23
Kämpft, daß die Fetzen fliegen von Roy Palmer Philip Hasard Killigrew hat gekämpft und verloren. An Bord der »Isabella von Kastilien« hat der Seewolf Tote, Sterbende und Verwundete aus den Truppen von Norris und Courcy. Noch geben die Spanier und Iren nicht auf. Die ›Marygold‹, die ›Santa Cruz‹ und Sir John Karacke, die ›Wasp‹ stehen weiterhin im Gefecht mit zwei spanischen Kriegsgaleonen und drei spanischen Karavellen. Da passiert es: Kapitän Drake geht außenbords. Boote werden ausgesetzt. Man findet Schiffstrümmer, Fässer, Leichen - aber keinen Drake. Nur ein Mann weiß, was geschehen ist, und er kann nichts sagen. Kostbare Stunden vergehen. Da hört Hasard, was geschehen ist. Er redet nicht lange, er handelt ...