John Grey
Im Land der tausend Gräber Ronco Band Nr. 120/05
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jah...
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John Grey
Im Land der tausend Gräber Ronco Band Nr. 120/05
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 stießen Bauarbeiter bei Abbrucharbeiten in einer kleinen Geisterstadt im Süden New Mexicos unter einem ausgebrannten Boardinghouse auf eine zugemauerte Kellernische. Sie fanden darin einen alten Revolver, der noch mit drei Patronen geladen war, ein silbernes US-Marshal-Abzeichen und einen indianischen Ledersack. Der mit Stachelschweinborsten und Perlen verzierte Sack enthielt fünf mit Lederriemen zusammengeschnürte Bündel alter Schulhefte. Es handelte sich um das Tagebuch eines Mannes, der in der Pionierzeit Amerikas gelebt hat. Dieser Mann ist nicht in die Geschichte eingegangen. Er hat sich auch nicht darum bemüht, Geschichte zu machen. Trotzdem hat er aufgeschrieben, was er erlebt hat. Vielleicht, weil er niemanden hatte, mit dem er über sein Leben sprechen konnte. Er nannte sich RONCO. Wir wissen nicht, ob das sein richtiger Name war. Vielleicht hat er aus Scham oder Stolz seinen Namen verschwiegen. Denn er war ein Outlaw, ein Gesetzloser, der Grund hatte, seinen Namen manchmal zu verschweigen. Obwohl aus seinen Aufzeichnungen hervorgeht, daß er unschuldig in die Mühlen der Behörden geriet und verzweifelt um seine Rehabilitation kämpfte. Aber seine Berichte zeigen mehr: Sie sprengen den Rahmen unserer Vorstellungen von der Pioniergeschichte der USA. Sie schildern diese Zeit wesentlich härter, rauher und wilder, als wir sie bisher gesehen haben. Basierend auf diesen Unterlagen wurde die Romanreihe RONCO gestaltet. Jedoch handelt es sich bei den für die Serie ausgewerteten Aufzeichnungen nur um einen Teil der Tagebücher. Um Ihnen, unseren Lesern, die ganze Geschichte dieses faszinierenden Mannes RONCO offenzulegen, haben wir uns entschlossen, in Abständen von fünf Wochen die Tagebuchaufzeichnungen dieses Geächteten zu veröffentlichen. Bearbeitet von den Autoren der RONCO-Serie. In diesen Romanen erzählt der Mann, der sich RONCO nannte, seine
eigene Geschichte.
Die Hauptpersonen des Romans Ronco – Der »Apachen«-Junge, zwölf Jahre alt. Er steht vor der fast unmenschlichen Aufgabe, die Überlebenden seines Stammes nach Mexiko zu führen. Susqueya – Apachensquaw, die wie eine Mutter für Ronco ist und ein trauriges Schicksal erleidet. Laufender Bär – Wird von Soldaten zusammengeschossen. Isheeki – Apachensquaw, übersteht den langen Marsch in die Freiheit. Eskehimzin – Apachenkrieger, der Ronco hilft.
Im Land der tausend Gräber 17. Oktober 1878 Ich befinde mich an der Grenze zwischen New Mexico und Texas. Hinter mir waren bis zum Abend Soldaten. Sie haben mich gejagt. Jetzt ist es Nacht. Ich habe sie abgehängt. Sie waren nicht sehr erfahren im Spurenlesen. Ich ritt durch ein Bachbett und zog einen ausgerissenen Busch hinter mir her, der das Gras wieder aufrichtete, das von Wildcats Hufen niedergedrückt worden war. Im letzten Tageslicht konnte ich die Soldaten von einem Hügel aus beobachten. Sie standen am Ende meiner Fährte und rätselten, wo ich geblieben sei. Sie dachten wohl, ich wäre geradewegs in den Himmel gefahren, denn sie schauten viel in der Luft herum. Dann drehten sie um und ritten zurück. Ich war sie los. Jetzt habe ich Ruhe. Das ist ein gutes Gefühl, auch wenn ich weiß, daß diese Ruhe immer nur Stunden oder Tage dauert. Ich habe das Heft wieder aus der Satteltasche genommen. Die Zeit, die ich gewonnen habe, werde ich dazu nutzen, um weiterzuschreiben. Ich habe im April 1858 aufgehört. Ich war zum Apachen geworden und hatte geglaubt, das Schwerste hinter mir zu haben. Aber nach dem Massaker, das Indianerhändler unter meinem Stamm angerichtet hatten, begann erst die harte Zeit für mich und einige andere …
1. Ich lag auf dem Bauch und starrte in den Regen. Ich fror, obwohl ich mich in meine Decke gerollt hatte. Die Decke war nicht mehr trocken. Aber ich hatte keine andere. So blieb ich liegen und bemühte mich, mir einzubilden, daß ich ohne Decke noch mehr frieren würde. Es war ein Tag im April. Ich wußte nicht, welcher Tag. Ich wußte nur, es war der dritte Tag, an dem es regnete.
Ein Sauwetter. Seit drei Tagen verbarg sich der Himmel unter grauen Regenschleiern. Seit drei Tagen fiel der Regen fadendicht ohne Unterbrechung und verwandelte die Erde in grundlosen Morast. Ich fluchte plötzlich. Unmotiviert. Mir war einfach danach. Dann war ich wieder still und achtete nicht darauf, daß alle anderen mich anschauten. Alle anderen … Unweit von mir lagen und hockten sie im dichten Unterholz, dessen Blätterdach die ersten beiden Tage den Regen einigermaßen von uns abgehalten hatte, jetzt aber mehr und mehr nachgab. Sie hatten sich ebenso in Decken gehüllt wie ich und starrten ebenso sinnend vor sich hin. Da war Susqueya, meine Pflegemutter. Da waren zwei Squaws und drei Apachenkinder, und da war ein verletzter Krieger. Ein jämmerlicher Haufen. Eigentlich kein Haufen, sondern nur eine Handvoll, und vielleicht nicht einmal das. Mehr waren wir nicht, wir, die wir das Massaker überlebt hatten, das ein Indianerhändler unter dem Mimbreno-Stamm Coyoteros, dem Stamm, dem auch ich angehörte, angerichtete hatte – wegen der Skalpprämien. Seit drei Tagen saßen wir fest. Der Regen hinderte uns daran, den Weg nach Süden fortzusetzen, den wir angetreten hatten, um uns in Mexiko mit anderen Apachenstämmen zu vereinigen. Seit gestern hatten wir nichts mehr zu essen. Das war das Schlimmste. Am Morgen hatten wir es mit der Rinde der Bäume versucht, unter denen wir Schutz gesucht hatten. Wir hatten es sofort wieder aufgegeben. Wahrscheinlich hätte es geklappt, wenn wir die Möglichkeit gehabt hätten, die Rinde zu kochen. Aber wir hatten keinen Topf, und wir hatten nicht ein Stückchen trockenes Holz, um Feuer machen zu können. Mein Magen knurrte. Er zog sich zusammen und schmerzte. In einem plötzlichen Entschluß richtete ich mich auf. Ich hatte keine Lust, liegen zu bleiben und zu verhungern. Mit dem Kopf stieß ich an das regenschwere Laubdach. Eine Sturzflut ergoß sich über mich. Ich zog fröstelnd die Schultern hoch und ließ die Decke fallen. Mein Kalikohemd hielt die Nässe nicht ab. Es klebte an meinem Körper.
Susqueya hob den Kopf. Ich schaute in ihr faltiges Gesicht. »Wir brauchen etwas zu essen«, sagte ich. Sie nickte, aber sie sagte nichts. Der verletzte Krieger stemmte sich schwerfällig hoch. Er hieß Laufender Bär. Er war nie ein hervorragender Mann im Stamm Coyoteros gewesen. Jetzt war er der einzige Mann in unserer kleinen Gruppe. Sein linker Oberarm war von zwei Kugeln zerfetzt. Er konnte den Arm nicht mehr bewegen. Die Wunden verheilten nicht. Sie hatten sich entzündet. Der große Blutverlust hatte Laufender Bär geschwächt. Er wußte wohl selbst, daß er es nicht schaffen würde, mit uns bis nach Mexiko zu gelangen. Aus fiebrigen Augen schaute er mich an. »Ich gehe mit«, sagte er. Ich widersprach nicht. Laufender Bär war der einzige außer mir, der sein Pony noch besaß. Die beiden Pferde standen ein Stück abseits von uns im Unterholz. Ich hängte mir meinen Bogen und den Köcher mit den Pfeilen um. Laufender Bär folgte mir. Er hatte nur noch sein Messer und seinen Tomahawk. Wir brachen durch das Dickicht und schritten durch den Regen. Wir sanken bei jedem Schritt fast bis zu den Knöcheln im Boden ein. Das Fell der Pferde troff vor Nässe. Wir rieben sie mit unseren Decken ab, legten ihnen die Woilachs auf und bestiegen die Tiere. Shita, mein geschecktes Indianerpony, schnaubte leise, als ich ihr durch die Mähne strich. Wir ritten dicht hintereinander, bis wir den Waldrand erreichten. Hier trieb uns der Wind die Regenschleier entgegen. Wir konnten keine zehn Yards weit sehen. Ich drehte mich um und gab Laufender Bär ein Zeichen. Er hing kraftlos auf dem Rücken seines Tieres. Sein Oberkörper schwankte im Rhythmus des Pferdetritts hin und her. Ich wollte ihm sagen, daß er zurückreiten solle. Aber ich schwieg, denn ich wußte, er hätte nicht auf mich gehört, und es hätte ihn gekränkt. »Wir sollten einzeln reiten«, sagte er. »Jeder in eine andere Richtung.« Ich konnte ihn kaum verstehen. Seine Stimme klang schwach, und das monotone Rauschen des Regens übertönte sie fast. Wieder wollte ich widersprechen. Doch da hatte er sein Pferd schon angetrieben und ritt an mir vorbei. Für einen kurzen Moment hatte ich sein
Gesicht dicht vor mir. Es war eingefallen und knochig. Die Augen lagen in tiefen Höhlen und waren entzündet. Dann war Laufender Bär nur noch ein Schatten im Regen, genauso grau wie die Regenschleier, die mir eisig ins Gesicht klatschten. Es war das letzte Mal, daß ich ihn lebend sah. * Ich wandte mich in die entgegengesetzte Richtung und hoffte, den Wald und das Versteck der Squaws und der Kinder später wiederzufinden. Ich ritt einen flachen Hang hinunter. Der aufgeweichte Boden gab unter den Hufen Shitas schmatzende Geräusche von sich. Ich ritt ohne bestimmtes Ziel und hoffte nur, auf eine Weide mit Rindern zu stoßen. Es gab ein paar Farmen in der Nähe, das wußte ich. Ich hatte nicht die geringsten Skrupel, ein Rind zu stehlen. Wer Hunger hat, verliert schnell seine Skrupel. Als ich mich einmal umwandte, konnte ich den Wald schon nicht mehr sehen. Ich schmeckte Regenwasser im Mund. Mein langes blondes Haar hing mir strähnig in die Stirn und in den Kragen meines Hemdes. Wie lange ich geritten war, als ich plötzlich einen Schuß hörte, wußte ich nicht. Der Knall ertönte irgendwo vor mir, nicht besonders laut. Das Rauschen des Wetters verschluckte die Detonation fast. Sofort zügelte ich mein Pferd, richtete mich steil im Sattel auf und lauschte. Ich spürte den Regen nicht mehr, der mir ins Gesicht prasselte. Unwillkürlich nahm ich den Bogen von der Schulter. Es blieb eine ganze Weile still. Dann krachte wieder ein Schuß, ich hörte Hufschlag. Ich trieb Shita an und folgte dem Geräusch. Im Rauschen des Wetters klang der Hufschlag wie ein dumpfes Trommeln. Ich ritt lange Zeit, ohne etwas zu sehen, und hatte bald das Gefühl, nach einem Phantom zu suchen. Dann sah ich plötzlich schemenhafte Gestalten vor mir. Sie ritten dicht nebeneinander durch den Regen, in lange, feste Mäntel gehüllt, deren blaue Farbe ich nur ahnen konnte, die breitrandigen Hüte tief in die Gesichter gezogen. Unter den Mänteln
ragten die Spitzen von leicht gekrümmten, langen Säbeln hervor. Es waren Soldaten. Ich hörte ihre Stimmen und zog Shita herum: In meinem Leib war plötzlich ein dumpfer Druck. Die Soldaten zogen vorbei wie Geisterreiter. Sie entdeckten mich nicht. Es waren sieben oder acht. Zuwenig für eine Patrouille im Apachenland. Sie mußten zu einer größeren Truppe gehören. Ich mußte die anderen warnen. Aber da war auch noch Laufender Bär. Er war unterwegs wie ich. Ich wußte nicht wo. Ihn konnte ich nicht warnen. Ich dachte plötzlich an die Schüsse. Es konnten Signalschüsse gewesen sein. Vielleicht hatten sich die Truppenteile im Unwetter verloren. Ich lauschte wieder. Der Regen rann über mein Gesicht, über mein Kinn und über meinen Hals in mein Kalikohemd. Ich war bereits naß am ganzen Körper – zum Auswringen. Irgendwo vor mir hörte ich wieder Hufschlag. Ich trieb Shita an und ritt in eine Bodensenke, in der sich das Regenwasser gesammelt hatte und fast kniehoch stand. Schlamm spritzte auf und traf mich ins Gesicht, als ich mit Shita hindurchritt. Als ich die Senke verließ, waren Shita und ich dreckverschmiert. Aber das störte mich nicht. Ich dachte nur an Laufender Bär und an die Schüsse und folgte den Soldaten. Sie waren nicht mehr zu sehen. Ich konnte nur ahnen, wo sie sich befanden. Shita verlor für Sekundenbruchteile den Halt unter den Vorderhufen. Sie rutschte auf dem glitschigen Boden aus und knickte fast mit den Läufen ein. Ich wurde nach vorn geworfen und klammerte mich an der Mähne fest. Für einen Moment hing ich seitlich am Pferdehals. Dann fing sich Shita wieder. Schwer atmend richtete ich mich auf. Shita schüttelte die Mähne. Sie trabte weiter. Ich klopfte ihr auf den Hals und wagte nicht daran zu denken, was passiert wäre, wenn sie sich einen Lauf gebrochen hätte. Einige Hügel tauchten aus den Regenschleiern vor mir auf. Sie wirkten wie die Buckel riesiger, schlafender Tiere. Der Regen hatte schmale Rinnen in die Hänge gewaschen. Ich wich den tiefen Pfützen aus, so gut es ging. Immer klappte es nicht. Es war stockdunkel, und ich konnte nicht viel sehen. Plötzlich hörte ich Stimmen vor mir. Jemand fluchte laut. Ich ritt
noch ein Stück weiter, hielt dann, glitt aus dem Sattel und blieb neben Shita stehen, die den Kopf senkte, während der Regen die Dreckspritzer aus ihrem Fell wusch. Da sah ich wieder schemenhaft einige Reiter in langen Umhängen und mit großen Hüten. Sie wirkten irgendwie unwirklich, körperlos. Sie schienen zu schweben. Ich fror und zog die Schultern hoch. Die Männer sprangen neben irgend etwas, das ich nicht erkennen konnte, aus den Sätteln. Durch ihre Umhänge wirkten sie wie riesige Vögel, große, schwarze Totenvögel. Sie hielten Gewehre in den Händen. Klobige SpringfieldKarabiner. Sie scharten sich um das Etwas am Boden. Mein Magen krampfte sich zusammen. Mein Hals war plötzlich trocken. Ich spürte den Regen für lange, endlose Augenblicke nicht mehr, die dicken, schweren Tropfen, die wie Peitschenhiebe auf meinen Kopf, mein Gesicht und meine Haut klatschten. Die Soldaten redeten. Ich hörte ihre Stimmen, konnte aber nicht verstehen, was sie sprachen. Ich erkannte nur, daß es sich um einen Menschen handelte, der zwischen ihnen am Boden lag. Er richtete sich plötzlich ein Stück auf und wälzte sich herum. Einer der Soldaten hob sein Gewehr. Als es mit dem eisenbeschlagenen Kolben voran hinuntersauste, schloß ich die Augen. Das Rauschen des Regens war plötzlich überlaut. Ich stand wie gelähmt und sah, wie sich der Mann, der zugeschlagen hatte, bückte und an dem flach liegenden Körper herumhantierte. Kurz darauf stapften die Soldaten durch den Schlamm zu ihren Pferden und kletterten in die Sättel. Dann ritten sie davon wie ein Spuk. Ich stand eine ganze Weile still da, bis mich Shita mit der weichen, warmen Schnauze anstieß. Ich strich dem Pony durch die Mähne und schwang mich auf seinen Rücken. Shita trabte an. Sie schien zu wissen, wohin ich wollte. Sie lief auf die Stelle zu, wo die Soldaten gewesen waren, ohne daß ich sie mit dem Zügel dirigieren mußte. Dann stand sie still. Unter mir sah ich die Umrisse eines Menschen im Schlamm, umgeben von schwarzen Pfützen, deren Oberflächen
von Tausenden von Regentropfen zersiebt wurde. Der Mann war tief in den morastigen Boden gesunken. Mit eckigen Bewegungen glitt ich aus dem Sattel. Schwerfällig stelzte ich auf den reglosen Körper zu. Der Mann lag mit dem Gesicht nach unter im Dreck. Ich bückte mich, überwand meine Hemmungen und rollte den Körper auf den Rücken. Obwohl ich gewußt hatte, was mich erwartete, erschrak ich bis ins Mark. Ich blickte in das Gesicht von Laufender Bär. Es war verzerrt, unmenschlich entstellt. Die Augen waren weit aufgerissen und schimmerten vom Blut der vielen geplatzten Äderchen in den Pupillen rötlich. Der Mund stand halb offen. Das Gesicht war schwarz vom Lehm und wirkte durch seine Starre wie die meisterhaft geschnitzte Holzmaske eines Geistertänzers. Laufender Bär war tot. Sein Wildlederhemd war über dem Oberkörper zerrissen. Der Regen wusch ständig frisches Blut aus einer großen Wunde einen Zoll oberhalb des Nabels. Aber nicht der Schuß hatte Laufender Bär getötet. Ein Gewehrkolben hatte seinen Gurgelknoten zerschmettert. Der Kopf stand eigenartig verrenkt vom Körper ab. Der Hals war seltsam eingedrückt, und es schien ein großes Loch in der Gurgel zu sein. Ihm fehlte der Skalp. Die Schnitte auf seinem Schädel bildeten ein Dreieck. Der Soldat, der ihn skalpiert hatte, hatte ihm fast die ganze Kopfhaut abgerissen. Ich wandte mich rasch ab. Zorn erfüllte mich, hilfloser Zorn. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. In diesem Moment war ich innerlich völlig leer und ausgebrannt. Der Regen fiel, und das Wetter rauschte monoton. Windböen trieben über das Land und jagten Regenschleier vor sich her. Ich fühlte mich verdammt allein und sehnte mich nach jemanden, den ich fragen konnte, was zu tun sei. Als ich mich wieder bewegte, bekam ich meine Füße kaum hoch. Ich war bis zu den Knöcheln im Schlamm versunken. Nachdem ich den Tomahawk von Laufender Bär an mich genommen hatte, schwang ich mich in den Sattel. Ich lenkte Shita um die Leiche herum. Erst jetzt fiel mir auf, daß meine Hände zitterten.
Ich faßte die Zügel fester und ritt weiter. Und dann sah ich weit vor mir einen kleinen, glühenden Punkt im tosenden Wetter, ein Feuer. Es schien im Schutz einer Zeltplane zu brennen. Ich ritt direkt darauf zu und hörte ein Tropetensignal. Da zog ich Shita herum und ritt in eine Bodenfalte zwischen zwei Hügeln. Für kurze Zeit verlor ich das Feuer aus den Augen. Wenig später sah ich es wieder. Ich schlug einen Bogen um das Camp der Soldaten und näherte mich im Schutz mehrerer Bodenwellen, in denen ich immer wieder untertauchte. Ich ritt, bis ich den intensiven Geruch von Pferden und Leder wahrnahm. Da zügelte ich Shita und glitt aus dem Sattel. Mit hängenden Zügeln ließ ich Shita stehen. Das erste Stück ging ich aufrecht, bis ich die Funken des Feuers sprühen sah. Dann ließ ich mich auf die Knie sinken und robbte über den aufgeweichten Boden. Trotz des Regens nahm ich den Rauch des Feuers wahr. Nach wenigen Yards war ich bereits von Kopf bis Fuß mit Schlamm bedeckt. Das störte mich nicht. Ich hatte die Pferde der Soldaten entdeckt. * Sie standen abseits des Feuers in einem eilig errichteten RopeKorral. Eine Pferdewache war nirgends zu sehen. Die Soldaten hockten dicht aneinander gedrängt um das kleine Feuer. Sie hatten sich in ihre Mäntel gehüllt und die Kragen hochgeschlagen. Ich konnte ihre Umrisse im Feuerschein erkennen. Sie achteten nicht auf die Tiere. Ich robbte in den Seilkorral. Die Pferde schnaubten leise und tänzelten unruhig. Ich blieb reglos liegen, bis sie sich beruhigt hatten. In diesem Moment hatte ich wahnsinnige Angst, entdeckt zu werden. Das Risiko, auf das ich mich eingelassen hatte, war groß. Das wurde mir erst jetzt richtig bewußt, als die Hufe der Armeepferde nur wenige Zoll von meinem Kopf entfernt in den morastigen Boden stampften. Ich kroch über den zertrampelten Boden, durch die tiefen Pfützen und zwischen den Pferden hindurch. Irgendwo in der Mitte des
Korrals richtete ich mich auf. Die Pferdeleiber schützten mich vor Blicken aus dem Camp. Die Tiere waren alle noch gesattelt und trugen ihre Satteltaschen. Nichts anderes hatte ich gesucht. Was ich in den Satteltaschen fand, war mehr, als ich erwartete hatte. Ich nahm eine Satteltasche an mich, leerte sie völlig aus und stopfte dann sämtliche Rationen hinein, die ich unterbringen konnte. Ich fand Trockenfleisch und hartes Brot, getrocknete Bohnen und Kaffee, aber auch Verbandszeug. In diesem Moment dachte ich nicht mehr an Laufender Bär. Als ich einmal zum Feuer hinüberschaute, sah ich, daß ein Soldat einen Skalp über die Flammen hielt und mit lauter Stimme erzählte, wie er Laufender Bär erschlagen hätte. Da kam ich mir für einen Moment schäbig vor, daß ich nur an den Proviant dachte. Aber dann dachte ich, daß wir von der Trauer nicht satt wurden. Ich warf die Satteltaschen über meine linke Schulter, ließ mich wieder zu Boden gleiten und kroch zum Rand des Rope-Korrals zurück. Unterwegs hielt ich plötzlich inne. Ein Gedanke durchzuckte mich. Schwer atmend blieb ich liegen und überlegte. Die Soldaten hatten Laufender Bär getötet – völlig ohne Grund. Laufender Bär war schwer verletzt gewesen. Er hatte keine Chance gehabt, sich zu wehren. Sie hatten ihn erschlagen wie einen räudigen Hund. Wahrscheinlich vermuteten sie jetzt, daß weitere Apachen in der Nähe waren. Womöglich würden sie nach dem Unwetter die Gegend absuchen und uns finden. Das durfte nicht geschehen. Ich war zwölf Jahre alt und hatte keine Chance gegen die Soldaten. Aber ich war alt genug, um ihnen Schwierigkeiten zu bereiten. Das Unwetter würde mir helfen. Ich kroch bis zum Rand des Rope-Korrals. Hier richtete ich mich auf, zog mein Messer aus der Gürtelscheide, zerschnitt das Seil und drehte mich um. Ich zog die Sattelgurte des mir am nächsten stehenden Pferdes an und krallte mich im Kopfgeschirr des Tieres fest. Dann stieß ich den grellen Schrei des Berglöwen aus, und dann noch einen. Ich schwang mich in den Sattel, ließ mich flach auf den Pferdehals fallen und schrie weiter. Unruhe entstand unter den Pferden. Sie drängten auseinander. Sie
verließen das zerschnittene Rund des Korrals. Ich wandte den Kopf und konnte das Feuer wieder sehen. Die Soldaten, die dort unter der Zeltplane hockten, sprangen auf und griffen nach ihren Gewehren. Ich hörte ihre rauhen Stimmen. Jemand schoß. Ich sah Mündungsfeuer zucken, trieb das Pferd an, auf dem ich saß, und jagte davon. Die Schußdetonationen verstärkten die Nervosität der anderen Tiere noch. Sie stoben wiehernd in alle Himmelsrichtungen auseinander und tauchten im Regen unter – genau wie ich. Hinter mir hörte ich die Flüche der Soldaten. Sie konnten mich nicht sehen. Sie konnten sich nur denken, was geschehen war. Sie feuerten in die Dunkelheit, in den Regen. Ich lachte wild. Aber ich fühlte keinen Triumph. Eine bittere Leere war in mir, denn ich hatte die Leiche von Laufender Bär vor Augen, während ich davonsprengte. Shita tauchte vor mir auf. Sie scheute, als ich auf dem großen Armeepferd heranjagte. Ich sprang aus dem Sattel, stürzte fast und ging in die Knie. Ich zitterte jetzt am ganzen Körper. Nicht vor Kälte, sondern vor Aufregung. Einen Moment lang lehnte ich mich gegen das hochbeinige Armeepferd und rang nach Atem. Dann ging ich zu Shita, strich ihr durch die Mähne, klopfte ihr den Hals und schwang mich auf den Rücken des Ponys. Ich zog die Zügel des Soldatenpferdes zu mir hinüber und ritt davon. Noch einmal sah ich die Leiche von Laufender Bär. Ich ritt an dem reglosen Körper vorbei, ohne ihn anzuschauen. Ich zwang mich dazu, nach vorn zu blicken, denn ich war sicher, daß ich den Anblick von Laufender Bär diesmal nicht mehr ertragen hätte. Das knochige, hochbeinige Armeepferd folgte mir willig. Es machte keine Schwierigkeiten. Hinter mir hörte ich immer noch Schüsse. Verfolger konnte ich nicht erkennen. Ich hatte keine Ahnung, wohin die Pferde gelaufen waren, hoffte aber, daß sie sehr weit fliehen würden. In diesem Moment stellte ich mir vor, wie die Soldaten hilflos und ohne Orientierung durch den Regen rannten. Ich dachte daran, daß sie, wenn sie ihre Pferde nicht wiederfanden, nach dem Unwetter einen langen Fußmarsch vor sich hatten und bestimmt nicht mehr darauf
scharf waren, die Gegend nach Indianern abzusuchen. Wenn es so war, hatte ich mein Ziel erreicht. Der Ritt zurück dauerte länger, als ich es mir vorgestellt hatte. Der fadendicht fallende Regen, der mir geholfen hatte, den Soldaten eins auszuwischen, behinderte mich jetzt. Ich fand den Wald nicht mehr. Die Zeit, die ich durch das Unwetter ritt, wurde zur Ewigkeit. Verzweiflung stieg in mir auf. Ich fluchte laut. Dann biß ich die Zähne zusammen und suchte weiter. Plötzlich tauchte ein Schatten vor mir auf. Ich zog im letzten Moment den Kopf ein. Dann rauschte ein tiefhängender Ast über mich hinab, der mich glatt aus dem Sattel gefegt hätte, wenn ich gegen ihn gestoßen wäre. Schnaubend blieb Shita stehen. Neben ihr verhielt des Armeepferd. Ich beugte mich vor und hätte fast geschrien vor Freude. Nur wenige Yards vor mir lag der Wald. * Ich fand unser Versteck, ich weiß nicht mehr wie. Stundenlang ritt ich im dichten Unterholz herum und war mehrmals nahe daran, jede Hoffnung aufzugeben. Ich war naß bis auf die Haut, fror und wurde vom Hunger gequält. Tiefhängende Zweige peitschten mein Gesicht und zerkratzten meine Haut. Ich rührte jedoch nichts von dem Proviant an, den ich im Soldatencamp gestohlen hatte. Irgendwann hörte ich Stimmen, leise, flüsternd. Ich glitt aus dem Sattel und ging zu Fuß weiter. Da sah ich sie vor mir sitzen, Susqueya, die anderen Squaws und die Kinder. Sie kauerten noch immer im Schutz dicht ineinanderverwachsener Büsche. Angst spiegelte sich in ihren Augen – und dann Freude, als sie mich erkannten. Ich holte die Pferde und warf die prallgefüllte Satteltasche zu Boden. Ratlos hockten sie um die Tasche und starrten erst sie und dann mich an. »Öffnet sie«, sagte ich. Große Müdigkeit überfiel mich. Ich kauerte mich zu Boden und lehnte mich mit dem Rücken an einen Baumstamm. Meine Glieder waren plötzlich schlapp und kraftlos.
Ich war erschöpft und schloß für einen Moment die Augen. Vor mir zog noch einmal alles vorbei, was ich in den letzten Stunden erlebt hatte. Dann hörte ich Susqueyas Stimme. Ich hob den Kopf, öffnete die Augen und schaute sie an. Ihr faltiges, dunkles Gesicht war dicht vor mir. Sie hielt mir ein Stück Trockenfleisch hin. »Iß«, sagte sie. Ich nahm das Fleisch und aß. Es war zäh und nicht besonders gewürzt. Aber es schmeckte. »Soldaten?« fragte Susqueya. »Ja.« Ich nickte. »Sie kampieren in der Nähe des Waldes.« »Weit von uns?« »Ich weiß nicht. Der Regen …« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich habe ihre Pferde verjagt.« Ich aß den letzten Bissen meines Fleisches und schaute die anderen an. »Laufender Bär ist tot«, sagte ich. »Die Soldaten haben ihn erschlagen.« Sie blieben stumm. Ich las Trauer in ihren Augen. Sie wollten nicht mehr wissen, und ich hätte ihnen auch nicht mehr erzählt. Es fiel von nun an kein Wort mehr zwischen uns. Ich wußte, alle dachten in diesem Moment daran, daß auch wir anderen, obwohl nicht verletzt, nur wenige Überlebenschancen hatten. Irgendwann schlief ich ein. Am Boden hockend, die Beine an den Leib gezogen, mit dem Rücken am Stamm eines Baumes lehnend. Mein Kopf sank auf die Brust. Der Regen fiel noch immer fadendicht und sang sein monotones Lied. Ich aber schlief, ohne zu wissen, ob es Tag oder Nacht war, da Tag und Nacht vom Regen gleich grau gefärbt wurden und es keine Helligkeit gab, keine Sonne. Doch ob Tag oder Nacht, es war mir egal. Ich war erschöpft und fühlte mich zerschlagen und sauelend. Der Schlaf kam über mich wie eine Erlösung.
2. Als ich erwachte, regnete es noch immer. Trübselig lagen wir in unserem Versteck. Stunden vergingen. Es wurde nur wenig gesprochen. Plötzlich
hellte es im Süden auf. Der Regen wurde schwächer und hörte schließlich völlig auf. Ein Windstoß riß die Wolkendecke weg. Darunter erschien ein strahlender Himmel. Die Sonne stand hoch. Rasch erwärmte sich die Luft, und das Land begann wieder zu atmen. Das Unwetter war vorbei. Sonnenstrahlen spiegelten sich in den Regentropfen, die dick und schwer an Zweigen, Gräsern und Blättern hingen. Wir blinzelten nach der langen Dunkelheit in das Licht, ungläubig und erleichtert. Ich richtete mich schwerfällig auf und streckte mich gähnend. »Wir müssen nach den Soldaten sehen«, sagte ich. Dann ging ich. Ich bestieg Shita und ritt zum Waldrand. Während des Reitens zog ich mein Hemd aus, um die Sonne und den milden Wind an meinen durchfrorenen Oberkörper zu lassen. Vom Waldrand aus wandte ich mich westwärts. Ich ritt auf das Hügelland zu. Überall standen große Pfützen, in denen sich jetzt der blaue Himmel spiegelte. Aber die Sonne gewann rasch an Kraft. Sie trocknete den Boden aus. Hier und da platzten bereits kleine Krater in der Schlammkruste auf. Regenwürmer wanden sich im Staub. Ich erreichte die Hügelkette und folgte ihr nach Osten. Schließlich lenkte ich Shita auf einen der hohen Grasbuckel und richtete mich steil im Sattel auf. Von hier aus konnte ich einen Großteil des Landes überblicken. Die Soldaten waren nirgends zu sehen. Ich ritt weiter. In den Bodensenken stand noch das Wasser. Ich wich den lehmigen Tümpeln aus und versuchte, die Leiche von Laufender Bär wiederzufinden. Es gelang mir nicht. Das Land wirkte nach dem großen Regen völlig verändert. Es schien fast so, als seien die Erlebnisse vom Vortage während des Unwetters nur ein böser Traum gewesen. Dann jedoch entdeckte ich die Soldaten. Sie zogen in etwa dreihundert Yards Entfernung nordwärts. Ich zählte dreißig Mann. Zehn von ihnen hatten Pferde. Die anderen marschierten hinterher. Ich tauchte mit Shita rasch zwischen den Hügeln unter. Die Soldaten hatten ihre Pferde also nicht wiedergefunden. Obwohl das für uns eine Menge Vorteile hatte und wir nun nicht
befürchten mußten, von der Patrouille entdeckt zu werden, stellte sich auch heute noch keine Schadenfreude bei mir ein. Ich mußte an Laufender Bär denken. So gesehen waren seine Mörder mit dem Verlust ihrer Pferde noch verdammt billig weggekommen. Ich empfand Haß auf die Soldaten. Gleichzeitig wunderte ich mich selbst, wie sehr und wie schnell ich mich verändert hatte. Vor einem Dreivierteljahr hatte ich bei Indianerangriffen auf die Mission, in der ich aufgewachsen war, und auf eine Poststation, zwei Krieger getötet. Heute war ich selbst ein Apache und dachte wie ein Apache. Laufender Bär war ein Apache gewesen. Die Soldaten hatten ihn erschlagen. Ich war auch ein Apache. Daher mußte ich sie hassen. Ich zog Shita herum und ritt zurück. Als ich den Wald erreichte, rann Schweiß über mein Gesicht und meinen Oberkörper. Die Sonne stieg immer höher. Es war unerträglich heiß. Wären da nicht die vielen Pfützen gewesen, hätte nichts mehr an das tagelange Unwetter erinnert. Im Wald hielt sich die Feuchtigkeit länger. Hier war es auch kühler. Der moosige, weiche Boden hatte sich mit Regenwasser vollgesogen, die Rinde der Bäume glänzte vor Nässe. Ich erreichte unser Versteck. Hier hatte Susqueya dafür gesorgt, daß unsere wenige Habe zusammengepackt wurde. »Wir können weiterziehen«, sagte ich. »Die Soldaten lassen uns in Ruhe. Aber vielleicht kehren sie noch einmal zurück. Vielleicht liegen in der Nähe noch mehr Truppen. Wir dürfen uns nicht aufhalten.« Zehn Minuten später brachen wir auf. Die Squaws gingen zu Fuß. Die drei Kinder – Jungen, die drei oder vier Jahre jünger waren als ich – saßen auf dem Armeepferd. Wir verließen den Wald und zogen südwärts. Wir hielten uns im Schatten des Waldrands, um jederzeit Deckung nehmen zu können. Aber wir kamen gut voran. Wir zogen Stunde um Stunde, ohne zu rasten. Während der ganzen Zeit sahen wir keinen Menschen. Die Squaws wechselten sich dabei ab, unsere Spur zu verwischen. Sie richteten mit großen Zweigen von Creosot-Büschen das Gras
wieder auf, das die Pferdehufe niederdrückten. Trotzdem schafften wir ein gutes Stück bis zum späten Nachmittag. Dann hörten wir plötzlich Schüsse vor uns. Wir hielten sofort an. Der Wald lag bereits weit hinter uns, und es gab nur wenige Deckungsmöglichkeiten in der Ebene, in der wir uns im Moment befanden. Ich ritt an der Spitze und drehte mich jetzt im Sattel um. »Bleib hier!« rief Susqueya. »Wir müssen uns verstecken.« »Wir müssen wissen, was los ist«, sagte ich. »Sonst können wir nicht weiter.« »Wenn dir etwas passiert, sind wir auch dich mitsamt dem Pferd und den Waffen los«, sagte Isheeki, eine Squaw, die fast zehn Jahre jünger als Susqueya war und bei dem Massaker ihren Mann und zwei Söhne verloren hatte. »Solange wir nicht wissen, was da vorn los ist, sind wir viel schlimmer dran«, widersprach ich. Dann ritt ich davon, ohne auf eine Erwiderung zu warten. Ich schaute nicht zurück, sondern ritt in gerader Linie auf eine Anhöhe zu, die sich in fast einer Meile Entfernung befand. Die Schüsse waren längst verhallt. Es war still im Land. Nur der Wind sang leise. Er strich von Süden heran und trug Staub mit sich. Ich hatte zum Schutz gegen die stechenden Sonnenstrahlen mein Kalikohemd wieder übergezogen. Das Hemd war bereits wieder trocken, genauso wie meine andere Kleidung. Die letzten Spuren des Unwetters waren in den vergangenen Stunden fast alle verschwunden. Die Pfützen und flachen Tümpel, die sich in Bodenfalten gebildet hatten, verdunsteten. Der Boden trocknete aus, das feuchte Gras nahm einen bräunlichen Farbton an und wurde hart. Auf den Wegen und Overlandstraßen verwandelte sich der Schlamm in knochentrockenen Staub, den der Wind aufhob und forttrug. Ich erreichte die Anhöhe, ritt hinauf und zügelte Shita am höchsten Punkt. Von hier aus konnte ich das Land bis zu den Bergen im Süden überblicken. Weit vorn in einem langgestreckten Tal, das die Form eines Fußes hatte und sich wie der Stiefelabdruck eines Riesen in die Landschaft kerbte, entdeckte ich eine kleine Farm. Ein Korral neben dem
Wohnhaus war leer. Am Haus selbst rührte sich nichts, auch an der Scheune nicht, die daneben gebaut worden war. Das Anwesen lag wie ausgestorben da. Es war keine Menschenseele zu entdecken. Ich beobachtete alles eine Weile. Schließlich zog ich Shita herum und trieb sie an. Ich sprengte über die Ebene zurück zu den Squaws und den Kindern. Sie hatten sich hinter einigen Bäumen versteckt, die jedoch nur ungenügend Schutz boten, und warteten auf mich. »Vorn ist eine Farm«, sagte ich. »Dort ist kein Mensch zu sehen.« »Gehen wir hin?« fragte Isheeki. »Vielleicht ist ein anderer Stamm in der Nähe«, sagte ich. »Vielleicht ist die Farm auch überfallen worden.« »Vielleicht warten aber auch Soldaten dort unten«, sagte Susqueya. »Dann wäre es nicht so still«, sagte ich. »Soldaten sind keine Apachen.« Ich zog Shita herum. »Wir sollten hinreiten. Es wird Abend. Irgendwo müssen wir schlafen. Wenn die Farm leer ist, ist das ein guter Platz.« Sie folgten mir. Da die Squaws zu Fuß gingen, dauerte es lange, bis wir das Tal erreichten. Im Westen färbte sich der Himmel bereits rot, als wir auf die Farm zuzogen. Hier war noch immer alles ruhig. Keine Menschenseele war zu sehen. Als wir uns dem Anwesen bis auf hundert Yards genähert hatten, entdeckte ich zerbrochene Fensterscheiben an der Frontseite des Wohnhauses. Im Türrahmen steckten ein paar buntgefiederte Pfeile. Brandpfeile. Dort, wo sie eingeschlagen waren, war das Holz verkohlt. Das Haus war jedoch nicht in Brand geraten. Auf der Südseite des Hofes war der Boden von Pferdehufen aufgewühlt und zertrampelt. Ich ritt als erster auf den Hof, den Bogen in den Fäusten, einen Pfeil schußbereit auf der Sehne. Hier glitt ich aus dem Sattel, hielt mich hinter Shita, um von dem Pferdeleib gedeckt zu sein, und schaute mich auf dem Hof um. Es war still wie auf einem Friedhof. Die rote Abendsonne spiegelte sich in den Glasscherben, die in den Fensterrahmen steckten. Der hohe, aus Natursteinen gebaute Kamin warf einen
langen Schatten. Ich ließ Shita stehen und ging auf das Haus zu. Hinter mir ritten die Apachenjungen auf den Hof. Die Squaws blieben am Brunnen stehen. Ich zögerte kurz, als ich die Türschwelle erreichte. Die Tür war nur angelehnt. Ich stieß sie mit einem Fußtritt auf. Sie schwang nach innen und knallte gegen die Wand des Ganges. Ein großer Blutfleck war das erste, was mir auf den ausgetretenen Dielen auffiel. Er war schon fast eingetrocknet. Ich ging ein paar Schritte in den dunklen Gang und sah auch schon den ersten Toten. Er lag auf der Schwelle eines geräumigen Wohnraumes. In seinem Hals steckte ein Pfeil. Seine rechte Hand umklammerte noch im Tode einen rußigen Schürhaken. Seine glasig schimmernden Augen standen weit offen, ebenso sein Mund. Er hatte weißes Haar, und ich vermutete, daß er der Besitzer der Farm war. Ich war jetzt sicher, daß es keinen lebenden Menschen auf dem Anwesen gab. Trotzdem suchte ich weiter. In einem Schlafzimmer lag ein junger Mann auf dem Bett. Er hatte kein Gesicht mehr. Ein Tomahawk hatte ihm von vorn den Schädel gespaltet. Neben der aufgeklappten Kellerluke in der Küche fand ich eine vielleicht vierzigjährige Frau. Sie hatte sich anscheinend im Keller verstecken wollen. Es war ihr nicht gelungen. Ihr Kopf hing in den düsteren Kellerschacht hinunter, aus dem es modrig aufstieg. Unweit von ihr lag ein weiterer Mann von höchstens achtzehn Jahren. Ich faßte die rechte Hand des jungen Burschen an. Sie war noch ein wenig warm. Bei den Schüssen, die wir am Nachmittag gehört hatten, hatte es sich also mit Sicherheit um den Überfall auf die Farm gehandelt. Es waren demnach weitere Apachengruppen in der Gegend. Das gab mir Hoffnung. Wenn wir von der Farm aus die Spuren der Krieger folgten, fanden wir vielleicht bald wieder Anschluß an einen Stamm. Ich verließ das Haus. Draußen schien der Himmel in Flammen zu stehen. Der Horizont glühte in blutigem Rot. Im Westen versank die Sonne hinter den Bergen. Der Südwind hatte sich abgekühlt. Die
Konturen der Schatten verschwammen und wurden nach und nach eins mit der Dämmerung, die sich mehr und mehr verdichtete. Die Squaws und die Kinder befanden sich noch immer auf dem Hof. Das Armeepferd stand neben der Tränke und soff. »Wir sind allein«, sagte ich. »Die Leute hier sind tot.« Isheeki stand neben einem der zerbrochenen Fenster des Hauses und hatte einen Pfeil aus der Wand gebrochen. Sie musterte im letzten Licht des Tages die Färbung der Federn und die Symbole auf dem Schaft. »Es waren Mescaleros«, sagte sie. »Die Toten sind noch warm«, sagte ich. »Sie können noch nicht weit sein.« »Vielleicht, wenn wir weiterziehen …« Susqueya warf einen Blick auf die drei Jungen, denen vor Müdigkeit und Erschöpfung fast die Augen zufielen. Sie schwankten vor Schwäche, gaben jedoch kein Wort der Klage von sich. Apachen hatten nicht zu jammern und zu klagen. Das lernten sie von dem Moment an, da sie das Licht der Welt erblickten. »Wir holen die Krieger in der Nacht nicht mehr ein«, sagte ich. »Es sind bestimmt noch mehr Banden im Land als nur die eine«, sagte Isheeki. »Wir haben bessere Chancen, wenn wir ausgeruht sind.« Ich nickte. »Wir können im Stall übernachten. Es gibt keinen Menschen hier, der uns das verbieten könnte. Es gibt auch niemanden, der uns gefährlich werden könnte.« Susqueya schaute wieder die Jungen an und dann auch die dritte Squaw, die während des ganzen Weges und auch vorher stets geschwiegen hatte. Sie hieß Nytaka. Ihr schien alles gleichgültig zu sein. Sie hatte bei dem Massaker ihre ganze Familie verloren. Manchmal schien es, als wolle sie nicht mehr leben. Aber sie klagte nicht, sondern marschierte stetig mit und war darum bemüht, uns nicht aufzuhalten und uns nicht zur Last zu fallen. Auch diesmal sagte sie nichts und gab durch nichts zu erkennen, ob die Entscheidung, die Nacht hier auf der Farm zu verbringen, ihre Zustimmung fand oder nicht. Wir gingen zum Stall. Es roch nach Stroh hier und intensiv nach
Pferdeschweiß. Aber der Stall war leer. Die Apachen hatten offenbar alle Tiere mitgenommen. Trotzdem durchsuchten wir die Boxen und stiegen dann auf den Heuboden. Die Leiter war etwas morsch, knackte aber nur ein wenig. Auf dem Boden stapelte sich das Heu bis fast zum Dach. Das war ein guter Platz. Wir beschlossen, hier zu übernachten. Die Squaws krochen mit den Jungen in den hintersten Winkel des Heubodens und richteten uns direkt neben einer Dachluke ein regelrechtes Nest her. Ich kletterte wieder hinunter und verließ den Stall. Die Sonne war inzwischen untergegangen. Es war kühl geworden. Shita und das Armeepferd standen nebeneinander an der Tränke. Ich überlegte kurz, dann führte ich beide Tiere vom Hof der Farm zu einer knapp fünfzig Yards entfernten Buschinsel. Es erschien mir sicherer, die Tiere nicht auf der Farm und im Stall unterzubringen. Ich wußte selbst nicht genau, warum. Es war lediglich ein Instinkt, der mich dazu bewog, die Tiere außerhalb der Farm zu verstecken. Sollte der Zufall Menschen hier vorbeiführen, sollte es keine Spuren dafür geben, daß wir uns in der Farm aufhielten. Ich versteckte die Pferde inmitten hoher Pecan- und Cottenwoodstauden und hobbelte sie leicht an. Dann kehrte ich zur Farm zurück. Über die Hügel sang leise der Wind. Der Himmel war wolkenlos und klar. Der Mond stand wie eine runde Scheibe im dunklen Universum und schimmerte silbern. Ich betrat den Stall. Hier war es stockfinster. Ich tastete mich bis zur Leiter und stieg auf den Heuboden hinauf. Die anderen warteten schon auf mich. Sie aßen. Susqueya hatte Fleisch und Brot für mich aufgehoben. Nytaka hatte die leere Feldflasche, die am Sattel des Armeepferdes gehangen hatte, mit Wasser aus dem Brunnen gefüllt. So hatten wir auch etwas trinkbares. Wir hatten es eigentlich nicht schlecht getroffen. Wir hatten in dieser Nacht ein Dach über dem Kopf und würden warm und weich im duftenden Heu schlafen. Sollte jemand auf die Farm kommen, würde er uns nur entdecken, wenn er im Heu herumkroch, und das war nicht zu erwarten.
Wir aßen schweigend. Durch die Dachluke fiel das silberne Mondlicht. Es traf Susqueya ins Gesicht. Ich betrachtete sie, während ich an dem zähen Fleisch kaute. Sie hatte abgenommen. Das hatten wir alle. Aber sie sah krank aus. Sie war die älteste von uns. Die Strapazen der letzten Tage setzten ihr stärker zu als uns anderen. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Ihre Wangen waren eingefallen. Auch sie litt unter dem Verlust all derer, die sie liebgehabt hatte. Mir ging es ja nicht anders, obwohl ich mit keinem der niedergemetzelten Apachen blutsverwandt gewesen war. Aber das allein war es nicht, was mich an Susqueya beunruhigte. In ihren Augen lag ein eigenartiger Glanz, und ihre Hände zitterten, wenn sie sich unbeobachtet fühlte. Sie gab sich mächtig Mühe, ihre Schwäche zu verbergen. Ganz gelang es ihr nicht. Sie war krank. Ganz bestimmt. Je länger ich sie musterte, um so überzeugter war ich davon. Aber was es war, wußte ich nicht. Ich war einfach zu jung, zu unerfahren, um wirklich erkennen zu können, was mit ihr los war. Als wir gegessen und die Reste des Proviants wieder verstaut hatten, legten wir uns, in unsere Decken gerollt, ins Heu. Ich sah noch, daß auf Susqueyas Stirn Schweiß perlte. Dann schlief ich ein. * Es war stockfinster, als ich erwachte. Der Mond stand nicht mehr über der Dachluke, und so fiel sein Licht nicht mehr in den Stall. Meine Glieder waren schwer. Bleierne Müdigkeit erfüllte meinen Körper. Als ich mich bewegte und im Heu herumwälzte, fühlte ich ein leichtes Ziehen in meinen Gelenken. Susqueya war bereits wach. Isheeki auch. Nur Nytaka und die drei Jungen schliefen tief und fest. Susqueya hatte sich ihre Decke fest um die Schultern gezogen. In der Dunkelheit wirkte sie unnatürlich hager und ausgemergelt. Ihr Gesicht war nur noch eine Maske. Ich sah Fieber in ihren Augen, und ihre Lippen zitterten leicht. Sie schien Schüttelfrost zu haben. Das hatte uns noch gefehlt. Ich hob den Kopf. Die Müdigkeit in
mir wich nach und nach. Susqueya schaute mich an, als ich den Oberkörper ein wenig aufrichtete. Ich hatte etwas sagen wollen, schwieg jedoch unwillkürlich, als ihr Blick mich traf. Irgend etwas war nicht in Ordnung. Das spürte ich jetzt sofort und war mit einem Schlag hellwach. In Isheekis Zügen entdeckte ich Angst. Ich streifte die Decke ab. Susqueya gab mir Zeichen. Ich lauschte. Da hörte ich ein Pferd schnauben. Das Geräusch ertönte vom Hof. Männerstimmen hallten zu uns herauf. Ich kroch bis zur Dachluke und schaute hinaus. Das Dach war sehr steil, so konnte ich bis auf den Hof blicken. Sieben oder acht Pferde standen an der Tränke. Unweit von den Tieren stand ein Mann am Gatter des leeren Korrals. Er hielt ein langläufiges Gewehr locker in der Armbeuge und sog an einer Zigarette, deren Ende ab und zu aufglühte. Kaltes Mondlicht fiel auf den Hof, der Himmel war von Myriaden von Sternen übersät. Es mußte Mitternacht sein. Weitere Männer tauchten auf. Sie schienen vom Haus zu kommen. Ich konnte die Tür von der Dachluke aus nicht sehen. Die Männer hielten Karabiner in den Fäusten und gingen über den Hof. Sie sprachen miteinander. Ihre Gesichter konnte ich nicht erkennen. An ihren Hüften baumelten schwere Revolver. Sie schwärmten auf dem Hof aus und durchsuchten alles. Ich wandte mich von der Luke ab. Nervosität und Unruhe erfüllten jetzt auch mich. »Die weißen Männer werden uns töten«, flüsterte Isheeki. »Es sind Skalpjäger. Ich habe sie kommen sehen. Einige von ihnen tragen Skalpzöpfe an den Gürteln. Sie werden uns finden und töten.« »Hör auf«, sagte ich. »Wer sagt, daß sie uns finden.« »Sie werden uns finden«, sagte Susqueya. »Sie suchen überall herum. Sie finden uns bestimmt.« »Nein«, sagte ich. Aber es klang nicht sehr überzeugt. Susqueya schaute mich traurig an. »Du bist noch sehr jung«, sagte sie. »Aber du hast ein starkes Herz. Einmal wirst du ein großer Krieger sein, und man wird deinen Namen fürchten. Jetzt aber fehlt
dir noch die Erfahrung. Du kannst die Größe einer Gefahr nicht ermessen. Wir wollen nicht, daß du stirbst. Versteck dich im Heu. Wir werden dich mit Heu zudecken und niemand wird dich finden. Wir anderen werden warten, bis die weißen Männer uns gefunden haben. Wir werden ertragen, was sie mit uns tun.« »Du bist krank«, sagte ich. »Versteck du dich im Heu. Ich werde es jedenfalls nicht tun.« Ich sprach leise, doch meine Stimme klang heftig. »Niemand wird uns finden, und niemand wird uns töten.« Ich wandte mich abrupt ab und kroch aus unserem Versteck im Heu. Auch Nytaka und die drei Jungen waren erwacht und starrten angstvoll hinter mir her. »Wo willst du hin?« flüsterte Isheeki. Aber ich drehte mich nicht um und antwortete auch nicht. Ich richtete mich auf und kletterte bis zum Rand des Heubodens. Hier ließ ich mich nahe der alten Leiter flach ins Heu gleiten. Ich konnte jetzt einen großen Teil des Stalles bis zum Tor überblicken, ohne selbst gesehen zu werden. Es blieb lange Zeit still. Gedämpft hallten von draußen die Stimmen der Männer herein. Ab und zu schnaufte ein Pferd. Ich dachte darüber nach, was Susqueya gesagt hatte. Natürlich hatte sie recht. Die Männer schienen wirklich die ganze Farm zu durchsuchen. Vielleicht hofften sie, noch etwas zu finden, das sie verwenden konnten. Es konnte keinen Zweifel darüber geben, was sie mit uns tun würden, wenn sie uns fanden. Aber soweit war es noch nicht, und soweit durfte es auch nicht kommen. Und wenn doch, so dachte ich nicht eine Sekunde daran, mich allein zu verstecken und die anderen ihrem Schicksal zu überlassen. Wir gehörten zusammen, jetzt mehr denn je. Wenn wir nicht zusammenhielten, waren wir alle zum Untergang verurteilt. Es wäre gelogen, würde ich behaupten, daß ich keine Angst hatte. Ich hatte Angst, und ich schäme mich nicht deswegen. Aber ich verlor deshalb nicht die Nerven. Ich zermarterte mir den Kopf, was wir tun konnten, um zu verhindern, daß wir gefunden wurden. Doch es gab keine Lösung. Wenn das Schicksal es so wollte, waren wir verloren. Verloren …
* Die Stalltür schwang auf. Ich zuckte zusammen und preßte mich noch tiefer ins Heu. Um meine Brust schien auf einmal ein enger Ring aus Eisen zu liegen. Ich konnte kaum noch atmen. Meine Glieder waren wie gelähmt. In meinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Ein Mann betrat den Stall. Er hielt eine Petroleumlaterne in der Linken. Unter seinen Stiefelabsätzen raschelten bei jedem Schritt Strohhalme. Der Mann war mittelgroß und stämmig. Er trug ein rotkariertes Baumwollhemd und darüber eine ärmellose Weste aus Büffelleder mit silbernen Conchos. Den breitrandigen Hut hatte er an der Fangschnur im Nacken hängen. In einem Gürtelholster steckte an seiner linken Hüfte mit nach vorn gedrehtem Griff ein schwerer Dragoon-Colt. Der Mann summte leise vor sich hin. Ich beobachtete jede seiner Bewegungen. Er ging in die leeren Boxen und leuchtete sie mit der Laterne gründlich aus. Er öffnete auch die großen Futterkisten und die Schränke mit dem Lederzeug und anderen kleineren Geräten. Als er an einem Stützbalken vorbeistreifte, stieß er einen hölzernen Rechen um. Das langstielige Gerät fiel gegenüber der Leiter, die auf den Heuboden führte, zu Boden. Seine sechs Zoll langen, mehr als fingerdicken, spitzen Haken standen nach oben. Der Mann kümmerte sich nicht darum. Er durchsuchte weiter den Stall. Als er unter dem Heuboden verschwand, verlor ich ihn aus den Augen. Ich hörte nur sein schweres Atmen. Ab und zu summte er vor sich hin. Er schien sich sehr sicher zu fühlen. Je länger der Mann sich im Stall befand, um so ruhiger wurde ich. Das Gefühl der Lähmung wich aus meinen Gliedern. Nur eine gewisse Nervosität blieb. Ich bemühte mich, geräuschlos und gleichmäßig zu atmen. Ich sog den würzigen Duft des Heus in meine Lungen. Es gab nur ein Problem. Ein steifer Halm stach mich ständig in den Hals. Wie ich den Kopf auch wandte. Es war zum Verzweifeln. Schweiß rann mir über das Gesicht. Ich war sicher, diese Qual nicht lange ertragen zu können.
Unter mir tappte und summte der Mann herum, und der kleinste Laut konnte ihn auf mich aufmerksam machen. Darum wagte ich es nicht, mich zu bewegen, um das Heu um meinen Hals herum glatt zu drücken. Von Minute zu Minute aber wurde meine Lage unerträglicher. In diesem Moment tauchte der Fremde wieder in meinem Blickfeld auf. Zur selben Zeit ertönten draußen Schritte, und ein zweiter Mann erschien im Rahmen des Stalltores. Er war groß und hager, an seinem Revolverhalfter hing ein langer Skalpzopf.
3. »Wie weit bist du?« fragte er den Mann an der Tür. »Bin gleich soweit«, sagte der Mann mit der Laterne. »Hier ist nichts zu holen. Die Rothäute haben alles mitgehen lassen. Ich schau nur noch mal auf den Heuboden nach.« »Da findest du erst recht nichts«, sagte der andere und verschwand wieder auf den Hof. Der Mann unter mir sang leise »Home on the range«. Er trat auf die Leiter zu. Für Sekundenbruchteile schien mein Herz stillzustehen. Ich hatte nicht mehr damit gerechnet, daß er auf den Heuboden steigen würde. Jetzt war die Situation da, von der Susqueya gesprochen, und vor der ich mich gefürchtet hatte. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. In spätestens einer halben Minute würde der Skalpjäger mich entdecken, und dann … Ich sah das Gesicht des Mannes unter mir durch das Heu. Schnaufend kletterte er die ächzende Leiter hoch, Sprosse für Sprosse. Sein Gesicht war etwas feist. Die dicken Wangenwülste gaben ihm das Aussehen eines Hamsters. Seine Lippen waren dünn wie ein Strich. Er war nicht rasiert. Seine Nase war einmal gebrochen und stand etwas schief. Unter hellblonden Augenbrauen blickten kalte Fischaugen. Er trug die Laterne vor sich her. Mit der Rechten hielt er sich an der Leiter fest. Das diffuse Licht ließ sein Gesicht härter wirken, als er war. Gleich würde er mich sehen. Gleich mußte er mich sehen. Nur noch wenige Sprossen, dann lag ich vor seinen Blicken wie ein
hilfloser Käfer vor dem Stiefel eines Riesen. Vielleicht noch fünf Sekunden, vielleicht weniger. Noch drei Sprossen, noch zwei. Ich richtete mich in wilder Verzweiflung im Heu auf und warf mich nach vorn. Der Mann auf der Leiter blieb erschrocken auf der Sprosse stehen, die er gerade erreicht hatte. Ich sah den ungläubigen, ratlosen Ausdruck in seinen Augen. Sein Mund öffnete sich. Er schien einen Schrei ausstoßen zu wollen. Er rührte sich nicht und schien unfähig zu sein, sich zu wehren. Ich packte die beiden Holme der Leiter und stieß sie mit aller Kraft vom Heuboden weg. Es war schwerer, als ich es mir vorgestellt hatte. Das Gewicht des Mannes lastete auf der Leiter, und einen Moment lang glaubte ich, ich würde es nicht schaffen. Aber die Verzweiflung gab mir Kraft. Ich drückte die Leiter weit von der Heubodenkante weg. Da schrie der Mann. Aber jetzt konnte er nichts mehr tun. Er klammerte sich krampfhaft an den Holmen der Leiter fest, während sie umkippte. Die Petroleumlaterne flog im hohen Bogen durch die Luft und zerplatzte an einem Deckenstützbalken. Einen Moment stockte mir fast der Herzschlag. Ich dachte daran, was passierte, wenn das Petroleum in Brand geriet. Aber die Lampe erlosch sofort. Dann stürzte die Leiter zu Boden und begrub den Skalpjäger unter sich. Auf einmal war es still. Der Schrei des Mannes verstummte abrupt. Ich glaubte, daß er das Bewußtsein verloren hatte und zog den Tomahawk von Laufender Bär aus dem Gürtel. In diesem Moment hätte ich mich ohrfeigen können. Was hatte ich getan? Jetzt würden die anderen Kerle erst recht kommen. Jetzt würden sie alle wissen, daß sich auf dem Heuboden Menschen versteckt hielten. Ich hatte die Nerven verloren. Aber was hätte ich sonst tun sollen? Hätte ich mich und die Squaws wehrlos den Skalpjägern ausliefern sollen? Sekundenlang starrte ich in die rabenschwarze Dunkelheit, die nach dem Verlöschen der Lampe herrschte, und fragte mich, was mit dem Skalpjäger passiert war. Dann hörte ich draußen hastige
Schritte. Da warf ich mich wieder ins Heu und hielt den Atem an. Ich preßte mich fest an die Bohlen des Heubodens. In diesem Moment hatte ich seltsamerweise überhaupt keine Angst mehr. Ich war innerlich völlig ruhig. Ich hatte gehandelt, und nun war es nicht mehr zu ändern. Egal, was auch passierte. Man konnte uns nur einmal totschlagen. Jedenfalls hatten wir jetzt noch eine Galgenfrist. Ich fragte mich, was die drei Squaws und die Apachenjungen jetzt wohl in ihrem Versteck dachten. Aber ich schob diesen Gedanken rasch wieder beiseite. Das Stalltor schwang noch weiter auf. Mehrere Männer stürmten herein. Vier oder fünf. Sie stolperten in der Dunkelheit und fluchten. Einer schrie: »Ed! Ed, was ist los? Warum hast du gerufen?« Sie erhielten keine Antwort. Sie tasteten in der Dunkelheit herum, und dann flammte plötzlich eine Petroleumlaterne auf. »Ed …« Ich schob den Kopf vor, neugieriger geworden. Ich wollte wenigstens wissen, wann es uns endgültig an den Kragen ging. Der Mann mit dem feisten Gesicht lag auf dem Rücken, die Leiter lag auf ihm. Sein Gesicht war seltsam starr, die Augen standen weit offen, genauso der Mund. Um ihn herum hatte sich auf dem staubigen Stallboden eine dunkle Pfütze ausgebreitet. * Der Skalpjäger war tot. Es gab nichts, was mich in diesem Moment mehr hätte überraschen können, als diese Tatsache. Ich starrte fassungslos in den Stall hinunter, während die Kumpane des Mannes die Leiter wegräumten und ihn hochhoben. Da sah ich, was geschehen war. Der Mann war mit dem Rücken in die Haken des Rechens gestürzt, den er selbst kurz vorher umgestoßen hatte. Die langen Haken hatten seinen Rücken durchbohrt und ihn von hinten ins Herz getroffen. »Zum Teufel, wie hat das passieren können?« sagte einer der Männer schließlich. Er durchbrach das Schweigen, das nach der Entdeckung der Leiche geherrscht hatte.
»Die Leiter ist umgekippt«, sagte ein anderer. »Natürlich ist die Leiter umgekippt. Glaubst du, ich bin blind?« Die Stimme des ersten klang hecktisch und erregt. »Aber warum ist die Leiter umgekippt. Eine Leiter kippt doch nicht einfach so um. Ed war kein Blödmann. Er konnte doch eine Leiter 'raufklettern.« »Die Leiter ist alt«, sagte ein dritter. »Vielleicht hat sie nicht richtig gestanden.« »Dann hätte Ed sie richtig hingestellt«, sagte der erste wieder. »Das sieht so aus, als hätte jemand die Leiter umgestoßen.« »Wer soll sie umgestoßen haben?« Ich zog den Kopf ein und preßte mich wieder tief ins Heu. »Glaubst du etwa, da oben sitzt jemand?« hörte ich eine weitere Stimme fragen. »Die Farm ist leer. Hier ist niemand mehr. Glaubst du, da oben hätten sie ein paar Rothäute verkrochen?« Jemand lachte. Ich hätte auch gern gelacht. »Jedenfalls können wir nachschauen«, sagte der erste Mann wieder. Ich hörte, wie die Leiter aufgerichtet wurde. Wenig später schlugen die oberen Holme an die Kante des Heubodens. Nun war doch alles aus. Ich hatte mich zu früh gefreut. Für einen Moment überlegte ich, ob ich auch diesen Killer mitsamt der Leiter umstürzen sollte. Dann blieb ich liegen. Es war sinnlos, völlig sinnlos. In diesem Moment hörte ich ein scharfes Knacken. Dann ein Schrei. Schließlich ein dumpfer Fall und ein hämisches Lachen. »Glaubst du immer noch, daß da oben jemand sitzt?« fragte einer der Männer. Der erste fluchte. Ich hob den Kopf wieder etwas an und sah, daß die Leiter seitlich umkippte. »Verdammtes Ding«, sagte der Mann. »Verflucht noch mal, ich hätte mir die Knochen brechen können.« Die anderen lachten wieder. Kurz darauf hörte ich Schritte. Jemand sagte: »Wir sollten den ganzen Kram anzünden.« »Das wird das Beste sein.« Die Stimmen entfernten sich. Ich richtete den Oberkörper auf. Die Leiter lag am Boden. Zwei Sprossen waren gebrochen. Das Schicksal
meinte es wirklich gut mit uns. Den toten Kumpan hatten die Männer liegenlassen. Er was ausgeblutet, und das Blut versickerte nach und nach zwischen den Dielenritzen. Dann dachte ich an das, was ich zuletzt gehört hatte. Die Killer wollten die Farm niederbrennen. Da hätten sie uns eigentlich besser entdecken und totschlagen können. Das war besser, als zu verbrennen. Ich erhob mich und kroch ins Versteck zu den anderen zurück, die mir furchterfüllt entgegenschauten. Susqueya sah noch kränker aus. Sie zitterte am ganzen Körper. Ihre Zähne schlugen immer wieder geräuschvoll aufeinander. Sie hatte Fieber. Jetzt war es ganz offensichtlich, und es gelang ihr nicht mehr, es zu verheimlichen. »Einer ist tot«, sagte ich. »Die anderen wollen die Farm anzünden.« Ich sagte es ganz ruhig. Es berührte mich seltsamerweise gar nicht. In der letzten Viertelstunde hatte ich zu viele Ängste ausgestanden und war beinahe abgestumpft. Zweimal hatten wir sehr viel Glück gehabt. Diesmal hatten wir keine Chance mehr. Wir würden mit den Farmgebäuden verbrennen. Die Killer würden uns umbringen, ohne es selbst zu wissen. Isheeki wandte sich den drei Jungen zu. »Wenn es soweit ist, habt keine Angst«, sagte sie. Ihre Stimme klang unerwartet fest. »Der Rauch wird uns sofort betäuben. Wir merken nichts, wenn der Tod kommt.« Nytaka sagte wie immer gar nichts. Auch Susqueya schwieg. Ihr Kopf war nach vorn gesunken, und sie atmete geräuschvoll. Ich kroch bis zur Dachluke und schaute hinaus. Unten sah ich einen Mann mit einer großen Fackel stehen. Er ging nun zu den Gebäuden, um sie in Brand zu stecken. Ich wandte mich rasch ab, um nicht dabei zusehen zu müssen. Es war finster im Stall. Wir hörten lange Zeit nur unsere Atemzüge, Zäh verstrichen die Sekunden, die Minuten. Auf dem Hof klang Hufschlag auf, der sich rasch entfernte. Die Sklapjäger ritten davon. Trotzdem lauschte ich weiter. Ich wartete auf das Knistern der
Flammen. Ich wartete auf den Feuerschein, den wir bald sehen mußten, und auf das Krachen und Knacken der Balken, die das Feuer zerfraß. Nichts von alledem geschah. Wir hörten nichts, wir sahen nichts. Es blieb dunkel und still, bedrückend still. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und kroch noch einmal nach vorn zur Kante des Heubodens. Von hier aus versuchte ich, durch das offene Stalltor auf den Hof zu blicken. Bald war ich sicher – es gab kein Feuer auf der Farm. Ich verstand das zwar nicht, wußte aber eines genau: Die Gefahr war vorbei. * »Wir können schlafen«, sagte ich, nachdem ich in unser Versteck zurückgekehrt war. »Es gibt kein Feuer auf der Farm. Ich habe keine Ahnung warum, aber hier brennt nichts.« Ich achtete nicht lange auf die erstaunten, ungläubigen Blicke. Statt dessen rollte ich mich wieder in meine Decke und schloß die Augen, während ich mich selbst über meine Ruhe wunderte. Dabei waren wir vom Tode nur noch wenige Millimeter entfernt gewesen, und seitdem war noch keine Viertelstunde vergangen. Man gewöhnt sich anscheinend an alles, auch an die ständige Nähe des Todes. Ich fiel sofort in einen tiefen traumlosen Schlaf. Schon damals gab es einen Instinkt in mir, der mir Gefahr signalisierte, und der mir auch sagte, wann eine Gefahr endgültig gebannt war. Für den Rest der Nacht waren wir auf der Farm sicher. Niemand würde uns mehr stören. Ich schlief, bis Isheeki mich weckte. Da war es heller Tag, die Strahlen der Frühsonne fielen durch die Dachluke zu uns herein. Das Glas der Luke verstärkte die Kraft der Strahlen. Es war heiß in unserem Versteck auf dem Heuboden. Susqueya hockte, immer noch ihre Decke um die Schultern, an einen Dachbalken gelehnt in unserem Nest im Heu. Sie sah nicht gut aus, schien sich jedoch in der Nacht etwas erholt zu haben. Ich richtete mich auf.
»Die Sonne steht schon hoch«, sagte Isheeki. »Wir müßten längst unterwegs sein«, sagte ich. »Die Leiter ist nicht mehr da«, sagte Isheeki. Ich dachte an die Ereignisse der Nacht. Was wirklich geschehen war, hatte ich den Squaws nicht erzählt. Inzwischen jedoch hatten sie sicher den Toten gesehen, den blutigen Rechen, und sich den Rest zusammengereimt. »Irgendwie kommen wir schon hier runter.« Ich schaute die drei Jungen an. Sie hockten neben Nytaka und aßen ihre Fleischrationen. »Ihr müßt mir helfen«, sagte ich. Ich schlang selbst hastig ein paar Bissen Fleisch hinunter und begab mich dann zum Rand des Heubodens. Die drei Jungen folgten mir. Es hatte sich seit der Nacht nichts verändert. Der Tote lag noch immer mit ausgebreiteten Armen auf dem Stallboden. Das Blut war im Boden versickert und eingetrocknet. Es bildete nur noch einen dunklen Fleck auf den ausgetretenen Dielen. Das Gesicht des Skalpjägers war von kleinen, bläulich schimmernden Flecken bedeckt. Neben ihm lag die Leiter mit den zwei gebrochenen Sprossen. Zwischen der Kante des Heubodens und den Dielen des Stalls aber waren fast vier Yards freier Raum. Ein bißchen zuviel, um einfach hinunterzuspringen. Hoch genug, um sich mit etwas Pech alles Mögliche zu brechen. In der Nacht hatte ich über dieses Problem nicht nachgedacht. Da war es das wichtigste gewesen, daß die Skalpjäger uns nicht entdeckten. Wer hätte sich in einer solchen Situation schon um eine alte Leiter gekümmert? Jetzt hing von dieser Leiter eine Menge ab. Ich hatte keine Lust, mir den Hals zu brechen, und dachte gar nicht daran, hinunterzuspringen. Ich blickte die drei Apachenjungen an. Sie schauten gläubig zu mir auf. Mir wurde etwas mulmig. Ich wandte mich ab und ging an der Kante des Heubodens entlang, um eine andere Möglichkeit zu finden, wieder auf festen Boden zu gelangen. Unter mir knackten einige Bohlen verdächtig. Ich bewegte mich vorsichtig, um zurückspringen zu können, falls eine der Bohlen
brach. Doch das Holz hielt. Ich war ja auch noch ein Kind und nicht sehr schwer, auch wenn ich für mein Alter groß und ziemlich kräftig gebaut war. Von dem mageren, linkischen Knaben, der ich noch vor einem Jahr gewesen war, war nicht mehr viel übriggeblieben. Das harte Leben bei den Apachen hatte mich nicht nur äußerlich verändert. Ich kehrte zurück zum Ausgangspunkt. Es gab scheinbar keine Möglichkeit, den Heuboden anders als auf halsbrecherische Art und Weise zu verlassen. Die drei Jungen warteten auf mich. Sie setzten offenbar großes Vertrauen in meine Fähigkeiten. Sie waren dabeigewesen, als ich mir vor wenigen Wochen in einem Zweikampf im Winterlager des Stammes einen Platz unter den Kriegern erkämpft hatte. Sie waren auch dabeigewesen, als ich in einem Schwimmwettbewerb den stärksten Jungen des Dorfes geschlagen hatte. Aber was waren das schon für Taten im Vergleich zu der Situation, in der wir uns befanden! Ich schaute die Jungen an und musterte ihre untersetzten, kräftigen Gestalten. Sie waren geborene Apachen, ihnen war von dem Tag an, an dem sie Laufen gelernt hatten, beigebracht worden, daß das Leben ein ständiger Kampf ist. Darauf waren sie vorbereitet worden, Tag für Tag. Spielerisch zwar, aber doch so, daß sie den Ernst, der hinter allem stand, wohl begriffen. »Ich werde mich jetzt an die Kante des Bodens hängen«, sagte ich. »Dann wird einer von euch an mir hinunterklettern, sich an meine Beine hängen und abspringen. Er legt dann die Leiter auf und stellt sie an.« Sie schwiegen. »Werdet ihr das schaffen?« »Sicher«, sagte Madai, der älteste der drei. Er war neun Jahre alt und der Kräftigste. Ich legte den Tomahawk und das Messer ab, damit mich nichts behinderte, und zog auch das Kalikohemd aus. Dann kniete ich mich auf die Kante des Heubodens, mit dem Rücken zum Abgrund. Ich umklammerte die Bohlenkante mit beiden Fäusten und ließ mich nach unten gleiten. Dann hing ich frei in der Luft. Zwischen meinen
Füßen und dem sicheren Boden befanden sich noch immer mehr als zwei Yards. Es war nicht einmal schwer. Ich spürte noch nichts von der Belastung in meinen Armen. »Los jetzt«, sagte ich. Madai kniete sich hin und glitt langsam über die Kante nach unten. Er setzte seinen rechten Fuß auf meine Schultern. Ich hatte das Gefühl, die Sehnen in meinen Armmuskeln würden reißen. Ich biß die Zähne zusammen und krallte meine Finger in das rauhe Holz, um nicht abzugleiten. Madai umfaßte meine Arme und kletterte langsam an mir hinunter. Er klammerte sich an meinem Oberkörper fest. Ich hätte schreien können. Er war schwerer, als ich erwartet hatte. Meine Schultern schmerzten, meine Arme wurden lahm, meine Kräfte schwanden und die Finger wurden langsam taub. Ich befürchtete, es nicht mehr lange auszuhalten. Madai rutschte weiter abwärts. Er hing jetzt an meiner Hüfte. Ich hatte den Kopf gehoben. Mein Gesicht war verzerrt. Über mir sah ich die Gesichter der beiden anderen Apachenjungen, die Madais und meine Bemühungen gespannt verfolgten. »Kannst du noch?« hörte ich Madais Stimme. »Es geht …« Ich schloß die Augen. Madai kletterte tiefer. Als er ausrutschte, geriet er ins Schwanken und ich auch. Hilflos baumelten wir hin und her. Die Anstrengung war kaum noch zu ertragen. Auf einmal war das Gewicht weg. Es war höchste Zeit gewesen. In wenigen Sekunden hätte ich loslassen müssen und wäre gestürzt. Dann aber erfaßte mich die Sorge, daß Madai abgestürzt sei. Ich versuchte, nach unten zu schauen. In, wie es mir schien, endloser Tiefe, sah ich Madai stehen. Er lachte. »Heb – die Leiter – auf«, brachte ich gepreßt hervor. Dann spannte ich alle Muskeln und zog mich hoch. Ich schaffte es tatsächlich, mit dem Kopf bis über die Heubodenkante zugelangen. Dann versagten meine Kräfte. Sekundenlang hing ich in der Luft. Tausend glühende Nadelstiche tobten in meinen Gelenken. Ein Rauschen und Brausen erfüllte
meine Ohren. Grellfarbene Punkte tanzten vor meinen Augen einen wilden Reigen. Ich sah mich schon fallen, sah mich rücklings vier Yards tief stürzen, sah mich, wenn schon nicht mit gebrochenem Rückgrat, so doch mit gebrochenen Armen oder Beinen am Boden liegen. Da schienen die beiden Jungen auf dem Heuboden zu begreifen, daß ich am Ende war. Sie faßten nach meinen Handgelenken. Im selben Moment rutschten meine Hände ab. Noch einmal sammelte ich alle mir noch verbliebenen Kräfte, und dann lag ich nach Atem ringend im Heu. Meine Muskeln zitterten, ich hatte nicht die Kraft, mich zu erheben. Als die erste Schwäche überwunden war und ich den Kopf hob, sah ich, daß meine Fingerkuppen aufgeschürft waren und etwas bluteten. Im selben Augenblick schlugen die Holme der Leiter an der Heubodenkante an.
4. Es war warm, sehr warm. Die Sonne stand schräg über dem Farmhof. Es herrschte fast völlige Windstille. Die Luft war trocken und staubig, und wenn man sie einatmete, hatte man das Gefühl, Glut in die Lunge zu bekommen. Ich ging zum Brunnen, hängte den Eimer, der neben der steinernen Fassung stand, an die Kette auf der Holzwinde und ließ ihn in den Schacht hinab, aus dem es feucht und kühl aufstieg. Als ich die Kurbel der Winde drehte, tauchte der Eimer wenig später wieder auf. Wasser schwappte über den Rand, als ich ihn von der Kette hob. Ich füllte unsere Feldflasche mit dem eiskalten, kristallklaren Wasser. Dann schüttete ich mir den Rest des Wassers selbst über den Kopf. Tropfnaß, wie ich war, streifte ich mein Kalikohemd wieder über, das mittlerweile sehr mitgenommen aussah und mehr als einen Riß aufwies. Noch einmal zog ich den Eimer voll aus dem Brunnenschacht herauf. Wir tranken uns alle satt, nachdem ich den Pferden die Tränke gefüllt hatte. Es war das erste gewesen, nachdem ich vom Heuboden gestiegen war, daß ich die beiden Pferde aus dem
Versteck in der Buschinsel geholt hatte. Inzwischen stieg die Sonne immer höher. Ich ging ins Farmhaus, um mich noch einmal umzuschauen, ob es noch etwas hier gab, das wir brauchen konnten. Aber die Skalpjäger hatten gründliche Arbeit geleistet. Sämtliche Schränke und Kommoden waren durchwühlt worden. Truhen lagen umgestürzt auf dem Boden. Ihr Inhalt war herausgequollen. Inzwischen hatten wir auch entdeckt, warum wir in der letzten Nacht dem Flammentod entgangen waren. Die Killer hatten versucht, das Anwesen in Brand zu setzen. Es war ihnen nicht gelungen. Der Farmer hatte das Holz der Gebäude gründlich mit Kupfervitriol bestrichen. Es konnte nicht brennen. Im Stillen dankte ich dem toten Mann dafür. Seine Vorsichtsmaßnahme, die sicher dazu gedacht gewesen war, Indianerangriffen mit Brandpfeilen vorzubeugen, hatte ihm nicht das Leben gerettet, aber uns. Ich ging auf den Hof zurück. Hier standen die Squaws und die Jungen und warteten. Susqueya lehnte am Brunnen. Im grellen Licht der Sonne sah sie jämmerlich aus. Ihre Haut schimmerte gelblich wie altes Pergament. In ihren Augen konnte ich sehen, daß sie wieder Fieber hatte. Es gab nur eine Erklärung dafür: Das tagelange Liegen auf dem kalten, durchnäßten Boden während des Unwetters hatte sie krank werden lassen. Es war ohnehin fast ein Wunder, daß wir anderen das Unwetter ohne Schaden überstanden hatten. Wie schwer Susqueyas Erkrankung war, wußte ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Ich konnte es nicht wissen. Was weiß man schon mit zwölf Jahren? »Wir können weiterreiten«, sagte ich. Ich ging zu Shita und wartete, bis die drei Jungen auf das Armeepferd gestiegen waren. Dann wandte ich mich an Susqueya. »Du kannst hinter mir aufsteigen«, sagte ich. »Shita trägt uns beide.« »Ich kann laufen«, sagte sie. »Wenn dein Pferd müde wird, werden wir nur aufgehalten.« »Wenn du nicht mehr laufen kannst, werden wir noch viel länger aufgehalten«, sagte ich. »Ich kann laufen«, wiederholte sie. »Du brauchst dich wegen mir
nicht zu sorgen.« »Du kannst nicht laufen«, widersprach ich. »Nach einer Meile fällst du um. Dann sitzen wir fest.« »Steig auf das Pferd«, sagte Isheeki. »Ronco hat recht.« Da kam Susqueya zu mir. Ich schwang mich auf Shitas Rücken und half Susqueya beim Aufsteigen. Wir zogen los. Wir verließen den Farmhof in südlicher Richtung. Es war leicht, die Fährte der Krieger aufzunehmen, die das Anwesen am Vortage überfallen hatten. Die Spur war deutlich, zumal die Skalpjäger ihr in der Nacht ebenfalls gefolgt waren. Zwischen den Hufabdrücken unbeschlagener Ponies sahen wir die Fährte beschlagener Pferde. Wir würden uns in acht nehmen müssen, um den Skalpjägern nicht doch noch in die Arme zu laufen. Shita gewöhnte sich rasch daran, daß Susqueya hinter mir im Sattel saß. Da wir wegen der anderen Squaws, die zu Fuß gingen, nicht schnell ritten, ermüdete sie auch nicht. Sie war ein typisches Apachenpony. Zäh und ausdauernd, genügsam und bedürfnislos. Ein Tier, das tagelang durch die Wüste laufen konnte, ohne einen Tropfen Wasser zu erhalten. Die Farm blieb hinter uns zurück. Vor uns lagen viele Hügel, mit steigbügelhohem Gras bedeckt. Hier und da tauchten in dem grünen Meer Inseln bunter Salbeisträucher auf. Zuweilen ragten auch graue Felsblöcke aus dem Gras, oder es reckte sich das weitausgreifende Geäst eines Cottonwoodbaums in den Himmel. Die Kraft der Sonne nahm von Stunde zu Stunde zu, je höher sie am Horizont kletterte. Als es Mittag wurde und die Sonne senkrecht über dem Land stand, so daß es kaum noch Schatten gab, war es fast unerträglich heiß. Trotzdem zogen wir weiter. Wir hofften, irgendwann, wenn nicht heute, so doch vielleicht in den nächsten Tagen, auf andere Apachen zu stoßen. Aber so groß wie am Vortag, als wir die Farm gefunden hatten, war die Hoffnung nicht mehr. Der Vorsprung der Krieger, denen wir folgten, schien zu groß zu sein. Und wir gelangten nur langsam voran. Susqueya hockte in sich zusammengesunken hinter mir. Ab und zu streifte ihr Atem meinen Nacken. Ab und zu hüstelte sie leise. Es war
ihr anzumerken, daß sie versuchte, vor uns ihren wahren Zustand zu verschleiern, um uns nicht zu beunruhigen. Es war erstaunlich, welche Energie sie aufbrachte. Trotzt der Hitze zogen wir bis zum späten Nachmittag weiter. Dann erst rasteten wir im Schatten eines Granitblocks, der wie ein mahnend aufgerichteter Zeigefinger in der Landschaft stand. Wir entzündeten wieder kein Feuer. Wir wagten es nicht. Das Auftauchen der Skalpjäger letzte Nacht hatte uns gezeigt, daß das Land voll von Menschen war, die uns feindlich gesinnt waren, auch wenn wir sie nicht sahen. Wir tranken Wasser aus der Feldflasche und aßen von den Rationen, die ich den Soldaten gestohlen hatte. Wenn wir sparsam damit umgingen, würde der Proviant noch für mindestens eine Woche reichen, wenn nicht länger. Und dann? »Wie weit ist es bis zur Grenze nach Mexiko?« fragte ich. Nytaka schwieg noch immer. Auch sie verfiel zusehends. Wie Susqueya. Aber sie war nicht krank, jedenfalls nicht körperlich. Susqueya hatte wieder Schüttelfrost und hörte nicht, was ich sagte. Isheeki antwortete: »Die Sonne wird noch öfter aufgehen, als ich Finger an beiden Händen habe, bevor wir das Land erreichen, das die Weißen Mexiko nennen. Und dann liegt die Wüste vor uns, die wir das Land der tausend Gräber nennen.« »Warum?« »Weil im Sand der Wüste mehr Apachen und weiße Männer begraben liegen, als es Kakteen dort gibt.« »Seid ihr schon oft dortgewesen?« »Wir sind jedes Jahr hinuntergezogen«, sagte Isheeki. »Dorthin können uns die langen Messer nicht verfolgen, und wir haben immer eine gute Zeit gehabt.« »Wir werden es auch diesmal schaffen«, sagte ich. »Und wir werden dann wieder eine gute Zeit haben. Gibt es viele Apachen dort?« »Es werden jedes Jahr weniger«, sagte Isheeki. »Die weißen Männer töten uns, um unsere Skalps zu verkaufen. Aber noch sind wir viele, genug, um die weißen Männer eines Tages zu vertreiben, damit alles Land wieder Indianerland wird, so wie es früher war, als
es nur Apachen gab und keine weißen Männer, die das Land mit ihren großen Eisenmessern aufschlitzten und die Prärien verbrannten. Einzeln sind wir schwach. Aber wenn wir uns im Land der tausend Gräber vereinigen, dann sind wir stark.« »Dann wird es in diesem Jahr einen neuen Krieg geben?« »Es ist immer Krieg«, sagte Isheeki. »Jeden Tag, jede Nacht. Wenn die Sonne aufgeht, und wenn sie untergeht, ist Krieg mit dem weißen Mann, der uns unser Land geraubt hat. Es gibt keinen Frieden, bis das Land nicht wieder unser ist.« »Wir werden kämpfen?« fragte ich. »Das wird Mangas Colorados entscheiden«, sagte Isheeki. »Oder Cochise, oder Black Hawk. Es gibt viele große Häuptlinge, die im großen Rat der Apachen sitzen und darüber reden. Früher hat auch Coyotero dazugehört.« Isheeki verstummte plötzlich und warf einen Seitenblick auf Susqueya, deren eingefallenes, fahles Gesicht starr wirkte und die abwesend zu Boden starrte. »Dort in der Wüste sind wir sicher«, fuhr Isheeki nach einer Pause fort. »Nur wir können dort leben. Dort sterben alle weißen Männer. Wir wissen, wo es Wasser gibt. Wir wissen, wo man Nahrung findet und welche Pflanzen man essen kann. Wir wissen, wie man sich vor der Sonne schützt und einen Sandsturm überlebt. Das Land der tausend Gräber ist das Land, in dem wir nicht gejagt werden, sondern selbst Jäger sind. Weil wir dort stärker sind und die weißen Männer nichts mit der Wüste anfangen können. Sie können den Sand nicht umpflügen. Sie können kein Getreide dort säen und keine Rinder weiden lassen. Sie können keine Hütten dort bauen, denn es gibt keine Holz. Deshalb ist die Wüste der einzige Ort, wo wir in Ruhe gelassen werden. Dort herrschen wir, und wer die Wüste betritt, ist verloren.« Sie verstummte nach dieser langen Rede. In ihren Augen aber lag ein undefinierbarer Glanz. Sie schien in ein Paradies zu blicken. Ich betrachtete sie, eigenartig berührt. Die drei Apachenjungen und selbst Nytaka, die seit dem Massaker an nichts mehr innerlich Anteil zu nehmen schien, hatten ihr gebannt zugehört. Nur Susqueya nicht. Ihr Fieber war zu stark.
Nach dem Schrecklichen, das hinter uns lag, schien es jetzt, als habe Isheeki eine neue Hoffnung ausgesprochen, die das Vergangene überlagern und schließlich verdrängen würde. Isheeki selbst wirkte in diesem Moment abwesend und war völlig in Gedanken versunken. In diesem Augenblick war sie wohl schon in der großen mexikanischen Wüste, jenem Gebiet, das sie das Land der tausend Gräber nannten. In Gedanken saß sie wohl schon mit den anderen Apachen, die wir dort zu treffen hofften, am Feuer. Und auch mich hatten ihre Schilderungen bewegt und eine bisher nie gekannte Sehnsucht in mir ausgelöst. Ich wollte es kennenlernen, dieses Land, in dem die Apachen nicht gejagt wurden, in dem sie noch die unbestrittenen Herren waren, in dem sie sich auf ihre Kämpfe und Kriege gegen die weißen Siedler und Soldaten vorbereiteten. Ich wollte sie kennenlernen, die Häuptlinge, von denen Isheeki gesprochen hatte. Mangas Colorados, Cochise, Black Hawk. Namen, die ich schon früher gehört hatte, als ich noch unter Weißen gelebt hatte. Die Männer am Pease River hatten von diesen Häuptlingen gesprochen. Sie hatten ihre Namen nur zusammen mit Flüchen, Verwünschungen und Racheschwüren ausgesprochen. Und trotzdem hatten auch sie einen gewissen Respekt vor diesen Apachenführern nicht leugnen können. Namen, die die Hoffnung eines geschlagenen Volkes verkörperten. Ich würde sie sehen. Ich gehörte zu ihnen. In diesem Moment verschwendete ich an meine Vergangenheit keinen Gedanken mehr. Ich hatte mir den Rat Coyoteros zu Herzen genommen. Er hatte mir gesagt, daß ich die Vergangenheit vergessen sollte. Ich hatte sie vergessen. Meine Zeit am Pease River, in der Mission der guten Padres, das alles lag eine Ewigkeit zurück. Hundert Jahre, wie es mir schien, oder mehr. Ich lebte ein neues Leben. Ich war zum zweitenmal geboren worden. Diesmal als Apache. Isheekis Worte hatten sich tief in mein Herz gegraben. Ich wollte mit den Apachen im Land der tausend Gräber leben. Ich wollte mit den Kriegern an den Feuern sitzen, wollte mit ihnen reiten und mit ihnen in den Kampf ziehen. Auch in den Kampf.
Gegen die Weißen. Sie waren meine Feinde. Vor zwei oder drei Jahren hatte ich nicht einmal gewußt, daß es so etwas wie Feindschaft gab. Nach allem, was hinter mir lag, wußte ich es, und ich hatte gelernt, zu hassen. Nicht die Farmer wie jenen, auf dessen Anwesen wir die Nacht verbracht hatten, der von Apachen getötet worden war. Sondern die Armee, die mit ihren überlegenen Waffen die Indianer niedermetzelte, oder die Skalpjäger, die ein Geschäft daraus machten, Menschen wie Raubtiere zu töten, nur weil sie eine andere Hautfarbe hatten. Ich haßte die Männer, die Gesetze schufen, die es Skalpjägern erlaubten, zu töten und dafür Prämien zu kassieren. Es war ein verdammtes Land. Ich stutzte, als ich das dachte. Und dann kam doch ein Stück Vergangenheit in mir hoch. Ein verdammtes Land … Genau das hatte Clay Wilkins einmal gesagt, mein Freund vom Pease River. Er hatte es gesagt, nachdem seine Mutter an den Folgen eines Überfalls von Comancheros gestorben war, die auch seinen Vater umgebracht hatten. Ich hatte damals widersprochen. Sehr heftig sogar. Jetzt aber dachte ich, daß Clay doch recht gehabt hatte. Wenn er auch etwas anderes im Sinn gehabt hatte. Das Land war einmal gut und schön gewesen. Da waren die Apachen allein gewesen, und niemand hatte versucht, sie zu vertreiben. Davon war ich überzeugt. Die Wüste nun, jenseits der Mexiko-Grenze, war das letzte Stückchen Paradies aus jenen alten Tagen, das den Apachen noch geblieben war. Dieses unfruchtbare, menschenfeindliche Land hatte sich mit den Indianern gegen die weißen Eindringlinge verbündet, die an ihm zerbrachen. Deshalb war es die Zuflucht der Indianer. Die Weißen hatten sie in die Wüste gejagt, in der Hoffnung, daß sie dort zugrunde gehen würden. Aber sie waren nicht zugrunde gegangen. Sie waren im Gegenteil noch härter, noch zäher und noch entschlossener in ihrer Kampfbereitschaft geworden. Ich sehnte mich nach diesem Land. Der Weg war noch weit und sicher auch nicht leicht und ungefährlich. Aber ich hatte den Willen,
es zu schaffen. Ich war sicher, ich würde es schaffen. Isheeki hockte noch immer reglos im Schatten des Felsens und schaute schweigend zu Boden. Ich blickte sie lange an, bevor ich mich aufrichtete. Die Sonne war weit nach Westen gezogen, während wir gerastet hatten. Wind war aufgekommen. Sanft strich er von Süden heran. Es war nicht mehr ganz so heiß, wie am Vormittag und während der ersten Mittagsstunden. Der Felsen, neben dem wir saßen, warf seinen langen Schatten, der die Umrisse des Granitblocks grob verzerrte. In einer daumenbreiten Spalte des Granitblocks entdeckte ich eine fingerkuppengroße Spinne mit langen Beinen. Sie hatte hier ihr Netz gespannt, in dem sich eine Fliege gefangen hatte, die verzweifelt kämpfte und versuchte, sich aus den feinen, klebrigen Fäden zu befreien, während sie sich nur immer tiefer darin verstrickte. Die Spinne kroch auf die Fliege zu und verdeckte sie einen Moment. Als ich die Fliege danach wieder sah, rührte sie sich nicht mehr. Der Biß der Spinne hatte sie gelähmt. Sie würde langsam sterben. Die Spinne ging nun daran, ihre Beute sorgfältig mit feinen Fäden zu verpacken. Sie tat das sehr geschickt und mit atemberaubender Schnelligkeit. Ich konnte meinen Blick nicht davon wenden und schaute zu, wie die Spinne die Fliege vorsichtig aus dem Netz löste und mit sich schleppte, tief in die Felsspalte, bis ich sie nicht mehr sehen konnte. Unwillkürlich fröstelte ich. Die Faszination, die von Isheekis Worten ausgegangen war, die uns alle schweigend an unseren Platz gebannt hatte, war dahin. Der Anblick der zappelnden Fliege und der gefräßigen Spinne hatte mich wieder daran erinnert, in welcher Situation wir uns befanden. Wir waren nicht viel besser daran, als die Fliege. Ich wandte mich schnell ab. »Wir müssen weiter«, sagte ich. »Es wird bald dunkel.« Isheeki schien aus einem Traum zu erwachen. Sie schaute auf. Noch immer lag jener undefinierbare Glanz in ihren Augen, der mir aufgefallen war, als sie von der mexikanischen Wüste berichtet hatte. Nytaka erhob sich schweigend wie immer, ohne zu murren, ohne Widerspruch. In ihrem Gesicht hatte ich vor wenigen Minuten noch
Leben entdeckt. Jetzt war es wieder ausdruckslos und starr, ihre Augen waren leer und glanzlos. Sie bewegte sich wie mechanisch, als sie unsere wenigen Sachen zusammenpackte und in den Satteltaschen des Armeepferdes verstaute. Madai und die anderen Jungen zogen die Sattelgurte der Pferde an. Nur Susqueya rührte sich nicht, als habe sie nicht gehört, was ich gesagt hatte. Sie hatte sich zusammengekauert wie ein krankes Tier. Sie kämpfte mit sich selbst, um uns nicht merken zu lassen, wie mies ihr zumute war. Ich trat zu ihr, bückte mich und legte ihr die Rechte auf die Schulter. Ich spürte trotz der Decke, die sie sich um die Schultern geworfen hatte, welche Kraft sie noch hatte. Ihre Arme waren stark wie die eines Mannes. Auf ihrer Stirn standen kleine Schweißperlen. Plötzlich hatte ich Angst um sie. Susqueya hatte sich von Beginn an, seit ich mich bei den Apachen befand, wie eine Mutter um mich gekümmert, auch zu einer Zeit, als alle anderen Mitglieder des Stammes mich noch abgelehnt und wie einen Aussätzigen behandelt hatten. Sie hatte in mir sofort einen Sohn gesehen, einen Ersatz für den eigenen Sohn, der in einem Kampf gefallen war. Ohne sie hätte ich es in den ersten Wochen und Monaten bei den Apachen sehr viel schwerer gehabt. Ich hatte sie als Mutter akzeptiert und war ihr dankbar für das, was sie für mich getan hatte. Plötzlich hatte ich Angst, daß sie sterben würde. Da hob sie den Kopf. Aus tiefliegenden Augen erwiderte sie meinen Blick. Sie versuchte zu lächeln. Ihre Mundwinkel zuckten ein wenig. Es gelang ihr nicht ganz. Schwerfällig hob sie die Rechte und legte sie liebevoll auf meine Hand, die noch immer auf ihrer Schulter lag. Ich würgte einen Kloß hinunter, der plötzlich in meiner Kehle steckte. »Was – was ist los mit dir?« fragte ich. »Nichts«, sagte sie. Allein ihre schwache Stimme strafte sie Lügen. »Es geht schon.«
»Du hast Fieber«, sagte ich. »Wir werden uns ein Versteck suchen, wo wir ein Feuer anzünden können. Dann werden wir Sarsaparilla-Stengel für dich kochen, damit das Fieber sinkt.« »Es ist nicht so schlimm.« »Du sollst nicht sterben.« Ich zuckte fast selbst unter meinen Worten zusammen. Sie waren mir einfach so herausgefahren. Jetzt lächelte sie wirklich. Es war ein warmes Lächeln. »Ich sterbe nicht«, sagte sie. »So schnell stirbt man nicht.« »Du siehst übel aus«, sagte ich. »Wir werden Sarsaparillabüsche suchen und in der Nacht in einem Versteck einen Tee aus den Stengeln für dich kochen.« Sie widersprach nicht mehr. Langsam richtete sie sich auf. Aber nicht ganz. Sie hatte nicht mehr die stolze, aufrechte Haltung. Ihr Oberkörper war leicht nach vorn geneigt. Es sah fast so aus, als ginge sie ein wenig gekrümmt. Ihre Schultern hingen herab. Ich schwang mich auf Shitas Rücken, die geduldig stillhielt, als Susqueya schwerfällig hinter mir aufstieg. Madai und die beiden anderen Jungen saßen bereits auf dem Rücken des Armeepferds, das sich ebenfalls als geduldig, ausdauernd und genügsam erwiesen hatte. Wir zogen weiter. * Weit vor uns sahen wir die Silhouette der Sierra Charote, die sich scharf gezackt und schroff wie das Gebiß eines versteinerten Urtieres vor dem Himmel abhob, den die Nachmittagssonne mit goldenem Schein überflutet hatte. Unser Ziel konnten wir noch nicht sehen. Noch lange nicht. Westlich von uns färbte sich der Horizont rötlich. Leise sang der Wind über die Hügel. Bienen summten aufgeregt über den Salbeibüschen, die wie bunte Tupfer aus dem Gras wucherten und deren Blütenpollen sich öffneten und betäubend duftenden Blütenstaub freigaben. Der Schatten eines Bussards glitt über uns hin. Irgendwo heulte ein Kojote. Der Abend kam. Fast unbemerkt und leise.
Die Sonne verglühte wie eine niedergebrannte Fackel. Die Dämmerung sank wie ein Hauch auf das Land. Wir aber zogen südwärts, während die Konturen der Hügel vor uns im Abendschimmer verschwammen. Hinter mir im Sattel hüstelte Susqueya. Mal schwächer, mal stärker. Ab und zu wurde sie regelrecht von Hustenanfällen geschüttelt. Und wieder stiegen Erinnerungen an die schon vergessen geglaubte Vergangenheit in mir auf. Padre Hieronymus. Er war lungenkrank gewesen. Auch er hatte sich seine Krankheit geholt, als er auf nassem Boden hatte schlafen müssen. Auch er hatte ständig husten müssen. Im Laufe der Zeit war es immer schlimmer geworden. Keine Nacht hatte er richtig schlafen können. Hustenanfälle hatten ihn gequält, und er hatte Blut gespuckt. Ich vergaß ihn schnell wieder und drehte mich zu Susqueya um. Schweiß rann ihr über das eingefallene Gesicht. Sie hatte gerade einen Hustenanfall hinter sich. Ich entdeckte ein paar kleine, dunkle Flecken auf ihren Lippen. Blut. Es sah schlimm aus. Anscheinend hatte sie gar nichts davon bemerkt, sonst hätte sie es abgewischt. Ich sagte ihr nichts. Doch sie schien aus meinen Blicken zu lesen, daß etwas nicht in Ordnung war, und wischte sich mit dem Ärmel ihres Leinenkleides über das Gesicht und den Mund.
5. Wir hatten genügend Sarsaparilla gefunden. Wir hatten auch ein Versteck entdeckt, in dem wir ein Feuer entfachen konnten, das nicht meilenweit gesehen wurde. Es war eine Lichtung in einem kleinen Wald. In der Nähe gab es sogar eine Quelle mit kristallklarem Wasser. Der Mond hatte ein wenig abgenommen, doch sein silberner Schein war stark genug, um auch der Waldlichtung ein wenig Licht zu geben.
Der Wind war angeschwollen und rauschte in den Wipfeln der Bäume. Wir hatten lange nach sehr trockenem Holz gesucht, das rauchlos verbrannte. Jetzt stand der rußige Topf aus dem Kochgeschirr, das am Sattel des Armeepferdes gehangen hatte, im Feuer. Darin brodelte Wasser, und im Wasser lagen Sarsaparillastengel. Nytaka hatte sich bereits zum Schlafen ausgestreckt. Madai und die beiden anderen Jungen auch. Nur Isheeki hockte noch neben dem Feuer und rührte ab und zu im Topf. Ich kauerte neben ihr und schürte die Glut des Feuers. Susqueya lag in zwei Decken gewickelt nahe beim Feuer. Ich hatte ihr den Armeesattel unter den Kopf geschoben. Sie schien zu dösen, denn sie rührte sich nicht und atmete nur flach. Aber sie hatte die Augen geöffnet und schaute in die Dunkelheit. Im Wald schrie ein Käuzchen. Ab und zu überflog ein Vogel die Lichtung. Endlich war der Sud fertig. Es mußte Mitternacht sein. Isheeki hob den Topf vom Feuer. Ich stieß die Glut auseinander. Susqueya erwartete uns. Wir füllten den würzig duftenden, bitter schmeckenden Tee in den Blechnapf des Kochgeschirrs und stützten Susqueya den Rücken, damit sie sitzen konnte, während sie mit großen, ruhigen Schlucken trank. Erschöpft sank sie sodann zurück auf ihr Lager und schloß die Augen. »Wie geht's?« fragte ich, während Isheeki ihr eigenes Lager bereitete. »Ich bin müde«, sagte Susqueya. »Es ist alles in Ordnung.« Ich schaute sie lange stumm an. Dann wandte ich mich ab und rollte mich zusammen. Ich hatte Susqueya meine Decke gegeben und hatte nun selbst keine. Aber ich fror nicht, und ich hielt mehr aus, denn ich war jünger und widerstandsfähiger. Jetzt erst ließ die Anspannung nach, unter der ich – wir alle – den ganzen Tag gestanden hatte. Die Müdigkeit durchströmte meinen Körper. Meine Glieder wurden schwer. Mir fielen die Augen zu. In diesem Moment ertönten in der Ferne, irgendwo in der Nacht, Schußdetonationen. Peitschend und auch dumpf und belfernd.
* Fast automatisch fuhr ich hoch. Sofort erfüllte ein hämmernder Schmerz meinen Schädel. Vor meinen Augen drehte sich alles. Ich blieb am Boden sitzen und lauschte in die Nacht. Wieder krachten Schüsse. Der Wind trug den Lärm von Süden heran. Nytaka und die drei Jungen hörten nichts. Sie schliefen tief und fest, und das war zu verstehen. Ich hätte auch lieber geschlafen und nichts gehört. Leise fluchte ich. Isheeki hatte es auch gehört und sich halb aufgerichtet. Nur Susqueya blieb liegen, obwohl sie den Schußlärm vernommen hatte. Sie hatte die Augen wieder geöffnet. Einen Moment lang stand ich überlegend neben der heißen Asche des erloschenen Feuers. Dann ging ich kurzentschlossen zu Shita, legte ihr den Deckensattel auf und schwang mich auf den Rücken der Ponystute. Ohne eine Erklärung abzugeben oder Fragen abzuwarten, trieb ich sie an und ritt von der Lichtung nach Süden in die Nacht. Ich wußte selbst nicht genau, warum ich das tat und ob es viel Sinn hatte. In jedem Fall aber war es besser, sich zu informieren, was immerhin in Hörweite von uns mitten in der Nacht vorging. Wenn eine Gefahr drohte, mußten wir sie früh genug erfahren. Alles andere wäre Leichtsinn gewesen. Ich verließ den Wald und sprengte über die Ebene. Die Schußdetonationen waren nun wesentlich lauter zu hören. Ich konnte Gewehre und Revolver unterscheiden. Die Schüsse folgten immer rascher aufeinander. Ich vermutete einen Feuerwechsel, einen Kampf, der immer heftiger wurde. Wir mußten uns darum kümmern, wenn wir in dieser Nacht ruhig schlafen wollten. Der kühle Nachtwind umstrich mein Gesicht. Meine Müdigkeit verflog, Shita griff weit aus. Ich hatte ein ungutes Gefühl in mir, als ich so durch die Nacht jagte. Was ich tat, konnte gefährlich werden. Zunächst einmal für mich. Dann aber auch für die Squaws und die Jungen, die gefunden werden konnten, wenn meine Spur zurückverfolgt wurde.
Trotzdem ritt ich weiter. Der Schußlärm wurde immer lauter, je weiter ich durch die Dunkelheit sprengte. Vor mir buckelten sich buschreiche Hügel. Ich hatte Angst, daß Shita in der Finsternis in einen Präriehundbau treten und sich einen Lauf brechen könnte. Dennoch ritt ich nicht langsamer. Ich jagte die Hügel hinauf, trieb Shita durch welliges Gelände und galoppierte durch eine langgestreckte Bodenfalte. Dann sah ich plötzlich die Schußblitze vor mir. Es war ein unheimliches, irgendwie unwirkliches Feuerwerk, dessen Zeuge ich wurde. Ich ritt noch ein Stück weiter, hielt dann am Fuße eines Hügels, stieg hinauf und konnte von hier aus in eine Senke hinunterschauen. In kaum fünfzig Yards Entfernung wurde gekämpft. Wäre nicht das dröhnende, peitschende Krachen der Schüsse gewesen, wäre mir alles wie ein böser Traum erschienen. Orangerote Mündungsfeuer zuckten durch die Nacht, glühende Lichtfinger, brennende Todespfeile, begleitet von scharfem Karabinergeknall und von donnerndem Belfern schwerer Revolver. Die tellerartige Senke glühte im Widerschein der Mündungsblitze. In diesem geisterhaften, zuckenden Lichtschimmer sah ich Menschen hin und her laufen, stürzen, zusammenbrechen, sterben. Die Schüsse fielen in so kurzen Abständen, daß sich das Stakkato der Detonationen anhörte wie das überlaute Knattern und Knacken, das beim Zerbrechen dicker Reisigbündel entsteht. Ich wollte mich abwenden, wollte mir die Ohren zuhalten. Aber ich konnte es nicht. Gebannt starrte ich auf das grauenhafte Schauspiel, das sich mir bot. Die Schüsse krachten vom Rand der Senke, und die, die sich im Tal befanden, starben wie die Fliegen. Die Geschosse fegten sie von den Beinen. Sie wehrten sich, und ab und zu zuckte auch ein Mündungsfeuer zum Rand der Senke hinauf. Aber das waren nur wenige, und es wurden immer weniger. Auch die, die sich noch bewegten, die versuchten, dem Gemetzel zu entgehen, wurden immer weniger. Ich sah nur noch drei oder vier Gestalten, die durch die Senke liefen und versuchten, sich zu retten, obwohl es keine Rettung
gab. Das sah ich trotz der Dunkelheit und der Entfernung. Die Schüsse krachten, solange es in der Senke noch Bewegung gab. Als alles ruhig war im Tal, verstummte das Feuer. Es wurde still, still wie auf einem Friedhof. In meinen Ohren dröhnte noch immer der Lärm des Massakers. Ich war unfähig, mich zu rühren. Wie gelähmt stand ich an meinem Platz und schaute hinunter in die Senke. Fackeln flackerten jetzt am Rand des Tales auf. Acht oder neun. Ich sah weiße Männer mit großen Hüten. Sie hielten Gewehre und Revolver in den Fäusten und schritten hinunter in die Senke. Der Fackelschein fiel auf die Körper, die reglos im Gras lagen. Ab und zu krachte noch ein Schuß, und ich wußte, daß jedesmal ein Verletzter einen »Gnadenschuß« erhielt. Einen Gnadenschuß. Ich ahnte nun, was dort vorging und wer die Männer waren, die geschossen hatten. Sie bewegten sich zwischen den reglosen Körpern und bückten sich ab und zu. Der Wind trieb Pulverschwaden zu mir herüber. Der ätzende Dampf stieg mir in die Augen. Ich atmete ihn ein und hustete. Ein paar Tränen rannen über meine Wangen. Ich zwang mich, mich abzuwenden. Wie in Trance taumelte ich den Hügel hinunter zu Shita, die mit hängenden Zügeln auf mich wartete. Ich stieg in den Sattel. Mir war schlecht. Mein Magen hob sich, und ich hätte kotzen können. Shita begann zu laufen, ohne daß ich sie angetrieben hätte. Sie schien zu ahnen, daß ich weg wollte, nur noch weg. Möglichst schnell und möglichst weit. Ich beugte mich im Sattel vor und klammerte mich an der Mähne fest. Shita schien zu fliegen. Doch der Hauch des Todes folgte mir. Der Wind trieb mir den Gestank von Pulverdampf und Blut hinterher. Ich floh davor. Ohne rechts und links zu sehen. Shita stolperte einige Male auf dem unebenen Boden. Aber sie stürzte nicht. In meinen Augen standen Tränen, und eine große Übelkeit erfüllte mich. In den letzten Monaten hatte ich gelernt, vieles zu ertragen. Ich war hart geworden, fast so hart wie ein Mann, obwohl ich erst zwölf
war. Aber mit zwölf Jahren war man bei den Apachen fast schon ein vollwertiger Krieger. Daran hatte ich mich gewöhnt. Entsprechend hatte ich immer gedacht und gehandelt. Aber das, was ich gerade beobachtet hatte, war zuviel. Es war binnen kurzer Frist der zweite Massenmord, dem ich beigewohnt hatte. An so etwas konnten starke Männer zerbrechen. Ich war erst zwölf, ich, Ronco. Ein gottverlassenes Waisenkind, aufgezogen von Mönchen, die die Gewalt haßten, jetzt ein Apache, der bereits Kämpfe hinter sich hatte, der gelernt hatte, zu töten, wenn es darum ging, sich zu verteidigen. Was für ein Leben … Dabei war ich nicht einmal eine Ausnahme. So wie mir erging es vielen anderen auch. Damals hatte ich keine Zeit, viel darüber nachzudenken. Ich wollte überleben, mich einfach durchbeißen. Da blieb nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, was hinter mir lag oder mir noch bevorstand. Erst recht nicht in diesem Moment, als ich auf Shitas Rücken hockte und durch die Nacht jagte, während die Bilder des schrecklichen Massakers noch einmal vor meinen Augen abrollten. Ich hatte das Gemetzel mit eigenen Augen gesehen. Trotzdem konnte ich es fast nicht glauben. Allein der Gedanke daran war so unvorstellbar, daß ich mir immer wieder einzureden versuchte, ich bildete mir alles nur ein. Ich dachte in diesem Moment nicht daran, daß ich zurück in unser Lager mußte, daß die Squaws und die Jungen warteten, um zu erfahren, was geschehen war. Ich dachte einfach nicht daran und lenkte Shita auch nicht. Es war mir ganz egal, wohin sie mich trug. Aber sie schien zu wissen, wohin ich gehörte. Aus der Dunkelheit sah ich plötzlich vor mir den Wald auftauchen. Shita sprang darauf zu. Wie ein riesiger, undurchdringlicher Wall richteten sich die Bäume vor mir auf. Ich nahm sie kaum wahr. Ich reagierte viel zu spät. Zweige streiften an mir vorbei, trafen mein Gesicht. Ein mörderischer Schlag traf mich plötzlich. Ich hatte das Gefühl enthauptet zu werden. Ein Funkenregen tanzte vor meinen Augen. Ich fiel. Ich stürzte in eine endlose, pechschwarze Tiefe. Dann war
auf einmal alles aus. Ich versank in ein schmerzloses, beinahe angenehmes Nichts. * Die Sonnenstrahlen drangen durch das dichte Laubdach des Waldes. Ein schwacher Wind bewegte die Blätter und Zweige. Die Sonnenstrahlen fielen auf ein feines Netz, das eine Spinne zwischen zwei Ästen gewoben hatte; Tautröpfchen hingen an den Fäden und schillerten in allen Farben im Tageslicht. Ein Kunstwerk, ein Schmuckstück, ein Perlengehänge von auserlesener Schönheit. Der Blick in das Spinnennetz führte ins Endlose. Es war ein Fenster zum Himmel, ein kleines Fenster nur, aber groß genug, um den überirdischen Glanz wahrzunehmen, der sich darin fing. Das war das erste, was ich sah. Dann verschwamm wieder alles vor meinen Augen. In diesem Moment war ich sicher, daß ich tot war. Ich wunderte mich nur über den rasenden Schmerz im Kopf, der urplötzlich einsetzte und mich zu zersprengen schien. Daß auch Tote unter Kopfschmerzen litten, hätte ich nie gedacht. Jemand strich mir über die Stirn. Wasser rann über mein Gesicht. Kühl und angenehm. Ich schlug die Augen wieder auf. Der Kopfschmerz ließ plötzlich nach. Vor mir war ein Gesicht. Die grellfarbenen Schleier vor meinen Augen verflüchtigten sich. Die Konturen des Gesichts schälten sich heraus. Es war Isheeki. Isheeki aber war im Leben. Das wußte ich genau. Und sie war auch kein Engel. Folglich war ich nicht im Himmel. Ich lebte. »Er ist wach«, hörte ich sie sagen. Ich wandte den Kopf. Sofort durchzuckte mich wieder der Schmerz, so daß ich fast geschrien hätte. Ich preßte die Zähne zusammen, konnte mir doch ein leises Stöhnen nicht verkneifen. Dann sah ich sie alle. Isheeki, Nytaka, Madai und die beiden anderen Jungen, und auch
Susqueya, der es etwas besser zu gehen schien. Sie standen um mich herum und starrten besorgt auf mich herab. Ich versuchte, tief durchzuatmen und nicht mehr an die Schmerzen zu denken. Nach und nach fiel mir wieder alles ein. Die Schüsse, der Ritt durch die Nacht, das Massaker, der Weg zurück, und dann … Ein Schlag auf den Kopf, und dann nichts mehr. Fragend schaute ich Isheeki an. Sie schien zu ahnen, an was ich dachte. »Ein tiefhängender Ast«, sagte sie. »Du bist mit dem Kopf dagegen geritten.« Etwas leiser fügte sie hinzu. »Du hättest tot sein können.« Tot … Ich hatte geglaubt, ich sei tot. So tot wie die armen Menschen, die letzte Nacht in der Bodensenke zusammengeschossen worden waren. »Shita kam hier ohne dich an«, sagte Isheeki. »Da haben wir dich gesucht. Du hast am Waldrand gelegen und warst voller Blut.« Ich tastete mit der Rechten vorsichtig zu meinem Gesicht hoch, zu meiner Stirn. Mit den Fingerkuppen berührte ich Schorf. »Es ist nicht schlimm«, sagte Isheeki. »Nur ein Riß, weiter nichts. Nicht tief. In ein paar Tagen ist er verheilt.« Schweigend richtete ich den Oberkörper auf. Isheeki hielt noch feuchten Stoff in der Hand, mit dem sie mein Gesicht gekühlt hatte. Die Kopfschmerzen durchzogen meinen Körper bis in die Zehenspitzen. Ich mußte mich verdammt zusammenreißen, um aufzustehen, ohne einen Laut von mir zu geben. Aber meinem Gesicht war wohl anzusehen, was ich litt. »Ist in der Nacht noch was passiert?« fragte ich. Meine Stimme erschien mir selbst fremd. Ich konnte nur langsam sprechen. Meine Zunge lag wie ein verschrumpeltes Stück Pelz in meinem Mund. »Nichts«, sagte Madai. »Es war alles ruhig.« Ich nickte und sah, daß das Feuer wieder brannnte. In der Glut stand der Blechtopf aus dem Armeekochgeschirr, und darin kochte der Kaffee aus den Armeerationen. Ich trank davon, obwohl ich mich dazu zwingen mußte. Der Kaffee war stark, daß ein Löffel darin hätte stehen können. Außerdem war er gallenbitter.
Ich war der einzige, der davon trank, weil ich wußte, daß es mir gut tun würde, auch wenn es abscheulich schmeckte. Das trug mir einige bewundernde Blicke von Madai ein. Indianer tranken Kaffee nur mit Unmengen süßer Melasse. Es wäre ihnen nicht eingefallen, ungesüßten Kaffee zu trinken. Mir half es tatsächlich. Die bleierne Schwere in meinen Gliedern wich. Der Schmerz in meinem Schädel klang ab, und nach und nach bekam ich wieder einen klaren Kopf. Ich trank fast den ganzen Topf leer und aß dann ein Stück Trockenfleisch. Die anderen schwiegen während der ganzen Zeit. Als ich fertig war, sagte Susqueya: »Wo warst du in der Nacht? Was ist losgewesen?« »Es hat ein Kampf stattgefunden«, sagte ich. »Ein Kampf zwischen wem?« fragte Madai. »Es war zu dunkel«, sagte ich. Ein Blick in die Gesichter der anderen zeigte mir, daß sie mir nicht glaubten. Das war mir egal. Ich wollte nicht über das, was ich gesehen hatte, sprechen. Wir würden die Fährte der Krieger weiterverfolgen, die wir auf der Farm aufgenommen hatten, und dann würden sie alle bald sehen, was in der letzten Nacht geschehen war. »Wie geht es dir?« fragte ich Susqueya. Ich sah sofort, daß sie kein Fieber mehr hatte. Aber das konnte auch nur eine vorübergehende Besserung sein. »Besser«, sagte sie. Dann hustete sie, und auf ihrer Unterlippe war plötzlich wieder etwas Blut. Außerdem schien sie Schmerzen zu haben. Ihr faltiges Gesicht verzerrte sich plötzlich. Ihre Augen wurden ganz klein, und ein scharfer Zug kerbte sich um ihren Mund. Ich sagte nichts, denn jedes Wort war vergeblich. Sie würde abstreiten, daß sie Schmerzen hatte. Jedenfalls war das Fieber weg. Das war wenigstens etwas. »Wir müssen weiter«, sagte ich. »Es sind noch immer Skalpjäger in der Gegend.« Ich tastete noch einmal über meine Platzwunde an der Stirn. Während ich zu Shita hinüberging, stiegen leichte Schwindel in mir auf. Als ich neben dem Pony stand, wurde mir schwarz vor den Augen. Das alles dauerte nur wenige Sekunden. Es reichte aber aus,
um mir zu zeigen, daß ich längst noch nicht völlig in Ordnung war. Aber darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Die Sonne stand schon ziemlich hoch. Die Strahlen, die durch das Laubdach in den Wald drangen, zeichneten helle Kringel auf den Waldboden und in das Moos. Madai trat gerade die Glut des kleinen Feuers auseinander. Die beiden anderen Jungen saßen bereits auf dem Armeepferd. Susqueya kam zu mir herüber. Ich schwang mich auf Shitas Rücken und half ihr hinauf. Sie war doch ganz froh, daß sie nicht zu laufen brauchte, auch wenn sie eifrig das Gegenteil versicherte. Als wir den Wald verließen, lag das Land still und friedlich im Glanz der Vormittagssonne vor uns. Es war nichts von Tod und Verderben zu spüren, nichts von Kampf und Feindschaft, nichts von Not und Verzweiflung. Nichts von alledem. Nur Frieden. Wieder, wie schon am Vortage, sahen wir vor uns die Sierra Charote. Sie schien näher gerückt zu sein. Das gab uns Hoffnung. Wir stießen schon bald auf die breite Spur, die die Krieger hinterlassen hatten, denen wir folgten. Die Fährte war noch gut zu erkennen, obwohl das Gras sich fast schon wieder aufgerichtet hatte, das die Pferdehufe niedergetreten hatten. In den Tagen zuvor hatte uns diese Fährte immer daran erinnert, daß wir nicht ganz allein waren, daß sich irgendwo vor uns weitere Apachen befanden. Ich wußte es besser. Ich kannte das Ende der Spur. Darum stieg beim Anblick der Hufabdrücke die ganze Übelkeit der Nacht wieder in mir hoch. Ich schluckte sie hinunter und ritt schweigend mit Susqueya voraus. Niemand sprach ein Wort. Aber ich sah und spürte es auch, daß alle gern gefragt hätten, was denn nun wirklich in der Nacht passiert wäre. Doch sie schienen begriffen zu haben, daß ich es nicht erzählen wollte. Sie wußten auch nicht, was ich wußte, daß nämlich ihre Fragen bald beantwortet sein würden.
6. Östlich von uns endlose Steppe mit bräunlichem Gras. Westlich die Erhebungen einer kleinen Gebirgskette. Vor uns Aasvögel.
Krähen, ganze Schwärme. Ihre Schreie hallten uns durch die Hitze des Mittags entgegen. Sie flatterten tief über dem Boden. Ich brauchte nichts mehr zu erklären. Jetzt begriffen alle, was in der Nacht geschehen war. Wir ritten zum Rand der Bodensenke. Es war Mittag und sehr heiß. Die Sonne stand senkrecht über dem Tal. Ein schwacher Wind von Süden wehte uns entgegen. Er brachte den süßlichen Geruch von Blut und Verwesung mit. Shita und das Armeepferd gingen trotzdem weiter. Jedes andere Pferd hätte jetzt gebockt. Die beiden Tiere aber waren auf den Kampf vorbereitet. Sie waren gezwungen worden, ihre natürliche Abneigung vor dem Gestank toter Körper zu überwinden. In der Nacht hatte ich nur ahnen können, wie es im Tal aussah. Was ich jetzt bei Tageslicht sah, war schlimmer, als ich es mir jemals hätte ausmalen können. Die Leichen waren in der ganzen Bodensenke verstreut. Ein Apachenlager hatte sich hier befunden. Ein kleines Lager, neun oder zehn Krieger, acht Frauen und zwölf Kinder. Alle waren tot. Der Boden war blutgetränkt. Das Gras in der Senke war nicht grün, sondern rot. Der Boden war von Geschossen zerwühlt. Die Kugeln hatten regelrechte Furchen in die Erde gerissen und den Grasboden herausgeschleudert. Mit Blei hatten die Mörder nicht gespart. Einige Körper waren von den Geschossen nahezu zerhackt worden. Ich sah einen Krieger, dessen Leib völlig aufgerissen war, einer Squaw war fast der Kopf abgerissen worden. Dazwischen befanden sich überall kalte Feuerstellen. Es lagen Decken herum und zerbrochenes Tongeschirr. Die Tiere des Camps hatten die Killer offenbar mitgenommen. Ich entdeckte am Südende des Tals zwei tote Pferde, auf denen sich etwa zwanzig Krähen geschart hatten. Auch auf einigen Leichen hockten die schwarzen Vögel. Als wir ins Tal zogen, flatterten sie mit bösem Krächzen auf, flogen aber nicht weit, sondern blieben in der Nähe sitzen und beobachteten uns erbost.
Ich stieg ab und ging zwischen den Leichen umher. Es widerte mich an, doch irgend etwas in mir zwang mich dazu, mich gründlich umzusehen. Hier gab es kein Leben mehr außer den Aasvögeln, die vom Tod lebten. Allen Toten war der Skalp abgerissen worden, allen, ohne Ausnahme. Auch den drei oder vier Jahre alten Kindern. Auch sie hatten einen schwarzen Skalp. Die Beamten, die den Killern die Prämien auszahlten, wußten nicht, von wem die Skalps stammten. Ob von Männern, von Frauen oder von Kindern, ob von Kriegern, oder von Greisen und Wehrlosen. Es war gleichgültig. Jeder Skalp brachte Geld. Ich blieb neben jedem Toten stehen und schaute ihm ins Gesicht, obwohl ich keinen kannte. Ich prägte mir ihre Züge ein, und mit jedem, den ich betrachtete, wuchs der Haß in mir. In diesem Moment hätte ich jeden der Killer ohne die geringsten Gewissensbisse töten können. Ich durchquerte das Tal der Breite nach und scheuchte hier und da die Krähen und einige Fliegenschwärme auf, die auf den ausgebluteten Wunden der Leichen hockten. Ich ging hinauf zum Rand der Bodensenke. Hier fand ich die Spuren der Mörder. Hunderte von zerplatzten Zündhütchen lagen hier im Gras. Die blanken Messingsplitter glänzten wie Gold in der Sonne. Der Boden war zertreten von Stiefelabsätzen und beschlagenen Pferdehufen. Die Killer hatten eine weit auseinandergezogene Kette gebildet. Sie hatten mit ihren Waffen jeden Winkel des Tales bestreichen können. Ich umrundete langsam das Tal. Auf der Ostseite war der Rand der Senke mit Büschen bewachsen. Hierhin hatten viele der Apachen versucht zu entkommen. Sie lagen tot am flachen Hang unterhalb der Sträucher. Ich blieb stehen. Hier fand ich die Spur der Killer. Sie waren nach Osten davongeritten und hatten wirklich, wie ich es vermutet hatte, die Pferde ihrer Opfer mitgenommen. Ich blickte über das Tal. Das Grauen trieb mir kalte Schauer über den Rücken.
Die Krähen waren schon wieder gekommen und hüpften zwischen den Leichen herum. Ich wandte mich schnell ab. Am Nordrand der Senke standen noch immer die Squaws und die drei Jungen. Ihre Gesichter waren starr wie Masken. Sie rührten sich nicht. Keiner machte Anstalten, mir zu folgen. Ich konnte sie verstehen. Doch obwohl es mir im Grunde nicht anders ging als ihnen, hatte ich mich dazu gezwungen, alles genau anzuschauen. Ich drang in die mannshohen Büsche ein. Hier hatte sich die Hitze des Vormittags gestaut. Die dicht wuchernden Zweige hielten den Wind ab. Daher war die Luft abgestanden und stickig. Gleich am Eingang des Gebüsches fand ich eine tote Squaw. Sie hatte vier Einschußlöcher im Rücken. Aber sie besaß noch ihren Skalp. Die Killer hatten sie nicht gefunden. Ich ging weiter. Die Buschgruppe war nicht groß, und viel gab es hier nicht zu sehen. Aber ich wollte mir alles anschauen. Ich wollte alles sehen und nichts davon vergessen, was weiße Männer mit Indianern taten. Ich verstand, warum Apachen Farmen angriffen, warum sie ihre Feinde marterten und qualvoll töteten. Jeder mußte das verstehen, der gesehen hatte, was ich gesehen hatte. Niemand kann mir verübeln, daß ich in diesem Moment auch wieder nur die eine Seite sah. Ich war jung, und ich war erfüllt von dem Grauen um mich her. Ich schritt durch das Gebüsch. Die Squaws und die Jungen am Rand der Senke konnte ich nicht mehr sehen. Hier würde ich nichts mehr entdecken. Das war in diesem Augenblick klar für mich. Die Mörder hatten ganze Arbeit geleistet. Nachdem ich ihre Spuren gesehen hatte, war ich nun auch überzeugt, daß sie sich nicht mehr in der näheren Umgebung befanden. Sie waren mit ihrer blutigen Beute weitergezogen. Damit waren wir relativ sicher. Aber darauf verließ man sich in diesem Land besser nicht. Wir mußten die Chance nutzen und so schnell wie möglich weiterziehen, um das Tal und die Toten möglichst weit hinter uns zu lassen. Ich erreichte den Nordrand der Buschinsel. Vor mir befand sich noch ein übermannshoher Pecanbusch. Ich umrundete ihn. In diesem Moment wurde ich von einer harten, schwieligen Faust
an der linken Schulter gepackt. Der Griff war hart und fest wie eine Schraubzwinge. Ich konnte einen leisen Schreckensschrei nicht unterdrücken. Sekundenlang war ich wie gelähmt und nicht in der Lage, Gegenwehr zu leisten. Schwindel stiegen in mir auf. Ich atmete tief durch und riß mich los, als der Griff sich lockerte. Mit der Rechten riß ich den Tomahawk aus dem Gürtel und wirbelte herum. Ich stolperte und fiel auf die Knie. In diesem Moment schien mein Leben keinen Pfifferling mehr wert zu sein. Verzweifelt bäumte ich mich auf, als eine große Gestalt aus dem Gebüsch brach, und den Tomahawk hoch riß. * Ich war jämmerlich langsam. Der Schock steckte mir tief in den Gliedern und lähmte meine Bewegungen. Als meine rechte Faust mit dem Tomahawk nach vorn flog, zuckte mir eine große Hand entgegen und erwischte mich am Unterarm. Der Griff war so hart, daß ich fast aufschrie. Mein Faust öffnete sich. Der Tomahawk fiel zu Boden. Ich aber taumelte, verlor den Halt und wäre gestürzt, wenn mich der Mann, der mich gepackt hielt, nicht gehalten hätte. Seine Hand, die meinen rechten Unterarm umfaßt hielt, preßte alle Kraft aus meinem Arm. Als er mich losließ, taumelte ich rückwärts gegen den Stamm eines jungen Cottonwoodbaumes. Schwer atmend blieb ich hier stehen. Die plötzliche Anspannung meines Körpers wich. Meine Muskeln und Sehnen zitterten ein wenig. Von außerhalb der Buschinsel, vom Nordrand der Senke, hörte ich Isheekis Stimme. »Ronco!« Ich antwortete nicht. Ich schaute den Mann an, der wenige Schritte entfernt von mir stand. Es war ein Apache. Er war überdurchschnittlich groß. Sein Körper war nicht gedrungen und untersetzt, wie bei den meisten Kriegern, sondern schlank und geschmeidig. Seine Arme waren lang und sehnig, die Muskeln flach und ungemein ausgeprägt. Lang und glatt
fiel ihm das schwarze Haar auf die breiten Schultern. Es wurde von einem mit Perlen besetzten Stirnband gehalten. Am Hals trug der Krieger eine Kette mit Bärenklauen und bunten Perlen. Außer einem Lendenschurz, in dem ein Messer mit lederumwickeltem Griff steckte, war er mit einer abgewetzten Leinenhose bekleidet und mit kniehohen Mokassins. Auf beiden waren eingetrocknete Blutflecke. Sein Alter war schwer zu bestimmen. Apachen alterten schneller, da sie ein härteres Leben führten. Einige Falten kerbten das ernste Gesicht des Kriegers, aber er war wohl nur wenig über dreißig Jahre alt. Ich hörte wieder Isheekis Stimme. »Ronco!« »Wer bist du?« fragte der Krieger. Seine Stimme klang dunkel und angenehm. »Ich bin Ronco«, sagte ich. »Du bist doch ein Weißer.« »Ich bin Apache«, sagte ich, etwas heftiger als nötig. »Wir gehören zum Stamm von Coyotero.« »Die Squaws und die Kinder?« Er deutete mit einer Kopfbewegung zum Rand der Senke. »Ja.« »Wo ist der Stamm? Wo ist Coyotero?« »Tot«, sagte ich. »Alle sind tot, bis auf uns.« »Skalpjäger?« »Ja«, sagte ich. »Und du?« »Ich bin Eskehimzin«, sagte er. »Habt ihr vor ein paar Tagen die Farm nördlich von hier überfallen?« fragte ich. »Ja. Habt ihr sie gefunden?« »Wir haben dort übernachtet. Skalpjäger sind erschienen und hätten uns beinahe entdeckt. Sie sind weitergeritten und euren Spuren gefolgt. Wir auch.« »Sie waren letzte Nacht plötzlich da«, sagte Eskehimzin. Er wandte sich ab. Sein Blick glitt für Sekunden ins Leere. Er wirkte abwesend. »Wir haben geschlafen, als sie anfingen, zu schießen.« »Ich hab's gesehen«, sagte ich.
Er wandte sich mir wieder zu. »Wir haben in einem Wald gelagert, ein paar Meilen von hier«, erklärte ich. »Wir hörten die Schüsse, und ich ritt los, um nachzusehen, was passiert sei. Da habe ich alles gesehen.« »Wohin wollt ihr?« fragte er unvermittelt. »Nach Süden«, sagte ich. »Nach Mexiko. Als Coyotero noch lebte, wollte er mit dem ganzen Stamm hin. Jetzt ziehen wir allein. Dort unten sind viele Apachenstämme, denen wir uns anschließen können. Bevor Coyotero das Winterlager abgebrochen hat, waren Boten von Mangas Colorados da.« »Wir wollten auch nach Süden«, sagte Eskehimzin. »Mangas Colorados sammelt Krieger, um gegen die Bleichgesichter zu ziehen. Er will die Apachen vereinigen. Aber vielleicht …« Er verstummte einen Moment. »Vielleicht gibt es bald keine Apachen mehr.« »So leicht besiegt man uns nicht«, sagte ich. Ich glaubte in seinem Gesicht so etwas wie ein Lächeln zu entdecken. »Woher stammst du?« fragte er. »Seit wann bist du bei Coyoteros Stamm?« »Ich habe es vergessen«, sagte ich. »Ich bin ein Apache. Alles andere ist egal.« »Du hast recht, es ist egal.« Eskehimzin nickte. »Wie alt bist du, Ronco?« »Ich glaube zwölf.« »Zwölf.« Er trat auf mich zu und legte mir die Rechte auf die Schulter. »Alt genug, um zu kämpfen«, sagte er. »Als ich zwölf Sommer alt war, bin ich das erstemal in den Krieg gezogen. Komm jetzt, wir wollen die Squaws nicht warten lassen.« Ich nickte. Wir gingen zum Rand der Buschgruppe. Da standen plötzlich Madai und die anderen Jungen vor uns. Madai hielt meinen Bogen in den Händen, den er vom Sattel Shitas genommen hatte. Er hatte einen Pfeil auf die Sehne gelegt. Die Jungen erschraken, als sie den großen Krieger vor sich sahen. »Das ist Eskehimzin«, sagte ich. »Er hat das alles hier überlebt.« »Eskehimzin …« Madai sagte es fast mit Andacht. Auch die beiden anderen Jungen kriegten große, runde Augen. Sie kannten ihn. Zumindest hatten sie schon von ihm gehört. Ich
nicht. An ihrem Gesichtsausdruck aber konnte ich erkennen, daß Eskehimzin ein großer Mann unter den Apachen war. »Wir – haben zwei Ponys gefunden«, sagte Madai, ohne den Blick von Eskehimzin zu nehmen. »Sie streunten in der Nähe herum. Anscheinend sind sie in der Nacht fortgelaufen und haben jetzt versucht, zurückzufinden.« Eskehimzin ging an ihnen vorbei, ich war neben ihm, Madai und die beiden Jungen folgten uns. Wir gingen zu den Squaws hinüber. Susqueya stieg von Shitas Rücken. Sie kannte ihn. Sie war nicht mehr jung, und in den Jahren, die hinter ihr lagen, hatte sie viele große Krieger und Häuptlinge gesehen. Viele davon waren tot. Sie freute sich. Ich sah es ihr an. Trotz ihrer schlechten Verfassung. Ihre Augen leuchteten. »Es sind viele Sommer ins Land gezogen, daß ich dich gesehen habe, Eskehimzin«, sagte sie. »Ich war damals noch jung, Susqueya«, erwiderte er. »Ich war unerfahren, und ich war dankbar für die Ratschläge, die Coyotero mir gegeben hat.« »Coyotero hat häufig an dich gedacht. Wenn er von dir hörte, war sein Herz stets voller Freude. Du bist ein großer Krieger geworden, und dein Name ist unter den Apachen in aller Munde.« »Was zählt mein Name.« Über Eskehimzins Züge fiel ein Schatten. »Unser Volk ist in einer schweren Stunde. Da zählt der einzelne nichts. Was in den letzten Tagen geschehen ist, passiert seit Wochen immer wieder. Wir müssen nach Süden gehen, zu Mangas Colorados und zu Cochise. Gemeinsam mit allen Apachen werden wir stark sein.« »Es ist gut, daß du bei uns bist«, sagte Isheeki. »Ich wäre lieber tot«, sagte Eskehimzin. Seine Stimme klang plötzlich scharf. »Seht euch um, seht hinunter ins Tal. Sie sind alle tot. Ich lebe, und ich schäme mich, daß ich als einziger den Kugeln der Mörder entkommen konnte. Ich habe mich retten können, und es wird einige geben, die einmal sagen werden, daß ich feige geflohen bin, statt zu kämpfen.« »Niemand wird jemals sagen, daß Eskehimzin geflohen ist«, sagte Isheeki. Aus glänzenden Augen schaute sie den hochgewachsenen
Krieger an. »Dein Name ist zu groß, als daß es jemand wagen würde, so etwas auch nur zu denken.« Eskehimzin schwieg. Er drehte sich um und schaute über das Tal, über dem der Pesthauch des Todes lag. Die Krähen hatten sich wieder in der Bodensenke neben den Leichen niedergelassen. Düsternis lag in Eskehimzins Zügen. »Es ist bitter, zu leben, wenn alle, die man lieb gehabt hat, tot sind.« »Es gibt noch genug Apachen«, sagte Susqueya. »Alle brauchen dich.« Der Krieger antwortete nicht. Sein Blick schweifte in die Ferne. »Irgendwann«, sagte er leise, »wird der Tag der Rache kommen. Dann werden sich die Steppen und Prärien rot färben vom Blut der weißen Männer. Dann werden sie bezahlen für alles, was sie getan haben.« Er wandte sich uns wieder zu. »Ziehen wir weiter. Ich komme mit euch.« Madai führte die beiden Ponys heran, die aufgetaucht waren, während ich in der Buschgruppe Eskehimzin gefunden hatte. Es waren struppige, kräftige Tiere, nicht schön, aber, so wie Shita, ungemein ausdauernd und bedürfnislos. Sie trugen keine Sättel mehr, nur ein Kopfgeschirr aus leichtem Ledergeflecht. Ich war froh, als ich die beiden Tiere sah. Von jetzt an würden wir wesentlich schneller weiterziehen. Eskehimzin würde eines der Ponys reiten, das andere konnte Isheeki und Nytaka tragen. Nun brauchte keiner von uns mehr zu Fuß zu gehen. Eskehimzin schwang sich auf ein schwarzweiß geschecktes Tier. Isheeki und Nytaka bestiegen das zweite Pony. Auch ich kletterte wieder auf Shitas Rücken und half Susqueya hinter mir hinauf. Wenig später ritten wir weiter. Wir schlugen einen weiten Bogen um das Tal des Grauens und entfernten uns ziemlich rasch. Eskehimzin ritt an der Spitze, als zweite folgten Susqueya und ich. Den Abschluß bildeten Madai und die beiden anderen Jungen auf dem Armeepferd. Die Sonne hatte den Zenit bereits überschritten. Doch die Hitze schien noch stärker zu werden. In der Ferne flimmerte die Luft, und der Wind brachte jetzt wieder feinen Staub mit, der die Luft
durchsetzte, durch das Gewebe der Kleidung drang, sich auf der Haut festsetzte, die Poren verklebte und zusammen mit dem Schweiß eine feste Kruste bildete. Es gab keinen Zwischenfall mehr. Wir ritten bis zum Abend, ohne auf Hindernisse zu stoßen. An diesem Tag legten wir eine mindestens doppelt so große Strecke zurück wie an den vergangenen Tagen. Als die Sonne sank, tauchte ein schmaler Fluß vor uns auf. Der rote Abendglanz des Himmels spiegelte sich in den Fluten, die Wellen spülten sanft an die sandigen Ufer. Hier rasteten wir. Susqueya fieberte wieder. Sie hatte sich gut gehalten, obwohl sie in den letzten Stunden immer häufiger von Hustenanfällen geschüttelt worden war. Aber der Tag war lang gewesen, und die Strapazen hatten sie doch mehr mitgenommen, als sie zugeben wollte. Auch ich hatte heftige Kopfschmerzen, obwohl meine Stirnwunde, wie Madai mir versicherte, wirklich rasch verheilte. Anscheinend hatte ich mir eine leichte Gehirnerschütterung zugezogen, als der tiefhängende Ast mich in der Nacht aus dem Sattel gefegt hatte. Am Fluß war es angenehm kühl. Meine Kopfschmerzen ließen sofort nach, als ich aus dem Sattel stieg und mich im Gras niederließ, während Shita mit den anderen Pferden in das flache Uferbett des Flusses trabte und soff. Ich hatte nicht viel Zeit, um auszuruhen. Während Madai und die beiden anderen Jungen trockenes Feuerholz suchten, brachen Eskehimzin und ich auf, um uns im letzten Tageslicht davon zu überzeugen, daß wir hier sicher waren. Wir hatten keine Ahnung, wie der Fluß hieß, an dem wir lagerten. Es war nur ein kleiner Strom, zu flach für Schiffe. Eskehimzin vermutete, daß es sich um einen unbedeutenden Seitenarm des Rio Pecos handelte. Wir schritten am Ufer entlang. Ich trug meinen Bogen und den Köcher mit den Pfeilen bei mir. Eskehimzin hatte ebenfalls seine Waffen bei sich, die er aus dem Tal geholt hatte, wo er sie während des Massakers zurückgelassen hatte.
Das Ufer eines Flusses auf Spuren abzusuchen, war der sicherste Weg, um zu erfahren, ob weitere Menschen in der Nähe waren. Jeder Reiter, der in die Nähe eines Flusses kam, ließ sein Pferd saufen und füllt seine Wasservorräte auf. Also hinterließ er Spuren. Wir fanden nichts, obwohl wir fast eine Dreiviertelstunde unterwegs waren. Auf dem Rückweg scheuchten wir einen Präriehasen auf. Wir reagierten beide und schossen unsere Pfeile gleichzeitig ab. Wir trafen auch beide. Der Hase überschlug sich und blieb liegen. Eskehimzin sagte nichts. Aber in den Blicken, die er mir zuwarf, lag Anerkennung. Ich war stolz. Ich nahm den Hasen an den Ohren auf und trug ihn zum Lager. Als wir es erreichten, war die Sonne untergegangen und die Nacht sank über das Land. Ein Feuer brannte. Wir hatten unterwegs Sarsaparilla gefunden und einige Stengel mitgenommen. So erhielt Susqueya wieder ihren Tee, den sie so nötig brauchte. Danach aßen wir zum erstenmal, seit wir das Land verlassen hatten, in dem Coyoteros Stamm bis auf uns ausgelöscht worden war, wieder gebratenes Fleisch. Isheeki bereitete es zu. Sie suchte in aller Eile trotz der Dunkelheit ein paar Kräuter, mit denen sie die Fleischbrocken einrieb, damit sie nicht so fad schmeckten. Wir steckten das Fleisch auf schmale Stöcke und hielten es über die Flammen, bis es gleichmäßig gebräunt war. Es erschien mir als die köstlichste Mahlzeit, die ich je eingenommen hatte. Ich bin sicher, den anderen ging es ähnlich. Nach dem Essen löschten wir das Feuer und legten uns zum Schlafen nieder. Zum erstenmal, seit wir auf der Flucht waren, wurde in dieser Nacht gewacht. In den Tagen zuvor waren wir alle viel zu erschöpft gewesen, um auch noch einen Wachdienst auf uns zu nehmen. Jetzt, nachdem wir alle die Möglichkeit hatten, zu reiten, war das anders. Außerdem hatten uns unsere letzten Erfahrungen gezeigt, daß es besser war, auf ein oder zwei Stunden Schlaf zu verzichten, dafür aber am nächsten Morgen noch lebend aufzuwachen. Eskehimzin übernahm die erste Wache. Madai sollte die zweite Wache übernehmen, ich die dritte und so weiter. Die Squaws
brauchten nicht zu wachen. Die letzte Wache im Morgengrauen würde wieder Eskehimzin übernehmen. An diesem Abend schliefen wir ruhiger ein. Doch noch war der Weg weit bis zur Grenze, bis nach Mexiko. Ins Land der tausend Gräber … Welch ein Name. Dabei war doch schon hier in Texas fast jeder Fuß-, breit Boden mit Menschenblut getränkt. Ich schlief unruhig in dieser Nacht. Die vielen Bilder von Tod und Vernichtung, die ich in den letzten Tagen gesehen hatte, ohne sie wirklich innerlich verarbeiten zu können, stiegen in mir hoch. Ich stand noch einmal hoch oben auf einer Hügelkuppe und schaute hinunter in ein Tal, in dem Apachen lagerten. Männer tauchten urplötzlich auf, weiße Männer mit großen Hüten und vielschüssigen Revolvern. Ich schrie wie ein Verrückter. Aber die Apachen im Tal hörten es nicht. Dann schossen die weißen Männer. Ich sah Pulverdampf aufsteigen, Mündungsblitze zucken und Menschen getroffen zusammenbrechen. Aber ich hörte die Schußdetonationen nicht. Es war ein schreckliches, geräuschloses Schauspiel, das ich zu sehen bekam. Plötzlich entdeckten die Mörder mich. Sie schlichen auf mich zu. Aber ich konnte nicht weglaufen, obwohl ich es wollte. Die Angst fraß mich fast auf. Die Killer rückten immer näher. Ihre Revolver waren auf mich gerichtet. Dann schossen sie. Diesmal hörte ich die Schüsse. Aber die Männer trafen mich nicht. Denn vor mir stand auf einmal Susqueya mit ausgebreiteten Armen. Sie wurde von den Geschossen durchgeschüttelt und zu Boden geschleudert. Vor meinen Füßen starb sie, während sich die Killer in Nichts auflösten und auch das Tal mit den vielen Toten vor meinen Augen verschwand. Ich stand ganz allein auf dem hohen Hügel und zu meinen Füßen lag Susqueya, blutüberströmt und tot. Ich wollte mich über sie werfen. Da wurde ich hin und her geschüttelt und schlug die Augen auf. Madai hockte dicht vor mir und schaute mir ins Gesicht. »Was ist los mit dir?« Seine Stimme klang leise. »Du hast dich herumgeworfen, als ginge es dir ans Leben.«
Ich begriff nichts. Ich hörte seine Stimme, aber es dauerte eine Zeit, bis ich verstand, was er meinte, und bis ich völlig wach war und wußte, daß alles nur ein Traum gewesen war, nichts als ein böser Traum. Ich mußte mich wirklich heftig im Schlaf bewegt haben, denn ich war völlig in meine Decke verheddert und hatte einige Mühe, mich aus ihr zu befreien. Ich war schweißgebadet, und meine Hände zitterten noch ein wenig. Madai schaute mich noch immer gespannt an. »Es ist nichts«, sagte ich. »Gar nichts.« »Hast du schlecht geträumt?« »Es ist alles in Ordnung«, sagte ich. »Habe ich jetzt Wache?« »Ja, und ich habe dich ganz schön lange schütteln müssen, bis du aufgewacht bist.« »Tut mir leid.« Meine Hose war etwas gerutscht. Ich zog sie ein Stück hoch. Noch immer hatte ich die Bilder des Traums vor Augen und die Erregung in mir klang nur langsam ab. »Es waren schlimme Tage«, sagte Madai. »Sehr schlimm«, sagte ich. »Leg dich jetzt hin. Morgen früh mußt du ausgeruht sein. Ein Tag ist lang, und wir haben einen weiten Weg vor uns.« Er rückte und nahm sich seine Decke. Unweit von Isheeki legte er sich hin. Ich schaute kurz zu ihm hinüber und ging dann zum Flußufer hinunter. Sanft spülten die Wellen ans Ufer. Das Wasser glitzerte silbern im Mondlicht. Ich hockte mich hin, zog die Mokassins aus und ließ die Füße in den Fluß hängen.
7. Das Wasser war kalt. Nach wenigen Sekunden wollte ich die Füße schon wieder herausziehen. Aber ich zwang mich, sie im Wasser zu lassen, bis die Kälte mich schmerzte und ich das Gefühl hatte, meine Füße seien am Absterben. Ich wollte wieder einen klaren Kopf kriegen. Doch das eisige Fußbad hatte nichts genützt. Noch immer dachte ich nur an den
Traum und grübelte darüber nach, ob er wohl mehr bedeutet hatte, als Träume im allgemeinen bedeuten. Ich zog meine Mokassins wieder an, legte mich auf den Bauch und kühlte mein Gesicht mit Wasser. Den letzten Rest des Schlafes, der in meinem Körper nistete, vertrieb ich damit. Aber nicht die bösen Gedanken. Ich erhob mich. Rings um die kalte Feuerstelle lagen Eskehimzin, die Jungen und die Squaws und schliefen tief und fest. Ich spähte nach Süden in die Nacht. Dort, irgendwo in der Ferne, lag unser Ziel. Ich dachte an die Worte Isheekis. In mir wuchs wieder die Sehnsucht nach dem Land jenseits der Grenze. Langsam bewegte ich mich flußaufwärts. Die Nacht war still und friedlich. Vieles kam mir in den Sinn. Ich hatte Zeit, nachzudenken, viel Zeit. Madai hatt mir am Abend, als wir die Pferde versorgten, erzählt, das Eskehimzin ein Unterhäuptling von Cochise sei. Er führte seine eigene Stammesgruppe. Eskehimzin hatte sich einen großen Namen als Krieger erworben, als er einmal Cochise das Leben gerettet hatte. Da war er kaum zwanzig gewesen. Er war zudem ein glänzender Stratege, der mit seinen Kriegern auch dann noch gut bewaffneten Soldaten erfolgreich widerstanden hatte, wenn diese in der Überzahl gewesen waren. Er hatte an Verhandlungen über einen Friedensvertrag teilgenommen, der nie zustande gekommen war. Doch von seinem Verhandlungsgeschick sprachen manche weißen Offiziere noch heute. Ich wollte werden wie er. Das dachte ich in dieser Nacht. Aber bis dahin würden noch sehr viele Jahre verstreichen, und ich würde noch sehr viel zu lernen haben. Ein Windhauch strich plötzlich über den Fluß und trieb mir eine Strähne meines schulterlangen, blonden Haares ins Gesicht. Ich strich sie mir aus der Stirn. Da hörte ich auf einmal Stimmen. Sie ertönten vom Fluß. Aber hier war niemand zu sehen. Der Mond war am Himmel weitergerückt, und so glänzte nur noch ein Teil des Wassers wie flüssiges Silber, während der andere Teil schwarz und drohend schimmerte. Ich nahm den Bogen von der Schulter und lief zum Ufer. Am Lagerplatz schliefen noch alle. Ich beugte mich vor und lauschte.
Auf dem nächtlichen Fluß hallte jedes Geräusch weiter als bei Tage. Wenn Menschen in der Nähe waren, blieb vielleicht noch Zeit, etwas zu tun. Wieder hörte ich Stimmen. Diesmal etwas lauter. Sie näherten sich. Ich hörte auch ein leises Knarren. In regelmäßigen Abständen ertönte ein dumpfes Klatschen. Ein Boot. Ein Ruderboot. Ich warf wieder einen Blick zum Camp hinüber. Es war zu spät, das Lager zu räumen. Das Boot würde schneller da sein. Es mußte sofort gehandelt werden. Ich legte Bogen und Köcher zu Boden und streifte in Windeseile mein Kalikohemd und die Mokassins ab. Dann watete ich in den Fluß, bemüht, keine hastige Bewegung zu machen, um kein lautes Plätschern oder anderes Geräusch zu verursachen. Ich biß die Zähne zusammen, um die Kälte des Wassers zu ertragen. Als ich bis zu den Hüften im Fluß stand, tauchte ich unter. Die Kälte nahm mir erst den Atem. Aber ich gewöhnte mich rasch an die Temperatur und schwamm mit ruhigen Bewegungen zur Flußmitte. Mir war klar, daß wir vom Ufer aus keine Chance gegen ein Boot hatten, dessen Insassen mit Gewehren bewaffnet waren. Dort, wo wir unser Lager hatten, gab es keine Deckungsmöglichkeiten. Wir konnten uns zwar wehren, aber Männer mit Gewehren, die in einem rasch vorbeischwimmenden Kahn saßen, waren uns weit überlegen. Wir konnten unsere Pfeile abfeuern, doch wenn die Männer im Boot sich flach auf den Boden legten, konnten wir ihnen nichts anhaben. Die Pfeile würden im Bootsrumpf steckenbleiben. Wir dagegen waren dem Beschuß vom Fluß hilflos ausgeliefert. Ich schwamm gegen die Strömung. Wieder hörte ich die Stimmen, und die Ruderblätter klatschten noch immer in regelmäßigem Rhythmus ins Wasser. Wenig später sah ich das Boot aus der Finsternis auftauchen. Es glitt ziemlich schnell heran. Es war ein Kahn, der flach auf dem Wasser lag. Zwei Männer saßen darin, einer von vielleicht vierzig Jahren, der andere nicht ganz halb so alt. Vater und Sohn wahrscheinlich. Sie sahen aus wie Farmer. Ich schwamm in dem Teil des Wassers, den das Mondlicht nicht
erhellte. Deshalb sahen sie mich nicht. Trotzdem tauchte ich und schwamm unter Wasser in Richtung des Bootes. Sekundenlang hörte ich nichts und sah kaum etwas. Nur einmal tauchte vor meinem Kopf das Ruderblatt ein. Beinahe hätte es mich getroffen. Ich tauchte noch etwas tiefer, bemerkte einen Schatten über mir und schwamm unter dem Boot hindurch. Dann tauchte ich auf, ohne viel Geräusch. Da war der Kahn keine Armlänge mehr von mir entfernt. Er befand sich jetzt genau gegenüber von unserem Lager. Die beiden Männer im Boot hatten das Camp entdeckt und schauten hinüber. Daher konnten sie mich nicht sehen. Sie hatten die Ruder aus dem Wasser gezogen und schienen zu überlegen, was sie tun sollten. »Rothäute«, flüsterte der Jüngere. »Mensch, Pa, da lagern Apachen.« »Ich hab ja Augen im Kopf«, sagte der andere leise. »Verdammt noch mal, jetzt treiben sich diese Hunde auch in unserer Gegend herum. Womöglich haben wir schon in ein paar Tagen eine Kriegerhorde auf dem Hals.« »Sie schlafen«, sagte der Jüngere. »Pa, die schlafen doch tief und fest. Wir sollten sie abknallen, einfach abknallen. Dann sind wir sie los, und ein paar Skalpprämien könnten wir brauchen.« »Vielleicht hast du recht«, sagt der Ältere. »Teufel noch mal, dieses Pack muß man umbringen, wo man es trifft. Man muß sie abschießen wie die Hasen. Alle, ohne Ausnahme, auch die Kinder. Denn aus den Kindern werden einmal Krieger, und die bringen uns um und schänden unsere Frauen und Töchter. Stell dir vor, Bill, so ein rothäutiger, stinkender Hund bricht bei uns ein und fällt über Mary her.« »Knallen wir sie ab, Pa«, sagte der Jüngere. Seine Stimme zitterte vor Aufregung. Ich atmete flach, und ich konnte kaum glauben, was ich hörte. Soviel blinder Haß. Was hatten wir diesem Farmer getan? Zorn stieg in mir auf, Zorn auf diesen Mann, den ich gar nicht kannte. »Es sind sechs, Pa«, sagte der junge Mann in diesem Moment. »Ein paar scheinen Kinder zu sein. Schieß zuerst die großen ab.«
Der Alte bückte sich und hob ein kurläufiges Sharps-Gewehr aus dem Boot. Genauso hatte ich mir das gedacht. Ich tauchte sofort unter und schwamm unter dem Boot hinweg. Mein Rücken schrammte leicht am Rumpf des Kahns entlang. Dann kam ich direkt an der Backbordseite des Boots hoch, gerade als der ältere Mann seine Sharps an die Schulter legte. Ich ließ meine Arme hochschnellen, packte den Lauf und zerrte ihn nach unten. Ein Schuß löste sich. Die Kugel peitschte das Wasser auf. Dann stürzte der Mann kopfüber aus dem Boot. »Paaa!« Der jüngere Bursche klammerte sich in dem wild schwankenden Kahn fest und stieß einen grellen Schrei aus. Direkt neben mir klatschte der schwere Körper des Mannes ins Wasser und tauchte sofort unter, mit Händen und Füßen um sich schlagend. Die Sharps hatte er loslassen müssen. Sie war versunken. Ich tauchte sofort wieder. Auf einen Ringkampf im Wasser wollte ich mich lieber nicht mit dem breitschultrigen Farmer einlassen. Ich schwamm ein Stück, tauchte wieder auf und sah, daß am Ufer Eskehimzin auf die Beine gesprungen war und seinen Bogen in den Fäusten hielt. Neben dem Boot ruderte der Farmer wie verrückt mit beiden Armen, und sein Sohn schrie aus Leibeskräften, als sollte er am Spieß gebraten werden. »Hilf mir!« brüllte der Mann im Wasser. »Verflucht noch mal, du verdammter Idiot! Hilf mir! Im Wasser sind Rothäute. Sollen die mich umbringen!« Wenn er gewußt hätte, wie viele »Rothäute« im Wasser waren, hätte er nicht so sehr gebrüllt. Ich hatte erreicht, was ich wollte. Mit kräftigen Zügen schwamm ich zum Ufer. Als ich es erreichte, flohen gerade die Squaws und die Jungen vom Ufer weg, um sich flach ins Gras zu werfen. Das war die einzige Deckungsmöglichkeit. Gleichzeitig flog der erste Pfeil von Eskehimzins Bogen. Er bohrte sich mit saugendem Laut direkt neben dem jungen Mann in den Bug des Kahns. »Rudere doch!« schrie der Vater im Wasser. »Rudere doch
endlich, du Trottel! Willst du umgebracht werden!« Er klammerte sich am Heck fest und zog den Kopf ein. Er tat das einzig richtige. Wäre er ins Boot geklettert, hätte ihn sicher ein Pfeil getroffen. So bildete er nur ein kleines Ziel, das in der Dunkelheit schwer zu erkennen war. Sein Sohn aber griff nach den Ruderpinnen und tauchte sie tief ins Wasser. Dabei lag er fast auf der Ruderbank, und er schrie vor Angst. Eskehimzins Pfeile flogen nun in rascher Folge und bohrten sich in den Bootskörper, flogen dicht am Ruderer vorbei und trafen auch die Ruderblätter. Ich schlüpfte in meine Mokassins und zog mein Kalikohemd über. Dann nahm ich meinen Bogen auf und schoß ebenfalls. Das Boot glitt schwerfällig flußabwärts, da der junge Mann nicht wagte, sich aufzurichten und daher nicht richtig ausgreifen konnte. Der Alte im Wasser feuerte ihn an und beschimpfte ihn. Meine Pfeile bohrten sich neben denen von Eskehimzin in das Boot. Einmal streifte einer dem jungen Mann über den Rücken und riß sein Hemd auf. Wahrscheinlich ritzte er auch seine Haut. »Ich bin getroffen!« schrie der Farmersohn. »Pa, mich hat es erwischt! Ich habe einen Pfeil im Rücken!« »Hör nicht auf zu rudern, du Büffel!« schrie der Mann im Wasser. »Schneller! Verdammt noch mal. Beeil dich, damit wir außer Schußweite kommen. Du sollst rud … Aaah!« Der Mann stieß ein langgezogenes Heulen aus. Eskehimzin hatte ihn mit einem Pfeil in die linke Schulter getroffen. Die linke Faust des Mannes rutschte vom Bootsrand ab. Er tauchte noch tiefer ins Wasser ein, und es sah für einige Sekunden so aus, als würde er vollends den Halt verlieren und im Fluß untergehen. Aber er hielt sich mit der Rechten fest und zog sich mühsam zur Steuerbordseite hinüber, wo er vor unseren Pfeilen geschützt war. »Pa, was ist mit dir, Pa …« Die Stimme des Jungen überschlug sich. Er schluchzte fast. Wir hörten noch den Vater brüllen, der Sohn solle gefälligst weiterrudern. Dann war das Boot vorbei und verschwand in der Dunkelheit. Ich ließ den Bogen sinken und lief zum Lager zurück. Hier stand Eskehimzin. Hoch aufgerichtet, den Bogen in den Fäusten, mit einem
Gesicht wie aus Stein. »Warum hast du mich nicht geweckt?« »Es war zu spät«, sagte ich. »Es hätte nichts geändert. Es blieb keine Zeit mehr. Ich mußte sofort etwas tun.« »Vielleicht hätten wir die weißen Männer fangen können, wenn du mich geweckt hättest«, sagte er. »Ich sage doch, daß es zu spät war«, sagte ich. »Wenn ich nichts getan hätte, wäre es schlimm geworden. Es gibt keine Deckung hier gegen Gewehrkugeln. Die beiden Männer hätten uns alle abgeknallt, während das Boot sie gegen unsere Pfeile geschützt hätte. Der ältere Mann hatte schon sein Gewehr angelegt, als ich ihn ins Wasser zog. Vom Ufer aus wäre das nicht gegangen. Er hätte einfach in unser Lager hineingefeuert, und wir hätten es nicht verhindern können. So ist nicht ein einziger Schuß gefallen, und uns ist nichts passiert.« Eskehimzin musterte mich. Seine Züge wirkten im kalten Mondlicht wie geschnitzt, seine Augen waren schmal. Nichts in seinem Gesicht ließ erkennen, was er dachte, oder ob er das, was ich gesagt hatte, überhaupt zur Kenntnis genommen hatte. »Aber sie sind entkommen«, sagte er. »Sie wären auch entkommen, wenn ich dich geweckt hätte«, sagte ich. »Ich hatte gerade noch genug Zeit, um ungesehen ins Wasser zu gehen und zu tauchen. Hätte ich dich geweckt, wäre uns diese Zeit nicht mehr geblieben. Die Männer hätten uns entdeckt und uns im Wasser abgeschossen. Es hätte also gar nichts genützt.« Wieder musterte er mich schweigend. Ich wußte, daß auch die Blicke aller anderen auf mir ruhten. Niemand mischte sich ein. Ich hatte keine Angst vor Eskehimzin. Zwar war er ein berühmter Krieger, und vielleicht würde er auch weiter der Meinung sein, daß ich falsch gehandelt hatte. Aber das hatte keinerlei Folgen. Bei den Apachen gab es weder Befehl noch Gehorsam. Hier handelte der einzelne, wenn er dazu gezwungen war so, wie er es für richtig hielt, ohne erst andere zu fragen. Apachen folgten ihren Häuptlingen und ordneten sich der Erfahrung älterer Krieger unter. Aber sie akzeptierten keine Vorschriften und führten Anweisungen nur freiwillig aus. Diese Regeln der Entscheidungsfreiheit galten auch für mich. Ich
war alt genug, um zu kämpfen. So war ich auch alt genug, um meine Handlungen selbst bestimmen zu können. Vielleicht würde Eskehimzin mich tadeln. Aber mehr auch nicht. »Du hast vielleicht recht«, sagte er in diesem Moment. »Egal, ob es falsch oder richtig war. Du hast tapfer gehandelt, und jetzt ist es vorbei und läßt sich nicht mehr ändern.« * Eskehimzin wandte sich um. »Wir brechen sofort auf«, sagte er. Niemand fragte, warum. Ohne ein Wort wurde das Lager abgebrochen. Ich eilte zu den Pferden hinüber und legte Shita den Deckensattel auf. Wir alle begriffen, warum Eskehimzin nicht bleiben wollte. Die entkommenen Männer würden sofort die Nachricht weitergeben, daß am Fluß Apachen lagerten. Vielleicht würden sie ihre Nachbarn zusammentrommeln, oder im schlimmsten Fall gab es Soldaten in der Nähe. Wenn wir jetzt blieben, lieferten wir uns unter Umständen selbst unseren Feinden aus. Susqueya kam auf mich zu. Sie sah noch verhärmter aus als in den letzten Tagen. Sie war schwach und wirkte übernächtigt. Ich half ihr auf Shitas Rücken. Eskehimzin saß bereits auf seinem Tier und ritt auf den Fluß zu. Ich folgte ihm. Wir trieben unsere Ponys ins Wasser. Der Fluß war an dieser Stelle tiefer, als wir gedacht hatten. Die Pferde versanken tief im Wasser. Unsere Beine wurden noch naß. Shita glitt mehrmals mit den Hufen auf dem schlüpfrigen Grund aus. Dann kämpfte sie sich auf der anderen Flußseite die Uferböschung hinauf. Ich lenkte sie neben Eskehimzin, der seinen Kopf zu mir wandte. »Du hast getan, was du tun mußtest«, sagte er unvermittelt. Seine Stimme klang irgendwie sanft. »Du bist noch sehr jung. Als ich so alt war wie du, habe ich oft unbedacht gehandelt, ohne nach den Folgen zu fragen. Du hast gewußt, was du tust, und hast richtig gehandelt. Ich hätte es sofort erkennen müssen.« Ich schaute ihn an und lauschte seinen Worten. Er sprach sehr
ruhig, und ich fühlte, daß er sich nicht überwinden mußte, um mir, dem Kind, seine Anerkennung auszusprechen. Ich würde lügen, würde ich behaupten, nicht stolz gewesen zu sein. Ich war stolz, und mir war bei Eskehimzins Lob fast ein wenig unbehaglich zumute. Daher antwortete ich ihm nicht. Er schien es zu verstehen und lächelte mich an, bevor er sein Tier antrieb und uns vorausritt. Die anderen hatten mittlerweile auch den Fluß durchquert. Wir ritten jetzt hintereinander und trieben unsere Pferde zur Eile an. Im raschen Trab flohen wir durch die Nacht und hofften, bis zum Tagesanbruch ein so großes Stück zurückgelegt zu haben, daß eventuelle Verfolger uns nicht mehr einholen konnten. Diesmal schonten wir die überlasteten Pferde nicht. Die Gefahr, in der wir schwebten, war zu groß. Stunde um Stunde jagten wir durch die Dunkelheit. Der Reitwind peitschte unsere Gesichter. Hinter uns versank die Prärie in der Nacht. Vor uns tauchte eine karge Steppenlandschaft mit hartem, steinigem Boden und wenigen Grasinseln auf. Hier ließen wir die Pferde in eine langsamere Gangart wechseln. Auf dem harten Boden blieben kaum Spuren zurück. Anhalten aber durften wir nicht. Nach fast einer Stunde im Steppengebiet wurde das Gelände noch unwirtlicher und für die Pferde noch strapaziöser. Im blassen Mondschimmer sahen wir westlich von uns die Massive der Sierra Charote, deren Gipfel mit dem Nachthimmel verwuchsen. Wir sprengten durch die Ausläufer des Gebirges, welliges Gelände, das den Tieren viel Kraft raubte. Es war unübersichtlich und wegen der zahllosen Spalten und Risse im Boden, die in der Nacht kaum zu sehen waren und tückische Fallen darstellten, gefährlich. Im Osten nahmen wir wenig später die wuchtigen Felssäulen der Bonito Mountains wahr, die in der Dunkelheit wie die Ruinen einer gewaltigen Kapelle wirkten. Wir hatten wenig Zeit, darauf zu achten. Das Land erforderte unsere volle Aufmerksamkeit. Susqueya klammerte sich an mir fest. Sie hatte den Kopf an meinen Rücken gelehnt und hustete ab und zu. Während der letzten Stunde häuften sich ihre Hustenanfälle, die auch von Mal zu Mal heftiger wurden und sie jedesmal regelrecht durchschüttelten. Das
erleichterte es mir nicht gerade, ruhig im Sattel zu sitzen und Shita sicher zu lenken. Wir sprengten in eine langgestreckte Senke, in der ein paar Baumgruppen standen, überwiegend Cottonwoods, deren weitausgreifendes Geäst im fahlen Licht des Mondes wie die im Tode erstarrten Arme von Riesenkraken wirkten. Weit vor uns erhoben sich weitere Hügel. Dazwischen schlängelte sich eine breite Overlandstraße von Osten nach Westen hindurch. Wir sahen nur das kurze Stück von ihr, das wir überquerten. Das Armeepferd, auf dem die drei Jungen saßen, stolperte fast in einer tiefen Spur, die die Wagenräder schwerer Concord-Kutschen in den staubigen Boden gefressen hatten, fing sich jedoch und lief weiter, ohne daß die Jungen ernsthaft in Gefahr gerieten. Kurz darauf befanden wir uns wieder im Hügelland und ließen die Gebirgsketten hinter uns, die bald nur noch Schemen in der Nacht waren, deren Konturen mehr und mehr verschwammen und schließlich mit der Dunkelheit ineinanderflossen.
8. Die Sonne ging auf. Im Osten, da, wo der Horizont die Erde berührte, schien der Himmel Feuer zu fangen. Die Berge im Osten wurden in ein rotgelbes Flammenmeer getaucht, aus dem sich ein glühender Ball erhob, der langsam am Horizont aufstieg. Noch hingen feuchte, schmutziggraue Nebelschwaden über dem Land, bedeckten den Himmel und bildeten einen dichten Wall zwischen sterbender Nacht und beginnendem Tag. Die Sonnenstrahlen rissen die grauen Schleier auf und fraßen Löcher hinein wie Motten in eine riesige, vermoderte Leinwand. Die Nebel trieben auseinander wie die hellen Strähnen des Altweibersommers. Wind strich vom Fluß heran und jagte die grauweißen Fetzen vor sich her. Am Himmel stand die Sonne, rund, glänzend, frisch und saftig wie eine Vollreife Orange. Vor uns schlugen die Wellen eines breiten Flusses an die Ufer. Die Wasser schimmerten grau, noch den Abglanz der Nacht in sich spiegelnd. Sie gurgelten dumpf. Hier und da gab es kleinere
Stromschnellen. Dort tanzten weiße Gischtkrönchen auf den Fluten. An der Stelle, an der wir unsere erschöpften Pferde zügelten, maß die Entfernung von einem Ufer bis zum gegenüberliegenden gute fünzig Yards. Weiter nach Süden zu verbreiterte sich der Strom. Unsere Tiere waren restlos fertig. Wir auch. Die Felle der Pferde glänzten vor Schweiß. Ihre Flanken zitterten leicht und vor ihren Nüstern standen kleine Schweißflöckchen. Wir stiegen aus den Sätteln. Als ich festen Boden unter den Füßen spürte, schwankte ich leicht. Meine Knie waren für ein paar Sekunden weich wie Butter. Ich hatte keine Kraft in den Beinen und mußte mich kurz an Shita lehnen. Dann half ich Susqueya herunter. Sie sackte sofort in die Knie. Ich konnte sie nicht halten. Ihr Kopf fiel nach vorn. Eskehimzin sah es und stand mit wenigen Schritten neben mir. Er half Susqueya hoch und führte sie in den Schatten eines Pecan-Baumes dicht am Flußufer. Sie hatte wieder Fieber und nahm es kaum wahr. Sie zitterte am ganzen Körper, kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn. Isheeki und Nytaka waren selbst erschöpft und konnten sich kaum auf den Beinen halten. Ihre Gesichter waren blaß und schmal und wurden von dunklen Ringen unter den Augen gezeichnet. Aber sie kümmerten sich sofort um Susqueya. Sie wischten ihr den Schweiß ab und kühlten ihre Stirn. Eskehimzin ging ohne ein Wort davon, während ich mich neben Susqueya hinhockte und die drei Jungen die Pferde zum Tränken in den Fluß führten. Es war der Rio Pecos, wie Isheeki mir sagte. Jetzt war es nicht mehr weit bis zur Mexiko-Grenze. Mir war das im Moment alles egal. Ich mußte mich zwingen, wachzubleiben. Meine Augen fielen fast von selbst zu. Den anderen ging es nicht besser. Am Himmel stieg die Sonne rasch höher. Die Luft erwärmte sich. Susqueya hatte das Bewußtsein verloren und fieberte stark. Ihr ging es am schlechtesten. Aber wir anderen waren auch nicht gerade in guter Verfassung. Wir waren reif, um aufzugeben. In uns war nur noch wenig Hoffnung, das gesteckte Ziel zu erreichen. Aber wir
konnten nicht aufgeben. Nicht nur, weil wir nicht wußten, was wir anderes hätten tun sollen, als nach Mexiko zu ziehen. Wir waren ganz einfach verloren, wenn wir von unserem Weg abwichen. Vielleicht waren wir es auch so, aber bestimmt waren wir erledigt, wenn wir nicht weiterzogen. Was waren wir denn schon? Drei Squaws, davon eine schwer krank, ein Krieger, drei Kinder und ich, ein Zwölfjähriger, der auf dem Wege war, ein Mann zu werden. Um uns herum aber lag ein riesiges Land, das einem nichts schenkte, und darin gab es genügend Menschen, denen es ein Vergnügen gewesen wäre, uns allesamt abzuschlachten. Unsere einzige Chance war Mexiko, auch wenn wir zweifelten, es zu erreichen, wenn wir zweifelten, andere Apachenstämme zu finden. Es gab keinen anderen Weg. Ich nickte wieder ein. Diesmal besaß ich nicht genügend Energie, mich dagegen zu wehren. Mein Körper war zu ausgelaugt, zu abgespannt, zu übernächtigt. Ich schlief nicht richtig ein. Halb im Unterbewußtsein nahm ich wahr, was um mich herum passierte, daß Isheeki Susqueya feuchte Tücher auf die Stirn legte und Nytaka sie zudeckte und Susqueya im Fieber leicht phantasierte. Aber ich nahm all das nicht wirklich in mir auf. Ich dämmerte vor mich hin und hatte innerlich abgeschaltet. Dabei fühlte ich mich alles andere als wohl. Ein tiefer, erfrischender Schlaf, in dem ich neue Kraft hätte sammeln können, wäre besser gewesen. Aber meine nervliche Anspannung war zu groß. Madai schlief. Die beiden anderen Jungen schliefen auch. Ich dachte an Eskehimzin. Ich hätte gern gewußt, wo er hingegangen war, hatte aber im Moment nicht einmal die nötige Energie, mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Vermutlich hätte ich nicht einmal die Kraft aufgebracht, zu fliehen, wenn in diesem Augenblick Verfolger aufgetaucht wären. Schließlich muß ich doch eingeschlafen sein. Als ich angestoßen wurde und erwachte, war ich wie betäubt und hatte stechende Schmerzen in den Schläfen. Eskehimzin stand neben mir. Er hatte mich geweckt. Seine hohe Gestalt warf einen langen Schatten.
* Ich richtete mich schwerfällig auf. Meine Kopfschmerzen gingen nicht weg, meine Glieder waren schwer wie Blei. Ein kleines Feuer brannte. In der Glut stand ein Topf, darin brodelte ein Sud von undefinierbarer Farbe. »Wir reiten gleich weiter«, sagte Eskehimzin. »Mach die Pferde fertig.« Ich blickte mich um. Die drei Jungen schliefen noch. Nytaka und Isheeki hatten sich auch hingelegt, um auszuruhen. Ich schaute zum Himmel und stellte am Stand der Sonne fest, daß ich etwa eine Stunde geschlafen haben mußte. Susqueya lag in eine Decke gewickelt im Gras. Sie schlief, warf aber unruhig den Kopf hin und her und stieß ab und zu wirre Laute aus. »Ich habe Kräuter gesucht«, sagte Eskehimzin. »Wenn sie diesen Tee getrunken hat, geht es ihr besser.« Ich beugte mich vor und schnupperte. Ein scharfer, würziger Geruch stieg mir aus dem Topf in die Nase. »Riecht wie Baumrinde«, sagte ich. »Baumrinde ist auch mit drin«, sagte Eskehimzin. »Und das hilft?« »Das hilft.« Sein Gesicht wurde ernst, und felsenfeste Überzeugung klang in seiner Stimme mit. Da wagte ich es nicht, weitere skeptische Fragen zu stellen. Eskehimzin würde schon wissen, was er tat. Ich ging zu den Pferden und führte sie zum Fluß, damit sie sich noch einmal richtig vollsaufen konnten. Ich füllte unsere Feldflaschen mit Wasser und wusch mir das Gesicht. Mein Kopfschmerzen ließen nach, und die Müdigkeit in meinem Körper wich. Ich zog die Sattelgurte der Tiere fest und kehrte zurück zum Feuer. Eskehimzin hatte den Topf aus der Glut genommen und füllte den Tee, der eine bräunlichgrüne Farbe hatte, in einen Blechbecher des Kochgeschirrs. Ich hockte mich ins Gras und stützte Susqueya den Kopf, während Eskehimzin versuchte, ihr den Tee einzuflößen.
Erst gelang es nicht. Die Flüssigkeit rann ihr an den Mundwinkeln wieder heraus. Dann hustete sie heftig. Ihr ganzer Körper wurde von einem krampfartigen Anfall geschüttelt. Als er vorbei war, schluckte sie. Während sie trank, schlug sie die Augen auf. Sie ließ sich den heißen Kräutersud einflößen und sagte auch nichts, als Eskehimzin den Becher zum zweitenmal füllte. Sie leerte ihn auch gehorsam ein drittes Mal. Danach sank sie erschöpft zurück. Als ich ihr besorgt ins Gesicht blickte, versuchte sie zu lächeln. Sie hob die rechte Hand und strich mir über die Stirn. »Wir reiten gleich weiter«, sagte ich. »Schaffst du es?« »Mach dir keine Sorgen«, erwiderte sie. »Ich mache mir aber Sorgen.« »Das ist nicht nötig. Ich habe Schlimmeres erdulden müssen.« Eskehimzin zertrat das Feuer. Er mußte genauso erschöpft sein wie wir anderen. Doch ihm war fast nichts anzusehen. Dabei hatte er nicht einmal geschlafen oder sich zumindest ausgeruht. Jetzt ging er und weckte die anderen. Sie wankten müde zu den Pferden. Ich half Susqueya auf die Beine. Der Tee Eskehimzins schien Wunder zu wirken. Susqueya war sicherer auf den Beinen, als ich es geglaubt hatte. Ich brauchte sie nicht zu stützen. Ihr Fieber war gesunken. Es war schon toll, was so ein widerlich stinkendes Gesöff aus einem Dutzend verschiedener Kräuter alles zustande bringen konnte. Meine Hochachtung vor Eskehimzin wuchs. Er dagegen schien die plötzlich einsetzende Besserung von Susqueyas Zustand ganz natürlich zu finden. Wenig später saßen wir alle wieder in den Sätteln. Eskehimzin übernahm die Spitze. »Ich habe habe eine Furt gefunden«, sagte er nur. Dann trieb er sein Pony an. Wir folgten ihm. Eine halbe Meile flußabwärts befand sich eine Furt. Der Fluß war hier fast siebzig Yards breit, aber flach wie eine Pfütze. Das Wasser reichte nicht einmal bis zu den Steigbügeln.
Als wir am Südufer anlangten, hatte die Sonne den Zenit erreicht. Trotz der Hitze ritten wir sofort weiter. Von jetzt an gab es bis zum Abend keine Rast mehr. * Wir wurden nicht mehr aufgehalten und stießen nicht mehr auf Menschen. Susqueyas Zustand besserte sich am darauffolgenden Tag. Sie hustete zwar noch viel, hatte aber kein Fieber mehr und wurde etwas kräftiger. Nach einer ruhigen Nacht zogen wir den ganzen darauffolgenden Tag südwärts. Das Land wurde von Stunde zu Stunde unwirtlicher. Staub trieb uns in Böen entgegen. Es gab kaum noch Vegetation. Erst, als wir uns wiederum einen Tag später einem mächtigen Strom näherten, gab es zahlreiches Buschwerk, Bäume und auch Gras. Wir hatten die erste Etappe unseres Weges hinter uns gebracht. Wir hatten die Grenze erreicht, hinter der Mexiko lag. Schwerfällig und träge wälzten sich die Wellen des gewaltigen Flusses durch das Bett. In den lehmigen Wassern spiegelte sich der farblose Himmel. Es war der Rio Bravo. Heute heißt er Rio Grande, großer Fluß, und dieser Name ist angemessen, denn ich habe außer dem Mississippi nie einen größeren Strom gesehen als ihn. Aber kaum ein Mensch weiß heute, daß der Fluß früher Rio Bravo hieß, was wilder Fluß bedeutet. Aber wild war er nur, wenn er über die Ufer trat und das Land rechts und links seines Bettes unter Wasser setzte. Dieser Strom bildete die Grenze zwischen Texas und Mexiko. Und auch wenn er heute einen anderen Namen hat, ist das so geblieben. Er ist noch immer der Grenzfluß zwischen den beiden Staaten. Wir zügelten am Ufer unsere Pferde. Ich kann nicht beschreiben, was wir empfanden. Dazu ist es zu lange her. Aber sicher ist, daß wir damals, angesichts des riesigen Flusses, über den wir weit hinein nach Mexiko schauen konnten, vieles vergaßen, was an Schlimmem hinter uns lag. Eskehimzin war vorausgeritten, als wir uns der Grenze genäherte
hatten. Er führte uns zu einem Dornbuschgürtel, der sich oberhalb des Stroms meilenweit wie ein Stachelpelz über das Land hinzog. Hier endlich konnten wir absteigen und rasten. Es war Mittag, und wir waren müde wie tausend Mann. »In der Nacht gehen wir hinüber«, sagte Eskehimzin. »Es sind hier immer mexikanische Langmesser in der Nähe, die die Grenze bewachen. Nachts ist es sicherer für uns. Bis dahin können wir ausruhen.« Er schaute uns nicht an, während er sprach. Er stand am Rande unseres Verstecks, am Eingang des Brushlandes, und spähte hinunter auf den Rio Bravo und über den Fluß in das Land, aus dem der glühende Wind kam, der uns seit Tagen entgegenstrich. Dort lag das Land, in dem es nur Apachen gelang, auf die Dauer zu überleben. Das Land der tausend Gräber. In diesem Moment, ausgerechnet jetzt, mußte ich wieder an den Traum denken, den ich vor einigen Tagen gehabt hatte, jenen bösen Traum, in dem Susqueya gestorben war. Es war verrückt. Ich verdrängte die Gedanken daran und schaute ebenfalls über den Strom in das Land, in dem sich nur wenige Weiße auskannten, und in das nur Apachen gefahrlos ziehen konnten. Bald würde auch ich dort leben. Aber noch lagen gut hundert Yards Wasser zwischen mir und diesem Wunsch und weitere, ungezählte Gefahren. Nach allem, was wir in den letzten Tagen und Wochen. erlebt hatten, konnte es daran keinen Zweifel geben.
9. Wir schliefen bis nach Einbruch der Dunkelheit. Am Abend waren ein paar Wolken aufgezogen. Sie verdeckten auch jetzt den Himmel, so daß weder Mond noch Sterne zu sehen waren. Die Nacht war schwül. Kein Windhauch regte sich. Wir lagen am Rande des Brushgebietes und spähten auf den Strom hinunter, dessen Fluten sich träge durch das Land schleppten. Wir konnten das Land am anderen Ufer kaum erkennen. Keiner sprach ein Wort. Wir warteten. Mir rann der Schweiß in dichten Bahnen über die Stirn. Die Luft
war stickig, und ich hatte das Gefühl, in einem Backofen zu liegen. Ich lag neben Eskehimzin, der als einziger mit gekreuzten Beinen im Gras hockte, reglos, mit maskenhaft starrem Gesicht. Er schien innerlich weit weg von uns zu sein. Ich war sicher, daß er an seinen Stamm dachte, an seine niedergemetzelten Krieger, Squaws und Kinder, die inzwischen längst ein Fraß der Krähen geworden waren. Als leise Hufgeräusche zu hören waren, wandte er den Kopf. Er schien aus tiefem Schlaf zu erwachen. Auf der anderen Flußseite tauchten schemenhaft Reiter aus der Dunkelheit auf. Sie trieben ihre Pferde im langsamen Trab direkt am Ufer entlang flußabwärts. Es waren zehn Männer. Sie trugen Uniformjacken und breitrandige Sombreros. Rurales. Sie hielten kurz an, unmittelbar gegenüber des Brushgebietes. Unwillkürlich zog ich den Kopf ein und preßte mich noch fester an den Boden, obwohl es unmöglich war, daß die Mexikaner uns sehen konnte. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich jedoch, daß die anderen es mir nachtaten. Bis auf Eskehimzin, der reglos dahockte, mit aufgerichtetem Oberkörper, der schweißbedeckt war, dessen Muskeln sich in der Dunkelheit noch schärfer herauszubilden schienen als bei Tageslicht. Mit stoischer Ruhe beobachtete er, daß die Rurales ihre Pferde tränkten und dann weiterritten. Ein paar Wortfetzen hallten zu uns herüber. Wenig später waren die Reiter in der Nacht verschwunden. Der Hufschlag verhallte. Eskehimzin richtete sich auf. »Es ist Zeit«, sagte er. Er ging zu seinem Pferd. Wir anderen erhoben uns ebenfalls und traten zu unseren Tieren. In langer Reihe ritten wir von dem Dornbuschgürtel aus hinunter zum Rio Bravo. Eskehimzin lenkte sein Pony als erster ins Wasser. Der Strom war nicht tief an dieser Stelle. Doch die Wellen schlugen den Pferden bis zum Bauch. Eskehimzin zügelte sein Tier im Strom und wartete, bis wir vorbeigezogen waren. Die Flußüberquerung in der Dunkelheit war gefährlich. Es gab zahllose versteckte Untiefen im Bett des breiten Stroms. Eskehimzin aber kannte den Rio Bravo. Er brachte uns sicher ans mexikanische Ufer. Und dann lag es vor uns – Mexiko.
Alles, was wir davon sahen, war eine weite, tellerartige Ebene, mit dürrem Gras. Dicht am Strom wuchsen noch zahlreiche Sträucher – Salbei, Mesquite, Yucca, Kreosot und viele andere. Teufelsbirnen blühten hier und einige Kakteen. Wir beeilten uns, den Rio Bravo hinter uns zu lassen und ritten ins Landesinnere. Bald nahm die Vegetation wieder ab. Die Landschaft wurde karger. Staub erhob sich unter den Hufen unserer Pferde. Zahllose schmale Spalten kerbten den Boden, ein Zeichen, welche Hitze hier am Tage herrschte. Felsblöcke lagen wie die vergessenen Bauklötze eines Riesen im Land. Westlich von uns tauchten die gewaltigen Tafelfelsen von San Vincente auf. Und dann, nachdem wir gut drei Stunden unterwegs waren und im Osten bereits ein heller Streifen am Horizont den neuen Tag ankündigte, lag die Wüste vor uns. Das Land der Apachen, das Land, in dem sie fast unangreifbar waren. Ein nahezu endloses Meer von Sand, in dem sich hohe Dünenkämme buckelten wie zu Staub gewordene Meereswellen. Turmhohe Saguaro-Kakteen reckten sich vor uns in den Nachthimmel. Etwas Geheimnisvolles ging von diesem Land aus. Es wirkte im Zwielicht zwischen Nacht und Tag gefährlich wie ein schlafendes Raubtier, wie eine riesige Falle, die, war man erst einmal in sie hineingetappt, zuschnappte und aus der es dann kein Entrinnen mehr gab. Es war ein Feind für alles, das nicht hierher gehörte. Aber es war unser Freund, der Freund der Apachen. Wir gehörten in diese wilde, unbezwingbare Natur, wir waren ein Teil dieses Landes, das noch heute bei den Menschen beiderseits der Grenze Terreno Desconocido genannt wird, was soviel wie »unerforschtes Land« heißt. Noch heute wagen sich nur wenige Weiße in dieses Gebiet; das noch immer Land der Apachen ist, in dem sie unbestritten herrschen, auch wenn ihre Lebensbedingungen von Jahr zu Jahr schlechter geworden sind. Damals gehörte ich zu ihnen. * Land ohne Schatten, gefangen im Bannkreis der Hölle. Glühender Sand und ein Wind wie aus Feuer.
Und wir mittendrin. Um uns herum waberte die Hitze. Feine Staubwirbel tanzten uns entgegen. Die Luft schien zu dampfen. Seit einem Tag waren wir unterwegs. Um uns war nichts als die Wüste. Hier gab es weder Anfang noch Ende. Wer die Wüste gesehen hat, weiß, was Ewigkeit ist. Wir gelangten nur langsam voran. Die Hitze lastete auf uns und den Tieren wie ein Tonnengewicht. Wir hatten kaum noch Wasser. Eskehimzin meinte, daß wir das nächste Wasserloch erst nach Einbruch der Dunkelheit erreichen würden. Vor uns erhoben sich rote Tafelfelsen. Wir ritten in gerader Linie darauf zu, doch wir schienen ihnen nicht wirklich näher zu kommen. Die Luft über den Felsen flimmerte und ließ die Konturen der Steinmassen verschwimmen, so daß die Berge aus der Ferne wie eine Luftspiegelung wirkten. Unter den Hufen unserer Pferde wirbelte der Sand. Er wallte hoch auf, bis zu unseren Hüften, und es dauerte lange, bis er sich wieder legte. Der heiße Wind trieb uns Staubschwaden entgegen, die die Hufabdrücke unserer Tiere schon nach wenigen Minuten wieder zudeckten. Es war alles anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich fühlte mich ausgelaugt und krank. Dies war kein Land zum Leben, dies war ein Land zum Sterben. Das Land der tausend Gräber. Bald würde es ein Grab mehr hier geben – mein Grab. Davon war ich fast schon überzeugt. Anfangs hatte ich noch geschwitzt, und der Schweiß hatte mit dem feinkörnigen Sand auf meinem Gesicht eine Kruste gebildet. Jetzt schwitzte ich nicht einmal mehr. Ich war völlig ausgetrocknet und hatte das Gefühl, mich nach und nach selbst in Staub zu verwandeln. Überall war der feine Sand. In meiner Kleidung, in meinem Haar. Er klebte auf meiner Haut und schmerzte in meinen Achselhöhlen und an den Innenseiten meiner Schenkel. Ich hatte Sand im Mund und im Hals. Mein Rachen brannte, und meine Mundhöhle schien sich in rohes Fleisch verwandelt zu haben. Sand knirschte zwischen meinen Zähnen und verstopfte meine Atemorgane. Es gab keinen Schutz davor.
Susqueya hustete immer heftiger. Am Morgen war sie bei einem dieser Hustenanfälle vom Rücken Shitas gestürzt. Sie hatte sich nicht mehr halten können, und ich hatte nicht schnell genug reagiert. Sie hatte im Sand gelegen und sich unter Schmerzen gewunden. Ich hatte gedacht, sie würde sterben, so sehr hatte der Husten sie geschüttelt. Als der Anfall vorüber gewesen war, waren ihr ganzer Mund und ihr Kinn voller Blut gewesen. Sie hatte kaum noch geatmet und lange Zeit nicht die Kraft gehabt, sich wieder zu erheben. Ihr Gesicht war immer mehr verfallen. Dann aber hatte sie sich mit unserer Hilfe aufgerichtet und war wieder auf Shitas Rücken gestiegen. Ich hatte mich vor sie gesetzt, und wir hatten unseren Weg fortgesetzt. Es war immer heißer geworden. Noch schlimmer als am Vortag. Schon da hatte ich geglaubt, die Strapazen nicht mehr ertragen zu können. An diesem zweiten Tag aber meinte ich, zu verbrennen. Mehr als einmal hatte ich mich zwingen müssen, aufrecht im Sattel sitzen zu bleiben. Mehr als einmal hatte ich daran gedacht, mich einfach zu Boden fallen zu lassen, liegenzubleiben und auf das Ende zu warten, das nicht mehr weit sein konnte. Aber ich hielt durch. Ich weiß nicht, woher ich die Kraft nahm. Es wahr wohl einfach die Tatsache, daß ich die übermenschlichen Strapazen nicht auf mich genommen hatte, um in diesem Land zu sterben. Zudem sah ich, daß Madai und die beiden anderen Jungen, alle drei jünger als ich, wesentlich besser mit dem Wüstenklima fertig wurden. Das wurmte mich. Ich war kein geborener Apache. Aber ich wollte ein genausoguter Apache sein wie sie. Auch das war ein Grund für mich, durchzuhalten. Ich würde mich schon an die Wüste gewöhnen. Ich würde es schaffen, denn ich wollte ja leben. Dabei hatte ich geglaubt, das Ärgste hinter mir zu haben. Ich hatte mir einen Platz unter den Apachen erkämpft. Ich wurde akzeptiert, und das war schwer genug gewesen. Jetzt begann der Kampf von neuem, der Kampf mit dem Land der Apachen, in dem ich noch ein Fremder war. Aber irgendwann steht man immer an einem neuen Anfang, irgendwann ist man immer ein Fremder, und irgendwann setzt man sich immer wieder durch, oder man zerbricht und geht zugrunde.
Ich schwor mir, auch dieses letzte Hindernis zu überwinden. Auch mit der Wüste würde ich fertigwerden. Und früher oder später würde ich hier genauso leben können wie die anderen Apachen. Ich würde die Geheimnisse dieses Landes kennenlernen und mich nicht unterkriegen lassen. Die Wüste akzeptierte die Apachen, sie würde auch mich akzeptieren. Sie war in diesem Moment kein totes Land für mich, sondern ein gigantisches Lebewesen, das Menschen verschlang und vernichtete, das aber überwindbar war. Ein Gegner, mit dem man sich messen konnte. Ich dachte an die Zeit, als ich zu den Apachen gekommen war, als ich mich damit abgefunden hatte, bei ihnen bleiben zu müssen. Damals hatte ich mir gesagt, daß das Leben niemandem etwas schenkte. Erst recht nicht mir, dem blonden Apachenjungen. Ich hatte mich damit abgefunden und mich durchgebissen. Das gleiche würde ich nun wieder tun. * Der Himmel hatte eine seltsame trübe Farbe. Ein paar Geier flatterten über uns und strebten den Tafelbergen zu. Die Pferde waren unruhig. Sie schnaubten häufig und warfen nervös die Köpfe hoch. Es war Spätnachmittag, und der Wind schien stärker geworden zu sein. Die Tiere kamen nur schwer voran. Sie stemmten sich gegen den Wind, der uns aus den Sätteln zu fegen schien. Ich hätte in diesem Augenblick zehn Jahre meines jungen Lebens für einen Schluck Wasser gegeben. Schmerzen erfüllten meinen Körper. Ich biß die Zähne zusammen und war froh, mit Shita keine Mühe zu haben. Sie bewegte sich geradeaus, ohne daß ich sie lenken mußte. Ich hatte in diesem Moment die Spitze unseres kleinen Zuges übernommen. Eskehimzin war nirgends zu sehen. Er war voraus geritten, um das Wasserloch zu suchen und sich umzuschauen, ob es Spuren gab, die auf andere Indianer hindeuteten. Ich sehnte ihn herbei. Für mich sah das Land überall gleich aus. Auch die Squaws kannten sich nicht sonderlich gut aus, die drei
Jungen schon gar nicht. Es konnte leicht passieren, daß wir vom Weg gerieten, den Eskehimzin uns gewiesen hatte, und uns verirrten. Außerdem befanden wir uns noch immer zu nahe an der Grenze. Hier trieben sich mexikanische Grenzpolizei und Banditen herum. Eskehimzin hatte es selbst gesagt. Keine schönen Aussichten. Manchmal glaubte ich, seine Gestalt aus den Staubschleiern auftauchen zu sehen. Aber das erwies sich jedesmal als Irrtum. Die Hitze, die der Wind mitbrachte, nahm mir fast den Atem. Wenn es nur irgendeinen Schutz gegen den Wind, den Sand und die Hitze gegeben hätte. Aber es gab keine Deckung. Auch nicht im Schatten der Dünen, die rechts und links von uns lagen. Hier und da tauchte ein riesiger Organ-Pipe-Kaktus vor uns auf wie ein Wegweiser im Land ohne Wege. Aber nichts von Eskehimzin. Ich hätte gern Isheeki gefragt, ob sie noch wußte, wo wir uns befanden. Aber Sprechen war unmöglich. Ich hätte nur ein paar Pfund Sand mehr geschluckt, und Isheeki hätte meine Worte nicht gehört. Der Wind heulte viel zu laut. Als ich einmal den Kopf wandte, sah ich, daß die drei Jungen mit dem Armeepferd erhebliche Schwierigkeiten hatten. Es scheute und wollte immer wieder zur Seite ausbrechen. Das lag nicht allein an der Wüste, am Wind und der Hitze. Es lag etwas in der Luft, etwas bedrohliches. Susqueya hätte ich fragen können. Aber sie war nicht ansprechbar. Ich fluchte laut und schluckte Staub. Es war ein höllisches Land. Eskehimzin war plötzlich wieder da. Er schien aus dem Nichts aufzutauchen und zügelte sein Pony neben mir. »Schneller!« schrie er. »Wir müssen schneller reiten. Es sind weiße Desperados in der Nähe, und im Westen braut sich ein Sturm zusammen.« Ich verstand ihn kaum, antwortete auch nicht, sondern trieb Shita zur Eile an. Eskehimzin ritt auch zu den anderen und schrie sie an, sie sollten schneller reiten. Dann setzte er sich wieder vor mich an die Spitze und führte uns auf einige haushohe Dünen zu, an deren Fuß mannsgroße Yuccastauden wuchsen, deren Blätter im Wind wie gespannte Stahlfedern vibrierten.
Wir ritten an den Yuccapflanzen vorbei. Östlich von uns erstreckte sich ein Kakteenfeld. Wieder flog ein Schwarm Geier über uns hinweg. Im Westen waren ein paar dunkle Flecke am Himmel zu sehen. Wir ritten südwärts, eine halbe Stunde, eine Stunde – ich weiß es nicht genau. Vor uns tauchten ein paar vulkanische Felsen auf. Riesige Quader, die übereinandergeschichtet lagen, fast wie eine Pyramide. Eskehimzin drehte sich um, legte die Hände wie ein Sprachrohr an den Mund und rief: »Es ist nicht mehr weit bis zum Wasserloch!« In diesem Moment krachte westlich von uns ein Schuß und dann noch einer.
10. Ich riß den Kopf herum und sah aus den Staubschleiern schemenhaft Reiter auftauchen. Wieder krachte ein Schuß. Eskehimzin ritt schneller auf die Felspyramide zu und warf sich aus dem Sattel. Ich wollte es ihm nachtun. Da tänzelte Shita plötzlich zur Seite. Der Druck von Susqueyas Armen war auf einmal weg. Sie klammerte sich nicht mehr an mir fest. Ich drehte mich um. Da lag sie am Boden. Der Schrei, den ich ausstieß, verhallte im Wind. An mir vorbei jagten die drei Jungen auf dem Armeepferd, ritten Nytaka und Isheeki. Sie hatten nicht gesehen, was geschehen war. Ich sprang ungeachtet der Gefahr aus dem Sattel und hockte mich in den Sand, während Shita ein paar Schritte weit weglief und dann mit hängenden Zügeln stehenblieb. Ich hörte Eskehimzin rufen. Aber ich achtete nicht darauf. Mir fiel plötzlich mein Traum ein, dieser schlimme, entsetztliche Traum. Von Kugeln durchsiebt brach Susqueya vor meinen Füßen zusammen. Ich hatte es im Traum gesehen. Einen Tag nach dem Massaker, das die Skalpjäger unter Eskehimzins Stamm angerichtet hatten. Jetzt war es soweit. Das konnte es doch gar nicht geben. Ich krampfte die Fäuste zusammen und starrte in Susqueyas
Gesicht. Sie starb. Sie lag auf dem Rücken. Ihr Blut sickerte in den Sand. Ich kniete neben ihr nieder und hätte heulen können. Da lächelte sie mich plötzlich an. Mit schwacher Stimme sprach sie. Ich verstand sie nicht. Ihr faltiges Gesicht verfiel immer mehr. Der Glanz in ihren Augen erlosch. Ich hatte Susqueya geliebt. Sie war meine Mutter gewesen, wenn auch nicht leiblich. Ich hatte vorher nie gewußt, was es heißt, eine Mutter zu haben. Die guten Padres hatten mir viel gegeben, aber die Mutter hatten sie mir nicht ersetzen können. In Susqueyas Nähe hatte ich gelernt, was es heißt, eine Mutter zu haben. Jetzt lernte ich, was es heißt, sie zu verlieren. Wind strich über die Wüste, Südwind, heiß und trocken, Staubteufel tanzten auf den Dünen. Der Himmel glühte in einem trüben Blaugrau, mittendrin am Zenit ein greller Fleck mit verschwommenen Konturen – die Sonne. Der Wind trieb hitzewabernde Luftmassen vor sich her. Ich aber fror. Denn Susqueya war tot. Ich hielt ihre leblose Hand und hockte wie gelähmt im heißen Sand. Ich konnte es nicht fassen. Schußdetonationen rissen mich aus der Erstarrung. Ich sprang auf. Von Westen sah ich die mexikanischen Desperados heranjagen, von denen Eskehimzim gesprochen hatte. Staubfontänen wirbelten unter den Einschlägen ihrer Kugeln hoch. In diesem Moment erwachte der Lebenswille wieder in mir. Es war Susqueya nicht geholfen, und es war auch nicht in ihrem Sinn, wenn ich jetzt trauernd im Sand sitzenblieb und mich abknallen ließ. Ihre Mörder sollten mich nicht bekommen. Ich rannte auf die Dünen zu und zu der Felspyramide hinter der die anderen kauerten. Doch die Reiter waren schon nahe. Der Tod war mir doch auf den Fersen. Ich lief um mein Leben. Schüsse klatschten links und rechts von mir gegen die Felsen, als ich mich in Deckung warf. Eskehimzin hielt seinen Bogen in den Fäusten und schoß den ersten Pfeil ab, als die Reiter auf knapp zwanzig Yards an uns herangekommen waren. Es waren sechs Mexikaner. Einer von ihnen riß beide Arme hoch
und stürzte rücklings aus dem Sattel, als Eskehimzins Pfeil seine Brust durchbohrte. Er schrie gellend, und als er den Boden berührte, verstummte er. Die anderen aber preschten heran. Eskehimzin schoß einen zweiten Mann aus dem Sattel. Dann hatte ich meinen Bogen schußbereit. Ich dachte an Susqueya. Unbändiger Haß erfüllte mich. Meine Hände zitterten nicht, als ich den Pfeil abschoß. Ein bulliger Mexikaner sackte nach vorn auf den Pferdehals. Mein Pfeil blieb in seiner rechten Schulter stecken. Er ließ sein Gewehr fallen und zog schreiend sein Pferd herum. Die anderen flohen ebenfalls. Nur einer stürzte, denn sein Pferd brach zusammen. Der Mann rollte durch den Sand und rappelte sich betäubt auf. Er hatte sein Gewehr verloren und taumelte durch den Sand auf uns zu. Eskehimzin hatte keine Pfeile mehr, und ich war nicht schnell genug mit meinem Bogen. »Lauft!« schrie Eskehimzin. »Ronco, nimm die Squaws und lauf!« Ich drehte mich um und trieb Isheeki, Nataka und die drei Jungen hoch. Wir hetzten zu Fuß eine Düne hinauf, wo unsere Pferde standen. Auch Shita befand sich hier. Sie hatte sich von allein zu den anderen gesellt. Nytaka stolperte. Erst jetzt bemerkte ich, daß sie aus einer Wunde am rechten Bein blutete. Ich half ihr hoch und gab ihr einen Stoß. Sie fiel vor die Vorderläufe des Armeepferdes. Ich wandte mich um und schaute zum Felsen hinunter. Der Mexikaner hatte sein Messer gezogen und sprang Eskehimzin an. Auch der hielt sein Messer in der Faust. Sein Körper war gespannt, und unter der Haut wölbten sich die Muskeln. Der Mexikaner bückte sich und schleuderte ihm eine Handvoll Sand ins Gesicht. Eskehimzin zuckte zurück. Der Mexikaner warf sich gegen ihn. Eskehimzin sah ihn nicht. Er stürzte auf den Rücken und stieß beide Beine hoch. Er traf den Mexikaner in den Bauch. Der Mann fiel brüllend um und richtete sich schwerfällig wieder auf. Eskehimzin lag auf dem Rücken, das Messer fest in der Rechten. Als er aufspringen wollte, trat ihn der Mexikaner in die Seite. Eskehimzin stürzte wieder auf den Rücken, und der Mexikaner riß seine Rechte mit dem Messer hoch.
In diesem Moment schleuderte ich meinen Tomahawk. Es war eine reine Reflexbewegung. Ich war ungeübt mit dem Beil. Es überschlug sich in der Luft und traf den Mexikaner nur mit der flachen Seite am Hinterkopf. Er stürzte trotzdem auf die Knie. In diesem Moment erhob sich Eskehimzin und stieß ihm das Messer in den Hals. Gurgelnd kippte der Desperado um, während sein Blut Eskehimzins Unterarm besudelte. Von fern krachten wieder Schüsse. Die anderen Banditen schienen abermals angreifen zu wollen. Eskehimzin nahm meinen Tomahawk und eilte den Hügel herauf. Er drückte mir den Tomahawk in die Hand, ohne ein Wort zu sagen. Wir sprangen in die Sättel. Ich drehte mich noch einmal um und sah Susqueyas Leiche im Sand liegen. Heiß stieg es in mir auf, ein paar Tränen traten in meine Augen. Aber das sah niemand, denn der Wind trocknete sie sofort. Wir ritten los. Wir trieben unsere erschöpften Pferde die Dünen hinunter und jagten davon, verfolgt von den Mexikanern. Unsere Chance war der nahende Abend, die kommende Dunkelheit. Wir hatten keine Pfeile mehr und konnten die Verfolger nicht auf Distanz halten. Wenn sie uns einholten, waren wir verloren, denn auf einen Nahkampf würden sie sich nicht einlassen. Sie würden uns abknallen wie die Hasen.
11. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit brach der Sturm los. Ein schrilles Singen war in der Luft gewesen, ein Heulen und Klagen. Dann waren die ersten Sturmböen über das Land gerast. Haushohe Sandschwaden waren auf uns niedergestürzt, und jetzt war die ganze Luft voller Sand. Die Desperados waren verschwunden. Der Sturm hatte sie verjagt und irgendwo in Deckung gezwungen. Vielleicht würden sie ihn nicht überstehen. Es war nicht schade um sie. Ich trauerte nicht eine Sekunde wegen ihnen. Ich hatte nicht einmal Zeit, mit mir selbst zu trauern.
Der Sturm fiel über uns her wie ein Straßenräuber. Wir konnten nicht mehr weiter. Wir mußten aus den Sätteln und zerrten die Pferde hinter uns her durch das Unwetter zu einem Felsquader, den der Himmel uns geschickt zu haben schien. Wir rissen die Tiere zu Boden, zwangen sie, liegenzubleiben, und legten uns selbst hinter ihre Leiber. Der Himmel, soweit er noch zu sehen war, hatte eine giftgrüne Farbe angenommen. Dunkle Mächte schienen am Firmament miteinander zu ringen und sich einen entsetzlichen Kampf zu liefern. Es sah aus, als würde in dieser Nacht das Universum zersprengen. In der Ferne donnerte es ab und zu, und zuweilen zuckten Blitze durch die Sandwolken, die durch die Luft jagten. Der Donner näherte sich. Ab und zu erzitterte die Erde, und dann wieder übertönte das Heulen und Brüllen des Sturmes alle anderen Geräusche. Wir lagen eng aneinandergepreßt am Boden, während der Wind tonnenweise Sand auf uns warf und uns nach und nach zudeckte. So ging es stundenlang. Das Heulen des Sturms steigerte sich zu einer Symphonie der Vernichtung, zu einer Orgie von Tönen, die nur aus dem Schlund des Satans kommen konnten. Ich glaubte, verrückt zu werden, und den anderen ging es wohl nicht besser. Wir konnten nicht einmal mehr die Hand vor Augen sehen. Unter uns schien sich die Erde aufzutun. Es war die Hölle. Anders kann ich es nicht beschreiben. Es war mit das Schlimmste, was ich bis dahin erlebt hatte. Ich schloß die Augen und wartete auf das Ende. Ich war sicher, daß es kein Überleben geben würde. * Irgendwann war es vorbei. Der Donner verhallte in der Ferne. Der Wind erstarb. Es war Nacht und sehr kühl. Ich merkte nichts davon. Ich war bewußtlos. Als starke Hände mich hochhoben und hin und her schüttelten, erwachte ich und schaute in Eskehimzins Gesicht. Er sah aus wie sein eigenes Gespenst. Ich begann zu husten und spuckte pfundweise Sand aus. Der Durst
machte mich verrückt. Mit dem Rücken lehnte ich mich an den Felsen, hinter dem wir einigermaßen Schutz gefunden hatten. Da erst sah ich, daß Eskehimzin mich aus dem Sand ausgegraben hatte und auch die anderen vom Sand bedeckt waren. Auch die Pferde, die sich aber auf Eskehimzins Zuruf von allein erheben konnten. Ich war schwach und völlig erschöpft, aber als Eskehimzin sich hinkniete, um auch die anderen auszugraben, half ich ihm. Nach und nach buddelten wir sie aus. Madai und die beiden anderen Jungen, an deren Namen ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnere, Isheeki und auch Nytaka. Nytaka war tot. Sie war erstickt. Wir deckten sie wieder mit Sand zu, bevor wir uns aufrafften, um weiterzuziehen. Wir mobilisierten unsere letzten Kräfte, denn wir hatten nur die Wahl weiterzuziehen und das Wasserloch zu suchen, oder liegenzubleiben und zu verrecken. Wir fanden das Wasserloch. Es war Mitternacht. Das Loch, das mit Brettern bedeckt war, die aus dem Stamm von Kakteen geschnitten waren, hatte den Sturm unbeschadet überstanden. Es war nicht groß, aber es reichte für uns. Wir tranken und lachten dabei, und das schale, sandige Wasser erschien uns als das köstlichste Getränk dieser Erde. Rings um das Wasserloch schliefen wir auch ein. Es gab nichts auf dieser Welt, das uns in dieser Nacht noch einen Schritt hätte weitertreiben können. * Am Mittag des nächsten Tages erreichten wir die Tafelfelsen. Die Luft war hier wie in einem Backofen. Die Steine speicherten die Hitze und strahlten sie zurück. Wenn man den Fels berührte, konnte man sich die Finger verbrennen. Eskehimzin kannte sich hier aus. Er führte uns auf einem versteckt gelegenen Pfad in die Berge. Hier wehte kaum noch ein Lüftchen. Die Luft war stickig. Mühsam schleppten wir uns voran. Am Abend, kurz vor Einbruch der Dämmerung, prallte vor uns ein Pfeil an den Fels. Wir blieben stehen. Mehrere untersetzte Gestalten tauchten auf. Dunkle Augen starrten
uns an. Wir hatten es geschafft. Die Apachen brachten uns höher in die Berge zu einem Hochplateau. Hier befand sich ein Zeltdorf, hier gab es eine Quelle. Zahllose Krieger waren zu sehen, viele Frauen und Kinder und auch Pferde. Ein paar Hunde streunten durch das Lager. Es roch nach Pemikan, Pferdeschweiß und Hundekot. Wir wurden zu einem Feuer geführt, wo wir sofort einen Fleischbrei erhielten. Eskehimzin verschwand in einem großen Zelt. Ich schaute mich neugierig um, während ich aß, und ich war auch etwas aufgeregt. Jetzt befand ich mich in einem der großen Dörfer der Apachen, von denen ich früher nur gehört hatte. Ich befand mich im Land der Apachen. Ein leichter Wind strich über das Hochplateau. Im kalten Mondlicht sah ich auf einigen Felsen Wachen stehen, Krieger mit Gewehren in den Fäusten, die in die nächtliche Wüste hinunterspähten. Nach und nach kamen Apachen heran, um uns anzuschauen. Sie hielten jedoch noch Abstand, und niemand sprach ein Wort. Ich wandte mich Isheeki zu. Sie saß neben mir, und ihr war anzusehen, daß sie glücklich war, alles überstanden zu haben. Sie erwiderte meinen Blick. »Es sind Chiricahuas«, sagte sie, als hätte sie meine Frage geahnt. »Ihr Häuptling ist Black Hawk. Vor zwei Sommern waren wir mit Coyotero schon einmal hier.« Da trat Eskehimzin aus dem Zelt, in das er vorhin gegangen war. Ihm folgte ein Apache, der fast ebenso groß war wie Eskehimzin, nur vielleicht zehn oder fünfzehn Jahre älter. Er hatte breite Schultern und strahlte Autorität aus. Obwohl er schlicht gekleidet war, wußte ich sofort, daß es sich um einen Häuptling handelte. Er und Eskehimzin traten auf uns zu. Wir erhoben uns. »Das ist Ronco«, sagte Eskehimzin. Er deutete auf mich und dann auf die anderen und nannte der Reihe nach unsere Namen. Der andere Krieger musterte uns aufmerksam. Mich ein bißchen länger als die anderen. In seinem zerfurchten, lederhäutigen Gesicht lagen Mut, Energie und Kühnheit. »Ich bin Black Hawk«, sagte der Häuptling. »Seid willkommen
bei meinem Stamm. Ich habe Coyotero gut gekannt. Er war ein tapferer Mann, ein großer Krieger. Sein Schicksal schmerzt mich. Ihr werdet in meinem Stamm ein neues Zuhause finden.« Er wandte sich um und rief ein paar Squaws heran, die er aufforderte, uns ein Zelt zuzuweisen. Dann ging er. Eskehimzin begleitete ihn. Ich schaute ihm nach. Black Hawk … Seit ich bei den Apachen war, hatte ich keinem Krieger gegenübergestanden, der mich so sehr beeindruckt hatte wie er. Ich war froh, daß wir auf seinen Stamm gestoßen waren, daß wir hier blieben, bei diesem Häuptling, bei Black Hawk, obwohl ich in diesem Moment noch nicht wußte, daß er noch eine große Rolle in meinem Leben spielen sollte. Wir wurden zum Rand des Dorfes geführt. Hier wurde uns ein großes Zelt zugewiesen, in dem wir uns sofort niederlegten, um auszuruhen von dem, was hinter uns lag. Die anderen schliefen rasch ein. Ich lag noch lange wach, und lauschte den Geräuschen des Lagers und starrte in die Dunkelheit des Zeltes. Wir hatten es geschafft. Wir hatten den weiten, gefahrvollen Weg zurückgelegt und Anschluß an einen Stamm gefunden. Wir hatten unser Ziel erreicht. Und ich? Ich war im Land der Apachen. Der Weg hierher hatte mir gezeigt, daß noch viel vor mir lag. Es würde noch schwer für mich werden, verdammt schwer. Ich hatte viel zu lernen, wenn ich überleben wollte. Erst jetzt, davon war ich überzeugt, begann wirklich ein neuer Abschnitt in meinem Leben. Die Monate bei Coyoteros Stamm waren nur eine Übergangszeit gewesen, eine Vorbereitung auf das, was nun auf mich zukam. Als ich einschlief, dachte ich an Susqueya. Aber ich vergaß auch sie sehr schnell. Coyotero hatte mir einmal gesagt, daß man sich von Vergangenem befreien müsse, um an der Zukunft nicht zu zerbrechen. Er hatte recht gehabt. Ich mußte mich auf das konzentrieren, was die nächsten Tage, die Wochen und Monate bringen würden. Und ich wußte, ich würde stark sein.
ENDE
Vorschau Die Frau war groß, schlank und geschmeidig. Ihr Gesicht war ebenmäßig und von fast klassischer Schönheit. Aber der Ausdruck ihrer nußbraunen Augen war kalt. Wer in diese Augen blickte, der fröstelte und spürte den Anhauch von Grabeskälte. Sie hieß Rebecca und fragte Ronco, wieviel er wiege. Sie fragte es mit kühler Sachlichkeit und musterte Roncos hohe, breitschultrige Gestalt mit dem Interesse eines Schlächters für sein Opfer. »Einhundertundachtzig Pfund«, erwiderte Ronco. »Warum fragen Sie mich das? Und wer sind Sie?« »Der Henker«, sagte die Frau, und ihr Lächeln war wie Eis. »Ihr Gewicht brauche ich zum Präparieren des Seils, an dem Sie hängen werden …« Die Jagd auf Ronco, den Geächteten, geht weiter. Lesen Sie nächste Woche Band 121 dieser großen deutschen WesternSerie:
Stadt der Henker